Biomedizinische Technik: Band 10 Rehabilitationstechnik 9783110252262, 9783110252088

Neues Studienbuch The tenth volume in the biomedical engineering textbook series covers rehabilitation technology. Thi

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German Pages 568 Year 2015

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Table of contents :
Vorwort zur Lehrbuchreihe Biomedizinische Technik
Vorwort zu Band 10 der Lehrbuchreihe Biomedizinische Technik –Rehabilitationstechnik
Inhalt
Hinweise zur Benutzung
Verzeichnis der Abkürzungen
Verzeichnis der Formelzeichen und Indizes
1 Einführung in die Rehabilitationstechnik
1.1 Abgrenzung der Rehabilitationstechnik
1.2 Situation betroffener Patienten
1.3 Arten der Rehabilitation
1.4 Branche der Rehabilitationstechnik in Deutschland
1.5 Historie der Rehabilitationstechnik
1.6 Geräte und Systeme der Rehabilitationstechnik – Arten von Hilfsmitteln
2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems
2.1 Biomechanische Beschreibung des Stütz- und Bewegungsapparates
2.2 Bewegungsanalyseverfahren zur Diagnostik an oberer und unterer Extremität
2.3 Ganganalyse
3 Gliedmaßenprothetik
3.1 Rehabilitation amputierter Patienten
3.2 Zielstellung der Gliedmaßenprothetik
3.3 Gliedmaßenprothetik der unteren Extremität
3.4 Gliedmaßenprothetik der oberen Extremität
3.5 Weiterentwicklungen der Prothetik im Bereich des biologisch-technischen Interfaces
4 Rollstühle
4.1 Rollstuhlarten und Versorgungsanspruch
4.2 Physikalische Grundlagen der Rollstuhltechnik
4.3 Ausführungsformen von Rollstühlen
4.4 Rollstuhlzusatzsysteme und andere Krankenfahrzeuge
5 Orthesen, Schienen und Bandagen
5.1 Einführung
5.2 Orthesen
5.3 Bandagen
5.4 Quengelorthesen und Lagerungsschienen
5.5 Individuelle Sitzversorgung
6 Hilfsmittel gegen Dekubitus
6.1 Entstehung von Dekubitalgeschwüren
6.2 Arbeitsprinzipien von Hilfsmitteln gegen Dekubitus
6.3 Arten von Hilfsmitteln gegen Dekubitus und Empfehlungen zur Nutzung
7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch
7.1 Kommunikationshilfen
7.2 Sehhilfen
7.3 Hörhilfen
7.4 Sprechhilfen
8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation
8.1 Funktionelle Elektrostimulation (FES)
8.2 Funktionelle Magnetstimulation
9 Therapie- und Assistenzsysteme für die Bewegungsrehabilitation
9.1 Einleitung
9.2 Prinzipien des motorischen Lernens
9.3 Technische Therapiesysteme in der Bewegungstherapie: Unterscheidung nach Einsatz und Funktionalität
9.4 Technische Therapiesysteme zur Bewegungstherapie bei muskuloskelettalen Erkrankungen
9.5 Technische Therapiesysteme in der Neurorehabilitation
9.6 Augmented Feedback und Biofeedback
9.7 Assistenzsysteme
Autorenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Bandspezifisches Glossar
Sachwortverzeichnis
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Biomedizinische Technik: Band 10 Rehabilitationstechnik
 9783110252262, 9783110252088

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Marc Kraft, Catherine Disselhorst-Klug Biomedizinische Technik – Rehabilitationstechnik Studium

Biomedizinische Technik

| Herausgegeben von Ute Morgenstern und Marc Kraft

Marc Kraft, Catherine Disselhorst-Klug

Biomedizinische Technik – Rehabilitationstechnik | Band 10

Herausgeber Prof. Dr.-Ing. Marc Kraft Technische Universität Berlin Fachgebiet Medizintechnik Dovestraße 6 10587 Berlin E-Mail: [email protected] www.medtech.tu-berlin.de Prof. Dr. rer. nat. Catherine Disselhorst-Klug RWTH Aachen Lehr- und Forschungsgebiet, Rehabilitations- und Präventionstechnik Institut für Angewandte Medizintechnik Pauwelsstraße 20 52074 Aachen E-Mail: [email protected] www.rehabilitation-engineering.com ISBN 978-3-11-025208-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-025226-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039189-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) mit Autoren bzw. Herausgebern große Mühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Die Wiedergabe der Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen und dergleichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass solche Namen ohne weiteres von jedermann benutzt werden dürfen. Vielmehr handelt es sich häufig um gesetzlich geschützte, eingetragene Warenzeichen, auch wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Weiterverarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Einbandabbildung: Michael Svoboda/iStock ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort zur Lehrbuchreihe Biomedizinische Technik Die Biomedizinische Technik umfasst – kurz gesagt – die Bereitstellung ingenieurwissenschaftlicher Mittel und Methoden und deren Anwendung auf lebende Systeme in Biologie und Medizin. Es ist ein faszinierendes, breit angelegtes und interdisziplinäres Fachgebiet, das in der Lehrbuchreihe „Biomedizinische Technik“ aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet wird. Spannende Fragen, die in den Lehrbüchern beantwortet werden: Wie funktioniert unser Körper, und welche Organe können in welcher Form erkranken? Welche physikalischen Grundlagen sind in der Medizintechnik nutzbar? Was haben die Quantenphysik, Elektronen, Photonen oder Positronen mit modernen Diagnosetechniken zu tun? Wie kann ich die medizinische Fachsprache verstehen lernen, um mich mit einem Arzt wissenschaftlich auszutauschen? Gibt es Aufbauregeln für medizinische Fachbegriffe, oder sind sie einfach erfunden worden? Welchen Zweck verfolgt die Modellierung in der Medizin, und kann man alle Modelle anfassen? Wie ist es möglich, komplexe Zusammenhänge verständlich und berechenbar in Formeln zu fassen? Gibt es Phantome nur in der Oper, oder was haben sie mit medizintechnischen Geräten und Verfahren zu tun? Kann man Matrizen falten oder invertieren? Wieso nutzt man eine transponierte Matrix bei der Abbildung des Gehirns?

Was macht der Computer im Tomographen? Kann man eine Kamera verschlucken, und welche Informationen gewinnt man mit ihr aus dem Verdauungstrakt? Warum trägt der Röntgenarzt eine Bleischürze und ein Dosimeter? Was haben die maritime Echoortung und moderne Ultraschalldiagnoseverfahren gemeinsam? Hat das Magnetic Particle Imaging etwas mit den Eisenspan-Magnetfeld-Experimenten im Physikunterricht zu tun?

Abbildungen: Biomedizinische Technik. Von oben nach unten: medizinische Grundlagen: Darstel­ lung menschlicher Organe; Modellierung und Simulation: Nutzung eines Hirnmodells in der me­ dizinischen Ausbildung; medizinische Bildgebung: Betrachtung eines Röntgen-Projektionsbildes. (Zeichnungen: Ines Hofmann, Illustration+Grafik Dresden)

VI | Vorwort zur Lehrbuchreihe Biomedizinische Technik

Wenn Sie an Antworten auf diese und weitere Fragen interessiert sind, dann lesen Sie weiter! Experten aus allen Bereichen haben in den zwölf Bänden der Reihe eine in sich stimmige systematische Darstellung der Biomedizinischen Technik komponiert: Ausgehend vom einführenden strukturierten Überblick werden über die medizinischen, physikalischen, terminologischen und methodischen Grundlagen in den Fachbänden der Reihe die wesentlichen Teilgebiete dargestellt. Den Abschluss bildet ein Band zur Entwicklung und Bewirtschaftung von Medizinprodukten, mit dem die Brücke vom theoretischen Hintergrund der biomedizintechnischen Verfahren und Geräte zur praktischen klinischen Nutzung geschlagen wird. Die Herausgeberschaft der Reihe liegt im Fachausschuss „Aus- und Weiterbildung – Biomedizinische Technik im Studium“ der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik (DGBMT) im Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (VDE).

Die jeweiligen Bandherausgeber bilden den Wissenschaftlichen Beirat der Lehrbuchreihe, der auf ausgewogene Darstellung der Biomedizinischen Technik aus wissenschaftstheoretischer, Anwender- und Herstellersicht achtet. Die Autoren vertreten eine Vielfalt unterschiedlicher Aspekte aus der Lehre, der Forschung und Entwicklung, der Produktion, der Klinik, dem Standardisierungs- und Prüfwesen sowie der Gesundheitswirtschaft.

Vorwort zur Lehrbuchreihe Biomedizinische Technik |

Die 12 Bände der Lehrbuchreihe im Überblick Biomedizinische Technik Band 1: Faszination, Einführung, Überblick Herausgegeben von Ute Morgenstern und Marc Kraft ISBN: 978-3-11-025198-2 e-ISBN: 978-3-11-025218-7 Biomedizinische Technik Band 2: Physikalische, medizinische und terminologische Grundlagen Herausgegeben von Ewald Konecny und Clemens Bulitta ISBN: 978-3-11-025200-2 e-ISBN: 978-3-11-025219-4 Biomedizinische Technik Band 3: Biomaterialien, Implantate und Tissue Engineering Herausgegeben von Birgit Glasmacher und Gerald A. Urban ISBN: 978-3-11-025201-3 e-ISBN: 978-3-11-025216-3 Biomedizinische Technik Band 4: Modellierung und Simulation Herausgegeben von Ute Morgenstern, Falk Uhlemann und Tilo Winkler ISBN: 978-3-11-025202-6 e-ISBN: 978-3-11-025224-8 Biomedizinische Technik Band 5: Biosignale und Monitoring Herausgegeben von Hagen Malberg und Gerald A. Urban ISBN: 978-3-11-025203-3 e-ISBN: 978-3-11-025217-0 Biomedizinische Technik Band 6: Medizinische Informatik Herausgegeben von Hartmut Dickhaus und Petra Knaup-Gregori ISBN: 978-3-11-025204-0 e-ISBN: 978-3-11-025222-4

VII

VIII | Vorwort zur Lehrbuchreihe Biomedizinische Technik

Biomedizinische Technik Band 7: Medizinische Bildgebung Herausgegeben von Olaf Dössel und Thorsten M. Buzug ISBN: 978-3-11-025205-7 e-ISBN: 978-3-11-025214-9 Biomedizinische Technik Band 8: Bild- und computergestützte Interventionen Herausgegeben von Tim C. Lüth ISBN: 978-3-11-025206-4 e-ISBN: 978-3-11-025215-6 Biomedizinische Technik Band 9: Automatisierte Therapiesysteme Herausgegeben von Jürgen Werner ISBN: 978-3-11-025207-1 e-ISBN: 978-3-11-025213-2 Biomedizinische Technik Band 10: Rehabilitationstechnik Herausgegeben von Marc Kraft und Catherine Disselhorst-Klug ISBN: 978-3-11-025208-8 e-ISBN: 978-3-11-025226-2 Biomedizinische Technik Band 11: Neurotechnik Herausgegeben von Thomas Stieglitz, Ulrich G. Hofmann und Steffen Rosahl ISBN: 978-3-11-025209-5 e-ISBN: 978-3-11-025225-5 Biomedizinische Technik Band 12: Entwicklung und Bewirtschaftung von Medizinprodukten Herausgegeben von Stephan Klein, Felix Capanni, Uvo M. Hölscher, Frank Rothe ISBN: 978-3-11-025210-1 e-ISBN: 978-3-11-025223-1

Vorwort zur Lehrbuchreihe Biomedizinische Technik |

IX

Besonderheiten der Reihe Jeder Band der Reihe ist inhaltlich eigenständig angelegt. Im Überblicksband (󳶳Band 1) werden alle Schwerpunktthemen der Fachbände kurz dargestellt. Es bietet sich daher an, den ersten Band als Einstieg zu nutzen und um die Inhalte der nachfolgenden Bände zu ergänzen, in denen die Fachthemen behandelt werden, die jeweils von persönlichem Interesse sind. – Wir haben uns für die Vermittlung des Stoffes in deutscher Sprache entschieden, um allen Lesern, insbesondere Studierenden der deutschsprachigen Bachelor-, Master- und Diplomstudiengänge, ein fundiertes und einfach zu erschließendes Grundlagenwissen mit auf den Weg zu geben. In allen Bänden der Lehrbuchreihe wird selbstverständlich auch auf ergänzende, weiterführende Fachliteratur in englischer Sprache verwiesen. – Alle zwölf Bände sind nach den gleichen didaktischen Prinzipien aufgebaut: Es werden für das weitere Verständnis erforderliche Grundlagen des jeweiligen Fachgebiets mit aussagekräftigen Übersichten und Abbildungen dargelegt und mit anwendungsorientierten Praxisbeispielen verknüpft. – Alle Kapitel besitzen Zusammenfassungen in deutscher und englischer Sprache sowie (in den 󳶳Bänden zwei bis zwölf) einen Wissenstest zur Prüfungsvorbereitung. Ein kapitelbezogenes Glossar fasst in jedem Band die wichtigsten Begriffe und Definitionen zusammen. Formelzeichen und Abkürzungen sind jeweils für die Bände zusammengestellt. – Über den vom Verlag angebotenen elektronischen Zugriff auf die Bände lassen sich Querverweise und Suchstrategien besonders gut realisieren. Einzelne Kapitel wie z. B. die „Medizinische Terminologie für die Biomedizinische Technik“ werden bereits durch eine Lernsoftware ergänzt – beste Voraussetzungen, um den Stoff spielerisch kennenzulernen und zu trainieren und ggf. medizinische Fachbegriffe auf unterhaltsame Weise auswendig zu lernen. Die Herausgeber danken allen Beteiligten für das große Engagement, mit dem die Reihe auf den Weg gebracht wurde: den Hochschullehrern und Autoren, den Verlagsmitarbeitern und Lektoren, den Grafikern und Administratoren und allen anderen fleißigen Helfern, die zum Gelingen beigetragen haben! Alle Autoren freuen sich über Anregungen zur Verbesserung unserer Lehrbuchreihe! Wir wünschen allen Lesern viel Erfolg und tiefgründige Erkenntnisse, aber auch großes Vergnügen beim Lesen und Lernen, beim Einarbeiten in die Thematiken der Biomedizinischen Technik und beim Vertiefen interessanter Teilgebiete. Die Herausgeber der Lehrbuchreihe Ute Morgenstern und Marc Kraft

Vorwort zu Band 10 der Lehrbuchreihe Biomedizinische Technik – Rehabilitationstechnik Der medizinische Betreuungsprozess umfasst neben Diagnose und Therapie auch die Prävention und Rehabilitation des Patienten. Letztere hat das Ziel, Menschen, die nach Unfall, Krankheit oder bei angeborenen Fehlbildungen nicht mehr vollständig geheilt werden können, eine möglichst freie und selbständige Lebensgestaltung zu ermöglichen. Hierzu trägt heute auch wesentlich der Einsatz faszinierender Technik bei, die in diesem Lehrbuch ausführlich beschrieben wird. Obwohl die Nutzung solcher Hilfsmittel im Sport, wie das Handbike-Fahren, das Rugby-Spielen mit Rollstühlen, das Springen oder Sprinten mit Karbonfederfüßen bis zum Gehen Gelähmter mit roboterähnlichen Exoskeletten technisch begeistern kann, steht auf der anderen Seite eine sehr ernste, den Lauf des Lebens verändernde Beeinträchtigung eines Menschen. Ihm in seinem Alltag bestmöglich zu helfen, ist unser höchster Anspruch, dafür entwickeln wir Rehabilitationstechnik. Unser größtes Lob ist die Ansicht Betroffener: ohne technisches Hilfsmittel wäre ich behindert! Die Rehabilitation zur Wiedereingliederung von Menschen mit Beeinträchtigungen in ihr berufliches und soziales Umfeld stellt vor dem Hintergrund der demografischen Bevölkerungsentwicklung und der Zunahme chronisch-degenerativer Erkrankungen in Europa eine große gesellschaftliche Herausforderung dar. Der heute erreichte technische Entwicklungsstand, u. a. in der Sensorik, Mechatronik, Informationstechnik und Robotik erlaubt es, das Ergebnis der rehabilitativen Maßnahmen zu optimieren, Versorgungen mit technischen Hilfsmitteln hoher Funktionalität vorzunehmen und den bisher in einigen Rehabilitationsphasen hohen personellen pflegerischen Aufwand deutlich zu reduzieren. Es steht dem wachsenden Bedarf an innovativen technischen Hilfen für Behinderte glücklicherweise auch ein wachsendes Potenzial technischer Möglichkeiten gegenüber, die den Betroffenen die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben mit beruflicher Tätigkeit, Aktivität und Teilhabe an der Gesellschaft bieten. Genau diese beeindruckenden technischen Systeme können Sie im vorliegenden Lehrbuchband kennenlernen. Im ersten, einleitenden Kapitel wird die Rehabilitationstechnik gegenüber anderen Teilgebieten in die Biomedizinische Technik eingeordnet. Eine wichtige Besonderheit besteht darin, dass alle rehabilitationstechnischen Systeme vom Patienten selbst angewendet werden (nicht durch medizinisches Fachpersonal am Patienten, wie bei Therapie- und Diagnosegeräten, u. a. in den Bänden 5, 7, 8, 9 beschrieben). Das zweite Kapitel befasst sich mit der Biomechanik des muskuloskelettalen Systems und stellt neben diesen wichtigen Grundlagen auch unterschiedliche Bewegungsanalyseverfahren vor. Die nachfolgenden Kapitel sind den verschiedenen technischen Systemen der Rehabilitationstechnik gewidmet. Die Palette reicht hier von Arm- und Beinprothesen für Amputierte über Rollstühle, Orthesen, Hilfsmittel gegen Druckgeschwüre, Kommunikationshilfen, Systeme mit funktionel-

Vorwort zu Band 10 der Lehrbuchreihe Biomedizinische Technik – Rehabilitationstechnik |

XI

ler Elektro- und Magnetstimulation von Nerven und Muskeln bis hin zu Therapie- und Assistenzsystemen für die Bewegungsrehabilitation. Ziel der Autoren war es stets, die jeweilig verfügbaren technischen Systeme in ihrer Funktion, mit ihrem technischen Aufbau und Anwendungsgebiet (ihrer Indikation) detailliert, verständlich und gut illustriert zu beschreiben. Obwohl die Rehabilitationstechnik mit dem Anwendungsbezug zum Patienten relativ gut abgrenzbar erscheint, ist sie doch eng mit anderen Teilgebieten der Biomedizinischen Technik verflochten. Dies gilt auch für diese Lehrbuchreihe. So sind die Grundlagen der Funktionellen Elektrostimulation und der Automatisierung von Rehabilitationstechnik (mit einem regelungstechnischen Fokus) in 󳶳Band 7 beschrieben. Die in 󳶳Band 11 dargestellte Neurotechnik wird für die Rehabilitation immer wichtiger, zukünftig können Hilfsmittel direkt von peripheren Nerven oder über Gehirn-Computer-Schnittstellen gesteuert werden. Natürlich werden die in 󳶳Band 6 beschriebenen informationstechnischen Systeme auch in der Rehabilitation genutzt (so wird beispielsweise die Telerehabilitation immer wichtiger). Die Bewegungsanalytik (in 󳶳Kapitel 2) basiert auf einer Modellierung menschlicher Bewegungen, die u. a. Gegenstand des 󳶳4. Bandes ist. Die Palette der thematischen Verflechtungen ist mit den 󳶳Grundlagenbänden 1 bis 3 sowie dem auf die Entwicklung und Bewirtschaftung von Medizinprodukten (zu denen auch die Rehabilitationstechnik gehört) bezogenen 󳶳Band 12 noch nicht abgeschlossen. Es ist also spannend, dieses Netzwerk moderner Technologien in unserer Lehrbuchreihe von allen Seiten zu erschließen. Die Rehabilitationstechnik ist davon eines der spannendsten Gebiete mit einem immensen Nutzen für Menschen mit Handicap. Viel Freude beim Studieren! Die Herausgeber des zehnten Bandes

Marc Kraft und Catherine Disselhorst-Klug Berlin und Aachen, Januar 2015

Inhalt Vorwort zur Lehrbuchreihe Biomedizinische Technik | V Vorwort zu Band 10 der Lehrbuchreihe Biomedizinische Technik – Rehabilitationstechnik | X Hinweise zur Benutzung | XVI Verzeichnis der Abkürzungen | XVIII Verzeichnis der Formelzeichen und Indizes | XXIII Marc Kraft, Catherine Disselhorst-Klug 1 Einführung in die Rehabilitationstechnik | 1 1.1 Abgrenzung der Rehabilitationstechnik | 2 1.2 Situation betroffener Patienten | 5 1.3 Arten der Rehabilitation | 8 1.4 Branche der Rehabilitationstechnik in Deutschland | 14 1.5 Historie der Rehabilitationstechnik | 15 1.6 Geräte und Systeme der Rehabilitationstechnik – Arten von Hilfsmitteln | 23 Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler 2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems | 53 2.1 Biomechanische Beschreibung des Stütz- und Bewegungsapparates | 54 2.2 Bewegungsanalyseverfahren zur Diagnostik an oberer und unterer Extremität | 75 2.3 Ganganalyse | 88 Marc Kraft, Wolfram Rossdeutscher, Bernhard Greitemann, Lutz Brückner, Klaus-Peter Hoffmann, Herman Boiten, Simone Oehler, Julius Thiele 3 Gliedmaßenprothetik | 105 3.1 Rehabilitation amputierter Patienten | 106 3.2 Zielstellung der Gliedmaßenprothetik | 121 3.3 Gliedmaßenprothetik der unteren Extremität | 122 3.4 Gliedmaßenprothetik der oberen Extremität | 176 3.5 Weiterentwicklungen der Prothetik im Bereich des biologisch-technischen Interfaces | 198

XIV | Inhalt

Rolf-Dieter Weege, Marc Kraft 4 Rollstühle | 213 4.1 Rollstuhlarten und Versorgungsanspruch | 214 4.2 Physikalische Grundlagen der Rollstuhltechnik | 218 4.3 Ausführungsformen von Rollstühlen | 241 4.4 Rollstuhlzusatzsysteme und andere Krankenfahrzeuge | 269 Catherine Disselhorst-Klug, Ferdinand Bergamo, Stefan Bieringer, Ludger Lastring, Detlef Kokegei, Silke Auler, Bettina Grage-Roßmann, David Hochmann, Marc Kraft 5 Orthesen, Schienen und Bandagen | 279 5.1 Einführung | 280 5.2 Orthesen | 284 5.3 Bandagen | 326 5.4 Quengelorthesen und Lagerungsschienen | 331 5.5 Individuelle Sitzversorgung | 333 Peter Diesing, Marc Kraft 6 Hilfsmittel gegen Dekubitus | 339 6.1 Entstehung von Dekubitalgeschwüren | 340 6.2 Arbeitsprinzipien von Hilfsmitteln gegen Dekubitus | 344 6.3 Arten von Hilfsmitteln gegen Dekubitus und Empfehlungen zur Nutzung | 346 Wolfram Roßdeutscher, Marc Kraft 7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch | 353 7.1 Kommunikationshilfen | 354 7.2 Sehhilfen | 374 7.3 Hörhilfen | 379 7.4 Sprechhilfen | 389 Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi 8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation | 395 8.1 Funktionelle Elektrostimulation (FES) | 396 8.2 Funktionelle Magnetstimulation | 428 Robert Riener, Catherine Disselhorst-Klug, Henning Schmidt, Tobias Nef 9 Therapie- und Assistenzsysteme für die Bewegungsrehabilitation | 445 9.1 Einleitung | 446 9.2 Prinzipien des motorischen Lernens | 447 9.3 Technische Therapiesysteme in der Bewegungstherapie: Unterscheidung nach Einsatz und Funktionalität | 453

Inhalt | XV

9.4 9.5 9.6 9.7

Technische Therapiesysteme zur Bewegungstherapie bei muskuloskelettalen Erkrankungen | 457 Technische Therapiesysteme in der Neurorehabilitation | 465 Augmented Feedback und Biofeedback | 482 Assistenzsysteme | 489

Autorenverzeichnis | 497 Abbildungsverzeichnis | 502 Bandspezifisches Glossar | 511 Sachwortverzeichnis | 531

Hinweise zur Benutzung Methodischer Hinweis Ob elektronisch oder auf Papier: Es empfiehlt sich immer, ein Lehrbuch als Arbeitsbuch zu benutzen, es mit persönlichen Notizen, Hervorhebungen und Markierungen zu versehen. Über www.degruyter.de lassen sich auf elektronischem Wege beim Verlag Kapitel aus Bänden zu einem eigenen Sammelwerk zusammenstellen. Ergänzende interaktive Lernsoftware findet man z. B. unter www.theragnosos.de. Gender-Hinweis Im Gegensatz zu rein technischen Fächern ist im Bereich der Biomedizinischen Technik das Geschlechterverhältnis ausgewogener. In den Bänden der Lehrbuchreihe „Biomedizinische Technik“ liegt der Schwerpunkt auf fachlichen Darstellungen der Grundlagen unseres Berufsbildes, bei dem das Geschlecht des Akteurs selbst keine Rolle spielt. Aus diesem Grund wird generell für alle Personen- und Funktionsbezeichnungen das generische (geschlechtsneutrale) Maskulinum verwendet, das die weibliche Form einschließt. Verzeichnis der Abkürzungen Allgemeine Abkürzungen sind im Abkürzungsverzeichnis aufgeführt (s. S. XVIII). Verzeichnis der Formelzeichen, Symbole und Indizes Formelzeichen, Symbole und Indizes sind im jeweiligen Verzeichnis aufgeführt (s. S. XXIII). Quellen Die Quellenangaben bei Normen und Standards sind grundsätzlich ohne Jahreszahl vermerkt, da die jeweils aktuelle Ausgabe zu beachten ist. Soweit in den Abbildungen Quellen genannt werden, finden sich Erstautor und Jahreszahl in eckigen Klammern, die im Quellenverzeichnis am Ende des Kapitels aufgelöst werden. Verzeichnis der Autoren Alle Autoren des Bandes sind im Autorenverzeichnis am Ende des Bandes aufgeführt (s. S. 497). Bandspezifisches Glossar Alle Definitionen des Bandes sind im Glossar am Ende des Bandes zusammengeführt (s. S. 511).

Hinweise zur Benutzung |

XVII

Sachwortverzeichnis Wichtige Begriffe, auf deren Erläuterung man beim Suchen im Sachwortverzeichnis am Ende des Bandes verwiesen wird, sind im Text gefettet dargestellt. Im Text verwendete Symbole sowie Sonderauszeichnungen des Textes Neben den üblichen mathematischen Symbolen und Sonderzeichen wird folgendes Symbol im Text verwendet: 󳶳 verweist auf Abbildungen, Tabellen, Glossarbegriffe, Kapitel und Bände innerhalb der Reihe Biomedizinische Technik. Alle Einträge, die im Sachwortverzeichnis und im bandspezifischen Glossar verzeichnet sind, sind im Text hervorgehoben durch eine fette Auszeichnung des Begriffs.

Alle Definitionen innerhalb der Kapitel sind gekennzeichnet durch einen grau hinterlegten Kasten.

Alle erläuternden Beispiele und Exkursionen innerhalb der Kapitel sind gekennzeichnet durch dieses Symbol und einen gerahmten Kasten mit einer, den Textabschnitt begrenzenden, blauen Ober- und Unterlinie. Dieses Symbol markiert den Übungsteil in Form von Testfragen zum Verständnis des jeweiligen Kapitels am Kapitelende.

Verzeichnis der Abkürzungen 2D 3D AC ADL AFB AFO AGC AH AHB ALS AMP AMPnoPRO AMPPRO AOK AP AR ASCII ASIC ASL BAHA BAR BB BCI BSG BSL BSL BWS CAD CAN CAT–CAM CE CFK CIC CO CPAP CTLS

zweidimensional dreidimensional alternating current; dt. Wechselstrom activities of daily living; dt. Aktivitäten des täglichen Lebens automatic forearm balance; dt. Beugehilfe Sprunggelenk-Fuß-Orthese automatic gain control; dt. automatische Verstärkungsregelung Achselhöhe Anschlussheilbehandlung Amyotrophe Lateralsklerose Amputee Mobility Predictor; dt. Mobilitätsprädiktor für Amputierte Mobilitätsprädiktor für Amputierte ohne Prothese Mobilitätsprädiktor für Amputierte mit Prothese Allgemeine Ortskrankenkasse Aktionspotential Augmented Reality American Standard Code for Information Interchange application specific integrated circuit American Sign Language; dt. Amerikanische Zeichensprache bone anchored hearing aid; dt. knochenverankerte Hörhilfe Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation Beckenbreite Brain Computer Interface; dt. Hirn-Computer-Schnittstelle Bundessozialgericht Beinstützenlänge British Sign Language; dt. Britische Zeichensprache Bruswirbelsäule Computer Aided Design; dt. computergestützter Entwurf Controller Area Network Contoured Adducted Trochanteric Controlled Alignment Method früher: Communauté Européenne, heute als CE-Zeichen ein Symbol der Verkehrsfähigkeit in der EU carbonfaserverstärkter Kunststoff (auch: kohlefaserverstärkter Kunststoff) completely in canal; dt. Gehörgangshörgerät Zervikal-Orthese continuous positive airway pressure; dt. kontinuierlicher Atemüberdruck zerviko-thorako-lumbo-sakral

Verzeichnis der Abkürzungen | XIX

CTLSO CTO DAISY DARPA DGS DIN DIP DMS DZB EBS EEG EMG EN EO EOG ESP ETH EWHO Fanok FES FET FM FMS FO FZV GFK GKV HD HDMI HO HdO HKAFO HKO HMV HMV-Nr. HO HTML HWS ICD

Zerviko-thorako-lumbo-sakral-Orthese Zerviko-thorakal-Orthese Digital Accessible Information System; dt. digital zugängliches Informationssystem Defense Advanced Research Projects Agency Deutsche Gebärdensprache Deutsches Institut für Normung bzw. Deutsche Norm Fingerendgelenk (distales Interphalangealgelenk) Dehnungsmessstreifen Deutsche Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig elastische Beugesicherung Elektroenzephalographie Elektromyographie Europäische Norm Ellenbogen-Orthese Elektrookulographie elektronisches Stabilitätsprogramm Eidgenössische Technische Hochschule Zürich Ellenbogen-Handgelenk-Hand-Orthese Fachnormenausschuss Krankenhaus Funktionelle Elektrostimulation Feldeffekttransistor Frequenzmodulation Funktionelle Magnetstimulation Finger-Orthese, Fuß-Orthese Zulassung von Fahrzeugen zum Straßenverkehr glasfaserverstärkter Kunststoff Gesetzliche Krankenversicherung high density; dt. hohe Dichte High Definition Multimedia Interface Hand-Orthese Hinter-dem-Ohr (Gerät) Hüft-Knie-Knöchel-Fuß-Orthese Hüft-Knie-Orthese Hilfsmittelverzeichnis (der Gesetzlichen Krankenversicherung) Hilfsmittelverzeichnisnummer Hüft-Orthese HyperText Markup Language Halswirbelsäule International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems; dt. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme

XX | Verzeichnis der Abkürzungen

ICF

IMU IO ISB ISO KAFO KBM Kfz KO KP KR LBG LCD LCI LD LED LO LSO LWS MAS MAS MCP MDS MFCL MICS MIO MIT MMS MP3 MPEG MPG MRS MRT MS NRS OP

International Classification of Functioning, Disability and Health; dt. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit inertial measurement unit; dt. Inertialsensoren Im-Ohr (Gerät) International Society of Biomechanics; dt. Internationale Gesellschaft für Biomechanik International Organization for Standardization; dt. Internationale Organisation für Normung Knie-Knöchel-Fuß-Orthese Kondylen Bettung Münster Kraftfahrzeug Knie-Orthese Knowledge of Performance; dt. verlaufsbezogene Rückmeldungen Knowledge of Results; dt. ergebnisbezogene Rückmeldungen Lautsprachbegleitende Gebärden liquid crystal display; dt. Flüssigkristallanzeige Locomotor Capabilities Index; dt. Bewegungsfähigkeitsindex low density; dt. geringe Dichte Licht emittierende Diode Lumbal-Orthese Lumbo-sakral-Orthese Lendenwirbelsäule Marlo Anatomical Socket Modified Ashworth Scale Metacarpophalangealgelenk; dt. Fingergrundgelenk Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen Medicare Functional Classification Level Medical Implant Communication Service Modul-Im-Ohr (Gerät) Massachusetts Institute of Technology Multimedia Message Service ISO MPEG Audio Layer 3 Moving Pictures Experts Group Medizinproduktegesetz motorische Reizschwelle Magnetresonanztomographie Multiple Sklerose Numerical Rating Score; dt. Numerische Bewertungsskala (für Schmerzen) Operation

Verzeichnis der Abkürzungen | XXI

OSAS OSL pAVK PC PCI PDA PE PEEP PEP PflVG PG PHMV PIP PKV Pkw PNS PTB PTS PU RH S.A.C.H. SALK SB SCART

SCKAFO SCO SENIAM SEO SEWHO SEWO SGB SH SIO

obstruktive Schlafapnoe Oberschenkellänge periphere arterielle Verschlusskrankheit Personal Computer; dt. Personalcomputer Physiological Cost Index; dt. physiologischer Verbrauchsindex Personal Digital Assistant Polyethylen positive expiratory pressure; dt. positiver endexspiratorischer Druck pre ejection period; dt. Präejektionsintervall Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter Produktgruppe (im Hilfsmittelverzeichnis der Gesetzlichen Krankenversicherung) Pflegehilfsmittelverzeichnis Fingermittelgelenk (proximales Interphalangealgelenk) Private Krankenversicherung Personenkraftwagen peripheres Nervensystem Patella-Tendon-Bearing-Prothese; dt. die Kniescheibensehne einbeziehende Prothese Prothese tibiale supracondylienne; dt. kondylenumfassende Unterschenkelprothese Polyurethan Rückenlehnenhöhe solid ankle cushion heel; dt. steifes Knöchelgelenk und federnde Ferse Semi-Automatic Lock Knee; dt. halbautomatisch gesperrtes Kniegelenk Sitzbreite Syndicat des Constructeurs d’Appareils Radiorécepteurs et Téléviseurs; dt. Vereinigung der Hersteller von Rundfunkempfängern und Fernsehapparaten Stance-Control-Knie-Knöchel-Fuß-Orthese Stance-Control-Orthosis; dt. standphasenkontrollierte Ganzbeinorthese Surface EMG for Non-Invasive Assessment of Muscles; dt. Internationaler Standard zur Ableitung des Oberflächen-EMG Schulter-Ellenbogen-Orthese Schulter-Ellenbogen-Handgelenk-Hand-Orthese Schulter-Ellenbogen-Handgelenk-Orthese Sozialgesetzbuch Sitzhöhe eines Standardrollstuhls Sakro-iliacal-Orthese

XXII | Verzeichnis der Abkürzungen

SMS SNS SO SP S-R-Winkel SSCO ST StVZO TENS tf-LIFE TLSO TMR TO TXT USL VDI VR WC WHFO WHO WHO WLAN WO WS ZNS

Short Message Service Swing and Stance Schulter-Orthese Schwerpunkt Sitz-Rücken-Winkel Stance-and-Swing-Control-Orthosis; dt. stand- und schwungphasenkontrollierte Ganzbein-Orthese Sitztiefe Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung Transkutane Elektrische Nervenstimulation thin film-longitudinal intrafascicular electrode Thorako-lumbo-sakral-Orthese targeted muscle reinnervation; dt. selektiver Nerventransfer Thorakal-Orthese Dateinamenserweiterung reiner Textdateien Unterschenkellänge Verein Deutscher Ingenieure virtuelle Welten water closet; dt. Wassertoilette Handgelenk-Hand-Finger-Orthese Handgelenk-Hand-Orthese World Health Organization; dt. Weltgesundheitsorganisation Wireless Local Area Network Handgelenk-Orthese Wirbelsäule Zentrales Nervensystem

Verzeichnis der Formelzeichen und Indizes A AR a(t) B cR cw d Ek Ep f F Faußen FB Fges FH FL FN FQ FR FSt Fw G g h hmin ℑ I J L M M m N n na nar nav

Querschnittsfläche in m2 durch die Radaufstandspunkte eines Rollstuhls aufgespannte Fläche in m2 Beschleunigung in Laborkoordinaten in m/s2 magnetische Flussdichte in T Rollwiderstandskoeffizient Widerstandsbeiwert Raddurchmesser in m kinetische Energie in J potentielle Energie in J 1. Anzahl der Freiheitsgrade, 2. Frequenz in Hz Kraft in Laborkoordinaten in N äußere Kräfte in N Beschleunigungswiderstandskraft in N Fahrwiderstandskraft in N Antriebskraft, horizontal in N Luftwiderstandskraft in N Normalkraft in N Querkraft in N Rollwiderstandskraft in N Steigungswiderstandskraft in N Strömungswiderstand in N Gewichtskraft in N Erdbeschleunigung in m/s2 Höhe in m Bodenfreiheit in m Massenträgheitsmoment bezogen auf Gelenkkoordinaten in kg m2 Stromstärke in A Massenträgheitsmoment bezogen auf Laborkoordinaten in kg m2 Lagrangesche Funktion Drehmoment in Gelenkkoordinaten in Nm Drehmoment in Laborkoordinaten in Nm Masse in kg Anzahl an Körpern Drehzahl in U/min Radnachlauf in m Radnachlauf in Rückwärts-Fahrtrichtung in m, Radnachlauf in Vorwärts-Fahrtrichtung in m,

XXIV | Verzeichnis der Formelzeichen und Indizes

P p pw Q qi R r(t) R(x, Φ) Rges S s(t) T t th U v(t) x(t), y(t), z(t) W a(t) g(t) v(t) Θ(t), Φ(t), Γ(t) φ(t) ω(t) α(t) ρ α(t) α β δ φ(t)

𝛾 𝛾a 𝛾i Δh Θ(t), Φ(t), Γ(t) ρ

1. Leistung in W, 2. Durchstoßpunkt der Gravitationslinie durch die von den Radaufstandspunkten aufgespannte Fläche Druck in N/mm2 pulse width; dt. Impulsbreite in s Ladung in C generalisierte Koordinaten Radradius in m Abstand vom Drehzentrum in m Rotationsmatrix um die Achse x und den Winkel Φ Rotationsmatrix um ein Winkeltriplett Weg in m Position in Laborkoordinaten in m Trägheitskraft in N Zeit in s Rollstuhlbreite in m Spannung in V Geschwindigkeit in Laborkoordinaten in m/s Laborkoordinaten in m Arbeit in J Winkelbeschleunigung in Gelenkkoordinaten in °/s2 Orientierung in Gelenkkoordinaten in ° (Grad) Winkelgeschwindigkeit in Gelenkkoordinaten in °/s Raumwinkel in ° (Grad) Orientierung in Laborkoordinaten in ° (Grad) Winkelgeschwindigkeit in Laborkoordinaten in °/s Winkelbeschleunigung in Laborkoordinaten in °/s2 Anzahl an Zwangsbedingungen Winkelbeschleunigung in Laborkoordinaten in °/s2 Neigungswinkel der Fahrbahn in ° (Grad) Neigungswinkel der Lenkkopfachse in ° (Grad) Radsturzwinkel in ° (Grad) Orientierung in Laborkoordinaten in ° (Grad) Lenkwinkel in ° (Grad) Lenkwinkel außen in ° (Grad) Lenkwinkel innen in ° (Grad) Höhenversatz in m Raumwinkel in ° (Grad) Dichte in kg/m2

Marc Kraft, Catherine Disselhorst-Klug

1 Einführung in die Rehabilitationstechnik 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6

Abgrenzung der Rehabilitationstechnik | 2 Situation betroffener Patienten | 5 Arten der Rehabilitation | 8 Branche der Rehabilitationstechnik in Deutschland | 13 Historie der Rehabilitationstechnik | 15 Geräte und Systeme der Rehabilitationstechnik – Arten von Hilfsmitteln | 23

Zusammenfassung: Die Rehabilitationstechnik dient der Wiedereingliederung behinderter Menschen in ihr familiäres und berufliches Umfeld, indem sie zum Ausgleich funktioneller und gesundheitlicher Beeinträchtigungen beiträgt. Hierbei genutzte Medizinprodukte werden als Hilfsmittel direkt durch den Betroffenen oder durch seine Angehörigen und Pflegenden eingesetzt. Dieses einführende Kapitel definiert grundlegende Begriffe, beschreibt die Rahmenbedingungen des Einsatzes von Rehabilitationstechniken in Deutschland, gibt einen historischen Überblick und erläutert kurz die Hilfsmittelarten, welche in nachfolgenden Kapiteln keine Berücksichtigung finden konnten. Abstract: Rehabilitation Engineering serves the reintegration of people with disabilities into their domestic and professional environment contributing to the compensation of their functional deficiencies. Medical devices are used by patients themselves or by relatives and caregivers. This introduction explains basic terms and concepts related to the use of assistive devices in Germany, it provides a historical overview and explains medical devices that are not included in subsequent chapters.

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1.1 Abgrenzung der Rehabilitationstechnik Medizintechnische Systeme zur Diagnostik und Therapie werden im Krankenhaus und in der ambulanten medizinischen Versorgung von ärztlichem oder pflegendem Personal eingesetzt. In einigen Fällen ist jedoch eine Behandlung mit vollständiger Genesung in diesen medizinischen Einrichtungen nicht möglich oder die Therapie erstreckt sich über sehr lange Zeiträume. Auch in diesen Fällen kann der Betroffene mit medizintechnischen Systemen unterstützt werden. Sie dienen ihm dann in seinem alltäglichen häuslichen Umfeld zu diagnostischen Zwecken (z. B. zur Messung des Blutzuckerspiegels), zur Therapie (z. B. zur nächtlichen Überdruckbeatmung) oder zum Ausgleich funktioneller Defizite (z. B. als Ersatz für eine verlorene Gliedmaße). Einige dieser durch Patienten selbst genutzten Hilfsmittel unterscheiden sich wenig von den Geräten und Systemen, die durch medizinisches Personal eingesetzt werden (z. B. Blutdruckmessgerät, Beatmungsgerät). Diese stehen nicht im Fokus dieses Buches, sondern werden in anderen Bänden der Lehrbuchreihe, insbesondere 󳶳Band 5 (Biosignale und Monitoring) sowie 󳶳Band 9 (Automatisierte Therapiesysteme) behandelt. Im vorliegenden Band werden Systeme vorgestellt, die dem Ausgleich von Behinderungen dienen und sich in wesentlichen Merkmalen von klinisch oder ambulant durch medizinisches Personal eingesetzten Medizinprodukten unterscheiden. In der Biomedizinischen Technik bilden diese medizintechnischen Systeme ein eigenes Teilgebiet, die Rehabilitationstechnik. Diese hilft bei der Wiedereingliederung von behinderten und funktionell limitierten Menschen in ihr familiäres und berufliches Umfeld. Um die Rehabilitationstechnik und die zugehörigen technischen Hilfsmittel gegenüber anderen Medizinprodukten abzugrenzen, sind zunächst die Begriffe Behinderung und Rehabilitation zu klären. Im deutschen Sozialrecht (§ 2 SGB IX [SGB IX]) wird der Begriff der Behinderung wie folgt definiert: 󳶳 Behinderung (im Rahmen des deutschen Sozialrechts): Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

International ist der Begriff der Behinderung nicht auf den Zeitraum des Bestehens einer Einschränkung bezogen. So gilt gemäß der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO), zitiert in der Norm DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie [ISO 9999]): Behinderung (gemäß internationaler Definition): Oberbegriff für Schädigungen, Beeinträchtigun­ gen der Aktivität und Einschränkungen der Teilhabe, der auf die negativen Aspekte der Wechsel­ wirkung zwischen einem Menschen (mit Gesundheitsproblem) und dessen Kontextfaktoren (Um­ weltfaktoren und personenbezogene Faktoren) hinweist.

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Oft sind Menschen mit Behinderungen ihr Leben lang von Einschränkungen unterschiedlicher Art betroffen. Zu diesen behinderten Menschen gehören beispielsweise Personen, die mit einer anatomischen Fehlbildung geboren werden oder denen eine Gliedmaße amputiert werden musste. Das deutsche Sozialrecht gewährt behinderten Menschen nach § 10 SGB I [SGB I] ein Recht auf Hilfe „zur Förderung ihrer Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe“. So wird dem Grundgesetz Rechnung getragen, das im Artikel 3 fordert: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ [Grundgesetz 2012]. Näheres dazu regelt das Neunte Sozialgesetzbuch (SGB IX) „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“, welches bereits im Titel den Begriff der Rehabilitation enthält. Grundlegend für das heutige Verständnis von Maßnahmen zur Rehabilitation war die WHO-Definition im Technical Report 668/1981 [Bochdansky 2002]: 󳶳 Rehabilitation umfasst den koordinierten Einsatz medizinischer, sozialer, beruflicher, päd­ agogischer und technischer Maßnahmen sowie Einflussnahmen auf das physische und soziale Umfeld zur Funktionsverbesserung, zum Erreichen einer größtmöglichen Eigenaktivität, zur wei­ testgehend unabhängigen Partizipation in allen Lebensbereichen, damit der Betroffene in seiner Lebensgestaltung so frei wie möglich wird.

In den „Standard Rules on the Equalisation of Opportunities for Persons with Disabilities“ der Vereinten Nationen [UN 1993] wird definiert, dass die Rehabilitation auf das Erreichen und Halten optimaler körperlicher, sensorischer, geistiger, psychischer oder sozialer Funktionen behinderter Menschen abzielt: The term „rehabilitation“ refers to a process aimed at enabling persons with disabilities to reach and maintain their optimal physical, sensory, intellectual, psychiatric and/or social functional levels, thus providing them with the tools to change their lives towards a higher level of independence.

Im deutschen Sozialrecht regelt der § 26 des SGB IX [SGB IX], welche Leistungen der medizinischen Rehabilitation Behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen in Anspruch nehmen können. Diese umfassen neben einer Behandlung durch Ärzte, Zahnärzte und Angehörige anderer Heilberufe noch weitere medizinische Leistungen sowie die Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln wie auch mit Heil- und Hilfsmitteln. Der Anspruch auf Hilfsmittel wird im § 33 SGB V [SGB V] untermauert, wobei mit der Formulierung „Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln“ anhand der genannten Beispiele eine Einordnung des Begriffes vorgenommen wird. Diese ist im Gesetzestext bewusst offen gehalten und wird durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, durch Verlautbarungen des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen und durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung konkretisiert. Zusammenfassend können die wichtigsten Eigenschaften von Hilfsmitteln folgendermaßen definiert werden ([Kamps 2002]; in geringfügig abweichender Formulierung auch in [SpiKa 2007]):

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󳶳 Hilfsmittel sind (im Rahmen der deutschen Sozialgesetzgebung) sächliche Mittel oder techni­ sche Produkte, die den Erfolg einer Krankenbehandlung sichern, eine Behinderung ausgleichen oder einer drohenden Behinderung vorbeugen sollen. Sie werden im allgemeinen Lebensbereich bzw. im häuslichen Umfeld des Betroffenen eingesetzt und dienen der Befriedigung der elemen­ taren Grundbedürfnisse des täglichen Lebens. Sie sind transportabel und werden von Leistungs­ erbringern an die Betroffenen abgegeben.

Im Versorgungsanspruch von Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit Hilfsmitteln gemäß der Hilfsmittelrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses [GBA 2012] finden sich die in der Definition enthaltenen Charakteristika eines Hilfsmittels wieder. Demnach werden sie verordnet, wenn sie im Einzelfall erforderlich sind, um: – – – – – – –

„den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen, eine Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens auszugleichen, eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, zu beseitigen, einer Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung eines Kindes entgegenzuwirken, Krankheiten zu verhüten oder deren Verschlimmerung zu vermeiden, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder . . . ausgeschlossen sind.“

Im deutschen Sozialrecht (§ 139 SGB V [SGB V]) ist verankert, dass der Spitzenverband Bund der Krankenkassen ein systematisch strukturiertes Hilfsmittelverzeichnis (HMV) erstellt, in dem die von der Leistungspflicht umfassten Hilfsmittel aufzuführen sind. Das Hilfsmittelverzeichnis enthält für zahlreiche Hilfsmittelkategorien indikations- oder einsatzbezogene, besondere Qualitätsanforderungen, die auch festgelegt werden können, um eine ausreichend lange Nutzungsdauer oder in geeigneten Fällen den Wiedereinsatz von Hilfsmitteln bei anderen Patienten zu ermöglichen. Das Hilfsmittel- und Pflegehilfsmittelverzeichnis umfasst heute 38 Produktgruppen (󳶳Kapitel 1.6). In der internationalen Norm DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie [ISO 9999]) ist die nachfolgende Definition des Begriffs Hilfsmittel enthalten: Als Hilfsmittel gilt (gemäß internationaler Definition) jegliches Produkt (einschließlich Vorrich­ tungen, Ausrüstung, Instrumente und Software), sei es Sonderanfertigung oder allgemeines Ge­ brauchsgut, das von oder für Menschen mit Behinderung verwendet wird, um sie am öffentlichen Leben teilhaben zu lassen, um Körperfunktionen/-strukturen und Aktivitäten zu schützen, zu un­ terstützen, zu ertüchtigen, zu messen oder zu ersetzen oder um Schädigungen, Beeinträchtigun­ gen der Aktivität und Einschränkungen der Teilhabe zu verhindern.

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Unterschiede beider Definitionen sind u. a. leistungsrechtlich begründet. So gehören z. B. Treppenlifter, die aufgrund fehlender Transportabilität im deutschen Recht keinen Hilfsmittel-Status haben, nach der internationalen Definition in diese Kategorie. Weiterhin sind allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Bedarfs in der Leistungspflicht der GKV explizit ausgeschlossen (siehe oben). Zahlreiche Hilfsmittel, insbesondere die komplexeren technischen Systeme gehören gleichzeitig zur Gruppe der Medizinprodukte gemäß der Definition im Medizinproduktegesetz (MPG). Medizinprodukte können Hilfsmittel sein, wenn sie den medizinischen und technischen Vorgaben des Hilfsmittelverzeichnisses entsprechen, wenn sie als Hilfsmittel der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung unterliegen und wenn die Bedingungen des SGB V erfüllt sind. Insbesondere müssen die Produkte zweckmäßig und wirtschaftlich sein sowie einen medizinischen Nutzen haben. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal der als Hilfsmittel einzustufenden Medizinprodukte ist ihre Anwendung und Nutzung durch den Patienten bzw. seine Angehörigen und Pflegenden (siehe Definition von Hilfsmitteln im deutschen Sozialrecht: notwendige Abgabe an Betroffene). Andere Medizinprodukte werden üblicherweise durch medizinisches Personal am Patienten angewendet. Der Anspruch von Behinderten und der von Behinderung bedrohten Menschen auf Leistungen der medizinischen Rehabilitation nach § 26 des SGB IX [SGB IX] umfasst neben der oben erwähnten Hilfsmittelversorgung auch die Behandlung durch Ärzte, Zahnärzte und Angehörige anderer Heilberufe, außerdem Heilmittel einschließlich physikalischer Therapie, Sprach- und Beschäftigungstherapie sowie die Belastungserprobung und Arbeitstherapie. Im Rahmen dieser rehabilitativen Maßnahmen können ebenfalls technische Systeme bzw. Medizinprodukte Einsatz finden (z. B. Trainigs- und Übungssysteme), die nicht an den Betroffenen abgegeben werden und damit keine Hilfsmittel sind. Der Begriff Rehabilitationstechnik dient dazu, alle Systeme der „technisch assistierten“ Rehabilitation über die Gruppe der Hilfsmittel hinaus bezeichnen zu können. International wird von assistive devices and technologies for people with a loss in functioning oder assistive products for persons with disability bzw. von technical aids gesprochen. Zur 󳶳 Rehabilitationstechnik gehören Hilfsmittel und andere technische Systeme und Geräte, die einen Rehabilitationsprozess unterstützen.

1.2 Situation betroffener Patienten Im Jahr 2013 waren in Deutschland 7,5 Millionen Menschen als Schwerbehinderte mit einem Behinderungsgrad ab 50 % amtlich anerkannt [Statistisches Bundesamt 2014]. Das entsprach einem Anteil von rund 9,4 % der Bevölkerung. Ein Anteil von 31 % dieser Menschen war mindestens 75 Jahre alt, knapp die Hälfte (45 %) gehörte der Alters-

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gruppe der 55- bis 75-Jährigen an. Der überwiegende Teil der Behinderungen (85 %) wurde durch eine Krankheit verursacht, nur 2 % waren auf einen Unfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen. Am häufigsten litten schwerbehinderte Menschen unter körperlichen Behinderungen (62 %). Die Behinderungen betrafen laut Statistischem Bundesamt [Statistisches Bundesamt, 2014]: – 25 % innere Organe bzw. Organsysteme, – 14 % funktionell eingeschränkte Arme und Beine, – 12 % Funktionseinschränkungen von Wirbelsäule und Rumpf, – 5 % Blindheit oder Sehbehinderungen, – 4 % Schwerhörigkeit, Gleichgewichts- oder Sprachstörungen. In dieser Statistik werden allerdings nur Personen erfasst, die eine Anerkennung als Behinderter und einen Schwerbehindertenausweis beantragt haben. Da es aber keine „Meldepflicht“ für Behinderungen gibt, wird die tatsächliche Zahl darüber liegen. Geschätzt wird ein Anteil von 10 % der Bevölkerung [Bauche 2014]. Sehr viele dieser schwerbehinderten Menschen, aber auch einige der weiteren ca. 2,5 Millionen Menschen in Deutschland mit einem Behinderungsgrad unter 50 % [Statistisches Bundesamt 2011] sind auf Hilfsmittel und andere Systeme der Rehabilitationstechnik angewiesen. Die Prognose für die zukünftige Entwicklung des (auch technischen) Versorgungsbedarfs behinderter Personen weist auf einen weiteren Anstieg hin. Ein Grund hierfür ist die demografische Entwicklung, weil die Menschen immer älter werden. Das gilt nicht erst seit den letzten Jahren. Vielmehr kann dieser langfristige Trend schon seit Ende des 19. Jahrhunderts beobachtet werden. Seitdem hat sich die Lebenserwartung Neugeborener in Deutschland fast verdoppelt. Vor 100 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer bei 46,4 Jahren und für Frauen bei 52,5 Jahren; heute kann ein neugeborener Junge mit 86 Lebensjahren, ein neugeborenes Mädchen mit 91 Lebensjahren rechnen [Lehr 2013]. Zunächst hatte die Verringerung der Säuglingssterblichkeit den größten Anteil an dieser Entwicklung. In den letzten Jahrzehnten trägt auch das Sinken der Sterblichkeit in den höheren Altersgruppen er­ heblich zur Alterung der Bevölkerung bei. Maßgebliche Gründe hierfür liegen im Fortschritt der me­ dizinischen Versorgung, der Hygiene, der Ernährung und der Wohnsituation sowie den verbesserten Arbeitsbedingungen und dem gestiegenen Wohlstand [Statistisches Bundesamt 2013a]. Allein in den 1990er Jahren sank die standardisierte Sterblichkeit der über 65-Jährigen um mehr als 10 %, die mitt­ lere Lebenserwartung erhöhte sich um zwei Jahre [RKI 2013]. Das kollektive Altern einer Gesellschaft wird durch den sog. Altenquotienten ausgedrückt. Dieser beschreibt das Verhältnis der Zahl von Per­ sonen, die nicht mehr im Erwerbstätigenalter sind, zur Anzahl von Personen im Erwerbstätigenalter. Der Altenquotient 65 (Anzahl der Personen > 65 Jahre je 100 Personen von 15 bis 64 Jahren) liegt in Deutschland heute bei 34, er wird auf 41 im Jahre 2025 und auf etwa 56 bis 60 im Jahre 2050 an­ steigen [Lehr 2013]. Ein weiterer Grund für die Verschiebung der Altersstruktur in Deutschland ist die anhaltend geringe Geburtenrate. Sie liegt heute in Deutschland bei knapp unter 1,36 Kindern pro Frau [Statistisches Bundesamt 2013b] und ist damit weit von dem für eine ausgeglichene „Reproduktion“ notwendigen Wert von 2 Kindern pro Frau entfernt.

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Mit dem Anstieg des Anteils älterer Menschen ist auch eine Zunahme der Personen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen zu erwarten. Erschreckend ist in diesem Zusammenhang, dass schon heute viele jüngere Menschen an Erkrankungen leiden, deren Auswirkungen im Alter zunehmen. Dazu gehört die Erkrankung „Rückenschmerz“, deren Prävalenz im fortgeschrittenen Teenageralter bereits bei 70 Prozent liegt [Bauche 2014]. Eine Ursache dafür ist eine ungesunde Lebenführung mit falscher Ernährung und Bewegungsmangel. In Deutschland waren 2012 ca. 1,9 Millionen Kinder übergewichtig, davon 800 000 adipös und wiederum davon 200 000 so schwergewichtig, dass sie kein normales Leben führen können [Bauche 2014]. Es ist also nicht nur durch den höheren Anteil Älterer sondern auch durch die Verschiebung von Krankheitsbildern (Rückenschmerz, Arthrose, Osteoporose) mit einer Zunahme des Bedarfs an orthopädischen Versorgungen (auch unter Einsatz technischer Hilfsmittel) zu rechnen [Bauche 2014]. Ob die notwendige Versorgung in Zukunft innerhalb der Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung geleistet werden kann, bleibt fraglich. Zwar ist der Anteil der Leistungen für Hilfsmittel in der Gesundheitsversorgung relativ gering (󳶳Kapitel 1.4), trotzdem zielten zahlreiche Maßnahmen des Gesetzgebers zur „Kostendämpfung“ im Gesundheitswesen in der Vergangenheit auf diesen Markt. So unterliegt die Hilfsmittelversorgung gemäß § 12 SGB V [SGB V] dem sog. Wirtschaftlichkeitsgebot: „Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.“ Weiterhin gehört auch nur die Sicherung der Grundbedürfnisse zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen. Zu diesen gehören laut Gemeinsamem Rundschreiben der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Versorgung mit Hilfsmitteln und Pflegehilfsmitteln [SpiKa 2007]: –





„die körperlichen Grundfunktionen (z. B. die Bewegungsfreiheit wie das Gehen, das Stehen, das Treppensteigen, das Sitzen, das Liegen, das Greifen, das Sehen, das Sprechen, das Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden), die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens (z. B. die elementare Körperpflege, das An- und Auskleiden, das selbstständige Wohnen, die Möglichkeit, die Wohnung zu verlassen und die Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind), die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums im Nahbereich der Wohnung (z. B. die Aufnahme von Informationen, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens [Schulwissens] sowie die Integration eines behinderten Kindes in die Gruppe Gleichaltriger)“.

An gleicher Stelle wird auf das Bundessozialgericht verwiesen, das die letzte Instanz bei juristischen Auseinandersetzungen um die Hilfsmittelversorgung ist. Es hat wiederholt und ausdrücklich festgestellt, dass Freizeitbeschäftigungen vom Begriff der allgemeinen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens nicht erfasst werden. Auch

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ist die Gesetzliche Krankenversicherung nicht für den Ausgleich von „Nachteilen im privaten, gesellschaftlichen oder beruflichen Bereich“ zuständig. Explizit werden „Trainings- und Fitnessgeräte, spezielle Badebekleidung zum Freizeitschwimmen, Reiserollstühle, ergonomische Möbel oder spezielle Schutzausrüstung für den Arbeitsplatz“ genannt [SpiKa 2007]. Über die Gesetzliche Krankenversicherung ist also nur ein Teil dessen abgesichert, was der einzelne Betroffene für seinen individuellen Nachteilsausgleich (entsprechend seiner spezifischen Bedürfnisse) braucht. Es steht zu befürchten, dass mit den in Zukunft knapper werdenden Mitteln der Sozialversicherungen (weniger Einzahler, höherer Versorgungsbedarf) auch die Ansprüche der Versicherten abgesenkt werden. Schon heute besteht die Möglichkeit von Zuzahlungen. So heißt es im § 33 SGB V [SGB V]: „Wählen Versicherte Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, haben sie die Mehrkosten und dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen.“ Wer es sich leisten kann, darf sich also selbst besser versorgen. Dies wirft natürlich Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf, die hier nicht weiter diskutiert werden sollen. Eine Analyse von Maschke [Maschke 2007] (zitiert in [Bauche 2014]) ergab, dass Behinderte in der Europäischen Union über insgesamt niedrigere Bildungsabschlüsse, stark unterproportionale Beschäftigungsquoten, niedrige Einkommen und stark überproportionale Armutsquoten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung verfügen. Fraglich ist also, ob die Gesetzliche Krankenversicherung bei den behinderten Menschen an der richtigen Stelle spart.

1.3 Arten der Rehabilitation Alle modernen Definitionen des Begriffs der Rehabilitation basieren auf dem Krankheitsfolgenmodell der Internationalen Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO von 2001 [WHO 2001]. Dieses besagt, dass im Zentrum der Rehabilitation die Wiederherstellung der physischen oder psychischen Fähigkeiten eines Patienten im Anschluss an eine Erkrankung, ein Trauma oder eine Operation steht. Als Sekundärziel soll eine Wiedereingliederung in das Sozial- und Arbeitsleben erreicht werden. Die Rehabilitation ist damit Teil der medizinischen Versorgungskette (󳶳Abb. 1.1).

Vorsorge/ Prävention

Akutbehandlung

Nachsorge Rehabilitation

Abb. 1.1: Rehabilitation als Teil der medizinischen Versorgungskette (nach [Augurzky 2011]).

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Ein besonderer Aspekt der Rehabilitation als Bestandteil der medizinischen Versorgungskette ist der gemeinsame Beitrag aller rehabilitativen Maßnahmen zur Prävention, die schwerwiegende Folgeerkrankungen verhindern oder in ihrer Schwere mindern soll (Tertiärprävention). Als 󳶳 Prävention bezeichnet man jede Maßnahme, die eine Beeinträchtigung der Gesundheit (Krankheit, Verletzung) verhindern oder verzögern kann oder weniger wahrscheinlich werden lässt. Sie ist abzugrenzen von der Gesundheitsförderung, die vor allem das Ziel hat, Schutzfak­ toren zu erhöhen und die gesundheitlichen Lebensbedingungen zu stärken.

Ein Teilgebiet der Rehabilitation ist die medizinische Rehabilitation (oder Rehabilitationsmedizin), deren Ziel es ist, einen drohenden Gesundheitsschaden mit medizinischen Maßnahmen zu mildern. Die Leistungen der medizinischen Rehabilitation erfolgen primär durch Ärzte. Soweit einzelne Maßnahmen unter ärztlicher Aufsicht oder auf ärztliche Anordnung ausgeführt werden, können sie auch durch Zahnärzte und Angehörige anderer Heilberufe (Krankenschwestern, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, psychologische Psychotherapeuten) erfolgen (§ 26 SGB IX [SGB IX]). Von der medizinischen Rehabilitation ist die berufliche oder soziale Rehabilitation abzugrenzen, bei der die Betroffenen durch berufliche Rehabilitations-Maßnahmen wieder in den beruflichen Alltag integriert werden sollen. Die 󳶳 medizinische Rehabilitation ist ein Teilgebiet der Medizin, das alle zu treffenden Maßnah­ men für Patienten nach schwerer Krankheit und für behinderte Menschen umfasst, auch nach ei­ ner eingetretenen Behinderung als Krankheitsfolge. Ziele sind die möglichst vollständige gesell­ schaftliche Teilhabe und wenn möglich die gesundheitliche Wiederherstellung. (siehe 󳶳 Band 1, 󳶳 Kapitel 2)

Die medizinische Rehabilitation ist eine interdisziplinäre Aufgabe, die oft die Zusammenarbeit von Ärzten, Pflegekräften, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Psychologen, Logopäden und anderen Spezialisten erfordert. Charakteristisch für die medizinische Rehabilitation ist eine individuell geplante therapeutische Arbeit, an der die Rehabilitanden aktiv mitwirken. Die einzelnen Maßnahmen verteilen sich in der Regel über den ganzen Tag und umfassen Interventionen zur Wiederherstellung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit sowie eine intensive Anleitung zur Bewältigung der gesundheitlichen Schädigungen und der damit verbundenen erforderlichen Anpassung an ein möglicherweise verändertes Alltagsleben. Medizinische Rehabilitation wird in qualifizierten und spezialisierten Rehabilitationseinrichtungen durchgeführt, die sich am Qualitätssicherungsprogramm der gesetzlichen Rentenversicherung beteiligen. Grundsätzlich unterscheidet man jedoch in: – stationäre Rehabilitation, die in Rehabilitationskliniken stattfindet und bei der ein Patient 24 Stunden pro Tag in der Einrichtung verbringt,

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– –

teilstationäre Rehabilitation, die an einer Tagesklinik durchgeführt wird, bei der ein Patient nur zur Übernachtung nach Hause geht, ambulante Rehabilitation, bei der ein Patient für die einzelnen Maßnahmen in die Rehabilitationseinrichtung geht.

Früher wurden medizinische Rehabilitationsleistungen überwiegend stationär angeboten. Entsprechend der Anforderungen des SGB IX (vgl. § 19 Abs. 2 SGB IX [SGB IX]) wächst jedoch die Zahl der ambulanten Rehabilitationseinrichtungen stetig. Grundsätzlich sind ambulante und stationäre Rehabilitation gleichwertige Alternativen und je nach individueller Problemkonstellation ist die eine oder andere Variante vorzuziehen. Man unterscheidet sechs Phasen der Rehabilitation (A bis F). Dieses Phasenmodell findet hauptsächlich in der neurologischen Rehabilitation Anwendung, lässt sich aber unter Wegfall einzelner Phasen auf alle anderen Krankheitsbilder übertragen. Bei einer Rehabilitation müssen also nicht alle Phasen und auch nicht alle in der Reihenfolge A bis F durchlaufen werden. 󳶳Tabelle 1.1 fasst die einzelnen Phasen der Rehabilitation zusammen, die im Weiteren detaillierter ausgeführt werden. Entsprechend der Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) lässt sich der Rehabilitationsverlauf in sechs unterschiedliche Phasen einteilen (󳶳 Phasenmodell der Rehabilitation, 󳶳 Tab. 1.1). Diese Phasen reichen von der Akutbehandlung bis zur Langzeitpflege. Dabei durchläuft nicht jeder Patient zwingend jede Phase.

Tab. 1.1: BAR-Phasenmodell der neurologischen Rehabilitation. Phase

Bezeichnung

Ort der Maßnahme

Phase A Phase B Phase C Phase D Phase E Phase F

Akutbehandlung Frührehabilitation weiterführende Rehabilitation Anschlussheilbehandlung berufliche/soziale Rehabilitation Langzeitbehandlung/Langzeitpflege

Intensivstation Krankenhaus/Intensivstation Krankenhaus/Normalstation Rehabilitationseinrichtung gesellschaftliches, familiäres Umfeld Pflegeeinrichtung/zu Hause

Phase A: Akutbehandlung Die Akutbehandlung umfasst die Erstbehandlung in einer Akutklinik, oft auf der Intensivstation. Hier erfolgen Diagnostik und Therapie einschließlich der notwendigen Akutversorgung. Sie bildet die Voraussetzung für die Frührehabilitation.

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Phase B: Frührehabilitation Der Begriff Frührehabilitation wurde durch die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) definiert. Dieses Behandlungskonzept dient der frühestmöglichen, intensiven, interdisziplinären Behandlung von Patienten mit schweren Bewusstseinsstörungen oder anderen schweren Beeinträchtigungen, welche Lebensfähigkeit und Selbstständigkeit anhaltend oder sogar dauerhaft gefährden. Durch die Frührehabilitationsmaßnahmen sollen die körperlichen Grundfunktionen, wie beispielsweise Wahrnehmung, Schlucken oder Orientierung, gebessert und die Voraussetzungen für eine minimale Selbständigkeit im Alltag geschaffen werden. In dieser Phase müssen noch intensivmedizinische Behandlungsmöglichkeiten vorgehalten werden, weshalb die Frührehabilitation häufig bereits auf der Intensivstation stattfindet.

Phase C: Weiterführende Rehabilitation Patienten, die keiner intensivmedizinischen Versorgung bedürfen, sowie Patienten nach Verlegung von Intensivstation auf Normalstation erhalten eine weiterführende Rehabilitation. Hierbei stehen die frühe Mobilisierung durch Lagerung des Patienten, die Gelenkmobilisation sowie das Aufsetzen und Aufrichten in den Stand im Vordergrund. Es besteht noch ein hoher pflegerischer Bedarf. Der Patient arbeitet jedoch bei den einzelnen Therapieübungen mit und kann an mehreren Therapieeinheiten pro Tag teilnehmen. Bei den meisten Patienten schließt sich an die weiterführende Rehabilitation die Anschlussheilbehandlung an. Dieses gelingt aber nicht in jeden Fall. Bei anhaltender Bewusstlosigkeit beispielsweise schließt sich direkt an die weiterführende Rehabilitation die Langzeitrehabilitation bzw. Langzeitpflege (Phase F) an.

Phase D: Anschlussheilbehandlung Die 󳶳 Anschlussheilbehandlung (AHB) ist eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation, die sich unmittelbar einer Krankenhausbehandlung oder einer ambulanten Operation anschließt und die weitmöglichste Wiederherstellung der körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit zum Ziel hat.

Die Anschlussheilbehandlung (AHB) stellt die medizinische Rehabilitation im herkömmlichen Sinn dar. Ziele sind das Wiedererlangen der Selbstständigkeit, die Wiederherstellung der körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit sowie die Reintegration nach akuten Erkrankungen. Die AHB erfolgt stationär, teilstationär oder

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Tab. 1.2: Medizinische Indikationen für eine Anschlussheilbehandlung (AHB). Indikationen für eine Anschlussheilbehandlung – – – – – – – – – – –

Krankheiten des Herzens und des Kreislaufs Krankheiten der Gefäße entzündlich-rheumatische Krankheiten degenerativ-rheumatische Krankheiten, Zustand nach Operationen und Unfallfolgen an Bewegungsorganen gastroenterologische Erkrankungen und Zustand nach Operationen an Verdauungsorganen endokrine Krankheiten Krankheiten und Zustand nach Operationen an Atmungsorganen Krankheiten der Niere und Zustand nach Operationen an Nieren, ableitenden Harnwegen und Prostata neurologische Krankheiten und Zustand nach Operationen an Gehirn, Rückenmark und peripheren Nerven onkologische Krankheiten gynäkologische Krankheiten und Zustand nach Operationen am weiblichen Genitale

ambulant im Anschluss an das Akutkrankenhaus in einer speziellen Rehabilitationseinrichtung. Geht der AHB eine Operation voraus, so muss sie spätestens zwei Wochen nach Entlassung aus der Akutklinik beginnen. Geht der Anschlussheilbehandlung eine Bestrahlungsbehandlung voraus, so muss sie spätestens 6 Wochen nach Bestrahlungsende beginnen. Die AHB beinhaltet neben der Diagnostik, Aufklärung und Information zu der jeweiligen Erkrankung und den beeinträchtigten Funktionen die Vereinbarung von gemeinsamen Therapiezielen zwischen Rehabilitationsteam und Patient. Teil der AHB ist auch das Erlernen von Bewältigungsstrategien, um beruflichen Problemen zu begegnen. Die medizinischen Indikationen für eine AHB sind in 󳶳Tabelle 1.2 zusammengestellt. Weitere Voraussetzung für die AHB ist die Reisefähigkeit des Patienten, eine Selbsthilfefähigkeit und die Möglichkeit zur Teilnahme an aktiven Therapiemaßnahmen. Mit Phase D kann die Rehabilitation abgeschlossen sein. Bei geplanter Wiedereingliederung in den Beruf kann sich die beruflich-soziale (ggf. schulische) Rehabilitation (Phase E) anschließen.

Phase E: Berufliche/soziale Rehabilitation Die berufliche und soziale Rehabilitation schließt sich an die Anschlussheilbehandlung an und dient der vollständigen Integration des Patienten in die Gesellschaft. Da diese Phase der Rehabilitation nicht direkt zur medizinischen Rehabilitation gehört, sei sie hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

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Phase F: Langzeitpflege Trotz intensiver Rehabilitationsmaßnahmen ist es möglich, dass einige Patienten schwere Beeinträchtigungen behalten. Diese reichen von bleibender Bewusstlosigkeit bis hin zu schweren Beeinträchtigungen geistiger sowie körperlicher Funktionen. Patienten, denen ein selbstständiges Leben nicht mehr möglich ist, bedürfen einer Langzeitbehandlung. Ist eine Pflege im häuslichen Umfeld nicht möglich, wird der Patient in einer Einrichtung mit aktivierender Langzeitpflege untergebracht. Da sich hinter jeder einzelnen Indikation für eine AHB vollkommen unterschiedliche Krankheitsbilder verbergen, sind die Voraussetzungen und der Verlauf der Rehabilitation sehr verschieden. Dennoch gibt es für die einzelnen Indikationsgruppen definierte Vorgehensweisen, die einen Qualitätsstandard der Rehabilitation sicherstellen. So richtet sich beispielsweise die neurologische Rehabilitation streng nach dem in 󳶳Tabelle 1.1 beschriebenen Phasenmodell der BAR, wobei der Frührehabilitation eine besondere Bedeutung zukommt (󳶳Kapitel 9). Rehabilitationstechnik wird in allen sechs Phasen der Rehabilitation eingesetzt. Jedoch unterscheiden sich die Anforderungen an die Geräte und Systeme je nach Phase und Indikationsstellung. Auf der Intensivstation herrschen andere Voraussetzungen als in einem Rehabilitationszentrum. Häusliche Langzeitpflege erfordert einfache, teilweise mobile Rehabilitationstechnik, die auch von nicht technisch versierten Nutzern bedient werden kann, während bei der AHB hochqualifiziertes Personal während der Maßnahmen anwesend ist. Der Stellenwert der Rehabilitation innerhalb der medizinischen Versorgungkette ist unumstritten. 󳶳Abbildung 1.1 macht jedoch deutlich, dass jede Rehabilitationsmaßnahme auch präventiven Charakter hat. Angesprochen ist hier der Bereich der Tertiärprävention, bei der die Verhinderung des Wiederauftretens oder die Verschlimmerung bereits bestehender Erkrankungen im Vordergrund steht. Bei der 󳶳 Tertiärprävention geht es um die Verhinderung des Fortschreitens oder des Eintritts von Komplikationen bei einer bereits manifesten Erkrankung.

Die Tertiärprävention ist also von anderen Präventionsformen abzugrenzen, sei es der Primärprävention, bei der es um den Erhalt der Gesundheit bzw. um Vorbeugung von Krankheiten geht, und der Sekundärprävention, die eine Früherkennung von Erkrankungen in Risikogruppen zum Ziel hat. Aus diesem Grund haben die meisten Hilfsmittel, technischen Systeme und Geräte der Rehabilitationstechnik nicht nur rehabilitativen Charakter, sondern dienen auch der Prävention von Folgeerkrankungen.

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1.4 Branche der Rehabilitationstechnik in Deutschland Die Branche der Rehabilitationstechnik in Deutschland ist heterogen. Wie oben erläutert, machen die sog. Hilfsmittel einen großen Teil der technischen Systeme in der Rehabilitationstechnik aus. Da Abgabe und Vergütung über die Sozialgesetzgebung geregelt sind, ist der deutsche „Hilfsmittelmarkt“ mit den zugehörigen Akteuren relativ gut abgrenzbar. Allerdings gehören auch weitere, nicht als Hilfsmittel klassifizierte Systeme (z. B. Treppenlifter, Übungs- und Trainigssysteme, technische Anpassungen des Wohnumfeldes) gemäß der obigen Definition zur Rehabilitationstechnik, finden in der ambulanten oder stationären medizischen Versorgung Einsatz und werden an private Käufer abgegeben. Deshalb ist der Hilfsmittelmarkt von einer größeren Grauzone der Branche der Rehabilitationstechnik umgeben, die hier mangels zugehöriger Statistiken nicht näher beschrieben werden kann. Zunächst soll auf die Akteure in der Hilfsmittelversorgung eingegangen werden, in deren Mittelpunkt natürlich der Patient steht. Die Beziehungen aller weiteren Beteiligten lassen sich am Besten anhand von Zahlungs- und Lieferströmen (󳶳Abb. 1.2) erläutern. Verträge zwischen Hilfsmittel-Leistungserbringern und Kostenträgern regeln im Allgemeinen Preis, Menge und Qualität der Versorgung. Auf den Patienten als Empfänger des Hilfsmittels bzw. der Versorgung können die gesetzliche Zuzahlung, die Aufzahlung bzw. der volle Preis bei einem Direktkauf entfallen. Die Hilfsmittel-Leistungserbringer (z. B. Sanitätshäuser, Apotheken, Orthopädietechniker etc.) treten bezüglich der Produkte in Vorleistung, indem sie diese bei den Herstellern einkaufen. Die Vertragsärzte (medizinische Leistungserbringer) entscheiden über die Verordnung von Hilfsmitteln nach pflichtgemäßem Ermessen entsprechend der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (§ 6 Allgemeine Verordnungsgrundsätze [GBA 2009]), um dem Versicherten eine „nach den Regeln der ärztlichen Kunst und dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung mit Hilfsmitteln zukommen zu lassen“ [Busse 2008]. An der Hilfsmittelfertigung sind sowohl die Hersteller von Produkten und Komponenten, als auch die (Hilfsmittel-) Leistungserbringer je nach Dienstleistungsanteil unterschiedlich stark beteiligt. In Deutschland gab es im Jahr 2012 bundesweit 6 323 Hilfsmittel-Leistungserbringer, zu denen 1 931 orthopädietechnische Betriebe (eingetragen in der Handwerksrolle mit 37 000 Beschäftigten und 1 326 zum Orthopädie-Mechaniker und zum Bandagisten ausgebildeten Lehrlingen), 2 300 Sanitätshäuser und 2 092 Apotheken zählten [Bauche 2014]. Die rund 85 deutschen Hersteller von orthopädischen Erzeugnissen, Rollstühlen und Behindertenfahrzeugen (mit 50 Beschäftigten und mehr) erwirtschafteten in 2009 einen Gesamtumsatz von rund 2,31 Milliarden Euro mit einer Beschäftigtenzahl von 14 800 Mitarbeitern [Spectaris, 2010].

1 Einführung in die Rehabilitationstechnik | 15

Kostenträger (z. B. GKV)

Kostenträger kann (HM-)Leistungserbringer vorschreiben

medizinischer Leistungserbringer

Verordnung

Erstattung für Produkt (mit/ohne Dienstleistung) gemäß: Vertrag, Vereinbarung, Festbetrag, Bundesprothesenliste, Kostenvoranschlag

Verträge Beitrag

Patient

Behandlung

Zuzahlungen (gesetzliche Zuzahlung, Aufzahlung)

liefert

Hilfsmittel (HM)Leistungserbringer

Investition, Vorleistung (Einkauf/Beschaffung des Produktes/der Teile) Hersteller liefert

Abb. 1.2: Zahlungs- und Lieferströme zwischen den Beteiligten bei der Versorgung mit Hilfsmitteln (nach [Busse 2008]).

Der Verband der Ersatzkassen [VDEK 2014] gibt an, dass die gesetzlichen Krankenkassen 2013 von insgesamt 194,49 Milliarden Euro eine Summe von 5,25 Milliarden Euro (2,7 %) für Heil- und 6,80 Milliarden Euro (3,5 %) für Hilfsmittel ausgegeben haben. Zwischen 2007 und 2012 erhöhten sich die gesamten Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen von 144,43 auf 173,15 Milliarden Euro um knapp 20 Prozent, während die Hilfsmittelausgaben von 5,52 auf 6,46 Milliarden Euro um 17 Prozent stiegen [Kemper 2012].

1.5 Historie der Rehabilitationstechnik Nicht nur der Zeitpunkt der ersten medizinischen Behandlungen des Menschen, sondern auch der erste Einsatz technischer Hilfsmittel für Heilungszwecke lässt sich nicht genau angeben. Möglicherweise wurden schon in der Ur- und Frühgeschichte des Menschen im Feuer erhitzte Gegenstände, wie Steine oder brennende Stöcke, zum Stoppen von Blutungen an offenen Wunden genutzt. Dies könnte der Beginn chirurgischer Techniken gewesen sein. Bei der Unterstützung behinderter Mitmenschen standen damals sicherlich nur sehr einfache Hilfen zur Verfügung. So könnten mit Lederriemen an den Beinen befestigte Aststücke zur Stabilisierung eines Kniegelenks Einsatz gefunden haben. Auch die spezifische Anpassung einer Sitzgelegenheit zum aufrechten Sitzen einer gehbehinderten Person am Feuer wäre bereits einem rehabi-

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Abb. 1.3: Zehenprothese einer Mumie aus dem Grab von Tabaketenmut (zwischen 950 und 710 v. Chr.), (Bildrecht: Egyptian Museum Cairo).

litationstechnischen Ziel zuzuordnen. Da jedoch die Lebensumstände in der Frühgeschichte des Menschen unvergleichlich hart waren und jeder seinen Beitrag zum Überleben der Gemeinschaft leisten musste, ist natürlich fraglich, wie viel Hilfsbereitschaft gegenüber Personen mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit tatsächlich geleistet wurde. Weiterhin setzt jede rehabilitative Maßnahme voraus, dass die betroffene Person die Ursache der Behinderung (pränatale Fehlgestaltung, Geburtskomplikation, Erkrankung, Verletzung) überhaupt überlebt. Aufgrund mangelhafter medizinischer Kenntnisse, insbesondere in der Infektionsbehandlung, waren in der frühen Menschheitsgeschichte hierfür natürlich keine guten Voraussetzungen gegeben. Es verwundert auch nicht, dass frühe Rehabilitationstechniken eher von gesellschaftlich besser gestellten Menschen genutzt wurden, die sie sich leisten konnten. Weil damals nur vergängliche Materialien verfügbar und einsetzbar waren, konnten sich Zeugnisse dieser Techniken nur unter besonderen Bedingungen erhalten, beispielsweise in Grabkammern. Nachfolgend werden ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Meilensteine in der Entwicklung der Rehabilitationstechnik vorgestellt. Zu diesen zählen zwei Zehenprothesen ägyptischer Mumien. Wie Finch und seine Kollegen feststellten [Finch 2012], handelt es sich bei ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht allein um Grabbeigaben, welche die Verstorbenen „ergänzen“ sollten. Sie scheinen aufgrund ihrer Gebrauchsspuren (Abschliff auf der Unterseite) und ihrer biomechanischen Eigenschaften als funktioneller Ersatz für fehlende Zehen gedient zu haben, was inzwischen sogar ganganalytisch untersucht worden ist [Finch 2012]. Beide Zehenprothesen wurden vermutlich mithilfe vorhandener Löcher mit Laschen bzw. Riemen am Fuß befestigt. Sie sind nach heutiger Kenntnis die ältesten bekannten Prothesen. Eine von ihnen, in der Nähe von Luxor gefunden, wurde ca. 600 v. Chr. aus einer Art Pappe hergestellt, bestehend aus Leinen und Leim aus tierischen Überresten. Die zweite Zehenprothese befand sich im Grab von Tabaketenmut und stammt aus der Zeit zwischen 950 und 710 v. Chr. Sie ist eine Konstruktion aus Holz mit Scharnieren aus Leder (󳶳Abb. 1.3). Prothesen haben aufgrund ihrer Funktion als Körperersatzstück eher als andere technische Hilfsmittel behinderter Menschen die Chance, in Gräbern erhalten zu bleiben. Insbesondere, wenn sie für den Verstorbenen so wichtig waren, dass sie ihm auch

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Abb. 1.4: Stelzbeinprothese aus China (ca. 3. Jahrhundert v. Chr.).

im „Jenseits dienen“ sollten. Frühe Hinweise auf Prothesen finden sich auch in schriftlichen Quellen. Beispiele dafür stammen von Herodot (etwa 485 bis 425 v. Chr.), der von einem Hegesistratos aus Elis und seinem hölzernen Fuß berichtet [Brunn 1926]. Es gibt auch einige Darstellungen von Amputierten mit prothesenartigen Hilfsmitteln. Als Beispiel sei eine im Musée du Louvre ausgestellte süditalienische Vase aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. genannt, die einen – am rechten Bein prothetisch versorgten – Mann zeigt. Ob es sich dabei, wie auch bei weiteren frühen Bildzeugnissen, um funktionell nutzbare Hilfsmittel oder um idealisierte Darstellungen handelt, ist nicht eindeutig klar. Die derzeit älteste bekannte funktionelle Beinprothese stammt aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. und wurde in einem Grab in China gefunden. Sie gehörte einem Mann, der im Alter zwischen 50 und 65 Jahren verstarb. Sein linkes Kniegelenk war in Folge einer Infektion mit Mykobakterien (Erreger der Tuberkulose) stark deformiert und gebeugt versteift. Der Mann konnte dadurch sein linkes Bein nicht mehr strecken und nur noch auf dem rechten stehen. Um trotzdem mobil zu sein, nutzte er eine mit Lederriemen befestigte hölzerne Prothese. Das obere Ende des Stelzbeins (󳶳Abb. 1.4) besitzt eine flache Platte aus weichem Holz, die eine Fixierung am Oberschenkel erleichterte. Der mittlere Teil bestand aus Schafs- oder Ziegenhorn, über das der Huf eines Pferdes oder Esels gezogen wurde, wodurch das Einsinken in weichem Untergrund verhindert wurde. Die Muskelansätze an dem Skelett des Mannes zeigen, dass er mit der Prothese bis zu seinem Tod ein körperlich aktives Leben führte [Baykal 2013]. Ein weiteres bekanntes Beispiel für eine sehr alte Beinprothese aus der Zeit um 300 v. Chr. ist das 1884 in der Nähe des süditalienischen Capua gefundene Kunstbein. Es ist eine aus Holz, Bronze und Eisen bestehende Unterschenkelprothese, der allerdings der Fuß und auch oberhalb der Prothese notwendige Befestigungsvorrichtun-

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gen fehlen. Schon in den ersten Publikationen zu diesem Fund [Brunn 1926] wurde der funktionelle Nutzen bezweifelt. Einige Elemente des Prothesenschaftes, wie Auflageflächen für die Kondylen des Oberschenkelknochens, erscheinen praxistauglich. Andere Merkmale, wie das Fehlen einer Oberschenkelhülse, machen die tatsächliche Nutzung fraglich. Möglicherweise handelt es sich bei diesem Artefakt tatsächlich nur um eine Grabbeigabe mit einem religiösen Hintergrund. Belege über frühe Hand- oder Armprothesen sind deutlich seltener zu finden. Dies kann daran liegen, dass sich einseitig an der oberen Extremität Amputierte mit der gesunden Seite helfen können und deutlich weniger einschränkt sind als Beinamputierte. Doppelseitige Amputationen der oberen Extremität und die damit verbundenen Einschränkungen werden Betroffene in früher Zeit nur schwer überlebt haben. Brunn zitiert einen Bericht des Plinius vom Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. über die eiserne Hand eines Marcus Sergius Silus [Brunn 1926]. Dieser war in zwei Feldzügen 23-mal verwundet worden und hatte die rechte Hand verloren. Ein aus Eisen gefertigter Ersatz soll mit Binden am Arm befestigt und in weiteren Kämpfen zum Halten des Schildes genutzt worden sein. Das bekannteste Beispiel aus der Prothetik der oberen Extremität mit einem hohen funktionellen Anspruch ist die „Eiserne Hand“ des Ritters Götz von Berlichingen (um 1480–1562). Seine zunächst nur im Adel bekannte und erst 1731 publizierte Autobiographie wurde kaum beachtet, bis das 1772 von J. W. Von Goethe in Straßburg verfasste gleichnamige Drama ihn und seine Prothese berühmt machte. Götz von Berlichingen hatte 1504 in einem Kriegsgefecht seine rechte Hand verloren. Seine Prothese ist mechanisch sehr beeindruckend gefertigt (󳶳Abb. 1.5). Durch die integrierten Rastfunktionen der Fingerglieder ermöglichte sie eine Arretierung von Gegenständen, nach Goethe auch eines Schwertes. Allerdings ist die tatsächliche Herkunft der heute im Schlossmuseum von Jagsthausen ausgestellten Prothese unklar, da sie erst 1788 in den Besitz der Familie der Grafen von Berlichingen kam [Burkarth 2010]. Vor gut einhundert Jahren standen amputierten Menschen neben rein handwerklich gefertigten Prothesen auch sehr schlichte, aber nützliche technische Hilfsmittel zur Verfügung, wie der in 󳶳Abbildung 1.6 dargestellte Bauerngürtel von Pokorny [Borchardt 1919]. Mit heutigen Prothesen erstmals vergleichbare Versorgungsmöglichkeiten wurden vor und insbesondere im ersten Weltkrieg entwickelt. Dies lag insbesondere auch an der steigenden Zahl von Kriegsversehrten, die nach ihrer Verletzung als Arbeitskräfte und zur Erwirtschaftung ihres eigenen Lebensunterhaltes befähigt werden mussten. In den Kriegen 1866 und 1870/71 gab es in Deutschland „nur“ 3 031 Amputationen, von denen 46,8 % tödlich verliefen. In den Friedensjahren bis 1913 gab es ca. 1 360 Absetzungen von Körperteilen mit 1 150 Überlebenden. Im Amerikanischen Bürgerkrieg 1864/65 wurden aufgrund der Folgen „effektiver Waffen“ schon 28 261 Amputationen durchgeführt, von denen 26,3 % tödlich verliefen [Borchardt 1919].

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Abb. 1.5: Eiserne Hand des Ritters GÖTZ VON BERLICHINGEN (um 1480–1562) [Borchardt 1919].

Abb. 1.6: Einsatz des Bauerngürtels von POKORNY durch einseitig Armamputierte beim Mähen und Dengeln einer Sense [Borchardt 1919].

Mit dem ersten Weltkrieg hatte auch Deutschland tausende amputierte Kriegsversehrte zu versorgen. Erstmals wurde in wissenschaftlicher Weise die Entwicklung und Prüfung von Prothesen in enger interdisziplinärer Kooperation vorgenommen.

Eine zeitgenössische Quelle [Borchardt 1919] schreibt dazu: „Hatten bis zum Kriege sich fast ausschließlich Ärzte und Orthopädiemechaniker mit der Frage des Kunstgliederbaues beschäftigt, so widmeten sich jetzt in steigendem Maße Männer der Tech­ nik und der Ingenieurwissenschaft der Konstruktion von Ersatzgliedern, namentlich von künstli­ chen Armen, die den Amputierten zu wirklicher nutzbringender Arbeit befähigen sollten. Diese Entwicklung brachte aber gleichzeitig eine große Reihe von neuen, bisher noch gar nicht oder doch nur in sehr beschränktem Maße bearbeitete Fragen und Probleme mit sich, zu deren Lösung der Heeresverwaltung sowohl die technischen Sachverständigen als auch die entsprechenden Einrichtungen fehlten. So begrüßte sie es mit aufrichtigem Dank, als der Verein deutscher In­ genieure – in voller Erkenntnis der Wichtigkeit der Aufgabe, Tausende sonst gesunder Arbeiter durch Schaffung eines brauchbaren Arbeitsarmes wieder der Arbeit zuzuführen – mit dem Vor­ schlage hervortrat, eine Prüfstelle für Ersatzglieder einzurichten, in der alle vorhandenen und noch kommenden künstlichen Glieder durch berufene Ärzte und Techniker untersucht und hin­ sichtlich ihrer praktischen Verwendbarkeit erprobt werden sollten. Mit Erlaß von 17. 12. 1915 Xr. 8513/12. 15. MA. wurde den Sanitätsämtern die Gründung dieser Prüfstelle mitgeteilt und ihnen

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ihre Inanspruchnahme durch die mit der Herstellung künstlicher Glieder betrauten Lazarettwerk­ stätten, Bandagisten und sonstigen Fabrikanten empfohlen.“ Diese „Prüfstelle für Ersatzglieder“ befasste sich später auch mit der Entwicklung und Prüfung von Beinprothesen. Auch verschiedene Nachfolgeeinrichtungen waren später in diesem Aufgabengebiet tätig, ab 1939 die „Reichsstelle für künstliche Glieder“. Nach dem zweiten Weltkrieg nahm 1947 das „Forschungsinstitut mit Prüfstelle für künstliche Glieder“ in den Räumen der Technischen Universität Berlin seine Arbeit auf und wurde dieser 1949 zugeordnet. Der Schwerpunkt der Aufgaben bestand nun in der technischen Prüfung von orthopädischen Hilfsmitteln im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) als Voraussetzung für die Zulassung der Hilfsmittel in der Kriegs­ opferversorgung. Obwohl diese Tätigkeit der „Prüfstelle für Orthopädische Hilfsmittel“ ab 2001 ent­ fiel, sind das heutige Fachgebiet Medizintechnik der Technischen Universität Berlin und die mit ihr kooperierende Prüf- und Zertifizierstelle für Medizinprodukte Berlin Cert GmbH weiterhin mit ihren Forschungs- und Tätigkeitsschwerpunkten in der Rehabilitationstechnik fest verankert.

Der immense Bedarf an Prothesen im ersten Weltkrieg konnte nur durch zeitgleiche technologische Innovationen gedeckt werden. Hinzu kamen chirurgische Ansätze, die eine deutliche Steigerung der Funktionalität von Prothesen bzw. des Unterarmstupfes ermöglichten (Krukenberg-Hand, Kineplastik nach Sauerbruch, 󳶳Kapitel 3). Ein Meilenstein dieser Entwicklung war im handwerklichen Bereich die Gründung der Firma „Orthopädische Industrie“ 1919 in Berlin durch Otto Bock. Dessen schon im Namen des Unternehmens erkennbare Idee war es, die Fertigung von Prothesenkomponenten industriell statt rein handwerklich durchzuführen. Dazu unterteilte er eine Beinprothese, wie in 󳶳Abbildung 1.7 (a) dargestellt, in die Baugruppen: Prothesenfuß, Knie-Waden-Passteil und individuelle Stumpfbettung. Letztere musste natürlich weiterhin handwerklich nach Abformung des Stumpfes angepasst werden. Die Rohform dieser und der weiteren Baugruppen konnte jedoch industriell in verschiedenen Größen mit deutlich höherer Stückzahl und damit preiswerter vorbereitet werden. Nach Wahl der Größe, Anpassung der Länge und Endgestaltung des Schaftes war die Prothese fertiggestellt. Aus diesem später nach dem Gründer Otto Bock benannten Unternehmen stammen auch weitere Meilensteine der prothetischen Versorgung. Der heute weltweite Markt- und Technologieführer beteiligte sich u. a. maßgeblich an der Einführung von Kunststoffen in die Prothetik (1950), an der Entwicklung der endoskelettalen Modular-Beinprothetik (1969, 󳶳Abbildung 1.7 (b)) durch ein „justierbares Verbindungselement“ (Pyramidenadapter), an der Einführung myoelektrischer Steuerungen der Prothetik der oberen Extremität (1967 󳶳Abbildung 1.7 (c)) sowie an der Entwicklung sensorbasierter Mikroprozessorsteuerungen (1997) und intuitiver Steuerungen in der Prothetik (2007). Bisher wurde überwiegend auf die Historie der Gliedmaßenprothetik (󳶳Kapitel 3) eingegangen, da älteste Funde diesem Teilgebiet der Rehabilitationstechnik zuzuordnen sind. Sie gehört zur „Technischen Orthopädie“, welche sich über die Prothetik hinaus u. a. mit Orthesen (äußeren Stützkonstruktionen), Bandagen, Korsetten und Kompressionshilfsmitteln befasst. Im kürzlich erschienen Weißbuch „Rahmenbedin-

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(a)

(b)

(c)

Abb. 1.7: Baugruppen von Prothesen. (a) Sche­ ma einer standardisierten Oberschenkelpro­ these [Näder 2000], (b) moderne Modularpro­ these der unteren Extremität und (c) Prothese der oberen Extremität (Bildrecht: Fa. Otto­ bock).

gungen und Strukturen der Technischen Orthopädie in Deutschland“ [Bauche 2014] wird diese sogar als „Wiege des medizinischen Faches Orthopädie“ bezeichnet, welches im 18. und 19. Jahrhundert aus der orthopädischen Chirurgie entstand. In einer der ersten orthopädischen Heilanstalten befasste sich ab 1816 Johann Georg Heine in Würzburg mit der Entwicklung von Bandagen und Korsetten. Auch der Dresdner Orthopäde Schanz, der vor gut hundert Jahren den Stand der damaligen Technik zusammenfasste [Schanz 1908], arbeitete an unterschiedlichsten Orthesenkonstruktionen (󳶳Kapitel 5) sowie Bandagen. Ohne hier näher auf diesen Teil der Technischen Orthopädie eingehen zu können, zeigt 󳶳Abbildung 1.8 (a) exemplarisch eine heute kurios anmutende Kopf-Orthese zur Therapie von Haltungsstörungen nach Levacher [Schanz 1908]. Auch auf zahlreiche weitere, technisch durchaus interessante Hilfsmittel der Rehabilitationstechnik, wie Gehhilfen und Stehhilfen, kann in diesem kurzen historischen Abriss nicht näher eingegangen werden. Urväter der Trainings- und Übungssysteme (󳶳Kapitel 9) sind die Apparate des schwedischen Arztes und Physiotherapeuten Jonas Gustaf Vilhelm Zander (󳶳Abbildung 1.8 (b)), die er in den 1850er Jahren entwickelte und damit die sog. Medico-mechanische Therapie einführte [Zander 1893]. Unumgänglich ist es jedoch, hier die Entwicklung der Rollstuhltechnik (󳶳Kapitel 4), als wichtiges Teilgebiet der Rehabilitationstechnik kurz vorzustellen. Durch archäologische Funde ist bekannt, dass die Geschichte der Rollstuhlentwicklung bis weit vor Christi Geburt zurückreicht. Sie dürfte mit der Entwicklung des Rades einhergegangen sein. Auf historischen Abbildungen über den Transport von behinderten und kranken Menschen sind Gefährte zu sehen, die Schub- oder Zugkarren ähneln, wie sie zur damaligen Zeit für allgemeine Transportaufgaben genutzt wurden. Dabei erfolgte der Vortrieb über die Muskelkraft von Tieren oder Menschen, nicht durch den Insassen. Einer der bekanntesten frühen Rollstühle wurde von König Philipp II von Spanien ca. 1590 benutzt. Auf zeitgenössischen Grafiken ist erkennbar, dass sich die

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(a)

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Abb. 1.8: (a) Kopf-Orthese N. Levacher [Schanz 1908], (b) Apparat zum Handbeugen und -stre­ cken von Gustav Zander 1905–1914 (Inventar­ nummer 2004/624, Deutsches Hygiene-Muse­ um, Fotograf: David Brandt).

Abb. 1.9: Der Nürnberger Uhrmacher Stephan Farfler in seinem handgetriebenen Rollstuhl.

Winkel der Fußstütze und Rückenlehne des Stuhls einstellen ließen. Doch auch diese Luxusausführung eines Rollstuhls konnte auf seinen an den Stuhlbeinen angebrachten Rollen nur mit fremder Hilfe bewegt werden. Von selbst angetriebenen Rollstühlen, z. B. über Seil- oder Kurbelsysteme, wird aus der Mitte des letzten Jahrtausends berichtet. 1655 erfand der Nürnberger Uhrmacher Stephan Farfler im Alter von 22 Jahren einen selbst anzutreibenden Rollstuhl, um trotz seiner Gehbehinderung ohne Hilfe sonntags in die Kirche zu gelangen (󳶳Abb. 1.9). Der Antrieb erfolgte über Handkurbeln und Zahnradübersetzung [Schulte 1902]. Anzumerken ist, dass die Entwicklung des Rollstuhls natürlich eng an die herrschenden Straßenverhältnisse bzw. Bodenbeschaffenheiten im häuslichen Umfeld gekoppelt ist. Dabei waren damals sicher nur Städte mit gepflasterten Wegen für ein Befahren mit Rollstühlen geeignet. So hatte Herr Farfler in Nürnberg durchaus einen gewissen Vorteil, wird aber die Stadt wohl kaum verlassen haben. Die Entwicklung vom früher überwiegend genutzten Passivrollstuhl zum heutigen Aktivrollstuhl dauerte ca. 100 Jahre. Erste faltbare Greifreifenrollstühle gab es vor etwa 80 Jahren. Rollstühle mit Fremdkraftantrieb wurden vor etwa 100 Jahren entwickelt, als Antriebsmotoren dienten damals Verbrennungsmotoren. Die Elektromo-

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bilität ist im Rollstuhl bereits seit 70 Jahren Realität. Zunächst erhielten Elektrorollstühle Antriebssteuerungen, die über Vorwiderstände mit gestaffelten Spannungen arbeiteten. Impulssteuerungen mit geringeren Verlusten wurden im konventionellen Aufbau erstmals vor ca. 40 Jahren eingesetzt. Heute erfolgt die Endstufenansteuerung in Prozessortechnologie.

1.6 Geräte und Systeme der Rehabilitationstechnik – Arten von Hilfsmitteln Die schon oben (󳶳Kapitel 1.4) benannte Problematik der Abgrenzung der Rehabilitationstechnik (über die Hilfsmittelversorgung hinaus) gilt natürlich auch für die Vorstellung zugehöriger technischer Systeme, für die es ebenfalls keine vollständigen Listungen gibt. Selbst bei einer Begrenzung auf technische Hilfsmittel gemäß der in 󳶳Kapitel 1.1 enthaltenen Definitionen muss zwischen zwei Gruppen unterschieden werden: der im Hilfsmittelverzeichnis der GKV benannten, erstattungsfähigen Hilfsmittel und die Gruppe der in der internationalen Norm DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie [ISO 9999]) beschriebenen Systeme. Im vorliegenden Lehrbuch wird nur Rehabilitationstechnik ausführlicher vorgestellt, die einen höheren technischen Anspruch besitzt. Aus der Gruppe der Hilfsmittel (gemäß des HMV der GKV) sind dies: Exoprothesen (󳶳Kapitel 3), Rollstühle (󳶳Kapitel 4), Orthesen und Bandagen (󳶳Kapitel 5), Hilfsmittel gegen Dekubitus (󳶳Kapitel 6), Kommunikationshilfen, Sehhilfen, Hörhilfen, Sprechhilfen (󳶳Kapitel 7) und Systeme für die Funktionelle Elektrostimulation in der Rehabilitation (󳶳Kapitel 8). Außerhalb der Gruppe der Hilfsmittel (gemäß des HMV der GKV) werden Übungs- und Assistenzsysteme für die Rehabilitation (󳶳Kapitel 9) und Systeme zur Magnetstimulation (󳶳Kapitel 8) vorgestellt. Weiterhin erfolgt eine Abgrenzung gegenüber den im 󳶳Band 11 (Neurotechnik) vorgestellten Systemen, die auch als Implantate Einsatz finden und somit ebenfalls nicht zu den Hilfsmitteln gehören. Auch zu den im 󳶳Band 9 (Automatisierte Therapiesysteme) vorgestellten Systemen gibt es Bezüge aus der Rehabilitationstechnik. So können Beatmungsgeräte als Hilfsmittel Anwendung finden. Die im 󳶳Band 9 enthaltenen Beschreibungen zur funktionellen Elektrostimulation nach Querschnittlähmung und Schlaganfall sowie zu Verfahren in der neurologischen Bewegungstherapie ergänzen die 󳶳Kapitel 8 und 9 des vorliegenden Bandes. In der nachfolgenden Übersicht dieses Kapitels wird deshalb vorrangig auf die Hilfsmittel kurz eingegangen, die in anderen Kapiteln bzw. Bänden nicht betrachtet werden. Zusätzlich soll die Klassifikation von Hilfsmitteln im Hilfsmittelverzeichnis der GKV und in der DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie [ISO 9999]) vorgestellt werden.

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1.6.1 Geräte und Systeme der Rehabilitationstechnik im Hilfsmittelverzeichnis Die Aufgabe der Erstellung des systematisch strukturierten Hilfsmittelverzeichnisses obliegt dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen gemäß § 139 SGB V [SGB V]. In dem Verzeichnis sind die von der Leistungspflicht umfassten Hilfsmittel aufgeführt. Allerdings schließt die fehlende Listung eines Produktes keineswegs aus, dass es in der Bewertung eines spezifischen Versorgungsanspruches im Einzelfall nicht doch von der GKV finanziert wird (das HMV ist keine „Positivliste“). Das Hilfsmittelverzeichnis wird durch die Neuaufnahme und Streichung von gelisteten Produkten, seltener auch von Produktgruppen, ständig aktualisiert. Änderungen werden im Bundesanzeiger bekannt gemacht. Im Hilfsmittelverzeichnis werden, „soweit dies zur Gewährleistung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung erforderlich ist“, auch indikations- oder einsatzbezogene besondere Qualitätsanforderungen für Hilfsmittel festgelegt, beispielsweise um eine „ausreichend lange Nutzungsdauer oder in geeigneten Fällen den Wiedereinsatz von Hilfsmitteln bei anderen Versicherten zu ermöglichen“ [SGB V]. Die Aufnahme eines Hilfsmittels in das Hilfsmittelverzeichnis muss vom Hersteller beantragt werden. Die Entscheidung darüber trifft der Spitzenverband Bund der Krankenkassen nach einer Prüfung durch den Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS). Ein Hilfsmittel wird in das Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen, wenn der Hersteller: – – –

„die Funktionstauglichkeit und Sicherheit, die Erfüllung der Qualitätsanforderungen und ‚soweit erforderlich‘ den medizinischen Nutzen nachgewiesen hat und das Produkt mit den für eine ordnungsgemäße und sichere Handhabung erforderlichen Informationen in deutscher Sprache versehen ist“ [SGB V].

Für Medizinprodukte gilt der Nachweis der Funktionstauglichkeit und der Sicherheit durch die CE-Kennzeichnung grundsätzlich als erbracht. Das Hilfsmittelverzeichnis ist in Produktgruppen (PG) untergliedert, innerhalb derer eine systematische Unterteilung in Anwendungsorte, Untergruppen und Produktarten vorgenommen wird. Unter den jeweiligen Produktarten sind Einzelprodukte mit ähnlicher oder gleicher Funktion bzw. medizinischer Zweckbestimmung gelistet. Das Hilfsmittelverzeichnis enthält Aussagen zum Leistungsrecht, zur Wirtschaftlichkeit der Versorgung, zur Qualität der Produkte, zur Art der Produkte, zu den Indikationsbereichen und zu den Produkten selbst. Ordnungskriterium bei der systematischen Gliederung des Hilfsmittelverzeichnisses ist eine zehnstellige Positionsnummer, wie in 󳶳Abbildung 1.10 dargestellt und dort einem Beispiel aus der Produktgruppe 14 zugeordnet.

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14.24.07.5 034 Produktgruppe Anwendungsort Untergruppe Produktart Einzelprodukt

(PG) (AO) (UG) (PA) (EP)

14. 24. 07. 5 034

Inhalations- und Atemtherapie Atemwege Systeme zur Schlafapnoebehandlung konfektionierte Masken für CPAP-/Beatmungsgeräte Maske Typ x der Firma y

Abb. 1.10: Systematik der Positionsnummer im Hilfsmittelverzeichnis.

Im § 6 „Allgemeine Verordnungsgrundsätze“ der Hilfsmittelrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses ist die Abgabe von Hilfsmitteln geregelt [GBA 2012]. Demnach tragen Vertragsärzte die Verantwortung für die Verordnung von Hilfsmitteln „nach pflichtgemäßem Ermessen innerhalb des durch das Gesetz und diese Richtlinie bestimmten Rahmens“. Dabei geht es darum, den „Versicherten eine nach den Regeln der ärztlichen Kunst und dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung mit Hilfsmitteln zukommen zu lassen“ [GBA 2012]. Es wird ferner darauf verwiesen, dass die „Notwendigkeitfür dieVerordnungvonHilfsmitteln(konkrete Indikation). . . sichnicht allein aus der Diagnose“ ergibt. Es ist „unter Gesamtbetrachtung . . . der funktionellen/strukturellen Schädigungen, der Beeinträchtigungen der Aktivitäten (Fähigkeitsstörungen), der noch verbliebenen Aktivitäten und einer störungsbildabhängigen Diagnostik der Bedarf, die Fähigkeit zur Nutzung, die Prognose und das Ziel einer Hilfsmittelversorgung auf der Grundlage realistischer, für die Versicherte oder den Versicherten alltagsrelevanter Anforderungen zu ermitteln“ [GBA 2012]. Einschränkungen für die Versorgung von Patienten mit Hilfsmitteln können sich aus der erwarteten Beachtung der „Grundsätze von Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit“ und der Forderung ergeben, vor der Verordnung von Hilfsmitteln zu prüfen, „ob entsprechend dem Gebot der Wirtschaftlichkeit das angestrebte Behandlungsziel“ nicht „durch andere Maßnahmen erreicht werden kann“. Auch ist „von gleichartig wirkenden Hilfsmitteln im Rahmen der Indikationsstellung das nach Art und Umfang dem Gebot der Wirtschaftlichkeit entsprechende zu verordnen“ [GBA 2012]. Da in der Einzelproduktlistung des Hilfsmittelverzeichnisse (weitgehend) gleichartige Produkte gelistet sind, führt die letztgenannte Forderung in der Verordnungspraxis leider oft dazu, dass der (geringste) Preis über die Kostenübernahme durch die GKV entscheidet. Die mit einem höheren Produktpreis ggf. verbundenen spezifischen funktionellen Vorteile eines Hilfsmittels, die dem Bedarf des Patienten möglicherweise besser entsprechen, werden dabei nicht immer beachtet. Das aktuelle Hilfsmittelverzeichnis enthält die nachfolgenden, alphabetisch gelisteten Produktgruppen (die zugehörigen Erläuterungen stammen als gekürzte und redaktionell bearbeitete Zitate überwiegend aus dem Hilfsmittelverzeichnis [HMV 2014]):

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(a)

(b)

Abb. 1.11: Hilfsmittel der Produktgruppen 1 und 3: (a) Tragbarer Sekretsauger der Fa. Atmos, (b) Ap­ plikationshilfe der Fa. SANOFI-AVENTIS (Pen für Insulininjektion).

PG 01 des HMV: Absauggeräte Das Prinzip jedes Absauggerätes besteht darin, dass im Sauginstrument (Katheter, Kanüle etc.) ein Unterdruck (Vakuum) erzeugt wird. Dadurch werden gasförmige, schleimige, flüssige und feste Substanzen in die Öffnung des Sauginstrumentes eingesaugt. Sie strömen durch das Schlauchsystem zum Auffanggefäß und werden dort gesammelt. Unterschieden werden: – Sekret-Absauggeräte zur Reinigung der oberen und unteren Luftwege (zur Bronchialtoilette, 󳶳Abb. 1.11 (a)), – Milchpumpen (zum Abpumpen der Muttermilch bei Stillproblemen der Mutter als auch bei Ernährungsproblemen des Kindes).

PG 02 des HMV: Adaptionshilfen Adaptionshilfen dienen Personen zur selbständigen Lebensführung, wenn sie infolge Krankheit oder Behinderung Geräte und Gegenstände des täglichen Lebens nicht mehr zweckentsprechend nutzen können. Durch Adaptionshilfen können Geräte und Gegenstände wieder angewendet werden, die unabdingbar mit der täglichen Lebensführung und Alltagsbewältigung zur Befriedigung der Grundbedürfnisse verbunden sind. Adaptionshilfen lassen sich in verschiedene Bereiche unterteilen: – Hilfen im häuslichen Bereich: Anziehhilfen, Esshilfen, Trinkhilfen, rutschfeste Unterlagen, Greifhilfen, Halter/Halterungen/Greifhilfen für Produkte zur Körperpflege und -hygiene, – Hilfen zum Lesen und Schreiben: z. B. Griffverdickungen oder Halterungen für Kugelschreiber, Kopf- oder Fußschreibhilfen, Mundstäbe oder Führungsschablonen für Tastaturen (󳶳Kapitel 7),

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Bedienungssensoren für elektrische Geräte: verschiedenartig gestaltete Taster, Schalter oder Sensoren, die über Draht oder drahtlos elektrische Geräte ansteuern. Diese reagieren z. B. auf Druck oder Zug, kraftlose Berührung oder Bewegungen von noch beweglichen Körperteilen oder auf Blasen, Saugen, Augen-, Kinn-, Mund- oder Zungenbewegungen sowie auf Licht- oder Schallwellen, Umfeldkontrollgeräte für elektrische Geräte: komplexe Produkte, die den körperbehinderten, bewegungsgestörten Patienten in die Lage versetzen, bestimmte Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens selbständig zu nutzen, z. B. die Ansteuerung eines Fernsehers, Radios oder elektrische Rollläden.

PG 03 des HMV: Applikationshilfen Applikationshilfen sind Instrumente oder Geräte, welche die Verabreichung von Arzneimitteln oder medizinisch indizierten Ernährungslösungen ermöglichen oder unterstützen. Hierbei handelt es sich um: – Spritzen, Anwendungshilfen für Spritzen und Pens: Spritzen sind speziell für die Applikation von Arzneimitteln konzipiert, Anwendungshilfen ermöglichen bzw. erleichtern einen oder mehrere der erforderlichen Arbeitsschritte beim Umgang mit Spritzen, Pens besitzen ein Arzneimittelreservoir, aus welchem eine einstellbare Dosis auf Knopfdruck freigesetzt und injiziert werden kann (󳶳Abb. 1.11 (b)), – Infusionspumpen und Zubehör: sie ermöglichen die Applikation entweder kontinuierlich, kontinuierlich mit Bolusausgabe, intermittierend oder circadian. Je nach zu förderndem Stoff und sonstigen Einsatz- bzw. Umfeldbedingungen, wie Mobilität des Patienten, Hygiene, Therapiedauer etc., können unterschiedliche Infusionspumpenarten zum Einsatz kommen, – Infusionsbesteck und Zubehör für Schwerkraft- bzw. Pumpsysteme: zur Ergänzung von Infusionspumpen, – Spülsysteme: manuell oder schwerkraftbetriebene Pumpsysteme zur rektalen Einleitung von Spülflüssigkeit in den Darm. Die Applikation eines Arzneimittels kann auch über Vollimplantate erfolgen, die jedoch keine Hilfsmittel sind und daher nicht im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt werden.

PG 04 des HMV: Badehilfen Badehilfen sind Produkte, die dem Anwender die selbständige Ausübung der täglichen Körperpflege ermöglichen sollen. Zu ihnen gehören: – Badewannenlifter: dienen der Absenkung des Betroffenen von der Wannenrandhöhe in Richtung Wannenboden bzw. umgekehrt,

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Badewannensitze und Badewannenbretter: werden in die Badewanne eingehängt oder auf den Wannenrand aufgelegt, Duschhilfen: Duschsitze, Duschhocker, Duschstühle, Duschliegen und fahrbare Duschliegen, die ausschließlich für den häuslichen Gebrauch bestimmt sind, Badewanneneinsätze: Badewannenverkürzer und Badeliegen, Sicherheitsgriffe und Aufrichthilfen: Griffe in verschiedenen Ausführungen für Personen, deren physische Funktionseinschränkungen die tägliche Körperpflege in der Badewanne oder unter der Dusche ohne weitere Anwendung von Hilfsmitteln nicht mehr erlauben.

PG 05 des HMV: Bandagen hier nicht erläutert, siehe 󳶳Kapitel 5

PG 06 des HMV: Bestrahlungsgeräte Bestrahlungsgeräte dienen der Applikation von Energie in den menschlichen Körper. Bei der Behandlung mit optischer Strahlung (Licht) werden folgende Therapieformen unterschieden: – mit infraroter Strahlung (ca. 780 nm bis 1000 μm), – mit sichtbarer Strahlung (ca. 400 nm bis 780 nm), – mit ultravioletter Strahlung (ca. 100 nm bis 400 nm) (󳶳Abb. 1.12 (a)), – mit dem gesamten, sonnenlichtähnlichen Spektrum. Weiterhin ist eine Lasertherapie möglich, bei der monochromatische (auf eine Wellenlänge begrenzte), kohärente (gleichphasige) und eng gebündelte optische Strahlung genutzt wird.

(a)

(b)

Abb. 1.12: Hilfsmittel der Produktgruppen 6 und 12: (a) UV-Therapie-Lichtstab UV 109 der Fa. Wald­ mann, (b) Trachealkanüle aus Sterlingsilber nach Jatho der Fa. Fahl Medizintechnik.

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PG 07 des HMV: Blindenhilfsmittel Blindenhilfsmittel dienen dem Blinden oder hochgradig Sehbehinderten zur selbständigen Fortbewegung, Wahrnehmung und Orientierung in der Umwelt sowie zur Informationsbeschaffung. Hilfsmittel im Sinne dieser Produktgruppe haben keinerlei sehkraftverbessernde Wirkung. Zu ihnen gehören: – Blindenlangstöcke bzw. Taststöcke: weißer, leichter Stock, der individuell angepasst ist und dem Schutz vor der Kollision mit Hindernissen dient, – Elektronische Blindenleitgeräte: stellen den Körperschutz für den Oberkörper sicher und ermöglichen die Fortbewegung und Orientierung in der Umwelt, unterteilt in: – Leitgeräte für den Körperschutz: Hindernismelder, die Hindernisse und evtl. deren Entfernung im erfassten Bereich anzeigen, – Leitgeräte zur einfachen räumlichen Orientierung: Orientierungshilfen, zeigen Hindernisse, deren Entfernung und Richtung an, – Leitgeräte zur umfassenden räumlichen Orientierung: Umweltsensoren geben zusätzlich Informationen über die Art (Größe, Oberfläche) des Hindernisses an und können zwischen mehreren Hindernissen differenzieren. – Hilfsmittel für Informationsgewinnung und Kommunikation blinder Menschen: hier nicht erläutert, siehe 󳶳Kapitel 7

PG 08 des HMV: Einlagen Einlagen sind funktionelle Orthesen zur Korrektur, Stützung oder Bettung von Fußdeformitäten, zur Entlastung oder Lastumverteilung der Fußweichteile, der Bein- oder auch Wirbelsäulengelenke. Sie werden aus Kork, Leder, thermoplastischen Kunststoffen oder Metall gefertigt. Es werden folgende Arten unterschieden: – Kopieeinlagen: werden individuell nach Maß oder nach Formabdruck gefertigt und dienen dem Abstützen und Entlasten spezifischer Fußpartien, – Bettungseinlagen: werden vornehmlich nach einem Formabdruck des belasteten Fußes gefertigt und sollen weitere Verformungen des belasteten, nicht mehr korrekturfähigen Fußes verhindern, indem sie ihn gegen Dreh- und Biegebewegungen stabilisieren, – Schaleneinlagen: sollen krankhafte Fußfehlformen und Fehlentwicklungen des Fußes aufhalten, den Fuß in die richtige Form und Funktion lenken sowie das Ergebnis von Korrekturoperationen am Fuß sichern; sie werden aus starren, selbsttragenden Materialien nach Formabdruck des in Korrekturstellung gebrachten Fußes angefertigt, – Einlagen mit Korrekturbacken: sollen den Fuß während des Wachstums durch Druck auf bestimmte Fußteile gezielt in eine bestimmte Richtung lenken und können dazu dienen, das Ergebnis von Korrekturoperationen am Fuß zu sichern; sie

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werden aus starren, selbsttragenden Materialien nach Formabdruck des in Korrekturstellung gebrachten Fußes angefertigt, Fersenschalen: wirken Fehlstellungen der Ferse durch eine gezielte Korrektur entgegen, werden aus starren, selbsttragenden Materialien nach Formabdruck des in Korrekturstellung gebrachten Fußes angefertigt, Stoßabsorber: dienen dazu, lokale Beschwerden des Fersenauftrittsbereich durch Spitzenstoßbelastungen abzufangen, Verkürzungsausgleiche: dienen der Überbrückung bestehender Längendifferenzen, Einlagen in Sonderanfertigung: individuell hergestellte Einlagen, die auf der Grundlage eines speziellen Gipsabdruckes erstellt werden, eine Walk-Lederdecke sowie eine Kunststoff- oder Metallverstärkung aufweisen und mit einem Unterleder ausgestattet sind.

PG 09 des HMV: Elektrostimulationsgeräte Bei Elektrostimulations- und Therapiegeräten handelt es sich um elektrisch betriebene Medizinprodukte, die einen therapeutisch wirksamen Strom erzeugen und ihn über Elektroden unterschiedlicher Ausführung dem Körper zuführen. In der Elektrotherapie mit nieder- und mittelfrequenten Strömen sowie der Galvanisation wird der elektrische Strom zur Behandlung und Nachbehandlung bei Krankheiten sowie zum Behinderungsausgleich und zur Vorbeugung von Behinderung eingesetzt. Die Elektrostimulationsgeräte für die häusliche Therapie dienen der Behandlung des übermäßiges Schwitzens (Galvanisation), der Schmerztherapie und der Muskelstimulation. Für die nichtinvasiven Systeme zur Magnetfeldtherapie fehlt bislang der wissenschaftlich eindeutig belegte Beweis ihrer Wirksamkeit. Eine Aufnahme derartiger Produkte in das Hilfsmittelverzeichnis ist deshalb bisher nicht möglich. Für nähere Erläuterungen zur funktionellen Elektro- und Magnetstimulation siehe 󳶳Kapitel 8.

PG 10 des HMV: Gehhilfen Gehhilfen dienen gehbehinderten Menschen zum Ausgleich der verminderten Belastbarkeit oder Leistungsfähigkeit der unteren Extremitäten. Ihr Ziel ist die Erweiterung des vorher eingeschränkten Aktionsradius. Zu den Gehhilfen zählen auch solche Geräte, die der Anwender im häuslichen Bereich für das Erlernen bzw. Trainieren des aktiven Gehens und der selbständigen Fortbewegung benötigt. Bei der Benutzung von Gehhilfen ist die eigene Kraftanwendung des Anwenders erforderlich. Das Grundprinzip der Gehhilfenanwendung besteht in der Minderung der Belastung der unteren Extremitäten mittels Krafteinsatzes (Abstützung) durch die obere(n) Extremität(en) (evtl. auch des Rumpfes). Gehhilfen lassen sich untergliedern in Hilfen für den Einsatz:

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vorwiegend im Innenraum (Gehgestelle, Gehwagen, Gehübungsgeräte), sowohl im Innenraum als auch außerhalb des Hauses (Hand- und Gehstöcke, Unterarmgehstützen, Achselstützen, fahrbare Gehhilfen).

PG 11 des HMV: Hilfsmittel gegen Dekubitus hier nicht erläutert, siehe 󳶳Kapitel 6

PG 12 des HMV: Hilfsmittel bei Tracheostoma Als Tracheostoma wird ein operativ angelegter Luftröhreneingang am Hals des Patienten bezeichnet. Die Atmung erfolgt nicht mehr – oder nur noch teilweise – durch Nase und Mund, sondern durch die über dem Brustbein in Höhe des zweiten bis fünften Trachealringknorpels (Luftröhrenringknorpels) angebrachte künstliche Körperöffnung. Eine Tracheotomie wird z. B. bei Patienten mit Dauerbeatmung, bei einer intermittierenden chronischen Beatmung bei Ateminsuffizienz, nach einer operativen Entfernung des Kehlkopfes (Laryngektomie), bei mechanischer Behinderung der Atmung oder bei Tumor und Trauma im Bereich der oberen Luftwege (Trachea und MundRachen-Raum) durchgeführt. Trachealkanülen halten unmittelbar nach der Operation und z. T. für die ersten Monate danach das Tracheostoma offen und werden i. d. R. aus verschiedenen Kunststoffen, Teflon oder aus Silber gefertigt (󳶳Abb. 1.12 (b)). Zum Schutz vor Staubund Schmutzpartikeln, Insekten oder anderen Fremdkörpern, die durch das Stoma in die Luftröhre gelangen können, werden spezielle Schutzartikel wie Tücher, Lätzchen, Rollis, Filter etc. benötigt. Zur Anfeuchtung und Erwärmung können Wärme-/Feuchtigkeitsaustauscher (künstliche Nasen) ggf. auch mit Filterwirkung genutzt werden.

PG 13 des HMV: Hörhilfen hier nicht erläutert, siehe 󳶳Kapitel 7

PG 14 des HMV: Inhalations- und Atemtherapiegeräte Inhalations- und Atemtherapiegeräte entfalten ihre therapeutische Wirkung über den Atemtrakt. Mit ihnen werden Substanzen mit der Einatemluft verabreicht oder sie unterstützen bzw. ersetzen die Atemfunktion. Es werden folgende Systeme unterschieden:

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Aerosol-Inhalationsgeräte im medizinischen Bereich erzeugen Tröpfchen aus Lösungen oder Suspensionen zur Inhalation. Die im Aerosolgemisch enthaltenen Lösungs- oder Medikamententeilchen mit schleimlösender, entzündungshemmender, bronchialerweiternder, antiallergischer oder bakterizider Wirkung werden unter Umgehung des Blutkreislaufes direkt an ihren Wirkort gebracht. Vernebler für spezielle Medikamente werden immer dann benötigt, wenn für die Applikation eines Arzneimittels ein besonders homogenes und auf das Medikament abgestimmtes Tröpfchenspektrum benötigt wird. Systeme zur Sauerstoff-Langzeittherapie, mit denen die Einatemluft mindestens 16 Stunden pro Tag mit Sauerstoff angereichert werden soll, wenn alle konservativen Therapieverfahren ausgeschöpft sind, um einen durch eine Lungenerkrankung hervorgerufenen Sauerstoffmangel des Blutes zumindest teilweise auszugleichen oder einen erhöhten Druck in der Pulmonalarterie zu senken. Der Sauerstoff kann mittels Druckgas-Flaschensystemen oder Flüssiggas-Behältersystemen zur Verfügung gestellt werden, mit Hilfe von Sauerstoffkonzentratoren aus der Umgebungsluft angereichert werden oder mit Sauerstoffgeneratoren aus Wasser gewonnen werden. Die Zufuhr des Sauerstoffs erfolgt zumeist über doppellumige Nasensonden (auch als Nasenbrillen bezeichnet), weniger häufig über einlumige Nasensonden und nur in seltenen Fällen über Masken. Geräte zur häuslichen Beatmung und Druckunterstützung werden unterteilt in: – Systeme zur Behandlung schlafbezogener Atemstörungen: z. B. der obstruktiven und zentralen Schlafapnoe oder der Cheyne-Stokes-Atmung; bei kontinuierlichem Überdruck (continuous positive airway pressure, CPAP) wird ständig ein positiver Druck in den Atemwegen erzeugt, der diese offen hält (󳶳Abb. 1.13 (a)), – Geräte zur häuslichen Beatmung: die Spontanatmung des Patienten wird mit Hilfe einer Beatmungsmaschine mehrere Stunden täglich unterstützt. Atemtherapiegeräte zur Schleimlösung und -entfernung: Systeme mit positivem endexspiratorischen Druck (positive expiratory pressure, PEEP) in Form von Mundstücken oder Masken erzeugen während der Ausatmung einen positiven Druck in den Atemwegen. Geräte, die mechanische Impulse (Vibrationen) generieren, dienen der Lockerung des Sekretes. Sie können sowohl von extern auf den Brustkorb als auch intern über den Atemstrom wirken (siehe Beatmungsgeräte 󳶳Band 9).

PG 15 des HMV: Inkontinenzhilfen Inkontinenzhilfen nutzen Personen, die nicht in der Lage sind, Harn oder Stuhlabgang willkürlich zu kontrollieren. Ursache können Fehlbildungen sowie verschie-

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(a)

(b)

Abb. 1.13: (a) Hilfsmittel der Produktgruppen 14 und 17: Gerät zur Behandlung schlafbezogener Atemstörungen der Fa. Weinmann, (b) Kompressionsstrumpf der Fa. medi.

dene Krankheits- oder Verletzungsfolgen sein. Hilfsmittel zur Urininkontinenzversorgung sollen Harnausscheidungen auffangen, möglichst hautfern ableiten und speichernd sammeln, um Infektionen, Hautläsionen und sonstige Störungen zu verhindern. Die Stuhlinkontinenz beruht auf einer direkten oder indirekten Störung der analen Schließmuskelfunktion verschiedenen Grades. Üblich ist das Auffangen des Stuhles in Vorlagen oder Windelhosen. Inkontinenzhilfen lassen sich in vier Gruppen einteilen: – aufsaugende Versorgung: Vorlagen, Inkontinenzhosen, – ableitende Versorgung: Urinalkondome/Rolltrichter verschiedener Art in Verbindung mit Auffangbeuteln, Katheter verschiedener Art, Urin- und Stuhlauffangbeutel, – Hilfsmittel zum Training der Beckenbodenmuskulatur: Trainingsgewichte bzw. Konen, mechanische Druckaufnahmesysteme, elektronische Messsysteme der Beckenboden-Muskelaktivität, – intraurethrale/intravaginale Inkontinenztherapiesysteme: intraurethrale Inkontinenztherapiesysteme, Pessare, Vaginaltampons zur Stützung bzw. Anhebung des Blasenhalses.

PG 16 des HMV: Kommunikationshilfen hier nicht erläutert, siehe 󳶳Kapitel 7

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PG 17 des HMV: Hilfsmittel zur Kompressionstherapie Die Kompressionstherapie umfasst Maßnahmen der äußeren, flächigen Druckapplikation bei Venenleiden, Lymphabflussstörungen und Verbrennungsnarben. Mittels flächigen Druckes soll der Ausbildung von Oedemen vorgebeugt und der venöse Rückfluss bzw. Lymphabfluss unterstützt werden. Als Hilfsmittel kommen komprimierende, extremitätenumhüllende, elastische Zweizug-Gewebe bzw. Zweizug-Gestricke zum Einsatz, z. B. Strümpfe, die mindestens knielang sind (󳶳Abb. 1.13 (b)). Für die Kompressionsbehandlung von Verbrennungen oder Narben nach chirurgischen Eingriffen kommen ebenfalls komprimierende, das Behandlungsgebiet flächig umhüllende, textile Gewebe oder Gestricke zum Einsatz (Verbrennungsbandagen). Die Hilfsmittel zur Kompressionstherapie unterscheiden sich hinsichtlich des Anwendungszieles von den Bandagen (PG 05, 󳶳Kapitel 5), die eine komprimierende oder funktionssichernde (unterstützende, stabilisierende, bewegungslenkende) Wirkung besitzen. Anti-Thrombosestrümpfe sind keine Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung. Die intermittierende Kompressionstherapie wird mit Apparaten durchgeführt, die über Ein- oder Mehrkammersysteme wechselnden Druck auf die zu behandelnde Extremität ausüben. Mehrkammersysteme bauen die Druckeinwirkung von distal nach proximal auf (intermittierende Druckwelle).

PG 18 des HMV: Kranken-/Behindertenfahrzeuge hier nicht erläutert, siehe 󳶳Kapitel 4

PG 19 des HMV: Krankenpflegeartikel Zu den Krankenpflegeartikeln gehören: – behindertengerechte Betten: Spezialbetten, die u. a. durch Höhenverstellbarkeit, verstellbare Liegefläche, Ausstattungsmöglichkeit mit Zubehör (z. B. Bettgalgen, Sonderbetätigungen zur Bedienung der Verstellmöglichkeiten) der jeweiligen Behinderung angepasst werden können, – behindertengerechtes Bettenzubehör: ermöglicht bzw. erleichtert dem Behinderten die Nutzung des Bettes: Bettverlängerungen, Bettverkürzer, Bettgalgen, Aufrichthilfen, Seitengitter, Fixierbandagen, Fixierhilfen, – Stechbecken: ermöglichen unter Mithilfe von Betreuungspersonen die Verrichtung der Notdurft im Bett, – Bettschutzeinlagen: Saugende Bettschutzeinlagen nehmen geringe Mengen von Körperausscheidungen und Wundsekreten auf und beugen Folgeschäden vor,

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Einmalhandschuhe: ermöglichen dem Patienten, Handgriffe der Kranken- und Behandlungspflege gefahrlos an sich selbst vorzunehmen.

PG 20 des HMV: Lagerungshilfen Lagerungshilfen sind Produkte, mit deren Hilfe Körperabschnitte (Kopf, Rumpf, Extremitäten) in therapeutisch sinnvolle Stellungen gebracht und dort gehalten werden, um Schmerzen zu lindern, Gelenkschäden, Kontrakturen sowie Spasmen zu verhindern oder zu behandeln (siehe 󳶳Kapitel 5.4). Weiterhin dienen sie der vorübergehenden Druckentlastung einzelner Körperabschnitte, z. B. in der postoperativen Phase. Lagerungshilfen werden als konfektionierte Hilfsmittel in einer sehr großen Vielfalt an Größen, Formen und individuellen Anpassungsmöglichkeiten produziert. Weiterhin können Lagerungshilfen in Sonderanfertigungen nach Formabdruck hergestellt werden. Lagerungshilfen für die Lagerung einzelner Körperabschnitte sind: – Lagerungsschalen für Beine/Arme aus Gießharz oder Niederdruckpolyethylen, – Beinlagerungshilfen aus Schaumstoff oder einer Metallrahmenkonstruktion mit Bezugsmaterialien, – Schulterabduktions-Lagerungskissen/-keile bzw. nicht korrigierende Schulterabduktions-Lagerungsschienen aus Schaumstoff oder einer Schienenkonstruktion mit Befestigungsgurten, – Lagerungskeile aus Schaumstoff zur stabilisierenden Lagerung im Bett, z. B. zur Dekubitusprophylaxe, – Funktionelle Lagerungssysteme für Kinder meist in Form von Schaumstoffsystemkeilen gefertigt, – Lagerungsliegen bei Mukoviszidose zur Lagerung von Betroffenen während der sog. „Klopftherapie“ in verschiedenen Positionen, wodurch der Abfluss des Bronchialsekretes erleichtert werden kann, – Lagerungshilfen zur Entlastung in Form von Sitzringen.

PG 21 des HMV: Messgeräte für Körperzustände/-funktionen Messgeräte für Körperzustände dienen der Eigenmessung (z. B. Blutzuckermessgeräte) und Überwachung von Funktionsparametern (z. B. Atem- und Herztätigkeit) durch den Patienten (bzw. einer Betreuungsperson), um einen Krankheitszustand oder eine therapeutische Maßnahme regelmäßig zu kontrollieren. Damit können frühzeitig vom Patienten (bzw. einer Betreuungsperson) gemäß einer vorherigen Vereinbarung (Handlungsanweisung) oder nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt entsprechende Maßnahmen ergriffen oder unterlassen werden. Mit Messgeräten zur Selbstmessung kann insbesondere die Dosierung von Medikamenten optimiert

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werden. Folgende Messgeräte für Körperzustände/-funktionen sind der Produktgruppe zugeordent: – Lungenfunktionsmessgeräte: Peak-Flow-Meter oder auch Spirometer sind einfache Lungenfunktionsmessgeräte, mit denen der sogenannte „Peak Flow“ (Spitzenfluss) bestimmt wird, d. h. die maximale Atemstromstärke, welche bei forcierter Ausatmung kurz nach ihrem Beginn erreicht wird, – Blutdruckmessgeräte: ermöglichen die Bestimmung des systolischen und des diastolischen Blutdrucks, – Überwachungsgeräte für Vitalfunktionen bei Kindern: – bei erhöhtem Risiko für den „plötzlichen Kindstod“ (SIDS – Sudden Infant Death Syndrome): mit speziellen Monitoren oder Überwachungsgeräten wird die Atem- und Herztätigkeit sowie zusätzlich die Sauerstoffsättigung des Blutes von Säuglingen überwacht und bei Auftreten einer lebensbedrohenden Situation wie einem Atemstillstand ein Alarm ausgelöst, – bei spezifischen Erkrankungen oder Störungen des kardiorespiratorischen Systems, z. B. bei angeborener Anomalie des Herzens oder der Lunge, welche eine dauernde Überwachung im häuslichen Bereich notwendig macht, – Überwachungsgeräte zur nichtinvasiven Blutgaskontrolle: Pulsoximeter bestimmen kontinuierlich, transkutan die Sauerstoffsättigung des Blutes, zeitgleich wird eine Pulsmessung durchgeführt, – Blutgerinnungsmessgeräte: Koagulationsmessung in Kapillarblutproben, notwendig, wenn die Gerinnungsfähigkeit des Blutes mit gerinnungshemmenden Medikamenten herabgesetzt wird, – Überwachungsgeräte für Epilepsiekranke: erkennen bestimmte Formen von epileptischen Anfällen, z. B. durch Krampfanfälle ausgelöste Bewegungen, und alarmieren Betreuungspersonen, – Blutzuckermessgeräte: zur Messung der Glukosekonzentration in Kapillarblutproben (󳶳Abb. 1.14 (a)), – Personenwaagen: zur genauen Messung des Körpergewichtes bei Patienten mit zeitlich begrenztem Ausfall der Nierenfunktion (akutes Nierenversagen) wie auch bei Patienten mit andauerndem, chronischen Nierenversagen (terminale Niereninsuffizienz), welche eine außerhalb des Körpers erfolgende (extrakorporale) Blutreinigung (Dialysebehandlung, 󳶳Band 9) benötigen. Messgeräte zur Selbstmessung unterscheiden sich nur teilweise von Geräten, die in der stationären oder ambulaten Versorgung durch medizinisches Fachpersonal eingesetzt werden und deshalb keine Hilfsmittel sind. Der Aufbau und die Funktion diagnostischer Messgeräte wird ausführlich in 󳶳Band 5 (Biosignale und Monitoring) dieser Lehrbuchreihe behandelt.

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(a)

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Abb. 1.14: Hilfsmittel der Produktgruppen 21 und 26: (a) Blutzuckermessgerät der Fa. Bayer, (b) Sitz­ schale mit Untergestell der Fa. interco Reha-Hilfen.

PG 22 des HMV: Mobilitätshilfen Mobilitätshilfen sind Hilfsmittel, die einem Patienten den Positionswechsel ohne Inanspruchnahme einer Hilfsperson bzw. mit deutlich vermindertem Unterstützungsaufwand durch Hilfspersonen ermöglichen. Sie dienen dem Betroffenen dazu, die Grundbedürfnisse Aufrichten und Fortbewegung weitgehend selbständig auszuführen. Mobilitätshilfen, die der selbständigen Umlagerung bzw. kleineren Ortsveränderung dienen, sind: – Rutschbretter, – Umsetz-/Aufrichthilfen. Bei unzureichender Restmobilität des Patienten stehen weitere Umlagerungshilfen zur Fremdbedienung zur Verfügung, die unter anderem am Bett oder einer sonstigen Sitzgelegenheit eingesetzt werden können. Im Einzelnen sind dies: – Drehscheiben, – Positionswechselhilfen, – Umlager-/Wendehilfen, – Patientenhebekissen. Aufstehhilfen für Sessel oder Stühle sind sog. Katapultsitze zum Auflegen auf eine vorhandene Sitzgelegenheit oder Aufrichtgestelle, an denen sich der Patient mit seiner noch vorhandenen Eigenkraft aus der Sitzposition aufrichten kann.

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Lifter dienen zur Aufnahme eines Kranken bzw. Behinderten aus sitzender oder liegender Haltung und ermöglichen den Transport und eine Positionsveränderung des Körpers in der Wohnung. Zu den Liftern zählen: – fahrbare Lifter zur Fremdbedienung, die als mobile Systeme räumliche Veränderungen ermöglichen, – Wandlifter, die in entsprechende Wandhalterungen in verschiedenen Räumen der Wohnung eingehängt werden können, – Deckenlifter, die mit Bodenständern freistehend sind. Treppenlifter sind keine Hilfsmittel im Sinne der GKV, da sie nicht der Fortbewegung dienen, sondern die vom Patienten aufgrund seiner Behinderung nicht nutzbare Treppe ersetzen (BSG, Urteil vom 04.08.1981, USK 81218). Mobile Rampen und Hebebühnen ermöglichen Rollstuhlfahrern die Überwindung von Treppen in der Wohnung, am oder im Haus und erhöhen so die selbständige Mobilität. Als Mobilitätshilfen für Kinder kommen unter bestimmten Voraussetzungen mehrspurige Fahrräder mit Eigenkraftantrieb in Form von Zweirädern mit Teleskopstützrädern oder Dreiräder in Betracht.

PG 23 des HMV: Orthesen/Schienen hier nicht erläutert, siehe 󳶳Kapitel 5

PG 24 des HMV: Prothesen hier nicht erläutert, siehe 󳶳Kapitel 3

PG 25 des HMV: Sehhilfen hier nicht erläutert, siehe 󳶳Kapitel 7

PG 26 des HMV: Sitzhilfen Sitzhilfen dienen der Kompensation ausgeprägter Sitzfehlhaltungen oder Sitzhaltungsinstabilitäten. Sie sollen ein dauerhaftes, beschwerdefreies Sitzen in physiologischer Haltung ermöglichen (siehe 󳶳Kapitel 5.5). Sitzschalen stabilisieren die Körperhaltung in therapeutisch erwünschter Stellung durch die körperumfassende Konstruktion dieser Hilfsmittel. Sie erleichtern so dem Patienten die Wahrnehmung und Kontaktaufnahme zu seiner Umwelt, verbessern vitale Funktionen wie z. B. die Atmung und Herz-Kreislauftätigkeit, vermindern

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Spastiken und ermöglichen den aktiven Einsatz der Arme und Hände für selbständige Bewegungen und Tätigkeiten. Sitzschalen werden unterteilt in: – konfektionierte Sitzschalen: starre Sitzschalenmodule oder Sitzschalenmodule mit Rückenverstellung, – individuell unter Verwendung von Rohlingen angepasste Sitzschalen, – individuell angefertigte Sitzschalen nach genauer Abnahme der Maße oder Formabdruck. Für behinderte Kinder können Modul-Kindersitzsysteme eine Alternative zu Sitzschalen sein. Sie bestehen aus Sitz-, Rücken- und Seitenteilen, die in unterschiedlichen Formen und Größen individuell zusammengestellt werden können. Zur Versorgung mit Sitzschalen und modularen Sitzsystemen für Kinder gehören auch Fahr- bzw. Untergestelle für den Innenraum oder Außenbereich (󳶳Abb. 1.14 (b)). Therapiestühle sind Sitzhilfen für Kinder, die aufgrund der Ausprägung und Art des Krankheitsbildes nicht ständig in einer Sitzschale sitzen müssen. Diese Stühle sind in jede Richtung verstellbar und durch verschiedene Zubehörteile und Fixierungssysteme individuell anpassbar. Für den Transport von Kindern im Auto stehen behindertengerechte Autokindersitze zur Verfügung, die Anwendung finden können, wenn die vorhandene Sitzhilfe nicht in einem Auto adaptierbar ist. Arthrodesenstühle sind nach der operativen Gelenkversteifung (Arthrodese) benannt, mit Rollen ausgestattete, gepolsterte Sitzhilfen, mit denen die Oberschenkel durch einstellbare Vorrichtungen getrennt voneinander abgesenkt und angehoben werden können. Arthrodesensitzkissen sind spezielle Sitzkissen, die auf handelsübliche Sitzmöbel aufgelegt werden können. Sie ermöglichen Patienten mit schwerwiegenden Bewegungseinschränkungen des Hüft- oder Kniegelenks ein behinderungsadaptiertes Sitzen. Gegenstände ohne spezielle therapeutische Wirkung, die lediglich der Gesunderhaltung, dem Fitnesstraining oder dem allgemeinen Wohlbefinden dienen, fallen in den Bereich der persönlichen Lebensführung und sind keine Hilfsmittel im Sinne der Gesetzlichen Krankenversicherung. Gleiches gilt für Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, auch wenn diese durch gewisse Veränderungen oder durch bestimmte Qualität bzw. Eigenschaft behindertengerecht gestaltet sind (z. B. Sitzbälle, Sitzschalenstühle, Streckstühle, sog. Bandscheibenstühle, Autofahrer-Rückenlehnen, Sitzmulden, spezielle Autositze mit Ausnahme behinderungsgerechter Autokindersitze, Sitzkeile sowie Vorrichtungen zum geraden Sitzen).

PG 27 des HMV: Sprechhilfen hier nicht erläutert, siehe 󳶳Kapitel 7

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PG 28 des HMV: Stehhilfen Stehhilfen ermöglichen bei angeborenen oder erworbenen Einschränkungen oder Verlust des kontrollierten Stehvermögens den Verbleib in einer senkrechten (oder annähernd senkrechten) Körperhaltung, über ein eventuell mögliches kurzzeitiges Aufrichten in den Stand hinaus. Die Einnahme der Stehhaltung bzw. das Training (Stehübung) ist bei begründeter Aussicht auf Wiedererlangung einer Gehfähigkeit therapeutisch erforderlich. Darüber hinaus hat sich sowohl das Stehtraining als auch die Stehhaltung in der Langzeitbehandlung von Lähmungserscheinungen hinsichtlich der Gleichgewichtsschulung, der Kreislaufkonditionierung, der Dekubitusprophylaxe, des Blasentrainings und der Kontrakturprophylaxe bewährt. Bei den derzeit existierenden technischen Lösungen sind bei einer Reihe von Produkten fließende Übergänge von Sitzhilfe zu Stehhilfe bzw. von Stehhilfe zu Gehhilfe zu finden oder sie vereinen als Baukastensystem die Möglichkeit der Um-/Aus-/Aufrüstungen zu Sitz-/Steh-/Gehhilfen. Stehhilfen sind einteilbar in: – Stehständer: Geräte zur Stabilisierung der Fuß-, Knie- und evtl. der Hüftgelenke zur Durchführung von Steh- und Bewegungsübungen des Rumpfes und der oberen Extremitäten, – Schrägliegebretter: dienen ebenfalls der Stabilisierung von Rumpf und Beinen und erleichtern die Kopfkontrolle bzw. Armfunktion und helfen, den sonst sehr eingeschränkten Gesichtskreis zu erweitern.

PG 29 des HMV: Stomaartikel Als Stoma („Mund“) werden im Allgemeinen operativ angelegte Körperöffnungen bezeichnet, bei denen ein Ausgang von Dünndarm, Dickdarm oder Harnleiter in die vordere Bauchdecke eingenäht wird. Solche künstlichen Körperöffnungen mit Dickdarm- oder Dünndarmanschluss werden auch als Anus praeter (künstlicher After) bezeichnet. Derartige Operationen sind bei Erkrankungen am Verdauungstrakt oder der Harnorgane notwendig, bei denen tiefergelegene Teile des Dünndarms, Dickdarms oder der Harnableitung entweder (vorübergehend) stillgelegt oder entfernt werden müssen. Hilfsmittel für Stomata (Stomaartikel) bestehen in erster Linie aus Auffangbeuteln, die Körperausscheidungen aufnehmen. Sie unterscheiden sich in: – geschlossene Beutel, vornehmlich bei Kolostomie (Ausleitung des Dickdarms zur Körperoberfläche), – Ausstreifbeutel, vornehmlich bei Ileostomie (Ausleitung des Dünndarms zur Körperoberfläche), – Urostomiebeutel (bei Ausleitung der Harnwege zur Körperoberfläche).

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Für jede Beutelart gibt es vielfältige Befestigungssysteme, die für die Hautbeschaffenheit, Lage des Stomas und Mitarbeit des Stomaträgers spezifiziert sind. Weitere Hilfsmittel für Stomaträger sind Stomakappen und Minibeutel. Sie dienen zum kurzzeitigen Verschluss des Stomas während der ausscheidungsfreien Zeit und nach der Irrigation (durch Spülung hervorgerufene Entleerung des Darmes). Nach Nutzung von Irrigationssystemen kann eine ausscheidungsfreie Zeit von 24 bis 48 Stunden erreicht werden.

PG 30 des HMV existiert nicht

PG 31 des HMV: Schuhe Grundsätzlich sind Schuhe Bekleidungsstücke und damit Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens. Schuhe gehören nur dann zu den Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung, wenn bei definierten Krankheitsbildern oder Funktionsstörungen der medizinisch notwendige Behinderungsausgleich nicht mit fußgerechten Konfektionsschuhen, deren orthopädischer Zurichtung oder orthopädischen Einlagen erreicht werden kann. Zu den Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung gehören: – orthopädische Maßschuhe, – Therapieschuhe, – orthopädische Schuhzurichtungen an Konfektionsschuhen, – Diabetes-adaptierte Fußbettungen. Der Anspruch des Patienten erstreckt sich nicht nur auf die Erstversorgung mit orthopädischen Maßschuhen, sondern auch auf deren Änderung, Instandsetzung (Reparaturen) und die ggf. notwendige Ersatzbeschaffung. Reparaturen aufgrund der normalen Abnutzung, z. B. an Absatz und Laufsohle oder der Ersatz von Schnürsenkeln, gehen jedoch zu Lasten des Patienten. Zu den von der GKV finanzierten Änderungen am Schuh gehören insbesondere Erweiterungen und Ergänzungen, die ihre Ursache in der Person des Patienten (z. B. geändertes Krankheitsbild, Wachstum) haben.

PG 32 des HMV: Therapeutische Bewegungsgeräte hier nicht erläutert, siehe 󳶳Kapitel 9

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PG 33 des HMV: Toilettenhilfen Toilettenhilfen ermöglichen bzw. erhöhen die Selbständigkeit bei der Toilettenbenutzung und der damit verbundenen körperhygienischen Maßnahmen, insbesondere indem sie beeinträchtigte oder fehlende Funktionen des Bewegungs- oder Halteapparates kompensieren. Toilettenhilfen werden entsprechend ihrer Zielsetzung eingeteilt in: – Toilettensitze werden auf das vorhandene Toilettenbecken aufgelegt oder angeschraubt und dienen der Erhöhung der Toilette, – Toilettensitzerhöhungen kommen ohne und mit Armlehnen zum Einsatz; Kindertoilettensitze ermöglichen behinderten Kindern durch spezielle Ausstattungsdetails wie Rückenstütze mit Fixiermöglichkeit und Fußabstützung die Toilettennutzung, – Toilettenstützgestelle werden über bzw. um das vorhandene Toilettenbecken gestellt. Sie ermöglichen ein Abstützen während des Toilettenganges. Sie können mit einer Sitzfläche ausgestattet sein, – Toilettenaufstehhilfen bieten Unterstützung beim Hinsetzen und Aufstehen, – Toilettenstühle sind mit einer Toiletteneinrichtung versehen, sodass die Benutzung an verschiedenen Orten erfolgen kann (siehe 󳶳Kapitel 4.3.4), – WC-Aufsätze mit Wascheinrichtung: Toilettensitzkombination mit Warmwasserdusche und Warmlufttrocknung, die auf einem vorhandenen Toilettenbecken installiert werden.

PG 99 des HMV: Verschiedenes Hilfsmittel, bei denen es sich um individuelle Produkte handelt, die sich keiner anderen der übrigen 32 Hilfsmittel-Produktgruppen (PG 30 existiert nicht) zuordnen lassen.

Produktgruppen des Pflegehilfsmittelverzeichnisses Neben dem Hilfsmittelverzeichnis erstellt der Spitzenverband Bund der Pflegekassen (der GKV-Spitzenverband nimmt dessen Aufgaben wahr) als Anlage zum Hilfsmittelverzeichnis auch ein systematisch strukturiertes Pflegehilfsmittelverzeichnis (PHMV). Gemäß § 78 SGB XI [SGB XI] werden darin die von der Leistungspflicht der Pflegeversicherung umfassten Pflegehilfsmittel aufgeführt, soweit diese nicht bereits im Hilfsmittelverzeichnis enthalten sind. Nach § 40 SGB XI [SGB XI] haben Pflegebedürftige einen Anspruch auf Versorgung mit Pflegehilfsmitteln (Leistung der Pflegeversicherung), die zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen beitragen oder ihm eine selbständige Lebensführung ermöglichen. Die Zielsetzung liegt insbesondere darin, die häusliche Pflege überhaupt zu er-

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möglichen, den Pflegenden physisch und psychisch zu entlasten und eine humane Pflege zu vollziehen [SGB XI]. Ein Anspruch auf Pflegehilfsmittel besteht, wenn sie der Erleichterung pflegerischer Maßnahmen dienen. Pflegehilfsmittel sollen helfen, eine Überforderung der Leistungskraft des Pflegebedürftigen und der Pflegenden zu verhindern. Ein Anspruch auf Pflegehilfsmittel besteht auch, wenn dadurch eine Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen erreicht werden kann. Im Pflegehilfsmittelverzeichnis sind folgende Produktgruppen enthalten (die zugehörigen Erläuerungen stammen als gekürzte und redaktionell bearbeitete Zitate überwiegend aus dem Pflegehilfsmittelverzeichnis [HMV 2014]):

PG 50 des PHMV: Pflegehilfsmittel zur Erleichterung der Pflege Pflegehilfsmittel dieser Produktgruppe tragen zur Erleichterung der Durchführung pflegerischer Maßnahmen bei, um eine Überforderung des Pflegenden oder des Pflegebedürftigen zu verhindern. Es sind zu unterscheiden: – Pflegebetten/Bettsysteme, die durch besondere Vorrichtungen (z. B. motorisch betriebene Einstellung des Neigungswinkels bzw. des Einlegerahmens) die Pflege des bettlägerigen Pflegebedürftigen erleichtern und die Verwendung von erforderlichem Pflegebettenzubehör (Bettverlängerung, Seitengitter) ggf. ermöglichen, – Durch den Einsatz von speziellen Pflegebetttischen wird der Pflegeaufwand verringert und gleichzeitig die Selbständigkeit des Pflegebedürftigen gefördert, – Sitzhilfen zur Pflegeerleichterung im Bett unterstützen das Sitzen eines Pflegebedürftigen im Bett bzw. auf der Bettkante, – Rollstühle mit Sitzkantelung und Pflegerollstühle können als Leistung der Pflegeversicherung in Betracht kommen, wenn sie nicht zur Erhaltung der Mobilität im Sinne des Funktionsausgleichs (vgl. Produktgruppe 18 Kranken-/ Behindertenfahrzeuge) benötigt werden, sondern durch ihre multifunktionalen Einsatzmöglichkeiten dazu dienen, einen Pflegebedürftigen zu transportieren oder außerhalb des Bettes über einen längeren Zeitraum zu lagern. Pflegerollstühle weisen darüber hinaus eine hohe Wendigkeit auf und ihre Höhenverstellbarkeit erleichtert die Durchführung pflegerischer Maßnahmen.

PG 51 des PHMV: Pflegehilfsmittel zur Körperpflege/Hygiene Produkte zur Hygiene im Bett, die keine Leistungen der GKV sind, z. B. Urinflaschen und Urinschiffchen, können zu Lasten der Pflegeversicherung abgegeben werden. Urinflaschen, Urinschiffchen und Bettpfannen (Stechbecken) sind Pflegehilfsmittel bei kontinenten Pflegebedürftigen, wenn sie der Körperpflege und der Erleichterung der Pflege dienen.

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Bei Waschsystemen handelt es sich um mobile Systeme, die nicht vom Pflegebedürftigen selber, sondern vom Pflegenden zu bedienen sind. Die Wasserversorgung erfolgt entweder über einen Wasserkanister oder einen Wasseranschluss in der Nähe des Einsatzortes. Hygienesitze sind Badewannenaufsätze, die ein teilentkleidetes Sitzen auf einer Badewanne mit Sitzrichtung quer zur Längsachse der Wanne ermöglichen, um die Intimhygiene durch eine Pflegeperson zu ermöglichen.

PG 52 des PHMV: Pflegehilfsmittel zur selbstständigeren Lebensführung/Mobilität Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege unterstützen, damit Pflegebedürftige möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können. Daraus resultiert ein Anspruch auf Pflegehilfsmittel, die eine selbständigere Lebensführung ermöglichen. Durch die aktive Einbeziehung des Pflegebedürftigen dienen diese Pflegehilfsmittel einer vom Pflegenden nicht ständig überwachten Alltagsgestaltung und fördern damit wesentlich die Bereitschaft zur Pflege im häuslichen Bereich. Zu dieser Produktgruppe gehören Hausnotrufsysteme, deren wichtigsten technischen Merkmale u. a. die Freisprecheinrichtung, die Raumüberwachungsfunktion, die eindeutige Identifizierung des Notrufgerätes gegenüber dem Notrufempfänger und ein wasserdichter Funksender sind.

PG 53 des PHMV: Pflegehilfsmittel zur Linderung von Beschwerden Pflegebedürftige haben oftmals körperliche Beschwerden, die sich beispielsweise in Form von unangenehmen Missempfindungen (z. B. bei Dauerbettlägerigkeit) oder Befindlichkeitsstörungen äußern können. Zur Linderung dieser Beschwerden ist es möglich, dem Pflegebedürftigen Pflegehilfsmittel zur Verfügung zu stellen. Zu dieser Produktgruppe gehören Lagerungsrollen. Sie dienen der Unterstützung von Entlastungslagerungen und Lageveränderungen sowie der Stabilisierung von Lagepositionen, insbesondere von bettlägerigen Pflegebedürftigen. Dadurch wird auch der Pflegende entlastet.

PG 54 des PHMV: Zum Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel Diese umfassen Produkte, die wegen der Beschaffenheit ihres Materials oder aus hygienischen Gründen nur einmal benutzt werden können und in der Regel für den Wiedereinsatz nicht geeignet sind, z. B. Desinfektionsmittel, Einmalhandschuhe sowie saugende Bettschutzeinlagen zum einmaligen Gebrauch.

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Weitere Strukturierung des Hilfsmittelverzeichnisses Wie in 󳶳Abbildung 1.10 dargestellt, kodiert die zehnstellige Positionsnummer des Hilfs- und Pflegehilfsmittelverzeichnisses auch den Anwendungsort, die Untergruppe, die Produktart und schließlich das einzelne Produkt. Es sind die in 󳶳Tabelle 1.3 benannten Anwendungsorte möglich. Die Untergruppen innerhalb der Produktgruppen werden gemäß der jeweiligen Anforderungen an die Produkte gelistet. Diese Unterteilung ist z. B. abhängig vom medizinischen Nutzen, der Funktionstauglichkeit (Gebrauchstauglichkeit), der Qualität, der Sicherheit, der Leistungsfähigkeit, der Konstruktion, technischen Details und dem Lieferumfang. In einer Produktart werden in der Regel Produkte zusammengefasst, die gleichartig und gleichwertig sind. Zur Beschreibung der Einzelprodukte gehören Produktbezeichnung und Artikelnummer sowie Angaben bzgl. Hersteller/Vertreiber, technischer Daten, Lieferumfang, Verwendungszweck, Preis und sonstige Hinweise. Tab. 1.3: Anwendungsorte von Hilfsmitteln. 01 Vor- und Mittelfuß

02 Sprunggelenk

03 Fuß

04 Knie

05 Hüfte

06 Bein

07 Hand

08 Ellenbogen

09 Schulter

10 Arm

11 Leib/Rumpf

12 Halswirbelsäule

13 Brustwirbelsäule

14 Lendenwirbelsäule

15 Wirbelsäule

16 Bruch (Hernie) am jeweiligen Ort

17 Kopf

18 behaarte Kopfhaut

19 äußeres Ohr

20 Hörorgan

21 Auge/Sehorgan

22 Gebiss/Mundhöhle

23 Kehlkopf

24 Atmungsorgane

25 Harn-/ Verdauungsorgane

26 künstliche Körperöffnungen (Stoma)

27 Geschlechtsorgane

28 peripherer Kreislauf

29 Ganzkörper

30 Haut

31 Nerven

32 Skelett

33 Muskel/ Bindegewebe

34 Blut/Blutbildende Organe

35 Brust

36 Verdauungsorgane

37 Nerven/Muskel

38 zentrales Nervensystem/ Rückenmark

40 häuslicher Bereich

45 Pflegebereich

46 Innenraum

50 Innenraum und Außenbereich/ Straßenverkehr

51 Straßenverkehr

55 Sport und Freizeit

60 Arbeitsplatz

65 Treppen

99 ohne speziellen Anwendungsort

Als Anwendungsorte von Pflegehilfsmitteln werden nur die Positionen 40 (häuslicher Bereich), 45 (Pflegebereich) und 99 (ohne speziellen Anwendungsort) genutzt.

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Geräte und Systeme der Rehabilitationstechnik gemäß der Norm DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie) Die Klassifikation von Hilfsmitteln in der internationalen Norm DIN EN ISO 9999 erfolgt mit einem Code aus drei jeweils zweistelligen Zifferngruppen. Dabei stehen die erste und zweite Ziffer für eine Klasse, die dritte und vierte Ziffer für eine Unterklasse und die fünfte und sechste Ziffer für eine Gruppe. Die Nummerierung ist nicht fortlaufend, sondern enthält Lücken bisher nicht vergebener Ziffern. Ursprünglich wurden die Ziffern in Dreierschritten vergeben, später aber auch Zwischenziffern verwendet, um neue Klassen, Unterklassen und Gruppen einführen zu können, ohne eine wesentliche Veränderung der Klassifikation zu erhalten. Nachfolgend wird die zweistufige Klassifikation (mit Klassen und Unterklassen) der DIN EN ISO 9999 vorgestellt. Auf eine Beschreibung der Produkte wird jedoch aus Umfangsgründen und aufgrund der Redundanz zur oben stehenden Beschreibung der Produkte des Hilfsmittelverzeichnisses verzichtet. Es wird unterschieden in [ISO 9999]:

04 Hilfsmittel für die persönliche medizinische Behandlung (󳶳Kapitel 6 und 9) Hilfsmittel für die Atmung (04 03), für die Behandlung von Durchblutungsstörungen (04 06), zur Verhinderung der Narbenbildung (04 07), Kompressionsbekleidung zur Körperbeherrschung und Konzeptualisierung (04 08), Hilfsmittel für die Lichtbehandlung (04 09), für die Dialysetherapie (04 15), für die Verabreichung von Medikamenten (04 19), Sterilisierausrüstung (04 22), physikalische, physiologische sowie biochemische Testausrüstung und -materialien (04 24), Materialien zur Durchführung und Bewertung kognitiver Tests (04 25), Hilfsmittel für die kognitive Verhaltenstherapie (04 26), Stimulatoren (04 27), Hilfsmittel für die Wärme- oder Kältebehandlung (04 30), für Dekubitusprophylaxe (04 33), für das Perzeptionstraining (04 36), zur Wirbelsäulenstreckung (04 45), Bewegungs-, Kraft- und Balancetrainingsausrüstung (04 48), Produkte zur Wundversorgung (04 49),

05 Hilfsmittel für das Training von Fähigkeiten (󳶳Kapitel 7) Hilfsmittel für Kommunikationstherapie und -training (05 03), für das Training von alternativer und unterstützter Kommunikation (05 06), für das Kontinenztraining (05 09), für das Training kognitiver Fähigkeiten (05 12), von Grundfertigkeiten (05 15), von Lehrthemen (05 18), Hilfsmittel für künstlerische Ausbildung (05 24), für das Training sozialer Fähigkeiten (05 27), zur Steuerung der Eingabegeräte und zum Umgang mit Produkten und Gütern (05 30) sowie von Alltagsaktivitäten (05 33),

06 Orthesen und Prothesen (󳶳Kapitel 3, 5 und 8) Wirbelsäulen- und Schädel-Orthesen (06 03), Abdominal-Orthesen/-Bandagen (06 04), Orthesen für die oberen Gliedmaßen (06 06), für die unteren Gliedmaßen (06 12), funktionelle neuromuskuläre (Elektro)-Stimulatoren (FNS) und hybride Orthesen (06 15), Prothesen für die oberen

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Gliedmaßen (06 18), für die unteren Gliedmaßen (06 24), Prothesen, die nicht für die Gliedmaßen bestimmt sind (06 30), orthopädisches Schuhwerk (06 33),

09 Hilfsmittel für die persönliche Versorgung und Sicherheit Kleidung und Schuhe (09 03), am Körper getragene Hilfsmittel zum Körperschutz (09 06), Hilfsmittel zur Körperstabilisierung (09 07), Hilfsmittel zum An- und Ausziehen (09 09), Toilettenhilfen (09 12), Hilfsmittel für die Tracheastomaversorgung (09 15), Hilfsmittel für die Stomaversorgung (09 18), Produkte für Hautschutz und -reinigung (09 21), Urinableitungen (09 24), Urin- und Stuhlsammelbehälter (09 27), Hilfsmittel zur Aufnahme von Urin und Stuhl (09 30), zur Vermeidung des ungewollten Austritts von Urin oder Stuhl (09 31), Hilfsmittel beim Waschen, Baden und Duschen (09 33), für Maniküre und Pediküre (09 36), für die Haarpflege (09 39), für die Zahnpflege (09 42), für die Gesichtspflege (09 45), für die Sexualität (09 54),

12 Hilfsmittel für die persönliche Mobilität (󳶳Kapitel 4) mit einem Arm gehandhabte Gehhilfen (12 03), mit beiden Armen gehandhabte Gehhilfen (12 06), Zubehör für Gehhilfen (12 07), PKWs, Kleintransporter und Transporter (12 10), Massentransportfahrzeuge (12 11), Fahrzeugzubehör und -anpassungen (12 12), Mopeds und Motorräder (12 16), alternative Kraftfahrzeuge (12 17), Fahrräder und Roller (12 18), manuelle Rollstühle (12 22), motorbetriebene Rollstühle (12 23), Zubehör für Rollstühle (12 24), alternative muskelkraftbetriebene Fahrgeräte (12 27), Transfer- und Wendehilfen (12 31), Hilfsmittel zum Heben von Personen (Lifter 12 36), Orientierungshilfen (12 39),

15 Hilfsmittel im Haushalt Hilfsmittel für die Speisen- und Getränkezubereitung (15 03), Geschirrspülhilfen (15 06), Ess- und Trinkhilfen (15 09), Hilfsmittel für den Hausputz (15 12), zur Anfertigung und Pflege von Textilien (15 15),

18 Mobiliar und Hilfen zur Wohnungs- und Gebäudeanpassung Tische (18 03), Beleuchtungseinrichtungen (18 06), Sitzmöbel (18 09), Zubehör für Sitzmöbel (18 10), Betten (18 12), Hilfsmittel zur Höhenanpassung von Möbeln (18 15), Stützvorrichtungen wie Handläufe und Griffstangen (18 18), Tor-, Tür-, Fenster- und Vorhangöffner/-schließer (18 21), Konstruktionselemente für Wohnung und weitere Gebäude (18 24), Hilfsmittel zur Überwindung von Höhenunterschieden (18 30), Sicherheitsausstattung für Wohnung und Gebäude (18 33), Aufbewahrungsmöbel (18 36),

22 Hilfsmittel für Kommunikation und Information (󳶳Kapitel 7) Sehhilfen (22 03), Hörhilfen (22 06), Sprechhilfen (22 09), Schreib- und Zeichenhilfen (22 12), Rechenhilfen (22 15), Hilfsmittel, die Audio- und visuelle Informationen aufzeichnen, abspielen und

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anzeigen (22 18), Hilfsmittel für die Nahkommunikation (22 21), für Telefonie und Telematik (22 24), für das Alarmieren, Anzeigen, Erinnern und Signalisieren (22 27), Lesehilfen (22 30), Computer und Terminals (22 33), Eingabegeräte für Computer (22 36), Ausgabegeräte für Computer (22 39),

24 Hilfsmittel für die Handhabung von Objekten und Vorrichtungen Hilfsmittel zum Hantieren mit Behältern (24 06), zur Bedienung und Steuerung von Vorrichtungen (24 09), für die Fernsteuerung (24 13), Hilfsmittel, die die Arm-, Hand- und Fingerfunktion oder eine Kombination dieser Funktionen unterstützen oder ersetzen (24 18), Hilfsmittel zur Vergrößerung der Reichweite (24 21), Positionierungshilfen (24 24), Haltehilfsmittel (24 27), Trageund Transporthilfen (24 36),

27 Hilfsmittel für eine Verbesserung und Bewertung der Umgebung Hilfsmittel für eine bessere Gestaltung der Umgebung (27 03), Messinstrumente (27 06),

28 Hilfsmittel für Arbeitsplatz und Berufsausbildung Mobiliar und Einrichtungselemente am Arbeitsplatz (28 03), Hilfsmittel für den Transport von Gegenständen bei der Arbeit (28 06), zum Heben und Umpositionieren von Gegenständen bei der Arbeit (28 09), zum Befestigen, Erreichen und Greifen von Gegenständen bei der Arbeit (28 12), Maschinen und Werkzeuge bei der Arbeit (28 15), Geräte zur Prüfung und Überwachung bei der Arbeit (28 18), Hilfsmittel für die Büroorganisation und Informationsspeicherung und -verwaltung bei der Arbeit (28 21), für Arbeitsschutz und -sicherheit (28 24), zur Feststellung der Berufseignung und für die Berufsausbildung (28 27),

30 Hilfsmittel für die Freizeitgestaltung Hilfsmittel zum Spielen (30 03), für Sport (30 09), zum Spielen von Musikinstrumenten und Komponieren von Musik (30 12), für die Aufnahme von Fotos, Filmen und Videos (30 15), Werkzeuge, Materialien und Ausrüstung für Kunsthandwerk (30 18), Hilfsmittel für die Gartenarbeit und Rasenpflege für den Privatgebrauch (30 21), Hilfsmittel für das Jagen und Angeln (30 24), für Camping und Wohnmobil (30 27), für das Rauchen (30 30), Hilfsmittel für die Haustierhaltung (30 33).

Nutzung von Hilfsmitteln Der BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreport 2013 [Barmer 2013] beinhaltet die Auswertung der Versorgung der knapp über 9,1 Millionen Patienten dieser Krankenkasse aus den Jahren 2011 und 2012. Es kann angenommen werden, dass sich die Hilfsmittelversorgung bei anderen Kostenträgern in Deutschland nicht wesentlich von diesen Daten unterscheidet. In der BARMER GEK waren die Ausgaben für Orthopädietechniker (245,2 Millionen Euro), Orthopädieschuhmacher (70 Millionen Euro) und für Hör-

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08 - Einlagen 05 - Bandagen 15 - Inkontinenzhilfen 17 - Hilfsmittel zur Kompressionstherapie 23 - Orthesen/Schienen 10 - Gehhilfen 14 - Inhalations- und Atemtherapiegeräte 25 - Sehhilfen Männer Frauen

31 - Schuhe 13 - Hörhilfen 0

1

2

3

4 5 Anteil in %

6

7

8

Abb. 1.15: Die zehn Produktgruppen mit höchster Versorgungsprävalenz in der BARMER GEK nach Geschlecht getrennt für das Jahr 2012 [Barmer 2013].

hilfen (79,9 Millionen Euro) führend. Zusätzlich wurden weitere 382,6 Millionen Euro für weitere Hilfsmittel wie z. B. CPAP-Geräte, Elektrostimulationsgeräte u. a. ausgegeben. Ein hoher Versorgungsbedarf an medizinischen Hilfsmitteln bestand für Einlagen und Bandagen. Im Jahr 2012 erhielten 7,9 % der bei der BARMER GEK versicherten Frauen und 5,1 % der Männer eine Einlagenversorgung mit Durchschnittskosten von 81,57 Euro pro Leistungsversichertem. In 󳶳Abbildung 1.15 ist die Versorgungsprävalenz in der BARMER GEK für die zehn wichtigsten Hilfsmittelproduktgruppen dargestellt. Die teuersten Produktgruppen in der Hilfsmittelversorgung der BARMER GEK waren im Jahr 2012 Inhalations- und Atemtherapiegeräte, Inkontinenzhilfen und Hörhilfen (󳶳Tab. 1.4). Tab. 1.4: Ausgabenanteile der Hilfsmittelgruppen mit den höchsten Kosten in der BARMER GEK im Jahr 2012 (75 % der Gesamtkosten) [Barmer 2013]. Rang 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Produktgruppe 14 – Inhalations- und Atemtherapiegeräte 15 – Inkontinenzhilfen 13 – Hörhilfen 18 – Kranken-/Behindertenfahrzeuge 23 – Orthesen/Schienen 08 – Einlagen 17 – Hilfsmittel zur Kompressionstherapie 29 – Stomaartikel 31 – Schuhe 05 – Bandagen

Ausgabenanteil für Hilfsmittel in % 12,56 % 10,06 % 9,63 % 9,10 % 7,07 % 6,52 % 5,84 % 5,60 % 5,12 % 4,03 %

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Bei der Verteilung der Heil- und Hilfsmittelleistungen stieg der Anteil von Versicherten mit Hilfsmittelverordnungen (bis auf die Altersgruppen 10 bis unter 20 Jahren) deutlich mit dem Alter an. Bei den 20- bis 30-Jährigen wurde lediglich 10 % der Versicherten ein Hilfsmittel verordnet, bei den 80- bis 90-Jährigen schon 52 % und bei den über 90-Jährigen 70 % der Versicherten. Abweichend von dieser mit dem Lebensalter ansteigenden Tendenz einer umfangreicheren Hilfsmittelversorgung erhielten 21 % der 10- bis 20-Jährigen Hilfsmittel verordnet, was in dieser Altersgruppe durch einen höheren Verordnungsanteil an Einlagen und Brillen verursacht wird [Barmer 2013].

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1 Einführung in die Rehabilitationstechnik | 51

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52 | Marc Kraft, Catherine Disselhorst-Klug

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Danksagung Die Autoren danken allen an der Erstellung des Kapitelmanuskripts beteiligten weiteren Personen an der RWTH Aachen und der TU Berlin, den Bereitstellern von Daten, Bilder und Informationen sowie den Mitarbeitern des Verlages WALTER DE GRUYTER.

Testfragen 1. Was versteht man unter einer Behinderung (im Rahmen des deutschen Sozialrechts)? 2. Was beinhaltet eine Rehabilitation, worauf zielt sie ab? 3. Wie sind Hilfsmittel im Rahmen des deutschen Sozialrechts abgegrenzt? 4. Wann sind Medizinprodukte Hilfsmittel? 5. Wie ist die Rehabilitationstechnik definiert? 6. Was ist das Ziel der Rehabilitation? 7. Definieren Sie die sechs Phasen der Rehabilitation! 8. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ein Patient eine Anschlussheilbehandlung erhält? 9. Begründen Sie, warum Rehabilitation auch immer Prävention bedeutet! 10. Welche Akteure gibt es in der deutschen Hilfsmittelversorgung und welche Aufgaben haben sie jeweils zu erfüllen? 11. Welche Klassifikationssysteme für Hilfsmittel sind in Deutschland bzw. international relevant? 12. Erläutern Sie, wie sich die Positionsnummer des Hilfsmittelverzeichnisses zusammensetzt! 13. Was unterscheidet Pflegehilfsmittel von Hilfsmitteln der GKV? 14. Nennen Sie aus Ihrer Sicht wichtige Produktgruppen des Hilfsmittelverzeichnisses und beschrei­ ben Sie die Art der jeweilig zugehörigen Produkte! 15. Welche Hilfsmittel werden am häufigsten verordnet und welche verursachen anteilig die höchs­ ten Kosten?

Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems 2.1 2.2 2.3

Biomechanische Beschreibung des Stütz- und Bewegungsapparates | 54 Bewegungsanalyseverfahren zur Diagnostik an oberer und unterer Extremität | 75 Ganganalyse | 88

Zusammenfassung: Die Biomechanik erforscht die Bewegung von Mensch und Tier, ausgehend von den Gesetzen der Mechanik, denen alle Bewegungen stofflicher Körper unterliegen. Im Fokus dieses Kapitels stehen Möglichkeiten zur messtechnischen Erfassung, modellbasierten Beschreibung und medizinisch relevanten Beurteilung menschlicher Bewegungen. Wege zur Erfassung von Kinematik und Kinetik klinisch relevanter Bewegungsgrößen werden aufgezeigt und die daraus resultierende Information mit der muskulären Aktivierung verknüpft. Am Beispiel des menschlichen Ganges wird ein praxisnahes und für die Rehabilitationstechnik wichtiges Anwendungsbeispiel gegeben. Abstract: Biomechanics is defined as the analysis of movement of living organisms as well as the underlying mechanical principles. Here, biomechanics especially relates to the analysis of humans by means of the laws of mechanics. This chapter is focussed on the detection, model based description and clinically relevant evaluation of human locomotion. Methods to determine kinematics and kinetics in the clinical setting are described and the mechanics of movement is discussed in relation to the muscular activity it is based on. In addition, the method of clinical gait analysis is introduced as a highly relevant example of current rehabilitation engineering.

54 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

2.1 Biomechanische Beschreibung des Stütz- und Bewegungsapparates In diesem Kapitel werden die grundlegenden Begriffe der Biomechanik des Stützund Bewegungsapparates definiert und auf der Basis der Gesetze der Mechanik Bewegungsgleichungen eingeführt, mit deren Hilfe sich die Bewegungen von Mensch und Tier qualitativ und quantitativ beschreiben lassen.

2.1.1 Der passive Bewegungsapparat als mechanisches Mehrkörpersystem Der Stütz- und Bewegungsapparat sorgt dafür, dass der Körper in einer festgelegten Form bleibt und zielgerichtet bewegt werden kann. Der 󳶳 Stütz- und Bewegungsapparat ist ein komplexes Organsystem, welches der Sicherung der Körpergestalt, der Körperhaltung und der zielgerichteten Bewegung des Körpers dient. Stütz- und Bewegungsapparat ist ein Sammelbegriff für Knochen, Bänder und Gelenke, die den passiven Be­ wegungsapparat bilden, sowie den Skelettmuskeln und Sehnen, die den aktiven Bewegungsap­ parat ausmachen.

Die Formgebung des Körpers wird beim Stütz- und Bewegungsapparat durch das knöcherne Skelett bestimmt. Da die Knochen in ihren mechanischen Eigenschaften als starre Körper betrachtet werden können, werden Strukturen, die sich in gleicher Weise wie die zugehörigen Knochen bewegen, in der Biomechanik als einzelne starre Segmente zusammengefasst. Viskoelastische Eigenschaften des Gewebes werden dabei in der Regel vernachlässigt. So entsprechen bei den oberen Extremitäten der Oberarmknochen (lat. Humerus) und das umgebende Weichgewebe dem Oberarmsegment, die Elle (lat. Ulna) und Speiche (lat. Radius) einschließlich des umgebenden Weichgewebes dem Unterarmsegment (󳶳Abb. 2.1 (a)). In Analogie hierzu spricht man bei der unteren Extremität vom Oberschenkelsegment (Oberschenkelknochen (lat. Femur) mit dem zugehörigen Weichgewebe) und Unterschenkelsegment (Schienbein (lat. Tibia) und Wadenbein (lat. Fibula) mit dem zugehörigen Weichgewebe, s. 󳶳Abb. 2.1 (b)). Als 󳶳 Körpersegment werden in der Biomechanik alle Strukturen bezeichnet, die sich in gleicher Weise wie die zugehörigen Knochen bewegen. Hierzu gehört neben den Knochen das umgebende Weichgewebe, wobei kleine Relativbewegungen vernachlässigt werden. Jedes Körpersegment be­ sitzt einen eigenen Schwerpunkt. Die einzelnen Körpersegmente sind durch Gelenke miteinander verbunden. Die Lage zweier Körpersegmente relativ zueinander entspricht der Stellung des die beiden Segmente verbindenden Gelenks.

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

| 55

Beckensegment Hüftgelenk Schlüsselbeinsegment

Oberarmsegment

Unterarmsegment Handsegment

Sternoclavicular- Schultergelenk gelenk

Thoraxsegment Ellenbogengelenk

Oberschenkelsegment

Kniegelenk Unterschenkelsegment

Handgelenk Sprunggelenk Fußsegment

(a)

(b)

Abb. 2.1: Darstellung der einzelnen Körpersegmente und Gelenke der oberen (a) und unteren (b) Ex­ tremität. Die einzelnen Segmente sind untereinander mit Gelenken verbunden, die den Bewegungs­ raum der einzelnen Segmente bestimmen. Mehrere mit Gelenken verbundene Körpersegmente bilden eine Gelenkkette.

Bereits die Beispiele des Unterarmsegmentes bzw. des Unterschenkelsegmentes machen deutlich, dass bei dieser Modellbetrachtung häufig Vereinfachungen vorgenommen werden, die kleine Relativbewegungen zwischen den Knochen vernachlässigen, wie sie beispielsweise zwischen Elle und Speiche auftreten. Dieses gilt insbesondere für komplexe Strukturen wie beispielsweise Hand oder Fuß, die aus vielen kleinen nur gering gegeneinander beweglichen Knochen gebildet werden (󳶳Abb. 2.1). Die einzelnen Körpersegmente sind untereinander mit Gelenken verbunden. Mehrere Körpersegmente und die diese verbindenden Gelenke ergeben aufgrund ihrer anatomischen Form und Struktur eine charakteristische funktionelle Einheit, wie beispielsweise die obere oder untere Extremität, die auch als Gelenkkette bezeichnet wird (󳶳Abb. 2.1). Unter einer 󳶳 Gelenkkette versteht man den Zusammenschluss mehrerer Körpersegmente, die durch Gelenke miteinander verbunden sind. Hierdurch entsteht eine funktionelle Einheit, die den Bewegungsraum des Menschen charakterisiert. Prominente Beispiele für Gelenkketten sind die oberen und unteren Extremitäten. Art, Form und Anzahl der Gelenke bestimmen die Anzahl der Freiheitsgrade und den Umfang der Bewegung einer Gelenkkette.

56 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

Systeme wie Gelenkketten, bei denen endlich viele starre Körper untereinander in Wechselwirkung stehen, bezeichnet man als Mehrkörpersystem [Woernle 2011]. In der Medizintechnik finden Mehrkörpersysteme bei der Auslegung und Bewertung von Prothesen (󳶳Kapitel 3), Orthesen (󳶳Kapitel 5) und der Beschreibung von Bewegungsabläufen (z. B. bei Trainingsgeräten 󳶳Kapitel 9) Anwendung.

2.1.2 Freiheitsgrade und Zwangsbedingungen Starre Körper kennzeichnen sich durch zwei am Körper markierte Punkte, die ihren Abstand nicht ändern. Damit hat jeder starre Körper die Möglichkeit, sich translatorisch in drei verschiedene Richtungen zu bewegen und sich um drei verschiedene Achsen zu drehen. Diese Bewegungsmöglichkeiten werden als Freiheitsgrade bezeichnet. In der Ebene reduziert sich die Anzahl der Freiheitsgrade eines starren Körpers auf drei: zwei translatorische und einen rotatorischen Freiheitsgrad. Als 󳶳 Freiheitsgrad bezeichnet man die Zahl der voneinander unabhängigen Bewegungsmöglich­ keiten. Ein starrer Körper besitzt bei räumlicher Betrachtung drei translatorische und drei rotato­ rische Freiheitsgrade. Gelenke, die zwei starre Körper miteinander verbinden, können aufgrund von Zwangsbedingungen die Anzahl der möglichen Freiheitsgrade einer Bewegung verringern.

Wie allgemein bei Mehrkörpersystemen, sind auch bei anatomischen Gelenkketten die einzelnen Körpersegmente durch Gelenke miteinander verbunden. Die Form der einzelnen Gelenke kann die Zahl der möglichen Freiheitsgrade reduzieren, wenn diese nicht alle Bewegungen zulassen, bzw. die Übertragung von Kräften und Momenten nur in definierte Richtungen ermöglichen und in andere Richtungen verhindern. Werden die Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt, werden diese Einschränkungen auch als Zwangsbedingungen oder Zwangskräfte bezeichnet. Die Anzahl der Freiheitsgrade f eines Systems, das aus N Segmenten besteht und in dem ρ die Anzahl der Zwangsbedingungen beschreibt, lässt sich wie folgt ermitteln: f = 6⋅N −ρ

(im Raum)

(2.1)

f = 3⋅N −ρ

(bei ebenen Bewegungen) .

(2.2)

2.1.3 Kinematik des passiven Bewegungsapparates Unter Bewegung versteht man physikalisch gesehen die zeitliche Ortsänderung eines Körpers relativ zu einem festen Bezugssystem. Bewegung lässt sich vollständig durch die Kinematik beschreiben, bei der nur die Lage, Geschwindigkeiten und Beschleunigungen betrachtet werden, ohne die verursachenden Kräfte zu berücksichtigen.

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

| 57

Die 󳶳 Kinematik beschreibt die Bewegung von Punkten und Körpern im Raum. Zur vollständigen kinematischen Beschreibung einer Bewegung genügen die Größen Lage, Geschwindigkeit und Be­ schleunigung. Die Ursachen der Bewegung (Kräfte) bleiben bei der kinematischen Beschreibung unberücksichtigt.

Physiologisch bedeutet Bewegung eine Lageänderung der einzelnen Körpersegmente im Raum. Jedes Körpersegment für sich betrachtet besitzt dabei drei Freiheitsgrade der Translation, die seine Position im Raum beschreiben, und drei weitere Freiheitsgrade der Rotation, die seine Orientierung definieren. Bei der Translation wird dabei in der Regel die Bewegung des körpersegmenteigenen Massenschwerpunktes betrachtet. Position und Orientierung eines Körpersegmentes im Raum sind durch ein fest mit dem starren Körper verbundenes Körperkoordinatensystem gegeben. Als Laborkoordinatensystem, manchmal auch Inertialkoordinatensystem genannt, wird ein feststehendes, nicht beschleunigtes Bezugskoordinatensystem bezeichnet. Bewegt sich ein Körper relativ zum Laborkoordinatensystem, wird seine Position und Orientierung in absoluten Koordinaten angegeben. Dabei ist die Position durch den Ortsvektor vom Ursprung des Laborkoordinatensystem zum Ursprung des Körperkoordinatensystems gegeben. Die Orientierung des starren Körpers im Raum ergibt sich aus der Rotation des Körperkoordinatensystems bezogen auf das Laborkoordinatensystem. Bei Mehrkörpersystemen, wie anatomischen Gelenkketten, werden die Drehungen und Verschiebungen sowohl in den lokalen Koordinaten der einzelnen Segmente, als auch in globalen Koordinaten betrachtet. Mithilfe verschiedener Methoden lassen sich Vektoren und Matrizen von einem Bezugssystem in ein anderes überführen [Hollburg 2007]. Unter einem 󳶳 Labor- oder Inertialkoordinatensystem versteht man ein feststehendes, nicht be­ schleunigtes Koordinatensystem, das als Bezugspunkt zur Beschreibung von Bewegungen heran­ gezogen wird.

Die Position zweier Körpersegmente relativ zueinander ergibt sich aus der Differenz ihrer beiden Ortsvektoren. Die relative Orientierung zweier Körpersegmente zueinander ergibt sich aus der Rotation um einen gemeinsamen Drehpunkt, die notwendig ist, um das Körperkoordinatensystem des einen Segmentes in das des anderen Segmentes zu überführen. Man spricht auch von relativen Koordinaten, wobei das Bezugskoordinatensystem seinen Ursprung im gemeinsamen Drehpunkt und seine Achsenausrichtung entlang der Drehachsen hat. Die knöchernen Strukturen sind untereinander mit Gelenken verbunden, welche die Bewegungsrichtung, den Bewegungsradius und damit den Bewegungsumfang der einzelnen Körpersegmente bestimmen. Die einzelnen Gelenke unterscheiden sich dabei in der Anzahl der Freiheitsgrade der Bewegung, die sie zulassen. Dabei werden oft translatorische Bewegungen durch den die Gelenke umgebenden Bandapparat unterbunden oder zumindest stark begrenzt. Die relative Orientierung zweier benach-

58 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

barter Körpersegmente entspricht damit der Gelenkstellung. Die Rotationsbewegungen in den Gelenken erfolgen um anatomische Gelenkachsen herum, die sich in der Anzahl und teilweise auch in der Lage an der Geometrie der Gelenkoberfläche orientieren.

Hüftgelenk Ein Kugelgelenk, wie das Hüftgelenk beispielsweise, hat aufgrund seines sphärischen Gelenkkopfes in einer ebenfalls sphärischen Pfanne drei rotatorische Freiheitsgrade und dem entsprechend auch drei Rotationsachsen. Die Lage der Rotationsachsen ist jedoch in diesem Fall aufgrund der Kugelform des Gelenks a priori nicht definiert, denn es sind Drehbewegungen um unendlich viele Drehachsen­ kombinationen möglich. Um dennoch die in diesem Gelenk ausgeführten Bewegungen eindeutig be­ schreiben zu können, werden die anatomischen Gelenkachsen in der Neutral-Null-Stellung definiert.

In der Neutral-Null-Stellung lassen sich drei Körperebenen definieren, die Frontalebene, die Sagittalebene und die Transversalebene (󳶳Abb. 2.2 (a)). Die anatomischen Achsen der Gelenke liegen in Neutral-Null-Stellung in diesen Ebenen und schneiden sich jeweils im Gelenkzentrum, das gleichzeitig das Drehzentrum ist. Anatomische Achsen und Gelenkzentrum bilden zusammen das Gelenkkoordinatensystem. Die Achse, die in der Neutral-Null-Stellung in der Frontalebene liegt, wird als Flexions-/Extensionsachse bezeichnet. Die Abduktions-/Adduktionsachse steht auf der Flexions-/Extensionsachse orthogonal und liegt in der Neutral-NullStellung in der Sagittalebene. Die dritte Achse, die im Sinne eines kartesischen Koordinatensystems auf den beiden vorherigen orthogonal steht, ist die Rotationsachse (󳶳Abb. 2.2 (a)). In Neutral-Null-Stellung liegt sie in der Transversalebene. Die 󳶳 Neutral-Null-Stellung ist die Körperposition, die ein Mensch im normalen aufrechten, etwa hüftbreiten Stand einnimmt, wobei die Arme entspannt zu beiden Seiten des Körpers herunter­ hängen und die Daumen nach vorne weisen. In der Neutral-Null-Stellung werden die Gelenkkoor­ dinatensysteme und deren Null-Stellung definiert.

Bewegt sich der Körper aus der Neutral-Null-Stellung heraus, werden die Gelenkkoordinatensysteme der Gelenke nicht nur translatorisch im Raum bewegt sondern rotieren zusätzlich, da sie mit den Körpersegmenten fest verbunden sind. Da Körpersegmente und Gelenke Mehrkörpersysteme bilden, bewegen sich die Gelenkkoordinatensysteme der angrenzenden Gelenke entsprechend mit (󳶳Abb. 2.2). Jede relative Bewegung zweier benachbarter Körpersegmente zueinander kann als eine Kombination von Drehungen um mindestens eine der anatomischen Achsen angesehen werden, wobei geringfügige translatorische Bewegungen vernachlässigt werden. Mathematisch werden diese Drehungen über die Rotationsmatrix beschrieben. Die meisten Alltagsbewegungen sind Mischbewegungen mit Komponenten in allen drei Achsen.

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems |

(a) Neutrale-Null-Stellung

(b) Schulterabduktion

Thoraxsegment

59

(c) Schulterrotation

Thoraxsegment

Transversalebene (d) Ellenbogenflexion Frontalebene

z y

Sagittalebene x

ThoraxInnen-/Außensegment Rotationsachse Abduktions-/Adduktionsachse Flexions-/Extensionsachse

Abb. 2.2: Darstellung der einzelnen Körperebenen in Neutral-Null-Stellung sowie die Änderung der Position und Orientierung der anatomischen Achsen in den einzelnen Gelenken am Beispiel unter­ schiedlicher Bewegungen der oberen Extremität. (a) Neutrale-Null-Stellung, (b) Schulterabduktion, (c) Schulterrotation, (d) Ellenbogenflexion.

Rotationsbewegungen in den einzelnen Gelenken erfolgen immer um die 󳶳 anatomischen Ge­ lenkachsen, deren Anzahl und Lage durch die Anatomie der Gelenkoberfläche gegeben ist. Die Lage der anatomischen Achsen wird an der Neutral-Null-Stellung definiert. Man unterscheidet in die Flexions-/Extensionsachse, die Abduktions-/Adduktionsachse und die Rotationsachse. Die anatomischen Gelenkachsen schneiden sich im Gelenkzentrum, das zusammen mit den anatomi­ schen Gelenkachsen das Gelenkkoordinatensystem bildet. Wird das Gelenkzentrum bewegt bzw. rotiert, bewegen sich bzw. rotieren die anatomischen Gelenkachsen entsprechend mit.

Gelenkstrukturen mit reinen rotatorischen Freiheitsgraden Die Kinematik der meisten für die Bewegung des Menschen wesentlichen Gelenke lässt sich so vereinfachen, dass in erster Näherung nur rotatorische Freiheitsgrade berücksichtigt werden müssen. Dabei werden manche komplexe Gelenke, wie beispielsweise das Schultergelenk, in eine Kette von unabhängigen Gelenken zerlegt, die dann wiederum lediglich rotatorische Freiheitsgrade aufweisen. Diese Näherung ist insbesondere dann hinreichend, wenn die gesamte Bewegung einer Gelenkkette analysiert werden soll (󳶳Kapitel 2.2).

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Will man eine Bewegung um Gelenke mit rein rotatorischen Freiheitsgraden nicht nur quantitativ sondern auch anatomisch präzise beschreiben, wird jede Bewegung in Rotationen um die anatomischen Achsen zerlegt, wobei die resultierenden Rotationswinkel der Gelenkstellung entsprechen. Dabei ist ein bewegtes Bezugssystem erforderlich, da sich die Orientierung des Gelenkkoordinatensystems in distalen Gelenken auch dann ändert, wenn lediglich eine Bewegung in einem proximal gelegenen Gelenk erfolgt (󳶳Abb. 2.2). 󳶳 Rotationswinkel sind drei Winkel, welche jeweils eine Drehung (Rotation) um Gelenkachsen be­ schreiben und so eine Transformation zwischen zwei (kartesischen) Koordinatensystemen, bei­ spielsweise zwei Körpersegmentkoordinatensystemen, definieren. Das Ergebnis ist ein Winkeltri­ plett, das die Orientierung eines Körpersegmentes zu einem anderen beschreibt. Eine 󳶳 Rotationsmatrix ist eine Matrix, die eine Drehung eines Vektors im euklidischen Raum be­ schreibt. Man unterscheidet zwischen aktiver Drehung, bei der ein Punkt im festen Koordinaten­ system rotiert wird (geometrische Transformation) und passiver Drehung, bei der das Koordina­ tensystem gedreht wird, während der Punkt festgehalten wird (Koordinatentransformation). Bei der passiven Drehung erhält man denselben Punkt wie bei der aktiven Drehung, jedoch mit an­ deren Koordinaten, da das Bezugskoordinatensystem mitgedreht wird. Die Rotationsmatrix der aktiven Drehung entspricht der inversen Rotationsmatrix der passiven Drehung.

Mathematisch erreicht man die Drehungen um die einzelnen Gelenkachsen durch die Anwendung spezieller Rotationsmatrizen. Durch Multiplikation der Rotationsmatrix R mit einem Vektor wird dessen Drehung um einen definierten Winkel bewirkt. Bei einer Drehung um den Winkel Φ um die x-Achse eines kartesischen Koordinatensystems hat die Rotationsmatrix R(x, Φ) die Form (nach [Paul 1984]): 1 [ R(x, Φ) = [0 [0

0 cos ϕ sin ϕ

0 ] − sin ϕ] . cos ϕ ]

(2.3)

Drehungen um die y-Achse und den Drehwinkel Θ sowie Drehungen um die z-Achse und den Drehwinkel Γ haben die Rotationsmatrizen: cos Θ 0 − sin Θ [

[ R(y, Θ) = [ und

cos Γ [ R(z, Γ) = [ sin Γ [ 0

0 1 0

sin Θ ] 0 ] cos Θ]

− sin Γ cos Γ 0

0 ] 0] . 1]

(2.4)

(2.5)

Dabei entsprechen im Rechtssystem Drehungen mit positiven Drehwinkeln Drehungen entgegen dem Uhrzeigersinn während in Linkssystemen bei positiven Win-

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems |

61

keln mit dem Uhrzeigersinn gedreht wird. Zur Veranschaulichung kann in Rechtssystemen die Rechte-Hand-Regel angewendet werden: wenn der Daumen der rechten Hand in Richtung der Drehachse zeigt, geben die gebeugten Finger die positive Richtung des Drehwinkels an. Jede beliebige Rotation lässt sich durch Multiplikation aus den oben beschriebenen elementaren Rotationsmatrizen zusammensetzen. Hierbei ist zu unterscheiden, ob sich das Bezugssystem, auf welches sich die einzelnen Rotationen beziehen, mit der vorigen Rotation mit dreht oder fixiert bleibt. Beziehen sich bei einer Drehung die einzelnen Drehwinkel immer auf ein ortsfestes, fixiertes Bezugskoordinatensystem, müssen die Rotationsmatrizen von links aneinander multipliziert werden, sodass die erste Rotation am weitesten rechts steht. Dreht sich das Bezugssystem, auf das sich die einzelnen Winkel beziehen, jedoch mit der jeweils vorigen Rotation mit, müssen die Rotationsmatrizen von rechts aneinander multipliziert werden, sodass die erste Rotation am weitesten links steht. 󳶳Formel (2.6) beschreibt eine Gesamtrotation, die auf zwei verschiedene Weisen interpretiert werden kann. Bezogen auf ein fixiertes Bezugskoordinatensystem beschreibt sie eine Drehung zunächst um die ortsfeste x-Achse mit dem Winkel Φ, einer anschließenden Drehung um die ortsfeste y-Achse mit dem Winkel Θ und abschließend eine Drehung um die ortsfeste z-Achse mit dem Winkel Γ. Gleichzeitig beschreibt 󳶳Formel (2.6) auch eine Drehung um die z-Achse mit dem Winkel Γ, eine anschließende Drehung um die neue y-Achse des einmal gedrehten Bezugskoordinatensystems mit dem Winkel Θ und eine abschließende Drehung um die neue x-Achse des zweimal gedrehten Bezugskoordinatensystems mit dem Winkel Φ. Beide Beschreibungen führen demnach zu derselben Gesamtrotationsmatrix Rges mit Rges = R(z, Γ)R(y, Θ)R(x, Φ) . (2.6) Damit diese Gesamtrotationsmatrix korrekt gebildet werden kann und die Rotationswinkel vergleichbar bleiben, ist es daher wichtig, für jede Aufgabenstellung sowohl die Rotationsreihenfolge als auch das Bezugssystem der jeweiligen Rotationen einheitlich zu definieren. Im Bereich der Biomechanik des Stütz- und Bewegungsapparates hat die Internationale Gesellschaft für Biomechanik (ISB) zur Definition der Gelenkkoordinatensysteme einen einheitlichen Standard festgelegt. Da die Wahl der Rotationsmatrix sowie die Rotationsreihenfolge im allgemeinen nicht eindeutig ist, hat die Internationale Gesellschaft für Biomechanik (International Society of Biomechanics – ISB) für verschiedene Gelenke einen internationalen Standard festgelegt, der zu einer Vereinheitli­ chung der Definition der Gelenkkoordinatensysteme bezüglich Orientierung und Aufhängung so­ wie der Wahl der Rotationsreihenfolge führt (󳶳 ISB-Standard für die Definition von Gelenkkoor­ dinatensystemen). Orientierung der Koordinatensysteme, Aufhängung und Rotationsreihenfolge sind dabei so gewählt, dass Rotationen um anatomisch interpretierbare Gelenkachsen erfolgen und die in verschiedenen Studien berechneten Rotationswinkel vergleichbar werden [ISB 2002].

62 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

In der Biomechanik liegt ein festes, nicht rotierendes Gelenkkoordinatensystem immer dann vor, wenn das Koordinatensystem fest mit dem proximal zum Gelenk liegenden Körpersegment verbunden ist. Die berechneten Gelenkwinkel entsprechen dann der Orientierung des distalen Körpersegmentes in dem mit dem proximalen Körpersegment fest verbundenen Gelenkkoordinatensystem. Um die Gelenkwinkel zu erhalten, ist daher folgende Gleichung zu lösen: x󸀠󸀠󸀠 x 󸀠󸀠󸀠 ( y ) = R ( y) , z Z 󸀠󸀠󸀠

(2.7)

wobei R die Rotationsmatrix, x, y, z die Koordinaten eines Punktes P vor der Drehung und x󸀠󸀠󸀠 , y󸀠󸀠󸀠 , z󸀠󸀠󸀠 die Koordinaten des Punktes P nach seiner Drehung in Bezug auf das feste Koordinatensystem darstellen. Alternativ kann das Gelenkkoordinatensystem aber auch fest mit dem distalen Körpersegment verbunden werden. In diesem Falle würde das Gelenkkoordinatensystem seine Orientierung relativ zum proximalen Körpersegment ändern, wenn sich das distale Körpersegment bewegt. Es kommt also zu einer passiven Drehung. In diesem Fall ändert sich die Formel zu: x x󸀠󸀠󸀠 (y ) = R ( y󸀠󸀠󸀠 ) , z z󸀠󸀠󸀠

(2.8)

wobei R die Rotationsmatrix, x, y, z die Koordinaten eines Punktes P vor der Drehung des Koordinatensystems und x󸀠󸀠󸀠 , y󸀠󸀠󸀠 , z󸀠󸀠󸀠 die Koordinaten des gleichen Punktes P in Bezug zum nun rotierten distal aufgehängten Koordinatensystem darstellen. Ob ein spezifisches Gelenkkoordinatensystem proximal oder distal aufgehängt ist, legt der ISB-Standard für die Definition von Gelenkkoordinatensystemen fest [ISB 2002]. Zusätzlich kommt in der Biomechanik der Wahl der Rotationsreihenfolge eine wesentliche Bedeutung zu. Da die resultierenden Gelenkwinkel anatomisch interpretierbar bleiben müssen, ist die Rotationsreihenfolge um die Rotationsachsen so zu wählen, dass die anatomische Bedeutung der Drehachsen erhalten bleibt. Bei drei rotatorischen Freiheitsgraden gibt es insgesamt 12 Möglichkeiten der Rotationsreihenfolge, wobei die Richtung der Rotation mit berücksichtig wird. Da die Matrizenmultiplikation nicht kommutativ ist, bildet jede der 12 Zerlegungen ein eigenes, in der Regel nicht identisches Winkeltriplett, wobei nur bei einem dieser Winkeltripletts die anatomische Bedeutung währen der Drehung erhalten bleibt. Die Festlegung, ob ein Gelenkkoordinatensystem im proximalen oder distalen Körpersegment aufgehängt ist, als auch die Wahl der Rotationsreihenfolge für die Gelenke der oberen- und unteren Extremitäten sowie für einige weitere Gelenke ist in dem ISB-Standard für die Definition von Gelenkkoordinatensystemen festgelegt [ISB 2002].

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

| 63

Bestimmung der Gelenkwinkelstellung im Ellenbogengelenk Ausgangspunkt ist eine Ellenbogenflexionsbewegung mit gleichzeitiger Innenrotation, wie sie in 󳶳 Abb. 2.3 dargestellt ist. Die Gelenkwinkel von Schulter- und Handgelenk entsprechen denen der Neutral-Null-Stellung. Verallgemeinernd wird dabei zunächst angenommen, dass es sich beim Ellenbogengelenk um ein Kugelgelenk handelt. Im Falle des Ellenbogengelenks ist das Gelenkkoordi­ natensystem am Unterarm aufgehängt und dreht sich daher mit dem Unterarm mit (passive Rotation). Um die Gelenkwinkel in der Endstellung berechnen zu können, muss das Gelenkkoordinatensystem des Ellenbogens ausgehend von der Lage in Neutral-Null-Stellung so rotiert werden, dass es mit der Endposition übereinstimmt. Um die Gelenkwinkel zu erhalten, ist daher die Gleichung entsprechend 󳶳 Formel (2.8) zu lösen. Die Koordinaten x, y, z sowie x 󸀠󸀠󸀠 , y 󸀠󸀠󸀠 , z 󸀠󸀠󸀠 werden dabei messtechnisch erfasst (󳶳 Kapitel 2.2). Da es sich um ein mit der Bewegung rotierendes Koordinatensystem handelt, erfolgt die Multiplikation der Rotationsmatrizen von links nach rechts. Entsprechend des ISB-Standards für die Definition von Gelenkkoordinatensystemen ist die Rotationsreihenfolge zur Bestimmung der Gelenkwinkel im Ellenbogengelenk wie folgt zu wählen: 1. Drehung um die Flexions-/Extensionsachse (z-Achse), 2. Drehung um die resultierende Abduktions-/Adduktionsachse (x 󸀠 -Achse) und 3. Drehung um die resultierende Rotationsachse (y 󸀠󸀠 -Achse).

End-Position

Neutral-Null-Stellung

120° Flexion 2° Abduktion 90° Innenrotation

y

y x

x‘‘‘

z

y‘‘‘

y‘‘‘

(a)

(e) Flexions-/ Extensionssachse

Abduktions-/ Adduktionsachse

Frontalebene

Innen-/AußenRotationsachse

Frontalebene

y 1. Rotation um z

Frontalebene

2. Rotation um x‘

3. Rotation um y‘‘

x‘= x‘‘

x‘

x‘‘ z‘‘‘

Φ = 2°

(b)

x‘‘‘

x

z

y‘

z‘‘‘

z‘‘‘

x Sagittalebene Γ = 120° z = z‘ Transveralebene

x‘‘‘ y‘ y‘‘ (c)

Sagittalebene z‘‘ z‘ Transveralebene

Θ = 90°

Sagittalebene z‘‘

y‘‘ = y‘‘‘ (d)

Transveralebene

Abb. 2.3: Beispiel der Rotation des Gelenkkoordinatensystems des Ellenbogens aus der Ausgangs­ stellung (a) mit Hilfe der Rotationswinkel in der Rotationsreihenfolge (b) um die z-Achse, (c) um die x 󸀠 -Achse und (d) um die y󸀠󸀠 -Achse, sodass die Endstellung (e) erreicht wird.

64 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

Die zu lösende Rotationsmatrix lautet damit: cos Γ R = ( sin Γ 0

− sin Γ cos Γ 0

0 1 0) (0 1 0

0 cos ϕ sin ϕ

0 cos Θ − sin ϕ) ( 0 cos ϕ − sin Θ

0 1 0

sin Θ 0 ) . cos Θ

(2.9)

Aus der Berechnung der Winkel aus der Rotationsmatrix erhält man den Flexionswinkel Γ = 120°, den Abduktionswinkel Φ = 2° und den Innenrotationswinkel Θ = 90°.

Aus der Änderung der Position und der Orientierung der Körpersegmente mit der Zeit lassen sich Geschwindigkeiten und Beschleunigungen berechnen, wodurch eine vollständige kinematische Beschreibung der Bewegungen des passiven Bewegungsapparates möglich wird (󳶳Tab. 2.1). Die Beschreibung erfolgt entweder in absoluten Koordinaten, bei denen die Bewegung der Massenschwerpunkte der einzelnen Körpersegmente in Bezug zum Laborkoordinatensystem betrachtet wird, oder in relativen Koordinaten, wobei die relative Orientierung zweier Körpersegmente (die Gelenkstellung) ausschlaggebend ist. Tab. 2.1: Größen zur vollständigen Beschreibung der Kinematik der Bewegungen des passiven Be­ wegungsapparates. Weg absolute Position

Schwerpunkt in Laborkoordinaten: x(t) 󳨀󳨀→ s(t) = ( y(t)) z(t)

absolute Orientierung

Rotationswinkel in Laborkoordinaten: α(t) 󳨀󳨀󳨀 → φ(t) = ( β(t)) γ(t)

relative Orientierung (Gelenkstel­ lung)

Rotationswinkel in Gelenkkoordinaten: Flex(t) 󳨀󳨀→ g(t) = ( Abd(t)) Rot(t)

Geschwindigkeit

Beschleunigung

̇ 󳨀󳨀→ x(t) 󳨀󳨀→ d s(t) ̇ ) v(t) = = ( y(t) dt ̇ z(t)

̈ 󳨀󳨀→ x(t) 󳨀󳨀→ d v(t) ̈ ) a(t) = = ( y(t) dt ̈ z(t)

̇ 󳨀󳨀󳨀 → α(t) 󳨀󳨀󳨀 → d φ(t) ̇ ) ω(t) = = (β(t) dt ̇ γ(t)

̈ 󳨀󳨀󳨀 → α(t) 󳨀󳨀→ d ω(t) ̈ ) α(t) = = ( β(t) dt ̈ γ(t)

̇ 󳨀󳨀→ Flex(t) 󳨀󳨀→ d g(t) ̇ v(t) = = ( Abd(t) ) dt ̇ Rot(t)

̈ 󳨀󳨀→ Flex(t) 󳨀󳨀→ d v(t) ̈ a(t) = = ( Abd(t) ) dt ̈ Rot(t)

Komplexe Gelenkstrukturen mit rotatorischen und translatorischen Freiheitsgraden Bei den bisherigen Überlegungen wurde davon ausgegangen, dass es in den Gelenken ausschließlich zu rotatorischen Bewegungen kommt. Wenn nicht die Kinematik einer gesamten Gelenkkette, sondern die besondere Kinematik eines einzelnen Gelenks beschrieben werden soll, ist diese Vereinfachung aber nicht immer hinreichend. Einige Gelenke, wie beispielsweise das Knie- oder das Schultergelenk, führen komplexere

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

| 65

Bewegungen aus, die auch translatorische Komponenten enthalten. Typischerweise ändert sich hierbei die Lage des Gelenkzentrums, also der Ursprung des Gelenkkoordinatensystems mit der Bewegung. Allerdings kann die Bewegung eines Körpers, die sich aus der Überlagerung einer translatorischen und einer rotatorischen Bewegung ergibt, zu jedem Zeitpunkt als eine Drehung um einen Punkt beschrieben und analytisch als einfache Drehung behandelt werden. Der Punkt, um den sich der Körper gerade dreht, wird als Momentanpol bezeichnet. Jede Bewegung lässt sich als reine Drehbewegung um einen momentanen Drehpunkt beschreiben. Der Drehpunkt wird als 󳶳 Momentanzentrum bzw. 󳶳 Momentanpol bezeichnet. Durch die Bestim­ mung des Momentanpols wird es möglich, eine Überlagerung aus einer Translations- und einer Rotationsbewegung als reine Drehung um einen Punkt (den Momentanpol) aufzufassen und so analytisch als einfache Drehung zu behandeln.

Der Geschwindigkeitsvektor der Geschwindigkeit, mit der sich ein Punkt um den Momentanpol bewegt, steht dabei immer senkrecht auf der Verbindungsgeraden zum Momentanpol. Ist die momentane Geschwindigkeit eines Körpers Null, so ist dieser Punkt der Momentanpol. Handelt es sich um zwei Körper und sind die Geschwindigkeitsrichtungen zweier Punkte bei jedem der Körper bekannt, ergibt sich die Lage des Momentanpols jedes Körpers als der Schnittpunkt der Senkrechten zu den jeweiligen beiden Geschwindigkeitsvektoren.

Kurbeltrieb Der Kurbeltrieb ist ein Beispiel für ein Mehrkörpersystem (󳶳 Abb. 2.4), das sowohl translatorische wie auch rotatorische Freiheitsgrade aufweist. Das System wird über die Kurbelscheibe angetrieben. Der

Momentanpol

͢ νA ω r

ω

A ͢

νB

͢ νA

B

B

͢ νB

r A Momentanpol Abb. 2.4: Kurbeltrieb. Dargestellt ist die Lage des Momentanpols für zwei unterschiedliche Stellun­ gen der Kurbelscheibe. Die Ermittlung der Lage des Momentanpols zu jedem Zeitpunkt der Bewe­ gung ergibt die Rastpolbahn.

66 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

Anlenkpunkt A der Schwinge an der Kurbelscheibe kann sich nur auf einer Kreisbahn bewegen. Das andere Ende der Schwinge wird gradlinig geführt und kann folglich nur eine translatorische Bewegung ausführen. Die Richtung der Geschwindigkeit des Punktes A ist immer in tangentialer Richtung zur Kurbelscheibe und ergibt sich aus der Winkelgeschwindigkeit ω und der Kurbellänge r: v⃗ = ω⃗ × r ⃗ .

(2.10)

Mit Hilfe der Richtungen der Geschwindigkeiten der beiden Anlenkpunkte, kann der Momentanpol ermittelt werden, da die Verbindung des Momentanpols mit dem betrachteten Punkt immer senkrecht zu dessen Geschwindigkeit stehen muss. Aus der Geschwindigkeit des Punktes A und dem Abstand des Momentanpols zum Punkt A lässt sich die Winkelgeschwindigkeit der Schwinge ermitteln. Mit Hilfe der Winkelgeschwindigkeit und dem Abstand zwischen Momentanpol und Punkt B lässt sich die Geschwindigkeit im Punkt B ermitteln.

Es ist zu beachten, dass der Momentanpol auch außerhalb des Körpers liegen kann und seine Position während der Bewegung verändert. Der Momentanpol ist also kein fester Punkt. Eine Beschreibung der Lage des Momentanpols in Abhängigkeit der Zeit im raumfesten Bezugskoordinatensystem ergibt die Rastpolbahn. Wird die Lage des Momentanpols hingegen in körperfesten Koordinaten angegeben, wird die ermittelte Kurve als Gangpolbahn bezeichnet.

Kniegelenkkinematik Bei der Bewegung des Kniegelenks kommt es einerseits zum Rollen zwischen Tibia und Femur, ande­ rerseits aber auch zum Gleiten. Dieses sogenannte Rollgleiten lässt sich mit Hilfe eines gekreuzten Viergelenks erklären [Kummer 2005]. Dabei wird angenommen, dass die Schwingen (Kreuzbänder) am Steg (Femur) und an der Koppel (Tibia) angeheftet sind. Wenn davon ausgegangen wird, dass die Kreuzbänder in jeder Stellung straff sind, ist die Stellung der Koppel zum Steg in jeder Position ge­ nau beschrieben. Es lässt sich eine Koppelhüllkurve konstruieren, die annähernd der Geometrie der

Femur

hinteres Kreuzband

vorderes Kreuzband

Rastpolbahn

Koppelhüllkurve

Tibia Abb. 2.5: Konstruktion der Femurkondylen als Koppelhüllkurve. Gegeben sind hierbei die Geometrie des Tibiaplateaus sowie die Anlenkpunkte und Längen der Kreuzbänder.

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

| 67

Femurkondylen entspricht (󳶳 Abb. 2.5). Der Momentanpol liegt im Kreuzungspunkt der beiden Kreuz­ bänder. Die Verbindung dieser beiden Punkte ergibt die Rastpolbahn.

2.1.4 Kinetik des passiven Bewegungsapparates Während die Kinematik die rein massenunabhängige Bewegung beschreibt, bezieht die Kinetik die Ursache der Bewegung mit ein. Entsprechend der Newtonschen Mechanik sind dies Kräfte und Momente, die an den einzelnen Körpersegmenten angreifen. Dementsprechend können die Bewegungen eines Körpersegmentes entweder passiv durch die Wirkung von äußeren Kräften herbeigeführt werden, oder aktiv infolge der Aktivierung der Skelettmuskulatur durch das Zentralnervensystem. In diesem Kapitel sollen zunächst passive Bewegungen des Bewegungsapparates betrachtet werden. Die 󳶳 Kinetik beschreibt die Änderung der kinematischen Bewegungsgrößen (Ort, Lange, Ge­ schwindigkeit und Beschleunigung) unter Einwirkung von Kräften. Damit erfasst die Kinetik den Zusammenhang zwischen Bewegung und wirkenden Kräften.

Mathematische Beschreibung des Zusammenspiels von Bewegung und Kräften Werden alle Körper eines Mehrkörpersystems unabhängig voneinander betrachtet, so gilt für jeden Körper unter Berücksichtigung der NEWTONschen Axiome, dass die Summe aller Kräfte, die auf den Körper wirken, gleich dem Produkt aus der Masse und der Beschleunigung sein muss (2. NEWTONsches Axiom): ∑ F⃗ = m ⋅ a⃗

(2.11)

Für die Summe der Momente, die auf einen Körper wirken gilt analog: ∑ M⃗ = J ⋅ ω̇⃗

(2.12)

Da die Ermittlung der Bewegungsgleichungen auf dieser Grundlage je nach Mehrkörpersystem sehr aufwendig werden kann, werden auch andere Prinzipien der Mechanik angewendet. Zwei Methoden, die sich etabliert haben, sind das Prinzip von d’ALEMBERT und die LAGRANGEschen Gleichungen [Gross 2010]. Das Prinzip von d’ALEMBERT, das auch als das Prinzip der virtuellen Arbeit bezeichnet wird, berücksichtigt die Zwangskräfte nicht und ist daher vorteilhaft, wenn die Zwangskräfte nicht gesucht werden. Es besagt, dass sich ein Massepunkt so bewegt, dass bei einer virtuellen Verrückung die Summe der virtuellen Arbeiten der eingeprägten Kräfte F (e) und der d’ALEMBERTschen Trägheitskraft FT = −m a⃗ zu jedem Zeitpunkt zu Null wird. Mit r i als Koordinate, welche die Bewegung beschreibt, folgt

68 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

daraus:

(e)

δ W + δ WT = ∑ (F i − m i r ̈i ) ⋅ δ r i = 0

(2.13)

i

Die Bewegungsgleichungen lassen sich auch mit den LAGRANGEschen Gleichungen 2. Art aufstellen, wenn holonome Zwangsbedingungen zwischen den Körpern auftreten. Das bedeutet, dass die Zwangsbedingungen als Gleichungen zwischen den Koordinaten x i des Systems angegeben werden können. Die LAGRANGEsche Funktion lautet in diesem Fall: L = Ek − Ep . Hierbei steht Ek für die kinetische Energie und Ep für die potentielle Energie. Für die kinetische Energie gilt in generalisierten Koordinaten: Ek = ∑ i

1 1 ∂r i ∂r i q̇ j + m i v2i = ∑ m i (∑ ) 2 2 ∂q ∂t j i j

2

(2.14)

Für die Aufstellung der Bewegungsgleichungen muss die folgende Gleichung in generalisierten Koordinaten erfüllt werden: d ∂L ∂L = 0, )− ( dt ∂ q̇ j ∂q j

j = 1, . . . , f

(2.15)

Die Zwangsbedingungen können mit Hilfe sogenannter LAGRANGEscher Multiplikatoren berücksichtigt werden. Es gibt noch weitere Methoden zur Analyse von Mehrkörpersystemen, die insbesondere auch die Betrachtung von komplexen Systemen ermöglichen, wie sie zum Beispiel bei der Untersuchung des Einflusses der Muskelkräfte auf einen Bewegungsablauf auftreten. Hierfür stehen heute verschiedene kommerziell erhältliche Softwarepakete zur Verfügung.

Die passive Bewegung des Bewegungsapparates Ursache passiver Bewegungen ist das Wirken äußerer Kräfte auf die einzelnen Körpersegmente. Diese unterteilen sich in intrinsische Kräfte, die auf die Geometrie und Beschaffenheit der einzelnen Segmente zurückzuführen sind, und externe Kräfte, die ihre Ursache in der Wechselwirkung mit der Umwelt haben. 󳶳 Äußere Kräfte sind die Ursache der passiven Bewegung von Körpersegmenten. Zu ihnen gehören die intrinsischen Kräfte, die auf Geometrie und Beschaffenheit der Körpersegmente zurückzufüh­ ren sind, sowie externe Kräfte, die sich aus der Wechselwirkung eines Segmentes mit seiner Um­ gebung ergeben. Je nach Wirkrichtung und Lage des Angriffspunktes können die äußeren Kräfte ein Drehmoment herbeiführen, das eine Rotationsbewegung um die anatomischen Achsen eines Gelenks zur Folge hat. In statischen Situationen sind die äußeren Kräfte/Momente im Gleichge­ wicht mit den 󳶳 inneren Kräften/Momenten, die aktiv durch die Muskulatur aufgebracht werden.

Zu den intrinsischen Kräften gehört beispielsweise die Trägheitskraft, die überwunden werden muss, um ein Körpersegment mit einer bestimmten Masse translatorisch

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

(a) Ellenbogen-

streckung 0°

(b) Ellenbogen-

| 69

(c) Ellenbogenflexion 90°

flexionsbewegung

GOberarm GOberarm

MHandgl.

1 kg

TUnterarm

MEllenbogen

GUnterarm

GUnterarm

z THand GGewicht

TGewicht

GHand GGewicht

y

1 kg

GHand

1 kg

x

Abb. 2.6: Äußere Kräfte, die auf die Körpersegmente der oberen Extremität wirken, wenn sich das Schultergelenk in Neutral-Null-Stellung befindet und im Ellenbogengelenk eine Flexionsbewegung ausgeführt wird: (a) bei hängendem Arm in Neutral-Null-Stellung; (b) während einer Ellenbogenfle­ xionsbewegung; (c) Bei statischer Ellenbogenflexion um 90°. G:⃗ Gewichtskräfte; T:⃗ Trägheitskräfte; ⃗ Drehmomente. M:

aus dem Zustand der gleichförmigen Bewegung zu beschleunigen (󳶳Formel (2.11)). Ändert sich die relative Orientierung zweier Körpersegmente zueinander, ist die Trägheitskraft nicht durch die Körpersegmentmasse, sondern durch das Massenträgheitsmoment des Körpersegmentes geprägt (󳶳Formel (2.12)), wobei der Drehpunkt im Gelenkzentrum des die beiden Segmente verbindenden Gelenks liegt und die Drehachsen durch die anatomischen Gelenkachsen definiert sind. Ein typisches Beispiel für eine externe Kraft ist die Schwerkraft, die aufgrund seiner Masse auf ein Körpersegment im Gravitationsfeld der Erde wirkt. Ein weiteres Beispiel ist die Gewichtskraft eines Gegenstandes, der vom Arm gehalten wird (󳶳Abb. 2.6). Bei externen Kräften ist zu beachten, dass zwei benachbarte Körpersegmente, die über ein Gelenk miteinander verbunden sind, aufeinander externe Kräfte ausüben (󳶳Kapitel 2.1.3 – Beispiel Kurbeltrieb). So wirken beispielsweise die Gewichtskraft des Unterarms und die Gewichtskraft der Hand als externe Kraft auf den Oberarm (󳶳Abb. 2.6). 󳶳 Externe Kräfte werden durch die Wechselwirkung des Bewegungsapparates mit seiner Umge­ bung hervorgerufen. Die Schwerkraft, die auf ein Körpersegment wirkt, ist ein typisches Beispiel für eine externe Kraft, da sie durch das Gravitationsfeld der Erde hervorgerufen wird. Zusammen mit den intrinsischen Kräften eines Körpersegmentes (Masse und Massenträgheitsmoment) bil­ den sie die äußeren Kräfte.

Äußere Kräfte sind durch ihren Betrag, ihre Wirkrichtung und ihren Angriffspunkt vollständig beschrieben. Da es sich bei den einzelnen Körpersegmenten um dreidi-

70 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

mensionale Körper mit einer in der Regel inhomogenen Massenverteilung handelt, wird zur Berechnung der intrinsischen Kräfte sowie der Gewichtskraft idealer Weise der Massenschwerpunkt des Körpersegmentes als Angriffspunkt für diese Kräfte gewählt (󳶳Abb. 2.6). Entsprechend der NEWTONschen Bewegungsgleichungen wird beim Wirken einer äußeren Kraft ein Körpersegment in Abhängigkeit von seiner Masse in Richtung der Wirklinie der Kraft beschleunigt (2. NEWTONsches Axiom, 󳶳Formel (2.12)), wodurch eine Änderung der absoluten Position im Raum hervorgerufen wird. Wirken die äußeren Kräfte oder Komponenten der äußeren Kräfte auf alle Körpersegmente eines Körpers gleich in Richtung und Betrag, bewegt sich der gesamte Körper translatorisch im Raum fort (Translationsbewegung), ohne seine Form zu ändern. Unter der vereinfachten Annahme, dass Körpersegmente-verbindende Gelenke nur rotatorische Freiheitsgrade haben (󳶳Kapitel 2.1.3), wird eine Translation zwischen den einzelnen Körpersegmenten unterbunden, wohl aber eine Rotation der Körpersegmente ⃗ wenn um die anatomischen Gelenkachsen möglich. Es entsteht ein Drehmoment M, die Wirklinie der äußeren Kraft F⃗ außen und die Strecke zwischen Gelenkzentrum und Kraftangriffspunkt r ⃗ nicht parallel sind M⃗ = r ⃗ × F⃗ außen

(2.16)

Die Folge ist eine Rotationsbewegung um die anatomischen Gelenkachsen (󳶳Abb. 2.6).

Ellenbogenflexionsbewegung mit zusätzlichem Gewicht in der Hand Die Gewichtskräfte der einzelnen Körpersegmente wirken im Schwerpunkt des jeweiligen Segmentes in Gravitationsrichtung. Befindet sich die Schulter in Neutral-Null-Stellung und wird keine Bewegung im Ellenbogengelenk ausgeführt, sind die wirkenden äußeren Kräfte allein durch die Gewichtskraft der Körpersegmente gegeben (󳶳 Abb. 2.6 (a)). Wird von der Hand zusätzlich ein Gewicht gehalten, muss dessen Gewichtskraft bei der Betrachtung der äußeren Kräfte mit hinzugezogen werden. Mit der Kopplung der Körpersegmente durch die Gelenke summieren sich die äußeren Kräfte, die in den einzelnen Körpersegmenten wirken, von distal nach proximal auf. D. h. folgende äußere Kräfte wirken (󳶳 Abb. 2.6): In der Hand: ⃗ Hand = G⃗ Hand + G⃗ Gewicht Faußen (2.17) Im Unterarm: Im Oberarm:

⃗ UA = G⃗ Unterarm + ( G⃗ Hand + G⃗ Gewicht ) Faußen

(2.18)

⃗ OA = G⃗ Oberarm + (G⃗ Unterarm + (G⃗ Hand + G⃗ Gewicht )) Faußen

(2.19)

Wird beispielsweise bedingt durch die Muskulatur eine aktive Flexionsbewegung im Ellenbogenge­ lenk durchgeführt (󳶳 Abb. 2.6 (b)), addiert sich zu den Gewichtskräften jeweils die Trägheitskraft T⃗ des bewegten (Körper-) Segmentes. Beispielsweise ergibt sich die äußere Kraft, die während der Be­ wegung auf das Oberarmsegment wirkt, dann zu: ⃗ OA = G⃗ Oberarm + ( G⃗ Unterarm + T⃗Unterarm + (G⃗ Hand + T⃗Hand + G⃗ Gewicht + T⃗Gewicht )) Faußen

(2.20)

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems | 71

Sobald der Ellenbogenflexionswinkel ungleich Null wird, sind sowohl in der Hand wie auch im Unter­ arm die Wirklinie der äußeren Kraft und die Strecke zwischen Gelenkzentrum und Kraftangriffspunkt nicht mehr parallel. Sowohl im Handgelenk wie auch im Ellenbogengelenk entsteht ein Drehmoment. Im Ellenbogengelenk wirkt das Drehmoment der Flexionsbewegung entgegen (󳶳 Abb. 2.6 (b) und (c)). Das Drehmoment in der Hand bewirkt je nach Handstellung entweder eine Flexion oder eine Rotation des Handgelenks. Soll diese zum Halten des Gewichtes vermieden werden, muss von der Muskula­ tur ein Drehmoment aufgebracht werden, das der Rotationsbewegung entgegenwirkt (󳶳 Abb. 2.6 (c)) (󳶳 Kapitel 2.1.5).

Der Körper reagiert auf die Summe der äußeren Kräfte mit einer passiven Bewegung. Die Bewegungsgleichungen beschreiben die resultierende Bewegung vollständig. Die 󳶳Tab. 2.2 fasst die Bewegungsgleichungen für rotatorische und translatorische Körpersegmentbewegungen zusammen. Wie schon die kinematischen Größen, lassen sich die Bewegungen in absoluten (Labor-) wie auch in relativen (Gelenk-) Koordinaten beschreiben. Tab. 2.2: Bewegungsgleichungen zur Beschreibung der Kinetik der Bewegung.

Kraft/Moment Bewegungsgleichung

Translationsbewegung

Rotationsbewegung absolut

relativ

⃗ F ⃗ = m a(t) ⃗ = 12 m at⃗ 2 + v 0⃗ t + s0⃗ s(t)

⃗ = r(t) ⃗ × F⃗ M⃗ = J α(t) ⃗ φ(t) = 12 J αt⃗ 2 + ω 0⃗ t + φ 0⃗

⃗ = g(t) ⃗ × F⃗ M⃗ = Ja(t) ⃗ = 12 Jat⃗ 2 + v0⃗ t + g0⃗ g(t)

Die 󳶳Tab. 2.2 verdeutlicht, dass zur Berechnung der Kinetik der passiven Körperbewegungen sowohl die Körpersegmentmassen (m) wie auch deren Massenträgheitsmomente (J bzw. J) sowie die Lage des Körpersegmentschwerpunktes bekannt sein müssen. Da diese für jeden Menschen unterschiedlich sind, müssen sie individuell aus den anthropometrischen Daten der jeweiligen Person berechnet werden. Hierfür stehen in der Regel die einfach messbaren Größen Körpergewicht, Körpergröße und die Körpersegmentlängen zur Verfügung. Es existieren umfangreiche Tabellenwerke, die zumeist aus Kadaverstudien stammen und den Zusammenhang zwischen anthropometrischen Daten und Körpersegmentmasse, Massenträgheitsmoment sowie Lage des Körpersegmentschwerpunktes beinhalten [Zatsiorsky 1983; Zatsiorsky 2002]. Als Sonderfall der Kinetik gilt die Statik. Statische Situationen sind dadurch gekennzeichnet, dass ein Körper keine Änderungen der Geschwindigkeit erfährt, d. h. es treten weder transversale noch rotatorische Beschleunigungen auf. Aus 󳶳Tab. 2.2 ergibt sich damit zwangsweise, dass in statischen Situationen die Summe aller wirkenden Kräfte und Momente Null sein muss. Bezogen auf den passiven Bewegungsapparat bedeutet dies, dass alle äußeren Kräfte und Momente, die auf jedes einzelne

72 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler Körpersegment wirken, sich in jedem Körpersegment aufheben müssen. Die 󳶳Abb. 2.6 zeigt, dass dies allein durch die äußeren Kräfte nicht erreicht werden kann. Selbst wenn, wie hier im Beispiel der Ellenbogenstreckung, keine Drehmomente in den einzelnen Körpersegmenten auftreten, muss es doch Kräfte geben, die verhindern, dass der Arm aufgrund der Schwerkraft herunterfällt. In statischen Situationen wird dieses durch innere Kräfte erreicht, die im Gegensatz zu den äußeren Kräften vom Körper selbst generiert werden. In statischen Situationen kommt es demnach zu einem Gleichgewicht zwischen äußeren und inneren Kräften. Wird dieses Gleichgewicht gestört, folgt eine Bewegung, entweder als Translation des gesamten Körpers oder als Rotation eines Körpersegmentes (󳶳Abb. 2.7).

Muskelkraft radiale Kraftkomponente tangentiale Kraftkomponente

Sehnenkraft

Gelenkdrehmoment

(a)

Gelenkkraft MuskelkraftAgonist SehnenkraftAgonist

Muskelkraft Sehnenkraft MuskelkraftAntagonist

internes Drehmoment

(b)

externes Drehmoment

externe Kraft (c)

DrehmomentAntagonist

SehnenkraftAntagonist DrehmomentAgonist

Abb. 2.7: (a) Muskelkräfte bewirken sowohl Drehmomente wie auch Kräfte, in den Gelenken über die sie wirken. (b) Unter Gleichgewichtsbedingungen heben sich die Drehmomente äußerer und in­ nerer Kräfte auf. (c) Ebenso können sich die inneren Drehmomente zweier antagonistischer Muskeln gegenseitig aufheben.

Zu den inneren Kräften trägt größtenteils die Muskulatur als aktives Element bei. In der Statik spielen aber auch Teile des passiven Bewegungsapparates, hier in erster Linie die Bänder, eine wesentliche Rolle. Bänder dienen dazu, belastete Gelenke zu halten und zu sichern, wodurch sie Zwangskräfte ausüben. So wirkt beispielsweise der Bandapparat, der die Gelenke umgibt, vielen Kräften entgegen, die zu einer Translation zwischen den einzelnen Körpersegmenten führen könnten. Im oben genannten Beispiel generiert der Bandapparat der Schulter eine innere Kraft, die den am Ober-

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

| 73

arm angreifenden äußeren Kräften entgegengerichtet ist, und die eine Bewegung des Oberarmsegmentes verhindert. 󳶳 Innere Kräfte bzw. Momente sind alle Kräfte/Momente, die der Körper selber generiert. An den inneren Kräften und Momenten hat die Muskulatur den größten Anteil. Jedoch tragen auch passive Strukturen wie beispielsweise die Bänder zu den inneren Kräften bei. Unter statischen Bedingun­ gen stehen die inneren und äußeren Kräfte/Momente im Gleichgewicht.

Eine Alternative zu inneren Kräften stellen technische Hilfsmittel dar, die eine zusätzliche externe Kraft auf den Körper aufbringen und insbesondere in der Rehabilitationstechnik häufig Anwendung findet, um eine Gleichgewichtssituation herbeizuführen (󳶳Kapitel 3, 5 und 9).

2.1.5 Aufbau und Wirkung des aktiven Bewegungsapparates Der aktive Bewegungsapparat dient in erster Linie der Bewegung oder statischen Sicherung von Körpersegmenten. Er besteht aus der Skelettmuskulatur und ihren Anhangs- bzw. Hilfsorganen: den Faszien, den Sehnen, den Sehnenscheiden und den Schleimbeuteln. Dabei wird das Skelett hauptsächlich durch Muskeln und Sehnen bewegt (󳶳Band 2). Die Muskeln sind die Antriebe, die durch Kontraktion aktiv Kräfte erzeugen können. Die zur menschlichen Bewegung notwendige Kontraktion der Skelettmuskeln wird durch Salven elektrischer Impulse gesteuert, die vom zentralen Nervensystem ausgelöst und über die peripheren Nervenfasern zu den Muskelfasern weitergeleitet werden (󳶳Kapitel 3 und 8). Der dadurch gestartete Erregungsvorgang der Muskelfasermembran löst die für Bewegungen notwendige Kontraktion der erregten Muskelfaser aus. Bei der Kontraktion verkürzt sich der Muskel, indem er Aktin- und Myosinfilamente unter Aufwendung von Energie gegeneinander verschiebt (󳶳Abb. 2.8). Die aktive Krafterzeugung des Muskels ist also immer in Richtung der Muskelfasern gerichtet. Die Dehnung der Muskulatur erfolgt passiv, entweder durch äußere Kräfte oder durch andere Muskeln, die in ihrer Wirkung entgegengerichtet (antagonistisch) sind. Auffallend ist dabei, dass ein und derselbe Muskel in Abhängigkeit von seinem Dehnungszustand unterschiedliche Muskelkräfte generiert (󳶳Abb. 2.8 (d)). Zu der aktiven Kraftgenerierung des Muskels kommt noch hinzu, dass das Muskelgewebe auch passive Eigenschaften hat, die hauptsächlich elastischer Natur sind. Wird ein Muskel aus seiner Ruhelänge ausgedehnt, so entsteht aufgrund der Elastizität des Gewebes eine Rückstellkraft die sich zur aktiven Kontraktionskraft summiert (󳶳Abb. 2.8 (d)). Beide zusammen ergeben die Muskelkraft, die sich in einer ersten Näherung durch das sogenannte HILL-Modell berechnen lässt (󳶳Abb. 2.8). Das HILLModell berücksichtigt die aktiven Eigenschaften des Muskels durch ein kontraktiles Element und die passiven Eigenschaften durch ein parallelelastisches Element.

74 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler Ruhelänge

(a)

Aktin

Myosin

(b)

Aktin

(c)

Kontraktion

Aktin Myosin Aktin

(d) Muskelkraft-Längen-Verhältnis

Dehnung

Aktin (e)

Myosin

Aktin

Hill-Modell

Kraft % aktiver Muskelanteil

100

aktiver Kraftanteil passiver Kraftanteil Muskelkraft Länge

50

Ruhelänge

passiver Muskelanteil

passiver Sehnenanteil Kraft

Abb. 2.8: Kraft-Längenverhältnis der Muskulatur: Bei der Kontraktion (b) verkürzt sich der Muskel aktiv aus seiner Ruhelänge (a). Die Dehnung des Muskels (c) erfolgt passiv. Die maximale Kraft (d), die ein Muskel erzeugen kann, ist von seiner Dehnung abhängig und wird durch das HILL-Modell (e) beschrieben.

Als 󳶳 Muskelkraft wird die Kraft bezeichnet, die ein Muskel bei seiner Aktivierung erzeugt. Die Höhe der Muskelkraft ist abhängig vom Dehnungs- bzw. Kontraktionszustand des Muskels und setzt sich aus der aktiven Kontraktionskraft und der passiven elastischen Rückstellkraft des Mus­ kels zusammen. Ihre Wirkrichtung liegt in Richtung der Muskelfasern. Die Muskelkraft lässt sich in erster Näherung durch das HILL-Modell beschreiben.

Um eine Bewegung von Körperteilen gegen die äußeren Kräfte zu ermöglichen, sei es beim Anheben eines Beines oder beim Abbremsen aus dem Lauf oder Sprung, muss der Muskel Kraft auf Angriffspunkte an den Knochen ausüben können. Hierbei dienen die Sehnen als Kraftüberträger, da sie auf der einen Seite am Knochen angewachsen und auf der anderen Seite im Muskel verankert sind. Falls es notwendig ist, die Zugrichtung der Sehnen zu ändern, werden sie mit Bändern umgelenkt. Die ebenfalls elastischen Eigenschaften der Sehnen werden im HILL-Modell in einem seriell wirkenden, elastischen Element berücksichtigt (󳶳Abb. 2.8). Als 󳶳 Sehnenkraft wird die Kraft bezeichnet, die bei Kontraktion des Muskels über die Sehne auf den Knochen ausgeübt wird. Sie setzt sich aus der Kontraktionskraft und der elastischen Rück­ stellkraft des Muskels sowie der elastischen Rückstellkraft der Sehne zusammen. Ihre Wirkrich­ tung liegt immer in Richtung des Sehnenverlaufes.

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

| 75

In der Regel steht die Wirklinie der Sehnenkraft nicht orthogonal zu der knöchernen Struktur an der sie angreift (󳶳Abb. 2.7 (a)). Sie lässt sich aber in eine radiale Kraftkomponente, die parallel zur Linie zwischen Drehzentrum und Sehnenansatzpunkt liegt, und eine orthogonale (tangentiale) Kraftkomponente zerlegen. Die tangentiale Kraftkomponente bewirkt ein Drehmoment im Gelenk, was zu einer Rotationsbewegung führt. Die Größe des erzeugten Drehmomentes hängt neben der tangentialen Kraftkomponente wesentlich vom Hebelarm ab, d. h. von der Länge der Strecke zwischen Drehzentrum und Sehnenansatzpunkt. Die radiale Kraftkomponente bewirkt eine Gelenkkraft, die entweder von den knöchernen Strukturen des Gelenks oder vom umgebenden Bandapparat aufgenommen wird (󳶳Abb. 2.7 (a)). Wirkt auf das Körpersegment eine äußere Kraft, so erzeugt diese ein externes Drehmoment im Gelenk. Soll das Körpersegment gegen die äußere Kraft bewegt werden, so muss vom Muskel eine Muskelkraft aufgebracht werden, die ein inneres Drehmoment erzeugt, das größer ist als das externe Drehmoment (󳶳Abb. 2.7 (b)). Bei der Berechnung der hierfür notwendigen Muskelkraft muss die tangentiale Komponente der Sehnenkraft sowie die Länge des Hebelarms berücksichtigt werden. Arbeiten zwei Muskeln antagonistisch gegeneinander, so erzeugen beide innere Drehmomente, die einander entgegengesetzt sind (󳶳Abb. 2.7 (c)). Durch die Kontraktion zweier antagonistischer Muskeln wird es dem Körper möglich, sehr präzise Bewegungen auch bei hohen Geschwindigkeiten auszuführen (󳶳Kapitel 2.2.4).

2.2 Bewegungsanalyseverfahren zur Diagnostik an oberer und unterer Extremität Unter Bewegungsanalyseverfahren werden alle Methoden zusammengefasst, die der quantitativen Erfassung und Auswertung von Bewegungen von Menschen oder Tieren dienen. Man unterscheidet photometrische Verfahren, die meistens videobasiert sind, sowie Verfahren, die auf Sensoren basieren und Messgrößen wie Winkel, Geschwindigkeit oder Beschleunigung direkt erfassen. Bewegungsanalyseverfahren dienen entweder der kinematischen Beschreibung der Bewegung (Erfassung von Weg, Geschwindigkeit und Beschleunigung bei translatorischen Bewegungen sowie Winkel, Winkelgeschwindigkeit und Winkelbeschleunigung bei rotatorischen Bewegungen) oder der kinetischen Beschreibung der Bewegung (unter Berücksichtigung der wirkenden Kräfte und Momente). Unter 󳶳 Bewegungsanalyseverfahren versteht man alle Methoden zur Erfassung von menschlichen und tierischen Bewegungen. Ziel aller Bewegungsanalyseverfahren ist eine quantitative Beschrei­ bung der Kinematik oder der Kinetik einer ausgeführten Bewegung.

76 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

Im Folgenden werden die gängigen Bewegungsanalyseverfahren beschrieben. An klinischen Beispielen wird verdeutlicht, welche diagnostische Information über die Bewegung auf diese Weise gewonnen werden kann.

2.2.1 Messverfahren zur Bestimmung der Kinematik der Bewegung In der Diagnostik menschlicher Bewegungen sind zwei Komponenten besonders wichtig: erstens die translatorische Komponente der Bewegung, bei der in der Regel Weg-Zeit-Parameter wie Schrittlänge oder Ganggeschwindigkeit betrachtet werden (󳶳Kapitel 2.3) und zweitens die rotatorischen Bewegungen um die anatomischen Achsen der einzelnen Gelenke der Gelenkkette (󳶳Kapitel 2.1.3 und 2.1.4). Die meisten der in der Diagnostik genutzten Bewegungsanalyseverfahren dienen daher der Bestimmung von Gelenkwinkeln, Gelenkwinkelgeschwindigkeiten und Gelenkwinkelbeschleunigungen. Hierbei nimmt immer noch die Winkelmessung mit Hilfe einfacher standardisierter Winkelmesser, sog. Goniometer, den größten Stellenwert ein. Unter einem 󳶳 Goniometer versteht man ein Messinstrument zur Bestimmung von Winkeln. Das einfachste Goniometer ist ein Winkelmesser mit zwei beweglichen Armen, zwischen denen eine Skala zum Ablesen der Winkel angebracht ist. Der Einsatz der meisten Goniometer ist auf stati­ sche, einachsige Messungen begrenzt.

Der Nachteil dieser sehr einfachen Messmethode ist, dass sie einerseits nur die Winkelstellung in einer Gelenkachse erfasst und andererseits in der Regel nur statische Messungen erlaubt. Sogenannte Elektrogoniometer, bei denen die Schenkel des Winkelmessers an den Gliedmaßen befestigt werden und die Winkeländerung elektronisch erfasst wird, sind zwar für dynamische Situationen geeignet, sind jedoch für Winkelmessungen in verschiedenen Ebenen ebenfalls nur begrenzt einsetzbar. Ziel photometrischer Messverfahren ist es, die Position eines Objektes dreidimensional im Raum zu erfassen. Hierzu werden mehrere zweidimensionale Projektionen des Objektes verwendet, um auf die 3D-Position zurückzuschließen. In der Regel werden für photometrische Messverfahren optische Kamerasysteme eingesetzt, bei denen das zu erfassende Objekt eine lichtreflektierende Kugel (Marker) ist (󳶳Abb. 2.9). Um Störungen durch Tageslicht zu vermeiden, arbeiten solche Systeme im Infrarotlichtbereich. Dabei wird durch ein Stroboskop, welches das Kameraobjektiv umgibt, Infrarotlicht ausgesendet, das von den Markern reflektiert wird. Das Kameraobjektiv ist mit einem Tageslichtfilter versehen, sodass nur das Infrarotlicht zu dem von der Kamera aufgenommenen Bild beiträgt. Das Ergebnis ist ein klar als weißer Punkt abgegrenztes Bild des Markers mit hohem Kontrast zur Umgebung (󳶳Abb. 2.9). Alter-

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

| 77

Infrarotkameras

infrarotlichtreflektierende Markeranordnung

resultierendes Kamerabild

Abb. 2.9: Kamera und Markeranordnung (links) sowie resultierendes Kamerabild (rechts) bei einem infrarotlichtbasierten photometrischen Bewegungsanalysesystem.

nativ zu diesem passiven, auf Infrarotlicht basierenden Messverfahren kommen aktive Messverfahren zum Einsatz, bei denen aktiv leuchtende LEDs als Marker eingesetzt werden. Darüber hinaus wird in einigen Systemen neben Licht auch Ultraschall genutzt. Mittels 󳶳 photometrischer Messverfahren kann die Position eines Objektes dreidimensional im Raum bestimmt werden. Hierfür werden optische Kamerasysteme in Verbindung mit lichtreflek­ tierenden Markern, die am Körper befestigt werden, genutzt. Eine 3D-Rekonstruktion der Position ist möglich, wenn der Marker von mindestens zwei Kameras aufgenommen wird.

Zur 3D-Rekonstruktion wird der kugelförmige Marker P in die Bildpunkte P1 und P2 in den Bildebenen der Kameras abgebildet (󳶳Abb. 2.10). Der Zentralpunkt der Kamera und der Bildpunkt bilden einen Strahl, der durch den Mittelpunkt des Objektes P läuft. Die korrespondierenden Strahlen mehrerer Kameras schneiden sich im Mittelpunkt des Markers und definieren so dessen Lage im Raum (󳶳Abb. 2.10). Diese Vorgehensweise wird auch als Triangulation bezeichnet.

78 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

P

Bildebene Kamera 1 Bildebene Kamera 2

Bildpunkt P1

P1 P2

Bildpunkt P2

Zentralpunkt Kamera 2 Zentralpunkt Kamera 1 Abb. 2.10: Photometrische dreidimensionale Rekonstruktion (Triangulation) der Markerposition aus zwei Kamerabildern. P: Bildpunkt.

󳶳 Triangulation ist eine geometrische Methode der optischen Abstandsmessung mittels trigono­ metrischer Funktionen. Von zwei verschiedenen Positionen wird der zu bestimmende Objektpunkt P angepeilt. Unter Kenntnis des Abstandes der beiden Positionen, deren Ortsvektoren, sowie der beiden Vektoren von den Positionen zum Objekt können die Koordinaten von P relativ zum Koor­ dinatenursprung bestimmt werden.

Für die photometrische 3D-Rekonstruktion der Objektposition müssen also die Position und Orientierung der Bildebenen sowie die optischen Zentren (Zentralpunkte) der Kameras bekannt sein. Da diese veränderlich sind, müssen sie vor jeder Messung durch eine Kalibrierung bestimmt werden, wofür Kalibrierkörper verwendet werden, auf die Marker in definierten, bekannten Positionen aufgebracht sind. Werden die Marker auf einzelne Körpersegmente geklebt (󳶳Abb. 2.9), lässt sich aus den 3D-Bewegungsbahnen der einzelnen Marker im Raum auf die translatorischen Bewegungen der Körpersegmente zurückschließen. Damit steht ein Verfahren zur Verfügung, mit dem mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung Körperbewegungen im Raum erfasst werden können. Neben den translatorischen Bewegungen sind aber die Rotationsbewegungen, die während der Bewegungsausführung um die anatomischen Gelenkachsen ausgeführt werden, für die Diagnostik wesentlich. Um von den translatorischen Markerbewegungen auf die anatomischen Gelenkstellungen schließen zu können, werden Biomechanische Modelle der oberen und der unteren Extremität eingesetzt (󳶳Kapitel 2.1.1).

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

| 79

In Forschungsprojekten werden bereits Inertialsensoren (inertial measurement unit, IMU) zur Messung von Beschleunigungen und Drehraten an Körpersegmenten eingesetzt. Daraus lassen sich ebenfalls kinematische Parameter berechnen [Seel 2014].

2.2.2 Biomechanische Modelle

Ein 󳶳 Biomechanisches Modell verknüpft die translatorischen Markerbewegungen der photome­ trischen Bewegungsanalyse mit den Rotationsbewegungen um die anatomischen Gelenkachsen. Die meisten Biomechanischen Modelle basieren auf der Grundannahme von starren Segmenten, die durch ideale Kugelgelenke verbunden sind. Internationale Vergleichbarkeit wird hier durch den ISB-Standard für die Definition von Gelenkkoordinatensystemen für die Definition von Ge­ lenkkoordinatensystemen erzielt.

Biomechanische Modelle sind überwiegend Starrkörpermodelle. Dabei geht man davon aus, dass sich die einzelnen Körpersegmente einer Extremität wie starre Körper verhalten, die mit idealen Kugelgelenken verbunden sind (󳶳Abb. 2.1). Damit sind als Relativbewegungen zwischen den Körpersegmenten nur Rotationen möglich. Translationen in den Gelenken werden in den meisten Biomechanischen Modellen vernachlässigt. Für die Quantifizierung der Gelenkstellung ist es hinreichend, wenn die Orientierung zweier benachbarter Körpersegmente zueinander (z. B. Oberarm und Unterarm bzw. Oberschenkel und Unterschenkel) sowie der gemeinsame Drehpunkt bekannt sind. Damit die berechnete Gelenkstellung der anatomischen Gelenkstellung entspricht, muss dabei das Drehzentrum dem anatomischen Gelenkzentrum und die Drehachsen den anatomischen Achsen des verbindenden Gelenks entsprechen (󳶳Kapitel 2.1.3). Unter der Annahme starrer Segmente genügt es zur Bestimmung der Orientierung des Körpersegmentes, die Position dreier, nicht kollinearer Punkte auf dem Körper zu verfolgen. Dementsprechend werden zur Erfassung der Kinematik der Extremitätenbewegungen jeweils drei Marker auf ein Körpersegment geklebt. Im Falle der Bewegungsanalyse der oberen Extremität werden hierfür drei Marker pro Körpersegment an Stellen mit geringer Hautbewegung befestigt (󳶳Abb. 2.9 (a)). Im Falle des HELEN HAYES Hospital Markersets [Kadaba 1990; Vaughan 1999] für die unteren Extremitäten teilen sich zwei benachbarte Körpersegmente jeweils einen Marker (󳶳Abb. 2.11). In beiden Fällen wird durch die Markeranordnung eine Ebene aufgespannt, welche die jeweilige Körpersegmentorientierung beschreibt (󳶳Abb. 2.11) und ein Körpersegmentkoordinatensystem definiert. Zur Definition der Gelenkzentren wird eine statische Kalibrierungsmessung durchgeführt. Hierfür werden Gelenkmarker verwendet, die auf anatomisch definier-

80 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

Becken Neigung Schiefstand Rotation Hüfte Flex-/Extension Ab-/Adduktion Rotation Knie Flex-/-Extension Varus/Valgus Rotation Sprunggelenk Dorsi/Plantar Rotation Alignment Abb. 2.11: HELEN HAYES Hospital Markerset zur Bewegungsanalyse der unteren Extremitäten. Jeweils drei Marker spannen eine Ebene auf, welche die Orientierung des Körpersegmentes be­ schreibt. Die Rotationswinkel geben die Gelenkstellung in den anatomischen Achsen wieder.

te Punkte an den Gelenken geklebt werden (󳶳Abb. 2.12). Unter Zuhilfenahme zusätzlicher, anthropometrischer Informationen wie Größe, Gewicht und Gelenkdicke kann die Lage des anatomischen Gelenkzentrums zunächst relativ zum Gelenkmarker geschätzt werden. Durch die statische Kalibrierungsmessung, die bei der Analyse unterer Extremitäten im Stehen und bei der Analyse oberer Extremitäten in der Neutral-Null-Stellung durchgeführt wird, lässt sich zusätzlich erreichen, dass die Lage des anatomischen Gelenkzentrums relativ zu den Körpersegmentkoordinatensystemen bekannt ist und somit auch bei dynamischen Messungen aus der Bewegung der Marker auf den Körpersegmenten auf die Lage des Gelenkzentrums geschlossen werden kann (󳶳Abb. 2.12). Dieses Vorgehen hat insbesondere bei der Analyse der Bewegungen der oberen Extremität den Vorteil, dass die Gelenkmarker bei dynamischen Messungen entfernt werden können und somit Messfehler durch Hautverschiebungen reduziert werden. Auf der Basis der Gelenkzentren der einzelnen Gelenke der Gelenkkette können die Anatomischen Gelenkachsen als Drehachsen bestimmt werden. Dabei orientiert man sich an der Neutral-Null-Stellung. So zeigt beispielsweise die Rotationsachse des Ellenbogens vom Ellenbogengelenkzentrum zum Schultergelenkzentrum. Die Flexions-/Extensionsachse steht orthogonal zu der Ebene, die durch das Handgelenkszentrum, das Ellenbogengelenkzentrum und das Schultergelenkzentrum aufgespannt

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

| 81

Innen-/AußenRotationsachse Flexions-/ Extensionssachse Abduktions-/ Adduktionsachse Segmentmarker Gelenkmarker Gelenkzentren Abb. 2.12: Definition des Gelenkzentrums und den der Anatomie entsprechenden Drehachsen am Beispiel des Ellenbogengelenks. Die Rota­ tionswinkel zwischen den Körpersegmentkoor­ dinatensystemen des Ober- und des Unterarms ergeben die Gelenkstellung im Ellenbogen.

wird. Dabei steht die dritte Achse (Abduktions-/Adduktionsachse) im Sinne eines kartesischen Koordinatensystems orthogonal auf den beiden anderen (󳶳Abb. 2.12). Das durch Gelenkzentrum und Drehachsen definierte Gelenkkoordinatensystem kann als Bezugskoordinatensystem betrachtet werden, das sich mit der Extremität mit bewegt. Zur Bestimmung der Gelenkwinkel stellt die Neutral-Null-Stellung, bei der alle Winkel Null sind, die mathematische Ausgangsposition dar. Ausgehend hiervon lassen sich dann die Gelenkwinkel einer erreichten Position durch Lösung der Rotationsmatrix bestimmen (󳶳Formel (2.7) bzw. 󳶳Formel (2.8)). Wird dieser Vorgang während der Bewegung für jede Position wiederholt, erhält man den Gelenkwinkelverlauf über der Zeit.

Pathologisches Bewegungsmuster eines Patienten mit einer Läsion des Plexus-brachialis-Nerven Im Geflecht des Plexus brachialis sind die Nerven zusammengefasst, die hauptsächlich die Arme ver­ sorgen. Kommt es zu einer Verletzung der Nerven, ist häufig die motorische Funktion der gesamten oberen Extremität eingeschränkt. Bei vielen betroffenen Patienten kommt es zu einer pathologischen Innenrotationsfehlstellung der Schulter. Der Grad der pathologischen Fehlstellung lässt sich mithil­ fe photometrischer Bewegungsanalyseverfahren auch bei dynamischen Bewegungen quantifizieren. 󳶳 Abb. 2.13 zeigt das Beispiel eines Kindes mit geburtstraumatischer Plexus-brachialis-Läsion. Bei der Ausführung einer Flexions-/Extensionsbewegung des Schultergelenks ist im Vergleich zu einem nicht betroffenen Kind eine Rotationsfehlstellung von durchschnittlich 50 Grad im Schultergelenk zu erkennen.

82 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler (a)

(b)

Schultergelenkwinkel in Grad

betroffen

nicht betroffen

100

100

50

50

0 0

50

100

Flexions-/Extensionsbewegung in % Innen-/Außenrotationswinkel

0

0

50

100

Flexions-/Extensionsbewegung in %

Abduktions-/Adduktionswinkel

Flexions-/Extensionswinkel

Abb. 2.13: Quantifizierung der Innenrotationsfehlstellung des Schultergelenks bei Patienten mit Läsion des Plexus-brachialis-Nerven:(a) Betroffener Patient und (b) physiologische Bewegung eines nicht betroffenen Kindes.

2.2.3 Messverfahren zur Bestimmung der Kinetik der Bewegung Bei speziellen klinischen Fragestellungen, bei denen nicht die Bewegungsausführung, sondern die Belastung der einzelnen Gelenke im Vordergrund steht, ist die kinematische Beschreibung der Bewegung nicht ausreichend. Von Interesse sind hierbei insbesondere die während der Bewegung in den einzelnen Gelenken wirkenden Kräfte und Momente, sodass die gesamte Kinetik der Bewegung betrachtet werden muss. Um von der kinematischen Beschreibung der Bewegung Rückschlüsse auf die Kinetik der Bewegung ziehen zu können, müssen alle auf die Gelenkkette wirkenden äußeren Kräfte bekannt sein. Neben Gravitations- und Trägheitskräften, die sich aus der Anthropometrie der Extremitäten berechnen lassen, müssen auch Kräfte betrachtet werden, die zusätzlich auf den Körper wirken (󳶳Kapitel 2.1.4). Ein Beispiel hierfür ist die Gewichtskraft einer Hantel, die beim Halten dieser wirkt (󳶳Abb. 2.6 (a), (b) und (c)). Zur Messung externer Kräfte/Momente werden bei der Bewegungsanalyse der unteren Extremität in der Regel spezielle Kraftmessplatten verwendet, die in den Boden eingelassen werden (󳶳Abb. 2.14 (a)). Diese erfassen mit hoher zeitlicher Auflösung den dreidimensionalen Kraftvektor der Bodenreaktionskraft, die bei Belastung des Fußes auf den Boden ausgeübt wird (󳶳Kapitel 2.3.3; 󳶳Abb. 2.24). Schwieriger ist die Messung der externen Kräfte bei Bewegungsanalysen der oberen Extremität. Bei solchen Fragestellungen kommt häufig Robotik zum Einsatz, wobei der Roboter eine Be-

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems |

83

Kraft-Momentensensor Fz

Fy KraftmessKraftvektor platte (a) Messung der Bodenreaktionskräfte beim Gang

Fx Roboterendeffektor (b) Messung der Hebekräfte der oberen Extremitäten

Abb. 2.14: Messung externer Kräfte, die während einer Bewegung auftreten: (a) Erfassung der Bo­ denreaktionskräfte bei der Analyse der unteren Extremitäten mit Kraftmessplatten (Fa. KISTLER), (b) Analyse der Kinetik oberer Extremitäten durch eine Kombination aus Kraft-Momentensensoren in Kombination und Robotik.

wegungsbahn vorgibt und die zwischen Roboter und Mensch wirkenden Kräfte und Momente mit einem am Endeffektor des Roboters befestigten Kraft-Momentensensor erfasst werden (󳶳Abb. 2.14 (b)) [Kleiber 2013]. Sind die Kinematik der Bewegung und die äußeren Kräfte bekannt, kann mit Hilfe der inversen Dynamik auf die in den einzelnen Gelenken wirkenden Kräfte zurückgeschlossen werden. Hierfür werden zunächst entsprechend der NEWTONschen Bewegungsgleichungen die in den einzelnen Gelenken wirkenden Trägheitskräfte aus den Segmentmassen, Segmentschwerpunkten und Segmentträgheitsmomenten sowie den jeweiligen Gelenkstellungen und deren zeitliche Änderungen berechnet [Kleiber 2013]. Diese addieren sich zu den externen Kräften, sodass sich die in den einzelnen Gelenken der Gelenkkette wirkenden Gesamtkräfte und -momente entsprechend berechnen lassen (󳶳Kapitel 2.1.4; 󳶳Formel (2.18) bis 󳶳Formel (2.20)).

Änderung der wirkenden Kräfte und Momente im Schultergelenk aufgrund einer pathologisch innen­ rotierten Schulter Im vorherigen Beispiel wurde anhand einer Flexions-/Extensionsbewegung des Schultergelenks ge­ zeigt, dass eine Läsion des Plexus-brachialis-Nerven häufig eine pathologische Innenrotation zur Fol­ ge hat. Bei Berechnung der Kinetik der ausgeführten Bewegung zeigt sich, dass die Innenrotation der Schulter zu einer deutlichen Erhöhung der entlang der Flexions-/Extensionsachse wirkenden Kräfte führt. Darüber hinaus treten signifikant erhöhte Drehmomente um die Abduktions-/Adduktionsachse des Schultergelenks auf (󳶳 Abb. 2.15). Während die pathologischen Drehmomente durch eine zusätz­ liche Aktivierung der Muskulatur des Schultergürtels kompensiert werden können, sind die zusätzlich entstandenen Kräfte nicht kompensierbar und stellen einen Risikofaktor für Gelenkverschleiß dar.

84 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

Momente im Schultergelenk in Nm

Kräfte im Schultergelenk in N

Schultergelenkwinkel in Grad

betroffen

nicht betroffen

100 50 0

40 20 0

30 15 0 -15 0

50

100

Flexions-/Extensionsbewegung in % Innen-/Außenrotationswinkel

0

50

100

Flexions-/Extensionsbewegung in %

Abduktions-/ Adduktionswinkel

Flexions-/ Extensionswinkel

Abb. 2.15: Berechnung der im Schultergelenk wirkenden Kräfte und Momente bei einer Flexi­ ons-/Extensionsbewegung der Schulter. Deutlich ist zu erkennen, dass eine pathologische Innenro­ tation der Schulter zu einer Erhöhung der entlang der Flexions-/Extensionsachse wirkenden Kräfte sowie einer Erhöhung des um die Abduktions-/Adduktionsachse wirkenden Momentes führt. Betrof­ fene Seite und nicht betroffene Seite sind dargestellt [Kleiber 2013].

2.2.4 Messverfahren zur Bestimmung der muskulären Aktivierung Während der Bewegung müssen vom Organismus innere Kräfte aufgewendet werden, um die äußeren Kräfte zu überwinden. Diese inneren Kräfte resultieren größtenteils aus der Kontraktion der Muskulatur. Die Kontraktion eines Muskels wird vom Zentralnervensystem gesteuert. Der dadurch gestartete Erregungsvorgang bewirkt im extrazellulären Gewebe ein zeitlich veränderliches elektrisches Strömungsfeld, das z. B. in Form von Potentialdifferenzen messtechnisch erfasst werden kann und als Elektromyogramm (EMG) bezeichnet wird (󳶳Kapitel 8). Bis heute haben sich zwei Arten der Elektromyographie etabliert: – invasive EMG-Verfahren, bei denen die elektrische Aktivität im Muskel direkt an der Muskelfaser abgeleitet wird, und – nichtinvasive Oberflächen-EMG-Verfahren, welche die Potentialdifferenz auf der Hautoberfläche über dem erregten Muskel erfasst.

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems |

85

Insbesondere die Oberflächen-Elektromyographie ist für die Erfassung der muskulären Aktivierung bei biomechanischen Untersuchungen geeignet. Unter 󳶳 Oberflächen-Elektromyographie versteht man die nichtinvasive Erfassung des elektri­ schen Potentials, das bei der Erregung eines Muskels auf der Hautoberfläche entsteht. Die Ab­ leitung des Oberflächen-EMG erfolgt in der Regel mit großflächigen Elektroden in einer bipolaren Anordnung. Wird das Oberflächen-EMG gleichzeitig von mehreren Muskeln abgeleitet, so wird die Erfassung des muskulären Koordinationsmusters möglich, das der Bewegung zugrunde liegt. Ein internationaler Standard für die Ableitung von Oberflächen-EMG-Signalen ist im sogenannten SE­ NIAM-Protokoll festgelegt [Hermens 2000].

Das konventionelle Oberflächen-EMG basiert auf großflächigen Elektroden (Durchmesser 0,5 bis 1cm), die auf der Hautoberfläche befestigt werden. Zur besseren Störunterdrückung wird üblicherweise eine bipolare Messanordnung gewählt, wobei der Abstand zwischen den beiden Elektroden mindestens 1 cm beträgt. Die EMG-Signale werden unmittelbar hinter den Elektroden verstärkt, um eine ausreichend gute Signalqualität zu gewährleisten. Die relativ große Entfernung zwischen Ableitort und Muskelfaser führen dazu, dass mit dem konventionellen Oberflächen-EMG die elektrische Aktivität des gesamten Muskels erfasst wird. Dementsprechend wird das konventionelle Oberflächen-EMG immer dann angewendet, wenn eine Information über die Funktion des gesamten Muskels oder großer Muskelbereiche benötigt wird. Anwendungsgebiete liegen neben der Neurologie vor allem im Bereich der Bewegungsanalyse, der Arbeitsphysiologie sowie der Sportbiomechanik. Unter dem 󳶳 muskulären Koordinationsmuster versteht man das Zusammenspiel verschiedener Muskeln und Muskelgruppen mit dem Ziel einer energieeffizienten aber trotzdem hoch präzisen Ausführung einer Bewegung. Dabei arbeiten zur Steuerung der Bewegung agonistische, synergis­ tische und antagonistische Muskeln stets Hand in Hand.

Die zeitliche Koordination einzelner Muskeln oder Muskelgruppen führt zur gezielten und hoch präzisen Ausführung einer Bewegung. Muskeln, die gleichsinnig zu einer Bewegung beitragen, werden als Synergisten (griech, synergia, dt. Zusammenarbeit) bezeichnet. Muskeln, die mit ihrer Kontraktion der Bewegung entgegen wirken, sind die Antagonisten (altgr. antagonistes, dt. Gegenhandler). Der Agonist (griech. agon, dt. Wettstreit) wird durch die Aktivität seines Gegenspielers (Antagonist) gehemmt. Dieses Zusammenspiel der Muskulatur wird als muskuläres Koordinationsmuster bezeichnet, das neben dem Grad der Aktivierung einzelner Muskeln wesentlich durch das zeitliche Zusammenspiel verschiedener Muskeln oder Muskelgruppen gekennzeichnet ist. Zur Erfassung des muskulären Koordinationsmusters wird das Oberflächen-EMG gleichzeitig von allen wesentlich an der Bewegung beteiligten Muskeln abgeleitet. 󳶳Abb. 2.16 zeigt die typische Elektrodenanordnung zur Erfassung des muskulären Koordinationsmusters bei der aktiven Beugung und Streckung des Ellenbo-

86 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

Flexionswinkel in Grad

Ellenbogenflexion

Zeit in s

EMG-Elektroden

EMG-Vorverstärker

Amplitude in mV

BewegungsanalyseMarker

Amplitude in mV

Bizeps EMG-Signal

Zeit in s Trizeps EMG-Signal

Zeit in s

Abb. 2.16: Erfassung der muskulären Koordination bei der Ellenbogenflexion. Zeitlich synchron werden vier Oberflächen-EMG-Signale bipolar abgeleitet und anschließend verstärkt. Zur Synchroni­ sation zwischen muskulärer Aktivierung und Bewegung wird gleichzeitig die ausgeführte Bewegung photometrisch erfasst. Dargestellt sind die EMG-Signale des Bizeps- und des Trizepsmuskels. Deut­ lich stellt sich ein Wechselspiel zwischen Agonist und Antagonist ein.

gengelenks. Dabei wird die muskuläre Aktivität des m. biceps brachii (Bizeps), sowie des M. brachioradialis, des M. triceps brachii (Trizeps) und des M. deltoideus zeitlich synchron erfasst. Da es sich bei den Muskeln Bizeps und Trizeps um Antagonisten handelt, ist der eine bei der Ellenbogenbeugung und der andere bei der Ellenbogenstreckung aktiv. Die Einschränkungen der konventionellen Oberflächen-EMG werden jedoch schon dann deutlich, wenn tiefer gelegene Muskeln oder Muskeln innerhalb einer ganzen Muskelgruppe von Interesse sind. Hier kommt es zu einer Überlagerung der elektrischen Aktivitäten verschiedener Muskeln, die eine korrekte Interpretation verhindern. Hinzu kommt noch die Schwierigkeit, dass die abgeleiteten EMG-Signale häufig von Störungen überlagert sind. Nur in sehr wenigen Fällen sind die Störungen deutlich vom EMG-Signal zu unterscheiden. Dabei stellt sich in erster Linie die Frage, ob das abgeleitete EMG-Signal tatsächlich der Aktivierung des Muskels entspricht, von dem es vermeintlich abgeleitet wurde. Dieses Problem ist auf das Phänomen des sogenannten Cross-Talks zurückzuführen. Dabei werden die bei der Erregung eines Muskels entstehenden elektrischen Felder durch das Gewebe weitergeleitet und

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems |

87

von einem Elektrodenpaar erfasst, das über einem anderen Muskel lokalisiert ist. Damit wird das Cross-Talk-Signal diesem Muskel fälschlicherweise als EMG-Signal zugeordnet. Um die Fehlerquellen bei der EMG-Ableitung gering zu halten, wurde ein internationaler Standard (SENIAM: Surface EMG for a Non-Invasive Assessment of Muscles [Hermens 2000]) für die Elektrodenwahl, die Platzierung der EMG-Elektroden sowie für die anschließende Signalverarbeitung festgelegt, der als Richtlinie für die konventionelle Oberflächen-EMG gilt.

Pathologische muskuläre Koordination nach einer Läsion des Plexus-brachialis-Nerven. Bei einer Verletzung des Plexus-brachialis-Nerven kommt es häufig zur pathologischen Veränderung des muskulären Koordinationsmusters, die eine effiziente Bewegungsausführung verhindert. Neben der Lähmung einzelner Muskeln oder Muskelgruppen tritt dabei auch das Phänomen der patholo­ gischen Koaktivierung auf. 󳶳 Abb. 2.17 zeigt ein Beispiel für eine Ellenbogenflexionsbewegung der betroffenen und nicht betroffenen Seite eines Patienten. Auf der betroffenen Seite werden die bei­

betroffen

nicht betroffen

Flexionswinkel in Grad

Ellenbogenflexion

Amplitude in mV

Bizeps EMG-Signal

Amplitude in mV

Trizeps EMG-Signal

Zeit in s

Zeit in s

Abb. 2.17: Pathologische Koaktivierung der beiden Antagonisten Bizeps und Trizeps nach einer Läsion des Plexus- brachialis-Nerven. Durch die zeitgleiche Aktivierung der beiden Muskeln heben sie sich in ihrer Wirkung auf und verhindern somit eine effiziente Ellenbogenflexion. Im Vergleich zu einem nicht betroffenen Bewegungsmuster ist die Pathologie im Oberflächen-EMG der beiden Muskeln deutlich zu erkennen (vergl. 󳶳 Abb. 2.16).

88 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

den Antagonisten Bizeps und Trizeps zeitgleich aktiviert. Als Resultat heben sich die von den beiden Muskeln erzeugten Drehmomente im Ellenbogengelenk auf und verhindern damit dessen effiziente Flexionsbewegung.

2.3 Ganganalyse Für den Menschen ist das Gehen die natürlichste Art sich fortzubewegen. Dabei können Hindernisse überwunden, Neigungen erklommen und unterschiedliche Bodenverhältnisse einfach bewältigt werden. Die Ursache hierfür liegt in der funktionellen Leistungsfähigkeit der unteren Extremitäten, die sich im Laufe der Evolution optimal an diese Anforderungen angepasst hat. Voraussetzung dieser Leistungsfähigkeit ist jedoch eine uneingeschränkte Gelenkbeweglichkeit sowie ein dem Gang entsprechendes in Zeit und Intensität variables muskuläres Koordinationsmuster. Der menschliche Gang ist stark individuell geprägt und ist damit abhängig vom Geschlecht, vom Alter und von den persönlichen Lebensbedingungen. Der Begriff „normaler Gang“ ist daher auf dem Gebiet der Ganganalyse stark umstritten; dennoch lässt sich mit „normaler Gang“ eine Situation beschreiben, bei der zumindest die grundlegenden Prinzipien definiert sind. Deshalb macht es Sinn ein bestimmtes Normgangbild als Bezugssystem einzusetzen. Seiner Bedeutung entsprechend blicken die Versuche, den menschlichen Gang zu beschreiben, auf eine lange Historie zurück. Heute werden hocheffiziente Bewegungsanalyseverfahren genutzt, um quantitative und qualitative Messgrößen des Ganges zu erfassen und so sowohl den physiologischen Gang wie auch pathologische Abweichungen auf einem hohen Niveau zu beschreiben. Diese Vorgehensweise wird allgemein als Ganganalyse bezeichnet. Die 󳶳 Ganganalyse als Teilgebiet der Bewegungsanalyse ist ein Verfahren zur quantitativen und qualitativen Beschreibung des (menschlichen) Ganges.

Die Ganganalyse ist ein valides Diagnosehilfsmittel, das objektive, vom Untersucher unabhängige, quantifizierbare Messergebnisse liefert. Einsatzmöglichkeiten der Ganganalyse bieten sich z. B. als Diagnosehilfsmittel, zur Therapieüberwachung und beim Sport. Insbesondere besteht die Möglichkeit, die speziellen biomechanischen Aspekte der prothetischen Versorgung zu objektivieren und mechanische Eigenschaften von Passteilen unter praxisnaher Beanspruchung zu veranschaulichen (󳶳Kapitel 3 und 󳶳Kapitel 5). Aufbauend auf 󳶳Kapitel 2.2 vertieft dieses Kapitel die Methode der Bewegungsanalyse am Beispiel der Ganganalyse, definiert die wichtigsten Parameter des menschlichen Ganges und zeigt Besonderheiten und Pathologien auf.

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

| 89

2.3.1 Der Gangzyklus Schritt und Doppelschritt Der 󳶳 menschliche Gang ist ein kinematisches Phänomen, wobei durch den wiederholten Bewe­ gungsvorgang der unteren Extremitäten einerseits der Körperschwerpunkt des Menschen trans­ latorisch vorwärts bewegt und andererseits Standfestigkeit erzeugt wird [Vaughan 1999].

Dabei basiert der menschliche Gang auf dem komplexen Zusammenspiel zwischen inneren und äußeren Kräften (󳶳Kapitel 2.1.4). Durch die Abstimmung dieser Kräfte zeigt sich im physiologischen Gangbild eine wiederholte, rhythmische und alternierende Bewegung von Extremitäten und Rumpf. Diese Bewegungen lassen sich in mehrere, immer ähnlich ablaufende Abschnitte gliedern, deren Gesamtheit als Gangzyklus, manchmal auch als Doppelschritt, bezeichnet wird (󳶳Abb. 2.18). Unter einem vollständigen 󳶳 Gangzyklus (auch Doppelschritt) versteht man das Zeitintervall zwi­ schen zwei aufeinanderfolgenden identischen Ereignissen des gleichen Beines während des Ge­ hens, in der Regel der „initiale Bodenkontakt“. Der Gangzyklus unterteilt sich in Stand- und Schwungphase, die jeweils wieder in Sub-Phasen unterteilt werden. Das kontralaterale Bein voll­ zieht den gleichen Bewegungsablauf, allerdings um einen halben Gangzyklus versetzt. Um den Gang unter unterschiedlichen Bedingungen vergleichbar zu machen, wird die Dauer eines voll­ ständigen Gangzyklus auf 100 % normiert.

Ein vollständiger Gangzyklus erstreckt sich von einem bis zum nächsten Auftritt desselben Fußes, wobei das kontralaterale Bein den gleichen Bewegungsablauf um etwa einen halben Gangzyklus versetzt vollzieht (󳶳Abb. 2.18). Er unterscheidet sich vom einfachen Schritt, der durch den Fersenauftritt des ipsilateralen und des kontralateralen Beines begrenzt wird (󳶳Abb. 2.18) Unter einem 󳶳 Schritt versteht man die zeitliche und räumliche Wiederholung der Gangbewegung vom initialen Bodenkontakt des ipsilateralen bis zum initialen Bodenkontakt des kontralateralen Beines. Zwei aufeinanderfolgende Schritte ergeben einen Doppelschritt, der auch Gangzyklus ge­ nannt wird.

Phaseneinteilung des Gangzyklus Man teilt den Gangzyklus in Stand- und die Schwungphase. Die Standphase ist die Phase, in der der Fuß Bodenkontakt hat. Demzufolge ist die Schwungphase der Teil des Ganges, bei dem das Bein in der Luft schwingt (󳶳Abb. 2.19). Während des normalen Gehens macht die Standphase ca. 60 % und die Schwungphase ca. 40 % des Gangzyklus aus. Der Anteil der Stand- bzw. Schwungphase am Schrittzyklus ist ab-

90 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

Schritt

kontralaterale Seite

ipsilaterale Seite Gangzyklus/Doppelschritt

Abb. 2.18: Räumliches Zusammenspiel von ipsilateraler (rot) und kontralateraler (grün) Seite beim Gang. Der Gangzyklus oder ein Doppelschritt definiert sich dabei jeweils am initialen Bodenkontakt des ipsilateralen Fußes (nach [Whittle 1991]).

hängig von der Schrittweite, der Größe des Gehenden, der Schrittgeschwindigkeit und der Richtung der Fortbewegung [Perry 1992]. Gehen ist im Unterschied zum Laufen durch eine Phase charakterisiert, in der beide Beine gleichzeitig am Boden stehen (Doppelstandphase). Innerhalb des Gangzyklus entfallen ca. 20 % auf die Doppelstandphasen. In diesen Phasen teilen sich beide Beine die Last des Körpergewichtes. Die übrigen 80 % der Zeit sind durch Einbeinstandphasen charakterisiert, bei denen das gesamte Körpergewicht jeweils auf einem Bein ruht. Während der Standphasen ist dieses das ipsilaterale, während der Schwungphasen das kontralaterale Bein. Als 󳶳 Doppelstandphase (ca. 20 % des Gangzyklus) werden die Abschnitte des Gangzyklus be­ zeichnet, bei denen sich beide Beine auf dem Boden befinden und die Körperlast teilen. Bei den 󳶳 Einbeinstandphasen (ca. 80 % des Gangzyklus) liegt im Gegensatz zur Doppelstandpha­ se die gesamte Körperlast entweder auf dem ipsilateralen (Standphase) oder dem kontralateralen (Schwungphase) Bein.

Es hat sich als sinnvoll erwiesen, die Stand- und die Schwungphase in weitere Phasen zu unterteilen (󳶳Tab. 2.3). Nach Perry et al. unterscheidet man fünf Phasen innerhalb der Standphase und drei innerhalb der Schwungphase. Die Standphase beginnt mit dem initialen Bodenkontakt (Fersenauftritt) (󳶳Abb. 2.19) [Perry 1992], dessen

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

| 91

Gangzyklus

Standphase

Phasen Gewichtsübernahme

Aufgaben

Schwungphase Gewichtsabgabe

Einbeinstand

Vorwärtsbewegung

Sub-Phasen initialer Bodenkontakt

Stoßdämpfungsphase 0

10

mittlere Standphase

terminale Vorschwung- initiale mittlere terminale Standphase phase Schwungph. Schwungph. Schwungph. 30

50

60

73

87

100 %

Abb. 2.19: Zeitliche Einteilung des Gangzyklus in Stand- und Schwungphase sowie in deren SubPhasen [Perry 1992].

Ziel die Positionierung des Beines zur Einleitung der Standphase ist. Nachfolgend findet sich die Stoßdämpfungsphase (oder Belastungsantwort), die sich fortsetzt bis das kontralaterale Bein in die Schwungphase übergeht. Bei der Stoßdämpfungsphase handelt es sich also um eine Doppelstandphase, die eine Gewichtsübernahme vom kontralateralen zum ipsilateralen Bein zum Ziel hat. Der Stoßdämpfungsphase folgt die mittlere Standphase, in der das Körpergewicht auf den Vorfuß verlagert wird. Hierbei wird der Körperschwerpunkt über den Kraftangriffspunkt des tragenden Beines bewegt. Die Einbeinstandphase des ipsilateralen Beines endet mit der terminalen Standphase, die mit dem Ablösen der Ferse beginnt und mit dem initialen Bodenkontakt des kontralateralen Fußes endet (󳶳Abb. 2.19). Der Körperschwerpunkt bewegt sich in dieser Phase über den stützenden Fuß hinweg. Abgeschlossen wird die Standphase durch eine weitere Doppelstandphase, der sogenannten Vorschwungphase. Ziel der Vorschwungphase ist die Vorbereitung des im Anschluss schnell auszuführenden Schwungs der ipsilateralen Seite. Dazu wird einerseits das Körpergewicht auf die kontralaterale Seite verlagert, andererseits die betreffende Muskulatur zur schnellen Ausführung des Schwunges aktiv vorgespannt (󳶳Kapitel 2.1.5). Eingeleitet wird die Schwungphase durch die initiale Schwungphase, in der sich der Fuß vom Boden löst (Toe-off ) und das Bein aus seiner zurückhängenden Position nach vorne gebracht wird (󳶳Abb. 2.19). Die mittlere Schwungphase dient dem Vorschwingen des Beines und wird von der terminalen Schwungphase abgelöst, die den Gangzyklus beendet. In der terminalen Schwungphase ist das Bein vollständig vorgeschwungen, wodurch die anschließende Standphase vorbereitet wird. In 󳶳Tab. 2.3 sind die einzelnen Phasen und Sub-Phasen des Gangzyklus sowie ihre Dauer und Bedeutung noch einmal zusammengefasst.

92 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

Tab. 2.3: Einteilung des Gangzyklus in Sub-Phasen [Perry 1992]. Bedeutung

Intervall im Gangzyklus

Phase

Initialer Bodenkontakt

Positionierung des Fußes

0 % bis 2 %

Stoßdämpfungsphase

Stoßdämpfung Übernahme der Körperlast

0 % bis 10 %

Standphase (Doppelstandphase)

Mittlere Standphase

Fortbewegung des Körperschwerpunktes über den Fuß hinweg

10 % bis 30 %

Standphase (Einbeinstandphase)

Terminale Standphase

Fortbewegung des Körperschwerpunktes vor dem Vorfuß

30 % bis 50 %

Standphase (Einbeinstandphase)

Vorschwungphase

Positionierung für den Schwung

50 % bis 60 %

Standphase (Doppelstandphase)

Initiale Schwungphase

Ablösen des Fußes vom Boden

60 % bis 73 %

Schwungphase (Einbeinstandphase)

Mittlere Schwungphase

Vorschieben des Beines

73 % bis 87 %

Schwungphase (Einbeinstandphase)

Terminale Schwungphase

Vorbereitung des initialen Bodenkontaktes

87 % bis 100 %

Schwungphase (Einbeinstandphase)

Standphase

Muskuläre Koordination während des Ganges Die zyklische, räumliche und zeitliche Wiederholung der Gangbewegung macht es möglich, auch die muskuläre Aktivierung einzelner Muskeln bzw. Muskelgruppen den Phasen des Gangzyklus zuzuordnen. Hierbei werden in der Regel nur die Muskeln und Muskelgruppen betrachtet, die maßgeblich an der Gangbewegung beteiligt sind und deren Aktivierung durch Oberflächen-Elektromyographie nichtinvasiv zugänglich ist (󳶳Kapitel 2.2.4). Diese sind der M. gluteus maximus, die Gruppe der Hamstrings, der M. vastus lateralis, der M. rectus femoris, der M. soleus, der M. gastrocnemius sowie der M. tibialis anterior (󳶳Abb. 2.20). Die Wahl der Muskeln berücksichtigt nur Bewegungen um die Flexions-/Extensionsachse der Gelenke, in denen die Hauptgangbewegungen stattfinden (󳶳Kapitel 2.3.3 und 󳶳Abb. 2.22). Sollen auch Abduktions- und Rotationsbewegungen berücksichtigt werden, sind zusätzliche Muskeln oder Muskelgruppen zu betrachten. Wie elektromyographische Untersuchungen beim normalen Gang zeigen [Perry 1992], sind die Hüftextensoren (M. gluteus maximus und Hamstrings) zu Beginn der Standphase und am Ende der Schwungphase aktiv (󳶳Abb. 2.20). Dabei bewirken sie sowohl die Extension wie auch die Stabilisierung der Hüfte. Gleichzeitig führt die Aktivierung der Hamstrings in der Standphase zur Streckung des Kniegelenks. In der Schwungphase wird die gleiche Muskelgruppe zur Kniegelenksbeugung (Flexion) ge-

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems |

Standphase

93

Schwungphase

M. gluteus maximus 100 50 0 Hamstrings

EMG Hüllkurve in % maximale Amplitude

100 50 0

M. vastus lateralis

100 50 0

M. rectus femoris 100 50 0 M. soleus

100 50 0

M. gastrocnemius

100 50 0 M. tibialis anterior

100 50 0 0

10

20

30

40 50 60 70 Gangzyklus in %

80

90

100

Abb. 2.20: Aktivierung einzelner Muskeln bzw. Muskelgruppen in den einzelnen Gangphasen. Schwarz: EMG-Amplitude nach Gleichrichtung und anschließender Glättung; Grau: Standardab­ weichung; Rot: Aktivitätsphasen (nach [Perry 1992]).

nutzt und ihre Aktivierung führt somit zur Lösung des Fußes vom Boden. Sowohl der M. vastus lateralis wie auch der M. rectus femoris zeigen ihre Hauptaktivität zu Beginn der Standphase und am Ende der Schwungphase (󳶳Abb. 2.20) wobei sie jeweils die Streckung des Knies stabilisieren. Am Übergang von Stand- zu Schwungphase beugt der M. rectus femoris zusätzlich das Hüftgelenk. Zu Beginn der Standphase ist der M. tibialis anterior für den Fersenkontakt zuständig und wird dann von den Muskeln M. gastrocnemius und M. soleus abgelöst (󳶳Abb. 2.20), welche die Abrollbewegung ermög-

94 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

lichen. Die Plantarflexion im oberen Sprunggelenk ist essentiell für die Fortbewegung des Körpers, da sie maßgeblich an der Veränderung des Körperschwerpunktes beteiligt ist (󳶳Abb. 2.19). In der gesamten Schwungphase hebt der M. tibialis anterior den Fuß (Dorsalextension) und ermöglicht somit das freie Schwingen des Unterschenkels.

2.3.2 Weg-Zeit-Parameter des Ganges Mit dem Ziel einer vollständigeren Beschreibung des Ganges integrieren komplexe Bewegungsanalysesysteme eine Vielzahl biomechanischer Messmethoden. Diese apparative Ganganalyse erlaubt die objektive Messung von zahlreichen kinematischen und kinetischen Gangparametern [Whittle 1995]. Neben den kinetischen und kinematischen Gangparametern definiert man zeitliche und örtliche Gangparameter (Weg-Zeit-Parameter), die sich aus der sukzessiven Positionierung der Füße auf dem Boden ergeben (󳶳Abb. 2.19 und 󳶳Abb. 2.21). Die örtlichen Parameter des Ganges ergeben sich aus der relativen Position der Füße zueinander (󳶳Abb. 2.21). Zu den örtlichen Parametern gehören die Schrittlänge, die Doppelschrittlänge, die Schrittbreite sowie der Schrittwinkel. Die Zeitparameter des Ganges ergeben sich dabei entsprechend aus der Dauer der einzelnen Gangphasen (bzw. Sub-Phasen) des Gangzyklus. Zu ihnen gehören neben der Schrittdauer die Standphasen- und die Schwungphasendauer, sowie die Dauer des Zweibeinstandes. Sie werden erweitert durch den Parameter Kadenz, der die Anzahl der Schritte pro Zeiteinheit beschreibt, und den Parameter Ganggeschwindigkeit, der die Geschwindigkeit beschreibt, mit welcher der Körperschwerpunkt fortbewegt wird. Die genaue Definition der einzelnen Weg-Zeit-Parameter sowie ihre Aussage kann 󳶳Tab. 2.4 entnommen werden. Schrittlänge (kontralateral)

Schrittlänge (ipsilateral)

kontralaterale Seite

Schrittwinkel

Schrittbreite

Doppelschrittlänge

ipsilaterale Seite

Abb. 2.21: Definition der Weg-Zeit-Parameter des Ganges, die sich aus der Positionierung der Füße in der Standphase ergeben [nach Whittle 1991].

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems |

95

Tab. 2.4: Weg-Zeit-Parameter des Ganges und ihre Definitionen nach Whittle [Whittle 1991]. Parameter

Englischsprachige Bezeichnung

Definition

Ganggeschwindigkeit

walking velocity

Geschwindigkeit, mit der sich der Körperschwerpunkt in Gangrichtung fortbewegt

Kadenz

cadence

Anzahl der Schritte pro Zeit (meistens bezogen auf eine Minute)

Dauer Standphase

duration stance phase

Zeitraum vom initialen Bodenkontakt bis zum Abheben des Fußes (Toe-off )

Dauer Schwungphase

duration swing phase

Zeitraum vom Abheben des Fußes (Toe-off ) bis zum initialen Bodenkontakt

Dauer Doppel­ standphasen

duration double support

Zeitraum, in dem beide Füße den Boden berühren

Schrittlänge

step length

Distanz zwischen zwei aufeinander folgenden Platzierungen des rechten und linken Fußes

Doppelschrittlänge

stride length

Abstand zwischen zwei aufeinanderfolgenden Platzierungen des gleichen Fußes

Schrittbreite

walking base

Seite-zu-Seite Abstand zwischen der Platzierung beider Füße

Schrittwinkel

angle of toe-out

Winkel zwischen der Mittellinie des Fußes und der Gangrichtung

Unter den 󳶳 Weg-Zeit-Parametern des Ganges versteht man einen Satz von neun örtlichen und zeitlichen Parametern, die sich aus der fortlaufenden Positionierung der Füße auf dem Boden berechnen lassen. Zu den Weg-Zeit-Parametern gehören: Ganggeschwindigkeit, Kadenz, Dauer der Standphase, Dauer der Schwungphase, Dauer der Doppelstandphasen, Schrittlänge, Doppel­ schrittlänge, Schrittbreite und Schrittwinkel (󳶳 Tab. 2.4).

Die Weg-Zeit-Parameter können z. T. recht einfach mit Puder an den Füßen und Stoppuhr oder etwas komplexer mit Video- oder Druckmesssystemen bestimmt werden. So werden sie beispielsweise häufig genutzt, um die Symmetrie des Ganges zu bestimmen. In Kombination mit der gewählten Ganggeschwindigkeit liefern sie zusätzlich einen Anhaltspunkt über die Gangstabilität. Obwohl die Weg-Zeit-Parameter einen guten Überblick über die Gesamtfunktion des Ganges geben, so liefern sie jedoch keine Information über die Kinematik und Kinetik des Ganges. Damit lassen sich aus den Weg-Zeit-Parametern keine Schlüsse über mögliche Ursachen für eine Gangstörung ziehen.

96 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

2.3.3 Kinematik und Kinetik des Ganges Kinematik des Ganges Wie in 󳶳Kapitel 2.2 beschrieben, können kinematische und kinetische Informationen über Bewegungen mit Bewegungsanalyseverfahren bestimmt werden. Hierfür bedarf es zunächst eines geeigneten Biomechanischen Modells. Im Falle der Ganganalyse besteht das verwendete Starrkörpermodell aus den Körpersegmenten Becken, Oberschenkel, Unterschenkel und Fuß, die jeweils durch ideale Kugelgelenke (Hüftgelenk, Kniegelenk und Fußgelenk) verbunden werden (󳶳Abb. 2.1 und 󳶳Abb. 2.11). Die größte Annäherung liegt dabei in der Annahme des Fußes als starr. Es existieren zwar detaillierte biomechanische Fußmodelle, welche die einzelnen knöchernen Bewegungen des Fußes berücksichtigen; diese werden aber wegen ihrer Komplexität selten angewendet. Die Markeranordnungen auf deren Basis die Segmentkoordinatensysteme bestimmt werden, sind zwischen den einzelnen Laboratorien unterschiedlich. In 󳶳Abb. 2.11 ist die Markeranordnung des HELEN HAYES Hospital Markerset [Kadaba 1990; Vaughan 1999] dargestellt, das häufig in kommerziellen Produkten Anwendung findet. Die Gelenkkoordinatensysteme mit den anatomischen Gelenkachsen werden entsprechend des ISB-Standard für die Definition von Gelenkkoordinatensystemen für die unteren Extremitäten [ISB 2002] gewählt. Ausgangspunkt für die Bestimmung der Gelenkstellung ist die Orientierung des Beckens im Raum. Dabei orientiert man sich an der horizontalen Ebene des Laborkoordinatensystems. Während des Ganges ändert das Becken seine Orientierung. Bezogen auf das Laborkoordinatensystem ergeben sich die Rotationswinkel: – Beckenneigung: Rotation um eine Achse in der Transversalebene, – Schiefstand: Rotation um eine Achse in der Sagittalebene, – Beckenrotation: Rotation um eine Achse in der Frontalebene. 󳶳Abb. 2.22 zeigt die Änderung der Beckenorientierung als Funktion des Gangzyklus. Aus der relativen Orientierung von Becken und Oberschenkel lassen sich Hüft-Flexion/Extensio, Hüft-Abduktion/Adduktion und Hüft-Rotation berechnen. Hierbei stellt die Definition des Hüftzentrums eine besondere Herausforderung dar, weil dieses nicht direkt ertastbar ist. Aus der Orientierung des Oberschenkelsegmentes und des Unterschenkelsegmentes lassen sich die Kniegelenkswinkel Knie-Flexion/-Extension, Knie Varus/Valgus und Knie-Rotation bestimmen. Schwieriger ist eine Definition der Fußgelenkswinkel, da der Fuß nur bedingt als starres Segment angenähert werden kann und die Winkel ihre anatomische Bedeutung verlieren. Weniger kritisch ist dabei die Dorsalextension/Plantarflexion, da dieses die Hauptbewegungsachse ist. Als Fuß-Rotation bezeichnet man ein Kippen des Fußes entlang der Längsachse des Fußes. Zusätzlich wird das Alignment des Fußes berechnet, das ähnlich wie der Schrittwinkel dem Winkel zwischen Fußlängsachse und Fortbewegungsrichtung entspricht (󳶳Abb. 2.22).

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

Winkel in Grad

20

40

Beckenneigung

15

20 10

5

0 0

10

–5

20

30

40

50

60

Standphase

70

80

90

100

Schwungph.

Winkel in Grad

–10 20

Beckenschiefstand

5

5

0

10

20

50

60

70

80

90

100

70

80

90

100

Schwungph.

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

70

80

90

100

Hüft-Rotation

5 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

0 –5 –10

–15

–15

0

–20 25

Knie-Flexion

10

20

30

40

50

60

Fuß-Dorsalextension/Plantarflexion

20 15

50

10

40

5 0 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

–5

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

70

80

90

100

70

80

90

100

–10 –15

10

–20

0 20

–25 20

Knie-Varus/Valgus

15

Winkel in Grad

60

10

60

Fuß-Alignment

15 10

10

5 0

5

–5 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

–5

0

10

20

30

40

50

60

–10 –15 –20

–10

–25

–15 20

–30 20

Knie-Rotation

15

Winkel in Grad

0

–10

Fuß-Rotation

10

10

0

5 0

50

Hüft-Abduktion

15

5

0

40

Standphase

–10 20

10

–20 70

Winkel in Grad

40

Beckenrotation

15

20

30

–5

–10 20

Winkel in Grad

30

–5

30

20

15 10

–5

10

–20

10

0

0

–10

–30 20

15

0

Hüft-Flexion

30

10

0

| 97

0

10

20

30

40

50

60

–10 0

10

20

30

40

50

60

70

–5

80

90

100

–20 –30

–10

–40

–15

Gangzyklus in %

Gangzyklus in %

Abb. 2.22: Änderung der Gelenkwinkel während des normalen Gangszyklus. Durchgezogene blaue Linie: Mittelwert über ein repräsentatives Kollektiv von Probanden ohne Schmerzen beim Gehen. Schraffierter Bereich: Standardabweichung.

98 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

Insbesondere die Gelenkwinkel, deren Drehachsen senkrecht zur Sagittalebene liegen (Flexions-/Extensionsachsen), weisen einen hohen Bewegungsumfang und eine gute Reproduzierbarkeit zwischen verschiedenen Personen auf (󳶳Abb. 2.22). Ursache hierfür ist, dass die Gangbewegungen hauptsächlich in der Sagittalebene stattfinden und somit einen geringeren relativen Fehler aufweisen, der hauptsächlich auf die Vereinfachungen in der Modellbildung zurückzuführen ist.

Wirkung einer Fußheber-Orthese in Abhängigkeit von der Federkraft Bei Patienten mit Zerebralparese kommt es aufgrund der Hirnschädigung oft zu charakteristischen Gangveränderungen, die häufig mit einer Fußheberschwäche einhergehen. In der Standphase hat die­ ses zur Folge, dass während und unmittelbar nach dem initialen Bodenkontakt der Fuß vollständig auf dem Boden aufliegt und somit ein erhöhter Dorsalextensionswinkel auftritt (󳶳 Abb. 2.23). Diese Fuß­ heberschwäche wird häufig mit einer Fußheber-Orthese korrigiert, bei der die Dorsalextension durch

Dorsalextension

25 20

Winkel in Grad

15 10 5 0 –5

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

–10 –15 Standphase

Schwungphase

ohne Orthese harte Feder weiche Feder Norm

–20 Knie-Flexion

70 Winkel in Grad

60 50 40 30 20 10 0 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Schrittzyklus in %

Abb. 2.23: Wirkung der Federkraft einer Fußheber-Orthese auf das Gangbild einer Patientin mit zerebraler Gangstörung. Die Ganganalysedaten belegen, dass sich das Gangbild dieser Patientin eher der Norm (schraffierter Bereich) nähert, wenn eine weiche Feder (orange) eingesetzt wird, als wenn eine härtere Federkonstante (grün) gewählt wird.

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems | 99

eine Feder mechanisch unterstützt wird (󳶳 Kapitel 5.2.2). Durch individuelle Anpassung der Feder­ kraft sowohl in Plantarflexion als auch in Dorsalextension soll sich der Patient dem physiologischen Gangbild nähern. 󳶳 Abb. 2.23 zeigt, wie die Ganganalyse genutzt werden kann, um eine individuell optimale Einstellung der Feder zu erreichen. Dabei wird gleichzeitig deutlich, dass nicht nur das Fuß­ gelenk von einer optimierten Einstellung der Orthese profitiert, sondern auch die übrigen Gelenke der Gelenkkette, wie beispielsweise das Kniegelenk.

Kinetik des Ganges Wie in 󳶳Kapitel 2.1.4 beschrieben, reicht die kinematische Beschreibung einer Bewegung nicht aus, um diese vollständig zu erfassen. Vielmehr ist es sinnvoll Informationen über die gelenkwirksamen Kräfte und Momente zu erhalten. Der Wirkung externer Kräfte und Momente kommt im Falle der unteren Extremitäten eine wesentliche Bedeutung zu, da diese das Körpergewicht tragen müssen. Verglichen mit den oberen Extremitäten sind die resultierenden Gelenkkräfte bzw die resultierenden Gelenkmomente also um ein Vielfaches höher. Im Bereich der Ganganalyse bieten sich zur Messung der externen Kräfte Kraftmessplatten an, über die der Patient geht und welche die Bodenreaktionskräfte messen (󳶳Abb. 2.14).

laterale/mediale Kraftkomponente 100 0 –100

Bodenreaktionskraft in N

Kraftkomponente in Bewegungsrichtung 200 100 0 –100 –200

ipsilaterale Seite kontralaterale Seite vertikale Kraftkomponente Körpergewicht

600 500 400 300 200 Standphase

100

Schwungphase

0 0

10

20

30

40 50 60 70 Gangzyklus in %

80

90

100

Abb. 2.24: Bodenreaktionskraft beim Gang mit normaler Ganggeschwindigkeit [Winter 1987].

100 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler 󳶳Abb. 2.24 zeigt den Verlauf der Bodenreaktionskräfte, die während des Ganges mit normaler Gehgeschwindigkeit auftreten. Die Hauptkomponente des Kraftvektors liegt dabei bedingt durch die Gewichtskraft in vertikaler Richtung. Es entstehen während der Standphase zwei Gipfel, wovon der erste durch die Gewichtsübernahme bedingt ist und ungefähr 110 % des Körpergewichtes entspricht. Die mittlere Standphase ist durch ein Kraftminimum (ca. 80 % Körpergewicht) gekennzeichnet, das durch das Anheben des Körperschwerpunktes entsteht (󳶳Abb. 2.18 und 󳶳Abb. 2.19). Der zweite Gipfel tritt in der späten terminalen Standphase auf und hat seine Ursache in der Aufwärtsbeschleunigung des Körperschwerpunktes vor Beginn der Schwungphase [Perry 1992]. Die beiden horizontalen Kräfte entsprechen Scherkräften. Die lateralen Scherkräfte haben ihre Ursache in der Übernahme des Körpergewichtes von einem Bein auf das andere, wodurch sich der Körperschwerpunkt zur Seite verschiebt. Scherkräfte in Bewegungsrichtung sind auf bremsende bzw. beschleunigende Komponenten zurückzuführen. In Kombination mit einem geeigneten kinetischen biomechanischen Modell können aus dem zeitlichen Verlauf der Gelenkwinkel und der externen Kräfte die gelenkwirksamen Kräfte und Momente bestimmt werden. 󳶳Abb. 2.25 zeigt die resultierenden Drehmomente, die in Hüfte, Knie und Fußgelenk um die Hauptbewegungsachsen, den jeweiligen Flexions-/Extensionsachsen entsprechend normiert auf das Körpergewicht, entstehen. Da es sich um eine dynamische Bewegung handelt, müssen diese Drehmomente von der Muskulatur aufgebracht werden, um das jeweilige Gelenk zu stabilisieren bzw. die typische Gangbewegung herbeizuführen. Dabei Standphase

Standphase

Schwungphase

(a)

0,4 0,2 0 –0,2 –0,4

Hüfte

Flexion

Knie Extension Flexion

Sprunggelenk 2 1,5 1,0 0,5 0

1 0,5 0 –1

Extension

Energieverbrauch in W kg–1

Drehmoment in Nm kg–1

Hüfte 1 0,5 0 –1

Schwungphase

1 0,5 0 –0,5

Extension

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Gangzyklus in %

(b)

4 3 2 1 0

Generierung Absorption

Knie Generierung Absorption

Sprunggelenk

Generierung

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Gangzyklus in %

Abb. 2.25: Gelenkdrehmoment und Energieverbrauch beim Gehen. (a) Drehmomente um die Flexi­ ons-Extensionsachse in den einzelnen Gelenken während des Ganges bezogen auf das Körperge­ wicht des Probanden; (b) entsprechender Energieverbrauch duch die einzelnen Gelenke (angelehnt an [Winter 1987].

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems

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unterscheiden sich Standphase und Schwungphase wesentlich. In der Standphase wirkt das gesamte Körpergewicht und trägt damit zum Drehmoment bei (󳶳Abb. 2.24). In der Schwungphase wirken nur die Gewichts- und Trägheitskräfte der distal gelegenen Körpersegmente, da das Körpergewicht auf dem kontralateralen Bein lastet. Dementsprechend wird das höchste Drehmoment während der terminalen Standphase im Fußgelenk aufgebracht und wirkt in Richtung einer Plantarflexion. Es bewirkt das Abrollen des Fußes, hebt den Körperschwerpunkt und schiebt ihn gleichzeitig nach vorne. In der Schwungphase dagegen wirkt wegen des geringen Gewichts des Fußes so gut wie kein Drehmoment. Die während des Ganges im Kniegelenk auftretenden Drehmomente sind relativ klein, da das Knie in der Standphase kaum gebeugt ist (󳶳Abb. 2.22) und damit keine rotatorische Kraft wirken kann. In der Schwungphase ist das Drehmoment trotz großer Knieflexion klein, da die Körpergewichtskraft nicht auf dem Bein lastet. Entsprechend der erforderlichen Hüftflexion ist das Drehmoment in der Hüfte zu Beginn der Standphase hoch. Die Hüftgelenk-stabilisierende Muskulatur muss das Gewicht des Oberkörpers halten. Mit zunehmender Dauer der Standphase wird das Hüftgelenk gestreckt und das Drehmoment baut sich ab. Das während der Schwungphase in der Hüfte wirkende Drehmoment ist durch die Gewichtskraft des Beines geprägt. Nach wie vor wird die Ganganalyse in den meisten Fällen auf Bewegungen in der Sagittalebene reduziert. Für viele Betrachtungen ist diese Vereinfachung hinreichend. Zunehmend entsteht jedoch ein Bewusstsein dafür, dass diese Betrachtung nur einen Teilaspekt des menschlichen Ganges wiedergibt. So entsteht im Knie beispielsweise eine differenzierte Lastübernahme zwischen den medialen und lateralen Kniekompartimenten, die maßgeblich von dem Drehmoment um die Abduktions-/Adduktionsachse (Varus/Valgus) des Kniegelenks abhängt. Ist dieses in pathologischer Weise verändert, besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für Kniegelenksarthrose. Eine wesentliche Charakteristik pathologischer Gangveränderungen ist die deutlich schnellere Ermüdung der Patienten. Die Ursache hierfür ist die Ineffizienz der Biomechanik des Ganges (das Zusammenspiel der einzelnen Körpersegmente der unteren Extremität) in Hinblick auf die mit der Bewegung verbundene Leistung (die pro Zeiteinheit benötigte Arbeit, um die Bewegung herbeizuführen) (󳶳Kapitel 5.2.5). Unter 󳶳 Leistung P versteht man in der Biomechanik die Arbeit pro Zeiteinheit, die notwendig ist, um die gewünschte Bewegung auszuführen. Es wird dabei in positive Leistung, bei der Energie freigesetzt wird, und negative Leistung, bei der Energie verbraucht wird, unterschieden.

Die Arbeit W definiert sich dabei gemäß der physikalischen Gesetze aus dem Produkt der wirkenden Kräften und des vom Körpersegment zurückgelegten Weges W = F⃗ ⋅ s⃗

(2.21)

102 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

und die damit verbundene Leistung P zu P=

d s⃗ dW = F⃗ ⋅ = F⃗ ⋅ v⃗ dt dt ⃗

(2.22)

mit P = Leistung, W = Arbeit, t = Zeit, F⃗ = Kraft, s⃗ = der zurückgelegte Weg und v⃗ = Geschwindigkeit. Betrachtet man Rotationsbewegungen, wie sie in den Gelenken stattfinden, kann 󳶳Formel (2.22) zu P = M⃗ ⋅ v⃗ (2.23) umgeformt werden, wobei M⃗ dem aktuell wirkenden Drehmoment und v⃗ der Winkelgeschwindigkeit in Gelenkkoordinaten entspricht (󳶳Tab. 2.1). 󳶳Abb. 2.25 (b) zeigt die Leistung, die zur Bewegung der einzelnen Körpersegmente beim Gang benötigt wird. Auffällig ist die Freisetzung von Energie in Hüfte und Fußgelenk in der terminalen Standphase sowie in der initialen Schwungphase (Generierung von Leistung), während in der Stoßdämpfungsphase speziell das Hüftgelenk Energie benötigt (Absorption von Leistung). Die Generierung von Leistung ist meistens mit einer konzentrischen Muskelaktivierung verbunden, bei der sich der Muskel aktiv verkürzt. Die Absorption von Leistung kann einer exzentrischen Muskelarbeit zugeordnet werden, bei der sich der Muskel längt, obwohl er kontrahiert ist. Der Muskel bremst also die Bewegung. Aus kinetischer und kinematischer Information lassen sich Rückschlüsse auf den Energietransfer zwischen den einzelnen Körpersegmenten ziehen. Der physiologische Gangzyklus ist hocheffizient in Bezug auf den Energietransfer zwischen den einzelnen Körpersegmenten. Im pathologischen Gang ist die Koordination zwischen den einzelnen Körpersegmenten gestört. Technische Hilfsmittel in der Gangrehabilitation haben häufig das Ziel, diesen effizienten Energietransfer zwischen dem Körpersegment und der unteren Extremität wiederherzustellen und dem Patienten somit zu einer erhöhten Mobilität zu verhelfen (󳶳Kapitel 5 und 󳶳Kapitel 9).

Verzeichnis der Quellen, alphabetisch Disselhorst-Klug C., Schmitz-Rode T., Rau G.: Surface Electromyography and Muscle Force: Limits in EMG-force relationship and new approaches for applications. J. Clin Biomech 24 (2009) 3, 225–235. München: Elsevier 2009. Donskoi: Biomechanik der Körperübungen Berlin: Sportverlag 1961. Gross D., Hauger W., Schröder J., a. Wall W.: Technische Mechanik 3: Kinetik. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag 2010. Hermens H., Freriks B., Disselhorst-Klug C., Rau G.: Development of recommendations for sensors and sensor placement procedures. Journal of Electromyography and Kinesiology, Vol. 10, 5 (2000), 361–374. München: Elsevier 2000. Hollburg U: Maschinendynamik. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH 2007. ISB 2002: ISB recommendations on definitions of joint coordinate system of various joints for the reporting of human joint motion. Part I: ankle, hip and spine. Journal of Biomechanics, 35 (2002), 543–548. Part II: shoulder elbow, wrist and hand, Journal of Biomechanics, 38 (2005), 981–992. München: Elsevier 2002, 2005.

2 Biomechanik des muskuloskelettalen Systems |

103

Kummer: Biomechanik. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag 2005. Kadaba M. P., Ramakrishnan H. K., Wootten M. E.: Measurement of lower extremity kinematics du­ ring level walking. Journal of Orthopaedic Research, 8 (1990), 383–392. New York: Wiley 1990. Kleiber T., Popovic N., Bahm J., Disselhorst-Klug C: A modeling approach to compute modification of net joint forces caused by coping movements in obstetric brachial plexus palsy. Journal of Brachial Plexus and Periphal Nerve Injury 8:10 (2013). Stuttgart: Thieme 2013. Paul R. P.: Robot Manipulators. Cambridge: MIT Press 1984. Perry J.: Ganganalyse Norm und Pathologie des Gehens. München, Jena: Urban & Fischer 1992. Seel Th., Raisch J., Schauer Th.: IMU-Based Joint Angle Measurement for Gait Analysis. Sensors 14(4) (2014), 6891–6909; doi:10.3390/s140406891, Download unter: http://www.mdpi.com/ 1424-8220/14/4/6891, geladen am 26.09.2014. Schewe: Biomechanik – wie geht das? Stuttgart: Georg Thieme Verlag 2000. Vaughan C. L., Davis B. L., O’Connor J.: Dynamics of Human Gait, 2nd edn. Cape Town: SA. Kiboho 1999. Whittle M. W.: Gait Analysis: An Introduction. Oxford: Butterworth-Heinemann 1991. Whittle M. W.: Musculoskeletal Applications of three-Dimensional Anaysis. In: Allard P. Stokes I. Blanchi J. Three-Dimensional Analysis of Human Movement. Windsor: Human Kinetics Canada 1995. Williams S., Schmidt R., Disselhorst-Klug C., Rau G.: An upper body model for the kinematical ana­ lysis of the joint chain of the human arm. J Biomech. 39(13) (2006), 2419–2429, München: Elsevier 2006. Winter D. A.: The biomechanics and motor control of human gait. Waterloo: University of Waterloo 1987. Woernle Ch.: Mehrkörpersysteme. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, 2011. Zatsiorsky, Seluyanov: The mass and inertia characteristics of the main segments of the human body. Biomechanics VIII-B (1983), 1152–1159, Champaign, IL: Human Kinetics Publishers 1983. Zatsiorsky: Kinetics of human motion. Champaign, IL: Human Kinetics Publishers, 2002.

Verzeichnis der weiterführenden Literatur, alphabetisch Brinckmann P., Frobin W., Leivseth G.: Orthopädische Biomechanik. Stuttgart: Georg Thieme Verlag 2000. Richard H. A., Kullmer G.: Biomechanik – Grundlagen und Anwendungen auf den menschlichen Bewegungsapparat. Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag 2013. Kummer B.: Biomechanik: Form und Funktion des Bewegungsapparates. Köln: Deutscher Ärzte-Ver­ lag 2005.

Danksagung Die Autoren danken allen an der Erstellung des Kapitelmanuskripts beteiligten weiteren Personen, den Bereitstellern von Daten, Bilder und Informationen sowie den Mitarbeitern des Verlages WALTER DE GRUYTER.

104 | Catherine Disselhorst-Klug, Silke Besdo, Simone Oehler

Testfragen 1. Worin unterscheiden sich Kinematik und Kinetik? 2. Wenn Sie die Hand betrachten, kann auch diese in einzelne Körpersegmente zerlegt werden. Wie würde Sie diese definieren? Welche Gelenke verbinden die einzelnen Segmente und wie viele Freiheitsgrade besitzen diese? 3. Im Kniegelenk finden sowohl translatorische wie auch rotatorische Bewegungen statt. Über wie viele Freiheitgrade verfügt das Kniegelenk? 4. Wie lautet die Rotationsmatrix, wenn der Unterarm aus der Neutral-Null-Stellung in eine um 60 Grad gebeugte und um 100 Grad innenrotierte Stellung gebracht wird? 5. Wenn das Gelenkkoordinatensystem des Hüftgelenks fest mit dem Becken verbunden ist und die Rotationsreihenfolge Flexion/Abduktion/Rotation lautet, wie lautet dann die Rotationsmatrix, um die Hüfte in eine um 90 Grad gebeugte, um 20 Grad abduzierte und um 10 Grad innenrotierte Stellung zu bringen? 6. Nennen Sie Beispiele für äußere Kräfte! Welche davon gehören zu den externen Kräften und wel­ che sind intrinsische Kräfte? 7. Betrachten Sie die Schwungphase des menschlichen Ganges: Welche äußeren Kräfte wirken auf die einzelnen Körpersegmente der unteren Extremität? In welchem Gelenk wirkt die größere Kraft, im Hüft- oder im Kniegelenk? 8. Wozu dient ein Biomechanisches Modell in der Bewegungsanalyse? 9. Welche Vereinfachungen werden in Biomechanischen Modellen in der Bewegungsanalyse ge­ troffen? 10. Wie viele Marker werden gebraucht, um die Orientierung eines Körpersegmentes zu bestimmen? 11. Wie werden in der Bewegungsanalyse die Gelenkkoordinatensysteme bestimmt? 12. Bei antagonistischer Co-Kontraktion der Muskulatur ist die Gelenkbewegung behindert. Erläu­ tern Sie warum! 13. Zeichnen Sie ein Modell, welches das Verhalten der Muskulatur einschließlich der Sehnen wie­ dergibt und ordnen Sie passive und aktive Kraftanteile den einzelnen Komponenten des Modells zu! 14. Wenn der Unterarm langsam von 90-Grad-Beugung in die Neutral-Null-Stellung gestreckt wird, lässt sich ein Oberflächen-EMG vom Bizeps (Beuger) ableiten, während kein EMG-Signal vom Trizeps (Strecker) abgeleitet werden kann. Der Oberarm befindet sich in Neutral-Null-Stellung. Erläutern Sie warum! Was muss sich ändern, damit der Trizeps aktiviert wird und der Bizeps nicht mehr? 15. Beschreiben Sie die einzelnen Sub-Phasen des Gangzyklus! 16. Bei Schmerzen im Knie: Welche Phase des Gangzyklus wird sich verkürzen? Wie sieht die Ände­ rung auf der kontralateralen Seite aus? 17. Was ist der Unterschied zwischen Gangzyklus, Schritt und Doppelstandphase? 18. Was passiert mit der Doppelstandphase, wenn man vom Gehen zum Laufen übergeht? 19. Warum sind der m. gastrocnemius und der m. soleus in der Terminalen Standphase aktiv? 20. Benennen Sie die Weg-Zeit-Parameter! 21. Was versteht man unter Kadenz und was unter Schrittbreite? 22. In welcher Ebene liegen die Hauptbewegungen des Ganges? 23. Warum sind die gemessenen Bodenreaktionskräfte größer als die Gewichtskraft? 24. Warum ist das Drehmoment in der Terminalen Standphase im Fußgelenk am größten und nicht in der Hüfte? 25. Zu welchem Zeitpunkt des Gangzyklus und in welchem Gelenk wird die größte Energie frei?

Marc Kraft, Wolfram Rossdeutscher, Bernhard Greitemann, Lutz Brückner, Klaus-Peter Hoffmann, Herman Boiten, Simone Oehler, Julius Thiele

3 Gliedmaßenprothetik 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Rehabilitation amputierter Patienten | 106 Zielstellung der Gliedmaßenprothetik | 121 Gliedmaßenprothetik der unteren Extremität | 122 Gliedmaßenprothetik der oberen Extremität | 176 Weiterentwicklungen der Prothetik im Bereich des biologisch-technischen Interfaces | 198

Zusammenfassung: Eine Amputation ist ein besonders schwerer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Menschen. Hieraus können Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens und der Mobilität, wie dem Stehen und Gehen, resultieren. Gelingt es jedoch, den Patienten nach chirurgischer Herstellung eines funktionell nutzbaren Stumpfes in einem interdisziplinären Team mit adäquater Prothesenversorgung zu rehabilitieren, kann ein weitgehender Ausgleich von Defiziten erreicht werden. In diesem Kapitel werden von den medizinischen Grundlagen ausgehend, aktuell verfügbare und in der Forschung untersuchte Komponenten von Exoprothesen der oberen und unteren Extremität vorgestellt. Abstract: Amputation is a very serious medical intervention which may lead to restrictions in the activities of daily living as well as the patient’s mobility. If it is possible, however, to rehabilitate the patient with the help of an interdisciplinary team and adequate prosthetic systems after surgical preparation of a functionally adequate stump, a very successful compensation of deficiencies is attainable. Starting with medical requirements, this chapter presents various exoprosthetic components designed for the upper and lower extremities. Prosthetic components currently available as well as those still under research are described.

106 | Marc Kraft et al.

3.1 Rehabilitation amputierter Patienten Der Verlust einer Extremität ist für den Betroffenen ein schwerwiegendes, oft das weitere Leben gravierend veränderndes Ereignis. Die Rehabilitation amputierter Patienten ist deshalb eine der anspruchsvollsten und häufig auch der erfolgreichsten Aufgaben der Rehabilitationsmedizin. Sie erfolgt in interdisziplinärer Arbeit und beginnt schon präoperativ bei der Planung der Amputationshöhe, setzt sich durch die profunde, gut durchgeführte amputationschirurgische Vorgehensweise fort und findet im frührehabilitativen, postakuten Behandlungsansatz sowie der späteren, meist stationären Rehabilitation ihren Abschluss [Greitemann 2000, Brückner 2006]. Bei Amputationen an der unteren Extremität, speziell den höheren Amputationen, dominiert die stationäre Rehabilitation, da Patienten oft im höheren Alter sind und einen stark beeinträchtigten Gesundheitszustand besitzen. Nach Amputationen an der oberen Extremität ist die Mobilität der Patienten in der Regel weniger eingeschränkt. Hier kann auch in entsprechend ausgestatteten Zentren ambulant wohnortnah ein Rehabilitationsangebot genutzt werden.

3.1.1 Epidemiologie der Amputation Epidemiologische Daten zu Amputationen in Deutschland sind in Ermangelung eines durchgängigen Amputationsregisters nicht gesichert verfügbar. Die Rate an Amputationen differiert im Vergleich unterschiedlicher Länder zwischen 5 bis 25 Amputationen auf 100 000 Einwohner/Jahr. In den Industriestaaten wird die Anzahl an Amputationen auf etwa 10 bis 17 pro 100 000 Einwohner pro Jahr geschätzt [Mc Collum 1992; Pernot 2000]. Moxey [Moxey 2010] beschrieb die Zahl der Amputationen an der unteren Extremität in England mit 5,1 Majoramputation sowie 6,3 Minoramputationen pro 100 000 Einwohner pro Jahr, Eskelinen [Eskelinen 2001] in Finnland mit 15 MajorAmputationen, Wohlgemut in Deutschland [Wohlgemut 2006] mit 8,4, Peacock [Peacock 2011] bei gefäßbedingten Amputationen (USA) mit 20, Fortington [Fortington 2013] in den Niederlanden bei 8,8, für die Älteren (> 45 Jahre) bei 23,6 auf 100 000 Personen-Jahre. In der Schwerbehindertenstatistik von 2011 für Deutschland sind 64 332 Personen mit einem Verlust oder Teilverlust von Gliedmaßen erfasst [Statistisches Bundesamt 2014a], die einen Behindertenausweis beantragt hatten. Glücklicherweise ist die Anzahl der Amputationen, insbesondere aufgrund höherer Behandlungserfolge bei den ursächlichen Krankheitsbildern, stetig rückläufig und hat sich seit 1993 nahezu halbiert (󳶳Abb. 3.1). Die Mehrzahl der prothetisch zu versorgenden Amputationen betrifft einen Verlust im Bereich der unteren Extremitäten. Ursache von mehr als 80 % der krankheitsbedingten Amputationen sind Durchblutungsstörungen im Rahmen der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK) oder des Diabetes mellitus (griech. diabainein, dt. hindurchgehen, lat. mellitus, dt. honigsüß, umgangssprachlich Zucker-

3 Gliedmaßenprothetik |

107

140.000 120.000 100.000 80.000 60.000 40.000 20.000 0 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 Abb. 3.1: Anzahl schwerbehinderter Menschen in Deutschland mit einem Verlust oder Teilverlust von Gliedmaßen [Statistisches Bundesamt 2014a].

krankheit). Basierend auf verschiedenen Studien seit Ende der 1980er Jahre wird geschätzt, dass es in Deutschland etwa 4 Millionen Frauen und Männer mit einem diagnostizierten Diabetes gibt (alle Diabetestypen), somit ca. 5 % der Bevölkerung [Statistisches Bundesamt 2014c]. Bei ihnen erhöht sich das Risiko für Amputationen an den unteren Extremitäten um 22,2 % gegenüber Gesunden. Basierend auf regionalen bevölkerungsbasierten Erhebungen (Leverkusen, Ostallgäu, Kaufbeuren) Anfang der 1990er Jahre lag die Schätzung der jährlichen Inzidenz für Fußamputationen bei 540 pro 100 000 der diabetischen Bevölkerung in Deutschland. Schätzungsweise 72 % aller Fußamputationen sind auf Diabetes zurückzuführen. Eine Auswertung der Operationsstatistiken der Krankenhäuser des Jahres 2001 basierend auf Abrechnungsdaten der AOK ergab eine Zahl von etwa 44 000 Amputationen im Bereich der unteren Extremität in Deutschland (davon 0,59 % im und oberhalb des Hüftgelenks, 26,67 % im Oberschenkel einschließlich Knie, 16,54 % im Unterschenkel, 56,19 % im Fußbereich) [AOK 2001]. Knapp 70 % der Fälle, also etwa 30 000 Amputationen, standen mit einer Diabetesvorerkrankung in Zusammenhang [Statistisches Bundesamt 2014c]. Der überwiegende Anteil der Patienten ist deutlich älter als 50 Jahre [Baumgartner 1995]. Viele dieser Patienten sind multimorbide, sie leiden unter den Folgen mehrfacher Voroperationen und einer Vielzahl körperlicher Funktionsdefizite (Allgemeinerkrankung, degenerative Veränderungen an anderen Gelenken, kardiovaskuläre Limitationen, Nierenstoffwechselstörung, Augenerkrankung etc.) und haben zentrale und koordinative Störungen auch aufgrund von neurologischen Erkrankungen (Schlaganfälle, Lähmungen: Paresen, Hemiplegien). Seltener, aber immer noch an zweiter Stelle, sind Amputationen nach Unfällen oder Infektionen (beispielsweise infizierte Gelenkendoprothese), aber auch nach bösartigen Tumoren. Letztere betreffen überwiegend die hohen Amputationshöhen an der unteren Extremität (proximaler Oberschenkel/Becken). An den oberen Extremitäten ist hingegen die häufigste Amputationsursache eine andere, hier dominiert das Unfallereignis. Armamputationen machen nach

108 | Marc Kraft et al.

Tab. 3.1: Verteilung der im Jahr 2011 erfolgten traumatischen Amputationen an Extremitäten in Deutschland [Statistisches Bundesamt 2014b]. Art der Amputation (Codierung nach ICD 10) S48 Traumatische Amputation an Schulter und Oberarm S58 Traumatische Amputation am Unterarm S68 Traumatische Amputation an Handgelenk und Hand S78 Traumatische Amputation an Hüfte und Oberschenkel S88 Traumatische Amputation am Unterschenkel S98 Traumatische Amputation am oberen Sprunggelenk und Fuß

Fälle 23 25 5 680 51 62 209

dem Dänischen Amputationsregister [Andersen-Rauberg 1988] nur 3 % aller großen Amputationen aus. In 󳶳Tabelle 3.1 ist die Verteilung der im Jahr 2011 erfolgten traumatischen Amputationen an Extremitäten in Deutschland dargestellt. Die deutlich höhere Anzahl krankheitsbedingter Amputationen ist nicht statistisch erfasst (kein eigener ICD-Code).

3.1.2 Durchführung der Amputation Eine 󳶳 Amputation ist das Abtrennen eines endständigen Körper- oder Organabschnittes.

Ein wichtiger Behandlungsgrundsatz der Rehabilitation, der auf Sir Reginald Watson-Jones (bekannter englischer Orthopäde des letzten Jahrhunderts) zurückgeht, lautet: Die Amputation ist nicht das Ende der Therapie, sondern der Beginn der Rehabilitation.

Für jeden Patienten ist die Amputation nicht nur eine Verstümmelung, sondern sie beeinträchtigt oder zerstört sogar sein Selbstwertgefühl. Oft haben die Patienten Angst, ihren Angehörigen zur Last zu fallen und zum Pflegefall zu werden. Sie durchleben eine tiefe Depression, haben Zukunftsangst, wirken resigniert und zeigen mangelnden Antrieb. Daher gilt es, bereits prä- und perioperativ all diesen Herausforderungen zu begegnen. Im Rahmen einer präoperativen Planung ist die richtige Wahl der Amputationshöhe ein entscheidender Aspekt. Nach Baumgartner gilt [Baumgartner 1995]: Die schwierigsten Aufgaben sind die Indikation zur Amputation überhaupt und dann die Wahl der Amputationshöhe. Die beste Amputation ist keine Amputation, die beste Amputationshöhe ist die peripherste, bei der ein schmerzfreier und funktionell brauchbarer Stumpf geschaffen werden kann.

3 Gliedmaßenprothetik | 109

Immer noch wird oft zu hoch amputiert, was eine verminderte Rehabilitationschance für viele Patienten bedeutet. Wichtige Ziele sind auch, an der unteren Extremität eine möglichst hohe Endbelastbarkeit des Stumpfes und an der oberen Extremität einen Stumpf mit erhaltener Sensibilität (auf der Innenseite: palmar und am Stumpfende) zu erreichen [Baumgartner 1995]. Folgende diagnostische Informationen sind bei der Wahl der bestmöglichen Amputationshöhe einzubeziehen: – Anamnese, – klinischer Befund, präoperativ, – technische Untersuchungsmethoden, z. B.: – Arteriographie, – Messung des Blutdruckes an verschieden Punkten der Extremität, – Szintigraphie, – Untersuchung der arteriellen Durchblutung mit der Doppler-UltraschallSonde, – transkutane Sauerstoffpartialdruck-Messung, – Thermographie, – klinischer Befund, intraoperativ [Baumgartner 1995]. Mögliche Amputationshöhen sind in 󳶳Abbildung 3.2 und 󳶳Tabelle 3.2 beschrieben [Baumgartner 1995]. Die operative Amputationstechnik sollte den Grundregeln nach Baumgartner folgen [Baumgartner 1995]:

17

17 16 15

18 16

14

15

13 12 7

14

6

5

4

3

10

2 1

11 9 8

13 10

12

(a)

7 5 6 4 3 2

8 9 10

1 (b)

Abb. 3.2: Amputationshöhen an den unteren (a) und oberen (b) Extremitäten (die Ziffern der Be­ schriftung werden in 󳶳 Tabelle 3.2 den jeweiligen Amputationsniveaus zugeordnet).

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Tab. 3.2: Amputationshöhen an den Extremitäten [Baumgartner 1995]. Amputationshöhen der unteren Extremität 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

18.





Zehenendglied Großzehe: Exartikulation Mittelgelenk Zehen: Exartikulation Grundgelenk transmetatarsal peripher transmetatarsal proximal Fußwurzel (nach LISFRANC, nach BONA-JÄGER) Fußwurzel (nach CHOPART) Kalkanektomie partiell (Kalkaneus: Fersenbein, Ektomie: operative Entfernung eines Organs) Kalkanektomie total Kalkanektomie und Talektomie (Talus: Sprungbein) kalkaneotibiale Arthrodese (operative Gelenkversteifung) transmalleolär (den Fußknöchel: Malleolus betreffend) Unterschenkel (transtibial) Knieexartikulation (transgenikuläre Amputation) Oberschenkel (transfemoral) Hüftexartikulation Hemipelvektomie (griech. hemi, dt. einseitig, eine Körperhälfte betreffend, Pelvis: das Becken) Hemikorporektomie (operative Absetzung der unteren Körperhälfte einschließlich des Beckengürtels unter teilweiser Erhaltung der Organe des kleinen Beckens)

Amputationshöhen der oberen Extremität 1. 2. 3. 4.

5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

Finger Fingergrundgelenke Metakarpalia (Mittelhandknochen) karpometakarpale Gelenklinie (gelenkige Verbindung zwischen der distalen Reihe der Handwurzelknochen und den Mittelhandknochen) transkarpal Handgelenk Unterarm (transradial) distal Unterarm (transradial) mittellang Unterarm (transradial) kurz Unterarm (transradial) ultrakurz Ellenbogen Transkondylär (durch den Gelenkknorren) Oberarm (transhumeral) distal Oberarm (transhumeral) proximal Oberarm (transhumeral) ultrakurz Schultergelenk Schultergürtel

asymmetrische Operationstechnik: während das zu erhaltende Gewebe nicht schonend genug behandelt werden kann, gilt für das Amputat das Gegenteil; so sollten Haken, Klemmen und Pinzetten möglichst nur die distalen Gewebe fassen, minimale Wundfläche: durch geeignete Schnittführung und operative Technik ist die Wundfläche auf ein Minimum zu beschränken; dabei ist jede nicht absolut notwendige Separation von Haut und Muskulatur, einzelner Muskeln voneinander oder Periost von Knochen zu vermeiden,

3 Gliedmaßenprothetik | 111



– –



atraumatische Behandlung der Gewebe: Verwendung einwandfrei funktionierender und geschliffener Instrumente ist erforderlich, mit deren korrekter Handhabung der Operateur vertraut ist, Fremdmaterial: kein Fremdmaterial darf in der Wunde bleiben (z. B. Gefäßclips, Osteosynthesematerial), Nutzung von resorbierbarem Nahtmaterial, Spannungsfreier Verschluss: Gewebeadaptionen dürfen nicht unter Spannung erfolgen, ausgenommen ggf. bei Kindern (Reduktion durch Wachstum), denn zu straffe Nähte können lokale Gewebsnekrosen bilden, Gestaltung des Stumpfendes: – Knochen und Weichteile sind in der Länge aufeinander abzustimmen und so zu bearbeiten, dass das Stumpfende auf seiner ganzen Fläche belastbar ist, – die Weichteilnarbe ist nicht auf die für die Funktion und Sensibilität wichtigere Seite und auch nicht auf das Stumpfende zu legen, sondern nach Möglichkeit dorsal-distal, – vorhandene Operationsnarben sind in die Schnittführung einzubeziehen, – abgeheilte Haut muss auf der Unterlage voll verschiebbar sein.

Beispiel der Operationstechnik am Oberschenkel [Baumgartner 1995] Die Indikation zur Amputation am Oberschenkel sollte nur dann erfolgen, wenn die Amputation im Kniebereich nicht möglich ist, da der Oberschenkelstumpf nur begrenzt endbelastbar ist. Bei der Ab­ setzung des Femur kommt hinzu, dass mit jeder Kürzung die Muskulatur zunehmend aus dem Gleich­ gewicht gerät. In der Frontalebene bleiben die Abduktoren erhalten, die Adduktoren dagegen werden mit jeder Kürzung schwächer (Tendenz zur Abduktionskontraktur, 󳶳 Abb. 3.3 (a)). In der Sagittalebe­ ne bleibt der Hüft-Lenden-Muskel intakt, im Gegensatz zu den Hüftstreckern (Tendenz zur Beugekon­ traktur). Mit jeder Kürzung verschlechtert sich außerdem das Hebelverhältnis zwischen Stumpf und Prothese.

1

2 3 4 (a)

(b)

5

Abb. 3.3: (a) Kürzung der Adduktoren bei höheren Absetzungen am Femur mit Abduktionskontrak­ tur, (b) Stumpfbildung am Unterschenkel nach Burgess im Sagittalschnitt (1 Schienbein (Tibia), 2 N. tibialis, 3 Gefäße, 4 Wadenbein (Fibula), 5 hinterer Muskel-Haut-Lappen) nach [Baumgartner 1995].

112 | Marc Kraft et al.

Im Rahmen der operativen Versorgung ist auf eine schonende Operationstechnik, mit einer sorg­ fältigen Abrundung der Knochenkanten zu achten. Besonders wichtig ist weiterhin die schonende Be­ handlung von Nerven bei der Kürzung von Nervenenden. In 󳶳 Abbildung 3.3 (b) ist die Gestaltung eines Unterschenkelstumpfes exemplarisch dargestellt.

Probleme nach Amputationen können verursacht werden durch: – schlecht belastbare Narben, – Weichteilüberhang, – zu wenig Weichgewebeanteil, – vorstehende Knochenkanten, – Exostosen (lat. ex, dt. heraus, lat. os, dt. Knochen: zusätzliche Bildung von kompakter Knochensubstanz), – Neurome (gutartige Gewebsneubildung durch überschießendes Wachstum von verletztem Nervengewebe), – Hämatome (altgriech. haima, dt. Blut: Bluterguss), – Serome (Ansammlung von Wundflüssigkeit in Gewebehohlräumen), – Wundrandnekrosen (griech. nekrosis, dt. Absterben: Untergang von Gewebe) – belassene Fremdkörper [Baumgartner 1995].

3.1.3 Ziele der Rehabilitation nach Amputation Nachdem in 󳶳Kapitel 1.3 auf die Rehabilitationsarten und –phasen eingegangen wurde, sollen hier kurz die Besonderheiten der Rehabilitation nach einer Amputation beschrieben werden. Steht nicht mehr die akute Behandlung aus medizinischer Indikation (beispielsweise Wundversorgung etc.) im Vordergrund, sondern die Behebung einer Teilhabestörung, so ist die Rehabilitation einzuleiten. Im Zentrum der Bemühungen des rehabilitativen Teams steht dabei die Vermeidung von späteren Folgen der Behinderung mit einem Fokus auf den Aktivitäten des Patienten (Gehen, Stehen, Greifen etc.). Eine wesentliche Rolle spielen die umwelt- und personenbedingten Kontextfaktoren (u. a. berufliches und soziales Umfeld, Wohnsituation), die in die rehabilitative Planung einbezogen werden müssen.

Beispiel zur Auswirkung von Kontextfaktoren: zwei 72-jährige Oberschenkelamputierte mit gleichem Krankheitsbild und gleichem Aktivitätsniveau nach der Rehabilitation Patient 1: alleine lebend, Wohnung im 3. Geschoss, kein Auto, ländliche Umgebung, keine familiäre Unterstützung: er wird wahrscheinlich ein Pflegefall, Patient 2: städtisches Umfeld, verheiratet mit guter Unterstützung durch die Familie, behindertenge­ rechte Wohnung, Autofahrmöglichkeit: er kann sehr wahrscheinlich reintegriert werden.

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Innerhalb des Aufnahmegespräches sollte sich der Arzt einen Überblick über die prognostische Versorgungsfähigkeit, den zu erreichenden Mobilitätsgrad und das Umfeld des Patienten sowie dessen individuellen Ziele gemacht haben. Nützlich ist hier der Einbezug von Angehörigen. Dem Patienten wird möglichst schonend der Zeithorizont der Rehabilitation erläutert. Rehabilitationsziele in der frühen medizinischen Rehabilitationsphase sind: – Ödemreduktion und Entstauung, – psychische Stabilisierung, – Kräftigung der erhaltenen Extremitäten, – Verbesserung des Allgemeinzustandes, – Training von Alltagssituationen (Transfer, Ankleiden, Hygiene, allgemeine Mobilisierung) und von Kompensationsmechanismen, – Feststellen der Prothesenversorgungsfähigkeit. Die wesentlichen Aufgaben in der frühen medizinischen Rehabilitationsphase sind: – Feststellung, ob eine Prothesenversorgung durchgeführt werden kann und ob der Patient die dazu erforderlichen Fähigkeiten hat, – entstauende Therapie am Stumpf, – psychische Stabilisierung des Patienten. Für die Versorgung mit Prothesen nach Amputationen an der unteren Extremität ist in Deutschland der Profilerhebungsbogen zur Versorgung mit Beinprothesen des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) relevant [MDS 2014]. In ihm werden neben der Anamnese des Gesundheitszustandes auch Fragen zum sozialen Umfeld gestellt. Es geht weiterhin um die Erfassung der Mobilitätsmerkmale des Patienten am Tag der Erhebung sowie um eine Beschreibung des Therapieziels einer Beinprothesenversorgung unter Berücksichtigung der momentanen und realistisch zu erwartenden Fähigkeiten des Patienten. International werden zur Bewertung der Mobilität beispielweise der Amputee Mobility Predictor (AMP) oder der Locomotor Capabilities Index (LCI) verwendet. Der AMP wurde erstellt, um das Gehfähigkeitspotenzial von Beinamputierten mit Prothese (AMPPRO) und ohne Prothese (AMPnoPRO) zu bestimmen. Der Patient muss dabei insgesamt 21 Aufgaben erfüllen. Laut Gailey et al. korreliert der AMP mit der Einteilung nach Mobilitätsgraden (Medicare Functional Classification Level: MFCL) [Gailey 2002]. Der LCI misst als selfreport die Bewegungsfähigkeit mit Prothese und den Grad der Unabhängigkeit [Franchignoni 2004; Miller 2001; Streppel 2001 ]. Allerdings sollte die Mobilitätsbewertung differenzierter gesehen werden. Mobilität stammt vom lateinischen Wort mobilitas ab und beschreibt die Fähigkeit der aktiven Eigenbewegung bzw. „the capability and performance of moving oneself and changing and maintaining postures“ [van Bennekom 1995]. Fähigkeit (capability) und Ausführung (performance) sind allerdings zwei unterschiedliche Sichtweisen auf die Mobilität. Ist man fähig etwas zu tun oder tut man es auch wirklich?

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Der Begriff 󳶳 Mobilität beschreibt, in welchem Maße der Patient in der Lage ist, eine aktive Eigen­ bewegung zu generieren.

Der Begriff Aktivität kommt von lat. activus, was tätig oder wirksam bedeutet und bezeichnet die physische Bewegung eines Menschen, die er tatsächlich ausführt. 󳶳 Aktivität beschreibt die Umsetzung des Mobilitäts-Potenzials in Bewegung.

Dieses Verständnis von körperlicher Aktivität entspricht dem englischen Terminus „physical activity“ [Oehler 2014]. Zur Prüfung der Prothesenversorgungsfähigkeit erfolgt die Bewertung der Fähigkeiten, des Potenzials und der Merkmale des Patienten in Deutschland mit einer Zuordnung zu Mobilitätsgraden [MDS 2014]. Aktivitäten werden bisher in aller Regel nicht erfasst. Folgende Mobilitätsgrade werden unterschieden:

Mobilitätsgrad 0: Nichtgehfähiger Der Patient besitzt aufgrund des schlechten physischen oder psychischen Zustandes zurzeit selbst mit fremder Hilfe nicht die Fähigkeit, sich mit einer Prothese fortzubewegen oder sie zum Transfer zu nutzen. Eine kosmetische, nicht mobilisierende Prothesenversorgung zur Wiederherstellung des äußeren Erscheinungsbildes kann angezeigt sein. Die Therapieziele betreffen eine Wiederherstellung des äußeren Erscheinungsbildes und eine Mobilisierung mit dem Rollstuhl.

Mobilitätsgrad 1: Innenbereichsgeher Der Patient besitzt die Fähigkeit oder das Potenzial, eine Prothese für Transferzwecke oder zur Fortbewegung auf ebenen Böden mit geringer Gehgeschwindigkeit zu nutzen. Die Gehdauer und die Gehstrecke sind aufgrund seines Zustandes stark limitiert. Die Therapieziele betreffen eine Wiederherstellung der Stehfähigkeit und der auf den Innenbereich limitierten Gehfähigkeit. Bei der prothetischen Versorgung besteht ein niedriger Mobilitäts- und Funktionsanspruch. Im Vordergrund stehen die niedrige Komplexität und einfache Handhabung der Prothese.

Mobilitätsgrad 2: Eingeschränkter Außenbereichsgeher Der Patient besitzt die Fähigkeit oder das Potenzial, sich mit einer Prothese mit geringer Gehgeschwindigkeit fortzubewegen und dabei niedrige Umwelthindernisse, wie Bordsteine, einzelne Stufen oder unebene Böden, zu überwinden. Die Gehdauer und die Gehstrecke sind weiterhin limitiert. Die Therapieziele betreffen eine Wiederherstellung der Stehfähigkeit und der auf den Innenbereich und auf den Außenbereich limitierten Gehfähigkeit. Es wird erwartet, dass der Patient mit der Prothese bis zu 15 Minuten gehen wird, dabei auch Bordsteinkanten und Stufen bewältigt sowie kleine Umwelthindernisse überschreitet. Er kann auf leichten Bodenunebenheiten gehen, wird aber selten seine Gehgeschwindigkeit wechseln, kann aber auch öffentliche Transportmittel nutzen und Kleinsteinkäufe selbständig erledigen. Bei der prothetischen Versorgung

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besteht ein relativ niedriger Mobilitäts- und Funktionsanspruch, aber ein hoher Sicherheitsanspruch, sowie die Forderung nach niedriger Komplexität und einfacher Handhabbarkeit.

Mobilitätsgrad 3: Uneingeschränkter Außenbereichsgeher Der Patient besitzt die Fähigkeit oder das Potenzial, sich mit einer Prothese mit mittlerer bis hoher, auch veränderlicher Gehgeschwindigkeit fortzubewegen und dabei die meisten Umwelthindernisse zu überwinden. Er besitzt außerdem die Fähigkeit, sich im freien Gelände zu bewegen und kann berufliche, therapeutische und andere Aktivitäten ausüben, die die Prothese nicht überdurchschnittlicher, mechanischer Beanspruchung aussetzen. Eventuell besteht ein erhöhter Sicherheitsbedarf aufgrund von Sekundärbedingungen (z. B. zusätzliche Behinderung, besondere Lebensbedingungen) in Verbindung mit einem mittleren bis hohen Mobilitätsanspruch. Die Gehdauer und die Gehstrecke sind im Vergleich zum Unbehinderten nur unwesentlich limitiert. Die Therapieziele betreffen eine Wiederherstellung der Stehfähigkeit und der im Innenbereich nicht und im Außenbereich nur unwesentlich limitierten Gehfähigkeit. Der Patient wird sich im Innen- und Außenbereich nur unwesentlich limitiert bewegen, dabei Treppen, Stufen und fast alle Umwelthindernisse bewältigen, auch auf Bodenunsicherheiten (wie Schlamm, Nässe, Schnee, Eis) gehen, häufig die Gehgeschwindigkeit wechseln, alle öffentlichen Transportmittel und ggf. auch eigene Transportmittel (Auto etc.) nutzen, seinen Beruf ausüben und seine Familie bzw. den Haushalt versorgen. Er kann auch Aktivitäten mit körperlicher Belastung ausüben, wird sich durch die Amputation und Prothesenversorgung in der Durchführung beruflicher, sozialer und familiärer Aktivitäten nicht wesentlich einschränken lassen und kann sich mit nahezu physiologischer Normalität bewegen. Bei der prothetischen Versorgung besteht ein Standard-Mobilitätsund Funktionsanspruch bei zusätzlich hohem Sicherheitsanspruch und höherer mechanischer Beanspruchung der Prothesenkomponenten.

Mobilitätsgrad 4: Uneingeschränkter Außenbereichsgeher mit besonders hohen Ansprüchen Der Patient besitzt die Fähigkeit und das Potenzial, sich mit einer Prothese wie der uneingeschränkte Außenbereichsgeher (Mobilitätsgrad 3) fortzubewegen. Die Gehdauer und die Gehstrecke sind nicht limitiert. Die Therapieziele betreffen eine Wiederherstellung der Stehfähigkeit und der im Innenbereich und im Außenbereich unlimitierten Gehfähigkeit. Der Patient wird sich mit der Prothese ohne Limitation und ggf. in bergiger Umgebung oder auf unebenem Untergrund unlimitiert und mit physiologischer Normalität in allen Geschwindigkeitsbereichen bewegen, die Prothese im täglichen Einsatz zeitlich unlimitiert beanspruchen, durch hohe körperliche Aktivitäten die Prothese überdurchschnittlich mechanisch beanspruchen, auch stoßbelasten. Bei der prothetischen Versorgung besteht der höchste Mobilitäts-, Funktions- und Sicherheitsanspruch. Von der Prothese wird eine höhere Komplexität im Sinne eines Funktionsgewinns erwartet.

In Deutschland wird derzeit die Indikation für notwendige Funktionalitäten beinprothetischer Komponenten (insbesondere Fuß- und Kniegelenksystem) über das Ergebnis des Profilerhebungsbogens [MDS 2014] festgelegt, also über die Bewertung der Mobilität. Die tatsächliche Aktivität wird nicht einbezogen, obwohl beide Parameter (Mobilität und Aktivität) für die Nutzung und Belastung von Prothesenkomponenten

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wichtig sind. Viel Aktivität bedeutet u. a. viele Schritte, die je nach Belastungshöhe zum Versagen der Komponenten führen oder aber auch im Dauerfestigkeitsbereich liegen und dort keinen weiteren Schädigungsbeitrag verursachen. Bei hoher Mobilität besteht ein Potenzial, verschiedene Bewegungsformen zu nutzen. So werden u. a. höhere Lasten, jedoch nicht zwingend in hoher Anzahl erwartet (z. B. Treppe hinuntergehen oder stoßartige Bewegungen). Mobilität und Aktivität sind also gemeinsam relevant [Oehler 2014]. Die Gruppe der Amputierten geringer Mobilitätsgrade und die daraus folgende tatsächliche Aktivität ist zusätzlich sehr heterogen [Stevens 2012]. Theeven stellte in einer Studie mit 31 unilateral, transfemoral Amputierten geringer Mobilitätsgrade fest, dass Alter, Gewicht und die Amputationsursache entscheidende Faktoren für die Aktivität eines Patienten sind [Theeven 2011]. Bei Langzeitaktivitätsmessungen an 15 Oberschenkelamputierten der Mobilitätsgrade 2 bis 4 über einen Beobachtungszeitraum von einem Jahr stellte Oehler fest, dass der Mobilitätsgrad keinen eindeutigen Zusammenhang zur Anzahl der Schritte (Aktivität) zeigt [Oehler 2014]. Deshalb empfiehlt die Autorin bei der Entscheidung über die Art der Versorgung eines Patienten die Mobilitätsbewertung durch eine Erfassung der Aktivität mit einem mobilen Messsystem zu ergänzen. Nachdem am Ende der ersten medizinischen Rehabilitationsphase die Entscheidung über die Prothesenversorgungsfähigkeit getroffen ist, beginnt die zweite medizinische Rehabilitationsphase. Ziele sind hier: – sichere Mobilisation des Patienten mit der Prothese, – Erlernen des selbstständigen An- und Ausziehens der Prothese, – selbstständige Stumpf- und Prothesenhygiene. Weiterhin erfolgt eine Vermittlung von Informationen über Funktion und Problemsituationen mit der Prothese (technische Verhaltensweise der Prothese, Passfähigkeitsprobleme, Komplikationen, Verhalten bei technischen Defekten etc.). Die Patientenschulung soll dem Amputierten helfen, auftretende Probleme durch Wissen zu lösen, seine persönliche Unabhängigkeit zu entwickeln, seine Gesundheit so weit wie möglich zu erhalten und das Ausmaß seiner Eigenverantwortung zu erkennen. Auch die Beratung hinsichtlich eines Erhalts der Fahrtauglichkeit spielt in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle (der Pkw ist eine wichtige Mobilitätshilfe). In der späteren medizinischen Rehabilitationsphase erfolgt das Prothesentraining. Ist der Stumpf abgeschwollen bzw. hat er ein etwa gleich bleibendes Stumpfvolumen erreicht, ist die Anfertigung einer Interimsprothese möglich. Sie enthält bereits wesentliche prothetische Komponenten der späteren Versorgung, jedoch sind Änderungen der Protheseneinstellungen und damit der Gangparameter sehr einfach möglich. Die Schäfte von Interimsprothesen (aus thermoplastisch verformbarem Material oder mit Einlage von Druckluftmanschetten) lassen sich einfach an wechselnde Stumpfumfänge anpassen. Die Mobilisation des Patienten geschieht bei Amputationen an der unteren Extremität zunächst im Barren. Hier wird für eine Kräftigung der Stützkraft der Arme so-

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wie des verbliebenen Beines trainiert, anschließend wird mit physiotherapeutischer Unterstützung teilweise unter Nutzung von Hilfsmitteln die Belastungsaufnahme auf dem Stumpf geprobt. Sicherheit hat in der frühen Phase (insbesondere bei älteren Patienten) Priorität, ein einmaliges Sturzereignis verunsichert den Patienten sehr stark, zerstört das Vertrauen in das Hilfsmittel und hat oft negative Auswirkungen auf die Langzeitnutzung der Prothese. Ist der Patient sicher genug, so kann er aus dem Barren heraus und (je nach Sicherheit) mit dem Rollator oder an Unterarmgehstützen mobilisiert werden. Zunächst erfolgt dies unter engem, sicherndem Einfluss des Therapeuten, dann nach Therapiefortschritt zunehmend freier. Es schließt sich ein langsam steigerndes Aufbauprogramm mit Belastungsübernahme an. Dies wird von Übungen zur Kräftigung der Stumpfmuskulatur sowie zum Kontrakturabbau begleitet. An den oberen Extremitäten erfolgen Bewegungsübungen der angrenzenden Gelenke (Ellenbogen/Schulter). Zur Phantomschmerzprophylaxe haben sich auch Übungen auf der Gegenseite und autogenes Training bewährt. Generell muss bei Amputationen an den oberen Extremitäten an eine intensive Kräftigung der wirbelsäulenstabilisierenden Muskulatur, insbesondere der Streckmuskulatur gedacht werden, um die meist auffälligen seitlichen Auslenkungen der Wirbelsäule und die sich dabei entwickelnden muskulären Dysbalancen möglichst gering zu halten [Greitemann 1995]. In den weiteren Phasen der Rehabilitation nach Beinamputation schließt sich ein zunehmendes Training der Alltagsabläufe an, u. a. auch ein intensives Terraintraining, aber auch ein Sturz- und Aufstehtraining. Im Rahmen dieses ADL-Trainings (activities of daily living) spielt u. a. auch der Pkw eine wichtige Rolle. Der Patient wird über mögliche Fahrzeugzurichtungen informiert und kann die Handhabung eines umgebauten Pkws sowie das Ein- und Aussteigen trainieren.

3.1.4 Elemente der Rehabilitation im interdisziplinären Rehabilitationsteam Ärztliche Betreuung Dem Arzt obliegt im rehabilitativen Prozess die Planung und Koordination des Rehabilitationsteams. Er ist Hauptansprechpartner für den Patienten, sammelt und wertet die Informationen aus den unterschiedlichen Behandlungsbereichen aus, koordiniert die Abläufe, motiviert die Beteiligten und Teammitglieder sowie den Patienten und die Angehörigen und trifft letztlich die Entscheidung für oder gegen eine Prothesenversorgung. Eine weitere ärztliche Aufgabe ist die schmerztherapeutische Behandlung des Patienten. Dem Arzt obliegt auch die Betreuung der Wundversorgung mit Verbandwechseln, die Koordination des Teams der Wundmanager und die Überwachung der Laborparameter.

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Betreuung durch das Pflegeteam Die Pflegenden sind zu Beginn der Rehabilitation für den Patienten sehr wichtige Teammitglieder. Durch ihre Zuwendung und ihre pflegerische Betreuung wird er psychisch aufgefangen. Eine gelungene pflegerische Betreuung unterstützt den Patienten bei der Verarbeitung der Situation und ermöglicht ihm, wieder zunehmend Eigenständigkeit bei Alltagsverrichtungen zu erlangen. Eine wesentliche Aufgabe im Rahmen der pflegerischen Versorgung ist die Prävention gegenüber Druckstellen. Dabei sind insbesondere die Sakral- und Fersenregion, die Kniescheibe, die Außenknöchel und der äußere Fußrand sowie die Femurkondylen (bei den Knieexartikulierten) gefährdete Bereiche (󳶳Kapitel 6). Im Rahmen der pflegerischen Betreuung können vorsichtige Kräftigungsübungen durchgeführt werden. Die Pflegekräfte sind durch Wickeltechniken an der ödemreduzierenden und stumpfkonditionierenden Behandlung in der frühen Phase beteiligt. Bei Amputationen an den oberen Extremitäten unterstützen die Pflegekräfte das Umlernen auf die gegenseitige Extremität sowie die Erarbeitung der Selbstständigkeit bei Hygiene, Waschen etc.

Psychologische Betreuung Die psychologische Betreuung unterstützt die Verlustverarbeitung des Patienten. In aller Regel werden im Rahmen eines zeitlichen Ablaufes verschiedene Phasen von Bewältigungsstrategien (engl. Coping-Strategien) durchlaufen. Dazu gehören: – Ignorieren der Amputation und des ursächlichen Ereignisses, – Verarbeitung in Form von Wut und Aggression, Resignation, Depression, – suffiziente Verarbeitung mit prognostischem Ausblick. Im Rahmen der psychologischen Betreuung wird in Einzeltherapiegesprächen, aber auch in Gruppentherapien das Ereignis verarbeitet. Besonders bewährt hat sich der Kontakt zu Mitpatienten, die schon in weiter fortgeschrittenen Stadien der Rehabilitation sind.

Physiotherapeutische Betreuung In der Frühphase der physiotherapeutischen Behandlung dominieren Pneumonieprophylaxe (Vorbeugung der Ausbildung einer Lungenentzündung), Dekubitusprophylaxe (Vorbeugung der Ausbildung eines Druckgeschwürs, 󳶳Kapitel 6), Schmerzlinderung und Ödemreduktion (Vermeidung von Flüssigkeitsansammlung im Gewebe) sowie die Vermeidung von Kontrakturen (Fehlstellung durch Verkürzung eines Gewebes, z. B. eines Muskels oder einer Sehne) und die Durchblutungsförderung. Begleitet wird dies von selbstständigem Bewegen der Extremität sowie vorsichtigem Kräftigen der Stumpfmuskulatur. Hierbei sind auch gezielte Rücksprachen mit dem Operateur bzw. dem koordinierenden Arzt über die mögliche Belastung notwendig.

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Physikalische Therapie Die entstauende Therapie kann durch den gleichzeitigen Ansatz physikalisch-therapeutischer Maßnahmen unterstützt werden. Besonders bewährt hat sich die manuelle Lymphdrainage. Im Rahmen von Stumpfkonditionierungen können weitere Verfahren eingesetzt werden, wie z. B. die Bürstenmassage (zur Stumpfabhärtung bei abgeheilter Wunde), die Elektrotherapie, die Spiegel- oder TENS-Therapie (Transkutane Elektrische Nervenstimulation, 󳶳Kapitel 8) zur Schmerzhemmung, die Anwendung diadynamischer Ströme zur Analgesierung (Schmerzlinderung), Hyperämisierung (Durchblutungssteigerung) und ggf. die Ultraschallbehandlung.

Orthopädietechnische Versorgung Der Orthopädietechniker ist verantwortlich für die Herstellung und Wartung der Prothese und berät den verordnenden Arzt bei dessen Verordnung in der Auswahl der Prothesenkomponenten (abhängig von Mobilitäts-/Aktivitätsfähigkeiten und -potenzialen). In enger Zusammenarbeit mit Arzt, Ergotherapie und Krankengymnastik verfolgt er die Fortschritte der Rehabilitation und verbessert oder ändert gegebenenfalls die Prothese.

Sporttherapie Eine häufig unterschätzte, jedoch hoch effektive Behandlung im interdisziplinären Team ist die Sporttherapie, die schon unmittelbar nach Beginn der Rehabilitation in sporttherapeutischen Gruppen stattfinden kann. Ziel ist nicht das Erreichen von sportlichen Höchstleistungen, sondern die Erfahrung positiven Bewegungserlebens als Motivationsaspekt. Leichte Bewegungsübungen, einfache Spiele, das Erlebnis Sport und Geselligkeit sowie soziale Aufnahme in der Gruppe sollen dem Patienten aus der depressiven Phase helfen. Im weiteren Verlauf führt die Sporttherapie interessierte Patienten auch an sportliche Aktivitäten heran, um ihnen eine neue Lebensperspektive zu geben. Die Belastungsübernahme auf der Prothese kann durch sportliches Training verbessert werden.

Ergotherapie In der Ergotherapie erfolgt bei jedem an der unteren Extremität amputierten Patienten zunächst eine Rollstuhlanpassung, um bei dem Patienten möglichst schnell die Bettlägerigkeit zu beenden und ihn zu mobilisieren. Auch wenn die Zielsetzung auf der Mobilisation ohne Rollstuhl (󳶳Kapitel 4) liegt, ist er doch oft eine wichtige Zwischenstation. Zur Kontrakturprophylaxe und für die Sicherung des Stumpfes muss der Rollstuhl mit einem Ausleger ausgerüstet sein. Auf einen Überschlagschutz (hintere Rollen) ist zu achten. Frühzeitig wird im Rahmen der ergotherapeutischen Betreuung die Notwendigkeit der Versorgung mit Hilfsmitteln auch für das heimische Umfeld ab-

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geklärt. Die Ergotherapie kann für das Prothesentraining in enger Zusammenarbeit mit dem Orthopädietechniker und der Physiotherapie zuständig sein (abhängig von der Aufgabenteilung im Rehabilitationsteam). Nach Amputation an den oberen Extremitäten obliegt das Prothesengebrauchstraining federführend der Ergotherapie. Es sollte möglichst unter Alltagsgegebenheiten erfolgen (z. B. in einer Kücheneinrichtung), um spätere Frustrationen im heimischen Umfeld zu vermeiden. Im Rahmen der Ergotherapie wird auch eine Arbeitsplatztherapie durchgeführt.

Sozialdienst Die weitere berufliche und soziale Teilhabe von Amputierten ist erheblich von den sozialen Begleitumständen abhängig. Daher muss frühzeitig der Sozialdienst in die Rehabilitationsplanung einbezogen werden. Er ist zuständig für die Abklärung der Versorgung mit Hilfsmitteln zu Hause (inklusive Kostenträgerklärung), die Klärung der weiteren beruflichen Situation (inklusive eventueller Umschulungserfordernisse) und die Pflegeunterstützung (pflegerische Situation im Haus, ggf. Hausumbauten). Gegebenenfalls kann ein Berufsberater hinzugezogen werden. Dieser leitet die beruflichen Maßnahmen ein, sobald die verbliebenen und wieder erlangten Fähigkeiten erkennbar sind. Die Wahl des Prothesentyps ist in hohem Maße vom auszuübenden Beruf abhängig.

Diätberatung Ein Teil der Erkrankungen die zur Amputation an den unteren Extremitäten führen, sind systemischer Natur. Ihr Fortschreiten kann durch eine suffiziente Einstellung der Stoffwechsellage ggf. vermindert bzw. abgestoppt werden. In dieser Hinsicht gehört auch eine diätetische und medikamentöse Beratung zur ganzheitlichen Behandlung im Rehabilitationsteam bei Amputierten. Abschließend können die wichtigsten Kriterien für eine erfolgreiche Rehabilitation von Amputierten zusammengefasst werden: – gute operative Amputationstechnik (in Kenntnis der Stumpf- und Prothesenanforderungen), – suffiziente Wundnachbehandlung (insbesondere schnelle Ödemreduktion), – schnelle Mobilisation in einer früh einsetzenden Rehabilitation, – geeigneter physischer und psychischer Zustand des Patienten, – Motivation und Mitarbeit des Patienten, – ein erfahrenes interdisziplinäres Rehabilitationsteam, – ein gute orthopädietechnische Versorgung und Hilfsmittelausstattung, – optionale soziale Unterstützung im familiären und beruflichen Umfeld.

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3.2 Zielstellung der Gliedmaßenprothetik Prothesen sind ein künstlicher Ersatz von Körperteilen [Pschyrembel 2011]. In der Prothetik wird zwischen Endoprothesen (griech. endo: innen, auch Implantate, 󳶳Band 3) und Exoprothesen, also außen angebrachten Körperersatzstücken (griech. exo: außen) unterschieden. Zu den Exoprothesen gehört die Gruppe der Gliedmaßenprothesen für die obere und untere Extremität, welche nachfolgend näher betrachtet wird. Gliedmaßenprothesen sind funktionsersetzende orthopädietechnische Hilfsmittel (neben funktionskorrigierenden Orthesen, Bandagen, Sitzhilfen, Schuhen und Einlagen u. a.). Die 󳶳 Gliedmaßenprothetik ist ein Teilgebiet der Exoprothetik und befasst sich mit Körperersatz­ stücken für die obere und untere Extremität.

Sofern die prothetische Versorgung sinnvoll ist, können Körperersatzteile der oberen und unteren Extremität sowohl einen strukturell-funktionellen als auch einen ästhetischen Ersatz der verlorenen Gliedmaße bieten. Funktionelle Gliedmaßenprothesen sind in der Lage, einige wichtige Aufgaben der verlorengegangenen Körperteile zu ersetzen. 󳶳 Funktionelle Beinprothesen dienen dazu, Amputierten das Stehen und Gehen zu ermöglichen. 󳶳 Funktionelle Prothesen der oberen Extremität machen die Positionierung und die Greiffunktion eines Handersatzes möglich.

󳶳 Kosmetische Prothesen stellen das äußere Erscheinungsbild wieder her, ohne eine Funktion der Gliedmaße zu ersetzen.

Die Mobilisierung Beinamputierter kann mit einer kosmetischen Prothesenversorgung unter Nutzung eines Rollstuhls erfolgen (󳶳Kapitel 4). Die nachfolgend beschriebenen funktionellen Prothesen erfüllen heute auch ästhetische bzw. kosmetische Anforderungen, sofern der Patient Wert darauf legt. Alternativ sind auch der Verzicht auf kosmetische Verkleidungen von Prothesenkomponenten und die Auswahl auffälliger Motive zur äußeren Gestaltung von Prothesen möglich. Der Verzicht auf kosmetische Verkleidungen kann biomechanische und tribologische Vorteile haben, weil die durch Bewegung verursachten Reibungskräfte zwischen Verkleidung und lasttragenden Funktionseinheiten wegfallen.

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3.3 Gliedmaßenprothetik der unteren Extremität 3.3.1 Aufgaben und Arten von Beinprothesen Die 󳶳 wichtigste Aufgabe einer funktionellen Beinprothese ist das Erreichen der vom Patienten geforderten statischen und dynamischen Sicherheit beim Gehen und Stehen. Weiterhin muss der Patient (bei Amputationen im und oberhalb des Kniegelenks) mit der Prothese sitzen können. Mo­ bile Patienten erwarten zusätzlich die Nachbildung eines natürlichen Bewegungsablaufes.

Wie in 󳶳Kapitel 2 erläutert, beinhaltet ein Gangzyklus das Intervall zwischen zwei aufeinander folgenden Initialen Bodenkontakten derselben Extremität. Die Standphase eines Beines beginnt mit dem initialen Bodenkontakt und endet mit dem Abstoßen der Zehen, anschließend beginnt die Schwungphase, welche mit dem erneuten Bodenkontakt endet. Beim Stehen und in der Standphase des Gangzyklus benötigt jeder Beinamputierte eine stabil belastbare Prothese, unabhängig davon, ob er ein Innenbereichsgeher mit niedrigem Mobilitätsgrad oder ein uneingeschränkter Außenbereichsgeher mit einem hohen Mobilitätsgrad ist. Dabei sind eine ausreichende Stabilität beim Fersenauftritt und in der Standphase sowie eine ausreichende Stoßdämpfung beim Fersenauftritt unerlässlich. Die Anforderungen zur Gewährleistung eines natürlichen Bewegungsablaufes durch eine Beinprothese hängen hingegen sehr stark vom Amputationsniveau und der Mobilität des Betroffenen ab. Es ist sogar ein Verzicht auf die Nachbildung eines natürlichen Bewegungsablaufes möglich, wenn das Sicherheitsbedürfnis des Amputierten höher priorisiert ist und nur kurze Strecken auf ebenem Boden zurückgelegt werden.

Ein hohes Sicherheitsbedürfnis kann z. B. bei Oberschenkelamputierten geringer Mobilität zur Ver­ wendung gesperrter Kniegelenke führen. Diese lassen keine Kniebeugung in der Schwungphase zu, bieten aber in jeder Situation maximale Sicherheit, weil das gesperrte Gelenk nicht unbeabsichtigt einknicken kann.

Idealerweise ermöglicht eine funktionelle Beinprothese dem Patienten, ähnlich wie mit einem ge­ sunden Bein, sicher und ohne größere psychische und physische Anstrengung stehen und gehen zu können, selbst in schwierigem Gelände, über Hindernisse hinweg, mit wechselnder Geschwin­ digkeit und unter Einbeziehung sportlicher Aktivitäten.

Diese weitergehenden Anforderungen werden durch eine entsprechend kontrollierte Flexion von Kniegelenk und ggf. Fuß unterstützt, die eine harmonische Vorwärtsbewegung des Körperschwerpunktes während der Standphase des Gangzyklus

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möglich machen. Eine Gewährleistung der Kniebeugung unter Last (Yielding) erlaubt das alternierende Treppabgehen. Eine sich der Gehgeschwindigkeit anpassende Schwungphasensteuerung sorgt für einen natürlichen Bewegungsablauf. Sonderfunktionen hoch entwickelter mechanischer und mikroprozessorgesteuerter Kniegelenke eröffnen weitere Freiräume wie sportliche Aktivitäten (z. B. Radfahren, Tanzen) und erlauben in komplexen Systemen sogar das alternierende Treppaufgehen. Von den Komponenten einer Beinprothese wird zusätzlich eine hohe Haltbarkeit und ein geringer Verschleiß erwartet. Reparaturen verursachen Kosten und beeinträchtigen Beinamputierte erheblich, da sie auf ihre Prothese angewiesen sind. Weil die Patienten oft erst nach langer Krankheit amputiert werden, ist anschließend eine schnelle prothetische Versorgung wichtig. Weiterhin erwartet jeder Amputierte von seiner Prothese eine gute Gebrauchstauglichkeit, die neben den aktivitätsbezogenen Nutzungseigenschaften auch das An- und Ablegen ohne Nachdenken und körperliche Anstrengungen bzw. fremde Hilfe einschließt. Die Prothese darf weder Schmerzen, Druck- und Scheuerstellen, noch allergische Reaktionen verursachen, die zur Schädigung der Haut führen oder Zirkulation und Sensibilität des Stumpfes stören. Einige Patienten erwarten ein möglichst getreues Ebenbild des verlorengegangenen Körpergliedes. Andere Patienten sehen in ihrer prothetischen Versorgung ein technisches Hilfsmittel, welches als solches, auch durch besondere Farbgebung bzw. Gestaltung unterstützt, erkennbar sein soll. Zum unauffälligen Erscheinungsbild einer Beinprothese gehören auch ein möglichst naturgetreuer Bewegungsablauf sowie das Vermeiden von Geräuschen, welche sich unangenehm bemerkbar machen können. Erwartet wird eine äußere Form und Beschaffenheit der Prothese, die das Tragen normaler Kleidung und Schuhe möglich macht. Man unterscheidet zwei Prothesenaufbauvarianten, die historisch nacheinander entwickelt wurden (󳶳Abb. 3.4 (a)): Prothesen in Schalenbauweise, auch konventionelle oder exoskelettale Prothesen genannt: Die Prothesenwandung übernimmt sowohl formgebende als auch tragende Funktion, Modular-Prothesen, auch Rohrskelett-Prothesen oder endoskelettale Prothesen genannt (siehe auch 󳶳Abb. 3.5 (b)): eine Rohrkonstruktion übernimmt die tragende Funktion, die äußere Form bildet eine (optional verfügbare) kosmetische Ummantelung aus Schaumstoff. Prothesen in Schalenbauweise sind relativ robust, werden heute aber nur noch dann eingesetzt, wenn die Voraussetzungen für die Verwendung von Modular-Prothesen nicht gegeben sind. Statische Änderungen des Prothesenaufbaus sind nach der Fertigstellung nur noch in geringem Umfang möglich. Ein heute noch relevantes Einsatzgebiet von Kunststoff-Schalenprothesen sind wasserfeste Badeprothesen. Da aber immer mehr modulare Prothesenkomponenten wasserfest ausgelegt werden, wird auch dieses Einsatzgebiet zukünftig kleiner. Heute sind Beinprothesen für Amputationen oberhalb des Fußes fast ausschließlich modular aufgebaut (Modular-Prothesen). Bei ihnen sind die lösbar miteinander

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stumpfwärts

fußwärts (a)

(b)

Belastungslinie

Justierbereich (c)

Abb. 3.4: Prothesenaufbau. (a) Links: Prothese in Schalenbauweise, Rechts: Modular-Prothese, (b) schematische Darstellung und (c) Abbildung eines Pyramidenadapters (Fa. Ottobock): oben pyramidenförmiger Justierkern, unten Klemmverbindung mit Justierschrauben.

verbundenen mechanischen Bauteile so dimensioniert, daß sie innerhalb einer kosmetischen Schaumstoff-Verkleidung untergebracht und ohne großen Aufwand ausgetauscht werden können. Korrekturen der Ausrichtung der Komponenten untereinander (statischer Aufbau der Prothese) sind reproduzierbar möglich und können sowohl während der Montage und Anprobe als auch nach der Fertigstellung der Prothese durchgeführt werden. Dieser modulare Aufbau wird auch Rohrskelett-Bauweise oder endoskelettale Bauweise genannt, weil die innere Konstruktion die tragende Funktion übernimmt. Modular-Prothesen sind heute in allen technischen Details funktionell und kosmetisch den konventionellen Prothesen in Schalenbauweise überlegen [Näder 2011]. Die lösbare Verbindung der Prothesenkomponenten wird über Adaptersysteme gewährleistet. Neben Schraub- und Klemmverbindungen unterschiedlicher Art ist insbesondere das justierbare Verbindungselement (Pyramidenadapter, 󳶳Abb. 3.4 (b und c)) sehr verbreitet. Dieser Adapter mit vier Justierschrauben umgreift den pyramidenförmigen Justierkern auf der konvexen Anschlussfläche. Statische Korrekturen während des Aufbaus, der Anprobe und auch nach der Fertigstellung der Prothese können jederzeit übersichtlich und reproduzierbar durchgeführt werden. Ebenso kann man beim Austausch eines Moduls oder bei der Demontage eines Bauabschnittes die vorherige Position sichern, wenn nur zwei rechtwinklig zueinander stehende Schrauben des Adapters gelöst werden [Näder 2011]. Beinprothesen können nach unterschiedlichen Kriterien klassifiziert werden. Das wichtigste über die notwendigen Komponenten und die Komplexität des Systems

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5

4 3

2

1 (a)

1

2

3

4

5

(b)

Abb. 3.5: Beinprothesen. (a) Amputationsniveaus, (b) Beinprothesen für verschiedene Amputati­ onsniveaus ohne eine optional mögliche Kosmetikverkleidung aus hautfarbenem Schaumstoff. Prothesen für Fuß- (1), Unterschenkel- (2), Knie- (3), Oberschenkel- (4) und Hüft- bzw. Beckenampu­ tierte (5).

entscheidende Kriterium ist das Amputationsniveau. So werden Beinprothesen für Fuß- (1), Unterschenkel- (2), Knie- (3), Oberschenkel- (4) und Hüft- bzw. Beckenamputierte (5) unterschieden (󳶳Abb. 3.5). In der Norm DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie [ISO 9999]) werden Prothesen für die unteren Gliedmaßen (Klasse 06 24) ebenfalls nach dem Amputationsniveau strukturiert. Es werden unterschieden: – Teilfuß-Prothesen (Klasse 06 24 03): Ersatz für einen Teil der unteren Gliedmaßen distal am Sprunggelenk, – Sprunggelenk-Exartikulations-Prothesen (Klasse 06 24 06): Ersatz für einen Teil der unteren Gliedmaßen am Sprunggelenk, – transtibiale Prothesen (Klasse 06 24 09): Ersatz für einen Teil der unteren Gliedmaßen zwischen Knie- und Sprunggelenk, – Knie-Exartikulations-Prothesen (Klasse 06 24 12): Ersatz für einen Teil der unteren Gliedmaßen am Kniegelenk, – Oberschenkel-Prothesen (Klasse 06 24 15): Ersatz für einen Teil der unteren Gliedmaßen zwischen Hüft- und Kniegelenk, – Hüft-Exartikulations-Prothesen (Klasse 06 24 18): Ersatz für die unteren Gliedmaßen am Hüftgelenk, – Hemipelvektomie-Prothesen (Klasse 06 24 21): Ersatz für die unteren Gliedmaßen zusammen mit einem Teil oder der gesamten Beckenhälfte, – Hemikorporektomie-Prothesen (Klasse 06 24 24): Vorrichtungen, die nach Amputation beider unteren Gliedmaßen und des Beckens verwendet werden.

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Eine modulare bzw. endoskelettale Beinprothese kann (abhängig vom Amputationsniveau) aus den (nachfolgend detailliert erläuterten) Komponenten bestehen: – Prothesenschaft oder Beckenkorb bzw. Stumpfankopplung, – Hüftgelenk (bei Becken- oder Hüftamputation), – Kniegelenk (bei Becken-, Hüft-, Oberschenkel- und Knieamputation), – Prothesenfuß (bei Becken-, Hüft-, Oberschenkel- und Knie-, Unterschenkel- und Fußamputation), – weitere Strukturkomponenten (z. B. Adapter, Torsions- und Stoßdämpfer), – kosmetische Verkleidungen (auf Wunsch des Patienten). Für die Auswahl der innerhalb einer Beinprothese kombinierten funktionellen Komponenten sind die physiologischen Patientendaten (u. a. Alter, Geschlecht, Gewicht, Begleiterkrankungen, geistiger und körperlicher Allgemeinzustand) sowie die pathophysiologischen Bedingungen des Amputationsstumpfes entscheidend. Von ihnen hängt der erreichbare Mobilitätsgrad des Betroffenen ab, welcher vor einer prothetischen Versorgung abzuschätzen ist. In der Norm DIN EN ISO 9999 [ISO 9999] werden folgende Komponenten von Beinprothesen gelistet: – Knöchel-Fuß-Passteile (Klasse 06 24 27): Komponenten für Prothesen der unteren Gliedmaßen, welche einige Funktionen des Fußes und des Sprunggelenks ersetzen, – Rotationsadapter (Klasse 06 24 30): Komponenten für Prothesen der unteren Gliedmaßen, welche eine Drehbewegung um die Querachse zwischen den Komponenten der Prothese ermöglichen, – Stoßdämpfer (Klasse 06 24 31): Komponenten für Prothesen der unteren Gliedmaßen zur Verringerung der Spitzenkraft zu Beginn eines Stoßes, – Kniegelenk-Passteile (Klasse 06 24 33): Komponenten für Prothesen der unteren Gliedmaßen, welche einige Funktionen des Kniegelenks ersetzen, – Hüftgelenk-Passteile (Klasse 06 24 36): Komponenten für Prothesen der unteren Gliedmaßen, welche einige Funktionen des Hüftgelenks ersetzen, – externe Passteile für Prothesen der unteren Gliedmaßen (Klasse 06 24 37): Komponenten für Prothesen der unteren Gliedmaßen, welche Hüft-, Knie- oder Sprunggelenk umschließen, – Liner (Klasse 06 24 40): Vorrichtungen, die eine oder mehrere der unterschiedlichen Verbindungsfunktionen, wie Volumenanpassung, Druckverteilung, Abriebvermeidung oder (vakuumunterstützter) Haftkontakt, übernehmen, – vorgefertigte Schäfte (Klasse 06 24 41): Komponenten für Prothesen der unteren Gliedmaßen zur Aufnahme des Stumpfs und als Verbindung zwischen Gliedmaße und Prothese, die für den einzelnen Benutzer angepasst werden können, – Justiervorrichtungen für Prothesen der unteren Gliedmaßen (Klasse 06 24 45): Komponenten für Prothesen der unteren Gliedmaßen, die eingesetzt werden, damit die einzelnen Komponenten ihre Position zueinander verändern können,

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vorläufige Prothesen nach Amputation der unteren Gliedmaßen (Klasse 06 24 48): Vorrichtungen zur Frühmobilisierung von Personen nach Amputation der unteren Gliedmaßen vor der Versorgung mit der endgültigen Prothese.

3.3.2 Schaftgestaltung bei Beinprothesen

Der 󳶳 Prothesenschaft eines Amputierten hat das Stumpfvolumen aufzunehmen und statische wie dynamische Kräfte und Momente beim Gehen und Stehen zu übertragen. Er beinhaltet die Kontaktflächen zur Haut und stellt die Ankopplung der Prothese an den Patienten sicher.

Obwohl seit vielen Jahren nach Alternativen zur Schaftversorgung gesucht wird (󳶳Kapitel 3.5.3), ist diese eine jahrhundertelang bewährte Ankopplungsform der Prothese an den Stumpf. Der Prothesenschaft wird auch in Zukunft seine vorherrschende Rolle in der Verbindung von Prothese und Patient behalten. Die Lastübertragung findet am Schaft in Form von Druckbeanspruchungen an der Kontaktfläche zwischen Patient und Prothese statt. Anforderungen an den Prothesenschaft sind: – Gewährleistung einer festen Verbindung zwischen Stumpf und Schaft (axiale Lastübertragung einwirkender Zug- und Druckkräfte, mediolaterale Stabilisierung, Verhinderung von Rotation zwischen Stumpf und Schaft), – Aufnahme des Stumpfvolumens (im Vollkontakt mit maximaler Endbelastung), – hoher Tragekomfort (einschließlich ungestörter Zirkulation und Innervation), – einfaches An- und Ablegen, – möglichst geringe äußere Abmessungen (keine Beeinträchtigung des Sitzens, Nutzung normaler Kleidung über dem Schaft, Beibehaltung der Kontur des kontralateralen Beins), – einfache Pflege, – Möglichkeit von Nachanpassungen (insbesondere in der Interimsversorgung), – hohe Haltbarkeit. Da der Stumpf, je nach anatomischer Lage, durch Weichgewebe und oberflächennahe bzw. tiefer liegende knöchernde Strukturen charakterisiert ist, stellt eine gleichmäßige Druckverteilung über die Kontaktfläche kein Optimum dar. Die Druckverteilung im Prothesenschaft sollte also nach physiologischen Kriterien gestaltet werden (Zweckform des Prothesenschaftes), wobei belastbare und nicht belastbare Bereiche berücksichtigt werden müssen. Besonders gut ist dies am Unterschenkel nachvollziehbar, wo einerseits im Bereich der Schienbeinkante wenig Weichgewebe vorhanden ist und ein hohe Druckempfindlichkeit besteht, andererseits der Wadenmuskel und die Flächen beidseits der Schienbeinkante sehr gut belastbar sind (󳶳Abb. 3.6).

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Femur

Femurkondylen Tibia

(a)

(b)

Abb. 3.6: Belastbarkeit der Oberfläche eines Unterschenkelstumpfes: gute Belastbarkeit an den blau markierten Flächen der Vorderseite (links) bzw. Rückseite (rechts).

Um empfindliche Stellen des Stumpfes weniger zu belasten, muss im Schaft eine Aussparung vorgenommen werden. Damit werden die verbliebenen Kontaktflächen mit einem höheren Druck beansprucht (Summe der eingeleiteten Kräfte bleibt gleich, die Kontaktfläche wird kleiner, also erhöht sich der lokale Druck). Es ist auch möglich, durch Materialaufträge, Versteifungen oder spezifische Konturierungen des Schaftes höhere Lasten gezielt in dafür geeignete Stumpfbereiche einzuleiten. Besonders wichtig ist eine möglichst distale Lasteinleitung im sog. Endkontakt, weil dies der physiologischen Beanspruchung (in der Peripherie der verloren gegangenen Teile der Gliedmaße) entspricht. Einem Abbau ungenutzter Teile des Bewegungsapparates, insbesonderes des Knochens (siehe Wolff-Transformationsgesetz, 󳶳Band 2) wird so vorgebeugt. Leider eignen sich jedoch nicht alle Amputationsniveaus für die Einleitung hoher Lastanteile im Endkontakt. Die Endbelastbarkeit des Stumpfes kann folgende Gesamtlast erreichen [Baumgartner 1995]: – am Vorfuß 100 %, – am Rückfuß 75 bis 100 %, – am Unterschenkel 30 bis 50 %, – bei Knieexartikulation 100 %, – am Oberschenkel 20 bis 30 %, – bei Hüftexartikulation 100 %. Prothesenschäfte unterscheiden sich in erster Linie hinsichtlich des Amputationsniveaus. Bei distalen Amputationen bis hin zum Oberschenkel hat der Prothesenschaft in Anpassung an die jeweiligen Stumpfformen eine köcherförmige Struktur. Der Beckenkorb ist eine davon abweichende Sonderform des Prothesenschaftes für Amputationen im Hüft- und Beckenbereich. Mit der Ankopplung prothetischer Versorgungen an knochenverankerten Implantaten mit Hautdurchtritt befassen sich einige

3 Gliedmaßenprothetik | 129

Unterscheidung nach:

Prothesenschäfte für die untere Extremität

Versorgungszeitraum/ Anpassbarkeit:

Schäfte für Interimsversorgung

Schäfte für dauerhafte Versorgung

Beteiligten am Fertigungsprozess:

Schäfte in handwerklicher Fertigung

Schäfte mit industriell gefertigten Komponenten

verwendeten Materialien:

Amputationsniveau:

konstruktiven Merkmalen

(Holzschaft)

Gießharzschaft

Beckenkorb

Oberschenkelschaft (TF)

Weichwandschaft

Schaft mit flexiblen Strukturen

Schaft für Knieexartikulation

Unterschenkelschaft (TT)

Schaft mit Linersystem

Fußprothesenschaft

längsovale Form

(Schäfte mit Oberschenkelmanschette)

mit Einbeziehung des Unterschenkels

querovale Form (CAT-CAM)

Schäfte ohne Oberschenkelmanschette

ohne Einbeziehung des Unterschenkels

anatomische Form

Abb. 3.7: Arten von Beinprothesenschäften. In Klammern angegeben sind zwei historisch wichtige, heute jedoch nicht mehr übliche Schaftbauarten (Abkürzungen: TF transfemoral, TT transtibial).

Forschungsprojekte (󳶳Kapitel 3.5.3) [Kraft 2007]. Diese Versorgungsform birgt jedoch noch ein hohes Infektionsrisiko und kommt nur für wenige Amputierte in Frage. Neben der Differenzierung nach dem Amputationsniveau ist auch die Unterscheidung von Beinprothesenschäften nach dem Zeitpunkt der Versorgung (Schäfte für Interimsprothesen müssen an Stumpfvolumenänderungen anpassbar sein), nach der Einbeziehung eines industriellen Herstellers für Schaftkomponenten (sog. Servicefertigung von Testschäften) und nach den verwendeten Materialien möglich. In 󳶳Abbildung 3.7 sind diese Unterscheidungsmöglichkeiten (Arten von Beinprothesenschäften) dargestellt; allerdings ist zu beachten, dass nicht alle Kombinationsmöglichkeiten verfügbar sind (vereinfachte Darstellung). Der Orthopädietechniker trifft die Entscheidung, welche Schaftform für den jeweiligen Amputierten zum Einsatz kommen soll. Das Maßnehmen der Stumpfform geschieht überwiegend nach Gipsabdruck (Umwicklung des Stumpfes mit einer Gipsbinde) oder nach Körpermaßen und nur relativ selten mit zusätzlichem Scannen der Stumpfoberfläche [Gottinger 2006]. Gipsabdrücke sind zwar durch die unvermeidlichen Verschmutzungen und Staubbelastungen sowohl für den Orthopädietechniker, als auch für den Patienten unangenehm, haben aber wesentliche Vorteile: Der Orthopädietechniker kann mit seinen Händen das Gipsnegativ vor dem Aushärten so modellieren, dass wichtige Schaftanlagepunkte (z. B. Knochenvorsprünge) die notwendi-

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gen Zustellungen erfahren. Zusätzlich begrenzt die Gipsbinde bei Einwirkung des mit der Hand und durch die Wicklung erzeugten äußeren Druckes eine Weichgewebeverschiebung. Die notwendige Zweckform des Stumpfes kann also mit dem traditionellen Gipsverfahren recht gut hergestellt werden. Die Abnahme von Körpermaßen erfolgt mit Federzugmaßbändern, Diagometern oder anderen Messgeräten. Mit einem Federzugmaßband wird der im Schaft benötigte Umfang, mit einem Diagometer der Durchmesser gemessen. Je nach Konsistenz des Stumpfgewebes und der äußeren Kraft, verringert sich der ursprüngliche Stumpfumfang bei der Abnahme des Umfangs- oder Durchmessermaßes. Um sinnvolle Maße zu erhalten, muss das Stumpfgewebe soweit verformt werden, bis der Stumpfinnendruck dem von außen einwirkenden Druck bei Belastung der Prothese entspricht [Gottinger 2006]. Bei derartigen Messungen sind Ungenauigkeiten im Millimeterbereich unvermeidlich, da die Druckbeanspruchung der Messung nie den tatsächlichen Beanspruchungen des Stumpfes im Schaft entsprechen kann. Hinzu kommt, dass nur wenige diskrete Umfangsmaße genommen werden können, deren Position in Bezug auf die Schaftlänge ebenfalls fehlerbehaftet ist. Scantechniken der bisher verwendeten Art (optische 3D-Scanner, Magnetresonanztomographie) haben den wesentlichen Nachteil, dass nur die unbelastete Außenkontur des Stumpfes erfasst wird. Wie oben erläutert, ist es aber notwendig, eine Zweckform des belasteten Weichgewebes inklusive charakteristischer Knochenvorsprünge der Schaftfertigung zugrunde zu legen. Nach dem Maßnehmen kann der Orthopädietechniker in konventioneller Fertigung unter Nutzung des am Stumpf abgeformten Gipsnegativs ein Positiv fertigen, in dessen Modellierung er seine Erfahrungen und die spezifischen Besonderheiten unterschiedlicher Schaftformen einfließen lässt. Über dieses Gipspositiv wird dann unter Anlegen eines Unterdruckes ein erwärmtes und damit weiches thermoplastisches Material gezogen. Diese erste Schaftform (Testschaft) kann in mehreren weiteren Schritten, wie unten beschrieben, am Patienten geprüft werden. Alternativ bieten verschiedene Hersteller eine Servicefertigung von Schaftformen an. Diese computerunterstützte Gestaltung und Fertigung der Stumpfbettung hat an Bedeutung gewonnen. Vor allem aufgrund der beschränkten Anzahl genutzter Stumpfmaße (deren Erfassung die oben beschriebenen Ungenauigkeiten aufweist) reicht sie aber oft nicht an die Qualität manuell in Gipstechnik gefertigter Schaftformen eines geübten Orthopädietechnikers heran. Bei diesen Verfahren werden die Maße des Amputationsstumpfes als Basis für die Fräsung eines Schaumstoffpositivmodells des Stumpfes genutzt. Der versorgende Orthopädietechniker kann mit einer speziellen Software die gewünschte Schaftform am PC auswählen und darstellen. Nach diesen Daten fertigt dann ein Hersteller einen thermoplastischen Testschaft. Vorteile dieser Technik liegen in der Verzichtbarkeit von Gipsabformungen, in der Unterstützung des Orthopädietechnikers in der Schaftformgestaltung (weniger Erfahrungswissen erforderlich), der Verringerung des handwerklichen Aufwandes (Zeiteinsparung) und in der Reproduzierbarkeit geeigneter Schaftformen.

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Testschäfte bestehen i. d. R. aus einem transparenten thermoplastischen Kunststoff, sodass Druckstellen durch Erblassen der Haut zu erkennen und durch Erwärmen zu beseitigen sind. Der mit dem Testschaft versorgte Patient gibt zusätzlich Hinweise zum empfundenen Schaftsitz. Ist diese Modellierungsphase des Testschaftes abgeschlossen, wird er für die Formgebung in der Fertigung des endgültigen Schaftes genutzt. Wie dabei vorgegangen wird, hängt sehr stark vom verwendeten Material ab. In der Regel wird der optimierte (am Patienten modellierte) Testschaft als Negativ für die Fertigung eines Postivmodells (z. B. aus Gips) verwendet, auf dem dann die Schaftfertigung stattfindet. Die Lastübertragung am Prothesenschaft findet an den Kontaktflächen statt. Während axiale Druckkräfte (z. B. in der Standphase des Gangzyklus) zu einer Verschiebung des Stumpfes in den Schaft führen, besteht bei einwirkenden Zugkräften (z. B. in der Schwungphase des Gangzyklus) die Gefahr einer distalen Verschiebung. Um dies zu verhindern, kommen unterschiedliche „Haftprinzipien“ (übliche Bezeichnung in der Orthopädietechnik [Heim 1991]) zur Anwendung, die teilweise alternativ, teilweise kombiniert anwendbar sind. Es werden folgende Effekte genutzt: – Haftreibung: Nutzung des Haftreibungs-Koeffizienten zwischen der inneren Schaftwand und der menschlichen Haut bzw. einem Linersystem; dieser ist u. a. abhängig vom Feuchtigkeitsgehalt der Haut (trockene Haut hat einen niedrigeren, feuchte Haut einen höheren Reibungskoeffizienten, wobei jedoch ein Flüssigkeitsfilm beim Schwitzen die Haftreibung aufheben kann: Übergang zur Gleitreibung), – elastische Längsspannung der Skelettmuskulatur: passive Dehnung der Muskulatur in Längsrichtung. In Kombination mit der o. g. Haftreibung ist eine elastische Verspannung von Stumpf und Schaft möglich, – Formschluss: Nutzung von Hinterschneidungen an geeigneten Stumpfkonturen (elastische Teile des Schaftes mit konkaven Mulden umklammern knöcherne Strukturen), z. B. Knieexartikulationsschäfte und Unterschenkelprothesenschäfte können eine suprakondyläre Fassung nutzen (oberhalb der Gelenkknorren gelegen, siehe 󳶳Abbildung 3.6), – muskuläre Verspreizung: die aktive Kontraktion der Stumpfmuskulatur bei gleichzeitiger Umfangszunahme verstärkt den Anpressdruck an die Schaftwandung, – Unterdruck: das distale Eindringen des Stumpfes in den Schaft verringert bei guter Passform (radiale Abdichtung: Stumpfdurchmesser füllt den Schaftdurchmesser) das Volumen unterhalb des Stumpfes und erhöht den distalen Druck im Schaft. Durch Betätigen eines Ventiles kann der Druck verringert werden (notwendig beim Anlegen der Prothese). Bei einer Bewegung des Stumpfes in kranialer Richtung aus dem Schaft heraus, entsteht dort ein Unterdruck, der die Haftung unterstützt.

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Selbstverständlich tragen einige dieser Haftprinzipien neben der Verhinderung distaler Verschiebungen bei Zugkräften am Schaft auch dazu bei, axiale Druckkräfte und einwirkende Momente aufzunehmen. Die Aufnahme von Torsionsmomenten erfordert eine nicht-rotationssymmetrische Form des Schaftquerschnittes und nutzt Formschluss und Haftreibung. Biegemomente werden über die flächige Lastverteilung über die Stumpflänge, teilweise aber auch über einzelne Lasteinleitpunkte (z. B. beim längsovalen Oberschenkelschaft) aufgenommen.

Schäfte für Fußamputationen Für die funktionelle und kosmetische Versorgung im Vorfußbereich kommen heute fast ausschließlich Kunststoffe, insbesondere Silikon-Kautschuk, zum Einsatz (󳶳Abb. 3.8 (a)). Nach Möglichkeit wird versucht, Lisfranc- oder auch Chopart-Stümpfe (󳶳Abb. 3.2 und 󳶳Tab. 3.2) mit knöchelgelenkfreien Fußprothesen zu versorgen. Verschiedene Konstruktionen für Chopart-Stümpfe in Fehlstellung und Amputationen nach Pirogoff oder nach Syme umfassen den Unterschenkel, z. T. als Rahmenkonstruktion sowie als Gießharz-Schaft, ggf. mit Knieabstützung (󳶳Abb. 3.8 (b)). Die achsgerechte Einbettung des Stumpfes ist gleichzeitig Voraussetzung für den statischen Aufbau der Prothese. Bedingt durch die Stumpflänge sind industriell gefertigte Fußkomponenten (siehe nachfolgende Erläuterungen) nur bei Pirogoff- und Syme-Stümpfen einsetzbar [Näder 2011]. Vorteile von Silikon-Prothesen liegen in der: – optimalen Fixierung am Stumpf, – gleichmäßigen Druckverteilung, – großen Flexibilität, – individuellen Farb- und Formgestaltung, – einfachen Handhabung und Pflege. Sie sind normalerweise in einem Konfektionsschuh zu tragen und ermöglichen auch das Barfußgehen [Näder 2011].

Schäfte für Unterschenkel Konventionelle Unterschenkelprothesenschäfte wurden ohne Einbeziehung der Patellasehne, der Kniescheibe oder der Femurkondylen gefertigt. Die Schaftformgebung war wenig exakt, weshalb die auftretenden Kräfte überwiegend in eine Oberschenkelmanschette übertragen werden mussten (󳶳Abb. 3.9 (a)). Das hat jedoch wesentliche Nachteile, so kann es zu Einschnürungen und zur Atrophie der Muskulatur im Oberschenkel sowie zu einer Inkongruenz der Schienengelenke mit Bewegungseinschränkung des Kniegelenks kommen. Der Einsatz der konventionellen Prothese mit Oberschenkelmanschette beschränkt sich deshalb heute auf Patienten mit Kurz-

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(a)

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(b)

Abb. 3.8: (a) Vorfußprothese aus Silikon, (b) Kombination von Silikon-Fußprothese und CFK-Rah­ menschaft, der den Unterschenkel einbezieht (Fa. Ottobock).

stumpf, mit Knieschädigungen und mit Funktionsstörungen, z. B. durch Lähmungen oder Fehlstellungen. Die erste Kurzschaftprothese mit Verzicht auf eine Oberschenkelmanschette wurde 1956 von Foot und Radcliff eingeführt und als Patella-Tendon-Bearing-Prothese (PTB) bezeichnet [Heim 1991]. Der Schaft reichte medial und lateral höher als bei früheren Prothesen und nutzte insbesondere die Möglichkeit der Lastaufnahme an der Patellasehne. Allerdings musste der Schaft noch mit einer Riemenbandage oberhalb des Kniegelenks gegen ein Abrutschen fixiert werden. Im Jahr 1966 stellte Kuhn die Kondylen Bettung Münster für den Unterschenkelstumpf (KBM-Prothese) vor. Sie sah der PTB-Prothese relativ ähnlich, umfasste jedoch medial und lateral die Femurkondylen (Enden des Oberschenkelknochens, 󳶳Abb. 3.6) und fixierte so die Prothese (Formschluss als Haftprinzip). Die Kniescheibe wurde im unteren Drittel noch mit eingebettet, ein Riemen am Oberschenkel war nicht mehr erforderlich. Ungefähr zeitgleich entwickelte Fajal die Prothese tibiale supracondylienne (PTS-Prothese). Ihre sogenannte suprakonyläre Fassung (Formschluss an den Femurkondylen) entspricht in etwa der Ausführung der KBM-Prothese, allerdings ist die Kniescheibe komplett eingebettet. Dies ist jedoch umstritten, da die Kniescheibe zur Lastaufnahme ungeeignet ist (󳶳Abb. 3.6) [Heim 1991]. Trotzdem existieren heute viele Mischformen der genannten und zahlreicher weiterer, später entwickelter Unterschenkelschaftformen, die mehr oder weniger die Kniescheibe einbetten, aber immer die Femurkondylen umgreifen und als suprakondyläre Kurzschaftprothesen bezeichnet werden (󳶳Abb. 3.9 (b)). Zunächst wurden für Kurzschaftprothesen sog. Weichwandinnenschäfte aus thermoplastischem Polyethylen (PE)-Schaum eingesetzt. Sie sitzen unmittelbar auf der Haut, sorgen für eine gleichmäßige Druckverteilung und ermöglichen es beim Anlegen der Prothese, die aufgrund der Hinterschneidung am proximalen Schaftrand relativ große Gleitreibung auf die Kontaktflä-

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(a)

(b)

(c)

Abb. 3.9: Unterschenkelprothesen. (a) Konventionelle Unterschenkelprothese mit Oberschenkel­ manschette, (b) Kurzschaftunterschenkelprothese mit Haftkontaktschaft, (c) ein kondylenübergrei­ fender Gießharzschaft mit einer herausnehmbaren Weichwandbettung (Softsocket aus PE-Schaum in Frontal- und Horizontalansicht) (Fa. Ottobock).

che zwischen Außenseite-Innenschaft und Innenseite-Außenschaft zu verlegen. Der Weichwandinnenschaft lässt sich zuvor einfach unter Dehnung mit geringer Reibung anlegen (󳶳Abb. 3.9 (c)). Zur Erhöhung von Tragekomfort und Prothesenhaftung haben sich in den letzten Jahren zusätzlich unterschiedliche Liner-Systeme durchgesetzt. Liner sind ebenfalls elastische Innenschäfte, die jedoch wie ein Strumpf über den Stumpf gerollt werden können (󳶳Abb. 3.10 (a)). Sie werden mit einem Stift (Pin) in einer Verriegelung (Shuttle Lock) des Außenschaftes befestigt und sind durch diesen Formschluss nicht auf die Reibungsbedingungen zwischen Innen- und Außenschaft angewiesen (󳶳Abb. 3.10 (b)). Ihre Materialien sichern eine maximale Haftreibung zwischen Haut und Innenschaft. Typische Materialien sind Silikon (mit und ohne textilen Überzug) und Polyurethan (PU). PU-Schäfte lassen sich auch mit einem eingebetteten Gel fertigen, das aus weniger stark polymerisiertem und dadurch zähflüssigem PU (z. B. TechnoGel-Liner) besteht. Dieses Gel-Material hat die positive Eigenschaft, um markante Punkte (z. B. am Tibiaende oder am Fibulaköpfchen) herumzufließen und bietet so dem Patienten eine gute Druckverteilung. Liner werden insbesondere für narbige, knochige und empfindliche Stümpfe genutzt [Näder 2011]. Hochwertige Liner können auch individuell nach Patientenmaß gefertigt werden. Ein Unterschen-

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(a)

135

(b)

Abb. 3.10: Linersysteme für den Unterschenkel. (a) Anziehen eines Silikon-Liners mit Pin, (b) Liner mit Pin wird in den Schaft geführt (Fa. Ottobock).

kelschaft mit Liner wird auch als Haftkontaktschaft bezeichnet. Der Außenschaft wird typischerweise aus gegossenem Laminierharz mit Einlage von Carbonmatten gefertigt (󳶳Abb. 3.9 (b)).

Schäfte für Patienten mit Knieexartikulation Im Gegensatz zum Oberschenkelamputationsstumpf ist der Knieexartikulationsstumpf voll belastbar. Die Femurkondylen übertragen das Körpergewicht auf den Prothesenschaft. Durch die kolbige Form des Kondylenstumpfes entsteht eine rotationsstabile Verbindung (󳶳Abb. 3.11 (a)). Eine Weichwand-Stumpfbettung aus

(a)

(b)

Abb. 3.11: Versorgung von Knieexartikulationen. (a) Knieexartikulationsstumpf, (b) Frontalschnitt des Knieexartikulations-Prothesenschaftes mit Aufpolsterung der Weichwand-Stumpfbettung proxi­ mal des Kondylenbereiches (Fa. Ottobock).

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thermoplastischem PE-Schaum, ist innen anatomisch und durch Ausgleichen der Hinterschneidungen außen konisch gestaltet (󳶳Abb. 3.11 (b)). Der Aufbau des Außenschaftes aus den für Unter- und Oberschenkelschäfte üblichen Materialien (z. B. Gießharzkonstruktion) stellt die Endbelastung und den notwendigen Hebelarm des Stumpfes sicher und erfüllt sonst keine höheren Anforderungen. Der Stumpf ist im Muskelgleichgewicht, da die Adduktoren nicht durchgetrennt wurden (wie bei höheren Oberschenkelamputationen). Der lange Hebelarm ist günstig für die Führung der Prothese [Näder 2011]. Die Länge des Stumpfes bedingt, dass das prothetische Kniegelenk tiefer als auf der kontralateralen Seite verbaut werden muss. Dies erfordert spezifische Verankerungen mit geringer Bauhöhe bzw. macht den Einsatz polyzentrischer Gelenke mit einem momentanen Drehpunkt oberhalb des prothetischen Gelenks sinnvoll.

Schäfte für Oberschenkel Die Belastbarkeit des Oberschenkelstumpfes liegt am Stumpfende nur bei 20 bis 30 %, zusätzlich ist der lasttragende Röhrenknochen von viel verschiebbarem Weichgewebe umgeben. So muss der Oberschenkelschaft eine zusätzliche Lastübertragung am Becken (aufsteigender Sitzbeinast) und angrenzenden Strukturen im Bereich des Hüftgelenks (Trochantermassiv) nutzen. Ein weiterer Grund dafür ist die rotationssymmetrische Form des Oberschenkelschaftes, die für die Aufnahme von Torsionsmomenten ungeeignet ist. Nur unter Einbeziehung angrenzender Strukturen ist eine Rotationsstabilität der Schaftankopplung zu erreichen. Die Oberschenkelstumpfbettung kann von proximal nach distal in folgende vertikale Funktionsbereiche eingeteilt werden: – Sitzringbereich (Stumpfeintrittsebene bis ca. 5 cm unterhalb des Tubersitzes), – Steuerungsbereich (bis ca. 2/3 Stumpflänge), – Stumpfendbereich (distales Drittel möglichst mit Stumpfendfassung = Kontaktschaft) [Näder 2011]. Diese Bereiche haben in der Horizontalebene unterschiedliche Formen. Sie sind durch die anatomischen Verhältnisse bedingt und müssen nach funktionellen Gesichtspunkten modelliert werden. Die Gestaltung der horizontalen Stumpfeintrittsebene ist für die Schaftvarianten namensgebend. Die ältere querovale (sitzbeinunterstützende) Schaftform, sollte aufgrund einiger Nachteile nur bei Patienten genutzt werden, bei denen die längsovalen Formen bzw. daraus entwickelte anatomisch optimierte Schaftformen nicht nutzbar sind. Beim querovalen Schaft ist der (quer in der Horizontalebene liegende) medial-laterale Durchmesser größer als der dorsal-ventrale (󳶳Abb. 3.12). Der hintere Rand verläuft horizontal. Seitlich des Tubersitzes wird der Gesäßmuskel eingebettet, sodass er möglichst viel Gewicht mittragen kann (der Patient „sitzt“ auf der „Tuberbank“). Der innere Rand umfaßt die Adduktorengruppe, verhindert ein Abgleiten des Stumpfes

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dorsal ventral

dorsal

ventral (a)

(b)

medial

lateral

Abb. 3.12: Querovale Oberschenkelschaftform. (a) Schaftlängsschnitt (b) horizontale Ansicht des Sitzringbereiches (Fa. Ottobock).

nach innen in der Standphase und drückt den Stumpf an die laterale Seitenwand. Die vordere Wand dient in erster Linie als Gegenhalt zum Tubersitz. Sie müsste ihren größten Druck genau gegenüber ausüben. Dort liegt jedoch das Scarpasche Dreieck (nach Antonio Scarpa, auch Schenkeldreieck, lat. Trigonum femorale) mit den großen Blutgefäßen und Nerven des Beines (Arteria und Vena femoralis, Nervus femoralis und N. saphenus), die besonders bei bereits gestörter Durchblutung keinen höheren Druck ertragen. So ist eine möglichst breitflächige, höher gezogene Abstützung notwendig, die aber beim Sitzen nicht stören darf. Die laterale Wand reicht mindestens so hoch hinauf wie die vordere [Näder 2011]. Der größte Nachteil der querovalen Schaftform liegt in der unphysiologischen Verlagerung des Weichgewebes im Schaft und der damit verbundenen Drückausübung auf die großen Blutgefäße und parallelen Nervenbahnen Bei der längsovalen, sitzbeinumgreifenden Oberschenkelschaftform (Contoured Adducted Trochanteric Controlled Alignment Method (CAT–CAM)) befindet sich das Zentrum des Hüftkopfes ungefähr im Zentrum des Schaftquerschnittes. Das Scarpasche Dreieck mit seinen Gefäßen und Nerven bleibt frei von jedem Druck. Der Prothesenschaft vollzieht die Umrisse des Femurs im Trochanterbereich nach, sodass die Hinterschneidung als Formschluss genutzt werden kann (auch als knöcherne Verriegelung bzw. bony lock bezeichnet, 󳶳Abb. 3.13 (a)). Bei dieser Schaftform verhindert der aufsteigende Sitzbeinast ein Ausweichen des Schaftes zur Seite. Die Tuberbank (der älteren querovalen Form) entfällt vollständig. An ihre Stelle tritt die tuberumfassende Schaftform als Fortsetzung des bereits über den aufsteigenden Sitzbeinast geführten Schaftes. Die Toleranzbreite ist an dieser Stelle relativ gering. Der Schaft muss den Sitzbeinhöcker umfassen. Ventral folgt der Schaftrand dem Verlauf des Leistenbandes. Er wird möglichst weit hochgezogen, darf jedoch im Sitzen bei gebeugter Hüfte weder einschneiden noch die Prothese vom Körper wegstoßen. Der längsovale Schaft ist gegenüber der querovalen Schaftform deutlich komfortabler, er

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(b)

frontale Ansicht

sagittale Ansicht

horizontale Ansicht

von ventral

von dorsal

Abb. 3.13: Längsovale Schaftform. (a) Knöcherne Verriegelung in der Frontalebene, (b) Ansichten in verschiedenen Ebenen (Fa. Ottobock).

ermöglicht eine freie Beweglichkeit der Hüfte und erlaubt eine längere Tragedauer ohne Beschwerden [Näder 2011]. Neuere sogenannte anatomische Schaftformen sind aus der längsovalen Form hervorgegangen. Eine heute verbreitete Variante wurde Anfang der 2000er Jahre von Marlo Ortiz entwickelt und als MAS-Schaft (Marlo Anatomical Socket) bezeichnet (󳶳Abb. 3.14). Die Zielstellungen seiner Entwicklung lagen darin, mehr Bewegungsfreiheit zu erreichen und das Sitzen bequemer zu machen. Der MAS-Schaft besitzt einen großen dorsalen Schaftausschnitt, der den Gesäßmuskel und den Tuber frei gibt, wodurch sich die tragende Fläche erheblich verringert. Die damit verbunlateral

lateral

dorsal

ventral

dorsaler Schaftausschnitz

Stützfläche zur medialen Ramusanstützung

medial (a)

(b)

Abb. 3.14: MAS-Oberschenkelschaft in der Horizontalebene (a) und Sagittalebene (b) (Fa. Otto­ bock).

3 Gliedmaßenprothetik | 139

dene Druckerhöhung an den verbliebenen Kontaktflächen macht eine besonders gut sitzende Passform des Schaftes notwendig (geringere Fehlertoleranz). Ein besonderes Merkmal des MAS-Schaftes ist eine kleine Stützfläche an der Innenseite, welche der medialen Ramusanstützung dient (lat. Ramus ossis ischii, dt. Schambeinast). Direkt darunter ist eine schmale Rinne in den Schaft modelliert, in der die Adduktorensehnen verlaufen. Bei Belastung wird der Schaft von den so vorgespannten Adduktorenmuskeln nach innen an den Körper herangezogen [Belitz 2004]. Die in 󳶳Abbildung 3.3 (a) dargestellte Abduktionskontraktur wird auf diese Weise begrenzt. Für den Aufbau des Prothesenschaftes kommen Laminierharz oder kombinierte Konstruktionen aus einem weichen Innentrichter mit zusätzlichem Carbonrahmen zum Einsatz. Harzschäfte sind starre und feste Konstruktionen, die mit Hilfe von Carboneinlagen (eingegossene Matten) ihre Festigkeit gewinnen. Liner und Verschlusssystem spielen hier eine wichtige Rolle, um den Stumpf einzubetten. Schäfte mit weichem Innentrichter mit zusätzlichem Carbonrahmen werden bei Oberschenkelprothesen am häufigsten genutzt. Ein weicherer Innentrichter (z. B. aus Silikon) bettet den Oberschenkelstumpf. Dadurch wird gewährleistet, dass der Prothesenschaft am Rand flexibel ist. Gehalten wird das flexible Material durch eine hochfeste Carbonspange, die den Anschluss zu den weiteren Bauteilen herstellt [Ottobock 2014b].

Schäfte für Amputationen im Hüftbereich In der Regel ist bei Exartikulationen im Hüftgelenk der Stumpf durch den nach vorne geschlagenen großen Gesäßmuskel gut gepolstert. Bei der Hemipelvektomie muss oft nicht nur das Sitzbein, sondern auch ein mehr oder weniger großer Anteil des Becken-

Abb. 3.15: Moderner Beckenkorb mit vorderem Verschluss (Fa. Ottobock).

140 | Marc Kraft et al.

kamms entfernt werden. Unabhängig von der Wahl der Amputationshöhe ist aber das Stumpfende breitflächig und voll belastbar. Ein Beckenschaft (󳶳Abb. 3.15) umfasst sowohl den Stumpf, als auch mindestens die amputationsseitige Beckenhälfte, in der Regel das ganze Becken. Für die Lasteinleitung nutzbare Flächen sind der Aufsitzbereich, die Kreuzbeinfläche und der Beckenkamm. Inzwischen sind auch Systeme mit Silicon-Rahmenschaft bzw. Gießharzschäfte mit Inlet verfügbar, die bessere Trageeigenschaften besitzen.

3.3.3 Komponenten von Beinprothesen Prothetische Füße 󳶳 Prothetische Füße stellen (gemeinsam mit dem Schuh) den Bodenkontakt des Beinamputierten her. Ihre Funktionalität wird durch die Art der Einleitung von Kräften und Momenten (dafür genutzte Flächen, Hebelarme etc.), die Abrolleigenschaften in der Sagittalebene, die Anpassungsfähigkeit an Bodenunebenheiten, die Fähigkeit zum Zwischenspeichern und Abgeben potenzieller Energie, die Dämpfungseigenschaften (u. a. beim Fersenauftritt) sowie das Vorhandensein und die Funkti­ on aktiver Antriebe bestimmt.

Eine Unterscheidung von prothetischen Fußkomponenten ist nach verschiedenen Kriterien möglich. Unter anderem nach: – Mobilitätsgrad (beschrieben in 󳶳Kapitel 3.1.3) – der Bauweise (Stelzfuß, Prothesenfuß für endo- oder exoskelettale Bauweise der Prothese), – verwendeten Materialien (z. B. Holzfuß, Carbon-Federfuß), – Gelenkigkeit, als: – nullachsiger Fuß, – einachsiger Fuß (einachsiges Prothesenfußgelenk in der Sagittalebene), – mehrachsiger Fuß (flexibel, multiflexibel) mit und ohne Prothesenfußgelenke in mehreren Ebenen, – Flexibilität (oder Steifigkeit) des Fußes – Betrag (ohne, gering, mittel, hoch), – Richtung (dorsal, ventral, medial, lateral), – Energiespeicherfunktion bei Fersenauftritt und im Abrollvorgang (Federeigenschaften), nach: – Betrag (gering, mittel, hoch), – Bereich der Energierückgabe (an der Ferse, im Vorfuß, über separate Federelemente, über die gesamte Fußstruktur), – Dämpfungscharakteristik, nach: – Betrag (gering, mittel, hoch), – Bereich der Dämpfung (an der Ferse, im Vorfuß, über proximale Dämpfungselemente, über die gesamte Fußstruktur),

3 Gliedmaßenprothetik | 141

– – –





Art der Dämpfung (z. B. Dämpfung verwendeter Materialien, hydraulische Dämpfung), konstruktivem Aufbau (z. B. Fuß mit Fersenkeil, Doppelfederkonstruktion, Fuß mit hydraulischem Knöchelgelenk), Vorhandensein einer Mikroprozessorsteuerung zur Anpassung der Fußcharakteristik an die Nutzungssituation (z. B. Phase im Gangzyklus, Sitzen, Stehen auf Rampen), für die – Ansteuerung von Antrieben, – Ansteuerung von passiven Dämpferelementen, Art der Verbindung mit dem (ggf. vorhandenen) Kniegelenk, mit einer: – Verbindung ausschließlich über Strukturkomponenten (z. B. über Rohradapter), – elektroenergetischen Kopplung (z. B. gemeinsame Nutzung von Akkumulatoren für unabhängig voneinander arbeitende Mikroprozessorsteuerungen im Kniegelenk und Prothesenfuß), – informationstechnischen Kopplung (Datenaustausch zwischen Sensoren und Mikroprozessorsteuerungen im Kniegelenk und Prothesenfuß), – mechanisch kinematischen Kopplung (derzeit nicht realisiert), Vorhandensein aktiver Elemente (Antriebe), zur: – Realisierung von Winkelverstellungen in der Sagittalebene oder – Beschleunigung von Phasen des Gangzyklus.

Einige der genannten Unterscheidungsmerkmale stehen natürlich in einem engen Verhältnis zueinander. So ist beispielsweise eine hohe Energierückgabe eines Prothesenfußes aufgrund der hierfür notwendigen Federwege mit einer Flexibilität (in der Sagittalebene) gekoppelt. Gleiches gilt in ähnlicher Weise für die Nutzung dämpfender Materialien (z. B. an der Ferse), die sowohl mit einer Flexibilität des Fußes aber auch mit einer gewissen Energierückgabe verbunden ist. Nachfolgend werden aus der großen Vielfalt verfügbarer Fußkonstruktionen einige charakteristische Beispiele vorgestellt.

Stelzfuß Stelzfüße waren von großer Bedeutung für die Entwicklung der Prothetik (󳶳Kapitel 1.5), können aber eigentlich nicht als Fuß bezeichnet werden. Im einfachsten Falle bestehen sie aus einem großflächigen, auf eine Stelze aufgesteckten Gummipuffer und besitzen damit nicht den für einen prothetischen Fuß essentiellen Vorfußhebelarm. Auch weiterentwickelte Stelzfüße haben zwar eine größere Abrollfläche (Kreisbogenausschnitt in der Sagittalebene), sind jedoch weit von den mechanischen Eigenschaften eines Fußersatzes entfernt. Der Vorfußhebel ist bei einigen mechanischen Kniegelenken zur Standphasensicherung erforderlich, der beim Stelzfuß jedoch nicht vorhanden ist. Es kommen daher nur gesperrte Kniegelenke in Frage, die weitere biome-

142 | Marc Kraft et al.

chanische Nachteile haben. Darüber hinaus kann mit einem Stelzfuß kein physiologisches Gangbild erreicht werden und es besteht keine Möglichkeit, ihn in einen Schuh zu integrieren (minimaler kosmetischer Anspruch). So sollten Stelzfüße nur zum Einsatz kommen, wenn keine anderen (nur wenig aufwendigeren) Lösungen verfügbar sind.

Einfache starre und flexible Füße ohne Gelenk Gelenklose, starre Prothesenfüße sind einfache Fußkonstruktionen aus relativ starrem Hartgummi oder aus Holz mit einer Gummilaufsohle, ggf. auch mit einem Gummikeil in der Ferse. Aufgrund ihrer geringen Dämpfung beim Fersenauftritt, einer wichtigen Forderung an eine Beinprothese (󳶳Kapitel 3.3.1), kommen sie nur noch in Ländern zum Einsatz, in denen keine besseren Versorgungen möglich sind, weshalb hier nicht näher auf sie eingegangen wird. Gelenklose flexible Füße bestehen im Knöchel- und Mittelfußbereich aus einem Holz-oder Kunststoffkern oder einer inneren Kunststofffeder. Diese Elemente sind mit einem Integralschaum umgeben. Ein historischer, heute modifizierter Fuß dieser Bauart mit einem Holzkern ist der S.A.C.H.-Fuß (solid ankle cushion heel) mit steifem Knöchelgelenk und federnder Ferse. Im Fersenbereich ist er mit einem PU-Schaumkeil versehen, der den Fersenauftritt dämpft. Durch die Kompression der Ferse im Bewegungsablauf erreicht die Sohle früher einen vollflächigen Bodenkontakt, ähnlich wie dies bei einer Plantarflexion möglich ist. Die Flexibilität des Integralschaumes im Vorfußbereich erlaubt eine Abrollbewegung, die einer elastisch gepufferten Dorsalextension der Zehen ähnlich ist. Der Fuß ist sehr robust. Größere Flexibilität, bessere Stoßdämpfung und weiche Abrollcharakteristik werden mit weiterentwickelten gelenklosen Füßen, wie beim Dynamik-Fuß, durch größere elastische Segmente im Fußformteil erzielt und erhöhen so den Tragekomfort für den Patienten (󳶳Abb. 3.16). Andere aus dem S.A.C.H.-Fuß entwickelte Konstruktionen, wie der DynamiK plus-Fuß. speichern bei der Abrollbewegung des Fußes Energie

5 3 2

4

1 (a)

(b)

Abb. 3.16: Dynamik-Fuß (Fa. Ottobock). (a) Komponenten: Fußformteil (1), Innenfuß (2), einge­ schäumter Holzkern (3), Fersenkeil (4) und verschraubtem Modular-Adapter (5); (b) Ansicht (Fa. Ottobock).

3 Gliedmaßenprothetik |

143

in einem Federelement aus Kunststoff. Ähnliche gelenklose Prothesenfüße erreichen eine Verbesserung der allseitigen Flexibilität und gewisse elastische Rückstelleigenschaften nach der Verformung durch äußere Kräfte. Dazu dienen Strukturveränderungen wie eine Verkürzung des Holzkerns, eine Vergrößerung des Integralschaumanteiles, ein Ersatz des Holzkernes durch einen federelastischen Spritzgusskern oder durch elastische CFK-Federn. Einfache gelenklose, flexible Füße werden bei Patienten mit relativ geringer Mobilität genutzt, die sich überwiegend auf ebenem Gelände und mit eher geringer Gehgeschwindigkeit über kürzere Distanzen bewegen. Dafür ist die geringe Flexibilität, Dämpfung und Energiespeicherfunktion ausreichend.

Einfache flexible Füße mit Gelenk Füße mit einachsigem Knöchelgelenk haben einen rotatorischen Freiheitsgrad in der Sagittalebene und sind in ihrem Grundaufbau den zuvor beschriebenen Fußtypen ähnlich (󳶳Abb. 3.17 (b)). Im Knöchelanschlussbereich zum prothetischen Unterschenkel werden sie jedoch nicht starr, sondern gelenkig verbunden. Das einachsige Knöchelgelenk erlaubt die Plantarflexion und die Dorsalextension des Prothesenfußes in der Sagittalebene, jedoch muss die Dorsalextension sehr starr gedämpft oder gesperrt werden. Eine freie Dorsalextension entspräche sonst dem Fehlen des Vorfußhebels, derfür zahlreiche mechanische Kniegelenke wichtig ist. Es verbleibt also die gelenkige, monozentrisch geführte Plantarflexion des Fußes ähnlich der physiologischen Bewegung des natürlichen Knöchelgelenks (󳶳Abb. 3.17 (a)). Füße mit einachsigem Knöchelgelenk haben zwar eine etwas höhere, auf die Sagittalebene beschränkte Flexibilität, die eine Erhöhung der Gangsicherheit bewirkt, weil ein flächiger Bodenkontakt eher erreicht wird. Trotzdem bleiben die Einsatzbedingungen dieser einachsigen Konstruktionen mit denen gelenkloser Füße vergleichbar, sodass sie eher für ebenes Gelände und geringe Dynamik geeignet sind. Einfache flexible Füße mit mehrachsigem Knöchelgelenk besitzen neben dem Freiheitsgrad der Dorsal-Plantarbewegung (Sagittalebene) zusätzlich weitere Freiheitsgrade für die Pro- und Supination (Frontalebene) und für die Rotation um die Beinlängsachse (Horizontalebene). Dafür können mehrere einzelne Gelenke, Gelenke mit mehreren Freiheitsgraden (z. B. Kugelgelenk) oder elastische Elemente mit mehreren Freiheitsgraden (󳶳Abb. 3.17 (c)) integriert werden. Es gilt auch hier, dass die Dorsalextension begrenzt werden muss. Die Elastizität in der Frontal- und Horizontalebene ist in der Regel relativ gering (ähnlich der in Dorsalrichtung), reicht jedoch aus, um dem Fuß bei kleinen Bodenunebenheiten, wie Türschwellen und kleinen Steinen, eine Ausgleichbewegung zu ermöglichen. Damit sind derartig aufgebaute Füße auch in unebenem Gelände verwendbar. Typische Füße dieser Bauart mit relativ großer Dämpfung und geringer Energiespeicherfunktion (verglichen mit weiterentwickelten Füßen) sind Patienten zu empfehlen, die zwar gelegentlich Bodenunebenheiten vorfinden, sich jedoch nicht über größere Strecken mit höheren Gehgeschwindigkeiten bewegen.

144 | Marc Kraft et al. 60 50 40

Moment in Nm

30 20 10

3 5

0

4

2 10 (b)

1

20 30 40

(a)

4

3 20

15 5 10 Planarflexion in Grad

3a

2

5 10 0 Dorsalextension 1 in Grad (c)

Abb. 3.17: Einfache flexible Füße. (a) Federkennlinie eines in der Sagittalebene gelenkig flexiblen Fußes (nach [Boenick 1992]); (b) Aufbau eines einachsigen Fußes mit Fußformteil (1), Holzkern (2), Normgelenk-Adapter (3), Gummipuffer (4), der in unterschiedlicher Härte wählbar ist und die Plan­ tarflexion bestimmt, und Anschlag (5), der die Dorsalextension begrenzt; (c) Aufbau eines Fußes mit mehrachsigem Knöchelgelenk mit Fußformteil (1), Holzkern (2), GREISSINGER-Adapter (3), Lagerga­ bel (3a) und ringförmigem Gummielement (4), das in unterschiedlicher Steifigkeit wählbar ist.

Einfacher multiaxialer Fuß 1M10 Adjust (Fa. Ottobock, 󳶳 Abb. 3.18) Dieser Fuß besitzt ein geringes Gewicht (Größe 26: 395 g) und eine hohe Steh- und Gehstabilität, wel­ che durch ein an der Belastungslinie platziertes multiaxiales Gelenk erreicht wird. Durch Gewichts­ verlagerungen von einem Bein auf das andere und damit Belastung und Entlastung des Prothesenfu­

Adapterplatte

Einleger

Gelenk

Fersenband mit Faltenbalg

Gelenkgurt

Funktionsmodul

Abb. 3.18: Multiaxialer Fuß. Beispiel 1M10 Adjust (Fa. Ottobock) ohne Kosmetikverkleidung.

3 Gliedmaßenprothetik |

145

ßes wird so keine Verformung elastischer Elemente bewirkt und die Standstabilität nur unwesentlich beeinflusst. Gleiches gilt für Gewichtsverlagerungen in der Sagittalebene zum Ausbalancieren des Körpers. Die Basisfeder des Fußes besteht aus einem Hochleistungspolymer. Sie kontrolliert die Dorsa­ lextension durch Energieaufnahme und -rückgabe. Ballen- und Fersenpads ermöglichen ein angeneh­ mes Stehen und ein optimiertes Abrollverhalten in der Standphase des Gangzyklus. Das multiaxiale Gelenk aus PU befindet sich in der Mitte des Prothesenfußes. Es stellt eine flexible Verbindung von Basisfeder und Adapterplatte her. Das Fersenband kontrolliert den Bewegungsspielraum der Adap­ terplatte zur Basisfeder und damit die Dorsalextension. Der Gelenkgurt kontrolliert die Plantarflexion. Das Funktionsmodul mit Einleger ermöglicht es, die Fersencharakteristik (Dämpfung bei Fersenauf­ tritt) individuell auf den Nutzer einzustellen (unterschiedliche Härtegrade eingelegter Elemente wähl­ bar) [Ottobock 2014a].

Komplexe multiflexible Füße Zahlreiche multiaxiale prothetische Füße sind heute für die unterschiedlichen Anforderungen einer hohen bzw. geringeren Patientenmobilität verfügbar. Sie können Bodenunebenheiten ausgleichen und Bewegungsenergie federelastisch speichern. Sehr häufig sind diese Fußkonstruktionen zweiteilig mit einer inneren federelastischen Struktur, welche auch als Funktionseinsatz bezeichnet wird, (i. d. R. CFKFedern) und einer äußeren Kosmetikhülle aufgebaut. Diese hat im Zusammenwirken mit der inneren Federkonstruktion funktionelle Aufgaben und stellt die äußere Fußkontur her. Zahlreiche dieser auch als Carbon-Federfuß bezeichneten Konstruktionen besitzen das übliche Anschlussmaß an den Unterschenkel oberhalb des Knöchels der gesunden Seite. Andere Systeme beziehen auch den Wadenbereich in die Federkonstruktion ein. Dies vergrößert die Dimension verwendeter Federn und erhöht die Energierückgaben, bei verringertem Gewicht. Es schränkt jedoch die Auswahl eines ggf. notwendigen Kniegelenks ein, da auch diese ggf. Bauraum im Wadenbereich beanspruchen (󳶳Abb. 3.19 (c)). Weiterhin schränkt die Bauhöhe die Einstellbarkeit des Fußes ein, da eine Plantarflexion immer eine spürbare Verschiebung des Fußes mit sich bringt. Typischerweise werden mehrere parallel oder seriell angeordnete Federn verbaut. Dies bietet die Möglichkeit, die Federcharakteristiken feinstufiger anzupassen. So wird in der Regel eine Feder für die Energiespeicherung beim Fersenauftritt und noch mindestens eine weitere Feder für die Energiespeicherung während des Abrollvorganges in der Standphase des Gangzyklus genutzt (oft als Basisfeder bezeichnet, 󳶳Abb. 3.19 (a) und (b)). Eine Teilung dieser Basisfeder in eine mediale und eine laterale Seite kann die Flexibilität in der Frontalebene (Pro- und Supination) erhöhen, da die Steifigkeit einer schmaleren, einzeln (z. B. durch eine Bodenunebenheit) belasteten Feder geringer ist, als die einer breiten Basisfeder (󳶳Abb. 3.19 (d) und (e)). Im Abrollvorgang ist die Gesamtsteifigkeit nicht reduziert, da beide Federn gemeinsam und parallel beansprucht werden. Beim Einwirken von Torsionsmomenten ist die Verwindung des Gesamtaufbaues der Federkonstruktion für die Elastizität in der Horizontalebene) veranwortlich. Nur wenige multiflexible Füße verfügen über

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(b)

(a)

(c)

(c)

(d)

(e)

(f)

Abb. 3.19: Gestaltungsbeispiele für multiflexible Carbon-Federfüße: (a) 1C60 TRITON, (b) 1C40 C-WALK, (c) 1E50 ADVANTAGE DP2 (a bis c: Fa. Ottobock), (d) FLEX-FOOT SYMES-Fuß, (e) RE-FLEXROTATE mit Vakuumpumpe, (f) FLEX-FOOT AXIA (d bis f: Fa. Össur).

spezifische Komponenten für die Beeinflussung der Torsionselastizität (󳶳Abb. 3.19 (e) Komplexere Konstruktionen ordnen die verwendeten Federn gekoppelt an (seriell oder parallel). Die Verformung einer Feder kann sich dann in Abhängigkeit vom Abrollwinkel auf die Vorspannung anderer verbundener Federn auswirken, womit eine Nutzung der in frühen Abschnitten der Standphase (z. B. Fersenauftritt) gespeicherten Energie in späteren Phasen (z. B. mittlere Standphase) möglich wird. Ein Beispiel für einen derartigen Fuß (z. B. 1C30 Trias der Fa. Ottobock) ist in 󳶳Abbildung 3.20 dargestellt. Er ahmt in einer bionischen Analogie die Struktur der Fußanatomie nach. Zwei Doppelfedern übernehmen überwiegend Drucklasten, vergleichbar dem Fußknöchel, die Basisfeder an der Sohle wird unter Zug vergleichbar den Sohlenbändern des Fußes beansprucht. Komplexe multiflexible Füße können um zusätzliche Funktionselemente ergänzt werden. In zahlreichen Fußtypen sind Elastomerelemente verbaut, die dem Fuß eine höhere Dämpfung geben (󳶳Abb. 3.19 (f)). Sie können zwischen Federn angeordet sein oder eigene Strukturkomponenten bilden. Es ist möglich, Einleger unterschiedlicher Härtegrade in Hohlräume einzubringen (󳶳Abb. 3.18) und so individuelle Einstellungen der Dämpfungscharakteristik zu ermöglichen. Die Verwendung von Dämpfern in Carbon-Federfüßen hat allerdings einen gewissen Zielkonflikt. Die Verwendung von Federn erfolgt mit dem Ziel einer möglichst vollständigen Energierückgabe (Federkraft proportional dem Federweg). Dämpfer hingegen besitzen eine Hysterese und wandeln mechanische Energie in Wärme um. Sie geht also dem Patienten verloren (abhängig von der Beanspruchungsgeschwindigkeit), ähnlich

3 Gliedmaßenprothetik | 147

Abb. 3.20: Prothetischer Fuß 1C30 Trias mit Carbon-Federkonstruktion und zwei verschieden farbi­ gen Kosmetikhüllen (Fa. Ottobock).

dem Gehen auf einer Schaumstoffmatte. Die Verminderung von Impulsen (Stößen) durch eine Dämpfung oder zusätzliche Bewegungsumfänge aufgrund der Elastizität dämpfender Komponenten können für einzelne Patienten jedoch wichtiger sein, als eine optimale Energiespeicherfunktion (z. B. von Sportprothesen). Weitere Ausstattungsmerkmale prothetischer Füße sind mit Druckluft beaufschlagte, anpassbare Dämpfer (󳶳Abb. 3.19 (e)), Verstellmechanismen für die Absatzhöhe (nicht ungefährlich, weil damit auch der Vorfußhebel beeinflusst wird), hydraulisch gedämpfte Knöchelgelenke und Unterdruckpumpen (siehe spätere Beschreibung weiterer Beinprothesenkomponenten). Seit einiger Zeit konnten auch elektronische Steuerungen für die Anpassung von Prothesenfüßen an Bewegungsabläufe eingeführt werden, die im nachfolgenden Absatz vorgestellt werden. Die multiflexiblen Carbon-Federfüße (󳶳Abb. 3.19) sind selbstverständlich überwiegend für Patienten mittlerer und höherer Mobilitätsgrade vorgesehen, die sich auch in unebenem Gelände mit höherer Gehgeschwindigkeit über größere Strecken bewegen. Ein spezifisches Anwendungfeld liegt aufgrund der erreichbaren geringen Bauhöhe (󳶳Abb. 3.19 (d)) bei sehr langen Stümpfen (Amputationen nach Pirogoff oder nach Syme, 󳶳Tab. 3.2). Sportfüße (insbesondere Sprintfüße, auch Blades genannt) sind für den sportlichen Einsatz optimiert. Diese CFK-Federfüße erlauben es, sehr viel Energie zu speichern und wieder abzugeben, wodurch z. B. Sprint und Weitsprung ermöglicht werden. Ursprünglich eher im Hochleistungssport verankert, erleben die Sportfüße durch die höhere Aufmerksamkeit (infolge der Paralympics) und einfachere Anpassungsmöglichkeiten einen immer häufigeren Einsatz im Breitensport. Zwischenformen erlauben auch die Nutzung im Schuh, wodurch der Übergang zwischen Sportfüßen und Alltagsfüßen fließend wird.

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Fußprothesen mit Mikroprozessorsteuerungen Die sensorgestützte und mikroprozessorgesteuerte Verbesserung der Adaptivität von Fußprothesen in unterschiedlichen Gangsituationen (unterschiedliche Gehgeschwindigkeiten, Auf- und Abwärtsgehen bzw. beim Stehen oder Sitzen) ist für viele Hersteller ein wichtiges Ziel. In der Schwungphase haben Dorsal- und Plantarflexion des Fußes einen erheblichen Einfluss auf die Vertikalbewegung des Hüftgelenks. Der natürliche Fuß ist im Augenblick des Abstoßens plantarflektiert. Sobald er den Boden verlassen hat, geht er in die Dorsalextension über (gleichzeitig geht auch das Kniegelenk in die Beugung). Dadurch wird der Abstand zwischen Kniegelenk und Fußspitze verringert, und das Bein kann unter dem Rumpf hindurchschwingen, ohne dass die Hüfte übermäßig angehoben werden muss. Bei konventionellen, bisher erläuterten Prothesenfüßen ist diese Möglichkeit in der Regel nicht vorhanden (eine Ausnahme sind z. B. Füße mit passiver Dorsalextension nach der Standphase), so ist eine vertikale Hüftbewegung zur Kompensation erforderlich. Füße mit Mikroprozessorsteuerungen ermöglichen eine dorsalextendierte Fußstellung während die Prothese in der Schwungphase am Standbein vorbeischwingt. Es muss in Systeme unterschieden werden: – deren passive Dämpferelemente angesteuert werden, – deren Antriebe für die Realisierung von Winkelverstellungen in der Sagittalebene angesteuert werden, jeweils ohne oder unter geringer Last, z. B. in der Schwungphase oder beim Sitzen (schrittweise mit kleinen Anpassungen oder sofortige Komplettverstellung), – deren Antriebe für eine Beschleunigung von Phasen des Gangzyklus genutzt werden, auch gegen das Patientengewicht und zusätzlich wirkende dynamische Lastanteile. Für alle drei Formen wird nachfolgend je ein Beispielsystem vorgestellt. An dieser Stelle soll nochmals auf die oben bereits erläuterte Energiewandlung von Dämpfern verwiesen werden. Die prinzipielle Arbeitsweise von hydraulischen Dämpfern in Fußprothesen entspricht der Arbeitsweise in Kniegelenken und wird dort näher erläutert (󳶳Abb. 3.25). Passive Dämpfer entziehen dem Bewegungsvorgang Energie und wandeln diese in Wärme um. Antriebe wandeln elektrische Energie in mechanische Energie um und können diese dem Bewegungsvorgang zuführen, sofern sie nicht ohne bzw. mit geringer Belastung ausschließlich für Winkelverstellungen in der Sagittalebene genutzt werden. Es ist jedoch wichtig, hier festzuhalten, dass sich mikroprozessorgesteuerte Füße in der Beinprothetik bisher noch nicht in größerer Breite durchsetzen konnten. Dies liegt neben dem höheren Preis sicher auch an weiteren Herausforderungen, die durch eine deutlich höhere Funktionalität ausgeglichen werden müssen.Diese liegen: – im höheren Gewicht (verglichen mit Standard-Fußprothesen), – in der höhere Komplexität mit geringerer Zuverlässigkeit und Robustheit,

3 Gliedmaßenprothetik | 149

– – –

in der zum Teil auftretenden Geräuschbildung aktiver Antriebe, in den Abmessungen, die nicht jede Schuhgröße zulassen, in der begrenzten Kapazität von Energiespeichern bei Nutzung beschleunigender Antriebe.

Die angestrebten, aber bisher nicht in allen Systemen erreichten Vorteile mikroprozessorgesteuerter Fußprothesen hinsichtlich der Steuerung der Plantarflexion/ Dorsalextension in der Sagittalebene betreffen: – eine gesteuerte Plantarflexion bei Fersenauftritt mit beschleunigtem Erreichen des Bodenkontaktes, – eine Dorsalextensionsstellung des Fußes in der Schwungphase für die Verringerung der Stolpergefahr oder beim Treppensteigen, – die Plantarflexion der Zehen beim Sitzen mit gestrecktem Bein, – die Dorsalextension der Zehen beim Anziehen der Beine zum Aufstehen aus dem Sitz, – die Gewährleistung einer Anpassung der Winkelstellung des Fußes an schräge Ebenen sowie Treppen, – eine Anpassung der Dämpfung während des Überrollens in der Standphase an das Berg-/Rampen-/Treppauf- oder Treppabsteigen, – eine Anpassung der Fußwinkelstellung an ein Rückwärtsgehen, – die Möglichkeit der Einstellung unterschiedlicher Absatzhöhen – weitere individuelle Einstellmöglichkeiten durch den Anwender. Die verwendeten Sensoren sind, wie auch bei mikroprozessorgesteuerten Kniegelenken, in der Regel Inertialsensoren zur Messung translatorischer und rotatorischer Beschleunigungen, Knöchelwinkelsensoren, sowie Kraft- und Momentenaufnehmer, oft in Form von Dehnungsmessstreifen an Strukturteilen. Alle Systeme mit Antrieben verwenden elektromechanische Antriebe und elektrische Energiespeicher.

Beispiele für mikroprozessorgesteuerte Prothesenfüße mit passiven Dämpferelementen élan Fuß (Fa. ENDOLITE, 󳶳 Abb. 3.21 (a)): Carbon-Federfuß mit mikroprozessorgesteuertem hydrauli­ schem Knöchelgelenk, welches eine stufenlose Einstellung der Plantarflexion und Dorsalextension (6 Grad/3 Grad) und eine permanente hydraulische Anpassung des Knöchelgelenks an die jeweilige Bodenbeschaffenheit möglich macht. Im Zusammenwirken aller Fußkomponenten werden bis zu 15 Grad Plantarflexion und 25 Grad Dorsalextension erreicht [Endolite 2014a]. 1C66 Triton smart ankle (Fa. Ottobock, siehe 󳶳 Abbildung 3.21 (c)): Carbon-Federfuß mit mikroprozessorgesteuertem, hydraulischem Knöchelgelenk, der durch eine Winkelanpassung an verscheidene Situationen adaptiert und eine Absatzhöhenverstellung zwischen 0 bis 50 mm zulässt. Die Einstellung ist per Smartphone App möglich. Beispiel für einen mikroprozessorgesteuerten Prothesenfuß, dessen Antrieb Winkelverstellungen in der Sagittalebene erlaubt Proprio Fuß (Fa. ÖSSUR, 󳶳 Abb. 3.21 (b)): Carbon-Federfuß mit mikroprozessorgesteuertem Schrittmotor, der eine aktive Dorsal- (10 Grad)

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(b) (a)

(c)

Abb. 3.21: Mikroprozessorgesteuerte Füße. (a) élan Fuß (Fa. Endolite), (b) Proprio Fuß (Fa. Ös­ sur), (c) 1C66 Triton smart ankle (Fa. Ottobock)

und Plantarflexion (18 Grad) und eine Absatzhöhenverstellung zwischen 0 bis 50 mm zulässt [Ös­ sur 2014a]. Der Antrieb ist nicht in der Lage, den Patienten im Gang zu beschleunigen, sondern ausschließlich für die Winkelverstellung vorgesehen. Beispiel für einen mikroprozessorgesteuerten Fuß, dessen Antrieb Beschleunigungen in der Sagit­ talebene erlaubt BiOM T2 Fuß (Fa. iWalk): Carbon-Federfuß mit mikroprozessorgesteuertem Antrieb, der mehrere seriell angeordnete Federn vorspannt und für eine Plantarflexion nutzt, die den Patienten am Ende der Standphase in die Schwungphase hinein beschleunigt und den Körperschwerpunkt anhebt. Die Arbeitsweise soll der des Wadenmuskels mit dem Zehenabstoß über den Zug an der Achillessehne nachbilden [iWalk 2014]. Der Mikroprozessor steuert zusätzlich die Überrollwiderstände während der Standphase.

Prothetische Kniegelenke Das prothetische 󳶳 Kniegelenk ersetzt die wichtigsten Funktionen des natürlichen Kniegelenks einschließlich des angrenzenden Band- und Muskelapparates. Es gewährleistet immer eine Siche­ rung des Gelenks im Stehen und in der Standphase des Gangzyklus. Zusatzfunktionen ermögli­ chen u. a. eine harmonische Beugung/Streckung in der Sagittalebene während der Schwungpha­ se des Gangzyklus (ggf. mit einer Gelenksverkürzung), eine Stoßdämpfung beim Fersenauftritt, die beugewinkelabhängige Verlagerung des Gelenkdrehpunktes, eine kontinuierliche Vorwärts­ bewegung des Körperschwerpunktes während der Standphase (Kniebeugung unter Last) und das alternierende Gehen über Treppen.

Die Standphasensicherheit einer Beinprothese wird neben den Funktionen des Kniegelenks auch durch den Prothesenfuß, das ggf. vorhandene Hüftgelenk, den statischen Prothesenaufbau (Ausrichtung der Komponenten untereinander) und

3 Gliedmaßenprothetik | 151

die Stumpfleistungsfähigkeit des Amputierten beeinflusst (aktive Sicherung eines Kniegelenks). Die technischen Elemente der Schwungphasensteuerung eines Kniegelenks sind um so wichtiger, je höher der Mobilitätsgrad des Amputierten ist. Sehr mobile Patienten besitzen in der Regel eine höhere Stumpfleistungsfähigkeit, variieren ihre Gehgeschwindigkeit stärker und gehen auch mit höheren Geschwindigkeiten über weitere Strecken. Das prothetische Kniegelenk eines Amputierten sollte sich in der Schwungphase eines Gangzyklus zunächst möglichst natürlich beugen und anschließend so strecken, dass es genau zum Zeitpunkt des beabsichtigten Fersenauftrittes die beabsichtige Position erreicht (vordere Endlage oder einen geringen Beugewinkel: PreFlex). Möglichkeiten, ein Prothesenknie an diese Anforderungen anzupassen, bestehen u. a. in der Verwendung von mechanischen, pneumatischen oder hydraulischen Dämpfungs- oder Bremselementen. Für das Gehen mit einem prothetischen Kniegelenk sind die folgenden Kriterien besonders wichtig: Unterscheidung nach:

Kniegelenke für die untere Extremität

Bauweise der Beinprothese:

für endoskelettale Bauweise der Prothese

für exoskelettale Bauweise der Prothese

Anzahl der Gelenke:

monozentrisch

polyzentrisch

Vorhandensein einer elektronischen Steuerung:

mit Mikroprozessor

ohne Mikroprozessor

Funktionalität:

Standphasensicherung

Schwungphasensteuerung

Sperre

Federvorbringer

rückverlagertes Einachsgelenk

Reibungsbremse

polyzentrisches System

Hydraulik

Reibungsbremse

magnetorheologisches System

Hydraulik Pneumatik magnetorheologisches System Motor/Generator

Generator

nicht vorgesehen (Anschlag), aber ab definierter Position des Lastvektors ungebremst möglich geringe Beugung durch elastische Feder (Bouncy) gedämpfte Beugung in der Standphase (Yielding) gedämpfte Beugung nur beim Setzen

Abb. 3.22: Unterscheidungsmerkmale prothetischer Kniegelenke.

Sonderfunktionen Beugung unter Last Sportfunktionalität aktiver Antrieb Unterstützung Treppaufgehen Wasserdicht

weitere …

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– – – – –

Sicherheit bei Lastübernahme, Möglichkeit einer Kniebeugung unter Belastung, Sicherheit der Umschaltung zwischen Standphasen- und Schwungphasenmodus, Effektivität der Schwungphasensteuerung, funktionelle Prothesenlänge in der mittleren Schwungphase [Blumentritt 2004].

Die Klassifikation von Prothesenkniegelenken erfolgt heute überwiegend anhand der Elemente bzw. konstruktiven Merkmale, die zur Gewährleistung der Standphasensicherung und Schwungphasensteuerung und ggf. besonderer Funktionen (z. B. Knien mit maximalem Beugewinkel, Bewegen ohne Gelenkwiderstand beim Radfahren, Treppengehen) in die Systeme integriert sind (󳶳Abb. 3.22). Nicht alle Kombinationen der in 󳶳Abbildung 3.22 genannten Funktionsmerkmale sind möglich und sinnvoll. Wenn sowohl die Standphasensicherung, als auch die Schwungphasensteuerung mit dem gleichen Funktionsprinzip realisierbar sind, vereinfacht dies den Aufbau des Kniegelenks. Beispiele dafür sind Reibungsbremsen, Hydrauliken und das magnetorheologische System. Nachfolgend sollen wichtige Kombinationen mit jeweils typischen Ausführungsbeispielen erläutert werden.

Standphasensicherung über eine Sperre Die sicherste Möglichkeit, eine ungewollte Bewegung des Kniegelenks zu verhindern, ist der Einsatz einer mechanischen Sperre (Sperrkniegelenk). Diese hat natürlich den großen Nachteil, dass auch die Schwungphase mit einem steifen Bein ausgeführt werden muss. Das prothetische Bein ist nur noch ein Pendel mit der für ein gerades Stehen notwendigen Länge des gesunden Beines. Um eine Bodenberührung beim Durchschwingen in der mittleren Standphase zu verhindern, muss das Hüftgelenk durch eine unphysiologische Kippung des Beckens in der Frontalebene angehoben werden. Ein Maximum an Sicherheit wird bei Sperrkniegelenken durch ein Minimum an Tragekomfort beim Gehen erkauft. Dies bewirkt eine Nutzung von Sperrgelenken nur über sehr kurze Distanzen ohne Bodenunebenheiten (Innenbereichsgeher mit Mobilitätsgrad 1). Damit nicht zusätzlich auch das Sitzen behindert wird, kann die Sperre über einen Druckknopf oder über einen in Handnähe am Schaft angebrachten Seilzug entriegelt werden. Eine Entriegelung im Stehen (vor einer Sitzgelegenheit) ist jedoch nicht ungefährlich, weil das Gelenk unter Last sofort in die ungesicherte Flexion gehen kann und nur ein einhändiges Abstützen an Armlehnen o. ä. möglich ist (die zweite Hand wird zum Entriegeln gebraucht). Komplexere Typen von Sperrknien verfügen deshalb einen Dämpfer für die Kniebeugung unter Last (z. B. das 3R31 der Fa. Ottobock). Auch einfache Sperrkniegelenke sind heute „halbautomatisch“, weil sie zum Hinsetzen manuell entriegelt werden, beim Aufstehen und Erreichen der gestreckten Lage aber automatisch wieder einrasten (SALK für Semi-Automatic Lock Knee). Hauptsächlich werden Sperrkniegelenke monozentrisch mit einer Gelenkachse aufgebaut.

3 Gliedmaßenprothetik |

153

Es gibt jedoch auch eine neuere Tendenz in komplexere Kniegelenke (z. B. Gelenke mit einer Standphasensicherung über eine Hydraulik oder Reibungsbremsen, 󳶳Abb. 3.24) eine redundante Sperre einzusetzen. Ein Vorteil liegt darin, dass der Patient zu Beginn der Rehabilitation die hohe Sicherheit der Sperre nutzen kann und später, ohne Austausch des Gelenks, die alternative Standphasensicherung beim Gehen mit höherer Dynamik verfügbar hat.

Standphasensicherung über ein rückverlagertes Kniegelenk Die einfachste Möglichkeit, eine dynamische Standphasensicherung mit einem einachsigen monozentrischen Kniegelenk zu erreichen, besteht darin, die Gelenkachse dorsal anzuordnen und ventral mit einem Anschlag zu versehen, welcher eine Überstreckung verhindert (rückverlagertes Kniegelenk). Wie in 󳶳Abbildung 3.23 dargestellt, ist dieses Gelenk vor einer Beugung sicher, solange der (in der Abbildung blau dargestellte) Lastvektor vor der Knieachse verläuft. Die Kniesicherung wird stabiler je weiter sich die Kraftwirkungslinie vor der Knieachse befindet. Die Bodenreaktionskraft erzeugt dann im Kniegelenk extendierende (streckende) Drehmomente. Das Prothesenkniegelenk bleibt unter diesen Bedingungen im Extensionsanschlag und stabil. Dies ist im Stand und innerhalb der Standphase auf ebenem Grund bis zum Übergang in die Schwungphase der Fall. Allerdings können Bodenunebenheiten, schräge Ebenen oder Stolpersituationen schnell dazu führen, dass die notwendige Lage des Lastvektors nicht eingehalten und so ein Beugemoment erzeugt wird, wodurch das Gelenk

Lastvektor

einachsiges Gelenk Anschlag

Abb. 3.23: Position und Amplitude des Lastvektors in der Sagittalebene beim Gehen mit einem rückverlagerten Kniegelenk.

154 | Marc Kraft et al.

unbeabsichtigt einknickt. Der Oberschenkelamputierte kann mit einem zusätzlichen Streckmoment aus der Hüfte über den Stumpf das Gelenk sichern, indem er nach dem Fersenauftritt den Stumpf in die dorsale Richtung drückt; alternativ kann er das Gelenk durch ein gegensinniges Moment in die Beugung bringen. So bietet dieses sehr einfache Gelenk geübten und physisch leistungsfähigen Amputierten ein Maximum an Kontrolle, wenn auch mit minimaler Standphasensicherheit. Alle in der Standphase gesicherten, jedoch bei Beugung in der Standphase ungebremsten Kniegelenke (auch polyzentrische Kniegelenke) haben ein unphysiologisches Bewegungsmuster beim Treppen- und Rampenabwärtsgehen zur Folge. Dazu können zwei verschiedene Strategien genutzt werden. In der ersten Technik wird immer nur das Prothesenbein vorgesetzt (z. B. auf die nächste Stufe) und das erhaltene Bein wird auf die gleiche Höhe (z. B. auf die gleiche Stufe) nachgesetzt. Das Prothesenknie bleibt dabei immer mehr oder weniger gestreckt, also in der Standphasensicherung. Will der Patient rascher und damit Schritt über Schritt abwärts gehen, muss er eine andere, als „Klappmessergang“ bezeichnete Technik anwenden. Der Patient sichert das Prothesen-Kniegelenk bei Lastübernahme einige Zeit, bis das erhaltene Bein bereits am Prothesenbein vorbeigeschwungen und zur Lastübernahme bereit ist. Sobald dies der Fall ist, kann er das Kniegelenk durch ein Hüftmoment in die Beugung zwingen. Da immer noch das volle Körpergewicht die Prothese belastet, klappt das Kniegelenk dann sehr rasch zusammen. Die Belastung bei der Landung auf dem gesunden Bein ist relativ hoch. Das Prinzip der Standphasensicherung über ein rückverlagertes Kniegelenk wird heute in ausschließlicher Form (auch ohne Schwungphasensteuerung) nicht mehr eingesetzt, findet aber in der Kombination mit weiteren Funktionskomponenten (z. B. Reibungsbremse) durchaus noch Anwendung.

Reibungsbremsen zur Standphasensicherung und Schwungphasensteuerung Bremsgelenke unter Nutzung COULOMBscher Reibung (Festkörperreibung) sind typischerweise belastungsgesteuert. Bei Belastung der Prothese tritt die Bremswirkung ein und sichert so die Standphase (󳶳Abb. 3.24 (a)). Das Lösen der Bremse erfolgt gegen Ende der Standphase, wobei bei optimierten, neueren Konstruktionen die Bremse schon löst, wenn noch eine erhebliche Belastung auf der Prothese liegt, aber die Bodenreaktionskraft über den Vorfuß (Zehenballen) eingeleitet wird und der Übergang in die Schwungphase bevorsteht. Ist dies nicht der Fall, wird eine unphysiologische Hüftanhebung auf der Prothesenseite zur Entlastung des Gelenks oder ein erhöhter Kraftaufwand zur Einbeugung des Kniegelenks notwendig [Näder 2011]. Neuere Systeme (z. B. die Kniegelenke 3R90 bzw. 3R92 der Fa. Ottobock, 󳶳Abb. 3.24 (c)) sind durch eine bestimmte Orientierung einer Steuerachse in der Lage, zwischen Fersenund Vorfußlast zu differenzieren. Bei diesen Systemen ist das Einbeugen auf dem Vorfuß unter Last in der Vorschwungphase möglich, was das Einleiten der Schwungphase erleichtert und trotzdem die Sicherheit beim Auftreten auf der Ferse garantiert.

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155

F

(a)

F'

(b)

(c)

Abb. 3.24: Bremskniegelenke. (a) Prinzipdarstellung eines einfachen Bremskniegelenks mit Um­ schlingungsbremse, (b) Brems-/Sperrkniegelenk medi OFM2 (Fa. medi), (c) Bremskniegelenk 3R90 mit mechanischem Vorbringer (links) und 3R92 mit Doppelkammer-Pneumatik zur Schwungphasen­ steuerung (Fa. Ottobock).

Die Reibungsbremse kann ebenfalls, wenn auch mit einem deutlich geringeren Bremsmoment, zur Steuerung der Schwungphase eingesetzt werden, ist aber geschwindigkeits-, richtungs- und beugewinkelunabhängig. Dies entspricht nicht den bei Patienten mit höheren Mobilitätsgraden notwendigen Anforderungen (siehe hydraulische/pneumatische Kniegelenke). Für aktivere Personen kann ein Bremsknie auch mit einer zusätzlichen Schwungphasensteuerung ausgestattet sein. Ein Nachteil mechanischer Schwungphasensteuerungen im Vergleich zu später erläuterten Mikroprozessorsteuerungen ergibt sich daraus, dass die Dämpfung nur für die vom Patienten gewünschte mittlere Gehgeschwindigkeit optimiert wird (allerdings bieten einige Hydrauliken einen breiten optimalen Geschwindigkeitsbereich). Damit schwingt das Knie bei schnellerem Gehen bzw. Laufen zu langsam durch und die Schritte der prothetischen Seite sind in diesem Fall zu kurz.

Standphasensicherung und Schwungphasensteuerung über eine Hydraulik Die Standphasensicherung über ein hydraulisches System erfordert eine robuste, für die entsprechend hohen Lasten ausgelegte Konstruktion. Bei einigen Kniegelenken wird das gleiche hydraulische System zur Standphasensicherung und Schwungphasensteuerung genutzt, bei anderen Gelenken sind zwei Teilsysteme in einer Einheit integriert. Soll eine Hydraulik ausschließlich zur Schwungphasensteuerung genutzt werden (Standphasensicherung dann z. B. über polyzentrische Gelenkkonstruktion oder ein rückverlagertes Gelenk), kann sie deutlich kleiner dimensioniert werden, was auch als Miniaturhydraulik bezeichnet wird. Ein im Prothesenknie verwendetes hydraulisches Dämpfungssystem kann, wie in 󳶳Abbildung 3.25 dargestellt, als Linearhydraulik aufgebaut sein, bei der ein Kol-

156 | Marc Kraft et al. zusätzliches Gelenk

vergrößerte Darstellung einer richtungsabhängigen Dämpfung Rückschlagventile

Kniegelenk

Zylinder Fuß

zusätzliches Gelenk

Kolben

Drossel für Beugedämpfung

Drossel für Streckdämpfung

Abb. 3.25: Prinzipieller Aufbau einer fluidischen Standphasensicherung und Schwungphasensteue­ rung. Zur vereinfachten Darstellung wurde auf die Abbildung eines Ausgleichsbehälters oder einer durchgehenden Kolbenstange verzichtet, die bei einer Hydraulik notwendig sind, um gleiche Fluid­ volumina ober- und unterhalb der Kolbenstange zu verdrängen).

ben in einem Zylinder verschiebbar angeordnet ist. Der Zylinderraum vor dem Kolben kann direkt mit dem Zylinderraum hinter dem Kolben bei beidseitig gleicher Kolbenfläche verbunden sein (diese Bedingung ist aufgrund der vereinfachten Darstellung in 󳶳Abbildung 3.25 nicht erfüllt). In der Verbindungsleitung sitzt eine einstellbare Drossel (bzw. ein Ventil). Wird die Drossel geschlossen bzw. nur noch minimal geöffnet, ist der hydraulische Dämpfer blockiert bzw. sehr hoch gedämpft, ein Zustand, der ein Beugen des Knies (oder Einknicken) verhindert und für die Standphasensicherung gebraucht wird. Durch teilweise oder vollständige Öffnung der Drossel kann die Beweglichkeit des Kniegelenks in der Schwung- bzw. Standphase eingestellt werden. Um eine voneinander unabhängige Dämpfungseinstellung für die Kniebeugung bzw. –streckung zu ermöglichen, werden oft zwei separate, durch Rückschlagventile der Kolbenbewegungsrichtung zugeordnete Drosseln in den Verbindungsleitungen genutzt. Hydraulische Systeme machen auch eine Beugung unter Belastung möglich. Dies ermöglicht eine schnellere Plantarflexion des Fußes (dadurch höhere Stabilität durch größere Bodenkontaktfläche) sowie ein leichteres Vorwärtsbewegen des Körperschwerpunktes. Weiterhin fällt die mit einem gestreckten Bein notwendige, energieverbrauchende Anhebung des Körperschwerpunktes in der mittleren Standphase geringer aus (umgekehrtes Pendel um den Fuß mit höchstem Punkt in senkrechter Beinposition). Eine Kniebeugung unter Last kann auch das Hinsetzen mit Prothesen

3 Gliedmaßenprothetik | 157

unterstützen. Die Kraft muss dann nicht vollständig über die kontralaterale Extremität und die Arme aufgebracht werden. Auch das prothesenseitig, gestützte Schrägen- und Stufenabgehen mit einem „Einsinken“ in dem Gelenk (zur Vermeidung der beiden oben erläuterten Techniken zum Treppabgehen mit ungebremsten Gelenken) setzt kontrolliert nachgebende Systeme voraus (engl. Yielding, dt. Nachgiebigkeit). Sie erlauben dem Amputierten die kontinuierliche Abwärtsbewegung. Diese Beugung unter Last ist selbstverständlich nur gegen einen hohen, patientenindividuell (abhängig von Körpergewicht und Dynamik) zu wählenden Widerstand möglich. Wird der Yielding-Widerstand zu gering gewählt, sind die Energieverluste in der Standphase zu groß bzw. ist sogar die Standsicherheit gefährdet. Im Zusammenhang mit der Dämpfung der Rotation des Kniegelenks in der Schwungphase bieten hydraulische Systeme einige Vorteile, die auch für die später beschriebenen pneumatischen Systeme gelten. Neben der Möglichkeit, die Flexion (im ersten Teil der Schwungphase) und die Extension (im zweiten Teil der Schwungphase) mit verschiedenen Dämpfungen über separate Ventile zu steuern, können mehrere übereinander liegende Abflusskanäle am Zylinderende zu einer progressiven Dämpfung führen. Werden diese bei Bewegung des Kolbens in die Endlage nacheinander verschlossen, steigt der Strömungswiderstand mit der abnehmenden Zahl der Abflusskanäle. Es ergibt sich eine sog. Endlagendämpfung, die noch durch weitere, unten an Beispielen erläuterte Maßnahmen unterstützt werden kann. Beim hydraulischen bzw. pneumatischen Systemen erhält man Strömungs- bzw. Kolbenbewegungswiderstände, die linear oder quadratisch von der Geschwindigkeit abhängen, je nachdem, ob die Strömung an der Drosselstelle laminar oder turbulent ist. Eine laminare Strömung ist in Rohren bei einer Reynoldszahl bis ca. 2 300 gegeben (Viskosität und Dichte, mit passender Strömungsgeschwindigkeit, passendem Rohrdurchmesser, abhängig von Temperatur und Druck). Setzt man vereinfachend voraus, dass während der Schwungphase im Unterschenkel nur Massenkräfte (m) wirksam sind und dass das prothetische Bein eine pendelähnliche Bewegung ausführt, gilt für die (zu dämpfende) kinetische Energie Ekin eine Abhängigkeit vom Quadrat der Geschwindigkeit (v): Ekin =

1 2 mv 2

(3.1)

Für den Strömungswiderstand (Fw ) einer turbulenten Strömung mit der Dichte (ρ) an einer Drossel mit der Querschnittsfläche (A) und dem Widerstandsbeiwert (cw ) gilt ebenfalls eine Abhängigkeit vom Quadrat der Geschwindigkeit (v): 1 Fw = cw A ρv2 2

(3.2)

So wächst der sich aus dem Strömungswiderstand an der Drossel ergebende Widerstand gegen die Kolbenbewegung und damit gegen die Flexion oder Extension des Kniegelenks in gleicher Weise mit der Geschwindigkeit, wie die Bewegungsenergie

158 | Marc Kraft et al.

des Unterschenkels steigt. Dies ist bei Schwungphasendämpfungen mit laminar strömenden Fluiden nicht der Fall. In der Vergangenheit sind zum Teil recht aufwendige mechanische Kniegelenksysteme entwickelt worden, die in definierten Situationen oder belastungs- oder situationsabhängig (z. B. beim Fersenauftritt) vorgesehene Standphasensicherungselemente der Hydraulik aktivieren und beispielsweise das Ventil eines hydraulischen Dämpfers schließen. Ein Nachteil dieser mechanischen Systeme ist jedoch, dass der Amputierte durch „bewusstes Gehen“ die Umschaltung zwischen Stand- und Schwungphase auslösen muss. Die jeweils benötigten Gelenkwiderstände sind in völlig verschiedenen Größenordnungen. Behält das Kniegelenk den Widerstand der Standphase bei, wenn sich das Bein in der Schwungphase befindet, so wird es sich wie ein steifes Gelenk verhalten. Bleibt im Kniegelenk während der Standphase der Schwungphasenwiderstand eingeschaltet, so wird der Amputierte wegen des viel zu geringen Widerstandes stürzen. Die zuverlässige Schaltung zwischen Standphasenmodus und Schwungphasenmodus ist also sicherheitsrelevant. Bei hydraulischen Gelenken werden drei verschiedene Umschaltmodi unterschieden: – lastabhängig: eine Lasteinleitung in das Kniegelenk (z. B. bei Fersenauftritt) aktiviert den Standphasenwiderstand des Gelenks, – situationsabhängig: das System erkennt andere Parameter, die nicht direkt von der Lasteinleitung durch den Patienten abhängen, als Umschaltbedingung. Beispielsweise wird eine Zugkraft als Streckmoment interpretiert, welches u. a. am Ende der Standphase auftritt und zur Umschaltung in die Schwungphase führt, – gangphasenabhängig: sensorbasierte Bewertung mehrerer für eine Gangphase charakteristischer Parameter, die sowohl lastabhängig, als auch situationsabhängig sind (realisiert in den später erläuterten mikroprozessorgesteuerten Kniegelenken). Weiterhin wird zwischen Default-Swing-Kniegelenken und Default-Stance-Kniegelenken unterschieden. Default Swing Gelenke sind ohne Auftreten der last- oder situationsabhängigen Umschaltbedingung in der geringen Schwungphasendämpfung frei beweglich. Die höhere Standphasendämpfung wird erst bei Auftreten der last- oder situationsabhängigen Umschaltbedingung aktiviert und verhindert dann ein plötzliches Einknicken. Damit sind diese Gelenke überwiegend (solange keine Umschaltbedingung erfüllt ist) in der geringeren Dämpfung. Dieses kann für den Patienten kritisch sein, weil in unvorhergesehenen Fällen (z. B. bei Stolpersituationen) keine Abstützung auf dem Gelenk möglich ist. Default Stance Gelenke sind ohne Auftreten der last- oder situationsabhängigen Umschaltbedingung immer in der hohen, also sicheren Standphasendämpfung. Es gibt unter ihnen auch Gelenke, bei denen die Dämpfung nur während der Flexion der Schwungphase reduziert wird. Sobald innerhalb der Schwungphase die Extension erfolgt, wird in Beugerichtung eine hohe Dämpfung aktiviert, die dann einen Sturz verhindern oder abmildern kann.

3 Gliedmaßenprothetik | 159

Beispiel einer linear-hydraulischen Standphasensicherung und Schwungphasensteuerung in der HENSCHKE-MAUCH-SNS-Hydraulik (󳶳 Abb. 3.26) Die Hydraulikeinheit ist als Schubkolbentrieb ausgebildet. Die Steuerung verfügt über zwei getrenn­ te Zylinder-/Kolben-Systeme für die Standphasensicherung bzw. Schwungphasensteuerung. Die Kniesicherung in der Standphase wird durch ein Pendel innerhalb des Zylinders gesteuert und kann durch Überstreckung des Kniegelenks willkürlich gelöst werden. Das Standphasensystem besteht aus dem Standphasenkolben und dem Standphasenzylinder. Innerhalb des Kolbens befinden sich ein Steuerventil und darüber ein exzentrisch gelagertes Steuerpendel. Die Stellung des Pendels wird durch ein Gegengewicht beeinflusst, das frei drehbar in der Kolbenstange gelagert ist. Die Unwucht des Gegengewichtes überwiegt die Unwucht des Pendels. Das bedeutet, dass das Pendel vom Gegengewicht festgehalten wird, falls keine anderen Einflüsse vorliegen. In dieser Stellung des Steuerpendels kann das Öl das Ventil ungehindert schließen, sobald das Bein einzuknicken beginnt. In geschlossener Stellung des Ventils kann die Hydraulikflüssigkeit immer noch durch eine Anzahl kleiner Schlitze (Überströmkanäle) am Rande des Ventilsitzes zur Oberseite des Kolbens strömen. Der Strom wird hierbei allerdings gedrosselt und das Knie kann unter dem Gewicht des Amputierten nur langsam gebeugt werden. Diesen Effekt (Yielding) nutzt der Amputierte, um mit Gewichtsbelastung Schritt für Schritt eine Treppe hinunterzugehen, indem er auf das Bein auftritt, ohne es zu überstrecken. Wenn sich die Kolbenstange bei der Schwungphasen-Streckbewegung der Prothese nach oben bewegt, tritt am Ende dieser Bewegung eine kurze Überstreckung des Knie­ gelenks auf, sodass das Gegengewicht vom Pendel abgehoben wird und das Pendel beginnt, sich

Kolbenstange

Justierschraube (Standphasenwiderstand)

Justierschraube (Schwungphasenwiderstand)

Umschalter für Kniefeststellung

Kolben für Pendelphasensteuerung

obere Lippendichtung

Überstromkanal

Hydraulikflüssigkeit

Steuereinsatz

Überstromkanal

Speicherkolben

untere Lippendichtung

Pendelphasendämpfer

Gegengewicht

Steuerpendel

Kolben für Standphasensteuerung

Steuerventil

Zylinder

Biegefelder

(a)

(b)

Abb. 3.26: (a) Schnittbild der HENSCHKE-MAUCH SNS Hydraulik nach [Boenick 1992], (b) MAUCH Knee (Fa. Össur) mit der SNS-Hydraulik (SNS: swing and stance).

160 | Marc Kraft et al.

infolge seiner Unwucht gegen den Urzeigersinn zu drehen. Bleibt das Kniegelenk dagegen länger als 0,1 s überstreckt, was z. B. beim Überrollen über den Ballen der Fall ist, so rotiert das Pendel bis in seine Endlage und verhindert das Schließen des Ventils. Dies ermöglicht ein freies Beugen des Kniegelenks während der Schwungphase. Der Staudruck, der aufgrund des Flüssigkeitsstro­ mes auf das Ventil wirkt, hindert das Pendel daran, sich während der Beugung unter dem Einfluss des Gegengewichtes im Uhrzeigersinn zu drehen. Sobald die Beugebewegung zu Ende ist und die Streckung einsetzt, kehrt sich der Flüssigkeitsstrom um und das Gegengewicht dreht das Pendel im Uhrzeigersinn. Die Flüssigkeit kann das Ventil jetzt für den Fersenauftritt ungehindert schließen (Standphasensicherung). Beim Beugen des Kniegelenks bewegt sich die Kolbenstange abwärts. Auf der Unterseite des Schwungphasenkolbens baut sich ein Überdruck auf, der die untere Lippendichtung schließt. Das Öl wird nun durch höhenversetzt in den Zylinder einmündende Überströmkanäle in den oberen Kegel­ spalt verdrängt und tritt von dort aus über die obere Lippendichtung, die sich infolge des Überdruckes geöffnet hat, wieder in den oberen Zylinderraum ein. Die Anzahl der Kanäle, die zum Entweichen der Flüssigkeit aus dem unteren Zylinderraum zur Verfügung stehen, nimmt ab, je weiter sich der Kolben dem unteren Totpunkt nähert. Dem entspricht ein stufenförmiger Anstieg des Drosselwiderstandes. Der Beugewiderstand des Kniegelenks wächst also mit steigendem Beugewinkel. Bei der Streckung des Gelenks im zweiten Teil der Schwungphase läuft der gleiche Vorgang in umgekehrter Richtung ab. Die in unterschiedlichen Höhen in den Zylinder einmündenden Drosselkanäle bestimmen das Dämp­ fungsprofil, während die Größe der Dämpfung von der einstellbaren Breite der Kegelspalte abhängt [Boenick 1992]. Der Grundzustand dieses Gelenks ist die Standphasendämpfung (Default Stance); sie wird nur für die Schwungphasenflexion ausgeschaltet. Obwohl diese Art der Steuerung als sicherer und damit günstiger zu bewerten wäre als ein Gelenk, welches im Grundzustand die Schwungphasendämpfung aufweist, wird jedoch relativ häufig von Fehlsteuerungen mit Sturzfolge berichtet, insbesondere in der Gewöhnungsphase nach einer Neuversorgung. Dies liegt einerseits daran, dass der Schwellwert für die erforderliche Stangenzugkraft nicht patientenspezifisch eingestellt werden kann. Andererseits kann es unmittelbar bei und nach Fersenkontakt ebenfalls zu einem Kniestreckmoment und damit Zugkraft an der Kolbenstange bei gestrecktem Knie kommen. Beispiel einer Rotations-hydraulischen Standphasensicherung und Schwungphasensteuerung im Gelenk 3R80 (Fa. OTTOBOCK) Dieses hydraulische Kniegelenk unterscheidet sich von anderen Hydraulik-Kniegelenken durch eine Rotationshydraulik zur Sicherung der Standphase und zur Steuerung der Schwungphase. Es weist als Grundzustand die Schwungphasendämpfung auf (Default Swing). Die Standphasendämpfung wird für die entsprechende Schrittphase eingeschaltet. Für die Standphasensicherheit lassen sich Dämp­ fung und Ansprechschwelle einstellen. Flexions- und Extensionswiderstand in der Schwungphase sind unabhängig voneinander einstellbar. Das in 󳶳 Abbildung 3.27 dargestellte Gelenkmittelteil (2) ist mit dem Gelenkoberteil (1) durch die Knieachse (4) und mit dem Gelenkunterteil (3) durch die Schwingachse (5) verbunden. Um die Knieachse, die gleichzeitig die Drehachse des Kolbens (6) der Rotationshydraulik ist, sind die Extensionskammer (7) und Flexionskammer (8) angeordnet. Bei Beuge- und Streckbewegungen dreht sich der Rotationskolben, verändert das Volumen der Kam­ mern, und das Hydrauliköl strömt durch Flexionskanal (9) bzw. Extensionskanal (10). Bei Belastung bewegt sich das Gelenkmittelteil geringgradig um die Schwingachse und komprimiert die elastische Stütze (11). Mit dieser Kompression wird simultan der Öffnungsquerschnitt der Standphasendrossel (12) gesteuert. Mit der Erhöhung des Moments um die Schwingachse steigt die Kompression und verringert den Drosselquerschnitt, sodass sich der Beugewiderstand erhöht und das Gelenk bei Belastung sicher ist [Näder 2011].

3 Gliedmaßenprothetik | 161

1

2

E –

4

6

+

7

5 4

11

8 10 9

12

3 5 11 (a)

(b)

(c)

Abb. 3.27: Aufbau und Ansicht des Kniegelenks 3R80 mit Rotationshydraulik. (a) Darstellung der Funktionselemente, Erklärung siehe Text. (b) Außenansicht, (c) CAD-Darstellung des inneren Auf­ baus (Fa. Ottobock).

Kniegelenke mit pneumatischer Schwungphasensteuerung Der Aufbau einer einfachen pneumatischen Schwungphasensteuerung ist dem Aufbau einer Hydraulik ähnlich, die in 󳶳Abbildung 3.25 dargestellt ist. Es gibt jedoch wesentliche Unterschiede aufgrund des genutzten Mediums (Luft bei offenen Systemen, Luft oder Stickstoff bei geschlossenen Systemen). Vorteile liegen darin, dass sich Leckagen oder Undichtheiten weniger bemerkbar machen (kein Ölaustritt), und dass die Kompressibilität des Gases spezifisch zur Speicherung potentieller Energie genutzt werden kann (Gasfeder). Dabei wird die Energie der Flexion des Kniegelenks im ersten Teil der Schwungphase zum Druckaufbau innerhalb des Zylinders genutzt. Die Expansion des Gases im zweiten Teil der Schwungphase führt zur Freisetzung der Energie für die Beschleunigung der Extension des Gelenks. Es wird, wie auch bei Federvorbringern oder älteren Gummizügen (parallel zum Gelenk liegende Druckoder Zugfedern), Energie während der Schwungphase zwischengespeichert. Die Kompressibilität des Gases hat aber auch einen Nachteil. Es ist bei geschlossener Drossel keine Blockade möglich (wie bei einer Hydraulik). Das Gelenk bleibt auch dann elastisch, da sich der Kolben unter Expansion bzw. Kompression der jeweiligen Gasräume unter- und oberhalb des Kolbens auch ohne Gasstrom zwischen den Räumen bewegen kann. So ist in keinem Fall eine pneumatische Standphasensicherung möglich. Weiterhin sind pneumatische Systeme aufgrund ihrer Elastizität einfacher zu Schwingungen anzuregen als hydraulische Systeme. Komplexere pneumatische Systeme (z. B. Servopneumatiken) sind in der Lage, die ohnehin vorhandene Geschwindigkeitsabhängigkeit des Bewegungswiderstandes

162 | Marc Kraft et al.

von Systemen mit strömenden Medien weiter zu verstärken. Dazu kann ein zusätzlicher Regelkolben genutzt werden, wie das nachfolgende Beispiel näher beschreibt.

Beispiel der Funktionsweise einer Servopneumatik (u. a. eingesetzt von der Fa. ENDOLITE) Bei einer offenen Pneumatik wird die als Medium dienende Luft durch den Arbeitskolben von au­ ßen angesaugt und auch wieder ausgestoßen. Dabei regeln zwei voreinstellbare Drosseln und ent­ sprechende Rückschlagventile die Durchflussrichtung der Luft. Die Dämpfung für die Extension des Kniegelenks wird, wie bei anderen Schwungphasensteuerungen auch, fest vorgewählt. Die Dämpfung der Beugebewegung dagegen passt sich besonders stark unterschiedlichen Gehgeschwindigkeiten an. Gesteuert wird dieser Vorgang über einen zusätzlich angeordneten Regelkolben (󳶳 Abb. 3.28), der mittels Druckfeder in seiner Endlage gehalten wird. Übersteigt während der Beugebewegung des Kniegelenks der im Zylinder entstehende und gleichzeitig auf den Regelkolben wirkende Innendruck die den Regelkolben in seiner Endlage haltende Federkraft, so bewegt sich dieser aus seiner Endlage und schließt dabei teilweise oder vollständig die Luftaustrittsöffnung. Je schneller der Amputierte mit seiner Prothese läuft, desto eher wird der Druck im Zylinder ansteigen und desto schneller wird der Regelkolben die Luftaustrittsöffnung verschließen. Dabei wird umso mehr Luftvolumen im Zylinder verbleiben, je schneller der Vorgang abläuft (󳶳 Abb. 3.29). Die für die Extension verfügbare, gespei­ cherte Energie nimmt zu.

bei Extension geöffnete Dichtungen Kolbenbewegung nach unten bei Flexion

Kolbenbewegung nach oben bei Extension

bei Flexion geschlossene Dichtung Regelkolben wird bei hohem Druck verschoben (größere Druck- als gegenwirkende Kraft der Druckfedern)

Luftaustrittsöffnung offen

(a)

(b)

Luftaustrittsöffnung wird verschlossen

Abb. 3.28: Darstellung des Funktionsprinzips einer Servopneumatik. (a) Zustand kurz vor Erreichen des Extensionsanschlages und (b) Ausschnitt mit Darstellung der Verschiebung des Regelkolbens bei dynamischer Flexion mit Verschluss der Luftaustrittsöffnung.

3 Gliedmaßenprothetik | 163

400

250 150

300

Extension

50

200

Extension

–50 Kraft in N

Kraft in N

100 0 –100 –200 Flexion

–150 –250 –350 –450 –650

–400

–750

–500 –34

–850 –32

(a)

Flexion

–550

–300

–30

–26

–22

–18 –14 Weg in mm

–10

–6

–2

(b)

–28

–24

–20

–16 –12 Weg in mm

–8

–4

0

Abb. 3.29: Kraft-Weg-Diagramm einer Servopneumatik. (a) konstante Gehgeschwindigkeit von 1,7 km/h und (b) mit Beschleunigung der Gehgeschwindigkeit auf 5,5 km/h; in Grün dargestellt ist die zwischengespeicherte mechanische Energie (Integral der Fläche).

Einschränkend ist zu pneumatischen Systemen anzumerken, dass die Beschleunigung des Gelenks im zweiten Teil der Schwungphase von einigen Patienten auch als unangenehm empfunden wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Gelenk nicht mehr vor dem Streckanschlag abgebremst wird (Impulseinleitung). Mit der Integration eines pneumatischen Gasspeichers in Hydrauliksysteme (󳶳Abb. 3.34 und 3.35) lassen sich die Eigenschaften einer Gasfeder ebenfalls nutzen.

Standphasensicherung polyzentrischer Kniegelenke Neben der Standphasensicherheit besteht ein weiterer Vorteil polyzentrischer Systeme darin, dass sie komplexe Bewegungsmuster realisieren können. So ist beispielsweise bei sehr langen Stümpfen (nach Knieexartikulation) eine Verlegung des Drehpunktes auf eine Position oberhalb des Gelenks (auf Höhe des ursprünglichen Kniegelenks) und auch eine Verkürzung des Unterschenkels in der Schwungphase oder in Sitzposition möglich. Zusätzlich lassen einige polyzentrische Gelenke extrem große Beugewinkel (bis 175 Grad) zu, die z. B. Kindern Vorteile bieten, wenn sie am Boden kniend spielen wollen. Die Bedeutung der konstruktiv aufwendigen polyzentrischen Prothesenkniegelenke ist seit der Verfügbarkeit mikroprozessorgesteuerter Systeme rückgängig, da diese ebenfalls eine hohe Standphasensicherheit bieten können. Polyzentrische Kniegelenke sind Koppelgetriebe und bestehen aus feststehenden Gliedern und einer Anzahl von Verbindungen (Koppeln oder Anlenker) zwischen diesen Gliedern. Die Bewegung der Glieder (Unterschenkel- und Oberschenkelteil des Kniegelenks) können, abhängig von der Anzahl und Anordnung der Koppeln, sehr komplex sein. Der momentane Drehpunkt (Momentanpol) eines drehbeweglichen Systems ist der Schnittpunkt der Senkrechten auf den Bewegungstangenten zweier beliebiger Punkte im Drehsystem. Seine Lage wird bestimmt durch die Position der Glieder der Koppeln (Anlenker)

164 | Marc Kraft et al. Momentanpol

Momentanpol Rastpolbahn

Rastpolbahn

Rastpolbahn

Rastpolbahn

Momentanpol momentanes Drehzentrum des polyzentrischen Gelenks

(a)

F (Bodenreaktionskraft)

Momentanpol

(b)

(c)

Abb. 3.30: Momentanpol einer Vierachs-Polyzentrik. (a) in schematischer Darstellung und Rastpol­ bahnen für (b, c) zwei Kniegelenke in je zwei Beugewinkeln.

und folgt in Abhängigkeit vom Beugewinkel einer Bahn im Raum, der Rastpolbahn (󳶳Abb. 3.30). Je weiter hinter der Belastungslinie und je höher der Momentanpol liegt, desto standsicherer ist die Prothese ohne Zutun des Amputierten. Umso weiter hinten er liegt, desto schlechter kann allerdings die Beugung eingeleitet werden. Je weiter nach vorne, also zur Lastlinie hin oder sogar davor, der Momentanpol liegt, desto unsicherer ist die Prothese, umso besser kann sie aber auch unter Last die Kniebeugung gebracht werden. Auch eine hohe dorsale Lage des Momentanpols erleichtert die Beugung. Innerhalb polyzentrischer Kniegelenke (aber auch als Teil monozentrischer Systeme) lassen sich Konstruktionen mit limitierter, meist federnder, elastisch rückstellender Kniebeugung bei Belastung (engl. Bouncing, dt. prellen, abprallen) unterbringen. Diese reduzieren den Stoß, der bei der Lastübernahme in der Einleitung der Standphase auftritt (Kniebeugewinkel größer als fünfzehn Grad sind jedoch nur mit Standphasenextensionsdämpfung möglich: Yielding hydraulischer Systeme).

Beispiel eines polyzentrischen Kniegelenks mit hydraulischer Schwungphasensteuerung 3R60 (Fa. Ottobock) Das 3R60 ist ein Beispiel eines polyzentrischen Gelenks, das eine lastabhängige Standphasensiche­ rung besitzt (󳶳 Abb. 3.31 (c)). Obwohl es grundsätzlich ein fünfachsiges Gelenk ist, kann es zunächst wie eine Vierachs-Polyzentrik betrachtet werden. Es besitzt eine elastische Unterstützung des hin­ teren distalen Drehzentrums durch eine zusätzliche fünfte Achse und ein elastisches Element. Bei Belastung verschiebt sich der viergliedrige Mechanismus derart, dass sich der Momentanpol sehr schnell weiter hinter die Belastungslinie bewegt. Dadurch erhöht sich die Standphasensicherheit (󳶳 Abb. 3.31 (a)). Gleichzeitig zeigt das Kniegelenk eine elastische Flexion unter Last, die mit einer hydraulischen Extensionsdämpfung gekoppelt ist. Auf diesem Weg wird bei Fersenbelastung eine

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Momentanpol des belasteten Gelenks

Momentanpol des unbelasteten Gelenks

(a)

(b)

Abb. 3.31: Polyzentrisches Kniege­ lenk mit hydraulischer Schwung­ phasensteuerung 3R60 (Fa. Otto­ bock). (a) Verlagerung des Momen­ tanpols in Strecklage bei Belastung (blau), (b) Ansicht des Gelenks.

natürliche Flexion (Bouncy) um geringe Beugewinkel (< 15 Grad) zugelassen, die im menschlichen Gang mit der Flexionsbewegung bei Fersenkontakt eines gesunden Beines vergleichbar ist. Gelenkober- und Gelenkunterteil sind über zwei Achsgabeln verbunden, die eine kinematische Kette bilden. Bei Belastung schwenken die proximalen Gelenkanteile um die fünfte Achse nach dorsal und die EBS-Einheit (EBS: Elastische Beugesicherung: eine Feder-Hydraulik-Kombination) wird kom­ primiert. Durch diese Standphasenflexion verlagert sich der Momentanpol nach dorsal und proximal und bewirkt eine zusätzliche Sicherheit. Zur Steuerung der Schwungphase ist eine Miniaturhydraulik in das Gelenk integriert. Flexions- und Extensions-Widerstand sind unabhängig voneinander einstell­ bar (󳶳 Abb. 3.31 (b)).

Mikroprozessorgesteuerte Kniegelenke Die bisher beschriebenen zum Teil recht aufwendigen mechanischen Kniegelenksysteme aktivieren durch „bewusstes Gehen“ des Amputierten last- oder situationsab-

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hängig Standphasensicherungselemente. Der Versorgte muss selbst in kritischen Situationen, wie beim Stolpern, die Prothese „richtig“ belasten (z. B. mit einer definierten Vertikalkraft), um ein Einknicken durch die Standphasensicherung zu verhindern. Um Beinamputierte von den sicherheitsrelevanten Überwachungsfunktionen mechanischer Kniegelenke zu entlasten und ein natürlicheres Gangbild zu ermöglichen, wurden bereits in den 1990er Jahren mikroprozessorgesteuerte Kniegelenksysteme in die Versorgung eingeführt. Diese sind unter Nutzung einer Sensorik in der Lage, die notwendigen Dämpfungen in der Stand- oder Schwungphase gangphasenabhängig elektronisch zu steuern. Die Dämpfung der Systeme, überwiegend Hydrauliken, teilweise mit Gasspeichern kombiniert, kann durch eine servomotorische Drosseleinstellung für jede Phase des Gehens angepasst werden. Die Standphasendämpfung sichert durch den Verschluss eines Ventils der Hydraulik das Knie beim Fersenauftritt. Nur wenn mehrere Kriterien bezüglich des zeitlichen Verlaufes von Vorfußlast und Kniewinkel erfüllt sind, wird sie am Ende der Standphase zur Einleitung der Schwungphase deaktiviert. So kann mit hoher Sicherheit ohne weitere Anforderungen an den Nutzer ein ungewolltes Einknicken des Gelenks ausgeschlossen werden. Zusätzlich wertet die Sensorik auch die Parameter der Schwungphase aus, die so auch bei verschiedenen Geschwindigkeiten zum richtigen Zeitpunkt mit der Strecklage beim Fersenauftritt beendet werden kann. Die in einen Regelkreis eingebundene Sensorik bestand bisher aus Momentaufnehmern und Kniewinkelsensoren. Inzwischen verfügbare Inertialsensoren zur Messung translatorischer und rotatorischer Beschleunigungen ermöglichen heute in der Beinprothetik eine erweiterte Funktionalität mikroprozessorgesteuerter Kniegelenke. Die Stolpersicherheit kann nun auch in Situationen gewährleistet werden, in denen bisher noch Fehlinterpretationen des Bewegungsablaufes möglich waren. Der Patient kann sich mit unterschiedlichen Gehgeschwindigkeiten in beliebigem Gelände unbeschwert bewegen, sogar ein alternierendes Treppensteigen wird möglich. Jedoch kann das Vorhandensein einer Mikroprozessorsteuerung allein kein Qualitätskriterium für ein hochwertiges Kniegelenk sein. Erst die Kombination aus komplexer Sensorik, intelligenten Algorithmen und leistungsfähigen Aktuatoren bestimmt die Funktionalität eines Gelenks und hat direkten Einfluss auf den Patientennutzen und die Sicherheit. Um diese Unterschiede zu verdeutlichen, sollen nachfolgend drei hydraulische Kniegelenke mit Mikroprozessorsteuerung exemplarisch vorgestellt werden.

Mikroprozessorgesteuertes Kniegelenksystem C-Leg (Fa. Ottobock) Beim C-Leg wird der Gelenkwiderstand durch zwei mikroprozessorgesteuerte servohydraulische Ven­ tile erzeugt. So kann der Widerstand stufenlos und unabhängig für die Flexions- und Extensionsrich­ tung eingestellt und situationsabhängig angepasst werden. In 󳶳 Abbildung 3.32 ist zu erkennen, dass die Abwärtsbewegung des Kolbens während der Flexion einen Ölfluss (󳶳 Abb. 3.32 rote Pfeile) von Kammer A über das servohydraulische Flexionsventil 1 und Rückschlagventil 4a verursacht. Die Kol­

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3 5

7

2

6

4a

B

M 8

Öl 4b

1 M

A

Abb. 3.32: Hydraulikflussplan des mikroprozessorgesteuerten Kniegelenksystems C-Leg (Fa. Otto­ bock).

benstange verdrängt außerdem Öl, das in den Ausgleichsbehälter gelangt und dort die Stahlfeder 3 komprimiert. Während der folgenden Extensionsbewegung (󳶳 Abb. 3.32 blaue Pfeile) wird die gespei­ cherte Energie wieder abgegeben. Die Aufwärtsbewegung des Kolbens führt weiterhin zu einem Öl­ fluss über das servohydraulische Extensionsventil 2 und Rückschlagventil 4b. Mit zunehmender Ex­ tension wird der Zufluss des Strömungspfads 5 durch den Kolben verlegt. Dadurch ergibt sich eine progressive Endanschlagsdämpfung, die durch die Stahlfeder 7 unterstützt wird. Das Überdruckven­ til 8 verhindert die Überlastung des Kniegelenks in Flexionsrichtung. Durch das Sicherheitsventil 6 ist auch bei leerem Akku eine langsame Extension des Gelenks möglich. Mikroprozessorgesteuertes Kniegelenksystem Plié2.0 (Fa. Freedom Innovations) Beim Plié2.0 wird der Gelenkwiderstand durch ein mikroprozessorgesteuertes Nadelventil (of­ fen/geschlossen) und zwei manuell einstellbare Ventile erzeugt. So kann für die Flexionsrichtung zwischen einem hohen Standphasen- und einem niedrigen Schwungphasenwiderstand umgeschaltet werden. Für die Extensionsrichtung kann ein Widerstand manuell voreingestellt werden. Während der Flexion (󳶳 Abb. 3.33 (a) rote Pfeile) bewegt sich der Kolben abwärts und das durch die einfah­ rende Kolbenstange verdrängte Öl gelangt in Kammer B und komprimiert die Luftdruckfeder C. Bei geschlossenem Nadelventil 5 strömt das Öl dabei nur durch das manuell einstellbare Ventil 1 mit hohem Widerstand. Ist das aktive Nadelventil 5 offen, verursacht dessen weit größerer Querschnitt einen geringen Gelenkwiderstand für die Schwungphasenflexion. Während der Flexion (󳶳 Abb. 3.33 (a) blaue Pfeile) wird außerdem das Rückschlagventil 4b durchströmt, dessen Widerstand druckabhän­ gig ist (󳶳 Abb. 3.33 (a) durch Ventil 6 illustriert) und somit ebenfalls keine mikroprozessorgesteuerte Widerstandsanpassung ermöglicht. Während der Extension wird die in der Luftdruckfeder C gespei­ cherte Energie wieder abgegeben. Dabei strömt das Öl durch das großvolumige Rückschlagventil 4c. Das aktive Ventil 5 hat dadurch keinen Einfluss auf den Extensionswiderstand. Dies wird auch aus 󳶳 Abbildung 3.33 (b) ersichtlich, in der die Querschnitte der Ventile 1, 4c und 5 in einem computer­ tomographischen Bild dargestellt sind. Während der Extension strömt weiterhin Öl von Kammer D durch das manuell einstellbare Ventil 2 und Rückschlagventil 4a in Richtung B. Hieraus ergibt sich der Extensionswiderstand, der ebenfalls nicht vom Mikroprozessor verändert wird. Wird eine Handluftpumpe an Ventil 3 geschlossen, kann der Druck in der Luftfeder und damit die Extensions­ unterstützung angepasst werden. Dies ändert ebenfalls den Flexionswiderstand, was sich besonders auf die Schwungphase auswirkt.

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3 D

Luft C 4b

2

5 B

A 6 4a

Öl

4c

5 M

1 1 4c

(a)

(b)

Abb. 3.33: (a) Hydraulikflussplan und (b) computertomographische Aufnahme von Ventilen des mikroprozessorgesteuerten Kniegelenksystems Plié2.0 (Fa. Freedom Innovations).

Mikroprozessorgesteuertes Kniegelenksystem Orion (Fa. Chas A Blatchford and Sons) Die Gelenkwiderstände des Orion werden durch ein mikroprozessorgesteuertes, servohydraulisches Ventil, ein mikroprozessorgesteuertes pneumatisches Ventil und ein manuell einstellbares Ventil er­ zeugt (󳶳 Abb. 3.34). Durch den Mikroprozessor kann damit der Flexionswiderstand stufenlos reguliert und die Extensionsunterstützung für den folgenden Schritt angepasst werden. Das hydraulische und pneumatische System sind über eine gemeinsame Kolbenstange verbun­ den. Während der Flexion (󳶳 Abb. 3.34 rote Pfeile) fließt Öl von Kammer A über das servohydraulische

5 4b

B

4a

A

M

2

1 Öl

D

3 M

4d

4c Luft

C

Abb. 3.34: Hydraulikflussplan des mikroprozessor­ gesteuerten Kniegelenksystems Orion (Fa. Chas A Blatchford and Sons).

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Ventil 1 und Rückschlagventil 4a zu Kammer B. Weiterhin strömt Luft aus Kammer C über Rückschlag­ ventil 4c und das aktive Nadelventil 3 zu Kammer D. Der Flexionswiderstand lässt sich also in beiden Kreisen vom Mikroprozessor verändern. Wird Ventil 3 zunehmend geschlossen, so wirkt der Pneuma­ tikkolben eher als Luftfeder, indem der Druck in Kammer C erhöht und in Kammer D verringert wird. Die so gespeicherte Energie kann während der folgenden Extensionsbewegung wieder abgegeben werden (󳶳 Abb. 3.34 blaue Pfeile). Dabei gleicht sich der Druck in Kammer C und D wieder an. Bei weiterer Extension wird der Druckanstieg in D über das Rückschlagventil 4d ausgeglichen. Der Ex­ tensionswiderstand wird deshalb hauptsächlich durch den Hydraulikkreis definiert. Hier strömt das Öl bei Extension durch Rückschlagventil 4b und das manuell einstellbare Ventil 2. Die progressive Dämpfung des Extensionsanschlages wird durch die Verlegung des Zuflusses 5 mit dem Kolben rea­ lisiert. Der Mikroprozessor kann damit den Extensionswiderstand nicht direkt beeinflussen, sondern passt nur die Extensionsunterstützung an.

Die nachfolgende 󳶳Tabelle 3.3 verdeutlicht die verschiedenen Aufgaben der jeweiligen Mikroprozessorsteuerungen. Nur das C-Leg besitzt eine vollständige Steuerung von Extension und Flexion in Stand- und Schwungphase über einen Mikroprozessor. Nachfolgend sollen noch drei Beispiele für mikroprozessorgesteuerte Kniegelenke vorgestellt werden, die sich erheblich von den bisher erläuterten unterscheiden. Besonderheiten liegen beim Kniegelenk Genium (Fa. Ottobock) im bisher höchsten Funktionsumfang eines Gelenks mit Linearhydraulik, bei Rheo Knee (Fa. Össur) in der Verwendung eines magnetorheologischen Systems und beim Power Knee (Fa. Össur) im Vorhandensein eines aktiven Antriebs.

Genium Kniegelenk Kniegelenk (Fa. Ottobock) Der Grundaufbau der Hydraulik des Gelenks ähnelt dem Aufbau des C-Leg (󳶳 Abb. 3.32), wurde jedoch weiter optimiert und u. a. kompakter gestaltet (󳶳 Abb. 3.35 (a)). Die Anzahl und Art der Sensoren ist jedoch zum präziseren Erkennen der Bewegungsphase und zusätzlich auch der Übergänge zwischen den Ruhe- und den Bewegungssituationen erhöht worden. Das Gelenk hat nun sieben Sensoren: ein Gyroskop, ein Goniometer, zwei Beschleunigungssensoren, zwei Momentensensoren im Knie und im distalen Rohradapter sowie einen Axiallastsensor. Die Arbeitsfrequenz des Regelkreises beim Genium wurde im Vergleich zum C-Leg verdoppelt und beträgt 100 Hertz. Funktionale Änderungen gegenüber dem C-Leg sind: – das Kniegelenk unterstützt das Treppenhinaufsteigen (ohne Aktuator) mit einem spezifischen Bewegungsablauf, – bereits zu Beginn der Standphase, beim Bodenkontakt, ist das Gelenk vorflektiert, – der maximale Standphasenbeugewinkel wird begrenzt, – die Einleitung der Schwungphase erfolgt unabhängig von der Belastung des Gelenks, – das Gelenk enthält Funktionen für das Sitzen und Stehen, – alle Übergänge zwischen Sitzen, Stehen und Gehen werden unabhängig von der Reihenfolge weitgehend intuitiv realisiert, – das Gelenk besitzt auch in extremen Situationen (z. B. Rückwärtslaufen auf einer Rampe) hohe Sicherheit. Rheo Knee (Fa. Össur, 󳶳 Abb. 3.35 (b) und (d)) Das Kniegelenk mit mikroprozessorgesteuerter Schwung- und Standphase wurde in einer Kooperati­

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Tab. 3.3: Übersicht über die Nutzung von Mikroprozessoren bei drei verschiedenen Kniegelenken. Mikroprozessorgesteuerte Elemente

Flexionswiderstand Standphase

Extensionswiderstand Standphase

Flexionswiderstand Schwungphase

Extensionswiderstand Schwung­ phase

zwei servo­ hydraulische Ventile

Mikroprozessorgesteuertes servohydraulisches Ventil

Mikroprozessorgesteuertes servohydrau­ lisches Ventil

Mikroprozessorgesteuertes servohydrau­ lisches Ventil

MikroproStahlfeder zessorgesteuertes servohydrau­ lisches Ventil

PLIE2.0 ein Nadelventil (offen/geschlossen)

manuell einstellbares Hydraulik­ ventil

Gleiche Einstellung wie Extensions­ widerstand Schwung­ phase

manuell einstellbares Hydraulik­ ventil und manuell einstellbare Luftfeder

manuell einstellbares Hydraulik­ ventil

Luftfeder

ORION

Mikroprozessorgesteuertes servohydrau­ lisches Ventil und Mikroprozessorgesteuertes Pneumatik­ ventil

manuell einstellbares Hydraulik­ ventil

Mikroprozessorgesteuertes servohydrau­ lisches Ventil und Mikroprozessorgesteuertes Pneumatikventil

manuell einstellbares Hydraulik­ ventil

Mikroprozessorgesteuerte Luftfeder

C-LEG

ein servohy­ draulisches Ventil, ein pneuma­ tisches Nadelventil

Extensionsunterstützung

on zwischen Össur und dem Media Laboratory am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwi­ ckelt. Das Kniegelenk nutzt eine „magnetorheological actuator technology“ bei der sich die Viskosität der Flüssigkeit im Dämpfer und damit die Dämpfungswirkung mit dem Anlegen eines magnetischen Feldes ändert. Mit der Erzeugung dieses Magnetfeldes ordnen sich in dem Fluid enthaltene Metallpar­ tikel in Ketten zwischen den Magnetpolen aus, den rotierenden Flächen wird durch die ausgerichteten Metallpartikel ein höherer Widerstand entgegengesetzt. Zur Dämpfung wird also die viskositätsab­ hängige Flüssigkeitsreibung zwischen Lamellen genutzt und nicht die Volumenverdrängung in einem Hydraulikzylinder (󳶳 Abb. 3.35 (b) und (c)) [Össur 2014c]. Power Knee (Fa. Össur, 󳶳 Abb. 3.35 (c)) Das POWER KNEE ist das erste Kniegelenk mit einem aktiven Antrieb. Beim Gehen wird der Prothe­ senträger unter Zufuhr mechanischer Energie vorwärts bewegt. Auf Treppen und Schrägen hebt das POWER KNEE den Prothesenträger aktiv auf die nächste Stufe hinauf. Das System überwacht wie ande­ re mikroprozessorgesteuerte Gelenke das individuelle Gangmuster und stellt entsprechend die Wi­

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(a)

(b)

(c)

Gelenkaußenteil mit Lamellenscheiben

Zentralkern Kniedrehachse Elektromagnet Seitenscheiben (d)

Gelenkinnenteil mit Lamellenscheiben Gelenkaußenteil mit Lamellenscheiben Ausrichtung der Partikel des magnetorheologischen Fluids Gelenkinnenteil mit Lamellenscheiben

Abb. 3.35: Ansicht (a) Genium Kniegelenk (Fa. Ottobock), (b) Rheo Knee, (c) Power Knee (beide Fa. Össur) und (d) Funktionsprinzip des Rheo Knees.

derstände sowie Drehmomente in Stand- und Schwungphase ein [Össur 2014b]. Nachteilig wirken sich Gewicht, Kosten und Geräusche aus.

Prothetische Hüftgelenke Das prothetische 󳶳 Hüftgelenk ist die gelenkige Verbindung des Beckenkorbes mit den darunter befindlichen prothetischen Bauteilen, die zusammen eine Gelenkkette bilden. Die Drehbewegung des Hüftgelenks findet in der Sagittalebene statt, muss aber nicht auf diese Ebene beschränkt

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sein. Das Hüftgelenk gewährleistet gemeinsam mit dem Kniegelenk und dem Prothesenfuß die Standphasensicherheit sowie ggf. die Schwungphasensteuerung der Beinprothese und ermög­ licht das Sitzen.

Patienten mit Hüft- und Beckenamputationen können in der Schwungphase des Gehens nur das Becken aktiv bewegen. Die anderen prothetischen Komponenten müssen dieser Bewegung folgen, um einen Schrittzyklus durchzuführen. Das Erlernen des prothetischen Gehens nach einer Hüft- oder Beckenamputation stellt sehr hohe Anforderungen an den Betroffenen. Es werden nur wenige Menschen auf diesem hohen Niveau amputiert. Die Vielfalt verfügbarer prothetischer Hüftgelenke ist im Vergleich mit anderen prothetischen Komponenten sehr gering. Nach Entwicklung einer funktionell vorteilhaften Hüftexartikulationsprothese im Jahre 1954 durch eine kanadische Forschungsgruppe unter Mc Laurin [Heim 1991] waren über Jahrzehnte nur sehr einfach aufgebaute Scharniergelenksysteme verfügbar (󳶳Abb. 3.36 (a) und (b)). Das damals verbesserte und danach allgemein verbreitete prothetische Hüftgelenk ist ungesperrt und in Flexionsrichtung frei beweglich. Die Gelenkstabilisierung gegen unbeabsichtigtes Beugen ergibt sich aus der vorverlagerten Anordnung des Gelenks im Prothesenaufbau (in Analogie zum rückverlagerten einachsigen Kniegelenk). In der

Beckenkorb

Anschlag, am Beckenkorb gelenkig gelagert, auf dem Rohrsegment axial verschiebbar

Körperschwerpunkt Hüftgelenk

(b)

(c)

Kugelgelenke

Lastvektor

(a)

(d)

geneigte Achse

Abb. 3.36: (a) Prinzipdarstellung eines einfacher Scharnierhüftgelenks, (b) mechanisches Hüftge­ lenk HM3 (Fa. medi), (c) Ansicht und (d) Gelenklage des Hüftgelenks 7E10 Helix3D (Fa. Ottobock).

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Sagittalebene liegt der Körperschwerpunkt im Stand ungefähr an der anatomischen Position des Hüftgelenkdrehpunktes, von wo der resultierende Lastvektor einen senkrecht in den Boden gerichteten Verlauf nimmt. Das prothetische Hüftgelenk wird in einem Winkel von ca. 45° vor und unterhalb der Lage des ehemaligen physiologischen Hüftgelenkdrehpunktes am vorderen, unteren Ende des Beckenschaftes montiert. So kann die Gelenkachse vor den Körperschwerpunkt verlagert werden. Ein distal des Gelenks liegender Anschlag verhindert im Stand das Einknicken. Da die Wirklinie des Kraftvektors hinter dem prothetischen Hüftgelenk verläuft, wird der Anschlag zur Lastübertragung genutzt und sichert das Gelenk in Streckstellung. Bereits dieses einfach aufgebaute Hüftgelenk ist auch ohne Sperre gegen ein unbeabsichtigtes Beugen der Hüfte bzw. des Rumpfes im Stand und in der Standphase gesichert, während es eine schwingende Pendelbewegung der Prothese im Hüftgelenk während der Schwungphase des Schrittzyklus zuläßt (begrenzt und beeinflußt durch eine Rückholfeder). Seit wenigen Jahren ist auch ein komplexes Hüftgelenk mit Vier-Achs-Polyzentrik und einer Hydraulik zur Steuerung der Stand- und Schwungphasenwiderstände verfügbar, welches nachfolgend vorgestellt wird.

Hüftgelenk 7E10 Helix3D (Fa. Ottobock) Das Gelenk besteht aus einem räumlichen Vier-Achs-Mechanismus mit einer hydraulischen Standund Schwungphasensteuerung. Die Achsengeometrie gestattet die Kopplung von Hüftbeugung und -streckung mit der Rotation im Hüftgelenk (󳶳 Abb. 3.36 (c) und (d)). Der Rotationswinkel (transversa­ le Bewegung) hängt vom Beugewinkel (sagittale Bewegung) ab. Diese Abhängigkeit ist nicht linear ausgelegt, sodass beispielsweise beim Sitzen eine physiologische Geometrie vorliegt und damit ei­ ne normale, unauffällige Sitzposition eingenommen werden kann. Beim Gehen sind etwa sechs Grad Rotation zu erwarten. Die Vier-Achs-Polyzentrik des Hüftgelenks besteht aus zwei Kugelgelenken und zwei einachsigen Verbindungen, wobei die hintere untere Achse schräg zur Konstruktion verläuft. Die beiden vorderen Verbindungen sind Kugelgelenke. Die Hydraulik steuert die Stand- und Schwungpha­ senwiderstände dieses Hüftgelenks. Besonders wichtig ist die gedämpfte Bewegung in der Stand­ phase (ca. 60 % vom Schrittzyklus), die dadurch wesentlich physiologischer wird. Die verfügbaren drei Einstellparameter sind: die Standphasendämpfung, die freie Schwungphase und die Schwung­ phasendämpfung. Das Gelenk reduziert auch den „Beckenschiefstand“ in der Sitzposition auf ein Minimum und ermöglicht eine Beinverkürzung in der Schwungphase mit dem Ziel, die Sturzgefahr weiter zu verringern. Ein großer Beugewinkel erleichtert Alltagssituationen wie das Schuhanziehen oder das Einsteigen ins Auto. Eine sichere Kniestandphasenbeugung für Hüftamputierte wird durch die Kombination von C-Leg und Helix3D Hüftgelenk ermöglicht.

Weitere Beinprothesenkomponenten Zwischen den beschriebenen Komponenten Fuß, Kniegelenk, Hüftgelenk und Schaft einer Beinprothese werden weitere Strukturteile verbaut, wie unterschiedliche Pyramidenadapter (󳶳Abb. 3.4) und ggf. Rohr-, Schraub-, Schaft- und Verschiebeadapter aus unterschiedlichen Werkstoffen, u. a. Aluminium, Titan und Edelstahl

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(󳶳Abb. 3.37 (a) und (b)), die der justierbaren Verbindung zwischen Prothesenfuß und Schaft bzw. Kniegelenk oder Hüftgelenk dienen. Weiterhin ist es möglich, Axial- oder Torsionsdämpfer in die Beinprothese zu integrieren (󳶳Abb. 3.37 (c)). Ihre Aufgabe ist es, die Intensität von Stößen bzw. Drehmomenten abzusenken. Der Stumpf und der Bewegungsapparat werden entlastet. Der Patient empfindet einen natürlicheren Verlauf der Bodenreaktionskraft. Durch den Einbau des Drehadapters (󳶳Abb. 3.37 (d)) oberhalb des Kniegelenks kann der distale Bauabschnitt gegen den Schaft rotiert werden, d. h. der gebeugte Unterschenkel nach innen oder außen gedreht werden. Zur Freigabe der Drehung wird ein Auslöseknopf betätigt; die Arretierung in der Grundeinstellung erfolgt selbsttätig. So werden verschiedene Aktivitäten erleichtert, wie z. B. das Anziehen der Schuhe,

(a)

(b)

(d)

(c)

(e)

(f)

Abb. 3.37: Beinprothesenkomponenten. (a) Rohradapter aus Titan und Edelstahl, (b) Doppel- und Verschiebeadapter, (c) DeltaTwist Stoß- und Torsionsdämpfer, (d) Drehadapter, (e) elektronische Unterdruckpumpe Harmony e-pulse, (f) mechanische Unterdruckpumpe Harmony P3 (Fa. Otto­ bock).

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das Einsteigen ins Auto, das Sitzen im Schneidersitz und das Spielen mit Kindern am Boden. Unterdrucksysteme reduzieren die Luft zwischen Schaft und Liner. Dies kann mechanisch durch eine Pumpe und ein Ausstoßventil erfolgen (󳶳Abb. 3.37 (e)). Die Pumpfunktion wird beim Auftritt und bei Entlastung aktiviert und erzeugt so einen fünf- bis sechsfach höheren Unterdruck als einfache Ausstoßventile. Zusätzlich ist eine Dämpfungs- und Torsionsfunktion integrierbar. Systeme mit einer elektronischen Pumpe erzeugen ebenfalls einen Unterdruck, besitzen jedoch ein geringeres Gewicht und haben keine integrierten Dämpfer (󳶳Abb. 3.37 (f)). Die Höhe des Unterdrucks ist bei elektrischen Pumpen in verschiedenen Stufen individuell anpassbar. Zusätzlich ist bei manchen Modellen ein Massagemodus aktivierbar, bei dem das Gerät mehrfach zwischen dem höchsten und niedrigsten Unterdrucklevel wechselt. Einige Patienten erwarten eine weitgehende Wiederherstellung ihres äußeren Erscheinungsbildes, um möglichst wenig aufzufallen. Diesem Zweck dient ein Schaumstoff-Überzug, der die mechanischen Komponenten der Modular-Prothese verkleidet. Er sollte deren Funktion so wenig wie möglich beeinflussen. Nach den Vorgaben des kontralateralen Beines fertigt der Orthopädietechniker die individuelle Form aus einem Schaumstoff-Rohling und stellt die Verbindung zum Prothesenfuß und -schaft her. Für die Kosmetikverkleidung sind weiterhin hautfarbene Überziehstrümpfe verfügbar. Diese können mit Polyurethan beschichtet und daher spritzwassergeschützt und schmutzunempfindlich sein. Aus flüssigem PUR-Kunststoff im Spritzverfahren aufgetragene Beschichtungen können für Oberflächenveredelungen genutzt werden. Sie versiegeln die Poren des Schaumstoffes der Verkleidung und lassen sich aus drei Basisfarben individuell entsprechend dem Hautton einfärben [Näder 2011].

Aufbau der Prothese Der 󳶳 Prothesenaufbau umfasst Anordnung der Komponenten einer Modularprothese in allen drei Raumrichtungen und ist von der Konstitution und Leistungsfähigkeit des Amputierten abhängig.

Bei der Gestaltung des Prothesenaufbaus wichtige Größen sind: – Verlauf der Belastungslinie im Stand, dargestellt z. B. durch einen Laserstrahl einer Prothesenaufbauvorrichtung, – Position des Kniegelenksdrehpunkts bzw. Hüftgelenksdrehpunkts, sofern vorhanden. Liegt die Belastungslinie sagittal vor dem prothetischen Kniedrehpunkt (und hinter dem Hüftgelenk, falls vorhanden), ist die ungesperrte Prothese ohne Anstrengung des Amputierten standsicher. Beim Gehen lässt sich die Beugung unter Last schwieriger einleiten, je weiter hinten der Drehpunkt im Kniegelenk liegt. Umgekehrt macht

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ein Kniedrehpunkt nahe der Belastungslinie die Prothese unsicher, lässt jedoch eine Kniebeugung unter Last leichter zu. Um auch bei Fersenauftritt ausreichend Sicherheit zu gewährleisten, wird das Knie weiter rückverlagert als für das reine Stehen notwendig wäre. Bei Oberschenkelamputierten liegt der Maximalwert für die Rückverlagerung des Kniedrehpunktes bei ca. 40 mm bezogen auf die Belastungslinie im Stand (diese Werte sind für jedes Kniegelenk in der Gebrauchsanweisung festgehalten). In der Frontalebene sollte die Prothese das symmetrische Gegenstück zum erhaltenen Bein bilden. Die vorhandene Stumpfkraft hat insofern Auswirkungen auf den Aufbau der Prothese, als bei kurzen Stümpfen die Prothese sicherer sein muss. Dies wird zum einen durch den korrekten Aufbau, zum andern aber auch durch die Wahl des Kniegelenks sichergestellt. Je länger der Stumpf ist, desto mehr Kraft kann über ihn auf die Prothese übertragen werden, was ein sicheres Gehen mit Prothese ermöglicht.

3.4 Gliedmaßenprothetik der oberen Extremität 3.4.1 Prothesenarten der oberen Extremität Der aktive funktionelle Ersatz der oberen Extremitäten ist im Vergleich zu den unteren Extremitäten mit einigen weiteren Herausforderungen verbunden. Einerseits ist die Zahl der Bewegungsmuster wesentlich größer, verglichen mit dem Gehen, das ja einen periodisch wiederkehrenden Vorgang darstellt. Andererseits muss für die einzelnen Prothesenfunktionen wie Greif- oder Ellenbogenbewegung stets die notwendige Energie verfügbar sein. Stumpf- bzw. Massenkräfte reichen für die zu erfüllenden Funktionen, im Gegensatz zu den unteren Extremitäten, nicht aus. 󳶳 Funktionelle Prothesen der oberen Extremität zur Versorgung von Amputationen im Bereich des Ober- und Unterarmes haben die Aufgabe, zahlreiche Bewegungsmuster nachzubilden. Die Schul­ ter und das Ellenbogengelenk erfüllen (sofern vorhanden) hauptsächlich den Zweck, die Hand an ein Zielobjekt in der jeweils günstigsten Positionierung heranzuführen. Die prothetische Hand ist das Greiforgan.

Gemäß der DIN EN ISO 9999 [ISO 9999] werden in der Klasse 06 18 Prothesen für die oberen Gliedmaßen folgendermaßen beschrieben: Eine Zusammenstellung kompatibler Komponenten, die gewöhnlich von einem einzelnen Hersteller angefertigt werden und sich mit beliebigen, individuell angefertigten Komponenten zu einer Reihe unterschiedlicher Prothesen für die oberen Gliedmaßen kombinieren lassen. Differenziert wird in folgende Prothesenarten der oberen Extremität: – Teilhand-Prothesen (Klasse 06 18 03): Ersatz für einen Teil der oberen Gliedmaßen distal des Handgelenks, – Handgelenk-Exartikulations-Prothesen (Klasse 06 18 06): Ersatz für einen Teil der oberen Gliedmaßen am Handgelenk,

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– – – – –

Transradialprothesen (Klasse 06 18 09): Ersatz für einen Teil der oberen Gliedmaßen zwischen Ellenbogengelenk und Handgelenk, Ellenbogen-Exartikulations-Prothesen (Klasse 06 18 12): Ersatz für einen Teil der oberen Gliedmaßen am Ellenbogen, Oberarm-Prothesen (Klasse 06 18 15): Ersatz für die oberen Gliedmaßen zwischen Schulter- und Ellenbogengelenken, Schulter-Exartikulations-Prothesen (Klasse 06 18 18): Ersatz für die oberen Gliedmaßen am Schultergelenk, Schulteramputations-Prothesen (Klasse 06 18 21): Ersatz für die oberen Gliedmaßen an den Skapulothorakal- und Sternoklavikulargelenken.

Weiterhin sind an gleicher Stelle [ISO 9999] Komponenten von Prothesen der oberen Extremität gelistet, dazu zählen: – Prothesen-Hände (Klasse 06 18 24): ersetzen Erscheinungsbild und einige Funktionen der natürlichen Hand, – geteilte Hooks (Klasse 06 18 25): ersetzen einige Funktionen der natürlichen Hand, – Geräte oder Werkzeuge für Prothesen-Hände mit spezieller Funktion (Klasse 06 18 26): Produkte, die aus einem bestimmten Grund zusammen mit oder anstelle von Prothesen-Händen verwendet werden, – Handgelenk-Passteile (Klasse 06 18 30): ersetzen das Erscheinungsbild und einige Funktionen des natürlichen Handgelenks, – Ellenbogengelenk-Passteile (Klasse 06 18 33): ersetzen das Erscheinungsbild und einige Funktionen des natürlichen Ellenbogengelenks, – Schultergelenk-Passteile (Klasse 06 18 36): ersetzen das Erscheinungsbild und einige Funktionen des natürlichen Schultergelenks, – externe Passteile für Prothesen der oberen Gliedmaßen (Klasse 06 18 39): Komponenten für Prothesen der oberen Gliedmaßen, welche das normale Handgelenk oder die Ellenbogengelenke umschließen, – Humerus-Rotationskomponenten (Klasse 06 18 40): ersetzen das Erscheinungsbild und die natürliche Innen-/Außenrotation des Schultergelenks, – zusätzliche Humerus-Flexionskomponenten (Klasse 06 18 41): Komponenten für Prothesen der oberen Gliedmaßen, welche den effektiven Ellenbogen-Beugungsbereich der Prothese vergrößern. Gliedmaßenprothesen der oberen Extremität werden in aktive und passive Systeme unterteilt (󳶳Abb. 3.38). Kosmetische Armprothesen gehören zu den passiven Prothesen; mit ihnen wird nur das äußere Erscheinungsbild wiederhergestellt. Die zweite Untergruppe passiver Prothesen sind die früher gebräuchlichen passiven Arbeitsarme. Sie können mit speziellen Ansatzstücken (Haken, Halterungen, Ringe oder Schutzpolster) versehen werden, welche passive Greif- oder Haltefunktion ausüben. Die erhaltene, kontralaterale Hand bedient (öffnet und schließt) diese Funktionselemente, wobei eine amputations-

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Prothesen für die obere Extremität

passiver Arbeitsarm

passive Prothesen

aktive Prothesen

kosmetische Prothese

eigenkraftgetriebene Prothese

direkter Muskelzug historische/ nicht verbreitete Prothesenarten: aktuelle/ verbreitete Prothesenarten:

indirekter Muskelzug

SauerbruchProthese Kosmetikprothese

zugbetätigte Prothese

fremdkraftgetriebene Prothese

elektromechanischer Antrieb

fluidischer Antrieb

pneumatische Prothese Hybridprothese

hydraulische Prothese

myoelektrische Prothese

Abb. 3.38: Arten von Prothesen der oberen Extremität (modifiziert nach [Blumentritt 2009]).

seitige aktive Steuerung nicht möglich ist. Unter den aktiven Armprothesen werden mit Eigenkraft betriebene Systeme und Prothesen mit Fremdkraftantrieb unterschieden. Die Bewegung einer Arm- bzw. Handprothese mit Eigenkraft erfolgt heute über Zugbandagen, die (󳶳Abb. 3.39 (a) und (b)) Schulterbewegungen über Gurte und Seilzüge in Greif- und Unterarmbewegungen oder ein Sperren des Ellenbogengelenks der Prothese umformen. Als zweite wichtige Gruppe der aktiven Systeme haben sich heute fremdkraftgetriebene Prothesen durchgesetzt. Sie sind in Hybridprothesen mit einer Eigenkraftnutzung (z. B. für die Bewegung/Sperre des Ellenbogengelenks) kombinierbar und werden in aller Regel elektromechanisch angetrieben. Das Steuersi(a)

(b)

(c)

Abb. 3.39: Eigenkraftprothese der oberen Extremität mit (a) Zugbandagen, (b) Greifhaken und (c) myoelektrische Fremdkraftprothese mit elektronischer Regelung des Ellenbogengelenks und der Prothesenhand.

3 Gliedmaßenprothetik |

179

gnal generiert die am Stumpf vorhandene Muskulatur. Dazu messen spezielle, auf die Haut des Stumpfes aufgelegte Elektroden die bei der Muskelkontraktion entstehenden bioelektrischen Spannungen im μV-Bereich (Elektromyogramm: EMG). Die notwendige Unempfindlichkeit dieser Systeme gegenüber elektromagnetischen Störungen wird u. a. über hohe Gleichtaktunterdrückungsverhältnisse der verwendeten Verstärker erreicht. Ansteuerbar sind heute Bewegungen bzw. die Sperre von ProthesenEllenbogengelenken, die Rotation von Prothesenhänden und deren Greifbewegung (󳶳Abb. 3.39 (c)). Weitere in der 󳶳Abbildung 3.38 dargestellte Arten von Prothesen der oberen Extremität werden in den nächsten Kapiteln näher erläutert.

3.4.2 Anforderungen an Prothesen der oberen Extremität Die natürliche Funktion von Hand und Arm ergibt sich aus der sinnvollen Kombination verschiedener Gelenkbewegungen. Hierbei kommt der Schulter und dem Ellenbogengelenk im Wesentlichen die Aufgabe zu, die Hand als Greiforgan an ein Zielobjekt in der jeweils günstigsten Positionierung heranzuführen. Der prothetische Ersatz muss sich an der komplexen Funktion der menschlichen Hand messen lassen, die ein sensibles und funktionelles Greiforgan ist. Auch aufwendige prothetische Handkonstruktionen können bisher nur ein sehr bescheidener Ersatz sein. Die Greiffähigkeit der gesunden Hand ist durch die Stellung und die Oppositionsfähigkeit des Daumens bedingt. Ohne Daumen verliert die Hand eine entscheidende Funktion. In 󳶳Abbildung 3.40 sind wichtige Griffformen der natürlichen Hand, wie Spitz- oder Zangengriff, Breit-, Grob- oder Faustgriff, Hakengriff und Schlüssel- bzw. Lateralgriff dargestellt [Heim 1991]. Sie werden zum Halten oder Greifen unterschiedlicher, ebenfalls exemplarisch dargestellter Gegenstände benutzt. Die menschliche Hand besitzt 22 Freiheitsgrade [Näder 2011], die durch ihre Kombinationsfähigkeiten die Vielfalt möglicher Griffvarianten ausmachen. Mit der gesunden Hand werden einzelne Bewegungskombinationen zur Durchführung einer

(a)

(b)

(c)

(d)

Abb. 3.40: Griffformen. (a) Spitz- oder Zangengriff, (b) Breit-, Grob- oder Faustgriff, (c) Hakengriff und (d) Schlüssel- bzw. Lateralgriff.

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bestimmten Greifaufgabe über einen Regelkreis mit sensorischer (Tastgefühl) und optischer Rückmeldung (Augen) kontrolliert und nachgesteuert. Die sensorischen Fähigkeiten fehlen prothetischen Händen bisher, werden aber in Forschungsprojekten mit verschieden Ansätzen untersucht (󳶳Kapitel 3.5.2). Die Funktionen von Standard-Prothesenhänden beschränken sich auf einfache Greifbewegungen, wie den Dreifinger-Spitzgriff. Komplexere Systeme, auch als Adaptivhände bezeichnet, sind in der Lage, Griffe auszuführen, die Gegenstände umschließen (Formgriff) und auch laterale Bewegungen des Daumens zulassen. Einfachere Konstruktionen, wie Arbeitshaken und Hooks (󳶳Abb. 3.39 (b)) verzichten auf die Nachbildung der äußeren Gestalt einer Hand und klemmen Gegenstände zwischen den Branchen (kein Griff). Bei höheren Amputationen der oberen Extremität geht also nicht nur ein komplexes biomechanisches Greifwerkzeug verloren, sondern auch die steuernde Rückmeldung des Tastgefühls. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die einseitig genutzte prothetische Hand. Sie ist aufgrund geringerer Funktionalität eigentlich als Hilfshand vorgesehen. Wegen des fehlenden Tastgefühls muss sie jedoch unter visueller Kontrolle eingesetzt werden. Mit den Augen wird aber die Arbeitshand beobachtet, während die Hilfshand die tastenden, unbeobachteten Funktionen übernimmt. Obwohl funktionell ungünstig, müssen nun prothetische und gesunde Hand die vorgesehenen Rollen tauschen, sofern beidhändige Tätigkeiten ausgeführt werden. Die tastend einsetzbare gesunde Hand wird zur Hilfshand, die nur visuell kontrollierbare prothetische Hand wird zur Arbeitshand [Heim 1991]. Damit steigen die Anforderungen an die prothetische Versorgung. Wenn jedoch einhändig gearbeitet werden kann, übernimmt die gesunde Extremität den Hauptanteil der Tätigkeiten mit feinmotorischen Bewegungen, während die prothetische Hand zum Halten, Gegenhalten oder Abstützen genutzt wird. Es ist mit heutigen prothetischen Versorgungen der oberen Extremität noch nicht möglich, die elf Freiheitsgrade des Armes und der Schulter abzubilden. Durch die notwendige Lastübertragung vom Schaft (ggf. mit Bandagen) auf den Stumpf ist die Belastbarkeit zusätzlich limitiert. Anforderungen an eine ideale Prothese der oberen Extremität lassen sich zusammenfassen: – weitgehender funktioneller Ersatz der Greiffunktionen der verlorenen Hand oder Handteile, – freie, physiologische Positionierbarkeit der prothetischen Hand, – steuerbare Greifkräfte und Greifgeschwindigkeiten (vergleichbar mit einer gesunden Hand), – funktioneller Ersatz aller verlorenen Gelenke proximal der Hand mit den jeweiligen physiologischen Freiheitsgraden und Bewegungsumfängen, – Sperrfunktion des Ellenbogengelenks, – intuitive Steuerungskonzepte aller Teilfunktionen (ohne Erlernen der Nutzung, 󳶳Kapitel 3.5.1), – passives, gangsynchrones Mitschwingen des prothetischen Arms beim Gehen,

3 Gliedmaßenprothetik |

– – – – – – –

181

(perspektivisch) sensorische Rückmeldungen in Form eines Tastempfindens, ggf. auch eines Temperaturempfindens (󳶳Kapitel 3.5.2), kosmetisch unauffälliges Erscheinungsbild, keine Geräuschemission, ausreichend großer Energiespeicher (für Nutzung über mindestens einen Tag), angenehmes Trageverhalten, Verzicht auf Bandagen und große Hautkontaktflächen, 󳶳Kapitel 3.5.3) Unterstützung hygienischer Anforderungen, Robustheit (wasserdicht, staubunempfindlich) und geringer Wartungsaufwand.

Nachfolgend werden die heute verfügbaren Systeme vorgestellt, die allerdings nur einige der genannten Anforderungen erfüllen.

3.4.3 Komponenten und Beispiele von Prothesen für die obere Extremität Kosmetische Armprothesen Kosmetische Prothesen sind, wie oben erläutert, passive Prothesen und stellen ausschließlich das äußere Erscheinungsbild wieder her. Manche Patienten verzichten bewusst auf aktive Funktionen einer Armprothese und geben dem kosmetischen Ausgleich des fehlenden Gliedmaßenabschnitts den Vorrang. In diesem Falle werden jedoch an die Prothese hohe Ansprüche in Bezug auf Gestaltung, Aussehen, Tragekomfort und Gewicht gestellt. Weiterhin wird eine unkomplizierte Handhabung erwartet. Der fehlende Wunsch eines Patienten nach einem funktionellen Ersatz, kann auch in einem ungünstigen Verlauf der frühen Rehabilitation begründet sein. Erfolgt eine inadäquate Versorgung oder stellen sich bei komplexen Versorgungen Misserfolge im Erlernen von Prothesenfunktionen ein, kann es zu weitreichenden Frustrationen und letztlich zur Ablehnung einer funktionellen Prothesenversorgung bei einseitig Amputierten kommen. Sie erlernen dann mit der verbliebenen Hand allein auszukommen. Sobald ihnen dieses (mit Einschränkungen) gelingt, sehen sie kaum noch eine Notwendigkeit, Prothesen zu nutzen, mit denen sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Grundsätzlich sind kosmetische Prothesen bei allen Amputationshöhen anwendbar. Besondere Bedeutung kann diese Versorgungsart bei hohen Absetzungen haben, wenn funktionelle Prothesen abgelehnt werden oder nicht erfolgreich einzusetzen sind. Die Tatsache der Körperbehinderung in Form des Verlustes oder Teilverlustes einer Extremität wird der Öffentlichkeit mit kosmetisch ansprechenden Prothesen verdeckt. Diese kosmetisch-ästhetische Aufgabenstellung hat in Nordeuropa insbesondere für weibliche Patienten und solche mit einer publikumsorientierten Berufstätigkeit eine wichtige Bedeutung in der psychischen Stabilisierung. In einigen Ländern ist der Bedarf an ästhetisch ansprechender Versorgung stärker ausgeprägt (z. B. in Südeuropa). In anderen Ländern ist die Vollständigkeit des Körpers eine religiöse Notwen-

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digkeit oder auch ein Mittel zur Vermeidung sozialer Missachtung oder sozialer Missverständnisse (z. B. Amputation der Hand eines Diebes in religiöser Gerichtsbarkeit) [Heim 1991]. Neben den genannten psychosozialen Aufgaben erfüllt auch die kosmetische Armprothese einen funktionellen Zweck, der in der Balancierung des Körpergewichtes besteht. Höhergradig Amputierte, die auf eine Prothesenversorgung verzichten, zeigen nach einiger Zeit einen amputationsseitigen Schulterhochstand und eine Verkrümmung der Wirbelsäule. Im Schrittzyklus erfüllt die Schwungmasse der Prothese eine wesentliche Aufgabe in der Harmonisierung der wechselseitigen Schulter- und Beckenrotation. Amputierten ohne armprothetische Versorgung fehlt dieser Schulterund Beckenschwung, sie zeigen ein steifes, energieaufwendigeres Gangbild. Kosmetische Armprothesen können unter Verwendung des Modular-Systems (endoskelettal) oder in Schalenbauweise (exoskelettal) hergestellt werden. Soweit möglich und vom Patienten nicht abgelehnt, sollte der Versorgung mit aktiv nutzbaren, funktionellen Prothesen, die ebenfalls einen kosmetisch-ästhetischen Anspruch erfüllen können, der Vorrang gegeben werden.

Eigenkraftgetriebene Prothesen Bei 󳶳 eigenkraftgetriebenen Prothesen werden körpereigene Kraftquellen, d. h. die verbliebene Muskulatur, zur Erzeugung der notwendigen Kräfte und Bewegung der Prothese eingesetzt.

Man unterscheidet Prothesen mit indirekter und direkter Ausnutzung körpereigener Kraftquellen (󳶳Abb. 3.39 (a) und (b)). Zu den Prothesen mit direkter Ausnutzung körpereigener Kraftquellen gehört die sog. Kineplastik nach Sauerbruch. Diese chirurgische Technik wurde während des ersten Weltkrieges entwickelt und besteht darin, mit Haut ausgekleidete Kanäle in großen Muskelgruppen des Oberarms oder der Brust anzulegen. Nach dem Verheilen können durch diese Tunnel Stifte geschoben und Steigbügel mit daran angeschlossenen Zugseilen genutzt werden, um eine Verkürzung des Muskels direkt zur Ansteuerung von Prothesenfunktionen zu verwenden. Damit lässt sich die künstliche Hand oder ein Ellenbogengelenk mit eigener Kraft auf natürliche Weise bewegen und steuern. Der Druck des Stiftes auf den Hautkanal des Muskels dient außerdem der sensorischen Rückinformation. Heute ist die Kineplastik völlig in den Hintergrund gedrängt, obwohl sie einige Vorteile gegenüber alternativen Versorgungen hat (physiologischer Bewegungsablauf, direkte sensorische Information über Zugkräfte, geringes Gewicht). Der größte Nachteil ist die Notwendigkeit eines weiteren operativen Eingriffes (frühestens zwei Monate nach der Amputation). Aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes waren die Sauerbruch-Kineplastik und die dazugehörende Prothesenversorgung nie allgemein akzeptiert. Obwohl die operative Technik ausgereift war, ist die zugehörige Prothesentechnik heute mangels Weiterentwicklung überholt [Baumgartner 1995].

3 Gliedmaßenprothetik | 183

Eine 󳶳 indirekte Nutzung körpereigener Kraftquellen liegt vor, wenn mit Hilfe der Muskeln zu­ nächst Bewegungen einzelner Körperteile erzeugt und diese dann auf die Prothese übertragen werden (󳶳 Abb. 3.39 (a) und (b)).

Als Kraftquellen können eingesetzt werden: – die Beugung/Streckung des Ellenbogengelenks (sofern vorhanden), – das Vorbringen beider Schultern, – die Vorwärts- oder Rückwärtsbewegung des Oberarms, – das Absenken der Schulter auf der gesunden oder amputierten Seite, – die Streckung des Nackens.

Eine 󳶳 Kraftzugbandage nimmt die Bewegungen und Kräfte von Stumpf, Schultergürtel und Rumpf auf und leitet diese direkt an die Prothese weiter.

Der Patient erhält durch den Druck, den die Bandage auf den Körper ausübt, eine indirekte sensorische Rückinformation. Dieses Feedback ist abhängig von der Passform des Prothesenschaftes und der Bandage sowie der Beschaffenheit der künstlichen Hand. Ein strammer Sitz sorgt für den direkten Kontakt zum Greifgerät und erlaubt somit feinere Arbeiten. Jedoch ist eine zu enge Bandage auf Dauer unbequem zu tragen, da einzelne Gurte einschneiden können [Heim 1991]. Nachteile der aktiven Eigenkraftprothese liegen u. a. im nötigen Lernaufwand, um mit den Kraftzugbandagen gezielte Bewegung und Greiffunktionen durchführen zu können, in der unbequemen Art der Bandagentechnik und im unphysiologischen Bewegungsmuster der Zugkabelbetätigung. Da das „Schulterzucken“ in unserer Gesten-Kommunikation einem Unsicherheitsausdruck zugeordnet wird, kann die mit ähnlichen Bewegungen verbundene Nutzung einer eigenkraftgetriebenen Prothese über Schulterbandagen sehr leicht falsch „verstanden“ bzw. interpretiert werden und irritierend wirken. Bei Unterarmstümpfen ist lediglich ein Kraftzug für die Betätigung des Handersatzes notwendig. Als Kraftquellen für den Kraftzug stehen die Oberarmmuskulatur bei Koppelung der Öffnung des Handersatzes an die Beuge- und Streckbewegung im Ellenbogengelenk und die Bewegung des Schultergürtels über eine schlingenförmige Schulterbandage zur Verfügung [Heim 1991]. Bei Oberarmamputierten sollten je nach Amputationsniveau ersetzt werden: – die Greifbewegung der Hand, – das Anheben des Unterarms (Drehung im Ellenbogengelenk), – ein Sperren des Ellenbogengelenks der Prothese. Die drei genannten Funktionen können durch drei Kraftzugbandagen unter Ausnutzung drei verschiedener und unabhängiger Bewegungen des Amputierten erreicht

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werden. Es besteht eine weitere Möglichkeit durch die Benutzung von nur zwei Kraftzügen, von denen jedoch einer nacheinander zwei Funktionen übernimmt, alle drei funktionellen Aufgaben zu erfüllen. Mehr als diese drei genannten Funktionen lassen sich bei üblichen Versorgungen jedoch nicht umsetzten. Eine Differenzierung der antreibenden Bewegungen im Schulter-/Oberarmbereich ist über die o. g. hinaus schwer möglich. Auf Drehungen der prothetischen Hand (im Sinne der Pro- und Supination) und auf Bewegungen eines prothetischen Schultergelenks (bei entsprechend hoher Amputation) muss in der Regel verzichtet werden. Jedoch besteht für den Patienten gegenüber einer passiven Versorgung der große Vorteil, auch mit der prothetischen Hand zugreifen zu können. Der Tragekomfort von Kraftzugbandagen kann mit einem nackenfreien Gurtverlauf kommerziell erhältlicher Systeme verbessert werden. Für die Erfüllung hygienischer Anforderungen sorgen austauschbare Achselpolster und waschbare Textilien. Für den Handersatz bei indirekt eigenkraftgetriebenen Systemen können einfache Hooks (Greifhaken 󳶳Abb. 3.39 (b)) oder ästhetisch ansprechende Handkonstruktionen verwendet werden, die über Zugkräfte ansteuerbar sind. Bei einer Zug-Hand erfolgt der Handschluss aktiv. Es können bei jeder Öffnungsweite durch den aktiven Zug unterschiedlich große Greifkräfte erzeugt werden. Die Öffnung der Hand erfolgt durch eine Zugfeder. Bei einer System-Einzughand wird die Hand über einen Zug aktiv geöffnet und schließt mit einer Zugfeder selbsttätig bei gleichzeitiger Verriegelung. Eine System-Zweizughand schließt die Hand durch aktiven Zug (wie die o. g. Zug-Hand), erlaubt aber auch ein Erhöhen der Greifkraft durch Nachziehen. Die Hand verriegelt so in jeder Greifposition. Durch erneutes Betätigen des Zugseils entriegelt die Hand und öffnet sich über eine Feder. Die Mechanik einer System-Hand hat drei Finger (Daumen, Zeige- und Mittelfinger). Eine Innenhand, der die passiv mit bewegten Finger 4 und 5 zugeordnet sind, verkleidet die Mechanik und ist formgebendes und tragendes Element des Kosmetik-Handschuhs. Dieser ist aus PVC gefertigt und in Form, Farbe und Oberflächenstruktur der natürlichen Hand nachgebildet [Näder 1990].

Fremdkraftgetriebene Systeme Mit der Verwendung äußerer Energiequellen zur Betätigung prothetischer Hände, Handdrehgelenke bzw. Ellenbogengelenke ist seit den 1960er Jahren eine neue Entwicklungsrichtung entstanden. Die Bewegungen werden dabei nicht mehr unmittelbar durch Muskelkraft erzeugt, sondern nur noch vom Muskel gesteuert. Diese Fremdkraftprothesen waren zunächst mit verschiedenartigen Antrieben und mit unterschiedlichen Steuerungen ausgerüstet. Zur Erzeugung der mechanischen Leistung kamen zunächst folgende Antriebssysteme in Betracht (󳶳Abb. 3.38): – pneumatische Antriebe, – elektrohydraulische Antriebe, – elektromechanische Antriebe.

3 Gliedmaßenprothetik | 185

Heute in Fremdkraftprothesen ausschließlich genutzte elektromechanische Antriebe arbeiten mit elektrischem Energiespeicher und elektronischen Steuerungen. In pneumatischen Prothesen wurde komprimiertes CO2 , das der Amputierte in einem kleinen Druckspeicher mit sich führte, als Energieträger benutzt. Beim Betätigen eines Muskelventils strömte das Gas aus dem Druckbehälter über ein Reduzierventil in den Arbeitszylinder, z. B. in einer künstlichen Hand, und schließt diese gegen die Kraft einer Rückholfeder. Zum Öffnen wurde ein Entlüftungsventil betätigt, das Gas entwich ins Freie und die während des Schließvorganges vorgespannte Feder öffnete die Hand wieder. Nachteile des pneumatischen Systems waren die Kompressibilität des Druckmediums sowie das Zischgeräusch des entweichenden Gases. Elektrohydraulisch angetriebene Prothesen besaßen gegenüber pneumatischen Antrieben den Vorteil, dass geringe Bauvolumina durch Verwendung von hohem Druck möglich sind. Von Nachteil ist jedoch der durch die mehrfache Energieumwandlung bedingte schlechte Wirkungsgrad. Einer der Gründe, weshalb nur wenige Armprothesen mit hydrohydraulischem Antrieb bekannt geworden sind. Auch später in Forschungsprojekten entwickelte fluidische Systeme konnten sich nicht durchsetzen [Boenick 1992]. Praktische Bedeutung hat derzeit nur der elektromechanische Antrieb. Er besteht aus einem Elektromotor, dessen Drehmoment in einem mechanischen Untersetzungsgetriebe (unter Verringerung der Drehzahl) erhöht und danach auf das Erfolgsorgan übertragen wird. Zur Drehmomentverstärkung finden sowohl Stirnradgetriebe als auch Kombinationen von Stirnradgetrieben und Spindeltrieben bzw. Stirnrad- und Planetenumlaufgetrieben Verwendung. Aktiv bewegt werden bei konventionellen elektromechanischen Händen die aus Zeige- und Mittelfinger bestehende Fingergruppe sowie der gegenüberstehende Daumen (Spitz- oder Zangengriff, 󳶳Abb. 3.41),

(a)

(b)

Abb. 3.41: (a) Konventionelle prothetische Hand mit elektromechanischem Antrieb mit und ohne kosmetischem Überzug, (b) Darstellung des Spitz- oder Zangengriffes (Fa. Ottobock).

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wobei die Bewegung ausschließlich in den Grundgelenken erfolgt. Der 4. und 5. Finger sind nur in der PVC-Innenhand angelegt und werden passiv mit bewegt, analog der oben erläuterten System-Hand. Elektromechanische Antriebe werden heute auch in komplexeren prothetischen Händen mit zwei und mehr Antrieben (z. T. in jedem Fingersegment, siehe nachfolgende Erläuterungen zu Händen mit einem adaptiven Griff), sowie in prothetischen Ellenbogengelenken verwendet. Schulterantriebe sind in Forschungsprojekten in der Erprobung. Eine große Herausforderung stellt die Verfügbarkeit der notwendigen Ansteuerungssignale bei höheren Amputationsniveaus dar. Je mehr Signale für weitere prothetische Komponenten notwendig sind, desto kürzer ist der Stumpf und bietet immer weniger die notwendigen Signalquellen. Bei fremdkraftgetriebenen Systemen mit mechanischen Antrieben sind heute folgende Steuerungen verfügbar: – myoelektrische Steuerung, bei der das elektrische Muskelaktionspotential (EMG) als Steuersignal dient, welches mittels Oberflächenelektroden abgeleitet werden kann, Digital- und Analogsteuerungen sind verfügbar, – Steuerung durch Zugschalter über Bandagen, insbesondere bei beidseitig Amputierten als Alternative zur myoelektrischen Steuerung, – Steuerung durch Restbeweglichkeit des Stumpfes; physiologische Bewegungsformen, die myoelektrisch nicht detektierbar sind, können so ausgenutzt werden (󳶳Abb. 3.42)

(a)

(b)

drehbare Stumpfendkappe im Schaft Abb. 3.42: Steuerung der Pro- und Supination durch Rotation des Unterarms im Schaft über eine integrierte Stumpfendkappe. (a) Seitenansicht, (b) Blick in den Schaft.

Physiologische Grundlagen myoelektrischer Steuerungen Bereits 1780 untersuchte Luigi Galvani Nerv-Muskel-Präparate des Frosches und entdeckt die physiologische Wirkung der elektrischen Spannung auf Nerv und Muskel. Er

3 Gliedmaßenprothetik |

2

187

2,5 %

0 –2 2

10 %

EMG in mV

0 –2 2

30 %

0 –2 2

100 %

0 –2 0

0,1

0,2

0,3

0,4

0,5 0,6 Zeit in s

0,7

0,8

0,9

1

Abb. 3.43: Typische EMG-Verläufe bei konstanter, isometrischer Kontraktion: ca. 2,5 %, 10 %, 30 % und 100 % der maximal möglichen Kontraktion.

kam zu dem Schluss, dass „dem Tier selbst Elektrizität innewohnt“. Dieses tatsächlich existierende Phänomen, welches in Ionenaustauschvorgängen an den Membranen vor Nerven- und Muskelzellen begründet liegt, wird heute zur Ansteuerung von fremdkraftgetriebenen Prothesen genutzt (physiologische Grundlagen: 󳶳Kapitel 8 und 󳶳Band 2). So kann die Anspannung von Muskeln den elektromechanischen Antrieb der Prothese steuern. Myoelektrische Elektroden erfassen die elektrischen Potentiale der Muskulatur (Elektromyogramm: EMG, 󳶳Abb. 3.43), deren Kontraktionsstärke von der Stimulationsrate und der Anzahl rekrutierter Motoreinheiten abhängt. 󳶳 Elektroden stellen den Kontakt zwischen dem biologischen Gewebe und dem technischen Sys­ tem her. Sie können sowohl der elektrischen Stimulation als auch der Erfassung bioelektrischer Potentialdifferenzen dienen und sind Wandler für biologische Ionenströme und technische Elek­ tronenströme. Die Informations- oder Energieübertragung erfolgt an der Phasengrenzschicht zwi­ schen dem Elektrolyt und der Elektrodenoberfläche.

Diese Phasengrenzschicht lässt sich als HELMHOLTZsche Doppelschicht beschreiben. Sie entsteht, indem positiv geladene Metallionen aufgrund des Lösungsdrucks in den Elektrolyten übergehen, der die Elektrode aufgrund des biologischen Gewebes umgibt. Es kommt dadurch zu einer elektrisch negativen Aufladung der Elektrode und zum Aufbau einer Schicht entgegengesetzter Ladung. Diese Helmholtzsche

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Doppelschicht verhält sich wie ein Kondensator mit molekularem Plattenabstand. Die Plattenspannung ist als elektromotorische Kraft anzusehen und wird als Galvani-Spannung bezeichnet. Die Parameter hängen zum einen von der Geometrie ab (die HELMHOLTZ-Kapazität ist direkt und der FARADAY-Widerstand indirekt proportional zur Elektrodenfläche), zum anderen vom verwendeten Material (Elektrodenwiderstand, Polarisationsspannung). Eine detaillierte Beschreibung von Elektrodenvarianten enthält 󳶳Kapitel 8.1.2.

Differenzverstärker m1+n

+ m2+n

m1–m2

– Ausgang

Differenzelektroden Differenzeingänge

Haut

Muskel

Referenzelektrode

(a) verstärktes EMG in V

Referenzelektrode

(b)

10 Rohdaten der myoelektrischen Aktivität (Spannung) 0

tiefpassgefiltert in V

gleichgerichtet in V

–10 10 Kraft 5

0

1s

2 gleichgerichtete und über ein Zeitfenster von 80 ms geglättete Spannung

1

0 0

(c)

0,05

0,1

0,15

0,2

0,25 Zeit in s

0,3

0,35

0,4

0,45

0,5

(d)

Abb. 3.44: Myoelektrische Prothesensteuerung. (a) Myoelektrische Oberflächenelektrode mit ein­ gebautem Differenzverstärker, Netzfrequenzunterdrückung, Gleichrichtung und Tiefpass (Fa. Otto­ bock), (b) Messung des biologisch induzierten Differenzsignals m 1 − m 2 , wobei das äußere Stör­ signal n unterdrückt wird, (c) Wirkung der Gleichrichtung und Glättung durch den biologisch indu­ zierten Tiefpass eines myoelektrischen Signals, (d) Zuordnung des myoelektrischen Signals zur aufgebrachten Kraft und zum Steuersignal für myoelektrische Prothesen (nach [Mann 1981]).

3 Gliedmaßenprothetik | 189

Elektrodenvarianten Es werden Oberflächenelektroden und zukünftig auch implantierte Elektroden genutzt, die nach Trä­ germaterial in starre (Silizium, Kunststoff) und flexible (Polyimide, Silikon) Elektroden unterschieden werden. Eine Elektrode kann mit einem Elektrodenkontakt (monopolar), zwei Elektrodenkontakten (bipolar) oder mit bis zu mehreren hundert Elektrodenkontakten (Elektrodenarray) ausgestattet sein. Die einzelnen Elektrodenkontakte bestehen häufig aus Edelmetallen (Platin, Gold, Silber). Bei unpo­ larisierbaren Elektroden wird die Metallschicht mit einem schwer löslichen Salz überzogen (Silber mit Silberchlorid). Aber auch Werkstoffe wie Edelstahl, Titan oder Wolfram kommen zum Einsatz. Zur Ver­ größerung der effektiven Oberfläche und damit zur Verringerung der Übergangsimpedanz sowie zur Vergrößerung der möglichen Ladungsübertragung lassen sich mikroraues Platin, mikroraues Gold, Iridiumoxid und Titannitrid einsetzen. Neue Ansätze ergeben sich durch die Verwendung leitfähiger Polymere. Bei Metallelektroden können Trägermaterial und Elektrodenmaterial identisch sein. Für das zu wählende Design und Material sind Art, Dauer und Ort der Applikation sowie der Zu­ gang entscheidend. Ist eine hohe Selektivität für die Signalerfassung oder Stimulation gewünscht, so ist diese meist mit einer erhöhten Invasivität verbunden. Die unmittelbare Nähe zum Applikations­ ort implantierbarer Elektroden vermindert beispielsweise den Einfluss dazwischenliegender Gewebe­ schichten, störende Artefakte und Fehler bei der Platzierung der Elektrode. Heute ist die Verwendung von Oberflächenelektroden für die myoelektrische Ansteuerung von Prothesen der oberen Extremität üblich, in die bereits die Elektronik zur Signalvorverarbeitung integriert ist (󳶳 Abb. 3.44 (a)). Auf die in Forschungsprojekten genutzten implantierbaren Elektroden wird exemplarisch in 󳶳 Kapitel 3.5.2 eingegangen.

Der Effektivwert der Amplitude des EMG an einem Muskel steigt annähernd linear mit dessen Kontraktion (󳶳Abb. 3.43 und 󳶳Abb. 3.44 (d)). Das Frequenzspektrum des Myosignals hat ein Maximum zwischen ca. 20 bis 500 Hz. In diesem Frequenzbereich befinden sich viele potentielle Störquellen. Daher ist eine effektive Störungsunterdrückung unerlässlich. Das EMG ist mit ca. 5 bis 300 μVeff ein sehr schwaches Signal mit bis zu 100 000 mal stärkeren, überlagerten Störungen. Die typischen Störungen in der Myoprothetik sind elektrische Einstreuungen durch Niederfrequenzstörer, wie das Stromnetz oder Schaltimpulse von Leuchtstoffröhren, und Hochfrequenzstörer, wie z. B. Mobiltelefone, Sicherungsanlagen oder Funkgeräte, sowie Bewegungsartefakte durch Verschieben oder Abheben der Elektroden. Die erforderliche hohe Verstärkung bei gleichzeitiger Unterdrückung der Störungen stellt höchste Ansprüche an die Verstärkerelektronik. Die Störspannungen haben eine hohe aber an allen Stellen des Körpers gleich große Amplitude. Das EMG dagegen verursacht lokale Spannungsunterschiede m1 − m2 (siehe 󳶳Abb. 3.44 (b)), die durch die Störspannungen überlagern sind. Daher ist eine Differenzmessung des Myosignals und somit die Verwendung eines Differenzverstärkers zwingend erforderlich. Das Störsignal (n, siehe 󳶳Abb. 3.44 (b)) wird durch die Differenzmessung unterdrückt. Die Verarbeitung des EMG zu einem Steuersignal für die Myoprothetik erfolgt durch Gleichrichtung des EMG mit anschließender Tiefpassfilterung (󳶳Abb. 3.44 (c) und (d)). Die Grenzfrequenz des Tiefpassfilters bestimmt wesentlich die Reaktionsgeschwindigkeit der nachfolgenden Steuerstufe der myo-

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elektrischen Hand. Das so erhaltene Steuersignal wird dann einer digitalen oder einer proportionalen Steuerung der Prothese zugeführt (󳶳Abb. 3.44 (d)). Myoelektrisch gesteuerte Prothesen der oberen Extremität bestehen aus verschiedenen Bauteilgruppen. Während kosmetische Armprothesen (wie oben erläutert) auch unter Verwendung eines Modular-Systems (endoskelettal) aufgebaut werden können, ist für fremdkraftgetrieben Systeme die Schalenbauweise (exoskelettal) üblich. Dies liegt einerseits an der Verfügbarkeit des Bauraumes innerhalb der äußeren tragenden Hülle. Weiterhin hat der modulare Aufbau weniger Vorteile, als in der Prothetik der unteren Extremität, bei der die Ausrichtung der Komponenten im statischen Aufbau über Pyramidenadapter wichtig ist. Typische Bauteilgruppen myoelektrisch gesteuerter Prothesen sind: – individuelle orthopädische Maßbauteile (z. B. Oberarmschaft oder Unterarmschaft), – vorgefertigte mechanische Bauteile (z. B. mechanisches Oberarmdrehgelenk, mechanisches oder elektromechanisches Ellenbogengelenk, mechanisches oder elektromechanisches Pro- und Supinationsgelenk, elektromechanische Hand), – vorgefertigte elektrische und elektronische Bauteile, wie Energiespeicher (Akkumulator), Steuerungselektroden, Verstärker- und Schaltstufen, elektrische Antriebe und Getriebestufen zum Betrieb von Gelenken. Grundvoraussetzung für die Anwendung myoelektrischer Prothesen ist das Vorhandensein bzw. die Trainierbarkeit von Muskelaktionspotenzialen. Dies ist normalerweise der Fall, wenn nicht z. B. Nervenschädigungen oder Verbrennungen vorliegen, die eine Entstehung oder Übertragung von Potentialen verhindern. In solchen Fällen können jedoch ggf. Potentiale von anderen Muskelgruppen abgeleitet werden. Marktüblich und bewährt sind seit vielen Jahren myoelektrische Unter- und Oberarmprothesen, die das Öffnen und Schließen der Prothesenhand ermöglichen. Die nächste Ergänzung ist das elektromotorische Pro- und Supinationsgelenk (Rotation der Prothesenhand um die Unterarmachse), das immer dann eingesetzt wird, wenn eine Eigenkraft-Handdrehung mit kombinierter Rotation von Elle und Speiche im Handwurzel- und Ellenbogengelenk nicht möglich ist. Lässt die Stumpfbeschaffenheit dies zu, so ist der Eigenkraftbetätigung der Vorzug zu geben (Muskulaturtraining, Verringerung von Phantomschmerzen, Durchblutungsförderung usw.). Elektromotorische Ellenbogengelenke sind in verschiedenen Ausführungen erhältlich. Ihr Anwendungsbereich liegt vor allem bei beidseitig Amputierten, weniger bei einseitig Amputierten, die häufig mit einer Hybridprothese (weil simpler, leichter und preiswerter) versorgt werden. Schultergelenke mit Antrieben sind heute nicht in der Regelversorgung. Die notwendige Energie aller Antriebe wird durch Akkumulatoren (z. B. Li-Ionen-Akku) zur Verfügung gestellt. Die Schäfte für Prothesen der oberen Extremität werden individuell gefertigt und sind nicht standardisierbar. Dazu kann die gleiche Gipsabformtechnik genutzt werden, wie sie den Schäften der unteren Extremität üblich ist (󳶳Kapitel 3.3.2). Ei-

3 Gliedmaßenprothetik |

191

ne Besonderheit liegt jedoch in der notwendigen Integration der Elektroden in den Schaft. Es muss zunächst mit dem Patienten die ideale Elektrodenposition gefunden und markiert werden. Sie liegt dort, wo die Elektroden ein maximales Signal liefern, vom Patienten gut ansprechbar sind und wo die Signale nicht mit anderen Bewegungen oder den Signalen anderer Elektroden interferieren. Idealerweise werden die Muskelgruppen zur Ansteuerung genutzt, die ursprünglich die verlorenen Gliedmaßen bewegten. Das kann bei Handamputationen gelingen, wenn der Unterarmstumpf lang genug ist und die hier liegenden Muskelgruppen für das Öffnen und Schließen der prothetischen Hand genutzt werden. Dem Patienten fällt so die Ansteuerung der Prothese leichter. Bei höheren Amputationen kann dieses Ziel nicht mehr erreicht werden. Oberarmamputierte müssen bei bisher üblichen Versorgungen das Bewegen einer myoelektrisch angesteuerten Handprothese neu erlernen, weil die ursprünglich ansteuernden Muskelgruppen des Unterarms verloren gegangen sind (eine Alternative sind die in Forschungsprojekten untersuchten intuitiven Steuerungen, 󳶳Kapitel 3.5.1). Die prothetische Hand ist dann beispielsweise durch eine Kontraktion der Oberarmmuskulatur zu steuern. In Forschungsprojekten werden Ansätze untersucht, die das Problem des zunehmenden Bedarfs an Steuersignalen einerseits, aber ihre fehlende Verfügbarkeit bei höheren Amputationsniveaus andererseits lösen sollen. Dazu gehören chirurgische Maßnahmen (siehe später folgende Erläuterung der targeted muscle reinnervation (TMR), 󳶳Kapitel 3.5.1) und die Möglichkeit der Nutzung implantierbarer Elektroden (󳶳Kapitel 3.5.2). Ein weiterer, nicht-invasiver Ansatz besteht darin, mehrere Elektro-

(a)

(b)

(c)

(d)

Abb. 3.45: Myoelektrisch gesteuerte Armprothesen (in z. T. halbtransparenter Darstellung kosmeti­ scher Verkleidungen) für Schulter-, Oberarm-, Unterarm- und Handamputation (Fa. Ottobock).

192 | Marc Kraft et al.

den um den Arm herum in einem Array anzuordnen (beispielsweise acht Elektroden in einem Ring). Es wird dabei nicht wie bisher üblich darauf geachtet, dass jede Elektrode über einem willkürlich ansteuerbaren Muskel liegt. Vielmehr wird die Summe der Signale des Arrays bei verschiedenen Bewegungsformen aufgenommen und mit statistischen Methoden nach passenden Signalmustern (Verschiebung der Signalanteile unter den Elektroden) gesucht. In 󳶳Abbildung 3.45 sind myoelektrisch gesteuerte Armprothesen für verschiedene Amputationsniveaus dargestellt.

Elektrode

Verstärker

Verstärker

Gleichrichter

Gleichrichter

Filter

Filter

Schaltstufe

(a)

Verriegelung Motor

Schaltschwelle

t

Motorstrom

Elektrode

Myosignal

Steuerungen myoelektrischer Armprothesen Einfache myoelektrische Steuerungen arbeiten als binäre Digitalsysteme (Digitalsteuerung). Dem verstärkten EMG-Signal werden nur die Informationen „ja“ (Motor an) oder „nein“ (Motor aus) entnommen. Schaltkriterium ist eine festgelegte Schaltschwelle, die überschritten wird oder nicht. Die gebräuchlichen Verstärker in dieser Gruppe unterscheiden sich nur wenig voneinander. Die mittels Oberflächenelektroden abgegriffenen Spannungen werden in mehreren Stufen verstärkt, wobei die Eingangsstufe zur Vermeidung von Störeinflüssen stets als Differenzverstärker ausgeführt ist (󳶳Abb. 3.46). Das verstärkte Signal wird gleichgerichtet und dann in eine Impulsformerstufe geführt, die den Motor nach Über- bzw. Unterschreiten einer vorgegebenen Schaltschwelle ein- oder ausschaltet. Die entgegengesetzte Bewegung wird über einen zweiten, gleich aufgebauten Verstärkerkanal gesteuert, der sein Signal von einer antagonistischen Muskelgruppe (Gegenspieler) erhält. Beide Kanäle sind gegeneinander verriegelt. Myosignale auf beiden Kanälen gleichzeitig haben somit keine Wirkung. Der Amputierte hat mit dieser Steuerung keinen Einfluss auf die Geschwindigkeit und die Kraft bzw. das Drehmoment des Prothesenmotors. Bei der digitalen Steuerung greift oder öffnet die Prothese, sobald ein Schwellwert überschritten wird.

Schaltstufe

(b)

t

Abb. 3.46: (a) Blockschaltbild einer zweikanaligen myoelektrischen Prothesensteuerung, (b) Abhän­ gigkeit des Motorstroms vom Myosignal.

3 Gliedmaßenprothetik | 193

Myosignal

Elektrode

hoch

Verstärker

Schwellen

niedrig Gleichrichter schließen

t

Filter

(a)

Verriegelung

Motor

t

Schaltstufe hoch

öffnen

Schaltstufe niedrig

(b)

t

Abb. 3.47: (a) Blockschaltbild einer digitalen Prothesensteuerung im Doppelkanal-Modus, (b) Ab­ hängigkeit des Motorstromes vom Myosignal im Doppelkanal-Modus.

Beispiel Digital Twin-Steuerung (Fa. Ottobock) Digital-Modus: Das Öffnen und Schließen der Hand erfolgt über zwei Elektroden mit konstanter Geschwindigkeit nach Überschreiten eines Schwellwertes durch das jeweilige Elektrodensignal. Doppelkanal-Modus (󳶳 Abb. 3.47): Die Hand wird mit einer Elektrode geöffnet (schnelles starkes Muskelsignal) bzw. geschlossen (lang­ sames sanftes Muskelsignal) – jeweils mit konstanter Geschwindigkeit.

Neben den digitalen Steuerungen gibt es verschiedene myoelektrische Proportionalsteuerungen. Hierbei wird der oben beschriebene Zusammenhang genutzt, dass die messbare Muskelaktionsspannung mit zunehmender Muskelkontraktion in dem Maße wächst, wie die Zahl der erregten motorischen Einheiten steigt (󳶳Abb. 3.43 und 󳶳Abb. 3.44 und 󳶳Abb. 3.48). Elektrische Prothesensteuerungen mit Analogausgang arbeiten beispielsweise nach dem Prinzip der Pulsbreitenmodulation. Im Mittel ergibt sich so ein der Amplitude des Myosignals proportionaler Motorstrom (daher Proportionalsteuerung) und damit ein proportionales Drehmoment. Durch die Proportionalsteuerung kann entweder die Geschwindigkeit der Prothesenfunktion, z. B. beim Öffnen oder Schließen der Hand, die Drehgeschwindigkeit bei Rotation der Hand oder die Greifkraft verändert werden. Die Umschaltung der Drehrichtung des Motors erfolgt meist über eine H-Brückenschaltung mit Leistungsfeldeffekttransistoren. Zur optimalen Anpassung an den Patienten gibt es Programmvarianten, die durch einen Funktionsstecker am Steuermodul der Handprothese ausgewählt werden. Durch die Kodierung des Steckers wird das Programm für die entsprechende Funktion ausgewählt.

Myosignal

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Motorstrom

t

t

Abb. 3.48: Abhängigkeit des Motorstroms vom Myosignal bei Proportionalsteuerung.

Elektrogreifer Da myoelektrische Prothesenhände mit ästhetischem Anspruch und hautnachbildenden Kosmetiküberzügen für handwerkliche Tätigkeiten nicht robust genug sind, wurden für Arbeiten in gewerblichen Berufen spezielle Greifgeräte (Elektrogreifer) entwickelt. Diese weisen neben einer erhöhten mechanischen Belastbarkeit eine größere Öffnungsweiten und höhere Greifkräfte auf. Für spezialisierte Greiffunktionen können unterschiedliche Griffspitzen oder Werkzeuge eingebaut werden. Die Einstellung der Griffflächen ist in verschiedenen Raumebenen möglich (󳶳Abb. 3.49 (c)). leerer Becher wird gehalten Becher wird gefüllt

(a)

Becher rutscht

Reibungstoleranz

Greifkraft innerhalb der Toleranz

Schwerkraft

Greifkraft außerhalb der Toleranz

Greifkraft-Nachregelung

Greifkraft-Nachregelung

Rutschsensor (b)

(c)

Abb. 3.49: (a) Darstellung der beim Halten eines Bechers wirkenden Kräfte und der Wirkung der Greifkraftnachregelung der Sensorhand [Näder 1990], (b) Ansicht der Sensorhand, (c) Ansicht Elek­ trogreifer (Fa. Ottobock).

3 Gliedmaßenprothetik | 195

Sensor-Hand Obwohl die Einführung der myoelektrischen Prothesen ein großer Fortschritt in der Orthopädietechnik war, ist der Versorgte noch gezwungen, die Bewegung seiner Prothese visuell zu überwachen. Ihm fehlt die taktile Rückmeldung der natürlichen Hand. Um den Armamputierten auch in solchen Situationen von Überwachungsfunktionen zu entlasten, sind heute Handprothesen mit Greifkraftregelung verfügbar (Sensor-Hand). Der integrierte taktile Rutschsensor misst die beim Greifen entstehende Kraft in Richtung und Größe. Allein die Tendenz eines Gegenstandes zum Rutschen beim Übergang von der Haft- zur Gleitreibung (gekennzeichnet durch eine bestimmte Lage des resultierenden Kraftvektors aus Greif- und Gewichtskraft) kann erkannt werden und bewirkt ein rechtzeitiges Nachgreifen der Prothese (󳶳Abb. 3.49 (a) und (b)). Der Griff ist immer sicher und gerade so fest, wie es für ein sicheres Halten notwendig ist. Der Patient wird von der Unsicherheit befreit, versehentlich einen Gegenstand fallen zu lassen [Puchhammer 1999].

Hände mit adaptivem Griff In zahlreichen Forschungsprojekten sind Handkonstruktionen entwickelt worden, bei denen die Fingergelenke beweglich sind, in jüngerer Zeit auch von der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) in Zusammenarbeit u. a. mit dem Rehabilitation Institute of Chicago (󳶳Abb. 3.50 (a)). Wegen der Möglichkeit, Gegenstände mit gelenkigen Fingern formschlüssig zu greifen, werden diese Konstruktionen auch als adaptive bzw. anthropomorphe Hände bezeichnet. Einige dieser Systeme sind in Projekten entwickelt worden, die sich mit humanoiden Robotern befassten. Erste kommerzielle Systeme wurden im Jahr 2009 in den Markt eingeführt.

Die Hand i-limb (Fa. Touch Bionics, 󳶳 Abb. 3.50 (b)) ist die Weiterentwicklung der Edinburgh-Hand des Bioengineering Centres in Edinburgh und besitzt einzelne elektromotorische Antriebe jedes beugbaren Fingers. Der Daumen kann zusätzlich rotieren. Da die Finger unabhängig voneinander sind, können auch Teilhandamputationen mit ein bis fünf einzelnen Fingern versorgt werden. Durch ihren modularen Aufbau ist die Prothesenhand von der Prothesenseite (rechts oder links) unabhängig auf­ baubar. Es sind 24 verschiedene Griffmuster möglich. Der Patient erhält eine Smartphone-App, mit der Einstellungen der Prothese vorgenommen werden können [Touch Bionics 2014]. Ebenfalls aus einem Forschungsprojekt ging die Hand VINCENTevolution 2 (Fa. Vincent Sys­ tems, 󳶳 Abb. 3.50 (c)) hervor. Es handelt sich um die zweite Generation der ersten kommerziell ver­ fügbaren adaptiven Hand mit sechs Motoren. Die wissenschaftliche Arbeit zuvor befasste sich noch mit fluidischen Antrieben. Auch diese Hand kombiniert die Einzelfingerbewegung mit einem voll be­ weglichen Daumen und das Grundkonzept ist analog der i-limb Hand. Besonderheiten liegen in der geringen Größe (größere Varianten sind ebenfalls verfügbar), dem geringen Gewicht, in Biegefedern zwischen den proximalen und distalen Gelenken (die eine adaptive Grundspannung beim Greifen er­ möglichen) und in einer vibrotaktilen Rückmeldung. Diese vermittelt sensorbasiert von der Finger­ spitze der Prothese ein „Berührungsgefühl“ am Stumpf. Die Auswahl von 12 Griffarten, mit mehr als 20 Handpositionen und beliebigen Zwischenstellungen soll allein mit zwei EMG-Signalen über eine direkte und proportionale Ansteuerung möglich sein [Vincent Systems 2014].

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(a)

(b)

(c)

Abb. 3.50: (a) Hand der Defense Advanced Research Projects, (b) Hand i-limb digits (Fa. Touch Bionics), (c) VINCENTevolution 2 (Fa. Vincent Systems).

Auch die Hand bebionic3 (Fa. RSLSteeper) nutzt ein ähnliches Konzept elektromechanischer Fingerantriebe. Sie macht 14 verschiedene Griffarten möglich. Die Hand soll in der Lage sein, Gewichte bis zu 45 kg zu handhaben [RSLSteeper 2014]. Die Michelangelo Hand (Fa. Ottobock, 󳶳 Abb. 3.51 und 󳶳 Tab. 3.4) befindet sich seit 2012 im Markt. Obwohl sie auch vier bewegliche Finger und einen separat positionierbaren Daumen hat, un­ terscheidet sich der Aufbau dieser Handprothese von den bisher erläuterten Adaptivhänden. Daumen, Zeige- und Mittelfinger werden aktiv mit zwei elektromechanischen Antrieben bewegt, Ringfinger und kleiner Finger werden passiv mitgeführt. Der Hauptantrieb in der Handfläche ist für die Greifbewegung und die Erzeugung der Greifkraft zuständig. Durch seine Rotation werden Zugverbindungen zu den drei aktiv bewegten Fingern verkürzt und (ähnlich einem Zug an den Handinnensehnen) eine Beu­ gung der Finger bewirkt. Der Daumenantrieb macht unabhängige Bewegungen möglich, wie sie bei einem Seit- oder Lateralgriff benötigt werden. Die Michelangelo Hand hat acht Freiheitsgrade (vier

(a)

(b)

Abb. 3.51: Ansicht der Micheangelo-Hand (a) mit und (b) ohne Verkleidung (Fa. Ottobock).

3 Gliedmaßenprothetik |

197

Tab. 3.4: Technische Daten der Michelangelo Hand (Fa. Ottobock). Betriebstemperatur

−10°C bis +60°C

Gewicht Öffnungsweite Griffgeschwindigkeit Griffkraft Opposition Mode Griffkraft Lateral Mode Griffkraft Natural Mode

ca. 420 g (ohne Prothesenhandschuh) ca. 120 mm ca. 325 mm/s ca. 70 N ca. 60 N ca. 15 N

bewegte Fingergrundgelenke, zwei Daumengelenke und zwei Handgelenke). Das Handgelenk ermög­ licht sowohl die aktive Flexion und Extension als auch die passive Pronation und Supination. Die Hand fährt automatisch in eine neutrale Position, wenn der Anwender entspannt ist und das Myosignal ab­ fällt. Die neutrale Handstellung bezieht sich sowohl auf die neutrale leicht gebeugte Fingerstellung, als auch auf die Rotation, d. h. die Hand dreht sich auch wieder in eine neutrale Position zurück.

Ellenbogengelenksysteme Patienten mit Amputationen im Bereich des Oberarmes benötigen neben einer Prothesenhand auch eine Unterarmprothese mit Ellenbogengelenk und einen Stumpfschaft für den Oberarm. Der Verlust einer Vielzahl von Körperfunktionen führt bei diesem Amputationsniveau zu höheren Anforderungen an die Prothese. Mindestanforderung an ein prothetisches Ellenbogengelenk ist neben dem rotatorischen Freiheitsgrad, der das Gelenk ausmacht) die notwendige Sperrfunktion. Rastenlose Sperren ermöglichen eine Fixierung bei jedem Beugewinkel und lassen sich über Zugkräfte, Schalter oder myoelektrische Steuerungen betätigen. Bei einem direkten mechanischen Lösen und Sperren über Zugkräfte kann eine Kompensationsmechanik auch unter Last einen geringen Kraftaufwand (z. B. 10 N) ermöglichen. Weitergehende Anforderungen an Armprothesen mit Ellenbogengelenk für Oberarmamputierte betreffen: – eine günstige Masseverteilung, – einen Massenausgleich bei der Armflexion (mit einfacher Anpassung), – eine harmonische Schwungphase (mit geschwindigkeitsabhängiger Dämpfung der Armpendelbewegung), – ein einstellbares Reibmoment der Armextension, – einen gedämpften Streckanschlag nach Extension. Einige dieser Anforderungen lassen sich mit mechanischen Systemen lösen. Die Beugehilfe automatic forearm balance (AFB) für Ellenbogengelenke (Fa. OTTOBOCK) speichert die beim Strecken des Armes freigesetzte Energie und verwendet diese zur Unterstützung der Beugung. Die integrierte Mechanik der Beugehilfe steuert die Dynamik der Unterarmbewegung und gleicht über ein Kompensationsgetriebe die

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auftretenden Hebelkräfte aus. Die Kraft, die der Patient am Beugezug, durch Körperschwung oder ggf. einen Antrieb aufbringen muss, kann so verringert werden. Der Wirkungsgrad der Kompensation läßt sich einfach auf das individuelle Gewicht des Prothesenunterarmes und unterschiedlicher Kleidung einstellen. Bei der Mechanik handelt sich um ein Feder-Dämpfer-System mit integriertem Kompensationsgetriebe, das die Unterarmlast ausgleicht. Durch eine zusätzliche hydrodynamische Dämpfung wird der Bewegungsablauf harmonisch. Elektromechanische Ellenbogengelenke (󳶳Abb. 3.39 (c)) sind in der Lage, neben einem sehr feinfühligen Steuerungsverhalten eine schnelle Gelenkpositionierung mit hohen Hebe- und Haltekräften sowie ein sehr natürliches Freischwingverhalten zu gewährleisten. Die Systemsteuerung wertet neben myoelektrischen Muskel- bzw. Zuggurt-Schaltsignalen auch die Belastung des Armes (Gelenkmoment) sowie die Position und die Winkelgeschwindigkeit des Ellenbogengelenks aus.

Schultergelenksysteme Bisher sind nur passive Schultergelenke in der Standardversorgung verfügbar. Einfache Versionen sind Scharnier- oder Kugelgelenke. Komplexere Gelenke haben mehrere Freiheitsgrade. Das Gelenk MovoShoulder Swing 12S6 (Fa. Ottobock) ermöglicht mit zwei Gelenken einen Freischwung beim Gehen, eine passiv (mit der gesunden Hand) zu betätigende Sperrfunktion bei 30 Grad Anteversion und eine Abduktion bis zu 20 Grad, die bei körpernahen und sitzenden Tätigkeiten die Hand-/Armpositionierung erleichtert.

3.5 Weiterentwicklungen der Prothetik im Bereich des biologisch-technischen Interfaces Herausforderungen für zukünftige Weiterentwicklungen von Gliedmaßenprothesen der oberen und unteren Extremitäten liegen insbesondere auf den Gebieten der Verbesserung der Funktionalität und des Tragekomforts. Gegenwärtige und zukünftige Entwicklungstrends sind durch stetige Weiterentwicklungen gekennzeichnet, zu denen die weitere Leichtbauoptimierung, die Nutzung neuer Materialien, der Einsatz von Mikrotechnik und Mikrokontrollern sowie die Versorgungsoptimierung durch messtechnische Analysen, Datenverarbeitung und Telekommunikation (auch für Servicezwecke) gehören. Die Nutzung von Mikrokontrollern sowie die Integration von Sensoren erlauben den Aufbau geschlossener Regelkreise, die den Patienten von sonst notwendigen Überwachungsaufgaben entlasten (siehe Erläuterung mikroprozessorgesteuerter Kniegelenke in 󳶳Kapitel 3.3.3 und Beschreibung der Sensorhand in 󳶳Kapitel 3.4.3). In der mechanischen Weiterentwicklung liegen Zielstellungen in der weiteren Optimierung der Wandlung und Speicherung von Bewegungsenergie, in

3 Gliedmaßenprothetik | 199

der Entwicklung neuer Funktionselemente und Aktuatoren mit einer immer besseren Nachbildung natürlicher Bewegungsvorgänge. Während im Bereich der unteren Extremität Aktivitäts- und Mobilitätserhöhungen im Vordergrund stehen, ist im Bereich der oberen Extremität die weitere Erhöhung der ansteuerbaren Freiheitsgrade der Hand und des Armes vorrangig. Neben diesen kontinuierlichen Weiterentwicklungen bereits verfügbarer, hoch entwickelter Gliedmaßenprothesen gibt es auch Zielstellungen für ein biologischtechnisches Interface. Diese werden derzeit in Forschungsprojekten bearbeitet und sind noch nicht in der Anwendung. Im Bereich der oberen Extremität zielen diese auf: – die intuitive Steuerung, also das Ausführen unterschiedlicher Bewegungen ohne Nachdenken und ohne das Erlernen definierter Muskelkontraktionen, – sensorische Rückmeldungen mit deren Hilfe der Prothesenträger Informationen aus seiner Umgebung, des berührten bzw. ergriffenen Gegenstandes und über seine Prothese selbst erhalten kann. Für beide Extremtäten wird nach – alternativen mechanischen Ankopplungen der Prothese an den Stumpf gesucht, welche die Nachteile heute verfügbarer Schäfte vermeiden helfen. Nachfolgend soll exemplarisch auf aktuelle Forschungsprojekte mit diesen Zielstellungen eingegangen werden.

3.5.1 Intuitiv gesteuerte Prothesen

󳶳 Intuitiv gesteuerte Prothesen ermöglichen es dem Betroffenen, seine Prothese in natürlicher Weise zu bewegen, ohne die Ansteuerung erlernen oder dieser Aufmerksamkeit widmen zu müs­ sen.

Die für eine intuitive Steuerung potenziell nutzbaren Signale lassen sich entlang der motorischen Bahn ableiten. Hierzu gehören zur Vorbereitung einer Bewegung Potentiale aus dem motorischen Kortex, die Innervationsmuster entlang der peripheren Nerven, die Aktionspotentiale einzelner motorischer Fasern und Summenpotentiale der von ihnen innervierten Muskulatur. Möglichkeiten der Signalerfassung sind in 󳶳Abb. 3.52 dargestellt. – Die Erfassung und Nutzung kortikaler Signale zur Ansteuerung von Prothesen ist aufgrund der Komplexität der neuralen Strukturen im Zentralnervensystem ein Forschungsgebiet mit erheblichen Herausforderungen. Die Signalableitung kann invasiv oder nichtinvasiv über Oberflächen-EEG-Elektroden erfolgen (brain-computer- interface: BCI). Es wurden bereits mehrere Forschungsprojekte mit z. T. beeindruckenden Ergebnissen auch zur Steuerung von Hilfsmitteln (u. a. Roboter-

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motorischer Kortex Elektrodenarray peripherer Nerv intrafaszikuläre Elektrode Muskulatur epimysiale Elektrode Abb. 3.52: Möglichkeiten der Erfassung von Signalen zur intuitiven Steuerung einer Hand­ prothese.





arme, Rollstühle) unter Nutzung von EEG-Signalen durchgeführt [Wolpaw 2012]. Herausforderungen invasiver Systeme mit dem Potenzial einer höheren, auch lokal besser differenzierbaren Signalqualität liegen in ethischen Fragen. Nichtinvasive Systeme sind hinsichtlich der notwendigen Datenverarbeitungsalgorithmen in Bezug auf das Auffinden bewegungsrelevanter EEG-Muster besonders anspruchsvoll. Weiterhin wird an der Nutzung von Trockenelektroden gearbeitet. Alle brain-computer-interfaces erfordern heute noch eine hohe Konzentration des Nutzers (da andere, nicht auf die angestrebte Bewegung abzielende Hirnaktivitäten zu Fehlsignalen führen können) sowie eine individuelle Anpassung der Mustererkennung auf den Nutzer. Mit robuster werdenden Datenverarbeitungsalgorithmen und Fortschritten in der Alltagstauglichkeit der Systeme haben braincomputer-interfaces ein großes Potenzial vor allem für Patienten mit hohen Lähmungen oder anderen krankhaften Veränderungen, bei denen peripher keine verwertbaren Signale verfügbar sind. Jedoch wird auf absehbare Zeit nur eine unidirektionale Nutzung von (motorischen) Signalen und keine Rückmeldung sensorischer Informationen möglich sein. Werden die Signale vom peripheren Nerv abgeleitet, können die Aktionspotenziale einzelner Nervenfasern erfasst werden. So innervieren der N. medianus Daumen und Zeigefinge und der N. ulnaris den kleinen Finger, Ring- und Mittelfinger einer Hand. Damit wird es möglich, spezifischen Innervationsmustern einzelne Fingerbewegungen zuzuordnen und so die Ausführung eines Präzisionsgriffes zu steuern (s. Beispiel thin film-longitudinal intrafascicular electrode, tf-LIFE). Noch spezifischer lassen sich die Signale den Bewegungen zuordnen, wenn sie von der jeweils zugehörigen Muskulatur erfasst werden. Diese Potenziale sind in ihrer Amplitude größer als die neuronalen Signale, sie haben ein besseres Signal-Störspannungs-Verhältnis und sind in einem niederen Frequenzbereich. Die epimysiale Ableitung ist weniger invasiv als die nervale Ableitung. Allerdings werden an die mechanische Beständigkeit der Elektroden aufgrund der Kontraktion der Muskulatur höhere Anforderungen gestellt [Hoffmann 2005]. Weiterhin ste-

3 Gliedmaßenprothetik | 201

hen (intuitiv) nutzbare Muskelgruppen bei höheren Amputationsniveaus nicht zur Verfügung. Eine nichtinvasive Option zur Verbesserung einer intuitiven Steuerung unter Nutzung peripherer Nerven (Variante b in 󳶳Abbildung 3.52) ist der selektive Nerventransfer (TMR: targeted muscle reinnervation) [Kraft 2011]. So gelang es bereits an einigen Patienten nach hohen Armamputationen (z. B. im Schultergelenk), die im Stumpf vorhandenen Enden der Armnerven chirurgisch derart umzulegen, dass sie in die Brustmuskulatur einwuchsen. Statt einer Bewegung der verloren gegangenen Muskelgruppen, lösen diese ehemaligen Armnerven dann Kontraktionen von segmentierten Teilen der Brustmuskulatur aus. Über Oberflächenelektroden werden diese Signale an

motorische Nerven

Lage der Elektroden

segmentierter Brustmuskel

Abb. 3.53: Prinzip der gezielten Reinnervation des Brustmuskels mit der Ableitung von Oberflächen­ potentialen zur Ansteuerung einer Armprothese.

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der Haut abgegriffen und für die Ansteuerung komplexer Armprothesen mit bis zu sieben Gelenken genutzt. Werden die Areale der Brustmuskulatur zur myoelektrischen Ansteuerung einer Prothesenhand genutzt, in denen die ehemals die Hand ansteuernden Nerven eingewachsen sind, muss der Amputierte den Umgang mit der Prothese nicht neu erlernen. So wie er ursprünglich seine eigene Hand bewegte, folgt nun die („gedankengesteuerte“) Prothesenhand (󳶳Abb. 3.53).

3.5.2 Sensorische Rückmeldungen

Sensorische Rückmeldungen ermöglichen dem Träger einer Handprothese, mit integrierten Sen­ soren und Aktuatoren bzw. implantierten Elektroden Informationen über die Beschaffenheit ergrif­ fener Gegenstände und über die greifende Hand zu erhalten.

Die visuelle und akustische Rückkopplung der Funktion einer Handprothese nutzt ein Amputierter bereits. Zusätzliche sensorische Rückmeldungen könnten auch das Tastund das Temperaturempfinden ersetzen. Erste Ansätze sensorischer Rückmeldungen sind in der VINCENTevolution 2 (Fa. Vincent Systems, 󳶳Kapitel 3.4.3) bereits in einfacher (vibrotaktiler) Form umgesetzt. Ziel ist es natürlich, zukünftig auch die sensorischen Informationen intuitiv in der ursprünglichen Form zu vermitteln. Ein Ansatz auf dem Weg zu diesem Ziel besteht darin, den selektiven Nerventransfer (TMR) mit einer zusätzlichen Reaktivierung sensibler Teile der Nervenenden eines Amputationsstumpfes (targeted sensory reinnervation) zu nutzen. Es könnte möglich werden, eine Prothese mit Berührungs- und Temperaturdetektoren auszustatten, die ihre Signale auf die entsprechend reinnervierte (oder fremdinnervierte) Haut übertragen. Die Berührung eines Gegenstandes mit der Prothesenhand wäre durch einen taktilen bzw. thermischen Aktuator spürbar. Die intuitive („gedankengesteuerte“) Armprothese könnte dann auch noch „gefühlt“ werden. Alternativ zur Verwendung von Oberflächenelektroden und Oberflächenaktuatoren wird in verschiedenen Forschungsprojekten an der direkten (invasiven) Kontaktierung von Nerven bzw. Muskelgruppen mit implantierbaren Elektroden gearbeitet. Sie sind aktuell noch nicht in der Anwendung am Menschen. Kritisch ist die Infektionsgefahr eines Hautdurchtrittes, welche jedoch durch eine drahtlose telemetrische (z. B. induktive) Ankopplung der Implantate umgangen werden kann. Um dem Betroffenen ein Gefühl für die Hand und für die Griffkraft über implantierte Elektroden zu geben, ist die Stimulation der afferenten Nervenbahnen erforderlich. Die in der Handprothese über Sensoren aus der Umwelt aufgenommenen Reize müssen analysiert, klassifiziert und dem Patienten erlebbar gemacht werden. Nach der Stimulation der afferenten sensorischen Fasern soll im sensorischen Kortex ein dem erfassten Signal adäquates Gefühl entstehen. Dies bedarf der individuellen Optimierung der Parameter und Muster der Stimulation und ein längeres Training, bei

3 Gliedmaßenprothetik |

intrakorporal

203

extrakorporal motorische Steuerung

efferente Nervenfasern

Ableitelektrode

Verstärker

Telemetrie

motorische Steuerung proproizep. Sensoren

motorischer/ sensorischer Kortex

Handprothese exiterozep. Sensoren

afferente Nervenfasern

Reizelektrode

Stimulator

Telemetrie

Signalverarbeitung

sensorisches Feedback

Abb. 3.54: Vereinfachte Darstellung des Regelkreises einer intuitiv und telemetrisch gesteuerten Handprothese mit sensorischem Feedback und implantierten Elektroden.

dem aufgrund der Plastizität der neuronalen Strukturen im Gehirn dieses Ziel erreicht werden kann. Die Rezeptoren der Außenwahrnehmung (Exterozeption) dienen der Erfassung von Kraft, Druck, Beschleunigung aber auch Temperatur und Schmerz. Sie erfassen damit Signale, die man unter dem Begriff Sensibilität zusammenfassen kann. Die Bewegung und die Position der Hand im Raum sowie die Stellung der einzelnen Finger wird durch propriozeptive Rezeptoren erfasst. Beide Arten von Informationen sind für die Regelung der Bewegung der Prothese von Bedeutung. Die 󳶳Abbildung 3.54 zeigt den Regelkreis einer intuitiv gesteuerten Prothese mit implantierten Komponenten einschließlich sensorischen Feedbacks. Die etwa 17 000 natürlichen Rezeptoren der Hand müssen durch geeignete Sensoren in der Prothese nachempfunden werden. So sind beispielsweise Kraft- und Kontaktsensoren in die Fingerkuppen zu integrieren, um feinfühlig Gegenstände halten zu können. Ihre Temperatur, wie z. B. die einer Tasse Kaffee, kann mittels Thermistoren erfasst werden. Hallsensoren lassen sich zur Erfassung des Winkels zwischen den einzelnen Fingergliedern einsetzen. Damit kann die Stellung der Finger im Raum bestimmt werden, deren Kenntnis als Ausgangspunkt für die Bewegung der Hand erforderlich ist [Hoffmann 2007]. Eine voll funktionelle biologisch-technische Schnittstelle zwischen Mensch und Technik muss bidirektional sein, d. h. sowohl eine elektrische Stimulation zur sensorischen Rückmeldung als auch die Erfassung bioelektrischer Signale zur intuitiven Ansteuerung der Prothese ist notwendig.

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Beispiel einer flexiblen implantierbaren Mikroelektrode (Forschungsprojekt). Design, Materialien und Technologien der Herstellung sind so zu wählen, dass implantierbare Elektro­ den biokompatibel und langzeitstabil sind. Die Anpassung der Struktur der Elektrode an das mecha­ nische Verhalten des biologischen Gewebes in ihrer unmittelbaren Umgebung wird Strukturkompa­ tibilität genannt. Aufgrund der zu erwartenden resultierenden Bewegungen im Anwendungsbereich sind flexible Elektroden erforderlich, welche z. B. die Bewegungen der Muskulatur über einen langen Zeitraum tolerieren. Bei der Oberflächenkompatibilität werden die biologischen, chemischen, mor­ phologischen und physikalischen Eigenschaften der Elektrode so an das Gewebe angepasst, dass die klinisch erwünschten Wechselwirkungen erzielt werden. Für die Elektrode bedeutet dies, dass die elektrische Stimulation die Phasengrenzschicht nicht beeinflussen darf, damit diese unverfälscht bioelektrische Signale über einen langen Zeitraum erfassen kann [Navarro 2005; Hoffmann 2005]. Das Trägermaterial für eine implantierbare Mikroelektrode kann z. B. Polyimid sein, das eine hohe mechanische Festigkeit bei der notwendigen Flexibilität besitzt. Die Kontaktstellen zum bio­ logischen Gewebe bestehen aus Gold, Platin oder mikrorauem Platin. Die Herstellung erfolgt unter Reinraumbedingungen. Die Fertigung der Elektroden ist aufwendig: zuerst wird eine 5 μm dicke Poly­ imidschicht auf einen Siliziumwafer gebracht. Auf diese wird Photolack geschleudert, Gold oder Platin in einer Dicke von 300 nm gesputtert und photolithografisch so strukturiert, dass sich die Leiterbahn­ strukturen auf der Polyimidfolie ausbilden. Mit einer zweiten 5 μm dicken Polyimidschicht wird dann alles überzogen, um die metallischen Schichten zu kapseln. Danach werden in einem Trockenätzpro­ zess die Elektroden und die Kontaktflächen zum Anschluss von Drahtverbindungen freigelegt. Diese Folien können danach mechanisch vom Wafer getrennt werden. Verschiedene Verfahren wie z. B. Im­ pedanzspektroskopie, Licht- und Elektronenstrahlmikroskopie sowie FOURIERtransformierte InfrarotSpektroskopie werden zur Kontrolle des Fertigungsprozesses eingesetzt. Zum Schutz der leitfähigen Bestandteile vor der Körperumgebung muss das gesamte Implantat gekapselt werden. Für einen kli­ nischen Einsatz ist der Nachweis der Biokompatibilität unabdingbar [Hoffmann 2011].

tf-LIFE 4 Keramik

menschliches Haar zum Größenvergleich

Struktur mit 8 Elektrodenkontakten

Zuleitungen

Elektrodenkontakt 40 μm

Silikonschlauch

100 μm

Implantationshilfe

(b)

Zuleitung

107

Wolframnadel

(a) peripherer Nerv

|Z|

106

unbeschichtet

105 beschichtet 104

Elektrodenstruktur

(c)

103 101

(d)

102

103

104

105

Frequenz in Hz

Abb. 3.55: tf-LIFE Elektrode. (a) Ansicht der Elektrodenstruktur, (b) Einzelelektrode (40 μm × 100 μm), (c) Applikation und (d) Ergebnis der Impedanzspektroskopie für eine Elektrode aus reinem Platin und Beschichtung mit mikrorauem Platin (Fraunhofer IBMT).

3 Gliedmaßenprothetik |

205

Eine spezielle Elektrode, genannt thin film-longitudinal intrafascicular electrode (tf-LIFE) wird längs durch einen peripheren Nerven gezogen, sodass sie sich zwischen den Nervenfasern befindet und ihre Kontakte die Signale einzelner Nervenfasern erfassen können. Die 󳶳 Abbildung 3.55 zeigt so­ wohl das Design als auch die Applikation dieser Elektrode. Sie besteht aus zwei Polyimidschlaufen, wobei die erste mit einer Wolframnadel versehen ist und als Implantationstool dient. Auf dem zwei­ ten flexiblen Polyimidträger befinden sich die acht Elektrodenkontakte. Diese bestehen aus Platin und haben eine Größe von 40 × 100 μm. Eine erste Anwendung im Menschen über einen Zeitraum von 26 Tagen konnte im Jahre 2009 erfolgreich abgeschlossen werden. Einem am Oberarm amputierten Patienten wurden jeweils zwei Elektrodenstrukturen in den N. medianus und den N. ulnaris implantiert. Damit war es möglich, die motorischen Signale der efferenten Nervenfasern 32-kanalig zu erfassen und nach einer Klassifikation die Bewegung einer Handprothese zu steuern. Mittels 32-kanaliger Stimulation der afferenten Fasern über die gleichen Elektrodenkontakte konnte ein sensorisches Feedback realisiert werden. Dem Betroffenen war es möglich, intuitiv alle fünf Finger einer bionischen Handprothese einzeln zu bewegen und Präzisionsgriffe, wie z. B. Pinzettengriff, auszuführen. Das sensorische Feedback gab ihm den Eindruck seiner amputierten Hand zurück [Rossini 2009]. Beispiel: Bidirektional kommunizierendes Implantat zur myoelektrischen Steuerung einer bionischen Handprothese (Forschungsprojekt). Die von den implantierbaren Mikroelektroden erfassten bioelektrischen Aktivitäten werden zur Steuerung der Handprothese drahtlos transkutan übertragen. Hierzu ist die Implementierung einer elektrodennahen Elektronik erforderlich. Die Implantatelektronik besteht aus einer anwendungsspe­ zifischen integrierten Schaltung (application specific integrated circuit, ASIC) zur Signalkonditionie­ rung und Digitalisierung, einem Mikrocontroller zur Steuerung, einem Funkchip zur Kommunikation und einem Modul zur induktiven Energieübertragung. Für die Funkübertragung wird das medizinisch zugelassene Frequenzband zwischen 401 und 406 MHz (Medical Implant Communication Service, MICS) verwendet. Je nach Anwendung ist die Signalverstärkung, Filterung, Vorverarbeitung und Komprimierung sowie Stimulation im Implantat integriert. Eine besondere Bedeutung kommt der Echtzeitfähigkeit des Gesamtsystems zu. Nur mit Latenzzeiten unter 100 ms ist es dem Träger des Systems möglich, die Prothese verzögerungsfrei (im Rahmen seiner Reaktionszeit) bewegen zu können.

Spule zur Energieübertragung Signalübertragung

externe Spule zur Energieübertragung

Funkchip externe Basisstation zur Kommunikation

ASIC zur Signalkonditionierung Implantat implantierbare Elektroden

Abb. 3.56: Charakterisierung eines Implantats im Labor: Prototyp für die intuitive myoelektrische Steuerung einer Handprothese (Fraunhofer IBMT).

206 | Marc Kraft et al.

Das Implantat kann bis zu 10-kanalige myoelektrische Signale erfassen, vorverarbeiten und te­ lemetrisch zu einer sich außerhalb des Körpers befindlichen Basisstation senden. Die Energieversor­ gung des Implantats erfolgt induktiv. Es wird eine echtzeitfähige bidirektionale Funkverbindung mit einem speziell für die Funkübertragung zwischen einem medizinischen Implantat und einer externen Basisstation entwickelten Chip aufgebaut. Damit können zum einen die erfassten und vorverarbeite­ ten Signale mit einer Übertragungsrate von 260 kBit/s bei 10 Bit Auflösung und einer Latenz von etwa 23 ms übertragen werden, zum anderen lassen sich Mikrocontroller und ASIC steuern. Bei der Rea­ lisierung standen ein niedriger Stromverbrauch und die Übertragung mit hohen Geschwindigkeiten mit einer geringen Fehlerrate sowie Echtzeitfähigkeit im Vordergrund. Das realisierte Gesamtsystem ist in 󳶳 Abb. 3.56 dargestellt.

3.5.3 Alternativen einer mechanischen Ankopplungen der Prothese an den Stumpf Ein langfristiges Entwicklungsziel der Bein- und Armprothetik liegt in einer Verbesserung der Ankopplung prothetischer Komponenten an den menschlichen Stützapparat. Unter Einsatz von stumpfgestaltenden bzw. aus dem Stumpf austretenden Implantaten sollen zukünftig auch Patienten prothetisch versorgt werden, für die heute verfügbare Prothesenschäfte keine nutzbare Lösung darstellen. Es gibt Patienten, bei denen eine Ankopplung der Prothese mit einem den Stumpf umschließenden Prothesenschaft aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich ist. Es kann aufgrund der Lasteinleitung über das Weichgewebe zu Stumpfschmerzen, Stumpfödemen usw. kommen. Weiterhin ist für die Schaftversorgung ein großflächiger Kontakt mit der Haut des Stumpfes charakteristisch, an der es durch das entstehende Mikroklima (erhöhte Temperatur und Feuchte) zu krankhaften Veränderungen und starken Hautirritationen kommen kann. Andere Patienten erleben sehr starke Stumpfvolumenschwankungen, die den Gebrauch einer Schaftprothese ausschließen. Weitere Limitationen von Prothesenschäften liegen in der Einschränkung der Bewegungsfreiheit von angrenzenden Gelenken und in der Beeinträchtigung des Sitzens durch Oberschenkelschäfte [Kraft 2007]. Das Ziel einer intraossären, hautdurchtretenden Verankerung von Exoprothesen (󳶳Abb. 3.57 (a)) liegt darin, Patienten mit Kontraindikationen für eine konventionelle Schaftversorgung überhaupt eine prothetische Mobilität bzw. Funktionalität zu ermöglichen. Für die technische Realisierung einer Verankerung von Exoprothesen im Hart- und Weichgewebe ist es u. a. notwendig, einen dauerhaft infektions- und komplikationsfreien Weichgewebedurchtritt, eine physiologische Lasteinleitung in Weichgewebe und Knochen sowie eine sichere und einfach lösbare Verbindung der Exoprothese mit den Implantatkomponenten zu erreichen. Viele der bisherigen Ansätze zur Gestaltung von Hautdurchtritten zeigten zunächst Erfolge, konnten aber nicht erfolgreich für den Einsatz am Menschen etabliert werden. Die Infektionsgefahr blieb bestehen. Die in aktuellen klinischen Studien tatsächlich umgesetzten Konzepte zur intraossären Anbindung von Exoprothesen erreichen keinen dauerhaften Wundverschlusses am Hautdurchtritt. Bei den Patienten aller Arbeitsgruppen traten immer wieder z. T. auch tiefe Infektio-

3 Gliedmaßenprothetik | 207

Röhrenknochen

Röhrenknochen

Weichgewebe

Weichgewebe

Implantat

Implantat

Exoprothese (a)

Exoprothese (b)

Abb. 3.57: (a) Konzept eines Implantates mit Hautdurchtritt und (b) eines Kondylenimplantates zur Stumpfformung [Näder 2011].

nen auf. Derzeit wird in verschiedenen Forschungsprojekten an der Verringerung der Infektionsgefahr hautdurchtretender Implantate zur direkten Ankopplung von Exoprothesen an den Röhrenknochen gearbeitet. Alternativ zu einem Implantat mit Hautdurchtritt können intrakorporale Stumpfformende Implantate Vorteile bieten. Zur Verbesserung der Haftung eines Oberarmschaftes entwickelte eine norwegische Forschergruppe ein Kondylenimplantat für den Oberarmknochen (Humerus). Durch das Implantat wird der Stumpf so verändert, dass er die Möglichkeit für einen Formschluss (󳶳Abb. 3.57 (b)) bietet. Es kann so auch mit kurzen Schäften (ohne Einbindung des Schultergelenks) die Übertragung von Drehmomenten und Zugkräften auf den Stumpf erfolgen [Näder 2011].

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Danksagung Die Autoren danken allen an der Erstellung des Kapitelmanuskripts beteiligten weiteren Personen an der TU Berlin, bei der Fa. Ottobock und im Fraunhofer Institut IBMT, den Bereitstellern von Daten, Bildern und Informationen sowie den Mitarbeitern des Verlages WALTER DE GRUYTER.

3 Gliedmaßenprothetik |

211

Testfragen 1. Wo liegen die Hauptursachen für Amputationen, welche Patienten sind betroffen? 2. Wie kann die Entscheidung zur Wahl der Amputationshöhe getroffen werden? 3. Welche Amputationsniveaus der oberen und unteren Extremität werden unterschieden? 4. Welche Grundregeln sollte der Chirurg bei der Amputation beachten? 5. Welche Aufgaben stellen sich in der frühen medizinischen Rehabilitationsphase? 6. Welchem Zweck dient der Profilerhebungsbogen des MDS? 7. Wie können Mobilität und Aktivität unterschieden werden, welche Relevanz besitzt ihre Unter­ scheidung? 8. Charakterisieren Sie die im Profilerhebungsbogen des MDS definierten Mobilitätsgrade! 9. Welche Ziele werden in der zweiten und in der späten medizinischen Rehabilitationsphase ver­ folgt? 10. Wer arbeitet im Rehabilitationsteam mit und welche Aufgaben haben die Teammitglieder zu er­ füllen? 11. Welche wichtigen Kriterien müssen für eine erfolgreiche Rehabilitation erfüllt werden? 12. Welche Prothesenarten gibt es, wie ordnet sich die Gliedmaßenprothetik ein? 13. Welche Aufgaben haben funktionelle Prothesen für die obere und untere Extremität allgemein? 14. Welche spezifischen Aufgaben müssen Beinprothesen erfüllen? 15. Beschreiben Sie den Aufbau von Modular-Beinprothesen sowie Zweck und Aufbau des Pyrami­ denadapters! 16. Welche Aufgaben und Anforderungen erfüllt ein Prothesenschaft? 17. Welche Amputationsniveaus der unteren Extremität sind zu welchem Anteil endbelastbar? 18. Entspricht die Form eines Schaftes der Außenkontur eines Stumpfes? 19. Welche Arten von Beinprothesenschäften kennen Sie? 20. Welche Effekte werden bei der Lastübertragung im Prothesenschaft genutzt? 21. Welche Besonderheiten gelten für Unterschenkelprothesenschäfte bzw. für Oberschenkelpro­ thesenschäfte, welche Ausführungsformen gibt es? 22. Nach welchen Kriterien können prothetische Füße unterschieden werden? 23. Welche prothetischen Fußkonstruktionen sind heute verfügbar, wie unterscheiden sie sich? 24. Welche Unterscheidungsmerkmale gibt es bei prothetischen Kniegelenken? 25. Wie kann man mit einem einachsigen Kniegelenk auf einfache Weise eine Standphasensicherung ohne Sperrung erreichen? 26. Nennen Sie verschiedene Prinzipien der Standphasensicherung prothetischer Kniegelenke und gehen Sie auf deren Unterschiede ein! 27. Nennen Sie verschiedene Prinzipien der Schwungphasensteuerung prothetischer Kniegelenke und gehen Sie auf deren Unterschiede ein! 28. Wo liegen die Vorteile mikroprozessorgesteuerter Kniegelenke? 29. Wie ist ein prothetisches Hüftgelenk in einfacher Form aufgebaut? 30. Welche Aufgaben haben funktionelle und kosmetische Prothesen der oberen Extremität zu erfül­ len? 31. Welche Arten von Prothesen der oberen Extremität sind Ihnen bekannt? 32. Welche Griffarten können von der gesunden Hand und von prothetischen Händen genutzt wer­ den? 33. Welche Anforderungen werden an eine Prothese der oberen Extremität gestellt? 34. Beschreiben Sie Aufbau und Besonderheiten von Prothesen der oberen Extremität mit Eigen­ kraftnutzung! 35. Welche Arten fremdkraftgetriebener Prothesen der oberen Extremität sind Ihnen bekannt, wel­ che davon wird heute genutzt?

212 | Marc Kraft et al.

36. In welchem Frequenzbereich liegen die elektrischen Signale eines EMG? 37. In welcher Größenordnung liegt die Spannung, welche bei der Messung eines EMG erfasst wer­ den kann? 38. Warum wird ein Differenzverstärker zur Ableitung der Muskelpotentiale verwendet? Skizzieren Sie eine Ableitschaltung! 39. Welchen Verarbeitungsschritten wird das Muskelsignal unterzogen, bevor es zur Steuerung ei­ ner myoelektrischen Prothese genutzt wird? 40. Aus welchen Bauteilgruppen bestehen myoelektrische Prothesen? 41. Wie arbeitet eine binäre Steuerung myoelektrischer Prothesen? 42. Wie arbeitet eine proportionale Steuerung myoelektrischer Prothesen? 43. Welche Besonderheiten haben Sensor- bzw. Adaptivhände? 44. Welche Anforderungen werden an ein Ellenbogengelenk gestellt? 45. Welche Ziele werden in der zukünftigen Weiterentwicklung der Prothetik verfolgt?

Rolf-Dieter Weege, Marc Kraft

4 Rollstühle 4.1 4.2 4.3 4.4

Rollstuhlarten und Versorgungsanspruch | 214 Physikalische Grundlagen der Rollstuhltechnik | 218 Ausführungsformen von Rollstühlen | 241 Rollstuhlzusatzsysteme und andere Krankenfahrzeuge | 269

Zusammenfassung: Die Erfindung des Rades ermöglicht Menschen mit eingeschränkter oder ohne Gehfähigkeit den selbständigen Wechsel ihrer Ortsposition. Die verschiedenen Arten von Rollstühlen werden nach Verwendungszweck, Antriebsart, Bauart und besonderen Merkmalen unterschieden. Die Form des Antriebes (Eigenkraft oder Fremdkraft) und die Lenkungsart (direkt oder indirekt) entscheiden über die konstruktive Ausführung und die Bauart eines Rollstuhls (Hebel-, Greifreifen-, Elektrorollstuhl). Nach Klärung des Versorgungsanspruches durch die Gesetzliche Krankenversicherung zu Beginn des Kapitels wird später auf die physikalischen Grundlagen der Rollstuhltechnik und einzelne Rollstuhlbauarten eingegangen. Abstract: The invention of the wheel enables people with only limited or without walking ability to move forward on their own. The special types of wheelchairs differ in purpose, type of drive, type of construction and special features. The drive (self-propelled or external drive) and the steering system (direct or indirect) determine the design and construction of a wheelchair (lever/handrim/power wheelchair). In the first part of the chapter, the entitlement for maintenance of a wheelchair by people with disabilities living in Germany is given. Thereafter, the physical principles of wheelchair engineering as well as various types of wheelchairs are described.

214 | Rolf-Dieter Weege, Marc Kraft

4.1 Rollstuhlarten und Versorgungsanspruch Rollstühle ermöglichen das „Gehen auf Rädern“, was einer Funktionsbeschreibung dieser wichtigen Hilfsmittel entspricht, die jedoch gewisse Schwächen hat (siehe die Ausführungen zum menschlichen Gang 󳶳Kapitel 2 und 3). Mit einem Rollstuhl kann ein gehbehinderter Mensch seine Umwelt im wörtlichen Sinne „erfahren“. Die Rollstuhltechnik kann die Fähigkeit des Gehens aber nicht vollständig ersetzten. So kommt der Rollstuhlfahrer i. d. R. nicht auf Augenhöhe seiner Mitmenschen, sofern sich diese nicht ebenfalls setzen oder der Rollstuhl über Aufrichtfunktionen verfügt. Weiterhin ist das Überwinden von Bodenunebenheiten oder kleinen Hindernissen, wie Bordsteinkanten, eine große Herausforderung. Heute gibt es schon erste Ansätze, gehunfähige Patienten mit motorisch angetriebenen Orthesen (auch als Exoskelette bezeichnet, 󳶳Kapitel 9) zu versorgen. Diese können jedoch noch lange nicht und wahrscheinlich auch nie, den Rollstuhl ersetzen, der schon seit Jahrhunderten Anwendung findet (siehe Historie der Rehabilitationstechnik 󳶳Kapitel 1.5). Rollstühle bieten eine wesentlich höhere Sicherheit, können die (Rest-) Mobilität des Patienten in der oberen Extremität mit positiven Auswirkungen auf den Kreislauf fördern (Aktiv-Rollstuhl) und machen preiswertere Versorgungen mit geringer Komplexität und Ausfallgefahr möglich. Während der Absatz von Standard-Stahl-Rollstühlen seit einigen Jahren weitgehend konstant ist, steigen die Verkaufszahlen von leichten und flexiblen Rollstühlen kontinuierlich an. Nach Einschätzung des Industrieverbandes SPECTARIS [Spectaris 2014] werden jährlich mehr als 230 000 Rollstühle und Scooter in Deutschland verkauft, rund 40 Prozent davon sind Standard-Leichtgewicht-Rollstühle. Der Verkauf von Aktivrollstühlen verzeichnete in den vergangenen Jahren ein hohes Mengenwachstum von rund acht Prozent des Gesamtabsatzes. Während im 1. Halbjahr 2014 die Exporte von Rollstühlen und anderen Fahrzeugen für Behinderte ohne Vorrichtung zur mechanischen Fortbewegung wertmäßig im Vorjahresvergleich um rund zehn Prozent auf 28,5 Millionen Euro anstiegen, sank die Ausfuhr von Modellen mit Motor um rund zwei Prozent auf einen Wert von 25,8 Millionen Euro. Ein Großteil der in Deutschland verkauften Rollstühle stammt aus heimischer Fertigung. Sieben Unternehmen produzieren jährlich rund 75 500 Rollstühle und Krankenfahrzeuge ohne Motor im Wert von etwas mehr als 63 Millionen Euro sowie neun Hersteller knapp 35 000 motorisierte Modelle im Wert von 67 Millionen Euro. Hinzu kommen Teile und Zubehör im Wert von 95 Millionen Euro [Spectaris 2014]. Rollstühle sind im Hilfsmittelverzeichnis der GKV in der Produktgruppe 18 Kranken-/Behindertenfahrzeuge vertreten [HMV 2014], die jedoch nicht nur Rollstühle umfasst. Dort heißt es: „Kranken- oder Behindertenfahrzeuge ermöglichen Versicherten, die aufgrund einer Krankheit oder Behinderung gehunfähig oder gehbehindert sind, sich im allgemeinen Lebensbereich allein oder mit fremder Hilfe fortzubewegen.“ In der Norm DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie [ISO 9999]) werden manuelle Rollstühle (Klasse 12 22), mo-

4 Rollstühle

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torbetriebene Rollstühle (12 23) und Zubehör für Rollstühle (12 24) differenziert. Es werden auch weitere, den Krankenfahrzeugen zuzuordnende Klassen gelistet, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen wird. Ein 󳶳 Rollstuhl ist ein rollendes technisches Hilfsmittel (Mobilitätshilfe mit Rädern und Sitzsys­ tem), das bei Gehunfähigkeit oder stark eingeschränkter Gehfähigkeit von Personen mit Mobi­ litätseinschränkungen in allen Körperlagen (Sitzen, Stehen, Liegen) zur Anwendung kommt. Es ermöglicht den Betroffenen, sich im allgemeinen Lebensbereich allein oder mit fremder Hilfe fort­ zubewegen. Rollstühle werden individuell gefertigt, serienmäßig hergestellt oder erhalten als Ba­ sisprodukt zusätzliche individuelle Zurichtungen.

Im Hilfsmittelverzeichnis sind folgende Anwendungsorte und zugehörige Untergruppen von Kranken-/Behindertenfahrzeugen der Produktgruppe 18 gelistet [HMV 2014]: – Innenraum (Toilettenrollstühle, Duschrollstühle, Rollstühle mit Einarmantrieb, Elektrorollstühle für den Innenraum), – Innenraum und Außenbereich/Straßenverkehr (Schieberollstühle, Rollstühle mit Greifreifenantrieb, Adaptivrollstühle, Elektrorollstühle für den Innenraum und Außenbereich, Elektrorollstühle für Kinder), – Straßenverkehr (Rollstühle mit Hebelantrieb, Elektrorollstühle für den Außenbereich, Vorspann-/Einhängefahrräder mit Handkurbelantrieb für Kinder, Elektromobile), – Treppen (Treppenfahrzeuge), – ohne speziellen Anwendungsort und Zusätze (Reha-Karren/Buggys, Spezialrollstühle zur aktiven Nutzung durch Kinder, Rollstühle mit Stehvorrichtung, Rollstuhl-Zug-/Schubgeräte zur Eigen- und Fremdnutzung, Rollstuhl-Aufsteck-/Radnabenantriebe, Rollstühle mit Hub-/Hebevorrichtungen/Rollstuhlhebevorrichtungen, behinderungsgerechte Sitzelemente, restkraftunterstützende Greifreifenantriebe). Die verschiedenen Arten von Krankenfahrzeugen werden im Hilfsmittelverzeichnis nach Verwendungszweck, Antriebsart, Bauart und besonderen Merkmalen unterschieden. Die Form des Antriebes (Eigenkraft oder Fremdkraft) und die Lenkungsart (direkt oder indirekt) entscheiden über die konstruktive Ausführung und Bauart (Hebel-, Handkurbel-, Greifreifen-, Elektrorollstuhl usw.) des Rollstuhls. Der Verwendungszweck grenzt die für die jeweilige Versorgung geeigneten Bauarten ein. So können beispielsweise Einhänder nur Rollstühle mit Hebelantrieb und direkter Lenkung aus eigener Kraft bewegen. In der Norm DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie [ISO 9999]) sind folgende Definitionen der unterschiedlichen Rollstuhlarten enthalten:

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Manuelle Rollstühle: Mobilitätshilfen auf Rädern mit Stützvorrichtungen für Personen mit eingeschränkter Gehfähigkeit, welche durch den Benutzer oder eine Begleitperson angetrieben werden, zu ihnen gehören: – Greifreifenrollstühle mit beidseitigem Handantrieb (12 22 03): durch den Benutzer mit beiden Händen über die Räder oder Greifreifen angetriebene Rollstühle, – Handhebelrollstühle (12 22 06): durch den Benutzer über Handhebel angetriebene Rollstühle, – Rollstühle mit Einhandantrieb (12 22 09): durch den Benutzer mit nur einer Hand angetriebene Rollstühle, – Greifreifenrollstühle mit Hilfsantrieb (12 22 12): durch den Benutzer mit einer Hand bzw. beiden Händen über einen Greifreifen bzw. beide Greifreifen angetriebene Rollstühle, mit einem oder zwei Elektroantrieben zur Unterstützung der Raddrehung eines Rades oder beider Räder, – Trippelrollstühle (12 22 15): vom Benutzer nur durch Abstoßen mit einem Fuß oder beiden Füßen angetriebene Rollstühle, – Schieberollstühle zur Steuerung durch die Begleitperson (12 22 18): durch eine Begleitperson anzutreibende und zu steuernde Rollstühle, die beidhändig über die Schiebegriffe des Rollstuhls vorangetrieben werden, – Schieberollstühle mit Elektrozusatzantrieb zur Steuerung durch die Begleitperson (12 22 21): Durch eine Begleitperson anzutreibende Rollstühle, die beidhändig über die Schiebegriffe des Rollstuhls vorangetrieben werden, mit einem oder zwei Elektroantrieben zur Unterstützung der Raddrehung eines oder beider Räder. Motorbetriebene Rollstühle: motorbetriebene Mobilitätshilfen auf Rädern mit Stützvorrichtungen für Personen mit eingeschränkter Gehfähigkeit, zu ihnen gehören: – Elektrorollstühle mit manueller Lenkung (12 23 03): Rollstühle mit Elektromotor, bei denen der Richtungswechsel (Lenkung) durch eine mechanische Änderung der Stellung des bzw. der Antriebsräder ohne Kraftunterstützung erfolgt, – Elektrorollstühle mit Servolenkung (12 23 06): Rollstühle mit Elektromotor, bei denen der Richtungswechsel (Lenkung) kraftunterstützt ist, – Rollstühle mit Verbrennungsmotor (12 23 09): über einen Verbrennungsmotor angetriebene Rollstühle, – Elektrorollstühle zur Steuerung durch die Begleitperson (12 23 12): durch eine Begleitperson zu steuernde Rollstühle mit Elektroantrieb, – Rollstühle mit Treppensteigfunktion (12 23 15): Elektrorollstühle, welche sicher Stufen überwinden können, während sie von einer Person besetzt sind und von dieser bedient werden. Zubehör für Rollstühle: Vorrichtungen zur Verwendung mit Rollstühlen, zu ihnen gehören: – Lenk- und Bediensysteme für Rollstühle (12 24 03): Vorrichtungen zur Steuerung der Rollstuhlbewegungen und der Fahrtrichtung, – Antriebseinheiten für manuelle Rollstühle (12 24 09): Zusatzvorrichtungen zur Anbringung an einem nicht kraftbetriebenen Rollstuhl zur Unterstützung des Benutzers oder der Begleitperson, sodass der Rollstuhl ohne menschliche Hilfe bewegt oder vorangetrieben werden kann, – Beleuchtung und Sicherheitssignaleinrichtungen für Rollstühle (12 24 12): an einem Rollstuhl anzubringende Vorrichtungen zur Ausleuchtung der Umgebung oder zur Leuchtmarkierung der Position des Rollstuhls, – Bremsen für Rollstühle (12 24 18): Vorrichtungen zum Abbremsen, Anhalten oder Feststellen eines Rollstuhls, – Reifen und Räder für Rollstühle (12 24 21) (eingeschlossen sind auch Schneekufen),

4 Rollstühle



– – – – –





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Batterien und Batterieladegräte für Rollstühle (12 24 24): Vorrichtungen für die Stromversorgung eines Rollstuhles (Anmerkung: die technisch korrekte bezeichnung wäre „Akkumulator“, da es sich um wiederaufladbare Energiespeicher handelt), Vorrichtungen zur Reinigung von Rollstühlen oder Rollstuhlteilen (12 24 28), Personenrückhaltesysteme für Rollstühle (12 24 30): Vorrichtungen, die der im Rollstuhl sitzende Benutzer anlegt, um nicht aus dem Rollstuhl zu rutschen oder zu fallen, Vorrichtungen zum Schutz von Rollstühlen oder Rollstuhlbenutzern vor Sonnenlicht oder Niederschlägen (12 24 34), Vorrichtungen zur Ankoppelung eines Rollstuhls an ein Fahrrad (12 24 36), an Rollstühlen angebrachte Vorrichtungen, die die Bewegung „Treppe auf und ab“ ermöglichen (12 24 39): manuell oder elektrisch betriebene Wagen oder andere Fahrzeuge, an die ein Rollstuhl festgeschraubt werden kann und die es dem besetzten Rollstuhl ermöglichen, sicher die Treppen auf- und abzusteigen, an Rollstühlen angebrachte Vorrichtungen zum Halten oder Tragen von Gegenständen (12 24 42): Vorrichtungen zum Tragen eines oder mehrerer Gegenstände, die an einem Rollstuhl befestigt werden, Vorrichtungen, um das Umfeld des Rollstuhls zu überprüfen (12 24 45), z. B. Rückspiegel und Kameras.

Die Rollstuhlversorgung kann medizinisch indiziert sein bei Gehunfähigkeit oder stark eingeschränkter Gehfähigkeit durch [HMV 2014]: – Lähmungen, – Gliedmaßenverlust, – Gliedmaßendefekt oder Gliedmaßendeformation, – Gelenkkontrakturen oder Gelenkschäden erheblichen Grades, die nicht ursächlich behandelbar sind, – sonstigen Erkrankungen (z. B. Herz- und Kreislaufinsuffizienz, Gleichgewichtsstörungen). Bei der Auswahl des geeigneten Krankenfahrzeugs sind neben der Art und Schwere der Behinderung auch zu berücksichtigen [HMV 2014]: – Körpergröße und das Körpergewicht, – physische und psychische Verfassung, – Alter des Behinderten, – Wohnverhältnisse und Umwelt, – spezifischer Verwendungszweck. Des Weiteren wird die Auswahl beeinflusst von [Teutrine 2001]: – Sitzstabilität, – Gleichgewicht, – ästhetischen und Aktivitätsansprüchen des Betroffenen, – der erwarteten täglichen Nutzungszeit, – sicherheitsrelevanten Aspekten, – Finanzierungsmöglichkeiten (ggf. Zuzahlung).

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Ein Anspruch zur Versorgung von Versicherten der GKV mit Kranken- oder Behindertenfahrzeugen zur Erhaltung der Mobilität besteht, wenn „dauernd oder während eines längeren Zeitraums eine ausreichende Gehfähigkeit des Versicherten nicht besteht und die zugrunde liegende Behinderung oder Krankheit mit anderen Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation nicht ausgeglichen werden kann und wenn Gehhilfen einfacherer und preiswerterer Art (z. B. Gehstöcke, Unterarmgehstützen, Rollatoren) nicht ausreichen.“ Bei der im Sinne elementarer Grundbedürfnisse zu erschließenden Bewegungsfreiheit geht es jedoch nur um „diejenigen Entfernungen, die ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklegt“ (BSG-Urteil vom 16. September 1999 – B 3 KR 8/98 R). Der Versicherte soll (nur) in die Lage versetzt werden, „sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um z. B. bei einem kurzen Spaziergang ‚an die frische Luft zu kommen‘ oder um die (üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden) Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind.“ Auch Freizeitaktivitäten, wie z. B. Rollstuhlsport, sind in der Leistungspflicht der GKV ausgeschlossen [HMV 2014]. Bei Kindern bestehen jedoch erweiterte Ansprüche über die Teilnahme am allgemeinen Schulunterricht hinaus. Für sie ist die „Teilnahme an der sonstigen üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger als Bestandteil des sozialen Lernprozesses“ im Versorgungsanspruch eingeschlossen. Obwohl eine Mehrfachausstattung mit zwei gleichermaßen geeigneten Krankenfahrzeugen ausgeschlossen ist, gibt es auch eine Ausnahme bei schulpflichtigen Kindern, wo „neben dem für den ständigen Gebrauch zu Hause zu gewährenden Kranken- oder Behindertenfahrzeug im Bedarfsfall ein weiteres für den außerhäuslichen Gebrauch zur Verfügung gestellt werden kann, um die Fortbewegung im Schulbereich sicherzustellen“ [HMV 2014].

4.2 Physikalische Grundlagen der Rollstuhltechnik 4.2.1 Komponenten eines Rollstuhls Bevor auf die Fahrmechanik von Rollstühlen eingegangen werden kann, müssen die üblichen Bezeichnungen der zusammenwirkenden Teile geklärt werden. Ein Greifreifenrollstuhl besitzt die in 󳶳Abbildung 4.1 dargestellten Komponenten und zeichnet sich durch eine Vielzahl von Auswahl- und Anpassungsmöglichkeiten aus. Über welche Ausstattung ein Rollstuhl verfügen muss, hängt von seinem Einsatzzweck ab und wird durch die für die Anmeldung im Hilfsmittelverzeichnis geforderten einsatzbezogenen bzw. indikationsbezogenen Eigenschaften des angemeldeten Rollstuhls festgelegt [HMV 2014](󳶳Kapitel 4.3). So müssen Rollstühle mit Greifreifenantrieb für den Innenraum und Außenbereich/Straßenverkehr u. a. gepolsterte Armauflagen, austauschbare Seitenteile/Armlehnen (für seitlichen Transfer abnehmbar oder wegklappbar), einen festen, gepolsterten Sitz oder ein verrutschsicheres Sitzkissen, eine gepolsterte Rückenlehne, auf Unterschenkellänge einstellbare Fuß-

4 Rollstühle

Schiebegriffe

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Rückengurt Seitenteil Sitzgurt

Antriebsrad Greifreifen

Bremse Steckachse

Kreuzstrebe Beinstütze

Auftrittselement Speichenschutzscheibe

Wadengurt

Lenkrad Steuerkopf

Fußplatte

Abb. 4.1: Komponenten eines indirekt gelenkten Greifreifenrollstuhls.

stützen (abnehmbar oder wegschwenkbar, Fußplatte(n) hoch-/wegklappbar) oder Einzelfußstützen in hochschwenkbarer Ausführung (kniewinkelverstellbar), eine Bremse zur Bedienung durch den Rollstuhlnutzer, Schwenkräder vorne (Lenkräder, indirekt gelenkt), große Räder mit Greifreifen, eine Schiebestange oder Schiebegriffe und einen Ankippbügel oder eine Ankipphilfe besitzen. Die Basisausstattung muss aus dem Rahmen, dem Sitz- und Rückenbezug, den Armlehnen, den Fußstützen (Standard), den Bremsen und den Rädern bestehen. Leichtgewichtrollstühle sind auf ein Leergewicht von maximal 18 kg bei einer Sitzbreite 43 bis 45 cm limitiert und müssen über eine Schnellkupplung (Steckachsen etc.) und abnehmbare Antriebsräder mit Greifreifen verfügen [HMV 2014]. Über eine Vielzahl von Einstellungsmöglichkeiten kann der Rollstuhl an den Patienten angepasst werden. Wie viele Einstellmöglichkeiten vorhanden sind, hängt von der Art des Rollstuhls ab (maximale Variantenvielfalt bei Adaptivrollstühlen 󳶳Kapitel 4.2.6 und 4.3.3).

Einstellbar sind bei einem Rollstuhl beispielsweise – die Antriebsreifen (Wahl der Größe und des Materials, Anpassung der Position und der Radwin­ kel), – die Armlehnen (Wahl des Typs, Anpassung von Höhe und Beschaffenheit der Armlehnenaufla­ gen), – die Beinstützen (Anpassung von Winkel und Länge), – die Bremsen (Anpassung von Position und Griff), – die Fußstützen (Anpassung von Größe, Höhe und Winkel), – die Greifreifen (Wahl von Typ, Größe, Material und Griff), – die Lenkräder (Wahl von Größe, Material und Position), – die Rückenlehne (Wahl von Breite und Material, Anpassung von Höhe, Winkel und Form), – der Sitz (Wahl von Breite und Material, Anpassung von Tiefe, Winkel und Form), – die Lenkradlagerung (Wahl der Länge und Einstellung des Winkels).

220 | Rolf-Dieter Weege, Marc Kraft

Schiebegriff Rückenlehne Bedienmodul

Seitenteil

Ablage Sitzverstellung

Elektronik und Akkumulatoren unter der Sitzfläche Sitzfläche

Kraftknotenöse

Motorentriegelung Wadengurt

Stützrolle

Beinstütze Antriebsmotor Rahmen Magnetbremse

Fußplatte nachlaufendes Lenkrad

Hubsäule

Abb. 4.2: Komponenten eines Elektrorollstuhls.

Die Ausstattung eines Elektrorollstuhls (󳶳Abb. 4.2) muss sich ebenfalls an den geforderten einsatzbezogenen bzw. indikationsbezogenen Eigenschaften des Hilfsmittelverzeichnisses orientieren, sofern eine Abgabe über die GKV vorgesehen ist [HMV 2014]. Neben einigen, für Greifreifenrollstühle bereits genannten, konstruktionstechnischen Anforderungen (gepolsterte Armauflagen, Seitenteile/Armlehnen für seitlichen Transfer abnehmbar oder wegklappbar, fester, gepolsterter Sitz oder verrutschsicheres Sitzkissen, gepolsterte Rückenlehne) müssen auch antriebs- und steuerungsspezifische Eigenschaften erfüllt werden. Dazu gehören u. a. wartungsfreie Akkumulatoren (Akku), eine Sicherungseinrichtung gegen unbefugte Nutzung, die Begrenzung der maximalen Geschwindigkeit, eine Ausgleichvorrichtung für Fahrbahnunebenheiten ohne Einfluss auf die Sitzeinheit (z. B. Pendelachse oder gefederte Radaufhängung), eine Feststell- und Betriebsbremse, eine Beleuchtung gemäß Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) und eine Akkukontrollanzeige. Auf die im Normentwurf DIN ISO 7176-26 (Rollstühle – Teil 26: Vokabular) enthaltenen Bezeichnungen von Rollstuhlkomponenten wird hier aus mehreren Gründen nicht eingegangen. Einerseits handelt es sich bisher nur um den Entwurf einer Norm, andererseits bieten z. T. fehlende Differenzierungen bei der deutschen Übersetzung Konfliktpotenzial. So ist der Begriff „Antriebsrad“ zweifach und widersprüchlich definiert, nur die englischen Übersetzungen differenzieren zwischen drive wheel (Rad, das die Antriebsenergie überträgt, den Rollstuhl führt, aber nicht lenkt) und manoeuvring wheel (Rad eines Radpaares, das an der rechten und linken Seite des Rollstuhls befestigt ist, um die Antriebsenergie zu übertragen; es führt und lenkt den Rollstuhl durch Drehung mit unterschiedlicher Geschwindigkeit oder Richtung). Zu beachten sind auch zahlreiche Abweichungen des Vokabulars dieser Norm von heute üblichen

4 Rollstühle

| 221

Begriffen, die von deutschen Herstellern und auch in diesem Lehrbuch verwendet werden (z. B. Gleitrollenrad statt Lenkrad).

4.2.2 Lenksysteme Wie schon in 󳶳Kapitel 4.1 erläutert, werden Rollstühle im HMV, u. a. nach der Lenkungsart klassifiziert. Diese hat vor dem Hintergrund der Alltagsbewältigung im Rollstuhl eine besondere Bedeutung. So enthält die Untergruppe 05 „Elektrorollstühle für den Innenraum und Außenbereich“ die Produktarten: – mit indirekter Lenkung, – mit direkter, elektromechanischer Lenkung, – mit direkter, manueller Lenkung. Mit der Lenkung wird dem Fahrzeug die Richtung vorgegeben. Der Geschwindigkeitsvektor eines Fahrzeugs wird durch positive oder negative Beschleunigungen in seinem Betrag verändert. Die Lenkung bestimmt die Richtung des Geschwindigkeitsvektors. Unter dem Begriff 󳶳 Lenkung wird die Einrichtung zur Änderung der Richtung des Geschwindig­ keitsvektors eines Fahrzeuges verstanden.

Die Lenkung hat die Aufgabe, die Laufräder der gelenkten Achse (üblicherweise als Lenkräder bezeichnet, was aber nicht mit dem Stellelement der Lenkung in einem PKW zu verwechseln ist) in eine gewünschte Kurvenstellung einzuschlagen und die Lenkwinkel des kurveninneren und kurvenäußeren Rades den unterschiedlichen Spurkreisen anzupassen. In 󳶳Abbildung 4.3 sind die Lenkradwinkelstellungen zum Bahnmittelpunkt der Kurve eines Rollstuhls mit einer indirekten Lenkung der vorderen Räder (hintere Räder ungelenkt) dargestellt. Es gilt für die Lenkwinkel innen (𝛾i ) und außen (𝛾a ) folgender Zusammenhang: 𝛾i > 𝛾a (4.1) Grundsätzlich werden im Rollstuhlbau zwei Lenkungsarten unterschieden, die indirekte Lenkung und die direkte Lenkung. Die 󳶳 indirekte Lenkung bewirkt Lenkeinschläge an den gelenkten Rädern der Lenkachse durch eine besondere Radanordnung bei der das Lenkrad in einer Radgabel mit Radnachlauf geführt, und die gesamte Anordnung um eine senkrechte Hochachse drehbar gelagert ist. Durch den Roll­ widerstand oder andere (Stör-) Krafteinflüsse entsteht eine Richtkraft, die ein Moment über den Hebelarm des Radnachlaufs (n a ) erzeugt und so die Einstellung des Lenkwinkels bewirkt. Der Lenkwinkel ist nicht zwangsbestimmt und wird bei der Kurvenfahrt durch ein Kräftepaar an den Antriebsrädern hervorgerufen.

222 | Rolf-Dieter Weege, Marc Kraft Radaufstandspunkte

längere Rollwege, außen

Lenkhochachse

v kürzere Rollwege, innen Lenkachse, vorn •



γa

γi

P Bahnmittelpunkt

Antriebsachse, ungelenkt

Abb. 4.3: Lenkwinkelstellung und Spurverläufe bei indirekter Lenkung vorne.

󳶳Abbildung 4.4 (a) zeigt eine typische konstruktive Ausführung des Lenkrades einer indirekten Lenkung mit der Schwenkachsenlagerung in einem oberen Rillenkugellager und unten in einem kombinierten Axial-/Radiallager über Kugeln und Nadeln. Ein Anwendungsbeispiel für indirekte Lenkungen sind (neben Rollstühlen) Einkaufswagen.

(a)

Bewegungsrichtung

(b) Lenkräder indirekt gelenkt

frei schwenkbar Zugkraft

na Lenkräder direkt gelenkt

Radnachlauf zwingend Radnachlauf Lenkhebel Spurstange

Lenkhebel Spurstange Radnachlauf nicht zwingend

kein Radnachlauf

na

Abb. 4.4: Direkte und indirekte Lenkung: (a) Typische Gestaltung der Lagerung eines lenkbaren Laufrades mit dem Radnachlauf (n a ), (b) Notwendigkeit des Radnachlaufes bei direkter und indirek­ ter Lenkung.

4 Rollstühle

|

223

Lenkzustand für: P

normale Kurvenfahrt

s γa

γi P

Schwenken um ein stehendes Rad

I

(a)

P

P

(b)

Schwenken auf der Stelle

Abb. 4.5: Lenkverhalten eines Rollstuhls: (a) Lenkwinkel bei einer Kurvenfahrt, (b) Stellung indirekt gelenkter Räder in Abhängigkeit vom Bahnmittelpunkt (die senkrechten grünen Pfeile symbolisieren die Drehrichtung und Drehgeschwindigkeit der Antriebsräder), Lenkwinkel innen (𝛾i ) und außen (𝛾a ), Bahnmittelpunkt P, Abstand der Lenkräder (s).

Bei einer 󳶳 direkten Lenkung wird von einer Stelleinrichtung, z. B. einem Lenkhebel, über zwi­ schengeschaltete Elemente (Hebel, Hydraulik u. a.) an den Laufrädern der gelenkten Achse ein definierter Lenkwinkel bewirkt.

Die direkte Lenkung ist eine Zwangslenkung, weil den gelenkten Laufrädern über ein Stellelement (z. B. den Lenkhebel) eine Richtung aufgezwungen ist. Sie wird häufig in Automobilen angewendet. Ein Radnachlauf der Lenkräder ist bei der direkten Lenkung nicht notwendig (󳶳Abb. 4.4 (b)). Während bei indirekter Lenkung ein (positiver) Radnachlauf eine Funktionsvoraussetzung ist, kann die Laufradanordnung der gelenkten Achse bei direkter Lenkung ohne Nachlauf erfolgen. In diesem Fall sinken die Verstellmomente für die Lenkung mit abnehmendem Radnachlauf, weil damit der Hebelarm der am Aufstandspunkt wirkenden Kräfte kleiner wird. Ein Radnachlauf kann allerdings verwendet werden, um einen direkt gelenkten Rollstuhl beim Schieben durch eine Begleitperson indirekt lenkbar zu machen. Es genügt dann, den Richtungskraftvektor am Schiebegriff vorzugeben. Der Lenkhebel muss beim Schieben nicht bedient werden (passive Bewegung durch Kopplung mit den Lenkrädern). Das Lenkgesetz (󳶳Abb. 4.5 (a)) beschreibt den Zusammenhang zwischen dem Abstand der Lenkräder (s), dem Abstand der Lenkradlagerpunkte von der starren Achse (l) und den Lenkwinkeln innen (𝛾i ) und außen (𝛾a ) [Grothe 2007]: cot 𝛾a − cot 𝛾i =

s l

(4.2)

224 | Rolf-Dieter Weege, Marc Kraft

Das Lenkgesetz setzt voraus, dass alle Räder eines Fahrzeugs bei der Kurvenfahrt abwälzen und nicht gleiten. Dazu ist es erforderlich, dass sich die Verlängerungen der Radachsen bei der Kurvenfahrt im Krümmungsmittelpunkt der Bahnkurven schneiden. Bei der Geradeausfahrt liegt dieser im Unendlichen, bei einachsig gelenkten Fahrzeugen liegt der Schnittpunkt bei der Kurvenfahrt auf der ungelenkten Achse bzw. deren Verlängerung (󳶳Abb. 4.5 (b)). Da bei der Kurvenfahrt die Laufräder auf unterschiedlichen Spurkreisen abrollen (vom zufälligen Zusammenfallen einzelner Kreisbögen, z. B. beim Schwenken auf der Stelle, abgesehen), haben sie bei gleichem Raddurchmesser unterschiedliche Raddrehzahlen bzw. Radumfangsgeschwindigkeiten. Daher gelten für die Kurvenfahrt die folgenden zwei Bedingungen: – geometrische Erfüllung der o. g. Lenkwinkelgesetzmäßigkeiten, – angepasste Umfangsgeschwindigkeiten an den Laufrädern. Zu jedem Lenkwinkel gehören definierte Radumfangsgeschwindigkeiten: – wird der Lenkwinkel vorgegeben, müssen sich die Raddrehzahlunterschiede frei einstellen können, – wird die Raddrehzahl vorgegeben, müssen sich die Lenkwinkel unbehindert einstellen kön­ nen.

Bei direkt gelenkten (zwangsgelenkten) Systemen wird ein Lenkwinkel vorgegeben, und die Raddrehzahlen stellen sich, wie beim Auto, selbständig ein. Werden bei indirekt gelenkten Systemen die Radantriebsdrehzahlen vorgegeben, stellt sich der Lenkwinkel, wie beim Greifreifenrollstuhl, ein (󳶳Abb. 4.5 (b)).

4.2.3 Antriebssysteme Lenkung und Antrieb sind bei Rollstühlen in besonderer Weise voneinander abhängig. Mit Blick auf Technik und Anwendung lassen sich Rollstühle nach der Art des Antriebssystems unterscheiden: – Muskelkraftantrieb, z. B. Antriebe über Greifreifen, Doppelgreifreifen, über Hebelsysteme als Einfach- oder Doppelhebel nach dem Kurbeltriebprinzip oder mit Freiläufen, Hand- und Tretkurbel oder Pumphebelsystemen, – Motorkraftantrieb, z. B. Antriebe über Verbrennungsmotoren (heute selten) oder Elektromotoren. Den Motoren sind in der Regel Getriebe nachgeschaltet, um Wegstreckenunterschiede bei der Kurvenfahrt auszugleichen und Raddrehzahlen an die Motordrehzahlen anzupassen. Motorkraftangetriebene Elektrorollstühle sind direkt oder indirekt gelenkt, verfügen über eine Antriebs-/Bremsachse und eine Lenkachse, jeweils vorn oder hinten angeordnet. Es existieren auch Antriebssysteme mit je einem Antriebsmotor pro Rad, jeder

4 Rollstühle

|

225

Antriebssystem von Rollstühlen Muskelkraft direkt gelenkt – Kurbelhebel– antrieb – Einhebel – Doppelhebel – Einhebel mit Freilauf – Pumphebel – Handkurbel

indirekt gelenkt – Greifreifen – Doppelgreifreifen – zwei Hubhebel mit Freilauf

Motorkraft direkt gelenkt

indirekt gelenkt

– einmotorig mit – zwei Antriebsmech. Differenzial motoren an der – zwei Motoren mit Antriebsachse, elektronischem Radnachlauf an Differenzial Lenkachse

ungelenkt – je Laufrad ein Antriebsmotor (kein Radnachlauf)

Abb. 4.6: Rollstuhlbauarten in Abhängigkeit von Antriebs- und Lenkungsart.

unabhängig voneinander angesteuert und ungelenkt. Die Lenkung geschieht durch unterschiedliche Drehzahlen an den Rädern bei Inkaufnahme der resultierenden Reibung (starker Verschleiß der ungelenkten Räder bei der Kurvenfahrt). Mit nur einem Rad angetriebene Rollstühle bzw. Fahrzeuge (z. B. Scooter) sind immer direkt gelenkte Systeme, da kein richtunggebendes Kräftepaar erzeugt werden kann. Dies ist aber eine Voraussetzung für die indirekte Lenkung. In 󳶳Abbildung 4.6 ist eine Gliederung der Antriebs- und Lenksysteme von Rollstühlen dargestellt.

4.2.4 Fahrwerk Zum Fahrwerk eines Rollstuhles gehören im einfachsten Fall die Komponenten Rahmen und Räder. Die Räder sind an dem (Seiten-) Rahmen befestigt. Der Rahmen trägt die Sitzeinheit. Bei greifreifengetriebenen Rollstühlen kann der Rahmen in starrer Ausführung oder als faltbare Variante gestaltet sein. Das Fahrwerk wird charakterisiert durch die Lage der Antriebs-/Bremsachse, der Lenkachse und die Radgrößen. Die in 󳶳Abbildung 4.7 (a) dargestellten Anordnungsvarianten der Antriebsräder eines Greifreifenrollstuhls (vorne bzw. hinten) haben einen erheblichen Einfluss auf die Funktionseigenschaften: Rollstühle, die mit den großen Antriebsrädern vorn ausgestattet sind, bieten eine gute Standsicherheit und lassen sich durch die Begleitperson einfach manövrieren. Beim Antreiben ist jedoch eine aufrechte Sitzhaltung nicht möglich, der Beinraum ist durch die großen Räder nicht frei und das seitliche Übersetzen ist erschwert. Große Räder hinten sind biomechanisch vorteilhaft bezüglich der Greifreifenarbeit, weil der ineffiziente Zugbogen kleiner ist und der ergonomisch günstigere Druckbogen größer wird (󳶳Abb. 4.7 (b)). Sie ermöglichen eine aufrechte Sitzhaltung, das gute Positionieren an Tischen (Unterfahren mit den Lenkrädern), haben eine gute seitliche Beinfreiheit, gewährleisten einen seitlichen Ausstieg und erlauben die Hinder-

226 | Rolf-Dieter Weege, Marc Kraft

Zugbogen

Druckbogen

Leerweg (a)

(b)

Abb. 4.7: Anordnungsvarianten der Antriebsräder eines Greifreifenrollstuhls (a) und nutzbarer An­ triebsbereich bei hinterer Anordnung des Greifreifens.

nisüberwindung vorwärts (nicht immer ungefährlich), besitzen aber auch eine Überschlagsneigung nach hinten sowie eine Traktionseinschränkung bergab. Bei Rollstühlen wird bisher das klassische Konzept der Funktionstrennung (Antriebsachse/Lenkachse) eingehalten, d. h. angetriebene Lenkachsen sind bisher selten realisiert (Ausnahme: Allrad-Outdoor-Rollstuhl). Die Fahrwerksgeometrie bestimmt weitgehend das Fahrverhalten des Rollstuhls. Dabei ist der Radnachlauf (󳶳Abb. 4.4) bei indirekt gelenkten Rollstühlen eine bestimmende Einflussgröße. Der Radnachlauf (n a ) ist das Maß, um das der Radaufstandspunkt dem Schnittpunkt der Lenk­ kopfachse mit der Fahrbahn in Fahrtrichtung nachläuft.

Die Größe des Radnachlaufes, 30 bis 50 mm bei manuell angetriebenen Rollstühlen, 50 bis 60 mm bei Elektrorollstühlen, wird von vielen Einflussgrößen bestimmt. Ein großer Radnachlauf benötigt mehr Schwenkraum (bei gleichem Raddurchmesser). Weiterhin senkt er bei vorn gelenkten Systemen den Fahrkomfort infolge der Verringerung des Radstandes in Vorwärtsfahrtrichtung. Er bewirkt jedoch auch geringere Lenkkräfte bei indirekter Lenkung (infolge des größeren Hebelarms 󳶳Kapitel 4.2.2). Die Lenkkopfachse (auch als Schwenkhochachse, Lenkhochachse oder Steuerkopfachse bezeichnet) sollte im Normalfall senkrecht zur Fahrbahn stehen (Neigungswinkel β = 0 Grad), weil sich sonst der Radnachlauf mit dem Lenkwinkel ändert (󳶳Abb. 4.8). Steht die Achse nicht senkrecht, steigen die Lenkkräfte aufgrund eines potenziellen Energieaufwandes, um die in 󳶳Abbildung 4.8 (c) dargestellte, notwendige Höhendifferenz zu erreichen. Weiterhin steigt die Flatterneigung des nachlaufend angeordneten Lenkrades. Wird es durch eine Störung ausgelenkt, bewegt es sich anschließend wieder in die energetisch günstigere Richtung eines Lenkwinkels von 0 Grad. Weil es sich bei dem nachlaufend angeordneten Rad aber um ein schwingungsfähiges System handelt, wird diese Rückbewegung über die Position von 0 Grad hinausgehen. Dies ist verbunden mit erneuter Rückbewegung, die den Vorgang erneut startet und ein Radflattern bewirkt. Allerdings führt eine stärkere Neigung der Lenkkopfachse

4 Rollstühle

Schwenkachse Neigungswinkel der Schwenkachse:

γ

β > 0° mit Höhendifferenz Δh und Veränderung des Radnachlaufes Δna

β = 0°

|

227

β

Δh nav

(a)

na

(b)

nar

Abb. 4.8: Auswirkung der Neigung der Lenkkopfachse: (a) ohne und (b) mit Neigungswinkel in der Schwenkkopfachse mit n av Radnachlauf in Vorwärts-Fahrtrichtung, n ar Radnachlauf in RückwärtsFahrtrichtung, Δh Höhenversatz, 𝛾 Lenkwinkel, β Neigungswinkel.

zu einer größeren Dämpfung dieser Flatterneigung, da die notwendige Energie zum Überschreiten der Nullposition des Lenkwinkels größer wird. Da die Lenkwinkel 𝛾 bei der Kurvenfahrt mit indirekter Lenkung links und rechts unterschiedlich sind, ergeben sich unterschiedliche Höhenmaße Δh, was für das äußere Lenkrad mit dem kleineren Lenkwinkel eine Entlastung zur Folge hat. In Abhängigkeit von der Federung kann dies eine nicht ungefährliche Schwingungsanregung noch weiter fördern. Auf das Schwingungsverhalten einer Radgabel gibt es eine Vielzahl von Einflussgrößen, wie die Lage des Massenpunktes des schwingungsfähigen Elementes, Normal- und Reibkraft im Radaufstandspunkt, Dämpfung, Reibung in den Lagerstellen für die Schwenkhochachse, die Fahrgeschwindigkeit u. a. Besonders gefährlich sind diese Radschwingungen bei vorne gelenkten Elektrorollstühlen, weil das Lenkrad in Resonanz geraten und sich quer stellen kann, woraufhin der Rollstuhl abrupt verzögert wird. Mit zunehmender Geschwindigkeit (ab 6 km/h) nimmt die Schwingungsanregung zu. Eine Neigung der Lenkkopfachse (Neigungswinkel β > 0 Grad) kann, insbesondere bei manuellen Rollstühlen, auch gewünschte Effekte erzeugen. Der Rollstuhl wird mit geneigter Lenkkopfachse bei der Geradeausfahrt vorwärts kursstabiler und das Radflattern wird bei größeren Neigungswinkeln gedämpft. Demgegenüber stehen jedoch die Nachteile der verschlechterten Kursstabilität bei Abweichungen von der Geradeausfahrt mit dabei verstärktem Radflattern, der erforderliche potenzielle Energieanteil beim Lenken (erhöhte Lenkkräfte) und unterschiedliche Höhenpositionen der Lenkräder in der Kurvenfahrt (d. h. wechselnde Radaufstandsverhältnisse). Steht der Rollstuhl vor dem Einstieg des Patienten mit unterschiedlich ausgelenkten Rädern, rollt er möglicherweise gefährlich unter Einwirkung des Körpergewichts so lange nach, bis das niedrigste Höhenniveau der Lenkräder erreicht ist. Bei zweckmäßig geneigter Lenkachse laufen die Räder in Fahrtrichtung nach, sofern nicht ungünstige Reibverhältnisse die Ausrichtung begrenzen. Zum Fahrwerk gehört auch die ungelenkte Achse. Ihre Position am Rollstuhl bestimmt ebenfalls die Fahreigenschaften. Da bei Rollstühlen die Kompaktheit als eine

228 | Rolf-Dieter Weege, Marc Kraft

Tab. 4.1: Einflussgrößen auf die Schwerpunktlage eines manuellen Rollstuhls mit vorderen Lenkrä­ dern und hinteren Antriebsrädern. geändert wird

Schwerpunkt nach hinten, Gewicht gegen Antriebsräder

Schwerpunkt nach vorne, Gewicht gegen Lenkräder

Auswirkung

leichteres Manövrieren, erhöhte Überschlagsneigung

schwereres Manövrieren, verringerte Überschlagsneigung

Sitzneigung Rückenlehnenwinkel Sitzkissen Rückenkissen Beinstütze Hinterraddurchmesser Hinterradposition Lenkraddurchmesser Lenkradposition Lenkradgabel Tasche/Rucksack Körperhaltung Oberkörper Bein: Gewicht/Winkel Beinamputation/Prothese

nach hinten gewinkelt nach hinten gewinkelt dicker dünner gesenkt/leicht kleiner nach oben/vorne größer an unterer Vordergabel länger hinter dem Oberkörper aufrecht lang/großes Gewicht geringes Gewicht/gebeugt hohes Amputationsniveau/ ohne Prothese

nach vorne gewinkelt nach vorne gewinkelt dünner dicker hochgewinkelt/schwer größer nach unten/hinten kleiner an oberer Vordergabel kürzer vor dem Oberkörper zusammengesunken kurz/geringes Gewicht großes Gewicht/gestreckt niedriges Amputationsniveau/ mit Prothese

der wichtigsten Anforderungen im Vordergrund steht, haben in deren Sinne getroffene Entscheidungen über die Verringerung der Spurweite und des Radstandes mit Beeinflussung der Schwerpunktlage z. T. nachteilige Folgen, wie später erläutert wird (󳶳Tab. 4.1). Auch hier ist ein Kompromiss durch Gewichtung widersprüchlicher Anforderungen zu finden. Manuell über Greifreifen angetriebene Rollstühle haben heute sehr verschiedene Durchmesser ihrer Antriebsräder und Lenkräder. Die Lenkräder sind i.d. R. sehr klein, um den Bauraum zu verringern. Die Antriebsräder sind groß, um die Greifreifen zur Krafteinleitung ergonomisch und effektiv erreichen zu können (󳶳Abb. 4.7). Wird das hintere große Antriebsrad weiter vorne angebracht (󳶳Abb. 4.9 (a)), hat das positive Effekte auf die Greifarbeit. Gleichzeitig steigt aber auch die Belastung der Hinterräder, auf denen dann mehr Gewicht ruht (󳶳Abb. 4.9 (b)). Das ist wünschenswert, weil ein großes Rad auf glattem Grund leichter rollt als ein kleineres bei ansonsten gleichen Rahmenbedingungen. Auch steigt mit größeren Rädern der Komfort, da kleinere Hindernisse ohne größere Vertikalbewegungen überrollt werden können (󳶳Abb. 4.9 (c)). Wird das große Antriebsrad näher am Schwerpunkt positioniert, ergeben sich die in 󳶳Tabelle 4.1 dargestellten Eigenschaften, bei denen sich in der Praxis die sinkenden Betätigungskräfte am Greifreifen (insbesondere beim schnellen Schwenken) und die erhöhte Überschlagsneigung besonders bemerkbar machen.

4 Rollstühle

(a)

| 229

(b)

S

S

S

xS Schwenkachse

10 % (c) Verlauf der Radmittelpunkte

R2

50 %

50 %

90 %

R1

Abb. 4.9: Rollstühle mit Greifreifenantrieb. (a) Verschiebung der Antriebsradachse in Richtung Schwerpunkt, (b) Auswirkung der Schwerpunktlage (S) auf die Gewichtsverteilung zwischen den Rädern, (c) Bahnkurven von Rädern mit verschiedenen Durchmessern am gleichen Hindernis.

Der 󳶳 Radstand ist der Abstand des Radmittelpunktes (Kreismittelpunkt) von Antriebs- und Lenk­ rad.

Er bestimmt die relative Lage des Schwerpunkts des Gesamtsystems Rollstuhl/Rollstuhlfahrer zwischen den Achsen. Ein Rollstuhl mit längerem Radstand, ist richtungsstabiler, als ein Rollstuhl mit kurzem Radstand. Umgekehrt kann man sagen, dass sich ein Rollstuhl mit kurzem Radstand leichter dreht, als ein Rollstuhl mit einem längeren Radstand. Die dynamische Fahrstabilität wird durch die vier Radaufstandspunkte beeinflusst. Sie spannen eine Fläche auf, die von der Gravitationslinie (vom Schwerpunkt ausgehende Lotlinie) geschnitten werden muss (󳶳Abb. 4.10 (a)). Werden die Hinterräder weiter vorne positioniert, wird die Fläche von dieser Seite kürzer und der Durchstoßpunkt der Gravitationslinie kommt näher an den Flächenrand. Das hat nachteilige Folgen für die Hindernisüberwindung, wie in 󳶳Abbildung 4.10 (b) dargestellt. Die erwünschte Kompaktheit eines Rollstuhls ist eine der wichtigsten Anforderungen. Sie sollte idealerweise die Abmessungen eines sitzenden Menschen nicht überschreiten.

Dies führt zwangsläufig zur Auswahl kleiner Lenkräder. Die Überwindungsfähigkeit von Hindernissen wird dadurch aber geringer, weil diese mit dem Rad nicht mehr überrollt werden können. Eine übliche Bordsteinkantenhöhe von 130 mm entspricht schon bei den relativ großen Lenkrädern eines Elektrorollstuhls dem Radradius. So-

230 | Rolf-Dieter Weege, Marc Kraft Ein großer Abstand zwischen den Antriebsrädern und den Lenkrädern bewirkt, dass der Rollstuhl nicht steil an Hindernissen nach oben gekippt werden muss.

Schwerpunkt

(a) Durchstoßpunkt

Aufstandsfläche

(b)

Abb. 4.10: Fahrstabilität eines Rollstuhls. (a) Die Gravitationslinie schneidet die durch die Radauf­ standspunkte aufgespannte Fläche (A R ) im Durchstoßpunkt (P), (b) Auswirkung der Schwerpunktla­ ge auf die Überwindung von Hindernissen (nach [Engström 2001]).

mit ist sie unüberwindbar, ohne die Rollstuhllenkräder anzuheben, also den Rollstuhl anzukippen. Kleinere Lenkräder manueller Rollstühle (Radius 40 bis 100 mm) scheitern schon beim Überrollen noch niedrigerer Hindernisse wie z. B. Türschwellen. Die Hindernisüberwindung ist für Rollstühle durch die notwendige Kippbewegung immer gefährlich. Ein kurzer Radstand ist nachteilig, weil der Ankippwinkel steiler wird (󳶳Abb. 4.10 (b)). Ein großes Antriebsrad hat ebenfalls negative Auswirkungen, besonders wenn es angetrieben ist. In 󳶳Abbildung 4.11 ist dargestellt, was an der Hinderniskante geschieht. Hat das Vorderrad das Hindernis überwunden, ist die maximale Rückwärtsneigung erreicht. Berührt jedoch das hintere große Antriebsrad die Hinderniskante, verkürzt sich in Abhängigkeit vom hinteren Laufraddurchmesser die Aufstandsfläche und die Gravitationslinie schneidet sie nicht mehr. Ohne Veränderung der Schwerpunktlage (z. B. durch Vorbeugen) oder Stützrad ist ein Überschlag unausweichlich. Aus diesen Hebelverhältnissen bei der Hindernisüberwindung resultiert, dass angetriebene Hinterräder an Elektrorollstühlen möglichst kleine Durchmesser haben sollten. So können nachträglich motorisierte Greifreifenrollstühle (z. B. mit Motoren in der Nabe des Aufsteckrades) keine vollwertigen Elektrorollstühle sein. Die noch vorhandenen großen Laufraddurchmesser können an der Hinderniskante noch leichter als bei manuellen Rollstühlen zu Überschlägen führen. Das Reaktionsmoment des vom Motor auf das Rad übertragenen Drehmomentes ist ein zusätzliches Kippmoment. Dies ist zwar auch beim Antrieb von manuellen Rollstühlen am Greifreifen der Fall, doch neigt sich dabei der Fahrer intuitiv nach vorne und verlagert so seinen Schwerpunkt in die richtige Richtung. Der Elektrorollstuhlfahrer kann von dem resultierenden Kippmoment überrascht werden. Stützrollen können ein Kippen verhindern. Allerdings kann es bei kurz auskragenden Rollen auch zum Versagen führen, wenn das Antriebsrad in weichen Untergrund einsinkt (󳶳Abb. 4.11). Stützrollen können in verschieden Varianten zur Anwendung kommen (󳶳Abb. 4.12 (a)), allerdings

4 Rollstühle

S

| 231

S

P

P (a) Der Durchstoßpunkt P der Gravitationslinie liegt innerhalb der Aufstandsfläche.

(b) Der Durchstoßpunkt P liegt noch innerhalb der Aufstandsfläche.

S Rollstuhl kippt

P (c) Der Durchstoßpunkt P der Gravitationslinie liegt hinter der Aufstandsfläche: der Rollstuhl kippt!

(d) Stützrolle ohne Funktion durch losen Untergrund: der Rollstuhl kippt!

Abb. 4.11: Überschlaggefahr an Hinderniskanten. (a) vor, (b) an, (c) auf der Hinderniskante, (d) die Verlagerung von losem Untergrund bzw. das Einsinken eines Elektrorollstuhls in weichen Unter­ grund führt zu einer Erhöhung der Überschlaggefahr.

(a)

(b)

Drehgelenk Schwenkbewegung

Stützrolle

einstellen

starre Stützrolle klein, leicht

(c)

zwei Laufrollen

drehbewegliche, doppelte Stützrolle, weniger kompakt

Abb. 4.12: Stützrollen. (a) Ausführungsformen von Stützrollen, (b) Aufsetzen von Stützrollen auf Hindernissen bzw. (c) am Senkrechtaufzug.

232 | Rolf-Dieter Weege, Marc Kraft

FH Draufsicht

δ < 0: mit negativem Radsturz δ Rückansicht

t

(a)

(b)

h – 2 + R · sinδ

δ = 0: ohne Radsturz M d R=– 2

t

–2h

Abb. 4.13: Veränderung der Spurweite eines Rollstuhls mit negativem Radsturz. (a) Darstellung des Abstandes zur Wand (Handschutz) und der Spurweite in der Frontalebene, (b) Drauf- und Rück­ ansicht eines Rollstuhls mit (linke Rollstuhlhäfte) und ohne Radsturz (rechte Rollstuhlhälfte) mit Radsturzwinkel δs, Raddurchmesser d, Radradius R, Rollstuhlbreite th und Antriebskraft FH .

auch beim Abwärtsfahren von Hindernissen (󳶳Abb. 4.12 (b)) oder in Senkrechtaufzügen Kippgefahren verursachen (󳶳Abb. 4.12 (c)). Ein weiteres wichtiges Fahrwerksmaß ist der Radsturz (󳶳Abb. 4.13). Der 󳶳 Radsturz ist die Neigung der Radebene zu einer im Radaufstandspunkt errichteten Senk­ rechten. Er ist negativ, wenn der obere Teil des Rades zur Fahrzeugmitte geneigt ist.

Grundsätzlich werden nur die großen Antriebsräder von Greifreifenrollstühlen mit Radsturz versehen. Die Schwenkhochachse nachlaufend angeordneter Lenkräder darf nicht in der Frontalebene geneigt werden, weil dies Lenkfehler bewirken würde. Ein mäßiger negativer Radsturz hat viele Vorzüge, sodass er bei allen manuellen Rollstühlen empfehlenswert ist. Einer der wichtigsten Vorteile ist, dass die Kräfte zum Manövrieren des Rollstuhls (Schwenken, enge Kurven fahren) deutlich abnehmen und eine kraftreduzierte Fortbewegung ermöglicht wird. Ursache dafür ist der sich mit der Spurweite vergrößernde Hebelarm der Bodenreaktionskräfte an den Antriebsrädern (größeres Drehmoment für Kurvendrehung bei gleicher Antriebskraft). Weitere Vorteile liegen in einem besseren Handschutz (bei Kontakt des Rades mit senkrechten Wänden bleibt ein Abstand zur Hand, 󳶳Abb. 4.13 (a)) und in einer ergonomisch günstigeren Greifrichtung (tiefe Punkte am Greifreifen sind besser erreichbar). Der negative Radsturz verbreitert die Spurweite des Rollstuhls (󳶳Abb. 4.13 (a) und (b)). Das verbessert seine Standfestigkeit, verringert aber auch seine Kompaktheit. Negativ wirkt sich auch die Erhöhung des Fahrwiderstandes bei negativem Radsturz aus. Ein schräg stehendes, elastisch bereiftes Rad hat infolge einer „bananenförmigen“ Auflagefläche auf der Innenseite einen höheren Rollwiderstand, der eine Tendenz

4 Rollstühle

| 233

zum Rollen nach innen bewirkt. Mit negativem Radsturz wirken die resultierenden Kräfte beider Räder gegeneinander und verursachen ein gewisses Schieben mit Widerstandserhöhung. Mit größerem Abstand der Aufstandspunkte der Antriebsräder vergrößert sich die Bahnkurve des äußeren Rades bei der Kurvenfahrt, woraus sich ein größerer notwendiger Betätigungsweg ergibt. Durch die schräg eingeleitete Bodenreaktionskraft ist die Radbelastung höher, deshalb sind bei größerem Radsturz Speichenräder ungeeignet. Die Fahrt auf geneigten Fahrbahnen, sei es in Fahrtrichtung oder quer dazu, stellt für alle Rollstühle eine erhebliche Herausforderung dar. Dabei ist die Anordnung der Antriebs- bzw. Bremsachse von entscheidender Bedeutung. Bei aktuellen Rollstühlen fallen Antriebs- und Bremsachse zusammen; mehrachsig gebremste Systeme finden derzeit keine Anwendung. Aufgrund der kompakten Bauweise hat dies nachteilige Folgen bei der Fahrt auf geneigten Fahrbahnen [Weege 2009]. Ist der Rollstuhl hinten angetrieben und gebremst sowie vorn gelenkt, kann beim Befahren von Gefällestrecken die Traktion an der Hinterachse verloren gehen, sodass der Rollstuhl unbremsbar den Hang hinab rollt. Handelt es sich um einen indirekt gelenkten Rollstuhl, ist er dann auch nicht mehr lenkbar. Beim vorne angetriebenen (und vorne gebremsten) Rollstuhl gibt es bei der Fahrt auf einer Gefällestrecke kaum Traktionsprobleme. Der Rollstuhl ist brems- und lenkbar, kann allerdings beim Bremsen hinten aufsteigen, was bis zum Überschlag nach vorne führen kann. Bei einer günstigen Wahl der Lage des Schwerpunktes tritt dieser Effekt in der Praxis jedoch kaum auf (󳶳Abb. 4.14 (a)). Bei der Steigungsfahrt neigt der hinten angetriebene Rollstuhl zum gefährlichen Aufsteigen, es besteht große Überschlagsgefahr nach hinten. Der Frontantriebler verliert hingegen auf der Steigungsstrecke höchstens die Trajektion und kann das Antriebsdrehmoment nicht mehr auf den Boden übertragen, was kaum sicherheitsrelevant ist (󳶳Abb. 4.14 (b)). Beim Befahren von Querneigungsstrecken sind nur direkt gelenkte Rollstühle kursstabil. Indirekt gelenkte Systeme neigen zum Abdriften, je nach Lage von Antriebs- und Lenkachse hangabwärts oder hangaufwärts (󳶳Abb. 4.14 (c)). Rollstühle mit Mittelachs- oder Zentralantrieb [Weege 2011] haben ihre Schwerpunktlage in etwa über der Mittelachse (󳶳Abb. 4.14 (d)). Sie benötigen eine Achse vor der Antriebs-/Bremsachse und eine weiter hinten laufende, sofern nicht ein Regelalgorithmus mit Gyroskopen für ein Gleichgewicht auf zwei Rädern sorgt (󳶳Abb. 3.38). Ist der Rollstuhl zweimotorig angetrieben, mit linkem/rechtem Antriebsrad auf der Mittelachse, sind die vordere und hintere Achse indirekt gelenkt. Es existieren auch Varianten, bei denen die vordere Achse ungelenkt ist. Die Achslastverteilung ist dann so gewählt, dass diese Achse weniger belastet ist und die in der Kurvenfahrt entstehende Reibung (mit Verschleiß) in Kauf genommen werden kann. Die erste und dritte Achse haben aus Gründen der Kompaktheit meist kleinere Laufraddurchmesser. Kleine Raddurchmesser beeinträchtigen jedoch die Hindernisüberwindungsfähigkeit, sodass spezifische Systeme integriert sind. Sie können die vordere Achse beim Hinderniskontakt anheben und es damit überwindbar machen. Hinsichtlich der Achslastverteilung weist dieses System gute Fahreigenschaften auf Neigungsstrecken auf. Für

234 | Rolf-Dieter Weege, Marc Kraft

(a)

Fahrt hangabwärts

(b)

Fahrt hangaufwärts

Antrieb hinten: hohe Traktion: gefährlich!

Antrieb hinten: Antriebsräder entlastet: gefährlich! α α

Antrieb vorn: Traktion als Voraussetzung für Sicherheit gegeben

Antrieb vorn: reduzierte Traktion, evtl. Durchrutschen

α

α

(c)

Fahrbahnquerneigung

α

indirekt gelenkt mit Antrieb hinten: Abdriftneigung, verminderte Reichweite, Verschleiß

(d)

dreiachsiger RolIstuhl Radgrößen und Federweg bestimmen wesentlich die Hindernisüberwindungsfähigkeit

direkt gelenkt mit Antrieb vorn: gute Kursstabilität, normale Reichweite α

Abb. 4.14: Einflüsse von Lenkung und Antrieb beim Fahren (a) bergab, (b) bergauf, (c) bei Fahrbahn­ querneigung; (d) Probleme eines dreiachsigen Rollstuhls.

unebene Fahrstrecken (Hindernisse) ist eine Federung des Fahrwerks zwingend erforderlich. Die Abstimmung der Federung ist schwierig: Ist sie weich, schwingt der Aufbau sehr; ist sie hart, kann die Antriebsachse den Bodenkontakt verlieren, was in besonderem Maße sicherheitsrelevant ist (󳶳Abb. 4.14 (d)). Vorne indirekt gelenkte Rollstühle sind fahrdynamisch einfacher zu beherrschen als die mit umgekehrter Achsanordnung. Unter der Wirkung von Fliehkräften bei der Kurvenfahrt wird hier durch Seitenkräfte der Lenkwinkel reduziert und das System stabilisiert. Bei der umgekehrten Achsanordnung wird durch Seitenkräfte hinten an der Lenkachse der Lenkwinkel vergrößert, der Fahrkurvenradius enger und die Fliehkraft erhöht. Dieser selbstverstärkende Effekt kann bewirken, dass der Rollstuhl unkontrollierbar und gefährlich in Rotation um seine Hochachse gerät. Dies lässt sich durch moderne Steuerungen mit Rotationsbeschleunigungssensoren (ähnlich einem elektronischen Stabilitätsprogramm (ESP) beim Automobil) beherrschen.

4 Rollstühle

(a) vorn indirekt gelenkt sehr wendig Frontlenkung zweimotorig Kursstabilität begrenzt Hindernisüberwindungsfähigkeit eingeschränkt Lenkverhalten weniger präzise (c) hinten mit Radnachlauf direkt gelenkt Kursstabilität sehr gut Lenkverhalten äußerst präzise Hindernisüberwindungsfähigkeit sehr gut beim Schieben lenkbar Differenzial/2-motorig Wendigkeit eingeschränkt Hecklenkung

| 235

(b) hinten indirekt gelenkt „angenehm“ wendig Hindernisüberwindungsfähigkeit relativ gut zweimotorig Hecklenkung Kursstabilität begrenzt Lenkverhalten weniger präzise (d) über Mittelantrieb indirekt gelenkt beste Wendigkeit Kursstabilität gut Lenkverhalten präzise Front- und Hecklenkachse zweimotorig Hindernisüberwindungsfähigkeit äußerst eingeschränkt

Abb. 4.15: Vergleich der Eigenschaften häufiger Varianten des Elektrorollstuhls.

Die im Markt üblichen Bauformen von Elektrorollstühlen sind: – hinten angetriebene und vorne indirekt gelenkte Elektrorollstühle (häufigste Form), – vorne angetriebene und hinten indirekt gelenkte Elektrorollstühle, – vorne angetriebene und hinten direkt gelenkte Elektrorollstühle, – mittig angetriebene Elektrorollstühle mit einer Lenkachse vorne und hinten. In 󳶳Abbildung 4.15 sind ihre jeweiligen Eigenschaften zusammengefasst. Elektromobile, auch Scooter genannt [Weege 2004], verfügen meist über eine angetriebene Hinterachse und sind vorne direkt gelenkt. Sie können dreirädrig (dreispurig) oder vierrädrig (zweispurig) ausgeführt sein. Mit der Anzahl der Spuren wird auch die Anzahl notwendiger Auffahrrampen festgelegt. Bei gleichen Rahmenbedingungen neigen dreirädrige Scooter eher zum Kippen, als solche mit vier Rädern. Bei dreirädrigen Scootern kann sich der Antrieb vorn im Lenkrad befinden, wodurch sie mehr Freiheit im Fußraum aufweisen. Den Vorteilen der Wendigkeit und relativ geringen Kosten stehen Nachteile entgegen, wie die Kippneigung, die notwendige Zwei-Armbedienung und die erforderliche Rumpfstabilität des Nutzers, die unphysiologische mechanische Lenkung, die fehlende Tischunterfahrbarkeit und die fehlende Anpassbarkeit an eine Behinderung.

236 | Rolf-Dieter Weege, Marc Kraft

4.2.5 Rollstuhlgewicht Bei manuell angetriebenen wie auch Elektrorollstühlen kommt dem Eigengewicht eine große Bedeutung zu. Rollstühle mit Greifreifenantrieb haben je nach Aufbau und Ausstattung ein Eigengewicht von unter 10 kg bis weit über 20 kg. Pflege- bzw. Lagerungs-Rollstühle können etwa doppelt so schwer wie schwere Greifreifenrollstühle sein. Die Einflussgrößen auf das Eigengewicht manueller Rollstühle sind vorrangig: – Lebensdauer und Festigkeitsvorgaben für den Rollstuhl (z. T. in Normen festgelegt), – Werkstoffe von Rahmen und Rädern (über 60 % des Gesamtgewichts), – Aufbauart (z. B. faltbarer, starrer Rahmen oder teleskopierbare Kinderrollstühle), – Vorbereitungen für einen Baukastenanschluss (z. B. variable Beinstützen, Rückenhöhen, Schiebegriffhöhen u. a.). Ähnlich groß ist die Gewichtsbandbreite bei Elektrorollstühlen von 70 kg bis über 200 kg, wobei der Akku, die Funktionselemente (z. B. Aufrichtfunktion) und das maximale Benutzergewicht das Gesamtgewicht am stärksten beeinflussen. Elektrorollstühle erreichen mit geringerem Eigengewicht längere Fahrstrecken je Akkuladung. Die Lebensdauer eines technischen Systems ist neben der Beanspruchung von seiner Dimensionierung abhängig. Um eine definierte, dauerhafte Bauteilfestigkeit zu erreichen, ist ein bestimmter Materialeinsatz und damit ein bestimmtes Gewicht notwendig. Als Materialien für Rollstuhlkomponenten kommen Stahl-, Aluminium-, Titan-, Magnesiumlegierungen, Kunststoffe (für Bauteile und Bezugsstoffe), kohlefaserverstärkter Kunststoff (CFK) und glasfaserverstärkter Kunststoff (GFK) in Betracht. Weiterhin hat die Aufbauart des Rollstuhls einen erheblichen Einfluss auf sein Gewicht. Ein starrer Rahmen lässt sich leichter ausführen als ein faltbarer oder zerlegbarer Rahmen, da Scharniere, Gelenke, Verriegelungen und andere Teile nicht benötigt werden. Auch die Ausstattung des Rollstuhls und der Umfang des Baukastensystems sind in Bezug auf das Eigengewicht von Bedeutung. So ist es ein Unterschied, welche Räder bzw. Reifen verwendet werden oder welches Seitenteil zur Anwendung kommt. Ein Rollstuhl mit umfassendem Baukastenprogramm ist sehr flexibel in der Ausstattung und Anpassung an den Fahrer, hat jedoch zwangsläufig ein höheres Gewicht, da Rollstuhl

Fußstütze

=

15 kg

=

Rahmen

+

1,2 kg

Seitenteile

+

+

6,8 kg

+

Räder

+

2 x 0,7 kg

+

2 x 2,8 kg

Abb. 4.16: Typische Teilgewichte der Komponenten eines Rollstuhls.

4 Rollstühle

| 237

für sämtliche Ausstattungsvarianten Anbindungsmöglichkeiten an den Rahmen vorhanden sein müssen. Die Kosten verhalten sich weitgehend umgekehrt proportional zum Rollstuhlgewicht, d. h. der Einsatz hochfester, jedoch leichter Materialien bewirkt höhere Kosten. In der 󳶳Abbildung 4.16 ist dargestellt, wie sich das Gewicht eines manuellen Rollstuhls typischerweise aus den Gewichtsanteilen der Komponenten zusammensetzt. Das Eigengewicht eines Rollstuhls hat Auswirkungen auf seine Handhabung (Anheben, Transport im Auto) sowie auf seine Fahrwiderstandskraft (Fges ), die sich zusammensetzt aus: – Rollwiderstandskraft (FR ), – Beschleunigungswiderstandskraft (FB ), – Steigungswiderstandskraft (FSt ), – Luftwiderstandskraft (FL , hier aufgrund geringer Geschwindigkeit vernachlässigbar) Fges = FR + FB + FSt = cR mg + ma(t) + mg sin α (4.3) mit der Masse von Rollstuhl und Fahrer (m), der Erdbeschleunigung (g), der Rollstuhlbeschleunigung (a(t)), dem Rollwiderstandskoeffizienten (cR , ca. 0,015 bis 0,02) und dem Neigungswinkel der Fahrbahn in Fahrtrichtung (α). In den Fahrwiderstand geht neben dem Rollstuhlgewicht auch das Gewicht des Rollstuhlfahrers ein. Wiegt ein Rollstuhl 10 kg und der Fahrer 90 kg, sind die durch das Fahrergewicht verursachten Fahrwiderstände neunfach größer, als jene aus dem Rollstuhlgewicht. Unter diesem Aspekt lohnt es sich nur begrenzt, einen hohen Aufwand in die Eigengewichtsreduzierung des Rollstuhls zu stecken. Allerdings treffen diese Verhältnisse bei Kinderrollstühlen nicht zu, bei denen das Eigengewicht des Rollstuhls einen wesentlich größeren Anteil am Fahrwiderstand haben kann. Gleichzeitig steigen hier die Anforderungen an die Anpassbarkeit, welche mit höherem konstruktiven Aufwand und Gewicht verbunden sind. Bezüglich des Fahrwiderstandes hat auch das Rollverhalten der Laufräder entscheidenden Einfluss, was im Rollwiderstandskoeffizienten Berücksichtigung findet. Dieser ändert sich je nach Aufbau der Laufräder. Luftbereifte Räder sollen mit einem Luftdruck nach Herstellerangaben (laut 󳶳Tab. 4.2: 3,5 bar) gefahren werden. Mit steigendem Luftdruck sinkt der Rollwiderstand, allerdings gelten diese Zusammenhänge nur bei glattem Untergrund. Reifenluftdrücke über 4 bis 5 bar wirken sich kaum noch auf eine Verringerung des Rollwiderstandes aus, beeinträchtigen aber den Federungskomfort. Tab. 4.2: Vergrößerung des Rollwiderstandes in Abhängigkeit vom Reifendruck, der Nominaldruck des Reifens liegt in diesem Beispiel bei 3,5 bar [Weege 1992]. Reifendruck Rollwiderstand

3,5 bar

2,5 bar

1,5 bar

1,0 bar

0,5 bar

1

1,2-fach

2-fach

3-fach

6-fach

238 | Rolf-Dieter Weege, Marc Kraft

4.2.6 Rollstuhlanpassung an den Patienten Bei eingeschränkter Gehfähigkeit oder Gehunfähigkeit kann eine Rollstuhlversorgung indiziert sein. Die Ursachen für Gehstörungen sind äußerst vielfältig, sie können sich im Laufe des Lebens entwickeln oder angeboren sein. Bei der Rollstuhlversorgung müssen u. a. die individuellen Gegebenheiten wie motorische und geistige Fähigkeit, die Therapieziele, der Grad der Selbständigkeit, das Lebensumfeld und die örtliche Umgebung als wichtigste Einflussgrößen im Rahmen der Rollstuhlauswahl und -anpassung Berücksichtigung finden [Bröxkes 2004; Meyra 2008; Meyra 2006]. Der Rollstuhl dient bei eingeschränkter Gehfähigkeit als Mobilitätshilfsmittel und übernimmt die Funktion der Beine, d. h. der Patient kann nur noch sitzen. Somit stehen: – Mobilität (Fahreigenschaften) und – Sitzqualität [Engström 1993] (funktionsgerechte Abstützung der Körperkräfte) als wichtige Kriterien der Rollstuhlversorgung im Vordergrund. Die Anatomie und Physiologie des gesunden Menschen ist wesentlich auf das Gehen und Stehen ausgerichtet. Bei Rollstuhlnutzern werden diese mobilitätsbezogenen Aktivitäten durch Sitzen und ggf. eine Nutzung der Arme ersetzt. Nichtbehinderte wechseln ihre Sitzposition unbewusst und häufig, was zur Folge hat, dass ständig andere Körperzonen die Abstützung der Gewichtskräfte auf dem Sitz bewirken. Das Sitzen im Rollstuhl ist ein dauerhaftes Sitzen, oft über den ganzen Tag hinweg. Daraus resultieren Anforderungen der Optimierung der Sitzqualität, wie: – eine orthopädisch korrekte Körperabstützung, – eine gleichmäßige Sitzdruckverteilung, – ein nach mikroklimatischen Gesichtspunkten gestalteter Sitzaufbau (Feuchtigkeit aus der Sitzzone ableitend). Hierdurch kann der Ausbildung von Druckgeschwüren (Dekubitus 󳶳Kapitel 6) entgegengewirkt werden. Diese Forderungen sind von einem Gurtsystem als Sitzträger schwer realisierbar. Es ist zwar kostengünstig, relativ leicht und einfach faltbar, hat aber ansonsten nur Nachteile. Bei Elektrorollstühlen kann die Sitzqualität einfacher verbessert werden, da keine Notwendigkeit einer Sitzfaltung besteht. Während bei der Rollstuhlversorgung von geriatrischen Patienten und bei der Versorgung Beinamputierter allgemein gültige Standard-Versorgungskriterien festliegen, sind die individuellen Krankheitsbilder anderer Behinderter oft sehr unterschiedlich, d. h. allgemeine Versorgungsregeln schwer zu formulieren. Im nachfolgenden 󳶳Kapitel 4.3 wird bei der Erläuterung der Rollstuhlarten auch näher auf die zugehörigen Indikationen und Versorgungsempfehlungen des Hilfsmittelverzeichnisses der GKV [HMV 2014] eingegangen. Nachdem die indikationsbezogene Entscheidung für die Rollstuhlart (z. B. Standardrollstuhl, Adaptivrollstuhl oder Elektrorollstuhl) getroffen wurde, sind die geometrischen Rollstuhlkriterien (Sitzbedingungen) festzulegen. Zu ihnen gehören:

4 Rollstühle

|

239

Bodenfreiheit SB USL

vordere Sitzhöhe

Schiebegriffhöhe

hintere Sitzhöhe Rückenhöhe

Sitztiefe

Gesamtlänge

(a)

RH

SH SH h Gesamtbreite

(b)

SB

AH RH

USL BSL

BB

(c)

ST

(d)

OSL

(e)

(f)

Abb. 4.17: Rollstuhl- und Körpermaße für Einstellungsempfehlungen (Abkürzungen siehe Text): (a) Gesamtmaße, (b) Sitzhöhe, (c) Sitzbreite, (d) Sitztiefe, (e) Rückenlehnenhöhe, (f) Beinstützenlän­ ge.

– – – –

Sitzbreite, Sitztiefe, Sitzhöhe und Sitzneigung, Höhe der Armlehnen, Rückenlehnenhöhe und Rückenlehnenneigung, Länge und Neigung der Beinstützen.

Die Sitzbreite ist das wichtigste anzupassende Maß. Sie soll so schmal wie möglich sein (Kompaktheit), darf aber nicht einengen. Von der Sitzbreite hängt auch ganz wesentlich die Erreichbarkeit der Greifreifen ab. 󳶳Abbildung 4.17 enthält die wichtigsten Rollstuhlmaße mit den zugehörigen Körpermaßen, für die nachfolgend Einstellungsempfehlungen gelistet sind. Folgende Einstellungen sollten zunächst gewählt und in Abstimmung mit dem Rollstuhlnutzer anschließend optimiert werden (Abkürzungen beziehen sich auf 󳶳Abb. 4.17): – Sitzbreite (SB) = Beckenbreite (BB) + 2 cm, – Sitztiefe (ST) = Oberschenkellänge (OSL) − 7,5 cm, – Rückenlehnenhöhe (RH) = Achselhöhe (AH) − 10 cm, – Beinstützenlänge (BSL) = Unterschenkellänge (USL) − 1,5 cm, – Bodenfreiheit (hmin ) = 4 cm (bei Adaptivrollstühlen auch etwas geringer möglich, Tischunterfahrbarkeit muss gewährleistet sein), – Sitzgefälle nach hinten (max. 10 Grad), – Sitzhöhe eines Standardrollstuhls (SH) = 52 cm,

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Sitzhöhe zum Trippeln auf dem Boden: ≈ 42 cm, von den Körpermaßen abhängig: Hüft-/Knie-/Fußgelenkwinkel sollten bei Bodenkontakt jeweils 90 Grad betragen.

Diese Empfehlungen gelten weitgehend auch bei der Elektrorollstuhlversorgung. Jedoch kommen noch weitere Gesichtspunkte hinzu. Es ist bei der Auswahl des geeigneten Rollstuhls auch zu beachten: – wie und wo die Akkus aufgeladen werden können, – wo der Rollstuhl abgestellt wird, – ob er im Straßenverkehr (Öffentlichkeit) genutzt werden soll, – ob evtl. elektrische Verstellungen (z. B. für den Sitz) erforderlich sind.

4.2.7 Rollstühle im Straßenverkehr Eine Grundbedingung für die Teilnahme am Straßenverkehr ist die Kenntnis seiner Regeln. Das betrifft bereits jeden Fußgänger, der bei Rot an der Ampel wartet. Die Fähigkeit, einen Rollstuhl im Straßenverkehr sicher zu beherrschen und bei Bedarf in den sicheren Zustand (Stillstand) zu versetzen, muss der verordnende Arzt prüfen. Verkehrsmedizinische und verkehrspsychologische Gutachten werden gelegentlich von Kostenträgern gefordert, wenn Gesundheitsstörungen vorliegen, welche die Straßenverkehrstauglichkeit beeinflussen können. Für die Erstellung dieser Gutachten leisten der Medizinische Dienst und medizinisch-psychologische Institute Hilfestellung. Insgesamt gelten auch für Rollstühle straßenverkehrsrechtliche Vorschriften. Allerdings sind Schiebe- und Greifreifenrollstühle keine Fahrzeuge in Sinne des Straßenverkehrsrechts. Damit bestehen für diese Rollstuhlgruppe auch keine Anforderungen hinsichtlich notwendiger Bremsen und Beleuchtungen. Dies kann durchaus gefährlich werden. So sollten Fahrer manueller Rollstühle auf der Straße bei Dunkelheit im eigenen Interesse die preiswert erhältlichen Fahrrad-LED-Warnleuchten nutzen. Elektrorollstühle werden im Straßenverkehrsrecht „motorisierte Krankenfahrstühle“ genannt. Sie sind in der Verordnung über die Zulassung von Fahrzeugen zum Straßenverkehr (Fahrzeug-Zulassungsverordnung – FZV) klassifiziert als: – einsitzige, nach der Bauart zum Gebrauch durch körperlich behinderte Personen bestimmte Kraftfahrzeuge mit Elektroantrieb, – Leermasse von nicht mehr als 300 kg einschließlich Akkus jedoch ohne Fahrer, – zulässige Gesamtmasse von nicht mehr als 500 kg, – bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 15 km/h, – Gesamtbreite von maximal 110 cm. Das sind auch gleichzeitig die Kriterien dafür, ob der Rollstuhl als elektromotorisch betriebenes Kraftfahrzeug, z. B. in einer Fußgängerzone betrieben werden darf. Ob ein Elektrorollstuhl versichert sein muss, eine Zulassung oder eine Betriebserlaubnis benötigt, hängt von seiner bauartbedingten Maximalgeschwindigkeit ab.

4 Rollstühle

RolIstuhlmaximalgeschwindigkeit < 8 km/h vorne

hinten

mindestens – 2 rote eine Leuchte Schlussmit weißem leuchten (diffusem) – 2 rote Licht Rückstrahler

seitlich

mindestens ein seitlicher gelber Rückstrahler

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RolIstuhlmaximalgeschwindigkeit < 15 km/h vorne

mindestens ein Scheinwerfer mit Scheinwerferwirkung

hinten

seitlich

– 2 rote Schlussleuchten – 2 rote Rückstrahler

mindestens ein seitlicher gelber Rückstrahler

Abb. 4.18: Beleuchtungsvorschriften für Elektrorollstühle in Abhängigkeit von der bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit.

Er ist unterhalb von 6 km/h Maximalgeschwindigkeit fahrerlaubnisfrei, zulassungsund betriebserlaubnisfrei sowie haftpflichtversicherungsfrei. Oberhalb von 6 km/h und unterhalb von max. 15 km/h Maximalgeschwindigkeit ist er fahrerlaubnis- und zulassungsfrei, braucht aber eine Betriebserlaubnis nach Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) und ist haftpflichtversicherungspflichtig gemäß des Gesetzes über die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter (PflVG). Zu beachten ist, dass Änderungen am Rollstuhl ein Erlöschen der Betriebserlaubnis zur Folge haben können. Darüber hinaus sind Beleuchtungsvorschriften für Elektrorollstühle in Abhängigkeit von der bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit nach StVZO einzuhalten, deren wichtigste Forderungen in 󳶳Abbildung 4.18 zusammengefasst sind. Die Notwendigkeit einer Heckmarkierungstafel besteht für Elektrorollstühle gemäß der Verordnung über die Zulassung von Fahrzeugen zum Straßenverkehr (FZV). Kinder und Jugendliche dürfen einen Elektrorollstuhl ohne eine erwachsene Begleitperson in der Öffentlichkeit fahren, solange der Elektrorollstuhl eine Geschwindigkeit von 10 km/h nicht überschreitet (kein Mindestalter vorgeschrieben).

4.3 Ausführungsformen von Rollstühlen 4.3.1 Schieberollstühle Ein 󳶳 Schieberollstuhl ist ein durch eine Begleitperson anzutreibender und zu steuernder Roll­ stuhl, der beidhändig über die Schiebegriffe des Rollstuhls vorangetrieben wird und im Innenraum sowie Außenbereich eingesetzt werden kann.

242 | Rolf-Dieter Weege, Marc Kraft

Ein Schieberollstuhl erfüllt gemäß der Indikations- und einsatzbezogenen Qualitätsanforderungen des Hilfsmittelverzeichnisses der GKV [HMV 2014] folgende Anforderungen: – Sitzeinheit: gepolsterte Armauflagen, Seitenteile/Armlehnen für seitlichen Transfer abnehmbar oder wegklappbar, Ausstattungsmöglichkeit mit Desk-Armlehne und Armlehne in langer Ausführung, fester, gepolsterter Sitz oder verrutschsicheres Sitzkissen, gepolsterte Rückenlehne, – Fußstützen auf Unterschenkellänge einstellbar, abnehmbar oder wegschwenkbar, Fußplatte(n) hoch-/wegklappbar, Ausstattungsmöglichkeit mit Einzelfußstütze und Einzelfußstütze in hochschwenkbarer Ausführung (kniewinkelverstellbar), – bei Ausführungen mit erreichbarem Rückenlehnenwinkel über 30 Grad zur Vertikalen: Ausstattung mit höhen- und tiefenverstellbarer Kopfstütze, Ausstattung mit bis zur waagerechten hochstellbaren Fußstützen, – Fahrwerk: Bremse zur Bedienung durch die Begleitperson, Schwenkräder vorne, – Sonstige Anforderungen: Schiebestange oder Schiebegriffe, Ankippbügel/-hilfe, für Transportzwecke ohne Werkzeug faltbar, Reinigungsmöglichkeit mit haushaltsüblichen Mitteln. Die im HMV hinsichtlich der Nutzungsdauer definierten Qualitätsanforderungen umfassen den Nachweis von Prüfungen entsprechend [EN 12183 TZ 7.3] (Statische Festigkeit, Stoß- und Dauerfestigkeit) und [EN 12183 TZ 7.5] (Dauerfestigkeit von mit Muskelkraft betätigten Feststellbremsen) sowie eine Herstellererklärung zur korrosionsgeschützten Ausführung des Rollstuhls [EN 12183; HMV 2014]. Weiterhin muss ein Schieberollstuhl für einen Wiedereinsatz geeignet sein, d. h. Sitz, Rückenlehne, Fußstützen und Armauflagen/Seitenteile sind an unterschiedliche Behinderungen und Körpergrößen anpassbar (z. B. durch ein Baukastensystem) und es gibt eine Des-

Abb. 4.19: Schieberollstuhl 1.400 UT der Fa. Uniroll.

4 Rollstühle

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infektionsmöglichkeit mit haushaltsüblichen Mitteln. Die notwendige Belastbarkeit von Schieberollstühlen für Erwachsene (󳶳Abb. 4.19) liegt bei mindestens 100 kg bzw. bei mindestens 50 kg bei Rollstühlen für Kinder. Eine besondere Form eines Schieberollstuhls ist ein sog. Gangrollstuhl, der für die Verwendung in schmalen Gängen, wie in einem Flugzeug, vorgesehen ist.

4.3.2 Rollstühle mit Greifreifenantrieb Ein 󳶳 Rollstuhl mit Greifreifenantrieb wird durch den Rollstuhlfahrer selbst bewegt. Für Antrieb und Lenkung versetzt er die Antriebsräder über daran angebrachte Greifreifen in Drehung. Roll­ stühle mit Greifreifenantrieb können im Innenraum und Außenbereich eingesetzt werden.

Es gelten die in 󳶳Kapitel 4.3.1 benannten indikations- und einsatzbezogenen Qualitätsanforderungen des Hilfsmittelverzeichnisses der GKV [HMV 2014] für Schieberollstühle. Hinzu kommen die Forderungen: – Bremse zur Bedienung durch den Rollstuhlnutzer und – große Räder mit Greifreifen. Leichtgewichtrollstühle haben über eine Schnellkupplung (Steckachsen etc.) abnehmbare Antriebsräder mit Greifreifen, ein Leergewicht von maximal 18 kg bei einer Sitzbreite von 43 bis 45 cm in der Basisausstattung (Rahmen, Sitz- und Rückenbezug, Armlehnen, Standard-Fußstützen, Räder) und einer Belastbarkeit bis 100 kg. Verstärkte Rollstühle müssen mit Patientengewichten größer 120 kg belastbar sein. Einfache Rollstühle mit Greifreifen werden in großer Stückzahl benötigt. Obwohl keine derartige Untergruppe sondern nur eine Standardrollstuhl genannte Produktart (HMV-Nr.: 18.50.02.0000 bis 0999) [HMV 2014] im Hilfsmittelverzeichnis existiert, ist diese Bezeichnung weit verbreitet. Darunter werden alle faltbaren über Greifreifen angetriebenen Rollstühle verstanden, die konstruktiv einfach aufgebaut sind. Die Bezeichnung weist darauf hin, dass diese Rollstühle einheitliche statt individuelle Funktionsmerkmale haben. Eine Grundversorgung für die temporäre Nutzung wird damit abgedeckt. Standardrollstühle sind häufig Teil der Ausstattung in Heimen und Kliniken, wo sie als allgemeines Transportmittel für nicht gehfähige Menschen eingesetzt werden. Rollstühle dieses Aufbaus wechseln häufig den Benutzer im Rahmen des Wiedereinsatzes. Die Standardrollstühle sind häufig aus Stahlrohren aufgebaut, was eine hohe Lebensdauer bewirkt und einen robusten Einsatz zulässt, allerdings bei höherem Gewicht. In 󳶳Abbildung 4.20 (a) ist ein Standard-Rollstuhl dargestellt. Eine in der ISO 9999, jedoch nicht im HMV vorgesehene Variante von Greifreifenrollstühlen wird als Trippelrollstuhl bezeichnet.

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(a)

(b)

Abb. 4.20: Rollstühle mit Greifreifenantrieb. (a) Standard-Faltrollstuhl Budget 9.050 mit Greifreifen und (b) Lagerungsrollstuhl Motivo 2.250 der Fa. Meyra.

Ein 󳶳 Trippelrollstuhl (auch Rollstuhl mit Fußantrieb genannt) ist ein vom Benutzer nur durch Ab­ stoßen mit einem Fuß oder beiden Füßen angetriebener Rollstuhl.

Optisch unterscheiden sie sich kaum von anderen Greifreifenrollstühlen. Ein als Trippelrollstuhl modifizierter Leichtgewichtrollstuhl kann sich beispielsweise durch seinen verbreiterten Fußraum auszeichnen und in Kombination mit einer niedrigen Sitzhöhe das Trippeln ermöglichen. Derartige Rollstühle werden z. B. für die Versorgung nach einem Schlaganfall mit einer Halbseitenlähmung (Hemiplegie) eingesetzt. Die Bewegung des nicht gelähmten Beines wird so weiter gefördert. Ohne eine spezifische Kategorisierung in HMV oder ISO 9999 werden Lagerungsrollstühle von einigen Herstellern angeboten, die auch zu den Greifreifenrollstühlen gehören. Ein 󳶳 Lagerungsrollstuhl ist für die Aufnahme von weitgehend immobilen Personen über längere Zeiträume optimiert und besitzt komfortable Sitze sowie ein umfangreiches Zubehörprogramm. Verstellmöglichkeiten betreffen insbesondere die Sitz- bzw. Liegeposition.

Derartige Lagerungsrollstühle (󳶳Abb. 4.20 (b)) sind u. a. in der Produktart „Rollstühle mit Rückenlehnenverstellung über 30 Grad“ (HMV-Nr. 18.50.02.7000. . . 7999) gelistet, werden dort aber nicht so benannt. Nähere Angaben zu diesen Rollstühlen aus dem HMV legen fest, dass sie aus einem faltbaren Rohrrahmen bestehen mit einer durch ein mechanisches Gestänge oder über Gasdruckfeder winkelverstellbarer Rückenlehne, zwei großen Rädern hinten, zwei kleinen Schwenkrädern vorne, abnehmbaren und austauschbaren Armlehnen sowie abnehmbaren und austauschbaren Fußstützen, die bis zur Waagerechten hochgestellt werden können und einer gepolsterten Sitz- und Rückenbespannung. Mittels Greifreifen an den großen Rädern kann der Benutzer den Rollstuhl antreiben und lenken [HMV 2014].

4 Rollstühle

| 245

Durch die Rückenlehnenverstellung über 30 Grad und die Winkelverstellung der Fußstützen bis zur Waagerechten können Behinderte mit Herz-Kreislauf-Insuffizienz oder anderen entsprechenden Behinderungen, z. B. Insuffizienz der Wirbelsäule, eine ihnen entsprechende physiologische Haltung im Rollstuhl einnehmen und über längere Zeit dort verbleiben.

Der in 󳶳 Abbildung 4.20 (b) dargestellte Lagerungsrollstuhl Motivo 2.250 der Fa. Meyra ist im häus­ lichen Bereich für immobile Personen vorgesehen, die wechselnd gelagert werden müssen. Er kann aber auch zur Mobilisation der Benutzer vom Liegen zum Sitzen und weiterführend zur Aktivierung vorhandener Restfunktionen eingesetzt werden. Indikationsstellungen sind die geriatrische Versor­ gung, Schädelhirntrauma, Zerebralparese, Tetraplegie, Hemiplegie und andere neurologische Krank­ heitsprozesse. Er besitzt sehr vielfältige Einstell- und Anpassungsmöglichkeiten an schwerste Behinderungen, u. a. einen automatischen Schwerpunktausgleich, eine Sitztiefenverstellung von 45 bis 54 cm und ei­ ne höhen-, tiefen- und winkelverstellbare Kopfstütze (optional sogar dreidimensional verstellbar). Die Rückenneigung ist zwischen −6 Grad bis +35 Grad anpassbar, die Sitzkantelung zwischen −8 Grad bis +25 Grad. Das zulässige Benutzergewicht liegt bei 150 kg. Das umfangreiche Zubehörprogramm umfasst u. a. Abduktionskeile, Beckengurte oder 4-Punkt-Gurte, Infusionsständer, Halter für Ernäh­ rungspumpen, Rumpf- und Schulterpelotten, Stützrollen mit Auftritt, einen Therapietisch aus Plexi­ glas, Universalhalterungen und Zusatzantriebe [MEYRA 2014].

4.3.3 Adaptivrollstühle Ein 󳶳 Adaptivrollstuhl zeichnet sich durch umfassende Anpassungsmöglichkeiten (Adaptierbar­ keit) an die Anforderungen des Nutzers aus. Dazu ist der Rollstuhl in ein Baukastensystem zur Optimierung von Maßanpassung, Fahrwerksgeometrie und Ausstattung integriert.

Je genauer die Anpassung an die individuellen körperlichen Belange, an die Funktionseinschränkungen und die gewünschten Fahreigenschaften erfolgt, desto aktiver wird der Benutzer seinen Rollstuhl im Alltag nutzen. Selbständigkeit und Mobilität sind bei einer Versorgung mit Adaptivrollstuhl oberstes Ziel. Die zur Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis erforderlichen Eigenschaften ergänzen die in 󳶳Kapitel 4.3.1 und 4.3.2 benannten Forderungen an Schiebe- und Greifreifenrollstühle (insbesondere Leichtgewichtsrollstühle). Zusätzlich besitzen sie Einstellungsmöglichkeiten zur [HMV 2014]: – Schwerpunktveränderung und Sitzneigungsverstellung durch variable Hinterachsverstellung oder gleichwertige Konstruktion, – Sitzhöhenverstellung, – Radsturzverstellung der Antriebsräder, – Vorspurkorrektur der Antriebsräder, – Korrektur der Neigung der Lenkkopfachse.

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(c)

(a)

(d)

(b)

(e)

Abb. 4.21: Adaptivrollstühle. (a) Adaptivrollstuhl ZX3 1.370 Fa. Meyra mit (b) Antriebsradjustierung. Weitere Antriebsradjustierungen (c) Ventus, (d) Avantgarde CS und (e) Avantgarde XXL (die letz­ ten beiden ohne aufgesteckte Räder) der Fa. Ottobock.

Gefordert sind weiterhin eine Austauschmöglichkeit der Schwenkräder, montierbare Ankippbügel, werkzeuglos abnehmbare oder wegschwenkbare Antikipprollen. Das Gewicht liegt bei Adaptivrollstühlen nur noch bei maximal 16 kg (bei Sitzbreite 43 cm bis 45 cm in der Basisversion), also 2 kg unter dem Gewicht von Leichtgewichtrollstühlen. Dabei sind auch Anforderungen entfallen, wie gepolsterte Armauflagen und Schiebestangen oder Schiebegriffe, die nur noch optional erhältlich sind. Die Verstelloptionen sind je nach Hersteller und Rollstuhltyp sehr unterschiedlich ausgeführt. Exemplarisch sind in 󳶳Abbildung 4.21 unterschiedliche konstruktive Antriebsradjustierungen dargestellt. Sie ermöglichen die Veränderung der horizontalen und vertikalen Position der Antriebsradsteckachse und beeinflussen, wie in 󳶳Kapitel 4.2.4 erläutert, die Schwerpunktlage. In Langlöchern geklemmte Achsen erlauben stufenlose Vertikaleinstellungen, sind jedoch nicht für hohe Belastungen geeignet, wie übereinander angeordnete Bohrungen des Radträgers. Individuell angepasste Rollstühle sind zwar an ihren Nutzer adaptiert, gehören aber doch nicht zu den Adaptivrollstühlen, wenn sie bei der Anpassungsoptimierung ihre Verstellmöglichkeiten (Forderung des HMV, siehe oben) verloren haben. Ein Beispiel ist der in seiner Antriebsradposition fest verschweißte Faltrollstuhl Avantgarde

4 Rollstühle

(a)

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(b)

Abb. 4.22: Individuell angepasste Rollstühle. (a) Avantgarde CLT der Fa. Ottobock mit (b) fest verschweißter Achsaufnahme des Antriebsrades.

CLT der Fa. Ottobock. Durch den Verzicht auf zahlreiche Positioniervorrichtungen (u. a. auch des Antriebsrades 󳶳Abb. 4.22) sinkt sein Gewicht von ca. 10 kg auf nur noch 9 kg.

4.3.4 Toiletten- und Duschrollstühle

Ein 󳶳 Toilettenrollstuhl ist im Innenraum für eine Verwendung über einer Toilette oder als Toilette (mit Toiletteneimer) vorgesehen. Er besitzt eine dafür geeignete Sitzeinheit und Rahmenkonstruk­ tion.

Einerseits sind gemäß HMV [HMV 2014] an Toilettenrollstühle spezifische, an ihren besonderen Anwendungszweck gebundene Anforderungen gestellt: – über eine Toilette fahrbar (übliches Toilettenbecken), – Toiletteneimer mit Verschluss, – Sitzabdeckung oder Verschlussmöglichkeit der Toilettenöffnung, – gepolstertes Material an der Sitzabdeckung bzw. durchgehend gepolsterte Sitzfläche, bestehend aus Sitz mit Toilettenöffnung und Verschluss, – Toiletteneinrichtung austauschbar.

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(a)

(b)

Abb. 4.23: Beispiele für Toilettenrollstühle. (a) Toilettenrollstuhl HCDA, (b) Toiletten- und Duschroll­ stuhl McWet 5'', beides Fa. Meyra.

Andererseits müssen sie auch Eigenschaften eines Schieberollstuhls besitzen, wie u. a.: – gepolsterte Armauflagen und Rückenlehne, – Seitenteile/Armlehnen, für den seitlichen Transfer abnehmbar oder wegklappbar, – Fußstützen auf Unterschenkellänge einstellbar, abnehmbar oder wegschwenkbar, – Fußplatte(n) hoch-/wegklappbar, – alle Rollen oder Räder schwenkbar, mind. zwei mit Bremsen- und Richtungsfeststeller, – Schiebestange oder Schiebegriffe, – Reinigungs- und Desinfektionsmöglichkeit mit haushaltsüblichen Mitteln. Es gibt sehr unterschiedliche Ausführungen, von sehr einfachen Konstruktionen (󳶳Abb. 4.23 (a)) bis zu aufwendigeren, auch als Schiebe-, Greifreifen- oder Duschrollstuhl einsetzbaren Systemen (󳶳Abb. 4.23 (b)). Ein 󳶳 Duschrollstuhl ist im Innenraum für eine Verwendung in einer Dusche vorgesehen. Er be­ sitzt eine dafür geeignete korrosionsbeständige Konstruktion, die den Ablauf des Duschwassers unterstützt.

Das HMV unterscheidet zwischen den Produktarten Duschrollstühle mit Greifreifen (HMV-Nr.: 18.46.03.0000. . . 9999) und Dusch-Schieberollstühle (HMV-Nr.: 18.46.03.1000. . . 1999). Duschrollstühle haben weitgehend die o. g. Anforderungen eines Toilettenrollstuhls zu erfüllen, nur die Ausstattung mit einer Toiletteneinrichtung bzw. die Anpassung an die Toilettennutzung ist nicht notwendig, aber möglich. Ihre Besonderheit besteht darin, dass die Rückenlehne und der Sitz den ungehinderten Abfluss des Duschwassers ermöglichen. Der in 󳶳Abbildung 4.23 (b) dargestellte Rollstuhl ist auch als Duschrollstuhl nutzbar.

4 Rollstühle

|

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4.3.5 Rollstühle mit Einarmantrieb und mit Hebelantrieb Rollstühle mit Einarmantrieb werden im Innenraum genutzt und eingeteilt in die Produktarten [HMV 2014]: – Rollstühle mit Doppelgreifreifen (HMV-Nr.: 18.46.04.0000. . . 0999), – Rollstühle mit Einarmhebelantrieb (HMV-Nr.: 18.46.04.2000. . . 2999). Ein 󳶳 Rollstuhl mit Einarmantrieb lässt Antrieb und Lenkung manuell mit einer oberen Extremität im Innenbereich zu. Er kann mit speziellen Greifreifen (Doppelgreifreifen) oder Handhebeln aus­ gestattet sein.

Rollstühle mit Doppelgreifreifen besitzen eine Welle zwischen den Antriebsrädern, die das Drehmoment eines Greifreifens auf das zweite Rad überträgt. Diese Welle kann auch faltbar aufgebaut werden (󳶳Abb. 4.24 (a)). Die Bedienung von Rollstühlen mit Doppelgreifreifen erfordert ein hohes Maß an Geschicklichkeit, weil die Koordinierung des gleichzeitigen Antriebs und der Lenkung mit einer Hand schwer fällt. Die Geradeausfahrt erfordert gleiche Drehzahlen, das heißt die Greifreifen müssen gemeinsam fest gegriffen werden. Die für Kurvenfahrten notwendigen Drehzahldifferenzen müssen durch Greifen nur eines Greifreifens oder durch Handdrehungen während des Antriebes beider Greifreifen erreicht werden, was nur Geübten gelingt und schnell in einer Zickzack-Fahrt endet. Hinzu kommen schlechte ergonomische Sitzposition (unsymmetrisches Beugen) und schlechter Wirkungsgrad, der bei Greifreifenrollstühlen in der Größenordnung von nur 9 % liegt. So soll laut HMV geprüft werden, ob Rollstühle mit Einhandhebelantrieb durch einhändige Fahrer und einseitig Gelähmte besser bedient werden können als Rollstühle mit Doppelgreifreifen. Diese können einen doppelt so hohen Wirkungsgrad erreichen und erfordern deutlich weniger Geschick in der Handhabung.

Doppelgreifreifen

(a)

Übertragungsachse

(b)

Abb. 4.24: Rollstuhl mit Einhandantrieb. (a) Funktionsprinzip eines faltbaren Einhandantriebes mit Doppelreifen und (b) Ausführung eines Doppelreifenantriebes am Rollstuhl Speedy 4all der Fa. Pro Activ mit um 45 Grad versetzten Greifringen.

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Für den Einsatz im Straßenverkehr listet das HMV in der Untergruppe Rollstühle mit Hebelantrieb die Produktarten: – mit großen Rädern vorne (HMV-Nr.: 18.51.01.0000. . . 0999), – mit großen Rädern hinten (HMV-Nr.: 18.51.01.1000. . . 1999), – für Kinder (HMV-Nr.: 18.51.01.2000. . . 2999). Sie haben konstruktive Gemeinsamkeiten mit den o. g. einarmig genutzten Rollstühlen mit Hebelantrieb und werden nachfolgend gemeinsam vorgestellt. Ein 󳶳 Rollstuhl mit Hebelantrieb lässt Antrieb und Lenkung manuell mit einer oder beiden oberen Extremitäten im Innenbereich oder Straßenverkehr zu. Er ist mit einem Handhebelgetriebe ausge­ stattet, das einen Freilauf besitzt.

Hebelantriebe setzen in der Regel eine direkte Lenkung voraus. Grundsätzlich werden zwei Funktionsprinzipien unterschieden: – gelenkgetrieben (mit Kurbelschwinge) und – freilaufgetrieben. Die Hebelantriebssysteme über Kurbelschwingen sind von den früheren dreirädrigen Rollstühlen mit langem Radstand bekannt, etwa wie bei den 1925 genormten Straßenselbstfahrern nach der DIN Fanok 28 des Fachnormenausschuss Krankenhaus (󳶳Abb. 4.25 (a)). Mit der Weiterentwicklung hinsichtlich kürzerer Fahrzeuge wurde auf vier Räder übergegangen, u. a. wegen der besseren Kippstabilität und kompakteren Bauweise. Die Fahrzeuge werden mit den Antriebsrädern vorne und auch hinten angeboten. Rollstühle dieses Typs sind in der Regel faltbar. Durch Gegenkraft am Handhebel kann das Fahrzeug auch verzögert werden, ohne die Bremsen des Rollstuhls direkt betätigen zu müssen. Neben dem einfachen und robusten Aufbau hat das Kurbelschwingprinzip bei der Anwendung im Rollstuhl wegen der periodisch ungleichförmigen Bewegungsumwandlung aber auch Nachteile und wird deshalb heute nicht mehr eingesetzt. Die am Hebel wirkende Handkraft wird mit dem Sinus des Kurbelwinkels auf das Antriebsrad übertragen. Handkräfte in der (a)

(b) Schubstange

Antriebshebel

Kurbelradius

Abb. 4.25: (a) Straßenselbstfahrer mit Handhebelantrieb aus dem Jahr 1925 und (b) Prinzip des Kubelschwingenantriebes.

4 Rollstühle

| 251

Nähe der Endlagen des Handhebels wirken sich kaum noch auf das Vortriebsverhalten aus. In den Null-Durchgängen der Sinus-Funktion (Totpunktlagen des Getriebes) ist keine Kraftübertragung und daher kein Anfahren des Rollstuhles aus dem Stand möglich (󳶳Abb. 4.25 (b)). Während der Fahrt erfolgt zwar eine Totpunktüberbrückung durch die Massenträgheit von Fahrzeug und Fahrer, aber nicht mehr in ausreichendem Maße bei geringer Fahrgeschwindigkeit oder bei größeren Steigungen. Die Arme des Rollstuhlfahrers müssen weiterhin stets den vollen Hub der Handhebel ausführen. Die Winkelstellung der Handhebel zueinander ist von der zufälligen Stellung der Radkurbel abhängig und ändert sich während der Fahrt des Rollstuhls durch Kurven. Die Übersetzung des Getriebes schwankt mit dem Sinus des Kurbelwinkels zwischen Null und einem Maximalwert. Sie ist insofern unveränderlich, als ein Doppelhub des Antriebshebels stets eine volle Radumdrehung zur Folge hat. Veränderte Geschwindigkeiten sind nur mit anderen Raddurchmessern, Hebelarmen bzw. Betätigungsfrequenzen erzielbar. Der Antrieb erfolgt in der Regel über zwei Antriebshebel, gelegentlich einseitig über einen Hebel, je nach Behinderung des Fahrers [Weege 1992]. Mit den Freilaufantrieben können die nachteiligen Eigenschaften des Kurbelschwingsystems weitgehend umgangen werden. Man unterscheidet einfach und doppelt wirkende Freilaufgetriebe. Einfach wirkende Freilaufgetriebe sind solche, die nur im Druck- oder im Zughub des Handhebels ein Drehmoment erzeugen und zwischen max. Betätig.-hub (beliebig verkleinerbar)

hintere Bremsstellung mit Feststellbremse

vordere Bremsstellung Lenkbewegung Wahlschalter (vorwärts, Leerlauf, rückwärts) Antriebshebel (höhenverstellbar, Gangschaltung) Schubstange zwei Anlenkpunkte für die Schubstange

Trommelbremse und Getriebe (a)

ein Lenkrad nachlauffrei, direkt gelenkt, das andere Lenkrad frei durchschwenkend mit Radnachlauf

(b)

Abb. 4.26: (a) Funktionsprinzip und (b) Ausführung eines Einhandhebelrollstuhls mit Freilaufantrieb der Fa. Meyra.

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den Antriebshüben jeweils einen Leerhub benötigen. Derartige Antriebssysteme verfügen in der Regel über sehr große Übersetzungen, sodass nur geringe Geschwindigkeiten erzielt werden können. Daneben erfolgt der Antrieb meist einseitig. Geeignet sind solche Antriebssysteme für Patienten mit einseitig eingeschränkter Körperfunktion, die sich durch geringe eigene Körperkraft überwiegend im Innenbereich fortbewegen [Weege 1992]. In der 󳶳Abbildung 4.26 ist ein Rollstuhl mit zugehöriger Antriebseinrichtung erläutert. Ein Rollstuhl mit Einarm-Hebelantrieb ist aufgrund der Zwangslenkung eines Vorderrades nicht so wendig, wie ein Rollstuhl mit Doppelgreifreifen. Doppeltwirkende Freilaufgetriebe erzeugen sowohl in Zug- als auch in Druckrichtung ein Antriebsdrehmoment und gleichen diesbezüglich den Kurbelschwingantrieben. Diese technisch hochentwickelten Freilaufgetriebe mit hohem Wirkungsgrad finden jedoch als Serienantrieb bei Rollstühlen (u. a. aus Kostengründen) keine Anwendung [Weege 1992]. Im Straßenverkehr einsetzbare Rollstühle mit Handhebelantrieb müssen gemäß HMV [HMV 2014] auch Rückspiegel, Feststell- und Betriebsbremse sowie Beleuchtung gemäß StVZO besitzen.

4.3.6 Elektrorollstühle Rollstuhlbenutzer, die keine ausreichende Muskelkraft zur Fortbewegung eines manuell angetriebenen Rollstuhls aufbringen können, benötigen Motorkraftunterstützung. Elektrorollstühle sind sehr komplexe Systeme, die technisch interessierte Menschen beeindrucken können. Es ist jedoch zu beachten, dass es sich bei den Nutzern um Patienten handelt, die nicht mehr in der Lage sind, sich mit eigener Kraft fortzubewegen. Bei aller Begeisterung für die Technik ist also zu bedenken: je besser der Rollstuhl ausgestattet ist, desto eingeschränkter ist die Mobilität des Fahrers. Ein 󳶳 Elektrorollstuhl ist ein mit Rädern ausgestattetes Gerät zur persönlichen Fortbewegung, das aus einem Sitzsystem für einen behinderten Menschen besteht und durch einen oder mehrere Elektromotoren angetrieben wird, die vom Benutzer oder von der Hilfsperson zur Veränderung von Fahrtrichtung und Geschwindigkeit gesteuert werden. Aufbau und Ausstattung von Elektro­ rollstühlen hängen wesentlich davon ab, ob sie im Innenbereich, im Außenbereich oder im Stra­ ßenverkehr eingesetzt werden.

Das Antriebssystem elektrischer Rollstühle besteht aus: – Steuer- und Leistungselektronik mit Bedienmodul, – Energiespeicher (Akkumulator/Akku), – einem oder mehreren Energiewandlern (Antriebe), welche die gespeicherte Energie in mechanisch nutzbare Energie umwandeln [Weege 1992].

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Verbrennungsmotoren, die Geräusche und Abgase emittieren, gehören seit etwa 50 Jahren nicht mehr zum Standard der Rollstuhlantriebe. Eine Ausnahme bilden Verbrennungsmotoren, die zum Aufladen von Akkus elektrischer Radantriebe verwendet werden (z. B. System SuperFour der Fa. Ottobock), siehe 󳶳Abb. 4.37. Über ein Bedienmodul (Joystick) werden bei den heute üblichen Elektrorollstühlen Signale an die Steuerungseinheit übermittelt, die ihrerseits elektrische Energie aus dem Akku an den Antriebsmotor oder die Antriebsmotoren dosiert weiterleitet und damit die Fahrbewegung bewirkt. Moderne Elektrorollstühle verfügen über einen Gleichstrom-Permanentmagnet-Antriebsmotor, der zur Gruppe der fremderregten Gleichstrom-Motoren gehört. Diese Art von Antriebsmaschinen erweist sich im Rollstuhlbau als besonders günstig, weil bei Drehzahlabfall zwischen Leerlauf und Volllast das Drehmoment nur gering variiert. Das Drehmoment ist durch den konstanten magnetischen Fluss der Permanentmagnete direkt proportional zum Ankerstrom und nimmt mit der Belastung linear zu. Das Drehmoment dieses Motortyps ist damit auch der Belastung gegenüber direkt proportional. Gegenüber fremd erregten Gleichstrommotoren entfallen die Leistungsverluste für die Feldwicklung. Der Wirkungsgrad steigt. Alternativ können elektronisch kommutierte Motoren sog. bürstenlose Motoren bzw. „AC-Motoren“ eingesetzt werden. Trotz technischer Vorteile in Form guter Regeleigenschaften findet dieser Motortyp durch deutlich höhere Kosten im Rollstuhlbau derzeit kaum Verwendung. Der Nennleistungsbereich pro Antriebsmotor reicht von ca. 300 W bis 900 W aufgenommener elektrischer Leistung bei Ein-Motor-Rollstuhlvarianten und von ca. 120 W bis 350 W bei zweimotorigen Ausführungen, wobei die Motorwirkungsgrade in der Größenordnung von 80 % liegen. Mit der genannten Motorleistung und üblichen Akkugrößen erreichen indirekt gelenkte Rollstühle bei Geschwindigkeiten von 6 bis 10 km/h Fahrstrecken von 25 bis 40 km mit einer Akkuladung. Direkt gelenkte Rollstühle fahren üblicherweise 6 bis 15 km/h schnell und erzielen eine Reichweite von 50 km, leistungsstärkere Ausführungen bis zu 100 km. Die üblichen Antriebsmotoren für Rollstühle verfügen über zwei Wellenenden, wobei auf der einen Seite eine elektromagnetisch gelüftete Federkraft-Scheibenbremse angeflanscht ist, während das andere Wellenende das Vortriebsdrehmoment über ein Getriebe an die Antriebsräder überträgt. Liegt an der Bremse keine Spannung an (Joystick in 0-Stellung) pressen Federn die Bremsscheibe, die mit der Motorwelle rotiert, gegen eine stehende Druckplatte, sodass die Motorwelle blockiert ist. Somit ist die sichernde Bremsfunktion mechanisch gewährleistet. Um indirekt gelenkte Rollstühle mit diesem Antriebsaufbau auch schieben zu können, sind Entkopplungseinrichtungen für den Antriebsstrang zur manuellen Unterbrechung des Kraftflusses vorhanden. Bei direkt gelenkten Rollstühlen ist zusätzlich die Lenkeinrichtung zu entkoppeln. Wie in 󳶳Kapitel 4.2.4 ausgeführt, verfügen direkt gelenkte Rollstühle über eine bessere Kursstabilität. Zur Erzielung hoher Wendigkeit werden extreme Lenkwinkel

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Abb. 4.27: Elektrorollstuhl B 500 (a) und Steuergerät mit zentralem Fahrhebel (b) der Fa. Ottobock.

realisiert, was Wendekreisradien von unter 1,20 m ermöglicht. Bei höheren Fahrgeschwindigkeiten entstehen bei derartig kleinen Kurvenradien beträchtliche Fliehkräfte, die den Rollstuhlfahrer gefährden können. Daher verfügen derart aufgebaute moderne Rollstühle über Einrichtungen, bei denen der Lenkwinkel geschwindigkeitsabhängig begrenzt bzw. die maximale Fahrgeschwindigkeit von der Größe des Lenkwinkels bestimmt wird. Dieses Erfassen des Lenkwinkels und seine Zuordnung zu einer maximalen Fahrgeschwindigkeit, ist besonders für die sichere Fahrt mit Elektromobilen (Scootern) eine wichtige Voraussetzung. Die Steuerung eines Elektrorollstuhls hat die Aufgabe, eine gezielte Dosierung des Energieflusses von den Akkus zum Fahrmotor bzw. zu den Fahrmotoren zu gewährleisten. Die Rollstuhlansteuerung geschieht in der Regel über ein Bedienmodul (󳶳Abb. 4.27). Die Mindestausstattung des Bedienmoduls ist ein Ein-/Ausschalter mit einem zweiachsigen Fahrhebel. Die Fahrbefehle für Fahrtrichtung und Geschwindigkeit ergeben sich aus der Auslenkung des Fahrhebels aus seiner Ruhelage (meist in zentraler Position). Die Fahrtrichtung und Geschwindigkeit können in Richtung und Größe der Auslenkung kontinuierlich vorgegeben werden. Der Fahrhebel (Joystick) wird durch geeignete Rückstellfedern immer in seine Nullposition (Ruhelage) gebracht, sobald er losgelassen wird. Dieses Schaltungsprinzip, in dem durch passive Handlung (alles loslassen) sich der Fahrhebel durch Rückstellfedern in seine Nullposition bewegt, heißt „Totmann-Schaltung“, weil der Rollstuhl im Falle der ausbleibenden Betätigung stehen bleibt. Als weitere Bedienelemente kommen Schalter bzw. Taster für Fahrtrichtungsanzeiger links/rechts, Warnblinkanlage, Licht und Hupe hinzu. Weiterhin können Schalter für elektrische Sitzverstellungen oder sonstige Sonderfunktionen vorhanden sein. Abhängig von den motorischen Fähigkeiten des Fahrers werden diese Schaltelemente modifiziert (z. B. besonders leichtgängige Tasten für Patienten mit Muskelschwäche oder sehr solide Tasten für Patienten mit spastischen Lähmungen), ihre

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Abb. 4.28: Abhängig vom Behinderungsgrad einsetzbare, spezifische Bedienmodule von Elektro­ rollstühlen. (a) LCD-Display, (b) Saug-/Blassteuerung, (c) Kinnsteuerung, (d) Mini-Joystick, (e) Ta­ blettsteuerung, (f) Body-Buttons (Körperschalter), (g) Fußsteuerung

räumliche Anordnung auf dem Steuergerät verändert oder sogar andere Arten von Schaltelementen verwendet (Sondersteuerungen, wie Fußsteuerung, Kinnsteuerung oder Blas-Saug-Steuerung, 󳶳Abb. 4.28). Zur Speicherung der Energie werden in Elektrorollstühlen üblicherweise Akkumulatoren (Akkus) mit einer Nennspannung von 24 V eingesetzt. Die Bezeichnung als Batterie ist unpassend, da es sich um aufladbare Energiespeicher handelt. Aus Kostengründen sind derzeit fast ausschließlich Blei-Schwefelsäure-Akkus in Nutzung. Andere Technologien, wie Nickel-Kadmium-, Nickel-Metall-Hydrid- oder Lithium-Ionen-

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Akkus haben derzeit nur geringe Verbreitung. Von den Blei-Schwefelsäure-Akkus sind verschiedene Varianten verfügbar. Antriebsakkus mit flüssigem Elektrolyt haben eine große Verbreitung gefunden. Bei ihnen besteht die positive Elektrode aus einer verstärkten Gitterplatte. Die negative Elektrode ist eine ebenfalls eine Gitterplatte, vergleichbar allen anderen Blei-Säure-Akkus. Als Elektrolyt dient handelsübliche, flüssige Schwefelsäure mit einer Dichte von 1,28 g/cm3 . Bei guter Wartung beträgt die Lebensdauer dieses Akkutyps 150 bis 250 Lade-/Entladezyklen. Die Kapazität beträgt je nach Baugröße zwischen 50 Ah und 90 Ah (bei fünfstündiger Entladung). Der Vorteil gegenüber anderen Blei-Schwefelsäure-Akkutypen besteht in einem guten Verhältnis der gespeicherten Energie zum Eigengewicht bzw. zum Bauvolumen. Nachteilig ist der relativ hohe Wartungsaufwand (regelmäßiges Kontrollieren des Füllstandes und evtl. Nachfüllen mit destilliertem Wasser) sowie die Gefahr des Austretens von Schwefelsäure und Knallgas (Mischung von gasförmigem Wasserstoff und Sauerstoff) beim Laden oder von Schwefelsäure beim Transport. Eine weite Verbreitung finden aktuell sogenannte „gasdichte“ Blei-Schwefelsäure-Akkus. Durch ihre verschlossene Bauform vermeiden sie die Probleme, die durch den ladungs- oder transportbedingten Austritt von Säure entstehen. Sie verfügen ebenfalls über positive Platten- und negative Gitterelektroden und über gel- oder vliesgebundene Schwefelsäure. Der Kunststoffgehäusekörper der Akkus ist hermetisch abgeschlossen, sodass keine Säure austreten kann. Überdruckventile leiten im Schadensfall gebildete Gase ab und schützen vor Explosion. Dieser Akkutyp benötigt eine spezielle Ladetechnik, die während des Ladevorgangs eine Gasbildung verhindert. Die Kapazität dieser Akkus beträgt je nach Baugröße zwischen 28 Ah und 125 Ah (bei zwanzigstündiger Entladung). Aufgrund des Elektrodenaufbaus ist die Zahl der Lade- und Entladezyklen deutlich höher als bei den flüssig gefüllten Akkus. Es sind bis zu 600 Lade-/Entladezyklen möglich. Nachteilig sind eine geringere Leistungsdichte sowie ein größerer Zeitbedarf für den Ladevorgang, der für eine komplette Vollladung bis zu 14 Stunden betragen kann. Allen Blei-Säure-Akkus ist gemein, dass Tiefentladungen die Kapazität und somit die Lebensdauer stark beeinträchtigen, insbesondere, wenn tief entladene Akkus nicht sofort wieder aufgeladen werden [Exide 2003]. Den Fortschritten im Bereich der Elektromobilität im Kfz-Bereich entsprechend, werden in Zukunft Lithium-Ionen-Akkus zum Einsatz kommen. Diese Akkutypen weisen eine günstige Energiedichte auf, die etwa das Dreifache eines Standard BleiSäure Akkus beträgt. Die hohe Energiedichte wird es erlauben, auf gleichem Bauraum größere Kapazitäten zu realisieren oder für die gleiche Kapazität Bauraum und Gewicht deutlich zu reduzieren. Es werden Lithium-Ionen-Akkutypen gebraucht, die aufgrund ihres Aufbaus ein Maximum an passiver Sicherheit gegen gefährliche thermische Reaktionen im Schadensfall bieten. Lithium-Ionen-Akkus erfordern zwingend eine spezifische Ladetechnik in Verbindung mit einer umfassenden Überwachungselektronik, um die potenziellen Gefahren sicher zu beherrschen, die aus der hohen Energiedichte dieser Akkusysteme resultieren. Neben den zu lösenden Sicherheitsfra-

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gen stehen bislang einem breiten Einsatz in Rollstühlen die im Vergleich zu Blei-SäureAkkus fünf- bis sechsfachen Anschaffungskosten entgegen. Allerdings haben sie eine drei bis fünffach höhere Lebensdauer (mit etwa 1500 Ladezyklen). Ein weiterer Vorteil von Lithium-Ionen-Akkus ist ihre „Zwischenladefähigkeit“. Ein oftmaliges Laden nicht vollständig entladener Akkus hat bei ihnen keine negativen Auswirkungen auf die Lebensdauer. So kann in vielen Fällen eine Batterie kleiner Kapazität (verglichen mit Blei-Säure Akkus) zum Einsatz kommen. Es ist davon auszugehen, dass der Lithium-Ionen-Akku schon in naher Zukunft im Elektrorollstuhl wirtschaftlich einsetzbar ist. Allerdings kann er nicht einfach gegen einen Blei-Säure Akku getauscht werden. Weil er bei gleicher Kapazität nur ein Viertel eines Blei-Säure Akkus wiegt, würde ein Austausch zu einer völlig veränderten Lage des Schwerpunktes führen. Rollstühle für diesen Akkutyp müssen deshalb konstruktiv anders gestaltet werden. Unter der Bezeichnung Leistungsstufe werden alle elektronischen Baugruppen zusammengefasst, die zum Fahrbetrieb des Rollstuhls notwendig sind. Aktuelle Steuerungssysteme basieren auf modularen Baugruppen, die über ein Bus-System miteinander vernetzt sind. Zum Einsatz kommen bewährte Halbleitersysteme, z. B. aus Automobilanwendungen. Oft wird bei Übertragung von Daten auf einen CANBus zurückgegriffen (von der Fa. Bosch entwickeltes Controller Area Network). Jedes Modul verfügt über eine eigene Intelligenz (Mikro-Controller mit nicht-flüchtigem Speicher) und erfüllt spezifische Aufgaben als Bedienmodul, Power-Modul für den Fahrantrieb, Beleuchtungsmodul oder Modul für elektrische Sitzverstellungen. Die Module können auf die jeweilige Anwendung und auf behinderungsspezifische Anforderungen parametriert werden [Weege 2004]. Der oder die Antriebsmotoren und der oder die Motoren zur elektrischen Verstellung der Lenkräder werden üblicherweise über Leistungsbaugruppen angesteuert, die mit leistungsstarken Feldeffekt-Transistoren (Power FET) bestückt sind. Bei normalen Betriebszuständen (konstante Fahrt auf der Horizontalen) fließen Ströme im Bereich von 5 bis 15 A durch jeden Antriebsmotor; bei Bergauffahrt können aufgrund stärkerer Belastung Ströme bis über 100 A auftreten. Beim Anfahren aus dem Stillstand oder beim Bremsen aus voller Fahrt bergab kann der Motorstrom sogar 600 A überschreiten und muss deshalb zum Schutz des Motors, der Verkabelung und der Schaltelemente elektronisch begrenzt werden. Bei allen Betriebszuständen ist besonders auf einen hohen Wirkungsgrad zu achten, um mit den Akkus eine große Reichweite pro Ladung zu erzielen. Der wichtigste Aspekt ist jedoch die Betriebssicherheit. Rollstühle müssen zum Nachweis der Konformität mit den grundlegenden Anforderungen an Medizinprodukte u. a den Anforderungen der DIN EN 12184 (Elektrorollstühle und -mobile und zugehörige Ladegeräte – Anforderungen und Prüfverfahren) entsprechen. In dieser Norm sind sowohl funktionale als auch sicherheitstechnische Anforderungen zusammengefasst. Grundsätzlich muss gewährleistet sein, dass ein beliebiger erster Fehler im Rollstuhl nicht zu einer Gefährdung des Rollstuhlfahrers führt, z. B. durch unkontrollierte Fahrmanöver. Es gehört zu den Aufgaben der elektronischen Steuerung, Störungen weitestgehend au-

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tomatisch zu erkennen und den Rollstuhl in den Stillstand und damit in einen sicheren Betriebszustand zu versetzen. Unabhängig davon muss der Rollstuhl durch eine bewusste Handlung des Fahrers (Not-Aus, Totmann-Prinzip) zum sofortigen Stillstand gebracht werden können. Im Rahmen der automatischen Störungserkennung ist es wünschenswert, die Service- bzw. Reparaturarbeiten durch eindeutige Fehleranzeigen zu erleichtern [Exide 2003]. Bei der Auswahl des Elektrorollstuhls ist neben der persönlichen Situation, das Lebensumfeld und Lebensalter des Nutzers von ausschlaggebender Bedeutung. Zunächst ist zu entscheiden, mit welchem Lenksystem der Rollstuhl ausgestattet werden soll. Wichtig ist dabei, wo und wie der Elektrorollstuhl genutzt wird, ggf. nicht nur in Innenräumen. Indirekt gelenkte Elektrorollstühle verfügen über ein weniger gutmütiges Fahrverhalten und sollten nur im vertrauten Gelände gefahren werden, wo auftretende Hindernisse bekannt sind. Direkt gelenkte Rollstühle sind auch für Fahrten über größere Strecken (z. B. im Straßenverkehr) geeignet, aber weniger wendig. Neben Art und Schwere der Einschränkungen sind auch Körpergewicht und Körpergröße sowie die psychische Verfassung des Nutzers bei der Auswahl des richtigen Rollstuhls zu beachten. Fast alle Anpassungen an Körpermaße sind mit elektrischen Antrieben wählbar (z. B. Beinstützenverstellung, Rückenlehnenneigung, Sitzhöhenverstellung). Weitere Entscheidungen sind hinsichtlich Fahrgeschwindigkeit (6, 10, 12 bis 15 km/h), Akkugröße (Fahrstrecke je Akkuladung) und Akkuart zu treffen. Hinzu kommen Fragen nach dem Transport des Rollstuhls, wie seine Verlademöglichkeit (Anzahl der Spuren/Rampen), seine Abstellmöglichkeit sowie die Sicherheit beim Transport des Rollstuhls mit und ohne Fahrer (Kraftknoten). Nachfolgend werden einige Produktbeispiele von Elektrorollstühlen unterschiedlichen Aufbaus exemplarisch erläutert. 󳶳Abbildung 4.29 (a) zeigt einen zweimotorigen Elektrorollstuhl, hinten angetrieben, vorne indirekt gelenkt. Er ist für die Nutzung in engen Räumen geeignet, kommt aber bei der Fahrt an Steigungen, Gefällestrecken, Fahrbahnquerneigungen und bei der Hindernisüberwindung schnell an seine Sicherheitsgrenzen. Ein hinten indirekt gelenkter und vorne zweimotorig angetriebener Elektrorollstuhl ist in 󳶳Abbildung 4.29 (b) dargestellt. Diese Modellvariante zeichnet sich ebenfalls durch gute Wendigkeit aus und ist damit für die Fahrt innerhalb von Räumen gut geeignet. Der größte Spurkreisradius befindet sich allerdings an der Hinterachse, die nicht im Blickfeld des Fahrers liegt, was als nachteilig anzusehen ist (Kollisionen des Hecks mit Gegenständen/Personen möglich). Bei der Kurvenfahrt kann ein Rad der hinteren Lenkachse ungewollt gefahrenträchtige Situationen auslösen, z. B. von einem Bürgersteig herunterfahren. Die Hindernisüberwindung vorwärts ist bei dieser Rollstuhlantriebsvariante recht sicher. Besonderheiten des hier dargestellten Rollstuhls liegen in seinen vielfältigen Einstellmöglichkeiten, inklusive einer Stehfunktion (󳶳Abb. 4.29 (c) und (d)). Eine Stehmöglichkeit hat für Rollstuhlfahrer ganz unterschiedliche, vorteilhafte Aspekte: – Erreichbarkeit von höher positionierten Gegenständen (z. B. in Hängeschränken),

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Abb. 4.29: Elektrorollstühle. (a) kompakter Elektrorollstuhl iChair MC1 1.610 (hinten zweimoto­ rig angetrieben, vorne indirekt gelenkt), (b) Elektrorollstuhl Nemo Vertikal Junior 1.595 (vorne zweimotorig angetrieben, hinten indirekt gelenkt mit elektrisch höhenverstellbaren Beinstützen), (c) Steh- und (d) Liegeposition (Fa. Meyra).

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Vergrößerung des Sichtradius (z. B. zwischen parkenden Autos), Augenhöhe des Betroffenen mit anderen stehenden Personen, Anregung der Kreislauffunktion des Nutzers.

Im HMV [HMV 2014] ist in der Produktgruppe 18 (Kranken-/Behindertenfahrzeuge) mit Anwendungsort 99 (ohne speziellen Anwendungsort/Zusätze) in der Produktuntergruppe 03 (Rollstühle mit Stehvorrichtung) gefordert, dass der Aufrichtvorgang in jeder Bewegungsrichtung und an jeder Position stoppbar sein muss. Es ist jedoch zu beachten, dass (abhängig vom Behinderungsgrad) eine Fixierung des Patienten während des Stehens im Rollstuhl im Bereich des Knies, der Hüfte und ggf. auch am Oberkörper und den Füßen notwendig ist. An diesen Fixierungen müssen Ausgleichbewegungen (Verschiebungen) möglich bleiben, die aus der differierenden Lage von Momentandrehpunkten der menschlichen Gelenke (z. T. vom Beugewinkel abhängig, 󳶳Kapitel 2) und der Gelenkachsen der Verstellvorrichtungen am Rollstuhl resultieren. Die ersten drei genannten Vorteile einer Stehfunktion lassen sich auch mit höhenverstellbaren Sitzeinheiten (Sitzlift oder Hubsitz mit entsprechendem vertikalem Verfahrweg) erreichen.

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Technische Eigenschaften des Elektrorollstuhls Nemo der Fa. Meyra (󳶳 Abb. 4.29) – zwei Antriebs- und acht Verstellmotoren, – getaktete 6-Volt-Halogenscheinwerfer vorne und LED-Lampen hinten, – Überwindung von Unebenheiten und Kanten bis zu 7 cm Höhe, – Höchstgeschwindigkeit von 6 km/h oder 10 km/h möglich, – bei Positionswechseln werden Rückenlehne, Kopfstütze, Armlehnen und Beinstützen gleichzei­ tig und mit automatischem Längenausgleich bewegt, während die Sitzfläche angehoben oder gesenkt wird (Vermeidung von Scherkräften), – 45 cm Höhenunterschied (von einer minimalen Sitzhöhe von 56 cm auf eine maximale Höhe von 101 cm) möglich, – Bedienmodul mit integriertem Kilometerzähler und LCD-Anzeige für alle Einstellungen und Funk­ tionen und mit Joystick bedienbar, – Abmessungen: Länge (mit Fußplatte)/Breite/Höhe (ohne Kopfstütze): 120 cm/66 cm/113 cm, – Gewicht: Transportgewicht: 180 kg, Personengewicht max.: 100 kg, zulässiges Gesamtgewicht: 295 kg, max. Gepäckzuladung: 10 kg, – Körpermaße: Sitzbreite: 32 bis 54 cm, Sitztiefe: 43 bis 55 cm, Sitzhöhe: 56 bis 101 cm, – Sitzkantelung elektrisch: 25 Grad, – Wenderadius: 70 cm, – Max. Fahrstreckenleistung: 35 km (bei 6 km/h)/30 km (bei 10 km/h), – Kosten: Grundversion ab 15 000 Euro, mit Zusatzausstattung 22 000 Euro [Eich 2010].

Ein Elektrorollstuhl mit Mittelachsantrieb ist in 󳶳Abbildung 4.30 dargestellt. Er verfügt über die beste Wendigkeit. Beim Drehen auf der Stelle befindet sich der Bahnmittelpunkt etwa mittig in der Rollstuhlkontur. Diese Konstruktion benötigt jedoch insgesamt drei Achsen, die eine Hindernisüberwindung erschweren und damit das

Abb. 4.30: Elektrorollstuhl mit Mittelachsan­ trieb M400 Corpus 3G der Fa. Permobil.

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Abb. 4.31: Elektrorollstuhl Optimus der Fa. Meyra (vorne angetrieben, hinten direkt ge­ lenkt).

Einsatzgebiet begrenzen. Bei der Steigungsfahrt ist dieser Rollstuhl praktisch vorne zweimotorig angetrieben und hinten indirekt gelenkt. Bei der Fahrt auf einer Gefällestrecke ist er vorne indirekt gelenkt und hinten angetrieben. Diesem Verhalten sind auch die Fahreigenschaften zuzuordnen. Um dieses Antriebsprinzip für Außenanwendung sicher einsetzbar zu machen, muss sich die in Fahrtrichtung vorne liegende Achse anheben, wenn sie eine waagerecht wirkende Kraft erfährt, z. B. ausgelöst von einer Hinderniskante.

Der in 󳶳 Abbildung 4.30 dargestellte Elektrorollstuhl mit Mittelachsantrieb M400 Corpus 3G der Fa. Permobil erreicht einen Wendekreisradius von 58,5 cm und kann Hindernisse von 6 cm vorwärts und 5 cm rückwärts überwinden. Zusätzlich ist ein elektrischer Sitzlift (Höhenverstellung 200 mm) ver­ fügbar. Mit einer Motorleistung von 2 x 250 Watt und einer wählbaren Akkuleistung (2 × 60 Ah oder 2 × 73 Ah) kommt er auf eine Reichweite von 25 bis 35 km bei wählbarer maximaler Geschwindigkeit von 10 oder 12 km/h [Permobil 2014].

Das sicherste Fahrverhalten, allerdings auf Kosten der Wendigkeit, weisen direkt gelenkte Rollstühle auf (󳶳Abb. 4.31). Hindernisse, Fahrbahn-Längs– und -querneigungen stellen für sie kein Gefahrenpotenzial dar. In der Außenanwendung sind diese Ausführungen ideal und unübertroffen hinsichtlich Fahrkursstabilität und Reichweite mit einer Akkuladung.

4.3.7 Zusatzantriebe Bei Personen mit sehr stark eingeschränkter Körperfunktion reicht die Muskelkraft ggf. nicht aus, einen Rollstuhl über Greifreifen oder Hebel voranzutreiben. In dieser Situation kann eine Motorkraftunterstützung helfen, bei der ein elektrischer Zu-

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satzantrieb bei einem manuell angetriebenen Rollstuhl eingesetzt wird, bevor ein Elektrorollstuhl erforderlich ist. Dabei kommen elektrische Reibrollenantriebe auf den Hinterrädern, Antriebe mittels Kraftübertragung über Zahnräder, Nabenantriebe und ähnliches zum Einsatz. Da der Rahmenaufbau des manuellen Rollstuhls erhalten bleibt, sind die o. g. Nachteile der großen Antriebsräder bei der Hindernisüberwindung unverändert. Im HMV sind in der Produktuntergruppe Rollstuhl-Aufsteck-/Radnabenantriebe (HMV-Nr.: 18.99.05) folgende Definitionen enthalten: Ein 󳶳 Rollstuhl-Aufsteckantrieb ist ein Zusatzaggregat, das an handbetriebenen Rollstühlen be­ festigt werden kann. Der Rollstuhl wird mittels Elektromotoren angetrieben, die über Reibrollen auf die Reifen des Rollstuhls wirken.

Es wird an gleicher Stelle darauf hingewiesen, dass aufgrund der Konstruktionsweise mit relativ großen, hinten angeordneten Antriebsrädern, derartige Antriebe insbesondere bei der Überwindung von Hindernissen eine erhöhte Überschlagneigung aufweisen. Eine Anwendung im Außenbereich ist deshalb nur bedingt sinnvoll und möglich. Ein 󳶳 Rollstuhl-Radnabenantrieb ist ein Zusatzaggregat, das an handbetriebenen Rollstühlen be­ festigt wird. Der Rollstuhl wird mittels Elektromotoren angetrieben, die in die Radnaben der An­ triebsräder des Rollstuhls integriert sind.

Die Steuerung erfolgt durch einen Joystick. Im Gegensatz zu Rollstuhl-Aufsteckantrieben mit Reibrollen ist eine sichere Kraftübertragung gewährleistet. Der Antrieb kann ausgekuppelt werden und ein Fortbewegen mittels Greifreifen ist dann möglich. Die Steuerung und die Akkus können vom Rollstuhl entfernt werden. Die Antriebsräder sind in der Regel mit Steckachsen versehen und können gegen Räder mit Greifreifen ausgetauscht werden. Alternativ erfolgt der Antrieb des umgerüsteten Rollstuhles bei einigen Modellen über eine kompakte Antriebseinheit, die anstelle der Greifreifenräder angebracht wird. Radnabenantriebe mit hinten angeordneten relativ großen Antriebsrädern weisen ebenfalls eine erhöhte Überschlagneigung auf. In der jüngeren Vergangenheit sind auch motorische, restkraftunterstützende Greifreifenantriebe (HMV-Nr.: 18.99.08.1000. . . 1999) entwickelt worden. Sie werden ebenfalls an Greifreifenrollstühlen montiert und ersetzen die manuellen Antriebsräder. Bei einem 󳶳 motorisch restkraftverstärkenden Greifreifenantrieb wird der am Greifreifen einge­ brachte Bewegungsimpuls elektronisch ausgewertet und durch einen in der Radnabe integrierten Motor verstärkt. Bleiben die Impulse am Greifreifen aus, so wird die Antriebsunterstützung unter­ brochen.

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Abb. 4.32: Zusatzantriebe für Rollstühle als (a) Restkraftverstärkender Greifreifenantrieb Servoma­ tic der Fa. Meyra, (b) Zusatzantrieb Elektra 2 der Fa. Speedy Reha-Technik, (c, d) Rollstuhltrans­ portfahrzeug auf Ketten mit und ohne aufgeladenen Rollstuhl ScoutCrawler der Fa. Ottobock.

Motorische restkraftverstärkende Greifreifenantriebe (󳶳Abb. 4.32) können bei Behinderten zum Einsatz kommen, denen es aufgrund mangelnder Kraftumsetzung oder fehlender Kraft, aber ausreichendem Koordinationsvermögen nicht möglich ist, einen Greifreifenrollstuhl zu fahren und eine Versorgung mit einem Elektrorollstuhl aus therapeutischen Gründen (Erhaltung und Förderung der Restfähigkeiten) nicht gewünscht ist. Ein weiteres Anwendungsgebiet sind Behinderte, die regelmäßig Steigungen in ihrem Wohnumfeld überwinden müssen, die sie ohne einen derartigen Antrieb nicht überwinden können und dadurch eine Versorgung mit einem Elektrorollstuhl vermieden werden kann [HMV 2014].

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Die Systeme mit restkraftverstärkenden Greifreifenantrieben bieten einige Vorteile gegenüber anderen Zusatzantrieben: – Bedienung ist intuitiv und fördert die motorische Aktivität, ohne die Betroffenen zu überfordern, – Restkräfte des Benutzers können zum Beschleunigen und auch zum Bremsen verstärkt werden, – selbständige Fortbewegung kann früh (bei schwacher Muskulatur) in die Therapie einbezogen werden, – manuelles, aktives Antreiben fördert die Rumpfaufrichtung mit Erweiterung des Brustraumes und besserer Belüftung der Lunge. Ein 󳶳 Rollstuhl-Zuggerät wird vor einen vorhandenen Rollstuhl gekuppelt und erhöht den Aktions­ radius. Der Kupplungsvorgang kann durch den Rollstuhlfahrer eigenständig durchgeführt werden. Gelenkt werden derartige Gespanne über eine Lenkgabel oder mittels eines Führungsholmes. Der Antrieb erfolgt über einen Elektromotor.

In 󳶳Abbildung 4.32 ist ein Rollstuhl-Zuggerät dargestellt, das Rollstühle mit einer maximalen Geschwindigkeit von 6 km/h antreibt. Ein 󳶳 Rollstuhl-Schubgerät ist ein Zusatzaggregat, das am Rollstuhl befestigt wird. Über eigene Antriebsräder treibt es handbetriebene Rollstühle mittels Schub an. Das Gewicht des Rollstuhls und des Rollstuhlbenutzers stützt sich weiterhin über die Rollstuhlräder am Boden ab.

Rollstuhl-Schubgeräte zur Eigennutzung sind in der Regel indirekt gelenkte Fahrzeuge, die durch einen Joystick gesteuert werden. Durch unterschiedliche Geschwindigkeiten der Antriebsräder kann das Gespann gelenkt werden. Bei unzureichender Traktion der Antriebsräder ist eine einwandfreie Spurhaltung nicht gewährleistet, sodass eine Nutzung im Außenbereich nicht sinnvoll ist. Rollstuhl-Schubgeräte zur Fremdnutzung werden durch die Begleitperson gelenkt. Die Steuerung der Geschwindigkeit und der Fahrtrichtung erfolgt in der Regel über eine an den Schiebegriffen angebrachte Bedieneinheit. Die Rollstuhl-Schub- und Zuggeräte ermöglichen es, handbetriebene Rollstühle mit einem elektrischen Antrieb auszustatten, ohne nennenswerte Änderungen am Rollstuhl vornehmen zu müssen. Die Vorteile des manuellen Rollstuhls bleiben dabei erhalten. Ein technisch interessantes, ungewöhnliches Zusatzsystem für den Antrieb eines manuellen Rollstuhls ist das in 󳶳Abbildung 4.32 (c) dargestellte System ScoutCrawler der Fa. Ottobock. Er kann einen Rollstuhl aufnehmen. Mit seinem Kettenantrieb sind Untergründe wie Schnee, Schotter und Sand mit Steigungen bis zu 17 Grad überwindbar. Über einen eingebauten Joystick wird das System gesteuert, ein Umsteigen in einen Outdoor-Rollstuhl entfällt. Der Aktionsradius beträgt bis zu zwölf km.

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4.3.8 Kinderrollstühle Die oben benannten Forderungen an einen funktionell angepassten Rollstuhl gelten in ganz besonderer Weise für Kinder und Jugendliche mit einer Körperbehinderung. Für sie ist der Rollstuhl ein wertvoller Teil ihres Lebens und wird oft viel besser als von älteren Menschen angenommen. Er ist für mobilitätseingeschränkte Kinder und Jugendliche die Voraussetzung zur Befriedigung ihres Verlangens nach Bewegung, Sport und Spiel. Wenn eine Rollstuhlversorgung für Kinder absehbar ist, sollte diese möglichst früh erfolgen. Für Kleinst- und Kleinkinder können bereits rollbare Untersätze zur Anwendung kommen. Kindgerechte Rollstühle bewirken die Eigenmobilität. Sie sollten so früh wie möglich einen Buggy ersetzen. Die frühe Rollstuhlversorgung beflügelt das Kind und bewirkt eine positive Entwicklung seines Bewegungsdranges. Leider stehen die Eltern behinderter Kinder in manchen Fällen einer frühen Rollstuhlversorgung zurückhaltend gegenüber. Dies liegt an der befürchteten Stigmatisierung ihres Kindes und den erwarteten Reaktionen anderer Personen. In einem Buggy fällt die Behinderung eines Kindes wenig auf, einen Rollstuhl erkennt jeder als Mobilitätshilfsmittel. Da Kinder schnell wachsen, wird gern ein mitwachsender Rollstuhl gefordert. Die dafür notwendigen Teleskopvorrichtungen am Rahmen führen jedoch zwangsläufig zu höherem Gewicht, Stabilitäts- und Steifigkeitsverlust sowie steigenden Kosten. Aufgrund der intensiven Nutzung des Rollstuhls durch Kinder und Jugendliche verschleißt er schnell. Es ist deshalb eher sinnvoll, nacheinander mehrere angepasste Rollstühle in bestimmten Altersperioden zu nutzen. Als spezifische Kriterien der Rollstuhlanpassung für Kinder gelten: – Sitzbreite möglichst schmal (ohne Zugabe), – Sitztiefe groß, auf freie Kniekehle achten, – Rückenlehnenhöhe möglichst tief, – Sitzhöhe angepasst, – Sitzflächenneigung nach hinten (wirkt sitzzentrierend), – Seitenteile nur so groß wie nötig, – Abstand Schwerpunkt–Antriebsräder klein (bedeutet Mobilität), – Radstand kurz (Kompaktheit), – Antriebsrad mit Radsturz versehen, – Speichenschutzscheiben (Klemmschutz: Erscheinungsbild kann mit kindgerechten Motiven gestaltet werden), – Schiebegriffe (abnehmbar und höhenverstellbar). Ob der Rollstuhl eine Faltfunktion besitzt oder einen sog. starren Rahmen hat, ist bei Transporten im Auto oder bei begrenztem Platz zur Unterbringung von Bedeutung. Abnehmbare Räder sind eine wichtige Voraussetzung. Während das Eigengewicht eines Rollstuhls bei erwachsenen Menschen nur einen kleinen Anteil am Gesamtge-

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wicht bildet, so ist das Verhältnis Körpergewicht zu Rollstuhleigengewicht bei Kindern ungünstiger. Leichtbaukonstruktionen sind hier also besonders wichtig. Rollstühle für Kinder und Jugendliche sind keine kleinen Erwachsenen-Rollstühle (󳶳Abb. 4.33), sondern Fahrzeuge mit überwiegend eigenständigen Merkmalen. Das betrifft sowohl manuelle als auch Elektrorollstühle für Kinder. Heutzutage werden Kinderrollstühle durch altersspezifisch angepasste Konstruktionen folgenden Anforderungen gerecht: – Anpassbarkeit an die individuellen und physischen Voraussetzungen, – gute Fahreigenschaften, Leichtgängigkeit, geringes Rollstuhlgewicht, – hohe Produktqualität, Stabilität und haltbare Materialien (kombiniert mit einem gut verfügbaren Service des Herstellers), – einfache optisch erkennbare Verstellfunktionen, erweiterbar in einem Baukastensystem, – Berücksichtigung von Sicherheitsaspekten, Kippschutz bzw. Verletzungsgefahr, – kindgerechtes Design, – vertretbarer Kostenrahmen. Während Scooter in der Kinder-Rollstuhlversorgung als ungeeignet angesehen werden, können Vorsatzgeräte (motor- oder muskelkraftangetrieben) sowie Zusatzantriebe wie restkraftverstärkende Nabenantriebe (󳶳Kapitel 4.3.7) sehr hilfreich sein. Im Hilfsmittelverzeichnis [HMV 2014] werden in verschiedenen Untergruppen Kinderrollstühle gelistet; dazu gehören:

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(b)

Abb. 4.33: Beispiele für Kinderrollstühle sind (a) Rollstuhl Brix 1.123 der Fa. Meyra für das Alter 2 bis 7 Jahre, (b) Kinder-Elektrorollstuhl Skippi der Fa. Ottobock.

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Adaptivrollstühle für Kinder (HMV-Nr.:18.50.03.1000. . . 1999), Spezialrollstühle und Sonderfahrzeuge zur aktiven Nutzung durch Kinder (HMVNr.: 18.99.02.1000. . . 1999), Elektrorollstühle für Kinder (HMV-Nr.: 18.50.05.0000. . . 0999), Elektrorollstühle mit multifunktioneller Sitzeinheit für Kinder (HMV-Nr.:18.50.05.1000. . . 1999).

Nachfolgend werden einige im HMV gelistete Forderungen an Kinderrollstühle zusammengefasst [HMV 2014]: Adaptivrollstühle für Kinder zeichnen sich dadurch aus, dass sie optimal an die spezifischen Be­ dürfnisse der jungen Nutzer angepasst werden können.

Dafür stehen enggestufte Sitzabmessungen (Sitztiefe, Sitzbreite, Rückenhöhe) zur Verfügung. Die Sitzneigung und Sitzhöhe können ebenso angepasst werden wie der Schwerpunkt des Rollstuhles. Die Einstellung eines negativen Sturzes der Antriebsräder erhöht die Wendigkeit des Rollstuhles und schützt die Hände vor dem Einklemmen. Unterschiedlich gestaltete oder verstellbare Rückenlehnen unterstützen die Anpassung an den jeweiligen Verwendungszweck. Durch vielfältige Ausstattungsvarianten ist eine Anpassung an nahezu alle Aktivitäten möglich. Gewöhnlich stehen mehrere Rückenteile, Seitenteile, Fußstützen, Schwenkrollen und Antriebsräder zur Auswahl, die jeweils auf entsprechende Aktivitäten abgestimmt sind und durch ihre Kombinationsvielfalt eine ideale Anpassung ermöglichen. Durch die Umbaufähigkeit von Adaptivrollstühlen ist es möglich, diese sowohl im normalen Umfeld als Alternative zum Standardrollstuhl und gleichzeitig als Sportrollstuhl einzusetzen. Adaptivrollstühle für Kinder werden in zwei wesentlichen Bauformen hergestellt. Die herkömmliche Bauform ist über eine Kreuzstrebe in der Längsachse faltbar. Durch Austausch dieser Kreuzstrebe und der Sitz- und ggf. der Rückenbespannung kann das Wachstum von Kindern berücksichtigt werden. Alternativ werden Adaptivrollstühle für Kinder mit einem starren Rahmen und einer abklappbaren Rückenlehne hergestellt. Teilweise ist eine Berücksichtigung des Wachstums von Kindern durch teleskopierbare Rahmen möglich. Adaptivrollstühle werden häufig ganz oder teilweise aus Werkstoffen wie z. B. Titan oder Kohlefaserverbundwerkstoffen gefertigt, um ein geringeres Eigengewicht zu erzielen. Auf die Roll- und Fahreigenschaften eines Rollstuhles hat das geringere Eigengewicht jedoch nur wenig Einfluss. Fehler in der Fahrwerksgeometrie, zu geringer oder unterschiedlicher Reifendruck, zu kleine Laufrollen (z. B. Skaterrollen auf Teppichboden), extremer Radsturz und auch das Eigengewicht des Nutzers erschweren das Fahren eines Rollstuhles erheblich mehr als ein etwas höheres Rollstuhlgewicht. Für eine bestmögliche Ausnutzung der Möglichkeiten eines Adaptivrollstuhls ist eine optimale Einstellung/Auswahl der jeweiligen Rollstuhlparameter erforderlich.

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Spezialrollstühle und Sonderfahrzeuge zur aktiven Nutzung durch Kinder ermöglichen ihnen eine eigenständige Fortbewegung und fördern ihre Entwicklung. Abweichend von den Adaptivrollstüh­ len für Kinder können diese Fahrzeuge mit alternativen Sitzmöglichkeiten und unterschiedlichen Radanordnungen ausgestattet sein.

Teilweise ermöglichen sie durch eine geringe Sitzhöhe eine aktive Teilnahme am Spielgeschehen am Boden mit Gleichaltrigen. Elektrorollstühle für Kinder bestehen aus einem Rahmen, zwei größeren Antriebsrädern, zwei kleinen, meist freilaufenden Schwenkrädern, abnehmbaren und austauschbaren Fußstützen und Armlehnen, einer gepolsterten Sitzeinheit (die in der Regel auch gegen eine Sitzschale ausge­ tauscht werden kann) sowie der Antriebseinheit (bestehend aus den Motoren, Antriebsakkus und der Steuerelektronik).

Die Steuereinheit kann seitlich oder mittig (z. B. in einer Tischfläche integriert) angeordnet sein. Durch zahlreiche Sonderausstattungen sind diese Rollstühle an nahezu alle Behinderungsarten anpassbar. Elektrorollstühle mit multifunktioneller Sitzeinheit für Kinder besitzen zusätzlich diverse Sonder­ funktionen, wie Stehfunktion, Hubsitz oder bodengleich absenkbare Sitze.

Mit einer Stehfunktion kann das Kind mechanisch oder motorisch in eine stehende Position gebracht werden, teilweise ist ein Fahren in stehender Position möglich. Mit einem Hubsitz ist eine eigenständige Veränderung der Sitzhöhe durch das Kind möglich. Wenn die Sitzeinheit bis auf den Boden absenkbar ist, kann das Kind am Spielgeschehen teilnehmen oder auch die Sitzeinheit evtl. krabbelnd verlassen oder wieder aufsuchen. Es sind auch Kombinationen aus diesen Sonderfunktionen möglich.

4.3.9 Sportrollstühle Ein 󳶳 Sportrollstuhl ist speziell für sportliche Aktivitäten konzipiert oder entsprechend zugerüstet.

Die Aktivitäten sind dem Freizeitbereich des Patienten zuzuordnen und fallen nicht in die Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung. Eine alleinige Versorgung mit einem Sportrollstuhl ist nicht zweckmäßig und nicht wirtschaftlich. Eine Zweitausstattung mit einem Sportrollstuhl geht über das Maß des Notwendigen hinaus. Sporträder für Rollstühle fallen nur dann in die Leistungspflicht der GKV, wenn sie von Kindern/Jugendlichen für die Teilnahme am Schulsport benötigt werden.

4 Rollstühle

(a)

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(b)

Abb. 4.34: Sportrollstühle. (a) mit individuellen Maßen gefertigter Basketball-Rollstuhl in Sonderan­ fertigung der Fa. Meyra, (b) Handbike der Fa. Ottobock.

Sportrollstühle kommen in kleinerer Stückzahl zur Anwendung und sind oft Sonderanfertigungen. Seit der Entwicklung des nationalen und internationalen Rollstuhlsports werden Rollstühle angeboten, die den individuellen technischen und physischen Eigenschaften des Fahrers gerecht werden. Dazu sind Parameter wie Eigengewicht, Abmessungen, Belastbarkeit, Sitzposition, Fahrwiderstand und vielfältige Verstellmöglichkeiten sowohl hinsichtlich der Belange des Spielers als auch hinsichtlich der Sportart zu optimieren. Die Rollstühle dieser neuen Generation sind in der Regel aus Werkstoffen mit optimalem Verhältnis von Gewicht zu Festigkeit aufgebaut. Dazu zählen faserverstärkte Kunststoffe, Titan und Aluminiumlegierungen, welche am häufigsten eingesetzt werden. Die Anpassung der Aufbauart des Rollstuhls an die Sportart führte dazu, dass sie vom kompakten Erscheinungsbild üblicher Rollstühle häufig abweichen, z. B. durch Stoßbügel oder wie beim Renn-Rollstuhl durch einen auffällig langen Radstand und Dreirädrigkeit. Sportrollstühle können im Basketball, Tennis, Rugby und anderen Rollstuhlsportarten eingesetzt werden. 󳶳Abbildung 4.34 zeigt einen maßgefertigten Rollstuhl mit verschweißtem Rahmen und großem Radsturz sowie ausgeprägtem vorderen Stoßschutz, eingesetzt im Basketballsport. 󳶳Abbildung 4.34 (b) zeigt ein dreirädriges Handbike, das für sportliche Outdooraktivitäten genutzt werden kann.

4.4 Rollstuhlzusatzsysteme und andere Krankenfahrzeuge 4.4.1 Treppenfahrzeuge Für Treppenfahrzeuge ist in der Produktgruppe 18 (Kranken-/Behindertenfahrzeuge) des HMV ein spezifischer Anwendungsort (65: Treppen) vorgesehen. Unterschieden werden: – Treppenrollstühle (HMV-Nr.: 18.65.01.0000. . . 0999),

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– –

elektrisch betriebene Treppensteighilfen (HMV-Nr.: 18.65.01.1000. . . 1999), Treppenraupen (HMV-Nr.: 18.65.01.2000. . . 2999). Ein 󳶳 Treppenfahrzeug befördert behinderte Personen über eine Treppe und ist selbst mobil. Es werden Treppenrollstühle, -steighilfen und –raupen unterschieden.

Das HMV stellt zusätzliche Anforderungen an Treppenfahrzeuge, die mit einem Rollstuhl kombiniert werden. Sie müssen einen werkzeuglosen Kopplungsvorgang ermöglichen und dürfen die Nutzungsmöglichkeiten des verwendeten Rollstuhles nicht einschränken [HMV 2014]. Wenn Treppenfahrzeuge mit einem Sitz ausgestattet sind, müssen sie einige von Rollstühlen bekannte Anforderungen erfüllen: gepolstertes Material an Sitz, Rückenlehne und Armauflage, Fußstützen an Unterschenkellänge einstellbar, Schiebestange oder Schiebegriffe an der Rückseite, Schiebemöglichkeit in der Ebene. Elektrorollstühle mit Treppensteigfunktion sollen eine selbständige Nutzung durch den Rollstuhlfahrer auf der Treppe wie in der Ebene erlauben. Treppenrollstühle können überwiegend auf die Benutzung von Treppen ausgelegt sein oder auch einen Betrieb auf ebenen Stecken ermöglichen. Für letzteres muss ggf. eine eingebaute Treppenraupe hochgeklappt werden. Die maximalen Treppensteigwinkel und Treppengrößen sind für die Passierbarkeit entscheidend und müssen festgelegt werden. Elektrisch betriebene Treppensteighilfen bestehen aus einer Sitzeinheit mit Fixiermöglichkeit des Patienten, der Antriebseinheit und der Steuerelektronik. Alternativ können sie an vorhandenen Rollstühlen befestigt werden. Sie werden personengeführt: Zuerst kippt eine Begleitperson die Treppensteighilfe in Richtung Rückenlehne. Sodann kann der Rollstuhl Stufe für Stufe treppauf oder treppab geführt werden, indem mehrere um eine Achse herum angeordnete Räder oder andere technische Konstruktionen (über Elektromotoren angetrieben) genutzt werden.

(a)

(b)

Abb. 4.35: (a) Treppenraupe TK 150 der Fa. Süddeutsche Sanilift, (b) Vorspann-/Einhängefahrrad mit Handkurbelantrieb Speedy-B26 der Fa. Speedy Reha-Technik.

4 Rollstühle

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Treppenraupen bestehen aus einem Rahmen, einer Aufnahmehalterung für Standardfaltrollstühle, einem Elektromotor und zwei gleichlaufenden Antriebsketten (󳶳Abb. 4.35 (a)). Mithilfe von Treppenraupen können Behinderte selbständig oder in Verbindung mit einer Hilfsperson Treppen überwinden. Auf der Treppenraupe sind mittels einer speziellen Halterung Standardrollstühle fixierbar. Diese werden um ca. 40 Grad nach hinten gekippt, wodurch während der Treppenfahrt eine nahezu waagerechte Sitzposition erreicht wird. Die Treppenraupe kann in einer geraden Linie Treppen überwinden.

Technische Daten der in 󳶳 Abbildung 4.34 (a) dargestellten Treppenraupe TK 150 der Fa. Süddeut­ sche Sanilift [Sanilift 2014] – Tragfähigkeit: 150 kg, – max. Steigfähigkeit 35 Grad, – Fahrgeschwindigkeit: aufwärts ca. 0,10 m/s, abwärts ca. 0,15 m/s, – Fahrstrecke auf der Treppe ca. 200 m bei max. Last 150 kg und max. Steigung 35 Grad, – geeignet für Standard- und Aktivrollstühle mit Schubgriffen, – Elektromotor: DC-E-Motor 12 V/80 A, – Trocken-Akkus 2 × 6 V/20 Ah, – externes automatisches Ladegerät 12 V DC, 2,5 A, Ladezeit ca. 6 bis 8 h, – Sicherheitselemente: elektromagnetische Bremse, selbsthemmendes Schneckengetriebe, NotAus-Schalter, abschließbar gegen unautorisierte Benutzung.

4.4.2 Vorspann-/Einhängefahrräder mit Handkurbelantrieb und Rollstuhl-Fahrradkombinationen

Ein Vorspann-/Einhängefahrrad mit Handkurbelantrieb wird mit einem Rollstuhl verbunden und ermöglicht eine schnelle Fortbewegung ohne Fremdhilfe. Bei einer Rollstuhl-Fahrradkombination wird hinten an einen Rollstuhl ein Fahrrad angekoppelt, das durch eine Betreuungsperson betätigt werden muss.

Diese Antriebsarten ermöglichen eine schnellere Überwindung größerer Wegstrecken. Der Betroffene wird in die Lage versetzt, einer dem Fahrradfahren oder Laufen vergleichbaren Freizeitbeschäftigung nachzugehen bzw. größere Entfernungen zurückzulegen. Allerdings gehören das Überwinden größerer Entfernungen und die sportliche Freizeitbeschäftigung nicht zu den Grundbedürfnissen, deren Befriedigung durch Leistungen der GKV gewährleistet wird (BSG-Urteil vom 6. August 1998 – B 3 KR 3/97 R, zitiert in [HMV 2014]). Bei der Versorgung von Kindern mit Vorspann-/Einhängefahrrädern kann es sich jedoch um Hilfsmittel im Rahmen der Leistungspflicht der GKV handeln, da das Laufen oder Rennen bei ihnen zu den Vitalfunktionen gehört und durch die Nutzung dieser Kranken- bzw. Behindertenfahrzeuge die Einbeziehung des Kindes oder Jugendlichen in den Kreis der Gleichaltrigen und

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die soziale Integration gefördert wird. Insofern wird bei Kindern und Jugendlichen ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens tangiert. Rollstuhl-Fahrrad-Kombinationen fallen dagegen auch bei Kindern und Jugendlichen grundsätzlich nicht in die Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung [HMV 2014].

Das Vorspann-/Einhängefahrrad mit Handkurbelantrieb Speedy-B26 der Fa. Speedy (󳶳 Abb. 4.35 (b)) wurde für sportliche Fahrer entwickelt. Es besitzt ein 26󸀠󸀠 -Speichenrad mit geringem Rollwiderstand und mit einer verschleißfesten und durchschlagsicheren Sportbereifung. Sowohl die Schalthebel für die 27-Gang-Shimano-Kettenschaltung (Übersetzungsbereich 618 %) als auch die Bremshebel für die V-Brake- und Scheibenbremse sind an den Griffen befestigt und dort gut und schnell erreichbar. Die Kurbeln und ergonomischen Griffen werden zum Antrieb und zur Lenkung verwendet. Ein stufenlos einstellbarer Lenkungsdämpfer verhindert ungewollte Lenkbewegungen [Speedy 2014].

4.4.3 Elektromobile In Bezug auf das Grundbedürfnis der eigenständigen Fortbewegung kann ein Elektromobil einen Behinderungsausgleich vergleichbar einem Elektrorollstuhl bieten. Das Bundessozialgericht geht davon aus, dass bei entsprechender Eignung im Hinblick auf die im Einzelfall bestehenden Behinderungen ein Elektromobil ebenso wie ein Elektrorollstuhl die Voraussetzungen der Erforderlichkeit eines Hilfsmittels sowie der Wirtschaftlichkeit erfüllt [HMV 2014]. Im HMV sind zwei Produktarten von Elektromobilen vorgesehen: – Elektromobile, dreirädrig (HMV-Nr.: 18.51.05.0000. . . 0999), – Elektromobile, vierrädrig (HMV-Nr.: 18.51.05.1000. . . 1999) (󳶳Abb. 4.36). Beide sind mehrspurige Behindertenfahrzeuge mit offenem Fahrersitz, bei denen Antriebsmotor, Akkus und Steuerelektronik in der Regel unterhalb des seitlich schwenkbaren Fahrersitzes angeordnet sind. Vor dem Fahrersitz ist eine Lenksäule angeordnet, welche die Lenkbewegungen über eine Lenkgabel auf das Vorderrad überträgt. Die Geschwindigkeitsregelung erfolgt über einen Drehgriff bzw. über entsprechende Stellhebel. Aufgrund der manuellen Übertragung der Lenkbewegungen kann es bei abrupten Lenkmanövern mit dreirädrigen Elektromobilen zu einem Kippen des Behindertenfahrzeuges kommen. Dreirädrige Elektromobile weisen in der Regel auch eine geringere Standfestigkeit als vierrädrige Elektromobile gleicher Größe auf [HMV 2014]. Neben den in 󳶳Kapitel 4.3.6 erläuterten wichtigsten Arten von Elektrorollstühlen gibt es noch einige technisch interessante Bauarten elektrisch angetriebener Mobile für Behinderte, die aus unterschiedlichen Gründen bisher nicht im Hilfsmittelverzeichnis gelistet sind, oft weil sie nicht nur der Erfüllung von Grundbedürfnissen dienen. Sie sollen hier nur kurz beschrieben werden. Der Outdoor-Rollstuhl SuperFour der Fa. Ottobock (󳶳Abb. 4.37) wurde für Geländefahrten mit höchsten Ansprüchen konzipiert. Durch seine Allradtechnik mit

4 Rollstühle

| 273

Abb. 4.36: Scooter mit Schwenksitz der Fa. Meyra.

(b)

(a)

(c)

Abb. 4.37: Outdoor-Rollstuhl SuperFour der Fa. Ottobock (a) Vorderansicht mit (b) Allradlenkung und (c) Sitzkantelung.

großen Federwegen und Raddurchmessern kann er Steigungen bis 40 % und Hindernisse bis 20 cm Höhe überwinden. Durch das Hybridantriebskonzept (vier Elektromotoren als Radantriebe, ein kleines Dieselaggregat zum Betrieb des Generators für die Energieversorgung) erreicht er Reichweiten bis 200 km. Die Allradlenkung erlaubt trotz des großen Radstandes und der indirekten Lenkung relativ kleine Wenderadien. Alle vier Räder werden dabei über ein vollelektronisches Differenzial angesteuert. Um trotz der Bodenunebenheiten im Gelände einen hohen Sitzkomfort zu erhalten, besitzt der Rollstuhl eine automatische Sitzkantelung. Beim Auf- und Abstieg am Hang bewirkt sie, dass der Sitz immer in einer horizontalen Position bleibt (kein Rutschen auf dem Sitz am Hang). Um den Einstieg zu erleichtern, kann der Sitz bis vor die Vorderachse gefahren werden (Sitzlängsverstellung) [Ottobock 2014].

Technische Daten des Outdoor-Rollstuhls SuperFour der Fa. Ottobock [Ottobock 2014] – Leergewicht 321 bis 348 kg (abhängig von der Ausstattung), Zuladung 120 kg, – Wendekreis 4,6 m, – Länge 1 980 mm, Breite 1 100 mm, Höhe 1 750 mm,

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– – – – – –

Achsabstand 1 400 mm, Raddurchmesser 500 mm, Federweg der Radaufhängung 130 mm, Reichweite ca. 200 km, Steigfähigkeit 40 %, Geschwindigkeit 15 km/h, Daten Hybridaggregat: Hubraum Verbrennungsmotor 100 ccm, Leistung 2,2 kW bei 6300 U/min, Verbrauch nur 2 Liter Dieseltreibstoff auf 100 km.

Eine moderne Fahrzeugvariante stellt ein Modelltyp mit zwei Antriebsrädern an nur einer Achse dar. Gemäß dem Normentwurf DIN ISO 7176-26 (Rollstühle – Teil 26: Vokabular) wird er als Gleichgewichtsrollstuhl (Elektrorollstuhl, der das Gleichgewicht des Rollstuhls elektronisch aufrecht erhält) bezeichnet. Im HMV gibt es noch keine Zuordnung dieses Fahrzeugtyps, das ggf. zu den Elektromobilen gehören würde (HMVNr. 18.51.05), die bisher jedoch nur drei- und vierrädrige Produktarten umfassen (siehe oben). Das in 󳶳Abbildung 4.38 dargestellte Fahrzeug Genny Urban 2.0 der Fa. Genny Mobility Sa – CH Lugano ist dem inzwischen recht bekannten Stehfahrzeug SEGWAY technisch ähnlich. Es nutzt die gleiche Basistechnologie, besitzt jedoch einen Sitz und ist so prinzipiell für Personen geeignet, die nur eingeschränkte oder keine Gehfähigkeit mehr besitzen. Mittels komplexer Regelalgorithmen unter Nutzung von fünf Gyroskopen fährt dieses einachsige Fahrzeug unter dynamischen Bedingungen stabil und kann minimale Wenderadien realisieren. Gewichtverlagerungen lösen die Bewegungen aus, d. h. die Hände werden zum Fahren nicht zwingend gebraucht. Sie können z. B. zum Halten von Gegenständen (u. a. eines Regenschirms) genutzt werden, aber auch einen Handgriff zur Stabilisierung der Körperposition umgreifen. Das Ein- und Aussteigen stellt für behinderte Nutzer allerdings eine gewisse Herausforde-

(a)

(b)

Abb. 4.38: Zweirädriges Fahrzeug Genny Urban 2.0 der Fa. Genny Mobility SA – CH Lugano. (a) Seitenansicht, (b) Frontansicht mit umgeklappter Rückenlehne und abgenommener Lenkstange.

4 Rollstühle

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rung dar. 󳶳Abbildung 4.38 zeigt, dass sich zum Ein- und Aussteigen die mittig angeordnete Lenkstange abnehmen lässt [Genny 2014].

4.4.4 Reha-Karren und Buggys für Kinder Buggys entsprechen den handelsüblichen Kinderbuggys, sind jedoch in ihrer Konstruktion so ausgelegt, dass auch ältere Kinder und Jugendliche befördert werden können. Reha-Karren bestehen aus einem kinderwagenähnlichen Untergestell und einer sitzschalenartigen Sitzeinheit. Da diese Produkte bei Kindern bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres handelsübliche Buggys ersetzen, muss bei Kleinkindern in dieser Altersklasse ein Eigenanteil gezahlt werden [HMV 2014].

Verzeichnis der Quellen, alphabetisch Borchardt, Hartmann, Lehmann, Radike, Schlesinger, Schwiening: Ersatzglieder und Arbeitshilfen für Kriegsbeschädigte und Unfallverletzte. Herausgegeben von der ständigen Ausstellung für Arbeiterwohlfahrt (Reichsanstalt) in Berlin-Charlottenburg und der Prüfstelle für Ersatzglieder (Gutachterstelle für das Preußische Kriegsministerium), Berlin-Charlottenburg, Verlag Julius Springer 1919. Bröxkes S., Herzog U.: Rollstuhlversorgung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Duisburg: Deutscher Rollstuhl-Sportverband e. V., Eigenverlag des DRS e. V. 2004. DIN EN 12183 Muskelkraftbetriebene Rollstühle – Anforderungen und Prüfverfahren. Berlin: Beuth Verlag 2014. DIN EN 12184 Elektrorollstühle und -mobile und zugehörige Ladegeräte – Anforderungen und Prüf­ verfahren. Berlin: Beuth Verlag 2014. DIN EN ISO 9999 Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie. Berlin: Beuth Verlag 2011. DIN ISO 7176-26 Rollstühle – Teil 26: Vokabular. Berlin: Beuth Verlag 2007. Engström B.: Ergonomie – Sitzen im Rollstuhl, Analyse, Verständnis und Eigenerfahrung, Posturalis Books. Köln: Medio Verlag 2001. EXIDE Technologies: Handbuch für verschlossene Gel-Blei-Batterien, Teil 1 u. 2. Milton, Georgia 30004, USA: EXIDE Technologies 2003. GENNY MOBILITY: Beschreibung GENNY URBAN 2.0. Download unter: http://www.gennymobility. com/germany/Genny.aspx, Stand 13.09.2014. Grote K.-H., Feldhusen J.: Dubbel. 22. Auflage. S. Q3. Berlin:Springer-Verlag 2007. Hilfsmittelverzeichnis der GKV. Download unter: http://www.rehadat.de/gkv3/Gkv.KHS, Stand 27.08.2014. MEYRA: Beschreibung Lagerungsrollstuhl MOTIVO 2.250. Download unter: http://www.meyra.de/ rollstuehle/produktdetails/product-24/?cHash=0d96cdb81f7f724d582a67cedcf0c312, Stand 13.09.2014 Meyra-Ortopedia: Leitfaden zur Rollstuhl-Versorgung, manuelle Greifreifen-Rollstühle. Kalletal-Kall­ dorf: Meyra 2008. Meyra-Ortopedia: Leitfaden zur Versorgung mit Elektrofahrzeuge. Kalletal-Kalldorf: Meyra 2006. OTTOBOCK: Beschreibung SUPERFOUR. Download unter: http://www.ottobock.com/cps/rde/xchg/ ob_de_de/hs.xsl/1314.html, Stand 13.09.2014.

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PERMOBIL: Beschreibung M400 CORPUS 3G. Download unter: http://www.permobil.com/de/ Germany/C/Products/M400-Corpus-3G/, Stand 13.09.2014. SPECTARIS: Presseinformation vom 22.09.2014, Rollstühle werden immer leichter und flexibler. Download unter: http://www.spectaris.de/verband/presse/artikel/seite/rollstuehle-werdenimmer-leichter-und-flexibler/verband.html, Stand 30.10.2014. SPEEDY: Beschreibung SPEEDY-B26. Download unter: http://www.speedy.de/de/handbikes/ handbikes/speedy-b26/, Stand 13.09.2014. Teutrine P., Greitemann B.: Rollstuhlversorgung in der Orthopädie. Medizinisch-orthopädische Technik 121 (6) (2001), 168–174. Weege R.-D.: Fahrantriebsarchitektur bei Elektrorollstühlen – wie im Automobilbau? Orthopädie Technik (2009), 670–673. Weege R.-D: Elektromobile – Ersatz für Elektrorollstühle? Orthopädie Technik (2004), 709–713. Weege R.-D: Mittelachsantriebe – eine Antriebsalternative bei Elektrorollstühlen? Orthopädie Tech­ nik (2011), 640–646.

Verzeichnis weiterführender Literatur, alphabetisch Engström B.: Ergonomie – Sitzen im Rollstuhl, Analyse, Verständnis und Eigenerfahrung, Posturalis Books. Köln: Medio Verlag 2001. Bröxkes S., Herzog U., Dirla F., Frantzen St.: Rollstuhlversorgung bei Kindern, Jugendlichen und Er­ wachsenen: Ein Leitfaden mit rechtlichen Aspekten, Erfahrungsberichten und vielen Tipps rund um den Rollstuhl. Auflage 2, Duisburg: Deutscher Rollstuhl-Sportverband e. V., Eigenverlag des DRS e. V. 2004.

Danksagung Die Autoren danken allen an der Erstellung des Kapitelmanuskripts beteiligten weiteren Personen an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe und der TU Berlin, den Bereitstellern von Daten, Bilder und Informationen der benannten Unternehmen, insbesondere der Fa. Meyra und der Fa. Ottobock sowie den Mitarbeitern des Verlages WALTER DE GRUYTER.

Testfragen 1. Wie ist der Begriff „Rollstuhl“ definierbar? 2. In welcher Produktgruppe des Hilfsmittelverzeichnisses sind Rollstühle zu finden? Nennen Sie die dort unterschiedenen Anwendungsorte und zugehörigen Rollstuhlarten! 3. Welche in der DIN EN ISO 9999 gelisteten Rollstuhlarten sind im Hilfsmittelverzeichnis nicht zu finden? 4. Welche Kriterien sind bei der Auswahl eines Rollstuhls zu beachten? 5. Bezeichnen Sie die Komponenten eines Greifreifenrollstuhls und beschreiben Sie, in welcher Form diese an den Patienten angepasst werden können! 6. Wie unterscheiden sich eine direkte und eine indirekte Lenkung?

4 Rollstühle

7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23.

| 277

Skizzieren Sie die Lenkwinkelstellungen und Spurverläufe eines Rollstuhls mit indirekter Len­ kung! Welcher Zusammenhang gilt für die Lenkwinkel? Welche Zusammenhänge zwischen Lenkwinkel und Radumfangsgeschwindigkeit gelten für die Kurvenfahrt? Wie werden Rollstuhlbauarten in Abhängigkeit von Antriebs- und Lenkungsart unterschieden? Beschreiben Sie Vor- und Nachteile der Anordnungsvarianten von Antriebsrädern bei Greifrei­ fenrollstühlen! Welche Auswirkungen haben ein Radnachlauf und eine Neigung der Lenkkopfachse am Lenkrad eines indirekt gelenkten Rollstuhls? Beschreiben Sie Einflussgrößen und Auswirkungen der Verschiebung des Schwerpunktes eines Greifreifenrollstuhls! Warum und in welcher Radanordnung besteht an Hinderniskanten eine Überschlaggefahr? Was ist ein positiver Radsturz und welche Auswirkungen hat er? Welche Einflüsse haben Antriebsradposition und Lenkungsart bei Hangneigungen längs und quer zur Fahrbahn? Vergleichen Sie die Eigenschaften der vier häufigsten Varianten von Elektrorollstühlen! Welche Größen beeinflussen den Fahrwiderstand eines Rollstuhls? Was ist bei der Nutzung von Elektrorollstühlen im Straßenverkehr zu beachten? Beschreiben Sie Arten und Funktionen von Rollstühlen mit Einarm- und mit Hebelantrieb! Aus welchen Komponenten besteht das Antriebssystem eines Elektrorollstuhls? Beschreiben Sie auch die heute übliche Ausführung dieser Komponenten! Welche Bedienmodularten sind in Anpassung an die Behinderungsart bei Elektrorollstühlen wählbar? Welche Vorteile bietet eine Stehfunktion eines Rollstuhls? Welche besonderen Anforderungen stellen sich bei Kinderrollstühlen?

Catherine Disselhorst-Klug, Ferdinand Bergamo, Stefan Bieringer, Ludger Lastring, Detlef Kokegei, Silke Auler, Bettina Grage-Roßmann, David Hochmann, Marc Kraft

5 Orthesen, Schienen und Bandagen 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Einführung | 280 Orthesen | 283 Bandagen | 326 Quengelorthesen und Lagerungsschienen | 331 Individuelle Sitzversorgung | 333

Zusammenfassung: Orthesen, Schienen und Bandagen dienen in erster Linie der Entlastung, Führung und Stabilisierung von Gelenken und umgebenden Weichgewebssowie Skelettstrukturen. Sie sind damit integraler Bestandteil rehabilitativer Maßnahmen nach Verletzungen des muskuloskelettalen Systems und finden auch in der neurologischen Rehabilitation zunehmend Anwendung. Hier zielt ihre Wirkungsweise im Sinne der Tertiärprävention auf eine Vermeidung von Folgeerkrankungen muskulärer Dysbalancen. Das Kapitel stellt die wichtigsten Orthesen, Schienen und Bandagen für Rumpf sowie obere und untere Extremitäten vor. Es beschreibt ihre Wirkungsweise wie auch Unterschiede und zeigt typische Anwendungsbeispiele. Abstract: Orthoses, splints and bandages effectively relieve, guide and stabilise joints as well as the supporting ligaments, tendons, cartilages and bones. All those technical aids are integral parts of rehabilitation after injury of the musculoskeletal system. In addition, their significance is increasing in neuro-rehabilitation and prevention of secondary disorders related to muscular dysbalance. This chapter focusses on the description of the most common orthoses, splints and bandages designed for the trunk as well as the lower and upper extremities. Their properties and differences are described and typical applications are given.

280 | Catherine Disselhorst-Klug et al.

5.1 Einführung Wo immer es zu einer Beeinträchtigung des muskuloskelettalen Systems kommt, gehören orthopädische Hilfsmittel wie Bandagen, Orthesen und Schienen zur Behandlung der Symptome. Obwohl es sich um unterschiedliche Hilfsmittel handelt, weisen diese Gemeinsamkeiten auf, die eine Unterscheidung oft schwierig machen. So umschließen alle drei Typen von Hilfsmitteln mindestens ein, manchmal aber auch mehrere Gelenke, liegen eng am Körper an und wirken über die umgebenden Weichteile auf den aktiven und passiven Bewegungsapparat. Alle drei Hilfsmitteltypen haben eine mechanische Wirkung und entlasten, führen, stabilisieren oder immobilisieren die motorische Funktion (󳶳Tab. 5.1). Häufig gehen mit diesen Hilfsmitteln aber auch Sekundäreffekte wie sensomotorische Anregungen oder einfach nur Wärmewirkung einher. Ziele dieser Hilfsmittel sind die kurzfristige Ruhigstellung, dauerhafte Ruhigstellung, Entlastung, Führung oder Stabilisierung (󳶳Tab. 5.1). Eine 󳶳 Orthese ist ein extern anzuwendendes Hilfsmittel zur Veränderung der strukturellen und funktionellen Eigenschaften des neuromuskulären und des skelettalen Systems [ISO 8549-1, ISO 9999]. Orthesen begrenzen den Bewegungsumfang bezüglich der Anzahl der zugelassenen Frei­ heitsgrade oder des zugelassenen Bewegungsausmaßes.

Der Begriff der Orthese wurde erst Mitte des 20. Jahrhunderts eingeführt. In der Literatur wurden diese Konstruktionen zuvor als Stützapparate, Schienen oder Mieder bezeichnet. Auch heute sind Begriffe wie Fußstütze, Splint oder Brace in der Fachliteratur zu finden. Der Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beschreibt Orthesen in der Produktgruppe 23 des Hilfsmittelvereichnisses als funktiTab. 5.1: Physikalische und mechanische Aufgaben von Orthesen und Bandagen. Funktion

Wirkung

Entlastung

mechanische Entlastung von Teilen des Bewegungsapparates

Führung

Führung von Gelenken entsprechend der anatomischen Achsen

Stabilisierung

Stabilisierung von Gelenken durch externe Kräfte/Momente

Redression

Zurückführung einer Fehlstellung in die anatomisch korrekte Position

Immobilisation, Teilmobilisation

Ruhigstellung von Gelenken und Körperteilen durch externe Kräfte/Momente

rheologische Wirkung

Verbesserung der Durchblutung und des lymphatischen Abflusses

propriozeptive Wirkung

Verbesserung der wahrnehmungsbedingten, muskulären Führung eines Gelenks

Schmerzdämpfung

Schmerzverringerung durch Kompressionswirkung; Entlastung und Beeinflussung der Stellung von Körperteilen

5 Orthesen, Schienen und Bandagen | 281

onssichernde, körperumschließende oder körperanliegende Hilfsmittel, die aufgrund ihrer physikalischen/mechanischen Wirkung konstruktiv stabilisieren, immobilisieren, entlasten, korrigieren, retenieren (= zurückhalten), fixieren, redressieren (= richten) und ausgefallene Körperfunktionen ersetzen. Es können auch mehrere Eigenschaften kombiniert werden, insbesondere dann, wenn therapeutische und behinderungsausgleichende Maßnahmen gleichzeitig erforderlich sind. Die Anwendung von Orthesen kann an den Gliedmaßen, am Kopf (Hals) und am Rumpf (insbesondere an der Wirbelsäule) erfolgen. Grundsätzlich unterscheidet man in Bein-Orthesen, ArmOrthesen und Rumpf-Orthesen. In der Abgrenzung zur Gliedmaßenprothetik, durch die der Verlust einzelner Körperteile der oberen und unteren Extremität ausgeglichen wird, unterstützen, ergänzen oder sichern Orthesen, Schienen und Bandagen die motorische Funktion vorhandener meist beeinträchtigter Strukturen. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Orthesen, Schienen und Bandagen ergeben sich aus der Weise, in der Bewegungen in den einzelnen Gelenken durch das jeweilige Hilfsmittel beeinflusst werden, wobei sich die funktionellen Unterschiede auf Konstruktion und verwendete Materialien beziehen. 󳶳Tabelle 5.2 fasst die wichtigsten Merkmale der verschiedenen Hilfsmittel zusammen und nennt Beispiele. Schienen und dynamische Orthesen gehören beide zur Produktgruppe 23 des Hilfsmittelverzeichnisses. Dementsprechend sind sie oft nur anhand ihrer Wirkung zu unterscheiden (󳶳Tab. 5.2). Eine 󳶳 Schiene oder auch 󳶳 statische oder immobilisierende Orthese ist ein extern anzuwenden­ des Hilfsmittel mit dem Ziel der Verhinderung von Bewegungen um alle möglichen anatomischen Achsen eines Gelenks (Immobilisation). Ihre therapeutische Wirkung besteht damit in der Fixation eines Gelenks in einer therapeutisch sinnvollen Stellung.

Grundsätzlich ist die Aufgabe einer Schiene, mögliche Bewegungen um alle anatomischen Achsen eines Gelenks zu verhindern (󳶳Kapitel 2.1.3). Sie dienen damit vor allem der Immobilisation eines Gelenks, also seiner Fixierung in einer vorgegebenen und therapeutisch sinnvollen Stellung. Die Indikationsstellung für eine temporäre Versorgung ist somit eine zeitweise Ruhigstellung des betroffenen Gelenks. Häufig wird keine Unterscheidung zwischen Schienen und Orthesen getroffen. Schienen entsprechend der hier getroffenen Definition werden dann als statische oder immobilisierende Orthesen bezeichnet. Sie unterscheiden sich funktionell von den dynamischen Orthesen, die Bewegungen in mindestens einer Gelenkachse (in einem rotatorischen Freiheitsgrad) zulassen. 󳶳 Dynamische Orthesen sind durch eine selektive, nicht vollständige Begrenzung der Freiheits­ grade und des Bewegungsumfangs belasteter Gelenke charakterisiert.

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Tab. 5.2: Einteilung der Hilfsmittel in Orthesen, Schienen und Bandagen. Schiene/immobilisierende dynamische Orthese Orthese Einfluss auf die Bewegung





Verhinderung aller Bewegungen in einem Gelenk Immobilisation

Führung und Sicherung bestimmter Bewegungen (Einschränkung spezifische Freiheitsgrade/ Bewegungsumfang) selektive Begrenzung des Bewegungsumfangs belasteter Strukturen



keine wesentliche Begrenzung des Bewegungsumfangs

– –

Kompression Entlastung der Strukturen Schmerzreduktion Verbesserung der Propriozeption



frühe Mobilisation des Patienten Verhinderung pathologischer Freiheitsgrade Entlastung und Schutz Schmerzreduktion

– – –

Bein-Orthesen Arm-Orthesen Rumpf-Orthesen

– –





Behandlungsziele



– –

Beispiele



Sicherung einer bestimmten Gelenkstellung Entlastung und Schutz Schmerzreduktion

Immobilisationsschienen für Knie, Fußgelenk oder Handgelenk

Bandage

– –



– –

Patella-Bandagen Kompressionsbandagen

Im Vergleich zur Schiene erlauben dynamische Orthesen Bewegungen um einzelne Anatomische Achsen. Ihre Konstruktion soll das betroffene Gelenk möglichst physiologisch führen und bei Bedarf eine Begrenzung der Bewegungsumfänge zum Schutz und zur Entlastung von Strukturen vornehmen können. Manche Orthesen bringen zusätzliche Zwangskräfte auf, die zu einer Entlastung bestimmter, meistens vorgeschädigter Regionen des betroffenen Gelenks führen. Indikationsstellungen für eine temporäre Versorgung mit Orthesen ergeben sich posttraumatisch und postoperativ (Sichern des Operationsergebnisses und des Behandlungsziels). Dauerhafte Orthesenversorgungen sind z. B. bei Behinderungen durch chronische Erkrankungen wie degenerativen Gelenkverschleiß, Lähmungen oder bei bleibenden Einschränkungen in Folge von Traumata erforderlich. Im Gegensatz zu den Orthesen, die zur Produktgruppe 23 des Hilfsmittelverzeichnisses gehören, zählen die Bandagen zur Produktgruppe 05. Gemäß des Hilfsmittelverzeichnisses macht dieses eine einfache Abgrenzung der Bandagen von den Orthe-

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283

sen möglich, die jedoch nicht immer der in 󳶳Tabelle 5.2 genannten Unterscheidung der funktionellen Wirkung entspricht (󳶳Kapitel 5.3). 󳶳 Bandagen sind körperteilumschließende oder körperteilanliegende, meist konfektionierte Hilfs­ mittel. Ihrer Funktion nach wirken sie komprimierend oder funktionssichernd. Bandagen dienen der Behandlung von akuten und dauerhaft anhaltenden Weichteilerkrankungen, können aber auch prophylaktische Anwendung finden.

Bandagen haben nur wenig Einfluss auf den Bewegungsumfang der Gelenke (sofern sie nicht mit versteifenden Schienen versehen sind) und entfalten ihre Wirkung über die Elastizität ihres Materials. Sie werden präventiv und kurativ eingesetzt. Die Grundelemente bestehen aus flexiblen oder festen Materialien und besitzen oft textile Bestandteile. Bandagen haben eine geringere mechanische Wirkung als Orthesen, und auch die Beeinflussung der Versorgungssysteme sowie der nervalen Strukturen ist von Bedeutung (󳶳Kapitel 5.3.2). Indem sie durch Kompression Hämatome und Ödeme beeinflussen sowie durch Wärmewirkung Entzündungsreaktionen hemmen, beeinflussen sie die Gefäße, die Versorgung und den Stoffwechsel. Zusätzlich wirken sie mechanisch auf Rezeptoren in Gelenken, Muskeln und Haut mit Wirkung auf das zentrale Nervensystem. Man spricht von einer sensomotorischen oder auch propriozeptiven Wirkung (󳶳Kapitel 9). Als 󳶳 Sensomotorik bezeichnet man das Zusammenspiel von motorischer Bewegungsausführung und Sensorik, insbesondere der sensiblen Wahrnehmung der Bewegungsausführung durch die entsprechenden Rezeptoren (Propriozeption). Sensomotorisch oder auch propriozeptiv wirkende Hilfsmittel stimulieren die entsprechenden Sinneswahrnehmungen und beeinflussen so die Be­ wegungsausführung.

Entsprechend ihrer Wirkweise werden Bandagen häufig in der Versorgung von langwierigen oder chronischen Gelenkbeschwerden und Weichgewebeerkrankungen eingesetzt, die keiner Einschränkung des Bewegungsumfangs bedürfen. Hierzu gehören Indikationen wie leichte Instabilitäten des Gelenks, Gelenkergüsse und Schwellungen, Reizzustände sowie Arthrose und Arthritis. Unter 󳶳 konservativer Therapie wird in der Medizin die Behandlung eines Krankheitszustandes ohne Operation verstanden (lat.: conservare, bewahren). Hierbei kommen eine medikamentöse Therapie oder physikalische Maßnahmen zum Einsatz.

Orthesen, Schienen und Bandagen sind Teil der konservativen Therapie. In den nachfolgenden Kapiteln werden die einzelnen Arten und Formen von Orthesen, Schienen und Bandagen sowie deren Wirkung detailliert beschrieben.

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5.2 Orthesen Die folgenden Ausführungen betreffen überwiegend Orthesen im Sinne der Produktgruppe (PG) 23 des Hilfsmittelverzeichnisses (HMV) und umfassen somit sowohl Schienen wie auch dynamische Orthesen bis hin zu Bandagen-ähnlichen Hilfsmitteln, soweit sie unter die benannte Produktgruppe fallen. Letzteres betrifft maßgeblich den Bereich der Orthesen für die Wirbelsäule (󳶳Kapitel 5.2.4). Direkt angrenzende Gebiete, wie die Produktgruppe 08 des HMV (Einlagen) bzw. Produktgruppe 31 (Schuhe, insbesondere Fußbettungen) werden ebenfalls vorgestellt. Klinische Erfordernisse, das Therapieziel und die Funktion von Orthesen sind in der ISO-Norm 8551 definiert. Eine funktionelle Einteilung von Orthesen ist entsprechend 󳶳Tabelle 5.3 möglich: Tab. 5.3: Funktionelle Einteilung von Orthesen. Funktionelle Einteilung von Orthesen – – – – – – –

Fehlstellungen vorbeugen, reduzieren, halten Immobilisieren Gelenkbeweglichkeit begrenzen; verbessern Längenausgleich schlaffe Lähmungen kompensieren spastische Lähmungen kontrollieren Belastungen auf Gewebe reduzieren/umverteilen

Die wichtigste Systematik ist die internationale Klassifikation von Orthesen nach Applikationsort gemäß ISO 8549-3. Sie klassifiziert nach den von der Orthese bedeckten bzw. einbezogenen Körperregionen (󳶳Tab. 5.4).

5.2.1 Wirkungsweise Die biomechanische und ggf. auch propriozeptive Wirkungsweise von Orthesen beruht auf der dosierten und gezielten Einwirkung externer Kräfte und Momente auf den Körper (󳶳Kapitel 2.1.4). Auf diese Weise soll die gewünschte medizinische Wirkung erzielt werden. Dies gilt sowohl für die Unterstützung als auch für die Verhinderung bzw. Einschränkung von Gelenkbewegungen. Um dies zu erreichen, müssen die Bauteile mit starren Elementen den zu verhindernden Bewegungen entgegenwirken.

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285

Tab. 5.4: Klassifikation von Orthesen nach Applikationsort gemäß ISO 8549-3. englische Bezeichnung

deutsche Bezeichnung

Abkürzung

foot orthosis ankle-foot orthosis knee orthosis knee-ankle-foot orthosis hip orthosis hip-knee orthosis hip-knee-ankle-foot orthosis finger orthosis hand orthosis wrist orthosis wrist-hand orthosis wrist-hand-finger orthosis elbow orthosis elbow-wrist-hand orthosis shoulder orthosis shoulder-elbow orthosis shoulder-elbow-wrist orthosis shoulder-elbow-wrist-hand orthosis

Fuß-Orthese Sprunggelenk-Fuß-Orthese Knie-Orthese Knie-Knöchel-Fuß-Orthese Hüft-Orthese Hüft-Knie-Orthese Hüft-Knie-Knöchel-Fuß-Orthese Finger-Orthese Hand-Orthese Handgelenk-Orthese Handgelenk-Hand-Orthese Handgelenk-Hand-Finger-Orthese Ellenbogen-Orthese Ellenbogen-Handgelenk-Hand-Orthese Schulter-Orthese Schulter-Ellenbogen-Orthese Schulter-Ellenbogen-Handgelenk-Orthese Schulter-Ellenbogen-HandgelenkHand-Orthese Sakro-iliacal-Orthese Lumbo-sakral-Orthese Thorako-lumbo-sakral-Orthese Zervikal-Orthese Zerviko-thorakal-Orthese Zerviko-thorako-lumbo-sakral-Orthese

FO AFO KO KAFO HO HKO HKAFO FO HO WO WHO WHFO EO EWHO SO SEO SEWO SEWHO

sacro-iliac orthosis lumbo-sacral orthosis thoraco-lumbo-sacral orthosis cervical orthosis cervico-thoracic orthosis cervico-thoraco-lumbo-sacral orthosis

SIO LSO TLSO CO CTO CTLSO

Verhinderung von Bewegungen Während früher häufig Hartverbände aus Gips oder Kunststoff zur Ruhigstellung eines Gelenks oder einer Extremität genutzt wurden, kommen heute immer häufiger immobilisierende Orthesen zum Ein­ satz. Ziel ist eine komplette Ruhigstellung des betroffenen Gelenks beispielsweise nach Knochenbrü­ chen oder Sehnenverletzungen. Einschränkung von Bewegungen Beispielsweise kann ein Kniegelenk mit gelähmter kniestreckender Muskulatur durch ein mechanisch gesperrtes Orthesen-Kniegelenk (KAFO) gesichert werden (󳶳 Kapitel 5.2.2 – Knie-Orthesen). Diesel­ be Wirkung kann auch unter Ausnutzung des Vorfußhebels mit einer Unterschenkelorthese erreicht werden. Dazu sind allerdings eine gesperrte Extensionsbewegung im Knöchelgelenk, eine ventral pro­ ximale Anlage an der Tibia und eine Restfunktion der Hüftextensoren erforderlich. Unterstützung von Gelenkbewegungen Ein Beispiel für die Unterstützung von Gelenkbewegungen ist die Versorgung des Lähmungsspitzfu­ ßes (󳶳 Kapitel 5.2.2 – Fußheberorthese). Der Fuß kann aktiv nicht mehr angehoben werden. Um das Durchschwingen des Fußes zu erleichtern, wird der Fuß mit einer Fußheberorthese im oberen Sprung­ gelenk nach dorsal extendiert. Die Fußspitze wird angehoben und so die Sturzgefahr verringert.

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Die Umverteilung von Kräften dient dazu, Belastungen von einzelnen Strukturen auf andere, benachbarte Strukturen zu übertragen.

Entlastung von einzelnen Strukturen Nach einer Wirbelkörperfraktur wird durch die Hyperextension im Bewegungssegment die axiale Be­ lastung des frakturierten Wirbelkörpers verringert, um bei Frakturheilung eine Keilwirbelbildung zu verhindern. Die Entlastung wird mit einer stärkeren Belastung der angrenzenden Wirbelgelenke er­ kauft (󳶳 Kapitel 5.2.4).

Allgemein gilt, dass die für die konservative Therapie erforderlichen Kräfte so klein wie möglich gehalten werden sollten. Da die von der Orthese aufgebrachten Kräfte nur von außen über die Haut auf den Körper eingeleitet werden können und die Flächen zur Übertragung der Kräfte aufgrund der anatomischen Gegebenheiten räumlich begrenzt sind, ergeben sich lokal hohe Kräfte. Diese bewirken wiederum ein erhöhtes Risiko von Druckulzerationen (󳶳Kapitel 6). Zur Vermeidung muss daher die einwirkende Kraft auf eine möglichst große Fläche verteilt und so der lokale Druck verringert werden [Reswick 1976]. Die Dauer der Einwirkung der therapeutischen Kräfte ist durch die Tragedauer der Orthese limitiert. Sie ist weiterhin bestimmt durch die Art der Belastung und die Möglichkeiten, den einwirkenden Kräften auszuweichen. Letzteres kann durchaus therapeutisch gewollt sein.

Korrigierende Orthesen Beispielsweise werden korrigierende Rumpforthesen so konstruiert, dass der Patient den auf den Rumpf einwirkenden Kräften gezielt in Freiräume ausweichen kann. Dadurch soll die Korrektur aktiv unterstützt und die Wirkung der Orthese verstärkt werden.

Ferrari hat darauf hingewiesen, dass eine Orthese in erster Linie die Annahme und das Verständnis des Patienten benötigt, um die erwünschte Wirkung zu erreichen [Ferrari 1998]. Erlaubt eine Orthese Leistungen, die in einer anderen Weise nicht erreicht werden können, verändert die Orthese nicht nur das objektive Ausmaß sondern auch die subjektive Vorstellung der eigenen Behinderung. Diese in allen Altersstufen zu beobachtende Erkenntnis verdeutlicht die therapeutische Funktion von Orthesen. Schmerzfreie Passform, ein angenehmes Trageverhalten und dauerhafte Funktion sind für die Alltagstauglichkeit einer Orthese unabdingbar.

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5.2.2 Bein-Orthesen Beinschienen oder immobilisierende Bein-Orthesen Immobilisierende Bein-Orthesen finden bei den unteren Extremitäten hauptsächlich zur temporären Ruhigstellung des Sprung- und des Kniegelenks Anwendung. Man unterscheidet in die fixierende Unterschenkel-Orthese und die immobilisierende Knie-Orthese (󳶳Abb. 5.1). 󳶳 Fixierende Unterschenkel-Orthesen lassen aus medizinischen oder biomechanischen Gründen keine Beweglichkeit im Sprunggelenk zu. Fixierende Unterschenkel-Orthesen erfordern immer ei­ ne Rollenkonstruktion unter der Orthese, um die fehlende Beweglichkeit im Sprunggelenk zu kom­ pensieren, sofern sie nicht als reine Lagerungsorthesen konzipiert sind.

Für fixierende Unterschenkel-Orthesen gibt es zahlreiche Indikationen. Meist werden sie nur temporär benötigt, beispielsweise um eine Defektheilung zu unterstützen (z. B. Achillessehnenruptur), um Abschnitte des Unterschenkels/Fußes zu entlasten (z. B. Fersenbeinfraktur) oder um eine korrigierende Wirkung zu erzielen (z. B. Klumpfußbehandlung). Als Dauerversorgung werden sie vor allem eingesetzt, um hohe Beinlängendifferenzen auszugleichen. Bei Frakturen werden häufig fixierende Unterschenkel-Orthesen in Verbindung mit Vakuumkissen genutzt (󳶳Abb. 5.1 (b)). Ein sich selbst anpassendes Vakuumkissen formt sich individuell, beliebig oft an die Fußform an und stabilisiert in Verbindung mit einem steifen Gitterrahmen das Bein so stabil wie ein Gipsverband. Immobilisierende Knie-Orthesen, die nur das Kniegelenk sowie Teile des Unterschenkels und Teile des Oberschenkels umschließen, finden einen postoperativen Einsatz zur Ruhigstellung. Konfektionierte Orthesen zur Immobilisierung sind in ver-

(a)

(b)

(c)

Abb. 5.1: Immobilisierende Bein-Orthesen. (a) Fixierende Unterschenkel-Orthese mit einstellbarem Gelenk der Fa. medi, (b) Fixierende Unterschenkel-Orthese mit Vakuumkissen der Fa. OPED, (c) Im­ mobilisierende Knie-Orthese der Fa. neaTec.

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schiedenen Längen und Winkelstellungen lieferbar. Längere Hebelarme sichern den Behandlungserfolg zuverlässiger als kurze Hebelarme und reduzieren die benötigten Haltekräfte. (󳶳Abb. 5.1 (c)). 󳶳 Immobilisierende Knie-Orthesen werden bei akuten Knieverletzungen und postoperativ einge­ setzt. Diese Knie-Orthesen ohne Gelenk stellen das Kniegelenk zuverlässig ruhig und schonen damit die geschädigten Strukturen oder sichern das Operationsergebnis.

Fuß-Orthesen (FO) Unter dem Oberbegriff der Fuß-Orthesen lassen sich sowohl Einlagen aus der Produktgruppe 08 (Einlagen) des Hilfsmittelverzeichnisses einordnen als auch Fußbettungen aus der Produktgruppe 31 (Schuhe). Der Unterschied besteht darin, dass Einlagen als individuell angepasste Wechseleinlagen zwischen mehreren gleichartigen Schuhen des Anwenders getauscht werden können, während Fußbettungen als integraler Bestandteil nur eines Schuhes angesehen werden. Des Weiteren sind auch Orthesen aus der Produktgruppe 23 (Orthesen) am Fuß anwendbar. Die Übersicht in 󳶳Tabelle 5.5 verdeutlicht die Gliederung der Produktgruppe Einlagen im Hilfsmittelverzeichnis nach der Funktion (Kopie, Bettung, Korrektur, Stoßabsorber, Verkürzungsausleich), der Bauweise (Schale, Backen, Sonderanfertigung) und dem Einsatzort (Ferse, Vor- und Mittelfuß). In der Fachliteratur hat sich die Einteilung nach der Funktion durchgesetzt [Grifka1989]. Tab. 5.5: Produktgruppen des Hilfsmittelverzeichnisses, die Fuß-Orthesen beinhalten. 08 Einlagen – – – – – – –

08.03.01 Kopieeinlagen 08.03.02 Bettungseinlagen 08.03.03 Schaleneinlagen 08.03.04 Einlagen mit Korrekturbacken 08.03.05 Fersenschalen 08.03.06 Stoßabsorber/ Verkürzungsausgleiche 08.03.07 Einlagen in Sonderanfertigung

23 Orthesen –

23.01.01 Vor- und Mittelfuß-Korrekturor­ thesen

31 Schuhe –

31.03.07 Diabetes-adaptierte Fußbettung

Nach dieser Einteilung werden korrigierende Einlagen, stützende Einlagen und entlastende oder bettende Einlagen unterschieden. Die typischen Indikationen für die einzelnen Einlagentypen sind in 󳶳Tabelle 5.6 zusammengefasst.

5 Orthesen, Schienen und Bandagen | 289

Abb. 5.2: Handgefertigte Dreibackeneinlage zur Sichelfußkorrektur.

󳶳 Korrigierende Einlagen (󳶳 Abb. 5.2) kommen überwiegend, aber nicht nur, im Wachstumsalter zum Einsatz, um anlagebedingte oder erworbene Fehlbildungen des Fußes unter Anwendung pas­ siver mechanischer Druckpunkte in eine physiologische Form zu bringen. 󳶳 Stützende Einlagen werden bei Muskel- oder Bänderschwäche eingesetzt, wenn die Wölbungs­ struktur des Fußes nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Sie unterstützen den Fuß in ge­ waltlos erreichbarer Stellungsoptimierung. Durch die Verbesserung der Stellung kann auch eine Schmerzreduktion erfolgen. 󳶳 Entlastende/bettende Einlagen (󳶳 Abb. 5.3) dienen der Druckumverteilung und damit der lokalen Entlastung überlastungsgefährdeter Regionen des deformierten Fußes. Damit verbunden ist in der Regel eine Schmerzreduktion.

Tab. 5.6: Indikationen für unterschiedliche Enlagen. Korrigierende Einlagen

Stützende Einlagen

im Wachstumsalter – Knickfüße – Hohlfüße, – Sichelfüße – Klumpfüße

– –

Senk- bzw. Spreizfüße Überlastungsschäden bei Sportlern

Entlastende/bettende Einlagen – – –

kontrakte Fußdeformitäten rheumatische Füße diabetische Füße

Die Materialauswahl für die dargestellten Einlagentypen richtet sich nach dem Verwendungszweck. Werden zur Korrektur feste Materialien wie z. B. Metall oder Kunststoff benötigt (󳶳Abb. 5.2), um den nötigen Korrekturdruck aufbauen zu können, so werden im Bettungsbereich eher weiche Materialien wie z. B. Polsterschäume verwendet. In diese kann die Fußsohle einsinken sodass über die Oberflächenvergrößerung in Verbindung mit der Formgebung der Einlage der Druck minimiert wird. Weit verbreitet ist nach wie vor Kork als Stabilisierungsmaterial. Festen Materialien behalten als selbsttragende Konstruktion ihre Form unabhängig vom verwendeten Schuhtyp, während weichere Einlagen nur wirksam sein können, wenn sie sich vollflächig gegen den Schuhboden abstützen. Somit müssen diese nicht nur an den Fuß, sondern auch an den Schuhboden exakt angepasst werden. Weiteres Kriterium für die Materialauswahl ist das zur Verfügung stehende Volumen im Schuh. Feste Materialien benötigen in der Regel weniger Platz als weichere.

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1 2 3 4 5 (a)

(b)

(c)

Abb. 5.3: Beispiele für Einlagen. a) Langsohlige, bettende Einlage. Zu erkennen ist die leicht scha­ lige Fersenbettung (1), die Längswölbungsstütze (2), die Querwölbungsstütze (3), die Metatarsal­ bettung (4) und die Zehenbettung (5). b) Sensomotorische Knickfußeinlage im Fertigungsprozess. c) Statikeinlage.

Die grundsätzliche Formgebung der Einlagen wird durch die verschiedenen Wirkbereiche bestimmt. Diese sind bei allen Einlagen die Fersenfassung, die Längswölbungsstütze und die Querwölbungsstütze. Bei ¾-langen Einlagen kommt noch die Metatarsalbettung hinzu, bei langsohligen Einlagen die Zehenbettung (󳶳Abb. 5.3 (a)). Je nach gewünschter Funktion, können diese Elemente unterschiedlich gestaltet werden. Die Basiseinlage kann über Zusätze wie punktuelle Weichbettungen (z. B. Fersensporn), Randerhöhungen (z. B. Supinationskeil) oder teilweise Versteifungen (z. B. Rigidusfeder) den individuellen Erfordernissen angepasst werden. Allen hier vorgestellten Einlagentypen ist gemeinsam, dass von einer ausschließlich passiven Wirkung ausgegangen wird. In neuerer Zeit drängen unter Bezeichnungen wie sensomotorische oder propriozeptive Einlagen auch Versorgungsansätze in die Therapie, die sich der klassischen Einteilung nicht eindeutig zuordnen lassen. Zwar ist auch bei ihnen von einer passiven stützenden Wirkung auszugehen, jedoch wird über die sensorische Wahrnehmung dieser Einlagen eine Veränderung der motorischen Antwort postuliert. Dadurch soll es auch möglich sein, motorische Ungleichgewichte zu korrigieren. Der wissenschaftliche Nachweis eines Vorteils dieser Versorgungen ist nicht eindeutig, trotzdem werden sie häufig bei Kindern mit gestörter Bewegungskoordination verordnet. Bei 󳶳 sensomotorischen Einlagen werden nur knöcherne Strukturen angestützt und Muskelbäu­ che komplett freigelassen. Der dadurch veränderte Abstand vom Ursprung zum Ansatz eines Mus­ kels soll bei Verlängerung den Muskeltonus reduzieren und bei Verkürzung den Muskeltonus stei­ gern. Diese Einlagen werden aus flexiblem Material gefertigt, um Bewegungen des komplexen Ge­ lenksystems Fuß nicht zu behindern (󳶳 Abb. 5.3 (b)).

5 Orthesen, Schienen und Bandagen | 291

Noch einen Schritt weiter gehen die sog. Statikeinlagen. Diese gehen zurück auf den französischen Neurologen René Jaques Bourdiol, der die Beeinflussung der Muskelketten vom Fuß bis hinauf zu den Kiefergelenken über minimale Veränderungen der Fußstellung erkannt und in seinem Buch „Pied et statique“ veröffentlicht hat [Bourdiol 1980]. Trotz teilweise sofortiger subjektiver Wirkung dieser Einlagen konnte bislang kein wissenschaftlicher Nachweis objektivierbarer Veränderungen der Statik erbracht werden. Bei Statikeinlagen steht nicht in erster Linie die Fußstellung im Vordergrund, sondern vielmehr werden über wenigen Millimeter hohe Plättchen unter definierten knöchernen Regionen der Fuß­ sohle muskulär bedingte Fehlhaltungen in der darauf aufbauenden Muskelkette gelöst und damit die gesamte Körperstatik harmonisiert (󳶳 Abb. 5.3 (c)).

Sprunggelenk-Fuß-Orthesen (AFO) Sprunggelenk-Fuß-Orthesen oder auch Unterschenkel-Orthesen bestehen in der Regel aus einem Fußformteil, einem Unterschenkelformteil und einer gelenkigen Verbindung zwischen diesen beiden. Als Materialien stehen für Bein-Orthesen generell Stahl-Leder-Konstruktionen, thermoplastische Kunststoffe oder Faserverbundwerkstoffe zur Verfügung. Für die Funktion ist die Positionierung der Anlageflächen in Verbindung mit der Gelenkkonstruktion entscheidend. Die verschiedenen Gelenkfunktionen sind im Folgenden dargestellt. 󳶳 Fußheber-Orthesen werden eingesetzt, wenn die Dorsalextensorengruppe am Sprunggelenk be­ einträchtigt ist. Über ein Federelement wird die Fußspitze in der Schwungphase angehoben, um genügend Bodenfreiheit beim Durchschwingen zu ermöglichen. Des Weiteren wird über die Feder die Plantarbewegung des Fußes zu Beginn der Standphase kontrolliert.

Weit verbreitet sind konfektionierte Polypropylenwinkel (󳶳Abb. 5.4) oder Carbonfeder-Konstruktionen, bei denen die Federwirkung über Materialverformung hervorgerufen wird. Der Nachteil dieser und ähnlicher Konstruktionen ohne anatomisch positionierte Drehachse ist die aus der Inkongruenz der Drehachsen entstehende Verschiebung der Orthese am Unterschenkel. Funktionell günstiger sind daher individuell hergestellte Konstruktionen mit körperkongruenter mechanischer Drehachse. Meist lässt sich bei diesen die Federwirkung an die individuellen Bedürfnisse besser anpassen (󳶳Kapitel 2.3.3). Nicht vergessen werden sollten in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten der funktionellen Elektrostimulation, die im 󳶳Kapitel 8.1.4 bzw. in 󳶳Band 1, Kapitel 14 ausführlicher behandelt werden. Neben orthetischen Gelenken zur Unterstützung der Dorsalextension gibt es diese auch zur Unterstützung der Plantarflexion. Eine solche Feder kontrolliert die Bewegung der Tibia über den feststehenden Fuß und ersetzt damit die Funktion der plantarflektierenden Muskulatur.

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Abb. 5.4: Fußheber-Orthese aus Polypropylen. Wie aus der Abbildung deutlich wird, kann die Anhe­ bung der Fußspitze über ein 3-Punkt-System nur in Verbindung mit dem Gegenhalt am Fußrücken durch den Schuh wirksam werden.

Die plantarflektierende Muskulatur bewirkt den aktiven Zehenabstoß am Ende der Standphase im physiologischen Gang (󳶳 Kapitel 2.3). Bei ihrem Ausfall kann diese Funktion durch eine energierück­ gebende Unterschenkel-Orthese (z. B. Carbonfeder) kompensiert werden, die bei Vorfußbelastung gespannt wird und sich beim Zehenabstoß in die Neutralposition zurückformt (󳶳 Abb. 5.5).

Abb. 5.5: Energierückgebende Unterschenkel-Orthese zur Demonstration der Verformbarkeit in einen Schraubstock eingespannt.

Neben der Möglichkeit, muskuläre Fehlfunktionen über Federn zu kompensieren, kann es auch nötig sein, ähnliche Effekte über Einschränkungen der Gelenksbeweglichkeit zu erzielen.

5 Orthesen, Schienen und Bandagen |

293

Ein Anschlag zur Begrenzung der Dorsalextension verhindert nicht nur die Bewegung der Tibia über den feststehenden Fuß, sondern bewirkt gleichzeitig eine Kniestreckung. Die Größe des kniesichern­ den Moments ist dabei im Wesentlichen abhängig vom Abstand der Bodenreaktionskraft zur Knied­ rehachse. Dieser Abstand wird beeinflusst durch die Länge des Vorfußhebels und den Winkel zwi­ schen Unterschenkel und Boden, in dem der Anschlag wirksam wird (󳶳 Abb. 5.6).

Abb. 5.6: Kniesichernde Unterschenkel-Orthese mit Anschlag zur Begrenzung der Dorsalextension. Grün: Vorfußhebel, der durch den Abrollpunkt definiert wird, mit dem dort entspringen­ den Vektor der Bodenreaktionskraft, die vor dem Knie verläuft. Rot: Unterschenkel-Boden-Winkel.

Da ein langer Vorfußhebel gleichzeitig das Abrollen behindert und ein zu großer Unterschen­ kel-Boden-Winkel zu einer Überstreckung im Knie führt, müssen die Position des Rollenscheitels un­ ter der Sohle und die Position des Anschlages genau aufeinander abgestimmt sein, um einen guten Kompromiss zwischen Stabilität (Kniesicherheit) und Mobilität (Abrollverhalten) zu gewährleisten. Ein Anschlag zur Begrenzung der Plantarflexion kommt überwiegend bei einer Spastik der Plan­ tarflexoren zum Einsatz, um die Spitzfußstellung zu verhindern. Da er bei Fersenauftritt ein knie­ beugendes Moment erzeugt, muss dieses eventuell durch eine entsprechende Zurichtung am Absatz kompensiert werden.

Eine große Untergruppe innerhalb der Sprunggelenk-Fuß-Orthesen stellen konfektionierte funktionelle Sprunggelenk-Orthesen zur Behandlung nach Außenbandverletzungen dar. Zum Erreichen der korrekten Funktion muss die Fersenbreite der Orthese der individuellen Fersenbeinbreite angepasst werden. 󳶳 Sprunggelenk-Orthesen werden nach Rupturen oder Teilrupturen der Außenbänder am Sprung­ gelenk eingesetzt und dienen der Vermeidung der Supination. Meistens werden hierfür U-förmige Orthesen eingesetzt, die das Sprunggelenk zwischen zwei anatomischen Schalen medial und la­ teral stabilisieren (󳶳 Abb. 5.7).

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Abb. 5.7: 3-Punkt-System zur Verhinderung der Supination in einer Sprunggelenks-Orthese.

Knie-Orthesen (KO) Knieorthesen, die nur das Kniegelenk sowie Teile des Unterschenkels und Teile des Oberschenkels umschließen, finden ihren Einsatz entweder postoperativ zur Ruhigstellung oder im rehabilitativen/therapeutischen Bereich zur Sicherung des Operationsergebnisses. Ein weiteres Anwendungsfeld ist die Korrektur von Achsabweichungen und der daraus resultierenden Entlastung einzelner Gelenkanteile. Eine grundsätzliche Herausforderung stellt bei Knie-Orthesen die lagestabile Positionierung der Orthese am Bein dar. Durch die grundsätzlich eher konische Beinform neigen die Orthesen dazu, am Bein nach distal zu rutschen. Hier müssen knöcherne oder weichteilige Hinterschneidungen der Beinform (Formschluss) genutzt werden, um die Orthese am Bein zu positionieren. 󳶳 Funktionelle Knie-Orthesen werden mit Beginn der funktionellen Übungsbehandlung einge­ setzt, wenn die Orthese das Knie nicht mehr ruhigstellen, sondern innerhalb eines sicheren Be­ wegungsumfangs führen soll. Dieser kann mit fortschreitender Behandlungsdauer weiter freige­ geben werden.

Wichtigste Indikation für funktionelle Knie-Orthesen sind Kreuzbandverletzungen, teilweise kombi­ niert mit Seitenband- und Meniskusschäden (unhappy triad, dt. unglückliche Triade). Eine Verletzung des vorderen Kreuzbandes führt zu einer Translationsbewegung der Tibia im Verhältnis zum Femur nach vorne (vordere Schublade, 󳶳 Abb. 5.8 (b)). Die Orthese muss also zum einen das Schieben der Tibia nach vorne, als auch das Schieben des Femurs nach hinten verhindern. Daraus ergibt sich, dass ein 3-Punkt-System gegen das nach vorne Schieben der Tibia und ein 3-Punkt-System gegen das nach hinten Schieben des Femurs benötigt wird. Da von diesen zwei 3-Punkt-System je zwei Anlagen ge­ meinsam genutzt werden können, ergibt sich im Gesamtbild ein 4-Punkt-System. Die Verletzung des hinteren Kreuzbandes hat den gegenteiligen Effekt und muss dementsprechend entgegengesetzt ver­ sorgt werden. Für diesen Einsatzbereich werden überwiegend konfektionierte Orthesen eingesetzt.

5 Orthesen, Schienen und Bandagen |

(a)

(b)

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(c)

Abb. 5.8: Funktionelle Knie-Orthese. (a) 4-Punkt-System zur Verhinderung der vorderen Schublade in Rot und der hinteren Schublade in Grün,(b) schematische Darstellung der hinteren (links) und vorderen (rechts) Schublade nach Riss des jeweiligen Kreuzbandes, (c) Doppelzahnsegmentgelenk einer Knie-Orthese.

Die meisten Produkte enthalten die nötigen Anlageflächen für verschiedene Verletzungsmuster. So sind in der Regel 4-Punkt-Systeme sowohl gegen die vordere, als auch gegen die hintere Schublade verwirklicht (󳶳Abb. 5.8 (a)). Um den individuell wandernden Momentanpol (Rastpolbahn, 󳶳Kapitel 2.1.3) entsprechend der Kniegelenkskinematik (󳶳Kapitel 2.1.3) auch über große Beugewinkel mit der standardisierten orthetischen Kniekonstruktion realisieren zu können, kommen bei den funktionellen Knie-Orthesen meist mehrachsige Gelenkkonstruktionen zum Einsatz. Derzeit ist das polyzentrische Doppelzahnsegmentgelenk (󳶳Abb. 5.8 (c)) eine gute Kompromisslösung. Es kompensiert die anatomisch bedingte Verschiebung der Orthese zwischen Streckung und Beugung, weil der Drehpunkt in der Sagittalebene unter Beugung nach vorne wandert (Roll-Gleiten). Die verbleibenden Differenzen zwischen der Knie- und Orthesengelenkkinematik werden durch Weichgewebeverschiebungen ausgeglichen. Versorgungen für ambitionierte Sportler, die nach Abschluss der Rehabilitationsphase eine erneute Verletzung vermeiden wollen, werden meist individuell hergestellt. Bei 󳶳 entlastenden Knie-Orthesen basiert die entlastende Wirkung auf der Korrektur der Beinach­ se in der Frontalebene (Varus-/Valgusfehlstellung). Die Normalisierung der Beinachse führt zu ei­ nem verkürzten Abstand des Belastungsvektors zum Drehzentrum des Knies und somit zu einer Reduktion des entstehenden Momentes. Selbst geringe Veränderungen genügen häufig für eine signifikante Schmerzreduktion (󳶳 Abb. 5.9).

Bei der Konstruktion entlastender Knie-Orthesen ist auf lange Hebelarme zur Kraftreduktion und große Anlageflächen zur Druckreduktion zu achten.

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Abb. 5.9: 3-Punkt-System einer entlastenden Knie-Orthese mit Normalisierung der Belastungslinie (rot).

Ganzbein-Orthesen (KAFO) 󳶳 Ganzbein-Orthesen wirken als Knie-Knöchel-Fuß-Orthese (KAFO) über Knie, Sprunggelenk und Fuß.

Hauptindikation für Ganzbeinorthesen sind Lähmungszustände in der muskulären Extensorenkette des Beines, aber auch ausgeprägte Deformitäten oder Dysmelien können eine externe Stabilisierung eventuell mit integriertem Längenausgleich notwendig machen. Diese Knie-Knöchel-Fuß-Orthesen (KAFO) bestehen aus einem Fuß-, einem Unterschenkel- und einem Oberschenkelformteil. Die einzelnen Teile sind gelenkig miteinander verbunden. Die Funktion der Orthese ergibt sich aus der Positionierung der Anlageflächen und den Bewegungsmöglichkeiten in den orthetischen Gelenken. Für das Kniegelenk gibt es im Wesentlichen vier verschiedene Konstruktionsmöglichkeiten (󳶳Abb. 5.10). Freibewegliche Kniegelenke (󳶳 Abb. 5.10 (a)) besitzen einen Extensionsanschlag, wie er auch am anatomischen Gelenk vorhanden ist. Dieser Gelenktyp hat keinen Einfluss auf die muskuläre Si­ cherung des Kniegelenks. Es findet seinen Einsatz somit bei Achsabweichungen in der Frontalebe­ ne (Varus/Valgus) oder zur Vermeidung einer Überstreckung im Kniegelenk.

Das 3-Punkt-System zur Vermeidung einer Überstreckung im Kniegelenk besteht aus gelenksnahen hinteren Anlageflächen und vorderen Gegenlagern am proximalen Oberschenkel und am distalen Unterschenkel. Die Herausforderung bei diesen Orthesen besteht darin, mit den hinteren Anlageflächen möglichst nah an das Gelenk

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(a)

(b)

(c)

(d)

Abb. 5.10: Übersicht Kniegelenkkonstruktionen. (a) freibeweglich, (b) rückverlagert, (c) gesperrt und (d) standphasengesperrt.

heranzureichen, jedoch trotzdem den Weichteilen bei Beugung des Knies genügend Freiraum zu geben. Rückverlagerte Kniegelenke (󳶳 Abb. 5.10 (b)) werden inkongruent hinter die anatomische Dreh­ achse gesetzt. Dadurch liegt der Belastungsvektor in der Standphase über einen längeren Zeit­ raum vor der Drehachse und erhöht damit die Kniesicherheit bei Schwäche der kniestreckenden Muskulatur.

Die Inkongruenz der Drehachse führt weiterhin zu erheblichen Zwangskräften bzw. Relativbewegungen zwischen Orthese und Bein sowie unter Beugung zu einer Druckerhöhung im Bereich der Kniekehlen. Dadurch verringert sich zum einen der mögliche Beugewinkel, zum anderen kann es bei lang andauernder, starker Beugung zu Störungen der Blutzirkulation kommen. Gesperrte Kniegelenke (󳶳 Abb. 5.10 (c)) werden eingesetzt, wenn bei Lähmungszuständen über den Dorsalextensionsanschlag im Knöchelgelenk oder durch Rückverlagerung der mechanischen Kniedrehachse keine ausreichende Kniesicherheit generiert werden kann. Die Sperre kann zum Hinsetzen von Hand gelöst werden und rastet beim Aufstehen selbsttätig wieder ein.

Der Vorteil eines gesperrten Kniegelenks liegt in der maximalen Standsicherheit. Nachteilig wirkt sich jedoch die fehlende funktionelle Verkürzung des Beines durch fehlende Kniebeugung in der Schwungphase aus. Daher muss das gesperrte Bein mit verschiedenen Ausgleichsmechanismen stärker angehoben werden, um ein freies Durchschwingen zu ermöglichen. Die Folgen sind auffällige, unphysiologische Gangmuster mit stark erhöhtem Energieaufwand und erheblichen Spätfolgen für die kontralaterale Seite (󳶳Kapitel 2.3.3).

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Bei standphasengesperrten Kniegelenken wird das Kniegelenk über mechanische oder elektroni­ sche Steuerungsmechanismen nur für die Standphase gesperrt und für die Schwungphase selbst­ tätig entriegelt. Es kombiniert somit die Sicherheit in der Standphase mit der funktionellen Ver­ kürzung in der Schwungphase.

Die zuverlässige Funktion dieser Gelenke ist von vielen Patientenparametern abhängig und somit nicht für jeden Orthesennutzer einsetzbar. So sind beispielsweise größere Achsabweichungen oder eine benötigte Entlastung der knöchernen Strukturen Kontraindikationen, weil die stärkere Krafteinleitung in die Orthesengelenke die reibungslose Funktion beeinträchtigen kann. Auf elektronische Steuerungsmechanismen wird in 󳶳Kapitel 5.2.5 näher eingegangen. Bei 󳶳 entlastenden Ganzbein-Orthesen wird das Körpergewicht in ein Oberschenkelformteil mit Anstützung am Sitzbein (Tuber os ischii) eingeleitet und über die Schienenkonstruktion übertra­ gen. Dadurch können alle Strukturen des Beines vom Fuß bis zur Hüftgelenkspfanne entlastet wer­ den. Eine komplette Entlastung ist jedoch nicht möglich, da die inneren Kräfte (Muskelzüge und Kapsel-Bandapparat) nicht inaktiviert werden (󳶳 Kapitel 2.1.5).

Die Entlastung über eine Tuberbank erfordert in der Regel ein gesperrtes Kniegelenk, da sich die Krafteinleitung in die Orthese nach dorsal verlagert. Dadurch verlagert sich der Belastungsvektor hinter die Drehachse des Knies und es entsteht ein beugendes Moment (󳶳Abb. 5.11).

Abb. 5.11: Versorgungsbeispiel einer individuell gefertigten Ganzbein-Orthese (KAFO) mit hohem Längenausgleich (Prothesenfuß), gesperrtem Kniegelenk und entlastendem Tuberaufsitz.

5 Orthesen, Schienen und Bandagen |

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Hüft-Orthesen (HO) Hüft-Orthesen (HO) begrenzen die Hüftgelenksbeweglichkeit und bestehen aus einem Körperform­ teil im Rumpfbereich und einer Oberschenkelfassung, die gelenkig miteinander verbunden sind.

Die beiden großen Versorgungsbereiche sind angeborene Hüftreifungsstörungen und arthrotische Zustände mit endoprothetischem Gelenkersatz. Bei 󳶳 korrigierenden Hüft-Orthesen werden die Hüftgelenke im Säuglingsalter in Flexion und Ab­ duktion eingestellt, um eine möglichst große Überdachung des Hüftkopfes bei der weiteren Aus­ reifung des Gelenks zu erzielen. Hierdurch soll eine (Fehlstellung des Hüftgelenks, bei der sich der Gelenkkopf außerhalb der Gelenkspfanne befindet) verhindert werden.

Die Flexion wird in der Regel zwischen einem Schulterhalfter und kniegelenksnahen Oberschenkelfassungen eingestellt. Die Abduktion erfolgt durch einen einstellbaren Spreizsteg zwischen den Oberschenkelfassungen (󳶳Abb. 5.12).

Abb. 5.12: Tübinger Hüftbeugeschiene (Fa. Ottobock).

Im fortgeschrittenen Alter, wenn die Kinder bereits zu krabbeln beginnen, kommt eventuell eine reine Spreizorthese ohne Flexionseinstellung zum Einsatz. Ebenso werden bei einer Adduktorenspastik oder auch bei Morbus Perthes (eine im Kindesalter auftretende Nekrose des Oberschenkelkopfes) reine Abduktionsorthesen verwendet. 󳶳 Stabilisierende Hüft-Orthesen werden genutzt, um nach Einsatz einer Hüftendoprothese eine Entlastung zu erreichen und eine Luxation der Prothese zu verhindern. Zu diesem Zweck werden Flexion und Adduktion eingeschränkt.

Die Herausforderung bei diesen Versorgungen besteht darin, die konfektionierten Orthesen so exakt an den Körper anzupassen, dass die unerwünschten Bewegungen zuverlässig eingeschränkt werden und nicht doch über Weichteilverschiebungen möglich bleiben.

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Hüftübergreifende Ganzbein-Orthesen (HKAFO) Zu den hüftübergreifenden Ganzbein-Orthesen gehören die Hüft-Knie-Knöchel-FußOrthesen (HKAFO). Sie bestehen meist aus zwei beidseitigen Ganzbein-Orthesen, die über einen Beckenkorb miteinander verbunden sind. Sie werden zur Mobilisierung genutzt, wenn die muskuläre Steuerung der unteren Extremität nicht vorhanden ist. Bei den Patienten stellt in der Regel der Rollstuhl die Alltagsversorgung dar, während die Orthese ergänzend als Therapiehilfsmittel genutzt wird.

(a)

(b)

(c)

(d)

Abb. 5.13: Reziproke Gehorthese im Überblick und in konstruktiven Details. Zu beachten ist, wie die schräg stehende Bewegungsachse eine physiologische Fußstellung bei gedrehter Beckenfassung ermöglicht. (a) frontale Gesamtansicht, (b) dorsale Verbindung der Gelenkmechanik, (c) Detailan­ sicht eines Hüftgelenks, (d) horizontale Ansicht von oben.

Bei 󳶳 reziproken Gehorthesen ist die Bewegung der Spielbeinseite meist über einen zweiseitigen Hebel (Wippe) mit der Bewegung der Spielbeinseite gekoppelt. Verlagert der Patient sein Kör­ pergewicht zur Seite, wird das Spielbein frei. Bringt er gleichzeitig den Oberkörper nach hinten, kommt standbeinseitig die Hüfte in Extension und die Spielbeinseite wird automatisch in Flexion geführt (󳶳 Abb. 5.13).

Komplexere Konstruktionen beinhalten eine horizontal stehende Sitzachse, die gesperrt ist und nur zum Sitzen freigegeben wird, während die Bewegungsachse schräg verläuft und dadurch eine physiologische Innenrotation des hinteren Beines und eine Außenrotation des vorderen Beines zur Schrittverlängerung bewirkt. Die Nutzung von reziproken Gehorthesen ist nur mit Unterstützung durch Gehhilfen möglich.

5.2.3 Arm-Orthesen Insbesondere im Bereich der Hand und der Finger, aber auch an Ellenbogen und Schulter werden Orthesen häufig in Zusammenhang mit Sehnenverletzungen und den entsprechenden Sehnennähten eingesetzt. Da Sehnen aus bradytrophem Gewebe ohne eigene Kapillargefäße bestehen, müssen diese in ihren Sehnenscheiden und –gleitgeweben (Paratenon) bewegt werden, um eine ausreichende Versorgung mit

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Nährstoffen zu erreichen. Nach Verletzungen dürfen Bewegungen jedoch nur dosiert erfolgen, damit z. B. genähte Sehnen nicht erneut reißen. Federn oder elastische Züge speichern bei der zulässigen aktiven Bewegung Energie, die sie zur Ausführung einer passiven Rückbewegung wieder freisetzen.

Beispielsweise erhalten Orthesen nach Strecksehnennaht Federn oder Gummizüge, welche die Finger in Streckung ziehen, ohne dass die extendieren Muskeln arbeiten müssen und Zugkräfte an der Naht erzeugen. Die Beuger sind hingegen aktiv und bewegen die Strecksehen passiv im Gleitgewebe. Die bei der aktiven Beugung gespannten Gummizüge bringen die Finger ohne Muskelanspannung wieder in die Streckung.

Das gleiche Prinzip wird auf der Beugeseite angewandt. Zur Herstellung einer solchen Orthese muss also die Funktionsrichtung genannt werden (dynamische Beuge- oder Streckorthese). Diese Orthesen dürfen nicht in der Nacht getragen werden, weil es durch Verrutschen zu einem unkontrollierten Zug kommen könnte. Außerdem müssen die Schlaufen der Züge immer 90 Grad zur Fingergliedachse verlaufen, da sonst die Druckbelastung im Gelenk zunehmen würde (󳶳Abb. 5.14).

a c

b

Abb. 5.14: ungünstige Verteilung der Kräfte am dynami­ schen Zug einer Orthese (durch schrägen Zug belastet die Teilkraft a das Fingergelenk) [Malick 1978].

Im Bereich der oberen Extremitäten werden Orthesen heute auch häufig zur Quengelung, dem passives Mobilisieren einer Gelenkkontraktur, eingesetzt. Man spricht von dynamischen Quengelorthesen. Ziel ist das leichte, aber lang andauernde Erreichen der Kontrakturgrenze, um so die verkürzten Weichteile zu dehnen. Ähnlich wie Schienen, wirken Quengelorthesen daher einer Kontraktur des Weichgewebes entgegen. Eine ausführliche Beschreibung des Prinzips der Quengelung einschließlich der üblichen Hilfmittel findet sich in 󳶳Kapitel 5.4.

Armschienen oder Immobilisierende Orthesen der oberen Extremität Immobilisierende Arm-Orthesen stehen für fast alle Gelenke der oberen Extremität zur Verfügung. Sie dienen wie auch die immobilisierenden Bein-Orthesen hauptsächlich der temporären Ruhigstellung. Die Fingerschiene nach Stack, auch Maikäferschie-

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(b)

(a)

(c)

Abb. 5.15: Immobilisierende Finger-Orthesen. (a) Prinzip der Finger-Streckschiene (Pseudonyme sind Maikäferschiene, Froschklemme), (b) Finger-Streckschiene der Fa. MIKROS, (c) Finger-Flexions­ orthese (MURPHY-Ringe, hier ein individuelles Beispiel der Fa. Luttermann).

ne oder Froschklemme genannt, ist ein klassischer Vertreter der Fingerschiene. Dabei wird das Fingerendglied überstreckt und so die Sehnenspannung reduziert bzw. die Frakturenden angenähert (󳶳Abb. 5.15 (a) und (b)). Die als Murphy-Ringe bekannten immobilisierenden Finger-Flexionsorthesen bestehen aus 2 Ringen, die an einer Stelle miteinander verbunden sind (󳶳Abb. 5.15 (c)). Je weiter sie gespreizt werden, desto größer wird die Beugung im Gelenk. Immobilisierende Hand-Orthesen beziehen die Mittelhandknochen und die MCPGelenke (Metacarpophalangealgelenke: Fingergrundgelenke) mit ein, lassen aber das Handgelenk frei. So werden diese Orthesen auch als kurze Hand-Orthesen bezeichnet. 󳶳 Kurze Hand-Orthesen wirken auf die Mittelhandknochen und die Fingergrundgelenke. Sie lassen in der Regel eine Bewegung im Handgelenk zu.

Abb. 5.16: Statische Daumen-Orthese aus Silikon (Fa. ORTHOVITAL).

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Ein typisches Beispiel sind Daumen-Orthesen, die aus einem Niedrigtemperaturthermoplast hergestellt werden, das zwischen 60 und 80 °C thermoplastisch anformbar ist. Immobilisierende Konstruktionen können auch aus HD-(high desity)-Materialien, LD-(low density)-Materialien (Polyethylen oder Polypropylen), Faserverbundwerkstoffen oder Silikon unterschiedlicher Shore-Härten (󳶳Abb. 5.16) hergestellt werden. Statische Unterarm-Orthesen (WHO, Handgelenk-Hand-Orthese) reichen von den Mittelhandknochen über das Handgelenk bis zum Unterarm und beeinflussen so hauptsächlich das Handgelenk. Sie dienen auch als Basis für vielfältige Aufbauten dynamischer Komponenten, welche die Finger beeinflussen können. So werden Unterarm-Orthesen auch als lange Hand-Orthesen bezeichnet. Grundsätzlich gilt es, nicht betroffene Gelenke auch nicht in ihrer Bewegung einzuschränken. 󳶳Abbildung 5.17 (b) zeigt ein Beispiel einer statischen Unterarm-Orthese ohne Einbettung der Finger. Im Vergleich dazu zeigt 󳶳Abbildung 5.17 (a) ein Beispiel einer statischen Unterarm-Orthese mit gleichzeitiger Ruhigstellung des Daumens und 󳶳Abbildung 5.17 (c) eine Lagerungsorthese mit Einbettung der Finger. Sie wird nach Verletzungen, bei denen die Hand ruhig gestellt werden muss oder zur Lagerung von teilweise spastischen Händen eingesetzt (z. B. bei Hemiplegie: vollständige Lähmung einer Muskelgruppe oder der Extremitäten einer Körperseite).

(a)

(b)

(c) Abb. 5.17: Unterarm-Orthesen. (a) Lange Handorthese mit Ruhigstellung des Daumens, (b) Lange Hand-Orthese ohne Ruhigstellung der Finger. Beide Produkte der Fa. neaTec, (c) Lagerungsorthese in der Intrinsic-plus-Stellung (Fertigorthese der Fa. MARAMED PRECISION CORPORATION).

Immobilisierende Orthesen für Ellenbogengelenk und Schulter müssen immer über mehrere Gelenke angreifen (󳶳Abb. 5.18). Die Ursache hierfür liegt in den gekoppelten rotatorischen Freiheitsgraden der Gelenke (󳶳Kapitel 2.1.3). So kann die

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Pronation/Supination des Ellenbogens nur dann verhindert werden, wenn die Hand mitgefasst wird. Eine Innen-/Außenrotation der Schulter wird durch eine Fixierung des Unterarms verhindert (󳶳Abb. 5.18).

(a)

(b)

Abb. 5.18: Immobilisationsorthesen. (a) Immobilisationsorthese der Fa. Omnimed zur Immobilisa­ tion des Ellenbogens, (b) Immobilisationsorthese für die Schulter in 30°oder 45°Abduktion der Fa. medi.

Finger-Orthesen (FO) Isolierte fixierende Finger-Orthesen gibt es nur wenige. Es überwiegen die dynamischen Hilfsmittel, weil die Restfunktion möglichst wenig gestört werden sollte. Zu ihnen gehören Finger-Extensionsorthesen sowie Finger- Flexionsorthesen. Dynamische Finger-Extensionsorthesen sind indiziert bei Polyarthritis (Entzündung von fünf oder mehr Gelenken), Knopfloch-Deformität (Fingerfehlstellung mit Beugung der proximalen Interphalangealgelenke (PIPs) bei gleichzeitiger Streckung der distalen Interphalangealgelenke (DIPs), Interphalangealgelenk: Fingergelenk) sowie Sehnennaht der Extensoren. 󳶳Abbildung 5.19 zeigt das Beispiel einer dynamischen Fingermittelgelenks-Orthese (PIP-Orthese). Die PIP-Extensionsorthese besteht aus gepolstertem Federdraht und drückt das Fingermittelgelenk (PIP) elastisch von der gebeugten Haltung in die maximale Streckung. Durch die federnde Wirkung bleibt die Möglichkeit der Fingerbeugung bestehen.

Abb. 5.19: Extensionsorthesen: Dynamische PIP-Extensi­ onsorthese (Fa. Ruck).

5 Orthesen, Schienen und Bandagen | 305

󳶳 Finger-Extensionsorthesen bringen die Fingergelenke (die nur über einen rotatorischen Frei­ heitsgrad verfügen) in die gestreckte Stellung.

Dynamische Finger-Flexionsorthesen haben ihre Indikation bei einer dauerhaften Extensionsstellung der Fingergelenke, wie sie bei Polyarthrits, Schwanenhals-Deformität oder nach Sehnennaht der Flexoren vorkommt. 󳶳 Finger-Flexionsorthesen bringen die Fingergelenke in die gebeugte Stellung.

Zur Anwendung kommen dynamische (also federnde) Beugeorthesen, die wie die dynamischen PIP-Extensionsorthesen aus gepolstertem Federdraht bestehen und die PIP-Gelenke in eine gebeugte Haltung drücken.

Hand-Orthesen (HO, Hand-Orthosis) Unter einer Hand-Orthese (HO) versteht man eine Orthese, die Bewegungen der Gelenke der Hand nicht aber des Handgelenks einschränkt.

Es gibt nur sehr wenige kurze dynamische Hand-Orthesen. Die meisten Konstruktionen benötigen eine Unterarmschale, und werden dann als „lange Ausführung“ gemäß der internationalen Einteilung als WHO – wrist-hand orthosis – bezeichnet. Unter einer 󳶳 MCP-Orthese versteht man eine Orthese, die auf das Fingergrundgelenk (Metacar­ pophalangealgelenk, MCP) wirkt und dessen Bewegung hemmt.

(a)

(a)

Abb. 5.20: Dynamische MCP-Orthese. (a) Handaußenfläche mit Essener Arbeitsschiene der Fa. Lut­ termann und (b) deren Anwendung bei täglichen Arbeiten.

Einsatz finden MCP-Orthesen (󳶳Abb. 5.20) beispielsweise als Beugeorthese nach Bunnell beim Sudeck-Syndrom (komplexes regionales Schmerzsyndrom, chro-

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nische neurologische Erkrankung nach einer Weichteil- oder Nervenverletzung), postoperativ nach Arthroplastiken der MCP-Gelenke (gelenkchirurgischer Eingriff), aber auch bei einer Ulnarislähmung (Schädigung des Nervus ulnaris). Als DaumenFlexionsorthese kann die Orthese in einer dynamischen Version hergestellt werden. Die Basis der Orthese bildet die Mittelhand-Spange oder –Manschette, an der ein Zug befestigt wird.

Unterarm-Hand-Orthesen (WHO) 󳶳 Unterarm-Hand-Orthesen übergreifen das Handgelenk und sind somit sowohl mit der Hand wie auch mit dem Unterarm verbunden. Sie können entweder nur die Finger beeinflussen und das Handgelenk ruhigstellen oder das Handgelenk als zentrales Gelenk behandeln und die Finger frei lassen.

(a)

(b)

(c)

Abb. 5.21: Unteram-Hand-Orthesen zur zentralen Behandlung des Handgelenks. (a) Unteram-HandOrthese der Fa. neaTec, (b) Unteram-Hand-Orthese der Fa. UNIPROX als Kombinationsschiene, die Beugung und Streckung beeinflusst. (c) Die gleiche Orthese wie in (b), dieses Mal in Flexionsstel­ lung nach Kleinert.

󳶳Abbildung 5.21 (a) zeigt ein Beispiel einer Unterarm-Hand-Orthese der Firma neaTec zur zentralen Behandlung des Handgelenks. Die Handorthese mit Gelenk ist aus Polyethylen gefertigt. Sie erlaubt eine limitierte Bewegung des Handgelenks zwischen 0 und 35 Grad Flexion und Extension, kann aber auch in allen Handgelenkspositionen statisch fixiert werden. 󳶳Abbildung 5.21 (b) zeigt die dynamische Hand-Orthese DAHO 3.1 der Firma Uniprox, die die Finger- und Handgelenksbewegung beeinflusst. Die Fingergelenke werden passiv durch einstellbare Gummizüge flektiert. Die Streckung erfolgt aktiv gegen den Widerstand der Gummizüge. Dabei ist eine individuelle Einstellung des gewünschten Bewegungsspielraums von Fingern und Handgelenk möglich. Die DAHO 3.1 wird zur konservativen und postoperativen Behandlung von Beugesehnenverletzungen eingesetzt.

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Ellenbogen-Orthesen (EO) und Ellenbogen-Hand-Orthesen (EWHO) Ellenbogen-Orthesen (EO) sowie Ellenbogen-Hand-Orthesen (EWHO) finden ihren Einsatz als Quengelorthese [Hohmann 2005] zur Kontrakturbehebung sowie zur Dehnung und Stabilisierung nach Fraktur, Verrenkung, Muskelverletzung oder Verstauchung. 󳶳 Ellenbogen-Orthesen (EO) wirken nur auf das Ellenbogengelenk, stabilisieren dieses und schränken den Bewegungsraum in der Flexions-/Extensionsachse ein. Aufgrund der Anato­ mie des Ellenbogengelenks ist dabei zu beachten, dass eine Bewegung um die Pronati­ ons-/Supinationsachse mit dieser Orthese nicht ausgeschlossen werden kann.

󳶳Abbildung 5.22 zeigt das Beispiel der Ellenbogen-Hand-Orthese Epico ROM s (Fa. medi). Die Epico ROM s unterbindet die Pronation/Supination im Ellenbogen, indem sie eine starre Verbindung über das Handgelenk hinweg aufbaut. Indikation der Epico ROM s ist die konservative Versorgung von Ellenbogeninstabilitäten mit/ohne Begleitverletzung, die orthetische Versorgung bei medialen oder lateralen Epicondylen-Frakturen (Epicondylus: Knochenvorsprung in der unmittelbaren Nähe des Gelenkkopfes) und zur postoperativen Versorgung nach Gelenkprothesenimplantation.

Abb. 5.22: Ellenbogen-Hand-Orthese Epico ROMs der Fa. medi.

󳶳 Ellenbogen-Hand-Orthesen (EWHO) wirken primär auf das Ellenbogengelenk, beziehen aber das Handgelenk mit ein. Sie stabilisieren und begrenzen den Bewegungsraum um die Flexi­ ons-/Extensionsachse und verhindern eine Pronations-/Supinationsbewegung durch eine starre Verbindung von Unterarm und Hand.

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Ein weiterer Indikationsbereich von Ellenbogen- bzw. Ellenbogen-Hand-Orthesen betrifft Lähmungen. So ist bei Lähmung (Parese) des Medianus-Nerv keine Pronation möglich und bei Verletzung des N. musculocutaneus ist die Supination eingeschränkt. In diesen Fällen schränken die Orthesen den Bewegungsumfang nicht ein, sondern unterstützen die Bewegung.

Bei einer Medianus-Lähmung ist die Pronation eingeschränkt. Beim Einsatz der Orthese nach Media­ nus-Lähmungen führt ein elastischer Stab die Hand in die Neutralstellung zurück. Die nicht gelähmte Muskulatur kann die Supination ausführen und die Orthese übernimmt die Pronation. Bei Verletzung des N. musculocutaneus ist die Supination eingeschränkt und die Orthese wirkt in diese Richtung.

Schulter-Orthesen (SO und SEO) Schulter-Orthesen (SO) führen und sichern die Bewegung der Schulter. Dieses geschieht häufig in Kombination mit einer Begrenzung der Bewegung im Ellenbogengelenk (Schulter-EllenbogenOrthesen – SEO).

Bei den Schulter-Orthesen ist die Palette an Versorgungsmöglichkeiten kleiner als bei den Finger- und Hand-Orthesen. Aufgrund ihrer Freiheitsgrade ist die orthetische Versorgung der Schulter schwierig. 󳶳Abbildung 5.23 (a) zeigt das Beispiel einer Arm-Abduktionsorthese der Firma Ottobock. Sie wird zur Behandlung von postoperativen und posttraumatischen Zuständen der Schulter-Arm-Region, z. B. Rotatorenplastik, reponierte Luxationen und supcapitale Humerus-Frakturen genutzt. Die Orthese bewirkt eine funktionelle Lagerung der Schulter in Abduktionsstellung (󳶳Abb. 5.23 (a)) wobei die Abduktionseinheit wahlweise statisch auf 30, 60 oder 90

(a)

(b)

Abb. 5.23: Schulter-Orthesen. (a) Orthese zur Arm-Abduktion (Fa. Ottobock), (b) ErixTwo-Schulter-Orthese zur Stabilisierung des Schultergelenks (Fa. neaTec).

5 Orthesen, Schienen und Bandagen | 309

Grad eingestellt werden kann. Sie führt damit zu einer Entlastung und Fixierung des Armes in Abduktionsstellung, wobie die Entlastung durch Abstützung am Becken erreicht wird. Die ErixTwo-Schulterorthese der Firma neaTec wurde zur Stabilisierung des Schultergelenks entwickelt (󳶳Abb. 5.23 (b)). Die Kombination aus stabilisierendem Material und halbelastischem Gurtsystem ermöglicht eine vordere und hintere Stabilisierung des Schultergelenks bis 90 Grad Armabduktion.

Ganzarm-Orthesen (SEWO und SEWHO) Ganzarm-Orthesen schließen als Schulter-Ellenbogen-Handgelenk-Orthese (SEWO) alle großen Gelenke der oberen Extremität mit ein. Eine vollständige Beeinflussung der Gelenke der oberen Extremität liefert die Schulter-Ellenbogen-Handgelenk-Hand-Orthese (SEWHO).

Ganzarm-Orthesen können bei multiplen Verletzungen oder Funktionseinschränkungen eingesetzt werden. Allerdings sollten so wenig benachbarte Gelenke wie möglich immobilisiert werden.

5.2.4 Wirbelsäulen-Rumpf-Orthesen Die große Vielfalt industriell vorgefertigter und individuell hergestellter RumpfOrthesen macht eine aussagekräftige Systematik erforderlich. In der Literatur findet sich eine Vielzahl von Klassifikationssystemen, die sich teilweise ergänzen bzw. überschneiden. Sie sind teils aus der praktischen Arbeit des Orthopädie-Mechaniker-Handwerks entstanden, teils beziehen sie sich auf medizinische oder historische Aspekte. Die Anwendung der international standardisierten Klassifikationen von Orthesen nach dem funktionellen Versorgungsziel gemäß ISO 8551 und dem Applikationsort gemäß ISO 8549-3 (󳶳Abb. 5.24) ermöglicht dagegen eine systematische Beschreibung von Rumpf-Orthesen bezüglich Ausführung und Funktion und erleichtern damit auch die Kommunikation im Versorgungsteam [Specht, 2008]. Bezogen auf die Wirbelsäule sind die in 󳶳Tabelle 5.7 zusammengefassten Wirkprinzipien nutzbar. Die intraabdominale Druckerhöhung wird bei der Mehrzahl der Orthesenversorgungen von Lenden- und Brustwirbelsäule eingesetzt. Über die zirkuläre Umfassung des Abdomens wird je nach Konstruktion eine dosierte Druckerhöhung in der Bauchhöhle erzielt [Kapandji 1985]. Durch die Abstützung des Zwerchfells auf der umschlossenen Bauchhöhle kommt es bei Inspiration zu einer kranial gerichteten Ausweichbewegung des Thorax, in deren Folge sich die Brustwirbelsäule (BWS) aufrichtet (󳶳Abb. 5.25 (a)). Zusätzlich wird der Körperschwerpunkt der Lendenwirbelsäule (LWS)

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C - Cervicalbereich

CO

T - Thoracalbereich CTLSO

TLSO L - Lumbalbereich

LO LSO

SI - Iliosakralbereich

SIO

Abb. 5.24: Nomenklatur der Wirbelsäulen-Orthesen entsprechend des Anwendungsortes nach ISO 8549-3. Tab. 5.7: Biomechanische Wirkprinzipien von Rumpf-Orthesen an der Wirbelsäule. Biomechanische Einwirkungsmöglichkeiten auf die Wirbelsäule – – – – –

intraabdominale Druckerhöhung Verlagerung des Körperschwerpunktes 3-Punkt-Wirkung in der Sagittalebene 3-Punkt-Wirkung in der Frontalebene Begrenzung der Rotation in der Horizontalebene

angenähert. Die Belastung auf Wirbel und Bandscheiben reduziert sich durch den verkürzten Lastarm und die geringere Kraft, welche die rückenaufrichtende Muskulatur zum Aufrechterhalten der Körperstatik aufbringen muss (󳶳Abb. 5.25 (b)) [White 1978]. 3-Punkt-Prinzipien werden eingesetzt, um Bewegung zu limitieren, Belastung umzuverteilen oder Einfluss auf Fehlstellungen zu nehmen. In der Sagittalebene bewirken sie wahlweise die Verstärkung oder die Reduzierung von Lendenlordose und Brustkyphose. Das lordosierende 3-Punkt-Prinzip bringt den Rumpf in die Hyperextension und entlastet so die Wirbelkörper von LWS und unterer BWS (󳶳Abb. 5.25 (c)). Das einfache entlordosierende 3-Punkt-Prinzip (󳶳Abb. 5.25 (d)) führt zu einer Entlastung der hinteren Wirbelanteile der LWS und zu einer kompensatorischen Aufrichtung der BWS. Zur effizienteren Aufrichtung der mittleren und oberen BWS und gezielten Entlastung der Wirbelkörper wird das überlagerte 3-Punkt-Prinzip angewendet (󳶳Abb. 5.25 (c)–(e)).

5 Orthesen, Schienen und Bandagen | 311

L1

L2

L2 L1

(a)

(b)

(c)

(d)

(e)

Abb. 5.25: Biomechanische Wirkprinzipien zur Limitierung der Bewegung, Umverteilung der Belas­ tung und Beeinflussung von Fehlstellungen. (a): intraabdominale Druckerhöhung, (b): Verlagerung des Körperschwerpunktes, (c): lordosierendes 3-Punkt-Prinzip, (d): einfaches 3-Punkt-Prinzip zur Entlordosierung, (e): überlagerte 3-Punkt Prinzipien zur Entlordosierung der BWS und Reklination der BWS.

Durch die Überlagerung von 3-Punkt-Prinzipien in der Frontalebene (󳶳Abb. 5.26 (a)) wird die Seitneigung des Rumpfes begrenzt. Einzeln angeordnet, können sie seitliche Verformungen der Wirbelsäule korrigieren (󳶳Abb. 5.26 (b)). Rotationsbewegungen werden eingeschränkt, indem das Becken als Basis sicher gefasst wird und die kranialen Wirbelsäulenabschnitte durch starre Konstruktionen dagegen gehalten werden (󳶳Abb. 5.26 (c)).

(a)

(b)

(c)

Abb. 5.26: 3-Punkt-Prinzipien in der Frontalebene und stabile Umfassung der einzelnen Wirbelsäu­ lenabschnitte. In der Transversalebene (a) Einschränkung der Seitneigung, (b) Korrektur seitlicher Abweichungen der Wirbelsäule, (c) Rotationseinschränkung.

312 | Catherine Disselhorst-Klug et al.

Becken-Orthesen (SIO) Zu den Becken-Orthesen oder Sakro-iliacal-Orthesen (SIO) gehören die im Hilfsmittelverzeichnis des GKV Spitzenverbandes unter der Produktgruppe 23.11 verzeichneten Hilfsmittel (󳶳Tab. 5.8). 󳶳 Becken-Orthesen oder Sakro-iliacal-Orthesen (SIO) stabilisieren den Beckenring und limitieren den Bewegungsumfang von Wirbelsäule, Iliosakralgelenk und Symphyse.

Stabilisierende Beckenorthesen (SIO) sind bei Beckeninstabilitäten wie z. B. Symphysen-Insuffizienz (Symphyse: Verbindung von zwei Knochen durch Faserknorpel), Symphysen-Sprengung oder Lockerung des Iliosakralgelenks (Kreuzbein-DarmbeinGelenk) indiziert. Der Beckenring wird dabei über zirkuläre, unelastische Gurte komprimiert, um den durch insuffiziente Bänder und Knorpelverbindungen unphysiologischen Bewegungsumfang zu limitieren (󳶳Abb. 5.27). Zur Behandlung von Lockerung oder Sprengung der Symphyse durch Stabilisierung der geschädigten Struktur ist die zusätzliche seitliche Fassung beider Trochanter durch Pelotten (Druckpolster) vorgesehen. Ist dagegen das Iliosakralgelenk ursächlich für die Beschwerden, sind Orthesen einzusetzen, die mit Pelotten für diesen Bereich ausgerüstet sind. Sie vergrößern dort die Auflagefläche der Orthese, üben eine leichte Massage auf die darunterliegende Muskulatur aus und sollen die Körperwahrnehmung verbessern. Tab. 5.8: Einteilung der Becken-Orthesen in der Produktgruppe 23 des Hilfsmittelverzeichnisses [HMV 2014]. Positionsnummer

Hilfsmittelverzeichnis Untergruppe

23.11.01. 23.11.30.

Becken-Orthesen zur Stabilisierung individuell angefertigte Becken-Ringorthesen zur Stabilisierung (SIO)

Abb. 5.27: Becken-Orthese der Fa. Bauerfeind zur Behandlung des Iliosakralgelenk-Syndroms, der Symphysenlockerung oder anderer Störungen des Bewegungsapparates im Beckenbereich.

5 Orthesen, Schienen und Bandagen |

313

Zervikal-Orthesen CO/CTO 󳶳 Zervikal-Orthesen (CO) wie auch Zerviko-Thorakal-Orthesen (CTO) dienen der Immobilisierung, Mobilisierung und Stabilisierung der Halswirbelsäule (HWS).

Zu den Zervikal-Orthesen gehören die in Produktgruppe 23.11 im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführten Hilfsmittel (󳶳Tab. 5.9). Ruhigstellung durch Bewegungslimitierung, Entlastung durch Extension und Umverteilung der Belastung durch Stellungsänderung sind die vorrangigen Versorgungsziele von Zervikal-Orthesen (CO). Im Gegensatz zu den übrigen Abschnitten der Wirbelsäule lässt sich die Halswirbelsäule (HWS) aufgrund der anatomischen und physiologischen Besonderheiten nicht durch zirkuläre Kompression stabilisieren. Vielmehr müssen die kaudal und kranial angrenzenden anatomischen Strukturen als Abstützregionen genutzt werden. Dabei dürfen die Orthesen die Beweglichkeit des Schultergürtels nicht einschränken und auch physiologische Aspekte, wie Atmung und Nahrungsaufnahme sowie individuelle anatomische Unterschiede, müssen berücksichtigt werden. Die Effizienz der verschiedenen COs ist abhängig von der Wahl des verwendeten Materials und vom Ausmaß der in der Orthesenversorgung eingeschlossenen Körperregionen. Anatomische Zervikalkragen aus Schaumstoff werden zur Stabilisierung bei akuten Schmerzzuständen durch degenerative Veränderungen oder nach Schleudertrauma eingesetzt. Sie sichern die Distanz zwischen Kopf und Schultergürtel (󳶳Abb. 5.28 (a)), insbesondere wenn sie zusätzlich mit Verstärkungen ausgerüstet sind oder über eine Kopf- und Brustbeinauflage verfügen. Bewegungslimitierung und Beschwerdelinderung werden durch die passive Stabilisierung und Wärmeentwicklung (Isolation) erreicht, basieren aber hauptsächlich auf einer Mahnfunktion bei bestehender Schmerzsymptomatik [Dvořák 1999]. Den mobilisierenden HWS-Orthesen werden anatomisch geformte Schaumstoffkragen mit Verstärkung zugeordnet, bei denen die immobilisierende Verstärkung im Therapieverlauf entfernt werden kann. Tab. 5.9: Einteilung der Zervikal-Orthesen in der Produktgruppe 23 des Hilfsmittelverzeichnisses [HMV 2014]. Positionsnummer

Hilfsmittelverzeichnis Untergruppe

23.12.01. 23.12.02. 23.12.03. 23.12.30.

HWS-Orthesen zur Immobilisierung HWS-Orthesen zur Mobilisierung HWS-Orthesen zur Stabilisierung individuell angefertigte HWS-Orthesen zur Immobilisierung, Fixierung, Korrektur der HWS (CO) bzw. (CTO)

314 | Catherine Disselhorst-Klug et al.

(a)

(b)

(c)

Abb. 5.28: Zervikal-Orthesen. (a) Schaumstoffkragen zur Stabilisierung, (b) immobilisierende CO, (c) immobilisierende CTO mit Rumpffixierung.

Instabilitäten im mittleren Bereich der Halswirbelsäule, wie sie bei entzündlichen Erkrankungen, nach Trauma oder prä- bzw. postoperativ auftreten können, werden meist mit vorgefertigten COs zur Immobilisation versorgt. Diese zirkulären Konstruktionen bestehen i. d. R. aus rigidem, gepolstertem Kunststoff mit anpassbaren Hinterhaupt- und Unterkieferauflagen im kranialen Bereich und kaudalen Abstützungsflächen auf Brustbein und Nacken (󳶳Abb. 5.28 (b)). Damit wird die Rotationssymmetrie der Orthese aufgehoben, was eine Aufnahme von Torsionsmomenten möglich macht (eine Kopfdrehung wird blockiert). Zur sicheren Fixierung von schweren Instabilitäten der gesamten HWS und zur Korrektur des muskulären Schiefhalses sind individuell hergestellte COs oder sogar CTOs mit Abstützregionen am Kopf und Rumpffixierung erforderlich (󳶳Abb. 5.28 (c)).

Thorakal-Orthesen (TO) 󳶳 Thorakal-Orthesen (TO), auch 󳶳 Brustwirbelsäulenorthesen genannt, unterstützen die Rumpf­ aufrichtung und entlasten die Brustwirbelsäule (BWS).

Thorakal-Orthesen gehören zur Produktgruppe 23.13 (󳶳Tab. 5.10). Thorakal-Orthesen (TO) sind indiziert bei Haltungsschwäche, habituellen Kyphosen und bei Brustbein- und Rippendeformitäten. Haltungsbedingte, flexible Hyperkyphosen können ergänzend zur Krankengymnastik mit sog. Geradehaltern versorgt werden. Aktuelle Geradehalter sind meist elastische oder teilelastische Orthesen mit Achselschlaufen und einer Rückenplatte, welche nach dem Rucksackprinzip die

5 Orthesen, Schienen und Bandagen |

315

Tab. 5.10: Einteilung der Thorakal-Orthesen in der Produktgruppe 23 des Hilfsmittelverzeichnisses [HMV 2014]. Positionsnummer

Hilfsmittelverzeichnis Untergruppe

23.13.01. 23.13.30.

BWS-Orthesen zur Entlastung oder Korrektur individuell angefertigte BWS-Orthesen zur Korrektur

Abb. 5.29: Thorakal-Orthese der Fa. Ottobock zur Aufrichtung des Oberkörpers.

Schultern nach dorsal ziehen und dadurch die Aufrichtung der Brustkyphose bewirken (󳶳Abb. 5.29). Bei Veränderungen des Brustbeins, wie Kiel- oder Hühnerbrust, kommen korrigierende, individuell gefertigte Orthesen zum Einsatz, die mit gezieltem Pelottendruck auf die Deformität einwirken [Baumgartner 2007].

Lumbal-Orthesen (LO/LSO) 󳶳 Lumbal-Orthesen (LO) wie auch 󳶳 Lumbo-sakral-Orthesen (LSO) bewirken eine Stellungsände­ rung, Entlastung oder Bewegungsbeeinflussung der Lendenwirbelsäule (LWS) (󳶳 Tab. 5.11).

Der Indikationsbereich für vorgefertigte Lumbal- bzw. Lumbo-sakral-Orthesen (LSO) umfasst degenerative, entzündliche und traumatisch bedingte Veränderungen, ebenso wie die Behandlung von Osteoporose, Fehlbildungen und die prä- und postoperative Versorgung der Lendenwirbelsäule. Versorgungsziele können Stellungsänderung, Entlastung oder Bewegungsbeeinflussung und deren Kombination sein. Die biomechanische Wirkung variiert je nach Materialwahl und Verwendung von Stabilisierungselementen.

316 | Catherine Disselhorst-Klug et al.

Tab. 5.11: Einteilung der Lumbal-Orthesen in der Produktgruppe 23 des Hilfsmittelverzeichnisses [HMV 2014]. Positionsnummer

Hilfsmittelverzeichnis Untergruppe

23.14.01. 23.14.02. 23.14.03. 23.14.04. 23.14.30.

LWS-Orthesen zur Immobilisierung LWS-Orthesen zur Mobilisierung LWS-Orthesen zur Stabilisierung LWS-Orthesen zur Entlastung oder Korrektur individuell angefertigte LWS-Orthesen zur Korrektur oder Entlastung (LSO)

Stabilisierende Kreuzstützbandagen bestehen aus einem elastischen Körperformteil, das den Bereich vom Sakrum bis zum unteren Rippenbogen zirkulär umfasst. Der ventrale Verschluss ist häufig aus unelastischem Material, sodass sich eine leichte intraabdominale Druckerhöhung und eine Verlagerung des Körperschwerpunktes erreichen lassen. Dadurch kommt es zu einer Aufrichtung der LWS und damit verbunden zur Entlastung der rückenstreckenden Muskulatur. Eine flexible Pelotte im Lumbosakralbereich vergrößert dort die Auflagefläche, massiert die Muskulatur und verbessert die Körperwahrnehmung. Typische Indikation ist die Lumbalgie, ein Wurzelreizsyndrom, bei dem Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule und im Versorgungsbereich des N. ischiadicus auftreten („Hexenschuss“).

(a)

(b)

(c)

Abb. 5.30: Immobilisierende LSOs. (a) Individuell gefertigte Kreuzstützbandage als stabilisierende LSO, (b) und (c) entlastende LSO als Überbrückungsmieder.

Bei vermehrten Instabilitäten sind immobilisierende Lumbo-sakral-Orthesen (LSO) indiziert, die im dorsalen Bereich anstelle der Pelotte feste Stabelemente aus Metall oder Kunststoff und eine Zuggurtung aufweisen. Über das einfache 3-PunktPrinzip (󳶳Abb. 5.30 (a)) kann so eine Entlordosierung erreicht und damit Spinalkanal und Facettengelenke entlastet werden. Die effektivste Entlastung der dorsalen Anteile der Lendenwirbel ist mit sog. Überbrückungs- oder Flexionsmiedern zu erzielen

5 Orthesen, Schienen und Bandagen | 317

(󳶳Abb. 5.30 (b) und (c)) und notwendig bei fortgeschrittenen Bandscheibenerkrankungen, Facettensyndrom, Spinalkanalstenosen und Spondylolisthesis. Konfektionierte Orthesen dieser Art zeichnen sich durch einen dorsalen Metalloder Kunststoffrahmen aus, der vom thorakolumbalen Übergang bis zum Gesäß reicht und damit die Lendenlordose überbrückt. In Verbindung mit einer stabilen Bauchplatte und einer Zuggurtung im 3-Punkt-Prinzip kommt es so zu einer relativen Ruhigstellung in der Sagittalebene und einer Umverteilung der Belastung auf die Wirbelkörper. Insbesondere für die postoperative Behandlung sind mobilisierende Orthesensysteme geeignet, deren Stabilisierungselemente im Therapieverlauf abgerüstet werden können, indem zunächst der Überbrückungsrahmen gegen feste Stäbe und später gegen eine Kreuzlendenpelotte ausgetauscht wird. Das klassische Kreuzstützmieder und das Überbrückungsmieder nach Hohmann sind individuell hergestellte Lumbo-sakral-Orthesen mit den oben dargestellten biomechanischen Wirkprinzipien und Indikationsbereichen. Zur dauerhaften Versorgung und bei von der Norm abweichenden Körperformen sind solche Maßanfertigungen den konfektionierten Orthesen vorzuziehen. Bei starker Adipositas und Ausweitung der Beschwerdesymptomatik auf den BWS-Bereich können sog. Rumpfstützmieder sinnvoll sein, die im Hilfsmittelverzeichnis den stabilisierende Wirbelsäulen-Orthesen (PG 23.15.03) zugeordnet sind.

Thorako-lumbo-sakral-Orthesen TLSO/CTLSO 󳶳 Thorako-lumbo-sakral-Orthesen (TLSO) wirken auf die gesamte Wirbelsäule vom Becken bis zur oberen Brustwirbelsäule bis etwa zum achten Brustwirbel. Zervical- thorako-lumbo-sakral-Orthe­ sen (CTLSO) schließen zusätzlich die Halswirbelsäule mit ein.

Sie gehören zur Produktgruppe 23.15 des HMV (󳶳Tab. 5.12). Der Indikationsbereich für Thorako-lumbo-sakral-Orthesen (TLSO) umfasst alle degenerativen und pathologischen Veränderungen, die die obere Lendenwirbelsäule, den thorakolumbalen Übergang und die Brustwirbelsäule bis ca. zum achten BrustTab. 5.12: Einteilung der Thorako-lumbo-sakral-Orthesen in der Produktgruppe 23 des Hilfsmittel­ verzeichnisses [HMV 2014]. Positionsnummer

Hilfsmittelverzeichnis Untergruppe

23.15.01. 23.15.02. 23.15.03. 23.15.04. 23.15.30. 23.15.31

WS-Orthesen zur Immobilisierung WS-Orthesen zur Mobilisierung WS-Orthesen zur Stabilisierung WS-Orthesen zur Entlastung oder Korrektur individuell angefertigte WS-Orthesen zur Fixierung/Teilfixierung (TLSO) individuell angefertigte WS-Orthesen zur Korrektur (TLSO)

318 | Catherine Disselhorst-Klug et al.

Tab. 5.13: Konstruktionsarten für TLSO. Grundsätzliche Konstruktionsvarianten von TLSO – – –

Körperformteile aus teilelastischem Materialien mit Stabilisierungselementen, Rahmenkonstruktionen, bei denen nur die notwendigen Anlageflächen bzw. Pelotten am Körper anliegen und durch Metallstäbe verbunden sind, Kunststoffkorsette, bei denen das rigide Körperformteil gleichzeitig auch Stabilisierungselement ist.

wirbel betreffen. Sie bieten aufgrund der höheren Konstruktion verbesserte Hebelverhältnisse für die 3-Punkt-Prinzipien in Frontal- und Sagittalebene und erhöhte Rotationsstabilität in der Horizontalebene. Daher können sie auch bei stärkeren pathologischen Veränderungen der Lendenwirbelsäule angezeigt sein. Versorgungsziele wie Bewegungseinschränkung, Belastungsumverteilung und die Beeinflussung von Fehlstellungen können mit TLSOs erreicht werden. 󳶳Tabelle 5.13 fasst die grundsätzlichen Konstruktionsarten dieser Orthese zusammen. Konfektionierte und individuell gefertigte TLSO aus teilelastischen Materialien gleichen in der Konstruktion den zuvor beschriebenen LSO, umfassen aber den Rumpf ventral bis auf Unterbrusthöhe und dorsal mindestens bis knapp unter die Schulterblätter. Die dorsalen, stabilisierenden Elemente sind in kranialer Richtung verlängert. Anstelle oder zusätzlich zu einem dorsalen Rahmen können paravertebrale Stäbe verwendet sein, die vom Gesäß bis ca. oberes Drittel des Schulterblattes reichen. An ihnen sind zusätzlich Achselschlaufen angebracht, die eine mahnende, reklinierende Wirkung auf die Brustwirbelsäule ausüben. Diese Konstruktionen nutzen die intraabdominale Druckerhöhung und das überlagerte 3-Punkt Prinzip (󳶳Abb. 5.31 (a)), um die gesamte Wirbelsäule in der Sagittalebene aufzurichten, zu entlasten, endgradige Bewegungen zu verhindern und Fehlstellungen vorzubeugen. Der Einsatzbereich solcher entlastender TLSO umfasst prä- und postoperative Versorgungen, konservative Behandlung von Frakturen, Tumoren oder Entzündungen ebenso wie multisegmentale Instabilitäten und Schmerzzustände aufgrund degenerativer oder osteoporotischer Erkrankungen. Mobilisierende, industriell vorgefertigte TLSO unterscheiden sich von den o. a. Orthesen dadurch, dass sie aus geteilten Körperformteilen und verschiedenen Stabilisierungselementen bestehen, die im Therapieverlauf abgerüstet werden können. Solche Orthesensysteme werden zur postoperativen Versorgung eingesetzt, die eine nachfolgende funktionelle Mobilisierung vorsieht. Rahmenkonstruktionen wie das 3-Punkt-Korsett nach Bähler/Vogt sind vorgefertigte Hyperextensionsorthesen, welche die Lendenlordose verstärken (󳶳Abb. 5.31 (a), (b) und (c)). Seitneigung und Rotation bleiben weitgehend unbeeinflusst. Typische Indikationen sind stabile oder inoperable Wirbelkörperkompressionsfrakturen der LWS und der unteren BWS sowie die Korrektur des lumbalen und

5 Orthesen, Schienen und Bandagen | 319

(a)

(b)

(c)

Abb. 5.31: Industriell vorgefertigte TLSOs (a) entlastende TLSO mit überlagertem 3-Punkt-Prinzip zur Entlordosierung und Reklination der BWS, (b) und (c) Hyperextensionsorthese mit lordosierendem 3-Punkt- Prinzip.

thorako-lumbalen M. SCHEUERMANN (Verknöcherungsstörung der Wirbelsäule im Jugendalter). Kunststoffkorsette wie das industriell vorgefertigte Boston-Overlap-Brace erreichen durch das rigide Körperformteil eine stärkere Immobilisation und Aufrichtung der Wirbelsäule im Vergleich zu teilelastischen TLSOs, insbesondere wenn sie mit ventralen Thorakal- oder Sternalpelotten versehen sind. Individuell angefertigte Wirbelsäulenorthesen sind notwendig, wenn die Körperform nicht der Norm entspricht oder große Kräfte übertragen werden müssen. Maßanfertigungen oder Anfertigungen nach Gipsabdruck stellen sicher, dass die Kräfte passgenau und großflächig auf den Körper einwirken und Druckspitzen vermieden werden. Das Rahmenstützkorsett (󳶳Abb. 5.32 (a)) nach Gipsabdruck verwendet alle beschriebenen biomechanischen Wirkprinzipien und wird postoperativ nach Spondylodese oder Nukleotomie, bei ausgeprägten degenerativen Veränderungen oder Kompressionsfrakturen in LWS und BWS angewendet. Korrigierende TLSO werden zur Wachstumslenkung bei Kindern und Jugendlichen mit M. SCHEUERMANN oder idiopathischer Skoliose (Seitverkrümmung der Wirbelsäule) eingesetzt. Versorgungsziel ist die Reduktion der jeweiligen Fehlstellung der Wirbelsäule bzw. die Progressionsvermeidungbis zum Wachstumsabschluss. Im Gegensatz zu den zuvor beschriebenen Rumpf-Orthesen zeichnen sich korrigierende Korsette dadurch aus, dass den Pelotten und Anlageflächen korrespondierende Freiräume gegenüberstehen, in die der Rumpf und damit die Wirbelsäule kontrolliert ausweichen kann. Das klinische Bild des M. SCHEUERMANN zeigt eine unphysiologische Hyperkyphose im lumbalen bzw. thorako-lumbalen oder im thorakalen Bereich. Die erforderliche korrigierende TLSO muss daher nur die Stellung der Wirbelsäule in der Sagittalebene verändern.

320 | Catherine Disselhorst-Klug et al.

(a)

(b)

(c)

Abb. 5.32: TLSO. (a) zur Fixierung/Teilfixierung, (b) korrigierende TLSO bei thorakalem M. SCHEUER­ MANN, (c) Skoliosekorrekturorthese Typ Chêneau.

Zur Korrektur des lumbalen oder thorako-lumbalen M. SCHEUERMANN werden Hyperextensionsorthesen mit dem Lordose-verstärkenden 3-Punkt-Prinzip eingesetzt (󳶳Abb. 5.32 (b)). Das entgegengesetzte 3-Punkt-Prinzip, d. h. die Entlordosierung der LWS und meist zusätzlich die passive Reklination der BWS ist bei der Behandlung des thorakalen M. SCHEUERMANN erforderlich. Eine typische Reklinationsorthese ist das Becker/Gschwend-Korsett (󳶳Abb. 5.32 (b)). Die idiopathische Skoliose zeigt neben der Seitverbiegung auch eine Rotation des Rumpfes und eine Abflachung des Sagittalprofils und wird als dreidimensionale Veränderung der Wirbelsäule beschrieben. Die korrigierenden Skoliose-Korsette müssen daher in allen drei Ebenen auf den Rumpf einwirken. Die Komplexität und die vielen Variationen dieser Wirbelsäulenerkrankung machen eine individuelle Anfertigung notwendig. Diese kann nach Gipsabdruck erfolgen oder im CAD-Verfahren (Computer Aided Design). Typische Skoliose-Orthesen sind das Chêneau-, Lyonerund Boston-Korsett und deren Derivate (󳶳Abb. 5.32 (c)). CTLS-Orthesen wie das Milwaukee-Korsett sind mit einer zusätzlichen Kopfanstützung (siehe COs) ausgestattet und sind bei Versorgungen von hochthorakalen und zerviko-thorakalen Skoliosen und schweren Brustkyphosen [Baumgartner 2007] indiziert.

5.2.5 Elektronisch gesteuerte Bein-Orthesen – Zukunftstrends Mechatronische Ganzbein-Orthesen Die Versorgung von Patienten mit Lähmungen der Beinmuskulatur mit konventionellen Ganzbein-Orthesen (knee-ankle-foot orthosis: KAFO) mit gesperrten oder rückverlagerten Kniegelenken ist mit einer Reihe von Nachteilen verbunden (󳶳Kapitel 5.2.2).

5 Orthesen, Schienen und Bandagen | 321

Bei einer KAFO mit einem gesperrten Orthesen-Kniegelenk ist das Bein während des gesamten Gangzyklus’ versteift und wird nur zum Hinsetzen manuell entriegelt. Dies ermöglicht zwar ein sicheres Stehen und Gehen auf ebenem Untergrund, führt aber durch die fehlende Knieflexion in der Schwungphase zu einer funktionellen Beinverlängerung, die mit verschiedenen Ausgleichsmechanismen kompensiert werden muss (seitliche Rumpfneigung, Zirkumduktion, exzessive kontralaterale Plantarflexion). Die Folgen davon sind auffällige unphysiologische Gangmuster mit stark erhöhtem Energieaufwand und erheblichen Spätfolgen für die kontralaterale Seite. Bei einer KAFO mit einem rückverlagertem Kniegelenk (in Kombination mit Dorsalanschlag im Knöchelgelenk) wird während der gesamten Standphase ein stabilisierendes Extensionsmoment im Knie erzeugt. Die Rückverlagerung des OrthesenKniegelenks führt zu einer schnellen Streckung in der frühen Standphase. Die Einleitung der Schwungphase erfordert hingegen einen zusätzlichen Energieaufwand, um das auf das Kniegelenk wirkende Extensionsmoment zu überwinden (󳶳Kapitel 2.3.3). Der erhöhte Energieaufwand, bedingt durch das unphysiologische Gangmuster und das zusätzliche Gewicht der Orthese, wird als die Hauptursache für mangelnde Patientenakzeptanz mit Aufgabequoten von weit über 60 % angesehen [Phillips 1993; Kaplan 1996]. Die energetischen Kosten sind höher als die einer Rollstuhl-Fortbewegung [Cerny 1980], sodass viele Patienten auf einen Rollstuhl umsteigen. Eine der wichtigsten Aufgaben der KAFO-Weiterentwicklung besteht daher darin, den erforderlichen Energieaufwand zu senken und das Gangmuster des Betroffenen an das physiologische Gangmuster anzugleichen. Diese Aufgabe wird heute mit Hilfe der sog. standphasenkontrollierten Ganzbein-Orthese (engl. Stance Control Orthosis/SCO oder Stance Control Knee-Ankle-Foot Orthosis/SCKAFO) gelöst. 󳶳 Standphasenkontrollierte Ganzbeinorthesen (stance control orthosis, SCO) sind in der Lage, das Kniegelenk in der Standphase zu sperren, um einen sicheren Stand zu erreichen, und vor der Ein­ leitung der Schwungphase freizugeben, um das gelähmte Bein annähernd physiologisch durch­ schwingen zu können.

Patienteneingabe Sollwert Controller

Sollwert Aktor

Messwert Sensor Ist-Prozesswert Umwelt, Störgrößen

Kniegelenk

Aktivität (Gehen)

Abb. 5.33: Allgemeine Funktionsweise einer standphasenkontrollierten Ganzbein-Orthese.

322 | Catherine Disselhorst-Klug et al. Die allgemeine Funktionsweise der SCO ist in 󳶳Abbildung 5.33 dargestellt. Die Unterscheidung zwischen Beginn und Ende der Standphase erfolgt durch einen Controller. Die dafür erforderlichen Informationen werden von einem oder mehreren Sensoren geliefert. Nach der Erkennung erfolgt über einen Aktor die Sperrung bzw. Freischaltung des Kniegelenks. Die zusätzliche Eingabe durch den Patienten dient z. B. dazu, das Knie zum Hinsetzen manuell zu entriegeln oder zwischen unterschiedlichen Steuer-Modi zu wählen. Je nach konstruktiver Ausführung können mehrere Funktionen in einem Funktionsträger zusammengefasst werden. Grundsätzlich lässt sich das Prinzip einer SCO auch ohne elektronische Komponenten realisieren. Bei der Orthese UTX Swing (baugleich mit Ottobock FreeWalk, 󳶳Abb. 5.34 (a)) ist das Kniegelenk mit einer Achse versehen, die mit einer Sperrklinke blockiert werden kann. Bei voller Streckung, die normalerweise bereits vor dem initialen Bodenkontakt vorliegt, sperrt die von einer Feder vorgespannte Sperrklinke das Kniegelenk automatisch. Die Sperrklinke ist über einen Seilzug mit dem Knöchelgelenk verbunden. Beim Erreichen von ca. 10 Grad Dorsalflexion wird die Sperre gelöst. Dieses geschieht allerdings nur, wenn gleichzeitig ein streckendes Moment auf das Kniegelenk wirkt (󳶳Abb. 5.34 (b)). Diese beiden Bedingungen werden beim pathologischen Gang am Ende der Standphase erfüllt [Leerdam 1999].

(a)

(b)

Abb. 5.34: Ganzbein-Orthese. (a) Freewalk (Fa. Ottobock), b) Realisierung der KontrollFunktion.

Die am Markt erhältlichen SCOs werden anhand der zur Umschaltung zwischen Stand- und Schwungphase erforderlichen Signale klassifiziert (󳶳Tab. 5.14).

5 Orthesen, Schienen und Bandagen | 323

Tab. 5.14: Klassifikation der am Markt erhältlichen SCOs nach den erforderlichen Schaltsignalen. Klassifikation am Markt verfügbarer SCOs nach [Zacharias 2009] – – –

gewichtsaktivierte SCO: E-Knee (Fa. Becker Orthopedics), SCOKJ (Fa. Horton), NeuroTronic (Fa. Fior&Gentz), SensorWalk (Ottobock) positionsaktivierte SCO: E-MAG Active (Fa. Ottobock), Swing Phase Lock (Fa. Basko) knöchelaktivierte SCO: FreeWalk (Fa. Ottobock), Full Stride, Safety Stride (Fa. Becker Orthopedics), Neuromatic (Fa. Fior & Gentz)

Bei gewichtsaktivierten SCOs erfolgt die Detektion der Gangphase über die im Fußteil der Orthese integrierten Drucksensoren, als Kriterien werden z. B. das Über-/Unterschreiten eines Schwellwertes oder die Wanderung des Kraftangriffspunktes zwischen Ferse und Vorfuß verwendet. Bei positionsaktivierten SCOs wird zur Detektion der Gangphase die Position (Winkel) eines Beinsegments zu einem Bezugsystem (z. B. Richtung der Schwerkraft) überwacht. Bei knöchelaktivierten SCO wird die Flexion durch die Relativbewegung im Sprunggelenk freigegeben, während die Sperrung in der vollständigen Extension automatisch erfolgt. Prinzipiell kann in einem SCO-System ein Aktor mit verschiedenen Sensor-Typen kombiniert werden. Ein Beispiel dafür ist das SCOKJ (stance control orthotic knee joint) der Firma Horton, das in einer gewichtaktivierten und einer knöchelaktivierten Variante angeboten wird. Die Sicherung der Standphase wird dabei durch einen mechanisch betätigten Sperrmechanismus mit gehärteter Mikroverzahnung realisiert, der ein Sperren bei beliebigen Flexionswinkeln ermöglicht. Ein Vorteil der positionsaktivierten SCOs liegt darin, dass damit auch Patienten ohne ausreichende Funktion im Sprunggelenk versorgt werden können. Ein Beispiel

(b) Erdbeschleunigung aktuelle Position Winkel (a)

φ

Beginn der Standphase

Beginn der Schwungphase

(c)

Abb. 5.35: Positionsaktivierte SCO. (a) Ganzbein-Orthese mit (b) E-Mag Active Gelenk (Fa. Otto­ bock), (c) Realisierung der Kontroll-Funktion.

324 | Catherine Disselhorst-Klug et al.

hierfür ist das E-Mag Active der Fa. Ottobock (󳶳Abb. 5.35 (a)). Bei diesem System wird der Winkel des Hüftsegments der Orthese zur Erdbeschleunigung überwacht. Beim Überschreiten eines Schwellenwertes und bei Abwesenheit eines Flexionsmoments wird eine elektromagnetische Sperre entriegelt (󳶳Abb. 5.35 (b)). Um eine ausreichende Erkennungsgenauigkeit zu gewährleisten, wird ein Gyroskop (hohe Genauigkeit bei schnellen Bewegungen) mit einem 2D-Beschleunigungssensor (hohe Genauigkeit bei langsamen Bewegungen) kombiniert. Die Mikroprozessor-Steuerung erlaubt u. a. eine einfache Kalibrierung zur individuellen Einstellung an den Patienten, eine automatische Anpassung an die geänderte Schrittfrequenz sowie eine Plausibilitätsüberwachung des Winkelsignals. 80

6

Knieflexion in Grad

60 50

Beckenkippung in Grad

C-Brace SCO (Freewalk) normal KAFO gesperrt

70

40 30 20 10 0

(a)

0

20

40 60 Gangzyklus in %

80

100

4 2 0 –2

SCO (Freewalk) normal KAFO gesperrt

–4 –6

(b)

0

20

40 60 Gangzyklus in %

80

100

Abb. 5.36: Gangparameter beim Einsatz von KAFO-, SCO- und SSCO-Systemen. (a) Kniewinkelverlauf bei Patienten mit KAFO, SCO undeiner stance and swing control orthosis (SSCO) sowie bei Gesun­ den, (b) Verlauf der Beckenkippung bei Patienten mit KAFO und SCO sowie bei Gesunden (Biome­ chanik-Labor der Fa. Ottobock).

Biomechanische Untersuchungen haben ergeben, dass SCOs zu einer erheblichen Verbesserung der kinematischen, kinetischen und energetischen Gangparameter gegenüber konventionellen KAFOs führen [Zacharias 2012]. 󳶳Abbildung 5.36 (a) zeigt eine deutliche Zunahme der Kniewinkelamplitude in der Schwungphase und damit eine Annäherung an das physiologische Gangbild. In 󳶳Abbildung 5.36 (b) ist der Verlauf der Beckenkippung als eine der häufigsten Kompensationsbewegungen dargestellt [Schmalz 2005] (󳶳Kapitel 2.3.3). Während beim Gehen mit gesperrter KAFO das Becken stark angehoben werden muss, findet dieser Kompensationseffekt bei einer SCO-Versorgung nicht statt, sodass eine weitgehende Angleichung an das physiologische Gangmuster erreicht wird. Weitere Vorteile betreffen eine verbesserte Gangsymmetrie, den reduzierten Energieverbrauch, verbesserte Zeit-Distanz-Parameter sowie eine höhere Patientenzufriedenheit [Schmalz 2005; Bernhardt 2006; Zissimopoulos 2007; Davis 2010]. Trotz dieser Vorteile haben die heutigen SCO-Systeme die Möglichkeiten einer mechatronischen Beinorthese noch nicht voll ausgeschöpft. Nach Yakimovitch [Yakimovich 2005] muss eine optimale SCO-Versorgung den in 󳶳Tabelle 5.15 aufgeführten

5 Orthesen, Schienen und Bandagen | 325

Tab. 5.15: Funktionelle Anforderungen an eine SCO nach Yakimovitch [Yakimovich 2005]. Funktionelle Anforderungen an eine SCO nach Yakimovitch –

– – – –

Sperren des Gelenks bei beliebigen Knie- und Sprunggelenkwinkeln (Gehen auf Treppen und Rampen, Stehen in Beugestellung bzw. auf unebenem Untergrund, Abfangen nach dem Stolpern) Freigeben des Gelenks bei beliebigen Knie- und Sprunggelenkwinkeln, wenn das Bein unbelastet ist (Gehen auf Treppen und Rampen, Sitzen) Zulassen einer kontrollierten Knieflexion in der Standphase (physiologisches Gangbild, Gehen auf Treppen und Rampen) schnelles Umschalten zwischen Stand- und Schwungphase Unterstützung der Extensionsbewegung in der terminalen Standphase

funktionellen Anforderungen genügen. Darüber hinaus müssen die SCOs so leicht, geräuscharm, kosmetisch unauffälig und wenig sperrig wie möglich sein. Nur wenige SCO Systeme wie E-Knee (Fa. Becker Orthopedics), SCOKJ (Fa. Horton), SensorWalk (Fa. Ottobock), Neuromatic und Neuro Tronic W (Fa. Fior & Gentz) erfüllen die Anforderung nach Sperrung in beliebigen Beugestellungen. Die Anforderungen nach kontrollierter Knieflexion sowie Unterstützung der Extension in der Standphase wurden erfüllt keines dieser Gelenke. Nur das C-Brace (Fa. Ottobock) ein Orthesensystem mit einem elektronisch gesteuerten und hydraulisch kontrollierten Kniegelenk erfüllt die Anforderung nach kontrollierter Flexion und Unterstützung der Extension und begründet damit eine neue Funktionsklasse (SSCO) (󳶳Abb. 5.37). Die Orthese besteht aus einer Oberschenkel- und einer Unterschenkelschale aus Carbonfaser, die lateral über ein monozentri-

Abb. 5.37: stance and swing control orthosis (SSCO)C-Brace (Fa. Otto­ bock).

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sches Gelenk mit einem linearen hydraulischen Dämpfer (󳶳Kapitel 3.3.3/󳶳Abb. 3.32) verbunden sind. Die Unterschenkelschale ist über eine mit DMS-Sensoren versehene Carbonfeder mit dem Fußteil verbunden. Die Ansteuerung der Hydraulik-Einheit erfolgt mit Hilfe eines Mikroprozessors, als Eingangssignale werden neben dem in der instrumentierten Feder gemessenen Knöchelmoment der Kniewinkel und die Kniewinkelgeschwindigkeit erfasst. Die Orthese C-Brace ermöglicht durch die hydraulische Kontrolle der Momente am Kniegelenk erstmalig das Gehen mit Kniebeugung unter Last. Durch die unmittelbar nach Standphasenbeginn einsetzende kontrollierte Knieflexion wird der Bewegungsablauf dem physiologischen angeglichen. Dem Patienten wird dadurch das sichere Gehen auf unebenem Grund sowie das alternierende Hinabgehen von Rampen und Treppen ermöglicht. Darüber hinaus wird durch die energiespeichernde Funktion der Carbon-Feder die Extensionsbewegung in der Standphase unterstützt. Da bei der C-Brace, im Unterschied zur SCO, die hydraulische Kniegelenkkontrolle im gesamten Gangzyklus aktiv ist, hat sich für dieses Orthesen-Segment die Bezeichung SSCO (stance and swing control orthosis) etabliert. Neben den auf dem Markt verfügbaren SCOs wird in der Literatur eine Vielzahl experimenteller Prototypen beschrieben. Der Schwerpunkt liegt neben der Integration der Myo-Sensorik und FES auf intelligenten Steueralgorithmen, die zu einer automatischen Anpassung der Ortheseneigenschaften an den Patienten führen. Weitere Impulse sind aus der Robotik zu erwarten, wo im Bereich „powered exoskeletons“ (angetriebene Exoskelett-Systeme) geforscht wird (󳶳Kapitel 9).

5.3 Bandagen Bandagen werden im Sanitätshaus- und Werkstattalltag oft als eine Untergruppe von Orthesen gesehen, und nicht alle sind auf den ersten Blick von diesen zu unterscheiden. Die Produktgruppe 05 des HMV (Bandagen) war lange eine Zusammenfassung von konfektionierten Versorgungen unterschiedlicher Konstruktionen. Seit Juni 2008 ist jedoch die Produktgruppe 23 (Orthesen) veröffentlicht. Dies führte zu einer großen Umgruppierung und damit zur Verringerung der Anzahl in der PG 05 des HMV gelisteter Hilfsmittel. Gemäß der Definition in 󳶳Kapitel 5.1 sind Bandagen konfektionierte, körperteilumschließende oder zumindest körperteilanliegende Hilfsmittel. Die Funktion ist als komprimierend oder funktionssichernd bei Weichteilerkrankungen beschrieben (󳶳Tab. 5.16). Somit fallen nahezu alle Versorgungen mit starren Bauelementen zur Bewegungseinschränkung in die Gruppe der Orthesen. Das HMV sieht die Versorgung der Wirbelsäule jedweder Art ebenfalls nicht mehr mit Bandagen vor (󳶳Tab. 5.16 und 󳶳Kapitel 5.2.4) Als (relative) Kontraindikation für eine Bandagenversorgung (partielle Kompression) sind Situationen, in denen die arterielle Versorgung eingeschränkt ist, wie z. B. periphere arterielle Verschlusskrankheiten (pAVK), massive Quetschungen oder groß-

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Tab. 5.16: Indikationen und Anwendungsorte für eine Bandagenversorgung. Indikationen für eine Bandagenversorgung – – – – – – – –

posttraumatisch Rheuma Kapsel-, Bandschwäche Post-OP, frühfunktionelle Therapie Fehl-/Überbelastung Rehabilitation Arthrose Prophylaxe

Anwendungsorte von Bandagen nach HMV – – – – – – – – –

05.01. Vor- und Mittelfuß 05.02. Sprunggelenk 05.04. Knie 05.05. Hüfte 05.07. Hand 05.08. Ellenbogen 05.09. Schulter 05.11. Leib/Rumpf/Brust 05.99. Ohne spez. Anwendung/Zusätze

flächige Hautdefekte. Akute Entzündungen im Versorgungsbereich und Allergien auf das zu verwendende Material lassen eine Versorgung ebenfalls nicht zu. Bei venösen Grunderkrankungen, wie z. B. ausgeprägten Varizen, muss trotz zirkulärer Bandage der venöse Rückfluss gewährleistet sein und eventuell durch Kompressionsstrümpfe sichergestellt werden. Sehr starke Ödeme und Hämatome bei akuten posttraumatischen Zuständen sind in der Regel nicht passformgerecht mit Kompressionsbandagen zu versorgen. In diesen Fällen ist der Umfang der Extremität durch Wickeln mit elastischen Binden, Kühlung, Hochlagerung und Lymphdrainage zu reduzieren, bis eine weitergehende Versorgung möglich ist.

5.3.1 Konstruktion von Bandagen Grundsätzlich bestehen Bandagen aus einer flexiblen Basis mit aufgesetzten Verstärkungen. Bei der Konstruktion dieser Basis hat sich eine flachgestrickte Maschenware durchgesetzt, die bei zirkulärer Anwendung eine gleichmäßige Kompression auf das entsprechende Körperteil bringt. Eine andere Variante sind Schäume oder schaumähnliche Materialien. Bei beiden Konstruktionen sind jedoch eine gute Luftzirkulation und ein guter Feuchtigkeitstransport wichtig, um einen angenehmen Tragekomfort für den Patienten zu erlangen. Entsprechend entwickelte Gestricke, Fasern mit speziell gestalteter Oberfläche zum schnellen Feuchtigkeitstransport und Materialkombinationen in Sandwichtechnik sorgen für das gewünsch­ te Wärme- und Feuchtemanagement [Knecht, 2003].

Materialien mit dem Effekt der Wärmespeicherung und -rückgabe beginnen ebenfalls auf dem Markt Fuß zu fassen. Wird der Radius eines Körpers unter gleichbleibender Spannung des Kompressionsmittels kleiner, nimmt der Druck zu; wird der Radius größer, nimmt der Druck ab (Laplace’sche Gleichung) [Reißhauer 2009].

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Um Druckspitzen auf Erhebungen des Körpers, wie z. B. der Patella oder den Malleolen, zu ver­ ringern, werden um diese Erhöhungen herum 󳶳 elastische Polster (󳶳 Pelotten) in Bandagen ein­ gearbeitet (󳶳 Abb. 5.38 (a)). In Unterschneidungen wird durch Pelotten der Druck erhöht, Pe­ lotten mit makroskopisch strukturierter Oberfläche bewirken zusätzlich einen Massageeffekt (󳶳 Abb. 5.38 (b)).

(a)

(b)

Abb. 5.38: Pelotten zur Einarbeitung in Bandagen. (a) Radienveränderung durch Pelotten, (b) Massa­ geeffekt.

Stabilisierende Elemente finden sich bei den Bandagen selten in Form von Stäben, da die starre Bewegungseinschränkung in den Wirkbereich der Orthesen fällt. Elastische oder unelastische textile Züge, teilweise über Pelotten gelegt, dienen bei den Bandagen zur partiellen Unterstützung. 󳶳Abbildung 5.39 verdeutlicht an einer Knieund einer Knöchelbandage, wie eine einfache Pelotte oder elastische bzw. unelastische textile Züge eine Bandage in ihrer Funktion verstärken.

(a)

(b)

Abb. 5.39: Unterschiedliche Formen der Verstärkung der Funktion von Bandagen: (a) Genu Sensa Kniebandage mit Pelotte der Fa. Ottobock. (b) Knöchelbandage mit zusätzlichen Zügen der Fa. Sporlastic

5 Orthesen, Schienen und Bandagen |

329

5.3.2 Wirkprinzipien von Bandagen Aufgrund der flexiblen Konstruktion können Bandagen biomechanisch keine fixierende Funktion auf den Körper ausüben. Leichte Führung der Bewegung ist durch zusätzlich aufgebrachte, unelastische Züge möglich (󳶳Tab. 5.17). Tab. 5.17: Wirkprinzipien von Bandagen. Wirkprinzipien von Bandagen – – –

Kompression Sensomotorik Psychologie (Wahrnehmung)

– –

Entlastung Redression

Verglichen mit der Orthese ist die entlastende Wirkung einer Bandage eher gering. Jedoch kann sie durch Bewegungsbegrenzung und eine mechanische sowie propriozeptive Bewegungsführung entlastend wirken.

Achillessehnenbandage Ein klassisches Beispiel für Entlastung ist die Anwendung einer Achillessehnenbandage (󳶳 Abb. 5.40). Sowohl fest in die Bandagen eingesetzte als auch bei einigen Bandagen lose beigefügte Absatzkeile sorgen in der akuten Schmerzphase einer Achillodynie (Schmerzsyndrom der Achillessehne) durch die Anhebung des Calcaneus (Fersenbein) für einen reduzierten Zug des M. gastrocnemius (Zwillings­ wadenmuskel): der Sehnenansatz am Calcaneus wird entlastet [Brzank 1997].

(a)

(b)

Abb. 5.40: Entlastung der Achillessehne mittels (a) Achillessehnenbandage Achimed der Fa. medi, (b) zugehörigem Absatzkeil.

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(a)

(b)

Abb. 5.41: Redression am Beispiel des Hallux-Valgus: (a) Hallux-Valgus–Orthese der Fa. Bort. (b) Hallux-Valgus-Orthese der Fa. DARCO.

Zugentlastungsprinzipien werden beispielsweise durch die zirkuläre Umfassung und Kompression der Handbeuger bzw. -strecker am Unterarm und ihre Ansätze an den Epicondylen (Epicondylus: Knochenvorsprung in der unmittelbaren Nähe des Gelenkkopfes) durch Epicondylitisbandagen angewendet [Brzank 1997]. Ein stärkerer Druck ist mit einer Epicondylitisspange möglich, die jedoch schon zu den Orthesen zählt. Eine alternative Wirkungsweise einer Bandage ist die sog. Redression, bei der Gurtsysteme Gelenke in der gewünschten Position halten, ohne die Bewegung auszuschalten, was die Fehlhaltung verhindert. 󳶳Abbildung 5.41 zeigt am Beispiel der Hallux-Valgus– Orthese (Hallux Valgus: Schiefstand des Großzehs) die Wirkung der Redression. Als 󳶳 Redression bezeichnet man ein konservatives Therapieverfahren, bei dem Gelenkfehlstel­ lungen sukzessive mit manuellen oder apparativen Methoden korrigiert werden. 󳶳 Zirkuläre Kompression bewirkt eine Druckerhöhung im Gewebe. Die Folge ist eine geringere Ul­ trafiltration und gleichzeitige Anregung des lymphatischen Abflusses.

Durch zirkuläre Kompression werden Ödeme (Schwellung des Gewebes aufgrund einer Einlagerung von Flüssigkeit) und Hämatome (Bluterguss) schneller abgebaut und es wird neuen Ödemen vorgebeugt [Reißhauer 2009]. Das Funktionieren dieses Prinzips setzt die optimale Anpassung der Bandage voraus. Auch die Verbesserung der Durchblutung mit allen damit zusammenhängenden positiven Aspekten wird durch Bewegung erreicht. Propriozeption und Sensomotorik stehen für die Koordination von Nervensystem und Bewegungsapparat sowie die Tiefensensibilität im Bewegungsappa-

5 Orthesen, Schienen und Bandagen |

331

rat (󳶳Kapitel 9.2). Rezeptoren in Gelenken, Muskeln, Haut und anderen Organen übersetzen die auftretenden Reize in die körpereigene Sprache und sind wie alle Strukturen im sensomotorischen System kreisförmig miteinander verknüpft. Durch altersbedingte Veränderungen, Immobilisation oder pathologische Prozesse werden die körpereigenen Regelungsprozesse gestört und die Trainierbarkeit des sensomotorischen Systems ist behindert. Insbesondere nach Verletzungen und operativen Eingriffen in den Muskel-Bandapparat bleiben immer wieder dauerhafte Funktionsstörungen zurück. Flächiger externer Druck durch Bandagen auf die Haut sorgt für ein intensiviertes aber auch verändertes Signalmuster und beeinflusst dadurch die Positions- und Bewegungsempfindung positiv [Laube 2009]. Auch der psychologische Effekt einer Bandage (bzw. Orthese) spielt mit der Erinnerung an be­ stimmte Verhaltensregeln und durch Beruhigung des Patienten (Sicherheitsaspekt) in der Thera­ pie eine wichtige Rolle.

5.4 Quengelorthesen und Lagerungsschienen Quengeln Unter 󳶳 Quengeln versteht man das Aufbringen eines Dauerzuges auf ein bewegungseinge­ schränktes Gelenk mittels geeigneter Hilfsmittel, um die gelenkumschließenden Weichteile pas­ siv zu dehnen.

Das Quengeln ist ein passives Mobilisieren einer Gelenkversteifung, wobei durch allmählich zunehmenden Dauerzug (-druck) mittels Quengelschienen den zur Fehlstellung drängenden Kräften entgegen gewirkt wird. Dieses sollte niemals die Schmerzgrenze wesentlich überschreiten. Im Unterschied zur Redression, bei dem Gelenkdeformitäten korrigiert werden, ist das Ziel des Quengelns, weichteilbedingte Tab. 5.18: Quengelhilfsmittel [Roche 2014] Grundsätzliche Unterscheidung der zur Quengelung eingesetzter Hilfsmittel und Anwendungsbeispiele – – – –

Quengelapparat (dosierte, elastische oder starre Zug- u. Druckkräfte, auch für Redression) (󳶳 Abb. 5.42 (a)) Quengelschiene (beidseits des zu mobilisierenden Gelenks anzubringende Metall-, Kunststoffoder Gipsschiene mit Gelenk) (󳶳 Kapitel 5.2.1) Quengelkorsett (bei Skoliose oder präoperativ vor einer Versteifungsoperation) (󳶳 Kapitel 5.2.4) Quengelgips (zirkulärer, evtl. auch Nachbargelenke erfassender Gipsverband) (󳶳 Abb. 5.42 (b))

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(a)

(b)

Abb. 5.42: (a) Quengelapparat; (b) Quengelgips.

Einschränkungen des Bewegungsumfangs zu reduzieren. Bei den Quengelhilfsmitteln unterscheidet man unterschiedliche Anwendungsformen (󳶳Tab. 5.18).

Lagerungsschienen Unter 󳶳 Lagerungsschienen versteht man Schienen zur Ruhigstellung oder korrigierenden Lage­ rung einer Extremität oder eines Gelenks.

Lagerungsschienen werden üblicherweise heute in Polyethylen-Polypropylen- oder Carbontechnik angefertigt, wobei Schienen aus Gips oder Metall auch Anwendung finden. Die härteren Materialien werden für längerdauernde Versorgungen verwendet. Die Lagerung erfolgt üblicherweise in Funktions- oder Entlastungsstellung für das Gelenk bzw. in redressierender Stellung, um sich entwickelnde Fehlstellungen beispielsweise mittels Nachtlagerungsschienen zu beeinflussen. Bei der Lagerungsstellung kommt es in erster Linie darauf an, entweder das Schrumpfen von Sehnen und Kapseln zu verhindern oder, wenn dies nicht im Vordergrund steht, in einer Funktionsstellung die Restbeweglichkeit nicht zu behindern. In der Ruhestellung (󳶳Abb. 5.43) befinden sich die antagonistischen Streckund Beugemuskeln in einem Kräftegleichgewicht. Von einer Funktionsstellung wird gesprochen, wenn eine Stellung eingenommen wird, aus der heraus eine Funktion/Aktion erfolgen kann, wie z. B. beim Kugelgriff die Dorsalextension im Handgelenk. Es wird auch von einer Arthrodesenstellung gesprochen, weil in einer solchen Position eine operative Gelenkversteifung vorgenommen würde, aus der die meisten Funktionen evtl. auch mit Ausgleichsbewegungen ausführbar sind. Außerdem befindet sich die Muskulatur in vorgespannter Länge, sodass die Muskeln schnell und kraftvoll arbeiten können.

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(a)

(b)

(c)

Abb. 5.43: Lagerungsschienen zur Ruhigstellung und Fixierung nach Operationen, Entzündun­ gen und Frakturen. (a) Volkmannschienen zur Lagerung des gestreckten Beines, (b) Braunsche ABC-Schiene zur Lagerung des Beines in Funktionsstellung des Kniegelenks, (c) Lagerungsschienen aus Polypropylen für den Unterschenkel und Fuß der Fa. Vogel.

5.5 Individuelle Sitzversorgung Individuelle Sitzversorgungen sind im GKV-Hilfsmittelverzeichnis in der Produktgruppe 26- Sitzhilfen, Anwendungsort 11-Leib/Rumpf verankert und werden dort als Sitzschalen bzw. als Kinder-Sitzsysteme (Sitzorthesen) bezeichnet. Die letztgenannten Begriffe können als Synonym betrachtet werden. Im vorliegenden Kapitel werden die Begriffe individuelle Sitzversorgung, Sitzschale und Sitzschalenversorgung verwendet. 󳶳 Sitzschalen sind individuelle Sitzversorgungen, die dem Patienten ein korrigiertes und entlas­ tendes Sitzen ermöglichen.

Sitzschalen finden bei Patienten mit erheblich geminderter oder fehlender Stabilität des Rumpfes bzw. mit ausgeprägter Rumpfdeformität Anwendung. Sie sind insbesondere für Personen mit passiver Sitzfähigkeit indiziert, d. h. Personen, die nicht in der Lage sind, ihr Becken selbstständig zu positionieren. Passive Sitzfähigkeit geht in der Regel mit dem Verlust von Rumpfkontrolle und Gehfähigkeit einher. Eine detaillierte Klassifikation der Sitzfähigkeit mit Versorgungsempfehlungen findet sich bei Strobl [Strobl 2011]. Sitzschalen haben die Aufgabe, die Körperhaltung in therapeutisch erwünschter Stellung zu stabilisieren und so dem Patienten die Wahrnehmung und Kontaktaufnahme zu seiner Umwelt zu erleichtern. Sie verbessern vitale Funktionen, vermindern Spastiken und ermöglichen den aktiven Einsatz der Arme und Hände für selbstständige Bewegungen und Tätigkeiten. Die Sitzschalenversorgung stellt eine Verbindung zwischen Orthese und Rollstuhl dar (󳶳Kapitel 4). Sie berücksichtigt strukturelle und funktionelle Besonderheiten der versorgten Person und gewährt ihr – durch die Verbindung mit einem rollstuhlähnlichen Untergestell – eine Mobilitätsalternative zur nicht vorhandenen Gehfähigkeit.

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5.5.1 Aufbau und Bestandteile einer Sitzschalenversorgung Eine Sitzschalenversorgung gliedert sich in mehrere Baugruppen (󳶳Abb. 5.44): – Sitzschale: Orthese für Oberschenkel, Becken und Rumpf; bei Bedarf unter Einschluss von HWS und Hinterhaupt, – Peripheriebauteile: Unterstützung und Lagerung für Füße sowie für Hände/Arme. Fußstützen sind obligatorisch und orientieren sich in ihrer Ausführung an Erfordernissen, die aus der Pathologie der versorgten Person abzuleiten sind. Die Lagerungen der Hände/Arme differieren nach den funktionellen Gegebenheiten von einfachen Armlehnen, über Armlehnen mit individuellen Zurüstungen bis zu Therapietischen, – Positionssicherungen: Gurtkonstruktionen, Textilkonstruktionen oder Pelottenkonstruktionen, die das Herausrutschen aus der Sitzschale oder das Vorkippen von Rumpf und Becken verhindern, – Untergestell: rollstuhlähnliches Fahrzeug, aber ohne eigene Sitzeinheit, stattdessen mit einer Adaption für die Verbindung zur Sitzschale. Das Untergestell ist notwendiger Bestandteil einer Sitzschalenversorgung. Der Antrieb erfolgt – in Abhängigkeit der funktionellen Möglichkeiten der versorgten Person – entweder manuell über Greifreifen oder elektromotorisch mit Joystick-Steuerung bzw. Sondersteuerung. Im ungünstigsten Fall ist die versorgte Person auf Schiebeantrieb durch eine Begleitperson angewiesen (󳶳Kapitel 4).

Sitzschale

Positionssicherungen

Untergestell

Peripheriebauteile (a)

(b)

Abb. 5.44: Sitzschalenversorgung. (a) Rollstuhl mit Sitzschale, (b) Bestandteile eines Rollstuhls.

5.5.2 Einteilung von Sitzschalenversorgungen Individuelle Sitzversorgungen werden nach ihrem Versorgungsniveau eingeteilt, wobei eine adaptierte Sitzfläche als individuelle Zurüstung für die Sitzfläche eines Rollstuhls noch keine Sitzschale darstellt. Die Ausführungsformen von Sitzschalen werden in drei verschiedene Versorgungsniveaus unterschieden, die sich an den funktio-

5 Orthesen, Schienen und Bandagen | 335

individuelle Sitzversorgung

adaptierte Sitzfläche

Sitzschale

Sitzschale schultergürtelfrei Def.: anatomisch geformte Sitzfläche mit Sitzbeinmulden, Oberschenkelführungen etc.: – ggf. Formausgleich bei Asymmetrien im Bereich von Becken und/oder Oberschenkel – ggf. Sitzneigungskorrekturen

Verwendung: Einlegen in vorhandenes Sitzmöbel oder Rollstuhl

Sitzschale schultergürtelübergreifend

Sitzschale mit HWS- und Hinterhauptintegration (= Kopfstütze)

Def.: patientenspezifisch geformte Schale zur Einbettung von Rumpf, Gesäß, Oberschenkel mit: – Bettung anatomischer Prominenzen, ggf. Abduktionskeil, Oberschenkelführungen, Rumpfführung – Druckverteilung durch großflächige Körperunterstützung – ggf. Einstellungen zur Prophylaxe gegen pathologische Bewegungsmuster – ggf. Formausgleich bei Asymmetrien im Bereich von Rumpf, Becken, Gesäß und Oberschenkeln Rückenhöhe endet unterhalb der Schulterblätter insbesondere bei hoher Aktivität der oberen Extremitäten, z. B. selbstständiger Greifreifenantrieb

Rückenhöhe endet unterhalb der HWS, z. B. zur Unterstützung und Führung von Schultergürtel und oberer Extremität (die Position der Schulterblätter wirkt sich auch auf die HWS aus)

oberer Randverlauf fasst Hinterhaupt mit ein, insbesondere zur Bettung bei hypotonen Situationen oder zum Schutz gegen Überstreckung bei spastischen Bewegungsmustern

Verwendung: in der Regel Adaption auf fahrbarem Untergestell zum Ersatz fehlender Mobilität

Abb. 5.45: Einteilung individueller Sitzversorgungen [nach Stockmann 2006].

nellen Möglichkeiten und den pathologischen Erscheinungen der versorgten Person orientieren. 󳶳Abbildung 5.45 differenziert diese Versorgungsniveaus.

5.5.3 Patientenpositionierung und Passform Die Sicherstellung von Interaktionsmöglichkeiten zwischen einem Sitzschalenpatienten und seiner Umwelt ist in oben genannter Definition gefordert und schlägt sich in Positionierungsregeln nieder (󳶳Tab. 5.19). Tab. 5.19: Positionierungsregeln für Sitzschalenpatienten Positionierung von Sitzschalenpatienten – – –

Transversalebene: Orientierung von Kopf und Schultergürtel in Fortbewegungsrichtung Frontalebene: Orientierung von Kopf und Schultergürtel in der Medianebene Sagittalebene: Positionierung mit horizontalem Blickfeld

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Diese Positionierungsregeln erscheinen zunächst selbstverständlich, gewinnen aber an Relevanz, wenn die versorgte Person eine Windschlagdeformität, eine skoliotische Veränderung oder ausgeprägte Kyphosierung bzw. Lordosierung besitzt. Der Sitz-Rücken-Winkel (S-R-Winkel) einer Sitzschale beschreibt den Winkel zwischen Rückenfläche und Sitzfläche der Versorgung und stellt eine planerische Größe dar, abgeleitet aus den Ergebnissen der Zustandserhebung. Variationen des S-R-Winkels können unterschiedlich motiviert sein, so z. B. in der Berücksichtigung eventueller Bewegungsdefizite der Hüftgelenke. S-R-Winkel kleiner 90 Grad begründen sich auch über Tonusminderung bei spastischer Streckung oder über verstärkte Rutschhemmung. S-R-Winkel größer 90 Grad sind geeignet, eine aktive Rumpfaufrichtung anzuregen. Da die Versorgung von Sitzschalenpatienten vor allem auch als orthetische Versorgung von Oberschenkel, Becken und Rumpf zu verstehen ist, gelten hier vergleichbare Anforderungen an die Passform wie in der Orthetik. Die Form der Sitzschale muss sowohl der tatsächlichen Topographie der versorgten Person folgen, als auch deren Körperhaltung stabilisieren und erreichbare Korrekturen bewirken. Somit kommen in der Sitzschalenversorgung ähnliche Techniken der Formerfassung zum Tragen, wie in der Orthetik.

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Danksagung Die Autoren danken allen an der Erstellung des Kapitelmanuskripts beteiligten weiteren Personen an der RWTH Aachen, der Bundesfachschule für Orthopädietechnik und den Firmen Ottobock und medi, den Bereitstellern von Daten, Bilder und Informationen sowie den Mitarbeitern des Verlages WALTER DE GRUYTER.

Testfragen 1. Beschreiben Sie den funktionellen Unterschied zwischen Schienen, Orthesen und Bandagen. Wie werden diese Produktgruppen im Hilfsmittelverzeichnis unterschieden? 2. Welche Funktionen haben Schienen, Orthesen und Bandagen? Beschreiben sie kurz ihre medi­ zinische Wirkung! 3. Was versteht man unter Sensomotorik? 4. Nennen Sie Beispiele von Orthesen die a) die Bewegung verhindern, b) die Bewegung einschrän­ ken, c) die Bewegung unterstützen, d) einzelne Strukturen entlasten und e) korrigieren! 5. Nennen Sie fünf verschiedene Typen von Einlagen und beschreiben sie ihre Wirkungsweise! 6. Was versteht man unter einer funktionellen Knie-Orthese? Wie unterscheidet sich ihre Wirkungs­ weise sich von der entlastenden Knie-Orthese? 7. Welche Arten von orthetischen Kniegelenken kennen Sie? Welche Vor- und Nachteile haben sie? 8. Was ist eine entlastende Ganzbein-Orthese. Erläutern Sie, warum es zu einer Entlastung kommt! 9. Beschreiben Sie die Funktionsweise einer reziproken Gehorthese! 10. Wie unterscheiden sich Aufbau und Wirkung einer kurzen und einer langen Hand-Orthese? 11. Warum wird bei einigen Ellenbogen-Orthesen das Handgelenk fixiert? 12. Was bewirkt eine intraabdominale Druckerhöhung durch eine Rumpf-Orthese? 13. Worin besteht das 3-Punkt-Prinzip? 14. Was sind die Vorteile einer standphasenkontrollierten Ganzbein-Orthese? 15. Welche Aktivierungsarten für standphasenkontrollierte Ganzbein-Orthese kennen Sie? 16. Welchen Zweck haben Pelotten? 17. Welche Wirkprinzipien von Bandagen kennen Sie? 18. Was ist Quengeln? Welche Hilfsmittel zur Quengelung gibt es? 19. Welche Baugruppen gehören zu einer individuellen Sitzversorgung?

Peter Diesing, Marc Kraft

6 Hilfsmittel gegen Dekubitus 6.1 6.2 6.3

Entstehung von Dekubitalgeschwüren | 340 Arbeitsprinzipien von Hilfsmitteln gegen Dekubitus | 344 Arten von Hilfsmitteln gegen Dekubitus und Empfehlungen zur Nutzung | 346

Zusammenfassung: Unter Dekubitus bzw. Druckgeschwür wird eine Schädigung des Körpergewebes verstanden, die durch mangelnde Durchblutung und folglich mangelhafte Gewebsernährung hervorgerufen wird. Besonders gefährdet sind immobile Patienten mit Körperarealen, bei denen prominente Knochenvorsprünge direkt an das Unterhautfettgewebe grenzen und eine entlastende Muskulatur fehlt. Neben zahlreichen anderen notwendigen Maßnahmen können auch Hilfsmittel wie Matratzen und Sitzkissen für die Prophylaxe oder Therapie eines Dekubitus geeignet sein. Sie nutzen u. a. die Arbeitsprinzipien Weichlagerung, Wechsel- bzw. Umlagerung, Freilagerung, Gleitlagerung oder Wahrnehmungsförderung bzw. aktive und passive Belüftung der Auflagefläche. Abstract: Pressure ulcers are defined as localized damage to the skin and the underlying tissue due to reduced tissue nutrition resulting from impaired perfusion. There is a high risk for immobile patients with considerable bone protuberances next to the subcutaneous tissue lacking relieving muscles. In addition to numerous other necessary treatments, medical devices such as mattresses or seat pads may be appropriate for the prevention or treatment of pressure ulcers. These approaches apply different operating principles, like soft bedding, repositioning, free bedding, slide bedding, promotion of perception and active or passive ventilation of the contact area.

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6.1 Entstehung von Dekubitalgeschwüren Druckgeschwüre, auch Dekubitus, Dekubitalulkus oder Wundliegen genannt, stellen die Pflegenden immobiler Menschen vor eine große Herausforderung. Im Jahr 2012 hatten 13 275 stationäre Patienten die Diagnose Dekubitalgeschwür und Druckzone (ICD L89) [Statistisches Bundesamt 2013]. Die Prävalenz dieser Erkrankung liegt insgesamt jedoch deutlich höher, da zahlreiche nicht stationär behandelte Patienten hinzukommen. Sie beträgt nach Schätzung unterschiedlicher Gruppen zwischen 200 000 bis 1,5 Millionen Fälle pro Jahr in Deutschland, und die daraus resultierenden Kosten liegen im Bereich zwischen 1 bis 2 Milliarden Euro [Mayer 2004, Reger 2001]. Das Problem des Dekubitus ist bereits seit vielen Jahrhunderten bekannt. Die ersten Berichte über dieses Phänomen sind aus dem alten Ägypten überliefert. Der Begriff Dekubitus bildete sich erst im Laufe der Zeit als Bezeichnung für ein Druckgeschwür heraus. Zunächst wurden derartige Wunden als „Gangraena“ zusammengefasst und entsprechend der Ursache als „Gangraena per decubitum“ bezeichnet. Abgeleitet von dem lateinischen Wort „decubare“, was so viel wie „darniederliegen“ bedeutet, lässt sich „Gangraena per decubitum“ mit „faulige Wunde durch das Liegen“ übersetzten. Später haben sich die eingedeutschten Bezeichnungen „Dekubitalulkus“ oder „Dekubitus“ durchgesetzt [Diesing 2006]. Unter einem 󳶳 Dekubitus, auch als Druckgeschwür, Dekubitalulkus oder Wundliegen bezeichnet, wird eine trophische (die Ernährung betreffende) Schädigung von Gewebe verstanden. Das be­ troffene Körpergewebe wird nicht ausreichend durchblutet und so unzureichend mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt. Die so entstehende Wunde kann von oberflächlichen Hautschichten über tiefer liegende Bindegewebsschichten bis zum Knochen reichen [HMV 2014].

Die mikrobiologische Entstehung eines Dekubitus ist bisher nicht abschließend geklärt. Vielmehr existieren verschiedene Hypothesen. Das bekannteste Erklärungsmodell geht davon aus, dass es unter Einwirkung einer äußeren mechanischen Belastung im Weichgewebe zum Kollabieren der Kapillaren und damit zu einer Mangeldurchblutung kommt. Eine steigende mechanische Belastung führt damit zur Verringerung der Sauerstoffperfusion, wodurch sich eine lokale Ischämie ausbildet, die im Zeitverlauf zu einer tiefen Gewebsnekrose führt. Kosiak beschrieb 1956 auf Basis von tierexperimentellen Untersuchungen an Beagle-Hunden den Zusammenhang zwischen der Einwirkungsdauer, dem Grad der Druckbelastung und der Wahrscheinlichkeit eines Dekubitus [Kosiak 1959; Reswick 1976]. An 16 Tieren wurde mit einer speziellen Vorrichtung Druck (p) unterschiedlicher Einwirkdauer (t) ausgeübt. Das Entstehen bzw. Ausbleiben eines Druckgeschwürs lässt sich durch die so genannte Kosiak-Gleichung ausdrücken: p ⋅ t = const (6.1)

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341

Dekubitusentstehung extrinsische Faktoren

intrinsische Faktoren

Körperhygiene, Feuchtigkeit, Lagerung, Hebe- und Lagerungstechnik, Medikamente

Infektionen, Mangelernährung, neurologische Erkrankungen, reduzierte Mobilität, Stoffwechselerkrankungen, Austrocknung, Inkontinenz, Gewicht, Alter

Abb. 6.1: Extrinsische und intrinsische Faktoren der Dekubitusentstehung.

Die Konstante in dieser Formel wird im Allgemeinen als Ischämietoleranz bezeichnet und ist von den individuellen Risikofaktoren einer Dekubitusentstehung abhängig. Die Ergebnisse wurden von Reswick und Rogers 1976 bei Patienten bestätigt [Reswick 1976]. Die Einflussfaktoren auf die Entstehung eines Dekubitalgeschwürs werden allgemein in extrinsi­ sche und intrinsische Faktoren unterteilt. Die intrinsischen Faktoren gehen dabei primär auf die physiologischen und pathologischen Eigenschaften des Patienten ein, während die extrinsischen Faktoren durch die pflegerischen und ärztlichen Handlungen am Patienten bestimmt werden.

In 󳶳Abbildung 6.1 sind die wichtigsten Einflussfaktoren dargestellt, wobei abhängig von spezifischen Pathologien des Patienten weitere Faktoren einzubeziehen sind. Für die Bewertung und Auswahl von Hilfsmitteln sind im Wesentlichen die Faktoren Lagerung, Feuchtigkeit, Hebe- und Lagerungstechniken, Mobilität und Gewicht zu berücksichtigen. Dekubitalgeschwüre treten immer an Körperstellen auf, an denen konvexe Skelettbereiche (Knochenvorsprünge) von einer Gewebeschicht bedeckt sind und gleichzeitig auf diesen Bereich eine Kraft einwirkt (Prädilektionsstelle). Besonders gefährdet sind Areale, bei denen diese prominenten Knochenvorsprünge direkt an das Unterhautfettgewebe grenzen und eine entlastende Muskulatur fehlt. Dementsprechend entstehen die meisten Druckgeschwüre an den Auflagepunkten, durch die das Körpergewicht in die Lagerungsfläche eingeleitet wird. Diese sind wiederum von der Lagerungsposition (liegend oder sitzend) und der Ausrichtung der Körperquerachse (Rückenlage, Seitenlage, Bauchlage) abhängig. In 󳶳Abbildung 6.2 sind die Knochenvorsprünge dargestellt, an denen sich potenziell ein Dekubitus ausbilden kann. In 󳶳Tabelle 6.1 ist die Häufigkeit von Dekubitalge-

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Tab. 6.1: Dekubitus Prädilektionsstellen [Versluysen 1986]. Prädilektionsstelle (am häufigsten betroffene Körperstelle)

Häufigkeit

Sakralbereich (Crista sacralis mediana ossis sacris) Fersen (Tuber calcanei) Großer Rollhügel (Trochanter major) Seitliche Fußknöchel (Malleolus lateralis) Sitzbeine (Tuber ossis ischii) Sonstige

Rückenlage

36 % 12 % 17 % 7% 15 % 13 %

Sitzposition

3 4 5

1 1

2 4

15 15

3 Seitenlage 14 14 12

11

10 9

8 7

6 13

Rückenlage

Seitenlage

Sitzposition

Fersen (1) (Tuber calcanei ) Steißbein, Kreuzbein (2) (Os Coccygis, Os sacrum) Ellenbogengelenk (3) (Articulatio cubiti ) Schulterblätter (4) (Scapula) Hinterhauptknochen (5) (Os occipitale)

seitlicher Knöchel (6) (Malleolus lateralis) Wadenbein (7) (Fibula) Kniegelenk (8) (Condylus femoris) großer Rollhügel (9) (Trochanter Major) Beckenkamm (10) (Os ilii ) Schultergelenk (11) (Articulatio humeri ) Ohr (12) (Auris externa)

Fersen (13) (Tuber calcanei ) Sitzbeinhöcker (14) (Tuber ossis ischii ) Schulterblätter (15) (Scapula)

Abb. 6.2: Dekubitus-Prädilektionsstellen in Abhängigkeit von der Körperlage.

schwüren an verschiedenen Körperstellen nach Versluysen beschrieben [Versluysen 1986]. Entsprechend der Definition des European Pressure Ulcer Advisory Panel [EPUAP 2009] werden Dekubitalulzera in vier Kategorien eingeteilt. Allerdings ist die Zuordnung zu den verschiedenen Stadien oft nur sehr schwer möglich und die Grenzen gehen fließend ineinander über. Die Beschreibung der Kategorien wird gekürzt aus [EPUAP 2009] zitiert:

6 Hilfsmittel gegen Dekubitus | 343









Kategorie I: Nicht wegdrückbare, umschriebene Rötung bei intakter Haut, gewöhnlich über einem knöchernen Vorsprung. Der Bereich kann schmerzempfindlich, verhärtet, weich, wärmer oder kälter sein als das umgebende Gewebe. Kategorie II: Teilzerstörung der Haut (bis in die Dermis/Lederhaut), die als flaches, offenes Ulcus mit einem rot bis rosafarbenen Wundbett ohne Beläge in Erscheinung tritt. Kann sich auch als intakte oder offene/rupturierte, serumgefüllte Blase darstellen. Manifestiert sich als glänzendes oder trockenes, flaches Ulcus ohne nekrotisches Gewebe oder Bluterguss. Kategorie III: Zerstörung aller Hautschichten, subkutanes Fett kann sichtbar sein, jedoch keine Knochen, Muskeln oder Sehnen. Es kann ein Belag vorliegen, der jedoch nicht die Tiefe der Gewebsschädigung verschleiert. Es können Tunnel oder Unterminierungen vorliegen. Kategorie IV: vollständiger Haut oder Gewebeverlust/totaler Gewebeverlust mit freiliegenden Knochen, Sehnen oder Muskeln, Belag und Schorf können vorliegen, Tunnel oder Unterminierungen liegen oft vor. Wunden der Kategorie IV können sich in Muskeln oder unterstützende Strukturen ausbreiten (Faszien, Sehnen oder Gelenkkapseln) und können dabei leicht Osteomyelitis oder Ostitis verursachen. Knochen und Sehnen sind sichtbar oder tastbar.

Die in den 󳶳 Kapiteln 6.2 und 6.3 beschriebenen Hilfsmittel gegen Dekubitus stellen nur einige der Möglichkeiten dar, einen Dekubitus zu vermeiden bzw. seine Therapie zu unterstützen. Für eine erfolgreiche Behandlung eines Patienten sind auch die folgenden Maßnahmen sehr wichtig: – Einschätzung des Dekubitusrisikos: Die Einschätzung des Dekubitusrisikos ist die Basis für alle weiteren Maßnahmen am Patienten. Um eine systematische und vergleichbare Einschätzung des Risikos zu erhalten, werden üblicherweise Risikoskalen (BRADEN-, NORTEN-, WATERLOW-Skala etc.) genutzt. Das Ergebnis soll den Behandelnden in die Lage versetzen, geeignete Maßnahmen für den Patienten zu ergreifen. – Bewegungsförderung: Der Dekubitus tritt vorrangig bei Menschen auf, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Gelingt es, die Mobilität dieser Patienten zu verbessern, erreicht man in der Regel eine Verringerung des Dekubitusrisikos. – Hautpflege und Hautschutz: Bei der bereits geschädigten Haut kann durch Maßnahmen der Hautpflege eine Verbesserung der Heilung erreicht werden. Wird die Haut z. B. dauerhaft Urin und Feuchtigkeit im Bereich einer mechanischen Belastung ausgesetzt, so können Maßnahmen zum Hautschutz eine Mazeration und nachfolgend einen Dekubitus verhindern oder verzögern. – Ernährung: Da eine Mangelernährung zu einem Abbau von Muskeln und Weichgewebe führen kann, steigt dadurch das Risiko eines Dekubitus. – Informieren, Schulen und Beraten: Nur wenn die Betroffenen, die professionellen Pflegekräfte und die Angehörigen des Betroffenen über die Möglichkeiten und Risiken informiert sind, können sie geeignete Maßnahmen (z. B. manuelle Umlagerung) ergreifen, um Schaden vom Betroffenen abzuwenden. Nur die sinnvolle Kombination aller genannten Maßnahmen kann einen Dekubitus bei einem gefährdeten Patienten vermeiden oder lindern. Keinesfalls ist die Auswahl eines Hilfsmittels allein für die Prophylaxe oder Therapie eines Dekubitus geeignet.

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6.2 Arbeitsprinzipien von Hilfsmitteln gegen Dekubitus Hilfsmittel gegen Dekubitus kombinieren häufig mehrere Arbeitsprinzipien, um einen möglichst hohen prophylaktischen und therapeutischen Nutzen zu erreichen. Da die Optimierung eines Arbeitsprinzips aber andere Risikofaktoren negativ beeinflussen kann, muss sich ein Antidekubitus-System oft mit einem Kompromiss im Produktangebot positionieren. So erlaubt ein Produkt mit maximaler Weichlagerung zwar eine Verringerung der maximalen Auflagedrücke, schränkt aber die Möglichkeiten der Eigenmobilität ein. Für Patienten mit dem Therapieziel der schnellen Mobilisierung eignet sich demnach z. B. ein Produkt, das bei moderater Weichlagerung auch eine angemessene Eigenmobilität zulässt. Orientiert man sich bei der Klassifikation von Hilfsmitteln gegen Dekubitus an der Ursache und den Risikofaktoren für Druckgeschwüre, kann man folgende Arbeitsprinzipien definieren (󳶳 Abb. 6.3): – Weichlagerung, – Wechsel- bzw. Umlagerung, – Freilagerung, – Gleitlagerung, – Wahrnehmungsförderung, – aktive und passive Belüftung der Auflagefläche.

Weder im Hilfsmittelverzeichnis (HMV) noch in der Norm DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie) sind Definitionen für Hilfsmittel gegen Dekubitus enthalten, die auf ihre Wirkung eingehen. Im Hilfsmittelverzeichnis [HMV 2014] steht in der Produktgruppe 11 eine allgemeine Abgrenzung der Zweckbestimmung: „Hilfsmittel gegen Dekubitus dienen der Vorbeugung und unterstützen (begünstigen) die Behandlung von Dekubitusulzera bei bettläWeichlagerung aktive oder passive Belüftung

Umlagerung

Luft H2O

Luft

Gleitlagerung en ück

Hohllagerung FN-Ferse

FN-Sakrum

FQ-Ferse

FQ-Sakrum

FN-R en ück FQ-R

Abb. 6.3: Fünf Arbeitsprinzipien von Hilfsmitteln gegen Dekubitus mit FN : Normalkraft und FQ : Querkraft.

6 Hilfsmittel gegen Dekubitus | 345

gerigen oder ständig sitzenden Menschen und werden am Markt in unterschiedlichsten Ausführungen und Qualitäten angeboten.“ In der DIN EN ISO 9999 wird auf die Therapie nicht eingegangen. Unter „Hilfsmittel für Dekubitusprophylaxe“ (Klasse 04 33) findet sich nur der Hinweis „eingeschlossen sind z. B. Produkte zur Vermeidung von Druckwunden und -geschwüren“ [ISO 9999]). So wird hier nachfolgende, erweiterte Definition empfohlen: 󳶳 Antidekubitus-Systeme (Hilfsmittel gegen Dekubitus) verwenden unterschiedliche Arbeitsprin­ zipien, um das Risiko einer Druckgeschwürentstehung zu senken bzw. dessen Heilung zu be­ schleunigen. Sie versuchen die lokale mechanische Belastung zu verringern, deren Einwirkzeit zu verkürzen oder weitere Risikofaktoren zu minimieren. Entsprechend der patientenspezifischen Gefährdung bzgl. der Ausbildung von Druckgeschwüren beim Liegen oder Sitzen werden folgende Hilfsmittel gegen Dekubitus eingesetzt: OP-Tischauflagen, Matratzen und Sitzkissen für Rollstüh­ le.

Bei der Weichlagerung sinkt der Patient in das Hilfsmittel ein und vergrößert somit die Auflagefläche. Durch die größere Fläche verringert sich der maximal wirkende Druck auf das Gewebe. Es wird weniger stark komprimiert und verschoben, wodurch die Durchblutung im Gewebe verbessert wird. Allerdings verschlechtert sich durch das Arbeitsprinzip Weichlagerung gleichzeitig die Möglichkeit für den Patienten, eine Eigenmobilität zu entwickeln und Spontanbewegungen auszuführen. Hilfsmittel, die das Arbeitsprinzip der Wechsel- bzw. Umlagerung verwenden, ändern zeitlich und örtlich die Belastung auf die Kontaktfläche. Dabei wird jeweils ein Bereich belastet, während ein anderer Bereich entlastet wird. Im entlasteten Bereich wird die Sauerstoffperfusion im Gewebe verbessert, während es im belasteten Bereich zu einer Verschlechterung des Sauerstoffangebotes kommt. In den Gewebearealen unter den jeweils entlüfteten Zellen soll der kapillare Verschlussdruck unterschritten werden, damit es im Gewebe zu einer Reperfusion kommen kann. Damit der stärker belastete Bereich nicht geschädigt wird, wechselt man die Belastungs- und Entlastungszonen in einem vom Hilfsmittel festgelegten Rhythmus. Unter Wechsellagerung versteht man allgemein die wechselnde Belastung quer zur Körperlängsachse, während Umlagerung üblicherweise eine Drehung um die Körperlängsachse bedeutet. Die Frei- oder Hohllagerung ist ein Sonderfall der Umlagerung, bei der ein Bereich vollständig entlastet und damit frei gelagert wird. Die Kraft, die auf diesem Gewebe lastet, muss von umliegenden Arealen aufgenommen werden. Im Unterschied zur Umlagerung wird bei der Freilagerung die Lagerung im Zeitverlauf aber nicht verändert, die Entlastung erfolgt andauernd. Zu beachten ist, dass die stärkere Beanspruchung des die Belastung aufnehmenden Gewebes nicht zu einer Schädigung dieses Gewebes führen darf. Wie in Untersuchungen mit Laser-DOPPLER-Sauerstoffperfusionsmessungen gezeigt wurde, ist dieses Arbeitsprinzip insbesondere für die Ferse wichtig, da hier auch durch eine Wechsellagerung keine adäquate Sauerstoffversorgung erfolgen kann [Salcido 1994].

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Während bei der Weich-, Um-, Wechsel- und Freilagerung nur die Normalkomponenten der mechanischen Belastung berücksichtigt werden, bezieht die Gleitlagerung die senkrecht zur Normalkraft wirkende Scherkraft ein. Beim Gleiten wird die durch Haftreibung und eine wirkende Normalkraft entstehende Querkraft gegenüber dem Haften verringert. Querkräfte entstehen zum einen durch Herabrutschen an schiefen Ebenen (hochgestelltes Kopfende) als auch beim Einsinken des Patienten in ein Hilfsmittel und werden primär durch den Haftreibungskoeffizienten und die horizontale Steifigkeit eines Hilfsmittels bzw. dessen Bezug verursacht. Im Unterschied zu den vorgenannten Arbeitsprinzipien orientiert sich die Wahrnehmungsförderung nicht an der Ursache „mechanische Belastung“, sondern an den Risikofaktoren „Mobilität“ und „Aktivität“. Ziel dieses Arbeitsprinzips ist es, durch eine vom Hilfsmittel unterstützte Stimulation der sensorischen Nervenzellen im Kontaktbereich die Eigenmobilität des Patienten zu verbessern und somit das Dekubitusrisiko zu senken bzw. die Heilung zu fördern. Die Arbeitsprinzipien aktive und passive Belüftung der Auflagefläche werden abgeleitet von dem Risikofaktor „Feuchtigkeit“, der in vielen Risikobewertungstools aufgeführt wird. Durch Belüftung wird das Abströmen der Feuchtigkeit gefördert, womit das Risiko zur Mazeration (Einweichen) der Haut verringert wird. Darüber hinaus hat trockene Haut einen deutlich kleineren Haftreibungskoeffizienten als feuchte Haut, womit gleichzeitig die Möglichkeit zur Einleitung von Querkräften vermindert wird. Von passiver Belüftung spricht man, wenn durch das Material (z. B. offenporige Schaumstoffe) bzw. die Struktur der Oberfläche ein Transport von Feuchte und Wärme auf der Basis von Diffusionsprozessen erfolgen kann. Als aktive Belüftung bezeichnet man den durch eine motorisierte Hilfsenergie geförderten Abtransport von Feuchtigkeit vom Patienten weg. Eine aktive Belüftung wird beispielsweise in Produkten mit Luftstromtherapie angewendet. Eine ausführliche Darstellung der Arbeitsprinzipien von Hilfsmitteln gegen Dekubitus einschließlich umfangreicher Empfehlungen zur Prophylaxe und Therapie von Druckgeschwüren enthält die Leitlinie „Ambulante Versorgung von Patienten mit Dekubitus“ der Deutschen Dekubitus Liga [Deutsche Dekubitus Liga 2015].

6.3 Arten von Hilfsmitteln gegen Dekubitus und Empfehlungen zur Nutzung In der dritten Klassifikationsstufe der DIN EN ISO 9999 finden sich vier Untergruppen von Hilfsmitteln für Dekubitusprophylaxe [ISO 9999]: – Sitzkissen und Unterlagen für die Hautintegrität (Klasse 04 33 03): Vorrichtungen für die Hautintegrität durch Umverteilung der auf das Gesäß wirkenden Last, – Rückenkissen und Rückenpolster für die Hautintegrität (Klasse 04 33 04): Vorrichtungen zur Umverteilung der auf empfindliche Rückenpartien wirkenden Last,

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Hilfsmittel für die Gewebeintegrität beim Liegen (Klasse 04 33 06): Produkte zur Umverteilung der auf empfindliche Körperpartien wirkenden Last bei lang anhaltendem Liegen und zur Verhinderung von Wundliegen und Dekubitalgeschwüren, Spezialausrüstung für die Gewebeintegrität (Klasse 04 33 09): Ausrüstung, die den auf bestimmte Körperteile ausgeübten Druck misst oder bei zu hohem Druck davor warnt (z. B. Antidekubitus-Alarme) [ISO 9999]).

Deutlich konkreter sind die Beschreibungen der Produktgruppe 11 im Hilfsmittelverzeichnis der GKV [HMV 2014], in der die Antidekubitus-Systeme sowohl zur Prophylaxe als auch zur Therapieergänzung empfohlen werden. Es werden unterschieden: – Liege- und Sitzhilfen aus Weichlagerungsmaterialien: dienen mit unterschiedlicher Materialbeschaffenheit, Materialqualität und Oberflächengestaltung als Kissen, Matratzen und Auflagen der Druckverteilung, – gelgefüllte Hilfen: enthalten synthetische Gele und dienen der Druckverteilung und der Stoßdämpfung im Rollstuhl (󳶳Kapitel 4), – luftgefüllte Hilfen zur kontinuierlichen Weichlagerung: bestehen aus Luftzellen oder Luftzellensystemen, die mit Luft gefüllt werden und dienen der Druckverteilung. Dabei können sie dem Gewicht des Patienten angepasst werden und lassen sich platzsparend aufbewahren, – Hilfen zur intermittierenden Entlastung (Wechseldrucksysteme 󳶳Abb. 6.4): die unterschiedlichen Luftkammern der Produkte werden von einer Pumpe wechselweise mit Raumluft befüllt bzw. entlüftet, sodass es zur lokalen Druckentlastungen durch Freilagerung und durch kontinuierliche Änderungen der Druckverteilungen kommt, – dynamische Liegehilfen zur Umlagerung: die in der Längsrichtung beweglichen Matratzen ermöglichen es beispielsweise durch Aufblasen verschiedener (a)

(b)

Abb. 6.4: Hilfsmittel gegen Dekubitus. Wechseldrucksystem der Fa. AIRSYSTEMS Medizinische Pro­ dukte: (a) Außenansicht, (b) abgedeckt mit Pumpeneinheit.

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Luftkammern, den Patienten um seine Längsachse in eine wechselnde Seitenlage zu wenden, dynamische Systeme zur Stimulation von Mikrobewegungen: bestehen aus einer Schaumstoffmatratze, welche mit speziellem Rahmen und Steuergeräten ergänzt wird, die über verschiedene Mechanismen den Patienten zur Durchführung von Eigenbewegungen anregen, statische Positionierungshilfen: speziell geformte Kissen und Polsterelemente, welche zur hautschonenden Positionierung und Umlagerung von Extremitäten bzw. des Rumpfes oder des ganzen Körpers dienen (z. B. Fersenschoner, Gelenkschoner).

Zur Verbesserung der mikroklimatischen Eigenschaften und zur Verminderung von Scher- und Reibungskräften werden die Produkte immer mit speziellen Bezügen angeboten. Diese sind elementarer Bestandteil des Produktes und bestimmen häufig die Wirkung des Hilfsmittels (insbesondere das sich bildende Mikroklima und die Scherkräfte) wesentlich mit. Luftgefüllte Hilfsmittel werden auch mit Mikroperforationen angeboten, die einen definierten Luftaustritt an der Oberfläche ermöglichen und so das Mikroklima verbessern (z. B. sog. „Low-Air-Loss“-Systeme). Im Hilfsmittelverzeichnis [HMV 2014] werden auch Produkte benannt, zu denen nach Ansicht des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) aktuell keine medizinischen und pflegerischen Erkenntnisse vorliegen, die einen medizinischen Nutzen belegen. Dazu zählen wassergefüllte Produkte, Felle, Bandscheibenmatratzen, Sitzringe und Lagerungsringe. In ihren Empfehlungen deutlich konkreter und teilweise vom HMV der GKV abweichend ist die Leitlinie zur Prävention und Behandlung von Dekubitus des European Pressure Ulcer Advisory Panel [EPUAP 2009]. Hier wird auch die jeweilige Evidenzlage der enthaltenen Empfehlungen klassifiziert mit: – Stärke A: Empfehlung mit direkter wissenschaftlicher Evidenz nach großen randomisierten kontrollierten Studien mit eindeutigen statistischen Ergebnissen, – Stärke B: Empfehlung mit direkter wissenschaftlicher Evidenz nach kleinen oder nicht- randomisierten kontrollierten klinischen Studien, – Stärke C: Empfehlung mit indirekter wissenschaftlicher Evidenz, z. B. durch Studien an gesunden Menschen, Menschen mit anderen Wundformen, Tiermodellen oder Expertenmeinung. Im Zusammenhang mit der Lagerung von Patienten wird zur Dekubitusprophylaxe mit höchster Evidenzstärke (A) eine Wechsellagerung bei allen Personen mit Dekubitusrisiko empfohlen, wobei die Häufigkeit der Wechsellagerung von der verwendeten Unterlage abhängig ist. Wechseldruckauflagen und Wechseldruckmatratzen haben sich in Bezug auf die Dekubitusinzidenz als gleich effektiv erwiesen. Weiterhin sollten spezielle Schaumstoffmatratzen statt Standard-Krankenhausmatratzen genutzt werden [EPUAP 2009].

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Mit mittlerer Evidenz (Stärke B) wird empfohlen, dass ein Patient ohne Druckentlastung nur eine begrenzte Zeit in einem Stuhl verbringt. Deshalb sollten im Stuhl sitzende, in ihrer Mobilität eingeschränkte, dekubitusgefährdete Personen ein Sitzkissen zur Druckverteilung erhalten. Interessanterweise haben sich ebenfalls bei mittlerer Evidenz (im Wiederspruch zum HMV) natürliche Schaffelle als wirksam erwiesen. Es heißt hier, sie können möglicherweise bei der Prävention von Dekubitus hilfreich sein. Weiterhin sollten druckverteilende OP-Tischauflagen bei allen Patienten mit Dekubitusrisiko genutzt werden. Sehr zahlreiche weitere Empfehlungen haben nur die geringste Evidenzstärke C [EPUAP 2009]. Im Hilfsmittelverzeichnis wird beschrieben, dass die Durchführung von kontrollierten randomisierten Studien für Hilfsmittel gegen Dekubitus aufgrund ethischer, praktischer und auch wirtschaftlicher Aspekte nur äußerst schwer realisierbar ist [HMV 2014]. Dieser Erkenntnis ging eine randomisierte Multicenter-Pilotstudie voraus, die vom Fachgebiet Medizintechnik der TU Berlin durchgeführt wurde. Sie sollte als Vorarbeit zur Entwicklung des Designs einer klinischen Studie dienen, mit deren Hilfe bei geriatrischen Patienten signifikante Unterschiede zwischen verschiedenen Hilfsmitteln in der Dekubitusprophylaxe nachgewiesen werden sollten [Diesing 2006]. In der Pilotstudie konnte berechnet werden, dass bei einer Inzidenz-Differenz von 4 % zwischen Prüf- und Kontrollgruppe ein Stichprobenumfang von 718 Patienten je Gruppe notwendig wäre. Zu berücksichtigen ist, dass nur die Daten von 54 Prozent aller randomisierten Patienten innerhalb der Studie auswertbar waren (Drop-Out u. a. durch Entlassung oder Versterben von Patienten während des Beobachtungszeitraums). Somit hätten in die eigentliche Studie 2 659 Patienten aufgenommen werden müssen, um ein aussagekräftiges Ergebnis zu erhalten. Für die Berechnung der Gesamtlaufzeit der Studie ist die Rekrutierungsrate der Pilotstudie anzusetzen. Es war gelungen, 3,3 Patienten pro Monat in die Studie einzuschließen. So ergab sich für diesen Worstcase eine notwendige Laufzeit der Studie von 67 Jahren [Diesing 2006]. Zweifellos ist eine klinische Prüfung von Medizinprodukten unter derartigen Rahmenbedingungen indiskutabel. Für die Anmeldung von Produkten zur Aufnahme in das HMV kann daher der medizinische Nutzen eines neuen Hilfsmittels auch nachgewiesen werden, indem auf vorhandene, präklinische und klinische Daten zu Produkten mit gleichem Wirkprinzip verwiesen wird [HMV 2014]. Der MDS hat basierend auf weiteren Vorarbeiten des Fachgebietes Medizintechnik der TU Berlin [Diesing 2006] Richtlinien zur Durchführung von Laborprüfverfahren für funktionelle Untersuchungen an Antidekubitus-Systemen veröffentlicht [MDS 2005]. Zu den erforderlichen Messungen gehören Analysen der Druckverteilung und der Scherkräfte anhand verschiedener Modelle des Sakralbereiches sowie die Erfassung mikroklimatischer Eigenschaften. Der Entwicklung dieser Prüfverfahren gingen umfangreiche klinische Datenerhebungen voraus. Anhand dieser Daten konnten die Modelle der Prüfsysteme validiert werden. Die Methodik der Entwicklung modellbasierter Prüfverfahren für Medizinprodukte ist in die VDI-Richtlinie 5703 [VDI 5703] eingegangen.

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Verzeichnis der Quellen, alphabetisch Deutsche Dekubitus Liga: Leitlinie „Ambulante Versorgung von Patienten mit Dekubitus“ der Deut­ schen Dekubitus Liga. Download unter: http://www.deutsche-dekubitusliga.de/fileadmin/ user_upload/ddl/literatur/Leitfaden_Dekubitus-DDL__e_V.pdf, Stand 18.01.2015. Diesing P.: Prüf- und Bewertungsmethoden für Antidekubitus-Systeme, Dissertation, TU Berlin 2006, Download unter: http://opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2007/1388/pdf/diesing_peter. pdf, Stand 2.9.2014. DIN EN ISO 9999 Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie. Berlin: Beuth Verlag, 2011. European Pressure Ulcer Advisory Panel and National Pressure Ulcer Advisory Panel: Prevention and Treatment of pressure ulcers – quick reference guide. Washington DC: National Pressure Ulcer Advisory Panel, Washington DC, 2009. Hilfsmittelverzeichnis der GKV. Download unter: http://www.rehadat.de/gkv3/Gkv.KHS, Stand 2.9.2014. Kosiak M.: Etiology and pathology of ishemic ulcers. Archives of Physical Medicine and Rehabilitati­ on 40 (1959), 62–69. Mayer H., Schroder G., Osterbrink J.: Klinische Evaluation der Wirksamkeit des MiS Micro-Stimulati­ ons-Systems Thevo-Activ, 2004. Download unter: http://www.iftra.de/docs/activ_studie_deut_ eng.pdf, Stand 2.9.2014. Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der GKV: Prüfmethode 11 – 1 03/2004 MDS, Pro­ duktgruppe 11. – Hilfsmittel gegen Dekubitus, Bestimmung der funktionellen Eigenschaften für Schaumstoffmatratzen und -auflagen. Download unter: http://www.mds-ev.de/media/pdf/E__Pruefmethode_PG_11_komplett.pdf, Stand: 28.10.2005. Reger S. I., Adams T. C., Maklebust J. A., Sahgal V.: Validation test for climate control on air-loss supports. Arch Phys Med Rehabil 82 (2001), 597–603. Reswick J., Rogers J. E.: Experience at Rancho Los Amigos Hospital with devices and techniques to prevent pressure ulcers. In: Kenedi R. M., Cowden J. M., Scales J. T. (Eds): Bedsore Biomecha­ nics. London: The Macmillan Press 1976, 301–310. Roales-Welsch S.: Studie zur Qualitatssicherung in der Prophylaxe und Therapie des Dekubitus durch Auflagedruckmessungen bei Probanden auf verschiedenen Weichlagerungs- und Wech­ seldrucksystemen. Pflege, 2000. Salcido R., Donofrio J. C., Fisher S. B., LeGrand E. K., Dickey K., Carney J. M.: Histopathology of pres­ sure ulcers as a result of sequential computer-controlled pressure sessions in a fuzzy rat mo­ del. Advanced Wound Care 7 (1994), 23–40. Statistisches Bundesamt: Gesundheit Diagnosedaten der Patienten und Patientinnen in Kranken­ häusern (einschl. Sterbe- und Stundenfälle) 2012. Wiesbaden, 2013. VDI 5703 (Entwurf) Systematische Entwicklung modellbasierter Prüfungen für Medizinprodukte. Berlin: Beuth Verlag, 2014. Versluysen M.: How elderly patients with femoral fracture develop pressure sores in hospital. Bri­ tish medical journal, 292 (1986), 1311–1313

Verzeichnis weiterführender Literatur, alphabetisch Deutsche Dekubitus Liga e. V.: Ambulante Versorgung von Patienten mit Dekubitus, Deutsche De­ kubitus Liga Berlin, 2. Auflage, 2009. Download unter http://www.deutsche-dekubitusliga.de/ fileadmin/user_upload/ddl/Leitfaden_Dekubitus-DDL__e_V.pdf, Stand: 2.9.2014.

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Eberhardt S., Heinemann W., Kulp W., Greiner C., Leffmann C., Leutenberger M., et al.: Dekubi­ tusprophylaxe und -therapie. Köln: Deutsche Agentur für Health Technology Assessment des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information 2005. Download unter: http://portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta128_bericht_de.pdf, Stand: 2.9.2014.

Danksagung Die Autoren danken allen an der Erstellung des Kapitelmanuskripts beteiligten weiteren Personen an der TU Berlin, den Bereitstellern von Daten, Bilder und Informationen sowie den Mitarbeitern des Verlages WALTER DE GRUYTER.

Testfragen 1. Was versteht man unter einem Dekubitus bzw. Druckgeschwür? 2. Wie erklärt man sich heute die Entstehung eines Druckgeschwürs? 3. Welche Einflussfaktoren sind bei der Entstehung eines Druckgeschwürs wichtig? 4. An welchen Körperstellen treten Druckgeschwüre vorrangig auf? 5. Wie können Hilfsmittel gegen Dekubitus definiert werden? 6. Welche Arbeitsprinzipien nutzen Hilfsmittel gegen Dekubitus? 7. Erklären Sie die sechs wichtigsten Arbeitsprinzipien von Hilfsmitteln gegen Dekubitus!

Wolfram Roßdeutscher, Marc Kraft

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch 7.1 7.2 7.3 7.4

Kommunikationshilfen | 354 Sehhilfen | 374 Hörhilfen | 379 Sprechhilfen | 389

Zusammenfassung: Einschränkungen oder Ausfall von sensorischen Wahrnehmungsfunktionen oder motorischen Ausdrucksfunktionen führen bei den Betroffenen zum Verlust von Kommunikationsmöglichkeiten und haben Auswirkungen im sozialen Bereich. Technische Hilfen können die eingeschränkten oder verlorenen Fähigkeiten nur begrenzt ersetzen. Dieses Kapitel beschreibt Hilfsmittel, Methoden und Konzepte zur Kompensation der Einschränkung von sensorischen Funktionen und Sprechfunktionen. Es werden Kommunikationshilfen, Sehhilfen, Hörhilfen und Sprechhilfen vorgestellt. Abstract: Restrictions or loss of sensory perception or motor functions lead to a loss of communication possibilities with social implications for the affected person. Technical aids can only partially compensate for lost or restricted abilities of the patient. This chapter describes aids, methods and concepts designed to make up for limited sensory functions or restricted speaking abilities. Several devices, such as communication aids, visual aids, hearing aids and speech aids are presented.

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7.1 Kommunikationshilfen 7.1.1 Grundlagen der Kommunikation 󳶳 Wahrnehmung ist ein Prozess, der äußere Reize der Umwelt mit inneren subjektiven, emotiona­ len und kognitiven Abläufen bzw. Mustern verknüpft und bewertet sowie eine anschauliche Re­ präsentation der Umwelt und des eigenen Körpers erarbeitet.

Wahrnehmung ist also nie „wahr“, sondern schließt die Verarbeitung von Bedürfnissen, Motiven, Erfahrungen und Lernprozessen ein. Die Bewertung und die Neuigkeit bestimmt dabei die spezifische Aufmerksamkeit. Die Dauer und Intensität der Aufmerksamkeit wird durch die Konzentration beschrieben. Konzentration ist die willentliche Fokussierung der Aufmerksamkeit [Stangl 2014]. Das Ergebnis des Wahrnehmungsprozesses ist eine subjektiv bewertete Abbildung der durch innere und äußere Reize aufgenommenen „wahren“ Realität. Objekte werden immer im Kontext mit ihrer Umgebung wahrgenommen. Dabei wird zunächst auf Bekanntes und Erlerntes zurückgegriffen. Stimmt die Realität jedoch nicht mit erlernten, erfahrenen Mustern überein, so kommt es zu Täuschungen, z. B. optischen Täuschungen (󳶳Abb. 7.1). Die Abhängigkeit wird dann deutlich, wenn ein Objekt aus seinem gewohnten Kontext herausgelöst und in einen anderen atypischen Kontext gesetzt wird. Wahrnehmungsinhalte werden mit vorhandenen Mustern verglichen und nach Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit sowie Abhängigkeit und Unabhängigkeit zugeordnet. Die Ähnlichkeiten und Abhängigkeiten beziehen sich auf Zeit, Raum, Qualität und

(a)

(b)

Abb. 7.1: Optische Täuschungen. (a) scheinbar veränderliche Farbe der Knotenpunkte im Gitter: schwarz/weiß, (b) scheinbar unterschiedliche Größe des roten Kreises in Abhängigkeit von seiner Umgebung.

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

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Intensität. Es ist also wichtig, wann, wie lange, wo und in welcher Form ein Reiz aufgenommen wurde. Bestimmte Reize sind nur erlebbar, z. B. Farben. Die Qualität kann sensorische, emotionale und willensbestimmte Anteile enthalten. Die Informationsauswertung des Reizes bewirkt eine Anpassung der wahrgenommenen Intensität bzgl. der absoluten Wahrnehmungsschwelle („Nullpunkt“) und der Unterschiedsstufen. Sie wirkt auf die Reizaufnahme zurück und bewirkt so Lernprozesse. Je nach Notwendigkeit werden die Wahrnehmungsschwellen herauf- oder herabgesetzt (z. B. Dunkeladaptation des Auges bei Nacht, Unterdrückung von Störgeräuschen im Gespräch). Die zeitliche, räumliche und personelle Beziehung zu Umwelt und zu Handlungen durch wahrgenommene Informationen bezeichnet man als „Orientierung“ [Keidel 1979]. Die Anpassung der Wahrnehmung ist besonders gut bei Behinderten zu beobachten, die bei Einschränkung eines Sinneskanals oder bei Verlust motorischer Funktionen besondere Fähigkeiten ihrer verbliebenen Sinne entwickeln (verstärkte Sensorik, z. B. Hör- und Tastsinn bei Blinden). Sowohl die Schwelle als auch die Differenzen der Wahrnehmung sind dabei deutlich reduziert. Dies kann bei Nichtbeachtung dieser Besonderheit auch zu erheblichen Missempfindungen, Schmerzen und Angst beim Behinderten führen. Propriozeption bezeichnet die Eigenempfindung, d. h. die Wahrnehmung von Körperlage und -bewegung durch Tiefensensibilität, Gleichgewichtssinn und Oberflächensensibilität. Sie ist von besonderer Bedeutung, denn durch sensorische Reizung sensibler Körperbereiche werden die entsprechenden motorischen Regionen im Gehirn aktiviert. Der Körper wird so leichter in die Lage versetzt, mit zweckmäßigen, geregelten Bewegungen zu reagieren. Bei Behinderten mit motorischen Einschränkungen besteht so die Möglichkeit, durch Reizung sensibler Körperbereiche motorische Fähigkeiten zu reaktivieren oder zu verbessern. Geistige Fähigkeiten sind eng mit sensorischen und motorischen Funktionen und damit auch mit kommunikativen Funktionen verknüpft. Der Informationsfluss, den der Mensch über die Sinnesorgane aufnehmen kann, wird durch das neurale System und das Gehirn extrem reduziert. Bewusst wahrgenommen werden nur rund 102 bit/s [Keidel 1979]. Zum Vergleich: die Sprachübertragung mit einem Telefon erfordert 64 kb/s. Trotz dieser aus technischer Sicht sehr geringen Datenrate ist das Gehirn in der Lage, komplexeste Funktionen durchzuführen und sinnvoll zu reagieren. Gedächtnis ist die Fähigkeit der Speicherung, Strukturierung und Verarbeitung von aufgenommenen Informationen durch bewusste oder unbewusste Lernprozesse. Dabei wird sowohl ein objekt- als auch ein codebezogenes Begriffssystem entwickelt, das neben dem materiellen Objektbezug auch immaterielle Verknüpfungen zu Begriffen, Sprache, Wortinhalten, kinästhetischen und motorischen Abläufen speichert. Abhängig von der Dauer der Informationsspeicherung wird zwischen dem sensorischen Gedächtnis (Ultrakurzzeitgedächtnis – ca. 0,2 bis 0,4 s), dem Kurzzeitgedächtnis (ca. 10 bis 20 s) und dem Langzeitgedächtnis unterschieden. Wiederholte Informationen (Üben, Lernen) werden ins Langzeitgedächtnis übernommen und

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sind über Jahre verfügbar. Die Voraussetzung für kognitive Fähigkeiten, wie Denken, Lernen, Wahrnehmung oder Gedächtnis, sowie für die Bildung von Begriffen und Regeln ist die Fähigkeit zur Abstraktion [Stangl 2014; Eichenbaum 2014].

7.1.2 Kommunikation mit Schwerstbehinderten Menschliche 󳶳 Kommunikation kann verbal über Sprache oder Schrift oder nonverbal über Gestik, Körperkontakt oder Symbole erfolgen.

Bewusste Kommunikation ist von der Funktion bestimmter willkürlich innervierter Muskulatur abhängig. Funktionsstörungen dieser Muskeln bewirken Kommunikationsstörungen. Zu schwerwiegenden Störungen in der Kommunikation kommt es, wenn sowohl die Motorik als auch die Sprechfunktion eines Menschen stark beeinträchtigt und damit die üblichen Wege der Kommunikation wie Sprechen oder Schreiben verschlossen sind. Sprechen im Sinne von Artikulieren und Reden, setzt den Zugriff auf das motorische und akustische Sprachzentrum des Gehirns sowie eine normale Funktion derjenigen Muskeln voraus, welche die Phonation und Artikulation ausführen. Funktionsstörungen dieser Muskeln bezeichnet man als Dysarthrien (verschiedene Störungen des Sprechens). Schreiben setzt den Zugriff auf das motorische, akustische und optische Sprachzentrum und üblicherweise die normale Funktion von Hand-, Arm- und Schultermuskulatur voraus. Funktionsstörungen in diesem Bereich sind Lähmungen wie Querschnittlähmungen oder Muskelerkrankungen wie z. B. Muskeldystrophie Typ Becker (vererbte Muskelerkrankung). Nachfolgend werden die wichtigsten Krankheitsbilder aufgeführt, die zu einer gleichzeitigen Behinderung von Motorik und Sprechen führen können [Roßdeutscher 1992]: – Schädel-Hirn-Trauma: Zu vorübergehenden oder bleibenden Störungen der Sprache kommt es, wenn die Hirnsubstanz im Bereich der Sprachzentren (frontotemporale Region links) funktionell gestört oder lädiert ist; auch die Lese- und Schreibfähigkeit kann betroffen sein, – Querschnittlähmung: Besonders gefährlich sind Verletzungen im Bereich des vierten Halswirbels, weil hierbei der Zwerchfellnerv betroffen ist, sodass sowohl die Brustkorbatmung als auch die Zwerchfellatmung ausfallen und der Patient künstlich beatmet werden muss, – Schlaganfall: Bei einer Apoplexie (griech. apoplexia, dt. Schlag, Durchblutungsstörung) der linken Hemisphäre (rechtsseitige Körperlähmung) findet man häufig aphasische Sprachstörungen (griech. aphasia, dt. Sprachlosigkeit). Sprachstörungen treten auch auf, wenn das verlängerte Mark (lat. Medulla oblongata, Myencephalon) besonders im lateralen Bereich geschädigt wurde; bei bestimm-

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch







|

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ten Krankheitsbildern können Stimmband- oder Zungenparesen bzw. -Zungenlähmungen auftreten, Locked-in-Syndrom (dt. Gefangensein-Syndrom, nach einer beidseitigen Teilläsion des Hirnstammquerschnitts): Eine Läsion in der Brücke (lat. Pons) auf der Höhe der Kerne des N. abduzens führt zum Locked-in-Syndrom, wobei die kortikobulbären und kortikospinalen Bahnen unterbrochen werden. Es kommt zur Tetraparese (griech. tetra, dt. vier, griech. páresis, dt. Erschlaffen, Lähmung aller vier Extremitäten); erhalten sind nur die Lidbewegungen und die vertikalen Augenbewegungen, über die sich die Betroffenen verständigen können, Infantile zerebrale Bewegungsstörung (auch: Zerebralparese, lat. cerebrum, dt. Gehirn und griech. páresis, dt. Erschlaffen, Lähmung): Sammelbegriff für verschiedene Erscheinungsformen von Gehirnschädigungen, die entweder während der Geburt oder postnatal erworben wurden, wobei ein großer Teil der betroffenen Kinder Frühgeburten sind. Abhängig vom Krankheitsort im Gehirn tritt eine Vielzahl unterschiedlicher Bewegungsstörungen der Gliedmaßen, des Rumpfes und des Sprechapparates auf. Sie reichen von der spastischen Hemmung willkürlicher Bewegungen (spastische Lähmung, Spastik: griech. spasmos, dt. Krampf), über spastische Bewegungsformen mit einer gleichzeitigen Kontraktion von Agonisten und Antagonisten, eine gestörte Koordination des Bewegungsablaufes und des Muskeltonus bis zu Athetose (unwillkürliche, sich langsam abspielende, ausfahrende Bewegungen von Händen oder Füßen) und Ataxie (griech. ataxia, dt. Unordnung, Unregelmäßigkeit, Oberbegriff für verschiedene Störungen der Bewegungskoordination). Im sensorischen Bereich können auch Hör- und Sehstörungen vorliegen. Die kommunikativen Möglichkeiten von Kindern mit zerebralen Bewegungsstörungen sind häufig auf Zustimmung oder Ablehnung sowie Hinweise durch Deuten auf räumlich präsente Gegenstände reduziert. Das Erlernen der Schriftsprache scheitert oft an Entwicklungsdefiziten, die sich u. a. in stark erschwerter Analyse und Synthese von Lauten und Buchstaben auswirken, Multiple Sklerose: Hierbei kommt es zu einer Störung der Nervenleitung mit den wichtigsten Symptomen Nystagmus (Augenzittern), Trigeminusneuralgie (schmerzhafter Reizzustand des fünften Hirnnerven (Nervus trigeminus)) und Intentionstremor (Zittern der Gliedmaßen bei einer zielgerichteten Bewegung). Weiterhin sind u. a. Sehstörungen wie Doppelbilder und Gesichtsfeldausfälle und Sprachstörungen, wie abgehackte (skandierende) Sprache möglich. Die Sensibilität ist bei multipler Sklerose fast immer gestört, es kommt sehr häufig zu zentralen Paresen (griech. páresis, dt. Erschlaffen, Lähmung), wobei alle Abstufungen bis zur kompletten Paraplegie (vollständige Lähmung beider Beine), Tetraplegie (vollständige Lähmung aller vier Extremitäten) oder Hemiplegie (vollständige Lähmung einer Muskelgruppe oder der Extremitäten einer Körperseite) möglich sind,

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Hirntumor: Neben den allgemeinen Tumorsymptomen treten sehr schnell Hemiparesen (auf einer Körperhälfte auftretende, leichte und unvollständige Lähmung), Sprachstörungen und andere fokale Ausfälle auf, Amyotrophe Lateralsklerose (ALS, chronisch-degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems): Die Atemmuskulatur ist im Laufe der Erkrankung mit entsprechenden Störungen der Lungenfunktion zunehmend betroffen, sodass der Patient in fortgeschrittenem Stadium beatmet werden muss; die Augenbewegungen sind nicht betroffen, ebenso bleibt die Sensibilität völlig intakt, weitere neuromuskuläre Erkrankungen mit einer gleichzeitigen Behinderung von Motorik und Sprechen: bei den Krankheitsbildern Parkinson-Syndrom (chronische, neurologische Erkrankung, die durch degenerative Veränderungen im extrapyramidalmotorischen System ausgelöst wird), dystrophische Myotonie (erbliche Muskelerkrankung, die mit Muskelsteifheit und Muskelschwäche einhergeht.), Myasthenie (griech. mys, dt. Muskel und griech. asthenie, dt. Schwäche, Muskelschwäche), Muskeldystrophie (Muskelschwund) und spinale Kinderlähmung kann es in seltenen Fällen zu einer gleichzeitigen Behinderung von Motorik und Sprechfunktion kommen, wenn die Interkostal- oder Zwerchfellmuskulatur betroffen ist und in fortgeschrittenem Stadium der Patient künstlich beatmet werden muss [Roßdeutscher 1992].

7.1.3 Arten von Kommunikationshilfen Kommunikation bedeutet soziale Teilhabe und kennzeichnet zwischenmenschliche Beziehungen. Einschränkungen oder Ausfälle von sensorischen Wahrnehmungsfunktionen oder motorischen Ausdrucksfunktionen bewirken daher für den Betroffenen einen Verlust an Kommunikationsmöglichkeiten, der bis zur Isolation führen kann. Menschliche Kommunikation kann verbal über Sprache oder Schrift sowie nonverbal über Gestik, Körperkontakt oder Symbole erfolgen. Dazu sind sowohl sensorische (Sehen, Hören, Tasten) als auch motorische Funktionen (Sprechen, Schreiben) notwendig. Technische Hilfen können die eingeschränkten oder verlorenen Kommunikationsfähigkeiten nur begrenzt ersetzen. In bestimmten Bereichen ist ein Ersatz bis heute fast unmöglich, z. B. bei Geruch, Geschmack, Gleichgewichtssinn und Tiefensensibilität. 󳶳 Kommunikation ist der wechselseitige Austausch von Informationen. 󳶳 Sprechen ist die Realisierung von Sprache durch akustische Artikulation und beinhaltet physi­ sche und psychophysische Steuerungs- und Rückkopplungsfunktionen.

Physische Funktionen betreffen u. a. Deutlichkeit und „normgerechtes“ Aussprechen, psychophysische Funktionen emotionsabhängige Eigenschaften wie Tonfall, Tonhö-

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

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he und Lautstärke. Sprechen kann auch Ausdruck im sozialen Umfeld bedeuten, z. B. durch Dialekt und sprachliche Umgangsform. 󳶳 Sprache ist das Medium, mit dem zur Übermittlung von Empfindungen, Erfahrungen und Be­ wusstseinsinhalten kommuniziert wird. 󳶳 Mimik ist Kommunikation durch den Gesichtsausdruck (Lachen, Lächeln, Weinen, Naserümpfen, Augenaufreißen usw.). Einige der emotionalen Gesichtsausdrücke sind kulturunabhängig univer­ sal [Payer 2014a, Payer 2014b, Argyle 1979]. 󳶳 Gestik ist Kommunikation durch Körperhaltung und Bewegung (z. B. verschränkte Arme, Beine, Haltung) [Payer 2014a, Payer 2014b, Argyle 1979].

Kommunikation ist nicht bewusst zu verhindern. Kommunikation ist Voraussetzung für das Lernen im physiologischen und neurologischen Sinn sowie für soziales Lernen zwischen Partnern. Durch Kommunikation wird Wahrnehmung, Erwartung und Sinnstruktur im Umfeld der Kommunikationspartner entwickelt, sodass Kommunikation eine „soziale“ Grundlage hat. Die Sinnstruktur wird durch Sprache aufgebaut, wirkt jedoch selbst auf die sprachliche Formulierung und vorstrukturierend auf alles sinnhafte Erleben [Merten 1977]. Ist die Kommunikation wesentlich eingeschränkt, kommt es zur Isolation mit physischen und psychischen Folgen. Mindestfunktion von zwischenmenschlicher Kommunikation ist die Vermittlung von Grundbedürfnissen wie Nahrungsaufnahme, Schlaf, Verrichtung der Notdurft und minimale soziale Kontakte. Weitergehende Funktionen haben zum Ziel, den Widerspruch zwischen einerseits dem Erleben der eigenen Situation (einschließlich der Wahrnehmung, deren gedanklicher Verarbeitung und der daraus entwickelten Bedürfnisse) und andererseits den von außen vorgegebenen, nicht selbst beeinflussbaren Verhältnissen aufzulösen. Dabei stehen das Lernen des eigenen Verhaltens am Partner (durch Erprobung bzw. Korrektur unterschiedlicher Verhaltensweisen) und das Lernen mit dem Ziel der Ausübung einer „sinnvollen Tätigkeit“ im Vordergrund. Welche Störungen jedoch im Einzelfall auftreten, hängt entscheidend von der vorher vorhandenen Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen ab. Je entwickelter die Lebensperspektive ist, desto besser kann die isolierende Situation mithilfe der Einschätzung und bisherigen Erfahrungen ausgehalten und kontrolliert werden. Behinderte Kinder sind aufgrund stark eingeschränkter Entwicklungsmöglichkeiten, einschließlich der Persönlichkeitsstruktur und Lebensperspektive, besonders von Störungen betroffen. Vollständige Isolation ohne minimale Kommunikationsmöglichkeiten kann zum Tod führen [Reichmann 1984]. Als 󳶳 Kommunikationshilfen können alle technischen Mittel, Verfahren und Konzepte verstanden werden, die geeignet sind, die sensorischen Wahrnehmungsfunktionen oder die motorischen Aus­ drucksfunktionen eines Menschen zu verbessern.

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Die Bandbreite der Hilfsmittel ist so vielfältig wie die Formen der Behinderung kommunikativer Möglichkeiten. Abhängig von den sensorischen, motorischen und kognitiven Fähigkeiten des Behinderten finden sich alle Varianten von einfachsten mechanischen Hilfsmitteln bis zu hochkomplexen computergesteuerten und vernetzten Systemen. Die oben benannte allgemeine Definition von Kommunikationshilfen findet im Hilfsmittelverzeichnis keine Anwendung, da für Sehhilfen, Hörhilfen und Sprechhilfen eigene Produktgruppen eingerichtet wurden. Im Sinne der Produktgruppe 16 des Hilfsmittelverzeichnisses sind 󳶳 Kommunikationshilfen aus­ schließlich Gegenstände, die die direkte lautsprachliche oder schriftliche Mitteilungsmöglichkeit eines Menschen unterstützen bzw. erst ermöglichen [HMV 2014].

Hierzu zählen auch Produkte, die aufgrund fehlender Hörfähigkeit benötigt werden, die dieses Defizit jedoch nur indirekt ausgleichen, wie: – Tafeln/Symbolsammlungen mit Symbolen und Worten (einfache oder elektronische), – Tafeln/Symbolsammlungen mit Symbolen und/oder Worten, – Kommunikationsgeräte mit Schriftausgabe (Sicht oder Druckausgabe), – Kommunikationsgeräte mit Sprachausgabe, – Kommunikationsgeräte mit Schrift und Sprachausgabe (Sicht oder Druckausgabe), – behinderungsgerechtes Computerzubehör, – Geräte zur Kommunikationsunterstützung mit taktiler Ausgabe, – Signalanlagen für Gehörlose. In der Norm DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie [ISO 9999]) sind in der Klasse 22 Hilfsmittel für Kommunikation und Information gelistet und dort bezeichnet als: „Vorrichtungen für den Empfang, den Versand, die Bereitstellung und/oder Verarbeitung von unterschiedlichen Informationsformen“. Es sind die Sehhilfen (Klasse 22 03 󳶳Kapitel 7.2), Hörhilfen (Klasse 22 06 󳶳Kapitel 7.3) und Sprechhilfen (Klasse 22 09 󳶳Kapitel 7.4) eingeschlossen. Weiterhin gehören in der DIN EN ISO 9999 zu den Hilfsmitteln für Kommunikation und Information: – Schreib- und Zeichenhilfen (Klasse 22 12): Vorrichtungen zur Übermittlung von Informationen über Bilder, Symbole oder Sprache, – Rechenhilfen (Klasse 22 15), – Hilfsmittel, die Audio- und Videoinformationen aufzeichnen, abspielen und anzeigen (Klasse 22 18), – Hilfsmittel für die Nahkommunikation (Klasse 22 21): Vorrichtungen, mit deren Hilfe zwei am selben Ort befindliche Personen sich verständigen können, – Hilfsmittel für Telefonie und Telematik (Klasse 22 24),

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

– – – – –

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Hilfsmittel für das Alarmieren, Anzeigen, Erinnern und Signalisieren (Klasse 22 27), Lesehilfen (Klasse 22 30), Computer und Terminals (Klasse 22 33), Eingabegeräte für Computer (Klasse 22 36), Ausgabegeräte für Computer (Klasse 22 39).

7.1.4 Aufbau und Funktion einer Kommunikationshilfe Ziel des Einsatzes einer Kommunikationshilfe ist es, dem Behinderten individuelle und möglichst vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten zu geben, um ihn seine Lebensbedingungen nach eigenen Zielen, Bedürfnissen und Interessen gestalten zu lassen. Dazu gehören minimal die Vermittlung von Grundbedürfnissen wie Nahrungsaufnahme, Schlaf, Verrichtung der Notdurft und minimale soziale Kontakte. Weiterhin sind auch die Unterstützung und der Ersatz von Sprache sowie die Möglichkeit des Lernens notwendig, um die Ausübung einer sinnvollen Tätigkeit und die Beeinflussung des Umfelds möglich zu machen. Die Aufgabe des menschlichen Sprechens mit physischen und psychophysischen Rückkopplungsmechanismen kann von einer Kommunikationshilfe jedoch nicht erfüllt werden. Sind motorische Funktionen möglich, die ein Zeigen oder Deuten zulassen, können Hilfsmittel für die direkte Auswahl verwendet werden. Dabei wird am Eingabegerät auf das Nachrichtenelement selbst (direkt) gedeutet oder gezeigt (auch mit einem mechanischen Hilfsmittel wie z. B. einem Stab). Zur Gruppe der mechanischen Hilfsmittel für die direkte Auswahl gehören Kommunikationskarten, Buchstabentafeln und elektronische Geräte wie Tastatur oder Touchscreen (󳶳Abb. 7.2). Diese Methode ist einfach, natürlich und für beide Partner verständlich. Ein Erlernen ist meist nicht notwendig und ist daher auch für Lernbehinderte geeignet. Sie erlaubt eine hohe Kommunikationsgeschwindigkeit, die jedoch durch die Auswahlgeschwindigkeit des Behinderten begrenzt sein kann. Ist eine direkte Auswahl nicht möglich, muss die Auswahl des Nachrichtenelements indirekt über ein Eingabegerät einer elektronischen Kommunikationshilfe erfolgen. In 󳶳Abbildung 7.3 sind die Grundfunktionen einer Kommunikationshilfe dargestellt. Das Eingabegerät elektronischer Systeme ist eine Mensch-Maschine-Schnittstelle. Über Bedienprozeduren werden mit Hard- und Software des Hilfsmittels die Signale verarbeitet und die Steuerungs- und Nachrichtenelemente über das Ausgabegerät (Schnittstelle Maschine-Mensch) dem Partner direkt oder telekommunikativ angezeigt (󳶳Abb. 7.4). Zur Bedienstruktur gehören: – die Darstellungsform des Inhaltes, – das Auswahlverfahren,

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Abb. 7.2: Kommunikationshilfe mit direkter Auswahl Lighwriter (Fa.Toby Churchill).

Behindeter

Partner

Eingabegerät

Eingabegerät Schalter

Kommuni- Ausgabekationsgerät hilfe

Kommunikationshilfe Hardware Software Bedienstruktur

Ausgabegerät ABC _| ○ +

Abb. 7.3: Grundfunktionen einer Kommunikationshilfe mit indirekter Auswahl.



die Zugriffsstrategien inklusive Elementanordnung.

Die Darstellung des Kommunikationsinhaltes kann folgendermaßen erreicht werden: – akustisch lautsprachlich, – als Tonsignal, – schriftsprachlich, – symbolsprachlich, – taktil. Gleichzeitig dient diese Anzeige dem Behinderten zur Steuerung der Funktionen des Hilfsmittels, zur Kontrolle der eigenen Motorik sowie zur Korrektur des Inhaltes.

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

|

363

indirekte Kommunikationsmethode Schalter Muskelaktion

Steuerelektronik

direkte Kommunikationsmethode

Anzeigeeinheit

Abb. 7.4: Informationsfluss bei direkter und indirekte Kommunikationsmethode (nach [Silverman 1980]).

Die Bedienstruktur, also die programmatische Abfolge der Benutzung, bestimmt: – die Darstellungsform des Inhaltes, – das Auswahlverfahren und die Zugriffsstrategien, – die Elementanordnung und damit auch die Kommunikationsgeschwindigkeit.

Schriftsprache ist die allgemein übliche optische Darstellungsform von Kommunikationsinhalten und kann Elemente als Satz, Satzteil, Wort, Silbe oder Buchstabe, Zahl oder Zeichen enthalten. Die Verwendung von Schriftsprache setzt voraus, dass der Nutzer diese erlernt hat. Bei kleinen Kindern ist das jedoch nicht der Fall, insbesondere wenn Entwicklungsverzögerungen existieren. Für diese Nutzergruppe, aber auch für Behinderte, die der Landessprache nicht mächtig oder Analphabeten sind, ist eine symbolsprachliche Darstellungsform besser geeignet. Symbolsprachen bilden den Begriff repräsentativ als piktografische Darstellungen (vereinfachte grafische Darstellung wie Fotos oder Bilder) oder ideografisch ab (die Schriftzeichen sind nicht abstrakt, sondern stilisierte Bilder 󳶳Abb. 7.5). Es existieren auch abstrakte Symbolsprachen, die keinerlei optischen Bezug zum Begriff haben, wie Yerkish oder Symbolsprache nach Premack. Von den ideografischen Symbolsprachen wie Picsyms, Bliss, Rebus, Wordsign oder Minspeak, hat Bliss eine starke Verbreitung gefunden. Bliss-Symbole sind international festgelegt (󳶳Abb. 7.6). Die Sprache und die Symboldarstellung unterliegen strengen Konventionen und sind durch Grammatik und Synthax einer Muttersprache gleichzusetzen. Minspeak wurde soweit strukturiert, dass korrekt konjugierte und deklinierte Begriffe mit wenigen Zugriffen (meist vier) dargestellt werden. Weitere mögliche Darstellungsformen sind die akustische Darstellung und die taktile Darstellung. Akustisch können Informationen lautsprachlich als Sprachwiedergabe oder -synthese bzw. als Tonsignal ausgegeben werden. Es ist auch eine codierte Darstellung möglich, z. B. als Morsecode. Zur taktilen Darstellung eignen sich Ausgabegeräte für Blinde, wie z. B. Braillezeile oder Braillepunktmatrix. Es kann zwischen drei Auswahlverfahren von Sprachelementen unterschieden werden: – direkte Auswahl, – Scanning-Verfahren, – Codierung.

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(a)

(b)

Tasse

Ich friere

sehen

sie

in

an

Abb. 7.5: (a) Piktografische Symbole, (b) Rebus-Symbole (nach [Musselwhite 1988]).

trinken

Vogel

^

x

)

(

zu trinken

Getränke

getrunken

wird trinken

Flagge Piktogramme

Zahn

Feuer

Tuch

Körper

Ideogramme

Abb. 7.6: Bliss-Symbole (nach [Musselwhite 1988]).

Bei vielen Kommunikationshilfen werden auch Kombinationen der genannten Auswahlverfahren verwendet. Die direkte Auswahl wurde bereits oben beschrieben und bezeichnet das Zeigen von vollständig präsentierten Nachrichtenelementen. Beim Scanning-Verfahren werden dem Behinderten nacheinander Einzelelemente oder Elementgruppen zur Auswahl angeboten. Die Selektion erfolgt durch ein vereinbartes motorisches Signal. Die einfachste und gebräuchlichste Methode ist das Abfragen, wobei der Partner Fragen stellt, die der Behinderte mit ja oder nein beantworten soll. Typisches Beispiel ist das Abfragen des Alphabets oder die Buchstabentafel (󳶳Abb. 7.7 (a)). Bei einigen elektronischen Kommunikationshilfen erfolgt der Wechsel zum nächsten Element automatisch nach einer an die motorischen Fähigkeiten des Behinderten angepassten Zeit (autoscan 󳶳Abb. 7.7 (b)). Beim Zeilen-Spalten-Scanning

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

ABSAUGEN! ANGST JA NEIN A B F G K L P Q U V Z Ä CH SS 1 2 6 7 ICH WILL DAS NICHT! FALSCH NEUES WORT DANKE! (a) BITTE

SCHMERZEN EGAL C H M R W Ö SCH 3 8 SCHEISSE!

Leerzeichen

A

B

C

D

E

F

G

H

I

J

K

L

M

N

O

P

Q

R

S

T

U

V

W

X

Y

Z

(b)

Leerz. N R U M O (c) ?

WEISS NICHT D I N S X Ü ST 4 9 LMAA! PUNKT

E I T C F Komma 6

S A L W Q !

|

365

E J O T Y

5 0

H D K J Punkt 2 7 8

G B V Y

Z P X Return 1 3 4 5 9 0

Abb. 7.7: Scanning-Verfahren. (a) Buchstabentafel, (b) lineares Scanning, (c) Zeilen-Spalten-Scan­ ning.

(group-item-scanning) werden von den matrixförmig angeordneten Elementen zunächst die Elemente einer Zeile angeboten. Nach Bestätigung der gewünschten Zeile (group) werden die einzelnen Elemente (item) dieser Zeile spaltenweise angeboten. Das gewünschte Element wird durch eine Schaltfunktion ausgewählt (󳶳Abb. 7.7 (c)). Dieses Auswahlverfahren ist heute bei allen Kommunikationshilfen mit matrixförmig angeordnetem Inhalt nutzbar. Bei Codierungsverfahren sind die Begriffe durch andere Elemente oder Zeitkriterien verschlüsselt. Verschlüsselungsverfahren sind Zeitkriterien (z. B. Morsecode), Farben, Zahlen (z. B. dreistelliger Zahlencode bei Talking Blissapple (󳶳Abb. 7.8 (a)), grafische, optische, akustische oder taktile Codes (z. B. LORM-Alphabet). Schwimmbad

Schnee

Nebel

A (a) 143

144

145

B

C

D ... Y

(b)

Abb. 7.8: Codierungsverfahren. (a) Codierung des Begriffs bei Talking Blissapple [Kelso 1985] durch Zahlen, (b) Listenstruktur von Sprachelementen.

Z

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Die Struktur, in der die Elemente angeordnet sind (Elementanordnung), bestimmt die Zugriffsart, die Sinnfälligkeit der Benutzung (wie einfach und logisch) und die Kommunikationsgeschwindig­ keit. Ziel ist es, durch geeignete Methoden eine möglichst schnelle Kommunikation zu erreichen.

Deshalb soll die Anzahl der Schaltfunktionen der Textelemente des zu schreibenden Textes so weit wie möglich verringert werden. Folgende Strukturen von Elementanordnungen werden angewandt: – Liste, – Baum, – vernetzte Strukturen, – Mischformen. Oft werden die am häufigsten genutzten Elemente (z. B. Buchstaben) an den Anfang der Zugriffsreihenfolge gestellt. Bei einer Listenstruktur werden die einzelnen Sprachelemente nacheinander (sequenziell) angeordnet (󳶳Abb. 7.8 (b)). Die Benutzung ist sehr einfach, die Selektionsgeschwindigkeit jedoch sehr gering. Baumstrukturen sind durch Knoten gekennzeichnet, die zu zwei oder mehr Verzweigungen mit einem Element oder einem weiteren Knoten führen (󳶳Abb. 7.9). Hierdurch kann bei optimierter Anordnung der Elemente eine hohe Kommunikationsgeschwindigkeit erreicht werden. Häufig wird die Struktur so optimiert, dass die am häufigsten genutzten Elemente möglichst wenige Entscheidungen bzw. Schaltfunktionen benötigen. Die komplexe Struktur fordert den Nutzer jedoch auch stärker. Vernetze Strukturen enthalten nicht-geradlinige Verzweigungen zu Elementen (z. B. Sprünge). Es existieren Elemente, die über mehr als einen logischen Pfad erreicht werden (󳶳Abb. 7.10). Vernetze Strukturen lassen sowohl einfache als auch komplexe

Start Leerz. ENISR Leerz. E Leerz.

E

ATHUDLCMGOBKWFZPVXY

NISR NI

SR

N I S R

MGOBKWFZPVXY

ATHUDLC ATH TH

TH

UDLC UD

LC

T H U D L C

MGOB MG

OB

M G O B

KWFZPVXY KW K W

FZPVXY FZ F Z

PVXY PV

XY

P V X Y Abb. 7.9: Baumstruktur mit optimierter Anordnung für Buchstaben (nach personenabhängiger Häu­ figkeit).

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch |

367

Textsymbol Startmenü Endlosschleife mit Funktion und Sprung zum aufrufenden Menü (Eisenbahnsteuerung) Menü mit Funktionen

Liste von Textsymbolen mit Folgemenü

Symbol mit Untermenü

Funktion Symbol mit Funktion (nach Ausführen der Funktion weiter mit nächstem Textsymbol) Symbol mit Funktion und Untermenü

am Ende Sprung zum Startmenü Abb. 7.10: Vernetzte Struktur mit diversen Funktionen.

Bedienstrukturen zu. Die Bedienbarkeit kann sehr komfortabel und schnell gestaltet werden. Die eingeschränkte Übersicht und Erlernbarkeit stellen jedoch hohe Anforderungen an den Benutzer.

7.1.5 Anwendung von Kommunikationshilfen Kommunikation sollte immer und überall möglich sein. Die Art der Anwendung und die eingesetzte Technologie sind abhängig von den Fähigkeiten des Behinderten. Obwohl vielfältige Möglichkeiten auf dem Markt verfügbar sind, bleibt eine Anpassung der Kommunikationshilfen an den Behinderten in sehr vielen Fällen zwingend erforderlich. Besonders bei schweren Behinderungsgraden ist eine langfristige Anpassung an die sich ändernden motorischen Fähigkeiten und sich ändernde Inhalte und Bedürfnisse notwendig. Viele motorisch Behinderte haben keine wesentlichen Einschränkungen der Sensorik oder der Kognition. Daher ist die Auswahl des richtigen Eingabegerätes oft von entscheidender Bedeutung. Ist die Sprachmöglichkeit gegeben, so kann mit einem PC und einer Spracherkennungssoftware (z. B. Programm Nuance Naturally Speaking) geschrieben, kommuniziert und gesteuert werden. Diese Methode ist eine sehr schnelle Eingabemöglichkeit. Bei ausreichender Feinmotorik von Arm und Hand oder Fuß ist eine Steuerung über Computereingabemedien möglich (auch mit angepassten Tastaturen (󳶳Abb. 7.11 (a)) oder Joysticks. Kann genügend Kraft ausgeübt werden, sind Schalter nutzbar und in diversen Ausführungsformen erhältlich: als Mikroschalter, Pilzschalter, Druckschalter,

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(a)

(b)

(c)

Abb. 7.11: Computereingabemedien. (a) Großtastatur Jumbo (Fa. Gorlo & Todt), (b) Taster Buddy Button und (c) Micro Light (Fa. Ingenieurbüro Dr. Seveke Computer für Behinderte).

Blickpunkt

(a)

LED

Kamera

(b)

Abb. 7.12: (a) Augensteuerung EyeGaze (Fa. Gunter Schlosser Kommunikationstechnologie), (b) Mischsignalsteuerung CyberLink-System (Fa. Incap).

Zugschalter, Quetschschalter, Berührungsschalter, Pedalschalter, Gleitschalter oder Rollwagenschalter (󳶳Abb. 7.11 (b)). Bei ungerichteten Bewegungen eignen sich Bewegungsschalter, Neigungsschalter, Näherungsschalter oder Beschleunigungssensoren. Bei bewusster Atmung und Mundschluss ist eine Steuerung über pneumatische Schalter wie Saug-/Blasschalter möglich. Differenzierte Kopfbewegungen lassen Steuerungen über Laserpointer, Infrarot- oder Ultraschall-gesteuerte Geräte zu (z. B. Kopfmaus). Sind nur noch Augenbewegungen vorhanden, ist mit optischen Systemen eine Auswertung der Blickrichtung und des Lidschlusses möglich. Auf einem PC-Bildschirm ist mit einer spezifischen PC-Software (z. B. EyeGaze oder MyTobii) die Auswahl von Symbolen, Befehlen und auch Buchstaben möglich (󳶳Abb. 7.12 (a)). Bioelektrische Schalter sind dann erforderlich, wenn keine sinnvoll auswertbaren Bewegungen verfügbar sind. Mit ihnen können auch geringe Muskelaktionspotentiale (Elektromyographie, EMG, 󳶳Kapitel 3 und 8) als Steuergröße verwendet werden. Reproduzierbare elektrische Mischsignale im Bereich der Stirn nutzt z. B. das CyberLink-System (󳶳Abb. 7.12 (b)). Es verwendet Signalanteile aus EMG, EOG (Elektrookulographie: Erfassung elektrischer Potentiale in der Nähe der Augen) und EEG (Elektroenzephalographie: Erfassung elektrischer Potentiale des Gehirns). Weitere Möglichkeiten der Nutzung eines EEGs bestehen in der Erkennung von Hirnhemisphären-Aktivi-

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

| 369

täten (rechts/links) oder der Erkennung von Mustern bei Konzentration bzw. Meditation. Bei weniger schweren Behinderungsformen, die nur die Sprache ohne wesentliche Einschränkung der Motorik betreffen, sind alle Ausdrucksmöglichkeiten in Schriftsprache oder Grafik bzw. Symbolik möglich. Papier und Bleistift können in einfacher Weise als Hilfsmittel genutzt werden. Auch Gegenstände des täglichen Lebens sind als elektronische Hilfsmittel nutzbar, z. B. PC mit Tastatur, Maus, Touchpad, Touchscreen o. ä., desgleichen Mobiltelefon oder Smartphone. Eine Verarbeitung der Signale des Eingabegerätes ist notwendig, wenn weitergehende Behinderungsformen die Verwendung von Grafiken oder Symbolsprachen erforderlich machen. Dazu können eine Microcontroller-Steuerung oder ein PC mit entsprechender Software verwendet werden. Hier ist eine sehr große Produktpalette nutzbar. Zahlreiche tragbare Kommunikationshilfen erlauben die Änderung der Anzahl der Schaltflächen und der damit verknüpften Inhalte (󳶳Abb. 7.13). Die Kommunikationsinhalte können über Sprachausgabe (synthetische Sprache oder Sprachwiedergabe) oder Drucker ausgegeben werden. Für unterschiedliche Anwender sind Benutzerprofile mit Inhalten und Einstellungen speicherbar. Mit PC, Notebook oder Smartphone kann Hilfsmittelsoftware verwendet werden. Die Möglichkeiten der Software schließen bei besseren Systemen auch eine Anpassung an die sich ändernden Fähigkeiten und Bedürfnisse des Behinderten ein. Die wichtigsten Kommunikationsprogramme für Behinderte sind Tastaturemulatoren, die eine Tastatur oder angepasste Spezialtastatur auf dem Bildschirm darstellen. Gesteuert vom jeweiligen Eingabegerät werden entweder durch Mausklick (bei entsprechenden motorischen Fähigkeiten) oder im Scanning-Verfahren Buchstaben, Zeichen, Sätze oder auch Kontrollsteuerzeichen an den Computer weitergeben. Damit sind alle tastaturgesteuerten Programmteile für den Behinderten nutzbar. Beispiele für Tastaturemulatoren sind DASHER, MOMO oder WIVIK (󳶳Abb. 7.14).

Abb. 7.13: Die tragbare Kommuni­ kationshilfe MOMObil (Fa. Incap).

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(a)

(b)

Abb. 7.14: (a) Tastaturemulator Wivik mit Makro (Ingenieurbüro Dr. Sevele Computer für Behin­ derte), (b) Einfacher Editor in MOMO SK (Fa. Incap).

Besondere Schnittstellen können sogar die Steuerung der Maus zulassen (ggf. mit Maustastendruck und Rastfunktion). Sprachausgabe ist ebenfalls möglich. Damit stehen dem Behinderten alle Möglichkeiten eines PCs bis zur Kommunikation über das Internet zur Verfügung. Die behinderungsabhängige Eingabe ist jedoch deutlich langsamer als die Eingabe durch einen gesunden Nutzer. Weitere Programmgruppen sind Texteditoren, deren Möglichkeiten zum einfachen Arbeiten auf ein sinnvolles Mindestmaß beschränkt sind, sowie Programme zur Umweltkontrolle, d. h. zur Steuerung von Multimedia-Geräten (Fernseher, Recorder usw.), der Hauselektronik (Tür-, Fensteröffner) sowie der Pflegegeräte (Bettverstellung u. a.). Computer mit Internetschluss ermöglichen schon jetzt den Zugriff zu direkter Kommunikation u. a. in sozialen Netzen, zur Informationsbeschaffung sowie beruflicher Tätigkeit unabhängig vom herkömmlichen Arbeitsplatz. Darüber hinaus erlauben WLAN und Bluetooth die drahtlose Steuerung der Ein- und Ausgabe. Die Hilfsmittel-Software ist prinzipiell auch auf Tablet-PCs ohne Tastatur und Smartphones übertragbar. Die Entwicklungen der Gestensteuerung, der Wortvorhersage und der Spracheingabe vereinfachen schon jetzt die Bedienung dieser Geräte. Offene Betriebssysteme wie Symbian und Android lassen zudem herstellerunabhängige Programmentwicklungen zu. Sowohl für Android- als auch iOS-basierte Geräte sind Kommunikationsprogramme (auch kostenlos) verfügbar.

7.1.6 Kommunikationshilfen für Blinde Die Produktgruppe 07 Blindenhilfsmittel des Hilfsmittelverzeichnisses [HMV 2014] umfasst unter dem Anwendungsort Innenraum und Außenbereich/Straßenverkehr zwei unterschiedliche Arten von Orientierungshilfen: Blindenlangstöcke (Taststöcke)

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

| 371

und elektronische Blindenleitgeräte, die hier in 󳶳Kapitel 7 unter den Kommunikationshilfen nicht näher erläutert werden sollen. Ohne speziellen Anwendungsort werden jedoch auch verschiedene Systeme gelistet, die einem Kommunikationszweck dienen, obwohl sie nicht der Produktgruppe 16 des HMV zugeordnet sind. Zu ihnen gehören: – Systeme zur Schriftumwandlung, – Hard- und Software zur behinderungsgerechten Anpassung von Computern, – Geräte für Blinde (mobile Blinden-Computer, Kommunikationsgeräte für Taubblinde), – Schreibhilfen für Blinde. 󳶳 Kommunikationshilfen für Blinde machen einen Informationsaustausch unter Verzicht auf vi­ suelle Elemente möglich, wobei vorwiegend akustische und taktile Möglichkeiten der Aus- und Eingabe von Informationen genutzt werden.

Prinzipiell sind als Hilfsmittel für Blinde und stark Sehbehinderte alle Geräte geeignet, die eine akustische oder taktile Ausgabe zulassen. Die akustische Ausgabe kann als Signalton oder als Sprachausgabe, die taktile Ausgabe z. B. in Brailleschrift erfolgen. Dies gilt ebenso für Geräte, bei denen eine Ausgabe von ASCII-Texten zum Anschluss an ein externes Sprachausgabegerät oder eine Braillezeile möglich ist. Beispiele für elektronische Alltagshilfen sind Suchhilfen mit Signalton für Börse oder Schlüssel (Schlüsselfinder) sowie Geräte mit Sprachausgabe, wie Uhren, Taschenrechner, Blutdruckmessgeräte und Farbdetektoren. Auch Mobiltelefone und Smartphones sind für Blinde nutzbar. Entweder ist die Sprachausgabe zur Menüführung oder zum Vorlesen von SMS integriert oder Zusatzgeräte, die über Bluetooth mit dem Telefon verbunden sind, übernehmen diese Funktionen. Für Mobiltelefone mit Symbian-Betriebssystem wurde eine Zusatzsoftware entwickelt, die es ermöglicht, mit der Handykamera Schilder, Zeitungen, Telefonbücher und Speisekarten zu fotografieren und die umgewandelten Texte vorlesen zu lassen. Mit Smartphones ist über die Sprachausgabe hinaus auch deren Steuerung durch Spracheingabe möglich. Blinden-Personal Digital Assistants (PDAs) erlauben über alle üblichen Funktionen eines herkömmlichen PDAs hinaus auch die Eingabe über Blindenkurzschrift und die Ausgabe über eine Braillezeile oder Sprachausgabe (󳶳Abb. 7.15). Die Verbindung zum Mobiltelefon kann über Bluetooth hergestellt werden und ist damit auch unabhängig vom Betriebssystem. Blindenarbeitsplätze bestehen aus PC, Scanner, Texterkennungssoftware, Anwendungssoftware (u. a. Textbearbeitung), Hilfsmittelprogrammen (z. B. Windows für Blinde) sowie Sprachein- und Sprachausgabesysteme. Optional möglich sind die Eingabe in Blindenkurzschrift und die Ausgabe über Braillezeile und Brailledrucker.

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Abb. 7.15: Blinden-PDA Pronto! (Fa. Baum Retec).

a b c d e f g h i

j k l m n o p q r s t u v w x y z

Abb. 7.16: Das 6-Punkt-Braille-Alphabet.

Eine Sprachausgabe ist für Blinde essentiell. Screenreader haben meist eine integrierte Sprachausgabe, die leider oft aus Gründen der Kompatibilität mit PC-Soundkarten oder -Chips ausgerüstet ist, welche keine optimale Verständlichkeit bieten. Die Sprechgeschwindigkeit wird meist zur Zeitersparnis sehr schnell eingestellt. Für Windows XP/Vista/7 sind allerdings Sprachausgaben wesentlich besserer Qualität (z. B. Microsoft Text-to-Speech-Package) verfügbar. Braillezeilen dienen zur Ausgabe von ASCII-Zeichen in Punktschrift (󳶳Abb. 7.16). Es sind Zeilen mit 16 bis 80 Zeichen erhältlich, wobei nur die Zeile mit 80 Zeichen zur Gesamtdarstellung einer ganzen Textzeile geeignet ist (󳶳Abb. 7.17). Bei Zeilen mit geringerer Zeichenzahl muss die Darstellung zum Lesen auf der Textzeile geschoben werden. Aufgrund des geringen Punktabstandes von ca. 2,5 mm und der damit verbundenen aufwendigen Mechanik zur Bewegung eines Einzelpunktes durch piezomechanische Aktuatoren sind Braillezeilen mit hohen Kosten verbunden. Die Orientie-

(a)

(b)

Abb. 7.17: Braillezeilen: (a) Braillezeile BRAILLEX EL 80s (Fa. Papenmeier), (b) VarioPro (Fa. Baum RETEC).

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

(a)

|

373

(b)

Abb. 7.18: (a) Brailledrucker INDEX Everest-D V4 (Fa. Papenmeier), (b) Lesen eines Brailleaus­ druckes.

rung auf dem Bildschirm erfolgt entweder durch taktile (Zeile/Spalte) oder akustische Informationen (Tonhöhe abhängig von der Lage des Cursors). Mit Brailledruckern wird die Blindenpunktschrift auf Papier gestanzt (󳶳Abb. 7.18). Durch Computer und neue Medien ist die Nachfrage nach Ausdrucken in Brailleschrift und damit auch nach Brailledruckern zurückgegangen. Im Druckbetrieb verursachen Brailledrucker eine erhebliche Lautstärke und sollten nicht ohne Schallschutz genutzt werden. Die Blindenkurzschrift verwendet Kürzel für Vor- und Nachsilben, für Lautgruppen und sogar für ganze Wörter oder Wortstämme. Sie muss daher erlernt werden. Die Zahl der Buchstaben ist gegenüber üblicher Schriftsprache erheblich reduziert. Mit solchen Kürzeln ist eine internationale Verständigung nicht möglich, da in jeder Sprache unterschiedliche Worte und Silben existieren. Die Eingabe erfolgt entsprechend der Punkte der Brailleschrift. Brailleeingaben haben daher nur 6 oder 8 Tasten (plus Zusatztasten), entsprechend der 6- bzw. 8-Punktschrift. Die Tastatur ist mit taktilen Orientierungshilfen ausgestattet und meist ergonomisch gestaltetet (󳶳Abb. 7.19 (a)). Vorlesesysteme für Textdokumente sind leicht bedienbare integrierte Geräte für blinde Personen ohne Restsehfähigkeit, die einen Computer nicht nutzen können oder wollen (z. B. für ältere Menschen). Sie bestehen aus Computer, Scanner, Texterkennungssoftware, Sprachausgabe in einem Gerät und der optionalen Anschlussmöglichkeit für Schwarzschriftdrucker, Braillezeile oder Brailledrucker (󳶳Abb. 7.19 (b)). Das Vorlesesystem muss in der Lage sein, auf dem Kopf stehende oder quer liegende Texte richtig zu erkennen, da der Nutzer bei einem Schriftstück nicht erkennen kann, wie der Text orientiert ist. Die Verbreitung von Hörbüchern hat stark zugenommen. Herkömmliche MP3Player eignen sich nur bedingt zum Hören längerer Textpassagen und das Auffinden bestimmter Stellen ist nicht möglich. Vorlesesysteme für digitale Tondokumente nutzen den älteren DAISY-2.02-Standard als auch den ANSI/NISO-Standard Z39.86-2005. Beide wurden für navigierbare, zugängliche Multimedia-Dokumente

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(a)

(b)

Abb. 7.19: Brailleeingabe- und -vorlesegerät: (a) Punktschrift-Tastatur T8braille (Fa. Ingenieurbüro Dr. Seveke Computer für Behinderte), (b) Vorlesegerät VOXBox (Fa. Reinecker Reha-Technik).

entwickelt. Die Abkürzung DAISY steht für Digital Accessible Information System. DAISY-Hörbücher sind interaktiv. DAISY-Player eröffnen sehr viel weitergehende Möglichkeiten als herkömmliche Abspielgeräte: Setzen von Lesezeichen im aufgenommenen Text, gezieltes Anspringen von Überschriften und Notizen, Vorlesen von TXT- und HTML-Dateien und Abspielen von MP3-Dateien. Mit der Deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig (DZB) und der Deutschen Blinden-Bibliothek in der Deutschen Blindenstudienanstalt e.V. (Marburg) stehen umfangreiche Bibliotheken unterschiedlicher Themen zur Leihe zur Verfügung.

7.2 Sehhilfen 7.2.1 Definition und Einsatzzweck von Sehhilfen 󳶳 Sehhilfen sind optische bzw. opto-elektronische Vorrichtungen, die zur Korrektur von Bre­ chungsfehlern oder dem Ausgleich, der Verbesserung oder Behandlung eines anderen Krankheits­ zustandes des Auges dienen [HMV 2014].

Zu den Sehhilfen gehören gemäß den Bestimmungen des Hilfsmittelverzeichnisses Brillengläser, Kontaktlinsen sowie vergrößernde Sehhilfen. Fertigbrillen sind zwar auch Sehhilfen, aber keine Leistung der GKV, da sie die individuellen Sehanforderungen (z. B. das Zentrieren der Gläser auf die Sehachse des Auges) des fehlsichtigen Menschen grundsätzlich nicht berücksichtigen [HMV 2014]. Die Verordnung von Sehhilfen wird u. a. notwendig [HMV 2014]: – bei Fehlsichtigkeit: Myopie (Kurzsichtigkeit), Hyperopie (Weit- bzw. Übersichtigkeit), Presbyopie (Alterssichtigkeit) und Astigmatismus (Stabsichtigkeit),

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

– – –

|

375

bei Erkrankungen des Auges, die mit einer Sehminderung einhergehen (z. B. Makuladegeneration oder andere Degenerationen der Netzhaut), bei Linsenlosigkeit (Aphakie) und Implantation einer Kunstlinse (Pseudophakie), zur Therapie (z. B. Irislinsen, Verbandschalen, Schieltherapeutika) bzw. Prophylaxe (z. B. Kantenfiltergläser bei Photochemotherapie).

In der Norm DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie [ISO 9999]) sind in der Klasse 22 03 verschiedene Sehhilfen gelistet. Zu ihnen gehören: – Lichtfilter bzw. Absorptionsfilter (Klasse 22 03 03): Vorrichtungen, die nur definierte Wellenlängen absorbieren und unerwünschte herausfiltern, – Brillen und Kontaktlinsen (Klasse22 03 06): Vorrichtungen zur Verbesserung der Sehschärfe, – Vergrößerungsgläser, -lupen und -linsensysteme (Klasse 22 03 09): Vorrichtungen, die den zu betrachtenden Gegenstand für das Auge vergrößern, – Ferngläser und Fernrohre (Klasse 22 03 12): Vorrichtungen zur Vergrößerung eines entfernten Objektes für ein Auge bzw. beide Augen, – Hilfsmittel zur Erweiterung des Blickfeldes und Verstellung des Blickwinkels (Klasse 22 03 15), z. B. Prismenbrillen und Liegebrillen, – Videosysteme mit Bildvergrößerung (Klasse 22 03 18): Vorrichtungen, die ein vergrößertes Bild von Videoaufnahmen wiedergeben. Es sind unterschiedliche technische Ausführungen von Sehhilfen möglich. Zu den konventionellen Sehhilfen gehören Brillen, Kontaktlinsen, Lupen, Lupenbrillen oder Fernrohrbrillen aus Glas oder Polycarbonat. Zu den elektronischen Sehhilfen gehören verschiedene vergrößernde Sehhilfen. So wird bei Videolesegeräten das Bild mit einer Kamera aufgenommen und auf einem Großbildmonitor oder Fernsehgerät angezeigt. Der Text liegt auf einem Kreuztisch unter der Kamera und kann in einem Verhältnis bis zu 1:12 vergrößert werden. Auch die Bildvergrößerung mittels Computermonitor kann zu den elektronischen Sehhilfen gezählt werden. Es gibt Hard- und Softwarevergrößerer, die teilweise mit besser lesbaren Schrifttypen bzw. Vorder-/Hintergrund-Farbeinstellung arbeiten. Einfache Softwarevergrößerer des gewählten Bildausschnittes sind heute schon in Standard-Betriebssysteme integriert. Wenn dem Erblindeten die Sehorgane nicht mehr bzw. dem hochgradig Sehbehinderten nur noch sehr eingeschränkt zur Verfügung stehen, helfen die genannten Sehhilfen zu wenig oder gar nicht. Für sie sind Blindenhilfsmittel (PG 07 im Hilfsmittelverzeichnis [HMV 2014] erforderlich (󳶳Kapitel 7.1.6), die dem Blinden oder hochgradig Sehbehinderten zur selbständigen Fortbewegung, Wahrnehmung und Orientierung in der Umwelt sowie zur Informationsbeschaffung dienen. Blindenhilfsmittel haben keinerlei sehkraftverbessernde Wirkung, zu ihnen gehört u. a. der Blindenstock.

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7.2.2 Arten von Sehhilfen Brillen Brillengläser werden aus Mineralglas oder aus Kunststoff (z. B. Polycarbonat) hergestellt (󳶳Abb. 7.20). Neuere Entwicklungen zielen auf die Reduzierung des Gewichtes bei besseren optischen Werten und besserer Bruchfestigkeit sowie den Schliff von Freiformflächen des Brillenglases zur Kompensation begrenzter Anomalien des Auges im Gegensatz zu herkömmlichen Rotationsschlifftechniken (Digital Surfacing). Weiterhin können bei Gleitsichtgläsern die Verhaltensweisen des Brillenträgers (Koordination der Augen und Kopfbewegungen) sowie die Größe des Gesichtsfeldes berücksichtigt werden.

(a)

(b)

Abb. 7.20: (a) Brillenglas für Gleitsicht (Fa. Essilor), (b) Fernrohrbrille (Fa. Carl Zeiss Vision).

Kontaktlinsen Kontaktlinsen sind eine Alternative zur Brille. Sie liegen nicht direkt auf der Hornhaut auf, sondern schwimmen auf einem Tränenfilm (󳶳Abb. 7.21). Man unterscheidet zwischen harten und weichen Kontaktlinsen. Weiche Kontaktlinsen passen sich der Form der Hornhaut an. Wichtig ist die Sauerstoffdurchlässigkeit der Kontaktlinse zur Versorgung der Hornhaut. Der Durchmesser von harten Kontaktlinsen liegt zwischen

Abb. 7.21: Kontaktlinse (Fa. Wöhlk).

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch |

377

8 und 10 mm, der von weichen zwischen 12 und 16 mm. Dabei liegt der Linsenrand unter dem Lidrand. Abhängig vom Typ werden weiche Kontaktlinsen als Tages-, Monatsoder Jahreslinsen angewendet.

Retina-Implantat Ein Retina-Implantat ist angezeigt, wenn die Netzhaut massiv geschädigt ist, z. B. bei Maculadegeneration (krankhafte Veränderung des Gelben Flecks, lat. Macula lutea, Punkt des schärfsten Sehens auf der Netzhaut) oder Retinitis Pigmentosa (Netzhautdegeneration, bei der die Photorezeptoren zerstört werden). Das Retina-Implantat ist eine Sehprothese, die blinden Behinderten eine (derzeit noch stark) eingeschränkte Sehwahrnehmung zurückgeben soll. Ziel ist auch die Möglichkeit der Orientierung in unbekannter Umgebung. Das System besteht aus einer externen Kamera, einem bildverarbeitenden Controller mit induktivem Sender sowie dem implantierten Empfänger mit Stimulator und Elektroden. Das Retina-Implantat ist kein Hilfsmittel der GKV und wird in 󳶳Band 11 (Neuroprothetik) detailliert beschrieben.

Elektronisch vergrößernde Sehhilfen Bei elektronisch vergrößernden Sehhilfen sowie auch bei Programmen zur vergrößerten Darstellung des Bildschirminhaltes gehen bei hohen Vergrößerungsfaktoren der optische Gesamtzusammenhang und die Übersicht über den gesamten Text verloren. Bei sehr geringer Restsehfähigkeit (Visus ca. 0,01) ist oft ein sehr nahes Herangehen an den Monitor hilfreich. Bei einem Videolesegerät wird das Bild des zu vergrößernden Objektes (z. B. Buchseite oder Tafelbild) mit einer Videokamera aufgenommen und auf einem Großbildmonitor oder einem Notebookdisplay angezeigt (󳶳Abb. 7.22). Zur Verschiebung des

(a)

(b)

Abb. 7.22: (a) Bildschirmlesegerät VisioBook (Fa. Baum), (b) zusammengeklapptes Gerät.

378 | Wolfram Roßdeutscher, Marc Kraft

(a)

(b)

Abb. 7.23: Verschiedene Lesemedien. (a) Portabler Scanner mit Vergrößerung Pico, (Fa.Telesensory), (b) Handscanner mit Vergrößerung Clover (Fa. Handy Tech).

Objektes wird häufig ein manuell oder elektronisch verstellbarer Kreuztisch unter der Kamera genutzt. Ein Abbildungsmaßstab bis zu 1:40 ist möglich. Um die Übersicht über einen Text erhalten zu können, ist ein schnelles Umschalten des Maßstabes notwendig. Die Darstellung ist individuell einstellbar in schwarz/weiß, invers oder mit unterschiedlichen Vordergrund-/Hintergrundfarben, um einen besseren Kontrast und damit eine bessere Lesbarkeit zu erzeugen. Der Anschluss eines Fernsehgerätes mit SCART- oder HDMI-Buchse oder eines PC-Monitors ist bei einigen Systemen möglich. Für kleine oder portable Systeme werden auch Handscanner mit vergrößernder Darstellung (8-fach, Echtfarben und schwarz/weiß oder weiß/schwarz) als Lesemedium genutzt (󳶳Abb. 7.23). Direkt am Kopf getragene Videovergrößerungsgeräte haben sich bisher nicht durchgesetzt. Zur Verbesserung der Lesbarkeit von Bildschirminhalten können Programme genutzt werden, welche die Darstellung teilweise oder vollständig vergrößern. Teilweise sind entsprechende Programme bereits im Betriebssystem integriert (z. B. bei Windows XP/7). Sehr einfache Programme multiplizieren die Zahl nebeneinander liegender Bildpunkte. Bei schrägen Kanten werden diese dann stufig dargestellt. Programme, die eine Kantenbegradigung durchführen, sind insbesondere bei Schrifttypen besser geeignet. Unabhängig von der Vergrößerung sind Kontrastverbesserungen mit unterschiedlichen Vorder- und Hintergrundfarben sowie ein Schriftschnitt in fett möglich. Teilweise werden auch die Schriftarten in besser lesbare übertragen. Bei ho-

Abb. 7.24: Supernova Dokumentenreader (Fa. Dolphin Computer Access).

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

| 379

hen Vergrößerungsfaktoren (bis zum Faktor 36) geht allerdings auch hier die Übersicht des Gesamtbildes verloren. Je nach Einstellung kann der Cursor (oder die gerade aktive Eingabeposition) vergrößernd verfolgt werden. Die Bildschirminhalte (oder die Inhalte an der Cursorposition) können z. T. durch Sprachausgabe vorgelesen werden. Um optische Nachzieheffekte zu vermeiden, sollte das Display kurze Reaktionszeiten aufweisen. Programmbeispiele sind die Windows-Bildschirmlupe, Lens, Lunar Plus (Fa. Papenmeier), Cobra (Fa. BAUM) ZoomText oder SuperNova (Fa. Dolphin Computer Access 󳶳Abb. 7.24).

7.3 Hörhilfen 7.3.1 Aufbau und Arten von Hörhilfen 󳶳 Hörhilfen sind technische Hilfen, die angeborene oder erworbene Hörfunktionsminderungen ausgleichen, die einer kausalen Therapie nicht zugänglich sind.

Die Schwerhörigkeit allein ist keine Indikation für eine Hörgeräteausstattung durch die GKV. Diese gilt erst dann, wenn durch die ordnungsgemäße Anpassung von Hörgeräten ein Sprachverständnisgewinn oder ggf. eine Verbesserung des Richtungshörens nachgewiesen ist. Zu den Hörhilfen gehören (gemäß Produktgruppe 13 im Hilfsmittelverzeichnis [HMV 2014]) u. a.: – „Hinter-dem-Ohr“(HdO)-Geräte: können hinter der Ohrmuschel getragen werden. Über einen Tragehaken (Hörwinkel/Kniestück/Winkelstück), einen Schallschlauch und ein Ohrpassstück wird der verstärkte Schall in den äußeren Gehörgang geleitet (󳶳Abb. 7.25), – „Im-Ohr“(IO)-Geräte: Mikrophon, Verstärker, Batterie und Hörer liegen in einer Kompakteinheit unterschiedlicher Größe in der Ohrmuschel (Concha-Gerät), halb

Abb. 7.25: „Hinter-dem-Ohr“-Hörgerät (Fa. Widex).

380 | Wolfram Roßdeutscher, Marc Kraft



– –





in der Concha, halb im äußeren Gehörgang (Semi-Concha-Gerät) oder ausschließlich im äußeren Gehörgang (Gehörgangsgerät), „Modul-Im-Ohr“(MIO)-Geräte: bei der Abgabe des Gerätes an den Hörgeräteträger wird das standardisierte Technikmodul in eine individuelle Gehäuseschale eingesetzt, „Custom-made“-(IO)-Geräte: komplett auf die individuellen Räumlichkeiten im Ohr angepasste Geräte, Taschengeräte: notwendig bei hochgradig Schwerhörigen aufgrund der sehr hohen Verstärkungsleistungen oder bei Schwerhörigen mit feinmotorischen Störungen, denen die Bedienung der kleinen HdO- und IO-Steller nicht oder nicht mehr gelingt. Kabel und Hörer sind Bestandteile (Zubehör) des Taschengerätes. Das Kabel verbindet das Taschengerät mit dem Hörer. Alternativ sind Knochenleitungshörer verwendbar, die über Kopfbügel getragen werden, teilimplantierbares Knochenleitungs-Hörsystem: bestehend aus perkutanem Titanimplantat, operativ im Schädelknochen verankert, Empfänger und Verstärker epikutan (auf der Haut) angekoppelt, Tinnitusgeräte: akustische Apparate, die ein Rauschen in den Gehörgang abgeben und dadurch ein chronisches Ohrgeräusch ganz oder teilweise verdecken bzw. durch knapp überschwellig angebotenes Rauschen einen Gewöhnungsprozess einleiten.

Das Cochlea-Implantat (in der Hörschnecke) gehört nicht zu den schallmodulierenden, verstärkenden Hörhilfen nach PG 13 im Hilfsmittelverzeichnis, weil Implantate (per Definition durch die GKV) keine Hilfsmittel sind. In der Norm DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie [ISO 9999]) sind in der Klasse 22 06 Hörhilfen gelistet. Zu ihnen gehören dort alle Vorrichtungen, die von einer Person mit Hörschädigung verwendet werden können, um wahrgenommene Töne zu konzentrieren, zu verstärken und zu modulieren. Mit „konzentrieren“ ist die spezifische Schallführung in einem Hörrohr beschrieben. Neben einigen, im HMV analog bezeichneten Geräten, weicht die Systematik der ISO 9999 leider stark von der obigen ab. Es werden unterschieden: – Hörrohre (Klasse 22 06 03): Vorrichtungen, die Töne konzentrieren und in das Ohr leiten, – am Körper getragene Hörhilfen (Klasse22 06 06): an der Kleidung oder um den Hals getragene Vorrichtungen zur Verstärkung von Tönen, – Hörbrillen (Klasse 22 06 09): Brillengestelle mit eingebauten elektronischen Vorrichtungen zur Verstärkung von Tönen, – Im-Ohr-Hörgeräte (Klasse 22 06 12), – Hinter-dem-Ohr-Hörgeräte (Klasse22 06 15), – Taktile Hörhilfen (Klasse 22 06 18): Vorrichtungen, die Töne empfangen, verstärken und in taktile Signale umwandeln,

leise

200

140

Schmerzgrenze

20

120

2

100 80

0,2 Musik 0,02

Sprache

20

Hörschwelle

0

0,00002 20

Infraschall

60 40

0,002 0,0002

| 381

Schallpegel in dB

Schalldruck in Pa

laut

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

50

100

200

500

1000 2000 Frequenz in Hz (Tonhöhe)

5000 10 000 20 000 Ultraschall

Abb. 7.26: Akustischer Wahrnehmungsbereich.



– –

Hörhilfen in Verbindung mit Implantaten (Klasse 22 06 21): Vorrichtungen, die das Gehör unterstützen, indem z. B. im Innenohr implantierte Rezeptoren stimuliert werden, Kopfhörer (Klasse 22 06 24), Zubehör für Hörhilfen (Klasse 22 06 27).

Die akustische Wahrnehmung reicht über den Frequenzbereich von 16 Hz bis 20 kHz. Die Wahrnehmungsschwelle nimmt mit zunehmendem Alter, insbesondere bei hohen Frequenzen ab und kann für verschiedene Frequenzen selektiv ausgeprägt sein. Die Schmerzgrenze bei hohen Schallpegeln bleibt unverändert. Probleme beim Sprachverständnis treten dann auf, wenn die Hörschwelle im Hauptsprechbereich von 300 Hz bis 3,4 kHz (󳶳Abb. 7.26) mit 40 bis 60 dB liegt. Betrifft die Einschränkung den höheren Frequenzbereich, so werden die Konsonanten reduziert wahrgenommen. Bei niedrigen Frequenzen betrifft die Einschränkung die Vokale (󳶳Abb. 7.26). Ein Schwerhöriger kann im Beispiel der 󳶳Abbildung 7.27 mit einem Ohr die Buchstaben S, F, T und SCH, sowie einige weiterer Buchstaben (I, G, P, K) und Geräusche (Uhrticken, Vogelgezwitscher) nicht mehr hören. Ob ein Wort LAUF, LAUT oder LAUS heißt, wird er nur schwer verstehen können. In diesem Fall ist also nicht nur die Lautstärke für das Sprachverstehen ausschlaggebend, sondern vor allem die Deutlichkeit der Sprache. Viele Schwerhörige hören die Worte noch, verstehen sie aber nicht. Überdecken Umgebungsgeräusche das Gebiet der Sprachfrequenzen teilweise oder ganz, wird die Sprachverständlichkeit nochmals wesentlich reduziert. Zur Darstellung des individuellen Hörvermögens wird ein Audiogramm mit einer frequenzabhängigen Kurve der Hörempfindlichkeit erstellt (󳶳Abb. 7.27). Dieses

laut

382 | Wolfram Roßdeutscher, Marc Kraft Stärke des Hörverlusts

120 110 100

an Taubheit grenzend

90

Schallpegel in dB

80 hochgradig

70 u

60

e

a

mittelgradig

50 ob

40

d m

n

r

f

g

j i

30

sch

s

p t

4

6

k

leichtgradig

20

leise

10 0 0,125 niedrig

0,25

0,5

0,75 1 1,5 Frequenz in kHz

2

3

8 hoch

Abb. 7.27: Audiogramm: Akustischer Wahrnehmungsbereich bei Hörbehinderung. Blau markierte Hörschwelle: nicht mehr hörbar sind die unterhalb liegenden Buchstaben.

zeigt die Abweichung der Hörempfindlichkeit von der „Normkurve“, d. h. des unteren Randes der Wahrnehmungsschwelle. Dabei wird punktuell im Bereich von 250 Hz bis 8 kHz für jedes Ohr (teilweise mit Vertäubung des anderen Ohres) bei Luftleitung oder Knochenleitung gemessen (󳶳Abb. 7.27). Die Wirkungsweise eines Hörgerätes besteht darin, Sprach- und Nutzschall aus der Umgebung aufzunehmen und zu verstärken. Ein Hörgerät muss folgende Aufgaben erfüllen: – Verstärkung des Schallpegels in dem noch hörbaren Bereich, – Linearisierung des Frequenzganges durch selektive Verstärkung insbesondere im Frequenz­ bereich der Sprache, – Begrenzung des maximalen Schallpegels auf die Schmerzgrenze, – frequenzabhängige Dynamikkompression (nichtlineare Verstärkung), abhängig vom Schall­ pegel, um auch bei sehr großer Verstärkung noch Pegeldifferenzen wahrnehmen zu können und nicht alle Signale mit gleicher maximaler Amplitude aufzunehmen.

Konventionelle Hörgeräte sind akustische Hörhilfen, die Schallsignale in den Gehörgang des Schwerhörigen abgeben.

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

| 383

Bei alten Hörrohren wird die Verstärkung durch die Reduktion der Öffnungsfläche des Schalltrichters auf die Fläche des Trommelfells erreicht (󳶳 Abb. 7.28). Bei guter Abstimmung ist eine frequenzselek­ tive Verstärkung erreichbar. Dieses Prinzip wird noch heute bei Stethoskopen angewandt.

Abb. 7.28: Hörrohr von Hausmann/Siebenmann, ca. 1900 (The Hearing Aid Museum/Center for Hea­ ring Loss Help).

Bei elektronischen Hörgeräten wird der Schall mit einem oder mehreren Mikrofonen aufgenommen. Es besteht aus den Komponenten Mikrofon, Vorverstärker, Filter, Audioprozessor, Endverstärker und Wandler (󳶳Abb. 7.29). Als Wandler kommen in Frage: – Körperschallgeber für Knochenleitungshörgeräte, – elektroakustische Wandler für Luftleitungshörgeräte, – implantierbare piezoelektrische oder elektromagnetische Wandler. Der Einsatz mehrerer Mikrofone kann die Vorn-Hinten-Ortung verbessern und Störgeräusche reduzieren, weil eine Differenzbildung zwischen den Geräuschen aus der Frontalrichtung [Nutzsignal] und den Geräuschen aus allen anderen Richtungen [Störsignal] ermöglicht wird. Zum Empfang von magnetischen Wechselfeldern von Telefonhörern oder Stromschleifenverstärkern ist eine Telefonspule verfügbar, auf die bei Bedarf umgeschaltet werden kann. Je nach Bauform erfolgt die Signalverarbeitung mit Filterung, Verstärkung und Dynamikkompression entweder analog oder digital. Analoge Hörgeräte können je nach Bauform manuell (mit Trimmer) eingestellt oder digital programmiert werden. Letztere bieten mehr Einstellmöglichkeiten und erlauben eine genauere Anpassung an den Hörverlust des Behinderten. Digitale Hörgeräte verwenden Signalprozessoren, deren Möglichkeiten weit über die der analogen Geräte hinausgehen. Insbesondere können bis zu 16 Bandfilter realisiert werden.

AP Mikrofon

Vorverstärker

Filter

Abb. 7.29: Komponenten eines Hörgerätes.

Audioprozessor Endverstärker

W Wandler

384 | Wolfram Roßdeutscher, Marc Kraft

Durch eine Steuerung der Mikrofoncharakteristik ist eine bessere Ortung möglich. Die Signalverarbeitung nach psychoakustischen Modellen erlaubt eine wesentlich verbesserte Störunterdrückung (bis 128 Frequenzbänder). Außerdem kann durch eine dynamische Rückkopplungssteuerung ein lästiges Rückkopplungspfeifen ausgeblendet werden. Die Anwendung von Hörgeräten kann auch noch über die Verbesserung der Sprachverständlichkeit hinausgehen. Für Sonderanwendungen ist beispielsweise ein erweiterter Frequenzbereich bis 16 kHz Bandbreite (normal 8 kHz), wenn auch mit reduzierter Batterielebensdauer möglich. Für unterschiedliche Hörsituationen sind eine Lautstärkeregulation und ein Umschalten der Programme möglich (auch drahtlos über eine Fernbedienung).

7.3.2 Beispiele verschiedener Hörhilfen Luftleitungshörgerät Der verstärkte Schall wird bei Luftleitungshörgeräten elektrodynamisch gewandelt und z. B. über einen Schlauch und ein Ohrpassstück (Olive) in den Gehörgang geleitet (󳶳Abb. 7.30 (a)). Die Olive wird dem Gehörgang individuell angepasst. Hörgeräte müssen besonders zu Beginn der Nutzungszeit regelmäßig angepasst werden, da sich die Wahrnehmung ändert. Ein Gehörgangshörgerät (CIC: completely in canal 󳶳Abb. 7.30 (b)) wird im Gehörgang getragen. Es erzielt auf Grund der Nähe des Hörers zum Trommelfell eine höhere Verstärkung bei weniger Leistungsaufnahme. Die natürliche Richtwirkung der Ohrmuschel bleibt dabei erhalten.

(a)

(b)

Abb. 7.30: Hörgeräte-Bauformen. (a) Hinter-dem-Ohr-Hörgerät, (b) Im-Gehörgang-Hörgerät Phonak nano (Fa. Phonak).

Knochenleitungshörgerät Bei Knochenleitungshörgeräten handelt es sich um Hörgeräte, die Vibrationen erzeugen und diese über einen Federbügel auf den Schädelknochen hinter dem Ohr (Felsenbein) einleiten. Die Vibration wird durch die Schallleitung des Knochens in das In-

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

| 385

nenohr übertragen. Knochenleitungshörgeräte werden bei Schallleitungsschwerhörigkeit eingesetzt, die beispielsweise aufgrund von Fehlbildungen im Bereich des äußeren Gehörganges auftreten, bei denen aber eine Operation zu keiner ausreichenden Verbesserung des Hörvermögens führen würde.

Knochenverankertes Hörgerät Bei dieser Form von Knochenleitungshörgeräten (BAHA: bone anchored hearing aid) wird die Schallenergie über einen Wandler und eine im Warzenfortsatzknochen implantierte Titanschraube abgegeben. Das Hörgerät ist an dieser Verankerung, die durch die Haut nach außen ragt, über einen mechanischen Verschluss befestigt (󳶳Abb. 7.31).

(a)

(b)

Abb. 7.31: Knochenverankertes Hörgerät BP100 (Cochlear Bas, Schweden): (a) Soundprozessor mit (b) BIA300 Implantat BIA300 (Cochlear Bas, Schweden).

Implantierte Hörgeräte Implantierte Hörgeräte sind Systeme, bei denen Teile des Hörgerätes (nicht nur eine Titanschraube) implantiert werden. Auch bei Vollimplantaten ist meist ein externes Gerät erforderlich, mit dem der implantierte Energiespeicher (Akku) wieder aufgeladen werden kann. Es sind überwiegend Hörgeräte, bei denen ein Aktuator die Schallschwingungen bis zu einer Frequenz von 10 kHz direkt auf Gehörknöchelchen im Mittelohr überträgt. Der digitale Audio-Prozessor mit der Sendespule wird wie ein herkömmliches Hörgerät getragen. Die direkte Kopplung der Schallschwingungen an die Gehörknöchelchen erlaubt einen erweiterten Frequenzbereich; der Gehörgang bleibt offen (󳶳Abb. 7.32). Implantierbare Hörgeräte bewirken eine bessere Klangqualität durch den erweiterten Frequenzbereich bei geringerer Klangverzerrung. Diese Wirkung kann auch darauf zurückgeführt werden, dass diese Hörhilfen im Gegensatz zu herkömmlichen Hörgeräten immer getragen werden und somit eine bessere Wahrnehmung erfolgt.

386 | Wolfram Roßdeutscher, Marc Kraft

(a)

(b)

Abb. 7.32: Implantierbares Hörgerät VIBRANT Soundbridge (Fa. Med-el, Innsbruck): (a) Anordnung des Systems), (b) Audioprozessor Amadé und VORP (Vibrating Ossicular Prosthesis).

Bei vollimplantierten Hörgeräten ist das gesamte System mit der Stromversorgung implantiert. Das Mikrofon befindet sich am inneren Gehörgang unter der Haut. Die beibehaltene Schallzuleitung über das äußere Ohr und den Gehörgang bewirkt durch die natürliche Richtwirkung des Ohres ein besseres Sprachverständnis und einen natürlicheren Klang der eigenen Sprache. Das Hörgerät ist nicht sichtbar aber geschützt, sodass Duschen, Sport und Schlafen problemlos möglich sind. Beim Cochlea-Implantat (CI: cochlear implant, siehe auch 󳶳Kapitel 8.1.4) wird der Hörnerv über ein Elektrodenbündel in der Schnecke direkt stimuliert. Das Empfangssystem ist implantiert, die Signalaufbereitung wird extern mit einem digitalen Signalprozessor durchgeführt (ähnlich einem digitalen Hörgerät). Die Signalübertragung und Stromversorgung zum Implantat erfolgt induktiv über Spulen. Ein Hirnstamm-Implantat ist ein modifiziertes Cochlea-Implantat, bei dem nicht der Hörnerv sondern der erste Hörkern (Nucleus cochlearis) im Hirnstamm elektrisch stimuliert wird. Beide Systeme werden in 󳶳Band 11 ausführlich beschrieben. Als Implantate sind sie keine Hilfsmittel im Sinne der GKV.

7.3.3 Weitere Hilfsmittel für Hörbehinderte Als Alltagshilfen für Hörbehinderte können alle Mittel genutzt werden, die entweder den zur Wahrnehmung notwendigen Schallpegel durch Verstärkung erzeugen können oder die Informationen optisch bzw. taktil anzeigen. Optisch kann dies durch Anzeigen in Gebärdensprache, Schriftsprache oder als Lichtsignal (z. B. Blitz), taktil z. B. durch ein Vibrationssignal erfolgen. Die Gebärdensprache ist eine vollwertige Sprache mit einem umfangreichen Lexikon und eigener Grammatik. Sie ist seit 2002 in Deutschland als Sprache anerkannt. Dies bedeutet, dass Gehörlose ein Recht auf einen Dolmetscher haben. Gebärdenspra-

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

I J

E

| 387

OÖ UÜ

P A Ä A

B

F B

D

G

H M

N S St

K

T

Sch Y Q

Z

Ch R L C (a)

C

D

(b)

V W

x

Abb. 7.33: Verschiedene Gebärdensprachen. (a) Fingeralphabet, (b) Handalphabet nach Lorm, bei dem die Finger und Handpartien einzelnen Buchstaben zugeordnet sind und vom „Sprechenden“ berührt werden.

chen sind von Land zu Land verschieden. Es gibt z. B. die Deutsche Gebärdensprache (DGS), die American Sign Language (ASL), die British Sign Language (BSL) und andere. Neben der Gebärdensprache wird von einigen Hörgeschädigten eine zweite Sprachform angewendet, die sogenannten Lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG). Sie sind an die Grammatik der Lautsprache angelehnt, wobei jedes Wort der Lautsprache mit einer Gebärde visualisiert wird. Da sie keine eigene Grammatik besitzt, ist diese Kommunikationsform keine eigenständige Sprache wie die Gebärdensprache. Das Fingeralphabet (󳶳Abb. 7.33 (a)) eignet sich zum Buchstabieren einzelner Worte. Es bildet einzelne Buchstaben mit der Hand nach. Auch hier können einzelne Buchstaben länderabhängig unterschiedlich sein. Eine Sonderform stellt das Handalphabet nach Lorm („Lormen“) dar (󳶳Abb. 7.33 (b)), das zur Kommunikation mit Taubblinden geeignet ist, die eine Schriftsprache erlernt haben. Dabei sind den Buchstaben und Buchstabenkombinationen Lagen auf der Hand zugeordnet, die durch den „Sprechenden“ berührt werden oder über die gestrichen wird. Viele taube Behinderte können Lippenlesen. Dabei ist es wichtig, im Umgang mit dieser Behindertengruppe langsam und besonders deutlich artikuliert zu sprechen. Spezial-Telefone und Mobiltelefone für Hörbehinderte sind mit extra lautem Klingelton (bis 100 dB), einstellbarer Pegelverstärkung bis 40 dB und einer Umschaltung zwischen Hörer und Induktionsspule zur Einkoppelung auf ein ggf. vorhandenes Hörgerät (mit Telefonspule) ausgestattet. Geräte mit Basisstation haben oft einen Anschluss für ein Vibrationskissen. Zur Nutzung an schnurgebundenen und öffentlichen Telefonen gibt es Aufsetzverstärker für den Hörer. Smartphones und Internet haben die kommunikativen Möglichkeiten für Hörbehinderte wesentlich verbessert: SMS, MMS, Email und soziale Netzwerke machen

388 | Wolfram Roßdeutscher, Marc Kraft

heute Kommunikation auch unabhängig vom Aufenthaltsort möglich. Video-Telefonie mit Smartphone und Video-Chat per Internet erlauben sogar das Lippenlesen. Das Vibrationssignal ersetzt den Klingelton. Infrarot- oder FM-Funk-Kopfhörer, die einen hohen Schallpegel von 125 dB erzeugen, erlauben das (für andere störungsfreie) Hören von Musik, Fernseh- oder Rundfunksendungen. Andere Varianten speisen das zu übertragende Signal über eine Drahtschleife induktiv in die Telefonempfangsspule des Hörgerätes ein. Ähnlich funktionieren auch Induktionsanlagen zur Übertragung von Vorträgen in Schulen, Hör-, Vortrags- oder Kinosälen. Hier wird das zu übertragende Signal über einen Verstärker mit nieder-ohmigem Ausgang in eine Drahtschleife eingespeist, die um den Saal herum verlegt wird. Das entstehende magnetische Wechselfeld kann auch hier durch das Hörgerät empfangen werden. Im häuslichen Bereich können neben der Lautstärke auch der Klang eingestellt werden. Eine zuschaltbare automatische Verstärkungsregelung (AGC, automatic gain control) gleicht Lautstärkeschwankungen wie bei Werbeeinblendungen aus. Umgebungsgeräusche und die Sprache von Angehörigen können oft durch ein zusätzlich anschließbares Mikrofon dazu gemischt werden, sodass der soziale Kontakt nicht verloren geht. FM-Funkübertragungssysteme, z. B. für Schule oder Hörsaal, bestehen aus einem Sendemikrofon und einem separaten Empfänger. Der Gesprächspartner oder der Vortragsredner trägt das Mikrofon an der Kleidung oder in dessen Nähe. Es sendet die aufgenommenen Signale per Funk an den Empfänger. Je nach System wird ein Kopfoder Ohrhörer genutzt, das Signal induktiv in das Hörgerät eingespeist oder der Mikroempfänger wird direkt an das Hörgerät angesteckt. Die Systeme sind in der Regel vollständig mit Cochlea-Implantaten kompatibel. Für Wecker, Klingel und Telefon werden Signalgeber mit integriertem Blink- oder Blitzlicht und Vibration angeboten sowie auch draht- oder funkgesteuerte Zusatzmodule, wie z. B. Vibrationskissen. Zur Verbesserung der Sprechfähigkeit und des Lippenlesens stehen spezifische Hilfsmittel zur Verfügung. Durch die fehlende akustische Rückkopplung ist die Sprechfähigkeit vieler Gehörloser oder hochgradig Schwerhöriger nur unzureichend. Fällt das Gehör bei Kindern in der Phase des Spracherwerbs aus, kann Sprache auf normalem Wege nicht erlernt werden. Zur Verbesserung der Rückkopplung der eigenen Sprache und zu deren Korrektur wurden Verfahren entwickelt, die Sprache optisch und teilweise animiert darstellen. Wichtig ist dabei, dass die visuelle Darstellung dazu geeignet ist, durch den Anwender akustisch nachgebildet zu werden. Die Tonhöhe wird oft durch die Farbe und die Lautstärke durch die Größe oder Länge der Darstellung wiedergegeben. Beispielhaft sei hier die Sprach-Farbbild-Transformation genannt (󳶳Abb. 7.34). Andere Systeme visualisieren die Bildung von Lauten und Worten durch Nachbildung der Lippen, Mund- und Zungenstellung sowie der Zungenbewegung. Zum Training des Lippenlesens werden die Mundstellungen der einzelnen Laute visualisiert. Allerdings können von ca. dreißig Lauten nur etwa ein Drittel gut von den

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch |

389

Unterscheidung der Zischlaute s und sch: Masse – Masche

M A

SS

E

M A

SCH

E

Unterscheidung von Vokallauten: Mast – Most – Mist

M A

S

T

M O

S

T

M I

S

T

Abb. 7.34: Sprach-Farbbild-Transformation (aus [Fellbaum 1987]).

Lippen abgelesen werden, da einige Laute aus dem Hals gesprochen und unabhängig von der Mundstellung sind, wie z. B. G, K und R. Zur Unterscheidung mundstellungsähnlicher Laute werden taktile Hilfsmittel entwickelt, die durch Vibration eine Unterscheidung ermöglichen sollen.

7.4 Sprechhilfen 󳶳 Sprechhilfen dienen Menschen mit Stimm- und Sprachstörungen zum Ausgleich der fehlen­ den oder beeinträchtigten Funktionen. Sie ermöglichen den Betroffenen, mit ihren Mitmenschen sprachlich zu kommunizieren [HMV 2014].

Zu den Sprechhilfen im Sinne der Produktgruppe 27 des Hilfsmittelverzeichnisses [HMV 2014] zählen Sprachverstärker, Tonerzeuger (elektronische Sprechhilfen) für Kehlkopflose und Stimmersatzhilfen. In der Norm DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie [ISO 9999]) sind in der Klasse 22 09 Sprechhilfen gelistet. Sie sind hier „Vorrichtungen für Personen, deren eigene Stimmlautstärke für die Verständigung nicht ausreicht“. Zu ihnen gehören: – Stimmerzeuger (Klasse 22 09 03): Vorrichtungen, die Luftschwingungen in der Kehle erzeugen, die durch die Bewegung von Gaumen, Zunge und Mund in Sprache umgewandelt werden (z. B. Stimmventile),

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(a)

(b)

Abb. 7.35: Stimmverstärker Freiburg (Fa. Pulch+Lorenz). (a) Gerät mit Handmikrofon und (b) Nackenbügelmikrofon (Fa. Pulch+Lorenz).



Stimmverstärker für den persönlichen Gebrauch (Klasse 22 09 06): Vorrichtungen zur Verstärkung des Stimmvolumens einer Person.

Nach Erkrankungen des Kehlkopfes, insbesondere der Stimmbänder, nach Schilddrüsen- und Kehlkopfoperationen einschließlich der Laryngektomie (Entfernung des Kehlkopfes) sowie bei neurologischen Erkrankungen besteht oft eine Stimmschwäche (Phonasthenie) oder Stimmlosigkeit. Bei ungünstigen anatomischen Voraussetzungen oder bei mangelndem Erfolg einer logopädischen Behandlung kann in Ergänzung eine Sprechhilfe zur Anwendung kommen. Stimmverstärker sind Taschengeräte, die zur akustischen Verstärkung von Flüstersprache oder Ösophagussprache (griech. oesophagus, Speiseröhre) und Leisesprechern dienen. Die Verstärkung beträgt ca. 15 dB. Die Geräte können mit Handmikrofon oder Headset verwendet werden (󳶳Abb. 7.35). Elektronische Sprechhilfen dienen als Ersatz für die fehlenden Stimmlippen. Sie erzeugen Schallschwingungen, die beim Ansetzen der Geräte an den Hals aufgenommen und verstärkt in den Rachen-, Mund- und Nasenraum geleitet werden. Durch die gewohnten Sprechbewegungen lässt sich der elektronische Ton zu einer bedingt verständlichen Sprache formen. Durch Tasten am Gerät kann der Grundton oder der Grund- und der Betonungston verändert werden. Grundton und Tonhöhenabsenkung werden fest eingestellt. Durch Operation oder Bestrahlung kann die Halsregion stark anschwellen. In diesem Fall kann das Gerät dort nicht mehr angesetzt werden. Zum Sprechen ist ein Mundrohr mit Adapter nutzbar, das auf die Sprechhilfe aufgesetzt wird. Das Röhrchen kann zwischen die Zähne oder in die Wange genommen werden. Spezielle Sprechhilfen erlauben die Zuordnung von Gegenständen zu lautsprachlichen Begriffen oder zu Sachverhalten. Bei diesen Geräten mit digitaler Tonaufnahme können Worte und Geräusche aufgenommen und über einen programmierbaren Strichcode (Barcode) wiedergegeben werden. Ein Strichcode auf Klebeetiketten kann auf jedem beliebigen Gegenstand angebracht werden (󳶳Abb. 7.36). Das Wiederhören einer Information kann beispielsweise als Erinnerungshilfe für Worte, Aufgaben oder einen Arbeitsablauf wertvoll sein. Diese Systeme können weiterhin

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

(a)

| 391

(b)

Abb. 7.36: Sprechhilfe mit integriertem Scanner B. A. Bar (Fa. Incap).

zum Aufzeigen und korrigieren von Aussprachefehlern und Schwierigkeiten beim korrekten Satzaufbau oder zum Zurechtfinden in einer Umgebung dienen. In der Logopädie werden heute Programme zur Unterstützung der Stimmbildung, der Wortfindung und des Lippenlesens eingesetzt. Bei Personen, die schnell und undeutlich sprechen oder stottern, soll durch bewusste Nachbildung der grafischen Animation der Sprachlaute eine ruhigere, deutlichere Sprechweise trainiert werden. Bei der Unterstützung der Wortfindung der meist erwachsenen Personen werden abhängig von Störungsursache und Therapieansatz entsprechende Hinweise (Cues) gegeben. Diese erfolgen bei einer phonologischen Wortfindungsstörung mit Hilfe von Fingerweisungen. Bei Personen, die über das Schreiben von Wörtern zur Wortfindung gelangen, oder bei Rechtschreibschwächen erfolgt das Training durch Schreiben am Computer. Zum Lippenlesen für Menschen mit Hörproblemen wird das Gesicht des Gesprächspartners auf einem Bildschirm mit Lippen- und Zungenbewegungen der entsprechenden Laute dargestellt. Kommunikationshilfen tragen wesentlich zu sozialer Teilhabe, Integration und Selbstbestimmung der betroffenen Behinderten bei.

Testfragen 1. Wann wird eine Kommunikationshilfe benötigt? 2. Nennen Sie Auswahlkriterien für ein Eingabegerät! 3. Welche Auswahlverfahren von Sprachelementen stehen zur Verfügung? Erläutern Sie diese! 4. Wann braucht man Symbolsprachen? 5. Wie kann die Struktur von Kommunikationsinhalten optimiert werden? 6. Was ist ein Tastaturemulator? 7. Ändert sich die Wahrnehmung durch eine Behinderung? 8. Wie kann sich eine Behinderung auf die nicht betroffene Restsensorik auswirken? 9. Welche Körpersignale können zur Steuerung von Hilfsmitteln genutzt werden? 10. Welche Voraussetzung muss erfüllt sein, damit der Behinderte die Signale zur Steuerung nutzen kann? 11. Nennen Sie Beispiele für optische Sehhilfen! 12. Welcher Frequenzbereich wird im Wesentlichen bei Hörgeräten unterstützt? 13. Was ist ein Audiogramm?

392 | Wolfram Roßdeutscher, Marc Kraft

14. 15. 16. 17.

Wozu dient eine Empfangsspule im Hörgerät? Welche Aufgaben muss ein Hörgerät erfüllen? Welche elektronischen Funktionen bzw. Funktionsblöcke hat ein Hörgerät? Aus welchen behinderungsbedingten Komponenten (auch behinderungsbedingte Software) be­ steht ein Computerarbeitsplatz für Blinde?

Verzeichnis der Quellen, alphabetisch Argyle M.: Körpersprache und Kommunikation. Paderborn: Junfermann 1979. DIN EN ISO 9999 Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie. Berlin: Beuth Verlag 2011. Eichenbaum H.: Memory. Scholarpedia. Download unter: http://www.scholarpedia.org/article/ Memory, Stand 20.10.2014. Fellbaum K.-R.: Elektronische Kommunikationshilfen. Berlin: Weidler Buchverlag 1987. Hilfsmittelverzeichnis der GKV. Download unter: http://www.rehadat.de/gkv3/Gkv.KHS, Stand 27.08.2014. Keidel W.: Kurzgefasstes Lehrbuch der Physiologie. Stuttgart: Thieme Verlag 1979. Kelso D., Vanderheiden G.: Talking Blissapple. Hrsg: Bundesverband für spastisch Gelähmte und andere Körperbehinderte e. V., Bearb. Kranzkowiak T., Heidelberg: Julius Groos Verlag 1985. Merten K.: Kommunikation. Eine Begriffs- und Prozeßanalyse. Studien zur Sozialwissenschaft. Band 35. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1977. Musselwhite C. R., St. Louis Karen W.: Communication Programming for Persons with Severe Handi­ caps: Vocal and Non-Vocal Strategies. Communication Programming for the Severely Handicap­ ped:Vocal and Non-Vocal Strategies, 2nd edn. Boston, Toronto: College-Hill Press, 1988. Payer M.: Internationale Kommunikationskulturen, 4. Nonverbale Kommunikation, 1. Gesichtsaus­ druck und Blick als Signale. Download unter: http://www.payer.de/kommkulturen/kultur041. htm, Stand 16.09.2014. Payer M.: Internationale Kommunikationskulturen, 4. Nonverbale Kommunikation, 2. Gesten, Körperbewegungen, Körperhaltungen und Körperkontakt als Signale. Download unter: http://www.payer.de/kommkulturen/kultur042.htm, Stand 16.09.2014. Reichmann E. (Hrsg.): Handbuch der kritischen und materialistischen Behindertenpädagogik und ihrer Nebenwissenschaften. Behindertenpädagogik in Theorie und Praxis. Bd. 10. Solms-Ober­ biel: Jarick Oberbiel 1984. Roßdeutscher W.: Kommunikationshilfen für Schwerstbehinderte Untersuchungen zum Einsatz von technischen Kommunikationshilfen unter besonderer Berücksichtigung von Personal Com­ putern Biomedizinische Technik, Forschungsberichte für die Praxis Band 4. Boenick U. (Hg.), Berlin: Fachverlag Schiele & Schön GmbH, ISBN 3-7949-0544-X, 1992. Silverman F. H.: Communication for the Speechless. An Introduction to Nonvocal Communication Systems for the Severely Communicatively Handicapped. Englewood Cliffs N. J. 07632: Pren­ tice-Hall Inc. 1980. Stangl W.: Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Download unter: http://lexikon.stangl.eu/7608/ abulie/, Stand 16.09.2014.

7 Hilfsmittel für die Kommunikation und den Informationsaustausch

| 393

Danksagung Die Autoren danken allen an der Erstellung des Kapitelmanuskripts beteiligten weiteren Personen an der TU Berlin, den Bereitstellern von Daten, Bilder und Informationen sowie den Mitarbeitern des Verlages WALTER DE GRUYTER.

Verzeichnis weiterführender Literatur, alphabetisch Dilger W.: Neurokognition. Vorlesung an der TU Chemnitz, Wintersemester 2003/2004. Download unter: https://www.tu-chemnitz.de/informatik/KI/scripts/. Stand 20.10.2014. Kristen U.: Unterstützte Kommunikation – Eine Einführung. Düsseldorf: Verlag Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e. V. 1994. Frey H.: Die Bliss-Symbol-Kommunikationsmethode. Eine Einführung. Heidelberg: Julius Groos Ver­ lag 1987. Kroker I.: Sprachverlust nach Schlaganfall. Kratzmeier, Heinrich (Hg.). Heidelberg: Verlag für Medi­ zin Dr. Ewald Fischer 1986. Merten K.: Kommunikation. Eine Begriffs- und Prozeßanalyse. Studien zur Sozialwissenschaft. Band 35. Opladen: Westdeutscher Verlag 1977. Pischke M.: Strukturelle Hilfen zur pädagogischen Unterstützung und Erweiterung von Tätigkeit und Kommunikation bei mehrfach behinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. In: Fellbaum K.-R. (Hg.): Elektronische Kommunikationshilfen. Berlin: Weidler Buchverlag, 1987, 237–242. Reichmann E. (Hg.): Handbuch der kritischen und materialistischen Behindertenpädagogik und ihrer Nebenwissenschaften. Behindertenpädagogik in Theorie und Praxis. Bd. 10. Solms-Ober­ biel: Jarick Oberbiel 1984. Roßdeutscher W., Boenick U.: Möglichkeiten und Grenzen der Kommunikation motorisch Behinder­ ter. In: Hg. Fellbaum K.-R.: Elektronische Kommunikationshilfen. Berlin: Weidler Buchverlag, 1987, 217–227. Silverman F. H.: Communication for the Speechless. An Introduction to Nonvocal Communication Systems for the Severely Communicatively Handicapped. Englewood Cliffs N. J. 07632: Pren­ tice-Hall Inc. 1980. Watzlawick P., Beavin J., Jackson D. D.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxi­ en. 4., unveränd. Aufl., Bern, Stuttgart, Wien: Verlag Hans Huber 1974. Webster J. G., Cook A., Tompkins W., Vanderheiden G.: Electronic Devices for Rehabilitation. London: Chapman and Hall Medical, ISBN 0-412-26100-6, 1985.

Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation 8.1 8.2

Funktionelle Elektrostimulation (FES) | 396 Funktionelle Magnetstimulation | 428

Zusammenfassung: Die Funktionelle Elektrostimulation (FES) ist eine etablierte Methode zur Wiederherstellung sensorischer und motorischer Körperfunktionen, die durch neurologische Schädigungen oder Erkrankungen beeinträchtigt sind. Grundlage der FES ist die Applikation elektrischer Stimuli mit dem Ziel der funktionellen Nerv- oder Muskelstimulation. In diesem Kapitel werden zunächst die Wirkmechanismen der FES beschrieben, anschließend die technischen Komponenten FES-basierter Neuro-Assistenzsysteme aufgeführt und etablierte klinische Anwendungen der FES vorgestellt. Des Weiteren wird die relativ junge Funktionelle Magnetstimulation (FMS) beschrieben, die trotz bisher nur eingeschränkter klinischer Verbreitung, wegen ihrer geringen Schmerzwirkung, eine zukunftsträchtige Rehabilitationstechnologie darstellt. Abstract: Functional electrical stimulation (FES) is an established method for the restoration of sensory or motor functions, which have been impaired by neurological disease or injury. The underlying concept of FES represents the application of artificial electrical stimuli in order to functionally excite nerves or muscles. This chapter explains the basic concept of FES as well as technical components of FES-based neuro-assistive systems and their successful application. Furthermore functional magnetic stimulation (FMS) is presented, a clinically not yet widely used, but emerging technology for rehabilitation, with the main benefit of producing less pain sensation in patients with preserved sensibility than FES.

396 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

8.1 Funktionelle Elektrostimulation (FES) 8.1.1 Einführung in die Funktionelle Elektrostimulation Erkrankungen oder Schädigungen myogener und neuronaler Strukturen können zu starken Beeinträchtigungen oder zum vollständigen Ausfall von Körperfunktionen führen. So führt die Schädigung in einer Hirnhälfte infolge eines Schlaganfalls in vielen Fällen zu einer halbseitigen Lähmung (Hemiparese) der gegenüberliegenden Körperhälfte. Neben sensorischen und motorischen Lähmungserscheinungen können aufgrund von pathologischen oder traumatischen Veränderungen des neuronalen Systems anormale Nervenaktivitäten hervorgerufen werden, welche sich in Schmerz oder Bewegungsstörungen äußern. Ein Beispiel für eine Bewegungsstörung ist ein Tremor (Zittern) infolge einer Parkinsonerkrankung. 󳶳 Neuromodulation ist die technisch realisierte Einwirkung auf die neuronalen Schnittstellen des Körpers mittels elektrischer oder chemischer Reize, um verlorengegangene Körperfunktionen vollständig oder teilweise wiederherzustellen oder um Störungen des Nervensystems zu unter­ drücken. Medizinische Implantate und externe Geräte, welche das Prinzip der Neuromodulation einsetzen, können als 󳶳 Neuro-Assistenzsysteme bezeichnet werden.

Eine weitere geläufigere Bezeichnung ist Neuroprothese (󳶳Band 11). Es sei darauf hingewiesen, dass die Neuromodulation kein wirklicher Ersatz von Körperfunktionen ist, sondern eine Unterstützung bzw. eine Unterdrückung von Fehlfunktionen und Schmerzen realisiert. Neuro-Assistenzsysteme sind nicht zerstörend, reversibel und anpassbar. Eine spezielle Form der Neuromodulation ist die 󳶳 Funktionelle Elektrostimulation (FES), bei der elektrische Ströme zur Reizung von Nerven oder Muskeln genutzt werden, um verloren gegangene sensorische oder motorische Funktionen wiederherzustellen.

In Abhängigkeit von Ausmaß und Ursache der Funktionsstörung wird die FES dauerhaft wiederholt oder nur vorübergehend in einer Phase des Wiedererlernens der Funktion angewandt. Bei Querschnittgelähmten ist der Lähmungszustand in der Regel chronisch, sodass FES-Systeme kontinuierlich eingesetzt werden müssen. Die FES besitzt hier einen orthetischen (funktionskorrigierenden) bzw. prothetischen (funktionsersetzenden) Effekt. Um die Anwendung zu erleichtern, werden in diesem Fall Implantate bevorzugt. Anders verhält es sich z. B. bei Schlaganfallpatienten. Hier ist aufgrund der Plastizität des Gehirns unter Umständen ein Wiedererlernen von verloren gegangenen Funktionen möglich. In diesen Fällen wird die FES oftmals als temporäre Unterstützung in der Rehabilitation angewandt und weist somit einen therapeutischen Effekt auf. Die durch FES hervorgerufenen afferenten Reize in Muskelspindeln und Golgi-Apparaten können hier zu einer verstärkten motorischen Bahnung führen.

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation

|

397

Die elektrische Stimulation wird bei Schlaganfallpatienten in den meisten Fällen mit nichtinvasiven Reizsystemen umgesetzt. Sollen chronische Lähmungserscheinungen nach Schlaganfall, wie z. B. eine Fußheberschwäche, kompensiert werden, so können hier auch Implantate verwendet werden (󳶳Band 1, Kapitel 14). Neben der eigentlichen Funktionsunterstützung bzw. -wiederherstellung weist die Funktionelle Elektrostimulation der Skelettmuskulatur zahlreiche weitere therapeutische Effekte auf: – Verbesserung von Muskelmasse und -kraft bzw. Verhinderung einer Muskelatrophie infolge einer Lähmung, – Training des Herz-Kreislauf-Systems, – Förderung der lokalen Durchblutung und Reduzierung des Risikos von Druckgeschwüren, – Vorbeugung und Reduzierung einer Spastik, – Erhalt der Belastung der Knochen. Die FES wird daher auch als spezielle, funktionelle Form der Elektrotherapie betrachtet. 󳶳Tabelle 8.1 gibt einen Überblick über etablierte Neuro-Assistenzsysteme (siehe auch 󳶳Band 9 und 11).

Grundprinzipien der Funktionellen Elektrostimulation Sowohl Nerven- als auch Muskelzellen sind elektrisch erregbar. Im Ruhezustand weisen Nervenzellen eine Potentialdifferenz von ca. 70 mV über der Zellmembran auf, mit negativer Ladung im Inneren und positiver Ladung außerhalb der Zelle. Ursache dafür sind verschiedene Ionenkonzentrationen auf beiden Seiten der Membran sowie eine unterschiedliche, spannungsabhängige Durchlässigkeit der Membran bezüglich verschiedener Ionen (K+ , Na+ ). Wird eine Zelle durch einen geprägten Strom stimuliert, so kann das Membranpotential beeinflusst werden. Dies ist in 󳶳Abb. 8.1 dargestellt. Eine Reduzierung des Membranpotentials wird als Hyperpolarisation und eine Erhöhung als Depolarisation bezeichnet. Sind die Änderungen des Membranpotentials klein (unterschwellig), kehrt die Zelle schnell zu ihrem Ausgangspotential zurück. Erfolgt eine Depolarisation der Zellmembran über einen gewissen Schwellwert hinaus, so gene­ riert die Zelle selbst Änderungen im Zellmembranpotential, die als 󳶳 Aktionspotential (AP) be­ zeichnet werden.

Alle Informationen im Nervensystem werden mittels Aktionspotentialen übertragen. Nach Überschreiten eines Schwellwertes wächst das Membranpotential innerhalb einiger zehntel Millisekunden von ca. −70 mV auf ca. 50 mV an. Ungefähr eine Millisekunde nach dem Auslösen des Aktionspotentials reduziert sich das Membranpotential wieder und erreicht nach zwei bis drei Millisekunden wieder sein Ruhepotenti-

398 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

Tab. 8.1: Übersicht etablierter Neuro-Assistenzsysteme.

Funktionswiederherstellung

Blockade anormaler Nervenaktivität

Elektrische Neuromodulation

Chemische Neuromodulation

Funktionelle Elektrostimulation: Herzschrittmacher (Implantat) Cochlea-Implantat Unterstützung der Hörfunktion (Implantat) Stimulation der Sakralnerven Inkontinenz, Entleerung der Blase/ des Darms (Implantat) Peroneusstimulator Kompensation von Fußheberschwäche (Implantat oder transkutan) Zwerchfellschrittmacher (Stimulation des N. phrenicus) Unterstützung der Atmung (Implantat) Stimulation der Beinmuskulatur Unterstützung von Gehen, Stehen, Fahrradfahren (mit Liegedreirad oder Ergometer), Rudern, Herz-Kreislauf-Training (transkutan, Implantat) Stimulation der oberen Extremität Unterstützung von Hand- und Armfunktionen, insbesondere Greifen (transkutan, Implantat nicht mehr am Markt) Stimulation des N. hypoglossus Schlafapnoe-Behandlung (Implantat) Elektroejakulation Gewinnung von Spermien unter Allgemeinanästhesie Tiefe Hirnstimulation Behandlung von Tremor, Depression, Epilepsie und Schmerz (Implantat) Stimulation N. vagus Behandlung von Epilepsie (Implantat) Rückenmarkstimulation Behandlung von Schmerz (Implantat)

Sildenafil Behandlung von Erektionsstörungen (Tabletten)

Baclofen-Pumpe Behandlung schwerer Spastiken (Implantat) Morphin-Pumpe Schmerzbehandlung (Implantat)

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation

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Refraktärperioden absolut

relativ

absolut

relativ

+50 Zellmembranpotential U in mV

Aktionspotentiale

0

2

4

Zeit t in ms

Hyperpolarisationsphase

Schwelle Ruhepotential

Reize

–70 hyperpolarisierender Stimulus überschwellige Stimuli

unterschwelliger depolarisierender Stimulus Abb. 8.1: Generierung von Aktionspotentialen.

al, wobei es zwischenzeitlich zu einer leichten Hyperpolarisation kommen kann. Für den gesamten Vorgang sind aktive Ionenpumpen in der Zellmembran verantwortlich (󳶳Abb. 8.1). Aktionspotentiale unterliegen dem Alles-oder-Nichts-Prinzip: unterschwellige Stimuli lösen kein Aktionspotential aus, überschwellige Stimuli jeder Intensität liefern immer das gleiche Aktionspotential. Während eines Aktionspotentials kann kein weiteres Aktionspotential ausgelöst werden. Zwei bis drei Millisekunden nach einer Auslösung ist ein stärkerer Stimulus für die erneute Auslösung eines Aktionspotentials erforderlich (absolute und relative Refraktärzeit). Ein lokales Aktionspotential führt zur Depolarisation der angrenzenden Membran, sodass eine eigenständige Weiterleitung des Aktionspotentials erfolgt. Die mögliche Richtung der Weiterleitung wird durch den Zustand der angrenzenden Membran bestimmt (refraktäre Periode – keine Weiterleitung möglich, Ruhe – Ausbreitung möglich). Nervenzellen mit größerem Axon-Durchmesser und Axone, die mit einer Myelinscheide umhüllt sind (markhaltige Nervenfasern) zeigen eine größere Weiterleitungsgeschwindigkeit. Das Auslösen von Aktionspotentialen lässt sich mathematisch mit dem nichtlinearen Differentialgleichungsmodell von Hodgkin und Huxley [Hodgkin 1952] oder dem einfacheren Fitzhugh-Nagumo-Modell [FitzHugh 1961, Nagumo 1962] beschrei-

400 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

ben. Weiterführende Informationen zur Modellierung finden sich in [Rattay 1990, Reilly1998; Reilly 2011]. Bei der Muskulatur unterscheidet man zwischen quergestreifter und glatter Muskulatur. Die unter willkürlicher Kontrolle stehende Skelettmuskulatur und die Herzmuskeln gehören zur Klasse der quergestreiften Muskeln. Im Gegensatz zur rein neurogenen Aktivierung der Skelettmuskulatur weist der Herzmuskel auch eine spontane myogene Aktivität auf, welche durch das autonome Nervensystem moduliert werden kann, jedoch nicht von diesem abhängig ist. So wird z. B. ein denerviertes Herz weiterhin rhythmisch schlagen. Glatte Muskulatur befindet sich z. B. an den Wänden von Blutgefäßen und wird durch Hormone und das autonome Nervensystem kontrolliert. Die Skelettmuskulatur wird durch efferente Nervenzellen innerviert, die unter dem Begriff Motorneuron zusammengefasst werden. Man unterscheidet zwischen dem oberen und unteren Motorneuron (󳶳Kapitel 9.2). Der Zellkörper eines oberen Motorneuron befindet sich im Gehirn und sein Axon bildet die sog, Pyramidenbahn. Aktionspotentiale im oberen Motorneuron werden bei bewusster Auslösung von Bewegungen (Willkürmotorik) und bei der Regulierung der Körperhaltung generiert. Im Rückenmark werden die Steuerimpulse für die Muskulatur vom oberen motorischen Neuron auf ein unteres motorisches Neuron übermittelt. Die Zellkörper der unteren Motorneurone liegen im Rückenmark und die dazugehörigen Axone verlassen über den Spinalnerv den Wirbelkanal in Höhe der entsprechenden Rückenmarksegmente, bevor sie sich in mehrere Äste teilend, zu den motorischen Endplatten der Muskeln ziehen. An den motorischen Endplatten erfolgt die Übertragung der Erregung von den Nervenfasern auf die Muskelfasern. Dieser Bereich wird auch als Motorpunkt bezeichnet. Tritt eine Erkrankung oder Schädigung des oberen Motorneurons auf, so spricht man von einer zentralen oder spastischen Lähmung mit gesteigerten spinalen Reflexen. Bei einer krankhaften Veränderung oder Schädigung des unteren Motorneuron kommt es zu einer peripheren bzw. schlaffen Lähmung der Muskulatur. Da keine Muskelaktivität mehr möglich ist, auch nicht über Reflexe, atrophiert der Muskel im letzteren Fall sehr schnell. Eine 󳶳 motorische Einheit umfasst ein unteres Motorneuron und alle von dem zugehörigen Axon innervierten Muskelzellen.

Die motorische Einheit ist somit die kleinste funktionelle Einheit der Motorik. Die Anzahl der innervierten Muskelzellen reicht von einigen wenigen, z. B. in der Augenmuskulatur, bis zu mehreren hundert, z. B. bei den großen Beinmuskeln. Jede Muskelzelle wird dabei nur von einem Motorneuron innerviert. Alle zu einer motorischen Einheit zugehörigen Muskelzellen besitzen vergleichbare Eigenschaften bezüglich des Stoffwechsels, der Kontraktionsgeschwindigkeit und der Ermüdung. Prinzipiell kann man motorische Einheiten/Muskelzellen in zwei Gruppen einteilen, wie der 󳶳Tabelle 8.2 zu entnehmen ist.

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation |

401

Tab. 8.2: Klassifikation von motorischen Einheiten/Muskelzellen. Parameter

Axon-Durchmesser Reizschwelle Stoffwechsel/Energie Ermüdungsresistenz Kontraktion Farbe Beispiele mit hohem Anteil des jeweiligen Typs

Typ I

Typ II

klein hoch oxidativ (aerob)/ Myoglobin groß langsam rot Haltemuskulatur (z. B. Rückenmuskulatur)

Typ IIA

Typ IIB

mittel mittel oxidativ (aerob)/ Myoglobin mittel schnell rot Wadenmuskulatur

groß klein anaerob/Glykogen klein schnell weiß extraokuläre Muskeln für schnelle Augenbewegungen

Die Rekrutierung (Aktivierung) motorischer Einheiten erfolgt nach dem 󳶳 Hennemanschen Prin­ zip, auch 󳶳 Größenprinzip genannt. Für die Erzeugung kleiner Kräfte sind vorwiegend langsam kontrahierende, ermüdungsresistente, motorische Einheiten (Typ I) verantwortlich. Die schnellen motorischen Einheiten (Typ II) werden nur bei höheren Kraftanforderungen zusätzlich rekrutiert.

Die Kraftentwicklung wird des Weiteren über die Frequenz der Aktionspotentiale für jede motorische Einheit gesteuert. Dieser Vorgang wird auch als zeitliche Summation bezeichnet und ist in 󳶳Abb. 8.2 illustriert. Ein einzelnes Aktionspotential löst eine muskuläre Zuckung aus; bei einer schnellen Folge von Aktionspotentialen (> 10 Hz) überlagern sich die Zuckungen zu einer tetanischen Kontraktion. Ab einer Frequenz von ungefähr 30 bis 50 Hz, der Fusionsfrequenz, verschmelzen die Einzelzuckungen und es entsteht eine glatte (vollständige) tetanische Kontraktion, deren Amplitude mit höherer Frequenz größer wird. Die tetanische Kontraktion Kraft F in N

unvollständig vollständig

Einzelzuckung

Membranpotential U

Zeit t in s Aktionspotential

10 Hz

40 Hz

Zeit t in s Abb. 8.2: Generierte Muskelkraft bei zeitlicher Summation von Aktionspotentialen.

402 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

0 (a)

Antwort auf eine Impulsfolge mit konstanter Frequenz (20 Hz)

Stimuli

Stimuli

Antwort auf einen Einzelimpuls

Antwort auf eine Impulsfolge mit variabler Frequenz (20 Hz mit initialem Doublet (siehe unten))

Kraft F in N

Kraft F in N

Antwort auf Doublet (siehe unten)

Antwort auf Doublet

100

200

Zeit t in ms

0

100

200

Zeit t in ms

(b)

Abb. 8.3: Aktionspotentiale. Doublet-Phänomen (a) und Catchlike-Phänomen (b).

Aktivierung der einzelnen motorischen Einheiten erfolgt in der Regel für kleine und moderate Kräfte asynchron. Erst für sehr große Kräfte erfolgt eine synchrone Aktivierung der motorischen Einheiten. Die asynchrone Rekrutierung bei kleinen Kräften verhindert eine schnelle Ermüdung der Muskelzellen. Ist die Rekrutierungsfrequenz über alle motorischen Einheiten groß genug, so kann auch eine glatte Muskelkontraktion erzielt werden, obwohl einzelne motorische Einheiten nur zu einer unvollständigen tetanischen Kontraktion führen würden. Zwei oder drei sehr schnell nacheinander ausgelöste Aktionspotentiale (z. B. mit einer Frequenz von 200 Hz) führen zu einer Muskelkraft bzw. einem Kraft-Zeit-Integral, welches mehr als das Zwei- bzw. Dreifache eines entsprechenden einzelnen Aktionspotentials beträgt. Hochfrequente Folgen von zwei bzw. drei AP-auslösenden Stimuli werden als Doublet bzw. Triplet bezeichnet und der zuvor beschriebene Effekt auf die Kraft als Doublet- bzw. Tripletphänomen. Werden Doublets oder Triplets vor Beginn oder innerhalb einer Folge von niederfrequenten Stimuli verwendet, so lässt sich das sog. Catchlike-Phänomen beobachten [Binder-Macleod 2005]. Der Kraftanstieg aufgrund des Doublets oder Triplets hält hier länger an als die normale Dauer des entsprechenden Doublet- bzw. Tripletphänomens. Entsprechende Aktivierungsmuster mit variabler Frequenz wurden bei ballistischen Armbewegungen festgestellt. Doublet-, Triplet- und Catchlike-Phänomene lassen sich durch intrinsische Eigenschaften der Muskelzellen erklären. 󳶳Abb. 8.3 zeigt schematisch die Kraftentwicklung bei einem Doublet und einer Impulsfolge variabler Frequenz. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich die Muskelkraft durch die Aktivierung zu­ sätzlicher motorischer Einheiten (dem Größenprinzip folgend) und durch die Aktivierungsfrequenz gezielt beeinflussen lässt (󳶳 Kapitel 2.1.5).

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation

|

403

Künstliche Reizung elektrisch erregbarer Zellen Untersuchungen zur künstlichen Reizung des neuro-muskulären Systems gibt es nicht erst neuerdings. Bereits im 18. Jahrhundert beschrieb Luigi Galvani Kontraktionen von Froschschenkeln, die an Kupferhaken an einem Eisengitter aufgehängt waren. Die Wiederherstellung sensorischer und motorischer Funktionen mittels FES lässt sich durch drei Hauptinteraktionsmechanismen verwirklichen: – direkte Stimulation sensorischer bzw. motorischer Nerven (untere Motorneurone): Ziel ist es, Sinneswahrnehmungen zu erzeugen bzw. Muskelkontraktionen hervorzurufen, z. B. das Cochlea-Implantat und der Zwerchfellschrittmacher (Stimulation des N. phrenicus), – direkte Anregung der Muskulatur: Ist das untere Motorneuron nicht mehr intakt und der entsprechende Muskel nicht mehr innerviert, so können alternativ die Muskelzellen direkt elektrisch gereizt und zur Kontraktion gebracht werden. Hierfür sind jedoch wesentlich stärkere Stimulationsintensitäten als bei der Nervenstimulation erforderlich, – Reflexaktivierung nach afferenter Anregung: Reflexaktivitäten können durch Reizung sensorischer (afferenter) Nerven infolge spinaler Umschaltung im Rückenmark ausgelöst werden. Ein Beispiel hierfür ist die schmerzhafte Reizung der Fußsohle durch elektrische Stimuli, welche den Fluchtreflex auslösen kann (Anheben des gereizten Beines und Streckung des anderen Beines). So hervorgerufene Bewegungen können in der funktionellen Gangtherapie nach Schlaganfall von Nutzen sein. Sollen Aktionspotentiale in den Nerven- oder Muskelzellen ausgelöst werden, muss ein Strom in den Körper eingebracht werden. Dies kann über Elektroden auf der Haut (transkutan) oder über im Körper platzierte Elektroden erfolgen. 󳶳Kapitel 8.1.2 gibt einen detaillierten Überblick der verschiedenen Elektrodenformen und -technologien. Im Folgenden werden die Grundprinzipien der FES zunächst für Hautelektroden erläutert. Anschließend werden Vorteile implantierter Elektroden gegenüber einer transkutanen Stimulation am Beispiel von Cuff -Elektroden illustriert. Die Anwendung implantierter Elektroden innerhalb von Forschungsprojekten zur Ansteuerung von Prothesenkomponenten wird in 󳶳Kapitel 3.5.2 mit einem Beispiel beschrieben. Die 󳶳Abb. 8.4 zeigt verschiedene Elektrodenanordnungen zur transkutanen Stimulation der Skelettmuskulatur. Bei einer monopolaren Elektrodenanordnung wird eine kleinere Elektrode (aktive bzw. differente Elektrode) über dem einen Muskel innervierenden Nerven (direkt) oder über dem Motorpunkt (indirekt) platziert. Die größere Gegenelektrode (indifferente Elektrode) wird in der Regel über demselben Nerv proximal vor der differenten Elektrode platziert oder an einer Stelle, an der eine Reizung von Nerven unwahrscheinlich ist. Da unter der differenten Elektrode die Stromdichte größer ist, erfolgt hier die Reizung des Nervs und das Auslösen von

404 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

Stimulator

Hautelektrode

Haut

Motorpunkt

Muskel

(a) Stimulator

(b) Stimulator

(c) Abb. 8.4: Elektrodenanordnung zur transkutanen Stimulation von Motorneuronen oder Muskel­ zellen. (a) indirekte monopolare Anordnung, (b) direkte monopolare Anordnung und (c) bipolare Anordnung.

Aktionspotentialen. Die direkte monopolare Anordnung wird bevorzugt, wenn der Nerv nicht tief unter der Haut verläuft, wie z. B. der N. peroneus. Schon kleinere Stimulationsintensitäten reichen in diesem Fall zur Nervreizung aus. Ist eine selektive Aktivierung kleinerer Muskeln wie der Unterarmmuskulatur gewünscht, so empfiehlt sich die Verwendung der indirekten monopolaren Anordnung. Das manuelle Auffinden des Motorpunkts gestaltet sich dabei oft als schwierig. Zur Verbesserung der Anwendbarkeit kann die differente Elektrode in Form eines Arrays von kleinen Elektroden ausgelegt werden. Durch Verwendung entsprechender Sensorik zur Erfassung des Stimulationseffekts und geeigneter Algorithmen können passende Elemente des Arrays automatisch bestimmt werden. Zwei gleich große Elektroden werden bei der bipolaren Elektrodenanordnung direkt über dem Muskel angebracht. Insbesondere bei größeren Muskeln wird diese Form der Stimulation bevorzugt. Die bipolare Elektrodenplatzierung lässt sich auch zur direkten Reizung von Muskelzellen verwenden, falls keine neurogene Versorgung mehr vorhanden ist.

Stromstärke I

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation

Stromstärke I

405

pw pw

I

(a)

Zeit t

pw

I

(b)

Zeit t

pw

I

Zeit t

(c)

|

I

d

Zeit t

(d)

Abb. 8.5: Impulsformen mit Parametern. (a) Monophasicher Rechteckimpuls, (b) monophasischer Dreieckimpuls, (c) und (d) biphasischer Rechteckimpuls ohne und mit Pause. Parameter sind die Impulsbreite pw, die Pausenzeit d und die Stromstärke bzw. Impulsamplitude I.

Typische Stimulationsimpulsformen sind in 󳶳Abb. 8.5 dargestellt. Monophasische Impulsformen (󳶳Abb. 8.5 (a) und (b)) eignen sich nicht für die dauerhafte Anwendung. Um der Bildung von elektrochemischen Produkten vorzubeugen, die mit dem umgebenden Gewebe oder den Elektroden selber interagieren könnten, empfiehlt sich die Verwendung von ladungsbalancierten, biphasischen Impulsformen (󳶳Abb. 8.5 (c) und (d)). Bei monopolaren Elektrodenanordnungen mit monophasischen Impulsen sollte die Reizelektrode immer die Kathode sein. Beim Schließen des Stromkreises kommt es unter der Kathode (negative Polung) zu einer Membrandepolarisation und bei genügend großer Reizintensität zum Auslösen des Aktionspotentials. Verwendet man eine monopolare Elektrodenanordnung und eine biphasische Impulsform, so ist die Reizelektrode hier erst als Kathode und dann als Anode zu verwenden. Bei bipolarer Elektrodenanordnung ist die Polung der Elektroden ebenfalls von Bedeutung, obgleich mit einem geringeren Einfluss auf den Stimulationseffekt. Damit ein Stimulationsimpuls ein Aktionspotential auslöst, muss er eine genügend große Ladung Q aufweisen. Die Ladung ist dabei das Produkt von Impulsamplitude bzw. Stromstärke I und Dauer bzw. Impulsbreite pw. Bei biphasischen Impulsen beziehen sich Größen Q, I und pw auf den ersten Teilimpuls. 󳶳 Stromstärke-Impulsbreite-Diagramm: Die für das Auslösen von Aktionspotentialen bei Nervenund Muskelzellen minimale Stromstärke wird im sog. Stromstärke-Impulsbreite-Diagramm über der Reizdauer/Impulsbreite pw dargestellt.

406 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

100

Stromstärke (-amplitude) I in mA

Muskel

10

Nerv

1 0,01

0,1

1 10 Impulsbreite pw in ms

100

1000

Abb. 8.6: Stromstärke-Impulsbreite-Diagramm.

In 󳶳Abb. 8.6 ist die transkutane Reizschwelle von Nerven und Muskelzellen (denervierter Muskel) für monophasische Rechteck- und Dreieckimpulse illustrativ wiedergegeben. Für die direkte Reizung von Muskelzellen sind Impulse mit wesentlich längerer Impulsbreite und Amplitude erforderlich als für die Reizung von Motorneuronen. Neben der Impulsbreite und –amplitude spielt der Anstieg des Reizes eine entscheide Rolle. Bei sehr langsam ansteigenden Stimuli kommt es zu einer Erhöhung der Reizschwelle bei Nervenzellen. Dieser Vorgang wird als Akkommodation oder Einschleichprozess bezeichnet. Muskelzellen weisen diese Eigenschaft nicht auf. Symmetrische biphasische Rechteckimpulse mit sofortiger Phasenumkehr weisen im Vergleich zu monophasichen Rechteckimpulsen eine leicht erhöhte Reizschwelle auf. Um die Reizschwelle auf das Niveau von monophasischen Rechteckimpulsen zu reduzieren, muss eine Pause d von rund 100 μs zwischen beiden Phasen des biphasischen Impulses eingeführt werden (󳶳Abb. 8.5 (d)) [Reilly 1998]. Der Zusammenhang zwischen Schwellstromstärke Is und Schwellimpulsbreite pws im Stromstärke-Impulsbreite-Diagramm lässt sich für monopolare Rechteckimpulse durch folgende Gleichung beschreiben: Is =

a +b pws

(8.1)

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation |

407

Mit Q = I ⋅ pw ergibt sich für die Schwellladung Qs folgende Formel: Qs = a + b ⋅ pws

(8.2)

In den 󳶳 Gleichungen 8.1 und 8.2 sind b und a Konstanten, wobei b als Rheobase bezeichnet wird. Es sei bemerkt, dass das I-pw-Diagramm für verschiedene Nervenzelltypen (sensorische Nerven, Motornerven verschiedenen Types (I /II) oder Muskelzellen erstellt werden kann. In allen Fällen werden beim Überschreiten der Schwellwerte Aktionspotentiale ausgelöst. Alternativ kann das Diagramm auch für Nerven oder denervierte Muskeln Reizschwellen beschreiben, bei deren Überschreitung eine minimale Muskelzuckung beobachtet werden kann. Für die Erzeugung einer gewünschten Muskelkontraktion oder sensorischen Wahrnehmung ist gewöhnlich mehr als ein einzelner Stimulus erforderlich. Wie zuvor bereits beschrieben, ergibt sich ab einer Stimulationsfrequenz von ca. 50 Hz eine glatte (vollständige), tetanische Muskelkontraktion. Mit höheren Stimulationsfrequenzen lässt sich mehr Kraft erzielen, jedoch ermüden die Muskeln wesentlich schneller. Die maximale Stimulationsfrequenz ist durch die Refraktärzeit bedingt und liegt bei ungefähr 1000 Hz. Stimuliert man mit sinusförmigen Strömen oder Rechteckimpulsen über 1000 Hz (Mittelfrequenzbereich: 1 kHz bis 100 kHz) so wird erst nach mehreren Sinuswellen bzw. Impulsen ein Aktionspotential ausgelöst (Gildemeister-Effekt). Die genauen physiologischen Gründe hierfür sind noch nicht hinreichend bekannt. Werden die mittelfrequenten Reize länger appliziert, so verlieren die Nervenfasern ihre Erregbarkeit. Der als Wedensky-Hemmung bezeichnete Effekt kann zur gezielten Blockade einer Reizweiterleitung bei Nerven verwendet werden. Eine mittelfrequente Stimulation mit konstanter Amplitude eignet sich somit nicht für die Generierung funktioneller Muskelkontraktionen. Um periodisch Aktionspotentiale zu produzieren, muss der mittelfrequente Strom amplitudenmoduliert werden, sodass die Stimulation mit niederer Frequenz von z. B. 50 Hz quasi ein- und ausgeschaltet wird. Alternativ können zwei mittelfrequente Ströme mit leicht unterschiedlicher Frequenz eingeprägt werden, sodass es durch Interferenz im Körper zu einem amplitudenmodulierten mittelfrequenten Strom kommt. Vermeintliche Vorteile einer mittelfrequenten Muskelstimulation, wie z. B. die bessere Tiefenwirkung und weitestgehend schmerzfreie Erzeugung von kräftigen Kontraktionen, konnten in aktuellen Studien nicht nachgewiesen werden [Ward 2009]. Die gewünschte Kraftentwicklung der Muskulatur bzw. Stärke der sensorischen Wahrnehmung bei einer künstlichen Reizung der erregbaren Zellen wird über die Rekrutierung neuer Zellen oder die Reizfrequenz gesteuert. Für die Rekrutierung neuer Zellen muss die Reizstärke in Form von Impulshöhe oder -breite reguliert werden. In der Regel wird ein Parameter konstant gehalten und der andere als Stellgröße verwendet.

408 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

Die transkutante Stimulation mit Hautelektroden ist nichtinvasiv, hat allerdings einige Nachteile. Durch die unvermeidbare Stimulation von Rezeptoren in der Haut werden höhere Stimulationsintensitäten als schmerzhaft empfunden. Liegt keine sensorische Lähmung, wie z. B. nach kompletter Querschnittlähmung vor, so ist die durch FES erzeugbare Kraft durch die Schmerztoleranz der Patienten beschränkt. Eine transkutane Stimulation ist des Weiteren wenig selektiv. Es ist nahezu unmöglich, ausschließlich einen Nerven oder Muskel durch die Haut hindurch zu reizen. Folgende Regeln lassen sich für die Rekrutierung von Nerven- und Muskelzellen aufstellen: – Zellen, welche weiter von den Elektroden entfernt sind, werden mit kleinerer Wahrscheinlich aktiviert, – Axone lassen sich mit geringerer Stimulationsintensität reizen als Zellkörper, – größere (dickere) Axone antworten auf geringere Stimulationsintensitäten im Vergleich zu kleineren (dünneren) Axonen, – stark verästelte Axone generieren Aktionspotentiale schon bei geringeren Intensitäten als nicht so stark verzweigte Axone. In der Regel liegen Nervenfasern (Axone) verschiedener motorischer Einheiten eines innervierten Muskels in einem Nervenbündel dicht beieinander. Aufgrund der von der Axongröße abhängigen Reizschwelle folgt die Rekrutierung von motorischen Einheiten bei der funktionellen Elektrostimulation nicht dem Hennemanschen Prinzip, sondern erfolgt invertiert. Sind kleine bis moderate Kräfte gefordert, so werden mit den zugehörigen kleinen Stimuli zunächst die motorischen Einheiten mit größeren Axonen (Typ IIb) rekrutiert. Diese ermüden jedoch schnell. Erst bei höheren Reizen werden ermüdungsresistente Typ IIa und Typ I Einheiten mit kleineren Axonen aktiviert. Ein weiterer Unterschied besteht bei der physiologischen gegenüber der natürlichen Muskelaktivierung. So werden bei konstanter Reizintensität im Fall der FES immer dieselben motorischen Einheiten synchron aktiviert. Im Gegensatz dazu erfolgt bei der natürlichen Muskelaktivierung eine asynchrone Aktivierung motorischer Einheiten mit wesentlich niedrigerer Frequenz, sodass sich einzelne Einheiten viel besser regenerieren können. Die synchrone Reizung mit „höheren“ Frequenzen und die innervierte Rekrutierung unter FES führen zu einer sehr schnellen Ermüdung elektrisch stimulierter Muskeln. Muskelatrophie und ausbleibende Muskelaktivität, z. B. infolge einer Querschnittlähmung, führen zu einer größeren Population von Typ IIb Einheiten in den Muskeln, was die Ermüdung unter FES noch verstärkt. Durch dauerhafte Anwendung der FES können die Populationen motorischer Einheiten vom Typ I und IIa wieder gestärkt werden. Dieser Umwandlungsprozess kann jedoch Wochen in Anspruch nehmen. Um die Muskelermüdung hinauszuzögern, könnten sich Impulsfolgen mit variabler Frequenz unter Ausnutzung des Catchlike-Effekts eignen. Implantierte Elektroden besitzen gegenüber Hautelektroden mehrere Vorteile, erfordern allerdings zur Platzierung einen operativen Eingriff. Durch die Positionie-

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation

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409

rung der Elektroden in unmittelbarer Nähe des zu erregenden Gewebes kann eine gezielte selektive Reizung mit wesentlich kleineren Stimulationsintensitäten erfolgen. Die Stimulation ist nahezu schmerzfrei, da keine störende Reizung von Rezeptoren in der Haut erfolgt. Wird an einem Nerv mittels transkutaner Stimulation ein Aktionspotential erzeugt, so wandert dieses Potential in der Regel in beide Richtungen des Nervs weiter: orthodrom in Richtung der natürlichen Reizweiterleitungsrichtung und antidrom in Richtung des Zellkörpers. Mittels implantierter Elektroden lässt sich die Richtung der Erregungsweiterleitung gezielt beeinflussen. Es existieren sogar Techniken, um ein normales physiologisches Rekrutierungsverhalten motorischer Einheiten zu realisieren. Im Folgenden werden drei komplexere Ansätze der Nervenstimulation mit implantierten Nerven-Cuff -Elektroden kurz vorgestellt. 󳶳Abb. 8.7 (a) zeigt eine tripolare Nerven-Cuff -Elektrode, wie sie in [Fang 1991] vorgeschlagen wurde. Der zentrale Elektrodenkontakt ist dabei als Kathode und die beiden äußeren Elektrodenkontakte als Anoden ausgelegt. Die Anoden werden zur Unterdrückung der Reizweiterleitung der unter der Kathode generierten Aktionspotentiale in beide Richtungen verwendet. Die Blockade der Reizweiterleitung erfolgt durch eine Hyperpolarisation unter den Anoden. Die von Fang und Mortimer verwendete Impulsform ist in 󳶳Abb. 8.7 (b) dargestellt und besteht aus einem 350 μs langen Rechteckimpuls gefolgt von einem exponentiellen Abfall von ca. 600 μs Dauer. Der Stimulus besitzt diesen exponentiellen Abfall, um die Auslösung von Aktionspotentialen durch zu schnelle Anodenöffnung infolge einer relativen Depolarisation (Rückkehr von der Hyperpolarisation unter der Anode zum Ruhemembranpotential) zu vermeiden. Fang und Mortimer verwendeten zunächst einen Stimulus, der so stark war, dass nahezu alle motorischen Einheiten (langsame und schnelle) unter der Kathode

+



+

Cuff

Nervenbündel

(b)

Muskelkraft F

Stromstärke I in mA

(a)

I Zeit t in μs

(c)

Impulsamplitude I in mA

Abb. 8.7: Tripolare Nerven-Cuff -Elektrode mit Stimulationsimpulsform.

410 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

rekrutiert wurden. Mit weiterer Zunahme der Stimulationsintensität nahm die Hyperpolarisation unter den Anoden zu, sodass Aktionspotentiale auf den dickeren Axonen (schnell ermüdende motorische Einheiten) nicht mehr möglich waren. Die Reizweiterleitung für Aktionspotentiale dünnerer Axone ließ sich erst für noch größere Reizstärken ebenfalls unterdrücken. Somit konnte eine künstliche Aktivierung motorischer Einheiten nach dem Hennemanschen Prinzip realisiert werden und die Muskelermüdung stark reduziert werden. Interessant ist jedoch, dass bei dieser Methode die erzeugte Kraft mit zunehmender Reizstärke abnimmt, wie in 󳶳Abb. 8.7 (c) dargestellt. Im Gegensatz zur klassischen Reizung mit monopolaren Rechteckimpulsen wird des Weiteren eine wesentlich größere Reizintensität benötigt. Erweiterungen dieses Konzepts für ladungsausgeglichene biphasische Impulse, für bipolare und monopolare Elektrodenanordnungen und für eine Reizweiterleitung in nur eine Richtung existieren bereits. Ein alternativer Ansatz zur Realisierung einer natürlichen Rekrutierung motorischer Einheiten stellt die Anwendung mittelfrequenter Reizströme dar [Solomonow 1984]. Hiermit lässt sich die Reizweiterleitung bestimmter Axone gezielt beeinflussen. Zunächst erfolgt über eine Elektrode die Anregung eines Nervenbündels mit niederfrequenten Impulsen, sodass nahezu alle Axone (dünne und dicke) gereizt werden. Anschließend wird über eine zweite Elektrode ein mittelfrequenter sinusförmiger Strom am Nerv appliziert, welcher die Reizweiterleitung unterdrückt. Mit zunehmender Amplitude des Sinus werden zunächst dicke und dann auch dünne Axone blockiert, sodass durch Modulation der Sinusamplitude eine physiologische Rekrutierung von motorischen Einheiten erzielt werden kann. Wie bei dem Ansatz zuvor, ist der Zusammenhang zwischen Stimulationsintensität (des Sinus) und der erzeugten Kraft invers. Nachtteilig bei diesem Verfahren ist, dass die mittelfrequenten Ströme vor einer Blockade auch zu störenden anfänglichen Aktionspotentialen führen. Der Einsatz von mehrkanaligen Cuff -Elektroden stellt eine weitere Methode zu Reduzierung der Muskelermüdung dar [Thomsen 1997]. Hierbei wird eine Vielzahl von Elektroden zur Reizung des Nervenbündels verwendet unter der Annahme, dass für jede Elektrode verschiedene Nervenfasern in dem Bündel gereizt werden. Durch fortlaufenden Wechsel der jeweils aktiven Elektrode kann somit die physiologische asynchrone Rekrutierung von motorischen Einheiten nachgebildet werden.

8.1.2 Biologisch technische Schnittstelle der Funktionellen Elektrostimulation Elektroden Neuro-Assistenzsysteme stimulieren mit elektrischen Reizen neuronale Strukturen, Muskeln oder Rezeptoren, um eine gestörte Funktion zu unterstützen oder zu ergänzen bzw. verlorengegangene Funktionen soweit wie möglich wieder herzustellen. Darüber hinaus lassen sich mittels Elektrostimulation und der modulierenden Überlage-

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation

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411

rung der Stimulationssignale Ionenkonzentrationen gezielt beeinflussen und so auch metabolische Veränderungen bewirken. Voraussetzung für die hierfür erforderliche Übertragung von Ladungen ist der unmittelbare Kontakt zwischen dem technischen System und dem biologischen Gewebe. 󳶳 Elektroden stellen den Kontakt zwischen dem biologischen Gewebe und dem technischen Sys­ tem her. Sie können sowohl der elektrischen Stimulation dienen, um Ladungen von einem Reiz­ generator auf nervale und muskuläre Strukturen zu übertragen, als auch der Erfassung bioelektri­ scher Potentialdifferenzen dienen und sind Wandler für biologische Ionenströme und technische Elektronenströme.

Die übertragbare Ladungsdichte ist materialabhängig. Sie wird beispielsweise für Gold mit 20 μC/cm2 , für Edelstahl mit 50 μC/cm2 und für Platin mit 75 μC/cm2 angegeben. Die effektive Oberfläche einer Elektrode lässt sich mittels fraktaler Strukturierung weiter erhöhen, so z. B. für Iridiumoxid auf bis zu 3000 μC/cm2 [Stieglitz 2004]. Das Design der Elektroden ist abhängig von der Art der Anwendung, dem Anwendungsort, der Dauer der Anwendung und den zu übertragenden Ladungen. Sie unterscheiden sich stark für Stimulationen der Muskulatur und der Nerven. 󳶳Abb. 8.8 gibt hierfür verschiedene Beispiele. Trägermaterial für die dargestellten flexiblen Elektroden ist Polyimid, Silikon oder ein Textil. Die Elektrodenkontakte bestehen aus Platin oder Gold, das zur Vergrößerung der effektiven Oberfläche mit mikrorauem Platin überzogen wurde. Die Silikonelektroden erhalten ihre Leitfähigkeit, indem sie mit Nanopartikeln gefüllt werden. Durch geeignete Wahl der Füllstoffe kann bei der Anwendung auf Elektrolytgel verzichtet werden. Für transkutane Stimulationen werden aufgrund der einfachen Anwendung in der Regel Hydrogel-Elektroden eingesetzt. Diese mehrlagigen Elektroden stellen über ein selbstklebendes Hydrogel den Kontakt zur Haut her. Der spezifische Widerstand der Hydrogele als erste Schicht liegt zwischen 10 Ωm und 210 Ωm [Lawrence 2009]. Als Leitmedium wird häufig ein Metallgitter oder ein latexfreier Gummileiter eingesetzt. Letzterer bietet den Vorteil, dass der Nutzer die Größe der Elektrode entsprechend seiner Applikation selbst festlegen kann. Für die Oberflächenabdeckung als abschließende Schicht werden hochflexible, dünne Polyurethanfolien, Textilien oder ähnliches eingesetzt. Hydrogel-Elektroden zeichnen sich durch ihre Flexibilität, Hautverträglichkeit, gleichmäßige Ladungsverteilung und damit gute Stimulation aus. Am Beispiel der Elektroden für eine nervale Stimulation lässt sich gut zeigen, dass eine Verbesserung der Selektivität mit einer Erhöhung der Invasivität einhergeht. In der oberen Reihe der 󳶳Abb. 8.8 sind Elektroden dargestellt, deren Selektivität und Invasivität von links nach rechts zunimmt. Die Cuff -Elektroden werden um den peripheren Nerv wie eine Manschette gelegt. Sie verfügen z. B. über zwölf Einzelelektroden, die jeweils zu vier Elektrodenkontaken in drei Reihen angeordnet sind. Dabei

412 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

1 cm

(a)

1 cm

(b)

(c)

(e)

(f)

(g)

(h)

(i)

(j)

(k)

(l)

(d)

1 cm

Abb. 8.8: Unterschiedliche Stimulationselektroden. Implantierbare Mikroelektroden zur Nervensti­ mulation: (a) Cuff -Elektrode, (b) Shaft-Elektrode, (c) Faden-Elektrode, (d) Sieb-Elektrode, (e) Elek­ trode zur Stimulation der Retina; (f) Elektrode zur Stimulation des Vestibularis. Implantierbare Elektroden zur Muskelstimulation: (g) und (h) epimysiale Elektroden mit Polyimid als Trägerma­ terial, (i) und (j) epimysiale Elektroden mit Silikon als Trägermaterial. Oberflächenelektroden: (k) Oberflächenelektrode aus gefülltem Silikon, (l) textilintegrierte Elektrode. (Foto: Bernd Müller 󳶳 Abb. 8.8 (c), (f) und (g)).

ist der Abstand zwischen den Reihen und zwischen den Kontaktstellen konstant. Die Schaft-Elektrode wird in den peripheren Nerven eingestochen, sodass die Stimulation interfasziculär erfolgen kann. Damit hat sie eine vergleichsweise höhere Selektivität. Die Schaft-Elektrode verfügt z. B. über zehn Einzelelektroden, die sich longitudinal auf dem Trägermaterial befinden. Eine beidseitige Platzierung der Kontakte ist ebenfalls möglich. Die Faden-Elektrode wird longitudinal intrafasziculär durch

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation |

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einen Nerv gezogen. Ihre z. B. acht Elektrodenkontakte, die sich auf einem schlaufenförmigen Polyimidfaden befinden, stimulieren unmittelbar einzelne Nervenfasern. Eine selektive Kopplung von motorischen und sensiblen Fasern ist mittels einer SiebElektrode möglich. Zwei Nervenstümpfe werden in einer Silikon-Röhre so platziert, dass sie durch die 571 Löcher einer Sieb-Elektrode regenerieren. Bis zu 54 dieser Löcher mit einem Durchmesser von 50 μm sind durch Metallisierung als Ringelelektrode ausgebildet. Mit dieser äußerst invasiven Elektrode lassen sich einzelne Nervenfasern selektiv stimulieren [Hoffmann 2011].

Grundanforderungen Wesentliche Grundforderungen an Stimulationselektroden sind neben der bereits im 󳶳Kapitel 3.4.1 besprochenen Biokompatibilität insbesondere die Langzeitstabilität und die übertragbare Ladungsmenge. Beide werden in einem hohen Maße durch Änderungen des Elektrodenübergangswiderstandes beeinflusst. Dies betrifft sowohl implantierte Elektroden durch Veränderung des Gewebes in unmittelbarer Nähe der Elektrode nach der Implantation, als auch Oberflächenelektroden durch Veränderung der Haftung der Elektrode auf der Haut aufgrund von Bewegungen der Elektrode, Austrocknen des Elektrolyten oder Verminderung des Anpressdrucks. Die Parameter der Stimulation sind Dauer, Amplitude, Frequenz, Form und Muster des Signals. Diese müssen so gewählt werden, dass irreversible elektrochemische Prozesse vermieden werden. Bei geringen Ladungsdichten erfolgt die Ladungsübertragung durch eine rein kapazitive Umladung der Phasengrenzschicht zwischen Elektrodenoberfläche und Gewebe. Dieser rein kapazitive Ladungsaustausch ist reversibel. Bei hohen Ladungsdichten können irreversible Redoxreaktionen auftreten, die zur Korrosion der Elektrode und zur Elektrolyse von Wasser führen. Die so entstehenden Gasbläschen aus Sauerstoff und Wasserstoff können das umliegende Gewebe schädigen. Daher wird in der Regel biphasisch ladungskompensiert stimuliert. So werden die aufgrund einer Stimulation an der Elektrode auftretenden Prozesse durch einen Reiz mit entgegengesetzter Polarität weitestgehend kompensiert.

8.1.3 Technologische Besonderheiten der Funktionellen Elektrostimulation Komponenten eines FES-basierten Neuro-Assistenzsystems FES-basierte Neuro-Assistenzsysteme können von externen, technischen oder internen, biologischen Signalen gesteuert werden. Beispielsweise bei einem CochleaImplantat oder einem Retina-Implantat werden akustische oder optische Signale unmittelbar in ein elektrisches Stimulationssignal umgewandelt. Es können auch elektrische Steuersignale, z. B. kortikale Potentiale, die mittels Brain Computer Interface (BCI) gewonnen wurden, zur Steuerung der Stimulation der Handmuskulatur für Greifbewegungen herangezogen werden (Ansteuerung von Prothesenkomponenten

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Kommunikation Schnittstelle zur Kommunikation Signalerfassung

Signalkonditionierung

Signalanalyse

Stimulation

Elektrode

Verstärker

Parameter

Stimulator

Sensor (Wandler)

Filter

Klassen

Elektrode

A/D Wandler

Modelle

Signal Reiz

Schnittstelle zur Energieversorgung, Energiemanagement Energie Abb. 8.9: Komponenten eines FES-basierten Neuro-Assistenzsystems. Der Signalfluss ist in Grün, der Energiefluss in Blau und der Kommunikationsweg in Rot dargestellt.

󳶳Kapitel 3.4.1). Die 󳶳Abbildung 8.9 veranschaulicht die Komponenten eines FESbasierten Neuro-Assistenzsystems. Die erfassten Signale werden nach der Konditionierung analysiert, um den für das Eingangssignal adäquaten Stimulus zu generieren. Der Stimulus kann ein einfacher Stimulationspuls sein, kann aber auch aus komplexen sich überlagernden Stimulationsmustern bestehen. Das Gesamtsystem muss mit Energie versorgt werden. In Abhängigkeit von der Komplexität des Systems muss der Bediener über den aktuellen Zustand des Assistenzsystems auch in Wechselwirkung mit seiner Umgebung informiert werden, um bei Veränderungen von technischen oder biologischen Parametern, z. B. in Gefahrensituationen eingreifen zu können. Hierfür ist eine bidirektionale Kommunikationsschnittstelle erforderlich. Je nach Applikation des FES-basierten Neuro-Assistenzsystems können Komponenten oder das Gesamtsystem extern, teilimplantiert oder vollimplantiert sein. Für die transkutane Elektrostimulation ist das gesamte System extern angelegt. Bei der Unterstützung von Sinnesfunktionen sind Sensoren, Signalkonditionierung und Signalverarbeitung größtenteils extern positioniert. Mit Steuersignalen werden dann die implantierbaren Stimulatoren angesprochen, um beispielsweise Sinneseindrücke wie Hören oder Sehen dem Betroffenen zu vermitteln.

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Stimulator/Elektronik Stimulatoren zur Reizung des biologischen Gewebes können das elektrische Signal auf zwei verschiedene Weisen zur Verfügung stellen nämlich spannungskonstant oder stromkonstant. Die spannungskonstante Stimulation, bei der als Reizstärke die Spannung eingestellt wird, ist einfach zu realisieren. Allerdings ist eine Erhöhung des Elektrodenübergangswiderstandes aufgrund verminderten Anpressdrucks, Austrocknung der Elektrolytschicht oder Einkapslung der implantierten Elektrode von einer Verminderung des resultierenden Stromes begleitet. Damit vermindert sich die übertragene Ladungsmenge und eine Erregung des Gewebes kommt gegebenenfalls nicht mehr zustande. Hierin liegt aber auch ein Vorteil für die Anwendung. So können keine gefährlichen Ströme auftreten, wenn sich beispielsweise bei transkutaner Anwendung eine Elektrode löst. Die stromkonstante Stimulation stellt einen konstant fließenden Strom zur Verfügung, der proportional zur übertragenen Ladungsmenge ist. Damit bleibt in jedem Fall ein sicheres Auslösen von Aktionspotentialen gewährleistet. Nachteilig ist, dass eine Erhöhung des Überganswiderstandes von einer Erhöhung der Stimulationsspannung begleitet wird. Um Verletzungen zu vermeiden, muss in diesem Fall die resultierende Spannung begrenzt werden.

Energieversorgung implantierter Systeme Eine wichtige Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der FES-basierten NeuroAssistenzsysteme ist die kontinuierliche Versorgung mit Energie. Hierzu gibt es im Wesentlichen drei Möglichkeiten: – Energieversorgung in klassischer Form mittels Lithium-Jodid-Batterien mit einer Laufzeit von 5 bis 10 Jahren, die beispielsweise für Herzschrittmacher eingesetzt werden, – aufladbare Akkumulatoren (Akkus), die ihre Energie durch eine induktive Energieübertragung erhalten. Anwendungen hierfür findet man beispielsweise in kleinen Muskelstimulatoren, die in der Nacht aufgeladen werden. Tagsüber ermöglichen sie so den ungehinderten Einsatz [Schulman 2008], – Verzicht auf einen Energiespeicher, wobei die telemetrisch übertragene Energie für die vollständige Funktionsfähigkeit des Implantates ausreicht. Dies benötigt die Energie auch nur während eines zeitlich begrenzten Einsatzes, wie z. B. bei Retina-Implantaten, Cochlea-Implantaten oder der Fallfußstimulation. Ständige Stimulationen während des Schlafes wären hier eher störend. Die Methoden des Energy-Harvesting (dt. Energie-Ernten: die Gewinnung kleiner Mengen elektrischer Energie aus körpereigenen Quellen für die Energieversorgung von Implantaten) sind Gegenstand der Forschung. Hier gibt es interessante Konzepte, wie den Einsatz von z. B. thermoelektrischen, piezoelektrischen oder bioelektroche-

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mischen Wandlern. Die Kapazität all dieser bisher bekannten neuen Verfahren ist jedoch noch nicht ausreichend [Hoffmann 2005].

Sensoren und Signalverarbeitung Häufig ist es erforderlich, die Parameter und Stimulationsmuster einer funktionellen Elektrostimulation dynamisch zu ändern. Hierzu können erfassbare Biosignale, Zustandsänderungen usw. herangezogen werden. Die Möglichkeiten sind so vielfältig wie ihre Anwendungen. Zu den externen Signalen und Sensoren gehören in erster Linie bioelektrische Potentiale, die mit Oberflächenelektroden abgeleitet werden. So wird das EMG zur Steuerung der Stimulation der Handmuskulatur herangezogen. Mit dem EEG als Brain Computer Interface lässt sich die Vorbereitung einer Bewegung detektieren und die entsprechende Muskelstimulation der betroffenen Extremität einleiten. Weitere Beispiele zur Steuerung motorischer Neuro-Assistenzsystem sind die Erfassung von Beschleunigungen und Drehraten mittels Inertialsensoren, Fußkontaktschalter zur Synchronisation der Stimulation mit dem Gang (Peroneusstimulator) und der Schulter-Joystick zur Steuerung der Stimulation der Handmuskulatur. Zur Steuerung komplexerer Systeme werden intrakorporale Signale und Sensoren herangezogen. Beispiele hierfür sind die Erfassung der Sauerstoffsättigung (mittels Oxymeter) für die frequenzadaptive Steuerung des Herzschrittmachers und Phrenikusstimulators. Füllstands- oder Druckmessung finden bei einem geregelten Blasenstimulator Anwendung.

8.1.4 Beispiele für klinische Anwendungen der Funktionellen Elektrostimulation Herzschrittmacher 󳶳 Herzschrittmacher sind Stimulatoren, mit denen ein pathologischer Herzrhythmus aufgrund ei­ ner Störung der Erregungsbildung oder Erregungsweiterleitung im Herzen mittels elektrischer Rei­ zung behoben werden kann. Sie sollen einen möglichst natürlichen Herzrhythmus erzeugen. Im­ plantierbare Herzschrittmacher werden dauerhaft in die Brust oder den Bauchraum eingesetzt. Mittels spezifischer Elektroden wird eine leitfähige Verbindung zur Herzmuskulatur hergestellt (󳶳 Band 9, Kapitel 4).

Das Prinzip der elektrischen Stimulation eines Muskels lässt sich auch für die Stimulation und Auslösung Myokardkontraktion anwenden. Nach dem ersten Einsatz eines implantierbaren Herzschrittmachers in den 1950er Jahren, ist er heute mit etwa 1 Million Implantationen pro Jahr ein Standard in der Gesundheitsversorgung. Da der Herzschrittmacher zu den wichtigsten Beispielen der FES gehört, soll er hier nicht unbe-

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation

Spule

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Programmiergerät extern intern

Sensor

Spule

Steuereinheit

Stimulator

Ausgangsverstärker Stimulus Elektrode

Myokard

intrakardiale Aktivität Detektion

Eingangsverstärker

Abb. 8.10: Stark vereinfachtes Blockschaltbild eines Einkammerherzschrittmachers.

rücksichtigt bleiben. Eine ausführliche Darstellung seiner Technologie ist in Kapitel 4 des 󳶳Band 9 enthalten. Der prinzipielle, stark vereinfachte, Aufbau eines Herzschrittmachers ist in 󳶳Abb. 8.10 wiedergegeben. Dabei blieben interne Diagnosesysteme, wie z. B. Batteriestatus, Störerkennung usw. unberücksichtigt. Der Sensor dient der Aufnahme leistungsabhängiger Parameter, wie z. B. der Sauerstoffsättigung, des Atemminutenvolumens und des Präejektionsintervalls (pre ejection period (PEP) der Zeit vom Beginn des QRS-Komplexes bis zum Anstieg des systolischen Drucks, welche vom sympathischen Nervensystem abhängt und die Kontraktilität des Myokards widerspiegelt) [Fischer 1996]. Die Elektrode, die entweder im Atrium oder im Ventrikel platziert ist, kann sowohl zur Stimulation als auch zur Signalerfassung der intrakardialen Aktivitäten genutzt werden. Pathologische Veränderungen der Reizbildung oder Reizleitung führen zur Verlangsamung (Bradykardie) oder Beschleunigung (Tachykardie) des Herzrhythmus. Beeinträchtigt eine Bradykardie aufgrund von Unwohlsein die Lebensqualität, so können die Tachykardie oder ein Herzstillstand (als Ergebnis einer Bradykardie) zum Kreislaufstillstand führen und lebensbedrohlich sein. Durch eine elektrische Stimulation des Herzmuskels kann die Herzfrequenz normalisiert werden. Ist beispielsweise das Reizleitungssystem betroffen und sind Aktivitäten der Vorhöfe noch vorhanden, so lassen diese sich als Steuersignal verwenden. Andere Möglichkeiten sind Bedarfsschrittmacher, die nur beim Ausbleiben z. B. von Vorhofaktivitäten nach einer individuell angepassten Latenzzeit die Vorhöfe stimulieren. Sehr komfortabel für die Betroffenen sind frequenzadaptierte Schrittmacher, die sich in ihrer Frequenz dem jeweils benötigten Herzzeitvolumen anpassen [Bolz 2002].

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Die Nachsorge von Patienten mit Herzschrittmacher stellt einen nicht unerheblichen Kostenfaktor und eine Beeinträchtigung der Lebensqualität des Patienten dar. Deshalb werden sich in immer stärkerem Maße telemetrische Systeme zur Fernüberwachung durchsetzen. Auch lassen sich auf Prävention ausgerichtete Therapieansätze verwirklichen. Voraussetzung dafür sind zusätzliche Sensoren, hochintegrierte Low-Power-Schaltkreise und leistungsfähige Möglichkeiten der Energieversorgung.

Cochlea-Implantat Das 󳶳 Cochlea-Implantat ist eine Hörprothese, die es ertaubten oder schwerhörigen Menschen mit beschädigten Sinneszellen im Innenohr ermöglicht, durch eine direkte frequenzspezifische elek­ trische Stimulation in der Cochlea mittels Mikroelektroden wieder einen Höreindruck zu erlangen (󳶳 Band 1, Kapitel 15 und 󳶳 Band 11).

Durch elektrische Stimulation in der Cochlea (Hörschnecke, Teil des Innenohrs), am N. acusticus, am Hirnstamm und im zentralen Hörzentrum lassen sich akustische Eindrücke generieren. Dabei ist das Cochlea-Implantat mit ca. 10 000 Implantationen pro Jahr eine klinisch etablierte Methode, um gehörlosen Patienten oder Patienten mit Hörverlust wieder eine Kommunikation und die akustische Teilnahme am alltäglichen Leben zu ermöglichen bzw. zurückzugeben. Eine ausführliche Beschreibung der Technologie von Cochlea-Implantaten ist in 󳶳Band 11 enthalten. Cochlea-Implantate werden hinter dem Ohr implantiert. Ihr grundsätzlicher Aufbau ist in 󳶳Abb. 8.11 wiedergegeben. Sie bestehen aus einem Stimulator, und einer beispielsweise 22-poligen Stimulationselektrode, die in der Cochlea platziert wird. Damit lässt sich eine frequenzspezifische Stimulation erreichen, die das Hören unterschiedlicher Töne ermöglicht. Das Implantat wird über eine Sendespule mit Energie versorgt. Die akustischen Signale kommen von einem digitalen Sprachprozessor, der sich mit

Mikrofon

digitaler Sprachprozessor

telemetrische Signalübertragung

telemetrische Energieübertragung

Sendespulen extern intern Elektroden

Stimulator

Empfängerspulen

Stimuli Cochlea Abb. 8.11: Stark vereinfachtes Blockschaltbild eines Cochlea-Implantates.

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dem erforderlichen Mikrofon außerhalb des Körpers befindet. Sendespule und Mikrofon zur Übertragung der Sprach- und Geräuschinformationen werden hinter dem Ohr direkt über dem Implantat getragen. Diese Anordnung ermöglicht einen freien Gehörgang und lehnt sich an das natürliche Richtungshören an. Cochlea-Implantate kommen bei gehörlos geborenen Kindern und ertaubten Erwachsenen oder schweren Hörstörungen zum Einsatz. Das Implantat ersetzt ausgefallene Funktionen des Innenohrs bei intaktem Hörnerv. Das Cochlea-Implantat erleichtert für die Patienten das Ablesen vom Mund. Von den spät gehörlosen Patienten können etwa zwei Drittel der Betroffenen Umgangssprache verstehen und sogar die Hälfte sich über Telefon verständigen. Obwohl das Cochlea-Implantat kein Ersatz für ein normales beidseitiges Hören ist, wird es den Betroffenen möglich, akustisch ihre Umwelt zu erleben. Allerdings muss durch ein spezielles Hörtraining das Hören wieder erlernt werden. Es ist für gehörlos geborene Kinder die Voraussetzung zum Erlernen der Sprache und damit der Kommunikation. Eine beidseitige Versorgung ermöglicht eine erhebliche Verbesserung des Sprachverstehens unter erschwerten Hörbedingungen und schafft günstige Bedingungen für ein räumliches Hören [Lenarz 2004]. Zukünftige Entwicklungen der Mikroelektronik und Materialwissenschaften werden komplexere Systeme mit einer höheren Kanalzahl ermöglichen. Verbesserte implantierbare Sprachprozessoren, Selbsttestfunktionen des Implantates und die Möglichkeit der Programmierung von außen werden den Komfort und die Leistungsfähigkeit erhöhen. Hohe Anforderungen sind an eine nachladbare Energieversorgung und die störungsarme Signalaufnahme über implantierbare Mikrofone zu stellen.

FES der unteren und oberen Extremitäten 󳶳 Motorische Neuro-Assistenzsysteme (motorische Neuroprothesen) zielen auf die Wiederher­ stellung motorischer Funktionen durch Funktionelle Elektrostimulation mit folgenden Schwer­ punkten: Gehen, Aufstehen und Hinsetzen, Stehen, Erreichen von Objekten oder Körperteilen mit der Hand sowie Handfunktionen, insbesondere das Greifen.

Peroneusstimulation Die 1961 von LIBERSON [Liberson 1961] eingeführte Stimulation des N. peroneus communis (Wadenbeinnerv) zur Kompensation einer Fußheberschwäche nach Schlaganfall zählt zu den ersten klinisch erfolgreichen FES-Anwendungen. Eine unzureichende Fußhebung in der Schwungphase, oft in Kombination mit einer Inversion des Fußes, tritt bei ca. 10 bis 20 Prozent der wieder gehfähigen Schlaganfallpatienten auf [Wade 1987]. Des Weiteren geht in der Regel die normale Knieflexion verloren und ein Abdrücken nach vorne ist nicht mehr möglich. Zusätzlich kann auch eine Spastik in der Wadenmuskulatur auftreten. Folge dieser Beeinträchtigungen ist eine Änderung des Gangbildes, wobei der betroffene Fuß schleifend im Halbkreis nach vorne gezogen wird, um ein Stolpern zu verhindern. Ein solches Krankheitsbild wird als Fall-

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fuß (drop-foot) bezeichnet. Eine Therapie ist mit Hilfe eines Peroneusstimulators bzw. Fallfußstimulators (drop foot stimulator) möglich. Die Stimulation des N. peroneus erfolgt in der Regel nur über ein Paar Hautelektroden, wobei eine Elektrode über dem Nerv in der Nähe des Fibulaköpfchens und die andere Elektrode über dem M. tibialis anterior angebracht wird. Die Platzierung, speziell der Nervenelektrode, muss sehr präzise durchgeführt werden, damit die innervierten Muskeln bei der FES-induzierten Kontraktion eine ausgeglichene Fußhebung (Dorsiflexion) ohne Inversion und Eversion generieren. Neben der direkten muskulären Antwort löst der Reiz oftmals auch den Fluchtreflex (withdrawal reflex) aus, der zu einer Beugung der Beingelenke auf der betroffenen Seite führt und somit die Schrittbewegung unterstützt. Die Stimulation wird klassisch mittels eines einfachen Kontaktschalters unter der Ferse mit dem Gang synchronisiert. In der Schwungphase des Ganges (kein Bodenkontakt der Ferse) wird eine fest vorgegebene Folge von Reizimpulsen ausgegeben.

Eines der klinisch gut etablierten Systeme ist der Odstock Dropped Foot Stimulator (ODFS) (Fa. Odstock Medial) [Taylor 1999]. In den letzten Jahren ist eine Vielzahl neuer Fallfußstimulatoren mit Hautelektroden am Markt erschienen: L300/L300plus (Fa. Bioness) [Hausdorff 2008], MyGait (Fa. Ottobock 󳶳 Abb. 8.12) und Walkaide (Fa. Innovative Neurotronics) [Stein 2010]. Eine wesentliche Neuerung dieser Systeme ist die Fixierung des Stimulators in Form einer Manschette am Unterschen­ kel unterhalb des Knies. Auf der Innenseite der Manschette können die zwei Stimulationselektroden patientenindividuell vorplatziert werden. Bei den Systemen L300/L300plus und MyGait wurde die Kabelverbindung zwischen dem Fußkontaktschalter und dem Stimulationssystem durch eine Funk­ verbindung ersetzt. Das System Walkaide verzichtet ganz auf einen Fußkontaktschalter und verwen­ det anstelle dessen einen Neigungssensor innerhalb der Stimulatormanschette zur Bestimmung der Schwungphase. MyGait und L300plus verfügen über einen zusätzlichen Stimulationskanal, der z. B. optional für die Unterstützung der Kniebeugung, Kniestreckung oder der Hüftstabilität eingesetzt wer­ den kann. Eine transkutane Stimulation des N. peroneus gelingt nicht in allen Fällen. So kann nicht immer eine Elektrodenposition gefunden werden, die zu einer ausbalancierten Fußhebung führt. In anderen Fällen tolerieren die Anwender die für eine ausreichende Dorsiflexion notwendige Stimulationsinten­ sität nicht. Derzeit existieren zwei implantierbare Systeme, welche die zuvor genannten Nachteile transkutaner Systeme umgehen. Das zweikanalige Implantat Stimustep (Fa. Finetech Medical) sti­ muliert den N. peroneus profundus und N. peroneus superficialis (beides Äste des N. peroneus com­ munis), um eine bessere Kontrolle über Eversion und Inversion zu erzielen [Kenney 2002]. Über einen Nerv-Cuff mit vier tripolaren Elektroden wird beim ActiGait System (Fa. Ottobock) der N. peroneus communis selektiv stimuliert [Jane H Burridge 2008] (󳶳 Band 1, Kapitel 14). Verschiedene Studien belegen sowohl einen orthetischen als auch einen therapeutischen (Carry-over) Effekt von Fallfußstimulatoren [Taylor 1999, Stein 2010, Burridge 1997]. Nachgewiesen wurden eine verbesserte Fußhebung und Ganggeschwindigkeit sowie ein reduzierter Physiological Cost Index (PCI). Laut einer Untersuchung wird ein Fallfußstimulator von Patienten besser akzeptiert als eine Sprunggelenk-Fuß-Orthese (󳶳 Kapitel 5.2.2), welche die paretische Unterschenkelmuskulatur nahezu passiviert und das Abdrücken zu Beginn der Schwungphase erschwert [van Swigchem 2010].

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation

Elektroden

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Manschette mit Stimulator

Fersenschalter (a)

(b)

Sensor im Fersenschalter wird beim Heben der Ferse aktiviert

Fersenschalter sendet ein Funksignal an den Stimulator

(c)

Stimulator sendet über Elektroden elektrische Impulse an den Nerv

Fuß hebt sich

(d) Abb. 8.12: Stimulationssystem Mygait (Fa. Ottobock) zur Kompensation einer Fußheberschwä­ che. (a) Gesamtansicht, (b) Steuereinheit, (c) Fersenschalter, (d) Funktionsweise 1 – Sensor im Fer­ senschalter wird beim Heben der Ferse aktiviert, 2 – Fersenschalter sendet ein Funksignal an den Stimulator, 3 – Stimulator sendet über Elektroden elektrische Impulse an den Nerv, 4 – Fuß hebt sich.

Aufstehen, Hinsetzen, Stehen und Gehen mittels FES bei Paraplegie Die Realisierung von Gehen und Stehen nach Paraplegie (totale Lähmung der unteren oder oberen Extremitäten) erfordert mehr als einen Stimulationskanal. Ein gängiger Ansatz ist die bilaterale Stimulation des M. quadriceps (Muskelgruppe für die Kniestreckung), des N. peroneus und optional der Hüftstrecker (M. gluteus maximus) mit Hautelektroden [Kralj 1988]. Für das Aufstehen und im Stand, erfolgt die Aktivierung beider Kniestrecker. Um einen Schritt durchzuführen, wird bei dem vorwärts zu bewe-

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genden Bein die Stimulation des Kniestreckers kurz unterbrochen und der N. peroneus so stark gereizt, dass durch Auslösung des Fluchtreflexes in der Beugungsphase ein Vorschwingen des Beins erfolgt. Der Patient unterstützt das Vorschwingen mit seinem Oberkörper, während er sich mit einem Rollator stabilisiert. Die Initiierung der Schritte erfolgt durch einen Handschalter am Rollator.

Ein erfolgreiches Mikrokontroller-gesteuertes Produkt nach diesem Prinzip ist Parastep (Fa. Sigme­ dics) [Graupe 1998a, Graupe 1998b]. Empfohlen wird das Parastep-System für Querschnittgelähmte mit einer Läsionshöhe T4 bis T12. Das erzielbare Gangbild ist jedoch nicht sehr physiologisch und er­ fordert einen energetischen Aufwand, der sechsmal größer ist, als der beim Gehen eines Gesunden. In der Regel muss vor der Verwendung des Systems ein längeres und intensives Training zum Aufbau von ermüdungsresistenten Muskeln mittels Elektrostimulation durchgeführt werden. Ein deutlich physiologischeres Gangbild wird sich wahrscheinlich mit implantierten Elektroden realisieren lassen. Die in der Entwicklung befindlichen Systeme verwenden bis zu 48 Elektroden zur Aktivierung von Bein- und Rückenmuskeln [Kobetic 1994]. Auf ein Triggern des Fluchtreflexes wird verzichtet. Die Kombination von FES mit Beinorthesen stellt einen alternativen Ansatz zur Fortbewegung von Paraplegikern dar [Popovic 1989, Solomonow 1989]. Die Beinorthesen tragen teilweise das Gewicht des Benutzers und erlauben es dem Träger, leichter die Balance zu halten. So ist auch ein Gehen mit Gehstützen möglich. Ein kommerziell verfügbares System ist derzeit noch nicht verfügbar.

Realisierung von Arm- und Handfunktionen Eine Querschnittlähmung mit einer Läsionshöhe Th1 (erster Wirbel der Brustwirbelsäule) oder darüber führt in der Regel zu einem teilweisen oder kompletten Verlust der Arm- und Handfunktion. Die FES kann das Greifen und Loslassen von Objekten ermöglichen, wobei die Anwenderpopulation hauptsächlich Tetraplegiker (Querschnittgelähmte mit Beeinträchtigung aller vier Gliedmaßen) mit einer motorischen Läsion C5 und C6 (Wirbel 5 und 6 der Halswirbelsäule) umfasst [Popovic 2002]. Das Triggern der FES erfolgt über noch vorhandene motorische Funktionen der Arm- und Schultermuskulatur. So kann z. B. ein Schulter-Joystick zum Einsatz kommen, da die Schultermuskulatur in der Regel noch intakt ist. Bei tieferen Läsionen (C7 und C8 der Halswirbelsäule) kommt für die Funktionswiederherstellung der Hand in erster Linie ein Sehnentransfer noch funktionsfähiger Muskeln anstelle der FES in Betracht.

Eines der wenigen kommerziellen Produkte zur Wiederherstellung von Handfunktionen ist das Stimu­ lationssystem Ness H200 (Bioness) [Hendricks 2001]. Es besteht aus einer Handgelenk-Orthese, die das Handgelenk in neutraler Position stabilisiert und keine Supination/Pronation mehr zulässt. In die Orthese integriert sind drei Hautelektroden zur Stimulation der Fingerbeuger und -strecker sowie des Daumenballenmuskels. Zwei Griffarten zum Fassen von größeren/schweren und kleinen/dünnen Ob­ jekten lassen sich mit dem Ness H200 produzieren. Die Anwender (chronische Schlaganfallpatienten und Querschnittgelähmte) können mit dem System verschiedene Aktivitäten des täglichen Lebens durchführen, die ohne das System nicht möglich wären.

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation

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Das Freehand System (Neurocontrol) [Smith 1998] ist ein Implantat mit einer externen Steuereinheit zur Wiederherstellung von Handfunktionen bei einer Schädigung des Rückenmarks auf Höhe C5 und C6. Die Greifbewegungen werden durch gezielte Ansteuerung von acht epimysialen und intramuskulären Elektroden erzeugt. Die Steuerung des Systems erfolgt über einen Joystick an der Schulter oder am Handgelenk. Die Sicherheit, Wirksamkeit und Benutzerakzeptanz des Free­ Hand-Systems wurde in mehreren multizentrischen Studien erfolgreich nachgewiesen. Mehr als 250 Systeme wurden weltweit implantiert. Trotz des klinischen Erfolgs wurde die Vermarktung des Systems 2008 aus wirtschaftlichen Gründen komplett eingestellt.

Für das wiederholte Training von Arm- und Handfunktionen nach Schlaganfall existieren zahlreiche transkutane FES-Systeme mit mehreren Stimulationskanälen. Verschiedene Studien haben die Wirksamkeit einer funktionellen Elektrotherapie auf das motorische Lernen nach Schlaganfall nachgewiesen.

Beispielhaft sei hier als Gerät Stiwell med4 (Fa. Ottobock) genannt, welches neben vorprogram­ mierten Stimulationssequenzen auch eine mehrkanalige Elektromyographie-getriggerte Stimulation erlaubt. Der Patient muss hier durch seine Restwillkürmotorik die Stimulationsunterstützung initiie­ ren.

FES-Trainingssysteme 󳶳 FES-Trainingssysteme dienen der Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes von Pa­ raplegikern und Tetraplegikern und fördern ein Wiedererlernen von motorischen Funktionen bei zentralen Lähmungen (Schlaganfall, inkomplette Querschnittlähmung, 󳶳 Kapitel 9). Durch eine mehrkanalige Funktionelle Elektrostimulation an den Extremitäten können die Betroffenen aktiv werden und Fahrradergometer/Liegedreiräder antreiben, rudern oder mit den Armen Antriebe be­ wegen. Zusätzlich kann Gehen in sog. Gangrobotern durch die FES unterstützt werden.

Durch regelmäßiges FES-Training wird unter anderem das Herz-Kreislaufsystem gestärkt, Muskelkraft und –masse aufgebaut, werden Druckgeschwüre vermieden und Spastik reduziert bzw. vorgebeugt [Davis 2008]. Einzelne Studien belegen inzwischen, dass FES-Trainingssysteme bei Schlaganfall auch zum Wiedererlernen der betroffenen Motorfunktionen beitragen können (󳶳Kapitel 9.2) [Ambrosini 2011]. Das FES-unterstützte Radfahrtraining von komplett querschnittgelähmten Personen hat zusätzlich positive Effekte auf das Herz-Kreislaufsystem [Davis 2008, Berry 2012], auf die Stärke und Masse der Muskulatur [Mohr 1997] und steigert den Mobilitätsradius beim freien Radfahren [Newham 2007]. Obwohl in Deutschland die Prävalenz von Schlaganfall ca. sechsmal und Prävalenz von Multiple Sklerose ca. eineinhalb-mal so hoch ist wie die der Querschnittlähmung, sind die gesundheitlichen Auswirkungen des stimulationsunterstützten Trainings bei Patienten mit Schlaganfall oder Multiple Sklerose (MS) weniger bekannt. Es ist allerdings davon auszugehen, dass bei diesen und wei-

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teren inkompletten Lähmungen das FES-unterstützte Training ebenfalls positive rehabilitative Effekte bewirken kann [Ambrosini 2011, Johnston 2009, Szecsi 2009]. Es gilt als gesichert, dass die Durchführung von hinreichend starken Muskelkontraktionen während des Trainings zur Erhöhung der willkürlichen Muskelkraft und der mechanischen bzw. kardio-pulmonalen Leistungsfähigkeit führt [Glinsky 2007, Janssen 2008]. Zusätzlich weisen Arbeiten aus jüngster Zeit darauf hin, dass auch schwache oder motorisch unterschwellige Stimulation, unter gewissen Umständen, vergleichbare rehabilitative Effekte erzielen kann, möglicherweise durch zentrale Stimulation oder neuroplastische Veränderungen über sensorische Bahnen [Yan 2005, Pape 1990]. Die Entwicklung von FES-Trainingssystemen begann mit Fahrradergometer, die mit einem großen Schwungrad und einstellbarer mechanischer Bremse ausgestattet waren und nur ein isotonisches Training (gegen einen konstanten Widerstand) ermöglichten (󳶳Kapitel 9.4). Inzwischen klinisch etablierte Systeme sind Ergys 2 (Therapeutic Alliances) und StimMaster (Electrologic of America). Durch eine zyklische Stimulation der Kniestrecker- und -beuger mit Hautelektroden in Abhängigkeit von Kurbelwinkel und Trittgeschwindigkeit lässt sich bei den Betroffenen bereits eine Tretbewegung generieren. Die zusätzliche Aktivierung der Hüftstrecker führt zu einem „runderen“ Tritt. Nachteil isotonischer Trainingssysteme ist, dass die Realisierung der Trittbewegung ausschließlich durch eine FES erfolgt. Dies erfordert ein gut eingestelltes Stimulationsmuster sowie genügend Kraft in den elektrisch stimulierten Muskeln. Bei Menschen ohne sensorische Lähmung kann aufgrund einer geringeren Toleranzschwelle bei der Stimulation durch einen Schmerzreiz die erzeugbare Kraft nicht ausreichend sein. Dasselbe gilt für atrophierte, untrainierte Muskeln. Moderne FES-Fahrradergometer wie RehaMove (Hasomed) oder RT 300 (Restorative Therapies) besitzen zusätzlich einen elektrischen Hilfsmotor, der neben einem isotonischen Training auch ein isokinetisches Training (󳶳Kapitel 9.4.2) ermöglicht. Beim isokinetischen Training werden die Beine mit konstanter Geschwindigkeit bewegt. Bei schwachem FES-Antriebsmoment arbeitet die elektrische Maschine zunächst unterstützend als Motor. Wird das muskuläre Antriebsmoment stärker, so geht die elektrische Maschine in den Generatorbetrieb über und wirkt als Bremse.

Gegenüber klassischen FES-Ergometern erlauben die Systeme RehaMove bzw. RT 300 die Aktivierung von acht bzw. zehn Muskeln verteilt auf beide Beine. Zusätzlich ist ein Armtraining (Kurbeln) für Te­ traplegiker möglich. 󳶳 Abb. 8.13 zeigt das FES-Ergometer RehaMove (Fa. HASOMED). Die Anwenderin sitzt im Rollstuhl vor dem Ergometer. Über Sprunggelenk-Fuß-Orthesen sind die Beine fest mit dem Ergometer verbunden. Liegedreiräder mit FES werden in der Regel um einen elektrischen Antrieb (z. B. RehaBike (Fa. Hasomed) oder einen klassischen Handkurbelantrieb (z. B. BerkelBike (Fa. BerkelBike BV)) ergänzt, um die Reichweite und Zuverlässigkeit solcher Systeme zu erhöhen. Bei einem reinen FES-Antrieb sind die erzielbare Antriebsleistung (in der Regel deutlich weniger als 50 W) und die Reichweite (wenige Kilometer) zu gering [Schauer 2006]. Klinisch verfügbare FES-Systeme für das Gangtraining sind z. B. das RT 600 (Fa. Restorative Therapies) mit zehn Stimulationskanälen und der Gangtrainer GT 1 (Fa. Reha-Stim) mit acht Stimu­

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Abb. 8.13: FES-Ergometer RehaMove (Fa. Hasomed).

lationskanälen. Beide Systeme sind Endeffektor-basierte Geräte, bei denen die Beine distal an den Füßen geführt werden und der Patient über ein Gurtsystem mit Gewichtsentlastung gesichert ist. Die notwendige Gewichtsentlastung lässt sich durch FES aktiv reduzieren.

Weitere Übungs- und Trainingssysteme (ohne FES) werden in 󳶳Kapitel 9 beschrieben.

FES der Blasen- und Darmfunktion 󳶳 Blasen- und Darmfunktions-Assistenzsysteme unterstützen die Entleerung von Blase und Darm oder werden zur Behandlung neurogener Inkontinenzen eingesetzt.

Eine Querschnittlähmung führt in Abhängigkeit von der Läsionshöhe und dem Grad der Schädigung des Rückenmarks zum teilweisen oder vollständigen Verlust der Darm- und Blasenfunktion. Das Finetech Brindley Bladder System (Fa. Finetech Medical) ist ein Implantat mit externer Steuereinheit, mit dem Querschnittgelähmte auf Wunsch urinieren und ihren Darm entleeren können [Creasey 2001]. Durch Stimulation der vorderen Sakralwurzeln (S2-S4) kommt es zur Kontraktion von Darm/Blase sowie Urethrasphinkter/Analsphinkter. Für eine Entleerung von Darm/Blase sollten die Schließmuskeln entspannt sein. Um mit einer Sakralwurzelstimulation eine Entleerung zu erzielen, wird eine intermittierende Stimulation (3 bis 6 Sekunden an, 6 bis 9 Sekunden aus) angewendet. Die glatte Muskulatur von Darm/Blase hat eine wesentlich langsamere Kontraktions- bzw. Relaxationsgeschwindigkeit als die Schließmuskeln, sodass eine durchgängige Kontraktion von Darm/Blase erzielt wird

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und eine Relaxation der Schließmuskeln in den Pausen zwischen den Stimulationen erfolgt, in denen dann die Entleerung intervallweise stattfindet. Für die Entleerung des Darms wird eine langsamere Sequenz als für die Blase verwendet. Während der Implantation des Stimulationssystems werden die hinteren afferenten Rückenmarkwurzeln durchtrennt, um eine ungehemmte reflexartige Kontraktionen der Blase zu vermeiden. Dies eliminiert die Reflexinkontinenz, führt aber auch zum Verlust der perinealen Wahrnehmung, der Reflexerektion und Ejakulation (falls vorhanden). Das implantierte Teilsystem enthält keine Batterie. Steuerbefehle und Energie werden induktiv zugeführt. Voraussetzung für eine Implantation ist eine Querschnittlähmung mit suprasakraler Läsionshöhe und eine intakte parasympathische Innervierung des Blasenentleerungsmuskels. Die Lebensqualität der Betroffenen wird durch ein solches Implantat wesentlich erhöht, da es eine Blasenentleerung ohne Katheter erlaubt und die natürliche Blasenkapazität durch den zuvor beschriebenen chirurgischen Eingriff nahezu wieder hergestellt wird. Das bedeutet auch eine Minimierung des Risikos von Harnwegsinfektionen.

Bei einer hyperaktiven Blase kann das System Interstim (Medtronic) eingesetzt werden, das kei­ ne Durchtrennung von Nerven erfordert und die afferenten Nervenfasern der sakralen Vorderwurzeln S2 bis S4 stimuliert [Kohli 2009]. Das System wurde nicht speziell für querschnittgelähmte Patien­ ten entwickelt, sondern für die Behandlung der Dranginkontinenz. Die Stimulation erfolgt während der Kontinenzphase, also während des Füllens der Blase. Durch die Stimulation wird eine reflexarti­ ge Entleerung der Blase unterbunden. Die Blasenentleerung wird eingeleitet, indem die Stimulation ausgeschaltet und damit der Miktionsreflex ausgelöst wird.

FES des N. phrenikus (Zwerchfellschrittmacher) Ein 󳶳 Phrenikusstimulator bzw. Zwerchfellschrittmacher ermöglicht die eigenständige Einatmung bei Tetraplegikern mit sehr hoher Läsionshöhe und von ALS-Patienten durch künstliche Kontrak­ tion der Zwerchfellmuskulatur.

Tetraplegiker mit sehr hoher Läsionshöhe (C3 der Halswirbelsäule und oberhalb davon) müssen künstlich beatmet werden, da beim Atemreflex keine Reizweiterleitung vom Stammhirn über den N. phrenicus an die Zwerchfellmuskulatur mehr stattfindet. Derzeit bieten zwei Firmen ein implantierbares System zur künstlichen Stimulation des N. phrenicus an [DiMarco 2009]: Avery Mark IV (Avery Laboratories) und Atrostim (Atrotech). Die Stimulation erfolgt in der Regel bilateral an beiden Phrenikusnerven, zeitlich gesteuert nach einem vorgegebenen periodischen Stimulationsmuster und erlaubt eine von einem Beatmungsgerät unabhängige Atmung. Eine externe Steuereinheit gibt die Kommandos für die Stimulationsimpulse und damit die Atemfrequenz vor und versorgt den implantierten Stimulator mit Energie. Die Über-

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation

|

427

tragung der Steuerbefehle und Energie erfolgt mittels elektromagnetischer Induktion. Bei den Systemen wird die Einatmung aktiv durch die FES unterstützt, während die Ausatmung rein passiv erfolgt. Voraussetzungen für den Einsatz eines Atemschrittmachers sind eine gut ausgeprägte Zwerchfellmuskulatur sowie ein funktionstüchtiger N. phrenicus. Eine weitere Patientengruppe, die für einen Atemschrittmacher in Frage kommt, sind ALS-Patienten (Amyotrophe Lateralsklerose, eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems). Personen mit Atemschrittmacher können auf eine maschinelle Beatmung teilweise oder sogar gänzlich verzichten. Neben einer Verbesserung der Lebensqualität wird dadurch auch das Risiko von Infektionen der Atemwege deutlich reduziert. Bei der Anwendung einer Phrenikusstimulation gegenüber einer maschinellen Beatmung durch einen Tubus ist weiterhin von Vorteil, dass der Beatmete ggf. sprechen kann.

FES des N. hypoglossus bei Schlafapnoe Eine 󳶳 Hypoglossalnervstimulation verhindert das Zurücksinken der Zunge im Schlaf und wird zur Behandlung obstruktiver schlafbezogener Atmungsstörungen eingesetzt.

Bei obstruktiven schlafbezogenen Atmungsstörungen kommt es zu einem kompletten oder inkompletten Verschluss des Rachens während des Schlafs u. a. durch Verlegung der Atemwege durch erschlafftes Weichgewebe. Aufgrund des Verschlusses kann der Schlafende nicht mehr atmen, was mit der Zeit zu einem Abfall der Sauerstoffsättigung im Blut führt. Überschreitet die Anzahl und die Dauer der Phasen mit fehlender Atmung in einer Nacht einen Grenzwert, so kann dies zu vorübergehenden oder bleibenden Schäden, z. B. an Herz, Lunge und Gehirn führen. Der Schlaf ist infolgedessen nicht mehr erholsam, sondern führt zu erheblichen Gesundheitsschäden. Die Ursachen für ein obstruktives Schlafapnoe-Syndrom (OSAS) sind vielfältig. In den meisten Fällen kommt es durch ein Zurücksinken der Zunge und ein Erschlaffen des Rachens zu einem Verschluss oberhalb des Kehlkopfes. Im Verlauf der letzten zehn Jahre wurden mehrfach Versuche unternommen, durch eine muskuläre oder nervale elektrische Stimulation das Zurücksinken der Zunge zu unterbinden und den Verschluss des Rachens im Schlaf so zu verhindern [Kezirian 2010]. Durch elektrische Stimulation eines distalen Ausläufers des N. hypoglossus kommt es zu einem Vorwärtsbewegen der Zunge und damit zu einer Öffnung des Rachens.

Dieses nutzen eine Reihe von Implantaten, wie Inspire®I (Fa. Medtronic) und Inspire®II (INSPIRE MEDICAL SYSTEMS). Die Implantate stimulieren bei jedem Einatmen des Patienten, jeweils nur eine Zungenseite. Die Atemtätigkeit wird dabei beim Inspire®I und II durch Drucksensoren ermittelt, die in den Brustraum implantiert werden. Die Implantate werden zur Nacht durch den Patienten einge­ schaltet und nach dem Schlaf wieder ausgeschaltet. Studienergebnisse zeigen, dass es durch die

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einseitige Stimulation des distalen N. hypoglossus zur Öffnung des Rachens beim Einatmen und zur Besserung der Schlafphasen und der Sauerstoffsättigung kommt. Bei dem System aura 6000 (Fa. IMTHERA MEDICAL) kommt ein anderes Stimulationskonzept zum Einsatz. Hier wird durch alternierende selektive Stimulation des proximalen N. hypoglossus mittels einer sechs-kanaligen Cuff -Elektrode der allgemeine Muskeltonus der Zunge erhöht. Da dauerhaft während des Schlafs stimuliert wird, ist bei diesem System keine Sensorik zur Erkennung der Atem­ tätigkeit mehr erforderlich. Für die Tonuserhöhung soll eine geringere Reizintensität notwendig sein, sodass die Patienten durch die Stimulation weniger belästigt werden und es zu weniger unerwünsch­ ten Weckereignissen (Arousals) durch die Stimulation kommt.

8.1.5 Ausblick der Entwicklung der Funktionellen Elektrostimulation Bereits jetzt existiert eine Vielzahl klinischer Anwendungen der FES. Zusätzlich werden in Zukunft Weiterentwicklungen existierender Systeme und die Erschließung neuer Anwendungsfelder erwartet, wie z. B. Retinaimplantate und implantierbare Neuro-Assistenzsysteme für die Behandlung von Schluckstörungen, Gleichgewichtsstörungen sowie Stimmbandlähmungen. Zukünftige Entwicklungen auf dem Gebiet der Neuro-Assistenzsysteme sind gekennzeichnet von einer fortschreitenden Miniaturisierung, dem Einsatz neuer Materialien und Technologien sowie der Integration kognitiver technischer Systeme. Eine zentrale Aufgabe dabei ist die Klärung noch unverstandener grundlegender Fragen der Kopplung von Neuronen mit technischen Materialien. Bioaktive Substanzen, die nach einer Implantation freigesetzt werden, können die Bioverträglichkeit verbessern. Mit Hilfe neuer Materialien sollen unerwünschte Nebenwirkungen seltener oder mit geringerer Intensität auftreten. Nahezu alle klinisch etablierten Systeme verwenden sehr einfache Sensoren (z. B. Druckschalter) um den Zeitpunkt der elektrischen Stimulation dynamisch festzulegen. Eine Erfassung des Stimulationseffekts und eine Anpassung der Stimulationsintensität durch eine Rückkopplung (Feedback) finden in der Regel nicht statt. Zukünftige Systeme können durch Regelungskomponenten erweitert werden, um sich den Bedürfnissen des Anwenders optimal anzupassen. Im 󳶳Band 9 (Automatisierte Therapiesysteme) dieser Lehrbuchreihe werden aktuelle Ansätze zur Regelung der funktionellen Elektrostimulation im Detail beschrieben. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt wird die Kombination von elektrischer, mechanischer und chemischer Neuromodulation sein [Courtine 2009].

8.2 Funktionelle Magnetstimulation 8.2.1 Einführung in die Funktionelle Magnetstimulation Die Funktionelle Magnetstimulation (FMS) bewirkt oder unterstützt nützliche Körperfunktionen mittels elektrischer Reizung von Nerven. Sie kann bei Patienten mit Läh-

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation |

429

mungen bei intakter oder teilweise erhaltener Sensibilität eingesetzt werden. Im Vergleich zur Funktionellen Elektrostimulation (FES) besitzt die FMS eindeutige Vorteile: – sie ist weniger schmerzhaft, – sie erfordert keinen direkten Hautkontakt, sondern wirkt berührungslos durch die Kleidung, – sie ist nichtinvasiv (kann in manchen Fällen die implantierte FES ersetzen). Nachteilig sind: – die notwendige Kühlung mit entsprechend hohem Energiebedarf, – die notwendige Baugröße der Systeme, – die hohen Anschaffungskosten. Die Magnetstimulation wird seit geraumer Zeit [Barker 1985] zur Stimulation des Motorcortex herangezogen und ist im diagnostischen Bereich als transkranielle Magnetstimulation (TMS) bekannt. Bei der TMS werden häufig Einzelimpulse und geringe Stimulationsintensitäten verwendet (z. B. 120 % motorische Reizschwelle, MRS). Die TMS soll und wird hier jedoch nicht weiter behandelt. Im Gegensatz dazu, werden bei der FMS häufig höhere Stimulationsintensitäten (z. B. 200 % MRS) und Repetierfrequenzen im Bereich 20 bis 30 Hz benutzt, um tetanische Kontraktionen der Muskulatur zu bewirken, die zur Unterstützung defizitärer Körperfunktionen notwendig sind.

8.2.2 Prinzip der Funktionellen Magnetstimulation Es wird angenommen, dass bezüglich der neuronalen Erregung zwischen elektrischer und magnetischer Stimulation kein Unterschied besteht. Somit sollte es bei der Depolarisation der Nervenzellmembran irrelevant sein, ob der depolarisierende Strom infolge der Potentialdifferenz zweier Elektroden (󳶳Abb. 8.14 (a)) oder durch elektromagnetische Induktion mittels Magnetspulen (󳶳Abb. 8.14 (b)) erzeugt wurde. Die 󳶳 Funktionelle Magnetstimulation (FMS) unterstützt Körperfunktionen mittels elektromagne­ tischer Induktion eines elektrischen Stromes im Gewebe, der zur Depolarisation einer Nervenzell­ membran führt.

Während der Stimulationsstrom bei FES nahezu senkrecht in das Gewebe eindringt, bildet der bei der FMS induzierte Wirbelstrom an der Oberfläche annähernd parallele, geschlossene Bahnen. Die Stromdichte fällt in den tieferen Gewebeschichten bei elektrischer Stimulation möglicherweise schneller ab als bei magnetischer Stimulation [Carbunaru 2001]. Obwohl die Vorstellung einer gleichmäßigeren Ausbreitung der magnetisch induzierten Ströme in dem Gewebe die geringere Schmerzwirkung bei FMS erklären würde, ist diese Hypothese nicht zweifelsfrei bewiesen. Womöglich be-

430 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

(+)

Hautoberfläche (–)

Nerv

Muskel

(a)

(b)

Abb. 8.14: Prinzip der transkutanen elektrischen (FES) (a) und magnetischen Stimulation (FMS) (b). Der depolarisierende Strom entsteht bei der FES infolge der an den Elektroden anliegenden Span­ nung. Bei der FMS wird dieser Strom durch das variable magnetische Feld der Spule induziert.

ruht diese Wirkung eher auf der Tatsache, dass das radiale Eindringen des Stromes bei FES die ebenfalls radial orientierten, schmerzleitenden δ- und C-Fasern stärker stimuliert als die geschlossenen, axial orientierten Wirbelströme der FMS. Weiterhin ist nicht auszuschließen, dass die geringere Schmerzentwicklung bei FMS dem Umstand zu verdanken ist, dass hier konstruktionsbedingt geringere Pulsbreiten eingesetzt werden (100 bis 200 μs) als bei der FES (200 bis 1000 μs [Zhu 1991].

8.2.3 Technische Ausführung der Funktionellen Magnetstimulation Die Wirkungsweise eines Magnetstimulators kann anhand einer einfachen Prinzipschaltung erklärt werden (󳶳Abb. 8.15). In der Ladephase lädt die Hochspannungsquelle V den Elektrolytkondensator C auf hohe Spannung auf (1 bis 3 kV). In der Stimulationsphase wird der Kondensator mittels eines extern triggerbaren Thyristors Th, über der Behandlungsspule L entladen. Die in der FMS aktuell eingesetzten Magnetstimulatoren sind im Vergleich zu den gängigen TMS Stimulatoren, häufig großräumige Geräte (󳶳Abb. 8.16), Bei bestimmten Anwendungen der FMS, wie z. B. der Rehabilitation der Lokomotion, ist eine lang anTrigger Th + Hochspannungs- V quelle –

+

C

Behandlungsspule

D

R Abb. 8.15: Prinzipschaltung eines Magnetstimulators.

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation |

431

Abb. 8.16: Prototyp eines ölgekühlten Doppelkanal-Magnetstimulators für die Rehabilitation der Lo­ komotion (links) und Magstim Rapid Stimulator (Fa. Magstim Company) für die TMS (rechts). Die Abbildung soll der Verdeutlichung der Baugrößenunterschiede dienen. Der Prototyp (links) wurde von der Technischen Universität München im Rahmen eines gemeinsamen Forschungsprojektes mit der LMU München entwickelt.

haltende und intensive Stimulation eine wesentliche Forderung. Bei diesen Anwendungen ist eine leistungsfähige Kühlung notwendig, die einen großen Bauraum erfordert. Der auf der linken Seite der 󳶳Abb. 8.16 dargestellte Doppelkanal-Magnetsimulator ist ein für die Gangrehabilitation entwickelter Prototyp, der den Betrieb bei 30 Hz Repetierfrequenz und mit 80 % der maximalen Ausgangsleistung 20 Minuten lang aufrechterhalten kann. In den mit Isolationsöl gekühlten großflächigen Sattelspulen fließt ein gepulster Wechselstrom mit einem Scheitelwert von ca. 4500 A. Dieser erzeugt bei jedem Puls eine Wärmemenge von 18 Joule, wodurch bei einer Frequenz von 30 Hz eine Wärmeleistung von 480 W pro Spule abgegeben wird. Die maximale Ausgangsleitung entsteht bei einer Anstiegsgeschwindigkeit des Spulenstroms von 140 A/μs. Da die Kühlung metallfrei erfolgen muss und die maximale Betriebs- und Hautkontakttemperatur 40 °C nicht überschreiten darf, wurde bei dem in 󳶳Abb. 8.16 dargestellten Prototypen eine aktive Kühlung eingesetzt, wodurch der Raumbedarf des Kühlsystems des Magnetstimulators deutlich erhöht wird.

8.2.4 Klinische Anwendungen der Funktionellen Magnetstimulation Bei klinischer Anwendung erfolgt die FMS typischerweise peripher über dem zu stimulierenden Muskel oder spinal, an der Austrittsstelle des Spinalnerven durch das Zwischenwirbelloch [Maccabee 1993]. Die für die unterschiedlichen Anwendungen relevanten spinalen und peripheren Lokalisationen der Spulen sind in 󳶳Abb. 8.17 dargestellt.

432 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

Abb. 8.17: Lokalisation der Spulen bei unterschiedlichen Anwendungen der FMS: hoch- und niedrigthorakal, lumbo-sakral, im Kniegelenk und über der Hand- und der Oberschenkelmuskulatur.

FMS-Rehabilitation der unteren Extremität Das primäre Ziel der peripheren Magnetstimulation der Beinmuskulatur ist die Durchführung des konditionierenden Muskeltrainings zur Erhöhung von Kraft und Leistung. Dies führt zur Verbesserung der Beweglichkeit und gegebenenfalls zur Senkung des Muskeltonus. Bei der FMS der Beine ist zusätzlich ein ausgeprägter gerinnungshemmender Effekt zu erwarten, der bei der FES so nicht auftritt. Entsprechend des Rehabilitationsprinzips der task specificity (Aufgabenanpassung) muss die Stimulation beim Lokomotionstraining eine zyklische Bewegung der Beine induzieren oder unterstützen, die im einfachsten Falle das Pedaltreten wie beim Radfahren darstellt. Das durch FES unterstützte Radfahren von komplett Querschnittgelähmten ist mittlerweile seit drei Jahrzehnten bekannt [Petrofsky 1984] und weist gegenüber dem Gehen den Vorteil auf, dass die Gleichgewichtsproblematik des Patienten in den Hintergrund tritt (󳶳Kapitel 8.1.4). Die mittels FES erzielbaren Kräfte sind jedoch, wegen der geringen Schmerztoleranz bei Patienten mit erhaltener Sensibilität, begrenzt. Bei der FMS ist vorteilhaft, dass kräftigen Muskelkontraktionen bei geringer Schmerzentwicklung erzeugt werden können. Zusätzlich ist eine berührungslose und großflächige Stimulation des Muskels möglich. Diese Vorteile rechtfertigen den Einsatz der FMS bei der Unterstützung maschinell geführter Bewegungen (z. B. bei der stationären Ergometrie). Angesichts der hohen Anschaffungskosten ist es notwendig, die Effektivität der Magnetstimulation in Vergleich zur konventionellen FES zu untersuchen. Die Überlegenheit der FMS gegenüber der FES bei der isometrischen Kraftentwicklung des Quadrizepsmuskels ist schon in früheren Arbeiten dokumentiert worden [Han 2006, Szecsi 2009]. Um vergleichbare Bedingungen zu schaffen, wurden sowohl bei der FES als

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation

40

6 20 4 10

2

0

0 10 20 30 40 50 Intensität FES I in mA

0 (a)

–2 60

10 8

30

6 20 4 10

2

0

0 0

(b)

10 20 30 40 50 Intensität FMS I in %

Numerical Rating Score

8

30

Drehmoment M in Nm

10 Numerical Rating Score

Drehmoment M in Nm

40

433

|

–2 60

10 Numerical Rating Score

B 8 D 6 4 2 0 –5 (c)

Tmax1

Tmax2 C

A 0

5 10 15 20 25 30 35 40 Drehmoment M in Nm

Abb. 8.18: Vergleich von Drehmoment und Schmerz bei FES und FMS (a) FES Rekrutierungskurven für Drehmoment (schwarz) und Schmerz (Numerical Rating Score, blau) bei einem inkomplett ge­ lähmten Patienten mit Multipler Sklerose. (b) FMS-Rekrutierungskurven für Drehmoment (schwarz) und Schmerz (Numerical Rating Score, blau) bei dem gleichen Patienten. (c) Drehmoment-Schmerz Zusammenhang für FES (rot) und FMS (grün), entsprechend (a) und (b). T max stellt das maximale Drehmoment für die jeweilige Stimulationsart dar, während die Flächen ABC und ADC den jeweils erzeugten Schmerz quantifizieren [Szecsi 2010].

auch bei der FMS Stimulationsfrequenzen von 20 bis 30 Hz und jeweils optimale Positionierungen der Elektroden und der Spule verwendet. Der in 󳶳Abb. 8.18 dargestellte Vergleich der FMS und FES des Quadrizepsmuskels bei einem inkomplett gelähmten Patienten mit MS zeigt, dass insbesondere die großflächige Magnetstimulation eine 32/15 = 2,1 fache Erhöhung des maximal evozierbaren isometrischen Drehmoments bei gleicher Schmerzintensität ermöglicht. Bei der FMS ist eine großflächige Sattelspule (Sattelspule 31 × 20 cm 󳶳Abb. 8.19 (a) oben) und bei der FES sind zwei konventionelle Elektroden (4,5 × 9,5 cm2 ) auf einem Abstand von ca. 20 cm eingesetzt worden. Die ebenfalls untersuchte subjektive Schmerzintensität NRS (Numerische Ratingskala) wurde auf einer Skala von 0 bis 10 gemessen (mit 0 für „gar keine Empfindung“ und mit 10 für „unerträglicher Schmerz“). Die abgelei-

434 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi 100 Umfang u in mm

150

(b)

50 100 0 50

–50 –100 –150 –100 –50

0

50

100

150

0

100 Umfang u in mm

150

(a)

(c)

50 100

0

50

–50 –100 0 –150 –100 –50 50 100 axiale Abmessung l in mm

150

0

Abb. 8.19: In der FMS eingesetzte Magnetspulen. (a) Handelsübliche Rundspule (Magstim Compa­ ny) (unten) und Prototyp einer großflächigen, ölgekühlten Magnetspule für die Oberschenkelstimu­ lation (oben). (b) Induziertes elektrisches Feld bei Anwendung der großflächigen Spule. (c) Indu­ ziertes elektrisches Feld bei Anwendung der Rundspule. Die Simulationen stellen die Beträge der elektrischen Felder, bei vergleichbarer Spulenstromintensität und Stromanstiegssteilheit in dem Gewebe des Oberschenkels dar (ausgebreitete zylindrischen Fläche in 5 cm Tiefe). Der Prototyp der großflächigen Spule wurde von der Technischen Universität München im Rahmen eines gemeinsa­ men Forschungsprojektes mit der LMU München entwickelt.

tete Schmerzmaßzahl verringerte sich um durchschnittlich 79 % bei FMS bei gleicher Drehmomententwicklung. Eine mögliche Erklärung für die hohe krafterzeugende Wirkung der großflächigen Magnetsimulation beruht darauf, dass die Sattelspule ausgedehnte elektrische Felder induziert, die zahlreiche Kollateralen des N. femoralis aktivieren, wodurch mehr Muskelfasern des Quadrizepsmuskels rekrutiert werden [Szecsi 2010]. Zusätzlich sind diese Felder gleichmäßig verteilt (󳶳Abb. 8.19 (b)). Demgegenüber sind bei der konventionellen Magnetstimulation (󳶳Abb. 8.19 (c)) oder bei der FES (hier nicht dargestellt) die elektrischen Felder weniger ausgedehnt und inhomogen, wobei es Bereiche sowohl hoher als auch niedriger Intensitäten gibt. Dadurch können die Schmerzfasern in den Bereichen hoher Intensität leicht gereizt werden. Diese Erklärung der Wirkungsweise der großflächigen FMS wird durch weitere theoretische Überlegungen [Ruohonen 1998] und experimentelle Evidenz [Maccabee 1993] unterstützt. Zur Durchführung der dynamischen Leistungsmessungen wurden gesunde Probanden mit intakter Sensibilität untersucht [Szecsi 2011]. Als Ergometer wurde ein stationäres Dreirad mit einer Drehmomentmesswelle, einem Motor zur Einstellung des Fahrwiderstands und einem Drehgeber zur Steuerung der Stimulation ausgestattet (󳶳Abb. 8.20). Die FMS ist mithilfe des Doppelkanal-Magnetstimulators und mit zwei großflächigen, gekühlten Spulen (󳶳Abb. 8.19 (a)) auf beide Quadrizepsmuskeln angewendet worden. Die FES stimulierte die gleichen Muskeln.

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation

|

435

(a) Stimulationsintensität Fahrwiderstand Magnetstimulator

Kurbelwinkel

Motor

(b) Abb. 8.20: Lokomotionstraining mit Hilfe der Magnetstimulation FMS. (a) Das Prinzip entspricht weitgehend dem verbreiteten Radfahren mit Elektrostimulation. (b) Durch FMS induziertes Radfah­ ren eines Probanden. Im Gegensatz zur FES ist die FMS bei erhaltener Sensibilität weniger schmerz­ haft und wirkt durch die Kleidung.

90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

(a)

100

FES Leistung P in W und Stimulation in %

Leistung P in W und Stimulation in %

100

0

10

20

30

40 50 60 Zeit t in s

70

80 70 60 50 40 30 20 10 0 0

80 90

(b)

FMS

90

50

100 150 Zeit t in s

200

250

Abb. 8.21: Leistungsverlauf während des Radfahrens mittels elektrischer (a) und magnetischer (b) Stimulation bei gleichem Probanden. Die Höhe der schraffierten Flächen stellt die Stimulationsin­ tensitäten dar (grün durchgezogen: Mittelwert, schwarz gestrichelt: Spitzenwert). Mit FMS konnte der Proband länger (mehr Arbeit) und bei höherer mittleren Leistung und Spitzenleistung fahren, als mit FES. Modifiziert nach [Szecsi 2014].

436 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

Die bei einem Probanden [Szecsi 2014] aufgezeichneten zeitlichen Verläufe der mittleren Leistungen und Spitzenleistungen zeigen, dass im hier beschriebenen Einzelfall (bestätigt an weiteren Probanden) das durch FMS unterstützte Radfahren wesentlich länger (200 s) aufrechterhalten werden konnte (󳶳Abb. 8.21 (a)) als das durch FES unterstützte (95 s) (󳶳Abb. 8.21 (b)). Dementsprechend konnte mit Hilfe der FMS wesentlich mehr Arbeit (3200 J vs. 1170 J), mehr mittlere Leistung (16 W vs. 13 W) und eine höhere Spitzenleistung (27 W vs. 15 W) erbracht werden, als mit der FES. Die Spitzenleistungen entsprechen den während des Pedaltretzyklus auftretenden Spitzenkräften und sind für das Erzielen hoher Drehzahlen verantwortlich. Diese, für einen repräsentativen Probanden beispielhaft dargestellten Ergebnisse, konnten in einer Studie mit 22 gesunden Probanden bestätigt werden [Szecsi 2014].

FMS bei Spastik der unteren Extremität Die Spastik der Beinmuskulatur konnte mittels spinaler FMS (lumbal, Frequenz 20 Hz, motorisch geringfügig überschwellig) bei 15 Patienten mit Querschnittlähmung effektiv gesenkt werden [Krause 2005, Krause 2004, Krause 2003]. Die Tonus-senkende Wirkung konnte mittels der Modified Ashworth Scale (MAS) klinisch und mit dem PendelTest objektiv 4 bis 24 Stunden lang nachgewiesen werden.

FMS bei Spastik der oberen Extremität Durch die periphere FMS der Handmuskulatur (Frequenz 20 Hz, motorisch geringfügig überschwellig) konnte die Spastik der oberen Extremität bei 47 von 52 Patienten mit zentralen Lähmungen gesenkt werden [Struppler 2003, Angerer 2006]. Die Spastik, die mithilfe der MAS gemessen wurde, konnte bei diesen Patienten um mindestens einen Punkt gesenkt werden. Bei acht dieser Patienten führte die Senkung der Spastik zu effektiveren Greifbewegungen, indem die Auslenkung und die Geschwindigkeit der Fingerstreckung verbessert wurden. Diese Wirkungen hielten bis zu 72 Stunden an und sollen auf die Reizung propriozeptiver und sensorischer Fasern zurückzuführen sein.

FMS der Atemmuskulatur Die FMS der Atemmuskulatur kann bei Querschnittgelähmten mit respiratorischer Insuffizienz vorteilhafter sein als die FES, die auf implantierte Elektroden und somit auf invasive Eingriffe zurückgreifen muss. Bei der Konditionierung der exspiratorischen Muskulatur (abdominale und innere interkostale Muskulatur) mittels FMS wird die konventionelle Rundspule typischerweise über den niedrig-thorakalen Wirbel T7 platziert (󳶳Abb. 8.17) und bei einer Repetierfrequenz von 25 Hz und einer Intensität von 70 bis 80 % der Ausgangsleistung stimuliert, wobei die Spinalwurzeln gereizt werden. Entsprechend der Studie von [Glenn 1980] ist infolge eines vierwöchigen FMS-Trai-

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation |

437

nings eine signifikante Besserung des maximalen exspiratorischen Drucks (116 %), des exspiratorischen Atemvolumens (173 %) und der exspiratorischen Atemstromstärke (123 %) festgestellt worden, die sogar ein induziertes Husten ermöglichten. Die Effekte der Konditionierung hielten mindestens zwei Wochen lang an. Erste Versuche zur FMS der inspiratorischen Muskulatur wurden bisher an Hunden durchgeführt [Lin 1998b]. Das spontane Atemzugsvolumen konnte bei 15-minütiger Schrittmacher-Reizung des Zwerchfells um ca. 50 % erhöht werden. Es wird angenommen, dass die FMS künftig sowohl zur Konditionierung der inspiratorischen Muskulatur, als auch direkt, als nichtinvasiver Zwerchfell-Schrittmacher bei tetraplegischen Patienten eingesetzt werden kann (funktionelle magnetische Ventilation).

FMS zur Magen- und Dickdarmentleerung Es wird angenommen, dass der häufig verzögerten Magenentleerung bei chronischer Querschnittlähmung eine Schwäche der Abdominalmuskulatur zugrunde liegt. Die FMS mit der über T9 lokalisierten Spule (󳶳Abb. 8.17) bewirkt bei Querschnittgelähmten und Gesunden eine signifikant beschleunigte Entleerung des Magens [Lin 2002]. Dies geschieht über die Reizung der unteren thorakalen Spinalnerven, welche die Abdominalmuskulatur innervieren. Die FMS mit der lumbosakral (󳶳Abb. 8.17) oder transabdominal platzierten Spule führt zur Aktivierung der Abdominalmuskulatur, wodurch der rektale Druck erhöht und die Passagezeit des Dickdarms verkürzt wird [Lin 2001].

FMS zur Blasenentleerung Bei querschnittgelähmten Patienten mit neurogener Blase konnte gezeigt werden, dass die Blasenentleerung mittels FMS eingeleitet und durchgeführt werden kann [Lin 1997]. Die Rundspule wird in diesem Fall über dem lumbosakralen Bereich (󳶳Abb. 8.17) oder auf die Haut über dem Schambeinbogen platziert. Die Entleerung wird entweder durch ein kurzes Triggern oder durch minutenlange kontinuierliche Stimulation ausgelöst. Es wird angenommen, dass die Stimulation die Kontraktion der Detrusormuskulatur oder möglicherweise die Erschlaffung der Sphinktermuskulatur durch Ermüdung bewirkt.

Ein klinisch verfügbares FMS-System zur Behandlung der Harninkontinenz ist das BioCon 2000W (Fa. MCube Ltd.). Das System kann gleichzeitig zur Dickdarmentleerung eingesetzt werden Es besteht aus einem Sessel, in dessen Fassung die Rundspule eingebaut ist (der Patient sitzt auf der Spule). Der Magnetstimulator und das Kühlsystem sind in einem eigenständigen, Gehäuse auf Rollen unterge­ bracht. Der luftgekühlte Stimulator kann bis höchstens 30 Min. lang mit einer Repetierfrequenz von bis zu 50 Hz stimulieren.

438 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

Gerinnungshemmende und fibrinolytische Wirkung der FMS Die tiefe Venenthrombose, das post-thrombotische Syndrom, Ödeme und Druckgeschwüre sind häufige und teilweise gefährliche Komplikationen der Querschnittlähmung. Sie können zusätzlich Spastik oder autonome Dysreflexie auslösen. Obwohl die FES der Waden- und Fußheber-Muskulatur gegen diese Risiken theoretisch wirksam wäre, ist die Methodik als Vorbeugemaßnahme nicht verbreitet, weil sie schmerzhaft ist und direkten Hautkontakt erfordert. Bei Anwendung der FMS bei querschnittgelähmten Patienten konnte dagegen 10 bis 60 Minuten nach Stimulation eine signifikante und anhaltende fibrinolytische Wirkung [dargestellt durch die Verkürzung der Whole Blood Clotting Time (WBCT)] beobachtet werden [Lin 1999]. Die Stimulation ist in der Kniekehle (Abb 8.17) mit 30 Hz Frequenz und einem Tastverhältnis 4 s EIN + 26 s AUS durchgeführt worden. Zusätzlich konnte gezeigt werden, dass die FMS eine effektivere gerinnungshemmende Wirkung aufweist als willkürliche Muskelkontraktionen und sich somit als wirksame thromboseprophylaktische Maßnahme bei Lähmungen der unteren Extremität anbietet.

8.2.5 Ausblick der Funktionellen Magnetstimulation Die relativ junge FMS ist, trotz bisher nur eingeschränkter klinischer Verbreitung, eine zukunftsträchtige Rehabilitationstechnologie. Die Stärken der FMS sind die geringe Schmerzwirkung, im Vergleich zur transkutanen FES, und die nichtinvasive Anwendbarkeit, im Vergleich zur implantierten FES. Ihre Perspektive liegt in der Weiterentwicklung der technischen Systeme im Zusammenhang mit der jeweiligen Anwendung. Die Reduktion der Geräteabmessungen ist zwingend notwendig, wobei die im häuslichen Umfeld einsetzbaren Stimulatoren stärkerer Miniaturisierung unterzogen werden müssen, als die für den klinischen Einsatz vorgesehenen Geräte. Es ist weiterhin zu erwarten, dass die in der Gangrehabilitation eingesetzten FMS-Stimulatoren künftig mit weiteren Trainingsgeräten kombiniert werden, einschließlich robotischer Trainingssysteme (󳶳Kapitel 9), deren exoskelettale Struktur die für die Stimulation der Beine vorgesehenen Magnetspulen mitbewegen könnten.

Testfragen 1. Was verstehen Sie unter Neuromodulation? Nennen Sie Ziele und Verfahren der Neuromodulati­ on sowie Anwendungsbeispiele! 2. Was ist der orthetische Effekt eines Neuro-Assistenzsystems? 3. Was ist der therapeutische (Carry-over) Effekt eines Neuro-Assistenzsystems? 4. Nennen Sie therapeutische Effekte der funktionellen Elektrostimulation von Skelettmuskeln! 5. Was ist ein Aktionspotential und wie wird es generiert? 6. Wie unterscheiden sich zentrale und periphere Lähmung? 7. Was ist eine motorische Einheit? 8. Nach welchen Prinzipien erfolgt die natürliche Regulation der muskulären Kraft? 9. Was sind Doublet-, Triplet- und Catchlike-Phänome?

8 Funktionelle Elektro- und Magnetstimulation in der Rehabilitation

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10. Nennen Sie drei Hauptinteraktionsmechanismen für die Wiederherstellung sensorischer und motorischer Funktionen mittels FES! 11. Beschreiben Sie gängige Elektrodenanordnungen für die transkutane Stimulation! 12. Was beschreibt das Stromstärke-Impulsbreite -Diagramm? Skizzieren Sie typische Verläufe für motorische Nerven und Muskelzellen jeweils für monophasische Rechteck- und Dreieckimpulse! 13. Was sind die Ursachen für die schnelle Ermüdung elektrisch stimulierter Muskeln? 14. Beschreiben Sie drei Techniken zur Reduzierung der Muskelermüdung bei FES durch Verwen­ dung von Nerven-Cuff -Elektroden! 15. Nennen Sie verschiedene Elektrodentypen und charakterisieren Sie deren Selektivität/ Invasivität! 16. Was muss bei der Wahl der Stimulationsparameter berücksichtigt werden? Wie erfolgt die La­ dungsübertragung? 17. Aus welchen Komponenten besteht ein FES-basiertes Neuro-Assistenzsystem? 18. Wie unterscheiden sich spannungskonstante und stromkonstante Stimulation? 19. Warum benötigt ein FES basiertes Neuro-Assistenzsystem Sensoren? 20. Was ist ein Cochlea-Implantat und wie funktioniert es? 21. Erläutern Sie die prinzipielle Funktionsweise eines Herzschrittmachers! 22. Was ist eine motorische Neuroprothese? Nennen Sie zwei Beispiele und erläutern Sie die Wir­ kungsweise! 23. Erläutern Sie die Funktionsweise von Neuro-Assistenzsystemen zur Unterstützung von Darm- und Blasenfunktion! 24. Was ist ein Zwerchfell- bzw. Atemschrittmacher? Erläutern Sie die Funktionsweise! 25. Beschreiben Sie die Funktionsweise von Neuro-Assistenzsystemen für die Behandlung eines ob­ struktiven Schlafapnoe-Syndroms! 26. Bestimmen Sie die Vor- und Nachteile der Funktionellen Magnetstimulation (FMS) im Vergleich zur Funktionellen Elektrostimulation! 27. Vergleichen Sie die Wirkungen der FMS/FES und formulieren Sie Hypothesen zur Begründung der geringen Schmerzwirkung der FMS! 28. Geben Sie die wichtigsten klinischen Wirkungen der FMS an! 29. Definieren Sie potenziell schädigende physikalische und klinische Nebenwirkungen der FMS und geben Sie die absoluten Kontraindikationen der FMS an!

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444 | Thomas Schauer, Klaus-Peter Hoffmann, Johann Szecsi

Danksagung Die Autoren danken allen an der Erstellung des Kapitelmanuskripts beteiligten weiteren Personen, den Bereitstellern von Daten, Bildern und Informationen sowie den Mitarbeitern des Verlages WALTER DE GRUYTER.

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Robert Riener, Catherine Disselhorst-Klug, Henning Schmidt, Tobias Nef

9 Therapie- und Assistenzsysteme für die Bewegungsrehabilitation 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7

Einleitung | 446 Prinzipien des motorischen Lernens | 447 Technische Therapiesysteme in der Bewegungstherapie: Unterscheidung nach Einsatz und Funktionalität | 453 Technische Therapiesysteme zur Bewegungstherapie bei muskuloskelettalen Erkrankungen | 457 Technische Therapiesysteme in der Neurorehabilitation | 465 Augmented Feedback und Biofeedback | 482 Assistenzsysteme | 489

Zusammenfassung: Patienten mit muskuloskelettalen oder neuronalen Erkrankungen bedürfen einer adäquaten Behandlung zur Wiederherstellung ihrer Bewegungsfähigkeit und aktiven Teilnahme am täglichen Leben. Technische Therapiesysteme unterstützen Therapeuten und Patienten bei der Durchführung der notwendigen Übungen. Die Spanne der hierfür zur Verfügung stehenden Therapiesysteme reicht von einfachen mechanischen Geräten bis hin zu hoch automatisierten Systemen. Darüber hinaus etablieren sich zunehmend automatisierte Assistenzsysteme, in deren Fokus nicht die Therapie selbst, sondern eher die Ermöglichung der Partizipation an einem aktiven Leben steht. In diesem Kapitel werden die wichtigsten Therapiesysteme zur Unterstützung der Bewegungstherapie und bekannte Assistenzsysteme zur Verbesserung der Mobilität vorgestellt. Abstract: Patients with musculoskeletal or neurological disorders need adequate movement therapy in order to restore their movement performance and their sensorimotor functions well as to facilitate their active participation in daily living. Therapists and patients are supported by technical devices designed for specific therapeutic exercises. Those systems range from simple mechanical devices to complex automated systems. In addition, automated assistive devices have become established which primarily aim at facilitating the patient’s participation in daily living instead of supporting the movement therapy. In this chapter the most important systems supporting movement therapy as well as assistive devices aimed at the improvement of the patient’s movement performance and sensorimotor function will be introduced.

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9.1 Einleitung Die adäquate motorische Rehabilitation einer stetig wachsenden Zahl von Patienten mit muskuloskelettalen Erkrankungen oder neurologischen Erkrankungen, wie beispielsweise Schlaganfall, stellt eine zunehmende Herausforderung dar. Insbesondere der Verlust an Lebensqualität, aber auch die mit Bewegungseinschränkungen verbundenen Kosten im Gesundheitswesen erfordern innovative Ansätze zur Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Bewegungsfähigkeit der betroffenen Patienten [Minns Lowe 2007]. Unter 󳶳 muskuloskelettalen Erkrankungen sind alle Erkrankungen des Stütz- und Bewegungs­ apparates zusammengefasst. Betroffen sind somit Knochen, Bänder und Gelenke des passi­ ven Bewegungsapparates sowie Skelettmuskeln und Sehnen des aktiven Bewegungsapparates (󳶳 Band 2). Muskuloskelettale Erkrankungen grenzen sich von den 󳶳 neurologischen Erkrankun­ gen ab, bei denen das Nervensystem erkrankt ist. Da das zentrale Nervensystem die Kontraktion der Muskeln kontrolliert, können auch neurologische Erkrankungen zu motorischen Beeinträchti­ gungen führen. Die Therapie neurologischer Erkrankungen mit dem Ziel des Wiedererlernens ver­ lorener Funktionen wird als 󳶳 Neurorehabilitation bezeichnet.

Bei der Rehabilitation muskuloskelettaler wie auch neuronaler Erkrankungen werden Therapiesysteme und Assistenzsysteme unterschieden. Bei den (Bewegungs-)󳶳 Therapiesystemen stehen das Wiedererlernen und die Wiederherstellung einer motorischen Funktion aber auch von sensorischen und/oder kognitiven Fähigkeiten durch Üben im Vordergrund. Daher sollte diese Unterstützung gerade so stark sein, dass der Patient die gewünschte Quantität und Qualität der Bewegungen möglichst durch maximalen Einsatz seiner Willkürmotorik ausführen kann.

Beim Einsatz von Therapiegeräten gilt als Hauptziel das motorische Lernen der Bewegung durch Üben. Der wahre Erfolg bezüglich dieses Zieles zeigt sich aber nicht in der Trainingssituation, sondern in der Nutzung der (wieder-) erlernten Funktionen in der Umwelt, also außerhalb der Geräte. Ziel der 󳶳 Assistenzsysteme in der Bewegungsrehabilitation ist die Unterstützung des Patienten bei der Ausübung einer Funktion. Daher muss die Unterstützung so stark sein, dass der Patient die Funktion oft und möglichst ermüdungsfrei durchführen kann, damit er an notwendigen oder erwünschten Aktivitäten des beruflichen und privaten Lebens teilnehmen kann.

Dies stellt unterschiedliche Anforderungen an Therapie- und Assistenzsysteme, auch wenn beide Gerätearten die Patienten bei ihren Bewegungen unterstützen. In den folgenden Kapiteln wird zunächst auf die in der Bewegungsrehabilitation genutzten Therapiesysteme eingegangen, wobei viele Ansätze neuartig und zum Teil noch Gegenstand der Forschung sind. Da aber die automatisierte (robotisch assistier-

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te) Therapie neurologischer Erkrankungen zunehmend an Bedeutung gewinnt, werden entsprechend komplexe Therapiesysteme für die Neurorehabilitation anschließend erläutert. Für die Bewegungsrehabilitation inzwischen verfügbare automatisierte Assistenzsysteme werden abschließend vorgestellt.

9.2 Prinzipien des motorischen Lernens Motorisches Lernen (motor Learning) umfasst alle Prozesse des Erwerbs, Erhalts und der Veränderung von primär motorischen, aber auch sensorischen und kognitiven Strukturen mit dem Ziel, jegliche Bewegungskoordination in Sport-, Alltags- und Arbeitsmotorik zu verbessern. Gegenstand des 󳶳 motorischen Lernens in der Rehabilitation ist das Wiederlernen der durch eine Erkrankung verlorengegangenen oder beeinträchtigten eigenständigen Bewegungsfähigkeit.

Grundlage des motorischen Lernens ist die so genannte Plastizität des Zentralen Nervensystems (ZNS), d. h. die Fähigkeit des ZNS zur Neubildung von Nervenzellen und zur Reorganisation vorhandener sowie neugebildeter Nervenzellen im Gehirn. Unter 󳶳 neuronaler Plastizität versteht man die Eigenschaft von Synapsen, Nervenzellen oder auch ganzen Hirnarealen, sich in Abhängigkeit von Bedarf und Kapazität zu verändern. Das ZNS hat die Fähigkeit sich fortlaufend zu reorganisieren und sich an die Anforderungen anzupassen.

Das ZNS, die Steuerzentrale der motorischen Kontrolle (motor control), ist hierarchisch organisiert und besteht aus unterschiedlichen Funktionszentren, die sich sowohl im Rückenmark wie auch im Gehirn befinden (󳶳Band 2). Zu den Funktionszentren im Rückenmark gehören Reflexbögen und autonome Funktionseinheiten zur Steuerung einfacher koordinierter Extremitätenbewegungen. Das Gehirn steuert die gesamte Willkürmotorik, also die willentlich ausgeführte Bewegung. Das ZNS bildet zusammen mit Skelettmuskeln und sensorischen Zellen (Rezeptoren) sowie dem verbindenden peripheren Nervensystem (PNS) das sensomotorische System des Menschen (󳶳Abb. 9.1). Zur Erzeugung und Ausführung von Bewegungen bedarf es motorischer (efferenter) und sensorischer (afferenter) Nerveninformationen, die im ZNS miteinander verknüpft sind und dort nach dem Prinzip eines Regelkreises verarbeitet werden [Kandel 2000] (󳶳Band 2). Bei der Therapie von Schädigungen des Gehirns, beispielsweise nach einem Schlaganfall, ermöglicht die Plastizität des Gehirns eine Neuorganisation der neuronalen Vernetzungen und damit z. B. ein verbessertes Gangmuster. Bei Schädigungen des Rückenmarks werden aufgrund der Plastizität vor allem spinale Vorgänge im Rückenmark reaktiviert und verstärkt. Grundlage der Therapie ist in beiden Fällen:

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zentrales Nervensystem

efferentes motorisches Signal

afferentes somatisches Signal

Skelettmuskel

supraspinales Lokomotionszentrum (im Gehirn) zentrales Nervensystem (ZNS): Gehirn, Rückenmark spinale Lokomotionszentren (im Rückenmark) peripheres Nervensystem (PNS): Nerven außerhalb des ZNS u. a. zu Skelettmuskeln Skelettmuskel

Abb. 9.1: Darstellung des Prinzips des sensomotorischen Systems des Menschen.

– – –

die Registrierung periodisch wiederkehrender Bewegungsabläufe über taktile und propriozeptive Rezeptoren des Bewegungsapparates, die Leitung afferenter Signale in das zentrale Nervensystem sowie die Einleitung neuronaler Reorganisationsprozesse.

Efferente Nervenbahnen führen die Kontraktion einzelner Muskeln herbei und steuern den Grad der Aktivierung (󳶳 Kapitel 2.1.5). Afferente Nervenbahnen sind mit sensorischen Zellen verknüpft und geben dem ZNS eine Rückmeldung über den Grad der muskulären Kontraktion und der Bewe­ gungsausführung.

Unter der Annahme, dass unser Gehirn nicht primär Muskeln trainiert, sondern die Muskeln als Werkzeuge zur Erreichung einer kinematischen Bewegungsabfolge eingesetzt werden (Hogan 2006), sollte das motorische Lernen nicht nur auf Muskelstärkung, sondern auch auf das Training funktioneller Bewegungsabläufe ausgerichtet sein.

9.2.1 Aspekte des motorischen Lernens Das Verständnis der Funktionsweise des motorischen Lernens ist nach wie vor Gegenstand der Forschung. Hierzu wurden bereits verschiedene Theorien entwickelt, u. a. die Schema-Theorie von Schmidt [Schmidt 1975], die ökologische Theorie von Newell [Newell 1991] und das Drei-Stufen-Modell von Fitts und Posner [Fitts 1967]. Diese

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am Tiermodell und mit gesunden Probanden erarbeiteten Lernmodelle bildeten die Basis klinischer Rehabilitations-Forschungsarbeiten zum Wiedererlernen von Bewegungen. Für ausführliche Darstellungen hierzu sei auf die vertiefende Fachliteratur verwiesen [Shumway 2010; Schmidt 2005; Rosenbaum2010]. In der Lernpsychologie wird zwischen explizitem und implizitem Lernen unterschieden. Das bewusste Lernen stellt das explizite Lernen dar, wohingegen das „unbewusste“ Lernen als implizites Lernen bezeichnet wird. Motorisches Lernen stellt eine Form des impliziten Lernens dar. Innerhalb der Bewegungstherapie müssen jedoch auch Aspekte des expliziten Lernens beachtet werden. Beispielsweise werden besondere Elemente einer Bewegung aufgabenspezifisch kognitiv erarbeitet und durch repetitives Üben trainiert. Der Aspekt der Repetition, also der Wiederholung eines Vorgangs, bildet einen wesentlichen Bestandteil der Verbesserung motorischer Fertigkeiten. Zum (Wieder-) Erlernen einer Bewegung ist die wiederholte Durchführung der Bewegung not­ wendig. Dieses häufige Wiederholen des zu erlernenden Bewegungsablaufes versteht man unter 󳶳 repetitivem Üben.

Der Patient sollte die repetitiven Übungen aktiv mehrmals täglich durchführen, wobei die Anforderungen der Übungen und die Komplexität der Aufgaben mit der Verbesserung der motorischen Leistung gesteigert werden. Zur Wiedererlangung der motorischen Funktionen haben sich in klinischen Studien die in 󳶳Tab. 9.1 aufgeführten Übungsparameter und Übungsbedingungen als besonders relevant herausgestellt. Diese in der klinischen Rehabilitationsforschung ermittelten Einflussfaktoren spielen eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung und Anwendung technischer Therapiesysteme in der Rehabilitationsbehandlung. Der wichtigste Einflussfaktor beim Wiedererlernen ist die Anzahl und Dauer der (Übungs-) Bewegungen (Intensität), d. h. die Anzahl und Dauer der Übungseinheiten. Klinische Studien haben zudem einen logarithmischen Zusammenhang zwischen Intensität und Rehabilitationsergebnisgezeigt: So zeigt sich zu Beginn eine hohe Verbesserungsrate pro Zeitdauer bzw. Übungseinheit, die mit fortschreitender Zeit immer mehr abnimmt. Eine Verbesserung der Bewegungsfähigkeit ist jedoch immer weiter möglich [Fitts 1964; Newell1981]. Dabei sollte die Übungsaufgabe individualisiert und an das Bewegungsvermögen des Patienten angepasst sein. Es hat sich herausgestellt, dass ein repetitives, also wiederholtes Üben von alltagsrelevanten Bewegungen (ADLs, activities of daily living, Aktivitäten des täglichen Lebens) nicht nur motivierend auf den Patienten wirkt, sondern auch den nachhaltigsten Therapieerfolg liefert (Kontextorientierung) [Bütefisch 1995; Renner 2009]. Zusätzlich sollte der Patient eine Rückmeldung (Feedback) über seinen bereits erreichten Lernerfolg erhalten [Schmidt 2005;Shea 1993]. Hierbei werden intrinsisches Feedback und extrinsisches Feedback unterschieden (󳶳Kapitel 9.6).

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Tab. 9.1: Einfluss verschiedener Übungsparameter und Übungsbedingungen auf das Rehabilitati­ onsergebnis. Übungsparameter/ Übungsbedingungen

Einfluss auf das Rehabilitationsergebnis

Intensität

Anzahl und Dauer der Übungseinheiten sind die wichtigsten Parameter, die das Rehabilitationsergebnis beeinflussen. Je häufiger und länger eine Übung wiederholt wird, desto besser kann sie wiedererlernt werden. Das Übungsprogramm muss für den Patienten individualisiert und adäquat gestaltet sein. Nach Möglichkeit sollten sie Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) beinhalten. Die Motivation muss durch realistische und konkrete Zielvorgaben erhalten bzw. gesteigert werden. Die Übungen müssen kontextorientiert (handlungsorientiert) sein. Eine Rückmeldung über den erreichten Lernerfolg verbessert das Rehabilitationsergebnis. Tendenziell fällt das Rehabilitationsergebnis besser aus, wenn die Länge der Übungspausen größer ist als die Dauer der eigentlichen Übungsabschnitte. Variable Übungen sind grundsätzlich förderlicher und schulen insbesondere Fähigkeiten wie Adaption und generalisiertes Lernen optimal. Gleichförmiges Üben ist bei periodischen Bewegungen, wie beispielsweise dem Gehen, vorzuziehen. Bei zufälliger Abfolge der einzelnen Übungen (Random-Übungen) tritt langfristig ein nachhaltigerer Lerneffekt auf als bei Block-Übungen. Der zu übende Bewegungsablauf kann in Teilabschnitte zerlegt werden. Diese Vorgehensweise ist besonders bei komplexen Bewegungen hilfreich. Lerntransfer von einer Bewegung auf eine andere ist fast nicht möglich. Alle Bewegungen, die der Patient können soll, müssen zuvor in der Rehabilitations-Behandlung geübt werden. Bereits die reine Vorstellung von Bewegungsabläufen führt zu einem praktisch messbaren Lerneffekt. Das Führen einer Bewegung durch externe Hilfestellung ist beim initialen Erlernen hilfreicher als exploratives Lernen ohne Führung. Das explorative Lernen hat jedoch einen höheren Langzeiteffekt.

Übungsaufgabe

Motivation Kontextorientierung Feedback Erholungspausen

Variabilität der Übungen

Übungsabfolge Bewegungsablauf

Lerntransfer

Mentales Üben Externes Führen von Übungen

Daneben spielen die Übungsbedingungen eine wesentliche Rolle für das Rehabilitationsergebnis. Es hat sich gezeigt, dass der Lernerfolg tendenziell geringer ausfällt, wenn die Dauer der Übungen größer ist als die der Erholungspausen zwischen den einzelnen Übungsabschnitten [Schmidt 2005]. Darüber hinaus haben Studien gezeigt, dass variable Übungen grundsätzlich förderlicher sind und insbesondere Fähigkeiten wie Adaption und generalisiertes Lernen optimal schulen [Catalano 1984]. Variable Übungen sollten bevorzugt für das Üben von Situationen angewendet werden, die durch verschiedenartige Randbedingungen geprägt sind (z. B. Arm- und Handbewegungen). Studien zu Bewegungsaufgaben geringerer Variation (z. B. das

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Gehen) zeigten, dass hier ein eher gleichförmiges Üben der betreffenden Bewegungsmuster durchgeführt werden sollte [Rose 1997]. Zusätzlich wurde untersucht, ob verschiedenartige Übungen, die während einer Therapieeinheit jeweils mehrmals durchgeführt werden, in zufälliger Übungsabfolge (Random-Übungen) oder aber blockweise (Block-Übungen) nacheinander durchgeführt werden sollten. Grundsätzlich zeigte sich, dass bei der zufälligen Übungsabfolge, trotz der größeren Herausforderung für den Patienten und kurzfristiger Schwierigkeiten bei der Übungsdurchführung, ein langfristig nachhaltigerer Lerneffekt erreicht wird als bei Block-Übungen [Magill 1990]. Die praktische Anwendbarkeit dieser Vorgehensweise und die Höhe des Lerneffekts hängen jedoch stark von den kognitiven Fähigkeiten des Patienten ab [Rose 1997]. Bei Patienten mit großen kognitiven Beeinträchtigungen zeigte sich kein Vorteil gegenüber der blockweisen Übungsdurchführung [DelRey 1983; Edwards 1986]. Zu übende Bewegungsabläufe (tasks) werden oft in Abschnitte unterteilt (task analysis), die zunächst wiederholt getrennt voneinander geübt werden, bevor der gesamte Bewegungsablauf geübt wird (task analysis approach). Diese Vorgehensweise ist bei diskreten oder seriellen Bewegungsmustern (z. B. Arm- und Handbewegungen) empfehlenswert [Schmidt 2005; OSullivan 2007]. Bei kontinuierlichen, geschlossenen Bewegungen, wie z. B. dem Gehen, erwies sich jedoch das zunächst isolierte Üben einzelner Teilbewegungen wenig sinnvoll, sodass stattdessen möglichst frühzeitig der vollständige Gangzyklus geübt werden sollte. Eine Verbesserung von Teilbewegungen sollte hier im Kontext des Gesamtbewegungsablaufes erreicht werden [Schmidt1 1991; Winstein 1991]. Grundsätzlich zeigte sich, dass der Lerntransfer von einer gelernten Bewegung zu einem neuen Bewegungsmuster sehr begrenzt ist. Daher gilt das Therapie-Paradigma, dass alle vom Patienten zu erlernenden Bewegungen zuvor in der RehabilitationsBehandlung geübt werden müssen. Je ähnlicher die Übungsumgebung derjenigen der späteren Anwendung ist, desto besser gelingt der Transfer des Gelernten in das tägliche Leben [Schmidt 1991; Winstein 1991]. Studien zeigten, dass bereits die reine Vorstellung von Bewegungsabläufen, ohne diese auch physisch auszuführen (mentales Üben), zu einem praktisch messbaren Lerneffekt führt [Hird 1991]. Den größten Lerneffekt zeigte aber nach wie vor das physische Üben der Bewegung, jedoch wird für einen optimalen Therapieerfolg ein ergänzendes mentales Üben sehr empfohlen. Je nach Schweregrad der motorischen Behinderung wird die Bewegung oftmals von extern geführt (Führung der Übung durch externe Kräfte, 󳶳Kapitel 2.1.4), damit der Patient die Bewegungsübung durchführen kann. Es zeigte sich, dass dieses Führen einer Bewegung beim initialen Erlernen hilfreicher ist als exploratives Lernen ohne Führung, letzteres jedoch einen höheren Langzeiteffekt hat [Singer1980]. In der Praxis bedeutet dies, dass Therapeuten die Übungsbewegung nur zu Beginn führen sollten und den Grad der Unterstützung entsprechend des Lernerfolges des Patienten soweit wie möglich reduzieren sollten [Shumway 2010].

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Grundsätzlich gilt beim motorischen Lernen die 󳶳 assist-as-needed strategy (AAN; dt. bedarfsge­ rechte Strategie), gemäß derer der Patient so viel Unterstützung erhält, wie er benötigt und gleich­ zeitig das Maß der Unterstützung auf ein Minimum reduziert wird. Diese Strategie findet heute zunehmend in der Steuerung von automatisierten Systemen für Therapie und Rehabilitation (so genannte Rehabilitationsroboter) Anwendung (󳶳 Band 9, Kapitel 14).

Die bisherigen theoretischen Ansätze technisch assistierter Rehabilitation stützen sich teilweise auf die oben beschriebenen neurophysiologischen Forschungsergebnisse. Die Übersetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Anwendung sollte jedoch vorsichtig beurteilt werden. Die Physiologie motorischen Lernens ist noch lange nicht vollständig verstanden. Erkenntnisse zum Lernen wurden teilweise aus Tierversuchen, teilweise aus Befunden gesunder Probanden abgeleitet und lassen sich nicht unkritisch auf das Wiedererlernen von Bewegungen, etwa nach Schlaganfall, übertragen. Weiterhin können Erfahrungen, die für die untere Extremität gemacht wurden, nicht auf die Armfunktion übertragen werden. So kam ein COCHRANE-Review zu dem Ergebnis, dass beispielsweise repetitives Üben an der unteren Extremität zu einer besseren Funktionssteigerung führt, als repetitives Üben an der oberen Extremität [French 2007]. Dies erscheint schlüssig, wenn man sich die Unterschiede von Bein- und Armeinsatz vor Augen hält. Gehen ist zumindest in Grundzügen eine hochrepetitive Abfolge von Schritten. Der Einsatz der oberen Extremität ist weitaus komplexer: Aktivitäten, wie das Platzieren der Hand im Raum oder das Greifen, Halten und Manipulieren von Objekten, verlangen eine komplizierte Koordination der Muskeltätigkeit von der Schulter bis in die Finger (󳶳Kapitel 3). Zur Evaluation des Grades der eigenständigen Bewegungsfähigkeit von Patienten und zur Messung ihres Fortschritts beim motorischen Lernen sind in der klinischen Praxis verschiedene Mess- und Beurteilungsmethoden etabliert, so genannte klinische Scores [Shumway 2010; OSullivan 2007; Wade 1992].

Beispielsweise wird in der Rehabilitation von Schlaganfallpatienten im Rahmen der Messung des kli­ nischen Zustandes eines Patienten hinsichtlich der ICF-Domänen (Klinimetrie) u. a. mit folgenden kli­ nischen Scores gearbeitet: – Modified Ashworth Scale zur Bestimmung des Widerstandes des Muskels gegen passives Be­ wegen als Indiz für eine Spastik (󳶳 Kapitel 8), – Fugl-Meyer (auch Brunnstrom-Fugl-Meyer-Test) zur Beurteilung der Fähigkeit des selektiven Be­ wegens ohne ungeplante Mit- oder Ausweichbewegungen (Muskelsynergien), – Berg Balance Scale zum Testen des Gleichgewichts des Patienten, – Timed up & Go als Gehtest zur Bestimmung der Mobilität des Patienten (󳶳 Kapitel 3), – Functional Ambulation Category zur Bestimmung des Unterstützungsbedarfs des Patient beim Gehen, – Action Research Arm Test zur Beurteilung der Armaktivität des Patienten, – Barthel-Index zur Einschätzung der Selbständigkeit des Patienten, – Canadian Occupational Performance Measure als Test zur Eigenwahrnehmung des Patienten be­ zogen auf seine Handlungsmöglichkeiten und seine Zufriedenheit damit.

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9.3 Technische Therapiesysteme in der Bewegungstherapie: Unterscheidung nach Einsatz und Funktionalität Basistherapie der betroffenen Patienten ist bis heute die Physiotherapie, um die motorischen Fähigkeiten des Patienten soweit wie möglich wiederherzustellen. Insbesondere in der Bewegungsrehabilitation bei neurologischen Erkrankungen wird diese häufig durch Ergotherapie unterstützt. Mit der persönlichen Betreuung des Patienten durch einen Therapeuten während der Übungsdurchführung kann die Übung jeder Zeit an die aktuellen und individuellen Bedürfnisse und Defizite jedes einzelnen Patienten anpasst werden. Für eine erfolgreiche Wiederherstellung der Bewegungsfähigkeit müssen darüber hinaus die einzelnen Übungen richtig, regelmäßig und in geeigneter Weise durchgeführt werden [Kalra 2007; Bandholm 2012]. 󳶳 Physiotherapie ist eine Form der äußerlichen Anwendung von Heilmitteln (󳶳 Kapitel 1), mit der die Bewegungs- und Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers wiederhergestellt, verbessert oder erhalten werden soll. Sie orientiert sich an den Beschwerden und den Funktions-, Bewe­ gungs- bzw. Aktivitätseinschränkungen des Patienten und nutzt sowohl diagnostische wie auch pädagogische und manuelle Kompetenzen des Therapeuten. Sie grenzt sich von der Ergotherapie ab, bei der den Beeinträchtigungen mit dem gezielten Einsatz von individuell sinnvollen Tätigkei­ ten entgegengewirkt wird.

In der praktischen Umsetzung beobachtet und kontrolliert der Physio- bzw. Ergotherapeut den individuellen Rehabilitationsprozess und leitet den Patienten in seiner Übungsdurchführung an. Verantwortung für Anleitung und Kontrolle der durchzuführenden Übungen liegen somit beim Therapeuten (󳶳Abb. 9.2 (a)). (a) durch Therapeuten angeleitete Übung

(b) autonome Übung

(c) technisch assistierte Übung

individuelle Anleitung

individuelle Anleitung Kontrolle

Kontrolle

Patient

Therapiegerät

Kontrolle

Therapeut

Patient

Patient

Abb. 9.2: Übungsprinzipien der Physiotherapie. (a) Bei der physiotherapeutischen Übung liegt die Verantwortung für die Übungsdurchführung beim Therapeuten, der den Patienten bei seiner Übung anleitet und kontrolliert. (b) Führt ein Patient Übungen autonom durch, fehlt die individuelle An­ leitung und die Kontrolle der Übung liegt beim Patienten. (c) Technische Therapiegeräte können Anleitung und Kontrolle der Übung übernehmen und so dem Patienten eine autonome Übungsaus­ führung ermöglichen.

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Schon jetzt nimmt die Anzahl der unter funktionellen Bewegungseinschränkungen leidenden Patienten stetig zu. Aufgrund des demografischen Wandels steht diesem eine zukünftige Verringerung der Zahl der verfügbaren Therapeuten und Übungseinheiten gegenüber. Dieses Problem kann nur gelöst werden, wenn die Patienten ihre therapeutischen Übungen autonom, eigenverantwortlich und möglichst in ihrem häuslichen Umfeld durchführen [Jäckel 2004; Bandholm 2012]. Insbesondere für Patienten mit muskuloskelettalen Erkrankungen wird dieser Punkt immer wichtiger, je mehr sich die Liegezeiten der Patienten verkürzen und damit die postoperative Rehabilitation zunehmend in die ambulante Versorgung verlagert wird. Bei einem autonom durch den Patienten durchgeführten Training ist problematisch, dass die Anleitung durch den Therapeuten fehlt und der Patient seine Übungsdurchführung selbständig kontrollieren muss (󳶳Abb. 9.2 (b)). Dadurch ist der Patient bei seiner Übungsdurchführung häufig verunsichert, was Auswirkungen auf Qualität und Regelmäßigkeit der Übungsdurchführung hat. Technische Systeme, die in die Therapie des Patienten integriert werden und dem Patienten sowohl Anleitung und Kontrolle bieten, stellen hier einen effektiven Ansatz dar, die Problematik eines autonomen Trainings zu reduzieren. Unter 󳶳 technisch assistierter Bewegungstherapie versteht man die Verwendung von mechani­ schen, mechatronischen, robotischen oder IT-gestützten Therapiesystemen zur Unterstützung und Verstetigung von Rehabilitationsmaßnahmen (󳶳 Kapitel 1.3) und zur Ermöglichung eines au­ tonomen und eigenmotivierten Übens.

Derzeit stehen vielfältige technische Therapiesysteme zur Verfügung. Diese reichen von einfachen Bewegungsschienen über Kraft-Trainingsmaschinen, wie sie aus dem Fitnessbereich bekannt sind, bis hin zu technisch anspruchsvollen automatisierten Lösungen. In diesem Kapitel werden einige innovative und erfolgsversprechende Ansätze für eine technisch assistierte Bewegungstherapie von Bewegungseinschränkungen vorgestellt. Entsprechend der Forderung, dem Patienten die Möglichkeit zu geben, sein therapeutisches Training selbständig und autonom durchzuführen, sind in den letzten Jahren verstärkt technische Therapiesysteme für die Bewegungstherapie entwickelt worden. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Funktionalität maßgeblich, je nachdem ob sie zur Therapie muskuloskelettaler Erkrankungen oder neurologischer Erkrankungen mit motorischen Beeinträchtigungen eingesetzt werden. Die meisten dieser Therapiesysteme ersetzen nicht den direkten Kontakt zwischen Therapeut und Patient. Vielmehr ermöglichen sie ein zusätzliches autonomes Training, wobei sich allein durch die Erhöhung der Anzahl der Übungseinheiten ein verbesserter Therapieerfolg einstellt [Platz 2003]. Technische Therapiesysteme finden bereits in der Frührehabilitation Anwendung. Ihr Haupteinsatzgebiet liegt jedoch in der weiterführenden Rehabilitation sowie in erster Linie in der Anschlussheilbehandlung und seltener in der Langzeitpflege (󳶳Kapitel 1.3). Daher sind viele der technischen The-

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rapiesysteme in der Bewegungstherapie an einen stationären Einsatz entweder bereits im Krankenhaus oder anschließend in einer Rehabilitationseinrichtung gebunden. Über die eigentliche Rehabilitationsmaßnahme hinaus ermöglichen technische Therapiesysteme dem Patienten ein autonomes therapeutisches Üben. Dieses führt dazu, dass sich ihr Einsatz zunehmend sowohl in den Bereich medizinisch orientierter Fitnessstudios wie auch in das häusliche Umfeld der Patienten verlagert. Grundsätzlich unterscheiden sich die verfügbaren Therapiesysteme in Verfahren, welche – die Bewegungen mechanisch stützen und führen, – lediglich die Bewegung überwachen und so eine Kontrolle ermöglichen. Im Hilfsmittelverzeichnis der GKV sind therapeutische Bewegungsgeräte in der Produktgruppe 32 beschrieben. Sie werden eingesetzt, um gezielte Bewegungsabläufe zu trainieren, zu ermöglichen oder zu erzeugen [HMV 2014]. Hierdurch soll der Erfolg einer Krankenbehandlung gesichert werden und die Gelenk- und Muskelfunktion sowie die Durchblutung erhalten oder deren Minderung eingegrenzt werden. Sie lassen sich gemäß HMV einteilen in: – fremdkraftgetriebene Bewegungsschienen zur kurzzeitigen Anwendung (Knieund Schulterbewegungsschienen), – fremdkraftgetriebene Bewegungsgeräte zur Langzeitanwendung (Bein-, Armund Kombinationstrainer für Arme und Beine), – eigenkraftgetriebene Geräte, – Therapiegeräte für Kinder (Spreizräder ermöglichen die Bewegung von Kindern in einer therapeutisch gewünschten Körperhaltung, Rollbretter fördern die Beweglichkeit bei eingeschränkter Kraft), – Produkte zur Therapieunterstützung für Kinder mit neuromuskulären Erkrankungen (Gymnastikbälle und Bewegungskreisel zur Unterstützung therapeutischer Übungen in der häuslichen Umgebung). Die DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie [ISO 9999]) unterscheidet in der Klasse 04 48 folgende Bewegungs-, Kraft- und Balancetrainingsausrüstungen: – Übungs- und Ergometerfahrräder (Klasse 04 48 03), – Hilfsmittel zum Erlernen des Gehens (Klasse 04 48 07), – Stehrahmen und Stehstützen (Klasse 04 48 08), – Finger- und Handtrainingsgeräte (Klasse 04 48 12), – Arm-, Rumpf- und Beintrainingsgeräte (Klasse 04 48 15), – Gewichtsmanschetten (Klasse 04 48 18), – Kipptische (Klasse 04 48 21), – Biofeedback-Geräte für Bewegungs-, Kraft- und Balancetraining (Klasse 04 48 24), – Lagerungshilfen für den Körper während der Therapie (Klasse 04 48 27), – Trainingsgeräte für den Kiefer (Klasse 04 48 30).

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Es ist erkennbar, dass sich die Strukturierungen des Hilfsmittelverzeichnisses und der ISO 9999 in den für Bewegungs- und Trainingsgeräte relevanten Gruppen stark unterscheiden. Weiterhin sind hier zahlreiche sehr einfache Geräte ohne höheren technischen Anspruch eingeschlossen. So werden die nachfolgenden Beschreibungen komplexerer Systeme nicht nach diesen Quellen, sondern nach Zweck, technischem Anspruch (einfache versus automatisierte Systeme) und unterstützter bzw. trainierter Extremität strukturiert. Zu den Systemen, bei denen die Bewegungen mechanisch gestützt oder geführt werden, gehören einfache aktive Mobilisationsschienen (fremdkraftgetriebene Bewegungsschienen bzw. Geräte im HMV 󳶳Kapitel 9.4.1), von denen meist ein Gelenk in der Bewegung um eine anatomische Achse geführt wird, und Trainingsmaschinen, wie sie aus dem Fitnessbereich bekannt sind (󳶳Kapitel 9.4.2). Diese relativ einfachen Systeme zur technisch assistierten Bewegungstherapie dienen der Mobilisierung und Vergrößerung des Bewegungsumfangs einzelner Gelenke sowie dem gezielten Kraftaufbau. Sie finden daher hauptsächlich in der Rehabilitation muskuloskelettaler Erkrankungen Anwendung. 󳶳 Fremdkraftgetriebene Mobilisationsschienen dienen der 󳶳 passiven Mobilisierung eines Ge­ lenks durch die Schiene. Das betroffene Gelenk wird dabei aktiv von der Schiene bewegt. Ein ak­ tiver Beitrag durch den Patienten ist dabei in der Regel nicht erforderlich. Die Stabilisierung und Führung des Gelenks ist durch die Schiene gewährleistet. 󳶳 Trainingsmaschinen werden für die gerätegestützte Physiotherapie eingesetzt, die das Ziel der Verbesserung von Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit und Koordination sowie Stärkung der Muskula­ tur und Beseitigung von muskulären Dysbalancen verfolgt.

Zunehmend werden fremdkraftgetriebene automatisierte Systeme, die auf robotischen Ansätzen beruhen, in unterschiedlichen Rehabilitationsszenarien eingesetzt (󳶳Kapitel 9.5). Diese automatisierten Therapiesysteme werden auch Rehabilitationsroboter genannt, weil die Therapie mit diesen Systemen der Wiedereingliederung bzw. Rehabilitation dient. Sie sind besonders dann geeignet, wenn im Rahmen der Therapie Alltagsbewegungen häufig wiederholt werden müssen. Ihr Einsatzgebiet ist daher hauptsächlich die neurologische Rehabilitation, obwohl sie auch zunehmend als komplexe mehrdimensionale Mobilisationsschienen in der muskuloskelettalen Rehabilitation zur Anwendung kommen. Der Nachteil dieser automatisierten Therapiesysteme ist, dass sie technisch aufwendig, relativ teuer und wegen ihrer Komplexität in der Regel nur stationär in einer Rehabilitationseinrichtung einsetzbar sind. Daher sind sie derzeit nur bestimmten, ausgewählten Patientengruppen zugänglich.

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In der Bewegungstherapie eingesetzte 󳶳 automatisierte Therapiesysteme (so genannte 󳶳 Rehabilitationsroboter) besitzen mehrere Achsen, deren Bewegungen hinsichtlich Bewe­ gungsabfolge und -kinematik frei programmierbar sind (angelehnt an die VDI-Richtlinie 2860 für Industrieroboter). Sie bestehen aus mechatronischen Komponenten, Sensoren sowie rech­ nerbasierten Kontroll- und Steuerfunktionen, wodurch sie sich von den fremdkraftgetriebenen Mobilisationsschienen und Krafttrainingsgeräten unterscheiden (󳶳 Band 9, Kapitel 14).

Eine breite Versorgung von Patienten kann durch technisch einfachere Lösungswege erreicht werden. Hierbei wird sich häufig der virtuellen Welten (VR), oft in Kombination mit Augmented Reality (AR), bedient. Bei diesen werden die auszuführenden und die tatsächlich ausgeführten Bewegungen des Patienten auf einem Bildschirm visualisiert (󳶳Kapitel 9.6). Diese Systeme bieten dem Patienten neben der Vorgabe der Bewegung meist zusätzlich ein Feedback über die ausgeführte Bewegung und zielen damit zumeist auf Motivation und Intensivierung der Übungen ab [Henderson 2007; McClanachan 2013]. VR und AR werden daher in der technisch assistierten Bewegungstherapie in der Regel in Kombination mit anderen technischen Therapiesystemen eingesetzt, wobei VR und AR den Patient anleiten und Feedback geben, während mechatronische Systeme führen und kontrollieren. Mit 󳶳 Feedback bezeichnet man in der Rehabilitation die Rückmeldung gemessener Informationen über den Bewegungsverlauf und das Bewegungsergebnis an den Patienten. Das Feedback kann visueller, akustischer, taktiler oder Art sein. Von der Technik der Augmented Reality spricht man, wenn die auszuführenden und die tatsächlich ausgeführten Bewegungen überlagert werden.

Die Ermöglichung von Anleitung und Kontrolle durch geeignete Feedbackmaßnahmen ermöglicht die Verlagerung der therapeutischen Übung aus dem überwachten Bereich innerhalb spezieller Rehabilitationseinrichtungen in das Umfeld spezieller medizinisch ausgerichteter Fitnessstudios und insbesondere in das häusliche Umfeld des Patienten.

9.4 Technische Therapiesysteme zur Bewegungstherapie bei muskuloskelettalen Erkrankungen 9.4.1 Mobilisationsschienen Mobilisationsschienen finden ihre Indikation in der Bewegungstherapie nach orthopädisch-traumatologischen Gelenkeingriffen, der Behandlung chronischer Gelenkerkrankungen und Mobilisation instabiler Gelenke. Ziel ist es, das Gelenk so früh wie möglich zu mobilisieren. Grundsätzlich unterscheidet man bei den Mobilisationsschienen in eigenkraftgetriebene Mobilisationsschienen, die durch den Patienten bewegt werden, und fremdkraftgetriebene Mobilisationsschienen, bei

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denen der Patient von der Schiene also passiv bewegt wird. Typische Vertreter der eigenkraftgetriebenen Mobilisationsschienen sind 󳶳dynamische Orthesen, wie sie bereits in 󳶳Kapitel 5.2 vorgestellt wurden. Bei diesen kann der Patient sein Gelenk entweder im vollen physiologischen Bewegungsumfang oder in einem vorgegebenen Teil des Bewegungsumfanges mindestens entlang einer anatomischen Gelenkachse bewegen.

Die 󳶳 Abb. 9.3 zeigt das Beispiel einer fremdkraftgetriebenen Mobilisationsschiene der Firma Kinetec für das Kniegelenk, wie sie nach operativen Eingriffen und Verletzungen im Bereich des Kniegelenks vom Arzt oder Therapeuten für eine passive Bewegungstherapie, bei der der Patient nicht aktiv zur ausgeführten Bewegung beiträgt, genutzt wird. Unter- und Oberschenkel werden durch die Schiene gestützt, während das Fußgelenk fixiert ist. Ein Linearmotor bewegt den Auflagepunkt der Schiene in Richtung Becken des Patienten, wodurch sowohl das Knie- wie auch das Hüftgelenk gebeugt wer­ den. Der Bewegungsbereich im Kniegelenk reicht von 5° Extension (Streckung) bis 115° Flexion (Beu­ gung).

Abb. 9.3: Fremdkraftgetriebene Mobilisationsschiene für das Kniegelenk (Prima Advance der Fa.Kinetec). Das Kniegelenk wird durch die Schiene um die Flexions-/Extensionsachse gebeugt. Der Patient ist dabei passiv, d. h. das Knie wird durch die Schiene bewegt.

Fremdkraftgetriebene Mobilisationsschienen werden durch einen Elektromotor in einem vorgegebenen Bewegungsrahmen angetrieben. Das Gelenk des Patienten wird durch den elektrischen Antrieb der Bewegungsschiene in vollem physiologischem Bewegungsumfang oder in vorgegebenen Abschnitten des Bewegungsumfangs geführt. Das Gelenk des Patienten kann somit schon sehr früh mobilisiert werden, ohne dass der Patient eine aktive Anspannung der Muskulatur vornehmen muss. Fremdkraftgetriebene Mobilisationsschienen sind derzeit für alle Extremitätengelenke verfügbar (Hand- und Fingergelenke, Ellenbogen-, Schulter-, Hüft-, Knie- und Fußgelenk). Nicht immer ist der mechanische Aufbau so einfach zu gestalten wie in 󳶳Abb. 9.3 dargestellt. Komplexere Gelenke mit einer höheren Anzahl an Freiheitsgraden benötigen aufwendigere Kinematiken, die auch kombinatorische Bewegungen um mehrere Gelenkachsen gleichzeitig zulassen (󳶳Abb. 9.4).

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(a)

(b)

(c)

Abb. 9.4: Fremdkraftgetriebene Mobilisationsschiene für das Schultergelenk (Centura der Fa. Kinetec). (a) Abduktions-/Adduktionsbewegung von 20 Grad bis 160 Grad. (b) Kombinierte Ab­ duktions-/Adduktionsbewegung mit gleichzeitiger Innen-/Außenrotation der Schulter. (c) Flexi­ ons-/Extensionsbewegung.

9.4.2 Trainingsmaschinen Bei der gerätegestützten Physiotherapie werden medizinische Trainingsgeräte oder Zugapparate eingesetzt. Das Ziel ist die Verbesserung von Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit und Koordination und stellt damit ein wichtiges Element in der Rehabilitation nach Operationen, Knochenbrüchen oder Gelenkverletzungen dar. Als medizinische Kräftigungstherapie gewinnt sie in der Prävention muskuloskelettaler Erkrankungen zunehmend an Bedeutung. Ziel der medizinischen Kräftigungstherapie ist, durch Stärkung der Muskulatur Schmerzen und muskuläre Dysbalancen zu beseitigen und Gelenkführungen zu verbessern. Abgestimmt auf den medizinischen Befund werden an speziellen Trainingsmaschinen Bewegungsübungen durchgeführt. Im Fokus stehen dabei die Erarbeitung funktioneller und automatisierter Bewegungsmuster sowie die Leistungssteigerung durch systematische Wiederholung bestimmter Muskelanspannungen. Die zur gerätegestützten Physiotherapie genutzten Trainingsmaschinen sind in der Regel eigenkraftgetrieben, d. h. sie sie werden ausschließlich vom Patienten angetrieben. Meistens werden über Seilzüge Gewichte gegen die Schwerkraft bewegt oder Schwungräder genutzt.

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Ein einfaches Beispiel für schwungradgetriebene Trainingsmaschinien stellen Fahrradergometer oder so genannte Crosstrainer dar. Bei beiden Geräten wird durch die zyklische Beinbewegung eine Schwungscheibe in Rotation versetzt (󳶳 Abb. 9.5). Diese Rotationsbewegung wiederum wird durch eine Wirbelstrom- oder Magnetbremse behindert, wodurch der Bewegung des Patienten ein Widerstand entgegengesetzt wird. Auf diese Weise lässt sich die zu erbringende Muskelarbeit an die individuellen Bedürfnisse des Patienten anpassen. Bei den heute überwiegend eingesetzten drehzahlunabhängigen Ergometern wird nur die zu erbringende Leistung vorgegeben. Wird die Trittfrequenz erhöht, sinkt proportional der Widerstand.

(a)

(b)

Abb. 9.5: (a) Fahrradergometer Tour S der Fa. Kettler, b) Crosstrainer Skylon S der Fa. Kettler.

Bei freien Übungen, beispielsweise mit einer Hantel, ändert sich die Größe der externen Kraft mit der Stellung der Extremität relativ zur Horizontalen (󳶳Kapitel 2.1.4). Beispielsweise erzeugt eine Hantel, die in der Hand gehalten wird, in Neutral-Null-Stellung weder ein Drehmoment im Handgelenk, noch im Ellenbogen oder der Schulter (󳶳Kapitel 2.1.4) Dieses hat zur Folge, dass nicht über den gesamten Bewegungsraum gegen eine gleichbleibende Kraft trainiert werden kann. Hier besteht also eine Limitation des Widerstands durch die externe Kraft in anatomisch ungünstigsten Gelenkwinkelstellungen. Die Folge ist eine unvollständige Belastung der Muskulatur über den gesamten Bewegungsraum. Abhilfe schaffen hier Kinematiken, die auf Seilzügen beruhen. Seilzugmaschinen haben den Vorteil, dass der Widerstand, gegen den der Patient arbeiten muss, durch Umlenkrollen immer konstant gehalten wird, unabhängig von Zugrichtung und Stellung der Extremitäten. Bei einfachen Seilzugmaschinen werden die Bewegungen wenig geführt (󳶳Abb. 9.6). Ziel ist es in erster Linie, Beweg-

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Abb. 9.6: Seilzugmaschine der Fa. Schnell.

lichkeit und Koordination des Patienten zu fördern. Schon mit einfachen Übungsgeräten können die in 󳶳Kapitel 9.2 beschriebenen Prinzipen des motorischen Lernens umgesetzt werden. Höher werden die Anforderungen an die Trainingsmaschinen, wenn sie für die medizinische Kräftigungstherapie genutzt werden sollen. Die hierfür genutzten Krafttrainingsmaschinen müssen eine wesentlich exaktere Führung der Gelenke in den einzelnen Gelenkachsen sicherstellen, als die einfachen Seilzugmaschinen oder die einfachen Trainingsmaschinen in Fitnessstudios. Dieses wird durch aufwendigere mechanische Konstruktionen erreicht, in denen der Patient so positioniert oder fixiert wird, dass Ausweichbewegungen nur schwer möglich sind oder nicht zur Bewältigung der Bewegungsaufgabe beitragen. Die 󳶳Abb. 9.7 zeigt die grundsätzliche Vorgehensweise am Beispiel der Beinpresse.

Ziel der Beinpresse ist das Training fast sämtlicher Streckmuskeln der Beine und des Gesäßes. Hier­ für sitzt der Patient mit geneigtem Oberkörper auf einer Bank, wobei der Neigungswinkel individuell einstellbar ist. Zwei Stopper auf den Schultern unterbinden eine Ausweichbewegung nach oben. Die gestreckten Arme fassen Haltegriffe rechts und links der Bank, wodurch Seitwärtsbewegungen un­ terbunden werden. Der Abstand der Fußplatte, auf die beide Füße vollständig aufgestellt werden, zur Sitzbank ist veränderbar. Hierdurch wird der Bewegungsumfang von Hüft- und Kniegelenk individuell festgelegt. Eine Querleiste an der Fußplatte stützt die Füße an der Ferse ab, sodass diese nicht von der Muskulatur gehalten werden müssen. Während der Übung drückt der Patient die Fußplatte vom Körper gegen einen Widerstand weg. Der Widerstand wird durch Seilzüge über den gesamten Bewe­ gungsraum konstant gehalten, sodass die Muskulatur im genutzten Bewegungsbereich gleichmäßig belastet wird. Dabei kann die Muskulatur während des Wegdrückens konzentrisch und bei langsamer Rückwärtsbewegung exzentrisch belastet werden (󳶳 Kapitel 2.3.3).

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Abb. 9.7: Beinpresse der Fa. Schnell.

Isokineten Eine Besonderheit unter den fremdkraftgetriebenen Trainingsgeräten bilden Isokineten, bei denen die Trainingsmaschine eine konstante Bewegungsgeschwindigkeit erzwingt (󳶳Kapitel 8.1.4). Unter Isokinetik versteht man Training und Diagnostik bei konstanter Winkelgeschwindigkeit mit variabel angepasstem Widerstand an allen großen Gelenken des menschlichen Körpers. Bei der Isokinetik wird somit ein gänzlich anderes Bewegungsprinzip genutzt, als bei anderen mechanischen Trainingsgeräten. Isokinetik (griech. iso = gleich und griech. kinesis = Bewegung) steht für eine gleichbleibende Be­ wegung und im Zusammenhang mit gerätegestützter Physiotherapie für konstante Bewegungsge­ schwindigkeit. 󳶳 Isokineten sind automatisierte Trainingsmaschinen, die durch Veränderung des Widerstandes die Bewegungsgeschwindigkeit konstant halten und sich somit der aufgewendeten Kraft des Trainierenden anpassen.

Bei frei ausgeführten Übungen ändert sich nicht nur die Größe der externen Kraft mit der Stellung der Extremität, sondern auch die zur Generierung eines im Gelenk wirksamen Drehmomentes erforderliche Muskelkraft (󳶳Kapitel 2.1.5). Vorteile der isokinetisch geführten Bewegung liegen in der Möglichkeit, externe Kräfte, Kraftverläufe und Geschwindigkeiten während der Bewegungsausführung sensorisch zu erfassen und basierend auf den Messergebnissen zu regeln. Die Basis des Isokineten bilden automatisierte Systeme, die der Bewegung einen motorgetrieben Widerstand entgegensetzen und gleichzeitig Kräfte und Momente messen. Bei der isokinetischen Bewegung wird dieser Widerstand so ausgeregelt, dass die Bewegungsgeschwindigkeit zu jedem Zeitpunkt konstant bleibt. Während des isokinetischen Trainings passt sich somit der zu überwindende Widerstand an die Kraft an, die individuell von jedem Probanden in den jeweiligen Winkelpositionen

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aufgebracht wird [Dvir 1995; Davies 1992]. So ermöglicht das isokinetische Training durch den variabel gehaltenen Widerstand (im Gegensatz zu einem konstanten Widerstand) eine konstante Muskelkraft im gesamten Bewegungsumfang. Ein wichtiger Vorteil des isokinetischen Trainings ist die Möglichkeit, die gewünschten Bewegungen genau vorzugeben. Es ist wählbar, ob die Bewegung konzentrisch oder exzentrisch sein soll, und ob die Bewegung aktiv vom Patienten durchgeführt oder dieser passiv mobilisiert wird. Auch die Bewegungsgeschwindigkeit ist präzise fast frei wählbar. Im Bereich der Diagnostik können muskuläre Verhältnisse standardisiert gemessen und relativiert werden, z. B. im Rechts-Links-Vergleich. Zusätzlich wird die Kraftqualität (Maximalkraft, Kraftausdauer, absolute Kraftentwicklung) bestimmter Bewegungen dokumentiert und ist so zu einem späteren Zeitpunkt vergleichbar. Beispielsweise können die beanspruchten Muskelgruppen in jeder Winkelstellung maximal angespannt werden, womit eine charakteristische Kraft-Winkel-Kurve entsteht, die Aussagen über die muskuläre Kontraktionskraft in jeder Winkelstellung ermöglicht [Mayer 1994].

Die 󳶳 Abb. 9.8 zeigt das Beispiel einer Anwendung eines Isokineten in der Knierehabilitation. Durch exakte Positionierung des Patienten und isokinetische Bewegungsführung durch die Motoren kann ein optimaler Trainingseffekt bei gleichzeitig größtmöglicher Schonung des Kniegelenks erreicht wer­ den. Die elektronische Steuerung ermöglicht hierbei eine genaue Dosierung von Belastungen und Pausenzeiten. Zudem erhält der Patient am Bildschirm ein permanentes Feedback über seinen Trai­ ningserfolg, was zu einer Verbesserung des Rehabilitationserfolges führt.

Abb. 9.8: Isokinet Biodex der Fa. Proxomed. Dargestellt ist ein Anwendungsbeispiel aus dem Bereich der Knierehabilitation.

Isokinetische Multigelenksysteme gehören in den Leistungsbeschreibungen der Kostenträger für ambulante und stationäre orthopädisch-traumatologische Rehabilitationszentren zur apparativen Mindest-Grundausstattung.

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9.4.3 Heimgeräte Einfache Trainingsmaschinen, insbesondere Fahrradergometer und Crosstrainer, sind heutzutage im häuslichen Umfeld des Patienten weit verbreitet. Nicht jeder Patient hat jedoch Zugang zu Trainingsmaschinen. In manchen schweren Fällen, die eine Rehabilitation über einen längeren Zeitraum erfordern, stellen die Krankenkassen leihweise Trainingsmaschinen für die häusliche Nutzung zur Verfügung. Die meisten Patienten mit muskuloskelettalen Erkrankungen haben jedoch nur in speziellen Trainingseinrichtungen Zugang zur gerätegestützten Bewegungstherapie. Selbst- oder eigenmotiviertes physiotherapeutisches Üben nach Möglichkeit im häuslichen Umfeld ist daher auf einfachere Mittel angewiesen. Ein physiotherapeutisches Training wird bei Patienten mit muskuloskelettalen Erkrankungen oft in Kombination mit einfachen Trainingshilfen wie Hanteln oder resistiven Elementen (Gymnastikbänder oder -tubes) durchgeführt. Sie sind einfach anzuwenden, kostengünstig und in der Physiotherapie für ein breites Behandlungsspektrum muskuloskelettaler Erkrankungen etabliert. Allerdings bieten sie allein keine Anleitung und Kontrolle für Patient und Therapeut, womit die Gefahr besteht, dass autonom praktizierte Übungen falsch ausgeführt werden und sich schädliche Ausweichbewegungen einschleichen, die nachhaltig erhalten bleiben. Daher werden diese Trainingssysteme zunehmend mit Sensorik gekoppelt, welche die ausgeführten Bewegungen erfasst und visuelles oder akustisches Feedback an den Patienten und Therapeuten über die Qualität der Bewegungsausführung liefert. Häufig werden hierfür neben Videoaufzeichnungen Inertialsensoren und Kraftsensoren genutzt. Zahlreiche, derartige Ansätze sind aber derzeit noch Gegenstand der Forschung. Die 󳶳Abb. 9.9 zeigt beispielsweise, wie es mittels Kraftsensoren die Qualität der Bewegungsausführung beim Training mit resistiven Elementen überwacht und dem Patienten direktes Feedback gegeben werden kann [Kohler 2010].

Eine ideale Grundlage für ein angeleitetes und kontrolliertes physiotherapeutisches Üben stellen re­ sistive Elemente dar. In Kombination mit einer krafterfassenden Sensorik eignen sie sich zur Erfas­ sung von Bewegungsumfang und Bewegungsgeschwindigkeit [Kohler 2010]. Dabei werden die elasti­ schen Eigenschaften der resistiven Elemente genutzt. Sie generieren eine Rückstellkraft, die mit dem Verformungsweg größer wird. Die jeweilige Rückstellkraft kann mit einem Biegeelement in Kombina­ tion mit Dehnmessstreifen erfasst werden (󳶳 Abb. 9.9). Zur Vorgabe von Bewegungen und Kontrolle der ausgeführten Bewegung eignen sich visuelle Feedbackverfahren, bei denen der Sollwert der Kraft und damit der Bewegungsbahn durch das The­ rapiesystem vorgegeben ist und der tatsächlich erreichte Wert im Vergleich zur Vorgabe dargestellt wird. Dabei kann der Sollwert inklusive eines Toleranzbereiches individuell vom Physiotherapeuten bestimmt werden. Für sein autonomes, individualisiertes Training wird dem Patienten die Übungs­ bahn, der Toleranzbereich sowie als Cursor die aktuelle Übungsausführung auf einem Monitor dar­ gestellt (󳶳 Abb. 9.9). Durch das direkte Feedback ist er jederzeit während der Übung in der Lage, die Übungsvorgabe mit seiner tatsächlichen Übungsausführung zu vergleichen und gegebenenfalls di­ rekt seine Übungsausführung zu korrigieren.

9 Therapie- und Assistenzsysteme für die Bewegungsrehabilitation |

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Anleitung durch direktes Feedback

Kraftsensor

Abb. 9.9: Angeleitetes und kontrolliertes, eigenverantwortliches Üben mittels re­ sistiver Elemente und direktem Feedback [Kohler 2010].

Das hier vorgestellte Beispiel eines technischen Therapiesystems zur eigenverantwortlichen Be­ wegungstherapie im häuslichen Umfeld steht stellvertretend für eine Vielzahl von technischen Thera­ piesystemen in der Bewegungsrehabilitation, die das Feedback einerseits zur Anleitung, andererseits zur Übungskontrolle durch den Patienten nutzen.

9.5 Technische Therapiesysteme in der Neurorehabilitation Zentralmotorische Lähmungen der oberen und unteren Extremitäten entstehen durch Schädigungen im Hirn oder Rückenmark und stellen weltweit ein großes sozialmedizinisches Problem dar. In Deutschland erleiden mehr als 250 000 Patienten pro Jahr einen Schlaganfall. Zudem leben in Deutschland mehr als 40 000 Menschen mit Querschnittlähmung. Dazu kommen Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma, Zerebralparesen (Schädigungen der motorischen Hirnzentren), Multipler Sklerose (chronisch-entzündliche Erkrankung der Markscheiden im zentralen Nervensystem), Parkinson (neurodegenerative Erkrankung) oder Entzündungen und Tumoren des zentralen Nervensystems. Solche zentralmotorischen Pathologien können durch manuelle oder automatisierte Bewegungstherapien erfolgreich behandelt werden. Dabei werden durch ein häufiges, repetitives Bewegen von oberen und unteren Extremitäten die Lern- und Anpassungsfähigkeit des Gehirns und Rückenmarks genutzt und in vielen Fällen ein gewisser Heilungserfolg erreicht (󳶳Kapitel 9.2). Im Sinne eines Lehrbuches mit medizintechnischem Fokus werden in diesem Kapitel automatisierte Therapiesysteme ausführlich behandelt, da diese auf komplexen und technisch anspruchsvollen Lösungen beruhen. Der Vollständigkeit halber müssen aber auch einfache technische Therapiesysteme Erwähnung finden, die derzeit in der Neurorehabilitation gerade aufgrund ihrer Einfachheit eine deutlich weitere Verbreitung finden, als die automatisierten Therapiesysteme. Zahlreiche einfache, nicht automatisierte Therapiesysteme beruhen auf der Annahme, dass eine synchrone Bewegung beider Körperhälften, insbesondere der obe-

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Abb. 9.10: „Nudelholz“ Reha-Slide der Fa. Reha-Stim zur Neurorehabilitation der oberen Extremität.

ren Extremitäten, zu einem deutlich schnelleren Wiedererlernen der Bewegung führt. Dieses Prinzip lässt sich technisch umsetzen, indem bei halbseitig gelähmten Patienten die nicht betroffene Seite die betroffene Seite führt. Das „Nudelholz“ beispielsweise ist ein einfaches technisches Therapiesystem zur Neurorehabilitation der oberen Extremität, das auf diesem Prinzip beruht [Werner 2005]. Der Patient umfasst dabei mit beiden Händen eine Welle, die geführt auf einer Ebene vorwärts und rückwärts sowie nach rechts und links laufen kann (󳶳Abb. 9.10). Dadurch werden zwei Freiheitsgrade der Bewegung realisiert. Ein dritter entsteht durch die Möglichkeit der Rotation um die Längsachse der verbindenden Welle. Durch die starre Verbindung wird gewährleistet, dass die betroffene und die nicht betroffene Seite alle Bewegungen synchron durchführen, wodurch der Patient selbständig eine Bewegungstherapie des betroffenen Arms durchführen kann. Bei der Neurorehabilitation der unteren Extremität steht in der Regel das Wiedererlernen des Gehens im Vordergrund. Da auch Gehen nicht nur einen repetitiven Bewegungsablauf darstellt sondern darüber hinaus mit einem zeitlichen Versatz synchron von beiden Körperhälften ausgeführt wird (󳶳Kapitel 2.3.3), ist das Ziel nicht-automatisierter Therapiesysteme für die unteren Extremitäten häufig darauf beschränkt, dem Patienten das Gehen zu ermöglichen. Neben einfachen Gehhilfen wie Unterarmstützen oder Rollatoren (󳶳Kapitel 9) kommen hierfür auch Gurte zur Gewichtsentlastung zum Einsatz. Diese werden häufig mit Laufbändern kombiniert (󳶳Kapitel 9.5.3). Dieses Vorgehen in der Neurorehabilitation wird auch Lokomotionstherapie genannt.

9.5.1 Automatisierte Therapiesysteme Keiner der traditionellen, neurorehabilitativen Behandlungsansätze zur Bewegungstherapie nach Schlaganfall war den anderen in systematischen Untersuchungen überlegen (Kollen 2009). Eine den traditionellen Behandlungsansätzen überlegene

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Therapie benötigt daher völlig neue Therapieansätze zur Verbesserung der motorischen Fähigkeiten bei neuronalen Erkrankungen. Die Erkenntnis, dass ein repetitives Üben die Funktionserholung in besonderer Weise fördert [Bütefisch 1995], lenkte das Interesse auf die maschinell unterstützte Therapie und führte zur Entwicklung verschiedener automatisierter Therapiesysteme für die oberen und unteren Extremitäten. Im Vergleich zu einer herkömmlichen Therapiestunde werden bei technisch assistierten und automatisierten Therapien in der gleichen Therapiezeit etwa zweibis siebenmal mehr Bewegungsaktionen gezählt [Lang 2007; Riener 2010]. Stereotype Wiederholungen allein bewirken insbesondere an der oberen Extremität jedoch noch kein (Wieder-) Erlernen von Bewegungen. Damit eine kortikale Reorganisation stattfindet, sollte das Training weitere lernpsychologische Prinzipien berücksichtigen [Plautz 2000; Krakauer 2006] (󳶳Kapitel 9.2). Automatisierte Therapiesysteme vermögen es, präzise die kinematischen Eigenschaften einer physiologischen Bewegung – nämlich Weg, Geschwindigkeit, Beschleunigung – zu imitieren (󳶳Kapitel 2.1.3), zu lenken, nötigenfalls zu korrigieren und dabei jedes einzelne Gelenk im Zusammenspiel der Bewegung zu führen. Das Training kann in einzelnen Sequenzen erfolgen und Bewegungen lassen sich präzise immer wieder trainieren. Inzwischen bieten automatisierte Systeme (so genannte Rehabilitationsroboter) in der Neurorehabilitation aber nicht nur einen quantitativen Gewinn, sie verändern auch die Qualität einer Therapie, indem sie lerntheoretische Prinzipien und Erkenntnisse zur Neuroplastizität optimal umsetzen (󳶳Kapitel 9.2). Intensivierung durch automatisierte Bewegungstherapie bedeutet, dass pro Zeiteinheit mehrere Bewegungen, sogar von verschiedenen Gelenken gleichzeitig durchgeführt werden können. Kontextorientiert bedeutet, dass die in der therapeutischen Situation implementierten Bewegungen den Tätigkeiten des Alltags gleichen. Mit fremdkraftgetriebener Unterstützung des Therapiesystems können auch bei ausgeprägten Paresen mit geringer Willküraktivität vollständige Bewegungsabläufe ausgeführt werden, indem das Gerät die Fähigkeiten des Patienten in jedem Moment erkennt und nur so wenig wie möglich, aber so viel wie nötig unterstützend eingreift (assist-as-needed strategy). Durch Ausrichtung der Übungsaufgabe auf die individuellen motorischen Defizite können kontinuierlich Erfolge und Verbesserungen erreicht und durch Feedback vom Patienten zu jedem Zeitpunkt erlebt werden. So kommen heute nicht nur neuartige Roboter, sondern auch verschiedene Mess-, Display- und Interfacetechniken zum Einsatz. Besonders erfolgversprechend sind die verwendeten Geräte und Systeme, wenn sie sich während der Bewegungstherapie kooperativ verhalten (󳶳Band 9, Kapitel 14) und auf die Bewegungsintention und den willkürlich ausgeübten Bewegungsanteil des Patienten eingehen können. Der Patient wird somit zum „Master“ der Mensch-Maschine-Interaktion. Gleichzeitig muss die Maschine bzw. das technische Verfahren eine hinreichende Autonomie besitzen, um den Patienten bei der Bewegung zu unterstützen und kontrollieren sowie den Therapeuten von den komplexen Aufgaben der Bedienung und – im Idealfall – der Situationserkennung zu entlasten (󳶳Kapitel 9.3).

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Unterschiedliche Ansätze für eine automatisierte (robotisch) assistierte Therapie Bei der robotisch assistierten Bewegungstherapie unterscheidet man: – endeffektorbasierte Ansätze, – exoskelettbasierte Ansätze. Beide Formen werden für die Neurorehabilitation eingesetzt. Endeffektorbasierte Therapiesysteme sind am Boden, an der Wand, auf dem Tisch oder an der Decke fixiert und werden mit einem distalen Körpersegment der Gelenkkette des Patienten verbunden (󳶳Abb. 9.11). Damit kann, je nach Anzahl der Freiheitsgrade des Roboters, die Position oder die Orientierung der Hand oder des Fußes im Raum kontrolliert werden. Als 󳶳 endeffektorbasiert wird ein automatisiertes Therapiesystem (so genannte Rehabilitationsro­ boter) bezeichnet, wenn er ausschließlich ein distales Körpersegment führt und sich die proxima­ len Körpersegmente und -gelenke aus der Körperhaltung und -aktivierung des Patienten ergeben.

Die Kinematik dieser automatisierten Therapiesysteme gleicht häufig der von Industrierobotern. Endeffektorbasierte Therapiesysteme sind technisch relativ einfach zu realisieren; oftmals können kommerziell erhältliche Industrieroboter einfach für die Therapie angepasst oder umgerüstet werden. Zahlreiche Gruppen arbeiten mit endeffektorbasierten Geräten [Krebs 1998; Riener 2005]. Allerdings haben diese Therapiesysteme Nachteile: Ein endeffektorbasiertes Therapiesystem kann maximal sechs Freiheitsgrade verbunden mit einem Körpersegment vorgeben. Dadurch ist die Extremität des Patienten häufig statisch unterbestimmt und beispielsweise die Arm- und Handhaltung nicht eindeutig einstellbar. Außerdem können Drehmomente, welche auf die Gelenke des Patienten wirken, nicht unabhängig voneinander aufgebracht

(a)

(b)

Abb. 9.11: (a) Endeffektorbasiertes Therapiesystem bei dem nur der Endeffektor des Therapiesys­ tems mit einem Körpersegment (z. B. Hand, Handgelenk oder Unterarm) verbunden ist. (b) Exoske­ lett bei dem das Therapiesystem die gesamte Extremität umschließt. Die technischen Achsen des Therapiesystems müssen dabei mit den anatomischen Achsen des Patienten so gut wie möglich übereinstimmen.

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werden, da der Roboter nur an einer Stelle mit dem Patientenarm verbunden ist. Dies ist vor allem bei Patienten mit Spastik oder Kontrakturen ungünstig und bedeutet sogar ein Sicherheitsrisiko. Der Einsatz der endeffektorbasierten Therapiesysteme erfolgt deshalb bisher nur für Armbewegungen mit wenigen Freiheitsgraden, mit geringem Bewegungsausmaß oder in Kombination mit einer externen Sensorik, welche die vom Patienten ausgeführte Bewegungen erfasst und bewertet [Hennes 2015]. Bei einem Exoskelett (󳶳Abb. 9.11 (b)) stimmen die Rotationsachsen des Therapiesystems mit den anatomischen Achsen des Patienten soweit wie möglich überein. Deshalb muss das automatisierte Therapiesystem mit den einzelnen Körpersegmenten der Gelenkkette verbunden werden und führt oder kontrolliert die Position und Orientierung jedes einzelnen Segmentes der Gelenkkette. Dadurch kann das Drehmoment des Ellenbogens unabhängig von den Drehmomenten in der Schulter aufgebracht werden. Als 󳶳 Exoskelett wird eine fremdkraftgetriebene oder eigenkraftgetriebene Orthese bezeichnet, die üblicherweise zur Unterstützung von Bewegungen oder Stabilisierung einer Körperhaltung des Menschen eingesetzt wird (󳶳 Band 9, Kapitel 14). Ein Exoskelettroboter führt jedes einzelne Kör­ persegment und kontrolliert über eine Regelung die Gelenkstellung.

Ein weiterer Vorteil exoskelettaler Systeme ist die Möglichkeit, das Bewegungsausmaß der entsprechenden Gelenke durch eingebaute mechanische Endanschläge einzuschränken und so eine Überstreckung der Körpergelenke zu vermeiden. Allerdings müssen dazu die Segmentlängen des Roboters an die Körpersegmentlängen der verschiedenen Patienten exakt angepasst werden, sodass die technischen Achsen mit den anatomischen Gelenkachsen übereinstimmen. Eine weitere Besonderheit der unterstützten Bewegungstherapie mittels exoskelettbasierten Robotern ist die Möglichkeit, die Bewegungsfähigkeit und den klinische Zustand der gelähmten Extremität mittels technischer Sensoren automatisch zu messen und auszuwerten. Beispiele für automatisierte Messmethoden sind die Erfassung des Bewegungsumfangs (range of motion) in verschiedenen Gelenken und Gelenkbewegungsrichtungen. Zudem können Bewegungsgeschwindigkeit, Reaktionsvermögen, Muskelkraft (maximales Willkürmoment) sowie die Tragfähigkeit bestimmter virtueller Objekte erfasst werden. Hierfür ist bei endeffektorbasierten Ansätzen zusätzlich eine externe Sensorik erforderlich. Zeichnet man bei verschiedenen Gelenkwinkelstellungen die auftretenden, isometrischen Drehmomente mehrerer Gelenke gleichzeitig auf, so kann man damit sogar auf die Intensität abnormaler Gelenkkopplungen (pathologische Synergien) rückschließen. Zudem ist es möglich, die dynamische Gelenksteifigkeit zu messen und somit ein Maß für die Spastik in einzelnen Gelenken zu erhalten. Die Vor- und Nachteile exoskelettbasierter und endeffektorbasierter Systeme fasst die 󳶳Tabelle 9.2 zusammen.

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Tab. 9.2: Vor- und Nachteile exoskelettbasierter und endeffektorbasierter Systeme. Vorteile exoskelettbasiertes Therapiesystem

– – –



führt jedes Segment der Gelenkkette einzeln alle Gelenke der Gelenkkette sind unter Kontrolle Momente in den einzelnen Gelenken können gemessen und kontrolliert werden beinhaltet interne Sensorik, die Aussagen über das Bewegungsvermögen des Patienten ermöglichen

Nachteile –







endeffektorbasiertes – Therapiesytem –

– – –

frei wählbare, beliebige und wenig eingeschränkte Bewegung positionskontrollierte muskuläre Aktivierung während der Bewegung einfache Positionierung des Patienten Patient lernt die Planung einer Bewegungsdurchführung Propriozeption wird nur geringfügig beeinflusst



– –



benötigt exakte Ausrichtung zu den anatomischen Gelenkachsen alle Körpersegmente der Extremität müssen mit der Exoskelettstruktur des Roboters mechanisch (z. B. über Manschetten) verbunden werden die Segmentlängen des technischen Systems müssen an Patientengröße angepasst werden aufwendig in der Ausrich­ tung/Patientenpositionierung, da auch Segmentlängen des Therapiesystems an individuelle Längen der Gliedmaßen angepasst werden müssen einzelne Gelenkbewegungen können nicht durch den Roboter kontrolliert werden Momente in den einzelnen Gelenken sind unbekannt benötigt zusätzliche externe Sensorik, um die Bewegungen des Patienten zu analysieren in manchen Fällen muss ein Gelenk durch einen Therapeuten oder eine technische Vorrichtung (z. B. Orthese) stabilisiert werden

Weitere Entwurfskriterien für robotische Therapiesysteme beziehen sich auf die technische Gestaltung der Antriebe, Achsen und Segmente. Da die meisten Roboter aus seriellen Kinematiken aufgebaut sind, dürfen sich dabei Gelenkfehler (z. B. Gelenkspiel) und mechanische Nachgiebigkeit nicht zu sehr akkumulieren und zu einer Positionsungenauigkeit führen. So sollte der Roboter generell gewichtsarm, aber dennoch steif genug gestaltet sein. Ganz besonders wichtig beim Bau von Robotern ist, dass die Gelenke reibungsarm und rücktreibbar sind, da das automatisierte Therapiesystem im Falle eines plötzlichen Spannungsverlustes (z. B. nach Betätigung des Notaus-Knopfes) von außen bewegt werden muss, um den Patienten rasch aus einer

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etwaigen Verspannung zu befreien. Reibungsarme Gelenke lassen sich zudem besser regeln. So manche regelungstechnischen Strategien können nur mit rücktreibbaren Gelenkantrieben umgesetzt werden, nicht jedoch mit selbsthemmenden (󳶳Band 9, Kapitel 14).

9.5.2 Automatisierte Therapiesysteme für die Obere Extremität Die robotisch assistierte Bewegungstherapie bietet einen neuen, vielversprechenden Weg, auch einen kaum funktionell einsetzbaren Arm schwerer betroffener Patienten wieder in den Alltag zu integrieren. Schon in den 1980er Jahren entstanden Ideen zur Nutzung von automatisierten Therapiesystemen in der Rehabilitation der oberen Extremität, damals noch in Form umfunktionierter Industrieroboter [Dijkers 1991]. Primäres Ziel war es, den gängigen Behandlungsablauf der Hemiparese nach Schlaganfall (Muskeltonusregulierung, Erlernen von Massenbewegungen und schließlich Training komplexer Bewegungsabläufe) zu imitieren und zu intensivieren. Heute ermöglichen robotische Therapiesysteme für den Arm passive und aktive Bewegungen des Patienten, teilweise aktiv assistiert oder gegen Widerstand. Sie unterscheiden sich unter anderem im Trainingsansatz (proximal vs. distal vs. proximal und distal; unilateral vs. bilateral etc.) und der Orientierung der Bewegung im Raum [Riener 2005; Riener 2010]. Um die oberen Extremitäten eines Patienten zu bewegen, können endeffektorbasierte Therapiesysteme oder exoskelettbasierte Systeme genutzt werden. Eines der bekanntesten endeffektorbasierten Systeme ist der MIT-Manus (󳶳Abb. 9.12 (a)) [Krebs 1998]. In der häufigsten Ausführungsform handelt es sich dabei um ein automatisiertes Therapiesystem, das die Hand des Patienten in der horizontalen Ebene bewegt. Ein graphisches Display wird verwendet, um dem Patienten visuelle Instruktionen und Feedback zu bieten. Im MIT-Manus ist Bewegungs-und Kraftsensorik integriert, sodass die Umsetzung von patientenfreundlichen Impedanzregelungsstrategien ermöglicht wird (󳶳Band 9, Kapitel 14). In zahlreichen Patientenstudien mit weit über 300 Schlaganfallpatienten konnte bereits nachgewiesen werden, dass die unterstützte Bewegungstherapie mit dem MIT-Manus zu einer signifikanten Verbesserung der Funktion und Motorik der oberen Extremität führt. Neben dem MIT-Manus gibt es weitere, komplexere endeffektorbasierte Ansätze, welche die Bewegung des Armes auch in vertikaler Richtung zulassen. Das System Mime (Mirror Image Movement Enhancer [Lum 2002]) ermöglicht die beliebige Bewegung und Positionierung des Unterarms eines Schlaganfallpatienten im Raum mithilfe eines sechsachsigen Industrieroboters. Dabei folgt der durch den Roboter unterstützte, gelähmte Arm einer Bewegung, die durch den gesunden Arm vorgeführt und online aufgezeichnet wird. Das jüngere System GENTLE/s basiert auf dem Haptic Master der Firma FCS und ermöglicht ebenso die Bewegung und Therapie des Unterarms, insbesondere bei Schlaganfallpatienten [Van der Linde 2002; Harwin 2001].

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(a)

(b)

Abb. 9.12: Endeffektorbasierte Therapiesysteme für die obere Extremität: (a) MIT-Manus zur Be­ wewgungstherapie halbseitig gelähmter Patienten nach Schlaganfall InMotion Arm™ der Fa. In­ teractive Motion Technologies (mit freundlicher Genehmigung von I. Krebs und N. Hogan). Bei der dargestellten Ausführung ist der Arm auf Bewegungen in der Horizontalebene eingeschränkt, (b) Einsatz externer Sensorik zur Überwachung und Bewertung der ausgeführten Bewegung bei endeffektorbasierter technisch assistierter Bewegungstherapie [Hennes 2015].

Zwar besitzt der Haptic Master nur drei fremdkraftgetriebene Bewegungsfreiheitsgrade, jedoch konnten durch diverse technische Erweiterungen zwei weitere Freiheitsgrade ergänzt werden, sodass auch eine Bewegung der Hand möglich wird. Beim Reharob [Fazekas 2007] wird ein zweiter Industrieroboter mit dem Oberarm des Patienten verbunden, um eine bessere Bewegungsgüte von Ellenbogen und Schulter zu erlangen. All diese robotischen Assistenzsysteme wurden in klinischen Tests evaluiert [Prange 2006; Mehrholz 2008]. Da bei der endeffektorbasierten technisch assistierten Bewegungstherapie lediglich das distale Ende der Gelenkkette (Hand oder Unterarm) vom Roboter geführt wird, muss der Patient die Bewegung in den proximalen Gelenken der Gelenkkette selbständig kontrollieren. Hierfür ist zusätzliche Sensorik erforderlich, die sowohl dem Patienten wie auch dem Therapeuten Feedback über die Qualität der Bewegungsausführung liefert (󳶳Kapitel 9.4.3). Häufig genutzt werden hierfür Kraftsensoren, die in die einzelnen Gelenke des Roboters oder in die Schnittstelle zwischen Patient und Maschine integriert sind. Neuere Ansätze nutzen externe Sensorik wie Inertialsensoren, welche die Bewegungen der einzelnen Segmente der Gelenkkette beschreiben (󳶳Kapitel 2.2.1), um während der Übungsdurchführung die ausgeführte Bewegung zu analysieren und zu bewerten (󳶳Abb. 9.12 (b)) [Hennes 2015]. Das exoskelettbasierte Therapiesystem ARMin wurde an der ETH Zürich und der Universitätsklinik Balgrist entwickelt (󳶳Abb. 9.13 (a)) und ist ein typisches Beispiel für eine automatisierte Bewegungstherapie der oberen Extremität mittels Exoskelett. Dabei ist es wichtig, dass der Bewegungsraum sowie die erzielbaren Gelenkmomente

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(a)

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(b)

Abb. 9.13: Exoskelettbasierte Therapiesysteme für die obere Extremität: (a) Armtherapiesystem AR­ Min IV in einem Entwicklungsstadium an der ETH Zürich. Der Roboter besitzt sieben Freiheitsgrade und ermöglicht so die Ausführung von räumlichen Bewegungen des Arms und die Durchführung von Aktivitäten des täglichen Lebens. (b) Armeo®Power ist die kommerzielle Version des ARMin (Fa. Hocoma).

des Therapiesystems möglichst mit denen des menschlichen Arms übereinstimmen. Damit modellbasierte, patientenkooperative Regelungsstrategien basierend auf Impedanz- und Admittanzregelungen realisiert werden können, weist das Exoskelett eine möglichst kleine Trägheit, wenig Reibung und geringes Spiel auf [Nef 2007; Nef 2009] (󳶳Band 9, Kapitel 14). Eine besondere Herausforderung stellen dabei die Anpassung des Exoskeletts an die Segmentlängen und die Ausrichtung an die anatomischen Gelenkachsen dar. Beim ARMin beispielsweise erfolgt die Anpassung anhand zahlreicher Verstellmöglichkeiten. Das gesamte Gerät kann in seiner Höhe durch eine motorisierte Befestigungssäule verstellt und so an unterschiedliche Schulterhöhen angepasst werden. Durch Drehung einer Spindel kann ARMin schließlich auch an die Länge des Oberarms angepasst werden. Die Manschette des Unterarms kann entlang einer Schiene verschoben werden. Dabei sollte die Befestigung in der Nähe des Handgelenks angebracht werden, sodass die Bewegungsfreiheit der Hand eingeschränkt ist. Ebenfalls auf dieser Schiene positionierbar ist der Handgriff. Ein besonderes Problem stellt die patientenindividuelle Anpassung bei Bewegung des Schultergelenkzentrums dar. Der Humeruskopf bewegt sich bei einer Flexionsbewegung des Arms translatorisch nach oben (󳶳Kapitel 2.1.1). Um diese Bewegung mit ARMin nachzubilden, wurde die horizontale Rotationsachse des betreffenden Motors gegenüber der Lage des Humeruskopfes zurückgesetzt (󳶳Abb. 9.14 (a) und (b)). Dadurch bewegt sich der Humeruskopf näherungsweise auf einer Kreisbahn nach oben, wenn der Arm gehoben wird. Die Positionierung der Patientenschulter erfolgt mittels zweier senkrecht zueinander ausgerichteter Laserstrahlen, welche die korrekte Lage des Humeruskopfes anzeigen, d. h. der Schnittpunkt der beiden Laser soll das Zentrum des Humeruskopfes anvisieren (󳶳Abb. 9.14 (c)).

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Verschiebung zwischen Flexionsachse und Humeruskopf

(a)

(b)

(c)

Abb. 9.14: Schultermechanismus des ARMin (entwickelt von der ETH Zürich). (a) Versatz der Flexi­ onsachse von der Humeruskopfposition zur Berücksichtung der vertikalen Verschiebung des Hu­ meruskopfes beim Armheben, (b) Verstellmechanismus mit Gradanzeige und Verstellschraube, (c) Projektion der beiden Laserstrahlen zur optimalen Positionierung des Humeruskopfes.

Exoskelette für die obere Extremität, wie beispielsweise der ARMin, zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie nicht nur mehrere Freiheitsgrade besitzen, sondern die Momente auch direkt in die Gelenke eingeleitet werden. Dadurch lassen sich auch komplexere Bewegungen und Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) trainieren [Guidali 2011]. Beispielsweise kann der ARMin IV sieben Bewegungsrichtungen in Schulter, Ellenbogen, Handgelenk und Hand unterstützen sowie die Interaktionskräfte messen.

Funktion und Einsatz von exoskelettbasierten Therapiesystemen am Beispiel des ARMin 1. Ähnlich wie MIT-Manus ist auch ARMin in der Lage, patientenkooperative Impedanzregelungs­ strategien umzusetzen [Nef 2007, Nef 2009] (󳶳 Band 9, Kapitel 14). Sie wurden so erweitert, dass sie den Patienten auch in einem Spielmodus oder bei Durchführung alltagsrelevanter Aufgaben un­ terstützen können. Damit ermöglicht der ARMin drei Therapieformen: Passive Mobilisierung, Spiel­ modus und das Trainieren von Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL): Bei der passiven Mobilisierung werden die Gelenke von einer Extremposition in die andere bewegt, um der Versteifung der Gelenke vorzubeugen sowie Muskelaufbau und Durchblutung zu fördern. Die Extrempositionen werden vom Therapeuten durch eine „Teaching-Bewegung“ in angemessener Geschwindigkeit vorgegeben. Das so vorgegebene Bewegungsmuster wird dann schließlich durch das Therapiesystem beliebig oft wie­ derholt, wobei durch die Eingabe des Therapeuten sichergestellt ist, dass die Bewegung auf den in­ dividuellen Patienten und seinen Therapiestatus optimal angepasst ist. 2. Im Spielmodus wird das Therapiesystem nicht nur als Eingabegerät zur Bewegung virtueller Objekte, sondern auch zur Unterstützung der Patientenbewegung eingesetzt. Der Patient beobach­ tet dabei seine Aktionen auf einem graphischen Display, während er seinen Arm zusammen mit dem Therapiesystem bewegt (󳶳 Abb. 9.13) (󳶳 Kapitel 9.6). Im virtuellen Ballspiel beispielsweise besteht die Aufgabe des Patienten darin, durch Bewegen eines graphisch dargestellten Schlägers einen ani­ mierten Ball zu fangen, der entlang einer simulierten schiefen Ebene herabrollt (󳶳 Kapitel 9.6 und 󳶳 Abb. 9.21).

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(a)

(b)

(c)

(d)

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Abb. 9.15: Verschiedene ADL-Szenarien lassen sich in virtueller Realität am ARMin-Roboter darstel­ len, wie (a) Zähne putzen, (b) kochen, (c) Fahrkarte lösen, (d) Glas einschenken.

3. Beim Training von Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) soll der Patient alltagsrelevante Be­ wegungen, wie Essen, Trinken, Zähneputzen, Haare kämmen usw. wiedererlernen (󳶳 Abb. 9.15). Diese Bewegungen verlangen das Hinführen der Hand zu einem Punkt im Raum oder am Körper sowie das Greifen von Objekten. Deshalb sollte das Therapiesystem möglichst die Bewegung der Schulter des Patienten, des Ellenbogen des Patienten und das Öffnen und Schließen der Hand unterstützen kön­ nen. Der Roboter benötigt demnach mindestens sechs Freiheitsgrade (󳶳 Kapitel 2.1.1). Die verschiedenen Therapiemodi liefern zusätzliche Informationen über die Bewegungsqualität und somit über den Therapiestatus. Wichtige Kenngrößen sind zum Beispiel die Genauigkeit und die Treffsicherheit, die beim Durchführen eines Spiels oder einer ADL-Aufgabe erzielt werden können. Ei­ ne kommerzielle Version des ARMin ist seit 2011 als Armeo®Power von der Firma Hocoma erhältlich. Einsatzbereich des ARMin ist die Therapie von Patienten mit Lähmungen der oberen Extremitäten ins­ besondere nach Schlaganfall (Hemiplegie) und inkompletter Querschnittsverletzung (Tetraplegie).

Es gibt eine ganze Reihe von weiteren, einfacheren automatisierten Systemen, welche in der Lage sind, Arm- und Handbewegungen zu unterstützen. Eines davon ist der Bi-Manu-Track von Reha-Stim (󳶳Abb. 9.16). Dabei werden die Hände eines Schlaganfallpatienten an einem aktuierten Griff befestigt, welcher je nach Einstellung Flexions-/Extensionsbewegungen oder Pronations-/Supinationsbewegungen ausführt. Das Gerät kann in einem fremdkraft- und eigenkraftgetriebenen Modus betrieben werden, sodass der Patient je nach Behandlungsstatus und Lähmungsintensität unterschiedlich stark eingebunden werden kann.

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(a)

(b)

Abb. 9.16: Bi-Manu-Track (Fa. Reha-Stim) in zwei verschiedenen Settings. (a) zum Trainieren von Handgelenkflexion/-extension und (b) zum Trainieren der Unterarm Pronation/Supination.

Klinische Evidenz der automatisierten Therapiesysteme in der Armtherapie Die Ergebnisse klinischer Studien zur automatisierten Bewegungstherapie der oberen Extremität nach Schlaganfall wurden in mehreren systematischen Übersichten zusammengefasst [Prange 2006; Mehrholz 2008; Kwakkel 2008]. Besonderes Augenmerk galt der Wirkung auf die Aktivitäten des täglichen Lebens und auf die motorische Schädigung. Daneben wurden auch die Akzeptanz seitens des Patienten sowie Sicherheitsfragen betrachtet. Es stellte sich heraus, dass automatisierte Therapiesysteme in der motorischen Funktionsverbesserung anderen Therapieformen tendenziell überlegen sind (Testverfahren: FUGL-MEYER-Test, CHEDOKE MCMASTER). Vor allem beidseitiges, distales Armtraining wirkte sich positiv auf die Funktionsverbesserung aus [Hesse 2005; Prange 2006]. Das Ergebnis ist insofern bemerkenswert, als sich nicht nur die Funktion des Handgelenks verbesserte, sondern auch ein Transfer nach proximal mit Verbesserung der Schulter- und Ellenbogenfunktion erreichen ließ, eine Beobachtung, die auch andere Autoren schon machten [Bütefisch 1995]. Neben der motorischen Funktionsverbesserung fand sich nach robotisch assistierter Bewegungstherapie der oberen Extremität auch eine im Vergleich zur Kontrolltherapie stärkere Zunahme der Muskelkraft. Der Transfer von Erlerntem in den Alltag konnte im Vergleich zur konventionellen Therapie allerdings nicht verbessert werden. Die automatisierte Bewegungstherapie wurde von den Patienten jedoch positiv aufgenommen und es ergab sich kein Hinweis auf ein erhöhtes Sicherheitsrisiko. Bei der Beurteilung der Effektivität der automatisierten Bewegungstherapie sollte berücksichtigt werden, dass die einzelnen untersuchten Therapiesysteme nur Teilaspekte der physiologischen Armbewegung in die Therapie umsetzten. Eine Therapieform, welche die Kinematik des Armes präzise nachahmen und lehren kann, scheint

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jedoch eine wichtige Voraussetzung zur Erholung der Armfunktion zu sein [Hogan 2006].

9.5.3 Automatisierte Therapiesysteme für die Untere Extremität Die Wiederherstellung der Gehfähigkeit besitzt hohe Priorität in der neurologischen Rehabilitation. Moderne Konzepte des motorischen Lernens fordern insbesondere für die unteren Extremitäten ein aufgabenspezifisches, repetitives Vorgehen [Asanuma 1991], d. h. wer Gehen lernen möchte, muss gehen.

Laufband- oder Lokomotionstherapie Klassische Therapieverfahren, beispielsweise nach dem weit verbreiteten BOBATHKonzept, fokussieren auf die Minderung des Muskeltonus im Sitzen und Stehen, um die Voraussetzung der segmentalen Kontrolle für das Gehen zu erlangen. Das Üben der Gangbewegung spielt in den klassischen Therapiekonzepten nur eine untergeordnete Rolle. Demgegenüber favorisiert die Lokomotionstherapie den möglichst frühzeitigen Beginn des Übens physiologisch korrekter Gangbewegungen. Dies unterstreicht eine prospektive US-amerikanische Studie mit mehreren hundert Schlaganfallpatienten. Je früher die Gangtherapie einsetzte, desto besser war das Rehabilitationsergebnis, insbesondere bei initial schwer betroffenen Patienten [Horn 2005]. Wie schon in der technisch assistierten Bewegungstherapie der oberen Extremitäten, sollten auch bei der Bewegungstherapie der unteren Extremitäten die Prinzipien des motorischen Lernens berücksichtigt werden (󳶳Kapitel 9.2). Entsprechend der Prinzipien des motorischen Lernens wurde zunächst die Laufbandtherapie mit partieller Körpergewichtsentlastung in der Gangrehabilitation para- und hemiparetischer sowie orthopädischer Patienten angewendet [Barbeau 1987]. Bei der 󳶳 Laufbandtherapie oder Lokomotionstherapie erlaubt ein Laufband die Gangbewegung des Patienten an einem Ort. Bei Patienten mit Schädigungen des ZNS werden die unteren Extre­ mitäten dabei häufig durch Therapeuten oder technische Hilfsmittel geführt. Üblicherweise findet eine Laufbandtherapie mit partieller Körpergewichtsentlastung statt, wobei ein Gurtsystem das fehlende Gleichgewicht ausgleicht und die unteren Extremitäten entlastet.

Das Laufbandtraining wird seit mehr als fünfzehn Jahren als Bewegungstherapie von gehbehinderten Patienten eingesetzt. Dabei wird der Patient mittels einer speziellen Aufhängevorrichtung von seinem Körpergewicht entlastet. Zwei bis drei Physiotherapeuten führen die Bein- und Hüftbewegung auf dem Laufband, sodass der Patient Gehbewegungen auf dem Laufband durchführen kann (󳶳Abb. 9.17).

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Abb. 9.17: Manuell geführtes Laufbandtraining mit Gewichtsentlastung (Foto: Fa. Hocoma).

Theoretischer Hintergrund der repetitiven Lokomotionstherapie ist eine Anregung spinaler und supraspinaler Gangzentren. Wesentliche verstärkende periphere Reize sind die zeitgemäße Be- und Entlastung des Stand- bzw. Schwungbeines sowie eine ausreichende Hüftextension gegen Ende der Standbeinphase [Andersson 1981; Lovely 1986] (󳶳Kapitel 2.3.3). Diese Art der Bewegungstherapie hat sich speziell bei halbseitig gelähmten (z. B. nach einem Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Trauma) und inkomplett querschnittgelähmten Patienten als sehr effektiv erwiesen [Hesse 1994; Dietz 1995]. Laufbandtraining kann auch bei Patienten angewendet werden, die unter einem Parkinson-Syndrom, Multipler Sklerose oder einer Zerebralparese leiden. Wie groß dabei der therapeutische Effekt ist, wurde jedoch noch nicht näher untersucht. Die durch die Lokomotionstherapie verursachten spinalen und kortikalen Veränderungen führen zu neuen Bewegungsstrategien und verbesserten Bewegungsabläufen. Ferner kommt es auch zum Training und Aufbau der Muskulatur, zur Stabilisierung des Herz-Kreislaufsystems sowie zur Reduktion von Spastiken. Die manuelle Laufbandtherapie weist aber auch eine Reihe von Problemen auf. Zum einen ist das Training sehr personalintensiv und anstrengend, da zwei Therapeuten die Beine eines Patienten heben und führen müssen; häufig stabilisiert ein dritter Therapeut noch Rumpf und Becken. Da sich die Therapeuten zudem in einer unangenehmen, schrägen Sitzposition befinden, ermüden sie schnell. Daher ist die Dauer einer Therapieeinheit auf nur 15 bis 30 Minuten beschränkt, obwohl dem Patienten ein längeres Training zugutekommen würde. Ein weiteres Problem ist, dass jeder Therapeut die Beine des Patienten verschieden führt. So ergibt sich nicht nur ein unterschiedliches Gangmuster für rechtes und linkes Bein, sondern die aufgeprägte Bewegung variiert auch von Tag zu Tag. Speziell zu Beginn der Therapie wäre aber ein langes, reproduzierbares, symmetrisches und physiologisch korrektes Gangmuster für einen maximalen Therapieerfolg wichtig. Spezifische Gangformen, wie das Treppensteigen lassen sich gar nicht üben.

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Gangtherapie mit robotischen Therapiesystemen Die Defizite der Laufbandtherapie bildeten die Grundlage zur Entwicklung automatisierter Therapiesysteme für die Gangtherapie. Sie verfügen über gesteuerte Aktuatoren zur physiologisch korrekten Führung der Fuß- und Beinbewegung sowie der Bewegung der Hüfte und des Oberkörpers des Patienten. Weltweit arbeiten mehrere Forschungsgruppen an der Entwicklung, Anwendung und Evaluierung von automatisierten Lösungsvorschlägen des Gangtrainings. Die Therapiesysteme zur Gangrehabilitation sind hinsichtlich Mechanik und Steuerung so beschaffen, dass sie natürliche Gangtrajektorien (󳶳Kapitel 2.3) physikalisch abbilden und so eine physiologisch korrekte afferente Stimulation des ZNS des Patienten gewährleisten (󳶳Kapitel 9.2). Häufig werden hierfür exoskelettbasierte Roboter in Kombination mit einem Laufband und einem Gurtsystem zur Oberkörper-Gewichtsentlastung angewendet. Dabei trägt das Laufband das Körpergewicht des Patienten und simuliert haptisch den Boden bzw. die Bodenreaktionskraft. Die Oberkörper-Gewichtsentlastung vertikalisiert den Oberkörper des Patienten während der Gangübung und stützt ihn dabei. Die Kinematik und Antriebe des fremdkraftgetriebenen Exoskeletts in Kombination mit dem Laufband bewirken die Führung der Gangbewegung. Wie bei allen Exoskelett-Systemen werden die zu bewegenden Körpersegmente (hier Hüfte, Bein und Fuß) und die parallel verlaufenden Segmente des Therapiesystems, mittels mindestens einer physischen Kopplung je Segment starr miteinander verbunden. Beim Anlegen des Systems ist darauf zu achten, dass die Längen der Exoskelett-Segmente auf diejenigen des jeweiligen Körpersegments angepasst werden und die Kinematik so positioniert wird, dass Lage und Orientierung der Achsen von Robotergelenken mit denen der Hüft-, Bein- und Fußgelenke übereinstimmen (󳶳Kapitel 9.5.2). Das bekannteste Gerät ist der LOKOMAT der Firma HOCOMA (󳶳Abb. 9.18 (a)). Das beim LOKOMAT eingesetzte Exoskelett prägt die Bewegung mittels aktuierter BeinOrthese direkt in die Gliedmaße ein. Um eine Fortbewegung des Patienten durch die vom Therapiesystem initiierte Gangbewegung zu verhindern, muss ein Laufband genutzt werden. Zusätzlich wird der Patient durch ein Gurtsystem gesichert und ggf. entlastet (󳶳Band 1, Kapitel 14). Aus technischen Gründen ist die Zahl der Freiheitsgrade bei exoskelettbasierten Therapiesystemen für die untere Extremität in der Regel geringer als die der menschlichen Biomechanik. Alle exoskelettbasierten Gangtherapiesysteme unterstützen planare Bewegungen des Hüft- und Kniegelenks in der Sagittalebene, weitere Gelenkbewegungen in Hüfte, Sprunggelenk und Fuß werden meist passiv geführt. Neuere Ansätze versuchen diese Limitierung durch Verwendung inhärent nachgiebiger Gelenke sowie von Antrieben nach dem Prinzip des series elastic actuator zu vermindern [Veneman 2007]. Wie auch bei der oberen Extremität liegt der Vorteil des exoskelettbasierten Ansatzes darin, dass die Bewegungen aller Beingelenke vom Roboter geführt und kontrolliert werden können.

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Abb. 9.18: Exoskelettbasierte Therapiesysteme für die untere Extremität (a) Exoskelettbasierter Roboter Lokomat® der Fa. Hocoma.(b) Exoskelettbasierter Roboter HAL der Fa. Cyberdyne für die Gangrehabilitation, der sich derzeit jedoch noch in der Entwicklung befindet.

Gangbewegungen sind innerhalb eines Gangmusters, z. B. Gehen auf der Ebene, in der Regel zyklisch bei relativ geringer Variabilität. Analysen der Kinematik menschlicher Gangbewegungen zeigen, dass die Trajektorien ein kontinuierlich veränderliches Geschwindigkeits- und Beschleunigungsprofil aufweisen mit Spitzenwerten der Beschleunigung in den Gangphasen „initialer Kontakt“ und „Vorschwungphase“ sowie an den Übergängen von Stand- zu Schwungphase (󳶳Kapitel 2.3.3). Dieses Verhalten muss durch die Steuerung des Roboters nachgebildet werden. Die maximale Ganggeschwindigkeit, die mit robotischen Systemen geübt werden kann, liegt daher bei etwa 3 km/h. Im Alltag kommen jedoch azyklische Bewegungen hinzu, wie z. B. beim Übergang vom Gehen auf der Ebene zum Treppensteigen, sowie in Sondersituationen, wie z. B. beim Stolpern oder Ausrutschen. Endeffektorbasierte Therapiesysteme sind besser geeignet, auch diese Bewegungsabläufe mit einzubeziehen, da sie kein Laufband benötigen. Bei endeffektorbasierten Systemen in der Gangtherapie steht der Patient auf zwei bewegten Fußplatten, an die er mit den Füßen fixiert wird (󳶳Abb. 9.19) [Schmidt 2007]. Der Kontakt zum Führen der Gangbewegung wird nur zwischen den Füßen und den beiden Fußplatten hergestellt, die mit den angetriebenen Armen des Therapiesystems verbunden sind. Fußplatten und damit auch Therapiesystemarme tragen gleichzeitig das Patientengewicht und führen die Füße bei der Bewegungsübung auf der Fußtrajektorie. Zum Stützen und Führen des Oberkörpers in aufrechter Haltung kommen eine seilbasierte Oberkörper-Gewichtsentlastung sowie eine Hüftführung zum Einsatz, die synchron mit den Antrieben der Fußplatten gesteuert werden. Bei elektromechanischen Geräten, wie z. B. Gangtrainer GT I (󳶳Abb. 9.19 (a)) [Hesse 2000], ist die Fußplattentrajektorie durch eine Getriebemechanik vorgegeben. Beim Gangtrainer GT I ist dies das Gehen auf der Ebene. Bei robotergestützten Systemen, wie z. B. Haptic Walker (󳶳Abb. 9.19 (b)) ist die Gangtrajektorie frei programmierbar. Der Haptic Walker ermöglicht dadurch das Üben beliebiger Gangbewegungen, d. h. neben dem Gehen auf der Ebene auch beliebige andere Gangtrajektorien, wie z. B.

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(a)

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Abb. 9.19: (a) Gangtrainer GT I der Fa. Reha-Stim. (b) Haptic Walker des Fraunhofer IPK.

Treppensteigen auf- und abwärts, Gehen auf unebenem Untergrund, Stolpern, Ausrutschen usw. Da bei endeffektorbasierten Gangtherapiesystemen die Bewegungsführung nur über die Füße und aufgrund des verwendeten Gurtsystems über Hüfte und Oberkörper erfolgt, muss der Patient die Kniegelenke selbst stabil führen. Wenn er dabei Hilfe benötigt, kann ein Therapeut manuell unterstützen (󳶳Abb. 9.19) oder beispielsweise eine Knieorthese oder FES-Unterstützung (󳶳Kapitel 5 und 󳶳Kapitel 8) eingesetzt werden. Wie auch die automatisierten Therapiesysteme für die obere Extremität, verfügen sowohl exoskelettbasierte wie endeffektorbasierte Therapiesysteme für die untere Extremität über Sensoren zur kontinuierlichen Erfassung und Überwachung der Mensch-Roboter-Interaktion während der Therapie. Sowohl patientenkooperative Impedanzregelungsstrategien [Nef 2007; Nef 2009] als auch eine optimierte Unterstützung des motorischen Lernens durch intelligente, „assist-as-needed“-Regelungsverfahren (󳶳Band 9, Kapitel 14) sind in den meisten Therapiesystemen implementiert. Mit ihnen können die Patienten entsprechend des individuellen Leistungsvermögens mit hoher Intensität die Gangtherapie durchführen. Gleichzeitig werden die Therapeuten von monotoner und körperlich sehr belastender Tätigkeit entlastet und können sich auf die Therapieüberwachung und -optimierung sowie die Motivation des Patienten konzentrieren. Die Vorteile sind vielfältig: Die Bewegungen sind exakter, da man sie standardisieren kann; die Patienten können systematischer und länger üben und insgesamt wird das Bewegungstraining effizienter und der Therapieverlauf protokollierbar. Weitere wesentliche Innovationen, die durch automatisierte Therapiesysteme in der Gangtherapie erreicht wurden, sind:

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deutlich variablere Möglichkeiten der Bewegungstherapie durch freie Programmierbarkeit der Roboterantriebe, optimierte Unterstützung des motorischen Lernens durch intelligente „assist-asneeded“-Regelungsverfahren (󳶳Band 9, Kapitel 14), erweiterte Lernunterstützung durch Kopplung mit VR-Biofeedbacksystemen (󳶳Kapitel 9.6), erstmalige Möglichkeit zur vollautomatischen Erfassung aller therapierelevanten Daten während der Gangtherapie zur Dokumentation und Optimierung von Therapieverläufen.

9.6 Augmented Feedback und Biofeedback Entsprechend 󳶳Kapitel 9.2 stellt die Integration eines geeigneten Feedbacks ein wesentliches Element des motorischen Lernens dar. Informationen, die sich über die Körperwahrnehmung (z. B. Propriozeption) aus der Ausführung der Bewegung ergeben, werden als 󳶳 intrinsisches Feedback bezeichnet. Werden Informationen von außen (z. B. von einem Therapeuten oder einem Übungssystem) an den Trainierenden gege­ ben, spricht man von 󳶳 extrinsischem Feedback.

Weiter kann man Feedback nach Inhalt, zeitlicher Abfolge und Modalität klassifizieren. Hinsichtlich des Inhalts wird unterschieden, ob Informationen über den Erfolg der Bewegung gegeben werden – als Knowledge of Results (KR) bezeichnet – oder Informationen über die Qualität der Bewegungsausführung – bezeichnet als Knowledge of Performance (KP). Bezüglich der zeitlichen Abfolge kann das Feedback während oder nach der Bewegung gegeben werden. Letzteres wird häufig delayed Feedback genannt. Mit Blick auf die Modalitäten lassen sich visuelles, akustisches, taktiles und kinästhetisches Feedback unterscheiden. Bei visuellem Feedback sieht der Patient die Informationen bildlich oder als Text. Bei akustischem Feedback hört er Klänge oder gesprochenen Text (verbales Feedback). Bei taktilem Feedback wird die Information über Berührung, z. B. Vibrationen, übertragen, während bei kinästhetischem Feedback Körperteile des Patienten bewegt werden. Letzteres wird häufig als haptisches Feedback bezeichnet. Als Zugang für die umfangreiche Literatur zu Feedback im motorischen Lernen, insbesondere die unterschiedliche Wirksamkeit der verschiedenen Formen, sei hier verwiesen auf [Schmidt 2005; Schmidt 2008].

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9.6.1 Biofeedback Ist in bestimmten Situationen die Bewegungsqualität schwierig wahrnehmbar oder die Wahrnehmung beeinträchtigt, ist das intrinsische Feedback ungenügend oder fehlt vollständig. Die Beeinträchtigungen können durch Einschränkungen oder Unzulänglichkeiten der körperlichen Sensorik oder aber auch durch Einschränkungen der kognitiven Verarbeitung der Bewegungssignale im Gehirn bedingt sein. Ursachen sind häufig Verletzungen oder Krankheiten des Nervensystems. In diesen Fällen können durch technische Sensoren die Bewegungsgüte oder damit in Zusammenhang stehende Werte (z. B. elektrische Muskelaktivität oder Kräfte) gemessen und dem Patienten dargestellt werden (󳶳Abb. 9.9). Damit kann die Regelschleife für den Patienten geschlossen und ihm das Ausführen und Trainieren der Bewegung ermöglicht werden [Basmajian 1987]. Da biologische Werte über ein technisches System an ein biologisches System (den Patienten) übertragen werden, wird der Begriff Biofeedback verwendet. 󳶳 Biofeedback (altgr. bios „Leben“ und engl. feedback „Rückmeldung“) ist eine Möglichkeit, Ver­ änderungen von körperlichen Zuständen, die der unmittelbaren Sinneswahrnehmung nicht zu­ gänglich sind, mit technischen Hilfsmitteln bewusst zu machen.

Für die technisch assistierte Bewegungstherapie gibt es zahlreiche Studien mit Einsatz von Biofeedback bei Patienten beispielsweise mit Schlaganfall [Teasell 2003; Cozean 1988], Zerebralparese [Bolek 2003], Rückenmarkverletzung [Petrofsky 2001], Spina Bifida [Philips 1991] und Arthritis [Hirokawa 1989]. Meist ist die Bewegung über elektromyographische Aktivität quantifiziert worden (󳶳Kapitel 2.2.4). Kinematische Messwerte wurden ebenfalls genutzt, z. B. Winkel des Fuß- und Kniegelenks, Abstand der Knie, Schrittlänge und Dauer der Standphase. Als Modalität kommt häufig sowohl visuelles wie akustisches Feedback als auch eine Kombination aus beidem zum Einsatz. Seltener wird das taktile Feedback genutzt.

9.6.2 Augmented Feedback Konzept des Augmented Feedback Therapie- und Übungssysteme bieten grundsätzlich extrinsisches Feedback. Die Quantifizierungs-, Berechnungs- und Darstellungsmöglichkeiten moderner Computersysteme erlauben sowohl eine Rückmeldung während der Bewegung (Echtzeitfeedback) als auch nach der Bewegung. Die Darstellungsmöglichkeiten reichen dabei von einfachen Liniendiagrammen über zwei- und dreidimensionalen Grafiken, bis zu Virtueller Realität (VR) mit stereoskopischen Darstellungen. Letztere können sogar einen räumlichen Tiefeneindruck erzeugen, werden aber nahezu ausschließlich in Forschungslabors eingesetzt. Auch Computerspiele finden Anwendung [Holden

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2005]. Entscheidend für die trainingsverbessernde Wirkung des Feedbacks ist aber nicht nur die Art der Darstellung, sondern auch deren Informationsgehalt. Es müssen die richtigen Schlüsselparameter ausgewählt werden, welche die therapeutisch relevanten Aspekte der Bewegung differenziert und vollständig genug quantifizieren. Diese dürfen jedoch nicht zu zahlreich sein, da der Patient sonst überfordert werden könnte. Die Schlüsselparameter müssen dem Patienten in einer intuitiv klaren Form dargestellt werden. Darstellungen, die vieler Erklärungen durch den Therapeuten bedürfen, kosten Therapiezeit und können damit den Therapieerfolg vermindern. Idealerweise ist das System interaktiv, d. h. der Patient kann die Darstellung bzw. die enthaltene virtuelle Umgebung durch seine Bewegungen beeinflussen, wodurch er – ohne explizite Instruktion – diese Bewegung häufig wiederholt und so trainiert. Die Bewegung wird dabei dem Konzept des Biofeedback folgend durch Sensoren erfasst und auf therapeutisch relevante Schlüsselparameter reduziert, welche die Bewegungsqualität beschreiben. Beispielsweise kann ein solches therapeutisch sinnvolles interaktives System durch die Ansteuerung von Computerspielen mit diesen Schlüsselparametern erreicht werden. Damit sind die Patienten für das Training motiviert. Das vorgestellte Konzept der Extraktion von Schlüsselparametern aus Bewegungsmessdaten und ihrer Verwendung in der interaktiven Darstellung für die Patienten wird als „Augmented Feedback“ bezeichnet (󳶳Abb. 9.20). Anzeige

multimodales Feedback

Schlüsselparameter Bewegungsmessung

Bewegungsanalyse durch den Computer

Patient Abb. 9.20: Konzept des Augmented Feedback. Die Bewegungen des Patienten werden erfasst. Mit mathematischen Methoden werden Schlüsselparameter extrahiert, welche die Bewegung im Sin­ ne des Therapieziels beschreiben. Diese Schlüsselparameter werden zur Interaktion mit virtuellen Szenarien eingesetzt. Diese Szenarien werden dem Patienten visuell, akustisch oder haptisch dar­ gestellt.

Unter erweiterter Realität (engl. 󳶳 augmented reality, AR) versteht man die computergestützte ins­ besondere visuelle Erweiterung der Realitätswahrnehmung. Diese Information kann alle mensch­ lichen Sinnesmodalitäten ansprechen. Häufig wird jedoch unter erweiterter Realität nur eine Dar­

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stellung verstanden, die mit einer Kamera aufgenommene Realbilder und Videos mit computerge­ nerierten Zusatzinformationen oder virtuellen Objekten mittels Einblendung oder Überlagerung ergänzt, z. B. bei Einsatz einer Microsoft Kinect. Feedback, Augmented (dt. erweiterte Rückmel­ dung) ist die interaktive Darstellung von messtechnisch abgeleiteten Schlüsselparametern (z. B. Bewegungsinformation, muskuläre Aktivierung, Herzaktivität oder Hirnaktivität) als Rückmeldung für Patienten während des Bewegungstrainings.

Der Begriff augmented (dt. erweitert) macht dabei den vergrößerten und ergänzenden Informationsumfang für die Patienten deutlich. In der Literatur [Schmidt 2005] wurde der Begriff aber auch synonym mit extrinsischem Feedback verwendet. Manche Arbeitsgruppen verwenden neuerdings auch den Begriff Augmented Performance Feedback, um den Fokus auf die funktionelle Bewegung als Ganzes zu verdeutlichen. Neben der Rückmeldung von Informationen an den Patienten sind die visuellen und gelegentlich akustischen Reize auch relevant, um dem Patienten eine Referenzbewegung anzuzeigen oder ihn anzuleiten, die Bewegung zu beginnen. Diese Funktion als Instruktion ist für Übungen wichtig, die wiederholt ausgeführt werden müssen, aber keinen automatischen Auslöser beinhalten. Dies sind z. B. Armbewegungsübungen zum Greifen eines Gegenstandes. Der Patient muss hierbei vom Therapiesystem das Ziel – typischerweise als virtuelles Objekt – dargestellt bekommen. Das Erscheinen des Objekts dient gleichzeitig als Signal für den Bewegungsstart. Dabei unterscheidet sich diese Trainingsaufgabe für den Arm grundsätzlich vom Laufbandtraining, bei dem der Patient ohnehin laufen muss, also kein explizites Ziel und kein Startsignal für den einzelnen Schritt benötigt.

Schlüsselparameter charakterisieren die trainierte Bewegung Als eine der ersten Gruppen entwickelten Adamovich und Kollegen [Boian 2002; Adamovic 2005] ein System für die Therapie der Hand, das verschiedene Übungen in virtuellen Umgebungen erlaubt, um spezifische Aspekte zu trainieren. Die Bewegungen der Hand wurden dabei mit einem Cyberglove und dem Rutgersmaster, einem aktuierten Gerät zur Bewegung der Finger [Bouzit 2002] erfasst. Unter anderem sollte der Bewegungsbereich für jeden Finger trainiert und damit vergrößert werden. Dazu wurde die Beugung jedes Fingers gemessen und dafür verwendet, ein mit Streifen überdecktes Bild sichtbar zu machen. Die passende Skalierung der Bewegungsbereiche bringt den Patienten dazu, die Finger so weit wie möglich zu strecken bzw. zu beugen. In einer anderen Übung wurde trainiert, eine bestimmte Geschwindigkeit des Handschließens zu erreichen. Ein virtueller Schmetterling, der über die virtuell dargestellte Hand flog, sollte verscheucht werden. Dies erfolgte wenn die Hand schneller als eine gewisse, vordefinierte Schwelle geschlossen wurde. Da Computermaus und Joystick als Eingabegeräte den Patienten in der Regel bekannt sind und viele Programme und Spiele auf Eingaben mit diesen ausgelegt sind,

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bieten sich viele, intuitive Möglichkeiten, mit den Signalen der Trainingsgeräte diese Eingabegeräte zu ersetzen. Automatisierte Therapiesysteme können zusätzliche Unterstützung bei den Bewegungen geben und insbesondere Trainingsbewegungen im dreidimensionalen Raum ermöglichen. Die mit den eingebauten Positionssensoren feststellbare Position der Hand als Endpunkt kann leicht für die Interaktion mit Spielen oder virtuellen Szenarien eingesetzt werden.

ARMin nutzt beispielsweise intuitiv bedienbare Szenarien, in denen der Patient durch Bewegungen der Hand einen Schläger bewegt, um einen Ball im Spiel zu halten (󳶳 Abb. 9.21 (a)). Schlüsselparame­ ter ist dabei die horizontale (transversale) Position der Hand als Endpunkt. Die Bewegung des Schlä­ gers wird aus der Handposition und dem für den individuellen Patienten festgelegten Bewegungsbe­ reich berechnet, sodass der individuelle Bewegungsbereich gerade den Spielbereich abdeckt. Durch Positionierung der zu spielenden Bälle werden die Patienten intuitiv und im natürlichen Spielablauf dazu gebracht, ihren Bewegungsbereich maximal auszunutzen und zu trainieren. Die Koordination von zwei Bewegungsrichtungen der Hand, und damit der Gelenkkoordination des Armes, kann mit dem in 󳶳 Abb. 9.21 (b) dargestellten Labyrinth trainiert werden. Die Handposition wird wieder relativ zum individuellen Bewegungsbereich auf das Spielbrett skaliert. Der Patient muss die Repräsentation seiner Hand (roter Ball) von einem Start- zu einem Zielpunkt (schwarz-gelbe Bälle) bewegen. Der Roboter gibt dabei haptisches Feedback, sobald die (virtuellen) Wände berührt werden. Nutzt der Patient die stützende Funktion der virtuellen Wand zu sehr (simulierte Kraft überschreitet einen Grenzwert), so wird der Durchgang abgebrochen und es muss von vorne begonnen werden.

(a)

(b)

Abb. 9.21: Trainingsszenarien des Armtrainingsroboters ARMin III. (a) Der Patient bewegt den Schlä­ ger durch seine Handbewegung nach links und rechts, um den Ball im Spiel zu halten, (b) Der Pa­ tient bewegt den roten Ball horizontal und vertikal durch seine Handbewegungen vom Start- zum Zielpunkt (schwarz-gelbe Bälle).

Im Bereich der Gangrehabilitation verwendeten Jaffe und Kollegen [Jaffe 2004] einen Computer, der virtuelle Hindernisse in das eingelesene Videobild der Beine von Patienten einblendete, welche auf einem Laufband liefen. Diese Form von Darstellung wird üblicherweise als Mixed Reality, gelegentlich auch als Augmented Reality bezeichnet. Die Patienten bekamen die Darstellung in einem Videohelm angezeigt. Im Ergebnis zeigten sie sowohl in der virtuellen Aufgabe Verbesserungen, als auch kli-

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nisch relevante Fortschritte in Bezug auf Ganggeschwindigkeit, Schrittlänge und Ausdauer. Der Einsatz von automatisierten Therapiesystemen erlaubt neben der Unterstützung der Bewegung auch deren Messung durch die eingebaute Positions- und Kraftsensorik.

Beim Gangtrainingsroboter Lokomat ist dabei die Quantifizierung der Gangaktivität der Patienten möglich. Dazu werden die im Gerät gemessenen Drehmomente gangphasenabhängig gewichtet und während Stand- und Schwungphase gemittelt. Die sich so ergebenden Werte werden den Patienten visuell dargestellt. Die Gewichtungsfunktionen sind so gewählt, dass vom Patienten ausgeführte, therapeutisch gewünschte Bewegungen, z. B. Beugen und nachfolgendes Strecken des Knies in der Schwungphase, positiv gewertet werden, unerwünschte Bewegungen oder Passivität dagegen nega­ tiv. Zur Darstellung (󳶳 Abb. 9.22) kann der Therapeut u. a. Liniendiagramme oder einen Smiley wählen. In den Liniendiagrammen werden für die vier angetriebenen Gelenke (Hüfte und Knie, jeweils links und rechts) Schlüsselparameter für Stand- und Schwungphase des Beines angezeigt. Der Therapeut kann die Anzahl der dargestellten letzten Schritte auswählen, sodass der Patient den Trend seiner Verbesserungen während dieser Schritte sehen kann. Für das Smiley werden die Biofeedbackwerte für die vom Therapeuten ausgewählten Gelenke und Phasen des letzten Schrittes gemittelt und der „Gesichtsausdruck“ des Smileys angepasst. Für größere Werte „lächelt“ das Smiley, für niedrigere Werte zieht es die Mundwinkel nach unten und liefert damit ein einfaches symbolisches Feedback zum letzten Schritt (󳶳 Abb. 9.22 (b)). Der Therapeut kann dabei den Wertebereich (und damit die Sen­ sitivität der Anzeige) an die Fähigkeiten und Bedürfnisse des Patienten anpassen. Es wurden inzwischen weitere Trainingsziele durch die klinischen Anwender und die Entwickler des Lokomat identifiziert und in entsprechenden Trainingsszenarien umgesetzt. König und Kollegen [König 2008] verwendeten als wichtige Trainingsziele für die Gangrehabilitation von Kindern mit Ze­ rebralparese die Muskelkraft der Hüft- und Knieflexoren und -extensoren, den Gelenkbewegungsbe­ reich in Hüfte und Knie, die Anpassungsfähigkeit der Ganggeschwindigkeit inklusive Ganginitiierung und -terminierung (Loslaufen und Anhalten), die Koordination der Hüft- und Kniebewegung und die kognitive Verknüpfung von visuellem Input und Gangbewegung.

(a)

(b)

Abb. 9.22: Zwei Beispiele für einfaches zweidimensionales visuelles Feedback im Lokomat (mit freundlicher Genehmigung der Fa. Hocoma): a) quantitativer Darstellung der Bewegungsaktivität, b) qualitative Darstellung der Bewegungsaktivität mittels „Smiley“.

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Abb. 9.23: Trainingsszenarien für Gangrehabilitation bei Patienten mit Zerebralparese (mit freundli­ cher Genehmigung Fa. Hocoma). 4 Szenarien von links nach rechts: einen virtuellen Fußball treten, ein virtuelles Hindernis ersteigen, an einer virtuellen Ampel anhalten und wieder loslaufen und durch virtuellen Schnee laufen.

Aus diesen Anforderungen wurden vier virtuelle Szenarien entwickelt (󳶳 Abb. 9.23), in denen Pa­ tienten einen virtuellen Fußball traten (Szenario 1), ein virtuelles Hindernis erstiegen (Szenario 2), an einer virtuellen Ampel anhalten und wieder loslaufen mussten (Szenario 3) und unter erhöhtem Be­ wegungswiderstand durch virtuellen Schnee liefen (Szenario 4). Das Laufen durch virtuellen Schnee trainierte die Vergrößerung des Bewegungsbereichs und die (willkürliche) Muskelkraft. Das Fußballs­ zenario trainierte zusätzlich die Gelenkkoordination. Durch das Übersteigen des virtuellen Hinder­ nisses wurden Gelenkkoordination und Verknüpfung der visuellen Information mit der Gehbewegung geübt. Im Ampelszenario war neben der Ganginitiierung und -terminierung auch die Verknüpfung der visuellen Information mit der Gehbewegung Trainingsziel. Weitere Studien zeigten die Wirkung der virtuellen Szenarien auf die motorische Leistung der Patienten [Brütsch 2011].

9.6.3 Darstellungsmöglichkeiten Wie bei den oben gezeigten oder erwähnten Beispielen gibt es eine breite Palette von Möglichkeiten der Darstellung. Typischerweise ist das visuelle Feedback am weitesten entwickelt und verbreitet. Ein akustisches Feedback wird vor allem zur Darstellung des Erreichens oder Verpassens eines Zieles eingesetzt (also Knowledge of Result Feedback). Da für die Darstellung meist größere Computermonitore mit hoher Auflösung genutzt werden, ist ein aus der Trainingsposition des Patienten ausreichend großes und detailreiches Bild sichtbar. Stereoskopische Großprojektionen oder Head Mounted Displays, die Darstellungen mit Tiefeneindruck und einem großen Sichtfeld ermöglichen, sind dagegen derzeit auf Anwendungen in Forschungslabors beschränkt. Die meisten visuellen Darstellungen in Therapiesystemen stellen virtuelle Umgebungen dar, mit denen die Patienten durch Bewegungen interagieren, die mittels Sensoren aufgezeichnet werden. Dieser Aufbau entspricht also weitgehend der üblichen Definition von VR. Wie in anderen Bereichen, die VR für Trainingszwecke nutzen (z. B. Flugsimulatoren), ist für die Bewegungstherapie die kontrollierbare und gefahrenarme Umgebung (󳶳Kapitel 9.5.2/󳶳Abb. 9.15 – Training von Aktivitäten des täglichen Lebens), aber auch die Anpassbarkeit der virtuellen Umgebungen und der Interaktion wichtig. Gegenüber Simulatoren muss in der Bewegungstherapie die Anpassbarkeit der Aufgabe bzw. ihrer Schwierigkeit noch breiter gestaltet sein, da die Fähigkeiten und Bedürfnisse des Patienten deutlich von denen der Durchschnittspopulation ab-

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weichen können. Wie oben erwähnt, betrifft dies z. B. den Bewegungsbereich des Armes. Die Anpassungen werden meist vom Therapeuten ausgeführt, der den Patienten beobachtet und das Training überwacht.

9.7 Assistenzsysteme Im Gegensatz zu Therapiesystemen, die auf die Unterstützung der Wiedererlangung bestimmter Funktionen ausgelegt sind, haben Assistenzsysteme das Ziel, den Patienten in der Ausübung einer Tätigkeit zu unterstützen. Sie dienen also primär der Wiedereingliederung, einem Rehabilitationsziel. Assistenzsysteme gibt es für obere wie für untere Extremitäten und einige von ihnen sind automatisiert, d. h. sie führen eine Bewegung gesteuert und kontrolliert durch den Patienten aus. Automatisierte Assistenzsysteme unterscheiden sich von den automatisierten Therapiesystemen nicht nur in ihrer Funktion, sondern auch in den verwendeten Regelstrategien und Feedbackmechanismen. So ist bei Assistenzsystemen ein Feedback im Sinne von Hinweisen oder Warnungen auf z. B. ungünstige Belastungen oder niedrigen Batteriestand wichtiger, als eine Rückmeldung über die Qualität der Bewegungsausführung. Automatisierte Assistenzsysteme setzen auf Regelungsverfahren, die nicht auf motorisches Lernen sondern auf optimale Mobilität und Partizipation des Patienten ausgelegt sind. Sie fördern damit die Teilhabe behinderter Menschen und sind, wie beschrieben, der Rehabilitationstechnik zuzuordnen (󳶳Kapitel 1). In diesem Kapitel soll ein kurzer Überblick über die unterschiedlichen automatisierten Assistenzsysteme gegeben werden.

9.7.1 Automatisierte Assistenzsysteme für die untere Extremität Während exoskelettbasierte Roboter wie der Lokomat ausschließlich stationär eingesetzt werden können, haben sich in der letzten Zeit immer mehr tragbare Exoskelettsysteme mit Antrieben etabliert, mit denen sich der Patient selbständig und frei im Raum bewegen kann. Ein typisches Bespiel für diese ambulanten, exoskelettbasierten Assistenzsysteme ist der ReWalk der Firma ReWalk Robotics (󳶳Abb. 9.24). Dabei bewegt das Exoskelett die Beine des Patienten aufgrund von kleinen Veränderungen des Körperschwerpunkts. Der Patient kann also die Gangfunktion beeinflussen. Eine Vorwärtsneigung des Oberkörpers wird durch das System erkannt und löst den ersten Schritt aus. Ein wiederholtes Vorwärtsneigen des Körpers löst eine Reihe von Schritten aus, die ein natürliches und zügiges Gehen ermöglichen. Bei gelähmten Patienten führt das Exoskelett die einzelnen Körpersegmente der unteren Extremität in Bezug zum Becken (󳶳Kapitel 2.3.3). Dadurch imitiert es den natürlichen Gang und bietet eine zweckmäßige Gehgeschwindigkeit. Der Ansatz zielt darauf ab, Menschen mit Rückenmarksverletzung, beispielsweise mit Querschnitt-

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Abb. 9.24: Exoskelettbasierter Assistenzroboter Rewalk der Fa. ReWalk Robotics.

lähmung, eine Erfahrung zu geben, die dem natürlichen Gang so nahe wie möglich kommt. Zusätzlich ermöglicht ReWalk das Gehen, Stehen, Sitzen und die Fähigkeit, Treppen hinauf- und hinabzusteigen. Allerdings brauchen die Patienten zur Stabilisierung und Gewichtsentlastung Gehilfen, wodurch die Hände des Patienten gebunden sind. Solche ambulanten Exoskelettroboter können in Zukunft eventuell eine Alternative zu Rollstühlen darstellen (󳶳Kapitel 4), allerdings ist es nicht für Tätigkeiten zu gebrauchen, bei denen die Hände als Manipulatoren gebraucht werden. Auch weniger komplexe eigenkraftgetriebene Systeme (Orthesen) können bei einigen Indikationsstellungen in der Bewegungsrehabilitation sehr erfolgreich eingesetzt werden (󳶳Kapitel 5).

9.7.2 Automatisierte Assistenzsysteme für die obere Extremität Während für die unteren Extremitäten häufig exoskelettbasierte Lösungen zur Unterstützung des Gangs genutzt werden, werden für die oberen Extremitäten häufig Manipulatoren eingesetzt, welche die Greifbewegung ermöglichen. Unter einem 󳶳 Manipulator versteht man ein Gerät, das die physikalische Interaktion mit der Um­ gebung ermöglicht. Die Manipulatoren für die obere Extremität sind mit Greifwerkzeugen ausge­ rüstet und ermöglichen so die Bewegung von Gegenständen.

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(a)

(b)

Abb. 9.25: Assistenzsysteme für die obere Extremität. (a) Jaco der Firma Kinova, (b) ExoHand der Fa. Festo.

Die Zielgruppe für den Einsatz von Manipulatoren sind Patienten mit Erkrankungen, wie Querschnittlähmung, Multiple Sklerose und Zerebralparese, die im Alltag schon bei einfachen Bewegungen von der Hilfe anderer abhängig sind, da sie weder Hände bzw. Arme noch Füße selbständig nutzen können. Die eingesetzten Manipulatoren sind oft Roboterarme, die an den Rollstuhl (i. d. R. einen Elektrorollstuhl 󳶳Kapitel 3) angebracht werden. Die Steuerung erfolgt je nach Fähigkeiten des Patienten über einen Joystick, ein Touchpad bzw. Kopf- oder Kinnsteuerung. 󳶳Abb. 9.25 (a) zeigt das automatisierte Assistenzsystem Jaco der Firma Kinova. Dieser ultraleichte Roboterarm ist mit drei Fingern ausgestattet und ermöglicht so das Greifen von Gegenständen. Zunehmend werden aber auch im Bereich der oberen Extremitäten automatisierte Assistenzsysteme entwickelt, die auf der Verwendung von Exoskeletts beruhen. 󳶳Abb. 9.25 (b) zeigt die ExoHand der Firma Festo. Dieser Prototyp ist ein an die menschliche Hand individuell angepasstes Exoskelett, mit dem Finger durch den Patienten bewegt, die Kraft in den Fingern verstärkt und Bewegungen der Hand aufgenommen werden können. Exoskelette als automatisierte Assistenzsysteme für die oberen Extremitäten, sind jedoch noch in der Entwicklung und müssen erst ihren Weg zu einem zugelassenen und vom Patient akzeptierten Hilfsmittel finden.

Testfragen 1. Begründen Sie, warum es auch bei neurologischen Erkrankungen zu einer Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit kommen kann! 2. Was ist der Unterschied zwischen einem Assistenzsystem und einem Therapiesystem? 3. Nennen Sie Beispiele für die Anwendung eines Exoskeletts als Assistenzsystem und als Thera­ piesystem!

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4. 5. 6. 7. 8.

9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22.

Was versteht man unter motorischem Lernen und was ist neuronale Plastizität? Nennen und beschreiben Sie die 12 wichtigsten Faktoren, mit denen Sie das Ergebnis des moto­ rischen Lernens positiv beeinflussen können! Was ist die assist-as-needed-Strategie? Was ist technisch assistierte Bewegungstherapie? Wer gibt Anleitung und Kontrolle für die Übungsdurchführung in der Physiotherapie? Wie ver­ ändert sich dies, wenn die Bewegungsübungen autonom vom Patienten bzw. mit Unterstützung eines automatisierten Therapiesystems durchgeführt werden? Wie unterscheidet sich eine fremdkraftgetriebene Mobilisationsschiene von einer normalen Or­ these? Was versteht man unter Feedback und welche Formen des Feedbacks kennen Sie? Was ist der Unterschied zwischen Seilzugmaschinen, Krafttrainingsmaschinen und Isokineten in der gerätegestützten Physiotherapie? Was ist das Ziel eines isokinetischen Trainings? Erläutern Sie Vor- und Nachteile eines exoskelettbasierten Rehabilitationsansatzes! Nennen Sie jeweils ein Beispiel für ein exoskelettbasiertes automatisiertes Therapiesystem und ein endeffektorbasiertes Therapiesystem für die oberen Extremitäten! Warum werden in automatisierte Therapiesysteme Übungen zum Trainieren von Aktivitäten des täglichen Lebens integriert? Beschreiben sie ein einfaches nicht automatisiertes Therapiesystem für die Neurorehabilitation der oberen Extremität! Was versteht man unter Lokomotionstherapie? Welches sind die Unterschiede zwischen Lokomotionstherapie mit Lokomat gegenüber Lauf­ bandtherapie? Welches sind die Unterschiede zu anderen Lokomotionstherapieformen? Welche Gelenke werden vom Haptic Walker geführt? Wie kann eine physiologische Führung der anderen Gelenke realisiert werden, wenn dieses der Patient nicht selbständig kann? Was versteht man unter Biofeedback und welche Modi gibt es, um ein Biofeedback zu generie­ ren? Was versteht man unter Augmented Feedback? Ist ein Manipulator ein Assistenzsystem oder ein Therapiesystem?

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Danksagung Die Autoren danken allen an der Erstellung des Kapitelmanuskripts beteiligten weiteren Personen, den Bereitstellern von Daten, Bilder und Informationen. Unser besonderer Dank gilt Herrn Dr. Lars Lünenburger und Herrn Lukas Zimmerli, beide von Hocoma AG, Schweiz, für die tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung des Manuskriptes sowie den Mitarbeitern des Verlages WALTER DE GRUYTER.

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Autorenverzeichnis Kapitel 1 Prof. Dr.-Ing. Marc Kraft Technische Universität Berlin, Fachgebiet Medizintechnik, Dovestraße 6, 10587 Berlin, E-Mail: [email protected], www.medtech.tu-berlin.de. Prof. Dr. rer. nat. Catherine Disselhorst-Klug RWTH Aachen, LuF Rehabilitations- & Präventionstechnik, Institut für Angewandte Medizintechnik, Pauwelsstraße 20, 52074 Aachen, E-Mail: [email protected], www.rehabilitation-engineering.com. Kapitel 2 Prof. Dr. rer. nat. Catherine Disselhorst-Klug RWTH Aachen, LuF Rehabilitations- & Präventionstechnik, Institut für Angewandte Medizintechnik, Pauwelsstraße 20, 52074 Aachen, E-Mail: [email protected], www.rehabilitation-engineering.com. Dr.-Ing. Silke Besdo Leibniz Universität Hannover, Institut für Kontinuumsmechanik, Appelstraße 11, 30167 Hannover, E-Mail: [email protected], www.ikm.uni-hannover.de. Dr.-Ing. Simone Oehler Ottobock HealthCare GmbH, Abteilung Prüfwesen, Max-Näder-Straße 15, 37115 Duderstadt, E-Mail: [email protected]. Kapitel 3 Prof. Dr.-Ing. Marc Kraft Technische Universität Berlin, Fachgebiet Medizintechnik, Dovestraße 6, 10587 Berlin, E-Mail: [email protected], www.medtech.tu-berlin.de. Dr.-Ing. Wolfram Rossdeutscher Technische Universität Berlin, Fachgebiet Medizintechnik, Dovestraße 6, 10587 Berlin, E-Mail: [email protected], www.medtech.tu-berlin.de. Prof. Dr. med. Bernhard Greitemann Klinik Münsterland, Rehabilitationszentrum, Schwerpunktklinik für Amputierte, Auf der Stöwwe 11, 49214 Bad Rothenfelde, E-Mail: [email protected], www.klinik-muensterland.de.

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Priv.-Doz. Dr. med. Lutz Brückner Ruhestand, zuvor: Moritz-Klinik in Bad Klosterlausnitz, Naunhofer Straße 99, 04299 Leipzig, E-Mail: [email protected]. Prof. Dr. Klaus-Peter Hoffmann Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik IBMT, Ensheimer Straße 48, 66386 St. Ingbert, E-Mail: [email protected], www.ibmt.fraunhofer.de/de/Arbeitsgebiete/ibmt-medizintechnikneuroprothetik.html. Dipl.-Ing. Herman Boiten Ottobock HealthCare GmbH, Max-Näder-Straße 15, 37115 Duderstadt, E-Mail: [email protected]. Dr.-Ing. Simone Oehler Ottobock HealthCare GmbH, Abteilung Prüfwesen, Max-Näder-Straße 15, 37115 Duderstadt, E-Mail: [email protected]. Dipl.-Ing. Julius Thiele Technische Universität Berlin, Fachgebiet Medizintechnik, Dovestraße 6, 10587 Berlin, E-Mail: [email protected], www.medtech.tu-berlin.de. Kapitel 4 Prof. Dr.-Ing. Rolf-Dieter Weege Hochschule Ostwestfalen-Lippe, Liebigstraße 87, 32657 Lemgo, E-Mail: [email protected], [email protected]. Prof. Dr.-Ing. Marc Kraft Technische Universität Berlin, Fachgebiet Medizintechnik, Dovestraße 6, 10587 Berlin, E-Mail: [email protected], www.medtech.tu-berlin.de. Kapitel 5 Prof. Dr. rer. nat. Catherine Disselhorst-Klug RWTH Aachen, LuF Rehabilitations- & Präventionstechnik, Institut für Angewandte Medizintechnik, Pauwelsstraße 20, 52074 Aachen, E-Mail: [email protected], www.rehabilitation-engineering.com. B. HSc. Ferdinand Bergamo RWTH Aachen, LuF Rehabilitations- & Präventionstechnik, Institut für Angewandte Medizintechnik, Pauwelsstraße 20, 52074 Aachen, E-Mail: [email protected], www.Rehabilitation-engineering.de.

Autorenverzeichnis

| 499

Stefan Bieringer Bundesfachschule für Orthopädie-Technik Dortmund, Schliepstraße 6–8, 44135 Dortmund, E-Mail: [email protected], www.ot-bufa.de. M. Sc. Ludger Lastring Bundesfachschule für Orthopädie-Technik Dortmund, Schliepstraße 6–8, 44135 Dortmund, E-Mail: [email protected], www.ot-bufa.de. Detlef Kokegei Bundesfachschule für Orthopädie-Technik Dortmund, Schliepstraße 6–8, 44135 Dortmund, E-Mail: [email protected], www.ot-bufa.de. M. Sc. Silke Auler Bundesfachschule für Orthopädie-Technik Dortmund, Schliepstraße 6–8, 44135 Dortmund, E-Mail: [email protected], www.ot-bufa.de. Bettina Grage-Roßmann, Orthopädie-Techniker-Meisterin Bundesfachschule für Orthopädie-Technik Dortmund, Schliepstraße 6–8, 44135 Dortmund, E-Mail: [email protected], www.ot-bufa.de. Prof. Dr.-Ing. David Hochmann Fachhochschule Münster, Fachbereich Physikalische Technik, Stegerwaldstraße 39, 48565 Steinfurt, E-Mail: [email protected], www.fh-muenster.de/index.php. Prof. Dr.-Ing. Marc Kraft Technische Universität Berlin, Fachgebiet Medizintechnik, Dovestraße 6, 10587 Berlin, E-Mail: [email protected], www.medtech.tu-berlin.de. Kapitel 6 Dr.-Ing. Peter Diesing Head of Certification Medical Devices, Eurofins Product Service GmbH, Storkower Straße 38c, 15526 Reichenwalde, E-Mail: [email protected], www.eurofins-reichenwalde.de/home.html. Prof. Dr.-Ing. Marc Kraft Technische Universität Berlin, Fachgebiet Medizintechnik, Dovestraße 6, 10587 Berlin, E-Mail: [email protected], www.medtech.tu-berlin.de.

500 | Autorenverzeichnis

Kapitel 7 Dr.-Ing. Wolfram Roßdeutscher Technische Universität Berlin, Fachgebiet Medizintechnik, Dovestraße 6, 10587 Berlin, E-Mail: [email protected], www.medtech.tu-berlin.de. Prof. Dr.-Ing. Marc Kraft Technische Universität Berlin, Fachgebiet Medizintechnik, Dovestraße 6, 10587 Berlin, E-Mail: [email protected], www.medtech.tu-berlin.de. Kapitel 8 Dr. Thomas Schauer Technische Universität Berlin, Fachgebiet Regelungssysteme, Einsteinufer 17, 10587 Berlin, E-Mail: [email protected], www.control.tu-berlin.de/Welcome. Prof. Dr.-Ing. Klaus-Peter Hoffmann Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik IBMT, Ensheimer Straße 48, 66386 St. Ingbert, E-Mail: [email protected], www.ibmt.fraunhofer.de/de/Arbeitsgebiete/ibmt-medizintechnikneuroprothetik.html. PD Dr. med. Dipl.-Ing. Johann Szecsi Ludwig-Maximillians-Universität München, Center for Sensorimotor Research, Feodor-Lynen-Straße 19, 81377 München, E-Mail: [email protected], www.klinikum.uni-muenchen.de/Klinik-und-Poliklinik-fuerNeurologie/de/Forschung/Zentrum_fur_Sensomotorik/. Kapitel 9 Prof. Dr. rer. nat. Catherine Disselhorst-Klug RWTH Aachen, LuF Rehabilitations- & Präventionstechnik, Institut für Angewandte Medizintechnik, Pauwelsstraße 20, 52074 Aachen, E-Mail: [email protected], www.rehabilitation-engineering.com. Dipl.-Ing. Henning Schmidt Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK), Forschungsgruppe Rehabilitationsrobotik, Bereich Automatisierungstechnik, Pascalstraße 8–9, 10587 Berlin, E-Mail: [email protected], www.ipk.fraunhofer.de.

Autorenverzeichnis |

501

Prof. Dr.-Ing. Robert Riener ETH Zürich, Institut für Robotik und Intelligente Systeme, Labor für Sensomotorische Systeme, TAN E4, Tannenstraße 1, CH-8092 Zürich, Schweiz, E-Mail: [email protected], www.sms.hest.ethz.ch. Prof. Dr. sc. Tobias Nef ARTORG Forschungszentrum für Biomedizinische Technik, Gerontechnologie und Rehabilitation, Universität Bern, Murtenstraße 50, Postfach 44, CH-3010 Bern, Schweiz, E-Mail: [email protected].

Abbildungsverzeichnis Abb. Seite V Abb. 1.1 Abb. 1.2 Abb. 1.3 Abb. 1.4 Abb. 1.5 Abb. 1.6 Abb. 1.7a Abb. 1.7b,c Abb. 1.8a Abb. 1.8b Abb. 1.9

Abb. 1.10 Abb. 1.11a Abb. 1.11b Abb. 1.12a Abb. 1.12b Abb. 1.13a Abb. 1.13b Abb. 1.14a Abb. 1.14b Abb. 1.15 Abb. 2.1a Abb. 2.1b Abb. 2.2 Abb. 2.3 Abb. 2.4 Abb. 2.5 Abb. 2.6 Abb. 2.7 Abb. 2.8 Abb. 2.9 Abb. 2.10 Abb. 2.11

Abbildungen von Ines Hofmann, Illustration+Grafik Dresden, [email protected] eigene Darstellung, modifiziert nach [Augurzky 2011] eigene Darstellung, modifiziert nach [Busse 2008] Bildrecht: Egyptian Museum Cairo eigene Darstellung gemeinfrei, aus Borchardt 1919 gemeinfrei, aus Borchardt 1919 eigene Darstellung, modifiziert nach [Näder 2000] mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock gemeinfrei, aus [Schanz 1908] mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, Fotograf: David Brandt gemeinfrei, Download unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Handbike#/media/ File:Rollstuhl_Farfler_1655.jpg, Stand 01.07.2015 eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Atmos, mit freundlicher Genehmigung der Fa. Sanofi-Aventis mit freundlicher Genehmigung der Fa. Waldmann mit freundlicher Genehmigung der Fa. Andreas Fahl Medizintechnik-Vertrieb mit freundlicher Genehmigung der Fa. Weinmann, Hamburg mit freundlicher Genehmigung der Fa. medi mit freundlicher Genehmigung der Fa. Bayer mit freundlicher Genehmigung der Fa. interco Reha-Hilfen eigene Darstellung, modifiziert nach [Barmer 2013] eigene Darstellung modifiziert nach [Williams 2000] eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung

Abbildungsverzeichnis | 503

Abb. 2.12 Abb. 2.13 Abb. 2.14 Abb. 2.15 Abb. 2.16 Abb. 2.17 Abb. 2.18 Abb. 2.19 Abb. 2.20 Abb. 2.21 Abb. 2.22 Abb. 2.23 Abb. 2.24 Abb. 2.25 Abb. 3.1 Abb. 3.2 Abb. 3.3 Abb. 3.4 Abb. 3.5 Abb. 3.6 Abb. 3.7 Abb. 3.8 Abb. 3.9 Abb. 3.10 Abb. 3.11 Abb. 3.12 Abb. 3.13 Abb. 3.14 Abb. 3.15 Abb. 3.16 Abb. 3.17 Abb. 3.18 Abb. 3.19a–c Abb. 3.19d–e Abb. 3.20 Abb. 3.21a

eigene Darstellung eigene Darstellung, modifiziert nach [Kleiber 2013] eigene Darstellung eigene Darstellung, modifiziert nach [Kleiber 2013] eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung, modifiziert nach [Whittle 1991] eigene Darstellung, modifiziert nach [Perry 1992] eigene Darstellung, modifiziert nach [Perry 1992] eigene Darstellung, modifiziert nach [Whittle 1991] eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung, modifiziert nach [Winter 1987] eigene Darstellung, modifiziert nach [Winter 1987] eigene Darstellung, erstellt nach [Statistisches Bundesamt 2014a] eigene Darstellung, modifiziert nach [Baumgartner 1995] eigene Darstellung, modifiziert nach [Baumgartner 1995] eigene Darstellung und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung, modifiziert nach [Baumgartner 1995] eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Össur mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. endolite

504 | Abbildungsverzeichnis

Abb. 3.21b Abb. 3.21c Abb. 3.22 Abb. 3.23 Abb. 3.24 Abb. 3.25 Abb. 3.26 Abb. 3.27 Abb. 3.28 Abb. 3.29 Abb. 3.30 Abb. 3.31 Abb. 3.32 Abb. 3.33 Abb. 3.34 Abb. 3.35a Abb. 3.35b,c Abb. 3.35d Abb. 3.36a Abb. 3.36b Abb. 3.36c Abb. 3.37 Abb. 3.38 Abb. 3.39 Abb. 3.40 Abb. 3.41 Abb. 3.42 Abb. 3.43 Abb. 3.44 Abb. 3.45 Abb. 3.46 Abb. 3.47 Abb. 3.48 Abb. 3.49

mit freundlicher Genehmigung der Fa. Össur mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung eigene Darstellung, modifiziert nach [Boenick 1992] und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Össur eigene Darstellung und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Össur eigene Darstellung eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. medi eigene Darstellung und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung, modifiziert nach [Blumentritt 2009] mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung, modifiziert nach [Mann 1981] und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock

Abbildungsverzeichnis | 505

Abb. 3.50a

Abb. 3.50b Abb. 3.50c Abb. 3.51 Abb. 3.52 Abb. 3.53 Abb. 3.54 Abb. 3.55 Abb. 3.56 Abb. 3.57 Abb. 4.1 Abb. 4.2 Abb. 4.3 Abb. 4.4 Abb. 4.5 Abb. 4.6 Abb. 4.7 Abb. 4.8 Abb. 4.9 Abb. 4.10 Abb. 4.11 Abb. 4.12 Abb. 4.13 Abb. 4.14 Abb. 4.15 Abb. 4.16 Abb. 4.17 Abb. 4.18 Abb. 4.19 Abb. 4.20 Abb. 4.21a,b Abb. 4.21c–e Abb. 4.22 Abb. 4.23 Abb. 4.24a Abb. 4.24b Abb. 4.25a Abb. 4.25b Abb. 4.26

mit freundlicher Genehmigung der Defense Advanced Research Projects Agency, Download unter http://www.darpa.mil, Stand 18.01.2015 mit freundlicher Genehmigung der Fa. Touch Bionics mit freundlicher Genehmigung der Fa. Vincent Systems mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung, modifiziert nach [Näder 2011] eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung, modifiziert nach [Engström 2001] eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Uniroll mit freundlicher Genehmigung der Fa. Meyra mit freundlicher Genehmigung der Fa. Meyra mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Meyra eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Pro Activ gemeinfrei, aus Borchardt 1919 eigene Darstellung eigene Darstellung und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Meyra

506 | Abbildungsverzeichnis

Abb. 4.27 Abb. 4.28 Abb. 4.29 Abb. 4.30 Abb. 4.31 Abb. 4.32a Abb. 4.32b Abb. 4.32c,d Abb. 4.33a Abb. 4.33b Abb. 4.34a Abb. 4.34b Abb. 4.35a Abb. 4.35b Abb. 4.36 Abb. 4.37 Abb. 4.38 Abb. 5.1a Abb. 5.1b Abb. 5.1c Abb. 5.2 Abb. 5.3 Abb. 5.4 Abb. 5.5 Abb. 5.6 Abb. 5.7 Abb. 5.8 Abb. 5.9 Abb. 5.10 Abb. 5.11 Abb. 5.12 Abb. 5.13 Abb. 5.14 Abb. 5.15

Abb. 5.16 Abb. 5.17a,b Abb. 5.17c Abb. 5.18a Abb. 5.18b

mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Meyra mit freundlicher Genehmigung der Fa. Permobil mit freundlicher Genehmigung der Fa. Meyra mit freundlicher Genehmigung der Fa. Meyra mit freundlicher Genehmigung der Fa. Speedy Reha-Technik mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Meyra mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Meyra mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Süddeutsche Sanilift mit freundlicher Genehmigung der Fa. Speedy Reha-Technik mit freundlicher Genehmigung der Fa. Meyra mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Genny SA-CH-Lugano mit freundlicher Genehmigung der Fa. medi mit freundlicher Genehmigung der Fa. Oped mit freundlicher Genehmigung der Fa. neaTec eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung eigene Darstellung, modifiziert nach [Malick 1978] (a) eigene Darstellung; (b) mit freundlicher Genehmigung durch Mikros GmbH; (c) und mit freundlicher Genehmigung durch Luttermann GmbH mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ortho-Vital mit freundlicher Genehmigung der Fa. neaTec mit freundlicher Genehmigung der Fa. Maramed Precision Corporation mit freundlicher Genehmigung der Fa. Salzmann mit freundlicher Genehmigung der Fa. medi

Abbildungsverzeichnis | 507

Abb. 5.19 Abb. 5.20 Abb. 5.21a Abb. 5.21b,c Abb. 5.22 Abb. 5.23a Abb. 5.23b Abb. 5.24 Abb. 5.25 Abb. 5.26 Abb. 5.27 Abb. 5.28 Abb. 5.29 Abb. 5.30 Abb. 5.31 Abb. 5.32 Abb. 5.33 Abb. 5.34 Abb. 5.35 Abb. 5.36 Abb. 5.37 Abb. 5.38 Abb. 5.39a Abb. 5.39b Abb. 5.40 Abb. 5.41a Abb. 5.41b Abb. 5.42a Abb. 5.42b Abb. 5.43a,b Abb. 5.43c Abb. 5.44 Abb. 5.45 Abb. 6.1 Abb. 6.2 Abb. 6.3 Abb. 6.4 Abb. 7.1 Abb. 7.2 Abb. 7.3 Abb. 7.4

mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ruck mit freundlicher Genehmigung der Fa. Luttermann mit freundlicher Genehmigung der Fa. neaTec mit freundlicher Genehmigung der Fa. Uniprox mit freundlicher Genehmigung der Fa. medi mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. neaTec eigene Darstellung nach ISO 8549-3 eigene Darstellung eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Bauerfeind eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock (a) und (b) mit freundlicher Genehmigung durch Ottobock (a) und (b) mit freundlicher Genehmigung durch Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. medi mit freundlicher Genehmigung der Fa. Bort mit freundlicher Genehmigung der Fa. Darco eigene Darstellung freundlicher Genehmigung durch Dr. Nicola Ihme, Praxisklinik Orthopädie Franziskushospital, Aachen eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Vogel eigene Darstellung eigene Darstellung, nach [Stockmann 2006] eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. AirSystems eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung, modifiziert nach [Silverman 1980]

508 | Abbildungsverzeichnis

Abb. 7.5 Abb. 7.6 Abb. 7.7 Abb. 7.8 Abb. 7.9 Abb. 7.10 Abb. 7.11a Abb. 7.11b Abb. 7.12a Abb. 7.12a Abb. 7.13 Abb. 7.14a Abb. 7.14b Abb. 7.15 Abb. 7.16 Abb. 7.17a Abb. 7.17b Abb. 7.18 Abb. 7.19a Abb. 7.19a Abb. 7.20a Abb. 7.20b Abb. 7.21 Abb. 7.22 Abb. 7.23a Abb. 7.23b Abb. 7.24 Abb. 7.25 Abb. 7.26 Abb. 7.27 Abb. 7.28 Abb. 7.29 Abb. 7.30 Abb. 7.31 Abb. 7.32a

eigene Darstellung, modifiziert nach [Musselwhite 1988] eigene Darstellung, modifiziert nach [Musselwhite 1988] eigene Darstellung eigene Darstellung, modifiziert nach [Kelso 1985] eigene Darstellung eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Gorlo & Todt mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ingenieurbüro Dr. Seveke Computer für Behinderte mit freundlicher Genehmigung der Fa. Gunter Schlosser Kommunikationstechnologie mit freundlicher Genehmigung der Fa. Incap mit freundlicher Genehmigung der Fa. Incap mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ingenieurbüro Dr. Seveke Computer für Behinderte mit freundlicher Genehmigung der Fa. Incap mit freundlicher Genehmigung der Fa. Baum Retec eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Papenmeier mit freundlicher Genehmigung der Fa. Baum Retec mit freundlicher Genehmigung der Fa. Papenmeier mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ingenieurbüro Dr. Seveke Computer für Behinderte mit freundlicher Genehmigung der Fa. Reinecker Reha-Technik eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Carl Zeiss Vision mit freundlicher Genehmigung der Fa. Wöhlk mit freundlicher Genehmigung der Fa. Baum mit freundlicher Genehmigung der Fa. Telesensory mit freundlicher Genehmigung der Fa. Handy Tech mit freundlicher Genehmigung der Fa. Dolphin Computer Access mit freundlicher Genehmigung der Fa. Widex eigene Darstellung eigene Darstellung, modifiziert nach Informationsmaterial der Fa. Siemens mit freundlicher Genehmigung des The Hearing Aid Museum/Center for Hearing Loss Help eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Phonak mit freundlicher Genehmigung der Fa. Cochlear Bas mit freundlicher Genehmigung der Fa. Med-el

Abbildungsverzeichnis | 509

Abb. 7.32b Abb. 7.33 Abb. 7.34 Abb. 7.35 Abb. 7.36 Abb. 8.1 Abb. 8.2 Abb. 8.3 Abb. 8.4 Abb. 8.5 Abb. 8.6 Abb. 8.7 Abb. 8.8 Abb. 8.9 Abb. 8.10 Abb. 8.11 Abb. 8.12 Abb. 8.13 Abb. 8.14 Abb. 8.15 Abb. 8.16 Abb. 8.17 Abb. 8.18 Abb. 8.19 Abb. 8.20 Abb. 8.21 Abb. 9.1 Abb. 9.2 Abb. 9.3 Abb. 9.4 Abb. 9.5 Abb. 9.6 Abb. 9.7 Abb. 9.8 Abb. 9.9 Abb. 9.10 Abb. 9.11 Abb. 9.12a Abb. 9.12b

mit freundlicher Genehmigung der Fa. Vibrating Ossicular Prosthesis eigene Darstellung eigene Darstellung, modifiziert nach [Fellbaum 1987] mit freundlicher Genehmigung der Fa. Pulch+Lorenz mit freundlicher Genehmigung der Fa. Incap eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung und mit freundlicher Genehmigung der Fa. Ottobock mit freundlicher Genehmigung der Fa. Hasomed eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. S & U Medizintechnik mit freundlicher Genehmigung der Fa. S & U Medizintechnik mit freundlicher Genehmigung der Fa. Heinz Kettler mit freundlicher Genehmigung der Fa. Schnell mit freundlicher Genehmigung der Fa. Schnell mit freundlicher Genehmigung der Fa. Proxomed eigene Darstellung, modifiziert nach [Kohler 2010]. mit freundlicher Genehmigung der Fa. Reha-Stim Medtec eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung von I. Krebs und N. Hogan, Massachusetts Institute of Technology eigene Darstellung [Hennes 2015]

510 | Abbildungsverzeichnis

Abb. 9.13a Abb. 9.13b Abb. 9.14 Abb. 9.15 Abb. 9.16 Abb. 9.17 Abb. 9.18a Abb. 9.18b Abb. 9.19a Abb. 9.19b Abb. 9.20 Abb. 9.21 Abb. 9.22 Abb. 9.23 Abb. 9.24 Abb. 9.25a Abb. 9.25b

mit freundlicher Genehmigung der ETH Zürich mit freundlicher Genehmigung der Fa. Hocoma mit freundlicher Genehmigung der ETH Zürich mit freundlicher Genehmigung der ETH Zürich mit freundlicher Genehmigung der Fa. Reha-Stim Medtec mit freundlicher Genehmigung der Fa. Hocoma mit freundlicher Genehmigung der Fa. Hocoma mit freundlicher Genehmigung der Fa. Cyberdyne Care Robotics mit freundlicher Genehmigung der Fa. Reha-Stim Medtec eigene Darstellung eigene Darstellung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Hocoma mit freundlicher Genehmigung der Fa. Hocoma mit freundlicher Genehmigung der Fa. Hocoma mit freundlicher Genehmigung der Fa. Argo Medical Technologies mit freundlicher Genehmigung der Fa. Kinova Robotics mit freundlicher Genehmigung der Fa. Festo

Bandspezifisches Glossar Adaptivrollstuhl (adaptive wheelchair): Rollstuhl mit umfassenden Anpassungsmöglichkeiten (Adaptierbarkeit) an die Anforderungen des Nutzers. Hierzu ist der Rollstuhl in ein Baukastensystem zur Optimierung von Maßanpassung, Fahrwerksgeometrie und Ausstattung integriert. 󳶳Kapitel 4 Aktionspotential (AP; action potential): bei Depolarisation der Zellmembran über einen gewissen Schwellwert hinaus generiert die Zelle selbständig Änderungen des Zellmembranpotentials, die als AP bezeichnet werden. 󳶳Kapitel 8 Aktivität (lat. activus; activity): Umsetzung eines Mobilitäts-Potenzials in Bewegung. 󳶳Kapitel 3 Amputation (lat. amputatio; amputation): Abtrennen eines endständigen Körperoder Organabschnittes. Die Amputation ist nicht das Ende der Therapie, sondern der Beginn der Rehabilitation. 󳶳Kapitel 3 Anschlussheilbehandlung (follow-up treatment): Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation, die sich unmittelbar einer Krankenhausbehandlung oder einer ambulanten Operation anschließen mit dem Ziel der möglichst weitgehenden Wiederherstellung der körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit. 󳶳Kapitel 1 Antidekubitus-System (pressure-relieving device): Hilfsmittel, welches das Risiko eines Druckgeschwürs senkt bzw. dessen Heilung beschleunigt. Mit unterschiedlichen Arbeitsprinzipien verringern Antidekubitussysteme die lokale mechanische Belastung, verkürzen deren Einwirkzeit und minimieren weitere Risikofaktoren. Beispiele: OP-Tischauflagen, Matratzen und Sitzkissen für Rollstühle. 󳶳Kapitel 6 assist-as-needed strategy (dt. bedarfsgerechte Strategie): Strategie, nach der ein Patient so viel Unterstützung erhält, wie er benötigt, wobei gleichzeitig das Maß der Unterstützung auf ein Minimum reduziert wird. 󳶳Kapitel 9 Assistenzsystem (assistance system): System in der Bewegungsrehabilitation zur Unterstützung des Patienten bei der Ausübung einer Funktion, damit dieser, im Sinne von Rehabilitation, am beruflichen und privaten Leben teilnehmen kann. 󳶳Kapitel 9 Bandage (bandage, brace): körperteilumschließendes oder -anliegendes, meist konfektioniertes Hilfsmittel mit komprimierender oder funktionssichernder Funktion. Bandagen dienen der Behandlung von akuten oder dauerhaft anhaltenden Weichteilerkrankungen, können aber auch prophylaktische Anwendung finden. 󳶳Kapitel 5 Beckenorthese (pelvis orthosis): Orthese, die den Beckenring stabilisiert und den Bewegungsumfang von Wirbelsäule, Iliosakralgelenk und Symphyse limitiert. 󳶳Kapitel 5

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Behinderung (disability): anhaltender Status von Menschen, bei dem ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. 󳶳Kapitel 1 und 󳶳Band 1, Kapitel 14 Beinprothese, funktionelle (functional lower limb prosthesis): Prothese zur Versorgung einer Amputation im Bereich des Beines, mit deren Hilfe vorrangig die vom Patienten geforderte statische und dynamische Sicherheit beim Gehen und Stehen erreicht werden soll. Mobile Patienten erwarten die Nachbildung eines natürlichen Bewegungsablaufes. Eine Beinprothese sollte (bei Amputationen im und oberhalb des Kniegelenks) das Sitzen möglichst wenig behindern. 󳶳Kapitel 3 und 󳶳Band 1, Kapitel 14 Bewegungsanalyseverfahren (motion analysis): Methoden, die zur Erfassung der Bewegungen von Mensch und Tier dienen. Ziel aller Bewegungsanalyseverfahren ist eine quantitative Beschreibung der Kinematik oder der Kinetik der ausgeführten Bewegung. 󳶳Kapitel 2 Bewegungstherapie, technisch assistierte (technically assisted movement therapy): Verwendung von mechanischen, mechatronischen, robotischen oder IT-gestützten Systemen zur Unterstützung von Rehabilitationsmaßnahmen und zur Ermöglichung eines autonomen und eigenmotivierten Übens. 󳶳Kapitel 9 Biofeedback (altgr. bios, dt. Leben und feedback, dt. Rückmeldung): Möglichkeit, Veränderungen von körperlichen Zuständen, die der unmittelbaren Sinneswahrnehmung nicht zugänglich sind, mit technischen Hilfsmitteln bewusst zu machen. 󳶳Kapitel 9 Biomechanisches Modell (biomechanical model): Modell, das die translatorischen Markerbewegungen der photometrischen Bewegungsanalyse mit den diagnostisch interessanten Rotationsbewegungen um die anatomischen Gelenkachsen verknüpft. Die meisten Biomechanischen Modelle basieren bisher auf der Grundannahme starrer Segmente, die durch ideale Kugelgelenke verbunden sind. 󳶳Kapitel 2 Blasen- und Darmfunktions-Assistenzsystem (assistance system for bladder and bowel function): Systeme zur Unterstützung der Entleerung von Blase und Darm oder zur Behandlung von neurogener Inkontinenz. 󳶳Kapitel 8 Cochlea-Implantat (cochlear implant): Hörprothese, die ertaubten oder schwerhörigen Menschen mit beschädigten Sinneszellen im Innenohr ermöglicht, durch eine direkte frequenzspezifische elektrische Stimulation des Hörnervs mittels Mikroelektroden wieder einen Höreindruck zu erlangen. 󳶳Kapitel 8 und 󳶳Band 11 Dekubitus (dt. Druckgeschwür; lat. decumbere – sich niederlegen; decubitus ulcer): trophische (die Ernährung betreffende) Schädigung von Gewebe. Das betroffene Kör-

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pergewebe wird nicht ausreichend durchblutet und so unzureichend mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt. Die Wunde kann von oberflächlichen Hautschichten über tiefer liegende Bindegewebsschichten bis zum Knochen reichen. 󳶳Kapitel 6 Doppelstandphase (double stance phase): Abschnitt des Gangzyklus, bei dem sich beide Beine auf dem Boden befinden und die Körperlast teilen. 󳶳Kapitel 2 Duschrollstuhl (shower wheelchair): im Innenraum für eine Verwendung in einer Dusche vorgesehener Rollstuhl. Er besitzt eine dafür geeignete korrosionsbeständige Konstruktion, die den Ablauf des Duschwassers unterstützt. 󳶳Kapitel 4 Einbeinstandphase (one leg stance phase): Abschnitt des Gangzyklus, bei dem die gesamte Körperlast auf einem Bein liegt. 󳶳Kapitel 2 Einlage, entlastende/bettende (relieving insoles): Einlage zur Druckumverteilung und damit der lokalen Entlastung überlastungsgefährdeter Regionen des deformierten Fußes. Damit ist in der Regel eine Schmerzreduktion verbunden. 󳶳Kapitel 5 Einlage, korrigierende (correcting insoles): überwiegend, aber nicht ausschließlich, im Wachstumsalter zum Einsatz kommende Einlagen, um anlagebedingte oder erworbene Fehlbildungen des Fußes unter Anwendung passiver mechanischer Druckpunkte in eine physiologische Form zu bringen. 󳶳Kapitel 5 Einlage, sensomotorische (sensorimotor insoles): Einlage zum Anstützen knöcherner Strukturen; sie lässt Muskelbäuche komplett frei. Der dadurch veränderte Abstand von Ursprung zu Ansatz eines Muskels soll bei Verlängerung Tonus-reduzierend und bei Verkürzung Tonus-steigernd wirken. 󳶳Kapitel 5 Einlagen, stützende (supporting insoles): Einlagen bei Muskel- oder Bänderschwäche, wenn die Wölbungsstruktur des Fußes nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Sie unterstützen den Fuß in gewaltlos erreichbarer Stellungsoptimierung. 󳶳Kapitel 5 Elektrode (electrode): Kontakt zwischen dem biologischen Gewebe und einem technischen System, welcher sowohl der elektrischen Stimulation als auch der Erfassung bioelektrischer Potentialdifferenzen dient und Wandler für biologische Ionenströme und technische Elektronenströme ist. Die Informations- oder Energieübertragung erfolgt an der Phasengrenzschicht zwischen Elektrolyt und Elektrodenoberfläche. 󳶳Kapitel 3 und 󳶳Kapitel 8 Elektrorollstuhl (electric-powered wheelchair): mit Rädern ausgestattetes Gerät zur persönlichen Fortbewegung, welches aus einem Sitzsystem für einen behinderten Menschen besteht, durch einen oder mehrere Elektromotoren angetrieben wird, die vom Benutzer oder von dessen Hilfsperson zur Veränderung von Fahrtrichtung und Geschwindigkeit gesteuert werden. Aufbau und Ausstattung sind abhängig von der Nutzung im Innenbereich, im Außenbereich oder im Straßenverkehr. 󳶳Kapitel 4

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Elektrostimulation, funktionelle (Functional Electrical Stimulation, FES): spezielle Form der Neuromodulation, bei der elektrische Ströme zur Reizung von Nerven oder Muskeln eingesetzt werden mit dem Ziel, verlorengegangene sensorische oder motorische Funktionen wiederherzustellen. 󳶳Kapitel 8 Ellenbogen-Handgelenk-Hand-Orthese (elbow hand orthosis): Orthese mit Wirkung primär auf das Ellenbogengelenk, die aber das Handgelenk mit einbezieht. Durch eine starre Verbindung von Unterarm und Hand stabilisiert und begrenzt sie den Bewegungsraum um die Flexions-/Extensionsachse und verhindert eine Pronations-/Supinationsbewegung. 󳶳Kapitel 5 Ellenbogen-Orthese (elbow orthosis): Orthese mit Wirkung nur auf das Ellenbogengelenk, welche dieses stabilisiert und den Bewegungsraum in der Flexions-/Extensionsachse einschränkt. Aufgrund der Anatomie des Ellenbogengelenks kann eine Bewegung um die Pronations-/Supinationsachse mit dieser Orthese nicht ausgeschlossen werden. 󳶳Kapitel 5 Endeffektorbasiert (end-effector based): Kennzeichen eines Therapiesystems, das ausschließlich ein distales Körpersegment führt, wobei die proximalen Körpersegmente und -gelenke durch den Patienten selbst gesteuert und positioniert werden. 󳶳Kapitel 9 Erkrankungen, muskuloskelettale (musculoskeletal disorders): alle Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates, bei denen Knochen, Bänder und Gelenke des passiven Bewegungsapparates sowie Skelettmuskeln und Sehnen des aktiven Bewegungsapparates betroffen sind. 󳶳Kapitel 9 Erkrankungen, neurologische (neurological disorders): Erkrankungen des zentralen oder peripheren Nervensystems. Sie können zu motorischen, sensorischen und kognitiven Beeinträchtigungen führen. 󳶳Kapitel 9 Exoskelett (exoskeleton): fremdkraftgetriebene oder eigenkraftgetriebene Orthese, die zur Unterstützung von Bewegungen oder Stabilisierung einer Körperhaltung des Menschen eingesetzt wird. Ein Exoskelettroboter führt jedes einzelne Körpersegment und kontrolliert dadurch die Gelenkstellung. 󳶳Kapitel 9 Feedback (dt. Rückmeldung): visuelle, auditorische oder taktile Rückmeldung gemessener Informationen über den Bewegungsverlauf und das Bewegungsergebnis an den Patienten. 󳶳Kapitel 9 Feedback, augmented (dt. erweiterte Rückmeldung): interaktive Darstellung von messtechnisch abgeleiteten Schlüsselparametern als Rückmeldung für Patienten während des Bewegungstrainings. 󳶳Kapitel 9 Feedback, extrinsisches (feedback, extrinsic): Rückmeldung an den Patienten von außen, z. B. durch den Therapeuten oder das Trainingsgerät. 󳶳Kapitel 9

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Feedback, intrinsisches (feedback, intrinsic): Feedback über körpereigene Informationskanäle des Patienten, z. B. afferente, taktile und visuelle Informationen. 󳶳Kapitel 9 FES-Trainingssystem (functional electron stimulation based training system): System zur Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes von Paraplegikern und Tetraplegikern und zur Förderung des Wiedererlernens motorischer Funktionen bei zentralen Lähmungen (Schlaganfall, inkomplette Querschnittlähmung). Durch mehrkanalige Funktionelle Elektrostimulation (FES) an den Extremitäten können die Betroffenen aktiv werden und Fahrradergometer/Liegedreiräder antreiben, rudern oder mit den Armen Antriebe bewegen. Zusätzlich kann Gehen in sog. Gangrobotern durch FES unterstützt werden. 󳶳Kapitel 8 Finger-Extensionsorthese (finger extension orthosis): Hilfsmittel zur Einstellung der gestreckten Stellung der Fingergelenke. 󳶳Kapitel 5 Finger-Flexionsorthese (finger flexion orthosis): Orthese, welche die Fingergelenke in die gebeugte Stellung bringt. 󳶳Kapitel 5 Freiheitsgrad (degree of freedom): die Zahl der voneinander unabhängigen Bewegungsmöglichkeiten. Ein starrer Körper besitzt bei räumlicher Betrachtung drei translatorische und drei rotatorische Freiheitsgrade. 󳶳Kapitel 2 Fuß, prothetischer (lower limb prosthesis foot): stellt gemeinsam mit dem Schuh den Bodenkontakt des Beinamputierten her. Die Funktionalität wird durch die Art der Einleitung von Kräften und Momenten, die Abrolleigenschaften in der Sagittalebene, die Anpassungsfähigkeit an Bodenunebenheiten, die Fähigkeit zum Zwischenspeichern und Abgeben potenzieller Energie, die Dämpfungseigenschaften (u. a. beim Fersenauftritt) sowie das Vorhandensein und die Funktion aktiver Antriebe bestimmt. 󳶳Kapitel 3 und 󳶳Band 1, Kapitel 14 Fußheberorthese (ankle-foot orthosis, AFO): Hilfsmittel bei Beeinträchtigung der Dorsalextensorengruppe am Sprunggelenk Die Fußspitze wird über ein Federelement der Orthese in der Schwungphase angehoben, um genügend Bodenfreiheit beim Durchschwingen zu ermöglichen. Des Weiteren wird über die Feder die Plantarbewegung des Fußes zu Beginn der Standphase kontrolliert. 󳶳Kapitel 5 Ganganalyse (gait analysis): Teilgebiet der Bewegungsanalyse und Verfahren zur quantitativen und qualitativen Beschreibung des (menschlichen) Ganges. 󳶳Kapitel 2 Gangzyklus (auch Doppelschritt genannt; gait cycle): Zeitintervall zwischen zwei aufeinanderfolgenden, identischen Ereignissen des gleichen Beines während des Gehens. In der Regel wird der „Initiale Bodenkontakt“ als Start- und Endpunkt genutzt. 󳶳Kapitel 2

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Ganzbein-Orthese (full leg orthosis): Orthese mit Wirkung als Knie-Knöchel-FußOrthese über Knie, Fußgelenk und Fuß. 󳶳Kapitel 5 Ganzbein-Orthese, entlastende (relieving full leg orthosis): Hilfsmittel, welches das Körpergewicht in ein Oberschenkelformteil mit Anstützung am Sitzbein (Tuber os ischii) einleitet und über die Schienenkonstruktion überträgt. Alle Strukturen des Beines vom Fuß bis zur Hüftgelenkspfanne können so entlastet werden. Eine komplette Entlastung ist jedoch nicht möglich, da die inneren Kräfte (Muskelzüge und KapselBandapparat) nicht inaktiviert werden. 󳶳Kapitel 5 Ganzbein-Orthese, standphasenkontrollierte (stance control orthosis): Orthese, die das Kniegelenk in der Standphase zwecks eines sicheren Standes sperrt und vor der Einleitung der Schwungphase freigeben kann, um das gelähmte Bein annähernd physiologisch durchschwingen zu lassen. 󳶳Kapitel 5 Gehorthese, reziproke (reciprocal gait orthosis): Orthese zur Kopplung der linken mit der rechten Bein-Orthese über eine Becken-Rumpf-Orthese mit Beugung des einen Hüftgelenks und Streckung des gegenseitigen Hüftgelenks. Die resultierende koordinierte mechanische Bewegung beider Beinseiten ergibt einen reziproken Gangablauf. 󳶳Kapitel 5 Gelenkachsen, anatomische (anatomical joint axis): Achsen, um die die Rotationsbewegungen in den einzelnen Gelenken erfolgen. Anzahl und Lage sind durch die Anatomie der Gelenkoberfläche gegeben. Anatomische Gelenkachsen schneiden sich im Gelenkzentrum, das zusammen mit ihnen das Gelenkkoordinatensystem bildet. 󳶳Kapitel 2 Gelenkkette (joint chain): Zusammenschluss mehrerer Körpersegmente, die durch Gelenke miteinander verbunden sind und eine funktionelle Einheit bilden. Durch sie wird u. a. der Bewegungsraum des Menschen definiert. 󳶳Kapitel 2 Gestik (gesture): Kommunikation durch Körperhaltung und Bewegung (z. B. verschränkte Arme, Beine, Haltung). 󳶳Kapitel 7 Gliedmaßenprothetik (limb prosthetics): Teilgebiet der Exoprothetik, das sich mit Körperersatzstücken für die obere und untere Extremität nach Amputation befasst. 󳶳Kapitel 3 und 󳶳Band 1, Kapitel 14 Goniometer (goniometer): Messinstrument zur Bestimmung von Winkeln. Die einfachste Form ist ein Winkelmesser mit zwei beweglichen Armen, zwischen denen eine Skala zum Ablesen der Winkel angebracht ist. 󳶳Kapitel 2 Greifreifenantrieb, motorisch restkraftverstärkender (power-assisted wheel drive): der am Greifreifen eines Rollstuhls eingebrachte Bewegungsimpuls wird elektronisch ausgewertet und durch einen in der Radnabe integrierten Motor verstärkt.

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Bleiben die Impulse am Greifreifen aus, so wird die Antriebsunterstützung unterbrochen. 󳶳Kapitel 4 Hand-Orthese, kurze (short hand orthosis): Hilfsmittel mit Wirkung auf Mittelhandknochen sowie Fingergrundgelenke. Sie lässt in der Regel eine Bewegung im Handgelenk zu. 󳶳Kapitel 5 Hennemansches Prinzip, auch Größenprinzip (Henneman’s size principle): Prinzip zur Rekrutierung (Aktivierung) motorischer Einheiten. Für die Erzeugung kleiner Kräfte werden vorwiegend langsam kontrahierende, ermüdungsresistente, motorische Einheiten (Typ I) genutzt. Die schnellen motorischen Einheiten (Typ II) werden nur bei höheren Kraftanforderungen zusätzlich rekrutiert. 󳶳Kapitel 8 Herzschrittmacher (artificial cardiac pacemaker): Stimulator, der mittels elektrischer Reizung einen pathologischen Herzrhythmus behebt, der aufgrund einer Störung der Erregungsbildung oder Erregungsweiterleitung im Herzen vorliegt. Dabei soll ein möglichst natürlicher Herzrhythmus erzeugt werden. Ein implantierbarer Herzschrittmacher wird dauerhaft in die Brust oder den Bauchraum eingesetzt. Mittels spezifischer Elektroden wird eine leitfähige Verbindung zwischen ihm und dem Herzen hergestellt. 󳶳Kapitel 8 und 󳶳Band 9, Kapitel 4 Hilfsmittel (technical aid): sächliches Mittel oder technisches Produkt, das den Erfolg einer Krankenbehandlung sichert, eine Behinderung ausgleicht oder einer drohenden Behinderung vorbeugt. Hilfsmittel werden im allgemeinen Lebensbereich bzw. im häuslichen Umfeld des Betroffenen eingesetzt, dienen der Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisse des täglichen Lebens, sind transportabel und werden von Leistungserbringern an Betroffene abgegeben. 󳶳Kapitel 1 und 󳶳Band 1, Kapitel 14 Hörhilfe (hearing aid): technische Hilfe zum Ausgleich einer angeborenen oder erworbenen Hörfunktionsminderung, welche einer kausalen Therapie nicht zugänglich ist. 󳶳Kapitel 7 Hüftgelenk, prothetisches (lower limb prosthesis hip joint): gelenkige Verbindung des Beckenkorbes mit den darunter befindlichen prothetischen Bauteilen, die zusammen eine Gelenkkette bilden. Die Drehbewegung des Hüftgelenks findet in der Sagittalebene statt, muss aber nicht auf diese Ebene beschränkt sein. Das Hüftgelenk gewährleistet (gemeinsam mit dem Kniegelenk und dem Prothesenfuß) die Standsicherheit sowie ggf. die Schwungphasensteuerung der Beinprothese und ermöglicht das Sitzen. 󳶳Kapitel 3 und 󳶳Band 1, Kapitel 14 Hüftorthese, korrigierende (correcting hip orthosis): Hilfsmittel zur Einstellung der Hüftgelenke im Säuglingsalter (Flexion und Abduktion), um eine möglichst große Überdachung des Hüftkopfes bei der weiteren Ausreifung des Gelenks zu erzielen und eine Hüftluxation zu verhindern (Fehlstellung des Hüftgelenks, bei der sich der Gelenkkopf außerhalb der Gelenkpfanne befindet). 󳶳Kapitel 5

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Hüftorthese, stabilisierende (stabilising hip orthosis): Hilfsmittel zur Entlastung nach Einsatz einer Hüftendoprothese und zur Verhinderung einer Luxation der Prothese. Zu diesem Zweck werden Flexion und Adduktion eingeschränkt. 󳶳Kapitel 5 Hypoglossalnervstimulation (hypoglossal nerve stimulation): verhindert das Zurücksinken der Zunge im Schlaf und wird zur Behandlung obstruktiver schlafbezogener Atmungsstörungen eingesetzt. 󳶳Kapitel 8 Indirekte Nutzung körpereigener Kraftquellen bei einer Gliedmaßenprothese (indirect use of body forces): nutzt Muskeln, die Bewegungen einzelner Körperteile erzeugen und überträgt diese auf die Prothese. 󳶳Kapitel 3 ISB-Standard für die Definition von Gelenkkoordinatensystemen: Definition der Internationalen Gesellschaft für Biomechanik (International Society of Biomechanics, ISB) für Gelenkkoordinatensysteme verschiedener Gelenke bezüglich Orientierung und Aufhängung sowie Wahl der Rotationsreihenfolge. Diese Parameter sind dabei so gewählt, dass Rotationen um anatomisch interpretierbare Gelenkachsen erfolgen. 󳶳Kapitel 2 Isokinet (griech. iso – gleich und kinesis – Bewegung; isokinetic device): Isokineten sind automatisierte Trainingsmaschinen, die durch Veränderung des Widerstandes die Bewegungsgeschwindigkeit konstant halten und sich somit der aufgewendeten Kraft des Trainierenden anpassen. 󳶳Kapitel 8 und 󳶳Kapitel 9 Kinematik (kinematics): Beschreibung der Bewegung von Punkten und Körpern im Raum. Zur vollständigen kinematischen Beschreibung einer Bewegung genügen die Größen Ort, Lage, Geschwindigkeit und Beschleunigung. 󳶳Kapitel 2 Kinetik (kinetics): Beschreibung der Änderung der kinematischen Bewegungsgrößen (Ort, Lage, Geschwindigkeit und Beschleunigung) unter Einwirkung von Kräften. Damit erfasst die Kinetik den Zusammenhang zwischen Bewegung und wirkenden Kräften. 󳶳Kapitel 2 Kniegelenk, prothetisches (lower limb prosthesis knee joint): ersetzt die wichtigsten Funktionen des natürlichen Kniegelenks einschließlich des angrenzenden Bandund Muskelapparates. Es gewährleistet immer eine Sicherung des Gelenks im Stehen und in der Standphase des Gangzyklus. Zusatzfunktionen ermöglichen u. a. eine harmonische Beugung/Streckung in der Sagittalebene während der Schwungphase des Gangzyklus (ggf. mit einer Gelenksverkürzung), eine Stoßdämpfung beim Fersenauftritt, die beugewinkelabhängige Verlagerung des Gelenkdrehpunktes, eine kontinuierliche Vorwärtsbewegung des Körperschwerpunktes während der Standphase (Kniebeugung unter Last) und das alternierende Gehen über Treppen. 󳶳Kapitel 3 und 󳶳Band 1, Kapitel 14 Knie-Orthese, entlastende (relieving knee orthosis): Hilfsmittel zur Entlastung durch Korrektur der Beinachse in der Frontalebene (Varus-/Valgusfehlstellung). Die

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Normalisierung der Beinachse führt zum verkürzten Abstand des Belastungsvektors zum Drehzentrum des Knies und somit zur Reduktion des entstehenden Momentes. 󳶳Kapitel 5 Knie-Orthese, funktionelle (functional knee orthosis): Hilfsmittel zum Einsatz bei Beginn der funktionellen Übungsbehandlung, wenn die Orthese das Knie nicht mehr ruhigstellen, sondern innerhalb eines sicheren Bewegungsumfanges führen soll. Dieser kann mit fortschreitender Behandlungsdauer weiter freigegeben werden. 󳶳Kapitel 5 Knie-Orthese, immobilisierende (immobilising knee orthosis): Knie-Orthese ohne Gelenk zur zuverlässigen Ruhigstellung und Schonung des Kniegelenks und der geschädigten Strukturen sowie zur Sicherung des Operationsergebnisses. 󳶳Kapitel 5 Kommunikation (communication): wechselseitiger Austausch von Informationen. Menschliche Kommunikation kann verbal über Sprache oder Schrift oder nonverbal über Gestik, Körperkontakt oder Symbole erfolgen. 󳶳Kapitel 7 Kommunikationshilfe (communication aid): technisches Mittel, Verfahren und Konzept, welches geeignet ist, die sensorischen Wahrnehmungsfunktionen oder die motorischen Ausdrucksfunktionen eines Menschen zu verbessern. Im Sinne der Produktgruppe 16 des Hilfsmittelverzeichnisses ausschließlich Gegenstände, welche die direkte lautsprachliche oder schriftliche Mitteilungsmöglichkeit eines Menschen unterstützen bzw. erst ermöglichen. 󳶳Kapitel 7 Kommunikationshilfe für Blinde (communication aid for blind persons): Hilfsmittel zum Informationsaustausch unter Verzicht auf visuelle Elemente vorwiegend unter Nutzung akustischer und taktiler Möglichkeiten der Aus- und Eingabe von Informationen. 󳶳Kapitel 7 Koordinationsmuster, muskuläres (muscular coordination pattern): Zusammenspiel verschiedener Muskeln und Muskelgruppen mit dem Ziel einer energieeffizienten, aber trotzdem sehr präzisen Ausführung einer Bewegung. Dabei arbeiten zur Steuerung der Bewegung synergistische und antagonistische Muskeln stets Hand in Hand. 󳶳Kapitel 2 Körpersegment (body segment): in der Biomechanik die Bezeichnung aller Strukturen, die sich in gleicher Weise wie die Knochen bewegen. Hierzu gehört neben den Knochen auch das umgebende Weichgewebe, wobei kleine Relativbewegungen vernachlässigt werden. Die einzelnen Körpersegmente sind durch Gelenke miteinander verbunden. Die Lage zweier Körpersegmente relativ zueinander entspricht der Gelenkstellung. 󳶳Kapitel 2 Kraft, äußere (external force): äußere Kräfte sind die Ursache der passiven Bewegung von Körpersegmenten. Je nach Wirkrichtung und Lage des Angriffspunktes führen die äußeren Kräfte ein Drehmoment herbei, das zu einer Rotationsbewegung

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um die anatomischen Achsen eines Gelenks führt. In statischen Situationen sind die äußeren Kräfte/Momente im Gleichgewicht mit den inneren Kräften/Momenten, die durch die Muskulatur aufgebracht werden. 󳶳Kapitel 2 Kraft, externe (extrinsic forces): durch die Wechselwirkung des Bewegungsapparates mit seiner Umgebung hervorgerufene Kraft. Zusammen mit den intrinsischen Kräften eines Körpersegmentes (Masse und Massenträgheitsmoment) bilden sie die äußeren Kräfte. 󳶳Kapitel 2 Kraft, innere (internal force): alle vom Körper selbst generierten Kräfte, unter denen die Muskulatur den größten Anteil hat, zu denen aber auch passive Strukturen wie Sehnen und Bänder beitragen. 󳶳Kapitel 2 Kraftzugbandage (bandage of body force driven prosthesis): nimmt die Bewegungen und Kräfte von Stumpf, Schultergürtel oder Rumpf auf und leitet diese direkt an die Prothese weiter. 󳶳Kapitel 3 Labor- oder Inertialkoordinatensystem (inertial coordinate system): feststehendes, nicht beschleunigtes Koordinatensystem, das als Bezugspunkt zur Beschreibung von Bewegungen herangezogen wird. 󳶳Kapitel 2 Lagerungsrollstuhl (reclining wheelchair): für die Aufnahme von weitgehend immobilen Personen über längere Zeiträume optimierter Rollstuhl, der komfortable Sitze sowie ein umfangreiches Zubehörprogramm besitzt. Verstellmöglichkeiten betreffen insbesondere die Sitz- bzw. Liegeposition. 󳶳Kapitel 4 Lagerungsschiene (bedding splint): Schiene zur Ruhigstellung oder korrigierenden Lagerung von Extremität oder Gelenk. 󳶳Kapitel 5 Laufbandtherapie (treadmill therapy): ein angetriebenes Laufband erlaubt die Gangbewegung des Patienten an einem Ort. Üblicherweise findet eine Laufbandtherapie mit partieller Körpergewichtsentlastung statt, wobei ein Gurtsystem das fehlende Gleichgewicht ausgleicht und die unteren Extremitäten entlastet. 󳶳Kapitel 9 Leistung (power): in der Biomechanik die Arbeit pro Zeiteinheit, die notwendig ist, um die gewünschte Bewegung auszuführen. Es wird dabei in positive Leistung, bei der Energie freigesetzt wird, und negative Leistung, bei der Energie verbraucht wird, unterschieden. 󳶳Kapitel 2 Lenkung (steering): Einrichtung zur Änderung der Richtung des Geschwindigkeitsvektors eines Fahrzeuges. 󳶳Kapitel 4 Lenkung, direkte (direct steering): bewirkt an einem Fahrzeug (z. B. Rollstuhl) von einer Stelleinrichtung (z. B. einem Lenkhebel) über zwischengeschaltete Elemente (Hebel, Hydraulik u. a.) an den Laufrädern der gelenkten Achse einen definierten Lenkwinkel. 󳶳Kapitel 4

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Lenkung, indirekte (indirect steering): bewirkt an einem Fahrzeug (z. B. Rollstuhl) Lenkeinschläge an den gelenkten Rädern der Lenkachse durch eine besondere Radanordnung, bei der das Lenkrad in einer Radgabel mit Radnachlauf geführt, und die gesamte Anordnung um eine senkrechte Hochachse drehbar gelagert ist. Rollwiderstand oder andere (Stör-) Krafteinflüsse erzeugen eine Richtkraft, die ein Moment über den Hebelarm des Radnachlaufs zur Folge hat und so die Einstellung des Lenkwinkels bewirkt. Der Lenkwinkel ist nicht zwangsbestimmt und wird bei der Kurvenfahrt durch ein Kräftepaar an den Antriebsrädern hervorgerufen. 󳶳Kapitel 4 Lernen, motorisches (motor learning): das Lernen oder Wiederlernen von Bewegungen. 󳶳Kapitel 9 Lokomotionstherapie (locomotion therapy): Therapieform zur Rehabilitation des Ganges, bei dem der Patient (ggf. mit Unterstützung durch Therapeuten oder Geräte) das Gehen wiedererlernt. 󳶳Kapitel 9 Lumbal-Orthese (lumbar orthosis): Orthese zur Stellungsänderung, Entlastung oder Bewegungsbeeinflussung der Lendenwirbelsäule. 󳶳Kapitel 5 Magnetstimulation, funktionelle (Functional Magnetic Stimulation, FMS): Stimulation zur Unterstützung von Körperfunktionen mittels elektromagnetischer Induktion eines elektrischen Stromes, der zur Depolarisation einer Nervenzellmembran führt. 󳶳Kapitel 8 Manipulator (manipulator): Gerät, das die physikalische Interaktion mit der Umgebung ermöglicht. 󳶳Kapitel 9 MCP-Orthese (metacarpophalangeal orthosis): Orthese mit Wirkung auf das Fingergrundgelenk (Metacarpophalangealgelenk) und dessen Bewegungseinschränkung. 󳶳Kapitel 5 Messverfahren, photometrisches (photometric measurement process): Verfahren zur 3D-Bestimmung der Position eines Objektes im Raum unter Einsatz meist optischer Kamerasysteme in Verbindung mit lichtreflektierenden, am Körper befestigten Markern. Eine 3D-Rekonstruktion der Position ist möglich, wenn der Marker von mindestens zwei Kameras aufgenommen wird. 󳶳Kapitel 2 Mimik (facial expression): Kommunikation durch den Gesichtsausdruck (Lachen, Lächeln, Weinen, Naserümpfen, Augenaufreißen usw.). Einige der emotionalen Gesichtsausdrücke sind kulturunabhängig universal. 󳶳Kapitel 7 Mobilisationsschiene, fremdkraftgetrieben (continuous passive motion device, CPM): fremdkraftgetriebene Mobilisationsschienen zur Mobilisierung eines Gelenks. Das betroffene Gelenk wird dabei von der Schiene bewegt, während der Patient selbst passiv ist und nicht zur Bewegung beiträgt (passive Mobilisation). 󳶳Kapitel 9

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Mobilisierung, passive (mobilisation, passive): Mobilisierung eines Gelenks, ohne Mitwirkung des Patienten. Sie erfolgt durch einen Therapeuten oder ein fremdkraftgetriebenes Therapiesystem. 󳶳Kapitel 9 Mobilität (lat. mobilitas; mobility): beschreibt, in welchem Maße der Patient in der Lage ist, eine aktive Eigenbewegung zu generieren. 󳶳Kapitel 3 Momentanpol (instantaneous center of rotation): Bewegung lässt sich als reine Drehbewegung um einen momentanen Drehpunkt beschreiben. Der Drehpunkt wird als Momentanzentrum bzw. Momentanpol bezeichnet. 󳶳Kapitel 2 Motorische Einheit (motor unit): umfasst ein unteres Motorneuron und alle von dem zugehörigen Axon innervierten Muskelzellen. Sie ist die kleinste einzeln durch das Zentrale Nervensystem erregbare Einheit der Skelettmuskulatur. 󳶳Kapitel 8 Muskelkraft (muscular strength): von einem Muskel bei seiner Aktivierung erzeugte Kraft. Die Höhe der Muskelkraft ist abhängig vom Dehnungs- bzw. Kontraktionszustand des Muskels und setzt sich aus der aktiven Kontraktionskraft und der passiven elastischen Rückstellkraft des Muskels zusammen. 󳶳Kapitel 2 Neuro-Assistenzsystem (neuro assistance system): medizinisches Implantat oder externes Gerät, welche das Prinzip der Neuromodulation verwenden. 󳶳Kapitel 8 Neuro-Assistenzsystem, motorisches (motorische Neuroprothesen, motor neuro assistance system): System zur Wiederherstellung motorischer Funktionen durch Funktionelle Elektrostimulation mit folgenden Schwerpunkten: Gehen, Aufstehen und Hinsetzen, Stehen, Erreichen von Objekten oder Körperteilen mit der Hand sowie Handfunktionen, insbesondere das Greifen. 󳶳Kapitel 8 Neuromodulation (neuromodulation): technisch realisierte Einwirkung auf neuronale Schnittstellen des Körpers mittels elektrischer oder chemischer Reize, um verlorengegangene Körperfunktionen vollständig oder teilweise wiederherzustellen, oder um Störungen des Nervensystems zu unterdrücken. 󳶳Kapitel 8 und 󳶳Band 1 und 󳶳Band 11 Neurorehabilitation (neurorehabilitation): Therapie neurologischer Erkrankungen mit dem Ziel des Wiedererlernens verlorener Funktionen. 󳶳Kapitel 9 Neutral-Null-Stellung (neutral position): Körperposition, die ein Mensch im normalen aufrechten, etwa hüftbreiten Stand einnimmt, wobei die Arme entspannt zu beiden Seiten des Körpers herunterhängen und die Daumen nach vorne weisen. 󳶳Kapitel 2 Oberflächen-Elektromyographie (EMG; surface electromyography): nichtinvasive Erfassung des elektrischen Potentials, das bei der Erregung eines Muskels auf der Hautoberfläche entsteht. 󳶳Kapitel 2

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Orthese (orthosis, brace): extern angewandtes Hilfsmittel zur Veränderung der strukturellen und funktionellen Eigenschaften des neuromuskulären oder skelettalen Systems. Orthesen begrenzen den Bewegungsumfang bezüglich der Anzahl der zugelassenen Freiheitsgrade oder des zugelassenen Bewegungsausmaßes. 󳶳Kapitel 5 und 󳶳Band 1, Kapitel 14 Orthese, dynamische (dynamic orthosis): Orthese mit selektiver, nicht vollständiger Begrenzung der Freiheitsgrade und des Bewegungsumfanges belasteter Gelenke. 󳶳Kapitel 5 Phrenikusstimulator bzw. Zwerchfellschrittmacher (diaphragmatic pacemaker): ermöglicht durch künstliche Kontraktion der Zwerchfellmuskulatur die eigenständige Einatmung bei Tetraplegikern mit sehr hoher Läsionshöhe und von ALS-Patienten. 󳶳Kapitel 8 Physiotherapie (griech. physis – Natur und therapeia – Pflege der Kranken; physiotherapy): nutzt passive beispielsweise durch den Therapeuten geführte und aktive, selbstständig ausgeführte Bewegung des Menschen sowie physikalische Maßnahmen mit dem Ziel der Heilung und Vorbeugung von Erkrankungen, insbesondere der Wiederherstellung, Verbesserung und Erhaltung der Bewegungsfähigkeit des menschlichen Körpers. 󳶳Kapitel 9 Plastizität, neuronale (neuronal plasticity): Eigenschaft von Synapsen, Nervenzellen oder auch ganzen Hirnarealen, sich in Abhängigkeit von Bedarf und Kapazität zu verändern. 󳶳Kapitel 9 Polster, elastisches (Pelotte; pad, pelotte): Polster zur Verringerung von Druckspitzen auf Erhebungen des Körpers, wie z. B. der Patella oder den Malleolen. Pelotten mit makroskopisch strukturierter Oberfläche bewirken zusätzlich einen Massageeffekt. 󳶳Kapitel 5 Prävention (prevention): jede Maßnahme, die eine Beeinträchtigung der Gesundheit (Krankheit, Verletzung) verhindern oder verzögern kann oder weniger wahrscheinlich werden lässt. Sie ist abzugrenzen von der Gesundheitsförderung, die vor allem das Ziel hat, Schutzfaktoren zu erhöhen und die gesundheitlichen Lebensbedingungen zu stärken. 󳶳Kapitel 1 Prothese, eigenkraftgetriebene (body force driven prosthesis): setzt körpereigene Kraftquellen (die verbliebene Muskulatur) zur Erzeugung der notwendigen Kräfte und Bewegungen der Prothese ein. (󳶳Kapitel 3) Prothese, intuitiv gesteuerte (intuitively controlled prosthesis): ermöglicht es dem Betroffenen, seine Prothese in natürlicher Weise zu bewegen, ohne die Ansteuerung erlernen oder dieser Aufmerksamkeit widmen zu müssen. 󳶳Kapitel 3

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Prothese, kosmetische (aesthetic prosthesis): Prothese zur Wiederherstellung des äußeren Erscheinungsbildes, ohne Ersatz einer weiteren Funktion. 󳶳Kapitel 3 Prothese der oberen Extremität, funktionelle (functional upper limb prosthesis): Prothese zur Versorgung einer Amputation im Bereich des Ober- und Unterarms mit der Aufgabe, zahlreiche Bewegungsmuster nachzubilden. Die Schulter und das Ellenbogengelenk erfüllen hauptsächlich den Zweck, die Hand an ein Zielobjekt in der jeweils günstigsten Positionierung heranzuführen. Die prothetische Hand ist das Greiforgan. 󳶳Kapitel 3 und 󳶳Band 1, Kapitel 14 Prothesenaufbau, statisch (static prosthetic alignment): Anordnung der Komponenten einer Modularprothese in allen drei Raumrichtungen, abhängig von der Konstitution und Leistungsfähigkeit des Amputierten sowie den verwendeten Prothesenkomponenten. 󳶳Kapitel 3 und 󳶳Band 1, Kapitel 14 Prothesenschaft (limb prosthesis socket): hat das Stumpfvolumen aufzunehmen und statische wie dynamische Kräfte und Momente beim Gehen und Stehen zu übertragen. Er beinhaltet die Kontaktflächen zur Haut und stellt die Ankopplung der Prothese an den Patienten sicher. 󳶳Kapitel 3 und 󳶳Band 1, Kapitel 14 Quengeln (passive stretching): Aufbringen eines Dauerzuges auf ein bewegungseingeschränktes Gelenk mittels geeigneter Hilfsmittel, mit dem Ziel, die gelenkumschließenden Weichteile passiv zu dehnen. 󳶳Kapitel 5 Radnachlauf (castor trail): Maß, um das der Radaufstandspunkt eines Fahrzeuges (z. B. Rollstuhls) dem Schnittpunkt der Lenkkopfachse mit der Fahrbahn in Fahrtrichtung nachläuft. 󳶳Kapitel 4 Radstand (wheelbase): Abstand der Radmittelpunkte (Kreismittelpunkte) von Antriebs- und Lenkrad eines Fahrzeuges (z. B. Rollstuhls). 󳶳Kapitel 4 Radsturz (camber): Neigung der Radebene zu einer im Radaufstandspunkt errichteten Senkrechten eines Fahrzeuges (z. B. Rollstuhls). Der Radsturz ist negativ, wenn der obere Teil des Rades zur Fahrzeugmitte geneigt ist. 󳶳Kapitel 4 Reality, augmented (dt. erweitertete Realität): computergestützte, insbesondere visuelle Erweiterung der Realitätswahrnehmung. 󳶳Kapitel 9 Redression (redressement): konservatives Therapieverfahren, bei dem Gelenkfehlstellungen sukzessive mit manuellen oder apparativen Methoden korrigiert werden. 󳶳Kapitel 5 Rehabilitation (lat. re – wieder, zurück; habere – haben, innehaben; dt. Wiederherstellung, Wiedereingliederung; rehabilitation): koordinierter Einsatz medizinischer, sozialer, beruflicher, pädagogischer und technischer Maßnahmen sowie Einflussnahme auf das physische und soziale Umfeld zur Funktionsverbesserung, zum Erreichen einer größtmöglichen Eigenaktivität, zur weitestgehend unabhängigen Partizipation

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in allen Lebensbereichen, damit der Betroffene in seiner Lebensgestaltung so frei wie möglich wird. 󳶳Kapitel 1 und 󳶳Band 1, Kapitel 14 Rehabilitation, medizinische (medical rehabilitation): Teilgebiet der Medizin, das alle zu treffenden Maßnahmen für Patienten nach schwerer Krankheit und für behinderte Menschen umfasst. Ziele sind die möglichst vollständige gesellschaftliche Teilhabe und wenn möglich die gesundheitliche Wiederherstellung. 󳶳Kapitel 1 und 󳶳Band 1, Kapitel 2 Rehabilitation, Phasenmodell (phase model of rehabilitation): Einteilung des Rehabilitationsverlaufs in sechs unterschiedliche Phasen (von Akutbehandlung bis Langzeitpflege), entsprechend der Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR). 󳶳Kapitel 1 Rehabilitationstechnik (assistive device for functionally limited people): Hilfsmittel und andere technische Systeme und Geräte, die einen Rehabilitationsprozess unterstützen. 󳶳Kapitel 1 und 󳶳Band 1, Kapitel 1.14 Rollstuhl (wheelchair): rollendes technisches Hilfsmittel bzw. Mobilitätshilfe mit Rädern und Sitzsystem, das bei Gehunfähigkeit oder stark eingeschränkter Gehfähigkeit von Personen mit Mobilitätseinschränkungen in allen Körperlagen (Sitzen, Stehen, Liegen) zur Anwendung kommt. Rollstühle ermöglichen den Betroffenen, sich im allgemeinen Lebensbereich allein oder mit fremder Hilfe fortzubewegen. Sie werden individuell gefertigt, serienmäßig hergestellt oder erhalten als Basisprodukt zusätzliche individuelle Zurichtungen. 󳶳Kapitel 4 Rollstuhl mit Einarmantrieb (single-arm propelled wheelchair): Rollstuhl, der Antrieb und Lenkung manuell mit einer oberen Extremität im Innenbereich zulässt. Er kann mit speziellen Greifreifen (Doppelgreifreifen) oder Handhebeln ausgestattet sein. 󳶳Kapitel 4 Rollstuhl mit Greifreifenantrieb (handrim drive wheelchair): Rollstuhl, der durch den Rollstuhlfahrer selbst bewegt wird. Für Antrieb und Lenkung versetzt er die Antriebsräder über daran angebrachte Greifreifen in Drehung. Rollstühle mit Greifreifenantrieb können im Innenraum und Außenbereich eingesetzt werden. 󳶳Kapitel 4 Rollstuhl mit Hebelantrieb (lever-drive wheelchair): Antrieb und Lenkung des Rollstuhls erfolgen manuell mit einer oder beiden oberen Extremitäten im Innenbereich oder Straßenverkehr. Er ist mit einem Handhebelgetriebe ausgestattet, das einen Freilauf besitzt. 󳶳Kapitel 4 Rollstuhl-Aufsteckantrieb (clip-on auxiliary drive): Zusatzaggregat, das an handbetriebenen Rollstühlen befestigt werden kann. Der Rollstuhl wird dadurch mittels Elektromotoren angetrieben, die über Reibrollen auf die Reifen des Rollstuhls wirken. 󳶳Kapitel 4

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Rollstuhl-Radnabenantrieb (wheel-hub auxiliary drive): Zusatzaggregat, das an handbetriebenen Rollstühlen befestigt werden kann. Der Rollstuhl wird dadurch mittels Elektromotoren angetrieben, die in die Radnaben der Antriebsräder des Rollstuhls integriert sind. 󳶳Kapitel 4 Rollstuhl-Schubgerät (wheelchair push device): am Rollstuhl befestigtes Zusatzaggregat zum Antrieb handbetriebener Rollstühle mittels Schub über Antriebsräder. Das Gewicht des Rollstuhls und des Rollstuhlbenutzers stützt sich weiterhin über die Rollstuhlräder am Boden ab. 󳶳Kapitel 4 Rollstuhl-Zuggerät (wheelchair pull device): wird vor einem Rollstuhl angebracht und erhöht den Aktionsradius des Nutzers. Der Kupplungsvorgang kann durch den Rollstuhlfahrer eigenständig durchgeführt werden. Gelenkt werden derartige Gespanne über eine Lenkgabel oder mittels Führungsholmen. Der Antrieb erfolgt über einen Elektromotor. 󳶳Kapitel 4 Rotationsmatrix (matrix of rotation): Matrix zur Beschreibung der Drehung eines Vektors im euklidischen Raum. Man unterscheidet zwischen aktiver Drehung, bei der ein Punkt im festen Koordinatensystem rotiert wird (geometrische Transformation) und passiver Drehung, bei der das Koordinatensystem gedreht und der Punkt festgehalten wird (Koordinatentransformation). 󳶳Kapitel 2 Rotationswinkel (angle of rotation): drei Winkel, die jeweils eine Drehung (Rotation) um bestimmte Achsen beschreiben und so eine Transformation zwischen zwei (kartesischen) Koordinatensystemen (z. B. zwei Körpersegmentkoordinatensystemen) definieren. 󳶳Kapitel 2 Rückmeldung einer Handprothese, sensorische (sensory feedback): ermöglicht es dem Träger einer Handprothese, mit integrierten Sensoren und Aktuatoren bzw. implantierten Elektroden Informationen über die Beschaffenheit ergriffener Gegenstände und über die greifende Hand zu erhalten. 󳶳Kapitel 3 Schieberollstuhl (attendent-propelled wheelchair): ein durch Begleitpersonen anzutreibender und zu steuernder Rollstuhl, der beidhändig über die Schiebegriffe des Rollstuhls vorangetrieben wird und im Innenraum sowie Außenbereich eingesetzt werden kann. 󳶳Kapitel 4 Schiene (orthosis, brace, splint)/statische oder immobilisierende Orthese (immobilising orthosis): extern angewandtes Hilfsmittel mit dem Ziel der Verhinderung von Bewegungen um alle möglichen anatomischen Achsen eines Gelenks (Immobilisation). Ihre therapeutische Wirkung besteht in der Fixierung eines Gelenks in einer therapeutisch sinnvollen Stellung. 󳶳Kapitel 5 Schritt (step): Zeitliche und räumliche Wiederholung der Gangbewegung vom initialen Bodenkontakt des ipsilateralen bis zum initialen Bodenkontakt des kontralatera-

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len Beines. Zwei aufeinanderfolgende Schritte ergeben einen Doppelschritt, der auch Gangzyklus genannt wird. 󳶳Kapitel 2 Sehhilfe (visual aid): optische bzw. opto-elektronische Vorrichtung zur Korrektur von Brechungsfehlern oder dem Ausgleich, der Verbesserung oder Behandlung eines anderen Krankheitszustandes des Auges. 󳶳Kapitel 7 Sehnenkraft (tendon force): Kraft, die bei Kontraktion des Muskels über die Sehne auf den Knochen ausgeübt wird und sich aus der Kontraktionskraft und der elastischen Rückstellkraft des Muskels sowie der elastischen Rückstellkraft der Sehne zusammensetzt. Ihre Wirkrichtung ist immer in Richtung des Sehnenverlaufes. 󳶳Kapitel 2 Sensomotorik (sensorimotor system): Zusammenspiel von motorischer Bewegungsausführung und Sensorik, insbesondere der sensiblen Wahrnehmung der Bewegungsausführung durch die entsprechenden Rezeptoren (Propriozeption). Sensomotorisch oder auch propriozeptiv wirkende Hilfsmittel stimulieren die entsprechenden Sinneswahrnehmungen und beeinflussen so die Bewegungsausführung. 󳶳Kapitel 5 und 󳶳Kapitel 9 Sitzschale (seat shell): individuelle Sitzversorgung, die dem Patienten ein korrigiertes und entlastendes Sitzen ermöglicht. 󳶳Kapitel 4 und 󳶳Kapitel 5 Sportrollstuhl (sports wheelchair): speziell für sportliche Aktivitäten konzipierter oder entsprechend zugerüsteter Rollstuhl. 󳶳Kapitel 4 Sprache (language): Kommunikationsmedium zur Übermittlung von Empfindungen, Erfahrungen und Bewusstseinsinhalten. 󳶳Kapitel 7 Sprechen (speech): Realisierung von Sprache durch akustische Artikulation mit physischen und psychophysischen Steuerungs- und Rückkopplungsfunktionen. 󳶳Kapitel 7 Sprechhilfe (speech aid): Hilfsmittel zum Ausgleich der fehlenden oder beeinträchtigten Funktionen von Menschen mit Stimm- und Sprachstörungen. Sie ermöglicht dem Betroffenen, mit seinen Mitmenschen sprachlich zu kommunizieren. 󳶳Kapitel 7 Sprunggelenks-Orthese (ankle orthosis): Hilfsmittel zum Einsatz nach Ruptur oder Teilruptur der Außenbänder am Sprunggelenk zur Vermeidung der Supination. 󳶳Kapitel 5 Stromstärke-Impulsbreite-Diagramm (strength-duration relation): Die für das Auslösen von Aktionspotentialen bei Nerven- und Muskelzellen minimale Stromstärke wird im sog. Stromstärke-Impulsbreite-Diagramm über der Reizdauer/Impulsbreite dargestellt. 󳶳Kapitel 8

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Stütz- und Bewegungsapparat (musculoskeletal system): komplexes Organsystem zur Sicherung der Körpergestalt, der Körperhaltung und der zielgerichteten Bewegung des Körpers. Ein Sammelbegriff für Knochen, Sehnen, Bänder und Gelenke, die den passiven Bewegungsapparat bilden, sowie den Skelettmuskeln, die den aktiven Bewegungsapparat ausmachen. 󳶳Kapitel 2 und 󳶳Band 2 Tertiärprävention (tertiary prevention): Maßnahme zur Verhinderung des Fortschreitens oder des Eintritts von Komplikationen bei einer bereits manifesten Erkrankung. 󳶳Kapitel 1 Therapie, konservative (conservative therapy): Behandlung eines Krankheitszustandes ohne Operation (lat.: conservare – bewahren). Dabei kommen eine medikamentöse Therapie oder physikalische Maßnahmen zum Einsatz. 󳶳Kapitel 5 Therapiesystem (treatment system): Gerät zum Wiedererlernen und zur Wiederherstellung verlorengegangener motorischer, sensorischer und/oder kognitiver Funktionen, z. B. durch Üben. 󳶳Kapitel 9 Therapiesystem, automatisiertes (automated treatment system): sogenannter Rehabilitationsroboter; in der Bewegungstherapie eingesetztes System mit mehreren Achsen, deren Bewegungen hinsichtlich Bewegungsabfolge und -kinematik frei programmierbar sind. 󳶳Kapitel 9 Thorakal-Orthese, auch Brustwirbelsäulen-Orthese (thoracal orthosis): Orthese zur Unterstützung der Rumpfaufrichtung und Entlastung der Brustwirbelsäule. 󳶳Kapitel 5 Thorako-lumbo-sakral-Orthese (thoraco-lumbo-sacral orthosis): Orthese mit Wirkung auf die obere Lendenwirbelsäule, den thorako-lumbalen Übergang und die Brustwirbelsäule bis ca. zum achten Brustwirbel. 󳶳Kapitel 5 Toilettenrollstuhl (toilet wheelchair): für den Innenraum für die Verwendung über einer Toilette oder als Toilette (mit Toiletteneimer) vorgesehener Rollstuhl. Er besitzt eine dafür geeignete Sitzeinheit und Rahmenkonstruktion. 󳶳Kapitel 4 Trainingsmaschine (training system): in der gerätegestützten Physiotherapie eingesetztes Gerät zur Verbesserung von Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit und Koordination sowie der Stärkung der Muskulatur und Beseitigung von muskulären Dysbalancen. 󳶳Kapitel 9 Treppenfahrzeug (stair-climbing device, stair-climbing wheelchair): mobiles Gerät zum Transport behinderter Personen über eine Treppe. Es werden Treppenrollstühle, -steighilfen und -raupen unterschieden. 󳶳Kapitel 4 Triangulation (triangulation): geometrische Methode der optischen Abstandsmessung mittels trigonometrischer Funktionen, bei der von zwei verschiedenen Positionen der zu bestimmende Objektpunkt angepeilt wird. Unter Kenntnis des Abstands

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der beiden Positionen, deren Ortsvektoren sowie der beiden Vektoren von Position nach Objekt können die Koordinaten des Objektpunkts relativ zum Koordinatenursprung bestimmt werden. 󳶳Kapitel 2 Trippelrollstuhl (foot-propelled wheelchair): ein vom Benutzer nur durch Abstoßen mit einem Fuß oder beiden Füßen angetriebener Rollstuhl. 󳶳Kapitel 4 Üben, repetitives (repetitive exercise): häufiges Wiederholen eines zu erlernenden Bewegungsablaufes. 󳶳Kapitel 9 Unterarm-Handorthese (forearm hand orthosis): Orthese, die das Handgelenk übergreift und sowohl mit der Hand wie auch mit dem Unterarm verbunden ist. Sie kann entweder nur die Finger beeinflussen und das Handgelenk ruhigstellen oder das Handgelenk als zentrales Gelenk behandeln und die Finger frei lassen. 󳶳Kapitel 5 Unterschenkel-Orthese, fixierende (immobilising lower leg orthosis): Orthese, die aus medizinischen oder biomechanischen Gründen keine Beweglichkeit im Sprunggelenk zulässt. Fixierende Unterschenkel-Orthesen erfordern immer eine Rollenkonstruktion unter der Orthese, um die fehlende Beweglichkeit im Sprunggelenk zu kompensieren, es sei denn, sie sind als reine Lagerungsorthesen konzipiert. 󳶳Kapitel 5 Wahrnehmung (perception): Prozess, der äußere Reize der Umwelt mit inneren subjektiven, emotionalen und kognitiven Abläufen bzw. Mustern verknüpft und bewertet sowie eine anschauliche Repräsentation der Umwelt und des eigenen Körpers erarbeitet. 󳶳Kapitel 7 Weg-Zeit-Parameter des Ganges (time-distance parameters of gait): örtliche und zeitliche Parameter, die sich aus der fortlaufenden Positionierung der Füße auf dem Boden berechnen lassen. 󳶳Kapitel 2 Zervikal-Orthese (cervical orthosis): Orthese zur Immobilisierung, Mobilisierung und Stabilisierung der Halswirbelsäule. 󳶳Kapitel 5 Zerviko-thorako-lumbo-sakral-Orthese (cervico-thoraco-lumbo-sacral orthosis): Orthese mit Wirkung auf die obere Lendenwirbelsäule, den thorako-lumbalen Übergang und die Brustwirbelsäule bis zur Halswirbelsäule. 󳶳Kapitel 5 Zirkuläre Kompression (circular compression): Therapieverfahren zur Druckerhöhung im Gewebe, gefolgt von geringerer Ultrafiltration und gleichzeitiger Anregung des lymphatischen Abflusses. 󳶳Kapitel 5

Sachwortverzeichnis 3D-Rekonstruktion der Objektposition 78 3-Punkt Prinzip 310, 316, 318, 320 – entlordosierendes 3-Punkt Prinzip 310 – lordosierendes 3-Punkt Prinzip 310 – überlagertes 3-Punkt Prinzip 310 A Absatzhöhe, Verstellmechanismus 147 Absauggerät 26 Achillessehnenbandage 329 Achse – anatomische 58, 68, 79, 282 – ungelenkte 227 Adaptionshilfe 26 Adaptivrollstuhl 245 Aerosol-Inhalationsgerät 32 Agonist 85 Akkumulator, Akku 255 Aktionspotential 397 Aktivität 114 Aktivitäten – des täglichen Lebens 488 Akutbehandlung 10 Alignment 96 Alles-oder-Nichts-Prinzip 399 Amputation 108 – Anzahl 106 – Grundregeln 109 – im Bereich des Oberarmes 197 – krankheitsbedingte, Ursache 106 – traumatische 108 Amputationshöhe 108, 109 Amputationsniveau – Klassifikation 125 – Strukturierung 125 Amputationstechnik – operative 109 Amyotrophe Lateralsklerose 358 Anforderung an eine Prothese, ästhetische bzw. kosmetische 121 Ankopplung, alternative mechanische 199 Anode 405 Anschlag einer Unterschenkel-Orthese – zur Begrenzung der Dorsalextension 293 – zur Begrenzung der Platerflexion 293

Anschlussheilbehandlung 11, 454 Antagonist 72, 73, 75, 85, 86, 88 Antidekubitus-System 345 Anti-Thrombosestrumpf 34 Antrieb, elektromechanischer 185 Antriebsachse 233 Antriebsmotor 253 Antriebsräder, Anordnungsvarianten 225 Antriebssystem elektrischer Rollstuhl 252 Anwendungshilfe 27 Anwendungsort 215 Applikationshilfe 27 Arbeitsarm 177 Arbeitshand 180 Armorthese 281, 300 – immobilisierende 301 Armprothese – aktive 178 – mit Eigenkraft betriebene Systeme 178 – mit Fremdkraftantrieb 178 – kosmetische 177 – mit Ellenbogengelenk, Anforderung 197 Array 192 Arthrodesensitzkissen 39 Arthrodesenstellung 332 Arthrodesenstuhl 39 Arzt 117 assist-as-needed strategy 452 Assistenzsystem 446 Atemschrittmacher 426 Atemtherapiegerät zur Schleimlösung und -entfernung 32 Audiogramm 381 Aufgabe, psychosoziale 182 Aufnahmegespräch 113 Aufrichthilfe 28 Aufstehhilfe für Sessel 37 Augmented Reality 457, 484 Außenschaft 135 – Aufbau 136 Ausstreifbeutel 40 Auswahl, direkte 361, 364 Auswahlverfahren 363 – von Sprachelementen 363 Axialdämpfer 174

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B Badehilfe 27 Badewannenbrett 28 Badewanneneinsatz 28 Badewannenlifter 27 Badewannensitz 28 Bandage 34, 279, 280, 326 – Achillessehnenbandage 329 – Kontraindikation 326 Bandagen 283 Bandapparat 57 Barthel-Index 452 Bauerngürtel 18 Baumstruktur 366 Bauteilgruppe 190 Bauweise, endoskelettale 124 Becken, Lastübertragung am 136 Beckenorthese 312 Beckenschaft 140 Bedienmodul 254 Bedienungssensoren für elektrische Geräte 27 Behandlung, physiotherapeutische 118 Behinderung 2 – von Motorik und Sprechen, gleichzeitige 356 Behinderungsform – weitergehende 369 – weniger schwere 369 Beinlagerungshilfe 35 Beinorthese 281, 287 – immobilisierende Beinorthese 287 Beinprothese – älteste bekannte funktionierende 17 – endoskelettale 126 – Erscheinungsbild 123 – funktionelle 121, 122 – wichtigste Aufgabe 122 – modulare 126 Beinprothesenschaft – Arten 129 Beleuchtungsvorschrift 241 Belüftung, aktive und passive 346 Beratung, diätetische und medikamentöse 120 Berg Balance Scale 452 Berufskrankheit 6 Beschleunigung 64 Beschleunigungswiderstand 237 Bestrahlungsgeräte 28 Betreuung, psychologische 118 Betriebserlaubnis 240

Beugesicherung, elastische 165 Beugung unter Belastung 156 Beutel, geschlossener 40 Bewegung 72 – alltagsrelevante 449 – passive 71 – rotatorische 76 Bewegungs-, Kraft- und Balancetrainingsausrüstung 455 Bewegungsablauf 451 – natürlicher 122 Bewegungsanalyseverfahren 75, 88 Bewegungsapparat, aktiver 73 Bewegungsförderung 343 Bewegungsgerät 455 – therapeutisches 455 Bewegungsgleichung 71 Bewegungsschiene 455 Bewegungsstörung, infantile zerebrale 357 Bewegungstherapie – robotisch assistierte 471 – technisch assistierte 454 Bezugskoordinatensystem 61 Bildvergrößerung mittels Computermonitor 375 Biofeedback 483 BiOM T2 Fuß 150 Biomechanisches Modell 78, 79, 96 Blei-Schwefelsäure-Akku 255 Blindenarbeitsplatz 371 Blindenhilfsmittel 29, 375 Blindenkurzschrift 373 Blindenlangstock 29 Blindenleitgerät, elektronisches 29 Blinden-PDA 371 Block-Übung 451 Bodenkontakt, initialer 89, 90, 322, 480 Bodenreaktionskraft 82, 100 Bouncing 164, 165 Braille 373 Brailledrucker 373 Braillezeile 372 Bremsachse 233 Bremsgelenk 154 Brille 376 Brillenglas 376 Bund der Krankenkassen 24 Bundessozialgericht 7 Bus-System 257

Sachwortverzeichnis

C Canadian Occupational Performance Measure 452 Carbon-Federfuß 145 Catchlike-Phänomen 402 Cervikalorthese 313 – anatomischer Cervikalkragen 313 – mobilisierende HWS-Orthese 313 Cochlea-Implantat 386, 418 Codierungsverfahren 365 Cross-Talk 86 Crosstrainer 464 D Dämpfungscharakteristik 146 Dämpfungssystem, hydraulisches 155 Darstellung – akustische 363 – ideografische 363 – piktografische 363 – taktile 363 Darstellungsform 363 – optische 363 – symbolsprachliche 363 Daten, anthropometrische 71 Default-Stance-Kniegelenk 158 Default-Swing-Kniegelenk 158 Dekubitalgeschwür, Einflussfaktoren auf Entstehung 341 Dekubitus 340 – Arbeitsprinzipien von Hilfsmitteln 345 – Entstehung 340 – Kategorien 342 – Risikoeinschätzung 343 Denken 356 Depolarisation 397 Diabetes mellitus 106 Doppelschicht 187 Doppelschritt 89 Doppelstandphase 90 Doublet 402 Drehadapter 174 Drehmoment 70 – externes 75 – inneres 75 Drehscheibe 37 Drehzentrum 79 Druckerhöhung, intraabdominale 309 Druckgeschwür 238, 340

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Druckulzeration 286 Duschhilfe 28 Duschrollstuhl 248 Dynamik, inverse 83 Dynamikkompression 382, 383 dystrophische Myotonie 358 E Effekt – orthetisch 396 – therapeutisch 396 Eigengewicht 236, 237 – Einflussgrößen 236 Eigenkraftprothese, aktive, Nachteile 183 Einbeinstandphase 90 Einlage 29, 288 – entlastende Einlagen 288, 289, 513 – korrigierende Einlagen 288, 289, 513 – sensomotorische Einlagen 290, 513 – Statikeinlagen 291 – stützende Einlage 288, 289, 513 Einschränkung von Bewegungen 285 Einzelprodukt 45 Eiserne Hand, Ritter Götz von Berlichingen 18 Elektrode 187, 192, 411 – Cuff -Elektrode 411 – Faden-Elektrode 412 – flexible 204 – Hydrogel-Elektrode 411 – implantierbare 202 – myoelektrische 187 – Schaft-Elektrode 412 – Sieb-Elektrode 413 Elektrodenanordnung – bipolar 404 – monopolar 403 Elektrodenposition 191 Elektrogoniometer 76 Elektromobil 235 Elektromyogramm 179, 187 Elektrorollstuhl 23, 240, 252, 253 – Auswahl 258 – Bauform 235 – Hinterräder 230 – mit Mittelachsantrieb 260 Elektrorollstuhlversorgung 240 Elektrostimulations- und Therapiegerät 30 Elektrotherapie 30 Element, resistives 464

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Elementanordnung 363, 366 Ellenbogengelenk 197 – elektromechanisches 198 Ellenbogenorthese 307 – Ellenbogen-Handorthese 307 Endkontakt 128 Endoprothese 121 Energieaufwand 321 Energieversorgung 415 Entlastung 280, 282, 329 – Entlastung von einzelnen Strukturen 286 Entwicklung, demografische 6 Entwurfskriterium 470 Ergotherapie 119, 453 Erholungspause 450 Erkrankung – muskuloskelettale 446, 454, 456 – neurologische 446, 454 Ermüdung 408 Exoprothese 121 Exoskelett 469 Extremität – obere 117 – untere 113 F Fähigkeit – geistige 355 – kognitive 356 Fahr- bzw. Untergestell 39 Fahrbahn, geneigte 233 Fahrhebel 254 Fahrradergometer 464 Fahrstabilität, dynamische 229 Fahrwerk 225 Fahrwerksgeometrie 226 Fahrwiderstand 232, 237 Fallfußstimulator 420 Federungskomfort 237 Feedback 183, 457 – delayed 482 – extrinsisches 449, 482 – intrinsisches 449, 482 FES-Trainingssysteme 423 Fingeralphabet 387 Fingerorthese 304 – Finger-Extensionsorthese 304, 305 – Finger-Flexionsorthese 304, 305 – Fingerschiene 302

– Fingerschiene nach Stack 301 – Murphy-Ringe 302 Fitzhugh-Nagumo-Modell 399 Flatterneigung 226 Flexion, kontrollierte, von Kniegelenk und Fuß 122 Fluchtreflex 422 FM-Funk-Kopfhörer 388 FM-Funkübertragungssystem 388 Form des Antriebes 215 Frei- oder Hohllagerung 345 Freiheitsgrad 56, 57, 199, 280, 281, 303, 305, 308, 458, 466, 468, 469, 472, 474, 475, 479 – der Translation 57 Freilaufantriebssystem 251 Freizeitbeschäftigung 7 Fremdkraftprothese 184 Frontalebene 58 Frührehabilitation 11, 454 Führung 280 – der Übung 451 Functional Ambulation Category 452 Funktion von Hand und Arm 179 Funktionelle Elektrostimulation 396 Funktionelle Magnetstimulation 428 Funktionselement, zusätzliches 146 Funktionsstellung 332 Funktionstauglichkeit 24 Fuß – mit einachsigem Knöchelgelenk 143 – mit mehrachsigem Knöchelgelenk 143 – mit Mikroprozessorsteuerung 148 – monozentrisch geführte Plantarflexion 143 – prothetischer 140 Fußbettung, diabetes-adaptierte 41 Fußkomponente – industriell gefertigte 132 – prothetische, Unterscheidung von 140 Fußkonstruktion, verfügbare – Vielfalt 141 Fußorthese 288 Fußprothese – Adaptivität, sensorgestützte und mikroprozessorgesteuerte Verbesserung 148 – knöchelgelenkfreie 132 – mikroprozessorgesteuerte 149 – Vorteile 149

Sachwortverzeichnis

G Galvani-Spannung 188 Gang 88, 92 – menschlicher 88, 89 – örtlicher Parameter 94 – Weg-Zeitparameter 95 – Zeitparameter 94 Ganganalyse 88, 101 – apparative 94 Gangbild, physiologisches 89 Gangrollstuhl 243 Gangtherapie 479 Gangzyklus 89, 90, 91, 94, 122, 326, 451 Ganzarmorthese 309 Ganzbeinorthese 296, 320 – entlastende 298, 516 – gewichtsaktivierte SCO 323 – hüftübergreifende 300 – knöchelaktivierte SCO 323 – mechatronische 320 – positionsaktivierte SCO 323 – standphasenkontrollierte 321 Gebärdensprache 386 Gebrauchstauglichkeit 123 Gedächtnis 355, 356 – sensorisches 355 Gefällestrecke 233 Gehen 88, 90, 326, 451, 452, 466, 477, 489 Gehhilfe 30 Gehörgangshörgerät 384 Gelenk 57 Gelenkachse, anatomische 59, 80 Gelenkkette 55, 57, 64, 469 Gelenkkoordinatensystem 58, 59 Gelenkmarker 79 Gelenkstellung 58, 60, 64, 78, 79, 83, 96, 469 Gelenkzentrum 58, 59, 79 Genium 169 Gerät zur häuslichen Beatmung 32 Gesamtrotationsmatrix 61 Geschwindigkeit 64, 253 Gestensteuerung 370 Gestik 359 Gildemeister-Effekt 407 Gipsabdruck 129 Gleichgewicht 68 Gleichgewichtsrollstuhl 274 Gleichstrom-Permanentmagnet-Antriebsmotor 253

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Gleitlagerung 346 Gliedmaßenprothese 121 – Weiterentwicklung 198 Gliedmaßenprothetik 121 Goniometer 76 Greiffähigkeit gesunde Hand 179 Greifkraftregelung 195 Greifreifen 228 Greifreifenantrieb, motorisch restkraftverstärkender 262 Greifreifenarbeit 225 Greifreifenrollstuhl 218 – Komponenten 218 Griffform 179 Griffvariante 179 Größenprinzip 401 Grundbedürfnis 7 H Haftkontaktschaft 135 Haftprinzip 131 Haltbarkeit 123 Hand – adaptive 195 – als Greiforgan 179 – anthropomorphe 195 – konventionelle elektromechanische 185 Handalphabet 387 Handorthese 305 – Daumenflexionsorthese 306 – kurze Handorthese 302, 305 Hauptsprachgebiet 381 Hausnotrufsystem 44 Head Mounted Display 488 Helen Hayes Hospital Markerset 79, 96 Herzschrittmacher 416 Hilfe – gelgefüllte 347 – im häuslichen Bereich 26 – luftgefüllte 347 – zum Lesen und Schreiben 26 – zur intermittierenden Entlastung 347 Hilfshand 180 Hilfsmittel 2, 3, 281 – Anwendungsort 45 – für die Gewebeintegrität beim Liegen 347 – für Informationsgewinnung und Kommunikation 29 – gemäß internationaler Definition 4

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– im Rahmen der deutschen Sozialgesetzgebung 4 – Klassifikation 23, 46 – technisches 23, 73 – zum Training der Beckenbodenmuskulatur 33 – zur Verbesserung der Sprechfähigkeit und des Lippenlesens 388 Hilfsmittelausgabe 15 Hilfsmittel-Leistungserbringer 14 Hilfsmittelmarkt 14 Hilfsmittelrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses 25 Hilfsmittelsoftware 369 Hilfsmittelversorgung 48 Hilfsmittelverzeichnis 4, 24, 25 HILL-Modell 73, 74 Hindernisüberwindung 230 Hirnstamm-Implantat 386 Hirntumor 358 Hodgkin-Huxley-Modell 399 Hörgerät 382, 384–388 – analoges 383 – digitales 383 – elektronisches 383 – implantiertes 385 – knochenverankertes 385 – vollimplantiertes 386 Hörhilfe 379 Hörrohr 383 Hüftgelenk 171 – 7E10 Helix3D 173 – mit Vier-Achs-Polyzentrik 173 – prothetisches 172 Hüftorthese 299 – stabilisierende 299 Hybridantriebskonzept 273 Hybridprothese 178 Hyperpolarisation 397 Hypoglossalnervstimulation 427 I Immobilisation 280, 281, 287 Impedanzregelungsstrategie 471 Impulsbreite 405 Impulsform – biphasisch 405, 413 – monophasisch 405 Inertialsensor 79

Information 355 – diagnostische 109 Infrarot-Kopfhörer 388 Infusionsbestecke und Zubehör für Schwerkraftbzw. Pumpsysteme 27 Infusionspumpe 27 Inhalations- und Atemtherapiegerät 31 Inkontinenzhilfe 32 Inkontinenztherapiesystem, intraurethrales/intravaginales 33 Intensität 449 Interimsprothese 116 – Schaft 129 ISB-Standard für die Definition von Gelenkkoordinatensystemen 61, 62, 63, 79, 96 Isokinet 462 Isokinetik 462 J Joystick 253, 254 K Kalibrierungsmessung, statische 79 Kathode 405 Kinderlähmung, spinale 358 Kinderrollstuhl 237 Kinematik 56, 57, 295, 458, 460, 468, 470, 476, 479, 480 Kineplastik nach Sauerbruch 182 Kinetik 67, 82 Kippbewegung 230 Klassifikation 23 – von Orthesen nach Applikationsort 284 Kniebeugung – bei Belastung 164 – unter Last 123 Knieexartikulationsstumpf 135 Kniegelenk 150 – rückverlagertes 153 – rückverlagertes, Standphasensicherung 154 Kniegelenkkinematik 66, 295 Kniegelenksystem – mechanisches 158 – mikroprozessorgesteuertes 166 Knieorthese 285, 294 – entlastende 295, 518 – funktionelle 294, 519 – immobilisierende 287, 288

Sachwortverzeichnis

Knöchelgelenk, hydraulisch gedämpftes 147 Knochenleitungshörgerät 384 Knowledge of Performance 482 Knowledge of Results 482 Kolbenbewegungswiderstand 157 Kommunikation 356, 358 – indirekte 363 – Störung 356 Kommunikationshilfe 359 – für Blinde 371 – tragbare 369 Komponente 126 – kombinierte funktionelle, Auwahl 126 Kompression 283, 329 – rheologische Wirkung 280 – zirkuläre 330 Kompressionstherapie 34 – intermittierende 34 konservative Therapie 283, 286 Kontextfaktor, umwelt- und personenbedingter 112 Kontextorientierung 449 Kontraktionskraft 74 Kontraktur 301, 307 Konzentration 354 Koordinationsmuster, muskuläres 85, 87, 88 Kopf-Orthese 21 Koppelgetriebe 163 Körper, starrer 56 Körperebene 58 Körperkoordinatensystem 57 Körpermaße, Abnahme 130 Körperschwerpunkt 91, 94, 100 Körpersegment 54, 57, 468, 469, 479, 489 Körpersegmentkoordinatensystem 79, 80 Körpersegmentschwerpunkt 71 korrigierende Hüft-Orthese 299 Kräfte – äußere 68, 69, 73, 89 – externe 68, 69, 83, 99, 284, 451, 462 – innere 72, 84, 89, 298, 516 – intrinsische 68 Kräftigungstherapie, medizinische 459 Kraftmessplatte 82, 99 Kraftquelle, körpereigene, direkte Ausnutzung 182, 183 Krafttrainingsgerät 457 Krafttrainingsmaschine 461 Kraftzug, Kraftquelle für 183

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Kraftzugbandage 183 – Tragekomfort 184 Krankenfahrzeug 215, 240 – Auswahl 217 Krankenpflegeartikel 34 – behindertengerechtes Bett 34 – behindertengerechtes Bettzubehör 34 – Bettschutzeinlage 34 – Einmalhandschuh 35 – Stehbecken 34 Krankheit 6 Kriegsversehrte 19 Kurbelschwingprinzip 250 Kursstabilität 253 Kurzschaftprothese 133 – suprakondyläre 133 Kurzzeitgedächtnis 355 L Labor- oder Inertialkoordinatensystem 57 Laborkoordinatensystem 57, 96 Ladung 405 Lagerungshilfe 35 Lagerungskeil 35 Lagerungsliege bei Mukoviszidose 35 Lagerungsrolle 44 Lagerungsrollstuhl 244 Lagerungsschale für Beine/Arme 35 Lagerungsschienen 332 Lagerungsstellung 332 Lagerungssystem für Kinder 35 Lagrangesche Gleichungen 2. Art 67 Lähmung – peripher bzw. schlaff 400 – zentral bzw. spastisch 400 Langzeitbehandlung 13 Langzeitgedächtnis 355 Langzeitpflege 454 Lasertherapie 28 Lasteinleitung, distale 128 Lastübertragung am Schaft 127 Laufbandtherapie 477 – mit partieller Körpergewichtsentlastung 477 Lebenserwartung 6 Leichtgewichtrollstuhl 243 Leistung 101, 102 Leistungen der medizinischen Rehabilitation 5 Leistungsbaugruppe 257 Leistungserbringer, medizinische 14

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Leistungsstufe 257 Leitgerät – für den Körperschutz 29 – zur einfachen räumlichen Orientierung 29 – zur umfassenden räumlichen Orientierung 29 Lenkgesetz 223 Lenkkopfachse 226 – Neigung 227 Lenkkräfte 226 Lenkräder 229 Lenkung 221, 521 – direkte 223 – indirekte 221, 521 Lenkungsart 215 Lernen 356 – explizites 449 – exploratives 451 – implizites 449 – motorisches 447 Lernprozess 355 Lerntransfer 451 Lesbarkeit von Bildschirminhalten 378 Liege- und Sitzhilfen aus Weichlagerungsmaterialien 347 Liegehilfe zur Umlagerung, dynamische 347 Lifter 38 Lippenlesen 387, 388 Listenstruktur 366 Lithium-Ionen-Akku 256 Locked-in-Syndrom 357 Logopädie 391 Lokomat 479 Lokomotionstherapie 477 Lumbalorthese 315 – immobilisierende LSO 316 – Kreuzstützmieder 317 – stabilisierende Kreuzstützbandage 316 – Überbrückungs- oder Flexionsmieder 316 M Magnetfeldtherapie 30 magnetorheological actuator technology 170 Manipulator 490 Marker 77 Markeranordnung 79 MAS-Schaft 138 Massenträgheitsmoment 71 Maßnahme, physikalisch-therapeutische 119 Maßschuh, orthopädischer 41

MCP-Orthese 305 Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes 24 Medizinprodukt 2, 5 Mehrkörpersystem 56, 67 Mensch-Maschine-Interaktion 467 Messgerät für Körperzustand/-funktion 35 – Blutdruck 36 – Blutgerinnung 36 – Blutzucker 36 – Epilepsie 36 – Lungenfunktion 36 – Personenwaage 36 – Überwachung Vitalfunktionen bei Kindern 36 – Überwachung zur nichtinvasiven Blutgaskontrolle 36 Messverfahren – aktives 77 – passives 77 – photometrisches 76, 77 Mikroprozessorsteuerung – Aufgabe 169 – sensorbasierte 20 Milchpumpe 26 Mimik 359 Mindestalter 241 MIT-Manus 471 Mittelachsantrieb 233 Mittelfrequenzbereich 407 Mobilisationsschiene 456 – eigenkraftgetrieben 457 – fremdkraftgetrieben 456, 457, 462 Mobilisierung, passive 456, 463, 474 Mobilität 114 Mobilitätsgrad 114, 126 Mobilitätshilfe 37 Mobiltelefon – für Blinde 371 – für Hörbehinderte 387 Modalität 482 Modell, kinetisches biomechanisches 100 Modellbetrachtung 55 Modified Ashworth Scale 452 Modular-Beinprothetik, endoskelettale 20 Modular-Prothese 123 Modul-Kindersitzsystem 39 Momentanpol 65, 66, 164, 295, 522 – Lage 65 Momentanzentrum 65 Momente, innere 68, 73

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Motor, bürstenloser 253 Motorik 356 Motorische Einheit 400 motorische Reizschwelle (MRS) 429 Motorneuron 400 – oberes 400 – unteres 400 Multiple Sklerose 357 Muskelaktivierung – exzentrische 463 – konzentrische 102, 463 Muskelarbeit, exzentrische 102 Muskeldystrophie 358 Muskelkraft 74 – zugehörige 200 Myasthenie 358 N Nachgiebigkeit 470 Nennleistungsbereich 253 Nerv, peripherer, Signal 200 Nervenbahn – afferent 448 – efferent 448 Nerveninformation 447 Nerventransfer, selektiver 201, 202 Neuro-Assistenzsystem 396 – Blasen- und Darmfunktion 425 – motorisches 419 Neuromodulation 396 Neuroprothese 396 Neurorehabilitation 446 Neutral-Null-Stellung 58, 81 Newtonsche Axiome 67 Newtonsche Bewegungsgleichungen 70 Newtonsche Mechanik 67 Nutzen, medizinischer 24 O Oberflächen-Elektromyographie 85, 86, 92 Oberschenkelschaftform, längsovale, sitzbeinumgreifende 137 Oberschenkelstumpf, Belastbarkeit 136 Oberschenkelstumpfbettung 136 Objekt, virtuelles 474 Orthese 20, 280, 523 – dynamische 281, 282, 458 – elektronisch gesteuerte 320 – funktionelle 29

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– funktionelle Einteilung 284 – funktionelle, Bettungseinlage 29 – funktionelle, Einlage in Sonderanfertigung 30 – funktionelle, Einlage mit Korrekturbacken 29 – funktionelle, Fersenschale 30 – funktionelle, Kopieeinlage 29 – funktionelle, Schaleneinlage 29 – funktionelle, Stoßabsorber 30 – funktionelle, Verkürzungsausgleich 30 – immobilisierende 303 – korrigierende 286 – Lagerungsorthese 303 – mobilisierende 317 – Quengelorthese 301, 331 orthetisches Gelenk 288, 291, 295, 296, 519 – freibewegliches Kniegelenk 296 – gesperrtes Kniegelenk 297, 298, 320 – mechanisch gesperrtes Orthesen-Kniegelenk 285 – rückverlagertes Kniegelenk 297, 320, 321 – standphasengesperrtes Kniegelenk 298 Orthopädietechniker 119 Outdoor-Rollstuhl 272 P Parkinson-Syndrom 358 Passivrollstuhl 22 Patient 14 Pelotte 312, 316, 319, 328 Pens 27 Peroneusstimulation 419 Pflegebedürftiger 42 Pflegehilfsmittel – Pflegebett 43 – Pflegebetttisch 43 – Pflegerollstuhl 43 – Produkt zur Hygiene im Bett 43 – Hygienesitz 44 – Waschsystem 44 – Rollstuhl 43 – Sitzhilfen zur Pflegeerleichterung im Bett 43 Pflegehilfsmittelverzeichnis 42, 43 Pflegender 118 Phasen der Rehabilitation 10 Phasenmodell der Rehabilitation 10 Phrenikusstimulation 426 Physiotherapie 453 – gerätegestützte 456 Plastizität des Zentralen Nervensystems 447

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Plastizität, neuronale 447 Positionierungshilfe, statische 348 Positionsnummer, zehnstellige 24 Positionswechselhilfe 37 Power Knee 170 Prädilektionsstelle 341 Prävention 9 Prinzip von d’Alembert 67 Produkt 45 Produktart 24, 45 Produktgruppe 43 Profilerhebungsbogen zur Versorgung mit Beinprothesen 113 Programm zur Umweltkontrolle 370 Proportionalsteuerung 193 Proprio Fuß 149 Propriozeption 283, 330, 355, 527 – propriozeptive Wirkung 280, 283 Prothese 121 – eigenkraftgetriebene 182 – elektrohydraulisch angetriebene 185 – endoskelettale 123 – exoskelettale 123 – fremdkraftgetriebene 178 – funktionelle, obere Extremität 121, 176 – ideale, Anforderungen 180 – intuitiv gesteuerte 199 – kosmetische 121, 181 – myoelektrisch gesteuerte, Bauteilgruppe 190 – myoelektrische 195 – obere Extremität 176 – Arten 179 – Komponenten 177 – Schaft 190 – obere Gliedmaßen 176 – pneumatische 185 – stabil belastbare 122 Prothesenaufbau 175 Prothesenaufbauvariante 123 Prothesenfuß – gelenkloser, flexibler 142 – gelenkloser, starrer 142 Prothesengebrauchstraining 120 Prothesenkniegelenk – Gehen, Kriterien 151 – Klassifikation 152 – polyzentrisches 163 Prothesenschaft 127 – Anforderungen 127

– Aufbau 139 – Druckverteilung 127 – Lastübertragung 131 – Zweckform 127 Prothesentraining 116 Prothetik 121 – intuitive Steuerung 20 Psychologie 329 Pyramidenadapter 124 Q Qualitätsanforderung 24 Quengel – Quengelorthese 307 Quengeln 331 – Quengelapparat 331 – Quengelgips 331 – Quengelkorsett 331 – Quengelschiene 331 Quengelung 301 Querneigungsstrecke 233 Querschnittlähmung 356 R Rad 225 Radaufstandspunkt 229 Radflattern 226 Radnachlauf 221, 226, 521 Radschwingungen 227 Radstand 229 Radsturz 232, 524 Rampenabwärtsgehen 154 Random-Übung 451 Rastpolbahn 66, 295 Redression 280, 329, 330, 331 Reflexaktivierung 403 Refraktärzeit 399 Rehabilitation 3, 9 – ambulante 10 – amputierter Patienten 106 – berufliche und soziale 12 – erfolgreiche, wichtigste Kriterien 120 – medizinische 9 – nach Amputation, Besonderheiten 112 – stationäre 9 – teilstationäre 10 – weiterführende 11, 454 Rehabilitationsmaßnahme 454

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Rehabilitationsphase – erste medizinische, Rehabilitationsziele 113 – frühe medizinische, Aufgaben 113 – späte medizinische 116 – zweite medizinische 116 Rehabilitationsroboter 452 Rehabilitationstechnik 2, 5 Reibungsbremse 155 Reichweite 253, 257 Reifenluftdruck 237 Rekrutierung 401 Rezeptor – propriozeptiv 448 – taktil 448 reziproke Gehorthesen 300 Rheo Knee 169 Roboter, exoskelettbasiert 469 Rohradapter 173 Rollstuhl 215, 333 – individuell angepasster 246 – Kompaktheit 229 – mit Doppelgreifreifen 249 – mit Einarmantrieb 249 – mit Einarmhebelantrieb 249 – mit Fremdkraftantrieb 22 – mit Greifreifenantrieb 243 – mit Hebelantrieb 250 – verstärkter 243 Rollstuhlabmessungen 233 Rollstuhlanpassung, Kriterien 265 Rollstuhl-Aufsteckantrieb 262 Rollstuhl-Radnabenantrieb 262 Rollstuhlrahmen 225 Rollstuhl-Schubgerät 264 Rollstuhltechnik 21 Rollstuhlversorgung 238 Rollstuhl-Zuggerät 264 Rollwiderstand 221, 232, 237, 521 Rollwiderstandskoeffizient 237 Rotation 72 Rotationsbewegung 70 Rotationsmatrix 60, 61 Rotationsreihenfolge 61, 62 Rotationswinkel 60, 96 Rückenkissen und Rückenpolster für die Hautintegrität 346 Rückinformation, sensorische 183

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Rückmeldung – optische 180 – sensorische 199, 202 Ruhigstellung 301, 332 Rumpforthese 281, 309 Rutschbrett 37 Rutschsensor 195 S Sagittalebene 58 Scanning-Verfahren 364 Schädel-Hirn-Trauma 356 Schaftadapter 173 Schaftform 129 – querovale (sitzbeinunterstützende) 136 – Servicefertigung 130 Schaftversorgung, alternative 127 Schalenbauweise 123 Scharniergelenksystem, einfach aufgebautes 172 Schaumstoff-Überzug 175 Schieberollstuhl 241 Schiene 280, 281 – Lagerungsschiene 331, 332 Schlafapnoe 427 Schlaganfall 356, 446 Schlüsselparameter 484 Schmerztoleranz 408 Schnittstelle 203 Schrägliegebrett 40 Schraubadapter 173 Schreiben 356 Schriftsprache 363 Schritt 89 Schrittzyklus 89 Schuh 41 Schuhzurichtung, orthopädische 41 Schulterabduktions-Lagerungskissen/-keil 35 Schulterbandage, schlingenförmige 183 Schultergelenk, passives 198 Schulterorthese 308, 309 – Arm-Abduktionsorthese 308 Schwerbehinderte 5 Schwerbehindertenstatistik 106 Schwingungsanregung 227 Schwungphase 89, 92, 101, 122, 291, 297, 298, 321, 322, 324, 480, 487 – initiale 91

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– mittlere 91 – terminale 91 Schwungphasensteuerung 123, 151 – hydraulische 155 – pneumatische 155, 161 Scooter 235 Score, klinischer 452 Screenreader 372 Segment, starres 54 Segmentkoordinatensystem 96 Sehhilfe 374 – elektronisch vergrößernde 377 – elektronische 375 – konventionelle 375 Sehnenkraft 74 Seilzugmaschine 460 Sekret-Absauggerät 26 Seniam 85, 87 Sensomotorik 283, 329, 330, 527 Sensor 149 Sensor-Hand 195 Sensorik 166, 416 Sicherheit 24 Sicherheitsgriff 28 Signal, kortikales 199 Signalgeber 388 Signalverarbeitung 416 Silikon-Prothese 132 Sitzbedingung 238 Sitzhilfe 38 Sitzkissen und Unterlagen für die Hautintegrität 346 Sitzqualität 238 Sitzring 35 Sitzschale 38, 333, 334 Sitzversorgung 279, 333 – Einteilung 334 – Peripheriebauteile 334 – Positionssicherungen Gurtkonstruktionen 334 – Sitz-Rücken-Winkel 336 – Untergestell 334 Smartphone für Blinde 371 Sozialdienst 120 Sozialrecht, deutsches 3 Spannung, bioelektrische 179 Spastik 469 Speicherung potentieller Energie 161 Sperrkniegelenk 152

Spezialausrüstung für die Gewebeintegrität 347 Spezial-Telefon 387 Spielmodus 474 Spitzenverband Bund der Krankenkassen 24 Spitzenverband Bund der Pflegekassen 42 Sportrollstuhl 268 Sporttherapie 119 Sprachausgabe 372 Sprache 359 Spracheingabe 370 Spracherkennungssoftware 367 Sprechen 356, 358 Sprechfunktion 356 Sprechhilfe 389 – elektronische 390 – spezielle 390 Spritze 27 Sprunggelenk-Orthesen 293 Spülsystem 27 Spurkreis 221, 224 Spurweite 232 Stabilisierung 280 Standardrollstuhl 243 Standphase 89, 92, 100, 101, 122, 291, 292, 297, 298, 321–323, 325, 326, 480, 483, 487 – mittlere 91 – terminale 91 Standphasenmodus und Schwungphasenmodus, Schaltung 158 Standphasensicherheit 150 Standphasensicherung und Schwungphasensteuerung, hydraulisches System 155 Starrkörpermodell 79, 96 Statik 71 Stehfunktion 258 Stehhilfe 40 Stehständer 40 Steigungsfahrt 233 Steigungswiderstand 237 Steuerung 186, 254 – intuitive 199 – myoelektrische 20 – über Computereingabemedien 367 Stimulation – spannungskonstant 415 – stromkonstant 415 Stoma 40 Stomaartikel 40

Sachwortverzeichnis

Störungsunterdrückung 189 Stoßdämpfungsphase 91 Strahlung 28 Straßenverkehrsrecht 240 Strom 257 Stromstärke 405 Stromstärke-Impulsbreite-Diagramm 405 Strömungswiderstand 157 Struktur 366 – vernetze 366 Strukturteil 173 Stuhlinkontinenz 33 Stumpf, Endbelastbarkeit 128 Stütz- und Bewegungsapparat 54 Stützrollen 230 Synergist 85 System – aktives und passives 177 – sensomotorisches 447 – zur Behandlung schlafbezogener Atemstörungen 32 – zur Sauerstoff-Langzeittherapie 32 – zur Stimulation von Mikrobewegungen, dynamisches 348 System-Einzughand 184 System-Zweizughand 184 T targeted muscle reinnervation 201 targeted sensory reinnervation 202 Tastaturemulator 369 Tastgefühl 180 – steuernde Rückmeldung 180 Taststock 29 Teaching-Bewegung 474 Technische Orthopädie 21 temporale Summation 401 Tertiärprävention 13 Testschaft 131 – thermoplastischer 130 tetanische Kontraktion 401 Texteditor 370 Therapie, medico-mechanische 21 Therapiegerät 446 Therapieschuh 41 Therapiestuhl 39 Therapiesystem 446 – ARMin, exoskelettbasiert 472 – automatisiert 456, 457

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– endeffektorbasiert 468 – robotisch 470 Thorakalorthese 314 Thorakolumbosakralorthese 317 – 3-Punkt-Korsett nach Bähler/Vogt 318 – Boston-Overlap-Brace 319 – Hyperextensionsorthese 318 – korrigierende TLSO 319 – Kunststoffkorsett 319 Timed Up & Go 452 Toe-off 91 Toilettenhilfe 42 – Aufstehhilfe 42 – Erhöhung 42 – Sitz 42 – Stuhl 42 – Stützgestell 42 – WC-Aufsatz 42 Toilettenrollstuhl 247 Torsionsdämpfer 174 Torsionsmoment, Aufnahme von 132 Totmann-Schaltung 254, 258 Trachealkanüle 31 Tracheostoma 31 Tracheotomie 31 Trainings- und Übungssystem 21 Trainingsmaschine 456 Tränenfilm 376 Transkranielle Magnetstimulation 429 Translation 72 Translationsbewegung 70 Transversalebene 58 Treppenfahrzeug 270 Treppengehen 154 Treppenlifter 38 Treppenrollstuhl 270 Treppensteighilfe 270 Triangulation 78 Triplet 402 Trippelrollstuhl 244 U Üben – mentales 451 – repetitives 449, 467 Übung, variable 450 Übungsabfolge 451 Übungsaufgabe 467 Übungsbedingung 449

544 | Sachwortverzeichnis

Übungsparameter 449 Umfeldkontrollgeräte für elektrische Geräte 27 Umsetz-/Aufrichthilfe 37 Unfall 6 Unterarm-Handorthese 306 Unterarmorthese 303 – Lange Handorthese 303 Unterdruckpumpe 147 Unterdrucksystem 175 Untergruppe 45, 215 Unterschenkelorthese 285 – energierückgebende 292 – fixierende 287 – Fußheberorthese 98, 285, 291, 515 – Sprunggelenksorthese 293 Unterschenkelprothesenschaft 132 Unterstützung von Gelenkbewegungen 285 Ur- und Frühgeschichte 15 Urininkontinenzversorgung 33 Urostomiebeutel 40 V Verbindungselement 124 Verfahren – die auf Sensoren basieren 75 – photometrisches 75 Verhinderung von Bewegungen 285 Verschiebeadapter 173 Verschleiß, geringer 123 Versorgung – ableitende 33 – aufsaugende 33 Versorgungsanspruch 4 Verstärkungsregelung, automatische 388

Virtuelle Realität 483 Vollimplantat 27 Vorfußbereich, Versorgung 132 Vorlesesystem – für digitale Tondokumente 373 – für Textdokumente 373 Vorschwungphase 91 W Wahrnehmung 354 Wahrnehmungsförderung 346 Wärmewirkung 283 Wechsel- bzw. Umlagerung 345 Wedensky-Hemmung 407 Weg-Zeit-Parameter 76, 94, 95 Weichlagerung 345 Weichwandinnenschäfte 133 Weichwand-Stumpfbettung 135 Welt, virtuelle 457 Willkürmotorik 447 Wirkungsgrad 249, 253 Wortvorhersage 370 Z Zahlungs- und Lieferstrom 14 Zehenprothese 16 Zentralantrieb 233 Zug-Hand 184 Zulassung 240 Zusatzantriebe 266 Zuzahlung 8 Zwangsbedingung 56, 68 Zwangskraft 56, 67, 72, 282, 297 Zwangslenkung 223