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German Pages 480 Year 2019
Martin Müller-Butz Blicke zurück nach Osten
Europas Osten im 20. Jahrhundert Eastern Europe in the Twentieth Century Schriften des Imre Kertész Kollegs Jena Publications of the Imre Kertész Kolleg Jena Herausgegeben von/Edited by Włodzimierz Borodziej Joachim von Puttkamer Michal Kopeček
Band/Volume 8
Martin Müller-Butz
Blicke zurück nach Osten Erfahrungen des Imperialen in Lebenserzählungen der polnischen Intelligenz im 20. Jahrhundert
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Dies ist eine Adobe® Illustrator®-Datei, die ohne PDF-Inhalt gespeichert wurde. The Imre Kertész Kolleg Jena “Eastern Europe in the Twentieth Century. Comparative Historical Experience” at Friedrich Schillerdiese University in Jena an institute for the advanced study of the Damit Datei inisanderen history of Eastern Europe in the twentieth century. Anwendungen platziert oder geöffnet werden kann, sollte sie Adobe Illustrator mit der aktivierten Option PDF-kompatible The Kolleg was founded in October 2010 as the ninth Käte Hamburger Kolleg of the German Federal Ministry for Education Researchgespeichert (BMBF). The directors of the Kolleg are Professor Dr Datei and erstellen werden. Diese Joachim von PuttkamerOption and PhDr befindet Michal Kopeček. sich im Dialogfeld Programmeigene Illustrato Format-Optionen, das beim Speichern einer Adobe Illustrator-Datei über den Befehl Speichern unter angezeigt wird.
Die Philosophische Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte) hat die vorliegende Arbeit im Dezember 2017 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades doctor philosophiae – Dr.phil. angenommen. Das Promotionsverfahren wurde im Juli 2018 abgeschlossen.
ISBN 978-3-11-063817-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064212-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063832-5 ISSN 2366-9489
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Allen Heimatsuchenden
Danksagung In den vergangenen knapp sechs Jahren bot mir die Arbeit an der Promotion die einzigartige Möglichkeit, mich über einen langen Zeitraum intensiv und selbstbestimmt mit der Geschichte der polnisch-östlichen Beziehungen und ihren biographischen Ausprägungen zu beschäftigen – für dieses Privileg bin ich bis heute dankbar. Wie ich im Laufe meiner Forschung lernen durfte, teile ich mein Interesse mit vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern weltweit, vor allem aber auch mit den engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern polnischer Exiliertenorganisationen und -archive. Über deren Sammlungen und Bibliotheken und die dort aufbewahrten biographischen und autobiographischen Dokumente konnte ich Einsicht in beeindruckende, oft aber auch tragische Lebensverläufe von Flucht,Vertreibung und Exil betroffener Menschen nehmen, die die kriegerischen Ereignisse und Konflikte des 20. Jahrhunderts und deren Auswirkungen auf die Leben und Wahrnehmungen Betroffener wie durch ein Brennglas erfahrbar machten. In der Durchsicht solcher Papiere – mitunter als Überreste privater Sammlungen aus Warschauer Ruinen gerettet und nach 1945 in Paris, in London oder in New York gesammelt oder versteckt in Warschauer Privatarchiven aufbewahrt – wurde mir bewusst, welch mühevolle Wege Menschen auf sich nahmen, um diese Dokumente bewahren und überliefern zu können. Mein erster Dank gilt daher all jenen Autorinnen und Autoren, die ihre Erlebnisse zu Papier brachten, sowie jenen Initiativen und Organisationen wie der Warschauer Stiftung Karta, dem Polish Institute of Arts and Sciences sowie dem Józef Piłsudski Institute of America in New York, dem Polish Institute and Sikorski Museum in London oder dem Instytut Literacki, die teilweise bis heute dafür sorgen, dass biographische und autobiographische Dokumente und damit das Wissen um die Biographien ihrer Autorinnen und Autoren die Zeit der Weltkriege und des Kalten Krieges überdauern konnten. Für die Möglichkeit, mein Forschungsvorhaben entwickeln und realisieren zu können, möchte ich meinem Doktorvater Joachim v. Puttkamer in aller Ausführlichkeit danken. Als Professor für Osteuropäische Geschichte in Jena war er es, der mich dazu bewog, sich mit der faszinierenden wie auch komplexen Geschichte Osteuropas, und im Besonderen mit der Russlands und Polens auseinanderzusetzen. Als Direktor des 2010 gegründeten interdisziplinären Imre Kértesz Kollegs bot er mir die Chance, mein Promotionsvorhaben als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kolleg fortzuführen. Dies ermöglichte mir einen regelmäßigen und persönlichen Austausch mit den vielen Fellows, die in den vergangenen Jahren im Kolleg zu Gast waren, sowie die Möglichkeit zu intensiven und spannenden Forschungsreisen nach Polen, in die Vereinigten Staaten oder nach Großbritanhttps://doi.org/10.1515/9783110642124-001
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Danksagung
nien. Hervorheben möchte ich an dieser Stelle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Fellows und Promovierende am Jenaer Kolleg wie Dorothea Warneck, Izabela Mrzygłód, Ferenc Laczó, Anna Wylegała, Piotr Filipkowski, Christian Werkmeister, Immo Rebitschek, Łukasz Mieszkowski, Ulrike Schulz und Jana Fuchs, die mir in Türgesprächen, beim Kaffee oder in gemeinsamen Lektüreveranstaltungen als Gesprächspartner so oft zur Seite standen. Ein großer Dank gilt außerdem dem Geschäftsführer des Kollegs Raphael Utz, der sich dafür einsetzte, mein Projekt am Imre Kértesz Kolleg anzusiedeln und hier zu realisieren. Danken möchte ich an dieser Stelle auch Włodzimierz Borodziej, den ich in seiner Jenaer Tätigkeit als CoDirektor des Imre Kertész Kollegs kennenlernen durfte, der mich in meiner Arbeit vielfach bestärkte und für mich im gesamten Verlauf der Promotionsarbeit ein geduldiger, immer aufgeschlossener und konstruktiver Ratgeber blieb. Darüber hinaus bin ich den vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dankbar, die ich während meiner Forschungsaufenthalte und auf zahlreichen Konferenzen und Workshops kennenlernen durfte, und mit denen ich Annahmen, Fragen und Forschungsergebnisse besprechen und teilen konnte. In meinen zahlreichen Forschungsaufenthalten und Konferenzreisen nach Polen sowie in London und New York, die ich mithilfe eines Gerald D. Feldman-Stipendiums der Max-WeberStiftung und eines Doktorandenstipendiums des Deutschen Akademischen Austauschdienstes realisieren durfte, begegnete ich vielen hilfsbereiten Menschen wie Maciej und Justyna Górny, die mir in fachlichen Fragen zur Seite standen oder einfach für mich da waren, um den mitunter einsamen Arbeitsalltag in den Archiven und Bibliotheken zu bewältigen. Hervorheben möchte ich hier ebenfalls Katrin Steffen, Malte Rolf, Jerzy Kochanowski, Claudia Kraft, Theodore Weeks, Tim Buchen, Gregor Feindt und Ruth Leiserowitz. Ein weiterer Dank geht an Holly Case und an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Sommerschule des Kollegs von 2013 für die vielen intensiven gemeinsamen Lektüren, die mir neue Denkanstöße und Perspektiven für die Verunsicherungen historischen Denkens eröffneten. Zutiefst dankbar bin ich außerdem meinen Kolleginnen und Freundinnen Katharina Lenski und Annette Leo sowie Christian Werkmeister, die mich in der letzten und wohl zähesten Phase der Arbeit begleiteten und sich der aufwendigen Korrektur meiner Arbeit annahmen. Mit ihren Hinweisen und Ratschlägen konnte ich die Arbeit lesenswert und die darin enthaltenen Argumentationen nachvollziehbar gestalten. Für die Möglichkeit, meine Promotionsschrift in der Publikationsreihe des Imre Kértesz Kollegs veröffentlichen zu dürfen, möchte ich mich außerdem bei den Herausgebern Włodzimierz Borodziej, Michal Kopeček und Joachim v. Puttkamer bedanken. Häufig fällt ein Promotionsprojekt in eine Lebensphase beruflichen und privaten Wandels. Eine Hochzeit, zwei Kinder, vier Umzüge, viele Freundschaften und berufliche Bekanntschaften sowie einen Job weiter offenbaren sich mir heute
Danksagung
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die Möglichkeiten und die besonderen Herausforderungen, die mit der Entwicklung und Umsetzung dieser Studie einhergingen, vor allem aber auch die positiven Erinnerungen und die Unterstützung, die mir von meiner Familie zuteil wurde. Einen besonderen Dank möchte ich an meine Frau und an meine beiden Kinder richten, die an vielen Abenden und Wochenenden der vergangenen Jahre und in der Zeit der Forschungsreisen auf mich verzichten mussten, die mich zugleich erdeten und aufrichteten. Meinen Schwiegereltern möchte ich dafür danken, dass sie mir stets einen Schreibtisch, Ruhe und Möglichkeiten zum Rückzug in ihrem Haus boten. Auch meinem Vater danke ich für die jahrelange Unterstützung. Danken möchte ich außerdem meinem Freund Krzysztof Kwiatkowski sowie Ewa Krauss, die mich in die wundervolle polnische Sprache einführten und mich mit ihr vertraut machten. An dieser Stelle müssen viele weitere Freunde, Kolleginnen und Kollegen zur Realisierung der vorliegenden Arbeit ungenannt bleiben. Ihnen allen bin ich für die jahrelange Hilfe und Unterstützung zutiefst dankbar. Wietstock, 27. Januar 2019
Inhalt Abkürzungsverzeichnis
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Anmerkungen zur Transliteration und Übersetzung . .
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Einleitung 1 Zur Fragestellung: Polnische Blicke nach Osten – das Fremde im Eigenen? 5 Zum Untersuchungsgegenstand: Die polnische Intelligenz des 20. Jahrhunderts im Spiegel ihrer autobiographischen Schriften 10 Zum Stand der Forschung über Russland und den polnischen 26 Osten 39 Zur Methodik einer intelligenten Autobiographik Zu den Quellen 62 Gliederung und Aufbau der Arbeit 66 Wo liegt Polen? Polnische Ideen von Russland und dem Osten im 19. 70 und 20. Jahrhundert Polnisches Russlanddenken von den Teilungen Polens bis zum Novemberaufstand 1830 73 Ostgebiete oder Westprovinzen? Polnisch-russische 75 Verflechtungen und nationale Konkurrenz 1830 – 1914 Alter Wein in neuen Schläuchen? Polnische Spielarten (anti‐) östlichen Denkens in der Zwischenkriegszeit 93 Getrennte Lager – getrenntes Denken? Der Osten im globalen polnischen Denken nach dem Zweiten Weltkrieg 104 Polnische Blicke auf Russland und den Osten – Orientalismus oder Komplex? 122 „Für unsere und für Eure Freiheit“? Erzählungen russisch-imperialer 125 Erfahrung in der intelligenten Autobiographik nach 1918 Bolesław Limanowski (1835 – 1935): Autobiographisches Schreiben zwischen anti-imperialer Solidarität und nationaler 128 Emanzipation Władysław Studnicki (1867 – 1953): „Die wahre Kraft, auf der wir unsere Befreiung bauen konnten, das waren Russlands Gegner“ 155
XII
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Inhalt
Zusammenfassung
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Erzählungen russisch-imperialer Erfahrung im Kontext neuer Ideologien: Intelligente Autobiographik vor und nach 1939 206 Halina Krahelska (1886 – 1945): Das revolutionäre Russland als Zukunftsversprechen für Polen 210 Stanisław Stempowski (1870 – 1952): „Das schmerzhafte Ringen der polnischen Seele“– Entwürfe einer modernen östlichen 251 Polonität im Zweiten Weltkrieg Zusammenfassung 293
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Intelligenz in der Krise: Erzählungen russisch-imperialer Erfahrung im Schatten des „Kalten Krieges“ 300 Władysław Uziembło (1887 – 1980): Über die Grenzen und Spielräume intelligenter Autobiographik im kommunistischen Polen 304 Paweł Jasienica (1909 – 1970): „Geschichte der Angst“ eines 339 inneren Exilanten Stanisław Swianiewicz (1899 – 1997): Russlands Zerfall und Polens Osten nach Katyń 378 413 Zusammenfassung
Resümee
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420
435 Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen 435 437 Archive (Auswahl) 438 Literatur Personenregister
457
Abkürzungsverzeichnis AK AKWW
Armia Krajowa (Heimatarmee) Akademicki Klub Włóczęgów Wileńskich (Akademischer Klub der Wilnaer Landstreicher) BBWR Bezpartyjny Blok Współpracy z Rządem (Parteiloser Block für die Zusammenarbeit mit der Regierung) CH Czerwone Harcerstwo (Rote Pfadfinderbewegung) CPP Centrum Pamiętnikarstwa Polskiego (Zentrum für polnische Autobiographik) DK Klub Demokratyczny (Demokratischer Klub) GUKPPiW Główny Urząd Kontroli Prasy Publikacji i Widowisk (Hauptamt für die Kontrolle von Presse, Publikationen und Aufführungen) IGS Instytut Gospodarstwa Społecznego (Institut für Sozialökonomie) INBWE Instytut Naukowo-Badawczy Wschodniej Europy (Wissenschaftliches Forschungsinstitut für Osteuropa) KKK Klub Krzywego Koła (Klub des krummen Rades) KPRP Komunistyczna Partia Robotnicza Polski (Kommunistische Arbeiterpartei Polens) KDP Konstitucjonno-Demokratičeskaja Partija (Konstitutionell-Demokratische Partei) KRN Krajowa Rada Narodowa (Landesnationalrat) NKVD Narodnyj Kommissariat Vnutrennych Del (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) NKN Naczelny Komitet Narodowy (Oberstes Nationales Komitee) PKWN Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego (Polnisches Komitee zur nationalen Befreiung) POW Polska Organizacja Wojskowa (Polnische Militärorganisation) POW Wschód Polska Organizacja Wojskowa Wschód (Polnische Militärorganisation Ost) PPR Polska Partia Robotnicza (Polnische Arbeiterpartei) PPS Polska Partia Socjalistyczna (Polnische Sozialistische Partei) PPS FR Polska Partia Socjalistyczna Frakcja Rewolucyjna (Polnische Sozialistische Partei Revolutionäre Fraktion) PPS Lewica Polska Partia Socjalistyczna Lewica (Polnische Sozialistische Partei Die Linke) PRL Polska Rzeczpospolita Ludowa (Volksrepublik Polen) PSL Polskie Stronnictwo Ludowe (Polnische Volkspartei) PWN Państwowe Wydawnictwo Naukowe (Staatlicher Wissenschaftsverlag) PZPR Polska Zjednoczona Partia Robotnicza (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) RJN Rada Jedności Narodowej (Rat der Nationalen Einheit) RN Rada Narodowa (Nationaler Rat) RP Rzeczpospolita Polska (Polnische Republik) RSDRP Rossijskaja Socjal-Demokratičeskaja Rabočaja Partija (Russische Sozial-Demokratische Arbeiterpartei) SD Stronnictwo Demokratyczne (Demokratische Partei) SDKPiL Socjaldemokracja Królestwa Polskiego i Litwy (Sozialdemokratische Partei des Königreichs Polen und Litauens) SN Stronnictwo Narodowe (Nationale Partei) SR Partija Socjalistov-Revoljucionerov (Partei der Sozialrevolutionäre) https://doi.org/10.1515/9783110642124-002
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TRJP TUR ZSP
Abkürzungsverzeichnis
Tymczasowy Rząd Jedności Narodowej (Provisorische Regierung der Nationalen Einheit) Towarzystwo Uniwersytetu Robotniczego (Gesellschaft der Arbeiteruniversität) Zjednoczenie Socjalistyczne Polskie (Polnische Sozialistische Vereinigung)
Anmerkungen zur Transliteration und Übersetzung Die vorliegende Arbeit folgt bei der Umschrift russischer und ukrainischer Begriffe und Zitate der im deutschsprachigen Forschungskontext gebräuchlichen Wissenschaftstransliteration nach DIN 1460. Ebenfalls transliteriert wurden ukrainische und russische Personennamen – und hierbei auch jene, die den in dieser Arbeit analysierten polnischsprachigen Quellen entnommen wurden. In den Literaturangaben und im Fußnotenapparat folgt die Arbeit hingegen konsequent den in der jeweiligen Literatur angegebenen Namen der Autorinnen und Autoren. Verschiedene Schreibweisen von Namen oder Pseudonyme wurden im Personenregister ebenfalls berücksichtigt und kenntlich gemacht. Für die Nennung von Ortsnamen in den einzelnen Zitaten erwies sich als hilfreich, diese im verwendeten Original zu belassen. In der Arbeit selbst wurden die historisch gebräuchlichen Ortsbezeichnungen abhängig vom jeweiligen zu beschreibenden zeitlichen Kontext verwendet. Dies bedeutet etwa, dass Ortsbenennungen, die auf die Zeit vor 1917 Bezug nehmen, der im Russischen Imperium verwendeten offiziellen Schreibweise folgen – mit Ausnahme der im Königreich Polen befindlichen Orte. Bezeichnungen von nach 1918 auf polnischem Staatsgebiet befindlichen Orten, die auf die Zwischenkriegszeit Bezug nehmen, folgen der offiziellen polnischen Schreibweise. Ausnahmen bilden lediglich Ortsbezeichnungen, die über deutsche Schreibweisen verfügen, wie etwa Moskau, Krakau, Lemberg, Dünaburg oder Wilna. Bei den Ortsnamen (meist Dörfern), für die keine offiziellen Ortsbezeichnungen bekannt sind, wurden die in den Quellen verwendeten Ortsbezeichnungen für die Arbeit weiterverwendet. Übersetzungen von Begriffen und Zitaten aus der Literatur und den verwendeten Quellen wurden ausschließlich vom Autor dieser Arbeit vorgenommen. Zitierte Übersetzungen wurden entsprechend kenntlich gemacht und mit Verweisen auf die in den Originaltexten befindlichen Textstellen versehen.
https://doi.org/10.1515/9783110642124-003
Was soll ich Dir sagen, Rußland? Daß Puschkin ein himmlischer Dichter war? Oder, daß Dostojewskij mich mit schneidender Verachtung sah? Oder daß mich die ferne Musik hinter der Wand An nächtlich schimmernde Kuppeln, gesunde Steppen und Skriabins Schauder gemahnt? Oder daß auf Deinem Leib das süße und schwere Getreide steht? Oder daß uns ein Abgrund trennt, über den kein Weg mehr geht, Ein Abgrund der schmerzt wie eine Wunde nach einem vergifteten Messerstich? Soll ich Dir sagen, daß ich Dich hasse? Oder Dir sagen: „Ich liebe Dich“? ¹ Jarosław Iwaszkiewicz, Do Rosji, 1928
1 Einleitung In der Zeit des Zweiten Weltkriegs verfasste der polnische Schriftsteller Stanisław Stempowski (1870 – 1952) seine Memoiren und äußerte sich in ihnen über seine Kindheit in der Zeit des Russischen Imperiums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Stempowski entstammte einer wohlhabenden Familie des polnischen Landadels in der Nähe von Kamenec-Podolʼskij (heute ukr. KamʼʼjanecʼPodilʼsʼkyj) in der südwestlichen Peripherie des Russländischen Reiches und wuchs dort in einer ukrainisch geprägten Umgebung auf. In seinen Memoiren schreibt er über den väterlichen Gutshof und zwei dort wohnende Verwandte seiner Mutter, Tytus und Samson Bieńkiewicz: Eben jener Tytus war auf einer Offiziersschule in Warschau gewesen, er hatte bei Ostrołęka, Dębie Wielkie und bei Grochów [gemeint sind die Schauplätze der Kämpfe zwischen Aufständischen und russischen Soldaten nach dem Warschauer Novemberaufstand 1831, M.-B.] gekämpft. […] Der Hauch der lebendigen alten Zeit, der auf mich von dieser grimmigen, hochmütigen Gestalt überging, fand sich in mir nach vielen Jahren wieder und spielte vielleicht auch eine Rolle in meiner nationalen Wiedergeburt. Der jüngere Bruder Samson war nach dem Krieg von 1831 zum russischen Militär eingezogen worden und hatte irgendwo im Osten als Offizier gedient. Unter den vielen Orden trug er auch eine Brosche für 25 Jahre Dienst, die dem Träger das Privileg verlieh, dass man ihn nur in Begleitung einer Regimentsdelegation mit Standarte verhaften durfte. Er erzählte, wie ihm die Brosche geholfen hatte, nachdem er im Streit mit einem Soldaten in einem Klub diesen durchs Fenster rausgeschmissen hatte. Nun war er pensioniert, es ging ihm gut und sicher half er dem armen Tytus, als sie gemeinsam in dem Haus wohnten. Einmal fuhr er zu uns nach Huta in seiner Paradeuniform mit all seinen Orden und dem Säbel – so blieb er mir im Gedächtnis, und
Jarosław Iwaszkiewicz: An Rußland, in: Polen und der Osten. Texte zu einem spannungsreichen Verhältnis, hg. von Andrzej Chwalba, Frankfurt am Main 2005, S. 144. https://doi.org/10.1515/9783110642124-004
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1 Einleitung
immer dann habe ich sein Bild vor mir, wenn ich auf den ‚Vergifteten Brunnen‘ von Jacek Malczewski schaue.²
Mit der Erwähnung der beiden Vorfahren Tytus und Samson und ihrer beiden konträr verlaufenden Biographien eröffnet Stempowski der Leserschaft einen besonderen Blick in das vielschichtige Panoptikum der russisch-polnischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Nicht nur liefert er mit der Vorstellung zweier Vertreter einer nach den Teilungen Polens geborenen Generation biographisches Anschauungsmaterial dazu, in welchem Maße sich die russischen Machtverhältnisse in den östlichen Teilungsgebieten Polens und der Widerstand gegen diese bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die individuellen Lebenswege zweier polnischer Männer auswirken konnten – Tytus, der ältere von beiden, kämpft schließlich als polnischer Aufständischer aufseiten der Rebellen im Novemberaufstand von 1831 und wird zur Strafe in den Osten Russlands verbannt, während der jüngere Samson nach der Niederlage der Rebellen als Offizier in den lebenslangen Dienst des Russischen Imperiums tritt. Mit dieser Wahl ist in Stempowskis Lebenserzählung zugleich eine Entscheidung getroffen, wem der beiden seine Sympathien gelten sollen. Der Autor legt mit dem Verweis auf den fünfteiligen Bilderzyklus Vergifteter Brunnen von Jacek Malczewski (1854– 1929) von 1905 und 1906 und der Gleichsetzung von Samsons Biographie und dem Motiv des vergifteten Brunnens Spuren hin zu einem national-moralistischen Diskurs der polnischen Intelligenz um das eigene Selbstverständnis, der von der Frage um die angemessene Haltung zu den Teilungsmächten, insbesondere zum Russischen Imperium geprägt war. Die polnische Literaturwissenschaftlerin Maria Janion (geb. 1926) hat diesen Diskurs folglich als Ausdruck einer „moralischen Überlegenheit gegenüber dem ehemaligen Folterer“ beschrieben, als eine Haltung, die sich in der Zeit der polnischen Staatenlosigkeit und der Herrschaft Polens unter den europäischen Imperien entwickelte, und die sich aus der Erfahrung von der eigenen vergangenen Größe, dem Bezug auf das frühneuzeitliche Polen-Litauen und dessen Wahrnehmung als Zivilisator des Ostens speiste, und sich, wie Janion schreibt, bis weit in das 20. Jahrhundert erhielt³. Polens Verhältnis zum Osten beschreibt Janion denn auch als Komplex einer doppelten Erfahrung als Kolonisierer und als Kolonie: „Im 19. Jahrhundert von den Teilungsmächten kolonisiert, konnte man stolz darauf
Stanisław Stempowski: Pamie̜tniki (1870 – 1914), Wrocław 1953, S. 31 f. Maria Janion: Niesamowita Słowiańszczyzna. Fantazmaty literatury, Kraków 2006, S. 231.
1 Einleitung
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sein, einstmals selbst Kolonisator gewesen zu sein.“⁴ Mit dem Bezug auf Malczewski ordnet Stempowski seine Familienbiographie dem Konflikt zwischen vormaliger polnischer Größe und der Fremdherrschaft des späten Russländischen Reiches zu. Dabei unterstreicht er mit seinem Verweis auf die eigene „nationale Wiedergeburt“ die moralische Überlegenheit der Polen über die russische Teilungsmacht.⁵ Folglich identifiziert er sich mit Tytus und der Figur des anti-zaristischen polnischen Rebellen. Das Zitat deutet lediglich an, wie sehr polnisches autobiographisches Schreiben zur Mitte des 20. Jahrhunderts immer noch bzw. wieder von der Auseinandersetzung der polnischen Intelligenz mit Russland als Teilungsmacht und mit der historischen Rolle Polens im Osten geprägt war. Stempowskis Memoiren entstanden in der Gegenwart eines durch das deutsche und sowjetische Herrschaftsregime gewaltsam geteilten und besetzten Polens. Die polnische Intelligenz sah sich nach dem Zerfall des Russischen Imperiums eben nicht nur mit dem Einfluss des russisch-imperialen Erbes auf das nationale Selbstverständnis und mit den eigenen biographischen Erfahrungen von der Krise und vom Zerfall des russischen Imperiums sowie vom Aufbau des freien Polens konfrontiert.⁶ Der sich rasch konsolidierende Nachfolgestaat im Osten, das sowjetische Russland, verfügte trotz der Geschichte des russischen Imperialismus mit seiner Botschaft einer sozialistischen Gesellschaft auch in Polen über eine immense ideologische Anziehungskraft, mit dessen Vision sich ausnahmslos alle Strömungen der Intelligenz auseinandersetzten.⁷
Maria Janion: Polen in Europa, in: Europas Platz in Polen. Polnische Europa-Konzeptionen vom Mittelalter bis zum EU-Beitritt, hg. von Claudia Kraft und Katrin Steffen, Osnabrück 2007, S. 31– 66, hier S. 35. Janions hier zitierter Beitrag Polen in Europa ist dem gleichnamigen Kapitel ihrer Studie Unheimliche Slavizität entnommen und wurde von Ruth Henning ins Deutsche übersetzt. Vgl. Janion, Niesamowita Słowiańszczyzna, S. 164– 210. Zu Malczewskis Auseinandersetzung als eines Vertreters der Młoda Polska (Junges Polen), einer polnischen Kulturströmung und Entsprechung des Fin de Siècle, mit dem dominierenden Patriotismus-Narrativ jener Zeit innerhalb der polnischen Intelligenz vgl. Hanna Grzeszczuk-Brendel: „Junges Polen“ – Intimität und Geschichte, in: Kat. Ausst. Jacek Malczewski und seine Zeitgenossen. Polnische Malerei um 1900 aus der Sammlung des Nationalmuseums in Poznań (Muzeum Narodowe w Poznaniu), Schloss Neuhaus Paderborn 1999, hg. von Andrea Wandschneider, Bielefeld 1999, S. 11– 26, hier S. 24. Zur Komplexität der Wechselbeziehungen zwischen russisch-imperialer Herrschaft und lokaler Bevölkerung sowie den daraus resultierenden Antagonismen vgl. Malte Rolf: Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen im russischen Imperium (1864– 1915), Berlin 2015. Vgl. Grzegorz Zackiewicz: Polska myśl polityczna wobec systemu radzieckiego 1918 – 1939, Kraków 2004, S. 12 f. Die offizielle und bis heute geläufige Bezeichnung des sowjetischen Russlands als Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, kurz: Sowjetunion, fand erst ab 1922 Anwendung.
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1 Einleitung
Für die Bevölkerung vor allem der westlichen Provinzen des früheren Russischen Imperiums waren dessen Zerfall, die Russische Revolution sowie der dann folgende Russische Bürgerkrieg und der Polnisch-Sowjetische Krieg oft gleichbedeutend mit dem Ende ihrer bisherigen Lebenswelten, mit ihrer Flucht und Vertreibung – die Betroffenen waren gezwungen, die Erfahrung vom Verlust ihrer Heimat und vom Zerfall der alten imperialen Ordnung angesichts der veränderten Verhältnisse in Polen in die eigene Biographie zu integrieren.⁸ Dass Heimat in der 1918 gegründeten Rzeczpospolita Polska (RP, Polnische Republik) aber nicht zu einer solch emotional aufgeladenen und öffentlichkeitswirksamen Kategorie emporgehoben wurde, wie etwa in Deutschland nach 1945 bzw. nach 1989, darauf hatten die Entstehung eines freien polnischen Staates nach mehr als einem Jahrhundert der Teilungen und der daraus resultierende Unabhängigkeitskult gehörigen Einfluss. Sie sollten die Erfahrung des Zerfalls der alten Gesellschaftsordnung zunächst überlagern.⁹ Ihr Übriges tat die Einführung einer nationalen Meistererzählung.¹⁰ Gerade in der polnischen Historiographie der Zwischenkriegszeit diente das Imperiale als negatives Gegenstück zum Nationalen. Deren Vertreter distanzierten sich von der imperialen staatenlosen Vergangenheit Polens als Makel der Nationalgeschichte, indem sie eine Geschichte des nationalen Martyriums unter der imperialen Herrschaft erschufen. In dieser Hinsicht bildete das unabhängige Polen im Vergleich zu den anderen „neuen“ Staaten Ostmitteleuropas keine Ausnahme.¹¹ Dies demonstriert insbesondere der
Zur Massenmigration polnischer Flüchtlinge aus Russland zurück nach Polen vgl. Dorota Sula: Powrót ludności polskiej z byłego Imperium Rosyjskiego w latach 1918 – 1937, Warszawa 2013. Zur Erinnerung an Flucht und Vertreibung der Deutschen infolge des Zweiten Weltkriegs in der BRD, der DDR und nach 1989 vgl. Jutta Faehndrich: Eine endliche Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen, Köln 2011. Der Begriff der Heimat ist analytisch unscharf. Hier soll zunächst festgehalten werden, dass Heimat vorrangig als eine Kategorie der Erinnerung zu verstehen ist, die als ein in die Vergangenheit projizierter Sehnsuchtsort die Selbstmarginalisierung in der Gegenwart (etwa als inneres Exil) zum Ausgang hat. Zum Zusammenhang von Erinnerung, Heimat und Exil vgl. Bernhard Schlink: Heimat als Utopie, Frankfurt am Main 2000, S. 10. Auf die RP wird in der polnischsprachigen Literatur häufig als Druga Rzeczpospolita (Zweite Republik) verwiesen, womit die Kontinuität polnischer Staatlichkeit über die Teilungen Polens hinweg betont wird, vgl. etwa Jacek Majchrowski, Grzegorz Mazur, Kamil Stepan (Hg.): Kto był kim w Drugiej Rzeczypospolitej, Warszawa 1994; Roman Wapiński: Pokolenia Drugiej Rzeczypospolitej, Wrocław 1991. Zum Kult der Unabhängigkeit in Zwischenkriegspolen vgl. Mieczysław B. B. Biskupski: Independence Day. Myth, Symbol, and the Creation of Modern Poland, Oxford 2012. Siehe dazu auch Heidi Hein: Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung für den polnischen Staat 1926 – 1939, Marburg 2002. Vgl. Frank Hadler; Mathias Mesenhöller: Repräsentationen imperialer Erfahrung in Ostmitteleuropa: Einleitende Thesen zu Konzept, Befunden und einer transnationalen Perspektive, in:
1.1 Zur Fragestellung: Polnische Blicke nach Osten – das Fremde im Eigenen?
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Verweis auf das Russische Imperium, dem eine Schlüsselfunktion zukam. Denn die nationale Opfererzählung kulminierte ganz besonders im Blick auf den Osten und schrieb dem Russischen Imperium die Rolle einer rückständigen Anti-Moderne zu.¹² Welchen Platz wiesen also die polnischen Angehörigen der Intelligenz, die im späten Russländischen Reich sozialisiert wurden und dort gewirkt hatten, der eigenen Erfahrung vom Imperium und dessen Untergang sowie dessen westlichen Provinzen, dem ehemaligen polnischen Osten in ihren autobiographischen Schriften im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu?
1.1 Zur Fragestellung: Polnische Blicke nach Osten – das Fremde im Eigenen? In den Darstellungen des Ostens in der polnischen Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, seien sie in der Literatur, in Memoiren und in der Forschung, haben Motive wie das der przyjaciele moskali (Moskoviter-Freunde), des sfinks (Sphinx), oder der czarna skrzynka (aus dem engl. black box) Tradition. Die Formel von den przyjaciele moskali geht auf ein Gedicht des polnischen Romantikers Adam Mickiewicz (1798 – 1855) Do przyjaciół Moskali (An die Freunde, die Moskoviter) aus dessen Erzählzyklus Dziady (Die Totenfeier) zurück, der Schriftsteller Władysław Jabłonowski (1865 – 1956) behalf sich der Beschreibung von Russland als sfinks in seinen gleichnamigen Aufzeichnungen über sein Leben in Russland, und der Begriff der czarna skrzynka stellt wiederum eine analytische Kategorie von Jens Herlth zur Beschreibung des polnischen Ostdenkens des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts dar.¹³ All diese Kategorien beschreiben die Ambivalenz des polnischen Denken bezüglich Russlands und des Ostens. An ihnen wird ersichtlich, dass, anders als in etlichen westlichen Diskursen Wahrnehmungen des Ostens in der polnischen Ideengeschichte nicht nur als Negationen von Selbstprojektionen, als Beschreibungen des Anderen zur Stärkung des Eigenen zutage traten (die sich auch in der polnischen Ideengeschichte finden lassen), sondern
Vergangene Grösse und Ohnmacht in Ostmitteleuropa. Repräsentationen imperialer Erfahrung in der Historiographie seit 1918, hg. von dens., Leipzig 2007, S. 11– 28, hier S. 25. Vgl. Tomasz Zarycki: The Embarrassing Russian Connection. Selective Memory of the Russian Heritage in Contemporary Poland, in: Russia’s Identity in International Relations. Images, Perceptions, Misperceptions, hg. von Ray Taras, New York 2012, S. 133 – 148, hier 140 f. Vgl. Adam Mickiewicz: Adama Mickiewicza Dziadów część trzecia, Paryż 1833; Władyslaw Jabłonowski: Dookoła sfinksa. Studya o życiu i twórczości narodu rosyjskiego, Warszawa 1910; Jens Herlth: Rosja jako „czarna skrzynka“ katastrofizmu polskiego, in: Obraz Rosji w literaturze polskiej, hg. von Jerzy Fiećko und Krzysztof Trybuś, Poznań 2012, S. 353 – 368
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1 Einleitung
Ambivalenzen des Fremden und des Eigenen in sich vereinten.¹⁴ In diesen Wahrnehmungen fanden die Verhältnisse einer polnischen Dominanz aus der frühen Neuzeit im Osten ebenso Ausdruck, wie das als Besatzungsmacht wahrgenommene russisch-imperiale Teilungsregime, dessen Erfahrung es in solchen Projektionen zu kompensieren galt.¹⁵ Folgt man Maria Janion, verkörpern die kresy, die zur frühneuzeitlichen Rzeczpospolita gehörigen Ostgebiete, das „‚ostwestliche‘ polnische Bewusstsein“.¹⁶ In den Darstellungen der polnischen Literatur des 19. Jahrhunderts, so Janion, kulminierte die Ambivalenz des Eigenen und des Fremden insofern, als die kresy als Religions- und Kultur- oder als Zivilisationsgrenze sowie als Gebiet der polnischen Kolonisierung nach Osten mythisierend aufgeladen wurden – wie etwa in der Roman-Trilogie von Henryk Sienkiewicz (1846 – 1916).¹⁷ Die Vorstellung vom Grenzgebiet als Region der „Transkulturalisierung, der Hybridität und der Uneindeutigkeit“, wie sie bis zu den Teilungen Polens vorgeherrscht hatte, wurde so aufgeweicht.¹⁸ Die Zerrissenheit des polnischen Denkens zum Osten sieht Janion in der polnischen Literatur der Romantik letztlich auch in der Doppelrolle Polens und dessen geschichtlicher Zugehörigkeit zur christlichen Welt einerseits und zur slavischen
Vgl. vor allem das Kapitel Making Europe: Russia as the Other in Iver B. Neumanns Studie Uses of the Other, vgl. Iver B. Neumann: Uses of the Other. The „East“ in European Identity Formation, Minneapolis 1999, S. 65 – 112. Als wohl bekanntestes Werk zur Analyse solcher Diskurse gilt zweifelsohne Edward D. Saids Studie zum Orientalismus, der den westlichen OrientalismusDiskurs treffend als „Symbol der europäisch-atlantischen Macht über den Orient“ bezeichnete, vgl. Edward W. Said: Orientalismus, unv. Ausg., Frankfurt am Main 2009, S. 15. An dieser Stelle sei auf die nach wie vor interessante und lesenswerte Studie Polen und Rußland von Klaus Zernack über die russisch-polnische Beziehungsgeschichte verwiesen, vgl. Klaus Zernack: Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, Berlin 1994. Janion, Polen in Europa, S. 31. Der Begriff der Rzeczpospolita ist besonders in der polnischen historiographischen Literatur gebräuchlich und beschreibt das Staatsgebilde der Polnisch-Litauischen Union, das seit 1569 formal aus der polnischen Königskrone und dem Großfürstentum Litauen bestand und infolge der Teilungen Polens 1772, 1793 und 1795 zwischen den Imperien Preußens, Österreich-Ungarns und des Russländischen Reiches aufgeteilt wurde. Vgl. nach wie vor Norman Davies: The Origins to 1795, Oxford 1981. Die Trilogie behandelt unterschiedliche die polnische Geschichte betreffende Ereignisse des 17. Jahrhunderts wie die kosakischen Aufstände in der Ukraine, den Russisch-Polnischen Krieg von 1654– 1667 und den Osmanisch-Polnischen Krieg 1672– 1676. Sie umfasst folgende Werke: Henryk Sienkiewicz: Ogniem i mieczem. Powieść z lat dawnych, Warszawa 1884; ders.: Potop. Powieść historyczna, Warszawa 1886; ders.: Pan Wołodyjowski, Warszawa 1887. Ausführlich zu den Kriegen des 17. Jahrhunderts und ihrer Rezeption in Polen, der Ukraine und in Russland im zwanzigsten Jahrhundert, vgl. Martin Aust: Polen und Russland im Streit um die Ukraine. Konkurrierende Erinnerungen an die Kriege des 17. Jahrhunderts in den Jahren 1934 bis 2006, Wiesbaden 2009. Janion, Polen in Europa, S. 38.
1.1 Zur Fragestellung: Polnische Blicke nach Osten – das Fremde im Eigenen?
7
Welt andererseits zum Ausdruck gebracht. In den Schriften Adam Mickiewiczs, Juliusz Słowackis (1809 – 1849) und anderer Literaten sei die Zugehörigkeit Polens zur slavischen Welt als verdrängtes Element wiederentdeckt worden und ihr zufolge ein Zeichen zerrissener Identität, welches sie mit der Formel von der „unheimlichen Slavizität“ benennt: „Die unheimliche Slavizität – fremd und nah zugleich – war Ausdruck der Zerrissenheit, eines unterdrückten Unterbewusstseins, einer mütterlichen, vertrauten unlateinischen Seite.“¹⁹ In der vorliegenden Arbeit soll Janions Perspektive auf das polnische Denken zum Osten für eine Untersuchung autobiographischer Schriften von jenen Angehörigen der polnischen Intelligenz im 20. Jahrhundert nutzbar gemacht werden, die auf eine eigene Erfahrung des Ostens, nämlich auf eine russisch-imperiale zurückblicken konnten und im Laufe ihres Lebens Versuche unternahmen, dieses autobiographisch zu ordnen. In den Schriften dieser Polinnen und Polen östlicher Provenienz, so die Leithypothese der Arbeit, verschmolzen Zeugenschaft, russisch-imperiale Erfahrung – die Erfahrung vom Leben im imperialen Russland, von dessen Zerfall und von der Integration in der neuen nationalstaatlichen Gesellschaftsordnung – und Autorinnen- und Autorenschaft vor dem Hintergrund des Diskurses um das polnische nationale Selbstverständnis und um die Frage der Östlichkeit darin zu einem Amalgam. Wie kam diese Erfahrung in den autobiographischen Schriften der polnischen Intelligenz zum Ausdruck? Auf welche Weise versuchten die Schreibenden, diese mit bestehenden polnischen Denktraditionen zu Russland und dem Osten zu vereinbaren, oder sich von diesen abzusetzen? Und inwiefern veränderten sich solche Erzählungen der russischimperialen Erfahrung infolge neuerer Erfahrungen und Zäsuren, wie den Ereignissen in Zwischenkriegspolen, den innersowjetischen Umwälzungen des Stalinismus, oder infolge späterer Zäsuren wie des Zweiten Weltkriegs und der anschließenden gesellschaftlichen Neuordnungen in der Volksrepublik Polen oder im Exil zur Zeit des sogenannten „Kalten Krieges“? Welchen Konjunkturen unterlagen diese Veränderungen? Ziel der Untersuchung ist es nicht, den Diskurs zur polnischen nationalen Identität und dessen Muster und Verläufe zu analysieren, sondern vielmehr zu erfragen, in welchem Verhältnis individuelle Erfahrung, autobiographische Erzählung und Konzepte und Ideen nationalen Selbstverständnisses in den jeweiligen Lebenserzählungen stehen. Dabei sind der Begriff der Polonität und die Frage, ob sich in den Repräsentationen des Ostens in den jeweiligen Autobiographien so etwas wie eine östliche Polonität herauskristallisierte, von besonderer Relevanz. Der Begriff knüpft an die Überlegungen der Historikerin Katrin
Janion, Niesamowita Słowiańszczyzna, S. 28 f.
8
1 Einleitung
Steffen zur „jüdischen Polonität“ an. Steffen beschrieb in ihrer Studie von 2004 Selbstzuschreibungen jüdisch-polnischer Intellektueller nach dem Ersten Weltkrieg und entwickelte mit dem Begriff der jüdischen Polonität eine analytische Kategorie zur Untersuchung des nationalen Denkens am Beispiel der polnischjüdischen Presse in der Zwischenkriegszeit.²⁰ Darin betonte Steffen insbesondere, dass mit dem Begriff der jüdischen Polonität keineswegs ein homogenes Selbstverständnis innerhalb der jüdischen Bevölkerung in Polen gemeint sei. Vielmehr seien es verschiedene Konzepte und Ideen von (jüdischer) Identität gewesen, die die Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe ausgezeichnet hätten. Steffen unterstrich, dass die jüdische Polonität keinesfalls nur national konnotiert gewesen sei, sondern dieser Kategorie zuallererst eine kulturelle Definition innewohne.²¹ Wenngleich der Befund von den multiplen Identitäten ganz besonders auf die jüdische Bevölkerungsgruppe in Zwischenkriegspolen zutrifft, so ist die Vielzahl von Selbstzuschreibungen oder Selbstkonzepten ganz sicher kein Alleinstellungsmerkmal und lässt sich auch auf andere Bevölkerungsgruppen übertragen. In einem seiner Briefe äußerte sich Jerzy Giedroyc (1906 – 2000) – ein in Minsk geborener und aus einer polnischen Familie der Intelligenz entstammender Diplomat und Publizist, sowie langjähriger Herausgeber des polnischen Journals Kultura (Kultur) in der französischen Emigration – über seine östliche Herkunft: Aber ich bin ein Mensch des Ostens [Ale jestem człowiek wschodni]. […] Meine Stadt der Kindheit war Moskau und nicht Wilno, ein Teil meiner Familie im 19. Jahrhundert war russisch, ich habe georgisches Blut, und ohne den sog. Instinkt zu überschätzen, denke ich, dass ich ein gewisses Gefühl für solche Angelegenheiten [das Östliche betreffend, M.-B.] habe.²²
Mit der Formel des człowiek wschodni verweist Giedroyc auf eine Zugehörigkeit, die sich eben nicht nur in der eigenen polnischen Identität erschöpft, sondern ebenso andere Eigenschaften aufweist. Anders als in Steffens Untersuchung zur jüdischen Polonität ist Giedroycs östliche Polonität jedoch durchaus von natio Vgl. Katrin Steffen: Jüdische Polonität. Ethnizität und Nation im Spiegel der polnischsprachigen jüdischen Presse 1918 – 1939, Göttingen 2004. Ausführlich zur verwendeten Kategorie vgl. dies.: Das Eigene durch das Andere: Zur Konstruktion jüdischer Polonität 1918 – 1939, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 3, 2004, S. 89 – 111. Die Kategorie der Polonität geht auf den polnischen Begriff polskość zurück. Steffen lehnt dessen Übersetzung als Polentum ab, da mit diesem Begriff national-volkstümliche Ideen einhergehen. Die vorliegende Arbeit folgt dieser Argumentation, jedoch wird der Begriff in den Quellen durchaus mit Polentum übersetzt, wo mit der Verwendung des Begriffs durch die Schreibenden ebenjene national-volkstümlichen Tendenzen betont werden sollen, vgl. ebd., S. 89. Jerzy Giedroyc, zit. in: Magdalena Grochowska: Jerzy Giedroyc. Do Polski ze snu, Warszawa 2009, S. 21.
1.1 Zur Fragestellung: Polnische Blicke nach Osten – das Fremde im Eigenen?
9
nalen Gesichtspunkten bestimmt, etwa wenn er Heimat („Meine Stadt der Kindheit“), „Familie“ und „Blut“ als Identifikatoren eines solchen Selbstverständnisses ausmacht. Gleichwohl deutet sich mit dem Zitat durchaus die Qualität dieses Begriffs als analytische Kategorie zur Beschreibung eines über das Polnische hinausgehenden Selbstverständnisses der Gruppe der polnischen Intelligenz an. Es wird zu untersuchen sein, inwiefern Repräsentationen des Ostens in den anderen Autobiographien ähnlichen Mustern folgen wie Giedroycs Selbstzuschreibung von 1966. Die Kategorie der Polonität eignet sich für die Beschreibungen autobiographischer Darstellungen der polnischen Intelligenz auch deshalb, da in ihnen Selbstnarrative entworfen werden, die keinesfalls als statisch zu bezeichnen sind, sondern eher als Momentaufnahmen eines performativen Akts.²³ Gleiches gilt übrigens für die Kategorie der Identität, die in dieser Arbeit zur Autobiographik vor allem als Begriff der Selbstzuschreibung und somit als ein reflexives und erschriebenes, also erzähltes Konstrukt – als kommunikativer und performativer Akt – verstanden wird.²⁴ Dabei ist davon auszugehen, dass zwischen den Narrativen der einzelnen Schreibenden, ihrem Milieu und ihrer sozialen und generationellen Zugehörigkeit gemäß, Unterschiede zutage traten, die die Wandelbarkeit der Polonität verdeutlichen. Auch Steffen beschreibt ihr Konzept der jüdischen Polonität als „konstruierte[n] und konstruierende[n] Identitätsentwurf […] einer Gruppe, die sprachlich polonisiert war und zu einem großen Teil säkularisiert.“²⁵ Daran anschließend ist zu fragen, ob sich in den Repräsentationen der russisch-imperialen Erfahrung der polnischen Intelligenz des 20. Jahrhunderts ebenso eine Gruppe ausmachen lässt, die über ein gemeinsames Verständnis östlicher Polonität verfügte.
Zu den Analysekonzepten autobiographischer Schriften und der in dieser Studie verwendeten Theorie vgl. Kap. 1.4. Vgl. dazu Jürgen Straub: Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Identitäten, hg. von Aleida Assmann und Heidrun Friese, Frankfurt am Main 1998, S. 73 – 103, hier S. 93. Zum Zusammenhang autobiographischen Schreibens als performativem Erschreiben von „self-understanding“ vgl. Jochen Hellbeck: Introduction, in: Autobiographical Practices in Russia = Autobiographische Praktiken in Russland, hg. von dems. und Klaus Heller, Göttingen 2004, S. 11– 24, hier S. 12. Grundlegend zur Skepsis über Identität als analytische Kategorie vgl. Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek bei Hamburg 2000. Steffen, Das Eigene durch das Andere, S. 90.
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1 Einleitung
1.2 Zum Untersuchungsgegenstand: Die polnische Intelligenz des 20. Jahrhunderts im Spiegel ihrer autobiographischen Schriften In der polnischen Forschung und in der polnischen Öffentlichkeit erfreut sich kaum ein Thema solch großer Beliebtheit und zugleich so kontroverser Diskussion wie das Phänomen und der Begriff der inteligencja. ²⁶ Tomasz Zarycki, der sich in seinen soziologischen Studien zur Intelligenz vor allem mit Fragen der Selbstwahrnehmung, der (Auto‐)Stereotypisierung der Intelligenz und der Rolle der Intelligenz in der heutigen polnischen Gesellschaft auseinandersetzt, kommt in seinen Studien zum Schluss, dass, given the strength of the intelligentsia identity and its social milieu in Poland, the humanities, social sciences and, albeit in a more restricted way, Polish journalism, are ruled by the values and methods of the intelligentsia ethos.²⁷
Es sei dahingestellt, inwiefern Zaryckis These zuzustimmen ist oder nicht. Für den Kontext der vorzunehmenden Untersuchung ist jedoch seine Feststellung insofern wichtig, als sie bis in die heutige Zeit hinein ein in der polnischen Gesellschaft vorherrschendes Verständnis von der Intelligenz als Trägergruppe nationaler Identität und letztlich auch nationaler Einzigartigkeit, eben ein „intelligentsia ethos“ konstatiert, dessen Wesenskern vor allem in der Selbstreferentialität der Intelligenz besteht. Diese nach wie vor anzutreffende Eigenschaft der inteligencja verweist zugleich auf die Entstehungsbedingungen der polnischen Intelligenz, die, im Unterschied zur Gruppe der Gebildeten oder der Intellektuellen in Westeuropa oder zur russischen intelligencija, nach dem Verlust polnischer Staatlichkeit in der Anwesenheit fremder preußischer, österreich-ungarischer oder russischer Staatsadministrationen sich neu zu formieren ge-
Im Folgenden werden die polnischen und deutschen Begriffe inteligencja und der Intelligenz synonym verwendet und verweisen, wenn nicht anders kenntlich gemacht, auf den Bedeutungszusammenhang der polnischen Intelligenz. Auf den Zusammenhang der polnischen Intelligenz verweisen auch die in dieser Arbeit verwendeten polnischen und deutschen Subjektformen inteligent bzw. Intelligenzler. Dies gilt auch für vorangestellte adjektivische Verwendungen wie intelligent sowie für die in Kap. 1.4 zu entwerfende Kategorie der intelligenten Autobiographik. Wenn nicht anders gekennzeichnet, wird der Begriff in dieser Studie weder in kognitiven, noch in polizeilich-nachrichtendienstlichen Bedeutungszusammenhängen verwendet. Tomasz Zarycki: On the Contemporary Polish Perception of Russian Intelligentsia, in: EuropeRussia: Contexts, Discourses, Images, hg. von Irina Novakova, Riga 2011, S. 130 – 141, hier S. 130.
1.2 Zum Untersuchungsgegenstand
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zwungen war und dabei weder den kleinschrittigen Entwicklungen des Staats und des Bürgertums in Frankreich oder Deutschland noch der Entwicklung der russischen intelligencija folgen konnte, die ihre Existenz und Struktur vielmehr den von der russischen Staatsführung aufoktroyierten Verwestlichungs- und Reformierungsmechanismen verdankte.²⁸ Jerzy Jedlicki (1930 – 2018), neben Zarycki der wohl profilierteste Wissenschaftler zur Geschichte der Intelligenz in Polen, beschreibt die historischen Voraussetzungen für die Formierung der polnischen Intelligenz folgendermaßen: The conflict between the norms of tradition and the requirements of modernity, which was common in the nineteenth century had to be tackled by Polish society (apart from the constitutional interludes) without participation by the oppressive authorities which defended the political and social status quo, as a general rule.²⁹
Die polnische Intelligenz blieb vom Beginn der Fremdherrschaft bis tief in das 20. Jahrhundert hinein mit der Frage nach ihrem Selbstverständnis, nach ihrer Verankerung in der polnischen Gesellschaft und mit ihrer skeptischen Haltung zum herrschenden System konfrontiert. Dabei unterlag die polnische Intelligenz insbesondere nach 1945 einem umfassenden Wandel.³⁰ Für die zu bearbeitende Fragestellung nach den autobiographischen Repräsentationen des Ostens in Memoiren der polnischen Intelligenz ist die Selbstwahrnehmung der polnischen Intelligenz insofern von Bedeutung, da in ihr Fragen des Polnischen, des Eigenen und des Anderen, verhandelt wurden. Debatten entzündeten sich vor allem an der Anwesenheit des Anderen in Form der Verwaltung der Teilungsmächte in Polen, sei es in den Teilungsgebieten selbst oder im Hinterland der Teilungsmächte, und am Kontakt zwischen der polnischen und der russischen Intelligenz. Der Umstand einer in ihren Grundzügen durchaus ähnlichen, wenngleich unter unterschiedlichen sozialen und nationalen Vorzeichen realisierten Entwicklung wird in der polnischen historiographischen For-
Zur Entwicklung der Intelligenz und ihrer Wahrnehmung in Europa vergleichend: Denis Sdvižkov: Das Zeitalter der Intelligenz. Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg, Göttingen 2006. Jerzy Jedlicki: Foreword, in: Maciej Janowski: A History of the Polish Intelligentsia. Birth of the Intelligentsia (1750 – 1831), Bd. 2, Frankfurt am Main 2014, S. 7– 25, hier S. 23. Zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert in Polen vgl. Hans Henning Hahn: Die Gesellschaft im Verteidigungszustand. Zur Genese eines Grundmusters der politischen Mentalität in Polen, in: Gesellschaft und Staat in Polen. Historische Aspekte der polnischen Krise, hg. von dems. und Michael G. Müller, Berlin 1988, S. 15 – 48.
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1 Einleitung
schung gern relativiert, wie Äußerungen von Andrzej Walicki, Jerzy Jedlicki oder Aleksander Gella suggerieren. Walicki etwa beklagt grundsätzlich die russozentrische Betrachtung des Phänomens der Intelligenz in der internationalen Forschung.³¹ Wenngleich Jedlicki die gemeinsame Erfahrungsdimension russischer Imperialität benennt und mit dem Hinweis auf die Intelligenz in sogenannten „dependent countries“ auf die quasi-koloniale Lage der polnischen Intelligenz im Russischen Imperium verweist, thematisiert er die umfangreichen Beziehungen und die komplizierte Verflechtungsgeschichte russischer und polnischer Intelligenz kaum.³² Am weitesten geht wohl Aleksander Gella, der beim Vergleich beider Gruppen die Besonderheiten der polnischen Intelligenz betont: „A glimpse of the Russian intelligentsia will not only increase our understanding of the Polish stratum but will help to establish the latter’s unique characteristics.“³³ Auch hier wird die Spezifik der polnischen Intelligenz betont. Für die zu beantwortende Fragestellung dieser Arbeit ist der gemeinsame Entstehungskonnex von polnischer und russischer Intelligenz insofern von Relevanz, als der Kontakt, der Austausch und der Transfer von Ideen nationalen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses und Zusammenlebens Begegnungs- und Handlungsräume schufen, in denen diese Erwartungen und Vorstellungen aufeinandertrafen, miteinander konkurrierten und sich letzten Endes bewähren mussten. Dies galt für die polnische Wahrnehmung der russisch-imperialen Wirklichkeit, für Fragen nach der Polonität und nach der Östlichkeit des Russischen Imperiums. Was aber war die Intelligenz und welchem Entstehungskontext entsprang etwa die polnische inteligencja?
Das 19. Jahrhundert als „Zeitalter der Intelligenz“ Wenn Denis Sdvižkov in seiner vergleichenden Arbeit zur Intelligenz und den Gebildeten in Europa vom 19. Jahrhundert als „Zeitalter der Intelligenz“ spricht, so deutet sich in dieser Beschreibung bereits die Frage nach der Rolle der Intellektuellen im Westen und der „Intelligenten“ im Osten Europas in den jeweiligen nationsbildenden Projekten in Frankreich, Deutschland, in Polen und in Russ-
Vgl. Andrzej Walicki: Polish Conceptions of the Intelligentsia and its Calling, in: Words, Deeds and Values. The Intelligentsia in Russia and Poland during the Nineteenth and Twentieth Centuries, hg. von Fiona Björling und Alexander Pereswetoff-Morath, Lund 2005, S. 1– 12, hier S. 3 Jedlicki, Foreword, S. 17. Aleksander Gella: The Life and Death of the Old Polish Intelligentsia, in: Slavic Review 30, H. 1, 1971, S. 1– 27, hier S. 4.
1.2 Zum Untersuchungsgegenstand
13
land an.³⁴ Im Unterschied zu Mittel- und Westeuropa war die Intelligenz polnischer wie auch russischer Provenienz jedoch stärker durch eine materielle Mittellosigkeit sowie von dem Umstand geprägt, dass das Herrschaftsregime des Russischen Imperiums den Austausch und die Zirkulation gesellschaftlicher und nationsbildender Projekte vergleichsweise härter sanktionierte, was in der Folge zur Entstehung russischer und polnischer Exilmilieus in Westeuropa und ganz besonders in Frankreich und der Schweiz führte. Diese Milieus trugen wiederum zu einem zunehmenden Austausch und zu einem Transfer von Ideen zwischen Exil und Heimat, aber auch zwischen den russischen und französischen, den deutschen und den polnischen Intellektuellen und der Intelligenz von den westlichen bis zu den östlichen Rändern Europas bei. Die Angehörigen der polnischen staatenlosen Intelligenz entstammten vorrangig dem verarmten polnischen Landadel, verdingten sich in den Städten und suchten ihr Auskommen fern von Handel und Privatwirtschaft vor allem in den Berufen der geistigen Arbeit. Die russische Intelligenz rekrutierte sich demgegenüber aus einem breiteren sozialen Spektrum, war weit weniger im konservativ-bewahrenden Denken über die Nation verhaftet und setzte sich vielmehr für eine agrar-revolutionäre Erneuerung der russischen Gesellschaft ein. Diese Eigenschaften prägten das höchst ambivalente Verhältnis zwischen den polnischen und den russischen Angehörigen der Intelligenz bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.³⁵ Jerzy Jedlicki hat in seinen Forschungen zur polnischen inteligencja mehrfach auf die Schwierigkeit verwiesen, den Begriff der Intelligenz zu definieren, und dabei auf die Gefahr hingewiesen, ihr vermeintlich klar abgrenzbare Eigenschaften einer sozialen Gruppe zuzuschreiben, wie sie, ebenfalls fälschlicherweise, auch für Begriffe wie das Bürgertum, die Bauernschaft, das Judentum oder den polnischen Landadel zu gelten hätten.³⁶ Vielmehr habe sich die inteligencja im polnischen Fall vor allem aus dem Landadel rekrutiert und durch eine national und sozial integrative Gruppenidentität ausgezeichnet. Eine der ersten bekannten Einlassungen zur Bedeutung der inteligencja vonseiten eines inteligent erwähnend, macht Jedlicki die Verbindung zwischen einer ideologischen Elite und den Berufen der geistigen Arbeit als Kern des Selbstverständnisses der inteligencja aus. Hinsichtlich der Spezifik der polnischen Intelligenz sieht er zudem den Führungsanspruch dieser Gruppe für die Entwicklung eines modernen nationalen Selbstverständnisses unter Wahrung der historischen Traditionen der Vorteilungszeit als vorherrschend an:
Vgl. Sdvižkov, Das Zeitalter der Intelligenz. Vgl. ebd., S. 121, 158. Vgl. Jedlicki, Foreword, S. 10.
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1 Einleitung
This non-convergence of criteria has been noted by the anonymous author of the article O inteligencji w znaczeniu polskim [Über die Intelligenz im polnischen Sinne, Hervorhebung im Original, M.-B.], published in a Lvov periodical in 1861, remarking that those of ‚special education‘, even though they would be greatly educated, are not of the intelligentsia if they take an indifferent approach toward their past of their nation and its struggle for rights.³⁷
Eine solche Selbstbeschreibung macht die Priorisierung der Bewahrung nationaler Traditionen und die Unterordnung des Bildungsideals deutlich. Später macht Jedlicki nochmal klar, dass die polnische Intelligenz lediglich in nationaler Hinsicht als Elite bezeichnet werden könne, aber nicht hinsichtlich der Stellung innerhalb der von ihren Vertretern ausgeübten Berufe. Das Übermaß an Absolventen in den Bildungseinrichtungen im Russischen Imperium habe letztlich auch zur Pauperisierung der Intelligenz und zu einer Zunahme von radikaleren ökonomischen und politischen Positionen seitens der Intelligenz geführt.³⁸ Die Forschung zur Intelligenz betont das Gruppenbewusstsein der Intelligenz als einer nationalen Avantgarde, welches sich zunächst im Denken der Warschauer Positivisten, einer nach dem anti-russischen Aufstand von 1863 entstandenen Denkströmung der Intelligenz, die sich mit diesem kritisch auseinandersetzte, in den 1860er und 1870er Jahren herauskristallisierte.³⁹ Auch danach verband die Intelligenz ein progressives und fast missionarisch zu nennendes Verständnis eines durch Bildung zu gestaltenden nationalen Gesellschaftsprojekts. Formen genossenschaftlicher Selbstverwaltung oder Ideen einer selbstverwalteten Gesellschaft erfreuten sich innerhalb der polnischen Intelligenz auch nach 1918 großer Beliebtheit.⁴⁰ Interessanterweise aber korrespondierte der Fortschrittsgedanke der polnischen Intelligenz mit der Randlage Polens innerhalb des Russischen Imperiums. So galt Warschau zwar als Zentrum der polnischen Intelligenz, zugleich blieb der Stadt und den früheren Gebieten Polen-Litauens nicht mehr als die Rolle von Provinzen im Gefüge des Russischen Imperiums, wie sich etwa in der nach dem anti-russischen Aufstand von 1863 eingeführten Bezeichnung des bis dahin offiziell als Königreich Polen firmierenden Gebiets als Privislinskij Kraj (russ., Weichselland) zeigte.⁴¹ Die Funktion, die sich aus dieser Lage Polens für die polnische Intelligenz ergab, war die einer Bewahrerin des nationalen Erbes Polens vor den Teilungen und dessen Integration in das Mo-
Ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. Brian Porter: When Nationalism Began to Hate. Imagining Modern Politics in NineteenthCentury Poland, New York 2000, S. 53; Jedlicki, Foreword, S. 12. Vgl. Hahn, Die Gesellschaft im Verteidigungszustand, S. 39 Vgl. dazu ausführlich Rolf, Imperiale Herrschaft im Weichselland, S. 39 – 66.
1.2 Zum Untersuchungsgegenstand
15
dernitätsprojekt der polnischen Intelligenz. Dazu trug auch bei, dass sich die polnische Intelligenz vor allem aus dem polnischen Landadel rekrutierte und dessen Ideale übernahm. Ilya Prizel spricht diesbezüglich von einem „imperial complex“, der auf der Erfahrung polnischer Großmacht im Osten Europas in der Frühen Neuzeit fußte.⁴² Mit der Selbstwahrnehmung der Intelligenz als Zivilisatorin und Multiplikatorin ging auch die Vorstellung von der Europäizität der Intelligenz im Geiste der Aufklärung einher, die zwar kein Alleinstellungsmerkmal der polnischen Repräsentantinnen und Repräsentanten blieb, jedoch im Denken der polnischen inteligencja einen prominenten Platz einnahm.⁴³ Gella, der das Denken der polnischen Intelligenz ebenfalls in der Aufklärungstradition verankert sieht, meinte 1971, dass ein Verwestlichungskomplex, wie er ihn für die russische Intelligenz feststellt, im polnischen Denken gar nicht existierte: „It must be pointed out that the problem of ‚Westernization‘ never existed for Poles. For centuries, Poland had been the ‘eastern frontier’ of Western European Civilization.“⁴⁴ Mit der Veröffentlichung der Studien von Edward Said (1935 – 2003) und Larry Wolff, in denen sie die hierarchisierten Deutungsmechanismen zivilisatorischen Denkens im Verhältnis zwischen West und Ost offenlegten, ist diese Annahme jedoch hinfällig. Gellas These belegt vielmehr den Versuch, die Geschichte der polnischen Intelligenz in ein euro- oder westzentrisches Narrativ einzuschreiben. Im Jahr 1971 publiziert, war sie wohl auch Ausdruck eines globalpolnischen Wettbewerbs um die Deutungshoheit über die Geschichte der Intelligenz.⁴⁵ Zarycki macht ebenfalls für die polnische Intelligenz eine Westfixierung aus, die in der Wahrnehmung der eigenen Lage als peripher liegt: „The idea of compensation of peripheral weakness in the cultural sphere is one of the key intelligentsia concepts.“⁴⁶ Zarycki greift mit diesem Satz die Wurzel intelligenten Selbstverständnisses erneut auf. Der Staatlichkeit, und somit der ökonomischen und politischen Autonomie beraubt, wurde die Berufung auf das kulturelle Kapital Polens zum Leitmotiv der Intelligenz. Ausdruck fand diese Idee dann wiederum in den „ideologies of eastness“, wie Zarycki die polnischen Variationen des Orientalismus, den polnischen Kolonisierungsdiskurs über die Ostgebiete der
Vgl. Ilya Prizel: National Identity and Foreign Policy. Nationalism and Leadership in Poland, Russia and Ukraine, Cambridge 1998, S. 96. Vgl. Magdalena Micińska: A History of the Polish Intelligentsia. At the crossroads (1865 – 1918), Bd. 3, Frankfurt am Main 2014, S. 120. Gella, The Life and Death of the Old Polish Intelligentsia, S. 6. Vgl. Edward W. Said: Orientalism, New York 1978; Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford, Calif. 1994. Tomasz Zarycki: Ideologies of Eastness in Central and Eastern Europe, London 2014, S. 68.
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1 Einleitung
frühneuzeitlichen Adelsrepublik oder das Selbstviktimisierungs- und Rückständigkeitsparadigma bezüglich des Russischen Imperiums, benennt.⁴⁷ Wie bereits erwähnt, sollten der Fortschrittsgedanke und die Rolle der Bewahrerin des nationalen Erbes die prägendsten Eigenschaften der polnischen Intelligenz sein. Hans-Henning Hahn veranlasste die Doppelrolle der Intelligenz als gesellschaftlicher Motor und als „Kontinuitätsträger altpolnischer Traditionen“ in seiner Analyse der polnischen Mentalitätsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu der Aussage von der polnischen „Gesellschaft im Verteidigungszustand“.⁴⁸ Hahn beschreibt damit überspitzt formuliert das Verhältnis zwischen polnischer Gesellschaft und russischem Staat im geteilten Polen des 19. Jahrhunderts als eine Art Kulturkampf: Da die Gesellschaft der Träger der nationalen Kontinuität im staatslosen Polen war, ja sein mußte, nahm der Begriff ‚Gesellschaft‘ selbst eine eminent politische Bedeutung an. Diesem politischen Selbstverständnis von ‚Gesellschaft‘ entsprach ein ganz bestimmtes Verständnis von ‚Staat‘. ‚Staat‘ war für jeden Polen konkret erfahrbar als etwas Fremdes, als preußischdeutsch, österreichisch oder russisch. Im Staat und seinen Vertretern wurde das Fremde als eine feindliche Macht erfahren, die der Verwirklichung der eigenen sozialen und kulturellen Bedürfnisse entgegenstand. In Kultur und Tradition, in Sprache und Konfession erlebte man den Staat als entschieden nicht-polnisch, ja anti-polnisch.⁴⁹
Während Hahn hier vor allem die Grundlagen einer polnischen Mentalitätsgeschichte betont, die ihm zufolge in der Unvereinbarkeit von Staat und Gesellschaft im polnischen Nationaldiskurs mündete, ist für die hier vorzunehmende Untersuchung vor allem die von ihm skizzierte Wahrnehmung des russischen-imperialen Staats und seiner Verwaltung als Feind, als Fremdherrscher oder als Besatzer seitens der polnischen Intelligenz von Belang. Nicht zufällig sollten sich vor allem in den 1870er und 1880er Jahren im russischen Teilungsgebiet Polens und in den westlichen Provinzen des Russländischen Reichs die nachhaltigsten Aktivitäten der polnischen Intelligenz entfalten. Hier zeigte sich die Staatsgewalt am unnachgiebigsten, und die Geschichte der polnischen Intelligenz im Russischen Imperium ist denn auch von Erfahrungen massenhafter Deportation ins Innere Russlands, sowie von anti-polnischen Repressionen und Sanktionierungsmaßnahmen in den ehemals östlichen polnischen Provinzen geprägt.⁵⁰ Hier, und nicht in den Teilungsgebieten Preußens und Österreich-Ungarns, kulminierte der Streit in der polnischen Intelligenz um die angemessene Haltung zur Teilungsmacht
Vgl. ebd., S. 91, 115. Hahn, Die Gesellschaft im Verteidigungszustand, S. 23. Ebd., S. 29 f. Vgl. Micińska, A History of the Polish Intelligentsia, S. 71.
1.2 Zum Untersuchungsgegenstand
17
und etablierte sich der Begriff des nationalen Verrats. Außerdem waren die Kontakte und der Austausch zwischen den polnischen östlichen Gebieten und dem russischen Hinterland weitaus intensiver als in den anderen Teilungsgebieten. Das Spektrum der Haltungen zum Gang in die Emigration – sei es nach Westeuropa oder in die Reiche – reichte vom „service to the nation“, wie ihn der Philosoph Wincenty Lutosławski (1863 – 1954) für die Auslandsaktivitäten der polnischen Intelligenz nicht ganz uneigennützig in Anspruch nahm, bis hin zur Verurteilung jeglicher Reisen aufgrund ihrer vermeintlichen Entpolonisierungsgefahr, wie sie etwa die Schriftstellerin Eliza Orzeszkowa (1841– 1910) wiederholt postulierte.⁵¹ Die Formulierung vom „service to the nation“ verdeckt, dass die polnische Intelligenz insbesondere im russischen Teilungsgebiet bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebensweltlich und programmatisch vielfältige Verflechtungen mit der russischen Intelligenz aufwies und sich dabei stets mit der Frage der Bewahrung der eigenen nationalen Traditionen konfrontiert sah – Zarycki erinnert diesbezüglich an einen Aufsatz von Marian Zdziechowski (1861– 1938) von 1920, der sich der Russlandbegeisterung innerhalb der polnischen Jugend annahm und sie für ihre exzessive Russlandbewunderung kritisierte.⁵² Vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich der Literaturwissenschaftler als Slavophiler und als Bewunderer der russischen Literatur einen Namen gemacht.⁵³ Die zunehmende Industrialisierung im Russischen Imperium zur Wende zum 20. Jahrhundert und die Russische Revolution von 1905 markierten das Ende des Schulterschlusses zwischen den Milieus der polnischen Intelligenz, die ohnehin von unterschiedlichen Ansichten nationalistischen und (russisch inspirierten) sozialistischen Denkens geprägt waren. Die Revolution beförderte die Differenzen über die polnischen Zukunftsvisionen, die sich in einer immer größeren legalen und illegalen Öffentlichkeit Bahn brachen.⁵⁴ Teile der linken Intelligenz wanden sich gar von den immer gewaltsamere Formen annehmenden Arbeiterprotesten in den Städten ab und im Sinne einer Hinwendung zum Land dem Volk – dem lud – zu.⁵⁵
Vgl. ebd., S. 72 f. Ausführlich zur Entstehung des Begriffs und seiner Bedeutung im polnischen nationalen Diskurs: Magdalena Micińska: Zdrada córka nocy. Poje̜cie zdrady narodowej w świadomości Polaków w latach 1861– 1914, Warszawa 1998. Vgl. Zarycki, The Embarrassing Russian Connection, S. 136. Zarycki bezieht sich auf folgenden Essay Zdziechowskis: Marian Zdziechowski: Wpływy rosyjskie na duszę polską, Kraków 1920. Vgl. etwa Zbigniew Opacki: W krȩgu Polski, Rosji i Słowiańszczyzny. Myśl i działalność społeczno-polityczna Mariana Zdziechowskiego do 1914 roku, Gdańsk 1996. Vgl. Micińska, A History of the Polish Intelligentsia, S. 131 f. Vgl. ebd., S. 159.
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1 Einleitung
Die polnische Intelligenz im 20. Jahrhundert: Vom Motor der polnischen Modernität zum Fortschrittshindernis? Letztlich ist es vor allem der polnischen Staatsgründung und auch der Russischen Revolution von 1917 zu verdanken, dass die polnische Intelligenz mit dem Aufbau und der Verwaltung des polnischen Staats ein neues Handlungsfeld erhielt und die zunehmend eskalierenden Konflikte zwischen ihren politischen Lagern nun auf die politische Bühne des freien Polens transformiert werden konnten. Janusz Żarnowski beschreibt die Ausgangslage der Intelligenz im neuen polnischen Staat folgendermaßen: Die Entstehung des polnischen Staates eröffnete der polnischen Intelligenz Felder, die für sie in der Zeit der Teilungen unzugänglich waren. Es war auch und vor allem die Intelligenz, die den gesamten Staatsapparat besetzte, und ihre Abhängigkeit vom öffentlichen Sektor, insbesondere dem staatlichen, die in den Ländern des peripheren Kapitalismus immer bedeutsam ist, vertiefte sich noch mehr. […] Generell markierten die Jahre 1918 bis 1939 den Höhepunkt der Bedeutung der polnischen Intelligenz als Gestaltungsfaktor des Staatswesens, das sich in der Summe durch die Dominanz der Intelligenz auszeichnete.⁵⁶
Prizel benennt in seiner Untersuchung zur polnischen nationalen Identität die Dominanz der Intelligenz in Zwischenkriegspolen als Ursache für die Entfremdung breiter Bevölkerungsschichten sowie der nationalen Minderheiten von der jagiellonischen Staatsidee eines sozial, kulturell und ethnisch integrativen Polens.⁵⁷ Zarycki ergänzt, darüber hinaus sei es der Intelligenz nicht gelungen, die liberal geprägten polnischen Wirtschaftseliten der Teilungsimperien oder die nationaldemokratisch geprägten Eliten aus den polnisch geprägten Gebieten des ehemaligen Königreichs nach 1918 als Mitwirkende in das Staatswesen zu integrieren.⁵⁸ Aus dieser Dominanz der Intelligenz als Staatselite ergab sich eine Schieflage, die Zarycki in Anlehnung an die Kapitaltheorie von Pierre Bourdieu (1930 – 2002) als „intelligentsia doxa“ bezeichnet: als Hegemonie des kulturellen Kapitals in Polen vor den Bereichen des politischen und des wirtschaftlichen Kapitals.⁵⁹
Janusz Żarnowski: Inteligencja Polska 1944– 1989. Struktury i role społeczne: problemy dyskusyjne, in: Acta Oeconomica Pragensia 15, H. 15, 2007, S. 472– 480, hier S. 477. Vgl. Prizel, National Identity and Foreign Policy, S. 60. Vgl. Zarycki, The Embarrassing Russian Connection, S. 139. Zarycki, Ideologies of Eastness in Central and Eastern Europe, S. 64. Zaryckis Analyse bezieht sich vor allem auf die Vorrangstellung der Intelligenz im heutigen Polen, jedoch unter Berücksichtigung des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts.
1.2 Zum Untersuchungsgegenstand
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Es ist ebenjene Hegemonie der Intelligenz, die die Wahrnehmung des Russischen Imperiums und der entstehenden Sowjetunion als Feind Polens in der polnischen Öffentlichkeit durchsetzte und manifestierte. Das anti-imperiale Narrativ der Intelligenz der Teilungszeit wurde nach 1918 zu einem nationalen master narrative emporgehoben, das letztlich dazu diente, den Mythos von der polnischen Opferschaft und dem polnischen Leiden unter der Herrschaft der Teilungsmächte zu konkretisieren. Der Bezug auf das Russische Imperium erfüllte dabei eine Schlüsselfunktion. Die nationale Opfererzählung kulminierte ganz besonders im Blick auf den Osten und schrieb dem Russischen Imperium die Rolle einer rückständigen Anti-Moderne und eines Anti-Europas zu. ⁶⁰ Diese scheint Zarycki zufolge in Polen bis heute ungebrochen zu sein: The nineteenth century appears as a period of moral victories over Russia, albeit entailing lost wars and crushed uprisings. Cultural and spiritual achievements are listed alongside suffering at Russian hands. This dominant narrative reflects the strong social position held by the Polish intelligentsia which managed to convert its idealistic moral narrative into the mainstream identity discourse.⁶¹
Die zementierte Dominanz der Intelligenz in der Zwischenkriegszeit und die dadurch gelungene Transformation des Verteidigungsnarrativs der Intelligenz in eine nationale Meistererzählung nach 1918 führten letztlich auch dazu, dass solche Haltungen der Intelligenz aus der Teilungszeit, wie die von Hahn festgestellte Priorisierung der Gesellschaft vor dem Staat auch in der Zwischenkriegszeit aktuell und als Argument im politischen Diskurs wirkmächtig blieben: Trotz der starken emotionalen Identifikation mit dem wiederhergestellten eigenen Staatswesen wurde die Tradition politischer Gesellschaftlichkeit weitergetragen. Das galt für das weiter sich entwickelnde Genossenschaftswesen, an dem die Bauern- und die Arbeiterbewegung starken Anteil hatten, ebenso wie für das Bildungswesen, wo der Geist des ‚społecznikowstwo‘ [dt. etwa gesellschaftliche Arbeit, M.-B.] vor allem in der ‚Freien Polnischen Hochschule‘ sowie in den Arbeiteruniversitäten fortlebte. Charakteristisch ist, daß die politische Opposition gegen das autoritäre Regime Piłsudskis sich auf die Gesellschaft berief.⁶²
Hahn lässt dabei außer Acht, dass mit der Unterordnung der gesellschaftlichen Konflikte unter das Primat des polnischen Freiheitsgedankens aus der Zeit der Teilungen ein weiteres prägendes Merkmal der Intelligenz in der Zwischen-
Vgl. etwa Hadler, Mesenhöller, Repräsentationen imperialer Erfahrung in Ostmitteleuropa. Zum polnischen Blick auf den Osten, insbesondere in der Zwischenkriegszeit vgl. Kap. 2.3. Zarycki, The Embarrassing Russian Connection, S. 142 f. Hahn, Die Gesellschaft im Verteidigungszustand, S. 39.
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1 Einleitung
kriegszeit nachwirkte. Die polnische Gesellschaft hatte aus dem Zeitalter der imperialen Fremdherrschaft Strukturen ererbt, die der Bauern- und Arbeiterschaft in Polen nicht ermöglichten, den Herrschaftsstatus des polnischen Adels und der Intelligenz infrage zu stellen. Zarycki schreibt dazu: [B]oth peasant and proletarian revolutions did not appear in classic forms in countries like Poland, since they were also intertwined with the nationally defined political conflicts. Emancipation of the peasants was progressing gradually as a result of the competition between the national movements, led by the nobility and the intelligentsia, and the empires controlling the region until the First World War.⁶³
Die vom polnischen Adel ererbte nationale und gesellschaftliche Vorrangstellung der Intelligenz sollte auch im 20. Jahrhundert nicht durch Revolutionen infrage gestellt werden. Erst die gewalthaften Besatzungserfahrungen des Zweiten Weltkriegs durch die nationalsozialistischen und sowjetischen Herrschaftsregime und in den Nachkriegsjahren durch die Nationalkommunisten forcierten den Wandel der polnischen Gesellschaft hin zur Moderne. Die Modernisierungsvisionen der jeweiligen Regime richteten sich ironischerweise zuallererst gegen diejenigen, die als Modernisierer der polnischen Gesellschaft angetreten waren.⁶⁴ Im Zweiten Weltkrieg fiel die polnische Intelligenz sowohl der rassisch motivierten Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten als auch der Sowjetisierung im Osten Polens zum Opfer. In beiden Besatzungszonen, im Generalgouvernement und in Ostpolen kam es zu massenhaften Verhaftungen, Erschießungen und Deportationen Angehöriger der Intelligenz in deutsche Konzentrationslager oder in sowjetische Zwangsarbeitslager.⁶⁵ Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete keineswegs das Ende der Verfolgung der polnischen Intelligenz. Die Deportationen und Zwangsumsiedlungen der polnischen Bevölkerung in den Gebieten des heutigen Litauens, der heutigen Westukraine und des westlichen Belarus trafen auch und vor allem die polnische Intelligenz und richteten sich nicht zuletzt gegen die jagiellonische Staatsvision der Anhänger des Staatsgründers Józef Piłsudski (1867– 1935), vor allem aber auch gegen die Idee der polnischen Dominanz im Osten, die vom Lager der Nationaldemokraten vertreten worden war.⁶⁶ In Polen selbst, dessen Bevölkerung durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs sozial fragmentiert und regional entwurzelt war, griff das
Zarycki, Ideologies of Eastness in Central and Eastern Europe, S. 61. Vgl. Timothy Snyder: Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, London 2011, S. 156. Vgl.Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 191– 198. Vgl. Timothy Snyder: The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569 – 1999, New Haven 2003, S. 89; Prizel, National Identity and Foreign Policy, S. 66 f.
1.2 Zum Untersuchungsgegenstand
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kommunistische Regime mit der Schaffung neuer Grenzen in Ost und West nun auch das ideelle Fundament der Intelligenz an. Der fortschreitenden Industrialisierung Polens in den fünfziger Jahren folgte eine Politik der Neugestaltung und der Unterordnung der Intelligenz unter das Primat der sozialistischen Idee und unter den Führungsanspruch der Staatspartei.⁶⁷ In der Forschung zur polnischen Intelligenz wird oft übersehen, dass die Veränderungen in der Zusammensetzung der polnischen Bevölkerungsstruktur und der radikale Wandel in der polnischen Gesellschaft nach 1945 auch unter den Repräsentantinnen und Repräsentanten der polnischen Intelligenz durchaus Befürworter fand.⁶⁸ So glorifizierte etwa Aleksander Gella 1971 noch die old Polish intelligentsia als Bewahrerin der polnischen Nation, griff den Mythos von der kämpfenden Intelligenz im Zweiten Weltkrieg auf und verglich deren Tätigkeit mit dem Soldatentum: The old intelligentsia considered one of the highest values to be the virtue of fidelity. This was not only a remnant of the knight’s heritage but the result of a hundred years of conspiracy. Only under conditions of absolute fidelity and veracity could conspirators prepare resistance. However, these virtues are also criticized as being conservative, since they are needed to support the status quo. It is true that they are first of all the virtues of soldiers, and only secondarily and partially those of politicians.⁶⁹
Wenngleich Gellas Lob der alten Intelligenz letztlich auch als Beitrag im globalpolnischen Wettbewerb um die Deutungshoheit über die Intelligenz zu lesen ist, verdeutlicht er die idealisierte Haltung im Exil zur polnischen Intelligenz als Lager des anti-kommunistischen Widerstands. Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs erneuerten und aktualisierten das Bild von der polnischen Intelligenz als Verteidigerin der Nation ebenso wie der Angriff des kommunistischen Herrschaftsregimes auf sie im Stalinismus, die Niederschlagung der studentischen Protestbewegung 1968 mit der in den folgenden Jahren entstehenden oppositionellen Bewegung und die massenhafte Vertreibung jüdischstämmiger Polinnen und Polen als Zionisten aus der Volksrepublik Polen 1968. Große Teile der polnischen Intelligenz fanden sich nach 1945 und nach 1968 im Exil wieder.⁷⁰ Der mit dem Exil einhergehende Bedeutungsverlust, frustrierende Erfahrungen in den jeweiligen Ländern, vor allem aber die Rolle des Wes-
Zum Ausdruck brachte dies Józef Chałasiński bereits 1946 in seiner Arbeit: Józef Chałasiński: Społeczna genealogia inteligencji polskiej, Warszawa 1946. Żarnowski weist darauf hin, dass die Intelligenz in der frühen Nachkriegszeit bis etwa 1948 durchaus am Wiederaufbau Polens beteiligt wurde, vgl. Żarnowski, Inteligencja Polska 1944– 1989, S. 474. Gella, The Life and Death of the Old Polish Intelligentsia, S. 19. Żarnowski, Inteligencja Polska 1944– 1989, S. 475.
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1 Einleitung
tens als Kriegsalliierter der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg führten zum endgültigen Bruch eines Teils der Intelligenz mit ihrem bisherigen westzentrierten Denken. Insbesondere für das Milieu der polnischen exilierten Intelligenz in Paris um das Journal Kultura symbolisierte Janusz Korek zufolge Jalta das Ende der Solidarität des Westens mit Polen und führte dazu, das eigene Selbstverständnis zu überdenken: Yalta was for them [für die Akteure der Kultura, M.-B.] one of a series of facts reflecting a similar paradigm. The observed processes were treated by the editors and writers of the monthly as a logical consequence of a centuries-long crumbling away of the models of European culture. These processes deepened drastically during World War II, but the war was not their cause and they did not disappear after the end of the war. The corrosion of values and norms, intensifying at the beginning of the 20th century, manifested itself in the loss of their power to influence the behaviour of individuals, social groups and nations.⁷¹
In Polen selbst kam es nach 1945 ebenfalls zum Überdenken der Rolle der Intelligenz für die polnische Gesellschaft, und man sprach hier zunehmend von der „alten“ und der „neuen“ Intelligenz. Mit diesen Kategorien postulierte man das Ende der polnischen Intelligenz als Vorkämpferin der polnischen Nation. Ihr stellte man die sich aus der Arbeiter- und Bauernschaft rekrutierende neue Intelligenz gegenüber, die sich dem polnischen kommunistischen Staat treu ergeben zeigen sollte und als Repräsentantin eines ethnisch homogenen Polens in den Grenzen von 1945 fungierte.⁷² Solch eine Definition ließ interessanterweise durchaus Raum für ein Engagement linker und liberal bis konservativer Anhänger der Zwischenkriegsintelligenz in den neuen Verhältnissen nach dem Krieg zu. Während sich Gella 1971 zum Untergang der alten Intelligenz äußerte, deutete Józef Chałasiński (1904 – 1979) im gleichen Jahr die Rolle der polnischen Intelligenz rückblickend um, indem er ihren Beitrag zur Aufhebung der Klassenunterschiede im kommunistischen Polen mit der Definition als „Schicht der geistigen Arbeiter“ betonte: [I]n gesellschaftlich-kultureller Hinsicht gehört die Verbindung der beiden Sphären der modernen Zivilisation, nämlich der Arbeit und der Bildung, d. h., der geistigen Kultur, zum Wesen des Gestaltungsprozesses der modernen Nation dazu. Im Prozess der industriellen Revolution fand eine Trennung der alten Verbindung von geistiger Kultur und Aristokratie statt und an deren Stelle trat die neue Verbindung von geistiger Kultur und Arbeit. Aus
Janusz Korek: In the Face of the West and the East – The Formation of the Identity of the Polish Intelligentsia after the End of World War II, in: From Sovietology to Postcoloniality. Poland and Ukraine from a Postcolonial Perspective, hg. von dems., Huddinge 2007, S. 229 – 269, hier S. 239. Żarnowski, Inteligencja Polska 1944– 1989, S. 473.
1.2 Zum Untersuchungsgegenstand
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diesem Prozess erwuchs eine neue soziale Schicht – die Intelligenz, eine Schicht von doppelter Charakteristik: die Schicht der geistigen Arbeiter und zugleich der Vorposten der neuen Gesellschaft, in der die geistige Kultur, nun getrennt von der Aristokratie, sich mit den Schichten der physischen Arbeit, mit der Klasse der Bauern und Arbeiter vereinen würde.⁷³
Chałasińskis Deutung entsprang einem für diese Untersuchung bedeutsamen Kontext. Das Zitat ist einem Aufsatz entnommen, der in der ersten Ausgabe der Vierteljahresschrift Pamiętnikarstwo Polskie (Polnische Autobiographik) erschien. Das Erscheinen der Zeitschrift war Ausdruck des Interesses der polnischen sozialund geisteswissenschaftlichen Forschung sowie der politischen Führung, die gesellschaftsbildenden Prozesse in Volkspolen zu veranschaulichen und letztlich auch einer neuen Identitätspolitik Vorschub zu leisten: „Wir streben danach, den Gestaltungsprozess der polnischen sozialistischen Nation so darzustellen, wie ihn die faktischen Schöpfer der Geschichte – die Leute der Arbeit – in ihren eigenen biographischen Schriften sehen.“⁷⁴ Paul Vickers merkt an, dass die Veröffentlichungsaktivitäten um die Redaktion des Journals, das Centrum Pamiętnikarstwa Polskiego (CPP, Zentrum für polnische Autobiographik) den Höhepunkt eines seit den 1960er Jahren andauernden, an die möglichst gebildete Bauern- und Arbeiterschaft gerichteten memoir boom darstellten.⁷⁵ Als wohl wichtigster Vertreter des CPP folgte Józef Chałasiński mit diesen Aktivitäten letztlich einer bereits in der Zwischenkriegszeit angeregten und realisierten Idee von autobiographischen Schreibwettbewerben um Ludwik Krzywicki (1859 – 1941) und Florian Znaniecki (1882– 1958), die sich an Vertreterinnen und Vertreter der Arbeiter- und Bauernschaft im neuen polnischen Staat und an andere bis dahin weniger wahrgenommene Gruppen wie Frauen, Arbeitslose und Obdachlose gerichtet und sich von ihnen letztlich auch erhofft hatten, die Trennung zwischen einer kleinen städtischen und gebildeten Elite und der nach wie vor ländlich und vor-industriell geprägten Bevölkerung Polens zu überwinden.⁷⁶ Der Fortschrittsgedanke der polnischen Intelligenz wurde so im kommunistischen Polen unter Bezug auf Krzywickis und Znanieckis Ideen von Chałasiński erneuert und aktualisiert, was den Verlust der gesellschaftlichen Vorrangstellung der Intelligenz zur Folge hatte.
Józef Chałasiński: Pamiętnikarstwo XIX-XX w. jako świadectwo przeobrażeń narodu polskiego, in: Pamiętnikarstwo Polskie 1, H. 1, 1971, S. 7– 20, hier S. 10. O. A.: Od redakcji, in: Pamiętnikarstwo Polskie 1, H. 1, 1971, S. 3 – 6, hier S. 4. Vgl. Paul Vickers: Peasants, Professors, Publishers and Censorship: Memoirs of Rural Inhabitants of Poland’s Recovered Territories (1945-c.1970). PhD thesis (2014), in: Enlighten: Research Online (University of Glasgow), , 15.11. 2017, S. 14. Vgl. Katherine Lebow: The Conscience of the Skin: Interwar Polish Autobiography and Social Rights, in: Humanity 3, H. 3, 2012, S. 297– 319, hier S. 7.
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1 Einleitung
Aus diesem Befund ergibt sich eine interessante Leerstelle für die autobiographisch artikulierte Erinnerung an die ostpolnischen, nunmehr zu den westlichen Sowjetrepubliken gehörenden Gebiete aus der Zwischenkriegszeit in der Volksrepublik.⁷⁷ Wie die in der Volksrepublik Polen entstandenen autobiographischen Schriften der Intelligenz mit diesen staatlichen Vorgaben umgingen und welchen Einfluss die staatliche Zensur auf die autobiographische Erzählung von der russisch-imperialen Erfahrung hatte, soll in dieser Studie ebenso untersucht werden wie die Frage nach den Interdependenzen autobiographischen Schreibens in der Volksrepublik und im polnischen Exil. Aus der Skizze zur polnischen Intelligenz und ihrer Autobiographik lassen sich folgende Schlüsse für die vorzunehmende Untersuchung ziehen. Erstens möchte die Untersuchung die Selbstwahrnehmung der Intelligenz in den Fokus nehmen, indem sie autobiographische Schriften von Angehörigen der Intelligenz berücksichtigt. Jerzy Jedlicki und andere haben wiederholt auf das Selbstverständnis aufmerksam gemacht, dass die inteligencja als Träger eines nationalen Gedächtnisses fungierte: [T]he conviction [seitens der Intelligenz, M.-B.] will always remain that ’the intelligentsia in the Polish sense’ is necessarily identifiable with the guards of national memory, the standard-bearers of patriotic and social ideas – revolutionary or conservative ones; authors and artists – not just the big-timers, but the ones whose works mobilised the national forces in the time of bondage.⁷⁸
Im Umkehrschluss hieße dies, autobiographische Repräsentationen der Intelligenz ebenfalls als Quellen ernst zu nehmen und zu hinterfragen. Bisher aber behandelte die Forschung die – meist autobiographischen – Selbstentwürfe und Selbstzeugnisse der Intelligenz als Steinbrüche von Fakten, ohne deren Entstehungskontext und deren interpretatorischen Impetus kritisch zu hinterfragen.⁷⁹ Autobiographien und Memoiren von Angehörigen der Intelligenz dienten den Schreibenden aber vor allem als Möglichkeit, eigene Erfahrungen und Vorstel-
Zur Diskussion über die Bedeutung der kresy-Erinnerung als Tabu im Sinne des Totalitarismus-Paradigmas oder als symbolischer Komplex in der Zeit der Volksrepublik vgl. Vickers, Peasants, Professors, Publishers and Censorship, S. 63 f. Jedlicki, Foreword, S. 9. Jüngstes Beispiel ist die dreibändige Studie von Jedlicki, Maciej Janowski und Magdalena Micińska, die sich wiederholt auf autobiographische Schriften der Intelligenz beziehen, und dabei nur selten auf die Entstehungskontexte vieler dieser Quellen eingehen: Maciej Janowski: A History of the Polish Intelligentsia. Birth of the Intelligentsia (1750 – 1831), Bd. 1, Frankfurt am Main 2014; Jerzy Jedlicki: A History of the Polish Intelligentsia. The Vicious Circle (1832– 1864), Bd. 2, Frankfurt am Main 2014; Micińska, A History of the Polish Intelligentsia.
1.2 Zum Untersuchungsgegenstand
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lungen im Streit um die gesellschaftliche Wahrnehmung und um die Selbstwahrnehmung der Intelligenz geltend zu machen, mit Verweis auf die eigene Erfahrung die Rolle der Intelligenz als Motor der polnischen Modernität zu unterstreichen und diese Deutung letztlich im polnischen nationalen Diskurs zu verankern. Autobiographische Schriften von Angehörigen der polnischen Intelligenz müssen demnach als Einschreibungsversuche in ein, wie Jedlicki im Zitat schreibt, nationales Gedächtnis gelesen werden. Zu fragen wäre hier, wie sich das Selbstverständnis der polnischen Intelligenz in den Lebenserzählungen ihrer Repräsentantinnen und Repräsentanten abbildete. Wie wirkte sich etwa das antiimperiale, gegen die Anwesenheit der russisch-imperialen Administration in Polen gerichtete defensive Selbstverständnis der polnischen Intelligenz vor dem Hintergrund der polnischen Staatsbildung auf die eigene Lebenserzählung aus? Und welche Spuren vom Wahrnehmungswandel der Intelligenz in Polen nach 1945 sowie von der Krise ihres Selbstverständnisses infolge ihres Stellungsverlustes in den veränderten Verhältnissen nach 1945 in Polen und im Westen lassen sich in den einschlägigen Memoiren ausfindig machen? Neben der Selbstwahrnehmung bildet die Erfahrung russischer Imperialität, also die ideellen und personellen Verflechtungen zwischen russischer und polnischer Intelligenz sowie die Erfahrung von russisch-imperialer Fremdbestimmung, von Repressionen und Sanktionen einen weiteren wichtigen Komplex. Denn ausgerechnet in den Erfahrungsräumen des Russischen Imperiums und vor allem unter den Bedingungen russisch-imperialer Herrschaft formten sich die Ideen der polnischen Intelligenz und zuvorderst Visionen eines nationalen Projekts seitens der polnischen Intelligenz, die nach dem Zerfall des Russländischen Reiches Gültigkeit erlangen sollten. Eine Untersuchung autobiographischer Schriften der polnischen Intelligenz kann aufzeigen, wie weit die vielschichtigen und unterschiedlichen Erfahrungen russischer Imperialität nach 1918 Eingang in die autobiographischen Erzählungen Angehöriger der polnischen Intelligenz fanden und in welchem Verhältnis diese Erfahrungen zu den Erwartungen und Vorstellungen der polnischen Intelligenz und nicht zuletzt auch zum imperialen Komplex der polnischen Intelligenz standen. Welche Bilder Russlands und des Osten wurden in den jeweiligen Autobiographien Angehöriger der polnischen Intelligenz entworfen? Inwiefern versuchten die Schreibenden, eigene biographische Erfahrungen und Vorstellungen Russlands und des Ostens in das nationale master narrative der polnischen Intelligenz und somit der polnischen Nation zu integrieren? Wo lagen im Streit um das nationale master narrative nach der polnischen Staatsgründung 1918 die Grenzen einer solchen Deutung? Das gleiche gilt für das Modernitäts- und Europäizitätsparadigma der polnischen Intelligenz. Wo finden sich in den autobiographischen Schriften und den darin befindlichen Repräsentationen russisch-imperialer Erfahrung Spuren des Fortschrittsgedan-
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1 Einleitung
kens? Welche Rolle weisen die Schriften diesbezüglich dem Russischen Imperium und dem Osten zu? Die Bezüge der beiden großen Fragekomplexe sollen schließlich zueinander in Beziehung gestellt und gemeinsam betrachtet werden. Inwiefern ermöglicht eine Betrachtung der intelligenten Autobiographik bezüglich der in ihr zum Ausdruck kommenden politischen Haltungen und Ideen Einblicke in ein „‚ost-westliche[s]‘ polnische[s] Bewusstsein“, wie es Janion am Beispiel der kresy ausfindig zu machen meint?
1.3 Zum Stand der Forschung über Russland und den polnischen Osten An dieser Stelle muss zunächst konstatiert werden, dass es kaum möglich ist, die Fülle der Forschungen zu Russland, insbesondere zum polnisch-russischen Verhältnis in der Teilungszeit nach 1795 bis zum Zerfall des Russländischen Reiches 1917 und zum sowjetisch-polnischen Verhältnis im 20. Jahrhundert erschöpfend zu betrachten. Nicht zuletzt aus diesem Grunde beschränkt sich der folgende Abschnitt darauf, den Stand der Forschungen über die Rolle Russlands in der polnischen Ideengeschichte seit 1989 in verschiedenen Disziplinen wie der Soziologie, der Literaturwissenschaft und der Historiographie, sowie die dort entwickelten oder aufgegriffenen Ansätze polnischer Russlandforschung und ihre Einordnung im internationalen Forschungsdiskurs der vergangenen 25 Jahre zu betrachten und zu fragen, wo sich die vorliegende Untersuchung in den Forschungsstand einordnen lässt.⁸⁰ Seit dem Zerfall der Sowjetunion und der anschließenden Wiederentdeckung des Nationalstaats als Leitmotiv in der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation der ehemaligen kommunistischen Staaten in Ostmitteleuropa haben öffentliche und wissenschaftliche Debatten in den jeweiligen Ländern um die geeignete Erinnerung an die Sowjetunion, an die kommunistischen Herrschaftssysteme in Ostmitteleuropa Hochkonjunktur.⁸¹ Mit diesen Debatten verbunden ist die Frage nach der Zugehörigkeit ihrer ehemaligen westlich gelegenen Satellitenstaaten zu Europa. In Polen selbst wird diese Frage auch in der Debatte um die Gründungsmythen und Traditionen des heutigen polnischen
Zur Geschichte der polnisch-russischen Beziehungen und ihrer Verarbeitung in der polnischen Ideengeschichte im 19. und 20. Jahrhundert vgl. ausführlich Kap. 2 dieser Arbeit. Eine erste Welle nationaler Interpretationen imperialer Herrschaft fand bereits nach dem Zusammenbruch der europäischen Imperien in den daraus hervorgegangenen Nationalstaaten Ostmitteleuropas infolge des Ersten Weltkriegs statt. Vgl. dazu etwa Hadler, Mesenhöller, Repräsentationen imperialer Erfahrung in Ostmitteleuropa.
1.3 Zum Stand der Forschung über Russland und den polnischen Osten
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Staats verhandelt.⁸² In der Entwicklung vor und nach 1989 finden sich erstaunliche Parallelen zu den Ereignissen rund um die Gründung des polnischen Nationalstaats 1918 und den vorangegangenen Zerfall des Russischen Zarenreichs. Tomasz Zarycki merkt an, dass die dominierende Lesart von 1918 und 1989 als national glorifizierte Ereignisse der Befreiung von Besatzungsregimen sowohl im öffentlichen als auch im akademischen Diskurs schwerwiegende Folgen für die Darstellung der polnisch-russischen wie auch der polnisch-sowjetischen Beziehungen hat: [I]t is difficult to question the overwhelmingly positive image of these two turning points in contemporary Polish history. Of course, such an alternative view of Polish history would also contradict the dominant negative image of Russia and Soviet Union as negative points of reference for modern Polish identity.⁸³
Zarycki macht in seiner Studie darauf aufmerksam, dass sich Deutungen polnischer Intellektueller von der Unabhängigkeit Polens im Jahr 1918 und dem Ende des Kommunismus in Polen 1989 meist orientalisierender, anti-russischer und pro-westlicher Argumente bedienen, mithilfe derer die Zugehörigkeit Polens zur westlichen Welt untermauert werden soll.Wenngleich Edward Saids Pionierstudie Orientalism bereits 1991 ins Polnische übersetzt wurde, machte Clare Cavanagh erst zwölf Jahre später auf die fehlende Integration der sogenannten „zweiten Welt“ in post-koloniale Ansätze aufmerksam und bot mit ihrer Arbeit eine Interpretation der Geschichte Polens als als kolonisiertes Land an.⁸⁴ In Polen selbst wird die post-koloniale Perspektive selektiv wahrgenommen.⁸⁵ Hier dienen die Post-colonial Studies vor allem national-konservativ gesinnten Historikerinnen und Historikern zur Hervorhebung des Opferstatus Polens angesichts der russischen und sowjetischen Imperialismen des 19. und 20. Jahr Vgl. etwa Wolfgang Schmale: Wie europäisch ist Ostmitteleuropa? in: Themenportal Europäische Geschichte, , 15.11. 2017. Einen eher nachdenklichen Beitrag zur Europawahrnehmung in Polen liefert Marcin Król: Nicht in der europäischen Norm, in: Polen denkt Europa. Politische Texte aus zwei Jahrhunderten, hg. von Peter Oliver Loew, Frankfurt am Main 2004, S. 282– 297. Zarycki, Ideologies of Eastness in Central and Eastern Europe, S. 254. Vgl. Edward W. Said: Orientalizm, Warszawa 1991; Clare Cavanagh: Postkolonialna Polska. Biała plama na mapie współczesnej teorii. übers. v. Tomasz Kunz, in: Teksty Drugie 23, H. H. 2– 3, 2003, hier S. 61. Einen Einstieg in die Debatte um Manifestationen und Hinterlassenschaften kolonialer Herrschaft sowohl in den Kolonien als auch in den kolonisierenden Gesellschaften und über die Entdeckung dieser Themen in der geisteswissenschaftlichen Forschung bietet etwa Ulrike Lindner: Neuere Kolonialgeschichte und Postcolonial Studies, in: Docupedia-Zeitgeschichte, , 19.11. 2017.
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hunderts. Bekanntheit erlangte Ewa Thompson im Jahre 2000 mit ihrer auf Englisch und Polnisch erschienenen Studie zu kolonialen Denkmustern in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, in der sie sich explizit auf post-koloniale Ansätze der internationalen Forschung berief.⁸⁶ Dabei beschränkte sie sich darauf, russisches Kolonialdenken bezüglich seiner westlichen Territorien zu entlarven und entledigte die post-koloniale Theorie ihrer west-kritischen Komponente. Das so reduzierte Konzept der post-kolonialen Theorie erfreut sich seit Thompsons Arbeit in akademischen und politischen Kreisen Polens häufiger Anwendung. Dies gilt vor allem in den Feldern, die das historische, aber auch das aktuelle politische polnisch-russische Verhältnis betreffen.⁸⁷ Damit sind etwa die Debatten um den Umgang mit der Rolle Polens in den kresy, den Ostgebieten des frühneuzeitlichen Polen-Litauens, sowie mit den gegen die russische Obrigkeit gerichteten Aufständen während der Teilungszeit 1830 und 1863 gemeint.⁸⁸ Zarycki weist in seiner Untersuchung zur Rezeption post-kolonialer Theorien in Polen nach, dass auch liberal orientierte Intellektuelle von der klassischen Komponente post-kolonialer Theorien, der Kritik an übergeordneten, meist westlich dominierten Hierarchien und Machtverhältnissen sowie daraus resultierenden Orientalismen und West- oder Euro-Zentrismen kaum Gebrauch machen.⁸⁹ Dieser Eindruck lässt sich durchaus bestätigen, wenn man Beispiele der polnischen Russlandforschung heranzieht, die sich für eine alternative Sicht auf die russisch-polnischen Beziehungen aussprechen. So widmen sich unter anderem auch die Studien von Andrzej Chwalba und Magdalena Micińska dem polnisch-russischen Antagonismus. Beide repräsentieren eine nationale Mythen hinterfragenden Perspektive auf die polnische Geschichte. Micińska legt dabei Mechanismen einer Dialektik von Patriotismus und Verrat innerhalb der polnischen Intelligenz offen und verdeutlicht, dass der Patriotismusdiskurs innerhalb der polnischen Intelligenz spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eng an die jeweilige Haltung zum Russischen Imperium geknüpft war.⁹⁰ Chwalba
Vgl. Ewa M. Thompson: Imperial Knowledge. Russian Literature and Colonialism, Westport, Conn. 2000; Ewa Thompson: Trubadurzy imperium. Literatura rosyjska i kolonializm, Kraków 2000. Vgl. Zarycki, Ideologies of Eastness in Central and Eastern Europe, S. 100. Vgl. dazu ausführlicher Andrzej Nowak: From Empire Builder to Empire Breaker or There and Back again: History and Memory of Poland’s Role in East European Politics, in: Ab Imperio, H. 1, 2004, S. 255 – 289; ders.: Poland: Between Imperial Temptation and and Anti-Imperial Function in Eastern European Politics, in: Imperiological studies. A Polish Perspective, hg. von dems., Kraków 2011, S. 135– 165; Aleksander Fiut: Polonizacja? Kolonizacja?, in: Teksty Drugie 23, H. 6, 2003, S. 150 – 156. Vgl. Zarycki, Ideologies of Eastness in Central and Eastern Europe, S. 93. Vgl. Micińska, Zdrada córka nocy.
1.3 Zum Stand der Forschung über Russland und den polnischen Osten
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wiederum macht in seiner Studie zu polnischen Beamten im Dienst russischer Obrigkeit im Königreich Polen auf die vielfältigen Motive der Beamtentätigkeit unter russischer Herrschaft aufmerksam, verschiebt die Perspektive auf die polnisch-russische Geschichte weg von der dominierenden Sicht der polnischen Intelligenz und bemüht sich so um die Entschärfung der polnisch-russischen Thematik ihrer politischen Sprengkraftkraft.⁹¹ In beiden Fällen handelt es sich jedoch um Beispiele einer korrektiven Historiographie, die übergeordnete Fragen nach der Hierarchisierung russisch-polnischer Beziehungen und dem polnischrussischen Machtverhältnis weitestgehend außen vorlässt. Keine der beiden Arbeiten nimmt auf die Ideen der Post-colonial Studies Bezug. Es gibt jedoch auch kritische Stimmen polnischer Intellektueller im Streit um post-koloniale Theorien und deren Instrumentalisierung durch national-konservative Historikerinnen und Historiker. So sind besonders in der Debatte um die Rolle der kresy in der polnischen Geschichte Tendenzen einer post-kolonial inspirierten kritischen Geschichtsschreibung erkennbar, nicht zuletzt ob des Streits um die Bedeutung der kresy als Vormauer des Westens oder als „offener grenzübergreifender Raum“ multikultureller Annäherung und interkulturellen Austauschs.⁹² Bogusław Bakuła beschreibt die ideologische Natur polnischer kresySymbolik mit folgenden Worten: Everyone who raises a wistful voice on the matter of the ‘Borderlands’ is a real Pole. Others are simply, well, others. Speaking out on behalf of the ‘Borderlands’ situates the speaker at the centre of the Polish national discourse and signifies at the same time the confirmation of an identity based almost on some magic spell. The ‘Polish Borderlands’ are, therefore, a definition of identity that excludes Others.⁹³
Janusz Korek etwa bezeichnet die Beschreibung der kresy als Trennlinie zwischen Ost und West als überideologisiert:
Vgl. Andrzej Chwalba: Polacy w służbie Moskali, Warszawa 1999. Janion, Niesamowita Słowiańszczyzna, S. 167. Maria Janion schreibt vom „offene[n] grenzübergreifende[n] Raum Polens und der Ukraine [luźne pogranicze Polski i Ukrainy]“, wobei der Begriff des pogranicze im polnischen Diskurs vor allem von Autorinnen und Autoren liberaler Provenienz in deutlicher Abgrenzung zum Begriff der kresy verwendet wird, vgl. Zarycki, Ideologies of Eastness in Central and Eastern Europe, S. 165 f. Bogusław Bakuła: Colonial and Postcolonial Aspects of Polish Discourse on the Eastern „Borderlands“, in: From Sovietology to Postcoloniality. Poland and Ukraine from a Postcolonial Perspective, hg. von Janusz Korek, Huddinge 2007, S. 41– 59, hier 45 f.
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1 Einleitung
The opposition ‘East’ vs. ‘West’ then, irrespectible of the geographical area to which it is applied, is an abstract and heavily over-ideologised category and as such it is not useful in scientific analyses and research.⁹⁴
Bakułas und Koreks Interpretationen – wenngleich durch die Post-colonial Studies inspiriert – beschränken sich dabei zunächst darauf, Dichotomien im kresy-Diskurs zu benennen.⁹⁵ Die Bemühungen seitens der konservativ orientierten Historiographie hinsichtlich der post-kolonialen Theorien, die polnische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts durch ein polnisch-russisches Prisma mit deutlichen orientalisierenden Konnotationen zu skizzieren, sind kaum als neuartig zu bezeichnen. Vielmehr scheint es sich bei solchen Versuchen um instrumentelle Zugriffe zu handeln, die sich gebräuchlichen Interpretationen polnischer Geschichte hinzufügen lassen. Dieses und andere Forschungsparadigmen werden dabei um dezidiert polnischnationale Perspektiven ergänzt – so zu beobachten auch am Beispiel der New Imperial History. Dabei handelt es sich um eine Forschungsperspektive auf die Globalund Verflechtungsgeschichte imperialer Herrschaft, die sich nicht zuletzt kritisch mit den Post-colonial Studies auseinandersetzt und die Rangfolge und Ungleichzeitigkeit von Imperialem und Nationalem, sowie des Imperialen als evolutionärer Vorbedingung des Nationalen grundsätzlich infrage stellt.⁹⁶ Als bekanntester polnischer Vertreter und gleichzeitig als dezidierter Kritiker der New Imperial History gilt der konservative Historiker Andrzej Nowak, der 2011 mit Imperiological Studies. A Polish Perspective eine Anthologie bereits veröffentlichter Beiträge zur New Imperial History der vorangegangenen Jahre neu auflegte. Nowak hebt in seinen Beiträgen vor allem die polnische Erfahrung vom russischen und späteren sowjetischen Imperium als Besatzungs- und Unterdrückungsmacht hervor und setzt sich gegenüber der westlichen Historiographie ab, indem er auf die polnische Erfahrung von der „memorial victimhood“, welche es zu berücksichtigen gelte, referiert.⁹⁷ Nowak weist
Janusz Korek: Central and Eastern Europe from a Postcolonial Perspective, in: From Sovietology to Postcoloniality. Poland and Ukraine from a Postcolonial Perspective, hg. von dems., Huddinge 2007, S. 5 – 20, hier S. 16. Zu den bekanntesten Kritikern des kresy-Mythos in Polen selbst gehört Daniel Beauvois, vgl. u. a. Daniel Beauvois: Trójkat̜ ukraiński. Szlachta, carat i lud na Wołyniu, Podolu i Kijowszczyźnie, 1793 – 1914, Lublin 2005; Daniel Beauvois: Mit „kresów wschodnich“, czyli jak mu położyć kres, in: Polskie mity polityczne XIX i XX wieku, hg. von Wojciech Wrzesiński, Wrocław 1994, S. 93 – 105. Als Ausgangspunkt der Debatte um das Konzept der New Imperial History vgl. Ilya Gerasimov; Sergey Glebov; Alexander Kaplunovski; Marina Mogilner; Alexander Semyonov: In Search of a New Imperial History, in: Ab Imperio 5, H. 1, 2005, S. 33 – 56. Andrzej Nowak: Introduction, in: Imperiological studies. A Polish Perspective, hg. von dems., Kraków 2011, S. 7– 11, hier S. 10.
1.3 Zum Stand der Forschung über Russland und den polnischen Osten
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den nicht-titularen Gesellschaften der europäischen Imperien, insbesondere der polnischen unter russisch-imperialer Herrschaft einen Sonderstatus zu. Aus folgendem Zitat, einer Replik auf Aleksej Millers Kritik an Interpretationen des Ostmitteleuropa-Konzepts vom Lubliner Historiker Jerzy Kłoczowski wird aber deutlich, dass Nowaks polnische Perspektive auf die New Imperial History anti-russische Bezüge enthält und letztlich einer Orientalisierung Russlands zugunsten einer (historischen) Verwestlichung Polens Vorschub leistet.⁹⁸ Miller wirft er dabei gar eine imperiale Mentalität vor: According to Miller, history becomes the means of justifying the region’s rapprochement with the West, the inclusion of its countries into (West) European and Atlantic structures. Within such an approach Russia, separated not only from the countries of its former internal empire in Europe but also from Ukraine (and Belarus) is in fact pushed away from the West or even juxtaposed alongside Western civilisation. By questioning this concept of Central and East Europe proposed and pursued by e. g. Jerzy Kłoczowski’s centre in Lublin, is the Muscovite [sic] researcher expressing a ‘purely historical reason’ or is the passion with which he attacks it influenced by his contemporary, Russian ‘kognitive Karte’ [sic]?⁹⁹
Nowaks Einlassung zu Miller – bei diesem handelt es sich um einen der maßgebenden Befürworter einer vergleichenden und nach Interdependenzen fragenden Imperiologie – weist auf ein weiteres Element der Rezeption von Postcolonial Studies und New Imperial History in Polen hin, das sich als doppelte Imperialität beschreiben lässt.¹⁰⁰ Darunter ist die polnische Erfahrung eigener Imperialität in Polen-Litauen sowie die Erfahrung von der imperialen Herrschaft der Teilungsmächte Preußen, Österreich-Ungarn und Russisches Imperium auf diesen Gebieten im 19. Jahrhundert zu verstehen. Für die polnische Historiographie hat die Frage, inwiefern das frühneuzeitliche Polen-Litauen als Imperialmacht definiert werden kann, weitreichende Implikationen – geht es dabei doch auch darum, auf eine historische Größe Polens zu verweisen. Interessanterweise beantwortet Nowak die Frage nach der polnischen Imperialität auf einer kulturalistischen Ebene und verweist explizit auf das Element der Kultur als Kenngröße polnischer Imperialität:
Vgl. Aleksej Miller: Mental’nye karty istorika…, in: Central’naja Evropa kak istoričeskij region, hg. von dems., Moskva 1996, S. 4– 25. Andrzej Nowak: „Poor Empire or Second Rome“ – Temptations of Imperial Discourse in Contemporary Russian Thinking, in: Polish Foreign Affairs Digest 3, H. 3 (8), 2003, S. 125 – 155, hier S. 149. Beispielhaft dafür die Sammlung von Millers Aufsätzen zum Russischen Imperium und seiner Erforschung: Alexei Miller: The Romanov Empire and Nationalism. Essays in the Methodology of Historical Research, Budapest 2008.
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1 Einleitung
So if every empire is about power and conquest – it was exactly this cultural ‘conquest’ that can be mentioned in the Commonwealth’s case. Not a forced one however, but a result of a more spontaneous, natural attraction to the best means of communication with the broader, European culture. Polish, however, was the language of assimilation not only to the great innovations and small pleasures of Western European post-Renaissance thought, but also to the specific republican culture of the Polish gentry liberties, their extensive constitutional protection against the arbitrary actions of the king. It became the language of assimilation to their specific laws, customs and institutions.¹⁰¹
Wenngleich Nowak den imperialistischen, weil expansionistischen Charakter Polen-Litauens verneint, bleibt das Element der erfolgreichen friedlichen und freiwilligen Kolonisierung nach Osten, verbunden mit dem Modernitätsversprechen des Westens, das Polen symbolisiert, für ihn bestehen. Erinnert sei an dieser Stelle nochmals an Clare Cavanagh, die 2003 auf die Doppelrolle Polens als Kolonisierer und als kolonisierter Raum der europäischen Imperien im 19. Jahrhundert aufmerksam machte.¹⁰² Die Perspektive einer New Imperial History ist also in Polen höchst umstritten, wie das Beispiel Nowak zeigt. Nowak selbst ist es übrigens, der feststellt, dass polnische Studien zur russischen Imperialgeschichte nach wie vor auf die polnische Frage reduziert blieben: In Poland, historical research on the Russian Empire has been carried out rather independently of the new trend, independently of its theoretical and methodological postulates. The significant and growing achievements of this research […] penetrate mainly the key issue for the crises of the Russian Empire in the 19th and the beginning of the 20th century, the Polish problem – Polish resistance, the national movement, but also the efforts at suppressing that very problem, efforts undertaken by the imperial centre and its bureaucratic agents, the methods used to ‘adapt’ former Polish okrainy [russ. Randgebiete, M.-B.] to the structures of the Empire, and finally, to promote collaboration.¹⁰³
Nowak, Poland, S. 137. Vgl. Cavanagh, Postkolonialna Polska. Nowak, Introduction, S. 9. In einem anderen Beitrag (ders.: Bor’ba za okrainy, Bor’ba za vyživanie: Rossijskaja imperija XIX v. i poljaki, poljaki i imperija (obzor sovremennoj polskoj istoriografii), in: Zapadnye okrainy Rossijskoj imperii, hg. von Michail Dolbilov und Alexei Miller, Moskva 2006, S. 429 – 464) liefert Nowak einen Überblick über die polnische Historiographie zum Russischen Imperium und hebt dort unter anderem die Studien von Wiktoria Śliwowska,Wiesław Caban, Leszek Zasztowt und Witold Rodkiewicz hervor: Wiktoria Śliwowska: Syberia w życiu i pamięci Gieysztorów – zesłańców postyczniowych. Wilno, Sybir, Wiatka, Warszawa, Warszawa 2000; Wiesław Caban: Służba rekrutów z Królestwa Polskiego w armii carskiej w latach 1831– 1873, Warszawa 2001; Leszek Zasztowt: Europa Środkowo-Wschodnia a Rosja XIX-XX wieku. W kre̜gu edukacji i polityki, Warszawa 2007; Witold Rodkiewicz: Russian Nationality Policy in the Western Provinces of the Empire (1863 – 1905), Lublin 1998. Von Nowak unerwähnt bleiben dabei die Studien des bereits genannten Daniel Beauvois (Beauvois, Trójkat̜ ukraiński; Beauvois, Mit „kresów wschodnich“, czyli jak mu położyć kres).
1.3 Zum Stand der Forschung über Russland und den polnischen Osten
33
Die hier vorgestellten Debatten um den post-kolonialen Charakter und um die imperiale Prägung Polens, sowie um die Einordnung der Geschichte der polnischen Ostgebiete in diese Lesarten führen vor Augen, dass die polnische Forschung zu Russland und zum östlichen Europa seit dem Ende des Kommunismus nach wie vor von einem polnisch-russischen Konfliktparadigma dominiert wird, was entweder dazu führt, dass die historische Rolle Russlands in Osteuropa wie etwa in den Debatten um die kresy und das Ostmitteleuropa-Konzept komplett ausgeblendet wird, Russland aus der Geschichte des polnischen Ostens herausgeschrieben wird, oder dass der Blick auf die Geschichte Polens im 19. Jahrhundert vor allem auf das polnisch-russische Verhältnis reduziert und somit Russland als Polen feindlich gesinnte und nach Westen expandierende Imperialmacht skizziert wird. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Bedingungen polnischer Besatzungs- und Gewalterfahrung durch das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und danach, sowie der Aufbau und die Existenz eines von der Sowjetunion implementierten polnischen kommunistischen Staates, die zugleich die polnisch-sowjetische Freundschaft militärisch, politisch und gesellschaftlich verordnete, den Rahmen historiographischen Arbeitens im postkommunistischen Polen vorprägten.¹⁰⁴ Wie am Beispiel der Arbeiten Nowaks aufgezeigt, lässt sich in der polnischen Forschung ein reflexartiges Festhalten an anti-russischen Deutungsmustern polnisch-russischer Geschichte gerade auch wegen des kommunistischen Erbes und des damit verbundenen polnisch-sowjetischen Verhältnisses beobachten. Alternative Forschungsbeiträge gehen dabei ausnahmslos von der Vorannahme eines polnisch-russischen Antagonismus aus. So ist es nicht verwunderlich, dass insbesondere die polnische Stereotypenforschung um Andrzej de Lazari insbesondere Russland als Projektionsfläche polnischer Vorurteile mit dem Impetus in den Blick nimmt, zu einem besseren Verständnis der polnisch-russischen Beziehungen und zu einer Aussöhnung beitragen zu wollen.¹⁰⁵ Um Russland als Spiegelbild polnischer Selbstwahrnehmung geht es auch in den Forschungen von Aleksandra Niewiara zu polnischen Ego-Dokumenten und ihren Russland- und
Vgl. dazu Jan Behrends: Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR, Köln 2006; Rafał Stobiecki: Historiografia PRL. Ani dobra, ani ma̜dra, ani pie̜kna … ale skomplikowana, Warszawa 2007. Vgl. Andrzej de Lazari: Mentalność rosyjska. Słownik, Katowice 1995; Andrzej de Lazari, Roman Bäcker (Hg.): Dusza polska i rosyjska. Spojrzenie współczesne = Polʹskaja i russkaja duša: sovremennyj vzgljad, Łódź 2003; Andrzej de Lazari (Hg.): Katalog wzajemnych uprzedzeń Polaków i Rosjan, Warszawa 2006; Andrzej de Lazari; Oleg Riabow: Polacy i Rosjanie we wzajemnej karykaturze, Warszawa 2008.
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1 Einleitung
Russenbildern in der Neuzeit. Auch sie beschränkt sich in ihrer Untersuchung aber darauf, die Russlandbilder als Ausdruck ideologisierter Schemen zu beschreiben.¹⁰⁶ Ähnliches gilt für Marcin Cybulskis Studie zu Bildern von Russen und Russland in Memoiren der späten Teilungszeit.¹⁰⁷ Exemplarisch für eine, wenngleich kritische, Fokussierung auf den polnisch-russischen Antagonismus und die daraus resultierende Vernachlässigung übergeordneter historischer Zusammenhänge steht auch ein Beitrag von Rafał Stobiecki, der sich mit den polnischen und russischen Historiographien zu den polnischen Ostgebieten vergleichend auseinandersetzt. Seinen Beitrag leitet er mit folgenden Worten ein: The present chapter attempts to confront two historiographical discourses concerning one territory, which for countless years has been disputed by Poles and Russians, who are the main players. […] The product was a situation in which various historical tales – usually conflicting, and only rarely corresponding with each other – were constructed for one and the same area. From the viewpoint of the main actors – Polish and Russian historians – this was the main aim. For the majority of time, this was a conflict between the stronger party, that is, Russian historiography that was supported by its own state and infrastructure, and a weaker party – Polish historiography, which represented the interests of its partitioned nation.¹⁰⁸
Stobiecki zeichnet das Bild eines russisch-polnischen Konflikts im 19. Jahrhundert um die Deutungshoheit der ehemals polnischen Ostgebiete, die zu dieser Zeit als westliche Provinzen des Russländischen Reichs Bestand hatten.Wenngleich er an anderer Stelle auf die Entstehung belarussischer, ukrainischer und litauischer Diskurse zu diesen Gebieten verweist, beschreibt er russische und polnische Historiographien als maßgebliche Akteure im Streit um die kulturelle Vorherrschaft in der Region und schließt sich damit dem Tenor der aktuellen polnischen Historiographie bezüglich Russlands an. Interessant ist übrigens auch Stobieckis Verständnis der polnischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als einer nationalen, hinter dem sich vermutlich das Konzept der polnischen Intelligenz verbirgt, sowie der russischen als einer imperialen Geschichtsschreibung. In seinem Beitrag schreibt er Russland, ähnlich wie bei Nowak, den Charakter eines „empire from the outset“ zu und konstruiert letztlich zwei unvereinbar gegen-
Vgl. Aleksandra Niewiara: Moskwicin-Moskal-Rosjanin w dokumentach prywatnych. Portret, Łódź 2006, S. 6. Vgl. Marcin Cybulski: Rosja i rosjanie w pamie̜tnikach Polaków (1863 – 1918),Warszawa 2009. Rafał Stobiecki: National History and Imperial History: A Look at the Polish-Russian Historiographical Disputes on the Borderlands in the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Disputed Territories and Shared Pasts. Overlapping National Histories in Modern Europe, hg. von Tibor Frank und Frank Hadler, Basingstoke, Hampshire 2011, S. 125 – 151, hier S. 125.
1.3 Zum Stand der Forschung über Russland und den polnischen Osten
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überstehende historiographische Blöcke.¹⁰⁹ Die Asymmetrien und die inhaltlichen sowie lebensweltlichen Verflechtungen einer polnisch-russischen Ideengeschichte geraten dabei ebenso aus dem Blick wie der Austausch der polnischen Historiographie mit anderen nicht-russischen Geschichtsschreibungen. In die durch den Wegfall der marxistischen Ideologie und der polnisch-sowjetischen Freundschaftsrhetorik entstandenen neuen Perspektiven der polnischen Russlandforschung stoßen vermehrt auch Forschungsbeiträge literaturwissenschaftlicher und politikwissenschaftlicher Provenienz, die nicht zuletzt unter dem Eindruck exilpolnischer Forschungen und Konzepte das Verhältnis Polens zu Russland neu zu vermessen anregen.¹¹⁰ Auch in diesen dominiert das Motiv der Annäherung, der Versöhnung und der Überwindung bestehender Vorurteile.¹¹¹ So verwies etwa Przemysław Hauser bereits 1999 im Vorwort einer Anthologie des neugegründeten Posener Ost-Instituts auf die Bedeutung der Veränderungen in Ostmitteleuropa nach dem Ende des Kommunismus und dem Zerfall der Sowjetunion: Die politischen Veränderungen, die während der Wende der achtziger und neunziger Jahre in Osteuropa vor sich gingen, riefen eine bedeutende Belebung der Ostforschungen in Polen hervor. Dies hatte seine volle Berechtigung, es veränderte sich nämlich die politische Lage Polens radikal. Seine Nachbarn im Osten nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden die Ukraine, Belarus, Litauen und Russland. Die polnische Politik war gezwungen, ein neues Modell der Beziehungen mit diesen Staaten auszuarbeiten. Dies ist keine einfache Angelegenheit, denn der wechselseitige Einfluss aufeinander in den vergangenen Jahrhunderten hinterließ tiefe Spuren in der Mentalität der polnischen Nation, wie auch bei seinen Nachbarn. […] Die Folge davon war, dass das Bild von den Nachbarn, die man des Öfteren durch das Prisma funktioneller und tief verwurzelter Stereotypen wahrnahm, welche weit von der Wirklichkeit entfernt waren, überdauerte. Bei der Überwindung einer solchen Sichtweise und gegenseitiger Vorurteile muss die Wissenschaft eine Hauptrolle spielen, indem sie ein
Ebd. Vgl. Jerzy Fiećko, Krzysztof Trybuś (Hg.): Obraz Rosji w literaturze polskiej, Poznań 2012; Grzegorz Kotlarski, Marek Figura (Hg.): Oblicza wschodu w kulturze polskiej, Poznań 1999; Eleonora Kirwiel, Ewa Maj, Ewelina Podgajna (Hg.): Obrazy Rosji i Rosjan w Polsce od końca XIX wieku do pocza̜tku XXI stulecia. Myśl polityczna, media, opinia publiczna, Lublin 2011; Eleonora Kirwiel, Ewa Maj, Ewelina Podgajna (Hg.): Obrazy Rosji i Rosjan w Polsce XIX–XXI wieku: opinia publiczna, stosunki polsko-rosyjskie, pamięć historyczna, Lublin 2012; Arkadiusz Lewandowski, Witold Woydyła, Grzegorz Radomski (Hg.): Rosja w polskiej myśli politycznej XX-XXI wieku, Toruń 2013. Vgl. insbesondere das Vorwort von Grzegorz Kotlarski: Przemysław Hauser: Wstęp, in: Oblicza wschodu w kulturze polskiej, hg. von Grzegorz Kotlarski und Marek Figura, Poznań 1999, S. 5 – 6.
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1 Einleitung
wirklichkeitsgetreues Bild von der gegenseitigen Durchdringung der Kulturen [prawdziwy obraz wzajemnego przenikania się kultur] verbreitet.¹¹²
Hauser scheut letztlich eine differenzierte Einschätzung der Beziehungen Polens zu seinen östlichen Nachbarn. Sein Vorwort stützt ebenfalls Zaryckis weiter oben angeführte Annahme, wonach sich die polnische Ostforschung seit 1989 dem Phänomen der Geschichte Ostmitteleuropas und dem Phänomen der polnischrussischen Beziehungen oftmals aus einer dezidiert national-zentrischen und kulturalistischen Perspektive widme, die Fragen nach den ökonomischen Beziehungen, nach der Hierarchisierung historisch und aktuell vorherrschender Machtverhältnisse, sowie nach deren Einordnung in übergeordnete historische Prozesse vernachlässige und dabei Ideologien zivilisatorischer und kultureller Überlegenheit, von Zarycki als Orientalismen polnischer Prägung beschrieben, reproduziere.¹¹³ Auffällig ist auch die normativ-politisierende Wirkung einer solchen Forschung. So fordert Hauser, dass die Ostforschung letztlich der Politik helfen müsse, ein neues Modell der Beziehungen zu den östlichen Nachbarstaaten zu entwickeln. Derartige Aussagen verdeutlichen den hohen ideologischen Ballast und den hohen Grad an Emotionalisierung, mit denen die polnische Forschung zu Russland und zum Osten auch zu Beginn der Zweitausender Jahre umgehen musste. Vor diesem Hintergrund lässt sich die 2003 von Patrice Dabrowski geäußerte Feststellung und Hoffnung durchaus in Zweifel ziehen, dass polnische und russische Historikerinnen und Historiker seit 1989 geholfen hätten, das Primat des polnisch-patriotischen Blicks auf die Geschichte der Teilungszeit Polens zu überwinden. In ihrer Besprechung der Arbeiten von Andrzej Chwalba, Leonid Gorizontov und Magdalena Micińska schreibt sie¹¹⁴: These and other works can also help to shed light on the more recent ‘exit from empire’ that continues to bedevil the larger Central and East European region. If readers of these works walk away with a better sense of malleability of identity, an understanding that simple dichotomies – traitor/patriot, Russian/Pole, imperial/national – do not tell the whole story of the common past, and an appreciation for the importance of the Polish problem for imperial history as a whole, that will be a great service indeed.¹¹⁵
Ebd., S. 5. Vgl. Zarycki, Ideologies of Eastness in Central and Eastern Europe, S. 1 f. Vgl. Chwalba, Polacy w służbie Moskali; Leonid E. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki: poljaki v Rossii i russkie v Pol’še (IX – načalo XX v.), Moskva 1999; Micińska, Zdrada córka nocy. Patrice M. Dabrowski: Russian-Polish Relations Revisited, or the ABC’s of „Treason“ under Tsarist Rule, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History, H. 4, 2003, S. 177– 199, hier 198 f.
1.3 Zum Stand der Forschung über Russland und den polnischen Osten
37
Ordnet man die bis heute andauernden polnischen Debatten um die Rolle Russlands in der polnischen Geschichte in den internationalen Kontext ein, kommt man vielmehr zu dem Schluss, dass nach wie vor eine national-zentrische Sicht auf die Geschichte der polnisch-russischen Beziehungen seit der Zeit der Teilungen Polens mit ihrem Fokus auf die Geschichte der national-polnisch wahrgenommenen Aufstände, der Deportationen polnischer Aufständischer, auf die Aufrechterhaltung und die Entwicklung einer modernen polnischen Identität die polnische Historiographie zum Russischen Imperium dominiert und dass der von Dabrowski befürchtete polnische „exit from empire“ – die selbstviktimisierende Erzählung russischer Imperialgeschichte in Polen – im Gewand einer national aufgeladenen post-kolonialen Geschichtsschreibung nach wie vor Bestand hat. In kritischer Auseinandersetzung mit der national-konservativen Variation post-kolonialer Geschichtsschreibung möchte die vorliegende Arbeit die Ansätze der Post-colonial Studies und der New Imperial History erneut aufgreifen. Die Untersuchung von nach dem Zerfall des Russischen Imperiums entstandenen autobiographischen Schriften der polnischen Intelligenz bietet zunächst die Möglichkeit, den Erfahrungen imperialer Herrschaft und den Spuren imperialer Prägung in den Biographien von Angehörigen der polnischen Intelligenz im postimperialen Zeitalter nachzugehen und nach Strategien der Verarbeitung russischimperialer Erfahrung in den jeweiligen autobiographischen Repräsentationen zu fragen. Neben den Post-colonial Studies und der New Imperial History knüpft die vorliegende Studie dabei auch an die deutschsprachige Forschung zu den russisch-polnischen Beziehungen etwa von Malte Rolf und Alexandra Schweiger an.¹¹⁶ Rolf und Tim Buchen versammelten in einer Anthologie Forschungsbeiträge über Biographien imperialer Eliten in Österreich-Ungarn und dem Russländischen Reich. Der von den beiden eingeführte Begriff der imperialen Erfahrung, der die Prägekraft des Imperiums als multi-nationalen und asymmetrisch durchherrschten Erfahrungsraum, sowie die inter-imperialen Modernisierungs- und Verflechtungsprozesse im imperialen Zeitalter vor dem Ersten Weltkrieg betont,
Zur Kritik an der Relativierung des Nationalen in den Perspektiven der Verflechtungsgeschichte vgl. Aust, Polen und Russland im Streit um die Ukraine, S. 24. Desweiteren haben Werner Benecke, Claudia Kraft und zuallererst wohl Klaus Zernack ebenfalls Studien vorgelegt, deren Forschungen deutliche Bezüge zum Thema dieser Studie aufweisen, und auf die in dieser Arbeit zurückgegriffen werden kann: Werner Benecke: Die Ostgebiete der Zweiten Polnischen Republik. Staatsmacht und öffentliche Ordnung in einer Minderheitenregion 1918 – 1939, Köln 1999; Claudia Kraft: Europa im Blick der polnischen Juristen. Rechtsordnung und juristische Profession in Polen im Spannungsfeld zwischen Nation und Europa 1918 – 1939, Frankfurt am Main 2002; Zernack, Zernack 1994.
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1 Einleitung
soll in dieser Arbeit aufgegriffen werden.¹¹⁷ Auf den Untersuchungsgegenstand der polnischen Intelligenz angewandt, wird die Ambivalenz des Begriffes ersichtlich, verkörperte diese Gruppe doch in sich den Gedanken der Modernität, stützte diesen jedoch als anti-imperiale Elite zuvorderst auf die polnische Nation. Der vorliegenden Studie liegt demzufolge ein Spannungsmoment zugrunde, das sich zwischen imperialer Erfahrung und national-intelligenter Vision oder Erwartung aufspannt.¹¹⁸ Daraus folgt, dass die Arbeit autobiographische Schriften der Intelligenz auf ihre Verarbeitungsstrategien dieses Spannungsmoments befragt. Mit der Befragung von Autobiographien einer im imperialen Zeitalter aufgewachsenen und sozialisierten polnischen Intelligenz post imperium wird die Perspektive der New Imperial History deutlich erweitert und ein Blick auf das 20. Jahrhundert gewagt, der die imperiale Erfahrung darin integriert. Dabei schließt die Arbeit eine wichtige Forschungslücke. Auch die jüngeren Forschungen von Chwalba oder von Rolf zur imperialen Herrschaft im Königreich Polen haben die Langfristfolgen imperialer Herrschaft nach dem Zerfall der europäischen Imperien nicht in den Fokus ihrer Untersuchungen genommen.¹¹⁹ Mark von Hagen und Karen Barkey haben diesbezüglich bereits 1997 mit dem Sammelband After Empire Überlegungen zur Multi-Ethnizität in Imperien und dem Umgang damit in den „neuen“ Nationalstaaten im 20. Jahrhundert angeregt und die Frage nach den Konsequenzen imperialer Herrschaft für Nationalbildungsprozesse in Ostmitteleuropa zum Ausdruck gebracht.¹²⁰ Ein ähnlicher Befund über Forschungslücken in Fragen des imperialen Erbes oder des Post-imperialen lässt sich auch für die Forschung zur polnischen Intelligenz feststellen. An dieser Stelle sei etwa auf die dreibändige Synthese zur Geschichte der polnischen Intelligenz bis zum Jahr 1918 des Schreibkollektivs um Jerzy Jedlicki, Maciej Janowski und
Vgl. Tim Buchen, Malte Rolf (Hg.): Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850 – 1918), Berlin, Boston 2015. Zur theoretischen Fundierung des Zusammenhangs von Erfahrung und Erwartung vgl. ausführlich Kap. 1.4. Vgl. Chwalba, Polacy w służbie Moskali; Rolf, Imperiale Herrschaft im Weichselland. Vgl. Karen Barkey: Thinking about Consequences of Empire, in: After Empire. Multiethnic Societies and Nation-building: The Soviet Union and the Russian, Ottoman, and Habsburg Empires, hg. von ders. und Mark von Hagen, Boulder 1997, S. 99 – 114. Vor dem Hintergrund der Aktualität des Gesellschaftswandels in Ostmitteleuropa nach 1989 versammelten Katrin Steffen, Martin Kohlrausch und Stefan Wiederkehr 2010 Beiträge zu Fragen nach dem multiimperialen Erbe und der Transformationsleistung der polnischen Gesellschaft in der Zwischenkriegszeit: Martin Kohlrausch, Katrin Steffen, Stefan Wiederkehr (Hg.): Expert Cultures in Central Eastern Europe. The Internationalization of Knowledge and the Transformation of Nation States since World War I, Osnabrück 2010.
1.4 Zur Methodik einer intelligenten Autobiographik
39
Magdalena Micińska verwiesen, die, wie der Titel zeigt, 1918 endet und Fragen des Umgangs mit imperialer Erfahrung und imperialer Prägung in der polnischen Intelligenz nach 1918 nicht behandelt.¹²¹ Ein Beispiel für die fehlende post-imperiale Perspektive auf die Geschichte der polnischen Intelligenz im deutschsprachigen Raum stellt auch Alexandra Schweigers Studie zur Formierung von Ostkonzepten der polnischen Intelligenz dar.¹²² Der Zusammenhang von biographischer Erfahrung und Ideenbildung spielt in ihrer Arbeit ebenso wenig eine Rolle, wie die Verarbeitung oder Rekonfiguration von Ostkonzepten der von ihr besprochenen Jan Ludwik Popławski (1854– 1908), Władysław Studnicki (1867– 1953), Eugeniusz Romer (1871– 1954) und Oskar Halecki (1891– 1973) über die Teilungszeit hinaus. Dabei stellt Schweiger in ihrer Studie fest, dass polnische Territorialkonzepte des Ostens keineswegs stringent ideologischen Haltungen folgten, sondern unterschiedlichen ideologischen Kontexten entsprangen.¹²³ Es böten sich demnach durchaus Fragen der imperialen Erfahrung und Prägung und deren Auswirkungen auf die Ideen der Protagonisten in Schweigers Studie an. Auf diese Annahme wird in der Untersuchung ebenso einzugehen sein, wie auf die von Schweiger nicht berücksichtigte Frage des Wandels polnischen Ostdenkens infolge von Zäsuren und Ereignissen. Ziel der Untersuchung ist es, anhand der Betrachtung von autobiographischen Schriften der polnischen Intelligenz eine Erfahrungsgeschichte der polnischen Intelligenz aus post-imperialer Perspektive zu schreiben, die sich nicht einfach nach historischen Einschnitten untergliedert, sondern nach den Einflüssen historischer Zeit auf das Denken der Intelligenz fragt.
1.4 Zur Methodik einer intelligenten Autobiographik Bisher wurde lediglich angedeutet, worin der übergeordnete methodische Rahmen dieser Studie besteht. Kern der Studie ist die Untersuchung des Einflusses
Vgl. Maciej Janowski: Dzieje inteligencji polskiej do roku 1918. Narodziny inteligencji (1750 – 1831), Bd. 1, Warszawa 2008; Jerzy Jedlicki: Dzieje inteligencji polskiej do roku 1918. Błędne koło (1832– 1864), Bd. 2, Warszawa 2008; Magdalena Micińska: Dzieje inteligencji polskiej do roku 1918. Inteligencja na rozdrożach (1864– 1918), Bd. 3, Warszawa 2008. Die drei Bände der Reihe wurden übersetzt und 2014 auf Englisch veröffentlicht: Janowski, A History of the Polish Intelligentsia; Jedlicki, A History of the Polish Intelligentsia; Micińska, A History of the Polish Intelligentsia. Vgl. Alexandra Schweiger: Polens Zukunft liegt im Osten. Polnische Ostkonzepte der späten Teilungszeit (1890 – 1918), Marburg 2014. Vgl. ebd., S. 53.
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1 Einleitung
historischer Zeit auf die autobiographischen Selbstentwürfe Angehöriger der polnischen Intelligenz sowie auf die in ihnen entworfenen Wahrnehmungen Russlands und Ideen des Ostens. Dabei verschränkt die Studie erfahrungsgeschichtliche und ideengeschichtliche Fragen und erkundet, inwiefern eine historiographische Untersuchung von autobiographischen Schriften Erkenntnisse für eine Geschichte der polnischen Intelligenz liefern kann, die sich nicht nur mit den Konjunkturen und den Dynamiken gruppenspezifischer Erinnerungsdebatten auseinandersetzt, sondern weiter nach den politischen Haltungen und Ideen fragt, die in diesen Debatten zum Ausdruck kommen und in ihnen entwickelt werden. Die Autobiographik der polnischen Intelligenz scheint dafür besonders geeignet, definierte sich diese Gruppe doch durch den Anspruch, Vorreiterin und Bewahrerin nationalen polnischen Denkens zu sein.¹²⁴ Der Fortschrittsgedanke und die Vorstellung einer besseren Gesellschaft blieb dabei wie schon beschrieben das Leitmotiv der Intelligenz. Stefan Guth hat in seiner Untersuchung über den Dialog zwischen deutscher und polnischer Historiographie des 20. Jahrhunderts und über das darin zum Ausdruck kommende Verhältnis von Geschichte und Politik festgestellt, dass der seit dem 18. Jahrhundert entwickelte Fortschrittsgedanke ein lineares Verständnis von Zeit hervorbrachte, das darauf gerichtet war, Erwartungen an die Zukunft zu skizzieren, die sich in einen Entwicklungsprozess einordnen ließen: In dem Maße, wie sich der Wandel der menschlichen Verhältnisse seit dem 18. Jahrhundert auf vielen Ebenen beschleunigte und gewissermaßen im Zeitraffer sichtbar wurde, gewann die Vorstellung einer linear gerichteten Zeit wachsende Prominenz.¹²⁵
Ironischerweise bedeutete dies, dass der Fortschrittsgedanke letztlich dazu diente, das Phänomen zunehmender Erfahrungen von Ungleichzeitigkeit und von der Vielfalt des Wandels gesellschaftlichen Zusammenlebens zu kompensieren und somit eine Vorstellung von Kontinuität aufrechtzuerhalten, die durch den Fortschritt eigentlich in Frage gestellt worden war. Guth stellt dazu weiter fest, dass angesichts voranschreitenden Wandels der menschlichen Verhältnisse die Notwendigkeit des Fortschrittsgedankens insbesondere in der Zeit gesellschaftlicher Umbrüche verantwortlich sei für den Zusammenhang von Geschichte und
Vgl. zur Kritik an den Memory Studies als bloße empirische Unternehmungen Gregor Feindt; Félix Krawatzek; Daniela Mehler; Friedemann Pestel; Rieke Trimçev: Entangled Memory: Toward a Third Wave in Memory Studies, in: History and Theory, H. 53, 2014, S. 24– 44. Stefan Guth: Geschichte als Politik. Der deutsch-polnische Historikerdialog im 20. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 5
1.4 Zur Methodik einer intelligenten Autobiographik
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Politik, bzw. für den „erhöhten Bedarf nach Deutungen, die die historischen Zusammenhänge wahren.“¹²⁶ Bei Guth stellt sich die Frage nach den Einflüssen individueller Erfahrung auf das historische Denken der Schreibenden. Diesbezüglich schreibt er, dass „die aus der Gegenwartserfahrung abgeleiteten Urteile auch auf die weiter entfernte Vergangenheit zurückprojiziert wurden.“¹²⁷ Anders als bei Guths Protagonisten mussten die in dieser Arbeit besprochenen Autobiographinnen und Autobiographen keinen wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch wahren, um im öffentlichen Diskurs Gehör zu finden, sondern suchten nach einem autobiographischen, der auf dem Element der Zeitzeugenschaft basierte. Die Zugehörigkeit zur Intelligenz als einer historisch bedeutsamen, weil mit einem avantgardistischen Selbstverständnis ausgestatteten Gruppe von nationaler Bedeutung galt als Legitimationskriterium der eigenen Lebenserzählung. Anders als bei der Geschichtswissenschaft ging es den Schreibenden darum, über die Berufung auf die eigene Herkunft, auf die eigene Biographie und auf die Zeitzeugenschaft Authentizität zu konstruieren und Erfahrungen zu generieren, die als sozial sowie national relevant zu gelten hatten.¹²⁸ Der Akt des autobiographischen Schreibens diente dabei zum einen der Bilanzierung der Lebensleistung und zum anderen des Transfers der Leistung als Angehörige der polnischen Intelligenz und somit des Projekts einer polnischen Moderne in die bestehende Öffentlichkeit hinein.
Zur Analyse autobiographischer Schriften: Anlass, Narration, Zeit und Raum Der folgende Abschnitt verzichtet auf die Darlegung der kaum zu umfassenden Forschungsliteratur zu den Themen der Autobiographik sowie der damit verbundenen, großteils aus der Literaturwissenschaft stammenden und mittlerweile in nahezu allen geistes- oder sozialwissenschaftlichen Disziplinen rezipierten
Ebd. Ebd., S. 7. Philipp Lejeune spricht in seinem gleichnamigen Werk vom autobiographischen Pakt zwischen Autobiographin oder Autobiograph und Publikum, der durch die Identifizierung von Autorin oder Autor, Erzählerin oder Erzähler und Figur zum Ausdruck kommt und der Authentifizierung des Erzählten dient (vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, Frankfurt am Main 1994). Lejeunes Pakt hat die polnische Literaturwissenschaftlerin Małgorzata Czermińska in eine Theorie des autobiographischen Dreiecks um Autorin bzw. Autor, Leserin oder Leser und Welt (oder Umgebung) integriert und so die Gebundenheit autobiographischen Schreibens an die (Nach‐)Welt untermauert, vgl. Małgorzata Czermińska: Autobiograficzny trójkat. Świadectwo, wyznanie i wyzwanie, Kraków 2000, S. 21.
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Erzähltheorien.¹²⁹ Stattdessen sollen lediglich die für diese Untersuchung relevant erscheinenden Forschungsansätze, die sich insbesondere für den Zusammenhang von Erfahrungsbildung und autobiographischer Erzählung interessieren, aus diesen drei Theoriebereichen besprochen werden. In seiner 1978 erschienenen Studie zur Autobiographik der zwanziger Jahre und der Frage nach der Organisation von Lebenserfahrung definierte der Literaturwissenschaftler Peter Sloterdijk die Gattung der Autobiographik mit folgenden Worten: Lebensgeschichtliches Erzählen ist eine Form sozialen Handelns – eine Praxis, in der individuelle Geschichten mit kollektiven Interessen, Werten, Phantasien und Leidenschaften zusammengewoben werden. In diesen Erzählungen läßt sich der ‚magische‘ Augenblick des literarischen Prozesses demonstrieren: der Übergang von Erfahrung in Sinnzusammenhänge. In der Autobiographik sind Subjektivität und Objektivität, Erlebniswelt und Bedeutungswelt noch erkennbar ineinander verschränkt.¹³⁰
Mit dieser literaturwissenschaftlichen Definition entwarf Sloterdijk ein vielschichtiges Bild von der Autobiographik, das auch für andere Disziplinen offen war. Dabei benannte Sloterdijk Merkmale und Zusammenhänge beim autobiographischen Schreiben, die besonders für die Historiographie von Relevanz sind, etwa den Akt des Schreibens als soziale Kommunikation oder als Transformationsprozess von Erfahrung in Sinnzusammenhänge, also in historische Zeit. Als Erfinder der Forschung zur Autobiographik im deutschsprachigen Raum gilt Wilhelm Dilthey, der in seiner Einleitung in die Geschichtswissenschaften die These von der Selbstbiographie als reinster Form des Individuums aufstellte.¹³¹ Mit Roland Barthes‘ provozierender Erkenntnis vom „Tod des Autors“ und der daraus folgenden analytischen Trennung von Autor und Erzähler sowie mit seinen Ausführungen zur Narratologie von Texten eröffnete der französische Intellektuelle den Geisteswissenschaften eine Perspektive, die vielmehr nach der Verfasstheit, der Gestaltung und der Struktur von Erzählungen sowie deren Funktionen fragte.¹³² Julia Herzberg hat 2014 indes festgestellt, dass eine
Für einen ersten Überblick vgl. Achim Saupe; Felix Wiedemann: Narration und Narratologie. Erzähltheorien in der Geschichtswissenschaft, in: Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung, , 15.11. 2017. Peter Sloterdijk: Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre, München, Hamburg 1978, S. 6. Vgl. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Leipzig 1922, S. xvi. Roland Barthes: Tod des Autors, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martínez und Simone Winko, Stuttgart 2000, S. 185 – 197. Der Tod des Autors
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wissenschaftliche Beschäftigung mit Autobiographien in der Geschichtswissenschaft nach wie vor Skepsis auslösen kann.¹³³ Der Diskurs über autobiographisches Schreiben als intersubjektiven Prozess ist dabei keineswegs auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. In der Osteuropäischen Geschichte haben Jochen Hellbeck und Klaus Heller mit ihrem Konzept der autobiographical practises die Diskussion zur historiographischen Beschäftigung mit Autobiographien erweitert, indem sie den Vorgang des autobiographischen Schreibens als performativen Prozess skizzierten, in dem die Schreibenden ihr Selbstverständnis erst hervorbrächten und auf tagesaktuelle oder zeitgenössische kulturelle Praktiken rekurrierten.¹³⁴ Im Schreibprozess wird Zeiterfahrung in einen Sinnzusammenhang integriert. Forschende zu den Erzähltheorien haben herausgestellt, dass diesem Akt eine prä-narrative Struktur zugrunde liegt, eine „soziale Wirklichkeit“, in der sich der Autor bewegt, und diese Struktur wiederum auf den Akt des autobiographischen Schreibens einwirkt.¹³⁵ In den Analysen der autobiographischen Texte gilt es demzufolge, bezüglich der Schreibenden insofern eine biographische Arbeit zu leisten, als in ihr anderweitige Entwürfe und Selbstzeugnisse der Schreibenden sowie Texte der Sekundärliteratur herangezogen werden sollen. So kann die prä-narrative Struktur sichtbar gemacht werden, die die jeweilige autobiographische Interpretation der russisch-imperialen Erfahrung der Schreibenden bedingt und vorstrukturiert. Neben dem Zusammenhang von Erfahrung und Sinnbildung, der sich in der autobiographischen Arbeit als Akt der sozialen Kommunikation manifestiert, gilt es, die Frage nach der Retrospektivität der Autobiographik, die Elemente der Lebensbilanzierung zu beachten und zu fragen, wie die Schreibenden aus dem Zusammenhang von Handlung und Erfahrung heraus deutend ein konsistentes Bild erschaffen. Aus dem Feld der Oral History kommend und eigentlich der Erforschung von mündlich erzählten Lebensgeschichten gewidmet, hat Ulrike Jureit den Begriff der „Erfahrungsaufschichtung“ geprägt. Bei diesem Konzept geht es Jureit zum einen darum, die Gebundenheit von Erfahrung und deren Interpretawurde im französischen Original erstmals 1968 veröffentlicht. Zur Narratologie von Roland Barthes vgl. u. a.: Roland Barthes: An Introduction to the Structural Analysis of Narrative, in: New Literary History 6, H. 2, H. 2, 1975, S. 237– 272. Vgl. Julia Herzberg: Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion, Bielefeld 2013, S. 24. Vgl. Hellbeck, Introduction, S. 12. In Anlehnung an Thomas Luckmann und Peter Berger ist darunter die Produktion und Legitimierung einer Wirklichkeit durch die Gesellschaft zu verstehen, vgl. Peter Berger; Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 5. Aufl., Frankfurt am Main 1982, S. 138. Zu den verschiedenen Erzähltheorien und insbesondere zum Akt des Erzählens vgl. Saupe, Wiedemann, Narration und Narratologie.
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tion an den jeweiligen zeitlichen Interpretationskontext zu betonen, zum anderen, auf den Einfluss neuer Erfahrungen für den Wandel autobiographischer Deutungen hinzuweisen. „Erfahrungsaufschichtung“ ist ihr zufolge ein Erklärungsmodell für die inneren Widersprüche sowie für die szenische Verdichtung autobiographischer Erzählung, die ihr letzten Endes eine emotionale Authentizität verleihe.¹³⁶ Volker Depkat, der vor allem nach der Konstruktion von Erinnerung im autobiographischen Schreiben fragt, geht dabei mit Jürgen Habermas insbesondere auf das Element der biographischen Entwicklung und deren autobiographische Reflexion ein: Das, was den inneren Zusammenhang zwischen Einst und Jetzt herstellt, ist die Kategorie der Entwicklung. Damit rücken Bedeutung und Entwicklung ebenfalls in ein Beziehungsverhältnis zueinander, weil sich die Bedeutung einzelner Teile in ihrer Bezogenheit auf eine Entwicklung ergibt. Die Bedeutung der einzelnen Glieder einer Lebensgeschichte ist lediglich ‚Derivat‘ des Sinnes einer Entwicklungsgeschichte im Ganzen. Deshalb spiegelt sich in autobiographischen Aussagen die logische Form aller retrospektiven Deutungen; ‚es sind narrative Aussagen, die über Ereignisse aus der Perspektive späterer Ereignisse, also mit Bezugnahme auf einen Standpunkt berichten, von dem aus sie nicht hätten beobachtet und protokolliert werden können.‘¹³⁷
Depkat benennt das Entwicklungsnarrativ als wesentliches Merkmal bei der Sinnbildung des autobiographischen Schreibens. Damit ist das Kontingenzprinzip der Autobiographik beschrieben, das gleichsam die Schreibenden eine Lebenserzählung entwerfen lässt, die unter dem Licht neuerer Erfahrungen Abwandlungen unterliegen kann. Sichtbar machen ließe sich dieser Wandel Jureit zufolge durch den Abgleich früherer und späterer lebensgeschichtlicher Entwürfe.¹³⁸ Die hier vorliegende Untersuchung möchte, nicht zuletzt ob des Fehlens solcher Quellen, einen etwas anderen Weg gehen. Im Zentrum der Untersuchung stehen autobiographische Texte verschiedener Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts. Über eine weitestgehend chronologische Abhandlung des Untersuchungsgegenstands soll der Wandel des autobiographischen Erzählens vom Russischen Imperium durch das 20. Jahrhundert hindurch aufgezeigt werden und sichtbar gemacht werden, welche Ereignisse und Erfahrungen nach dem Zerfall Ulrike Jureit: Erfahrungsaufschichtung: Die diskursive Lagerung autobiographischer Erinnerungen, in: Life Writing and Political Memoir. Lebenszeugnisse und Politische Memoiren, hg. von Magnus Brechtken, Göttingen 2012, S. 225 – 242, hier S. 232. Volker Depkat: Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007, S. 27. Depkat zitiert im Auszug Jürgen Habermas, vgl. Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, 10. Aufl., Frankfurt am Main 1991, S. 195. Jureit, Erfahrungsaufschichtung, S. 234.
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des Russischen Imperiums zur Rekonfiguration autobiographischen Erzählens führten und welche Neuinterpretationen diese Erzählungen wiederum erst hervorbrachten. Die prä-narrative Struktur der autobiographischen Schriften der polnischen Intelligenz in den Blick nehmend, fragt die vorliegende Studie nach der gesellschaftlichen Lage, der individuellen Situation der Schreibenden und nach den vorherrschenden zeitgenössischen Deutungen historischer Zeit. Franka Maubach und Christina Morina haben in ihrer Anthologie über Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland auf die Kompensierung von Asymmetrien und Hierarchien im historiographischen Schreiben in der DDR, die aus der Umgebung und der Haltung der Schreibenden resultierten, aufmerksam gemacht – ein Merkmal, das sich auch im autobiographischen Schreiben ausfindig machen lässt und für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung ist, wenn die Anlasskrise der Schreibenden betrachtet und in den autobiographischen Schriften nach Repräsentationen des „ost-westlichen“ Bewusstseins der Autorinnen und Autoren gesucht wird.¹³⁹ Der Schreibanlass bedarf einer genaueren Betrachtung. Autobiographisches Schreiben wird gemeinhin als faktuales Erzählen beschrieben. Dieser Einordnung von autobiographischen Quellen liegt die Idee zugrunde, dass faktuale Texte auf die „Vermittlung wahrer Sachverhalte abzielen und von den Rezipient/innen auch entsprechend verstanden werden – und zwar unabhängig davon, ob die dargestellten Inhalte auch wahr sind.“¹⁴⁰ Ein wichtiger Begriff ist der der Authentizität, die Betonung des Wahrheitsgehalts der Erzählung durch Bezeugung.¹⁴¹ In den hier zu behandelnden autobiographischen Erzählungen wird dem Element der Authentizität auf unterschiedliche Weise Gewicht verliehen, die sich mit den von Depkat ausgemachten Kriterien zur Beschreibung von Auslösern autobiographischen Schreibens decken. Depkat macht in seiner Untersuchung drei Auslöser autobiographischen Schreibens aus: das Lebensalter und der mit ihm verbundene Versuch einer Bilanzierung; die Krisenerfahrung, ein damit einhergehendes verändertes Zäsurbewusstsein und der daraus folgende Wunsch nach Orientierung;
Vgl. Franka Maubach; Christina Morina: Historiographiegeschichte als Erfahrungs- und Resonanzgeschichte. Eine Einleitung, in: Das 20. Jahrhundert erzählen. Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland, hg. von dens., Göttingen 2016, S. 7– 31, hier S. 20. Saupe, Wiedemann, Narration und Narratologie. Vgl. Achim Saupe: Authentizität. Version 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung, , 15.11. 2017. Zum Zusammenhang von Authentizität und autobiographischem Schreiben vgl. ausführlich Nadine Schmidt: Konstruktionen literarischer Authentizität in autobiographischen Erzähltexten. Exemplarische Analysen zu Christa Wolf, Ruth Klüger, Binjamin Wilkomirski und Günter Grass, Göttingen 2014.
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und letztlich die sich aus der Marginalisierung heraus ergebende Erklärung oder das Bekenntnis.¹⁴² Aus diesen Schreibanlässen, die meist kombiniert vorzufinden sind, lassen sich wiederum Erzählformen des Autobiographischen ableiten, die entweder das Repräsentative einer Lebensgeschichte betonen oder das eigene Erleben. Czermińska benennt diese Formen als Zeugnis und als (Selbst‐)bekenntnis: In der langen Tradition der europäischen Literatur können wir mindestens zwei unterschiedliche, gegenüberstehende Typen der Narration ausfindig machen: die Figur des Zeugen, der persönlich an den Ereignissen teilgenommen hat, und die Introspektion, die in die Tiefen der Seele eines Individuums reicht. Den ersten Typen nenne ich das Zeugnis, den zweiten das Bekenntnis.¹⁴³
Eine weitere Form der autobiographischen Erzählung, die sich vor allem in den autobiographischen Texten der späten Zwischenkriegszeit findet und Fragen ähnlich der „kritischen Sozialautobiographik“, wie sie Sloterdijk in der deutschsprachigen autobiographischen Literatur der zwanziger Jahre ausgemacht hat, behandelt, soll hier Emanzipationserzählung genannt werden. Der Begriff rekurriert einmal auf die Autobiographik der Frauenbewegung und der Arbeiterbewegung, im Kontext dieser Unteruchung aber auch auf die spezifisch polnische Erfahrung von der Erlangung der Unabhängigkeit.¹⁴⁴ Eine vierte Erzählform, die ebenfalls aus einer Krisenerfahrung folgt, ist die post-traumatische Erzählung, wie sie etwa in der Forschung zu Holocaust-Erzählungen und -Memoiren entdeckt und untersucht wurde.¹⁴⁵ Ihr wird die Annahme zugrunde gelegt, dass sie Ausdruck des Paradoxons vom Überleben und der daraus resultierenden Schuld der Überlebenden gegenüber den Opfern ist, mit denen die Schreibenden konfrontiert sind. Post-traumatisch ist eine solche Autobiographik insofern, als in ihr die erzählerischen Normen, so Manuela Günter, gleichermaßen unter der Last des Geschehens auseinanderbrechen. ‚Autobiographie‘, ‚Erzählung‘, ‚Kindheit‘ und ‚Identität‘ werden […] in einer Weise mit der Shoah konfrontiert,
Vgl. Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden, S. 65. Zu den Erzählformen autobiographischen Schreibens vgl. den einführenden Band von Jürgen Lehmann: Jürgen Lehmann: Bekennen, erzählen, berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie, Tübingen 1988. Czermińska, Autobiograficzny trójkat, S. 19. Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung, S. 7. Vgl. etwa Dominick LaCapra: History and Memory after Auschwitz, Ithaca, NY 1998.
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daß die ‚Ordnung‘ dieser Begriffe nicht nur, wie in der Moderne, in Frage gestellt wird, sondern kollabiert.¹⁴⁶
Für die post-traumatische Erzählung gilt: das Trauma wird zum Ausgangspunkt und zum Zentrum der autobiographischen Betrachtung erhoben und wirkt auf die gesamte Lebenserzählung ein. Bei den hier behandelten Autobiographien geht es diesbezüglich darum zu untersuchen, inwiefern sich Spuren solcher und ähnlicher Traumata, dazu zählt etwa die Erfahrung und autobiographische Verarbeitung sowjetischer Gefangenschaft in den Lagern der in Katyń ermordeten polnischen Soldaten wie im Fall des in dieser Arbeit besprochenen Stanisław Swianiewicz (1899 – 1997), in den autobiographischen Repräsentationen der polnischen Intelligenz zu Russland und dem Osten wiederfinden lassen und diese prägen.¹⁴⁷ Es liegt nahe, dass diese vier Erzählformen selten in Reinform den Texten zuzuordnen sind.Vielmehr weisen sie auf den grundlegenden Wandel von Narrativen hin. Neben der prä-narrativen und der narrativen Struktur kommt der temporalen Struktur von Autobiographien ebenso Bedeutung zu. Der Begriff der Zeit ist dabei mit dem Begriff der Erfahrung eng verbunden, unterteilt doch ersterer die Vergangenheit in ein Vorher und Nachher einer Erfahrung. Zeit spielt im autobiographischen Schreiben nicht nur als konkreter Zeitpunkt des Verfassens oder des Publizierens eine Rolle, sie ist ebenso wie die Kategorie der Erfahrung eine Sinngebungskategorie. Zeit wird im autobiographischen Erzählen selbst zur Struktur, indem einerseits die Chronologie von Erlebtem sinnvoll geordnet werden kann und somit die Komplexität durch den Verzicht auf Gleichzeitigkeit reduziert wird. Auf der anderen Seite kann die Betonung von Gleichzeitigkeit, etwa durch Einschübe unterschiedlicher zeitlicher Erzählebenen, dazu dienen, Bezüge zu weit zurückliegenden Ereignissen herzustellen und diese in Kausalzusammenhänge zu stellen. Wie bereits angedeutet, sind Autobiographien seit dem 18. Jahrhundert mit der Gleichzeitigkeit des zunehmenden Wandels menschlicher Manuela Günter: Writing Ghosts.Von den (Un‐)Möglichkeiten autobiographischen Erzählens nach dem Überleben, in: Überleben schreiben. Zur Autobiographik der Shoah, hg. von ders., Würzburg 2002, S. 21– 50, hier S. 21. Swianiewicz wird häufig als Zeuge oder als Überlebender der Erschießungen benannt, wie etwa in dem Dokumentarfilm Ostatni Świadek (Der letzte Zeuge) von Paweł Woldan (Polen, 2007). Swianiewicz war jedoch nicht Zeuge der Erschießungen, sondern wurde vom Gefangenentransport zum Erschießungsort am 30. April 1940 separiert und nach Moskau transportiert (vgl. Marek Kornat: Art. Swianiewicz, Stanisław, in: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 46, Warszawa, Kraków 2009 – 2010, S. 124– 129, hier S. 126). Der Sowjetologe hinterließ sowohl Memoiren zu Katyń als auch zu seiner Jugendzeit im Russischen Imperium, vgl. Stanisław Swianiewicz: W cieniu Katynia, Paryż 1976; Stanisław Swianiewicz: Dzieciństwo i młodość, Warszawa 1996.
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Verhältnisse konfrontiert und folglich mehr denn je der biographischen Orientierung in der Vielfalt der Ereignisse und Erlebnisse verpflichtet.¹⁴⁸ Dabei nehmen Autobiographien als historisierende Erzählungen am Wettbewerb um die Deutung historischer Zeit, darum, was als erinnerswert gelten darf und was nicht, teil. Depkat hat darauf aufmerksam gemacht, dass Autobiographien in einem Epochenbewusstsein gründen, und zwar in einem Bewusstsein davon, welche Vergangenheit als bedeutsam für die Gegenwart sowie für die Zukunft gelten kann. Dabei reagieren sie auf gesellschaftliche Vorstellungen von historischer Zeit, von als historisch erachteten Ereignissen, Brüchen, Zäsuren, Zeitenwenden etc. Im Schreiben weisen die Autorinnen und Autoren von Autobiographien ihren Erfahrungen einen Platz in der Historie zu und verorten sich dabei nicht zuletzt auch kollektiv, sozial wie generationell.¹⁴⁹ So ist etwa anzunehmen, dass für die polnische Intelligenz, anders als etwa für die politische Elite Deutschlands, der Erste Weltkrieg nicht als Ur-Katastrophe in der eigenen Lebensgeschichte erschien, sondern vielmehr als ersehntes, der polnischen Unabhängigkeit vorauseilendes Ereignis.¹⁵⁰ Es gilt, dieses spezifische Element der Konstruktion von Synchronizität und Gleichzeitigkeit in den autobiographischen Texten zu dekonstruieren und die Frage nach Zeiterfahrung und der Art ihrer Erzählung sowie ihrer Funktion eingehend zu beleuchten. Bezüglich der Temporalität der jeweiligen Erzählungen gilt es demzufolge zu fragen, wie diese organisiert ist und welchem Zweck die präsentierte temporale Strukur dient. Dabei ist darauf zu achten, inwiefern neuere Erfahrungen zur Rekonfiguration historischer Zeit zu einem veränderten Zäsur-oder Epochenbewusstsein führen und letztlich auch zum Wandel von Wahrnehmungen des Ostens oder Vorstellungen der Polonität. Es wird untersucht, welche Bedeutung dem zeitlichen Abstand des Schreibens zum Erzählten zukommt, mit welchen Mitteln die Autoren mit dem Vergangenen umgehen, welche Zäsuren sie selbst dabei setzen und welche Folgen dies für die Erzählung selbst hat. Auch wird analysiert, inwiefern den Texten Elemente der Vergleichzeitigung bzw. der Ungleichzeitigkeit oder Einzigartigkeit innewohnen, um so Aufschluss über generationelle oder andere Erzählmuster zu erhalten. Neben Situation, Narration und Zeit lassen sich autobiographische Erzählungen räumlich vermessen. Jedoch handelt es sich bei diesem Untersuchungs-
Vgl. zur deutschen Autobiographik Lehmann, Bekennen, erzählen, berichten, S. 120 f. Vgl. Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden, S. 30. Vgl. ebd., S. 56. Das nationale master narrative in Zwischenkriegspolen zeichnete sich durch ebenjene Deutung aus. Vgl. Hadler, Mesenhöller, Repräsentationen imperialer Erfahrung in Ostmitteleuropa.
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feld um den bisher am spärlichsten beleuchteten Bereich der Autobiographik.¹⁵¹ Grundsätzlich gilt es, bei autobiographischen Texten zwischen dem die schreibende Person umgebenden Raum und dem von der Person entworfenen Raum zu unterscheiden.¹⁵² Dies ist insofern wichtig, als beide Räume Einfluss auf die autobiographische Manifestation eines zu erzählenden Gegenstands haben. Dabei bleibt zu fragen, welche Rolle es für die Autobiographik der Intelligenz spielte, dass deren Autoren zum Großteil über mindestens eine Exilerfahrung verfügten, oder ihre Autobiographien im Exil, also in der Raumlosigkeit der Exilierten entstanden. Ohne zu tief in den theoriegesättigten Diskussionen von Literatur- und Kulturwissenschaft über Räumlichkeit in Selbstzeugnissen zu versinken, soll hier deutlich gemacht werden, dass die Frage, wo die Autorinnen und Autoren ihre autobiographische Erinnerung ansiedeln, welchen Orten sie Sinn und Bedeutung zuweisen und zu welchem Zweck, für die Leitfrage der Arbeit von Belang ist. Die Arbeit geht dabei davon aus, dass die Auswahl solcher loci, also biographisch bedeutungsvoller Orte und Regionen Hinweise auf Tendenzen und Haltungen zu ideengeschichtlich bedeutsamen Begriffen und Konzepten wie Nation, Europa und Zivilisation sowie Ost und West geben können. Veranschaulichen lässt sich das anhand des eingangs beschriebenen kresyMythos, der für die polnische Literatur des 19., aber auch des 20. Jahrhunderts von Bedeutung ist. Maria Janion hat auf die Besonderheit der kresy für die polnische Literatur hingewiesen und dargelegt, dass polnische Schriftsteller und Historiker die Ostgebiete auch im 19. Jahrhundert zunehmend als Kultur- und Zivilisationsgrenze zeichneten, sich selbst also in den Raum des polnischen Ostens als polnischem Herrschaftsraum und somit als europäischem Raum einschrieben.¹⁵³ Krzysztof Dybciak stellte in seiner Analyse der polnischen Memoirenliteratur des 20. Jahrhunderts fest, dass die kresy auch zentraler Ausgangspunkt in der polnischen Sowjetlagerliteratur waren. Er erklärt die herausragende Stellung dieser Region in der Lagerliteratur damit, dass über die Erzählung von den Ostgebieten die Erfahrung russisch-sowjetischer Imperialität und Fremdherrschaft im 19. und
Und dies trotz des sogenannten spatial turn in den Kulturwissenschaften. Darauf weisen auch hin: Andreas Bähr; Peter Burschel; Gabriele Jancke: Räume des Selbst. Eine Einleitung, in: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell, hg. von dens., Köln 2007, S. 1– 13, hier S. 3. Auf die Standortgebundenheit des schreibenden Subjekts heben Bähr, Burschel und Jancke ab – dies sei Voraussetzung einer Autobiographik, die die historischen Raumdimensionen berücksichtige, vgl. ebd., S. 9. Vgl. Janion, Polen in Europa, S. 35.
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20. Jahrhundert in einen historisch-nationalen Erfahrungsrahmen des Widerstands und des Leidens gesetzt wurde: In der Situation eines unfreien Polen wurde die polnische Kultur zur Kultur einer unterdrückten, diskriminierten und häufig Repressionen ausgesetzten Gemeinschaft. Unsere Literatur war also nicht das Ergebnis der Republik vieler Völker, sondern der Gesellschaft von Vasallen- und Rumpfstaaten: des Herzogtums Warschau, Kongreßpolens, der Volksrepublik Polen. Aus der Sicht der Existenz inmitten von Fremdheit betrachtet, ist die Ostgebietskultur jener Teil der polnischen Kultur, der am längsten unter fremder Vorherrschaft stand, der also am längsten russifiziert, am intensivsten sowjetisiert wurde.¹⁵⁴
Folgt man Janion und Dybciak, symbolisieren die kresy Imperialität in zweifacher Hinsicht. Zum einen dienen sie der Behauptung von Polen als Kolonisierungsmacht nach Osten, zum anderen sind sie ein Beleg für die Geschichte des Leidens unter den russisch-sowjetischen Kolonisatoren aus dem Osten. Es gilt einmal, dieses Spannungsmoment doppelter Imperialität in den autobiographischen Texten zu lokalisieren und anschließend zu fragen, wie über die Erzählung von der russisch-imperialen Erfahrung in den autobiographischen Texten Aufschlüsse über andere Raumvorstellungen oder mental maps und damit verbundene Diskurse der Autorinnen und Autoren möglich sind – verwiesen sei hier neben dem Mythos der kresy auf andere mythenhafte Bedeutungskategorien wie Sibirien, die katorga (russ. Zwangsarbeit) sowie der sybiracy (Sibiraken, polnische Verbannte in Sibirien), deren Narrative eben auch auf abstraktere Diskurse zu Polonität, Europa oder dem Westen verweisen.¹⁵⁵
Krzysztof Dybciak: Die Ostgebiets-Thematik in der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts, in: Polen und der Osten. Texte zu einem spannungsreichen Verhältnis, hg. von Andrzej Chwalba, Frankfurt am Main 2005, S. 357– 366, hier S. 362. Vgl. zur polnischen Sibirien-Mythologie etwa Antoni Kuczyński: Mitologizacja polskich dziejów na syberii. Mit sybiraka, in: Polskie mity polityczne XIX i XX wieku. Kontynuacja, hg. von Wojciech Wrzesiński, Wrocław 1996, S. 199 – 217; Wiktoria Śliwowska: Dawne i nowe badania nad polskimi zesłańcami na Syberii – ich miejsce w historii i kulturze, in: Syberia w historii i kulturze narodu polskiego, hg. von Antoni Kuczyński, Wrocław 1998, S. 265 – 276. Zum Konzept der mental maps vgl. den Forschungsüberblick von Frithjof Benjamin Schenk: Mental Maps: Die kognitive Kartierung des Kontinents als Forschungsgegenstand der Europäischen Geschichte (2013), in: Portal Europäische Geschichte Online, , 15.11. 2017.
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Zum Zusammenhang von Erfahrung und autobiographischer Erzählung und zur Generation als historischer Sinnbildungskategorie Die in dieser Untersuchung skizzierte Perspektive auf die Geschichte der polnischen Intelligenz, die nach der Verarbeitung von Erfahrung anhand von Vorstellungen und Ideen in autobiographischen Schriften der polnischen Intelligenz und nach den daraus resultierenden Sinnbildungsprozessen in den Quellen fragt, ist einem Konzept von Reinhart Koselleck entnommen. Erfahrung wird bei Koselleck als Erinnerungs- und Verarbeitungskategorie beschrieben, die den Prozess des Erzählens von Erlebtem hin zur autobiographischen Manifestation in den Blick nimmt. Die Auswahl von Erlebtem und seiner Interpretation ist mit der Zeiterfahrung eng verbunden. Vor dem Auge der Erzählenden eröffnet sich ein Raum von Erfahrungen. Koselleck beschreibt diese Perspektive auf den Erfahrungsraum als Erwartungshorizont und beschreibt damit zugleich den Vorgang des Erfahrungswandels aufgrund eines sich verändernden, weil stets gegenwartsgebundenen Erwartungshorizontes.¹⁵⁶ Historische Zeit, also die zeitlichen Abschnitte, die historische Bedeutung erlangen, wird erst durch den Begriff der Erfahrung und der damit einhergehenden Deutung von (erlebter wie auch nicht erlebter) Vergangenheit zu einer erfahrbaren und letztlich auch erzählbaren Kategorie, so Koselleck: Hoffnung und Erinnerung, oder allgemeiner gewendet Erwartung und Erfahrung, – denn Erwartung umfaßt mehr als nur Hoffnung, und Erfahrung greift tiefer als nur Erinnerung – sie konstituieren Geschichte und ihre Erkenntnis zugleich, und zwar konstituieren sie diese, indem sie den inneren Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft früher, heute oder morgen aufweisen oder herstellen. Damit komme ich zu meiner These: Erfahrung und Erwartung sind zwei Kategorien, die geeignet sind, indem sie Vergangenheit und Zukunft verschränken, geschichtliche Zeit zu thematisieren.¹⁵⁷
Anhand des Zitats wird deutlich, dass Koselleck dem Begriffspaar der Erfahrung und der Erwartung weitaus universellere Eigenschaften zukommen lässt als die bloßer Erinnerungskategorien – in ihnen kommt letztlich ein Geschichtsverständnis zum Ausdruck, in dem Koselleck die universellen Mechanismen einer über nationale Historiographien oder über die Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse der Moderne hinausgehenden Geschichtsschreibung zu erkennen
Vgl. Reinhart Koselleck: ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien, in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, hg. von dems., 4. Aufl., Frankfurt am Main 2000, S. 349 – 375, hier S. 358. Ebd., S. 353.
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meint.¹⁵⁸ Übertragen auf den hier zu befragenden Untersuchungsgegenstand von Memoiren der polnischen Intelligenz, die Bilanzierungen von Lebensleistung und gesellschaftlicher Leistung darstellen, muss es in dieser Arbeit darum gehen, die anhand der darin dargestellten Erfahrungen entworfenen Gesellschaftsvisionen und -ideen zu entschlüsseln und darzustellen. Der Begriff des Möglichkeitsfensters scheint dabei geeigneter als der Kosellecksche Begriff des Erwartungshorizonts. ¹⁵⁹ Denn die Skizzierung solcher Erwartungen in den Autobiographien stellt in sich schon einen Rückgriff auf Erlebtes und die Verarbeitung einer Erwartung als Erfahrung dar. Die in den autobiographischen Schriften beschriebenen Ideen sind entweder in die eigene Biographie eingeschriebene und erprobte Visionen, oder auch (selbst‐)reflexive Retrospektiven, in jedem Fall aber erfahrungserprobte Möglichkeitsfenster, die ihre visionäre Kraft aus der Verarbeitung ebenjener Erfahrungen ziehen. Durch die Überlegungen Kosellecks wird deutlich, dass sich die Wahrnehmung von Zeit seit dem 18. Jahrhundert und dem Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse zur Moderne hin entscheidend verändert hat. Verliefen technische, gesellschaftliche und letztlich auch historische Entwicklungen vorher so langsam, dass sie, wie Koselleck schreibt, „keinen lebensverändernden Einbruch“ erzielten, so brachte die Beschleunigung der Neuzeit und der Fortschrittsgedanke als Erklärungskategorie dieses Phänomens ein neues Verständnis von Zeit hervor: „Aus dem einen Zeitverlauf wird eine Dynamik mehrschichtiger Zeiten zur gleichen Zeit.“¹⁶⁰ Daraus folgt bei Koselleck, dass die Menschen „zwar in einem gemeinsamen Erfahrungsraum“ lebten, „der aber wurde je nach politischer Generation und sozialem Standpunkt perspektivisch gebrochen.“¹⁶¹ Koselleck hat zwar auf die retrospektiv-selbstreflexive Qualität des Erfahrungsbegriffs verwiesen, jedoch kaum beschrieben, wie sich die Erfahrung von der Gleichzeitigkeit in Erzählung von der Modernität manifestierte, geschweige denn, welche Rolle dabei der Prozess der sozialen oder der kollektiven Verortung spielte. Bezüglich dieses
Kritisch dazu vgl. Jan Marco Sawilla: Geschichte und Geschichten zwischen Providenz und Machbarkeit. Überlegungen zu Kosellecks Semantik historischer Zeiten, in: Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, hg. von Hans Joas und Peter Vogt, Berlin 2011, S. 387– 422. Michael Makropoulos hat ebenfalls auf eine ähnliche doppelte Bedeutung des Modernitätsbegriffs als „Möglichkeitsbedingung von Innovation“ und „als Quelle fundamentaler Verunsicherung“ im Vergleich zu Kosellecks Begriffspaar hingewiesen, vgl. Michael Makropoulos: Historische Semantik und Positivität der Kontingenz. Modernitätstheoretische Motive bei Reinhart Koselleck, in: Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, hg. von Hans Joas und Peter Vogt, Berlin 2011, S. 481– 513, hier S. 513. Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹, S. 367. Ebd.
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Prozesses stellt Peter Sloterdijk am Beispiel der autobiographischen Erzählung fest, dass es sich bei ihr um den Versuch handele, das eigene Leben und die gemachte Zeiterfahrung zu ordnen und ihm über das Individuelle hinaus, je nachdem, welches Publikum mit den Memoiren angesprochen werden solle, eine soziale oder gesellschaftliche Bedeutung zu verleihen. Sloterdijk nennt diesen Vorgang Relevanzproduktion: Durch sie [die Relevanzproduktion, M.-B.] vermag es der Autobiograph, seine eigene Erfahrung allgemein anbietbar zu machen; durch die Allgemeinbegriffe, die Relevanzgesichtspunkte, stellt er das Private in eine ‚semantische Öffentlichkeit‘, zugleich läßt er das Publikum herein in eine formulierte Privatsphäre.¹⁶²
Nach dem Ersten Weltkrieg sollte sich die Kategorie der Generation als die grundlegendste Kategorie zur Kompensierung der Modernitätserfahrung und der Erfahrung des Koninuitätsbruchs erweisen. Karl Mannheim (1893 – 1947) machte in seinem vielzitierten Aufsatz Zum Problem der Generationen im Jahr 1928 darauf aufmerksam, dass aufgrund der Fülle gleichzeitiger Möglichkeiten in der Moderne zwar alle Menschen in einer chronologischen Zeit lebten, jedoch jeder „in einer qualitativ völlig verschiedenen inneren Zeit“.¹⁶³ Die Generation bot hier einen Ausweg, denn durch sie wurde die verstörende Diachronizität, die Beschleunigung und damit verbundene Kluft zwischen Erfahrung und Erwartung, durch eine verbindende gemeinschaftliche Synchronizität ersetzt. Kazimierz Wyka (1910 – 1975) wiederum hat am Beispiel Polens festgestellt, dass die Generation zum dominierenden Zählmaß historischer Zeit seit dem 18. Jahrhundert wurde. Seine Theorie der literarischen Generation ist für diese Arbeit insofern von Interesse, als er mit ihr einen soziologischen Generationsbegriff einführt, der sich ähnlich wie der von Karl Mannheim dezidiert nicht am biologischen Kohortenbegriff orientiert, sondern vielmehr die Erfahrungsprägung und das daraus entstehende intellektuelle Denken als Reaktion auf Probleme seiner Zeit in den Blick nimmt, durch welches sich eine Generation manifestiert oder konstruieren lässt. Zwei Faktoren sieht Wyka dabei als zentral für die Formierung einer Generation an: Diese Faktoren kann man in zwei Gesamtgruppen unterteilen: einerseits Umbrüche, Momente des Erwachsenwerdens, historische Ereignisse, die in einer bestimmten Periode stattfanden. Haltungen, Erlebnisse, Reaktionen auf solche Umbrüche andererseits. Die durch Ereignisse definierte Zeit und das Verhältnis zu dieser Zeit. Es ist leicht zu ersehen, dass nicht der Fakt von der objektiven Existenz bestimmter Ereignisse und Umbrüche die
Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung, S. 6. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 7, 1928, S. 157– 185, 309 – 330, hier S. 164.
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1 Einleitung
Generation verbindet, denn solche Ereignisse wirkten ebenso auf Personen ein, die nicht zu einer gegebenen Generation gehörten, und dabei zu anderen Konsequenzen, stattdessen verbindet die Mitglieder der Gruppe ein bestimmtes gemeinsames, kollektives und sie [die Mitglieder] charakterisierendes Verhältnis zur historischen Zeit. Das konstituierende Hauptelement der Generation ist das eigene Erleben der Zeit und mit diesem eigenen Erleben gilt es, sich zuallererst zu beschäftigen.¹⁶⁴
Wyka macht deutlich, dass das Verhältnis einer Gruppe zu bestimmten historischen Ereignissen die Definition einer Generation ermögliche. Voraussetzung für die Ausbildung einer Generation ist demnach das verbindende Lebensalter (eine gemeinsame soziale Prägung insbesondere in der Phase der Adoleszenz), ein verbindendes Verhältnis zur Zeit – von Wyka historische Zeit genannt – und die daraus resultierende Formierung eines gemeinsamen Zeitbewusstseins, von Wyka als kollektive Zeit benannt.¹⁶⁵ Im obigen Zitat ist gleichermaßen der Befund enthalten, dass eine Generation sich erst in der Verarbeitung und im Rückgriff auf Erfahrungen konstituiert, dass dem Konzept der Generation eine konstruktivistische bzw. eine selbstreferentielle Komponente innewohnt. Wyka betont an anderer Stelle in seinen Ausführungen, dass, ausgehend von diesen Voraussetzungen, sich literarische Generationen entwickelten, die je nach Maß des generationellen Zusammenhangs über folgende Eigenschaften verfügten. Die als Kreis Gleichgesinnter benannte generationelle Gruppe zeichne sich etwa durch ein enges Meinungsspektrum und durch eine freundschaftliche Verbundenheit aus, die in der gemeinsamen sozialen Prägung wurzele. In ihr sieht Wyka die Anfänge eines zukünftigen Milieus mit neuen Zielen begründet – eine „Keimzelle, deren Rolle in der frühen Bewusstwerdung dieser Bestrebungen liegt.“¹⁶⁶ Demgegenüber unterscheidet er die programmatische Gruppe, die über ein weit loseres soziales Gefüge verfüge, jedoch mittels Journalen und Zeitschriften in der Öffentlichkeit eine eigene Programmatik entwickele und so wiederum als generationeller Identifikator über zwischenmenschliche und regionale Grenzen hinweg fungiere.¹⁶⁷ In dieser Gruppe entdeckt Wyka erstmals ein ausgebildetes Generationsbewusstsein. Es folgt die dritte Gruppe, die vollständige und bewusste Generation, die sich vor allem dadurch auszeichne, dass in ihr Abwandlungen in den Antworten auf die zeitaktuellen Fragen möglich seien und somit unterschiedliche und miteinander konkurrierende politische Programme ausgearbeitet würden.¹⁶⁸ Am Ende dieser Generationentypologie steht bei Wyka die hypotheti
Kazimierz Wyka: Pokolenia literackie, Kraków 1977, S. 59. Vgl. ebd., S. 62. Ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 76 f.
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sche Gruppe: eine Generation, die sich erst in der Rückschau der literarischen und intellektuellen Rezeption als generationelle Gruppe bezeichnen lasse und die eben nicht wie die anderen Typen über eine Selbstwahrnehmung verfüge. Die Konstruktion einer solchen Gruppe lasse sich, so Wyka, allein aus dem empirischen Material nachweisen, wenngleich ein generationelles Bewusstsein, eine generationelle Programmatik, ein generationeller Stil, Formen oder Haltungen fehlten.¹⁶⁹ Den Generationenwechsel hat Karl Mannheim intensiver als Wyka problematisiert. Sein Konzept stellt insofern eine Inspiration für die vorliegende Studie dar, als Mannheim den Begriff der „Bewußtseinsschichtung“ in ein enges Verhältnis mit dem Generationenwechsel stellt. Nicht das Faktum der in derselben chronologischen Zeit erfolgten Geburt, des zur selben Zeit Jung-, Erwachsen-, Altgewordenseins konstituiert die gemeinsame Lagerung im sozialen Raume, sondern erst die daraus erstehende Möglichkeit an denselben Ereignissen, Lebensgehalten usw. zu partizipieren und noch mehr, von derselben Art der Bewußtseinsschichtung aus dies zu tun. […] Von einer verwandten Lagerung einer zur gleichen Zeit einsetzenden Generation kann also nur insofern gesprochen werden, als und insofern es sich um eine potentielle Partizipation an gemeinsam verbindenden Ereignissen und Erlebnisgehalten handelt. Nur ein gemeinsamer historisch-sozialer Lebensraum ermöglicht, daß die geburtsmäßige Lagerung in der chronologischen Zeit zu einer soziologisch-relevanten werde.¹⁷⁰
Mannheim spricht also davon, dass erst die Teilnahme oder das Betroffensein von Ereignissen zu einer generationellen Lagerung führt, die durch die Synchronizität der Adoleszenzerfahrung lediglich prädisponiert ist. Dass sich aus diesen Erfahrungen generationelle Gemeinschaften bilden können, hängt nach Mannheim mit der Erlebnisschichtung zusammen, mit der Reihenfolge prioritärer Erlebnisse, wie der von „Jugenderlebnissen“ und darauffolgenden nachrangigen Erlebnissen: Ferner ist hier in Betracht zu ziehen das erwähnte Phänomen der Erlebnisschichtung. Es ist weitgehend entscheidend für die Formierung des Bewußtseins, welche Erlebnisse als ‚erste Eindrücke‘, ‚Jugenderlebnisse‘ sich niederschlagen, und welche als zweite, dritte Schicht usw. hinzukommen. […] [E]s ist ganz entscheidend für ein und dieselbe ‚Erfahrung‘ und deren Relevanz und Formierung, ob sie von einem Individuum erlebt wird, das sie als einen entscheidenden Jugendeindruck, oder von einem anderen, das sie als ‚Späterlebnis‘ verarbeitet. Die ersten Eindrücke haben die Tendenz, sich als natürliches Weltbild [Hervorhebung im Original, M.-B.] festzusetzen. Infolgedessen orientiert sich jede spätere Erfahrung an dieser Gruppe von Erlebnissen, mag sie als Bestätigung und Sättigung dieser ersten Erfah-
Vgl. ebd., S. 79. Mannheim, Das Problem der Generationen, S. 181.
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rungsschicht, oder aber als deren Negation und Antithese empfunden werden. Die im Laufe des Lebens gesammelten Erlebnisse akkumulieren sich eben nicht einfach durch Summation und Zusammenballung, sondern artikulieren sich im soeben beschriebenen Sinne ‚dialektisch‘.¹⁷¹
Betrachtet man Wykas und Mannheims Generationsbegriffe mit etwas Abstand, fällt auf, dass insbesondere ersterer in den Entwicklungsgesetzen des 19. Jahrhunderts, dem, was der Fortschrittsgedanke auf einen Begriff bringt, verhaftet bleibt. Ebenso differenziert Wyka nicht zwischen den generationsbildenden Medien und stellt die Frage nach der Konstruiertheit des Generationsbegriffs nicht. Dennoch bietet Wykas Generationenkonzept einen Ansatz, die Autobiographik der polnischen Intelligenz unter Zuhilfenahme der Sekundärliteratur und der in den Autobiographien anzutreffenden generationellen Selbstzuschreibungen so zu ordnen, dass die zu untersuchenden autobiographischen Schriften und ihre Autorinnen und Autoren als durchaus repräsentativ für die polnische Intelligenz des 20. Jahrhunderts gelten können. Repräsentativität meint hierbei eben nicht Vollständigkeit hinsichtlich des Untersuchungsgegenstands, sondern vielmehr den Anspruch, bezüglich der Leitfrage zu Aussagen zu kommen, die hinsichtlich ihrer generationellen Repräsentativität als verifizierbar gelten können. Mit Mannheim wiederum wird eine Typologie der Generationen der polnischen Intelligenz im 20. Jahrhundert ermöglicht, die sich der Frage widmet, welches die „Jugendeindrücke“ waren – also diejenigen Eindrücke, die zur Gestaltung eines generationellen Zusammenhangs und zu den Mannheimʼschen „natürlichen Weltbildern“ beigetragen haben – und die hilft, den großen umfassenden Untersuchungszeitraum des 20. Jahrhunderts zu strukturieren.
Unbeugsame, Revolutionäre, Republikaner: Drei intellektuelle Generationen der polnischen Intelligenz im 20. Jahrhundert Ausgehend von Mannheims und Wykas Generationsbegriffen lässt sich eine Typologie der Generationen der polnischen Intelligenz des 20. Jahrhunderts entwickeln, die sich an den Jugenderlebnissen einer Generation und den von ihr bzw. von den in der gesellschaftlichen Wahrnehmung retrospektiv ausgewählten Gemeinschaftserfahrungen orientiert. Im Folgenden werden diese Gruppen als intellektuelle Generationen bezeichnet – nicht zuletzt um deutlich zu machen, dass es sich dabei, wie Wyka gezeigt hat, um Konstruktionen handelt, die die individuelle Erfahrung ihrer Angehörigen nur in Teilen erfassen können. Die älteste im Ebd., S. 182.
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20. Jahrhundert vertretene Gruppierung der polnischen Intelligenz, die niepokorni (die Unbeugsamen), ist gleichzeitig die wohl bedeutsamste und entspricht der von Wyka skizzierten Kategorie einer vollständigen und bewussten Generation am ehesten.¹⁷² Die Bezeichnung geht auf den Historiker Bohdan Cywiński zurück, der mit dem Begriff die Gruppe der nach dem Aufstand von 1863 sozialisierten Generation der polnischen Intelligenz beschreibt. Cywińskis Studie, 1971 erstmals erschienen und dem polnischen oppositionellen Denken verpflichtet, entwirft ein Panorama dieser Generation als Archetyp intelligenten Denkens, das drei Ideen verpflichtet ist: dem Fortschritt, der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit und der Unabhängigkeit Polens.¹⁷³ In ihr sah Cywiński nicht weniger als „die Geburt einer neuen Epoche in der Geschichte des gesellschaftlichen und politischen Denkens in Polen.“¹⁷⁴ Neben diesen drei Ideen kennzeichnete die Unbeugsamen Brian Porter-Szűcs zufolge eine über die politischen Haltungen hinweg einende antiimperiale Haltung, die sich vor allem gegen die Herrschaftsadministration des Russischen Imperiums im Königreich Polen und in den ehemals östlichen Gebieten Polens richtete – ein „spirit of protest against everything vile“.¹⁷⁵ Die Anwesenheit einer russischen Administration in Polen verlieh dem Modernitätsparadigma der Unbeugsamen seine Spezifik, was zur Folge hatte, dass die polnische Intelligenz sich in zweierlei Hinsicht herausgefordert sah, einmal durch die russische Administration selbst und in zunehmendem Maße durch die Transformation einer agrarisch geprägten Gesellschaft in eine Industriegesellschaft. Dies galt vor allem in den Städten, wo die Intelligenz agierte. Porter-Szűcs stellt für das Ende des 19. Jahrhunderts eine Kluft zwischen den Unbeugsamen und Bauernund Arbeiterschaft fest und fasst die Situation der Intelligenz folgendermaßen zusammen: We thus see the conjuncture of two forces: an urban population in a state of cultural and social dislocation and an impoverished, frustrated Polish intelligentsia. The latter would turn to the former for salvation, but the link between the niepokorni and ‘the people’ would always be problematic.¹⁷⁶
Im Dreieck von national-avantgardistischem Selbstverständnis, anti-imperialer Haltung und einem sozial exklusiven Adel-Intelligenz-Konnex – von Longina Jakubowska auch als „preeminence of the noble standard“ beschrieben – ent-
Vgl. Wyka, Pokolenia literackie, S. 76 f. Vgl. Bohdan Cywiński: Rodowody niepokornych, Paris 1985, S. 44 f. Ebd., S. 45. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 84. Ebd., S. 78.
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wickelten die Unbeugsamen Ideen von der polnischen Nation, die den Alleinvertretungsanspruch des polnischen Adels anfochten und mit der Berufung auf den lud, das Volk, die polnische nationale Bewegung inspirierten.¹⁷⁷ Das nationale Denken der Unbeugsamen wurde dabei unter anderem vom russischen narodničestvo-Begriff inspiriert.¹⁷⁸ Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit Polens 1918 zählten die Unbeugsamen zu den ältesten noch lebenden Vertretern der polnischen Intelligenz. Innerhalb der Intelligenz besaßen sie eine Vorrangstellung, die ihnen ermöglichte, ihre Ideen und Programme in die Gesellschaft der Zwischenkriegszeit zu tragen und durchaus zentrale Positionen in nahezu allen Bereichen von Gesellschaft, Öffentlichkeit und Politik zu besetzen.¹⁷⁹ Eine den Unbeugsamen nachfolgende Generation auszumachen, fällt weitaus schwerer. Dies hat zum einen mit dem Fehlen eines zentralen Ereignisses wie dem Aufstand von 1863 zu tun, dessen Folgen, wie etwa die anti-polnische Politik des Russischen Imperiums und der folgenden Repressionen für die Unbeugsamen prägend war. Zum anderen überdeckte und verhinderte die Wahrnehmung der Unbeugsamen und die ihnen zugeschriebene Rolle als Gründergeneration der Polnischen Republik die Formierung oder die Konstruktion einer ähnlich bedeutsamen nachfolgenden Gruppe. Kazimierz Wyka hat in seiner Generationstheorie die Annahme vertreten, dass die Revolution von 1905 nicht als Gründungsereignis einer polnischen literarischen Generation fungierte, obwohl ihm zufolge dieses Ereignis in der polnischen Öffentlichkeit ein größeres literarisches Echo hervorrief als der Aufstand.¹⁸⁰ Wykas Befund mag für die Kategorie der literarischen Generation zutreffen, bezüglich der polnischen Intelligenz und der Frage nach einer intellektuellen Generation ist Wyka jedoch nur bedingt zuzustimmen. Denn die revolutionären Ereignisse von 1905, die Krisen des Russländischen Reichs, die Formierung einer russlandweiten revolutionären Bewegung, der Zusammenbruch des Imperiums und die russische Revolution von 1917 sowie die Spaltung der polnischen Intelligenz in – vereinfacht ausgedrückt – nationalistische und sozialistische Vertreterinnen und Vertreter führten durchaus zur Bildung einer intellektuellen Generation der in den 1880er und 1890er Jahren Geborenen, im Folgenden Revolutionäre genannt. Deren Protagonistinnen und
Longina Jakubowska: Patrons of History. Nobility, Capital and Political Transitions in Poland, Burlington, Vt. 2012, S. 45. Zum nationalen Denken der niepokorni vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 91. Zur Idee des narodničestvo (Volkstumsdenken, nicht zu verwechseln mit völkischem Denken) vgl. Thomas Möbius: Russische Sozialutopien von Peter I. bis Stalin. Historische Konstellationen und Bezüge, Berlin 2015, S. 151 f. Vgl. Roman Wapiński: Świadomość polityczna w Drugiej Rzeczypospolitej, Łódź 1989, S. 30. Vgl. Wyka, Pokolenia literackie, S. 103.
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Protagonisten unterschieden sich in ihrer Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit deutlich von den Unbeugsamen. Ereignisse wie die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen bewaffneten Vertretern rechter und linker Parteiverbände, Angriffe polnischer Bauern auf polnische Revolutionäre im Jahr 1906, aber auch die Infiltrierung sozialistischer Parteien durch die russischen Geheimorgane sowie die post-revolutionäre Restauration der russisch-imperialen Administration ließen die Revolutionäre den Moralismus der Unbeugsamen und deren Idee von der Verwirklichung einer nationalen Einheit durch Formen der gesellschaftlichen Selbstverwaltung zunehmend in Frage stellen.¹⁸¹ Die diese Generation kennzeichnende Radikalisierung manifestierte sich unter anderem in Gewalt in Form von Bombenanschlägen oder in der Gründung von paramilitärischen Kampfverbänden vor und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Zunehmend entfremdete sich die Generation der Revolutionäre von der Bevölkerung und definierte sich vielmehr durch eine feindliche Haltung zum herrschenden Regime. Dass es sich um eine neue Generation mit einem durchaus ausgebildeten Generationsbewusstsein handelte, wird daran deutlich, dass die Revolutionäre sich selbst und ihre gesellschaftliche Vorrangstellung kritisch in Frage stellten, die Krise in der polnischen Intelligenz nach den revolutionären Ereignissen von 1905 und 1906 beschreibt Micińska als „increasing fever of mutual distrust“.¹⁸² Daher wird zu fragen sein, inwiefern sich diese generationellen Eigenschaften in den Lebensverläufen und den Lebensbeschreibungen dieser Generation der polnischen Intelligenz nach 1918 widerspiegelten, stellten die Revolutionäre doch die größte generationelle Gruppe der Intelligenz in der Zwischenkriegszeit. In der Folge ist diese Gruppe auch die größte unter den hier untersuchten Autobiographien. Sucht man bei ihr nach literarischen Vorbildern, ließe sich die Erzählung Przedwiośnie (Vorfrühling) des Schriftstellers Stefan Żeromski (1864– 1925) von 1924 anführen, deren Held Cezary Baryka, aus einer polnisch-adeligen Unternehmerfamilie in Baku stammend, die Folgen des Weltkriegs und die russische Revolution dazu veranlassen, nach Polen zu flüchten und dessen Erwartungen von Polen von der vorgefundenen sozialen Wirklichkeit infrage gestellt werden.¹⁸³ Der Erfahrungsraum dieser Generation reicht über die Zwischenkriegszeit hinaus bis zum Zweiten Weltkrieg, dessen Folgen und die Errichtung eines kommunistischen Polens den Blick auf das eigene Leben prägen sollten. Ähnliches gilt für die Generation der um die und nach der Jahrhundertwende Geborenen, im Folgenden Republikaner genannt. Sie sind die letzte Gruppe der
Vgl. Micińska, A History of the Polish Intelligentsia, S. 155 – 159. Ebd., S. 159. Stefan Żeromski: Przedwiośnie, Warszawa 1924.
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Zeuginnen und Zeugen vom Zerfall des Russischen Imperiums. Ihre Vertreterinnen und Vertreter mit deren Lebenserzählungen sind zugleich die jüngsten Angehörigen eines Teils der polnischen Intelligenz, der die Zeit vor 1918, den Kriegsausbruch, den Zerfall der Teilungsimperien Polens und die Unabhängigkeit Polens als Teil der Adoleszenzerfahrung reflektiert. Für die Republikaner war das Polen der „Glashäuser“, wie es Żeromski in Przedwiośnie beschrieben hatte, keineswegs mehr Vision am eigenen Erwartungshorizont. Die 1918 gegründete Zweite Polnische Republik und die Zeit bis zum Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands und der Sowjetunion auf Polen 1939 waren in das Zentrum der eigenen Erfahrungen gerückt und wurden zum Gradmesser für den Blick zurück. Dabei waren nicht nur die folgenden Zäsuren von 1939 und 1945 von Bedeutung, mindestens ebenso prägsam blieben die Erfahrungen der neuen Herrschaftsverhältnisse in Polen oder der Gang und das (Über‐)Leben im Exil, wo die Memoiren der Angehörigen dieser Generation zumeist entstanden. Für ihr Selbstverständnis als Angehörige der polnischen Intelligenz war die Erfindung oder die Betonung der intelligenten Tradition in der eigenen Familie, das bedeutet, die Repräsentation der Teilungen Polens in der Familiengeschichte essentieller Bestandteil für ihre eigene Verortung in diese Gruppe. Wenngleich der polnische, 1951 ins westliche Exil geflüchtete Schriftsteller Czesław Miłosz (1911– 2004) zu spät geboren ist, um als Vertreter der Republikaner zu gelten, kann dessen Literatur durchaus als repräsentativ hinsichtlich der generationellen Erfahrungen dieser Gruppe gelten. Folgendes Zitat aus seiner im Exil entstandenen Erzählung Heimatliches Europa zeigt, wie sich die späteren Erfahrungen in Miłoszs autobiographische Erzählung über Russland und die eigene Kindheit im zerfallenden Imperium einschreiben und ihn zu Suggestionen und Mythenbildung treiben: Wenn die Polen das russische Wesen begreifen, dann vor allem durch die Sprache, die sie anzieht und die an das Slavische in ihnen appelliert; in der Sprache ist eigentlich alles, was man über Rußland lernen kann, enthalten. Aber was sie anzieht, bedroht sie gleichzeitig […]. Meine Generation war sich jedoch der Gefahren nicht mehr so stark bewußt. Und daß wir in einer politischen Sackgasse waren, daß davon alles Gedachte und Gesagte beeinflußt wurde, blieb aus verschiedenen Gründen verborgen. Es war damals schwer vorauszusehen, daß die schon im Museum abgelegte Leidensgeschichte bald von neuem anfangen würde. […] [D]ie meisten Polen vollzogen bereits im ersten Monat des zweiten Weltkrieges den Sprung in die Vergangenheit und fanden sich wie selbstverständlich mit den ihnen vertrauten Automatismen ab. Zwanzig Jahre souveräner Staat, das ist eine kurze Spanne Zeit, und was sich da an Gewohnheiten herausgebildet hatte, fiel ab wie Staub von Schmetterlingsflügeln.¹⁸⁴
Czesław Miłosz: West und östliches Gelände, ungekürzte Ausg., München 1986, S. 156. Mi-
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Deutlich wird im Zitat Miłoszs Selbstzuschreibung als Repräsentant einer Generation, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg sozialisiert wurde. Der Schriftsteller deutet an, dass für seine Generation erst die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und des Verlusts der Unabhängigkeit Polens die Möglichkeit schuf, sich in der Rückschau mit der Geschichte polnischen Widerstands und der polnischen Intelligenz vor dem Ersten Weltkrieg zu identifizieren, sich in diese einzuschreiben und unter den Bedingungen der Nachkriegszeit eine Erzählung des polnisch-russischen Verhältnisses fortzuschreiben, die er unter Bezugnahme auf die eigenen Erlebnisse unmittelbar vor Kriegsende im sowjetisch besetzten Polen und mit einem Hinweis auf Joseph Conrads Beschreibung des polnisch-russischen Verhältnisses als zweier unvereinbarer Blöcke skizziert: Es hat keinen Sinn, sich als Ausnahme hinzustellen und die allen Polen eigene Besessenheit zu leugnen. […] Die Polen und die Russen lieben einander nicht, genauer gesagt, sie hegen alle möglichen feindseligen Gefühle gegeneinander, von der Verachtung und dem Abscheu bis zum Haß, was eine unklare gegenseitige Anziehung, in der immer das Mißtrauen mitspricht, nicht ausschließt. Die Schranke zwischen ihnen ist die – um Joseph Conrads Worte zu gebrauchen – incompatibility of temper [Hervorhebung in der Übersetzung, M.-B.].¹⁸⁵
Mit der übernommenen Formel des polnischen Schriftstellers Joseph Conrad (1857– 1924) aus der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts bemüht sich Miłosz um nicht weniger als um die Erneuerung einer ewigen polnisch-russischen Inkompatibilität sparadigmas.¹⁸⁶ Durch Polens Nähe zum östlichen Nachbarn kommt ihm zufolge die Wesensungleichheit beider Nationen erst deutlich zum Ausdruck. Ausgerechnet in der Beschreibung des polnisch-russischen Verhältnisses stößt Miłoszs Konzept einer kosmopolnischen Multikulturalität, wie Hans-Christian
łoszs autobiographischer Essay erschien 1959 im Original, in deutscher Übersetzung mit dem sperrigen Titel West und Östliches Gelände erstmals dann 1961. Ebd., S. 145. Woher Miłoszs Zitat von Conrad stammt, ist nicht genau zu verifizieren. Conrad schreibt in seinen Notes on Life and Letters lediglich: „For Germanism it [Polonism] feels nothing but hatred. But between Polonism and Slavonism there is not so much hatred as a complete and ineradicable incompatibility.“ Joseph Conrad: Notes on Life & Letters, London 1921, S. 135 f. Jolanta Dudek stellt in ihrem Aufsatz über die Wahrnehmung von Conrad in Miłoszs Schriften fest, dass letzterer bereits vor seiner Flucht ins westliche Exil in Conrads Werken eine Blaupause für das eigene Russlanddenken und seine Sicht auf die Sowjetunion entdeckte. Vgl. Jolanta Dudek: Miłosz and Conrad in the Treatise on Morality, in: Yearbook of Conrad Studies 7, 2012, S. 125 – 158, hier S. 130. Über Conrad als Vorreiter einer post-kolonialen Perspektive auf das Russische Imperium vgl. Cavanagh, Postkolonialna Polska, S. 65.
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Trepte das Selbstverständnis des Schriftstellers beschreibt, an seine Grenzen.¹⁸⁷ In seinem Essay und in anderen Schriften aus der Zeit des Exils verfällt der Schriftsteller in eine ähnlich monolithartige Skizzierung des Verhältnisses zwischen Polen und russischem bzw. sowjetischem Imperium, wie es die polnische Intelligenz der späten Teilungszeit und der Zwischenkriegszeit auszeichnete.¹⁸⁸ Auffällig ist auch Miłoszs Bemühen im Zitat, seine Überlegungen zu Russland zu generalisieren, wenn er eine kontinuierlich existierende Grundstruktur für Russland über 1917 hinaus und eine ebenso andauernde russisch-polnische Inkompatibilität entwirft. So sind für Miłosz die Soldaten der Roten Armee von 1945 „die rechtmäßigen Erben der Wesensart, aus der Dostojewski und Tolstoi geschöpft hatten. Und wie ihre Vorfahren Napoleon geschlagen hatten, so hatten sie Hitler geschlagen.“¹⁸⁹ Es wird in dieser Studie zu zeigen sein, inwiefern sich dieses Bild mit den hier untersuchten autobiographischen Russlandbeschreibungen deckt und wo sich zwangsläufig Bruchstellen zwischen den einzelnen Darstellungen ergeben.
1.5 Zu den Quellen Die Studie untersucht autobiographische Texte von Autorinnen und Autoren, die der polnischen Intelligenz angehörten, genauer: sich in ihren Schriften mit dieser identifizierten, und deren Lebenserinnerungen an die Zeit des zerfallenen Russländischen Reiches nach 1917 im Verlauf des 20. Jahrhunderts entstanden waren. In der Literaturwissenschaft wird die genrespezifische Unterscheidung zwischen Memoiren und Autobiographien nach wie vor aufrechterhalten. Czermińska etwa sieht in beiden Erzählgenres unterschiedliche Erzählformen vorherrschend und unterscheidet zwischen extrovertierten Erzählungen (Memoiren) und introvertierten bzw. introspektiven Erzählungen (Autobiographien).¹⁹⁰ Diese für die Lite-
Vgl. Hans-Christian Trepte: „Krajowość“ vs. „polskość“. Miłosz‘ Identitätssuche, in: Czesław Miłosz im Jahrhundert der Extreme. Ars Poetica – Raumprojektionen – Abgründe – Ars translationis, hg. von Andreas Lawaty und Marek Zybura, Osnabrück 2013, S. 173 – 187, hier S. 174. Vgl. Alfred Gall: Über das Imperium. Czesław Miłosz und sein Russlandbild im Kontext der polnischen Kultur, in: Czesław Miłosz im Jahrhundert der Extreme. Ars Poetica – Raumprojektionen – Abgründe – Ars translationis, hg. von Andreas Lawaty und Marek Zybura, Osnabrück 2013, S. 135 – 157, hier S. 140. Gall schreibt vorher, dass Miłosz „sein Russlandbild in diskursiven Strukturen“ entwickelt, „ohne diese semantischen Voraussetzungen jedoch eigens zu reflektieren. Er schreibt sich in einen Diskurs ein, den er zugleich fortführt und modifiziert.“ Ebd., S. 136. Miłosz, West und östliches Gelände, S. 158. Vgl. Małgorzata Czermińska: Autobiografia i powieść. Czyli pisarz i jego postacie, Gdańsk 1987, S. 18.
1.5 Zu den Quellen
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raturwissenschaft relevante genrespezifische Unterteilung wird in dieser Studie nicht aufrechterhalten, wenngleich die gewählten Erzählformen bei der Betrachtung der Texte und den Hintergründen ihrer Entstehung durchaus eine Rolle spielen. Memoiren und Autobiographien wurden bei der Auswahl der Quellenmaterialien insofern gleichwertig behandelt, als diese eine lebensgeschichtliche Perspektive aufweisen konnten. Desweiteren handelt es sich bei den ausgewählten Texten zum großen Teil um Werke, die noch zu Lebzeiten oder posthum publiziert wurden, oder für die eine Veröffentlichung von den Schreibenden zumindest angedacht war. Damit geht die Feststellung einher, dass es sich bei den ausgewählten Schreibenden zumeist um Personen des öffentlichen Lebens, in etlichen Fällen auch um sogenannte public intellectuals handelte, um Personen also, die ihr autobiographisches Schreiben nicht nur als Akt verstanden, das eigene Leben für sich selbst und etwa für einen innerfamiliären Wahrnehmungskreis zu ordnen und zu erklären, sondern auch als Versuch, mit ihrem Schreiben an gesellschaftlichen und politischen Debatten der Öffentlichkeit teilzuhaben und in diesen Stellung zu beziehen. In Anlehnung an Arthur Melzer, der die Rolle der Außenseiterschaft von public intellectuals in der öffentlichen Debatte unterstreicht, gilt es in der Untersuchung den Einfluss eines solches Selbstverständnisses der Schreibenden als public intellectuals auf die jeweilige autobiographische Erzählung russisch-imperialer Erfahrung zu hinterfragen.¹⁹¹ Die weiter oben skizzierten Fragen an den Untersuchungsgegenstand und der sich daraus ergebende Modus einer intensiven Quellenbefragung bedurften eines qualitativen Zuschnitts der Arbeit und machten eine enge Limitierung des Quellenkorpus notwendig. Die in dieser Studie besprochenen autobiographischen Schriften von acht Autorinnen und Autoren stellen demzufolge nur eine kleine Auswahl aus einem etwa siebzig Personen zählenden Cluster dar, für die sich im Vorfeld der Studie veröffentlichte sowie unveröffentlichte Autobiographien und Memoiren, aber auch fragmentarische Entwürfe in persönlichen Nachlässen finden ließen. Die Zusammenstellung dieses Clusters erfolgte systematisch über die Suche in einschlägigen Lexika und Nachschlagewerken, aber auch in der Sekundärliteratur und in Suchmaschinen der polnischen staatlichen Archive.¹⁹²
Vgl. Arthur Melzer: What Is an Intellectual?, in: The Public Intellectual. Between Philosophy and Politics, hg. von dems., Jerry Weinberger und Richard Zinman, Lanham, Md. 2003, S. 3 – 14. Bei der Suche wurde unter anderem zurückgegriffen auf: Edward Maliszewski (Hg.): Bibliografia pamiętników polskich i Polski dotyczących (druki i rękopisy), Warszawa 1928; Aleksander Kochański: Ksie̜ga polskich uczestników Rewolucji Październikowej 1917– 1920,Warszawa 1967; Artur Kijas (Hg.): Polacy w Rosji od XVII wieku do 1917 roku. Słownik biograficzny,Warszawa 2000; Kazimierz Dopierała (Hg.): Encyklopedia polskiej emigracji i Polonii, 5 Bde., Toruń 2003 – 2005. Bei der Suche nach persönlichen Dokumenten und unveröffentlichten Erinnerungen in
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1 Einleitung
Wenngleich nicht alle Texte in der Untersuchung ausführlich besprochen werden, werden die übrigen Quellen bei der Auswahl der in der Studie untersuchten Schriften herangezogen, um die hier ausgewählten Schriften und deren Autorinnen und Autoren hinsichtlich ihrer sozialen und generationellen Repräsentativität zu testen und die in der Untersuchung aufgestellten Hypothesen auf ihre Haltbarkeit zu befragen. Volker Depkat hat in seiner Untersuchung autobiographischer Schriften von deutschen Politikerinnen und Politikern im 20. Jahrhundert die Frage der Repräsentivität von Untersuchungen autobiographischer Schriften ebenfalls kommentiert und die Notwendigkeit einer qualitativen Befragung damit begründet, dass nur durch sie gedeutete Erfahrung und die daraus resultierende rückblickende Sinnbildung als „Schichtungsphänomen“ sichtbar würden.¹⁹³ Als erstes Kriterium für die Auswahl der Texte und ihre Aufnahme in die vorliegende Studie galt zunächst einmal die Zugehörigkeit zur polnischen Intelligenz als Teil der Lebenserzählung der Schreibenden. Es fanden all jene autobiographische Schriften Beachtung, in denen Selbstdefinitionen der polnischen Intelligenz ausgehandelt und intelligente Selbstwahrnehmungen skizziert wurden. Die geographische Herkunft der Autorinnen und Autoren war ein weiteres Kriterium bei der Auswahl der Texte. So wurden Texte jener Autorinnen und Autoren berücksichtigt, die über eine östliche Herkunft, genauer: eine Herkunft aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten der Frühen Neuzeit oder aus weiter östlich gelegenen Gebieten des Russländischen Reiches verfügten. Ausgewählt wurden desweiteren Quellen, die den zeitlichen Rahmen der Studie sowie das soziale, das generationelle wie auch das politische Spektrum der polnischen Intelligenz möglichst breit abbildeten. Der Entstehungszeitraum der Texte umfasst demnach nahezu das gesamte 20. Jahrhundert, angefangen bei den frühen Memoiren von Bolesław Limanowski (1835 – 1935), die dieser bereits in der Zeit des Ersten Weltkriegs zu schreiben begann, bis hin zu den autobiographischen Schriften des knapp siebzig Jahre jüngeren Stanisław Swianiewicz, die in den späten siebziger Jahren entstanden und erst 1996 von seinen Familienangehörigen publiziert wurden.¹⁹⁴ Eine zeitlich derart angelegte Untersuchung eignet sich zur Beantwortung der Frage, inwiefern die Ereignisse des 20. Jahrhunderts Eingang in das autobiographische Schreiben der ausgewählten Protagonisten hielten und wie neuere Erfahrungen die autobiographische Erzählung der polnischen Archiven half die Suchmaschine SEZAM der Naczelna Dyrekcja Archiwów Państwowych (Leitende Direktion der Staatlichen Archive). Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden, S. 42. Vgl. Bolesław Limanowski: Pamiętniki, 4 Bde., Warszawa 1937– 1973; Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość.
1.5 Zu den Quellen
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Intelligenz von der russisch-imperialen Erfahrung beeinflussten. Um den methodischen Rahmen der Studie zu wahren, wurden diejenigen Autorinnen und Autoren berücksichtigt, die ihre autobiographischen Texte auf Polnisch verfassten, sich also an eine polnische Öffentlichkeit wandten. Die nationale Zugehörigkeit der Schreibenden blieb insofern zweitrangig, als sie der in der Studie untersuchten Kategorie der sozialen und nationalen Selbstzuschreibung der Autorinnen und Autoren in den Texten nachgeordnet wurde. Aufgrund der Heterogenität des Untersuchungsgegenstands und des großen zeitlichen Rahmens der Untersuchung zeichnet sich der Quellenkorpus durch Besonderheiten aus, die es in der Gesamtschau der Texte zu beachten galt. Dies betrifft zunächst die russisch-imperiale Erfahrung, ihre lebenszeitliche Verortung in den unterschiedlichen Biographien und die unter anderem daraus resultierende Bedeutungszuordnung dieser Erfahrung für die eigene Lebensdeutung. So unterscheiden sich in den Biographien der Zeitpunkt, die Dauer und der räumliche Rahmen der jeweiligen individuellen Erfahrungen auch insofern voneinander, als die jeweiligen Personen unterschiedlichen Geburtenjahrgängen zugeordnet waren, über unterschiedliche politische Haltungen verfügten und sich deshalb in unterschiedlichen sozialen und lokalen Milieus bewegten.¹⁹⁵ Als Kriterien für eine systematische und vergleichende Analyse der Quellen bieten sich hier zum einen die jeweiligen Entstehungszeiträume der autobiographischen Texte sowie die in den Texten zum Ausdruck gebrachten gemeinsamen Erfahrungsräume und lokalen Bezugspunkte an, aber auch dort zu findende Bezüge zu bereits bestehenden Wissens- und Ideentraditionen. All diese Kriterien liefern Hinweise auf einen Wandel von Beschreibungen Russlands und des Ostens, wie auch auf Konjunkturen dieses Wandels sowie diesem Wandel zugrundeliegende neuere Erfahrungsaufschichtungen. Ebenso lassen sich aber auch Kontinuitäten, Abwandlungen und Persistenzen nationalen und politischen Denkens sichtbar machen. Wie bereits angedeutet, fällt bei der Betrachtung der autobiographischen Texte und der Biographien der Autorinnen und Autoren auf, dass es sich bei der Gruppe der polnischen Intelligenz um eine sozial höchst heterogene Gruppe handelte, die zwar über etliche gemeinsame Gruppenmerkmale wie eine (je nach generationeller Zugehörigkeit unterschiedlich ausgeprägte) adelige Herkunft verfügte und darüber hinaus einen Bildungshabitus aufwies, wobei sich die Biographien der einzelnen Repräsentantinnen und Repräsentanten durch teil Der 1835 geborene Bolesław Limanowski ist der älteste hier zu behandelnde Protagonist und ebenso Autor eines der ersten nach 1918 entstandenen autobiographischen Texte, die sich dem eigenen Leben im Russländischen Reich widmen. Zwischen ihm und dem jüngsten Protagonisten dieser Studie, dem 1909 geborenen Paweł Jasienica, liegen demzufolge 74 Jahre.
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1 Einleitung
weise gegensätzliche soziale Wirklichkeiten und letztlich auch durch unterschiedliche soziale Lagen auszeichneten. Die soziale Lage einzelner Intelligenzlerinnen und Intelligenzler wandelte sich häufig auch innerhalb ihrer Biographien, die geprägt waren von etlichen Systemwechseln und -krisen wie den Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914, die Revolutionen und die Gründung Polens 1917 und 1918, den Kriegsausbruch 1939 sowie durch die Neuordnung der politischen Verhältnisse in Polen nach 1945 und die dann folgende Flucht eines erheblichen Teils der polnischen Intelligenz ins westliche Exil. Eine weitere Spezifik des Quellenkorpus ist der immens hohe Anteil von männlichen Autoren – ein Umstand, der sich letztlich in der nach wie vor überschaubaren Forschungsliteratur zu Frauen in der polnischen Intelligenz niederschlägt und auf ein klares Forschungsdesiderat verweist.¹⁹⁶ Für die vorliegende Untersuchung konnte folglich die autobiographische Schrift lediglich einer Autorin, die Erinnerungen einer Revolutionärin von Halina Krahelska (1866 – 1945), Berücksichtigung finden.
1.6 Gliederung und Aufbau der Arbeit Zur Beantwortung der Leitfrage und für die Untersuchung der beiden zentralen Problemkomplexe, die Selbstrepräsentationen der polnischen Intelligenz und die Verarbeitung der russisch-imperialen Erfahrung in deren autobiographischen Schriften, wurde ein chronolgisch-problematisierender Aufbau der Studie gewählt. Das als Einführung in die Thematik entwickelte zweite Kapitel widmet sich zunächst der Geschichte des polnischen Russland- und Ostdenkens und fragt in Anlehnung an den Komplex-Begriff von Gerd Koenen nach der Komplexhaftigkeit und den (post‐)kolonialistischen Elementen dieses Denkens.¹⁹⁷ In dem Kapitel geht es vorrangig darum, polnische Denktraditionen und Ideenströmungen zu Russland aufzuspüren und vorzustellen sowie den polnischen Vorstellungsraum zum Osten sichtbar zu machen, um in den danach folgenden Analysen zu den einzelnen autobiographischen Schriften Bezüge zur polnischen Wahrnehmung Russlands und zum polnischen Ostdiskurs herstellen zu können. Das Kapitel soll
Für neue gendergeschichtliche Perspektiven auf die Geschichte der polnischen Intelligenz vgl. etwa Tomasz Pudłocki, Katarzyna Sierakowska (Hg.): Aktywność publiczna kobiet na ziemiach polskich. Wybrane zagadnienia, Warszawa 2013. An dieser Stelle sei auch auf die mangels weniger neuerer Forschungen nach wie vor relevante Studie von Claudia Huerkamp verwiesen: Claudia Huerkamp: Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900 – 1945, Göttingen 1996. Vgl. Gerd Koenen: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 – 1945, München 2005.
1.6 Gliederung und Aufbau der Arbeit
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also beim Lesen der Studie Orientierung geben und helfen, Spuren polnischen Ostdenkens in der Autobiographik der polnischen Intelligenz aufzudecken und auf ideologische Kontinuitäten oder Persistenzen sowie auf Rekonfigurationen und Abwandlungen dieses Denkens in den Quellen aufmerksam zu machen. Zeitlich greift das Kapitel auf die polnische Ideengeschichte des späten 18. und des 19. Jahrhunderts zurück, da insbesondere in der Zeit der Teilungen Polens Ideen polnischer Östlichkeit vor dem Hintergrund vergangener polnischer Staatlichkeit und erinnerter Größe entwickelt, diskutiert und von der polnischen Intelligenz kanonisiert wurden. Das Kapitel soll auch zeigen, dass dieser Ideenkanon nach der Staatenwerdung Polens im Jahr 1918 den Ausgangspunkt für die weitere intellektuelle Auseinandersetzung in Polen mit Russland und dem Osten im 20. Jahrhundert bildete und deren grundlegende Tendenzen entscheidend vorprägte. Die danach folgenden Kapitel zu den einzelnen Quellen folgen der Ereignischronologie des 20. Jahrhunderts grob und widmen sich in ausführlichen Mikroanalysen den Biographien der Autorinnen und Autoren und deren autobiographischen Schriften. Mit der frühen Autobiographik der polnischen Intelligenz nach 1918 und den darin auffindbaren Darstellungen russisch-imperialer Erfahrung setzt sich das dritte Kapitel auseinander und untersucht Lebenserzählungen von Bolesław Limanowski und Władysław Studnicki. Beide Autoren können als Repräsentanten der Generation der Unbeugsamen gelten. Beide betrachteten sich zuallererst als Vertreter einer nationalen, am polnischen Staatlichkeitsprinzip orientierten Avantgarde und erst danach als Vertreter politischer Strömungen. Während Limanowski, Gründungsmitglied der Polska Partia Socjalistyczna (PPS, Polnische Sozialistische Partei), als Vertreter einer links-patriotischen Strömung gelten kann, entzieht sich Studnicki, zunächst Parteigänger der PPS, danach der polnischen Nationaldemokraten sowie später des Polskie Stronnictwo Ludowe (PSL, Polnische Volkspartei), einer eindeutigen Zuordnung zu einer politischen Strömung und kann stattdessen als Vertreter eines anti-demokratischen und konservativen Großmachtdenkens beschrieben werden. In der vergleichenden Analyse der beiden Autoren und ihrer autobiographischen Schriften lassen sich generationelle Spezifika bei der Verarbeitung der russisch-imperialen Erfahrung, aber ebenso auch Brüche im Gruppenbewusstsein der Unbeugsamen bei der rückblickenden Betrachtung in den neuen Verhältnissen des unabhängigen Polens auf die eigene Tätigkeit im imperialen Zeitalter aufdecken. Ebenso lassen sich an den beiden Beispielen Kontinuitäten und Wandlungen polnischen intelligenten Denkens vor und nach 1918 herausarbeiten. Studnicki verfügte beispielsweise über ein bedeutendes Arsenal an Schriften zum polnisch-russischen Verhältnis aus der Teilungszeit, auf die er in seiner Autobiographie häufig Bezug nahm. Die Frage nach der Kontinuität anti-russischen Denkens wie etwa im Fall Studnickis
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1 Einleitung
ist auch und vor allem dann von Belang, wenn gezeigt werden soll, welchen Einfluss die neuen nationalstaatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Polen und die Existenz der Sowjetunion auf die frühe intelligente Autobiographik im post-imperialen Zeitalter hatten. In Kapitel vier soll dieser Punkt, die Formierung einer intelligenten Autobiographik vor dem Hintergrund der Entstehung und Entwicklung des sowjetischen Nachbars im Osten und die in den Quellen zu findenden Verweise darauf eingehender betrachtet werden. Dabei stehen mit Halina Krahelska und Stanisław Stempowski zwei Repräsentanten einer links-liberalen Strömung der polnischen Intelligenz im Fokus, deren autobiographische Schriften in einer Zeit der gesellschaftlichen Radikalisierung und der systemischen Verwerfungen in den dreißiger und vierziger Jahren entstanden. Die Autorin und der Autor mussten sich dabei mit der Frage nach der Existenz des polnischen Staats zwischen nationalsozialistischem Deutschland und stalinistischer Sowjetunion, bzw. infolge des Überfalls der Deutschlands und der Sowjetunion im September 1939 mit der Frage nach dem erneuten Verlust der polnischen Staatlichkeit auseinandersetzen. Fragen nach den Ausgangspunkten und Konjunkturen des (nicht nur generationellen) Wandels in der Selbstwahrnehmung der Intelligenz, nach der veränderten Wahrnehmung des imperialen Russlands und der Sowjetunion sowie nach neuen Entwürfen einer polnischen Östlichkeit stehen bei der Untersuchung von Stempowskis und Krahelskas Schriften ebenfalls im Fokus. Mit den Betrachtungen der autobiographischen Schriften von Władysław Uziembło (1887– 1980), Paweł Jasienica (1909 – 1970) und Stanisław Swianiewicz widmet sich das fünfte und zugleich letzte inhaltliche Kapitel der polnischen intelligenten Autobiographik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein Vergleich der Biographien der drei Autoren und ihrer Memoiren gibt Aufschluss über die unterschiedlichen Wirkungsräume und Schreibbedingungen der Autoren sowie über die Interdependenzen autobiographischen Schreibens zwischen der polnischen Intelligenz in Volkspolen und im Exil. Anhand des Vergleichs wird ersichtlich, dass die intelligente Autobiographik nach dem Zweiten Weltkrieg zum Spiegelbild einer globalen Krise der polnischen Intelligenz wurde, die sich vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West zunehmend an der Frage entzweite, welche Staatsidee repräsentativ für ein unabhängiges Polen sein soll und wie sich letztlich das Staatswesen in Volkspolen beschreiben ließe. War für die Intelligenz im Exil das kommunistische Polen lediglich Symbol der mit militärischen Mitteln errungenen Vorherrschaft der Sowjetunion in Europa, war die Intelligenz in Volkspolen selbst mit der Idee eines angestrebten polnischen Arbeiter- und Bauernstaates seitens des Herrschaftsregimes und mit dessen gegen die Intelligenz gerichtete Politik konfrontiert.
1.6 Gliederung und Aufbau der Arbeit
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Im letzten Kapitel der Arbeit soll dann der Versuch unternommen werden, die erarbeiteten Ergebnisse der Arbeit abschließend zusammenzuführen und zu betrachten, auf die in der Einleitung erarbeiteten Fragen zu prüfen und die Studie in die Forschung zum Untersuchungsgegenstand einzuordnen.
2 Wo liegt Polen? Polnische Ideen von Russland und dem Osten im 19. und 20. Jahrhundert Die Geschichte der „[t]ausend Jahre“ währenden polnisch-russischen Beziehungen hat sich in einer Vielzahl von Werken in Literatur und Kunst, – sei es als Memoiren, Pamphlete, Denkschriften sowie als Novellen und Romane oder als Zeichnungen und Gemälde, manifestiert.¹ Diese bilden bis heute einen reichhaltigen Fundus zur Auseinandersetzung Polens mit Russland und dem Osten. Das Interesse an dem Thema ist in der Forschungsliteratur, aber auch im öffentlichen Diskurs bis heute nahezu ungebrochen, wie beispielsweise die Veröffentlichung des Romans Polnisch-Russischer Krieg unter weiß-roter Flagge von Dorota Masłowska 2002 und die bis heute folgende Debatte darüber gezeigt hat.² Maria Janion sieht den Roman als jugendsprachlich inszenierten, kritischen Beitrag zum negativ konnotierten Rusek-Diskurs (pln. Abfällig für Russe) in Polen sowie als lohnenswerten Beitrag zur Erneuerung der Debatte um das Verhältnis Polens zum Osten für das zukünftige 21. Jahrhundert: Der Beginn des 21. Jahrhunderts markiert – dank des Romans von Masłowska – die Dekonstruktion des romantisch-kriegerischen polnischen Mythos. Die polnische, d. h., die europäische Überlegenheit gegenüber Russland war sein Wesensbestandteil.³
Nach wie vor dominieren aber auch in der polnischen Fachliteratur tendenziös anti-russische Sichtweisen auf Russland und den Osten, die wiederum im Zentrum einer kritisch-reflexiven Forschung zu polnischen Stereotypen und vorurteilsbehafteten Haltungen gegenüber Russland und dem Osten stehen.⁴ Häufig impliziert eine solche Perspektive, dass es eine objektiv richtige Form der Darstellung jenseits stereotyper Haltungen gebe. Przemysław Hauser etwa plädierte 1999 noch im Vorwort eines Sammelbandes zur Wahrnehmung Russlands in der polnischen Kultur für die Neuausrichtung einer polnischen Ostforschung, die ein „wirklichkeitsgetreues Bild von der gegenseitigen Verflechtung der Kulturen“ verbreiten solle.⁵ In diesem Kapitel geht es darum aufzuzeigen, welche Lesarten So etwa der Titel von Andrzej Chwalbas Einführung zur Sammlung von Texten zur Geschichte des polnisch-östlichen Verhältnisses, vgl. Andrzej Chwalba: Tausend Jahre Nachbarschaft, in: Polen und der Osten. Texte zu einem spannungsreichen Verhältnis, hg. von Andrzej Chwalba, Frankfurt am Main 2005, S. 12– 75. Vgl. Dorota Masłowska: Wojna polsko-ruska pod flagą biało-czerwoną, Warszawa 2002. Janion, Niesamowita Słowiańszczyzna, S. 242. Auführlicher zum Forschungsstand vgl. Kap. 1.4. Hauser, Wstęp. https://doi.org/10.1515/9783110642124-005
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von Russland die verschiedenen Strömungen des polnischen Denkens im 19. und 20. Jahrhundert im Rekurs auf die wechselvolle Beziehungsgeschichte Polens und Russlands hervorbrachten und welchen politischen und gesellschaftlichen Konjunkturen diese Lesarten dabei unterlagen. Die hier vorgelegten Ausführungen orientieren sich zeitlich am Untersuchungsgegenstand und verzichten auf eine Betrachtung des polnischen Russland- und Ostdenkens nach 1989. Insbesondere die für die Geschichtsdeutung der polnischen Intelligenz so zentralen Ereignisse des 18. und 19. Jahrhunderts, wie die Teilungen Polens und die Aufstände von 1830 und 1863 sollten zu Eckdaten eines polnisch-russischen Antagonismus werden, deren Folgen in Form von sprachlicher und kultureller Diskriminierung, Verbannung und Deportation Belege für die Konflikthaftigkeit und eine grundlegende Inkompatibilität des polnisch-russischen Verhältnisses, vor allem aber auch für das Leiden der Polen unter dem russisch-imperialen Herrschaftsregime lieferten.⁶ Infolge dieser Ereignisse kristallisierte sich ein Konflikt um die polnische Staatlichkeit und russische Imperialität heraus, der sich in der Konstellation einer überwältigenden Machtasymmetrie mit einem nunmehr staatenlosen Polen auf der einen und einem imperialen nach Westen ausgreifenden Russland auf der anderen Seite manifestierte und zum Ausgangspunkt der polnischen Debatte über Russland und den Osten wurde. Die politische Gemengelage führte zu einer Verschiebung des Streits auf die Ebene des Deutungsdiskurses und wurde zur Voraussetzung dessen, was in Anlehnung an den von Gerd Koenen verwendeten Komplex-Begriff als polnischer Russlandkomplex bezeichnet werden soll.⁷ Der aus der Psychologie stammende Begriff des Komplexes verweist auf ein Element des polnischen Russlanddenkens, das für diese Arbeit von besonderer Bedeutung ist: den Prozess der Aneignung Russlands zum Zweck der nationalen Selbstvergewisserung sowie zum Zweck der Selbstversicherung der Zugehörigkeit Polens zu einem nur selten genauer definierten „Westen“. Gerd Koenens Komplex-Begriff, den dieser auf den Untersuchungsgegenstand der deutschen Russlandpublizistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anwendete, bedarf dabei der Modifikation. Denn Koenen beschreibt mit ihm die Beziehungsgeschichte zweier Völker und Reiche, die von einer doppelten Asymmetrie geprägt war. Den Gefühlen zivilisatorischer und sozialökonomischer Superiorität auf deutscher Seite entsprach über weite Strecken ein Bewusstsein machtpolitischer und moralischer Superiorität auf russischer Seite. […] Im Guten wie im Bösen firmierte das jeweils andere
Vgl. Stobiecki, National History and Imperial History, S. 136. Vgl. Koenen, Der Russland-Komplex.
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Land, Volk und Reich als das natürliche Objekt und Komplement eigener Größenphantasien und universaler Selbstberufungen.⁸
Der deutsche Russland-Komplex definiert sich Koenen zufolge also über die besondere spiegelbildliche Lage zweier Großmächte mit einem imperialen und expansiv-missionarischen Selbstverständnis. Davon grenzt Koenen den Orientalismus Said‘scher Prägung ab. Denn dieser betone lediglich den kolonisierenden Prozess vonseiten des Westens zur Herstellung einer kulturellen Hegemonie, wie Koenen deutlich verkürzt beschreibt.⁹ Inwiefern die These von der Komplexhaftigkeit auch für das polnische Ostdenken des 19. und 20. Jahrhunderts Anwendung finden kann, soll auf den folgenden Seiten erörtert werden. Dabei orientiert sich das Kapitel an den Etappen der russisch-polnischen Beziehungsgeschichte und beleuchtet insbesondere die Epochen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, an dessen Ende die vollständige Teilung Polen-Litauens durch die drei Reiche Preußen, Österreich-Ungarn und Russland stand, sowie des 19. und 20. Jahrhunderts. Durch letzteres spannt sich wiederum ein zeitlicher Bogen, dessen später Anfang 1918 und dessen frühes Ende 1989 die Daten zweier Staatsgründungen Polens markieren, die sich als zweite und dritte Republik in die Nachfolge des von den europäischen Großmächten, Österreich-Ungarn, Preußen und Russland geteilten Polen-Litauens stellten. Einen vollständigen Überblick kann und soll eine solche Zusammenschau von etwa zweihundert Jahren polnischen Russlanddenkens natürlich nicht leisten. Stattdessen geht es hier darum, wesentliche Linien polnischen Ost- und Russlanddenkens nachzuvollziehen und so die Stellen in den zu analysierenden autobiographischen Texten sichtbar zu machen, wo sich Anknüpfungspunkte an Ideen und Strömungen des polnischen Ostdenkens herauskristallisierten. Es ist davon auszugehen, dass, bei aller Vielgestaltigkeit der unterschiedlichen biographischen Erfahrungen, sich das autobiographische Schreiben der einzelnen Protagonistinnen und Protagonisten der polnischen Inteligenz mit diesen Ideen auseinandersetzte, und dass sich Spuren der verschiedenen Strömungen des polnischen Ostdenkens in den jeweiligen Texten finden lassen, die wiederum Aufschluss über die Verortung der Autorinnen und Autoren in den Strömungen des polnischen Denkens über Russland und den Osten geben können.
Gerd Koenen: Der deutsche Russland-Komplex. Zur Ambivalenz deutscher Ostorientierungen in der Weltkriegsphase des 20. Jahrhunderts, in: Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert, hg. von Gregor Thum, Göttingen 2006, S. 16 – 46, hier S. 38. Vgl. ebd.
2.1 Polnisches Russlanddenken
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2.1 Polnisches Russlanddenken von den Teilungen Polens bis zum Novemberaufstand 1830 „Russland und die Unabhängigkeit [Polen-Litauens, M.-B.], und dazwischen die Idee von der slavischen Einheit“: auf diese Formel gebracht, beschreibt Andrzej Nowak das bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert vorherrschende Dilemma polnischer Orientierung angesichts einer vom sogenannten liberum veto ausgehöhlten Arithmetik der politischen Macht, die auch in der Inbesitznahme der polnischen Königskrone durch das wettinische Kurfürstentum Sachsen im Jahre 1697 und 1763 durch Stanisław August Poniatowski (1732– 1789), der nur noch auf Gnaden der russischen Zarin Katharina II. (1729 – 1796) zum polnischen König gewählt werden konnte, zum Ausdruck kam.¹⁰ Die slavische Einheit wurde Nowak zufolge in Anbetracht des drohenden Zerfalls der Adelsrepublik zum Fixpunkt polnischen politischen Denkens und sollte als bestimmender Faktor polnischer Politik bis in das 20. Jahrhundert hinein überdauern.¹¹ Nowak weist zudem daraufhin, dass noch bis zu den Teilungen Polens ein ausgeprägtes anti-habsburgisches und anti-wettinisches Selbstverständnis in Kreisen der polnischen Politik und Diplomatie vorherrschte, sodass polenfeindliche Tendenzen im katharinäischen Russland dem Einfluss deutscher und österreichischer Diplomaten zugeschrieben wurden.¹² Das Zusammengehen des Russischen Reiches mit Preußen und der Habsburger Monarchie auf Kosten zunehmender polnischer Abhängigkeit, wie es Klaus Zernack bereits für das frühe 18. Jahrhundert postulierte, fand in der Fixierung des polnischen politischen Denkens auf Russland demnach keinen Widerhall.¹³ Diese Feststellung ist insofern von Bedeutung, da sie zum einen aufzeigt, dass der polnisch-russische Antagonismus, wie er sich im 19. Jahrhundert innerhalb der polnischen Intelligenz ausbilden sollte, im späten 18. Jahrhundert keineswegs das polnische politische Denken dominierte, und zum anderen, dass das polnisch-russische Verhältnis in starker Abhängigkeit von der jeweiligen politischen Gemengelage einem pragmatischen Wandel der gegenseitigen Annäherung bzw. der Abgrenzung voneinander unterlag.¹⁴ Die Verortung Russlands im Osten war denn auch vor allem eine
Andrzej Nowak: Kto powiedział, że Moskale są to bracia nas, Lechitów… Idea słowiańskiego pobratymstwa i historia polskiego apelu wolnościowego do Rosjan: 1733 – 1831, in: Jak rozbić rosyjskie imperium? Idee polskiej polityki wschodniej (1733 – 1921), hg. von dems.,Warszawa 1995, S. 9 – 42, hier S. 10. Vgl. ebd Vgl. ebd., S. 13. Vgl. Zernack, Zernack 1994, S. 25. Vgl. Stobiecki, National History and Imperial History, S. 136.
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Konsequenz der polnischen Selbstverortung im West-Ost-Gefälle seit der Aufklärung. Bis dahin hatte Russland als „das nördliche Land“ gegolten – ein Bild, das auch von polnischen Autoren des 19. und des 20. Jahrhunderts vereinzelt immer wieder bemüht werden sollte.¹⁵ Wesentliches Element der Idee von der slavischen Einheit, wie sie verstärkt ab Mitte des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck kam, war je nach politischer Lage und Stabilität der russischen Herrschaft in der Region Ostmitteleuropas ein moralischdemokratisch gefärbter freiheitlich inspirierter Slavismus. Dieser manifestierte sich in der Verbrüderung polnischer Aufständischer mit den russischen Soldaten in den Manifesten der Konföderationen von Sandomierz und Bar oder im Aufstand von 1794 unter Tadeusz Kościuszko (1746 – 1817), sowie anlässlich des Novemberaufstands von 1830 in den Solidarisierungsbekundungen mit dem russischen „Volk“ und den aufständischen Dekabristen von 1825.¹⁶ Zum anderen macht Nowak für diese Zeit einen politisch motivierten Slavismus der instrumentellen ugoda (Übereinkunft) aus, der etwa in den Sympathiebekundungen seitens der Anhänger König Poniatowskis für eine pro-russische Politik zum Ausdruck kam, bevor in der Zeit unmittelbar vor der Gründung des Warschauer Königreiches 1815 patriotische Strömungen überwogen.¹⁷ Die polnische Idee der slavischen Einheit, egal ob in der Form der Befreiungsethik oder in ihrer politischen Form, verfügte jedoch spätestens seit der Französischen Revolution über ein weiteres Wesensmerkmal – und zwar das des „Erziehers“, des Überbringers republikanisch-demokratischer Werte im Geiste der französischen Lehre unter den Bedingungen russischer Hegemonie.¹⁸ Erst in der Zeit nach der Französischen Revolution lässt sich demnach ein West-Ost-Vektor im polnischen Denken ausmachen, der Komponenten einer polnischen Sendungsmission, begleitet von einem neuen polnischen Selbstverständnis kultureller und zivilisatorischer Überlegenheit, angesichts der russischen Dominanz in Osteuropa enthielt. Die polnischen Historiosophen um Stanisław Staszic (1755 – 1826) waren es denn auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die eine Geschichtsphilosophie der slavischen Einheit entwarfen, die für Polen im Russischen Im-
Vgl. Niewiara, Moskwicin-Moskal-Rosjanin w dokumentach prywatnych, S. 15. In den hier untersuchten Werken finden sich solche Vergleiche vor allem bei Bolesław Limanowski, vgl.Bolesław Limanowski: Pamiętniki (1835 – 1870), unveränd. Ausg., Warszawa 1957, S. 184. Vgl. Nowak, Kto powiedział, że Moskale są to bracia nas, Lechitów…, S. 19 f. Die Bezeichnung der russischen Aufständischen geht auf den Aufstandszeitraum, den Dezember (russ. dekabrʼ) 1825, zurück. Vgl. ebd., S. 15. Ebd.
2.2 Ostgebiete oder Westprovinzen?
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perium den Platz der „Griechen im römischen Imperium“ vorsah.¹⁹ Hinter dieser Formel verbarg sich zum einen die Erzählung von der feindlichen Besetzung Polens durch Russland, zum anderen aber auch der Anspruch, als eine dem Westen zugehörige Nation der russischen Kultur überlegen sein zu wollen und somit die Führungsrolle des „Erziehers“ zu republikanisch-demokratischen Werten in der slavischen Welt auch innerhalb des Russischen Imperiums weiter wahrzunehmen. Das Scheitern des Novemberaufstands 1830 sollte die Vorstellung vom polnischen Sendungsbewusstsein des Befreiungsnarrativs, wie es in der bekannten Aufstandslosung „Für unsere und für Eure Freiheit“ zum Ausdruck kam, lediglich festigen und führte im polnischen Denken zunächst zur Aufgabe der Idee vom Slavismus politischer Übereinkunft. Stattdessen wurde die Debatte um die Unabhängigkeit Polens und um die Behauptung polnischer Territorialität spätestens mit dem Verlust der Verfassung des Königreichs Polen und der Einsetzung eines Statthalters 1832 zu Themen eines polnischen nationalen Diskurses, der die Formel von Polen als Vorposten europäischer aufgeklärten Nationen im Osten Europas einer zeitgenössischen Aktualisierung unterzog.²⁰
2.2 Ostgebiete oder Westprovinzen? Polnisch-russische Verflechtungen und nationale Konkurrenz 1830 – 1914 Wenngleich der Novemberaufstand das vorläufige Ende der Hoffnungen auf ein freies Polen markierte und zugleich eine Phase der nationalen Erneuerung polnischen politischen Denkens unter Vorzeichen eines Messianismus einläutete, können die Deportationen vieler tausender Aufständischer ins Innere Russlands als Beginn einer zunächst erzwungenen, jedoch durch das 19. Jahrhundert hindurch andauernden und zunehmenden Migration ins Russische Imperium angesehen werden, die tiefgreifende Verflechtungen von Lebenswelten und Erfahrungen des interkulturellen Austausches mit sich brachten.²¹ Wie Aleksandra Niewiara beschreibt, waren die polnisch-russischen Beziehungen des 17. und 18. Jahrhunderts vor allem von Kontakten auf diplomatischer Ebene und von Reiseberichten geprägt.²² Niewiara lässt aber unerwähnt, dass insbesondere den multikulturell und multireligiös geprägten Ostgebieten Polen-Litauens als dau-
Ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 20. Zum Vormauer-Mythos in Polen vgl. Janusz Tazbir: Polskie przedmurze chrześcijańskiej Europy. Mity a rzeczywistość historyczna, Warszawa 1987. Vgl. Artur Patek: Polska diaspora w Rosji do 1917 roku, in: Polska diaspora, hg. von Adam Walaszek, Kraków 2001, S. 275 – 292. Vgl. Niewiara, Moskwicin-Moskal-Rosjanin w dokumentach prywatnych, S. 14 f.
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ernder Kontaktzone der dortigen und der durchreisenden Bevölkerung eine zentrale Rolle im polnisch-russischen Verhältnis zufiel. Mit dem Aufkommen der polnischen Frage als Problem von nationaler Bedeutung rückte die Frage nach dem territorialen Zuschnitt eines zukünftigen Polens und somit die Frage der Zugehörigkeit dieser Gebiete in den Mittelpunkt polnischer und russischer Debatten. Die Einführung des Begriffs der kresy seitens polnischer anti-russisch gesinnter Literaten und Historiker um Joachim Lelewel (1786 – 1861) diente vor allem der Behauptung des polnischen Erbes und der historischen Zugehörigkeit der Region zu Polen-Litauen und demzufolge zum zukünftigen polnischen Staat.²³ Zum zentralen Streitpunkt zwischen russisch-imperialen und polnisch-kulturellen Dominanzansprüchen wurde das Konzept von der Sammlung der ruthenischen Gebiete, das der russische Historiker Nikolaj Karamzin (1766 – 1826) in seinen Werken entwickelt hatte und dem die Auffassung zugrunde lag, dass das Russische Imperium von Natur aus ein stetig nach Westen expandierendes Reich sei. Die ruthenischen Gebiete, also die südöstlichen Gebiete der polnischen Adelsrepublik westlich des Dnestr, sollten als Teile eines dreiteiligen Imperiums (Belarus, Moskauer Rus‘, Kiever Rus‘) diesem einverleibt werden und galten unter den russischen Panslavisten als integrale Bestandteile des Russländischen Reiches.²⁴ Wenngleich Russland sich tatsächlich auf eine europäische Tradition der „Achse Kiew-Nowgorod“, wie Klaus Zernack schreibt, berufen konnte, musste die Idee von ihrer Wiederbelebung im 19. Jahrhundert vonseiten der polnischen Intelligenz als Infragestellung polnischer Territorialität im Osten Europas verstanden werden.²⁵ Die in der Tradition von Joachim Lelewel im Entstehen begriffene polnische Nationalhistoriographie nahm dessen Preisung der polnischen Nation als Zivilisierer des Ostens dankbar an und interpretierte die kresy als zivilisatorisch (römisch-katholisch), staatlich (in der Tradition Polen-Litauens) und kulturell (bezüglich der Dominanz des polnischen Adels in den ehemaligen polnischen Ostgebieten) Polen zugehörig.²⁶ Obwohl der kresy-Begriff der Betonung der europäischen und polnischen Werte und der mentalen und ideologischen Abgrenzung von der russischen Imperialität im polnischen Denken diente, standen die weitaus komplexeren Lebenswelten der Bevölkerung und die relativ geräuschlose Integration der früheren Ostgebiete in den Orbit russischer Herrschaftsausübung mit dieser polnisch-in
Vgl. Stobiecki, National History and Imperial History, S. 128. Vgl. ebd., S. 130. Zernack, Zernack 1994, S. 23. Stobiecki, National History and Imperial History, S. 130.
2.2 Ostgebiete oder Westprovinzen?
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telligenten Vision im Widerspruch. Die in das Russische Imperium inkorporierten polnischen Strukturen wie Bildungseinrichtungen blieben etwa bis zum Novemberaufstand bestehen, Verwaltungsapparate waren nach wie vor polnisch geprägt.²⁷ Ein besonderes Beispiel für den Komplex lebensweltlicher Verflechtung und russisch-imperialer Dominanz liefert die Biographie und das Schaffen von Adam Mickiewicz, der mit seinem Erzählzyklus Herr Tadeusz ein Epos des polnischen Leidens im Russischen Imperium schuf und maßgeblich an der Schaffung des polnischen Messianismus, einer nationalen Opfererzählung, beteiligt war.²⁸ Timothy Snyder bringt die Ambivalenz von Mickiewiczs Biographie und seinem Werk folgendermaßen auf den Punkt: Without a university education in his native Polish in his native Lithuania, Mickiewicz’s poetic career is difficult to imagine. This can be seen clearly on the example of his masterpiece, Pan Tadeusz, which Mickiewicz finished in Parisian exile in 1834. Its story of the quarrels and loves of Lithuanian gentry families concludes in spring 1812, as Napoleon and his armies marched across Lithuania toward Moscow. In the poem, Lithuanian noblemen have joined the French armies, which was certainly accurate. Mickiewicz observed this himself as a boy of thirteen. In fact, the gentry who joined Napoleon in 1812 included a third of the students of Vil’no University. Tsar Alexander won the war. When Alexander regained Lithuania, he declined to close Vil’no University, so its gates were open to Mickiewicz in 1815. Registering as a student with a government scholarship, the young man even gave his name as Adam Napoleon Mickiewicz. The patience of a Russian tsar, after his empire was attacked by the Lithuanian gentry his university was educating, allowed Mickiewicz to gain higher education in Polish. Mickiewicz then matured to create a nostalgic masterpiece that connected the tragedy of Poland with that very attack on Russia.²⁹
Snyder beschreibt den Zusammenhang von Mickiewiczs russisch-imperialer Erfahrung vom Leben im russischen Imperium, von den asymmetrischen Machtverhältnissen des polnischen Adels in Litauen im Vergleich zur russischen Zentralmacht und von dessen Eintauchen in das polnisch-patriotische Milieu von Wilna besonders anschaulich und weist zugleich auf die Bedeutung von Mickiewiczs Leben im Exil für die Entstehung von Herr Tadeusz hin. In dieser Konstellation – russisch-imperiale Erfahrung und anschließendes Exil – lassen sich übrigens Parallelen erkennen, die auch die autobiographische Russlanderinne-
Vgl. Chwalba, Tausend Jahre Nachbarschaft, S. 27. Ausführlich zur Problematik der Elitenintegration in das Russische Imperium nach den Teilungen Polens vgl. Jörg Ganzenmüller: Russische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772– 1850), Köln 2013. Adam Mickiewicz: Pan Tadeusz czyli ostatni zajazd na Litwie, Paryż 1834. Snyder, The Reconstruction of Nations, S. 27.
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rung im 20. Jahrhundert auszeichnen, wenngleich das Exil hier die Form eines Lebens post imperium annimmt. Es war bekanntermaßen Mickiewiczs Wirken im Exil in Dresden und Paris, das Polens Verhältnis zu Russland und dem Osten neu vermaß und neben Herr Tadeusz auch in Werken wie Die Totenfeier, Konrad Wallenrod, in den Büchern der polnischen Nation und der polnischen Pilgerschaft sowie in seinen Pariser Vorlesungen zum Ausdruck kam.³⁰ Ihr Wirkungsgrad auf die polnische Ideengeschichte erstreckt sich über das gesamte 19. und 20. Jahrhundert und erfährt auch im 21. Jahrhundert eine breite Wahrnehmung im polnischen intellektuellen Denken.³¹ Maria Janion beschreibt Mickiewiczs Verständnis von der slavischen Welt und Polens Rolle darin in Anlehnung an das Denken Johann Gottfried Herders (1744– 1803) als historiosophische Idee der Erwartung dessen, was kommt: Herders Menschheitsutopie, aber auch die Vorstellung von der slavischen Passivität wurden von Mickiewicz in messianistische Träumereien vom Ausharren der Slaven im Warten auf die Erfüllung der Mission von der Erlösung der Welt umgewandelt, die sich übrigens nicht ohne Teilhabe des französischen Volks verwirklichen lassen konnte.³²
Anzufügen ist hier, dass die polnische Romantik eben nicht den polnischen Denkströmungen jener Zeit entsprang, sondern sich vielmehr als inoffizielle Gegenkultur mit heidnischen, antilateinischen, slavischen und nördlichen Zügen formierte.³³ Dies ist insofern von Bedeutung, als die Rezeption von Mickiewiczs Werken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem durch die polnische Nationalbewegung vorangetrieben wurde und als Muster für die Idee eines vereinigten Polens diente.³⁴ Mit Blick auf den Osten verhieß ein solcher in die Vergangenheit und Zukunft zugleich gerichteter Messianismus, das Russische Imperium entweder in einem Volksaufstand der Zarenherrschaft und der „aggressiven Mentalität der Russen“ zu entledigen und mithilfe Polens Europa zuzuführen, oder eine internationale Allianz von Staaten zu mobilisieren, die sich
Vgl. Adam Mickiewicz: Konrad Wallenrod. Powieść historyczna z dziejów litewskich i pruskich, Petersburg 1828; ders.: Księgi narodu polskiego i pielgrzymstwa polskiego, Paryż 1832; ders., Adama Mickiewicza Dziadów część trzecia; ders., Pan Tadeusz czyli ostatni zajazd na Litwie. Zu den Pariser Vorlesungen vgl. Pini, Tadeusz (Hg.): Dzieła Adama Mickiewicza. Literatura Słowiańska – Wykłady Lozańskie – Pisma Historyczne, Bd. 2, Lwów 1912. Exemplarisch sei hier genannt: Michał Kuziak: Inny Mickiewicz, Gdańsk 2013. Janion, Niesamowita Słowiańszczyzna, S. 26. Ebd., S. 27, 276. Vgl. Snyder, The Reconstruction of Nations, S. 29.
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gegen die Zentralmacht Russlands in Sankt Petersburg richtete.³⁵ Leitmotiv der Romantiker, sei es der polnischen Literaten um Mickiewicz oder Słowacki oder der romantischen Historiker um Lelewel, war die Idee eines „Volk[s] der Slaven [lud słowian]“, in dem Polen die Aufgabe zukommen sollte, einen friedlichen Verständigungsprozess anzuführen.³⁶ Nachdem der Novemberaufstand 1830 niedergeschlagen worden war, blieb von dieser Vision lediglich das Selbstverständnis von Polen als Christus der europäischen Nationen erhalten. Die Mickiewicz‘sche Martyrologie sollte die Teilungen Polens überdauern und auch im 20. Jahrhundert etlichen Aktualisierungen unterzogen werden.³⁷ Nach dem Novemberaufstand jedoch lautete die Formel der polnischen Romantik zu Russland vorerst, wie Nowak treffend formuliert: „Die Russen durften Brüder in der Freiheit sein, aber jüngere Brüder; sie blieben auch in der Slavenheit Brüder, aber Brüder, die zum Teil verloren waren.“³⁸ Das polnische Denken über Russland im 19. Jahrhundert entwickelte sich in zunehmender Abhängigkeit zu den bestimmenden europäischen Denkströmungen und dominierenden Verhältnissen. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die Idee einer Mission Polens als „Erzieher“ der slavischen Welt an Attraktivität gewann. Ein solches Konzept vom Transfer demokratisch-republikanischer Werte in den Osten Europas bedeutete aber auch, mit den Veränderungen in Europas Westen und nicht zuletzt dem sich wandelnden politischen und internationalen Machtgefüge bezüglich Russlands umzugehen und dieses zu berücksichtigen. Große Teile der polnischen Eliten fanden sich nach den Aufständen und den revolutionären Ereignissen der 1830er und 1840er Jahre im Exil wieder. Das polnische Exil des Pariser Hȏtel Lambert um Fürst Adam Jerzy Czartoryski (1770 – 1861) gewann in dieser Zeit an Bedeutung. Zugleich offenbarten die dort entwickelten Ideen Hans-Christian Petersen zufolge das Dilemma der Exilierten, neue Visionen zur polnischen Frage vor allem mit Blick auf die Adressaten des Westens entwerfen zu müssen:
Jerzy Fiećko: Co zrobić z Rosją? Mickiewicz, Krasiński i inni, in: Obraz Rosji w literaturze polskiej, hg. von dems. und Krzysztof Trybuś, Poznań 2012, S. 137– 157, hier S. 137. Janion, Niesamowita Słowiańszczyzna, S. 26. Ein Aufführungsverbot von Mickiewiczs Theaterstück, dem dritten Teil des Dziady-Zyklus, sollte 1968 als Auslöser für die studentischen Proteste in Polen gegen die kommunistische Regierung dienen. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 314. Nowak, Kto powiedział, że Moskale są to bracia nas, Lechitów…, S. 36.
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[T]he focus was on emphasizing homogeneity, the empire became a strategic argument for Western public opinion, which in the situation of exile had developed into a third party in the relationship between the Polish emigration and imperial rule.³⁹
Doch nicht nur die Beeinflussung der französischen öffentlichen Meinung war das Ziel der polnischen Emigration in Paris. Begleitet wurde die Darstellung des Russischen Imperiums vom Wunsch seiner Zerschlagung, die Peripherien des Reiches gerieten erstmals in den Fokus polnischen Russlanddenkens.⁴⁰ Diese Idee sollte erst in der Zwischenkriegszeit in Form der Prometheus-Bewegung eine deutliche Konjunktur erleben.⁴¹ Der in den 1850er Jahren folgende Krimkrieg zwischen dem Russländischen und dem Osmanischen Reich, auf dessen Seite Großbritannien und Frankreich ebenfalls verwickelt waren, sollte als vorerst letzter Eingriff der westeuropäischen Großmächte zugunsten der polnischen Angelegenheit herhalten, wenngleich ihr Eingreifen vielmehr dem Erhalt des europäischen Gleichgewichts der Mächte geschuldet war – der Kriegsausgang markierte gleichfalls das vorläufige Ende der exilpolnischen Idee der Zerschlagung Russlands von der Peripherie her.⁴² Das vermeintlich homogene Russlanddenken im polnischen Exil offenbarte, aus einer gesamtpolnischen Perspektive betrachtet, bereits in den 1840er Jahren etliche Risse. Wenngleich die Auseinandersetzung mit Russland in den frühen 1840er Jahren dem Denken der polnischen Romantik verpflichtet blieb und etwa Czartoryski, vor 1830 als Berater Alexanders II. noch überzeugter Verfechter einer polnisch-russischen Annäherung innerhalb des russischen Imperialverbands, nach dem Aufstand zu einem der Anführer des polnischen Exils avancierte und in dieser Position mit einer dezidiert anti-imperialen Denkströmung das polnische Russlanddenken dominierte, waren es nicht zuletzt Romantiker wie Andrzej Towiański (1799 – 1878) und Mickiewicz selbst, die sich in einem Brief an Zar Alexander II. (1818 – 1881, reg. 1855 – 1881) für eine Aussöhnung mit Russland aussprachen.⁴³
Hans-Christian Petersen: „Us“ and „Them“? Polish Self-Descriptions and Perceptions of the Russian Empire between Heterogenity and Diversity, in: Empire Speaks out. Languages of Rationalization and Self-Description in the Russian Empire, hg. von Ilya Gerasimov, Jan Kusber und Alexander Semyonov, Leiden 2009, S. 89 – 119, hier S. 117. Vgl. Chwalba, Tausend Jahre Nachbarschaft, S. 39. Vgl. dazu ausführlich Kap. 2.3. Vgl. Andrzej Nowak: Jak rozbić rosyjskie imperium? (Adam Jerzy Czartoryski: 1831– 1848), in: Jak rozbić rosyjskie imperium? Idee polskiej polityki wschodniej (1733 – 1921), hg. von dems., Warszawa 1995, S. 43 – 112, hier S. 95. Zum Brief der beiden Schriftsteller an den Zaren vgl. Roman Robert Koropeckyj: Adam Mickiewicz. The Life of a Romantic, Ithaca, NY 2008, S. 338.
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Weitere Vertreter eines pragmatischeren, die Herrschaftsverhältnisse im Russischen Imperium berücksichtigenden Denkens fanden sich auch in Kongresspolen, in den westlichen Provinzen und nicht zuletzt im Zentrum des Russischen Imperiums in Sankt Petersburg selbst. Dabei handelte es sich vor allem um Angehörige des vermögenden polnischen Landadels. Bekanntester Vertreter dieses Denkens war Aleksander Wielopolski (1803 – 1877), der als Berater am Zarenhof und als Staatsratsmitglied des Polnischen Königreichs eine Vielzahl von Reformen etwa im Schulwesen und in der lokalen Administration anregte. Chwalba schreibt etwa die „einzige Repolonisierung des Administrationsapparats im 19. Jahrhundert“ vor allem Wielopolski zu.⁴⁴ Unter anderem ihm war es zu verdanken, dass sich das Königreich Polen im Imperialverband dauerhaft als Motor der Industrialisierung positionieren konnte und Warschau als Zentrum der Moderne an Anziehungskraft zuzunehmen begann. Die politische und literarische Entsprechung dieses neuen liberalökonomischen Denkens, die dabei durchaus über eine soziale Ethik verfügte und eben nicht wie in Westeuropa einer neuen sozialen Schicht des städtischen Bürgertums entsprang, findet sich etwa in den Arbeiten von Schriftstellern wie Henryk Rzewuski (1791– 1866) und Henryk Kamieński (1813 – 1866), zum Teil aber auch in der Publizistik und den Werken Józef Ignacy Kraszewskis (1812 – 1887), der ab 1859 die von dem Industrieunternehmer Leopold Kronenberg (1812 – 1878) in Warschau herausgegebene Gazeta Codzienna (Tageszeitung) redigierte und die Ansicht vertrat, dass sozialer Wohlstand zur Erneuerung einer nationalen Ethik führen könne und damit zum Vordenker einer polnischen Bürgergesellschaft wurde.⁴⁵ Ihm, Rzewuski, Kamieński und anderen Vertretern des liberalen Adels war die Idee des bewaffneten Aufstands, die nicht zuletzt von den in den späten 1850er Jahren aus der Verbannung entlassenen und ins Königreich zurückgekehrten ehemaligen Aufständischen und im polnischen Exil in Frankreich nach wie vor propagiert wurde, eher fremd.⁴⁶ Das Denken dieser durchaus heterogenen Strömung liberalen Denkens zeichnete sich durch eine pragmatische Perspektive auf die herrschenden Machtverhältnisse im Königreich Polen und in den ehemaligen Ostgebieten Polen-Litauens aus und war nicht zuletzt von der Idee des Erhalts ihrer lokal dominierenden Stellung und ihrer Adelsprivilegien im Imperium geprägt. Wenngleich erst nach dem anti-russischen Aufstand von 1863 entstanden, beschrieb Henryk Lisicki (1839 – 1899) in seiner Biographie über Aleksander Wielopolski das
Chwalba, Polacy w służbie Moskali, S. 12. Vgl. Maciej Janowski: Polish Liberal Thought before 1918, Budapest 2004, S. 119. Vgl. ebd., S. 122 f.
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Russlandprogramm dieser Strömung in der Zeit vor dem Aufstand mit folgenden Worten: Die slavische Bewegung [gemeint ist die Gruppe um Aleksander Wielopolski in der russischen Regierung, M.-B.] war seinerzeit die erste Prophezeiung von der Einheit der Slaven, die irgendwann kommen wird, trotz des Brüllens der Feinde und der Verfolger, denn sie liegt in der Natur der Sache. Innerhalb dieser nach einem gemeinsamen Körper strebenden Slavenheit wies der Graf [Wielopolski, M.-B.] Polen im Bewusstsein der Nation von ihrer großen Vergangenheit einen Platz für die Verbindung mit selbiger zu und eine Mission, die ausreichte, den Verlust der politischen Unabhängigkeit wiedergutzumachen, der wir zu einem bedeutenden Teil den unbedachten Verlust unserer Stammesherkunft verdanken.Wir hatten das uns mit der westlichen Slavenheit verbindende Band zerrissen, wir hatten uns vom Rest der slavischen Welt losgesagt; Grenzen konnten wir keine erweitern und nicht sichern […]. Russland ist ein slavischer Staat und wird dies bleiben; dieses Privileg wird ihm niemand entreißen können, wie auch niemand es vermag, die slavischen unterdrückten Völker ihres Glaubens an die Erwartung von der Veränderung und der Verbesserung ihres Schicksals durch Russland zu entledigen, das sich ihnen annimmt und keine Versprechen scheut. […] Es geht hier nicht im Geringsten um die gedankenlose Unterwerfung vor einer Gewalt oder um den Austausch von erzwungener Gefangenschaft für freiwillige Sklaverei, sondern um einen vernünftigen und freien Umgang mit der Situation, mit den Konsequenzen unserer eigenen Fehler und mit der Zukunft.⁴⁷
Aus dem Zitat wird ersichtlich, dass Lisicki in dem von den Liberalen um Wielopolski propagierten Slavismus das Prinzip eines polnisch-russischen Abkommens zu entdecken meinte, in dem die untergeordnete Rolle Polens aufgrund des selbst verursachten Zerfalls und der demzufolge logischen Teilung Polens durchweg anerkannt werden sollte. Lisicki ordnet die Rolle Polens in der slavischen Welt durchaus in ein größeres europäisches Spektrum ein. So wird der polnische Katholizismus von Lisicki dem in Westeuropa dominierenden Protestantismus und Calvinismus gegenübergestellt und nimmt eine wichtige Brückenfunktion im West-Ost-Gegensatz ein.⁴⁸ Daneben betont er die Bedeutung der polnischen Mission in dieser Konstellation. Polens Aufgabe müsse es sein, „an der Spitze der Kräfte der jugendlichen und lebensbejahenden slavischen Zivilisation zum gemeinsamen Nutzen Polens, Russlands und der Slavenheit zu stehen.“⁴⁹ Als einer der ersten Literaten, die sich vom Historismus der Romantiker abwanden, muss Henryk Rzewuski gelten, der noch in den 1830er Jahren mit den Denkwürdigkeiten des Herrn Soplica eine literarische Textsammlung verfasst
Henryk Lisicki: Aleksander Wielopolski. 1803 – 1877, Kraków 1878, S. 70 f. Vgl. ebd., S. 132. Ebd., S. 72.
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hatte, die auf Tadeusz Soplica, die Hauptfigur in Mickiewiczs Herr Tadeusz Bezug nahm. Maria Janion macht darauf aufmerksam, dass Rzewuski in seinen Sittengemengseln eine Analyse vom Verhältnis des Individuums zum Imperium vornahm, das nach dem Zerfall Polens den Rahmen für die historische Identität aller Polen vorgeben müsse.⁵⁰ Polen sei für Rzewuski lediglich eine der provinziellen Kulturen des Imperiums gewesen: Nichts konnte anderen Denkern historischer Visionen von Polen und seiner damaligen Gegenwart, wie Niemcewicz, Lelewel, Kraszewski und auch den romantischen Messianisten, deren Interpretation vom leidenden und im Auferstehen begriffenen Vaterland größte Popularität erlangte, fremder und verhasster sein⁵¹
Ähnlich wie Rzewuski argumentierte seinerzeit Henryk Kamieński, der ebenfalls auf die Mickiewicz‘sche Philosophie des Ostens Bezug nahm und sich von dieser abgrenzte. In seiner Streitschrift Russland und Europa. Polen hob der ehemalige Russlandverbannte insbesondere die im romantischen Historismus aufgestellte Trennlinie zwischen Imperium und russischer Gesellschaft auf und ging vielmehr von einer festen Verbindung beider Faktoren aus.⁵² Ihm zufolge stellte Polen eine Barriere zwischen Europa und Russland dar, das entweder mit Europa Russland von der Zarenherrschaft befreien oder sich Russland anschließend und Europa als Teil des Imperiums unterwerfen würde. In beiden Szenarien kam Polen eine zentrale Rolle bezüglich Russlands zu, indem es das Bildnis von der Okzidentalisierung und Modernisierung Russlands verkörperte. Kamieński machte die Entscheidung darüber in höchstem Grade vom Westen abhängig.⁵³ Betrachtet man die damalige Situation des europäischen Mächtegleichgewichts, gewinnen die Thesen von Kamieński an Sinn. Kurz nach dem Ende des Krimkriegs erschienen, ging es dem Publizisten in seiner Arbeit darum, die polnische Frage angesichts des Patts zwischen den Westmächten Frankreich und Großbritannien sowie dem Osmanischen Reich auf der einen und Russland auf der anderen Seite einer Aktualisierung zu unterziehen. Ein weiteres Element, das in den Auseinandersetzungen mit Kamieńskis Russlanddenken oft übersehen wird, ist dessen Konzept des Sozialliberalismus. Maciej Janowski hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Publizist und Groß-
Vgl. Henryk Rzewuski: Mieszaniny obyczajowe, Wilno 1841. Janion, Niesamowita Słowiańszczyzna, S. 278. Julian Ursyn Niemcewicz (1757– 1841), Teilnehmer am Kościuszko-Aufstand 1794 gegen die russische Obrigkeit und Schriftsteller der Romantik. Vgl. Henryk Kamieński: Rosja i Europa. Polska, Paryż 1857. Vgl. Fiećko, Co zrobić z Rosją?, S. 138.
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grundbesitzer die Integration des Individuums in die Gesellschaft in den Mittelpunkt seines Denkens stellte. Diese Integration erfolgte bei Kamieński, indem er das individuelle Interesse einer Person berücksichtigte und allen Individuen das Recht auf Arbeit und somit auf Besitz von Eigentum gewährte.⁵⁴ Im Kontext der sich abzeichnenden Debatte um die Aufhebung der Leibeigenschaft im Russischen Imperium wurde Kamieński zu ihrem Befürworter und reihte sich in die Ideen progressiver polnischer Landadeliger wie etwa Jakub Gieysztor ein, die durch die Befreiung der litauischen und belarussischen Bauernschaft die Loyalität zum polnischen Landadel stärken wollten.⁵⁵ Wenngleich diese Idee infolge des anti-russischen Aufstandes von 1863 scheitern sollte, richteten die liberalen polnischen Adligen ihr Augenmerk erstmals auf die sprachlich und kulturell heterogene Bauernschaft.⁵⁶ Mit der nach dem Aufstand aufkommenden Frage der Loyalität der Bauernschaft zu den lokalen polnischen oder den russisch-imperialen Eliten des Russischen Imperiums sollte sich der Diskurs zu den kresy unter polnisch-russischen Gesichtspunkten maßgeblich verändern. Im polnischen nationalen Denken und in den Debatten zur Unabhängigkeit Polens blieben die genannten Personen weitestgehend marginalisierte Randfiguren. Besonders an Aleksander Wielopolski entzündete sich die Debatte um den Verrat der polnischen Adeligen an der polnischen Nation.⁵⁷ Auch die Debatte um nationale Loyalität und Verrat an der Nation lässt sich auf die Ideen der polnischen Romantik zurückführen, die den Begriff des Wallenrodismus, der Erzählung Konrad Wallenrod von Adam Mickiewicz entnommen, in das polnische nationale Denken des 19. Jahrhunderts einführte.⁵⁸ Der Wallenrodismus ordnet ähnlich wie der Begriff des Macchiavellismus die Mittel dem zu erreichenden Zweck unter, wenngleich das polnische Denken des 19. Jahrhunderts vor allem die Loyalität zu den Teilungsmächten als unlauteres Mittel brandmarkte. Wielopolski ist nur einer von vielen Polen, die deswegen des Verrats an der Nation bezichtigt wurden, da sie im „Dienst der Moskoviter“ standen.⁵⁹ Solche Tendenzen verstärkten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in dem Maße, in dem die polnische Nationalbewegung und in ihr die nationalistischen Strömungen an Einfluss ge-
Vgl. Janowski, Polish Liberal Thought before 1918, S. 84. Vgl. Martin Müller-Butz: Ein „Vorbild zur Nachahmung“. Der Beitrag des Landadels in den nordwestlichen Provinzen des Russischen Kaiserreichs zum polnischen Nationalisierungsprozess (1863 – 1914), in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 64, H. 3, 2015, S. 356– 379, hier S. 364. Zur Entstehung des belarussischen und litauischen nationalen Denkens vgl. auch Snyder, The Reconstruction of Nations. Vgl. Rolf, Imperiale Herrschaft im Weichselland, S. 36. Vgl. Mickiewicz, Konrad Wallenrod. Chwalba, Polacy w służbie Moskali, S. 7.
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wannen und in den Debatten um die Deutungshoheit rangen. Der Wallenrodismus lässt sich auch in der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts und in den zu untersuchenden autobiographischen Schriften ausfindig machen, wie zu zeigen sein wird.⁶⁰ Dabei stellten vor allem die Beziehungen zur russischen Teilungsmacht den Fixpunkt des Verratsdiskurses dar und eben nicht die polnisch-preußischen oder die polnisch-österreichischen Beziehungen.⁶¹ Übrigens finden sich aber auch in der jüngeren Forschungsliteratur Bezichtigungen ähnlicher Art, etwa wenn der Literaturwissenschaftler Jerzy Fiećko Henryk Rzewuski und andere polnische Denker, die nicht der romantischen Interpretation des Russischen Imperiums zuzuordnen waren, abfällig als „Strömung der Abtrünnigen“ und als „Petersburger Klüngel“ bezeichnet.⁶² Folgt man Andrzej Chwalba, verhärtete der Ausbruch und der Verlauf des anti-russischen Aufstandes von 1863 in Kongresspolen (und mit einiger Verzögerung in den ehemaligen polnischen Ostgebieten) lediglich die Konfliktlinien zwischen den sogenannten „Loyalisten“ und den „Aufständischen“.⁶³ Nach der Niederlage der aufständischen Truppen wurde die Autonomie Kongresspolens aufgehoben, die von Wielopolski initiierte Besetzung des Beamtenapparats durch polnische Angestellte zu großen Teilen rückgängig gemacht und die Integration dieser Gebiete als Provinzen ohne Autonomierechte in den Imperialverband vorangetrieben. Nach dem Aufstand folgte das zweite Mal nach 1830 eine Deportationswelle Aufständischer in die östlichen Peripherien Russlands.⁶⁴ Mit der Rücknahme der Autonomie in Kongresspolen und in den ehemaligen östlichen Gebieten Polen-Litauens, dem Verbot von Polnisch geführtem Unterricht und der Schließung von höheren Bildungseinrichtungen in Kongresspolen ging ein Streit zwischen polnischen und russischen Eliten über die Deutung dieser Maßnahmen einher. Im polnischen Diskurs jener Zeit sollte sich der Begriff und das Konzept der Russifizierung etablieren, worunter man einen Angriff auf die Wesensmerkmale der polnischen Nation, Geschichte, Sprache und Religion verstand.⁶⁵
Zum Wallenrodismus etwa bei Jarosław Iwaszkiewicz aus post-kolonialer Perspektive vgl. Dabrowski, Russian-Polish Relations Revisited, S. 177. Magdalena Micińska widmet den polnisch-russischen Beziehungen in ihrer Studie denn auch den größten Raum. Vgl. Micińska, Zdrada córka nocy. Fiećko, Co zrobić z Rosją?, S. 139. Chwalba, Polacy w służbie Moskali, S. 21. Zur Geschichte des Aufstandes nach wie vor vgl. Stefan Kieniewicz: Powstanie styczniowe, Warszawa 1972. Zum russisch-imperialen Verständnis und den imperialen Konzepten der Russifizierung siehe auch die Forschungen von Alexei Miller: „Russifications“? In Search for Adequate Analytical Categories, in: Imperienvergleich. Beispiele und Ansätze aus osteuropäischer Perspektive, hg. von Guido Hausmann und Angela Rustemeyer, Wiesbaden 2009, S. 123 – 143.
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Theodore Weeks weist jedoch daraufhin, dass diese Erwartungshaltung kaum mit der politischen und administrativen Realität im Einklang stand. Ihm zufolge könne man lediglich von einer erfolgreichen administrativen Russifizierung oder Depolonisierung in Kongresspolen und in den westlichen Provinzen Russlands sprechen, wohingegen die kulturelle Russifizierung dieser Regionen zum Scheitern verurteilt gewesen sei – zudem hätte sich die Praxis nationalisierender Imperialherrschaft auch gegen andere Nationalitäten, wie die litauische, die jüdische, moldawische, tatarische und ukrainische gerichtet.⁶⁶ Miller bekräftigt zudem, dass ein kohärentes imperiales Verständnis von Russifizierung in dem Verwaltungsapparat der russischen Obrigkeit nicht vorhanden und meist auf Loyalitätsbekundungen Angehöriger nicht-russischer Nationalitäten beschränkt worden war.⁶⁷ Unabhängig von der Bewertung der russisch-imperialen Herrschaftspolitik führte die fortschreitende Integration der polnischen Gebiete in den Reichsverband zur Migration etlicher Angehöriger der polnischen Eliten nach Westeuropa oder in andere Teilungsgebiete Polens. Im Umkehrschluss nahm aber auch die lebensweltliche, ökonomische und politische Verflechtung zwischen Polen und Russland zu. Die anhaltende Industrialisierung Kongresspolens und anderer Teile des Russischen Imperiums, insbesondere durch den Eisenbahnbau, und die Möglichkeit eines Studiums in den imperialen Zentren Russlands in Petersburg und Moskau, aber auch in Riga, Dorpat, Charʼkov oder Kiev führte dazu, dass sich insbesondere die Angehörigen des landlosen niederen und des mittleren Landadels sowie des entstehenden städtischen Bürgertums aus den ehemaligen östlichen Gebieten Polen-Litauens zunehmend nach Osten orientierten.⁶⁸ Zarycki macht auf das Paradox einer gelungenen wirtschaftlichen Integration Kongresspolens in den russländischen Reichsverband in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der weitgehenden Abwesenheit und gar Negierung des russischen Erbes in der heutigen öffentlichen Erinnerung und der aktuellen polnischen Historiographie aufmerksam.⁶⁹ Spätestens mit der Ausweitung der Industrialisierung in Russland in den 1880er Jahren sollten sich die Zahlen polnischer, ins Innere Russlands Emigrierter vor allem aus den unteren sozialen Schichten vervielfachen.⁷⁰ Während der Zugang zum Staatsdienst in Kongresspolen und den westlichen Provinzen polnisch-katholischen Staatsbediensteten weiterhin wei-
Vgl. Theodore Weeks: Russification: Word and Practise 1863 – 1914, in: Proceedings of the American Philosophical Society 148, H. 4, 2004, S. 471– 489, hier 471, 474. Vgl. Miller, „Russifications“?, S. 134; Vgl. Zygmunt Łukawski: Ludność polska w Rosji 1863 – 1914, Wrocław 1978, S. 37. Vgl. Zarycki, The Embarrassing Russian Connection, S. 134. Vgl. Łukawski, Łukawski 1978, S. 46.
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testgehend verschlossen blieb, galt dies für andere Regionen des Russischen Imperiums nicht, und so nahmen auch die Zahlen der Polen im russischen Militär und im russischen Staatsdienst weiter zu. In diese Zeit fällt die Ausbildung verschiedener Strömungen der polnischen Intelligenz, die sich nicht zufällig in engem Zusammenhang mit denen der russischen Intelligenz entwickelte, dabei jedoch durchaus nationale Merkmale aufwies. Die polnische Intelligenz grenzte sich dabei von den besitzenden Schichten des vermögenden und mittleren Landadels ab, entnahm diesen jedoch das Bewusstsein um die eigene Rolle als Avantgarde der polnischen Nation, gepaart mit dem Glauben an die Verwirklichung einer sozialistischen Utopie und an die Befreiung der Nation von der Imperialherrschaft.⁷¹ Unter der polnischen Intelligenz stach dabei die Strömung des Warschauer Positivismus um Aleksander Świętochowski (1848 – 1932) besonders hervor, die sich um das Rückständigkeitsparadigma vom Russischen Imperium, das auch im 20. Jahrhundert seine Gültigkeit bewahren sollte, besonders verdient machte. Dieses zeichnete sich dadurch aus, dass es der polnischen Nation und insbesondere der polnischen Intelligenz die Rolle zuwies, Polen von der als russisch identifizierten Rückständigkeit zu befreien, indem ihre Vertreter Wege in das russisch-imperiale Bildungssystem in den Bereichen der Administration, der Ökonomie, der Bildung und der Industrie suchten, von deren Wissen die polnische Nation in der Folge profitieren sollte. Im Diskurs des nationalen Denkens verorteten sich die Positivisten als Gegner der romantischen Messianisten, indem sie deren Mystizismus als bloße Träumereien stigmatisierten und ihnen die Losung der Arbeit entgegensetzten.⁷² In der Philosophie des Positivismus lehnte man die Notwendigkeit eines polnischen Staates ab und propagierte stattdessen die Arbeit am polnischen Organismus. Dass eine solche Definition dem Bild von der polnischen Nation als ethnolinguistische Gemeinschaft, wie Brian Porter-Szűcs schreibt, Vorschub leistete, das sich von dem bisher kaum in Frage gestellten sozial exklusiven und kulturell-religiös integrativen Nationsverständnis Polen-Litauens beträchtlich unterschied, war durchaus beabsichtigt: The positivists made the nation concrete – they turned it into an ethnolinguistic community rather than an ideal or a spirit – and in doing so they both blunted the revolutionary implications of nationalism and set the stage for solidifying cultural boundaries that had heretofore remained ambiguous and porous.⁷³
Vgl. Walicki, Polish Conceptions of the Intelligentsia and its Calling, S. 4. Vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 48 f. Ebd., S. 57.
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Die Überhöhung der polnischen Nation, die Distanzierung von der Notwendigkeit eines polnischen Staates sowie die Vorstellung von der Errichtung und Festigung kultureller Grenzen sollte sich auch auf den Diskurs zu den kresy auswirken. Waren die kresy im polnischen nationalen Denken unhinterfragter Teil einer polnischen Staatsvision gewesen, wurde die Idee von der Zugehörigkeit der kresy zu einem zukünftigen Staat durch das Aufkommen eines modernen Nationsverständnisses nun zum Gegenstand innerpolnischer Debatten. Nicht zuletzt der Zensus von 1897 – eine im Russischen Imperium durchgeführte Bevölkerungsbefragung zur nationalen und religiösen Zugehörigkeit – führte den polnischen Eliten dieser Region vor Augen, dass die litauische, belarussische und ukrainische Bevölkerung insbesondere auf dem Land und die jüdische Bevölkerung in den Städten große Teile der Gesamtbevölkerung stellten und sich von den Polen sprachlich und sozial unterschieden.⁷⁴ Insbesondere die litauische und die belarussische Nationalbewegung meldeten in der Folgezeit Ansprüche auf das kulturelle und auf das territoriale Erbe der polnisch-litauischen Ostgebiete an und wurden so zu Konkurrenten des polnischen Landadels, der für sich nach wie vor die Rolle einer kulturellen Führerschaft in den kresy vorsah.⁷⁵ Eingebettet waren diese Prozesse in eine russisch-imperiale Politik des divide et impera, die die einzelnen nationalen Gruppen gegeneinander zu instrumentalisieren versuchte.⁷⁶ Die Antwort auf die im Entstehen begriffenen belarussischen, litauischen und ukrainischen Nationalismen, deren Vertreter übrigens oft Bildungs- und Berufswege teilten, lag letztlich in einem ebenfalls zunehmenden polnischen Nationalismus, der etwa Mickiewicz als patriotischen Dichter für das polnische nationale Denken zu vereinnahmen suchte.⁷⁷ Ein Blick auf die literarischen Werke des Schriftstellers Henryk Sienkiewicz hilft, den Wahrnehmungswandel des polnischen Ostens im späten 19. Jahrhundert nachzuvollziehen. Sienkiewiczs Werke, insbesondere seine Trilogie zu den Kriegen des 17. Jahrhunderts, zeichneten sich durch eine Rehabilitierung der polnischen Aufstandstradition, die bei den Warschauer Positivisten so verpönt gewesen war, sowie durch nostalgische Bezüge zur polnisch-litauischen Adelsrepublik aus.⁷⁸ An einen breiten polnischen Leserkreis gewandt, stand Sien-
Vgl. Snyder, The Reconstruction of Nations, S. 42. Vgl. ebd., S. 32 f. Vgl. Darius Staliūnas: Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus after 1863, Amsterdam 2007, S. 77. Vgl. Snyder, The Reconstruction of Nations, S. 39; Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 98. Vgl. Sienkiewicz, Ogniem i mieczem; ders., Potop; ders., Pan Wołodyjowski.
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kiewiczs Werk aber dennoch in der Tradition der organischen Arbeit. ⁷⁹ Wenngleich seine Ideen sich dem Denken der polnischen Positivisten zuordnen lassen, sollte sein Werk eine „Tradition der imperialen Schönheit“ erschaffen, die sich durch eine Vielzahl orientalisierender Bezüge auf die Ukraine und einen polnischen Chauvinismus auszeichnete und die im 20. Jahrhundert insbesondere in der Zeit der Volksprepublik Polen aufgrund ihrer antideutschen Tendenzen verstärkt rezipiert wurde.⁸⁰ Martin Aust beschreibt die Trilogie als zwischen heldenhaftem Polentum und barbarischem Kosakentum schwankende Erzählung.⁸¹ Daran wird deutlich, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts der polnische Blick nach Osten, der Vorstellungen vom polnischen Osten als Vormauer des Westens und von der polnischen Vorrangstellung in den kresy gleichermaßen umfasste, um die Perspektive eines nostalgischen kresy-Mythos auch als Antwort auf die Moderne und die veränderten sozialen Verhältnisse erweitert wurde. Maria Janion sieht Nikolaj Gogols 1835 erschienene Erzählung Taras Bulba als schwarzen Spiegel der Sienkiewicz‘schen Trilogie. Das Kosakentum des 17. Jahrhunderts wird darin als Vorhut der Orthodoxie gezeichnet, das die polnischen ‚Herren‘ zurückschlägt.⁸² Die veränderte internationale Situation in Europa gegen Ende des 19. Jahrhunderts beeinflusste ebenfalls das polnische Russlanddenken. So führten die Niederlage Frankreichs im deutsch-französischen Krieg und die Gründung des Deutschen Reichs im Jahre 1871 zu einer Neujustierung des polnischen nationalen Denkens im West-Ost-Gefälle oder, wie Aleksej Miller beschreibt, in der „enemy hierarchy“.⁸³ „No Krupp could make such armaments as would kill Copernicus and no Moltke could vanquish Mickiewicz or Matejko“, zitiert Porter-Szűcs aus einem Aufsatz Aleksander Świętochowskis von 1882.⁸⁴ Świętochowski führte dabei im Gewand der positivistischen Fortschrittsrhetorik vor Augen, dass kulturelle Überlegenheit militärischen und industriellen Fortschritt durchaus überwiegen könne. Dabei unterschied der Positivismus nicht mehr zwischen dem Westen und dem Russischen Imperium per se, sondern rückte stattdessen ein Programm der Arbeit gegen die beiden Teilungsmächte Russland und Deutschland in das Zentrum seiner Ideen. Mithilfe des Programms sollten sich die Polen ihrer kulturellen Überlegenheit gegenüber Russland wieder bewusstwerden. Diese Idee erwies sich jedoch in der Folgezeit der sozialen und politischen Krisen des Russischen Imperiums und infolge der rasch zunehmenden Nationalismen im
Vgl. Aust, Polen und Russland im Streit um die Ukraine, S. 171 f. Janion, Niesamowita Słowiańszczyzna, S. 327. Vgl. Aust, Polen und Russland im Streit um die Ukraine, S. 182. Vgl. Janion, Niesamowita Słowiańszczyzna, S. 169. Miller, The Romanov Empire and Nationalism, S. 23. Aleksander Świętochowski, zitiert in: Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 72.
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Reichsverband als wenig tragfähig.⁸⁵ Die Verschiebung des West-Ost-Gefälles in Richtung eines polnisch-deutschen bzw. polnisch-russischen Antagonismus als Resultat der Entstehung eines deutschen Staates blieb indes über die Zeit des Ersten Weltkrieges hinaus erhalten, ebenso übrigens wie die polnische Orientierung an Frankreich, wie sie sich in der frühen polnischen Außenpolitik nach Erlangung der Unabhängigkeit Polens abbildete.⁸⁶ Ein weiterer Faktor trug zu dieser Konstellation bei. Die sozialen Spannungen innerhalb des Russländischen Reichs, die sich insbesondere in den industrialisierten Zentren Kongresspolens und im Südwesten des Imperiums manifestierten, und die nationale Gemengelage, die nicht zuletzt von einer russischen Nationalitätenpolitik in den westlichen Provinzen auf Kosten der lokalen polnischen Eliten angeheizt wurde, bildeten den Nährboden für eine neue Generation der Intelligenz, die Unbeugsamen, die der Losung der Arbeit die der Tat entgegenstellten und das Programm der Unabhängigkeit Polens einer weitgehenden Aktualisierung unterziehen sollten.⁸⁷ Ganz besonders wurden die Vertreterinnen und Vertreter dieser Generation von der radikalen russischen Intelligenz beeinflusst, die sich der Formel des narod (russisch, das Volk) – dessen polnische Entsprechung der lud war – verschrieben hatten. In der Hauptfigur dieser Idee, dem russischen Bauern, hatten die russischen Narodniki Vorstellungen einer gestaltbaren sozialen Masse erkannt und diese schließlich im Sinne sozialrevolutionärer Ideen idealisiert.⁸⁸ Das östliche Denken der Unbeugsamen zeichnete sich trotz ihrer Gegnerschaft zum Deutschen und zum Russischen Imperium keineswegs durch Einheitlichkeit aus. Exemplarisch für zwei konkurrierende Zugänge stehen die auch in der Forschung nach wie vor immer wieder herangezogenen bekanntesten Vertreter dieser politischen Generation, Józef Piłsudski (1867– 1935), der als Vertreter einer föderalistischen und anti-russischen Staatsvision benannt werden kann, und Roman Dmowski (1864 – 1939), der sich als maßgeblicher Ideengeber nationaldemokratischen Denkens für ein polnisches Zusammengehen mit Russland aussprach, wohinter sich jedoch die Auffassung einer zivilisatorischen Überlegenheit Polens gegenüber Russland und die Annahme einer weitaus größeren Bedrohung für die polnische Nation vonseiten der deutschen verbarg.⁸⁹ Für Dmowski war das Russländische Reich aufgrund seiner Verfasstheit als Imperialverband denn auch
Vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 57. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 186. Vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 83. Vgl. ebd. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 111.
2.2 Ostgebiete oder Westprovinzen?
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schlicht zu groß.⁹⁰ In der Konzentration auf die Perspektive dieser beiden Lager seitens der Forschung, die vor allem dem Blick aus dem historischen Verlauf der Weltkriegsereignisse hin zur Unabhängigkeit Polens geschuldet ist, wird jedoch oft außer Acht gelassen, dass bis 1918 durchaus weitere Szenarien unter den polnischen intellektuellen Köpfen kursierten, von denen das Lager der polnischen Sozialisten um Rosa Luxemburg das wohl bekannteste ist. Jene sahen vor allem im Zusammengehen der russischen und der polnischen Befürworter einer sozialen Revolution eine Chance auf ihre Realisierung und lehnten jegliche nationalen Lösungen ab.⁹¹ Generell war den links-liberalen Föderalisten und den Sozialisten die Gegnerschaft zum Russischen Imperium gemein, während die Nationaldemokratie und liberal-konservative Kreise zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf ein – wenngleich zeitlich begrenztes – Bündnis der reformerischen Kräfte des Imperiums setzten. In ihren Programmen spiegelte sich die Idee des liberalen Slavismus der 1850er Jahre wohl am deutlichsten wider, wenngleich der Neo-Slavismus unter den polnischen Intellektuellen nicht nur in den nationalkonservativen Kreisen Unterstützung fand. Obwohl die polnischen liberalen Politiker, Unternehmer und Anwälte zu Beginn des 20. Jahrhunderts kein kohärentes Programm entwickelten und sich in verschiedenen politischen Parteien und Bündnissen wiederfanden, können sie als die wohl einflussreichste Gruppe der Polen im Herrschaftszentrum des Russischen Imperiums nach der Revolution von 1905 und 1906 gelten.⁹² In der Folge führte die sich überschneidende Interessenlage von Nationaldemokratie, liberalen Kräften und vermögendem Landadel der polnischen Ostgebiete in der polnischen Frage zu seltsam anmutenden Bündnissen im russischen Parlament, wie etwa zwischen dem der polnischen Nationaldemokraten und der Partei der Konstitutionellen Demokraten (Kadetten), die sich lediglich in der Wahl der politischen Mittel bei der Verfolgung höchst unterschiedlicher Ziele einig waren. Am stärksten bemühte sich der polnische Anwalt und Politiker Aleksander Lednicki (1866 – 1934), der sich als Mitglied der Kadetten und als führender Kopf der polnischen Emigration in Russland für eine weitgehende polnische Autonomie innerhalb des Imperiums aussprach, um eine Annäherung zwischen den beiden
Vgl. Joachim von Puttkamer: Russland und das östliche Europa, in: Europa und sein Osten. Geschichtskulturelle Herausforderungen, hg. von Włodzimierz Borodziej und Joachim von Puttkamer, München 2012, S. 147– 164, hier S. 149. Vgl. Cywiński, Rodowody niepokornych, S. 142 f. Vgl. dazu Tomasz Zarycki: Aleksander Lednicki i los jego środowiska, Polonii w Rosji, na przełomie XIX i XX wieku jako zwiercadło przemian polskiego pola władzy, in: Sprawy Narodowościowe, H. 42, 2013, S. 67– 82.
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Parteien. Seine Initiativen müssen in der Folge als gescheitert angesehen werden.⁹³ Die polnische Frage kehrte mit den revolutionären Ereignissen der Jahre 1905 und 1906 auf die Tagesordnung der internationalen und der russisch-imperialen Politik zurück. Dies führte zunächst zur Marginalisierung der anti-imperialen Tendenz, wie sie besonders in der linksgerichteten polnischen Intelligenz ausgeprägt war.⁹⁴ Die polnische Intelligenz stellte das autokratische Herrschaftssystem generell in Frage. Sie war so der Verfolgung durch die Sicherheitsorgane der Regierung ausgesetzt und zur konspirativen Tätigkeit gezwungen.Wenngleich aber die Orientierung der polnischen Nationaldemokratie an Russland bis zum Ausbruch der Februarrevolution 1917 ein umstrittenes, aber relativ dauerhaftes Element ihrer Parteipolitik blieb, verfügte auch die Ideologie Roman Dmowskis über anti-russische Tendenzen, die sich bestehenden Traditionen des polnischen Ostdenkens zuordnen ließen. Porter-Szűcs macht denn auch auf die gemeinsamen anti-zaristischen Wurzeln nationalistischer und sozialistischer Kreise der polnischen Intelligenz aufmerksam – bis zur Wende des 19. Jahrhunderts waren auch die polnischen Nationalisten Gegner der Autokratie gewesen und hatten weitestgehend im Untergrund agiert.⁹⁵ Paradoxerweise entsprang Dmowskis Russlandorientierung einem Kulturnationalismus, den er, an Vorstellungen der polnischen Romantik von der Zugehörigkeit Polens zum Westen anknüpfend, als Beleg einer kulturellen Überlegenheit der Polen gegenüber den Russen ins Feld führte und sich dafür dem völkischen Denken im Deutschen Reich als Negativfolie für seine eigenen Ideen bediente.⁹⁶ Die deutsche Nation war für Dmowski dabei die weitaus größere Bedrohung für die Existenz der polnischen Nation. Auf diesen Grundpfeilern basierend, enthielt Dmowskis Russlanddenken starke tendenziöse Elemente zivilisatorischer Separiertheit. Die russische Nation war im Vergleich zur polnischen Nation schwach, da sie eine starke asiatische Komponente enthielt, die für ihn der Despotismus und das expandierende Imperium symbolisierte, wie er 1908 noch in seiner Zeit als polnischer Abgeordneter des russischen Parlaments in Deutschland, Russland und die polnische Frage schrieb:
Vgl. Martin Müller-Butz: Von Russland nach Polen. Zum Potential imperialer Erfahrung nach dem Zerfall von Imperien am Beispiel der Biographie von Aleksander Lednicki, in: Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850 – 1918), hg. von Tim Buchen und Malte Rolf, Berlin, Boston 2015, S. 199 – 219, hier 207 f. Ausführlich dazu vgl. Andrzej Nowak: Niepodległa polityka wschodnia (Józef Piłsudski), in: Jak rozbić rosyjskie imperium? Idee polskiej polityki wschodniej (1733 – 1921), hg. von dems., Warszawa 1995, S. 243 – 274. Vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 129. Vgl. Puttkamer, Russland und das östliche Europa, S. 150.
2.3 Alter Wein in neuen Schläuchen?
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Dieser Staat mit den Ausmaßen, die er durch die Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte erlangt hat, hat nur einen Ausweg vor sich, nur einen Weg zur inneren Gesundung und zur Wiederherstellung seiner äußeren Macht […]. Es kann nicht mehr der Staat nur des russischen Volkes sein, der allen anderen seine Kultur und seine Institutionen aufzwingt: die Kräfte der anderen Völker und vor allem des polnischen müssen gleichrangig mit den russischen zum Leben und zum eigenständigen Schaffen angerufen werden.⁹⁷
Ausdruck des unzivilisierten Charakters des Russischen Imperiums und von dessen Verfall waren für Dmowski die Juden. Für sie sah er in seiner Vision eines neo-slavischen Verbunds des Übergangs hin zu einer neuen Ordnung keinen Platz vor. Für die polnische Frage prognostizierte er unter den Eindrücken der Revolution von 1905, dass die Instinkte der russischen Nation, so wie sie vor allem die Geschichte als Teilungsmacht ausbildete, ihr [der russischen Nation, M.-B.] nicht erlauben, die Eigenständigkeit verschiedener Teile des Imperiums anzuerkennen, auf die sie wie auf eine sichere Beute zu schauen gewohnt war.⁹⁸
2.3 Alter Wein in neuen Schläuchen? Polnische Spielarten (anti‐)östlichen Denkens in der Zwischenkriegszeit [D]as blutige Antlitz [Ivan] des Schrecklichen ist ein Symbol Russlands geblieben. […] Das Gehirn des ‚weißen‘ Zaren [Nikolaus II., M.-B.] wurde in den Kellermauern der Ekaterinburger Črezvyčajka verspritzt. Aber der ‚rote‘ Zar ist der gleiche Ivan, der nach wie vor herrscht, umgeben von der gleichen Opričnina. Ob die Opričnina sich ‚Ochrana‘ nennt, oder ‚Črezvyčajka‘‚ der Inhalt ist der gleiche Wein, der in neue Schläuche gefüllt worden ist.⁹⁹
Vgl. Roman Dmowski: Niemcy, Rosja i kwestia polska, Lwów 1908. Hier zitiert aus: Roman Dmowski: Deutschland, Rußland und die polnische Frage (Auszüge), in: Polen und der Osten. Texte zu einem spannungsreichen Verhältnis, hg. von Andrzej Chwalba, Frankfurt am Main 2005, S. 111– 128, hier S. 116. Roman Dmowski: Obecny stan Rosji w perspektywie historyczniej, in: Przegląd Wszechpolski, H. 5 – 6, 1905, S. 266 – 270, hier S. 266. Włodzimierz Dzwonkowski: Portrety dziejowe. Odczyty wygłoszone w roku 1927 przed mikrofonem warszawskiego radja, Poznań 1928, S. 70. Zar Ivan IV. (1530 – 1584), auch bekannt als Ivan der Scheckliche, regierte mit Unterbrechungen von 1547 bis 1584. Nikolaus II., 1868 – 1918, regierte von 1894 an und wurde im Sommer 1918 in Gefangenschaft gemeinsam mit seiner Familie von den Bolʼševiki erschossen. Črezvyčajka, Abk. für Vserossijskaja črezvyčajnaja komissija po bor’be s kontrrevoljuciej, spekuljaciej i sabotažem (Allrussische Sonderkommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage). Opričnina, Bezeichnung für ein Heer unter direktem Befehl Ivans IV. , abgeleitet vom Wort opričʼ (außer, trotzdem). Ochrana, Abk. für Ochrannoe otdelenie (Sicherheitsabteilung), Bezeichnung für Geheimpolizei im Russischen Imperium.
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Der in Warschau geborene und im russisch-imperialen Odessa ausgebildete Historiker Włodzimierz Dzwonkowski (1880 – 1954) hielt gegen Ende der zwanziger Jahre Vorlesungen im Warschauer Radio. Dzwonkowski war bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Mitglied der russischen Sozialdemokraten, der Rossijskaja Socjal-Demokratičeskaja Rabočaja Partija (RSDRP, Sozial-Demokratische Arbeiterpartei), gewesen und blieb auch im Kriegsverlauf ein Verfechter guter russischpolnischer Beziehungen.¹⁰⁰ Das angeführte Zitat wiederum stammt aus einer seiner Radiovorlesungen, in denen Dzwonkowski unter anderem die Kontinuitätsthese vom gleichbleibend repressiven und brutalen Herrschaftscharakter aus der Zeit des Russischen Imperiums unter den Bedingungen des neuen sowjetischen Staats vertrat. Auf der einen Seite repräsentierte Dzwonkowski mit der These das in der Öffentlichkeit und in akademischen Kreisen der zwanziger und dreißiger Jahre nach wie vor dominierende Bild Russlands als asiatische, polenfeindliche Macht, deren exponiertester Vertreter Jan Kucharzewski (1876 – 1952) mit seinem siebenbändigen Werk war und auf den sich Dzwonkowski im Radio explizit bezog.¹⁰¹ Betrachtet man Dzwonkowskis Biographie, manifestiert sich im Zitat jedoch auch das Resultat eines Wandlungsprozesses, an dessen Beginn in der Vorkriegszeit ein so scharfes Urteil, wie er es in den zwanziger Jahren vom sowjetischen Russland fällte, vielleicht nicht wahrscheinlich schien. Im Zweiten Weltkrieg, der das Ende des polnischen anti-sowjetischen Konsenses einläutete, sah Dzwonkowski dann die Zeit gekommen, mit einer Biographie von Aleksander Lednicki das russisch-polnische Verhältnis des 19. Jahrhunderts aus einer alternativen Perspektive zu betrachten.¹⁰² Hier stellt sich zunächst die Frage, welche Spielarten sich innerhalb des polnischen Russlanddenkens in der Zwischenkriegszeit ausbildeten und wo die Gründe für die verbreitete tendenziöse Einschätzung vom Kontinuitätscharakter des imperialen Russlands und der Sowjetunion liegen. Aufschluss darüber gibt zunächst der ereignishistorische Kontext jener Zeit. So müssen die Phasen der Russischen Revolution 1917, die Gründung des polnischen Staates 1918 und die Folgen des Polnisch-Sowjetischen Krieges von 1919 bis 1921 für die polnische Gesellschaft hinsichtlich der in dieser Zeit formierten politischen Landschaft der Zweiten Republik berücksichtigt werden. Letztere sollte sich nämlich nicht entlang der alten Konfliktlinien zwischen den polnischen politischen Parteien der verschiedenen zu den einzelnen Imperien gehörenden Teilgebiete entfalten, sondern bildete sich zwischen den beiden dominierenden Lagern der weiter oben Vgl. Anna Grześkowiak-Krwawicz: Art. Dzwonkowski, Włodzimierz, in: Słownik historyków polskich, hg. von Maria Prosińska-Jackl, Warszawa 1994, S. 124, hier S. 124. Vgl. Jan Kucharzewski: Od białego do czerwonego caratu, 7 Bde., Warszawa 1923 – 1935. Vgl. Włodzimierz Dzwonkowski: Rosja a Polska, Warszawa 1991.
2.3 Alter Wein in neuen Schläuchen?
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bereits angesprochenen Föderalisten und den Inkorporationisten aus, die sich zweier konkurrierender Staatskonzepte bedienten. Eine schematische Unterscheidung zwischen einem national gesinnten und einem föderal gesinnten Programm greift dabei jedoch zu kurz. Vielmehr sollte der Einflussfaktor des Nationalen, insbesondere die Frage der Loyalität der Bevölkerung zum neuen polnischen Staat angesichts der feindlich gesinnten Weimarer Republik mit ihren Revisionsansprüchen im Westen sowie dem international isolierten und infolge des Polnisch-Sowjetischen Kriegs eines Großteils seiner Westprovinzen beraubten Sowjetrusslands im Osten bestimmendes Merkmal polnischer Innenpolitik und Diplomatie sein. Diese Staatsloyalität in Form eines übersteigerten und vor allem anti-sowjetisch geprägten Staatspatriotismus (der später um den Kult um Staatsgründer Józef Piłsudski ergänzt werden sollte) fungierte als Kleber für eine national wie auch sozial extrem heterogene Bevölkerung, die von unterschiedlichsten, meist jedoch einschneidenden Vertreibungs- und Verlust-, Deportationsund Revolutionserfahrungen während des Ersten Weltkrieges in den Gebieten der drei untergegangenen Teilungsmächte geprägt war.¹⁰³ Der anti-sowjetische Konsens war vor allem das Resultat einer seit dem Machtantritt der Bolʼševiki andauernden Konfrontation zwischen den beiden Staaten mit Kriegshandlungen von 1919 bis 1921, deren Ende mit dem Friedensvertrag von Riga und dem Beschluss einer neuen polnischen Ostgrenze besiegelt wurde. Im Ergebnis muss Piłsudskis Vision des intermarium, eines föderalen Polens von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer in deutlicher Bezugnahme auf die Gebiete der Polnisch-Litauischen Union, im Vergleich zu Dmowskis Vision eines ethnisch homogeneren Staates als gescheitert bezeichnet werden, wenngleich auch Dmowski in den Verhandlungen zum Versailler Friedensvertrag 1919 die Gültigkeit der historischen Ostgrenzen für Polen eingefordert hatte, diese aber anders als Piłsudski als Verhandlungsmasse ins Spiel gebracht hatte.¹⁰⁴ So kam es, dass nach dem polnisch-sowjetischen Frieden von Riga große Teile der ehemaligen polnischen und zwischenzeitlich vom polnischen Militär besetzten Ostprovinzen, wie etwa die Gebiete um Minsk und im Süden um Kamenec-Podolʼskij in sowjetische Hand fielen.¹⁰⁵ Zur Befriedung und zu stabilen Verhältnissen in den
Vgl. Konrad Zieliński: Population Displacement and Citizenship in Poland, 1918 – 24, in: Homelands. War, Population and Statehood in Eastern Europe and Russia 1918 – 1924, hg. von Nick Baron und Peter Gatrell, London 2004, S. 98 – 119, hier S. 108. Zum Piłsudski-Kult vgl. Hein, Der Piłsudski-Kult. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 109. Vgl. Daria Nałęcz; Tomasz Nałęcz: Stosunki polsko-sowieckie w latach 1917– 1921, in: Białe plamy – czarne plamy. Sprawy trudne w polsko-rosyjskich stosunkach (1918 – 2008), hg. von Adam Daniel Rotfeld und Anatolij W. Torkunow, Warszawa 2010, S. 25 – 44, hier 39 f.
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östlichen Regionen Polens trug der Vertrag jedoch nur bedingt bei. Hatte der Erste Weltkrieg bereits zu massenhaften Deportationen der Zivilbevölkerung aus Kongresspolen sowie der polnischen Kriegsgefangenen aus anderen Teilungsgebiete ins Innere Russlands geführt, waren Warschau und die ostpolnischen Gebiete seit dem bolschewistischen Umsturz im Oktober 1917 bis in die erste Hälfte der zwanziger Jahre hinein mit einer anhaltenden Einwanderungswelle von mehreren Millionen Kriegsflüchtlingen, von ehemaligen Kriegsgefangenen, von russischen und jüdischen Flüchtlingen aus dem Osten und ihrer Integration in den im Entstehen begriffenen polnischen Staat konfrontiert.¹⁰⁶ Die Situation in den polnischen Ostgebieten gestaltete sich in den Jahren 1917 bis 1921 demzufolge schwierig. Das Problem der Grenzziehung und -sicherung war dabei nur eines von vielen, wenngleich seine Bedeutung für die polnische Frage in der Forschungsliteratur nicht zuletzt wegen des Streits zwischen den Staatsvisionen Piłsudskis und Dmowskis nach wie vor betont wird.¹⁰⁷ Die Fokussierung auf die kresy in der jüngeren Forschung scheint jedoch vielmehr dem Umstand geschuldet zu sein, dass diese nach dem Zweiten Weltkrieg fast vollständig an die Ukrainischen und Belarussischen Sowjetrepubliken fallen sollten und für Polen als verloren gelten mussten. Während in der Volksrepublik die kresy lediglich als Teil der Osteuropastudien untersucht werden durften, beschäftigte sich die polnische Emigration fast obsessiv mit diesen Gebieten, was letztlich der Entstehung des kresy-Mythos im 20. Jahrhundert Vorschub leistete.¹⁰⁸ Ein in der Forschung häufig übersehenes Problem bezüglich der Ostgebietsproblematik der Zwischenkriegszeit ist der Umstand, dass der Zerfall des Russischen Imperiums in der Russischen Revolution und dem anschließenden Bürgerkrieg zur Dezimierung ebenjener polnischen Kräfte beitrugen, die noch bis 1917 über den größten Einfluss in den ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Gestaltungsräumen des Russischen Imperiums verfügt hatten. Meist handelte es sich dabei um Personen jener vermögenden Schicht, die aus den Ostgebieten stammten und deren Einflussspielraum im Imperium als moderne Magnaten sich entweder über deren Besitztümer in den Ostgebieten definierte, oder die über Kapital aus Unternehmen und Fabriken verfügten, deren Prosperität an den Wirtschaftsraum des Russischen Imperiums geknüpft war. Zarycki schreibt zum Verschwinden dieser Vorkriegselite:
Vgl. ausführlicher dazu Sula, Powrót ludności polskiej z byłego Imperium Rosyjskiego w latach 1918 – 1937. Vgl. Benecke, Benecke 1999, S. 9; Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 110. Vgl. dazu Beauvois, Mit „kresów wschodnich“, czyli jak mu położyć kres.
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On the one hand after World War I the country regained its independence, on the other much of its elite lost vast amounts of land and assets which could never be reclaimed. […] After 1918 Poles who had lost wealth and status were unable to enter the interwar political scene as a powerful group.¹⁰⁹
Zarycki meint gar in dieser tragischen Konstellation die Ausgangsbedingung für die Dominanz der polnischen Intelligenz in der Zwischenkriegszeit und ihres links-liberalen Teils in der frühen Volksrepublik zu sehen.¹¹⁰ Mit der Marginalisierung dieser Strömung im politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Leben der Zweiten Polnischen Republik entfiel letztlich auch eine gemäßigte prorussische Option im polnischen östlichen Denken der Zwischenkriegszeit. Die infolge des Ersten Weltkriegs und des Polnisch-Sowjetischen Kriegs ohnehin wirtschaftlich und bevölkerungsmäßig dezimierten kresy hingegen wurden vom polnischen Staat ökonomisch, aber auch gesellschafts- und minderheitenpolitisch vernachlässigt, dienten aber dennoch in der polnischen Öffentlichkeit als Projektionsfläche polnischer Kolonisierungsphantasien, vor allem zur Aufrechterhaltung des Mythos vom Bollwerk vor der Gefahr aus dem Osten.¹¹¹ Bekanntestes und drastischstes Beispiel der kresy-Autobiographik der Zwischenkriegszeit ist wohl Zofia Kossaks (1889 – 1968) Großbrand von 1922, worin die Welt östlich von Polen als verroht und menschenfeindlich, die Bolʼševiki als dumm und tierisch dargestellt werden.¹¹² Wojciech Kudyba bezeichnet Kossaks Vision als kommunistisches „Inferno“.¹¹³ Das polnische östliche Denken der frühen Zwischenkriegszeit war demzufolge vom anti-sowjetischen Konsens geprägt. Innerhalb des Konsenses ließen sich jedoch durchaus verschiedene Strömungen und politisch-ideologische Denkschulen erkennen, die sich etwa durch ein unterschiedliches Verhältnis zum Russischen Imperium, zur Frage nach der Zugehörigkeit Russlands zu Europa auszeichneten oder deren Gegnerschaft zur Sowjetunion durchaus unterschiedliche Szenarien zu Überwindung derselben vorsah. Dabei gilt auch hier: das
Zarycki, The Embarrassing Russian Connection, S. 139. Vgl. Zarycki, Ideologies of Eastness in Central and Eastern Europe, S. 27, 65. Vgl. Werner Benecke: Die Kresy – ein Mythos der polnischen Geschichte, in: Politische Mythen im 19. und 20. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa, hg. von Heidi Hein-Kircher und Hans Henning Hahn, Marburg 2006, S. 257– 266, hier S. 260. Vgl. Zofia Kossak: Pożoga. Wspomnienia z Wołynia 1917– 1919, Warszawa 1922. Wojciech Kudyba: Inferno komunizmu w Pożodze Zofii Kossak-Szczuckiej, in: Obraz Rosji w literaturze polskiej, hg. von Jerzy Fiećko und Krzysztof Trybuś, Poznań 2012, S. 385 – 395, hier S. 385. Zur kresy-Memoiristik im zwanzigsten Jahrhundert vgl. Roman Jurkowski: W krzywym zwierciadle. Próba krytycznego spojrzenia na ziemian kresowych przez pryzmat ich wspomnień i pamiętników, in: Przegląd Wschodnioeuropejski 2, 2011, S. 15 – 34.
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polnische östliche Denken der Zwischenkriegszeit entfaltete sich einerseits im steten Rekurs auf westliche Interpretationen des östlichen Europas und spätestens in den dreißiger Jahren im ständigen Blick auf die Entwicklung in Mitteleuropa, insbesondere nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland im Jahr 1933. Andererseits sollte die Rückbesinnung auf die Geschichte Polen-Litauens ebenso Einfluss auf die zeitgenössischen Ideen zum Osten haben. Denn obwohl sich die neu-jagiellonische Vision eines polnischen Staats im Osten territorial nicht verwirklichen ließ, blieb sie ein wirkmächtiges Gebilde in der polnischen Staatsideologie und im intellektuellen Denken polnischer Eliten vor allem hinsichtlich der nach 1918 einsetzenden Nationalerzählung von Polen als Opfer russischen Imperialismus und von der „vergangenen Größe“ Polen-Litauens fest verankert.¹¹⁴ Frank Hadler und Matthias Mesenhöller zufolge dominierte die moderne polnische Meistererzählung vom Dreiklang „Nationalität – Entwicklung – Europäizität“ in der polnischen Gesellschaft, wodurch das Russische Imperium im Umkehrschluss mit Imperialität, d. h., mit fehlendem Nationalbewusstsein, mit Rückständigkeit und mit Asiatizität identifiziert wurde.¹¹⁵ Interessanterweise deckte sich diese Lesart mit der Außen- und Militärpolitik Piłsudskis während des Polnisch-Sowjetischen Kriegs. Piłsudski hatte darin auf eine Zusammenarbeit mit den Vertretern der aus unterschiedlichen Kräften des Ancien Régime bestehenden Weißen Bewegung um General Anton Denikin (1872– 1947) gegen die sowjetische Militärmacht konsequent verzichtet und sich stattdessen – mäßig erfolgreich – auf ein Bündnis mit pro-polnischen russischen und ukrainischen Aktivisten um Boris Savinkov (1879 – 1925) und Symon Petljura (1879 – 1926) gestützt.¹¹⁶ Als maßgebend für das polnische Russlanddenken der Zwischenkriegszeit gilt Jan Kucharzewski mit seinem Werk Vom weißen zum roten Zarentum, dessen erster Band bereits 1923 erschienen war.¹¹⁷ Darin begründete der Autor zwar keine schlüssige Philosophie des Ostens, er bündelte darin aber Ideen einer bis dahin vor allem von den Anhängern um Piłsudski formulierten Annahme von der Kontinuität des sowjetischen Russlands in der Herrschaftstradition des Russischen Imperiums. Kucharzewskis Biographie repräsentiert übrigens die fließende Grenze zwischen den Nationaldemokraten, deren Mitglied er vor dem Ersten Weltkrieg gewesen war, und den Anhängern eines föderalen, unabhängigen und
Hadler, Mesenhöller, Repräsentationen imperialer Erfahrung in Ostmitteleuropa, S. 16. Ebd., S. 25. Vgl. Nowak, Jak rozbić rosyjskie imperium? (Adam Jerzy Czartoryski: 1831– 1848), S. 258; Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 112 f. Vgl. Kucharzewski, Od białego do czerwonego caratu.
2.3 Alter Wein in neuen Schläuchen?
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gegen Russland gerichteten polnischen Staates, deren Ansichten er während des Krieges als Präsident des von den deutschen Besatzern eingesetzten Warschauer Regentschaftsrates vertreten hatte.¹¹⁸ Ausgehend von Kucharzewski, aber ideologisch auch an das Denken der polnischen Pariser Emigration der 1850er Jahre anknüpfend, formierte sich in Polen eine Bewegung der Prometheisten, die sich zum Ziel setzte, die Nationalbewegungen in den Peripherien des sowjetischen Imperiums zu stärken und so den Zerfall des sowjetischen Imperiums herbeizuführen.¹¹⁹ Die Prometheisten wiesen etliche Überschneidungen mit den Ideen des Eurasianismus auf, einer Idee, die ihre Wurzeln im Denken russischer, mehrheitlich „weißer“ Emigranten hatte. Hinter dem Eurasianismus verbarg sich die Annahme einer Inkompatibilität von russischem und europäischem Selbstverständnis, wobei durch die Absage an die Annahme einer russischen Europäizität seitens der Eurasianisten vor allem die Merkmale russischer Kultur und russischer Orthodoxie als Symbole eurasischer Macht, identifiziert im russischen Bauern und der Steppe, aufgewertet werden sollten. Europa hingegen galt den Eurasianisten als im Verfall begriffen.¹²⁰ Ihnen war dabei ein anti-modernistischer Ansatz zu eigen, der sich auch in den Schriften polnischer Intellektueller, wie etwa denen des polnischen Kultur- und Zivilisationstheoretikers Feliks Koneczny (1862– 1949) niederschlug. Koneczny schreibt in Polen zwischen Ost und West von 1928: Das neue [20., M.-B.] Jahrhundert traf uns also unter einem starken Druck des Ostens, unter den Wogen zweier Zivilisationen, der turanischen und der jüdischen, die jedoch noch ganz unabhängig voneinander agierten. Nach Erlangung der Unabhängigkeit [Polens, M.-B.] verstärkte sich dieser Druck gewaltig, und wer das nicht sieht, muß blind sein. Die polnische, die lateinisch-polnische Kultur erlitt gefährliche Erschütterungen. Der Druck dieser beiden verwandelte sich in Angriffe, die um so bedrohlicher wurden, als beide sich im Vorgehen gegen die christlich-humanistische Zivilisation verbanden, die im unabhängigen Polen
Vgl. Mirosław Filipowicz: Wobec Rosji. Studia z dziejów historiografii polskiej od końca XIX wieku po II wojnę swiatową, Lublin 2000, S. 77. Vgl. dazu Marek Kornat: Początki studiów sowietologicznych i wschodoznawczych w Polsce (1919 – 1939). Ośrodki badawacze, problemy, ludzie, in: Polski Przegląd Dyplomatyczny 2, H. H. 5 (9), 2002, S. 89 – 158, hier 122 f. Zur heutigen Rezeption der Bewegung in der polnischen Öffentlichkeit und Wissenschaft eher kritisch: Martin Müller-Butz: Nach dem Imperium. Zur Entstehung und zum Ende des Wilnaer sowjetoznawstwo aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive, in: Nordost-Archiv 23, 2014, S. 23 – 47, hier S. 30. Ausführlich zum russischen Eurasianismus: Stefan Wiederkehr: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, Weimar, Zürich 2007.
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weiterhin vom Katholizismus repräsentiert wurde. Seit einigen Jahren sind wir Zeuge einer konzentrierten moskauisch-jüdischen Arbeit auf polnischem Boden.¹²¹
Koneczny entwirft im Zitat die Idee eines östliches Denkens, das geprägt ist vom zvilisatorischen Gegensatz Polens und Russlands. Dabei geht Koneczny sogar so weit, Russland nicht als eigenständige eurasische Zivilisation zu identifizieren, sondern stattdessen im sowjetischen Russland vielmehr verschiedene, turanische und jüdische Zivilisationen zu benennen. Begleitet wird sein Konzept von einem Antisemitismus, der zwar den Begriff der im Polnisch-Sowjetischen Krieg geprägten żydokomuna (dem deutschen Begriff des jüdischen Bolschewismus ähnlich) ungenutzt lässt, der aber in Konecznys Suggestion einer moskauischjüdischen Kollaboration deutlich durchscheint.¹²² Dass Koneczny den Begriff der żydokomuna vermeidet, deutet wohl eher auf die anti-modernistische Tendenz seiner Idee hin. An anderer Stelle kurz zuvor schreibt er: Gerade um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begann sich in Polen ein neuer Typus zu zeigen: ein Pole mit einem heißen polnischen Herzen, der zu allen Opfern bereit war, selbst zum Märtyrertum für Polen, der aber – ein russifiziertes Gehirn hatte. […] Hätte sich die russische Denkweise in polnischen Gehirnen doch nur auf die Literatur beschränkt! Das ist ja keineswegs der wichtigste Teil des gesellschaftlichen Lebens. Es ging und geht aber um gewaltigere Einsätze, um gesellschaftliche und politische Dinge. Diese übten, auf russische Weise verstanden, schreckliche Wirkungen aus, zerstörten die polnische Ordnung, schwächten die Struktur der Nation, nahmen ihr die Widerstandskraft. Besonders die polnischen Sozialisten fanden Gefallen an den russischen Methoden. Sie, die größten Feinde des Zarismus, unerbittlich im Kampf gegen das offizielle Rußland, russifizierten die polnischen Gehirne stärker als das ganze russische Beamtentum. Der russische Nihilismus wirkte sich verhängnisvoll auf die gesamte polnische Linke aus.¹²³
Konecznys Ostdenken zeichnete sich also durch Eigenarten aus, die an den Antisemitismus Roman Dmowskis anknüpften, die sich klar gegen die herrschenden Eliten um Józef Piłsudski richteten und die vor allem die Folgen russisch-polni-
Vgl. Feliks Koneczny: Polska między Wschodem a Zachodem, Lublin 1928. Hier und in den folgenden Zitaten zitiert aus: Feliks Koneczny: Polen zwischen Ost und West (Auszug), in: Polen und der Osten. Texte zu einem spannungsreichen Verhältnis, hg. von Andrzej Chwalba, Frankfurt am Main 2005, S. 133 – 138, hier 135 f. Vgl. dazu Klaus-Peter Friedrich: Von der żydokomuna zur Lösung einer „jüdischen Frage“ durch Auswanderung: Die politische Instrumentalisierung ethnischer und kultureller Differenzen in Polen 1917/1918 bis 1939, in: Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen. Juden, Politik und Antisemitismus in Ost- und Südosteuropa 1918 – 1945, hg. von Dittmar Dahlmann und Anke Hilbrenner, Paderborn 2007, S. 53 – 76. Koneczny, Polen zwischen Ost und West (Auszug), S. 133 f.
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scher Verflechtung und gegenseitiger kultureller Durchdringung des 19. Jahrhunderts als Gefahr für das unabhängige Polen formulierten. Der anti-sowjetische Konsens wurde bei Koneczny zur russisch-polnischen Inkompatibilität und der daraus folgenden ewigen Feindschaft zwischen der lateinischen Zivilisation, der die polnische Kultur angehöre, und der turanisch-jüdischen weiterentwickelt. Auch in Konecznys nationalistisch-kulturalistischem Konzept kam die Annahme von der Kontinuität russisch-imperialer Herrschaft der Gewalt und des Terrors im Gewand des sowjetischen Russlands zum Ausdruck. Wie aus seinem Werk Über die Vielfalt der Zivilisationen von 1935 hervorgeht, sah Koneczny im Byzantinismus – der sich ihm zufolge durch die Identität von Herrscher und Staat auszeichnete und in die turanisch-jüdische Zivilisation integriert wurde – erstaunlicherweise gemeinsame Eigenschaften deutscher und russischer Kultur.¹²⁴ Auch in Konecznys Idee spiegelte sich demzufolge die geopolitische Situation Polens in der Zwischenkriegszeit wider. Sein Blick auf den Osten wird dann nachvollziehbar, wenn sein Verständnis vom Westen und von Deutschland ebenso berücksichtigt wird. Filipowicz schreibt zu Koneczny, dass dieser in der Zeichnung eines zivilisatorischen west-östlichen Gegensatzes den polnischen Historiosophen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geähnelt hätte.¹²⁵ Eine weitere Spielart des in der Vorstellung eines despotischen Russlands wurzelnden anti-sowjetischen Denkens findet sich in den Arbeiten des Slavisten und Philosophen Marian Zdziechowski. Die Nähe zwischen Konecznys und Zdziechowskis Ostdenken ist wenig überraschend, entwickelten doch beide in dem Krakauer Journal Świat Słowiański (Slavische Welt) in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg Thesen zur Erschließung einer slavischen Verbindung des liberalen und Europa zugewandten Russlands zu Polen. Anders als Koneczny allerdings war und blieb Zdziechowski über 1918 hinaus als intimer Kenner der russischen Literatur- und Kulturlandschaft Verfechter einer gründlichen Auseinandersetzung mit Russland sowie zugleich Fürsprecher einer religionsgeschichtlich fundierten Hinwendung Polens nach Russland.¹²⁶ Dabei war Zdziechowski keineswegs ein offensiver Vertreter der in Polen verbreiteten Kontinuitätsthese, sondern beschrieb den Kommunismus in Sowjetrussland vielmehr als ein grundlegend neues Phänomen, dessen Ausbreitung auch für Polen zu einer akuten Gefahr werden konnte. Infolgedessen prägte Zdziechowski den Begriff des „Halbbolschewismus“, den er in Polen auszumachen meinte.¹²⁷ Dahinter verbarg sich die Auffassung, dass in Polen mit der Realisierung einer demokratischen Ordnung die
Vgl. Feliks Koneczny: On the Plurality of Civilisations, London 1962, S. 320. Vgl. Filipowicz, Wobec Rosji, S. 75. Vgl. ebd., S. 83. Marian Zdziechowski: Europa, Rosja, Azja. Szkice polityczno-literackie, Wilno 1923, S. 191.
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Einrichtung eines „Polens der Arbeiter und Bauern“ bereits begonnen hätte, das Land jedoch sich seiner Rolle in Europa als „Schutzwall“ bewusstwerden müsste.¹²⁸ Zdziechowskis Denken als anti-sowjetischen Reflex zu bezeichnen, greift dabei zu kurz. Wenn er sich in seinen Werken negativ über den „Bolschewismus“ als „charakteristischste Manifestation Russlands auf der Tribüne der Geschichte“ äußert, so ist damit keine generelle Russlandkritik verbunden, sondern vielmehr die Angst vor den Massen und der Demokratisierung der Gesellschaft angesprochen, wie sie sich auch im anti-modernistischen Denken westeuropäischer Intellektueller jener Zeit formierte und sich in den Ideen der Eurasianisten, im kulturpessimistischen Denken von Gustav Le Bon (1841– 1931) oder José Ortega y Gasset (1883 – 1955), aber auch im rechtskonservativen Denken in der Weimarer Republik niederschlug.¹²⁹ Dabei bediente sich Zdziechowski in seinem katastrophistischen und anti-kommunistischen Denken aber eben nicht der genannten, sondern vor allem russischer Intellektueller und Philosophen wie Nikolaj Berdjaev (1874– 1948) und Dmitrij Merežkovskij (1865 – 1941) und integrierte so wiederum exilrussische Argumente einer totalitaristischen Lesart Sowjetrusslands als etwas spezifisch Neues in die polnischen Debatten.¹³⁰ Es ist wiederum dieser Transferleistung Zdziechowskis zu verdanken, dass sich in Polen und insbesondere im Wilna der Zwischenkriegszeit eine geistige Strömung entwickeln konnte, die bei der Betrachtung des polnischen Ostdenkens der Zwischenkriegszeit seitens der Forschung nur selten in den Blick rückt. Dabei handelt es sich um die literarische Bewegung der żagaryści (abgeleitet von żagary, Geäst oder Reisig) und um ihr Umfeld, die sich als junge intellektuelle Generation der nach der Jahrhundertwende Geborenen in der wirtschaftlichen Tristesse und der bedrohlicheren internationalen Lage der dreißiger Jahre nach Impulsen für einen neuen Zugang zum Verständnis dieser Welt suchte. Dabei versuchten sich ihre Vertreter der Dominanz des polnischen Unabhängigkeitskults und der antikommunistischen und nationalistischen Drohkulisse im Inneren sowie der Aus-
Ebd., S. 228, 198. Vgl. dazu auch Dariusz Szpoper: Sukcesorzy Wielkiego Księstwa. Myśl polityczna i działalność konserwatystów polskich na ziemiach litewsko-białoruskich w latach 1904– 1939, Gdańsk 1999, S. 198. Zdziechowski, Europa, Rosja, Azja, S. 200. Zum anti-modernistischen Denken westlicher Intellektueller vgl. etwa Wolfram Pyta: Antiliberale Ideenwelt in Europa bei Kriegsende, in: Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, hg. von Christoph Gusy, Baden-Baden 2008, S. 86 – 104. Vgl. Herlth, Rosja jako „czarna skrzynka“ katastrofizmu polskiego, S. 362 f. Zur Entstehung des polnischen Totalitarismusgedankens in der Zwischenkriegszeit vgl. Marek Kornat: Polish Interpretations of Bolshevism and Totalitarian Systems (1918 – 1939), in: Totalitarian and Authoritarian Regimes in Europe. Legacies and Lessons from the Twentieth Century, hg. von Jerzy Wojciech Borejsza und Klaus Ziemer, New York 2006, S. 80 – 105.
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weglosigkeit Polens angesichts des nationalsozialistischen Herrschaftsregimes im Westen und des sowjetischen im Osten zu entziehen. Unter den bekanntesten Vertretern dieser Gruppierung waren die Literaten Czesław Miłosz, Teodor Bujnicki (1907– 1944) und Jerzy Zagórski (1907– 1984), die sich in ihren Werken durch einen anti-modernistischen und nach innen gerichteten Katastrophismus auszeichneten und das polnisch-russische bzw. das polnisch-sowjetische Verhältnis auf einer Metaebene verhandelten. Mehrheitlich im 1930 gegründeten Wissenschafts- und Forschungsinstitut Osteuropas, dem wohl einzigen liberalen Zentrum polnischer Ostforschung in der Zwischenkriegszeit, ausgebildet, plädierten die żagariści dafür, das Phänomen des Sowjet-Kommunismus als neues Phänomen wahrzunehmen, anstatt nach den russischen Traditionen des Sowjetkommunismus zu fragen.¹³¹ Dabei bedienten sie sich sowohl dem historiosophischen Denken der polnischen Romantiker als auch dem russischen Katastrophismus Berdjaevs sowie nicht zuletzt dem Schreiben des sowjetischen Schriftstellers Vladimir Majakovskij (1893 – 1930).¹³² Interessanterweise entwarfen die żagaryści keine Zukunftsvision ihrer Umgebung und von Wilna, das sich in der Zwischenkriegszeit durch eine jüdisch, polnisch, litauisch und exilrussisch geprägte Bevölkerung ohne deutliche ethnische Mehrheit auszeichnete und dabei aber vor allem Züge höchst fragmentarisierten Zusammenlebens aufwies.¹³³ Stattdessen entschlossen sie sich zu einer rückwärtsgewandten Mythisierung der Stadt und seiner Umgebung als „archaisches, prähistorisches Arkadien […], in welches es für den modernen Menschen keinen Eingang gab“, wie Mindaugas Kvietkauskas schreibt¹³⁴. Als geistiger Verwandter der Wilnaer Katastrophisten möge hier Stanisław Witkiewicz (1851– 1915) genannt sein, der ähnlich wie die żagaryści nach einem Ausweg polnischen Denkens nach den verstörenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs suchte und in den russischen Revolutionen das „Auge des Zyklons der entfesselten Geschichte“ zu erkennen meinte.¹³⁵ Wie Jens Herlth schreibt, sollte für ihn, wie auch für die żagaryści und für Zdziechowski Russland
Vgl. Müller-Butz, Nach dem Imperium, S. 29. Vgl. Krzysztof Zajas: Modlitwa o światło. Żagaryści a katastrofizm, in: Żagary. Środowisko kulturowe grupy literackiej, hg. von Tadeusz Bujnicki, Krzysztof Biedrzycki und Jarosław Fazan, Kraków 2009, S. 92– 112, hier S. 101. Dies kam wiederum in den literarischen Arbeiten der jüdischen, litauischen oder polnischen Kulturmilieus zum Ausdruck, vgl. Mindaugas Kvietkauskas: Heterotopia międzywojennego Wilna: dyskursy krajoznawce i literackie, in: Żagary. Środowisko kulturowe grupy literackiej, hg. von Tadeusz Bujnicki, Krzysztof Biedrzycki und Jarosław Fazan, Kraków 2009, S. 209 – 227, hier S. 222. Ebd. Anna Micińska: Na marginesie „narkotyków“ i „niemytych dusz“ Stanisława Ignacego Witkiewicza, in: Stanisław Ignacy Witkiewicz: Narkotyki. Niemyte dusze,Warszawa 2004, S. 2– 31, hier S. 4.
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eine Blackbox sein, in der sich die dunkle, versteckte Seite dieses Arkadiens manifestierte. Folgt man Herlths Interpretation weiter, bedeutete dies, die Idee einer slavischen Verbindung Polens und Russlands (im sowjetischen Gewand) zu erneuern, die sich aber eben nicht durch eine gegenseitige Anerkennung russischer und polnischer Autonomie auszeichnete, sondern vielmehr durch eine erzwungene Verwandtschaft. Mit dieser Interpretation des polnisch-russischen Verhältnisses durch die polnischen Katastrophisten ist wohl auch das Spektrum anti-sowjetischen Denkens im Polen der Zwischenkriegszeit abgesteckt, innerhalb dessen sich die polnische Auseinandersetzung mit Russland vollzog. Die Katastrophisten markierten dabei den wohl äußersten Punkt in der begrenzten Spannweite dieser Debatte. Der Westen als Symbol der Moderne war in deren Vision bereits untergegangen, wenngleich nicht aus dem Blickfeld verschwunden. In ihn projizierten die polnischen Katastrophisten im Gegensatz zu BlackboxRussland einen morbide-nostalgischen Charme. So beschreibt etwa Wiktor Sukiennicki (1901– 1983), Wilnaer Sowjetologe und Einflussgeber der żagaryści, der die Ideen dieser Strömung maßgeblich beeinflussen sollte, rückblickend einen Forschungsaufenthalt im Paris der frühen zwanziger Jahre: Während ich mich zu jener Zeit in einem sehr radikalen Umfeld aufhielt, glaubte ich, dass die ,alte Welt‘ bereits am Ende sei, und ich war gespannt, wie sie wirklich aussah, nicht in unseren Peripherien, sondern im Zentrum selbst. Besonders Paris, das damalige Babylon, zog mich damals an, die ,Hauptstadt der bourgeoisen Welt‘.¹³⁶
2.4 Getrennte Lager – getrenntes Denken? Der Osten im globalen polnischen Denken nach dem Zweiten Weltkrieg Wenn aus Platzgründen der hier vorgestellte Überblick einer Ideengeschichte polnischen Denkens zu Russland und dem Osten im 19. und 20. Jahrhundert nur eine Auswahl darstellen kann, so muss dies für das letzte folgende Unterkapitel ganz besonders gelten. Die Gründe dafür liegen unter anderem im Fehlen von Forschungen zum Ostdenken in der Volksrepublik Polen und in der polnischen Opposition der achtziger Jahre.¹³⁷ Der folgende Abschnitt beleuchtet daher
Wiktor Sukiennicki: Legenda i rzeczywistość. Wspomnienia i uwagi o dwudziestu latach Uniwersytetu Stefana Batorego w Wilnie, Paryż 1967, S. 30. Zur Auseinandersetzung mit Polens Osten in der Volksrepublik Polen vgl. einzig Jerzy Kochanowski: Paradoxe Erinnerungen an die kresy, in: Politische Mythen im 19. und 20. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa, hg. von Heidi Hein-Kircher und Hans Henning Hahn, Marburg 2006, S. 267– 278.
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schlaglichtartig Varianten des polnischen Denkens zu Russland und dem Osten, die in Untersuchungen zu verwandten Themen wie etwa in den Arbeiten von Rafał Stobiecki und Martin Aust zur Historiographie in der Volksrepublik, in Jan Behrends‘ Vergleich der deutsch-sowjetischen und der polnisch-sowjetischen Freundschaftsorganisationen oder in Gregor Feindts Studie zur Frage der Nation in der polnischen Opposition und in etlichen anderen themenverwandten Beiträgen zum politischen und nationalen Denken in der polnischen Emigration – insbesondere im Milieu der Zeitschrift Kultura – besprochen worden sind.¹³⁸ Wie auch für die vorgestellten vorangegangenen Varianten polnischen Ostdenkens gilt auch für diese Auswahl, dass sie als Lese- und Analysehilfe für die Interpretationen Russlands und des Ostens in den jeweiligen autobiographischen Texten dienen soll. Der Verlauf und die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs haben das polnischsowjetische sowie das spätere polnisch-russische Verhältnis nachhaltig erschüttert. Die Verwerfungen in diesem Verhältnis wirken bis heute nach, anti-russische Tendenzen manifestieren sich aktuell im seit 2014 andauernden Ukraine-Konflikt.¹³⁹ Als zentrales Ereignis des Zweiten Weltkriegs ist vor allem der Überfall der deutschen Truppen im September 1939 zu benennen, der dank des geheimen Zusatzprotokolls im Molotov-Ribbentrop-Pakt vom August 1939 der sowjetischen Armee ermöglichte, in Polen ebenfalls einzumarschieren und dabei nahezu alle Ostgebiete der Zweiten Polnischen Republik zu besetzen.¹⁴⁰ Ein weiteres wichtiges Ereignis für das polnische Denken der Nachkriegszeit war die Friedenskonferenz von Jalta im Februar 1945, die zum Symbol der Nachkriegsordnung und der
Vgl. Stobiecki, Historiografia PRL; Aust, Polen und Russland im Streit um die Ukraine; Behrends, Die erfundene Freundschaft; Gregor Feindt: Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft. Oppositionelles Denken zur Nation im ostmitteleuropäischen Samizdat 1976 – 1992, Berlin, Boston 2015; Korek, In the Face of the West and the East; Bakuła, Colonial and Postcolonial Aspects of Polish Discourse on the Eastern „Borderlands“; Iwona Hofman: Rosja w myśli politycznej i publicystyce kręgu paryskiej „Kultury“, in: Obrazy Rosji i Rosjan w Polsce od końca XIX wieku do pocza̜tku XXI stulecia. Myśl polityczna, media, opinia publiczna, hg. von Eleonora Kirwiel, Ewa Maj und Ewelina Podgajna, Lublin 2011, S. 195 – 211; Jan Waskan: Kresy wschodnie i koncepcja ULB w stosunkach polsko-rosyjskich, in: Obrazy Rosji i Rosjan w Polsce od końca XIX wieku do pocza̜tku XXI stulecia. Myśl polityczna, media, opinia publiczna, hg. von Eleonora Kirwiel, Ewa Maj und Ewelina Podgajna, Lublin 2011, S. 179 – 194; Vgl. dazu etwa Justyna Prus: Polish-Russian Relations. Can They Get any Worse?, in: New Eastern Europe, H. 20, 2016, S. 65 – 76. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 190. Zum polnischen Umgang mit der Geschichte und der Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt vgl. Marek Kornat: Ideologie und Wahrheit. Der Hitler-Stalin-Pakt in Polens historischem Gedächtnis, in: Osteuropa 59, H. H. 7– 8, 2009, S. 279 – 294.
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dauerhaften, von den alliierten Westmächten tolerierten Integration Polens in das sowjetischen Einflussgebiet werden sollte.¹⁴¹ Zumindest die territoriale Aufteilung Polens zwischen den beiden Einflusssphären der nationalsozialistischen Diktatur und dem sowjetischen Herrschaftsregime konnte innerhalb nur weniger Wochen nach dem deutschen Überfall auf Polen als abgeschlossen gelten. Während im Westen Teile Polens in das Territorium des nationalsozialistischen Deutschlands eingegliedert und in Zentralpolen in Form des Generalgouvernements eine Sonderherrschaftszone zur Ausbeutung von Infrastruktur und Zivilbevölkerung unter dem Deckmantel einer völkischen Germanisierungspolitik und später dann zur Vernichtung der Juden errichtet wurden, folgte im Osten Polens unter der Sowjetherrschaft bis 1941 eine nicht minder brutale Sowjetisierungspolitik der Unterdrückung, der Deportation und schließlich auch der Ermordung der polnischen Intelligenz, aber auch der als bürgerlich und nationalistisch geltenden ukrainischen, belarussischen oder jüdischen Eliten.¹⁴² Das Massaker von Katyń steht bis heute in Polen stellvertretend für die Gewaltherrschaft der Sowjetunion in Ostpolen und für die Deportationen der Angehörigen der dort getöteten Soldaten sowie für die Zwangsaussiedlung mehrerer hunderttausender Bewohnerinnen und Bewohner aus den Ostgebieten ins Innere der Sowjetunion.¹⁴³ Zudem belasteten die vom sowjetischen Regime vertuschten Massenerschießungen der polnischen Soldaten das Verhältnis zwischen polnischer Exilregierung und Sowjetunion massiv und dauerhaft. Nachdem das Besatzungsregime der Deutschen nach dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 auch auf die polnischen Ostgebiete ausgeweitet worden war, aber nach der Niederlage der Deutschen in der Schlacht um Stalingrad zunehmend im Zerfall begriffen war, sollte die Rote Armee im Januar 1944 in diese Gebiete, in denen die Nationalsozialisten ein ebenso brutales Regime zur Vernichtung der Juden errichtet und in der Folge eine deutlich dezimierte und in ihren ethnischen Verhältnissen völlig veränderte Bevölkerung hinterlassen hatten, zurückkehren und die tiefgreifenden Veränderungen in der Bevölkerungszusammensetzung gleichfalls fortsetzen. So wurden etwa 310.000 Menschen, darunter Angehörige vor allem polnischer, aber auch jüdischer und ukrainischer Nationalität zum großen Teil unter Zwang aus den Ostgebieten in die neuen Provinzen Polens im Westen deportiert, während die nun weiter im Westen gelegenen neuen polnischen Ostgrenzen am Bug von massenhaften Aussiedlungen der ukrainischen und belarussischen Bevölkerung in die sowjetischen Re-
Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 254. Vgl. ebd., S. 192 f, 195. Vgl. aktuell Claudia Weber: Krieg der Täter. Die Massenerschießungen von Katyń, Hamburg 2015.
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publiken geprägt waren.¹⁴⁴ Im Vergleich zu den Beschlüssen des polnisch-russischen Friedens von 1918 sollte Polen nach den Friedensverhandlungen von Jalta einen weit größeren Teil seiner Ostgebiete verlieren, die Gewalt- und Vertreibungserfahrungen der Bevölkerung aus diesen Regionen überdeckten die Vertreibungs- und Verlusterfahrungen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nachhaltig.¹⁴⁵ Zudem war das neue kommunistische Polen, dessen Verhältnisse erst ab 1947 als stabil gelten konnten, nun Teil der sowjetischen Einflusssphäre und somit kaum noch möglicher Lebensmittelpunkt der in das Exil oder in den Untergrund geflüchteten polnischen Eliten der Zwischenkriegszeit. Unter diesen Bedingungen bildete sich ein neues polnisches Ostdenken heraus. Angesichts der veränderten politischen Verhältnisse nach 1945 war zudem von einer Spaltung des polnischen Ostdenkens im Exil und in Volkspolen auszugehen. In der Volksrepublik selbst standen Lesarten des Ostens unter den Vorzeichen zweier sich diametral gegenüberstehender Paradigmen. Das Paradigma der „erfundenen Freundschaft“ zwischen dem kommunistischen Polen und der Sowjetunion, wie Jan Behrends es formuliert, sollte den Bruderstatus der beiden Staaten zementieren, gleichzeitig konnte es jedoch kaum über das asymmetrische Machtverhältnis der beiden Länder hinwegtäuschen.¹⁴⁶ Dennoch ragte die offizielle Linie und die von oben verordnete marxistische Doktrin insbesondere in den fünfziger Jahren in alle gesellschaftlich relevanten Bereiche und dabei auch in die Geisteswissenschaften in der Volksrepublik hinein.¹⁴⁷ Obwohl die Vertreterinnen und Vertreter einer stalinistischen Historiographie nach 1956 ins Hintertreffen gerieten, blieben insbesondere die historischen Themen der polnisch-sowjetischen und der polnisch-russischen Beziehungen risikobehaftet und unterlagen einer gründlichen Zensur der „political correctness“.¹⁴⁸ Dies führte wiederum zu tendenziösen Interpretationen einer national-kommunistisch ausgerichteten polnischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die sich in der Skizzierung des Russischen Imperiums als eines despotischen, das „einfache Volk“ unterdrückenden Herrschaftsregimes erschöpfte und die dennoch durchaus anschlussfähig an das in der Zwischenkriegszeit dominierende Bild vom
Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 259. Vgl. Zarycki, The Embarrassing Russian Connection, S. 141. Vgl. Behrends, Die erfundene Freundschaft, S. 11. Vgl. Stobiecki, Historiografia PRL, S. 128 f. Rafał Stobiecki: Comparing Polish Historiography on the Petersburg Empire: Second Republic – People’s Republic – Exile, in: Vergangene Grösse und Ohnmacht in Ostmitteleuropa. Repräsentationen imperialer Erfahrung in der Historiographie seit 1918, hg. von Frank Hadler und Mathias Mesenhöller, Leipzig 2007, S. 281– 300, hier S. 291.
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Russischen Imperium als rückständigem Völkergefängnis blieb.¹⁴⁹ Als zweites Paradigma ist die weitgehende Tabuisierung der kresy als kulturhistorischer und Polen zugehöriger Raum in den öffentlichen und akademischen Debatten der Volksrepublik und die damit einhergehende Betonung der zeitgenössischen sowjetischen Gegenwart dieser Gebiete zu benennen. Wenngleich Jerzy Kochanowski auf die wellenförmige Thematisierung der kresy als polnische Geschichtsund Kulturräume etwa im politischen Tauwetter nach 1956 oder in der Zeit der frühen achtziger Jahre hinweist, blieb eine Auseinandersetzung mit den kresy in der Geschichtswissenschaft der Volksrepublik nur im Rahmen der Osteuropastudien möglich.¹⁵⁰ Nun ließe sich für das Ostdenken im polnischen Exil in Westeuropa und in Amerika festhalten, dass sich dort ebenfalls Paradigmen etablierten, die mit dem verordneten Freundschaftsdenken und der kresy-Tabuisierung in Polen konkurrierten. In weiten Teilen trifft die Beschreibung eines explizit gegen den Herrschaftsanspruch der Sowjetunion in Ostmitteleuropa und die neuen Ostgrenzen Polens gerichteten Denkens auch zu. So schreibt Kochanowski denn auch, dass die polnischen Exilierten die kresy zu einem „glücklichen Arkadien“ idealisierten, in dem andere nicht-polnische Nationalitäten nur mehr als Requisiten fungierten und der Einflussfaktor des Russischen in diesen Erzählungen weitgehend abwesend war.¹⁵¹ Wie bereits in der Einleitung dieser Arbeit beschrieben, dienten die Exilerzählungen über die kresy der Selbstvergewisserung im Exil von der Zugehörigkeit zu Europa und darüber hinaus zur Abgrenzung vom Herrschaftssystem des sowjetischen Russlands. Dessen Charakter als Nachfolger des Russischen Imperiums in der Emigration sollte mit Blick auf die dort nach wie vor gepflegte und weiter vorherrschende Annahme einer zivilisatorischen inkompatibilität Polens und Sowjetrusslands weithin unhinterfragt bleiben.¹⁵² Sucht man hingegen nach alternativen Lesarten des polnischen Denkens nach dem Zweiten Weltkrieg, die die Systemkonkurrenz und die polnisch-sowjetische/-russische Polarisierung zu durchbrechen versuchten, wird in der Literatur häufig und gern auf das Ukraine-Litauen-Belarus-Konzept des publizistischen Kreises der Zeitschrift Kultura im Pariser Exil, auch ULB-Konzept genannt,
Vgl. Stobiecki, Historiografia PRL, S. 130; ders., Comparing Polish Historiography on the Petersburg Empire, S. 289. Vgl. Kochanowski, Paradoxe Erinnerungen an die kresy, S. 273; Beauvois, Mit „kresów wschodnich“, czyli jak mu położyć kres, S. 104; Aust, Polen und Russland im Streit um die Ukraine, S. 238. Vgl. Kochanowski, Paradoxe Erinnerungen an die kresy, S. 269 Vgl. Stobiecki, Comparing Polish Historiography on the Petersburg Empire, S. 292.
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verwiesen und dieses als neu beschrieben.¹⁵³ Janusz Korek macht in seiner Untersuchung der Exil-Intelligenz deutlich, dass sich das Kultura-Umfeld unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Welltkriegs von den Sowjets bedroht und von den westlichen Alliierten verraten fühlte. Er beschreibt den Entstehungskontext dieses Milieus um Jerzy Giedroyc mit folgenden Worten: The founders and writers of Kultura were convinced that they were in the midst of a whirlwind of events which could lead to the whole of Europe being overrun by Communism and to new wartime catastrophes.“¹⁵⁴ Und weiter: „It was the decisions taken at Yalta, however, that caused the greatest negative feelings towards the Western powers. […] The distrust evoked by the failure of France and Britain to fulfill the terms of the alliance agreements of 1939 now turned, after Yalta, into seething disenchantment with the whole of the West.¹⁵⁵
Jalta wurde für das polnische Exil zum Synonym dieses Verrats. In der Folge führte dies zu einer Krise des europäisch-westlichen Zugehörigkeitsverständnisses seitens der exilierten polnischen Intelligenz. In ihren Zügen erinnerte die Krise durchaus an den Katastrophismus der Wilnaer intellektuellen Generation der nach der Jahrhundertwende Geborenen, trug hierbei aber deutlich universellere Züge. Aus dieser Orientierungskrise erwuchs letztlich die Idee von der Notwendigkeit, das nationale Selbstverständnis zu hinterfragen und sich auf einen rational geleiteten Konstruktivismus zu besinnen. Diesen führten die Kultura und ihre Anhänger gegen den historischen Materialismus der Marxisten und gegen das christlich-eschatologische Denken der frühen Nachkriegszeit, welches sich an den Ideen der polnischen Romantiker des 19. Jahrhunderts orientierte, ins Feld. Dabei grenzten sich die Macher der Kultura deutlich vom Katastrophismus der Zwischenkriegszeit ab, den sie als apokalyptisch und unangemessen wahrnahmen.¹⁵⁶ Für das Verhältnis Polens zum Osten bedeutete dies, die Region Ostmitteleuropas mittels einer Vision der Föderation gleichgestellter und gleichberechtigter Nationen zu stärken. Insbesondere Juliusz Mieroszewski (1906 – 1976) plädierte in den fünfziger Jahren für eine solche Föderation, die letztlich zum Ziel hatte, über eine supranationale Ge-
Vgl. etwa folgenden Beitrag von Jerzy Pomianowski: Die Pariser Kultura und die Vision einer neuen polnischen Ostpolitik, in: Die polnische Emigration und Europa 1945 – 1990. Eine Bilanz des politischen Denkens und der Literatur Polens im Exil, hg. von Łukasz Gałecki und Basil Kerski, Osnabrück 2000, S. 105 – 112. Korek, In the Face of the West and the East, S. 230 f. Ebd., S. 232. Vgl. ebd., S. 242 f.
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meinschaft den Übergang zur folgenden Unabhängigkeit dieser Nationen zu erleichtern. Der Gedanke einer föderalen Nachkriegsordnung stand zwar in der Tradition eines Piłsudski‘schen Denkens, war aber in dieser Region keine Ausnahmeerscheinung, wie die Debatten um ein föderales Mitteleuropa in Ungarn und der Tschechslowakei zeigen.¹⁵⁷ Korek weist darauf hin, dass besonders im heutigen Polen das ULB-Konzept Mieroszewskis sich in der Politik einer großen Beliebtheit erfreut – ordnet es Polen doch einer europäische Wertegemeinschaft zu und stellt es zugleich in das Zentrum und an die Spitze einer osteuropäischen Solidargemeinschaft im Gegensatz zu Russland.¹⁵⁸ Zarycki kommt zu der Annahme, dass, betrachtet man die Ideen von Giedroyc und Mieroszewski und ihr Postulat von der Aufgabe der kresy und ihrer beiden Symbole, der Städte L′viv und Vilnius, und vergleicht diese Ideen mit dem vorherrschenden Denken der polnischen Diaspora, erstere durchaus als revolutionär bezeichnet werden können.¹⁵⁹ Dennoch liegt das Erfolgsgeheimnis des Programms der Kultura heute und innerhalb des polnischen Exils wohl eher in der der Sowjetunion bzw. Russland zugewiesenen Rolle als imperialistische Großmacht im Osten Europas, deren Einfluss es zurückzudrängen gilt.¹⁶⁰ Betrachtet man außerdem die Biographien von Jerzy Giedroyc und anderen Vertretern dieses Denkens wie etwa von Włodzimierz Bączkowski (1905 – 2000), ist die in der Forschungsliteratur bisher kaum thematisierte Ähnlichkeit prometheistischen Denkens aus der Zwischenkriegszeit mit dem Denken des Kultura-Kreises frappierend. So entstammten sowohl Giedroyc als auch Bączkowski den Provinzen des Russischen Imperiums und verfügten somit über eine russisch-imperiale Erfahrung. Beide durchliefen eine wissenschaftlich-diplomatische Ausbildung am Warschauer Ost-Institut und zeichneten sich in der Zwischenkriegszeit durch ein dezidiert anti-kommunistisches und anti-sowjetisches Denken aus. Sie sahen sich selbst als Vertreter einer Piłsudski nachfolgenden Generation, die sich der Behauptung der Stellung Polens in Europa in einer feindlich gesinnten Umgebung zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland im Westen und dem sowjetischen Russland im Osten verschrieben hatte.¹⁶¹ Die Idee eines föderalistischen
Vgl. u. a. István Bibó: Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei, Frankfurt am Main 1992; Milan Kundera: Un Occident kidnappé ou la tragédie de l’Europe centrale, in: Le Débat 4, H. 27, S. 3 – 23. Korek, In the Face of the West and the East, S. 247. Vgl. Zarycki, Ideologies of Eastness in Central and Eastern Europe, S. 232. Vgl. ebd. Vgl. Jacek Kloczkowski; Paweł Kowal: O Włodzimierzu Bączkowskim, in: O wschodnich problemach Polski. Wybór pism, hg. von dens., Kraków 2000, S. 7– 28, hier S. 10; Waskan, Kresy wschodnie i koncepcja ULB w stosunkach polsko-rosyjskich, S. 188.
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Ostmitteleuropas war demnach nicht so revolutionär, wie es auf den ersten Blick schien. Neu hingegen war, dass Giedroyc und vor allem Juliusz Mieroszewski im Laufe der sechziger und siebziger Jahre eine veränderte Wahrnehmung auf die Sowjetunion zu entwickeln begannen. Wenngleich der Anti-Kommunismus und auch der polnisch-deutsche respektive polnisch-sowjetische Gegensatz als wesentliche Säulen im Denken der Kultura erhalten blieben, differenzierte Mieroszewski zwischen einem als imperialistisch und totalitär wahrgenommenen sowjetischen Herrschaftsregime und der Möglichkeit eines darunter verborgenen und unterdrückten entwicklungsfähigen Russlands. Iwona Hofman führt den Wandel im Denken auf die geopolitische Situation der sechziger Jahre zurück. Wahrscheinlich aber ist die Suche des Kultura-Kreises nach Anschluss unter den ostmitteleuropäischen und russischen Exilgruppen ebenso von Bedeutung. Hofman schreibt dazu: In der folgenden Dekade [in den sechziger Jahren, M.-B.] analysierte Mieroszewski die Konsequenzen der Koexistenzdoktrin, indem er die Bedingungen einer solchen auf die geopolitische Situation Polens übertrug. Er merkte an, dass eine Zusammenarbeit der Supermächte unter den Bedingungen einer ‚Europäisierung‘ Russlands, einer Entwicklung im europäischen Block der kommunistischen Staaten beim Verzicht auf territoriale und nationale Vorbehalte möglich sei. Mieroszewski betonte die ‘deutschen’ Ängste der Osteuropäer. Immer wieder hob er hervor, dass eine erzwungene Schwächung Moskaus mithilfe von Nationalitätenkonflikten [wie sie die Prometheisten der Zwischenkriegszeit vorsahen, M.-B.] nicht im Interesse Polens liege, denn dies würde automatisch zu einer Stärkung der Position Deutschlands führen. Er hielt stattdessen einen kontinuierlichen Umbaus Russlands in einen modernen Bundesstaat für möglich.¹⁶²
Die Interpretation Russlands als gutes und als böses Russland erlebte im Programm der Kultura also ihre wiederholte Renaissance – eine Tendenz, die das Denken dieses Kreises eher den liberalen Traditionen polnischen nationalen Denkens zuordnen lässt. Eine weitgehende Entsprechung der politischen Ideen und des Europaverständnisses der Kultura findet sich im literarischen Denken polnischer Exilanten wie Czesław Miłosz, Jerzy Stempowski (1894 – 1969), Józef Mackiewicz (1902– 1985) und Witold Gombrowicz (1904 – 1969), die sich grob dem links-liberalen Spektrum des polnischen Exils zuordnen lassen. Sie fungierten als Scharniere zwischen einer interessierten Öffentlichkeit im Westen und einem zunehmend Kommunismus-kritischen Publikum in der Volksrepublik, welches sich ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in einer alternativen Publizistik formierte.
Hofman, Rosja w myśli politycznej i publicystyce kręgu paryskiej „Kultury“, S. 199.
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Selten benannt, lässt sich auch Stanisław Mackiewiczs (1896 – 1966) historische Publizistik der Kriegs- und Nachkriegszeit in diesen globalpolnischen Zusammenhang stellen.¹⁶³ All diesen genannten Schriftstellern war gemein, dass sie sich der Dominanz eines sehnsuchtsvollen romantisierten nationalen Denkens, wie es sich insbesondere im polnischen Londoner Exil zu formieren begann, widersetzten, wenngleich sie bezüglich ihres Ostdenkens zu unterschiedlichen Schlüssen kamen.¹⁶⁴ Diesbezüglich spielte das Verhältnis der kresy zu Europa und zum Osten eine gewichtige Rolle. Wenngleich nicht an der geoökonomischen oder geopolitischen Beschreibung von Zentrums-Peripherie-Beziehungen interessiert, ging wohl Gombrowicz in seiner Kritik an der polnischen Nation als provinzielle und nachrangige Nation ohne besondere Eigenschaften am weitesten, wenn er das Konzept der Europäisierung in Form eines ständigen Aufhol- oder Imitationsprozesses, wie er es in der polnischen und exilpolnischen Kultur gleichermaßen auszumachen meinte, ablehnte.¹⁶⁵ Insbesondere Miłoszs und Stempowskis Prosa können als Versuche angesehen werden, das etablierte Zentrum-Peripherie-Gefälle in der etablierten Lesart der polnischen Ostgebiete als zweites Europa aufzulösen und an dessen Stelle ein Konzept der religiösen und kulturellen Toleranz zu positionieren und als Spezifikum dieser Region zu definieren, indem sie auf die ehemaligen Ostgebiete in Essays oder ähnlichen autobiographischen Erzählungen als Arkadien ihrer Kindheit referierten. Dieses Konzept, häufig auch den Ostmitteleuropa- und Mitteleuropa-Debatten des Exils und der Dissidenz polnischer, tschechischer, slowakischer oder ungarischer Provenienz zugeordnet, lässt in der Betonung der Ostgebiete als einem moralisch bedeutsamen, weil besseren Europa zugehörig Russland weitestgehend außen vor, wenngleich die Präsenz des Russischen in Stempowskis Erinnerungsprosa nicht geleugnet wird, wie folgendes Zitat zeigt:
Vgl. dazu etwa Stanisław Mackiewicz: Historia Polski. Od 11 listopada 1918 r. do 17 września 1939 r, London 1941; ders.: Dostojewski, Warszawa 1957; ders.: Był bal 1961; ders.: Europa in flagranti, Warszawa 1965. Zu den unterschiedlichen Lagern innerhalb der polnischen Emigration vgl. Paweł Machcewicz: Das polnische Exil im Spannungsfeld der internationalen Politik in der Zeit des Kalten Kriegs, in: Die polnische Emigration und Europa 1945 – 1990. Eine Bilanz des politischen Denkens und der Literatur Polens im Exil, hg. von Łukasz Gałecki und Basil Kerski, Osnabrück 2000, S. 9 – 34. Vgl. Mieszko Ciesielski: Human on the Periphery of Community. Witold Gombrowicz on Provincialism, in: Thinking about Provincialism in Thinking, hg. von Krzysztof Brzechczyn und Katarzyna Paprzycka, Amsterdam 2012, S. 103 – 118, hier S. 117.
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„Wenn ein Pole eine Russin heiratet, sagte mein Vater, dann sind ihre Kinder für gewöhnlich Ukrainer oder Litauer.“¹⁶⁶ Eine solche Lesart des polnischen Ostens führte paradoxerweise zu der Situation, dass der Anspruch eines kulturell und religiös verflochtenen Ostmitteleuropas zur Entflechtung des polnisch-russischen Verhältnisses führte. Einzig der russische Mensch ließ sich in das Modell Ostmitteleuropas integrieren, wie Miłosz noch kurz nach der Jahrtausendwende in einem Interview offenbarte: „I like Russians very much and like to talk Russian, but I don‘t like Russia.“¹⁶⁷ Stellt man Stempowskis und Miłoszs Ideen in einen größeren Kontext der Debatte um den Mitteleuropabegriff in den tschechoslowakischen und ungarischen Exilen und Dissidenzkreisen, löst sich ihre polnische Russlandspezifik auf. Denn wie Gregor Feindt aufgezeigt hat, definierten sich auch deren Mitteleuropabegriffe zuallererst durch die Abgrenzung zur sowjetischen Dominanz in den jeweiligen kommunistischen Staaten: Mitteleuropa definierte sich einerseits über die Eigenheiten des Anderen, über all das, was es nicht war. Besonders im Kundera’schen [gemeint ist die Argumentation Milan Kunderas, M.B.] Strang der Mitteleuropa-Debatte fungierten Russland und die Sowjetunion als Abgrenzungsgrößen, die eine innere Konsolidierung erst möglich machten. Kundera, der der Opposition im Spätsozialismus gegenüber skeptisch blieb, reaktualisierte damit nachhaltig kulturalistische Debatten über Russland und seine Europäizität, womit er unter national gesinnten Oppositionellen Zustimmung fand. Abgrenzung war auch für links-liberale Intellektuelle ein erfolgversprechendes Argument.¹⁶⁸
Neben den beiden genannten Schriftstellern bilden die beiden Mackiewicz-Brüder, geboren in Sankt Petersburg und in den westlichen Provinzen des Russischen Imperiums aufgewachsen, zwei weitere wesentliche Punkte im Denken des polnischen Exils über das polnische Verhältnis zu den kresy und dem Osten nach 1945 ab. Das Schreiben Józef Mackiewiczs, des älteren der beiden, zeichnete sich bereits in der Zwischenkriegszeit durch einen entschiedenen Anti-Kommunismus aus. Demgegenüber aber nahm seine Sicht auf die kresy eine für die Zwischenkriegszeit unkonventionelle Perspektive ein, wenn die dominierende Symbolhaftigkeit der kresy als Vormauer und Schutzburg des Polentums in seiner Lite Jerzy Stempowski: W dolinie Dniestru, in: Jerzy Stempowski: W dolinie Dniestru i inne eseje ukraińskie, hg. von Andrzej Stanisław Kowalczyk, S. 9 – 31, hier S. 11. Exemplarisch dafür auch: Czesław Miłosz: Dolina Issy, Paryż 1955. Zum polnischen Mitteleuropagedanken vgl. Marian S. Wolański: Europa Środkowo-Wschodnia w myśli politycznej emigracji polskiej. 1945 – 1975, Wrocław 1996, S. 192– 197. Cynthia L. Haven: A Sacred Vision: An Interview with Czesław Miłosz, in: The Georgia Review 57, H. 2, 2003, S. 303 – 314, hier S. 312. Feindt, Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft, S. 274.
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ratur weit weniger Platz einnahm als in anderen Werken dieser Zeit.¹⁶⁹ Józef Mackiewiczs Ostdenken nach 1945 brach sowohl mit der nostalgischen kresy-Erinnerung in den Kreisen des polnischen Exils, als auch mit der nach innen gerichteten Selbstbespiegelung in den Werken Miłoszs und Stempowskis. Stattdessen postuliert Mackiewicz das Ende Osteuropas, wenn er schreibt: „Und Osteuropa? Ach, zur Hölle mit dir, auf dass Du zerfällst, verschwindest!“¹⁷⁰ Seine ausgiebige Beschreibung von Landschaften, Ortsnamen, verschwundenen Bevölkerungsgruppen diente Nina Taylor zufolge lediglich der Illustration ihres endgültigen Verlustes: „The suppression of two dimensions – time and space – amounts to a negation of Poland’s Eastern borderland ethos.“¹⁷¹ Mit seinem Bruder Stanisław teilte Józef die Verehrung des 19. Jahrhunderts als Vorbild einer wiederzuerrichtenden europäischen Ordnung. Radikaler wohl als viele polnische Intellektuelle in der Zeit nach 1945 stellte er das Konzept Osteuropas dem Konzept der jagiellonischen Idee – sei es in romantisierter Form durch das polnische Londoner Exil oder in ihrer rationaleren Gestalt bei Kultura und den liberalen Schriftstellern – entgegen. Józef sah sich gar als „Bürger Osteuropas“ und lehnte demzufolge ein Denken in nationalen Kategorien ab.¹⁷² In seinen Schriften sei Russland in das von ihm entworfene System erfolgreich integriert gewesen, wie Maria Zadencka schreibt: In Mackiewiczs Denken war der Formalismus der zwischenstaatlichen Beziehungen und das institutionelle Ritual des 19. Jahrhunderts allen Staaten, die zum europäischen System gehörten, auch Russland, gemein – daher kommt die Emphase, mit der Mackiewicz wiederholt unterstreicht, dass das zaristische Russland sich in den wesentlichen Punkten nicht von den anderen Ländern Europas unterschied.¹⁷³
Im sowjetischen Russland sah Mackiewicz demzufolge keineswegs ein imperiales Russland mit kommunistischem Antlitz. Stattdessen repräsentierte es für ihn den Zivilisationsbruch der Moderne, indem es einen permanenten Kriegszustand
Vgl. vor allem Kossak, Pożoga. Zu Mackiewiczs Publizistik der Zwischenkriegszeit vgl. Bakuła, Colonial and Postcolonial Aspects of Polish Discourse on the Eastern „Borderlands“, S. 48. Józef Mackiewicz: Nie trzeba głosno mówić. Powieść, Paryż 1969, S. 542. Im Original schreibt Mackiewicz auf Polnisch und Russisch: „A wschodnia Europa? Ech, propadi ty propadom, bodaj byś ty przepadła, sczezła!“ Nina Taylor: The Lost Land of Lithuania: The Polish Émigré Perspectives in the Novels of Józef Mackiewicz, in: The Slavic and East European Journal 33, H. 2, 1989, S. 190 – 203, hier S. 197. Vgl. Maria Zadencka: Wojna i polityka w prozie Józefa Mackiewicza, in: Archiwum Emigracji, H. 56, 2002– 2003, S. 194– 203, hier S. 197. Ebd.
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künstlich aufrechterhielt und das Haupthindernis zu internationalen, die souveränen Staaten Osteuropas anerkennenden Beziehungen darstellt. Sein Bruder Stanisław Mackiewicz, der sich seit dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls im Exil aufgehalten hatte, dort 1954 gar zum Ministerpräsidenten der polnischen Exilregierung ernannt worden war, um schließlich zwei Jahre später sogleich nach Polen zurückzukehren, entwickelte ähnliche Ideen zum polnischen Ostdenken, unterschied sich aber von Józef in seiner Befürwortung einer monarchistischen Ordnung und einer wohl noch kompromissloseren Haltung zum Kommunismus vor seiner Rückkehr nach Polen. Cat, so sein häufig genutztes Kryptonym, kehrte die insbesondere seit der polnischen Romantik beliebte Wendung vom bösen Russland, personifiziert im Zaren, und vom guten Russland, dem unterdrückten russischen Volk, um und beschrieb stattdessen das System der autokratischen Monarchie als bewundernswert. Als Vorbild eines idealen Politikers diente ihm der Reformer Sergej Witte, der es verstanden habe, das hörige, ungebildete und den Zar verehrende Volk zu regieren.¹⁷⁴ Wenngleich sich Mackiewiczs Überlegungen zu Russland im Denken der Nachkriegszeit als deutlich unkonventionell ausnahmen, richteten sich seine Botschaften vor allem an ein polnisches Publikum im Exil und im Land, das sich ihm zufolge des romantisierten Aufstandskultes und der Verherrlichung des frühneuzeitlichen PolenLitauens entledigen sollte. Deutlich wird dies an der Einschätzung von Grzegorz Niećko zum Adelsbegriff bei Mackiewicz: Der russische Adelige war für Cat das positive Gegenteil des polnischen Adeligen aus der Zeit der Adelsrepublik [Polnisch-Litauische Union, M.-B.], so wie der russische Absolutismus die Antithese zum liberum veto und zur Thronwahl war. Aus Sicht des Wilnaer Publizisten ergab sich dieser Gegensatz aus dem Unterschied zwischen der polnischen und der russischen Psyche.¹⁷⁵
Am Beispiel der Biographie Stanisław Mackiewiczs wird deutlich, dass sich das nationale Denken im polnischen Exil und in der Volksrepublik durch eine ausgeprägte Konkurrenz auszeichnete, dass es aber insbesondere seit der Periode der „Normalisierung“ ab 1956 zu personellen und zu ideologischen Zweckbündnissen zwischen beiden Seiten des Eisernen Vorhangs kam, etwa als in der Kultura die Zustimmung zur Reformpolitik des neuen Staatschefs Władysław Gomułka (1905 – 1982) stieg oder als neben Mackiewicz auch andere bekannte Schriftstel Vgl. Grzegorz Niećko: Rosja w publicystyce Stanisława Cat-Mackiewicza, in: Obrazy Rosji i Rosjan w Polsce od końca XIX wieku do pocza̜tku XXI stulecia. Myśl polityczna, media, opinia publiczna, hg. von Eleonora Kirwiel, Ewa Maj und Ewelina Podgajna, Lublin 2011, S. 153 – 162, hier S. 159. Ebd.
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lerinnen und Schriftsteller nach Polen von der Exilerfahrung frustriert zurückkehrten.¹⁷⁶ Nicht zuletzt dank der Erfahrung einer erfolgreichen Integration des Denkens und Schreiben des polnischen Exils in die polnische Kultur des 19. Jahrhunderts galt die polnische Exilliteratur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch den Intellektuellen in Polen selbst als zugehöriger Bestandteil nationalen Denkens, wie Halina Filipowicz bereits 1989 schrieb: „[Polish émigré literature] is regarded not only as being of the native culture but in [Hervorhebungen durch Autorin, M.-B.] it – at one with it – as well, even when works by émigré authors are not readily available in Poland.“¹⁷⁷ Das polnische Ostdenken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnete sich ebenfalls durch Interdependenzen von Exilöffentlichkeit und staatlicher Öffentlichkeit in Polen aus, wenngleich sich Konkurrenzen infolge der Einbettung beider Öffentlichkeiten in die Blocklage des „Kalten Krieges“ deutlich manifestierten. In der Volksrepublik formierten sich seit 1956 staatlich geduldete Inseln autonomer Meinungsäußerung, sei es etwa in den Hochschulen oder in kirchennahen Kreisen und Verlagen, die sich um eine Autonomie der katholischen Kirche im kommunistischen Polen bemühten.¹⁷⁸ Nach der Formierung einer Protestbewegung Warschauer Studierender im März 1968, der darauffolgenden Niederschlagung der Proteste und der dann folgenden zwangsweisen Ausreise von etwa 13.000 Personen jüdischer Herkunft sollte es bis in die siebziger Jahre hinein dauern, als sich infolge der andauernden Proteste der Arbeitenden und der Studierenden eine Oppositionsbewegung mit selbstverlegten Zeitungen, Büchern und unterschiedlichen Formen der Selbstbildung zu formieren begann. Wichtigstes Organ und Impulsgeber dieser alternativen Öffentlichkeit sollte das 1976 gegründete Komitet Obrony Robotników (Komitee zum Schutz der Arbeiter) sein, in dem sich frühere Anhänger reformsozialistischer Ideen wie Jerzy Andrzejewski (1909 – 1983), Jacek Kuroń (1934– 2004) sowie der junge Adam Michnik, aber auch Vertreter konservativer Ansichten wie Antoni Macierewicz zusammenfanden.¹⁷⁹ Die Frage der Bedeutung des Ostens, insbesondere des Verhältnisses Polens zu seinen östlichen Nachbarstaaten und zur Sowjetunion wurde in der polnischen Opposition intensiv diskutiert, die in der Kultura dazu publizierten Ideen aufmerksam wahrgenommen. Gregor Feindt macht in seiner Arbeit zum nationalen Denken in den Oppositionsbewegungen Ostmitteleuropas deutlich, dass Jalta, als
Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. Halina Filipowicz: Fission and Fusion: Polish Émigré Literature, in: The Slavic and East European Journal 33, H. 2, 1989, S. 157– 172, hier S. 160. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 311 f. Überblicksartig zur Oppositionsbewegung vgl. Andrzej Friszke: Opozycja polityczna w PRL 1945 – 1980, Londyn 1994.
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„wirkmächtige Chiffre für die europäische Nachkriegsordnung“ und somit als „Brennpunkt polnischer Ängste und Schrecken“ ganz besonders in der polnischen Opposition gelten sollte.¹⁸⁰ Aus Sicht der Opposition vollendete die Konferenz von Jalta lediglich den Hitler-Stalin-Pakt von 1939, auf der die Alliierten den Fortbestand eines souveränen polnischen Staates in der Tradition der Zweiten Republik ausschlossen. Die Situation Polens zur Zeit des Kalten Kriegs erinnerte für die Opposition in frappierender Ähnlichkeit an die Zeit der Teilungen Polens zu Beginn des 20. Jahrhunderts und führte zu einer umfangreichen Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Ideen der politischen Bewegungen und der polnischen Intelligenz jener Zeit.¹⁸¹ Es ist wohl kein Zufall, dass sich das politische Spektrum der Opposition an den beiden dominierenden Lagern des frühen 20. Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit, der nationaldemokratischen Bewegung um Roman Dmowski und der unabhängigkeitsorientierten sozialistischen Bewegung um Józef Piłsudski orientierte. Die Option einer Übereinkunft mit der Sowjetunion, eine Politik der ugoda, wie sie die polnischen Slavisten zur Mitte 19. Jahrhunderts betrieben hatten, war für die polnischen Oppositionellen nach 1976 keine Option.¹⁸² Vereinfacht dargestellt, verhandelten national-konservative Gruppierungen wie der Ruch Obrony Praw Człowieka i Obywatela (Bewegung zum Schutz der Menschenund Bürgerrechte) oder die Konfederacja Polski Niepodległej (Könföderation des unabhängigen Polen) die Lösung der polnischen Frage mit Blick auf die Sowjetunion und erhofften sich vor allem von da Veränderungen hinsichtlich der zukünftigen Souveränität Polens. Als prominenten Vertreter dieses Denkens in der Dmowski‘schen Tradition lässt sich Aleksander Hall benennen, der sich dafür aussprach, die anti-russischen Ressentiments der polnischen Gesellschaft kritisch zu hinterfragen und stärker zwischen den sowjetischen Machthabern und dem russischen Volk zu unterscheiden. In der Normalisierung der künftigen polnisch-russischen Beziehungen, Hall trennte gründlich zwischen den Begriffen sowjetisch und russisch, lag ihm zufolge der Schlüssel für die Unabhängigkeit Polens.¹⁸³ Dieser pro-russischen Orientierung Halls stand eine westliche Orientierung der eher links-liberal gerichteten Oppositionellen gegenüber, die die Frage des souveränen Polens an die Möglichkeit eines wiedervereinigten Deutschlands
Feindt, Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft, S. 195. Vgl. ebd., S. 276. Eine solche Option wurde im Protestbrief polnischer Oppositioneller gegen die geplanten Verfassungsänderungen des Parlaments, dem sogenannten Brief der 59, am 5. Dezember 1975 an die Kanzlei des Sejms gerichtet, verworfen. Vgl. Friszke, Opozycja polityczna w PRL 1945 – 1980, S. 326. Vgl. Feindt, Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft, S. 237.
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und an dessen Integration im Westen knüpften. Konkret ging es dieser Denkströmung darum, deutlich zu machen, dass Polen in den bestehenden Grenzen nur dank der Schutzmacht der Sowjetunion eine Existenzberechtigung habe und dass nur eine freiwillige Anerkennung Polens und der bestehenden Grenzen durch das wiedervereinigte Deutschland Raum für ein unabhängiges und demokratisches Polen in Europa schaffe.¹⁸⁴ Ebenso wie die Wahrnehmung dieser Ideen in der Öffentlichkeit Deutschlands und der westeuropäischen Staaten war für die links-liberale Oppositionsgruppen von Bedeutung, dass eine solche Lesart der deutsch-polnischen Beziehungen den von den staatlichen Medien gepflegten anti-deutschen Ressentiments widersprach und das offizielle Geschichtsbild der Volksrepublik in Frage stellte.¹⁸⁵ Aus den bisher genannten Beispielen oppositionellen Ostdenkens wird deutlich, dass in ihnen politisierte, die Marxismus- und die Freundschaftsdoktrin herausfordernde Perspektiven vorherrschten, die sich zugleich eng an der polnischen Ideengeschichte der Teilungszeit orientierten und sich mit ihr auseinandersetzten. Ein besonders prägnantes Beispiel für die Fortdauer und Kontinuität eines anti-russischen Imperialismus-Narrativs in der polnischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts und für die Suche nach Vorbildern polnischer Oppositioneller in der Geschichte der Teilungen Polens im späten 19. Jahrhundert stellt der Aufsatz Gespräch in der Zitadelle von Adam Michnik dar, den dieser bezeichnenderweise 1982, in der Zeit eines mehrjährigen Gefängnisaufenthaltes, verfasste.¹⁸⁶ Darin thematisiert Michnik das Dilemma einer dogmatischen und unkritischen Betrachtung der beiden populären polnischen Denktraditionen der Nationaldemokratie und des unabhängigkeitsorientierten Sozialismus vonseiten der oppositionellen Intelligenz und die Gefahr einer drohenden ideologischen Spaltung der jungen polnischen Opposition in ein neo-national-konservatives und ein neo-sozialistisches Lager. Michnik plädiert in seinem Essay für eine konstruktiv-kritische Sicht auf die Ideen der beiden Bewegungen und die daraus folgende mögliche Befreiung vom Ballast des Widerstandsdogmas. Gleich zu Beginn macht er deutlich, dass sich sein Essay als Beitrag in die Tradition eines widerständigen polnischen Denkens einordnen lässt:
Vgl. ebd., S. 197. Vgl. dazu Angela Siebold: Legitimation durch Abgrenzung. Das Deutschlandbild in der offiziellen Geschichtspolitik der Volksrepublik Polen zwischen kaltem Krieg, „neuer“ Ostpolitik und kirchlicher Annäherung, in: Narrative im Dialog. Deutsch-polnische Erinnerungsdiskurse, hg. von Wolfgang Form, Kerstin von Lingen und Krzysztof Ruchniewicz, Dresden 2013, S. 77– 106. Vgl. Adam Michnik: Rozmowa w Cytadeli, in: Zeszyty Historyczne, H. 64, 1983, S. 3 – 56.
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Worüber sprechen Polen in der Gefängniszelle? Über die gleichen Dinge wie immer, über die gleichen Dinge wie ihre Väter, ihre Großväter, ihre Urgroßväter, die in den Pavillons der Zitadelle eingesperrt waren. […] Mir kam der Gedanke, dass es interessant sein könnte, die Dispute unserer Großväter über Sieg oder Niederlage, über Freiheit und Unabhängigkeit, über die Programme und Ideologien von Neuem zu erzählen, dass es sich lohnen könnte, den Inhalt ihrer nächtlichen Gespräche und ihrer herzzerbrechenden Streitereien zu rekonstruieren, als sie vor achtzig Jahren bei einem Streik erwischt wurden, auf einer Straßendemonstration verhaftet wurden, von einem Gottesdienst für ein freies Polen weggeholt wurden oder geschnappt wurden, während sie Bekanntmachungen klebten und schließlich in der Zitadelle landeten, wo sie auf die Freiheit und auf bessere Tage warteten.¹⁸⁷
Michnik verweist gleich zu Beginn auf die Bedeutung des russischen Herrschaftsund Repressionssystems, welches die Warschauer Zitadelle, Gefängnis für mehrere Generationen von polnischen Aufständischen und Angehörigen der polnischen Intelligenz, symbolisiert und benennt sogleich das Dilemma des polnischen nationalen Denkens des 19. Jahrhunderts, das sich unter den Bedingungen der Teilungen und der russisch-imperialen Fremdherrschaft entfaltete. Noch vor dem eigenen Text platziert Michnik Zitate von Zar Nikolaus I. (1796 – 1855, reg. 1825 – 1855) und Ivan Paskevič (1782– 1856), nach dem Aufstand von 1830 Statthalter von Polen, sowie das Klagegedicht An die Mutter Polin von Adam Mickiewicz aus dessen Erzählung Herr Tadeusz. ¹⁸⁸ Michnik stützt sich in seiner Argumentation keineswegs auf die Tradition des polnisch-russischen Antagonismus, um diesen im Zeitalter der Sowjetunion zu erneuern, sondern hinterfragt vielmehr die Tradition dieser Haltung kritisch. Dabei kommt er zu folgenden Schlüssen. Die Nationaldemokratie und insbesondere Dmowskis Tätigkeit in der Zeit des späten Russländischen Reiches werden von Michnik positiv erwähnt, indem er deren selbstbestimmte und offene Politik eines Aktivismus hervorhebt, der sich ihm zufolge vom Determinismus der polnischen linken Intelligenz, Michnik schreibt vom „Prätotalitarismus der polnischen Sozialisten“, zum sozialen Wandel unterschied.¹⁸⁹ Letztlich ist es die Selbstunterwerfung unter die Doktrin einer russisch-imperial geprägten Ideologie, die der Autor in seinem Essay kritisiert. Michnik wirft beiden Bewegungen vor, in der Herrschaftspsychologie der russisch-imperialen Dominanz gefangen zu sein: Aus Russland stammten die Idee der sozialen Revolution und die Ideen eines aggressiven Nationalismus. Der Sozialismus wurde von einer Eschatologie und vom Terrorismus eingefärbt. Der Nationalismus war eine Ideologie der dummen Leute, die die nationale Gemein-
Ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 4. Ebd., S. 21.
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schaft als kollektives Ereignis des Hasses auf alles Fremde zelebrierten. Im Nationalismus der Nationaldemokraten und im polnischen Sozialismus ließen sich die Spuren der Einflüsse des Zentrums [St. Petersburg, M.-B.] leicht ausmachen. Was machte es da schon, dass die politische Form dieser Programme anti-russisch war, wenn ihre innere Gestalt von der Alltagserfahrung der russischen Autokratie geprägt worden war.¹⁹⁰
Im Zitat benennt Michnik anschaulich den Kern seiner Kritik an der polnischen Intelligenz des frühen 20. Jahrhunderts und ihrer russisch-imperialen Erfahrung. Darüber hinaus wird der Herrschaftscharakter des Russischen Imperiums von Michnik in einer Weise skizziert, hinter der sich bei genauerem Hinsehen ein Totalitarismus-Narrativ verbirgt. Michniks Essay weist in seiner Metaphorik und Rhetorik frappierende Ähnlichkeit zu Formulierungen und Sprachbildern zur Skizzierung des Stalinismus in der Sowjetunion und im kommunistischen Polen auf, wie sie Czesław Miłosz in seinem Werk Verführtes Denken verwendete, und legt so Spuren hin zu exilpolnischen Variationen polnischen Russlandddenkens in der frühen Nachkriegszeit. Michnik schreibt: [S]o wie der ‚Herr‘ sich mit der Mentalität des rebellierenden ‚Sklaven‘ infiziert, so hinterließ das russische Zarentum andauernde Spuren in der Mentalität und im Denken seiner Gegner. Die Eigenschaften dieses Systems wurden schon oft beschrieben. Es stand auf dem Fundament von Gewalt, Despotie und Verachtung für das Recht. Es bediente sich der Angst und brachte die Herabsetzung der Menschenwürde mit sich. Einen Bürgerbegriff kannte es nicht – alle waren Untertanen. Die Untertanen lehrte es völligen Gehorsam und forderte zur rituellen Verehrung auf. Daher lebte der Untertan in einer schizophrenen Welt, und das eine war die Wahrheit des offiziellen Lebens, das andere die des privaten Lebens. Es stumpfte die Untertanen ab – die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und die Wissenschaften blieben streng reglementiert. Es bediente sich der Lüge. Immer und überall. Gegenüber den Untertanen und gegenüber den ausländischen Botschaftern. Darin lag die Kraft der russischen Diplomatie und darin lag das Geheimnis ihrer Erfolge.¹⁹¹
Michnik zeichnet hier ein tendenziöses, im Lichte des Totalitarismus erscheinendes Bild des Russischen Imperiums als einer durchherrschten und illiberalen Gesellschaft. Darin erscheint das Reich als Vorläufer eines stalinistischen Osteuropas Miłosz‘scher Lesart, dessen Individuen in Verführtes Denken übrigens ebenfalls durch eine gespaltene Geisteshaltung zum Herrschaftssystem geprägt sind und sich etwa durch das Tragen einer imaginären Maske – eines „Ketman“ auszeichnen.¹⁹² Eine deutliche Parallele zu Miłoszs Werk findet sich auch in Michniks Definition des Verhältnisses des um Autonomie und Harmonie glei-
Ebd., S. 38. Ebd. Vgl. Czesław Miłosz: Verführtes Denken, 2. Aufl., Köln 1980, S. 34, 63.
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chermaßen bemühten Individuums, des Sklaven zur Macht, zum Meister. Während Miłosz sich mit den Murti-Bing-Pillen einer Metapher bei Stanisław Witkiewicz bediente, um den Selbstschutz der Individuen mittels äußerlich-mentaler Anpassung und Selbstbetäubung in einer infolge von imperialistischen Kriegen und ideologischen Krisen transformierten Gesellschaft zu beschreiben, benennt Michnik die Folgen dieser weitgehenden Einlassung der polnischen Aktivisten in das russische Herrschaftssystem, sei es auch zum Zweck der Lösung der polnischen Frage, als verheerend¹⁹³: Dmowski und Piłsudski verachteten die Psychologie der Gefangenschaft, dieses Produkt der russischen Herrschaft in Kongresspolen. Mit der Zeit aber richtete sich die Verachtung gegen diejenigen, die Opfer dieser Psychologie gewesen waren. Aber hier ging es um Leute, die man zur Selbstbestimmung erziehen wollte… Deshalb fanden sich in den damaligen Programmen gefährliche Skizzen; Skizzen, in denen, aus heutiger Sicht [Hervorhebung durch Autor, M.B.], die prä-totalitäre Tendenz leicht erkennbar war. Es waren dies nämlich Konzeptionen eines Nationalbewusstseins, das seiner Natur wegen von oben aufoktroyiert werden sollte. Es [das Nationalbewusstsein, M.-B.] sollte ein Bewusstsein einer Nation in der Trutzburg sein, die für den ständigen Kampf geschult wurde. Solch ein Nationalbewusstsein sollte die institutionelle Gestalt einer Disziplinierungs- und einer hierarchisierten Organisation annehmen, deren Tugenden waren: Aufopferungswille und Gehorsam und nicht Pluralismus und Toleranz. […] Der natürliche Endpunkt dieser Konzeptionen war das Erringen der Unabhängigkeit. Aber die Logik der politischen Ereignisse war eine andere. Die beiden Lager sollten das öffentliche Leben in der Zweiten Republik bestimmen. Im Laufe des Machtkampfes nahmen die prä-totalitären Versuchungen neue Ausmaße an.¹⁹⁴
Michnik präsentiert in dem vorgestellten Aufsatz eine Lesart des Russischen Imperiums und eine Kritik der in ihm wirkenden polnischen Intelligenz, die sich insbesondere den Ideen Konecznys zuordnen lässt. Michniks Vorwurf der Selbstunterwerfung an die polnische Intelligenz der späten Teilungszeit ähnelt frappierend Konecznys Beobachtung vom „russifizierte[n] Gehirn“ der polnischen Sozialisten aus der Zwischenkriegszeit. Mit seinen impliziten Bezügen auf Miłoszs Verführtes Denken und mit seinen Thesen vom prä-totalitären Charakter des Russischen Imperiums bezüglich der späteren Sowjetunion weist Michnik zum einen auf das Leitnarrativ der polnischen Opposition der siebziger und achtziger Jahre vom Sowjetregime als Hauptfeind des polnischen Untergrunds hin und unterstreicht so implizit die Annahme von der fehlenden Souveränität Volkspolens. Zum anderen schlägt der Publizist eine Brücke vom Denken der exilpolnischen Intelligenz hin zur Vorstellung einer über die ideologischen Konfliktlinien hinweg geeinten polnischen Widerstandsbewegung. Wenngleich letztere Idee in Vgl. ebd., S. 16 f. Michnik, Rozmowa w Cytadeli, S. 38 f.
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der polnischen Opposition nicht neu war, ging Michniks Ansatz insofern neue Wege, als dieser andeutet, dass auch die reformwilligen Kräfte der volkspolnischen Nomanklatura in diesem Prozess zu berücksichtigen seien.¹⁹⁵ Michniks Russlandbild ist ebenso geprägt von der Vorstellung einer herrschaftspsychologischen Kontinuität, das lediglich als Folie für die polnischen Unterdrückungsund Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts vonseiten des sowjetischen Russlands dient. Mit seiner Kontinuitätsthese reiht sich Michnik nahtlos in das Russlanddenken der polnischen Intelligenz seit der Unabhängigkeit Polens ein und stellt in der Betrachtung des polnischen Russlanddenkens des 19. und 20. Jahrhunderts keine Ausnahme dar. Neu war zu Beginn der achtziger Jahre lediglich Michniks Erkenntnis vom Widerspruch zwischen dem anti-russischen Denken der Intelligenz und den russischen Wurzeln des Denkens der Intelligenz. Letztlich blieb Michniks Interpretation Russlands höchst ambivalent, denn auch wenn der Autor auf die anti-russischen Reflexe der polnischen politischen Kultur des 20. Jahrhunderts verwies, beschrieb er die Phänomene des Nationalismus und der sozialen Revolution als genuin russisch. Den totalitären Kern kommunistischer Herrschaft in Polen und der Sowjetunion verortete Michnik damit letztlich im imperialen Russland selbst. Mit dieser Sicht positionierte sich Michnik innerhalb der Opposition als entschiedener Gegner einer Hinwendung nach Russland und machte stattdessen ein totalitaristisches Russland-Narrativ für seine Vorstellung einer geeinten polnischen Widerstandsbewegung nutzbar.
2.5 Polnische Blicke auf Russland und den Osten – Orientalismus oder Komplex? Anhand der hier vorgestellten Schlaglichter des polnischen Ostdenkens im 19. und 20. Jahrhundert wird zunächst ersichtlich, dass sich dieses durch Konjunkturen auszeichnete, die sich im Spektrum zwischen polnisch-russischer Annäherung und Ablehnung entfalteten und zu pendelartigen Bewegungen des polnischen Ostdenkens im Ost-West-Gefälle führten. Der Hinwendung nach Osten gingen in den meisten Fällen Enttäuschungen polnischer Erwartungshaltungen an den Westen voraus – ein Muster, das sich etwa auch in den Biographien des letzten
Dieser Logik folgte Michnik übrigens auch in den neunziger Jahren, als er wiederholt auf die von den polnischen kommunistischen Machthabern in den achtziger Jahren geteilten Werte einer polnischen Staatsräson und eines polnischen Patriotismus im Angesicht eines drohenden Einmarsches sowjetischer militärischer Kräfte in Polen hinwies. Vgl. Paweł Śpiewak: Polnische Erfahrungen mit dem Totalitarismus, in: Anti-Totalitarismus. Eine polnische Debatte, hg. von Paweł Śpiewak, Frankfurt am Main 2003, S. 15 – 67, hier S. 35.
2.5 Polnische Blicke auf Russland und den Osten – Orientalismus oder Komplex?
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polnischen Königs Stanisław August Poniatowski oder in der Adam Jerzy Czartoryskis offenbarte. Insbesondere die von eigenen Erfahrungen inspirierten Werke von Adam Mickiewicz und anderer polnischer Romantiker boten mit den Begriffen und Ideen des polnischen Messianismus, des Wallenrodismus oder der Idee von der Zerschlagung des Russischen Imperiums von seinen Peripherien her den nachkommenden polnischen Denkströmungen des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts ein Instrumentarium an intellektuellen Werkzeugen und eine Sprache für die Darstellung des polnisch-russischen Verhältnisses, dessen sich die nachfolgenden intellektuellen Generationen ausgiebig bedienen oder sich davon abgrenzen sollten, auf welches sie aber explizit wie auch implizit wiederholt referierten. Die Komplexhaftigkeit des polnisch-russischen, unter Gesichtspunkten der Macht gänzlich asymmetrischen Verhältnisses zwischen dem staatenlosen Polen und dem imperialen Russland aus der Teilungszeit wurde zum Wesensmerkmal der polnischen intellektuellen Auseinandersetzung mit Russland, das nach der Neugründung Polens als souveräner Staat 1918 und im Zuge der Dominanz der polnischen Intelligenz in den politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Eliten des unabhängigen Polens Züge einer nationalhistorischen Entflechtung aufwies. Interessanterweise findet sich eine gemeinsame Haltung im Denken von Feliks Koneczny in der Zwischenkriegszeit bis hin zu Adam Michnik in den achtziger Jahren, die den vermeintlich schadhaften Einfluss russischen Denkens auf die polnischen Denkströmungen des frühen 20. Jahrhunderts einseitig zu benennen versuchte, wenngleich beide Personen ihre Annahmen völlig unterschiedlich begründeten. Die nationalhistorische Entflechtung sollte sich nach 1945 zunächst fortsetzen. In der Volksrepublik Polen, wo die Suche nach einer Polen und die Sowjetunion verbindenden Geschichte infolge der problematischen Geschichte beider Staaten zu Beginn der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs bemerkenswert erfolglos blieb, reichte die Berufung auf die Tradition des gemeinsamen anti-zaristischen Widerstands nicht aus, um eine dauerhafte Verbindung zwischen beiden Gesellschaften zu legitimieren. Martin Aust stellt demnach in der Historiographie der Sowjetunion und Volkspolens in den fünfziger Jahren „unüberbrückbare Gräben“ fest.¹⁹⁶ Die Erinnerung an diejenigen unter den Polen, die in der Zeit der industriellen Moderne die vom Russischen Imperium gebotenen wirtschaftlichen Freiräume und gesellschaftlichen Aufstiegschancen nutzten, fiel nachvollziehbarerweise aus dem engen Rahmen eines vom schematischen Marxismus ideologisierten gesellschaftlichen Diskurses her-
Aust, Polen und Russland im Streit um die Ukraine, S. 231.
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2 Wo liegt Polen?
aus und bildet bis heute eine Leerstelle in der polnischen Wahrnehmung der russisch-polnischen Beziehungen der Teilungszeit.¹⁹⁷ Michniks Aufsatz zeigt indes, dass sich auch im Denken der oppositionellen Intelligenz in Volkspolen keine Möglichkeit bot, das Denken des liberalen Slavismus zu integrieren. Jenseits der staatlichen Öffentlichkeit in der Polska Rzeczpospolita Ludowa (PRL, Volksrepublik Polen) sollte die politische Situation und die geopolitische Lage Polens nach 1945 im Orbit der sowjetischen Einflusssphäre das das Denken zu Russland und dem Osten in Opposition und Exil, das sich in der Konkurrenz zwischen Widerstandsverklärung und politischem Realismus im gemeinsamen Nenner eines Anti-Kommunismus erschöpfte, nachhaltig prägen. Die Ausführungen zum polnischen Ostdenken zeigen, dass die Bezeichnung dieses Denkens als Komplex durchaus angebracht ist. Wenngleich Gerd Koenens Komplex-Begriff bei genauerem Hinsehen nur bedingt auf das polnische Russlanddenken übertragbar ist, verbirgt sich doch hinter diesem Begriff die Möglichkeit, die Doppelfunktion polnischen Ostdenkens, genauer: den Zusammenhang zweier imperialer Erfahrungen, die als eigen definierte polnisch-litauische Herrschaft und die erzwungene Unterwerfung Polens durch die russisch-imperiale Fremdherrschaft zu benennen.¹⁹⁸ Dabei verfügt der polnische Russlandkomplex über eine ganze Reihe von Orientalismen, die vor allem in den hier vorgestellten Ideen kultureller oder zivilisatorischer Überlegenheit zum Ausdruck kamen – dienten diese doch dazu, die Asymmetrie im polnisch-russischen oder im polnisch-sowjetischen Machtgefüge zu kompensieren. In Mickiewiczs, Konecznys, Miłoszs oder Michniks Beschreibungen von Russland erschien dieses jeweils als minderwertig, rückständig, asiatisch-barbarisch oder auch als (prä‐) totalitaristisch. Dementsprechend verweisen sowohl Janion als auch Zarycki auf Saids Orientalismuskonzept und definieren ihrerseits polnische Orientalismen.¹⁹⁹ Deren Spezifik wurzelt dabei in ebenjener Erfahrung doppelter polnischer Imperialität und ihrer literarischen Verarbeitung im 19. und 20. Jahrhundert.
Vgl. etwa die Biographie von Aleksander Lednicki, die exemplarisch für das Vergessen der polnischen liberalen Elite russisch-imperialer Provenienz im polnischen Denken bis heute steht: Müller-Butz, Von Russland nach Polen; Zarycki, Aleksander Lednicki i los jego środowiska. Vgl. Koenen, Der deutsche Russland-Komplex, S. 38. Vgl. Janion, Niesamowita Słowiańszczyzna, S. 226 f; Zarycki, Aleksander Lednicki i los jego środowiska, S. 68.
3 „Für unsere und für Eure Freiheit“? Erzählungen russisch-imperialer Erfahrung in der intelligenten Autobiographik nach 1918 Mit der Wiedererlangung der polnischen Staatlichkeit und der Errichtung des polnischen Staates, als dessen Gründungsdatum sich in der Zwischenkriegszeit der 11. November 1918 etablieren sollte, sollte sich zwar die Hoffnung der polnischen Intelligenz auf ein unabhängiges Polen erfüllen, die territoriale, die politische und die gesellschaftliche Form des polnischen Staates ließ jedoch unterschiedlichste Erwartungen und Ideen ihrer Vertreterinnen und Vertreter zur polnischen Staatlichkeit unerfüllt oder unberücksichtigt. Mieczysław Biskupski hat darauf aufmerksam gemacht, dass sofort mit der Entstehung des unabhängigen Polens ein Deutungswettstreit darum begann, welches die wesentlichen Einflussfaktoren und wer die wichtigsten Akteure gewesen waren, die die Gründung des polnischen Staates ermöglicht und die das ideologische und gesellschaftliche Fundament errichtet hatten, auf dem die militärischen und politischen Kräfte den jungen polnischen Staat 1918 gründeten.¹ Die dominanteste und zugleich ideologisch heterogenste Gruppe in diesem Wettstreit blieb die polnische Intelligenz – nicht zuletzt deshalb, da ihre Angehörigen zu den wichtigsten Akteuren des polnischen Staatsbildungsprozesses zählten und in der polnischen Gesellschaft während der gesamten Zwischenkriegszeit eine dominierende Stellung einnehmen sollten.² Zudem konnte sich die Intelligenz 1918 auf eine eigene Geschichte des Widerstands und der Aufstände berufen, deren Angehörige sie für sich vereinnahmten und welche diese in ihre Erzählung(en) von der Unabhängigkeit Polens einfließen ließen. Für den polnischen Fall ist die Feststellung Hadlers und Mesenhöllers von der Fortschreibung bereits bestehender Nationalerzählungen in den nationalen Historiographien der „neuen“ unabhängigen Staaten Ostmitteleuropas, die in der Vorkriegszeit von den Protagonisten der polnischen Intelligenz entworfen worden waren und sich an den Topoi anti-imperialen Widerstands und Märtyrertums unter der imperialen Herrschaft orientierten, durchaus treffend: „‚1918‘ scheint dort, wo die Nationalbewegung im Nationalstaat mündete, weniger grundlegende Umdeutungen ausgelöst zu haben, als daß dominant und offiziell wurde, was vordem oppositionell, aber verbreitet war.“³ Auch Magdalena Micińska macht darauf aufmerksam, dass es besonders
Vgl. Biskupski, Independence Day, S. xi. Vgl. Micińska, A History of the Polish Intelligentsia, S. 208. Hadler, Mesenhöller, Repräsentationen imperialer Erfahrung in Ostmitteleuropa, S. 24. https://doi.org/10.1515/9783110642124-006
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3 „Für unsere und für Eure Freiheit“?
die Angehörigen der Intelligenz gewesen waren, die der polnischen Nationalbewegung, die sich grob in ein sozialistisches und in ein nationalistisches Lager unterteilen ließ, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Vorbilder gedient hatten. Unter den Vertretern des ersteren Lagers hebt Micińska besonders Bolesław Limanowski hervor, der den Vorstellungen der polnischen Sozialisten einen neoromantischen Anstrich verlieh.⁴ Der coup d’etat des Piłsudski-getreuen Militärs und seines politischen Arms im Mai 1926, in deren Gefolge die sozialdemokratischen PPS den Putsch in der Hoffnung auf eine Reformierung der bestehenden politischen Verhältnisse unterstützt hatte, markierte auch für den andauernden Wettstreit nach der Deutungshoheit um die Unabhängigkeit Polens eine wichtige Zäsur. Mit dem Putsch verschmolzen die Erzählung von der Unabhängigkeit Polens und dem bis dahin in der polnischen Politik im Hintergrund agierenden Piłsudski zu einem festen Amalgam. Der Personenkult nahm hier seine Anfänge und machte die Erzählung über die von den polnischen Legionen und den peowiacy ⁵ während und nach dem Ersten Weltkrieg selbst erkämpfte Freiheit Polens zur dominierenden Meistererzählung über die polnische Staatswerdung in der Zwischenkriegszeit – und nach 1945 in breiten Teilen des polnischen Exils. In dieser Erzählung von der Gründung Polens wurden ausschließlich diejenigen bedacht, die sich vor 1918 ausschließlich der Wiederherstellung der polnischen Staatlichkeit verschrieben hatten. Erfahrungen des Zusammenlebens und der Integration in die Imperien wurden negiert, Formen des Austauschs mit der russischen Intelligenz oder gar mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Nationalbewegungen wurden ausgeblendet, wie Biskupski schreibt: The authors of Poland were Piłsudski and his followers in the World War I legions. It was this small but dedicated group which, through sacrifice and in the face of obstacle and derision, had brought Poland back to life. They represented a re-animation of forces in Polish history – long dormant, yet very powerful – which galvanized the nation. No outside agencies deserved credit for Poland’s rebirth; it was an entirely national project.⁶
In den ersten zehn Jahren polnischer Staatlichkeit war dies der Rahmen, innerhalb dessen sich die Autobiographik der polnischen Intelligenz einen Platz zu erkämpfen bemühte. Zur Spannung zwischen den nationalen Emanzipationsbestrebungen der polnischen Intelligenz in der Vorkriegszeit, deren Solidarisierung mit dem anti-imperialen Widerstand der russischen revolutionären Bewegung
Vgl. Micińska, A History of the Polish Intelligentsia, S. 125. Abgeleitet von POW, Abk. für Polska Organizacja Wojskowa (Polnische Militärorganisation). Biskupski, Independence Day, S. xi.
3 „Für unsere und für Eure Freiheit“?
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und den ebenfalls aktiver werdenden Nationalbewegungen der Litauer, Ukrainer und Belarussen kam für die intelligente Autobiographik nun die Schwierigkeit hinzu, diese Erfahrungen in den Rahmen eines nationalen Projekts einschreiben zu müssen, um in der Debatte um die polnische Staatswerdung Gehör zu finden. Die Formel Für unsere und Für Eure Freiheit, die sich als Leitmotiv auf den polnischen Flaggen der Aufständischen von 1831 fand und mit dem man auf die Solidarität anti-imperialer Kreise im Russischen Imperium gehofft und zudem die Führerschaft in den anti-imperialen Kreisen des Imperiums für die polnische Intelligenz reklamiert hatte, blieb bis zum Zerfall des imperialen Russlands virulent.⁷ Am Beispiel zweier autobiographischer Werke von Bolesław Limanowski und Władysław Studnicki, die in der ersten Hälfte der Zwischenkriegszeit entstanden, soll in diesem Kapitel gezeigt werden, welche Möglichkeiten die intelligente Autobiographik im jungen unabhängigen Polen fand, die für die polnische Intelligenz so spezifischen Erfahrungen russischer Imperialität und anti-imperialen Widerstands in den Lebenserzählungen abzubilden und zugleich in eine Nationalerzählung polnischer Staatswerdung zu integrieren. Die nach 1918 Schreibenden waren gezwungen, sich unter den Bedingungen der realisierten polnischen Staatlichkeit mit den Ideen der polnischen Intelligenz und den eigenen Ansichten aus der Vorkriegszeit auseinanderzusetzen und diskutierten deren Wert im Umgang mit der veränderten gesellschaftlichen und internationalen Lage erneut bzw. wandelten diese ab. Fragen des polnisch-russischen bzw. des polnisch-sowjetischen Verhältnisses spielten dabei ebenso eine Rolle, wie Ideen zur polnischen Staatsvision, den darin lebenden Angehörigen unterschiedlicher Nationalitäten und zur polnischen Territorialität. Mit Limanowski und Studnicki wurden dabei zwei Vertreter der intellektuellen Generation der Unbeugsamen ausgewählt, welche in der Vorkriegszeit einen zentralen Platz in der Geschichte der polnischen Intelligenz einnahm und deren beide vorzustellende Vertreter zu den frühesten Autoren einer intelligenten Autobiographik des 20. Jahrhunderts nach dem Zerfall der Teilungsmächte Polens 1918 und der Gründung Polens zählen.
Vgl. Nowak, Kto powiedział, że Moskale są to bracia nas, Lechitów…, S. 32.
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3 „Für unsere und für Eure Freiheit“?
3.1 Bolesław Limanowski (1835 – 1935): Autobiographisches Schreiben zwischen anti-imperialer Solidarität und nationaler Emanzipation Gleich zu Beginn der Memoiren von Bolesław Limanowski findet sich eine kritische Bestandsaufnahme des Autors zu den eigenen Eltern und deren fehlende „Aufstandsgefühle“: „Der Einfluss der Eltern war nichtig. Erstens: sie widmeten sich uns kaum; zweitens: die russische Herrschaft erweckte in ihnen keinerlei Aufstandsgefühle.“⁸ In dem Zitat drückt sich das Leitmotiv seiner Memoiren, nämlich die Erweckung ebenjener aufstandsbefürwortenden Haltung im polnischen Landadel und in der polnischen Intelligenz, zu der sich Limanowski zählte, kurz und prägnant aus. Der Ruf an die Eltern ist nicht zuletzt auch eine Abrechnung mit jener Generation, die es sich Limanowski zufolge in den Herrschaftsverhältnissen des Russischen Imperiums vor dem Aufstand von 1863 zu gemütlich gemacht hatte. Auch in Limanowskis Familie selbst fanden sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts neben ehemaligen Aufständischen Personen, deren Lebenswege nach den Teilungen Polens und dem verlorenen Novemberaufstand von 1830 in die Herrschaftsinstitutionen des Russischen Imperiums geführt hatten – der Vater von Limanowski und dessen Bruder hatten als Offiziere in der russischen Armee gedient, letzterer hatte gar eine russische Generalstochter geheiratet, und für Limanowski und seine Brüder sah der Vater dem Autor zufolge eine ähnliche Laufbahn vor.⁹ Mit seiner ablehnenden Haltung grenzt sich Limanowski von der Haltung der Eltern ab und entwirft zugleich ein Bild seiner Generation als patriotische Rebellen, die gegen die Gleichgültigkeit der Elterngeneration ob der Anwesenheit „der Feinde in den Grenzen der eigenen Gebiete“ aktiv aufbegehrten.¹⁰ Der oben genannte Auszug verweist zudem auf ein Selbstverständnis Limanowskis als eines Befreiers der polnischen Nation von politischer und wirtschaftlicher Unterdrückung und eines Autodidakten, der sich dem Kampf um eine gerechtere und fortschrittlichere Gesellschaft verschrieb. Eine solche Haltung war Andrzej Walicki zufolge typisch für die polnische Intelligenz der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.¹¹ Der lange vor dem anti-russischen Aufstand von 1863 geborene Limanowski stellt demnach einen Idealtypus der polnischen Intelligenz dar. Als einer der ersten verknüpfte er die Vorstellung eines freien Polens mit der
Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 38. Vgl. ebd., S. 20. Ebd., S. 38. Vgl. Walicki, Polish Conceptions of the Intelligentsia and its Calling, S. 1.
3.1 Bolesław Limanowski (1835 – 1935)
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Idee einer gerechteren Gesellschaft. Den folgenden Generationen der polnischen Intelligenz sollte Limanowski nicht zuletzt deshalb als andauerndes Vorbild gelten.¹² Zudem repräsentierte Limanowski mit seiner noch vorzustellenden Biographie und seinen Gründungsversuchen einer polnischen agrarsozialistischen Partei – des Lud Polski (Polnisches Volk) – in den 1880er Jahren als einer der ersten nach dem gescheiterten Aufstand von 1863 die Abwendung linker Angehöriger der polnischen Intelligenz vom „cosmopolitan trend“, wie Karol Dziewanowski beschreibt: This organisation [Lud Polski, M.-B.] did not want to break away completely from the democratic traditions of the insurrection of the ‘Great Emigration’ and of the Rising of 1863 – 1864 but to enrich it with Socialist doctrine and adapt it to the specific conditions and needs of the country. Limanowski, also a son of the ‘Eastern Marches’ [ehemalige polnische Ostgebiete, M.-B.] and of similar social origin to Warynski¹³, was a noble and selfless person, a devoted social worker as well as a conscientious scholar.¹⁴
Zur Biographie und zum Schreibanlass Bolesław Limanowski ist unter den zu besprechenden Autorinnen und Autoren der mit Abstand älteste Autobiograph. Er wurde 1835, vier Jahre nach der Niederschlagung des Novemberaufstands von 1831, in eine polnische Landadeligenfamilie im ehemals polnischen Teil Livlands zwischen Dünaburg (russ. Dvinsk, heute lett. Daugavpils) und Vitebsk hineingeboren. Limanowski verbrachte seine Kindheit bis zum Tod des Vaters 1847 auf dem Gutshof Podgórz bei den Eltern, die dann folgenden elf Jahre nach dem Tod des Vaters sollte er als Schüler und Student in Moskau verbringen, um 1858 nach Dorpat zum Studium zu gehen. Dort knüpfte der spätere Aktivist und Publizist Kontakte zu Vertretern der polnischen Nationalbewegung. Nur zwei Jahre später folgte der Abbruch des Studiums, ein halbjähriger Aufenthalt in Paris im polnischen Exil und schließlich 1861 die Rückkehr nach Polen, wo er in Wilna als Organisator von pro-polnischen Protesten verurteilt, anschließend in die Verbannung nach Archangelsk und
Vgl. Kazimiera J. Cottam: Bolesław Limanowski (1835 – 1935), in: Nation and History. Polish Historians from the Enlightenment to the Second World War, hg. von Peter Brock, John D. Stanley und Piotr J. Wróbel, Toronto 2006, S. 101– 112, hier S. 107. Ludwik Waryński (1856 – 1889), u. a. Mitbegründer und Führer der ersten polnischen prosozialistischen Bewegung Socjalno-Rewolucyjna Partia Proletariat (Sozialrevolutionäre Partei Proletariat). Vgl. Marian Kamil Dziewanowski: The Beginnings of Socialism in Poland, in: The Slavonic and East European Review 29, H. 73, 1951, S. 510 – 531, hier S. 523. Ebd., S. 525.
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3 „Für unsere und für Eure Freiheit“?
später ins russische Voronež entsendet wurde.¹⁵ Mit seiner Rückkehr aus Russland, wo er zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hatte, ins post-aufständische Warschau 1867 und seiner Ausreise drei Jahre später aus dem russischen Imperialverband nach Österreichisch-Galizien anlässlich des deutsch-französischen Krieges endet denn auch der erste Band von Limanowskis Memoiren.¹⁶ Limanowskis folgendes Leben bis zur Unabhängigkeit Polens war geprägt von etlichen Ortswechseln zwischen Galizien, Frankreich, Schweiz und wieder Krakau in Galizien, vor allem aber von einer zunehmenden historisch-publizistischen Tätigkeit sowie von parteipolitischen Aktivitäten als Mitbegründer und als Mitglied der PPS über die Zeit des Russischen Imperiums hinaus. In ihr und in seinem damaligen Hauptwerk Patriotismus und Sozialismus vertrat Limanowski die Idee eines praxisgeleiteten Sozialismus, der zuallererst den polnischen Bauern in der Verbesserung ihres alltäglichen Lebens zunutze kommen sollte – die Idee der Hinwendung zur Bevölkerung auf dem Land hatte Limanowski den russischen Narodniki entnommen und diese um das Element der sofortigen Verbesserung derer sozialen Lage ergänzt.¹⁷ Limanowskis publizistisches Hauptwerk entsprang also der Zeit nach seiner russischen Periode, wobei jedoch die im Russländischen Reich gemachte Erfahrung des anti-imperialen Widerstands, des Austauschs und der Auseinandersetzung mit den Ideen der russischen Intelligenz sowie des gescheiterten anti-russischen Aufstands und der danach folgenden Repressionen den wohl nachhaltigsten Einfluss auf Limanowskis politisches Denken und sein Schreiben haben sollte.¹⁸ In seinen Schriften stellte er wiederholt die These auf, dass erst die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft die Unabhängigkeit Polens ermögliche und dass diese nur unter Berufung auf die fortschrittlichsten Kräfte der polnischen Gesellschaft realisierbar sei.¹⁹ Über Limanowski schreibt Kazimiera J. Cottam als einen Autor positivistischen und liberalen Denkens:
Vgl. Henryk Wereszycki: Art. Limanowski, Bolesław, in: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 17, Warszawa, Kraków 1972, S. 340 – 346, hier 340 f. Vgl. Bolesław Limanowski: Pamie̜tniki 1835 – 1870, Warszawa 1937. Vgl. Dziewanowski, The Beginnings of Socialism in Poland, S. 526. Vgl. u. a. Bolesław Limanowski: Historja ruchu społecznego w drugiej połowie XVIII stulecia, Lwów 1888; ders.: Patryjotyzm i socyjalizm, Paryż 1888; ders.: Historja ruchu społecznego w XIX stuleciu, Lwów 1890; ders.: Stuletnia walka narodu polskiego o niepodległość, Lwów 1894; ders.: Historya demokracyi polskiej w epoce porozbiorowej, Zurych 1901; ders.: Rozwój przekonań demokratycznych w narodzie polskim (wykłady wygłoszone w sierpniu 1904 r.), Kraków 1906; ders.: Szermierze wolności, Kraków 1911. Vgl. Cottam, Bolesław Limanowski (1835 – 1935), S. 105.
3.1 Bolesław Limanowski (1835 – 1935)
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Limanowski envisioned the nineteenth century in terms of a gradual victory of progress. The two most important factors in producing progress were, in his opinion, industrialization and the rise to prominence of the natural sciences and positivist, liberal thinking.²⁰
Russland und die Ideen der Narodniki nahmen dabei einen ambivalenten, stets aber prominenten Platz in Limanowskis Denken ein.²¹ Interessant für die hier zu beantwortenden Fragen nach Limanowskis Vorstellungen von Östlichkeit und Polonität ist zudem, dass Limanowski in seinen Schriften zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Expansion der frühneuzeitlichen polnischen Adelsrepublik als mögliche Ursache der Teilungen Polens ansah. Die Ansiedlung von Polen als Gutsherren in den neuen polnischen Ostgebieten Litauens und der Ukraine hätte zu einer zunehmenden sozialen Ungleichheit in der lokalen Bevölkerung geführt.²² Ausgerechnet in einer Zeit der hitzigen Deutungskonkurrenz zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zwischen polnischen und russischen Historikern um die Zugehörigkeit der ehemals polnischen Ostprovinzen bereitete Limanowski mit dieser These der Kritik an der Zugehörigkeit der kresy in einem zukünftigen Polen den Boden.²³ Diese Annahme bekräftigte Limanowski übrigens später in der Zwischenkriegszeit, als er die Entfremdung der Ukrainer von der Idee eines föderalen Polens auf die egoistische Politik der Großgrundbesitzer vor den Teilungen Polens zurückführte.²⁴ Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs vertrat Limanowski nicht mehr nur einen Sozialismus polnischer Provenienz, sondern plädierte nun offen für die Idee des auch mit militärischen Mitteln aktiv zu führenden Kampfes um die Unabhängigkeit Polens gegen das Russische Imperium.²⁵ In den Jahren zuvor hatte sich der Historiker in Krakau niedergelassen und sich dem Lager der polnischen Legionäre um Józef Piłsudski angenähert – unter anderem war er unmittelbar vor Kriegsausbruch als Vorsitzender des Polski Skarb Wojskowy (Polnischer Militärfonds) tätig und organisierte Schulungen polnischer Offiziere unter Führung von Józef Piłsudski mit. Limanowskis Bedeutung als moralische Autorität der polnischen Gesellschaft sollte in der Zeit der Unabhängigkeit Polens weiter zunehmen, als er in seiner Position als Abgeordneter der PPS im Senat die autoritären Tendenzen seitens der nationaldemokratischen Opposition und der Regierung wiederholt kritisierte.²⁶ Limanowski zeichnete sich durch eine dezidiert anti-sowje
Ebd., S. 106. Vgl. Dziewanowski, The Beginnings of Socialism in Poland, S. 526. Vgl. Cottam, Bolesław Limanowski (1835 – 1935), S. 107. Vgl. dazu Stobiecki, National History and Imperial History. Vgl. Cottam, Bolesław Limanowski (1835 – 1935), S. 109. Vgl. Wereszycki, Art, S. 343. Vgl. ebd., S. 345.
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tische Haltung in der Zwischenkriegszeit aus. Das sowjetische Russland beschrieb er in einer Broschüre Der bolschewistische Staat im Lichte der Forschung als ein zentralistisches, an die russische Autokratie erinnerndes Imperium mit einer zunehmend militaristischen Tendenz. Interessant ist in Limanowskis Skizzen die Beschreibung Sowjetrusslands als rückwärtsgewandtes Regime in der Nachfolge des Russischen Imperiums: They did create a strong government with an iron arm, equaling in despotism the old Asiatic rulers, stronger than the former Tsarist government, and eclipsing even the rule of Ivan the Terrible in its terror and cruelty. […] The Bolshevik state, as clearing the way for a new socialist system, has no future before it. Either a peasant republic, resembling the old communes of Novgorod and Pskov, will arise from its ruins (that would be the best result), or, a more likely possibility, this state will turn into a menacing and expansive military tsardom.²⁷
Trotz der deutlich anti-sowjetischen Rhetorik kommen im Zitat interessanterweise zwei Zukunftsszenarien für Russland zum Ausdruck, die sich auch in Limanowskis ambivalenten autobiographischen Beschreibungen des Russischen Imperiums wiederfinden lassen – das in der polnischen Intelligenz dominierende Bild Russlands als Expansionsmacht und das von ihm skizzierte und nach Westen ausgerichtete Modell eines an die mittelalterlichen Republiken Novgorod und Pskov gemahnenden russischen republikanischen und föderalen Staates.²⁸ In der Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs begann Limanowski in Krakau damit, seine autobiographischen Schriften zu sortieren und zusammenzufassen. 1917 trat dann das Verlagshaus des parteiübergreifenden Krakauer Naczelny Komitet Narodowy (NKN, Oberstes Nationales Komitee) mit der Bitte an Limanowski heran, sein Lebenswerk und seine Schriften in einer Autobiographie zu versammeln und zu verschriftlichen.²⁹ Unter den in dieser Studie zu behandelnden autobiographischen Schriften ist Limanowskis Autobiographie denn auch hinsichtlich ihres Entstehungszeitraums die früheste autobiographische
Bolesław Limanowski, zit. in: Bogdan Szlachta: Bolesław Limanowski (1835 – 1935), in: Polish Perspectives on Communism. An Anthology, hg. von dems., Lanham, Md. 2000, S. 70 – 72, hier S. 72. Die Broschüre erschien 1921, vgl. Bolesław Limanowski: Bolszewickie państwo w świetle nauki, Warszawa 1921. In seiner Autobiographie verweist Limanowski auf den Urheber der Idee den polnischen Romantiker Juliusz Słowacki, vgl. Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 184. Vgl. Adam Próchnik: Przedmowa, in: ebd., S. 7– 15, hier 10. Das 1914 nach Kriegsausbruch in Krakau gegründete NKN war eine überparteiliche Vereinigung von Repräsentantinnen und Repräsentanten demokratischer und konservativer polnischer Kräfte, die sich für die Unabhängigkeit Polens engagierten. Das Verlagshaus diente der Veröffentlichung von historisch und politisch relevanten Schriften, vgl. Leon Wasilewski, Wierzchowski (Hg.): Wydawnictwa Naczelnego Komitetu Narodowego 1914– 1917. Spis Bibliograficzny, Kraków 1917.
3.1 Bolesław Limanowski (1835 – 1935)
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Abhandlung. Die Einberufung der Warschauer Rada Regencyjna (Regentschaftsrat) 1917 und die darauffolgende Auflösung des NKN führten letztlich zur Insolvenz des Verlagshauses nach Kriegsende. Dies hatte zur Folge, dass Limanowskis autobiographische Schriften zur russischen Periode nicht mehr zu dessen Lebzeiten verlegt wurden, sondern erst zwei Jahre nach dessen Tod 1937 von Rój (Schwarm), einem der größten Verlage in Zwischenkriegspolen, neu entdeckt und veröffentlicht wurden.³⁰ Zur Veröffentlichung weiterer Teile der Memoiren kam es aufgrund des Kriegsausbruchs 1939 nicht mehr. Diese sollten erst im Zuge des einsetzenden Tauwetters und der damit einhergehenden Öffnung der staatlichen Geschichtspolitik für eine Teilrevision des offiziellen Geschichtsbildes zur PPS gegen Ende der fünfziger Jahre im kommunistischen Polen erscheinen und widmeten sich Limanowskis Leben im Exil und in Galizien vor und im Ersten Weltkrieg sowie im unabhängigen Polen in der Zwischenkriegszeit.³¹ In Henryk Wereszyckis Artikel zu Limanowski im Polski Słownik Biograficzny (Polnisches Biographisches Wörterbuch) findet sich der Hinweis, dass dieser bereits 1912 mit dem Schreiben seiner Memoiren begonnen hatte.³² Nach Ende des Ersten Weltkriegs reiste Limanowski zweimal, 1921, wo er etliche seiner Korrespondenzen aus der Teilungszeit vorfand, und 1925 in das heimatliche Podgórz, das nach dem Friedensschluss zwischen Lettland und Sowjetrussland 1920 an Lettland gefallen war.³³ Vermutlich ergänzte und beendete Limanowski in dieser Zeit die Memoiren seiner russischen Periode, in einer Phase kurz nach Ende des Polnisch-Sowjetischen Kriegs also, in der die Existenzgrundlage des polnischen Staats keineswegs als gesichert gelten konnte.³⁴
Vgl. Limanowski, Pamie̜tniki 1835 – 1870. Vgl. Bolesław Limanowski: Pamiętniki (1870 – 1907), Warszawa 1958; ders.: Pamiętniki (1907– 1919), Warszawa 1961; ders.: Pamiętniki (1919 – 1928), Warszawa 1973. Zum Umgang mit der PPS seitens der marxistischen Historiographie vgl. Zbigniew Romek: Cenzura a nauka historyczna w Polsce 1944– 1970, Warszawa 2010, S. 246; Maciej Górny: „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“. Nation, Marxismus und Geschichte im Ostblock, Köln 2011, S. 387. Vgl. Wereszycki, Art, S. 343. Im Polski Słownik Biograficzny findet sich fälschlicherweise der Eintrag, dass Limanowski 1921 letztmalig nach Podgórz reiste, wohingegen in seinen Memoiren Bilder von Podgórz und dem benachbarten Indryca zu finden sind, die auf 1925 datiert wurden, vgl. ebd., S. 344; Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 24, 40. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 124.
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Zur Narration: Erzählung eines Repolonisierten Bei Limanowskis Memoiren handelt es sich um eine der frühesten autobiographischen Abhandlungen eines Vertreters der polnischen Intelligenz nach dem Zerfall des Russischen Imperiums. Mit ihr unternimmt Limanowski explizit den Versuch einer Historisierung nicht nur seines eigenen Handelns und Denkens: Indem er den Memoiren einen soziologischen Charakter verleiht, verpflichtet sich der Schreibende nicht dazu, vor dem Leser alle Unklarheiten und Fehler des eigenen Lebens darzulegen. Die eigene Person rückt in den Hintergrund. Umso wichtiger, mehr noch: allein von Bedeutung ist die genaue und gründliche Präsentation aller Phänomene des sozialen Lebens – insofern dies möglich ist –, mit denen das Schicksal des Memoirenschreibers in seinen heimischen, privaten und öffentlichen Beziehungen in Berührung kommt.³⁵
Seine Lebensgeschichte soll vielmehr stellvertretend für diejenigen stehen, die sich der Herrschaft der Teilungsmächte widersetzten, als an ein Ende der Teilung Polens noch nicht zu denken war. Seine vierbändige Autobiographie ist denn auch als Beitrag zum Diskurs um die Frage der polnischen Staatswerdung und der in ihr beteiligten Akteure zu verstehen.³⁶ Denn Limanowski führt am Beginn seiner Memoiren aus, dass für ihn das Schreiben von Memoiren einerseits einen „wichtigen Nutzen für die zukünftigen Generationen“ haben müsse und nicht nur dazu dienen könne, die Leserschaft mit Details zu erheitern.³⁷ Dabei müsse sich der Autobiograph des Mittels einer inneren emotionalen Distanzierung vom Erlebten bedienen, um so eine möglichst gültige Sicht auf die Dinge zu vermitteln – hier nennt Limanowski das autobiographische Schreiben von Jean-Jacques Rousseau (1712– 1778) als Vorbild.³⁸ Hinter Limanowskis Aussagen verbirgt sich ein Verständnis des autobiographischen Schreibens, das sich als autobiographischer Realismus bezeichnen lässt und sich auf die Prinzipien der polnischen Positivisten beruft, die Werte wie (Selbst‐)Bildung, Rationalität und Modernitätsglaube den als traditionalistisch und chauvinistisch wahrgenommenen Repräsentanten des begüterten polnischen Landadels und Großgrundbesitzes entgegenstellen wollten.³⁹ Limanowski stellte nicht zuletzt aufgrund seines Alters
Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 18. Vgl. zu den Konkurrenzen nationaler Narrative und deren imperialem Erbe in Mittel- und Osteuropa nach 1918 Hadler, Mesenhöller, Repräsentationen imperialer Erfahrung in Ostmitteleuropa. Desweiteren vgl. auch Barkey, Thinking about Consequences of Empire. Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 18. Vgl. ebd. Vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 46.
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und seiner publizistischen Tätigkeiten ein Bindeglied zwischen den intellektuellen Generationen der Positivisten und der Unbeugsamen dar. Dabei verneint er die Subjektivität autobiographischen Schreibens keineswegs. Die Wahrheit autobiographischen Schreibens kann der Schreibende, also Limanowski selbst, jedoch dann für sich in Anspruch nehmen, wenn er sie mit einem moralischen Prinzip oder einem Sinn versieht⁴⁰ – in Limanowskis Fall ist dies die Bemühung, die soziale Realität des Polens der Teilungszeit in der Überzeugung von der Wissenschaftlichkeit der eigenen Beobachtungen nachzuzeichnen: „Ich wähle die zweite Art des Memoirenschreibens, das vielmehr meinem Charakter entspricht und eher im Einklang mit jener Wissenschaft ist, die in meiner geistigen Entwicklung einen führenden Platz einnahm.“⁴¹ Wie wirkt sich dieses Motiv auf die Erzählstruktur der Autobiographie aus? Limanowskis Erzählprinzip des autobiographischen Realismus manifestiert sich einmal in der Gliederung der Erzählung, die streng chronologisch aufgebaut ist, wobei jedes Kapitel für eine bestimmte Lebensphase steht, deren Zeitraum wiederum mit Jahreszahlen abgesteckt wird. So entsteht der Eindruck einer umfassenden und lückenlosen Lebenserzählung, die sich auch im Umfang der Autobiographie niederschlägt – immerhin wird diese in vier Bänden auf insgesamt etwa 2.500 Seiten verhandelt. Obwohl der eigenen Vita chronologisch folgend, setzt Limanowskis Lebenserzählung nicht mit der eigenen Geburt ein, sondern beginnt mit einer kurzen biographischen Beschreibung des Vaters. Diese dient der familiengeschichtlichen Einordnung der Biographie des Autors und der Verortung dieser in einer überlebenszeitlichen Geschichte. Hier erfährt man, dass Limanowski aus einer polnischen Landadeligenfamilie stammte und der Vater Wincenty als Offizier in der russischen Armee und später als Richter in der Lokaladministration in Dünaburg gedient hatte, ebenso, dass dessen Bruder Antoni – wie Limanowskis Vater ebenfalls im russischen militärischen Dienst tätig gewesen – die Tochter eines russischen Generals geheiratet und somit „den Beginn des Astes eines russischen Geschlechts der Limanowskis markiert hatte.“⁴² Somit verbrieft der Autor die umfangreichen russisch-polnischen Verflechtungen auch in der eigenen Familienbiographie. Gleich darauf schreibt der Autor, dass die Nachfahren der beiden Familien, nämlich Limanowskis Brüder und ihr Schwager 1861 in Vologda in Russland einander treffen sollten – die Gebrüder als Verbannte nach dem Aufstand von 1863, der Sohn wiederum als russischer wachhabender Offizier. Li-
Vgl. Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung, S. 6. Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 18. Ebd., S. 20.
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manowski betont also von Beginn seiner Erzählung an das verflochtene und zugleich höchst asymmetrische polnisch-russische Verhältnis. Die Erinnerung an die Kindheit zeichnet Limanowski in nostalgischen Tönen. Die ersten sechs Jahre verbringt er bei der Großmutter (mütterlicherseits) in Jassy und Druja, erwähnt wird zudem die eigene Taufe. Die Kindheit in Podgórz beschreibt Limanowski mit folgenden Worten: Podgórz, das sich durch meinen Aufenthalt dort in jenen jungen, hoffnungsvollen Jahren ins Gedächtnis eingeprägt hat, zeichnet sich vor meinen Augen in strahlendem, gleißendem Licht ab. Das, was schlecht war und schädlich, fiel in einen Schleier des Vergessens, und aus der Tiefe der Vergangenheit erheben sich schöne Bilder, die Herzklopfen und Wehmütigkeit erwecken. Was für ein schönes Plätzchen Heimat.⁴³
Die im Zitat angedeutete Idylle, die Limanowski auf den dann folgenden Seiten von seiner Kindheit zeichnet – dazu gehört unter anderem auch die Beschreibung weit verbreiteter Religiösität bei orthodoxen, unierten, katholischen und jüdischen Gläubigen, sowie in der eigenen Familie – ist eine Idylle kindlicher Freiheit, gefolgt von ausführlichen Beschreibungen der anzutreffenden Naturlandschaft und vom Garten in Podgórz, und ähnelt in vielerlei Hinsicht späteren Beschreibungen in der sogenannten kresy-Literatur als polnisches Arkadien.⁴⁴ Im Unterschied zu diesen aber kann das Zitat zeigen, dass sich Limanowski seinen Kindheitserinnerungen durchaus aus einer historischen Perspektive des Vergangen- und Verlorenseins nähert, indem er den Akt des Erinnerns benennt und die sozialen Unterschiede und Konflikte unter den Bediensteten am Hof benennt.⁴⁵ Dabei folgt die Zeichnung der Idylle einer narrativen Funktion. Limanowskis Idyll-Narrativ ebnet den Grund seiner anschließenden Lebensbeschreibung und korrespondiert auf drastische Weise mit den folgenden Phasen der Sozialisation in Moskau nach dem Tod des Vaters 1847, die von der Mutter und ganz im Sinne des verstorbenen Vaters den Kindern aufgezwungen worden war, sowie in Dorpat und später in der Verbannung in Archangelsk. Seine Entsendung nach Moskau im Alter von zwölf Jahren nach dem Tod des Vaters durch die Mutter und gemeinsam
Ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 22 f. Zur Mythisierung der kresy als polnisches Arkadien am Beispiel der Ukraine vgl. Beauvois, Trójkat̜ ukraiński, S. 11. Das Thema der Leibeigenschaft verortet Limanowski auch autobiographisch und sieht diesbezüglich die eigene Kindheit als prägend an: „Das war noch keine klare, bewusste Überzeugung – diese erlangte ich ebenfalls früh, nämlich in den höheren Klassen am Gymnasium – aber es war ein lebhaftes, gefühltes Zeichen der Rebellion gegen den harten Umgang mit den Leibeigenen.“ Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 47.
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mit seinem älteren Bruder Anicety erinnert Limanowski denn auch mit folgenden Worten: Ich konnte nicht voraussehen, dass acht Jahre vergehen sollten, bis ich die heimatlichen Gefilde wiedersehen würde, und dass sie [die acht Jahre, M.-B.] in mir die Leere füllen würden, in welche ich geraten sollte. Und es ist seltsam, wie leichtfertig man ein polnisches Kind in das ferne Moskau sendete, um es dort auszubilden. […] Es ist möglich, dass hinsichtlich der Schulbildung die Gymnasien in Moskau höher standen als das Dünaburger Gymnasium, aber in ihnen drohte die Entnationalisierung [wynarodowienie]. […] Warum also hat Anicety, der umsichtig war und die nationale Aufgabe besser begriff, sich nicht dagegen aufgelehnt? Sicher hätte er das getan, wenn er vorausgesehen hätte, wie viele bittere Demütigungen ich würde erleiden müssen; dass ich, wenn man mich fragte, wo ich zur Schule gegangen sei, ungern und ausweichend geantwortet hatte, dass ich die Schule in Moskau beendet hatte, unter den Moskovitern. Und dieser Unwille, mit dem ich auf die Frage nach den Schulen geantwortet hatte, war absolut ungerechtfertigt. Stattdessen musste ich viele Male anhören, dass man diejenigen der Begünstigung Moskaus und dem Dienen seiner Interessen verdächtigte, die ihre fortschrittlichen und kühnen Gedanken laut aussprachen. Häufig offenbarten sich meinem Gewissen Zweifel, ob diese kühnen Gedanken nicht dem fremden Einfluss geschuldet waren, der angesichts der Unterdrückung Polens durch seine Feinde schädlich für die Nation war.⁴⁶
Das umfangreiche Zitat markiert das Ende des Kapitels zum Elternhaus und zur Kindheit und nimmt sogleich Limanowskis Interpretation der folgenden Sozialisationsphase in Moskau vorweg. In ihm enthüllt sich zum wiederholten Male der Vorwurf an die Eltern, die nationalen Interessen den eigenen Interessen untergeordnet zu haben und somit die Zugehörigkeit ihrer Kinder zur polnischen Nation in der Zeit polnischer Staatenlosigkeit riskiert zu haben. Im Zitat wird zudem die Frage des nationalen Verrats thematisiert, die mit dem Gefühl der Scham ob der Sozialisation im feindlich gesinnten Russischen Imperium verbunden ist. Der Absatz offenbart somit Limanowskis Selbstverständnis als Repräsentant der polnischen Intelligenz. Mit dem Verweis auf die eigene Entnationalisierung und auf „die kühnen und fortschrittlichen Gedanken“ spannt Limanowski einen Bogen von der persönlichen Erfahrung der imperialen Unterdrückung hin zur zentralen Idee der Intelligenz – der Bewahrung nationaler Werte wie Sprache, Literatur, Kultur und der Entwicklung einer nationalen Gesellschaftsvision. In ihr beschreibt der Erzähler eine Geschichte der Entfremdung des Autors von der polnischen Gesellschaft und des fast vollständigen Verlusts der Polonität in Moskau, von der Wiedererweckung derselben während der Studienzeit in Moskau
Ebd., S. 51 f.
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und Dorpat sowie von ihrer Wiedererlangung in der Zeit der Verbannung in Archangelsk und Smolensk. Verweise auf Limanowskis Entfremdung von der polnischen Nationalität finden sich etwa in den Abschnitten zu seiner frühen Moskauer Zeit: [V]ier Jahre lang lebte ich ausschließlich in russischer Umgebung. Ich besuchte Sawicki [Limanowskis Stiefvater, M.-B.] von Zeit zu Zeit, für gewöhnlich aber ließ ich ihn in Ruhe und hielt mich, wenn, dann nur kurz bei ihm auf. Polnische Bücher rührte ich nicht an.⁴⁷
In den gleichen Abschnitten finden sich distanziert-kritische Beschreibungen polnischer Exilierter in Moskau.⁴⁸ Der Wiederentdeckung der eigenen Polonität und des Interesses an polnischer Literatur in den folgenden Jahren widmet sich dann das Kapitel zu Limanowskis Studium in Moskau und seinen ersten Sommerreisen zur Mutter in die inflanty – diese hätten, so Limanowski, zur Wiederentdeckung seiner Nationalität geführt. Vom Gespräch mit einem polnischen Freund dort berichtet Limanowski: Er scherzte über meine Sympathien, und meinte, dass ich mich in Moskau noch völlig moskauisieren würde [w Moskwie zupełnie zmoskwiczeję]. Ich muss zugeben, dass der Aufenthalt in der Heimat unter Berücksichtigung des Nationalen einen positiven Einfluss hatte.⁴⁹
Der Umzug von Moskau nach Dorpat 1858 stellt für Limanowskis Repolonisierung demnach eine wichtige Zäsur dar. Zum Ende des Kapitels zu Moskau kommentiert der Autor seine Entscheidung zum Umzug nach Dorpat folgendermaßen: [D]er wahre Beweggrund war der Wille, mit jener Vergangenheit zu brechen, die mich mit den russischen Einflüssen verband, der Wille, den russischen Einflüssen zu entweichen und – so kann man sagen – sich völlig zu entmoskauisieren [odmoskalenia się zupełnego] und ein neues polnisches Leben in der Gänze seines Bewusstseins zu beginnen.⁵⁰
Indem Limanowski mit den Kategorien des wynarodowienie und des odmoskalenie się die eigene russisch-imperiale Erfahrung vermisst und definiert, bedient er sich einer Rhetorik des polnischen nationalen Denkens, die bis in das späte 17. Jahrhundert zurückreicht und eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Schriften der polnischen Intelligenz zur Ausprägung kam. Aleksan-
Ebd., S. 89, vgl. ebenfalls S. 78. Vgl. ebd., S. 70, 78 Ebd., S. 117. Ebd., S. 158.
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dra Niewiara hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff des Moskal (Moskoviter) erstmals gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Reiseberichten auftauchte, und dass sich hinter diesem ein emotional aufgeladenes, pejoratives Bild verbarg, das auf das Moskauer Fürstentum referierte. Die Begrifflichkeit diente ihr zufolge dazu, Russen als Angehörige eines althergebrachten, überkommenen und territorial begrenzten Herrschaftsverbands zu charakterisieren und demgegenüber das historische und kulturelle Übergewicht der polnischen Seite in der Gegnerschaft mit Moskau zu betonen.⁵¹ Indem Limanowski im nationalen Kontext der Zwischenkriegszeit auf diese Vorstellung rekurriert, entwirft er eine post-koloniale Lebenserzählung, die insofern die eigene russisch-imperiale Erfahrung als Kolonisierungserfahrung thematisiert, als diese von Limanowski selbst in der autobiographischen Erzählung überwunden wird.
Russland – Feind oder Inbegriff der Hoffnung auf ein freies Polen? Welche Folgen Limanowskis autobiographische Narration für die Darstellung Russlands hat, wurde bereits angedeutet. Für den Autor stellt das imperiale Russland östlich der Gebiete der frühneuzeitlichen Rzeczpospolita zunächst Feindesland dar. Aber allein darauf lässt sich Limanowskis Darstellung der russisch-imperialen Wirklichkeit, wie zu zeigen sein wird, nicht reduzieren. Die Erfahrung des imperialen Russlands in Zentrum und Peripherie nimmt in seinen Memoiren eine herausragende Stellung ein, was nicht zuletzt dadurch deutlich wird, dass sich nahezu der gesamte erste Band von Limanowskis vierbändigen Memoiren seiner Jugendzeit und seiner Sozialisation in den Westprovinzen des Russischen Imperiums sowie im Inneren des Reiches widmet. Die frühe russische Erfahrung verkommt dabei zum biographischen Makel. An dieser Stelle sei nochmal an Limanowskis Bewertung über die Schulzeit in Moskau und seine Scham über seine Entsendung durch die eigenen Eltern ins imperiale, Polen feindlich gesinnte Zentrum erinnert.⁵² Im Anschluss an jenes Zitat klingt erste Kritik an denjenigen Stimmen der polnischen Gesellschaft an, vor denen sich Limanowski für seine russische Erfahrung rechtfertigen zu müssen glaubt, wenn der Autor die vorschnelle Beurteilung von Gesprächspartnerinnen und -partnern über Limanowskis Periode in Russland kritisiert: Stattdessen musste ich viele Male anhören, dass man diejenigen der Begünstigung Moskaus und dem Dienen seiner Interessen verdächtigte, die ihre fortschrittlichen und kühnen Ge-
Vgl. Niewiara, Moskwicin-Moskal-Rosjanin w dokumentach prywatnych, S. 33. Vgl. Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 51 f.
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danken laut aussprachen. Häufig offenbarten sich meinem Gewissen Zweifel, ob diese kühnen Gedanken nicht dem fremden Einfluss geschuldet waren, der angesichts der Unterdrückung durch seine Feinde schädlich für die Nation war.⁵³
Mit der Formulierung von den „fortschrittlichen und kühnen Gedanken“ und der Frage nach dem „fremden Einfluss“, ihrer russischen Herkunft also formuliert Limanowski erstmals in seinen Memoiren ein vorsichtiges Plädoyer für eine linksgerichtete polnische Intelligenz, die mit den Ideen der russischen revolutionären Bewegung in Berührung gekommen war und diese in ihre Visionen von der Unabhängigkeit Polens zu übersetzen suchte.⁵⁴ Für die weitere autobiographische Darstellung der russisch-imperialen Erfahrung ist diese Feststellung von weitreichender Bedeutung. In ihr unterscheidet Limanowski zwischen einer liberalen, progressiven und zukunftsorientierten russischen Gesellschaft sowie ihren pro-westlich gesinnten Vertreterinnen und Vertretern der Intelligenz auf der einen Seite und einem despotischen, militarisierten und rückwärtsgewandten Staat auf der anderen. Deutlich wird dies etwa anhand der Beschreibung von russischen Bekannten oder Mitschülern wie Popov, den Limanowski als wohlerzogen, gebildet und wissensdurstig⁵⁵ beschreibt, oder den beiden Klassenkameraden Medvedev und Nikitin: Das waren Freidenker, sie schienen Vorfahren der späteren Nihilisten zu sein. […] Besonders mit Medvedev verband mich mehr als nur kollegiale Freundschaft, uns verbanden gemeinsame Wünsche und Ziele. […] Wir hassten beide den Despotismus und die Tyrannen, die Gewalt und die Brutalität.⁵⁶
Limanowskis differenzierende Bewertung zwischen russischer Gesellschaft und russischem Staat wird dabei zunehmend vom Spagat des eigenen Selbstverständnisses begleitet, wie an folgendem Zitat zum Krimkrieg ersichtlich wird: Irgendwie verblieb ich in der russischen Umgebung und lebte mit ihr, aber ich fühlte mit Russland überhaupt nicht mit. Noch weniger Sympathien empfand ich für die Türkei. Umso stärker beeinflussten mich die Beiträge der russischen Journale, die sich für die Befreiung der Slaven aussprachen.⁵⁷
Ebd. Ebd., S. 52. Vgl. dazu auch Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 81– 83. „Es war dies ein Junge so sensibel im Umgang, so vornehm distinguiert, nachdenklich und belesen.“ Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 95. Ebd., S. 95 f. Zur positiven Darstellung von Russen bei Limanowski vgl. auch die Beschreibung der Familie Syrejščikov, bei der Limanowski als Hauslehrer arbeitete, ebd., S. 86 f. Ebd., S. 99.
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Im Zitat wird Limanowskis Trennung zwischen der guten russischen Gesellschaft und dem feindlichen russischen Staat sichtbar. Während erstere durchaus Limanowskis Sympathien erhält, identifiziert sich Limanowski umso weniger mit dem Staat. Interessant ist hier auch die Erwähnung der für ihn zunehmend relevant werdenden russischen Schriften, die ihn auch ideell beeinflussten, wie etwa der Verweis auf die Idee einer freien slavischen Welt. Limanowski bezieht sich dabei wohl nicht auf die Ideen russischer Slavophiler, sondern auf die Denkrichtung liberaler und aufgeklärter Denker wie Michail Bakunin (1814– 1876), die sich infolge der europäischen Revolutionen von 1848 und 1849 für die Befreiung der slavischen Nationen, darunter auch der Polen und der Tschechen aussprachen.⁵⁸ Auch für die Zeit seines Studiums in Moskau berichtet Limanowski von der zunehmenden Identifikation mit den Ideen russischer Intellektueller wie Aleksandr Gercen (1812 – 1870) und Nikolaj Dobroljubov (1836 – 1861).⁵⁹ Auffällig ist der starke Kontrast in Limanowskis Beschreibungen des Russischen im inneren Russland und in der westlichen Peripherie. Während Limanowskis Beschreibungen russischen Lebens in Moskau keinerlei Kultur- oder Zivilisationsgefälle aufweisen, Limanowski häufig sogar den hohen Bildungsgrad und den Habitus seiner russischen Mitmenschen positiv erwähnt, haftet den Beschreibungen russischer Soldaten in der heimatlichen Provinz etwas Abfälliges an. Von einer seiner Reisen ins heimatliche Baltikum schreibt der Autor: Auf dem weiteren Weg trafen wir Abteilungen russischer Soldaten an, die zu den Armeereihen hinzustoßen wollten. Unsere Fuhrmänner, Belarussen, sprachen abfällig über deren Barbarentum. Weniger regten sie sich darüber auf, dass die Moskoviter stahlen, was immer man stehlen konnte, als vielmehr darüber, dass sie die Störche schossen und ihr Fleisch aßen. – ‚Aber das sind doch Störche‘, riefen die Belarussen ihnen mit Erstaunen zu. ‚Alles einerlei‘, – antworteten die Moskoviter. ‚Storch oder nicht Storch, das ist alles Fleisch.‘⁶⁰
Eine ähnliche Spannung findet sich in Limanowskis Skizzen über den russischen Zaren Nikolaus I. und seinen Nachfolger Alexander II. Trotz Limanowskis Gegnerschaft zur russischen Monarchie äußert er sich fast lobend zur Regentschaft des letzteren:
Vgl. dazu u. a. Hans-Jürgen Bömelburg: Der Revolutions- und Aufstandsdiskurs in Polen (1789 – 1870). Ein politischer Richtungsbegriff zwischen nationaler und gesellschaftlicher Emanzipation, in: Revolution in Nordosteuropa, hg. von Detlef Henning, Wiesbaden 2011, S. 39 – 64; Zdeněk V. David: Frič, Herzen and Bakunin: The Clash of Two Political Cultures, in: East European Politics and Societies 12, H. 1, 1997, S. 1– 30. Vgl. Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 133. Ebd., S. 110.
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Ich kannte ihn [Nikolaus I., M.-B.] nur vom Portrait, aber ich hasste ihn aus ganzem Herzen. Ich hasste ihn für die an unserer Nation verübten Gräueltaten; für den Despotismus, mit dem er menschliche Ideen und Empfindungen unterdrückte. Sein Tod wurde fast überall in Moskau wie eine Art Befreiung von einem Alpdruck empfunden, der auf der Brust gelastet hatte […]. Über den neuen Zar [Alexander II., M.-B.] sprach man gut, man pries seinen Liberalismus. Er besuchte auch die Universität und seinerzeit betrachtete ich ihn ausgiebig, als er auf den Stufen vom Stockwerk nach unten schritt. Er sah prächtig aus, wie ein gut gebauter und schöner Mann. In Moskau erreichte er das Wohlwollen der Schichten der Intelligenz.⁶¹
Die offene Begeisterung des Autors für Alexander II. als liberalen Herrscher wird später von seiner pro-französischen Haltung flankiert, die sich unter anderem in der Bewunderung der Biographien Napoleon Bonapartes (1769 – 1821) und Napoleons III. (1803 – 1873) abbildet.⁶² Limanowskis ambivalente Haltung zum imperialen Russland, die zwischen Bewunderung und Ablehnung schwankt, kommt ebenfalls in seinen Beschreibungen zur russisch-orthodoxen Geistlichkeit zum Ausdruck, die er in all seinen Beschreibungen verurteilt – etwa, wenn er von einem Besuch im Dreifaltigkeitskloster bei Moskau berichtet, den orthodoxen Priestern dort Prostitution vorwirft und sich kritisch über den Reichtum der Russisch-Orthodoxen Kirche und ihre Nähe zum russischen Staat äußert⁶³. Auch in Limanowskis späteren Beschreibungen über die Zeit der Verbannung äußert er sich über die Russisch-Orthodoxe Kirche und deren Repräsentanten vor Ort als korrupt, närrisch und betrügerisch.⁶⁴ Kontrastiert werden die Darstellungen russischer Geistlichkeit wiederum von Beschreibungen russischer Altgläubiger, mit deren Schicksalen als Verfolgte seitens der Staatskirche und der Lokalverwaltungen er sich identifiziert.⁶⁵ Hier bildet sich das Bild von einer unterdrückten Reichsgesellschaft durch einen despotischen Staat besonders deutlich ab. Plastisch wird dieses auch durch eine sprachliche Unterscheidung beider Sphären, die Limanowski in seiner Biographie konsequent vornimmt. Der russische Staat, das Regime, die Verwaltung oder das Militär werden von ihm stets als moskiewskie (moskauisch), deren Repräsentanten als Moskale (Moskoviter) bezeichnet – dahinter verbergen sich in den einzelnen Zitaten Wertungen Russlands als despotisch und barbarisch, als autokratisch und militaristisch.⁶⁶ Mit dieser Beschreibung der staatlichen Sphäre geht noch ein weiterer, für die polnische zeitgenössische Rezeption wichtigerer Zweck einer solchen Darstellung
Ebd., S. 108. Vgl. ebd., S. 99. Ebd., S. 101. Vgl. etwa die Beschreibung des Geistlichen Sitnikov als „sittenlos“ (ebd., S. 329). Vgl. ebd., S. 370 f. Vgl. u. a. ebd., S. 38, 52, 110, 158, 208, 389, 453.
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einher: indem Limanowski auf den ursprünglichen Kern des Reiches, auf das Moskauer Fürstentum, verweist, benennt er die expansiven Strukturen russischer Fremdherrschaft über die nichtrussische Bevölkerung an den Reichsperipherien. Mit der Erinnerung an die Ursprünge russisch-imperialer Herrschaft reduziert Limanowski das Russische Imperium auf den Charakter eines ausschließlich auf Ausdehnung und Eroberung ausgerichteten Staatsgebildes. Wiederholt betont er dabei den russifizierenden Charakter imperialer Herrschaft, wie etwa folgendes Zitat aus der Autobiographie – wiederum ein Auszug aus einem Brief von Limanowski an die polnisch-katholische Gemeinde zur Zeit seiner Verbannung in Archangelsk – zeigt: Das Moskauer Zarentum, so schrieb ich, ziele auf die Moskauisierung der Polen. […] Das Zarentum wolle uns moskauisieren, also sollten wir Russland polonisieren [spolszczyć Rosję]. Wir sollten überall offen als Polen auftreten und ein Beispiel geben, wie anständige und freie Menschen sein sollten. Es sei notwendig, dass die Russen die Polen rühmten. Daher sollten wir uns nicht nur um die Bewahrung der eigenen Sprache sorgen, sondern auch um ihre Verbreitung. Vor allem aber sollte unsere Aufgabe sein, ein Freiheitsstreben und die Gefühle des Hasses gegen den Despotismus zu entfachen. Auf dass wir die russischen Revolutionäre ermunterten und unterstützten.⁶⁷
Das Zitat macht einmal mehr Limanowskis ablehnende Haltung zum russischen Herrschaftsregime deutlich. Darauf beschränkt sich Limanowski jedoch nicht und er ruft vielmehr zur Solidarität der in Russland lebenden Polen mit den russischen Revolutionären auf. In der Formulierung der Polonisierung Russlands, der These von der Kulturalisierung der russischen Bevölkerung, verbirgt sich wiederum ein zivilisatorisch gefärbter und in den Ideen der Aufklärung wurzelnder Missionsgedanke einer europäischen, d. h., demokratischen Werteerziehung, den bereits die polnischen Romantiker übernahmen und der sich in der polnischen Literatur zu Russland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts finden lässt. Ebenjener letzter Satz im Auszug, in dem Limanowski zur Solidiarisierung der polnischen Einwohnerschaft mit der russischen Revolutionsbewegung aufruft, verdeutlicht einmal mehr das erzählerische Spannungsfeld von biographischer Erfahrung und nationaler Erzählung, in welchem sich der Autor, der sich sichtbar mit den Gesellschaftsentwürfen der russischen revolutionären Bewegung identifizierte, zur Zeit seines autobiographischen Schreibens in der frühen Zwischenkriegszeit bewegt. Überreste einer Verflechtungsgeschichte zwischen polnischer und russischer Intelligenz werden an diesem Beispiel deutlich sichtbar. Bezüglich der Betrachtung des russisch-imperialen Herrschaftsregimes jedoch liefert der Autor mit seinen Memoiren der polnischen Leserschaft der frühen Ebd., S. 389 f.
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Zwischenkriegszeit mit seiner Erzählung vom moskovitischen Russland ein Bild, dass sich – folgt man Rafał Stobiecki in seiner Einschätzung zur polnischen Russland-Historiographie der Zwischenkriegszeit – nahezu nahtlos in das nationale master narrative vom Russischen Imperium als autokratisch, fremd und verhasst einfügt. Stobiecki schreibt: Polish historical thought on the verge of independence depicted Russia as the synonym for a foreign civilization, the hated samodzerżavie regime [Hervorhebung im Original, M.-B.], commonly associated with a policy of Russification, and this image of the empire was effectively communicated by an idolization of certain characters that gained symbolic status. […] In this historical setting there was no place for a Polish-Russian compromise, or even for comprehension of at least part of the motives behind the behavior of the eastern neighbor. An anti-Russian attitude became a virtue and was treated as an inseparable component of patriotism. During the period of Second Republic (1918 – 1939) this purely negative representation of Russian history changed little.⁶⁸
Stobiecki zufolge prägten zwei Elemente die Russlanddarstellung im polnischen Diskurs der Zwischenkriegszeit: die Betonung autokratischer, die nicht-russischen Nationen des Reiches unterwerfende Fremdherrschaft und eine historischzivilisatorische begründbare Inkompatibilität Polens und Russlands. Mit Limanowskis autobiographischem Russlandbild lässt sich Stobieckis These vom vorherrschenden anti-russischen Konsens in der Zwischenkriegszeit durchaus untermauern. In ihnen kristallisiert sich das Thema der Russifizierung und ihrer polnischen Antwort, der Rückbesinnung auf das Nationale und die Stärkung desselben heraus, wie etwa in folgender Äußerung des Autors zur Aneignung der polnischen Sprache ersichtlich wird: Der langjährige Aufenthalt in Moskau hatte seine Wirkung und ich musste lange arbeiten, um die Moskauer Wendungen loszuwerden und den eigenen Stil von den peinlichen Fesseln zu befreien.⁶⁹
Für Stobieckis Annahme von der russisch-polnischen Inkompatibilitätsthese in der polnischen Öffentlichkeit finden sich indes bei Limanowski weit weniger Anhaltspunkte. Vielmehr weisen Limanowskis Darstellungen der russischen Gesellschaft an vielen Stellen der Memoiren Spuren einer differenzierten und modernitätsgläubigen Darstellung auf, die sich nur mit Mühe in das von Stobiecki beschriebene in Zwischenkriegspolen etablierte Russlandbild einfügen. In ihnen finden sich Überreste eines Glaubens an die Entwicklungsfähigkeit der russischen
Stobiecki, Comparing Polish Historiography on the Petersburg Empire, S. 283 f. Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 247.
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Intelligenz, wenngleich diese auch in Limanowskis Memoiren im Vergleich zum Emanzipationsstreben der polnischen Intelligenz im Russischen Imperium eher nachrangig behandelt wird.
Die polnische Romantik als Vorbild: Vorstellungen östlicher Polonität und Bezüge zur polnischen Literatur bei Limanowski Limanowskis Memoiren zeichnen sich immer wieder durch Bezüge und Dialoge mit den literarischen Auseinandersetzungen polnischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts mit Russland und dem Osten aus. Eine dabei wiederholt im Buch aufgegriffene Denkfigur ist die in Anlehnung an Adam Mickiewiczs Versepos Konrad Wallenrod entworfene Erzählfigur des Wallenrodismus.⁷⁰ Mickiewiczs Erzählung beschreibt den Weg eines Mannes, der sich seinem Feind als Diener andient und sich nach Erlangen der Treue an diesem rächen will. Das Dilemma des Helden besteht jedoch darin, dass Wallenrod durch die nur scheinbar bekundete Loyalität bereits die eigenen moralischen Prinzipien verraten hat. Mickiewiczs Figur des Wallenrod wurde in der polnischen Ideengeschichte insbesondere des späten 19. Jahrhunderts zur Symbolfigur des Verrats an der polnischen Nation. Vor allem die Wandlung vom maskierten Patrioten zum Verräter an der nationalen Sache diente als Argument bei der Beschuldigung von angeblich fehlgeleiteten polnischen Revolutionären, aber auch die Idee des maskierten Patriotismus blieb Gegenstand der Diskussion in der polnischen Intelligenz.⁷¹ Auf Mickiewiczs Erzählung wird von Limanowski mehrfach verwiesen, etwa, wenn er von gemeinsamen Leseabenden als Jugendlicher mit der Cousine berichtet, „ich las ihr den ‚Konrad Wallenrod‘ laut vor, von dem sie begeistert war“⁷², oder wenn er die eigene Jugendzeit in Podgórz mit einer Zeile aus Konrad Wallenrod als „[g]lückliche Jugend, glücklicher Wohlstand“ bezeichnet und damit auf eine trügerische Idylle verweist⁷³. Das Motiv des Wallenrodismus spielt für die Beschreibung von Limanowskis Nationalethik als aufrechter polnischer Patriot vor allem vor dem Hintergrund seines Lebens in der „fremden, und oft feindlichen
Mickiewicz entlehnte die Figur des Konrad Wallenrod wiederum Konrad von Wallenrode (1340 – 1393), einem fränkischen Ritter des Deutschen Ordens.Vgl. Mickiewicz, Konrad Wallenrod. Zur Verwendung des Wallenrodismus als Argument des nationalen Verrats in den Debatten der polnischen Intelligenz vgl. Micińska, Zdrada córka nocy, S. 209. Zur Entwicklung des Phänomens des Wallenrodismus ausführlich vgl. Maria Janion: Życie pośmiertne Konrada Wallenroda, Warszawa 1990. Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 164. Ebd., S. 202.
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Umgebung“ eine wesentliche Rolle. Als Beispiel eines Wallenrodschen Lebens führt er die Biographie eines befreundeten Polen Janowicz an: In einem anderen Brief entwickelte er [Janowicz, M.-B.] die Sicht, dass man die Moskoviter mit dem Wallenrodismus bekämpfen müsse. Ich schrieb ihm ausführlich zurück und widerlegte die Wirksamkeit des Wallenrodismus, der – wie ich begründete – gewöhnlich mit dem Verfall eben jenes Wallenrods einhergehe. Ich prophezeite ihm damals ungewollt sein eigenes Schicksal, denn von seinen Absichten hatte ich keine Ahnung. […] Als ich ihn kennenlernte, hatte er wirklich polnische Gefühle, aber er mochte das freie abenteuerliche Leben, mochte es gut zu essen, zu trinken, sich links und rechts anzubiedern, und dazu, über sich selbst zu scherzen. In Archangelsk hatte er – wie ich später erfuhr – die polnische Kolonie und besonders die polnischen Frauen mit seiner scharfen Sprache in Rage versetzt. In Cholmogory, einem kleinen Örtchen, sollte es schlecht um ihn stehen, und der niedrige Verwaltungssold konnte nur für die allernotwendigsten Bedürfnisse ausreichen. Nach einer bestimmten Zeit kam die Nachricht, dass Janowicz den orthodoxen Glauben angenommen hatte und ins Kloster gegangen war.⁷⁴
Mit Janowicz geht Limanowski auf die Problematik das maskierten Patriotismus ein, die für ersteren mit dem Verlust der polnischen Zugehörigkeit endet, und benennt so die Gefahr, der er selbst in der Verbannung ausgesetzt war. Wie aus seinen Memoiren hervorgeht, widmete Limanowski dem Wallenrodismus in der Verbannung auch eine literarische Skizze und übertrug Mickiewiczs Idee auf die Frage der Bauernbefreiung, die für Limanowskis Idee des freien Polens von zentraler Bedeutung war: Ich begann auch mit dem Schreiben der Novelle ‚Zwei Wege‘. Deren Inhalt war in etwa folgender: ein Neuankömmling aus der Verbannung trifft sich in Warschau mit einem ebenfalls ehemaligen Verbannten, mit dem er in Dorpat in freundschaftlichen Verhältnissen verbunden war. Beide sind bestrebt, den Moskauer Aggressor zu vertreiben. Dieses Ziel streben die beiden aber auf unterschiedlichen Wegen an. Der eine siedelt sich bei den Bauern an, heiratet eine Bäuerin, taucht in das ländliche Leben ein und streut in seiner Umgebung Nationalbewusstsein und Hass auf die Unterjochung durch den Aggressor. Der andere entscheidet sich, seinen Reichtum zu vermehren, ein finanziell mächtiger Mann zu werden und mit seinem Einfluss die an der Spitze des Landes stehenden Machthaber zu kontrollieren. Er würde eine Art zweiter Wallenrod werden. Zu diesem Zweck tritt er als untergebener Angestellter in eine Bank ein. Er verdient das Vertrauen und die Protektion seines Vorgesetzten. Schön, schlank, ein Salongänger, ein guter Tänzer, der mit einer liebreizenden Stimme berührende Lieder singt, verliebt er sich in die Tochter seines Oberen, eine junge und schöne Jüdin und heiratet sie schließlich. Das Resultat: der erste formt sich eine zahlreiche Masse nationalbewusster Bauern, die bereit für den Aufstand sind; der zweite
Ebd., S. 304 f.
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unterliegt letztlich dem Einfluss seiner Umgebung und spürt – nach langer Anstrengung – die eigene Ohnmacht und wird nur ein passiver Sympathisant.⁷⁵
Die beiden Zitate zeigen, dass Limanowski die etablierte Figur des Wallenrodismus in der polnischen Ideengeschichte in seiner Autobiographie nutzt, um das eigene Schaffen im Russischen Imperium als das eines Anti-Wallenrod zu charakterisieren – entspricht die Figur des Bauern-Agitatoren doch vor allem Limanowski selbst, der Mitte der 1850er Jahre das Studium in Dorpat unterbrochen hatte, um das Gut der Familie in Podgórz für einige Monate zu führen.⁷⁶ Bezüge zu den polnischen Romantikern um Mickiewicz und Słowacki finden sich auch an anderen Stellen der Autobiographie und bleiben ein wichtiger Referenzrahmen für Limanowskis Darstellungen des Russischen Imperiums. Seine erste Reise nach Sankt Petersburg etwa beschreibt Limanowski bezugnehmend auf Adam Mickiewiczs Skizzen zur Stadt in dessen Werk Die Totenfeier: Während ich durch die Straßen von Sankt Petersburg lief, erinnerte ich mich an Mickiewiczs Beschreibungen. […] Auf dem Nevskij-Prospekt besuchte ich die katholische Kirche, die Isaakskathedrale, die Kasaner Kathedrale, letztere voller Luxus, davor Statuen der russischen Führer. […] [I]ch ging auch in die Eremitage, wo ich die aus Reims geraubten alten Evangelien betrachtete […]. [I]n der Eremitage gab es auch polnische Gemälde und andere polnische Souvenirs; Standarten in den Kirchen; im Park Statuen polnischer Könige, die man aus Puławy geraubt hatte.⁷⁷
Sankt Petersburg verkommt in Limanowskis Darstellung mit den Verweisen auf Mickiewicz zu einer Kopie westlicher Architektur.⁷⁸ Limanowski betont zudem den militaristisch-expansiven Charakter des Russischen Imperiums, den dessen Zentrale ganz besonders verkörpert, indem in ihr die aus Europa und Polen „geraubten“ Kulturgüter ausgestellt werden. Weitere Bezüge zur polnischen Literatur finden sich in Limanowskis Erwähnungen von Werken Juliusz Słowackis, Zygmunt Krasińskis (1812 – 1859) oder Zygmunt Kaczkowskis (1825 – 1896), die ihm zufolge ein lebendiges Bild vom „freien, rebellischen Leben des polnischen
Ebd., S. 498. Vgl. Wereszycki, Art, S. 340. Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 123. Mickiewicz kritisiert in seinem Gedicht unter anderem die Habsucht Peters I. , der sich in Sankt Petersburg Kopien von Pariser, Amsterdamer und Römischen (Sakral‐)Bauten errichten ließ: „Bei den Architekten ist das Sprichwort bekannt/ dass Rom von menschlicher Hand erbaut/ Und Venedig erbauten die Götter / Aber wer Petersburg sah, der sagt/ Dass dieses wohl die Teufel errichteten.“ (Vgl. Auszug aus dem Gedicht Petersburg in: Adam Mickiewicz: Dziady część III, Paryż 1838, S. 226).
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Landadels voll von Gefühlen der Bruderschaft und der Bereitschaft zur Tat“ zeichneten.⁷⁹ In Limanowskis Lebenserinnerungen finden sich neben literarischen Bezügen auf das polnisch-romantische Denken des frühen 19. Jahrhunderts ebenso Bezüge auf politische Begrifflichkeiten und Traditionen aus der Zeit der PolnischLitauischen Union. Mit ihnen schlägt der Autor eine Brücke von der Adelsrepublik hin zu den eigenen Erfahrungen der Teilungszeit. So äußert sich der Autor lobend über das ausgeprägte Maß an demokratischen Selbstverwaltungsprinzipien, über das sejmikowanie (Aushandeln) und die Organisationsformen der polnischen Studierenden in Moskau in sogenannten sejmiki (Versammlungen, beruhend auf demokratischen Prinzipien) und rekurriert mit diesen Begriffen auf die demokratischen Traditionen des polnischen Adels.⁸⁰ Zudem gibt der Autor an, dass russische studentische Organisationen in Moskau sich die Institutionalisierung der polnischen Studierendenschaft, sowie deren gegenseitige Solidarität zum Vorbild genommen hätten.⁸¹ An anderer Stelle beschreibt er die gut organisierte polnische Studierendenschaft als „unsere kleine polnisch-litauische Republik“ – ein deutlicher Verweis auf die frühneuzeitliche Union und auf Limanowskis Wahrnehmung der litauischen und belarussischen Mitstudierenden, die der Idee der litauisch-polnischen Wiedervereinigung ihm zufolge keineswegs skeptisch gegenüber stehen.⁸² Limanowskis Bezüge zur polnischen Ideengeschichte der Vorteilungs- und der frühen Teilungszeit sind zum einen Ausdruck, die eigene politische Haltung in die Geschichte des polnisch-nationalen Denken einzuordnen, zum anderen offenbaren sie aber auch einen Einblick in Limanowskis politisches Denken der frühen Zwischenkriegszeit. Eine Episode über eine Reise von Podgórz über Pskov nach Dorpat nimmt Limanowski zum Anlass, einen Briefaustausch zwischen Juliusz Słowacki (1809 – 1849) und Fürst Adam Czartoryski (1770 – 1861) zu erinnern: Zwei russische Städte, Psków und Nowogród [russ. Pskov und Novgorod, Schreibweise des Autors, M.-B.], hatten in mir immer schon ein außerordentliches Interesse geweckt. Ich rief mir ihre frühere republikanische Atmosphäre in Erinnerung, ihr Streben zum litauischen Fürstentum hin. Ich hatte nahezu die gleiche Haltung, die Juliusz Słowacki in seinem Brief an Fürst Adam Czartoryski beschreibt: ‚Am Beginn des Slavismus erwies sich Polen als großes Sonnenmeer der Freiheit – und Nowogród und Psków, zwei seiner Sterne [des Slavismus, M.-B.] funkelten im Norden. So wie in der materiellen Welt nichts verschwindet, sondern alles im Wandel ist, so ähnlich ist es auch in der Welt des Geistes. Daher sind die
Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 137. Vgl. ebd., S. 136 f. Vgl. ebd., S. 156. Ebd., S. 147. Vgl. diesbezüglich auch die Beschreibungen auf den folgenden Seiten 147– 150.
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Nowogróder und Pskówer Elemente für den Slavismus bis heute zu entdecken, noch brennen sie unverloschen irgendwo unter den Gräbern und der Asche.‘ Heute (geschrieben im März 1918), wo die Furcht vor dem Panslavismus völlig verschwindet, verstärken sich die slavischen Bestrebungen im polnischen Volk – so kann man annehmen – in die von Lelewel [Joachim Lelewel (1786 – 1861), M.-B.] und Smolka [Franciszek Smolka (1810 – 1899), M.-B.] gewiesene Richtung, die die Slaven auf dem Grund einer gemeinsamen Herrschaft föderal verbindet.⁸³
Das vorgestellte Zitat zeigt eine der wenigen Stellen im Buch, an denen explizit auf tagesaktuelle Ereignisse hingewiesen wird und Limanowski davon ausgehend eine Vision Polens als Teil einer von Russland abzugrenzenden slavischen Welt entwirft. Hier verweist Limanowski auf eigene wie auch auf Ideen polnischer Liberaler und Sozialisten um Józef Piłsudski während des Weltkriegs, Litauen und die slavischen Nationen der Polen, der Belarussen und der Ukrainer in den Grenzen des frühneuzeitlichen Polens, aber eben auch darüber hinaus in einem intermarium, einem demokratischen Staatenverbund unter polnischer Führung, dessen historisches Vorbild die Polnisch-Litauische Union war, zusammenzuführen.⁸⁴ Indem Limanowski die Rolle der beiden Städte Pskov und Novgorod herausstellt, betont er nicht so sehr die Bedeutung des Nordens für einen solchen zukünftigen Staatenbund, der sich auf diejenigen nordwestliche Teile Russlands erstrecken sollte, sondern vielmehr die Hoffnung auf die Zerschlagung Russlands in seine republikanischen Teile und deren Hinwendung nach Westen, also nach Europa und somit nach Polen. Während in der Literatur vor allem Limanowskis positive Wahrnehmung einer föderalistischen Idee für Polen hervorgehoben wird, wird aus dem Zitat ersichtlich, dass diese Idee eng verbunden mit der Erwartung einer Zersplitterung des revolutionären Russlands nach 1917 war.⁸⁵ Limanowskis Erwähnung des Briefes von Słowacki und der europäisch-republikanischen Vision der polnischen Romantiker erinnert denn auch an Limanowskis Äußerungen zum sowjetischen Russland in seiner Zwischenkriegspublizistik, in denen der Autor seine Hoffnung auf ein zukünftiges republikanisches Russland mit Verweis auf dessen mögliche Vorbilder, die mittelalterlichen Republiken Novgorod und Pskov, zum Ausdruck bringt.⁸⁶ Słowackis Beschreibung der beiden Städte als
Ebd., S. 184. Zu Limanowskis Föderationsideen und ihrer Funktion für die PPS vgl. Wiesław Bokajło: Polnische Konzepte einer europäischen Föderation. Zwischen den „Vereinigten Staaten von Europa“ und dem konföderalen Mitteleuropa (1917– 1939), in: Vision Europa. Deutsche und polnische Föderationspläne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, hg. von Heinz Duchhardt und Małgorzata Morawiec, Mainz 2003, S. 85 – 116, hier S. 8. Vgl. Cottam, Bolesław Limanowski (1835 – 1935), S. 103. Vgl. Szlachta, Bolesław Limanowski (1835 – 1935), S. 72.
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„unter den Gräbern und der Asche“ leuchtend, ist eine Metapher, auf die sich Limanowski beruft und die sich als Beschreibung eines historischen Konflikts zwischen einer europäischen sowie der zu ihr gehörenden slavischen Welt und einer russischen Zivilisation deuten lässt – eine Beschreibung, die durchaus in Limanowskis Erzählung vom moskovitischen Russland passt und die er für das frühe 20. Jahrhundert aktualisiert. Das Zitat ist somit auch eine der zentralen Stellen in Limanowskis Memoiren, an denen Limanowskis kognitive Karte, d. h., die ideelle Verortung der eigenen Biographie in der polnisch-russischen Beziehungsgeschichte besonders deutlich zutage tritt. Fragt man nach Limanowskis Raumvorstellungen, ihren Bedeutungszuweisungen und den dabei zum Vorschein kommenden weltanschaulichen Haltungen in Limanowskis Memoiren, lässt sich seine autobiographische Erzählung als Vermessung zweier inkompatibler Räume – des polnischen Eigenen, sowie des russischen Fremden – bezeichnen. Mit diesem Dualismus folgt Limanowski in seiner Autobiographie der Logik einer intelligenten Autobiographik. Er beruft sich auf all jene Räume, die durch die Teilungen Polens von den Imperien Preußens, Österreich-Ungarns und Russlands beherrscht wurden und zuvor der PolnischLitauischen Union angehört hatten und schreibt ihnen eine aktuelle nationale Bedeutung zu, indem er die Polonität der Bevölkerung und der dort vorzufindenden Kultur betont. Nachrangig werden dabei all jene Bevölkerungsteile wie die Ukrainer, Belarussen und Litauer behandelt, die sich eigenen nationalen Projekten verschreiben und nicht in der Wiedervereinigungsidee von der Polnisch-Litauischen Union aufgehen. Über die Bevölkerung der Masuren schreibt Limanowski etwa: Sie [die Masuren, M.-B.] sprachen gebrochen Polnisch, mit einer großen Beigabe von deutschen Wörtern, die sie nach polnischem Muster umwandelten. Sich selbst erachteten sie als Preußen. Trotzdem flackerte in ihrem Geist das Bewusstsein von der polnischen Herkunft.⁸⁷
Zum unter deutscher Herrschaft stehenden Poznań bemerkt der Autor ähnlich: Die alte polnische Stadt machte auf mich, trotz der Einflüsse und der deutschen Firnis einen gemütlichen Eindruck. […] [V]or allem beim arbeitenden Volk gelang es mir, der starken patriotischen Atmosphäre nachzuspüren.⁸⁸
Zuvor schreibt er über seine erste Reise in die ehemaligen polnischen Gebiete vor den Teilungen:
Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 236. Ebd., S. 237.
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Während wir weiterfuhren, zeigte der Fuhrmann, als wir uns der Memel bei Rumszyszki näherten, auf das gegenüberliegende Ufer und sagte: ‚Dort ist Polen‘. Ich erinnere mich an diesen Fakt, denn mich durchfuhr damals eine starke Rührung bei dem Gedanken, dass doch ein Land existiere, dem man den Namen Polen verleiht.⁸⁹
Neben der autobiographischen Erschreibung eines auf dem Grund der historischen Union fußenden Erfahrungsraumes bemüht Limanowski also in seinen autobiographischen Beschreibungen das Bild eines über die Teilungs- und Imperiumsgrenzen hinweg existierenden Polens. Der Leserschaft der Zwischenkriegszeit führt er so die Einigungsleistung einer in ganz Europa zersprengten polnischen Intelligenz vor Augen. Diese Rhetorik eines imaginierten Polens ist mit Limanowskis Renationalisierungsnarrativ und seiner Verbannungs- und Exilerfahrung eng verbunden. Vor dem Hintergrund einer autobiographischen Erzählung von ständigen (freiwilligen und erzwungenen) Ortswechseln und Reisen zwischen Podgórz und dem russischen Exil, sowie zwischen Warschau, Frankreich, und der Schweiz, die die Erzählung kennzeichnen, kreiert Limanowski ein Bild des geteilten Polen als eines geographisch transzendierten Raumes, der sich über die polnischen Kolonien in Moskau, Dorpat und Voronež bis in die polnischen Exile in der Schweiz und in Paris erstreckt – Polen ist überall dort, wo Limanowski wirkt. Einen besonderen Stellenwert in dieser Imagination Polens außerhalb Polens nimmt dabei die Erfahrung der Verbannung ein, die zeitlich etwa mit dem Ausbruch des anti-russischen Aufstands 1863 und der Ankunft der ersten verbannten Aufständischen in Russland nach dem Aufstand zusammenfiel. Nachdem Limanowski 1862 vier Jahre lang in Archangelsk in der Verbannung gelebt hatte, durfte er 1866 nach Voronež übersiedeln. Über die eigene Verbannung während des Aufstands schreibt er: Der Mensch sehnte sich nach der Heimat, nach der nationalen Arbeit […]. Die ankommenden Berichte aus der Heimat über die Moskauer Verfolgungen, über die Geldstrafen für patriotische Lieder in den Kirchen, über den in Litauen ausgerufenen Kriegszustand bestürzten mich und verstärkten den Wunsch zur Rache.⁹⁰
Eine vier Monate andauernde Reise nach Voronež erinnert der Autor als besonders beschwerlich. Der Kälte, dem Hunger und der Beschwerlichkeit der Reise, sowie der Brutalität der russischen, jüdischen und polnischen Offiziere stellt er den
Ebd., S. 234. Limanowski erwähnt hier die Grenze zwischen den westlichen Provinzen des Russischen Imperiums und dem Königreich Polen. Ebd., S. 332.
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Edelmut und die Aufopferung der Verbannten gegenüber, die er, wie hier in einer Unterkunft in Sankt Petersburg mit folgenden Worten charakterisiert: Ein ungewöhnlicher Anblick bot sich hier. Auf dem Flur gingen Paare, Gruppen spazieren, die mit ihren Ketten klirrten, aber die Gestalten waren edelmütig, die Augen stolz, die Gespräche laut; dies waren Menschen im vollen Bewusstsein ihrer Würde.⁹¹
In Limanowskis Autobiographie lassen sich etliche Hinweise auf Visionen eines freien Polens und dessen politisch-historische Situierung, auf dessen Bedeutungszuschreibungen hinsichtlich Religiösität, Regionalität und sozialer Gerechtigkeit finden. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Limanowskis autobiographische Beschreibungen in enger zeitlicher Bindung an die Ereignisse des Ersten Weltkriegs, an die russischen Revolutionen und an die unmittelbar folgende Zeit der polnischen Gründungskriege mit Litauen, der Ukraine und schließlich mit Sowjetrussland entstanden waren. Es handelte sich bei den Memoiren also auch um Bemerkungen zu einem polnischen Staat im Entstehen. Wie bereits erwähnt, fällt auf, dass Limanowskis Darstellung eines zukünftigen Polens vor allem von historischen Bezügen zum frühneuzeitlichen Polen geprägt ist. „[U] nsere kleine polnisch-litauische Republik“, wie Limanowski seine Umgebung in Moskau skizziert, wird wiederholt als Bild herangeführt und durchaus konkretisiert.⁹² So identifiziert sich Limanowski vor allem mit denen, „die dem Geschlecht nach aus Litauen stammten“ und beschreibt die Haltung der Angehörigen dieser „Republik“ anhand dreier Fallbeispiele als ethnisch, sozial und religiös integrativ: den Freund Judicki beschreibt er als leidenschaftlichen Patrioten, bei dem Kommilitonen Żeliszkiewicz hebt der Autor dessen Zugehörigkeit zur Orthodoxie und zum Polentum hervor, um gleich darauf Kobryniec, „von der Herkunft her ein Bauer“, als Teil des Freundeskreises um Limanowski zu benennen.⁹³ An anderen Stellen seiner Memoiren betont Limanowski ebenfalls die historisch-kulturellen Verflechtungen zwischen Ukrainern, Belarussen, Litauern und Polen.⁹⁴ Dabei kritisiert er auch die soziale Ungleichheit zwischen den polnischen Herren und den Leibeigenen in der Zeit vor der Bauernbefreiung. Limanowskis Solidarisierung mit den nationalen Angehörigen bewegt sich dabei jedoch immer innerhalb der Idee von der polnisch-litauischen Wiedervereinigung. Zudem kritisiert er wiederholt die Gefahr der Entnationalisierung im Russischen Imperium in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie etwa die Verwerfungen polnischer
Ebd., S. 416. Ebd., S. 147. Ebd., S. 138 f. Vgl. etwa ebd., S. 215, 451.
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Sprache, polnischer Kultur und polnischer Identität infolge der anti-polnischen Bildungspolitik der Teilungsmächte. So propagiert er vor allem die Idee der Repolonisierung angesichts der imperialen Nationalisierungspolitik am eigenen Beispiel wie auch anhand anderer Personen wie etwa der befreundeten Gebrüder Delarbre, die er in seinen Bemerkungen zur Dorpater Zeit beschreibt: Die Geschichte der Gebrüder Delarbre war meiner recht ähnlich. War dies doch eine Familie französischer Herkunft, aber eine völlig polonisierte. Der Vater von Franciszek und Stanislaw war ein begüterter Adeliger in der Ukraine. Man gab sie noch im Kindesalter in eines der deutschen Pensionate in den Ostseeprovinzen. Sie erfuhren dort fürsorgliche Betreuung und einen wahrhaft familiären Empfang, und zum Lernen gingen sie in ein Gymnasium, das ein gänzlich deutsches war. Nach Beendigung des Schuljahres fühlten sie sich eher als Deutsche denn als Polen; sehr viel leichter sprachen sie Deutsch als Polnisch. Als sie in die Ukraine zurückkehrten und sich für längere Zeit im Kreis Gleichaltriger befanden, bemerkten sie ihre nationale Unterlegenheit und dies schmerzte sie. In Dorpat hielten sie sofort in die polnische Gesellschaft Eingang, und das Gefühl nationalen Leids, das ihnen die deutsche Erziehung auferlegt hatte, steigerte sich und bei Stanislaw ging dies sogar in Hass auf die Deutschen über.⁹⁵
Am Beispiel der Delarbres beurteilt Limanowski die polnische nationale Zugehörigkeit als durch die Teilungsmächte bedroht und betont demgegenüber die Notwendigkeit der Herausbildung eines polnischen Nationalbewusstseins. Neben dem Nationalbewusstsein spielt für Limanowskis Vision Polens aber ebenso die Anerkennung anderer Bevölkerungsgruppen eine entscheidende Rolle. So wird aus den Beschreibungen ukrainischer Aktivisten wie Pavlo Čubinʼskij (1839 – 1884) in Archangelsk oder von Boris Poznanskij in Voronež ersichtlich, dass Limanowski deren Versuche zur Herausbildung eines nationalen Bewusstseins ebenfalls anerkennt. Zur Freundschaft mit Pavlo Čubinʼskij schreibt er: So wie für mich das Polentum sich mit der Freiheit verband, so stand für ihn der Ruthenismus [rusinizm] über allem. […] Ich kann sagen, dass ich durch die Bekanntschaft mit Čubinʼskij begann, den Ukrainismus [ukrainizm] mit anderen Augen zu sehen.⁹⁶
Später beschreibt Limanowski einen anderen ukrainischen Aktivisten Boris Poznanskij, einen Freund aus der Verbannung in Voronež, wohlwollend:
Ebd., S. 172. Ebd., S. 353. Interessant ist auch Limanowskis Verwendung der beiden Begriffe rusinizm und ukrainizm. Während sich hinter letzterem bereits die Anerkennung ukrainischer Nationalität verbirgt, suggeriert ersterer lediglich die Anerkennung als Volksgruppe innerhalb eines polnischen Herrschaftshorizonts.
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Ich hatte mit ihm ein freundschaftliches gutes Verhältnis. Wir führten lange wissenschaftliche, politisch-gesellschaftliche Gespräche. Wenn wir uns auch in dem einen oder anderen unterschieden, hatten wir eines gemein: Wir wollten Freiheit und Gleichheit für alle. Als Ethnograph notierte er aufmerksam Rituale, Gewohnheiten seines ukrainischen Volkes, schrieb Lieder, malte ihre Kleidung, Wohnungen, Besitz. In der Warschauer Illustrierten Wochenzeitung [Tygodnik Ilustrowany] druckte man seine ethnographischen Beiträge ab.⁹⁷
In diesen Zitaten drückt sich einmal mehr Limanowskis Solidarisierung mit den durch das Russische Imperium unterdrückten Nationen aus. Interessant ist jedoch Limanowskis Thematisierung der ukrainischen Nationalbewegung anhand zweier Repräsentanten insofern, als in ihr Limanowski von der bisherigen Nachrangigkeit des Nationalitätsprinzips hinter das Prinzip der polnischen Territorialität abweicht. Limanowskis Wahrnehmung der ehemals polnischen Ostgebiete durchläuft somit eine Entwicklung, die sich in der autobiographischen Erzählung interessanterweise abbildet, wie in den verwendeten Begriffen des rusinizm und ukrainizm zum Ausdruck kommt. Was die Anerkennung der ukrainischen Nationalbewegung für seine Idee eines polnischen Staats bedeutet, darüber äußert sich Limanowski in seinen Memoiren jedoch nicht. Dennoch passt diese Haltung durchaus zu Limanowskis Denken in der Zwischenkriegszeit, wo sich der Autor als Abgeordneter des Senats für eine aktive und integrative Minderheitenpolitik aussprach sowie für einen föderalen polnischen Staat.⁹⁸ Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Konflikte zwischen dem polnischen Staat und den nationalen Minderheiten sowie eines Regimes, das sich seit 1929 mit diktatorischen Vollmachten ausstattete, mussten Limanowskis Erinnerungen 1937 und dessen polnisch-litauisch-ukrainische Solidarisierungserzählung als anachronistisch erscheinen. Schon nach den Gründungskriegen Polens mit der Ukraine und Sowjetrussland, sowie der Besetzung Wilnas und der Gründung Mittellitauens durch General Żeligowski 1922 musste die Vision eines föderalen und demokratischen Polens mit gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Nationen als gescheitert angesehen werden.⁹⁹
Ebd., S. 436. Vgl. Cottam, Bolesław Limanowski (1835 – 1935), S. 109. Vgl. Małgorzata Morawiec: Antiliberale Europäisierung? Autoritäre Europakonzeptionen im Polen der Zwischenkriegszeit, in: Zeithistorische Forschungen 9, H. 3, 2012, S. 409 – 427, hier S. 415.
3.2 Władysław Studnicki (1867 – 1953)
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3.2 Władysław Studnicki (1867 – 1953): „Die wahre Kraft, auf der wir unsere Befreiung bauen konnten, das waren Russlands Gegner“ Biographie eines Publizisten am Rande der polnischen Intelligenz Mit Władysław Studnicki wird hier ein Protagonist der polnischen Intelligenz vorgestellt, dessen Biographie als symptomatisch für die polnische Intelligenz der Teilungszeit nach 1863 gelten kann, denn in ihr finden sich die tragischen Elemente der Vertreterinnen und Vertreter einer polnischen Intelligenz, wie sie Jerzy Jedlicki beschreibt, in aller Deutlichkeit wieder: Whatever the case, the intelligentsia became in that period a self-reliant factor in Polish politics and independence-oriented ideology, in a variety of its forms. The price they paid for it, especially the young people, was dramatic in almost every generation: the blood they shed, the long years they spent in prison or exile, the broken careers and the bitter sense of a thorough disaster.¹⁰⁰
Studnicki entsprach diesem skizzierten Bild in einem fast idealtypischen Sinne. Dabei gilt es zu betonen, dass der Publizist auch hinsichtlich seiner Qualifikationen und seiner komplizierten Berufsbiographie keineswegs eine Ausnahme darstellte, also wie viele junge Angehörige der anti-imperialen Intelligenz nach 1863 den konventionellen universitären Bildungsweg verließ und eine berufliche Ausbildung als zweitrangig ansah.¹⁰¹ Politisch lässt sich Władysław Studnicki nach einem ersten Blick in seine Publizistik im national-konservativen Spektrum der polnischen Intelligenz verorten, ohne dass er eine pragmatisch-konziliante Haltung bezüglich Russlands einnahm, wie sie vor allem die Nationaldemokraten in der Vorkriegszeit um Roman Dmowski und Stanisław Grabski (1871– 1949) auszeichnete.¹⁰² Seine politische Haltung unterlag bereits früh einem Wandel. Der 1867 in Dünaburg als Karol Władysław in eine polnische Landadeligenfamilie geborene Gizbert-Studnicki begeisterte sich als junger Mann für sozialistische Ideen. Zur Alterskohorte der nach dem anti-russischen Aufstand von 1863 Geborenen nach und seiner frühen Politisierung gehörend, lässt sich Studnicki der bereits erwähnten intellektuellen Generation der Unbeugsamen zuordnen, welche sich über die politischen Programme hinweg durch ein dissidentisches Grundethos auszeichneten und sich von den polnischen Positivisten insofern abgrenz-
Jedlicki, Foreword, S. 15. Vgl. ebd. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 68.
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ten, als sie die Tat, das politische Handeln zum Zwecke der Verwirklichung eines freien Polens, als Leitbild hervorhoben.¹⁰³ Die ideologische Flexibilität, die mit dieser Haltung einherging, lässt sich denn auch an Studnickis Biographie besonders anschaulich beobachten. Als junger Mann war Studnicki an der Gründung der internationalistischen Gruppierung Proletariat beteiligt, in der unter anderem auch Rosa Luxemburg mitwirkte. Nachdem er 1888 für diese Tätigkeit in Warschau verhaftet worden war und Studnicki sich zunächst im Gefängnis und schließlich sechs Jahre lang in der russischen Verbannung bei Krasnojarsk und später dann in Omsk und Tobol‘sk aufgehalten hatte, wendete er sich von sozialistischen und revolutionären Ideen ab und nationalistischen Ideen hin.¹⁰⁴ Später sollte er sich sogar in dem von Roman Dmowski angeführten Stronnictwo Narodowe-Demokratyczne (NationalDemokratische Partei) engagieren. Aber auch mit Dmowski kam es vor dem Hintergrund der revolutionären Ereignisse von 1905 zum Bruch, und Studnicki bemühte sich in der Folgezeit bis zum ersten Weltkrieg im österreichisch-galizischen Teilungsgebiet in Krakau und Lemberg mehrfach um die Bildung einer parteiübergreifenden, auf einen zukünftigen unabhängigen polnischen Staat hin gerichteten Bewegung. Dabei blieb er ein Grenzgänger zwischen den verschiedenen politischen Lagern und näherte sich im Vorfeld des Krieges dem unabhängigkeitsorientierten Lager um Józef Piłsudski an.¹⁰⁵ Studnickis russische Perioden – der Publizist hielt sich mit dem Ausbruch der Revolution von 1905 bis Ende 1908 mit kurzen Unterbrechungen illegal und legal in Sankt Petersburg auf – sollten sich nicht nur hinsichtlich seiner politischen Haltung als Schlüsselperiode erweisen. Neben der Ablehnung von Ideen der sozialen Revolution legte sich Studnicki auch auf das Russische Imperium als Haupthindernis der polnischen Unabhängigkeit fest. Seine Haltung zu den polnisch-russischen Beziehungen als eines ewigen Antagonismus, die er nach seiner Ausreise aus dem Russischen Imperium zum Ausdruck brachte, bestimmte von da an seinen Blick auf die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit – alle anderen Variablen seines politischen Denkens und Handelns, wie seine spätere Kontaktsuche in diplomatischen Kreisen in Wien, Berlin oder Budapest blieben stets von dieser grundsätzlichen Haltung dominiert.¹⁰⁶ In seinem 1897 in Krakau
Vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 98. Vgl. Schweiger, Polens Zukunft liegt im Osten, S. 81. Zu Studnickis politischem Denken und zum Wandel seines politischen Engagements in der Vorkriegszeit vgl. ausführlich Marek Figura: Rosja w myśli politycznej Władysława Studnickiego, Poznań 2008, S. 14– 50. Vgl. Władysław Studnicki: Stosunki polsko-rosyjskie, Kraków 1897
3.2 Władysław Studnicki (1867 – 1953)
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publizierten Buch Die polnisch-russischen Beziehungen lehnte er jegliche polnische Übereinkunft mit Russland ab und skizzierte Russland als Hauptfeind der polnischen Nation.¹⁰⁷ Interessanterweise galt dies nun ebenso für die Repräsentanten der russischen und der polnischen Revolutions- und Freiheitsbewegung. Den russischen Arbeitern und Bauern sowie den russischen Revolutionären sprach er denn auch jeglichen Willen und Eignung zur Einflussnahme auf den politischen und gesellschaftlichen Wandel ab und skizzierte sie schlicht als zu schwach.¹⁰⁸ Studnickis ideologischer Schwenk führte ihn weg vom internationalistischen und sozialrevolutionären Denken und über die Umwege eines zweijährigen Engagements im Stronnictwo Ludowe (Volkspartei, auch ludowcy genannt) hin zu einem von geopolitischen Prämissen bestimmten irredentistischen Aufstands- und Freiheitsdenken. Bereits vor der russischen Revolution von 1905 sah Studnicki in der Solidarisierung von polnischen und russischen Revolutionären eine Gefahr für den polnischen Freiheitsgedanken und mahnte den Einfluss der russischen revolutionären Bewegung auf die polnische Befreiungsbewegung als schädlich an. In dieser Zeit sollte er – folgerichtig, wie der Ausbruch des Russisch-Japanischen Kriegs 1904 zeigte – Japan als möglichen Kriegsgegner Russlands prognostizieren und erhoffte sich von dieser Konstellation in Ostasien eine Schwächung Russlands im Westen. Auch in der Periode nach 1905 blieb Studnickis Gegnerschaft zu Russland stabil. Wenngleich er selbst die Möglichkeiten der Revolution für sich nutzte und sich aus dem Schweizer Exil wieder nach Warschau und später dann nach Sankt Petersburg begab, um dort publizistisch tätig zu sein, führte seine Tätigkeit nicht dazu, die polnischen Kräfte gegen das russische Imperium zu bündeln. Stattdessen entfremdete er sich von Dmowski und den nationaldemokratischen Kreisen. Letzterer sprach sich als Kopf des Polskie Koło (Polnische Fraktion), einem Zusammenschluss polnischer Abgeordneter in der Staatsduma, in der Hoffnung auf eine schrittweise Autonomie Kongresspolens für eine Zusammenarbeit mit der russischen Regierung aus.¹⁰⁹ In den folgenden Jahren wandte sich Studnicki publizistisch, etwa in dem von ihm herausgegebenen Journal Votum Separatum, sowohl gegen die panslavistischen Initiativen der polnischen Nationaldemokraten als auch gegen die Annahme von der Veränderbarkeit der russischen Position in der polnischen Frage.
Vgl. Marek Figura: Władysława Studnickiego program polityki wobec Rosji, in: Rozumieć Rosje̜. Tropy, hg. von dems. und Grzegorz Kotlarski, Poznan 1997, S. 213 – 231, hier S. 215. Vgl. ebd., S. 214. Vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 156.
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Seine politischen Positionen fasste er 1910 in seinem wohl wichtigsten Werk der Vorkriegszeit, Die polnische Frage, zusammen.¹¹⁰ Mit dieser Veröffentlichung positionierte sich der Autor in der polnischen Intelligenz als bekanntester und entschiedenster Verfechter eines polnisch-deutschen Bündnisses. Dieses Paradigma zog sich von nun bis während des Zweiten Weltkriegs als Konstante durch Studnickis politisches Denken.¹¹¹ Studnickis pro-deutsche bzw. pro-österreichische Ansichten sollten sich in seiner Biographie niederschlagen. 1910 ließ sich Studnicki im zu Österreich-Ungarn zählenden Galizien nieder und lebte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Lemberg und Krakau. Hier beteiligte sich Studnicki federführend an der Entstehung einer polnischen Irredenta-Bewegung, deren Ziel die Wiedererlangung der polnischen Staatlichkeit sein sollte und in der sich sowohl Kräfte der polnischen Nationaldemokraten und der PPS engagierten. Hier war er Gründungsmitglied des Polski Skarb Wojskowy sowie der Komisja Tymczasowa Skonfederowanych Stronnictw Niepodległościowych (Provisorische Kommission der Konföderierten Unabhängigkeitsorientierten Parteien) 1912.¹¹² Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte zu einer weiteren Annäherung des Publizisten an die Mittelmächte und zu Versuchen Studnickis, auf Seiten Deutschlands und Österreich-Ungarns Polen für polnische Regimenter unter deutscher oder österreichischer Führung zu rekrutieren und diese zu bewaffnen. So engagierte er sich als Mitglied des anti-russischen Krakauer Naczelny Komitet Narodowy sowie in Warschau in der Tymczasowa Rada Stanu (Provisorischer Staatsrat), nachdem er sich für die Ausrufung eines den Mittelmächten wohlgesonnenen Königreichs Polen am 5. November 1916 eingesetzt hatte. Studnickis Loyalismus zu den Mittelmächten, der auch nach dem Zusammenbruch des Russischen Imperiums und der revolutionären Ereignisse von 1917 anhielt, war der Grund für seinen Bruch mit Piłsudski, den Studnicki eigentlich bewunderte und in dem er einen potentiellen Anführer eines zukünftigen polnischen Aufstands erblickte.¹¹³
Vgl. Władysław Studnicki: Sprawa polska, Poznań 1910. Studnickis selbständige Publikationen stellten in der Regel eher Sammlungen bereits veröffentlichter Artikel aus Zeitungen und Journalen dar. Herauszustellen sind ebenfalls Studnickis andere Schriften der Vorkriegszeit wie Władysław Studnicki: Od socyalizmu do nacyonalizmu, Lwów 1904; ders.: Wskazania polityczne irredentysty polskiego, Lwów 1913. Vgl. Schweiger, Polens Zukunft liegt im Osten, S. 83. Aus Sicht der polnischen Intelligenz zu Studnickis Vorstellungen eines solchen Bündnisses und zu seinem Einfluss auf die polnische Ideengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts vgl. Stanisław Swianiewicz: Erinnerungen an Władysław Studnicki, in: Kultura. Sondernummer deutsch-polnischen Beziehungen gewidmet, 1984, S. 150 – 166. Vgl. Figura, Władysława Studnickiego program polityki wobec Rosji, S. 219. Vgl. ebd.
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Nach der Gründung der Polnischen Republik im November 1918 leitete Studnicki in der Zeit des Polnisch-Sowjetischen Kriegs die statistische Abteilung des Zarząd Cywilny Ziem Wschodnich (Zivilverwaltung für die Ostgebiete), einer Verwaltungseinheit des polnischen Militärs, die sich mit der sozioökonomischen Lage der Bevölkerung in den vom polnischen Militär besetzten Gebieten um Wilna, Minsk und in Wolhynien befasste. In dieser Tätigkeit setzte sich Studnicki für eine möglichst weite Ausdehnung der Grenzen nach Osten auf Kosten der Sowjetunion ein, die Schließung des Vertrags zwischen Polen und Sowjetrussland in Riga 1921 und den Verzicht seitens Polens auf Minsk und die Gebiete um Dünaburg sowie nördlich von Wilna empfand Studnicki als Niederlage.¹¹⁴ Von 1922 bis zum Maiumsturz 1926 fungierte Studnicki als Berater des Industrie- und Handelsministeriums in Fragen der polnischen Ostgebiete, bis 1930 war er dann als Mitarbeiter des polnischen Außenministeriums tätig. 1930 schloss sich daran eine Dozentur für politische Ökonomie an der Wilnaer Universität an – in diesem Rahmen unterrichtete er auch am Instytut Naukowo-Badawczy Wschodniej Europy (INBWE, Wissenschaftliches Forschungsinstitut für Osteuropa) in Wilna.¹¹⁵ Studnickis Biographie der dreißiger Jahre war von publizistischen Erfolgen geprägt, von fehlgeschlagenen Kandidaturen zum Senat, vor allem aber von einer Ausrichtung seines politischen Denkens in Richtung einer Zusammenarbeit Polens mit den Nationalsozialisten. Politisch fand sich der Publizist im unabhängigen Polen demnach isoliert von den beiden dominierenden Lagern um Dmowski und Piłsudski wieder. Studnickis politisches Denken blieb auch im post-imperialen Zeitalter von einer geopolitischen Perspektive auf Polen zwischen Deutschland und Russland bestimmt, wobei dem sowjetischen Russland in diesem Beziehungsdreieck die Rolle eines ständigen Antagonisten zukam und Studnicki demgegenüber in Deutschland einen potentiellen Verbündeten, bzw. in der Zeit des Zweiten Weltkrieges und während der doppelten Besatzung Polens durch das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion in den nationalsozialistischen Besatzern das geringere Übel sah. Dies verhinderte jedoch nicht, dass Studnicki mehrfach von den deutschen Besatzern inhaftiert wurde und schließlich 1944 über Österreich nach Ungarn ausreiste.¹¹⁶ Von dort kehrte Studnicki nach dem zweiten Weltkrieg nicht mehr nach Polen zurück, stattdessen fand er sich im Exil in London wieder, wo er 1953 verstarb. Studnicki hatte in der Zwischenkriegszeit, als Journalist der Wilnaer konservativen Tageszeitung Słowo (Das Vgl. Figura, Rosja w myśli politycznej Władysława Studnickiego, S. 52. Vgl. Marek Kornat: Instytut Naukowo-Badawczy Europy Wschodniej w Wilnie (1930 – 1939) i jego wkład w rozwój polskiej sowjetologii, in: Kwartalnik Historyczny 107, H. 3, 2000, S. 43 – 89, hier S. 51. Vgl. Figura, Władysława Studnickiego program polityki wobec Rosji, S. 231.
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Wort), aber auch als Publizist während des Zweiten Weltkriegs und danach noch etliche selbständige Werke zu den deutsch-polnischen Beziehungen sowie zum Verhältnis Russlands zu Polen verfasst.¹¹⁷ Eine Einordnung Studnickis im Spektrum der polnischen politischen Strömungen fällt angesichts seiner Biographie schwer.Wenngleich bereits ein Versuch der Historisierung der politischen Entwicklung in Polen vor und nach dem ersten Weltkrieg, verwies Stanisław Mackiewicz in seiner Geschichte Polens von 1941 auf die herausragende Bedeutung Studnickis für die polnische Staatsgründung und zählte ihn neben Roman Dmowski und Józef Piłsudski sowie dem weniger bekannten Vertreter der galizischen konservativen Gruppierung der Stańczycy, Michał Bobrzyński (1849 – 1935), zu den Gründungsvätern der Zweiten Polnischen Republik: [I]n der damaligen polnischen Wirklichkeit fanden sich vier Namen […]. Bobrzyński war eine Exzellenz, ein geheimer Berater, ein Mensch mit Zugang zum [österreichischen, M.-B.] Kaiser in jeder Minute, und dem Franz Joseph grenzenloses Vertrauen entgegen brachte; Dmowski war seinerzeit der frühere Vorsitzende der Polnischen Fraktion in der Petersburger Duma, der anerkannte Leader der Gesellschaft im Königreich [Polen, M.-B.]; Piłsudski war lediglich der Führer des Untergrunds und der Jugendorganisationen; Studnicki war nichts, nur das Gehirn, von dem die Funken ausgingen, die die Taten der anderen befruchteten und Initiativen auslösten.¹¹⁸
Mackiewicz macht Studnicki in ideeller Hinsicht als wohl bedeutendsten Mann der polnischen Nationalbewegung vor 1918 aus und sieht in ihm nicht weniger als den geistigen Vater polnischen politischen Denkens in der späten Teilungszeit.¹¹⁹ Seine Bewunderung rührt auch aus seiner ideologischen Nähe zu Studnicki, hatte dieser doch in der Öffentlichkeit in Zwischenkriegspolen die Idee vom Erhalt und der Erinnerung polnischen kulturellen und zivilisatorischen Herrschaftsanspruchs in den sogenannten kresy propagiert und für seine Thesen das von Mackiewicz in Wilna herausgegebene konservative Tagesblatt Słowo nutzen dürfen.¹²⁰ Jacek Gzella beschreibt in seiner Einführung zu Studnickis Memoiren
Vgl. u. a. die im Londoner Exil entstandene und auf Deutsch veröffentlichte Monographie Irrwege in Polen: Władysław Studnicki: Irrwege in Polen. Ein Kampf um die polnisch-deutsche Annäherung, Göttingen 1951. Darüber hinaus vgl. ders.: Rosja sowiecka w polityce światowej, Wilno 1932; ders.: System polityczny Europy a Polska, Warszawa 1935; ders.: Ludzie, idee i czyny, Warszawa 1937. Stanisław Mackiewicz: Historja Polski. Od 11 listopada 1918 r. do 17 września 1939 r, Warszawa 1989, S. 28. Zum ideellen Zusammenhang von Studnicki und Mackiewicz vgl. auch Swianiewicz, Erinnerungen an Władysław Studnicki, S. 161 f. Vgl. Szpoper, Sukcesorzy Wielkiego Księstwa, S. 93.
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diesen gar als „Gehirn“ der polnischen Ostgebiete¹²¹. Im Folgenden wird zu fragen sein, inwiefern sich Studnickis politisches Denken in seinen autobiographischen Schriften widerspiegelt, welche Idee er dabei vom Osten zeichnet und welchen expliziten und impliziten Einfluss seine eigene russisch-imperiale Erfahrung auf Studnickis Entwürfe einer östlichen Polonität in seinen Memoiren hat. Welche Rolle spielt dabei die vorherrschende Realität der polnisch-sowjetischen Nachbarschaft und deren Einfluss auf die autobiographische Skizzierung des eigenen Lebens und dessen historische Einordnung?
Schreibsituation und Narration: „Wir spüren instinktiv, […] dass unsere staatliche Existenz noch nicht gefestigt ist“ Studnicki hinterließ eine Vielzahl autobiographischer und memoiristischer Beiträge in Journalen und Zeitungen.¹²² Selbständigen Charakter hatten dabei lediglich Studnickis 1928 erschienene Memoiren Aus Erlebnissen und Kämpfen, in denen sich Studnicki mit seinem Lebensverlauf und seiner politischen und publizistischen Tätigkeit in der Teilungszeit Polens bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs auseinandersetzte. Der Zeitraum der Entstehung des Buches lässt sich nicht genau eingrenzen. Der Titel des Buches lässt jedoch darauf schließen, dass die Ereignisse in der polnischen Gesellschaft der frühen zwanziger Jahre und auch der Staatsstreich vom Mai 1926 durchaus Einfluss auf seine Darstellungen hatten. Andrzej Piskozub schreibt in seinem Vorwort zu den im Jahre 2000 erstmals in einer gesammelten mehrbändigen Ausgabe veröffentlichten Gesammelten Werken Studnickis, dass dieser in der gesamten Zeit der Unabhängigkeit Polens in der Zwischenkriegszeit, sowohl vor als auch nach dem Militärputsch von 1926 der politischen Bühne fernblieb.¹²³ Vor allem im Vergleich zu seinen politisch-organisatorischen Aktivitäten in der unmittelbaren Vorkriegs- und der folgenden Kriegszeit blieb Studnicki im 1918 gegründeten polnischen Staat bemerkenswert zurückhaltend – eine Zurückhaltung, die auch auf das Fehlen eines stabilen Rückhalts seitens Studnickis in der polnischen Parteienlandschaft der Zwischenkriegszeit zurückzuführen war. Der Rückzug nach Kriegsende war jedoch
Jacek Gzella: Wstęp do tomu pierwszego, in: Władysław Studnicki: Z przeżyć i walk, Toruń 2000, S. 19 – 31, hier S. 20. Vgl. etwa Władysław Studnicki: Z pierwszych dni wojny, in: Niepodległość 5, H. 2, 1933, S. 241– 259; ders.: W poszukiwaniu odpowiedniej akcji wyzwoleńczej, in: Niepodległość 6, H. 2/3, H. H. 2/3, 1934, S. 242– 262 u. 384– 403. Vgl. Andrzej Piskozub: Przedmowa do „Pism wybranych“, in: Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 5 – 15, hier S. 10.
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vor allem einer aus dem politischen Tagesgeschäft. Umso intensiver betrieb Studnicki eine polemisierende Publizistik. Dafür nutzte Studnicki vor allem die von Stanisław Mackiewicz redigierte konservative Wilnaer Tageszeitung Słowo. ¹²⁴ Neben diesen journalistischen Beiträgen veröffentlichte Studnicki regelmäßig von den eigenen Erlebnissen inspirierte Streitschriften und geopolitische Studien, die sich meist gegen den Konsens jener Zeit richteten. Abgesehen von der hier zu analysierenden, 1928 publizierten Autobiographie und seiner Porträtstudie zur polnischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit Leute, Ideen und Taten sind zwei Studien mit einem geopolitischen Ansatz zu benennen – das 1932 erschienene Sowjetrussland in der Weltpolitik und das fünf Jahre später publizierte Werk Das politische System Europas und Polen. ¹²⁵ Beide stellten zu ihrer Zeit Versuche dar, die oben genannten geopolitischen Prämissen Studnickis von der traditionellen polnisch-russischen Gegnerschaft und seine Idee eines polnisch-deutschen Bündnisses den polnischen Debatten jener Zeit einzuschreiben. Mit seiner These von der andauernden Imperialität des sowjetischen Russlands und von dessen expansiv-imperialistischem Charakters in der Tradition des Russischen Imperiums schrieb er gegen die zu Beginn der dreißiger Jahre einsetzende gesellschaftliche und politische polnisch-sowjetische Annäherung an, die beispielsweise im polnisch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1932 ihren Ausdruck fand.¹²⁶ Dennoch verortete Studnicki sich mit seinen Thesen nicht im Ideenspektrum der polnischen Prometheisten, die auf eine Zerschlagung der Sowjetunion und dort vor allem auf eine Unterstützung der verschiedenen nationalen Irredenta-Bewegungen innerhalb der Sowjetunion setzten.¹²⁷ Denn dies hätte bedeutet, die litauischen, belarussischen und ukrainischen Nationalbewegungen und deren Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung und Autonomie anzuerkennen – ein Szenario, das der Vertreter eines russisch-polnischen Antagonismus und der Verfechter polnischer Dominanz im Osten nicht anerkannte. In der 1937 erschienenen Studie Das politische System Europas und Polen brachte
Zum Słowo und den Nationalkonservativen in Zwischenkriegspolen vgl. Szpoper, Sukcesorzy Wielkiego Księstwa. Vgl. Studnicki, Rosja sowiecka w polityce światowej; ders., System polityczny Europy a Polska; ders., Ludzie, idee i czyny. Vgl. Figura,Władysława Studnickiego program polityki wobec Rosji, S. 224. Zu den polnischsowjetischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit vgl. Jan Ryszard Sielezin: Obraz Rosji i Rosjan w polskiej opinii publicznej i w wybranych syntezach historii Polski i publicystyce w XX wieku, in: Obrazy Rosji i Rosjan w Polsce XIX–XXI wieku: opinia publiczna, stosunki polskorosyjskie, pamięć historyczna, hg. von Eleonora Kirwiel, Ewa Maj und Ewelina Podgajna, Lublin 2012, S. 167– 187, hier S. 178. Vgl. zur Prometheismus-Bewegung in der RP Marek Kornat (Hg.): Ruch prometejski i walka o przebudowe̜ Europy Wschodniej (1918 – 1940). Studia i szkice, Warszawa 2012.
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Studnicki indes die Befürchtung einer militärischen sowjetischen Expansion Richtung Westen zum Ausdruck, die in seinen Augen eine Westbindung Polens an das nationalsozialistische Deutschland notwendig machte. In den Nationalsozialisten sah der Autor den wichtigsten Verbündeten Polens in einer zukünftigen internationalen anti-sowjetischen Front – ein Bündnis der Deutschen mit der Sowjetunion hielt er für unwahrscheinlich. Ungeachtet der Machtverhältnisse im nationalsozialistischen Deutschland betonte Studnicki die zivilisatorischen und kulturellen Gemeinsamkeiten Polen und Deutschlands und hob demgegenüber die Konflikthaftigkeit des polnisch-(sowjet)russischen Verhältnisses hervor.¹²⁸ Władysław Studnickis 1928 erschienene Lebensgeschichte, die pünktlich zum zehnten Jahrestag der Gründung der Polnischen Republik erschien, ist vor allem eine Erzählung von der politischen und nationalen Isolierung sowie der Marginalisierung des Autors und stellt demgegenüber den Entwurf einer Selbstkonstruktion Studnickis als eines Kämpfers für die polnische Nation dar. Gleich zu Beginn der Autobiographie inszeniert sich der Autor als ein solcher aufrichtiger Vorkämpfer: In der Zeit des Weltkriegs und der deutschen Besatzung spielte ich eine außergewöhnliche Rolle, als ich mit den Meinigen und den Anderen um die polnische Staatlichkeit kämpfte. Damals schwamm ich gegen den Strom. […] Dass ich gegen die Meinung der Allgemeinheit antrat, zeigte und zeigt nach meinem Dafürhalten, dass ich im Einverständnis mit dem Willen der Nation agierte. Der Wille der Nation ist nämlich nicht irgendeine Laune einer Ansammlung von Intelligenzlern oder von Dummen, auch nicht irgendeine aktuelle Stimmung, aber auch nicht irgendein Anpassungsmechanismus in der Gefangenschaft, der die Nation degeneriert. Der Wille der Nation – das ist der Wille eines lebhaften Organismus zum Leben in all seinen Entwicklungsmöglichkeiten. […] Ich war seit vielen Jahren die Stimme dieses Willens und in seinem Namen führte ich einen langen und andauernden Kampf mit den Stimmungen und den politischen Richtungen unserer Nation. Meine Tätigkeit in der Phase des Großen Kriegs [gemeint ist der Erste Weltkrieg, M.-B.] war mit meiner Tätigkeit, mit meinen Erlebnissen und politischen Kämpfen in den vorangegangenen Perioden organisch verbunden.¹²⁹
Aus dem Zitat spricht zunächst Studnickis Erzählelement der Marginalisierung sowie der moralischen Selbsterhebung: der Versuch einer Selbstinszenierung als Außenseiter der polnischen Politik und Gesellschaft der Teilungszeit, sowie der Versuch der Selbstkonstruktion eines über die profane Politik sich erhebenden Handelnden im Sinne einer höherstehenden oder verpflichtenden nationalen Moral. Im Zitat bildet sich ein weiteres Erzählelement ab, das an Bohdan Cy-
Vgl. Figura, Władysława Studnickiego program polityki wobec Rosji, S. 228. Władysław Studnicki: Z przeżyć i walk, Toruń 2000, S. 33 f.
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wińskis Bezeichnung der nach 1863 sozialisierten Angehörigen der Intelligenz als Unbeugsame erinnert. Studnicki bringt diese Haltung nicht ohne Ironie in einer Rechtfertigung zu seinen vielen Parteiwechseln zum Ausdruck, wenn er dazu schreibt: „In meinen politischen Überzeugungen gab es keine Veränderungen, Veränderungen gab es lediglich in meinen Werkzeugen.“¹³⁰ Mit dieser Beschreibung verdeutlicht Studnicki die Elastizität in der Programmatik seiner politischen Ansichten. Er will so eine Erzählung moralischer Aufrichtigkeit im nationalen Sinne entwerfen, deren übergeordnetes Ziel, die Errichtung eines polnischen Staates, eben ideologische Wechsel legitimierte. Treffend beschreibt diese Doppelfunktion der autobiographischen Erzählung Studnickis Selbstbeschreibung als „polnischer Irredentist“ gleich zu Beginn seiner Memoiren.¹³¹ Der Begriff des Irredentisten kann dabei im doppelten Sinne interpretiert werden – zum einen bezeichnet er eine politische Haltung in Studnickis Lebensphase unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, zum anderen lässt sich der Begriff auch metaphorisch als Synthese einer Lebensbeschreibung lesen, als Selbstinszenierung eines marginalisierten und nur selten ernstgenommenen Denkers. Der Autor nutzt die Figur des Irredentisten als roten Faden und als Scharnier für den Entwurf einer (nationalen) sinnstiftenden und die mehrfach vollzogenen ideologischen, politischen und diplomatischen Richtungswechsel harmonisierenden Lebenserzählung – folgerichtig wird der für die Autobiographik so typische Sinn- und Glaubwürdigkeitszusammenhang aus der erzählten Erfahrung produziert.¹³² Das Bemühen um eine biographisch bezeugte Wahrheit und der Anspruch von Authentizität kommen in den oben genannten Worten zum Ausdruck. Aus Studnickis Vorwort zu seinen Lebenserinnerungen lässt sich ebenfalls ihr Gegenwartsbezug deutlich ablesen. So entwirft der Autor gleichfalls eine Zukunftsvision eines starken polnischen Staats unter Rückbesinnung auf die eigene biographische Erfahrung der Teilungszeit: In der gegenwärtigen Zeit sollte man wieder selbst Hand anlegen und zum Kampf antreten, sei es im Voraus um die inneren und äußeren Bedingungen, die unsere staatliche Existenz bestimmen. Denn wir spüren instinktiv, dies spüren wir alle, die von einem unabhängigen Polen geträumt haben, dass unsere staatliche Existenz noch nicht gefestigt ist, dass für die Sicherung seiner Existenz gewaltige Veränderungen in unserer Innen- und Außenpolitik notwendig sind. Der Gedanke an das unsichere Schicksal der Nation vergiftet in uns das freudige Gefühl eines eigenen Staates, ein Gefühl, mit dem sich die Nation – so schien mir immer – in der ersten Dekade der Unabhängigkeit übergoß.
Ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 33 f. Vgl. Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung, S. 6.
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Polens Unabhängigkeit trat als Resultat äußerer Faktoren mit einem sehr kleinen Beitrag und Opfer der heutigen Generation auf den Plan, und dies ist der Grund ihrer Schwäche. Nur das, was sich politisch auf unsere Unabhängigkeitsbestrebungen vor dem Krieg bezieht, dient der Stabilisierung und politischen Stärkung unseres Staates, daher haben die Beiträge zu unserer Geschichte und zur Unabhängigkeitsbewegung, zu ihren Strömungen und den Streitereien um die Unabhängigkeit heute eine solche Bedeutung.¹³³
Aus diesem Absatz wird erkennbar, dass es Studnicki mit der Publizierung seiner Lebenserinnerungen 1928 offensichtlich darum ging, einen eigenen Beitrag in der Debatte um die Staatswerdung Polens 1918 einzuführen und diese Position mit dem Verweis auf die eigene Zeugenschaft zu vertreten. Im Zitat vertritt Studnicki provokant die Ansicht, dass die Unabhängigkeit keineswegs von den Polen selbst erkämpft worden sei, sondern dass vielmehr „äußere Faktoren“ dazu geführt hätten, dass in der Folge des Krieges ein unabhängiger polnischer Staat entstehen konnte. Nur die Besinnung auf die Geschichte der polnischen „Unabhängigkeitsbewegung“ vor dem Krieg biete die Möglichkeit, ein Potential zur Identifikation mit dem polnischen Staat für die nachfolgenden Generationen zu schaffen. Mit seinen Memoiren will Studnicki demnach die eigene Rolle und sein politisches Erbe im Deutungsdiskurs um die Frage nach dem Beitrag zu Polens Unabhängigkeit aufwerten und knüpft diese Perspektive an die Erwartung einer Erneuerung seines politischen Denkens der Vorkriegszeit – als Argument dafür dient ihm die von ihm im Vorwort vage ins Feld gebrachte Drohkulisse einer Gefährdung der polnischen Staatlichkeit. In der Folge ordnet Studnicki seine Autobiographie chronologisch und beginnt mit den frühen Kindheitsbeschreibungen. Die Autobiographie – die, wie der Autor zum Schluss seiner Memoiren schreibt, als zweibändiges Werk angelegt ist, dessen Fortsetzung jedoch nie publiziert wurde – endet mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.¹³⁴ Sie wird dabei wiederholt mit ausführlichen Zitaten früherer Zeitungsbeiträge oder aus seinen selbstständigen Publikationen ergänzt. Zudem lässt sich, wie zu zeigen sein wird, anhand von Textproben nachvollziehen, dass Studnicki etliche Versatzstücke früherer Schriften in die 1928 publizierte Autobiographie integrierte.
Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 34. Vgl. ebd., S. 393.
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„Kinder des Jahres 1863“: Gewordensein und russisch-imperiale Erfahrung in Studnickis autobiographischem Schreiben Die Entstehung meiner politischen Überzeugungen ist nicht nur ein Schlüssel zur Erklärung meiner Haltungen und der Motive meines Handelns, sie besitzt auch eine breitere gesellschaftliche Gültigkeit, denn ich habe ideelle Strömungen erlebt, die wiederum von verschiedenen Splittergruppen dieser Generation erlebt wurden, die ich ‚Kinder des Jahres 1863‘ nennen würde. Sie [die Generation, M.-B.] kam in der Periode von 1863 bis 1873 zur Welt. Das war die Zeit der Niederlage [Był to okres pogromu]. Die Friedhofsstimmung breitete sich im russischen Teilungsgebiet aus, aber schnell schüttelte Warschau, das in die Phase einer wirtschaftlichen Belebung und der politischen Reaktion eintrat, diese ab. Für längere Zeit hingegen hielt sie sich im sogenannten Litauen. Noch etliche Jahre nach dem Aufstand füllten die Aufständischen die Gefängnisse von Wilno, Kowno, Grodno, Dyneburg. Lange Zeit erinnerten die patriotischen polnischen Eltern daran. Schon zum Ende der achtziger Jahre, als ich als kleiner Junge mit der Mutter spazieren ging, zeigte sie mir die oberen Etagen des Dyneburger Gefängnisses, wo ein paar Jahre zuvor die Aufständischen gesessen hatten.¹³⁵
Zu Beginn seiner Kindheitserinnerungen kommt Studnicki sogleich auf seine Sozialisation zu sprechen und auf den dieser zugrundeliegenden anti-russischen Aufstand von 1863 und 1864 im Königreich Polen und in Litauen. Wie erkennbar ist, zeichnet Studnicki das Bild einer Generation der „Kinder des Jahres 1863“ und ordnet sich dieser zugleich zu. Mit der Bezeichnung der Repressionen nach dem Aufstand von 1863 als pogrom knüpft Studnicki an eine etablierte polnische Erzählung des Aufstands und dessen negativen Folgen insbesondere für die polnische Intelligenz mit anti-polnischen Maßnahmen und massenhaften Deportationen der polnischen Bevölkerung seitens der russischen Regierung an und interpretiert die dem Aufstand nachfolgende Periode als Zeit des nationalen Leidens.¹³⁶ Die Erfahrung von der Repression und Unterdrückung der Generation der Eltern ist es, die Studnicki hier besonders hervorheben will und deren Erinnerung er zu einem moralischen Imperativ erhebt – im Unterschied zu Limanowski, der sich von der Generation der Eltern vielmehr abgrenzt. Daran schließt sich seine Einschätzung der anti-polnischen Repressionen in Kongresspolen und in den westlichen Provinzen des Russischen Imperiums unmittelbar an. Implizit
Ebd., S. 35. Der Begriff pogrom rekurriert hier nicht auf die Verfolgung, Plünderung und Ermordung jüdischer Bevölkerung im russischen Zarenreich in sogenannten Pogromen, sondern meint die Zerschlagung, Verfolgung und Ermordung feindlicher Truppen nach einer Niederlage, in Studnickis Kontext also die gewalthafte Sanktionierung des Aufstands durch die russisch-imperialen Machthaber, vgl. O. A.: Art. Pogrom, in: Słownik jezyka polskiego. P-Prę, hg. von Witold Doroszewski, Warszawa 1964, S. 801.
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kritisiert er bereits an dieser Stelle die konziliante und pragmatische Haltung polnischer Eliten in Warschau und Kongresspolen nach dem Aufstand, während er die ehemaligen Ostgebiete Polens vor den Teilungen als Territorien beschreibt, die ungleich länger unter Kriegsrecht, Repressionen und Inhaftierungen der russisch-imperialen Machthaber zu leiden hatten. Hinter dieser Interpretation des Aufstandsgeschehens und seiner Folgen tritt sogleich Studnickis politisches Denken hervor, das geprägt ist von historizistischen Argumenten, aber auch von der Ablehnung jeglichen Kompromisses mit dem russisch-imperialen Herrschaftssystem. Etwas später schreibt Studnicki zum Aufstand: „Mein Patriotismus wurde auf den Erinnerungen der letzten nationalen Tat geboren und gefüttert.“¹³⁷ An dieser Stelle sei nochmal erinnert, dass Studnicki erst drei Jahre nach dem Aufstand geboren wurde. Indem er einen Sinnzusammenhang zwischen Aufstandserinnerung und eigenem Handeln herstellt und explizit über den Aufstand von 1863 als „Tat“ schreibt, betont Studnicki die eigene Gegnerschaft zur ugoda, zum pragmatisch-konzilianten Denken des polnischen Positivismus und zeichnet überdies eine Traditionslinie hin zu einem polnischen Aufstandsdenken. Der Idee der ugoda setzt er Kategorien wie „Kampf“, und national mobilisierende Konzepte wie Moral oder Aufrichtigkeit entgegen und sucht nach historischen Bezügen eines solchen Denkens – im Aufstand sieht er ein solches Vorbild für das eigene Handeln, die „lebendige Tradition des Jahres 1863“.¹³⁸ Diese Begriffe offenbaren einmal mehr Studnickis Bezüge zur polnischen Intelligenz und hier insbesondere zur Generation der Unbeugsamen. ¹³⁹ Neu ist jedoch, dass Studnicki Werte und Denkkategorien dieser Generation mittels seiner Memoiren in die Zeit der Unabhängigkeit Polens zu transformieren versucht. Dabei vergisst er nicht, neben der möglichen Rückbesinnung der Intelligenz der Zwischenkriegszeit auf die Aufstandstraditionen auch auf die Gegnerschaft der polnischen Intelligenz zum Russischen Imperium und deren Leiden in der Teilungszeit zu verweisen. Die Erinnerung an den Aufstand von 1863 dient ihm dabei als Fanal und als Vorbild für eine Erneuerung der polnischen Nation. Ein wichtiges Element diesbezüglich sieht er in der polnischen Romantik, in der „flüchtigen Literatur der Aufstandsepoche“, an die er in seinen Memoiren erinnert: [D]ie romantische Poesie, alles das, was die geistige Atmosphäre des Jahres 1863 schuf, verschwand aus dem Sichtfeld der Gesellschaft, als sich die vieläugige Angst breitmachte,
Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 36. Ebd., S. 36, 37. Den Aufstand von 1863 umschreibt Studnicki etwa als „die großen Tage des Kampfes“ (ebd., S. 37). Vgl. auch den Titel der Memoiren. Vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 75 f.
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als dies alles [die polnische Aufstandsliteratur, M.-B.] aus Furcht vor Durchsuchungen und Verbannung vernichtet wurde. […] Viele Jahre später, in der Zeit des Großen Krieges, als ich spürte, dass das Streben nach nationaler Unabhängigkeit unserer Allgemeinheit fremd ist […], stand mir ein Bild aus der Erinnerung wie die Wirklichkeit vor Augen, als ich gemeinsam mit der Mutter beim Lesen der nationalen Martyrologie geweint hatte, und in meiner Vorstellung formte sich ein ähnliches Bild von einer kommenden Generation, in der sich unter der Allgemeinheit, die sich an die Unfreiheit angepasst hatte, Leute fänden, Mütter fänden, die mit ihren Kindern die Gefangenschaft der Nation beweinen würden.¹⁴⁰
Mit dem Bild der nationalen Solidarität – symbolisiert in der Einheit von Mutter und Sohn – entwirft der Autor im Rückgriff auf den polnischen Widerstand im 19. Jahrhundert nicht weniger als eine nationale Meistererzählung der frühen Zwischenkriegszeit. Studnickis Bezugnahme auf den Aufstand und die Aufständischen von 1863 dient auch dazu, eine Geschichte der Unbeugsamen zu entwerfen, die sich möglichst vom nationalen master narrative der frühen zwanziger Jahre unterscheiden soll. Kurios ist dieser Befund jedoch insofern, als er sich in einem Elitarismus-Narrativ der polnischen Intelligenz erschöpft, das besagt, dass große Teile der polnischen Politik und der polnischen Gesellschaft die Vision eines unabhängigen polnischen Staats in der Vorkriegszeit und noch während des Weltkriegs geringschätzten. Demgegenüber hebt er die Bedeutung des Aufstands als nationales Erweckungsereignis einer kleinen Gruppe von polnischen Aktivisten hervor und beschreibt sie als Bewahrer eines genuin polnischen Wegs des Freiheitskampfes. Bezugnehmend auf die Literatur der polnischen Romantik – die er verkürzt als Aufstandsliteratur kennzeichnet – stellt er den Kampf dieser Gruppe, der er angehörte, in die Kontinuität polnischer Geschichte und polnischen politischen Denkens. Teresa Kulak stellt jedoch in ihrem Beitrag zum Mythos des Kampfes um die Unabhängigkeit Polens heraus, dass ebenjenes Elitarismus-Narrativ in den Kreisen der polnischen Intelligenz der zwanziger und dreißiger Jahre weit verbreitet war und Teil eines intelligenten Selbstverständnisses war: „Die demokratisierenden Prozesse verbreiterten den gesellschaftlichen Kreis der Vertreter einer Formel der Unabhängigkeit, trotzdem hatte das aktive Engagement im Kampf um die Unabhängigkeit immer einen elitären Charakter.“¹⁴¹ Studnickis Elitarismus zeigt also vielmehr die Kontinuitäten und Resistenzen intelligenten Denkens aus der Vorkriegszeit in der Zwischenkriegszeit auf – Resistenzen, welche er auf die autobiographische Darstellung überträgt. In
Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 37. Teresa Kulak: Mit walki o niepodległość w okresie porozbiorowym, in: Polskie mity polityczne XIX i XX wieku. Kontynuacja, hg. von Wojciech Wrzesiński, Wrocław 1996, S. 17– 31, hier S. 23.
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seinen Memoiren an die polnische Romantik anzuknüpfen, ist für Studnicki nicht neu. Bereits in der Vorkriegszeit pries er Adam Mickiewicz als einen Vorkämpfer des Irredentismus und der Freiheit. Vereinnahmungsversuche des romantischen Denkens gab es aber auch von Vertretern anderer politischer Lager, wie etwa das Beispiel von Limanowski zeigt.¹⁴² In welchem Zusammenhang steht Studnickis Propagierung eines neuen und historisch tradierten nationalen Aktivismus mit seiner russisch-imperialen Erfahrung? Wie Porter in seiner Untersuchung der polnischen Intelligenz des späten 19. Jahrhunderts schreibt, sind die Ideen der polnischen anti-imperialen Intelligenz in den 1880er Jahren durchaus auf das Gedankengut der russischen revolutionären Bewegung zurückzuführen, und auch Studnicki war als bekennender junger Sozialist mit dem russischen revolutionären Denken vertraut.¹⁴³ In seiner Biographie gab es etliche Berührungspunkte zwischen ihm und russischen Revolutionären. Als junger Mann kam er in Warschau mit Ideen der sozialen Revolution in Berührung, auch war der Publizist bis in die 1880er Jahre hinein ein überzeugter Verfechter sozialistischen Denkens, wie etwa aus seiner Rolle als Mitbegründer der internationalistischen und sozialrevolutionären Partei Drugi Proletariat (Zweites Proletariat) gemeinsam mit anderen Sozialisten wie Ludwik Kulczycki (1866 – 1941) und Rosa Luxemburg (1871– 1919) in Warschau ersichtlich wird.¹⁴⁴ Marek Figura zufolge nahm Studnicki im Unterschied zu Luxemburg bis in die 1890er Jahre hinein an, dass man mit der Anwendung von individuellem Terror konstitutionelle Freiheiten im gesamten Romanovschen Imperium erkämpfen konnte, was wiederum den Nationalisierungsdruck auf die Polen abgeschwächt hätte. Dies rührte von seinem damaligen Glauben an ein revolutionäres Russland und an die Arbeiterklasse als einzigen Träger des Fortschritts.¹⁴⁵
Studnicki kam schließlich auch in der Zeit seiner Verbannung mehrfach in Kontakt mit Vertretern der russischen revolutionären Bewegung, später jedoch wandte er sich von diesem Denken ab. 1918 etwa, unter den Eindrücken der revolutionären Ereignisse in Russland hielt er dann fest: „Wir vertrauen weder dem
Vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 98. Vgl. ebd., S. 85. Vgl. Schweiger, Polens Zukunft liegt im Osten, S. 81. Die Partei war eine Nachfolgeorganisation der ersten polnischen sozialistischen Organisation Socjalno-Rewolucyjna Partia Proletariat (Sozialrevolutionäre Partei Proletariat), die 1882 u. a. von Ludwik Waryński (1856 – 1889) gegründet und nach wenigen Jahren von den russischen Sicherheitsorganen zerschlagen worden war. Sie galt als Partei des Internationalismus, die eine Zusammenarbeit mit den russischen Revolutionären anstrebte. Vgl. Dziewanowski, The Beginnings of Socialism in Poland, S. 524. Figura, Rosja w myśli politycznej Władysława Studnickiego, S. 214.
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zaristischen Russland noch dem bürgerlich-liberalen noch dem revolutionären der Arbeiter und Bauern. Jegliches Russland war und ist uns feindlich.“¹⁴⁶ In seiner Autobiographie äußert sich Studnicki zu diesem weitreichenden Schwenk und schreibt über die Begeisterung der polnischen Intelligenz für den Sozialismus in den 1880er Jahren: Der Sozialismus ist unter bestimmten Gesichtspunkten ein Ausdruck des Protests gegen die bestehenden Verhältnisse. Umso trauriger und beschämender die Verhältnisse sind, desto anfälliger ist die Intelligenz für die Ablehnung der existierenden Ordnung, die der Sozialismus beseitigen soll. Darin liegt die Vorliebe der Intelligenz meiner Generation im russischen Teilungsgebiet für den Sozialismus begründet.¹⁴⁷
Studnicki erklärt also die Attraktivität der Idee des Sozialismus und den Gedanken der Herbeiführung desselben durch revolutionäre Aktivitäten mit den zunehmenden Repressionen und der Unterdrückung vor allem der gebildeten städtischen Schichten infolge der Entnationalisierungspolitik in Kongresspolen. Sogleich merkt er jedoch an, dass die Lesart der russischen Intelligenz einen Sozialismus bevorzugt habe, der sich ohne einen industriellen Wandel realisieren lassen und sich von den Vorstellungen sozialistischer Intellektueller im Westen deutlich unterscheiden sollte: Wir lernten den westeuropäischen Sozialismus aus russischen Quellen kennen. […] Man stellte die europäische Freiheit als Freiheit des Sterbens vor Hunger dar. ‚Kutscher, bist Du frei? Hoch lebe die Freiheit‘. Mit diesem Aphorismus reduzierte der bekannte russische Soziologe und Publizist Michailovskij die europäische Freiheit. Der russische Sozialismus jener Zeit sprach sich dafür aus, dass Russland dank des Umstandes, dass es eben noch nicht den Weg einer kapitalistischen Entwicklung eingeschlagen hatte, und dank des Besitzes der ‚obščina‘ [russ., etwa Dorfgemeinde, M.-B.] – einer gemeinschaftlichen Gebietsherrschaft – sofort zur höchsten gesellschaftlichen Form, dem Sozialismus übergehen könne. Das waren die Nachklänge der russischen Slavophilie im russischen Sozialismus. […] Diese Ideen, die als etwas Originelles, Offenes und Neues auf unsere polnischen Gemüter wirkten, standen im Widerspruch zu unserer historischen Tradition, aber die sogenannte ‚junge Presse‘ [młoda prasa; abfällige Bezeichnung der Presseorgane der fortschrittlich-liberal gesinnten Intelligenz, nicht zu verwechseln mit der literarischen Strömung der Młoda Polska (Junges Polen) zu Beginn des 20. Jahrhunderts, M.-B.] arbeitete ernsthaft an der Abkehr von jenen Traditionsverbindungen. Der Widerhall der revolutionären Bewegung in Russland verstärkte den Einfluss der russischen Literatur und rief in Polen eine pro-revolutionäre Moskalophilie [rewolucyjny moskalofilizm] hervor.¹⁴⁸
Władysław Studnicki, zit. in: Schweiger, Polens Zukunft liegt im Osten, S. 86. Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 38. Ebd., S. 39.
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Die Begeisterung in großen Teilen der polnischen Intelligenz für die russische revolutionäre Bewegung wird von Studnicki als eine Verführungsgeschichte beschrieben, die ihm zufolge an den Kern polnischer Kultur und Geschichte rührt. Ohne auf Studnickis Argumentation zum russischen Sozialismus näher eingehen zu wollen, wird deutlich, dass der Autor Polens Platz in Europa keineswegs an der Seite Russlands verortet, sondern vielmehr Polens Zugehörigkeit zum Westen betont. Mit dem Begriff der „pro-revolutionäre[n] Moskalophilie“ wirft er denn auch der polnischen Intelligenz vor, sich auf Kosten der polnischen Traditionen den russischen Revolutionären angebiedert zu haben – der Vorwurf des Verrats schwingt in diesen Worten mit. Studnickis Einschätzungen zu Warschau als Zentrum der polnischen Intelligenz schließen unmittelbar an seine Kritik zur polnischen Intelligenz an. Warschau gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird von ihm als „seltsam leichtgläubige Stadt“ beschrieben, die ihm als „heiter, tänzelnd und in dumme Possen verliebt“ erscheint.¹⁴⁹ Zuvor schreibt er: Uns Ostler [Nas kresowców, abgeleitet von kresy, M.-B.] zog es nach Warschau, wo wir uns ein polnisches Leben mit mehr Energie ersehnten. Das Warschau, in dem wir ankamen, war weder das Epizentrum einer offenen, noch einer im weitesten Sinne geheimen revolutionären Bewegung. […] Die legale fortschrittliche Presse, die wir lasen, sprach vor allem von unserer Unfähigkeit,von der Rückständigkeit unserer Gesellschaft und unterdrückte unseren Patriotismus.¹⁵⁰
Einmal mehr beschreibt der Autor mit der Skizzierung von Warschau als einer dem nationalen Selbstverständnis entledigten Stadt symbolisch den Konflikt zwischen den beiden generationellen Gruppen der Intelligenz, den Positivisten, in deren Kontinuität der Autor die von ihm skeptisch gesehenen „fortschrittlichen“ Kräfte um den ebenfalls noch jungen Sozialisten Ludwik Krzywicki verortet, und den jüngeren aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten stammenden Angehörigen der Intelligenz, zu denen sich der Autor zählt. Dabei kritisiert er vor allem die Selbstperipherisierung der Positivisten und Fortschrittler unter das Primat der russisch dominierten revolutionären Bewegung.¹⁵¹ In den folgenden Seiten seiner Autobiographie versucht Studnicki dann, die Überhöhung des russischen revolutionären Denkens durch die Polen zu relativieren, indem er von den eigenen Erfahrungen des Zusammentreffens mit russischen Vertretern der Revolutionsbewegung in der Zeit seiner Verbannung be Ebd. Ebd. Zu Krzywicki und den Anhängern des Sozialismus in der polnischen Intelligenz sowie der Frage nach der Verwurzelung polnischen intelligenten Denkens im russisch-imperialen Kontext vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 84– 98.
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richtet. Ohnehin kommt dem Kapitel zur Verbannung Studnickis in der östlichen Peripherie des Russischen Imperiums und den Auseinandersetzungen mit den russischen Revolutionären eine wesentliche Bedeutung in den Memoiren zu – wertet der Autor doch diese Erfahrung als Fundament seines späteren anti-russischen Denkens, das er als Konstante neben seinen politischen und ideologischen Wechseln entwickelt. Dazu schreibt er: Zum ersten Mal begegnete ich russischen Sozialisten auf dem Weg nach Sibirien in den Etappen und Gefängnissen – besonders im Moskauer Gefängnis, in dem politische und kriminelle Verbrecher, obwohl die einen von den anderen getrennt worden waren, gemeinsam auf die Weiterreise auf der Wolga oder der Kama und den sibirischen Flüssen warteten. Bis dahin hatte ich ein Russland gekannt, das hängte und deportierte, das unsere nationale Würde und die Menschenwürde zur eigenen Befriedigung mit Füßen trat, ein zaristisches Russland, ein Russland der Beamten. Damals lernte ich ein anderes Russland kennen, das verfolgte, das gefangene, das verbannte Russland, ein Russland, das mit dem Zarentum kämpfte. In meinen Vorstellungen war es von einem Heiligenschein umgeben.¹⁵²
Studnickis Erwartungen an das revolutionäre Russland sollten in der Folge enttäuscht werden. Für die hier zu beantwortende Frage nach Studnickis Interpretation der russisch-imperialen Erfahrung ist durchaus interessant, auf welche Ereignisse er dies zurückführt. Studnicki skizziert in den Memoiren zur Verbannungszeit etliche Revolutionäre und beschreibt dabei unterschiedliche Facetten ihres Denkens und Handelns. Allen vorgestellten Personen unterstellt er jedoch eine kolonialistische Betrachtung Polens als immerwährenden Teil und als Peripherie des Russischen Imperiums. Dabei spielen insbesondere die kresy eine zentrale Rolle – werden diese doch von ihnen als Russland zugehörig und die darin lebende Bevölkerung als russische Bevölkerung dargestellt. So berichtet er etwa über einen Freund in der Verbannung, den russischen Revolutionär Pëtr Zajčnevskij (1842– 1896), der dem Autor zufolge Studnicki selbst sein Polnischsein abspricht und ihn stattdessen als Russen bezeichnet: In der Jugend gehörte er [Zajčnevskij, M.-B.] zu einer politischen Formation, die auf diejenigen polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen gezählt hatte, die mit einem Aufstand sympathisiert hatten. Dennoch merkte er an, dass Russland ein Recht auf Wilno oder Grodno habe, er war überzeugt, dass die Russifizierungspolitik sich trotz anderer Erwartung als wirksam erwiesen hatte, es schmerzte ihn gar, dass es in Polen keine Irredenta gab, denn sie wäre ein wichtiger Faktor bei der Zerschlagung des Zarentums gewesen. Für mich persönlich empfand er Sympathie, er redete beständig auf mich ein, dass ich eigentlich kein Pole sei, dass ich mich aus rassischer Sicht von den Polen unterscheide, dass sogar mein Intellekt keinen polnischen Charakter in sich trage. Er wisse das, denn er habe die Kraft der Polen, der
Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 46.
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Aufständischen von 1863 in Sibirien kennengelernt. Ich erwiderte ihm, dass ich keinen russischen Intellekt hätte, sondern dass in ihm der gleiche Russifizierer sitze wie in meinem Geschichtslehrer Kosmenkov, der nicht aufhörte auf mich einzureden, dass ich ein Russe sei, dass es für mich eigentlich besser wäre, wenn ich mich als Russe fühlte.¹⁵³
Hier, wie in den weiteren Erinnerungen anderer Russen kommt Studnickis Erfahrung eines Imperialismus- und Kolonisierungsdiskurses seitens seiner russischen Umgebung in der Verbannung zum Ausdruck.¹⁵⁴ Dabei hebt er wiederholt hervor, dass ein solches Denken eben nicht nur den Herrschaftsapparat des Russischen Imperiums auszeichnete, sondern sich auch in den breiteren Bevölkerungsschichten des Reiches, vor allem aber in den Kreisen der revolutionären russischen Intelligenz zeigte. Dass ein solches Denken Studnicki zufolge auch die russische revolutionäre Bewegung kennzeichnete, ist für ihn Beleg einer unmöglich scheinenden Zusammenarbeit zwischen polnischer und russischer antiimperialer Intelligenz. Studnicki ist denn auch in den folgenden Seiten bemüht, die Nähe im Denken von russischer revolutionärer Bewegung und russischer Regierung bezüglich des Verständnisses russischer Imperialität und der Führungsrolle der russischen Nation darin zu unterstreichen: Der Russifizierungsprozess, wie auch die politischen und gesellschaftlichen Prozesse riefen [bei der russischen revolutionären Bewegung, M.-B.] eine bestimmte Idealisierung hervor, die ihn [den Russifizierungsprozess, M.-B.] rechtfertigte; so entstand in Russland eine solche Idealisierung und sie lag nicht nur den tiefen Überzeugungen des offiziellen Russlands zugrunde, sondern auch denen des Russlands in den Studentenjacken und -blusen, im roten sozialistischen Hemd.¹⁵⁵
Indem Studnicki im gleichen Zusammenhang auf Erkennungsfarbe der russischen Sozialisten rekurriert, zeichnet Studnicki eine kontinuierliche Bedeutungslinie des Imperialen vom imperialen zum sowjetischen Russland. Im Zitat und im weiteren Verlauf seiner Russlandbeschreibungen kommt zum Vorschein, dass es Studnicki dabei nicht nur um die Beschreibung eines historischen Phänomens und um die Behauptung einer Deutung von der Richtigkeit seines gegen Russland gerichteten Handelns in der Vorkriegszeit geht, sondern dass der Autor mit der Vorstellung von einer Polen imperialistisch gegenüberstehenden russischen revolutionären Bewegung vielmehr ein Bild des revolutionären Russlands zeichnet, dass an die Erfahrungen und Erwartungen der polni-
Ebd., S. 47. Vgl. dazu etwa die Beschreibungen zweier weiterer Personen in der Verbannung, Berkovič und Golubev, ebd., S. 47 f. Ebd., S. 48.
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schen Zwischenkriegsgesellschaft zur Mitte der zwanziger Jahre vom sowjetischen Russland als bedrohlich, imperialistisch und vor allem polenfeindlich anknüpfte. Zu dem bereits genannten Zajčnevskij schreibt Studnicki denn auch weiter: Zajčnevskij war ein Verfechter der Machtergreifung durch eine gut organisierte Gruppe. Die Regierung – das war die Organisation einer Minderheit, die über Millionen dank dessen herrschte, weil sie eine organisierte Kraft war – eine solche geheime, gut disziplinierte Organisation sollte die Macht in die eigenen Hände nehmen, eine Sozialreform durchführen und gar den Sozialismus organisieren. Die russischen Gruppen wie Molodaja Rossija, Zemlja i Volja standen in den siebziger Jahren auf diesem Standpunkt. Dies war der russische Blanquismus. […] Ist nicht der gegenwärtige russische Bolschewismus, wenn er auch die Ideologie nicht Blanqui entnimmt, sondern Marx, die Realisierung der oben genannten Pläne?¹⁵⁶
Indem Studnicki Zajčnevskij als Vordenker der Bol’ševiki von 1917 präsentiert, bemüht er sich, eine Kontinuitätslinie bolschewistischen und umstürzlerischen Denkens einzuführen. Dabei betont der Autor auch, wie ursprünglich westliches Gedankengut zur Idee des Sozialismus in der Lesart der russischen revolutionären Bewegung degeneriert. Wie dieses und andere weiter oben aufgeführte Zitate veranschaulichen, argumentiert Studnicki stets mit der Annahme Russlands als einer Kopie oder Nachahmung des Westens und spricht dem Russischen Imperium sowie den dort lebenden Russen jegliche kulturelle und ideengeschichtliche Eigenständigkeit ab – diese Erzählfigur bildet sich vor allem in den Beschreibungen des russischen revolutionären Denkens ab, findet sich aber auch in allgemeineren Beschreibungen, die er mit der eigenen russisch-imperialen Erfahrung in der Verbannung unterfüttert. Gegen die Studnicki zufolge missionarischen Pläne der russischen anti-imperialen Intelligenz von der Befreiung der Bauern richtet der Autor die These vom Charakter Russlands als Kolonialreich ohne eigene Idee, dessen einziger Sinn darin bestehe, die Expansion des Reiches voranzutreiben und so andere Kulturen zu integrieren und zu degradieren. Exemplarisch kommt dies in den erinnerten Gesprächen mit russischen Freunden in der Verbannung zum Audruck:
Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 47. Zemlja i Volja (Land und Freiheit), pro-revolutionäre Organisation mit einem agrarsozialistischen Programm. Zemlja i Volja galt als Begründerin des narodničestvo, des Volkstumsdenken, dessen Vertreter Narodniki (Volksfreunde) genannt wurden. Ziel der Organisation war eine gerechtere Umverteilung des Bodens an die Bauern sowie die Abschaffung der Autokratie durch eine Revolution. Vgl. Möbius, Russische Sozialutopien von Peter I. bis Stalin, S. 151 f. Molodaja Rossija (Junges Russland), eigentlich eine Proklamation aus der Hand von Zajčnevskij, die einen Volksaufstand gegen die russische Autokratie ausrief. Vgl. Astrid von Borcke: Die Ursprünge des Bolschewismus. Die jakobinische Tradition in Russland und die Theorie der revolutionären Diktatur, München 1977, S. 255.
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[I]ch verwies darauf, dass Russland nur ein Kulturzerstörer sei, dass es die Entwicklung Polens atomisiere, und also auch den Emanzipierungsprozess der Schicht der Bauern. Russland, so behauptete ich, richte keineswegs irgendeinen Stamm kulturell auf, nicht einmal die unterhalb von ihm stehenden asiatischen Stämme, aber es führte und führe überall Entnationalisierung und kulturelle Degradierung mit sich, und durch einen Assimilierungsprozess der entnationalisierten und kulturell degradierten Stämme setze es den eigenen Typus herab, psychisch und physisch sei es damit immer weniger zur europäischen Zivilisation anschlussfähig.¹⁵⁷
Als Beispiel des russischen imperialen „Assimilierungsprozess[es]“ benennt Studnicki denn auch die eigene Verbannungserfahrung. Dabei beschreibt er in der Autobiographie den Umgang vonseiten der lokalen Bevölkerung mit ihm in der Verbannung zunächst als freundlich, offen und tolerant, sowie sich selbst als in den lokalen Beziehungen durchaus engagiert und an ihnen interessiert: [I]ch erfuhr vom Moskoviter keinerlei Leid. Ich wurde von meinen Verbannungsgenossen, mit denen ich unentwegt diskutierte, gemocht. Wo es keine Tat gibt, wo Worte und Meinungen keine Handlungen nach sich ziehen, dort diskutieren die Menschen unterschiedlicher Haltungen viel und sind in vertrauter Freundschaft, dort entstehen Freundschaften, wenn auch nicht auf dem Boden der gemeinsamen Überzeugungen. Ich war gern gesehen bei der Intelligenz im Ort Minusinsk, später dann in Tobol‘sk und Omsk. In der zweiten Hälfte meines Aufenthalts in Sibirien schrieb ich viel über die sibirischen ökonomischen, gerichtlichen, administrativen Beziehungen in der sibirischen Presse: in ‚Stepnoj Kraj‘ [russ. Steppenland, M.-B.], ,Sibir‘skij Listek‘ [russ. Sibirisches Blatt, M.-B.], ‚Sibir‘skij Vestnik‘ [russ. Sibirischer Bote, M.-B.]. Meine Artikel wurden verehrt, gelesen und ausgezeichnet.¹⁵⁸
Wenngleich Studnicki auf seine schnelle Integration in der lokalen russischen Gesellschaft und sein dortiges hohes Ansehen aufmerksam macht, bewertet er diesen Umgang rückblickend ablehnend als Teil eines imperialen Assimilationsprozesses. So bemerkt er anschließend, dass die russisch-imperiale Gesellschaft „assimilative Fähigkeiten“ besessen und danach gestrebt habe, „fähigere Ausländer gesellschaftlich zu absorbieren.“¹⁵⁹ Indem der Autor das freundschaftliche Verhalten der lokalen russischen Bevölkerung als einen Assimilationsprozess und als Element russisch-herrschaftlichen Denkens präsentiert, offenbart sich seine Interpretation der eigenen Erfahrung als Kolonisierungserfahrung, sein autobiographisches Schreiben demzufolge als post-koloniale Verarbeitung dieser Erfahrung. Sibirien steht dabei für Studnicki
Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 48. Ebd., S. 54. Ebd.
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symbolisch für den russischen Kolonisierungs- und Assimilierungsprozess als Zentraltopos des Russischen Imperiums: In Sibirien beobachtete ich entnationalisierte und russifizierte Stämme, die Russland in rassischer Hinsicht bereicherten. Der Assimilationsprozess war aber nicht nur ein Prozess der Angleichung des Assimilierten, sondern auch ein Prozess des Assimilierenden und brachte einen neuen Typus hervor. Alkoholismus und die Grausamkeit des sibirischen Bauern sind das Ergebnis mongolischen Blutes. Die fehlende Anpassung einer bedeutenden Zahl an russischen Intelligenzlern an die zivilisierten Gesellschaften ist das Ergebnis barbarischen Blutes, das in ihren Adern fließt. ¹⁶⁰
Weiter schreibt Studnicki über Sibirien als Raum russischer Kolonisierung: In Sibirien interessierte mich die Frage nach den Machtfaktoren Russlands. Diese Faktoren waren und sind die riesigen Räume, die vom russischen Staat beherrscht werden, und der Kolonisierungsprozess, der den natürlichen Zuwachs verstärkt, der die Sterblichkeit verringert, der den Wohlstand derjenigen Provinzen aufhebt, die Kolonisten abgeben, und den natürlichen Zuwachs in ebenjenen kolonisierten Provinzen vergrößert, wo jede Arbeitskraft, sogar die des Kindes ein Gottessegen ist.¹⁶¹
Was in der Autobiographie folgt, lässt sich als ein Prozess beschreiben, die Erfahrung des Beherrschtwerdens, der Kolonisierung und Entnationalisierung zu relativieren, indem sich der eigenen – in Studnickis Fall – nationalen und kulturellen Vorzüge vergewissert wird. Eine solche autobiographische Konstruktion lässt sich treffend als post-koloniales autobiographisches Schreiben bezeichnen. Konkret wird diese Konstruktion – die Überhöhung des kolonisierten Selbst in der autobiographischen Lebensbeschreibung – in folgendem Zitat, in dem Studnicki den direkten und persönlichen Kontakt mit Russland als Ausweg aus dem Dilemma (selbstempfundener) polnischer Nachrangigkeit in der russischen Gesellschaftsordnung offeriert. Ihn selbst habe dieser Kontakt von der Anziehungskraft Russlands geheilt: Ich erinnere mich, wie ich, als ich eines Morgens die Etappe entlang schritt, um meinen Platz auf dem Fuhrwerk einzunehmen, sich die Partie der Häftlinge zum Ausmarsch zu formieren begann und ich sie betrachtete. Die breiten Gesichter, die verformten Schädel, die von einer riesigen Beimischung mongolischen Blutes gekennzeichnet waren, riefen in mir Ekel hervor. Das waren sie also, diese Wilden, diese Barbaren‚ als deren Futter die polnische Nation dienen sollte, so dachte ich. Ich spürte einen solchen Ekel, dass ich zu mir sprach: ‚besser, für unsere Nation zu sterben, besser, sich zu germanisieren, als diesen Mongolen als Dünger
Ebd., S. 50. Ebd.
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zu dienen.‘ Dieser Anblick hinterließ in mir einen tiefen Eindruck und war die Grundlage meines zukünftigen Verhältnisses zu Russland während meines ganzen Lebens.¹⁶²
Aus den Zitaten ergibt sich eine Darstellung des imperialen Russlands als zivilisatorisch andersartig, barbarisch und als kulturell schwach ausgebildet. Interessant ist dabei auch Studnickis Vorschlag, sich statt der unterlegenen russischen Nation der deutschen Teilungsmacht unterzuordnen – eine Idee, die den Vorstellungen der Nationaldemokraten und von Roman Dmowski diametral entgegensteht, der in seinen Schriften vor dem Ersten Weltkrieg vielmehr eine pragmatische Annäherung an die als schwach geltende russische Nation propagierte.¹⁶³ Die Spezifik der Russlanderzählung des Autors liegt dabei genau darin begründet, dass die Betonung von Russlands Schwäche der Aufwertung polnischen Selbstverständnisses von nationaler Größe und als Europa zugehörig dient. Denn Studnicki hält in seinen Aufzeichnungen fest, dass das europäische Erbe Polens angesichts der russischen Herrschaft in der Teilungszeit von den Polen selbst infrage gestellt wurde. Studnicki nennt unter anderem die Werke der polnischen Maler und Schriftsteller jener Teilungsperiode, die das Kräfteverhältnis zwischen Polen und Russen falsch abbildeten und deutet deren Darstellungen von Russland und den Russen in den jeweiligen Werken als Akte der Selbsterniedrigung: Der Sieg Russlands über Polen, das russische Joch, so rücksichtslos und streng, begann, in der polnischen Seele, die in der Gefangenschaft geprägt worden war, eine übertriebene Wahrnehmung von der Kraft Russlands und einen Begriff vom Moskoviter als einem geistig starken Menschen zu entwickeln.¹⁶⁴
Es überrascht nicht, dass Studnicki in der Folge die Tätigkeit von Polen im russischen Staatsdienst verurteilt. In deren Russland-loyaler Haltung sieht er einen der Gründe für das Machtverhältnis zwischen Russland und Polen als einem zwischen Zentrum und Peripherie sowie für die – wie er schreibt – drohende Assimilation der Polen in der russisch-imperialen Gesellschaft: Der polnische Beamte war dienstbeflissen, mit Mühe rückte er Stufe um Stufe auf der bürokratischen Leiter vor, er schätzte die erreichte Position sehr, er hatte eine übertriebene Vorstellung von seiner Macht und von seinem Gewicht, welches ihm die Dienstposition verlieh. Ein drittrangiger polnischer Beamter fühlte sich als Würdenträger. Als Fremder und jemand, der sogar einen gewissen Widerwillen gegen die russische Gesellschaft empfand,
Ebd., S. 49. Vgl. Sielezin, Obraz Rosji i Rosjan w polskiej opinii publicznej, S. 171 f. Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 49.
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sorgte er sich nicht um die Erledigung von irgendwelchen Angelegenheiten zum Nutzen der Gesellschaft, sondern um das Erfüllen von Anweisungen, Rundschreiben und Anordnungen seines Vorgesetzten. […] Die polnischen Beamten waren in Sibirien unbeliebt. Ich sympathisierte nicht mit ihnen. Sie wiederum fürchteten den Kontakt mit mir, sie fürchteten meine Strenge im Umgang mit den Leuten und öffentlichen Angelegenheiten. Mir schienen sie beschränkt, ohne Schwung und ohne die frühere polnische Phantasie. Irgendwelche Halbpolen, ethnographisches Material für Russland. Sie russifizierten sich durch Mischehen recht schnell.¹⁶⁵
Polen im russischen Staatsdienst beschreibt Studnicki als egoistisch, unsolidarisch, aber auch als selbstherrlich und arrogant gegenüber ihrer russischen Umgebung – hier kommt ein Kulturalismus zum Ausdruck, mithilfe dessen Studnicki die hierarchische Nachrangigkeit der polnischen Nation im russisch-imperialen Machtgefüge zu kompensieren versucht. Dabei ist es jedoch nicht die kulturelle Arroganz der polnischen Staatsbediensteten, die Studnicki stört, denn durch diese Eigenschaft zeichnet sich der Autor ebenfalls aus. Stattdessen kritisiert er die Polen dafür, ihre kulturelle und zivilisatorische Höherwertigkeit zu verleugnen und zum Zwecke eines individuellen Pragmatismus aufzugeben und sich so den bestehenden Herrschaftsverhältnissen im Russischen Imperium zu ergeben. Die Forderung nach Autonomie und konsequentem Handeln erhebt er denn auch zu einem moralischen Imperativ. Will man Studnickis autobiographische Russlanderzählung an dieser Stelle zusammenfassen, kristallisiert sich aus seinem Gesagten ein barbarisches, unzivilisiertes, nicht zu Europa gehörendes und vor allem aber polenfeindliches Russland heraus – eine Einschätzung, die insbesondere in nationalkonservativen Kreisen der polnischen Intelligenz in der Vorkriegszeit nicht besonders umstritten war. Anders jedoch als etwa Roman Dmowski sieht Studnicki vor allem in dem expansiv-assimilierenden Charakter Russlands eine ernstzunehmende Gefahr für die polnische Nation. Dass ein solches Bild der Aufwertung und der Kompensation eigener nationaler Schwächen dient, wird an der Auswahl der vorgestellten Räume und Personen deutlich. an der russischen Peripherie, an Sibirien und den dort lebenden Russen sowie an den Verbannten – den Ausgestoßenen aus der russisch-imperialen Gesellschaft – vermisst er letztendlich das polnische Selbstverständnis als eines Angehörigen einer europäischen Kulturnation. Wohl kaum etwas verdeutlicht das post-koloniale Denken Studnickis, das sein autobiographisches Schreiben dominiert, mehr als die retrospektive Weigerung, Teil dieser Gesellschaft der Gefangenen und Ausgestoßenen zu sein. Indem Studnicki dieses Bild in seiner Autobiographie betont, aktualisiert er die Ansicht von Russland als
Ebd., S. 55.
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Polen zivilisatorisch unterlegen, erinnert aber eben auch an die Gefahr einer möglichen zukünftigen Expansion des sowjetrussischen Staates auf Kosten Polens. Aus Studnickis russisch-imperialer Erfahrung der Selbstkolonisierung und „Assimilation“ wird so in der Autobiographie eine post-koloniale Erzählung von der Überwindung dieses Phänomens und somit eine Mustererzählung zukünftiger nationaler Kolonisierungsprävention.
„Menschen, die aus Fels gehauen, aus Stahl gegossen sind“: Die Erfindung einer östlichen und kompensatorischen Polonität bei Władysław Studnicki Wie aus der Analyse von Studnickis autobiographischem Schreiben ersichtlich, bestimmt vor allem ein post-kolonialer Blick Studnickis autobiographische Beschreibung von Russland und seiner dort verbrachten Lebensphase. Eine solche Betrachtung Russlands korrespondiert denn auch mit Studnickis Vorstellungen der Polonität und des polnischen Ostens. Alexandra Schweiger fasst in ihrer Analyse zu Studnickis Publizistik von vor 1918 über die früheren polnischen Ostgebiete zusammen, dass die Haltung zu Russland als ewigem Feind der Polen diese Publizistik maßgeblich bestimmte. Für ihn waren die Ostgebiete nicht nur ein Ausdruck des russisch-polnischen Konflikts, sondern vielmehr zentraler Schauplatz: „Grundlegendes Element von Studnickis Bild der Ostgebiete ist ihre Konstruktion als Ort des ewigen polnisch-russischen Kampfes.“¹⁶⁶ Studnickis Konzept des polnischen Ostens beschränkte sich dabei nicht auf die Vorstellung von den Ostgebieten als Grenze und als Schutzmauer vor der russischen Bedrohung, sondern er sah für diese Gebiete vielmehr eine Schlüsselbedeutung in der zukünftigen Entwicklung des polnischen Staates vor. Studnicki argumentierte auch im späten Verlauf des Ersten Weltkriegs für einen Verbleib der mehrheitlich belarussisch, litauisch und ukrainisch besiedelten Gebiete um Wilna, Minsk und westlich von Kiev im polnischen Staat mit dem Bezug auf die Geschichte polnischer Staatlichkeit bis 1772. Dabei sprach er sich für eine jagiellonische bzw. föderalistische Variante zukünftiger polnischer Staatlichkeit aus, jedoch mit der klaren Maßgabe, dass mit der Entstehung eines polnischen Staates der kulturelle und politische Führungsanspruch der Polen einhergehe und für andere Nationalitäten keineswegs das Selbstbestimmungsrecht zu gelten habe.¹⁶⁷ Unter Bezugnahme auf die polnische Besiedlungsgeschichte des Ostens und auf die damit einhergehenden Imaginationen der Gebiete als polnischem
Schweiger, Polens Zukunft liegt im Osten, S. 85. Vgl. ebd., S. 93 f.
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Kolonisierungsraum beanspruchte Studnicki, die Ostgebiete als Siedlungsräume für die Polen aus den Städten und Gebieten Zentralpolens und Westgaliziens zu nutzen, mit wirtschaftlichen und industriellen Reformprogrammen zu versehen und so den polnischen Osten und dessen Außengrenzen und letztlich auch die gesamte polnische Nation zu stärken.¹⁶⁸ Hinter dieser Idee stand die Annahme, den Rückgang der polnischen Bevölkerung in dieser Region zu stoppen und zu einem höherem Anteil der katholischen Bevölkerung zu gelangen. Anders als die Vertreter eines ethnischen Polens, die die polnischen Ostgebiete in dieser Hinsicht für überflüssig ansahen, ging Studnicki vor dem Weltkrieg nicht davon aus, dass die Konflikte zwischen den verschiedenen Nationalitäten die Polen dauerhaft schwächten, sondern dass diese Konflikte vielmehr bereits ein besonderes Geschlecht von Polen, die kresowiacy (abgeleitet von kresy) hervorgebracht hätten. 1907 schrieb er in dem von ihm redigierten Journal Naród a Państwo (Nation und Staat): Diesen Menschenschlag bringen bei uns nur die kresy hervor. Der polnische Stamm ist sehr begabt, aber seine Psyche erinnert an jenen masurischen Sand, auf dem sich nichts lange abzeichnen kann. Nur die Beimischung germanischen, belarussischen, litauischen, sogar ukrainischen Blutes gibt uns Menschen, die aus Fels gehauen, aus Stahl gegossen sind.¹⁶⁹
Aus dem Zitat wird ersichtlich, dass Studnickis Interpretation der jagiellonischen Idee mitnichten im für die polnische irredentistische Linke so typischen Wertegefüge nationaler Selbstbestimmung (die für alle Nationalitäten in Polen zu gelten hatte) verhaftet war, sondern vielmehr einer Melange aus sozialdarwinistischem und chauvinistischen Denken entsprang, das zwar in einem zukünftigen polnischen Staat andere Nationalitäten durchaus anerkannte, ihnen aber eine nationale und polenzentrische Rangordnung auferlegte. Etwas weniger offensichtlich kommt im Zitat ein Element zum Ausdruck, das sich ebenfalls in seinen skizzierten Vorstellungen zur Polonität in den Memoiren wiederfindet. Mit der Beschreibung von der labilen polnischen Psyche meint der Autor ebenjenen Zustand in der Vorkriegszeit zu erkennen, der die polnische Gesellschaft unter den Teilungsmächten auszeichnete. In dieser Beschreibung spiegelt sich gleichfalls die Selbstwahrnehmung als eines Angehörigen der polnischen Vorkriegs-Intelligenz wider, die sich als eine nationale und politische Avantgarde begriff und sich mit einer passiven, im moralischen und nationalen Verfall begriffenen polnischen Gesellschaft konfrontiert sah. In Studnickis Analyse der polnischen Gesellschaft
Vgl. Janion, Niesamowita Słowiańszczyzna, S. 169; Schweiger, Polens Zukunft liegt im Osten, S. 97. Władysław Studnicki, zit. in: Schweiger, Polens Zukunft liegt im Osten, S. 98.
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kommt denn auch die Ernüchterung und Enttäuschung angesichts jener Kluft zwischen Intelligenz und Gesellschaft zum Ausdruck, die sich in den Jahren zwischen der Revolution von 1905 und der Unabhängigkeit Polens in ihren unterschiedlichen Erwartungshaltungen abzeichnete. Wenngleich dieses Problem Teresa Kulak zufolge von vielen Angehörigen der polnischen Intelligenz wahrgenommen wurde, ist für Studnicki spezifisch, dass er dieses Problem mittels der Berufung auf die Östlichkeit polnischer Nationalität, genauer: auf die Erfahrung der in diesen Gebieten angesiedelten kresowiacy zu lösen versuchte.¹⁷⁰ Daneben zeichnete sich Studnickis Verhältnis zur polnischen Gesellschaft durch eine skeptische bis geringschätzige Haltung aus, die besonders in seinen Äußerungen zur polnischen Nation zum Ausdruck kam. Seine Streitschrift Die polnische Frage von 1910 leitete er etwa in Anlehnung an einen Ausspruch von Napoleon Bonaparte mit den Worten ein: „Wir werden sehen, ob die Polen es wert sind, eine Nation zu sein.“¹⁷¹ In seinen Schriften kritisierte er insbesondere die loyalistische Haltung der polnischen Großgrundbesitzer in den westlichen Provinzen des Russischen Imperiums, aber auch die passive Haltung konservativer und nationaldemokratischer Politiker. Welche Spuren dieses nationalen Denkens und der damit verbundenen Vorstellung vom polnischen Osten finden sich nun in den hier zu besprechenden Memoiren Studnickis aus der Zwischenkriegszeit? Zunächst lässt sich in seinen autobiographischen Beschreibungen Studnickis Selbstverständnis als eines Angehörigen der kresy nachvollziehen. So bezeichnet der Autor sich selbst wiederholt als kresowiec, an anderer Stelle schreibt er in einem in der Autobiographie nachgedruckten Nachruf über die Mutter über deren „Geist, verbunden mit dem Geist der Polen, die Polen in den kresy erbauten, in dem alles das steckt, was die kresy zum nationalen Wohl schufen.“¹⁷² Das Bild der Polen als Eroberer und als Hüter der zivilisatorischen Grenze zum Osten hin kommt hier zum Tragen. Weiter kritisiert Studnicki in seinen Memoiren all jene, die sich als Verfechter eines ethnischen Polens entweder für einen Rückzug vom Osten aussprächen, oder die – wie etwa das Stronnictwo Ludowe der Vorkriegszeit – sich ihm zufolge für die Belange der Bauern einsetzten und demgegenüber deren nationalen Zugehörigkeit vernachlässigten.¹⁷³ Die von ihm den ludowcy zugewiesene Annahme, das gemeine Volk täte dem gemeinen Volk nichts an, weist er als falsch zurück.¹⁷⁴
Vgl. Kulak, Mit walki o niepodległość w okresie porozbiorowym, S. 28. Studnicki, Sprawa polska, S. 6. Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 39, 61. Vgl. ebd., S. 87. Vgl. ebd., S. 87.
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In solchen Ideen, die das Element des Nationalen eher nachrangig behandelten, sieht Studnicki denn auch das problematische polnische „Erbe der russischen Idee vom Volk [narodnictwo]“, den „Nebel, aus dem anschließend der polnische Sozialismus, die Volkstumsbewegung [kierunek ludowy] und die Nationale Liga hervorging“.¹⁷⁵ Studnicki weist die These der ludowcy vom friedlichen Miteinander ukrainischer und polnischer Bauern in seiner Autobiographie denn auch entschieden zurück und schreibt in seiner Autobiographie zurückblickend und wohl auch mit Blick auf die zeitgenössische ethnische und soziale Gemengelage in den polnischen Ostgebieten der Polnischen Republik Mitte der zwanziger Jahre: Der polnische Landadelige kann in einem Territorium im Laufe der Jahrhunderte leichter mit dem ruthenischen Bauern zusammenleben, während der polnische und der ruthenische Bauer sich nie miteinander abfinden und sich voneinander abgrenzen. Beide werden einen langen und erbitterten Kampf um das zu erstreitende Territorium ausfechten müssen.¹⁷⁶
In dem Zitat wird erneut Studnickis Idee vom immerwährenden Konflikt im polnischen Osten als Mittel zur Stärkung der polnischen Nation deutlich. Bisher blieb diese Idee jedoch auf den russisch-polnischen Konflikt beschränkt. Indem Studnicki sich in seiner Autobiographie dafür ausspricht, diese Idee auf das polnisch-ukrainische Verhältnis zu übertragen, erhält der Gedankengang vor dem Hintergrund der sich verschärfenden polnisch-ukrainischen Konflikte in den östlichen Grenzgebieten eine zeitgenössische Gegenwartskomponente. Studnickis Einlassung kann durchaus als Äußerung zu einem restriktiveren Umgang mit den Minderheiten in den polnischen Ostgebieten der Zwischenkriegszeit gelesen werden – wenngleich seine Haltung zur ukrainischen Bevölkerung nicht neu ist und sich in seinen Schriftenaus der Zeit des Ersten Weltkriegs und zuvor ähnliche Äußerungen finden lassen.¹⁷⁷ Sein Zugang bleibt dabei ein historischer, der auf
Ebd., S. 86. Bei narodnictwo handelt es sich um eine polonisierte Fassung des russischen Begriffs narodničestvo von Studnicki. Das polnische Wort lud entspricht weitestgehend dem russischen Wort narod (Volk), Dabei wendet sich der Begriff dem „einfachen“ und „gemeinen“ Volk zu. Der Begriff des polnischen naród hingegen entspricht im Deutschen dem Begriff der Nation. Die Ideologie der ludowcy zeichnete sich durch eine Hinwendung zum ländlichen Raum aus und idealisierte das bäuerliche Leben. Dabei orientierten sie sich an den Ideen der russischen Narodniki. Vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 83. Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 87. Zur Minderheitenpolitik in den Ostgebieten in den zwanziger Jahren vgl. Benecke, Benecke 1999. Ukrainer und Litauer sah Studnicki als unfähig zur Bildung eines eigenen Nationalstaats an und begründete mit ihrer Schwäche die polnischen Ansprüche auf die Region. Vgl. Schweiger, Polens Zukunft liegt im Osten, S. 96.
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die vergangene polnische Größe im Osten verweist, und ein demokratie- bzw. revolutionskritischer zugleich – sieht er doch die Schwächung Polens im Osten in der Aufwertung der bäuerlichen Bevölkerung und der damit einhergehenden Abwertung des polnischen Landadels und seiner Rolle als Kultur- und Zivilisationsträger im Russischen Imperium, im revolutionären Russland und im polnischen Staat nach 1918. In Studnickis Vorstellungen zur polnischen Nation aus der Vorkriegszeit kam dem Landadel und vor allem dem polnischen Großgrundbesitz in den Ostgebieten insbesondere in der Vorkriegszeit eine zentrale Rolle zu. Diesen sah er auch als Träger einer wirtschaftlichen Modernisierung und Stärkung der Ostgebiete und plädierte dafür, die Ausnahmestellung des Landadels zu bewahren. Von einer engeren Verzahnung der Wirtschaftskraft in Kongresspolen, die vor allem für den russischen Markt produzierte, mit den Ostgebieten erhoffte sich Studnicki in der Zeit des Ersten Weltkriegs ein Modell für eine zukünftige staatliche Ökonomie.¹⁷⁸ In seiner Autobiographie beschwört er rückblickend vor allem die Einheit von polnischem Bauer und polnischem Großgrundbesitzer gegen die ukrainische Nationalbewegung und äußert sich zu dieser abfällig. Zum Kampf zwischen beiden schreibt der Autor: Ich war Verfechter einer entschieden anti-ukrainischen Haltung [antyruskiego, czyli antyukraińskiego stanowiska]. Ich war ein Befürworter des Einheitsschwurs vom polnischen Volk und den Großgrundbesitzern in Ostgalizien, von der Teilliquidierung der in ihrem Besitz befindlichen Ländereien zum Zwecke der Kolonisierung.¹⁷⁹
Interessant ist dabei auch sein Plädoyer für eine Teilenteignung des polnischen Großgrundbesitzes zur Wahrung des polnischen Besitzstandes im Osten – ein Hinweis auf die veränderten Verhältnisse der Zwischenkriegszeit und auf Studnickis Anpassung der biographischen Erfahrung an die zeitgenössische Gegenwart. Bolesław Wysłouch (1855 – 1937), Landadeliger und Mitinitiator der Bewegung der ludowcy, verkörpert in Studnickis Memoiren denn auch das Idealbild eines solchen polnischen Landadeligen: In ihm saß ein polnischer Landadeliger, der opferbereit, öffentlichen Angelegenheiten gegenüber großzügig und ein Doktrinär der Demokratie war. Wysłouch war in die polnischen Stiche, in die nationalen Malereien im polnischen Stil, in die polnischen Heldentraditionen, die Sagen der polnischen Großväter verliebt. […] In der Nationalisierung des polnischen Bauern in Galizien, im Beitrag zu den Legionen [Polnische Legionen während des Ersten Weltkriegs unter k.u.k. Befehl, M.-B.], in ihrer Fähigkeit zur Mobilisierung für den Kampf im
Vgl. ebd., S. 97. Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 92.
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Jahr 1920 [gegen die sowjetrussischen Truppen, M.-B.] lag das Verdienst der Volkspartei in Galizien, das Verdienst von Maria und Bolesław Wysłouch, die ihre patriotische Tat[!] der Volksbewegung [ruchowi ludowemu] gaben.¹⁸⁰
Mit Verweis auf Wysłouch betont der Autor die eigene Zugehörigkeit zu den polnischen Ostgebieten und sieht in der gemeinsamen Herkunft gar eine „rassische Ähnlichkeit“, die politische Haltung und Intellekt überwinde.¹⁸¹ Studnickis Selbstbild als kresowiec kommt auch in einer in den Memoiren erinnerten Beschreibung des Autors durch Henryk Sienkiewicz zum Ausdruck. Während eines Treffens der beiden anlässlich der geplanten Einweihung des Grunwalddenkmals in Krakau 1910 adelt der Schriftsteller Studnicki in einem Vergleich mit der Heldenfigur Longinus Podbipięta aus Sienkiewiczs Roman Mit Feuer und Schwert. In seinen Memoiren zitiert Studnicki Sienkiewicz mit folgenden Worten: Ich habe über Ihre [Studnickis, M.-B.] Ähnlichkeit zu Podbipięta nachgedacht, als Sie mich fragten, was Sie mit Ihrem Vorfahren gemein hätten; Sie sind schlank und kleiner gebaut, er ist ein Athlet. Aber die Hartnäckigkeit ist Ihre gemeinsame Eigenschaft, Podpibiętas körperliche Fähigkeiten sind auf Ihre intellektuellen Fähigkeiten übergegangen. Der Charakter ist ähnlich – Sie beide dienen der Sache mit religiösem Eifer.¹⁸²
Das Zitat zeigt, wie in der Autobiographie das Selbstverständnis des Autors und seine Vorstellung einer östlich konnotierten Polonität miteinander verschmelzen. Interessant ist dabei Studnickis Wahl Podbipiętas als alter ego. Hinter diesem verbirgt sich eine der Hauptfiguren aus Sienkiewiczs Epos Mit Feuer und Schwert, in der Erzählung von Sienkiewicz wird dieser aber von dem eigentlichen Helden, Jan Skrzetuski, in den Schatten gestellt. Podbipięta verkörpert einen litauischen Adeligen und personifiziert somit das polnisch-litauische Bündnis gegen die ukrainischen Aufständischen um den Anführer Bohdan Chmel′nyc′kyj (1595 – 1657). Indem sich Studnicki von Sienkiewicz zu einem ideologischen Ritter-Denker schlagen lässt, stellt der Autor sein Denken in die Kontinuität einer polnischen Mission der Zivilisierung des Ostena, auch wenn diese Kontinuität eine literarisch imaginierte des späten 19. Jahrhunderts darstellt. Wenngleich die polnischen Ostgebiete und ihre historische Bedeutung in Studnickis Vorstellungen zur Polonität in den Memoiren eine herausragende Rolle spielen, sind seine Bemerkungen diesbezüglich von weiteren Einflussfaktoren gekennzeichnet – Patriotismus und Widerstand gegen Formen fremdbestimmter
Ebd., S. 87. Ebd., S. 69. Ebd., S. 249.
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und freiwilliger Anpassung setzt er als Prinzipien einer Nationalmoral dem moralischen Verfall von polnischen Eliten sowie polnischer Gesellschaft und einer russischen Dominanz entgegen und unterfüttert diese mit etlichen Beispielen. Für Studnickis Polonität ist denn auch das Verhältnis der polnischen Intelligenz zu den russisch-imperialen Machthabern von elementarer Bedeutung. So kritisiert er wiederholt konservative und nationaldemokratische Politiker ob ihrer Loyalität zum Russischen Imperium, wie etwa den Großgrundbesitzer und einflussreichen Nationaldemokraten Maurycy Zamoyski (1871– 1939). Über ihn und andere führende Personen der Nationaldemokraten schreibt Studnicki: Unter dem Einfluss einer äußeren Atmosphäre, die einerseits von Schimmel verpestet, andererseits aber auch vom Opfergeist für die nationale Sache geprägt war, veränderten die gleichen Leute ihr politisches Wesen, ihre politischen Ziele und sogar ihren Charakter völlig, Die Leute im geteilten Polen, einschließlich der gegenwärtigen Generation, die in der Unfreiheit erzogen wurde, kann man generell in lediglich Halbbewusste und Halbverantwortliche unterteilen.¹⁸³
Zamoyski, der sich in der Zeit des Ersten Weltkriegs durch eine loyale Haltung zur russischen Herrschaftsfamilie auszeichnete, sollte sich in der Zwischenkriegszeit zu einer der schillerndsten Figuren der Nationaldemokratie entwickeln und war unter anderem aussichtsreichster Gegenkandidat bei der Wahl Gabriel Narutowiczs (1865 – 1922) zum Präsidenten Polens 1922.¹⁸⁴ Studnickis Kritik in der Autobiographie richtet sich also auch gegen die führenden Personen der Nationaldemokraten in der frühen Zwischenkriegszeit. Dabei geht es ihm darum, das Motiv der Selbstkolonisierung unter die russisch-imperiale Obrigkeit seitens der nationaldemokratischen Eliten in der Teilungszeit, die daraus folgenden ideologischen Inkongruenzen und die Unglaubwürdigkeit ebenjener Politiker in der Zeit des unabhängigen Polen offenzulegen. Der Zusammenhang von biographischer Erfahrung und Polonität kommt auch in Studnickis Staats- und Herrschaftsverständnis zum Ausdruck, das sich in seinem autobiographischen Schreiben durch eine höchst ambivalente Haltung zum demokratischen Wandel in der polnischen Gesellschaft infolge des sozialen Wandels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den daraus hervorgegangenen Strömungen und Parteien auszeichnet. Studnickis demokratieskeptische Haltung hat ihre Wurzeln in seinen Erfahrungen der politischen und publizistischen Arbeit in Kongresspolen und im Russischen Imperium im Kreise der polnischen und der russischen Intelligenz. In der Vorkriegszeit war der Publizist
Ebd., S. 137. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 127.
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mehrfach damit gescheitert, sich parteipolitisch zu engagieren oder genügend Mitstreiter für eine eigene Bewegung um sich zu sammeln. Diese Erfahrung drückt sich auch in seinen den Memoiren zum Ausdruck kommenden Staatsvisionen aus, sieht der Autor doch für die parlamentarische Demokratie in Polen keine Zukunft – mehr noch: anhand etlicher Einlassungen zu Nationaldemokratie und den liberalen polnischen Kräften wird deutlich, dass Studnicki den Parlamentarismus auch aufgrund seiner Erfahrung als Beobachter des russischen Parlaments als Einfallstor einer fremdbestimmten Politikpraxis in einem Peripherie-Zentrumsgefüge skizziert, welchem sich die Akteure beider Bewegungen im frühen 20. Jahrhundert fügten. So beschuldigt er die Nationaldemokraten, ihre Organisationen nach Mustern der Freimaurer strukturiert und auf diesem Wege ihre „demoralisierenden Ideen und Absichten“ verbreitet zu haben.¹⁸⁵ Später wiederholt er diese Vorwürfe, wenn er von Zet, der Jugendorganisation der Nationaldemokratie als „Vasallenorganisation nach dem Muster der Freimaurerlogen“ schreibt und deren Disziplinierungs- und Gehorsamsdrang kritisiert.¹⁸⁶ Den Nationaldemokraten wirft er zudem vor, mit der Verständigung zwischen der Liga Narodowa (Nationalen Liga), der Parteiorganisation der Nationaldemokraten, und den liberal-konservativen Vertretern einer russisch-polnischen Übereinkommens um Erazm Piltz (1851– 1929) während der revolutionären Ereignisse von 1905 den Versuch unternommen zu haben, Irredenta und ugoda miteinander zu vereinen, dabei jedoch vor allem erstere Idee kompromittiert zu haben. Stattdessen hätten die Nationaldemokraten lediglich zur Wahrung der Interessen seitens der besitzenden polnischen und russischen Schichten beigetragen.¹⁸⁷ Ähnlich äußert er sich zu den liberalen Kräften. Auch bei ihnen macht Studnicki rückblickend eine Tendenz zur Selbstanbiederung aus, die sich in diesem Fall jedoch nicht nach den russischen konservativen und regierungsnahen Kreisen richtet, sondern nach den liberalen Teilen der russischen Intelligenz. Dabei zeichnet er anders als die Nationaldemokraten, denen er lediglich Freimaurer-Methoden unterstellt, die liberalen Kräfte als Vasallen des internationalen Freimauertums und spricht damit den polnischen liberalen Kräften jener Zeit jegliche Eigenständigkeit ab. Studnicki wirft ihnen vor: Ihre Sicht, die auf der Glorifizierung der Regeln der Französischen Revolution beruhte, das Fehlen eines historischen Intellekts und eines Nationalbewusstseins, den Glauben an ein fortschrittliches Russland, den Wunsch, sich auf es zu stützen und sich der russischen In-
Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 101. Ebd., S. 251. Ebd., S. 138.
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telligenz anzunähern, erachtete ich als eine selbstmörderische nationale Angelegenheit. Ähnlich wie eine Splittergruppe von Juden, die sich eine Assimilierung vonseiten Polens wünschten und die Assimilierung der Juden als heilsbringendes Nationalprogramm für sich erachteten, so sehnte sich unsere Liberaldemokratie die Angleichung unserer Gesellschaft an Russland, gegenüber Russland war sie also eine Gruppe von polnischen Assimilanten.¹⁸⁸
Die Suggestion von der Verbindung polnischer Liberaler zu den Freimaurern dient Studnicki augenscheinlich zur Diffamierung derselben. Gleiches gilt für den Vergleich mit den jüdischen „Assimilanten“, der Studnickis kompensatorischpatriarchalische Haltung zur jüdischen Intelligenz offenbart, die in mehreren Stellen der Autobiographie zum Ausdruck kommt.¹⁸⁹ Dabei geht es Studnicki aber vor allem um die Skizzierung eines russisch-polnischen Amalgams, das sich ihm zufolge in einer personellen jüdisch-polnischen Verbindung innerhalb der polnischen liberalen Bewegung nach 1905 ausdrückte und eine Unterwanderung der polnischen Intelligenz durch jüdisch-assimilatorische Kräfte beschreibt: Die Fortschrittler hatten einen Flirt mit Russland begonnen, sie waren es auch, die die ersten Verfechter eines Autonomieprogramms für das Königreich [Königreich Polen, M.-B.] waren; die Angelegenheit der östlichen Provinzen war ihnen stets fremd. Das semitische Element formte den geistigen Grund für die Fortschrittliche Demokratie [gemeint ist die Polska Partia Postępowa (Polnische Fortschrittliche Partei) unter Führung von Aleksander Świętochowski, M.-B].¹⁹⁰
Studnicki äußert sich in seinen Memoiren also durch eine extrem skeptische Haltung gegenüber nahezu allen polnischen Parteien in der Zeit vor dem Weltkrieg und begründet dies vor allem mit deren russlandfreundlicher Haltung. Hinweise auf Studnickis Vorstellungen in der Vorkriegszeit bezüglich der Verfasstheit eines zukünftigen polnischen Staates finden sich wiederholt in seinen Memoiren. In seinen Bemerkungen äußert er sich in zweierlei Hinsicht. Zum einen sieht er in der Schaffung eines nationalen Militärkorpus, genauer: in der Schaffung einer militaristischen Gesinnung das prioritäre Betätigungsfeld der polnischen Intelligenz und die Kernkomponente einer polnischen raison d’être, zum anderen stellt für ihn die konstitutionelle Monarchie die ideale Regie Ebd., S. 196. Solche Haltungen dienten in der Vorkriegszeit der Kompensierung einer selbst empfundenen Stigmatisierung Polens im Russischen Imperium insbesondere im russischen Teilungsgebiet. Vgl. Wolfgang Stephan Kissel: Einschließende Ausgrenzung: Figuren der Exklusion in wechselseitigen Konzeptualisierungen Polens und Rußlands, in: Exklusion. Chronotopoi der Ausgrenzung in der russischen und polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. von dems. und Franziska ThunHohenstein, München 2006, S. 13 – 35. Vgl. dazu ebenfalls Steffen, Jüdische Polonität, S. 253. Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 197.
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rungsform eines zukünftigen polnischen Staats in nationalhistorischer Hinsicht und hinsichtlich seiner Erfahrung der russischen Revolution von 1905 dar. Anlässlich einer Episode in der Autobiographie zur Bildung der irredentistischen Organisation Liga Niepodległościowa (Unabhängigkeitsliga) in Galizien 1908 äußert er sich über die polnische Geschichte und macht deutlich, dass die Wiedererschaffung Polens als einer Monarchie am stärksten nationalen Werten und Traditionen entsprochen hätte: Die Organisation hatte eine unabhängige polnische Republik zum Ziel. Meine jungen Freunde aber waren Verfechter eines monarchistischen Systems für Polen und sehnten sich danach, dass das wiedergeborene Polen stark sei und verstanden, dass eine Monarchie die Kraft der Nation leichter konzentriere und dass es leichter sei, in einem monarchistischen System zu regieren, als in einem republikanischen. Diese Ideen waren unzweifelhaft von mir entwickelt worden.¹⁹¹
An anderer Stelle äußert er sich rückblickend zum Krakauer Wawel als geistigem Zentrum einer zukünftigen polnischen Monarchie. Dabei vergisst er nicht, auf die Frontstellung einer solchen Monarchie gegenüber Russland zu verweisen: Das war das Schloss der früheren und der kommenden Könige. Hier sollte sich der polnische König im Weltkrieg krönen lassen. Das Zepter konnte die Ursache unseres Untergangs sein. Die Wiedergeburt oder die letzte Folter Polens, beides würde vom Wawel verkündet. Die Entweihung Polens würde folgen, wenn auf dem Wawel die russische Flagge gehisst werden würde.¹⁹²
Während Studnicki in seiner Autobiographie mehrfach die historische Bedeutung und die nach wie vor aktuelle Relevanz einer monarchistischen Ordnung für Polen betont, präzisiert er seine Vorstellungen zur Schaffung eines unabhängigen Polens mit Verweisen auf die bedeutende Rolle eines polnischen Militärs. So erinnert der Autor in seiner Autobiographie ein Treffen der parteiübergreifenden Komisja Tymczasowa Skonfederowanych Stronnictw Niepodległościowych im Jahre 1912 und zitiert in seiner Autobiographie aus seinem damaligen Redebeitrag: Das erste staatsschaffende Organ ist die Armee, danach entstehen alle anderen Organe, aber die Organisation, die das Territorium beherrscht, gibt den Befehl zur Strafensanktionierung – dies ist dann bereits ein Staat. Heute formen wir die Keimzelle einer Armee, in der Zeit des Krieges werden wir eine Armee und einen Staat bilden. Wir brauchen keine Minderheitsoder Mehrheitsvoten. Die organisierte Minderheit, die die Waffengewalt innehat, kann seine
Ebd., S. 288. Ebd., S. 261.
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Macht der Gesellschaft überwerfen. Wenn diese Macht zur Befreiung führen wird, dann besiegt sie die moralische Unterwerfung der Gesellschaft.¹⁹³
Das Zitat deutet ein Staats- und Herrschaftsverständnis Studnickis an, das Staatlichkeit weniger als ein Geflecht verschiedener Institutionen aus Politik, Recht, Wirtschaft und Gesellschaft zeichnet, sondern homogene Territorialität und militärische Gewalt als Gründungsprinzipien des polnischen Staats postuliert. Von zentraler Bedeutung ist hier Studnickis Aussage zur bewaffneten Minderheit, die ihren Willen der Gesellschaft überwerfen könne. Wenn auch nur indirekt, so erinnern Studnickis Äußerungen durchaus an andere bereits zitierte Bemerkungen von ihm zu den Vorstellungen russischer Revolutionäre über die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Umbruchs, wie etwa zum Blanquismus.¹⁹⁴ Klar ist aber: Studnicki war aufgrund seiner politischen Biographie mit dem Gedankengut russischen sozialistischen und revolutionären Denkens vertraut, seine Aussage deutet zudem auf ein gemeinsames autoritäres Erbe der radikalen russischen und der radikalen polnischen Intelligenz hin, das sich aus der Erfahrung der Konspiration, der Opposition und der Verfolgung durch das Imperium heraus in der Geringschätzung einer demokratisch-parlamentarischen Ordnung und in der Präferierung einer autoritären, mit militärischer Gewalt herbeigeführten Herrschaft ausdrückt. Hier stellt sich nicht zuletzt die Frage nach den Leerstellen autobiographischen Schreibens bei Studnicki, die weiter unten behandelt werden sollen. Übrigens finden sich auch für die zeitgenössische Leserschaft Anknüpfungspunkte an Studnickis Thesen. So fällt die zeitliche Nähe der Entstehung von Studnickis autobiographischen Schriften zum sogenannten Maiumsturz von 1926 auf. Aus Studnickis Äußerungen zur Rolle des Militärs für die Gründung eines polnischen Nationalstaats und zur Monarchie als geeignetster Staatsform ergibt sich ein Bild der polnischen Staatsmacht, das durchaus Gemeinsamkeiten mit den aktuellen Entwicklungen im zeitgenössischen Polen hatte. Der im Mai 1926 von Piłsudski und ihm wohlgesonnenen militärischen Kräften durchgeführte Sturz der polnischen Regierung um Wincenty Witos war demnach ganz im Interesse Studnickis, wie auch Marek Figura in seiner politischen Biographie zu Studnicki feststellt. Ihm zufolge sah Studnicki mit dem Putsch den geeigneten Moment gekommen, das parlamentarische System abzuschaffen und durch ein Ratssystem mit einem regierenden Staatsrat zu ersetzen. Dies war nicht weniger als ein Plädoyer für die bereits in der Autobiographie geäußerten Vorstellungen Stud-
Ebd., S. 359. Vgl. ebd., S. 47.
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nickis zu einem militärisch-autoritären Regime gegen den moralischen und gesellschaftlichen Verfall der polnischen Nation.¹⁹⁵ Studnickis Äußerungen zum Wahlrecht, die er interessanterweise mit eigenen Erfahrungen zum Prozess der Dumawahlen 1905 unterfüttert, belegen ebenfalls seine ablehnende Haltung zu Formen parlamentarischer Demokratie und verdeutlichen zudem Studnickis konservative Haltung zum sozialen Wandel: So spricht er sich in seinen Erinnerungen an seine Zeit in Sankt Petersburg 1905 für ein indirektes Dreiklassenwahlrecht aus. Seine Teilnahme an einer Sitzung der russischen liberal-oppositionellen Vol’noe èkonomičeskoe obščestvo (Freie Ökonomische Gesellschaft) im gleichen Jahr erinnernd schreibt er: In der Diskussion ergriff ich die Stimme, deutete an, dass mich das Verhältnis der russischen Intelligenz zu den Bauern an das Verhältnis der Kaffire [pejorative Bezeichnung für Personen dunkler Hautfarbe, M.-B.] zu den Affen erinnere: der Affe wisse alles, verstehe alles, spreche aber nicht, weil er nicht wolle. Der Bauer wisse alles, verstehe alles, aber ausdrücken würde er sich mit keinem Wort. Die Demokratisierung des Wahlsystems habe selbst in Ländern, die unter zivilisatorischen Gesichtspunkten bedeutend höher ständen, immer eine Herabsenkung des Niveaus der nationalen Repräsentanten hervorgerufen. Wenn Russland nun mit dem demokratischsten [Wahlsystem, M.-B.] begänne und so der zahlreichsten und am wenigsten gebildeten Schicht – dem Bauerntum – politisches Gewicht verleihe, würde sich das russische Parlament als unregierbar erweisen, es könne keine schwierigen Fragen zur Anhebung der Produktion lösen oder mit Umverteilungsplänen auf den Plan treten und würde ohnedies die schwach entwickelte Produktion in Russland herabsetzen.¹⁹⁶
Neben Studnickis Vergleich von Menschen dunkler Hautfarbe mit Affen, der Studnickis zivilisatorisches und völkisch-kulturalistisches Denken offenbart, wird aus dem Zitat seine skeptische Haltung zum sozialen Wandel deutlich. Angst vor dem Verlust der Privilegien der bürgerlichen Eliten und des Großgrundbesitzes dominiert hier sein gesellschaftliches Denken. Daneben liefert das Zitat eine weitere Beobachtung. Studnicki verlässt darin die Perspektive eines polnischen Beobachters und wird zum Teilnehmer einer Debatte der russischen Intelligenz über das zukünftige Bild der Gesellschaft – ein weiteres Indiz, das auf Widersprüche und Leerstellen in Studnickis autobiographischem Schreiben hinweist. Aus den bisherigen Skizzen zu Studnickis Polonitätsvorstellungen wird der Einfluss seiner russisch-imperialen Erfahrung und die ihr zugeschriebene Be-
Figura zufolge bemühte sich Studnicki infolge des Putsches um ein Treffen mit Piłsudski, um diesen zur Aufgabe jeglicher demokratischer Gesinnung zu bewegen und stattdessen mit dem Sieg über die regierungsnahen Truppen die Staatsgewalt in die Hände eines zu gründenden provisorischen Staatsrats zu legen, welcher wiederum eine Verfassung zugunsten Piłsudskis ausarbeiten sollte. Vgl. Figura, Rosja w myśli politycznej Władysława Studnickiego, S. 154 f. Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 147.
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deutung als Ausgangspunkt für eine solche Idee ersichtlich. Studnickis Polonität kennzeichnet neben der Schlüsselrolle der kresy als geographischem und ideologischem Zentrum und neben einem autoritären und demokratiekritischen Verständnis von Politik und Staatlichkeit eine post-koloniale Komponente, die hier bereits mehrfach offengelegt werden konnte. Die Vorstellung von der negativen Beeinflussung der polnischen Nation und ihrer politischen Führerschaft durch kulturell und zivilisatorisch fremde Elemente und die in der Folge daraus entstehende Selbstentwertung und Selbstkolonisierung der polnischen Nation durch die polnische Intelligenz – von Studnickis Russlanderfahrung unterfüttert und durch diese authentifiziert – bilden jedoch den Kern von Studnickis Entwurf einer kompensatorischen Polonität. Seine Autobiographie von 1928 liest sich in dieser Hinsicht als Aufruf zur Fortsetzung eines Kampfes um die Lebensfähigkeit des polnischen Staats mit ebenjenen Mitteln, die bereits die polnische irredentistische Intelligenz der Vorkriegszeit kennzeichneten. Zunächst konstatiert Studnicki in seiner Autobiographie das Vermächtnis einer selbstverschuldeten Kolonialisierung Polens im späten 19. Jahrhundert sowohl in den politischen Eliten als auch in großen Teilen der Gesellschaft in der Teilungszeit, das mit der Feststellung von einer separierten polnischen Gesellschaft einhergeht, die in der Zeit der Teilungen Polens in den jeweiligen polnischen Gebieten und im Exil auseinanderdriftende Mentalitäten des Egoismus und des Eigennutzes entwickelte. Als „geistiges Schmarotzertum“ kritisiert er die Anbiederungsversuche der polnischen Eliten in Kongresspolen, als „Gefangene“ beschreibt er die polnischen Jugendlichen, die im Inneren Russlands studierten und arbeiteten, als „nationale Leichen“ diejenigen Polen, die nach einer erfolgreichen Karriere aus Russland nach Polen zurückkehrten.¹⁹⁷ Ähnlich charakterisiert er rückblickend die Polen im preußischen Teilungsgebiet, die sich im Falle einer Tolerierung der polnischen Bevölkerung durch Preußen mit ihrem politischen Dasein zufreidengaben, die zwar über einen religiösen, sprachlichen und kulturellen Patriotismus verfügten, nicht jedoch über einen politischen.¹⁹⁸ In der Folge weitet der Autor sein Urteil über die Passivität und den Verlust des Nationalbewusstseins seitens der Polen auch auf die polnischen Wirtschaftsmigrantinnen und -migranten aus, die Polen zum Ende 19. Jahrhunderts und zum Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend verließen und in die wirtschaftlichen Zentren nach Amerika und in Europa und Russland auswanderten: [W]ir waren aufgrund des Fehlens eines eigenen Staates der fünfte Stand Amerikas und Europas, und dies bedeutete, dass wir in der Welt in einen tiefen Schlaf fielen und dabei den
Ebd., S. 181. Vgl. ebd., S. 307.
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zivilisierteren Nationen den einfachen Arbeiter gaben und die gesellschaftlich niedrigste und am meisten benachteiligte Schicht stellten.¹⁹⁹
Studnicki dehnt also in seinen Memoiren seine Annahme von der selbstverschuldeten Kolonialisierung und der Selbstverortung Polens am Rande des russisch-imperialen Peripherie-Zentrums-Gefüges auf weite Teile der polnischen Vorkriegsgesellschaft aus. Als zentrale biographische Erfahrungen, die diesen Beobachtungen zugrunde liegen, wählt der Autor in seinen autobiographischen Schriften die Zeit des Russisch-Japanischen Kriegs und der darauf folgenden revolutionären Ereignisse in Russland und in Warschau aus, die nach Studnicki zum einen zwar die Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts zwischen dem Russischen Imperium und seinen Nachbarstaaten vor Augen führten und in der Folge die Perspektive eines polnischen Staates eröffneten, zum anderen jedoch das Maß der von der polnischen Gesellschaft selbstgewählten Unterordnung unter die Herrschaft des Russischen Imperiums seitens des Imperiums, aber auch seitens der russischen Dissidenten erst offen legten: Eine deutliche Splittergruppe unserer Nation erkannte freiwillig die politische Hegemonie Petersburgs an. […] Ein bedeutender Teil unserer Intelligenz bemühte sich zudem, sich an die russische Intelligenz anzupassen und blieb mit dieser organisch verbunden.²⁰⁰
Zu den polnischen Reaktionen auf die Demonstrationen in Sankt Petersburg im Frühjahr 1905 heißt es bei Studnicki 1928 weiter: 1905 kam es zu einem gewaltigen Wandel. In den Cafés lasen nicht nur russische Offiziere und Beamte die Petersburger Zeitungen, sondern auch die polnische Öffentlichkeit. Dies rührte in bedeutendem Maße von dem Umstand her, dass die russische Presse 1905 nahezu frei war, während die polnische Presse insbesondere in der ersten Hälfte des Jahres einen zunehmenden Zensurdruck erfuhr. Damals verstand ich, dass, sollte eine wie auch immer geartete politische Halbfreiheit eintreten, der Unterschied in der Unterdrückung im inneren Russland und in der allochthonen Provinz beträchtlich werde, dass, wenn dort [in Russland, M.-B.] das politische und geistige Leben gestärkt werde, wir psychisch unterdrückt würden und uns politisch russifizierten. Die Periode von 1905 bis 1914 zeigte, dass sich meine Annahme als richtig erwies.²⁰¹
Ebd., S. 76 f. Ebd., S. 133. Ebd., S. 134.
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Mit der autobiographischen Bezeugung der eigenen biographischen Erfahrung entwirft der Autor die These, dass die unmittelbare Vorkriegszeit keineswegs von einer Mobilisierung der polnischen Gesellschaft und einer nationalen Bewusstseinswerdung geprägt war, sondern dass im Gegenteil diese Zeit von einer zunehmenden Resignation und Passivität sowohl seitens der polnischen Intelligenz und der restlichen polnischen Bevölkerung geprägt war. Die revolutionären Ereignisse von 1905 sind in dieser Lesart keineswegs Ausgangspunkt einer längeren, von der polnischen Intelligenz forcierten Entwicklung hin zum unabhängigen Polen, sondern lediglich Ausdruck eines Unterordnungsversuchs Polens in den russischen Einflussbereich – sei es durch die russisch-imperialen Kräfte oder auch durch die russische anti-imperiale Intelligenz. Studnicki beschreibt denn auch die Ereignisse von 1905 nicht als Revolution, sondern sieht in Russisch-Japanischem Krieg und den Demonstrationen von 1905 eine bis 1917 anhaltende „Staatskrise“, die zwar mit dem Untergang des Russischen Imperiums endete, nicht aber mit der Zerschlagung des russischen Staatsgebildes.²⁰² Die Möglichkeit einer drohenden Niederlage im Krieg von 1904 und 1905 hätte sich, so Studnicki weiter, tief in das russisch-gesellschaftliche Bewusstsein eingeprägt und mit der wachsenden Unzufriedenheit als eine grundlegende Verunsicherung auf die „Psychologie der Massen“ ausgewirkt.²⁰³ Diese gesellschaftliche Verunsicherung sieht Studnicki denn auch als Triebkraft einer neuerlichen Unterdrückung und Russifizierung Polens durch Russland nach 1905. Eine Möglichkeit zur Befriedung des Verhältnisses sieht der Autor jedoch nicht in der Verständigung russischer und polnischer oppositioneller Kreise, sei es etwa in der Form einer Autonomie Polens innerhalb Russlands, die die Liberalen um Świętochowski und die polnischen Nationaldemokraten anvisierten: Im Falle einer Autonomie des Königreiches wären sie [die in Polen tätigen russischen Beamten und Staatsangestellten, M.-B.] ins innere Russland zurückgekehrt, wo sie die Nachricht verbreitet hätten, dass ihnen Schande angetan wurde und dass ebendies Russlands Schande sei; aber im Falle einer Nichtbefriedigung der polnischen Bestrebungen hätten ebendiese Bestrebungen zusammen mit den Bestrebungen der anderen unterdrückten Nationen Russlands diesen Staat zersprengt.²⁰⁴
Ebd., S. 140. Ebd., S. 142. Ebd., S. 144. Studnicki gibt an der gleichen Stelle an, dass er beabsichtigte, den erwähnten Beitrag als Replik auf einen Beitrag von Fedor Rodičev (1854– 1933) im russischen Journal Pravo zu veröffentlichen. Rodičev hatte sich darin für eine polnisch-russische Verständigung liberaler Kreise und für eine weitreichende polnische Autonomie ausgesprochen. Der Beitrag wurde Studnicki zufolge jedoch auf Geheiß der Redaktion nicht abgedruckt.
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3 „Für unsere und für Eure Freiheit“?
Wie das Zitat zeigt, betont Studnicki rückblickend vor allem die Wichtigkeit eines Bündnisses aller von Russland beherrschten nicht-russischen Nationen gegen das Imperium zum Zwecke der Zerschlagung desselben. Damit will er deutlich machen, dass er sich in der Zeit der Revolution von 1905 um eine dezidiert antiimperiale Haltung der polnischen Intelligenz und um ihren Anschluss an andere gegen das imperiale Russland gerichtete Nationalbewegungen bemühte. Mit dieser Meinung schreibt sich Studnicki in die polnische Denktradition des Prometheismus ein, dessen Wurzeln in den Plänen des polnischen Exils in Paris in den 1830er Jahren zur Zerschlagung Russlands liegen und in der ersten Hälfte der Zwischenkriegszeit neue Nahrung erhielten. Das Programm der PrometheismusBewegung im unabhängigen Polen bestand in der Unterstützung der im sowjetischen Russland befindlichen Nationalbewegungen. Die Bewegung erhoffte sich von deren Stärkung eine Schwächung und im besten Fall eine Zerschlagung Sowjetrusslands.²⁰⁵ Anders jedoch als den Prometheisten geht es Studnicki in den aus seiner Autobiographie ersichtlichen Vorstellungen zur Polonität nicht darum, eine Interessengemeinschaft der von Russland unterdrückten Nationen mitzugestalten, sondern stattdessen Polen aus dem Konglomerat der von Russland beherrschten Nationen zu entfernen und letztlich die Rolle Polens im Osten aufzuwerten: Als ich mich in die Zukunft Russlands hineindachte, sah ich das Ringen zweier gegensätzlicher Elemente [revolutionärer und reaktionärer Kräfte, M.-B.]. Nicht in diesem russischen Abgrund zu versinken, sondern eine eigene Staatlichkeit zu formieren, das sollte meiner Meinung nach das politische Programm Polens sein.²⁰⁶
In dieser Selbstermächtigung des geteilten Polens, in der Loslösung Polens aus dem russischen Einflussbereich und seiner anschließenden Selbstbehauptung sieht Studnicki auch in seiner Autobiographie den Wesenkern polnischer Staatsraison. Diese geht dabei für Studnicki zwingend mit der Annahme von der Frontstellung Polens im Osten einher.
Vgl. dazu u. a. Marek Kornat: Idea prometejska a polska polityka zagraniczna (1921– 1939/ 40), in: Ruch prometejski i walka o przebudowe̜ Europy Wschodniej (1918 – 1940). Studia i szkice, hg. von dems., Warszawa 2012, S. 35 – 90. Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 160.
3.2 Władysław Studnicki (1867 – 1953)
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Erzählte und verschwiegene Erfahrung in Władysław Studnickis Memoiren Für die Analyse, welche Ausschnitte aus seinen Erlebnissen der Teilungs- und Kriegszeit Władysław Studnicki für die erzählerische Deutung seiner Biographie auswählt, welche Vorstellungen des Nationalen und welches Selbstbild der Autor dabei von sich entwirft und auf welche Erlebnisse er zugunsten einer sinnstiftenden Lebenserzählung verzichtet, bietet sich die Betrachtung einer Episode in den Memoiren über Studnickis Versuche nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs an, im von den deutschen Truppen besetzten Częstochowa Freiwillige für eine polnische Militärformation unter deutschem Kommando zu rekrutieren. Der Autor beschreibt, wie skeptisch die lokale Gesellschaft, die zudem unter dem Eindruck des Vorrückens russischer Truppen nach Westen stand, ihm und seiner Aufgabe gegenüberstand: Am nächsten Morgen berichtete ich dem Kommandanten Aschenbach, dass ich mich von Attacken russischer Agenten bedroht fühlte, dass ich einige Wochen zuvor von der Seite beschossen und am gestrigen Tag bedroht wurde, dass ich deshalb gern einen Revolver haben würde. Sofort ging Aschenbach in ein anderes Zimmer und brachte mir einen kleinen schönen Browning und bot ihn mir an. Der Revolver war ein ganzes Jahr lang mein geliebter Freund. Als die militärische Situation schwierig wurde, etwa nach der Eroberung von Lwów durch die Moskoviter[!], sah ich den Revolver als einen Gegenstand an, der mich aus dem Nebel der Gefangenschaft befreien würde. Ich hatte mich entschieden, die Kriegsniederlage nicht mehr erleben zu müssen und verstand, dass ein Sieg Russlands unser [Polens, M.-B.] Untergang sei, die letzte Verderbnis, der Verzicht der Hoffnung auf die Unabhängigkeit für immer, somit die Zurückweisung all dessen, was die Triebkraft meiner gesamten mehr als zwanzig Jahre dauernden Tätigkeit meines bewussten politischen Lebens gewesen war.²⁰⁷
In dieser Selbstbeschreibung kulminieren die Wesensmerkmale der autobiographischen Lebenserzählung Studnickis. Der Autor wird zum einsamen Kämpfer, der Erste Weltkrieg zur Arena eines finalen Kampfes um die nationale Existenz Polens, Russland wird zu Polens Hauptfeind erklärt.Weiter wird deutlich, wie sehr sich Studnicki mit der Annahme des Revolvers in die Obhut der deutschen Besatzer begibt, in denen er nicht weniger als die Bewahrer der Existenz Polens in Europa sieht. Mit der Andeutung des Märtyrertods im Falle eines Sieges der russischen Kriegspartei hebt Studnicki die eigene Kompromisslosigkeit hervor und verleiht seiner Tätigkeit einen martialischen, endzeitlichen Anstrich. Die eigene Bewaffnung dient dabei der Versinnbildlichung des Eintritts von Studnickis – und Polens – Kampf mit Russland in die entscheidende Phase.
Ebd.
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3 „Für unsere und für Eure Freiheit“?
Es ist wohl dieses Selbstbild, das Studnicki von sich in die polnische Öffentlichkeit der späten zwanziger Jahre transportiert sehen will. Obwohl der Autor in seiner Autobiographie immer wieder auf die eigene Isoliertheit sowie die fehlenden Verbindungen zwischen irredentistischer Intelligenz und polnischen Gesellschaft sowie auf seine Rolle als marginalisierter Repräsentant seiner Generation zu sprechen kommt, liefert er ein Bild von der Intelligenz und von Russland, das sich als durchaus anschlussfähig an die Debatten der späten zwanziger Jahre um die Wahrnehmung des Russischen Imperiums, um die passive Rolle der polnischen Gesellschaft im Vorfeld und während des Ersten Weltkriegs sowie um den Beitrag der polnischen Intelligenz zur Unabhängigkeit Polens erweist. Auch in Studnickis Autobiographie finden sich Bemühungen, eine nationale Meistererzählung von Polens Unabhängigkeit und des Prozesses dahin zu entwerfen, die auf die zeitgenössischen Erfordernisse und gesellschaftlichen wie auch internationalen Gegebenheiten der Zwischenkriegszeit getrimmt wird. In den autobiographischen Erzählungen imperialer Erfahrung aus der Zwischenkriegszeit machen Frank Hadler und Matthias Mesenhöller einen rhetorischen Dreiklang von „Nationalität – Entwicklung – Europäizität“ aus und interpretieren diesen als Versuch, das Thema der Nation und die Geschichte der Teilungszeit als stilisierten Befreiungskampf gegen die Herrschaft der Imperien in den Rahmen eines europäischen Zivilisations- und Modernisierungsprozesses zu integrieren.²⁰⁸ Das Bild vom Revolver tragenden Intellektuellen bei Studnicki ist ebenfalls Ausdruck einer autobiographischen Inszenierung, die wiederum den Verzicht oder die bewusste Verschweigung anderer, dieser Interpretation widersprechender Erfahrungen und Emotionen in Kauf nimmt. Exemplarisch für die selektive autobiographische Darstellung des eigenen Lebens ist eine Äußerung von Studnickis Sohn Konrad in einem Zeitungsbeitrag in den achtziger Jahren. Darin äußert er sich über die Russlandkenntnisse des Vaters mit folgenden Worten: „Vater kannte die russische Literatur ausgezeichnet und liebte sie – aber das war eine Liebe, die man als sündig bezeichnen musste. Der Ostgebiets-Patriotismus kannte keinen Kompromiss.“²⁰⁹ Konrad Studnickis Erwähnung der literarischen Interessen seines Vaters stellt einen wichtigen Hinweis auf Studnickis intime Kenntnis und Sympathie für die russische Literatur dar und offenbart Władysław Studnickis selektiven Ansatz beim autobiographischen Schreiben. Die Kluft zwischen dem autobiographisch transportierten Selbstbild des Autors und der darin verschwiegenen, jedoch vom Sohn bekundeten Sym Hadler, Mesenhöller, Repräsentationen imperialer Erfahrung in Ostmitteleuropa, S. 25. Das Zitat wurde entnommen aus: Konrad Studnicki-Gizbert: Władysław Studnicki, in: Tygodnik Polski, 30. Juni 1986, abgedruckt im Anhang bei: Władysław Studnicki: Tragiczne manowce. Próby przeciwdziałania katastrofom narodowym 1939 – 1945, Gdańsk 1995, S. 207.
3.2 Władysław Studnicki (1867 – 1953)
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pathie für die russische Literatur deutet die sozialen und nationalen, aber auch die selbst auferlegten Bedingungen und Zwänge des Autors an. Bei genauerer Betrachtung finden sich auch in Studnickis Autobiographie selbst Hinweise auf eine selektive Darstellung Russlands und des polnischen Ostens sowie auf Widersprüche in der autobiographischen Erzählung. So wird anhand des bereits genannten Redebeitrags Studnickis während eines Treffens von Regimegegnern in der Vol’noe èkonomičeskoe obščestvo im Sommer 1905 deutlich, wie aktiv sich Studnicki in der Teilungszeit auch im Austausch mit russischen oppositionellen und liberalen Kräften an der Diskussion eines zukünftigen demokratischeren Wahlrechts beteiligte.²¹⁰ In der Autobiographie wird dieses Engagement zur Tätigkeit für ein zu erkämpfendes freies Polen umgedeutet. Dennoch steht sein Engagement in der russischen Oppositionsbewegung im offenen Widerspruch zu seiner Annahme vom polnisch-russischen Antagonismus, mit dem er auch die mögliche Zusammenarbeit von polnischer und russischer Intelligenz an anderen Stellen entschieden zurückweist. Schweiger hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass Studnicki unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse von 1905 eine russisch-polnische Föderation anstrebte.²¹¹ Wie bereits weiter oben beschrieben, weist der Autor in seinen Erinnerungen auf einen von ihm 1905 verfassten kritischen Beitrag über die Möglichkeit eines autonomen Polens innerhalb des Russischen Imperiums hin – eine Idee, wie sie aber ebenso intensiv in den russischen liberalen Kreisen diskutiert wurde.²¹² Die – wenn auch nicht immer erfolgreiche – Publikationstätigkeit in russischen Journalen wie Pravo (Recht) oder Naša Žizn‘ (Unser Leben) lässt weitere Rückschlüsse auf Studnickis Engagement in diesen Kreisen zu. In der Autobiographie setzt sich Studnicki durchaus kritisch mit seiner Publizistik in russischen Zeitungen auseinander. Dabei rechtfertigt er sich für diese mit dem Verweis darauf, dass er die Schwächen Russlands analysieren wollte, so dass „sie [Russlands Schwächen, M.-B.] den inneren und äußeren Gegnern Russlands eine Waffe geben würden.“²¹³ Der Autor berichtet über etliche Artikel, die er in Zeitungen wie der den Sozialrevolutionären nahestehenden Syn Otečestva (Sohn des Vaterlands) publizierte – aus Geldnot, wie er selbst schreibt: Ich schrieb bedauerlicherweise in der russischen Presse, generell aber recht wenig. In der Zeitung Syn Otečestva, dem radikalen Organ der S. R. [Abk. für Partei der Sozialrevolutionäre, M.-B.], schrieb ich über Russlands Finanzen. […] Nach einer Woche kehrten meine
Vgl. Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 147. Vgl. Schweiger, Polens Zukunft liegt im Osten, S. 83. Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 144 f. Ebd., S. 145.
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früheren Kenntnisse der russischen Sprache zurück und das Schreiben auf Russisch machte mir schon keine Mühe mehr. Aber ich wollte nicht, ich fürchtete, Russlands Interessen mit einer publizistischen Tätigkeit zu dienen. […] Das Ziel meiner Artikel über die Politik Russlands hinsichtlich Polens war nicht, unsere Leiden aufzurechnen, sondern unser Bewusstsein über das russische Unrecht zu stärken, denn meiner Meinung nach konnten sie [die polnischen Leiden, M.-B.] nur mit Blut und Eisen aufgerechnet werden.²¹⁴
Wenngleich Studnicki also seine Tätigkeit in den Kreisen der russischen Intelligenz benennt, betont er an etlichen Stellen, dass diese Tätigkeit vor allem dazu diente, eine anti-russische Haltung in der polnischen Intelligenz zu etablieren. Inwiefern Studnicki selbst der von ihm verwendeten martialischen Rhetorik des polnisch-russischen Kampfes zur Begründung seiner Tätigkeit in der Revolution Glauben schenkt, lässt sich natürlich nicht nachweisen. Interessant ist jedoch, dass in einer anderen Beschreibung zu den revolutionären Ereignissen von 1917 solch eine Rhetorik fehlt. Es wäre wohl im Sinne einer polnisch-patriotischen und anti-russisch eingestellten Leserschaft gewesen, wenn Studnicki den Zusammenbruch des Russischen Imperiums und das daraus hervorgegangene unabhängige Polen in seiner Autobiographie in einer ähnlichen Sprache erinnert hätte. Stattdessen äußert er sich über die Zersplitterung der sozialistischen Bewegung in den revolutionären Ereignissen von 1905 und den Zusammenhang zur Februarrevolution und den Oktoberumsturz von 1917 in Russland als „Prolog eines russischen politischen Dramas, das 1917 begann und dessen Epilog nach wie vor unbekannt ist. Die zersetzenden Kräfte Russlands hatten schon zu wirken begonnen.“²¹⁵ Das Zitat ist in vielerlei Hinsicht interessant, da es anderen Äußerungen Studnickis in der Autobiographie widerspricht. Zum einen stellt die Bemerkung einen der wenigen Versuche in Studnickis Autobiographie dar, die revolutionären Ereignisse von 1905 und 1917 synthetisierend zu betrachten. Im weiteren Verlauf nimmt Studnicki durchaus die Perspektive eines Beteiligten ein. Seine Überlegungen werden von Zitaten aus eigenen Beiträgen jener Zeit eingerahmt, in denen er sich solidarisch über die russische Intelligenz äußert und in welchen er eine Kluft zwischen Intelligenz und den „groben Massen“ der russischen Gesellschaft feststellt: ‚Nirgendwo ist die Abscheu der groben und lumpigen Massen auf die Intelligenz so groß wie in Russland‘, schrieb ich in der Gazeta Warszawska im November 1905. ‚Die Massen verprügeln die Intelligenz heute gern, denn die Polizei erlaubt es ihnen.‘²¹⁶
Ebd. Ebd., S. 158. Ebd., S. 160.
3.3 Zusammenfassung
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Zum anderen deutet sich auch in der Beschreibung der Zeit von 1905 bis 1917 und in Studnickis Konzentration auf die Zersplitterung der sozialistischen und revolutionären Kräfte von 1905 als andauerndes politisches Drama eine Perspektive auf die russische revolutionäre Bewegung an, aus der der Autor die revolutionäre Bewegung in Russland enttäuscht, aber durchaus mitfühlend betrachtet. Es ist zu vermuten, dass die Kontakte zur russischen Intelligenz und die mit den russischen Revolutionären geteilte biographische Erfahrung der Verbannung und der Ausgrenzung aus der Gesellschaft eine gemeinsame Prägung und nicht zuletzt ein Zugehörigkeitsgefühl bei Studnickis hinterließen, welches an nur wenigen Stellen der Autobiographie zum Ausdruck kommt, aber dennoch zu Widersprüchen in der autobiographischen Erzählung vom Leben im Russischen Imperium führt – soll diese Erzählung doch vorrangig zeigen, dass es Studnicki mit seinem publizistischen und politischen Engagement in der Revolution von 1905 darum ging, zu verhindern, dass wir [die polnische Intelligenz, M.-B.] begännen, unsere politischen Erfahrungen mit Russland zu teilen, dass das Herz Warschaus im Takt mit dem Herz Petersburgs und Moskaus schlage, denn das wäre der Beginn einer gemeinsamen Geschichte gewesen, die verschiedene Stämme in einer Nation vereint hätte.²¹⁷
3.3 Zusammenfassung Vergleicht man Limanowskis und Studnickis autobiographische Schriften abschließend, lässt sich zunächst festhalten, dass beide Autoren Narrative entwarfen, die das eigene Lebenswerk rückblickend als Beitrag zur Erlangung der Unabhängigkeit Polens betrachteten. Im Zentrum dieser Erzählungen stand vor allem das eigene Handeln als aktiver Kampf gegen die Herrschaft der Teilungsmächte und insbesondere des Russischen Imperiums. Beide Autobiographien dienten der Erfindung einer Nationalerzählung, deren Kern in der Überwindung der imperialen Herrschaft, der Skizzierung des Imperialen als rückständig und anti-modern und in der historisch-kompensierenden Aufrichtung der polnischen Nation mit Bezug auf die eigene vergangene Größe – die Polnisch-Litauische Union – lag. Insofern bestätigen die anhand der beiden Autobiographien erarbeiteten Befunde die Annahmen von Hadler und Mesenhöller, dass mit der Entstehung von Nationalstaaten in deren Geschichtserzählungen „der spätere Opferstatus in den Mittelpunkt“ rückte und zum Kern einer nationalen anti-imperial konnotierten Historiographie wurde, in der „[p]ositive Wertungen, etwa von Ebd., S. 190.
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kulturellem Austausch, Modernisierungseffekten, multipler Integration und Teilhabechancen an imperialer Macht“ wenig bis gar nicht auftauchten.²¹⁸ Besonders anschaulich lassen sich solche Verdrängungsleistungen in den Memoiren von Studnicki ausmachen, in denen etwa Studnickis Begeisterung für die russische Literatur und dessen Interesse für Russland allenfalls am Rand oder gar nicht erwähnt wurde. Die Lebenserzählungen Limanowskis und Studnickis stellen demnach typische Beispiele nationaler post-kolonialer Verarbeitungen imperialer Herrschaft dar, die sich an etablierten Deutungen der polnischen Intelligenz, denen teils eigene Vorstellungen der besprochenen Autoren vom polnischrussischen Verhältnis in der Vorkriegszeit zugrundelagen, orientierten. In ihrer Darstellung der russisch-imperialen Herrschaft unterschieden sich beide Autobiographien lediglich in Teilaspekten. Limanowski lieferte etwa mit seiner Autobiographie der Leserschaft eine Russlanderzählung, die sich in die Idee von der Überwindung der Fremdherrschaft der drei europäischen Imperien in Polen bis 1918 einschrieb und ein antiimperiales Narrativ entwarf. Dazu passte, wie er sich in seinen Memoiren anlässlich der Kämpfe in Italien während der Einigungsbewegung mit folgenden Worten zu Österreich-Ungarn äußerte: Wir freuten uns über die französischen Siege bei Magenta und Solferino [über die österreichisch-ungarischen Truppen, M.-B.], als hätte es uns selbst betroffen. Doch Österreich war unser Feind, und die Niederlage eines Feindes, einer der Teilungsmächte, musste auch die Gewalt der zwei anderen schwächen.²¹⁹
Aus der Analyse von Studnickis Autobiographie geht ebenfalls hervor, dass der Autor die eigene russisch-imperiale Erfahrung als Ausgangspunkt für die Konstruktion eines anti-imperialen Russlandbildes nutzte, das sich aus der erzählten Erfahrung erzwungener Kolonisierung – von ihm mehrfach als Russifizierung bezeichnet – durch das Russische Imperium speiste. Anders als bei Limanowski, der zwischen Staat und Gesellschaft als einem guten und einem bösen Russland unterschied, war für Studnicki jedoch spezifisch, dass in seiner Russlandwahrnehmung der Austausch der polnischen mit der russischen Intelligenz negativ konnotiert war und zu der Annahme führte, dass sich zwar innerhalb des Russischen Imperiums im Zuge des sozialen Wandels gegen Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls strukturelle Veränderungen bemerkbar gemacht hatten, dass aber das Fundament Russlands – eine expansive und auf Assimilation zielende Imperialität, die alle Sphären des Imperiums kennzeichnete – von diesen Verän Hadler, Mesenhöller, Repräsentationen imperialer Erfahrung in Ostmitteleuropa, S. 21. Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 203.
3.3 Zusammenfassung
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derungen unberührt geblieben war. Russland erschien in Studnickis Memoiren als ein zeitloser Körper, als ein Konglomerat partikularer Gruppen, das die Mission einer ständigen Ausdehnung des Staatsgebiets in sich trug. Somit überwog bei Studnicki das anti-russische Motiv das für die polnische Intelligenz so typische anti-imperiale Leitmotiv. Limanowskis autobiographische Beschreibungen der russischen Gesellschaft trugen indes kaum russophobe Züge. Vielmehr machte Limanowski anhand der eigenen Biographie darauf aufmerksam, dass die Geschichte von der Formierung einer polnischen Intelligenz als Vorreiter der modernen polnischen Nation eng mit der Entwicklung der Idee einer sozialen Revolution im imperialen Russland verknüpft gewesen war. Es ist diese Verbindung, die Limanowski bei der Auswahl seiner Bezüge wiederum zu den Schriften der polnischen Romantiker führte, und eben nicht – wie bei Studnicki – zu den jungpolnischen Schriftstellern um Sienkiewicz. Limanowski fand vor allem in Mickiewiczs Russlandbeschreibungen anschlussfähige und somit für ihn in den besten polnischen Traditionen stehende Bewertungen des Russländischen Reiches als imperialistisches und autokratisches Gebilde, das das eigene Volk unterdrückt und gefangen hielt. Ebenso wurde er in den Schriften der Romantiker auf der Suche nach einer Vision fündig, die die Erwartung eines besseren, post-imperialen Russlands als Folge möglicher revolutionärer Umwälzungen in Europa hin zu einer freieren Welt mit der Vision eines polnischen Nationalstaats verknüpften.²²⁰ Ein anti-russisches Narrativ kam in Limanowskis Memoiren nur insofern zum Tragen, als dieser den russischen Staat und die russische Administration als Hauptverhinderer eines freien Polens skizzierte. Der Autor knüpfte dabei an eine spezifisch polnische Begriffsgeschichte des moskovitischen Russlands an, die ein Bild Russlands als bloße Expansionsmacht zeichnete, dessen Spezifik sich in der andauernden Aneignung und Assimilation seiner Ränder und Peripherien erschöpfte. Mit diesem Begriff erinnerte Limanowski an die Anfänge russisch-imperialer Autokratie und entkräftete das statische Bild von Russland als ewiger imperialistischer Staatsmacht, wie es von Studnicki in seinen autobiographischen Beschreibungen gewählt wurde. Die Darstellung des letztgenannten wiederum diente vor allem der Konstruktion eines russisch-polnischen Antagonismus und einer zivilisatorischen Inkompatibilität Polens und Russlands, die jegliche friedliche Koexistenz unmöglich machte. Im autobiographischen Verweis auf die eigene Tätigkeit in der polnischen anti-imperialen Intelligenz rückte Studnicki kritisch den (selbstverschuldeten) Niedergang Polens als russische Peripherie in der Teilungszeit und dessen Erbe, welches
Zu den Russlandvorstellungen der polnischen Romantiker vgl. Fiećko, Co zrobić z Rosją?, S. 141, 143.
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der Autor in den Assimilierungstendenzen der polnischen liberalen Kräfte, den Selbstanbiederungsversuchen der Nationaldemokratie und in der politischen Resignation der polnischen Gesellschaft auszumachen schien, in den Fokus eines nationalen Diskurses. Versatzstücke seiner publizierten Beiträge, eine Vielzahl von Zitaten aus seinen veröffentlichten Werken der Vorkriegszeit dienten dazu, die Relevanz seiner autobiographischen Ausführungen zu untermalen. Der russisch-polnische Antagonismus scheint denn auch der Kern von Studnickis Vorstellung einer östlichen Polonität zu sein. In einem starken, von Polen dominiertem Osten sah Studnicki die Voraussetzungen für eine Zurückweisung des russischen „Drangs“ nach Westen gegeben – die bekannte Idee Polens eines antemurale des Westens fand in Studnickis Memoiren eine weitere Variation. In dessen Spielart des Vormauer-Mythos kam eine Vorstellung polnischer raison d’être zum Ausdruck, als deren negatives Element eben Russland – ob in Form des Russischen oder in der zeitgenössischen Form des sowjetischen Imperiums – fungierte, wohingegen die polnischen Ostgebiete das positive Element einer Studnicki‘schen Polonität darstellten. In diesen Gebieten, von Studnicki als ein kulturell, wirtschaftlich und politisch von Polen dominierter Kulturraum definiert, sah der Autor ein historisches und zugleich ein zukünftiges Schlachtfeld des ewigen polnisch-russischen Konfliktes. Die polnisch beherrschten Ostgebiete betrachtete er als Vorposten einer lateinisch-westlichen Zivilisation nach Osten hin. Mit dem Verweis in seinen Memoiren auf die vergangene Größe der Ostgebiete vor den Teilungen Polens, auf die Geschichte des anti-imperialen Widerstands im anti-russischen Aufstand von 1863 und des anschließenden polnischen Leidens in diesen Gebieten erfand Studnicki eine kompensatorische und national-zentrische Idee einer östlichen Polonität als einer auf einem Historizismus fußenden Vorstellung. Die Unterschiede in den Entwürfen einer östlichen Polonität bei Limanowski und Studnicki zeichnen sich vor allem in der von ihnen skizzierten Rolle der nichtpolnischen Nationen in den Ostgebieten sowie in der Rolle der russischen Gesellschaft ab. Ähnlich wie Studnicki erinnerte Limanowski in seinen Ausführungen an ein polnisches Selbstverständnis weit nach Osten ausgreifender Macht mit einer neuen, gegen (das sowjetische) Russland gerichteten demokratischen Einigungs- und Befreiungsmission. Im Übrigen hatte Limanowski bereits um die Jahrhundertwende Szenarien entworfen, die ein weitaus extensiveres Ausgreifen eines zukünftigen Polens nach Osten suggerierten als die Grenzen von 1772.²²¹
Vgl. Roland Gehrke: Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges. Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des europäischen Nationalismus, Marburg 2001, S. 209.
3.3 Zusammenfassung
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Grundlage dieser Idee war Limanowskis Vision einer föderativen Republik, die eine gleichberechtigte Rolle der litauischen, der ukrainischen und der polnischen Bevölkerung darin vorsah.²²² In seiner Autobiographie zu Beginn der zwanziger Jahre aktualisierte Limanowski diese Vision und skizzierte darin einen Entwurf östlicher Polonität, der die Nationalbewegungen der Litauer und besonders der Ukrainer zwar anerkannte, zugleich aber für sie nur eine Existenz in einem polnischen Staat vorsah. Auch in Limanowskis Vision dominierte das anti-russische Paradigma seine Vorstellung östlicher Polonität, jedoch nahm er die russische Gesellschaft von diesem Paradigma aus. Anders als Studnicki sah er eine friedliche Koexistenz zwischen einer polnisch-litauisch-ukrainischen Republik und Russland dann als möglich an, sollte sich letzteres republikanischen bzw. europäisch-westlichen Werten verschreiben. Die Formel Für Eure und für unsere Freiheit erhielt somit bei Limanowski insofern neue Nahrung, als er die Nationalbewegungen der Polen, Litauer und Ukrainer als mit der russischen Gesellschaft solidare Befreiungsbewegungen von der russischen Autokratie skizzierte.²²³ Konstant blieb aber auch in diesem Szenario, ähnlich wie bei Studnicki, die für die polnische Intelligenz der Teilungs- wie auch der Zwischenkriegszeit so typische grundlegende Inkompatibilität des polnisch-republikanischen und des despotisch-russischen Staatsmodells. Studnickis und Limanowskis Memoiren sind demnach als Versuche zu sehen, die Leitideen der polnischen Intelligenz – die Bewahrung der polnischen Nation, die Wiedererrichtung eines polnischen Staates sowie den gegen die Teilungsmächte gerichteten anti-imperialen Konsens – aus der Vorkriegszeit in das post-imperiale Zeitalter zu transferieren und diesen unter den Bedingungen wiedererlangter polnischer Staatlichkeit anhaltende Gültigkeit zu verleihen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass beide Autoren in ihrer Publizistik die größte Bedrohung für Polen vor allem in einem neuen imperialistischen Russland, dem alten Feind im sowjetischem Gewand sahen und demgegenüber die Kontinuität russischer Imperialität über 1917 hinaus betonten. Fragt man abschließend nach der Einordnung der beiden autobiographischen Darstellungen in die Traditionen polnischen Ostdenkens, wird deutlich, dass es bei Limanowski die ambivalent slavophilen Vorstellungen der polnischen Romantiker waren, an welche der Autor anknüpfte. Der von den polnischen Positivisten repräsentierte Ansatz einer polnischen Verständigung mit der russischen Obrigkeit wurde indes von beiden Autoren abgelehnt. Studnickis Idee der
Vgl. ebd., S. 210. Limanowski paraphrasierte die Formel in zahlreichen Schriften, vgl. etwa Bolesław Limanowski: Historja ruchu narodowego od 1861 do 1864 r, Lwów 1882, S. 119.
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Irredenta wiederum lässt sich mit den Ideen des polnischen Exils nach dem Novemberaufstand von 1830 in Paris vergleichen, das Russland nach dem Novemberaufstand als Europas Antipode skizzierte und sich von der Stärkung der nationalen Tendenzen in den von Russland beherrschten Peripherien letztlich die Zerschlagung des Russischen Imperiums erhoffte. Studnickis Denken ähnelt auch dem Denkens Henryk Kamieńskis, der infolge des Krimkriegs in den 1850er Jahren eine Vision von Polen als Pendel entwarf, das entweder zugunsten Europas ausschlagen oder als Vasall Russlands zu dessen Untergang führen sollte – mit dem Unterschied, dass Studnicki Polens Zukunft an das Schicksal eines deutsch oder kakanisch beherrschten Europas knüpfte. Ebenso deutlich wird in seinem autobiographischen Schreiben, worin sich seine Ideen von denen des polnischen Ostdenkens des 19. Jahrhunderts unterschieden. Die Rolle des Vasallen, der Peripherie oder des Untergebenen, aber auch des Partners oder des Verbündeten sah Studnicki für Polen zumindest an der russischen Seite nicht mehr vor. Stattdessen unterstrich er mit dem Verweis auf die eigene, biographisch verbriefte Erfahrung die Gefahr von der ständig drohenden Assimilation Polens durch Russland. Anders als bei Limanowski, dessen Ideen Roland Gehrke als „neoromantisch inspiriert“ bezeichnet, knüpfte Studnicki die polnische Freiheit nicht mehr an die russische Freiheit, was letztlich die Aufkündigung einer der wirkmächtigsten Traditionen des polnischen Ostdenkens vom 19. Jahrhundert bedeutete.²²⁴ Der Mickiewicz‘sche Humanitarismus, von Limanowski für die Generation der Unbeugsamen wiederentdeckt und wiederbelebt, wurde bei Studnicki von der Idee eines nationalen Egoismus und einer pragmatischen Hinwendung Polens nach Deutschland und Österreich-Ungarn verdrängt. Studnickis Hinwendung zu den westlichen Teilungsmächten Polens auch nach 1918 stellt die wohl größte Trennlinie zwischen ihm und Limanowski respektive den Anhängern Piłsudskis in der polnischen Intelligenz dar. Sah Limanowski den Wesenskern der Freiheit Polens bereits im aktiven Kampf und in der aktiven Besinnung auf die eigenen Kräfte realisiert, vermutete Studnicki in genau dieser rückblickenden Bewertung der Befreiungsgeschichte Polens nach 1918 einen falschen Zirkelschluss seitens der polnischen Intelligenz. Für ihn war die Unabhängigkeit Polens lediglich das Produkt einer geopolitischen Konstellation der europäischen Imperien, wie er in seiner Autobiographie schreibt: Nicht auf den humanitären Losungen, nicht auf dem Recht einer jeden Nation auf eine unabhängige Existenz wollten wir unsere Zukunft bauen. Die Losungen, das waren Qualm
Gehrke, Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges, S. 209.
3.3 Zusammenfassung
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und Lüge. Die wahre Kraft, auf der wir unsere Befreiung bauen konnten, das waren Russlands Gegner.²²⁵
In Studnickis Lesart war die Formel Für unsere und für Eure Freiheit nurmehr ein Trugbild und Folge der Selbstunterwerfung der polnischen Intelligenz unter das Primat der russischen Intelligenz.
Studnicki, Z przeżyć i walk, S. 243. Übrigens versuchte sich auch Studnicki an einer Neuinterpretation Mickiewicz‘schen Denkens – im Sinne seiner anti-russischen Ideen, vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 161.
4 Erzählungen russisch-imperialer Erfahrung im Kontext neuer Ideologien: Intelligente Autobiographik vor und nach 1939 Brian Porter-Szűcs betont in seiner Studie zur polnischen Intelligenz der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die fließenden und durchlässigen Grenzen zwischen den jeweiligen politischen Lagern der Unbeugsamen, der Generation der nach dem anti-russischen Aufstand von 1863 Geborenen.¹ Wenngleich die Losung von der Tat und ein revolutionärer Aktivismus Wesenskern der radikalen polnischen Intelligenz blieb, sollte sich die Ausdifferenzierung in politische Lager und Parteien weiter fortsetzen. Insgesamt blieben jedoch die Orientierung an radikalen Gesellschaftsvisionen und die Fixierung auf den Umsturz der herrschenden Verhältnisse wesentliche Elemente in den Weltbildern von polnischer sowie russischer Intelligenz, die Vision eines freien Polens blieb in den polnischen Kreisen zudem stets dominant. Zwar sollten der Austausch zwischen den Angehörigen der beiden jeweiligen nationalen Lager und der Kontakt zu jüdischen, belarussischen, ukrainischen und baltischen Aktivistinnen und Aktivisten als weiteres Merkmal der polnischen Intelligenz bestehen bleiben, doch bestimmten die zunehmend in Konkurrenz zueinander stehenden nationalen und sozialistischen Zukunftsvisionen das Denken und Handeln ihrer Vertreterinnen und Vertreter. Die Idee einer nationsübergreifenden anti-imperialen Freiheitsbewegung wurde verdrängt und den politischen Gesellschaftsprojekten nachgeordnet. Die den Unbeugsamen nachfolgenden Generationen der polnischen Intelligenz orientierten sich dementsprechend zwar früh an der Befreiungsidee der Unbeugsamen, wuchsen aber bereits in die Wirklichkeit unterschiedlicher und miteinander konkurrierender anti-imperialer Milieus hinein und ordneten sich diesen zu. Das paradoxe Ergebnis beschreibt Micińska in ihrer Studie zur polnischen Intelligenz der Vorkriegszeit: It is one of the paradoxes of the post-Partition history of Poland and its intelligentsia that in the period when withdrawing in the face of Russian things and fighting against Russification formed the basic postulates of national policy, the young generation of Poles was particularly absorbent to the ideas and methods of acting coming over from the East.²
Vgl. ebd., S. 105. Micińska, A History of the Polish Intelligentsia, S. 126 f. https://doi.org/10.1515/9783110642124-007
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Angetrieben von der Industrialisierung und konfrontiert mit dem damit einhergehenden gesellschaftlichen Wandel hin zur Moderne, fungierte die Frage des Zusammenhangs von sozialer und nationaler Zugehörigkeit im Russischen Imperium als Katalysator für die politische Ausdifferenzierung der Ideen der revolutionären Bewegung. Auf das Beispiel der polnischen Intelligenz gewendet, bedeutete dies, dass die PPS als Auffangbecken für all jene diente, die sich ein freies Polen ersehnten, das dennoch sozialistischen Idealen dienen sollte, während sich in der Nationaldemokratie eher diejenigen wiederfanden, für die ein freies Polen nur als Resultat einer nationalen Bewusstseinswerdung aller Polen vorstellbar war. Einerseits war das zukünftige Polen also Schauplatz der sozialen Revolution, andererseits ein Ort der nationalen Eintracht, die die Klassenunterschiede überwand. Für die internationalistisch orientierten polnischen Sozialisten, die sich seit 1893 in der von Rosa Luxemburg (1871– 1919) und Julian Marchlewski (1866 – 1925) gegründeten Socjaldemokracja Królestwa Polskiego i Litwy (SDKPiL, Sozialdemokratische Partei des Königreichs Polen und Litauens) versammelten, wurde ein zukünftiges freies Polen auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft nunmehr obsolet.³ Die revolutionären Ereignisse von 1905 beschleunigten den Prozess der politischen Ausdifferenzierung innerhalb der polnischen Intelligenz. Für die Generation, die den Unbeugsamen nachfolgte, sollten der Russisch-Japanische Krieg und die darauffolgenden revolutionären Ereignisse in Russland und im Königreich Polen zu generationellen Gründungserfahrungen werden. Infolge der Revolution und der sozial und ethnisch motivierten Unruhen festigten sich die Grenzen der politischen Lager und sie führten zu einer Polarisierung des polnischen politischen Spektrums von Sozialisten auf der einen und Nationalisten auf der anderen Seite – eine Spaltung, die zunächst etliche andere Unterschiede in den Weltbildern der Angehörigen der Intelligenz verbarg. Erst in der Folge dieser Ereignisse wurde offensichtlich, dass die polnische Intelligenz, wenngleich mit der russischen Intelligenz gut vernetzt, sich in einem isolierten Denkhorizont bewegte, der nur auf ideologischer Ebene Raum für eine im Sinne der Intelligenz formbare Bevölkerung bot – ob als eine sich der eigenen sprachlichen, kulturellen bzw. ethnischen Spezifik bewusstwerdende polnische Nation im Sinne der Nationalisten oder als proletarische Nation im Sinne der polnischen Sozialisten. Micińska bringt die Wende von der Elite zu den Massen mit folgenden Worten zum Ausdruck: „In 1905, the ‚people‘, to the applause of the intelligentsia, broke as if by the storm into the pages of novels, the stanzas of pathetic poems, the canvasses
Vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 105.
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of paintings, the matrixes of engravings and the boards of the theatrical stage.“⁴ Die Entstehung einer Parteienlandschaft war die sichtbare Folge des Verlusts vom Alleinstellungsmerkmal der polnischen Intelligenz als nationale Repräsentanz, darüber hinaus brachten die den Unbeugsamen folgenden Generationen diesen Konnex in ihren Ideen, die den eingeschlagenen Pfaden „linken“ wie „rechten“ Ideenguts durchaus folgten, nun konsequent zum Ausdruck. Wenngleich sie dafür pragmatische Gründe wie die Erlangung einer polnischen Autonomie innerhalb des Imperiums heranführten, näherten sich die Anführer der polnischen Nationaldemokratie nach der Revolution von 1905 dem russischen Herrschaftsregime an. Die Anhänger der PPS wiederum stritten über mögliche Formen der Zusammenarbeit mit den russischen Sozialrevolutionären. Hier kam es 1906 zur Spaltung der PPS in die PPS Frakcja Rewolucyjna (PPS FR, Revolutionäre Fraktion), die einen genuin polnischen Weg zum Sozialismus suchte und diesen in der Idee der Irredenta erblickte, und in die PPS Lewica (PPS Die Linke), die sich in den folgenden Jahren weiter der russischen revolutionären Bewegung annähern sollte.⁵ Wenngleich sich in linksgerichteten Kreisen vermehrt mit der Arbeiterfrage und der Klassenzugehörigkeit auseinandergesetzt wurde, rekrutierte sich auch das Personal der linken polnischen Intelligenz nach wie vor aus vormals adeligen Kreisen. Aufgrund ihres Alters waren die „Kinder“ der Unbeugsamen zur Zeit des Zusammenbruchs des Russischen Imperiums zu jung, um die mächtigen politischen „Väter“ um Dmowski, Studnicki und Piłsudski von ihren zentralen Positionen im Machtzentrum der Intelligenz zu verdrängen. Schnell bot sich jedoch im unabhängigen Polen vielen Repräsentantinnen und Repräsentanten dieser intellektuellen Generation die Möglichkeit zu einem beruflichen, politischen und gesellschaftlichen Aufstieg – oft auch innerhalb des staatlichen Administrationswesens, das sich erst mit der Unabhängigkeit Polens neu gebildet hatte und einer hohen Zahl qualifizierten Personals bedurfte.⁶ Dies gilt auch für die im Folgenden zu besprechenden Autobiographien von Halina Krahelska (1886 – 1945) und Stanisław Stempowski (1870 – 1952). Bei beiden handelt es sich ebenso wenig wie bei Studnicki und Limanowski um Vertreter einer Alterskohorte. Viel eher lässt sich von Krahelska als Angehöriger der intellektuellen Generation der Revolutionäre sprechen, während Stempowski zwischen dieser und der Generation der Unbeugsamen vielmehr die Rolle eines Zwitters zukommt. Die Entstehungszeiträume der Memoiren der beiden unterscheiden sich ebenfalls – Krahelska fertigte ihre Memoiren etwa von 1933 bis 1934
Micińska, A History of the Polish Intelligentsia, S. 153. Vgl. Jerzy Holzer: PPS. Szkic dziejów, Warszawa 1977, S. 32. Vgl. Micińska, A History of the Polish Intelligentsia, S. 208.
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an, Stempowski schrieb vor allem in den Jahren der deutschen Besatzung Warschaus während des Zweiten Weltkriegs von 1940 bis 1944. Beide Personen verbindet demzufolge nicht so sehr die Ähnlichkeit der Lebensverläufe oder der Erfahrungshorizont einer gemeinsamen intellektuellen Generation, sondern vielmehr die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen intellektuellen Warschauer Milieu und ihre ablehnende Haltung zur Radikalisierung der europäischen Gesellschaften sowie zu den autoritären sowie diktatorischen Tendenzen im nationalsozialistischen Deutschland und in der stalinistischen Sowjetunion. Ihre Wege im Warschau der Zwischenkriegszeit kreuzten bzw. ihre gemeinsamen Interessen offenbarten sich, als sich beide als Mitinitatoren bzw. als Jurymitglieder an der Durchführung von autobiographischen Schreibwettbewerben beteiligten, die das von Ludwik Krzywicki geführte Instytut Gospodarstwa Społecznego (IGS, Institut für Sozialökonomie) in der Zwischenkriegszeit wiederholt realisiert hatte und in deren Folge eine Reihe von Sammlungen autobiographischer Schriften von Vertreterinnen und Vertretern in der Öffentlichkeit wenig wahrgenommener sozialer Gruppen wie Frauen, Arbeitslosen, Bauern und Emigrierten publizierte.⁷ Die Idee entsprang einem Ansatz des polnischen Soziologen Florian Znaniecki, der in den USA die soziale Lage polnischer migrierter Bauern untersuchte. An Znanieckis und Krzywickis Ideen anknüpfend, vertraten Stempowski und Krahelska ein sozialemanzipatorisches Denken, das helfen sollte, die geschlossenen sozialen Sphären einer kleinen urbanen Elite und einer scheinbar amorphen bäuerlichen Masse für die andere Seite zu öffnen.⁸ Ebenfalls interessant und im Folgenden noch detaillierter zu besprechen ist das methodische Interesse der beiden an der sozialen Autobiographik bezüglich ihrer eigenen autobiographischen Entwürfe. Wie bereits erwähnt, stellten die Autorin und der Autor ihre Lebenserinnerungen in den zeitgenössischen Erfahrungskontext von Diktatur und Gewaltherrschaft, von Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus vor (Krahelska) und während des Zweiten Weltkriegs (Stempowski). Der veränderte Wahrnehmungskontext führte dazu, dass bei Stempowski und Krahelska die Debatte um den Beitrag zur Unabhängigkeit Polens, die die Repräsentationen der Unbeugsamen – wie weiter oben bei Limanowski und Studnicki gezeigt – noch bis in die dreißiger Jahre hinein gekennzeichnet hatte, weitestgehend aus dem Zentrum ihrer autobiographischen Auseinandersetzung gerückt war. Die Frage nach dem Wesen der nationalsozialistischen und stalinistischen Herrschaftsregime und deren Einflüssen auf Politik und Gesellschaft Polens bestimmte nicht zuletzt aufgrund der geopolitischen Lage Polens zwischen Deutschland und der Sowjetunion die öffentliche
Vgl. dazu Lebow, The Conscience of the Skin, S. 303. Vgl. ebd., S. 302.
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Debatte. Erklärungsansätze vom gemeinsamen Kern der stalinistischen und der nationalsozialistischen Herrschaftsform, wie etwa die Begriffe vom „Totalismus“ oder vom „System neuen Typs“, versuchten, in einer Wissenschaftssprache die Phänomene des Nationalsozialismus und Stalinismus zu definieren. Deren zunehmende Attraktivität wurde von den liberalen Teilen der polnischen Gesellschaft gefürchtet und von der polnischen Politik wiederum als Potential neuer außen- und geopolitischer Handlungsmöglichkeiten betrachtet – die deutsch-polnische Annäherung hatte mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten deutlich an Fahrt gewonnen, im Januar 1934 wurde zwischen beiden Seiten eine Nichtangriffserklärung unterzeichnet. Nach ähnlichem Muster hatten Polen und die Sowjetunion bereits 1932 verfahren.⁹ Zudem nahm das politische System Polens der frühen dreißiger Jahre, auch als Obristenregime bekannt, immer stärker Konturen eines autoritären Regimes an und hebelte Bürgerrechte wie Versammlungs- und Pressefreiheit und Autonomierechte staatlicher Bildungsinstitutionen aus.¹⁰ Wenngleich nach Überwindung der Wirtschaftskrise stabiler und nach den Verträgen mit dem nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion außenpolitisch abgesichert, blieb Polen in den vier Jahren nach dem Tod Piłsudskis 1935 bis zum Überfall der Deutschen auf Polen geprägt von einem weiteren Rechtsruck der politischen Führung und zunehmender gesellschaftlicher Polarisation.¹¹ Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich der veränderte zeitliche Kontext der dreißiger und vierziger Jahre und das neue Sozialbewusstsein der polnischen Intelligenz auf die Autobiographik der polnischen Intelligenz und deren Darstellungen der russisch-imperialen Erfahrung auswirkte.
4.1 Halina Krahelska (1886 – 1945): Das revolutionäre Russland als Zukunftsversprechen für Polen Unter den Vorzeichen eines zunehmenden Autoritarismus meldete sich Halina Krahelska 1934 mit ihren Memoiren zu ihrer Lebensperiode im Russischen Imperium, Erinnerungen einer Revolutionärin, zu Wort. Darin betont sie die Gefahr von der Fehlinterpretation der Idee eines revolutionären Sozialismus vor dem Hintergrund des Aufstiegs der Nationalsozialisten in Deutschland:
Zur Debatte um Nationalsozialismus und Stalinismus in Zwischenkriegspolen vgl. vor allem Kornat, Polish Interpretations of Bolshevism; Marek Kornat: Swianiewicz, Lenin i totalitaryzm, czyli o użyteczności historii idei w poszukiwaniu zrozumienia Rosji, in: Nowa Europa Wschodnia, H. 1, 2008, S. 64– 78. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 181. Vgl. ebd., S. 183 f.
4.1 Halina Krahelska (1886 – 1945)
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Größere Aktivität, größere Entschiedenheit, eine bestimmte Kompromisslosigkeit, eine bestimmte Elastizität des Denkens – das sind die Eigenschaften der Psyche, die ich als besonders charakteristisch für einen Revolutionär hervorheben würde. Die Folgen dieser Eigenschaften führen im jungen Alter dazu, dass sich ein Kind in einem ruhigen, opportunistischen Leben ohne Elemente wie Kampf, Risiko, Aktivismus ungut, unbehaglich fühlt. Wenn das Verständnis von der sozialistischen Haltung, oder der aktive Beitrag im ökonomischen Kampf, das Zusammenleben mit dem Arbeiterumfeld dazukommt, kann sich aus dem Revolutionär ein Sozialist entwickeln. Wenn aber die sozialistischen Ideen nicht gründlich durchdacht werden, oder durch bestimmte Eigenschaften der Psyche ausgewaschen und überdeckt werden, die von einer adeligen oder bürgerlichen Herkunft schwer belastet sind, kann sich das ewige Nörglertum (‚Rebellentum‘) leicht mit dem Faschismus, dem Hitlerismus verbinden.¹²
Mit dieser Beschreibung eines revolutionären Sozialismus folgt Krahelska dem in radikalen linken Kreisen Westeuropas und Polens in der frühen Zwischenkriegszeit nach wie vor verbreiteten positivistischen Verständnis von der russischen Revolution als Fortsetzung des Kampfes um Gleichheit und soziale Gerechtigkeit in der Tradition eines in der Französischen Revolution wurzelnden Fortschrittsdenkens.¹³ Ihre Memoiren lassen sich als Versuch deuten, dieses Denken durch die autobiographische Bezeugung mit der eigenen russisch-imperialen Erfahrung zu erneuern und zu aktualisieren. Interessant und neu ist demgegenüber die Rolle von Faschismus und Nationalsozialismus, denen sie durchaus revolutionäre Eigenschaften zugesteht und sie als dunkle Seiten in die Nähe dieses revolutionären Denkens rückt und zugleich ablehnt. Krahelska bringt damit zum Ausdruck, dass wahrer Fortschritt, ein besseres und gerechteres Leben für alle nur im revolutionären Sozialismus möglich sei und man sich demzufolge zwischen den beiden Varianten revolutionären Denkens, Faschismus und Sozialismus, entscheiden müsse. Ihre Memoiren vom Russischen Imperium und der Russischen Revolution dienen in dem von ihr skizzierten Konflikt als Plädoyer und als autobiographisches Argument für letztere Variante und eröffnen eine Erzählung, die sich durchaus anti-faschistisch nennen lässt. In diesem Zusammenhang wird bei der weiteren Betrachtung der Autobiographie die Frage von Bedeutung sein, wie weit Krahelskas Konzept des revolutionären Sozialismus reicht, genauer: welche Rolle dabei der Sowjetunion als Projektionsfläche dafür zukommt.
Halina Krahelska: Wspomnienia rewolucjonistki, Warszawa 1934, S. 290. Vgl. Kornat, Polish Interpretations of Bolshevism, S. 91. Zur Interpretation der Revolution bei marxistischen Intellektuellen in Westeuropa vgl. Marcel van der Linden: Western Marxism and the Soviet Union. A survey of Critical Theories and Debates since 1917, Leiden 2007, S. 43 f.
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Im Zitat findet sich aber noch ein weiterer Erzählungsstrang, wenn sie die soziale Spezifik der eigenen Biographie betont. Die Autorin fragt im Zitat nach den Gründen für die Entwicklung von einer bürgerlich erzogenen Adeligen hin zu einer Repräsentantin der radikalen linken polnischen Intelligenz. Interessanterweise verdeckt sie im Zitat die geschlechtliche Dimension dieses Wandels. Ihre Memoiren stellen vielmehr den Versuch dar, die Kluft zwischen den beiden von ihr als geschlossen wahrgenommenen gesellschaftlichen Sphären der Arbeiter- und Bauernschaft und des Bürgertums bzw. des Adels zu überbrücken – ein Problem, das in den dreißiger Jahren, wie bereits erwähnt, auch die polnische Gesellschaft in deutlicher Drastik berührte, denn, so Katherine Lebow in ihrem Aufsatz zur sozialen Autobiographik in Zwischenkriegspolen: „interwar Polish society was sharply divided between a small educated, urbanized elite and a peasant (and, to a small but growing extent, working-class) majority“.¹⁴
Zur Biographie Die 1886 als Helena Maria Sleszyńska in Odessa geborene Aktivistin und Publizistin entstammte einer polnischen adeligen Familie aus dem Kiever Umland. Die Mutter, eine geborene Augustynowiczówna, entstammte einer polnischen Familie des Landadels, der Vater Jan Sleszyński, zum Zeitpunkt der Geburt Krahelskas Dozent für Mathematik an der Universität in Odessa, war als Halbwaise im Schwarzmeergebiet in Kišinev in einem russischen Umfeld aufgewachsen und hatte sich bereits als junger Mann in Odessa niedergelassen.¹⁵ Ihre Tochter sollte in behüteten und städtisch-bürgerlichen Verhältnissen aufwachsen, sie und ihre vier Geschwister wurden in einem polnisch-russischen Milieu sozialisiert. Noch während des Studiums, das die junge Sleszyńska in den sogenannten Vysšye ženskie kursy (Höhere Frauenkurse) in Odessa und Kiev absolvierte, trat sie in die PPS ein. Daneben engagierte sich die spätere Krahelska im Odessaer Dom Polski (Polnisches Haus), einer Kultur- und Begegnungseinrichtung der Gemeinschaft polnischer Bürgerinnen und Bürger des Umlands, wie sie in etlichen Städten im Inneren des Russischen Imperiums nach der Revolution von 1905 entstanden war.¹⁶ In der Studienzeit engagierte sich Krahelska in der lokalen Studierendenbewegung, nahm an Streiks zur Verbesserung der Studienbedingungen teil, un Lebow, The Conscience of the Skin, S. 302. Vgl. Jacek J. Jadacki: Art. Sleszyński, Jan, in: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 38, Warszawa, Kraków 1997– 1998, S. 563 – 565. Vgl. Tomasz Kozłowski: Inspektor pracy. Halina Krahelska, Warszawa 2014, S. 8; Irena Spustek: Polacy w Piotrogrodzie 1914– 1917, Warszawa 1966, S. 131.
4.1 Halina Krahelska (1886 – 1945)
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terrichtete Arbeiter, solidarisierte sich mit ihnen in Kundgebungen. 1911 wurde sie für diese Tätigkeit erstmals verhaftet und verbrachte zwei Monate lang in Haft in Odessa. Anschließend wurde sie nach Kišinëv ausgewiesen und dort unter polizeiliche Aufsicht gestellt. 1912 ließ sich Krahelska in Kiev nieder, setzte dort ihr Studium fort und trat in die Partija Socjalistov-Revoljucionerov (SR, Partei der Sozialrevolutionäre) ein. Hier schrieb sie Beiträge für das Organ der SR, den Golos Truda (Stimme der Arbeit) und setzte sich als Mitglied des Kiever Parteikomitees vor allem für eine Annäherung von Arbeiterschaft und Sozialrevolutionären ein. Ein Jahr später wurde Krahelska erneut verhaftet. Nach einem eineinhalbjährigen Aufenthalt im Kiever Frauengefängnis Luk‘janovka wurde Krahelska zu lebenslanger Verbannung im östlichen Russland verurteilt und per Etappe, wie die Transporte von Häftlingen und Verbannten im Russischen Imperium genannt wurden, 1915 nach Kansk bei Krasnojarsk deportiert – ihr späterer Ehemann Józef Grabianka begleitete sie in die Verbannung. Die erste Zeit in der Verbannung verbrachte Krahelska in einem Dorf im Gouvernement Krasnojarsk, um sich kurz vor Ausbruch der Februarrevolution in Kansk niederzulassen. Dort wirkte sie im örtlichen Sovet rabočich i soldatskich deputatov (Rat der Arbeiter- und Soldatendelegierten) mit, bis sie im September 1917 zusammen mit Grabianka über Smolensk nach Odessa reiste und sich dort der Polska Organizacja Wojskowa (POW, Polnische Militärorganisation) und deren Kampf im Untergrund gegen die deutsch-österreichische Besatzung, später dann gegen die Besatzung Odessas durch die Anhänger des russischen Ancien Régime um den Hetman Pavlo Skoropadsʼkyj (1873 – 1945) anschloss. Ihr Mann war, wie Krahelska in ihren Memoiren selbst beschreibt, zu dieser Zeit bereits Anhänger der Bolʼševiki und engagierte sich in der Sozialfürsorge und unterrichtete am polnischen Gymnasium in Odessa.¹⁷ Die polnische Lebensperiode von Halina Krahelska begann mit dem Verlust ihres Ehemannes. Das Ehepaar reiste Ende des Jahres 1918 nach Polen, ohne die Absicht, sich sofort in Polen niederzulassen, wenngleich die Situation in Russland für sie immer aussichtsloser erschien, wie die Autorin in ihren Memoiren schreibt.¹⁸ Krahelska sollte wegen der unübersichtlichen Lage in der Südukraine nicht mehr nach Odessa zurückkehren, zudem verstarb ihr Mann auf einer anschließenden Reise von Odessa nach Krakau im gleichen Jahr an Fleckfieber. An eine Rückkehr in die Ukraine war nun nicht mehr zu denken. Zwei Jahre lang arbeitete Krahelska dann zunächst als Sekretärin, später dann als Unterinspekteurin im Warschauer Arbeitsinspektorat und war vor allem als Vermittlerin
Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 251. Vgl. ebd., S. 275.
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zwischen Unternehmen und Arbeitnehmergruppen tätig und erfolgreich. In dieser Zeit lernte sie ihren zweiten Ehemann Antoni Krahelski (1892– 1948) kennen, den sie bereits im Mai 1920 heiratete. 1927 kehrte Krahelska nach einer vier Jahre dauernden Erziehungspause, in der sie drei Kinder geboren hatte, in den Dienst zurück und konzentrierte sich zunehmend auf die Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten, insbesondere für Frauen und Jugendliche.¹⁹ In dieser Zeit veröffentlichte sie eine Reihe von Studien zur Situation der Frauen, der Jugendlichen und der Obdachlosen im Polen der zwanziger Jahre. Schlesien als Schwerpunkt der polnischen Industrie rückte zunehmend in ihren Blickpunkt.²⁰ Seit dem Beginn der dreißiger Jahre widmete sich Krahelska verstärkt literarisch-dokumentarischen Publikationen. Nachdem sie bereits 1929 mithilfe eines Jahresstipendiums der amerikanischen Rockefeller Foundation die Schweiz, Deutschland, Frankreich und Österreich bereist hatte und ihre Tätigkeit im Hauptamt für Arbeitsinspektion unterbrach, schied sie 1931 gänzlich aus dem Verwaltungsdienst aus und widmete sich ausschließlich dieser Arbeit. Ihre Memoiren markierten gewissermaßen den Beginn dieser Schaffensperiode. In den folgenden Jahren organisierte sie gemeinsam mit den Soziologen Ludwik Krzywicki, Tadeusz Szturm de Sztrem (1892– 1968), Stanisław Stempowski und dem IGS autobiographische Schreibwettbewerbe für sozial marginalisierte Gruppen.²¹ In der Warschauer literarischen Gruppe Przedmieście (Vorstadt) um Helena Boguszewska (1896 – 1978), Zofia Nałkowska (1884 – 1954) und Jerzy Kornacki (1908 – 1981), die sich der literarischen Umsetzung eines linken gesellschaftspolitischen Programms widmeten, fand Krahelska ein literarisches Zuhause und verfolgte in diesem Rahmen ihre Agenda der sozialen Chancengleichheit weiter.²² In diese Zeit fällt auch die Publikation ihrer be-
Vgl. Kozłowski, Inspektor pracy, S. 24. Vgl. u. a. Halina Krahelska: Ochrona macierzyństwa robotnicy w przedsiębiorstwach państwowych polskich, Warszawa 1928; dies.: Praca dzieci i młodocianych w Polsce, Warszawa 1928; dies.; Ludwik Krzywicki: Praca kobiet w przemyśle współczesnym. Travail des femmes dans l’industrie contemporaine, Warszawa 1932; dies.: Przeobrażenia w rodzinie współczesnej i w roli kobiety, Lwów 1933; dies.; Stefan Pruss: Życie bezrobotnych. Badania ankietowe / Life of the Unemployed, Warszawa 1933; dies.: Prawda o stosunkach pracy, Lwów 1934. Vgl. Kozłowski, Inspektor pracy, S. 32. Folgende Publikationen entstanden im Rahmen der Schreibwettbewerbe: Instytut Gospodarstwa Społecznego (Hg.): Pamiętniki bezrobotnych. Nr 1– 57, Warszawa 1933; Dass. (Hg.): Pamiętniki chłopów, Warszawa 1936; Dass. (Hg.): Pamiętniki emigrantów. Francja nr 1– 37, Warszawa 1939; Dass. (Hg.): Pamiętniki emigrantów. Ameryka Południowa nr 1– 27, Warszawa 1939. Zum Wirken, zur Wahrnehmung und zur literaturgeschichtlichen Einordnung der Gruppe vgl. Danuta Knysz-Rudzka: Od naturalizmu Zoli do prozy zespolu „Przedmieście“. Z dziejów tradycji naturalistycznej w wieku XX, Wrocław 1972.
4.1 Halina Krahelska (1886 – 1945)
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kanntesten Veröffentlichungen, Erinnerungen einer Revolutionärin und die gemeinsam mit Maria Kirstowa verfassten Erinnerungen einer Arbeitsinspekteurin. ²³ Neben ihrer Tätigkeit als Beraterin und Mitarbeiterin in den Schreibwettbewerben blieb Krahelska auch politisch tätig. Ab Mitte der dreißiger Jahre war sie als Organisatorin des Warschauer Klub Demokratyczny (Demokratischer Klub) Teil einer landesweiten oppositionellen Bewegung, die 1939 in die Gründung des Stronnictwo Demokratyczne (SD, Demokratische Partei) mündete, dessen Mitglied Krahelska auch in der Zeit des Zweiten Weltkriegs blieb. Krahelska betrachtete die Entwicklungen in der internationalen Politik und insbesondere den Aufstieg der Nationalsozialisten zur Regierungspartei in Deutschland sowie die Abschaffung des bestehenden demokratischen Systems der Weimarer Republik als Gefahr für Politik und Gesellschaft Polens, wo sie ähnliche Tendenzen auszumachen meinte. Es überrascht nicht, dass sie von regierungsnahen Kreisen nach Piłsudskis Tod zunehmend mit Veröffentlichungsverboten belegt wurde. Ihre Nationalismusund Nationalsozialismus-kritischen Werke galten in linken Kreisen umso mehr als Vorbilder einer kritischen und dokumentarisch-literarischen Auseinandersetzung mit diesen Themen.²⁴ Auch im Zweiten Weltkrieg blieb Krahelska publizistisch tätig und war in der Zeit der deutschen Besatzung in der selbstorganisierten Untergrundverwaltung aktiv. Weiterhin Mitglied des SD, publizierte sie gemeinsam mit anderen Autoren Reportagen zum Alltag unter der Besatzung und zur Situation der Gefangenen in Konzentrationslagern. Nach der Gefangennahme Krahelskas im Sommer 1944 durch die Sicherheitsorgane der Nationalsozialisten und ihrer Inhaftierung im Konzentrationslager Ravensbrück verstarb Krahelska nur wenige Tage vor der Befreiung des Lagers durch sowjetische Truppen im April 1945.²⁵
Schreibsituation und Narration Die 1934 veröffentlichten Memoiren Krahelskas markierten den bisherigen Höhepunkt in ihrem literarischen Schaffen. In der polnischen Presse wurden sie denn auch weniger als autobiographische Wortmeldung einer Zeitzeugin wahr-
Vgl. Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki; dies.; Maria. Kirstowa: Ze wspomnień inspektora pracy, Warszawa 1936. Vgl. Kazimierz Ptak: Art. Krahelska, Halina, in: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 15,Warszawa, Kraków 1970, S. 85 – 87, hier S. 86. Exemplarisch für Krahelskas literarischen Ansatz: Halina Krahelska: Polski strajk, Warszawa 1937; dies.; Stanisław Baczyński: Zdrada Heńka Kubisza. Powieść, Warszawa 1938. Vgl. Ptak, Art, S. 87.
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4 Erzählungen russisch-imperialer Erfahrung im Kontext neuer Ideologien
genommen, als vielmehr als literarisches Dokument.²⁶ Krahelska selbst wollte ihre Memoiren durchaus als Dokument verstanden wissen. In ihrer Einleitung vertritt sie die Auffassung, dass Autobiographien, also ausführliche und chronologische Lebensbeschreibungen, nur scheinbar eine Vollständigkeit und Authentizität suggerierten und vielmehr „Memoiren mit einer Beimischung von Phantasie, sei es auch einer unterbewussten“ seien.²⁷ Krahelska spricht sich für eine kritische Autobiographik aus und verrät dabei einen konzeptuellen Zugriff auf das eigene autobiographische Schreiben, dessen Wurzeln in dem auch von ihr vertretenen Ansatz der bereits erwähnten sozialen Autobiographik zu finden sind. Dahinter verbarg sich eine Methode zur Erforschung der in der Soziologie unterrepräsentierten gesellschaftlichen Schichten der polnischen Arbeiter- und Bauernschaft, die von Soziologen wie Florian Znaniecki und Ludwik Krzywicki ausgearbeitet und schließlich von Schriftstellerinnen und Schriftstellern wie Maria Dąbrowska (1889 – 1965) und dem später zu besprechenden Stanisław Stempowski aufgegriffen und in Schreibwettbewerben des IGS umgesetzt wurde. Katherine Lebow definiert in ihrer Untersuchung zur Autobiographik in Zwischenkriegspolen die soziale Autobiographik als literarisches Genere von Memoiren, die von Vertreterinnen und Vertretern gesellschaftlich randständiger Gruppen verfasst wurden und die in den Augen der Initiatoren der Schreibwettbewerbe den Zweck hatten, Leben und Lebenswelten von Angehörigen dieser Gruppen exemplarisch abzubilden und zu konturieren: Joined by further publications of memoirs by peasants, youth, and other marginalized social groups, as a genre interwar Polish ‘social memoir’ articulated demands not just for codification of a right to employment but more broadly for what are often termed ‘social rights’: as the worker quoted at the beginning of this essay put it, the ‘right to a decent life’.²⁸
Lebow macht weiter deutlich, dass es sich bei diesen Versuchen beileibe nicht nur um soziologische Forschungsprojekte handelte, sondern um Versuche von Intellektuellen des links-liberalen Spektrums, ein gesellschaftspolitisches Programm zu entwerfen, mithilfe dessen die autobiographischen Schriften nicht nur als Ausdruck eines sozialen Gewordenseins und seiner gesellschaftlichen Zwänge betrachtet wurden, sondern als Möglichkeiten, mit der eigenen Forschung auf die von ihnen selbst erhofften sozialen Veränderungen in der polnischen Gesellschaft hinzuwirken:
Vgl. Paweł Hulka-Laskowski: Mechanika rewolucji, in: Tygodnik Ilustrowany, 20.5.1934. Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 5. Lebow, The Conscience of the Skin, S. 297.
4.1 Halina Krahelska (1886 – 1945)
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[A] number of prominent researchers embraced what they saw as the possibilities social memoirs offered to turn research into ‚a powerful lever of change‘, one allowing them not merely to observe but ‚act upon the society they were supposed to be studying.‘²⁹
Lebows Äußerung, die wiederum mit Zitaten aus Mary Jo Maynes‘ Studie zu Arbeiterautobiographien in der Zeit der Industrialisierung die Programmatik der Soziologen des IGS beschreibt, zielt vor allem auf die nationale Programmatik der polnischen Intelligenz.³⁰ Dass diese bei Krzywicki besonders ausgeprägt war, verwundert nicht, war doch Krzywicki in der Vorkriegszeit einer der profiliertesten Köpfe der polnischen Intelligenz, insbesondere der sich als links-progressiv begreifenden Teile der Unbeugsamen, gewesen.³¹ Die Idee der sozialen Autobiographik bedeutete insofern die Fortsetzung intelligenter Programmatik, als in ihr der revolutionäre Aktivismus der polnischen Intelligenz aus der Zeit nach 1863 in die Verhältnisse der Zwischenkriegszeit übersetzt wurde. Porter-Szűcs wiederum macht darauf aufmerksam, dass es die russische radikale Intelligenz der 1870er Jahre gewesen war, deren Konzept die Unbeugsamen die Idee des revolutionären Aktivismus entnommen hatten und an die Spezifik der polnischen Intelligenz angepasst hatten.³² Krahelskas Memoiren verweisen demnach mit ihrer Idee der autobiographischen Selbstdarstellung auf ein umfassendes polnisch-russisches Erbe und auf die Wurzeln der Intelligenz seitens der Autorin. Zudem lassen sie sich klar der Idee der sozialen Autobiographik zuordnen und repräsentieren den Versuch, mit den Memoiren einer weiblichen Vertreterin polnischen revolutionären und sozialistischen Denkens eine neue Sicht auf die Vorgänge sozialen Wandels, auf die Überwindung der russisch-imperialen Herrschaft und letztlich auf die Gründung eines demokratischen Polens zu etablieren. Liest man Krahelskas Memoiren in diesem Sinne, lässt sich den Memoiren die Vision eines sozialistischen Gesellschaftsprojekts für Polen zuschreiben. Diese konstruiert die Autorin im erinnernden Rückgriff auf die eigene Erfahrung vom Leben als Revolutionärin im Russischen Imperium. In der Verschränkung der gesellschaftlichen Rolle der Frau und der Repräsentantin der Intelligenz, als Außenseiterin und als Revolutionärin kommt der Kern von Krahelskas Selbsterzählung zum Tragen und deren Bedeutung als gesellschaftlicher Spiegel und als politischer Akt zugleich zum Ausdruck.
Ebd., S. 303. Vgl. Mary Jo Maynes: Taking the Hard Road. Life Course in French and German Workers’ Autobiographies in the Era of Industrialization, Chapel Hill, NC 1995, S. 51. Vgl. Micińska, A History of the Polish Intelligentsia, S. 130. Vgl. Porter, When Nationalism Began to Hate, S. 86.
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Deutlich wird dies in den ersten Sätzen ihrer Memoiren, denen sie eine autobiographische „Methode“ voranstellt: Als ich beabsichtigte, die Erinnerungen zu schreiben, musste ich eine bestimmte Methode auswählen. Ich lehnte die Art einer aufeinanderfolgenden Erzählung des bisherigen Lebens mit allen Ereignissen in der Annahme ab, dass eine solche Erzählung den Leser langweile. Zudem macht die zeitliche Distanz, aus der ich die Ereignisse jener Zeit beschreibe, die genaue Erinnerung aller Ereignisse in ihren Details und ihrer Reihenfolge unmöglich, solange man sich nicht für das sofortige Niederschreiben entscheidet. Ich stellte für mich fest, dass Memoiren mit einer Beigabe von Phantasie – sei es auch einer unterbewussten – nicht mehr die Qualität eines Dokuments hätten.³³
Später schreibt Krahelska zur gleichen Frage: Ich habe mich bemüht, vor allem die Ereignisse hervorzuheben, die eine allgemeinere, eine weniger persönliche Bedeutung haben. Zweifelsohne gab es im Leben und in der Tätigkeit anderer, ambitionierterer Revolutionäre mehr solche und interessantere Ereignisse. Aber die Autobiographik der Revolutionsbewegung ist bei uns noch schwach entwickelt und es schreiben nicht die Personen, die schreiben sollten.³⁴
Aus den Worten der Autorin kommt nachweislich der Anspruch ebenjener Methode zum Vorschein, wie sie von der polnischen Soziologie um Florian Znaniecki entwickelt und von Ludwik Krzywicki weiter vorangetrieben wurde. Exemplarität und Vorbildhaftigkeit waren in ihren Augen Wesensmerkmale der sozialen Autobiographik.³⁵ Mit Lebow lässt sich noch einmal deutlich machen, warum sich Krahelska beim Schreiben der eigenen Autobiographie auf die Idee der sozialen Autobiographik stützte. Autobiographisches Schreiben im Sinne einer sozialen Autobiographik hatte Lebow zufolge für deren Erfinderinnen und Erfinder individuelle Selbstermächtigung und gesellschaftliche Emanzipation zum Inhalt: „It [social memoir] thus transformed its authors from passive objects into subjects and agents, and in so doing it inevitably generated implicit claims about citizenship and equality.“³⁶ Autobiographisches Schreiben hieß demnach für Krahelska, die eigene Tätigkeit und somit die der Intelligenz, der Revolutionäre und der innerhalb der Intelligenz aktiven Frauen zu benennen und ihnen für die Gegenwart eine gesellschaftliche Bedeutung zu erschreiben. Bei Krahelska sind es der Wandel einer Polin mit bürgerlichem und adeligem Hintergrund zu einer Revolutionärin, das Aufzeigen und Kritisieren gesellschaftlicher Konventionen
Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 5. Ebd., S. 7. Vgl. Lebow, The Conscience of the Skin, S. 298. Ebd., S. 306.
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und schließlich die aus dieser Transformation erwachsenden Zukunftspotentiale, die ihre Memoiren als typisches Beispiel der sozialen Autobiographik kennzeichnen.
Russisch-imperiale Erfahrung: Repressionen, Haft und Verbannung als Elemente einer revolutionären Lebenserzählung An einer Stelle ihrer Memoiren, wo Halina Krahelska ihre Erinnerungen an ihre Zeit im Kiever Frauengefängnis 1913 beschreibt, hebt die Autorin diese Zeit als eine der essentiellsten Erfahrungen ihres Lebens hervor: Ich erachte die verbrachten Jahre im Gefängnis nicht nur wegen der traurigen Eindrücke, die ich dort erlebte, sondern auch wegen der schönen, netten, kostbaren und sogar wegen der einfach fröhlichen Erlebnisse als völlig unvergesslich: sie alle sind mit dem Gefühl von der Solidarität der Häftlinge verbunden. […] Deshalb werde ich immer zu meinen Gefängniserinnerungen als den teuersten zurückkehren und – auch wenn es einem Paradox gleicht – ich könnte die Leute bedauern, die solche Erinnerungen nicht in ihrem Leben haben.³⁷
Die Erfahrung der Haft stellt in den Memoiren der Autorin den, wenn auch nicht chronologischen, so doch ideellen Ausgangspunkt ihrer autobiographischen Erzählung dar, die auf den Akkord eines humanistisch-sozialistischen Modernitätsversprechens gestimmt ist. Die Strahlkraft dieses Versprechens hatte im Augenblick ihrer Veröffentlichung 1934 vor dem Hintergrund der immer noch spürbaren Wirtschaftskrise in Polen zwar an Intensität, nicht jedoch an Aktualität verloren. 1934 verfügte das gesellschaftliche Projekt der Sowjetunion über große Anziehungskraft, die einsetzenden stalinistischen Säuberungen sollten erst in den kommenden Jahren ihren Höhepunkt erreichen, und Teile der polnischen Linken relativierten die Repressionen in Sowjetrussland als notwendige Folge eines umfassenden gesellschaftlichen Wandels.³⁸ Die Gefängnisepisode ist für Krahelska Ausgangspunkt einer modernen und emanzipatorischen Lebenserzählung und dient der Erzählung vom Werden und Leben einer Revolutionärin, in deren Zentrum Verwandlung der Erzählerin von der Bürgerlich-Adeligen zur Revolutionärin steht. In einem der weiter oben zitierten Auszüge verweist die Autorin auf die Last einer bürgerlich-adeligen Herkunft und auf die daraus entstehenden Gefahren des „Faschismus und des Hitlerismus“, die in diesem Entwicklungsprozesses lauer-
Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 128. Vgl. Sielezin, Obraz Rosji i Rosjan w polskiej opinii publicznej, S. 178.
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ten.³⁹ Was sich zunächst nach einem Loblied auf die Arbeiterschaft und auf dessen Immunisierung vor faschistischen Tendenzen anhört, ist auch als rückblickender Gedankengang zu interpretieren, der Krahelska die Bürde der eigenen Herkunft und die damit einhergehenden Schwierigkeiten und Hindernisse für den eigenen Wandlungsprozess zur Revolutionärin hin betonen lässt. Bei der Betrachtung dieses Prozesses kommt das Erzählelement einer doppelten, einer sozialen und einer weiblichen Marginalisierung zum Ausdruck, welches die autobiographische Erzählung kennzeichnet. Die Zugehörigkeit zum polnischen Adel stellt denn auch in der autobiographischen Erzählung ein ständig wiederkehrendes Spannnungsmoment dar, etwa, wenn die Autorin in ihren familienbiographischen Beschreibungen vor allem an den Vater erinnert, der als Professor und als Sympathisant der revolutionären Bewegung vorgestellt wird, und weniger an die ebenfalls dem polnischen Landadel entstammende Mutter.⁴⁰ Krahelskas ambivalentes Verhältnis zur eigenen Herkunft wird auch in einer späteren Episode sichtbar, in der sie ihre erste Verhaftung in Odessa 1911, die darauf folgende Durchsuchung des Elternhauses durch die Polizei und ihre Abführung aus dem Haus schildert: Nach Verlassen des Hauses befahl der Polizeioffizier, der die Durchsuchung durchgeführt hatte und von der ganzen Hetze gelangweilt war, zwei Polizisten, mich aufs Revier zu führen, er selbst ging schlafen. Die beiden schlugen mir sofort vor, mit der Kutsche zu fahren, falls ich Geld hätte; sie sprachen mich per ‚baryšnja‘ [russ. Fräulein, Adelige] an und waren der Meinung, dass es mir nicht zufiele, der Straße von der Polizei eskortiert zu Fuß zu folgen.⁴¹
Die adelige Herkunft spielt auch an einer anderen Stelle eine Rolle, als Krahelska von ihrem zweiten Gefängnisaufenthalt in Kiev 1915 berichtet. In diesem verbrachte Krahelska wegen ihrer adeligen Herkunft deutlich mehr Zeit als ihre Mitgefangenen. So äußert sie sich mit folgenden Worten: Ich blieb ein halbes Jahr länger im Gefängnis als meine Genossen: solch einen Dienst erwies mir meine adelige Herkunft! Niemals wieder vermochte ich sie so sehr zu verfluchen, nachdem ich dieses überflüssige Halbjahr hinter Schloss und Riegel gesessen hatte. In Russland nämlich existierte eine solche Prozedur, dass die Aberkennung aller Rechte bei solchen Personen adeligen Geschlechts einer Bestätigung des Kaisers bedurfte und diese Angelegenheiten ihm persönlich vorgetragen werden mussten. Wie man aus meiner Erfahrung ersehen kann, musste der Häftling auf ein solches Vergnügen oft lang warten: mit der
Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 290. Vgl. ebd., S. 38, 50. Ebd., S. 39.
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Besprechung einer solch unwichtigen Angelegenheit beim Kaiser hatte es niemand wirklich eilig.⁴²
Die adelige Herkunft Krahelskas und ihres Mannes wird von ihr auch thematisiert, als es um die Heiratspläne des Mannes geht. Die Autorin berichtet, dass sich ihr späterer Ehemann Józef Grabianka in der Verbannung an den Zaren gewandt hatte, um ihn um Erlaubnis zu ersuchen, Krahelska heiraten zu dürfen. Grabianka hatte sie 1915 als freier Mann in den Osten begleitet und die gesamte Zeit bis zur Rückkehr nach Odessa nach dem Oktoberumsturz von 1917 gemeinsam mit Krahelska in der Verbannung verbracht. In den Memoiren berichtet die Autorin davon, wie ungehalten sie auf die Ankündigung ihres damaligen Lebensgefährten reagierte, nachdem sie in der Verbannung von seinem Vorhaben erfahren hatte: Natürlich war das ausgeschlossen. Er versuchte, mich sanft davon zu überzeugen, dass man ein Gesuch solchen Inhalts nicht mit einem Gesuch um Begnadigung gleichsetzen sollte, was als unumkehrbare Selbstentweihung der Revolutionärswürde galt. Ich antwortete darauf, dass ich in keinerlei Angelegenheit den Kaiser um etwas bitten würde und daraufhin war das Gespräch beendet.⁴³
Allerdings hatte Grabianka trotz ihrer Ablehnung bereits 1914 ein Schreiben an den Zar aufgesetzt und darin um dessen Erlaubnis zur Heirat der ihrer Bürgerrechte beraubten Krahelska gebeten. Dabei stellt sie dar, dass Grabiankas Initiative dem Ehrenkodex der Revolutionäre zuwiderlief und ihr Lebensgefährte für dieses Schreiben von den politischen Verbannten mit einem einmonatigen Boykott und sozialer Isolation bestraft werden sollte. Der ursprüngliche Konflikt zwischen den beiden entwickelt sich zu einem zwischen dem Paar und der revolutionären Fraktion der Verbannten. In einer Episode erinnert sie daran, wie sie Grabianka mit der Frage konfrontiert habe, warum er, der sich als Revolutionär erachtete, sich an den Zaren wenden konnte: Ich erinnere mich, dass er logisch antwortete: ‚Letztlich bist nicht du, sondern nur ich ein freier Mensch; es steht mir frei, mich mit jeder Institution in diesem Staat zu verständigen, in dem ich wohne und in dem ich normale Beziehungen habe!‘ Diese logische Erklärung rief mich in keiner Weise zur Vernunft. Vielleicht ahnte ich, dass ich wegen dieses Schritts, der niemandem notwendig erschien, so viele Unannehmlichkeiten würde haben werden. […] Um hier hervorzuheben, wieviel anders wir als die Freien [gemeint sind die politisch Verbannten, zu denen Grabianka nicht gehörte , M.-B.] auf alles reagierten, will ich erinnern, dass das Leid, das ich spürte, und die Nervosität, die daraus entstand, bislang unerreichte Ausmaße annahm: ich sprach nicht mehr mit meinem Mann, sondern ging für mich allein weiter durch
Ebd., S. 143. Ebd., S. 179.
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die Nacht, bis zur Ebene des Flusses, als ob ich vor ihm und vor der Vision eines ‚normalen‘ Lebens hätte fliehen können, die sich vor mir mit seinen Worten abzeichnete: ‚Erstens könnten wir ein Kind bekommen, und ich wollte weder mir noch deinen Eltern gegenüber etwas vorzuwerfen haben, vor allem aber musste ich darüber nachdenken, dich zu beschützen, denn du hattest so gelitten.‘⁴⁴
Die vorgestellten Auszüge machen das Spannungsfeld sichtbar, welches die Autorin zwischen der sozialen Herkunft, der Rolle der Frau und ihren eigenen Erwartungen an eine revolutionäre Haltung entfaltet. Grabianka erinnert seine Frau mit seinem Gesuch nicht nur an ihre Mühe, die adelige Herkunft abzustreifen und eine Existenz als Ausgestoßene der Gesellschaft zu meistern, sondern auch an ihre Angst, angesichts der Aussicht auf eine bürgerliche Ehe und der traditionellen Vorstellung Grabiankas von der Rolle einer Ehefrau nicht mehr Teil einer revolutionären Bewegung sein zu können. Den Konflikt um das Selbstverständnis einer Revolutionärin mit adeligem Hintergrund bettet die Autorin also in eine Erzählung modernen weiblichen Selbstverständnisses ein. Das Erlebnis der langen Haft im Kiever Gefängnis, das Wissen vom Gesuch ihres Mannes an den Zaren und die Erfahrung von der dann folgenden Bestrafung ihres Mannes mit Isolation durch die Selbstorganisation der politischen Verbannten in Rybnoe können als sogenannte „Stör-Erfahrungen“ benannt werden – ein Begriff von Peter Sloterdijk, hinter dem sich die Beschreibung „jener nicht integrierbaren Erfahrungsanlässe“ wie Doppelmoral, Widerspruchs- oder Abweichungserfahrungen verbirgt, welche die Schreibenden zu einem Umgang mit diesen zwingen.⁴⁵ In der Folge sieht Sloterdijk zwei Auswege zur Lösung der Störerfahrung für die Schreibenden: einmal, sich kritisch dieser Erfahrung zu nähern und sich selbst dafür zu sensibilisieren – Sloterdijk spricht hier vom „dialektischen Lernen“ –, oder die eigene Erfahrung zu sortieren und zu selektieren, einem „Modus der Verdrängung“ zu folgen.⁴⁶ In letzterem Ausweg sieht Sloterdijk die Gefahr einer ideologischen Überformung begründet.⁴⁷ In Krahelskas Fall ist es der Konflikt um die Zugehörigkeit zur revolutionären Bewegung und um die Verinnerlichung revolutionärer Werte, die im Gegensatz zu ihren Herkunfts- und Sozialisationserfahrungen stehen. Dass sie sich selbst als Teil eines Kollektivs politischer Gefangener und Verbannter begreift, wird anhand ihrer Verwendung der Wir-Form im Zitat deutlich und kann durchaus als Indiz einer solchen ideologischen Überformung gelten, die sie als möglichen Ausweg aus dieser Stör-Erfahrung wählt. In diesen Stör-
Ebd., S. 180. Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung, S. 114. Ebd. Vgl. ebd.
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Erfahrungen kommt die Spezifik von Krahelskas Erzählung der russisch-imperialen Erfahrung besonders deutlich zum Ausdruck. Vor diesem Hintergrund ist an eine weitere Episode zu erinnern, die an die Frage nach Krahelskas sozialer und nationaler Selbstverortung in ihrer Autobiographie rührt. Die Autorin berichtet von einem gemeinsamen Treffen mit dem zukünftigen Mann, der sie in die Verbannung begleiten soll, und dessen Mutter im Gefängnis kurz vor dem Antritt der Verbannungsstrafe und stellt diese als eine in der Tradition des polnischen Landadels verhaftete Alte der eigenen Person gegenüber. Das Gespräch erinnert Krahelska mit folgenden Worten: Die Auserwählte seines Sohnes, eine Sozialistin, eine Revolutionärin zu sehen – und dazu noch in Häftlingskleidung –, gehörte für die Grabianczyna nicht zu den angenehmen und leichten Dingen. Nach einem längeren Gefängnisaufenthalt und dem durchlaufenen Gefängnistraining war ich bereits eine verbitterte und unnachgiebige Revolutionärin, und bestimmte Eigenschaften der Intoleranz und die meiner Natur eigene Kompromisslosigkeit führten dazu, dass ich in mir viel Fanatismus und Unversöhnlichkeit hatte – eine feindliche Haltung gegenüber Menschen, die anders dachten. […] Sie jedoch hatte in sich alle Eigenschaften ihrer Klasse aufbewahrt, sorgte sich darum, den Anschein von Wohlstand zu wahren, solidarisierte sich mit der psychologischen Haltung des vermögenden und des altadeligen Großgrundbesitzes.⁴⁸
Im Zitat symbolisieren sie und die Grabianka-Mutter zunächst zwei Wege polnischer Haltung zur russisch-imperialen Herrschaft, manifestiert durch Vertreterinnen zweier unterschiedlicher Generationen – die Aufrechterhaltung adeliger Traditionen als Ausdruck nationaler Würde und die Entsagung von ebenjenen Traditionen als rückständig und ewiggestrig. Anschließend berichtet die Autorin jedoch über eine unerwartete Wendung des Gesprächs: Dennoch verlief alles überraschend gut. Die Grabianczyna entstammte der Familie Żurakowski, in der es etliche Aufständische (1831 und 1863) gegeben hatte. Ihr Mann und der Vater meines Mannes, Antoni Grabianka, hatte am Aufstand von 1863 teilgenommen, und etliche Jahre im Gefängnis gesessen, wofür er mit seiner Gesundheit gezahlt hatte. Wahrscheinlich waren es diese Begebenheiten, die dazu führten, dass sie sich im Gefängnis mit mir solidarisch verbunden fühlte. Der Anblick einer Polin, der eigenen Schwiegertochter hinter Gittern in Häftlingskleidung; die Gegenwart eines Offiziers der Gefängniswache zwischen den Gittern, der meinen Mann und seine Mutter besonders zu Zugeständnissen zwang, indem er rief: ‚Russisch sprechen‘ und am Ende dann das Treffen mit dem Aufruf ‚Verabschieden Sie sich endlich‘ unterbrach; das alles führte dieser Frau, die in einer Umgebung von Aufstandserlebnissen aufgewachsen war, die Vertrautheit meiner Haltung, die Feindseligkeit dieser Umgebung fremder Gewalt vor Augen. Den Rest erledigte der starke Charakter, der die Mutter meines Mannes auszeichnete. […] Ich weiß nicht, mit welchen Illu-
Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 145 f.
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sionen die Grabianczyna noch zu leben imstande war, nachdem sie zu dem Treffen mit mir gegangen war. Aber eins weiß ich, dass, als sie die Finger der Gefangenen hinter den Gittern berührte, sie von allen Erwartungen lassen konnte.⁴⁹
Die Episode von der Schwiegermutter ist eine der Schlüsselstellen in den Memoiren, an denen Krahelska versucht, die eigene Rolle als Revolutionärin mit der Tradition des polnischen anti-imperialen Widerstands im 19. Jahrhundert zu verbinden. Die Gegenüberstellung und der Dialog zwischen den beiden Traditionen anti-imperialen Denkens, des revolutionären Denkens der russischen Intelligenz und des freiheitlichen Denkens des polnischen Adels in den Personen der Schwiegermutter und ihrer selbst, lässt sich als Versuch interpretieren, beide Strömungen miteinander zu versöhnen und in Einklang zu bringen. Die adelige Herkunft der Krahelska dient ihr zufolge der Schwiegermutter als Anreiz zur Solidarisierung. Das von der Grabianka-Mutter erfahrene Leiden unter den Repressionen nach den anti-russischen Aufständen verknüpft Krahelska wiederum wirksam mit der eigenen Repressions- und Ausgrenzungserfahrung. Wenngleich Krahelska das adelig-revolutionäre und das damit einhergehende russisch-polnische Spannungsmoment autobiographisch aufzulösen versucht, bleibt dieses in der anschließenden Erzählung weiter bestehen, wird doch aus ihren Memoiren zweifelsohne ersichtlich, dass Krahelska einen großen Teil ihres Lebens vor der Unabhängigkeit Polens in den Kreisen der russischen radikalen Intelligenz verbrachte und sich mit deren Ideen des revolutionären Sozialismus deutlich stärker identifizierte als mit der Idee von der Befreiung Polens. Letztere findet in Krahelskas Memoiren deutlich weniger Aufmerksamkeit als die Idee des revolutionären Sozialismus, die sie als Aktivistin in der russischen radikalen Intelligenz kennenlernt. So widmet etwa die Autorin der eigenen Schaffensphase in der russischen revolutionären Bewegung vor und während der Russischen Revolution einen großen Teil ihrer autobiographisch-revolutionären Erzählung, während ihrer Tätigkeit in der polnischen Freiheitsbewegung, konkret in der POW in Odessa 1918 nur knappe 17 Seiten zukommen.⁵⁰ Die Tätigkeit in der russischen revolutionären Bewegung und die Erfahrung von Gefängnis und Verbannung ist demnach für Krahelskas biographische Prägung und daraus folgend für ihre Darstellung des Russischen Imperiums von essentieller Bedeutung – anders als bei den Memoiren der sogenannten Unbeugsamen wie Limanowski oder Studnicki finden sich bei ihr keinerlei Hinweise auf eine post-koloniale Russlanderzählung oder auf eine kompensierend-zivilisatorisch geprägte Lesart Russlands aus einer national-zentrischen Perspektive. Ebd., S. 146 f. Vgl. ebd., S. 255 – 272.
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Vielmehr betont Krahelska den repressiven und autoritären Charakter des Herrschaftssystems des Russischen Imperiums und entwirft demgegenüber ein kulturell und national vielfältiges Bild einer unterdrückten, von autoritativer Modernisierung und sozialem Wandel geprägten Gesellschaft. Im Fokus ihrer Memoiren steht denn auch nicht so sehr das Bild eines kollektiven, also nationalen Leidens unter dem russisch-imperialen Herrschaftsregime als vielmehr das Leid vor allem weiblicher Repräsentantinnen verschiedener sozial benachteiligter Gruppen, die sie als Opferkollektive und Ausgestoßene des Russischen Imperiums ausmacht. In einer Episode beschreibt sie etwa ein Gespräch mit einem ukrainischen Soldaten, der sie auf der Reise vom Kiever Gefängnis in den Verbannungsort 1914 begleitet und demgegenüber sie verneint, dass „wir [die polnischen Gefangenen des Transports, M.-B.] für die Nation leideten“.⁵¹ Insbesondere Krahelskas Schilderungen ihrer Gefängnisaufenthalte veranschaulichen dieses Narrativ. Ihre Gefängnisbeobachtungen leitet sie mit folgenden Worten ein: Im Laufe einiger Jahre, die ich in den Gefängnissen zu Zeiten der russischen Zaren verbrachte, tat sich vor mir eine Reihe vielfältiger Frauentypen auf. Natürlich könnte man diese Typen nach einem psychologischen, einem nationalen, nach einem Parteienschlüssel usw. unterteilen. In meinen Erinnerungen unterscheiden sie sich jedoch anders, und zwar nach einem Gefängnissschlüssel: in ‚Politische‘ und ‚Kriminelle‘.⁵²
Regelmäßig stellt die Autorin in ihren Porträts einzelner mitgefangener Frauen deren Täterschaft, vor allem aber ihre moralische Schuld infrage und skizziert der Leserschaft ein düsteres Bild von der Gesellschaft des untergehenden russischen Staats, der die Frauen nicht geschützt und in der Haft ihrer Menschlichkeit beraubt habe. Als diesbezüglich exemplarisch kann das Porträt der Kriminellen Tat‘jana Ljalina gelten, über die Krahelska in einer Episode über den Gefangenentransport nach Rybnoe berichtet: Sie stammte ebenfalls vom Lande; sie war ebenfalls jung ins Gefängnis gekommen wie Anjuta und war wegen irgendeines Raubüberfalls verurteilt worden. Sie war ein ebenso edler, wie starker und kollegialer Mensch. […] Nur ich und Ljalina fuhren in Häftlingskleidung, als unserer Rechte beraubt. Es war eine seltene Sache, dass diese ‚Banditin‘ mir in all den Prüfungen näher war als die anderen [Gefangenen, M.-B.]: in ihr hatte ich größeren Rückhalt, eine bessere Kollegialität, fest wie Mauern. Während die anderen in ihrem Verhalten eine für diese Verhältnisse wenig angemessene und unpassende ‚Mädchenhaftigkeit‘ hatten, bot mir die Ljalina in der schwierigen Frage, die Menschenwürde in der Häftlingskleidung angesichts der Verhältnisse der Reise in den verschiedenen Soldatenkonvois aufrechtzuerhalten, bedingungslos Gesellschaft. Ihre weniger komplizierte Psyche, gesunde
Ebd., S. 148. Ebd., S. 109.
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Nerven, eine weitaus größere physische Vitalität konnten trotz der Jahre der Verbannung so eine Aufgabe natürlich lösen. Ljalina hatte mich sehr gern, denn ich schätzte an ihr die guten menschlichen Charaktereigenschaften und ich behandelte sie völlig kameradschaftlich. Ich hatte die Gelegenheit, mich zu vergewissern, dass sie einen sehr großen Mut und eine große Aufopferungsgabe hatte, die für die russischen Frauen so charakteristisch ist.⁵³
Ljalina stellt in Krahelskas Aufzeichnungen so etwas wie den Prototyp einer vom russischen Staat und der russischen Gesellschaft fälschlicherweise verachteten Frau dar, die gleichzeitig mit hohen moralischen Werten, Intelligenz und Würde ausgestattet ist. Am Ende ihrer Typologie der Mitgefangenen kommt Krahelska zu dem Schluss, dass „besonders unter den schwerkriminellen Häftlingen mehr gute, als böse Menschen waren.“⁵⁴ Das Bild der weiblichen Gefangenen, insbesondere der kriminellen, wird in Krahelskas Erzählung deutlich aufgewertet und hat nur wenig mit den abschätzigen Beschreibungen etwa in Studnickis Memoiren über die russischen Gefangenen in der Verbannung gemein. Stattdessen lassen sich in ihren Memoiren durchaus Anknüpfungspunkte an die russische Gefängnis-Literatur und deren Narrative finden. Hinter Krahelskas Kriminellen-Narrativ verbirgt sich letztlich ein in der russischen Literatur verbreiteter narrativer Ansatz zur Skizzierung des imperialen Russlands, der die Solidarisierung der meist der Intelligenz angehörenden Schreibenden mit den Gefängnisinsassen und den Verbannten, also den vom Imperium Ausgestoßenen zum Inhalt hat. In ihrer Hervorhebung insbesondere der kriminellen Gefangenen wendet sich Krahelska dabei der Gruppe der vermeintlichen Täterinnen zu, ganz ähnlich, wie es bereits Fëdor Dostoevskij (1821– 1881) mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor in seinen ebenfalls mit autobiographischen Elementen versehenen Aufzeichnungen aus dem Totenhaus tat.⁵⁵ Indem Dostoevskij sich darin auf die Typisierung der Gruppe der Häftlinge konzentrierte, entfaltete er ein Panorama der russischen Gesellschaft, die nun nicht mehr in eine freie und eine Gesellschaft der Ausgestoßenen getrennt war, sondern deren Trennung durch die Betrachtung der Charaktere der Häftlinge vielmehr aufgehoben wurde. Das Gefängnis wurde bei ihm zur Metapher der ungerechten und willkürlichen russischen Gesellschaft, deren Boshaftigkeit und Niedertracht von der Gefängnisgesellschaft lediglich nachgeahmt wurde.⁵⁶ Bei
Ebd., S. 114 f. Ebd., S. 118. Vgl. Fëdor M. Dostoevskij: Zapiski iz Mërtvogo doma, Peterburg 1862. Vgl. Horst-Jürgen Gerigk: Dostoevskijs Aufzeichnungen aus einem „Totenhaus“: Täterliteratur mit vierfachem Schriftsinn, in: Slavische Literaturen im Dialog. Festschrift für Reinhard Lauer zum 65. Geburtstag, hg. von Ulrike Jekutsch, Wiesbaden 2000, S. 247– 254, hier S. 248.
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Krahelska ist das Phänomen des Gefängnisses als Spiegel der Gesellschaft ganz ähnlich zu beobachten, aber mit der Besonderheit, dass sie sich der Frauen annimmt und diese von ihr letztlich als Sinnträger eines politischen Projekts, nämlich der sozialen Revolution, betrachtet und idealisiert werden. Die Solidarisierung mit dem „einfachen“ Russland der Soldaten, der Bäuerinnen und Bauern sowie der Arbeiterinnen und Arbeiter angesichts eines unmenschlichen Regimes lässt sich denn auch an anderen Stellen beobachten. So zeigt sich Krahelska ob des Lobs vonseiten eines russischen Wachthabenden für ihr Verhalten während eines Verhörs im Gefängnis erstaunt: „Dieser russische Bauer oder Arbeiter in Uniform beseelte mich mit einer solchen Zärtlichkeit und Herzlichkeit und fegte die Wut und die Unverschämtheit der Herren mit der ‚höheren Bildung‘ hinweg.“⁵⁷ Später äußert sich die Autorin wohlwollend über die russischen Soldaten, die sie auf ihrer Reise in ihren Verbannungsort 1915 bewachten und begleiteten, an anderer Stelle lobt sie die „unerhörte Herzensgüte der Soldaten“ in einem ukrainischen Konvoi.⁵⁸ Krahelskas positive Deutung eines Russlands der Schwachen und der Ausgegrenzten beschränkt sich übrigens nicht nur auf ihre Gefängnisbeschreibungen. Auch in den Episoden zur Verbannung lassen sich Versatzstücke einer solchen Erzählung ausfindig machen. Dabei spielen post-koloniale oder zivilisatorisch-kompensatorische Lesarten Russlands oder etwa eine nationale Rahmung der eigenen Unterdrückungserfahrung, wie sie in Limanowskis und vor allem in Studnickis Memoiren zu finden ist, keinerlei Rolle. Die Erzählung von den sozial Marginalisierten nimmt demgegenüber eine Konstante in Krahelskas Memoiren ein und stellt bezeichnenderweise einen der wenigen Kritikpunkte der Autorin an den Repräsentantinnen und Repräsentanten der revolutionären Bewegung dar, deren westlich orientiertes Denken sie verurteilt und als Orientalismus entlarvt, wie anhand eines Porträts des befreundeten georgischen Verbannten Getoev zum Ausdruck kommt: Die extremste Gestalt war ein ehemaliger Zwangsarbeiter, ein Sozialrevolutionär, der Georgier Chadži Getoev. […] Dieser Mensch – ungefähr dreißig Jahre alt – hatte eine starke und aufbrausende Natur, ein heftiges Temperament, eine unbändige Energie. Er war irgendwo in Russland auf einer Universität gewesen, die er wegen seiner revolutionären Tätigkeit nicht beendet hatte. Generell wurde er von den Verbannten nicht gemocht, denn er lebte auf seine Art, verschlossen, vom Rest nicht nur wegen des außerordentlichen und östlichen Akzents in der Aussprache und wegen seiner Grobheit und Strenge im Umgang mit Personen, sondern auch wegen seiner unterschiedlichen Kultur, der Art seiner Psyche und seines Mangels an Toleranz gemieden.⁵⁹
Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 95. Ebd., S. 116, 148. Ebd., S. 168.
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Die Beschreibung Getoevs stellt eine der Episoden im Buch dar, in der die orientalistisch-kompensatorischen Muster der russischen Intelligenz von Krahelska kritisch benannt werden. Dominant bleibt hier wie auch an anderen Stellen ebenso das Narrativ der Außenseiterschaft und Krahelskas Solidarisierung mit den Marginalisierten. Von der russischen Administration und den Repräsentanten des russischen Staates zeichnet Krahelska wenig überraschend ein negatives Bild. Am Beispiel des rücksichtslosen und korrupten Gefängnisarztes Baranov, den sie als „hämisch“ und „verbissen“ beschreibt oder am Beispiel russischer Offiziere, die sie als „böse, verachtend im Verhältnis zu uns“ skizziert, macht Krahelska die Willkür und die systematische Ausgrenzung der Gesellschaft der Gefangenen und der Verbannten aus dem gesellschaftlichen Kosmos des Russischen Imperiums deutlich.⁶⁰ Gemeinsam ist all diesen Beobachtungen, dass sie in einer zweigeteilten Darstellung des Russischen Imperiums verhaftet bleiben, das zwischen dem autokratischen Regime und der russischen viktimisierten Gesellschaft unterscheidet. Demgegenüber stellt für Krahelska die Welt des Gefängnisses und der Verbannung lediglich ein düsteres Abbild von dem Verhältnis zwischen beiden Gruppen dar, denn dort verschwimmen die Grenzen zwischen Administration, Wärterschaft und den Häftlingen und Verbannten. Korruption, asymmetrische Mächtehierarchien sowie strukturelle Abhängigkeit, Gewalt und Willkürherrschaft prägen in den Memoiren das Zusammenleben zwischen diesen drei Gruppen des Gefängnisses. Dem moralischen Verfall in der Haft setzt die Autorin eine sozialistische Ethik entgegen, die sie den Ideen der russischen revolutionären Bewegung entnimmt. Die politischen Häftlinge und Verbannten nehmen in ihren Memoiren folgerichtig eine Vorbildfunktion als Visionäre einer besseren Gesellschaft ein. Wenngleich diese Gemeinschaft in Krahelskas Rückblicken immer wieder Risse bekommt, so beschreibt Krahelska etwa die Konflikte zwischen Sozialdemokraten und Sozialrevolutionären in der Verbannung als „rituelle Übungen“ und als „theatralische Dekorationen“ und kritisiert das mechanische Festhalten an ideologischen Glaubensgrundsätzen, bleibt ihr Blick auf die revolutionäre Bewegung von der Vorstellung der Bewegung als Vorreiterin eines gesellschaftlichen Modernisierungsprojekts bestimmt.⁶¹ Die Gemeinschaft der politischen Verbannten sieht sie auf dem Fundament des anti-imperialen Widerstands und der Ausgrenzung und auf der gemeinsamen Erfahrung von Gefangenschaft, Deportation und Verbannung begründet – eine Wertebasis, die in ihrer Konsequenz selbst die Familien und Freunde der Verbannten wie etwa
Ebd., S. 116, 148. Ebd., S. 179.
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Krahelskas Lebensgefährten Grabianka ausschließen kann. In einer Episode über das Eintreffen von Neuankömmlingen im Verbannungsort Rybnoe und über die von der Verbannungsgemeinschaft veranstalteten gemeinsamen Willkommensabende, wo sich alte und neue Verbannte über ihre Erfahrungen von Gefängnis und „Etappe“ austauschen und eine Erinnerungsgemeinschaft bilden, äußert sich Krahelska zum Phänomen der Solidarisierung unter den Verbannten und zur damit verbundenen Exklusivität dieser Gruppe ausführlich: Die Zärtlichkeit und die Liebe zwischen den Menschen [zwischen neuen und alten Verbannten, M.-B.] äußerte sich oft in solchen intimen Formen, etwa wenn jemand, der einen nahen Freund aus der katorga [russ. Zwangsarbeit] traf, den ganzen Abend mit der Hand auf dessen Schultern sitzen konnte, oder ihn an der Hüfte umfasste, ins Gesicht schaute, in seine Züge und Falten, die noch voll von den Ausdrücken, den Grimassen, den Schmerzen und Gedanken des Gefängnisses waren. […] Zweifelsohne war die Gemeinsamkeit unserer Lage, die der politischen Verbannten, eine Ausgangsvoraussetzung, die sich auf die weitere Entwicklung der Beziehungen auswirkte. Genauer betrachtet, hatten wir – die Entrechteten – zueinander festeres Vertrauen als zu den Brüdern in der administrativen Verbannung, irgendwie war es mit dem ideellen, revolutionären und dem menschlichen Fundament bei ihnen besser bestellt als bei den lišency [russ., Entrechtete, besondere Kategorie justiziell verurteilter Personen, denen die Bürgerrechte entzogen wurden, M.-B.], die den destruktiven Einflüssen des Gefängnisses jahrelang verfallen gewesen waren. Sicher rief die Situation, dass mein Mann ein freier Mensch war, seine Bewegungsfreiheit, andere Kleidung, eine andere Haltung, einen angenehmeren und näheren Kontakt mit der Welt besaß, ein unterbewusstes Misstrauen, Fremdheit hervor. Ohne Zweifel erregte in bestimmten Fällen der Umstand Misstrauen und Entfremdung, dass mein Mann Pole war, und sicher auch, dass er dem polnischen Adel, einer Familie des Großgrundbesitzes entstammte. Das bedeutet keineswegs, dass Russen im Allgemeinen sich mit den Polen, die sich in der revolutionären Bewegung engagierten, ausgezeichnet verstanden. Mein Mann war – soweit ich mich erinnere – in der Revolutionsbewegung von 1905 bis 1906 sehr aktiv gewesen, und auch später, 1919, beteiligte er sich aktiv an der Arbeit des bolschewistischen Socobez [russ. Abk. für Volkskommissariat für Soziale Fürsorge, M.-B.] in Odessa und in den Kämpfen mit den deutschen Kolonisten auf dem Land bei Odessa. Nichtsdestotrotz entfernte er sich in der Verbannung als freier und unabhängiger Mensch weit von unserem Milieu der Verbannten, und erst die Revolution von 1917 sollte diese Eigenart beseitigen.⁶²
Das Zitat veranschaulicht einmal mehr Krahelskas Zugehörigkeit zur russischen revolutionären Bewegung und zur anti-imperialen Intelligenz. Wenn sie von der Geschlossenheit der Revolutionäre in der Verbannung berichtet und deren Exklusivitätsanspruch ausgerechnet am Beispiel ihres Mannes verdeutlicht, kritisiert sie diesen Anspruch zugleich. Am Beispiel von Krahelskas ambivalenter Beschreibung ihres Mannes und seines Engagements in Russland 1917 deutet das
Ebd., S. 186 f.
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Zitat aber auch Widersprüche im revolutionär-autobiographischen Selbstnarrativ der Autorin an, wenn es um die Bedeutung der Russischen Revolution von 1917 für Krahelska und die Gruppe der politischen Verbannten geht, die im folgenden Unterkapitel beleuchtet werden soll.
Die „Große Russische Revolution“ als ersehnter Umbruch Krahelskas Erwartung an die Revolution als erhofftes Umbruchsereignis kommt prägnant in dem von ihr verwendeten Begriff der „Große[n] Russische[n] Revolution [Großschreibung durch Autorin, M.-B]“ zum Ausdruck und schließt die beiden Ereignisse der Februarrevolution und des Oktoberumsturzes der Bolʼševiki in diesen Begriff ein.⁶³ Das Kapitel über Krahelskas Erinnerungen an 1917 erhält von ihr den bezeichnenden Titel „Revolution!“⁶⁴ Diese Haltung drückt sich auch in der Beschreibung über ihre Tätigkeit im Revolutionsjahr aus. Dabei relativiert sie mehrfach die Rolle der Provisorischen Regierung und wertet demgegenüber die Rolle der sovety, der Arbeiter- und Soldatenräte in ganz Russland auf. Als Paradebeispiel für deren erfolgreiche Arbeit führt sie den Arbeiter- und Soldatenrat in Kansk an, in dem Krahelska bis zu ihrer Rückkehr nach Odessa im Spätsommer 1917 tätig war. In ihren Memoiren gibt Krahelska an, dass sie im März 1917 in Kansk kurz nach ihrem Umzug dorthin vom Sturz der Monarchie in Petrograd erfuhr.⁶⁵ Hier engagierte sie sich bis zum Sommer des Jahres aktiv in der Revolutionsbewegung und in den Arbeiter- und Soldatenräten, die von den beiden Fraktionen der russischen Sozialdemokratie in der RSDRP, den Bolʼševiki (Mehrheitler) und Menʼševiki (Minderheitler), sowie von den Sozialrevolutionären dominiert wurden. Mit ihrer wohlwollenden Haltung zu den Räten in Russland stand Krahelska innerhalb der polnischen Linken in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre keineswegs allein. Diese hatte sich 1917 offen mit dem revolutionären Russland solidarisiert, favorisierte in der Folge nicht die Provisorische Regierung, die man als Nachfolgeinstitution des Russischen Imperiums wahrnahm, sondern die Arbeiterund Soldatenräte und schob die Ängste vor einem Räterussland in einem imperialen Gewand beiseite.⁶⁶ Über diese Zeit schreibt die Autorin rückblickend:
Ebd., S. 195. Ebd., S. 191. Vgl. ebd., S. 195. Vgl. dazu Keya Thakur-Smolarek: Der Erste Weltkrieg und die polnische Frage. Die Interpretationen des Zeitgeschehens durch die zeitgenössischen Wortführer, Berlin 2014, S. 433, 438.
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Wenn ich die Fragmente [ihrer Erinnerungen, M.-B.] über die Anstrengungen und Aktivitäten des Delegiertenrates in der Hauptsstadt des Rajons Kansk betrachte, bin ich mir bewusst, dass dies nur ein kleines Zentrum [der Russischen Revolution, M.-B.] war und ein geringer Beitrag zu den Ereignissen, die mit der Revolution von 1917 verbunden sind. […] Die Erfahrungen von der russischen Revolution, und besonders von der Phase des Aufbaus der neuen Ordnung können heute einen anderen, vollständigeren Blick auf die dortigen Ereignisse liefern. Zweifelsohne spielen heute etliche Mitglieder des Rats [von Kansk, M.-B.], wie Edelman, eine aktive Rolle in diesem Aufbau, und mit der Zeit wird sich eine Autobiographik formen, die alle Phasen und Etappen der Entstehung der Räteherrschaft in den Blick nimmt. Irgendwo dort, unter dem Mosaik der Fragmente, aus denen sich ein ganzes Bild formiert, können auch meine Memoiren einen Platz finden.⁶⁷
Ohne die eigenen Erlebnisse der Revolution überzubewerten, macht sich Krahelska für einen Blick auf die russische Provinz während der Revolution stark. Abermals wird aus dem Zitat ersichtlich, dass die Autorin ihre Erfahrung als Argument ins Spiel bringt, in Polen zu einem neuen Blick auf diese Ereignisse zu gelangen, da dieser ihr zufolge offensichtlich Lücken in der polnischen Perspektive auf die Revolution füllen kann. Diesbezüglich beschreibt die Autorin jedoch kaum, welchen Blick sie auf die Russische Revolution als kritikwürdig ansieht. Anhand ihrer Äußerungen lässt sich lediglich feststellen, dass Krahelska mit ihren Memoiren für einen positiveren Blick auf die Russische Revolution plädiert, der die weitreichenden Folgen der Revolution für die Unabhängigkeit Polens und die Transformationserfahrungen des revolutionären Russlands mit Blick auf den gesellschaftlichen Wandel in Polen ins Zentrum der Debatte rücken will, wie im Folgenden aus ihren Aufzeichnungen ersichtlich wird. Auf die Ereignisse in Kansk zurückblickend, macht sie in einem Zitat deutlich, dass der Erfolg eines friedlichen Machtwechsels und Revolutionsverlaufs in Kansk vor allem der unangefochtenen Alleinstellung des Kansker Arbeiter- und Soldatenrats in der Stadt zu verdanken war. Krahelska schreibt dazu: Ich arbeitete im Rat der Delegierten während der ganzen Zeit meines Aufenthalts in Sibirien nach der Revolution, also vom März bis zum August des Jahres 1917. Diese Phase erachte ich als eine der glücklichsten meines Lebens. Die Arbeit im Rat, in der Redaktion der Zeitung, die wir publizierten – das alles machte wirklich sehr viel Freude. Der Rat war zweifelsohne der einzige Machtfaktor und die einzige Organisation des gesellschaftlichen Lebens in Kansk. Von den ersten Tagen der Revolution an war es so, dass wir keine andere Macht in der Stadt duldeten, sich auch keine formierte und der Rat konkurrenzlos herrschte.⁶⁸
Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 232. Ebd., S. 233.
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Im Rat sieht sie denn auch den wesentlichen Träger des revolutionären Gedankens, von dem die Idee der Revolution im Laufe des Jahres 1917 in die Massen getragen wurde. Später betont Krahelska, dass es vor allem die doppelte Existenz zweier konkurrierender revolutionärer Regierungen, der Provisorischen Regierung und der Arbeiter- und Soldatenräte, gewesen sei, die dazu geführt hätte, dass im Laufe des Jahres 1917 Unzufriedenheit und Unruhe in der Bevölkerung zunahmen. Die „Fackel der gesellschaftlichen Revolution“, wie sie schreibt, sieht sie in den Händen der Räte.⁶⁹ Demgegenüber stellt sie klar, dass vor allem die bürgerlichen und die revisionistischen Kräfte den Erfolg der Revolution und eines konsequenten Umbaus der russischen Gesellschaft gefährdet hätten, und wirft diesen in der Rückschau eine kontinuierliche imperialistische Haltung, nicht zuletzt auch in der Frage der Haltung der Provisorischen Regierung zu Polen vor: Man muss daran erinnern, dass es Miljukov, Šingarëv, Tereščenko waren, die ihre imperialistische Haltung [aus der Zeit vor der Revolution, M.-B.] in keiner Weise verändert hatten, und die zu Beginn [der Tätigkeit der Provisorischen Regierung, M.-B.] Regierungsposten besetzten.⁷⁰
Aleksandr Kerenskij (1881– 1970), Sozialist und Schlüsselfigur der Provisorischen Regierung und in ihr unter anderem zunächst Justiz- sowie später Kriegsminister, beschimpft sie gar als einen „Revolutionär von kurzer Dauer“.⁷¹ Krahelska ist also um eine klare Trennlinie zwischen dem sogenannten „bürgerlichen“ Lager und dem sozialistischen Lager der Revolution bemüht. Nur letztere waren auch, folgt man Krahelskas Lesart, ehrliche Verfechter der Unabhängigkeit Polens. Dabei richtet sie auch an letztere kritische Fragen und wirft den Sozialisten eine naive und schablonenhafte Vorstellung von der Revolution vor, im Handeln und Denken des Lagers der „Bürgerlichen“ erblickt sie jedoch den entscheidenden Faktor für das Scheitern oder, wie aus ihrer Rhetorik ersichtlich wird, für den Verrat an der Revolution:
Ebd., S. 229. Ebd., S. 231. Pavel Miljukov (1859 – 1943),Vorsitzender der Partei der liberalen KonstitucjonnoDemokratičeskaja Partija (KDP, Konstitutionell-Demokratische Partei), auch Kadetten genannt, und Außenminister in der Provisorischen Regierung bis Mai 1917; Andrej Šingarëv (1869 – 1918), ebenfalls Mitglied der KDP, Landwirtschaftsminister sowie später Finanzminister in der Provisorischen Regierung bis Juli 1917; Michail Tereščenko (1886 – 1956), entstammte einer russischen Unternehmerfamilie, fortschrittlich-liberal gesinnter Publizist und Politiker, bis zum Oktoberumsturz Mitglied der Provisorischen Regierung, zunächst als Finanzminister, später dann als Außenminister. Ebd., S. 70.
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Wieviel Befriedigung die revolutionäre Arbeit gab, kann man daran beobachten, dass wir keinerlei Müdigkeit,Verdrossenheit, Erschöpfung spürten, die aller Wahrscheinlichkeit nach jegliches Maß sprengten. Unsere Verfassung, die der aktiven Teilnehmer der Revolution und des Rates, zeichnete sich durch irgendwelche Eigenschaften einer besonderen moralischen Vitalität aus. Und wie wenig sensibel waren wir für die verschiedenen Boshaftigkeiten und Gifte der Verleumdung, der Unterstellung, der Intrigen, mit denen man versuchte, unsere Autorität zu untergraben! Der Mensch machte sich einfach nichts daraus.⁷²
Die Erzählung von einer weitgehend homogenen Revolutionsbewegung auf der einen und einer bürgerlich-revisionistischen Strömung von Anhängern des Ancien Régime auf der anderen Seite dominiert Krahelskas Sicht auf 1917 und nicht zuletzt auch auf die Ereignisse der dann folgenden Jahre, wenngleich sie der Gewalt der Revolution und des folgenden Bürgerkriegs kritisch gegenüber steht und sich später als Befürworterin einer verfassungsgebenden Versammlung bekennt.⁷³ Die Partei der Sozialrevolutionäre, der sie 1917 nach wie vor angehörte, sollte sich nach dem Umsturz im Oktober in einen linken Flügel der Befürworter des Umsturzes und in einen rechten Flügel der Umsturzgegner aufspalten. Die Autorin selbst beschreibt sich in ihren Memoiren dem rechten Flügel zugehörig, wenngleich sie die Politik der Bolʼševiki nach dem Umsturz, wie sie andeutet, in jener Zeit durchaus unterstützte und in der Spaltung der Sozialrevolutionäre vor allem eine Schwächung der Revolution erkannte: Ich war nämlich damals eine Gegnerin der Spaltung der Partei und ich stellte mir vor, dass es die Möglichkeit eines Einverständnisses mit dem rechten Flügel und ihrer Bereitschaft zur Revolutionsarbeit noch gebe. Mein Dasein unter den rechten Sozialrevolutionären war kompliziert, denn ich war, wie ersichtlich ist, vom ersten Augenblick an eine Verfechterin der Räteherrschaft, ich stand in vielerlei Hinsicht dem linken Flügel der Partei nah.⁷⁴
An dieser Stelle wird ersichtlich, dass Krahelska keineswegs eine Gegnerin des bolschewistischen Herrschaftsregimes war. An anderer Stelle gibt sie etwa auch zu verstehen, dass ihr Lebensgefährte Grabianka sich nach dem Oktoberumsturz aufseiten der Bol’ševiki im Volkskommissariat für Sozialfürsorge in Odessa engagierte.⁷⁵ Krahelskas Haltung zu den Bol’ševiki und deren gewalthaftem Regime rückt die Frage nach ihrer Haltung zur daraus entstandenen Sowjetunion und zum Aspekt revolutionärer Gewalt in den Jahren der Revolution und des anschließenden Bürgerkriegs ins Zentrum. Über letztere schreibt die Autorin, sie selbst habe sich später in Polen mit der „Legende blutiger oder blutrünstiger
Ebd., S. 233. Vgl. ebd., S. 262. Ebd., S. 251. Vgl. ebd., S. 187.
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Ambitionen“ und mit dem Vorwurf, dass sie unter Soldaten sozialistisches Gedankengut verbreitet und zur Gewalt gegen die diensthabenden Offiziere aufgerufen habe, konfrontiert gesehen. Mit folgenden Worten nimmt sie zu diesen Vorwürfen Stellung: Niemals sprach oder rief ich im Laufe meiner Arbeit in der Revolution zu irgendwelcher Gewalt gegen Personen auf, im Gegenteil, ich bemühte mich immer, von solchen großen Exzessen in der Überzeugung abzusehen, dass nicht die Masse der Leute, sondern die Regierung und ihre ausführenden Organe im Falle der Notwendigkeit einer Inhaftierung oder Gefangennahme intervenieren sollten.⁷⁶
Aus dem Zitat geht hervor, dass Krahelska zwar spontane Formen revolutionärer Gewalt ablehnt, schränkt aber ein, dass dies nicht für das institutionell legitimierte Gewaltmonopol eines revolutionären Herrschaftsregimes gelten müsse. Krahelska äußert sich also wenig, aber auch wenig kritisch zum revolutionären Terrorregime der Bol’ševiki in der Zeit des Russischen Bürgerkriegs und darüber hinaus. In etlichen Äußerungen zu den späteren Lebensverläufen ihrer Freunde und Bekannten kommt gar Bewunderung für die fortgesetzte Tätigkeit im sowjetischen Regime zum Ausdruck, wenn sie von deren fortgesetztem Engagement im revolutionären Russland schreibt. So äußert sich die Autorin etwa wiederholt lobend über Evgenija Boš (1879 – 1925). Die aus einer deutschen Familie in der Ukraine stammende Vertreterin des bolschewistischen Flügels der russischen Sozialdemokratie war Krahelska in der Haft in Kiev begegnet, woraus eine langjährige Freundschaft erwuchs, wie Krahelska in ihren Aufzeichnungen angibt.⁷⁷ Nach dem Oktoberumsturz erlangte Boš als eine der wichtigsten Repräsentantinnen der Bol’ševiki und später als Volkskommissarin für innere Angelegenheiten in der Sowjetukraine über Russland hinaus Bekanntheit.⁷⁸ Krahelska berichtet in ihren Memoiren davon, wie sie 1918 vom Tod der Boš erfahren und sie dies bewogen habe, einen Nachruf auf sie zu schreiben.⁷⁹ Ebenso positiv äußert sie sich über die bekannte Sozialrevolutionärin Marija Spiridonova (1884 – 1941) und ihr
Ebd., S. 249. Vgl. ebd., S. 125. Vgl. Liliana Riga: The Bolsheviks and the Russian Empire, Cambridge 2012, S. 132. Vgl. Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 125. Boš verstarb nicht 1918. Nach dem Vertrag von Brest-Litovsk trat Evgenija Boš (1879 – 1925) von ihren Ämtern zurück und wurde eine Anhängerin Trockijs. 1925, mit dem Beginn der Verfolgung Trockijs durch Stalin, beging Boš Suizid. Der Tod Bošs wurde von den sowjetischen Machthabern verschwiegen, auch Krahelska schien zum Zeitpunkt des Schreibens ihrer Memoiren nichts vom Freitod der Boš gewusst zu haben. Vgl. Pavel Evimovič Hrycenko: Art. Boš, Jevgenija Bohdanivna, in: Encyklopedija istoriï Ukraïny, Kiïv 2003, S. 360 – 361.
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Engagement in der Revolution von 1917.⁸⁰ An anderer Stelle schreibt sie bewundernd über die Sozialrevolutionäre Grigorij Smoljanskij (1890 – 1937) und Sergej Poljanin: Smoljanskij, Griša genannt, ist heute ein angesehener Mitarbeiter des Profintern [russ. Abk. für Krasnyj Internacional Profsojuzov, internationaler sowjetisch dominierter Gewerkschaftsverband, M.-B.] in der Sowjetunion. […] Er war eine sehr sympathische und wertvolle Gestalt. Sehr weich, zärtlich, im Umgang mit den Menschen subtil, der Sache der Revolution völlig ergeben – dieser Junge hatte keinerlei schlechte jüdische Eigenschaften in sich, stattdessen hatte er viele positive Eigenschaften, die den Juden eigen sind: Scharfsinn, eine große Hingabe, eine Intensität von Interessen, eine mörderische Energie und Temperament.⁸¹
Über Poljanin schreibt Krahelska ganz ähnlich und weist dennoch zunächst auf dessen Erschießung im Bürgerkrieg hin: Bei Poljanin weiß ich nicht, ob er noch lebt […], ich habe gelesen, dass er irgendwo in Russland – in den Jahren des schweren Bürgerkriegs – wegen der Teilnahme an einem bewaffneten Aufstand oder einem geplanten Attentat gegen die Sowjetherrschaft erschossen wurde. […] Er war zweifellos eine ambitionierte Persönlichkeit, mit einer, wie man sagt, ‚tiefen‘ russischen Natur. Ein riesiges, lebhaftes Temperament sowohl in der politischen Arbeit als auch im privaten Leben, ein starker Charakter, geradlinig in der Entscheidung und in der Methodik, mit der Sehnsucht nach einer ‚wirklichen‘ (d. h., bewaffneten) Tätigkeit, unberechenbar bei Plänen und Vorschlägen, die im Kopf Poljanins von Tag zu Tag in den am wenigsten zu erwartenden Momenten und Situationen entstanden – so sah das zweite Mitglied des Kiever Komitees [der Sozialrevolutionäre, M.-B.] aus. Sein Erscheinungsbild erinnerte mich an einen stilisierten Il‘ja Muromec.⁸²
Anhand der hier vorgestellten Biographien entwirft Krahelska ein positives Bild einer internationalistischen parteiübergreifenden Revolutionsbewegung sowie ein sympathisches Bild russischer Revolutionäre und Revolutionärinnen als kluge, offene und mutige Personen, das nur wenig mit dem in Polen in der Zwischenkriegszeit virulenten Bild von den Bol’ševiki und Sowjetrussland gemein hat.⁸³ Beim Vergleich Poljanins mit der russischen Sagengestalt Il‘ja Muromec knüpft die Autorin gar an romantisierte Erzähltraditionen russischer Ritterlichkeit an. Positive Vorstellungen des revolutionären Denkens und Imaginationen einer positiv konnotierten Russizität in den verschiedenen Personenporträts finden sich
Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 225. Ebd., S. 55 f. Ebd. Sielezin, Obraz Rosji i Rosjan w polskiej opinii publicznej, S. 175.
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auch an anderen Stellen der Memoiren. So beschreibt Krahelska etwa ein mehrtägiges Trinkgelage dreier befreundeter russischer Revolutionäre in Kansk kurz vor der Revolution mit folgenden Worten: [S]ie arbeiteten in irgendwelchen Büros, aber von Zeit zu Zeit betranken sie sich in einem dieser russischen ‚tödlichen‘ Trinkgelage. Sie waren sehr sympathische und hochgeschätzte Leute: Sergej Popov, ein Sozialrevolutionär; Pëtr Kušmin, ein Sozialdemokrat; in den letzten Monaten vor der Revolution stieß ebenfalls noch Pëtr Iljin zu ihnen, ein Sozialrevolutionär, der eben erst aus der Verbannung entlassen wurde und sich niederlassen durfte. Das alles sah schrecklich aus. Sie trafen sich in der Wohnung von Sergej Popov, der zwei Zimmer mit einer Küche hatte; dort begann es also, und nach drei bis vier Tagen schloss das Gelage. Es endete reichlich traurig, denn einer nach dem anderen fiel in ein ‚delirium tremens‘. […] Der gesamte Anblick formte sich zu einem Bild des vorrevolutionären Lebens in der Verbannung. Ich muss sogleich dazu anmerken, dass ich nach der Revolution weder Iljin, noch Popov betrunken sah; mit Kušmin […] war es anders.⁸⁴
Mit der Beschreibung des russischen Trinkgelages als Sinnbild der individuellen Verfasstheit der Revolutionäre in der Verbannung und der Revolution als metaphorischer Bändigerin eines solchen Verhaltens entwirft Krahelska eine Erzählung des Fortschritts und der Selbsterziehung, der mit Krahelskas Revolutionsbegriff eng verknüpft ist. Aus ihren Skizzen lässt sich denn auch ein gewisser Enthusiasmus für die Entwicklung in der Sowjetunion herauslesen. Paradox scheint jedoch: Fast alle der hier von Krahelska dargestellten Personen fielen schließlich früher oder später dem Terror der Bol’ševiki oder den stalinistischen Säuberungen zum Opfer. So wurden Boš und Spiridonova von den sowjetischen Machthabern inhaftiert. Erstere beging 1925 im Gefängnis Selbstmord, zweitere wurde 1941 auf Geheiß Stalins erschossen. Nicht immer ist klar, ob Krahelska beim Schreiben die späteren Lebensverläufe der genannten Personen en détail kannte. Es kann hier nur spekuliert werden, ob Krahelskas Wissen über deren spätere Biographien eine Änderung ihrer Haltung zur Sowjetherrschaft herbeigeführt hätte. Unabhängig davon dominiert die Memoiren ein verhalten positiver Blick auf die Sowjetunion. Zum Ausdruck kommt dies nicht nur in Äußerungen zu relevanten Personen aus der Zeit der Revolution. Eine Ansprache des Bauern und Ratsmitglieds von Kansk, Zverin, erinnernd, bewertet Krahelska etwa die zeitgenössische Entwicklung der Geschlechterbeziehungen in der Sowjetunion 1934 im Rückblick auf 1917 als durchaus positiv und macht für diese Entwicklung vor allem die erfolgreiche Integration sozial benachteiligter Schichten im sowjetischen Russland verantwortlich:
Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 194 f.
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[E]inzig in der Psychologie des Proletariats und der armen Bauernschaft sah er die Beigaben zur Gestaltung einer neuen Ethik, von neuen, sinnvollen Normen des menschlichen Zusammenlebens, anhaltenden Organisationsformen des gemeinschaftlichen Lebens. […] Wenn man heute die Entwicklung auf dem Gebiet der Sitten berücksichtigt, die die Verhältnisse in Russland genommen haben, kann man die Richtigkeit dieser Synthese, die sich schon 1917 im Kopf eines Menschen entsponn, von dem ich nicht weiß, ob er überhaupt das Alphabet konnte, nur bewundern.⁸⁵
Vorstellungen einer linken und sowjetophilen Polonität Die Frage, ob und wie Krahelska vor dem Hintergrund ihrer Erzählung Vorstellungen vom imperialen und vom revolutionären Russland, von der Russischen Revolution und von den russischen Revolutionären mit Ideen einer östlichen Polonität verbindet, ist umso spannender. Zunächst sei hier auf eine ausführliche Episode in den Memoiren verwiesen, in der Krahelska von einem Treffen mit einem Soldaten der ukrainischen Aufständischen auf ihrem Weg nach Polen zu Beginn des Jahres 1919 berichtet, und in deren Zentrum die Krahelskas Haltung zum polnischen Landadel und zu revolutionären Bewegung steht. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in die Ukraine im Januar 1918 hatten sich etliche ukrainische und bäuerlich geprägte Aufstandsgruppen im Hinterland der Roten Armee formiert und in verschiedenen Aufständen in den einzelnen Regionen gegen die Truppen des russischen Ancien Régime und die wiedereingesetzten Großgrundbesitzer unter Führung von Pavlo Skoropadsʼkyj sowie gegen die Bolʼševiki gekämpft, als bekannteste Gruppierung der ukrainischen Aufständischen gilt die Machno-Bewegung um Nestor Machno (1888 – 1934).⁸⁶ Krahelska beschreibt in ihren Aufzeichnungen, wie der Soldat ihr im Zug von einer Erschießung „weißer“ Soldaten durch ihn und andere ukrainische Aufständische erzählte. Über ihre Reaktion darauf schreibt Krahelska wiederum: Ich saß neben diesem Soldaten und ich schaute ihn mir während seiner Erzählung an. Er hatte einen stumpfen Gesichtsausdruck, gutmütige Augen – er war etwa Mitte zwanzig. Die Beschreibung dieser Erschießung erfüllte mich mit Abscheu. […] Er fragte mich sogleich, ob ich für die Bourgeoisie sei. Ich antwortete ihm, dass ich sicher nicht für die Bourgeoisie sei, aber dass ich den Sinn solcher Gräueltaten nicht verstände. Dann erzählte er mir von einem Ereignis, das in der Ukraine bekannt ist, und das ich niemals vergessen werde.⁸⁷
Ebd., S. 240. Vgl. etwa Michael Palij: The Ukrainian-Polish Defensive Alliance, 1919 – 1921. An Aspect of the Ukrainian Revolution, Edmonton 1995, S. 84. Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 282.
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Krahelska leitet den weiteren Fortgang der Episode mit einer abfälligen Bemerkung des Soldaten zu ihrer adeligen Herkunft ein: ‚Ach‘ sprach er, ‚Sie haben so weiße und zarte Hände, dass es schwierig für Sie sein wird, unsere Seite zu verstehen. Hatten Sie vielleicht ein Gut mit Ihrem Mann? Nein? Sie sind aus Sibirien zurückgekehrt? Eine politische [Verbannte, M.-B.]? Ah, die schätzen wir sehr. Nun, dann erzähle ich Ihnen, was die herrschenden Landadeligen taten, damit Sie nicht so viel Mitleid wegen unserer Gräueltaten haben müssen.‘ Dann lachte er gutherzig und meinte dazu: ‚Nein, ich verdächtige Sie nicht, aber wenn Sie schon von ihnen [den polnischen Adeligen, M.-B.] abstammen, ist es für Sie schwieriger, deren Sünden nachzuvollziehen.‘⁸⁸
Krahelska berichtet im Folgenden weiter von dem Soldaten und davon, dass ein ukrainischer Bauer dem Soldaten berichtete, wie dessen drei Söhne sich während des Bürgerkriegs den „Roten“, also den bewaffneten militärischen Einheiten der Bol’ševiki, „für die Revolution, für die Nation, dafür, dass die Armen besser leben können, dass die Herrschaft der Menschen über die Menschen aufhöre“, angeschlossen hätten.⁸⁹ Der Bauer sei dem Soldaten zufolge, so Krahelska weiter, nach der Machtergreifung durch das Skoropadsʼkyj-Regime und der anschließenden Wiedereinsetzung etlicher Großgrundbesitzer von seinem Gutsherrn für die Entsendung seiner Söhne zu den Bol’ševiki bestraft worden. Der Gutsherr, so der ukrainische Soldat in Krahelskas Erzählung weiter, habe dem Bauern die Zunge, die Augen und die Hände entfernen lassen.⁹⁰ Die Autorin lässt diese Erzählung des Soldaten unkommentiert stehen, woraus sich folgende Interpretation ergibt. Die mit drastischen Worten des Soldaten wiedergegebene Epsiode stellt die weitverbreitete Deutung in der polnischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit von der gewaltvollen Enteignung des adeligen, meist polnischen Großgrundbesitzes durch russische marodierende Truppen sowie durch bolschewistische und ukrainische Aufständische und dessen Opferrolle in Frage. Die Erzählung des Soldaten von der gewaltvollen Machtaneignung der Gutsbesitzer und ihrer Rache an der Bevölkerung in der Zeit des restaurativen und pro-russischen Skoropadsʼkyj-Regimes 1918 konterkariert diese Deutung – hier ist es die ukrainische Bauernschaft, die dem Großgrundbesitz und dessen Revanchismus zum Opfer fällt.⁹¹ Mit der Wiedergabe der Revolutionserzählung des Soldaten problematisiert Krahelska zudem ein weiteres Mal ihre eigene soziale Zugehörigkeit und distanziert sich sogleich von dieser. Ähnlich wie in der erwähnten Episode zum Ge Ebd., S. 283. Ebd. Vgl. ebd. Zur Wahrnehmung und zur gesellschaftlichen Stellung des polnischen Großgrundbesitzes in der Zwischenkriegszeit vgl. Jakubowska, Patrons of History, S. 48.
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spräch zwischen ihr und der Schwiegermutter problematisiert Krahelska auch hier das Spannungsverhältnis zwischen adeliger Herkunft und revolutionärer Haltung. Dabei wird deutlich, dass sich die Autorin, wenn schon nicht als Fürsprecherin solcher Gewalt, so doch als Verfechterin eines umfassenden sozialen Wandels präsentiert und demgegenüber den Missbrauch der eigenen gesellschaftlichen Vorrangstellung durch die Landadeligen in der Vorkriegszeit und in der Gegenwart Zwischenkriegspolens anprangert. Die Autorin stellt mit der Episode letztlich auch die Rolle des Großgrundbesitzes als Zivilisierer im Osten infrage, wie sie etwa Władysław Studnicki und die polnischen Konservativen um Stanisław Mackiewicz in der Zwischenkriegszeit betonten.⁹² In dieses Bild ordnet sich Krahelskas kritische und distanzierte Sicht auf die polnischen Eliten im Russischen Imperium ein. In ihren Beschreibungen zu den Polen in Odessa bemerkt sie, dass deren Meinungsführer vor allem dem vermögenden Landadel, der im Winter, und besonders während des Karnevals in der Stadt ‚Zeit verbrachte‘, und außerdem den Vertretern der Berufsintelligenz, insbesondere derer, die sich ein Besitzgut verdient hatten, oder sich auch mittels Heirat oder verwandtschaftlicher Beziehungen in den Kreisen des Großgrundbesitzes eingefunden hatten,
entstammten.⁹³ Krahelska skizziert diese Gruppe als arrivierte und lediglich um die Bewahrung ihrer eigenen lokalen Besitz- und Machtprivilegien bemühte Gruppe. Neben einem rückwärtsgewandten Konservatismus und Koformismus wirft sie den Russland-loyalen polnischen Eliten in Odessa vor allem vor, dass diese sich eines dekorativen, symbolischen und letztlich falschen Patriotismus bedient hätten: Die Odessaer Kolonie war recht vermögend, sie richtete (mit der Hilfe einiger anderer katholischer und nicht-polnischer Häuser) den schönsten Ball ganz Odessas aus – den ‚katholischen Ball‘, sie unterhielt ein schönes Unterhaltungslokal, den ‚Zirkel‘. Im Lokal spielte man Karten, traf sich zu Konversationen, richtete Abende und Lesungen aus. Die studentische Jugend war dort ein ums andere Mal zu Unterhaltungszwecken: eine Uniform und junge Beine, die sich zum Tanz eigneten, ermöglichten den Zugang. Sehr gern gesehen war das Deklamieren von patriotischen (nicht aufsehenerregenden!) Versen, und in solchen Fällen durfte der Student sogar eine Uniform mit ausgewaschenen Ärmeln haben, was als angemessen ausreichte.⁹⁴
Vgl. Szpoper, Sukcesorzy Wielkiego Księstwa, S. 156. Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 12. Ebd.
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Mit der fortgesetzten Tätigkeit dieser Eliten im Staatsdienst und in der Politik des unabhängigen Polen begründet die Autorin später denn auch ihre eigene Motivation zum Niederschreiben ihrer eigenen Erlebnisse aus der Zeit des Russischen Imperiums. Wie Krahelska in den Memoiren selbst bemerkt, möchte sie damit auf die Autobiographik ebenjener von ihr kritisierter polnischer Eliten reagieren, die sich vor dem Krieg durch eine loyale Haltung zum Russischen Imperium ausgezeichnet hatten und sich nach dem Krieg eine neue Selbstdeutung erschrieben, mit der sie sich um gesellschaftliche Gültigkeit im unabhängigen Polen bemühten. Im folgenden Zitat – an einer der wenigen Stellen in den Memoiren – benennt Krahelska den Deutungskampf um die Unabhängigkeit Polens und um die Frage der nationalen Repräsentation in der Vorkriegszeit als Motivation für das eigene Schreiben: Es ist nur natürlich, dass heute sehr viele Personen darauf bedacht sind, die eigenen Angelegenheiten anders darzustellen. So will man heute etwa bekräftigen, dass die polnischen Kolonien in Russland einen überwiegend patriotischen Charakter, ein wohlwollendes Verhältnis zur Frage des Kampfes um die Unabhängigkeit Polens gehabt hätten. Dies ist einfach nicht wahr. Ebenso unwahr ist die Behauptung, dass das Gefühl von der polnischen Zugehörigkeit [poczucie polskości] die Repräsentanten dieser polnischen Kolonie von der revolutionären Bewegung in Russland – sagen wir vom Kommunismus – abgehalten hätte; in der erdrückenden Zahl der Fälle war es eher die Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen, vor der Enteignung des eigenen Eigentums oder vor dessen Beschränkung.⁹⁵
Wie aus dem Zitat ersichtlich, geht es der Autorin darum, das Leitmotiv vom polnischen Patriotismus und von der Repräsentation ebenjenes Patriotismus durch die vormals loyalen polnischen Eliten bzw. durch den polnischen Großgrundbesitz im Russischen Imperium infrage zu stellen. Krahelskas Memoiren sind demnach auch ein Beitrag im Deutungswettbewerb zwischen der polnischen Intelligenz und den konservativen, vom Großgrundbesitz geprägten Eliten im unabhängigen Polen. Dabei geht es ihr vor allem darum, die in Polen ihr zufolge verbreitete Annahme von der Unvereinbarkeit polnischen Patriotismus und (sozial‐)revolutionärer Ideen zu widerlegen. Ein Blick auf Krahelskas Engagement in der polnischen anti-imperialen Intelligenz sowie in der russischen revolutionären Bewegung und auf ihre spätere Verortung in der politischen Landschaft hilft, ihre Äußerungen zu verstehen. Bereits seit 1908, vier Jahre also vor ihrem Eintritt in die Partei der SR 1912, gehörte Krahelska der sogenannten Revolutionären Fraktion der PPS, der PPS FR an.⁹⁶ Angesichts der revolutionären Unruhen in Russland 1917 setzte die PPS FR auf den Ebd., S. 14. Vgl. Ptak, Art, S. 85.
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Zerfall Russlands, rief ein „national- und sozialrevolutionäres Programm“ aus, wie Keya Thakur-Smolarek in ihrer Studie zur Polnischen Frage im Ersten Weltkrieg schreibt, und knüpfte an ebenjene anti-imperiale Politik der Vorkriegszeit an, die die PPS FR bis 1914 ausgezeichnet hatte.⁹⁷ Auch der Umsturz im Oktober 1917 änderte wenig an dem Programm der PPS FR und man sympathisierte nun offen mit den von den Bolʼševiki dominierten Arbeiter- und Soldatenräten. Auch Krahelska vertrat als Mitglied der PPS FR und der russischen SR eine solche Haltung. Nach 1918 wandten sich etliche Spitzenfunktionäre der PPS FR, darunter Józef Piłsudski, jedoch von der Idee einer sozialistischen polnischen Gesellschaft ab und suchten zunehmend den Schulterschluss mit liberalen und teils konservativen Kreisen der polnischen Politik, meist um die bereits erlangten Machtprivilegien zu erhalten. Innerhalb der PPS entbrannte ein Konflikt um die angemessene Haltung der Partei zum Sozialismus und zu Sowjetrussland besonders unter den Vorzeichen des Polnisch-Sowjetischen Kriegs, infolge derer es zu Abspaltungen kam.⁹⁸ Krahelska hingegen blieb trotz ihrer hier skizzierten wohlwollenden Position zu den Arbeiter- und Soldatenräten und zu Sowjetrussland Mitglied der PPS und Anhängerin der Idee eines sozialistischen Polens. In ihren Memoiren bemüht sich Krahelska folgerichtig um die Skizzierung einer die polnische Befreiungsbewegung und die russische revolutionäre Bewegung verbindenden Geschichte der Intelligenz. Eine solche Interpretation kommt am deutlichsten in jenen Passagen zum Vorschein, wo die Autorin sich den gemeinsamen Traditionen der polnischen Freiheitsbewegung und der russischen revolutionären Bewegung widmet. Bezugnehmend auf die engen Kontakte und personellen Überschneidungen zwischen den Mitgliedern der PPS und den russischen Sozialrevolutionären schreibt sie: [I]ch habe bereits an die Verbindungen erinnert, die zwischen den Parteien der PPS und der SR zustande gekommen waren, und über eine bestimmte Verwandtschaft [pokrewność] und Gemeinsamkeit bei der Wahl der Methoden und der Mittel für den Kampf gegen die Gewalt und für die Beeinflussung der Massen; die Situation wollte es, dass sich in der Partei der SR immer etliche Polen befanden. Natürlich sollte man festhalten, dass die enge Verbindung zwischen polnischen und russischen Revolutionären bereits weitaus früher datiert ist, wenn ich etwa an die Verhandlungen zwischen ‚Proletariat‘ in Polen und ‚Narodnaja Volja‘ in Russland (und noch früher, etwa an die Verbindung der Polen mit den Dekabristen, oder mit der Vorgängerorganisation von ‚Narodnaja Volja‘, der ‚Zemlja i Volja‘) denke, oder an die
Thakur-Smolarek, Der Erste Weltkrieg und die polnische Frage, S. 460. Vgl. Holzer, PPS, S. 97.
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Taten Kwiatkowskis und Hryniewieckis sowie anderer in den revolutionären Aktionen, die von ‚Narodnaja Volja‘ durchgeführt wurden.⁹⁹
Indem Krahelska auf eine gemeinsame Geschichte der polnischen und der russischen anti-imperialen Intelligenz verweist, entwirft die Autorin ein Panorama der polnisch-russischen Beziehungen, dessen Hauptaugenmerk auf der geteilten Erfahrung von autokratischer Herrschaft und deren Überwindung liegt. Die Unterschiedlichkeit der Programme der beiden Intelligenzen wird aufgehoben, indem Krahelska auf personelle und ideologische Schnittmengen wie etwa die genannten Revolutionäre Kvjatkovskij und Hryniewiecki sowie den aktiven und bewaffneten Kampf gegen das russisch-imperiale Regime abhebt. In Krahelskas Lesart schließen sich Unabhängigkeit und soziale Revolution demnach keineswegs aus, stattdessen ordnet sie die Geschichte beider Bewegungen dieser Interpretation zu. In der autobiographischen Erschaffung eines gemeinsamen und verbindenden Elements der russischen und der polnischen Bewegung liegt denn auch das Wesen von Krahelskas Vorstellungen der Polonität. Dieses enthält keineswegs eine internationalistische Orientierung, wie sie in den Parteilinien der SDKPiL und der späteren Komunistyczna Partia Robotnicza Polski (KPRP, Kommunistische Arbeiterpartei Polens) zu finden war.¹⁰⁰ Vielmehr ist die Autorin um ein Verständnis bemüht, das vor allem die sozialistischen und revolutionären Elemente, deren russische Wurzeln sowie den Einfluss dieser Elemente auf die polnische Freiheitsbewegung hervorheben soll. Diesem Umstand, so die Autorin an einer Stelle in den Aufzeichnungen, würde in Polen wenig Aufmerksamkeit geschenkt: „[D]ie Erinnerungsliteratur zur revolutionären Bewegung ist bei uns [in Polen, M.B.] bisher schwach entwickelt und es schreiben nicht diejenigen, die schreiben
Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 49. Mit „Proletariat“ ist die 1882 in Warschau gegründete internationalistische Partei Socjalno-Rewolucyjna Partia Proletariat (Sozialrevolutionäre Partei Proletariat) gemeint.Vgl. dazu Dziewanowski, The Beginnings of Socialism in Poland, S. 524. Narodnaja Volja (Volkswille), auf der Idee des narodničestvo basierende sozialistisch-terroristische Gruppierung in den 1870er und 1880er Jahren, deren Aktivitäten darauf zielten, das Zarentum gewaltsam und durch terroristische Anschläge zu beseitigen und so eine Revolution auszulösen. Die Organisation war unter anderem für das erfolgreiche Attentat auf Zar Alexander II. verantwortlich. Vgl. Möbius, Russische Sozialutopien von Peter I. bis Stalin, S. 151. Aleksandr Kvjatkovskij (1852– 1880), polnischstämmiger russischer Revolutionär und Mitglied der Narodnaja Volja, mit polnisch-adeligen Wurzeln. Ignacy Hryniewiecki (1855 – 1881), polnisch-adeliger Student und ebenfalls Mitglied der Narodnaja Volja. Haupttäter beim erfolgreichen Bombenanschlag auf Zar Alexander II. im Jahr 1881. Thakur-Smolarek, Der Erste Weltkrieg und die polnische Frage, S. 430.
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sollten.“¹⁰¹ Dabei will sie vor allem auf das Phänomen der zunehmenden Identifikation von linken Teilen der polnischen Intelligenz mit der russischen revolutionären Bewegung aufmerksam machen. Letztere habe ihr und anderen polnischen Angehörigen der Intelligenz als Vorbild gedient und ihre Anziehungskraft vor allem aus den terroristischen, gezielt anti-zaristischen Anschlägen entwickelt, so Krahelska in dem folgenden Zitat: Die terroristischen Akte, die plötzlich in ganz Russland wie Donnerschläge widerhallten und den Apparat der zaristischen Administration erschütterten, machten auf uns den Eindruck von einer unbesiegbaren Macht der Partei. Die Opferbereitschaft, das Märtyrertum, die Selbstaufopferung des Individuums vor dem Altar der Idee, die mitunter mit großer Spannung und Feingefühl wie bei Kaljaev und Sozonov umgesetzt wurde, weckten in der Tiefe der jugendlichen polnischen Seelen Verehrung, Eifer und Solidarität, die am stärksten in unseren edelsten nationalen Traditionen flossen. Und irgendwie unterschieden sich die polnischen Kämpfer im Allgemeinen von den Russen durch einen nüchterneren, vernünftigeren Umgang mit der realisierenden Ausführung des Akts – sie bemerkten sinnvollerweise auch, dass ein terroristischer Akt nur dort als gelungen gilt, wo der Terrorist nach der Tat den Händen der Machthaber entkommt, dass die Idee, ein Leben mit einem Leben zu bezahlen, sinnlos ist; nichtsdestotrotz hatte der Bekenner dieser Idee, ‚Janek‘ Kaljaev, Sohn einer Polin und eines Russen, in unseren Augen einen unendlichen Charme und schrieb sich mit seinem Verhalten im Gericht, das voller Stolz und Temperament war, und mit seinen unsterblichen Worten in unser Gedächtnis ein.¹⁰²
Im Zitat betont Krahelska noch einmal, dass das Anwachsen der polnischen Befreiungsbewegung zum Beginn des 20. Jahrhunderts auch und vor allem auf die direkt gegen die russische Obrigkeit gerichteten Terrorattentate der Sozialrevolutionäre zurückzuführen gewesen sei. Die Hervorhebung Krahelskas der eigenen „nationalen Traditionen“, also des aktiven und bewaffneten Widerstands gegen das russisch-imperiale Herrschaftsregime, dient ihr dabei als Brückenschlag zwischen russischer und polnischer anti-imperialer Intelligenz und soll die gemeinsamen Widerstandsbemühungen gegen das Imperium veranschaulichen. Krahelskas Polonität kommt eben nicht in elaborierten und autobiographisch untermauerten Skizzen einer nationalisierten Unterdrückungserfahrung zum Ausdruck, sondern rekurriert vor allem auf das gemeinsame Ethos des polnischen anti-imperialen Widerstands und auf dessen russische Vorbilder.
Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 7. Ebd., S. 50 f. Ivan Kaljaev (1877– 1905), in Warschau geborener russischer Schriftsteller und Mitglied der SR, mehrfach in Haft und in Verbannung, verantwortlich für den Anschlag auf Großfürst Sergej (1857– 1905), Bruder Zar Alexanders III. , im Februar 1905. Egor Sozonov (1879 – 1910), Sozialrevolutionär, Hauptattentäter beim Bombenanschlag auf den damaligen russischen Innenminister Vjačeslav fon Pleve 1904.
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Ähnlich wie in ihren Russlanddarstellungen sind auch in Krahelskas Skizzierungen ihrer Vorstellungen von Polonität und in ihren Beschreibungen der ukrainischen Westprovinzen des Russischen Imperiums keinerlei post-koloniale oder zivilisatorisch-kompensatorische Interpretationsmuster zu finden. Statt einer Einordnung der eigenen biographischen Erfahrung in etablierte national-literarische Interpretationsmuster kommen Vorstellungen einer Polonität eher in der ästhetischen Form der Memoiren zum Ausdruck – als soziale Autobiographie. Insofern handelt es sich bei Krahelskas Vision Polens weniger um eine Vorstellung, die von der Idee der Staatlichkeit Polens wie bei Studnicki oder Limanowski bestimmt ist, sondern vielmehr eine Idee, in der die polnische Gesellschaft, genauer: die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft Kern ihrer Vision ist. Davon ausgehend, entwirft Krahelska die Idee einer die sozialen Schichten integrierenden, die gesellschaftliche Trennung zwischen dem Großgrundbesitz und dem städtischen Bürgertum einerseits und der Arbeiter- und Bauernschaft andererseits aufhebenden Polonität. Kulturelle, territoriale und nationale Kriterien sowie postkoloniale Elemente sind in ihren Aufzeichnungen demgegenüber nachgeordnet. Auf der Suche nach polnischen Vorbildern und literarischen Anknüpfungspunkten wird man bei Krahelska denn auch selten fündig. Umso mehr stechen ihre wiederholten Verweise auf Józef Piłsudski, auf dessen konspirative Tätigkeit und auf seine Verbannungserfahrung hervor.¹⁰³ Die Hervorhebung einer geteilten Verbannungserfahrung von Krahelska und Piłsudski ist insofern bemerkenswert, weil sie eine Ausnahme in ihrer autobiographischen Erzählung darstellt, die ansonsten auf Verweise zu polnischen literarischen oder historischen Vorbildern verzichtet. Dass sich Krahelska aber beim autobiographischen Schreiben durchaus auch an polnischen Vorbildern orientiert, zeigt sich in einem beiläufigen Verweis auf Piłsudskis Memoiren: Das Leben und das Warten in den Stationen war schrecklich. Wenn ich jetzt die Aufzeichnungen von Józef Piłsudski auf der Etappe von 1887 lese, sehe ich, dass dreißig Jahre Unterschied nicht zur Verbesserung der Verhältnisse auf den Stationen beigetragen haben, vor allem dort am wenigsten, wo es für die Häftlinge am wichtigsten ist. Vielleicht sind die Details [aus der Erinnerung, M.-B.] verschwunden, die bestimmt einen Unterschied gemacht hätten, aber die Gänze des Bösen und der Fluch der Stationen blieben ganz und gar bestehen: der unbeschreibliche Dreck und die unbeschreibliche Grobheit.¹⁰⁴
Dass Krahelska bei der Beschreibung der eigenen Verbannungserfahrung ausgerechnet auf Piłsudski verweist, kann durchaus als Indiz für Krahelskas Anhän-
Ebd., S. 26 f, 155, 261. Ebd., S. 155.
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gerschaft Piłsudskis gewertet werden. Die Frage einer angemessenen Haltung zu Piłsudski seitens der PPS war auch zu Beginn der dreißiger Jahre trotz der zunehmend autoritären Herrschaft des Piłsudski-nahen Obristen-Regimes höchst virulent, obwohl die PPS sich bereits 1928 auf einem Parteitag im Jahre 1928 deutlich von dem Sanacja-Regime, das sich zunehmend als Repräsentant des Regierungswillens Piłsudskis inszenierte, distanziert hatte.¹⁰⁵ Krahelskas Verweise auf den frühen Piłsudski können vor diesem Hintergrund als Versuche gedeutet werden, an die sozialistischen und revolutionären Wurzeln des Staatsgründers zu erinnern und diese als Argument im politischen Streit zwischen dem zunehmend autoritären Regime und der oppositionellen PPS ins Feld zu führen. Dabei ist Krahelskas Darstellung Piłsudskis durchaus anschlussfähig an das vorherrschende zeitgenössische Bild vom Staatsgründer in den frühen dreißiger Jahren. Piłsudski, unter anderem Ehrenvorsitzender des Związek Sybiraków (Bund der Sibirier), einer Organisation ehemaliger Verbannter und Soldaten, galt etwa in der Öffentlichkeit Zwischenkriegspolens als „Großer Sibirischer Exilant [Wielki Sybirak]“, wie Łucja Kapralska schreibt.¹⁰⁶ Die Verbindung zwischen Piłsudski und der eigenen Tätigkeit kommt am deutlichsten in jenen Episoden zum Ausdruck, in denen Krahelska über ihre Tätigkeit in der POW berichtet. Über eine Ansprache ihrerseits anlässlich der Feierlichkeiten der Odessaer Polen zum zweiten Jahrestag der Gründung des Königreichs Polen durch die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn am 5. November 1918 schreibt die Autorin etwa: Prof. Hryniewiecki sprach über die Bedeutung des Ereignisses vom 5. November [gemeint ist der Beschluss der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn zur Gründung des Königreichs Polen am 5. November 1916, M.-B.] und ich sollte die Angelegenheit im Namen und aus Sicht der POW darstellen. Ich erhielt also die Gelegenheit, coute que coute die Stimme zu erheben und auf die Rolle des bewaffneten aktiven Kampfes der Legionen und Piłsudskis um Polen zu verweisen. […] Einige Herren aus der polnischen Kolonie versuchten, uns zu stören, und einer von ihnen befahl dem Orchester, das die Zeremonie begleitete, zu spielen, um meine Rede zu übertönen. Es gelang mir, eine gut vorbereitete, kurze Rede zu halten, aus der natürlich hervorging, dass nicht in dem Akt von Geschenken, sondern nur durch unsere eigene Anstrengung und Tat eine wirkliche Unabhängigkeit Polens erreicht werde.¹⁰⁷
Vgl. Holzer, PPS, S. 135. Łucja Kapralska: „Sybiraki“: Siberian and Manchurian Returnees in Independent Poland, in: Homelands. War, Population and Statehood in Eastern Europe and Russia 1918 – 1924, hg. von Nick Baron und Peter Gatrell, London 2004, S. 138 – 155, hier S. 148. Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 261. Bolesław Hryniewiecki (1875 – 1963), polnischer Naturwissenschaftler und Hochschullehrer u. a. in Dorpat, Odessa, nach dem Ersten Weltkrieg dann in Warschau.
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Im Zitat erinnert Krahelska an Piłsudski als Repräsentant einer linken vorwärtsgewandten Intelligenz, die sie Hryniewiecki und den konservativen polnischen Eliten gegenüberstellt. Eine solche Interpretation Piłsudskis führt die Autorin jedoch nicht nur gegen diese ins Feld, sondern auch und vor allem gegen die Herrschenden des Sanacja-Regimes, die sich zunehmend als Realisierer einer von Piłsudski geprägten nationalen Vision inszenierten.¹⁰⁸ Die beiden hier genannten Hinweise auf Piłsudski sind demnach seltene, aber durchaus prägnante Beispiele für jene Stellen im Buch, in denen Krahelska auf genuin polnische Erzähltraditionen der eigenen Erfahrung verweist, sich auf Debatten der zeitgenössischen Gegenwart bezieht und mit der eigenen Lebenserzählung auf diese reagiert. Ihr Hinweis auf den jungen Piłsudski und dessen Verbannungserfahrung dient der Integration der eigenen Erfahrung in eine polnisch-nationale Erzähltradition von der Überwindung der russischen Imperialherrschaft und wohl nicht zuletzt der Relevanzproduktion der eigenen Erfahrung in einer polnischen Öffentlichkeit, die ab 1929 zunehmend vom Sanacja-Regime dominiert wurde. Polonitätsvorstellungen lassen sich aus Krahelskas Memoiren herausfiltern, wenn man sich den Leerstellen und Widersprüchen in den Memoiren sowie der Rezeption der lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen in der polnischen Presse widmet. Die Memoiren stießen auf ein großes vielstimmiges Echo. Generell lassen sich zwei zentrale Ereignisse ausmachen, die in den Erinnerungen nicht thematisiert werden. So äußert sich Krahelska weder zum Polnisch-Sowjetischen Krieg, den sie in ihren Schriften überhaupt nicht erwähnt, noch zur polnischen Besatzungspolitik in der Ukraine während des Polnisch-Sowjetischen Kriegs sowie zur Besetzung Kievs durch Piłsudski. Palij stellt in seiner Untersuchung zu den polnisch-ukrainischen Beziehungen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fest, dass Piłsudskis Idee eines militärischen Ausgreifens nach Osten weniger der Anerkennung ukrainischer Autonomiebestrebungen entsprang als vielmehr dem Gedanken von der Einhegung Russlands – egal, ob es sich dabei um ein imperiales oder um ein sowjetisches Russland handelte.¹⁰⁹ Krahelskas Memoiren enden denn auch mit ihrer Ankunft in Polen Anfang 1919. Der Phase ihres Engagements in der POW in der Südukraine 1918 und 1919 widmet die Autorin nur wenige Seiten. In ihnen hebt Krahelska besonders die Rolle der Ostabteilung der POW, der POW Wschod (Polnische Militärorganisation Ost) im Konflikt mit der deutsch-österreichischen Besatzungsmacht in Odessa hervor und macht auf die vielfältigen Beziehungen zwischen den russischen revolutionären Gegnern der Weißen Bewegung Denikins und polnischen teils pa-
Vgl. Hein, Der Piłsudski-Kult, S. 310. Vgl. Palij, The Ukrainian-Polish Defensive Alliance, 1919 – 1921, S. 100.
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ramilitärischen Truppen aufmerksam. Zu dieser besonderen Verflechtungsgeschichte schreibt die Autorin: „Unzweifelhaft müssen die Kontakte der POW mit den russischen Revolutionären bei der Organisationsgeschichte der POW berücksichtigt werden, denn sie stellen ein interessantes Fragment dar.“¹¹⁰ Die Autorin schreibt also hier ihr Narrativ von der Solidarität der polnischen und der russischen revolutionären Intelligenz auch für die Zeit nach 1917 fort, ohne näher zwischen bolschewistischen, menschewistischen und sozialrevolutionären Kräften zu unterscheiden. Zudem hebt Krahelskas scheinbar unverfängliche Formulierung von den „russischen Revolutionären“, wie anhand folgender Passagen ersichtlich wird, keineswegs nur auf die verbliebenen russischen Sozialrevolutionäre in der Ukraine ab, sondern rekurriert vielmehr auf das Verhältnis zwischen der PPS-nahen POW und den seit Anfang 1918 in den Süden vorrückenden militärischen Truppen der Bolʼševiki. So kritisiert sie, dass das Verhältnis der polnischen Sozialisten und speziell das der Mitglieder der PPS zu den Bol’ševiki der Autorin zufolge in der Ukraine „uneinheitlich“ gewesen sei, und dass diese Unentschlossenheit der polnischen Sozialisten zu einer „großen Desorientierung der Polen“ geführt habe¹¹¹. Krahelskas autobiographische Deutung von den Aktivitäten der POW in der Ukraine widerspricht somit deutlich der Ansicht der politischen und militärischen Kräfte um Piłsudski von der Ukraine als Pufferzone eines wie auch immer gearteten invasorischen Russlands aus dem Osten und der vorherrschenden zeitgenössischen Deutung der frühen dreißiger Jahre. Michael Palij schreibt dazu: „[H]e [Piłsudski, M.-B.] wanted to have a Ukrainian buffer state that was dependent on and allied with Poland and would serve as a barrier against any invasion from Russia.“¹¹² Krahelska entwirft demgegenüber mit ihrer autobiographisch inspirierten Beziehungsgeschichte der polnischen und der russischen Revolutionäre die Vorstellung einer Polonität, die in sich sozialistische und implizit sowjetophile Züge vereint. Erstaunlich wenig Platz widmet Krahelska in ihren Aufzeichnungen demgegenüber der Idee einer unabhängigen Ukraine östlich von Polen, was wohl der fehlenden Relevanz von nationalen Kriterien in Krahelskas Polonitätsentwurf zuzuschreiben ist. Aus dieser Erkenntnis lässt sich denn auch Krahelskas Vision eines unabhängigen Polens ableiten. Wenn auch nicht explizit und durchaus verklausuliert, hält sie daran fest, dass dieses ein sozialistisches Polen hätte sein müssen – diese Position bekräftigt sie mit einem rückblickenden Verweis auf die Lubliner Regierung unter dem polnischen Sozialisten Ignacy Daszyński (1866 – 1936). Dabei
Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 257. Ebd., S. 257, 259. Palij, The Ukrainian-Polish Defensive Alliance, 1919 – 1921, S. 100.
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macht sie deutlich, dass ein sozialistisches Polen und die Aussicht auf einen grundlegenden sozialen Wandel von Anbeginn nur wenig Fürsprecher innerhalb der die um die Wahrung der eigenen Privilegien bemühten polnischen Eliten aus dem Russischen Imperium fand: Ich erinnere mich genau, wie ich Ende 1918 in Odessa im Exekutivkomitee der miteinander verbundenen polnischen Organisationen etliche Polen traf, die mir mit leisen Lippen zu verstehen gaben, dass, auch wenn ich mich über die Bildung dieser Regierung [Provisorische Volksregierung der Polnischen Republik unter Führung Ignacy Daszyńskis, M.-B.] freute, nichts aus dieser werden könne, da sie nicht daran glaubten, dass sich diese in Polen einfach so installieren lasse, ja sogar, dass man eine solche Regierung bekämpfen müsse!¹¹³
Wie aus dem Zitat ersichtlich, geht es Krahelska darum, die Deutungshoheit im Diskurs um den Beitrag zur Unabhängigkeit Polens zu behaupten, den Beitrag der polnischen Sozialisten im Kampf um die Unabhängigkeit hervorzuheben und deutlich zu machen, dass die polnischen konservativen Kräfte das Ziel polnischer Unabhängigkeit keineswegs konsequent verfolgten, sondern angesichts einer von dem Sozialisten Daszyński angeführten polnischen Regierung vor allem um die Wahrung der eigenen Privilegien besorgt waren. Das Zitat stellt nicht zuletzt eine Abrechnung mit jenen alten polnischen Eliten und deren Besitz und Privilegien wahrenden Politik aus der Zeit des Russischen Imperiums dar, deren Repräsentanten oder nachfolgenden Kräfte die Autorin auch im unabhängigen Polen am Wirken sieht. Krahelska präsentiert sich hier als Verfechterin des Erbes und der Ideen der linken polnischen Intelligenz, wenn sie mit dem Verweis auf die Lubliner Regierung unter Ignacy Daszyński eine sozialistische Tradition und somit eine alternative Vision des unabhängigen Polens zu entwerfen versucht. Es verwundert kaum, dass der Polnisch-Sowjetische Krieg in dieser linken Neuinterpretation von der jüngeren polnischen Teilungsgeschichte und von der Geschichte der Überwindung der russischen Imperialherrschaft als von den polnischen Revolutionären selbst erkämpfte Unabhängigkeit keinen Platz hat. Krahelskas Memoiren stießen nach deren Veröffentlichung auf ein breites mediales Echo.¹¹⁴ In den Besprechungen zum Buch zeigt sich, dass die Thesen der
Krahelska, Wspomnienia rewolucjonistki, S. 14. Mit dem „Exekutivkomitee“ verweist Krahelska wohl auf den Polski Komitet Wykonawczy na Rusi (Polnisches Exekutivkomitee in der Ukraine), eine nach der Februarrevolution gegründete parteiübergreifende Vereinigung von Repräsentantinnen und Repräsentanten rechter und konservativer Kräfte sowie des polnischen Großgrundbesitzes. Vgl. Paul Robert Magocsi: A History of Ukraine. The Land and its Peoples, 2. erg. u. erw. Aufl., Toronto 2010, S. 540 f. Vgl. Recenzje i opinie o pracach Haliny Krahelskiej, in: AAN, Spuścizna Haliny Krahelskiej, sygn[atura] 383/V, t[eczka] 1.
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Autorin durchaus anschlussfähig an zeitgenössische Debatten um ein modernes und linksgerichtetes Polen waren, aber ebenso auch im linken Umfeld auf Kritik stießen. Die erstaunlichste Interpretation von Krahelskas Memoiren und ihrer Bedeutung für Visionen einer östlichen Polonität liefert wohl eine Buchbesprechung im regierungsnahen Kurier Poranny (Morgenkurier), in der Krahelskas Memoiren als „Dokument der Tat“ beschrieben werden und überdies ihre adelige und ostpolnische Herkunft hervorgehoben wird. In der Besprechung kommt Krahelskas Zugehörigkeit zum parteiübergreifenden Lager der Anhänger Piłsudskis wohl am deutlichsten zum Ausdruck: Krahelska repräsentiert eine vorzügliche Ostgebiets-Tradition der polnischen Geschlechter [kresowę tradycją rodów polskich], die sich mit der Tradition der Vitalität, des ritterlichen Elans, der zivilisatorischen Pionierarbeit und der tiefen Empfindsamkeit eines sozialen Gewissens deckt.¹¹⁵
Die Formulierung des Rezensenten deutet auf dessen Bemühen, Krahelskas Memoiren vor dem Hintergrund der Debatte um den polnischen Osten, die kresy, zu diskutieren und mit dem Verweis auf ihre Lebenserzählung eine Idee von der polnischen Intelligenz in der Kontinuität des polnischen Landadels als nationale Avantgarde zu entwerfen, die in sich traditionelle Elemente des kresy-Mythos, wie das Versprechen von der erzieherischen oder bildenden Rolle des polnischen Landadels, und neue Elemente, wie etwa die der polnischen Intelligenz zugeschriebenen Eigenschaften vom Glauben an eine sozial gerechtere polnische Moderne, vereinte. Merkwürdig ist diese Interpretation insofern, als Bemerkungen von Krahelska über eine mögliche Einordnung der eigenen und der Familienbiographie in eine polnisch-östliche Tradition der Intelligenz in ihren Memoiren überhaupt nicht zu finden sind. Am Auszug aus der Buchbesprechung lässt sich dennoch zeigen, dass Krahelskas Memoiren trotz der besprochenen Dissonanzen als Identifikator eines parteiübergreifenden Piłsudski-nahen Lagers der Intelligenz dienten. Dazu passt durchaus, dass Krahelskas Lebenserzählung ausgerechnet in der Zeitung Robotnik (Der Arbeiter), dem offiziellen Organ der PPS, auf Kritik stieß und Krahelska vorgeworfen wurde, sie laviere zwischen einer prosowjetrussischen oder internationalistischen Haltung und einer links-patriotischen Haltung. Weiter wurden ihre Memoiren als wenig glaubwürdig und deren Darstellung als „chamäleonhaft“ kritisiert.¹¹⁶ Insbesondere Krahelskas Nähe zu
Wincenty Rzymowski: Pamiętnik Rewolucjonistki, in: Kurier Poranny, 15. April 1934. P. S.: „Niema wyrozumiałości dla żadnej formy zdrady“. O wspomnieniach pewnej „rewolucjonistki“, in: Robotnik, 26. April 1936.
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Piłsudski betrachtete die Besprechung im Robotnik skeptisch.¹¹⁷ In anderen Besprechungen hingegen wurde Krahelskas Vision eines sozial gerechteren Polens auf die zeitgenössische Realität übertragen. Diese fungierte in der gesellschaftlichen Wirklichkeit von 1934 als ein auf der Erfahrung revolutionären und gesellschaftlichen Wandels fußendes Glaubensbekenntnis an eine bessere Welt, wie der Publizist Paweł Hulka-Laskowski (1881– 1946) in den Wiadomości Literackie (Literarische Nachrichten) schreibt: Die Generation Halina Krahelskas errang letztlich den Fall des Zarentums, mit dem die Besten und Edelsten gekämpft hatten und dies gibt Krahelskas Buch einen Ausdruck von Optimismus und Glauben in einen endgültigen Sieg.¹¹⁸
Aussagen wie die Hulka-Laskowskis bemüht den Mythos vom Zerfall der Imperien und von der Unabhängigkeit Polens als selbst erkämpften Durchbruch hin zur polnischen Staatlichkeit. Die Rezension im Robotnik zeigt dabei, dass Krahelskas Interpretation vom Zerfall des Russischen Imperiums und der positiven Darstellung der Russischen Revolution – die sich in diesen Mythos durchaus einzuschreiben versuchte – innerhalb des linken Milieus keineswegs unumstritten war. Dass Krahelskas Entwurf einer linken und sowjetophilen Polonität dem antirussischen sowie dem anti-sowjetischen Denken auch der linken Piłsudski-nahen Kreise der polnischen Intelligenz widersprach, spielte in der Wahrnehmung der Memoiren 1934 eine auffallend geringe Rolle. Dies spricht dafür, dass Krahelskas sowjetophile Ansichten einem allgemeineren Trend hin zu einer gesellschaftlichen Akzeptanz des sowjetischen Nachbars im Osten entsprachen. Ebenso wenig wurde dabei auch registriert, dass es sich bei den Memoiren von Halina Krahelska um ein seltenes autobiographisches Dokument einer weiblichen Angehörigen der polnischen Intelligenz handelte und dass der Impuls des autobiographischen Schreibens wohl der Idee der sozialen Autobiographik entsprang.
Vgl. ebd. Paweł Hulka-Laskowski: Wspomnienia Rewolucjonistki, in: Wiadomości Literackie, 13.5. 1934.
4.2 Stanisław Stempowski (1870 – 1952)
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4.2 Stanisław Stempowski (1870 – 1952): „Das schmerzhafte Ringen der polnischen Seele“– Entwürfe einer modernen östlichen Polonität im Zweiten Weltkrieg Zur Biographie Der bereits im Eingangszitat der Arbeit erwähnte Stempowski stellt aufgrund seines Alters und mit seiner Biographie eine Art Bindeglied zwischen den Generationen der Unbeugsamen und der Revolutionäre dar. Der spätere Publizist, Großgrundbesitzer, Betreiber einer Kooperative, Bibliothekar und Freimaurer sowie Vater des bekannten polnischen Schriftstellers Jerzy Stempowski zählt in geographischer Hinsicht zur Gruppe der den ehemals polnischen Ostgebieten in Podolien westlich von Kiev entstammenden Protagonisten unter den hier zu besprechenden Autorinnen und Autoren und wurde 1870 bei Vinnica (heute ukr. Vinnycja) in die Familie eines polnischen Großgrundbesitzers hineingeboren. Die ersten Lebensjahre verbrachte Stempowski auf dem Gut der Familie bei Litin, um anschließend die Schule in Kamenec-Podolʼskij zu besuchen. In dieser von polnischen, jüdischen, ukrainischen und russischen Einflüssen geprägten Stadt sollte sich der noch junge Stempowski als Initiator von Selbstbildungszirkeln engagieren und kam so mit Ideen der Narodniki und Vertretern der linken russischen Intelligenz in Kontakt. Das Studium der Veterinärmedizin führte ihn 1889 schließlich nach Dorpat. Auf dem Weg dorthin begegnete er erstmals Ludwik Kulczycki, der damals bereits als wichtige Institution des polnischen sozialistischen Denkens galt und für Stempowski zu einem wichtigen Mentor werden sollte. In Dorpat war Stempowski in der Organisation Narodnaja Volja (Volkswille) aktiv, weswegen er 1892 verhaftet werden sollte.¹¹⁹ Es folgte ein halbjähriger Aufenthalt in einem Gefängnis in Kiew – ein Schlüsselerlebnis des Autors, folgt man seinen autobiographischen Aufzeichnungen.¹²⁰ Nach Abschluss seines Studiums in Dorpat 1893 trat Stempowski schließlich einen dreijährigen Isolationsaufenthalt auf dem verlassenen Gut seiner Eltern Szebutyńce (heute Šebutynci) östlich von Kamenec-Podolʼskij an. Auf diese Ableistung der Strafe in Form einer dreijährigen Isolation hatten sich Stempowski zufolge sein Vater und die russische Gerichtsbarkeit geeinigt.¹²¹ Seine Cousine und Frau Maria Stempowska
Vgl. Alicja Pacholczykowa: Art. Stempowski, Stanisław, in: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 43, Warszawa, Kraków 2006, S. 407– 412, hier S. 407. Vgl. Stempowski, Pamie̜tniki (1870 – 1914), S. 134. Vgl. ebd., S. 163.
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(ebenfalls geb. Stempowska, 1869 – 1951), die er erst kurz zuvor geheiratet hatte, begleitete ihn mit ihrem Sohn Jerzy nach Szebutyńce.¹²² Nach Ableistung der Isolationsstrafe entschied sich Stempowski im Sommer 1896 zu einer etwa zwölfmonatigen Reise nach Westeuropa. Dort sollte er mit Vertretern der sozialistischen Parteien in Deutschland und Frankreich, etwa mit Karl Liebknecht (1871– 1919), und mit polnischen Emigranten zusammentreffen. Die folgenden Jahre bis zur Revolution von 1905 ließ sich der Autor schließlich in Warschau nieder, wo er gemeinsam mit Ludwik Krzywicki, Bronisław Natanson (1864 oder 1865 – 1906) und Stanisław Posner (1868 – 1930) in mehreren, teilweise selbstverlegten Zeitungen redaktionell und publizistisch tätig war. In dieser Zeit bewegte sich Stempowski bereits in einem politisch heterogenen Umfeld – Kontakte pflegte er anfänglich mit den polnischen Positivisten um Aleksander Świętochowski, später wandte er sich den polnischen Sozialisten der PPS um Wacław Sieroszewski (1858 – 1945), Leon Wasilewski (1870 – 1936) und Kazimierz Kelles-Krauz (1872 – 1905) zu.¹²³ Der junge Publizist war Teil des Warschauer Milieus der Unbeugsamen, wenngleich ein freies Polen weit weniger im Zentrum von Stempowskis politischem Denken zu finden sein sollte als in den Vorstellungen der genannten Aktivisten. In Warschau identifizierte sich Stempowski immer mehr mit dem literarischen Werk und den Ideen Lev Tolstojs (1828 – 1910), der ein antiklerikales Denken, eine Öffnung zum einfachen Volk und eine in humanistischen Werten wurzelnde Sozialethik propagierte.¹²⁴ Stempowski half auch bei der Verbreitung von dessen Schriften, indem er diese ins Polnische übersetzte.¹²⁵ Über seine redaktionelle Arbeit für die von ihm, Krzywicki und Posner redigierten Zeitungen Ogniwo (Das Kettenglied) in Warschau seit 1902 und während der Revolution für den polnisch-internationalistischen Brzask (Morgengrauen) in Kiev 1906 knüpfte er außerdem weiter Kontakte zur PPS und zur von Rosa Luxemburg geführten SDKPiL.¹²⁶ Anders als bei Krahelska führten die revolutionären Ereignisse von 1905 und 1906 nicht zu einer weiteren Radikalisierung Stempowskis. Vielmehr bewirkten diese bei Stempowski – ähnlich wie bei anderen Angehörigen der Intelligenz – einen Schock angesichts der spontanen Gewaltausbrüche in der bäu-
Vgl. Pacholczykowa, Art, S. 411. Vgl. ebd., S. 408. Vgl. Ewa Górniak: Stanisław Stempowski wobec kwestii społecznych, religijnych, i narodowych, in: Forum Politologiczne 4, H. 5, 2007, S. 319 – 335, hier S. 327. Vgl. etwa Lew Tołstoj: Zmartwychwstanie, Warszawa 1900. Stempowski übersetzte darüber hinaus andere Schriften russischer Autoren ins Polnische, wie etwa einen Band mit Erzählungen von Maksim Gor’kij (1868 – 1938): Maksim Gorkij: Opowiadania, Warszawa 1903. Vgl. Pacholczykowa, Art, S. 408.
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erlichen Bevöllkerung sowie angesichts der ideologischen Grabenkämpfe in den Parteien und deren paramilitärischen Armen auf der Straße.¹²⁷ Nicht zuletzt aufgrund der Gefahr der Verfolgung durch die russischen Staatsorgane, wohl aber auch aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Eltern zog sich Stempowski von der publizistischen Arbeit zurück und sollte sich bis zu seiner Vertreibung durch russische Deserteure im Sommer 1917 als Verwalter des elterlichen Guts in Winnikowce bei Litin niederlassen. Dort beteiligte er sich im Rahmen der durch die Revolution sich bietenden Möglichkeiten als Mitglied der Landwirtschaftsvereinigung und als Wahlmann der Region Litin an den ersten Dumawahlen und als ehrenamtlicher Richter in der Regionalverwaltung. Stempowski bemühte sich in der ukrainisch geprägten Umgebung besonders um eine Verständigung zwischen polnischem Großgrundbesitz und der lokalen Bevölkerung, gründete eine genossenschaftliche Kreditanstalt und ließ in Winnikowce zunehmend Formen der Selbstverwaltung und der Selbstbildung praktizieren.¹²⁸ Auch die Jahre des Ersten Weltkriegs verbrachte Stempowski mit seiner Familie auf dem Gut und engagierte sich in der Flüchtlingshilfe und im polnischen organisierten Untergrund. Nach der Februarrevolution setzte Stempowski die eigene Tätigkeit im Zarząd Ziemski (Agrarverwaltung), einer lokalen Vereinigung des Großgrundbesitzes, fort und saß dort dem Landwirtschaftskomitee vor. Hier zeichnete sich Stempowski bereits durch eine liberale, pro-ukrainische Haltung aus.¹²⁹ Die Bildung einer polnischen Armee in der Ukraine, ein Vorschlag, der auf nationaldemokratische Vertreter im Polski Komitet Wykonawczy na Rusi (Polnisches Exekutivkomitee in der Ukraine) zurückging, lehnte er entschieden ab, stattdessen setzte er sich für die Wahrung des Rechts der Ukraine auf nationale Selbstbestimmung ein.¹³⁰ Deren Interessen sah er vor allem in den Piłsudski nah stehenden Organisationen der PPS und der Militärverbände, wie der POW gewahrt. Auch die Einladung ukrainischer Delegierter vonseiten nationaldemokratischer und Piłsudski-naher Aktivisten in den verfassungsgebenden Sejm 1919 lehnte Stempowski mit dem Verweis auf den drohenden Verlust ukrainischer Eigenstaatlichkeit und auf polnische imperialistische Tendenzen ab. Ebenso wie Krahelska trat Stempowski 1918 der im Entstehen begriffenen POW bei und bemühte sich um eine Beschränkung polnischer nationaler Bestrebungen in der Region.¹³¹ Aus jener Haltung erwuchs auch Stempowskis weiteres Engagement in der Ukraine, wenngleich seine Besitztümer zu diesem Zeitpunkt bereits teilweise
Vgl. Micińska, A History of the Polish Intelligentsia, S. 151 f. Vgl. Pacholczykowa, Art, S. 408. Vgl. ebd. Vgl. Palij, The Ukrainian-Polish Defensive Alliance, 1919 – 1921, S. 95. Vgl. Pacholczykowa, Art, S. 409.
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zerstört und geplündert worden waren. So war Stempowski bis 1921 mehrfach Minister in der von Symon Petljura angeführten und von polnischer Seite tolerierten Regierung der Ukrainischen Volksrepublik.¹³² Während des Polnisch-Sowjetischen Kriegs fand er sich jedoch bereits 1920 in Warschau wieder, wo er als Leiter der Presseabteilung im Polski Komisariat Ziem Wołynia i Frontu Podolskiego (Polnisches Kommissariat für die Gebiete Volhyniens und die Podolische Front) zuständig war.¹³³ Stempowski gewährte 1921 gemeinam mit Henryk Józewski (1892– 1981), einem Freund und einflussreichem Verfechter der Integration der ukrainischen Bevölkerung in Zwischenkriegspolen und späterer Wojewode von Wolhynien, Petljura Unterschlupf, bis dieser Polen 1923 verließ und weiter nach Westen emigrierte.¹³⁴ Auch in der Zwischenkriegszeit und nach der frustrierenden Erfahrung vom Verzicht der polnischen Regierung auf Pläne für eine unabhängige Ukraine mit dem Vertrag von Riga 1921 blieb Stempowski ein Verfechter guter polnischukrainischer Beziehungen und ein Befürworter sozial-liberaler Prinzipien. Nicht zuletzt aus diesen Gründen schloss er sich dem Projekt der Prometheisten um Piłsudski, Józewski, Tadeusz Hołówko (1889 – 1931) und etlichen anderen an. In der Bewegung versammelten sich neben polnischen Vertretern Repräsentanten nicht-russischer Nationalitäten aus dem Territorium Sowjetrusslands wie Georgier, Krimtataren, Ukrainer etc. Stempowski beteiligte sich auch an der Gründung des Instytut Badań Spraw Narodowościowych (Institut zur Erforschung von Nationalitätenfragen), das Kontakte der internationalen Bewegung zusammenführte.¹³⁵ Zudem war der Autor war seit 1923 auch Mitglied in verschiedenen Freimaurerorganisationen.¹³⁶ Sein Umfeld sollte sich jedoch nicht zuletzt aufgrund der Spätfolgen des Putsches von 1926 in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren verändern. Stand der Publizist ähnlich wie Krahelska und Józewski dem Putsch anfangs durchaus wohlwollend gegenüber und erhoffte sich davon eine grundlegende Reformierung des polnischen politischen Systems, überwog bei Stempowski später vor dem Hintergrund zunehmender politischer Repres-
Vgl. Palij, The Ukrainian-Polish Defensive Alliance, 1919 – 1921, S. 76. Vgl. Pacholczykowa, Art, S. 409. Vgl. Timothy Snyder: Sketches from a Secret War. A Polish Artist’s Mission to Liberate Soviet Ukraine, New Haven 2005, S. 8, 17. Zur Entstehung und Tätigkeit des Instituts vgl. etwa Kornat, Początki studiów sowietologicznych, S. 126 f. Zu Stempowskis Engagement und dessen Verfolgung im Regime um Marschall Śmigły-Rydz und die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg vgl. Ludwik Hass: Stanisława Stempowksiego spotkania z policją polityczną w 1938 i 1940 roku. Dwa nie opublikowane fragmenty Pamiętników S. Stempowksiego, in: Ars regia 3, H. 2, 1994, S. 87– 111.
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sionen seitens des Piłsudski-nahen Obristen-Regimes seine Skepsis ob der Verschiebungen des politischen Systems hin zu einem autoritären Regime.¹³⁷ Wenn auch nach wie vor in Freimaurer-Organisationen engagiert, konzentrierte sich Stempowski stärker auf seine literarisch-publizistische Arbeit und auf Übersetzungstätigkeiten – seine intime Beziehung zur Schriftstellerin Maria Dąbrowska hatte darauf merklichen Einfluss.¹³⁸ Mit ihr gemeinsam beteiligte er sich an der Realisierung der bereits erwähnten autobiographischen Schreibwettbewerbe des von seinem Freund und Kollegen Ludwik Krzywicki geleiteten IGS. Zudem engagierte er sich zunehmend in Kreisen des russischen und des ukrainischen Exils in Polen, wie etwa im Domek w Kołomnie (Das Häuschen in Kolomna), dessen bekanntester Vertreter der Exilant und Philosoph Dmitrij Filosofov (1872– 1940) war. In den dreißiger Jahren saß Stempowski dem Towarzystwo Polsko-Ukraińskie (Polnisch-Ukrainische Gesellschaft) vor und redigierte das Biuletyn PolskoUkraiński (Polnisch-Ukrainisches Bulletin) des Ukraiński Instytut Naukowy (Ukrainisches Forschungsinstitut) in Warschau. In seiner beruflichen Haupttätigkeit leitete er zudem von 1924 bis zum Kriegsausbruch 1939 die Bibliothek des Landwirtschaftsministeriums.¹³⁹ Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs veranlasste Stempowski gemeinsam mit Dąbrowska zunächst zur Flucht in die sowjetische Besatzungszone. Nach kurzen Aufenthalten in Łuck, Brest, Lemberg und Białystok sollten sich die beiden im Sommer 1940 wieder in Warschau niederlassen. Hier wurde er sogleich von der Gestapo verhaftet und zu seiner Rolle in der Freimaurerschaft verhört. Stempowskis Engagement in der Bewegung der Prometheisten oder in den polnischukrainischen Beziehungen spielte interessanterweise keine Rolle in den Verhören und waren den deutschen Besatzern nicht bekannt oder erregten kein Interesse.¹⁴⁰ Stempowski, der sich trotz des Verhörs in Warschau weiter sicher fühlte und anscheinend keine weiteren Haftstrafen befürchten musste, half in der Folgezeit Henryk Józewski bei der Redaktion des Untergrund-Journals Polska walczy (Polen kämpft) und assistierte dem kranken Ludwik Krzywicki bis zu dessen Tod 1941 beim Niederschreiben seiner Memoiren.¹⁴¹ Die Zeit nach dem Warschauer Auf-
Vgl. Snyder, Sketches from a Secret War, S. xix. Zum Verhältnis zwischen Stempowski und Dąbrowska und ihren wechselseitigen intellektuellen Einflüssen vgl. Grażyna Borkowska: Maria Da̜browska i Stanisław Stempowski, Kraków 1999. Vgl. Pacholczykowa, Art, S. 410. Vgl. Hass, Stanisława Stempowksiego spotkania z policją polityczną w 1938 i 1940 roku, S. 93 f. Lediglich ein erster Band von Krzywickis Memoiren erschien zu Lebzeiten Stempowskis mit einem Vorwort von ihm. Interessanterweise wurde dieser Band überarbeitet und die gesamten
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stand 1944 bis zum Ende des Kriegs sollte Stempowski bei Freunden auf dem Land in der Nähe von Łowicz verbringen, ehe er im Sommer 1945 in das befreite Warschau zurückkehrte. Nach Kriegsende fand sich Stempowski in den veränderten politischen Verhältnissen nur schwer zurecht und zog sich weiter zurück. In einem Brief an Czesław Miłosz von 1945 sprach Stempowski etwa von der Machtübernahme in Mittel- und Osteuropa durch die von der Sowjetunion eingesetzten kommunistischen Regime als „scheußlichen Dreck“, den „die Welt über sich ergehen lassen“ müsse.¹⁴² Weitgehend erfolglos bemühte sich der Publizist um Vorabdrucke seiner Memoiren in Zeitungen. Ebenso frustrierend verliefen seine Bemühungen, die fünf Bände von Krzywickis Memoiren in der Volksrepublik zu veröffentlichen. Der Publizist und Autor verstarb schließlich 1952 in Warschau, etwa ein Jahr bevor seine teilweise zensierten Memoiren von seiner langjährigen Freundin Maria Dąbrowska publiziert wurden.
Zur Entstehung von Stempowskis Memoiren Die Geschichte der Memoiren von Stanisław Stempowski ist nicht nur hinsichtlich ihrer Entstehung für die zu beantwortenden Fragen nach Darstellungen russischimperialer Erfahrung in der intelligenten Autobiographik und den darin zum Ausdruck kommenden Vorstellungen von Polonität und polnischer Östlichkeit von Belang. Am Beispiel ihrer Publikationsgeschichte lässt sich zudem das Dilemma der polnischen Intelligenz in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nachvollziehen. Die Existenz eines kommunistischen Polens im Einflussbereich der Sowjetunion führte bei vielen Vertretern der polnischen Intelligenz zu ähnlichen Einsichten wie der Stempowskis. Wenngleich sie dem neugegründeten Staat von Stalins Gnaden skeptisch gegenüberstanden, wuchs in ihnen die Einsicht von einem Übel, dessen Existenz jedoch nicht zu leugnen war – gefolgt wurde diese Einsicht von einer zunehmenden Resignation, die insbesondere die liberalen Vertreter der Intelligenz zur Flucht nach Frankreich, Südamerika oder in die Vereinigten Staaten veranlasste. Stempowski selbst war angesichts seines fortgeschrittenen Alters und seiner gesundheitlichen Probleme dazu nicht in der Lage, und es ist nicht bekannt, ob er selbst solche Überlegungen hegte. Den Memoiren in drei Bänden ab 1957 neu und ohne Vorwort Stempowskis veröffentlicht. Vgl. Ludwik Krzywicki: Wspomnienia, Warszawa 1947; ders.: Wspomnienia, 3 Bde., Warszawa 1957– 1959. Stanisław Stempowski, zit. in: Andreas Lawaty; Marek Zybura: Zur Einführung, in: Czesław Miłosz im Jahrhundert der Extreme. Ars Poetica – Raumprojektionen – Abgründe – Ars translationis, hg. von dens., Osnabrück 2013, S. 9 – 21, hier S. 15.
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Kontakt nach Polen ließen die Exilierten jedoch nicht abreißen, auf die als unfreiwillig wahrgenommene Wahl zwischen einer zunehmend anti-kommunistisch dominierten westlichen Welt mit den Vereinigten Staaten an erster Stelle und einem kommunistischen Staatensystem wollten sie sich nicht einlassen.¹⁴³ Der Kontakt zwischen den Schriftstellern und Geschwistern Józef und Maria Czapscy (1896 – 1993; 1894 – 1981) sowie Stanisław Stempowskis Sohn Jerzy im Exil und der Freundin der Familie Dąbrowska im kommunistischen Polen kann denn auch durchaus als Beispiel für eine global verstreute polnische Intelligenz dienen, die sich über den Eisernen Vorhang hinweg zu verständigen suchte.¹⁴⁴ Die Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Stanisław Stempowskis Memoiren steht dafür symptomatisch und ist durchaus kompliziert. Ludwik Hass geht davon aus, dass Stanisław Stempowski zwar mit dem Schreiben seiner Memoiren erst 1940 begann, wie aus Maria Dąbrowskas Vorwort zu Stempowskis Memoiren zu entnehmen ist, aber dass der Entschluss zum Schreiben vielmehr bereits vor dem Krieg reifte, als der Druck seitens des polnischen Regimes auf Stempowski und auf andere liberale Kräfte des polnischen gesellschaftlichen Lebens größer wurde – bei Stempowski galt dessen Mitgliedschaft in verschiedenen Freimaurerlogen gar als Stein des Anstoßes strafrechtlicher Verfolgung vonseiten des Regimes.¹⁴⁵ Im Herbst 1938 kam es denn auch zu einer Durchsuchung von Stempowskis Wohnung seitens der polnischen Geheimpolizei. Hass zufolge geht aus den dazu von Stempowski geschriebenen Dokumenten hervor, dass der Publizist bereits Anfang 1939 Pläne für eine Autobiographie hatte und 1940 eine inhaltliche Gliederung erstellte, die bis in die zeitgenössische Gegenwart reichen sollte. In den folgenden Jahren sollte Stempowski seine autobiographischen Schriften bis 1920 führen. Die Nachkriegszeit und die anstrengende Suche nach Möglichkeiten zur Veröffentlichung der autobiographischen Schriften nach Kriegsende veranlassten ihn nur wenige Tage vor seinem Tod zu folgender Aussage: Die traurige Geschichte meiner Memoiren zwingt mich dazu, das Schreiben fortzusetzen. Es ist aber im 82. Lebensjahr schwierig, Inspiration zum Schreiben zu erlangen, und auch das
Vgl. Korek, In the Face of the West and the East, S. 231. Vgl. dazu etwa die jahrzehntelange Korrespondenz zwischen Jerzy Stempowski und Maria Dąbrowska: Kowalczyk, Andrzej Stanisław (Hg.): Maria Dąbrowska – Jerzy Stempowski – Listy. 1926 – 1965, 3 Bde., Warszawa 2010. Vgl. Hass, Stanisława Stempowksiego spotkania z policją polityczną w 1938 i 1940 roku, S. 87; Maria Dąbrowska: Wstęp, in: Stempowski, Pamie̜tniki (1870 – 1914), S. V–XXVIII, hier VI.
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Namensgedächtnis erlischt, vor allem aber verfalle ich mehr und mehr in meiner Gesundheit, ich liege mehr als ich gehe, und die Wohnung verlasse ich nicht.¹⁴⁶
Die erwähnte Fortsetzung sollte nicht zustande kommen, ebenso wenig wie die geplante Veröffentlichung der Memoiren zu Stempowskis Lebzeiten. Erst Dąbrowskas Engagement machte die Publizierung von Stempowskis Autobiographie möglich, jedoch zu einem hohen Preis. In dem im Herbst 1953 veröffentlichten Buch fehlen Stempowskis Niederschriften zu den Erlebnissen des Ersten Weltkriegs sowie zur frühen Nachkriegszeit bis 1920 komplett. Dąbrowska erwähnt in ihrem Vorwort die zensierten Auszüge natürlich mit keinem Wort, stattdessen betont sie die wechselvolle Geschichte des Manuskripts während des Weltkriegs, welches nur dank seiner mehrfachen Ausführung vor der Zerstörung infolge des Warschauer Aufstands gerettet und rekonstruiert werden konnte. Für die Schriftstellerin stellten die Memoiren und wohl auch der Tod des Publizisten zudem einen Wendepunkt in ihrer Haltung zum Regime dar. Hatte sie sich bis zu Stempowskis Tod zurückgehalten, am öffentlichen Leben in der PRL mitzuwirken, änderte sich dies in den nachfolgenden Jahren. Es ist nicht ohne Ironie, dass erst ihr zunehmendes öffentliches Auftreten und ihr Eintreten für die bestehende polnische Gesellschaft ermöglichten, dass Stempowskis Memoiren, eines entschiedenen Gegners der Regierung der PRL, 1953 publiziert werden konnten – wenn auch in deutlich zensierten Auszügen.¹⁴⁷ Bezeichnenderweise fand die Publikationsgeschichte von Stempowskis Memoiren im polnischen Exil eine Fortsetzung, als die Pariser Kultura in ihrem Ableger, den Zeszyty Historyczne (Historische Hefte) 19 Jahre nach der Erstveröffentlichung damit begann, die zensierten Kapitel der Autobiographie abzudrucken. 1972, drei Jahre nach dem Tod von Stempowskis Sohn Jerzy, sollte das Journal die zensierten Kapitel der Memoiren veröffentlichen, die dieser aufbewahrt und schließlich an Jerzy Giedroyc übergeben hatte. Auch Maria Dąbrowska, die bereits 1965 verstorben war, erlebte die Veröffentlichung der fehlenden Kapitel nicht mehr. Jerzy Giedroyc, der Herausgeber, beurteilt in seiner Einführung zu den zensierten Kapiteln deren Veröffentlichung als Erfolg und schreibt ihrer Publikation durchaus eine wesentliche Bedeutung im globalpolnischen Wettbewerb zwischen Exil- und Staatsöffentlichkeit zu:
Schreiben von Stanisław Stempowski am 6. Januar 1952, in: GR BUW, Materiały Stanisława Stempowskiego, j[ednostka] 1563, Bl. 24. Zu Dąbrowskas Rolle in der polnischen Kulturpolitik der fünfziger Jahre vgl. u. a. Snyder, Sketches from a Secret War, S. 233 f.
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Orwells Erzählung ist die Vision eines vollendeten totalitären Staats. Zum Glück erweisen sich die wirklichen totalitären Staaten als weitaus ferner von dieser Vollendung. Sie sind nicht imstande, alle Notizen und historischen Dokumente zu vernichten oder zu blockieren. Mit Freude bestätigen wir, dass neben den Materialien zu Themen der Gegenwart, die aus der Heimat zur Kultura gelangen, wir neuerdings begonnen haben, Materialien aufzubereiten, die die jüngste und die weiter zurückliegende Vergangenheit behandeln.¹⁴⁸
Die zensierten Kapitel aus Stempowskis Autobiographie und ihre Veröffentlichung in der Öffentlichkeit der polnischen Emigration dienten dem Pariser Kreis dazu, Mechanismen der Zensur in der PRL sowie deren Durchlässigkeit offenzulegen und darüber hinaus die publizistische Praxis in der PRL infragezustellen.
Die „Zeiten des Glücks im Elend“ erinnern: Zur Narration von Stempowskis Memoiren 1940, als Stempowski mit dem Schreiben seiner Autobiographie begann, hatten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse der Zwischenkriegszeit bereits radikal verändert. Polen war infolge des Ribbentrop-Molotov-Paktes vom August 1939 zum wiederholten Male geteilt – diesmal durch ein nationalsozialistisches und ein sowjetisches Besatzungsregime. Mit der wirtschaftlichen und physischen Ausbeutung der polnischen Zivilbevölkerung und einem radikalen politischen und gesellschaftlichen Wandel, begleitet von massiver Gewalt, ethnischen Säuberungen und Erschießungen ging in dieser Zeit die beispiellose und systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in dem von den Nationalsozialisten eingerichteten Generalgouvernement einher.¹⁴⁹ Der zeitgenössische Entstehungskontext spielt in den Memoiren nur selten eine Rolle, umso schärfer erinnert der Autor in den wenigen gegenwartsbezogenen und selbstreflektierenden Einschüben an den Besatzungsalltag und verankert diesen fest im narrativen Hintergrund der Memoiren. In der Gegenwartsform geschrieben, errichten die Einschübe eine Grenze zwischen den beiden zeitlichen Dimensionen der erzählten Gegenwart und der erzählten Vergangenheit. Erstere vermittelt den Lesenden Umittelbarkeit, Nähe und konstruiert interessanterweise vielmehr eine Authentizität des Schreibens oder Erzählens als die der bezeugten Erfahrung. Im ersten dieser Einschübe bemerkt Stempowski:
Jerzy Giedroyc: Wbrew Cenzurze, in: Zeszyty Historyczne, H. 21, 1972, S. 63. Giedroyc verweist im Zitat auf die Novelle 1984 von George Orwell. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 191– 198.
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Seit einigen Tagen geht das Schreiben nur widerspenstig voran, ich bin in die früheren Familienverhältnisse versunken, in deren Beziehungen und die Gutsangelegenheiten, die mir heute so fern und so klein und winzig erscheinen, dass sie begonnen haben, mich zu langweilen. Ich zwinge mich zum Schreiben in der Hoffnung, dass ich dennoch auf Dinge treffe, die, wenngleich sie nicht wichtig sind – denn heute ist nichts wichtig, was einmal war – trotzdem interessanter für mich sind. Zur Antriebslosigkeit kommt auch noch eine rheumatische Entzündung des linken Auges; der zerreißende Schmerz im Inneren der Augenhöhle, ähnlich wie ein Zahnschmerz, der mir den Schlaf und die Fähigkeit zum Denken raubt. Von den Schmerzen der Gegenwart kann ich nur diesen erinnern.¹⁵⁰
Stempowski benennt auch in den folgenden Kapiteln seiner Autobiographie kaum Details der Gegenwart und des Alltags im besetzten Warschau. Stattdessen kommt in den Einschüben vor allem das autobiographische Narrativ eines Autoren am Lebensende in der Metapher eines alternden und sterbenden Körpers zum Ausdruck, der in Auflösung begriffen ist. Unter den Eindrücken der Gegenwart geht dieser Prozess nur voller Schmerzen vonstatten. Der alternde und dahinsiechende Körper wird in Stempowskis Autobiographie zum Träger und zur Metapher der Kriegs- und Besatzungserfahrung im Warschau des Zweiten Weltkriegs – eine Stilfigur, wie sie übrigens Katherine Lebow zufolge auch in den autobiographischen Darstellungen der sozialen Autobiographik wiederholt verwendet wurde. In ihnen diente die Beschreibung des kranken und geschundenen Körpers oft als Ausdrucksmittel der Erfahrung von Armut, sozialer Unfreiheit, von gesellschaftlicher Erniedrigung, aber auch als Metapher für das Überleben in einer feindlich gesinnten Umgebung.¹⁵¹ Auch bei Stempowski gibt der kranke Körper, sei es das kranke Auge oder später das kranke Herz, seiner Lebenserfahrung eine konkrete Form – er summiert die Erfahrungen von Stempowskis Leben und gießt diese in eine plastische Form, indem sich die Lebenserfahrungen als Spuren von Leid und Krankheit auf den Körper legen. Mit Stempowskis Körperrhetorik erhalten seine Erfahrungen zudem eine universalistische Qualität – indem das erfahrene Leid ein körperliches ist, entzieht es sich nationalen oder anderen sozialen Deutungskategorien. Ähnlich wie mit dem Körper als Sinnbild des Leidens verhält es sich mit der zeitlichen Kategorie des Alterns. Mit dem Gleichnis vom bald sterbenden Körper konstruiert Stempowski ein Bewusstsein von der endenden Lebenszeit als Ende einer Epoche. Die Metapher des Sterbens in den extremen Verhältnissen der zeitgenössischen Gegenwart dient auch der Entstehung eines Zäsurbewusstseins beim Autoren. Das Gleichnis vom baldigen Lebens- und Epochenende am Beispiel des Glockenschlags der Wanduhr zur Mitternacht
Stempowski, Pamie̜tniki (1870 – 1914), S. 26. Vgl. Lebow, The Conscience of the Skin, S. 307.
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kommt in einem weiteren Einschub zum Ausdruck, in dem der Autor den Auszug eines Gedichts des französischen Lyrikers Tristan Corbière (1845 – 1875) zitiert: Wieder hat mein Herz versagt, ich weiß nicht zum wievielten Male, seitdem ich die Erinnerungen schreibe. An ihm nagen nicht nur die Verkalkungen des Alterns, sondern auch der Rost der Leiden, in denen jeder heutige Tag ertrinkt. In den Nächten erwacht die Steinesschwere auf der Brust und ich höre in der Stille der Nacht – es ist in Warschau eine solche Stille wie auf dem Land – das Getöse der überanstrengenden, matten Arbeit des Herzens. Hinter der Wand beim Nachbar schlägt die Uhr – ‚Ich höre das Knirschen, das mich zu quälen beginnt… Es ruft mich der böse Moment an, die böse Stunde, Das Begräbnisgeläut des Nachts zeichnet dumpf meinen Kreis So viele Stunden der Verzweiflung habe ich gezählt… Aber jede Stunde ist eine Träne. Und Du weinst Mein Herz! …Sing noch einmal, zähle die Tränen nicht. [Hervorhebung im Original, M.-B.]‘¹⁵²
Wie anhand der weiteren Analyse von der Erzählstruktur in Stempowskis autobiographischer Erzählung deutlich wird, unterscheidet sich diese von den in dieser Studie bisher besprochenen Autobiographien deutlich. Die Erfahrung des Zweiten Weltkregs und der Besatzung bestimmt und rekonfiguriert Stempowskis Blick zurück in die eigene Vergangenheit. Dies führt gegenüber den bereits besprochenen Memoiren aus der Zwischenkriegszeit zu einem veränderten Zäsurund Epochenbewusstsein, wie aus den übrigen Einschüben ersichtlich wird. Stempowski schreibt in einem seiner tagebuchähnlichen Gegenwartseinschübe, ihm zufolge am 2. Juni 1944 verfasst, zum Ersten Weltkrieg: Das Kriegsende nähert sich und mein Ende auch. Ganze sechs Wochen lag ich, das Herz versagte mir und nach ihm wohl alles andere, denn ich stand irgendwie bedrückt, neben mir stehend, auf, unfähig, meine Gedanken zu sammeln und mich auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren. Ich fürchte mich davor, dass ich nicht mehr imstande sein werde, etwas zu schreiben – blasse Fetzen von etwas, was mich vor kurzem noch belebend und erheiternd aus dem Nichts zu reißen schien. Damals war keine Zeit, aber es gab Möglichkeiten. Das Ende meiner Aufzeichnungen über das Winnikowcer Glück ist nun endlich gekommen. […] Die Lebenskräfte sind aus mir entwichen, Sorgen und Nöte haben sich eingenistet, wie nur soll ich gli tempi felici nella miseria [ital., die Zeiten des Glücks im Elend, Hervorhebung im
Stempowski, Pamie̜tniki (1870 – 1914), S. 69. Dritte und vierte Strophe des Gedichts Heures (Stunden) von Tristan Corbière. Hier Übersetzung aus dem Polnischen, Original im Französischen erschienen in: Tristan Corbière: Les Amours jaunes, Paris 1873, S. 119.
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Original, M.-B.] erinnern! Ich springe also von dort zum Beginn der Niederlage. Vielleicht wird ihre Beschreibung meiner gegenwärtigen Stimmung ähnlicher sein.¹⁵³
Stempowski bemüht in dem Zitat eine Kontrastierung der endzeitlichen Gegenwart mit dem „Winnikowcer Glück“, dem von ihm als „Ende“ wahrgenommenen Jetzt stellt er also seine als besonders glücklich wahrgenommene Lebensphase als progressiver Großgrundbesitzer im ukrainischen Winnikowce vor Ausbruch des Ersten Weltkriges gegenüber. Deren Ende verknüpft er mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, sie läutet für ihn letztlich „den Beginn einer Niederlage“ ein. Beide Begriffe – Glück und Niederlage – dienen dem Autoren als trennende Symbole einer Phase des glücklichen Lebens und einer Phase des Verlusts und beschreiben Stempowskis Selbstnarrativ, das interessanterweise konträr zur nationalen Meistererzählung der polnischen Intelligenz von der Überwindung der Teilungen Polens und der Erlangung der Unabhängigkeit verläuft. Stattdessen führt Stempowski mit seinem Narrativ ein Verständnis von Erstem Weltkrieg, Russischer Revolution und Bürgerkrieg als Zäsur ein, die die glückliche Vorkriegszeit von der Zeit danach, welche bis in die Gegenwart des Zweiten Weltkriegs reicht, trennt. Bezeichnenderweise unterstreicht Stempowski die Kluft zwischen beiden Phasen und das sich daraus ergebende Dilemma autobiographischen Erinnerns in der Katastrophe mit einer Formel, die er etwas abgewandelt ausgerechnet der Göttlichen Komödie von Dante Alighieri (1265 – 1321) entnimmt.¹⁵⁴ Dantes spätmittelalterliches Werk beschreibt den Eingang und die Wanderung der Seele durch Hölle, Fegefeuer und Paradies hin in das göttliche Reich der Toten. Auch an anderer Stelle kommt die von Stempowski verwendete Endzeitästhetik zum Ausdruck und macht deutlich, worin sich Stempowskis autobiographischer Zugang etwa von dem Halina Krahelskas unterscheidet. In einem weiteren Einschub resümiert der Autor über sein Leben und den Sinn autobiographischer Erinnerung: Das Leben geht zu Ende. Es reizt, es noch einmal vor den Augen auseinanderzuziehen und zu schauen, wie es sich von einem unabsehbaren Anfang zu einem unabsehbaren Ende gewandelt hat.Wozu man gelebt hat – das werde ich nie erfahren. Aber vielleicht werde ich aus dem rekonstruierten Panorama meines Lebens einmal erfahren, warum es so verlaufen ist
Stanisław Stempowski: Z pamiętnika (wojna. pogrom – 1914– 1917), in: Zeszyty Historyczne, H. 23, 1973, S. 101– 140, hier S. 101. Im italienischen Original, Inferno, Canto V, Zeile 121 f., heißt es ausführlich: „Kein Schmerz ist größer als der, die glückliche Zeit im Elend zu erinnern [Nessun maggior dolore che ricordarsi del tempo felice ne la miseria]“.
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und nicht anders, warum es so war. Nicht, dass diese Frage für mich wichtig oder sogar interessant wäre, aber das Nachdenken darüber füllt mich aus wie das Spiel eines Einzelgängers, meine senilen, nutzlosen Gedanken. Ich bemerke, dass meine Erinnerungen in der letzten Zeit begonnen haben, mich zu verfolgen. Sie beherrschen mich sogar, während ich im Bett gefangen bin, dann, wenn die Krankheit mich aus dem reißenden Fluss des Lebens herausreißt.¹⁵⁵
Im Zitat und in dem vorangegangenen Auszug kommt Stempowskis Zugang autobiographischen Erzählens als selbstreflektierender Akt zur Sprache, das eigene Gewordensein zu definieren und nach den Gründen dieses Gewordenseins zu suchen. Bei genauerem Hinsehen treten die strukturellen Unterschiede zwischen den autobiographischen Schriften der Zwischenkriegszeit und jenen Stanisław Stempowskis deutlich zutage – während in ersteren der Wert einer intelligenten Biographie für die Gegenwart des unabhängigen Polen betont wird und Limanowskis, Studnickis und Krahelskas Schriften demnach einen instrumentellen Zugang für die eigene Lebensbeschreibung wählen, weist Stempowski die Annahme von der Bedeutung der eigenen Erfahrung für das Leben in der Gegenwart eher von sich. Seine Memoiren sind denn auch frühes Zeugnis einer Beobachtung der zeitgenössischen Gegenwart als fundamentalem Bruch, der sich gleichermaßen auf Individuum und Gesellschaft auswirkt. In Stempowskis Verständnis stellt der Bruch des Zweiten Weltkriegs, wenn man dem weiter oben vorgestellten Zitat folgt, denn auch den Schlusspunkt einer Periode der „Niederlage“ dar, deren Beginn Stempowski im Kriegsausbruch von 1914 sieht. Folgt man dieser zeitlichen Einteilung der eigenen Biographie vor dem Hintergrund der sie umrahmenden Ereignisse beider Weltkriege, stellt sich die Frage, welchen Einfluss eine solche Narration auf die Skizzierung einer russisch-imperialen Erfahrung und auf Vorstellungen von Polonität und Östlichkeit in Stempowskis Memoiren hat.
Verlorene Idylle: Zur Erzählung russisch-imperialer Erfahrung Die intelligente Autobiographik der Zwischenkriegszeit ist geprägt von der Erzählung der Tat – vom Leitmotiv der nach dem anti-russischen Aufstand im Jahr 1863 geborenen polnischen Intelligenz und vom Beitrag der Autorinnen und Autoren für Polens Unabhängigkeit. Vor dem Hintergrund der erneuten Besatzungs- und Teilungserfahrung ist die Botschaft von Stempowskis Memoiren eine völlig andere: die Machtlosigkeit des Individuums angesichts der über es hin-
Stanisław Stempowski: Ukraina (1919 – 1920), in: Zeszyty Historyczne, H. 21, 1972, S. 64– 88, hier S. 64.
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wegfegenden gesellschaftlichen Veränderungen und gewaltsamen Umbrüche zu postulieren und anzuerkennen. Ausschlaggebend für Stempowskis Haltung sind die einschneidenden Erfahrungen vom Ersten Weltkrieg, von der Russischen Revolution und dem dann folgenden Bürgerkrieg in Russland und der Ukraine, dem darauf folgenden Verlust des väterlichen Großgrundbesitzes in Winnikowce und der Vertreibung von Stempowskis Familie im Sommer 1917 sowie von der gewaltsamen Aufteilung Polens durch das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion im Herbst 1939 und vom Besatzungsalltag in Warschau während des Zweiten Weltkriegs. Gleich zu Beginn seiner Memoiren betont der Autor die Bedeutung der Kategorie des Verlusts und die mit diesem einhergehende Erfahrung der Machtlosigkeit anhand der Beschreibung eines väterlichen Gutshofs, wo der Autor die ersten Lebensjahre verbrachte und welchen der Vater 1874 abreißen ließ: Ich erinnere mich nicht an die Zeit meiner Kindheit. So oft ich in die Erinnerung eintauche, um in ihr Spuren der ersten Anfänge eines bewussten Lebens zu finden, das bis hierhin andauert und verweht, stehe Ich [Großschreibung durch Autor, M.-B.] machtlos vor dem Nebel der namenlosen Gefühle, Eindrücke, der elementaren Rührungen […]. Vielleicht verblieb deshalb aus diesen ersten Erlebnissen so wenig in meinem Gedächtnis, weil die Umgebung, in der diese sich ereigneten, im vierten Jahr meines Lebens zerstört wurde und ich sie nie mehr betrachten konnte, d. h., die Erinnerung wurde nicht mit der geheimen Sprache der toten Gegenstände, der Zeugen meiner Erlebnisse belebt. Aus dem nicht mehr existierenden Hof meines Vaters überdauerte lediglich ein anhaltendes und klares Bild, das als Hintergrund mit dem Mosaik der chaotischen, chronologisch unverbundenen Memoiren verbunden ist.¹⁵⁶
Schon in diesen ersten Zeilen bringt Stempowski zwei zentrale Elemente seiner Erzählung zum Ausdruck. Zum einen unterstreicht er mit dem Verweis auf das zerstörte Geburtshaus die Erfahrung materiellen wie immateriellen Verlustes, die sich als wiederholendes narratives Element durch seine autobiographische Lebensgeschichte ziehen soll. Zum anderen verdeutlicht er mit dem Verweis auf den „nicht mehr existierenden Hof“ die Symbolik des Hofes als dauerhaftes Definitionsmerkmal der Zugehörigkeit zur Gruppe des polnischen Landadels, deren Habitus, wie Stempowski in den Memoiren noch kritisieren wird, als lokale Herrschaftselite nicht zuletzt auch in der eigenmächtigen Entscheidung des Vaters zum Ausdruck kommt, den Hof abzureißen und einen neuen zu errichten. Vor diesem Hintergrund erscheint Stempowskis Beschreibung des eigenen Lebens im Russischen Imperium als eine Darstellung idyllischen Lebens, jedoch ohne dass der Autor vergisst, die negativen Folgen russischer Imperialität für die
Stempowski, Pamie̜tniki (1870 – 1914), S. 3.
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lokale Bevölkerung und den polnischen Großgrundbesitz in den kresy zu erwähnen. In Stempowskis Memoiren eröffnet sich der Leserschaft eine ähnlich ambivalente Imagination der Ideen- und Lebenswelten im Russischen Imperium, wie sie sich auch bei Bolesław Limanowski und in Teilen bei Władysław Studnicki finden lässt. Der Autor unterscheidet dabei zwischen dem Leben in der familiären Umgebung im ukrainisch geprägten Podolien bei Kamenec-Podolʼskij auf der einen Seite und der tristen und autoritären Wirklichkeit des Russischen Imperiums auf der anderen Seite, wie sie sich etwa in Stempowskis Schulbeschreibungen manifestiert. Das von ihm in der Zeit seiner Isolationsstrafe von 1893 bis 1896 bewohnte Gut Szebutyńce beschreibt der Autor halb ironisch und scherzhaft relativierend als „mein Szebutyńcer Ust‘-Sysol‘sk“ – in Anlehnung an den russischen Verbannungsort, der als Metapher polnischer Verbannungserfahrung im Russischen Imperium dient.¹⁵⁷ Schon zu Beginn der Memoiren äußerte sich der Autor über Szebutyńce als „gelobtes und exotisches Land“.¹⁵⁸ Ähnlich wohlwollend und teils romantisierend äußert sich Stempowski über Kamenec-Podol’skij, seinen Lebensmittelpunkt während seiner Schulzeit, den der Autor mit folgenden Worten skizziert: Allein das Überschreiten der Brücke, die zwischen zwei Felsen geworfen worden war und über dem Abgrund hing, auf dessen Boden der Smotrycz floss und an dessen Ufern Häuser wie Spielzeug standen und die Leute wie Stäbchen umherschlichen, war eine unerschöpfliche Quelle immer neuer und starker Eindrücke, die bis heute in mir leben. Und an Handelstagen ein einziges Hindurchzwängen durch den Marktplatz auf dem Nowy Plan – Bauern, Juden, großväterliche Märchenerzähler [dziady-lirnicy].¹⁵⁹
Die von Stempowski erzählte und gepflegte nostalgische Exotik Podoliens im Russischen Imperium als einer bereits untergegangenen Welt kommt auch in den Beschreibungen seiner frühen Reisen mit der Kutsche zum Ausdruck, deren entrückte Erscheinung er ganz besonders und nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer zwar modernen, aber im Verfall begriffenen Welt hervorhebt. So schreibt Stempowski: Die staatliche Postkutsche, die später abgeschafft wurde, funktionierte in meiner Schulzeit wahrscheinlich noch in derselben Form, in der sie Dschingis Khan im 13. Jahrhundert zum Ziel der schnelleren Verständigung mit den von ihm entsandten Horden, die das östliche und mittlere Europa plünderten, von seinem Sitz in der Gobi-Wüste erdacht und organisiert hatte. Aus dieser Zeit hatten gar mongolische Namen wie kibitka [russ. Kutsche], jamščik [russ.
Ebd., S. 180. Ebd., S. 7. Ebd., S. 35.
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Fuhrmann], knut [russ. Knute] und doroga [russ. Weg] überdauert. Chausseen waren noch eine Seltenheit, die Post kursierte auf Landstraßen, d. h., auf breiten unbefestigten Wegen, auf denen im Frühjahr und Herbst unausweichlicher Schlamm lag und im Winter Schnee wehte. Dank diesen waren die Reisen voller Überraschungen, Annehmlichkeiten und voller Pittoreske, die ihren Niederschlag in der russischen Literatur fand.¹⁶⁰
Wenngleich Stempowski sein Leben im Russischen Imperium im ukrainisch geprägten Podolien in nostalgischen Zügen zum Ausdruck bringt und dabei insbesondere die Ambivalenz einer Vormoderne und deren Schönheit betont, äußert er sich zum Wesen der russisch-imperialen Herrschaft und Administration kritisch. In einer Episode über das Engagement seines Vaters im Aufstand von 1863 skizziert Stempowski diesen als Vorbild einer patriotisch-kritischen Haltung zum Imperium und verweist mit diesem kritisch auf die loyale Haltung des polnischen Landadels zur russischen Herrschaftsadministration, von der sich der eigene Vater, der ja ebenfalls ein Vertreter des Landadels war, Stempowski zufolge positiv abhob: Ich war vom Zauber seiner Erzählungen hingerissen, in denen seine Lebensfreude und sein Humor zum Ausdruck kam. Ich bewunderte seine Gerechtigkeit und seine Großzügigkeit, die ihn über das moralische Niveau der familiären und der landadeligen Umgebung hoben. Mir imponierte sein Verhältnis zur russischen Administration und ihren Anordnungen. So oft eine Figur in einer Verwaltungsangelegenheit anreiste, empfing er sie höflich, alle Schreiben aber sammelte er ungelesen auf einem Gestell hinter dem Barometer, und manchmal kam es dabei zu traurigen Missverständnissen.¹⁶¹
Von der Schule in Kamenec-Podolʼskij berichtet der Autor als Hort von Gewalt und Unterdrückung. Interessant ist dabei, dass er die Gründe dafür nicht vorrangig in einer anti-polnischen Russifizierungspolitik sucht, wenngleich diese durchaus ihren Platz in Stempowskis Erzählung hat, sondern vielmehr in einem unaufgeklärten Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern – im Zeitgeist also der Pädagogik zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die Lehrerschaft bezeichnet Stempowski als „Galerie von Psychopathen, Sadisten, Trinkern, neidischen Kretins und Sonderlingen eigener Art.“¹⁶² Im Detail beschreibt der Autor zudem die Auswirkungen einer zunehmenden Reaktion zur Zeit Alexanders III. (1845 – 1894) auch in der Schule, die ihm zufolge etwa in erzwungenen kollektiven Ritualen der russischorthodoxen Kirche für die polnisch-jüdisch-russische Schülerschaft oder in der zunehmenden Sanktionierung des Lesens und Verbreitens von illegaler Literatur
Ebd., S. 68 f. Ebd., S. 44. Ebd., S. 66.
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zum Ausdruck kam.¹⁶³ Über die Gründe seines Weggangs aus der Stadt 1888 nach dem Scheitern des Schulabschlusses und dem Angebot der Schulleitung zur Wiederholung der Abschlussklasse schreibend, äußert sich Stempowski frustriert zur allgemeinen Situation im Russischen Imperium zu dieser Zeit: Ich hatte jedoch eindeutig genug von diesem verfluchten Gymnasium und von diesem ganzen Kamieniec. Die schreckliche Reaktion von Alexander III. , Pobedonoscev, Dmitrij Tolstoj und Katkov schob sich wie eine schwarze Wolke über das ganze Land erwürgte einen ganz einfach physisch. Das Schuljahr in meiner achten Klasse hatten wir mit 45 Schülern begonnen, von denen lediglich 16, d. h., ein Drittel das Abitur erhielten. Ein einziges Kindergemetzel!¹⁶⁴
Stempowskis Darstellung des Russischen Imperiums als autokratisches Herrschaftsregime kommt besonders deutlich in einer späteren Episode zu seinem Gefängnisaufenthalt in Dorpat und Kiev zum Ausdruck. In seinen Memoiren beschreibt der Autor empathisch das Milieu der Inhaftierten und betont die eigene „Neugier“ daran.¹⁶⁵ Zudem verdeutlicht Stempowski die Relevanz der Gefängniserfahrung als symbolischen Ritterschlag für ihn als einen Repräsentanten der Intelligenz. Ähnlich wie bei Krahelska finden sich in den folgenden Seiten Solidarisierungsbeschreibungen mit der Welt der inhaftierten Kriminellen gegenüber der als „niederträchtig“ beschriebenen Gefängnisadministration, Beschreibungen der politischen Inhaftierten, gefolgt von Skizzen eines Polizeistaats der Spitzel, der Gendarme und der Gefängniswärter.¹⁶⁶ Stempowskis explizite Verweise auf die russische Gefängnisliteratur – der Autor verweist etwa auf Maksim Gor’kij (1868 – 1936), Sofʼja Perovskaja (1853 – 1881), Michail Saltykov-Ščedrin (1826 – 1889) – und die polnische Gefängnisliteratur (Maria Dąbrowska) zeigen zudem, dass Stempowski mit seiner Gefängniserzählung an Erzähltraditionen sowohl der russischen als auch der polnischen Intelligenz anknüpft.¹⁶⁷ Dazu passt, dass Stempowski von einer Schreib- und Kommunikationskultur der Inhaftierten selbst berichtet und die eigene Verbundenheit mit dieser betont: „So Vgl. ebd., S. 82. Ebd., S. 94. Konstantin Pobedonoscev (1827– 1907), Rechtsprofessor und enger Berater Zar Alexanders III. , Vertreter eines nationalkonservativen anti-westlichen Denkens. Fürst Dmitrij Tolstoj (1823 – 1889), Bildungs- und später Innenminister, sowie Staatsratsmitglied, der unter anderem für eine Modernisierungspolitik des russischen Bildungssystems verantwortlich zeichnete, aber auch für eine Hinwendung zu Orthodoxie und Autokratie. Michail Katkov (1818 – 1887), nationalistisch gesinnter Publizist und Literat, Herausgeber und leitender Redakteur der Moskovskie Vedomosti (Moskauer Nachrichten). Ebd., S. 134. Vgl. ebd., S. 135, 138, 137, 141. Vgl. ebd., S. 137, 140, 148.
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entstand eine eigene Tradition und Gefängniskultur, die von Generation zu Generation weitergebeben wurde. Das Gefühl der geistigen Verbundenheit mit meinen Vorgängern in der Zelle verstärkte meine Einsamkeit.“¹⁶⁸ Die Erfahrung des Gefängnisaufenthaltes wird in Stempowskis Memoiren zu einer biographischen Schlüsselerfahrung für Stempowskis Selbstverständnis als eines Angehörigen der Intelligenz. Indem sich Stempowski mit den Gefangenen solidarisiert, geht ein Wandel in seiner Selbstorientierung einher und der Autor bemerkt über sich nach der Entlassung aus dem Gefängnis nachdenklich-ironisch: Auf dem Treppenabsatz sah ich plötzlich mein Antlitz in einem Spiegel und war empört: statt eines jungen Studenten, als den ich mich das letzte Mal gesehen hatte, stand ein verquollenblasser Herr vor mir, mit einem langen schwarzen Bart, mit einem undeutlichen Lächeln auf den Lippen. Ich nahm die Mütze ab – ein fast kahl rasierter Kopf gab einen strengen, fast greisenhaften Gesichtsausdruck preis. Die riesigen, fremden Augen in dem Gesicht, die ich nicht kannte, und die mit geheimnisvollem Blick brannten, erschraken. Ich stand da und konnte mich nicht von ihnen losreißen. Mir gefiel die neue Hülle. ‚So sehen Propheten aus‘, dachte ich. ‚Sollen die Haare nachwachsen, die krause Mähne!‘ Ich lachte. Schon warf ich die Vorzüge des Gefängnisses in die Waagschale des Lebens.¹⁶⁹
In Stempowskis Interpretation der Gefängniserfahrung kommt letztlich der Wandel Stempowskis vom rebellischen Studenten zum inteligent zum Ausdruck. Insbesondere die Metapher des körperlichen oder äußerlichen Wandels vom jungen Mann zum greisenhaften „Propheten“ steht symbolisch für diesen Persönlichkeitswandel – verbirgt sich doch hinter der Metapher eine in der Literatur häufig anzutreffende Zuschreibung der Intelligenz.¹⁷⁰ Erst das Gefängnis und die in ihm erworbenen Erfahrungen der Solidarisierung mit den Ausgestoßenen der Gesellschaft sowie die Erfahrung der Unterdrückung durch das Regime dienen dem Autor als Beleg für die Ernsthaftigkeit der eigenen intelligenten Anschauung. Dementsprechend positiv deutet der Autor die im Gefängnis verbrachte Zeit. Dabei reflektiert er durchaus ironisch und distanziert die Konsequenzen dieses Wandels, wie das Zitat ebenfalls zeigt. Anders als bei Limanowski, Studnicki oder Krahelska stilisiert sich der Autor nicht zu einem Opfer des russisch-imperialen Regimes, ebenso wenig folgt Stempowski den national-stereotypisierenden Beschreibungen Limanowskis oder Studnickis. Stattdessen betont er an anderen Stellen durchaus die freundschaftlichen Kontakte zu den ihn nach wie vor beaufsichtigenden Polizeibeamten und bringt ähnlich wie Krahelska das teilweise
Ebd., S. 141. Ebd., S. 152. Vgl. Micińska, A History of the Polish Intelligentsia, S. 207.
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enge Verhältnis zwischen Wärtern und Gefangenen bzw. zwischen Polizisten und Vertretern der anti-imperialen Intelligenz zum Ausdruck: General Sereda empfing mich in seiner privaten Wohnung und erwies sich, nach meinen Kiever Rüpeln und Narren als Überraschung. Dieser große schöne Greis mit einem langen, glänzenden Bart, schwarzen lebhaften Augen erwies sich als freundschaftlich eingestellter und höflicher Gentleman.¹⁷¹
Über ein Wiedersehen 1893 mit dem Polizeibeamten Nikolin, der Stempowski bereits nach seiner Verhaftung ein Jahr zuvor beaufsichtigt hatte, in Dorpat schreibt Stempowski: „In Dorpat empfing mich Nikolin wie einen alten Bekannten“.¹⁷² Wenngleich Stempowski in seiner Erzählung von der prägenden Repressionserfahrung eines Angehörigen der polnischen Intelligenz sowie in seiner grundsätzlichen negativen Bewertung der Herrschaftsordnung des Russischen Imperiums die eigene Zugehörigkeit zur polnischen Intelligenz unterstreicht, ist sein Blick auf die Gesellschaft des Reiches ein höchst differenzierter und verfällt selten in eine national-zentrische Opfererzählung vom Leiden im geteilten Polen der Vorkriegszeit.
Metamorphosen eines intelligenten Adeligen: Stempowskis Vision östlicher Polonität nach dem Ende des „polnischen Besitzstandes“ Ähnlich verhält es sich mit Stempowskis Beschreibungen der russischen revolutionären Bewegung, seinen Bemerkungen zu den Ideen des narodničestvo und seiner Hinwendung zur russischen radikalen Intelligenz. In Stempowskis Äußerungen zu diesen Phänomenen kommt ein Ansatz zum Ausdruck, der sich als ein kritisch post-kolonialer Ansatz beschreiben lässt. Stempowskis Beschreibungen zeichnet zum einen die Bewunderung russischer linker Intellektueller wie Lev Tolstoj (1828 – 1910) aus, die russische revolutionäre Bewegung dient ihm darüber hinaus wiederholt als Inspiration eigener Ideen und Ansätze. Zum anderen relativiert er die eigene enthusiastische Haltung zur russischen Intelligenz und den sozialkritischen Ideen russischer Denker. So äußert sich der Autor ganz ähnlich wie Limanowski zur russischen Sprache und Literatur als Medium zur Selbstaneignung von Ideen der Aufklärung und des Sozialismus aus dem Westen.¹⁷³ Zur Rezeption der Ideen etwa von Lev Tolstoj bemerkt Stempowski: „Tolstoj war unser
Stempowski, Pamie̜tniki (1870 – 1914), S. 158. Ebd., S. 158. Vgl. ebd., S. 39.
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Rousseau aus zweiter Hand und hatte einen großen Einfluss auf meine geistige Entwicklung.“¹⁷⁴ Hier bringt der Autor also zugleich seine Bewunderung für den russischen Autor zum Ausdruck, verdeutlicht aber auch die eigene ideelle Hinwendung zum Westen, indem er auf Rousseaus aufklärerische Ideen Bezug nimmt. Auch in den Darstellungen des Autors zur russischen revolutionären Bewegung kommt immer wieder sein Verhältnis zu dieser als Repräsentant der polnischen Intelligenz zur Sprache. Dabei spielt die Frage der nationalen Zugehörigkeit bei Stempowski in den Beschreibungen eine große Rolle, und ähnlich wie bei Limanowskis Lebenserzählung beantwortet Stempowski diese Frage mit einem Entwicklungsnarrativ. Anders jedoch als in dessen Autobiographie stellt Stempowski diesen Prozess nicht als fremdbestimmten Kolonisierungs- oder Russifizierungsprozess dar, an dessen Ende die völlige Entpolonisierung droht, sondern skizziert diesen als einen bewussten und selbstgewählten Prozess der Selbstfindung, als Folge der Vielzahl von Erfahrungen in den verschiedenen sozialen Milieus, in denen sich der Autor biographisch bewegt. Dabei sind Merkmale einer nationalen und sozialen Alterität in den verschiedenen Episoden der autobiographischen Erzählung wiederholt anzutreffen. Einen wichtigen Bezugspunkt stellt in dieser Hinsicht Stempowskis frühe Studienphase in Dorpat dar. In einer Episode zu seiner ersten Reise nach Dorpat berichtet der Autor vom schwierigen Kontakt zu den polnischen Mitstudierenden, die zumeist aus Kongresspolen stammen, und skizziert zwischen diesen und ihm eine zunehmende Entfremdung: Wegen meines Bartes und meiner schwarzen üppigen Tolle, aber auch wegen meiner ‚altmodischen‘ Kleidung [‚łazienkowskiego‘ stroju], der die Übernachtung nicht gerade Glanz verliehen hatte, hielten sie mich offensichtlich für einen ‚Ivan‘ [‚kacap‘] und machten lachend verschiedene witzige Bemerkungen über mich. Obwohl ich kein Proletarier war, verkörperte ich ihn in diesem Moment, und ihm zu Ehren empfand ich eine Abneigung gegen diese blitzeblanken und heiteren Gecken [paniczyków] – und die Entfernung, die mich von ihrer Welt trennte, wuchs.¹⁷⁵
Stempowskis Kritik an den polnischen Mitstudenten unter Bezugnahme auf den Begriff des kacap als abfälliger Beschreibung von Russen – ursprünglich wurden mit dem Begriff russische Bauern bezeichnet – verdeutlicht die Entfremdung des Autors von der polnischen Studentenschaft. Interessant ist auch Stempowskis Solidarisierung mit der Arbeiterschaft, die er im Begriff des kacap gleichsam benannt sieht.
Ebd., S. 87. Jean-Jacques Rousseau (1712– 1778). Ebd., S. 97 f.
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Auch in anderen Episoden blitzt Stempowskis Narrativ einer nationalen und sozialen Alterität immer wieder auf. Bereits in den Beschreibungen seiner Jugend in Kamenec-Podolʼskij stellt der Autor mit seiner Kritik an der katholischen Kirche und ihren Sakramenten sowie mit der Kritik an den Schriften der polnischen Romantiker die Sinnhaftigkeit eines überhöhten polnischen Patriotismus als Identitätsmerkmal der polnischen Intelligenz infrage.¹⁷⁶ Wie sehr Stempowski dabei die Frage der eigenen Polonität an die Problematik des Russischen Imperiums und an seine Begeisterung für die russische radikale Intelligenz knüpft, wird an folgendem Auszug über Stempowskis jugendliche Bewunderung der polnischen Literaten der Romantik und des Positivismus deutlich, deren Aktualität für die Probleme des späten 19. Jahrhunderts der jugendliche Stempowski der Erzählung zufolge zunehmend infragestellte: Für den Wechsel in die zweite Klasse erhielt ich von der Mutter das Alte Märchen [Hervorhebungen im Zitat durch M.-B.] von Kraszewski mit Illustrationen von Andriolli. Damals begann man, Kraszewskis historische Erzählungen zu lesen, die seinerzeit eine nach der anderen erschienen. Aber das waren die letzten Klänge meines Polentums. Das alles war schön, aber fern vom Leben in meiner Umgebung, das andere Probleme nach sich zog und mich vor diese stellte, es erforderte Antworten, die ich in den Anhängern Bolesław Szczodrys oder der Familie Lubon nicht finden konnte. Sogar der geliebte Karliński [Figur aus dem Roman Zwei Welten, M.-B.] verschwand immer mehr im Nebel des Vergessens.¹⁷⁷
Ergänzt wird der Auszug über Stempowskis Entfremdung vom Polnischen mit dem Satz: „Es folgte die Periode der Bekanntschaften und Männerfreundschaften. Und so kam es, dass sie alle Russen waren.“¹⁷⁸ Mit diesem kurzen Satz leitet Stempowski eine Entwicklung der Hinwendung zur russischen Intelligenz ein, die in seinem Engagement in der russischen revolutionären Bewegung in Dorpat ihren Höhepunkt finden soll. Seiner Entfremdung von der Welt der polnischadeligen Studentenschaft folgt also die Annäherung an die russischen, später an die ukrainischen Milieus der anti-imperialen Intelligenz, die vor allem sozialistischen und revolutionären Ideen zur Herbeiführung eines gesellschaftlichen Wandels anhängen. Stempowski schreibt über das russisch-revolutionäre Milieu in Dorpat:
Vgl. etwa ebd., S. 85. Ebd., S. 38. Stempowski meint den polnischen Maler Michał Elwiro Andriolli (1836 – 1893) und nimmt Bezug auf folgende Werke Józef Ignacy Kraszewskis: Józef Ignacy Kraszewski: Dwa światy. Powieść, Wilno 1856; ders.: Lubonie. Powieść z X wieku, Kraków 1876; ders.: Stara baśń. Powieść z IX wieku, Kraków 1876; ders.: Boleszczyce. Powieść z czasów Bolesława Szczodrego, Kraków 1877. Stempowski, Pamie̜tniki (1870 – 1914), S. 38.
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Als ich mich in den Dorpater Verhältnissen umsah, entschied ich mich nach der Immatrikulation im Institut, die Mittagessen in der allgemeinstudentischen Kantine zu mir zu nehmen, wo sich weder Burschenschaftler noch irgendwelche Gecken herumtrieben, sondern wo im Dreck und unter Geschirrrasseln die Internationale ohne Unterschied von Rasse, Stand, Nationalität herrschte und sich selbst bediente – natürlich mit einem Übergewicht zotteliger Russen, die in Kosovorotki [russ., traditionelle Trachtenhemden, Hervorhebung im Original, M.-B.], mit einer Schnur befestigt, und langgeschnittenen Schuhen gekleidet waren und laut schmatzten. […] Der Anblick dieses menschlichen Tiergartens, wo die Leute – von Natur aus wild und unkultiviert – schmatzend und rülpsend aßen, war erschreckend, aber für mich interessanter als diese ausstaffierten Gecken, die ‚freundliche‘ Gespräche im Geiste wohlerzogener Tanten führten, diese aber nur mit Pornographie und ‚Studentenwitzen‘ würzten.¹⁷⁹
Im Zitat kommen sowohl ein positiv konnotierter Orientalismus den russischen Mitstudierenden gegenüber als auch Stempowskis verächtliche Ablehnung der polnischen Kommilitonen aus dem Königreich Polen zum Ausdruck – näher sind ihm vielmehr die Vertreter der polnischen, ukrainischen und der russischen Intelligenz aus den westlichen Provinzen des Russländischen Reichs. Später nimmt der Autor eine Debatte russischer linker Studenten zum Anlass, um auf die Vorzüge des Denkens der russischen Intelligenz einzugehen: Solch ausgezeichnete Reden hatte ich noch nicht gehört. Ich schaute mir diese einnehmenden Tribunsgestalten an. Kosmenkos Angelegenheit geriet eigentlich in den Hintergrund, es wurde über wichtigere Dinge gesprochen – über die Revolution, über die schreckliche Kraft der Reaktion, über studentische Unruhen, über die Notwendigkeit des Kampfes usw. All das war für mich neu und mitreißend! Wie blass sah doch dagegen der Zirkel der polnischen Volkstümler [kółko polskich ludowców] aus, wie lächerlich waren die Ehrenangelegenheiten der polnischen Burschen angesichts dieses Tribunals leidenschaftlicher Redner, die eine so kleine Angelegenheit auf den breiten Grund des Kampfes um Freiheit und soziale Gerechtigkeit stellten!¹⁸⁰
In diesem und in weiteren Auszügen beschreibt der Autor, wie sehr er sich zur russischen Intelligenz hingezogen gefühlt habe, die ihm als ernsthafter an grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen interessiert schien als die polnische Intelligenz und deren Milieu ihn zudem an die vertraute Umgebung in Kamenec-Podolʼskij erinnerte, die – wie er schreibt – geprägt war von Kontakten mit russischen, jüdischen und ukrainischen Mitschülern. Wildheit und Einfachheit fungieren, anders als in allen bisher analysierten Memoiren, in Stempowskis Memoiren als Symbole der Sehnsucht und der Neugier am Anderen. Stempowski
Ebd., S. 99. Ebd., S. 103.
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führt hier einen Orientalismus von Russland und den Russen an, der eine Wahrnehmung Russlands als wildes und unbekanntes Anderes in einer positiv exotisierenden Form pflegt. Auch in diesen Begriffen kommt übrigens Stempowskis Narrativ der Alterität zum Ausdruck – ordnet er sich doch dem „menschlichen Tiergarten“ selbst zu. Neben diesen nostalgisch-orientalisierenden Beschreibungen finden sich, anders als etwa bei Halina Krahelska, in Stempowskis autobiographischer Darstellung der russisch-imperialen Erfahrung ebenso post-koloniale Motive. Stempowskis Engagement in den russischen und polnischen Milieus wird dabei immer wieder als „schmerzhafte[s] Ringen der polnischen Seele“ interpretiert – die Attraktivität der russischen Intelligenz entspringt letztlich auch einer Wahrnehmung der polnischen Gesellschaft durch Stempowski als vormodern, anachronistisch und schwach.¹⁸¹ Diese Spannung dominiert die autobiographische Erzählung des Autors in den jeweiligen Episoden. Deutlich wird dies in folgender Äußerung zum Wesen des Russischen Imperiums und dessen zerstörerischen Einfluss auf die polnische Intelligenz: Schrecklich war diese Mühle des Zarentums, die mithilfe von Lügen, Verstößen gegen das unterdrückte Volk, mittels der Ignorierung der Massen und mithilfe von ausgezeichneten literarischen und publizistischen Talenten alle Individuen gleich welcher Nation, welcher Rasse oder welchen Geschlechts, aus denen sich dieser Staatskoloss zusammensetzte, zu einer einheitlichen Masse zermahlte. Ich selbst hatte mich schon zwischen den Mahlsteinen befunden und wusste gut, durch welche Fugen der Feind der Würde und des Ehrgefühl die jungen Seelen presste. Die ersten Zuckungen des lauten mütterlichen Fragens, die durch die langjährige Wirkung des östlichen Zaubers gedämpft worden waren, wurden durch den Kontakt mit der Verwirrung der Polen und der Ignoranz der Russen in den polnischen Angelegenheiten wiederbelebt.¹⁸²
Mit dem Verweis auf die „zaristische Mühle“ beschreibt Stempowski den zermürbenden Einfluss des Staates auf die polnische Intelligenz. Es scheint, als ob Stempowski mit der „Wirkung des östlichen Zaubers“ auch das Phänomen der russischen anti-imperialen Bewegung beschreibt, von der sich der junge Stempowski der Erzählung zufolge langsam zu lösen schien. Diese Loslösung vom russischen Denken sieht der Autor in der „Ignoranz der Russen“ begründet, die auf das asymmetrische oder einseitige Verhältnis der polnischen Intelligenz zur russischen Intelligenz verweist. Anschaulich beschreibt Stempowski also das Dilemma der polnischen Intelligenz des späten 19. Jahrhunderts, zwischen der anti-polnischen Politik des Russischen Imperiums und der Vormachtstellung der Ebd., S. 119. Ebd.
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russischen Intelligenz innerhalb der anti-imperialen Bewegung sowie zwischen dem russischen revolutionären Denken und der polnischen Freiheitsbewegung aufgerieben zu werden. Stempowskis Äußerung diesbezüglich ist auch ein Beleg für den Einfluss des zunehmenden polnischen Nationaldiskurses in den polnischen links-liberalen Kreisen der polnischen Intelligenz, aber auch für Stempowskis Verortung im nationalen Diskurs der Unbeugsamen – das Dilemma um die Frage der Autonomie der polnischen Intelligenz und der ihr drohenden Entnationalisierung in einer imperiumsweiten anti-imperialen Bewegung formulieren bekanntlich auch Bolesław Limanowski und Władysław Studnicki in ihren Memoiren. An anderer Stelle wiederum kritisiert Stempowski den dogmatischen Patriotismus, die nationale Selbstvergewisserung vieler Polen, mit der man in der polnischen Intelligenz auf die „Verwirrung“, also auf die Gefahr vom Verlust des polnischen Nationalbewusstseins reagiert. Als Beispiel für die negativen Folgen eines übersteigerten Patriotismus als Reaktion auf die polnische Orientierungslosigkeit führt Stempowski das Beispiel des befreundeten polnischen Philosophen Władysław Mieczysław Kozłowski (1859 – 1935) an, der 1890 nach zehn Jahren in der russischen Verbannung sich mit seiner russischen Familie in Warschau niederließ. Stempowski berichtet über dessen zwanghafte Nymphomanie und seinen Hass auf die russische Sprache, und wie dieser in Warschau seine in der Verbannung gegründete Familie, seine russische Frau, seine Tochter und seine Schwiegermutter versteckt hielt: Das schmerzhafte Ringen der polnischen Seele nahm von Zeit zu Zeit grauenhafte und scheußliche Formen an. So traf ich während eines meiner Aufenthalte in Warschau beim Abendtee bei den Krzywickis [Familie des Sozialisten Ludwik Krzywicki, M.-B.] W. M. Kozłowski. […] Er hatte nur zwei Laster, die mich von ihm abstießen. Beim Anblick einer Frau spitzte er seine Nase aggressiv und fing wie ein Hengst zu wiehern an. Es war nicht möglich, mit ihm auf die Straße zu gehen. Seine zweite Manie war der völlig besessene Hass auf die russische Sprache, auf den russischen Gesang. Irgendwann kamen unsere Anarchisten zu mir und einer von ihnen begann ein russisches Lied zu trällern. Kozłowski sprang wie angestochen hoch, nahm die Beine in die Hand und rannte aus dem Zimmer.¹⁸³
Über Kozłowski, der seine Schwiegermutter Subotina und seine Frau vor seiner Umgebung in Warschau versteckte, schreibt Stempowski weiter: Es machte mich traurig, dass die gute alte Frau unter dem Terror eines Fanatikers lebte, für den die Subotina in Sibirien eine Vorsehung gewesen war, und die hier, trotz ihrer Zärt-
Ebd., S. 119 f.
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lichkeit und Aufopferung nur mehr ein Hindernis auf dem Weg zur patriotischen Perfektion darstellte!¹⁸⁴
Stempowski skizziert in seinen autobiographischen Beschreibungen also einen Fanatismus auf der polnischen Seite, aber auch einen ideologischen Imperialismus auf der russischen Seite der Intelligenz, den er vor allem in den russischen radikalen Kreisen auszumachen meint. Letztlich sieht der Autor in deren abfälliger Haltung gegenüber der polnischen Frage die eigene nationale Zugehörigkeit umso mehr bestätigt. Zum Zusammenhang vom eigenen nationalen Selbstverständnis und seinem Kontakt zu den russischen Revolutionären schreibt er denn auch: [D]ie Ignoranz meiner ‚Moskoviter-Freunde‘ [moich ‚przyjaciół Moskali‘, in Anlehnung an Mickiewiczs gleichnamiges Gedicht An meine Moskoviter-Freunde, M.-B.] in der polnischen Frage wirkte auf mich stärker als die sog. patriotische Literatur, die die Vergangenheit glorifizierte. Und so wurde ich, der ich unter den Polen kein geistiges Umfeld finden konnte, das mir entsprach, und ich auf meine Altersgenossen kritisch herabblickte, mir meines Polentums bewusst und ausgerechnet durch die Russen aufgeklärt.¹⁸⁵
Stempowskis „Bewusstwerdung“ der eigenen Polonität führte, folgt man seiner Erzählung weiter, zur Annäherung an das polnische Umfeld. Das Warschau der Jahrhundertwende – so Stempowski in seinen Memoiren rückblickend – sei für ihn Zentrum und Inbegriff der polnischen Kultur, aber auch des polnischen antiimperialen Aktivismus und des polnischen politischen Denkens gewesen.¹⁸⁶ Demgegenüber erinnert der Autor die eigene Persönlichkeit zum Beginn seiner Warschauer Zeit als diffus und mit widersprüchlichen Eigenschaften ausgestattet: Heute, im Abstand von fünfzig Jahren, will ich mich der Frage stellen, wer ich seinerzeit gewesen bin, als ich die Absicht hatte, mein eigenes Leben neu zu beginnen, das andere betrachtete ich nämlich als vergangen. Mir scheint, dass der damals 27 Jahre alte Ehemann und Vater zweier Söhne, der Gottesleugner, Marxist, Revolutionär und ehemalige Häftling noch in völligen Nebel getaucht war, wo sich lediglich einige widersprüchliche Kristallisationspunkte abzeichneten. Ich begann das eigentliche Leben ohne Plan. Meine Persönlichkeit bildete sich dank der Eigenschaft des Kontrasts, nicht so sehr der Nachahmung, durch die Kraft des Widerspruchs, des Widerstands.¹⁸⁷
Ebd., S. 121. Ebd., S. 107. Vgl. ebd., S. 215. Ebd., S. 213.
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Stempowski betrachtet den Umzug nach Warschau als einen Neubeginn. Mit dem Neubeginn verbunden ist die Frage nach dem Selbstverständnis, nach der nationalen Zugehörigkeit, aber auch nach der Bewertung des vergangenen Lebens. Typisch für eine autobiographische Erzählung, thematisiert Stempowski die Suche nach der eigenen Orientierung, nach der biographischen Bestimmung des eigenen Lebens. Dabei erscheint die eigene Sozialisation im polnisch-ukrainischen Grenzraum als ein Makel, der ihn an der Entwicklung einer nationalen Identität gehindert habe: Am negativsten wog in meiner geistigen Entwicklung die Vielsprachigkeit. In der Kindheit war ich von einer ukrainischen Umgebung geprägt – wir waren keine Polonisierer, mit dem Personal sprachen wir ukrainisch, in dieser Sprache und in der polnischen formten sich meine ersten Kenntnisse von der Welt. […] Erst, als ich meine Gedanken auf Papier bringen wollte, erkannte ich mein Unglück, die geistige Behinderung: ich dachte zugleich auf Französisch, auf Polnisch und auf Ukrainisch, Russisch und Deutsch entsprechend der Begriffe, die ich in der jeweiligen Sprache gelernt hatte.¹⁸⁸
Die fehlende Bildung in der eigenen Sprache und die Vielsprachigkeit, die Stempowski als „geistige Behinderung“ skizziert, verknüpft der Autor mit seinen Erwartungen an Warschau als Zentrum Polens, demgegenüber das heimatliche Podolien als „Vulkan des sozialen, religiösen und nationalen Hasses, den das Zarentum seit Jahrhunderten gesät hatte“, erscheint.¹⁸⁹ Stempowski meint rückblickend, im Warschau der Jahrhundertwende neben der neuen Heimat sowie neben einem möglichen Ausgangspunkt für ein freies Polen ein Fenster in eine sozial gerechte europäische Moderne zu erkennen: „Ich bevorzugte es, unter den Meinigen [den Polen, M.-B.] zu leben und zu arbeiten, von wo mich niemand vertreiben und meine Intentionen und meine Vergangenheit fälschen würde. Und ich würde Europa immer näher sein.“¹⁹⁰ Auch an dieser Stelle handelt es sich jedoch nur um eine retrospektive Momentaufnahme, und Stempowskis Erwartungen an Warschau, folgt man den Memoiren weiter, sollten sich nicht erfüllen. Stattdessen erblickt der Autor in der Stadt die Wurzeln eines polnischen Nationalismus, von dem er sich – wiederum mit Verweis auf seine Herkunft aus den polnischen Ostgebieten – distanziert. In einer Bemerkung über den Freund und polnisch-jüdischen Publizisten Stanisław Posner schreibt er: Heute denke ich, dass ihn unsere podolische Exotik und das völlige Fehlen von ‚rassischen‘ Vorurteilen anzogen, die in der sogenannten polnischen Gesellschaft (nicht nur im Spieß-
Ebd., S. 214. Ebd., S. 215. Ebd.
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bürgertum) tief verwurzelt waren, trotz der viele Jahre andauernden Tradition der Assimilation [der Juden, M.-B.].¹⁹¹
Während also Warschau für Stempowskis Entwicklung zu einem Repräsentanten der polnischen Intelligenz eine wesentliche Episode markiert, verortet sich der Autor in sozialer Hinsicht nicht in Warschau oder in den ethnisch homogenen Regionen des geteilten Polens, sondern vielmehr in den ehemals polnischen Ostgebieten, und hier im Besonderen im ukrainisch geprägten Podolien. Interessanterweise deckt sich diese Erkenntnis mit Stempowskis Weggang aus Warschau ausgerechnet zur Zeit der Revolution von 1905. Zu ihren Ereignissen verhält sich Stempowski als Zeitzeuge auffallend distanziert, er berichtet lediglich von der Zwangsschließung der Warschauer Redaktion durch die russische Obrigkeit und seiner Rückkehr nach Podolien auf Geheiß des Vaters. Biographisch vollzieht sich jedoch in dieser Zeit der wohl wichtigste Wandel. Erzählerisch vollzieht sich der Weggang aus Warschau – immerhin ein Weggang aus dem damaligen Zentrum der polnischen Intelligenz – als Metamorphose eines Repräsentanten der Intelligenz hin zu einem Vertreter des polnischen ziemiaństwo in Podolien. Autobiographisch konstruiert der Autor den Gang nach Podolien als Beginn eines Entwicklungsprozesses vom naiven Aktivisten hin zu einem modernen Großgrundbesitzer, der Eigenschaften und Ideen beider sozialer Milieus – der Intelligenz und des polnischen Landadels – in sich zu vereinen versucht. Die Spannung, die sich aus Stempowskis sozialer und nationaler Herkunft sowie seiner dem russischen narodničestvo entlehnten volkstümlich-sozialistischen Überzeugung ergibt, bestimmt die weitere autobiographische Erzählung und stellt den vorläufigen Höhepunkt der Autobiographie dar. Stempowski lässt seiner Beschreibung der Lebensperiode vor dem Ersten Weltkrieg eine zentrale Rolle in seinen Memoiren zukommen – der Autor zeichnet sich darin nicht nur als polnischer Großgrundbesitzer aus, sondern vor allem als Initiator ukrainischer Selbstbildungsorganisationen und genossenschaftlicher Initiativen und vereint so in sich die positiven Eigenschaften eines die kulturellen und sozialen Konflikte überwindenden inteligent-ziemianin. Das Gut Winnikowce wird in seinen autobiographischen Aufzeichnungen zu einem Laboratorium der von ihm entwickelten und erlernten Ideen. Seine ursprünglich vom Vater erzwungene Entscheidung zur Rückkehr nach Podolien aufs väterliche Gut, „dies war mein Schwur nach der Entlassung aus dem Gefängnis, dass ich für alles, was
Ebd., S. 223.
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der Vater für mich damals getan hatte, jeden seiner Wünsche meine Person betreffend erfüllen würde“, kommentiert Stempowski folgendermaßen¹⁹²: Stück für Stück wichen die anarchistischen, jugendhaften Träume von einem freien, von Besitz und Verpflichtungen befreiten Leben eines Reisenden von mir, die feindseligen Empfindungen, dass Podolien wie ein Vulkan von sozialen, nationalen, religiösen, kulturellen, für die Polen so tödlichen Übeln seit den Zeiten der alten Adelsrepublik unterminiert war, fielen dem Vergessen anheim – früher, da man keinen Einfluss auf die Lösung derlei oder anderer Angelegenheiten hatte, musste man so schnell wie möglich von dort flüchten, wenn man Arbeit und Leben nicht umsonst vergeudet wissen wollte. Indem ich mich nun täglich mit dieser wundervollen, frühlingshaften Natur vertraut machte, mit dieser einzigartig hügeligen Landschaft, ergab ich mich dem leichtsinnigen Wunsch, mich mit ihr zu vereinen, in der Erde Wurzeln zu schlagen und mich blind dem Schicksal anzuvertrauen.¹⁹³
Im Zitat betont Stempowski noch einmal die eigene Verbundenheit mit seiner Herkunftsregion, benennt aber dennoch in seiner ambivalent bleibenden Heimaterzählung die Gründe für das ursprüngliche Verlassen der Region, Elemente nostalgischer Naturbeschreibungen werden ebenfalls eingeführt. Zudem pflegt Stempowski ein weiteres Mal sein Narrativ der Alterität und der Außenseiterschaft – sei es nun als Pole in einer ukrainisch dominierten multiethnischen und multikulturellen Umgebung, als Siedler in den ländlichen und als rückständig verschrienen Ostgebieten, oder als Renegat unter den polnischen Großgrundbesitzern. Ausgehend von dieser Außenseiterschaft entwirft Stempowski in seiner Autobiographie mit seiner Erzählung von seiner Tätigkeit in Winnikowce ein Gegenlaboratorium der Moderne, das sich eben nicht in der Besinnung auf die polnische Vergangenheit oder im Bild der kresy als Bollwerk gegen den barbarischen oder unzivilisierten Osten wie bei Studnicki erschöpft, sondern vielmehr durch Ideen der ludowcy-Bewegung und des russischen narodničestvo inspiriert ist – Stempowskis Ideen genossenschaftlicher oder kooperativer Selbstverwaltung erinnern aber ebenso auch an die Ideen Edward Abramowskis (1868 – 1918) zur Selbstorganisation der polnischen Gesellschaft, wenngleich Stempowski sich in seinen Memoiren nicht explizit auf diesen bezieht.¹⁹⁴ Seine Vision moderner polnischer Östlichkeit bringt Stempowski rückblickend folgendermaßen zum Ausdruck:
Ebd., S. 298. Ebd. Vgl. Micińska, A History of the Polish Intelligentsia, S. 135.
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Als ich von Podolien nach Warschau flüchtete, wollte ich inmitten des polnischen Elements leben und arbeiten, wo es keine verdammten Glaubens- und Nationalitätskonflikte gab, und wo man den blutigen Gespenstern der Vergangenheit nicht nachspüren konnte. Als ich den Vorschlag des Vaters zur Rückkehr in die Heimat annahm, sagte ich mir im Geiste, dass, so wie das Volk, so auch das Land sei und sich als solches erweisen werde, und dass die Polen nur Kolonisten und Parasiten sein konnten, solang sie sich in ihrer wirtschaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Tätigkeit nicht mit den Interessen dieses Volks und mit seiner Zukunft verbinden würden; sollten sie jedoch weiter Polen bleiben und gar ihre Polonität hervorheben wollen, würde dies irgendwann das Ende einer Geschichte bedeuten, deren Ziel ein wirklich brüderliches Zusammenleben dieser beiden Nationen und die Zuschüttung des Grabens, den die kolonisatorische blinde Politik voller Hochmut der Herren, des Landadels und des Magnatentums ausgehoben hatte, gewesen war.¹⁹⁵
In dem Zitat kommt Stempowskis Vision einer polnischen Östlichkeit besonders deutlich zum Ausdruck. Dabei geht es ihm um nicht weniger als darum, die polnisch-ukrainischen Beziehungen in den ehemals polnischen Ostgebieten grundlegend neu zu denken und diese vom Ballast einer polnischen „kolonisatorische[n] blinde[n] Politik voller Hochmut“, von Vorstellungen einer polnischen Imperialität im Osten Europas zu befreien. Vorstellungen einer Polonität, die sich nicht von den Traditionen und dem Selbstverständnis des ziemiaństwo als Kolonialherren distanzieren würde, seien, so hält der Autor ebenfallls fest, letztlich zum Scheitern verurteilt. Welchen Sinn macht jedoch die Erinnerung an jene Vision etwa dreißig Jahre nach Stempowskis Tätigkeit als Großgrundbesitzer, nach den Vertreibungen des polnischen Großgrundbesitzes im Gefolge des Russischen Bürgerkriegs, den schwierigen polnisch-ukrainischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit in den Verhältnissen eines von Sowjets und Nationalsozialisten besetzten Polens? Zum einen geht es Stempowski wohl darum, die Frage der polnischen Schuld am polnisch-ukrainischen Konflikt, der sich nach 1918 Bahn brach und sich nicht nur, aber vor allem an der Frage nach den nationalen Selbstbestimmungsrechten der Ukrainer entzündete, zu vermessen und dabei insbesondere die Selbstwahrnehmung der Polen als Modernisierer und Zivilisatoren im Osten Europas infragezustellen.¹⁹⁶ Im Mittelpunkt der Kritik steht dabei vor allem der polnische Großgrundbesitz. Die Losung des ziemiaństwo vom „polnischen Besitzstand [polski stan posiadania]“ in den Ostgebieten und deren Aufrechterhaltung als Argument polnischer Dominanz im Osten beschreibt Stempowski als „Phrase“ und bescheinigt dem Großgrundbesitz der Teilungszeit stattdessen eine ausgeprägte Nähe zur russischen Politik.¹⁹⁷ Stempowskis Idee
Stempowski, Pamie̜tniki (1870 – 1914), S. 303. Vgl. dazu Snyder, The Reconstruction of Nations, S. 134 f. Vgl. Stempowski, Pamie̜tniki (1870 – 1914), S. 325, 328.
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von der Zukunft der Ostgebiete für Polen zeichnet sich demzufolge durch eine konsequente Abwendung vom polnischen Großgrundbesitz und die Hinwendung zu den besitzlosen Schichten der Bevölkerung der Ostgebiete aus, sowie durch die Relativierung des polnischen Dominanzanspruchs in diesen Gebieten. Zum anderen dient die Skizzierung einer, wenn auch gescheiterten alternativen Vision des polnisch-ukrainischen Zusammenlebens durchaus dem Zweck, diese für die Gegenwart und vor allem für die Zeit nach dem Krieg unter veränderten Verhältnissen zu aktualisieren. Stempowskis Vision ist durchaus als ein Plädoyer gegen die nationalistischen Tendenzen in der polnischen Zwischenkriegsgesellschaft und das rassistische Denken der deutschen Besatzer zu sehen, wenn er kurz darauf ein Bild von sich als ein „Ukrainer und ein Pole“ entwirft. So geht es Stempowski in seiner Autobiographie auch darum, die eigene Rolle als Vorkämpfer einer zukunftsgerichteten östlichen Polonität, die im Einklang mit den Selbstbestimmungsrechten der nationalen Bevölkerungen im östlichen Europa steht. Konkret wird dies etwa in einer Episode von Stempowski über ein Gespräch zwischen ihm und einem ukrainischen Schriftsteller, den er Folgendes sagen lässt: ‚Bitte erzählen Sie mir, wie Sie mit der Bauernschaft zurechtkommen (wir sprachen auf Ukrainisch). Ich bewundere die Leute, die mit den Bauern zusammenleben können. In mir nämlich ist etwas Aristokratisches, der Bauer hingegen stinkt und regt mich einfach auf. Ja, ich arbeite für die Idee [der ukrainischen Nation, M.-B.], aber ich kann mich nicht überwinden, mich mit den Menschen vertraut zu machen. Sind Sie Ukrainer?‘ ‚Nein, ich bin Pole.‘ Er schaute mich aufmerksam an: ‚Und Sie arbeiten für die ukrainische Sache?‘ ‚So ist es, ich tue dies in vollem Bewusstsein und ich höre nicht auf, Pole zu sein.‘ ‚Dann müssen Sie nicht eine schreckliche Tragödie durchleben? Ein Ukrainer und ein Pole können nicht in einem Menschen leben.‘ ‚Aber in mir tun sie dies in völliger Eintracht.‘¹⁹⁸
In der autobiographischen Verschränkung von politischer Haltung und Lebenspraxis lässt Stempowski in den Memoiren ein Möglichkeitsfenster, eine polnischukrainische Utopie des Ostens entstehen, deren zeitgenössischer Wert vor allem darin besteht, dass sie ein Gegenmodell zum nationalen Zeitalter darstellt, dessen Beginn für Stempowski der Erste Weltkrieg und seine fatalen Folgen markieren und dessen traurigen Höhepunkt der Zweite Weltkrieg mit der erneuten Staatslosigkeit Polens darstellt.
Ebd., S. 342.
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Die von Stempowski skizzierte Vision einer modernen östlichen Polonität hat letztlich auch Folgen für Stempowskis autobiographisches Russlandbild. Stempowskis autobiographische Erzählung zu dieser Zeit dominiert ein polnischukrainisches Prisma, in dem die Wirklichkeit des Russischen Imperiums zwar durchaus eine Rolle spielt, aber die Wirkung der Politik der russisch-imperialen Administration auf die beschriebenen Prozesse eher marginalisiert wird – der Fokus liegt stattdessen vor allem auf den Wechselwirkungen vergangener polnischer Gutsherrenpolitik und dem Zusammenhang von sozialer und nationaler Frage in der ukrainischen Bevölkerung. Dass Stempowski – ein entschiedener Gegner der russisch-imperialen Herrschaftsadministration – in den lokalen Wahlversammlungen des Landadels 1905 partizipierte und an den Versammlungen des polnischen Großgrundbesitzes teilnahm, begründet dieser denn auch als „notwendig, überall dort zu sein, wo man die Interessen der Bevölkerung vor den Forderungen und Übertretungen der Administration und der Beamten schützen konnte.“¹⁹⁹ Interessanterweise tritt in der Beschreibung der Lebensepisode in Winnikowce ein Wandel in der Beschreibung von Russland und den Russen ein – Begriffe wie „Moskoviter“ verwendet Stempowski nun häufiger, wenn er über russische Großgrundbesitzer und deren Tätigkeit in den lokalen Wahlversammlungen zu den russischen Parlamenten 1905 und 1906 schreibt und betont so deren Fremdheit als Besatzer. Dennoch verharrt die Erzählung von Winnikowce im Duktus einer nostalgischen Erinnerung an ein idyllisches und glückliches Leben im Kreis der eigenen Familie, das zu betonen der Autor nicht müde wird, wie etwa in folgendem Auszug deutlich wird: „Es ist wahr, wir alle waren in dieser uns selbst genügenden glücklichen Welt versammelt.“²⁰⁰ Zum wiederholten Mal tritt also die Beschreibung einer nostalgischen Idylle auf den Plan. Diese trägt jedoch in der ausführlichen Beschreibung des Autors seiner Lebensperiode in Podolien ebenso Züge eines gesellschaftlichen Modells und trägt zu einem genaueren Verständnis von Stempowskis Verständnis östlicher Polonität bei. In den ehemals polnischen Ostgebieten sieht der Autor, wie bereits festgestellt wurde, keineswegs nur eine Region in Randlage mit einer rückständigen wirtschaftlichen und autoritär-traditionalistischen Gesellschaftsstruktur sowie einer problematischen sozio-kulturellen Gemengelage. Vielmehr kommt diesen Gebieten und, Stempowski zufolge, ihrer Wahrnehmung im polnischen Bewusstsein für ein zukünftiges Polen nach dem Zweiten Weltkrieg eine Schlüsselbedeutung zu. Gegen eine Vision der Ostgebiete als eines polnisch dominierten
Ebd., S. 338. Ebd., S. 354.
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Ostens wendet sich Stempowski dabei entschieden. Zum kresy-Terminus schreibt er bezeichnenderweise kurzumwunden: „ich mag diesen Begriff nicht“.²⁰¹
„Petersburger Gelump“: Stempowskis schwieriger Umgang mit dem revolutionären Russland und seiner Vertreibung Es ist davon auszugehen, dass Stempowski im Vorfeld der Russischen Revolution im Februar 1917 keineswegs Verfechter eines freien Polens ohne Ostgebiete um jeden Preis war – war doch seine eigene Existenz an das Gut der Familie in Podolien geknüpft. Auch in der Autobiographie ist der Autor geradezu beseelt von der Möglichkeit eines Gesellschaftsmodells wie des Genossenschaftswesens in Verbindung mit Ansätzen der Selbstverwaltung und eines modernen und sozial inklusiven Bildungswesens. Wie aus den Aufzeichnungen hervorgeht, sieht er in der sozialen Ungleichheit und den vorherrschenden sozialen Machtverhältnissen den Antrieb nationaler und religiöser Antagonismen. In seinen Memoiren erinnert der Autor an ein selbstgegebenes Versprechen vom Beginn seiner Schaffensphase in Winnikowce in der Vorkriegszeit, dass ich Eingang in das Leben und in die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung [potrzeby ludu miejscowego] halten würde, dass ich für sie wirken könne und notwendig sein würde, und dass ich auf diese Weise den Grund meines Daseins hier vor mir selbst rechtfertigen könnte.²⁰²
Einmal mehr kommt an dieser Stelle das Selbstverständnis des jungen Stempowskis als eines Repräsentanten der Intelligenz und ludowiec zum Ausdruck, dessen Aufgabe zuallererst eben darin bestand, die Lebensbedingungen und das Bildungsniveau der Bevölkerung des ländlichen Raumes zu verbessern. Im Fokus eines solchen Selbstverständnisses, wie es der Autor skizziert, stand weniger die Verwaltung eines Besitzes, als vielmehr in der Umkehrung der Wirkungsbedingungen. Im Zitat ist es Stempowski, der den Interessen der Lokalbevölkerung dient und aus diesem Verständnis heraus sich als polnischer Bewohner einer ukrainischen Welt zu legitimieren. Stempowski schrieb dieser Idee für die daraus erwachsende Chance einer friedlichen Koexistenz der Nationalitäten in den polnischen Ostgebieten auch über die Zeit nach 1918 noch Gültigkeit zu, wie sich anhand von Korrespondenzen zwischen ihm und dem russischen, in Warschau lebenden Exilanten und Philo Ebd., S. 325. Ebd., S. 319.
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sophen Dmitrij Filosofov nachvollziehen lässt. Piotr Mitzner erwähnt in seiner Untersuchung des Beziehungsdreiecks zwischen Stempowski, Dąbrowska und Filosofov, dass die drei Intellektuellen in den dreißiger Jahren die Frage nach der Bedrohung Polens und der westlichen Welt durch die Herrschaftsregime des Kommunismus und des Faschismus beschäftigte und insbesondere die beiden Männer ein psychoanalytischer Zugang zu dieser Frage verband: Filosofov zufolge verband sie viel: von der die beiden Persönlichkeiten dominierenden Überzeugung von der Buße des Adels dem Volk gegenüber, bis hin zu einem bestimmten Krankheitssymptom, das er [Filosofov, M.-B.] für eine psychosomatische Reaktion auf das Böse der Welt hielt. Sie verstanden sich ausgezeichnet, obwohl sie sich in Fragen der politischen Haltung voneinander unterschieden. Filosofov etwa hielt die Idee des Genossenschaftswesens, mit der Stempowski so verbunden war, für ein Überbleibsel, für eine wirkungslose Strategie in Zeiten der Revolution, sei es der bolschewistischen oder der faschistischen. Letztlich vertrat er die fatalistische Haltung, dass die Welt durch die Hölle der einen, wie auch der anderen Revolution gehen müsse. […] [D]en [Stempowskis, M.-B.] Glauben an das Genossenschaftswesen hielt er für völlig unzeitgemäß und schöngeistig, außerdem beurteilte er ihn [den Glauben, M.-B.] angesichts der Realität der sowjetischen Kolchosen als unangemessen.²⁰³
Mit Mitzner wird deutlich, dass Stempowski im Austausch mit Filosofov zwar seine eigenen Ideen der Vorkriegszeit überdachte, aber auch in der Gegenwart der dreißiger Jahre an deren Aktualität festzuhalten versuchte. Die von Mitzner bei Filosofov und Stempowski festgestellten Elemente des Katastrophismus, sei es etwa die Idee der beiden von der „psychosomatischen Reaktion auf das Böse der Welt“, wie auch eines moralisierenden Blicks auf die sozialen Veränderungen infolge des Ersten Weltkriegs – Mitzner benennt hier Filosofovs und Stempowskis „Überzeugung von der Buße des Adels“ – sind durchaus auch erzählerische Elemente in Stempowskis Darstellungen und Interpretationen des eigenen Lebens und verweisen einmal mehr auf die Übertragung von bestehenden politischen Haltungen und ästhetischen Prinzipien auf die autobiographische Darstellung des eigenen Lebens. Vergleicht man Mitzners Ausführungen zum Austausch der beiden mit Stempowskis autobiographischen Darstellungen der Vorkriegszeit und der Zeit des Ersten Weltkriegs, wird zudem sichtbar, dass Stempowskis autobiographische Reflexionen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs einer Umdeutung unterliegen. War für Stempowski der Verlust des eigenen Besitzes und der Niedergang des „Experiments“ Winnikowce in der Zwischenkriegszeit noch als Folge eines notwendigen Wandels der Ostgebiete hin zu einer polnischen Moderne in-
Piotr Mitzner: Trudna przyjaźń. Dmitrij Fiłosofow – Maria Dąbrowska – Stanisław Stempowski, in: Pamiętnik Literacki 103, H. 1, 2012, S. 239 – 257, hier 245 f.
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terpretierbar, sieht er in seinen Memoiren aus der Zeit von 1940 bis 1944 das unwiderrufliche Ende dieser Welt gekommen und den Wandel als endgültig gescheitert an. Erzählt wird dieses Ende mit den ästhetischen Mitteln des Katastrophismus – erinnert sei hier etwa an Stempowskis selbsterfüllenden Fatalismus, den er in seiner Autobiographie mit folgenden Worten zum Ausdruck bringt: „So wie das Volk, so das Land, und wer sich mit ihm nicht vereine, werde von ihm ohne eine Spur weggejagt.“²⁰⁴ Dass Stempowski seinem Ansatz in der Zwischenkriegszeit nach wie vor Chancen einräumte, hatte übrigens nicht zuletzt mit der Tatsache zu tun, dass auch im polnischen Staat das Problem der polnischen Ostgebiete mit seinen strukturellen, sozialen und nationalen Konflikten aktuell blieb und Stempowski als Verfechter einer jagiellonischen Staatsvision an einer einvernehmlichen Lösung dieser Probleme interessiert war. Für ihn ergab sich nicht zuletzt mit seiner Tätigkeit in der Prometheisten-Bewegung die Möglichkeit, auf die polnische Politik in den Ostgebieten einzuwirken. Dass Stempowski in seinen Aufzeichnungen vom Zweiten Weltkrieg das Ende des polnischen Ostens postuliert, kann durchaus auch auf Stempowskis Erlebnisse in der sowjetischen Besatzungszone in Ostpolen zurückzuführen sein, wohin er nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gemeinsam mit Maria Dąbrowska zunächst geflüchtet war, um im Sommer 1940 ins von den Deutschen besetzte Warschau zurückzukehren – wenngleich sich in den Memoiren keine konkreten Anhaltspunkte dafür finden lassen. Auffällig sind in seinen Memoiren – dabei handelt es sich vorrangig um die zensierten und erst in den siebziger Jahren in der Kultura veröffentlichten Auszüge – die Darstellung von Stempowskis Enteignung und Vertreibung durch marodierende russische Soldaten im Sommer 1917 sowie seine Wahrnehmung des polnischen Militärs als Besatzungsmacht im Osten. Beide Erfahrungen dienen ihm in der Autobiographie als Beleg des Scheiterns der polnischen raison d’être in den Ostgebieten. Zunächst leitet er die Erzählung von den Ereignissen des Jahres 1917 mit einem Blick zurück auf die vorausgegangenen Wochen im Sommer 1917 unmittelbar vor seiner Enteignung und der Vetreibung seiner Familie durch die desertierten Soldaten aus Winnikowce ein: Mich quälte dieses nicht endende Gefühl, dass, egal, wer siegen würde, eine gesellschaftliche Katastrophe auf uns warten würde. Diese Eindrücke bestätigten mir die Gespräche mit den zum Krieg fahrenden und zurückkehrenden Soldaten in meinen zahlreichen Reisen mit dem Zug, ganz besonders die Gespräche mit den immer zahlreicheren Deserteuren, letztlich auch der Ton in den Zeitungen und die grenzenlos blinde Dummheit der herrschenden Schicht [gemeint ist hier der polnische Großgrundbesitz, M.-B.]. Ich prophezeite, dass der
Stempowski, Pamie̜tniki (1870 – 1914), S. 319.
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Tag kommen würde, wo ich mein Haus und alles, was ich besessen hatte, würde verlassen müssen, leichtfertig hatte ich nämlich die Idylle auf dem Krater des Vulkans verschlafen.²⁰⁵
In den Memoiren berichtet Stempowski weiter, dass es im September in der ländlichen Region um Winnikowce zu Unruhen von russischen Soldaten und Desertierten in Podolien kam – Michael Palij schätzt die Zahl der Deserteure in der gesamten Ukraine im August 1917 auf 365.000, bis Oktober stieg die Zahl der russischen Soldaten und Deserteure wohl auf etwa zwei Millionen an.²⁰⁶ Stempowski zufolge erreichten am 25. September plündernde russische Deserteure das Gut Winnikowce, begannen mit der Plünderung des Hofes und veranlassten schließlich Stempowskis Familie zur Flucht nach Vinnica. In den Memoiren erinnert Stempowski den Beginn der Plünderungen, sowie das Verhalten des ukrainischen Gutshofpersonals, das ihm zufolge dafür sorgte, dass Stempowski vor den Plünderungen fliehen konnte: Mein Herz füllte sich mit Freude. Und so eilten die Kameraden und Zeugen meiner zwölf Jahre andauernden Bemühungen, die Eigentümer [sic] dieses Landes, herbei. Nur ihr Urteilsvermögen und ihr Verhalten beschützten mich beim Zusammentreffen mit dem verstreuten Moskauer Element, und ich war mir ihres Urteilsvermögens sicher. […] [I]ch zeigte hinter mir auf das Gut, wo die Schreie und der Lärm der soldatischen Wirtschaft brausten und die grauen plündernden Gestalten zu sehen waren, und sagte: ‚Nun ist es so gekommen, wie ich es etliche Male gesagt habe: dass, wenn der Krieg unser Land erreicht, ich ihm als erster zum Opfer fallen würde. Heute ist es also geschehen, und dies ist es, was nun vor sich geht. Schon plündern sie und ich kann nichts dagegen tun. Sie sagen, sie sind hungrig. Ich habe befohlen, sie zu verköstigen. Aber schaut in ihre aufgehenden, fetten Mäuler. Sie lügen. Dies ist keine Armee mehr, das ist eine Bande von Räubern. Sie zerstören das Gut, und wenn sie nicht schnell von hier weiterziehen, zerstören sie auch Euch. Schaut Euch ihre Hände an – weiß, wie bei faulen Fräuleins. Das sind keine Leute von Arbeit, sondern Petersburger Gelump.‘²⁰⁷
Aus dem Auszug lassen sich zwei grundsätzliche Elemente von Stempowskis Erzählung der Kriegs- und Vertreibungserfahrung entnehmen. Zunächst wird anhand des Zitats noch einmal Stempowskis Haltung zur ukrainischen Bevölkerung deutlich, die er als eigentliche „Eigentümer“ seiner Ländereien beschreibt. Zudem wird die Rolle der lokalen ukrainischen Bevölkerung in den Unruhen mit der erzählten Episode von der Bewahrung ihres Gutsherrn vor den Plünderern deutlich aufgewertet. In der pejorativen Beschreibung der russischen ętnika (wojna. pogrom – 1914– 1917), S. 127. Vgl. Palij, The Ukrainian-Polish Defensive Alliance, 1919 – 1921, S. 4. Stempowski, Z pamiętnika (wojna. pogrom – 1914– 1917), S. 137 f.
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Soldaten lässt sich denn auch das zweite Element der Kriegserzählung ausmachen. Die Plünderer werden von Stempowski als graue Masse einer desorganisierten Armee beschrieben, die sich vor allem durch Unmoral, Lüge und Kriminalität auszeichnet. Interessanterweise hinterfragt der ansonsten empathische Autor die Gründe des Verhaltens dieser Gruppe nicht und verharrt in einer Beschreibung der Anschuldigung, die mit Begriffen wie „Moskauer Element“ oder „Petersburger Gelump“ ein homogenes kriminelles Kollektiv mit Verweis auf dessen russische Herkunft skizziert. Nach Stempowskis Vertreibung aus Winnikowce fand sich der Autor mit einer großen Zahl weiterer vertriebener Großgrundbesitzer und deren Familien in Vinnica und später in Kiev wieder, wo er schließlich den Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung, die kurze Periode der Ukrainischen Volksrepublik bis Ende Januar 1918 und die wechselnden Herrschaftsregime etwa der Roten Armee, der Mittelmächte und schließlich des Hetmanats unter Pavlo Skoropadsʼkyj und dessen Anhängern des russisch-imperialen Ancien Régime miterlebte. Stempowski, der ein Anhänger der ukrainischen Autonomie war und trotz seiner Vertreibung ein Verfechter des Prozesses der Umgestaltung der Besitzverhältnisse in der Ukraine blieb, machte sich nach der Errichtung des Hetmanats durch Skoropadsʼkyj Ende April 1918 für ein Zusammengehen der ukrainischen Aufständischen unter Führung von Symon Petljura und des polnischen Militärs stark.²⁰⁸ In seinen autobiographischen Aufzeichnungen indes äußert sich Stempowski sowohl über den aufkommenden ukrainischen Nationalismus nach der Gründung der Ukrainischen Volksrepublik und der Einsetzung der Zentralen Rada im März 1917 als auch über die Tätigkeit propagandistischer Verbände im Hinterfeld der Roten Armee kritisch. In seinen Memoiren zeichnet Stempowski beide Phänomene als vom Osten her fremde und eingeführte Ideen des „agitierten Ivans“.²⁰⁹ Die Schuld an der Einführung dieser Ideen sieht Stempowski dabei vor allem in der urbanen Bürgerschaft und interessanterweise in der lokalen Intelligenz. Ihnen gegenüber idealisiert Stempowski die Bauern und die Arbeiterschaft: Das Bürgertum, die Kleinhändler, die Handwerker, die Viertel- und Halb-Intelligenz und zynische ambitionierte Individuen der Intelligenz unterlagen der nationalistischen Psychose. Der Bauer und der Arbeiter kennen so etwas nicht.²¹⁰
Vgl. Palij, The Ukrainian-Polish Defensive Alliance, 1919 – 1921, S. 76. Stanisław Stempowski: Z pamiętnika (dok.), in: Zeszyty Historyczne, H. 24, 1973, S. 68 – 131, hier S. 76. Ebd., S. 78.
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Stempowski sieht in der Auflösung der alltäglichen Ordnung denn auch den Boden für den zunehmenden „Bolschewismus“ bereitet, der noch keine festen Losungen hatte und den einfachsten Weg suchte, die Massen zu berühren und sie von sich zu überzeugen. Die andauernden Kundgebungen waren eine einzige Zurschaustellung von Demagogie, die an die niedersten Instinkte appellierte.²¹¹
Die Schuld für die Entwicklung Podoliens hin zu einem „Vulkan“, der nicht zuletzt die polnische Daseinsberechtigung im Osten in Frage stellt, schreibt der Autor an einer späten Stelle der Memoiren also in vorher unerwähnter Deutlichkeit dem revolutionären Russland zu – es ist durchaus denkbar, dass ähnliche anti-russische Bemerkungen in den 1953 veröffentlichten Memoiren von der Zensur in der PRL entfernt worden waren. Deutlicher hörbar werden überdies in den Memoiren zum Bürgerkrieg in der Ukraine Bemerkungen von Stempowski zur russischen Polenfeindlichkeit. Dabei verortet Stempowski die Wurzeln des aufkommenden Nationalismus und der Polenfeindlichkeit in den Ostgebieten vor allem im Konkurrenzverhältnis zwischen der russischen Imperialität und polnischen lokalen Eliten. In einer Episode über den Vorstoß der Polnischen Armee im Frühjahr 1919 nach Vinnica infolge des Ostfeldzugs beschreibt der Autor den moralischen Verfall der polnischen Soldaten nach dem Ersten Weltkrig. Palij macht etwa in seiner Studie etwa deutlich, dass die polnische Besatzung in der Südwestukraine 1919 durch etliche Plündereien und Massaker an ukrainischen Bauern geprägt war, und dass diese den polnischen Besatzern zunehmend feindlich gegenüber standen.²¹² Interessanterweise führt der Autor dies vor allem auf den anhaltenden russischen Einfluss der Soldaten der Polnischen Armee vor und während des Ersten Weltkriegs zurück. In einem ausführlichen Auszug erinnert Stempowski seine Eindrücke beim Besuch des Krankenhauses in Vinnica: Der Anblick dieser hunderten ermüdeten und geplagten Leute, die im Halbdunkel der großen Kasernensäle auf dem Boden lagen, machte auf mich einen jämmerlichen Eindruck. Das war keine Armee mehr, sondern ein Haufen gehetzter Wesen, die sich ihrer Ausweglosigkeit völlig bewusst waren. […] Das Bild von der völligen Vereinsamung des polnischen Soldaten, umgeben und gehetzt von Feinden, wäre unvollständig, wenn in den Reihen der Verfolger der alte bekannte Meister der Verleumdung, der Moskoviter, – insbesondere, wenn es um die Polen (‚kičlivych lachov‘ [russ., ‚eingebildete Lechen‘]) geht – fehlen würde. Bei den bekanntesten Poeten und Schriftstellern angefangen, bis hin zu Katkov und Ilovajskij und der schwarzen Reaktion, die sich in dieser Hinsicht nicht von der linken Demokratie unter-
Ebd., S. 92. Vgl. Palij, The Ukrainian-Polish Defensive Alliance, 1919 – 1921, S. 96 f.
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schieden, konnte sich kein Moskoviter je für die Schändungen, mit denen er unsere Nation verletzte und nach wie vor verletzt, entschuldigen und beleidigte uns weiter.²¹³
Stempowskis Äußerung ist insofern bemerkenswert, weil in ihr so deutlich wie nie zuvor in seinen Memoiren eine Wahrnehmung Russlands als Feind Polens – und nicht zuletzt der polnischen Daseinsberechtigung im Osten – zum Ausdruck kommt. Dabei beschuldigt er interessanterweise die nationalistischen regimenahen Vertreter der russischen Politik und Literatur und die anti-imperialen Vertreter der „linken Demokratie“ – womit der Autor wohl auf die anti-imperiale russische Intelligenz der Sozialrevolutionäre und der Sozialdemokraten verweist – eines Selbstverständnisses der Großmächtigkeit und der Arroganz gegenüber Polen und zieht, indem er auf die „Schändungen“ der Vergangenheit wie auch der zeitgenössischen Gegenwart der sowjetischen Besatzung im Zweiten Weltkrieg gleichermaßen rekurriert, eine Kontinuitätslinie von der anti-polnischen Politik und einer imperialistischen Haltung der Machthaber und der russischen anti-imperialen Intelligenz im Russischen Imperium bis hin zur Sowjetunion, die für die wiederholte gewaltsame Teilung Polens 1939 mitverantwortlich zeichnete. Spätestens an dieser Stelle kulminiert die Entwicklung der autobiographischen Erzählung von Stempowski als Freund und Mittler zwischen russischer und polnischer Intelligenz zu einer Erzählung der Entflechtung der russisch-polnischen Beziehungen vor dem Hintergrund der Erzählung des Ersten Weltkriegs und seiner Folgen, sowie vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrung von der erneuten Besatzung Polens durch die Sowjetunion und durch das nationalsozialistische Deutschland. Die autobiographischen Aufzeichnungen erweisen sich in ihrer Wahrnehmung Russlands hier als höchst ambivalent.
Ausblick: Stanisław Stempowskis Memoiren und der Bedeutungswandel der polnischen Intelligenz in der PRL 1950 hielt Jakub Berman (1901– 1984), Mitglied des Zentralkomitees der Staatspartei Polska Zjednoczona Partia Robotnicza (PZPR, Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) der Volksrepublik Polen, im Rahmen eines nationalen Schriftsteller-
Stempowski, Z pamiętnika (dok.), S. 115. Dmitrij Ilovajskij (1832– 1920), russischer Historiker und Herausgeber der rechts-konservativen Zeitung Kremlʼ. Mit der „schwarzen Reaktion“ sind hier die militanten rechts-konservativen bis nationalistischen Gruppierungen im späten Russischen Imperium, auch Čërnaja Sotnja (Schwarze Hundertschaft) genannt, gemeint.
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kongresses eine wegweisende Ansprache unter dem Titel Die Rolle und Aufgabe des sozialistischen Schriftstellers. ²¹⁴ In ihr brachte Berman die Idee zum Ausdruck, dass der polnischen Literatur eine wichtige Rolle in der Erschaffung eines „neuen Menschen“ zukomme und sie sich in diesen Dienst stellen müsse.²¹⁵ Mit seiner Ansprache läutete der Partei-Ideologe eine neue Ära der staatlich verordneten Literatur des sogenannten Sozialistischen Realismus ein, die in den folgenden Jahren mit Anreizen an die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, aber auch mit restriktiven Mitteln wie Zensur und Propaganda realisiert werden sollte.²¹⁶ Es ist nicht ohne Ironie, dass Auszüge aus Stempowskis Memoiren im Februar 1950 in einer der letzten Ausgaben der Zeitschrift Warszawa (Warschau), einem Journal des oppositionellen Polskie Stronnictwo Ludowe (PSL, Polnische Volkspartei) gemeinsam mit der Rede Bermans vom Kongress abgedruckt wurden.²¹⁷ Auszüge aus den Memoiren fanden ebenso den Weg in die regimenahe Zeitung Odrodzenie (Wiedergeburt). Nur wenige Wochen später sollten die Redaktionen von Odrodzenie und Kuźnica (Die Schmiede), einer weiteren Literaturzeitung, liquidiert und an ihrer Stelle eine neue zentralistische Kulturzeitschrift Nowa Kultura (Neue Kultur) gegründet werden. Die erzwungene Schließung der Redaktionen stellte den Höhepunkt der stalinistischen Säuberungs- und Umbildungsprozesse im polnischen Literaturbetrieb dar, zudem verlieh sie Bermans Äußerungen zum Sozialistischen Realismus Nachdruck – auch Warszawa wurde im Frühjahr 1950 geschlossen.²¹⁸ Nach Bermans Grundsatzrede war der Weg für Stempowskis Memoiren in die Öffentlichkeit versperrt, Stempowski verstarb zu Beginn des Jahres 1952 ohne dass ihm die Veröffentlichung seiner Memoiren gelang. Erst die mit Stalins Tod 1953 einsetzende kurze Periode des politischen „Tauwetters“ ermöglichte es Maria Dąbrowska, Stempowskis Memoiren – stark gekürzt und zensiert – zu veröffentlichen. Warum waren Stempowskis Memoiren für die polnischen Machthaber trotz seiner Nähe zum PSL und seiner oppositionellen Haltung zum Regime von so großem Interesse und warum wagten die Machthaber es dennoch nicht, diese noch zu Stempowskis Lebzeit zu veröffentlichen? Der Schlüssel zu dieser Frage
Vgl. Jakub Berman: Rola i Zadania pisarza socjalistycznego (z przemówienia wygłoszonego na konferencji literatów), in: Odrodzenie, H. 9, 1950, S. 1– 2. Ebd., S. 1. Vgl. dazu Jacek Łukasiewicz: Jeden dzień w socrealizmie, in: Teksty Drugie 60/61, H. H. 1/2, 2000, S. 7– 24. Vgl. Stanisław Stempowski: Wyruszam w świat, in: Warszawa: Niezależny dwutygodnik literacki 5, H. H. 2 (39), 1950, S. 5. Vgl. Jerzy Smulski: O polskiej socrealistycznej krytyce (i samokrytyce) literackiej, in: Teksty Drugie 60/61, H. H. 1/2, 2000, S. 25 – 41, hier S. 35.
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scheint in der Wahrnehmung und der Rolle der polnischen Intelligenz zu liegen, die das kommunistische Regime ihr zuschrieb. In der unmittelbaren Nachkriegszeit versuchte das Regime, die Angehörigen der polnischen Intelligenz für den Aufbau des polnischen Staats zu gewinnen und zeigte sich offen für deren Integration – darunter fielen eben auch diejenigen linken Kräfte, die sich nicht sofort in die PZPR einordnen ließen. In der PRL beabsichtigte man zudem die Formierung einer „Volks-Intelligenz [inteligencji ludowej]“ – einer neuen Intelligenz, die die Gruppe der „alten Intelligenz“ ablösen sollte.²¹⁹ Ziel des Regimes war es dabei, sich das eigentliche Paradigma der polnischen Intelligenz, mithilfe „der Emanzipation und der Autonomisierung der niederen Schichten eine demokratische Nation als offene gesellschaftlich-kulturelle Form“ zu bilden, zu eigen zu machen und mithilfe einer neuen systemkonformen Intelligenz ein loyales, dem Regime und der sozialistischen Ideologie verpflichtetes nationales Kollektiv zu formen.²²⁰ Józef Chałasiński, zugleich wichtiger Vertreter und kritischer Begleiter dieser Idee, merkte 1971 wiederum an, dass im Projekt der polnischen Intelligenz von der Integration der besitzlosen Schichten in die polnische Nation die Autobiographik eine wesentliche Rolle spielte. Er verwies dabei zum einen auf die Rolle autobiographischer Repräsentationen seitens der Intelligenz des 19. Jahrhunderts und zum anderen speziell auf die Tradition der sozialen Autobiographik der Zwischenkriegszeit.²²¹ Diese Tradition sollten sich die Soziologen in der PRL aneignen und unter das Primat des sozialistischen Fortschritts stellen. Auch Stempowski zählte, trotz seiner Gegnerschaft zum kommunistischen Regime, zu den Anhängern einer sozialen Autobiographik. Der Sozialistische Realismus wiederum sollte diesen – staatlich verordneten – Transformationsprozess schließlich abbilden. Wie der Literaturhistoriker Henryk Markiewicz in einem frühen Rückblick auf diese Umgestaltungsprozesse schrieb, war das Ziel des Sozialistischen Realismus [d]ie Stärkung der moralisch-ideellen Einheit der Schriftsteller, die Bildung einer Atmosphäre der Aufrichtigkeit der Künstler und des Vertrauens zu den Künstlern, die die ungezwungene Ausdehnung einer realistischen Vorstellung, einen möglichst breiten Kreis realistischer Erfahrungen, Erforschungen und Beobachtungen des gegenwärtigen Lebens aus der Perspektive der sozialistischen Ideologie fördern.²²²
Żarnowski, Inteligencja Polska 1944– 1989, S. 474. Chałasiński, Pamiętnikarstwo XIX-XX w. jako świadectwo przeobrażeń narodu polskiego, S. 8. Vgl. dazu auch Żarnowski, Inteligencja Polska 1944– 1989, S. 474. Vgl. Chałasiński, Pamiętnikarstwo XIX-XX w. jako świadectwo przeobrażeń narodu polskiego, S. 14. Henryk Markiewicz: Krytyka literacka w walce o realizm socjalistyczny 1944– 1954, Warszawa 1955, S. 47.
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Der regimenahe Schriftsteller Leon Kruczkowski (1900 – 1962) wies auf dem bereits erwähnten Literaturkongress 1950 darauf hin, dass die „Methode“ des Sozialistischen Realismus vor allem darauf ziele, „die bisherige Trägheit der literarischen Milieus zu durchbrechen“.²²³ Die Vorabveröffentlichung von Stempowskis Memoiren in der Warszawa zeigt, dass im Frühjahr 1950 die Diskussion in parteinahen Kreisen des polnischen Literaturbetriebs darüber, was als Sozialistischer Realismus zu gelten hatte, keineswegs abgeschlossen war. Die dann folgende Veröffentlichungssperre von Stempowskis Memoiren zeigt auch, dass sich in der Folgezeit eine „stalinistische Hierarchie der Macht“ und mit ihr eine Publizistikpraxis des Regimes herauskristallisieren sollte, die sich in den Prioritäten einer ideologischen Programmatik und der Nachahmung eines in der Sowjetunion zuvor entwickelten propagandistischen Literaturbetriebs weitestgehend erschöpfte.²²⁴ In die von Markiewicz benannten Prämissen passten der Autor und seine Lebenserzählung nicht mehr hinein. Auch wenn der Sozialistische Realismus den Stalinismus überdauern sollte, lockerten sich die Restriktionen im polnischen Kultursektor nach Stalins Tod und es begann eine kurze Periode des „Tauwetters“, die die Veröffentlichung von Stempowskis Autobiographie schließlich möglich machte. Aus Maria Dąbrowskas Vorwort lässt sich erfahren, worin die Bedeutung von Stempowskis Memoiren für die Gesellschaft des post-stalinistischen Polens bestehen sollte und welche Rolle der Autobiographik im Literaturbetrieb zugeschrieben wurde. Gleich zu Beginn des Vorworts verweist Dąbrowska auf die mehrere Jahrhunderte zurückreichende nationale Tradition polnischer Autobiographik, um sogleich auf die Bedeutung der sozialen Autobiographik der Zwischenkriegszeit und auf deren Verdienste für eine nationale Autobiographik der Arbeiter und Bauern zu sprechen zu kommen. Dąbrowska ordnet Stempowskis Memoiren dieser Tradition zu und betont dessen adelige Herkunft. Stempowskis Zugehörigkeit zur polnischen Intelligenz – ein wesentliches Erzählelement in der Selbstdarstellung des Autors – wird in Dąbrowskas Vorwort nicht berücksichtigt. Sie verharrt stattdessen in der Beschreibung Stempowskis als eines Vertreters des polnischen Großgrundbesitzes, wennngleich sie feststellt, dass „er in diese Schicht nicht als typischer Vertreter hineinwuchs. Stattdessen erwies er sich als typischer Vertreter dessen, was in der Kultur und in der vergangenen Geschichte die Strömung einer fortschrittlichen
Leon Kruczkowski: Przemówienie wygłoszone na otwarciu konferencji literackiej, in: Odrodzenie, H. 9, 1950, S. 1. Dorota Tubielewicz Mattson: Polska socrealistyczna krytyka literacka jako narzędzie władzy, Uppsala 1997, S. 22. Vgl. auch Smulski, O polskiej socrealistycznej krytyce (i samokrytyce) literackiej, S. 31.
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und humanistischen Tradition ist.“²²⁵ Weiter betont die Schriftstellerin Stempowskis Gegnerschaft zum Russischen Imperium, seine Solidarisierung mit der Arbeiter- und Bauernschaft sowie mit den ukrainischen und russischen Aktivistinnen und Aktivisten. Es ist müßig zu erwähnen, dass sich die gesamten Memoiren hindurch ein Netz der Liebe zum einfachen, arbeitenden und leidenden Menschen spannt. Und eng mit diesem verwandt, spinnt sich ein Netz der Liebe dieses klugen, guten Polen zu den anderen Nationen, zu dem, was in ihnen das Beste ist und der Zukunft dient und von unvergänglicher Qualität ist – zu ebenjenem einfachen, arbeitenden und leidenden Menschen. Und ganz besonders spannt sich ein Netz der brüderlichen Freundschaft zu den Nationen der Ukraine und Russlands.²²⁶
Im Vorwort erwähnt Dąbrowska weder Stempowskis Vertreibung aus Winnikowce im Sommer 1917 durch russische Deserteure noch, dass Stempowski seine Memoiren über den Kriegsausbruch 1914 hinaus weiterführte. Stattdessen schreibt sie: 1917, in der sogenannten ‚Kerenskij-Zeit‘, wird die russische Armee an der Front versprengt und kehrt ungeordnet in die Heimat zurück. Banden von Marodeuren der österreichischen Armee grassieren in dieser Zeit in der Ukraine. Die alte Gesellschaftsordnung fällt, die neue ist noch nicht geschaffen. Damals verschwindet das Winnikowcer Gut im Feuer.²²⁷
Anhand dieser beiden Zitate wird deutlich, worin 1953 für die Öffentlichkeit der PRL die Qualität der Memoiren von Stempowski bestand. Stempowskis Memoiren eigneten sich dazu, die offiziell verordnete polnisch-sowjetische Freundschaft erfahrungsgeschichtlich zu untermauern und ihr mit dem Genre der Autobiographik eine authentische historische Dimension zu verleihen. Für diese Zwecke verweist Dąbrowska mit Stempowskis Memoiren auf die Losung Für unsere und für Eure Freiheit: „Die Memoiren Stempowskis sind – in den Möglichkeiten ihrer Zeit und seiner Persönlichkeit – ein schöner Ausdruck für eine einfache, aber anständig praktizierte Freundschaft: ‚Für eure und für unsere Freiheit.‘“²²⁸ In dieses Bild passt, dass in Dąbrowskas Vorwort die marodierenden Plünderer von Winnikowce österreichische Soldaten sind und keine Russen.
Dąbrowska, Wstęp, S. VII. Ebd. Ebd. Ebd.
4.3 Zusammenfassung
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4.3 Zusammenfassung Mit Krahelska und Stempowski wurden in diesem Kapitel zwei Angehörige der polnischen Intelligenz des 20. Jahrhunderts untersucht, deren Biographien bei einer ersten vergleichenden Betrachtung, angefangen beim Altersunterschied der beiden bis hin zu deren Tätigkeit im späten Russischen Imperium, nur wenig Gemeinsamkeiten aufzuweisen scheinen. Beide entstammten Familien des polnischen Landadels aus der sogenannten linksufrigen Ukraine westlich von Kiev, wenngleich nur Stempowski auf dem Landgut der Eltern aufwuchs und sich mit der vom Vater vorgesehenen Rolle als Großgrundbesitzer zumindest in Teilen identifizierte. Krahelska wiederum wuchs bereits als Kind und als junge Frau in einem städtischen bürgerlichen Milieu auf, das vor allem von Kontakten der polnischen und der russischen Intelligenz geprägt war und nur wenige Verbindungen zur ukrainischen Umgebung und zum polnischen Landadel aufwies. Der ältere der beiden, Stempowski, gehörte aufgrund seines Alters und seines persönlichen Umfelds insbesondere in seiner Warschauer Zeit eher der Generation der Unbeugsamen an, während Krahelska, die sich im Verlauf der Russischen Revolution von 1905 und 1906 zunehmend in der russischen revolutionären Bewegung zu engagieren und zu radikalisieren begann, vielmehr der Generation der Revolutionäre zuzuordnen ist. Dass beide unterschiedlichen Generationen der polnischen Intelligenz angehörten, wird auch deutlich, wenn man den Einfluss der revolutionären Ereignisse von 1905 und 1906 auf ihre Biographien betrachtet. Stempowski etwa nahm von der revolutionären Bewegung und den polnischen Sozialisten der PPS infolge ihrer Radikalisierung vor und während der Revolution Abstand und bemühte sich nach 1905 in der ukrainischen Provinz, seine Ideen in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen und den Machtverhältnissen vor Ort zu realisieren. Ein genauerer Blick auf die Biographien der beiden nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere auf Krahelskas Engagement in der POW und Stempowskis Engagement in der Piłsudski-nahen Prometheistenbewegung, offenbart jedoch eine wesentliche Gemeinsamkeit. Trotz ihrer unterschiedlichen politischen Haltungen, Krahelska galt als radikale Verfechterin eines polnischen Sozialismus, Stempowski als Anhänger der sozial-liberalen Ideen Edward Abramowskis, galten beide Personen als Vertreter einer immer vielschichtigeren Anhängerschaft um den Staatsgründer. Mit ihrer Mitgliedschaft in der PPS traf dies auf Krahelska auch formal zu, während Stempowski zwar kein Mitglied der PPS war, aber „für immer“ ein Sympathisant der Partei, wie er in seinen Memoiren schreibt.²²⁹
Stempowski, Pamie̜tniki (1870 – 1914), S. 244.
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Die biographische Heterogenität gilt für die Intelligenz-Narrative in den Autobiographien der beiden nur eingeschränkt. Beide Personen setzten sich mit ihrer adeligen Herkunft kritisch auseinander und sind somit gute Beispiele für den spezifischen Adel-Intelligenz-Konnex, der die polnische Intelligenz der Teilungszeit auszeichnete. Die Autorin und der Autor zogen jedoch unterschiedliche Konsequenzen aus ihrer Zugehörigkeit zum Adel. Krahelskas Intelligenz-Narrativ zeichnete sich durch ein emanzipatorisches Erzählschema von der Adeligen hin zur Revolutionärin aus. Stempowski wiederum entwarf etwa mit dem Verweis auf den aufständischen Vater oder mit der Erinnerung an die eigene Tätigkeit als Großgrundbesitzer in der Vorkriegszeit eine Intelligenz-Erzählung, die über deutliche Anknüpfungspunkte zum polnischen Landadel verfügte. Seine Erzählung fällt im Vergleich zu der Krahelskas diesbezüglich deutlich ambivalenter aus. Die Unterschiede im Intelligenz-Narrativ kamen demnach in der unterschiedlichen weltanschaulichen Haltung der beiden zum Ausdruck. Während Krahelska sich in ihrer Erzählung wiederholt auf ihre sozialistische Haltung und auf ihre gemeinsamen polnisch-russischen Wurzeln berief, stellte Stempowski sein eigenes Handeln rückblickend in ein komplexeres politisches Weltbild, das durchaus sozialistische Elemente in sich trug, aber ebenso auch liberale und volkstümliche Elemente beinhaltete. Anders als etwa Studnicki stellte Stempowski seine Bewunderung für die Ideen und Schriften russischer Intellektueller wie Lev Tolstoj in seinen Memoiren offen zur Schau und benannte diese selbstbewusst als Wurzeln seines sowie des Denkens der polnischen Intelligenz in der späten Teilungszeit. Damit ist die Frage der Darstellung der russisch-imperialen Erfahrung bei Krahelska und Stempowski angesprochen. Der anti-imperiale Konsens der polnischen Intelligenz wurde von beiden Autoren gepflegt. In Krahelskas Memoiren kam dieser insbesondere in ihren Selbstdarstellungen einer Ausgestoßenen in der Gefangenschaft und der Verbannung zum Ausdruck und gipfelte in der Solidarisierungserzählung mit den kriminellen Gefangenen. Bei Stempowski fanden sich insbesondere in den Beschreibungen seiner Studienzeit in Dorpat sowie über seine ukrainische Periode Darstellungen russischer Imperialität als Fremdherrschaft. Ein anti-imperiales Narrativ äußerte sich darüber hinaus in seinen negativen Äußerungen zum Deutschen Reich und seinen positiven Äußerungen über die griechischen Aufständischen im Türkisch-Griechischen Krieg 1896 anlässlich seiner Reise durch Frankreich, Deutschland und die österreichischen und deutschen Teilungsgebiete Polens hindurch.²³⁰ Anders als bei Krahelska wurden diese Beschreibungen an Zukunftsvisionen eines nationalen Projekts zur Überwindung
Vgl. Stempowski, Pamie̜tniki (1870 – 1914), S. 198, 207.
4.3 Zusammenfassung
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der russischen Imperialherrschaft durch die Polen rückgebunden. Stempowski benannte in ihnen kritisch die ungleichen Beziehungen zwischen einer reflexhaften polnischen Intelligenz und einer imperialistischen russischen Intelligenz. Stempowskis Vorwürfe an die russische Seite erinnern an ähnliche Beschreibungen Studnickis, wenngleich Stempowski sich in seinen Memoiren explizit von nationalistischen, also auch anti-russischen Positionen der polnischen Intelligenz distanziert. Die Erlebnisse der Autobiographin und des Autobiographen in der Russischen Revolution 1917 und im Bürgerkrieg in der Ukraine unterschieden sich deutlich voneinander. Stempowski wurde in der Revolution zu einem besitzlosen Vertriebenen und Bürgerkriegsflüchtling, für Krahelska war das Ende der Zarenherrschaft gleichbedeutend mit dem Ende der eigenen Verbannung. Sie sollte zu einer aktiven Mitwirkenden der Revolution über den Oktoberumsturz der Bolʼševiki hinaus werden. Diese grundlegend unterschiedlichen Erfahrungen der Russischen Revolution manifestierten sich bei beiden in verschiedenen Haltungen zur Frage der östlichen Polonität und in verschiedenen Bewertungen der polnisch-russischen Beziehungen. Stempowski entwarf die Vorstellung einer modernen östlichen Polonität, die im Gedanken einer gegenseitigen Anerkennung der nationalen Bestrebungen in den polnischen Ostgebieten jenseits des polnischen Dominanzanspruchs wurzelte. Sein autobiographischer Entwurf einer solchen Idee griff damit der ULB-Konzeption, wie sie Giedroyc und Mieroszewski in der Kultura nach 1945 entwickelten, zeitlich vor. Miłosz machte in einem Gespräch mit Michnik darauf aufmerksam, dass Stempowskis Denken gar die Grundlage für die Ideen der Kultura von einem besseren Verhältnis Polens zur Ukraine, Litauen und Belarus bildete: Giedroyc represented the continuing presence of the old republic [Polnisch-Litauische Union, M.-B.]. He was enormously interested in the question of Ukraine, Belarus and Lithuania. Giedroyc actually published books in Ukrainian […] dealing with the Stalinist terror and the destruction of the Ukrainian intelligentsia. I would say, that Giedroyc was to a large extent the heir of Stanisław Stempowski, Maria Dąbrowska’s life-long companion.²³¹
In Krahelskas Memoiren hingegen ließen sich Züge einer modernen Polonität, die den Osten gleichfalls berücksichtigten, nicht ausmachen. Wenngleich im russisch-imperialen Odessa sozialisiert und in der Zeit des Russischen Bürgerkriegs im jüdisch-russisch-ukrainisch geprägten Odessa wohnhaft, finden sich in ihren
Adam Michnik: One Has to Rise Early in the Morning: A Conversation with Czesław Miłosz, in: Adam Michnik: Letters From Freedom. Post-Cold War Realities and Perspectives, hg. von Irena Grudzińska-Gross, Berkeley 1998, S. 184– 222, hier S. 206.
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4 Erzählungen russisch-imperialer Erfahrung im Kontext neuer Ideologien
Memoiren wenig Anhaltspunkte für Ideen einer den östlichen (nicht-russischen) Nachbarn zugewandte Polonität. Zwar kritisierte die Autorin mehrfach die Rolle des polnischen Landadels als Besitzwahrer der eigenen Interessen und als loyale Gruppe der russisch-imperialen Eliten, zur Frage der Neugestaltung der polnischen Beziehungen zum Osten äußerte sie sich dabei jedoch nicht genauer. In Krahelskas Memoiren führte der Blick in den Osten vor allem über Sowjetrussland und über die Geschichte einer gemeinsamen polnisch-russischen revolutionären Bewegung. Es waren die Erlebnisse als Zeitzeugin und als Mitgestalterin des revolutionären Russlands, die die Autorin zum Anlass einer modernen sowjetophilen und linken Polonität nahm. Dabei thematisierte sie weder die widersprüchliche Politik der PPS bezüglich der Ukraine, die mehrheitlich Piłsudskis Wunsch nach der Einhegung des sowjetischen Russlands im Polnisch-Sowjetischen Krieg folgte, noch die verbreitete anti-sowjetische Haltung in der POW. Diesbezüglich ist die Frage nach der Rolle des revolutionären oder des sowjetischen Russlands in Stempowskis Ostdenken und deren Darstellung in den Memoiren aufschlussreich. In der Analyse wurde deutlich, dass der Autor, basierend auf seiner Vertreibungserfahrung durch russische Deserteure, eine ideologische Frontlinie zwischen einer westlich orientierten Ukraine, der er sich verpflichtet sah, und einem imperialen und bolschewistischen Russland errichtete. Stempowskis Haltung diesbezüglich hatte zur Folge, dass der Autor in seiner Erzählung über sein Engagement für die ländliche ukrainische Bevölkerung implizit an Ideen der polnischen Romantiker als Zivilisatoren des Ostens anknüpfte und letztlich ein ambivalentes Selbstbild von sich als Lehrer oder als Patriarch zeichnet. Polen wurde in Stempowskis Autobiographie zu einem Anwalt der Ukraine vor Europa und vor Russland – der Autor setzte demnach die Meistererzählung der polnischen Romantiker von Polen als Avantgarde der Freiheitsbewegung im östlichen Europa fort. Es wird zu zeigen sein, inwiefern sich diese oder ähnliche Konstellationen auch in anderen Memoiren der polnischen Intelligenz aus der Nachkriegszeit wiederfinden. Bei einer vergleichenden Betrachtung der Memoiren von Krahelska und Stempowski sind einmal mehr der unterschiedliche zeitliche Entstehungskontext – die Zeiterfahrung der Schreibenden – und die veränderten Rahmenbedingungen zu benennen, in denen beide Memoiren entstanden sind. 1934, als Krahelska ihre Memoiren publizierte, näherten sich Polen und die Sowjetunion in ihren Außenbeziehungen bereits an. Zwei Jahre zuvor hatten beide Staaten bereits einen Nichtangriffspakt beschlossen, dem 1934 ein deutsch-polnischer Nichtangriffspakt folgte. Zwar wurde besonders von konservativer Seite die Sowjetunion als Feindbild polnischer Staatsräson weiterhin gepflegt, dazu trugen unter anderem Reiseberichte wie etwa der Essay Denken in Fesseln von Stanisław Mackiewicz bei, aber gerade unter den jüngeren Anhängerinnen und Anhängern der
4.3 Zusammenfassung
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linken polnischen Intelligenz gewann das Gesellschaftsmodell der Sowjetunion vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise, die Polen besonders hart traf, an Attraktivität.²³² Als Krahelskas Memoiren erschienen, wurde vor allem die beeindruckende wirtschaftliche Stärke der Sowjetunion, die ab 1929 einen mit Fünfjahresplänen forcierten massiven wirtschaftlichen Umbau des Landes propagierte, wahrgenommen. Erst nach Erscheinen ihrer Memoiren rückten, mit der Ermordung von Sergej Kirov im Dezember 1934, den anschließend einsetzenden Säuberungen in der Staatspartei sowie den Schauprozessen in Moskau 1936 bis 1938 rückten gewalthafte Herrschaftsformen in der Sowjetunion wie Terror, Massenverhaftungen und die sowjetischen Arbeitslager ins Wahrnehmungsfeld der Gesellschaften Europas und des Westens.²³³ Berücksichtigt man diesen Kontext, zeigt sich, dass Krahelskas Memoiren ein Spiegelbild dieses Wandels in den polnisch-sowjetischen Beziehungen darstellten und im Vergleich zur übrigen intelligenten Autobiographik der Zwischenkriegszeit ein ausnehmend positives Bild Sowjetrusslands skizzierten. In dieses Bild passt, dass Krahelskas Aufzeichnungen nicht so sehr als Memoiren wahrgenommen wurden, sondern in der Presse als literarisches Dokument gefeiert wurden. Stempowskis autobiographische Schriften entstanden demgegenüber in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und wurden erst 19 Jahre später postum und lediglich in zensierten Auszügen publiziert. Unzensierte Auszüge folgten gar erst 1972 und 1973 in der Exilzeitschrift Zeszyty Historyczne. Erinnert sei zudem an Stempowskis Flucht zu Beginn des Krieges mit Dąbrowska gemeinsam in die sowjetische Besatzungszone und an seine Rückkehr 1940 in das von den Deutschen besetzte Warschau. Der Entstehungskontext von Stempowskis autobiographischen Schriften unterscheidet sich somit deutlich von dem von Krahelskas Memoiren und schlägt sich letztlich in einer ambivalenteren Darstellung der polnisch-russischen Thematik bzw. der Thematik des polnischen Ostens nieder. Neben der Bürgerkriegserfahrung in der Ukraine und der Vertreibung vom eigenen Gut in Podolien zeichnet sich Stempowskis Erfahrungshorizont auch durch das Wissen um und die Zeugenschaft der gewalthaften Besetzung Polens durch das nationalsozialistische Deutschland und das sowjetische Russland aus. Während die Staatslosigkeit bei Krahelska als Ausgangspunkt der eigenen Erzählung fungierte, an deren Ende die (von den polnischen und russischen Sozialisten gemeinsam erkämpfte) Unabhängigkeit stand, bestimmte die Gegen Vgl. Sielezin, Obraz Rosji i Rosjan w polskiej opinii publicznej, S. 178. Zu Mackiewiczs Reisebericht vgl. Stanisław Mackiewicz: Myśl w obcęgach. Studja nad psychologią społeczeństwa Sowietów, Warszawa 1931. Vgl. Lutz Raphael: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914– 1945, München 2011, S. 215.
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wart der doppelten Besetzung Polens das autobiographische Schreiben Stempowskis. Die zeitgenössische Gegenwart polnischer Staatslosigkeit bildete die Ausgangsbedingung für Stempowskis Autobiographie. Insofern sind seine autobiographischen Aufzeichnungen auch als Momentaufnahme einer polnischen Intelligenz in der Krise zu lesen, die mit dem Ende der Zweiten Republik 1939 auf ihre Gründungsgeschichte in der Zeit des imperialen Zeitalters zurückgeworfen war und sich von nun an mit der Frage des Scheiterns des polnischen Staates der Zwischenkriegszeit sowie mit der Frage der Schuld der polnischen Intelligenz daran auseinandersetzen musste. Der Autobiograph verfügte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, anders als Krahelska zehn Jahre zuvor, sehr wohl über ein umfassendes Wissen über die Gewalthaftigkeit des sowjetischen Regimes und die verheerenden sozialen Folgen seiner Industrialisierungs- und Modernisierungspolitik sowie letztlich auch über die tragischen Folgen für die polnische und ukrainische Bevölkerung des sowjetisch besetzten Ostpolens. Stempowskis Memoiren definierten somit eine Haltung der Intelligenz zur Sowjetunion, hinter die es auch nach dem Krieg kein Zurück mehr geben sollte. Vor dem Hintergrund der polnischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs konnte Krahelskas Entwurf einer sowjetophilen Polonität im globalpolnischen Nachkriegsdiskurs außerhalb der PRL auf keinerlei Resonanz stoßen, wie im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird. Stempowski nahm seinerseits die Grundzüge einer intelligenten Haltung in der Nachkriegszeit zum sowjetischen Russland, aber auch die Haltungen und Widersprüche der polnischen Intelligenz zur zukünftigen Bewertung des polnischen Ostens mit seiner Autobiographie vorweg. Auch deshalb waren seine in den Zeszyty Historyczne veröffentlichten unzensierten Auszüge aus den Memoiren für das polnische Pariser Exil von so großer Bedeutung. Krahelskas tragischer und vorzeitiger Tod im Konzentrationslager Ravensbrück am 19. April 1945 nahm ihr wiederum die Möglichkeit, sich später in den veränderten Bedingungen im Nachkriegspolen zu diesen Fragen äußern zu können. Möglicherweise kann die im folgenden Kapitel zu besprechende Autobiographie von Władysław Uziembło, Mitglied der PPS FR und wie Krahelska ein gestaltender Akteur aufseiten der Russischen Revolution über den Oktober 1917 hinaus, Aufschluss über die Haltung der intelligenten Generation der Revolutionäre in der PRL zu diesen Fragen geben. Nur wenige Tage nach Krahelskas Tod, am 30. April, wurde Ravensbrück von Soldaten der Roten Armee befreit.²³⁴ Inwiefern die Erlebnisse des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung Krahelskas aus
Vgl. Annette Leo: Ravensbrück – Stammlager, in: Der Ort des Terrors: Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück, hg. von Wolfgang Benz und Barbara Distel, Bd. 4., München 2006, S. 473 – 519, hier S. 514.
4.3 Zusammenfassung
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dem Lager durch die sowjetischen Truppen Einfluss auf ihre Verortung im ideologischen Spektrum der polnischen Intelligenz sowie auf das Schreiben nach dem Krieg hätten haben können, muss unbeantwortet bleiben. Ihre pro-sowjetische Haltung, ihr Engagement für die Demokratische Partei vor dem Krieg und für die Untergrundpresse der PPS deuten jedoch daraufhin, dass sich Krahelska wohl nach dem Krieg zunächst im kommunistischen Polen wiedergefunden hätte.²³⁵ Ein vergleichender Blick auf die Publikationsgeschichten von Krahelskas und Stempowskis Memoiren deutet den Möglichkeitswandel der polnischen intelligenten Autobiographik vor und nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. die komplexeren und zugleich kleineren Gestaltungsräume der Intelligenz nach 1945 an. Musste sich Krahelska mit ihrer Veröffentlichung 1934 lediglich innerhalb des polnischen gesellschaftlichen Diskurses der späten Zwischenkriegszeit behaupten und blieb die polnische Intelligenz in diesem durchaus bedeutsam und eine wichtige Stimme, offenbarte sich in dem Kampf um Stempowskis autobiographische Interpretation des frühen 20. Jahrhunderts, symbolisiert durch das Ringen zwischen Maria Dąbrowska und Jerzy Stempowski oder zwischen exilpolnischer Öffentlichkeit und volkspolnischer Staatsöffentlichkeit, bereits die Krise der polnischen Intelligenz nach 1945. Zurückgeworfen auf ihre neue Rolle in zwei ideologisch separierten Öffentlichkeitsräumen blieben deren Repräsentantinnen und Repräsentanten im Westen ein anti-kommunistisches Korrektiv ohne größeren Einfluss. Im Land selbst wurden die verbliebenen Angehörigen der Intelligenz, die sich nicht mit den neuen Gesellschaftsstrukturen abfanden, an den gesellschaftlichen Rand gedrängt und blieben in der Folge ohne Gehör. Die exilpolnische Intelligenz wiederum sah sich nun gezwungen, sich im Wettbewerb der polnischen (und pro-sowjetischen) und der internationalen Öffentlichkeit in West und Ost neu zu verorten und zu definieren.²³⁶ Dieses Dilemma sollte sich in der Autobiographik der polnischen Intelligenz der Nachkriegszeit verstärkt abbilden und den autobiographischen Blick nach Russland und nach Osten bestimmen.
Vgl. Ptak, Art, S. 87. Vgl. Korek, In the Face of the West and the East, S. 236.
5 Intelligenz in der Krise: Erzählungen russisch-imperialer Erfahrung im Schatten des „Kalten Krieges“ Die politische und gesellschaftliche Entwicklung Polens erlebte mit den Ereignissen von 1956 eine wichtige Zäsur, gleichbedeutend mit dem Ende der stalinistischen Nachkriegsordnung. Diese war geprägt von der Errichtung eines diktatorischen Ein-Parteien-Regimes, vom Wiederaufbau und der industriellen Modernisierung Polens, die aber auf Kosten einer eines vergleichsweise niedrigen Lebensstandards für die polnische Bevölkerung realisiert wurde.¹ Erst gegen Mitte der fünfziger Jahre ließ sich ein bescheidener Anstieg in der Lebensqualität vor allem der städtischen Bevölkerung feststellen. Mit ihm ging die Wahrnehmung einer allmählichen und vorsichtigen Öffnung des Herrschaftssystems einher, die vor allem aus einer politischen Stabilisierung des Ein-Parteien-Regimes um die PZPR resultierte. Innerhalb der Staatspartei fand in dieser Zeit ein Machtkampf zwischen dem Lager stalinistischer und Moskau-getreuer Kommunisten aus der Zwischenkriegszeit um Bolesław Bierut (1892 – 1956) und Jakub Berman auf der einen Seite und einem weitaus heterogeneren Lager national orientierter Kommunisten um den 1951 verhafteten und 1954 aus der Haft entlassenen Stanisław Gomułka auf der anderen statt. Gomułka sollte schließlich die in Moskau von Nikita Chruščev (1894 – 1971) eingeleitete Periode des Tauwetters und der Entstalinisierung sowie die in Polen aufkommenden Unruhen und Proteste, die 1956 im Sommer im Arbeiteraufstand von Poznań mündeten, nutzen, um sich als neuer Parteichef und als Hoffnungsträger einer von großen Teilen der Gesellschaft gewünschten Liberalisierung der polnischen Gesellschaft zu profilieren.² Für die Intelligenz, die unter Bierut anders als in den anderen ostmitteleuropäischen Ländern zwar unterdrückt, aber nicht systematisch verfolgt worden war, bedeutete 1956 ebenso eine Zäsur – anders jedoch, als dies für die übrige Bevölkerung galt. Bereits gegen Ende der vierziger Jahre war ein Privilegiensystem für Parteifunktionäre etabliert, das vielen Repräsentantinnen und Repräsentanten der polnischen Intelligenz trotz der erzwungenen Vereinigung der sozialistischen PPS und der aus der Sowjetunion importierten Polska Partia Robotnicza (PPR, Polnische Arbeiterpartei) zur Einheitspartei PZPR 1948 attraktiv genug erschien, so dass diese sich in die bestehenden politischen Verhältnisse integrierten.³ Bo-
Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 283. Vgl. ebd., S. 299. Vgl. ebd. https://doi.org/10.1515/9783110642124-008
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rodziej macht darauf aufmerksam, dass die Transformation der Intelligenz in „einen staatstreuen und systemfördernden Akteur […] ein Novum in der polnischen Geschichte“ darstellte.⁴ Gomułkas Machtübernahme wurde nicht nur von der Intelligenz im Lande enthusiastisch aufgenommen, teilweise aber auch von den Anhängern der Intelligenz im Pariser Exil. Anders als die polnische emigrierten Kreise in London erhofften sich die Akteure der Pariser Kultura von den Entwicklungen im Land nicht so sehr eine Liberalisierung von oben, sondern setzten vielmehr auf die Kräfte einer gesellschaftlichen Bewegung, die die Staatspartei zu Zugeständnissen zwang und so langsam zu einer Demokratisierung Volkspolens führen sollte. Verschiedene Optionen, wie die von Korek als „pan-europe“ bezeichnete Idee einer Föderation der Staaten Ostmitteleuropas und der Sowjetrepubliken Belarus und Ukraine sowie die Idee von Ostmitteleuropa als drittem Ort, die sich im Neutralitätsbegriff manifestierte, wurden dabei diskutiert.⁵ Ein wesentlicher Gedanke blieb dabei stets die Erwartung eines demokratischen Sozialismus: „This was obviously not about acceptance of the real Soviet or ‚Polish‘ socialism but about the calculation that the democratic socialism of the West could become a factor in liberalising the Communist system.“⁶ Wenngleich sich die Hoffnung von der Veränderung der geopolitischen Lage Polens auf diesem Wege nicht erfüllen sollte, registrierte der Kreis der Kultura in den folgenden Jahren aufmerksam die Veränderungen in den Machtverhältnissen und die neuen Ideen innerhalb der Staatspartei. Die Exilierten um Giedroyc bemühten sich um verschiedene direktere Kommunikationswege mit der Intelligenz in Polen selbst sowie mit den Exilmilieus der russischen, der ukrainischen oder der baltischen Gruppen in der westlichen Welt.⁷ Die Ereignisse der Proteste an den polnischen Hochschulen im März 1968 und die dann folgende (zwangsweise und) massenhafte Ausreise jüdischer Angehöriger der Intelligenz mündeten in eine landesweite oppositionelle Bewegung, in der sich sowohl ältere als auch jüngere Jahrgänge der polnischen Intelligenz betätigten. Oppositionelle Repräsentantinnen und Repräsentanten der Intelligenz rekrutierten sich aus der seit Mitte der fünfziger Jahre stark angewachsenen Zahl der Universitätsangehörigen, Publizistinnen und Publizisten sowie aus anderen sogenannten „geistigen Arbeitern“.⁸ Die von einer Vielzahl unterschiedlicher regionaler und sozialer Gruppen getragene Bewegung, in der das Komitet Obrony Robotników (Komitee zum Schutz der Arbeiter) eine Vor
Ebd., S. 291. Korek, In the Face of the West and the East, S. 250. Ebd., S. 253. Vgl. ebd., S. 255. Żarnowski, Inteligencja Polska 1944– 1989, S. 475.
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rangstellung einnahm, erschuf in den folgenden Jahren bis zur Gründung der Gewerkschaft Solidarność (Solidarität) einen autonomen öffentlichen Kommunikationsraum mit Verlagen, Untergrund-Universitäten und einer freien Presse. Die Aktivitäten des sogenannten drugi obieg (zweiter Umlauf) richteten sich direkt gegen das vorherrschende Meinungsmonopol der Staatspartei, wenngleich dieses über den gesamten Zeitraum bis 1989 über weitaus größere Ressourcen verfügte als der drugi obieg. ⁹ Die Ereignisse im Land hatten auch Folgen für die Entwicklung im Exil selbst. Die Gruppe um Kultura wendete sich nach 1968 stärker als zuvor der im Entstehen begriffenen oppositionellen Bewegung im Land zu und gestand ein, dass sich Gomułka und die liberalen Kräfte in der PZPR nicht als diejenigen Reformkräfte erwiesen hatten, die die Gruppe in ihnen zu erblicken geglaubt hatte, wie Korek schreibt: „The programme of the revisionists did not contain (or foresee) a democratic order or the demands for national independence.“¹⁰ Letztlich agierten die verschiedenen Akteure im Exil, in der Staatspartei und in der Opposition in einer Vielzahl von öffentlichen Räumen und schufen so ungewollt einen Komplex globalpolnischer Resonanzräume, wie dieses Phänomen hier in Anlehnung an Maubach und Morina genannt werden soll, die geprägt waren von Machtasymmetrien, Interdependenzen und Öffentlichkeitskonkurrenzen. Beide Autorinnen betonen neben den „grenzüberschreitende[n] Kontaktweisen“ und Berührungspunkte[n]“ den „textlich-intellektuellen Widerhall“ des Resonanzbegriffs, der für die historiographische Erzählung eine „genuin ideengeschichtliche Dimension“ eröffne.¹¹ Auf die intelligente Autobiographik in den drei Öffentlichkeiten wirkte sich diese Gemengelage gleichsam aus. Ähnlich wie im Falle der DDR-Zeitgeschichte musste sich die intelligente Autobiographik in Volkspolen mit Fragen des Erzählbaren und in der Folge mit der Zensur auseinandersetzen.¹² Gleiches gilt in umgekehrter Logik für die intelligente Autobiographik des drugi obieg, die zuallererst auf ihre Eigenschaft als Gegen-Öffentlichkeit zurückgeworfen war und ihre Narrative in der Auseinandersetzung mit dem Kanon der Staatsöffentlichkeit entwarf.¹³ Weitaus früher als der drugi obieg setzte sich das Exil in London, Paris und den USA nach der Machtübernahme Gomułkas mit der Frage der moralischen Führerschaft im globalpolnischen Kontext und in der internationalen Öffentlichkeit auseinander. Abhängig
Vgl. Agnes Arndt: Intellektuelle in der Opposition. Diskurse zur Zivilgesellschaft in der Volksrepublik Polen, Frankfurt am Main 2007, S. 53 f. Korek, In the Face of the West and the East, S. 257. Maubach, Morina, Historiographiegeschichte als Erfahrungs- und Resonanzgeschichte, S. 20. Vgl. dazu ausführlich Romek, Cenzura a nauka historyczna w Polsce 1944– 1970. Vgl. Feindt, Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft, S. 63.
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war diese einmal von der internationalen Anerkennung der polnischen Exilregierung als legitime Vertretung Polens, wie dies zumindest bis 1949 noch Spanien, Irland, der Vatikan, Libanon und Kuba getan hatten, und vom antikommunistischen Konsens des Westens.¹⁴ Dieser wurde jedoch bereits Mitte der fünfziger Jahre nach dem Tod Stalins 1953 von der containment-Politik der Westmächte abgelöst, die der polnischen Exilregierung nur mehr die Rolle eines Symbols der durch die Sowjetunion unterdrückten Nationen zuwies und das polnische Exil zu einer nachgeordneten Kraft im Ringen zwischen den USA und der Sowjetunion um die Deutungshoheit in einer internationalen Öffentlichkeit degradierte.¹⁵ Lediglich die Pariser Gruppe um Kultura war in der Folgezeit in der Lage, sich aus dem Dilemma einer anti-kommunistischen wie auch anti-russischen Haltung und des gleichzeitigen Festhaltens an einer Vorstellung Polens in den Grenzen von vor 1939 zu lösen sowie den Westzentrismus, der insbesondere das Londoner Exil auszeichnete, aufzugeben und sich den reformistischen, später dann den oppositionellen Kräften in Polen selbst hinzuwenden.¹⁶ Der programmatische Wandel im Pariser Exil hatte eine veränderte Haltung zur Sowjetunion und zum Osten zur Folge, die in der polnischen Forschung gern verkürzt als ULB-Konzeption benannt wird und Russland so scheinbar außen vor lässt. Die Konzeption beinhaltete das Postulat der nationalen Autonomie für die Ukraine, Litauen, Belarus sowie die Forderung nach Anerkennung nationaler Selbstbestimmung seitens Polens und der Sowjetunion.¹⁷ Die im Folgenden zu besprechenden Autobiographien von Władysław Uziembło, dessen Erinnerungen 1965 in der PRL erschienen, von Paweł Jasienica, dessen Memoiren posthum erstmals im drugi obieg publiziert wurden, sowie von Stanisław Swianiewicz, der seine vor 1989 geschriebenen Kindheitsmemoiren erst 1996 noch im Exil lebend veröffentlichte, sind Beispiele einer intelligenten Autobiographik nach 1956 zwischen Zensur und Öffentlichkeitskonkurrenz. Sie alle waren Beiträge im Resonanzkomplex eines globalpolnischen Diskurses. Ihre Narrative waren von den genannten Verflechtungen und Asymmetrien des globalpolnischen Diskurses sowie von den Beschränkungen einer gelenkten Staatsöffentlichkeit geprägt. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich die Bedingungen des Schreibens auf die intelligente Autobiographik, die
Vgl. Machcewicz, Das polnische Exil im Spannungsfeld der internationalen Politik in der Zeit des Kalten Kriegs, S. 12, 14. Vgl. ebd., S. 26. Vgl. Andrzej Friszke: Polen und Europa – Der Einfluß der Pariser Kultura auf das polnische Denken, in: Die polnische Emigration und Europa 1945 – 1990. Eine Bilanz des politischen Denkens und der Literatur Polens im Exil, hg. von Łukasz Gałecki und Basil Kerski, Osnabrück 2000, S. 35 – 57, hier S. 39. Vgl. etwa Waskan, Kresy wschodnie i koncepcja ULB w stosunkach polsko-rosyjskich.
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darin transportierten Darstellungen des Russischen Imperiums und Vorstellungen des Ostens und nicht zuletzt auf das Selbstbild der polnischen Intelligenz auswirkten.
5.1 Władysław Uziembło (1887 – 1980): Über die Grenzen und Spielräume intelligenter Autobiographik im kommunistischen Polen Zur Biographie: Wer war Władysław Uziembło? Der 1887 im russischen, etwa 150 Kilometer von Moskau entfernten Pokrovskoe bei Kimry geborene Władysław Uziembło kam als einer von drei Söhnen des polnischen Sozialisten Józef Uziembło (1854– 1918) und der russischen Landadeligen und Ärztin Ekaterina Golovačova zur Welt. Damit gehört Władysław Uziembło zu den wenigen Ausnahmen unter den hier besprochenen Autorinnen und Autoren, die nicht den ehemals polnischen Ostprovinzen entstammen. Uziembło bildet auch in anderer Hinsicht eine Ausnahme. Im Vergleich zu den relativ begüterten Elternhäusern, denen die anderen hier vorgestellten Autorinnen und Autoren angehörten, wuchs der Autor in einfachen materiellen Verhältnissen auf und verbrachte Teile seiner Jugend im österreichisch-galizischen Lemberg in der Obhut seiner russischen Mutter, während der Vater, der unter anderem Mitglied in der ersten polnischen sozialistischen Partei Proletariat gewesen war und zu den Aktivisten der ersten Stunde in der PPS gehört hatte, bis 1901 in der russischen Verbannung verblieb. Der Umzug der Familie Uziembło von Pokrovskoe nach Lemberg im Alter von etwa 13 Jahren diente dem Autor zufolge dazu, dass die Kinder eine polnisch-patriotische Erziehung erhalten sollten. Władysław Uziembło schreibt dazu ausführlich: Unsere Mutter – eine Russin aus dem Hause Golovačov und Tochter eines Aktivisten der russischen Befreiungsbewegung zu Zeiten Gercens und Černyševskijs – teilte die Meinung des Vaters [Józef Uziembło, M.-B.], dass angesichts der Russifizierungspolitik des Zarentums die Kinder im Geiste eines polnischen Patriotismus erzogen werden und alles getan werden sollte, damit wir Polnisch lernten.¹⁸
Władysław Uziembło: Wspomnienia 1900 – 1939, Warszawa 1965, S. 13. Aleksandr Gercen (1812– 1870), russischer Schriftsteller und Publizist. Nikolaj Černyševskij (1828 – 1829), Literat und ebenfalls Publizist. Beide stehen für die Suche nach einem russischen Weg zum Sozialismus. Vgl. Möbius, Russische Sozialutopien von Peter I. bis Stalin, S. 143.
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Uziembło schloss seine schulische Ausbildung an einer Industrieschule in Lemberg 1905 ab. Inmitten der revolutionären Unruhen im Russischen Imperium und im Königreich Polen entschloss er sich danach zum Weggang aus Lemberg ins innere Russland und verbrachte die Endphase der Revolution im heimatlichen Pokrovskoe bei Kimry. Dort knüpfte er erste Kontakte zur russischen revolutionären Bewegung, um sich anschließend in Warschau gemeinsam mit dem Vater in der PPS zu engagieren.¹⁹ Wahrscheinlich war er seinem Bruder nach Kimry gefolgt, der sich bereits 1905 der russischen revolutionären Bewegung angeschlossen hatte und dort recht erfolgreich die lokale Administration durch linke revolutionäre Kräfte ersetzt hatte.²⁰ Adam Uziembło (1885 – 1971), wie Władysław ebenfalls Mitglied der PPS, kämpfte während des Ersten Weltkriegs in den Reihen des österreichisch-ungarischen Militärs und als Mitglied der Piłsudski nahestehenden Legionen. Nach dem Ersten Weltkrieg blieb er ein ein Getreuer des Marschalls und ging nach dem Zweiten Weltkrieg ins Londoner Exil. Er schrieb unter anderem für Kultura, erst kurz vor seinem Tod 1970 kehrte Adam Uziembło nach Volkspolen zurück.²¹ Für beide Brüder stellten die Ereignisse der Revolution von 1905 und die Reaktion der Autokratie eine wesentliche Erfahrung des Erwachsenwerdens dar. In Warschau hatte Władysław Uziembło gleichfalls die Spaltung der Partei in einen rechten nationalen Flügel älterer Parteiangehöriger, in die PPS FR, dem unter anderem Aktivisten wie Józef Pilsudski, Bolesław Limanowski und Leon Wasilewski angehörten, und in einen linken Flügel der PPS Lewica erlebt, die vor allem jüngere Anhänger eines stärkeren Zusammengehens russischer und polnischer Kräfte in der revolutionären Bewegung versammelte. Letzterer sollte sich mit seinen Zielen, der Unabhängigkeit Polens und einem Anti-Kriegsprogramm, angesichts der veränderten internationalen Lage nach der Russischen Revolution 1917 zunehmend marginalisieren und 1918 schließlich gemeinsam mit der internationalistischen SDKPiL in der polnischen kommunistischen Partei KPP aufgehen. Demgegenüber fungierte die PPS FR als Sammelbecken zur Formierung paramilitärischer Kräfte und von Freiwilligenverbänden, aus denen 1914 die Polnischen Legionen hervorgehen sollten, und blieb ihrem Ziel eines bewaffneten Aufstands in einem möglichen europäischen Krieg auch im Verlauf des Ersten Weltkriegs verpflichtet.²² Uziembło selbst blieb, übrigens ähnlich wie Halina
Vgl. Józef Marczuk: Art. Uziembło Władysław, in: Słownik biograficzny miasta Lublina, hg. von Tadeusz Radzik, Jan Skarbek und Adam Andrzej Witusik, Lublin 1993, S. 273 – 274, hier S. 273. Vgl. Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 42. Vgl. Adam Uziembło: Niepodległość socjalisty, Warszawa 2008. Vgl. dazu Marian Kamil Dziewanowski: Social Democrats vs. „Social Patriots“: The Origins of the Split of the Marxist Movement in Poland, in: The American Slavic and Eastern European
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Krahelska, ein Anhänger des nationalen Flügels, wenngleich er sich wiederholt für ein Zusammengehen aller polnischen revolutionären Kräfte aussprach. 1907 floh der selbsternannte Revolutionär nach Österreichisch-Galizien, um so der Verhaftung durch die russische Geheimpolizei zu entgehen. Er fand sich, nachdem er als Elektromonteur in wechselnden Unternehmen und in verschiedenen Provinzen in Österreich und in Bosnien-Herzegowina tätig gewesen war, 1912 in Sankt Petersburg in Russland wieder.²³ Vor allem persönliche Schicksalsschläge hatten zu dieser Entscheidung geführt, so waren Uziembłos zwei Ehefrauen jeweils bei der Geburt der Kinder verstorben. In beiden Fällen nahm sich Uziembłos Mutter in Pokrovskoe der Betreuung und Erziehung der Kinder an. Mit konspirativen Tätigkeiten innerhalb der PPS hielt sich Uziembło nach seinem Umzug nach Russland weiter zurück und arbeitete stattdessen erfolgreich in Moskau und Sankt Petersburg als Elektromonteur und errichtete Elektrizitätswerke in der Provinz und in den beiden Hauptstädten. Kurz vor Kriegsbeginn war der Autor für das deutsche Unternehmen Siemens-Schuckert tätig. In Russland galt Uziembło interessanterweise offiziell als österreichischer Staatsbürger mit russischer Herkunft, wenngleich er ebenso die russische Staatsbürgerschaft besaß. Diese Konstellation führte dazu, dass Uziembło nach Kriegsausbruch als Kollaborateur zunächst für kurze Zeit inhaftiert wurde und sich nach erfolgloser Arbeitssuche in Sankt Petersburg 1915 in Pokrovskoe niederließ, wo er wegen seiner früheren revolutionären Tätigkeit aus der Zeit der Revolution von 1905 erneut eine Haftstrafe von etwa einem halben Jahr verbüßte.²⁴ Die Februarrevolution und die Ereignisse des Oktoberumsturzes erlebte der Sozialist bereits in Charʼkov, wo er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis eine Anstellung fand und sich mit der Familie niederließ. Die Periode der russischen Revolution bis zur Rückkehr nach Polen 1918 bedeutete für Uziembło die Wiederaufnahme seiner Tätigkeit in der PPS, nun jedoch auf legalem Wege. In Charʼkov trat er für ein Zusammengehen aller sozialistischen Kräfte ein und gehörte zu den Mitbegründern des Zjednoczenie Socjalistyczne Polskie (ZSP, Polnische Sozialistische Vereinigung), einem Verbund der Parteien PPS FR, PPS Lewica und der internationalistischen Partei SDKPiL. Auch in dieser Tätigkeit setzte sich Uziembło, so der Autor in seinen Memoiren, weiter für die Gründung eines pol-
Review 10, H. 1, 1951, S. 14– 25, hier S. 24; Holzer, PPS, S. 41 f. Holzer widmet in seiner in der Volksrepublik Polen erschienenen Studie übrigens einen Großteil seiner Ausführungen zur polnischen Sozialdemokratie vor 1914 der PPS Lewica, während die Piłsudski nahstehende PPS FR lediglich auf einigen wenigen Seiten behandelt wird. Zu den Legionären vgl. Daria Nałęcz: Sen o władzy. Inteligencja wobec niepodległości, Warszawa 1994. Vgl. Marczuk, Art, S. 273. Vgl. ebd.
5.1 Władysław Uziembło (1887 – 1980)
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nischen Staats ein und betonte den Zweiklang von der Unabhängigkeit Polens und der Lösung der sozialen Frage. In seiner kurzen Beschreibung der Jedność Robotnicza (Arbeitereinheit), des Presseorgans des ZSP, führt Uziembło diesbezüglich aus: Die Jedność Robotnicza stellte klar, dass, wer sich nicht am Kampf um die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse beteiligen würde, wer den gegenwärtigen Zustand bewahren wolle, nicht nur nicht neutral, sondern ein Faktor sei, der die soziale und die nationale Befreiung hemme.²⁵
Inwiefern Uziembło ähnlich wie andere Kräfte innerhalb der PPS, wie etwa Ignacy Daszyński der nationalen Frage Vorrang vor der sozialen Frage einräumte, muss an dieser Stelle offenbleiben.²⁶ Keineswegs ein Widerspruch diesbezüglich war jedoch sein Engagement nach dem Oktoberumsturz und dem Einmarsch der Roten Armee in der Ukraine im Winter 1917/1918. Als Mitglied des von den Bolʼševiki eingerichteten Volkskommissariats für Polnische Angelegenheiten war Uziembło in dessen Filiale im nunmehr ukrainischen Charʼkov bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in der Ukraine im April 1918 mit der Betreuung und der Rückführung der polnischen Flüchtlinge aus dem sowjetischen Russland nach Polen betraut. Uziembłos Tätigkeit stimmte dabei mit der Haltung der PPS überein, die sich von der Machtübernahme der Bolʼševiki in Russland die Errichtung eines unabhängigen und demokratischen Polens erhoffte und deshalb Lenins Bolʼševiki und die Rote Armee in der ersten Phase des russischen Bürgerkriegs unterstützte.²⁷ Der Einmarsch der deutschen Truppen nach Charʼkov zwang Uziembło zunächst zum Gang in den bolschewistischen Untergrund und veranlasste ihn und seine Familie im Frühherbst 1918 schließlich zur Flucht nach Lemberg und anschließend nach Lublin. Als Mitglied der PPS beteiligte er sich an der Formierung der Provisorischen Volksregierung unter Ignacy Daszyński, der erstmals am 7. November 1918 die Unabhängigkeit Polens ausrief. In der Folge war der Sozialist an der Gründung eines Lubliner Arbeiterdelegiertenrates nach dem Vorbild der Arbeiter- und Bauernräte in Russland beteiligt und kandidierte darüber hinaus 1919 für den Lubliner Stadtrat.²⁸ Die Frage nach der Initiierung einer Revolution in
Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 149. Vgl. etwa Kerstin S. Jobst: Ignacy Daszyński. Ein Sozialist, polnischer Patriot und transnationaler Akteur vor dem Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 64, H. 3, 2015, S. 380 – 401. Vgl. Holzer, PPS, S. 90. Vgl. Marczuk, Art, S. 273.
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ganz Polen, die zur Veränderung der Produktions- und Eigentumsverhältnisse hätte führen sollen, stellte sich hier nicht, war doch die polnische Gesellschaft in großen Teilen agrarisch geprägt. Zudem blieb die Erlangung und die Verteidigung der Unabhängigkeit Polens angesichts der unsicheren Grenzen in Ost und West und vor dem Hintergrund nach wie vor anwesender deutscher und österreichischer Militärkräfte oberstes Ziel der polnischen Eliten.²⁹ Nachdem Uziembło als Stadtratsmitglied gewählt worden war, entsandte ihn die PPS in das Lubliner Rathaus, wo er im Amt des Vizepräsidenten von Lublin nun auch beruflich einer politisch-administrativen Tätigkeit nachging. 1922 folgte Uziembłos Aufstellung als Kandidat im belarussisch geprägten Polesien anlässlich der bevorstehenden Sejmwahlen. Nach erfolgreicher Wahl gehörte er bis 1927 verschiedenen parteiübergreifenden Initiativen und Kommissionen teil, die sich unter anderem mit Fragen der Forstwirtschaft, dem Aufbau territorialer Verwaltungsstrukturen im ländlichen Raum, aber auch mit den Haftbedingungen und der Lage der politischen Häftlinge in den polnischen Gefängnissen befassten.³⁰ Wie aus seinen Memoiren hervorgeht, sprach sich Uziembło in dieser Position für eine stärkere lokale Selbstverwaltung aus und vertrat diese Position auch während seiner Tätigkeit ab 1927 als entsandtes Stadtratsmitglied und Vizepräsident in Radom und in seiner Zeit als Magistratsmitglied von 1930 bis 1935 in Łódź.³¹ Insbesondere in dieser Frage zeigt sich Uziembłos Loyalität zur PPS. Der Kampf um eine möglichst starke lokale Selbstverwaltung geht auf die Geschichte des Kooperativgedankens zurück, als dessen profiliertester Vertreter Edward Abramowski gelten kann, der ebenfalls Mitglied der PPS war und dessen Denken von der Einsicht in den fehlenden Zugang der polnischen Intelligenz zu den Institutionen des Staats geprägt war.³² Zum anderen entwickelten sich zu Beginn der zwanziger Jahre Vorstellungen einer wachsenden Autonomie der lokalen Selbstverwaltungsorgane gegenüber dem Staat.³³ Diese vor allem von liberalen und sozialistischen Kräften vertretene Auffassung konkurrierte im Laufe der Zwischenkriegszeit mit dem zunehmenden Zentralisierungsanspruch des polnischen Staates nach dem Maiumsturz von 1926 und nach der forcierten Regierungsumbildung mithilfe des Piłsudski-nahen Bezpartyjny Blok Współpracy z Rządem (BBWR, Parteiloser Block
Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 99. Marczuk, Art, S. 274. Vgl. Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 279. Vgl. Hahn, Die Gesellschaft im Verteidigungszustand, S. 37; Micińska, A History of the Polish Intelligentsia, S. 135. Vgl. Hanna Kozińska-Witt: The Union of Polish Cities in the Second Polish Republic 1918 – 1939: Discourses of Local Government in a Divided Land, in: Contemporary European History 11, H. 4, 2002, S. 549 – 571, hier S. 552.
5.1 Władysław Uziembło (1887 – 1980)
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für die Zusammenarbeit mit der Regierung) angesichts der vermuteten Gefahr der Unterwanderung der Lokalorgane durch Repräsentanten der nationalen Minderheiten oder durch Mitglieder der verbotenen KPP.³⁴ Auch Uziembłos Entsendung durch die PPS in die Stadtparlamente von Lublin, Łódź, Radom und schließlich ab 1935 nach Piotrków Trybunalski kann als Versuch verstanden werden, fehlende Selbstverwaltungsstrukturen, die durch die russische Obrigkeit bis 1918 verhindert worden waren, aufzubauen und gegen die zunehmende Durchdringung der kommunalen Ebene durch den polnischen Staat zu verteidigen. Schließlich hatten alle Städte, in denen Uziembło in der Zwischenkriegszeit politisch tätig war, bis 1915 unter russisch-imperialer Herrschaft gestanden. Uziembłos Tätigkeit in den Stadtparlamenten wurde durch das herrschende Sanacja-Regime und die zunehmenden Aktivitäten der Nationalisten behindert. Der Vorwand der Urkundenfälschung wurde genutzt, um ihn 1929 aus dem Stadtrat von Radom zu entlassen und seines Amts als Vizepräsident der Stadt zu verweisen. In der folgenden Zeit arbeitete Uziembło unter anderem in der von Kommunisten und Sozialisten um Bolesław Bierut und Stanisław Tółwiński gegründeten Warschauer Wohnungsbaugenossenschaft Warszawska Wspołdzielnia Mieszkaniowa und anschließend in Gdynia als Planer und Gestalter im Bereich Wohnungsbau des Unternehmens PAGED S.A. ³⁵ Es war wohl die Lockerung der Restriktionen für die lokale Selbstverwaltung seitens des Sanacja-Regimes nach Piłsudskis Tod, die möglich machte, dass Uziembło 1935 von der PPS nach Piotrków in den Stadtrat entsendet werden konnte, um dort bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu arbeiten.³⁶ Neben seiner Tätigkeit als Stadtratsmitglied begann Uziembło ab Mitte der dreißiger Jahre, sich im Czerwone Harcerstwo (CH, Rote Pfadfinderbewegung) und in der Jugendorganisation des Towarzystwo Uniwersytetu Robotniczego (TUR, Gesellschaft der Arbeiteruniversität), einer linken parteiübergreifenden Jugendund Selbstbildungsorganisation zu engagieren, die sich vor allem an jugendliche Arbeiterinnen und Arbeiter wendete, die einem KPP- und PPS-nahen Milieu entstammten. Die parteiübergreifenden Organisationen CH und TUR dienten besonders in den dreißiger Jahren als Rekrutierungsorganisationen für junge Mitglieder der KPP und der PPS und waren zugleich Ausdruck einer generationellen Erneuerung und Radikalisierung innerhalb der polnischen Linken Polens.³⁷ Beide Organisationen arbeiteten auch während des Zweiten Weltkriegs
Vgl. ebd., S. 557. Vgl. Marczuk, Art, S. 274. Vgl. Kozińska-Witt, The Union of Polish Cities in the Second Polish Republic 1918 – 1939, S. 560. Vgl. zu CH und TUR Holzer, PPS, S. 147 f.
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weiter, wurden jedoch nach Kriegsende aufgelöst und nach sowjetischem Vorbild in die neuen staatlichen Jugendorganisationen eingegliedert.³⁸ Über Uziembłos Leben nach 1939 ist nur wenig bekannt, auch seine Memoiren geben darüber keine Auskunft. Aus Józef Marczuks Artikel über Uziembło geht lediglich hervor, dass dieser sich während des Kriegs in Warschau aufhielt. Wie viele andere Vertreterinnen und Vertreter der Intelligenz, die nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nicht ins Exil fliehen konnten, fand sich Władysław Uziembło 1939 im Untergrund wieder und arbeitete dort in einem Fotolabor. Uziembło flüchtete also nicht wie etliche Mitglieder der KPP und des linken Flügels der PPS nach Osten oder in die Sowjetunion, sondern blieb im Generalgouvernement und arbeitete während des Kriegs unter anderem als Verbindungsmann zwischen der polnischen Exilregierung in London und dem polnischen Untergrundstaat. Borodziej schreibt zum Engagement der Intelligenz im Widerstand, dass insbesondere Offiziere und Beamte, das eigentliche Rückgrat des Systems, den Übergang in den Untergrund als Pflicht, gleichsam als natürliche Fortsetzung ihrer Vorkriegstätigkeit betrachteten. Die polnische Staatlichkeit, auf die man seinerzeit den Eid abgelegt hatte, fungierte eben weiterhin, konträr zu den Erwartungen der Besatzer, als Bezugspunkt des Selbstverständnisses der Elite.³⁹
Es war wohl auch die Loyalität gegenüber dem polnischen Staat, die Uziembło im späteren kommunistischen Polen zur Tätigkeit im Staatsverwaltungsdienst anhielt. Nach dem Krieg sollte der Sozialist sich im Industrieministerium unter anderem an der Industrialisierung der sogenannten „wiedergewonnenen Gebiete“ in Jelenia Góra (Hirschberg) beteiligen, bevor er 1957 pensioniert wurde.⁴⁰ Nach Kriegsende blieb er Mitglied in der PPS, die in der Bevölkerung zwar großen Zuspruch erhielt, jedoch 1948 mit der PPR zur Staatspartei PZPR zwangsfusioniert wurde, aktiv.⁴¹ Ob Uziembło nach der Zwangsvereinigung beider Parteien sein Parteibuch behielt, ist nicht bekannt. Betrachtet man jedoch dessen Biographie und vergleicht sie mit anderen in dieser Arbeit besprochenen Lebensläufen, wird deutlich, dass der Autor nicht nur gemäß der Alterskohorte der Generation der Revolutionäre zuzuordnen ist, die hier bisher nur von Halina Krahelska vertreten wurde, sondern dass beide Personen über etliche Gemeinsamkeiten in ihren Biographien verfügen, die ein deutliches Schlaglicht auf die Erfahrungen dieser
Vgl. ebd., S. 213. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 211. Marczuk, Art, S. 274. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 277.
5.1 Władysław Uziembło (1887 – 1980)
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Generation werfen. Ähnlich wie Krahelska ist bei Uziembło eine starke Identifikation mit der PPS über die Zeit der Teilungen Polens und die Zwischenkriegszeit und trotz der vielfältigen gesellschaftlichen Veränderungen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg hinaus zu beobachten. Beide waren zudem beseelt von der Verknüpfung des patriotischen und des sozialistischen Gedankens und der Idee, dass sich letzterer am besten in einem unabhängigen Polen verwirklichen lasse. Die Machtergreifung der Bolʼševiki empfanden beide dabei weniger als Bedrohung, sondern vielmehr als Chance zur Verwirklichung dieses Ziels und engagierten sich in der Ukraine für die Stabilisierung der dortigen sowjetischen Ordnung. Wenngleich sich Krahelska und Uziembło mit dem polnischen Staat der Zwischenkriegszeit stark identifizierten, waren sie von der Zunahme der politischen Repressionen seitens des Sanacja-Regimes direkt betroffen und wurden entweder zensiert oder – im Fall Uziembłos – zeitweise inhaftiert und aus dem Verwaltungsdienst entlassen. Bei beiden führte die Begeisterung für die Veränderungen im sowjetischen Russland jedoch nicht dazu, dass sie im Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion emigrierten oder sich den polnischen Kommunisten anschlossen. Stattdessen engagierten sich Krahelska und Uziembło in Warschau im Widerstand und blieben der PPS gegenüber loyal. Die KPP, die während des Kriegs zur PPR umgewandelt worden war und in sich vor allem Kräfte versammelte, die der Zweiten Polnischen Republik skeptisch bis feindlich gegenüberstanden und die sich während des Kriegs weiter radikalisierten, war für Uziembło wie für Krahelska zu keinem Zeitpunkt eine Alternative. Es ist nicht klar, welche Haltung Uziembło zur Gründung der PZPR 1948 einnahm, es ist aber unwahrscheinlich, dass die Zwangseingliederung der PPS in die neue Staatspartei und die damit einhergehende Zwangsvereinigung mit den Kommunisten seinen Vorstellungen von einer neuen Nachkriegsordnung entsprach. Eine Annäherung an Uziembłos Denken kann das folgende Zitat aus dem Tagebuch von Zygmunt Klukowski (1885 – 1959) geben, dessen Biographie und politischer Werdegang an den Uziembłos erinnert. Klukowski gehörte der gleichen Alterskohorte an, war wie Uziembło Mitglied der PPS und galt als Fürsprecher eines sozialistischen Polens. In seinen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1946 schreibt er: Mich persönlich schreckt die ausgesprochen linke Ausrichtung der Regierung nicht ab […], bedrückt fühle ich mich durch jeglichen Terror, Zwang und die Knebelung der Freiheit des Wortes und des Gedankens. Vor allem aber empört mich das Eingreifen eines fremden Staates, der versucht, uns alles aufzuzwingen und sich in unsere Angelegenheiten einmischt.⁴²
Zygmunt Klukowski: Zamojszczyzna. 1944– 1953, 2. korr. Aufl., Warszawa 2008, S. 142. Übersetzung entnommen aus: Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 268.
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Aus diesen Worten sprechen sowohl eine ablehnende Haltung gegenüber der militärischen Präsenz und Einmischung der Sowjetunion in die inneren polnischen Angelegenheiten, aber auch eine pragmatische Haltung zu einem Regime, welches 1946 erst im Entstehen war. Im Folgenden wird zu zeigen sein, inwiefern Uziembło im Kontext einer sich entspannenden politischen Großwetterlage in Polen in der Mitte der sechziger Jahre imstande war, eine Autobiographie zu entwerfen, die den Erwartungen einer Staatsöffentlichkeit und den Erfahrungen und Visionen der polnischen Intelligenz zugleich entsprach.
Zwischen Zugeständnissen und Zensur: Zum Entstehungskontext von Uziembłos Erinnerungen Die Frage, inwiefern die Bedingungen der Veröffentlichung einer Autobiographie Einfluss auf die darin vorzufindende Erzählung haben, ist in wohl keinem in dieser Studie besprochenen Fall von so großer Bedeutung wie bei den Memoiren von Władysław Uziembło. Anders als bei Stanisław Stempowskis Lebenserinnerungen, die den Zeitraum von Stempowskis Memoiren nach 1914 komplett außen vorlassen, behandelt Uziembłos Autobiographie die Zeit des Ersten Weltkriegs, der Russischen Revolutionen, und der Gründung des unabhängigen Polens. Darüber hinaus umfasst sie eine ausführliche Lebensbeschreibung der Zwischenkriegszeit bis 1939. Uziembłos Erinnerungen erschienen 1965 in einer Zeit, in der die offizielle Deutung und Kanonisierung der für die PRL relevanten Ereignisse des 20. Jahrhunderts bereits weiter vorangeschritten war als noch 1953. In der polnischen Historiographie deutete sich bereits in den frühen fünfziger Jahren an, dass dies keineswegs den völligen Bruch mit der als „bürgerlich“ bezeichneten Geschichtsschreibung bedeutete. Vielmehr bediente sich die marxistische Historiographie in Revidierung oder Neubewertung bestehender Traditionen auch der bestehenden polnischen Historiographie von vor 1945, um zu einem neuen nationalen Geschichtskanon zu gelangen. Die Nation und nicht die marxistische Methode blieb der Hauptbezugspunkt der neuen Geschichtsschreibung.⁴³ Dabei konzentrierte man sich wenig überraschend vor allem auf Aspekte der Arbeiterbewegung und des Klassenkampfes in der polnischen Geschichte. Weiter galt es, die polnisch-russische Problematik, die sich in der Geschichte der anti-russischen Aufstände von 1794, 1830 und 1863 widerspiegelte, derartig darzustellen, dass das polnisch-sowjetische Bündnis von dieser Geschichte unberührt blieb. Dies gelang der marxistischen Historiographie einerseits durch einen dezidierten Kritizismus
Vgl. Górny, „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“, S. 18.
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der polnischen Aufstandsbewegungen, denen sie entweder ein rückwärtsgewandtes Zukunftsbild unterstellten, oder, indem sie auf das Großmachtdenken des polnischen Adels in den ehemaligen polnischen Ostgebieten abhoben und den Aufständischen nationalen Eigennutz unterstellten.⁴⁴ Den russischen Revolutionären nach 1863 kam in der polnischen Historiographie der fünfziger und sechziger Jahre nunmehr die Führungsrolle in der anti-imperialen Bewegung zu, den Polen warf man demgegenüber fehlende Bereitschaft zur Kooperation mit russischen Revolutionären vor. Maciej Górny schreibt über die Betrachtung der polnischen Freiheitsbewegung seitens der marxistischen Historiographie zusammenfassend: Alle [polnischen Bemühungen zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit] wurden an demselben universellen Kriterium der Fortschrittlichkeit und der Effektivität gemessen – um die Unabhängigkeit zu erreichen, musste man den nationalen Befreiungskampf mit der sozialen Frage verbinden und eine Agrarrevolution durchführen.⁴⁵
Diese marxistischen Qualitätskriterien sollte letztlich keine der polnischen Bemühungen erfüllen. Laut Górny blieb in ihnen die polnische Intelligenz weitgehend unerwähnt, wenngleich er die Überzeugung der marxistischen Historiker in Volkspolen beschreibt, für die die Geschichte Polens im 19. Jahrhundert „von Natur aus reaktionär und antirussisch sei“ und für die „es sich um eine Geschichte des Adels und nicht der Massen handele.“⁴⁶ Vor diesem Hintergrund ist Janusz Żarnowskis Feststellung zutreffend, dass die polnische Intelligenz im kommunistischen Polen ihren Nimbus als nationale Avantgarde verlor und nunmehr auf ihre Rolle als Bedienstete des Proletariats reduziert wurde. Fortschrittlich waren einzig die von ihr ausgebildeten Arbeiter und Bauern.⁴⁷ Das gegen die Intelligenz gerichtete Leitmotiv hatte vor allem Auswirkungen auf den für die PRL so zentralen Komplex von Russischer Revolution und Unabhängigkeit Polens, aber auch auf die Deutung Zwischenkriegspolens als Teil der imperialen Welt und als faschistoides Regime.⁴⁸ Aufgrund der Interpretation der Oktoberrevolution als Garant für die Unabhängigkeit Polens in der polnischen Historiographie der fünfziger Jahre lässt sich fast von einer neo-kolonialen Ge Vgl. ebd., S. 340, 348. Ebd., S. 358. Ebd., S. 365. Vgl. Żarnowski, Inteligencja Polska 1944– 1989, S. 473. Dennoch war eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema der Intelligenz in den Grenzen des Politisch Möglichen durchaus erwünscht, vgl. etwa: ders.: Struktura społeczna inteligencji w Polsce w latach 1918 – 1939, Warszawa 1964. Vgl. Górny, „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“, S. 373.
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schichtsschreibung sprechen, die die bestehenden Machtverhältnisse in der kommunistischen Welt widerspiegelte. Damit einher ging die Relativierung des Anteils Piłsudskis und seiner Anhänger an der Unabhängigkeit und dessen Verurteilung als Nationalist und als Feind der Revolution. Auch die Parteien der Sozialisten und der Nationaldemokraten waren von dieser Kritik betroffen. Ihnen wurde ein Bündnis gegen die Arbeiterbewegung und gegen Sowjetrussland unterstellt. Der Polnisch-Sowjetische Krieg habe Górny zufolge in den Schriften der marxistischen Historikerinnen und Historiker zur Faschisierung des Militärs und des politischen Systems geführt, nachdem der Militärputsch von 1926 der Errichtung eines Sanacja-Regimes durch die Anhänger Piłsudskis drei Jahre später Vorschub geleistet hatte.⁴⁹ Den bürgerlichen Parteien gegenüber betonte man die positive Rolle von SDKPiL sowie der polnischen Revolutionäre um Julian Marchlewski, Feliks Dżierżyński (1877– 1926) und Rosa Luxemburg und entwickelte eine internationalistische Deutung von der Oktoberrevolution.⁵⁰ Bezüglich der Geschichte der Oktoberrevolution orientierte sich die volkspolnische Historiographie unter Bierut eng an den Vorgaben der sowjetischen Geschichtsschreibung und reicherte die Erzählung lediglich durch einige wenige polnische Akzentuierungen an, die im Wesentlichen jedoch der vom Regime verordneten Erzählung von der Revolution nicht widersprachen. Gomułkas Machtübernahme ermöglichte schließlich auch im Feld der Geschichtsschreibung eine Öffnung der bislang starren Mustern folgenden marxistischen Erzählungen, etwa zur Geschichte der Zwischenkriegszeit. Nicht angetastet werden durfte jedoch die Annahme von der PRL als Antithese zur Polnischen Republik der Zwischenkriegszeit, die auch unter Gomułka galt: Die damalige Akzeptanz von der Idee eines piastischen Polens ging mit der scharfen Kritik der jagiellonischen Idee, der Tradition der Polnisch-Litauischen Union [Rzeczpospolitej Obójga Narodów], einher. Deutlich unterstrichen wurde ihre anti-russische (sprich anti-sowjetische) Tendenz. Das neue Polen sollte eine historische Antithese sowohl zu dem [Polen] vor den Teilungen, als auch zu dem [Polen] der Jahre 1918 – 1939 sein.⁵¹
Neue Deutungen gewannen jedoch vor allem zu Beginn der sechziger Jahre weiter an Einfluss, die unter dem Primat einer nationalkommunistischen Historiographie eine politische Geschichte, eine Kulturgeschichte oder eine Gesellschaftsgeschichte Polens entwickelten.⁵² Der sich verändernde Blick auf die späte Teilungszeit und die Geschichte der Zwischenkriegszeit wurde von einer Welle von
Vgl.ebd., S. 372 f. Vgl.ebd., S. 374. Stobiecki, Historiografia PRL, S. 129. Vgl. ebd., S. 131.
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Memoiren jener Zeitzeuginnen und -zeugen begleitet, die in der Zweiten Polnischen Republik Teil der politischen oder gesellschaftlichen Eliten gewesen waren. Wenngleich diese nun erscheinen konnten und deren Autoren, wie etwa der Unternehmer Andrzej Wierzbicki oder der ehemalige Vorsitzende des PSL Wincenty Witos (1874– 1945), nach Jahren der stalinistischen Unterdrückung gesellschaftlich rehabilitiert wurden, war die Zensur bemüht, die offizielle Deutung der polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht in Frage zu stellen.⁵³ Anti-russische Tendenzen wurden zensiert, Beschreibungen der historischen Ereignisse der Oktoberrevolution oder vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entsprechend verändert, wenngleich Begrifflichkeiten einer nicht-marxistischen Rhetorik nun erlaubt waren – dienten diese einer staatlich gelenkten Öffentlichkeit doch auch dazu, die Autoren zu stigmatisieren, indem sie die Abweichung der Autoren von der marxistischen „Wahrheit“ unterstrichen und eine Meinungsvielfalt suggerierten. Zensiert wurden nationaldemokratische Tendenzen, positive Anmerkungen zu Piłsudski oder zum Sanacja-Regime ebenso wie anti-ukrainische oder antibelarussische Haltungen. Memoiren, die nur schwer mit der Zensur in Einklang gebracht werden konnten, wie etwa die von Witos, wurden um eine umfangreiche Einführung ergänzt und in den Rahmen eines staatlich genehmen Erzählparadigmas eingewebt.⁵⁴ Der bisherige polnische Blick auf den Osten galt als überkommen und rückständig, die neuen Ostgrenzen Polens als Ausdruck der Anerkennung ukrainischer und belarussischer Selbstbestimmung.⁵⁵ Es sind diese Entwicklungen, die eine Publikation von Uziembłos Erinnerungen – eines langjährigen Mitglieds der als bourgeois gebrandmarkten PPS – 1965 erst ermöglichten. In seiner Studie zum Zusammenhang von Zensur und Historiographie in der PRL stellt Zbigniew Romek einen Wandel von den fünfziger Jahren bis in die siebziger Jahre fest, der sich auch an dem veränderten Verständnis der staatlichen Zensur ablesen lässt: Es ging nicht mehr darum, jemanden vom Sozialismus oder der marxistischen Idee zu überzeugen, stattdessen übte das Zensursystem besonderen Druck auf das loyale Verhalten der Bürger aus.⁵⁶
Romek sieht diesen Wandel der Entstalinisierung im Zensursystem bis 1970 abgeschlossen. Die Zensurbehörde unter Verantwortung der Staatspartei, das
Vgl. Andrzej Wierzbicki: Wspomnienia i dokumenty (1877– 1920), Warszawa 1957; Wincenty Witos: Moja tułaczka, Warszawa 1967. Vgl. Romek, Cenzura a nauka historyczna w Polsce 1944– 1970, S. 264. Vgl. ebd., S. 252. Ebd., S. 10.
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Główny Urząd Kontroli Prasy Publikacji i Widowisk (GUKPPiW, Hauptamt für die Kontrolle von Presse, Publikationen und Aufführungen), dessen Zensurmechanismen bereits vor Ende des Zweiten Weltkriegs noch unter der Ägide des aus polnischen Sowjetexilierten zusammengesetzten Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego (PKWN, Polnisches Komitee zur nationalen Befreiung) nach sowjetischem Vorbild entwickelt worden waren, war die wichtigste Institution zur Lenkung einer staatlichen Öffentlichkeit, in der Deutung der PZPR dominierte. Den Angestellten des GUKPPiW oblag die umfassende Kontrolle von Schriften vor und nach dem Druck, wenngleich auch weitere Akteure wie die Verlagsredaktionen sowie die ihnen zuarbeitenden Hochschulen und andere Institutionen, vor allem aber die Autorinnen und Autoren selbst maßgeblich am Aushandlungsprozess bis zu den finalen Publikationen beteiligt waren. Ziel der Zensur war es Romek zufolge, „die Redaktion, die Autoren in ein Spiel der gegenseitigen Zugeständnisse zu verwickeln“ und so bereits für eine weitgehende Zensur vor der eigentlichen Arbeit des GUKPPiW zu sorgen.⁵⁷ Dies war höchstwahrscheinlich auch bei Uziembło der Fall. Es ist davon auszugehen, dass Uziembło seine Memoiren im ständigen Austausch mit den Verantwortlichen des Verlags Polskie Wydawnictwo Naukowe (Polnischer Wissenschaftsverlag) verfasste. Aus der Einleitung zu seinen Erinnerungen geht hervor, dass Uziembło in den zwei Jahren nach seiner Pensionierung 1957 an der Niederschrift der Memoiren gearbeitet hatte.⁵⁸ In der Danksagung zu den Erinnerungen erwähnt er neben etlichen Zeitzeugen auch Janusz Żarnowski und Tadeusz Szturm de Sztrem. Bei ersterem handelte es sich um den hier bereits mehrfach zitierten und damals noch jungen Historiker, der interessanterweise 1965, im gleichen Jahr der Veröffentlichung von Uziembłos Memoiren, eine Studie zur PPS in der Zwischenkriegszeit vorgelegt hatte.⁵⁹ Żarnowski hatte Uziembło noch vor der Veröffentlichung der Studie Quellen und Materialien zugänglich gemacht, wie Uziembło selbst in der Einführung schreibt.⁶⁰ Szturm de Sztrem wird in den Memoiren als eigentlicher „Initiator“ der Memoiren vorgestellt, der den Prozess des Schreibens demnach eng begleitete.⁶¹ Szturm de Sztrem, der wie der Autor aus Russland stammte und in Nižnij Novgorod geboren war, trat wie dieser der PPS bei, war während des Ersten Weltkriegs Mitglied der polnischen Legionen unter Piłsudski und wirkte in der Zwischenkriegszeit unter Ludwik Krzywicki am Warschauer IGS. Während des Zweiten Weltkriegs trat Szturm de Sztrem der
Ebd., S. 71. Vgl. Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 6. Vgl. Janusz Żarnowski: Polska Partia Socjalistyczna w latach 1935 – 1939, Warszawa 1965. Vgl. Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 7. Ebd.
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Splittergruppe Wolność, Równość, Niepodległość (PPS WRN, Freiheit, Gleichheit, Unabhängigkeit) der im Untergrund agierenden PPS bei, die sich dezidiert gegen die Zusammenarbeit mit den polnischen Kommunisten ausgesprochen hatte.⁶² Das gleiche tat übrigens auch Uziembło, wobei nur Szturm de Sztrem für diese Untergrundtätigkeit 1948 für vier Jahre inhaftiert worden war.⁶³ Neben PPS WRN existierte im Untergrund die Gruppe der Polscy Socjaliści (Polnische Sozialisten) unter Führung des mit Uziembło ebenfalls befreundeten Publizisten Adam Próchnik, die anders als die PPS WRN die Verhandlungen der polnischen Exilregierung mit der Sowjetunion anerkannte und für sich die legitime Nachfolge der PPS in Anspruch nahm.⁶⁴ In der Tauwetterperiode publizierte Szturm de Sztrem schließlich seine Memoiren zur Tätigkeit des IGS und trug dazu bei, dass die polnische Soziologie und zuvorderst Józef Chałasiński mit dem CPP – dem Zentrum für Autobiographik – in der Volksrepublik explizit an die Arbeit des IGS aus der Zwischenkriegszeit anknüpfte.⁶⁵ Beide, Szturm de Sztrem und Żarnowski, waren also mit den Grenzen des Sagbaren vertraut und verfügten über wichtige Kenntnisse zu den Handlungsspielräumen historiographischen und autobiographischen Schreibens über die PPS im 20. Jahrhundert. Die Bücher aller drei Autoren erschienen ebenfalls im Państwowe Wydawnictwo Naukowe (PWN, Staatlicher Wissenschaftsverlag), der in den späten fünfziger Jahren zu den liberaleren Verlagen zählte und der den Autoren weitgehende Freiheiten ließ. In einer von Romek zitierten Notiz aus den Dokumenten des Zentralkomitees der PZPR heißt es dazu: In der Gruppe der angestellten Redakteure des PWN zeigen sich Tendenzen […], keine Diskussionen mit den Autoren zu führen und oft lediglich eine formal-redaktionelle Korrektur des Textes durchzuführen. Diese Praxis findet in einigen Angestelltenkreisen in der ‚theoretischen‘ Akzeptanz Ausdruck, Regeln der Artikulationsfreiheit wissenschaftlicher Positionen und der Freiheit der Wissenschaft umzusetzen.⁶⁶
Wenngleich Uziembłos Memoiren durch die Liberalisierung erst ermöglicht wurden, mussten diese dennoch mehrere verlagsexterne Prüfverfahren durchlaufen, bevor sie, wie es in anderen Fällen wie etwa bei Żarnowski und Szturm de Sztrem
Vgl. Holzer, PPS, S. 176. Vgl. Marczuk, Art, S. 274. Zu den biographischen Angaben über Szturm de Sztrem vgl. Alicja Pacholczykowa: Art. Szturm de Sztrem, Tadeusz, in: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 49, Warszawa, Kraków 2013 – 2014, S. 129 – 135. Vgl. Holzer, PPS, S. 176. Vgl. Vickers: Peasants, Professors, Publishers and Censorship, S. 13. Romek, Cenzura a nauka historyczna w Polsce 1944– 1970, S. 69.
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üblich war, in einer limitierten Auflage erscheinen konnten.⁶⁷ Das eingeforderte Primat der Staatsloyalität durfte dabei nicht verletzt werden. Dass es unter Gomułka die Möglichkeit gab, in Memoiren den historiographischen Kanon der marxistischen Historiographie infrage zu stellen, war somit Teil einer Strategie der staatlichen Zensur und diente letztlich dazu, den Kritikerinnen und Kritikern des Regimes, wie Romek schreibt, ein Ventil zu öffnen und eine Deutungsvielfalt zu suggerieren, die es letztlich nicht gab.⁶⁸ Uziembło selbst war sich dieses Mechanismus scheinbar bewusst, denn auch er erinnert an die Nachrangigkeit von Memoiren im Vergleich zur Historiographie, wenn er im Vorwort schreibt: Als ich meinen Standpunkt in den politischen Fragen beschrieb, vermied ich eine Bewertung der eigenen Entwicklung aus der heutigen Sicht, sondern ich bemühte mich eher zu zeigen, was ich gesehen und wie ich es damals verstanden hatte. Es scheint mir notwendig zu unterstreichen, dass ich keine Geschichte schreibe, sondern lediglich Erinnerungen. Dem Historiker wird es obliegen, die Rolle, welche meine Tätigkeit und die der Freunde, die mit mir zusammenarbeiteten, in der Arbeiterbewegung erfüllte, hervorzuheben.⁶⁹
Vor dem Hintergrund der Schaffung eines marxistischen Kanons durch die volkspolnische Historiographie erhalten diese Worte eine größere Relevanz, lässt sich aus ihnen die Unzufriedenheit mit der bestehenden volkspolnischen Geschichtserzählung und der Wunsch nach einer Revision derselben durch die zukünftige Historiographie herauslesen.
Zur Narration: Proletarische Lebenserzählung eines intelligenten Revolutionärs Uziembłos Memoiren sind von dem Motiv durchzogen, das eigene Leben in den Dienst der polnischen Arbeiterschaft gestellt zu haben. Diese Erzählung entspricht dabei weitestgehend dem Kanon der volkspolnischen Historiographie und dominiert Uziembłos Lebenserzählung insofern, als in ihr ein Narrativ von der Intelligenz lediglich in der Erzählweise, nicht jedoch in der Rhetorik und den Begrifflichkeiten selbst auftaucht. Explizit macht dies der Autor in den ersten Sätzen seiner Memoiren, in denen er seine Verbindung mit der polnischen Arbeiterschaft und mit der Idee der sozialistischen Revolution zum Ausdruck bringt: Ich wuchs in einer Umgebung auf und wurde in einem Umfeld großgezogen, das von der Idee der sozialen Gerechtigkeit und dem Gefühl des Kampfes mit dem Despotismus des Zaren-
Vgl. ebd., S. 264. Vgl. ebd., S. 67. Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 6.
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tums um die gesellschaftliche und nationale Befreiung durchdrungen war. Die Verkörperung dieses Kampfes in den Kindheitstagen war mein Vater – Organisator der ersten sozialistischen Selbstbildungszirkel und Mitarbeiter Waryńskis [Ludwik Waryński, M.-B.] in der Organisation des Ersten Proletariats [Sozialrevolutionäre Partei Proletariat, M.-B.]. Das Anwachsen der revolutionären Welle in den Jahren 1905 – 1907 zog mich in den Strudel der konspirativen Arbeit in der PPS hinein. Der Zusammenbruch der revolutionären Welle schwächte meine politische Aktivität ab, aber der Beruf des Schlossers, und danach des Elektromonteurs vereinigte mich mit der Arbeiterklasse, und die neue revolutionäre Welle in Russland, die Oktoberrevolution und die Entstehung des polnischen Staates verbanden mich auf ewig mit der politischen Arbeit.⁷⁰
Uziembło betont am Eingang seiner Memoiren die eigene Herkunft als Sohn eines polnischen Revolutionärs, benennt dabei die revolutionären Ereignisse von 1905 als Erweckungserlebnis seines politischen Bewusstseins und vergisst nicht, die Solidarität mit der Arbeiterklasse hervorzuheben, um die eigene biographische Verbindung mit ihr zu unterstreichen. Im Einvernehmen mit der offiziellen Deutung benennt Uziembło den Zusammenhang von russischer Oktoberrevolution und Polens Unabhängigkeit – wenngleich der Begriff der Unabhängigkeit an dieser Stelle nicht genannt wird. Daneben entwirft der Autor mit dem Verweis auf den Vater eine genuin polnische Tradition sozialistischen Denkens. Außerdem fügt Uziembło hinzu, dass er stets zum linken Flügel der PPS gehört habe, distanziert sich jedoch zugleich von der internationalistischen SDKPiL und der KPP, was auf den ersten Blick erstaunlich erscheint, jedoch dem Wandel im offiziellen Geschichtsbild der PRL hin zu einer nationalkommunistischen Interpretation Rechnung trägt.⁷¹ Im weiteren Verlauf der Erzählung wird sich jedoch herausstellen, dass Uziembło, anders als im Vorwort dargestellt, der PPS FR, dem Piłsudski-nahen Flügel der Partei, angehörte, der in Volkspolen als abweichender „rechter“ Flügel der Partei stigmatisiert wurde.⁷² Dem vorgestellten Leitmotiv folgt auch die weitere Erzählung, die nicht etwa mit der Beschreibung der Kindheit im russischen Pokrovskoe auf dem großelterlichen Gut einsetzt, sondern stattdessen mit der Erzählung von der Jugend und dem Engagement in den polnischen Selbstbildungsgruppen der promieniści (abgel. von promień, Strahl) in Lemberg nach 1900. Uziembło betont darin seine Zugehörigkeit zur „fortschrittlichen Jugend“ und erwähnt den Kampf gegen die polnischen Nationalisten.⁷³ Die Selbstbildungsgruppen dienten Uziembło zufolge zur „Verbreitung der nationalen
Ebd., S. 5. Ebd. Romek, Cenzura a nauka historyczna w Polsce 1944– 1970, S. 264. Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 11.
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Befreiungstraditionen“.⁷⁴ Später betont er sogar: „Aber wenngleich wir aufrichtige Sympathien zum Sozialismus hegen, stehen wir dennoch nicht auf sozialistischem Grund. Warum? Weil wir dem Leser nicht irgendein bestimmtes Programm aufzwingen wollen.“⁷⁵ Der hier zitierte Auszug stammt Uziembło zufolge aus dem Programm der Lemberger Organisation, was sich als durchaus erfolgreicher Versuch deuten lässt, neben der Erzählung von der Überparteilichkeit der Gruppe in der Tradition der Unbeugsamen mittels des Sprechens durch Quellen eine Gegenwartskritik in die Öffentlichkeit hinein zu lancieren. Uziembłos Erzählung von der Intelligenz folgt grundsätzlich dem Leitmotiv der PRL von der Ablösung selbiger als nationale Avantgarde durch die Arbeiterschaft, wie Józef Chałasiński in seinen Bemerkungen zur Autobiographik der polnischen Arbeiter- und Bauernschaft zu Beginn der siebziger Jahre folgendermaßen zum Ausdruck brachte: Der Wandel des Verhältnisses zur Bildung und der Bedeutung der Bildung in der Klassenstruktur [w klasowo-warstwowej strukturze, Begriff nach Marx, M.-B.] der Gesellschaft ist eine wesentliche Eigenschaft der vollzogenen und sich weiter vollziehenden gesellschaftlich-kulturellen Transformationen. Mit der großen Öffnung der mittleren und der höheren Bildung ist diese keine Domäne der isolierten Schicht der Intelligenz mehr. Diesem Ziel, die Intelligenz als eigene Schicht aufzulösen, dient der sich verstärkende Prozess der Vereinigung der mittleren und sogar der höheren Allgemeinbildung mit den Berufen körperlicher Arbeit und ganz besonders mit der Tätigkeit der Bauern und Landwirte.⁷⁶
Chałasiński reduziert also die Rolle der Intelligenz auf deren Bedeutung als Erzieherin für die Arbeiter- und Bauernschaft und sieht am Ende dieses Prozesses die Intelligenz selbst als obsolet an. Der (historischen, denn im „Realsozialismus“ als überkommen geltenden) Intelligenz nähert sich Chałasiński mittels einer Beschreibung derselben als ambivalente Struktur. Diese habe in sich einst „die höheren traditionellen Sphären“, den Adel und das städtische Bürgertum sowie die „neuen emanzipatorischen und freiheitlichen Bestrebungen der Bauern und Arbeiter“ verkörpert.⁷⁷ Übertragen auf das Modernitätsverständnis in Volkspolen drückt sich dies in der Relativierung des Fortschrittsdenkens der Intelligenz aus. Auch in Uziembłos Memoiren findet sich dieser Dualismus. In dialektischer Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, vor allem mit der russisch-adeligen Familie der Mutter ist der Autor bestrebt, die Identität des Landadeligen zurückzuweisen und sich das Selbstverständnis eines den Arbeitern und Bauern
Ebd., S. 10. Ebd., S. 26. Chałasiński, Pamiętnikarstwo XIX-XX w. jako świadectwo przeobrażeń narodu polskiego, S. 17. Ebd., S. 9.
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wohlgesonnenen Revolutionärs zu erschreiben. Dazu dienen ihm etwa die revolutionären Ereignisse von 1906 im russischen Kimry, die er als junger Mann miterlebt und die in ihm einen veränderten Blick auf die Familie der Mutter bewirken: Nach der Kundgebung dachte ich zum ersten Mal über die eigenen Verwandten als ‚heuchlerische Großgrundbesitzer‘ [obłudni obszarnicy] nach. Ja, Mutter kannte sie gut. Das eben war die žizni gadost‘ [russ. Häßlichkeit des Lebens, Hervorhebung im Original, M.-B.], von der mir irgendwann meine Tante Marusia geschrieben hatte.⁷⁸
Aus dem Zitat geht hervor, welches Narrativ Uziembło für die Darstellung der adeligen Verwandten wählt. Mit der abfälligen Bezeichnung dieser als obszarnicy wählt er zudem einen Begriff der marxistischen Historiographie zur Beschreibung des landadeligen Großgrundbesitzes, der sich vom patriotisch konnotierten Begriff der szlachta (Landadel) oder des ziemiaństwo (Großgrundbesitz) absetzt. Der Autor betont dabei, dass die engere Familie – die Mutter, deren Schwester und der Großvater – der Idee der Freiheit und der Solidarität mit Polen und Europa verpflichtet waren. So erwähnt Uziembło ein Solidarisierungsbekenntnis in einem Brief der Tante Marusia an den italienischen Widerstandskämpfer Giuseppe Garibaldi oder berichtet von der Abwendung des russischen Großvaters von einer seiner Töchter, nachdem diese einen russischen Offizier geheiratet hatte, der sich nach dem anti-russischen Aufstand von 1863 polnische Besitztümer angeeignet hatte.⁷⁹ Neben der adeligen Herkunft des Großvaters und dessen Tätigkeit als Staatsbeamter des Rechnungshofs im Russischen Imperium sowie in der Russischen Eisenbahn werden dessen links-liberale Haltung und seine Parteinahme für die Bauernbefreiung erwähnt.⁸⁰ Das eigene Elternhaus beschreibt Uziembło als patriotisch-revolutionär, erwähnt wird dabei die Tätigkeit der Mutter als Ärztin in Pokrovskoe sowie deren pro-polnische Haltung. Wenngleich Uziembło die ersten 13 Jahre seines Lebens in Pokrovskoe auf dem Gut der Familie aufwächst, ist es vor allem die Zeit der Familie in Lemberg, die er an den Anfang seiner Herkunftserzählung stellt und in ihr die Einfachheit des Lebens der Familie dort hervorhebt: Wir wohnten mit dem Vater in der St. Lazarus-Straße in einer Wohnung, bestehend aus einem Zimmer und einer Küche in einer Ecke. […] Der Vater führte die Hauswirtschaft selbst; er kochte und brachte den Jungen bei, aufzuräumen, die Socken zu stopfen, die Kleidung zu flicken und zu kochen.⁸¹
Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 54. Vgl. ebd., S. 54, 45. Ebd., S. 43. Ebd., S. 15.
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Auch an anderen Stellen betont er die Einfachheit der familiären Verhältnisse und den proletarischen Charakter seiner Erziehung. Zugleich distanziert er sich von der polnischen Intelligenz, etwa wenn er von seinem ersten Kontakt mit ihren Angehörigen in Warschau berichtet und die eigene Fremdheit in dem adeligbürgerlich geprägten Milieu hervorhebt: Ich musste mich in die Umgangsformen und die guten Manieren, vom Binden der Krawatte, vom Wissen über die Straßen und die historischen Gebäude der Stadt, bis hin zu den modischen Walzertänzen und operettenhaften Couplets, die man am Klavier sang, integrieren. […] Aber in den ersten Tagen meines Aufenthalts in Warschau lasteten die Atmosphäre dieses Hauses und die Freundschaftsrituale schwer auf mir. Ich fühlte mich fremd und unbehaglich.⁸²
Der Vater ist eine zentrale Bezugsfigur in Uziembłos autobiographischem Revolutionärsnarrativ. Neben dessen Tätigkeit als Mitbegründer der ersten polnischen sozialistischen Partei Proletariat, woran der Autor in seinen Memoiren bereits früh erinnert, wird die Vorbildhaftigkeit des Vaters für Uziembłos Generation hervorgehoben: „Vater erfreute sich großer Sympathien seitens der Jugend. […] Ihn umgab ein gewisser Mythos der revolutionären Tradition.“⁸³ An späterer Stelle berichtet Uziembło von der eigenen konspirativen Tätigkeit 1906 in Warschau gemeinsam mit dem Vater als Drucker und widmet diesem eine ausführliche Beschreibung. Mit Schmerzen durchfliege ich in Gedanken die Vergangenheit dieses großen Veterans revolutionärer Kämpfe, der als einer der ersten ‚die große Botschaft‘ der Arbeiterklasse überbrachte. Dreißig Jahre zuvor hatte er sich seines persönlichen Lebens entledigt, das Studium am Polytechnikum in Moskau verworfen und sich restlos dem Kampf um die Beschleunigung der historischen Notwendigkeit hingegeben.⁸⁴
Wenn er anschließend Auszüge der Erinnerungen des Vaters zitiert, zeichnet er ein Bild des Vaters als eines universellen Sozialisten, ohne näher auf dessen Verständnis des Verhältnisses von sozialer Gerechtigkeit und nationaler Frage einzugehen.⁸⁵ Brüche erhält dieses Bild lediglich an wenigen Stellen. So erwähnt er später eher beiläufig und in anderem Kontext die Zugehörigkeit des Vaters zum Adel, der auf die damit verbundenen Rechte mit der Verbannung nach Russland hatte verzichten müssen.⁸⁶ Ebenfalls beiläufig berichtet der Autor vom bürgerli
Ebd., S. 56. Ebd., S. 15. Ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 304.
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chen Habitus des Vaters.⁸⁷ Die Tradition des polnischen Revolutionärs, die er mit dem Verweis auf den Vater entwirft, kommt denn auch zum Ausdruck, wenn er anlässlich der Geburt seines ersten Kindes und die bäuerliche Herkunft seiner ersten Ehefrau halb scherzhaft schreibt: „Wanda musste noch viel lernen, um das Kind zu einem Revolutionär zu erziehen.“⁸⁸ Diesem Selbstverständnis eines polnischen Revolutionärs folgt letztlich auch Uziembłos Bild des polnischen Ostens, das sich von den polnisch-adeligen Traditionen des jagiellonischen Polens distanziert. Die Ostgebiete beschreibt der Autor in einer Episode über seine Wahlkampftätigkeit im ostpolnischen Polesien 1922 anlässlich der Wahlen zum Sejm als „überwiegend von Belarussen, Ukrainer und Russen“ bewohnte Gebiete, die mit dem Rigaer Vertrag an Polen angeschlossen worden waren.⁸⁹ Ich lernte die Welt und die Einwohner der Sümpfe und Wälder von einer anderen Seite kennen, als dies die Vorkriegsliteratur besungen hatte. Den „Zauber Polesiens“ [Polesia czar, gleichnamiger polnischer Schlager von 1936, M.-B.] lernte ich nicht aus der Perspektive des romantisierenden Wohlstands des polnischen Großgrundbesitzes [ziemiaństwa polskiego] kennen […], sondern aus Sicht der Tragödie der Besitzlosen und der Kleinbauern, die in den Besitztümern des Großgrundbesitzes zur Ableistung des Zinssatzes des Eigentümers für ein Stück Land arbeiteten. […] Als solche sah ich die ‚unterjochte Region‘ [ziemię w jarzmie], den ‚Gesang über den Wassern‘ [pieśn nad wodami] an, was später sehr realistisch von Wanda Wasilewska beschrieben wurde.⁹⁰
Der Autor setzt sich in der Beschreibung der Ostgebiete als Region vorherrschender sozialer Ungerechtigkeit und der Konflikte zwischen den wenigen polnischen Großgrundbesitzern und der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit explizit von dem Bild des polnischen Ostens in der Zwischenkriegszeit ab, welches er als romantisierend und sehnsuchtsbeladen beschreibt. Bemerkenswert ist dabei, dass er sich in seiner Skizze auf Wanda Wasilewska (1905 – 1964) und deren literarische Werke der Zwischenkriegszeit und des Stalinismus bezieht. Wasilewska – Mitglied der PPS vor 1939, danach Emigrantin in der Sowjetunion sowie Mitbegründerin des PKWN 1944 – hatte im Zweiten Weltkrieg wie kaum jemand anderes den Gedanken des sowjetisch-polnischen Widerstands verkörpert und galt nach dem Krieg als Vorzeigeliteratin des sozialistischen Realismus. Unter
Vgl. ebd., S. 304, 56. Ebd., S. 304, 56. Ebd., S. 251. Ebd., S. 253 f.
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Gomułka sank ihre Bedeutung in der Öffentlichkeit jedoch deutlich.⁹¹ In seinen Beschreibungen des polnischen Ostens der Zwischenkriegszeit kommt das in der PRL etablierte Bild eines rückständigen und von sozialen Konflikten geprägten Ostens zum Ausdruck, dessen Problematik erst dank der Gründung des kommunistischen Polens und der Westverschiebung der polnischen Grenzen in Ost und West als überwunden gelten konnte.⁹² Wenngleich Uziembło generell um eine proletarisch-revolutionäre Erzählung bemüht ist und darum, sich von Erzählmustern der polnischen Intelligenz abzusetzen, folgt der Autor in seiner Haltung zur Frage des Verhältnisses von sozialer Gerechtigkeit und der Unabhängigkeit Polens durchaus tradierten Deutungen der polnischen Intelligenz. Interessant ist dabei etwa seine mehrfache Benennung der Ideen Bolesław Limanowskis als Vorbild für die eigene Anschauung.⁹³ Anlässlich der Spaltung der polnischen Sozialisten in PPS FR und PPS Lewica 1906 schloss sich Uziembło der ersteren Fraktion der Revolutionäre an und sprach sich somit für die Option eines zukünftigen anti-russischen Aufstands und eine lediglich begrenzte Zusammenarbeit mit russischen Revolutionären aus – Losungen, die die PPS FR und deren Anhänger bereits 1904 propagiert hatten.⁹⁴ Zum Streit zwischen PPS FR, PPS Lewica – letztere forderte, sich mit der russischen revolutionären Bewegung zu solidarisieren und die Frage der Unabbängigkeit nachrangig zu behandeln – und den gemäßigten Kräften innerhalb der PPS schreibt Uziembło⁹⁵: [W]ir technischen Arbeiter [in den illegalen Druckereien, M.-B.] waren von den ideologischen, programmatischen und taktischen Streitereien, die die Partei beschäftigten, weit weg. Ich war mir des großen Unterschieds zwischen der Losung vom Kampf um die Unabhängigkeit und um eine Konstituante in Warschau nicht bewusst. […] Der Sozialismus war für mich nicht so sehr eine ökonomische Theorie, die aus Broschüren und Vorträgen folgte, sondern ergab sich vielmehr aus dem Blick auf die gesellschaftliche Ungerechtigkeit, auf das
Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 242. Uziembło bezieht sich auf folgende Werke der Autorin: Wanda Wasilewska: Ziemia w jarzmie, Warszawa 1938; dies.: Płomień na bagnach. Powieść, Kijów, Lwów 1940; dies.: Gwiazdy w jeziorze, Warszawa 1950; dies.: Rzeki płoną,Warszawa 1952. Die drei letztgenannten Werke erschienen als Teile der Trilogie Gesang über den Wassern. Vgl. Beata Halicka: Polens Wilder Westen. Erzwungene Migration und die kulturelle Aneignung des Oderraums 1945 – 1948, Paderborn, München, Wien, Zürich 2013, S. 293; Behrends, Die erfundene Freundschaft, S. 271. Vgl. Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 29, 30, 74, 77. Vgl. Holzer, PPS, S. 35. Zu den Konflikten zwischen den jüngeren und älteren sowie den gemäßigten Kräften innerhalb der PPS während der revolutionären Ereignisse von 1905 und 1906 vgl. ebd., S. 33 – 41.
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Elend und auf die Heimatlosigkeit. […] Mit dem Sozialismus untrennbar verbunden war die Frage der Unabhängigkeit, deren Losung sich aus ebenjenem Gefühl [der Wunsch nach der Unabhängigkeit Polens, M.-B.] ergab und Hilfe aus der Geschichte des Kampfes um die Freiheit zog, so wie ihn [den Freiheitskampf, M.-B.] Limanowski in seinem Buch Der hundertjährige Kampf der polnischen Nation um die Unabhängigkeit und in seinem Werk Die Geschichte der Demokratie in Polen in der Zeit nach den Teilungen [Hervorhebungen im Original, M.-B.] beschrieben hatte. Ich konnte nicht verstehen, wie ein Mensch sich auf den Sozialismus stützen konnte, ohne in ihm die einzige Wahrheit zu sehen.Wie konnte man die soziale Befreiung nicht mit der nationalen Befreiung verbinden. […] Niemals traf ich in jener Zeit auf Befürworter der SDKPiL oder auf Vertreter der ‚jungen‘ PPSler [PPS Lewica, M.-B.]. Die Forderung von der nationalen Befreiung in den Hintergrund zu drängen, hielt ich nicht nur für einen schweren Fehler, der sich rächen würde, sondern auch für ein Signal, das die breiten Massen der polnischen Patrioten sich vom revolutionären Kampf abwenden ließ.⁹⁶
Wie aus dem Zitat hervorgeht, stellen für Uziembło die nationale und die soziale Frage zwei Seiten des gleichen Problems dar. Mit dieser Auffassung distanziert sich der Autor deutlich von den Versuchen der marxistischen Historiographie, die Rolle der polnischen Revolutionäre in der anti-imperialen Bewegung im Russischen Imperium zu relativieren und ihnen gegenüber die Relevanz einer internationalistischen Bewegung, wie sie von der polnischen Sozialdemokratie und russischen Sozialrevolutionären propagiert worden war, hervorzuheben. Uziembłos Erzählung der russisch-imperialen Erfahrung steht dieser Deutung unvereinbar gegenüber und stellt gar mit dem Verweis auf die Marginalisierung von SDKPiL und PPS Lewica die Bedeutung ihrer Vertreterinnen und Vertreter in der polnischen anti-imperialen Intelligenz infrage. Dabei zeigt gerade Uziembłos Verweis auf Limanowski, dass dessen Ideen nicht nur für Uziembło selbst von Relevanz waren, sondern auch dem sich verändernden Blick der marxistischen Historiographie auf die polnische revolutionäre Bewegung Mitte der sechziger Jahre entsprachen. An dieser Stelle sei nochmals an die (Wieder‐)Veröffentlichung ausgewählter Schriften von Limanowski, der immerhin einer der Mitbegründer der PPS gewesen war, erinnert, die ebenfalls mit Einsetzen der Liberalisierung in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre in neuen Auflagen erschienen.⁹⁷ Maciej Górny schreibt zum Umgang der marxistischen Historiographie vor 1956 mit dem Geschichtsbild der PPS:
Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 75. Folgende Schriften von Limanowski spricht Uziembło an: Limanowski, Stuletnia walka narodu polskiego o niepodległość; ders., Historya demokracyi polskiej w epoce porozbiorowej. Vgl. Bolesław Limanowski: Historia demokracji polskiej w epoce porozbiorowej, Warszawa 1957; ders., Pamiętniki (1835 – 1870); ders., Pamiętniki (1870 – 1907); ders., Pamiętniki (1907– 1919); ders., Pamiętniki (1919 – 1928).
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Wie hätte eine marxistische Interpretation der Geschichte Polens ausgesehen, wenn die Freundschaft zur Sowjetunion nicht das wichtigste geltende Dogma gewesen wäre? Sicherlich wäre sie von den Schriften der Mitglieder und Sympathisanten der PPS nicht weit entfernt gewesen.⁹⁸
Auch nach 1956 blieb das Paradigma der polnisch-sowjetischen Freundschaft erhalten. Dennoch eröffnete gerade eine genauere Betrachtung der Geschichte der PPS Verfechterinnen und Verfechtern des Nationalkommunismus in der PZPR die Möglichkeit der teilweisen Aufwertung einer eigenständigen polnischen sozialistischen Tradition, ohne grundsätzlich am master narrative der Volksrepublik zu rütteln. Uziembłos Memoiren zeigen, dass diese Entwicklung sowohl von oben als auch von unten gewünscht wurde. Stärker als zuvor ließen sich in den Studien und Memoiren die anti-imperialen Stimmen der polnischen revolutionären Bewegung zum Ausdruck bringen, ohne sie dem Verdacht auszusetzen, anti-russische Narrative zu entwerfen, die in eine Anklage der Gegenwartsdominanz der Sowjetunion mündeten. Uziembłos autobiographische Aufzeichnungen zeigen ebenfalls, dass für eine solche Lesart der Zugang der Autorinnen oder Autorinnen zur Intelligenz von entscheidender Bedeutung war. Diese blieb vom Anspruch, die polnische Nation zu repräsentieren, ausgeschlossen. Nur indem sich Uziembło eine proletarisch-revolutionäre Biographie erschrieb und die Praxis des Revolutionärs der Theorie der Intelligenz voranstellte, ließ sich das autobiographische Narrativ Uziembłos in einer Weise imprägnieren, dass die Frage der Unabhängigkeit Polens thematisiert werden konnte, die Górnys Vision einer PPS-nahen marxistischen Historiographie entsprach. Uziembło bringt dies in einer Episode über die Bedingungen als Arbeiter in einer illegalen Druckerei in Warschau während der Revolution 1906 zum Ausdruck, wenn er an die Monotonie und Einsamkeit der Tätigkeit im Keller gemahnt: „Und es war nicht leicht, von Tag zu Tag in einem schwülen, kleinen Raum bei künstlichem Licht unter grauen Filzdecken zu arbeiten, der über keine Ventilatoren verfügte.“⁹⁹ Über die Motivation für diese Tätigkeit schreibt Uziembło anschließend: Ich fühlte mich wie ein für das Zarentum unerreichbarer starker Mensch, der mit jedem Händedruck sicherstellt, dass seine Maschine den Schrei der Rebellion auf ganz Warschau, auf ganz Polen herabwirft. Ich deklamierte: ‚Werdet wahnsinnig Ihr Tyrannen, möge der Henker Euch peinigen‘. Ich sang Revolutionslieder, um den charakteristischen Lärm der Maschine zu übertönen, schneid… schneid… schneid…. ‚Schneide, Zerschneide das Menschenherz. Erhebe die Fahne der Befreiung, meine geliebte Maschine.‘ Im gleichen Klang, in
Górny, „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“, S. 387. Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 71.
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dem ich vor mich hinlebte, fanden meine Gedanken und Gefühle Ausdruck, aber das Gefühl des Protests überwog.¹⁰⁰
In der Verschränkung von körperlicher Arbeit und maschineller Effizienz entwirft Uziembło ein eindrucksvolles Selbstbildnis von sich als eines revolutionären Arbeiters, dessen Rhetorik anschlussfähig an die Sprache der PRL bleibt, während die Inhalte jedoch für die staatliche Öffentlichkeit neu sind und ein dezidiert antiimperiales Narrativ transportieren. In einer Episode zur Spaltung der PPS in Frakcja Rewolucyjna und Lewica bringt Uziembło seine Loyalität zur Fraktion der Revolutionäre unmissverständlich zum Ausdruck: Alle Anwesenden sprachen sich entschieden für die Revolutionäre Fraktion aus. […] Wir kehrten mit doppelter Energie zur Arbeit zurück, mit der Überzeugung, dass wir in den Reihen der revolutionärsten und am gewissenhaftesten arbeitenden Gruppierung der PPS ständen.¹⁰¹
Ähnlich neu ist Uziembłos Erzählung vom unabhängigen Polen der Zwischenkriegszeit. Der Autor widmet dieser Zeit mehr als die Hälfte seiner Autobiographie. Auch wenn sich nachvollziehbarerweise kein Bild daraus ergibt, das die Zwischenkriegszeit als Errungenschaft der revolutionären Tätigkeit Uziembłos zeichnet, lassen sich Uziembłos Beschreibungen dieser Periode mitnichten mit der in Volkspolen geläufigen Formel zusammenfassen, die das Zwischenkriegspolen Romek zufolge auch in den sechziger und siebziger Jahren im offiziellen Geschichtskanon besaß: „Die Erlangung der Unabhängigkeit war die Quelle der Septemberniederlage“.¹⁰² Auf diese Formel zugespitzt brachte die Historiographie eine Bewertung der Zwischenkriegszeit als Prozess der Faschisierung Polens zum Ausdruck, dessen Wurzeln man bereits im Polnisch-Sowjetischen Krieg durch eine Front von Nationalisten und demokratiefeindlichen Kapitalisten unter Piłsudskis Führung gegen das sowjetische Russland gelegt sah und dessen Ende man mit dem Überfall der Deutschen im September 1939, denen sich Polen mit dem Außenminister Józef Beck (1894 – 1944) gemäß der volkspolnischen Lesart zuvor angebiedert hatte, als selbstverschuldet ansah.¹⁰³ In Uziembłos Memoiren entsteht vielmehr ein differenziertes Bild von Zwischenkriegspolen und von
Ebd., S. 74. Das erste von Uziembło gekennzeichnete Zitat – im Original „Szalejcie tyrani, niech pastwi się kat“ – entstammt einem Arbeiterlied der PPS Pieśn wolnego ducha (Lied des freien Geistes), das zweite Zitat stammt wohl von Uziembło selbst. Ebd., S. 75. Romek, Cenzura a nauka historyczna w Polsce 1944– 1970, S. 273. Vgl. Górny, „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“, S. 373 f.
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Uziembło als Repräsentant eines gerechteren Staates, der sich im unabhängigen Polen als Mitglied der PPS nun auch beruflich im Sejm und vor allem in der lokalen Selbstverwaltung in den Städten engagierte und so für eine Verbesserung der Lebensbedingungen in Polen einsetzte. Wenngleich der Autor an etlichen Stellen im Buch die Verhältnisse der Zwischenkriegszeit kritisch betrachtet und in der Erzählung davon durchaus den Leitlinien der offiziellen Kanonisierung der Zweiten Republik folgt, führt diese Kritik eben nicht zu einer grundsätzlichen Verurteilung der Republik. Stattdessen verstärkt die Erzählung vom Engagement in den Stadtverwaltungen in Lublin, Radom und Łódź eher den Eindruck, dass Uziembło sich als Teil des politischen und gesellschaftlichen Lebens begriff und durchaus mit dem polnischen Staat der Zwischenkriegszeit identifizierte. Eine Schlüsselstelle im Buch ist eine Passage zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, in der Uziembło vom Zusammenbruch der politischen Ordnung in Polen und vom vorherrschenden Chaos in Piotrków Trybunalski berichtet. Der Autor beschreibt, wie er selbst nach der Flucht des Präsidenten aus der Stadt den Arbeitern die noch ausstehenden Löhne auszahlte. Im letzten Kapitel äußert sich Uziembło mit folgenden Worten: Als ich am Montag [drei Tage nach Beginn des Überfalls der Wehrmacht auf Polen, M.-B.] ins Büro kam, stellte ich fest, dass eine bedeutende Mehrheit der Angestellten nicht anwesend war. Auch Fiszer [Stefan Fiszer, damaliger Stadtpräsident, M.-B.], der, ohne die untergebenen Verwaltungsangestellten zu informieren, geflüchtet war, war nicht anwesend. Als meine erste Pflicht sah ich an, alles zu tun, damit den Arbeitern die Löhne ausgezahlt werden würden, die am Samstag zuvor wegen der Bombenangriffe keine Auszahlungen erhalten hatten. Die Bombardierung der Stadt wiederholte sich. Ich ordnete jedoch an, den Beamten, der sich mit den Schlüsseln zum Tresorraum in einem nahen Dorf versteckte, herzuführen. […] Ich gab mich dem Gefühl der Angst vor einem erneuten Angriff nicht hin. Mich erfasste vielmehr Schrecken und tiefe Enttäuschung angesichts der ausgemachten Panik und der Verstärkung der Panik durch das Verhalten der Staatsmacht und der Polizei. Plötzlich fühlte ich mich von allen direkt mit mir arbeitenden Menschen verlassen.¹⁰⁴
Einmal mehr betont Uziembło im Zitat seine Solidarisierung mit der polnischen Arbeiterklasse. Im Rückblick auf die Tage des Überfalls der Deutschen auf Polen und auf seine Tätigkeit als Vizepräsident der Stadt kommt zudem die Haltung des Erzählers zur polnischen Staatlichkeit der Zwischenkriegszeit zum Ausdruck. Der hier zitierte Auszug reiht sich denn auch in eine differenzierende Erzählung vom Zusammenprall der Erwartungen eines Revolutionärs mit den gesellschaftlichen und politischen Realitäten der Zwischenkriegszeit und in die Erzählung von den Versuchen des Autors ein, diese mitzugestalten. Es ist durchaus bezeichnend und
Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 452.
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angesichts der Zensur erstaunlich, dass das letzte Kapitel des Buches von Uziembło lediglich mit Der Zusammenbruch betitelt wird. Hinter diesem Begriff verbirgt sich letztlich auch die enttäuschte Hoffnung auf ein selbstbestimmtes und sozial gerechteres Polen, womit sich Uziembłos autobiographische Erzählung eben nicht so sehr der gebräuchlichen zeitgenössischen Deutung von der Unabhängigkeit Polens im Jahre 1918 als bloßer Vorwegnahme der Septemberniederlage von 1939 zuordnen lässt.
Russland und die Sowjetunion in Uziembłos Memoiren – Konformismus oder Befreiung von der anti-kommunistischen Doktrin? Uziembłos Biographie verfügt hinsichtlich ihrer russisch-imperialen Erfahrung über vielfältige Spannungsmomente. Da ist zum einen Uziembłos Tätigkeit als polnischer Revolutionär, die eine anti-russische Komponente besitzt, da sie durch Uziembłos Zugehörigkeit zur anti-imperialen polnischen Intelligenz und zum anti-russischen Flügel der PPS, der Frakcja Rewolucyjna strukturiert wird. Zum anderen ist Uziembłos russische Herkunft mütterlicherseits zu nennen, die im Rahmen der offiziell verordneten polnisch-sowjetischen Freundschaft durchaus erwünscht war, zugleich jedoch die Zugehörigkeit zum russischen Landadel zu kompensieren hatte. Beide biographischen Konstellationen eröffneten Uziembłos Erzählung von 1965 narrative Spielräume, begrenzten diese zugleich aber auch. Berücksichtigt man überdies die Biographie des Bruders Adam Uziembło, wird ersichtlich, dass sich beide Brüder insbesondere in ihrer Haltung zur Sowjetunion unterschieden, was letztlich dazu führte, dass Adam Uziembło, der sich 1945 zunächst noch in der PPS WRN engagiert hatte, bald darauf ins Pariser Exil flüchtete und sich dort dem Kreis um Kultura anschloss, um erst kurz vor seinem Tod 1971 wieder nach Polen überzusiedeln.¹⁰⁵ Dabei ließe sich fragen, ob nicht auch für Władysław Uziemblo das gilt, was Zbigniew Gluza im Vorwort der Memoiren des Bruders ausmacht, über den er schreibt: Adam Uziembło war ein polnischer Sozialist. Ein Verfechter der Unabhängigkeit und der Staatlichkeit [Niepodległościowcem i państwowcem]. Jemand, der die Zweite Republik mitbegründete, und der das Nachkriegspolen nicht als das eigene anerkannte. Seine Akti-
Vgl. Uziembło, Niepodległość socjalisty, S. 299. Die Informationen wurden dem Biogramm von Aniela Uziembło, Tochter von Adam Uziembło, entnommen, die dessen lediglich in Fragmenten erhaltene Memoiren gemeinsam mit der Stiftung Karta 2008 veröffentlichte.
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vität war der Weg des Patrioten, der sein befreites Land als offen und wohlgesonnen sehen wollte, und das sich eben nicht vor dem Fremden verschloss.¹⁰⁶
Wenngleich diese Frage im Folgenden nicht beantwortet werden kann, verweisen Gluzas Worte generell auf das Problem der Authentizität autobiographischen Schreibens und auf die damit verbundene moralische Botschaft der Schreibenden. Im Falle der Brüder Uziembło ist die Berufung auf die historische Wahrheit mittels der eigenen Erfahrung aufs Engste mit der Haltung zur Sowjetunion verbunden und hat somit Folgen für die autobiographische Erzählung. In der erzählerischen Anordnung der Memoiren bei Uziembło erhält die Skizzierung eines polnisch-revolutionären Selbstverständnisses trotz der der Ereignischronologie entgegenlaufenden Struktur den Vorrang vor der Erzählung von der eigenen russischen Herkunft. Dabei hebt der Autor mit der Erinnerung an den Vater und an die eigene Tätigkeit in der Teilungszeit insbesondere die polnische Tradition revolutionären Denkens hervor und knüpft diese, wie bereits weiter oben gezeigt wurde, an die Idee des freien Polens. In dieses Bild passt auch Uziembłos reservierte Haltung zur Erziehung seiner Kinder in der russischen Umgebung in Pokrovskoe und sein Sprachpatriotismus, der in folgenden Worten zum Ausdruck kommt: Mit meiner Mutter hatten wir nie Russisch gesprochen. Aber in der russischen Umgebung lernten meine Kinder Russisch zu sprechen. Der einzige Mensch im Hause, der die polnische Sprache kannte, war meine Mutter, aber die größte Zeit des Tages verbrachte sie im Hospital oder bei den Kranken und es war kaum möglich, dass sie mit den Kindern in einer anderen Sprache sprach als Tante Marusia, die sich den Kindern widmete. Es tat mir leid, dass ich mit den Kindern – vor allem mit der kleinen Lusia, denn die ältere Zosia verstand Polnisch – Russisch sprechen musste.¹⁰⁷
Diese Sätze erstaunen angesichts der russischen Sprache in der Volksrepublik als – wie Jan Behrends schreibt – „lingua franca [Hervorhebung durch Behrends, M.-B.] des sowjetischen Imperiums“.¹⁰⁸ Zu Uziembłos national-zentrischer Erzählung passt durchaus, dass russisches revolutionäres Denken vor 1917 in seinen Memoiren kaum eine Rolle spielt und, wenn die Rede darauf kommt, nahezu ausschließlich den Bolʼševiki vorbehalten ist.¹⁰⁹ In einer Passage etwa zu den revolutionären Ereignissen von 1905 in Russland hebt er die Rolle des Bruders als
Zbigniew Gluza: Od wydawcy, in: ebd., S. 5 – 6, hier 5. Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 125. Behrends, Die erfundene Freundschaft, S. 320. Vgl. etwa Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 126.
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Revolutionsführer hervor und entwirft beinahe nebenbei das Bild einer polnischrevolutionären Avantgarde, indem er das europäische und „sehr exzentrische“ Aussehen seines Bruders sowie dessen Talent als „ausgezeichneter Redner von Kundgebungen“ vor dem Hintergrund seiner Revolutionärstätigkeit als „oberster lokaler Machthaber“ von Kimry beschreibt.¹¹⁰ Uziembłos Darstellungen des Russischen beschränken sich darüber hinaus auf die Beschreibung der beklemmenden Lage der Arbeiter in den Industriegebieten und Großstädten sowie der ausweglosen Lage der Bauern im Krieg aufgrund gutsherrlicher Ausbeutung und Kriegswirtschaft. Den russischen Staat stellt er als Despotie dar. Bezugnehmend auf Lev Tolstojs offenen Brief Ich kann nicht schweigen an den Zaren im Jahr 1908, benennt er „die Fakten des weißen Terrors, die Inhaftierung hunderttausender Leute in Gefängnissen und die vielen hundert Todesurteile“ und entwirft so ein Bild des Russischen Imperiums als Unterdrückungs- und Gewaltregime.¹¹¹ Auf den dann folgenden Seiten skizziert der Autor ein im Wandel begriffenes Russländisches Reich der Vorkriegszeit, in dessen sich industrialisierenden Städten die Arbeiter an Protesten und wiederholten Demonstrationen teilnahmen. Dabei bleibt das Bild durchaus vielschichtig und folgt eher der Logik einer revolutionären als der einer volkspolnischen Geschichtserzählung, beispielsweise indem Uziembło Unterschiede in den Haltungen der Arbeiter und Bauern zur Revolution benennt und letztere als traditionsverhaftet und rückständig skizziert: [I]m Gegensatz zu den starken und bewussten revolutionären Stimmungen in den Städten dauerte die Bewunderung für ‚carja batjuški‘ [russ.,Vater Zar, M.-B.] in den fernen russischen Dörfern an und die Klagen und Reaktionen auf das Leid nahmen meist nur die Form von Petitionen an den Zaren an.¹¹²
Kontrastiert wird diese differenzierte Darstellung von Beschreibungen einer neuen Mentalität der russischen Arbeiter vor dem Hintergrund der Revolution von 1905 und 1906, die sich etwa in Arbeiterliedern ausdrückt: Diese neuen Lieder, die ich gern lernte, untergruben das Vertrauen zur Regierung und verachteten den großrussischen Nationalismus. Sie sollten auch, wie ich bemerkte, einen bedeutenden Einfluss auf die Gestaltung einer neuen Mentalität des russischen Volks haben.¹¹³
Ebd., S. 53, 50, 42. Ebd., S. 117. Ebd., S. 52. Ebd., S. 48.
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Der Autor äußert sich bewundernd über den hohen politischen Organisationsgrad und die Bereitschaft zur Selbstbildung unter den Arbeitern in den Städten unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg.¹¹⁴ In den Memoiren erscheint dieses Narrativ deutlich und es treten regelrecht prophetische Züge in der Erzählung auf, die den Zusammenbruch des imperialen Russlands und die Errichtung eines Russlands der Räte vorwegnehmen. Bezugnehmend auf Gespräche mit einem deutschen Kollegen während seiner beruflichen Tätigkeit als Elektromonteur erwähnt er dessen Äußerungen über die Fortschrittlichkeit der russischen Arbeiter: Er hatte bereits viele russische Städte besichtigt und vertrat die Meinung, dass die russische Nation eine Nation der Zukunft sei […]. Der Monteur, der in den Fabriken importierte Maschinen aus Deutschland einrichtete, kam mit älteren Facharbeitern in Kontakt, aber auch mit vielen Leuten vom Land. Besonders die neuen Arbeiter schauten mit großem Interesse auf die ihnen bisher unbekannten Maschinen. […] Der russische Arbeiter, der sich seine Fähigkeit bei der Ausführung komplizierter Tätigkeiten erst erarbeitet habe, würde sich eher mit dem rühmen, was er könne und verstehe; indem er lerne, versuche er anderen zu imponieren, und wenn er etwas nicht könne, dann würde er fragen, abwarten, philosophieren. Ihm reiche das, was er könne, nicht aus.Vor sich würde er den Fortschritt sehen, sich diesen aneignen und nach Höherem streben. In diesen besonders charakteristischen Eigenschaften der Arbeiter in Russland erkannte der deutsche Monteur die expansive Kraft der slavischen Nationen.¹¹⁵
In diesem Zitat kommt ein Bild Russlands als einer modernen und fortschrittlichen Nation zum Ausdruck, das durchaus als konform mit der offiziellen Deutung in der Volksrepublik von der russischen Arbeiterschaft gelten kann. Interessanterweise prägt jedoch auch in dieser Beschreibung eher das Element einer nachholenden Modernisierung und anschließenden Vorreiterschaft und das eines revolutionären Bewusstseins die russische Arbeiterschaft. Rätselhaft scheint zudem die Aussage von der „expansive[n] Kraft der slavischen Nationen“, die vielmehr auf die gegen Ende der fünfziger Jahre noch bestehende offizielle Haltung der PZPR vom bevorstehenden Sieg im Rüstungswettlauf zwischen Ost und West rekurriert, als auf die Situation in Russland nach der Jahrhundertwende.¹¹⁶ Die russische revolutionäre Bewegung selbst streift Uziembło dann auch nur am Rande. Lediglich in einigen wenigen Passagen äußert er sich über die Bereitschaft der russischen Arbeiterschaft zum Streik vor dem Hintergrund zunehmend autoritärer Verhältnisse. So berichtet Uziembło etwa über ein artelʼ (russ.),
Vgl. ebd., S. 121. Ebd., S. 123 f. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 306.
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ein selbstorganisiertes Arbeiterkollektiv, mit dessen Anführer er im Laufe seiner Tätigkeit als Monteur in Caricyn (heute Volgograd) in Kontakt kam: Ich interessierte mich für dieses Artelʼ-Original [artielszczykiem-oryginałem]. Es stellte sich heraus, dass er früher ein Student des Polytechnikums in Petersburg gewesen war, es aber bevorzugte, als freier Mensch zu leben. […] Im Winter arbeiteten sie [die Mitglieder des artelʼ, M.-B.] nur für Vodka. Gerade diese Leute formten in der Russischen Revolution anarchistische Gruppen, mit denen man viele Sorgen hatte.¹¹⁷
In den arteli entdeckt Uziembło denn auch die Keimzellen der zukünftigen negativen Begleitumstände, die nach der Oktoberrevolution zum Russischen Bürgerkrieg geführt hätten: Jeder politische Umsturz führt zu einer Störung der öffentlichen Ordnung. Und dies [die Oktoberrevolution, M.-B.] war ein gewaltiger Umsturz. An die Macht kamen Personen, die mit administrativen Anweisungen nicht vertraut waren. Die neu organisierte, eben erst ins Leben gerufene Miliz setzte sich aus undisziplinierten Leuten zusammen, die bei der Einführung der Ordnung lediglich dem eigenen Gewissen verpflichtet waren. Zudem formierten sich neben den von der Front zurückkehrenden Soldaten und den gewöhnlichen Marodeuren auch Gruppierungen sogenannter Anarchisten, die keinerlei Regierung anerkannten. Diese Gruppen veranstalteten Anschläge auf bestimmte Personen und auf Güter öffentlichen Eigentums. Trinkgelage gossen zusätzlich Öl ins Feuer.¹¹⁸
Uziembłos Bild von der Oktoberrevolution ist vergleichsweise eigenständig und nimmt kaum Bezug auf das master narrative von der internationalistischen Solidarität von SDKPiL und russischer Sozialdemokratie. Stattdessen benennt es die Probleme der Bolʼševiki bei der Besetzung der Institutionen der Macht am Beispiel der Ukraine. Dabei erweist sich Uziembłos Erzählung vom Bürgerkrieg und der Machtübernahme der Roten Armee in der Ukraine als relativ offen, da der Autor die chaotischen Zustände der dortigen Machtübernahme durch die Bolʼševiki beschreibt. Auch an anderen Stellen erweist sich Uziembłos Erzählung von der Russischen Revolution als komplexer als die offizielle marxistische Geschichtsschreibung, indem Uziembło von Interessenskonflikten zwischen polnischen und sowjetrussischen Soldaten, wie bei der gewaltsamen Auflösung des polnischen pro-sowjetischen Belgoroder Regiments durch die sowjetrussische Militärverwaltung, berichtet.¹¹⁹ An anderer Stelle beschreibt der Autor beispielhaft Versuche vermeintlicher Revolutionäre, sich in der Zeit des Machtvakuums während des Bürgerkriegs in der Ukraine durch die Ausübung politischer Ämter persönlich
Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 122 f. Ebd., S. 167. Vgl. ebd., S. 175.
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zu bereichern: „Es fehlte an Leuten und niemand prüfte die Vergangenheit des genannten Aktivisten, umso mehr, als dieser um sich herum zuverlässige Rotgardisten versammelt hatte.“¹²⁰ Das Bild einer sauberen Revolution weicht in Uziembłos Beschreibungen einem im Vergleich zur marxistischen Historiographie offenen Realismus, der jedoch die marxistische Geschichtsschreibung zur Russischen Revolution und der Unabhängigkeit Polens lediglich in der Subebene des Textes anzweifelt. So vergisst Uziembło nicht, die Leserschaft auf die Solidarisierung der PPS FR mit der Oktoberrevolution zu hinzuweisen: „Nach der Auflösung des ZSP trat ich als Mitglied der Charʼkover Sektion der PPS, der ehemaligen Revolutionären Fraktion bei. Wir zweifelten nicht, dass unser Platz an der Seite der Oktoberrevolution war.“¹²¹ Von dieser Position ist auch Uziembłos Bewertung des dann folgenden Bürgerkriegs geprägt: Der bewaffnete Aufstand in der Hauptstadt, der dem Rätekongress die Macht zurückgab, setzte der Doppelherrschaft [wielowładztwo, Herrschaft der Provisorischen Regierung und des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrats, M.-B.] ein Ende und eröffnete die neue Periode des langjährigen Bürgerkriegs, in dem aufseiten der Regierung der Volkskommissare die Massen der Arbeiter, der Bauern und der Soldaten standen, und auf der anderen Seite die Großgrundbesitzer [obszarnicy], die Unternehmer, das Bürgertum, fast alle höheren Offiziere und die Intelligenz.¹²²
Im Zuge des Einmarsches der Roten Armee im Winter 1917/1918 in die Ukraine übernahm Uziembło die Leitung des Referats für Flüchtlingsfragen in der Charʼkover Filiale des Volkskommissariats für Polnische Angelegenheiten der Roten Armee. Es ist wohl dieses Engagement und Uziembłos zustimmende Position zur Machtergreifung der Bolʼševiki, die, wie der Autor mehrfach berichtet, ihn innerhalb der PPS in der frühen Zwischenkriegszeit des Engagements für die KPP oder für die Sowjetunion verdächtig machten. Die von Uziembło beschriebenen Unterstellungen diesbezüglich decken sich durchaus mit dem anti-kommunistischen Konsens, wie er in der Zwischenkriegszeit in der polnischen Politik und Gesellschaft vorherrschte.¹²³ Im Einklang mit dem Geschichtsbild der PRL zeigt sich der Autor in einer seiner wenigen Äußerungen zum Polnisch-Sowjetischen Krieg als Gegner des polnischen militärischen Vorgehens gegen die Rote Armee.¹²⁴ Dennoch setzt Uziembło seiner Solidarität mit dem sozialistischen Projekt in Russland dort Grenzen, wo es um die nationale Souveränität Polens geht, wie er anlässlich
Ebd., S. 169. Ebd. Ebd., S. 166. Vgl. dazu ausführlich Kap. 2.3. Ebd., S. 217.
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des Scheiterns einer Übereinkunft zwischen der kommunistischen KPP und den Sozialdemokraten der PPS 1919 schreibt: Als ich mir im [Lubliner] Rat der Delegierten die Mitglieder der KPRP anschaute, sah ich unter ihnen weitaus erfahrenere und entschiedenere Individuen als in den Reihen der eigenen Partei. […] Mich machte es wütend, als ich mir bewusst wurde, dass es keine Möglichkeit für eine gemeinsame Plattform gab, die die Grundlage für ein geeintes Engagement gewesen wäre. In dem von mir neugegründeten Presseorgan des Lubliner Bezirkskomitees [der PPS, M.-B.] ‚Unsere Losungen‘ [‚Nasze Hasła‘] polemisierte ich mit einem Artikel in der ‚Kommunistischen Wahrheit‘ [Wochenzeitung ‚Prawda Komunistyczna‘, M.-B.], der behauptete, dass die lokalen Interessen der einzelnen Nationen den Interessen des internationalen Kampfes untergeordnet werden müssen.¹²⁵
Mit seiner pro-sowjetischen, aber dennoch patriotischen Haltung gehörte Uziembło in der Zwischenkriegszeit offensichtlich zu einer Randströmung innerhalb der linken Intelligenz, die sich angesichts der zunehmend feindlichen Haltung des unabhängigen Polens gegenüber Sowjetrussland verstärkt Verdächtigungen ausgesetzt sah.¹²⁶ Ausführlich berichtet der Autor von Diffamierungsversuchen des polnischen Geheimdienstes oder der Regierung sowie in der PPS selbst als „kommunistischer Provokateur“.¹²⁷ Umso erstaunlicher ist jedoch, dass die verschiedenen Diffamierungserfahrungen seitens der Nationaldemokraten oder des Sanacja-Regimes nicht zu Uziembłos Übertritt zur illegalen KPP oder in die Sowjetunion führten. Stattdessen berichten Uziembłos Memoiren von der Fortsetzung seines Engagements in der PPS und in der lokalen Selbstverwaltung. Auch die Darstellung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Zwischenkriegspolen in den Memoiren lässt sich nicht auf das marxistische Geschichtsbild von der Zweiten Republik reduzieren. Dass die Aufzeichnungen dann auch mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 und Uziembłos Erzählung vom Gang in den polnischen Untergrund fast abbruchartig enden, passt durchaus in dieses Bild. Dabei schließt der Autor seine Aufzeichnungen mit einer ebenfalls ambivalenten Bewertung seiner eigenen Tätigkeit im Zweiten Weltkrieg. Über die Rückkehr in das mittlerweile von den Deutschen besetzte Warschau nach der Flucht aus Piotrków Trybunalski schreibt der Autor: Nicht nur physisch niedergeschlagen kehrte ich zurück; ich hatte die politische Orientierung, jedes eigenständige Denken verloren. Auf dem Gelände der Warschauer Wohnungsbaugenossenschaft in Żoliborz [Stadtteil in Warschau, M.-B.] konnte ich untertauchen, eine Arbeit
Ebd., S. 216. Vgl. dazu auch Zieliński, Population Displacement and Citizenship in Poland, 1918 – 24, S. 100. Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 212, 242.
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als Glaser und eine Kennkarte erhalten. Als ich mich dem Untergrundkampf gegen den Besatzer anschloss, war ich nicht mehr zu einer klaren, festen politischen Orientierung in der Lage. In der streng konspirativen Diensteinrichtung blieb ich etliche Jahre ein bloßer Vollstrecker von Befehlen. Aber das ist ein anderes Kapitel meines Lebens und meines Kampfs.¹²⁸
Erwähnt sei an dieser Stelle nochmal, dass Uziembło während des Zweiten Weltkriegs in einem Labor für Mikrophotographien der PPS WRN arbeitete und sich als Angestellter einer Untergrundabteilung der Armia Krajowa (AK, Heimatarmee) um die Verbindung zur Polnischen Exilregierung in London bemühte.¹²⁹ Ohne dies zu benennen, sind diese letzten Sätze als Selbstkritik oder als Rechtfertigung seiner Kriegstätigkeit zu verstehen. Dass es in dieser Lesart aber die Errichtung der PRL nach 1945 war, die ihm seine „politische Orientierung“ zurückgeben sollte, findet sich darin ebenso wenig. Möglich scheint jedoch auch, dass der letzte Absatz dazu diente, einer PPS-nahen Leserschaft zu ermöglichen, ebenjene Untergrundtätigkeit im Dienst der AK zu identifizieren, die zu benennen Uziembło aus Gründen der Zensur eben nicht möglich war.
Vom anti-imperialen Revolutionär zum Verfechter einer von der Sowjetunion geduldeten polnischen Souveränität Uziembłos Memoiren lassen sich bezüglich ihrer Wahrnehmung Russlands und des Osten eher denjenigen Repräsentationen der polnischen Intelligenz zuordnen, die in der Errichtung eines sowjetischen Russlands eben nicht die Fortsetzung eines russisch-imperialistischen Paradigmas sehen, sondern vielmehr den Bruch zwischen dem Russischen Imperium und der Sowjetunion hervorheben. Mit dieser Haltung gehört der Autor zweifellos zu den wenigen Grenzgängern der polnischen Intelligenz, deren Vision eines zukünftigen polnischen Staates auch und vor allem von den gesellschaftlichen Veränderungen innerhalb Russlands zum Ende des Ersten Weltkrieges in hohem Maße beeinflusst worden war. Dennoch begriffen sich auch Personen wie Uziembło oder die ebenfalls in der Studie behandelte Krahelska vor 1917 als Teil einer sozialen und ideologisch höchst heterogenen Bewegung, die sich vor allem durch ihre Ablehnung des russischimperialen Herrschaftsregime definierte. Mit seiner Interpretation der eigenen Lebensgeschichte und der polnischen Geschichte der Teilungs- und der Zwischenkriegszeit ähnelt Uziembłos Erzählung der russisch-imperialen Erfahrung derer Halina Krahelskas dreißig Jahre zuvor. Beide Personen zeichneten sich nicht Ebd., S. 456. Vgl. Marczuk, Art, S. 274.
5.1 Władysław Uziembło (1887 – 1980)
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nur durch ihre Zugehörigkeit zur Generation der Revolutionäre aus, als deren generationelles Erweckungserlebnis die revolutionären Ereignisse von 1905 und 1906 gelten sollten, beide verband ebenso die Verbindung der nationalen und der gesellschaftlichen Frage Polens, deren Lösung sie vor allem in dem 1917 vom bolschewistischen Russland offerierten Gesellschaftsmodell erblickten. Zugleich führten ihre Beobachtungen der negativen Begleiterscheinungen der Russischen Revolution wie von gesellschaftlichem Chaos, Terror und Herrschaftswillkür dazu, Positionen der polnischen Intelligenz zu überdenken und Ideen einer sozialistischen Staatsvision Polens zu entwerfen, die die erkämpfte Souveränität an den Anfang ihrer Überlegungen stellten. Interessanterweise folgt jedoch ausgerechnet Uziembło, dessen Memoiren in einem Umfeld staatlich verordneter polnisch-sowjetischer Freundschaft erschienen, und die die Lebensgeschichte eines Polen mit polnischen und russischen Familienwurzeln zum Inhalt hatten, nicht dem Muster einer Solidarisierung russischer und polnischer revolutionärer Bewegung, wie dies Krahelska in ihren Memoiren in den dreißiger Jahren tat. Stattdessen entwirft Uziembło neben einer in ihren Grundzügen staatlich loyalen und ideologisch durchaus konformen Erzählung vom Zerfall des Russischen Imperiums, von der russischen Oktoberrevolution und von der Errichtung eines unabhängigen Polens das Narrativ einer national-zentrischen Revolutionstradition, die vor allem die Befreiung Polens von der russisch-imperialen Herrschaft und die Errichtung eines souveränen und demokratischen Polens zum Inhalt hatte. Mit dieser Idee der souveränen nationalen Existenz begründete Uziembło in seinen Memoiren übrigens auch seine Zustimmung zur bestehenden Nachkriegsordnung im Osten Europas mit der Sowjetunion als Garanten polnischer Souveränität. In einem Vergleich äußert er sich zum Scheitern des Sozialismus in Polen nach 1918 und dessen erfolgreicher Errichtung nach 1945: Wenn ich mich heute nach vierzig Jahren der Augenblicke voller Furcht und Zweifel erinnere, ob die gewählte politische Linie die geeignetste im Kampf um den Sozialismus gewesen sei, heute, wenn der revolutionäre Sozialismus schon lange die Ideen des Luxemburgismus abgelegt hat, sehe ich, wie die Entwicklung der Ereignisse [nach dem Ersten Weltkrieg, M.-B.] dazu führte, dass das Werk des schlesischen [polnischen, M.-B.] Arbeiters sich erst in Gänze entfalten konnte, nachdem die Schatten Bismarcks und Hindenburgs in den Kämpfen der schlesischen Aufständischen um St. Annaberg und um die erneuerte Tradition von Grunwald verdeckt worden waren. Überhaupt erwies sich die Berufung auf die Traditionen der nationalen Befreiung und die Stützung auf die Nationalen Räte für den Umbau des gesellschaftlichen Systems in Polen um 1945 bei der Errichtung des Sozialismus auf den Säulen des Internationalismus als fähiger als die Bildung von Arbeiterdelegiertenräten [in Lublin nach 1918, M.-B.] nach dem Vorbild der Sowjetunion. Aber diese Ideen konnten sich erst im
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5 Intelligenz in der Krise
Widerstand zum Hitlerregime, das die Vernichtung ganzer Nationen anstrebte, herauskristallisieren und überdauern.¹³⁰
Das Zitat offenbart die Grenzen des Sagbaren von 1965 und veranschaulicht dennoch eindrucksvoll Uziembłos Idee eines sozialistischen Polens. Sprache und Rhetorik sind dabei durchdrungen von Begriffen und Konzepten des MarxismusLeninismus, etwa wenn sich Uziembło mit dem Verweis auf das von den Bolʼševiki und später von den polnischen Kommunisten abgelehnte Konzept des „Luxemburgismus“ von seinen eigenen Ideen aus der frühen Zwischenkriegszeit, nämlich mittels einer Front aller sozialistischen Parteien einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen, distanziert.¹³¹ Dabei verfügte Uziembłos Idee von Polen auch über eine post-imperiale Komponente. So macht der Autor darauf aufmerksam, dass es das schwierige multi-imperiale Erbe der Zweiten Republik und die nach dem Ersten Weltkrieg anzutreffende Identifizierung der Polen mit den ehemaligen Teilungsmächten gewesen sei, die nach dem Ersten Weltkrieg die Idee eines sozialistischen Polens verhindert habe.¹³² Im kommunistischen Polen von 1965 und damit in der Erzählung von Uziembło konnte dies nachvollziehbarerweise nicht das Erbe des Russischen Imperiums sein, welches das geteilte Polen politisch und gesellschaftlich weitaus mehr geprägt hatte, sondern lediglich das preußische Erbe. Mit dem Verweis auf den schlesischen Aufstand und das offizielle Staatsgedenken an die Schlacht von Grunwald im Jahr 1410 und noch deutlicher mit dem Verweis auf das Hitlerregime rekurriert Uziembło auf die Kanonisierung Deutschlands als potentielle und nach wie vor gegenwärtige Gefahr für den polnischen Staat. Mit ihr weist der Autor auch auf die Relevanz der Sowjetunion für die PRL hin, denn nur diese und die „Säulen des Internationalismus“ – gemeint sind die übrigen Staaten des Warschauer Pakts – garantierten die bestehende Ordnung des sozialistischen Polens. Das Zitat ist insofern zentral, als in ihm Uziembłos Bemühen, die Idee von der Befreiung Polens aus der Herrschaft der imperialen Teilungsmächte mit der als verwirklicht geltenden Vision eines sozialistischen Polens in Einklang zu bringen und die eigene Erfahrung in diese Erzählung einzuschreiben, zum Ausdruck kommt. Das Zitat zeigt letztlich auch, dass dies nur teilweise und nicht ohne Widersprüche gelingt, wandelt sich der Erzähler doch vom Revolutionär, dessen Aktivitäten vor 1917 auf die Befreiung
Uziembło, Wspomnienia 1900 – 1939, S. 221. Zu Rosa Luxemburg und ihrer Bedeutung für die polnischen und russischen Sozialisten nach 1917 vgl. Dziewanowski, Social Democrats vs. „Social Patriots“, S. 21. Uziembłos Argumentation von der mangelnden nationalen Reife der Polen ähnelt interessanterweise der Annahme der Piłsudski-nahen POW-Kräfte und ihrem die Zwischenkriegszeit prägenden Korpsgeist, vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 76.
5.2 Paweł Jasienica (1909 – 1970)
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Polens von der russisch-imperialen Dominanz gerichtet war, zum Verfechter eines sozialistischen und national souveränen Polens, dessen Fortbestand aber eben nicht von der polnischen Arbeiterschaft, sondern zuvorderst von der Sowjetunion garantiert wird. Uziembłos Benennung der „Nationalen Räte“ verweist diesbezüglich auf die Gründung des Tymczasowy Rząd Jedności Narodowej (TRJP, Provisorische Regierung der Nationalen Einheit), der sich im Sommer 1945 aus der von polnischen Kommunisten im Land gegründeten Krajowa Rada Narodowa (KRN, Landesnationalrat), aus Vertretern des Lubliner Befreiungskomitees PKWN sowie aus wenigen Repräsentantinnen und Repräsentanten der politischen Parteien wie der PPS und der Volkspartei (SL, Stronnictwo Ludowe) im polnischen Exil zusammensetzte.¹³³ An dieser Stelle sei nochmals daran erinnert, dass Uziembło sich bis zum Kriegsende für die PPS WRN engagiert hatte, die ebenjener parteiübergreifenden Rada Jedności Narodowej (RJN, Rat der Nationalen Einheit) aus Delegierten etwa von PPS, SL und Stronnictwo Narodowe (SN, Nationale Partei) angehört hatte – jenem repräsentativem Organ der Exilregierung im Land, das sich mit Kriegsausbruch 1939 als Rada Narodowa (RN, Nationaler Rat) gegründet, in verschiedenen Formen überdauert und sich anlässlich des Wiedereinmarschs der Roten Armee im Januar 1944 in Ostpolen neu formiert hatte.¹³⁴ Trotz ihrer Zerrissenheit verband die RJN die Ablehnung jeder Form der politischen und militärischen Zusammenarbeit mit den sowjetischen Machthabern und ihren polnischen Vertretern.¹³⁵ Es überrascht nicht, dass dieser Umstand in der autobiographischen Erzählung des Autors von 1965 keinen Platz findet und die Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges vom Autor nicht thematisiert werden. Einmal mehr wird an diesem Beispiel deutlich, wie sehr das autobiographische Schreiben von Vertreterinnen und Vertretern der polnischen Intelligenz an die politischen Verhältnisse der jeweiligen Gegenwart gebunden war.
5.2 Paweł Jasienica (1909 – 1970): „Geschichte der Angst“ eines inneren Exilanten Paweł Jasienica ist der mit Abstand jüngste Protagonist der Studie und somit der letzten hier behandelten Generation der Republikaner zuzuordnen. Als Publizist verfügte Jasienica im Exil und in den liberalen und oppositionellen Kreisen der
Vgl. ebd., S. 248. Vgl. ebd., S. 235. Vgl. Halik Kochanski: The Eagle Unbowed. Poland and the Poles in the Second World War, Cambridge, Mass. 2012, S. 385.
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5 Intelligenz in der Krise
PRL über ein hohes Ansehen, der Schriftsteller Jerzy Andrzejewski (1909 – 1983) bezeichnete ihn auf dessen Beerdigung als „einen der hervorragendsten und meistgelesensten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Wenn er die vergangenen Zeiten wiedererweckte, so lebte er doch im Hier und Jetzt.“¹³⁶ Der Historiker und Politiker Władysław Bartoszewski (1922– 2015) machte 2007 in seinem Vorwort zu Jasienicas Memoiren ebenfalls darauf aufmerksam, dass Jasienica selbst die Kindheitserfahrung vom Leben im Russischen Imperium während des Ersten Weltkriegs, vom Zerfall des Reiches und seiner gesellschaftlichen Strukturen in der Russischen Revolution und im Bürgerkrieg in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang stellte: Er hob gern hervor, dass er auf die Geschichte mit den Augen eines Menschen schaue, der den Zweiten Weltkrieg erlebt habe und den Ersten erinnere, obwohl er gegen Ende des Ersten erst neun Jahre zählte. Er gab auch zu verstehen, dass er durch die Brille der Gegenwart auf die Vergangenheit schaue. ‚Es gibt auf der Welt keinen Menschen, der anders auf die Vergangenheit schauen könnte. Aber nicht alle können sich dazu bekennen‘, sagte er.¹³⁷
In einem derartigen Geschichtsbewusstsein verwurzelt, entwickelte der in der PRL höchst populäre Publizist und ausgebildete Historiker seine Sicht auf das zweite und dritte Jahrzehnt zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg als wichtigster Periode Polens im 20. Jahrhundert. In Polen selbst politisch geächtet, benannte der Historiker in seiner letzten Veröffentlichung 1968 im Londoner Journal of Contemporary History, einem damals jungen, von George L. Mosse (1918 – 1999) und Walter Laqueur (1921– 2018) herausgegebenen Wissenschaftsjournal, die Wahlen zum verfassungsgebenden Sejm im Jahre 1919 als wichtige Weichenstellung für Polens Verortung in Europa und dessen Abgrenzung zum Osten: „It was, I must repeat, the January elections that gave the Polish state the character of a barrier against communism.“¹³⁸ Die polnische Erfahrung des russischen Bürgerkriegs hatte, so Jasienica weiter, auf diese Entscheidung größten Einfluss: The majority [der polnischen Gesellschaft, M.-B.] had no doubts which road to choose – that of civil war or that of parliamentarism. Simple fear thus had a very serious influence on historical events in our region of Europe, and continued to exercise an influence, later
Jerzy Andrzejewski: Nad grobem Pawła Jasienicy, in: Kultura, H. 10/277, 1970, S. 3 – 4, hier S. 3. Władysław Bartoszewski: O eseistyce Pawła Jasienicy, in: Paweł Jasienica: Pamie̜tnik, Warszawa 2007, S. 5 – 13, hier 9 f. Pawel Jasienica: The Polish Experience, in: Journal of Contemporary History 3, H. 4, 1968, S. 73 – 88, hier S. 83.
5.2 Paweł Jasienica (1909 – 1970)
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aggravated by reports of the Moscow trials and more generally of those Stalinist methods of rule which nowadays are common knowledge.¹³⁹
Die Angst vor Sowjetrussland hätte die polnische Staatsräson in der Zwischenkriegszeit bestimmt, eine Angst, die durch das Bekanntwerden der stalinistischen Säuberungen und der Schauprozesse in den dreißiger Jahren und in der gegenwärtigen Regierungspraxis des herrschenden Systems in der Volksrepublik Polen stetig erneuert werden sollte. Aus dem Artikel sprechen ebenso Jasienicas Ablehnung des herrschenden Systems in der PRL, wie der stalinistischen Sowjetunion der dreißiger Jahre. Wie aus seinen kurz darauf entstandenen Memoiren hervorgeht, sah Jasienica diese Angst vor allem in der polnischen Erfahrung des Russischen Bürgerkrieges verwurzelt. In ihnen äußert sich der Publizist zum Erfahrungszusammenhang von Bürgerkrieg, Terror der Bolʼševiki und polnischer Staatenwerdung, wenn er die Ankunft seiner Familie bei Białystok nach der Flucht vor der Roten Armee aus Russland nach Polen beschreibt: Der Zug hielt auf dem Feld, unweit eines Provinzbahnhofs, die Passagiere verließen die Güterwaggons, um etwas durchzuatmen. Eine Ortsbewohnerin, eine Landsfrau, näherte sich der Mutter mit einem ernsten, bekümmerten Gesicht. ‚Sagen Sie, werden die Bolschewiken durch Polen marschieren?‘, fragte sie mit leisem Unterton, als ob sie sich fürchtete, das Böse zu beschwören. […] Den folgenden Herbst bemühten sich die Altersgenossen und die Kollegen aus dem Gymnasium, sogar die Professoren oft um Berichte zum Thema der Črezvyčajka [russ. Abk. für Vserossijskaja Črezvyčajnaja Komissija po borʼbe s kontrrevoljuciej, spekuljaciej i sabotažem, Allrussische Außerordentliche Kommission zum Kampf gegen die Konterrevolution, Spekulation und Sabotage, M.-B.], zum Bürgerkrieg und generell über all die anderen Annehmlichkeiten. Dies alles erlaubte mir, die historische Rolle der hunderttausenden Menschen zu betonen, die eilig den Osten verlassen hatten und dabei ihr ganzes Hab und Gut zurückgelassen hatten, um Unterschlupf in einem Polen zu finden, das damals weit vom Wohlstand entfernt war. Wir wurden zu Botschaftern der Angst. Wie oft vergessen Autoren gelehrter Argumentationen zum Thema der Geschichte zu erwähnen, dass zu den sie formenden Hauptfaktoren die ganz gewöhnliche Angst zählt, dieses ewige und primäre Gefühl.¹⁴⁰
Betrachtet man beide Auszüge in der Zusammenschau, wird deutlich, dass Jasienicas Argumentation in seinen Memoiren der in seinem englischsprachigen Beitrag ähnelt und in beiden Fällen einer lebensgeschichtlichen Perspektive entspringt. Die eigene Erfahrung wird um eine nationale Deutung der histori-
Ebd., S. 87. Paweł Jasienica: Pamie̜tnik, Warszawa 2007, 81 f.
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schen Ereignisse um die Unabhängigkeit Polens nach dem Ersten Weltkrieg erweitert. Jasienicas These lautet: Die Erfahrung der Russischen Revolution und der daran anschließenden Gewaltspirale sowie die Angst vor ähnlichen Verhältnissen in Polen bildeten die Grundlage und die Eckpfeiler des politischen Denkens in Polen zwischen den Weltkriegen. Beiden Zitaten wohnt dabei ein nahezu Freudsches Moment inne, wenn Jasienica auf die Angst als urmenschliche Emotion und als Grundbedingung menschlichen Handelns verweist. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass Jasienica etwa ein halbes Jahr vor Erscheinen seines Beitrags in der Volksrepublik mit einem Veröffentlichungsverbot versehen worden war. Die Märzunruhen 1968, die Jasienica mit einer Rede auf einem Kongress der polnischen Schriftsteller unterstützt hatte, hatten das kommunistische Regime erschüttert und seine breite gesellschaftliche Legitimation in Frage gestellt.¹⁴¹ In den Jahren vor Jasienicas Verbannung aus der Öffentlichkeit hatte sich der Historiker den Ruf eines unbequemen und unabhängigen Publizisten erarbeitet, der, wenngleich er dem kommunistischen Regime fern stand, sich an den gesellschaftlichen und politischen Debatten in Volkspolen aktiv und lautstark beteiligte. Bis zu seinem Schreibverbot wirkte er in jenem Bereich des öffentlichen Lebens mit, der als staatlich dominiert und von der Zensur kontrolliert gelten musste. Mit der Deutungsmacht eines in Exil und Volkspolen gleichermaßen populären Publizisten und Historikers und mit der Authentizität des Zeitzeugen rüttelte der Autor in seinen Memoiren am Kern volkspolnischer Geschichtsdeutung und nicht zuletzt am master narrative der volkspolnischen Machthaber. Nicht gesellschaftliche Zustimmung, sondern die aus den polnischen Gewalterfahrungen der Russischen Revolution und des sowjetischen wie auch des polnischen Stalinismus fließende Angst waren in Jasienicas Augen die Grundlage kommunistischer Herrschaft in Polen. Im Folgenden soll beschrieben werden, welche Rolle dabei Jasienicas autobiographischem Schreiben und der russisch-imperialen Periode seiner Biographie zwischen Imperiumszerfall und Polens Unabhängigkeit zukam.
Zur Biographie von Leon Lech Beynar Paweł Jasienica kam 1909 als Leon Lech Beynar im russischen Simbirsk (heute Ulʼjanovsk) zur Welt. Beynar entstammte einer Familie polnischen Landadels, in seiner Sozialisation jedoch spielten auch andere Einflüsse eine wichtige Rolle. So wurde der Vater Mikołaj als Kind einer Verbindung zwischen Beynars Großvater
Vgl. Arkadiusz Kierys: Polska Jasienicy. Biografia publicysty, Kraków 2015, S. 522 f.
5.2 Paweł Jasienica (1909 – 1970)
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Ludwik und einer Spanierin in Frankreich geboren, wohin der Großvater nach dem anti-russischen Aufstand von 1863 geflüchtet war. Auch Beynars Großvater mütterlicherseits, Wiktor Maliszewski, verfügte über eine französische Biographie und war in Nantes geboren. Der Sitz der Familie lag jedoch nach wie vor in der linksufrigen Ukraine bei Kiev. Beide Familien waren in den 1870er Jahren in das Russische Imperium nach Kiev zurückgekehrt, wo sich Beynars Vater Mikołaj und die Mutter Helena Maliszewska kennengelernt hatten.¹⁴² Dessen Arbeit als Agronom führte die beiden in den Osten des Russländischen Reiches nach Ekaterinburg, wo er als Beamter in der lokalen Selbstverwaltung arbeitete. Die Geburtsorte ihrer drei Kinder geben Auskunft über die häufig wechselnden Lebensmittelpunkte der Familie. Janusz, der älteste, wurde in Ekaterinburg geboren, Beynars jüngere Schwester Irena wiederum war in Sankt Petersburg zur Welt gekommen. Die Jahre vor und während des Ersten Weltkrieges verbrachte die Familie in einem Dorf Maksaticha bei Tver in der russischen Provinz. Hier wurden sie 1917 Zeugen der Februarrevolution, der Abdankung des Zaren und des bolschewistischen Umsturzes im Oktober. Jasienica betont in seinen Memoiren, dass alle drei Ereignisse kaum Auswirkungen auf den Lebensalltag der Familie in Maksaticha hatten, und dass erst die Ausreise der Familie zum Großvater in die Ukraine im Sommer 1918 sie zu Zeugen der Revolution und des Bürgerkriegs machte.¹⁴³ Dennoch war die Familie bereits im heimischen Maksaticha von den Auswirkungen der Russischen Revolution von 1917 betroffen und beteiligte sich dort durchaus am gesellschaftlichen Wandel. Der Vater etwa engagierte sich nach der Februarrevolution als Leiter des örtlichen revolutionären Komitees bei der Einführung demokratischer Verwaltungsstrukturen auf dem Land und beim Schutz der Bürgerschaft vor Plündereien.¹⁴⁴ Anlass zur Ausreise der Familie in den Westen im Sommer 1918 war wohl die andauernde unsichere Lage in Russland sowie der Wunsch der Mutter zur Rückkehr in die Ukraine nach dem Friedensvertrag von Brest-Litovsk zwischen Deutschland und Sowjetrussland.¹⁴⁵ Die Familie ließ sich südlich von Kiev in Tarašča nieder, wo sich nach dem Abzug der deutschen Truppen zunächst die „weißen“ Anhänger des Ancien Régime unter Führung Denikins behaupteten, später dann die wechselnden Herrschaftsregime der Roten Armee, ukrainischer Aufständischer und schließlich der Polnischen Armee. Die Familie floh schließlich mit den polnischen Truppen vor der heran-
Vgl. ebd., S. 31. Vgl. Jasienica, Pamie̜tnik, S. 45 f. Vgl. Kierys, Polska Jasienicy, S. 33. Vgl. Jasienica, Pamie̜tnik, S. 46, 53.
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5 Intelligenz in der Krise
rückenden sowjetrussischen Armee im Mai 1920 und erreichte schließlich Wilna, von wo die Familie erneut vor der Roten Armee nach Warschau flüchtete. Nach der Ankunft in Polen wohnte die Familie zunächst in der Nähe von Sandomierz, später dann in Gródno. Dort beendete der junge Leon Beynar bald darauf die Schule und ging anschließend zum Geschichtsstudium nach Wilna.¹⁴⁶ Wilna, das erst infolge einer polnischen Militärintervention ohne Einverständnis der Siegermächte des Ersten Weltkriegs an den polnischen Staat angeschlossen wurde, war einerseits durch die periphere Lage an der Grenze zu Sowjetrussland und Litauen geprägt und litt unter der vorherrschenden schlechten wirtschaftlichen Lage in den polnischen Ostprovinzen.¹⁴⁷ Dazu kamen neben den Konflikten um die Staatsführung zwischen Sanacja-Regime und den oppositionellen Nationaldemokraten die konkurrierenden Ansprüche der verschiedenen Nationalitäten um die Stadt.¹⁴⁸ Später betonte Jasienica die Besonderheit Wilnas für die polnische Kulturgeschichte und die nicht zu überschätzende Bedeutung der Stadt für die frühneuzeitliche Adelsrepublik. In der Zwischenkriegszeit jedoch empfand der junge Student den aus der Geschichte abgeleiteten polnischen Konservatismus in der Stadt und die über das politische Spektrum hinweg dominierenden Burschenschaften in der polnischen Studierendenschaft als erdrückend und einengend.¹⁴⁹ Er selbst wurde Mitglied des Akademicki Klub Włóczęgów Wileńskich (AKWW, Akademischer Klub der Wilnaer Landstreicher), einer Studentenvereinigung, der unter anderem auch Czesław Miłosz angehörte und die sich um einen möglichst offenen Zugang zu allen sozialen, politischen und nationalen Gruppen der Stadt bemühte. Althergebrachte Formen der sozialen Kommunikation wollte man hier überwinden.¹⁵⁰ Ein beträchtlicher Teil des AKWW tendierte zu Beginn der dreißiger Jahre zu linksradikalen Ansichten. Auch Beynar war gerade vor dem Hintergrund Wilnaer Provinzialität und zunehmender Armut sowie angesichts der Krise des Parlamentarismus in Polen vom Gesellschaftsprojekt der Sowjetunion fasziniert, wenngleich er sich nicht in so hohem Maße mit ihr identifizierte, wie dies etwa andere Mitglieder des AKWW wie Czesław Miłosz, Jerzy Putrament (1910 – 1986), Henryk Dembiński (1908 – 1941) oder Stefan Jędrychowski (1910 – 1996) taten.¹⁵¹ Dennoch blieb der spätere Publizist mit den Genannten weiter in Kontakt. Insbesondere mit Dembiński, einem Hoffnungsträger der herrschenden
Vgl. Kierys, Polska Jasienicy, S. 45. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 118. Vgl. dazu ausführlich Theodore Weeks: Vilnius between nations. 1795 – 2000, DeKalb, Ill. 2015, S. 124– 153. Vgl. Kierys, Polska Jasienicy, S. 44. Vgl. ebd., S. 46. Vgl. Wacław Korabiewicz: Pokusy, Warszawa 1986, S. 147 f.
5.2 Paweł Jasienica (1909 – 1970)
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politischen Klasse, der zugleich jedoch Mitglied der verbotenen Partei der polnischen Kommunisten war, verband Beynar auch in seiner Militärzeit 1932 bis 1934 eine langjährige Freundschaft. Dembińskis politische Haltung fußte anfänglich auf christlichen und sozialistischen Werten – ein Modell, das für Beynar in der PRL durchaus attraktiv erscheinen sollte.¹⁵² Von Zeitgenossen und ehemaligen Studienkollegen wurde der spätere Publizist in seiner Zeit in Wilna vor dem Zweiten Weltkrieg als apolitisch beschrieben.¹⁵³ Seine Tätigkeit im AKWW und später als Lehrer an einer jüdischen Schule in Wilna sprechen jedoch für eine liberale Haltung, die sich in Auseinandersetzung mit den Phänomenen jener Zeit, dem Nationalismus, dem Faschismus und dem Kommunismus sowie mit der eigenen Erfahrung von Russischer Revolution und Bürgerkrieg entwickelte.¹⁵⁴ Nach dem Militärdienst folgte ein Jahr der Arbeitslosigkeit und schließlich eine Tätigkeit als Geschichtslehrer an verschiedenen Schulen in Gródno und Wilna. In dieser Zeit heiratete er Władysława Adamowiczówna (1904 – 1965), eine fünf Jahre ältere Chemie-Absolventin der Wilnaer Universität. Kurz vor Kriegsausbruch wurde ihr einziges gemeinsames Kind Ewa geboren. Diese deckte erst 2004 mit ihrer Biographie über ihren Vater auf, dass dieser bis zu seinem Tod von seiner zweiten Ehefrau Nena Zofia O’Bretenny, die er nach dem Tod seiner ersten Frau 1969 geheiratet hatte, bespitzelt worden war.¹⁵⁵ Beynars publizistische Arbeit begann keineswegs erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Begonnen hatte der Historiker mit einer ähnlichen Tätigkeit als Sprecher und Redakteur des Polnischen Radios in Wilna 1937 – übrigens ähnlich wie Miłosz, der im gleichen Jahr zum Polnischen Rundfunk in Wilna gestoßen war.¹⁵⁶ Vorzeitig beendet wurde diese Tätigkeit durch die Einberufung zur Polnischen Armee durch den Überfall der Wehrmacht auf Polen 1939. Nachdem Beynar, der als Offizier in die Kampfhandlungen involviert war, von den Deutschen gefangengenommen worden war, gelang ihm Ende September die Flucht. Er tauchte unter und kehrte Ende Oktober nach Wilna zurück, das erst kurz zuvor von den sowjetischen Besatzern an die litauische Regierung übergeben worden war, letztlich aber wie das gesamte Litauen unter sowjetischem Einfluss blieb.¹⁵⁷ Als
Vgl. Kierys, Polska Jasienicy, S. 237. Vgl. ebd., S. 46. Zur Annahme einer apolitischen Haltung von Jasienica in der Zwischenkriegszeit vgl. ebd., S. 71. Vgl. Ewa Beynar-Czeczott: Mój ojciec Paweł Jasienica, Warszawa 2006. Zur Bespitzelung von Jasienica durch O’Bretenny vgl. ausführlich Joanna Siedlecka: Ja w sprawie romansu, in: Obława. Losy pisarzy represjonowanych, hg. von ders., Warszawa 2005, S. 328 – 378. Vgl. Kierys, Polska Jasienicy, S. 73. Vgl. Snyder, The Reconstruction of Nations, S. 82.
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Bewohner der Stadt sollte Beynar zunächst Zeuge einer beispiellosen Litauisierungspolitik der Stadt werden, die mit Straßenumbenennungen begann und mit dem Entzug der staatsbürgerlichen Rechte von Personen nicht-litauischer Nationalität endete, und deren Wurzeln in den Antagonismen der polnischen und litauischen Nationalismen der Zwischenkriegszeit zu finden waren. Im Juni 1940 folgte nahezu geräuschlos die sowjetische Besetzung Wilnas und Litauens, wiederum gefolgt von einem Herrschaftswechsel nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Sommer 1941 und der gezielten Massentötung der jüdischen Bevölkerung. Eine Besonderheit in Wilna war das Vorgehen der deutschen Besatzer. Zum einen gingen diese mit Massenerschießungen vor, zum anderen beteiligten sich daran viele litauische Kollaborateure. Eine weitere Besonderheit war die hohe Zahl an polnischen Opfern, wie etwa bei den Massenmorden von 1941 bis 1943 in Ponary bei Wilna.¹⁵⁸ Timothy Snyder beschreibt die Gewalt zwischen der polnischen und litauischen Bevölkerung als „low-level civil war under German rule“: The Lithuanian-Polish contest for Vilnius/Wilno, sporadically violent between 1939 and 1941, deteriorated into low-level civil war under German rule. From autumn 1943, the Polish underground Home Army attacked and disarmed collaborating Lithuanian police units in and around Wilno. Lithuanian police men responded by executing Polish civilians. This was followed by retributive attacks on Lithuanian villages by Poles.¹⁵⁹
Offiziell als Maurergehilfe tätig, engagierte sich Beynar zu diesem Zeitpunkt bereits als Offizier der polnischen Heimatarmee im Untergrund und publizierte vor allem Flugblätter und Zeitungsblätter, zunächst gegen die sowjetische Besatzung, später dann gegen die Besatzung der Nationalsozialisten.¹⁶⁰ Daneben war der Historiker als Dozent der Untergrunduniversität tätig. Wenngleich Beynar nicht direkt an den terroristischen Aktionen der AK gegen litauische Kollaborateure beteiligt war, verurteilte er in seiner Publizistik jede Form der Kollaboration mit den Besatzern – egal, ob mit den sowjetischen oder den deutschen, und gleichgültig, ob sich daran die litauische, die belarussische oder die polnische Bevölkerung beteiligte. Als verurteilungswürdig sah Beynar auch jegliche Formen der Instrumentalisierung polnischen Opfergedenkens während des Krieges an. In einem Beitrag vom Dezember 1941 für die Zeitung Dla Polski (Für Polen) im Wilnaer Einzugsgebiet der AK schreibt der Autor:
Vgl. ebd., S. 84. Ebd. Vgl. Kierys, Polska Jasienicy, S. 91.
5.2 Paweł Jasienica (1909 – 1970)
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Lüge und Falschheit, der Kult der materiellen Kraft und die Vernichtung des Individualismus sind das gemeinsame Erbe Russlands und Preußens seit den alten Byzantinern bis hin zu den Kreuzrittern. Unverhüllt träumen die Deutschen heute von der Vernichtung der Nationen und ihrer Umsiedlung bis hinter den Ural. […] In Wahrheit haben die Deutschen noch niemanden bis nach Asien deportiert, aber nur deshalb, weil sie dort noch nicht herrschen. Sollte das aber kommen, dann werden wir alle bis zum Ural gehen: sowohl wir Polen, als auch ihr Litauer, Letten und Belarussen und jeder, der nicht zum ‚Herrenvolk‘ gehört. Dies möchten wir all jenen sagen, die ihre Zukunft auf dem deutschen Fundament bauen.¹⁶¹
Im gleichen Artikel verurteilt Beynar auch die Zusammenarbeit polnischer Intellektueller wie Władysław Studnicki und Józef Mackiewicz mit den deutschen Presseorganen und deren Versuche, die polnische Bevölkerung für den Russlandfeldzug der Wehrmacht zu mobilisieren. Aus anderen Beiträgen wird ersichtlich, dass sich Beynars Kritik an der Kollaboration keineswegs nur auf die deutsche Besatzung beschränkte, sondern auch auf die „blutigen Pfoten der bolschewistischen Mörder“.¹⁶² Dies verwundert nicht, waren doch Beynars Geschwister und seine Eltern während der sowjetischen Besatzung von 1940 bis Sommer 1941 in die Sowjetunion nach Kujbyšev (heute Samara) deportiert worden.¹⁶³ Der Streit zwischen Kollaborateuren und Untergrundkämpfern sowie Beynars deutliche Verurteilung jeder Form von Kollaboration hatten drastische Folgen. So wurde Józef Mackiewicz von einem Militärgericht der AK zu Beginn 1943 zum Tode verurteilt, wenn auch das Urteil in der Folgezeit nicht vollzogen wurde.¹⁶⁴ Arkadiusz Kierys weist in seiner Biographie über Jasienica darauf hin, dass Beynars unversöhnliche Haltung zu Józef Mackiewicz auch in der Nachkriegszeit zum Ausdruck kommen sollte – ersterer warf letzterem in einer in Exil und PRL geführten Diskussion über Mackiewiczs Erzählung Der Weg ins Nirgendwo die Ignorierung des polnischen Leidens unter den deutschen Besatzern vor, letzterer beschuldigte Beynar wiederum der Zusammenarbeit mit den kommunistischen Machthabern in der PRL.¹⁶⁵ Der Streit zwischen den beiden war letztlich auch ein Streit über die Frage der nationalen Souveränität sowie um die angemessene Haltung zum kommunistischen Regime und darüber, inwiefern das Totalitarismus-Paradigma auch auf die PRL anwendbar war und ob nicht letztlich alle Kulturschaffenden der PRL mit oder ohne Parteibuch sich den Regeln eines
Leon Lech Beynar, zit. in: ebd., S. 103. Leon Lech Beynar, zit. in: ebd., S. 100. Vgl. Kierys, Polska Jasienicy, S. 145. Vgl. Tadeusz Piotrowski: Poland’s Holocaust. Ethnic Strife, Collaboration with Occupying Forces and Genocide in the Second Republic, 1918 – 1947, Jefferson, NC 1998, S. 85. Vgl. Józef Mackiewicz: Droga donikąd, Londyn 1955; Kierys, Polska Jasienicy, S. 428 f.
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totalitaristischen Regimes zu unterwerfen hatten. Józef Mackiewicz schrieb 1967 dazu: Nicht nur der Kommunist, auch der Nicht-Kommunist, der im kommunistischen Staat schreibt, d. h., der sowohl der physischen als auch der psychischen Reglementierung, die vom kommunistischen System errichtet wurde, unterliegt, gehört nicht mehr der Literatur seines Landes an, sondern nurmehr dem Typus der diesem Land aufgezwungenen Literatur.¹⁶⁶
Es ist kaum verwunderlich, dass Beynar sich mit Mackiewiczs Haltung nicht einverstanden zeigte, sprach dieser doch in seinen Äußerungen allen Schreibenden in Volkspolen jede Form der künstlerischen Autonomie ab, vor allem aber: ihre Zugehörigkeit zur polnischen Nation und die Möglichkeit nationaler Repräsentation. Aus Beynars Auszügen über die Frage der Kollaboration während des Zweiten Weltkriegs wurde bereits deutlich, dass dieser im Gegensatz zu Mackiewicz die These von der Wahlfreiheit eines jeden Menschen in seiner Haltung zum jeweils herrschenden Regime vertrat – eine Position, die sich auch in seinen Memoiren widerspiegeln sollte. Die kontroverse Wahrnehmung Beynar-Jasienicas im Exil wie auch in der PRL gilt es zu berücksichtigen, wenn es im Folgenden um den Entstehungskontext der Memoiren geht.
Die Erfindung von Paweł Jasienica, oder: Vom „Homo novus“ zum inneren Exilanten Anders als bei den bisher besprochenen autobiographischen Schriften hinterließ Beynar-Jasienica lediglich Fragmente einer Autobiographie. Der Autor hatte im Januar 1970 im Alter von 61 Jahren mit dem Schreiben seiner Memoiren begonnen, bevor er im August desselben Jahres an den Folgen einer Lymphknotenkrebserkrankung verstarb.¹⁶⁷ Zu diesem Zeitpunkt war der Publizist bereits mit einem
Józef Mackiewicz, zit. in: ebd., S. 437. Die Verleger der Ausgabe von Jasienicas Memoiren aus dem Jahr 2007 geben an, dass Jasienicas Memoiren in Auszügen und zensiert erstmals von 1985 bis 1986 im Przegląd Katolicki (Katholische Presseschau) erschienen waren (vgl. Nota wydawnicza, in: Jasienica, Pamiętnik, S. 215 f). Im sogenannten Zweiten Umlauf erschien 1986 ebenfalls eine Ausgabe der Memoiren, jedoch auf Basis einer Abschrift, vgl. Paweł Jasienica: Pamiętnik, Warszawa 1986. Lediglich auf Abschriften basierten ebenfalls Ausgaben von 1989 und 1993 (ders.: Pamiętnik, Kraków 1989; ders.: Pamiętnik, Warszawa 1993). Die für die vorliegende Arbeit verwendete Ausgabe von 2007 wiederum basierte auf Jasienicas Manuskript, das 1991 von der Witwe Zofia Beynar der Biblioteka Narodowa (Nationalbibliothek) übergeben worden war.
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Veröffentlichungsverbot belegt und somit zum inneren Exil verurteilt worden. Beynar hatte seit seinem Auftauchen aus dem anti-sowjetischen Untergrund im Sommer 1945 als Paweł Jasienica firmiert. Bereits sechs Monate zuvor hatte Leopold Okulicki (1898 – 1946), Befehlshaber der AK, diese offiziell für aufgelöst erklärt.¹⁶⁸ Diente der neue Name zunächst als Deckname, mit dem Beynar die Identität seiner Familienangehörigen in Wilna schützte, mit dem er seine publizistischen Beiträge in den kirchennahen Journalen des Priesters Adam Sapieha kennzeichnete und welches auf den Ort seines Abschieds vom bewaffneten Untergrund verwies, sollte der Autor den Namen Jasienica bis zu seinem Tod nicht mehr ablegen. Jasienica selbst verwies in einem seiner ersten Artikel im Tygodnik Powszechny (Allgemeine Wochenzeitung) auf das Pseudonym: Ich bin in der polnischen Presse ein homo novus. Deshalb veröffentliche ich keine Erklärung mit meinem Nachnamen. Das wäre dann auch ein richtiges Affentheater. Stattdessen besitze ich keinerlei literarische Vergangenheit, und ich möchte als Paweł Jasienica schreiben. Steht mir das nicht frei? Die Redaktionen, mit denen ich in Kontakt trete, kennen meinen Nachnamen, ich habe niemanden gebeten, ihn zu verbergen.¹⁶⁹
Aus dem Zitierten wird ersichtlich, dass sich hinter der selbstgewählten Identität mehr als nur ein Pseudonym verbirgt. Hinter der Bezeichnung als „homo novus“ verbirgt sich letztlich die Entscheidung des Autors, mit der eigenen Vergangenheit als Kämpfer im Dienst der AK gegen die sowjetische Besatzung zu brechen, die im Entstehen begriffene gesellschaftliche Ordnung in ihren Grundfesten anzuerkennen und sich in den öffentlichen Gestaltungsprozess Nachkriegspolens einzubringen. Ebenso ging es Jasienica mit dieser Beschreibung einer biographischen Zäsur und nicht um die von den kommunistischen Machthabern gewünschte Erschaffung eines neuen Menschen nach dem Vorbild der Sowjetunion.¹⁷⁰ Dass Jasienica schon allein aufgrund seiner publizistischen Tätigkeit in der AK gezwungen war, diese Vergangenheit abzustreifen, ist nicht verwunderlich. Seine Publizistik während des Kriegs hatte sich dabei durch eine Distanz zu beiden Besatzungsmächten und insbesondere durch die Warnung vor einer dauerhaften Herrschaft der Sowjetunion in Polen ausgezeichnet. Der Idee einer Unterordnung Polens unter das Regime eines der beiden Besatzer hatte Beynar in seiner Kriegspublizistik etwa die Idee einer an den Westalliierten orientierten ostmitteleuropäischen Föderation von Polen, Tschechen und Slowaken entgegengesetzt.¹⁷¹
Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 253. Paweł Jasienica: O pewnym nieporozumieniu, in: Tygodnik Powszechny, 8. August 1968, S. 8. Vgl. ebd., S. 291 f. Vgl. Kierys, Polska Jasienicy, S. 519.
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Als Paweł Jasienica mit dem Schreiben seiner Lebenserinnerungen im Januar 1970 begann, galt der Autor dem Regime bereits als persona non grata. Als Publizist hatte sich der Autor seit 1946 in verschiedenen Zeitungen, vor allem beim katholisch-reformerischen Tygodnik Powszechny, dem Tygodnik Warszawski (Warschauer Wochenzeitung) und der Wochenzeitung Dziś i Jutro (Heute und Morgen) des katholisch-konservativen Verlags Pax um den national-konservativen Ideologen Bolesław Piasecki (1915 – 1979) einen Namen gemacht. Unterbrochen wurde diese Tätigkeit von einem etwa zweimonatigen Haftaufenthalt in Krakau und Warschau ab Juli 1948. Das Innenministerium hatte Jasienicas Verhaftung veranlasst und ihn der Mitgliedschaft in der nationalistischen Widerstandsorganisation Narodowe Siły Zbrojne (NSZ, Nationale Bewaffnete Kräfte) beschuldigt. Zu diesem Zeitpunkt genoss der Autor bereits eine gewisse Popularität in konservativen und kirchlichen Kreisen in Polen und kam letztlich frei, da Piasecki und kirchennahe Kreise lautstark intervenierten. Zudem erhielt der Fall internationale Aufmerksamkeit, das Regime wurde nun aufgrund seiner Repressionsmaßnahmen gegen die katholische Kirche kritisiert.¹⁷² Nach seiner Freilassung setzte der Publizist seine Tätigkeit in Piaseckis Redaktion fort. Der von Dziś i Jutro sowie den Verlegern von Pax propagierte Antisemitismus und nationale Chauvinismus führten zum Rückzug von Jasienica aus Piaseckis Redaktion. Danach stieg der Publizist zu einem der wichtigsten Autoren der vom Regime tolerierten links-liberalen Wochenzeitung Po Prostu (etwa: Frei heraus) auf.¹⁷³ Jasienica folgte dabei einem generellen Trend, setzten doch die Repräsentantinnen und Repräsentanten konservativer wie auch linker Strömungen der polnischen Intelligenz nach dem Ende des Stalinismus zunehmend auf einen Wandel von oben.¹⁷⁴ Nach 1956 war Jasienica, der nach den ersten Liberalisierungen infolge des „Tauwetters“ vom politischen Stillstand unter Władysław Gomułka enttäuscht war, neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit auch als Mitglied und Vorsitzender des Klub Krzywego Koła (KKK, Klub des krummen Rades), einer informellen Vereinigung regimenaher sowie regimeferner Intellektueller, tätig. In der öffentlichen Diskussion eroberte er sich einen prominenten Platz und galt dann in der Intelligenz der sechziger Jahre als wichtiges Sprachrohr gegenüber dem Regime.¹⁷⁵ Seine Sachbücher und Essays zu historischen Themen der frühen Neuzeit
Zu den Umständen und zur Wahrnehmung der Haft seitens Jasienicas und seiner Umgebung vgl. ebd., S. 149 – 164. Vgl. ebd., S. 228. Vgl. Prizel, National Identity and Foreign Policy; Kierys, Polska Jasienicy, S. 412. Vgl. Kierys, Polska Jasienicy, S. 519.
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sowie zu zeitgenössischen Fragen erschienen in zahlreichen Auflagen bis in die sechziger Jahre hinein.¹⁷⁶ Gomułka persönlich hatte Jasienica nach den studentischen Protesten vom März 1968 in einer öffentlichen Ansprache als einen ihrer Anstifter ausgemacht. Darin erinnerte er an die Anschuldigungen des polnischen Innenministeriums im Sommer 1948 sowie an die Umstände von Jasienicas Inhaftierung und Freilassung im gleichen Jahr. Es entbehrt wohl kaum einer bitteren Ironie, dass ausgerechnet der leitende Sekretär der regierenden Staatspartei Jasienica implizit Zusammenarbeit mit der polnischen Staatssicherheit vorwarf.¹⁷⁷ Nach der Ansprache des Parteisekretärs ließ die Zensurbehörde Jasienicas Schriften verbieten, dem Publizisten wurde ein Veröffentlichungsverbot auferlegt und die Presseorgane der PZPR warfen Jasienica staatsfeindliche Aktivitäten sowie Kollaboration mit den polnischen Stalinisten vor und unterstellten ihm eine jüdische Herkunft – vor dem Hintergrund des aufkommenden Antisemitismus nach den Protesten wog letzterer Vorwurf besonders schwer.¹⁷⁸ Mit seinem Angriff kündigte der Parteichef denn auch lautstark das stillschweigende Übereinkommen zwischen Regime und Intelligenz auf, das sich nach Stalins Tod wohl beiderseits aus der Hoffnung gespeist hatte, dass es einen polnischen, bzw. einen europäischen Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft geben könne. Seine Worte, wenn auch als persönlicher Angriff formuliert, zielten letztlich darauf, die moralische Instanz, die Jasienica für die polnische Intelligenz in der PRL darstellte, zu erschüttern. Als einer der wenigen Autoren in der PRL wurde Jasienica auch im Exil wertgeschätzt und gelesen. Es ist bezeichnend, dass seine letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten zugleich die erste war, die nicht im Land erschien.¹⁷⁹ Anders nämlich als etwa Jerzy Andrzejewski veröffentlichte der Historiker eigene Beiträge oder Werke nicht in den Medien der polnischen Emigration, sondern zog es vor, stets in der PRL zu schreiben und zu veröffentlichen – zunächst in der Presse und seit Ende der fünfziger Jahre vor allem als Autor mit selbständigen Publikationen. Dennoch setzte sich der Autor intensiv mit den diskutierten Themen und den Veröffentlichungen des polnischen Exils auseinander.Wenngleich er für sich stets eine unabhängige Position im Diskurs in Anspruch nahm, fungierte Jasienica vor allem als Übersetzer der Exilsphäre in die Wirklichkeit der PRL.¹⁸⁰ Diese Rolle
Eine Übersicht zur Publizistik und Literatur Paweł Jasienicas findet sich in: ebd., S. 532– 545. Vgl. ebd., S. 522; Władysław Bartoszewski: Mój Jasienica, in: Jasienica, Pamie̜tnik, S. 203 – 214, hier S. 204. Vgl. Kierys, Polska Jasienicy, S. 519. Vgl. Jasienica, The Polish Experience. Zur Diskussion um die Bedeutung Jasienicas im Exil vgl. Józef Lewandowski: Paweł Jasienica, in: Kultura, H. H. 10/277, 1970, S. 74– 83, hier S. 80.
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hatte ihre Grundlage nicht zuletzt in der Vergangenheit des Autors als Mitglied des AKWW in Wilna vor dem Zweiten Weltkrieg. Mitglieder des AKWW und des mit der Vereinigung verbundenen Literaturkreises der żagary ließen sich nach dem Krieg in den politischen und gesellschaftlichen Eliten sowohl des polnischen Exils als auch in der Volksrepublik finden.¹⁸¹ Die Wahrnehmung Jasienicas im Exil war dabei durchaus kontrovers. Während sich eine konservative Gruppe um Józef Mackiewicz für einen skeptischen Blick auf Jasienicas Tätigkeit im stalinistischen Polen aussprach und in ihm lediglich ein Feigenblatt der polnischen Kommunisten sah, plädierten liberale Exilierte und Anhänger der Kultura dafür, Jasienicas Publizistik als Reaktion auf die Ausweglosigkeit der polnischen Intelligenz im Land wahrzunehmen.¹⁸² Interessanterweise galt der Publizist und Schriftsteller insbesondere seit den Protesten von 1968 der jungen polnischen Intelligenz im Land und im Exil gleichermaßen als Vorbild.¹⁸³ Eine ähnliche Kontroverse mit umgekehrten Vorzeichen lässt sich innerhalb der polnischen Intelligenz der PRL beobachten. So stellten sich auch hier nicht wenige die Frage, wie authentisch die von Jasienica für sich selbst proklamierte schöpferische Unabhängigkeit angesichts der herrschenden Zensur und der ideologischen Rahmenbedingungen in der PRL sein konnte. Leopold Tyrmand (1920 – 1985) – selbst Schriftsteller und ein früherer Kollege Jasienicas im Tygodnik Powszechny – äußerte sich 1954 über den Publizisten: Es besteht kein Zweifel daran, dass Jasienica [nach dem Zweiten Weltkrieg, M.-B.] einen Umbruch erlebte, dass er an die Richtigkeit des Kommunismus glaubte. Er erfuhr die neue Wahrheit aufrichtig und tief. […] Aber Jasienica begriff etwas, verstand etwas oder fand etwas, was er in diesem Ganzen entdeckte – und das trotz des Ekels vor dem Zerbrechen der Seele, den er selbst erlebte und für sich selbst verarbeitete, etwas, was ich nicht aufdecken kann. Wie sehr interessiert und beschäftigt mich das, was ist es? So wichtig ist für mich ein Mensch namens Jasienica, sein Gehirn und sein Herz. Er ist für mich das, was ich speziell für Koźniewski bin – ein Fehler in der Rechnung. Das, was sich nicht mit der Abrechnung am Ende des Lebens, mit der Bilanz von der Welt in Einklang bringen lässt. Er [Jasienica, M.-B.] bedeutet, dass ein anständiger und kluger Mann den Kommunismus annehmen kann und für ihn im vollen Bewusstsein von der Richtigkeit, vom Nutzen und von der Weisheit seines Tuns aktiv sein kann.¹⁸⁴
Vgl. dazu Beata Tarnowska: „A krain tośmy co niemiara zjeździli…“ Żagaryści w Akademickim Klubie Włóczęgów Wileńskich, in: Żagary. Środowisko kulturowe grupy literackiej, hg. von Tadeusz Bujnicki, Krzysztof Biedrzycki und Jarosław Fazan, Kraków 2009, S. 64– 81. Zu den żagary und deren Einflüssen auf das polnische Ostdenken siehe auch Kap. 2.3. Vgl. Kierys, Polska Jasienicy, S. 236 f. Vgl. Lewandowski, Paweł Jasienica, S. 74. Leopold Tyrmand: Dziennik 1954 – wersja oryginalna, Warszawa 2011, S. 334 f. Kazimierz Koźniewski (1919 – 2005), damals Journalist des regimenahen Journals Przekrój (Der Querschnitt).
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Zunächst sei angemerkt, dass Tyrmand sich über Jasienica in einer Zeit äußerte, als nicht absehbar war, dass mit der Machtübernahme Gomułkas eine Liberalisierung des gesellschaftlichen Denkens Einzug hielt und sich der polnischen Intelligenz die Möglichkeit einer freieren Meinungsäußerung bot. Dennoch verweist das Zitat auf die wichtige Frage, welchen Motiven das Engagement der polnischen Intelligenz in der jungen Volksrepublik folgte und inwiefern ein solches überhaupt ein freies sein konnte – eine Frage, die auch Czesław Miłosz 1953 mit seinem Essay Verführtes Denken zu beantworten gesucht hatte.¹⁸⁵ Anders jedoch als die regimenahen Angehörigen der polnischen Intelligenz, mit denen sich Miłosz in seiner Arbeit auseinandersetzte, gehörte Jasienica nie der Staatspartei an und übte keine politische Funktion aus, was Józef Lewandowski in seinem Nachruf auf Jasienica in der Kultura 1970 veranlasste, Jasienica als „Fortsetzer der großen Vorbilder der politischen Gelehrten“ zu bezeichnen, „die von der Möglichkeit des politischen Handelns und Redens schlicht ausgeschlossen waren“.¹⁸⁶ Jasienica selbst sollte sich in seiner Publizistik und auch in seinen Memoiren als ein intellektueller Renegat inszenieren, der seinen Prinzipien auch in den schwierigsten Phasen der kommunistischen Herrschaft treu blieb. In seinen Memoiren findet sich bezeichnenderweise die Aussage, „dass ein Intellektueller nur das sagen kann, was er denkt.“¹⁸⁷ Der Soziologe Paweł Śpiewak geht in einem Beitrag zum Begriff und den Konzepten des Totalitarismus in Polen davon aus, dass „[d]er Schatten des Krieges, der Vernichtungslager, der Verschickungen, Deportationen, Denunziationen, Prozesse […] die ganze polnische Kultur“ durchdrang: „Ich würde sogar sagen, daß dies die Achse dieser Kultur ist, ihr Fluch und ihre Größe zugleich, ihr fundamentales Thema, ihr Grauen und ihr Gift, ihre Kraft und ihr Schmerz, ihr Schrei und ihre Verzweiflung.“¹⁸⁸ Betrachtet man vor diesem Hintergrund Jasienicas Biographie, lässt sich der Schluss ziehen, dass diese paradigmatisch für die polnischen Erfahrungen totalitaristischer Herrschaft in Form des Sowjetkommunismus, des Nationalsozialismus und des polnischen Kommunismus nach 1945 steht. Im Folgenden soll es darum gehen, zu erkunden, welche Einflüsse diese spezifische Zeiterfahrung auf das autobiographische Schreiben Jasienicas über seine russisch-imperiale Erfahrung und auf die sich darin manifestierenden Überlegungen zu Östlichkeit und Polonität tatsächlich hatte.
Vgl. Czesław Miłosz: Zniewolony umysł, Paryż 1953. Lewandowski, Paweł Jasienica, S. 77. Jasienica, Pamie̜tnik, S. 141. Śpiewak, Polnische Erfahrungen mit dem Totalitarismus, S. 21.
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Zur Narration: Den „Ballast eines Vierteljahrhunderts […] hinausschmeißen“ Die Spezifik des Stadiums innerer Emigration wirkte sich zweifelsohne auf Jasienicas Memoiren aus. So war es wohl die Atmosphäre der gesellschaftlichen Ächtung, die Jasienica zum Schreiben seiner Lebenserinnerungen veranlasste. Gleich zu Beginn stellt der Autor klar: [W]ozu kann das wehrlose Manuskript meiner Memoiren dienen […]? Der Gehorsam zur schreibenden Berufung kann sich irgendwann als eine Handlung ähnlich dem Zerpressen einer Olive in die Abläufe des Repressionsmechanismus erweisen.¹⁸⁹
Jasienica macht hier auf seine persönliche Situation und auf das Bewusstsein vom autobiographischen Schreiben in der Isolation aufmerksam. Mit dem letzten Satz im Zitat betont der Publizist die Bedeutung des freien Wortes angesichts eines Staates, dessen Macht nicht zuletzt auf der Zensur des geschriebenen und publizierten Wortes und der ideologischen Loyalität seiner Eliten beruhte. An anderer Stelle schreibt er über das Verfassen von Autobiographien: „[W]er von Beruf her Historiker ist, der sollte den Wert autobiographischer Bekenntnisse kennen… auch derjenigen, die beladen sind mit den ‚Flüchen des Subjektivismus‘, sogar derer, die aus irrigen Ansichten zusammengewürfelt sind.“¹⁹⁰ Wie an dieser Stelle ersichtlich wird, entspricht Jasienicas autobiographisches Narrativ wohl am ehesten der Erzählform eines Selbstbekenntnisses, das verbunden ist mit einer zentralen Botschaft, und dem eine persönliche Krise vorausgeht. Die Krise des Autors fußt auf dem Erlebnis der politischen Stigmatisierung nach dem offenem Eintreten für die Proteste der Studierenden im März 1968 auf einem Kongress des Polnischen Schriftstellerverbands.¹⁹¹ Es ist die für ihn neue und prägende Erfahrung einer vom Regime erzwungenen inneren Emigration und das Veröffentlichungsverbot seitens des Ein-Parteien-Regimes, die den Autoren zum Schreiben seiner Memoiren veranlasst. Mit der Wahl dieser Ausdrucksform betont der Autor die Authentizität des Geschriebenen. Mit folgenden Worten definiert er die Ausgangslage seines autobiographischen Schreibens: „[D]er ideologische Kampf dauert nicht nur an, er wird sich bedrohlich entfachen, was eine verstärkte Sensibilität, einen gesunden Blick auf die Zerfallserscheinungen des Tauwetters erfordert.“¹⁹² Mit der Formulierung vom „gesunden Blick“ ist es der Autor selbst, der auf die Gefahr einer solchen Autobiographik verweist, die sich neben der Mar-
Jasienica, Pamie̜tnik, S. 16 f. Ebd., S. 20. Vgl. Kierys, Polska Jasienicy, S. 236 f. Jasienica, Pamie̜tnik, S. 18.
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ginalisierung vor allem mit der jahrelang eingeübten Praxis der Zusammenarbeit des Publizisten mit der Zensur – mit dem eigenen Beitrag zur Geschichte – auseinandersetzen muss: Meine Bücher enthalten keine Fälschungen. In ihnen finden sich meine eigenen Ansichten…, behutsam oder in Teilen ausgedrückt. Natürlich existiert eine Menge an Themen, die ich nicht berührte, obwohl es sich gehört hätte. Heute […] ängstigt mich ebenjenes jahrelanges Training der Rücksichtnahme. Die Gewohnheiten konnten ins Unterbewusstsein eindringen […]. Es ist schwer, den Ballast eines Vierteljahrhunderts von sich wegzuschieben – ach was! – aus dem eigenen Innern hinauszuschmeißen.¹⁹³
Jasienicas zentrales Bild ist das der intellektuellen Befreiung. Zugleich weist er im Zitat auf den Umstand hin, dass diese künstlerische Freiheit um den Preis der Sprachlosigkeit in der Gegenwart des Schreibenden erkauft ist. Ein solches Narrativ knüpft konsequent an die Ideen der polnischen Intelligenz an, indem es die politische Stigmatisierung und die Rebellion des Autors mit der Botschaft einer moralischen Aufrichtigkeit verbindet. Jasienicas Sprache, wie die Deutung seiner Bücher und Texte als „Taten“ oder „Handlung“ erinnert dabei nicht zufällig an die Rhetorik der polnischen Intelligenz. Ein derartiges Intelligenz-Narrativ kommt auch an anderen Stellen der Autobiographie zum Ausdruck. Die Beteiligung des Großvaters Ludwik Beynar am Januaraufstand von 1863 wird von Jasienica ebenso angeführt wie die Herkunft des in Frankreich geborenen Großvaters Wiktor Maliszewski als „Sohn eines Aufständischen von 1830 und eines Mitglieds der Großen Emigration“, sowie dessen Beharren auf seiner Zugehörigkeit zur polnischen Nation: Er hielt sich für einen Polen und sprach Polnisch, obwohl einige der Konsonanten unserer Aussprache für ihn bis zu seinem Tod un obstacle infranchissable [frz. ein unüberwindbares Hindernis, Hervorhebung im Original, M.-B.] darstellten.¹⁹⁴
Eine Äußerung Jasienicas in einer Passage über sein Verhältnis zur russischen Sprache als Kind und über seine Probleme beim Erlernen des Polnischen dient wohl auch eher der Illustration des liberalen sowie das Polnische bewahrenden Selbstverständnisses der Familie denn als Betonung einer anti-russischen Haltung: Ich wurde in Russland geboren, dort verbrachte ich die frühe Kindheit. Zuhause sprach man ausschließlich Polnisch, Bücher wurden von Herrn Idzikowski aus Kiev mitgebracht, es gab
Ebd., S. 23. Ebd., S. 24.
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immer eine Menge, ganz besonders historische Geschichten. Eines bestimmten Tages provozierte ich in der Familie einen schrecklichen, wenn auch glücklicherweise kurzzeitigen Skandal, und das vor dem Hintergrund der Verdächtigungen der Entnationalisierung, des Verrats. […] Wir fuhren nach Kiev, zu einem Besuch bei der Familie der Mutter. Dort residierte und wachte ihre Tante, Zofia Kamieńska, vom Geschlecht Rawicz […]. Systematisch durchsuchte sie die Häuser der Verwandten, und in denen der besser Situierten konfiszierte sie die gelesenen polnischen Bücher, um sie den ärmeren Familienmitgliedern zukommen zu lassen. ‚Ihr könnt Euch neue kaufen und die bei ihnen lassen‘, sprach sie. Und als ich in die Wohnung der Erzkaplanin eintrat, meldete ich mich, sicher um ihr eine Freude zu bereiten, mit: ‚A vot my vam, babuška, gostinec privezli.‘ [russ. Und hier haben wir Euch, Großmutter, ein Geschenk mitgebracht, M.-B.] Die Beschwichtigungen dauerten nur kurz an und es fehlte die Zeit, um meine Mutter auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. […] Sprachliche Verwirrungen gehörten bei uns irgendwie zur Tradition.¹⁹⁵
Das Zitat verweist einerseits auf Jasienicas adelige Herkunft, andererseits auf das polnische Nationalbewusstsein in der Familie sowie auf die Liberalität der eigenen Eltern und deren Zugehörigkeit zur Intelligenz. Denn Jasienicas Eltern gehörten offenbar zu ebenjenen „ärmeren Familienmitgliedern“, denen die Tante polnische Bücher zukommen ließ. Dass aber auch sie in Russland zu Maßnahmen griffen, um die Kinder der russischen Umgebung zu entziehen, wird etwa deutlich, wenn Jasienica erwähnt, dass sie zuhause unterrichtet wurden, dass das Personal der Eltern aus der Ukraine stammte und der Vater den Kindern etwa verbot, mit den russischen Kindern zu spielen.¹⁹⁶ Dass beide Eltern sich aber ebenso mit den Realitäten des Russischen Imperiums arrangierten und identifizierten, wird erkennbar, wenn Jasienica von dem Engagement des Vaters im Revolutionären Komitee von Maksaticha berichtet, oder von der Tätigkeit der Mutter während des Krieges als örtlicher Leiterin im Tatʼjaninskij Komitet, einer staatlichen Flüchtlingshilfsorganisation, benannt nach einer Tochter Nikolaus II.¹⁹⁷ Welche Rückschlüsse erlauben diese Passagen auf Jasienicas Verständnis der Intelligenz? Zunächst lässt sich aus Jasienicas Äußerungen in seinen Memoiren schließen, dass der Autor sich als Teil der polnischen Intelligenz begreift. Mit dieser Zugehörigkeit geht für ihn ein moralischer Imperativ einher, der sich in Jasienicas Bemerkungen zu seinen Vorbildern erkennen lässt und der in einer westlich-europäischen Tradition sowie in einem ideologisch unvoreingenommenen Denken wurzelt. Deutlich wird dies in zwei Passagen, in denen sich Jasienica zur Ankunft der polnischen Truppen 1920 in Tarašča vor Kiev äußert, wo sich die Familie während des Bürgerkriegs aufhielt:
Ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 29, 31. Vgl. ebd., S. 31.
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Gemeinsam mit der polnischen Armee schaute Europa in die zerrütteten Gefilde von Tarašča hinein. Das gleiche [Europa], das eben erst das komfortable 19. Jahrhundert hinter sich gelassen hatte, sich noch nicht von dem verflossenen Blut bei Verdun und Ypern kuriert hatte, das fähig war zu Kriegen, Teilungen, Grausamkeiten, Ausbeutung, sichtbarem Betrug, aber noch nicht in der prophylaktischen Kunst des Vernichtens von Menschen oder einfach in der Einschüchterung der Überlebenden geschult war. Der Terror als offizielles Herrschaftssystem war erst vor kurzem auf diesem Flecken des Kontinents, zu dem Tarašča gehörte, proklamiert worden. Dank dieser Infektion sollte er sich erst mit der Zeit auf den Weg Richtung Westen machen, dabei jedoch glücklicherweise das unabhängige Polen verschonen. Seine [Polens] Armee hatte die Regeln des 19. Jahrhunderts ererbt, dass der Soldat mit einem feindlichen Soldaten kämpfe, dass es verboten sei, die Bevölkerung zu massakrieren. Abweichungen von dieser Regelung passierten, ich weiß, aber sie waren Verbrechen, Brüche verpflichtenden Rechts und keine Verdienste.¹⁹⁸
Ausgerechnet mit dem Verweis auf die Humanität der Polnischen Armee im Polnisch-Sowjetischen Krieg verortet der Autor Polen in Europa. Dabei ist sich der Autor der Imperialismusvorwürfe, mit denen sich die Armee auf ihrer „Kiever Expedition“ im Polnisch-Sowjetischen Krieg, wie Jasienica schreibt, auseinandersetzten musste, durchaus bewusst, was jedoch seine folgende Einschätzung nicht beeinflusst: „Jedem steht es nach eigenem Willen frei, die Kiever Expedition Józef Piłsudskis zu beurteilen. Meiner Meinung nach stellte sie den Versuch von der Rückkehr Europas in die zermarterten Gefilde dar.“¹⁹⁹ Für Jasienica ist dann auch die Einhaltung eines humanitären Prinzips Kernargument, Polen in Europa zu verorten und demgemäß das revolutionäre Russland davon auszuschließen. Mit dieser Interpretation richtet sich der Autor gegen die offizielle Deutung in Volkspolen vom Polnisch-Sowjetischen Krieg als von polnischer Seite betriebenem imperialistisch motiviertem Krieg.²⁰⁰ Jasienica stellt sich selbst ebenfalls in die Tradition dieses Humanismus, wenn er wenige Seiten später auf die polnischen literarischen Vorbilder verweist, die sich der Erinnerung an den Humanismus verpflichtet hätten: Ich nehme mir die Freiheit, hier als Zeugen die polnische Literatur jener Epoche zu Hilfe zu nehmen. In Fragen von Phänomenen der moralischen und der psychischen Natur ist ihre Stimme vom Wert höchsten Ranges. […] Stefan Żeromski, Zofia Kossak, Andrzej Strug, Eugeniusz Małaczewski, Edward Ligocki… Diese Literatur darf man nicht heimtückisch mit politischer Propaganda vergleichen, sie in Kategorien von Vorurteilen über Klassen bemessen, oder – wie dies die aktuellen Enzyklopädien tun – sie schwammig als ‚anti-sowjetisch‘ abtun. Die Grausamkeiten der Roten [der Roten Armee, M.-B.] erhalten in diesen
Ebd., S. 72. Ebd., S. 73. Vgl. Górny, „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“, S. 374.
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Büchern die gleiche Beurteilung, wie die Bestialitäten der Weißen [Freiwilligenarmee der zarentreuen Weißen Bewegung, M.-B.].²⁰¹
Die genannte Literatur insbesondere Żeromskis stellt Jasienica schließlich in einen zeitgenössischen Zusammenhang: Während der letzten Sitzung des Klubs des krummen Rades [KKK, M.-B.] 1962, als die Rede davon war, dass das kommunistische System die humanistischen Ideen verachte, sagte Professor Adam Schaff den Nörglern mehr oder weniger wörtlich: ihr kritisiert, weil ihr von uns den Humanismus erlernt habt. Mir scheint, dass Stefan Żeromski etwas früher als Prof. Dr. Adam Schaff der Korrepetitor dieser denkenden Splittergruppe der Polen wurde.²⁰²
Jasienica war bekanntlich Mitglied und Vorsitzender des KKK vor dessen Auflösung 1962. Indem er in den Memoiren einen Bogen vom in den Ideen des 19. Jahrhunderts verwurzelten europäischen Geist der polnischen Armee hin zu den humanistischen Idealen der polnischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts spannt, entwirft der Autor eine polnische Kontinuität intelligenten Denkens, die sich nicht in der Ideologie der PRL und des Marxismus erschöpft, sondern vielmehr darüber hinausweist. Welche Auswirkungen hat ein solches Verständnis auf Jasienicas Russlanderzählung sowie auf seine Ideen Polens und des Ostens?
Gegen „polnische Gewissheiten“: Jasienicas russisch-imperiale Erfahrung Wie der Autor selbst unterstreicht, dient Jasienicas Beschreibung der eigenen Russlanderfahrung dazu, dem auch im kommunistischen Polen verbreiteten Bild vom polnischen Martyrium unter der russisch-imperialen Herrschaft ein anderes, differenzierteres Bild entgegenzusetzen. Sein Blick wird dabei davon bestimmt, die eigene und die polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts aus einer geopolitischen Perspektive zu betrachten, die gleichfalls die politischen Wandlungen und die veränderten Machtkonstellationen im Osten Europas und im Westen in den Fokus nimmt und erst vor diesem Hintergrund eine Synthese der eigenen
Jasienica, Pamie̜tnik, S. 72. Andrzej Strug (1871– 1937), Sozialist, Publizist und Schriftsteller. Eugeniusz Małaczewski (1895 – 1922), Schriftsteller und u. a. Soldat der Polnischen Armee in Bürgerkriegsrussland. Edward Ligocki (1887– 1966), Publizist und Schriftsteller, Diplomat. Ebd., S. 86. Adam Schaff (1913 – 2006), Marxist und Philosoph, Mitglied der KPP in der Zwischenkriegszeit, während des Zweiten Weltkrieges in sowjetischem Exil. Nach dem Krieg unter anderem Initiator und Leiter des Instytut Kształcenia Kadr Naukowych (Insititut zur Ausbildung nationaler Kader), vgl. Burkhard Bierhoff: Adam Schaff (1913 – 2006), in: Fromm Forum 12, 2008, S. 41.
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Erfahrung und der polnischen Geschichte entwickelt. So will der Autor „polnische Gewissheiten“ in Frage stellen: „Ich weiß, dass ich einige gefühlte polnische Gewissheiten verletze, wenn ich mich offen zur Sympathie für bestimmte Phänomene bekenne, die trotz allem [Hervorhebung im Original, M.-B.] bei den Russen und unter ihnen auftreten.“²⁰³ Stattdessen ist der Autor bemüht, die Erfahrung vom Zerfall des Russischen Imperiums in den Zusammenhang einer europäischen Entwicklung zu stellen, wenn er etwa später zum Russischen Bürgerkrieg schreibt: „Sehr früh begann man, der europäischen Geschichte einen schlechten Weg zu weisen.“²⁰⁴ Vor diesem Hintergrund entsteht ein klar konturiertes Russlandbild, das sich eben nicht in dem polnischen „Wissen von Unterwerfungen, Deportationen und politischer Tyrannei“ erschöpft.²⁰⁵ Jasienicas Beschreibung der eigenen Kindheit im Russischen Imperium folgt dieser Prämisse. Ihr stellt er eine Bemerkung voran, in der er sich kritisch über die Stellung der Polen im Russischen Imperium – insbesondere der polnischen Adeligen und der polnischen Bürger in den Städten – äußert: „Die erlebte Kindheit in Russland, die Erinnerungen, die bis in die zaristischen Zeiten zurückreichen, das ist die Versuchung, sich in eines unserer nationalen Erinnerungsrituale einzufügen.“²⁰⁶ Konkret geht es dem Autor bei seiner Warnung vor der „Versuchung“ wohl darum, eben nicht in eine Erzählung zu verfallen, die die kulturelle oder zivilisatorische Überlegenheit des Polnischen in Russland zelebriert. Mit seiner Äußerung hebt sich der Autor deutlich von einer anti-russisch orientierten nationalen Geschichtsschreibung Polens ab, wie sie die polnische Historiographie der Zwischenkriegszeit, aber vor allem auch die polnische Autobiographik des 20. Jahrhunderts prägte.²⁰⁷ In seine Kritik schließt er dabei sowohl die Erinnerungen des Exils, wie auch in Polen selbst ein. Große Teile des Exils definierten sich vor allem über ein traditionsverhaftetes und anti-russisch konnotiertes Bild des Ostens und insbesondere der Ostgebiete als Polen zugehörig und brachten so ihr fehlendes Einverständnis mit der Ordnung Osteuropas nach Jalta zum Ausdruck. Im Land selbst wiederum erfreute sich die Geschichte des polnischen
Jasienica, Pamie̜tnik, S. 50. Ebd., S. 63. Ebd., S. 50. Ebd., S. 28. Vgl. Stobiecki, Comparing Polish Historiography on the Petersburg Empire; Hanna Dylągowa: Kresy Wschodnie we wspomnieniach, in: Europa nieprowincjonalna. Przemiany na ziemiach wschodnich dawnej Rzeczypospolitej (Białoruś, Litwa, Łotwa, Ukraina, wschodnie pogranicze III Rzeczypospolitej Polskiej) w latach 1772– 1999, hg. von Krzysztof Jasiewicz, Warszawa 1999, S. 156 – 161.
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Ostens seit 1956 einer limitierten Wiederentdeckung.²⁰⁸ Jasienica kritisiert an dieser Erscheinung vor allem die kolonialistischen Mustern folgende Selbsterzählung von den Polen im Osten als kultivierte Herren und Karrieristen in einem Meer russischer Exotik, Armut und Kulturlosigkeit: Vor einigen Jahren las ich eine sentimentale Erzählung darüber, wie malerisch die Zeremonie vom Bohnern des Fußbodens in einem sehr reichen polnischen Haus in Moskau aussah, zelebriert von einem ‚Artel‘‘ [russ. etwa Arbeiterkollektiv, Hervorhebung im Original, M.-B.] bärtiger, orthodoxer Spezialisten. Ein anderer Memoirenschreiber hört nach wie vor das Hufeklappern eines Vierergespanns, das an einem feuchten Morgen die Birkenallee entlang trabte, und er vergisst nicht, an die hohe Position seiner Vettern und Großväter zu erinnern, die meist in Dragoner- oder Husarenregimentern gedient und dabei das quälende Schicksal der Fußheere aber gern den Viehherden der Ivane [kacapskiemu pogłowiu] überlassen hatten. […] Man lebte gut, man wohnte komfortabel, während man sich die Rubel – die damaligen Dollars des europäischen Kontinents – ansparte, aber dass der hiesige Bauer [mużyk] ungebildet und arm war, verlacht und geschlagen wurde, das galt dann als natürliches Los des Moskoviters, eines niederen Wesens.²⁰⁹
Jasienica stellt dieser polnischen, kulturkolonialistisch zu nennenden Erinnerung eine Erzählung gegenüber, die auf eine polenzentrische Perspektive verzichtet und sich stattdessen bemüht, ein differenziertes und vielschichtiges Bild der russischen Provinz nachzuzeichnen. Dabei nimmt er die Bettler, die Trinker, aber auch die Kaufleute in der russischen Provinz und nicht zuletzt die dort zu findende russische Intelligenz in den Blick. Seine Erzählung ist vom Erfahrungshorizont der Russischen Revolution geprägt. Das Russische Imperium erscheint in seinen Beschreibungen vielmehr als ein vorrevolutionäres Russland, das er nach den Voraussetzungen des tiefgreifenden sozialen Wandels und den Gründen von Gewalt und Terror in der Revolution befragt. So betont er die Fortschrittlichkeit der russischen Intelligenz, aber auch die unterschiedlichen Gesellschaftserfahrungen seitens der Intelligenz und der russischen bäuerlich geprägten Bevölkerung in der Provinz: [I]ch vermute, dass vor allem die Frage vom Ausmaß der Entfernung zwischen dem intelligenten und dem plebejischen Milieu zu den wichtigsten Fragen in der neueren Geschichte gehört. […] Die Forderungen nach Fortschritt, nach der Aufhebung der alten Ordnung, nach Gleichheit zeichnen sich im Denken der Verehrer Lev Tolstojs etwas anders ab, als bei denen, deren innerer Zustand weitaus länger in Stagnation verharrte. Aus diesen Unterschieden können hinterher unschöne Enttäuschungen resultieren, die in der traurigen Wahrheit fu-
Vgl. Kochanowski, Paradoxe Erinnerungen an die kresy, S. 273 f. Jasienica, Pamie̜tnik, S. 28 f.
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ßen, dass die alte und unzweifelhaft überalterte Ordnung in vielerlei Hinsicht bedeutend liberaler und menschlicher war als die neue.²¹⁰
Von Bedeutung ist diese Aussage nicht nur vor dem Hintergrund seiner Russlanderzählung, sondern auch hinsichtlich der Gegenwart des schreibenden Autors. Sie ist einerseits als Warnung an die junge polnische Intelligenz zu verstehen, vor allem aber auch als Gleichnis über die Hoffnungen der polnischen Intelligenz ob der neuen kommunistischen Ordnung nach 1945, die sich in der Rückschau als illusorisch erweisen sollte. Das Zitat zeigt zudem auf, dass in Jasienicas Autobiographie die Perspektive einer historischen Persistenz vorherrscht. Trotz des tiefgreifenden Wandels in Russland hin zur Moderne vor dem Ersten Weltkrieg und der staatlichen Diskontinuitäten zwischen Russischem Imperium und Sowjetunion betont der Autor die kulturellen und historischen Kontinuitäten und Ungleichzeitigkeiten des Wandels in der Gesellschaft Russlands und später der Sowjetunion. Die Erlebnisse der Russischen Revolution vom Februar und vom Oktober 1917 im russischen Maksaticha werden von Jasienica denn auch ironisch distanziert beschrieben. So skizziert er das provinzielle Russland anhand des eigenen Erlebens als revolutionsfern: „[D]as damalige Russland bestand zu achtzig Prozent und mehr aus solchen Maksatichas oder aus Ansiedlungen, die noch verlassener waren.“²¹¹ Über die Plünderungen während der Revolution schreibt er auch: „[U] ns Leuten ohne Ländereien fehlte es in dieser Zeit an nichts für ein sattes Leben. Die Notwendigkeit, das väterliche Klavier oder die mütterlichen Broschen und Ketten loszuwerden, stellte sich nicht ein.“²¹² Die Februarrevolution beschreibt Jasienica gar als ein Ereignis, das die Rechte der Kaufleute und der Großgrundbesitzer weitgehend unangetastet ließ.²¹³ Deutlich wird das Prinzip der historischen Persistenz auch an einem anderen Beispiel. In einer Episode zur Gruppe der russischen Kaufleute im vorrevolutionären Russland äußert er sich über diese als Spezifikum der russischen Kultur: „[D]ie sie [die Gruppe der Kaufleute, M.-B.] repräsentierenden Menschen gaben der Geschichte Russlands über Jahrhunderte hinweg ihren eigenen Ton.“²¹⁴ Es sind vor allem das russische Großmachtdenken und die Herrschaftsfrömmigkeit, sowie Übermaß und Lebenskraft, die er in ihrem Denken und in ihrem Lebensstil wiederzuerkennen meint:
Ebd., S. 34 f. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Ebd., S. 42. Ebd., S. 39.
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[D]er Lebensstil der Kaufleute zog Aufmerksamkeit auf sich, er faszinierte. Bis zum heutigen Tag habe ich die Gestalten ihrer massigen Repräsentanten vor Augen, höre ich ihre dröhnenden Stimmen. Hätten sie weiter existiert, hätte es ihre Häuser vor Überschwang mit Stolz erfüllt, dann wären sie vor Wonne über die Nachricht zerflossen, dass der erste Mensch, der in den grenzenlosen Kosmos flog, ein Russe war. […] Nicht nur der Nationalismus kommt hier ins Spiel, sondern die angeborene Bewunderung für gigantische Phänomene und für Leute nach dem ihnen eigenen Maße.²¹⁵
Anhand des Beispiels zeichnet Jasienica imperialistische sowie irrationale Charakteristika russischer kultureller Prägung nach und betont gleich darauf, dass diese Charakteristika sich auch nach 1917 in der neuen sowjetischen Gesellschaft wiederfinden ließen: Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs fragte ein russischer [sic] Offizier, der durch Warschau fuhr, einen flüchtigen Bekannten nach der Bevölkerungszahl in Polen. ‚Wir werden wohl so um die 27 Millionen sein‘. ‚Oh, 27 Millionen… Da u nas bolʼše naroda w konclagerjach sidit [russ. Da sitzen bei uns mehr Leute in den Konzentrationslagern, M.-B.].‘ In diesem makabren Ausspruch klang wirkliche Bewunderung für Phänomene solchen Ausmaßes nach.²¹⁶
Aus diesen beiden Zitaten lassen sich weitere Eckpunkte von Jasienicas autobiographischer Russlanderzählung nachzeichnen. Ihm zufolge überdauerten Überreste eines imperialistischen und kolonialistischen russischen Selbstverständnisses unter dem Deckmantel sowjetischer Staatlichkeit und kommunistischer Ideologie den Regime- und Systemwechsel von 1917. Veranschaulicht wird dies auch an der Bezeichnung des offensichtlich sowjetischen Offiziers als „russisch“. Ebenfalls interessant ist die Platzierung des Offiziers als Symbol sowjetisch-imperialer Herrschaft im Nachkriegspolen – erinnert Jasienica mit diesem Bild doch an die Herrschaft Russlands in Polen zur Zeit der Teilungen Polens sowie an die Grundlagen der neuen Ordnung, die ihm zufolge eben auf dem Erfolg und der Präsenz der sowjetischen Armee beruhten. Dennoch bleibt es nicht dabei, denn Jasienica verweist mit der Aussage des Offiziers über die „konclager[ja]“, die sowjetischen Arbeitslager, auch auf das Leiden der russischen Bevölkerung und auf die Gleichgültigkeit der sowjetischen Obrigkeit gegenüber deren Leiden. Der ambivalenten Beschreibung des Russischen sowie russischer Imperialität folgt Jasienica auch in seinen weiteren Episoden zu Russland. Einerseits proklamiert der Autor einen verbreiteten Alltagsliberalismus in Russland, Angehörige anderer Nationalitäten wurden ihm zufolge im Imperium toleriert: „Wir lebten in
Ebd., S. 38 f. Ebd., S. 39.
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Russland, ohne dass wir jemals die Nationalität oder den Glauben verbergen mussten.“²¹⁷ Gleichzeitig sieht Jasienica diesen Liberalismus als positiven Ausdruck eines russischen Imperialismus an, dessen negative Seite sich in den nichtrussischen Provinzen des Reiches offenbarte, wo die Tolerierung des Anderen vonseiten der russischen Obrigkeit in einen Imperialismus umschlug: Für gewöhnlich nimmt man an, dass Horden von Russifizierern – d. h., Individuen, die Nutzen aus dem fremden Unglück ziehen wollten, also der moralische Abschaum des Landes – nach Westen abfloss, in die Provinzen, die einen Nährboden boten, weil sie von Fremden bewohnt waren. In dieser These kann man lediglich die Beschreibung der äußeren Merkmale des Phänomens betrachten. Wir selbst wohnten unter jenen Russen, die vor allem unter sich waren, die also mit ihren heimischen, privaten oder gesellschaftlichen Angelegenheiten beschäftigt waren. Diese Verhältnisse verdeckten die übrigens nicht nur in den russischen Herzen schlummernde Xenophobie, oder die Versuchung, die Verirrten, die das Gute nicht sahen, zu beglücken.“²¹⁸
Bei dieser Beschreibung handelt es sich um einen Versuch des Autors, für sich, und nicht zuletzt auch für die polnische Öffentlichkeit, die Andersartigkeit der eigenen Erfahrung nachvollziehbar zu machen. Im zweiten Absatz des Zitats kommt ebenso der Wunsch zum Ausdruck, eine positive Erzählung des interkulturellen Miteinanders zu entwerfen. Jasienica geht es letztlich um die Schaffung eines Spiegelbilds aus der eigenen Lebensgeschichte heraus für eine den Autor beunruhigende Gegenwart, wie er gleich darauf schreibt: Das alltägliche Programm, sich mit den eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen, scheint ein Bestandteil des Rezepts zu sein, die zahlreichen Leiden dieser Welt zu heilen. Wenn man es öfter anwendete, würde vielleicht sichtbar werden, dass die Unterschiede, die Gründe internationaler Konflikte nicht so relevant sind. Fremde Einflüsse, offene Fenster zur Welt stellen keine Todsünden dar. Schon seit langem dauert die Diskussion der Philosophen um das Wesen des Glücks des einzelnen Menschen an. […] Die Aufgaben sind vielfältig und umso schwieriger zu realisieren, als in der gegenwärtigen Phase der Geschichte die sogenannten politischen Ideologien wirkungsvoll stören. Erfolgreich haben sie einen Teil der Rolle eingenommen, die früher allein der Nationalismus erfüllte.
Die Erfahrung vom vorrevolutionären und vom revolutionären Russland ist dem Autor somit Vorbild und Mahnung zugleich. Aufgrund des Wissens um die Geschichte der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs sowie mit dem Erfahrungshorizont der Gewaltherrschaft des Nationalismus und des Stalinismus vermisst der Autor die polnisch-russische Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts Ebd., S. 48. Ebd.
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neu und macht in ihm historische Kontinuitäten aus, ohne in einen zivilisatorischen oder post-imperialen Duktus nationalgeschichtlicher Kompensation zu verfallen. In einer nachdenklichen Äußerung zur Kindheit in Russland in der Autobiographie fasst der Autor seine Russlanderfahrung nochmals zusammen: Ich habe Russland wohl für immer verlassen, wofür, so scheint mir, mein hohes Alter spricht. Aus ihm nahm ich einen Schatz voll ehrlicher Sympathie für die russische Nation in den Westen mit. Ein Gefühl, das, ich beeile mich zu unterstreichen, völlig unabhängig von der Bewertung der politischen Ordnungen und deren moralischen Folgen ist, die sich in verschiedenen Zeiten in diesem weitreichenden Land ausbreiten, die dazu führen, dass in jedem System das Gewissen reichlich vieler Russen dort endet, wo die russischen Staatsinteressen beginnen.²¹⁹
In dieser ambivalenten Russlanderzählung wendet sich der Autor gegen eine ausschließlich vom polnischen Leiden geleitete anti-russische Perspektive auf den Komplex der russisch-polnischen Beziehungen. Gleichzeitig berücksichtigt er die Erfahrung der Teilungen und der russisch-imperialen Herrschaft Polens und benennt den Imperialismus als Merkmal russischen und sowjetischen Machtstrebens über 1917 hinaus als Kern seiner Russlanderzählung. Dies hat Folgen für Jasienicas Vorstellung vom russisch-polnischen Verhältnis. Nur indirekt äußert sich Jasienica in seinen Memoiren zu dieser Problematik. In einer Passage zur Studienzeit in Wilna erinnert der Autor an seine Vorlesungen bei Feliks Koneczny und erwähnt dessen Zivilisationstheorie sowie den Platz Polens und Russlands in diesen Ausführungen. Eigentlich geht es Jasienica dabei weniger um die Theorie, sondern vielmehr darum, die intellektuelle Leere Polens in den sechziger Jahren aufzuzeigen, wenn er auf die „notorische Geringschätzung des eigenen kulturellen Erbes“ und auf das Verbot von Konecznys Schriften in der Volksrepublik hinweist, während diese vor allem in der westlichen Welt rezipiert würden.²²⁰ Für die hier zu behandelnde Frage des russisch-polnischen Komplexes sind jedoch seine folgenden Äußerungen zu Konecznys Annahme von der Undurchlässigkeit zivilisatorischer Grenzen, von Polen als Vorposten einer westlichchristlichen Zivilisation an der Grenze zur slavisch-turanischen, die Koneczny in seiner Abhandlung Polen zwischen Ost und West von 1928 vertrat, von Bedeutung²²¹: Seine Historiosophie, seine Haltung, seine Positionen waren sehr – für meinen Geschmack übertrieben – pro-westlich. Irgendwie folgt jedoch aus diesem historiosophischen Ver-
Ebd., S. 47. Ebd., S. 143. Vgl. Koneczny, Polska między Wschodem a Zachodem, S. 95.
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ständnis, dass die russische Erzählung des 19. Jahrhunderts auf die Belletristik ganz Europas einen so großen Einfluss hatte. Ohne Dostoevskij [Fëdor, M.-B.] ist es unmöglich, sich die spätere Literatur Europas vorzustellen. Wenn Zivilisationen wirklich undurchlässig sind, bleibt letztlich die Frage, ob genau in unseren Gefilden notwendigerweise eine dieser undurchlässigen Grenzen verlaufen muss. Unter der Herrschaft der Holstein-Gottorps erwies sich Russland als geeignetes Terrain für gelungene Transplantationen wie das unabhängige […] Gerichtswesen. Es ist bekannt, was für ein Herrscher Nikolaus I. war, aber dennoch schrieb Gogolʼ den Revisor und die Toten Seelen [Hervorhebungen im Original, M.-B.] und publizierte sie.²²²
Jasienica geht es nicht darum, die Richtigkeit von Konecznys Annahmen zu belegen oder anzuzweifeln, sondern vielmehr darum zu verdeutlichen, dass die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung Russlands mit der Europas und Polens verknüpft und die Geschichte dieser Länder und Gesellschaften von etlichen Verflechtungen geprägt ist. Daneben stellt der Autor die von Koneczny, aber auch von nationalistischen Teilen des polnischen Exils vertretene Ansicht von der russisch-polnischen Inkompatibilität in Frage.²²³ An dieser Stelle sei nochmals auf Jasienicas Prämisse eingangs seiner Russlanderinnerungen verwiesen, in denen er schreibt: „Um ein Bild dieser Nation zu zeichnen, reicht mir nicht das Wissen um die Unterdrückungen, die Teilungen, die Deportationen und um die politische Tyrannei.“ ²²⁴ In seinen unvollendeten Memoiren finden sich darüber hinaus kaum Ansatzpunkte zur Bemessung des polnisch-russischen Verhältnisses. Ein Blick auf seine Publizistik lässt aber durchaus Rückschlüsse auf Jasienicas Sicht darauf zu. Besonders die frühe Publizistik der späten vierziger Jahre zeichnete sich durch eine intensive Beschäftigung mit dieser Thematik aus – ging es in ihr doch auch häufig auch um die Frage der polnischen Souveränität innerhalb der veränderten internationalen Verhältnisse nach dem Krieg. Geleitet wurde Jasienica dabei stets von einem situativen Pragmatismus, der die geopolitische Lage Polens berücksichtigte. In seinem ersten Artikel in Dziś i Jutro im Jahr 1946, unter dem bezeichnenden Titel Probleme des slavischen Bündnisses, stellt der Autor fest: „[W] eder ist Polen zu einem eigenständigen Krieg mit der Sowjetunion in der Lage, noch werden die Angelsachsen einen solchen um die polnischen Interessen beginnen.“²²⁵ Aufschlussreich ist ebenfalls eine Erklärung von Jasienica vom
Jasienica, Pamie̜tnik, S. 142. Nikolaj Gogolʼ (1809 – 1852), russischer Schriftsteller, einer ukrainischen Gutsbesitzerfamilie entstammend. Zu Konecznys Annahme von der Anti-Westlichkeit Russlands vgl. Filipowicz, Wobec Rosji, S. 74. Jasienica, Pamie̜tnik, S. 50. Pawel Jasienica: Problemy słowiańskiego porozumienia, in: Dziś i Jutro, H. 7, 1946, S. 2.
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26. August 1948, die in der Haftzeit kurz vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis entstand und 1990 von Andrzej Garlicki in der Wochenzeitung Polityka veröffentlicht wurde.²²⁶ Darin äußert sich Jasienica weitaus positiver und deutlicher über ein Bündnis zwischen Polen und der Sowjetunion. Jasienicas geopolitische Überlegungen werden hier um eine historiosophische Sicht auf die Beziehungen zwischen Polen und dem Westen bzw. der Sowjetunion erweitert, die sich durch die von Jasienica benannten Gesetzmäßigkeiten auszeichnet: [D]as Bündnis mit der UdSSR, dessen Notwendigkeit, die wohl nicht alle verstehen, folgt aus dem Faktum, dass wir an Russland angrenzen und Amerika hinter dem Ozean liegt. Aber das ist noch lange nicht alles. Das Bündnis mit der UdSSR ist gleichbedeutend mit unserer Zugehörigkeit zu einem Staatenkomplex, auch ‚slavischer Block‘ genannt. Sollen wir diese Zugehörigkeit als etwas Konjunkturelles betrachten oder als etwas Andauerndes? Ich spreche mich für die zweite Konzeption aus. Der augenfälligste Befund ist die Notwendigkeit unserer engen Zusammenarbeit mit der Tschechoslowakei. Die summierten Organismen beider Staaten sind in der Lage, das Schwergewicht in Europa von Berlin nach Warschau und Prag zu verlagern. Die These vom Schutz vor Deutschland ist bekannt. Befassen wir uns jetzt damit, welche Rolle Polen in einem westlichen Block hätte. Wir sind wohl etwas zu schwach, um eine eigenständige Rolle zu spielen (Die Liquidierung eines solchen Großmachtsmythos ist die Ausgangsbedingung, um die polnische Psyche zu heilen). […] Wenn wir von dieser Perspektive aus unsere Position im ‚slavischen Block‘ bewerten, dann bemerken wir leicht, dass diese weitaus nützlicher erscheint. Lässt man die Frage der Kultur beiseite, zieht man lediglich das zivilisatorische Niveau in Betracht, kann man behaupten, dass Polen in wenigen Fällen zurücksteht, meistens gleichzieht, oft auch überwiegt. Das bringt uns in eine komfortable Lage. Vergessen wir nicht die Frage der Kultur. Ich bin und bleibe ein großer Bewunderer der westlichen Kultur, zu der auch Polen gehört. Ja, dies hindert mich aber nicht daran, den Umstand zu benennen, dass die westliche Kultur heute immer mehr auf Kosten der Vergangenheit lebt. […] Ich möchte stattdessen die Aufmerksamkeit auf ein woanders stattfindendes Phänomen lenken. Ich denke dabei an die große kulturelle Dynamik des Ostens.“²²⁷
Aus dem Dokument geht hervor, dass Jasienica nach dem Krieg (und mehr oder weniger freiwillig während der Haft) eine Vorstellung des russisch-polnischen Komplexes als Kern eines slavischen Blocks entwickelte, die sich durch drei Elemente auszeichnete und an der er wohl auch später festhielt. Im Zitat betont er erstens die historische Zugehörigkeit Polens zum östlichen Europa, welche sich in der Idee der Slavizität manifestiert. Zweitens ist dieses Denken von der Betrachtung Deutschlands als mögliche Gefahr für den „slavischen Block“ und vor allem
Vgl. Andrzej Garlicki: Z tajnych archiwów. Wyznania Pawła Jasienicy, in: Polityka, 2. Juni 1990. Ebd.
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für Polen geprägt. Drittens sieht er im Westen eine Neigung zur „Dekadenz und Degenerierung“, die letztlich zum Verschwinden des „Selbsterhaltungsinstinkts“ führe, wie er später in der Erklärung schreibt.²²⁸ Die in diesen drei Elementen enthaltene Ausrichtung des Denkens Jasienicas erinnert in ihrer Argumentation sowie in Teilen ihrer Rhetorik an die Ideen Roman Dmowskis und der Nationaldemokraten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese sahen für Polen einen Platz in der slavischen Welt vor, der sich durch Polens zivilisatorische Führerschaft darin auszeichnete und sich aus der polnischen Erfahrung der verschiedenen Teilungsregime Deutschlands und Russlands im 19. Jahrhundert speiste. In Russland erblickten sie eine für die polnische Nation weit geringere Bedrohung als in Deutschland.²²⁹ Dass der Nachkriegsoptimismus des jungen Publizisten sich in den über zwanzig Jahre später geschriebenen Memoiren nicht mehr wiederfindet, bedeutet nicht, dass Jasienica sich von diesen Ideen abwendete. Vielmehr verweist das in den Memoiren nachgewiesene Prinzip der historischen Kontinuität auf Jasienicas anhaltende historiosophische Vorstellung vom ambivalenten russisch-polnischen Komplex und dessen wiederkehrenden Gesetzmäßigkeiten. Es ist unwahrscheinlich, dass er für Polen 1970 eine andere oder eine gewichtigere Rolle vorsah als die einer europäischen und kultivierten Variante des sowjetischen Gesellschaftsmodells. Stattdessen wendet er sich in seinen Memoiren von der Vision eines Duchbruchs Polens hin zur Moderne mit der Russischen Revolution als Motor eines solchen Modernitätswandels ab. Den Vorabend der Russischen Revolution im Haus seiner Eltern in Maksaticha im Winter 1916/1917 erinnernd, schreibt er am Anfang seiner Memoiren in Anlehnung an das Gedicht Linker Marsch des sowjetrussischen Schriftstellers Vladimir Majakovskij und dessen These von der Inbesitznahme der Geschichte durch die Russische Revolution: 53 Jahre sind seitdem vergangen, das ist ein ausreichend großer Zeitraum, um behaupten zu können, dass trotz der dröhnenden Prophezeiung eines bestimmten Verses die ‚Stute der Geschichte‘ überhaupt nicht geritten wurde. Sie schritt mächtig aus, nahm ein paar Hindernisse, aber sie riss auch einige ihrer imponierend zahlreichen Passagiere in Regionen voll ungewöhnlicher, vom Standpunkt der Philosophie aus gesehen deutlich unterhaltsamer Erscheinungen fort.²³⁰
Ebd. Vgl. Puttkamer, Russland und das östliche Europa, S. 149. Jasienicas Äußerung bezieht sich auf folgende Zeile aus Majakovskijs Gedicht Levyj marš: „Mit dem Stock jagen wir die Geschichte [Kljaču istoriju zagonim]“, ins Polnische übersetzt mit: „Zajeździmy kobyłę historii [Wir reiten die Stute der Geschichte]“ (Włodzimierz Majakowski: Lewą Marsz, in: Władimir Majakowski: Wiersze wybrane, hg. von Adam Ważyk, Warszawa 1948, S. 18 – 19, hier S. 18).
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In dem Zitat zeigt sich zum wiederholten Mal Jasienicas Deutung von der Russischen Revolution, deren Bedeutung als historisches Umbruchsereignis er relativiert. Ganz nebenbei verneint er dabei in der Rückschau auf Majakovskijs Gedicht den Anspruch der Revolutionäre von 1917 als Macher oder gar Lenker der Geschichte.
„Ein Zeichen für die Grausamkeit der Welt“: Bemerkungen zum polnischen Osten im Russischen Bürgerkrieg Jasienicas Erzählung von der Russischen Revolution folgt nicht der in der Volksrepublik offiziellen Lesart, die die Oktoberrevolution oder das Leid der Bevölkerung als Notwendigkeit zur Überwindung der alten Ordnung glorifizierte.²³¹ In seinen Äußerungen zum Bürgerkrieg finden sich ebenso wenig Formulierungen einer nationalen Schuld der Russen oder über „deren barbarische Natur“ wie etwa in polnischen Memoiren der frühen Zwischenkriegszeit.²³² Stattdessen erinnert der Autor an den transnationalen Charakter der Revolution und des Bürgerkriegs sowie an die Brutalität und die Radikalität polnischer, jüdischer oder lettischer Revolutionäre und Rotarmisten: „Am besten hatte es der, der an einen russischstämmigen Kommissar geriet.Weitaus weniger angenehm war es, vor dem Angesicht eines Letten, eines Juden oder eines Polen zu stehen.“²³³ Der Bürgerkrieg und der ihn begleitende Terror der wechselnden Besatzungsregime gegen die lokale Bevölkerung wird zum zentralen Schauplatz von Jasienicas Kindheitserinnerungen und mit ihm die demoralisierende, entwürdigende und terrorisierende Wirkung auf die Bevölkerung. Die Familie des Autors flüchtete 1920, ähnlich wie ein Großteil der polnischen Bevölkerung, vor den heranrückenden Truppen der Roten Armee nach Polen und ließ unter anderem Ländereien und Unternehmen des Großvaters bei Kiev, sowie ein beträchtliches Vermögen hinter sich.²³⁴ Die Zeit davor hatte die Familie in Tarašča bei Kiev verbracht. Sie war dort den wechselnden Militärregimen, wie der Weißen Bewegung, der Roten Armee und den ukrainischen Aufständischen ausgesetzt gewesen. Eindringlich beschreibt Jasienica seine Eindrücke davon, wenn er an die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung im Dorf erinnert: „Ich erfuhr, wie ein Mensch schreit, wenn er
Vgl. dazu Jasienicas Kritik an den Werken der sowjetischen Literatur zum Thema: Jasienica, Pamie̜tnik, S. 47, 78. Vgl. etwa Marian Tokarzewski: Straż przednia. Ze wspomień i notatek, Warszawa 1925; Kossak, Pożoga. Siehe dazu auch Kudyba, Inferno komunizmu w Pożodze Zofii Kossak-Szczuckiej. Jasienica, Pamie̜tnik, S. 50. Vgl. ebd., S. 54.
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erstochen wird. Und wie schrecklich es klingt, ähnlich einem zerbrechenden Spiegel, wenn in ihn der eiserne Kolben des Karabiners eindringt.“²³⁵ Ebenso erinnert er an die häufigen Regimewechsel und die mit ihnen einhergehenden neuerlichen Gewalttaten und Massenerschießungen. An anderer Stelle berichtet er über die Rückeroberung der Stadt durch ukrainische Aufständische und über deren Zurschaustellung der Brutalität der bolschewistischen Truppen, indem sie verscharrte Leichen ausgraben und der Zivilbevölkerung präsentieren: Mit den Freunden ging ich an ihnen [den Leichen] vorbei, niemand versperrte den Minderjährigen den Zugang. Ich sah auch eine einfach gekleidete Frau, die zwei Kinder an der Hand hielt, sie zog sie zu sich heran. Das war die Frau eines bekannten Mannes in der Stadt, des Postbeamten, der von der Čresvyčajka vor einiger Zeit verhaftet worden war. Der älteste Sohn, ein etwa zehn Jahre alter Junge, war dem Vater gefolgt und ebenfalls nicht zurückgekehrt. Auch ihre Körper lagen in dem in der Mitte aufgebahrten Haufen von Leichen. […] Innerlich verkrampft, mit Kälte auf den Wangen und im Nacken, ging ich den Fußweg entlang, auf die Füße schauend. Durch die über den Zaun ragenden Baumkronen schien die Sonne. Und dies blieb mir für immer – die kleinen runden Lichtschatten auf den waagerechten Gehwegplatten sind für mich Farben der Trauer, ein Zeichen für die Grausamkeit der Welt.²³⁶
Der Autor entwickelt aus den Beschreibungen des Bürgerkrieges in den ukrainischen Provinzen eine Geschichte der militärischen Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, die erst enden soll, als die polnischen Truppen die Stadt erobern. In seinen Memoiren erinnert der Autor an die Vertreibung der polnischen Bevölkerung, vor allem des Großgrundbesitzes aus der Ukraine und beschreibt teilweise groteske Szenen, wie die folgende von der Flucht seiner Familie durch die westliche ländliche Ukraine und vom anschließenden Aufenthalt auf dem zerstörten Gut der Familie Potocki im podolischen Antoniny: In irgendeiner bescheidenen Hütte stellte die Hausherrin auf einen sauber gedeckten Tisch eine riesige Schüssel Hirsegrütze mit Pflaumen, sie legte Löffel dazu. Sie waren aus Silber, schwer, auf jedem war das Wappen der Potockis zu sehen.Wir besichtigten den Ort, von dem sie stammten. Die hochgewachsenen Säulen des eingemauerten Tores standen wie seit jeher, hier und da fanden sich an ihnen weiße Stuckaturen, von der Umzäunung war keine Spur geblieben. […] Bei den gründlich ruinierten Sanitäreinrichtungen wuschen wir den Staub der Wanderung ab. Auch der radikalste Extremist hätte an diesem Ort keine Freude darüber ausdrücken können, dass der Magnatensitz seine Bedeutung völlig verändert hatte, damit er dem Volk als Schule dienen würde.“²³⁷
Ebd., S. 59. Ebd., S. 69. Ebd., S. 78.
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Jasienicas Memoiren lassen sich durchaus als Einschätzung lesen, dass das polnische Verständnis vom Osten als Herrschaftsraum des polnischen Adels mit der Revolution und dem Bürgerkrieg ebenso der Vergangenheit angehörte und als gescheitert angesehen werden musste wie der Versuch Piłsudskis 1920 zur „Rückkehr Europas in die gemarterten Gefilde.“²³⁸ Jasienica schreibt zur Ankunft der Polnischen Armee in der Ukraine im Polnisch-Sowjetischen Krieg und dem komplizierten Beziehungsgeflecht von polnischem Gutsbesitz und lokaler ukrainisch geprägter Bevölkerung: ‚Das zwölfte Regiment rückt ins Feld, zu den Gutshöfen nach Podolien‘, so lautete das bekannte Kavallerielied über eines der Regimenter, die nach Tarašča einrückten. Das konnten die Autochthonen von der Weichsel munter trällern, am Dnjepr oder am Dnjestr war es in dieser Hinsicht aber völlig anders. Die Tradition des bekannten ‚polnischen Besitzstandes‘ in der Ukraine war für die polnische Politik wie ein Stein am Hals.²³⁹
Auch an anderen Stellen kritisiert Jasienica das Überdauern einer polnischen herrschaftlichen Haltung in der Ukraine deutlich.²⁴⁰ Über die Frage des Umgangs mit der östlichen Vergangenheit Polens nach 1945 äußert sich der Autor in seinen Memoiren nur lückenhaft. Lediglich seine Erinnerungen zur Studienzeit in Wilna geben Aufschluss über das Verständnis polnischer Östlichkeit bei Jasienica. Dabei betont er vor allem das ideengeschichtliche und humanistische Erbe der Stadt und seiner Universität sowie dessen Bedeutung als wichtiges Zentrum der Frühen Neuzeit in Polen-Litauen. Deutlich hebt der Autor die kulturelle Führungsrolle der Polen in Wilna und in den ehemals polnischen Ostgebieten hervor: „Die Polen waren auf diesem Fleck des Kontinents die Erben der ältesten Kultur, die Pioniere Europas.“²⁴¹ Dabei geht es ihm vor allem um die Tradition eines republikanischen und liberalen Denkens, für die das Wilna der Frühen Neuzeit gestanden habe, an dessen Erbe jedoch im 20. Jahrhundert jedoch nicht mehr angeknüpft werden konnte: „[D]ie Menschen des 20. Jahrhunderts erwiesen sich als unfähig, das Erbe dieser wunderbaren Geschichte, die im Jahr 1795 durch die letzte Teilung der Republik der PolnischLitauischen Union geendet hatte, wieder aufzubauen.“²⁴² Jasienica merkt später an, dass lediglich Teile der polnischen Intelligenz nach dem Ersten Weltkrieg erwogen, die Idee des Litauischen Fürstentums zu erneuern – er selbst sei durchaus ein Anhänger der Idee Wilnas als freier Stadt in einem litauischen Staat
Ebd., S. 73. Ebd., S. 76. Vgl. ebd., S. 79. Ebd., S. 91. Ebd., S. 88.
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gewesen.²⁴³ In jenen Bemerkungen kommt ein Verständnis von polnischer Östlichkeit zum Ausdruck, das die zwischenstaatlichen Realitäten nach dem Ersten (und nach dem Zweiten) Weltkrieg zur Kenntnis nimmt und die Idee der polnischen Östlichkeit von der Vorstellung einer polnisch-staatlichen Dominanz im Osten entkoppelt. Unklar bleibt an dieser Stelle Jasienicas Haltung zum Verlust der polnischen Ostgebiete nach 1945. Es kann lediglich gemutmaßt werden, dass Jasienicas sich wohl kritisch mit den Rückgabeforderungen der polnischen Exilregierung und der nostalgischen Mythisierung des polnischen Ostens in der Exilliteratur auseinandergesetzt hätte. An dieser Stelle hilft ein Blick in die Publizistik des Autors in den fünfziger und sechziger Jahren. In ihr wies sich der Autor als entschiedener Verfechter der Westverschiebung Polens und des Wegfalls der polnischen Ostgebiete nach Jalta aus. 1954 äußerte sich Jasienica durchaus wohlwollend über die neuen polnischen Außengrenzen: Polen hat seit zehn Jahren kein über Warschau thronendes deutsches Ostpreußen mehr, und die Meeresküste ist kein enger Korridor, der zwischen zwei Territorien des Dritten Reiches eingeklemmt war. Die Ostgebiete haben aufgehört, unser Balkan zu sein, wo der Kessel der Nationalitäten ständig von der diskriminierenden Politik der Sanacja angeheizt wurde, damit sie alle ihr ‚Maul‘ hielten.²⁴⁴
Jasienica benennt in dem Artikel nicht den Preis für die Westverschiebung von Polens Grenzen und für die von ihm im Beitrag begrüßte ethnische Homogenisierung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg, wie die ethnischen Säuberungen und Deportationen von Polen, Ukrainern und Deutschen. Seine Memoiren geben ebenfalls wenig Aufschluss darüber, welche Haltung Jasienica kurz vor seinem Tod dazu einnahm. Ein weiterer Blick in seine Publizistik jedoch gibt auch hier Hinweise. So wies Jasienica in dem bereits erwähnten englischsprachigen Beitrag von 1968 daraufhin, dass die Frage der Integration der nicht-polnischen Nationalitäten in Polen nach dem Ersten Weltkrieg auch deshalb ungelöst blieb, weil erst der Krieg zwischen der Türkei und Griechenland und die daran anschließenden Massendeportationen im Jahr 1922 eine politische Lösung für Nationalitätenkonflikte boten, wie er schreibt: „The war between Greece and Turkey, which set a precedent for the mass expulsion of an autochthonous people, was still two years in the future.“²⁴⁵ Zweifellos war sich Jasienica jedoch der gesellschaftlichen Folgen solcher politischer Instrumente bewusst. Den Wilnaer Publizisten und
Vgl. ebd., S. 92. Pawel Jasienica: Ład na arenie. Wobec rocznicy… (3), in: Życie Warszawy, H. 183, 1954, S. 3. Jasienica, The Polish Experience, S. 84.
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Historiker Jerzy Orda (1905 – 1972) paraphrasierend, schreibt er in seinen Memoiren: „Der komplette Umbau des Systems musste irgendetwas kosten. Dieses ‚irgendetwas‘ würde aus der Gesellschaft fließen.“²⁴⁶
Eine „Geschichte der Angst“: Der Zerfall des Russischen Imperiums – Polens 20. Jahrhundert Welche Idee von Polen kristallisiert sich aus der Erzählung der Erfahrung des Zerfalls des Russischen Imperiums, der Russischen Revolution und des Bürgerkriegs in Jasienicas Memoiren heraus? Anders als die intelligente Autobiographik der Zwischenkriegszeit konstruiert der Autor in seinen Memoiren die Vorstellung eines Polens in einer Atmosphäre der Angst, die in Polen im 19. Jahrhundert und – erneuert durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs und die Bedrohung der polnischen Souveränität im Sowjetisch-Polnischen Krieg – im 20. Jahrhundert vorherrschte. Der Publizist illustriert diese Idee anhand von Wilna nach dem Ersten Weltkrieg, indem er den Wandel der Stadt von einer liberalen zu einer von Konservatismus und Restauration geprägten Stadt beschreibt und die daraus resultierende Haltung einer verängstigten Bürgerschaft skizziert. Jasienica sieht in der Haltung der „von der Vormundschaft der zaristischen Gouverneure befreiten Bürger“ vor allem eine Variation des Konservatismus vorherrschend, die sich durch eine Skepsis zu allen gesellschaftlichen und künstlerischen Formen der Modernität auszeichnete²⁴⁷: „Die Gestalt der Wilnaer ‚Ewiggestrigen‘ erinnert etwas zu sehr an die Handlung eines geringgeschätzten Menschen, der sich zurückzieht, der unnötige Kontakte vermeidet, weil die Erfahrung ihn gelehrt hat, alles zu fürchten.“²⁴⁸ Es ist das Element der Furcht oder der Angst, das der Autor als bestimmendes Merkmal polnischer Mentalität nach dem Ersten Weltkrieg ausmacht und das mit einem Komplex einhergeht, der auf dem Verlust der eigenen Vormachtstellung beruht. Diese Idee beruht wiederum auf einer geopolitischen Logik und auf einer Logik der Imperiumserfahrung, wie Jasienica gleich darauf mit dem Verweis auf Aussagen von Czesław Jankowski (1857– 1929) und George Orwell (1903 – 1950) zeigt. In ihnen sieht Jasienica das Paradigma der Selbstunterwerfung Polens unter das Imperiale, genauer: die Verharrung Polens in einer anti-imperialen Starre im post-imperialen Zeitalter zum Ausdruck gebracht:
Jasienica, Pamiętnik, S. 161. Ebd., S. 97. Ebd., S. 104.
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Im September 1915, als Czesław Jankowski den Einmarsch der ausgezeichnet organisierten deutschen Armee in Wilna beschrieb, notierte er folgendes Bekenntnis: ‚Und in jenen Augenblicken, wenn man – nicht ohne Furcht – auf das schnelle Herannahen der neuen Epoche schaut, als ob sie aus der Erde sprießen würde, erfasst die Seele eine seltsame Wehmut. Eine Wehmut nach der niederträchtigsten, der grausamsten Epoche in unserer nationalen Geschichte! Ja! Bis zu diesem Grad ist uns das ans Herz gewachsen, was war. Man hat sich daran gewöhnt! Und unbewusst, darauf schauend, wie der gestrige Tag vergeht, verabschieden wir völlig regungslos, mit dem Gefühl irgendeiner nicht auszudrückenden Melancholie den gestrigen Tag…‘ Der gestrige Tag verging, und mit ihm hatte man sorgfältig die Denkmäler Katharinas II. und des ‚Henkers‘ Muravʼëv in große Kisten gepackt und irgendwo in den Osten gefahren. Es blieb ‚eine seltsame Wehmut‘. ‚Er liebte den großen Bruder!‘, erinnert George Orwell eindeutig und die Lust zum Spott vergeht.“²⁴⁹
Mit Czesław Jankowski, einem Wilnaer Publizisten und Schriftsteller, der seine Eindrücke von der Evakuierung der russisch-imperialen Truppen und dem anschließenden Einmarsch der Truppen des Deutschen Reichs in die Stadt 1915 in seinem Tagebuch festhält, kommt Jasienica auf das Ende der russisch-imperialen Herrschaft in Polen sowie auf die Reaktionen und den gesellschaftlichen Umgang damit in Polen zu sprechen. Jasienica verweist dabei auf die biographische und auf die gesellschaftliche Komplexität des Herrschaftsumbruchs nach dem Regimewechsel. Mit Jankowski betont Jasienica, dass die Wilnaer Bevölkerung paradoxerweise das Ende der russisch-imperialen Fremdherrschaft eben nicht begrüßte, sondern in einem Zustand der Angst vor dem Kommenden verharrte und somit offenbarte, wie sehr man sich mit dem russisch-imperialen Herrschaftsregime im Verlauf des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts arrangiert hatte. Mit dem Zitat aus George Orwells Novelle 1984 – dabei handelt es sich um den letzten Satz in Orwells Novelle – knüpft der Autor an die in der polnischen Intelligenz so lebhaft geführte Debatte des 19. Jahrhunderts um die ugoda – die Übereinkunft der polnischen Eliten mit dem Regime – an. Hinter dem Verweis auf George Orwells 1984 verbirgt sich wohl auch ein Gleichnis, das Phänomen einer erstarrten kolonisierten Gesellschaft zu beschreiben, die nicht willens ist, die eigene Un-
Ebd. Das Zitat stammt aus: Czesław Jankowski: Z dnia na dzień. Warszawa 1914– 1915, Wilno 1923, S. 254. Der George Orwell zugewiesene Ausspruch findet sich in: George Orwell: Nineteen Eighty-Four, unv. Ausg., Harmondsworth 1983, S. 236. Hinter dem „Henker“ verbirgt sich Michail Murav’ëv-Vilenskij (1796 – 1866), Generalgouverneur der nordwestlichen Provinzen während des anti-russischen Aufstands von 1863.
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terjochung unter eine fremde Besatzungsmacht zu erkennen und in einer Angststarre verharrt. Dabei scheint zweitrangig, ob diese Macht die Gestalt des Russischen oder des Sowjetischen Imperiums annimmt. Denn gleich darauf erinnert der Autor an das „Gespenst der im Osten geborenen weißen Angst. Es dauerte nicht lange, dass aus denselben Gefilden die neue Gestalt der Angst einwanderte, die dieses Mal rot gefärbt war.“²⁵⁰ Dass Jasienica die systemischen Unterschiede des sowjetischen Russlands wie auch des imperialen Russlands übergeht, hat dabei nur wenig mit der in der polnischen Historiographie verbreiteten Kontinuitätsthese zu tun, sondern rührt stattdessen am Kern dieser These. Hinter dem Zitat verbirgt sich vielmehr eine kritische Betrachtung der polnischen Wahrnehmung Russlands oder der Sowjetunion als Bedrohung. Denn die Entstehung der Sowjetunion im Osten – so lassen sich Jasienicas Äußerungen interpretieren – erlaubte der herrschenden politischen Klasse im unabhängigen Polen, an die anti-russisch konnotierte Feindeslogik der polnischen Intelligenz in der Teilungszeit anzuknüpfen, mit der Zeichnung einer Bedrohung aus dem Osten die eigene Position zu legitimieren und im Stillstand fehlender Reformen zu verharren: Man kann nicht bezweifeln, dass sie [die Angst] allen Rückständigen zu Hilfe kam, sie beflügelte ihre Seelen, sie ermutigte sie, auch die unschuldigsten Gesten der Erneuerung zu revidieren, und hinter diesen auch noch irgendwelche versteckten Dolche zu vermuten. Sie ließ die verängstigten Leute verblöden.²⁵¹
Die Sehnsucht nach dem Feind im Inneren und Äußeren und die daraus resultierende Blockade gesellschaftlicher Erneuerung ist es, die der Autor als Wesensmerkmal polnischen Selbstverständnisses im 20. Jahrhundert anführt und ihn zu der Aussage veranlasst, dass es sich durchaus lohne, „eine spezielle Studie unter dem Titel ‚Geschichte der Angst‘“ zu schreiben, die die verschiedenen Phasen dieser Angst illustrierte.²⁵² Jasienica merkt an, dass diese Stadien der Angst in der Zwischenkriegszeit dazu geführt hätten, dass weite Kreise der polnischen Gesellschaft von dieser Angst gelähmt waren: Die Bauern kaufen Land, um es zu besitzen… Vorsicht, roter Stern! […] Bei uns war jede nicht einmal sozialistische, sei es nur liberale Tätigkeit als Vorwand verschrien, hinter dem schon bald das dumpfe Gesicht Feliks Dzierżyńskis zum Vorschein kam.²⁵³
Jasienica, Pamiętnik, S. 106. Ebd. Ebd., S. 110. Ebd., S. 106.
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Dabei vergisst er nicht darauf hinzuweisen, dass diese tiefsitzende Angst in Zwischenkriegspolen ebenjenem Stern galt, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen plötzlich vorzeigbar werden sollte: „O ja, der typische, so klassische rote Stern!“²⁵⁴ Das Wilna der Zwischenkriegszeit beschreibt der Autor düster als „ciemnogród“ [wörtl. etwa „Stadt des Dunkels“].²⁵⁵ Hinter dem Begriff, der ursprünglich aus einer gleichnamigen Erzählung des Schriftstellers Stanisław Potocki (1755 – 1821) über den polnischen Adel stammte, verbarg sich eine in der PRL und im Exil gebräuchliche Formel zur Beschreibung konservativer Kreise in Zwischenkriegspolen und der Vorwurf einer provinzialistischen und rückwärtsgewandten Haltung.²⁵⁶ Ganz ähnlich skizziert der Autor in seinen Memoiren auch die intellektuelle Atmosphäre in der Volksrepublik der frühen siebziger Jahre: Heute ist es völlig anders als es in den vierziger Jahren war, die Zensur hat dazu geführt, sie [die polnische Literatur] bis auf das Übelste zu degradieren. Schon seit langem fesseln uns die Folgen der intellektuellen Leere, die das Land seit einem Vierteljahrhundert beherrscht. Die jungen Untertanen wurden intellektuell kastriert.²⁵⁷
Rettung vor der Mittelmäßigkeit und der Provinzialität Zwischenkriegswilnas wie auch Volkspolens erblickt der Autor in der eigenen Generation der liberalen Wilnaer Intelligenz. Diese, so der Autor, habe sich bereits in der Zwischenkriegszeit einen Namen gemacht und verfüge über das Potential, Polen zu modernisieren: „Die Wilnaer haben von sich sowohl in der Regierung [der PRL, M.B.], im Wald [im Untergrund während des Zweiten Weltkriegs, M.-B.] und in verschiedenen Organisationen einen Namen gemacht: in der Diplomatie, in der legalen Opposition im Land und in der Emigration.“²⁵⁸ Diese Generation versteht Jasienica als legitimen Träger eines liberalen Denkens, das auf der Erfahrung der Bildung und der Arbeit „in einem völlig unabhängigen Land, das trotz allem den Charakter des europäischen Liberalismus ererbt hatte“, fußte.²⁵⁹ Jasienica weist dabei darauf hin, dass Angehörige dieser Gruppe sowohl der Besatzungsherr-
Ebd. Ebd., S. 103. Vgl. Stanisław Kostka Potocki: Podróż do Ciemnogrodu. W czterech częściach, Warszawa 1820. Zur Begriffsgeschichte vgl. Czesław Miłosz: The History of Polish Literature, 2. Aufl., Berkeley, Los Angeles, London 1983, S. 204. Jasienica, Pamiętnik, S. 153. Ebd., S. 154. Ebd., S. 149.
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schaft der Nationalsozialisten zum Opfer fallen sollten, wie auch dem Terror in der Sowjetunion.²⁶⁰ Eine zentrale Rolle in Jasienicas Skizze des liberalen Wilnas nimmt dabei der polnische Kommunist Henryk Dembiński ein. In ihm sieht er sowohl die Erfahrung der Teilungen Polens und der russisch-imperialen Herrschaft, die Illusionen der Unabhängigkeit und die Enttäuschungen jener Generation repräsentiert. Seine Beschreibungen des in Russland geborenen Dembiński erwecken den Eindruck eines charismatischen Intellektuellen, der von den Erfahrungen der anti-polnischen Repressionen und der strukturellen Gewalt des späten Russischen Imperiums geprägt war. Jasienica erinnert an Dembińskis Vater, einen Eisenbahner und Revolutionär, der in der Zeit des Russischen Imperiums in Irkutsk inhaftiert worden war.²⁶¹ In der Zeit der Wirtschaftskrise, so der Autor weiter, zeigte sich Dembiński empfänglich für die Idee des Sozialismus und trat zu Beginn der dreißiger Jahre trotz Verbots den Polnischen Kommunisten bei. Jasienica betont in seinen Memoiren, in den dreißiger Jahren nicht von Dembińskis Parteizugehörigkeit gewusst zu haben.²⁶² 1939 kam es zum Prozess gegen Dembiński sowie gegen die späteren Funktionäre der PZPR, Jerzy Putrament und Stefan Jędrychowski, die ebenfalls der Mitgliedschaft in der KPP verdächtigt wurden. Im Prozess, so Jasienica, distanzierte sich Dembiński deutlich von den Kommunisten und wurde schließlich gemeinsam mit den anderen Angeklagten vom Vorwurf freigesprochen. Dem Autor zufolge beteiligte sich dieser nach der Besetzung Wilnas durch die Sowjets 1939 aktiv an dem Abtransport der Wilnaer Sammlungen der Polnischen Staatsarchive sowie der Bibliothek und der Dokumentationssammlung des dort ansässigen Osteuropa-Instituts.²⁶³ Trotz seiner Nähe zum Kommunismus habe sich Dembiński nach 1939 „auf einen Seitenweg, auf eine provinzielle Bahn“ begeben.²⁶⁴ Nach dem Angriff der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion wurde Dembiński schließlich von den Nationalsozialisten ermordet. Über die Hintergründe der Ermordung und die Erinnerung an Dembiński in der PRL schreibt Jasienica abschließend: Am 12. August 1941 ermordeten die Deutschen Henryk Dembiński in Hancewicze [Gancavičy, heute zu Belarus gehörig, M.-B.]. […] Ich weiß natürlich nicht, welche Pläne die sowjetische Regierung in dieser Zeit hatte, anhand der Absichten Stalins zur finalen Abrechnung aber,
Vgl. ebd., S. 154. Vgl. ebd., S. 168. Vgl. ebd., S. 171. Vgl. ebd., S. 192. Marek Kornat hingegen stellt Dembińskis Beteiligung am Abtransport der Archivalien und am Raub der Institutsbibliothek infrage, vgl. Kornat, Instytut Naukowo-Badawczy Europy Wschodniej w Wilnie. Jasienica, Pamiętnik, S. 188.
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anhand seines Verhältnisses zur polnischen Nation kann man nicht bezweifeln, dass er nach Westen zielte, nicht nur bis an den Bug, sondern bis an den Rhein. Ohne die Details dieser Pläne zu kennen, erscheint mir eines sicher: einen unbequemen Vogel wollte man nicht füttern. […] Ein Talent vom Schlag Dembińskis konnte sich als schwierig erweisen. Zunächst einmal schickte man ihn nach Polesien… Die Verhaftung von Skarżyński, den in der breiten Öffentlichkeit fast niemand kannte, stellte kein Problem dar. Für Dembiński war es vielleicht zu früh. Der tragische Tod Henryk Dembińskis wird in Polen offiziell beweint. Man kann jedoch vermuten, dass die Nachricht von dem deutschen Verbrechen 1941 die Entscheidungsträger im Kreml nicht betrübte.“²⁶⁵
An dieser Stelle sei nochmals daran erinnert, dass Jasienicas Memoiren fragmentarischen Charakter haben. Dennoch bietet sich an, mit Dembiński Jasienicas Sicht auf die Haltung der polnischen Intelligenz zu den Herrschaftserfahrungen des Nationalsozialismus und des Kommunismus zu betrachten. Der junge Kommunist verdeutlicht für Jasienica das Dilemma der polnischen Intelligenz angesichts der an Polen grenzenden Herrschaftsregime im Osten wie auch im Westen unmittelbar vor und während des Krieges. So steht Dembiński exemplarisch für die Radikalisierung, oder, mit Miłosz gesprochen, für die „Verführung“ einer im Schatten des Russischen Imperiums sozialisierten und von der ausweglosen wirtschaftlichen und internationalen Lage der dreißiger Jahre geprägten polnischen Intelligenz, die sich anlässlich des Überfalls der deutschen und der sowjetischen Besatzer mit der Frage der Kollaboration oder des Gangs in den Untergrund konfrontiert sah. Wenn er über die Folgen der Entscheidungen von Dembiński, Putrament und Jędrychowski schreibt, stellt er mit Bitterkeit fest: Man kann die These aufstellen, dass ihre Rolle im kommunistischen Polen aus der frühen Popularität der Vorkriegszeit rührte. […] Schwierig ist es in der Regel für jene, die ausschließlich auf die eigene Arbeit und die eigenen Kräfte zählen. Wieviel leichter haben es da diejenigen, die früh auf die grell angemalten politischen Steigbügel springen.²⁶⁶
Jerzy Putrament sollte in der PRL ebenso erfolgreich als Botschafter und als führender Funktionär der PZPR arbeiten, wie das spätere Politbüromitglied Stefan Jędrychowski. In den Augen Jasienicas waren sie jener totalitaristischen Versuchung erlegen, die ihren Ausgang in dem Russischen Bürgerkrieg genommen hatte, und deren unmittelbare Nachbarschaft in der Zwischenkriegszeit in Polen trotz des Wissens um die stalinistischen Säuberungen und die Schauprozesse in
Ebd., S. 195. Bohdan Skarżyński (1916 – 1942), Polnischer, aus Kiev stammender Kommunist, der in der Zwischenkriegszeit in Wilna lebte. Jasienica, Pamiętnik, S. 189.
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der Sowjetunion die Illusion vom Sprung der polnischen Gesellschaft in eine gerechtere Moderne genährt hatte. In seiner autobiographischen Erzählung erkennt der Autor in der Erfahrung seiner Generation von der Perspektivlosigkeit in der Zwischenkriegszeit jenen Zusammenhang, der vom Russischen Bürgerkrieg bis in die Gegenwart des sterbenden Autors 1970 reicht.Vielleicht hätte Jasienicas Vision eines zukünftigen Polens in seinen vervollständigten Memoiren ganz ähnlich geklungen, wie in dem frühen Artikel Das darf man nicht für den Tygodnik Powszechny nach dem Zweiten Weltkrieg. Darin schrieb Jasienica mit Verweis auf die französische Formel von La France éternelle: Es wäre gut, dass auch wir uns dem Begriff eines ewig andauernden Polens anvertrauen. Kein ‚weißes‘ Polen, kein ‚rotes‘ Polen und kein Sanacja-Polen – sondern ein ewiges Polen, ein solches, das tausend Jahre dauert und andauern wird, wenn der Ruf von unserer Generation schon verhallt ist.²⁶⁷
5.3 Stanisław Swianiewicz (1899 – 1997): Russlands Zerfall und Polens Osten nach Katyń Nach Władysław Studnicki und Paweł Jasienica rückt mit Stanisław Swaniewicz ein weiterer Wilnianin ins Zentrum der Analyse, dessen Biographie in der Zwischenkriegszeit eng mit der Stadt und seiner Universität im litauischen Teil des damaligen Polens verbunden ist. Einer breiten polnischen und internationalen Öffentlichkeit war der spätere Ökonom und Sowjetologe vor allem als Autor der 1976 erstmals erschienenen Erinnerungen Im Schatten von Katyń bekannt, die neben Józef Czapskis Starobelʼsker Erinnerungen bis heute als eines der wenigen selbstständigen Dokumente der Memoirenliteratur rund um die Massenerschießungen von etwa 21.000 polnischen Gefangenen in der Sowjetunion durch den Narodnyj kommissariat vnutrennych del (NKVD, Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) im Frühsommer 1940 gelten können.²⁶⁸ Bei den Opfern der Erschießungen handelte es sich vor allem um Angehörige der polnischen Intelligenz. Swianiewicz entkam der Ermordung wohl nur aufgrund seiner Forschung zum nationalsozialistischen Regime, die für die sowjetische Staatssicherheit interessant genug erschien, um Swianiewicz von der Eisenbahnstation Gnëzdovo weg nach Moskau in das Butyrka-Gefängnis zu transportieren, dort zu vernehmen und im Sommer 1941 zu acht Jahren Zwangsarbeit im Ustʼ-Vymskij Rajon der Republik Komi zu verurteilen. Im Zuge der Entspannung zwischen der polnischen Pawel Jasienica: Nie wolno, in: Tygodnik Powszechny, 15. Dezember 1946, S. 2. Vgl. Swianiewicz, W cieniu Katynia; Józef Czapski: Wspomnienia starobielskie, Rzym 1944.
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Exilregierung und der Sowjetunion durfte Swianiewicz im Frühjahr 1942 das Lager verlassen und über Kujbyšev, wo sich die damalige polnische Botschaft befand, in den Nahen Osten ausreisen.²⁶⁹ Neben etlichen Monographien und Beiträgen sowie den bereits erwähnten Erinnerungen zu Katyń entwarf der Autor mit Kindheit und Jugend einen kleinen Memoirenband über seine Kindheit und Jugend im Russischen Imperium und im revolutionären Russland.²⁷⁰ Swianiewiczs Kindheitserinnerungen sind, ähnlich wie die von Paweł Jasienica, lediglich fragmentarisch erhalten. Sie entstanden wohl im Zuge des Schreibens seiner Katyń-Erinnerungen in den siebziger Jahren und decken nur einen Teil seiner wohl ausführlicher geplanten Lebenserinnerungen ab. In beiden Werken finden sich etliche Querverweise zu eigenen Erlebnissen oder historischen Ereignissen. Im Vorwort der Kindheitserinnerungen weist seine Tochter Maria Swianiewicz-Nagięciowa darauf hin, dass Swianiewicz aufgrund seines sich verschlechternden Gesundheiszustands die Memoiren nicht mehr beenden konnte.²⁷¹ Ein Jahr, bevor der Autor 1997 verstarb, wurden diese von seinen Kindern publiziert, erlangten jedoch keine so große öffentliche Rezeption wie Swianiewiczs Memoiren über Katyń.²⁷²
Zur Biographie: Swianiewiczs doppelte Russlanderfahrung Swianiewicz kam 1899 im livländischen Dünaburg als eines von drei Kindern in einer bürgerlichen Familie zur Welt. In der Familie wurde die Zugehörigkeit zum polnischen Landadel ebenso betont wie die Zugehörigkeit zur lokalen Herrschaftselite. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit Polens 1918 war Swianiewicz bereits 19 Jahre alt. Sein Vater, der ebenfalls Stanisław hieß, hatte ein Ingenieursstudium in Sankt Petersburg absolviert. Ihm oblag seit 1905 die Leitung der Eisenbahnstrecke zwischen Riga und Orelʼ. Der Vater gehörte einem niederen polnischen Adelsgeschlecht bei Novgorod an der alten Ostgrenze der polnischlitauischen Adelsrepublik zu Russland an und galt als dem Russischen Imperium gegenüber loyal. Die Mutter, eine geborene Baranowska, stammte ebenfalls aus einer polnischen Adelsfamilie bei Wilna, in der sich etliche Vertreter der Elternund Großelterngeneration direkt und indirekt an den anti-russischen Aufständen
Vgl. Kornat, Art, S. 126. Vgl. Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość. Vgl. Maria Swianiewicz-Nagięć: Przedmowa, in: ebd., S. 3 – 4, hier S. 4. Lediglich Kornat bedient sich der Memoiren als soganntem „Faktensteinbruch“, ordnet aber Swianiewiczs Erinnerungen kaum in dessen publizistisches Schaffen ein, vgl. Kornat, Swianiewicz, Lenin i totalitaryzm, S. 66.
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von 1831 und 1863 beteiligt hatten und für ihre Tätigkeit in den Osten Russlands verbannt worden waren. In der Familie mütterlicherseits war demzufolge eine anti-imperiale Haltung vorherrschend, während man sich in beiden Familien um den Erhalt der Güter, sowie um die Bewahrung polnischer Sprache und Kultur bemühte.²⁷³ Swianiewiczs Eltern, die zum Herrschaftsmilieu Dünaburgs zählten, das vor allem von Russen und Baltendeutschen dominiert wurde, zeichnete eine insgesamt pragmatische Haltung zum Imperium aus. Die Bevölkerung in Dünaburg war seit der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts von einem hohen polnischen sowie einem stark zunehmenden jüdischen Bevölkerungsanteil geprägt. Auch die lettische Bevölkerung des Umlands strömte zunehmend in die Stadt.²⁷⁴ Der spätere Sowjetologe besuchte ab dem zehnten Lebensjahr ein russisches mathematisches Gymnasium, der Schule ging jedoch ein langjähriger Privatunterricht in polnischer Sprache und polnischer Geschichte voraus. Für das älteste dreier Kinder war eine Laufbahn ähnlich der des Vaters vorgesehen, ein technisches Studium möglichst an einer der Hochschuleinrichtungen in Sankt Petersburg. Die Revolution von 1905 und 1906 und die Entstehung einer vielfältigen kritischen Öffentlichkeit brachten für die Familie etliche Erleichterungen. Die Mutter schrieb und publizierte in polnisch- und russischsprachigen Zeitungen. Die Familie profitierte nun von der Tolerierung der polnischen Sprache im Russischen Imperium. Die dann folgende Periode der Restauration machte einen Teil dieser Errungenschaften wieder rückgängig. Zu diesem Zeitpunkt war Swianiewicz, ohne das Wissen seiner Eltern, bereits Mitglied in verschiedenen polnischen Selbstbildungszirkeln.²⁷⁵ Im Ersten Weltkrieg veränderten sich die Lebensbedingungen der Familie. Gemeinsam mit dem Staatsbetrieb der Eisenbahn Riga-Orelʼ wurde die Familie 1915 aufgrund des Rückzugs der Russischen Armee und dem Abtransport wichtiger Industriebetriebe aus Polen und dem Baltikum ins zentralrussische Orelʼ
Vgl. Swianiewicz-Nagięć, Maria: Podcast Radio Dwójka vom 6. Juni 2011, 11.45 Uhr. Profesor Maria Swianiewicz-Nagięć – strażniczka pamięci (Opowieść o tradycjach rodzinnych i wakacjach spędzanych w majątku dziadka nad samą granicą sowiecką), in: Polskie Radio, , 15.11. 2017. Maria Swianiewicz-Nagięć berichtete 2011 anlässlich des siebzigsten Jahrestags der Erschießungen von Katyń vom 6. bis zum 10 Juni in fünf Lesungen bei Radio Dwójka (Zweites Polnisches Radio) über die Familiengeschichte ihres Vaters. Vgl. Catherine Gibson: The Polish Livonian Legacy in Latgalia: The Confluence of Slavic Ethnolects in the Baltic-Slavic Borderland, in: The Palgrave Handbook of Slavic Languages, Identities and Borders, hg. von Tomasz Kamusella, Motoki Nomachi und ders., Basingstoke, New York 2016, S. 57– 80, hier 66 f. Vgl. Kornat, Art, S. 124.
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evakuiert.²⁷⁶ Dort beendete der junge Swianiewicz in der Zwischenzeit die Schule und ging 1917 ins etwa 400 Kilometer nördlich gelegene Moskau, um an der Fakultät für Recht und Gesellschaftswissenschaften ein Wirtschaftsstudium zu beginnen. Im revolutionären Moskau engagierte sich der junge Student vor allem in den zahlreichen Organisationen polnischer Flüchtlinge, und rekrutierte für die Piłsudski-nahen paramilitärischen polnischen Kampfverbände der POW potentielle Mitglieder. Überrascht von dem Oktoberumsturz der Bolʼševiki in Petrograd und den anschließenden Häuserkämpfen in Moskau flüchtete Swianiewicz nach Orel‘, um im Winter 1917/1918 wieder nach Moskau zurückzukehren und sein Studium fortzusetzen. Nach der Schließung des deutsch-sowjetrussischen Friedensvertrags von Brest-Litovsk im März 1918 bot sich der Familie im anschließenden Sommer die Möglichkeit zur Rückkehr in das von den deutschen Truppen besetzte Dünaburg. Hier erlebte die Familie den Vormarsch der Roten Armee ins Baltikum und wurde erneut Zeuge des Einmarsches bolschewistischer Truppen in Dünaburg. Der Terror der sowjetischen Besatzer mit Massenerschießungen und Gefangennahmen richtete sich vor allem gegen die wohlhabende, zumeist jüdische Bevölkerung und die jeweiligen paramilitärischen Verbände der Polen und Letten. Infolgedessen wurde der Vater inhaftiert und nach Smolensk transportiert, sein Sohn flüchtete in das südliche, von den polnischen Truppen zwischenzeitlich befreite Wilna und schloss sich hier erneut den Kampfverbänden der POW und der Polnischen Armee an.²⁷⁷ Wie aus Swianiewiczs Memoiren hervorgeht, verstarb die Mutter kurz darauf.²⁷⁸ Swianiewicz, der als Soldat der Polnischen Armee während des PolnischSowjetischen Kriegs unter anderem im polnischen Livland und an der Weichsel bei Warschau kämpfen sollte, ließ sich zwischen den Kampfeinsätzen 1920 in Wilna nieder, wo er sein Wirtschaftsstudium an der Universität fortsetzte. Als junger Unteroffizier unter Lucjan Żeligowski (1865 – 1947) wirkte Swianiewicz an der Errichtung des provisorischen Staatsgebildes Mittellitauens mit. Nach einer positiven Abstimmung des vor allem aus polnischen Delegierten bestehenden ersten Wilnaer Parlaments 1922 wurden die Stadt und das Umland Polen als Provinz zugeteilt.²⁷⁹ Die international geächtete Besetzung durch polnische
Zum Ersten Weltkrieg und den Bevölkerungsverschiebungen in den russischen Westprovinzen vgl. Peter Gatrell: War, Population Displacement and State Formation in the Russian Borderlands 1914– 1924, in: Homelands. War, Population and Statehood in Eastern Europe and Russia 1918 – 1924, hg. von Nick Baron und dems., London 2004, S. 10 – 34. Vgl. Swianiewicz, Erinnerungen an Władysław Studnicki, S. 151; Kornat, Swianiewicz, Lenin i totalitaryzm, S. 67. Vgl. Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 91. Vgl. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 123.
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Truppen 1920 war durchaus in Piłsudskis Interesse und wurde von ihm gebilligt.²⁸⁰ Swianiewicz hingegen distanzierte sich später deutlich von Żeligowskis Vorhaben und brandmarkte die Kämpfe zwischen polnischen und litauischen Verbänden als „Bruderkrieg“.²⁸¹ Nach der Demobilisierung Ende 1920 setzte Swianiewicz sein Studium an der neugegründeten Stefan-Batóry-Universität in Wilna fort. Als ein den krajowcy – einer parteiübergreifenden Gruppe Wilnaer Regionalisten – nah stehender Verfechter eines föderalen Polens mit weitreichenden Autonomierechten für die nationalen Minderheiten publizierte er in verschiedenen Zeitungen wie dem Kurier Wileński (Wilnaer Kurier) und dem konservativen Słowo unter Leitung von Stanisław Mackiewicz.²⁸² Swianiewicz blieb der wissenschaftlichen Arbeit sein gesamtes späteres Leben lang verbunden. In der Zwischenkriegszeit sollte Wilna Schwerpunkt seiner Tätigkeit sein. Ausgestattet mit Kenntnissen der deutschen, der russischen und der französischen Srache, verlagerte sich sein anfängliches Interesse während der zwanziger Jahre von wirtschaftlich-theoretischen Themen hin zur dauerhaften Beschäftigung mit der wirtschaftlichen Lage der Sowjetunion und des nationalsozialistischen Deutschlands. So setzte er sich in seiner Dissertation mit dem Wirtschaftsbegriff des französischen Philosophen und Syndikalismustheoretikers Georges Sorel (1847– 1922) auseinander und fragte nach den irrationalen Grundlagen staatlicher Wirtschaftspolitiken und deren Einfluss auf die Mobilisierung der Bevölkerung.²⁸³ In seiner Habilitation Lenin als Ökonom von 1931 stand die Wirtschaftspolitik des frühen Sowjetrusslands im Zentrum seiner Überlegungen.²⁸⁴ Kornat schreibt, dass Swianiewicz dabei der Frage nachging, wie marxistisch eigentlich Lenins Wirtschaftsbegriff gewesen sei. Swianiewicz sei dabei zu dem Schluss gekommen war, dass
Vgl. ebd., S. 118. Stanisław Swianiewicz: Wspomnienia o Wiktorze Sukiennickim, in: Zeszyty Historyczne, H. 66, 1983, S. 48 – 69, hier S. 50. Vgl. dazu Iwona Hofman: Publicystyka społeczno-polityczna Stanisława Swianiewicza, in: Powrześniowa emigracja niepodległościowa na mapie kultury nie tylko polskiej. Paryż, Londyn, Monachium, Nowy Jork, hg. von Violetta Wejs-Milewska und Ewa Rogalewska, Białystok 2009, S. 373 – 388. Zur Strömung der krajowcy vgl. Juliusz Bardach: Polacy litewscy a inne narody Litwy historycznej. Próba analizy systemowej, in: Belarus, Lithuania, Poland, Ukraine. The Foundations of Historical and Cultural Traditions in East Central Europe, hg. von Jerzy Kłoczowski und Henryk Gapski, Lublin 1994, S. 361– 386. Vgl. Stanisław Świaniewicz: Psychiczne podłóże produkcji w ujęciu Jerzego Sorela, in: Czasopismo Prawnicze i Ekonomiczne 24, 1926, S. 149 – 232. Vgl. Stanisław Swianiewicz: Lenin jako ekonomista, Wilno 1930.
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der Einfluss der Ideen der Narodniki [idei narodnickich] Swianiewicz zufolge auf Lenin beträchtlich schien, nachdem der Führer der Bolʼševiki aufgehört hatte, ein Revolutionstheoretiker zu sein und nach dem Oktoberumsturz von 1917 Führer des sowjetischen Staates wurde. […] Die entscheidenden Quellen der Haltung Lenins diesbezüglich verortete Swianiewicz in den Traditionen des russischen Kollektivismus, und nicht nur im westlichen Marxismus.²⁸⁵
Ausgehend von Swianiewiczs Überlegungen sieht Kornat in dessen Arbeiten ein polnisches Russlanddenken vorherrschend, das vor allem die Frage nach der historischen Kontinuität Russlands und den russischen Traditionen im Denken und Handeln der Bolʼševiki nach 1917 unter Führung Lenins in den Blick nimmt. Gleichwohl lässt sich Swianiewiczs wissenschaftliches Werk nicht auf die ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit Russland reduzieren. So publizierte der Wissenschaftler in den dreißiger Jahren etliche Analysen zur sowjetischen Wirtschaftpolitik, aber auch zur wirtschaftlichen Lage und den Instrumentarien der Wirtschaftspolitik im nationalsozialistischen Deutschland. Zu den Werken jener Zeit gehört die 1938 von Jerzy Giedroyc verlegte Studie Die Wirtschaftspolitik Hitlerdeutschlands. ²⁸⁶ Weitaus brisanter hingegen schienen seine Analysen zur Planwirtschaft der Sowjetunion. Lediglich eine erste kleinere Studie Ein Seitenblick auf die entscheidenden Probleme der sowjetischen Wirtschaftspolitik durfte 1934 erscheinen, nicht jedoch deren Fortsetzung Die wirtschaftliche Lage der Sowjets während des zweiten Fünfjahresplans zwei Jahre später.²⁸⁷ Marek Kornat geht in seinem Beitrag zu Swianiewicz davon aus, dass dieser in seiner Arbeit nach „Erklärungsmechanismen autoritärer und totalitärer Macht suchte, obwohl er seinerzeit nicht mit dem Begriff des Totalitarismus operierte.“²⁸⁸ Wenngleich nicht komparatistisch ausgerichtet, zeichneten sich seine Studien zu Deutschland und der Sowjetunion dabei durchaus durch ähnliche Zugänge aus. Mit Swianiewicz ist die Entstehung und der Erfolg des Wilnaer Instytut Naukowo-Badawczy Wschodniej Europy (Wissenschaftliches Forschungsinstitut für Osteuropa, INBWE) eng verbunden. Das Institut war Teil einer in ganz Polen zu Beginn der dreißiger Jahre intensivierten Forschung zur Sowjetunion und ihrer Grenzgebiete unter dem Motto des Promotheismus, der besonders in den
Kornat, Swianiewicz, Lenin i totalitaryzm, S. 75. Vgl. Stanisław Swianiewicz: Polityka gospodarcza Niemiec Hitlerowskich, Warszawa 1938. Vgl. Stanisław Swianiewicz: Rzut oka na zasadnicze problemy sowieckiej polityki gospodarczej, in: Rocznik Instytutu Naukowo-Badawczego Europy Wschodniej 2, 1934, S. 1– 47; Kornat, Swianiewicz, Lenin i totalitaryzm, S. 69. Ebd., S. 67.
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Piłsudski-nahen Kreisen des Sanacja-Regimes propagiert wurde und dazu diente, Szenarien einer Zerschlagung, mindestens aber einer Einhegung der Sowjetunion und einer Begrenzung ihrer Einflüsse auf Polen und andere Teile Ostmitteleuropas zu erarbeiten.²⁸⁹ Wenngleich das INBWE und seine Angestellten in der Wilnaer Öffentlichkeit wiederholt einer pro-kommunistischen Haltung oder gar der Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Geheimdienst verdächtigt wurden, galt das Wilnaer Institut innerhalb der polnischen Osteuropaforschung als Ausnahmeinstitution und liberales Zentrum.²⁹⁰ Zu diesem Ruf trug Swianiewicz unmittelbar bei, der zu den Gründungsmitgliedern des Instituts zählte und zu dessen Sekretär der Wirtschaftsabteilung des Instituts sowie zum Leiter der Schule der Politikwissenschaften am Institut wurde. Swianiewicz, der wie Jasienica während des Studiums der Vereinigung AKWW angehört hatte, lehnte die Hinwendung etlicher Wilnaer Intellektueller zum Kommunismus und zur Sowjetunion ab und blieb auch in der außerakademischen Öffentlichkeit Verfechter eines föderalen und liberalen Polens. Auch in seinen Memoiren verortete er sich wiederholt als Verfechter der von Piłsudski repräsentierten jagiellonischen Idee.²⁹¹ Zudem galt er als Verfechter eines toleranten Katholizismus, worin er sich von vielen Personen laizistischer Prägung in seinem Umfeld, wie etwa Wiktor Sukiennicki unterschied, der neben Swianiewicz eine der schillerndsten Figuren des Wilnaer INBWE war.²⁹² Wenngleich mit diesem befreundet, hielt sich Swianiewicz vom links-intellektuellen Milieu in Wilna um Sukiennicki und dem bereits erwähnten Henryk Dembiński eher fern.²⁹³ In der Zwischenkriegszeit verbrachte Swianiewicz vier Forschungsaufenthalte im westeuropäischen Ausland. Seinen Forschungen zu Sorel ging ein etwa ein Jahr andauernder Forschungsaufenthalt in Paris voraus. Zudem arbeitete er 1929, noch vor der Gründung des INBWE, als Gastwissenschaftler am deutschen Osteuropa-Institut in Breslau, das aus seiner Sicht Vorbildcharakter für das Wilnaer Institut hatte.²⁹⁴ Während des Nationalsozialismus folgten ein Forschungsaufenthalt im Königsberger Institut für Osteuropäische Wirtschaft und eine For-
Vgl. dazu etwa Paweł Libera: Ewolucja ruchu prometejskiego w okresie międzywojennym, in: Ruch prometejski i walka o przebudowe̜ Europy Wschodniej (1918 – 1940). Studia i szkice, hg. von Marek Kornat, Warszawa 2012, S. 219 – 244. Vgl. Kornat, Instytut Naukowo-Badawczy Europy Wschodniej w Wilnie, S. 52. Vgl. etwa Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 69; ders., Erinnerungen an Władysław Studnicki, S. 154; ders., W cieniu Katynia, S. 154. Vgl. Swianiewicz, Wspomnienia o Wiktorze Sukiennickim, S. 52 f. Zu Sukiennicki und der Forschung zur Sowjetunion in Wilna vgl. Müller-Butz, Nach dem Imperium. Vgl. Swianiewicz, W cieniu Katynia, S. 15.
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schungsreise durch Hamburg, Bremen und Kiel 1936 und 1937. Dem Aufenthalt in Königsberg war interessanterweise eine Reise des damaligen Direktors des Königsberger Instituts, Theodor Oberländer (1905 – 1998), nach Wilna vorausgegangen, der Swianiewicz und Studierende des Wilnaer Instituts zu einem Austausch nach Königsberg eingeladen hatte, was das polnische Außenministerium jedoch ablehnte.²⁹⁵ Es waren Swianiewiczs Kontakte nach Deutschland sowie seine Forschungen darüber, die das Interesse des NKVD wecken und zu seinem Abtransport nach Moskau im Frühsommer 1940 führen sollten, während Swianiewiczs Mitgefangene vom NKVD erschossen wurden. In den letzten Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg sprach sich Swianiewicz explizit für einen Kompromiss der polnischen Seite mit den Nationalsozialisten aus und hoffte auf einen Stimmungswandel in der Bevölkerung, die von einer zunehmend anti-deutschen Haltung geprägt war.²⁹⁶ Das Dilemma der polnischen Seite in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre bringt der Autor in seinen Katyń-Erinnerungen folgendermaßen zum Ausdruck: Persönlich hoffte ich, eine Lösung in irgendeiner Form eines Bundes von Staaten Mitteleuropas zu finden, wo die Deutschen natürlicherweise – als vermögendste und zahlreichste Nation – die erste Geige spielen würden. Diese Haltung war in gewissem Sinne ein Abbild der Meinung, die ich noch zu Studentenzeiten von Władysław Studnicki gehört hatte. Aber gleichzeitig war ich mir im Klaren, dass die Deutschen, solang sie von der hitlerischen Psychose besessen waren, sich für solch eine Rolle nicht eigneten.²⁹⁷
Wenige Tage vor dem Überfall auf Polen, kurz nach Bekanntwerden des deutschsowjetischen Nichtangriffspakts wurde der Ökonom und vierfache Vater mobilisiert. Nach Kämpfen in den Reihen der Polnischen Armee gegen deutsche Truppen nahmen Soldaten der Roten Armee Swianiewicz und seine Kompanie beim Versuch, sich zur Grenze nach Ungarn durchzuschlagen, gefangen und transportierten sie in ein Lager bei Kozelʼsk. Infolge des Abkommens zwischen der Sowjetunion und der polnischen Exilregierung wurde der Offizier nach einem einjährigen Aufenthalt in Moskauer Gefängnissen und anschließender Lagerhaft im Ustʼ-Vymskij Rajon im Norden Russlands aus der Haft entlassen. Über die polnische Botschaft im Sommer 1942 gelang Swianiewicz die Ausreise, und er hielt sich danach in dem von den Alliierten besetzten Teheran auf.Von dort brach er gemeinsam mit Sukiennicki zu etlichen Studienreisen in den Nahen Osten auf. Er setzte diese Arbeiten ab Ende 1942 in Jerusalem als Leiter des Büros der pol-
Vgl. Kornat, Instytut Naukowo-Badawczy Europy Wschodniej w Wilnie, S. 58 f. Vgl. Kornat, Art, S. 126. Swianiewicz, W cieniu Katynia, S. 28.
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nischen Exilregierung für Studien des Nahen und des Mittleren Ostens fort und half bei der Aufklärung der Umstände des Verschwindens der mehreren zehntausenden polnischen Soldaten in der Sowjetunion. Auch gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, als Swianiewicz sich in London wiederfand, blieb er der Polnischen Exilregierung direkt unterstellt. Hier leitete er die Ostabteilung des Informationsministeriums unter Stanisław Kot (1885 – 1975).²⁹⁸ Seine Angehörigen verbrachten indes die gesamte Kriegszeit in einem kleinen Anwesen der Familie unmittelbar an der polnisch-sowjetischen Vorkriegsgrenze bei Radoszkowice (heute belaruss. Radaškovičy), das in der Vorkriegszeit von Swianiewiczs Schwiegervater bewohnt, von der Familie als Sommersitz genutzt worden war und mit der Konferenz von Jalta der Belarussischen Sowjetrepublik zugeschlagen worden war.²⁹⁹ Dennoch entschied sich Swianiewicz nach dem Krieg gegen die Rückkehr nach Polen. Seine Haltung und vor allem sein Auftreten als Zeuge in Untersuchungskommissionen der USA und Großbritanniens zur Frage um die Verantwortung für die Erschießungen von Katyń und die daraus resultierenden Kontakte diesbezüglich zu den westlichen Alliierten hatten eine Rückkehr ohnehin unmöglich gemacht.³⁰⁰ Ein Jahr nach Kriegsende gelang den Kindern über Stettin die Flucht in den Westen. Swianiewiczs Frau Olimpia (geb. Zambrzycka, 1902– 1974), die in der Zwischenkriegszeit unter anderem unter Cezaria Jędrzejewicz (geb. Baudouin de Courtenay, 1885 – 1967) in Wilna Ethnologie studiert hatte, arbeitete nach dem Krieg als Lehrerin im pommerschen Tczew und durfte erst 1957 zu ihrem Mann nach Indonesien ausreisen.³⁰¹ Dieser unterrichtete direkt nach Kriegsende zunächst am Polish University College in London und zog sich 1947 aus dem Londoner Exil zurück, um sich der Pariser Emigration um Jerzy Giedroyc hinzuwenden. In den fünfziger Jahren hatte sich Swianiewicz bereits international einen Namen als Sowjetologe und Ökonom gemacht und gehörte einem Beratungsgremium der UNESCO bei der indonesischen Regierung an.³⁰² Hier beschäftigte er sich mit Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung in den Ländern in Südostasien. Eine zentrale Bedeutung für seine Biographie lässt Swianiewicz rückblickend der in dieser Zeit angefertigten und 1965 erschienenen
Vgl. Kornat, Art, S. 126. Vgl. Maria Swianiewicz-Nagięć: Podcast Radio Dwójka vom 9. Juni 2011, 11.45 Uhr. Opowieść o losach rodziny w czasie II wojny światowej i historia kontaktów z ojcem począwszy od roku 1939, , 20.11. 2017. Vgl. Kornat, Art, S. 127. Vgl. Swianiewicz-Nagięć, Podcast Radio Dwójka vom 9. Juni 2011. Vgl. Kornat, Art, S. 127.
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Studie Forced Labour and Economic Development zukommen.³⁰³ Bei ihr handelte es sich um eine der ersten systematischen Studien zur Zwangsarbeit in der Sowjetunion, die international und auch außerhalb der Fachöffentlichkeit auf großen Widerhall stieß.³⁰⁴ Die Arbeit stellte für ihn eine Synthese aus der eigenen sowjetischen Lagererfahrung und seinem Fachwissen über die wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion dar. In einem Brief an seine Kinder schreibt er 1962 nach Fertigstellung des Manuskripts: Der Leitgedanke war, die objektiven gesellschaftlichen Faktoren sichtbar zu machen, welche dazu geführt hatten, dass die russische Industrialisierung mit Methoden realisiert worden war, die der Sklaverei so ähnelten. Indem ich das russische Beispiel analysierte, bemühte ich mich, ein Rezept zu finden, damit die unausweichliche Industrialisierung Chinas und Indiens ohne die Verletzung der Menschenwürde, die das Wesen der sowjetischen Industrialisierung gewesen war, stattfinden könne.³⁰⁵
Die Zeilen verdeutlichen, dass Swianiewicz in dem Phänomen der sowjetischen Industrialisierung zur Zeit des Stalinismus eine problematische Variante der industriellen Moderne sah, die nicht nur für Russland Gültigkeit besaß. Im Brief betont er auch, dass diese Erkenntnis und die Wichtigkeit ihrer weltweiten Verbreitung vor allem auf seiner Erfahrung vom Überleben als einem der wenigen Zeugen der sowjetischen Gefangenenlager vom Sommer 1940 beruhten: Heute sehe ich, dass der Grund [für die Idee zum Buch, M.-B.] die Sünde des Hochmuts war. Für die Güte des barmherzigen Gottes muss man im Geiste der Demut danken. Ich wollte ein Werk schaffen, welches in der Analyse des sowjetischen Beispiels der gesamten Menschheit dienen würde.³⁰⁶
In den sechziger Jahren gelang es dem Wissenschaftler nicht zuletzt dank seiner Studie zur Zwangsarbeit, einen Lehrstuhl an der katholischen Saint Mary’s University im kanadischen Halifax zu besetzen, wo er bis zum Tod seiner Frau 1974 wohnte. Es ist bezeichnend, dass Swianiewicz in einer Rede an der Universität anlässlich seiner Pensionierung den „Hafen“, als den er Halifax und vor allem das dort vorgefundene katholische Umfeld betrachtete, nach dem Tod der Frau erneut verließ, um sich erneut in London in einem Haus des polnischen Malteserordens
Vgl. Stanisław Swianiewicz: Forced Labour and Economic Development. An Enquiry into Experience of Soviet Industrialization, London 1965. Kornat, Swianiewicz, Lenin i totalitaryzm, S. 72. Schreiben von Stanisław Swianiewicz vom März 1962, in: PIaSM, Dokumenty osobiste Stanisława Swianiewicza, kol[ekcja] 260, t[eczka] 2, Bl. 2. Ebd.
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im Stadtteil Shepherd’s Bush niederzulassen, wo er bis zu seinem Tod 1996 wohnte.³⁰⁷ In dieser letzten Phase seines Lebens schrieb er an seinen Kindheitserinnerungen, darüber hinaus entstanden etliche weitere autobiographische Beiträge des Sowjetologen.³⁰⁸
Zur Narration von Swianiewiczs Russlandmemoiren: „Der Weg zum unabhängigen Denken“ Der Zeitpunkt der Entstehung von Swianiewiczs Memoiren lässt sich nicht genau datieren. So weist Swianiewiczs Tochter Maria Swianiewicz-Nagięć im Vorwort lediglich darauf hin, dass Swianiewiczs Lebenserinnerungen unvollendet bleiben mussten.³⁰⁹ Anhand des im Polish Institute and Sikorski Museum befindlichen Nachlasses von Stanisław Swianiewicz lassen sich ebenfalls sich nur wenige Hinweise auf den Entstehungszeitraum der Memoiren finden, Notizen zu dem Alterswerk fehlen im Nachlass ebenso wie ein Manuskript. Aus anderen Dokumenten im Nachlass geht jedoch hervor, dass sich Swianiewicz spätestens seit seiner Pensionierung 1973 systematisch mit der eigenen Biographie auseinandersetzte und ein autobiographisches Sendungsbewusstsein entwickelte. Ein erstes Ergebnis dieser autobiographischen Auseinandersetzung stellten die bereits erwähnten, 1976 veröffentlichten Memoiren Im Schatten von Katyn über seine Gefangenschaft im Lager von Kozelʼsk und anschließende Lageraufenthalte in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges dar.³¹⁰ In Swianiewiczs Nachlass finden sich aus dieser Zeit autobiographische Entwürfe über seine Kindheit im Russischen Imperium und Hinweise auf lebensgeschichtliche Befragungen von Stanisław Swianiewicz durch Elizabeth Haigh an der Saint Maryʼs University. ³¹¹ Seine dort vorliegenden Entwürfe unterscheiden sich in der erzählerischen Rhetorik, nicht jedoch in den wesentlichen Aussagen von seiner 1996 publizierten Erzählung Kindheit und Jugend. Erzählt der Autor in ersteren aus der Perspektive Notizen von Stanisław Swianiewicz vom Mai 1972, in: PIaSM, Dokumenty osobiste Stanisława Swianiewicza, kol. 260, t. 2, Bl. 8. Vgl. u. a. Stanisław Swianiewicz: U.S.B. w perspektywie historycznej, in: Zeszyty Historyczne, H. 55, 1981, S. 95 – 106; ders., Wspomnienia o Wiktorze Sukiennickim; ders., Erinnerungen an Władysław Studnicki. Swianiewicz-Nagięcowa, Przedmowa, S. 4. Vgl. Swianiewicz, W cieniu Katynia. Memories through the Eyes of a Secondary School Pupil, in: PIaSM, Dokumenty osobiste Stanisława Swianiewicza, kol. 260, t. 25, Bl. 6 – 24; Schreiben von Elizabeth Haigh an Stanisław Swianiewicz vom 13. November 1972, in: PIaSM, Dokumenty osobiste Stanisława Swianiewicza, kol. 260, t. 28.
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des Ich-Erzählers, wandelt Swianiewicz die Erzählung in den publizierten Memoiren bezüglich der Erzählperspektive ab und entwirft darin mit dem literarischen alter ego Witek eine Erzählfigur, die Małgorzata Czermińska in ihren Studien zur Bedeutung der Autobiographik in der Literatur als „Doppelgänger“ bezeichnet.³¹² Die Erschaffung einer solchen Figur durch Swianiewicz stellt in den hier untersuchten autobiographischen Schriften durchaus eine Besonderheit dar und erlaubt Rückschlüsse auf die Schreibmotive des Autors. Zudem bildet sich in ihr der Wandel des autobiographischen Schreibens der polnischen Intelligenz im 20. Jahrhundert ab. Czermińska geht davon aus, dass jede Form autobiographischen Schreibens einen Dialog zwischen der oder dem Schreibenden und dem Erzähler-Ich beziehungsweise der Öffentlichkeit zum Inhalt hat und eine erzählerische Doppelgängerfigur hervorbringt. Grundsätzlich unterscheidet sie dabei zwischen zwei Idealtypen: einer introvertierten Erzählung, die vor allem das Element der Zeugenschaft betont, sowie einer extrovertierten Erzählung, die demgegenüber im autobiographischen Schreiben ein Bekenntnis oder eine Offenbarung hervorbringt. Während in ersterer Erzählung die Funktion der Doppelgängerin oder des Doppelgängers nur in abgeschwächter Form zu Ausdruck kommt, „[n]ur die dominierende Figur des Zeugen verhindert die Entstehung einer Doppelgängerkonstruktion“, schreibt sie bezüglich letzterer zur Figur des Doppelgängers³¹³: Das Nachdenken über ein zweites Ich führt zum Nachdenken über einen wirklichen Anderen, über einen möglichen Eindringling. Über einen zukünftigen Leser der Bezeugungen [des Autors, M.-B.], die zunächst nur für ihn selbst geschrieben worden sind. Sogar die narzisstischste Narration enthält irgendwelche Spuren von der Existenz einer äußeren Welt, von der man, gewollt oder nicht, Zeugnis ablegt.³¹⁴
Für die zu untersuchenden Memoiren von Swianiewicz und dessen Schreibmotiv ist das von Czermińska beschriebene Verhältnis von Zeugenschaft und Doppelgängerfigur von großer Bedeutung, denn bezüglich seiner Memoiren bedeutet dies: Anders als bei der Großzahl der hier betrachteten Memoiren der polnischen Intelligenz geht es Swianiewicz wohl nicht (oder nicht vorrangig) um die möglichst authentische Bekräftigung einer Deutung, wenn der Autor sich auf die eigene Erfahrung beruft. Stattdessen entwirft Swianiewicz mit Witek eine Doppelgängerfigur, mit der die möglichst glaubhafte Bezeugung und die daraus folgende authentische Beschreibung des eigenen Lebens vielmehr der Erklärung oder dem
Vgl. Czermińska, Autobiografia i powieść, S. 29. Czermińska, Autobiograficzny trójkat, S. 23. Ebd.
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Bekenntnis weicht, mit dem das eigene biographische Erleben in einen tiefgreifenden historischen Zusammenhang gestellt wird. Dies lässt sich auch daran ersehen, dass in Swianiewiczs Memoiren Aussagen zum Wert der verschriftlichten Lebensgeschichte als Quelle für die zukünftige Historiographie fehlen, wie sie etwa Limanowski oder Jasienica in den einleitenden Bemerkungen zu ihren Memoiren formulieren.³¹⁵ Zu fragen bleibt, warum sich Swianiewicz, anders als die bisher behandelte Autorin und die Autoren, sich zu solch einer narrativen Form entschließt, und welche Auswirkungen dies auf das zu untersuchende Verhältnis Polens und des Ostens in Swianiewiczs Erzählung hat. Diese Frage soll in der abschließenden und vergleichenden Betrachtung von Uziembłos, Jasienicas und Swianiewiczs Memoiren noch einmal aufgegriffen werden. Während der Autor mit der Erfindung von Witek also im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Memoiren seinen autobiographischen Doppelgänger sichtbar macht und somit die Authentizität des Erlebten nachrangig behandelt, finden sich bei ihm dennoch etliche Hinweise auf die Nicht-Fiktionalität des Erzählten. So weist der Titel der Memoiren Kindheit und Jugend unmissverständlich auf Swianiewiczs Erfahrung des Erwachsenwerdens hin. Ebenso entspringen die – wenngleich durchaus sparsam verwendeten – Namen der in den Memoiren behandelten Personen den jeweiligen Perioden seines Lebens. Swianiewicz folgt in seiner Erzählung konsequent den historisch überlieferten Rahmenereignissen und verbindet diese mit Witeks Adoleszenzerfahrung. Im Zentrum dieser Erzählung steht die Geschichte von Lala und Witek, einer Russin und eines Polen, die gemeinsam im russisch-imperialen Dünaburg des frühen 20. Jahrhunderts unter den Eindrücken des Russisch-Japanischen Kriega, der darauffolgenden Revolution und des Ersten Weltkriegs aufwachsen. Anhand der beiden Hauptfiguren entwirft der Autor die Erzählung einer Generation, die zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geboren wurde und für die die Ereignisse des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution von 1917 zu wesentlichen Scheidepunkten ihres späteren Lebens werden sollten. Dies kommt auch in der Überschrift des ersten Kapitels „An der Grenze der Generationen“ zum Ausdruck.³¹⁶ Die Zugehörigkeit zur jüngsten an der Unabhängigkeit Polens beteiligten sowie zum Zeitpunkt der Entstehung der Memoiren wohl letzten lebenden Generation wird von Swianiewicz auch in anderen memoiristischen Beiträgen betont. In einem Beitrag über Wiktor Sukiennicki äußert sich Swianiewicz über deren gemeinsame Zuge-
Vgl. Limanowski, Pamiętniki (1835 – 1870), S. 18; Jasienica, Pamie̜tnik, S. 16. Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 5.
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hörigkeit zu jener „Generation, die noch vor dem Erreichen der Unabhängigkeit aufwuchs, um an den Kämpfen um die Unabhängigkeit teilzunehmen.“³¹⁷ In Swianiewiczs Kindheit und Jugend verweist die Kapitelüberschrift „Der Weg zum unabhängigen Denken“ auf einen weiteren Erzählstrang in den Memoiren, die Entwicklung eines polnisch-intelligenten Bewusstseins und eines politischen Weltbildes im krisenhaften Zerfallsprozess des Russischen Imperiums und beim Entstehen des unabhängigen polnischen Staates. Darüber hinaus muss sich Witek der Erwartungshaltung der eigenen Eltern an ihn erwehren.³¹⁸ Der Autor erinnert in seinen Memoiren an die pragmatisch-loyale Haltung der Eltern zum Russischen Imperium und an ihre gehobene Stellung im lokalen Herrschaftsmilieu der Stadt. An mehreren Stellen seiner Memoiren geht er auf ihre Stellung im Imperium ein, verdeutlicht deren gesellschaftliche Position und das sich für Witek daraus ergebende Dilemma. Sichtbar wird dies etwa an einer Episode nach der brutalen Niederschlagung der Januarproteste in Sankt Petersburg 1905 und den Erschießungen von hunderten Demonstrierenden dort: Das blutige sinnlose Massaker führte zum Ende der Legende vom Zaren als Vater und Seelsorger der grauen Menschen. Danach wurde Witek Zeuge, wie Kosaken auf kleinen flinken Pferden mit Knuten die Manifestationen in Dünaburg zersprengten. Ein unbekannter Attentäter hatte einen Ingenieur schwer verletzt, der Direktor der Fahrzeugwerke der Eisenbahn wurde ins Krankenhaus gebracht; sein kleiner Sohn in Witeks Alter raffte sich die ganze Nacht aus dem Bett auf, und in einem orthodoxen Ritual kniete er vor einer Ikone, verbeugte sich und bekreuzigte sich immer wieder. Am Morgen starb der Ingenieur.Witek sah den Beerdigungszug und diesen kleinen Jungen, der mit der Hand an den Katafalk geführt wurde. Jener Trauerzug, in dem sich auch die Eltern von Witek befanden, war auf allen Seiten von Kosaken umringt.³¹⁹
Es sind die Kosaken, die in Swianiewiczs autobiographischer Erzählung zur doppelten Metapher eines russisch-imperialen Unrechtsstaates werden und zum Symbol der Besitzstandswahrung der eigenen Eltern. Auch die Beschreibung von den Eltern als Teil der Trauernden um einen Repräsentanten der russisch-imperialen Ordnung macht die Position der Eltern deutlich und illustriert die innere Zerrissenheit Witeks, der zwischen Zustimmung zur Revolution und der familiären Zugehörigkeit zur lokalen Elite schwankt. Die Selbsterzählung vom gleich-
Swianiewicz, Wspomnienia o Wiktorze Sukiennickim, S. 48. Der Entwurf Witeks als eines Repräsentanten der polnischen Generation der Unabhängigkeit von 1918 bestätigt Karl Mannheims Bemerkungen zum Zusammenhang von Adoleszenz, Ereignispartizipation und generationeller Zugehörigkeit, vgl. Mannheim, Das Problem der Generationen, S. 181. Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 10.
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zeitigen Innen- und Außensein, vom Dazugehören und vom Fremdsein bleibt auch in den folgenden Episoden der Memoiren und insbesondere in der Erzählung von Lala und Witek ein konstantes erzählerisches Element. Die Frage der Zugehörigkeit zur polnischen Intelligenz ist für Swianiewicz gleichbedeutend mit der Frage nach der Haltung zur polnischen Frage. Der Konflikt zwischen ihm und den Eltern ist nicht nur einer der Adoleszenz, sondern, wie mit der Formulierung vom „unabhängigen Denken“ bereits angedeutet, ein Kampf um die moralisch richtige Haltung zum Russischen Imperium und zur polnischen Identität. Wenngleich der Autor an die russisch-polnischen Verflechtungen in der Familie erinnert – etwa an einen Vetter der Mutter, der als Medizinstudent von der Schließung der Wilnaer Universität 1832 betroffen ist, ins russische Militär eintritt und schließlich in eine russische Familie einheiratet – und an die Toleranz der russischen Nachfahren bezüglicher deren polnischer Familiengeschichte erinnert, relativiert und rechtfertigt er diese Verbindungen auch durch das Argument, dass solche Verflechtungen in persönlicher und nationaler Hinsicht überlebenswichtig waren: In vielen Fällen spielten die persönlichen Verbindungen mit den verschiedenen einflussreichen russischen Persönlichkeiten eine große Rolle. Oft, wenn die Todesstrafe drohte, legten die russischen Freunde Widerspruch ein, um einen kaiserlichen Gnadenerlass zu erwirken. […] Den Opfern von Konfiszierungen verhalfen die russischen Freunde zu irgendwelchen Stellungen, die die Existenz sicherten, so wie es mit der Anstellung des Großvaters von Witek als Feldscher war.³²⁰
Hierzu passt, dass Swianiewicz sich vor allem der Tante Bogusia (Bogusławia) sowie deren Vorfahren, den Zambrzyccy, und damit ebenjenem mütterlichen Teil der Familie zuwendet, der direkt und indirekt während der Aufstände von 1831 und 1863 gegen die russisch-imperiale Herrschaft kämpfte und von den dann folgenden Repressionen ebenfalls betroffen war, sei es als verurteilte Verbannte im Russischen Osten, als Enteignete oder als Betroffene der anti-polnischen Bildungspolitik im Westen des Imperiums. Es sind die „Küchenplaudereien“ der Tante, die „Witek noch vor Beginn seines Eintritts in die Schule eine generelle Orientierung in der Welt, aber auch eine Vorbereitung zum kritischen Blick auf all jene Lektionen der Geschichte, die auf ihn in der Schule warteten“, geben.³²¹ Demgegenüber stehen die eigenen Eltern und insbesondere der Vater, über den der Autor schreibt, dass dieser sich für Witek eine ähnliche Karriere gewünscht habe wie für sich selbst und der als junger Ingenieur der russisch-imperialen
Ebd., S. 21 f. Ebd., S. 17.
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„Versuchung“ erlegen gewesen sei, als „sich die Gelegenheit einer verhältnismäßig guten Position bei der Eisenbahn ohne die Notwendigkeit, in die entlegeneren Regionen des Imperiums zu reisen, ergab.“³²² Witeks letztes Gespräch mit dem sterbenden dementen Großvater kurz vor Witeks erster Reise im Jahr 1908 in die Kapitale des Russischen Imperiums, nach Sankt Petersburg, stilisiert der Autor zu einem intellektuellen Erweckungserlebnis. Michail Murav’ëv-Vilenskij, Generalgouverneur der nordwestlichen Provinzen während des anti-russischen Aufstands von 1863, wird darin vom Großvater als Symbolfigur eines gegen die Polen gerichteten brutalen Herrschaftsregimes beschrieben: Als der Großvater Witek sah, begann er in abgerissenen Sätzen zu sprechen, […] aber ein Thema, zu dem er immer wieder zurückkehrte, war: Muravʼëv. Witek wusste schon aus vorherigen Gesprächen mit der Tante Bogusia, wer Muravʼëv war. Aber in dem, was die Tante Bogusia sagte, war nicht diese emotionale Spannung enthalten, die sich in den Bemerkungen des Großvaters entlud. Die Gestalt des Wilnaer Generalgouverneurs schien jetzt alles zu überstrahlen, was der Großvater in seinem langen Leben erlebt hatte. ‚Dieser prochvost [russ., Schurke, M.-B.] erhängte und vernichtete.‘ Dieser Satz wiederholte sich in allem, was der Großvater sagte. Als Witek, wie es Brauch war, zur Verabschiedung seine Hand küsste, bekreuzigte der Großvater sich vor ihm.³²³
Weitaus wichtiger als die Benennung polnischen Leidens mit dem Verweis auf Muravʼëv ist die anschließende Bedeutung des Gesprächs hinsichtlich Witeks späterer Haltung zur russischen Imperialität als Fremdherrschaft und Gegner polnischer Staatlichkeit, die der Autor unterstreicht. Swianiewicz lässt Witek das Gespräch denn auch mit folgenden Worten reflektieren: „Witek spürte bisweilen, dass der Segen, den er vom Großvater vor der Abfahrt nach Sankt Petersburg erhalten hatte, ihn zu etwas verpflichtete, obwohl er nicht klar formulieren konnte, wozu.“³²⁴ An dieser Stelle wird Swianiewiczs moralische Konstruktion Witeks als eines nationalbewussten Angehörigen der polnischen Intelligenz anschaulich. Die mündliche Überlieferung der polnischen Leidensgeschichte unter dem Regime von der Generation des Großvaters in die Enkelgeneration ist ein weiteres Merkmal für Witeks Zugehörigkeit zu dieser Gruppe. Die Erzählung von Witek als Angehörigem der polnischen Intelligenz wird durch eine regionale Komponente ergänzt, mit der der Autor auf die Verbundenheit Witeks zum Litauischen Großfürstentum und auf eine politische Haltung verweist, die letztlich die gesamte autobiographische Erzählung dominiert. Deutlich wird dies, wenn es um den Namen des Hauptprotagonisten geht.Wie aus
Ebd., S. 23. Ebd., S. 27. Ebd., S. 28.
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der Erzählung ersichtlich wird, verweist der Name auf die historische Person des litauischen Fürsten Witold (lit. Vytautas, ca. 1350 – 1430), der gemeinsam mit dem polnischen König Władysław II. (lit. Jogaila), welcher ebenfalls litauischer Herkunft war und mit der Heirat der polnischen Königstochter Jadwiga die litauischpolnische Personalunion und die jagiellonische Königsdynastie begründet hatte, die Union Litauens mit Polen in einer Reihe von Abkommen gefestigt hatte.³²⁵ Auf Lala, die sich Witek als in Warschau geborene Russin vorstellt und auf die kirchliche, griechisch-orthodoxe Herkunftsgeschichte ihres Taufnamens „Kalergia“ eingeht, lässt Swianiewicz Witek antworten: Witek antwortete, dass sein Name überhaupt nicht im kirchlichen Kalender vorkäme. Dies sei ein Name, den die Leute in diesem Land ihren Söhnen häufig im Andenken an den großen Fürsten Witold gäben, der ein großer Führer gewesen sei. Weiter sagte er, dass Litauen zu jener Zeit ein starker Staat gewesen sei, der die westrussischen Fürstentümer [zachodnioruskie księstwa] erobert, gegen den tatarischen Einfall mobilisiert und sogar in Kiev geherrscht habe.³²⁶
Swianiewicz schreibt dazu weiter: Die westliche Rusʼ kannte die tatarische Fremdherrschaft überhaupt nicht und auch nicht die von den Tataren eingeführte Organisation des Landlebens, wie sie in der östlichen Rusʼ eingeführt worden war. Als die tatarische Herrschaft im 14. Jahrhundert zu schwinden begann, entstand ein Konflikt zwischen Moskau und Litauen, wer in der rusʼischen Welt [w świecie ruskim] führen sollte, Litauen begann in Polen nach Unterstützung zu suchen und auf diese Weise entstand die Polnisch-Litauische Union [Rzeczpospolita Polsko-Litewska].³²⁷
Die Namensgebung bei Lala folgt übrigens keinem offenkundigen literarischen Prinzip wie bei Witek, sondern vielmehr Swianiewiczs Biographie. Hinter dem Kosenamen Lala verbirgt sich letztlich Valerija Prižvina (1899 – 1979), Tochter des mit der Familie Swianiewicz befreundeten russischen Gendarmerie-Offiziers Dmitrij Liorko und spätere Ehefrau des russischen Schriftstellers Michail Prižvin (1873 – 1954).³²⁸
Vgl. Almut Bues: Die Jagiellonen. Herrscher zwischen Ostsee und Adria, Stuttgart 2010, S. 51 f. Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 44. Ebd. Swianiewicz nennt den Namen von Lalas Vater ausgerechnet an jener Stelle, als er von der Erschießung von Liorko durch die Bolʼševiki aus einer Zeitung erfährt, vgl. ebd., S. 82.
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Eine Erzählung von Lala und Witek: Der russisch-polnische Komplex als Adoleszenzdrama Swianiewicz überzeichnet durch den Doppelgänger und die Parabel von Lala und Witek die eigene Lebenserzählung und verleiht ihr mit dem Verweis auf Witold/ Vytautas eine ideengeschichtliche Komponente. Die darin zum Ausdruck kommende Vision von Polen und Russland lässt sich anhand zweier Elemente definieren, die für die Visionen der in dieser Arbeit behandelten Repräsentantinnen und Repräsentanten der polnischen Intelligenz neu sind und nur auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Dies ist zum einen die Betonung einer ausgeprägten litauischen Identität, die Swianiewicz zwar eng an Polen bindet, aber vielmehr als Bündnis zwischen einem starken litauischen und einem polnischen Partner darstellt. Hierbei zeichnet Swianiewicz ein Bild des litauischen Fürstentums als Rusʼ. Dahinter verbirgt sich zum einen die Vorstellung von der Zugehörigkeit des historischen Litauens und Polens sowie Russlands zur rusʼischen Welt, dem ruski świat, zum anderen die Vorstellung einer dauerhaften russisch-polnischen Konkurrenz innerhalb dieser Welt. Die rusʼische Welt, so Swianiewicz an anderer Stelle, bestehe aus den historischen Gebilden der Moskauer und der Novgoroder Rusʼ – eine Vorstellung, die Witek ausgerechnet der russischen Literatur entnimmt: Witek las ausgiebig in historischen Romanen. So schloss er aus den Erzählungen von Aleksej Tolstoj und Mordovcev, dass es zwei Rusʼen gab: die Moskauer Rusʼ und die Rusʼ der Rzeczpospolita, das heißt, die Litauische Rusʼ und die Kosakische Rusʼ; aber auch, dass es eine dritte Rus‘ gegeben hatte: die Novgoroder Rusʼ, eine ausgezeichnete Kaufmannsrepublik, die zu den hanseatischen Städten gehört hatte, die aber von Ivan III. [1440 – 1505, Großfürst von Moskau, M.-B.] komplett zerstört worden war.³²⁹
Das zweite Element von Swianiewiczs Vision findet sich im inhärenten Konflikt zwischen den westlichen Teilen der Rusʼ und der Moskauer Rusʼ, deren unterschiedliche Einflüsse aus dem Westen und aus dem Osten er betont. In Witeks Vision manifestiert sich letztlich eine Ambivalenz der Gegensätzlichkeit und Einheit zugleich, die als unauflösbar und als grundlegender Wesenszug ebenjener Beziehungen gelten kann. Zum Ausdruck kommt dies in der Beschreibung vom Wandel der Witekschen Perspektive auf Russland als „Koloss auf tönernen Füßen“ von der Jugend bis ins hohe Alter. Swianiewicz macht darauf aufmerksam,
Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 37. Aleksej Konstantinovič Tolstoj (1817– 1875), russischer Schriftsteller, nicht zu verwechseln mit Aleksej Nikolaevič Tolstoj (1883 – 1945). Daniil Lukič Mordovcev (1830 – 1905), ukrainisch-russischer Schriftsteller.
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dass für Witeks Vorstellung von Russland, die mit den kindlichen Erlebnissen des Russisch-Japanischen Kriegs und der Revolution von 1905 und 1906 einsetzt, diese Metapher eine zentrale Bedeutung erhält und einem grundsätzlichen Wandel unterliegt: Immer öfter kam ihm der Ausdruck vom ‚Koloss auf tönernen Füßen‘ zu Ohren. Erst einige Jahre später verstand Witek die Sinnhaftigkeit dieses Ausdrucks, vor allem, als ein junger Geschichtslehrer, der bei den Schülern sehr beliebt war, die Herkunft dieses Ausdrucks und seine Bezugnahme auf das zeitgenössische Russland erläuterte. Der Ausdruck spielte in der Entwicklung der politischen Ideen bei Witek eine große Rolle, und erst im weit fortgeschrittenen Alter nach zwei Weltkriegen sollte er die Richtigkeit dieser Aussage widerrufen.³³⁰
Wenngleich Swianiewicz die Gültigkeit der Metapher in Zweifel zieht, wird deutlich, dass er die These vom „Koloss“ sowohl auf das imperiale und auf das sowjetische Russland überträgt und so der Kontinuitätsthese der polnischen Intelligenz vom Roten Imperium, wie sie Jan Kucharzewski in der Zwischenkriegszeit formuliert hatte, erneut Ausdruck verleiht.³³¹ Lala und Witek erscheinen als Ausdruck des in der Krise begriffenen Imperiums und erzählen eine Geschichte der polnisch-russischen Entfremdung und Entflechtung. Die Beziehung der beiden durchläuft mehrere Phasen. Der erste Abschnitt des Kennenlernens ist gekennzeichnet durch eine Phase des Enthusiasmus ob der scheinbaren Ähnlichkeit, die sich im gemeinsamen Geburtstag ausdrückt: Es bedeutete, dass sie beide unter demselben Stern geboren worden waren, das heißt, dass am vorigen Tag, als sie sich die Hand gegeben hatten, als sie sich gegenseitig in die Augen geschaut hatten, zwei Strahlen ebenjenes Sterns gefunkelt hatten, der am Tag ihrer Geburt gestrahlt hatte. Sie begannen nachzudenken, was der gemeinsame Stern bedeutete: war es ein gemeinsames Schicksal, oder nur ihre Ähnlichkeit, oder lediglich eine Ähnlichkeit ihrer Charaktere.³³²
Die Suche nach einer gemeinsamen Identität spielt eine besondere Rolle. Was hier zunächst als Annäherung zweier Jugendlicher erscheint, weicht wenig später einem gemeinsamen Nachdenken zweier Personen der liberalen Intelligenz über die sie umgebende Welt des Russischen Imperiums:
Ebd., S. 10. Vgl. Kucharzewski, Od białego do czerwonego caratu. Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 45.
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Beide, Witek und Lala waren damit beschäftigt, sich eine eigene Meinung zur Welt, die sie umgab, zu bilden, und vor allem zu dem gesellschaftlichen Organismus, an den sie das Schicksal gebunden hatte. Dieser Organismus war das Imperium der Russischen Zaren. Lala war Russin, geboren in Warschau, sie gab Witek zu verstehen, dass sie deutsches Blut in sich hatte.Witek war Pole. So beschrieben sich seine Eltern; im Haus wurde Polnisch gesprochen, man bewahrte ebenfalls katholische Rituale und Traditionen, obwohl der Vater sehr selten zur Kirche ging, eigentlich nur zu großen Feiertagen und das oft erst zum Ende der Heiligen Messe. Die Mutter unterrichtete Witek auf Polnisch zu lesen, bevor er Russisch las.Witek war niemals westlich der Weichsel gewesen, oder westlich des Bug. Der westlichste Punkt, den er je besucht hatte, war Wilna, wohin die Mutter, die in die Stadt verliebt war, manchmal fuhr. Lala, die Warschau als kleines Kind verlassen hatte, erinnerte sich an die sauberen Straßen, die eleganten Geschäfte und an die Kutschen ohne den sogenannten ‚Bogen‘, der in Russland einen Teil des Reitgeschirrs darstellte.³³³
Deutlich arbeitet Swianiewicz heraus, dass beide keineswegs Idealtypen des Polnischen und Russischen entsprechen, sondern über komplexe und vielfach verflochtene Familiengeschichten verfügen. Die Phase des Kennenlernens im Urlaub der jeweiligen Eltern von Lala und Witek auf dem Land wird anschließend vom Alltag der beiden in Dünaburg abgelöst. Obwohl beide einander verbunden bleiben, erscheint Lala Witek in Dünaburg als unerreichbar, was vor allem auf die unterschiedlichen Herkunftsmilieus zurückzuführen ist. Swianiewicz betont die Ausnahmestellung von Lala als Tochter eines gesellschaftlich angesehenen Gendarmerie-Offiziers. Dieses Ansehen ist jedoch vor allem in der Position des Vaters als Repräsentant des herrschenden Regimes begründet und führt nach der Infragestellung des Herrschaftsregimes infolge der revolutionären Ereignisse von 1905 zur Marginalisierung von Lala seitens ihrer Mitschülerinnen und zu einem zunehmend skeptischen Denken über ihren Vater. Die gesellschaftliche Abspaltung des regimenahen Milieus in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wirkt sich auch auf das Verhältnis zwischen Lala und Witek aus: Um Lala herum war eine Art von Leere. Witek nutzte jede Gelegenheit um sich mit Lala zu treffen, aber er hatte eine ganze Reihe von Angelegenheiten, die er vor Lala verbarg, denn als Teilnehmer an konspirativen polnischen Zirkeln war er zur Geheimhaltung verpflichtet.³³⁴
Swianiewicz betont, dass sich beide in gemeinsamen Besuchen des Dünaburger Theaters über das gemeinsame Interesse an russischer Literatur und Kultur mit der „Frage, was ist Russland“, austauschen³³⁵:
Ebd., S. 56. Ebd., S. 63. Ebd., S. 57.
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Das Theater zeigte eine Reihe von Stücken, die einen tieferen Einblick in das moralische Wesen der russischen Staatlichkeit gaben und in das, was Russland, das für beide – Lala und Witek – einen mythologischen Begriff darstellte, vom Westen unterschied.³³⁶
An dieser Stelle kommt noch einmal das Bild der Krise zum Ausdruck, das Swianiewicz für die Beschreibung des Russischen Imperiums vom frühen 20. Jahrhundert zeichnet. Diese Krise wirkt sich unmittelbar auf den Diskurs der polnischen und der russischen Intelligenz aus und löst in ihr eine lebhafte Debatte um deren Platz in der Gesellschaft des Russischen Imperiums, aber auch um das Selbstverständnis Russlands aus.³³⁷ Für Witek jedoch stellt sich zumindest erstere Frage nicht mehr. Vielmehr beschreibt Swianiewicz einen Wandel in Witeks Denken hin zur Hoffnung auf einen polnisch-russischen Konflikt, wie sie etwa in der Beschreibung des Dramas Ivan der Schreckliche von Aleksej Tolstoj durch Swianiewicz zum Ausdruck kommt.³³⁸ Von der Szene des Zusammentreffens Ivans IV. mit dem litauischen Gesandten Michał Hałaburda (lit. Mykolas Haraburda) zeigt sich Witek besonders begeistert, kommt doch in ihr, so Swianiewicz, das Selbstverständnis Litauens als „Land der religiösen Toleranz“ und Russlands als „Land der Despotie“ besonders deutlich zum Tragen: Vor Ivan dem Schrecklichen steht ein Gesandter Stefan Batorys. Es ist dies der litauische Adelige Hałaburda, der wie die Mehrheit des litauischen Landadels aus den belarussischen Gebieten jener Zeit orthodoxen Glaubens ist. Nach der Ankunft in Moskau am Abend vor der Audienz beim Zaren geht Hałaburda in die Kirche um zu beten, worüber dem Zaren natürlich Bericht erstattet wird. Während der Audienz beginnt Hałaburda seine Ansprache mit folgenden Worten: ‚Großer Zar, mein Herr, der König von Polen und Großfürst von Litauen sendet Euch seine Grüße.‘ Ivan der Schreckliche unterbricht ihn: ‚Warte! Du bist doch unseres Glaubens. Warum nennst Du einen lateinischen Häretiker Deinen Herren.‘ Hałaburda antwortet darauf: Weil er unsere heilige Kirche ehrt und uns erlaubt, die lateinischen Priester zu vertreiben.‘ […] Das war eine fantastisch gespielte Szene von der Konfrontation der beiden Rusʼen, der Moskauer und der Litauisch-Republikanischen Rusʼ. Die Konfrontation eines Landes der Despotie mit einem Land der religiösen Toleranz. In der Pause erzählte Witek Lala, dass die Geschichte bis hin zum 19. Jahrhundert eben nicht das eine Russland kannte. Außer der Moskauer Rusʼ gab es noch etliche andere Rusʼen, die sich in kultureller und in sprachlicher Hinsicht in einem bestimmten Grad unterschieden. Alle zogen ihr religiöses Verständnis aus Konstantinopel, aber sie alle unterschieden sich in vielerlei Aspekten. Herr Hałaburda war nicht nur Gesandter des polnischen Königs, der übrigens ein Ungar war, er [Hałaburda] repräsentierte die westliche Rusʼ, die seinerzeit unter litauischer Herrschaft
Ebd., S. 58. Vgl. etwa das Gespräch zwischen Witeks Mutter, Dmitrij Liorko und zwei anderen Vertretern der russischen Intelligenz im Zug von Riga nach Dünaburg im Jahr 1913, ebd., S. 34 f. Erster Teil einer Zarentrilogie, erstmals 1866 aufgeführt, vgl. Aleksej K. Tolstoj: Dramatičeskaja trilogija, S.-Peterburg 1876.
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stand. Witek, der sich die Szene der Konfrontation ansah, war stolz auf seine Zugehörigkeit zur Litauischen Rusʼ.³³⁹
Das Zitat zeigt, dass Swianiewicz in der Autobiographie ein Bild des Russischen Imperiums skizziert, das sich zunächst in die etablierte Russlanderzählung der polnischen Intelligenz einfügt. So betont er die Gegensätzlichkeit des Polnischen und des Russischen, indem er auf die unterschiedlichen Traditionen polnischer und russischer Staatlichkeit rekurriert: auf den multireligiösen Liberalismus Polen-Litauens einerseits und auf das Dominanzstreben Russlands sowie das Fehlen einer russischen Staatstradition auf der anderen Seite. Zudem verweist der Autor mit Tolstoj auf die historische Dimension des Konflikts und bedient sich einer kompensatorischen post-kolonialen Rhetorik. Bei genauerem Lesen jedoch wird deutlich, dass gerade die ungewöhnliche Erzählperspektive sich von dieser traditionellen Sicht der polnischen Intelligenz, wie sie etwa Władysław Studnicki kennzeichnet, distanziert. So macht Swianiewicz deutlich, dass es sich bei diesen Vorstellungen um Ideen eines dreizehnjährigen Jungen handelt und verortet dessen Vision konkret im Kontext des zerfallenden Russischen Imperiums. Mittels des allegorischen Erzählprinzips von Lala und Witek wirken dessen Ideen romantisch-jugendhaft überzeichnet und stellen dadurch Wegpunkte einer individuellen Entwicklung dar. Swianiewicz entnimmt seine Ideen dabei nicht einfach der Ideengeschichte des polnischen Russlanddenkens, sondern verweist vielmehr auf die russische Literatur und die russischen Schriftsteller als Lehrmeister der russisch-polnischen Beziehungen. Ein weiterer Punkt, der gegen die traditionelle Sicht der polnischen Intelligenz spricht, ist Swianiewiczs Fokussierung auf das Litauische, das nicht zum Stilelement eines jagiellonischen Polens reduziert wird, sondern vielmehr als mächtiger und zugehöriger Teil der rus ʼischen Welt erscheint. Der Zerfall des Russischen Imperiums, von Witek gewünscht, von Lala gefürchtet, wird bei Swianiewicz als Teil eines universalen Wandlungsprozesses zur Moderne beschrieben und nicht als ein von Polen oder von der revolutionären Bewegung Russlands herbeigeführter Zusammenbruch. Deutlich wird dies auch an der ambivalenten Beschreibung des russischen Staatsmannes Pëtr Stolypin (1862– 1911), der bis zu seiner Ermordung der russischen und der polnischen Intelligenz als Feindbild diente. Mit der Beschreibung Stolypins anhand eines Theaterbesuchs von Lala und Witek wählt Swianiewicz ein weiteres Mal einen literarischen Zugang für seine autobiographische Skizze. In Swianiewiczs Darstellung des Stolypin‘schen alter egos im Stück entsteht das Bild eines aufrichtigen und visionären Politikers. Seine Ermordung 1911 sieht Swi-
Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 58 f.
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aniewicz vielmehr als fatales Scheitern eines Versuchs an, den „Koloss auf tönernen Füßen“, welchen der 14jährige Witek im Russischen Imperium erblickt, zu reformieren, denn als ein von der russischen revolutionären Bewegung gewünschtes Signal zum Sturz der Monarchie³⁴⁰. In den Beschreibungen finden sich weder Verurteilungen von Stolypins reaktionärer Politik noch Solidaritätsbekundungen für die revolutionäre Bewegung. Stattdessen nähert sich Swianiewicz Stolypin aus einer machtpolitischen Perspektive und betont vor allem die politischen und gesellschaftlichen Zwänge des Handelns Stolypins: Die Erzählung beruhte darauf, dass ein schöner Herr in mittlerem Alter, der eine der zentralen Positionen im Staat bekleidet, eine Romanze mit einer Frau beginnt, die ebenfalls nicht mehr im jüngsten Alter ist. […] Die Dame hat einen Sohn, der an der Universität studiert. Einmal bittet sie ihren Freund, dass dieser den Sohn, der in einen politisch illegalen studentischen Zirkel hineingeraten ist, vor der Gefangenschaft rette. Der Freund antwortet, er vermute, dass dies kein Problem sein sollte. Im nächsten Akt erscheint er verwirrt, er sagt, dass er befohlen habe, ihm die Akte zu übersenden. Aus dieser gehe hervor, dass der Sohn jener Dame sich an einer der abscheulichsten Verschwörungen beteiligt habe, weshalb er selbst vorher schon befohlen habe, die daran Beteiligten möglichst hart zu behandeln. Es sei mit seinen Ansichten unvereinbar, wenn er nun irgendwelche Ausnahmen machte. Im letzten Akt gibt es eine berührende Abschiedsszene zweier älterer Personen, die ein tiefes und unverfälschtes Gefühl füreinander verbindet. Der Sohn wird zu etlichen Jahren der Verbannung in Sibirien verurteilt, und die Mutter packt ihre Sachen für die Reise nach Sibirien, um die folgenden Jahre irgendwo in der Nähe ihres einzigen Kindes zu verbringen. Bei ihr und ihrem Freund, der seiner Verantwortung zum Staat verpflichtet bleibt, verblassen die letzten Schatten einer schon lange vergangenen Jugend, die ihnen einst Lebensfreude gab. Lala sann über das ewige Problem der Tragödie nach, das durch das Gefühl der Pflicht im Ringen zwischen Herz und Verstand entsteht. Der 14jährige Witek dachte indessen an die gewaltigen Möglichkeiten in der Zukunft, wenn der Lebensweg, den er einschlagen wollen würde, ihn von Lala hinfort reißen würde.³⁴¹
Das Zitat veranschaulicht einmal mehr Swianiewiczs differenzierenden Blick auf die Geschichte des späten Imperiums, indem er die eigene Erfahrung literarisiert. Das erzählerische Bild von der Geschichte einer Entfremdung zwischen Lala und Witek ist auch eine Parabel auf die Entflechtung Polens und Russlands, die sich in der autobiographischen Erzählung von Lala und Witek im Vorfeld des Kriegs bereits andeutet. Im Zitat kommt zudem die Entfremdung von Witek und Lala zum Ausdruck, die sich in ihrem intellektuellen Denken manifestiert. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Swianiewicz Witek sich ausgerechnet in der Figur des theatralen Stolypins wiedererkennen lässt.
Ebd., S. 65. Ebd., S. 66.
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Bezeichnenderweise sind es nicht der Krieg und die Erlebnisse der Evakuierung von Swianiewiczs Familie aus Dünaburg in das zentralrussische Orelʼ, die den Höhepunkt dieser Entfremdungserzählung darstellen. Stattdessen sind es die gemeinsamen Erlebnisse des Revolutionsjahrs 1917 in Moskau, die sich auf die Biographien der beiden nach der Revolution ganz unterschiedlich auswirken. Beide, Lala und Witek, studieren zu dem Zeitpunkt in Moskau, treffen sich jedoch kaum noch. Witek engagiert sich bereits während des Kriegs in den Legionen der Polnischen Militärorganisation POW in Orelʼ. Folglich schließt er sich in Moskau keinem der beiden dominierenden Lager in der polnischen Emigration, den Liberalen um Aleksander Lednicki auf der einen Seite und den Nationaldemokraten auf der anderen Seite an, sondern setzt seine Tätigkeit im Lager der polnischen Sozialisten um Józef Piłsudski auch im revolutionären Moskau fort. Lala hingegen, die sich kritisch mit dem Denken des Vaters und der regimenahen Intelligenz auseinandersetzt und sich mit der Gesellschaftsethik Lev Tolstojs identifiziert, studiert in Moskau russische Literatur und isoliert sich hier sowohl vom Umfeld des Vaters als auch von der sich radikalisierenden Umgebung der Studierenden.³⁴² Vor dem Hintergrund von Witeks Tätigkeit in der POW verblasst das Moskauer Geschehen in Swianiewiczs Memoiren und erhält erst wieder Aufmerksamkeit, als dieser infolge der Gefechte zwischen den militanten Vertretern der Bolʼševiki und den wenigen verbliebenen Anhängern der Provisorischen Regierung nach Orelʼ flüchtet und nach dem Umsturz vom Oktober 1917 in die Stadt zurückkehrt. Swianiewicz betrachtet in seinen Beschreibungen sowohl die polnische Perspektive als auch die Perspektive der russischen liberalen Intelligenz auf die Ereignisse und erinnert an die gewaltsame Auflösung der verfassungsgebenden Versammlung im Januar 1918 durch die Bolʼševiki unter Vladimir Ulʼjanov Lenin (1870 – 1924): Die Auflösung der Konstituante war ein Schock für die Träume etlicher Generationen der russischen liberalen Intelligenz, die danach gestrebt hatte, Russland aus einer absoluten Monarchie in einen modernen demokratischen Staat umzuwandeln. Der Schlag gegen die Tradition der Freiheitsbewegungen in Russland rief nicht den Eindruck hervor, den man erwarten konnte. Die Leute gingen recht schnell zur Tagesordnung über.³⁴³
Anhand der verfassungsgebenden Versammlung und der in sie gesetzten Hoffnungen der liberalen Intelligenz zeichnet Swianiewicz eine russische Tradition demokratischen und freiheitlichen Denkens. In ihrer Auflösung erkennt der Autor letztlich einen Bruch Russlands mit ebenjenen Traditionen. Diese Erwartung galt
Vgl. ebd., S. 67. Ebd., S. 74.
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wohl auch für die Eltern von Swianiewicz, was keine Erwähnung findet. Das Ende dieser Hoffnung markiert so auch das vorläufige Ende ebenjener polnisch-russischen Verhältnisse, in denen Swianiewicz aufwuchs. Zum Ausdruck kommt dies auch in einer der letzten Bemerkungen über Lala und Witek. Nach seiner Rückkehr in das von den Bolʼševiki eroberte Moskau, unmittelbar bevor es zum Friedensvertrag zwischen dem Deutschen Reich und Sowjetrussland kommt, der der Familie die Möglichkeit bietet, in das von den Deutschen besetzte Dünaburg zurückzukehren, besucht der Student Lala. Swianiewicz beschreibt den sozialen Abstieg des Vaters und seiner Tochter nach der Revolution beim letzten Zusammentreffen der beiden. Witeks Zukunftsoptimismus steht dazu im deutlichen Gegensatz: Witek schien, dass ihr Gesicht im Laufe dieser vergangenen Monate, während derer sie sich nicht gesehen hatten, einen trüben Schimmer angenommen hatte. […] Zum ersten Mal in seinem Leben traf Witek das umsorgte Einzelkind in einer Atmosphäre an, durch all deren Ritzen die Armut schien. […] Witek war voller Optimismus und schaute hoffnungsvoll in die Zukunft. Nach der Erklärung von Präsident Wilson im Januar 1918 schien die Entstehung des unabhängigen Polens fast sicher und war unabhängig vom Kriegsausgang. Mit dieser Überzeugung formte sich vor Witek eine Vision der eigenen Zukunft. Es lag eine gute Dosis Naivität in dem, was er über seine Pläne und Absichten sagte.³⁴⁴
Swianiewicz beschreibt symbolisch die anschließende Verabschiedung der beiden auf der Brücke über einem Flüsschen in Moskau: Lalas Vater machte einen sehr niedergeschlagenen Eindruck. Witek war nicht imstande, sich der düsteren Atmosphäre dieses Zimmers anzupassen. […] Nach einer Weile gingen sie hinaus und standen auf einer Brücke, die über einem kleinen Flüsschen, das ein Zufluss zur Moskau war, hinweg gebaut worden war. Sie standen beide aneinander gelehnt und ein wenig zueinander zugewandt an der Balustrade der Brücke, schauten zum Wasser, aus dem sich das Eis schon gelöst hatte und sprachen über scheinbar nebensächliche Dinge. […] Er versprach, dass er bald nach der Rückkehr aus Orelʼ wiedererscheinen würde. Auf der Brücke verabschiedeten sie sich und gingen in zwei unterschiedliche Richtungen. Die Verabschiedung, die Witek als eine Trennung auf Zeit schien, sollte die letzte bleiben. Es war der Vorfrühling des Jahres 1918.³⁴⁵
Aus beiden Zitaten wird ersichtlich, wie sich die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Situation von Lala und Witek auswirken, und dass sich daraus unterschiedliche Zukunftserwartungen ergeben. Witeks positive Haltung zur Zukunft in einem freien Polen steht dabei im Widerspruch zur Hoffnung, Lala
Ebd., S. 78 f. Ebd., S. 80.
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möglichst bald wiederzusehen. Zum Ausdruck kommt der Widerspruch auch in der ablehnenden Haltung des Vaters anlässlich von Witeks Erscheinen. Mit der Verabschiedung an der Brücke endet für Swianiewicz auch die Episode der russisch-polnischen Beziehungen während der Teilungszeit, die er mit Lala und Witek anhand der eigenen russisch-imperialen Erfahrung anschaulich illustriert. Das Schicksal von Lalas Familie nach der Revolution – der Vater wird 1918 von den Bolʼševiki hingerichtet – dient als Metapher für den Untergang des Russischen Imperiums, die Ereignisse des Oktober werden von Swianiewicz zu einem tragischen Wendepunkt in der Geschichte Russlands erhoben.³⁴⁶ Aus seinen Memoiren wird ebenso deutlich, dass die eigentliche Tragik des Dramas von Lala und Witek, genauer: des Dramas zwischen Polen-Litauen und Russland, darin besteht, dass erst der Untergang Russlands die von Witek-Swianiewicz erhoffte Anknüpfung an die liberalen Traditionen des polnisch-litauischen Staates der Frühen Neuzeit ermöglicht und sich somit die Hoffnung zweier Personen der polnischen und der russischen liberalen Intelligenz auf einen gemeinsamen Wandel nicht erfüllen. Diese gescheiterte Illusion manifestiert sich bereits darin, dass Swianiewicz für die Erzählung seiner autobiographischen Erzählung eben nicht nur auf die Rekonstruktion der eigenen Erfahrung zurückgreift, sondern mit Lala eine russisch-liberale Perspektive in die autobiographische Erzählung integriert und daraus einen multiperspektivischen Ansatz entwickelt. Folglich lassen sich Swianiewiczs Memoiren als starkes Plädoyer für eine Betrachtung des historisch Verbindenden zwischen Polen-Litauen und Russland interpretieren. Swianiewicz vergisst dann auch nicht, auf die Position Witeks als Angehörigen und als aktiven Erneuerer des Denkens der polnischen Intelligenz zu verweisen. Die Verachtung des Russischen Imperiums vonseiten Witeks mündet dabei eben nicht in einem anti-russischen Weltbild wie etwa bei Władysław Studnicki, dessen Idee von der Bedrohung Polens durch Russland sowie eines deshalb notwendigen Bündnisses mit Deutschland Swianiewicz übrigens bejahte, ohne dabei Studnickis zivilisatorisch-kompensatorisches Ideenfundament und dessen Polenzentrismus zu teilen.³⁴⁷ Wie wirkt sich dieses Denken nun auf Swianiewiczs Vorstellungen und Ideen zur Polonität und über den polnischen Osten aus und welche Rolle spielen dabei Swianiewiczs Ideen in seinem publizistischen und beruflichen Schaffen?
Vgl. ebd. Vgl. etwa Swianiewicz, Erinnerungen an Władysław Studnicki, S. 153.
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Vorstellungen östlicher Polonität bei Swianiewicz: Die gescheiterte Illusion vom „Vorfrühling im Jahre 1918“ „Es war der Vorfrühling des Jahres 1918.“³⁴⁸ Mit diesen Worten beendet Swianiewicz die Abschiedsszene von Lala und Witek und läutet die Phase von Witeks Engagement in der POW in Dünaburg und in Wilna ein. Auffallend ist die vom Autor beschriebene optimistische Stimmung Witeks ob der nahenden Unabhängigkeit Polens, die im Widerspruch zu dem Gespräch zwischen Lala und Witek steht. Es ist zu vermuten, dass der Autor diese Formulierung nicht zufällig verwendet, denn dahinter verbirgt sich eben nicht nur die Beschreibung eines Übergangs zweier Jahreszeiten oder die zeitliche Benennung des historischen Kontextes. Der Begriff des „Vorfrühlings“ beschreibt auch die kurze Zeit einer optimistischen Erwartungshaltung, eines Enthusiasmus, der in Witeks oben genannter Zukunftsvision zum Ausdruck kommt. Der Schriftsteller Stefan Żeromski wies dem Begriff in seinem gleichnamigen Roman Vorfrühling von 1924 eine polnische Spezifik zu, indem er in seiner früh-retrospektiven Erzählung das Bild eines im Scheitern begriffenen Polens der „Glashäuser“ entwarf. Die Utopie von einem prosperierenden, solidarischen und sozial integrativen Staat einer Generation junger Polinnen und Polen am Ausgangspunkt der Unabhängigkeit Polens fand in diesem Wort symbolischen Ausdruck und wurde im polnischen nationalen Diskurs zu einem geflügelten Wort.³⁴⁹ In Żeromskis Erzählung flüchtet der aus einer polnischen Unternehmerfamilie stammende junge Cezary Baryka aus dem russischen Bürgerkrieg in Baku in das eben erst gegründete Polen. Konfrontiert mit der katastrophalen Lage im Nachkriegswarschau, wird Baryka von den nicht-existenten Illusionen eines Polens der Glashäuser jäh enttäuscht. Indem Swianiewicz auf den Begriff rekurriert, verweist er auf ähnliche Illusionen bei Witek, dessen Idee von Polen in der liberalen Idee des frühneuzeitlichen PolenLitauens verwurzelt ist. Er zeichnet Witek als Repräsentant jener jüngsten Generation der Unabhängigkeit – ganz ähnlich übrigens, wie es bei Jasienica der Fall ist, der an mehreren Stellen seiner Memoiren auf Żeromski und dessen Roman als Vorbild verweist.³⁵⁰ Der Bezug zu Żeromskis Vorfrühling bei Jasienica und Swianiewicz kann auch als Ausdruck eines sozialkritischen wie auch kommunismuskritischen Selbstverständnisses interpretiert werden. Je nach Betrachtung galt Żeromski nach 1945 nämlich als Vorbild der frühen sozialistischen Autoren,
Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 80. Vgl. Żeromski, Przedwiośnie. Vgl. etwa Jasienica, Pamie̜tnik, S. 86.
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später dann als Gewährsmann eines alternativen „romantischen Sozialismus“.³⁵¹ Bei Żeromski und bei Swianiewicz kennzeichnet ebenjener Vorfrühling die Periode ihrer beiden Helden vor der Einreise nach Polen, eine Übergangsperiode enthusiastischen Hoffens auf das freie Polen in den Wirren von Erstem Weltkrieg, Russischer Revolution und einsetzendem Bürgerkrieg. Witek kämpft schließlich ebenso wie der junge Baryka im Polnisch-Sowjetischen Krieg gegen die Rote Armee. Ein hohes Maß an Identifikation mit Żeromskis Alterswerk findet sich übrigens auch in den Memoiren von Swianiewiczs Universitätskollegen der Zwischenkriegszeit Wiktor Sukiennicki wieder, der unterstreicht: [W]ir wuchsen in Zeiten auf, in denen Polen und das Polnischsein verboten waren […]. Die Mehrheit von uns lernte niemals systematisch Polnisch, aber die Schule konnte uns die Meisterwerke und die Ideale der polnischen Literatur niemals verleiden oder gar miesmachen. Des Vaterlandes beraubt, kämpften wir auf die eigene oder andere Art darum, um das ideale Polen der ‚gläsernen Häuser‘.³⁵²
In den Kindheits- und Jugenderinnerungen kommt Swianiewiczs Vision eines freien Polens auch in anderen historiographischen Rückgriffen zum Ausdruck. Die Erinnerung an das Russische Imperium dient ihm dabei als Negativfolie für die eigenen Ideen. So beäugt er das enge Verhältnis des russischen und des polnischen Adels kritisch und macht deutlich, dass Angehörige der litauischen oder belarussischen Nationalität unter deren Beziehung gelitten hätten. Er erinnert etwa an die Solidarisierung der litauischen Bauern im Aufstand von 1863 und die gegen sie gerichteten Repressionen der russischen Obrigkeit, denen die litauischen Bauern sich nicht wie die litauischen Polen dank derer russischen Freunde und Kontakte weitgehend entziehen konnten: Für jene [polnische Aufständische], die auf die Etappen nach Sibirien geschickt worden waren, konnte es eine gewisse Erleichterung geben, wenn einer der russischen Freunde Beziehungen zum Gouverneur der entsprechenden sibirischen Provinz hatte. […] All diese Fälle betrafen Personen aus der Adelsschicht. Die litauischen Bauern, die noch nach der Niederschlagung des Aufstands im Kronland [Königreich Polen, M.-B.] weiter gekämpft hatten, gingen meist an den Galgen.³⁵³
Auch an anderen Stellen der Memoiren lässt sich eine sozialkritische Perspektive bei Swianiewicz ausmachen, etwa wenn sich der Autor – ganz den Ideen der polnischen Intelligenz verpflichtet – kritisch mit dem Denken seiner Mutter über Heinrich Olschowsky: Nachwort, in: Stefan Żeromski: Vorfrühling, Frankfurt a.M. 1994, S. 323. Sukiennicki, Legenda i rzeczywistość, S. 52. Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 22.
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Russland und mit ihrer adelszentrischen Sicht auseinandersetzt.Wie auch an Lala kritisiert er an ihr den Blick auf das höfische Russland als romantisierende, tolstojische Illusion: Während ihrer russischen Periode lernte sie das Leben der Schicht des vermögenden Landadels, die in den Erzählungen Lev Tolstojs und Turgenevs beschrieben wird, gut kennen. Im Laufe der Jahre, die sie in Russland verbrachte, wuchs in Witeks Mutter eine große Sympathie für die Leute aus dem Volk im inneren Russland. Sie behauptete, dass der durchschnittliche Mensch aus dem Volk in Russland ein deutlich freundschaftlicheres Verhältnis zu den Mitmenschen habe als der Durchschnittsmensch in unseren Gefilden. Erst mit der Zeit erkannte Witek, dass die Mutter mit dem authentischen russischen Bauern oder Arbeiter wenig in Berührung gekommen war. Die Leute, die sie als typisch für das russische Volk erkannte, das war die Schicht der so genannten ‚höfischen Bewohner‘ [warstwa tak zwanych ‚dworowych‘].³⁵⁴
Swianiewicz merkt an, dass die Mutter einem romantisierten Denken über das Russische verhaftet sei und gibt demgegenüber an: Die Hofangestellten, das waren leibeigene Bauern, die als Bedienstete zu den Höfen gebracht worden waren. Sie waren den Familien ihrer Herren sehr verbunden und den fremden Gästen gegenüber, die in den Höfen erschienen, ebenfalls freundlich und hilfsbereit. Sie stellten ein wesentliches Element jener patriarchalen Hierarchie dar, die an den Höfen herrschte. Die großen russischen Schriftsteller wie Puškin, Turgenev oder Gončarov beschenkten diese Angestellten mit einer großen Sentimentalität.³⁵⁵
In der Auseinandersetzung mit der Russlandvorstellung der Mutter entwirft der Autor ein polnisches Selbstverständnis, das sich durch sozialkritische Elemente ebenso auszeichnet wie durch russlandskeptische Elemente – schwingt doch in der Einschätzung zur Mutter auch die unausgesprochene Annahme vom Aufbegehren der russischen Bevölkerung in den letzten Jahren des Russischen Imperiums als Folge der Unterdrückung durch den russischen Adel mit. Swianiewiczs Russlandskepsis kommt auch an einer anderen Stelle in den Memoiren zum Ausdruck, wenn der Autor an seinen Besuch der Verfilmung von der Oper Ivan Susanin kurz vor dem Ersten Weltkrieg erinnert³⁵⁶:
Ebd., S. 24. Ebd. Aleksandr Puškin (1799 – 1837), russisch-adeliger Schriftsteller. Ivan Turgenev (1818 – 1883), dem russischen Hochadel entstammender russischer Schriftsteller und Philosoph. Ivan Gončarov (1812– 1891), Schriftsteller und Sohn eines russischen Unternehmers. Die Oper mit dem ursprünglichen Titel Ein Leben für den Zaren stammt vom russischen Schriftsteller Michail Glinka (1804– 1857), vgl. Michail Glinka: Żyznʼ za Carja, Peterburg 1836.
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Inhalt des Films war die Heldentat eines bärtigen russischen Bauern, der ein polnisches Regiment führte, welches im Jahre 1613 im Winter durch die Wälder marschierte, um den frisch auf den Zarenthron erwählten Michail Fëdorovič Romanov, Sohn des Metropoliten Filaret zu entführen. [Der Bauer] Susanin führte sie in irgendein unwegsames Gelände im Wald, aus dem es keinen Ausgang gab. Die Polen ermordeten Susanin, sie selbst aber starben danach an Hunger und Frost. Der junge Zar wurde gerettet.³⁵⁷
In seinen Kindheitserinnerungen macht der Autor weiter darauf aufmerksam, dass sich die Schüler in Dünaburg der Geschichte mit Ironie annahmen, indem sie sich mithilfe des Ausspruchs von Susanin, „kuda ty nas zavël, Susanin [russ. wohin hast du uns geführt, Susanin]“, über Irrtümer lustig gemacht hätten.³⁵⁸ Die Szene der Erschießung von Susanin durch die polnischen Soldaten in der Oper ist für Swianiewicz von zentraler Bedeutung, wird doch in ihr das polnisch-russische Verhältnis als Feindschaft vermeintlich historisch fundiert und zu einem moralischen Prinzip erhoben. Swianiewicz kommt in seinen anderen Memoiren zu Katyń in einem völlig anderen zeitlichen Kontext erneut auf die Oper zu sprechen. Dort erwähnt er, dass Svetlana Allilueva (1926 – 2011), Schriftstellerin und Tochter des sowjetischen Machthabers Iosif Stalin (1878 – 1953), in ihren Memoiren davon berichtet habe, dass Stalin nach den Erschießungen der polnischen Soldaten in den Wäldern von Katyń nicht mehr in der Lage gewesen sei, die Szenen der Ermordung von Susanin und den Tod der polnischen Soldaten zuzusehen und den Saal verließ. Swianiewicz schreibt dazu weiter: „Allilueva meint zu glauben, dass ihr Vater Gewissensbisse wegen Katyń hatte, so wie Ivan der Schreckliche Nervenzusammenbrüche erlitt, als er sich an die Opfer der Ausbrüche seiner mörderischen Leidenschaften erinnerte.“³⁵⁹ Hierbei geht es Swianiewicz nicht darum zu bewerten, ob Alliluevas Vermutung richtig ist. In der gemeinsamen Betrachtung der Ermordungsszene aus Ivan Susanin und der Erschießungen von Katyń über die Schilderung von Allilueva verleiht Swianiewicz dem russisch-polnischen Konflikt eine moralische und eine historische Dimension. So setzt Swianiewicz Stalin in die russische Tradition autokratischen Handelns und erinnert daran, dass letztlich auch die russischen und sowjetischen Staatsmänner sich den moralischen Folgen ihres Handelns stellen müssten. Ruft man sich Swianiewiczs Bericht über die Ironisierung der Ermordungsszene durch die russischen Mitschüler in seinen Kindheitserinnerungen noch einmal ins Gedächtnis, wird deutlich, dass in beiden Memoiren unterschiedliche Lesarten des russisch-polnischen Verhältnisses zum Ausdruck kommen. Zeichnet Swianiewicz in seinen
Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 56. Ebd., S. 24. Swianiewicz, W cieniu Katynia, S. 334.
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Katyń-Memoiren wenig überraschend ein negatives Bild der Sowjetunion, wird dieses durch ein differenziertes und komplexes Bild des Russischen Imperiums in seinen Kindheitsmemoiren ergänzt. Erinnert sei an dieser Stelle nochmals an die von Swianiewicz mittels Witek entworfene Idee einer rusʼischen Welt, die sowohl die westliche Rus‘ mit Polen, Litauen und der Ukraine umfasst und die Moskauer Rus‘. Dieser Entwurf, der die Ambivalenz des polnisch-russischen Verhältnisses berücksichtigt, erinnert dabei an die Idee von der Slavizität Polens und dessen Zugehörigkeit zur slavischen Welt. Vor diesem Hintergrund lässt sich nochmal an Swianiewiczs Beschreibung des Theaterstücks über Ivan IV. und die Deutung des Autors vom Zusammentreffens des litauischen Fürsten Hałaburda und des Zaren als Repräsentanten des Reichs der Toleranz einerseits und des Reichs der Despotie andererseits verweisen.³⁶⁰ Janion hat darauf aufmerksam gemacht, dass die polnischen Romantiker ganz ähnliche Vorstellungen von Russland und Polen skizzierten: „Die Romantiker verstanden Russland und Polen als zwei feindliche Mächte innerhalb des Slawentums, die entgegengesetzten Prinzipien folgten: der ‚Freiheit‘ und der ‚Despotie‘.“³⁶¹ Hier enden aber schon die Gemeinsamkeiten in Swianiewiczs Denken und dem der Romantiker. Anders als letztere nämlich, die Russland mittels eines Orientalismus als das Andere skizzierten, den es zu zivilisieren galt, folgt der Autor diesem Bild nicht, da er in Lala die Repräsentantin eines liberaleren und demokratischen Russlands entdeckt. Dies hat letztlich Folgen für Swianiewiczs Begriff der Östlichkeit. Der polnische Osten wird von Swianiewicz in seinen Kindheitserinnerungen durchaus romantisiert. Erkennbar wird dies in einer Passage im Text, wo der Autor von der Rückkehr seiner Familie aus dem russischen Kriegsexil ins heimische, nunmehr von den Deutschen besetzte Dünaburg im Sommer 1918 und von einer Durchfahrt mit der Eisenbahn von Minsk in das polnische Mołodeczno erzählt, das drei Jahre im Friedensvertrag von Riga später zur Grenzstadt an der polnisch-sowjetischen Grenze werden soll: Der Zug fuhr los, als man schon den Hauch des nahenden Morgens spüren konnte. Am Horizont wehte die rote Fahne und kurz darauf begann die Sonnenkugel sich im Osten zu erheben. Das orangerote Strahlen erfasste die bewaldeten Hügel der Umgebung. Wir fuhren entlang der Wasserscheide zwischen den Zuflüssen von Dnepr und Memel. ‚Oh mein Gott, wie schön es hier ist‘, dachte Witek. Der Zug, der sich bisher nur langsam bewegt hatte, hielt nun ganz, obwohl keine Gebäude zu sehen waren, die auf eine Bahnstation hinwiesen. Gegenüber der Waggontür, knappe 200 Meter von der Eisenbahn entfernt, stand ein Haus, das vollständig von den orangenen Strahlen umgeben war und Witeks Aufmerksamkeit erregte. Es fiel vor allem die Größe der Fenster auf, größer als bei der Mehrheit der Gebäude,
Vgl. Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 59. Janion, Polen in Europa, S. 51.
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die man auf dem Land antraf. Auf der östlichen Seite des Hauses war der Haupteingang, eine Art Veranda mit einem Gewölbe auf weißen Säulen. Außerhalb des Hauses war das Terrain etwas abschüssig, es war also schwierig, die Bauten zu erkennen, die sich dort befanden. Witek war vernarrt in das Haus und in die orange angestrahlten Hügel, und er spürte, dass ihn eine seltsame Ruhe umhüllte, die sich auf alle Bahnen und Zweige seiner Nerven legte.³⁶²
Im Zentrum der Beschreibung von der Fahrt durch Litauen nach Dünaburg steht ein Haus, welches zum Zeitpunkt der Zugdurchfahrt im Sommer 1918 auf der von den Deutschen besetzten Seite der provisorischen Grenze zu Sowjetrussland stand. Die „rote Fahne“ am Horizont verweist auf das nahe sowjetrussische Territorium. Erst beim Lesen der Katyń-Memoiren wird ersichtlich, dass es sich bei der Beschreibung des Hauses um ebenjenes Gebäude handelt, das der Familie von Swianiewiczs späterer Frau Olimpia gehörte und Swianiewicz und seiner Familie in der Zwischenkriegszeit als Sommerhaus sowie in der Zeit des Zweiten Weltkriegs Olimpia und ihren Kindern als Obdach dienen sollte. In seinen Erinnerungen zu Katyń schreibt Swianiewicz wiederum: Das war an der sowjetischen Grenze in der Nähe des Ortes, wo die Eisenbahn MinskMołodeczno die Staatsgrenze passierte. Ein Teil des Hofes war von Wachleuten des KOP [Abk. für Korpus Ochrony Pogranicza, Grenzschutzkorps, M.-B.] besetzt worden. In unmittelbarer Nachbarschaft [auf der sowjetischen Seite der Grenze, M.-B.] war eine Kolchose, die einen Teil jenes Besitzes besaß, der sich auf der anderen Seite der Grenze befand.Von diesem Nachbarn trennten uns Maschendrahtbegrenzungen und ständige Patrouillen auf beiden Seiten. Die Leute auf der sowjetischen Seite waren verängstigt und niemand wagte es, sich den Drähten zu nähern, um ein paar Worte zu wechseln. […] Unter den grünen Hügelchen und den schnell strömenden Bächen war es ruhig, bezaubernd, engelsgleich idyllisch. Die Ernte war dieses Jahr [1939, M.-B.] ausgezeichnet. Gleich kam mir ins Gedächtnis, was Mickiewicz im Jahr 1812 im Pan Tadeusz geschrieben hatte, mehr oder weniger in ebenjenen Gefilden.³⁶³
Hier und auch an weiteren Stellen der Katyń-Memoiren finden sich Orte, Beschreibungen und kaum sichtbare Querverweise zu Swianiewiczs Kindheitserinnerungen. In Swianiewiczs Kindheitsbeschreibungen aus Witeks Perspektive erscheint das Haus als idyllischer Sehnsuchtsort. Der Hinweis auf die großen Fenster des Hauses gemahnt überdies an Żeromskis Beschreibungen der „gläsernen Häuser“ in Vorfrühling und dessen Vision des freien Polens. Berücksichtigt man Swianiewicz heimatlich-romantische Skizzen des ländlichen Litauens und der polnischen Ostgebiete, tritt der Gegensatz des bedrohten Zuhauses in den Beschreibungen des Sommerhauses vom Jahr 1939 in den Katyń-Memoiren noch Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 84. Swianiewicz, W cieniu Katynia, S. 38 f.
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stärker zutage. Auch hier finden sich Beschreibungen des heimatlich-romantischen. Ergänzt werden diese jedoch von einer detaillierten Beschreibung der polnisch-sowjetischen Grenze im Bewusstsein ihres unmittelbar bevorstehenden Verlusts, in Witeks Eindrücken erscheint die Grenze wiederum als Provisorium. Swianiewiczs Skizze zum Spätsommer 1939 in seinen Memoiren über Katyń dient dabei nicht nur der Romantisierung des polnischen Ostens, sondern vor allem der Zeichnung einer Idylle angesichts des bevorstehenden Überfalls der Roten Armee von Osten her, wie der Verweis auf Mickiewicz zeigt. Denn auch Mickiewiczs Beschreibung der Ernte in Litauen, die sich im elften Buch Das Jahr 1812 des Herr Tadeusz finden lässt, ordnet sich in den Kontext des Einmarschs der napoleonischen Truppen nach Litauen in Richtung Osten ein.³⁶⁴ Es ist ebenjener Begriff des Litauischen, mit dem sich Swianiewiczs Werk von anderen Schilderungen des polnischen Ostens nach 1945 unterscheidet. Die Idee eines polnisch besetzten oder kolonisierten Ostens spielt in diesem Denken lediglich eine negative Rolle, und Swianiewicz ist bemüht, dieses zu relativieren, indem er etwa die litauische und belarussische Prägung dieser Gebiete betont. Polenzentrische Begriffe und Konzepte wie das der kresy finden sich weder in seinen Kindheitserinnerungen noch in Swianiewiczs Memoiren zu Katyń. Vielmehr entwirft er in seinen autobiographischen Schriften ein Verständnis des polnischen Ostens als einer interkulturellen Kontaktzone Polens in den Osten und zu Russland. Diese Lesart des Ostens deutet Swianiewicz in einer Vielzahl von Passagen seiner Kindheitserinnerungen an: etwa, wenn er vom Austausch zwischen lettischen und polnischen Soldaten während der Kampfhandlungen im Polnisch-Sowjetischen Krieg, von der Solidarisierung der litauischen Bauern mit den polnischen Aufständischen 1863, vom gemeinsamen Leiden von Litauern und Letten unter der sowjetischen Besatzung 1919 berichtet, oder das Untertanenverhältnis zwischen Polen und Litauern in der Zeit vor und während der Teilungen Polens kritisiert.³⁶⁵ Deutlicher kommt Swianiewiczs Verständnis vom polnischen Osten in seinem Beitrag über Władysław Studnicki zum Ausdruck, in dem er sich mit der Beziehung Studnickis und der polnischen Nationaldemokraten zum Osten kritisch auseinandersetzt: Das Ideal der Schöpfer des Rigaer Traktats war eine Aufteilung der von Ukrainern und Weißrussen bewohnten Gebiete zwischen Polen und Rußland und eine vollständige Assimilation der Bevölkerung. […] Persönlich glaubte ich nicht, daß eine derart festgelegte Grenze von Dauer sein könnte. Sie war weder ethnographisch noch historisch begründet und konnte keine Voraussetzungen für eine russisch-polnische Freundschaft schaffen. […] Eine
Vgl. Mickiewicz, Pan Tadeusz czyli ostatni zajazd na Litwie. Vgl. Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 22, 48, 88.
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wirkliche Freundschaft zwischen Polen und Rußland mußte daher meines Erachtens nach darauf beruhen, daß beide Seiten die Eigenarten achteten, die im Laufe der Geschichte bei den Völkern, die das Großfürstentum Litauen und die Ukraine bewohnten, entstanden waren.³⁶⁶
Mit der Betonung vom Selbstbestimmungsrecht aller Nationen in den ehemals östlichen Gebieten der Adelsrepublik entwirft Swianiewicz vom polnischen Osten ein post-koloniales Verständnis ohne kompensatorische Komponente und bereitet dadurch einem Selbstverständnis polnischer Östlichkeit den Boden, das sich nicht auf die Geschichte einer polnischen Imperialität im Osten beruft, sondern sich mit dieser und der Geschichte der russischen Imperialität kritisch auseinandersetzt. In dieser Lesart ist Swianiewicz ein typischer Vertreter eines Denkens der polnischen Intelligenz, wie es seit den fünfziger Jahren in dem Umfeld der Pariser Kultura etwa von Juliusz Mieroszewski entwickelt worden war. Mieroszewski war ein Verfechter der Idee vom „ULB-Gebiet“, anhand welcher Mieroszewski nationale Anerkennung für Ukrainer, Litauer und Belarussen seitens Polens und Russlands einforderte, damit „ein nichtimperialistisches Rußland und ein nichtimperialistisches Polen eine Chance“ hätten, „ihre Beziehungen zu ordnen und gut zu gestalten.“³⁶⁷ Mit dem Gewicht der eigenen Biographie, seiner russisch-imperialen Erfahrung vor und während des Ersten Weltkriegs und der Erfahrung vom Überleben in der Sowjetunion des Zweiten Weltkriegs, baut Swianiewicz Mieroszewskis Postulat ein autobiographisches Fundament, wenn er über das polnisch-russische Verhältnis nach dem Zweiten Weltkrieg am Schluss seines Buches Im Schatten von Katyń schreibt: Im Laufe der letzten zweihundert Jahre erfuhr unsere Nation eine große Menge Leid von Russland. Aber man muss ebenso daran erinnern, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs viele Polen in Russland lebten, die von der russischen Literatur und Kunst begeistert waren, russische Frauen liebten, in Russland Güter kauften, viele russische Freunde hatten, und dass es polnische Ingenieure waren, die in Russland Eisenbahnen bauten und die Industrie in Donecʼk beaufsichtigten, dass polnische Gelehrte und Wissenschaftler an russischen Universitäten unterrichteten, dass viele Polen in der Russischen Armee es zu Generälen schafften, und dass es zwischen dem Aufstand von 1863 und dem Ersten Weltkrieg die Spasowiczs, Lednickis, Żukowskis, Petrażyckis, Waśkowskis, Zielińskis, Przewalskis und Grąbczewskis gab. […] Das heutige Polen ist mit Russland nicht
Swianiewicz, Erinnerungen an Władysław Studnicki, S. 158. Juliusz Mieroszewski: Der russische „Polenkomplex“ und das ULW-Gebiet, in: Polen und der Osten. Texte zu einem spannungsreichen Verhältnis, hg. von Andrzej Chwalba, Frankfurt am Main 2005, S. 309 – 325, hier S. 322. Auf Polnisch erschien Mieroszewskis Beitrag erstmals 1974 in der Kultura, vgl. Juliusz Mieroszewski: Rosyjski ›kompleks polski‹ i obszar ULB, in: Kultura, H. H. 9/ 324, 1974, S. 3 – 14.
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nur dadurch verbunden, dass es gemeinsam mit anderen Ländern Mittel- und Osteuropas in den Fängen einer riesigen sowjetischen Militär- und Polizeimaschinerie gehalten wird, sondern auch dadurch, dass die größten Hoffnungen auf Befreiung auf der Möglichkeit irgendeines Wandels in Russland ruhen.³⁶⁸
Auch an dieser Stelle in seinen Katyń-Memoiren erinnert der Autor an das gemeinsame Erbe der komplizierten polnisch-russischen Geschichte und verweist insbesondere auf die polnischen Einflüsse in der russischen Geschichte sowie auf das Engagement polnischer liberaler Intellektueller und Künstler für den Wandel Russlands. Dahinter steckt die Annahme, dass nur die Verbesserung der Situation in Russland selbst zu einer dauerhaften Verbesserung der Situation in Polen führen könne. Im Zitat sticht hervor, dass Swianiewicz lediglich den RusslandBegriff verwendet, um das sowjetisch-polnische Verhältnis zu beschreiben. Dabei scheint es dem Autor weniger darum zu gehen, die Kontinuität russischer Politik und Kultur im sowjetischen Staat sichtbar zu machen, als vielmehr eine Tradition polnisch-russischer Verständigung zu entwerfen, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg und unter den neuen Bedingungen der PRL und der von der Sowjetunion aufoktroyierten Bildung eines gemeinsamen Blocks Bestand haben sollte und die es in den Verhältnissen der siebziger und achtziger Jahre wiederzuentdecken galt. Mit der Formulierung von den „größten Hoffnungen auf Befreiung“ aktualisiert Swianiewicz den bekannten polnischen Ausspruch Für unsere und für Eure Freiheit von 1830 und wendet ihn auf die polnisch-sowjetischen Verhältnisse nach dem zweiten Weltkrieg an, indem er deutlich macht, dass Polens Freiheit, in Swianiewiczs liberalem Verständnis die Erlangung demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse, nicht ohne einen grundlegenden Wandel der russischen respektive sowjetischen Verhältnisse von statten gehen könne.³⁶⁹ Swianiewicz, W cieniu Katynia, S. 361 f. Włodzimierz Spasowicz (1829 – 1906), Jurist und Publizist, Herausgeber der wohl bekanntesten polnischen Wochenzeitung Kraj (das Land) im Russischen Imperium. Aleksander Lednicki, polnischer Anwalt und liberaler Publizist, zu Lednicki vgl. ausführlich Müller-Butz, Von Russland nach Polen. Stanisław Żukowski (1873 – 1944), polnischer Maler und Impressionist. Leon Petrażycki (1867– 1931), Jurist, u. a. Professor für Rechtsgeschichte an der Petersburger Staatlichen Universität. Eugeniusz Waśkowski (1866 – 1942), Jurist und ebenfalls Professor an der Odessaer Universität und nach dem Ersten Weltkrieg in Wilna. Tadeusz Stefan Zieliński (1859 – 1944), Philosoph mit Professuren u. a. in Dorpat, Sankt Petersburg und Warschau. Nikołaj Przewalski (1839 – 1888), Offizier der russischen Armee und Reiseschriftsteller. Bronisław Grąbczewski (1855 – 1926), wie Przewalski Militärangehöriger der Russischen Armee, u. a. Gouverneur von Astrachanʼ und Autor etlicher Reisereportagen etwa nach Zentralasien. Zu den biographischen Informationen der einzelnen Personen vgl. etwa Kijas, Polacy w Rosji. Zum Entstehungskontext des Postulats vgl. Nowak, Kto powiedział, że Moskale są to bracia nas, Lechitów…, S. 20.
5.4 Zusammenfassung
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5.4 Zusammenfassung Will man die drei hier vorgestellten Beispiele der polnischen intelligenten Autobiographik nach 1956 von Władysław Uziembło, Paweł Jasienica Stanisław Swianiewicz und deren autobiographische Beschreibungen der russisch-imperialen Erfahrung betrachten, ist es notwendig, zunächst die Biographien der Autoren in den Blick zu nehmen. Dabei fällt auf, dass alle drei Autoren in einem Zeitraum von etwa zwanzig Jahren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geboren wurden, sie demnach bezüglich über unterschiedliche Sozialisationserfahrungen verfügten und damit grob zwei Generationen der polnischen Intelligenz zuzuordnen sind. Für Uziembło, den ältesten der drei, markierten die Ereignisse der Revolution von 1905 und 1906 den Eintritt in die generationelle Gruppe der Revolutionäre in der polnischen Intelligenz – ein Zugehörigkeitsmerkmal, das der Autor in seinen Memoiren übrigens selbst aufgriff, indem er die Teilnahme an der Revolution als biographisches Erweckungserlebnis skizzierte. Mit einem solchen lebenszeitlichen Erfahrungshorizont ausgestattet, gehörte Uziembło der gleichen Gruppe wie Halina Krahelska an. Biographische Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Personen lassen sich ebenso ausfindig machen wie ähnliche autobiographische Narrative. Swianiewicz und Jasienica hingegen, die 1899 und 1909 geboren wurden und somit der Gruppe derjenigen angehörten, deren Erwachsenwerden vom Polnisch-Sowjetischen Krieg und von den Erfahrungen der zwanziger Jahre geprägt war, wuchsen in einer Zeit der Krise und des Zerfalls des Russischen Imperiums auf und wurden als Kinder und Jugendliche mit dem Zusammenbruch der imperialen Ordnung, mit der Findungsphase der Familie im unabhängigen Polen und mit einer veränderten Umgebung konfrontiert. Diese unterschiedliche biographische Ausgangslage der drei Autoren zu Beginn des post-imperialen Zeitalters hatte Auswirkungen auf die späteren Wege der drei nach 1918 und äußerte sich darin, dass sich zwar alle drei als Angehörige der polnischen Intelligenz mit dem unabhängigen polnischen Staat identifizierten, jedoch vor allem die jüngeren beiden von den Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten der Intelligenz in Zwischenkriegspolen profitierten. Es ist bezeichnend, dass sich alle drei Männer im Zweiten Weltkrieg in der polnischen Armee oder im polnischen Widerstand engagierten, keiner der drei zur sowjetischen Seite überlief oder sich an den Untergrundaktivitäten der polnischen Kommunisten beteiligte. Anders stellte sich die Lage nach 1945 dar. Während sich lediglich Swianiewicz nach dem Zweiten Weltkrieg im Exil wiederfand, arrangierten sich Uziembło und Jasienica mit den Verhältnissen im kommunistischen Polen und begleiteten den Wiederaufbau nach dem Krieg in Polen selbst – wenngleich unterschiedlich kritisch.
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Vergleicht man die Entstehungskontexte ihrer Autobiographien und die Anlässe autobiographischen Schreibens, ist festzustellen, dass das Werk des jüngsten Autors Jasienica in einer Atmosphäre gesellschaftlicher Marginalisierung und politischer Isolation entstand, während Swianiewicz und Uziembło ihre Autobiographien als Alterswerke anlegten. Auch in den Schriften dieser beiden finden sich Motive einer gesellschaftlichen Marginalisierung, wenngleich diese nicht so explizit zum Ausdruck gebracht wurden wie bei Jasienica. Alle drei autobiographischen Schriften waren Zeugnisse einer anhaltenden Krise der polnischen Intelligenz nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich eben nicht auf das kommunistische oder das Exilpolen beschränkte, sondern den globalpolnischen Raum umfasste. Zum Ausdruck kam diese Krise auch in den Narrativen der drei hier analysierten Werke. Während sich Jasienica deutlich und explizit mit der eigenen gesellschaftlichen Stigmatisierung auseinandersetzte und sich von dieser in einem nostalgischen Rückgriff auf auf die eigene Studienzeit im Zwischenkriegswilna zu befreien versuchte, bemühte sich Uziembło, seine Erlebnisse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse des kommunistischen Polens hinzudeuten. Letzterer war dadurch gezwungen, auf bedeutende Teile eines klassischen IntelligenzNarrativs zu verzichten und entwickelte stattdessen eine anti-intelligente Rhetorik der autobiographischen Lebenserzählung. Swianiewicz indes verlieh der Krise der Intelligenz anders als Uziembło und Jasienica Ausdruck, indem er in einem nostalgischen Rückgriff auf die Geschichte der Polnisch-Litauischen Union in der „rusʼischen Welt“ und auf deren ambivalentes Verhältnis zu Russland die eigene Lebensgeschichte mittels einer allegorischen Erzählung über sein alter ego Witek literarisierte. Swianiewicz löste so den Lejeune‘schen „autobiographischen Pakt“, die für die Leserinnen und Leser möglichst zweifelsfreie Identifikation von Autor, Erzähler und Hauptfigur auf und entrückte die eigene autobiographische Erzählung der zeitgenössischen Gegenwart des schreibenden Autors. In der Erzählung des gemeinsamen Erwachsenwerdens von Witek und Lala gemahnte er an das komplizierte Verhältnis der russischen und polnischen Intelligenz, sowie an die hinter der Jugenderzählung verborgene Beziehung des (untergegangenen) Polen (und Litauens) und Russlands. Zugleich verwob er die Erzählung von Witek und dessen litauischer Herkunft mit einer Geschichte der Polnisch-Litauischen Union. Die in den drei autobiographischen Erzählungen zum Ausdruck gebrachte Krise der Intelligenz hatte Folgen für die Darstellungen Russlands. Bei Jasienica und Swianiewicz blieb der anti-imperiale Konnex intelligenten Selbstverständnisses im Großen und Ganzen gewahrt und kulminierte in der für die Intelligenz so traditionellen Unterscheidung von Russischem Imperium und russischer Gesellschaft. Auch die Frage nach der Kontinuität zwischen Russischem Imperium und Sowjetunion bejahten die beiden Autoren im Gegensatz zu Uziembło und
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ordneten diese Frage sogleich der Unterscheidung zwischen despotischem Staat und repressierter Gesellschaft zu. In seinen Russlandbeschreibungen war insbesondere Jasienica ein Vertreter dieses Grundgedankens, den etwa Czesław Miłosz, nur zwei Jahre älter als Jasienica und mit diesem als Student in Wilna in der Zwischenkriegszeit befreundet, mit folgenden Worten pointiert auf den Punkt brachte: „I like Russians very much and like to talk to Russian, but I don‘t like Russia.“³⁷⁰ Auch Uziembłos Intelligenz-Narrativ, genauer: dessen anti-intelligente Rhetorik hatte Auswirkungen auf seine Darstellungen Russlands und der Sowjetunion. Anders jedoch als bei Swianiewicz und Jasienica, die ihre Zugehörigkeit zur polnischen Intelligenz als Gruppe nationaler Avantgarde unterstrichen, symbolisierte bei ihm die russische und die „rechte“ polnische Intelligenz das Hindernis für eine polnisch-russische Verständigung und insbesondere für ein Übereinkommen zwischen dem unabhängigen Polen und der jungen Sowjetunion. In seiner Erzählung machte Uziembło ausgerechnet die Intelligenz und deren adelige Herkunft als Modernisierungshindernis für Polen aus und hob demgegenüber die Beziehungen zwischen der polnischen und der russischen Arbeiterschaft hervor. Betrachtet man Uziembłos russisch-adelige Herkunft, seine Mitgliedschaft in der von der marxistischen Geschichtsschreibung geächteten PPS oder seine (in der Autobiographie nicht erwähnte) Widerstandstätigkeit im Zweiten Weltkrieg in der konspirativen PPS WRN, welche jegliche Verhandlungen bzw. Kooperationen der polnischen Exilregierung mit der sowjetischen Regierung ablehnte, vor dem Hintergrund einer solchen Narration, werden die Widersprüche und die von der Staatszensur begrenzten Freiräume von Uziembłos Erzählung offenbar. Auch die Frage nach der russisch-sowjetischen Kontinuität wurde von Uziembło anders beantwortet als von Jasienica und Swianiewicz. Die Sowjetunion stellte für Uziembło keineswegs ein in der imperialen Tradition des Russländischen Reiches stehendes Staatswesen dar, sondern vielmehr den Garanten eines östlichen sozialistischen Europas, dessen Legitimation sich zum einen aus dem Sieg über das faschistische Deutschland und zum anderen aus der Unfähigkeit Polens nach 1918 speiste, selbst eine sozialistische Gesellschaftsvision zu realisieren. In Uziembłos Memoiren fand die Krise der polnischen Intelligenz nach dem Zweiten Weltkrieg insofern Ausdruck, als sich seine eigene Lebensgeschichte zwar rhetorisch an der marxistischen Geschichtsschreibung der PRL orientierte, aber letztlich eine PPS-nahe Interpretation der historischen Ereignisse einführte – jener Partei, die sich vor 1914 neben ihrem sozialistischen Programm vor allem durch eine anti-imperiale und anti-russische Tendenz auszeichnete.
Haven, A Sacred Vision, S. 312.
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In allen drei Werken ließen sich Darstellungen der ehemaligen Ostgebiete und Vorstellungen einer östlichen Polonität ausmachen, die nicht mehr viel mit den post-kolonialen und teils kompensatorischen Darstellungen von Limanowski oder Studnicki aus der Zwischenkriegszeit gemein hatten. Die Möglichkeit der Rückkehr eines polnischen Ostens, genauer: die Begründung eines polnischen Territoriums mit Gebieten des heutigen Belarus‘, Litauens und der Ukraine nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von allen drei Autoren mit dem Verweis auf die geopolitischen Realitäten oder auf die Sowjetunion als Schutzmacht des kommunistischen Polens ausgeschlossen, der polnische Daseinsanspruch im Osten je nach Deutung als gescheitert (Swianiewicz und Jasienica) oder gar als rückständig und überwunden (Uziembło) betrachtet. Wenig konkret blieb dabei Uziembło, der anders als Swianiewicz und Jasienica nur wenige biographische Bezugspunkte zu den polnischen Ostgebieten aufwies. Somit zeigt sein Fall, dass eine autobiographische Abhandlung fernab der offiziellen Deutung in Volkspolen ein Tabu blieb. Uziembło folgte in seiner Darstellung des polnischen Ostens dem offiziellen ethnozentrierten und marxistischen Narrativ der Ostgebiete als nichtpolnische Gebiete unter polnisch-adeliger Fremdherrschaft und dessen schalblonenartigem master narrative von der Unterjochung der bäuerlich geprägten Bevölkerung durch die polnischen Großgrundbesitzer. Demgegenüber setzten sich Swianiewicz und Jasienica ebenfalls kritisch mit dem kolonialistischen Gedankengut des polnischen Landadels auseinander und plädierten dafür, nationalistische Partikularismen in der Region zu überwinden (Jasienica) oder die historische Prägung der Region durch die nicht-polnischen Nationalitäten (Swianiewicz) anzuerkennen. Anders verhielt es sich mit dem politischen Erbe der ehemals polnischen Ostgebiete, das bei den beiden Autoren als willkommenes Argument für eigene Ideen einer östlichen Polonität in Stellung gebracht wurde. Jasienica und Swianiewicz entwarfen Visionen einer östlichen Polonität, die auf ein humanistisches (Jasienica) oder ein liberales (Swianiewicz) Prinzip der Polnisch-Litauischen Union verwiesen. Beiden Autoren ist dabei gemein, dass sie die Polnisch-Litauische Union als zur „rus’ischen“ (Swianiewicz) bzw. zur „slavischen“ Welt (Jasienica) zugehörig skizzierten. Ebenso folgte daraus bei beiden die Abkehr von der Westorientierung Polens – einem Paradigma der polnischen Intelligenz des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das Zarycki zufolge nicht nur ihr Wesensmerkmal darstellte, sondern im Denken der Intelligenz eine Kompensationsfunktion zum Zwecke der Selbstüberhöhung der polnischen unter den slavischen Nationen einnahm.³⁷¹ Die von Jasienica und Swianiewicz gezeichnete
Vgl. Zarycki, Ideologies of Eastness in Central and Eastern Europe, S. 68, 83.
5.4 Zusammenfassung
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Vision einer östlichen Polonität war ihrer kolonialistischen und aufklärerischmissionarischen Elemente entledigt und erkannte die Souveränitätsansprüche der nicht-polnischen Nationalitäten in der Region an. In den Entwürfen Jasienicas und Swianiewiczs lassen sich hinsichtlich des polnisch-russischen Verhältnisses durchaus Unterschiede ausmachen, die vor allem geopolitischer Natur sind, die in der polnischen Ideengeschichte bekannte Vorbilder vorfinden und letztlich in einem unterschiedlichen Europa-Begriff wurzeln. Eine wichtige Bedeutung hat dabei das Verhältnis Polens zu Deutschland. Jasienica sah vor allem in der gemeinsamen Gegnerschaft Polens und Russlands zu Deutschland, in der Erfahrung von der deutschen Gewaltherrschaft im Zweiten Weltkrieg sowie der daraus folgenden Warnung vor einem deutschen Ostgrenzen-Revisionismus die Notwendigkeit eines polnisch-sowjetischen Zusammengehens begründet. In dieser Argumentation gab sich Jasienica implizit als Anhänger eines Dmowskiʼschen geopolitischen Denkens zu erkennen. Swianiewicz hingegen entwarf ein geopolitisches Panorama östlicher Polonität, in dem vielmehr Deutschland die Rolle eines Garanten für die nationale und kulturelle Vielfalt der Region und deren Bewahrung vor den Herrschaftsansprüchen russischer oder sowjetischer Machthaber zukam. In seinen Memoiren deutete er diese Idee lediglich an und verwies auf das positive Erlebnis einer Grenzkontrolle vor der Rückkehr seiner Familie in das mittlerweile von den Deutschen besetzte Dünaburg gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Dabei hielt er diesem Erlebnis die verstörende Gewalterfahrung von der deutschen Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg entgegen: „Das [die Grenzkontrolle, M.-B.] war der erste Kontakt von Witeks Familie mit den kaiserlichen Deutschen, der so klar mit dem kollidiert, was wir über das Verhalten der Deutschen während der hitlerischen Besatzung wissen.“³⁷² Die Vision eines von den Deutschen geduldeten Mitteleuropas nach dem Ersten Weltkrieg reflektierte Swianiewicz in Auseinandersetzung mit dem Denken Władysław Studnickis in einem Beitrag in der Kultura im Jahr 1984. In der kritischen Rückschau auf die Zwischenkriegszeit diskutierte Swianiewicz die Idee eines möglichen Zusammengehens von Polen und Deutschland und, dass dieser in der Konstellation die Möglichkeit einer Verständigung zwischen Polen und seinen östlichen Nachbarn erblickt hatte: Mir war also klar, daß ungeachtet noch anderer Argumente […] weder die Litauer noch die Ukrainer aus freien Stücken irgendwelche inneren Bande mit Polen schließen konnten, solange Polen von einem bewaffneten Konflikt mit Deutschland bedroht war. ‚Polen ist genügend stark, um uns zu verletzen, aber zu schwach, um uns zu verteidigen‘, sagte mir ein
Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 83.
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5 Intelligenz in der Krise
Lette, der damals Wilna besuchte. Sicher wäre Polen nicht zu schwach gewesen, hätte es sich mit Deutschland hinsichtlich der Beschützung der gemeinsamen Interessen von Mitteleuropa, zu dem die baltischen Völker tendierten, entsprechend verständigt.³⁷³
Swianiewiczs Idee einer östlichen Polonität, die durch ein deutsch-polnisches Bündnis garantiert war, wurde, wie Swianiewicz selbst in seinem Beitrag schrieb, von den Ideen Władysław Studnickis inspiriert. In seinem Beitrag in der Kultura verwies Swianiewicz auf die biographischen Wurzeln von Studnickis Mitteleuropa-Konzept sowie auf die ideenbildende Spezifik der russisch-imperialen Erfahrung bei Studnicki und bei sich: Wir vertraten zwei verschiedene Generationen der Polen aus dem östlichen Baltikum. Seine Denkart gestaltete sich in einer Atmosphäre psychologischer Depressionen, die bei ihm nach dem mißlungenen Aufstand von 1863 aufkamen, gekennzeichnet auch vom Protest gegen die Hoffnungslosigkeit. Ich wurde schon kurz vor dem Ende des 19. Jahrhunderts geboren und wuchs auf in einer Atmosphäre, die durch die Revolution von 1905 und den Ersten Weltkrieg entstanden war. Beide kamen wir aus Gebieten, wo jahrhundertelang Polen und Deutsche – jedenfalls was die höheren und mittleren Gesellschaftsschichten betraf – miteinander vermischt waren. […] Weder die polenfeindliche Politik von Bismarck – drei Jahrhunderte später – noch die panslawistische Propaganda hatten einen stärkeren Einfluß auf diese Prozesse, deren Existenz ich schon als Kind im ganzen Lebensstil meiner eigenen Familie spürte. Das Deutschtum existierte dort seit dem 13. Jahrhundert. […] Meine, in einer derartigen Atmosphäre verbrachte Kindheit erleichterte mir, die Haltung von Studnicki zu begreifen.³⁷⁴
Anders als bei Jasienica, war für Swianiewicz Deutschland und nicht Russland der geopolitische Fixpunkt seiner Vision einer östlichen Polonität. Die Ideen der beiden Autoren lassen sich somit der Tradition der beiden, das Denken der polnischen Intelligenz dominierenden Grundströmungen in der späten Teilungszeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts um Roman Dmowski und Józef Piłsudski zuordnen, wenngleich sie diese für ihre eigenen Lebenserzählungen aktualisierten. Die Untersuchung der beiden Autoren zeigt letztlich auch, dass Variationen und Interpretationen dieser beiden Denkströmungen in den siebziger und achtziger Jahren nurmehr im Exil oder in der gesellschaftlichen Isolation artikuliert werden konnten. Im kommunistischen Polen blieben solch autobiographisch motivierte historische Interpretationen bis 1989 mit dem Kanon der dominierenden marxistischen Geschichtsschreibung unvereinbar, überdauerten solche Erzählungen doch die Zäsuren der Russischen Revolution von 1917 und von
Swianiewicz, Erinnerungen an Władysław Studnicki, S. 157. Ebd., S. 150 f.
5.4 Zusammenfassung
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der Neuordnung des östlichen Europas 1945 und der anschließenden Ausrichtung Polens nach Osten.
6 Resümee Eine Betrachtung autobiographischer Verarbeitungen russisch-imperialer Erfahrung von Angehörigen der polnischen Intelligenz in der longue durée des 20. Jahrhunderts offenbart die beeindruckende, häufig auch tragische Erlebnisdichte in den Biographien der Schreibenden sowie die Vielfalt autobiographischen Schreibens und der darin zu findenden Lebenserzählungen. Der Versuch, die autobiographischen Schriften der Autorinnen und Autoren einem analytischen Modell zuzuordnen, sie bezüglich der zu beantwortenden Fragen zu studieren und zu sortieren, ist deshalb ein schwieriges Unterfangen und wird der Individualität des Erlebten und der Vielfalt der Zeiterfahrungen nur selten gerecht. Und doch gilt auch für die hier besprochenen autobiographischen Schriften, dass Lebenserzählungen nicht passivisch in einem Zustand der Bilanzierung des eigenen Lebens verharren, sondern an gesellschaftlich relevante Erzählungen und Traditionen sowie an darin transportierte Vorstellungen, Ideen und politische Haltungen anknüpfen oder sich von ihnen abgrenzen. Autobiographisches Schreiben befindet sich bekanntermaßen an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft, da in ihm retrospektive Lebensentwürfe bzw. Selbstentwürfe zum Ausdruck kommen, die stets an die soziale Wirklichkeit zeitgenössischer Gegenwart sowie an historische Ereignisse lebenszeitlicher wie auch überlebenszeitlicher Vergangenheit gebunden sind und diese auswählen, hervorheben, andere wiederum verdrängen oder infragestellen. Autorinnen und Autoren autobiographischer Schriften liefern somit erfahrungsgesättigte Deutungen von Umbrüchen und Zäsuren und stellen diese in einen lebensgeschichtlichen und nicht minder gesellschaftlich relevanten Zusammenhang.¹ Der Gegenstand der polnischen intelligenten Autobiographik des 20. Jahrhunderts eignet sich in besonderem Maße für eine solche Untersuchung, war doch die polnische Intelligenz nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gemäß ihres Selbstverständnisses als Avantgarde der polnischen Nation von einem gesellschaftlichen Führungsanspruch gekennzeichnet, der nicht nur in politischen Handlungen zum Ausdruck kam, sondern vor allem im Bemühen um eine geistige Führerschaft. Im Zentrum ihres Denkens in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg lag das Problem der Fremdherrschaft, des Imperialen, das sich zuvorderst in der Anwesenheit des Russischen Imperiums als größter Teilungsmacht Polens manifestierte. Das Paradigma der polnischen Intelligenz von der nationalen Selbstbehauptung bzw. von der Erfindung und Bewahrung einer nationalen Meistererzählung entwickelte sich vor allem in der Auseinandersetzung mit der russisch Vgl. Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden, S. 23. https://doi.org/10.1515/9783110642124-009
6 Resümee
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imperialen Herrschaft sowie in Konkurrenz zu den aufkommenden Nationalismen von Titularnation und nicht-titularen Nationen, wie der ukrainischen, litauischen oder belarussischen. Zugleich führte die intensive Auseinandersetzung zu Annäherungen und Verflechtungen, aber auch zu konkurrierenden Lebenswelten und Vorstellungen der Intelligenz in der russisch-imperialen Welt, die es in der Rückschau der zeitgenössischen Gegenwart post imperium neu zu gewichten und zu beurteilen galt. Die vorliegende Studie betrachtete die intelligente Autobiographik des 20. Jahrhunderts aus dieser Perspektive und konnte aus der Untersuchung ausgewählter Autorinnen und Autoren, ihren Biographien und autobiographischen Texten wichtige Erkenntnisse ableiten. Im Zentrum stand dabei die Frage, welchem Wandel die Wahrnehmung und das Selbstverständnis der polnischen Intelligenz russisch-imperialer Provenienz nach dem Ende der Teilungen Polens im Laufe des 20. Jahrhunderts unterlag und wie sich dieser in der intelligenten Autobiographik des 20. Jahrhunderts manifestierte. Welchen Platz wiesen die Schreibenden ihrer russisch-imperialen Erfahrung, die vor 1918 maßgebend für das anti-imperiale Paradigma der Intelligenz gewesen war, in ihren autobiographischen Schriften nach 1918 zu? Und welchen Einfluss hatte die Wahrnehmung der Intelligenz durch die jeweilige Gesellschaft des unabhängigen, des kommunistischen oder des exilierten Polens auf die publizierten Lebenserzählungen Angehöriger dieser Gruppe? Im Folgenden sollen die Ergebnisse der Arbeit in einer Gesamtschau abschließend betrachtet werden, um in einem weiteren Schritt die Befunde in den Kontext der eingangs erwähnten und diskutierten Forschungsperspektiven der New Imperial History und der Post-colonial Studies einzuordnen. Die ersten nach 1918 entstandenen und publizierten Memoiren von Bolesław Limanowski und Władysław Studnicki waren zugleich Beiträge zweier Vertreter der intelligenten Generation der Unbeugsamen – jener Generation der um den anti-russischen Aufstand von 1863 Geborenen, die die intellektuelle und die politische Landschaft Polens unter imperialer Herrschaft am nachhaltigsten prägen sollte und auf die politische und ideelle Gestalt des unabhängigen Polens den wohl größten Einfluss hatte. In den Lebenserzählungen der beiden Protagonisten stand bezeichnenderweise die Frage nach dem Erbe der Unbeugsamen und nach dem Beitrag ihrer Repräsentanten zur Überwindung der imperialen Herrschaft Russlands über Polen sowie zur Entstehung und Gestalt des unabhängigen Polens im Mittelpunkt. Wenngleich keine Vorgänger- oder Nachfolgergeneration der polnischen Intelligenz enger mit der Idee einer national übergreifenden anti-imperialen Intelligenz und dem russischen sozialistischen Denken verflochten war als die der Unbeugsamen, musste dieser Gedanke in der autobiographischen Betrachtung der beiden nach 1918 angesichts des vorherrschenden Loyalitätsund Patriotismusparadigmas in Polen relativiert werden. Dies geschah entweder
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durch die Berufung auf die nationalen Traditionen wie oben in Limanowskis Erzählung von der Überwindung des Imperialen in Gestalt der „Moskoviter“ oder durch die völlige Negierung und Ablehnung alles Russischen in Studnickis Erzählung. Das gemeinsame polnisch-russische Erbe anti-imperialen Denkens wiederum wurde auch von Limanowski relativiert, von Studnicki gar verdrängt und gänzlich verurteilt. Bei beiden Lebenserzählungen handelte es sich demnach um autobiographische Verarbeitungen einer Erfahrung des Imperialen, die einer post-kolonialen Logik entsprangen, und die durchaus stellvertretend für den von Hadler und Mesenhöller ausgemachten kompensatorischen Blick auf die eigene imperiale Vergangenheit im östlichen Europa des post-imperialen Zeitalters der Nationalstaaten stehen können.² Die in den Schriften der Unbeugsamen vorzufindende Rückbesinnung auf eine Tradition polnischer Imperialität, sei es im Gewand eines demokratisch-föderalen intermarium wie bei Limanowski oder eines nach Westen bzw. Deutschland orientierten östlichen Europas unter Führung Polens wie bei Studnicki, widersprach dem Konzept von der Überwindung des Imperialen nicht, sondern unterstrich dieses vielmehr. Eine vergleichende Betrachtung der beiden Autoren und ihrer Memoiren macht zudem deutlich, dass die Blicke auf Russland und den polnischen Osten vonseiten der polnischen Linken oder der polnischen Konservativen so verschieden nicht waren. Die Autobiographien der beiden Autoren stehen somit beispielhaft für die vorherrschenden anti-russischen bzw. anti-östlichen Tendenzen im intellektuellen Denken der polnischen Intelligenz in der Zwischenkriegszeit. Die Memoiren der mindestens eine Generation jüngeren Autorin Halina Krahelska von 1934 fügten sich zwar durchaus in das gesellschaftlich etablierte master narrative von der selbsterrungenen Überwindung des Imperialen durch die Polen ein. Anders jedoch als in den Schriften der Unbeugsamen stellte Krahelska als Repräsentantin der Generation der Revolutionäre nicht so sehr den Kampf der polnischen Nation gegen die Autokratie in den Mittelpunkt ihrer Erzählung, als vielmehr den Sieg der Revolution über das Russische Imperium. Mit ihren Memoiren fügte sich auch Krahelska durchaus in den Konsens der polnischen Intelligenz von der Gegnerschaft zum Imperialen ein. Neu an ihrer autobiographischen Retrospektive war jedoch die Hinwendung nach Russland, insbesondere zur russischen linken Intelligenz. Damit spiegelte Krahelska zwar die Haltung der Intelligenz um die PPS während der revolutionären Ereignisse von 1917 und 1918 wider, widersprach aber deutlich der Lesart vom imperialen und bolschewistischen Russland als Feindbild Polens, welche die polnische Öffentlichkeit und insbesondere die Kreise der gemäßigten Linken seit dem Polnisch-Sowjetischen
Vgl. Hadler, Mesenhöller, Repräsentationen imperialer Erfahrung in Ostmitteleuropa, S. 16.
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Krieg dominiert hatte. Stattdessen waren Krahelskas Memoiren Ausdruck eines Wandels im polnischen Denken bezüglich der Sowjetunion, der sich etwa auch in politischen Handlungen wie dem Abschluss eines polnisch-sowjetischen Nichtangriffspaktes zu Beginn der dreißiger Jahre, vor allem aber in der zunehmenden Attraktivität der Sowjetunion für die um die Jahrhundertwende geborenen und im unabhängigen Polen aufgewachsenen Generationen zeigte. In der intelligenten Autobiographik des 20. Jahrhunderts stellte Krahelskas Lebenserzählung eine besondere Momentaufnahme dar, an die nach den Erfahrungen der stalinistischen Säuberungen und der sowjetischen Besatzung Polens von 1939 bis 1941 sowie ab 1945 nur noch in der volkspolnischen Publizistik angeknüpft werden sollte. Ein vermeintlicher rollback bei der autobiographischen Bewertung der russisch-imperialen Erfahrung ließ sich dann auch zeitnah in Stempowskis Memoiren beobachten, die in der Zeit des Zweiten Weltkriegs unter den Eindrücken der sowjetischen und der deutschen Besatzung entstanden waren und einmal mehr von der Abwendung eines Angehörigen der polnischen Intelligenz vom imperialen, wie auch vom sowjetischen Russland zeugten. In ihnen erinnerte der Autor an das Engagement der polnischen Intelligenz und an ihren Widerstand gegen das russisch-imperiale Herrschaftsregime im imperialen Zeitalter und schuf so eine autobiographisch inspirierte Erzählung vom Niedergang des Russischen Imperiums. Anders als in den frühen Schriften der Unbeugsamen erinnerte Stempowski in ihr an seine Tätigkeit als Revolutionär, aber auch an die (der Revolution von 1905) folgende Zeit als Großgrundbesitzer im heimatlichen Podolien. Im Vergleich zu ihnen war die Thematisierung der komplexen Interdependenzen zwischen der polnischen und der russischen Intelligenz sowie zwischen der revolutionären Bewegung und der imperialen Obrigkeit bei Stempowski neu. In seinen Memoiren kritisierte der Autor sowohl die von Orientalismen geprägte Wahrnehmung Russlands durch die polnische Intelligenz und demgegenüber die Selbstüberhöhung der russischen Intelligenzler. Auch der Rückzug polnischer Intelligenzler auf kompensatorische und national-zentrische bis nationalistische Positionen stand im Mittelpunkt seiner Kritik. Ebenso deutlich verurteilte der Autor die Besitzansprüche des polnischen Großgrundbesitzes auf den Osten und skizzierte die ehemals polnischen Ostgebiete am Beispiel Podoliens als „Vulkan“ voller ethnischer Spannungen und wachsender Partikularismen. Stempowskis autobiographische Auseinandersetzung mit Russland und dem Osten war demnach keineswegs nur ein Rückfall in etablierte Haltungen der polnischen Intelligenz aus der frühen Zwischenkriegszeit, sondern stellte am Beispiel der Ukraine erstmals in der intelligenten Autobiographik die Frage, welchen Platz die nicht-polnischen Nationalitäten der ehemaligen Ostgebiete in einer solchen Vision einnehmen sollten. Bei seinen Schriften handelte es sich um eine kritische Bestandsauf-
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nahme der russisch-polnischen Beziehungen vor dem Hintergrund der Erschütterungen des östlichen Europas im Zweiten Weltkrieg. Die Publikationsgeschichte seiner Memoiren nach 1945, zunächst östlich und später dann auch westlich des Eisernen Vorhangs, offenbart, dass Stempowskis autobiographische Erzählung der eigenen russisch-imperialen Erfahrung und sein Entwurf einer östlichen Polonität für das kommunistische Regime in der PRL ebenso anschlussfähig war wie für die exilierte polnische Intelligenz im Pariser Exil um Jerzy Giedroyc. Am Beispiel von Stempowskis Memoiren und ihrer komplizierten Veröffentlichungsgeschichte wird einmal mehr der Wahrnehmungswandel der Intelligenz seitens des Regimes ersichtlich, wurden doch seine Memoiren in der Volksrepublik weniger als Beitrag einer intelligenten Autobiographik als vielmehr als Abrechnung eines (fortschrittlichen) Adeligen mit dem polnischen Großgrundbesitz begriffen. Der Anspruch des Regimes an die Intelligenz, sich unterzuordnen, bildete sich eben auch in einer marginalisierten Autobiographik ab. Werke intelligenter Autoren, die dennoch erschienen, durften dies lediglich unter dem Deckmantel einer anti-intelligenten Autobiographik, wie sie bei Uziembło zu finden war. Die Veröffentlichung von Stempowskis Autobiographie stellte unter diesen Voraussetzungen eine seltene Ausnahme dar, deren besondere Umstände, wie das politische „Tauwetter“ und das politische Gewicht der Schriftstellerin und ehemaligen Lebensgefährtin Stempowskis, Maria Dąbrowska, die Veröffentlichung erst möglicht gemacht hatten. Andere in der Volksrepublik entstandene autobiographische Schriften von Vertretern der Intelligenz wie Uziembło und Paweł Jasienica veranschaulichten diese Problematik ebenfalls. Uziembłos Memoiren betonten nicht so sehr die adelige Herkunft der Mutter oder die intelligente Herkunft des Vaters, stattdessen erzählte der Autor in ihnen eine proletarischrevolutionäre Emanzipationsgeschichte. Dessen autobiographisches Revolutionär-Narrativ erinnerte nicht nur zufällig an die von Krahelska entworfene Lebenserzählung, sondern entwarf ähnlich wie sie ein Panorama polnischer sozialistischer Denktraditionen. Beide gehörten der Generation der Revolutionäre an, beide entstammten einem intelligenten, polnisch-russisch geprägten Umfeld und beide waren Mitglieder der PPS sowie des darin befindlichen Piłsudski-nahen Flügels der PPS FR. Uziembło repräsentierte also eine Strömung der linken polnischen Intelligenz, an die in der marxistischen Geschichtsschreibung in der PRL nach 1956 zwar erinnert werden durfte, die aber dennoch als rechts und abweichlerisch verpönt blieb.³ Die analysierten Memoiren von Uziembło und Stempowski eröffnen somit auch einen Blick auf die PRL und ihren Umgang mit Repräsentantinnen und
Vgl. Romek, Cenzura a nauka historyczna w Polsce 1944– 1970, S. 264.
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Repräsentanten der Intelligenz. Erstmals seit der Entstehung der polnischen Intelligenz wurde deren nationale Führungsrolle von den herrschenden Eliten in Frage gestellt. Die Zugehörigkeit zur Intelligenz allein qualifizierte ihre Angehörigen nicht mehr zum politischen oder gesellschaftlichen Aufstieg. Aus den Analysen zu Uziembłos und Stempowskis autobiographischen Schriften wird zum einen ersichtlich, dass Memoiren von Angehörigen der Intelligenz Zwängen und Legitimationszwecken des kommunistischen Herrschaftsregimes unterworfen waren. Zum anderen zeigen sie aber auch, dass die Komplexität des literarischen Genres der Autobiographik insbesondere in den Perioden des Wandels von ideologischen Paradigmen um 1956 oder nach 1968 nicht vollkommen auf die ideologischen Bedürfnisse der staatlichen Zensur übertragbar blieb und sich für bestimmte Gruppen der Intelligenz, wie die ehemaligen Mitglieder der PPS oder für liberalere Teile der regimenahen Intelligenz durchaus Artikulationsfreiräume in der staatlich gelenkten Öffentlichkeit ergaben. Uziembłos Memoiren machen zudem aber deutlich, dass in der Autobiographik der Intelligenz in Volkspolen Fragen nationalen Selbstverständnisses jenseits des sowjetisch-polnischen Freundschaftsparadigmas, wie etwa die nach der Zugehörigkeit der Ostgebiete zu Polen oder nach der Souveränität Nachkriegspolens angesichts seiner Zugehörigkeit zur sowjetisch dominierten Staatenwelt an den Rand gedrängt oder gänzlich tabuisiert wurden. An den Memoiren von Uziembło lässt sich ebenso eindrücklich die Problematik des Imperialen im autobiographischen Schreiben der Intelligenz in der PRL veranschaulichen. Letztlich rang die polnische Intelligenz in Volkspolen mit dem Erbe des anti-imperialen Konsenses, der doch vor allem der russisch-imperialen Erfahrung der polnischen Intelligenz entsprungen war, und damit, wie dieser mit der staatlich verordneten sowjetisch-polnischen Freundschaft zu vereinbaren war. Uziembłos autobiographische Retrospektive der Befreiung Polens vom russischen Hegemon stand dazu im Widerspruch und konnte in den politischen Verhältnissen der PRL nur Gültigkeit erlangen, wenn die russisch-sowjetische Kontinuität bestritten wurde. Dies erklärt letztlich auch, warum die Frage nach der russisch-sowjetischen Kontinuität in der Autobiographik der exilierten und der oppositionellen Intelligenz im Land stets virulent blieb. Geprägt von den Verhältnissen der Systemkonkurrenz (Swianiewicz) sowie vom anti-intelligenten Paradigma des kommunistischen Herrschaftsregimes in Polen selbst (Jasienica) rangen die beiden liberalen Vertreter der Intelligenz in ihren autobiographischen Schriften um die Bewahrung und Erneuerung polnischen intelligenten Denkens nach 1945. Die Berufung der beiden Autoren auf die Traditionen intelligenten Denkens des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, auf die Geschichte der Befreiung von der russischen Imperialherrschaft sowie auf das Narrativ der selbst erkämpften Unabhängigkeit hatte zur Folge, dass Fragen des Imperialen und des russischen
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und sowjetischen Herrschaftsanspruchs im östlichen Europa wieder in den Fokus der polnischen Intelligenz rückten. Motor dieser Einsicht war die in ihren Schriften entworfene Vision einer liberalen und selbstreflexiven Polonität östlicher Provenienz, die sich auf ein liberales und multi-nationales Erbe der PolnischLitauischen Union berief. Dabei banden beide Autoren ihre Ideen östlicher Polonität an die Vorstellung einer slavischen oder einer rus’ischen Welt und schufen so – in Anlehnung an die polnischen Romantiker – einen übergeordneten Rahmen für eine polnisch-russische Verständigung. Vor dem Hintergrund der Erlebnisse deutscher und sowjetischer Fremdherrschaft im Zweiten Weltkrieg sowie der Manifestation sowjetischer Dominanz nach den Protesten von 1956 und 1968 bedurfte die russisch-imperiale Erfahrung und das anti-imperiale Paradigma der polnischen Intelligenz einer Aktualisierung und Einordnung in die polnisch-sowjetische Beziehungsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Diese Neubewertung führte in der polnischen Intelligenz zu der keineswegs neuen, von Miłosz aber treffend benannten Einsicht, dass die sowjetischen Soldaten von 1945 „die rechtmäßigen Erben der Wesensart“ waren, „aus der Dostojewski und Tolstoi geschöpft hatten. Und wie ihre Vorfahren Napoleon geschlagen hatten, so hatten sie Hitler geschlagen.“⁴ Der Erfahrungshintergrund der polnisch-sowjetischen Beziehungen mit den aus polnischer Sicht so zentralen Ereignissen wie dem Überfall der Sowjetunion auf Polen 1939 oder dem Massaker von Katyń sollte zu einem Verstärker für eine selektive Russland-Erinnerung in der Autobiographik der exilierten und der oppositionellen Intelligenz werden, die sich auf die Frage nach einem geeigneten Umgang mit dem Sowjetischen Imperium und der Überwindung der kommunistischen Gesellschaftsordnung in Polen konzentrierte. Anders jedoch als in der Zwischenkriegszeit wurde von der intelligenten Autobiographik der siebziger und achtziger Jahre die historisch bedingte Ambivalenz des russisch-polnischen Verhältnisses in ihrer Gänze ebenso berücksichtigt wie die nationalstaatlichen Bestrebungen der Ukrainer, Litauer und Belarussen in den ehemals polnischen Gebieten. Das Argument von der vergangenen Größe Polens als Kompensat für die polnisch-russische Asymmetrie des 19. Jahrhunderts war in der polnischen exilierten Intelligenz nach 1945 obsolet geworden. An seine Stelle rückte das sogenannte ULB-Konzept der souveränen Staaten Ukraine, Litauen und Belarus im Osten Europas. In der Autobiographik der polnischen Intelligenz des 20. Jahrhunderts lässt sich demnach eine Entwicklung der autobiographischen Russlanderzählung von Limanowski bis Swianiewicz beobachten, in deren Zentrum die Geschichte des polnischen Ostens stand und dessen Bedeutung vor allem durch das in ihr skiz-
Miłosz, West und östliches Gelände, S. 158.
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zierte Verhältnis zu Russlands definiert wurde. Hatte Studnicki diesen noch als Bollwerk vor der Bedrohung aus dem Osten skizziert und in ihm den polnischen Großgrundbesitz als Träger dieser Idee ausgemacht, hinterfragte Stempowski im Zweiten Weltkrieg diese Lesart in seiner Lebenserzählung und machte erstmals deutlich, dass ein polnischer Osten vor dem Hintergrund der Ereignisse der Russischen Revolution, des Bürgerkriegs und des Polnisch-Sowjetischen Kriegs mit dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung der Ukraine unvereinbar war. Am weitesten gingen schließlich Swianiewicz und Jasienica, die dieser Region die Bedeutung einer Kontaktzone zwischen Polen und der rus’ischen bzw. slavischen Welt zuschrieben. Auch in diesen Konzepten galt jedoch das Prinzip des Konflikts zwischen den ostmitteleuropäischen Staaten und Nationen und Russland. Zum Ausdruck hatte Swianiewicz diese Vision etwa bereits in seinen Memoiren zu Katyń gebracht: Eine wirkliche Freundschaft zwischen Polen und Rußland mußte daher meines Erachtens nach darauf beruhen, daß beide Seiten die Eigenarten achteten, die im Laufe der Geschichte bei den Völkern, die das Großfürstentum Litauen und die Ukraine bewohnten, entstanden waren.⁵
Welchen Beitrag leistet die vorliegende Studie mit ihrer von New Imperial History und Post-colonial Studies inspirierten imperialgeschichtlichen Perspektive auf die russisch-polnische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und mit ihrer Verschränkung von ideen- und erinnerungsgeschichtlichen Fragen für die historische Forschung zum Russischen Imperiums und dessen Verfall und zum imperialen Erbe in den Nationalstaaten Ostmitteleuropas? Die Befunde dieser Studie zur Autobiographik der polnischen Intelligenz des 20. Jahrhunderts zeigen anschaulich, dass Lebenserzählungen von Angehörigen dieser Gruppe das ambivalente und von Orientalismen bzw. Imperialismen geprägte Verhältnis zwischen Polen und dem (russisch-imperialen) Osten nicht zuletzt am Beispiel der schwierigen Wechselbeziehung zwischen polnischen und russischen Revolutionären und Intelligenzlern thematisierten. Somit eröffnet die Studie der Forschung zu den europäischen Imperien des 19. Jahrhunderts und deren Erbe in den Nationalstaaten und deren nationalen Meistererzählungen des 20. Jahrhunderts ein bisher wenig berücksichtigtes Untersuchungsfeld. Polen und die Geschichte der Unterwerfung Polens unter die Herrschaft der europäischen Imperien bleibt nicht
Swianiewicz, Erinnerungen an Władysław Studnicki, S. 158.
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länger eine „terra incognita“ der Post-colonial Studies, wie Clare Cavanagh 2003 noch in ihrem Beitrag für die Zeitschrift Teksty Drugie (Andere Texte) schrieb⁶. Die Arbeit konnte zeigen, dass insbesondere das Narrativ einer quasi-kolonialen Beziehung zwischen der russischen und der polnischen Intelligenz in der intelligenten Autobiographik mit der polnischen Staatsgründung von 1918 eine verstärkte Konjunktur erfuhr und der Integration des anti-imperialen Narrativs in eine nationale Gründungserzählung diente – zunächst in Form eines nationalzentrisch-kompensatorischen Emanzipationsnarrativs in der frühen Zwischenkriegzeit, später dann in der kritischen Betrachtung ebenjener nationalzentrischen und kompensatorischen Elemente. In der Betrachtung dieser Problematik mittels einer integrierten ideengeschichtlichen und erinnerungsgeschichtlichen Perspektive konnte herausgearbeitet werden, dass das Verhältnis zwischen polnischer und russischer Intelligenz in der Zeit des geteilten Polens tatsächlich durch Begegnungen, einen intensiven Kontakt und einen Austausch von Ideen geprägt war. Die Schreibenden nahmen darauf ausführlich Bezug. Zugleich aber waren die autobiographischen Retrospektiven an die Erfahrungsräume der jeweiligen Generationen, vor allem an den jeweiligen Entstehungskontext der jeweiligen Schriften rückgebunden und dienten etwa als Argument für die gesellschaftliche Mobilisierung anti-russischer Denkmuster. Erzählungen der russischimperialen Erfahrung, die vom Emanzipationsnarrativ abwichen und in denen weder kompensatorische noch anti-russische Elemente zu finden waren, blieben in den hier betrachteten Schriften der Intelligenz selten. Als Beispiele einer solchen pro-russischen Autobiographik sind lediglich die Schriften von Krahelska und Uziembło zu nennen. In ihnen betonten die Autorin und der Autor die Verflechtungsgeschichte der polnischen und der russischen Intelligenz und entwarfen ein Narrativ der polnisch-russischen anti-imperialen Solidarität. Die Erzählungen sowohl Krahelskas als auch Uziembłos stehen beispielhaft für die russisch-imperiale Erfahrung der Generation der polnischen Revolutionäre sowie für eine Variante intelligenten Denkens des 20. Jahrhunderts, welche in der Historiographie zur Intelligenz und zu den polnisch-russischen Beziehungen bisher wenig Berücksichtigung fand. Darüber hinaus konnte die Analyse der beiden Schriften veranschaulichen, dass die zeitgenössischen politischen und internationalen Verhältnisse die Lebenserzählungen der beiden nachhaltig beeinflussten. Ihre Schriften markierten somit Möglichkeiten und Grenzen des Sagbaren im autoritär regierten Polen der frühen dreißiger Jahre sowie im kommunistischen Polen der sechziger Jahre und führten in Uziembłos Autobiographie gar zur Aufgabe der Identifikation des Autors mit der polnischen Intelligenz.
Cavanagh, Postkolonialna Polska, S. 64.
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Bezüglich der Problematik des Imperialen in der intelligenten Autobiographik sei an dieser Stelle noch einmal an die These von der Gleichzeitigkeit und den wechselseitigen Einflüssen des Imperialen und des Nationalen im imperialen Zeitalter erinnert, die dem Autorenkollektiv um Ilya Gerasimov als eine der zentralen Annahmen für die Ausarbeitung einer neuen Forschungsperspektive, die New Imperial History, galt.⁷ Dazu konnte anhand der vorliegenden Studie gezeigt werden, dass, ebenso wie Fragen des Nationalen das imperiale Zeitalter zunehmend mitbestimmen sollten, in der intelligenten Autobiographik post imperium Fragen und Erfahrungen des Imperialen keineswegs obsolet wurden, sondern vielmehr zu wichtigen Voraussetzungen bei der Erfindung einer nationalen Meistererzählung wurden.⁸ Gerade in den Lebenserzählungen der frühen Zwischenkriegszeit und in den Lebenserzählungen der jüngsten Protagonisten fungierten Narrative von der imperialen Fremdherrschaft stets im Rekurs auf Polens eigene vergangene Größe, mithilfe derer die Erfahrung russisch-imperialer Fremdherrschaft (teilweise) kompensiert wurde. Argumente von Polens historischer Größe wurden dabei entweder mit dem Zivilisations- oder dem Kulturbegriff verbunden. An dieser Stelle sei noch einmal auf eine zentrale Annahme von Cavanagh verwiesen, die in Anlehnung an den Vorreiter der Post-colonial Studies Edward Said feststellt: In Culture and Imperialism [Hervorhebung durch Autorin, M.-B.] notiert er [Said, M.-B.] mit Genugtuung, dass ‚die Vertreter der ehemals kolonisierten Völker als unabhängige Experten des Imperialismus auf den Plan traten‘. Die Nachfolger von Conrad [Joseph Conrad, M.-B.] haben ebenfalls gezeigt, dass sie eifrige Experten der Politik der Imperialmächte und den Folgen jener Politik sind.⁹
Als sogenannte „Nachfolger“ des bekannten polnischen Schriftstellers Joseph Conrad benennt Cavanagh Intellektuelle wie Czesław Miłosz, Zbigniew Herbert (1924– 1998), Ryszard Kapuściński (1932– 2007) oder Wysława Szymborska (1923 – 2012). Ihnen schreibt Cavanagh das Verdienst zu, auf Polens Rolle als kolonisierte Nation und auf dessen Erfahrung der Fremdherrschaft aufmerksam gemacht zu haben. Cavanaghs Beispiele zeigen jedoch einmal mehr, dass der Fokus der Schriften dieser „unabhänge[n] Experten“ und zuvorderst von Joseph Conrad vor allem auf der Erfahrung der russisch-imperialen bzw. der sowjetischen Fremdherrschaft lag – ein Charakteristikum, auf das Cavanagh nicht aufmerksam macht. Die Befunde dieser Studie legen demgegenüber offen, dass die Verarbei-
Vgl. Gerasimov et al., In Search of a New Imperial History, S. 35. Vgl. Hadler, Mesenhöller, Repräsentationen imperialer Erfahrung in Ostmitteleuropa, S. 16. Cavanagh, Postkolonialna Polska, S. 71.
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tungen des Imperialen in den Schriften der Intelligenz des 20. Jahrhunderts keineswegs als unabhängig bezeichnet werden können, sondern dass auch autobiographische Schriften der polnischen Intelligenz sich im nationalen Denken zu Russland und dem Ostens verorten mussten. Den ausgeprägten anti-östlichen oder anti-russischen Tendenzen des polnischen nationalen Denkens und der daraus resultierenden Kompensationslogik folgten diese Autorinnen und Autoren, weil in diesen die Zugehörigkeit der Schreibenden zur polnischen Intelligenz besonders deutlich zum Ausdruck kam. Eine anti-imperiale Haltung der polnischen Intelligenz von Russland und dem Osten hatte sich in der Staatenlosigkeit Polens vor allem in der Auseinandersetzung mit der russischen Fremdherrschaft ausgebildet und behielt ihre Gültigkeit bis ins späte 20. Jahrhundert hinein. Varianten einer Meistererzählung, die das Russische Imperium als rückständig und vormodern und die Errichtung des polnischen Nationalstaats als Endpunkt eines (selbstverantworteten) Entwicklungsprozesses beschrieben, sollten sich demnach nicht nur in der frühen post-imperialen intelligenten Autobiographik finden. Vielmehr gewann dieses Narrativ in der intelligenten Autobiographik auch dann an Bedeutung, als nach 1945 Teile der polnischen Intelligenz die Orientierung Polens an der Sowjetunion und die damit einhergehenden systemischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Polen selbst in ihre autobiographischen Verarbeitungen des eigenen Lebens Lebenserzählungen zu integrieren begannen. Je nach Lesart der Erzählung von der Etablierung und Entwicklung der Sowjetunion als Fortsetzung großrussischer Politik oder als Bruch mit den russisch-imperialen Herrschaftstraditionen berief man sich in den autobiographischen Schriften der Nachkriegszeit auf bestehende polnische Erzähltraditionen des Russisch-Imperialen aus der Teilungszeit vor 1915 und unmittelbar nach 1918 oder orientierte sich an den neuen, teils aus der sowjetischen Historiographie übernommenen marxistischen Deutungen. Zur Relevanz der Polnisch-Litauischen Union für die Idee einer östlichen Polonität ließen sich in den Analysen Grundtendenzen erkennen, die ihre Wurzeln ebenfalls in den Zäsuren von 1918 und 1945 hatten. So hoben Memoiren der frühen Zwischenkriegszeit von Limanowski und Studnicki auf die Geschichte der Polnisch-Litauischen Union als Muster des polnischen Nationalstaats von 1918 ab und setzten beide Staatsgebilde in eine Kontinuitätslinie. Dem polnischen Osten kam bei beiden die Rolle eines Zivilisators zu, wenngleich Limanowski den nationalen Minderheiten eine größere Rolle zuwies als Studnicki. Erst der neuerliche Verlust der polnischen Staatlichkeit 1939 sollte zu einem grundlegenden Umdenken in der Intelligenz führen, der sich auch in ihrer Autobiographik niederschlug. In ihren Memoiren beschrieben Stempowski, vor allem aber Krahelska und Uziembło den polnischen Osten und die Berufung auf Polens Dominanzan-
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spruch im Osten als maßgebliches und nun überwundenes Hindernis auf Polens Weg zu einer (sozialistischen) Moderne. In der exilierten und der oppositionellen Intelligenz nach 1956 hingegen versuchte man, die Geschichte des polnischen Ostens als liberale Tradition in ein neues Konzept polnischer Östlichkeit zu überführen, das nun ebenso die Autonomiebestrebungen der nicht-polnischen Nationalitäten im Osten berücksichtigte. Als negatives Vorbild dienten einmal mehr die russische Nationalitätenpolitik und die aus der Frühen Neuzeit ererbte polnische Vorrangstellung im Osten. Dabei schrieb man dem Osten mit Blick auf das imperiale Russland nun eine eigenständige Bedeutung zu, die sich durch Elemente kultureller und religiöser Verflechtung auszeichnete, aber ebenso durch eine zunehmende Trennung zwischen ihm und dem als imperial wahrgenommenen Russland. Unter den in dieser Arbeit untersuchten Autoren vereinte insbesondere Swianiewicz diese beiden Elemente, etwa in seinen autobiographisch inspirierten Beschreibungen des von deutschen, polnischen, schwedischen, russischen sowie lettisch und litauisch autochthonen Traditionen geprägten Livlands: Die Wälder zogen sich mit etlichen Unterbrechungen von den Ufern der Düna im Osten und Norden bis hin zu der alten Grenze zwischen der Republik und der Mokauer Rus‘ und dann noch weiter bis hin nach Psków [russ. Pskov] und Novgorod. […] Im Laufe der Jahrhunderte war das Land eine Domäne der Kreuzritter gewesen, deren Vorfahren bis dahin die Schicht der Großgrundbesitzer gestellt hatten. […] Im 16. Jahrhundert hoffte Ivan der Schreckliche, das Gebiet dem wachsenden moskovitischen Staat einzuverleiben. […] Das Land wurde ein Teil der Republik. Ein halbes Jahrhundert später wurde der nördliche Teil Livlands an Schweden abgetreten. Auf diese Art wurde Livland in ein schwedisches und ein polnisches Livland geteilt. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde das schwedische Livland zusammen mit Riga nach einem längeren Krieg von Peter dem Großen errungen. In diesem Krieg war die Republik ein Verbündeter Moskaus und die moskowitischen Trupppen marschierten frei durch das Gebiet des polnischen Livlands und durch das alte Fürstentum Połock [russ. Polock]. In Połock verlieh der Zar seinen Gefühlen der Verbundenheit Ausdruck, indem er eigenhändig die Gründer der Basilianer und einige andere unierte Geistliche tötete. Das polnische Livland blieb jedoch bis zur letzten Teilung bei der Republik.¹⁰
In Swianiewiczs Zitat kommt das Konzept eines zugleich interkulturellen wie auch anti-imperialen Ostens anschaulich zum Ausdruck. Swianiewiczs Autobiographie bildet dabei einen Tendenz ab, die sich auch in den Ideen der exilierten Intelligenz der siebziger und achtziger Jahre wie in der ULB-Konzeption Mieroszewskis oder in Czesław Miłoszs Mitteleuropabegriff fand.¹¹ Auch Miłoszs Wahrnehmung von Russland, der, wie Alfred Gall in einem Beitrag zu dessen Vorstellungen des Swianiewicz, Dzieciństwo i młodość, S. 38 f. Vgl. Gall, Über das Imperium, S. 142 f.
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Imperialen schreibt, Russland und im Gefolge die Sowjetunion „als Imperium mit der gleichen Intensität kritisiert, wie die Literatur interessiert verfolgt und die Gesellschaft bedauert wird“, stand stellvertretend für das Denken einer liberalen Strömung der polnischen exilierten Intelligenz.¹² Wenngleich in den Schriften Miłoszs und Swianiewiczs der nationale Zentrismus als überwunden gelten konnte, blieb der Osten in polnischen Darstellungen des Russisch-Imperialen eine höchst ambivalente Kategorie. Der Befund, dass sich die Ambivalenz des Ostens und insbesondere die Zuschreibung des Imperialen an Russland bzw. die Sowjetunion in nahezu allen Schriften der intelligenten Autobiographik des 20. Jahrhunderts finden lässt, eignet sich für einen Ausblick in das 21. Jahrhundert und führt schließlich zu einem Punkt, der eingangs dieser Arbeit mit Zarycki thematisiert worden ist. Wiederholt hat der Soziologe in seinen Studien auf die Dominanz eines intelligenten Nationsverständnisses und auf das Phänomen eines von der Intelligenz dominierten Gesellschaftsethos in der polnischen Öffentlichkeit seit 1989 hingewiesen.¹³ Wenngleich die Beschäftigung in Polen mit Russland und insbesondere mit dem tragischen Ereignis um den Flugzeugabsturz und den Tod des damaligen polnischen Präsidenten Lech Kaczyński im April 2010 bei Smolensk stark polarisierte und etwa seit der erneuten Machtübernahme der Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS, Recht und Gerechtigkeit) 2015 insbesondere im äußeren linken und rechten Spektrum pro-russische Stimmen an Einfluss gewinnen, ist der politische und intellektuelle Diskurs in Polen seit 1989 von anhaltend starken antirussischen Stimmungen und Tendenzen geprägt.¹⁴ Das bis heute andauernde Bemühen in Polen, „to escape from the ‚East‘“, ist Zarycki zufolge auf die Ausnahmestellung der Intelligenz im Polen seit 1989, vor allem aber auf die Wirkmächtigkeit eines von der Intelligenz geprägten polnischen Diskurses zurückzuführen.¹⁵ Dieser diene vor allem der Kompensierung von Polens Selbstwahrnehmung als Peripherie des Westens.¹⁶ Bringt man diese Annahme mit dem Befund der vorliegenden Studie in Bezug, lässt sich die Behauptung aufstellen, dass der von der Intelligenz des 20. Jahrhunderts entwickelte Blick auf das östliche Europa und auf Russland als Imperialmacht den Umbruch überdauern und erneut in ein Staatsnarrativ überführt werden konnte. Die Untersuchung konnte
Ebd., S. 142. Vgl. etwa Zarycki, The Embarrassing Russian Connection, S. 136. Vgl. dazu Łukasz Wenerski: Die russische soft power in Polen, in: Polen-Analysen, H. 199, 2017, S. 2– 6. Zarycki, Ideologies of Eastness in Central and Eastern Europe, S. 83. Vgl. Tomasz Zarycki: Uses of Russia: The Role of Russia in the Modern Polish National Identity, in: East European Politics and Societies 18, H. 4, 2004, S. 595 – 627, hier S. 597.
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zeigen, dass Abweichungen vom anti-imperialen Narrativ in der intelligenten Autobiographik des 20. Jahrhunderts vor allem in Zeiten von Systemkrisen oder Generationswechseln möglich waren, etwa als es in den dreißiger Jahren zu einem Machtwechsel in der polnischen Politik kam, oder als nach 1945 das Primat der Intelligenz und ihr anti-imperiales Leitmotiv von den kommunistischen Machthabern im nationalen Diskurs in Frage gestellt wurde. Derzeit ist offen, ob die Wahrnehmung des Ostens in Polen auch zukünftig etablierten Mustern des intelligenten Denkens folgen wird. Zunächst scheint jedoch sicher, dass Janions Hoffnung auf eine grundlegende Trendwende in der polnischen Wahrnehmung des Ostens, die sie mit der Veröffentlichung und der dann folgenden Debatte um Dorota Masłowskas Roman Polnisch-Russischer Krieg unter weiß-roter Flagge zu Beginn der zweitausender Jahre zu beobachten meinte, sich bisher nicht erfüllen konnte: Der Beginn des 21. Jahrhunderts markiert – dank des Romans von Masłowska – die Dekonstruktion des romantisch-kriegerischen polnischen Mythos. Die polnische, d. h., die europäische Überlegenheit gegenüber Russland war sein Wesensbestandteil.¹⁷
Janion, Niesamowita Słowiańszczyzna, S. 242.
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Personenregister Abramowski, Edward (1868 – 1918) 278, 293, 308 Alexander II. (1818 – 1881) 80, 141 f., 242 Alexander III. (1845 – 1894) 243, 266 f. Alighieri, Dante (1265 – 1321) 262 Allilueva, Svetlana (1926 – 2011) 407 Andriolli, Michał Elwiro (1836 – 1893) 271 Andrzejewski, Jerzy (1909 – 1983) 116, 340, 351 Arndt, Agnes 302 Assmann, Aleida 9 Aust, Martin 6, 37, 89, 105, 108, 123 Bäcker, Roman 33 Bączkowski, Włodzimierz (1905 – 2000) 110 Baczyński, Stanisław 215 Bähr, Andreas 49 Bakuła, Bogusław 29 f., 105, 114 Bakunin, Michail (1814 – 1876) 141 Barkey, Karen 38, 134 Baron, Nick 95, 245, 381 Barthes, Roland (1915 – 1980) 42 f. Bartoszewski, Władysław (1922 – 2015) 340, 351 Batóry, Stefan (1533 – 1586) 382 Beauvois, Daniel 30, 32, 96, 108, 136 Beck, Józef (1894 – 1944) 327 Behrends, Jan 33, 105, 107, 324, 330 Benecke, Werner 37, 96 f., 182 Benz, Wolfgang 298 Berdjaev, Nikolaj (1874 – 1948) 102 Berger, Peter (1929 – 2017) 43 Berman, Jakub (1901 – 1984) 288 f., 300 Beynar, Leon Lech Siehe Jasienica, Paweł Beynar, Ludwik (1820 – 1888) 355 Beynar, Mikołaj (1879 – 1958) 342 f. Beynar, Władysława (1904 – 1965, geb. Adamowiczówna) 345 Beynar-Czeczott, Ewa 345 Bibó, Istvan 110 Biedrzycki, Krzysztof 103, 352 Bieńkiewicz, Samson 1 f. Bieńkiewicz, Tytus 1–3 https://doi.org/10.1515/9783110642124-011
Bierhoff, Burkhard 358 Bierut, Bolesław (1892 – 1956) 300, 309, 314 Biskupski, Mieczysław B.B. 4, 125 f. Bismarck, Otto von (1815 – 1898) 337, 418 Björling, Fiona 12 Bobrzyński, Michał (1849 – 1935) 160 Boguszewska, Helena (1896 – 1978) 214 Bokajło, Wiesław 149 Bömelburg, Hans-Jürgen 141 Bonaparte, Napoleon (1769 – 1821) 62, 77, 142, 181, 426 Borcke, Astrid von 174 Borejsza, Jerzy Wojciech 102 Borkowska, Grażyna 255 Borodziej, Włodzimierz 20, 79, 90 f., 95 f., 98, 105–107, 116, 133, 155, 185, 210, 259, 300 f., 308, 310 f., 324, 332, 338, 344, 349, 381 Boš, Evgenija (1879 – 1925) 234, 236 Bourdieu, Pierre (1930 – 2002) 18 Brechtken, Magnus von 44 Brock, Peter 129 Brzechczyn, Krzysztof 112 Buchen, Tim 37 f., 92 Bues, Almut 394 Bujnicki, Teodor (1907 – 1944) 103, 352 Burschel, Peter 49 Caban, Wiesław 32 Cavanagh, Clare 27, 32, 61, 428 f. Černyševskij, Nikolaj (1828 – 1829) 304 Chałasiński, Józef (1904 – 1979) 21–23, 290, 317, 320 Chmel′nyc′kyj, Bohdan (1595 – 1657) 184 Chruščev, Nikita (1894 – 1971) 300 Chwalba, Andrzej 28 f., 36, 38, 50, 70, 77, 80 f., 84 f., 93, 100, 411 Ciesielski, Mieszko 112 Conrad, Joseph (1857 – 1924) 61, 429 Corbière, Tristan (1845 – 1875) 261 Cottam, Kazimiera J. 129–131, 149, 154 Čubinʼskij, Pavlo (1839 – 1884) 153
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Personenregister
Cybulski, Marcin 34 Cywiński, Bohdan 57, 91, 164 Czapska, Maria (1894 – 1981) 257 Czapski, Józef (1896 – 1993) 257, 378 Czartoryski, Adam Jerzy (1770 – 1861) 79 f., 98, 123, 148 Czermińska, Małgorzata 41, 46, 62, 389
Filosofov, Dmitrij (1872 – 1940) Fiut, Aleksander 28 Form, Wolfgang 118 Frank, Tibor 34 Friedrich, Klaus-Peter 100 Friese, Heidrun 9 Friszke, Andrzej 116 f., 303
Dąbrowska, Maria (1889 – 1965) 216, 255– 258, 267, 283 f., 289, 291 f., 295, 297, 299, 424 Dabrowski, Patrice M. 36 f., 85 Dahlmann, Dittmar 100 Daszyński, Ignacy (1866 – 1936) 247 f., 307 David, Zdeněk V. 141 Davies, Norman 6 Dembiński, Henryk (1908 – 1941) 344, 376 f., 384 Denikin, Anton (1872 – 1947) 98 Depkat, Volker 44–46, 48, 64, 420 Dilthey, Wilhelm (1833 – 1911) 42 Distel, Barbara 298 Dmowski, Roman (1864 – 1939) 90, 92 f., 95 f., 100, 117, 119, 121, 155–157, 159 f., 177 f., 208, 367, 418 Dobroljubov, Nikolaj (1836 – 1861) 141 Dolbilov, Mikhail 32 Dopierała, Kazimierz 63 Doroszewski, Witold (1899 – 1976) 166 Dostoevskij, Fëdor (1821 – 1881) 62, 112, 226, 365, 426 Duchhardt, Heinz 149 Dudek, Jolanta 61 Dybciak, Krzysztof 49 f. Dylągowa, Hanna 359 Dziewanowski, Marian Kamil 129–131, 169, 242, 305, 338 Dzwonkowski, Włodzimierz (1880 – 1954) 93 f.
Gałecki, Łukasz 109, 112, 303 Gall, Alfred 62, 431 Ganzenmüller, Jörg 77 Gapski, Henryk 382 Garlicki, Andrzej 366 Gatrell, Peter 95, 245, 381 Gehrke, Roland 202, 204 Gella, Aleksander 12, 15, 21 f. Gerasimov, Ilya 30, 80, 429 Gercen, Aleksandr (1812 – 1870) 141, 304 Gerigk, Horst-Jürgen 226 Getoev, Chadži 227 Gibson, Catherine 380 Giedroyc, Jerzy (1906 – 2000) 8, 109–111, 258 f., 295, 301, 383, 386, 424 Gieysztor, Jakub (1827 – 1897) 84 Glebov, Sergej 30 Glinka, Michail (1804 – 1857) 406 Gogol, Nikolaj (1809 – 1852) 89 Gogolʼ, Nikolaj (1809 – 1852) 365 Golovačova, Ekaterina 304 Gombrowicz, Witold (1904 – 1969) 111 f. Gomułka, Władysław (1905 – 1982) 115, 300, 302, 314, 318, 324, 350 f. Gončarov, Ivan (1812 – 1891) 406 Gorizontov, Leonid 36 Gor’kij, Maksim (1868 – 1936) 252, 267 Górniak, Ewa 252 Górny, Maciej 133, 312–314, 325–327, 357 Grąbczewski, Bronisław (1855 – 1926) 412 Grabianka, Józef 213, 221–224, 229, 233 Grabski, Stanisław (1871 – 1949) 155 Grass, Günter 45 Grochowska, Magdalena 8 Grudzińska-Gross, Irena 295 Grześkowiak-Krwawicz, Anna 94 Grzeszczuk-Brendel, Hanna 3 Günter, Manuela 45–47 Gusy, Christoph 102
Faehndrich, Jutta 4 Fazan, Jarosław 103, 352 Feindt, Gregor 40, 105, 113, 116 f., 302 Fiećko, Jerzy 5, 35, 79, 83, 85, 97, 201 Figura, Marek 35, 156–159, 162 f., 169, 189 f. Filipowicz, Mirosław 99, 101, 116, 365
255, 283
Personenregister
Guth, Stefan Gzella, Jacek
40 f. 160 f.
Habermas, Jürgen 44 Hadler, Frank 4, 19, 26, 34, 48, 98, 107, 125, 134, 196, 199 f., 422, 429 Hagen, Mark von 38 Hahn, Hans Henning 11, 14, 16, 19, 97, 104, 308 Haigh, Elizabeth 388 Halecki, Oskar (1891 – 1973) 39 Halicka, Beata 324 Hall, Aleksander 117 Haraburda, Mykolas 398 Hass, Ludwik 146, 153, 254 f., 257, 274 Hauser, Przemysław 35 f., 70 Hausmann, Guido 85 Haven, Cynthia L. 113, 415 Hein, Heidi 4, 95, 97, 104, 246 Hellbeck, Jochen 9, 43 Heller, Klaus 9, 43 Henning, Detlef 141 Henning, Ruth 3, 97 Herder, Johann Gottfried (1744 – 1803) 78 Herlth, Jens 5, 102 f. Herzberg, Julia 42 f. Hilbrenner, Anke 100 Hindenburg, Paul von (1847 – 1934) 337 Hitler, Adolf (1889 – 1945) 20, 62, 105, 117, 426 Hofman, Iwona 105, 111, 382 Hołówko, Tadeusz (1889 – 1931) 254 Holzer, Jerzy (1930 – 2015) 208, 241, 245, 306 f., 309, 317, 324 Hrycenko, Pavel Evimovič 234 Hryniewiecki, Ignacy (1855 – 1881) 242, 245 f. Huerkamp, Claudia 66 Hulka-Laskowski, Paweł 216, 250 Ilovajskij, Dmitrij (1832 – 1920) 287 f. Ivan IV. (1530 – 1584) 93, 132, 398, 407 f., 431 Iwaszkiewicz, Jarosław (1894 – 1980) 1, 85 Jabłonowski, Władysław Jadacki, Jacek J. 212
5
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Jadwiga (1374 – 1399) 394 Jakubowska, Longina 57 f., 238 Jancke, Gabriele 49 Janion, Maria (geb. 1926) 2 f., 6 f., 26, 29, 49 f., 70, 78 f., 83, 89, 124, 145, 180, 408, 433 Jankowski, Czesław (1857 – 1929) 372 f. Jannidis, Fotis 42 Janowski, Maciej 11, 24, 38 f., 81, 83 f. Jasienica, Paweł (1909 – 1970) 65, 68, 303, 339–368, 370–379, 384, 390, 404, 413– 418, 424 f., 427 Jasiewicz, Krzysztof 359 Jedlicki, Jerzy 11–14, 24 f., 38 f., 155 Jedlicki, Jerzy (1930 – 2018) 11 Jędrychowski, Stefan (1910 – 1996) 344, 376 f. Jędrzejewicz, Cezaria (geb. Baudouin de Courtenay, 1885 – 1967) 386 Jekutsch, Ulrike 226 Joas, Hans 52 Jobst, Kerstin S. 307 Józewski, Henryk (1892 – 1981) 254 f. Jureit, Ulrike 43 f. Jurkowski, Roman 97 Kaczkowski, Zygmunt (1825 – 1896) 147 Kaljaev, Ivan (1877 – 1905) 243 Kamieńska, Zofia 356 Kamieński, Henryk (1813 – 1866) 81, 83 f., 204 Kamusella, Tomasz 380 Kaplunovski, Alexander 30 Kapralska, Łucja 245 Kapuściński, Ryszard (1932 – 2007) 429 Karamzin, Nikolaj (1766 – 1826) 76 Katharina II. (1792 – 1796) 73, 373 Katkov, Michail (1818 – 1887) 267, 287 Kelles-Krauz, Kazimierz (1872 – 1905) 252 Kerenskij, Aleksandr (1881 – 1970) 232, 292 Kerski, Basil 109, 112, 303 Kieniewicz, Stefan (1907 – 1992) 85 Kierys, Arkadiusz 342–347, 349–352, 354 Kijas, Artur 63, 412 Kirstowa, Maria 215 Kirwiel, Eleonora 35, 105, 115, 162 Kissel, Wolfgang Stephan 187
460
Personenregister
Kloczkowski, Jacek 110 Kłoczowski, Jerzy 31, 382 Klüger, Ruth 45 Klukowski, Zygmunt (1885 – 1959) 311 Knysz-Rudzka, Danuta 214 Kochanowski, Jerzy 104, 108, 360 Kochański, Aleksander 63 Kochanski, Halik 339 Koenen, Gerd 66, 71 f., 124 Koneczny, Feliks (1862 – 1949) 99–101, 121, 123 f., 364 f. Korabiewicz, Wacław 344 Korek, Janusz 22, 29 f., 105, 109 f., 257, 299, 301 f. Kornacki, Jerzy (1908 – 1981) 214 Kornat, Marek 47, 99, 102, 105, 159, 162, 194, 210 f., 254, 376, 379–387 Koropeckyj, Roman Robert 80 Kościuszko, Tadeusz (1746 – 1817) 74, 83 Koselleck, Reinhart 51 f. Kossak, Zofia (1889 – 1968) 97, 114, 357, 368 Kot, Stanisław (1885 – 1975) 386 Kotlarski, Grzegorz 35, 157 Kowal, Paweł 110 Kowalczyk, Andrzej Stanisław 113, 257 Kozińska-Witt, Hanna 308 f. Kozłowski, Tomasz 212, 214 Kozłowski, Władysław Mieczysław (1859 – 1935) 274 Koźniewski, Kazimierz (1919 – 2005) 352 Kraft, Claudia 3, 37 Krahelska, Halina (1866 – 1945) 66, 68, 208–216, 218–221, 223–250, 252–254, 263, 267 f., 273, 293–299, 306, 310 f., 336 f., 413, 422, 424, 428, 430 Krahelski, Antoni (1892 – 1948) 214 Krasiński, Zygmunt (1812 – 1859) 79, 147 Kraszewski, Józef Ignacy (1812 – 1887) 81, 83, 271 Krawatzek, Felix 40 Król, Marcin 27 Kronenberg, Leopold (1812 – 1878) 81 Kruczkowski, Leon (1900 – 1962) 291 Krzywicki, Ludwik (1859 – 1941) 23, 171, 209, 214, 216–218, 252, 255 f., 274, 316
Kucharzewski, Jan (1876 – 1952) 94, 98 f., 396 Kuczyński, Antoni 50 Kudyba, Wojciech 97, 368 Kulak, Teresa 168, 181 Kundera, Milan 110, 113 Kunz, Tomasz 27 Kuroń, Jacek (1934 – 2004) 116 Kusber, Jan 80 Kuziak, Michał 78 Kvietkauskas, Mindaugas 103 Kvjatkovskij, Aleksandr (1852 – 1880) 242 LaCapra, Dominick 46 Laqueur, Walter (1921 – 2018) 340 Lauer, Gerhard 42 Lauer, Reinhard 226 Lawaty, Andreas 62, 256 Lazari, Andrzej de 33 Le Bon, Gustav (1841 – 1931) 102 Lebow, Katherine 23, 209, 212, 216, 218, 260 Lednicki, Aleksander (1866 – 1934) 91 f., 94, 124, 401, 412 Lehmann, Jürgen 46, 48 Lejeune, Philipp 41, 414 Lelewel, Joachim (1786 – 1861) 76, 79, 83, 149 Lenin, Vladimir Ul’janov (1870 – 1924) 210, 379, 381–383, 387 Lenin, Vladimir Ul’janov (1870 – 1924) 307, 382 f., 401 Leo, Annette 298 Lewandowski, Arkadiusz 35, 351 f. Lewandowski, Józef 353 Libera, Paweł 384 Liebknecht, Karl (1871 – 1919) 252 Ligocki, Edward (1887 – 1966) 357 f. Limanowski, Bolesław (1835 – 1935) 64 f., 67, 74, 126–154, 166, 169, 200–204, 208 f., 224, 244, 263, 265, 268 f., 274, 305, 325, 390, 416, 421 f., 426, 430 Linden, Marcel van der 211 Lindner, Ulrike 27 Lingen, Kerstin von 118 Liorko, Dmitrij 394, 398 Lisicki, Henryk (1839 – 1899) 81 f.
Personenregister
Loew 27 Luckmann, Thomas (1927 – 2016) 43 Łukasiewicz, Jacek 289 Łukawski, Zygmunt (1932 – 1989) 86 Lutosławski, Wincenty (1863 – 1954) 17 Luxemburg, Rosa (1871 – 1919) 91, 156, 169, 207, 252, 314, 338 Machcewicz, Paweł 112, 303 Machno, Nestor (1888 – 1934) 237 Macierewicz, Antoni 116 Mackiewicz, Józef (1902 – 1985) 111, 113 f., 347 f., 352 Mackiewicz, Stanisław (1896 – 1966) 112 f., 115, 160, 162, 239, 296 f., 382 Magocsi, Paul Robert 248 Maj, Ewa 35, 105, 115, 162 Majakovskij, Vladimir (1893 – 1930) 103, 367 f. Majchrowski, Jacek 4 Makropoulos, Michael 52 Małaczewski, Eugeniusz (1895 – 1922) 357 f. Malczewski, Jacek (1854 – 1929) 2 f. Maliszewska, Helena 343 Maliszewski, Edward 63 Maliszewski, Wiktor 343, 355 Mannheim, Karl (1893 – 1947) 53, 55 f., 391 Marchlewski, Julian (1866 – 1925) 207, 314 Marczuk, Józef 305–310, 317, 336 Markiewicz, Henryk 290 f. Martínez, Matias 42 Masłowska, Dorota 70, 433 Maubach, Franka 45, 302 Maynes, Mary Jo 217 Mazur, Grzegorz 4 Mehler, Daniela 40 Melzer, Arthur 63 Merežkovskij, Dmitrij (1865 – 1941) 102 Mesenhöller, Matthias 4, 19, 26, 48, 98, 107, 125, 134, 196, 199 f., 422, 429 Michnik, Adam 116, 118–124, 295 Micińska, Magdalena 15–17, 24, 28, 36, 39, 59, 85, 103, 125 f., 145, 206–208, 217, 253, 268, 278, 308 Mickiewicz, Adam (1798 – 1855) 5, 7, 77–80, 83 f., 88 f., 119, 123 f., 145–147, 169, 201, 204 f., 409 f.
461
Mieroszewski, Juliusz (1906 – 1976) 109– 111, 295, 411 Miljukov, Pavel (1859 – 1943) 232 Miller, Aleksej 31 f., 85 f., 89 Miłosz, Czesław (1911 – 2004) 60–62, 103, 111–113, 120 f., 124, 256, 295, 344 f., 353, 375, 377, 415, 426, 429 Mitzner, Piotr 283 Möbius, Thomas 58, 174, 242, 304 Mogilner, Marina 30 Morawiec, Małgorzata 149, 154 Morina, Christina 45, 302 Mosse, George L. (1918 – 1999) 340 Müller, Michael G. 11, 124 Müller-Butz, Martin 84, 92, 99, 103, 124, 384, 412 Murav’ëv-Vilenskij, Michail (1796 – 1866) 373, 393 Nałęcz, Daria 95, 306 Nałęcz, Tomasz 95 Nałkowska, Zofia (1884 – 1954) 214 Napoleon III. (1803 – 1873) 142 Narutowicz, Gabriel (1865 – 1922) 185 Natanson, Bronisław (1864/1865 – 1906) 252 Niethammer, Lutz 9 Niewiara, Aleksandra 33 f., 74 f., 139 Nikolaus I. (1796 – 1855) 119, 141 f., 365 Nomachi, Motoki 380 Novakova, Irina 10 Nowak, Andrzej 28, 30–34, 73 f., 79 f., 92, 98, 127, 412 Oberländer, Theodor (1905 – 1998) 385 O’Bretenny, Nena Zofia 345, 348 Okulicki, Leopold (1898 – 1946) 349 Olschowsky, Heinrich 405 Opacki, Zbigniew 17 Orda, Jerzy (1905 – 1972) 372 Ortega y Gasset, Jose (1883 – 1955) 102 Orwell, George (1903 – 1950) 259, 372 f. Orzeszkowa, Eliza (1841 – 1910) 17 Pacholczykowa, Alicja 251–255, 317 Palij, Michael 237, 246 f., 253 f., 285–287 Paprzycka, Katarzyna 112
462
Personenregister
Paskevič, Ivan (1782 – 1856) 119 Patek, Artur 75 Pereswetoff-Morath, Alexander 12 Perovskaja, Sofʼja (1853 – 1881) 267 Pestel, Friedemann 40 Peter I. (1672 – 1825) 58, 147, 174, 242, 304 Petersen, Hans-Christian 79 f. Petljura, Simon (1879 – 1926) 98, 254, 286 Petrażycki, Leon (1867 – 1931) 412 Piasecki, Bolesław (1915 – 1979) 350 Piłsudski, Józef (1867 – 1935) 4, 19 f., 90, 92, 95, 98, 100, 110, 117, 121, 126, 131, 149, 156, 158–160, 189 f., 208, 210, 215, 241, 244–247, 249 f., 253–255, 293, 305 f., 308 f., 314–316, 319, 327, 338, 357, 370, 381, 384, 401, 418, 424 Piltz, Erazm (1851 – 1929) 186 Pini, Tadeusz 78 Piskozub, Andrzej 161 Pleve, Vjačeslav fon (1846 – 1904) 243 Pobedonoscev, Konstantin (1827 – 1907) 267 Podgajna, Ewelina 35, 105, 115, 162 Poljanin, Sergej 235 Pomianowski, Jerzy 109 Poniatowski, Stanisław August (1732 – 1789) 73 f., 123 Popławski, Jan Ludwik (1854 – 1908) 39 Porter, Brian 169 Porter-Szűcs, Brian 14, 57 f., 87–90, 92, 134, 140, 156 f., 167, 169, 171, 182, 205– 207, 217 Posner, Stanisław (1868 – 1930) 252, 276 Potocki, Stanisław (1755 – 1821) 369, 375 Poznanskij, Boris 153 Prizel, Ilya 15, 18, 20, 350 Prižvin, Michail (1873 – 1954) 394 Prižvina, Valerija (1899 – 1979) 394 Próchnik, Adam (1892 – 1942) 132, 317 Prosińska-Jackl, Maria 94 Prus, Justyna 105 Przewalski, Nikołaj (1839 – 1888) 412 Ptak, Kazimierz 215, 240, 299 Pudłocki, Tomasz 66 Puškin, Aleksandr (1799 – 1837) 406 Putrament, Jerzy (1910 – 1986) 344, 376 f.
Puttkamer, Joachim von Pyta, Wolfram 102
91 f., 367
Radomski, Grzegorz 35 Radzik, Tadeusz 305 Raphael, Lutz 297 Riabow, Oleg 33 Riga, Liliana 234 Rodičev, Fedor (1854 – 1933) 193 Rodkiewicz, Witold 32 Rogalewska, Ewa 382 Rolf, Malte 3, 14, 37 f., 84, 92 Romanov, Sergej (1857 – 1905) 243 Romek, Zbigniew 133, 302, 315–319, 327, 424 Romer, Eugeniusz (1871 – 1954) 39 Rotfeld, Adam Daniel 95 Rousseau, Jean-Jacques (1712 – 1778) 134, 270 Ruchniewicz, Krzysztof 118 Rustemeyer, Angela 85 Rzewuski, Henryk (1791 – 1866) 81–83, 85 Rzymowski, Wincenty 249 Said, Edward (1935 – 2003) 6, 15, 27, 72, 124, 429 Saltykov-Ščedrin, Michail (1826 – 1889) 267 Saupe, Achim 42 f., 45 Savinkov, Boris (1879 – 1925) 98 Sawilla, Jan Marco 52 Schaff, Adam (1913 – 2006) 358 Schenk, Frithjof Benjamin 50 Schlink, Bernhard (geb. 1944) 4 Schmale, Wolfgang 27 Schmidt, Nadine 45 Schweiger, Alexandra 37, 39, 156, 158, 169 f., 179 f., 182, 197 Sdvižkov, Denis 11–13 Semyonov, Alexander 30, 80 Siebold, Angela 118 Siedlecka, Joanna 345 Sielezin, Jan Ryszard 162, 177, 219, 235, 297 Sienkiewicz, Henryk (1846 – 1916) 6, 88 f., 184, 201 Sierakowska, Katarzyna 66 Sieroszewski, Wacław (1858 – 1945) 252
Personenregister
Šingarëv, Andrej (1869 – 1918) 232 Skarbek, Jan 305 Skarżyński, Bohdan (1916 – 1942) 377 Skoropadsʼkyj, Pavlo (1873 – 1945) 213, 237 f., 286 Sleszyński, Jan 212 Śliwowska, Wiktoria 32, 50 Sloterdijk, Peter 42, 46, 53, 135, 164, 222 Słowacki, Juliusz (1809 – 1849) 7, 79, 132, 147–149 Smoljanskij, Grigorij (1890 – 1937) 235 Smolka, Franciszek (1810 – 1899) 149 Smulski, Jerzy 289, 291 Snyder, Timothy 20, 77 f., 84, 88, 254 f., 258, 279, 345 f. Sorel, Georges (1847 – 1922) 382, 384 Sozonov, Egor (1879 – 1910) 243 Spasowicz, Włodzimierz (1829 – 1906) 412 Śpiewak, Paweł 122, 353 Spiridonova, Marija (1884 – 1941) 234, 236 Spustek, Irena 212 Stalin, Iosif (1878 – 1953) 20, 58, 105, 117, 174, 234, 236, 242, 256, 289, 291, 303 f., 351, 376, 407 Staliūnas, Darius 88 Stanley, John D. 129 Staszic, Stanisław (1755 – 1826) 74 Steffen, Katrin 3, 8 f., 38, 187 Stempowski, Jerzy (1894 – 1969) 111–113, 251, 257 f., 299 Stempowski, Stanisław (1870 – 1952) 1–3, 68, 208 f., 214, 216, 251–290, 292–298, 312, 423 f., 427, 430 Stepan, Kamil 4 Stobiecki, Rafał 33 f., 71, 73, 76, 105, 107 f., 131, 144, 314, 359 Stolypin, Pëtr (1862 – 1911) 172, 236, 399 Straub, Jürgen 9 Strug, Andrzej (1871 – 1937) 357 f. Studnicki, Władysław (1867 – 1953) 39, 67, 127, 155–205, 208 f., 224, 239, 244, 263, 265, 268, 274, 278, 294, 347, 378, 381, 384 f., 388, 399, 403, 410 f., 416, 418, 421 f., 427 f., 430 Studnicki-Gizbert, Konrad 196 Sukiennicki, Wiktor (1901 – 1983) 104, 384 f., 390, 405
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Sula, Dorota 4, 96 Świaniewicz, Stanisław Siehe Swianiewicz, Stanisław Swianiewicz, Stanisław (1899 – 1997) 47, 64, 68, 158, 160, 210, 303, 378–418, 425–428, 431 Swianiewicz-Nagięciowa, Maria 379 f., 386, 388 Swianiewiczowa, Olimpia (1902 – 1974) 386, 409 Świętochowski, Aleksander (1848 – 1932) 87, 89, 187, 193, 252 Szlachta, Bogdan 30, 132, 149 Szpoper, Dariusz 102, 160, 162, 239 Szturm de Sztrem, Tadeusz (1892 – 1968) 214, 316 f. Szymborska, Wysława (1923 – 2012) 429 Taras, Ray 5 Tarnowska, Beata 352 Taylor, Nina 114 Tazbir, Janusz 75 Tereščenko, Michail (1886 – 1956) 232 Thakur-Smolarek, Keya 230, 241 f. Thompson, Ewa 28 Thum, Gregor 72 Thun-Hohenstein, Franziska 187 Tokarzewski, Marian 368 Tolstoj, Aleksej Konstantinovič (1817 – 1875) 395, 398 Tolstoj, Aleksej Nikolaevič (1883 – 1945) 395 Tolstoj, Dmitrij (1823 – 1889) 267 Tolstoj, Lev (1828 – 1910) 62, 252, 269, 294, 331, 360, 401, 406, 426 Tółwiński, Stanisław 309 Torkunov, Anatolij 95 Towiański, Andrzej (1799 – 1878) 80 Trepte, Hans-Christian 62 Trimçev, Rieke 40 Trybuś, Krzysztof 5, 35, 79, 97 Tubielewicz Mattson, Dorota 291 Turgenev, Ivan (1818 – 1883) 406 Tyrmand, Leopold (1920 – 1985) 352 f. Uziembło, Adam (1885 – 1971) 305, 329 f. Uziembło, Aniela 329 Uziembło, Józef (1854 – 1918) 304
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Personenregister
Uziembło, Władysław (1887 – 1980) 68, 298, 303–312, 316–322, 324–339, 413– 416, 424 f., 428, 430 Vickers, Paul 23 f., 317 Vogt, Peter 52 Vytautas (1350 – 1430) 394 f. Walaszek, Adam 75 Walicki, Andrzej 12, 87, 128 Wallenrode, Konrad von (1340 – 1393) 145 Wapiński, Roman 4, 58 Waryński, Ludwik (1856 – 1889) 129, 169, 319 Wasilewska, Wanda (1905 – 1964) 323 f. Wasilewski, Leon (1870 – 1936) 132, 252, 305 Waskan, Jan 105, 110, 303 Waśkowski, Eugeniusz (1866 – 1942) 412 Ważyk, Adam 367 Weber, Claudia 106 Weeks, Theodore 86, 344 Weinberger, Jerry 63 Wejs-Milewska, Violetta 382 Wenerski, Łukasz 432 Wereszycki, Henryk 130 f., 133, 147 Wiedemann, Felix 42 f., 45 Wiederkehr, Stefan 38, 99 Wielopolski, Aleksander (1803 – 1877) 81 f., 84 f. Wierzbicki, Andrzej (1877 – 1961) 315 Wilkomirski, Binjamin (Pseud. v. Bruno Dössekker) 45 Winko, Simone 42 Witkiewicz, Stanisław (1851 – 1915) 103, 121 Witos, Wincenty (1874 – 1945) 189, 315
Witusik, Adam Andrzej 305 Władysław II. (1351 – 1434) 394 Wolański, Marian S. 113 Wolf, Christa 45 Wolff, Larry 15 Woydyła, Witold 35 Wróbel, Piotr J. 129 Wrzesiński, Wojciech 30, 50, 168 Wyka, Kazimierz (1910 – 1975) 53–58 Wysłouch, Bolesław (1855 – 1937) 183 f. Zackiewicz, Grzegorz 3 Zadencka, Maria 114 Zagórski, Jerzy (1907 – 1984) 103 Zajas, Krzysztof 103 Zajčnevskij, Petr (1867 – 1953) 172, 174 Zamoyski, Maurycy (1871 – 1939) 185 Żarnowski, Janusz 18, 21 f., 290, 301, 313, 316 f. Zarycki, Tomasz 5, 10 f., 15, 17–20, 27–29, 36, 86, 91, 96 f., 107, 110, 124, 416, 432 Zasztowt, Leszek 32 Zdziechowski, Marian (1861 – 1938) 17, 101– 103 Żeligowski, Lucjan (1865 – 1947) 154, 381 Zernack, Klaus 6, 37, 73, 76 Żeromski, Stefan (1864 – 1925) 59 f., 357 f., 404 f. Zieliński, Konrad 95, 335 Zieliński, Tadeusz Stefan (1859 – 1944) 412 Ziemer, Klaus 102 Zinman, Richard 63 Znaniecki, Florian (1882 – 1958) 23, 209, 216, 218 Żukowski, Stanisław (1873 – 1944) 412 Zybura, Marek 62, 256