Biologie der Pflanzen [Reprint 2019 ed.] 9783111667409, 9783110074468


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German Pages 779 [784] Year 1985

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Table of contents :
Vorbemerkungen der Übersetzerin
Vorwort zur dritten amerikanischen Auflage
Kurzes Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Biologie der Pflanzen
I. Einführung
Teil 1. Die Pflanzenzelle
Kapitel 1. Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle
Kapitel 2. Molekularer Bau der Zellen
Kapitel 3. Ein- und Austransport von Substanzen bei Zellen
Teil 2. Energie und die lebende Zelle
Kapitel 4. Energiefluß
Kapitel 5. Atmung
Kapitel 6. Photosynthese
Teil 3. Genetik und Evolution
Kapitel 7. Molekulargenetik
Kapitel 8. Klassische Genetik
Kapitel 9. Die Entstehung der Pflanzenarten
Teil 4. Formenmannigfaltigkeit der Organismen
Kapitel 10. Gliederung der Organismenwelt
Kapitel 11. Prokaryonten
Kapitel 12. Fungi
Kapitel 13. Heterotrophe Protisten: Wasserschimmel und Schleimpilze
Kapitel 14. Autotrophe Protisten: Algen
Kapitel 15. Moose (Bryophyta)
Kapitel 16. Gefäßpflanzen: Eine Einführung
Kapitel 17. Samenlose Gefäßpflanzen
Kapitel 18. Samenpflanzen
Kapitel 19. Evolution der Blütenpflanzen
Teil 5. Bau und Entwicklung des angiospermen Pflanzenkörpers
Kapitel 20. Frühe Entwicklungsstadien des Pflanzenkörpers
Kapitel 21. Zellen und Gewebe des Pflanzenkörpers
Kapitel 22. Die Wurzel: Primärer Bau und Entwicklung
Kapitel 23. Der Sproß: Primärer Bau und Entwicklung
Kapitel 24. Sekundäres Dickenwachstum
Teil 6. Wachstumsregulation und Wachstumsreaktionen
Kapitel 25. Phytohormone: Wachstums- und Entwicklungsregulatoren
Kapitel 26. Einfluß externer Faktoren auf das Pflanzenwachstum
Teil 7. Aufnahme und Transport von Nährstoffen bei Pflanzen
Kapitel 27. Boden und Ernährung der Pflanze
Kapitel 28. Transport von Wasser und gelösten Substanzen in Pflanzen
Teil 8. Ökologie
Kapitel 29. Dynamik der Ökosysteme
Kapitel 30. Terrestrische Biome
Anhang A. Zum Verständnis des Buches erforderliche chemische Grundkenntnisse
Anhang B. Größe und Einheiten
Anhang C. Gliederung der Organismenwelt
Anhang D. Erdzeitalter
Begriffserläuterungen
Weiterführende Literatur
Bildnachweis
Register
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Biologie der Pflanzen [Reprint 2019 ed.]
 9783111667409, 9783110074468

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Biologie der Pflanzen

Biologie der Pflanzen Peter H. Raven Ray F. Evert Helena Curtis

Ins Deutsche übertragen von

Rosemarie Langenfeld-Heyser

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Walter de Gruyter Berlin-NewYork 1985

Titel der Originalausgabe Biology of Plants, Third Edition Copyright © 1971, 1976, 1981 by Worth Publishers, Inc. Worth Publishers, Inc. 444 Park Avenue South, New York, New York 10016 Autoren der Originalausgabe Peter H. Raven, Ph. D. Professor of Botany Missouri Botanical Garden and Washington University St. Louis, MO, USA Ray F. Evert, Ph. D. Professor of Botany University of Wisconsin Madison, WI, USA Helena Curtis Übertragung ins Deutsche Dr. Rosemarie Langenfeld-Heyser Institut für Forstbotanik 3400 Göttingen

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Raven, Peter H.: Biologie der Pflanzen / Peter H. Raven ; Ray F. Evert ; Helena Curtis. Ins Dt. iibertr. von Rosemarie Langenfeld-Heyser. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1985. Einheitssacht.: Biology of plants

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I Einführung

Wenn ein Lichtquant auf ein Chlorophyllmolekül trifft, so kann ein Elektron dieses Moleküls angeregt und auf ein höheres Energieniveau gehoben werden; schon nach dem Bruchteil einer Sekunde kehrt es jedoch zu seinem früheren Energiezustand zurück und gibt die eingefangene Energie wieder frei. Von der Energie, die die Pflanzen aus den Sonnenstrahlen einfangen und bei der Photosynthese in chemische, von Lebewesen verwertbare Energie umwandeln, hängt das gesamte Leben auf unserem Planeten ab. Die Photosynthese ist also das entscheidende Band zwischen belebter und unbelebter Natur. Nur wenige Organismengruppen - die grünen Pflanzen, die Algen und einige Bakterien - besitzen Chlorophyll, welches - eingebettet in das Membransystem einer lebenden Zelle - in der Lage ist, die Sonnenenergie einzufangen und in chemische Energie umzuwandeln. Erst als solche wird sie zu einer Energiequelle für alle anderen Lebewesen, einschließlich des Menschen. Wir Menschen sind also völlig abhängig von der Photosynthese der grünen Pflanzen.

1.1 Evolution der Pflanzen

Abb. 1-1 Querschnitt durch die Endknospe von Picea (Fichte), betrachtet mit dem Fluoreszenzmikroskop. Die zahlreichen, nahezu dreieckigen Gebilde, die sich um den Knospenmittelpunkt scharen, sind Querschnitte von Blättern - den Hauptphotosyntheseorganen der Pflanze.

Wie alle anderen Lebewesen, so haben auch die Pflanzen eine lange Entwicklungsgeschichte. Die Erde selbst - eine Ansammlung von Staub und Gasen, die unsere Sonne umkreist - ist ungefähr 4,5 Milliarden Jahre alt. Die ältesten Fossilien, die man kennt, haben ein Alter von ungefähr 3,5 Milliarden Jahren; es sind Überbleibsel kleiner, relativ einfach gebauter Zellen. Diese ersten Zellen sind wahrscheinlich durch eine ganze Kette zufälliger Ereignisse entstanden. Das Rohmaterial - Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff - war in der Uratmosphäre vorhanden. (Aus diesen 4 Elementen bestehen auch 98 % des Gewebes aller heutigen Lebewesen). Durch die dünne Atmosphäre hindurch trafen Sonnenstrahlen auf die nackte Oberfläche der jungen Erde und bombardierten sie mit Licht, Hitze und kurzwelligen ultravioletten Strahlen. Flüssiges Wasser trat erstmals vor ungefähr 3,8 Milliarden Jahren auf der Erde auf. Unter Einwirkung der Sonnenglut verdampfte es, der Wasser-

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Einführung

dampf kühlte sich in der oberen Atmosphäre ab, fiel als Regen auf die Erdkruste und verdampfte wieder. Heftige Gewitter setzten mit Donner und Blitz elektrische Energie frei. Die ionisierenden Strahlen der radioaktiven Elemente in der Erdkruste lieferten beträchtliche Energiemengen, und geschmolzenes Gestein und kochendes Wasser brachen aus der Erdoberfläche hervor. Dazu kamen noch die Meteoriteneinschläge. All diese ungeheueren Energiemengen sprengten die Hauptvalenzen der einfachen Gase in der Uratmosphäre und fügten sie zu komplizierteren Molekülen zusammen. Man nimmt heute an, daß die in der Uratmosphäre gebildeten Verbindungen durch die ständigen Regenfälle ausgewaschen wurden und sich in den Meeren sammelten. Diese wurden immer größer, je mehr sich die Erde abkühlte. Die primären Syntheseprodukte der Urluft reagierten in den Meeren, Seen und Teichen weiter. Schließlich enthielten die Gewässer eine immer reicher werdende Mischung organischer Moleküle, die „Ursuppe". Einige dieser organischen Moleküle haben die Tendenz, sich zusammenzulagern; im Urmeer nahmen diese Aggregate vielleicht die Form von Tröpfchen an, ähnlich Öltröpfchen in Wasser. Solche Aggregate scheinen die Vorläufer der primitiven Zellen, des ersten Lebens auf unserer Erde, gewesen zu sein. Wir nehmen heute an, daß diese organischen Moleküle dem allerersten Leben auch als Energiequelle gedient haben. Die primitiven Zellen oder zellähnlichen Strukturen waren in der Lage, ihren Energiebedarf aus diesen Verbindungen, die im Überfluß in der „Ursuppe" vorhanden waren, zu decken. Diese primitiven Zellen waren also - genauso wie alle heute lebenden Tiere, Pilze (Abb. 1-2 a) und viele Einzeller (Bakterien und Protisten) - heterotroph. Solche Organismen sind darauf angewiesen, ihren Energiebedarf aus einer außerhalb von ihnen selbst gelegenen Quelle organischer Moleküle zu decken. Als die primitiven, heterotrophen Lebewesen zahlreicher wurden, brauchten sie die komplizierten organischen Verbindungen, die sich in Millionen von Jahren angesammelt hatten, allmählich auf. Organische Moleküle in freier Lösung, d. h. außerhalb von Zellen, wurden immer seltener. Die Konkurrenz begann. Unter diesem Druck konnten Zellen, welche die nun begrenzten Energiequellen gut nutzen konnten, besser überleben als andere. Im Laufe der Zeit starben die weniger lebenstüchtigen Organismen aus, und es entstanden Zellen, die energiereiche Moleküle aus einfachem, anorganischem Material selber herstellen konnten. Solche Lebewesen nennt man autotroph (Abb. 1-2 b). Ohne die Entstehung der autotrophen Lebewesen wäre das Leben auf der Erde schnell erloschen.

Am erfolgreichsten waren diejenigen autotrophen Organismen, die ein System zur direkten Verwertung der Sonnenenergie - den Photosyntheseapparat - entwickelt hatten. Die ersten photoautotrophen Lebewesen waren zwar verglichen mit heute lebenden Pflanzen - einfach gebaut, jedoch bereits viel komplizierter, als die primitiven heterotrophen Organismen. Um die Sonnenenergie einfangen und verwerten zu können, war zum einen ein kompliziert gebautes Pigmentsystem erforderlich, das die Energie eines Sonnenstrahls einfangen und festhalten konnte; zum anderen mußte eine Möglichkeit geschaffen werden, diese Energie in einem organischen Molekül zu speichern. So nahm der Energiefluß unserer Biosphäre allmählich seine heutige Form an: die Sonnenenergie wurde über die photoautotrophen Lebewesen allen anderen Lebewesen zugänglich.

1.1.1 Anstieg des Sauerstoffgehaltes der Atmosphäre Als die photoautotrophen Lebewesen immer zahlreicher wurden, veränderten sie das Gesicht der Erde. Da bei der Photosynthese nämlich das Wassermolekül ( H 2 0 ) gespalten und sein Sauerstoff freigesetzt wird, stieg mit Zunahme der photoautotrophen Lebewesen der Sauerstoffgehalt ( 0 2 ) der Atmosphäre immer mehr an. Dies aber hatte zwei wichtige Konsequenzen. Zunächst einmal wurden einige Sauerstoffmoleküle in der äußeren Atmosphäre in Ozon ( 0 3 ) umgewandelt. Ein genügend großer Ozongehalt in der Atmosphäre filtert aber die schädlichen kurzwelligen, ultravioletten Strahlen aus dem Sonnenlicht, das auf die Erde fällt, heraus. Spätestens vor etwa 450 Millionen Jahren war es soweit: geschützt durch eine genügend starke Ozonschicht, konnten nun Organismen auch in den oberen Schichten des Wassers und sogar auf dem Lande leben. Ferner konnten die bei der Photosynthese gebildeten, energiereichen Moleküle aufgrund des erhöhten Sauerstoffgehaltes der Atmosphäre besser genutzt werden. Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, kann durch Atmung* weitaus mehr Energie gewonnen werden als durch jeden anaeroben (ohne Sauerstoff ablaufenden) Energiegewinnungsprozeß. Bevor die Atmosphäre sauerstoffreich wurde, konnten sich nur Prokaryonten entwickeln - einfache Zellen ohne echten Zellkern, d. h. ohne Kernhülle und mit Genen, die nicht in kompliziert gebauten Chromosomen * „Atmung" bedeutet in der Biologie zweierlei. Zum einen ist damit das Einatmen von Sauerstoff und das Ausatmen von Kohlendioxid gemeint. Zum anderen bedeutet Atmung die Oxidation von Nahrungsmolekülen durch die Zellen - d.h. Abbau energiereicher, kohlenstoffhaltiger Moleküle und ihre Nutzung als Energiequelle durch die Zelle. Wir wollen uns hier mit dieser zellulären Atmung beschäftigen.

Einführung

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Abb. 1-2 Beispiele für lebende heterotrophe und photoautotrophe Organismen, (a) Ein Pilz, Armillaria mellea (Hallimasch), der auf einem Fichtenstubben wächst, und sich - wie andere Pilze auch - durch Resorption (Aufnahme gelöster Stoffe) ernährt. Pilze sind heterotrophe Organismen; sie werden in Kapitel 12 näher besprochen, (b) Corydalis cava (Hohler Lerchensporn), eine der ersten Frühjahrsblumen unserer Buchenwälder; sie blüht vor dem Laubaustrieb der Bäume. Wie die meisten höheren Pflanzen ist der Lerchensporn in der Erde verwurzelt. In den tief geteilten grünen Blättern findet Photosynthese statt; der Lerchensporn ist also ein autotropher Organismus. Der unterirdische Teil der Pflanze - die Knolle - lebt viele Jahre lang im Waldboden unter einer dikken Decke verrottender Blätter und anderen organischen Materials und bringt alljährlich frische Stengel, Blätter und Blüten hervor.

angeordnet sind. Die heute lebenden Prokaryonten heißen Bakterien. Anhand fossiler Funde kann man beweisen, daß der Anstieg des Sauerstoffgehaltes der Atmosphäre mit dem ersten Auftreten eukaryontischer Zellen einherging. Dies sind Zellen mit kompliziert gebauten Chromosomen und einer Kernhülle - also einem echten Zellkern - und durch Membranen begrenzten Zellorganellen. Eukaryontische Lebewesen verschiedenster Art zählten bereits vor ungefähr 850 Millionen Jahren zu den ständigen Bewohnern der Erde; erstmals scheinen sie vor ungefähr 1,4 Milliarden Jahren entstanden zu sein. Alle Lebewesen - außer den Bakterien und den Viren - bestehen aus eukaryontischen Zellen.

1.1.2 Meer und Küste Zu Beginn der Evolution waren die meisten photoautotrophen Lebewesen mikroskopisch kleine Zellen, die auf der Oberfläche des sonnenbeschienenen Wassers trieben. Durch sie erhöhten sich nicht nur der Kohlenstoff-, Wasserstoff-, und Sauerstoffgehalt des Meeres, sondern auch

sein Energiegehalt. Aber durch die Vermehrung der Zellkolonien erschöpfte sich bald der Nährelementgehalt der offenen See. (Diese Verknappung an lebenswichtigen Nährelementen setzt auch heute noch den Versuchen, mehr Nahrung aus dem Meer zu gewinnen, Grenzen). Die Folge davon war, daß sich das Leben auf die Küsten auszudehnen begann, wo das Wasser reich an Nährelementen war, die in Bächen und Flüssen von den Bergen herabgetragen oder von den Wellen aus dem Küstengestein herausgewaschen worden waren. Die felsige Küste bot einen vielseitiger gestalteten Lebensraum als die offene See. Sie übte einen Evolutionsdruck aus, und unter ihm entstanden komplizierter gebaute Lebewesen, die sich stärker voneinander unterschieden. Vor ungefähr 650 Millionen Jahren entstanden so Organismen, bei denen viele Zellen miteinander über Protoplasmastränge zu einem einheitlichen, vielzelligen Körper verbunden waren. Die heute lebenden Pflanzen und Tiere gehen wahrscheinlich auf diese primitiven vielzelligen Organismen zurück. An den wilden Küsten konnten sich diese vielzelligen,

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Einführung

photoautotrophen Organismen gut gegen die Wellen behaupten, und in der Auseinandersetzung mit den dort herrschenden Bedingungen entstanden immer neue Formen. Diese Lebewesen entwickelten starke, stützende Wände und besondere Vorrichtungen, mit denen sie sich an der Felsoberfläche verankern konnten. Als diese vielzelligen Organismen größer wurden, entstand für sie das Problem der Ernährung ihrer nur schwach belichteten, von der Photosynthese ausgeschlossenen Körperteile. Unter diesem Evolutionsdruck entstanden spezielle Leitgewebe im Inneren des Körpers. Diese verbanden die photosynthetisch aktiven mit den verborgenen, photosynthetisch inaktiven Teilen des Organismus.

1.1.3 Übergang zum terrestrischen Leben Den Aufbau einer höheren Pflanze kann man am besten aus ihrer langen Entwicklungsgeschichte und aus den Evolutionsfaktoren heraus verstehen, die den Übergang zum terrestrischen Leben (lat. terra = Erde) bewirkten. Ein photoautotrophes Lebewesen hat nur recht einfache Bedürfnisse: es braucht Licht, Wasser und Kohlendioxid für die Photosynthese, Sauerstoff für die Atmung und einige wenige Sorten anorganischer Ionen. Im terrestrischen Lebensraum ist Licht reichlich vorhanden, auch Sauerstoff und Kohlendioxid, die beide in der Luft in höherer Konzentration vorliegen als im Wasser. Auch ist der Erdboden reich an anorganischen Ionen. Der begrenzen-

Abb. 1-3 Pinien (Pinus pinea) aus dem Mittelmeerraum; ein Beispiel für Gefäßpflanzen.

de Faktor ist hier das Wasser. Landtiere sind beweglich und können Wasser, genau wie ihre Nahrung, aktiv suchen. Pilze sind zwar unbeweglich, bleiben aber meist unter der Erdoberfläche oder in anderem ständig feuchten, organischen Material, von dem sie sich ernähren. Landpflanzen hingegen machen das anders. Sie sind durch Wurzeln im Erdreich verankert und sammeln über diese das Wasser ein, das sie zum Leben und zur Photosynthese benötigen. Ein unaufhörlicher Wasserstrom bewegt sich über die Wurzelhaare, durch Wurzeln und Stamm hindurch und über die Blätter wieder hinaus in die Atmosphäre. Alle oberirdischen Pflanzenteile - in denen ja die Photosynthese stattfindet - sind von einer Cutícula überzogen, die den Wasserverlust verringert. Jedoch verhindert diese Cuticula gleichzeitig auch den notwendigen Gasaustausch zwischen der Pflanze und der umgebenden Luft. Die Lösung dieser Schwierigkeit führte zur Entstehung von Spaltöffnungen, den Stomata (Singular: Stoma). Diese öffnen und schließen sich aufgrund äußerer und physiologischer Signale und helfen so der Pflanze, Wasserverlust und Sauerstoff- bzw. Kohlendioxidbedarf miteinander in Einklang zu bringen. Bei jüngeren und bei den einjährigen Pflanzen ist auch die Sproßachse (der Stengel) photosynthetisch aktiv. Bei mehrjährigen Pflanzen kann die Sproßachse verdickt, verholzt und mit Kork bedeckt sein, welcher ebenfalls den Wasserverlust vermindert. In beiden Fällen trägt die Sproßachse zum einen die Hauptphotosyntheseorgane und richtet sie nach dem Licht aus; zum anderen birgt sie das komplizierte Leitgewebesystem. Dieses setzt sich aus zwei Hauptbestandteilen zusammen: dem Xylem, durch welches das Wasser in der Pflanze aufwärts transportiert wird, und dem Phloém, durch das die Assimilate, die in den Blättern und anderen photosynthetisch aktiven Teilen der Pflanze gebildet worden sind, über die ganze Pflanze verteilt werden. Solch ein Leitgewebesystem ist das Kennzeichen aller höheren Landpflanzen, der Gefäßpflanzen (Abb. 1-3). Vielleicht wegen ihrer Ortsgebundenheit wachsen höhere Pflanzen - im Gegensatz zu den beweglichen Tieren während ihres ganzen Lebens weiter. Pflanzliches Wachstum findet ausschließlich in bestimmten, embryonal bleibenden Geweben, den Meristemen, statt. Die Meristeme, die an den Spitzen aller Wurzeln und Sprosse liegen, nennt man Apikaimeristeme. Sie sind für die Ausdehnung des Pflanzenkörpers verantwortlich. So wachsen die Wurzeln kontinuierlich und aktiv durch das Erdreich, um immer neue Wasserquellen zu erschließen, und die photosynthetisch aktiven Teile werden ständig vergrößert und dem Licht zugewendet. Dieses Wachstum, das auf primäre Meristeme zurückgeht, bezeichnet man als primäres Wachstum (s. Kap. 23). Abbildung 1-4 zeigt den primären

Einführung Abb. 1-4 Schematische Darstellung einer jungen Vicia fabaPflanze (Dicke Bohne), mit den wichtigsten Organen und Geweben einer modernen Gefäßpflanze. Die Organe - Wurzel, Stengel (Sproßachse) und Blatt - bestehen aus Geweben, d. h. Gruppen von Zellen mit bestimmtem Bau und bestimmter Funktion. Alle Wurzeln zusammen bilden das Wurzelsystem, und die Sproßachsen zusammen mit den Blättern bilden das Sproßsystem. Bei den meisten Gefaßpflanzen ist das Sproßsystem oberirdisch und das Wurzelsystem unterirdisch. Im Gegensatz zu den Wurzeln sind die Stengel in Knoten (Nodien) und Internodien unterteilt. Ein Knoten ist derjenige Teil eines

Stengels, an dem ein oder mehrere Blätter sitzen; ein Internodium ist ein zwischen zwei aufeinanderfolgenden Knoten gelegener Stengelteil. (Bei Vicia faba sind die ersten Laubblätter aus je zwei Fiederblättchen zusammengesetzt.) Knospen (embryonale Sprosse) entstehen in den Achseln (oberer Winkel zwischen Blatt und Stengel) der Blätter. Seitenwurzeln entstehen aus dem Inneren der Wurzeln. Die Leitgewebe - Xylem und Phloem - sind zu Leitbündeln vereinigt und durchziehen als zusammenhängendes Leitgewebesystem den gesamten Pflanzenkörper.

Apikaimeristem des

Fiederblättchen

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Phloem

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Rinde

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Abb. 1-5 Die vier Jahreszeiten in einem mitteleuropäischen Buchenwald. In solchen Laubwäldern, die charakteristisch für die nördlichen gemäßigten Breiten sind, entfalten die Bäume ihre Blätter im Frühjahr und beginnen mit der Nahrungsproduktion. Bereits im Sommer werden die Knospen für die Zweige des folgenden Jahres angelegt. Im Herbst verlieren die Bäume die Blätter wieder und treten in ein Ruhestadium ein, um die ungünstigen Wachstumsbedingungen des Winters zu überstehen. Die in den Blättern gebildete Nahrung wird durch die ganze Pflanze transportiert, bis tief in die Erde hinein, zu den äußersten Wurzelspitzen. Gleichzeitig

werden Wasser und Nährsalze in einem unaufhörlichen Strom aufwärts durch Wurzeln, Stamm und Blätter transportiert. Das meiste Wasser wird als Wasserdampf wieder abgegeben, und zwar über dieselben Spaltöffnungen im Blatt, die das Kohlendioxid für die Photosynthese aufnehmen. Unter den Laubbäumen gedeiht eine reiche krautige Flora. Viele der Kräuter blühen im zeitigen Frühjahr, bevor noch die Blätter der Bäume voll entfaltet sind und den Waldboden beschatten. Die meisten Bäume blühen im Frühjahr; ihr Blütenstaub wird meist vom Wind verteilt und erreicht so die weiblichen Blüten anderer Bäume derselben Art.

Einführung 7 Abb. 1-6 Die Prärie der USA gehört zu den fruchtbarsten Ackerländern der Erde. Bei richtiger Bebauung kann sie diese Fruchtbarkeit ewig beibehalten. Das Bild zeigt eine natürliche Prärie im Frühjahr; sie ist mit wildwachsenden Blumen übersät.

Pflanzenkörper von Vicia faba (Dicke Bohne), mit Wurzel, Sproßachse und Blättern. Die Verdickung von Sproßachse, Seitenzweigen und Wurzeln bezeichnet man als sekundäres Dickenwachstum (s. Kap. 24). Es geht vom Cambium aus. Eine höhere Landpflanze zeichnet sich also durch folgendes aus: Sie besitzt ein Wurzelsystem, das die Pflanze im Boden verankert und ihm Wasser und anorganische Ionen entnimmt, und einen Stengel oder Stamm (Sproßachse), der die photosynthetisch aktiven Teile der Pflanze, die Blätter, zu ihrer Energiequelle, der Sonne, wendet. Diese Organe - Wurzel, Sproßachse und Blätter - sind miteinander durch ein komplexes Transportsystem für Assimilate und für Wasser verbunden. All diese Merkmale sind Anpassungen an ein photoautotrophes terrestrisches Leben.

1.2 Entstehung von Organ ismengesellschaften Die Besiedlung des Festlandes mit Pflanzen veränderte das Aussehen der Kontinente. Blickt man von einem Flugzeug aus auf eine der großen Wüsten oder die Gipfel eines hohen Gebirges, so kann man sich vorstellen, wie die Erde vor ihrer Besiedlung mit Pflanzen ausgesehen haben mag. Aber sogar in diesen unwirtlichen Gegenden aus Sand oder Fels findet man verstreut grüne Pflanzen von erstaunlicher Mannigfaltigkeit. In Gebieten mit milderem Klima und stärkeren Regenfällen bestimmen Pflanzengesellschaften das Aussehen des Landes. Regenwald, Wiese, Laubwald (Abb. 1-5), Prärie (Abb. 1-6), Tundra - jedes dieser Worte ruft in uns das Bild einer Landschaft wach, und das Hauptmerkmal dieser Landschaften sind ihre Pflanzen, Pflanzen von ganz bestimmtem Wuchs. In Gedanken schließen uns die Pflanzen in einem Regenwald wie in einer dunkelgrünen Kathedrale ein, bedecken auf einer Wiese den Boden unter unseren Füßen wie mit einem Teppich und lassen uns in der Prärie zur Sommerzeit

durch goldene Wogen schreiten, so weit unser Auge reicht. Erst wenn wir uns ein grobes Bild von der Vegetation einer Landschaft entworfen haben, d. h. wenn wir uns vorstellen, welche Bäume, Sträucher und Gräser dort wachsen, wissen wir, was sonst noch zu dieser Landschaft gehört - ein Reh, eine Antilope, ein Kaninchen, ein Wolf. Wie konnten solch große Pflanzengesellschaften, wie Taiga oder Prärie, die ganze Teile eines Kontinents beherrschen können, entstehen? Bis zu einem gewissen Grade können wir die Entstehung der einzelnen dort lebenden Pflanzen- und Tierarten zurückverfolgen. Trotz zunehmender Kenntnisse beginnen wir jedoch allmählich erst das Muster zu verstehen, nach dem sich im Laufe der Zeit das gesamte System der in einem Lebensraum vorkommenden Organismen - eine Organismengesellschaft - entwickelt hat. Eine solche Organismengesellschaft bildet zusammen mit der sie umgebenden, unbelebten N a t u r ein ökologisches System, ein Ökosystem. Wir werden solche Ökosysteme in den letzten Kapiteln dieses Buches ausführlich besprechen. Im Moment jedoch soll es genügen, ein solches Ökosystem als eine aus vergänglichen Individuen bestehende Einheit anzusehen. Einige dieser Individuen, z.B. die größeren Bäume, werden einige tausend Jahre alt. Andere hingegen, die Mikroorganismen, leben nur wenige Stunden oder sogar nur Minuten. Trotz dieser Dynamik ist ein solches Ökosystem als Ganzes erstaunlich stabil. Wenn es erst einmal im Gleichgewicht ist, verändert es sich jahrhundertelang nicht. Unser Enkelkind wird vielleicht eines Tages einen Waldpfad entlanggehen, den schon unsere Urgroßeltern gegangen sind, und dort wo sie eine Kiefer, eine Feldmaus, Blaubeeren oder einen Finken gesehen haben, wird es - wenn dieser Wald dann noch besteht - genau dieselben Pflanzenarten und Tierarten in derselben Anzahl wiederfinden. Obwohl in einem solchen Ökosystem viele Lebewesen miteinander konkurrieren, funktioniert es insgesamt wie eine Einheit; jedes Lebewesen, bis hinab zur kleinsten Bakterienzelle oder Pilzspore, ist hier Nahrungsquelle für

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Einführung

Abb. 1-7 Die Erdgeschichte, dargestellt als 24-Stunden-Tag. Das erste Leben begann relativ früh, vor 6 Uhr morgens. Die ersten vielzelligen Organismen traten jedoch erst während des frühen Abends auf, und der Mensch selbst erschien als eines der letzten Lebewesen, erst 30 Sekunden vor Mitternacht.

der erste Mensch (23h59'40")

Entstehung der Erde

Blütenpflanzen Pflanzen besiedeln das Land

ältestes Gestein

vielzellige Organismen f

älteste Fossilien (Prokaryonten) erste photoautotrophe Organismen

älteste eukaryontische Fossilien

freier Sauerstoff in der Atmosphäre

ein oder mehrere andere. Die von den grünen Pflanzen eingefangene Sonnenenergie wird in ganz bestimmter Weise über eine Kette verschiedenartiger Lebewesen weitergegeben, ehe sie dem Ökosystem verloren geht. Darüber hinaus entsteht durch das Wechselspiel der Lebewesen untereinander und mit ihrer unbelebten Umwelt ein konstanter Kreislauf der Elemente, z.B. des Stickstoffs und des Phosphors. Energie muß dem Ökosystem ständig zugeführt werden; die Elemente jedoch werden von Organismus zu Organismus weitergegeben, kehren schließlich in den Boden zurück, werden dort von Bakterien und Pilzen aufgearbeitet und wieder in den Kreislauf eingeschleust. Diese Energieübertragung und der Kreislauf der Elemente bedarf einer komplizierten Kette von Ereignissen, in der jede Organismengruppe ihren eigenen, höchst spezifischen Platz innehat. Es ist daher unmöglich, ein einziges Element eines solchen Ökosystems zu verändern, ohne das Gleichgewicht, auf dem die Stabilität des Ökosystems beruht, zu zerstören.

1.3 Der Mensch und die Pflanze Der Mensch erschien im Organismenreich relativ spät. Setzt man die Dauer der gesamten Erdgeschichte einem 24-Stunden-Tag gleich (Abb. 1-7), der um Mitternacht beginnt, so entstehen die ersten Zellen frühmorgens in den warmen Meeren. Die ersten vielzelligen Organismen entstehen erst bei Einbruch der Dunkelheit, und der erste Mensch (vor ca. 1 Million Jahren) erscheint erst ungefähr

Maßstab: 1 Sekunde ~ 52000 Jahre 1 Minute ~ 3125000 Jahre 1 Stunde ~ 187500000 Jahre

Vi Minute vor Mitternacht. Dennoch hat der Mensch, mehr als alle Tiere - ja eigentlich genauso stark wie die aufs Land vorgedrungenen Pflanzen - die Erdoberfläche verändert und die Biosphäre nach seinen Bedürfnissen, Begierden und närrischen Einfällen geformt. Vor ca. 12000 Jahren, am Ende des Pleistozäns, war der Mensch bereits das am weitesten verbreitete „Landsäugetier". Die damals ca. 5 Millionen Menschen waren Jäger und Sammler und lebten in kleinen Nomadenstämmen zusammen. Nun war die Bühne frei für das erste große Ereignis, das zu einem schnellen Anstieg der Bevölkerungszahl führte: die Entstehung der Landwirtschaft.

1.3.1 Ursprünge der Landwirtschaft Die Gründe, welche den Menschen dazu bewogen, Ackerbau und Viehzucht zu treiben, sind weithin unbekannt. Einer dieser Gründe scheinen jedoch Klimaveränderungen gewesen zu sein. Die Gletscher der jüngsten Eiszeit begannen vor ca. 18 000 Jahren ihren Rückzug; er dauerte ungefähr 6000 Jahre. Nach dem Rückzug der Gletscher machten die kalten Grasländer oder Steppen der nordeuropäischen und nordamerikanischen Ebenen Wäldern Platz. Die großen Pflanzenfresser, die die Steppen durchstreift hatten, zogen sich nach Norden zurück und starben schließlich aus. Die letzten Exemplare des wollig behaarten Mammuts lebten vor ca. 12000 Jahren in Sibirien. Während einige Tiere ausstarben, paßte sich der Mensch an seine Umwelt an - genauso, wie er es während der

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übrigen starken klimatischen Veränderungen im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte getan hatte. Als die großen umherziehenden Tiere verschwunden waren, wandte sich der Mensch kleinerem Wild, z. B. Rotwild, zu, welches das ganze Jahr über im selben Revier lebt. Auch der Fischfang erlangte zu dieser Zeit Bedeutung. Tümpel und Seen füllten sich, und am Gletscherrand entsprangen Flüsse. Die Jäger bauten Boote, Paddel, Wadenetze und anderes Fischereigerät. Durch das Jagen und Sammeln kleiner Tiere - anstelle der großen umherziehenden Pflanzenfresser - nahm auch das Nomadentum der Jäger ab. Dies leitete das Zeitalter der Landwirtschaft ein.

1.3.2 Übergangszeit Die frühesten Spuren einer Landwirtschaft stammen aus einem Gebiet des Nahen Ostens, welches als Fruchtbarer Halbmond bezeichnet wird. In diesen, vom Winterregen ausreichend benetzten Landstrichen des westlichen und nördlichen Syriens, gab es das „Ausgangsmaterial" für die Entstehung der Landwirtschaft. Dies waren zum einen bestimmte Gräser mit lagerfähigen Samen, zum anderen rasch domestizierbare, pflanzenfressende Herdentiere. Unter den Gräsern des Fruchtbaren Halbmondes gab es „wilden Weizen" und „wilde Gerste", die dort noch heute in Gebirgsausläufern vorkommen. Unter den Tieren gab es wilde Schafe und Ziegen. Wir wissen zwar nicht genau, wann und wo die erste gezielte Aussaat stattgefunden hat, aber sie ist eigentlich die logische Konsequenz einer ganzen Kette von Tatsachen: (1) Die wild vorkommenden Getreide sind Unkräuter, d. h. sie wachsen auf kahlen oder in ihrem ökologischen Gleichgewicht gestörten Flächen - wo nur wenige andere Pflanzen mit ihnen konkurrieren - rasch heran. (2) Die ersten Menschen waren, wie man aus Funden ihrer Lagerstätten schließen kann, nicht sehr ordentlich. Wahrscheinlich verschütteten sie Getreidekörner auf dem offenen Land rings um ihre Behausungen oder warfen sie mit dem Abfall fort. (3) Archäologische Funde fester Behausungen weisen daraufhin, daß der Mensch lange genug an einer Stelle gelebt hat, um das zufällig ausgesäte Getreide heranwachsen zu sehen und seine Ernte einzubringen. Von hier aus wird es nur ein kleiner Schritt zum gezielten Sammeln von Samen, zu deren Aussaat und zur Pflege der Getreidefelder gewesen sein. Da die Menschen beim Sammeln nur bestimmte Samen aussuchten und diese dann aussäten, zeigte das angebaute Getreide bald andere Merkmale als die Wildstämme. Beim wilden Weizen z.B. wird die Rhachis (Spindel, Hauptachse der Ähre), an der die einzelnen Ährchen der Ähre angewachsen sind, beim Heranreifen der Getreidekörner brüchig. Sie zerfällt und fördert so die Verbreitung

Abb. 1-8 Primitive landwirtschaftliche Methoden in Marokko und Thailand.

der Samen. Unter den wildwachsenden Weizenpflanzen kann man jedoch gelegentlich Mutanten finden, deren Rhachis nicht spröde ist. Diese Pflanzen, die sich in freier Natur nicht selbst aussäen können und daher dort benachteiligt sind, können vom Menschen leichter geerntet werden und werden daher auch eher angebaut. Im selben Maße wie der Mensch von seinen Kulturpflanzen abhängig wurde, wurden diese ihrerseits auch vom Menschen abhängig (Abb. 1-8). Vor ungefähr 11000 Jahren entstanden rings um das Gebiet des Fruchtbaren Halbmondes neue Kulturen. Sie besaßen Werkzeuge zur Ernte und Verarbeitung von Ge-

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Einführung

treidekörnern, so z.B. steinerne Sichelblätter, Mahlsteine, steinerne Mörser und Pistille. Vor ungefähr 8100 Jahren hatte sich in Osteuropa eine bäuerliche Gesellschaft etabliert. Spätestens vor 7000 Jahren (also ungefähr 5000 Jahre v. Chr.) hatte sich der Ackerbau bis zum westlichen Mittelmeer und die Donau hinauf bis nach Mitteleuropa ausgedehnt und erstreckte sich um 4000 v. Chr. auch auf die britischen Inseln. Unabhängig davon entstand zur selben Zeit der Ackerbau in Mittel- und Südamerika und vielleicht nur wenig später auch im Fernen Osten. In der Alten Welt fand man Abdrücke von kultiviertem Weizen und von Gerste, ferner Reste domestizierter Ziegen, Schafe und Rinder, sowie Tongefäße, Steinschüsseln und Mörser. Die Bauern der Neuen Welt bauten Mais, verschiedene Kürbisse und Baumwolle an. Auch Kartoffel, Batate (Ipomoea batatas), Erdnuß und Tomate sind typische Kulturpflanzen der Neuen Welt. Die meisten Pflanzen und Tiere, von denen wir uns heute ernähren, sind das Ergebnis gezielter Züchtung.

1.3.3 Folgen der Entstehung der Landwirtschaft Die Entstehung der Landwirtschaft hatte tiefgreifende Folgen. Die Völker lebten nicht mehr als Nomaden. Sie konnten nun Nahrung speichern, nicht nur in Silos und Kornspeichern, sondern auch in Gestalt ihres Viehs. Außer der Nahrung konnten auch andere Besitztümer in einem viel größeren Maße als bisher angehäuft werden. Man konnte sogar Land besitzen, den Landbesitz vermehren und vererben. Bald gab es Eigentümer und Habenichtse, genau wie heute auch. Da nun wenige Menschen genügend Nahrung für alle übrigen erzeugen konnten, entstand eine arbeitsteilige

Tab. I-l

Afrika Asien Europa UDSSR Lateinamerika Nordamerika 2 Ozeanien Gesamte Erde 1

1.3.4

Bevölkerungsexplosion

Vor etwa 25 000 Jahren gab es ungefähr 3 Millionen Menschen. Gegen Ende des Pleistozäns, also vor ungefähr 10000 Jahren, betrug die Bevölkerungszahl der ganzen Welt nur etwas mehr als 5 Millionen. 4000 Jahre v.Chr., also vor ungefähr 6000 Jahren, war die Bevölkerungszahl bereits auf mehr als 86 Millionen angestiegen, und zur Zeit von Christi Geburt gab es schätzungsweise 133 Mil-

Die Bevölkerungszahlen der Welt im Jahre 19801

Gebiet

2

Gesellschaft. Die Menschen wurden Händler, Handwerker, Bankiers, Gelehrte, Dichter; es entstand allmählich das vielfältige Spektrum unserer heutigen Berufe. Die Menschen konnten nun enger beieinander leben als zuvor. Für die Sammler und Jäger war ein Revier von etwa 5 km 2 notwendig gewesen, um eine Familie ernähren zu können. Eine unmittelbare Folge der Entstehung der Landwirtschaft war der rapide Anstieg der Bevölkerungszahl. Die Sammler und Jäger hatten stets ihre Gruppenstärke rigoros begrenzt. Beim Umherziehen konnte eine Frau nicht mehr als ein Kind neben ihrem Hausrat tragen, so wenig dies auch sein mochte. Wenn einfache Methoden der Geburtenkontrolle - oft Enthaltsamkeit - nicht wirkten, wurde das Kind abgetrieben oder, mit noch größerer Wahrscheinlichkeit, sofort nach der Geburt getötet. Hinzu kam eine hohe natürliche Sterblichkeitsrate, besonders unter den ganz Jungen, den sehr Alten, den Kranken, den Erschöpften und den gebärenden Frauen. Solange die Menschen Jäger und Sammler waren, blieb die Bevölkerungszahl daher klein. Als die Familien aber seßhaft geworden waren, war die Kontrolle der Geburtenzahl keine zwingende Notwendigkeit mehr, und wahrscheinlich nahm auch die Sterblichkeitsrate ab.

Geschätzte Bevölkerungszahl

Zuwachsrate

(%)

Erforderliche Anzahl von Jahren zur Verdopplung der Bevölkerungszahl

Voraussichtliche Bevölkerungszahl im Jahre 2000 (Millionen)

(Millionen) 472 2563 484 266 360 247 23 4414

2,9 1,8 0,4 0,8 2,6 0,7 1,1 1,7

24 39 176 82 26 98 61 41

832 3578 521 311 595 289 30 6156

veröffentlicht 1980 vom Population Reference Bureau, Inc. (USA). Kanada und die USA. Mindestens die Hälfte der Zuwachsrate beruht auf Einwanderung.

Einführung

11

Abb. 1-9 (a) Der Friedensnobelpreisträger von 1970, Norman Borlang. Borlang ist der Leiter eines Forschungsvorhabens zur Züchtung neuer Weizensorten für Mexiko. Das Forschungsvorhaben wird von der Rockefeller-Stiftung unterstützt. Zu Beginn des Forschungsprojektes, im Jahre 1944, war Mexiko ein Weizenimporteur. Durch den Anbau der neuen Weizensorten in ganz Mexiko wurde das Land ab 1964 sogar zu einem Weizenexporteur. (b) Landarbeiter beim Unkrautjäten in einem Reisfeld des Internationalen Reisforschungsinstitutes auf den Philippinen. Die neuesten Reissorten sind in hohem Maße resistent gegen Pflanzenkrankheiten; sie wachsen jedoch nur auf bewässertem Land, das nur ungefähr 30% der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Asiens ausmacht.

Honen Menschen auf der Erde. Mit anderen Worten, die Bevölkerungszahl stieg in den 8000 Jahren, vom Ende des Pleistozäns bis zu Christi Geburt, um mehr als das 25fache an. U m 1650 war die Bevölkerungszahl der Erde auf 500 Millionen angestiegen, viele Menschen lebten in Städten. Wissenschaft und Technik entwickelten sich. Schließlich folgte die Industrialisierung, die weitere tiefgreifende Veränderungen im Leben des Menschen und seinem Verhältnis zur Natur mit sich brachte. 1980 lebten mehr als 4,4 Milliarden Menschen auf unserem Planeten (Tabelle 1-1). Das ist eine kaum vorstellbar große Zahl; und auch die Wachstumsrate dieser riesig großen Bevölkerung ist ohne Beispiel. Die Geburtenrate in der Bundesrepublik Deutschland ist seit dem „Pillenknick" Mitte der 60er Jahre drastisch zurückgegangen, so daß die Bevölkerungszahl Deutschlands momentan sogar rückläufig ist. Die Bevölkerung der gesamten Welt wächst jedoch jährlich um etwa 1,8 % an. Das bedeutet, daß pro Minute 150 Menschen, pro Tag 220000 und pro Jahr 80 Millionen Menschen mehr auf der Erde leben. Wenn diese Zuwachsrate so hoch bleibt, so wird es anstelle der 4,4 Milliarden Menschen des Jahres 1980 im Jahre 2000 sechs Milliarden Menschen geben. Nach Schätzungen der Weltbank lebten im Jahre 1981 ungefähr 780 Millionen Menschen in absoluter Armut; d. h. - nach Robert McNamara - unter menschenunwürdigen Lebensbedingungen, die durch Unterernährung, Analphabetentum, Krankheit, elende Behausungen, hohe Kindersterblichkeit und geringe Lebenserwartung gekennzeichnet sind. Um zur Lösung dieses Problems beizutragen, müssen wir bis zum Ende unseres Jahrhunderts

ausreichend Nahrung für weitere 1,7 Milliarden Menschen produzieren. Wenn der Wohlstand weiter weltweit zunimmt, und echte Anstrengungen gemacht werden, das Problem der Unterernährung zu lösen, wird der Nahrungsbedarf im Jahre 1985 ungefähr 50% höher sein als im Jahre 1970. Nach Schätzungen des International Food Policy Research Institute wird im Jahre 1985/86 das Getreidedefizit der Entwicklungsländer 100 bis 200 Millionen Tonnen jährlich betragen. Die - wegen der zunehmenden weltweiten Energieverknappung - hohen Kosten der Düngerherstellung verschärfen dieses Problem zunehmend. Allein die mehr als 5 Millionen Traktoren der USA benötigen jährlich 30 Milliarden Liter Kraftstoff - , eine hohe Gegenleistung für die gewonnene Nahrungsenergie. Wenn fossile Brennstoffe rarer und teurer werden, hat das einen Anstieg der Nahrungsmittelpreise zur Folge. Die Deutschen, die im Durchschnitt nur weniger als 2 0 - 3 0 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben, sind deswegen schon ernstlich beunruhigt. Für Menschen in den Entwicklungsländern aber, die schon heute 8 0 - 9 0 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben müssen, kann dies den Tod bedeuten. In der Tat sterben in Ländern wie Bangladesch, Indien, Haiti und in der Sahelzone Nordafrikas immer mehr Menschen den Hungertod. Man kann die Nahrungsmittelproduktion steigern, indem man noch mehr Land kultiviert. Am ehesten jedoch erreicht man dieses Ziel, wenn man die Ertragshöhe und den Proteingehalt der heute bereits existierenden Kulturpflanzen auf dem gegenwärtig kultivierten Land steigert. Die Technisierung der Landwirtschaft, z. B. die Bewässerung, kann noch erheblich verbessert werden. Die Bemü-

12

Einführung

Abb. 1-10 Moderner Weizenanbau

hungen, die Landwirtschaft durch die Züchtung neuer Kulturpflanzen - besonders neuer Getreidesorten - anzukurbeln, bezeichnet man als „Grüne Revolution". Momentan werden damit enorme Erfolge erzielt. So hat sich die Weizenernte in Mexiko seit 1950 vervierfacht (Abb. 1-9). Indien und Pakistan verdoppelten ihre Weizenproduktion zwischen 1968 und 1972. China, das bevölkerungsreichste Land der Erde, ist landwirtschaftlich autark geworden; größtenteils, weil es die neu gezüchteten Kulturpflanzensorten übernahm. In Europa und Amerika übliche Techniken zur Züchtung, Düngung und Bewässerung von Kulturpflanzen sind auf Reis und andere Kulturpflanzen der Entwicklungsländer der gesamten Erde übertragen worden. Eine neu gezüchtete Hybride aus Weizen und Roggen, Triticale, ist eines der vielversprechendsten Ergebnisse dieses Agrarprogramms. Die Steigerung der Photosyntheserate und die Fixierung von atmosphärischem Stickstoff gehören momentan zu den wichtigsten Forschungsaufgaben der Pflanzenphysiologie; beide werden in späteren Kapiteln genauer besprochen. Trotz der sichtbaren Erfolge sind die massiven Anstrengungen, die im Rahmen der „Grünen Revolution" unternommen wurden, in den letzen Jahren nicht ohne Rück-

schläge und Kritik geblieben. Ein Kritikpunkt ist, daß durch die Beschränkung auf wenige, besonders ertragreiche Sorten unter Vernachlässigung der bisherigen Mannigfaltigkeit die Kulturpflanzen viel stärker als bisher der Vernichtung durch Krankheitserreger preisgegeben sind (siehe ,,Genetische Mannigfaltigkeit der Kulturpflanzen", auf S. 13). Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die steigenden Kosten für die erforderliche intensive Pflege der neu gezüchteten Getreidesorten, die nur dann gute Ernten bringen, wenn sie ausreichend gedüngt werden. Weil sich Großgrundbesitzer - im Gegensatz zu den Kleinbauern die erforderlichen Investitionen für Dünger und landwirtschaftliche Maschinen leisten können, wird die Aufteilung des Ackerlandes unter einigen sehr reichen Bauern durch diese neuen landwirtschaftlichen Entwicklungen immer stärker festgeschrieben. Noch ist zwar in manchen Erdteilen die Zunahme der Nahrungsmittelproduktion größer als der Bevölkerungszuwachs (Abb. 1-10), in Afrika liegt sie aber bereits heute darunter und kann auch nicht mehr lange mit der rapiden Zunahme der Bevölkerungszahl im tropischen Asien und Lateinamerika Schritt halten - trotz „Grüner Revolution". Wie Hunger und Armut - unter denen fast 1 / 5 der Weltbevölkerung leidet - verringert werden können, bleibt ein schwerlösbares Problem. Natürlich muß die „Grüne Revolution" weitergehen. Gleichzeitig müssen wir jedoch erkennen, daß weitreichende Lösungen gesellschaftlicher, politischer und ethischer Natur erforderlich sind. Hierbei kommt es nicht allein auf die ausreichende Erzeugung von Nahrungsmitteln an, sondern auch auf deren Verteilung und die Schaffung von Arbeitsplätzen, damit die Armen das Geld zum Kauf der Nahrungsmittel verdienen können. Ferner gehört dazu nicht nur die Begrenzung des Bevölkerungswachstums, sondern auch das Anheben des Lebensstandards auf ein erträgliches Maß. Diese Einleitung führte von der Entstehung des Lebens auf dieser Erde über die Entstehung der Landpflanzen und Pflanzengesellschaften bis hin zur Entwicklung der Landwirtschaft und unserer modernen Gesellschaft mit ihrem gegenwärtig größten Problem, einem nie dagewesenen Bevölkerungswachstum. All diese Themen interessieren nicht nur den Botaniker, sondern auch viele andere Menschen. Wenn wir uns in Kapitel 1 der Zelle zuwenden - die ja so klein ist, daß wir sie mit bloßem Auge nicht erkennen können - so sollten wir uns dennoch die soeben aufgeworfenen Probleme stets vor Augen halten. Grundkenntnisse der Botanik sind um ihrer selbst willen und auch zum Verständnis vieler anderer Gebiete wichtig. Sie sind jedoch in steigendem Maße auf einige entscheidende Probleme der menschlichen Gesellschaft anwendbar und ermöglichen es, die richtigen Maßnahmen zur Verringe-

Einführung

rung dieser Probleme zu treffen. Daher ist dieses Buch nicht nur für den künftigen Botaniker - sei er Lehrer oder Forscher sondern auch für den verantwortungsbewuß-

Genetische

Mannigfaltigkeit

der

13

ten Bürger (Wissenschaftler und Laien gleichermaßen) geschrieben, in dessen Händen solche Entscheidungen liegen.

Kulturpflanzen

Bis vor kurzem waren die Kulturpflanzen der Erde - genauso wie die Wildformen, aus denen sie hervorgegangen sind - genetisch recht verschieden. Seit der Entstehung der Landwirtschaft vor mehr als 10000 Jahren, hatten sich in den Kulturpflanzen große Variabilitätsreserven angehäuft - auf Grund von Mutation, Kreuzung, künstlicher und natürlicher Selektion und Anpassung an verschiedenartigste Lebensbedingungen. So gab es Tausende von Weizen-, Kartoffel- und Maissorten. Diese genetische Mannigfaltigkeit stellt einen wichtigen Sicherheitsfaktor dar. Wenn sich eine Sorte als besonders empfindlich gegenüber einem bestimmten Krankheitserreger erweist, können andere Sorten ausfindig gemacht werden, die dagegen resistent sind. Aus diesen resistenten Sorten kann man dann neue Varietäten züchten. Durch die Selektion von Sorten, die besonders hohe Ernteerträge bringen, ist die Zahl der angebauten Kulturpflanzensorten in den letzten Jahren immer geringer geworden und durch diese Vereinheitlichung sind sie nun viel eher einer Vernichtung ausgesetzt als bisher. So zerstörte z. B. im Jahre 1970 der Pilz Helminthosporium maydis ungefähr 15 % der gesamten Maisernte der USA, ein Verlust von schätzungsweise 1 Milliarde Dollar. Diese

Verluste gehen offensichtlich auf die Entstehung einer neuen Rasse des Pilzes zurück, die für eine Maissorte, welche in großem Maße zur Saatgutproduktion angebaut wird, hochgradig pathogen ist. Solche Gefahren mehren sich in dem Maße, wie die verbesserten, neu gezüchteten Sorten der Kulturpflanzen nach und nach die zahlreichen alten Sorten verdrängen. Schon heute sind Samen vieler alter Kulturpflanzensorten nur noch schwierig aufzutreiben. Kritiker und Befürworter der „Grünen Revolution" stimmen heute darin überein, daß zum Schutz unserer Kulturpflanzen gezielte Forschungsprogramme notwendig sind. Hierbei soll erstens das Auftreten neuer Erregerstämme von Pflanzenkrankheiten beobachtet werden, und zweitens die genetische Mannigfaltigkeit der Kulturpflanzen aufrechterhalten werden. Vom Aussterben bedrohte Sorten müssen weltweit ausfindig gemacht und in geeigneten „Genbanken" aufbewahrt werden. Inzwischen gibt es ein weltweites Netz von Genbanken, mit Hauptgenbanken - z. B. in Fort Collins/USA, in Leningrad und in Lima/Peru - und vielen regionalen Genbanken. Die regionale Genbank der BRD befindet sich in Braunschweig.

Teil 1 Die Pflanzenzelle

I 1.0 juni I

Kapitel 1 Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

Mitochondrion

Chloroplasten

Nucleus Nucleolus

Zellwand

Abb. 1-1 Links ist die elektronenmikroskopische Aufnahme eines Querschnittes durch eine Pflanzenzelle (9000 fache Vergrößerung) zu sehen; auf der obigen Zeichnung sind die Namen einiger Zellkomponenten (Organellen) angegeben. Bei der hier abgebildeten Zelle handelt es sich um eine Bündelscheidenzelle aus einem Maisblatt (Zea mays). Bündelscheidenzellen umschließen kranzförmig das Xylem und das Phloem, die Wasser bzw. Assimilate transportierenden Gewebe der Blattnerven. Der Zellkern (Nucleus) - der Sitz der genetischen Information - befindet sich unten rechts im Bild; im Zellkern ist ein Nucleolus zu sehen. Ferner zeigt diese Bündelscheidenzelle Chloroplasten (Photosyntheseorganellen) und Mitochondrien (Organellen, in denen die Nahrung in nutzbare Energie umgewandelt wird). Einige Chloroplasten enthalten ovale Stärkekörner.

Die Zellen sind die Bau- und Funktionseinheiten des Lebens. Die kleinsten Lebewesen sind einzellig; die größten bestehen aus Milliarden von Zellen, von denen aber jede einzelne noch immer ein zumindest teilweise unabhängiges Dasein führt. Die Erkenntnis, d a ß alle Lebewesen aus Zellen aufgebaut sind, war einer der wichtigsten gedanklichen Fortschritte in der Geschichte der Biologie, denn nun konnte man sämtliche Lebewesen unter einem gemeinsamen Aspekt betrachten. M a n erkannte, daß auf zellulärer Ebene sogar die verschiedenartigsten Organismen einander erstaunlich ähnlich sind, sei es in Bau oder Funktion. Diese Erkenntnis fand ihren Niederschlag in der Zellentheorie; sie wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1838) aufgestellt - etliche Jahre, bevor 1859 Darwin seine Evolutionstheorie veröffentlichte. Zwischen diesen beiden, für das gesamte Organismenreich gültigen Theorien besteht ein enger Zusammenhang. Die Ähnlichkeit der Zellen untereinander deutet darauf hin, d a ß alle heute lebenden Organismen - einschließlich der Pflanzen und uns selbst - im Laufe einer langen Entwicklungsgeschichte aus primitiven Zellen hervorgegangen sind, die sich vor Milliarden von Jahren auf unserer Erde gebildet haben. Es gibt sehr viele verschiedenartige Zellen. In unserem eigenen Körper gibt es mehr als 100 verschiedene Zelltypen. In einem cm 3 Teichwasser findet man bereits mehrere Arten von Einzellern, im gesamten Teich wahrscheinlich sogar mehrere hundert. Pflanzen bestehen aus Zellen, die sich - oberflächlich betrachtet - von unseren Körperzellen deutlich unterscheiden. Insekten besitzen sogar viele Zellsorten, die weder bei Pflanzen noch bei Wirbeltieren vorkommen. Ein Charakteristikum der Zellen ist also ihre Vielgestaltigkeit. Ein anderes Charakteristikum der Zellen ist ihre Ähnlichkeit. Jede Zelle ist eine abgeschlossene und zumindest teilweise autarke Einheit. Sie wird von einer äußeren M e m b r a n - der Plasmamembran oder dem Plasmalemma - umgrenzt; diese kontrolliert den Eintritt von Substanzen in die Zelle und auch deren Austritt und ermöglicht so der Zelle, sich biochemisch und struktrurell von ihrer Umgebung abzuheben. Innerhalb des Plasmalemmas be-

18

TEIL 1

Die Pflanzenzelle

findet sich das Cytoplasma, das bei den meisten Zellen neben verschiedenen Zellorganellen auch zahlreiche suspendierte und gelöste Moleküle enthält. Außerdem besitzt jede Zelle Desoxyribonukleinsäure (DNS); sie birgt verschlüsselt die genetische Information (siehe Kapitel 7), und dieser genetische Code ist bei allen Zellen fast derselbe, sei es beim Bakterium, bei der Eiche oder beim Menschen.

1.1 Prokaryonten und Eukaryonten Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Gruppen von Organismen: die Prokaryonten und die Eukaryonten. Diese Begriffe leiten sich von dem griechischen Wort karyon ab, das „Nuß" oder „Kern" bedeutet. Eukaryonten besitzen einen „echten Kern" (gr. eu = gut, richtig), Prokaryonten nicht (gr. pro = vor). Zu den Prokaryonten zählt man heute die Bakterien, einschließlich der Cyanobakterien oder Blaualgen (s. Kap. 11). Prokaryontische Zellen unterscheiden sich von eukaryontischen vor allem dadurch, daß ihre DNS nicht in Chromosomen - komplizierten, eiweißhaltigen, fadenförDie mit dem Mikroskop

erkennbare

migen Gebilden - lokalisiert und nicht von einer Zellmembran (Kernhülle) (Abb. 1-2) umgeben ist. Die ringförmige DNS (Kernäquivalent) liegt frei im Cytoplasma. Auch haben Prokaryonten für die verschiedenen Zellfunktionen keine besonderen Zellorganellen. Eukaryontische Zellen sind streng untergliedert, ihre einzelnen Bereiche (Kompartimente) dienen jeweils verschiedenen Zellfunktionen (Abb. 1-1). Die DNS ist - zusammen mit Proteinen - in Chromosomen lokalisiert, die ihrerseits in einem Zellkern liegen, der von einer besonderen Zellmembran - der Kernhülle - umgeben ist. Eukaryontische Zellen sind meist größer als prokaryontische. Die Kompartimentierung der eukaryontischen Zellen geschieht durch Zellmembranen, die - mit dem Elektronenmikroskop betrachtet - bei den verschiedenartigen Organismen erstaunlich ähnlich aussehen. Bei guter Präparation erscheinen diese Zellmembranen dreischichtig (Abb. 1-3). Sie bestehen aus zwei dunklen Schichten (je ungefähr 2,5 nm dick), die durch eine hellere Schicht von ungefähr 3,5 nm Dicke voneinander getrennt sind. Solche dreischichtigen Membranen bezeichnet man als Elementarmembranen (engl, unit membranes).

Welt

Die meisten Zellen kann man nur mit Hilfe eines Mikroskopes erkennen. Die Maßeinheiten zur Messung der Zellgröße sind Mikrometer (|im) und Nanometer (nm) (siehe Tabelle 1-1). Das unbewaffnete menschliche Auge hat ein Auflösungsvermögen von ungefähr 1/10 mm, d. h. 100 |im. Das bedeutet, daß 2 parallele Linien, die weniger als 100 (im voneinander entfernt sind, für das menschliche Auge zu einer einzigen, dickeren Linie verschmelzen. Auch zwei Punkte, die weniger als 100 um auseinanderliegen, verschwimmen zu einem einzigen Punkt. Um Strukturen zu erkennen, die dichter als 100 um zusammenliegen, bedarf es optischer Geräte, vor allem des Mikroskops. Die Grenze des Auflösungsvermögens liegt für Lichtmikroskope bei 0,2 um oder 200 nm, ihr Auflösungsvermögen ist also bis zu 500mal besser als das des unbewaffneten menschlichen Auges. Die Grenze des lichtmikroskopischen Auflösungsvermögens kann auf Grund der Lichtbeugung nicht unterschritten werden. Auflösungsvermögen und Vergrößerung sind zwei verschiedene Dinge. Wenn Sie durch das stärkste Lichtmikroskop hindurch zwei Linien photographieren, die dichter als 0,2 (xm (oder 200 nm) beieinander liegen, so können Sie die Photographie noch so stark vergrößern, die beiden Linien werden stets zu einer verschwommenen Linie miteinander verschmolzen bleiben. Durch stärkere Linsen kann zwar die Vergrößerung gesteigert, jedoch nicht das Auflösungsvermögen verbessert werden.

Das Durchstrahlungselektronenmikroskop Das Auflösungsvermögen des Durchstrahlungselektronenmikroskops ist fast 400mal größer als das des Lichtmikroskops. Dies wird erreicht, indem man als „Lichtquelle" Elektronenstrahlen anstelle von Lichtstrahlen verwendet. Unter den günstigsten Umständen erreicht das Elektronenmikroskop ein Auflösungsvermögen von ungefähr 0,5 nm. (Zum Vergleich: ein Wasserstoffatom hat einen Durchmesser von 0,1 nm). Das Auflösungsvermögen des Elektronenmikroskops ist also ungefähr 200000mal besser als das des unbewaffneten menschlichen Auges. In einem Durchstrahlungselektronenmikroskop hinterlassen die Elektronenstrahlen, die das Objekt passieren, auf einem darunterliegenden Phosphoreszenzschirm Kontrastspuren. Teile des Objekts, die den Durchgang vieler Elektronen erlauben - sog. „elektronentransparente Gebiete" - erscheinen hell, „elektronendichte Gebiete" hingegen dunkel. Das herkömmliche Durchstrahlungselektronenmikroskop hat einen großen Nachteil. Die Elektronen haben eine sehr kleine Masse und werden beim Zusammenprall mit Atomen und Molekülen sehr leicht abgelenkt. Daher muß der Tubus des Mikroskops evakuiert werden. Die Elektronenstrahlen können auch nur außerordentlich dünne Objekte durchdringen. Objekte für die Elektronenmikroskopie müssen daher fixiert und in festes Material eingebettet werden, um sie mit be-

KAPITEL 1

Abb. 1-2 Escherichia coli - ein Bakterium - ist ein gutes Beispiel für einen heute lebenden Prokaryonten. E. coli ist ein normaler, meist harmloser Bewohner des menschlichen Verdauungstraktes. Jeder dieser stäbchenförmigen Organismen besitzt eine Zellwand, eine Plasmamembran und Cytoplasma. Die beiden Zellen in der Mitte des Bildes haben sich gerade geteilt, sind aber noch nicht ganz auseinandergewichen. Die D N S findet sich im weniger granulären Zentrum der Zellen.

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

19

Das stark granuläre Aussehen des Cytoplasmas beruht größtenteils auf seinen zahlreichen Ribosomen. Diese kleinen Körperchen haben einen Durchmesser von nur ungefähr 20 nm. Rechts unterhalb der Mikrophotographie ist ein G r ö ßenmaßstab eingezeichnet. Die Bakterien sind ungefähr 29 000 fach vergrößert. [0,5 um in der N a t u r entsprechen (29000) x (0,5 um) = 1,5 cm auf der Mikrophotographie].

Plasmamembran

DNS

0.5 fim

sonderen Mikrotomen sehr dünn schneiden zu können. Das bedeutet, daß das hohe Auflösungsvermögen des Elektronenmikroskops nur auf tote Gewebe angewendet werden kann. Außerdem ist es manchmal recht schwierig zu sagen, ob und wie das Material im Laufe dieser Präparation verändert worden ist. Einige Zellarten, beinahe alle Viren und viele Zellstrukturen sind nur im Elektronenmikroskop sichtbar. Abb. 11 ist eine der zahlreichen elektronenoptischen Aufnahmen dieses Buches, die mit einem Durchstrahlungselektronenmikroskop hergestellt wurden. Tab. 1-1 1 1 1 1

In der Mikroskopie verwendete Längeneinheiten

Zentimeter (cm) Millimeter (mm) Mikrometer (um) 1 Nanometer (nm)

1 Angstrom (A) 2

1 Meter (m) 1

= 1/100 Meter = 1/1000 Meter = 1/10 cm = 1/1000000 M e t e r / 1 / 1 0 0 0 0 cm = 1/1000000000 Meter = 1/10000000 cm = 1/10000000000 Meter = 1/100000000 cm oder = 10 2 cm = 10 3 m m = 10 6 um = 109 nm = 10 10 A

Ein Mikrometer wurde früher als Mikron bezeichnet. Der griechische Buchstabe n (sprich „ m ü " ) entspricht unserem m. 2 Das Angström gehört nicht zu den Längeneinheiten des SISystems, wird aber auch heute noch vielfach in der Mikroskopie benutzt.

Abb. 1-3 Bei starker Vergrößerung erscheinen die Zellmembranen dreischichtig (dunkel - hell - dunkel). Die Plasmalemmen (Pfeile) der beiden Endodermiszellen aus einem Blatt des Farnes Vittaria guineensis lassen die Dreischichtigkeit deutlich erkennen; sie liegen beiderseits der Zellwand. Solche Membranen heißen Elementarmembranen (engl, unit membranes).

20

TEIL 1

D i e Pflanzenzelle

1.2 Die Pflanzenzelle Kennzeichnend für eine Pflanzenzelle ist ihre mehr oder weniger starre Zellwand, die den Protoplasten umgibt. Der Begriff Protoplast leitet sich von dem Wort Protoplasma ab, das lange Zeit zur Bezeichnung von lebender Zellsubstanz schlechthin benutzt wurde. Der Protoplast ist also das Protoplasma einer Zelle, bei einer Pflanzenzelle das gesamte, innerhalb der Zellwand gelegene Protoplasma. Ein Protoplast besteht aus dem Cytoplasma (mit seinen Grenzmembranen) und dem Zellkern. Das Cytoplasma enthält verschiedene Zellorgane, sog. Organellen (Ribo-

Das Rasterelektronenmikroskop Beim Rasterelekronenmikroskop stammen die Elektronen, die das Bild ergeben, von der Oberfläche des Objektes selbst. Ein scharf gebündelter Elektronenstrahl wird in eine feine Sonde gelenkt, mit der das gesamte Objekt abgetastet wird. Der ganze Vorgang nimmt einige Sekunden oder auch Minuten in Anspruch. Infolge des Elektronenbeschusses durch die Sonde strahlt das Objekt energiearme sekundäre Elektronen aus. Unterschiede in der Oberflächenbeschaffenheit des Objektes verändern die Zahl der sekundär ausgestrahlten Elektronen. Löcher und Spalten geben weniger sekundäre Elektronen ab und erscheinen somit dunkel, runde Erhebungen und Grate geben mehr sekundäre Elektronen ab und erscheinen somit hell. Die reflektierten und die von der Oberfläche des Objektes emittierten Elektronen werden gesammelt, verstärkt und auf einen Schirm übertragen, der synchron mit der Elektronensonde abgetastet wird; man erhält so ein dreidimensionales Bild vom Objekt. Die Abbildung 2-4 e wurde mit einem Rasterelektronenmikroskop hergestellt, ebenso eine Reihe anderer Abbildungen in diesem Buch.

Die Entstehung

der

somen, Mikrotubuli, Piastiden, Mitochondrien) und Membransysteme (endoplasmatisches Reticulum und Dictyosomen [Golgi-Körper]), die jedoch nur mit dem Elektronenmikroskop zu erkennen sind. Darüber hinaus enthält das Cytoplasma eine scheinbar unstrukturierte Grundsubstanz (Cytosol), in welche die Zellorganellen und Membransysteme eingebettet sind. Das Cytoplasma ist gegen die Zellwand durch das Plasmalemma, eine Elementarmembran, abgegrenzt. Im Gegensatz zu den meisten tierischen Zellen enthält das Cytoplasma der Pflanzen eine oder mehrere mit Flüssigkeit gefüllte Räume, die Vakuolen. Vakuolen sind von einer Elementarmembran dem Tonoplasten - umgeben.

alles Lebendigen. Diese „Zellentheorie" ist für die Biologie von zentraler Bedeutung. Sie hebt die grundsätzliche Gleichheit aller Lebewesen hervor und bringt so die verschiedensten Untersuchungen an den unterschiedlichsten Organismen auf einen gemeinsamen Nenner. 1858 bekam die „Zellentheorie" durch Rudolf Virchow eine noch größere Bedeutung - vor allem für die Entwicklungsgeschichte der Lebewesen. Der bedeutende Pathologe behauptete nämlich, daß Zellen stets nur aus bereits existierenden Zellen entstehen können: „Omnis cellula e cellula". Demnach besteht eine ununterbrochene Kontinuität zwischen den heutigen Zellen - und den aus ihnen gebildeten Lebewesen - und den primitiven Zellen, die vor mehr als 3,5 Milliarden Jahren auf der Erde entstanden sind.

Zellentheorie

Im 17. Jahrhundert beobachtete Robert Hooke mit einem selbstgebauten Mikroskop, daß Kork und andere pflanzliche Gewebe aus kleinen Kammern bestehen, die voneinander durch Wände getrennt sind. Er nannte diese Kammern „Zellen" (lat. cella = Kämmerchen). Seine heutige Bedeutung nahm dieser Begriff jedoch erst mehr als 150 Jahre später an. Im Jahre 1838 kam Matthias Schleiden - ein deutscher Botaniker - zu dem Schluß, daß alle pflanzlichen Gewebe aus Zellen aufgebaut sind. Im folgenden Jahr dehnte der Zoologe Theodor Schwann Schleidens Beobachtung auf tierische Gewebe aus. Für ihn waren die Zellen Bausteine

Zeichnung zweier Schnitte durch ein Stück Kork. Die Zeichnung wurde Robert Hookes ,,Micrographia" (1665) entnommen. H o o k e verwendete als erster den Begriff „Zelle", um die winzigen Kompartimente zu beschreiben, aus denen sich die Lebewesen zusammensetzen.

KAPITEL 1

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

21

Abb. 1-4 Zelle der Wasserpest (Elodeä). (a) Zelloberfläche, (b) Zellmitte. Die zahlreichen scheibenförmigen Gebilde sind Chloroplasten; sie liegen im Cytoplasma, entlang der Zellwand. In Aufsicht (a) erscheinen die Chloroplasten rund, in der Zellmittenansicht sehen sie hingegen länglich aus (b), weil sie ihre breitere Seite der Zelloberfläche - dem einfallenden Licht - zugewandt haben. Im Zentrum der Zelle, das von der Vakuole ausgefüllt wird, kommen keine Chloroplasten vor (b).

In einer lebenden Pflanzenzelle, z.B. einer Zelle der Wasserpest (Elodea) (Abb. 1 -4), ist die Grundsubstanz häufig in Bewegung. Man kann beobachten, wie sich die Zellorganellen und zahlreiche in der Grundsubstanz suspendierte Teilchen mit dieser in der Zelle bewegen. Diese Bewegung bezeichnet man als Cytoplasmaströmung; sie dauert an, solange die Zelle lebt. Worauf die Cytoplasmaströmung beruht, ist noch ungeklärt. Sie erleichert zweifellos den Austausch von Substanzen sowohl innerhalb der Zelle als auch zwischen der Zelle und ihrer Umgebung; man weiß jedoch nicht, ob dies die eigentliche Funktion der Cytoplasmaströmung ist.

1.3 Zellkern Der Zellkern ist häufig das auffälligste Gebilde im Protoplasma eukaryontischer Zellen. Er erfüllt zwei wichtige Aufgaben: (1) er kontrolliert die Vorgänge, die in der Zelle ablaufen, d.h. er bestimmt, welche Proteinmoleküle die Zelle bildet und wann dies geschieht (siehe Kapitel 7); (2) er speichert die genetische Information und gibt sie im Laufe der Zellteilung an die Tochterzellen weiter. Bei eukaryontischen Zellen wird der Zellkern durch eine Doppelmembran (zwei Elementarmembranen) - die sog. Kernhülle - begrenzt. Im Elektronenmikroskop kann man erkennen, daß sie zahlreiche runde Poren enthält, mit einem Durchmesser von 30-100 nm (Abb. 1-5). Die

innere und die äußere Kernmembran sind am Porenrand miteinander verbunden. Die Kernporen sind nicht nur einfache Löcher in der Kernhülle, sondern recht kompliziert gebaute Einrichtungen. An vielen Stellen geht die äußere Membran der Kernhülle ins endoplasmatische Reticulum über. Färbt man die Zelle mit bestimmten Reagenzien, so kann man in dem von der Kernhülle umgrenzten Nucleoplasma dünne Chromatinfäden und -körnchen erkennen. Chromatin besteht aus DNS und Proteinen. Während einer Zellteilung verdichtet sich das Chromatin immer mehr, bis es schließlich die Form von Chromosomen annimmt. Wie bei den Prokaryonten, so ist auch bei den Eukaryonten die DNS Träger der genetischen Information; jedoch ist der DNS-Gehalt einer eukaryontischen Zelle größer als der einer prokaryontischen. Während bei den Prokaryonten das ringförmige DNS-Molekül (Kernäquivalent) frei im Cytoplasma liegt, sind bei Eukaryonten die DNS-Moleküle zu weitaus größeren Einheiten, den Chromosomen, vereinigt, die außerdem Eiweiße enthalten. Die verschiedenartigen Organismen besitzen unterschiedlich viele Chromosomen pro Zelle. Happlopappus gracilis, eine einjährige Wüstenpflanze, besitzt 4 Chromosomen, Crepis capillaris (grüner Pippau) 6, Kohl 20, die Sonnenblume 34, Weizen 42 und der Mensch 46 Chromosomen; bei einem Farn der Gattung Ophioglossum beträgt die Chromosomenzahl sogar ungefähr 1250.

22

TEIL

1

Die Pflanzenzelle Polysom

1 (a) 0.5 M m Abb. 1-5 Kernporen (a) in der Oberfläche der Kernhülle eines Wurzelspitzenzellkerns von Allium cepa (Zwiebel) (Präparation nach der Gefrierätztechnik) bzw. (b) und (c) in elektronenmikroskopischen A u f n a h m e n von Zellkernen aus Schnitten durch das Parenchym des Moosfarnes Selaginella

(b)

endoplasmatisches Reticulum

I

0.2

M

m

kraussiana. In (b) sind die Kernporen in Aufsicht, in (c) hingegen im Querschnitt (siehe Pfeile) zu sehen. In (b) sind Polysomen (Ketten von Ribosomen) auf der Oberfläche der Kernhülle zu erkennen und in (c) das rauhe endoplasmatische Reticulum, das parallel zur Kernhülle verläuft.

Die Zahl der Chromosomen in den Zellen höherer Pflanzen und Tiere entspricht einem doppelten, sog. diploiden Chromosomensatz, und diese Chromosomenzahl ist im allgemeinen für alle Zellen eines Organismus konstant. Werden jedoch im Laufe der geschlechtlichen Fortpflanzung Sporen oder Gameten (siehe Kapitel 8.3) gebildet, so wird der diploide Chromosomensatz auf die Hälfte reduziert. Die so entstehenden Zellen besitzen nur einen einfachen Chromosomensatz, sind also haploid. Die oftmals einzigen, mit dem Lichtmikroskop im Zellkern erkennbaren Gebilde sind die Nucleoli (Singular: Nucleolus). Man findet diese nahezu kugelförmigen Gebilde in Zellkernen, die sich nicht gerade in Teilung befinden (Abb. 1-1). Sie sind Sitz der Ribosomenbildung. Die Zahl der Nucleoli im Kern ist variabel. Oftmals vereinigen sie sich zu einem größeren Gebilde. Sie bestehen zwar größtenteils aus Protein, besitzen aber darüber hinaus noch ungefähr 5 Prozent Ribonukleinsäure (RNS).

1.4 Piastiden Neben den Vakuolen und den Zellwänden sind die Plastiden charakteristische Bestandteile von Pflanzenzellen. Je-

(C)

I

de Plastide ist von einer Hülle aus zwei Elementarmembranen umgeben. Ihr Inneres wird von einem Membransystem und einer mehr oder weniger homogenen Grundsubstanz, dem Siroma, durchsetzt. Die reifen Piastiden werden gewöhnlich nach ihren Pigmenten eingeteilt. Chloroplasten enthalten Chlorophyll und Carotinoide, und sind Sitz der Photosynthese. Bei höheren Pflanzen sind die Chloroplasten in der Regel linsenförmig und haben einen Durchmesser von 4 bis 6 um. Eine einzige Zelle des Mesophylls (des Gewebes im Blattinneren) kann 40-50 Chloroplasten enthalten, ein mm 2 eines Blattes ungefähr 500000. Die Chloroplasten liegen frei beweglich im Cytoplasma und richten ihre Oberfläche nach dem Licht aus. Meist liegt ihre Breitseite parallel zur Zellwand (Abb. 1-6). Die Feinstruktur eines Chloroplasten ist kompliziert (Abb. 1-7 und 1-8). Das Stroma wird von einem ausgedehnten, von einer Elementarmembran umgrenzten Hohlraumsystem in Gestalt abgeflachter Säcke - den Thylakoiden - durchzogen, die untereinander verbunden sind (Thylakoidsystem). Ein Kennzeichen der Chloroplasten höherer Pflanzen und der meisten Moos- und Farnpflanzen sind die Grana (Singular: Granum) - geldrollenähnliche Stapel scheibenförmiger Thylakoide. Die Thyl-

KAPITEL 1

Abb. 1-6 Dreidimensionale Darstellung einer Pflanzenzelle mit Chloroplasten. Die zahlreichen linsenförmigen Chloroplasten liegen im zellwandnahen Cytoplasma und haben ihre Breitseite parallel zur Zellwand ausgerichtet. Den meisten Raum in dieser Zelle nimmt die Vakuole ein, die hier von einigen Cytoplasmafäden durchzogen wird. In dieser Zelle ist der Zellkern im zellwandnahen Cytoplasma lokalisiert, während er sich in anderen Zellen - in Stränge von Cytoplasma eingebettet - im Zentrum der Zelle befinden kann.

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

23

Interzellularraum

Plasmalemma Zellwand

primäres Tüpfelfeld mit Plasmodesmen Cytoplasma Chloroplasten

Nucleolus Nucleus

Mittellamelle

Tonoplast Mitochondrien Microbodies Cytoplasmastränge

innere M e m b r a n

äußere M e m b r a n

Thylakoid

Abb. 1-7 Feinstruktur eines Chloroplasten. Ein Thylakoid ist ein von einer Elementarmembran umgrenzter flacher Sack. Ein Granum besteht aus geldrollenähnlich übereinandergestapelten scheibenförmigen Thylakoiden. Man nimmt an, daß alle Thylakoide ein einziges zusammenhängendes Hohlraumsystem, das Thylakoidsystem, bilden. Die Photosynthesepigmente befinden sich im Inneren der Thylakoidmembranen.

Stroma

akoide der verschiedenen Grana - die Granathylakoide sind untereinander durch einzeln liegende Thylakoide verbunden, die das Stroma durchziehen - die Stromathylakoide. Chlorophylle und Carotinoide befinden sich im Inneren der Thylakoidmembranen.

G r a n u m (Thylakoidstapel)

Chloroplasten enthalten oft kleine Lipidtröpfchen und Stärkekörner. Die Stärkekörner sind vorübergehende Speicherprodukte und bilden sich dann, wenn die Pflanze aktiv Photosynthese betreibt (Abb. 1-1). In Chloroplasten von Pflanzen, die 24 Stunden der Dunkelheit ausge-

24

TEIL 1

Die PflanzenzeUe

Abb. 1-8 (a) Chloroplast eines Maisblattes (Zea mays). (b) Ausschnitt, der G r a n a aus übereinandergestapelten, Scheiben-

förmigen Thylakoiden zeigt. Die Granathylakoide sind über Stromathylakoide miteinander verbunden.

Upidtröpfehen

Abb. 1-9 Mit Hilfe der Gefrierätztechnik wurde von diesem Thylakoid ein Teil der M e m b r a n entfernt. Die Partikeln, die sich auf der Innenfläche der Membran zeigen, nennt man Tetrapartikeln. M a n glaubt, d a ß diese kopfsteinpflasterartigen Strukturen bei den Lichtreaktionen der Photosynthese eine Rolle spielen.

Abb. 1-10 Chromoplasten aus einem Blütenblatt von Tagetes (einem Korbblütler). Jeder Chromoplast enthält zahlreiche Lipidtröpfchen; in diesen ist der Farbstoff gespeichert, der dem Blütenblatt seine Farbe verleiht.

setzt waren, können sie bereits fehlen. Häufig treten sie jedoch nach nur 3-4stündiger Belichtungszeit wieder auf. Die Innenflächen der Thylakoidmembran enthalten viele globuläre Partikeln unterschiedlicher Größe: die aus vier Untereinheiten bestehenden Tetrapartikeln (Abb. 19) und die ihnen gegenüberliegenden Einzelpartikeln.

Man nimmt an, daß die Tetrapartikeln die morphologischen Grundeinheiten darstellen, in denen die Lichtreaktionen der Photosynthese ablaufen. Die Chloroplasten enthalten auch kleine Ribosomen, die denen der Prokaryonten gleichen. In den kontrastarmen Bereichen des Stromas befinden sich häufig DNS-Stränge.

Plastidenhülle

KAPITEL 1

1

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

25

20 mm

Abb. 1-11 Leukoplasten rings um den Zellkern einer Blattepidermiszelle von Zebrina (einer häufig als Zimmerpflanze kultivierten Commelinacee).

Abb. 1-12 Stadien der Entwicklung eines Chloroplasten aus einer Proplastide. Anfangs besitzt die Proplastide nur wenige innere Membranen. Wenn sie sich weiter differenziert, entstehen an der inneren Membran der Piastidenhülle flache Vesikeln, die sich schließlich zu Grana- und Stromathylakoiden anordnen. Im reifen Zustand sind Chloroplastenhülle und Thylakoidsystem nicht mehr miteinander verbunden.

Normalerweise kommen noch zwei weitere Plastidensorten in den Zellen höherer Pflanzen vor, die Chromoplasten und die Leukoplasten. Wie schon der Name andeutet, sind Chromoplasten (Abb. 1-10) farbige Piastiden. Sie sind unterschiedlich geformt, und synthetisieren und speichern die gelben, orangefarbenen oder roten Carotinoide. Sie können aus ehemals grünen Chloroplasten entstehen, indem das Chlorophyll und die innere Membranstruktur des Chloroplasten verschwinden und sich große Mengen von Carotinoiden anhäufen, wie es beim Reifen vieler Früchte der Fall ist. Leukoplasten (Abb. 1-11) sind farblose Piastiden. In Speicherorganen bilden sie aus Zucker Stärke (Amyloplasten). Sie enthalten aber auch oft Eiweißkristalle und Lipidtröpfchen. Bei Belichtung können aus Leukoplasten Chloroplasten entstehen. Neue Piastiden - Chloroplasten, Chromoplasten oder Leukoplasten - können aus kleinen, farblosen Körpern, den Proplastiden (Abb. 1-12), hervorgehen; sie entstehen aber auch häufig durch einfache Spaltung bereits vorhandener, reifer Piastiden.

Cristae

innere Membran

äußere Membran

1.5 Mitochondrien Ähnlich wie die Chloroplasten sind auch die Mitochondrien von zwei Elementarmembranen umgeben (Abb. 113 und 1-14). Die äußere Membran der Mitochondrienhülle umschließt die Organelle, während die innere sich senkrecht zur Längsachse des Mitochondriums in sein Inneres stülpt. Sind diese Membraneinstülpungen scheibenförmig, so bezeichnet man sie als Cristae mitochondriales, sind sie dagegen schlauchförmig, so nennt man sie Tubuli mitochondriales. Durch diese Einstülpungen der inneren Membran wird die Oberfläche, an der Enzymreaktionen

I 0.2 um I Abb. 1-13 Mitochondrium aus einer Blattzelle des Farnes Regnellidium diphyllum. Die Mitochondrienhülle besteht aus zwei Elementarmembranen. Die innere stülpt sich ein und bildet Cristae, die in dichtes Stroma eingebettet sind. Die zahlreichen kleinen Granula im Stroma sind Ribosomen; die wenigen relativ großen Granula sind Lipidtröpfchen.

26

TEIL

1

Die Pflanzenzelle

stattfinden können, stark vergrößert. Die Mitochondrien sind im allgemeinen kleiner als die Piastiden und sehr unterschiedlich gestaltet. Sie sind ungefähr 1 bis 4 um lang, einige auch länger, und haben einen Durchmesser von einem halben Mikrometer. Die meisten sind im Lichtmikroskop kaum sichtbar, können aber mit dem Elektronenmikroskop untersucht werden. Die Mitochondrien sind Sitz der Atmung - der vollständigen Oxidation organischer Moleküle unter Freisetzung von Energie - und in ihnen erfolgt auch die Festlegung dieser Energie in Form von Adenosintriphosphat (ATP), dem wichtigsten chemischen Energielieferanten aller Zellen. (Die dabei ablaufenden Prozesse besprechen wir ausführlich in Kapitel 5). Zeitrafferaufnahmen zeigen, daß sich die Mitochondrien in ständiger Bewegung befinden, sich drehen und winden und von einem Teil der Zelle zum anderen bewegen. Auch scheinen sie miteinander zu verschmelzen und sich zu teilen. Dort, wo Energie benötigt wird, häufen sie sich an. In Zellen, wo über das Plasmalemma ein sehr reger Transport in die Zelle hinein und aus dieser heraus erfolgt, ordnen sich die Mitochondrien häufig längs der Membranoberfläche an. Bei einzelligen Algen, die sich durch Geißeln fortbewegen, häufen sich die Mitochondrien an der Geißelbasis an. Je größer der Energiebedarf einer Zelle ist, umso mehr Cristae oder Tubuli scheinen ihre Mitochondrien zu enthalten. Die Cristae und Tubuli sind von einer flüssigen Grundsubstanz, der Matrix, umgeben; sie enthält Proteine, RNS, DNS-Stränge, Ribosomen (ähnlich denen der Prokaryonten) und verschiedene gelöste Substanzen.

1.6 Microbodies Im Gegensatz zu den Piastiden und Mitochondrien, die von zwei Membranen umgeben sind, werden die Microbodies nur von einer Membran umhüllt. Diese kugelförmigen Organellen haben einen Durchmesser von 0,5 bis 1,5 um. Sie besitzen eine granuläre Grundsubstanz, oftmals sogar auch kristalline Eiweißkörper (Abb. 1-14). In der Regel sind die Microbodies mit ein oder zwei Zisternen des rauhen endoplasmatischen Reticulums assoziiert, wobei die den Microbodies zugewandte Oberfläche meist glatt ist. Die Microbodies scheinen aus Vesikeln des endoplasmatischen Reticulums - jenes dreidimensionalen inneren Membransystems der Zelle - zu entstehen. Einige Microbodies, die Peroxisomen, spielen eine entscheidende Rolle im Glykolsäurestoffwechsel, der mit der Photorespiration assoziiert ist (s. Kap. 6.3.2.1). Andere, die Glyoxysomen, enthalten Enzyme, die erforderlich sind, um bei der Samenkeimung Fette in Kohlenhydrate umzuwandeln.

Microbody

Abb. 1-14 Organellen aus einer Blattzelle von Solanum tuberosum (Kartoffel). Der Microbody (oben) mit einem großen kristallinen Einschlußkörper und einer einfachen Membran unterscheidet sich deutlich vom Mitochondrium (unten links), das von einer doppelten Membran umgeben ist. Eine kleine Vakuole (rechts unten) wird vom Cytoplasma durch eine einfache Membran - den Tonoplasten - abgegrenzt.

1.7 Vakuolen Vakuolen sind von einer Elementarmembran umgrenzte Zellsafträume im Cytoplasma. Diese Elementarmembran wird als Tonoplast (Abb. 1-14 und 1-20) bezeichnet. Eine junge Pflanzenzelle ist durch zahlreiche kleine Vakuolen charakterisiert, die sich vergrößern und miteinander verschmelzen, wenn die Zelle heranwächst. Bei der ausgewachsenen Zelle kann das Zellvolumen bis zu 90 % von Vakuolen erfüllt sein. Das Cytoplasma besteht dann nur noch aus einem dünnen, der Zellwand anliegenden Saum (Abb. 1-6). Die Größenzunahme der Zelle beruht hauptsächlich auf der Vergrößerung der Vakuolen. Der Hauptbestandteil des Zellsaftes ist Wasser. Die anderen Bestandteile sind abhängig vom Pflanzentyp und seinem physiologischen Zustand. Vakuolen enthalten normalerweise Salze und Zucker, einige auch gelöste Proteine. Der Tonoplast spielt eine entscheidende Rolle beim aktiven Transport bestimmter Ionen in die Vakuole hinein und bewirkt auch, daß sie dort zurückgehalten werden. So können sich im Zellsaft Ionen in einer Konzentration

KAPITEL 1

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

27

Abb. 1-15 Drusen in Parenchymzellen eines Begonienstengels, (a) im normalen Lichtmikroskop und (b) zwischen gekreuzten Polarisationsfiltern im Polarisationsmikroskop. Bei den Drusen handelt es sich um zusammengesetzte Kristalle aus Calciumoxalat.

20 ^ m

anreichern, die die im umgebenden Cytoplasma vorhandene weit überschreitet. Manchmal erreicht eine Substanz in der Vakuole so hohe Konzentrationen, daß sie auskristallisiert; Calciumoxalatkristalle, die verschiedene Formen annehmen können, sind besonders häufig (Abb. 1-15 und 1-16). Normalerweise reagiert der Vakuolensaft leicht sauer. Bei einigen Pflanzenzellen, z.B. denen der Citrusfrüchte, ist der Vakuolensaft jedoch sehr sauer; daher der saure Geschmack dieser Früchte. In der Vakuole werden auch Farbstoffe abgelagert, die Anthocyane (s. Kap. 19). Im Gegensatz zu den meisten anderen Pflanzenfarbstoffen sind die Anthocyane in Wasser gut löslich und daher im Zellsaft gelöst. Sie sind verantwortlich für die roten und blauen Farben vieler Gemüsesorten (Radieschen, Rüben, Kohlsorten), Früchte (Trauben, Pflaumen, Kirschen), und zahlreicher Blüten (Kornblumen, Pelargonien, Rittersporn, Rosen, Pfingstrosen). Manchmal sind diese Farben so intensiv, daß sie das Chlorophyll der Blätter überdecken, z. B. bei der Blutbuche. Anthocyane sind auch für die leuchtenden Herbstfarben mancher Blätter verantwortlich. Sie bilden sich erst bei kaltem Wetter und strahlendem Sonnenschein, wenn die Blätter kein neues Chlorophyll mehr synthetisie-

Abb. 1-16 Raphidenbündel - Bündel nadeiförmiger Calciumoxalatkristalle in der Vakuole einer Blattzelle von Sansivieria (Bogenhanf; Fam. Liliaceae). Der Tonoplast ist auf dieser Mikrophotographie nicht zu erkennen. Die granuläre Substanz rings um die Kristalle ist Cytoplasma.

(b)

I 20 /im I

ren. Sobald dann das vorhandene Chlorophyll abgebaut ist, wird das neu gebildete Anthocyan sichtbar. Bei Blättern hingegen, die kein Anthocyan bilden, werden im Herbst, nach Abbau des Chlorophylls, die stabileren gelben und orangefarbenen Carotinoide sichtbar, die bereits zuvor in den Chloroplasten vorhanden waren. Die Vakuolen sind nicht nur an der Anhäufung verschiedener Ionen und Moleküle und am Wasserhaushalt der Zelle beteiligt, sondern können auch am Abbau von Makromolekülen und an der Wiederverwertung ihrer Bausteine innerhalb der Zelle mitwirken. Sogar ganze Zellorganellen - wie z.B. Ribosomen, Mitochondrien und Piastiden - können in den Vakuolen für den Abbau deponiert werden. So kann sich z. B. ein Teil des Tonoplasten dicht an einem Mitochondrium in die Vakuole hineinstülpen, sich dort aufblähen und abschnüren. Die so entstandene Vesikel (lat. vesicula = Bläschen) mit dem darin enthaltenen Mitochondrium, wird im Vakuolensaft suspendiert. Nach Abbau des Mitochondriums löst sich die Membran der Vesikel auf. Wegen dieser Verdauungsfunktion sind die Vakuolen in ihrer Wirkungsweise mit den Lysosomen vergleichbar - Organellen, die in tierischen Zellen vorkommen.

28

TEIL

1 Die Pflanzenzelle

Der evolutionäre

Ursprung von Mitochondrien

und

Mitochondrien und Chloroplasten teilen miteinander eine Reihe ungewöhnlicher Eigenschaften. Beide werden von einer Doppelmembran umgrenzt und besitzen eine komplizierte innere Membranstruktur. Beide wachsen und teilen sich relativ unabhängig von der restlichen Zelle. Beide bilden ATP - den chemischen Energielieferanten aller Zellen (siehe Kapitel 5 und 6) - auf ähnliche Weise. Über diese verblüffenden Ähnlichkeiten hinaus hat man in den letzten Jahren entdeckt, daß Mitochondrien und Chloroplasten charakteristische Formen von DNS, R N S und auch Ribosomen enthalten. In einigen Fällen wurde bei diesen Organellen eine ringförmige DNS gefunden, wie sie bei den Bakterien üblich ist. Die genetische Bedeutung dieser DNS wird gegenwärtig in verschiedenen Laboratorien untersucht. Man weiß, daß isolierte Chloroplasten in der Lage sind, R N S zu synthetisieren; eine Synthese, die normalerweise nur unter dem Einfluß chromosomaler D N S erfolgt (s. Kap. 7). Die Fähigkeit, Chloroplasten und Chloroplastenfarbstoffe zu bilden, wird größtenteils von der chromosomalen DNS kontrolliert, die jedoch in irgendeiner, noch wenig verstandenen Weise mit der Chloroplasten-DNS in Wechselwirkung tritt. Daher können Chloroplasten nicht ohne Chloroplasten-DNS gebildet werden. Chloroplastenribosomen ähneln in vieler Beziehung Bakterienribosomen. So sind z.B. die Ribosomen von Prokaryonten und Chloroplasten nur 2 j 3 so groß wie die Ribosomen im Cytoplasma und auf dem endoplasmatischen Reticulum eukaryontischer Zellen. Ferner wird die

Chloroplasten Proteinsynthese in Ribosomen von Mitochondrien, Chloroplasten und Bakterien durch das Antibiotikum Chloramphenicol gehemmt, eine Substanz, die keine Wirkung auf die Ribosomen eukaryontischer Zellen hat. All dies läßt vermuten, daß Mitochondrien und Chloroplasten zunächst frei lebende Prokaryonten waren, die dann Unterschlupf in größeren, heterotrophen Zellen fanden. Diese größeren Zellen waren die Vorläufer der Eukaryonten. Die kleineren Zellen, die alle Mechanismen zur Gewinnung und Umwandlung von Energie aus ihrer Umwelt besaßen - und noch besitzen - schenkten diese Fähigkeiten den größeren Zellen. Zellen mit solchen „Energiegewinnungsgehilfen" waren gegenüber ihren Zeitgenossen deutlich im Vorteil und vermehrten sich zweifellos bald auf deren Kosten. Alle heute lebenden Eukaryonten enthalten Mitochondrien, und alle autotrophen Eukaryonten enthalten darüber hinaus Chloroplasten. Beide - Mitochondrien und Chloroplasten - scheinen bei unabhängig voneinander entstandenen Symbiosen erworben worden zu sein. (Unter einer Symbiose versteht man das enge Zusammenleben von zwei oder mehreren Organismen zu beiderseitigem Nutzen). Die größeren und komplizierter gebauten eukaryontischen Zellen scheinen ihre symbiontischen Organellen vor extremen Umweltbedingungen zu schützen. Eukaryonten konnten das Land und auch saure Gewässer besiedeln, wo die prokaryontischen Cyanobakterien (Blaualgen) fehlen, jedoch inzwischen unzählige eukaryontische Grünalgen zu finden sind.

Eine Cyanobakterienzelle (Glaucocystis nostochinearum) in einer größeren Grünalgenzelle. In Vereinigungen dieser Art haben möglicherweise die Chloroplasten ihren evolutionären Ursprung.

1.8 Ribosomen Ribosomen sind kleine Partikeln aus Protein und Ribonukleinsäure (RNS) mit einem Durchmesser von nur un-

gefähr 17-23 nm. Sie sind Sitz der Proteinsynthese; an ihnen werden die Aminosäuren miteinander zu Proteinen verknüpft. Sie kommen daher in großer Zahl im Cytoplasma stoffwechselaktiver Zellen vor, entweder frei im

KAPITEL 1

Abb. 1-17 Gruppen von Ribosomen (Polysomen) an der Oberfläche des endoplasmatischen Reticulums. Das endoplasmatische Reticulum (ER) ist ein Netzwerk von Membranen, welches das Cytoplasma eukaryontischer Zellen durchzieht, es in Kompartimente unterteilt und Oberflächen für den Ablauf chemischer Reaktionen bereitstellt. Die Ribosomen sind die Orte, an denen Aminosäuren zu Proteinen verknüpft werden. Dieses elektronenmikroskopische Bild zeigt einen Teil einer Wurzelepidermiszelle des Farnes Regnellidium diphyllum.

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1.9 Dictyosomen oder Golgi-Körper Als Dictyosom oder Golgi-Körper bezeichnet man eine Gruppe flacher, membranumgrenzter, scheibenförmiger Säcke oder Zisternen, die an ihren Rändern oft tubulär verzweigt sind (Abb. 1-18 und 1-19). Um die Zisternen herum kann man meist zahlreiche, fast kugelförmige Vesikeln - die Golgi-Vesikeln - erkennen, die am Rande der Zisternen gebildet und abgeschnürt werden. Die Gesamtheit aller Dictyosomen einer Zelle nennt man Golgi-Apparat. Die Dictyosomen spielen bei der Se-

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Grundplasma verstreut oder gebunden an das endoplasmatische Reticulum. Meist kann man sie an beiden Orten finden. Ribosomen kommen aber auch in Zellkernen, Mitochondrien und Piastiden vor, wobei die Ribosomen der Mitochondrien und Piastiden denen der Prokaryonten ähnlich sind. Ribosomen, die an der Proteinsynthese beteiligt sind, treten in Gruppen auf, sog. Polyribosomen oder Polysomen (Abb. 1-17). Zellen, die große Mengen an Eiweiß synthetisieren, enthalten oft ein ausgedehntes, polysomenbesetztes endoplasmatisches Reticulum. Polysomen sitzen auch oft der äußeren Membran der Kernhülle auf (Abb. 1-5 b).

29

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

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kretion eine Rolle. Offenbar sammeln sich die Polysaccharide, die in vielen Pflanzenzellen gebildet werden, in den Golgi-Vesikeln. Diese wandern dann zum Plasmalemma, verschmelzen mit ihm und geben ihren Inhalt nach außen ab; die nach außen entleerten Polysaccharide werden Teil der Zellwand. Die Sekretionsprodukte der Golgi-Vesikeln werden aber nicht nur in diesen selbst synthetisiert, sondern können auch in anderen Zellkomponenten - z. B. im endoplasmatischen Reticulum - entstehen und dann zu den Dictyosomen transportiert werden. Dictyosomen treten auch stets in Verbindung mit Basalkörpern von Geißeln und Wimpern und auch in Verbindung mit Centrosomen auf. Dies deutet darauf hin, daß die Dictyosomen auch Enzyme produzieren oder anliefern, die zur Synthese der Strukturproteine benötigt werden, aus denen sich Geißeln, Wimpern oder Spindelfasern aufbauen.

1.10 Endoplasmatisches Reticulum Mit seinen Falten und Verzweigungen durchzieht das zusammenhängende Membransystem des endoplasmatischen Reticulums (ER) das Cytoplasma und unterteilt es in zahlreiche Kompartimente. Zwischen den Kompartimenten, innerhalb der Kompartimente, und auf der

Abb. 1-18 Ein Dictyosom (Golgi-Körper) besteht aus einer Gruppe flacher membranumgrenzter Säcke (Zisternen) und den Vesikeln, die sich davon abschnüren. Es dient der Zelle als Sammel- und Verpackungszentrum und spielt bei der Sekretion eukaryontischer Zellen eine Rolle.

älteste Zisterne

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Vesikel

Vesikel

6 jüngste Zisterne

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30

TEIL

1

Die Pflanzenzelle

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1-19 Dictyosomen aus einer Stengelparenchymzelle von Equisetum hyemale (Winter-Schachtelhalm), (a) zeigt die Zisternen eines Dictyosoms im Querschnitt, (b) hingegen eine einzelne Zisterne in Aufsicht. Die Pfeile deuten auf Golgi-Vesikeln hin, die sich vom Rand der Zisternen in großer Zahl abschnüren.

Oberfläche des ER selbst laufen viele Lebensprozesse der Zelle ab. Das endoplasmatische Reticulum ist eine Doppelmembranstruktur. Der Raum zwischen den beiden Membranen erscheint im elektronenmikroskopischen Bild transparent (Abb. l-5c und 1-20). Größe und Form der membranumgrenzten Hohlräume sind bei den verschiedenen Zelltypen und unter verschiedenen physiologischen Bedingungen sehr unterschiedlich. In manchen Zellen besteht das Netzwerk aus dünnen Röhren bzw. Kanälen von 50-100 nm Durchmesser, den Tubuli. In anderen hingegen können die Hohlräume viel größer sein und abgeflachte Säcke, die sog. Zisternen, bilden. Beide Formen des endoplasmatischen Reticulums können auch zusammen in einer Zelle vorkommen. Das endoplasmatische Reticulum fungiert offenbar als Kommunikationssystem der Zelle. Auf manchen elektronenmikroskopischen Bildern kann man erkennen, daß es mit der äußeren Membran der Kernhülle zusammenhängt, und in der Tat scheint es mit dieser ein einziges Membransystem zu bilden. Wenn die Kernhülle bei der Zellteilung zerfallt, gleichen ihre Fragmente Teilen des endoplasmatischen Reticulums. Die Zelle gleicht offenbar einer sehr komplizierten Fabrik, in der viele verschiedenartige Prozesse gleichzeitig ablaufen; somit kann man sich das endoplasmatische Reticulum gut als ein System vorstellen, das Substanzen - wie z. B. Eiweiße und Lipide - in die verschiedenen Teile der Zelle lenkt. Darüber hinaus sind noch die endoplasmatischen Reticula benachbarter Zellen untereinander verbunden, u. zwar über die Plasmodesmen (s. Kap. 1.16), Cytoplasmastränge, welche die Zellwände durchqueren. Wie bereits erwähnt, sitzen die Ribosomen meist am endoplasmatischen Reticulum. Solch ein mit Ribosomen besetztes endoplasmatisches Reticulum bezeichnet man als granuläres oder rauhes ER (Abb. l-5c, 1-17 und 1-20),

Abb. 1-20 Parallel verlaufende Stränge von rauhem E R - einem mit Ribosomen besetzten endoplasmatischen Reticulum - im Querschnitt einer Blattzelle des Farnes Vittaria guineensis. Die großen transparenten Zonen sind Vakuolen.

rauhes endoplasmatisches Reticulum

KAPITEL 1

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

31

Dictyosom

endoplasmatisches Reticulum endoplasmatisches . Reticulum

Vakuole

Plasmalemma

Vesikel GolgiVesikel

Ribosomen

Zellwand GolgiVesikel

Regenerationsseite ,

r

Sekretionsseite

Zellwand

Abb. 1-21 Cytoplasmabestandteile aus einer Parenchymzelle der knolligen, gestauchten Achse des Brachsenkrautes Isoetes muricata. Im unteren Teil des elektronenmikroskopischen Bildes kann man zwei Lipidtropfen erkennen, einen auf jeder Seite des Mitochondriums (Bildmitte). Oberhalb und beiderseits des Mitochondriums liegen aufgeblähte Zisternen des ER. Man glaubt, daß auf diese Weise Vakuolen aus dem ER entstehen können. Im oberen Teil der Abbildung ist ein Teil einer Vakuole zu sehen. Bei dem dunklen Material, das die Vakuole auskleidet, handelt es sich um Tannin.

das ribosomenfreie hingegen als agranuläres oder glattes ER. Das rauhe ER spielt eine Rolle bei der Proteinsynthese pflanzlicher und tierischer Zellen.

1.11 Lipidtröpfchen und Sphärosomen Lipidtröpfchen sind mehr oder weniger kugelförmige Strukturen, die das Cytoplasma einer Pflanzenzelle im Lichtmikroskop granulär erscheinen lassen. Ähnliche, aber meist kleinere Tröpfchen findet man häufig in Plastiden (Abb. 1-8 a). Einige Biologen glauben, daß die Lipidtröpfchen aus ölhaltigen Vesikeln entstehen, die vom ER abgeschnürt werden. In vielen Präparaten sind diese Tröpfchen von einer einfachen Membran umgeben und ähneln Organellen, während sie in anderen Fällen frei im Cytoplasma zu liegen scheinen (Abb. 21). Lipidtröpfchen, die von einer Membran umgrenzt sind, bezeichnet man als Sphärosomen.

Abb. 1-22 Das Endomembransystem - wie es möglicherweise operiert. Man nimmt an, daß neue Membranen am rauhen endoplasmatischen Reticulum entstehen. Von der glatten Oberfläche des endoplasmatischen Reticulums schnüren sich kleine Vesikeln ab und tragen so Membranen und die darin eingeschlossenen Substanzen zur Regenerationsseite des Dictyosoms. Golgi-Vesikeln, die an Zisternen der Sekretionsseite des Dictyosoms entstehen, wandern zum Plasmalemma und verschmelzen mit ihm; ihre Membranen dienen der Erweiterung des Plasmalemmas, ihr Inhalt wird nach außen abgegeben und dient der Zellwandsynthese.

1.12 Dynamik von Zellmembranen Aufgrund elektronenmikroskopischer Beobachtungen hatte man bislang die Membranen und Membransysteme der Zelle als statische Strukturen angesehen. Membranen sind jedoch dynamische, bewegliche Strukturen, die ständig ihre Form und Oberfläche verändern. Diese Veränderlichkeit der Membran ist die Voraussetzung für die Annahme der Existenz eines Endomembransystems in der Zelle. Nach dieser Auffassung bilden alle inneren Cytoplasmamembranen (mit Ausnahme der Mitochondrienund Piastidenmembranen) eine Einheit, mit dem endoplasmatischen Reticulum als primärem Bildungsort. Die Dictyosomen erhalten ihre neuen Zisternen vom ER, die Golgi-Vesikeln ihrerseits dienen der Erweiterung des Plasmalemmas (Abb. 1-22). Aus Membranen des endoplasmatischen Reticulums und des Golgi-Apparates gehen darüber hinaus Membranen von Vakuolen (Abb. 121), Microbodies und Sphärosomen hervor, und außerdem bildet offensichtlich das endoplasmatische Reticulum mit der Kernhülle ein zusammenhängendes Membransystem. Schließlich soll noch erwähnt werden, daß

32

teil 1 Die Pflanzenzelle

selbst in Geweben, die sich nur langsam teilen oder wachsen, ein ständiger Austausch von Membranbestandteilen stattfindet. Obwohl die Membran als solche erhalten bleibt, werden also ihre Moleküle ständig ausgetauscht oder ersetzt.

1.14 Geißeln und Wimpern Geißeln (Flagellen) und Wimpern (Cilien) sind fadenförmige Strukturen, die an den Außenflächen verschiedener eukaryontischer Zellen sitzen. Sie sind relativ dünn und ihr Durchmesser ist ziemlich konstant (ungefähr 0,2 |im), ihre Länge jedoch reicht von 2 bis 150 um. Derartige Strukturen bezeichnet man als Geißeln, wenn sie lang sind oder aber einzeln oder in geringer Zahl auftreten; sind sie jedoch kürzer oder treten sie in größerer Zahl auf, so bezeichnet man sie als Wimpern. Genaue Unterscheidungsmerkmale zwischen beiden gibt es jedoch nicht; wir werden sie daher in Zukunft beide als Geißeln bzw. Flagellen bezeichnen. Bei einigen Algen und Pilzen dienen die Geißeln der Fortbewegung; sie treiben die Organismen durchs Wasser. Bei Pflanzen kommen diese Organellen nur bei den Geschlechtszellen, den Gameten, vor - dies aber auch nur bei solchen Pflanzen, deren Gameten beweglich sind, wie z. B. bei Laubmoosen, Lebermoosen, Farnpflanzen und einigen Gymnospermen. Einige Geißeln, die Flimmergeißeln, tragen ein oder zwei Reihen winziger Flimmerhaare; diese fehlen bei den Peitschengeißeln (Abb. 1-24). Eine der interessantesten Entdeckungen, die das Elektronenmikroskop ermöglicht hat, ist der Feinbau der Geißeln (Abb. 1-25 und 1-26). Ein äußerer Ring von 9 Paar Mikrotubuli umkränzt zwei weitere Mikrotubuli im Zentrum. An einem Mikrotubulus eines jeden äußeren Mikrotubulipaares sitzen enzymhaltige „Arme". Dieser

1.13 Mikrotubuli Mikrotubuli kommen in allen Zellen vor. Diese langen, röhrenförmigen Elemente haben einen Durchmesser von ungefähr 24 nm und unterschiedliche Längen. Es sind Polymere - große Moleküle (Makromoleküle) aus vielen identischen Untereinheiten. Jede dieser Untereinheiten ist ein Proteinmolekül, das sog. Tubulin. Mikrotubuli liegen dicht an der Innenseite des Plasmalemmas sich nicht teilender Zellen. Man nimmt an, daß sie beim Wachstum der Zellwand eine ordnende Rolle spielen. Sie kontrollieren die Anordnung der Cellulosemikrofibrillen, die das Cytoplasma zur Verstärkung der Zellwand ablagert (Abb. 123). Außerdem lenken die Mikrotubuli auch Golgi-Vesikeln mit Wandmaterial zur wachsenden Zellwand hin und richten andere Komponenten des Cytoplasmas, wie Zellkern, Mitochondrien, Piastiden und Lipidtröpfchen in der Zelle aus. Mikrotubuli bilden die Spindelfasern sich teilender Zellen. Offensichtlich spielen sie auch eine Rolle bei der Bildung der Zellplatte, die zwischen zwei sich teilenden Zellen entsteht. Außerdem sind die Mikrotubuli als Bestandteile von Geißeln und Wimpern offensichtlich für deren Bewegung von Bedeutung.

Plasmalemma

(a) Abb. 1-23 Mikrotubuli (siehe Pfeile) in Blattzellen des Farnes Botrychium virginianum, (a) in Längsansicht und (b) im Querschnitt, (a) zeigt einen Schnitt, der mehr oder weniger parallel zu Zellwand und Plasmalemma, dicht an ihrer Gren-

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ze zum Cytoplasma, verläuft. In (b) kann man erkennen, daß die Mikrotubuli von der Zellwand durch das Plasmalemma getrennt sind.

KAPITEL 1

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

33

Abb. 1-24 Beide Geißeltypen - Flimmergeißel und Peitschengeißel - kommen bei der einzelligen, coenobien-bildenden goldbraunen Alge Synura petersenii (Chrysophyceae) vor. Die Flimmergeißel (links) ist länger, die Peitschengeißel (rechts) kürzer.

Abb. 1-25 Aufbau einer typischen Eukaryonten-Geißel. Zwei im Zentrum gelegene Mikrotubuli werden von neun Paar Mikrotubuli umkränzt. Von einem der beiden Mikrotubuli eines jeden Mikrotubulipaares gehen Proteinarme mit Enzymcharakter aus. Der Mikrotubulizylinder der eigentlichen Geißel ist an seinem Grunde mit dem Basalkörper verbunden, der aus neun Mikrotubulitripletts besteht. Man glaubt, daß die

neun äußeren Mikrotubulipaare des eigentlichen Flagellums Auswüchse von zwei der drei Mikrotubuli eines jeden Mikrotubulitripletts des Basalkörpers sind. Geißeln und Wimpern finden sich bei fast allen Hauptgruppen von Organismen, und alle eukaryontischen sind nach demselben (9 + 2)-Muster gebaut.

34

TEIL

1

Die Pflanzenzelle

Microtubulus

Grundaufbau (9 + 2) findet sich bei allen Geißeln eukaryontischer Organismen. Isolierte Geißeln können nach ATP-Zugabe erneut schlagen. Dieses Schlagen muß daher auf der Eigenstruktur der Geißeln basieren. Einige Forscher glauben, daß die Geißelbewegung dadurch zustande kommt, daß die äußeren Mikrotubulipaare - ohne sich zu kontrahieren - längs des inneren Paares aneinander vorbeigleiten; ihre Bewegung verursacht dabei ein lokales Krümmen des Flagellums. Das Gleiten der Mikrotubulipaare scheint darauf zu beruhen, daß sich die „Arme" von einem der peripheren Mikrotubuli am nächstgelegenen Mikrotubulus des benachbarten äußeren Mikrotubulipaares in zyklischer Folge anheften und wieder lösen. Die Arme „ziehen" also beim Geißelschlag die peripheren Mikrotubulipaare aneinander vorbei. Die Geißeln entspringen zylinderförmigen Cytoplasmaorganellen, den Basalkörpern (Abb. 1-25 und 1-26). Die Feinstruktur eines Basalkörpers ähnelt der eines Flagellums; im Basalkörper sind die äußeren Mikrotubuli jedoch zu dritt (Triplett), nicht paarweise (Duplett) angeordnet. Außerdem fehlen den Basalkörpern die beiden zentralen Mikrotubuli der Flagellen.

Plasmamembran

(a) •



-

\

'

»

.

Plasmamembran

(b)

(c)

Abb. 1-26 (a) Längsschnitt durch die Geißel eines Gameten der Grünalge Ulvaria. Die Membran, die das eigentliche Flagellum umgibt, geht ins Plasmalemma über, (b) Querschnitt durch die Geißel von Ulvaria im Bereich des eigentlichen Flagellums. Hier ist das typische (9 + 2)-Muster zu erkennen, (c) Querschnitt durch den Basalkörper des [//van'a-Flagellums. Der Basalkörper besteht aus neun Mikrotubulitripletts und besitzt keine zentralen Mikrotubuli.

1.15 Die Zellwand Die Pflanzenzelle unterscheidet sich von der tierischen Zelle vor allem durch den Besitz einer Zellwand. Sie befindet sich außerhalb des Protoplasten, des lebenden Teils der Zelle. Auf ihr beruhen viele Eigenschaften der Pflanzen. Sie begrenzt die Größe des Protoplasten und verhindert, daß dieser sich durch Wasseraufnahme zu sehr ausdehnt und zerplatzt. Einst sah man die Zellwand lediglich als inaktives Produkt des Protoplasten an, das dieser nach außen absondert. Heute ist man jedoch der Meinung, daß die Zellwand spezielle Funktionen hat, die nicht nur für die Existenz der Zelle oder des Gewebes, in dem die Zelle liegt, von Bedeutung sind, sondern für die gesamte Pflanze. Zellwände spielen eine wichtige Rolle bei der Aufnahme, beim Transport und bei der Sekretion von Substanzen in Pflanzen, an ihnen können sogar Verdauungsprozesse ablaufen.

1.15.1 Chemische Zusammensetzung der Zellwand Cellulose ist der charakteristische Bestandteil pflanzlicher Zellwände und bestimmt weitgehend deren Bau. Die Cellulose baut sich aus ß-Glucoseeinheiten auf, die zwischen

KAPITEL 1

0.? mhi Abb. 1-27 Aufsicht auf die Zellwand der Alge Chaetomorpha. Man erkennt die Cellulosemikrofibrillen, die sich jeweils aus Hunderten von Cellulosemolekülen zusammensetzen.

den C-Atomen 1 und 4 miteinander verknüpft sind (s. Kap. 2.2.2). Diese langen, dünnen Cellulosemoleküle sind zu Mikrofibrillen von ungefähr 10-25 nm Durchmesser vereinigt (Abb. 1-27). In diesen Mikrofibrillen liegen die fadenförmigen Cellulosemoleküle so vor, daß streng geordnete kristalline Bereiche, die Micellen, mit weniger geordneten Bereichen abwechseln. Auf der Micellen-Bildung beruhen die kristallinen Eigenschaften der Zellwand (Abb. 1-28). Die Mikrofibrillen schlingen sich umeinander und bilden feine „Kabel", die sog. Makrofibrillen, von ungefähr 0,5 (xm Durchmesser und 4 um Länge (Abb. 129). So angeordnet verleiht die Cellulose der Makrofibrille eine Zugfestigkeit, wie sie ein gleichdicker Stahldraht haben würde. Die Cellulosefibrillen der Zellwand sind in eine Grundsubstanz andersartiger Moleküle eingebettet. Einige davon sind Polysaccharide, sog. Hemicellulosen, andere Pektine (siehe Abb. 2-7). Ein anderer wichtiger Bestandteil der Zellwände vieler Pflanzenzellen ist das Lignin (Holzstoff) (siehe Abb. 2-8), das nach Cellulose häufigste pflanzliche Polymer. Es verleiht der Wand Festigkeit; man findet Lignin meist in Wänden von Pflanzenzellen mit Stütz- oder Festigungsfunktion.

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

35

Abb. 1-28 Steinzellen (Skiereiden) aus dem Fruchtfleisch einer Birne (Pyrus communis), mit dem Polarisationsmikroskop betrachtet. Die Steinzellen haben sehr dicke Sekundärwände, die von zahlreichen einfachen Tüpfeln durchsetzt sind. Die Wände sind aufgrund der kristallinen Eigenschaften ihres Hauptbestandteiles, der Cellulose, in der Lage, die Ebene von polarisiertem Licht zu drehen; zwischen gekreuzten Polarisationsfiltern erscheinen sie daher hell.

In den Zellwänden der äußeren, schützenden Gewebe der Pflanze treten normalerweise fettähnliche Substanzen auf, wie Cutin, Suberin oder Wachse. So findet man Cutin in den Epidermiswänden und Suberin in den Wänden des Korks, des sekundären Abschlußgewebes. Beide Substanzen treten zusammen mit Wachsen auf und setzen den Wasserverlust der Pflanze stark herab.

1.15.2 Zellwandschichten Die Pflanzenzellen haben unterschiedlich dicke Zellwände. Die Zellwanddicke hängt z. T. davon ab, welche Rolle die Zelle im Pflanzenkörper spielt, z.T. aber auch vom individuellen Zellalter. Untersuchungen der Zellentwicklung mit dem Elektronenmikroskop, polarisiertem Licht und Röntgenstrahlen weisen darauf hin, daß alle Zellwände der Pflanzen aus zwei Schichten bestehen: der Mittellamelle und der Primärwand. Zusätzlich lagern viele Zellen eine weitere Schicht ab, die Sekundärwand. Die Mittellamelle befindet sich zwischen den Primärwänden benachbarter Zellen. Die Sekundärwand, falls vorhanden, wird vom Protoplasten an der Innenseite der Primärwand abgelagert (Abb. 1-30).

36

TEIL 1

Die Pflanzenzelle

Abb. 1-29 Bau einer Zellwand, (a) Teil der Zellwand mit Mittellamelle, Primärwand und dreischichtiger Sekundärwand. Die Cellulose, der Hauptbestandteil der Zellwand, ist zu einem System von Fibrillen unterschiedlicher Größe angeordnet. (b) Die größten Fibrillen, die Makrofibrillen, sind bereits im Lichtmikroskop sichtbar, (c) Mit Hilfe des Elektronenmikroskops kann man erkennen, daß die Makrofibrillen

ihrerseits aus Mikrofibrillen von ungefähr 10 nm Durchmesser bestehen, (d) Teile der Mikrofibrillen, die Micellen, sind wohlgeordnete Bereiche, in denen die Cellulosemoleküle streng parallel liegen. Sie verleihen der Zellwand kristalline Eigenschaften, (e) Teil einer Micelle, der den Aufbau aus parallel verlaufenden, gitterförmig angeordneten Cellulosemolekülen zeigt.

Tüpfel Mitteldreischichtige Sekundärwand Primärwand

Ji

Cellulosemolekül

Mittellamelle Die Mittellamelle besteht hauptsächlich aus Pektinen (siehe Abb. 2-7). Häufig ist es schwierig, die Mittellamelle von der Primärwand zu unterscheiden, besonders in Zellen mit dicken Sekundärwänden. Bei verholzenden Zellwänden beginnt die Lignifizierung - die Einlagerung von Lignin - an der Mittellamelle, greift dann auf die Primärwand und schließlich auf die Sekundärwand über.

Primärwand Die vor und während des Zellwachstums abgelagerte cellulosehaltige Wandschicht nennt man Primärwand. Neben Cellulose, Hemicellulosen und Pektin enthalten die Primärwände noch Glykoproteine, Makromoleküle aus Kohlenhydrat und Eiweiß. Das Pektin verleiht der Wand elastische Eigenschaften; die Primärwand kann also während des Streckungswachstums von Wurzel, Sproßachse oder Blatt ständig gedehnt und vergrößert werden. Primärwände können aber auch verholzen und damit starr werden. Zellen, die sich aktiv teilen, besitzen i. a. nur Primärwände. Dies gilt auch für die meisten ausdifferenzierten Zellen (siehe Kap. 21), in denen Photosynthese oder Atmung stattfindet oder die der Sekretion dienen. Solche Zellen, d.h. Zellen mit Primärwänden und lebenden Protoplasten, können sich dedifferenzieren, teilen und erneut

co c:

Micelle

differenzieren. Folglich spielen sie auch bei der Wundkallusbildung und der Regeneration von Pflanzen die Hauptrolle. Meistens sind die Primärwände nicht überall gleich dick. Sie besitzen dünne Teile, die sog. primären Tüpfelfelder (Abb. 1-30). Cytoplasmafäden, sog. Plasmodesmen, verbinden die lebenden Protoplasten benachbarter Zellen miteinander. Sie treten i. a. in den primären Tüpfelfeldern gehäuft auf.

Sekundärwand Wie bereits erwähnt, besitzen viele Pflanzenzellen nur eine Primärwand. Bei manchen lagert der Protoplast jedoch innen an der Primärwand noch eine Sekundärwand an. Das geschieht meist, wenn das Streckungswachstum der Zelle beendet ist und die Primärwand sich nicht mehr vergrößert. Die Sekundärwände brauchen sich nicht zu dehnen, sie sind auch anders gebaut als die Primärwände. Ihr Celluloseanteil ist höher, und es fehlen ihnen die Pektine; das macht sie starr und nur schwer dehnbar. Auch fehlen ihnen die Glykoproteine, die in Primärwänden relativ stark vertreten sind. Besonders wichtig sind Sekundärwände bei Zellen, die der Wasserleitung oder Festigung dienen; bei diesen stirbt der Protoplast oft nach Ablagerung der Sekundärwände ab. Häufig kann man in einer Sekundärwand drei Schichten unterscheiden: S l 5 S 2 und S 3 - eine äußere, eine mittlere und eine innere Schicht (Abb. 1-31). Die einzelnen

KAPITEL 1

Abb. 1-30 Primäre Tüpfelfelder, Tüpfel und Plasmodesmen, (a) Parenchymzelle mit Primärwänden, die im Bereich der primären Tüpfelfelder dünn bleiben. Die Plasmodesmen durchqueren die Zellwand in der Regel im Bereich dieser priMittellamelle

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

37

mären Tüpfelfelder, (b) Zellen mit Sekundärwänden und zahlreichen Tüpfelkanälen, (c) Einfaches Tüpfelpaar, (d) Hoftüpfelpaar.

Primärwand

Interzellularraum Plasmodesmen im p r i m ä r e n Tüpfelfeld

(c) Mittellamelle Primärwand Sekundärwand

Tüpfel

Primärwand

Sekundärwand Hof Schließhaut

Mittellamelle

Schichten unterscheiden sich voneinander in der Dicke und der Orientierung ihrer Cellulosemikrofibrillen. Durch diesen, dem Sperrholz vergleichbaren, geschichteten Aufbau, sind die Sekundärwände sehr stabil. Man findet solche mehrschichtigen Sekundärwände bei bestimmten Zellen des sekundären Xylems - des Holzes. In der Sekundärwand liegen die Cellulosemikrofibrillen dichter als in der Primärwand, und so ist auch der Anteil an Grundsubstanz aus anderen Polysacchariden geringer als in der Primärwand. Die Sekundärwände von Holzzellen sind häufig lignifiziert (s. Kap. 21.2.1). Über den primären Tüpfelfeldern der Primärwand wird keine Sekundärwand abgelagert. So entstehen in der Sekundärwand charakteristische Vertiefungen, die Tüpfel (Abb. 1-30). Manchmal werden Tüpfel aber auch außerhalb primärer Tüpfelfelder angelegt. In der Regel liegt einem Tüpfel in der einen Zellwand ein Tüpfel in der Zellwand der angrenzenden Zelle genau gegenüber. Die Mittellamelle und die beiden Primärwände zwischen den beiden Tüpfeln bilden die sog. Schließhaut. Die beiden gegenüberliegenden Tüpfel bilden zusammen mit der Schließhaut ein Tüpfelpaar. Zellen mit Sekundärwänden können zweierlei Tüpfeltypen besitzen, einfache Tüpfel und Hof tüpfel. Bei letzteren erweitert sich der Tüpfelkanal an der Schließhaut zu einem Hof, über den sich zum Zellinneren hin die Sekundärwand wölbt. Bei einfachen Tüpfeln ist der Tüpfelkanal überall gleich breit.

1.15.3 Wachstum der Zellwand Zellwände wachsen sowohl in ihrer Dicke als auch in der Fläche, die sie bedecken. Die flächige Erweiterung der Zellwand ist ein komplizierter Vorgang, der unter genauer biochemischer Kontrolle durch den Protoplasten abläuft. Dabei muß zum einen die Wandstruktur gelockert werden

Abb. 1-31 aus der die und in den entnehmen

Schematische Darstellung des Zellwandaufbaus, Anordnung der Mikrofibrillen in der Primärwand drei Schichten der Sekundärwand (S 1; S 2 , S 3 ) zu ist.

38

TEIL 1

Die Pflanzenzelle

- dies wird durch das pflanzliche Wachstumshormon Auxin bewerkstelligt (s. Kap. 25) - zum anderen müssen Proteinsynthese, Atmung und Wasseraufnahme der Zelle gesteigert werden. Die neuen Mikrofibrillen werden größtenteils den bereits vorhandenen aufgelagert (Schicht auf Schicht), nur einige werden in bereits vorhandene Schichten eingebaut. Anfangs sind die Cellulosemikrofibrillen der Primärwand ungeordnet (Streutextur). Wenn sich die Wand erweitert, ordnen sich die neu hinzukommenden Mikrofibrillen parallel zueinander an (Paralleltextur), und zwar erst quer, dann parallel zur Längsachse der Zelle. Viele Protoplasmakomponenten spielen bei der Zellwandsynthese eine Rolle. Wichtig sind vor allem die Golgi-Vesikeln, die Mikrotubuli und die Plasmalemma-Granula (granuläre Körperchen in der Außenseite des Plasmalemmas). Vieles deutet daraufhin, daß Matrixsubstanzen (Hemicellulosen und Pektine) in Golgi-Vesikeln zur Zellwand transportiert werden. Wenn die Golgi-Vesikeln am Plasmalemma angekommen sind, verschmelzen sie mit diesem und ergießen ihren Inhalt in den Bereich der wachsenden Zellwand. Die Cellulosesynthese hingegen erfolgt im Plasmalemma oder in dessen Nähe; auf welche Weise, ist bislang noch ungeklärt.

1.16 Plasmodesmen Die Protoplasten benachbarter Zellen sind untereinander durch feine Cytoplasmastränge, die sog. Plasmodesmen (Singular: der Plasmodesmos) verbunden. Obwohl solche Strukturen schon vor langer Zeit im Lichtmikroskop ent-

deckt worden waren (Abb. 1 -32), gelang ihre genaue Deutung erst mit Hilfe des Elektronenmikroskops (Abb. 133). Plasmodesmen können über die ganze Zellwand verteilt vorkommen oder aber die primären Tüpfelfelder oder die Schließhäute von Tüpfelpaaren durchsetzen. Im Elektronenmikroskop erscheinen sie als enge Kanäle (ungefähr 30-60 nm im Durchmesser), die von Plasmalemma umgrenzt sind und von einem ca. 4 nm weiten Tubulus des endoplasmatischen Reticulums - dem Desmotubulus - durchzogen werden, Viele Plasmodesmen bilden sich während der Zellteilung, wenn Stränge des endoplasmatischen Reticulums in der entstehenden Zellplatte „eingefangen" werden (siehe Abb. 1-43). Sie können aber auch in den Wänden sich nicht teilender Zellen entstehen. Die Plasmodesmen sind geeignete Bahnen für den Transport bestimmter Substanzen zwischen den Zellen (siehe Kap. 3.5), und vereinigen so die einzelnen Zellen eines Pflanzenkörpers zu einem Ganzen.

1.17 Zellteilung Einzellige Organismen wachsen zu einer bestimmten Größe heran, indem sie Stoffe aus der Umwelt aufnehmen und daraus neue Strukturmoleküle oder Stoffwechselmoleküle synthetisieren. Hat eine solche Zelle eine bestimmte Größe erreicht, so teilt sie sich in zwei Tochterzellen. Anfangs ungefähr halb so groß wie die Mutterzelle, wachsen sie in der Folgezeit bis zur Größe der Mutterzelle heran und teilen sich dann ihrerseits wieder in je 2 Tochterzellen. Bei einzelligen Organismen können solche Zellteilungen

Mittellamelle

Zellwand

Abb. 1-32 Lichtmikroskopische Aufnahme von Plasmodesmen aus den dicken Primärwänden des Endosperms der Kakipflaume (Diospyros). (Das Endosperm ist das Nährgewebe des Samens). Die Plasmodesmen sind die feinen Linien (Cytoplasmastränge), die sich durch die Zellwände hindurch von Zelle zu Zelle erstrecken.

Plasmodesmen

k a p i t e l

1

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

39

1.18 Zellteilungszyklus

Desmotubulus

Sich teilende Zellen durchlaufen eine regelmäßige, nicht umkehrbare Folge von Ereignissen, den sog. Zellteilungszyklus (Abb. 1-34). Das Durchlaufen dieses Zellteilungszyklus dauert unterschiedlich lange. Die Zeitspanne ist sowohl vom Zelltyp als auch von äußeren Faktoren, wie Temperatur oder Nahrungsangebot, abhängig. Normalerweise besteht dieser Zyklus aus der Interphase und den vier Phasen der Mitose.

0.2 n »

Plasmalemma

m

#

m



# #

m

m 0

#

#

#

i

# Desmotubulus x i

Jgg

Zellwand

(b) Abb. 1-33 Elektronenmikroskopische Aufnahmen, (a) Längsansicht von Plasmodesmen, welche die Protoplasten zweier benachbarter Maisblattzellen (Zea mays) miteinander verbinden, (b) Quergeschnittene Plasmodesmen im primären Tüpfelfeld einer Maisblattzelle.

jeden Tag oder sogar alle paar Stunden stattfinden. So entsteht eine Folge identischer einzelliger Organismen. Auch vielzellige Organismen wachsen durch Zellteilung, die einzelnen Zellen bleiben jedoch miteinander verbunden. In jedem Falle gleichen die neu entstandenen Zellen in Aufbau und Funktion der elterlichen Zelle und sind auch untereinander gleich. Die Teilung einer eukaryontischen Zelle besteht aus zwei einander überlappenden Schritten: der Mitose (Kernteilung) und der Cytokinese (Zellteilung). Bei der Mitose entstehen aus einem Zellkern zwei Tochterkerne, die morphologisch und genetisch identisch sind. Bei der Cytokinese wird das Cytoplasma der Mutterzelle in zwei Teile geteilt, die jeweils einen der neu gebildeten Kerne enthalten.

1.18.1 Interphase Die Interphase die Phase zwischen zwei aufeinanderfolgenden mitotischen Teilungen - hielt man einst für die Ruhephase des Zellteilungszyklus; doch nichts war falscher als das, denn die Interphase ist eine Periode höchster Zellaktivität. Die Interphase kann man in 3 Abschnitte unterteilen, die als G j - , S- und G 2 -Phasen bezeichnet werden (Abb. 134). (Dabei steht der Buchstabe G für das englische Wort gap = Lücke und S für synthesis = Synthese.) Die G r Phase folgt auf die Mitose. In ihr findet vor allem eine Vermehrung des Cytoplasmas, einschließlich der verschiedenen Organellen, statt. Nach der zur Zeit gültigen Meinung werden in dieser G x -Phase auch Substanzen gebildet, welche die S-Phase und den Rest des Zellteilungszyklus hemmen oder fördern. Somit bestimmt also die G r P h a s e , ob eine Zellteilung stattfindet oder nicht. Die S-Phase folgt auf die Gj-Phase. Während dieser Phase wird das genetische Material (DNS) verdoppelt. Während der darauf folgenden G 2 -Phase werden Strukturen gebildet, die in direktem Zusammenhang mit der Mitose stehen, z. B. Spindelfaserkomponenten. Manche Zellen durchlaufen den Zellteilungszyklus immer wieder; dies ist der Fall bei einzelligen Organismen und bei bestimmten Meristemzellen. Andere - die meisten spezialisierten Zellen - verlieren die Fähigkeit, sich zu verdoppeln, sobald sie ausgewachsen sind. Eine dritte Gruppe von Zellen - z. B. solche, die Wundkallus bilden können - behält ihre Teilungsfähigkeit bei, übt sie aber nur unter bestimmten Bedingungen aus.

1.18.2 Mitose Bei der Mitose (Kernteilung) wird das genetische Material, das sich im Laufe der Interphase verdoppelt hat, auf zwei Tochterkerne verteilt. Die Mitose wird in vier Hauptphasen unterteilt: in Prophase, Metaphase, Anaphase u n d Telophase

( A b b . 1-35 bis 1-38).

Vor Beginn der Mitose muß der Zellkern in die für die anschließende Zellteilung richtige Lage innerhalb der Zelle gebracht werden. Man nimmt neuerdings an, daß bei

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TEIL

1

Die Pflanzenzelle

Abb. 1-34 Der Zellteilungszyklus besteht aus Mitose und Interphase - derjenigen Phase, die zwischen zwei aufeinanderfolgenden Mitosen liegt. Die Zellen befinden sich meist in der Interphase; diese kann man in 3 Abschnitte unterteilen. Während des ersten Abschnittes, der G j -Phase, findet allgemeines Wachstum und die Verdopplung der Cytoplasmaorganellen statt. Während des zweiten Abschnittes, der S-Phase, findet die DNS-Synthese statt. Während des dritten Abschnittes , der G 2 -Phase, werden Strukturen gebildet, die in direktem Zusammenhang mit der Mitose stehen, z. B. Spindelfaserkomponenten. Auf die G 2 -Phase folgt die Mitose, die wiederum in 4 Phasen unterteilt wird.

Abb. 1-35 Schematische Darstellung eines Prophase-Chromosoms. Während der Interphase hat sich die Chromosomen-DNS bereits verdoppelt. Daher besteht nun jedes Chromosom aus zwei identischen Hälften, den Chromatiden. Sie liegen parallel nebeneinander und sind an ihrem Centromer miteinander verbunden.

Chromatide

Centromer

Zellteilungszyklus

Centromer

I Nucleolus

)

Chromosom Chromatiden Nucleoplasma

frühe Prophase

späte Prophase

mittlere Prophase

Zellplatte Phragmoplast Kernhülle

Metaphase

Anaphase

Chromatide

Telophase

Abb. 1-36 Schematische Darstellung einer Mitose mit vier Chromosomen. Während der frühen Prophase werden die Chromosomen als lange, über den ganzen Zellkern verstreute Doppelf aden sichtbar. Die Chromosomen verkürzen und verdicken sich, und man erkennt, daß sie aus je zwei Fäden, den Chromatiden, bestehen. Schließlich lösen sich Nucleolus und Kernhülle auf. Mit dem Auftreten einer Kernspindel beginnt die Metaphase. Während dieser Phase wandern die Chromosomen zur Äquatorialebene der Spindel und ordnen sich dort schließlich mit ihren Centromeren zu einer sternförmigen Figur, der Äquatorialplatte, an. Die Anaphase beginnt, wenn sich die Centromeren teilen und trennen. Hierdurch bekommt jede Schwesterchromatide, die nun zum Tochterchromosom wird, ein Centromer. Wie die Abbildung zeigt, wandern die Tochterchromosomen dann zu den entgegengesetzten Polen der Spindel. Die Telophase - mehr oder weniger eine Umkehrung der Prophase - beginnt, wenn die Tochterchromosomen ihre Wanderung beendet haben.

KAPITEL 1

(b)

(d)

I 20 [im I

Abb. 1-37 Interferenzkontrastuntersuchungen (nach Nomarski) von Mitosestadien in lebenden Endospermzellen von Haemanthus katherinae-Samen (Blutblume; Fam. Amaryllidaceae). (a) Prophase: Die Chromosomen haben sich verkürzt, aber die Kernhülle ist noch vorhanden. Rings um den Kern hat sich eine durchsichtige Zone gebildet, (b) Späte Prophase - frühe Metaphase: Die Kernhülle ist verschwunden, aber die Spindelfasern sind noch kaum sichtbar, (c) Metaphase: Die Chromosomen haben sich mit ihren Centromeren auf der Aquatorialebene der Kernspindel angeordnet. Die Spindelfasern sind jetzt sichtbar, besonders in der oberen Hälfte der

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

41

I :n .111 I

(f)

I 20 ^

Kernspindel, (d) Anaphase: Die Schwesterchromatiden (nun als Tochterchromosomen zu bezeichnen) haben sich voneinander getrennt und wandern zu den entgegengesetzten Polen der Kernspindel, (e) Telophase: Die Tochterchromosomen haben die entgegengesetzten Pole erreicht, und dort beginnen sich zwei Tochterkerne zu bilden. In der Mitte der Zelle entsteht ein Phragmoplast. (f) Späte Telophase - Cytokinese: Um jeden der beiden Tochterkerne beginnt sich eine Kernhülle zu bilden. Eine Zellplatte durchzieht fast die ganze Zelle und teilt sie so in zwei Tochterzellen mit genetisch identischen Kernen.

I

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TEIL

1 Die Pflanzenzelle

dieser Ausrichtung des Zellkerns Mikrotubuli eine Rolle spielen. In vielen Zellen bilden die Mikrotubuli ein ringförmiges Band um den Zellkern herum, welches die Lage der Äquatorialebene der künftigen Kernspindel umreißt.

Prophase

Ii

m

Abb. 1-38 Mikrophotographie von Mitosestadien aus der Wurzelspitze von Allium (Zwiebel). Versuchen Sie, mit Hilfe der Abbildungen 1-36 und 1-37 die verschiedenen Mitosestadien in diesem Präparat zu erkennen.

Zu Beginn der Prophase werden die Chromosomen allmählich als langgestreckte Fäden sichtbar, die unregelmäßig im Zellkern verstreut liegen. Mit fortschreitender Prophase verkürzen und verdicken sie sich. Wenn sie deutlicher werden, kann man erkennen, daß jedes Chromosom aus zwei Längshälften besteht. Eine solche Längshälfte bezeichnet man als Chromatide. In der späten Prophase, nach weiterer Verkürzung, liegen die beiden Chromatiden eines jeden Chromosoms parallel nebeneinander und sind miteinander an einer verschmälerten Stelle, dem Centromer oder Kinetochor (Abb. 1-35) verbunden. Das Centromer, das auf jedem Chromosom eine charakteristische Stelle einnimmt, teilt das Chromosom in zwei Arme unterschiedlicher Länge. Mit fortschreitender Prophase wird der Nucleolus kleiner und verschwindet schließlich ganz. Kurz darauf löst sich die Kernhülle auf; das ist das Ende der Prophase (Abb. 1-39).

Abb. 1-39 Teil eines späten ProphaseKerns in einer Stengelparenchymzelle

von Equisetum hyemale (Winter-

0.2 UIN

Schachtelhalm). Die Pfeile deuten auf Kernporen der gerade in Auflösung begriffenen Kernhülle hin.

KAPITEL 1

Metaphase Die Metaphase beginnt mit dem Auftreten einer Kernspindel, eines dreidimensionalen Gebildes, das in der Mitte am breitesten ist und an beiden Enden spitz zuläuft. Die Kernspindel besteht aus Spindelfasern. Diese sind aus Mikrotubuli aufgebaut, die einen Durchmesser von je ungefähr 20 nm haben (Abb. 1-40). Während der Metaphase ordnen sich die aus 2 Chromatiden bestehenden Chromosomen mit ihren Centromeren auf der Äquatorialebene der Kernspindel zu einer sternförmigen Figur - der Äquatorialplatte - an. Jedes Chromosom scheint mit seinem Centromer an Spindelfasern, die sog. Chromosomen-

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

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oder Zugfasern, geheftet zu sein. Einige Spindelfasern, die Zentral- oder Polfasern, laufen von einem Spindelpol zum anderen; an diese ist kein Chromosom geheftet. Wenn alle Chromosomen zur Äquatorialebene gewandert sind, ist die Metaphase auf ihrem Höhepunkt angelangt. Nun können sich die Chromosomen teilen.

Anaphase Während der Anaphase trennen sich die Chromatiden eines jeden Chromosoms voneinander und wandern als Tochterchromosomen in entgegengesetzten Richtungen zu den Polen der Spindel. Dabei teilen sich zuerst die Centromeren und ihre Teilungsprodukte wandern, an Spindelfasern geheftet, auf je einen Pol der Spindel zu, die beiden Arme der auseinanderweichenden Tochterchromosomen nach sich ziehend. Wenn sich die beiden Tochterchromosomen trennen, weichen zuletzt die Enden des längeren Chromosomenarmes auseinander. Die Trennung der Chromatiden und das Auseinanderweichen der Tochterchromosomen beruht auf einer Verkürzung der Zugfasern. Man nimmt an, daß die Mikrotubuli an einem Ende der Spindelfaser ständig neu gebildet, am anderen hingegen abgebaut werden. So entsteht der Eindruck, als würden die Spindelfasern die Tochterchromosomen an ihren Centromeren zu den Polen ziehen. Am Ende der Anaphase liegen die beiden identischen Chromosomensätze vollständig voneinander getrennt an den beiden entgegengesetzten Polenden vor.

Telophase

Abb. 1-40 Teil eines Metaphase-Chromosoms in einer Stengelparenchymzelle von Equisetum hyemale (Winter-Schachtelhalm). Einige Mikrotubuli (Bausteine der Spindelfasern) führen direkt in das elektronendichte Chromosomenmaterial eines Centromers hinein. Andere Mikrotubuli (hier nicht abgebildet) erstrecken sich kontinuierlich von Pol zu Pol.

Während der Telophase wird die Trennung der beiden identischen Chromosomensätze beendet, indem um jeden von ihnen eine Kernhülle gebildet wird (Abb. 1-41). Die Membranen dieser Kernhüllen stammen vom rauhen endoplasmatischen Reticulum. Die Kernspindel verschwindet. Zur selben Zeit bilden sich auch wieder Nucleoli. Im Verlauf der Telophase werden die Chromosomen immer undeutlicher, sie entspiralisieren sich und werden wieder zu langen, dünnen Fäden. Wenn diese Vorgänge beendet sind, und man die Chromosomen nicht mehr erkennen kann, ist die Mitose zu Ende. Die beiden Tochterkerne treten in die Interphase ein. Während der Mitose werden zwei Tochterkerne gebildet; diese sind untereinander und mit dem Kern, aus dem sie durch Teilung hervorgegangen sind, genetisch identisch. Dies ist eine wichtige Tatsache, denn wie wir in Kapitel 7 sehen werden, ist der Zellkern das Kontrollzentrum der Zelle. Er enthält codierte (verschlüsselte) Anweisungen zur Bildung von Eiweißen. Viele dieser Eiweiße katalysieren als Enzyme Stofifwechselvorgänge in der Zel-

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TEIL

1

Die Pflanzenzelle

le. Einige Eiweiße dienen der Zelle direkt als Strukturelemente. Diese Synthesevorschriften müssen genau an die Tochterzellen weitergegeben werden. Ihre identische Verdopplung ist bei den Eukaryonten durch den Chromosomenbau und deren Teilung im Verlauf der Mitose gewährleistet. Die Dauer der Mitose hängt von der Art des Gewebes und vom jeweiligen Organismus ab. Stets ist jedoch die Prophase die längste und die Anaphase die kürzeste Phase der Mitose. In einer Wurzelspitze (Abb. 1-38) kann die Dauer der einzelnen Phasen in folgender Relation zueinander stehen: Prophase, 1 - 2 Stunden; Metaphase, 5 - 1 5 Minuten; Anaphase, 2 bis 10 Minuten; und Telophase, 1 0 - 3 0 Minuten. Die Interphase hingegen kann einen Zeitraum von 1 2 - 3 0 Stunden einnehmen.

Bildung der Kernspindel Bei vielen eukaryontischen Zellen kann man in der N ä h e des Zellkerns ein Organellenpaar erkennen, die Centrosomen. Das in der Mitte des Centrosoms gelegene Centriol zeigt im Elektronenmikroskop denselben Bau wie ein Geißelquerschnitt. Die Centrosomen sind den Basalkörpern der Geißeln und Wimpern vergleichbar. Wie diese können sie bestimmte Eiweißmoleküle zu langen, dünnen Mikrotubuli anordnen, ähnlich denen, die in der (9 + 2)Struktur der Eukaryonten-Geißeln vorliegen. Während der Prophase wandern die beiden Centrosomen eines Paares zu den entgegengesetzten Zellpolen. Von dort aus bewirken sie offenbar die Bildung der Spindelfasern. Zwei Sätze von Spindelfasern, die jeweils vom entgegengesetz-

Abb. 1-41 In Pflanzenzellen folgt auf die Trennung der Tochterchromosomen die Bildung einer Zellplatte. Damit wird die Trennung der beiden Tochterzellen vollendet. Man kann zahlreiche Golgi-Vesikeln erkennen, die in einem frühen Stadium der Zellplattenbildung miteinander verschmelzen. Die beiden Chromosomengruppen beiderseits der entstehenden Zellplatte befinden sich in Telophase. Die Pfeile weisen auf Teile der Kernhülle, die rings um die Tochterchromosomen gerade neu gebildet wird.

ten Zellpol ausstrahlen, bilden zusammen ein dreidimensionales spindelförmiges Gebilde, die Kernspindel. Bei beweglichen Zellen funktionieren dieselben Organellen oft zunächst als Centrosomen und später dann als Basalkörper von Geißeln oder Wimpern. Unbewegliche Pflanzenzellen besitzen keine Centrosomen oder ähnliche Strukturen, aber auch hier werden Spindelfasern gebildet, genau wie bei Zellen mit Centrosomen. Seit kurzem weiß man, daß die Polymerisation von Tubulin zu Mikrotubuli durch die Centromeren der Chromosomen selbst eingeleitet werden kann. Bilden ansonsten unbewegliche Pflanzen auch bewegliche Zellen - z. B. begeißelte männliche Gameten, sog. Spermatozoiden - so werden auch bei ihnen Centrosomen in den Zellen angelegt. Bei der letzten mitotischen Teilung, die zur Entstehung der Spermatozoiden führt, bilden diese Centrosomen zunächst die Spindelfasern und fungieren später dann als Basalkörper der Geißeln.

1.18.3 Cytokinese Als Cytokinese (Zellteilung) bezeichnet man den Vorgang, bei dem das Cytoplasma der Mutterzelle nach Bildung der Tochterkerne geteilt wird. Die Zellen der meisten Lebewesen teilen sich zentripetal, durch Einwachsen der Zellwand - falls vorhanden - vom Rand her und Durchschnürung des Plasmalemmas; hierbei werden die Spindelfasern durchteilt. Bei allen Pflanzen (darunter verstehen wir Moospflanzen und Gefäßpflanzen) und einigen Algen erfolgt die Zellteilung jedoch zentrifugal durch Bildung einer Zellplatte (Abb. 1-41 und 1-42).

KAPITEL

Während der frühen Telophase werden die Spindelfasern abgebaut, ihr Tubulin aber bleibt erhalten. Es dient der Bildung des Phragmoplasten, eines tonnenförmigen Systems senkrecht zur Zellteilungsebene orientierter Mikrotubuli, das sich zwischen den beiden Tochterkernen erstreckt. Im Lichtmikroskop kann man erkennen, daß überall in der Äquatorialebene des Phragmoplasten kleine Tröpfchen auftreten. Diese verschmelzen allmählich

1

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

45

miteinander und bilden die Zellplatte. Diese wächst zentrifugal nach außen, bis sie die Zellwand der sich teilenden Mutterzelle erreicht. Damit ist die Trennung der beiden Tochterzellen vollendet. Im Elektronenmikroskop kann man erkennen, daß es sich bei den verschmelzenden Tröpfchen um Golgi-Vesikeln handelt. Sie enthalten vermutlich pektinöse Substanzen zum Aufbau der Mittellamelle. Ihre Membranen dienen dem Aufbau des Plasma-

Nucleus

Abb. 1-42 Zelle aus dem Cambium von Ulmus americana (WeißUlme), in der ein spätes Stadium der Zellplattenbildung zu sehen ist. Die Unterbrechungen in der Zellplatte (siehe Pfeile) sind soeben gebildete oder gerade entstehende Plasmodesmen. Jede der beiden Tochterzellen hat nun einen intakten Zellkern.

Vakuole

Vakuole

Mitochondrium

Nucleus

Plastide

46

TEIL

1 Die Pflanzenzelle

Abb. 1-43 Spätes Stadium der Zellplattenbildung in einer Wurzelparenchymzelle der Gartenbohne (Phaseolus vulgaris). Teile des endoplasmatischen Reticulums durchqueren die Zellplatte an drei Stellen (Pfeile). Solche Stellen werden schließlich zu Plasmodesmen.

Plasmalemma

endoplasmatisches Reticulum

lemmas beiderseits der Zellplatte. Offensichtlich werden zu diesem Zeitpunkt auch Plasmodesmen gebildet, indem Teile des endoplasmatischen Reticulums zwischen den verschmelzenden Vesikeln „eingefangen" werden (Abb. 1-43). Nach Bildung der Mittellamelle, lagern die beiden Protoplasten beidseitig der Mittellamelle eine Primärwand ab. Zusätzlich bildet jede Tochterzelle eine neue Wandschicht, die den restlichen Protoplasten umgibt und Anschluß an die parallel zur Zellplatte gebildete Primärwand hat. Durch Vergrößerung der Tochterzellen dehnen sich die ursprünglichen Primärwandschichten der Mutterzelle und zerreißen schließlich (Abb. 1-44).

Abb. 1-44 Zellwandbildung im Verlauf der Cytokinese. (a) Die Zellplatte bildet sich in der Äquatorialebene des Phragmoplasten zwischen den beiden Tochterkernen und (b) wächst nach außen, bis sie an die Zellwand der sich teilenden Mutterzelle stößt. Die Mikrotubuli des Phragmoplasten verschwinden dort, wo sich die Zellplatte gebildet hat, entstehen aber am Rand der sich ausbreitenden Zellplatte neu. (c) Jede der beiden Tochterzellen bildet ihre eigene Primärwand, (d) Durch Vergrößerung der Tochterzellen zerreißt schließlich die Primärwand der Mutterzelle.

Kernhülle

KAPITEL 1

1.19 Zusammenfassung Alles Lebendige ist aus Zellen aufgebaut. Diese sehen sehr unterschiedlich aus und haben ganz verschiedene Struktur und Funktion. Das Spektrum reicht von voneinander unabhängigen Einzelzellen bis hin zu den hoch spezialisierten, voneinander abhängigen Zelltypen kompliziert gebauter vielzelliger Pflanzen und Tiere. In ihrem Grundaufbau sind die Zellen einander jedoch sehr ähnlich. Sie alle sind von einer äußeren Membran, dem Plasmalemma, umgeben. Es grenzt das Cytoplasma nach außen hin ab, und innerhalb seiner Grenzen liegt auch die genetische Information in Form von DNS. Den lebenden Inhalt von Zellen bezeichnet man als Protoplasma. Es gibt zwei Grundtypen von Zellen, die prokaryontischen und die eukaryontischen. Prokaryontische Zellen besitzen keine echten Zellkerne und keine Zellorganellen. Die heute lebenden Prokaryonten heißen Bakterien; zu ihnen zählen auch die Cyanobakterien (Blaualgen). Eukaryontische Zellen haben echte Zellkerne und sind kompartimentiert, sie enthalten verschiedene Organellen und Membransysteme mit unterschiedlicher Funktion. Eukaryontische Zellen sind durch dreischichtige Memranen in Kompartimente aufgeteilt; solche Membranen bezeichnet man als Elementarmembranen (engl, unit membranes). Diese Membranen kontrollieren nicht nur den Stofftransport in die Zelle hinein und aus ihr heraus, sondern auch den Stofftransport in und aus Organellen und von einem Zellkompartiment zum anderen. Kennzeichnend für Pflanzenzellen ist ihre halbstarre Zellwand, die den Protoplasten umgibt. Der Protoplast einer Pflanzenzelle ist das gesamte, innerhalb der Zellwand gelegene Protoplasma, umfaßt also das Cytoplasma, einschließlich der Vakuolen, und den Zellkern. Das Cytoplasma der Pflanzenzellen befindet sich oftmals in Bewegung. Dieses Phänomen bezeichnet man als Cytoplasmaströmung. Das Cytoplasma ist gegen die Zellwand durch das Plasmalemma, eine Elementarmembran, abgegrenzt. Eine andere Membran, der Tonoplast, begrenzt das Cytoplasma gegen die Vakuolen. Das Auftreten von Vakuolen im Cytoplasma ist ein weiteres Charakteristikum von Pflanzenzellen. Die Vakuolen sind mit Zellsaft gefüllt, einer wäßrigen Lösung verschiedener Zucker, Salze und anderer Substanzen. Viele Vakuolen sind auch am Abbau von Makromolekülen beteiligt und schleusen deren Bausteine wieder in den Stoffwechsel der Zelle ein. Junge Zellen enthalten gewöhnlich zahlreiche, kleine Vakuolen, die sich dann vergrößern und beim Heranwachsen der Zelle miteinander verschmelzen. Das Wachstum der Pflanzenzelle beruht hauptsächlich auf der Vergrößerung der Vakuolen.

Bau und Funktion der eukaryontischen Zelle

47

Der Zellkern, das Kontrollzentrum der Zelle, ist meist die auffälligste Struktur im Pro toplasten. Er ist von einer Kernhülle umgeben, die sich aus zwei Membranen zusammensetzt. Innerhalb der Kernhülle liegt das Chromatin, aus welchem während der Kernteilung die Chromosomen entstehen. Chromatin und Chromosomen bestehen aus DNS und Eiweiß. Neben den Vakuolen und den Zellwänden sind die Plastiden charakteristische Elemente von Pflanzenzellen. Jede Plastide ist von einer Hülle aus 2 Elementarmembranen umgeben. Reife Piastiden klassifiziert man aufgrund ihrer Pigmente: Chloroplasten, die Chlorophylle und Carotinoide enthalten; Chromoplasten, in denen nur Carotinoide auftreten; und die farblosen Leukoplasten. Das innere Membransystem der Chloroplasten besteht aus Stromathylakoiden und geldrollenähnlich übereinander gestapelten Granathylakoiden. In ihnen sind die Pigmente lokalisiert. Die verschiedenen Piastiden entstehen aus kleinen, farblosen Proplastiden. Ebenso wie die Piastiden, so sind auch die Mitochondrien von zwei Elementarmembranen umgeben. Die innere Membran ist zu einem ausgedehnten inneren Membransystem gefaltet. Dies vergrößert die Oberfläche, an der enzymatische Prozesse ablaufen können. Mitochondrien sind der Hauptsitz für die Oxidation energieliefernder organischer Moleküle. Neben den Organellen enthält das Cytoplasma der eukaryontischen Zellen zwei Membransysteme, den GolgiApparat und das endoplasmatische Reticulum (ER). Die Untereinheiten des Golgi-Apparates einer Pflanzenzelle bezeichnet man als Golgi-Körper oder Dictyosomen. Golgi-Körper sind Stapel scheibenförmiger, von einer Elementarmembran umgrenzter Zisternen, die am Rande zahlreiche Vesikeln abschnüren. Die Golgi-Körper dienen der Zelle offensichtlich als Sammel- und Verpakkungszentrum für kompliziert gebaute Kohlenhydrate und andere Substanzen, die innerhalb der Golgi-Vesikeln zur Zelloberfläche transportiert werden. Die Vesikeln dienen auch als Material zum Bau des Plasmalemmas. Das endoplasmatische Reticulum (ER) ist ein ausgedehntes dreidimensionales Membransystem. Es steht in Verbindung mit der Kernhülle, und oft haften an ihm zahlreiche Ribosomen. Ribosomen kommen aber auch frei - nicht ans ER gebunden - vor. Bei Eukaryonten findet man Ribosomen im Cytoplasma, aber auch im Zellkern. An den Ribosomen werden die Aminosäuren zu Proteinen verknüpft. Während der Proteinsynthese treten die Ribosomen zu Gruppen vereint auf, als Polyribosomen oder Polysomen. Mikrotubuli sind dünne, röhrenförmige Strukturen unterschiedlicher Länge, die sich aus globulären Proteinuntereinheiten (Tubulin) zusammensetzen. Sie spielen ei-

48

TEIL

1 Die Pflanzenzelle

ne Rolle bei der Mitose (Kernspindel), der Zellplattenbildung, dem ordnungsgemäßen Wachstum der Zellwand und der Geißelbewegung. Geißeln sind fadenförmige Organellen, die von der Oberfläche einiger Pflanzenzellen entspringen. Sie dienen der Fortbewegung. Alle Geißeln eukaryontischer Zellen sind nach demselben charakteristischen (9 + 2)-Muster gebaut (9 periphere Mikrotubulipaare umgeben zwei zentrale Mikrotubuli). Sie entspringen den Basalkörpern, kleinen, zylinderförmigen Strukturen aus 9 peripheren Mikrotubuli-Dreiergruppen (Tripletts), jedoch ohne Zentraltubuli. Die Zellwand ist das auffälligste Merkmal, durch das sich Pflanzenzellen von tierischen Zellen unterscheiden. Sie bestimmt die Form der Zelle, die Beschaffenheit pflanzlicher Gewebe und ist für viele Eigenschaften der Pflanzen verantwortlich. Die Zellwand kann aus 3 Schichten bestehen: Mittellamelle, Primärwand und Sekundärwand. Cellulose kommt in der Zellwand höherer Pflanzen vor, und zwar in Form von Fibrillen, die sich aus zahlreichen Cellulosemolekülen zusammensetzen. Die Cellulosefibrillen sind in eine Matrix andersartiger Moleküle, wie Hemicellulosen und Pektine, eingebettet. Lignin kann in allen 3 Wandschichten vorkommen, verleiht der Wand aber erst dann Festigkeit, wenn es auch in der Sekundärwand vorkommt. Zellen mit Sekundärwänden sterben oft nach deren Bildung ab; die Zelle dient dann als Wasserleitungs- oder Festigungselement. Die Plasmodesmen, welche die Zellwände durchqueren und die Protoplasten benachbarter Zellen miteinander

verbinden, vereinigen alle Zellen einer Pflanze zu einem Ganzen. Zellen, die sich teilen, durchlaufen einen charakteristischen Zellteilungszyklus aus Interphase und Mitose (Kernteilung). Die Interphase besteht aus (1) einer G r Phase, in welcher die Zelle heranwächst und die Organellen redupliziert werden; (2) einer S-Phase, in welcher sich das genetische Material, die DNS, verdoppelt; und (3) einer G 2 -Phase, in welcher Strukturen gebildet werden, die in direktem Zusammenhang mit der Mitose stehen (z. B. Spindelfaserkomponenten). Während der Interphase liegen die Chromosomen nur als dünne Fäden und Körnchen - als Chromatin - vor und sind schwer vom Nucleoplasma zu unterscheiden. Während der Mitose verdichtet sich das Chromosomenmaterial. Man kann schließlich (am Ende der Prophase) erkennen, daß jedes Chromosom aus zwei Längshälften, den Chromatiden, besteht. Diese sind über das Centromer (Kinetochor) miteinander verbunden. Das Centromer teilt sich, und jede Chromatide, nun Tochterchromosom genannt, wandert zu einer der beiden Tochterzellen. Die Trennung der beiden identischen Chromosomensätze wird durch Bildung neuer Kernhüllen um sie herum vollendet. So wird das genetische Material gleichmäßig auf die beiden neuen Zellkerne verteilt. Auf die Mitose (Kernteilung) folgt meist die Cytokinese, die Teilung des Cytoplasmas der Mutterzelle. Bei Pflanzen und einigen Algen wird das Cytoplasma durch eine Zellplatte geteilt, die sich im Verlauf der Telophase der Mitose bildet. Nach der Teilung des Cytoplasmas bilden die Protoplasten neue Zellwände.

Kapitel 2 Molekularer Bau der Zellen

Abb. 2-1 Stärkekörner im Amyloplasten der Kartoffelknolle (Solanum tuberosum), mit dem Polarisationsmikroskop betrachtet. Stärke ist das wichtigste Speicherkohlenhydrat der Pflanzen (s. Abb. 2-4d).

20 fx ni

Aus dem vorigen Kapitel wissen wir, daß die Zellen trotz ihrer Verschiedenheit eine erstaunlich ähnliche G r u n d struktur besitzen. Auf molekularer Ebene sind die Gemeinsamkeiten sogar noch größer. Auf der Erde und in der Erdatmosphäre gibt es ungefähr 90 verschiedene natürliche Atome oder Elemente. (Anhang A gibt einen Überblick über die grundlegenden chemischen Gesetze, mit denen das Verhalten dieser Elemente beschrieben werden kann). Von all diesen Elementen wurden im Laufe der Entwicklungsgeschichte nur einige wenige zum A u f b a u des Zellmaterials lebender Organismen herangezogen. Wie der Tabelle 2-1 zu entnehmen ist, besteht lebendes Material tatsächlich zu 9 9 % (Gewichtsprozent) aus nur 6 Elementen. In Zellen sind diese 6 Elemente außer in Wasser hauptsächlich in organischen Verbindungen zu finden. Alle lebenden Gewebe bestehen zu mehr als 50 % aus Wasser, die meisten pflanzlichen Gewebe sogar zu mehr als 9 0 % . (Einige der wichtigsten Eigenschaften des Wassers sind in Anhang A beschrieben.) Ionen - wie K + , N a + und Ca 2 + - machen hingegen nicht mehr als 1 % der Gewebe aus; der Rest sind organische Moleküle.

2.1 Organische Verbindungen Tab. 2-1 Atomare Zusammensetzung dreier repräsentativer Lebewesen 1 in Gewichtsprozent Element

Mensch

Luzerne

Bakterium

C

s

19,37 9,31 5,14 62,81 0,63 0,64

11,34 8,72 0,83 77,90 0,71 0,10

12,14 9,94 3,04 73,68 0,60 0,32

C H N O P S insgesamt

97,90

99,60

99,72

H N

O P

1 nach Morowitz, H.J.: Energy Flow in Biology, Academic Press, New York, 1968

Organische Verbindungen sind definitionsgemäß solche, die Kohlenstoff enthalten. Neben Kohlenstoff enthalten fast alle organischen Verbindungen Wasserstoff, die meisten auch noch Sauerstoff. Auch Stickstoff, Phosphor und Schwefel treten auf, aber seltener als Sauerstoff. N u r wenige organische Verbindungen enthalten noch andere Elemente. So wie sich das Protoplasma aus nur relativ wenigen Elementen zusammensetzt, bilden die Atome dieser Elemente ebenfalls nur eine kleine Anzahl von Verbindungen, die - verschiedenartig miteinander kombiniert den größten Teil des Trockengewichts der Lebewesen ausmachen. Hierbei kann man 4 Hauptarten organischer Verbindungen unterscheiden: Kohlenhydrate, Lipide, Proteine und Nukleinsäuren (Tabelle 2-2).

50

TEIL

Tab. 2-2

1 Die Pflanzenzelle Einige wichtige Gruppen organischer Verbindungen

Gruppe organischer Verbindungen

Funktionen

molekulare Bausteine

atomare Zusammensetzung

Kohlenhydrate

Energiequelle, Strukturmaterial, Bausteine anderer Moleküle

Monosaccharide

Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff

Lipide (Fette)

Energiespeicherung, Strukturmaterial

Fettsäuren, Glycerin

Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff

Proteine

Katalysatoren (Enzyme), Strukturmaterial

Aminosäuren

Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Schwefel

Nukleinsäuren

Muster für die Proteinbiosynthese

Nucleotide (aus stickstoffhaltiger Base, Zucker und Phosphat)

Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Phosphor

2.2 Kohlenhydrate

2.2.1 Monosaccharide und Disaccharide

K o h l e n h y d r a t e - wie Z u c k e r , Stärke u n d v e r w a n d t e Substanzen - sind Verbindungen, die K o h l e n s t o f f , Wasserstoff u n d Sauerstoff enthalten. Die K o h l e n h y d r a t e sind die in der N a t u r a m weitesten verbreiteten organischen Verbindungen. G r o ß e Moleküle, die aus ähnlichen oder identischen U n t e r e i n h e i t e n bestehen, n e n n t m a n Polymere, ihre U n t e r e i n h e i t e n bezeichnet m a n als Monomere. I m Falle der K o h l e n h y d r a t e heißen die M o n o m e r e M o n o saccharide u n d die Polymere Polysaccharide.

Die einfachsten K o h l e n h y d r a t e sind die Monosaccharide (Einfachzucker). Sie bestehen a u s einer mit Wasserstoffund Sauerstoffatomen verknüpften Kohlenstoffkette, wobei K o h l e n s t o f f , Wasserstoff u n d Sauerstoff im Verhältnis 1 : 2 : 1 vorliegen.Abb. 2-2 zeigt die F o r m e l n einiger häufig v o r k o m m e n d e r M o n o s a c c h a r i d e . D i e Z u c k e r mit 5 oder 6 K o h l e n s t o f f a t o m e n (Pentosen bzw. Hexosen) k ö n n e n a u c h in R i n g f o r m vorliegen; dies ist normalerweise in wäßriger L ö s u n g der Fall. H

H H offenkettige Form

H

H—¿—OH

L o I

H—C—OH

I

H—C—OH

H—C—OH H

c=o

I

HO—C—H

i

I

H—C—OH

4

I

I

I

H—C—OH

HO—¿—H

H—C—OH

H—C—OH

c=o

I

H—C—OH

I

H—C—OH

I

H—C—OH

I

H—C—OH

l6

H—C—OH

H—C—OH

I

I

H

I

H

H

CH 2 OH

Ringform (perspektivisch dargestellt)

-( ). H ,4 1 /

S OH

OH

HO

H Glycerinaldehyd C3H6O3

OH

Glucose C6H12O6

Abb. 2-2 Formeln einiger biologisch wichtiger Monosaccharide. Zucker mit 5 oder 6 Kohlenstoffatomen (Pentosen bzw. Hexosen) können sowohl in der offenkettigen Aldehyd- oder Ketoform als auch in einer zyklischen Halbacetalform (Ringform) vorliegen. Im Wasser liegt gewöhnlich die Ringform vor. Die Position, die die einzelnen C-Atome einnehmen,

H X — ^ Z H OH

OH

Ribose C 5 H 1 0 O,

H OH

H

Fructose

c6HI2o6

wird durch eine Zahl gekennzeichnet. Diese Numerierung der C-Atome ist hier am Beispiel der offenkettigen und der Ringform der Glucose demonstriert; die Zahlen sind rot eingezeichnet. Gemäß internationaler Übereinkunft werden die Kohlenstoffatome im Ring nicht eingezeichnet, sie liegen jeweils an den Ecken des Ringes.

KAPITEL

Zwei Monosaccharide verbinden sich formal unter Wasserabspaltung zu einem Disaccharid (Abb. 2-3). Die Bindung zwischen zwei derart miteinander verknüpften Molekülen kann durch Hydrolyse, d. h. Anlagerung eines Wassermoleküls, wieder aufgelöst werden. Dabei entstehen wieder die Monosaccharide, aus denen das Disaccharid aufgebaut war. Die Hydrolyse ist eine exergonische Reaktion, d.h. eine Reaktion, bei der Energie - Bindungsenergie - freigesetzt wird. Die Bindungsenergie der Reaktionsprodukte ist in diesem Falle geringer als die des Ausgangsmoleküls. Die Verknüpfung zweier Monosaccharide hingegen verbraucht Energie, diese Reaktion ist endergonisch.

Glucose - ein Monosaccharid - ist die häufigste Transportform von Zucker in tierischen Systemen. Aus Glucose und Fructose entsteht Saccharose (Rohrzucker), der Haupttransportzucker der Pflanzen und unser Haushaltszucker (aus Zuckerrüben oder Zuckerrohr). Lactose (Milchzucker) ist ein Disaccharid aus Glucose und Galaktose. Alle Zucker gehen letztlich auf die Photosynthese zurück. Bei der Photosynthese wird die Sonnenenergie in die chemische Bindungsenergie von Zuckermolekülen umgewandelt. Beim Abbau der Zuckermoleküle wird die Energie dieser chemischen Bindungen wieder frei.

2 Molekularer Bau der Zellen

Glucose

,

Fructose

51

\

CH.OH

CH 2 OH

'

Saccharose

Abb. 2-3 Die Monosaccharide Glucose und Fructose können formal unter Abspaltung eines Moleküls Wasser zum Disaccharid Saccharose vereinigt werden. Dabei werden pro Mol Saccharose 23.03 kJ (Kilojoule) (5.5 kcal) verbraucht. Saccharose ist die Haupttransportform von Zucker in Pflanzen.

2.2.2 Polysaccharide Polysaccharide bestehen aus Monosacchariden, die zu langen Molekülketten verknüpft sind. Einige Polysaccharide sind Speicherzucker. Stärke, ein Polysaccharid aus

Altersbestimmung mit Hilfe von radioaktivem Kohlenstoff Alle organischen Substanzen enthalten Kohlenstoff. All dieser Kohlenstoff existierte früher einmal in Form von Kohlendioxid und fand mittels Photosynthese Eingang in die belebte Natur. Die meisten Kohlenstoffatome liegen als 12 C (Atomgewicht 12) vor, ein bestimmter Teil jedoch als 14 C, ein Radioisotop des Kohlenstoffs. 1 4 C entsteht dadurch, daß Neutronen aus kosmischer Strahlung auf atmosphärischen Stickstoff einwirken ( 1 4 N + ¿n —• + }H). Es besteht ein Gleichgewicht zwischen dem radioaktiven Zerfall von 1 4 C und seiner Neubildung aus Stickstoff. Daher enthält die Luft stets einen konstanten Gehalt an radioaktivem Kohlendioxid. Pflanzen nehmen Kohlendioxid auf und verarbeiten es zu Glucose und anderen organischen Molekülen. Dabei machen sie keinen Unterschied zwischen 1 2 C 0 2 und 1 4 C 0 2 . Tiere wiederum sind direkt oder indirekt von pflanzlichen Produkten als Nahrungsquelle abhängig. In den Zellen aller lebenden Wesen ist daher das Verhältnis von radioaktivem und nicht radioaktivem Kohlenstoff dasselbe wie in der Luft. Nach dem Tode nimmt ein Organismus keinen wei-

teren Kohlenstoff mehr auf. Der radioaktive Kohlenstoff zerfällt allmählich [ ^ C • 1 4 N + _°e + v], der An12 teil an C bleibt jedoch konstant, d. h. das Verhältnis von 14 C zu 12 C verändert sich in toten Organismen ständig. 14 C hat eine Halbwertszeit von 5730 Jahren; ein 5730 Jahre altes Fossil sollte demnach genau halb so viel 14 C wie eine lebende Pflanze enthalten. Durch Bestimmung des Verhältnisses von 14 C zu 12 C kann man das Alter von Fossilien oder auch der von Menschen aus pflanzlichem oder tierischem Material geschaffenen Gegenstände ziemlich genau feststellen. Besonders wertvoll ist diese Methode zur Altersbestimmung archäologischer Funde; sie basiert auf der Annahme, daß das Verhältnis von 14 C zu 12 C in der Erdatmosphäre im untersuchten Zeitraum gleichgeblieben ist. Nukleare Versuche in der Atmosphäre haben in jüngster Zeit dieses Verhältnis gestört und es künftigen Archäologen unmöglich gemacht, derartige Altersbestimmungen an pflanzlichen und tierischen Überbleibseln unserer Zeit vorzunehmen.

52

TEIL

1 Die PflanzenzeUe

Amylopektin

Abb. 2-4 In Pflanzen wird Zucker in Form von Stärke gespeichert. Stärke baut sich aus zwei verschiedenartigen Polysacchariden auf, aus Amylose (a) und Amylopektin (b). In einem einzigen Amylosemolekül sind 1000 oder mehr Glucoseeinheiten zu einer langen, unverzweigten Kette angeordnet, die schraubig aufgewunden ist (c). Das Amylopektin entspricht der Amylose, ist aber an jedem 20.-25. Glucoserest der Molekülkette verzweigt. Amylopektin hat ein Molekulargewicht von 1 - 6 Millionen. Die Glucoseeinheiten der Stärke sind a-Glucose-Monomere (siehe Abb. 2-5). Vielleicht wegen ihrer schraubigen Natur neigen die Stärkemoleküle dazu, sich

zu Körnchen zusammenzulagern. Die Mikrophotographie (d) zeigt Stärkekörner in stärkespeichernden Leukoplasten (Amyloplasten) der Kartoffelknolle {Solanum tuberosum), (e) In dieser rasterelektronenmikroskopischen Aufnahme erscheinen die Stärkekörner einer Kartoffelzelle als kugelige und eiförmige Gebilde. In höheren Tieren, Pilzen und Bakterien wird Zucker als Glykogen gespeichert. Dieses Polysaccharid ähnelt im Aufbau dem Amylopektin, es verzweigt sich jedoch alle 6 bis 12 Glucose-Einheiten. Das Molekulargewicht beträgt ungefähr 100 Millionen.

KAPITEL 2

Molekularer Bau der Zellen

53

H

Abb. 2-5 (a) In einem lebenden System stehen H r Zucker

CT

61

2 Molekularer Bau der Zellen

C" "

HC^

O—P— O—CH, O

NH,

Adenin

VCH

\ CH /

O-

O—P—O—CH.,

-CK

Q>

II O

OH OH O

Adenin

OH H O II Xs./N;

Guanin

HN-.^Cv.-x-Ni\

HN-

CH

O" nh 2 O—P— O—CH.. 'O II o h O H^ H OH OH

C

O"

nh 2

C

W "NT \

N

Guanin

VCH /

O—P—O—CH II

o

H

Ribose

^

T

H

OH H

2-Desoxyribose

Uracil

O

Thymin

CH:

HNK C ^CH Qo ^ S r I O—P—O—CH..

0 1

o

OI

O—P—O—CH, 'Oo

SLJ/\ OH H

OH OH

Cytosin

NH,

(."UO.MIL

N^CvCH I II QI

O— P— O— CH, - o o v

h

NH,

N^ I

CH II

O^ I

O—P—O—CH.. -Ov v y

OH OH

Ribonucleotide

H

O

vH vy H^ ^ H OH H Desoxyribonueleotide

62

TEIL

1 Die Pflanzenzelle

Es gibt zweierlei Nukleinsäuren: Desoxyribonukleinsäure (DNS) und Ribonukleinsäure (RNS). Im DNS-Molekül wird die genetische Information gespeichert. RNS dient als Übersetzer und Überbringer dieser genetischen Information. Über die RNS bestimmt die DNS den Aufbau von Proteinen und damit die Struktur und Funktion der Zelle. Die Nucleotide enthalten zweierlei Stickstoffbasen: Pyrimidine, mit nur einem Ring, und Purine, mit zwei miteinander verbundenen Ringen (Abb. 2-19). Die drei Pyrimidinbasen der Nukleinsäuren sind Thymin, Cytosin und Uracil. DNS enthält Cytosin und Thymin, RNS hingegen Cytosin und Uracil. Die beiden Purinbasen sind Adenin und Guanin; beide kommen sowohl in der RNS als auch in der DNS vor. DNS und RNS unterscheiden sich auch in ihrem Zuckeranteil. DNS enthält Desoxyribose, RNS hingegen Ribose. t)er einzige Unterschied zwischen diesen beiden Zuckermolekülen ist der, daß die Desoxyribose ein Sauerstoffatom weniger enthält als die Ribose (siehe Abb. 2-19). Der Bau der Nukleinsäuren, die Bedeutung ihrer Struktur und die Rolle, die sie in der Zelle spielen, werden in Kapitel 7 näher besprochen.

2.6 Weitere Nucleotidderivate Nucleotide und ihre Derivate haben innerhalb der Zelle verschiedene Aufgaben. Zwei besonders wichtige Nucleotidderivate sind das Adenosintriphosphat (ATP\ siehe Ab. 4-10) und das Adenosindiphosphat (ADP). Fast der gesamte Energieaustausch erfolgt in den Zellen durch Übertragung von Phosphatgruppen. ATP und ADP sind die Moleküle, die bei dieser Phosphatübertragung die Hauptrolle spielen (siehe Kapitel 4). Auch eine Reihe anderer energieübertragender Moleküle sind Nucleotide z.B. das Nicotinamid-adenindinucleotid (NAD), welches u. a. ein Adeninnucleotid und ein Phosphat enthält (siehe Abb. 4-8). Der häufige Einsatz von Purin-Zucker-Phosphat-Verbindungen als Energieüberträger kann damit zusammenhängen, daß diese vergleichsweise großen, geladenen Moleküle Membranen nicht ungehindert passieren und daher auch nicht aus den Zellen oder membranumgrenzten Organellen entweichen können.

2.7 Zusammenfassung Lebende Substanz baut sich aus nur wenigen natürlich vorkommenden Elementen auf. Sie besteht größtenteils aus Wasser, der Rest vor allem aus organischen Verbindungen, wie Kohlenhydrate, Lipide, Proteine und Nukleinsäuren. Kohlenhydrate dienen den Lebewesen als Hauptenergiequelle und sind wichtige Strukturbausteine der Zellen. Die einfachsten Kohlenhydrate sind die Monosaccharide (Einfachzucker), wie z. B. Glucose und Fructose. Monosaccharide können zu Disacchariden (Zweifachzucker), wie z. B. Saccharose, oder zu Polysacchariden (Vielfachzucker), wie z. B. Stärke oder Cellulose, verknüpft werden. Diese Moleküle können in der Regel durch Hydrolyse wieder gespalten werden. Auch Lipide dienen den Zellen als Energiequelle und Strukturmaterial. Die Lipide, zu denen Fette, Wachse und Phospholipide gehören, sind wasserunlöslich. Proteine sind Makromoleküle aus langen Aminosäureketten, den sog. Polypeptiden. Die Proteine enthalten nur 20 verschiedene Aminosäuren. Durch deren unterschiedliche Kombination entsteht jedoch eine ungeheuere Zahl verschiedenartiger Proteinmoleküle. Der Bau eines Proteins wird durch 4 Organisationsstufen charakterisiert: (1) die Primärstruktur, d. h. die Aminosäuresequenz; (2) die Sekundärstruktur, d. h. die Aufwindung der Polypeptidkette; (3) die Tertiärstruktur, d.h. die Auffaltung der gewundenen Kette zu einem globulären Gebilde unter Bildung des aktiven Zentrums; und (4) die Quartärstruktur, die aus spezifischen Interaktionen zwischen zwei oder mehreren Polypeptidketten resultiert. Enzyme sind globuläre Proteine. Sie katalysieren Zellreaktionen und lassen diese mit hoher Geschwindigkeit und bei relativ niedrigen Temperaturen'ablaufen. Nukleinsäuren bestehen aus langen Ketten miteinander verknüpfter Nucleotide. Die Nucleotide bestehen aus 3 miteinander verbundenen Molekülen: einer Stickstoffbase, einer Phosphatgruppe und einer Pentose. Nucleotide, die als Zucker Desoxyribose enthalten, bilden DNS; solche mit Ribose als Zuckerkomponente hingegen bilden RNS. Zwei Nucleotidderivate - ATP und ADP - sind an den meisten Energieübertragungen in der Zelle beteiligt.

Kapitel 3 Ein- und Austransport von Substanzen bei Zellen

Alle Zellen sind von ihrer Umgebung durch eine Oberflächenmembran - die Plasmamembran (Plasmalemma) getrennt. Eukaryontische Zellen sind darüber hinaus in ihrem Inneren durch Membranen untergliedert - das endoplasmatische Reticulum, die Golgi-Körper und die Grenzmembranen der Organellen (Abb. 3-1). Diese Zellmembranen sind keine undurchlässigen Barrieren; die Zellen bestimmen, welche Substanzen in welcher Menge und in welcher Richtung die Membranen passieren dürfen. Dies ist eine wichtige Fähigkeit lebender Zellen, denn nur wenige Stoffwechselreaktionen könnten in ausreichendem Maße ablaufen, wenn die Zellen auf die Konzentrationen angewiesen wären, in denen die lebensnotwendigen Substanzen zufällig im Außenmilieu vorliegen. Lebende Systeme kann man also u.a. daran erkennen, daß für eine Reihe von Substanzen Konzentrationsunterschiede zwischen ihnen und ihrer unbelebten Umgebung bestehen (Abb. 3-2). Die Kontrolle des Stoffaustausches über Membranen beruht auf den physikalischen und chemischen Eigenschaften der Membranen einerseits und der zu transportierenden Ionen und Moleküle andererseits. Wasser ist das wichtigste Molekül, das in Zellen hinein und aus diesen heraus transportiert wird. Abb. 3-1 Elektronenmikroskopische Aufnahme einer Wurzelspitzenzelle von Zea mays (Mais). Diese Zelle wurde in Kaliumpermanganat fixiert, einer chemischen Verbindung, die selektiv biologische Membranen imprägniert; endoplasmatisches Reticulum, GolgiKörper und die Grenzmembranen der verschiedenen Organellen sind daher deutlich zu erkennen. Diese Membranen regulieren den Transport von Substanzen in die Zelle hinein und aus dieser heraus, und kontrollieren ihren Transport von einem Teil der Zelle in den anderen.

3.1 Mechanismen des Wasserflusses Der Wasserfluß in der belebten, aber auch in der unbelebten Natur beruht auf drei Mechanismen: dem Massenstrom, der Diffusion und der Osmose.

3.1.1 Massenstrom Unter einem Massenstrom versteht man den Gesamtfluß einer gegebenen Menge Wasser (oder einer anderen Flüssigkeit) in eine Richtung. Sie tritt auf, wenn Unterschiede in der potentiellen Energie des Wassers bestehen, also eine Wasserpotentialdifferenz vorliegt. So besitzt z. B. Wasser, das sich auf einem Berg oder in einem Wasserfall befindet, potentielle Energie und damit ein hohes Wasserpotential.

64

TEIL

Na +

1 Die Pflanzenzelle

K+

Ca 2 +

Mg2+

C1

Abb. 3-2 Blockdiagramm über die Konzentration verschiedener Ionen in Teichwasser (grau) und im Cytoplasma der dort lebenden Grünalge Nitella (farbig). Derartige Konzentrationsunterschiede zwischen Zellen und ihrer Umgebung deuten darauf hin, daß Zellen den Transport von Substanzen über ihre Membranen regulieren können.

Fließt es ins Tal, so nimmt sein Wasserpotential ab und die freiwerdende potentielle Energie kann über eine Wassermühle in mechanische Energie oder über Turbinen in elektrische Energie umgewandelt werden (Abb. 3-3). Ein Wasserpotential kann auch durch Druck erzeugt werden. Füllen wir Wasser in einen Gummiball und drükken diesen dann zusammen, so erlangt dieses Wasser genauso wie Wasser in einem Wasserfall - ein hohes Potential und wird in ein Gebiet mit niedrigerem Wasserpotential fließen. Kann man aber bergabwärts fließendes Wasser mittels Druck dazu bewegen, bergaufwärts zu fließen? Offensichtlich ist das möglich, aber nur so lange, wie das vom Druck erzeugte Wasserpotential das von der Erdanziehungskraft erzeugte Wasserpotential überschreitet. Das Wasser bewegt sich also stets von einem Gebiet höheren in ein Gebiet niedrigeren Wasserpotentials, wobei das Zustandekommen des Wasserpotentials keine Rolle spielt. Der Begriff des Wasserpotentials gestattet dem Physiologen vorauszusagen, welchen Weg das Wasser unter bestimmten Bedingungen nehmen wird. Die Stärke des Wasserpotentials wird meist ermittelt, indem man den Druck mißt, der unter den gegebenen Bedingungen notwendig ist, um die Bewegung des Wassers zum Stillstand zu bringen; es wird also der das Wasser stoppende, d.h. der hydrostatische Druck gemessen. Dieser Druck wird meist in „bar" angegeben. [Ein „bar"ist eine Druckeinheit, die dem durchschnittlichen Luftdruck an der Meeresoberfläche entspricht. Das neue SI-Einheitensystem empfiehlt als Druckeinheit 1 Newton/m 2 = 1 Pascal (Pa), und es gilt 1 bar = 105 Pa.] Die dazugehörigen Zahlenwerte sind stets negativ, wobei das höhere Wasserpotential weniger negativ ist als das niedrigere.

3.1.2 Diffusion

Abb. 3-3 Wasser, das sich in einem Wasserfall befindet, besitzt potentielle Energie. Fließt das Wasser nach unten, so wandelt sich diese potentielle Energie in Bewegungsenergie (kinetische Energie) um, die ihrerseits dann in mechanische Energie umgewandelt werden kann, um Arbeit zu leisten.

Die Diffusion ist ein bekanntes Phänomen. Wenn Sie z. B. ein paar Tropfen Parfüm in eine Zimmerecke träufeln, erfüllt der Duft schließlich das ganze Zimmer, auch ohne Luftzug. Wenn Sie ein paar Tropfen Farbstoff an ein Ende eines gefüllten Wasserbehälters geben, so verteilen sich die Farbstoffmoleküle langsam gleichmäßig über den ganzen Behälter. Dieser Vorgang kann einen Tag oder länder dauern, je nach der Größe des Wasserbehälters, der Höhe der Temperatur und der Größe der Farbstoffmoleküle. Warum aber bewegen sich die Farbstoffmoleküle voneinander fort? Wenn Sie die einzelnen Farbstoffmoleküle im Wasserbehälter beobachten könnten (siehe Abb. 3-4), so könnten Sie sehen, daß ein jedes Farbstoffmolekül sich rein zufällig und unabhängig von den anderen bewegt. Wenn Sie Wanderungsgeschwindigkeit oder Bewegungsrichtung eines einzelnen Moleküls betrachten, so erhalten

KAPITEL

Abb. 3-4 (a) Schematische Darstellung des Diffusionsvorganges. Unter Diffusion versteht man die Verteilung von Substanzen durch unabhängige Bewegung ihrer Ionen oder Moleküle. Die Diffusionsrichtung verläuft für die einzelnen Ionen- und Molekülsorten stets entlang ihres Konzentrationsgradienten (aus einem Gebiet höherer in ein Gebiet niedrigerer Konzentration). Diffundiert die eine Teilchensorte (farbig dargestellt) nach rechts, so diffundiert die andere in die entgegengesetzte Richtung. Hieraus resultiert schließlich eine gleichmäßige Verteilung beider Teilchensorten. (b) Graphische Darstellung der Konzentrationsgradienten von Farbstoff und Wasser im Verlaufe der Diffusion.

• .•

3

Ein- und Austransport von Substanzen bei Zellen

65

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no

Sie daraus überhaupt keine Auskunft darüber, wohin sich dieses Molekül in Relation zu den anderen Molekülen bewegt. Wie gelangen aber nun die Moleküle von der einen Seite des Wasserbehälters zur anderen? Betrachten Sie in Gedanken ein dünnes Segment des gefüllten Wasserbehälters, das sich von der Wasseroberfläche bis auf den Grund des Gefäßes erstreckt. Aus diesem Segment werden Farbstoffmoleküle heraus- und wieder hineinwandern; einige Farbstoffmoleküle wandern in die eine, einige in die andere Richtung. Sie werden aber sehen, daß, bezogen auf den gesamten Wasserbehälter, mehr Farbstoffmoleküle aus dem Bereich höherer Farbstoffkonzentration herauswandern, als in diesen hinein. Warum? Allein deshalb, weil sich in diesem Teil des Wasserbehälters mehr Farbstoffmoleküle befinden. Weil es auf der linken Seite mehr Farbstoffmoleküle gibt, werden sich mehr Farbstoffmoleküle zufallig nach rechts bewegen, obwohl natürlich für jedes einzelne Farbstoffmolekül die Wahrscheinlichkeit, daß es von rechts nach links wandert, genauso groß ist, wie für eine Bewegung von links nach rechts. Letztlich erfolgt auf diese Weise eine sichtbare Verteilung der Farbstoffmoleküle von links nach rechts. Wenn die Wassermoleküle im Behälter sichtbar wären, so würden Sie sehen, daß die Bewegung der Wassermoleküle insgesamt von rechts nach links verläuft. Was aber geschieht, wenn sich alle Moleküle gleichmäßig über den Wasserbehälter verteilt haben? Diese gleichmäßige Verteilung hat keinen Einfluß auf das Verhalten der einzelnen Moleküle. Die Bewegung der einzelnen Moleküle ist noch genauso groß wie vorher, vorausgesetzt, daß sich die Temperatur nicht verändert hat. Auch bewegen sie sich weiterhin rein zufällig in die eine oder andere Richtung. Da aber nun die Anzahl der Wassermoleküle bzw. der Farbstoffmoleküle in jedem Teil des Wasserbe-

00

(a)

(b)

hälters gleich hoch ist, kann man keine Gesamtbewegungsrichtung für die einzelnen Molekülsorten mehr erkennen. Substanzen, die aus einem Bereich höherer in einen Bereich niedrigerer Konzentration wandern, bewegen sich wie man sagt - mit dem Gradienten', Diffusion erfolgt nur in diese Richtung. Substanzen, die sich in entgegengesetzter, d.h. in Richtung einer höheren Konzentration der eigenen Teilchensorte bewegen, wandern gegen den Gradienten-, das ist genau dasselbe, als wenn sie bergaufwärts geschoben würden. Je stärker der Konzentrationsgradient, um so größer die Diffusionsgeschwindigkeit. Auch ist die Diffusionsgeschwindigkeit in Gasen höher als in Flüssigkeiten, und bei höheren Temperaturen größer als bei niedrigeren. In unserem Wasserbehälter gibt es zwei Gradienten. Die Farbstoffmoleküle bewegen sich entlang des einen Gradienten in die eine, die Wassermoleküle entlang des anderen Gradienten in die andere Richtung. Beide Molekülsorten wandern mit ihrem Gradienten. Wenn keine Konzentrationsgradienten mehr bestehen, bewegen sich die einzelnen Moleküle zwar weiter, die erkennbare Wanderung der einzelnen Molekülsorten in die eine oder die andere Richtung ist aber gleich Null; das System befindet sich im Gleichgewicht. Ein System, in dem Diffusion stattfindet, besitzt auch eine Wasserpotentialdifferenz. Liegt an einer Stelle, z. B. in einer Ecke des Wasserbehälters, die gelöste Substanz in hoher Konzentration vor, so bedeutet das gleichzeitig, daß dort die Wasserkonzentration und damit das Wasserpotential niedrig ist. Wenn der Druck überall gleich groß ist, wandern die Wassermoleküle - mit dem Konzentrationsgradienten - aus einem Gebiet höheren (weniger negativen) Wasserpotentials in ein Gebiet niedrigeren (stär-

66

TEIL 1

Die Pflanzenzelle

ker negativen) Wasserpotentials. Derjenige Teil des Wasserbehälters, der reines Wasser enthält, besitzt ein höheres Wasserpotential als derjenige, der außer Wasser noch eine gelöste Substanz enthält. Mit Erreichen des Gleichgewichtszustandes ist das Wasserpotential überall im Wasserbehälter gleich groß. Die wesentlichen Merkmale der Diffusion sind: ( ^ j e des Molekül bewegt sich unabhängig von den anderen; (2) seine Bewegungsrichtung ist zufällig. Das Gesamtergebnis der Diffusion ist eine gleichmäßige Verteilung der diffundierenden Substanz. M a n kann die Diffusion also definieren als Verteilung von Substanzen durch unabhängige Bewegung ihrer Ionen oder Moleküle unter Anstrebung eines Konzentrationsausgleiches im gesamten System.

Sauerstoff zwischen Außen- und Innenwelt der Zelle erhalten. Gleichzeitig bilden die Zellen Kohlendioxid, woraus ein von innen nach außen verlaufender Kohlendioxidgradient resultiert. Innerhalb einer Zelle werden Substanzen oft an der einen Stelle gebildet, aber an einer anderen verbraucht. D a s bedeutet, daß zwischen diesen beiden Bereichen der Zelle ein Konzentrationsgradient aufgebaut wird entlang dessen das Material vom Entstehungs- zum Verbrauchsort diffundieren kann. Die meisten organischen Moleküle sind polar (hydrophil) und können nicht frei durch die Lipidbarriere der Zellmembranen diffundieren. Kohlendioxid und Sauerstoff hingegen, die in Lipiden löslich sind, passieren die Membran ungehindert. Auch Wasser wandert ungehemmt ein und aus. Wasser ist aber in Lipiden nicht löslich; die Tatsache, daß es dennoch ungehindert Membranen passieren kann, veranlaßte daher die Biologen, die Existenz kleiner Poren in der Membran zu fordern, durch welche Wassermoleküle (und auch einige kleine Ionen) hindurchtreten können.

Diffusion in Zellen Die Diffusion ist ein langsamer Vorgang - es sei denn, sie verläuft über sehr kurze Entfernungen. Wirksam ist sie nur, wenn der Konzentrationsgradient steil und das Volumen relativ klein ist. So beruht z. B. die rasche Verbreitung eines Parfüms in der Luft primär wohl nicht auf Diffusion, sondern auf Luftzirkulation. Ebenso wird auch in vielen Zellen der Transport von Substanzen durch lebhafte Cytoplasmaströmung beschleunigt. Zellen beschleunigen die Diffusion aber auch durch ihren eigenen Stoffwechsel. So wird z. B. Sauerstoff in der Zelle beinahe genauso schnell verbraucht, wie er in sie hineingelangt. Auf diese Weise bleibt der steile Konzentrationsgradient für

3.1.3 Osmose Wasser wandert ungehindert durch Membranen hindurch. Diese Membranen, welche den Wasserdurchtritt erlauben, hemmen jedoch gleichzeitig die Passage der meisten im Wasser gelösten Substanzen. Solche Membranen, die für Wasser gut, für die gelösten Substanzen aber

Glasröhre

T

Wasser und gelöste Substanz

Kolben

destilliertes Wasser

la)

semipermeable Membran

Abb. 3-5 Osmose und osmotischer Druck, (a) Die Glasröhre enthält eine wäßrige Lösung, das Becherglas destilliertes Wasser. (b) Durch die semipermeable Membran kann zwar Wasser, nicht aber die gelöste Substanz ungehindert hindurchtreten. Die Wanderung von Wasser in die Lösung hinein bewirkt, daß die Lösung verdünnt wird und in der Glasröhre hochsteigt, und zwar solange, bis der osmotische Druck - der auf dem Bestreben des Wassers beruht, in ein Gebiet niedrigerer Wasserkonzentration einzuwandern - durch den Gegen-

(b)

(c)

druck aufgewogen wird, den das Gewicht der Lösungssäule von der Höhe h ausübt, (c) Der Druck, der auf den Kolben ausgeübt werden muß, um zu verhindern, daß die Lösung in der Glasröhre hochsteigt - also der hydrostatische Druck, der eine Wasseraufnahme per Osmose in die Lösung verhindert - ist ein Maß für den osmostischen Druck. Er ist proportional zur Höhe und Dichte der in der Röhre befindlichen Ausgangslösung.

KAPITEL

schwerer (bzw. gar nicht) durchlässig sind, bezeichnet man als selektiv-permeabel (bzw. semipermeabel), und die Diffusion von Wasser (dem Lösungsmittel) durch eine solche M e m b r a n nennt man Osmose. Bei der Osmose findet ein Wasserfluß aus der Lösung mit dem höheren in die Lösung mit dem niedrigeren Wasserpotential statt. Wenn das Wasserpotential nicht durch andere Faktoren (wie z. B. Druck) beeinflußt wird, wandert das Wasser bei Osmose also stets aus einem Gebiet mit der niedrigeren Konzentration an gelöster Substanz (und folglich höherer Wasserkonzentration) in ein Gebiet, in dem die gelöste Substanz in höherer Konzentration vorliegt (d.h. in ein Gebiet niedrigerer Wasserkonzentration). Die Anwesenheit der gelösten Substanz erniedrigt das Wasserpotential und baut so einen Wasserpotentialgradienten auf, an dem entlang das Wasser wandert. Diffundieren Wassermoleküle durch eine Zellmembran hindurch in Gebiete mit niedrigerer Wasserkonzentration, so wird dort durch Osmose ein Druck erzeugt. Wenn reines Wasser durch eine semipermeable Membran von einer in einer Röhre befindlichen Lösung getrennt ist (Abb. 3-5), so wandert das Wasser durch diese Membran hindurch, die Lösung verdünnt sich und steigt in der Röhre nach oben. Dieser Vorgang läuft so lange ab, bis ein Gleichgewichtszustand erreicht ist, d.h. bis das Wasserpotential auf beiden Seiten der Membran gleich groß ist. Ü b t man von oben auf die Röhre einen genügend großen Druck aus, so kann man verhindern, daß Wasser in die Lösung einwandert und die verdünnte Lösung in der Röhre hochsteigt. Dieser hydrostatische Druck ist betragsmäßig gleich groß wie der im Inneren der „osmotischen Zelle" herrschende osmotische Druck, hat aber ein entgegengesetztes Vorzeichen. Einen osmotischen Druck kann eine Lösung nur innerhalb einer osmotischen Zelle entwickeln; außerhalb einer solchen hat jedoch jede Lösung ein bestimmtes osmotisches Potential. Dieses ist um so höher, je konzentrierter die Lösung ist. Die Angabe des osmotischen Potentials dient auch dazu, die Erniedrigung des Wasserpotentials einer Lösung durch die gelöste Substanz zum Ausdruck zu bringen. N i m m t die Konzentration der gelösten Substanz zu, so steigt das osmotische Potential an und das Wasserpotential der Lösung wird erniedrigt. Ob und in welche Richtung Wasser zwischen zwei Lösungen verschoben wird, hängt nicht davon ab, welche Substanz in Wasser gelöst ist, sondern einzig und allein davon, wieviel gelöste Substanz das Wasser enthält - d. h. wieviele Teilchen (Moleküle oder Ionen) im Wasser gelöst sind. Isotonische Lösungen sind Lösungen mit gleicher Anzahl gelöster Teilchen und damit gleichem osmotischem Potential. Trennt man zwei isotonische Lösungen durch eine semipermeable Membran, so erfolgt keine

3 Ein- und Austransport von Substanzen bei Zellen

67

meßbare Verschiebung von Wasser durch die M e m b r a n es sei denn, auf eine der Lösungen wird ein Druck ausgeübt. Vergleicht man zwei Lösungen unterschiedlicher Konzentration miteinander, so bezeichnet man die Lösung, in der weniger Substanz gelöst ist und die daher ein niedrigeres osmotisches Potential hat, als hypotonisch; die Lösung mit der höheren Konzentration an gelöster Substanz und folglich einem höheren osmotischen Potential wird als hypertonisch bezeichnet. D a gelöste Substanzen das Wasserpotential erniedrigen, besitzt eine hypotonische Lösung ein höheres Wasserpotential als eine hypertonische. Bei der Osmose wandern Wassermoleküle so lange durch eine selektiv-permeable (bzw. semipermeable) Membran in eine hypertonische Lösung ein, bis das Wasserpotential beiderseits der Membran gleich groß ist.

Osmose in lebenden Organismen Die Wanderung des Wassers durch die Plasmamembran von einer hypotonischen in eine hypertonische Lösung wirft für Lebewesen - besonders für solche, die in wäßrigem Milieu zu Hause sind - Probleme auf. In einem hypertonischen Außenmedium können Zellen nicht leben. Einzeller, die in Salzwasser - also stark konzentrierter Außenlösung - leben, sind daher meist «otonisch mit ihrer Umgebung. Ebenso sind die Zellen höherer Tiere mit ihrem wäßrigen Milieu - Blut und Lymphe - isotonisch. Viele Zelltypen leben aber in einer hypolomschzn U m gebung. Bei allen Süßwasser-Einzellern, z. B. bei Euglena, ist das Zellinnere im Vergleich zum umgebenden Wasser hypertonisch. Das bedeutet, daß Wasser durch Osmose in

| (a) Abb. 3-6 Plasmolyse in einer Blattepidermiszelle. (a) Unter normalen Bedingungen füllt der Protoplast den von der Zellwand begrenzten Raum aus. (b) Wenn die Zelle in eine relativ starke Saccharoselösung gebracht wird, tritt Wasser aus der Zelle ins hypertonische Medium aus, und das Plasmalemma zieht sich etwas zusammen, (c) In einer stärkeren (noch konzentrierteren) Saccharoselösung verliert die Zelle noch mehr Wasser, und der Protoplast zieht sich noch mehr zusammen. Die Plasmolyse kann rückgängig gemacht werden (Deplasmolyse), wenn man die Zelle anschließend wieder in reines Wasser überträgt.

68

TEIL 1

Die Pflanzenzelle

Abb. 3-7 Blattzellen von Elodea (Wasserpest), (a) vor und (b) nach ihrer Übertragung in eine ziemlich starke Saccharoselösung. Die Zellen in (a) sind turgeszent, in (b) plasmolysiert und daher ohne Turgor.

(b)

die Zellen eindringen kann. Würde zuviel Wasser in die Zelle einwandern, so könnte der Zellinhalt so stark verdünnt werden, daß die Zellfunktionen beeinträchtigt würden und schließlich sogar die Plasmamembran zerreißen würde. Das wird jedoch durch eine Organelle, die sog. kontraktile Vakuole verhindert, die Wasser aus verschiedenen Teilen des Zellkörpers sammelt und es unter Kontraktion nach außen pumpt.

Turgor Bringt man eine Pflanzenzelle in eine hypotonische Lösung, so dehnt sich der Protoplast aus, das Plasmalemma dehnt sich und übt Druck auf die Zellwand aus. Die Pflanzenzelle wird aber nicht platzen, weil dem die recht robuste Zellwand entgegensteht. Pflanzenzellen neigen dazu, in ihren Vakuolen relativ hochkonzentrierte Salzlösungen anzusammeln. Zusätzlich können sie dort auch noch Zucker, organische Säuren und Aminosäuren anhäufen. Pflanzenzellen nehmen folglich ständig Wasser durch Osmose auf, und zwar so lange, bis ein im Inneren der Zelle entstehender hydrostatischer Druck einen weiteren Wassereintritt verhindert. Durch diesen von innen gegen die Zellwand gerichteten Druck bleibt die Zelle prall oder turgeszent; den Innendruck bezeichnet man deshalb als Turgordruck. Der Turgordruck ist also ein hydrostatischer Druck, der aufgrund von Osmo-

se (und)oder Quellung) in Pflanzenzellen entsteht. Gleich groß und dem Turgordruck entgegenwirkend ist der nach innen gerichtete mechanische Druck der Zellwand, der sog. Wanddruck (W). Er setzt der Ausdehnung der Zelle und damit der weiteren Wasseraufnahme in die Zelle schließlich eine Grenze, noch ehe es zum Konzentrationsausgleich zwischen der Zelle und ihrem Außenmedium gekommen ist. Das kommt in der Saugkraftgleichung der Zelle Sz = Si - W zum Ausdruck, wobei Sz die Saugkraft der ganzen Zelle, Si die Saugkraft des Zellsaftes und W der Gegendruck der Zellwand ist. Der Turgor der Pflanze ist verantwortlich für die Festigung unverholzter Pflanzenteile. Wie in Kapitel 1.15.3 erwähnt, ist auch das Wachstum von Pflanzenzellen größtenteils das Ergebnis der Wasseraufnahme. Wahrscheinlich fördert Auxin diese Wasseraufnahme, indem es die Wandstruktur lockert und so den Widerstand der Zellwand gegenüber dem Turgordruck verringert. Der Turgor kann von den meisten Pflanzenzellen nur deswegen aufrechterhalten werden, weil sie normalerweise von einem hypotonischen Medium umgeben sind, welches eine Wasseraufnahme in die Zelle erlaubt. Bringt man jedoch eine turgeszente Pflanzenzelle in eine hypertonische Lösung, so tritt Wasser durch Osmose aus, Vakuo-

KAPITEL

3

Ein- und Austransport von Substanzen bei Zellen

69

Quellung

Wegen ihrer Dipolstruktur [die Schwerpunkte der negativen Ladung (Sauerstoff) und der positiven Ladung (Wasserstoff) fallen nicht zusammen; siehe Anhang A] zeigen Wassermoleküle eine enorme Kohäsion. Sie können aber nicht nur untereinander Wasserstoffbrücken bilden, sondern können sich aufgrund ihrer Dipolstruktur auch an positiv oder negativ geladene Oberflächen (Membranen) anheften. Auch Makromoleküle, wie z. B. Cellulose, ziehen Wassermoleküle an, weil sie in feuchtem Zustand geladen sind. Diese Adhäsion des Wassers ist verantwortlich für ein biologisch bedeutsames Phänomen, die Quellung. Unter Quellung versteht man den Einstrom von Wassermolekülen in einen Quellkörper (z. B. Holz oder Gela-

tine) und deren Adhäsion, wobei sich das Volumen des Quellkörpers um die angelagerten Wassermoleküle vergrößert. Die Drücke, die bei der Quellung entstehen, können sehr groß sein. So wird berichtet, daß die Steinquader zum Bau der ägyptischen Pyramiden gewonnen wurden, indem man Löcher in Felsen bohrte, hölzerne Stäbe in die Bohrlöcher hineinsteckte, und diese dann mit Wasser tränkte. Das quellende Holz entwickelte eine solche Kraft, daß die Steine aus dem Fels gebrochen wurden. Bei lebenden Pflanzen quellen vor allem die Samen, die auf diese Weise auf ein Vielfaches ihres Ausgangsvolumens anschwellen können.

(a) Eine Milchflasche, gefüllt mit Maiskörnern und Marmorstückchen, wird über Nacht in Wasser gestellt, (b) Am nächsten Morgen ist die Milchflasche zerbrochen.

le und Protoplast schrumpfen, wobei das Plasmalemma von der Zellwand weggezogen wird (Abb. 3-6). Diese Erscheinung bezeichnet man als Plasmolyse. Sie kann rückgängig gemacht werden, wenn man die Zelle in reines Wasser überträgt (Deplasmolyse). Abb. 3-7 zeigt einige Zellen eines Elodea-Blattes (Wasserpest) vor und nach einer Plasmolyse. Wenn auch Plasmalemma und Tonoplast (Vakuolenmembran) nur für Wasser permeabel sind, so erlauben jedoch die Zellwände beiden, Wasser und gelösten Substanzen, den freien Durchtritt. Bei Turgorverlust der Pflanzenzellen werden Blätter und Stengel schlaff; die Pflanze welkt.

3.2 Bau von Zellmembranen Man nimmt heute an, daß die Zellmembranen eine LipidProtein-Mosaikstruktur aufweisen (fluid mosaic-model

von Singer und Nicolson, 1972). Wie aus Abb. 3-8 hervorgeht, besteht die Membran aus einer Phospholipid-Doppelschicht, in die große globuläre Proteine eingebettet sind. Die Proteine haben keinen festen Sitz, sondern sind in und auf der Phospholipid-Doppelschicht mehr oder weniger frei beweglich; so entsteht ein Mosaik von Molekülen. Einige Proteine durchdringen die PhospholipidDoppelschicht völlig (Tunnelproteine), andere sind nur in die eine oder die andere Membranoberfläche eingesenkt, so daß sich die beiden Membranoberflächen in ihrer chemischen Zusammensetzung beträchtlich voneinander unterscheiden können. Der in die Phospholipid-Doppelschicht eingesenkte Teil der Protein-Moleküle ist hydrophob, ihr nach außen ragender Teil hingegen hydrophil. Die hydrophileren Proteine bewegen sich frei, dicht an der Oberfläche der Phospholipid-Doppelschicht. Die meisten Zellmembranen bestehen zu 40 bis 50 Ge-

70

TEIL

1

Die Pflanzenzelle

Abb. 3-8 Lipid-Protein-Mosaikstruktur (fluid mosaic model) von Zellmembranen. Die M e m b r a n besteht aus einer Doppelschicht von Phospholipidmolekülen - deren hydrophobe „Schwänze" nach innen gerichtet sind - und aus großen globulären Proteinen. Der in die Phospholipid-Doppelschicht eingebettete Teil der ProteinMoleküle ist hydrophob; der nach außen ragende Teil hingegen ist hydrophil. Die M e m b r a n besitzt eine große Fluidität und Flexibilität, und man glaubt, daß die Proteine in der Lipid„See" frei flottieren.

hydrophobe Zone hydrophile Zone

wichtsprozent aus Lipiden und zu 50 bis 60 Gewichtsprozent aus Proteinen. Die meisten Zellmembranen enthalten darüber hinaus kurzkettige Kohlenhydrate, die an der Außenseite der Membran an die Lipide oder Proteine gebunden sind. Bei tierischen Zellen scheinen diese Kohlenhydrate eine wichtige Rolle als zellspezifische Rezeptoren zu spielen, mit deren Hilfe z. B. Hormone das Organ ihres Wirkungsbereiches erkennen können; ferner sind sie an Wechselwirkungen zwischen Zellen - z. B. Zell-Zellerkennung oder Zelladhäsion - beteiligt. Über Kohlenhydrate in pflanzlichen Zellmembranen weiß man bisher nur wenig.

nen passieren können: freie Diffusion, erleichterte Diffusion und aktiver Transport. Diffusion ist die spontane, eigenständige Wanderung einer Substanz entlang ihres Konzentrationsgradienten. Unpolare (hydrophobe) Substanzen, die in Phospholipiden löslich sind, passieren die Membran gewöhnlich durch freie Diffusion. (Die Beobachtung, daß hydrophobe Moleküle ungehindert Zellmembranen passieren können, war ein erster Hinweis auf die Lipidnatur der Zellmembranen). Es wäre zu erwarten, daß Wasser und andere polare (hydrophile) Moleküle und Ionen von der PhospholipidDoppelschicht der Zellmembran zurückgehalten werden. Das ist jedoch nicht der Fall, denn hydrophile Moleküle und Ionen können die Membran sehr wohl passieren. Aber wie ist das möglich? Für Wasser und einige andere kleine polare Moleküle scheinen in der Zellmembran klei-

3.3 Membrantransport Es gibt 3 Mechanismen, nach denen Moleküle MembraAbb. 3-9 Carriervermittelter Transport. M ist das einwandernde Molekül, C der Carrier (Transportmolekül), M C der bewegliche Komplex aus Carrier und einwanderndem Molekül, und C' der bewegliche Vorläufer des Carriers. Der Kompex M C kann die M e m b r a n nicht verlassen, aber in ihr ungehindert wandern. Wenn der K o m plex an der Innenseite der M e m b r a n angelangt ist, wird er in das transportierte Molekül M und den CarrierVorläufer C' gespalten, der in der M e m b r a n zurückbleibt. Er wandert durch die M e m b r a n zurück zu ihrer Außenseite und wird in den Carrier C zurückverwandelt. Der Carrier kann dann an der Membranaußenseite wieder ein anderes Molekül M aufnehmen und zur Membraninnenseite transportieren.

Innenseite

Membran

Außenseite

c 9 ATP

I FADH,

2 ATP

(x2)

+24 ATP

Glucose

I

• - 143 kcal (590 kJ)

! Pyruvat

6 H , 0 > - 5 4 3 kcal (2280 kJ)

4CO,

Abb. 5-11 Veränderungen des Energiegehaltes bei vollständiger Oxidation der Glucose. Bei der Veratmung der Glucose werden pro Mol 2871 kJ (686 kcal) freigesetzt. Hiervon werden ungefähr 39%, d.h. 1100kJ (263 = 7 x 36kcal) in 36 Mol ATP gespeichert. Bei der Gärung hingegen werden aus einem Mol Glucose nur zwei Mol ATP gebildet, was nur ungefähr 2% der gesamten Energie eines Mols Glucose entspricht.

KAPITEL

küle F A D H 2 , das entspricht insgesamt 24 Molekülen ATP. Wie Tabelle 5-1 zeigt, entstehen bei der Atmung aus einem Molekül Glucose 36 Moleküle ATP. Bis auf zwei Moleküle wurde das gesamte ATP im Mitochondrium erzeugt, und bis auf 4 Moleküle stammt das gesamte ATP aus der Oxidation von N A D H 2 oder F A D H 2 in der Atmungskette. Die Energiedifferenz (pro Mol) zwischen den Reaktionspartnern (Glucose und Sauerstoff) und den Reaktionsprodukten (Kohlendioxid und Wasser) beträgt 2871 kJ (686 kcal.). Ungefähr 39 % dieser Energie, nämlich 1100 kJ (263 = 7,3 x 36 kcal), wurden in Form energiereicher Bindungen in 36 Mol ATP festgehalten (Abb. 5-11).

CH 3

I

c=o c = 0

OH

co2

CH:)

NADH,

-» c=o

PyruvatDecarboxylase

Pyruvat

NAD

V l

I

CH:!

I

H—C—OH

I

AlkoholDehydrogenase

H

99

5 Atmung

H Äthanol

Acetaldehyd

(a)

^F- / %•

1

H

A

W ¿¡MM ¡ L f j f l n ^ T j y f l j M

¿¡¡¡ßM 74

.if M S ' v »i A J ^ K Ü

Jl

5.3 Anaerober Kohlenhydratabbau In eukaryontischen Zellen (und auch bei den meisten Prokaryonten) folgt das in der Glykolyse gewonnene Pyruvat gewöhnlich dem soeben beschriebenen aeroben Abbauweg über den Citrat-Zyklus und die Atmungskette, wobei es vollständig zu Kohlendioxid und Wasser oxidiert wird. Wenn jedoch kein Sauerstoff vorhanden ist, kann das Pyruvat diesen Weg nicht beschreiten, und das in der Glykolyse bei der Oxidation von Glycerinaldehyd-3-phosphat entstandene N A D H 2 kann nicht in der Atmungskette zu N A D reoxidiert werden. Ohne diese Reoxidation des N A D H 2 würde aber die Glykolyse rasch zum Erliegen kommen, denn der Zelle würde bald kein N A D als Elektronenakzeptor mehr zur Verfügung stehen. Bei Abwesenheit von Sauerstoff muß das Pyruvat also auf anderem Wege weiter abgebaut werden und dabei gleichzeitig N A D H 2 ZU N A D reoxidiert werden. Bei vielen Bakterien, Pilzen und tierischen Zellen wird unter anaeroben Bedingungen der Wasserstoff des N A D H 2 auf Pyruvat selbst übertragen, und dabei entsteht Milchsäure (Lactat). Nach seinem Hauptendprodukt bezeichnet man diesen anaeroben Glucoseabbau als Milchsäuregärung. So entsteht z. B. Milchsäure in Muskelzellen bei ungewöhnlich anstrengender körperlicher Arbeit oder bei hartem, ungewohntem Sportstraining. Bei ungewöhnlicher Belastung verbrauchen die Muskelzellen mehr Sauerstoff, als durch das Blut herantransportiert werden kann. Bei diesem Sauerstoffdefizit wird die Glucose zu Milchsäure vergoren. Die Milchsäure erniedrigt den pH-Wert der Muskeln und setzt die Kontraktionsfähigkeit der Muskelfasern herab. So entsteht der „Muskelkater". Die Milchsäure diffundiert später dann ins Blut und wird zur Leber transportiert, wo aus ihr wieder Pyruvat und dann Glucose oder Glykogen resynthetisiert werden.

Wmk

v

V ^ S I M ^ J

(b) Abb. 5-12 (a) Verlauf der Umwandlung von Pyruvat in Äthanol unter anaeroben Bedingungen. Im ersten Schritt wird Kohlendioxid freigesetzt; im zweiten wird N A D H 2 oxidiert und Acetaldehyd reduziert. Der größte Teil der ursprünglich in der Glucose enthaltenen Energie verbleibt im Äthanol, dem Hauptendprodukt dieses Abbauweges. Weil bei diesen Schritten aber auch N A D regeneriert wird, ermöglichen sie einen kontinuierlichen Ablauf der Glykolyse mit ihrer niedrigen, aber insgesamt oft rasch erlangten ATP-Ausbeute. (b) Hefezellen, die auf den Schalen von Weintrauben wachsen, vermischen sich mit dem Traubensaft, wenn die Weintrauben zerstampft werden. Lagert man den Saft unter anaeroben Bedingungen, so vergärt diese Hefe die Glucose des Traubensaftes zu Alkohol.

Bei Hefen und den meisten Pflanzenzellen wird Pyruvat unter anaeroben Bedingungen zu Äthanol und Kohlendioxid abgebaut. Dabei wird das Pyruvat zunächst zu Acetaldehyd decarboxyliert (Abspaltung von C 0 2 ) , und dann das N A D H 2 - durch Übertragung seiner Elektronen (und Protonen) auf den Acetaldehyd - reoxidiert. Bei diesem Vorgang entstehen Äthanol und C 0 2 anstelle von Lactat (Abb. 5-12). Nach dem Hauptendprodukt bezeichnet man diesen anaeroben Glucoseabbau als alkoholische Gärung.

100

TEIL 2

Energie und die lebende Zelle

Wildhefen wachsen auf „Schalen" von Weintrauben. Gewinnt man glucosehaltige Säfte von Weintrauben oder anderen Früchten und lagert sie in luftdichten Fässern, so verwandeln die Wildhefen den Saft zu Wein, indem sie Glucose zu Äthanol vergären. Wie alle Lebewesen, so hat auch Hefe gegenüber Alkohol nur eine begrenzte Toleranz, und wenn eine bestimmte Alkoholkonzentration (ungefähr 12%) erreicht ist, sterben die Hefezellen ab. Damit hört die Gärung von alleine auf. Energetisch sind Milchsäuregärung und alkoholische Gärung einander gleich. In beiden Fällen wird NADH 2 reoxidiert, und die einzige Energieausbeute sind die beiden Moleküle ATP, die in der Glykolyse gewonnen wurden. Die Bruttogleichung für die Vergärung von Glucose lautet also: Glucose + 2 A D P + 2 R

2 Lactat oder 2 Äthanol + CO z

+ 2 ATP

Während der alkoholischen Gärung werden 7% der gesamten Energie des Glucosemoleküls - ungefähr 218 kJ/mol (52 kcal/mol) - freigesetzt, d. h. ungefähr 93 % bleiben in den beiden Äthanolmolekülen zurück. Von den 218 kJ/mol (52 kcal/mol), die bei der Gärung frei werden, werden nur 61 kJ (14,6 kcal/mol) eingefangen und in den beiden ATP-Molekülen gespeichert. So ist also die alkoholische Gärung energetisch gesehen recht unökonomisch.

5.4 Zusammenfassung Die vollständige Oxidation der Glucose, die Atmung, ist die Hauptenergiequelle der meisten Zellen. Beim Abbau der Glucose durch eine Reihe kleiner, enzymatisch katalysierter Schritte, wird die Energie in Form energiereicher Bindungen in ATP-Molekülen gespeichert.

Die erste Phase beim Abbau der Glucose ist die Glykolyse, bei der das Glucose-Molekül mit seinen 6 C-Atomen in zwei Brenztraubensäuremoleküle (3 C-Atome) gespalten wird; dabei entstehen außerdem zwei Moleküle ATP und zwei Moleküle NADH 2 . Die Reaktionen der Glykolyse finden in der cytoplasmatischen Grundsubstanz der Zelle statt. Im weiteren Verlauf der Atmung werden die Brenztraubensäuremoleküle (3 C-Atome) in den Mitochondrien zu zwei Acetylgruppen (2 C-Atome) abgebaut, die in den Citrat-Zyklus (Krebs-Zyklus) eingeschleust werden. Im Citrat-Zyklus werden die Acetylgruppen in einer Reihe von Reaktionsschritten zu C 0 2 abgebaut. Bei der Oxidation einer jeden Acetylgruppe werden 4 Elektronenakzeptormoleküle (3 NAD- und ein FAD-Molekül) reduziert und ein weiteres Molekül ATP gebildet. Die Atmungskette bildet den Abschluß der Glucoseoxidation. Sie enthält eine Reihe von Elektronentransportmolekülen und Enzymen, die in die innere Membran der Mitochondrien eingebettet sind. Die Elektronen, die im Citrat-Zyklus von NAD und FAD aufgenommen wurden, werden nun über eine Elektronentransportkette zum Sauerstoff transportiert. Auf diesem Weg der Elektronen von einem höheren zu einem niedrigeren Energieniveau werden aus ADP und Phosphat ATP-Moleküle gebildet. Bei der Veratmung der Glucose entstehen insgesamt 36 Moleküle ATP, die meisten davon in den Mitochondrien. Bei Abwesenheit von Sauerstoff kann das Pyruvat entweder zu Lactat (bei vielen Bakterien, Pilzen und tierischen Zellen) oder zu Äthanol und Kohlendioxid (bei Hefen und den meisten Pflanzenzellen) umgewandelt werden. Bei diesen anaeroben Prozessen - den Gärungen werden 2 Moleküle ATP pro Molekül Glucose (bzw. pro 2 Moleküle Pyruvat) gewonnen.

Kapitel 6 Photosynthese

Grana

Stromathylakoid

Stroma

Im vorigen Kapitel haben wir den Abbau der Kohlenhydrate beschrieben, also jenen Prozeß, der die Energie für die verschiedenen Lebensvorgänge auf der Erde liefert. Auf den folgenden Seiten schließen wir den Kreis, indem wir schildern, wie die Lichtenergie der Sonne eingefangen und in chemische Energie umgewandelt wird. Über diesen Vorgang - die Photosynthese - gelangt letzlich alle Energie in unsere Biosphäre. Jährlich werden auf der Erde 150 Milliarden Tonnen Zucker durch Photosynthese produziert. Die Bedeutung der Photosynthese reicht aber weit über die bloße Erzeugung von Zucker hinaus. Ohne die ständige Zufuhr von Sonnenenergie, die von den Chloroplasten (Abb. 6-1) eukaryontischer Zellen eingefangen und umgewandelt wird, würden alle Lebensvorgänge auf der Erde sehr schnell immer langsamer werden und schließlich - gemäß dem zweiten Hauptsatz der Wärmelehre - ganz aufhören.

6.1 Historischer Überblick

Abb. 6-1 Sitz der Photosynthese sind bei allen eukaryontischen Lebewesen die Chloroplasten. Die lichtabhängigen Photosynthesereaktionen finden in den Thylakoiden statt, dem Sitz der Chlorophylle und anderer Photosynthesepigmente. Viele der Thylakoide sind zu charakteristischen, geldrollenähnlichen Stapeln, den Grana, angeordnet. Die Reaktionen, durch welche die eingefangene Sonnenenergie in kohlenstoffhaltige Verbindungen eingebaut wird, finden im Stroma statt, das die photosynthetisch aktiven Membranen der Chloroplasten umgibt.

Welche Rolle die Pflanzen im Haushalt der Natur spielen, ist eigentlich erst vor relativ kurzer Zeit erkannt worden. Aristoteles und andere griechische Philosophen, die beobachteten, daß das Leben der Tiere von ihrem Futter abhängig ist, glaubten z.B., daß die Nahrung der Pflanzen aus der Erde stammt. Vor etwas mehr als 300 Jahren lieferte der belgische Arzt Jan Baptista van Helmont (1577-1644) den ersten experimentellen Beweis dafür, daß Pflanzen von Erde allein nicht leben können. Dieses Experiment ist eines der ersten sorgfältig geplanten und aufgezeichneten biologischen Experimente in der Geschichte der Naturwissenschaften. Van Helmont kultivierte 5 Jahre lang einen kleinen Weidenbaum in einem Tontopf und goß ihn regelmäßig. Nach 5 Jahren war der Weidenbaum 74,4 kg schwerer geworden, wohingegen das Gewicht der Erde im Tontopf nur um 57 g abgenommen hatte. Aufgrund dieser Ergebnisse nahm van Helmont an, daß das gesamte neue Pflanzenmaterial vom Gießwasser und nicht von der Erde im Tontopf gebildet worden war.

102

TEIL 2

Energie und die lebende Zelle

Gegen Ende des 18.ten Jahrhunderts machte Joseph Priestley (1733-1804) folgendes Experiment: Am 17. August 1771 brachte er in „verbrauchte" Luft, in der eine Wachskerze gebrannt hatte und erloschen war, einen frischen Sproß einer Pfeiferminzpflanze. 10 Tage später konnte in dieser Luft wieder eine Kerze brennen. Priestley glaubte daher, ein Mittel gefunden zu haben, um Luft, die durch brennende Kerzen verbraucht worden war, zu regenerieren. Dieses Mittel war nach Meinung Priestleys die Vegetation (PflanzenWachstum). Er dehnte seine Untersuchungen aus und konnte zeigen, d a ß in dieser durch Pflanzenwachstum regenerierten Luft auch Mäuse wieder atmen können. Aufgrund von Priestleys Experimenten konnte man sich erstmals erklären, wie die Luft trotz der unzähligen Brände und der Atmung all der Tiere „rein" und lebenserhaltend bleiben kann. Als Priestley für seine Entdeckung einen Orden verliehen bekam, hieß es unter anderem: „Aufgrund dieser Entdeckungen wissen wir, daß keine Pflanze umsonst w ä c h s t . . . sondern unsere Atmosphäre reinigt und sauber hält." Heute würden wir Priestleys Experimente einfach so erklären: Die grünen Pflanzen nehmen das durch Verbrennung oder die Atmung der Tiere gebildete C O z auf, und die Tiere atmen den Sauerstoff ein, der von den Pflanzen abgegeben worden ist. Der holländische Arzt Jan Ingenhousz (1730-1799) konnte später Priestleys Experimente bestätigen und zeigen, d a ß die verbrauchte Luft nur in Gegenwart von Sonnenlicht und nur durch die grünen Teile der Pflanzen regeneriert wird. Im Jahre 1796 stellte er die Behauptung auf, daß während der Photosynthese Kohlendioxid in Kohlenstoff und Sauerstoff gespalten wird, wobei der Sauerstoff als G a s freigesetzt wird. Anschließend fand man herAbb. 6-2 Purpurfarbene Schwefelbakterien. In diesen Zellen spielt Schwefelwasserstoff (H2S) dieselbe Rolle, wie Wasser (H z O) bei der Photosynthese der Pflanzen. Der Schwefelwasserstoff wird gespalten und der freigesetzte Schwefel (S) als Schwefelkügelchen im Inneren der Bakterienzellen angehäuft.

aus, d a ß das Verhältnis von Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff in Zuckern und Stärke ungefähr einem K o h lenstoffatom pro Wassermolekül ( C H 2 0 ) entspricht, daher der Begriff Kohlenhydrat. So glaubte man, daß bei dem Photosyntheseprozeß CO 2 + H 2 0 + Lichtenergie

(CH20) + 0 2

das Kohlenhydrat aus einer Verbindung des Kohlenstoffs mit Wassermolekülen entsteht, und d a ß der Sauerstoff aus dem Kohlendioxidmolekül freigesetzt wird. Diese durchaus einleuchtende Hypothese wurde allgemein akzeptiert. Aber, wie sich herausstellte, war sie falsch. Der Forscher, der diese lange Zeit gültige Hypothese zu Fall brachte, war C. B. van Niel von der Stanford University. Als Student untersuchte van Niel die Photosynthese bei verschiedenen photoautotrophen Bakterien. Bei der Photosynthese reduzieren diese Bakterien Kohlenstoff zu Kohlenhydraten, setzen jedoch keinen Sauerstoff frei. Zu den durch van Niel untersuchten Bakterien gehörten auch die purpurfarbenen Schwefelbakterien, die H 2 S zur Photosynthese benötigen. Im Verlauf ihrer Photosynthese werden Schwefelkügelchen (S) ausgeschieden oder im Inneren der Bakterienzellen angehäuft (Abb. 6-2). Van Niel fand heraus, d a ß bei diesen Bakterien während der Photosynthese folgende Reaktion abläuft: CO, + 2H,S

Licht

(CH20) + H 2 0 + 2 S

Diese Entdeckung erregte kein großes Aufsehen, bis van Niel eine weiterreichende Interpretation wagte. F ü r die Photosynthese schlug er folgende allgemeine Gleichung vor: CO, + 2H2A

Licht

(CH20) + H 2 0 + 2 A

KAPITEL

6

Photosynthese

103

Abb. 6-3 An den Blättern der unter Wasser lebenden Wasserpest (Elodea) sind Sauerstoffblasen zu sehen, die bei der Photosynthese entstehen. Van Niel stellte als erster die Hypothese auf, daß der Sauerstoff, der bei der Photosynthese gebildet wird, aus dem Wasser und nicht aus dem Kohlendioxid stammt.

In dieser Gleichung steht H 2 A für irgendeine oxidierbare Substanz, wie z. B. H 2 S, freier Wasserstoff, irgendeine andere von Photosynthesebakterien benötigte Verbindung oder Wasser. Bei den photoautotrophen Algen und grünen Pflanzen ist H 2 A Wasser (Abb. 6-3). Kurz, van Niel war der Meinung, daß im Verlauf der Photosynthese Wasser und nicht Kohlendioxid gespalten wird. Diese brilliante Annahme, zuerst Anfang der dreißiger Jahre ausgesprochen, wurde erst viele Jahre später bewiesen, als es möglich wurde, den Weg des schweren Sauerstoffs ( l s O ) vom Wasser bis hin zum freien Sauerstoff zu verfolgen: CO, + 2 H , 1 8 0

Licht

(CH20) + H2O +

1S

02

Für die Photosynthese von Algen und grünen Pflanzen, bei der Wasser als Elektronendonator fungiert, gilt folgende Bruttogleichung der Photosynthese: 6 CO, + 1 2 H 2 0

Licht

C6H1206 + 602 + 6H20

Wie bereits erwähnt, wurde vor ungefähr zweihundert Jahren entdeckt, daß Licht für den Vorgang notwendig ist, den wir heute als Photosynthese bezeichnen. Heute wissen wir, daß die Photosynthese in zwei Abschnitten verläuft, wovon nur der eine wirklich lichtabhängig ist. Diese Zweistufigkeit wurde erstmals im Jahre 1905 von dem britischen Pflanzenphysiologen F. F. Blackman vermutet, u. zwar aufgrund von Versuchen zum Einfluß von Lichtintensitätsänderungen und Temperaturänderungen auf die Photosyntheserate. Aus seinen Experimenten zog Blackman folgende Schlüsse: (1) Es gibt eine Anzahl lichtabhängiger Reaktionen, die temperaturunabhängig sind. Die Geschwindigkeit, mit der diese Reaktionen im Dämmerlicht oder bei schwachem Licht ablaufen, kann durch Steigerung

der Lichtintensität erhöht werden (Abb. 6-4a), nicht aber durch Anheben der Temperatur (Abb. 6-4b). (2) Es gibt eine weitere Anzahl von Reaktionen, die temperaturabhängig, aber nicht lichtabhängig sind. Werden Lichtintensität und Temperatur erhöht, so wird die Photosyntheserate sehr stark gesteigert (Abb. 6-4b). Beide Typen von Reaktionen scheinen also für die Photosynthese erforderlich zu sein. Wird die Geschwindigkeit nur der einen Gruppe von Reaktionen erhöht, so erhöht sich auch die Geschwindigkeit des Gesamtprozesses, aber nur soweit, bis die zweite Gruppe von Reaktionen geschwindigkeitslimitierend wird. Dann muß erst die Geschwindigkeit des zweiten Reaktionstyps angehoben werden, damit der erste weiter ungehindert ablaufen kann. Die Photosynthese besteht also aus einem lichtabhängigen Abschnitt, in dem die Lichtreaktionen, und einem lichtunabhängigen Abschnitt, in dem die Dunkelreaktionen ablaufen. Natürlich laufen die Dunkelreaktionen normalerweise auch im Licht ab, denn sie benötigen ja die Produkte der Lichtreaktionen. Die Bezeichnung Dunkelreaktion weist lediglich darauf hin, daß das Licht selbst hierbei keine Rolle spielt. Die Geschwindigkeit der Dunkelreaktionen nimmt bei Anstieg der Temperatur zu, aber nur bis zu einer Temperaturgrenze von ungefähr 30 °C, danach nimmt die Geschwindigkeit ab. Daraus hat man den Schluß gezogen, daß diese Reaktionen durch Enzyme reguliert werden, denn Enzyme reagieren in genau derselben Weise auf Temperaturerhöhungen wie die Dunkelreaktionen. Diese Schlußfolgerung hat sich als richtig erwiesen. Im ersten Abschnitt der Photosynthese - bei den Lichtreaktionen - wird Lichtenergie verwendet, um ATP aus A D P zu bilden und Elektronentransportmoleküle zu reduzieren. Im zweiten Abschnitt der Photosynthese - bei

104

TEIL 2

Licht und

Energie und die lebende Zelle

Leben

Vor ungefähr 300 Jahren, im Jahre 1672, ließ der englische Physiker Sir Isaac Newton (1642-1727) weißes Licht durch ein Prisma fallen und konnte so beweisen, daß weißes Licht in Wirklichkeit aus einer Reihe verschiedener Farben besteht, die sich von Violett an dem einen Ende des Spektrums über Blau, Grün, Gelb, Orange bis Rot am anderen Ende des Spektrums erstrecken. Diese Farbskala findet sich auch im Regenbogen. Die einzelnen Farben des weißen Lichtes konnte Newton voneinander trennen, weil sie bei ihrem Durchgang durch das Prisma verschieden stark abgelenkt werden. Newton glaubte, daß eine Lichtquelle sehr viele kleine Teilchen (Korpuskeln) aussendet. Die einzelnen Farben sollten Korpuskeln bestimmter Masse entsprechen, und die Aufspaltung des weißen Lichtes in seine Farben auf der unterschiedlichen Ablenkung von Korpuskeln verschieden großer Masse beim Durchgang durch das Glasprisma beruhen. Die Tatsache, daß sich Licht selbst im Bereich der Erdanziehungskraft geradlinig ausbreitet, erklärte Newton so, daß die Lichtteilchen eine verschwindend kleine Masse und eine sehr hohe Geschwindigkeit besitzen. Ungefähr zur selben Zeit, als Newton seine Korpuskulartheorie aufstellte, begründete der niederländische Mathematiker und Physiker Christiaan Huygens seine Wellentheorie des Lichtes (1678). Nach seiner Auffassung sollte sich das Licht genau wie der Schall als longitudinale Welle in Luft oder anderen durchsichtigen Medien fortpflanzen. Die geradlinige Ausbreitung des Lichtes, die Spiegelung, Brechung und Dispersion konnten durch die Wellentheorie genauso gut erklärt werden wie durch die Korpuskulartheorie. Damit war der uralte Streit, ob Licht Teilchenoder Wellencharakter habe, erneut entflammt. Im 19. Jahrhundert entdeckte James Clerk Maxwell (1831-1879), daß das sichtbare Licht in Wirklichkeit ein sehr kleiner Teil eines großen, kontinuierlichen Strahlungsspektrums, des elektromagnetischen Spektrums, ist. Maxwell konnte zeigen, daß sich alle Strahlen dieses Spektrums in Wellen fortbewegen. Die Wellenlänge, d. h. der Abstand von einem Wellenmaximum zum anderen, reicht von einigen Nanometern im Bereich der Röntgenstrahlen bis hin zu einigen tausend Metern im Bereich der Radiolangwellen. Je kürzer die Wellenlänge, umso größer die Energie. Im Spektrum des sichtbaren Lichtes hat Rot die größte, Violett die kleinste Wellenlänge. Allen Strahlen gemeinsam ist, daß sie sich im Vakuum mit derselben Geschwindigkeit - nämlich 300 000 Kilometer pro Sekunde - fortbewegen. Die Behauptung Maxwells, daß Licht eine elektromagnetische Welle sei, wurde anfangs heftig bekämpft. 1888 machte dann Heinrich Hertz Versuche

Wenn weißes Licht durch ein Prisma fällt, wird es in ein Spektrum verschiedener Farben zerlegt; denn jede F a r b e besitzt eine etwas andere Wellenlänge und wird daher beim Durchgang durch das Prisma verschieden stark abgelenkt.

mit elektromagnetischen Wellen und konnte an ihnen alle Eigenschaften des Lichtes (Ausbreitungsgeschwindigkeit, Reflexion, Brechung, Beugung, Interferenz, Polarisation) nachweisen. Nun schien es endgültig festzustehen: Licht ist eine elektromagnetische Welle in einem bestimmten, für das Auge wahrnehmbaren Wellenlängenbereich. Doch bereits um 1902 wurde die Richtigkeit dieser Theorie wiederum in Frage gestellt, und zwar durch folgende Beobachtung Lenards: Wenn eine Zinkplatte mit ultraviolettem Licht bestrahlt wird, lädt sie sich positiv auf. Lenard erklärte dieses Phänomen so, daß das Metall positiv geladen wird, weil durch die Energie der Strahlung Elektronen aus dem Metall abgespalten werden. Später entdeckte man, daß dieser photoelektrische Effekt bei allen Metallen hervorgerufen werden kann. Für diesen photoelektrischen Effekt bedarf es bei jedem Metall einer anderen kritischen Wellenlänge, der Grenzwellenlänge. U m den photoelektrischen Effekt hervorzurufen, muß die Wellenlänge der Strahlung (sichtbar oder unsichtbar) genauso groß oder kleiner (d.h. energiereicher) sein als die Grenzwellenlänge. (Die Hypothese, daß die Elektronen den Atomkern auf Umlaufbahnen bestimmter Energie umkreisen, welche von Bohr und anderen aufgestellt wurde, beruht auf diesen Beobachtungen.) Für einige Metalle, wie z. B. Natrium, Kalium und Selen, liegt die Grenzwellenlänge im Bereich des sichtbaren Lichtes. Bei diesen Metallen kann also auftreffendes sichtbares Licht einen Elektronenfluß, d.h. einen elektrischen Strom, in Gang setzen. Die Photozellen, welche die Türen in Einkaufszentren oder Flughäfen öffnen, die Belichtungsmesser und Fernsehkameras - sie alle arbeiten nach dem Prinzip der Umwandlung von Lichtenergie in elektrische Energie. Welle oder Korpuskel? Diese Frage zu klären, erwies sich als Problem. Aufgrund der Wellentheorie des Lichtes müßte Licht umso mehr

KAPITEL

Das sichtbare Licht ist nur ein kleiner Teil des riesigen elektromagnetischen Spektrums.

y-Strahlen

Röntgenstrahlen

Wellenlänge < 0,1 nm

Infrarot

UV

100 nm

6

Photosynthese

105

Radiowellen
750 nm) wird größtenteils von Wasser absorbiert, aus dem ja die Lebewesen zum großen Teil bestehen. Trifft solches langwelliges Licht auf organische Moleküle, so bewegen sich diese durch Aufnahme der geringen Lichtenergiemenge schneller (d. h. auch die Wärme steigt an), die Struktur der Moleküle wird jedoch nicht verändert. Nur Strahlen aus dem Bereich des sichtbaren Lichtes sind in der Lage, Moleküle anzuregen - d.h. Elektronen von einem Energieniveau auf ein anderes anzuheben - und so biologische Veränderungen hervorzurufen.

Der zweite Grund dafür, daß der sichtbare Teil des elektromagnetischen Spektrums vor allen anderen Strahlen für Lebewesen so bedeutsam ist, liegt im Strahlenangebot auf der Erde. Der größte Teil der Strahlen, die von der Sonne auf die Erde fallen, liegt in diesem sichtbaren Bereich. Strahlen mit höherer Energie werden durch Sauerstoff und Ozon im oberen Bereich der Atmosphäre abgefangen, und ein großer Teil der Infrarotstrahlen wird durch Wasserdampf und Kohlendioxid abgeschirmt, noch ehe sie die Erdoberfläche erreichen. Hier sind also die Tauglichkeit der Umwelt für das Leben und die Eignung dieses Lebens für die physikalischen Gegebenheiten der Umwelt aufeinander abgestimmt. Wäre dies nicht der Fall, so gäbe es kein Leben.

den Dunkelreaktionen - findet die CO2-Fixierung statt, und die Energieprodukte der Lichtreaktionen (ATP und N A D H 2 ) werden dazu verwendet, das fixierte Kohlendioxid zu einem Einfachzucker zu reduzieren. Dabei wird zum einen die chemische Energie der Trägermoleküle in eine Form gebracht, in der sie transportiert und gespeichert werden kann, zum anderen entsteht dabei das Kohlenstoffgerüst, das zum Bau anderer organischer Moleküle erforderlich ist.

weder durch oder reflektieren es. Chlorophyll, der grüne Blattfarbstoff, absorbiert Licht hauptsächlich im violetten und blauen, aber auch im roten Bereich. Es reflektiert das grüne Licht und sieht deshalb grün aus. Die verschiedenen Pigmente absorbieren Lichtenergie bei unterschiedlichen Wellenlängen, d.h. jedes Pigment hat ein charakteristisches Absorptionsspektrum (Abb. 6-5). Einer der besten Beweise dafür, daß Chlorophyll das Haupt-Photosynthesepigment darstellt, ist die Ähnlichkeit zwischen seinem Absorptionsspektrum und dem Wirkungsspektrum der Photosynthese (Abb. 6-6). Ein Wirkungsspektrum gibt Auskunft über die relative Wirksamkeit (pro Zahl der einfallenden Photonen) von Licht verschiedener Wellenlänge in lichtabhängigen Prozessen, z. B. bei der Photosynthese, bei Blühvorgängen und bei Phototropismen bzw. Phototaxien (die Krümmung bzw. Bewegung eines Organismus zum Licht hin). Fallen Absorptionsspektrum eines Pigmentes und Wirkungsspektrum eines lichtabhängigen Prozesses weitgehend zusammen, so ist wahrscheinlich, daß dieses Pigment bei dem betreffenden lichtabhängigen Prozeß eine Rolle spielt.(Abb. 6-7).

6.2

Lichtreaktionen

6.2.1. Die Rolle der Pigmente Der erste Schritt bei der Umwandlung von Lichtenergie in chemische Energie ist die Lichtabsorption. Ein Pigment ist eine Substanz, die Licht absorbieren kann. Einige Pigmente absorbieren Licht einer jeden Wellenlänge und sehen somit schwarz aus. Andere absorbieren nur Licht bestimmter Wellenlängen und lassen das übrige Licht ent-

KAPITEL

Abb. 6-4 (a) Ausgehend von Dämmerlicht oder schwachem Licht führt eine Erhöhung der Lichtintensität zu einer Steigerung der Photosyntheserate. Von einer bestimmten Lichtintensität an hat eine weitere Erhöhung der Lichtintensität jedoch keinen weiteren Anstieg der Photosyntheserate mehr zur Folge. Eine Kurve wie die hier abgebildete zeigt an, daß noch ein anderer Faktor als das Licht geschwindigkeitsbegrenzend auf die Photosynthese wirken muß. Normalerweise ist die C0 2 -Konzentration der Luft der geschwindigkeitsbegrenzende Faktor der Photosynthese, (b) Bei niedriger Lichtintensität bewirkt eine Temperaturerhöhung keine Steigerung der Photosyntheserate (untere Kurve). Bei hoher Lichtintensität jedoch hat eine Temperaturerhöhung einen sehr deutlichen Einfluß auf die Photosyntheserate (obere Kurve). Aus diesen Ergebnissen zog Blackman den Schluß, daß bei der Photosynthese lichtabhängige (temperaturunempfindliche) und lichtunabhängige (temperaturempfindliche) Reaktionen beteiligt sind.

weißes Licht

Testprobe ( C h l o r o p h y l l a)

zur Hälfte versilberter Spiegel Kontrolle 1 (nur Lösungsmittel)

Photozelle Spiegel V o r r i c h t u n g , die d a s Absorptionsspektrum von C h l o r o p h y l l a registriert und aufzeichnet

6 Photosynthese

107

n1 / / 1

h o h e Liei tintensitäi /

j

gerii ge Lichtin tensität

•it It I

[ nun

I

Vu

Lichtintensität (Candela)

(a)

Temperatur ( C)

(b)

Wenn Pigmente Licht absorbieren, werden Elektronen auf ein höheres Energieniveau gehoben. Dabei kann folgendes passieren: (1) Die Energie kann in Wärme verwandelt werden. (2) Sie kann wieder als Licht größerer Wellenlänge emittiert werden: Wenn die Lichtenergie fast unmittelbar nach der Absorption wieder emittiert wird und die Strahlungsperiode auf bis zu 10" 8 sec beschränkt ist, bezeichnet man dies als Fluoreszenz. Wenn sie verzögert, über einen längeren Zeitraum, emittiert wird, spricht man von Phosphoreszenz. (3) Die Energie kann in einer chemischen Bindung gespeichert werden, wie das bei der Photosynthese der Fall ist. Wenn Chlorophyllmoleküle isoliert und im Reagenzglas belichtet werden, fluoreszieren sie. Mit anderen Worten, die Farbstoffmoleküle absorbieren die Lichtenergie, die Elektronen werden für Augenblicke auf ein höheres Energieniveau gehoben und fallen dann wieder auf ein niedrigeres Energieniveau zurück. Dabei wird ein großer Teil der absorbierten Energie als Licht freigesetzt. Hierbei wird auch nicht ein Bruchteil des absorbierten Lichtes in eine Energieform umgewandelt, die für Lebensvorgänge verwendbar ist. Nur Chlorophyllmoleküle, die mit gewissen Proteinen assoziiert und in eine spezialisierte Mem-

Abb. 6-5 Das Absorptionsspektrum von Chlorophyll a wird mit einem Spektralphotometer bestimmt. Diese Vorrichtung lenkt nacheinander Lichtbündel aller Wellenlängen auf das zu untersuchende Objekt und registriert bei jeder Wellenlänge, wie groß der vom Pigment absorbierte Lichtanteil im Verhältnis zu einer Vergleichsprobe ist. Weil der Spiegel schwach (zur Hälfte) versilbert ist, wird das Licht zur Hälfte reflektiert und zur Hälfte durchgelassen. Die Photozelle ist mit einer elektronischen Vorrichtung gekoppelt, die automatisch den Prozentsatz der Absorption bei jeder Wellenlänge registriert. (V = violett, B = blau, G = grün, Ge = gelb, O = orange, R = Rot).

108

TEIL 2

Energie und die lebende Zelle jektträger unter dem M i k r o s k o p projiziert. D a n n richtete er einen Algenfaden parallel zum Spektrum aus. Die sauerstoffliebenden Bakterien sammelten sich bald hauptsächlich dort an, wo violettes oder rotes Licht auf den Algenfaden fiel. Wie m a n sehen kann, stimmt dieses von Engelmann entdeckte W i r k u n g s s p e k t r u m der Photosynthese mit dem Absorptionsspektrum des Chlorophylls überein. Er folgerte daraus, d a ß die Photosynthese auf dem vom Chlorophyll absorbierten Licht beruht. Dies ist ein „elegantes" Experiment; es basiert auf einer glänzenden Idee, ist einfach in der D u r c h f ü h r u n g und sein Ergebnis ist aussagekräftig.

Abb. 6-6 1882 f ü h r t e T.W. Engelmann ein Experiment durch, welches Aufschluß gab über das W i r k u n g s s p e k t r u m der Photosynthese bei einer fadenförmigen Grünalge (Spirogyra). Wie viele Forscher nach ihm benutzte Engelmann den G r a d der Sauerstoffproduktion als M a ß f ü r die Photosynthese. Jedoch fehlten ihm, im Gegensatz zu seinen Nachfolgern, empfindliche Geräte zum Nachweis des Sauerstoffs. Als Sauerstoffanzeiger benutzte er aerobe Bakterien, die von Sauerstoff angelockt werden. Anstelle von Spiegel und Blende, mit denen er normalerweise Objekte unter dem Mikroskop ausleuchtete, verwendete er einen Mikrospektralapparat. Von diesem wurde ein winziges Spektrum auf den Ob-

violett

blau

grün

gelb

orange

rot

/ s

bran (Thylakoid) eingebettet sind, können diese Lichtenergie so einfangen, daß sie in chemische Energie umgewandelt werden kann.

Photosynthesepigmente Zu den Photosynthesepigmenten gehören die Chlorophylle, Carotinoide und Phycobiline. Es gibt eine Reihe verschiedener Chlorophylle, die sich im Molekülaufbau nur in Kleinigkeiten voneinander unterscheiden. Chlorophyll a (Abb. 6-8) kommt bei allen photosynthetisch aktiven Eukaryonten und bei den prokaryontischen Cyanobakterien vor. Man nimmt daher an, daß es für die Photosynthese dieser Organismen unbedingt erforderlich ist. Bei den höheren Pflanzen, Bryophyten, Grünalgen und Euglenen kommt auch Chlorophyll b vor. Chlorophyll b ist ein sog. akzessorisches Pigment (Hilfspigment); wie die anderen akzessorischen Pigmente dient es der Erweiterung des Lichtabsorptionsspektrums für die Photosynthese. Wenn ein Molekül Chlorophyll b Licht absorbiert, überträgt das angeregte Molekül diese Energie auf ein Molekül Chlorophyll a, von wo aus sie im Verlauf der Photosynthese in chemische Energie umgewandelt wird. Weil Chlorophyll b Licht anderer Wellenlänge absorbiert als Chlorophyll a (Abb. 6-7), vergrößert es den für die Photosynthese nutzbaren Lichtanteil. In den Blättern

Wirkungs. spektrum der Photosynthese

^

Chlorophyll

A w ( fi

& o

i \ y



401;

J

j / /

\

\

h

'

^

Carotinoid

A Chloro p h y l l f l ^ l

^J 500

600

\

\

V

700

Wellenlänge ( n m )

Abb. 6-7 Die obere K u r v e zeigt das W i r k u n g s s p e k t r u m der Photosynthese, die unteren K u r v e n zeigen die Absorpitonsspektren von Chlorophyll a, Chlorophyll b und den Carotinoiden, die allesamt im Chloroplasten lokalisiert sind. D a s W i r k u n g s s p e k t r u m der Photosynthese zeigt, d a ß das Licht, welches zur Photosynthese notwendig ist, von allen Pigmenten des Chloroplasten - Chlorophyll a, Chlorophyll b und den Carotinoiden - absorbiert wird.

KAPITEL 6 H,C=CH

CH,

0 CH, CH

II

C—CH, ! CH,

1

CH, | CH,

I I CH, I CH, I

CH—CH,

CH,

CH—CH,

I I CH, I CH,

CH, | CH—CH,

I

CH,

Abb. 6-8 (a) Grundkörper aller Chlorophylle ist ein magnesiumhaltiges Porphyrinsystem mit einer Phytolseitenkette. Mit Hilfe dieser langen, hydrophoben Kohlenwasserstoffkette verankert sich das Molekül in den inneren Membranen der Chloroplasten. Chlorophyll b unterscheidet sich von Chlorophyll a nur dadurch, daß es anstelle der hier farbig markierten — CH 3 Gruppe am II. Pyrrolring eine — CHO Gruppe trägt. Alternierende Einfach- und Doppelbindungen, sog. konjugierte Doppelbindungen, wie sie im Porphyrinsystem des Chlorophylls auftreten, sind bei Pigmenten weit verbreitet. Beachten Sie die Ähnlichkeit zwischen dem hier dargestellten Chlorophyllmolekül und dem Cytochrommolekül in Abb. 5-9.

Photosynthese

109

grüner Pflanzen macht das Chlorophyll b im allgemeinen ungefähr ein Viertel des gesamten Chlorophyllgehaltes aus. Bei einigen Algen, vor allem bei den Braunalgen und Diatomeen, tritt Chlorophyll c an die Stelle von Chlorophyll b. Die photoautotrophen Bakterien (abgesehen von den Cyanobakterien) können dem Wasser keine Elektronen entziehen und produzieren folglich auch keinen Sauerstoff; sie enthalten entweder Bacteriochlorophyll (Purpurbakterien) oder Chlorobiumchlorophyll (grüne Schwefelbakterien). Chlorophyll b und c und die Photosynthesepigmente der Purpurbakterien und grünen Schwefelbakterien sind chemische Varianten der in Abb. 6-8 gezeigten Grundstruktur. Bei der Absorption der Lichtenergie für die Photosynthese sind noch zwei weitere Pigmentsorten beteiligt - die Carotinoide und die Phycobiline. Die Energie, die von diesen akzessorischen Pigmenten absorbiert wird, muß allerdings auf Chlorophyll a übertragen werden; sie können bei der Photosynthese nicht an die Stelle von Chlorophyll a treten und seine Aufgaben übernehmen. Carotinoide sind rote, orange oder gelbe fettlösliche Pigmente, die in allen Chloroplasten und, in Verbindung mit Chlorophyll a, auch bei den prokaryontischen Cyanobakterien vorkommen. Wie die Chlorophylle, so sind auch die Carotinoide in die Thylakoidmembranen der Chloroplasten eingebettet. Zwei Gruppen von Carotinoiden kommen normalerweise in den Chloroplasten vor: die Sauerstoff-freien Carotine und die Sauerstoff-haltigen Xanthophylle. Das ß-Carotin der Pflanzen ist der Hauptausgangsstoff zur Synthese von Vitamin A beim Menschen und bei höheren Tieren (Abb. 6-9). In grünen Blättern wird die Farbe der Carotinoide durch das mengenmäßig überwiegende Chlorophyll verdeckt. Die dritte große Gruppe akzessorischer Pigmente, die Phycobiline, kommen bei Cyanobakterien und in den Chloroplasten von Rotalgen vor. Anders als die Carotinoide sind die Phycobiline wasserlöslich.

6.2.2 Photosysteme Im Chloroplasten (Abb. 6-1) sind Chlorophyll und andere Pigmentmoleküle zu photosynthetischen Einheiten, den Photosystemen (Pigmentsystemen, Abb. 6-10) vereinigt und in die Thylakoidmembran eingebettet. Jedes Photosystem besteht aus 250-400 Pigmentmolekülen. Jedes Pigmentmolekül in einem Photosystem kann Photonen (Lichtenergieteilchen; siehe „Licht und Leben" auf Seite 105) absorbieren, aber nur ein Chlorophyllmolekül pro Photosystem kann diese Energie in der photochemischen Reaktion nutzen. Dieses aktive Chlorophyllmo-

110

TEIL 2

E n e r g i e und die l e b e n d e Z e l l e

Abb. 6-9 Miteinander verwandte Carotinoide. Bei der Spaltung des ß-Carotinmoleküls an der hier eingezeichneten Symmetrieebene entstehen zwei Moleküle Vitamin A. Durch Oxidation des Vitamin A entsteht Retinin (Vitamin-A-Aldehyd). Ein Stereoisomer des alltrans-Retinins, das Neoretinin b, ist neben dem Protein Opsin Bestandteil des für den Sehvorgang

CH, CH,

CH»

CH

^XT/CH====CH—C=CH—CH=CH—C=CH—CHOH .. "CH:,

Vitamin A

wichtigen Sehpurpurs, des Rhodopsins. Bei den Carotinoiden sind die konjugierten Doppelbindungen in den Kohlenstoffketten lokalisiert. Die Chloroplasten enthalten sowohl Carotine (Sauerstoff-frei) als auch Xanthophylle (sauerstoffhaltig). Zeaxanthin, ein sauerstoffhaltiges Carotinoid, ist der Farbstoff, der den Maiskörnern ihre gelbe Farbe gibt.

CH:, CH:, CH3 CH, I ^> (CH 2 0) + H 2 0 + 2A wobei H 2 A für Wasser oder eine andere oxidierbare Substanz - der also Elektronen entzogen werden können steht. Der erste Schritt der Photosynthese ist die Absorption von Lichtenergie durch Pigmentmoleküle. Eukaryontische Photosynthesepigmente sind die Chlorophylle und die Carotinoide. Diese sind zu Pigmentsystemen vereinigt und in die Thylakoidmembranen der Chloroplasten eingebettet. Das absorbierte Licht regt die Elektronen der Pigmentmoleküle an, hebt sie also auf ein höheres Energieniveau. Weil mehrere Pigmente zu Pigmentsystemen vereinigt sind, können sie diese Elektronen zu einem besonders aktiven Molekül, Reaktionszentrum genannt, weiterleiten; bei diesem handelt es sich wahrscheinlich um ein Chlorophyll a. In den Thylakoiden konnten zwei Pigmentsysteme, Photosystem I und II, identifiziert werden. Nicht alle Photosynthesereaktionen sind lichtabhängig. Die lichtabhängigen Schritte der Photosynthese bezeichnet man als Lichtreaktionen, die lichtunabhängigen als Dunkelreaktionen. Nach der momentan gültigen Modellvorstellung von den Lichtreaktionen der Photosynthese muß Lichtenergie zunächst in das Pigmentsystem II eintreten, wo sie vom Reaktionszentrum P 6 8 0 eingefangen wird. Von dem aktiven Chlorophyll a-Molekül (P 680 ) wird ein Elektron an einen Elektronenakzeptor auf höherem Energieniveau abgegeben. Da es sich um Elektronenpaar-Übergänge handelt, müssen zwei Moleküle P 6 8 0 in die Reaktion eingehen. Die entstandenen Elektronenlücken in den beiden P 680 -Molekülen werden durch Elektronen aufgefüllt, die frei werden, wenn Wasser durch Photolyse gespalten wird in: 2 H + + 1/2 0 2 + 2e~. Mittels einer Elektronentransportkette werden die beiden Elektronen, die aus den Reaktionszentren der P 680 -Moleküle stammen, dann auf ein niedrigeres Energieniveau zum Pigmentsystem I transportiert. Hierbei entsteht aus ADP durch Photophosphorylierung ATP. Wenn auch das Pigmentsystem I Licht absorbiert, so wird von seinem aktiven Chlorophyll a-Molekül (P 70 o) ebenfalls ein Elektron abgegeben. Die Elektronenlücken von zwei solchen Molekülen P 7 0 0 werden von den Elektronen aus Pigmentsystem II aufgefüllt. Die beiden Elektronen des Pigmentsystems I werden von dem Elektronentransportmolekül NADP aufgenommen, welches dabei reduziert wird. Die Energieausbeute der Lichtreaktionen ist in NADPH 2 und dem bei der Photophosphorylierung enstandenen ATP festgelegt.

KAPITEL 6

Die Dunkelreaktionen finden im Stroma der Chloroplasten statt. Hierbei werden NADPH 2 und ATP aus den Lichtreaktionen verbraucht, um C 0 2 zu organisch gebundenem Kohlenstoff zu reduzieren. Dies geschieht im Calvin-Zyklus. Im Calvin-Zyklus vereinigt sich ein Molekül C 0 2 mit der Ausgangsverbindung, dem Ribulose-1,5diphosphat (RudP), einem Zucker mit fünf C-Atomen, und es entstehen zwei Moleküle einer C 3 -Verbindung, die 3-Phosphoglycerinsäure (PGS). Sechs Moleküle Kohlendioxid müssen hintereinander in den Calvin-Zyklus eintreten, damit zwei Moleküle Glycerinaldehyd-3-phosphat zur Synthese einer Hexose gewonnen, gleichzeitig aber auch wieder RudP regeneriert werden kann. Pflanzen, bei denen C 0 2 nur über den Calvin-Zyklus fixiert wird, und bei denen das Primärprodukt der C 0 2 Fixierung PGS - eine C 3 -Verbindung - ist, werden C 3 Pflanzen genannt. Bei den sog. C 4 -Pflanzen hingegen wird C 0 2 primär an PEP (Phosphoenolpyruvat) fixiert, und es entsteht Oxalacetat, eine C 4 -Verbindung. Das Oxalacetat wird rasch in Malat oder Aspartat umgewandelt, und diese Verbindungen übertragen dann das C 0 2 auf das RudP des Calvin-Zyklus. In C 4 -Pflanzen läuft der Calvin-

Photosynthese

119

Zyklus in den Bündelscheidenzellen ab, der C 4 -Dicarbonsäureweg hingegen in den Mesophyllzellen. C 4 -Pflanzen können das angebotene C 0 2 besser nutzen als C 3 -Pflanzen, denn sie können den C0 2 -Verlust durch Photorespiration (Lichtatmung) - einen lichtabhängigen, sauerstoffverbrauchenden, C0 2 -produzierenden Abbauprozeß gering halten. Eine Variante des C 4 -Dicarbonsäureweges, der diurnale Säurerhythmus (engl. Crassulacean Acid Metabolism, CAM) kommt bei vielen Sukkulenten vor. Bei den CAMPflanzen findet die Fixierung von C 0 2 durch PEP-Carboxylase in C 4 -Verbindungen des Nachts statt, wenn die Stomata geöffnet sind. Über Nacht werden die C 4 Verbindungen in großen Vakuolen gespeichert, und tagsüber dann, wenn die Stomata geschlossen sind, decarboxyliert und das C 0 2 auf RudP des Calvin-Zyklus übertragen. Calvin-Zyklus und C 4 -Dicarbonsäureweg laufen bei CAM-Pflanzen in derselben Zelle ab. Diese beiden C0 2 -Fixierungswege sind also bei den C 4 -Pflanzen räumlich, bei den CAM-Pflanzen hingegen zeitlich voneinander getrennt.

Teil 3 Genetik und Evolution

Kapitel 7 Molekulargenetik

Seit der Mensch über seine Umwelt nachdenkt, rätselt er über die Abstammung. Warum gleichen die Nachkommen einer Art - seien es Löwenmäulchen, Hunde oder Eichen - stets ihren eigenen Eltern, aber nie denen einer anderen Art? Warum hat ein Kind die Augen der Mutter und das Kinn des Vaters, vielleicht sogar die Nase des Großvaters? Solche Fragen tauchten bereits in alten griechischen Schriften auf, lange vor Christi Geburt, und waren vielleicht sogar schon damals nicht neu. Welche große Bedeutung die Menschen der Abstammung schon immer beigemessen haben, erkennt man daran, daß zu allen Zeiten hauptsächlich die biologische Erbfolge die Verteilung von Reichtum, Macht, Landbesitz und königlichen Privilegien bestimmte. Die identische Reduplikation ist eine der wichtigsten Grundeigenschaften des Lebens überhaupt. Manche behaupten, das 20. Jahrhundert werde als das Zeitalter der ersten Mondlandung in die Geschichte eingehen. Andere wiederum glauben, dieses Jahrhundert werde deswegen berühmt werden, weil es in ihm gelang, die DNS zu entdecken und das Geheimnis der Vererbung zu enträtseln. Beide Ereignisse aber sind so großartig, daß es schwer sein wird, einem von beiden den Vorrang zu geben.

7.1 Genchemie: DNS kontra Protein

Abb. 7-1 Anaphase der zweiten Reifeteilung (Meiose) während der Mikrosporenbildung bei der Waldlilie Trillium erectum. Die Trennung der deutlich sichtbaren Chromosomen - Sitz des genetischen Materials, der D N S ist fast beendet. Jeder der sich neu bildenden Zellkerne wird nur die halbe Chromosomenzahl des Zellkerns besitzen, der ursprünglich in die Meiose eingetreten ist.

Die Chromosomen eukaryontischer Organismen sind Komplexe aus DNS und Protein. Als feststand, daß die Chromosomen Träger der genetischen Information sind, stellte sich die Frage, welche ihrer beiden Komponenten die genetisch bedeutsame ist. Anfang der 50er Jahre glaubten viele Forscher - besonders diejenigen, die sich mit Proteinen beschäftigten - , daß die Gene Proteine seien. Sie meinten, die Chromosomen besäßen Musterstücke für alle Proteine, die eine Zelle benötigt, und hielten alle Enzyme und anderen Proteine der Zellen für Kopien dieser Musterstücke. Dies war eine logische Hypothese, sie erwies sich jedoch als falsch.

124

TEIL

Tab. 7-1

3 Genetik und Evolution Zusammensetzung der DNS bei einigen Arten 1

Herkunft

Purine Adenin Guanin

Pyrimidine Cytosin Thymin

Mensch Rind Lachsspermien Weizenkeimling Escherichia coli Schafsleber

30,4 29,0 29,7 28,1 26,0 29,3

19,9 21,2 20,4 22,7 25,2 20,8

19,6 21,2 20,8 21,8 24,9 20,7

30,1 28,7 29,1 27,4 23,9 29,2

1

In mol pro 100 Grammatom, Prozent; nach ChargafF, Erwin: Essays on Nucleic Acids, 1963.

Ungefähr zur selben Zeit erhärtete sich der Verdacht, daß die DNS das eigentliche genetische Material sei. Diese Meinung stützte sich auf zahlreiche Fakten: (1) DNS kommt in den Chromosomen aller Zellen vor, und dort fast ausschließlich in den Chromosomen; dies konnte mit Hilfe spezifischer Farbstoffe gezeigt werden. (2) Im allgemeinen enthalten die Körperzellen von Pflanzen oder Tieren doppelt so viel DNS wie ihre Geschlechtszellen. (3) Das Verhältnis von Purinen zu Pyrimidinen ist in allen Zellen einer bestimmten Art gleich, variiert jedoch von Art zu Art (s. Tab. 7-1). Gleichheit innerhalb der Art und Abb. 7-2 Identifikation des Transformationsfaktors als entscheidendes Experiment zur Klärung der Rolle der DNS. Die Zellen bestimmter Pneumokokkenstämme bilden auf Agar Polysaccharidkapseln, ihre Kolonien besitzen daher eine glatte Oberfläche (SStämme; vom englischen smooth = glatt); sie sind pathogen (Krankheitserreger). Andere Pneumokokkenstämme hingegen bilden keine Polysaccharidkapseln, ihre Kolonien haben eine rauhe Oberfläche (R-Stämme; vom englischen rough = rauh); sie sind nicht pathogen. Beide Merkmale sind erblich; die Kolonien der Nachkommen eines S-Stammes haben eine glatte Oberfläche, die eines R-Stammes eine rauhe. Werden Zellen von S-Stämmen abgetötet und die Zellbestandteile der Kultur eines R-Stammes hinzugefügt, so bekommen einige Zellen des R-Stammes eine glatte Oberfläche und ihre Nachkommenschaft gleicht der eines S-Stammes. Dieses Phänomen, die sogenannte Transformation, y u r d e erstmals 1928 beobachtet. 16 Jahre später, im Jahre 1944, wurde bewiesen, daß es sich bei dem Transformationsfaktor, der die genetische Ausstattung der R-Bakterien verändert, um DNS handelt.

Verschiedenheit zwischen den Arten hat aber nur für eine chemische Substanz Bedeutung, die die „Sprache des Lebens" Buchstabe für Buchstabe enthält. (4) DNS aus einer Bakterienzelle kann als Transformationsfaktor dienen, und so andere Bakterienzellen mit neuen genetischen Eigenschaften ausstatten (siehe Abb. 7-2). (5) Im Laufe der Infektion einer Bakterienzelle mit bestimmten Viren (Bakteriophagen) dringt ausschließlich DNS in die Bakterienzelle ein und bewirkt dort die Bildung neuer Viren (siehe Abb. 7-3). Trotz all dieser Hinweise wurde die genetische Rolle der DNS erst dann allgemein akzeptiert, als Watson und Crick ihre nunmehr historisch gewordene Entdeckung der DNS-Struktur veröffentlichten.

7.2 Bau und Eigenschaften der D N S Im Jahre 1951 ging James D. Watson als Stipendiat nach England, um mit Francis Crick vom Cavendish Laboratorium in Cambridge zu arbeiten. Watson und Crick gehörten zu denjenigen Wissenschaftlern, die davon überzeugt waren, daß DNS das genetische Material sei und nicht etwa Protein. Watson hielt die DNS für „the most golden of all molecules". Watson und Crick machten sich

Polysacchandkapsel R-Gen

3-Gen

Zelle des S-Stammes (pathogen)

Zelle des R-Stammes (nicht pathogen)

Freisetzung kleiner Chromosomenbruchstücke aus der durch Hitze abgetöteten S-Zelle. Eintritt eines Chromosomenbruchstücks in eine R-Zelle.

durch Hitze abgetötete S-Zelle

S-Gen

R-Zelle

R-Gen

Das Chromosomen bruchstück der S-Zelle wird in das Chromosom der R-Zelle eingebaut.

neue S-Zelle

KAPITEL

Abb. 7-3 Zusammenfassung einer Reihe wichtiger Experimente aus den Anfangen der Molekularbiologie. Bacteriophagen (oder kurz Phagen) - das sind Viren, die Bakterienzellen befallen - bestehen aus Protein und DNS. Von Phagen befallene Bakterienzellen wurden in einem Nährmedium mit radioaktiv markiertem Schwefel ( 35 S) oder Phosphor ( 32 P) kultiviert. Dabei wurden Phagen gebildet, bei denen entweder die Proteine oder die DNS radioaktiv markiert waren. (DNS enthält keinen Schwefel, Proteine enthalten keinen Phosphor. 32 P wird in die Nucleotide der DNS eingebaut, 35 S in schwefelhaltige Aminosäuren der Proteine.) Dann ließ man diese Phagen auf Bakterienzellen einwirken, die auf einem nicht ra-

Proteinhülle des Phagen mit 3 5 S markiert Phagen-DNS mit P markiert

n e U e PhagenProteinh|lle

neue PhagenDNS

—i

Bakterienzelle

125

dioaktiven Nährmedium wuchsen. Wurden die Bakterienzellen von Phagen befallen, deren Hüllproteine mit 35 S markiert waren, so waren die neu entstandenen Phagen nicht radioaktiv markiert. Wurden die Bakterienzellen hingegen von Phagen befallen, deren DNS mit 3 2 P markiert war, so waren die neu entstandenen Phagen radioaktiv markiert. (Die Abbildung ist eine Zusammenfassung beider Versuche.) Damit war bewiesen, daß nur die Phagen-DNS in die Bakterienzelle eindringt, und daß diese DNS der Träger der genetischen Information ist, die zur Bildung neuer, vollständiger Phagen erforderlich ist.

die abgelöste, 35 Smarkierte Proteinhülle wird entfernt "P-markierte O Phagen-DNS V

7 Molekulargenetik

Zerreißen der Bakterienzelle und Entlassen der neu gebildeten Phagen, von denen einige 3 2 P im Chromosom besitzen. Ihre Proteinhüllen sind jedoch in keinem Falle mit 3 5 S markiert.

Vermehrung der Phagenteilchen

daran, den molekularen Aufbau der DNS zu ergründen. Sie besaßen zweierlei Informationen, mit denen sie arbeiten konnten: Erstens: Sie wußten, daß die DNS, wenn sie tatsächlich das genetische Material ist, zumindest folgende vier Bedingungen erfüllen muß: 1. Sie muß die genetische Information von Zelle zu Zelle und von Generation zu Generation weitergeben. Darüber hinaus muß sie zahlreiche Informationen tragen. (Bedenken Sie, wieviele Anweisungen ein Gensatz enthalten muß, der die Entwicklung eines Elefanten, eines Baumes oder auch eines Bakteriums steuert.) 2. Sie muß sich selbst kopieren, denn das Chromosom tut dies vor jeder Zellteilung. Darüber hinaus muß sie dies mit großer Genauigkeit tun. (Aus Daten über Mutationsraten beim Menschen wissen wir, daß ein menschliches Gen im allgemeinen über Millionen von Jahren fehlerfrei kopiert wird.) 3. Sie muß sich manchmal verändern. (Wenn sich ein Gen verändert [mutiert], d.h. wenn ein „Fehler" gemacht wird, so muß eher dieser Fehler als der ursprüngliche Zustand kopiert werden. Dies ist eine sehr wichtige, vielleicht einzigartige Fähigkeit der Lebewesen; denn ohne die Fähigkeit „Irrtümer" zu kopieren, gäbe es keine Evolution durch natürliche Selektion). 4. Sie muß einen Mechanismus besitzen, um die in ihr gespeicherte Information abzulesen und in der lebenden Zelle in eine Handlung umzusetzen. Watson und Crick erkannten, daß die DNS nur dann das genetische Material sein konnte, wenn sich erweisen würde, daß sie die Größe, die Konfiguration und die Komple-

xität besitzt, die erforderlich ist, um die ungeheuere Fülle der von Lebewesen benötigten Informationen codiert zu speichern und diesen Code exakt zu kopieren. Zweitens'. Sie wußten aus vorangegangenen Untersuchungen einiges über den Bau des DNS-Moleküls. Einige der Daten seien hier aufgeführt: 1. Das DNS-Molekül ist sehr groß, lang und dünn. 2. Die 3 Bestandteile (Stickstoffbase, Zucker und Phosphat) sind in Nucleotiden angeordnet (siehe Abb. 219). 3. Nach Röntgenstrukturanalysen von Rosalind Franklin und Maurice Wilkins am King's College, London, besteht das lange DNS-Molekül aus sich regelmäßig wiederholenden Einheiten, die in Form einer Wendel (Helix) angeordnet sind. 4. Chargaff s Analysen hatten gezeigt (siehe Tabelle 7-1), daß das Verhältnis von Nucleotiden, die Adenin enthalten, zu solchen, die Thymin enthalten, 1 : 1 ist. Genauso groß ist das Verhältnis der guaninhaltigen und cytosinhaltigen Nucleotide zueinander. Watson und Crick machten also keine Experimente im üblichen Sinne, sondern sie prüften alle bekannten Fakten über die DNS und fügten sie zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. Sie arbeiteten mit vorhandenen Daten, mit den Ergebnissen von Wilkins' und Franklin's Röntgenstrukturanalysen und mit einem aus Draht gefertigten Modell, das allen bekannten physikalischen und chemischen Daten entsprach (siehe Abb. 7-4a). Ihre wichtigste Frage war, ob die chemische Struktur der DNS wirklich ihre biologische Funktion widerspiegelt. In einem Bericht über diese Untersuchungen erzählte

126

TEIL 3

Genetik und Evolution

Abb. 7-4 (a) Watson (links) und Crick mit ihrem aus D r a h t gefertigten DNS-Modell, (b) Watson-Crick-Modell des DNS-Moleküls. Links ist das Molekül in Seitenansicht dargestellt und seine Achse ist durch einen Längsstab markiert. Rechts sind zwei Querschnitte durch das Molekül in unterschiedlichen Ebenen zu sehen. Das DNS-Molekül besteht aus zwei Polynucleotidketten, die miteinander zu einer rechtswendigen Doppelhelix verdrillt sind und über Wasserstoffbrücken zwischen den Stickstoffbasen zusammengehalten werden. Die Doppelhelix hat einen Gesamtdurchmesser von 2 nm (20 Ä) und zeigt zweierlei Furchen - flache (Nebenfurchen) und tiefe (Hauptfurchen). Das Rückgrat dieser Polynucleotidketten ist eine Pentosephosphatkette, bei der Desoxyribosemoleküle (Zucker = S, von engl, sugar) durch eine Phosphatgruppe (P) zwischen dem C - 3 des einen und dem C - 5 des anderen Zuckers miteinander verknüpft sind (s. auch Abb. 7-6). In der Seitenansicht des DNS-Moleküls sind diese Pentosephosphatketten als Bänder dargestellt, die entlang der Innenwand eines gedachten Zylinders verlaufen. Im Querschnitt sieht man, d a ß die beiden Bänder, bezogen auf den Zylinderumfang, ungefähr 120° voneinander entfernt sind. N u r streckenweise ist der molekulare A u f b a u der Pentosephosphat-Bänder dargestellt, weil die Abbildung sonst zu unübersichtlich geworden wäre. Die beiden Polynucleotidketten verlaufen antiparallel, d. h. in der einen Pentosephosphatkette verläuft die Reihenfolge der CAtome der Desoxyribose von 3 nach 5, in der anderen von 5 nach 3. Die Basen (flache Moleküle) sind paarweise [Thymin (T) und Adenin (A) in der Schnittebene A, und Cytosin (C) und Guanin (G) in der Schnittebene B] durch WasserstofFbrücken (unterbrochene Linie) miteinander verknüpft. In Seitenansicht sind die gepaarten Stickstoffbasen als dicke Linien im Zentrum des Moleküls, in den Querschnitten als Rechtecke dargestellt. Die Basen sind in Intervallen von 3,4 Ä übereinandergeschichtet und jeweils um 36° gegenüber der vorhergehenden versetzt. Eine vollständige Windung des DNS-Moleküls (10 Basenpaare) verläuft über 34 Ä. Durch die Drehung des DNS-Moleküls erscheinen die aufeinanderfolgenden Seitenansichten der Basenpaare als unterschiedlich lange Linien, je nachdem, ob die Längs- oder Schmalseite der sie im Querschnittsbild umgebenden „Rechtecke" sichtbar ist. (Etkin-Modell; aus BioScience, 1973; modifiziert nach Keller und Gear - Bioscience, 1980).

Seitenansicht

Querschnitt Schnittebene A

t der " der A er ~ r^,.,. C'i Desoxyribose Desoxyribose Band I

- c T d ? ^ *NBandI Desoxyribose Schnittebene B

Wasserstoff-

, ^

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C', d e r t Qesoxyribose 20

Band I

Band II

(b)

Â

/

/ Band II »j

KAPITEL

Watson, daß sie in pessimistischen Phasen oft dachten, die Struktur würde absolut nichts bedeuten. In Wirklichkeit stellte sich jedoch heraus, daß die Struktur der DNS eine unglaublich große Bedeutung hat.

7.2.1 Die Doppelhelix Aus der Verknüpfung der verschiedenen Daten konnten Watson und Crick ableiten, daß die DNS keine einsträngige Helixstruktur besitzt wie viele Proteine, sondern eine Doppelhelix ist. Das Treppengeländer einer Wendeltreppe gleicht einer einfachen Helix. Nimmt man eine Leiter und verdreht sie zu einer Helix, wobei die Sprossen waagerecht bleiben sollen, so entsteht das große Modell einer solchen Doppelhelix. Die beiden Holme der Leiter bestehen bei der DNS aus miteinander abwechselnden Zuckermolekülen (Desoxyribose) und Phosphatgruppen (siehe Abb. 7-4 b und 7-7). Die Sprossen der Leiter bestehen aus Stickstoffbasen Adenin (A), Thymin (T), Guanin (G), und Cytosin (C) - , eine Base pro Zucker-Phosphat und zwei Basen pro Sprosse. Die gepaarten Basen sind über Wasserstoffbrükken miteinander verbunden, jene schwachen Bindungen, die für die Sekundärstruktur von Proteinen eine so wichtige Rolle spielen.

Abb. 7-5 DNS-Replikation bei Escherichia coli. Das Bakterium wurde auf einem Medium mit Tritium-markiertem ( 3 H) Thymin (Stickstoffbase) kultiviert. Über 2 Generationen konnte es radioaktives Thymin in seine DNS einbauen. Dann wurde diese DNS extrahiert und mit einer photographischen Platte in Berührung gebracht, die die Position von 3 H-Atomen in der D N S sichtbar macht. (Diese Technik bezeichnet man als Autoradiographic). Hier sehen Sie das ringförmige Chromosom einer Bakterienzelle, welches sich gerade verdoppelt. Die beiden Stränge der Doppelhelix trennen sich und an ihnen entlang entsteht durch Basenpaarung je ein neuer Partnerstrang.

r-.

7

Molekulargenetik

127

Der Abstand zwischen den beiden Seitenteilen (den Holmen der Leiter) beträgt nach Wilkins' Messungen 2 nm. Zwei miteinander verbundene Purinbasen wären mehr als 2 nm breit, zwei Pyrimidinbasen aber könnten diese Entfernung nicht überbrücken. Diese Distanz von 2 nm würde jedoch ausgezeichnet passen, wenn sich jeweils eine Pyrimidin- mit einer Purinbase paaren würde, d.h. die Sprossen der zur Helix verdrillten Leiter immer aus Purin-Pyrimidin-Kombinationen bestehen würden (siehe Abb. 7-7). Diese Vermutung hat sich bestätigt und erklärt auch, warum das Verhältnis von Purin- zu Pyrimidinbasen im DNS-Molekül stets 1 :1 ist. Watson und Crick stellten fest, daß die Nucleotide längs einer Kette der Doppelhelix in jeder beliebigen Reihenfolge angeordnet sein können: ATGCGTACATTGCCA usw. Weil ein DNS-Molekül einige hundert Nucleotide lang sein kann, sind zahlreiche verschiedene Nucleotid-Anordnungen möglich. Die Anzahl der gepaarten Basen reicht von ungefähr 5000 beim einfachsten Virus bis zu schätzungsweise 5 Milliarden in den 46 Chromosomen des Menschen. Die DNS einer einzigen menschlichen Zelle - die, zu einem einzelnen Faden ausgebreitet, ca. 1,5 m lang wäre - enthält soviel Information wie 600000 gedruckte Seiten mit jeweils 500 Worten oder eine Bibliothek mit ca. 1000 Büchern; das DNS-Molekül hat also tatsächlich die Kapazität, die nötigen genetischen Informationen zu speichern.

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128

TEIL

3

Genetik und Evolution

7.2.2 Das Molekül, das sich selbst kopiert Die aufregendste Entdeckung machten Watson und Crick jedoch, als sie begannen, das passende Gegenstück zu dem DNS-Strang zu konstruieren. Sie stießen dabei auf eine interessante und wichtige Beschränkung. Weder Purine noch Pyrimidine können sich mit ihresgleichen paaren; darüberhinaus aber kann sich - wegen der Konfiguration der Moleküle - Adenin sogar nur mit Thymin und Guanin nur mit Cytosin paaren. Dies hätte aus den Daten der Tabelle 7-1 vorhergesagt werden können. So bestimmt ein DNS-Strang ganz genau die Struktur des anderen; der eine DNS-Strang ist also zum anderen komplementär. Bei der Replikation (Selbstkopie) des Moleküls wird die Doppelhelix nach und nach entdrillt und durch Auflösen der Wasserstoffbrücken zwischen den Basen (Abb. 7-5) weichen die beiden Nucleotidstränge des Moleküls reißverschlußartig auseinander. Die beiden Stränge trennen sich und längs eines jeden alten Stranges wird ein komplementärer neuer gebildet. Das Rohmaterial dazu liefert die Zelle. Wenn auf dem alten Strang Thymin (T) vorhanden ist, kann auf dem neuen Strang an entsprechender Stelle nur Adenin (A) liegen; Guanin (G) wird sich nur mit Cytosin (C) paaren, usw. So bildet jeder Strang eine Kopie des ursprünglichen Partnerstranges und auf diese Weise entstehen zwei exakte Kopien des ursprünglichen Moleküls. Die uralte Frage, wie die Erbinformation verdoppelt und von Generation zu Generation weitergegeben wird, ist im Grunde genommen mit der Entdeckung der DNS-Struktur beantwortet worden. Bereits Watson und Crick wiesen vorsichtig auf diese Zusammenhänge hin, als sie sagten, es sei ihnen nicht entgangen, daß die von ihnen gefundene spezifische Basenpaarung an einen möglichen Mechanismus zur Kopie genetischen Materials denken lasse. Später konnte gezeigt werden, daß die Replikation der DNS ein komplizierter Vorgang mit zahlreichen enzymatisch katalysierten Schritten ist, denn das DNS-Molekül ist sehr lang, doppelsträngig und zu einer Doppelhelix aufgewunden. Spezifische Enzyme sind erforderlich, um die DNS-Stränge zu entschrauben und voneinander zu trennen, und um die neu gebildeten Nucleotide an der richtigen Stelle einzubauen. Die Arbeitsweise dieser Enzyme ist der Schlüssel zum Verständnis der DNS-Replikation. Als man die Chemie der DNS-Replikation besser verstand, wurde eine weitere Schwierigkeit sichtbar - die Enden der beiden DNS-Stränge einer Doppelhelix sind verschieden. In jedem DNS-Strang ist die Phosphatgruppe, die zwei Desoxyribosemoleküle miteinander verbindet, am C-5 des einen und am C-3 des nächsten Zuckermoleküls gebunden. Dadurch besitzt jeder DNS-Strang am ei-

5'-Ende

Thymin Phosphat

CH2 O.

Thymin

CH,

O

CH

I^^^/H

r i

N.

N Jk N ^ N

y

nh2

.O

Guanin

H

3'-Ende

Abb. 7-6 Detaillierte Darstellung eines Teils eines DNSStranges. Jedes Nucleotid besteht aus einem Zucker (Desoxyribose), einer Phosphatgruppe und einer Stickstoffbase (Purin oder Pyrimidin). Eine wiederholte Zucker-Phosphat-ZuckerPhosphat-Sequenz bildet das „Rückgrat" des Polynucleotids. Jede Phosphatgruppe verbindet zwei Desoxyribosemoleküle zwischen dem C-3 des einen und dem C-5 des anderen Zukkers. Der DNS-Strang hat ein 3'-Ende (mit freier Hydroxylgruppe am C-3 des Zuckers) und ein 5'-Ende (mit einer Phosphatgruppe am C-5 des Zuckers).

nen Ende ein Nucleotid mit einer freien Hydroxylgruppe am C-3 der Pentose und am anderen Ende ein Nucleotid mit einem Phosphatrest am C-5 der Pentose (Abb. 7-6). Während die DNS-Synthese in dem einen Strang vom 3'- zum 5'-Ende verläuft, geht sie im anderen Strang in die

KAPITEL

Abb. 7-7 Darstellung der Doppelsträngigkeit an einem Teil eines DNSMoleküls. Die beiden Stränge verlaufen antiparallel, 3'-Ende des einen Stranges und 5'-Ende des anderen liegen einander gegenüber. (Vergleichen Sie diese Abbildung mit Abb. 7-4 b.)

7 Molekulargenetik

129

5-Ende 3'-Ende

3'-Ende

entgegengesetzte Richtung. Die beiden Stränge laufen also antiparallel (Abb. 7-7). Die Synthese des DNS-Stranges vom 3'-zum 5'-Ende verläuft kontinuierlich - ein N u cleotid nach dem anderen wird angelagert; die Synthese des gegenläufigen DNS-Stranges - vom 5'- zum 3'-Ende hingegen verläuft diskontinuierlich, wobei zunächst eine Reihe kurzer Kettenfragmente gebildet werden, die schließlich dann zu einem kontinuierlichen DNS-Strang miteinander verknüpft werden. Im Jahre 1957 entdeckte Arthur Kornberg ein Enzym, das bei der Synthese eines neuen DNS-Stranges eine Rolle spielt. In der Zeit danach wurden noch weitere Einzelheiten über die DNS-Replikation entdeckt. Heute kennt

man allein mehr als 14 Enzyme, die an der DNS-Replikation des Bakteriums Escherichia coli beteiligt sind, und dieser Vorgang ist bei eukaryontischen Organismen sicherlich noch viel komplizierter.

7.3 Wie arbeiten Gene? Watson und Crick enthüllten die chemische N a t u r der Gene und machten deutlich, auf welche Art und Weise sie sich selbst verdoppeln können. Eine Frage blieb jedoch noch immer unbeantwortet: Wie kann die Information, die in dem riesigen DNS-Molekül gespeichert ist, Struktur oder Funktion der Zelle beeinflussen? Wie verwandelt

130

TEIL

3

Genetik und Evolution

die DNS z. B. einen harmlosen Pneumokokken in einen virulenten; wie bestimmt sie die Form eines Blattes oder den Duft einer Blüte, oder wie macht sie es, daß Ihre Augen dieselbe Farbe haben wie die Augen Ihrer Mutter?

7.3.1 Moleküle der Vererbung Was die Zellen sind und wie sie funktionieren, hängt fast völlig von den Proteinen ab, die sie synthetisieren, vor allem von ihren Enzymen. Daher sind die Schritte, durch welche die genetische Information des DNS-Moleküls in die Synthese spezifischer Proteine umgesetzt wird, von besonderem Interesse. Man hat herausgefunden, daß auf dem Weg von der DNS zum Protein das Schwestermolekül der DNS, die Ribonukleinsäure (RNS), eine Rolle spielt. Diese Vermutung existierte schon lange bevor man Einzelheiten dieses Vorgangs kannte, denn man hatte beobachtet, daß Zellen, die große Mengen an Protein synthetisieren, stets auch große Mengen an RNS enthalten. Zwischen der R N S und der DNS gibt es einige signifikante Unterschiede (s. Kap. 2.5). Der Zuckeranteil des RNS-Moleküls, die Ribose, enthält ein Sauerstoffatom mehr als die Desoxyribose der DNS. Außerdem enthält die RNS anstelle des Thymins ein anderes Pyrimidin, das Uracil (U). Auch kommt das RNS-Molekül nur selten in einer kompletten doppelsträngigen Form vor; das bedeutet, daß es auch ganz andere Eigenschaften hat und ganz anders arbeitet als das DNS-Molekül. Es gibt drei Sorten von RNS: messenger (Boten) RNS (mRNS), transfer (Überträger) RNS (tRNS) und ribosomale RNS (rRNS).

Die messenger RNS ist ein großes Molekül, das einige hundert, aber auch bis zu 10000 Nucleotide besitzen kann. Es wird längs eines Stranges der DNS-Helix gebildet, nach demselben Basenpaarungs-Prinzip, nach dem auch ein neuer DNS-Strang entsteht; an die Stelle von Thymin tritt jedoch Uracil. Adenin im DNS-Strang bewirkt also den Einbau von Uracil im mRNS-Strang. Jede Sequenz von drei Basen (Triplett) auf dem mRNS-Molekül, ein sog. Codon, bestimmt über den Einbau einer bestimmten Aminosäure ins Polypeptid. Die transfer R N S übersetzt die „Sprache" der DNS in die „Sprache" des Proteins. Es gibt viele verschiedene Sorten von tRNS, offensichtlich für jedes Codon des genetischen Codes eine spezifische (Abb. 7-8). Jedes tRNSMolekül besteht aus einem Strang von ungefähr 80 Nucleotiden. Dieser lange Einzelstrang faltet sich und paart sich streckenweise mit sich selbst, wodurch eine Kleeblatt-Struktur entsteht (Abb. 7-9). Wie aus Abb. 7-11 hervorgeht, ist die Spezifität eines bestimmten tRNS-Moleküls teilweise durch sein Anticodon bedingt, ein Basentriplett, durch welches das tRNS-Molekül ein bestimmtes Basentriplett (Codon) auf der m R N S erkennen kann. Genauso wichtig für die Spezifität eines tRNS-Moleküls wie das Anticodon ist seine Fähigkeit, eine bestimmte Aminosäure zu binden, nämlich diejenige, welche durch das Anticodon codiert wird. Diese Spezifität wird mittels spezifischer Enzyme erreicht. Diese Enzyme (Aminoacyl-tRNS-Synthetasen) erkennen sowohl die spezifische Aminosäure als auch die spezifische tRNS; sie nehmen also eine Schlüsselposition bei der Übersetzung der genetischen Information ein. Sie bestimmen, welche Ami-

Zweiter Buchstabe

Abb. 7-8 Der aus 64 verschiedenen Basen-Tripletts (Codons) bestehende genetische Code (der mit vier Codebuchstaben ausgedrückte Informationsgehalt der DNS) mit den dazugehörigen Aminosäuren. Nur 61 der 64 Codons stehen für bestimmte Aminosäuren. Die anderen drei Codons sind Stopsignale, die das Ende einer Polypeptidkette bestimmen. Da 61 Tripletts 20 Aminosäuren codieren, muß es „Synonyme" geben, z. B. allein 6 Stück für Leucin (sog. degenerierter Code). Die meisten Synonyme unterscheiden sich voneinander nur im dritten Nucleotid. Der genetische Code ist in dieser Abbildung so dargestellt, wie er im mRNS-Molekül zum Ausdruck kommt. Wie würden die korrespondierenden DNS-Codes (die Codogene) aussehen?

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u

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1

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GGC

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GGA GGG

giy

A G

KAPITEL 7

Abb. 7-9 (a) Zweidimensionale und (b) dreidimensionale Darstellung der Struktur des tRNS-Moleküls aus Hefe, welches verantwortlich ist für die Übertragung der Aminosäure Phenylalanin. Dieses tRNS-Molekül enthält 76 Nucleotide. Vierzehn der 76 Basen sind nicht die typischen (A,G,U und C), sondern mit diesen nahe verwandte Moleküle. Die Bedeutung dieser atypischen Basen liegt darin, daß sie bestimmte Basenpaarungen verhindern, andere jedoch fördern und so die Tertiärstruktur des Moleküls gestalten. Regionen, in denen Basenpaarung stattfindet, sind durch farbige Punkte ge-

pG C G G A U U hU hU G G

GA

GA

\

A C C A • C • G • C U • U • A . A

A C U C m2G

131

kennzeichnet. Jeder Teil des tRNS-Moleküls scheint eine besondere Funktion zu haben: am Akzeptorende ist die Aminosäure gebunden; der T"FC-Arm ist bei jeder tRNS gleich und reguliert wahrscheinlich die Bindung der tRNS an Ribosomen; der DHU-Arm ist im Gegensatz dazu von tRNS zu tRNS verschieden und könnte darüber entscheiden, welche Aminosäure enzymatisch an das Akzeptorende angeheftet wird; der Anticodon-Arm schließlich enthält die drei Basen (Anticodon), die zum Codon der m R N S komplementär sind, in diesem Falle GAA. T T C -Arm

T ¥ C -Arm DHU-Arm

\

GACAC

m'CUGUG

' ' ' ' G AG C

DHU-Arm

_ Akzeptorende

Molekulargenetik

CU

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a G G A G U m5C •

C C A G A Cm U Gm

A A

^

Anticodon-Arm

~ Anticodon- Arm

(a)

(b)

RNS

Abb. 7-10 Bakteriengene in Aktion. In der Mikrophotographie (links) kann man mehrere mRNS-Stränge (in der Abbildung rechts farbig dargestellt) erkennen, die gleichzeitig gebildet werden (Transkription). Der längste, links im Bild, wurde als erster synthetisiert. In dem Maße, wie sich der einzelne

mRNS-Strang vom DNS-Molekül (dem aktiven Chromosomensegment) loslöst, heften sich Ribosomen an die m R N S an und die Übersetzung (Translation) der Information beginnt. Es kommt zur Proteinbiosynthese. Die Proteinmoleküle sind in dieser Mikrophotographie nicht sichtbar.

132

TEIL 3

Genetik und Evolution

nosäure an welche tRNS angeheftet wird (und damit auch, mit welchem Anticodontriplett sie in Verbindung tritt). Inzwischen ist die Basensequenz verschiedener tRNSMoleküle aufgeklärt worden. Jede tRNS-Sorte besitzt eine andere Nucleotidsequenz, jedoch ist die Anzahl der Basen bei allen gleich und auch die Struktur scheint ähnlich zu sein. Bei den eukaryontischen Zellen wird die ribosomale RNS (rRNS) an der DNS des Nucleolus gebildet. Ein Ribosom besteht aus zwei Untereinheiten, von denen eine jede ihre eigenen charakteristischen RNS- und Proteinsorten enthält. Bei Escherichia coliz. B. besitzt die kleinere Untereinheit des Ribosoms eine Sorte von rRNS, die größere Untereinheit zwei andere. Die Ribosomen eukaryontischer Zellen sind zwar etwas größer als die von E. coli, scheinen aber in Bau und Funktion diesen ähnlich zu sein. m R N S und tRNS treffen am Ribosom zusammen. Die Aufgabe des Ribosoms ist es offenbar, mRNS, tRNS und Aminosäuren bei der Proteinsynthese in die richtige Position zueinander zu bringen.

7.3.2 Transkription Bei der RNS-Synthese wird die Nucleotidsequenz eines bestimmten Abschnittes auf einem der DNS-Stränge „abgelesen"; der DNS-Strang dient also als Matrize für die Synthese eines komplementären RNS-Stranges (Abb. 7-10) nach dem Prinzip der Basenpaarung, ähnlich wie bei der Replikation der DNS. Den Schritt von der DNS zur RNS nennt man Transkription. Ausgangsmaterial für die RNS-Synthese sind Nucleosid-5'-triphosphate, die mit Hilfe einer DNS-abhängigen RNS-Polymerase unter Abspaltung von Pyrophosphat miteinander verknüpft werden. Eukaryontische Zellen scheinen mindestens 3 derartige RNS-Polymerasen zu besitzen, für die Synthese von tRNS, r R N S und mRNS. Bei der Synthese von m R N S entsteht im Zellkern der Eukaryonten durch Transkription der DNS-Matrize zunächst ein höhermolekularer Vorläufer der mRNS; diese mRNS-Vorläufer-Moleküle sind 10 bis 20 mal größer als die mRNS-Moleküle von Prokaryonten. Bietet man eukaryontischen Zellen kurzfristig radioaktiv markiertes Uracil an, so entstehen im Zellkern radioaktiv markierte mRNS-Vorläufer-Moleküle. Nur 10 Prozent dieser Radioaktivität läßt sich jedoch außerhalb des Zellkerns wiederfinden; das deutet darauf hin, daß der größte Teil des mRNS-Vorläufer-Moleküls, das im Zellkern von Eukaryonten gebildet wird, nicht an der Proteinsynthese beteiligt ist. Nach ihrer Synthese unterliegen die langen mRNSVorläufer-Moleküle der Eukaryonten im Zellkern noch

einem posttranskriptionalen enzymatischen Fertigungsprozeß. Aus dem Mittelteil des mRNS-Vorläufer-Moleküls werden enzymatisch größere Segmente herausgetrennt. Diese fügen sich zur funktionsfähigen m R N S zusammen, die ins Cytoplasma übertritt. Nur Teile des mRNS-Vorläufer-Moleküls gelangen also ins Cytoplasma und dienen dort als Matrize für die Proteinsynthese. Die cytoplasmatischen mRNS-Moleküle der Eukaryonten sind in etwa genau so groß wie die mRNS-Moleküle der Prokaryonten. Wahrscheinlich wird nicht nur die mRNS, sondern auch die rRNS und tRNS der Eukaryonten ursprünglich in Form langer Vorläufer-Moleküle von den Chromosomen transkribiert, die dann einem ausgedehnten, hochspezifischen enzymatischen Fertigungsprozeß unterworfen werden. Anders als bei den Prokaryonten ist also bei den Eukaryonten ein Gen (Nucleotidsequenz auf einem DNS-Molekül, die für ein bestimmtes Protein codiert) nicht als zusammenhängender Abschnitt, sondern in Teilstücken auf dem DNS-Strang vorhanden. Diese, für die funktionsfähige m R N S und damit für die Synthese des Proteins verantwortlichen Teilstücke sind durch solche Basensequenzen auf dem DNS-Strang voneinander getrennt, die keine Information für die Synthese von funktionsfähiger m R N S liefern, vielleicht aber dennoch bei der Transkription eine Rolle spielen.

7.3.3 Translation Die Übersetzung der durch Transkription in m R N S umgeschriebenen genetischen Information der DNS in die Aminosäuresequenz des Proteins bezeichnet man als Translation. Sie läßt sich in 3 Phasen unterteilen: (1) Startreaktion, (2) Kettenverlängerung und (3) Ende der Synthese und Ablösung. Bei den Prokaryonten wird die Codonsequenz des mRNS-Moleküls vom 5'- zum 3'- Ende abgelesen, genau wie bei der Replikation der DNS. Die Anfangssequenz des mRNS-Moleküls an seinem 5'-Ende ist eine Art Leitregion für die Bindung des mRNS-Moleküls ans Ribosom. Die kleinere Ribosomenuntereinheit, an die ein spezielles tRNS-Molekül (N-Formylmethionyl-tRNS) angelagert ist, trifft auf das mRNS-Molekül an dessen Leitregion und wandert das mRNS-Molekül hinab, bis es ein Codon findet, das mit dem Anticodon der N-Formylmethionyl-tRNS korrespondiert und den Kettenanfang signalisiert. Es entsteht ein Initiationskomplex, der durch Anlagerung der größeren Ribosomenuntereinheit funktionstüchtig wird. Die Startreaktion ist damit beendet. Nun ist das eine Ende der sich bildenden Polypeptidkette (ihr Aminoende) über tRNS an den RibosommRNS-Komplex gebunden. Die Kettenverlängerung

KAPITEL

kann beginnen. Die nächste Aminosäure trifft auf den Initiationskomplex, gebunden an ihre spezifische t R N S eine Einheit, die man als Aminoacyl-tRNS bezeichnet. Die Aminoacyl-tRNS bindet sich über ihr Anticodon an das nächstfolgende Basentriplett (Codon) der m R N S . Die Aminogruppe der neu ankommenden Aminosäure gibt ein Proton an das Ribosom ab und bildet mit der Carboxylgruppe des N-Formyl-Methionins eine Peptidbindung. Das Dipeptid ist nun an die tRNS der neu eingefügten Aminoacyl-tRNS gebunden. Das Ribosom wandert entlang des mRNS-Moleküls in Richtung 3'-Ende um ein Codon weiter. Dabei gerät die Dipeptidyl-t-RNS aus dem Akzeptorbezirk des Ribosoms in den Donorbezirk, die leere tRNS wird frei und der Akzeptorbezirk des Ribo-

7

Molekulargenetik

133

soms kann die nächste Aminoacyl-tRNS aufnehmen. Das Dipeptid der Dipeptidyl-tRNS wird dann unter Bildung einer Peptidbindung mit der Aminosäure der neu eingetretenen Aminoacyl-tRNS verknüpft, und damit ist nun an den Akzeptorbezirk des Ribosoms eine TripeptidyltRNS (eine tRNS mit einem Tripeptid) gebunden. Wenn sich das Ribosom Codon für Codon in Richtung 3'-Ende am mRNS-Molekül entlang bewegt, entsteht auf diese Weise ein Di-, Tri-, Tetra- und schließlich das von der m R N S codierte Polypeptid (Abb. 7-11). Die jeweils frei werdende tRNS kann wieder mit „ihrer" Aminosäure beladen werden. Die Synthese der Polypeptidkette wird beendet, wenn das Ribosom auf eines der 3 Tripletts trifft, die das Ketten-

5'

Polypeptidkette

Codon messenger RNS

Anticodon transfer RNS

/V©

Transkription

Translation

(a)

(b)

Abb. 7-11 Schematische Darstellung von Transkription und Translation, (a) Bei der Transkription dient ein Stück eines Stranges der DNS-Helix als Matrize für die Synthese eines komplementären messenger RNS-Moleküls (mRNS). (b) Bei der Translation wirken drei verschiedene RNS-Sorten zusammen mit einer Reihe von Enzymen und Proteinen an der Bildung einer neuen Polypeptidkette. Die ribosomale R N S (rRNS) ist Bestandteil der Ribosomen, an denen die Polypeptidsynthese stattfindet. Die Ribosomen bestehen aus zwei Untereinheiten, einer größeren (50 S) und einer kleineren (30 S). Die transfer-RNS (tRNS) verbindet sich mit Aminosäuren und bewirkt deren korrekten Einbau in die wachsende Polypeptidkette. Die messenger-RNS (mRNS) bringt die Information, die in einem Gen gespeichert ist, zum Ribosom. Die Information ist codiert in Gruppen von drei Nucleotiden (Tri-

pletts), den Codons, und jedes Codon steht für eine bestimmte Aminosäure. Das Codon wird von seinem komplementären Anticodon auf dem tRNS-Molekül erkannt, das zuvor mit seiner spezifischen Aminosäure beladen worden ist (Aminoacyl-tRNS). In dieser Abbildung sind die meisten Aminosäuren als numerierte Kreise dargestellt; die Aminosäure Glycin (gly) ist gerade mit ihrer t R N S am Akzeptorbezirk des Ribosoms gebunden worden. Glycin wird eine Peptidbindung zum Leucin (leu) bilden und so die wachsende Polypeptidkette um eine Aminosäure verlängern. Das Ribosom wandert dann auf dem mRNS-Molekül entlang ein Codon weiter, in Richtung 3'-Ende; die Peptidyl-tRNS gerät so in den Donorbezirk des Ribosoms, die leere tRNS wird entlassen, und der Akzeptorbezirk des Ribosoms kann eine neue tRNS binden, die in diesem Falle mit der Aminosäure Serin verknüpft ist.

134

TEIL 3

Genetik und Evolution

ende signalisieren - U A A , U A G oder U G A . Diese Tripletts codieren keine Aminosäure, lösen aber einen Prozeß aus, der zur hydrolytischen Abspaltung der letzten Aminosäure des Peptids von ihrer t - R N S im Donorbezirk des Ribosoms führt. Nach Beendigung der Proteinsynthese dissoziiert der Ribosomen-m-RNS-Komplex wieder in die beiden Ribosomenuntereinheiten und m-RNS; das N-Formyl-methionin am Aminoende des Proteins (Kettenanfang) wird abgespalten.

7.4 Regulation der Gen-Transkription Das Ablesen der Gene unter Bildung von m R N S unterliegt einer ausgefeilten Kontrolle seitens der Zelle. Sogar bei Prokaryonten gibt es mehrere ineinandergreifende Systeme, die darüber bestimmen, welche Gene wann abgelesen werden und in welchem Maße. Eukaryonten scheinen viele Möglichkeiten der Genregulation mit den Prokaryonten zu teilen, jedoch ist wenig über die Einzelheiten der Kontrollmechanismen von Eukaryonten bekannt. Einige prokaryontische Gene sind sehr genau untersucht worden und wir wissen daher einiges über die Regulation ihrer Transkription. Am besten untersucht ist wohl die Transkription einer Region auf dem „ C h r o m o s o m " von Escherichia coli, die man als „lac-Operon" bezeichnet (s. Kap. 7.4.1). Normalerweise kommt im natürlichen Milieu dieser Bakterien das Disaccharid Lactose nicht vor, so daß sie die Enzyme, die zum Abbau der Lactose erforderlich sind, nicht synthetisieren. Gibt m a n jedoch in das Kulturmedium Lactose, so beginnen die Bakterienzellen bald große Mengen des Enzyms ß-Galaktosidase zu bilden, welches das Disaccharid in Glucose und Galaktose spaltet, und so dem Bakterienstoffwechsel die Lactose zugänglich macht (Abb. 7-12). Bei E. coli-Zellen, die auf einem lactosehaltigen Medium wachsen, enthält jede Zelle ungefähr 3000 Moleküle Abb. 7-12 Bei dem Bakterium Escherichia coli ist zur Spaltung eines Moleküls Lactose in ein Molekül Galaktose und ein Molekül Glucose das Enzym ß-Galactosidase erforderlich. Dieses Enzym ist induzierbar; das Substrat, welches die Enzymsynthese induzieren kann, ist der Induktor, in diesem Falle das Disaccharid Lactose.

ß-Galactosidase. Das sind ungefähr 3 Prozent des Gesamtproteins der Zelle. Die Lactose induziert also die Synthese des Enzyms, das zu ihrem Abbau erforderlich ist. Mehrere Fälle von Enzyminduktion durch energiereiche Substanzen sind inzwischen bekannt. In anderen Fällen wiederum werden Enzyme, die für die Synthese bestimmter Aminosäuren oder anderer Stoffwechselprodukte erforderlich sind, nicht synthetisiert, wenn das betreffende Stoffwechselprodukt in der Zelle in ausreichender Menge vorhanden ist. An einer solchen Repression der Enzymsynthese durch bestimmte Stoffwechselprodukte ist dasselbe Kontrollsystem beteiligt, wie an der Induktion.

7.4.1 Das Operon Francois Jacob und Jacques M o n o d , die 1965 den Nobelpreis erhielten, entwickelten die Operon-Hypothese, um die Regulation der Enzymsynthese bei Bakterien erklären zu können. Danach unterliegt die Enzymsynthese einem Regulationsmechanismus, an dem mehrere Strukturgene, ein Operatorgen und ein Regulatorgen beteiligt sind. Das Operon besteht aus den Strukturgenen und dem Operatorgen, die nebeneinander auf einem DNS-Segment aufgereiht sind und eine Funktionseinheit bilden. Alle Strukturgene des Operons werden auf dasselbe mRNS-Molekül transkribiert und werden bei der Translation gemeinsam abgelesen. D a jedes Strukturgen für die Synthese eines spezifischen Enzyms verantwortlich ist, entstehen also bei der Translation, je nach Anzahl der Strukturgene im Operon, ein bis mehrere Enzyme. Ob die Strukturgene transkribiert werden können oder nicht, darüber entscheidet das Operatorgen, kontrolliert vom Regulatorgen. Ist das Operatorgen aktiv, so können die Strukturgene transkribiert werden; wird es inaktiviert, so hört die Transkription der Strukturgene auf. Im Falle der EnzymGalaktose

H

CH,OH

OH

HO OH

Lactose

H

OH

Glucose

KAPITEL 7

Induktion ist das Operon anfänglich inaktiv, denn das Regulatorgen liefert eine mRNS, die die Synthese eines aktiven Repressors veranlaßt, der das Operatorgen inaktiviert; bei Anwesenheit eines Induktors wird dieser aktive Repressor jedoch inaktiviert, das Operon ist dann aktiv und die Synthese der durch die Strukturgene codierten Enzyme kann stattfinden. Im Falle der Enzymrepression ist das Operon anfänglich aktiv, denn das Regulatorgen liefert eine mRNS, die die Synthese eines inaktiven Repressors veranlaßt. Bei Anreicherung des Stoffwechselproduktes wirkt dieses jedoch als Corepressor, der den inaktiven Repressor aktiviert; das Operatorgen und damit das Operon wird inaktiviert, die Enzymsynthese wird eingestellt. Im „lac-Operon" von E. coli z.B. codieren mehrere Strukturgene für die Synthese von ß-Galactosidase und anderen Enzymen des Lactosestoffwechsels. Die Synthese dieser Enzyme unterliegt wahrscheinlich zwei Kontrollsystemen, einem negativen und einem positiven. Bei hohem Lactose-, aber niedrigem Glucoseangebot kommt es zur ausgiebigen Synthese von Enzymen des Lactosestoffwechsels (Lactose = Induktor). Sobald jedoch das Glucoseangebot groß ist, hört die Spaltung der Lactose in Galaktose und Glucose auf (Glucose = Corepressor). Anders als bei den Prokaryonten werden bei den Eukaryonten keine Gruppen von Genen (Operons) zusammen auf ein einziges mRNS-Molekül transkribiert. Jede cytoplasmatische m R N S eukaryontischer Zellen trägt jeweils nur die Information zur Synthese eines einzigen Peptids. Kontrollsysteme gibt es jedoch sicherlich auch in Pflanzen. Dafür spricht, daß bei Nachtkerze (Oenothera) und Mais (Zea mays) Mutationen entdeckt werden konnten, die eine uneingeschränkte Synthese bestimmter Enzymgruppen zulassen, vergleichbar der uneingeschränkten Synthese von ß-Galactosidase bei E. coli mit mutiertem Operatorgen.

7.4.2 Regulation durch Rückkopplungshemmung Neben den genetischen Kontrollmechanismen, welche durch Veränderung der Enzymzusammensetzung einer Zelle Einfluß auf deren Funktion nehmen, gibt es noch eine Reihe von Kontrollmechanismen, die auf bereits vorhandene Enzyme einwirken. Der einfachste ist die Rückkopplungshemmung (,, feed-back "-Hemmung). Wenn sich das Endprodukt eines bestimmten Biosyntheseweges anhäuft, kann sich dieses mit einem Enzym meist dem ersten - dieser Biosynthesekette verbinden und es somit funktionsunfähig machen. Solange das Endprodukt eines Biosyntheseweges in zu hoher Konzentration vorliegt, können keine weiteren Moleküle mehr in den

Molekulargenetik

135

Stoffwechselweg eingeschleust werden, denn sein erster Schritt ist erfolgreich blockiert. Wird das Endprodukt jedoch verbraucht und damit seine Konzentration herabgesetzt, so wird das Enzym, welches den ersten Schritt der Biosynthesekette katalysiert, wieder frei und die Biosynthesekette kann wieder ablaufen. So kann die Zelle mit großer Genauigkeit die Konzentration der unterschiedlichen Moleküle regulieren. Diese Rückkopplungshemmung durch das Endprodukt ist ein Beispiel für einen allosterischen Effekt. Die Bindungen, durch welche die Tertiärstruktur eines Proteins aufrechterhalten wird, sind bekanntlich schwach. Wenn sich ein bestimmtes Molekül (der allosterische Effektor) an das Protein anlagert, kann es dabei diese schwachen Bindungen derart angreifen, daß sich die Tertiärstruktur des Proteins ändert. Durch diese Formveränderung des Proteins kann das aktive Zentrum des Enzyms in Mitleidenschaft gezogen und so das Enzym gehemmt werden.

7.5 Differenzierungskontrolle bei vielzelligen Systemen Die Differenzierung ist ein Entwicklungsvorgang, bei dem relativ unspezialisierte Zellen oder Gewebe sich fortlaufend verändern und dabei eine spezialisiertere Funktion oder Struktur erlangen. In der Differenzierung zum reifen Organismus finden die Gene ihren Ausdruck. Der Vorgang der Differenzierung ist besonders gut bei zellulären Schleimpilzen untersucht worden. Zu diesen gehört auch Dictyostelium discoideum (Abb. 7-13), an Hand dessen wir zeigen wollen, wie Einflüsse, die von außen auf sich entwickelnde Zellen oder Gewebe einwirken, deren reifen Zustand bestimmen können. Die zellulären Schleimpilze leben die meiste Zeit als unabhängige, amöbenartige Zellen (Myxamöben), die sich durch Phagocytose von Bakterien in ihrer Umgebung ernähren (siehe Abb. 3-11). Sie vermehren sich durch Zweiteilung ihrer Zellen und zeigen nur geringe morphologische Differenzierung, bis ihnen die Nahrung ausgeht. Bedingt durch den Hunger bilden die zellulären Schleimpilze Sporen - aber in recht komplizierter Weise. Die Einzelzellen kriechen zunächst zu einer nacktschneckenförmigen beweglichen Masse, dem Pseudoplasmodium, zusammen. Dies wandert an einen neuen Ort, bevor die Sporen gebildet und freigesetzt werden. Dies gewährleistet, daß die Sporen nicht an alten Standorten, deren Bakterienvorrat erschöpft ist, freigesetzt werden. Die Aggregation der Myxamoeben beginnt, wenn eine oder mehrere hungernde Zellen anfangen, zyklisches Adenosinmonophosphat (cAMP) ins Medium abzusondern (Abb. 7-14). Das cAMP diffundiert im Medium und

136

TEIL 3

Genetik und Evolution

20 Mm

Abb. 7-13 Entwicklungszyklus eines zellulären Schleimpilzes, Dictyostelium discoideum. (a) Amöben im Stadium der Nahrungsaufnahme. Die hellgraue Stelle in der Mitte einer jeden Zelle ist der Kern, die weißen Stellen sind pulsierende Vakuolen, (b) Aggregierende Amöben. Die Richtung, in welche der Zellstrom fließt, wird durch den Pfeil angegeben, (c) Wandernde Pseudoplasmodien, von denen ein jedes aus vielen Amöben besteht. Jede dieser „Nacktschnecken" gibt eine dicke Schleimhülle ab, die hinter ihr zusammenfällt, (d) Am Ende der Wanderungsphase differenziert sich das Pseudoplasmodium in einen Stiel und eine in einem Tröpfchen suspendierte Sporenmasse.

es entsteht ein Konzentrationsgradient von cAMP, mit der höchsten Konzentration in unmittelbarer Nähe der sezernierenden Zellen. Die Zellen in der Umgebung antworten, indem sie in Richtung der höheren cAMP-Konzentration zu wandern beginnen (Abb. 7-13 b). Wenn sie im Aggregationszentrum zusammentreffen, werden diese Zellen angeregt, einen neuen cAMP-Stoß auszusenden. Diese größeren cAMP-Mengen können weiter ins Medium hineindiffundieren und weitere Zellen dazu veranlassen, ins Aggregationszentrum zu wandern. Nach dem Aussenden eines cAMP-Stoßes müssen ungefähr 5 Minuten vergehen, bis neues cAMP von dem Zellaggregat abgegeben werden kann. Mindestens 3 Schübe von Zellen werden so ins Aggregationszentrum gelockt. Dort angelangt werden die Plasmamembranen der Zellen klebrig, sie bleiben aneinander haften und es entsteht ein Pseudoplasmodium, das von einer Cellulosehülle umgeben ist. Was schließlich aus der einzelnen Zelle (Myxamöbe) wird, hängt von ihrer Lage im Pseudoplasmodium ab. Aus den Zellen, die als erste im Aggregationszentrum zusammentreffen, entsteht meist die Spitze des Pseudoplasmodiums; die zuletzt eintreffenden Zellen bilden die Basis. Wenn ein nacktschneckenförmiges Gebilde entstanden ist, krümmt sich das Pseudoplasmodium nach vorne und kommt horizontal zu liegen. In dieser Lage kann es sich mehrere Tage lang wie eine „Nacktschnecke" vorwärts bewegen (man nennt diese Phase „Migrationsphase"), aber nur in Richtung Spitze (Abb. 7-13c). Wenn die Wanderung aufhört, bildet die Basis des Pseudoplasmodiums eine flache Scheibe und die Spitze wird zu einer Papille (Abb. 7-13 d). Die Zellen der Apikairegion (die Zellen, die als erste aggregiert sind) wandern in einem axialen Strang durch die Zellmasse hindurch auf die feste Unterlage zu und wandeln sich dabei in Stielzellen des entstehenden Fruchtkörpers um. Auch an der

KAPITEL 7

s

o=p—o

nach einem festen Plan in genau festgelegter Reihenfolge;

S s r c - -N'

zesses. Bei jedem Entwicklungsschritt finden hochspezifi-

-CH.,

'Ov

5S5 H

-O

137

NH2 I 'NJ N ^ C ' H C

o-

Molekulargenetik

H

die Anordnung und die zeitliche Abfolge der einzelnen Schritte bestimmen das Ergebnis des Entwicklungsprosche Anpassungen der Zellen und Änderungen im Ausdruck der Gene statt. D e r Entwicklungsablauf bei Tieren ist relativ unempfindlich gegen Störungen von außen, die das empfindliche Gleichgewicht außer K r a f t setzen könn-

OH

Abb. 7-14 Zyklisches AMP (Adenosinmonophosphat) ist der Lockstoff (Acrasin), welcher die Aggregation der amöboiden Zellen der Acrasiomyceten (zelluläre Schleimpilze) verursacht. Bei den Säugetieren wirkt dieselbe Substanz als sekundärer Botenstoff („second messenger") von Hormonen. Seine Bildung wird durch extrazelluläre Hormone, wie z.B. Adrenalin, ausgelöst und sorgt innerhalb der Zellen für die Entstehung der charakteristischen Hormoneffekte. Zyklisches AMP entsteht aus ATP. Das Wort zyklisch (im englischen cyclic, daher cAMP) bezieht sich darauf, daß die Atome der Phosphatgruppe einen Ring bilden.

ten, das für die Bildung der komplizierten Gewebe eines erwachsenen Tieres notwendig ist. Bei Pflanzen hingegen unterliegt die Entwicklung äußeren Einflüssen. Gewebespezifische Differenzierungen in Pflanzen unterliegen zwar der K o n t r o l l e durch H o r m o n e , deren Produktion aber ist Ausdruck von Veränderungen der Außenwelt. Die Fähigkeit der Pflanzen, auf Außeneinflüsse zu reagieren, führt zur Entwicklung von Individuen, die gut an ihre Standorte angepaßt sind; dies ist besonders wichtig im Hinblick darauf, daß Pflanzen j a anders als die Tiere - unfähig sind, günstigere Lebensbedingungen dadurch zu erlangen, daß sie von Ort zu Ort

Spitze, die hauptsächlich aus Cellulose besteht, verlängert

ziehen.

sich der Stiel. Die einst hintersten Zellen des Pseudoplas-

Anders als bei höheren Tieren ist ein großer Teil der

modiums wandern zur Spitze des Stiels und wandeln sich

Differenzierung bei Pflanzen reversibel; dies liegt z. T. dar-

in Sporen um. F u ß und Stiel des Fruchtkörpers (Sporo-

an, d a ß es bei Pflanzen kein inneres, festgelegtes Entwick-

karp) sterben schließlich ab und die Sporen werden ent-

lungsschema gibt. Im J a h r e 1958 isolierte der Pflanzen-

lassen. Wenn die Sporen a u f feuchtwarmen Untergrund

physiologe F. C. Steward kleine Gewebestückchen aus

fallen, keimen sie aus. Jede, von einer Cellulosewand um-

dem sekundären Phloem der Möhrenwurzel ( D a u c u s ca-

gebene Spore entläßt eine zellwandlose M y x a m ö b e ; der

rota), brachte sie in flüssiges Nährmedium und kultivierte

Entwicklungszyklus kann damit von neuem beginnen.

sie in einer rotierenden Flasche. Von den wachsenden

Selbst in diesem ziemlich einfachen eukaryontischen

Zellklumpen lösten sich kontinuierlich Zellen ab und

System gibt es also die Phänomene der Zellerkennung,

schwammen im Medium frei umher. Steward beobachte-

der differentiellen Zellwanderung und des lokalen Todes.

te, daß sich viele der Zellklumpen zu Wurzeln differenzier-

N o c h komplizierter ist die zelluläre Differenzierung bei

ten. Brachte er sie a u f festes Agarmedium, so entwickel-

Pflanzen; sie unterliegt einer noch genaueren K o n t r o l l e .

ten sich aus einigen Zellklumpen Sprosse. N a c h Ü b e r t r a gung in Erde, beblätterten sich die kleinen Pflänzchen,

7.5.1

Differenzierungskontrolle bei Pflanzen

blühten und bildeten Samen. D a s deutet d a r a u f h i n , daß zumindest einige Zellen des differenzierten Phloemgewebes - solche, die einen lebenden Protoplasten mit Zellkern

Zur Entwicklung höherer Pflanzen gehört die Differenzie-

besitzen - noch immer das gesamte genetische Potential

rung der verschiedenen Gewebe, aus denen sich die er-

zur Entwicklung der Pflanze enthalten. Es zeigt auch

wachsene Pflanze zusammensetzt. Eine Pflanze besteht

deutlich, daß differenzierte Zellen in der Lage sind, Teile

aus einer ausgeklügelten F o l g e vieler verschiedenen G e -

ihrer vorher nicht zum Ausdruck gekommenen geneti-

webe, die in einer genau festgelegten morphologischen

schen Information zum Ausdruck zu bringen, wenn ge-

und physiologischen Beziehung zueinander stehen. Alle

eignete Signale der Außenwelt diese speziellen Entwick-

stammen letztlich von derselben Zelle ab - der befruchte-

lungsmuster in G a n g setzen.

ten Eizelle, der Zygote. J e mehr komplizierte Gewebe eine Pflanze enthält, umso schwieriger ist die Entwicklungskontrolle. Die Entwicklung höherer Pflanzen ist von der Entwick-

7.5.2 Differenzierungskontrolle durch das Cytoplasma

lung der Tiere grundsätzlich verschieden. Bei den Tieren

Bei vielen Organismen spielen Cytoplasmabestandteile ei-

unterliegt die Entwicklung hauptsächlich einer K o n t r o l l e

ne direkte R o l l e bei der Zelldifferenzierung; so z. B . Zell-

von innen heraus. Die Entwicklung der Tiere verläuft

organellen wie Piastiden und Mitochondrien, die ihre ei-

138

TEIL 3

Genetik und Evolution

gene DNS besitzen. Wenn diese Organellen bei der Mitose zwischen den Tochterzellen ungleich aufgeteilt werden, ergibt sich daraus für die entstehenden Zellreihen ein sehr unterschiedliches Schicksal. Beim Transport einer Substanz durch die Zelle kommt es zu winzigen quantitativen Unterschieden in den verschiedenen Zellbereichen; es entsteht ein mikrochemischer Gradient für diese Substanz innerhalb der Zelle. Auch diese mikrochemischen Gradienten spielen eine große Rolle bei der Differenzierung. So wird z. B. bei der Braunalge Fucus durch die Schwerkraft im befruchteten Ei ein Gradient an unlöslichen, gespeicherten Nährstoffpartikeln aufgebaut. Dieser Gradient wiederum bestimmt die Lage des Spindelapparates bei der ersten Zellteilung der Zygote. Dabei entstehen zwei sehr unterschiedliche Zell-Linien, die gleich durch die erste Zellteilung im Leben des Individuums determiniert werden. Eine solche inäquale Zellteilung kann auch von fundamentaler Bedeutung für die Abgliederung verschiedener, im Cytoplasma enthaltener Elemente und damit für das Schicksal der entstehenden Zell-Linien sein. Bei den Zellen höherer Organismen, wo viele Substanzen mit verschiedener Geschwindigkeit in verschiedene Richtungen diffundieren und unterschiedliche Gewebe oft sehr eng beieinanderliegen, müssen vergleichbare, aber wesentlich kompliziertere Effekte sehr verbreitet sein. So werden nicht nur Gradienten innerhalb von Zellen und Geweben aufgebaut, die eine außerordentlich feine Kontrolle von Entwicklungsprozessen ermöglichen, sondern darüber hinaus scheint die Differenzierung einer jeden Zelle weitgehend von ihrer Lage in der sich entwickelnden Pflanze oder im Tier abhängig zu sein. Einige Möglichkeiten, wie Hormone und andere Faktoren bei der Entwicklung höherer Pflanzen zusammenspielen können, werden wir in Teil 6 besprechen.

7.6 Zusammenfassung Den Schlüssel zum Verständnis der Vererbung fand man in den 40er Jahren unseres Jahrhunderts durch die Entdeckung der Rolle der DNS. Eine Reihe von Ergebnissen deuteten darauf hin, daß die DNS Sitz der genetischen Information ist, aber erst die Aufstellung der Doppelhelix-Struktur der DNS mit ihrer komplementären Basenpaarung durch James Watson und Francis Crick Anfang der 50er Jahre bot ein molekulares Modell, das unsere Kenntnisse über die Vererbung rapide erweiterte. Die Arbeitsweise der genetischen Maschinerie der Zellen ist uns heute bis in viele Einzelheiten hinein bekannt. Die Replikation der DNS erfolgt, indem zu jeder der beiden DNS-Stränge der Doppelhelix eine komplementäre Kopie synthetisiert wird. Zahlreiche Enzyme wirken

daran mit, daß die Doppelhelix lokal aufgelöst wird, die beiden DNS-Stränge sich voneinander trennen und neue Nucleotide sich in richtiger Basensequenz an die beiden DNS-Stränge heften. Die genetische Information der DNS kommt nicht direkt, sondern erst nach Übertragung auf Boten-RNS (messenger RNS; mRNS) zum Ausdruck. Diese mRNSMoleküle sind lange Moleküle, die durch komplementäre Basenpaarung an einem Strang der DNS-Doppelhelix gebildet und nach Modifikation zu den Cytoplasma-Ribosomen transportiert werden. Der Weg von der DNS zur RNS, die sog. Transkription, steht unter strenger genetischer Kontrolle. Jede Sequenz aus 3 Nucleotiden (Triplett) auf dem mRNS-Molekül dient als Codon für eine spezifische Aminosäure. An den Ribosomen trifft die m R N S mit einer Reihe kleiner RNS-Moleküle, den transfer RNS-Molekülen (tRNS) zusammen. Jedes tRNS-Molekül besitzt eine Sequenz aus 3 Nucleotiden, das Anticodon, das komplementär zu einem bestimmten Codon auf der m R N S ist. Das tRNS-Molekül, dessen Anticodon komplementär zum nächsten Codon auf dem mRNS-Molekül ist, verbindet sein Anticodon mit dem Codon der m R N S und fügt, geleitet vom Ribosom, seine Aminosäure ans Ende der wachsenden Polypeptidkette. Diesen Weg von der m R N S zum Polypeptid (Protein) bezeichnet man als Translation. Jede der 20 natürlich vorkommenden Aminosäuren wird durch ein oder mehrere der auf der m R N S vorkommenden Codons codiert. Die Aminosäuresequenz eines Proteins wird durch die Codonsequenz des mRNS-Moleküls bestimmt, das für die Synthese dieses Proteins verantwortlich ist. Die Codonsequenz eines jeden mRNSMoleküls hängt letztlich von der Basensequenz der D N S ab, von der die m R N S transkribiert worden ist. Jede Dreiergruppe von Nucleotiden auf der DNS, ein Codogen, bestimmt eine komplementäre Dreiergruppe von Nucleotiden auf dem mRNS-Molekül, das komplementäre Codon. Da es für dieselbe Aminosäure mehrere (meist 3 - 4 ) alternative Codons gibt (sog. degenerierter Code), und zu jedem eine spezifische tRNS mit dem passenden Anticodon gehört, kann ein und dieselbe Aminosäure also auch durch mehrere alternative tRNS-Moleküle ins Protein eingebracht werden. Welches Codon für welche Aminosäure steht, ist genau untersucht worden und inzwischen liegt das komplette „Wörterbuch des genetischen Codes" vor. Die Nucleotidsequenz eines DNS-Abschnittes enthält nicht nur Informationen über die Proteinsynthese. Nur ein kleiner Teil des im eukaryontischen Zellkern gebildeten mRNS-Vorläufermoleküls gelangt als funktionsfähige m R N S ins Cytoplasma und dient der Proteinsynthese.

KAPITEL 7

Die Regulation der Proteinbiosynthese bei Prokaryonten beruht auf der „Operon-Hypothese" von Jacob und Monod. Hierbei wird ein Operon, eine Gruppe von Genen, welche die Bildung bestimmter Enzyme codiert, von einer durch ein Regulatorgen gebildeten Substanz, dem Repressor, quasi an- und ausgeschaltet. Der Repressor wird dabei entweder durch Vereinigung mit einem Induktor inaktiviert, oder durch Vereinigung mit einem Corepressor (Endprodukt) aktiviert. Dies ist z.B. beim lacOperon von Escherichia coli der Fall, wo Lactose der Induktor und Glucose, eines der beiden Spaltprodukte der Lactose, als Corepressor fungiert. Die Entwicklung von Eukaryonten bedarf einer komplizierten Abfolge von

Molekulargenetik

139

Schritten; als Beispiel ist der Entwicklungszyklus des zellulären Schleimpilzes Dictyostelium discoideum beschrieben. Bei Pflanzen müssen sich mehrere Gewebe, die in engem morphologischen und physiologischen Zusammenhang stehen, entwickeln, damit die erwachsene Pflanze zu einem funktionstüchtigen Ganzen wird. Wann sich eine Zelle differenziert und zu was sie sich differenziert, wird letztlich von außen bestimmt und kann reversibel sein. Im Prinzip kann nämlich jede differenzierte Pflanzenzelle, die noch einen Protoplasten mit Zellkern besitzt, dedifferenziert und dazu veranlaßt werden, eine komplette, lebende Pflanze zu bilden.

Kapitel 8 Klassische Genetik

In Kapitel 7 ging es um die Molekulargenetik, deren Versuchsobjekte zumeist Prokaryonten sind. Das vorliegende Kapitel hingegen befaßt sich mit der klassischen Genetik, der Genetik der Eukaryonten, die auf Gregor Mendel zurückgeht (Abb. 8-1). Wir haben die klassische Genetik bis zu diesem Kapitel zurückgestellt, um ihre Bedeutung für die Evolutionstheorie (Abstammungslehre) deutlich zu machen, die im selben Teil des Buches behandelt werden soll. Darwin vollendete sein großes Werk über die Evolution ohne Kenntnis der Mendelschen Untersuchungen. Die Evolutionsforschung des 20. Jahrhunderts hingegen stützt sich sowohl auf die Untersuchungen Mendels und seiner Nachfolger als auch auf Darwins Werk On the Origin of Species*

8.1 Unterschied zwischen Eukaryonten und Prokaryonten

Abb. 8-1 Gregor Mendel (1822-1884) (hinten rechts, stehend, mit einer Pflanze in der Hand) machte seine genetischen Untersuchungen im Klostergarten von Brünn (heutige CSSR). Seine Arbeiten wurden zu seinen Lebzeiten nicht verstanden, gerieten in Vergessenheit und wurden erst Anfang unseres Jahrhunderts wiederentdeckt.

Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Eukaryonten und Prokaryonten besteht darin, daß sich die Eukaryonten meist geschlechtlich fortpflanzen, die Prokaryonten hingegen nicht. Es gibt zwar einige eukaryontische Organismen, die sich nicht geschlechtlich fortpflanzen, doch haben diese in den meisten Fällen die Fähigkeit zur geschlechtlichen Vermehrung vermutlich erst im Laufe der Evolution verloren. Di e geschlechtliche Fortpflanzung bedarf eines regelmäßigen Wechsels von Meiose (Bildung von Gameten) und Syngamie (Vereinigung der Gameten zur Zygote); diesen Wechsel bezeichnet man als Kernphasenwechsel. Die Meiose (s. Kap. 8.3) ist der Kernteilungsprozeß, bei dem die diploide (2 n) Chromosomenzahl auf die haploide (n) reduziert wird. Während der Meiose durchläuft der Zellkern einer diploiden Zelle zwei Teilungen, wovon die erste eine Reduktionsteilung ist. Bei diesen Teilungen entste-

* Der vollständige Titel von Charles D a r w i n s Werk lautet: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. (Die E n t s t e h u n g der Arten durch natürliche Selektion, oder das Überleben der geeignetsten Rassen im K a m p f ums Dasein.)

142

TEIL

3 Genetik und Evolution

hen 4 Zellkerne, mit je nur der halben (n) Chromosomenzahl des Ausgangskerns (2 n). Die Syngamie ist der Prozeß, bei dem zwei haploide Zellen (Gameten) unter Bildung einer diploiden Zelle (Zygote) miteinander verschmelzen; durch die Syngamie wird also der diploide Chromosomensatz wiedererlangt. Alle Organismen, mit denen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen werden, sind während des größten Teils ihres Entwicklungszyklus diploid. Solche diploiden Organismen besitzen zwei Chromosomensätze, einen vom Vater und einen von der Mutter, wobei es für jedes mütterliche Chromosom ein Pendant im väterlichen Chromosomensatz gibt. Solche einander paarweise entsprechende Chromosomen, die sich in der Meiose paaren, bezeichnet man als homologe Chromosomen. Durch das Zusammenspiel der Gene beider Chromosomensätze werden die Merkmale des erwachsenen diploiden Organismus bestimmt.

8.2. Bau der eukaryontischen Chromosomen Die Chromosomen der Pflanzen bestehen aus D N S und Protein. Der DNS-Gehalt der verschiedenen Chromosomen ist sehr unterschiedlich; dies kommt in der unterschiedlichen Chromosomenlänge zum Ausdruck. Jedes eukaryontische Chromosom enthält offensichtlich nur einen einzigen DNS-Faden, eine einzige ununterbrochene DNS-Doppelhelix. Dies bedarf einer kunstvollen „Verpackung" der D N S im Chromosom, denn solch ein DNSFaden kann oft mehrere Zentimeter lang sein.

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Die Chromosomen-DNS bildet Komplexe mit einer Reihe von Proteinen, meist Histonen - das sind stark basische Proteine, die einen hohen Gehalt an den basischen Aminosäuren Lysin und Arginin haben (siehe Abb. 2-14). Die meisten Histone bestehen aus 100-130 Aminosäuren; 2 0 - 4 0 davon sind Lysin oder Arginin. Diese basischen Aminosäuren treten gehäuft an einem Ende des Histonmoleküls auf. Es gibt fünf Hauptklassen von Histonen, die sämtlich in den Chromosomen fast einer jeden Zelle vertreten sind. Ihre universelle Verbreitung läßt vermuten, daß sie keine wichtige Rolle bei der differentiellen Transkription von Genen spielen. M a n vermutet jedoch, d a ß sie unter bestimmten Bedingungen modifiziert werden und dann eine Modulation der Genaktivität bewirken können. Histone spielen indes eine wichtige Rolle bei der „Verpackung" der D N S im Chromosom. Ihre positiv geladenen Molekülteile treten in Wechselbeziehung zu dem negativ geladenen „ R ü c k g r a t " der DNS-Doppelhelix mit seinen exponierten Phosphatgruppen und bilden einen DNS-Histon-Komplex, das Chromatin. Ein Eukaryonten-Chromosom hat keine große Ähnlichkeit mit dem Kernäquivalent (s. Kap. 1.1) prokaryontischer Zellen. Statt als freier dünner Faden liegt die D N S von Eukaryonten gebunden an Histone als Chromatinfaser vor. Diese läßt in regelmäßigen Abständen Partikeln erkennen, die wie Perlen auf einer Schnur angeordnet sind. Jede dieser „Perlen" oder Nucleosomen (Abb. 8-2 a) besteht aus zwei Histon-Tetrameren (Komplexen aus 4 Histonmolekülen), um die sich der D N S - F a d e n herumwindet. Diese komplizierte Wechselwirkung zwischen

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1 (a) Abb. 8-2 (a) Elektronenmikroskopische Aufnahme von Nucleosomen auf Chromatinfäden eines Hühnererythrocyten (rotes Blutkörperchen). Die Nucleosomen, die wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht sind - haben einen Durchmesser von ungefähr 10 nm. (b) Lichtmikroskopische Aufnahme eines

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(b) Mitose-Chromosoms von Paeonia californica (Pfingstrose). Die kleinen Knoten, welche man auf den Chromosomenfäden sieht, sind Chromomeren, spiralisierte euchromatische Bereiche des Chromonemas.

KAPITEL

D N S und Histonen bewirkt eine Verpackung der eukaryontischen D N S auf kleinstem R a u m und schützt sie vor dem Abbau durch Enzyme. Die Chromosomen enthalten jedoch auch Nicht-Histon-Proteine. Ihre große Vielfalt und die Tatsache, daß bestimmte Klassen von Nicht-Histon-Proteinen auf bestimmte Zelltypen beschränkt sind, lassen vermuten, daß sie bei der Gen-Transkription eine regulatorische Rolle spielen. Die Gesamtheit aus Chromatin und Nicht-Histon-Protein bezeichnet man als Chromonema. In einigen Teilen des Chromonemas ist der D N S - F a d e n besonders eng kondensiert; diese Chromonemaabschnitte bezeichnet man als Heterochromatin. Den Rest des Chromonemas, der während der Interphase nicht kondensiert ist, nennt man Euchromatin. Die starke Kondensation des DNS-Fadens im Heterochromatin verhindert eine Transkription in diesem Bereich; es kann sogar auch die Ablesung euchromatischer Gene blockiert sein, wenn sie sich zu nahe an einem heterochromatischen Teil des Chromosoms befinden. Während der frühen Meiose oder Mitose kondensiert auch das Euchromatin. Es werden lichtmikroskopisch erkennbare Chromosomenfäden sichtbar, die kleine Knoten, die Chromomeren (Abb. 8-2 b) zeigen, Zeichen für den Beginn der Spiralisierung im euchromatischen Bereich des Chromonemas. Die Spiralisierung schreitet immer weiter fort und die Chromosomenfäden verkürzen sich zu kompakten Gebilden, den Transportchromosomen.

(a) Abb. 8-3 (a) Ausschnitt aus einem Chromosom von Lilium in der frühen Prophase I vor der Chromosomenpaarung. Beachten Sie die dunkle Zentralregion der Längsachse. Sie besteht hauptsächlich aus Proteinen, die das genetische Material des Chromosoms für die Chromosomenpaarung und den

8 Klassische Genetik

143

8.3 Meiose Jede eukaryontische Zelle, die sich in zwei Tochterzellen mit genetisch und morphologisch identischen Zellkernen teilt, durchläuft eine Mitose, (s. Kap. 1.18.2) Im Gegensatz zur Mitose findet die Meiose nur in bestimmten diploiden (2 n) Zellen und nur während eines bestimmten Entwicklungsabschnittes im Leben eines Organismus statt. Bei der Meiose werden haploide (n) Kerne gebildet. Wenn auf die Meiose eine Cytokinese folgt, entstehen aus einer diploiden Zelle 4 haploide Zellen - entweder Sporen (Meiosporen) oder Gameten (Meiogameten). Ein Gamet (Geschlechtszelle) ist eine Zelle, die mit einem anderen Gameten zu einer diploiden Zygote verschmelzen kann. Diese Zygote kann sich dann entweder meiotisch unter Bildung von 4 haploiden einzelligen Organismen oder mitotisch unter Bildung eines vielzelligen diploiden Organismus teilen. Der vielzellige diploide Organismus bildet schließlich durch Meiose wieder haploide Sporen oder Gameten. Eine Spore ist eine Zelle, die sich zu einem Organismus entwickeln kann, ohne vorher mit einer anderen Zelle verschmolzen zu sein. Sporen teilen sich oft mitotisch und bilden dabei haploide Organismen, die schließlich durch Mitose Gameten (Mitogameten) bilden können (siehe Abb. 10-10). Diese Einschaltung einer mehrbis vielzelligen haploiden Generation zwischen Meiose und Gametenbildung ist für Pflanzen typisch.

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Genaustausch in die richtige Lage zu bringen scheinen, (b) Synaptonemaler Komplex zwischen zwei homologen Chromosomen von Lilium. Bei diesem Präparat sind nur 2 Chromatiden sichtbar. Die Schwesterchromatiden liegen in einer anderen Ebene.

144

TEIL 3

Genetik und Evolution

8.3.1 I. Reifeteilung Die Meiose besteht aus zwei aufeinanderfolgenden Kernteilungen, die man Reifeteilungen nennt. Ihre einzelnen Phasen sind in Abb. 8-6 dargestellt. In der I. Reifeteilung, der Reduktionsteilung, werden die homologen Chromosomen einer diploiden Zelle voneinander getrennt. In der Prophase I (Prophase der I. Reifeteilung) werden die im diploiden (2 n) Satz vorhandenen Chromosomen als lange, dünne Fäden sichtbar. Wie bei der Mitose (s. Kap. 1.18.2) haben sie sich bereits während der Interphase verdoppelt. Bei Beginn der Prophase I besteht jedes Chromosom also in Wirklichkeit aus zwei identischen, am Centromer aneinandergehefteten Chromatiden, jedoch ist eine Längsspaltung der Chromosomen in diesem frühen Stadium noch nicht zu erkennen. Ehe die Chromatiden sichtbar werden, lagern sich die einander paarweise entsprechenden, homologen Chromosomen parallel aneinander. Der Paarungsprozeß (Synopsis) beginnt an einer oder an mehreren Stellen längs der homologen Chromosomen und schreitet reißverschlußartig fort. Das resultierende Chromosomenpaar (Bivalent) besteht also aus zwei homologen Gliedern, wobei jedes von einem anderen Elternteil abstammt. Da sich jedes homologe Chromosom aus zwei identischen Chromatiden zusammensetzt, besteht ein Bivalent also aus 4 Chromatiden. Eine Meiose kann nicht in haploiden Zellen ablaufen, weil es dort keine homologen Chromosomen gibt, die sich paaren können. Während der Prophase I ziehen sich die gepaarten Chromosomenfäden mehr und mehr zusammen, die Chromosomen verkürzen und verdicken sich. Mit dem Elektronenmikroskop kann man in der Längsachse eines jeden Chromosoms eine optisch dichte (dunkle) Region sichtbar machen, die hauptsächlich aus Proteinen besteht (Abb. 8-3 a). Während der mittleren Prophase I nähern sich die zentralen Regionen der Längsachsen eines homologen Chromosomenpaares bis auf 0,1 |im und werden durch ein RNS-Proteid, das sog. zentrale Element, starr miteinander verbunden. Sie bilden einen synaptonemalen Komplex (Paarungskomplex) (Abb. 8-3 b). In geeignetem Material kann man erkennen, daß die optisch dichte Zentralregion einer jeden Längsachse doppelsträngig ist, d. h. daß jedes Bivalent aus vier Chromatiden besteht, zwei pro Chromosom. Während der synaptonemale Komplex besteht, brechen zwei homologe Chromatiden eines Bivalents an mindestens einer, einander entsprechenden Stelle auseinander und tauschen über Kreuz ihre Segmente aus. Dabei entstehen wieder vollständige Chromatiden, jedoch mit ausgetauschten Segmenten. Dieses Ereignis bezeichnet man als crossing over. In der späten Prophase I wird der synaptonemale Kom-

Abb. 8-4 Chiasmata in gepaarten Chromosomen einer Heuschrecke (Chorthippus parallelus).

W 5 um Abb. 8-5 Kernspindel in einer Pollenmutterzelle des Weizens (Triticum aestivum) während der Metaphase I der Meiose.

KAPITEL 8

plex wieder aufgelöst. Schließlich bricht die Kernhülle zusammen. Meist verschwindet auch der Nucleolus, weil die RNS-Synthese zeitweilig eingestellt wird. Schließlich scheinen die homologen Chromosomen einander abzustoßen. Ihre Chromatiden bleiben jedoch an ihren, durch crossing-over entstandenen Überkreuzungspunkten, den Chiasmata (sing. Chiasma), miteinander verbunden. In jedem Chromosomenarm kann es ein bis mehrere Chiasmata, manchmal aber auch nur ein einziges im gesamten Bivalent geben. Je nach Anzahl der Chiasmata kann ein Bivalent sehr unterschiedlich aussehen (Abb. 8-4). In der Metaphase I wird der Spindelapparat sichtbar (Abb. 8-5). Die gepaarten Chromosomen, die noch immer an ihren Chiasmata verbunden sind, wandern zur Äquatorialebene der Zelle und heften ihre Centromeren an die Spindelfasern. Anders als bei der mitotischen Metaphase, wo sich die Centromeren auf der Äquatorialebene des Spindelapparates anordnen, ordnen sich die Centromeren der gepaarten Chromosomen in der meiotischen Metaphase I beidseitig der Äquatorialebene an. Die Anaphase I beginnt, wenn die homologen Chromosomen sich gänzlich trennen. Dabei werden die Chiasmata oft ans Ende verschoben (terminalisiert), ehe sie sich endgültig voneinander lösen. Die homologen Chromosomen beginnen zu den Polen zu wandern. Auch hier fällt wieder der Unterschied zur Mitose auf. In der mitotischen Anaphase teilen sich die Centromeren und die identischen Chromatiden werden getrennt. In der meiotischen Anaphase I teilen sich die Centromeren nicht, die Chromatiden bleiben zusammen und die homologen Chromosomen werden getrennt. Wegen des Austausches von Chromatiden-Segmenten durch das crossing-over sind die Chromatiden der beiden homologen Chromosomen nun jedoch nicht mehr identisch mit den Chromatiden, die zu Beginn der Meiose vorgelegen haben. In der Telophase I nimmt die Spiralisierung der Chromosomen ab, sie werden wieder länger und undeutlicher. Die Kernmembran wird beim allmählichen Übergang der Telophase in die Interphase aus dem endoplasmatischen Reticulum wieder neu gebildet. Die Interphase kann je nach Organismus kurz sein oder auch ganz fehlen. Der Nucleolus erscheint wieder. Bei vielen Pflanzen und Tieren treten die Kerne nun sofort in die Prophase der II. Reifeteilung ein.

8.3.2 II. Reifeteilung Die zweite Reifeteilung entspricht einer Mitose; in ihrem Verlauf werden die Chromatiden der in der ersten Reifeteilung getrennten homologen Chromosomen voneinander

Klassische Genetik

145

getrennt. Zu Beginn sind die Chromatiden noch immer durch ihre Centromeren miteinander verbunden. Am Ende der Prophase II löst sich die Kernhülle auf und der Nucleolus verschwindet. In der Metaphase II wird der Spindelapparat sichtbar und die Chromosomen - die je aus 2 Chromatiden bestehen - ordnen sich mit ihren Centromeren auf der Äquatorialebene an. Während der Anaphase II teilen sich die Centromeren und werden auseinandergezogen. Die frisch getrennten Chromatiden, jetzt Tochterchromosomen, wandern zu entgegengesetzten Polen (siehe Abb. 7-1). Während der Telophase II bilden sich neue Kernhüllen und Nucleoli, und die Chromosomen entschrauben sich beim Übergang zum Interphasekern.

8.3.3 Folgen der Meiose Im Laufe der Meiose wird das genetische Material eines diploiden Kerns nur einmal verdoppelt (eigentlich bereits, bevor die Meiose beginnt), jedoch zweimal aufgeteilt. Aus diesem Grund hat jede neue Zelle nur halb so viele Chromosomen, wie der ursprüngliche, diploide Kern. Genetisch bedeutsam ist, daß bei dieser Halbierung des diploiden Chromosomensatzes neuartige haploide Chromosomensätze entstehen: die Anordnung der Bivalente in der meiotischen Metaphase I erfolgt rein zufällig. Mit anderen Worten, die Chromosomen eines Elternteils werden zufällig auf die beiden neuen Kerne verteilt. (Zusätzlich kann jedes Chromosom - wegen des crossing-over - Segmente enthalten, die vom anderen Elternteil stammen). Wenn die ursprüngliche, diploide Zelle zwei homologe Chromosomenpaare enthält (n = 2) so gibt es für die beiden Chromosomenpaare 4 Verteilungsmöglichkeiten in der Anaphase I. Wenn n = 3 ist, so existieren 8 Verteilungsmöglichkeiten; bei n = 4 gibt es 16, usw., d.h. die Anzahl der Verteilungsmöglichkeiten elterlicher Chromosomen in der meiotischen Anaphase ist 2 n . Beim Menschen mit n = 23 gibt es 2 2 3 = 8388608 Möglichkeiten der Verteilung väterlicher und mütterlicher Chromosomen bei der I. Reifeteilung.. Mit wachsender Chromosomenzahl wird die Wahrscheinlichkeit immer geringer, daß sich bei der I. Reifeteilung dieselben Chromosomensätze rekonstituieren, die in den Geschlechtszellen (n) der beiden Eltern des diploiden Organismus vorgelegen haben. Darüber hinaus macht es die Existenz von mindestens einem Chiasma in jedem Bivalent fast unmöglich, daß eine durch Meiose entstandene Zelle genetisch übereinstimmt mit einer der beiden haploiden Zellen, auf deren Verschmelzung die meiotisch geteilte diploide Zelle zurückgeht.

146

TEIL 3

Genetik und Evolution

Abb. 8-6 (a) Schematische Darstellung der wichtigsten Stadien der Meiose mit zwei Chromosomenpaaren. Prophase I: Die Chromosomen werden als langgestreckte Fäden sichtbar, die homologen Chromosomen paaren sich, umschlingen einander, ihre Chromatiden können brechen und kreuzweise neu verschmelzen (crossing over), und die an den Chiasmata zusammengehaltenen Chromosomenpaare verkürzen sich schließlich sehr stark. Metaphase I: Die gepaarten Chromosomen ordnen sich mit ihren Centromeren beiderseits der Äquatorialebene an.

Metaphase II

Anaphase II

Anaphase I: Die gepaarten Chromosomen trennen sich und wandern zu entgegengesetzten Polen. Die zweite Reifeteilung verläuft im wesentlichen wie eine gewöhnliche Mitose. Metaphase II: Die Chromosomen ordnen sich mit ihren Centromeren auf der Äquatorialebene an. Anaphase II: Die Centromeren teilen sich, die Chromatiden trennen sich und wandern zu entgegengesetzten Spindelpolen. Telophase II: Die Chromosomen haben ihre Wanderung beendet. 4 neue Kerne mit je einem haploiden Chromosomensatz werden gebildet.

späte Telophase II

KAPITEL

Abb. 8-6 (b) Meiose und Mikrosporenbildung bei dem Gras Agropyron cristatum, n = 7.

Prophase II: Die Chromosomen werden wieder sichtbar. Jedes besteht aus zwei Chromatiden, die jedoch wegen des crossing-over nicht mehr miteinander identisch sind.

Frühe Prophase I: Die Chromosomen werden als dünne Fäden sichtbar. Jeder Faden ist in Wirklichkeit zweisträngig und besteht aus zwei identischen Chromatiden. Prophase I: Die homologen Chromosomen paaren sich. Dies ist der entscheidende Unterschied zur Mitose. Chiasmata werden sichtbar.

8 Klassische Genetik

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Metaphase I: Die Bivalente ordnen sich mit ihren Centromeren beiderseits der Äquatorialebene an.

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V Anaphase I: Die homologen Chromosomen haben sich voneinander getrennt und wandern zu entgegengesetzten Polen.

147

Telophase II: Die Chromosomen regruppieren sich an den Polen, neue Kernhüllen werden gebildet und die Zellwandbildung setzt ein.

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Späte Telophase I: Die Chromosomen regruppieren sich an jedem Pol und durch Zellteilung entstehen zwei haploide Zellen.

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Tetrade: Es bilden sich neue Plasmamembranen und Zellwände. Aus den 4 Zellen werden Pollenkörner hervorgehen.

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TEIL 3

Genetik und Evolution

Die Meiose unterscheidet sich von der Mitose in drei wichtigen Punkten (vgl. Abb. 8-7): 1. Obwohl das genetische Material nur einmal verdoppelt wird, finden zwei Kernteilungen statt, die zur Bildung von insgesamt 4 Kernen führen. 2. Jeder der 4 Kerne ist haploid, enthält also nur die halbe Chromosomenzahl des diploiden Ausgangskerns. 3. Die durch die Meiose gebildeten Kerne enthalten gänzlich neue Chromosomenkombinationen. Im Gegensatz zur Mitose, bei der Tochterkerne gebildet werden, die mit dem mütterlichen Kern identisch sind, werden in der Meiose also Kerne gebildet, die sich vom Kern der Ausgangszelle unterscheiden. Die genetischen Konsequenzen, die sich aus dem Verhalten der Chromosomen während der Meiose ergeben, sind bedeutend. Wegen Meiose und Syngamie sind Populationen geschlechtlich sich vermehrender diploider Organismen in der Natur nie in sich homogen; sie bestehen vielmehr aus Indivi-

späte Telophase

duen, die sich in vielen Merkmalen voneinander unterscheiden.

8.4 Wirkungsweise der Gene in diploiden Organismen Die charakteristischen Eigenschaften eines diploiden Organismus werden bestimmt durch das Zusammenspiel der Gene eines Genpaares. Diese beiden Gene - Ausbildungszustände desselben Gens, die auf zwei homologen Chromosomen die gleiche Position {locus) einnehmen - nennt man Allele. Wie diese Allele zusammenspielen, um eine bestimmte Eigenschaft hervorzubringen, wurde von Gregor Mendel als erstem entdeckt. Er verwendete für seine Untersuchungen 22 Erbsensorten (Pisum sativum) (Abb. 8-8), die sich in bestimmten Merkmalen gut voneinander unterschieden. Tabelle 8-1 zeigt die 7 Merkmalspaare, die Mendel untersucht hat. Durch Kreuzung verei-

späte Telophase II

KAPITEL 8 Klassische Genetik

149

nigte er die beiden differierenden Merkmale eines Merkmalspaares in einem Individuum (F t ). Mendel untersuchte aber nicht nur die Nachkommenschaft der ersten Tochtergeneration (1. Filialgeneration; F x ), sondern auch der folgenden Generationen. Narbe Anthere

8.4.1 Erste Mendelsche Regel: Uniformitätsregel

Samenanlage

Abb. 8-8 Bei einer Blüte entwickelt sich der Pollen in den Antheren und die Eizellen entwickeln sich in den Samenanlagen. Bei der Bestäubung gelangt Pollen auf die Narbe. Die Befruchtung erfolgt, wenn die von der Narbe eingefangenen Pollenkörner keimen und der Pollenschlauch hinunter zur Samenanlage wächst. Bei den meisten Arten muß Pollen der einen Pflanze auf die Narbe einer anderen Pflanze derselben Art gelangen (Fremdbestäubung = Allogamie oder Xenogamie); diese Pollenübertragung geschieht häufig durch Insekten. Bei der Erbse sind Narbe und Antheren ganz von Blütenblättern (dem sog. Schiffchen) umschlossen. Da sich die Erbsenblüte - im Gegensatz zu vielen anderen Blüten erst nach der Befruchtung öffnet, bestäubt sich die Pflanze normalerweise selbst (Selbstbestäubung = Autogamie). Bei seinen Kreuzungsexperimenten öffnete Mendel die Knospe der Erbsenblüte bevor der Pollen reif war, und entfernte die Antheren mit einer Pinzette. Dann bestäubte er die Blüte künstlich, indem er auf die Narbe Pollen aufbrachte, den er zuvor von anderen Erbsenpflanzen gesammelt hatte. Die befruchtete Eizelle entwickelt sich innerhalb der Samenanlage zum Embryo, und Embryo plus Samenanlage bilden dann den Samen, die Erbse.

Tab. 8-1

Das Mendelsche Kreuzungsexperiment mit Erbsen F 2 -Generation

Charakteristisches Merkmal dominant Samenform Cotyledonenfarbe Blütenfarbe Hülsenform Hülsenfarbe Blütenstellung Blütenachse

rund gelb rot einfach gewölbt grün achsenständig lang

rezessiv

dominant

rezessiv

runzlig grün weiß eingeschnürt gelb endständig kurz

5474 6022 705

1850 2001 224

882 428

299 152

651 787

207 277

Kreuzte Mendel Erbsenpflanzen miteinander, die in einem Merkmal deutlich voneinander abwichen, so war in jedem Falle eins der beiden differierenden Merkmale des betreffenden Merkmalpaares in der ersten Tochtergeneration ( F J nicht mehr sichtbar; sämtliche Nachkommen aus der Kreuzung gelbsamiger und grünsamiger Erbsen z. B. waren gelbsamig, genauso wie der gelbsamige Elternteil. Die F t -Generation ist also in sich einheitlich (1. Mendelsche Regel: Uniformität der F,). Sämtliche Merkmale, die bei derartigen Kreuzungen in der Fj-Generation sichtbar waren (z. B. Gelbsamigkeit) nannte Mendel dominant, Merkmale, die in der F x -Generation nicht sichtbar waren, nannte er rezessiv. Die 1. Mendelsche Regel läßt sich leicht mit Hilfe der Meiose erklären: Es soll eine Kreuzung zwischen weißblühenden und rotblühenden Erbsenpflanzen betrachtet werden (Abb. 8-9). Das Allel für die weiße Blütenfarbe das rezessive Merkmal - wird mit dem kleinen Buchstaben w bezeichnet, das entsprechende Allel für die rote Blütenfarbe - das dominante Merkmal - mit dem großen Buchstaben W. Bei den Erbsensorten, mit denen Mendel arbeitete, hatten die weißblühenden Pflanzen die genetische Konstitution (Genotypus) ww, die rotblühenden Pflanzen den Genotypus WW. Solche Individuen, die zwei identische Allele an einem bestimmten Genort (locus) auf ihren homologen Chromosomen besitzen, sind für das betreffende Gen reinerbig (homozygot). Homozygot rotblühende Erbsenpflanzen bilden nur W-Gameten, weißblühende nur w-Gameten. Wenn also homozygot rotblühende und weißblühende Erbsenpflanzen miteinander gekreuzt werden, so erhält jedes Individuum der F j Generation ein W-Allel vom rotblühenden Elternteil und ein w-Allel vom weißblühenden Elternteil, und besitzt damit den Genotypus Ww (Abb. 8-9 a). Ein solches Individuum ist für das betreffende Gen mischerbig (heterozygot). Alle Erbsenblüten der F, mit dem Genotypus Ww sind rot, das rezessive Merkmal „weiße Blütenfarbe" (w) ist von dem dominanten Merkmal „rote Blütenfarbe" (W) überdeckt.

150

TEIL

3 Genetik und Evolution

Abb. 8-9 (a) Kreuzung zwischen zwei homozygoten Erbsenpflanzen - einer mit zwei dominanten Genen für die rote Blütenfarbe (WW) und einer mit zwei rezessiven Genen für die weiße Blütenfarbe (ww). Die Pflanzen der Fj-Generation sind untereinander gleich; ihre Blüten sind sämtlich rot (Phänotypus), ihr Genotypus ist Ww (also heterozygot). Die F 2 -Generation ist im Kreuzungsschema dargestellt. Das dominante W-Allel bestimmt den Phänotypus. Nur wenn die Nachkommenschaft ein w-Allel von beiden Elternteilen erhält und der Genotypus ww ist, wird das rezessive Merkmal (weiße Blütenfarbe) auch im Phänotypus sichtbar. Bei einem solchen monohybriden, dominant-rezessiven Erbgang spaltet also der Phänotypus der F 2 -Generation im Verhältnis 3 :1 auf, der Genotypus jedoch im Verhältnis 1:2:1. (b) Rückkreuzung einer rotblühenden Erbsenpflanze mit einer weißblühenden, dem rezessiven Elternteil. Obwohl die rotblühende Pflanze phänotypisch identisch ist mit der in (a) dargestellten Pflanze des Genotyps WW, zeigt die Rückkreuzung, daß sie bezüglich des Gens für die Blütenfarbe heterozygot ist. Die Nachkommenschaft spaltet im Verhältnis 1 : 1 auf, eine WW x ww Kreuzung hingegen hätte eine phänotypisch einheitliche WwNachkommenschaft mit roten Blüten ergeben.

8.4.2 Zweite Mendelsche Regel: Spaltungsregel Findet bei Pflanzen der F x -Generation Selbstbestäubung statt, so wird das rezessive Merkmal in der F 2 -Generation wieder sichtbar (Tab. 8-1): Heterozygot rotblühende Erbsenpflanzen der F, bilden z. B. im Laufe der Meiose zwei Sorten von Gameten - W und w zu gleichen Teilen. Bei Kreuzung dieser Gameten entstehen Organismen mit dem Genotypus WW, Ww und ww im Verhältnis 1 : 2 : 1 . Individuen mit dem Genotypus ww sind weißblühend, zeigen also das Aussehen (Phänotypus) des homozygot rezessiven Großeiters. Die heterozygoten Ww-Individuen sind rotblühend und somit phänotypisch von den homozygoten WW-Individuen nicht zu unterscheiden. Dies erklärt die von Mendel beobachtete phänotypische Aufspaltung der F 2 im Verhältnis 3 : 1 bei einem Genotypus von 1 : 2 : 1 (Abb. 8-9 a).

Aus diesen Experimenten läßt sich die zweite Mendelsche Regel: die Regel von der Merkmalsaufspaltung in der F2 ableiten. Erbeigenschaften werden von Genpaaren bestimmt, deren Glieder von je einem Elternteil abstammen. Jedesmal, wenn ein erwachsener N a c h k o m m e Geschlechtszellen bildet, werden die beiden Gene eines Genpaares getrennt und auf die Gameten im Verhältnis 1 : 1 aufgeteilt. So können Eigenschaften von Generation zu Generation weitergegeben werden, ohne sich mit anderen zu vermischen, können phänotypisch verschwinden und in einer späteren Generation wieder auftauchen. Diese Genaufspaltung war für die Evolution von großer Bedeutung.

8.4.3 Rückkreuzung Wie ist nun zu entscheiden, ob eine Pflanze mit roten Blüten den Genotypus W W oder Ww hat? Wie aus Abb. 8-9 b hervorgeht, kann man das durch Kreuzung mit einer weißblühenden (Genotypus ww), also homozygot rezessiven Pflanze, und Ermittlung der Merkmal sverteilung im Phänotypus ihrer Nachkommenschaft erfahren. Dieses Experiment, das auch Mendel anstellte, bezeichnet man als Rückkreuzung, weil es oft, jedoch nicht ausschließlich, als Kreuzung eines Individuums der F t - G e n e r a t i o n mit dem rezessiven Elternteil durchgeführt wird. Ist bei einer solchen Rückkreuzung der Genotypus der zu untersu-

8 Klassische Genetik

KAPITEL

WW

151

ww

K

'



Abb. 8-10 Intermediäre Merkmalsausbildung. Wenn man zwei homozygote Löwenmäulchen - ein rotblühendes (WW) und ein weißblühendes (ww) - miteinander kreuzt, so haben alle Nachkommen (Ww) rosa Blüten. Die Wirkungen der beiden Allele sind also bei den heterozygoten Pflanzen miteinander vermischt. Wenn die rosablühenden Pflanzen (Ww) aber untereinander gekreuzt werden, so sieht man, daß die Gene selbst getrennt geblieben sind, in der F 2 -Generation also nach der 2. Mendelschen Regel aufspalten.

chenden rotblühenden Pflanze Ww - also heterozygot, so spalten die Nachkommen im Verhältnis 1 : 1 auf (Ww und ww). Bei homozygot rotblühenden Erbsenpflanzen hingegen sind die Nachkommen einer solchen Rückkreuzung untereinander gleich (alle Ww).

8.4.4 Intermediäre Merkmalsausbildung In den Beispielen, die wir soeben betrachtet haben, wird durch Anwesenheit des dominanten Allels die Existenz des rezessiven verheimlicht. Dominante und rezessive Merkmale sind jedoch nicht immer so klar umrissen. Bei der intermediären Merkmalsausbildung ist der Phänotypus des heterozygoten Individuums ein Mittelding zwischen den beiden Phänotypen der homozygoten Eltern, weil die Wirkung des einen Allels die Wirkung des anderen nicht vollständig verdecken kann (sog. unvollständige Dominanz).

Abb. 8-11 Bei Phaseolus lunatus (Limabohne) gibt es zwei Gene, die für die Farbstoffverteilung in der Samenschale verantwortlich sind - das eine (S) bewirkt Sprenkelung, das andere (s) eine gleichmäßige Färbung der Samenschale. Die in der oberen Reihe abgebildeten Bohnen besitzen nur wenige dunkle Flecken auf hellem Grund; sie besitzen die Allele SS, sind also bezüglich des Gens für Sprenkelung der Samenschale homozygot. Die in der unteren Reihe abgebildeten Bohnen sind ungefleckt; sie besitzen die Allele ss, sind also bezüglich des Gens für gleichmäßige Färbung der Samenschale homozygot. Die in der Mitte dargestellten Bohnen schließlich besitzen zahlreiche dunkle, ineinanderfließende Flecken. Sie besitzen die Allele Ss, sind also heterozygot und wegen der unvollständigen Dominanz von S ist die Merkmalsausbildung eine intermediäre.

Beim Löwenmäulchen z. B. geht aus der Kreuzung einer rotblühenden mit einer weißblühenden Pflanze eine rosablühende hervor. Wenn die F t -Generation mit sich selbst gekreuzt wird, spalten die Merkmale wieder auf, es entstehen eine homozygot rotblühende, zwei heterozygot rosablühende und eine homozygot weißblühende Pflanze (Abb. 8-10); ein Ergebnis, das mit der 2. Mendelschen Regel, der Regel von der Merkmalsaufspaltung in der F 2 , übereinstimmt. Auch die Farbstoffverteilung in der Samenschale von Phaseolus lunatus (Limabohne) ist ein Beispiel für die intermediäre Vererbung eines Merkmals (Abb. 8-11).

8.4.5 Dritte Mendelsche Regel: Freie Kombinierbarkeit der Erbanlagen Gene sind auf Chromosomen lokalisiert. Bei der Vererbung mehrerer Merkmale spielt es eine Rolle, ob die Ge-

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TEIL 3

G e n e t i k und E v o l u t i o n

Abb. 8-12 Dritte Mendelsche Regel: Freie Kombinierbarkeit der Erbanlagen. In einem seiner Experimente kreuzte Mendel eine Erbsensorte mit runden (RR) gelben (GG) Samen und eine solche mit runzeligen (rr) grünen (gg) Samen. Die Erbsen der Fj-Generation waren alle rund und gelb. In der F 2 Generation jedoch traten die rezessiven Merkmale wieder in Erscheinung, wie das Kreuzungsschema zeigt. Außerdem traten neue Merkmalskombinationen auf. Bei einer solchen Kreuzung mit zwei Paaren von Allelen auf verschiedenen Chromosomen spaltet der Phänotypus der F 2 -Generation im Verhältnis 9 : 3 : 3 : 1 auf; 9 zeigen beide dominanten Merkmale, 1 beide rezessiven Merkmale, und 3 + 3 die beiden möglichen Kombinationen dominanter und rezessiver Merkmale.

runzelig

runzelig

gelb

grun

ne, die für die Ausbildung dieser Merkmale verantwortlich sind, alle auf demselben oder auf verschiedenen Chromosomen lokalisiert sind. Wir werden zunächst den relativ einfachen Fall betrachten, daß die Gene auf verschiedenen Chromosomen lokalisiert sind, und dann den komplizierteren, daß sich die Gene auf demselben Chromosom befinden. Mendel selbst untersuchte Hybriden von Organismen, die sich in zwei Merkmalen voneinander unterschieden. So kreuzte er z. B. Gartenerbsenpflanzen, die bei Selbstbestäubung gelbe, runde Samen bilden mit solchen, die bei Selbstbestäubung runzelige, grüne Samen hervorbringen. Rund und gelb sind dominante Merkmale, grün und runzelig dagegen rezessive (Tabelle 8-1). Wie zu erwarten, waren die durch Kreuzung (Fremdbestäubung) entstehenden Samen alle rund und gelb. Wurden diese F r Samen ausgesät, und bei den entstehenden Pflanzen eine Selbstbestäubung in den Blüten ermöglicht, so bildeten sich 556 F 2 -Samen. Von diesen zeigten 315 beide dominanten Merkmale, sie waren rund und gelb; 32 vereinigten beide rezessiven Merkmale, sie waren grün und runzelig. Die übrigen Samen glichen keinem der beiden Eltern. 101 waren gelb und runzelig, 108 waren rund und grün. Es traten also gänzlich neue Merkmalskombinationen auf. Abbildung 8-12 zeigt das dazugehörige Kreuzungsschema. Bei einer Kreuzung mit zwei Paaren dominanter und rezessiver Gene ist die Merkmalsverteilung im Phänotypus 9 : 3 : 3 : 1 . Von 16 Mitgliedern der F 2 -Generation zeigen 9 beide dominanten Merkmale, eins zeigt beide rezessiven und je drei zeigen die beiden möglichen Kombinationen dominanter und rezessiver Merkmale. (In dem Beispiel, das wir angeführt haben, besaß ein Elternteil beide dominanten, der andere beide rezessiven Merkmale. Was würde geschehen, wenn jeder Elternteil je ein rezessives und ein dominantes Merkmal besäße, wenn die Genotypen der Eltern also RRgg und rrGG wären? Würden die Ergebnisse dieselben sein?) Aufgrund dieser Ergebnisse formulierte Mendel die Regel von der freien Kombinierbarkeit

der Erbanlagen.

Sie

besagt, daß die Vererbung des Allelenpaares für das eine Merkmal unabhängig von der gleichzeitigen Vererbung des Allelenpaares für ein anderes Merkmal erfolgt; bei der Gametenkreuzung werden die Gene für das eine Merkmal genauso frei kombiniert, als wäre das Gen für das andere Merkmal nicht vorhanden.

8.4.6 Koppelung der Gene Als Mendel seine Experimente durchführte, waren Chromosomen noch nicht einmal gesehen, geschweige denn als genetisches Material erkannt worden. Wenn man jedoch weiß, daß Gene auf Chromosomen lokalisiert sind, so

KAPITEL 8

kann man verstehen, daß zwei Gene, die für die Ausbildung zweier verschiedener Merkmale verantwortlich und auf demselben Chromosom lokalisiert sind, nicht unabhängig voneinander vererbt werden können. Die Aufspaltung des Phänotypus im Verhältnis 9 : 3 : 3 : 1 in der F 2 Generation kann dann nicht erlangt werden. Vielleicht war es Zufall oder es lag an der Auswahl der Merkmale, mit denen er sich beschäftigte, daß Mendel nicht auf das Koppelungsphänomen stieß. Er hätte es wahrscheinlich ohne Wissen um die Existenz von Chromosomen nicht deuten können. Die Erbsenpflanze hat 7 Chromosomenpaare, und die 7 Hauptmerkmale, die Mendel untersuchte, sind auf 5 getrennten Chromosomen lokalisiert, wobei die Gene, die zusammen auf einem Chromosom liegen, so weit voneinander entfernt sind, daß sie unabhängig voneinander vererbt werden. Die Koppelung der Gene wurde erstmals 1905 von dem britischen Genetiker William Bateson und seinen Mitarbeitern entdeckt, und zwar bei Untersuchungen an der Wohlriechenden Platterbse (Lathyrus odoratus). Sie kreuzten eine zweifach rezessive Sorte (mit roten Blütenblättern und runden Pollenkörnern) mit einem Wildtyp (mit purpurfarbenen Blütenblättern und länglichen Pollenkörnern). In der F 2 -Generation erhielten sie Pflanzen mit folgenden Merkmalen: 284 21 21 55

purpurn purpurn rot rot

länglich rund länglich rund

Wenn die Gene für Blütenfarbe und Pollenform beide auf demselben Chromosom lokalisiert wären, so hätten in der F 2 -Generation nur zweierlei Phänotypen im Verhältnis 3 :1 auftreten dürfen. Wenn sie jedoch auf zwei verschiedenen Chromosomen lokalisiert wären, so hätten in der F 2 -Generation viererlei Phänotypen im Verhältnis 9 : 3 : 3 : 1 (216 : 72 : 72 : 24) auftreten müssen. Die von Bateson erzielten Ergebnisse stimmen mit keinem der beiden Fälle überein, lassen jedoch eine Koppelung der Gene für Blütenfarbe und Pollenform bei den Eltern vermuten. Genkoppelung und das damit verwandte Phänomen des crossing-over wurden erstmals zu Beginn des Jahrhunderts durch Arbeiten von T. H. Morgan und seinen Mitarbeitern an der Fruchtfliege Drosophila verstanden. Drosophila eignet sich besonders gut für genetische Untersuchungen. Man kann die Fruchtfliegen ohne Schwierigkeiten züchten und halten: alle 2 Wochen kann eine neue Generation von Fruchtfliegen entstehen; jedes Weibchen legt Hunderte von Eiern auf einmal; und die häufigste Art besitzt nur 4 Chromosomenpaare. Die Weibchen besitzen zwei homologe Geschlechtschromosomen, XX, die Männchen hingegen besitzen ein X-Chromosom und ein

Klassische Genetik

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viel kleineres Y-Chromoson, auf dem viele Gene des XChromosoms nicht vorhanden sind. Bei Morgan's Experimenten entstand ein ungewöhnlicher Fruchtfliegentyp mit weißen Augen. Weißäugigkeit ist ein rezessives Merkmal; da es bei Männchen immer sichtbar wurde und männliche Drosophila-Fliegen die Geschlechtschromosomen XY besitzen, schloß Morgan, daß das Gen, welches die Augenfarbe bestimmt, auf dem X-Chromosom lokalisiert sein muß. Als noch andere „geschlechtgekoppelte" rezessive Merkmale - so z. B. „Gelbfärbung des Körpers" - auftraten, schloß Morgan, daß auch diese Merkmale auf dem X-Chromosom lokalisiert sein müssen, denn sie kamen immer nur bei Männchen, die ja nur über ein X-Chromosom verfügen, zum Ausdruck. Morgan kreuzte eine Fruchtfliege, die für zwei geschlechtsgekoppelte rezessive Merkmale homozygot war, und eine „Wildtyp"-Fruchtfliege miteinander. Wie erwartet, entsprachen alle Fruchtfliegen der F t -Generation im Phänotypus den „Wildtyp"-Fruchtfliegen. Dann wurde eine Rückkreuzung zwischen einer F!-Fruchtfliege und dem zweifach rezessiven homozygoten Elternteil durchgeführt, in der Erwartung, daß die Nachkommenschaft zur Hälfte dem Wildtyp, zur Hälfte dem weißäugigen, gelbfarbenen rezessiven Elternteil entsprechen würde. Die Nachkommenschaft dieses Rückkreuzungsexperimentes zeigte jedoch darüber hinaus auch Individuen mit weißen Augen und „Wildtyp"-Körper bzw. mit Wildtyp-Augen und gelbem Körper. Dieses unerwartete Ergebnis kann man sich so erklären, daß (1) die Gene für beide Merkmale - Augenfarbe und Körperfarbe - auf einem Chromosom und ihre beiden Allele auf dem homologen Chromosom lokalisiert sind, und daß (2) gelegentlich Gene zwischen homologen Chromosomen ausgetauscht werden können. Es ist heute bekannt, daß das crossing-over - der Überkreuzaustausch homologer Chromatidenabschnitte bei der Meiose, der in den Chiasmata zum Ausdruck kommt - in der Prophase I der Meiose stattfindet (Abb. 8-4). Je weiter zwei Gene auf einem Chromosom voneinander entfernt sind, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß zwischen ihnen ein crossing-over stattfindet. Je näher zwei Gene einander sind, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie bei der Meiose gemeinsam verteilt werden, um so stärker ist also ihre Koppelung.

8.5 Mutationen Eine Erbse kann also rund oder runzelig, grün oder gelb sein. Das ist nur möglich, weil zwischen den Allelen eines bestimmten Genes Unterschiede bestehen. Woher kommen diese Unterschiede? Der holländische Forscher

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TEIL 3

Genetik und Evolution

Abb. 8-13 Hugo de Vries, neben einem Blütenstand von Amorphophallus titanum (Dickkolben), einer Pflanze, die wie die Zimmerkalla (Zantedeschia aethiopica) und der einheimische Aronstab (Arum maculatum) - zur Familie der Araceae (Aronstabgewächse) gehört. Die Pflanze stammt aus dem Dschungel Sumatras und besitzt eine der mächtigsten Angiospermen-Infloreszenzen. Dieses Photo wurde 1932 im Arboretum der landwirtschaftlichen Hochschule in Wageningen/Holland aufgenommen.

Hugo de Vries (Fig. 8-13) fand als erster eine Antwort auf diese Frage. Im Jahre 1901 untersuchte de Vries die Vererbung von Merkmalen bei der Nachtkerze Oenothera erythrosepala. Er entdeckte, daß - obwohl das Vererbungsmuster in der Regel vorhersehbar war - gelegentlich ein Merkmal auftrat, das zuvor bei keinem der beiden Eltern beobachtet worden war. De Vries behauptete, daß dieses neue Merkmal der phänotypische Ausdruck einer Genveränderung sei, und daß das veränderte Gen genauso vererbt werde wie die anderen Gene auch. De Vries nannte diese Erbänderung Mutation und bezeichnete ihren Träger als MutanEs erwiesen sich jedoch nur zwei der ungefähr 2000 von de Vries beobachteten Merkmalsänderungen bei der Nachtkerze als echte Mutationen im de Vries'schen Sinne. Die übrigen 1998 beruhten auf neuen Genkombinationen oder dem Auftreten zusätzlicher Chromosomen und nicht auf plötzlich auftretenden Veränderungen in irgendeinem bestimmten Gen. Obwohl also die meisten der de Vries'schen Beispiele unzutreffend waren, sind seine Definition des Begriffs Mutante und seine Erkenntnis-

se über die Rolle von Mutationen bei Merkmalsänderungen noch immer im wesentlichen richtig. Heute weiß man, daß eine Mutation so klein sein kann, daß sie auf einer Veränderung in nur einem einzigen Nukleotid-Paar beruht (Genmutation). Sie kann aber auch eine größere sichtbare Veränderung der Chromosomenstruktur bedeuten (Chromosomenmutation), wie z. B. eine Deletion, der Verlust mehr oder weniger langer Chromosomenstücke; oder eine Duplikation, die Verdoppelung bestimmter Chromosomenabschnitte; oder eine Translokation, die Übertragung eines Chromosomenstückes auf ein anderes, nicht homologes; oder eine Inversion, bei der sich ein Chromosomenbruchstück - um 180° gedreht - an dasselbe Chromosom wieder anheftet. Obwohl die meisten Mutationen schädlich sind, ist die Fähigkeit zu mutieren außerordentlich wichtig, weil sie es den Individuen einer Art ermöglicht, sich zu verändern, und so an veränderte Bedingungen anzupassen. Mutationen sind also die Basis für Veränderungen im Laufe der Evolution. Bei Eukaryonten treten spontane Mutationen pro Genlocus und pro Zellteilung mit einer Häufigkeit von 5 x 10~ 6 (eine Mutation pro 200000 Zellteilungen) auf. Bei diploiden Organismen ist jedes Gen doppelt vertreten, bei haploiden hingegen nur einmal. Wenn eine Mutation in einem vorwiegend haploiden Organismus (z. B. in dem Pilz Neurospora oder in einem Prokaryonten) stattfindet, so kommt sie daher sofort zum Ausdruck und muß sich mit der Umgebung auseinandersetzen. Erweist sie sich als günstig, so findet eine Selektion der Mutante statt; erweist sie sich als ungünstig - wie in den meisten Fällen so wird sie rasch aus der Population eliminiert. Beim diploiden Organismus ist die Situation eine ganz andere. Hier ist jedes Chromosom doppelt vorhanden, und eine Mutation in nur einem der beiden Chromosomen kann, auch wenn sie sich in doppelter Stärke ungünstig auswirken würde, in einfacher Stärke einen nur wenig ungünstigen, ja sogar einen günstigen Effekt haben; d. h. die Mutation kann in einer diploiden Population weiterbestehen. Das mutierte Gen kann schließlich seine Funktion ändern, oder die auf die Population einwirkenden Selektionskräfte können sich derart verändern, daß die Mutante im Vorteil ist.

8.6 Pleiotropie Anders als die zuvor angeführten Beispiele erwarten lassen, beeinflussen Gene normalerweise mehr als ein Merkmal eines Organismus. Die Enzyme, deren Synthese ja durch die Gene determiniert wird, spielen in der Regel bei zahlreichen Lebensvorgängen eines Organismus eine Rolle. Als die Gentik noch eine relativ junge Wissenschaft war, wurden Gene aufgrund ihrer phänotypischen Aus-

KAPITEL

Wirkungen charakterisiert, wie z. B. rotblühend, behaart usw. Schließlich jedoch entdeckte man, daß einzelne Gene ganze Merkmalskomplexe kontrollieren können. Die Fähigkeit eines einzelnen Gens, die Ausbildung mehrerer verschiedener Merkmale zu beeinflussen, bezeichnet man als Pleiotropie. Ein deutliches Beispiel für eine solche Pleiotropie wurde von Hans Gruneberg gegeben. Er untersuchte bei Ratten einen ganzen Komplex erblicher Mißbildungen, wie z. B. verdickte Rippen, Verengung der Luftröhre, Verlust der Lungenelastizität, Hypertrophie des Herzens, blokkierte Nasenlöcher, stumpfe Schnauze, und eine damit einhergehende stark erhöhte Sterblichkeitsrate. Er konnte zeigen, daß all diese Veränderungen durch die Mutation nur eines einzigen Genes bewirkt wurden. Dieses Gen ist verantwortlich für die Bildung eines Proteins, das bei der Knorpelbildung eine Rolle spielt. Da Knorpel einer der häufigsten Baustoffe des tierischen Körpers ist, sind die vielfältigen Auswirkungen der Mutation eines solchen Gens leicht zu verstehen.

8.7 Geninteraktionen in diploiden Organismen Wie erwähnt, beeinflußt ein einzelnes Gen oftmals mehr als ein phänotypisches Merkmal; im Gegensatz dazu gibt es jedoch auch viele Merkmale, die durch das Zusammenspiel mehrerer Gene kontrolliert werden. Beispiele für diese Art der Merkmalsausbildung werden wir unter zwei Begriffen betrachten, die sich weitgehend überlappen: Epistase und Polygenie.

8

Klassische Genetik

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se und Dominanz sind einander also sehr ähnlich; bei Dominanz wird jedoch nicht die Wirkung eines anderen Gens, sondern die Wirkung eines anderen Allels desselben Gens überdeckt. Tatsächlich ist die Epistase ein bedeutendes und weit verbreitetes Phänomen. Je mehr wir über die Vererbung wissen, umso klarer wird es, daß kein Gen isoliert wirken kann; seine Auswirkungen werden stets durch ein inneres Milieu - das Endprodukt des Zusammenspiels Tausender Gene - modifiziert. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, daß Gene über die Bildung von Proteinen zum Ausdruck kommen, und daß diese ihrerseits nur in der Zelle wirken können. Alle Interaktionen nichtalleler Gene bei der Gestaltung des Phänotypus kann man als Beispiele für Epistase ansehen.

8.7.2 Polygenie Abb. 8-14 zeigt die prozentuale Häufigkeit bestimmter Kolbenlängen bei einer Maissorte. Eine Kurve der gleichen Form ergäbe sich für die Häufigkeit bestimmter Samengewichte in einer Bohnenprobe, die Häufigkeit bestimmter Stammhöhen in einem Eichenbestand oder Ähnliches. Äußere Bedingungen, wie z. B. eine veränderte Niederschlagsmenge im Maisfeld, können zwar die absoluten Werte einer solchen Kurve, nicht aber ihre Form verändern. Eine solche glockenförmige Kurve bezeichnet man als Normalverteilungskurve. Innerhalb der Grenzen dieser Kurve sind alle Kolbenlängen, Bohnengewichte oder Stammhöhen möglich. Die „Kolbenlänge", das „Boh-

8.7.1 Epistase Zu Anfang dieses Jahrhunderts erzielten der britische Genetiker William Bateson und seine Mitarbeiter einige überraschende Ergebnisse, die sie zunächst nicht deuten konnten. Sie kreuzten zwei rein weißblühende Sorten der Wohlriechenden Platterbse (Lathyrus odoratus) miteinander und entdeckten, daß sämtliche Nachkommen purpurfarbene Blütenblätter besaßen. Bei Selbstbestäubung dieser F t -Pflanzen besaßen von 651 blühenden Pflanzen der F 2 -Generation 382 purpurfarbene, 269 weiße Blütenblätter. Zunächst scheinen diese Zahlen nichts zu bedeuten, untersucht man sie jedoch näher, so ergibt sich ein Verhältnis von 9:7. Das ist eigentlich ein 9 : 3 : 3 : 1 Verhältnis, bei welchem nur die Pflanzen mit zwei dominanten Genen (9 von 16) purpurfarbene Blütenblätter haben. Hier liegt eine Epistase vor, eine Art des Genzusammenspiels, bei dem ein Gen den Phänotyp bestimmt und die phänotypische Merkmalsausbildung eines oder mehrerer anderer, nicht alleler Gene desselben Genotyps überdeckt. Epista-

Kolbenlänge (cm)

Abb. 8-14 Variabilität der Kolbenlänge beim Mais (Zea mays, var. Black Mexican). Dies ist ein Beispiel für ein Merkmal, das durch das Zusammenspiel zahlreicher Gene - also polygenisch - ausgebildet wird. Solche Merkmale sind kontinuierliche Variable. Stellt man die Häufigkeit der verschiedenen Kolbenlängen graphisch dar, so erhält man eine glockenförmige Kurve, wobei das Maximum über dem Mittelwert liegt. Eine solche Kurve bezeichnet man als Normalverteilungskurve.

156

TEIL 3

Tab. 8-2

Eltern:

Genetik und Evolution

Die genetische Kontrolle der Farbe von Weizenkörnern x

RlR1R2R2 (dunkelrot)



R1rlR2r2

r1rlr2r2 (weiß)

(mittelrot)

Genotyp

Äj R2R2

Phänotyp

dunkelrot

RiR1R2r2

mittel - dunkelrot mittel - dunkelrot

Rlr1R2r2

mittelrot mittelrot mittelrot

RiriR2R2

R R r r

l l22

r1rlR2R2

Rlrlr2r2

r1r1R2r2

15 rot zu 1 weiß

hellrot hellrot

weiß

nengewicht" oder die „Stammhöhe" sind also kontinuierliche oder stetige Variable. Die Individuen einer Population lassen sich bezüglich eines solchen Merkmals nicht in eine Reihe klar voneinander zu unterscheidender Kategorien einteilen. Das erste Experiment, das aufzeigte, wieviele Gene bei Pflanzen für die kontinuierliche Variabilität eines Merkmals verantwortlich sein können, wurde von dem schwedischen Wissenschaftler H. Nilson-Ehle an Weizen durchgeführt. Tabelle 8-2 zeigt das phänotypische Bild, das sich aus den verschiedenen Kombinationen der beiden Gene (jedes durch 2 Allele vertreten) ergibt, die für die Farbintensität der Weizenkörner verantwortlich sind. Die Hautfarbe der Menschen wird nach einem ähnlichen Vererbungsmuster bestimmt. Solche quantitativen Merkmale werden also durch das Zusammenwirken zahlreicher Genpaare bestimmt. Man bezeichnet das als Polygenie-, einige Wirkungen solcher Gene sind additiv, andere können gegeneinander gerichtet sein. Beide, Epistase und Polygenie, aber auch die Pleiotropie spielen eine wichtige Rolle bei der Ausbildung des Phänotypus. Der Phänotypus ist also das Ergebnis

eines komplizierten Zusammenwirkens, das es sehr schwer oder sogar unmöglich macht, festzustellen, in welcher Weise eines der Gene ein bestimmtes Merkmal beeinflußt.

8.8 Zusammenfassung Die geschlechtliche Fortpflanzung umfaßt zwei Ereignisse: die Reduktion der Chromosomenzahl durch die Meiose und die Wiederherstellung des diploiden Chromosomensatzes in der Syngamie. Bei der Meiose entstehen entweder Gameten (Meiogameten) oder Sporen (Meiosporen). Ein Gamet (Geschlechtszelle) ist eine haploide Zelle, die mit einem anderen Gameten unter Bildung einer diploiden Zygote verschmelzen kann. Eine Spore ist eine Zelle, die sich zu einem reifen haploiden Organismus entwickeln kann, ohne zuvor mit einer anderen Zelle verschmolzen zu sein. Bei der Meiose laufen in einer diploiden Zelle zwei Kernteilungen ab (I. und II. Reifeteilung), und es entstehen insgesamt vier Zellkerne (oder Zellen) mit je einem haploiden (n) Chromosomensatz.

KAPITEL 8

Bei der I. Reifeteilung, der Reduktionsteilung, paaren sich die homologen Chromosomen - bestehend aus je zwei Chromatiden - zu Bivalenten. Zwischen den homologen Chromatiden können sich Chiasmata ausbilden. Diese Chiasmata sind das sichtbare Ergebnis des crossing-over, des kreuzweisen Austausches von Chromatidenabschnitten zwischen homologen Chromosomen. Die Bivalente ordnen sich nach einem zufälligen Verteilungsmuster mit ihren Centromeren beiderseits der Äquatorialebene an. Die Chromosomen des weiblichen und die des männlichen Elternteils werden also während der Anaphase I völlig neu verteilt. Diese Neuverteilung, zusammen mit dem crossing-over, gewährleistet, daß die Meioseprodukte voneinander und vom elterlichen Chromosomensatz verschieden sind. Auf diese Weise läßt die Meiose die ganze Variabilität zum Ausdruck kommen, die im diploiden Genotypus gespeichert ist. Die II. Reifeteilung entspricht einer Mitose. Die genetische Ausstattung eines Organismus bezeichnet man als seinen Genotypus; sein äußeres Erscheinungsbild, die Gesamtheit seiner sichtbaren Merkmale, als seinen Phänotypus. Bei den diploiden Organismen, zu denen die meisten Tiere und Pflanzen gehören, ist jedes Gen zweimal vorhanden. (Diese Genpaare bezeichnet man als Allele). Der Phänotypus diploider Organismen wird durch das Zusammenspiel der beiden Allele bestimmt, die auf den homologen Chromosomen an derselben Stelle (locus) lokalisiert sind. (Mutationen sind daher in diploiden Organismen viel schwieriger zu entdecken als in haploiden). Die beiden Allele können gleichartig (homozygoter Zustand) oder verschiedenartig (heterozygoter Zustand) sein. Obwohl im Genotypus beide Allele vorhanden sind, kann es sein, daß nur eines im Phänotypus zum Ausdruck kommt. Das Gen, dessen Wirkung im Phänotypus sichtbar ist, ist das dominante. Das Gen, das im Phänotypus nicht zum Ausdruck kommt, ist das rezessive. Kreuzt

Klassische Genetik

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man zwei Organismen, die beide für ein gegebenes Allelenpaar heterozygot sind, so spaltet dominant zu rezessiv im entstehenden Phänotypus im Verhältnis 3:1 auf. Wenn ein Allel die Wirkung des anderen nicht ganz unterdrükken kann, lassen sich die Heterozygoten auch phänotypisch erkennen (intermediäre Merkmalsausbildung); bei ihrer Kreuzung spaltet der Phänotypus im Verhältnis 1:2:1 auf. Unterschiede zwischen Allelen sind das Ergebnis von Mutationen. Dies sind Änderungen von Genen oder Gengruppen. Die meisten Mutationen sind unvorteilhaft und werden daher bei haploiden Organismen rasch eliminiert. Bei diploiden Organismen jedoch können sie in der Population in maskierter Form fortbestehen und so dem „Speicher" genetischer Variabilität hinzugefügt werden. Gene, die auf verschiedenen Chromosomen lokalisiert sind, werden unabhängig voneinander vererbt, im Gegensatz zu Genen, die auf demselben Chromosom lokalisiert sind. Gene, die auf demselben Chromosom liegen, gehören zur selben Koppelungsgruppe. Wegen des crossingover verbleiben die Gene jedoch bei der Meiose nicht immer in derselben Koppelungsgruppe. Gene wirken, indem sie Enzyme ausbilden, und es ist daher nicht überraschend, daß sie im allgemeinen nicht nur ein, sondern viele Merkmale eines Organismus beeinflussen. Diesen Effekt bezeichnet man als Pleiotropie. Ein gegebenes Merkmal wird meist durch das Zusammenspiel von mehr als einem Gen kontrolliert. Epistase ist die Kontrolle der Wirkung eines Genpaares durch andere nicht allele Gene. Wenn zahlreiche Gene ein einziges Merkmal beeinflussen, spricht man von Polygenie. Das Variabilitätsmuster für ein solches Merkmal ist ein kontinuierliches. Kontinuierliche Variabilität folgt einer Verteilung, die durch eine glockenförmige Kurve, die Normalverteilungskurve, dargestellt werden kann. Die meisten quantitativen Merkmale von Organismen, wie Gewicht und Höhe, sind polygenisch.

Kapitel 9 Die Entstehung der Pflanzenarten

Abb. 9-1 „Später, als ich sehr eng befreundet war mit Fitz Roy (dem Kapitän der Beagle), erfuhr ich, daß ich um ein Haar wegen der Form meiner Nase abgewiesen worden wäre. Er ... war davon überzeugt, daß er den Charakter eines Mannes von seinem Aussehen ableiten könne; und er zweifelte daran, daß jemand mit einer Nase wie der meinen genug Energie und Entscheidungskraft für die Reise besäße. Ich glaube jedoch, daß er im nachhinein sehr zufrieden darüber war, daß meine Nase Falsches über mich ausgesagt hatte." (Übersetzt aus Darwins Buch: The voyage of the Beagle).

Im Jahre 1831 begann der damals 22jährige Charles Darwin (Abb. 9-1) eine fünfjährige Reise als Naturforscher auf dem Britischen Marineschiff H. M. S. Beagle. Über diese Reise schrieb er ein Buch, The voyage of the Beagle. Dieses klassische naturhistorische Werk gibt einen Einblick in die Erfahrungen, die Darwin dazu veranlaßten, seine Theorie von der Evolution durch natürliche Selektion aufzustellen. Als Darwin seine Reise begann, glaubten die meisten Wissenschaftler - und natürlich auch die Laien - noch immer an die „Schöpfungstheorie". Nach dieser Theorie sind alle Arten bereits in ihrer heutigen Form entstanden, d. h. sie sind seit ihrer Schöpfung unverändert geblieben. Einige Forscher, wie Jean Baptiste de Lamarck (17441829) machten Einwände gegen diese Schöpfungstheorie. Ihre Argumente waren jedoch nicht überzeugend genug, um diese Theorie zu erschüttern, die ja nicht nur eine wissenschaftliche Theorie, sondern zugleich auch fester Bestandteil der abendländischen Kultur war. Darwin gelang der große gedankliche Umbruch, weil seine Beweise so überzeugend und ihre Zahl so überwältigend war, daß kein Raum für begründete wissenschaftliche Zweifel blieb. Besonders wichtig für die Entstehung von Darwins Theorie waren die Erfahrungen, die er bei einem fünfwöchigen Aufenthalt auf den Galapagos-Inseln sammelte. Dieses Archipel liegt in Äquatornähe, einige hundert Meilen von der Westküste Südamerikas entfernt (Abb. 9-2). Hier machte Darwin zwei besonders wichtige Beobachtungen: (1) Die dort lebenden Pflanzen und Tiere waren für diese Inseln charakteristisch; andererseits aber ähnelten sie denen des nahegelegenen südamerikanischen Festlandes. Wenn jede Pflanzen- oder Tierart tatsächlich unabhängig von den anderen entstanden und unveränderlich war - wie man damals annahm warum ähnelten dann die Pflanzen und Tiere von Galapagos denen Südamerikas und nicht etwa denen Afrikas? Warum waren sie dann nicht einzigartig und kamen nirgendwo sonst auf der Erde vor? (2) Eingeborene machten Darwin auf Unterschiede zwischen den Riesenschildkrö-

160

TEIL

3 Genetik und Evolution

Abb. 9-2 Die Galapagos-Inseln sind eine kleine Gruppe von vulkanischen Inseln, ungefähr 950 km von der Küste Ecuadors entfernt. Seit ihrer Entstehung vor mehr als einer Million Jahren sind sie von Zeit zu Zeit von Pflanzen oder Tieren besiedelt worden, die zufallig durch den Wind oder das Wasser vom Festland herangetragen worden waren. Einige dieser Pflanzen und Tiere überlebten, pflanzten sich fort und paßten sich an die rauhen Inseln an. Die Galapagos-Inseln sind so weit voneinander entfernt, daß die dazwischenliegende See für viele Lebewesen eine natürliche Barriere darstellt. Folglich haben sich auf benachbarten Inseln Arten entwikkelt, die sich etwas voneinander unterscheiden. Waren die Lebewesen der einzelnen Inseln das Ergebnis einer voneinander unabhängigen Schöpfung? Diese Frage ließ Darwin nach Beendigung seiner Reise auf der Beagle nicht los und führte schließlich zu seiner Theorie von der Evolution durch natürliche Selektion.

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ten (Galápagos) der einzelnen Inseln aufmerksam. Matrosen, die diese Riesenschildkröten als Frischfleischreserve auf ihre Seereisen mitnahmen, konnten beim bloßen Anblick einer solchen Riesenschildkröte sagen, von welcher Insel sie stammt. Warum aber sahen die Riesenschildkröten der Galapagos-Inseln nicht alle gleich aus, wenn die Art nach damaliger Meinung unabhängig von anderen entstanden und unverändert geblieben war? Darwin begann sich zu fragen, ob nicht all die Riesenschildkröten und anderen seltsamen Pflanzen und Tiere der Galapagos-Inseln zu unterschiedlichen Zeiten vom südamerikanischen Festland auf die Inseln gelangt sein könnten; und ob sie nach Erreichen dieses entfernt gelegenen Archipels sich dann nicht vielleicht langsam von Insel zu Insel verbreitet und dabei Stück für Stück - gemäß den örtlichen Gegebenheiten - verändert haben und so schließlich zu unterschiedlichen Rassen geworden sein könnten. Im Jahre 1838, nach der Rückkehr von seiner Reise, las Darwin ein Buch, das der Reverend Thomas Malthus im Jahre 1798 veröffentlicht hatte. Dieser Geistliche warnte als einer der ersten vor einem explosionsartigen Bevölkerungswachstum. Malthus wies darauf hin, daß das Wachstum der menschlichen Bevölkerung so groß sei, d a ß nicht nur die vorhandenen Nahrungsvorräte bald erschöpft sein würden, sondern d a ß es bald nur noch Stehplätze auf Erden geben würde. Darwin erkannte, d a ß die Überlegungen von Malthus theoretisch richtig waren, nicht nur für die menschliche Bevölkerung, sondern auch für alle anderen Populationen von Pflanzen und Tieren. So könnte z. B. ein einziges Elefantenpaar, das sich ja bekanntlich von allen Tierarten am langsamsten fortpflanzt

(Tragzeit: 2 0 - 2 3 Monate), in 750 Jahren 19 Millionen Elefanten hervorbringen, wenn seine gesamte N a c h k o m menschaft am Leben bliebe. Ungeachtet dessen bleibt jedoch die Zahl der Elefanten relativ konstant, d . h . dort, wo vor 750 Jahren zwei Elefanten vorkamen, wird es im allgemeinen auch heute nur zwei geben. Was aber ist d a f ü r bestimmend, welche beiden Elefanten von den möglichen 19 Millionen am Leben bleiben? Darwin bezeichnete den Vorgang, durch den die beiden überlebenden Tiere ausgewählt werden, als natürliche Selektion (Auslese). Er verwendete diesen Begriff, u m den Vorgang von der künstlichen Selektion abzugrenzen, bei der Pflanzen- und Tierzüchter gewünschte Eigenschaften von Rassen nach Plan auslesen. Dabei bestimmen die Züchter, welche Individuen sich fortpflanzen dürfen und welche nicht. Darwin erkannte, daß Lebewesen auch unter natürlichen Bedingungen veränderlich sind. Individuen mit bestimmten günstigen Merkmalen können sich besser fortpflanzen als solche, denen diese fehlen. Wenn sich das ständig wiederholt, so können sich auf lange Sicht die Merkmale einer Population langsam, aber stetig, ändern. Bei der künstlichen Auslese können die Züchter ihre Bemühungen normalerweise auf eine oder wenige für sie wichtige Merkmale beschränken (obwohl es auch dort bestimmte, genau festgelegte Grenzen gibt). Bei der natürlichen Selektion kommt es jedoch zur verstärkten Fortpflanzung von Individuen, die als Gesamiorganismus für einen bestimmten Lebensraum geeigneter ( e n g l . f i t ) sind, als andere Individuen der Population. M a n kann annehmen, d a ß die Änderung einer Population durch natürliche Selektion ein langwieriger Prozeß ist, und so ist es kein

KAPITEL

Abb. 9-3 (a) Wenn zwei Populationen miteinander gekreuzt werden, von denen die eine homozygot für das dominante Gen (AA), die andere homozygot für das rezessive Allel (aa) ist, so sehen alle Mitglieder der ersten Tochtergeneration (Fi) wie die dominanten Eltern aus, auch wenn sie ihren Genen nach heterozygot (Aa) sind. Wird diese F[-Generation mit sich selbst gekreuzt, so zeigt der Phänotypus der F 2 Generation das typische Mendelsche 3 :1-Verhältnis, das einem Genotypus von 7 4 AA, l j 2 Aa und ' / 4 aa entspricht. Die Wahrscheinlichkeit, daß in der dritten, d.h. der F 3 Generation, durch zufallige Kreuzung der Genotypus AA entsteht, ist folgende: (b) Werden AA-Individuen der F 2 miteinander gekreuzt C/ A x 1 U = '/ 1 6 ), so wird ihre gesamte Nachkommenschaft ( 4 / 4 ) den Genotypus AA haben. Die Chancen hierfür sind 4 / 4 x i / 1 6 = ' / 1 6 . (c) Werden AA- mit Aa-Individuen der F 2 gekreuzt ( ' / 4 x ' / 2 = 7s)> s o >st die Wahrscheinlichkeit, daß AA-Individuen entstehen auch ' / 1 6 , weil nur die Hälfte ( 1 / 2 ) der Nachkommen den Genotypus AA hat (V 2 x 7 s = 7ie)- ( d ) Werden Aa- mit AA-Individuen der F 2 gekreuzt C/2 x 1U = 7s)> s o liegen die Chancen für AA-Individuen wieder bei 7i6> w e ' ' wieder nur die Hälfte C/2) der Nachkommen den Genotypus AA hat O/2 x 7 s = 7i6)- ( e ) Werden Aa- mit Aa-Individuen der F 2 gekreuzt (72 x 1 h = ' s o liegen die Chancen für die Entstehung von AA-Individuen wieder bei l / l 6 , weil nur 1/4. der Nachkommen den Genotypus AA hat (74 x 74 = 7IÖ)Also beträgt die Zahl der Nachkommen mit dem Genotypus AA in der dritten Generation im Schnitt 7 i 6 + 7 i 6 + 7 i 6 + 7 i 6 = 74; genau wie in der zweiten und auch der vierten, fünften, sechsten Generation, usw. Geschlechtliche Fortpflanzung allein verändert also noch nicht den Anteil der verschiedenen Allele in der Population. P

AA x aa

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A a x Aa

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9

Entstehung der Pflanzenarten

161

Zufall, daß die Theorien des Geologen Charles Lyell große Bedeutung für Darwin gewannen. Lyell hatte nämlich damals die Behauptung aufgestellt, daß die Erde viel älter sei, als bisher angenommen. Eine dermaßen alte Erde aber brauchte Darwin als „Bühne" für den von ihm postulierten, langwierigen Prozeß der Entstehung der Arten durch natürliche Selektion. Die natürliche Selektion wurde bald als das „Überleben der Tauglichsten im Kampf ums Dasein" bekannt. Diese Umschreibung gilt jedoch, wie wir später noch sehen werden, nur bedingt.

9.1

Das Verhalten von Genen in Populationen 9.1.1 Das Hardy-Weinberg-Gesetz Im 19. Jahrhundert, als die meisten Biologen daran glaubten, daß die Merkmale zweier Individuen durch Paarung vermischt werden, konnte man nicht recht verstehen, warum seltene Merkmale im Laufe vieler Generationen nicht einfach so sehr „verdünnt" werden, daß sie schließlich ganz verschwinden. Auch Darwin konnte dieses Problem mit den genetischen Kenntnissen seiner Zeit nicht lösen. Nach der Wiederentdeckung der Mendelschen Arbeiten tauchte diese Frage in modernerer Form wieder auf: Warum verdrängen die dominanten Allele nicht schließlich die rezessiven, so daß die gesamte Population ihre Variabilität verliert? Die Antwort darauf gründete sich auf dem genauen Verständnis der besonderen Natur der Gene und wurde im Jahr 1908 gleichzeitig von dem englischen Mathematiker G. H. Hardy und dem deutschen Arzt G. Weinberg gegeben. Das Hardy-Weinberg Gesetz besagt, daß in einer idealen Population das ursprüngliche Verhältnis von dominanten zu rezessiven Allelen von Generation zu Generation erhalten bleibt. Eine ideale Population ist unendlich

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Aa x Aa

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162

TEIL 3

Genetik und Evolution

groß, Mutationen fehlen und in ihr haben zwei beliebige Partner gleiche Paarungswahrscheinlichkeit. Betrachten wir z. B. die Allele eines einzigen Gens, des Gens A, und denken wir uns eine Population, deren Individuen zur Hälfte homozygot AA und zur anderen Hälfte homozygot aa sind. Abb. 9-3 veranschaulicht mit Hilfe von Kreuzungsschemata, daß der Anteil von Organismen mit dem Genotypus AA (bzw. aa oder Aa) in der dritten (oder vierten oder fünften) Generation im Durchschnitt derselbe ist wie in der zweiten. Für Untersuchungen zur Populationsgenetik wird das Hardy-Weinberg-Gesetz in der Regel in Form einer algebraischen Gleichung ausgedrückt, wobei statt der in Abb. 9-3 verwendeten Brüche Dezimalzahlen benutzt werden. Gibt es für ein Gen zwei Allele im Genpool, so addieren sich die Häufigkeit (p), mit der das dominante Allel auftritt, und die Häufigkeit (q), mit der das rezessive Allel auftritt, zur Gesamthäufigkeit 1, d.h. p + q = 1. Die Häufigkeit eines Allels ist einfach der Anteil dieses Allels an der Gesamtheit aller Allele desselben Gens im Genpool. Das heißt mit anderen Worten: Wenn es von einem

bestimmten Gen nur zwei Allele, A und a, gibt und wenn die eine Hälfte (0,50) aller Allele im Genpool A ist, so muß die andere Hälfte (0,50) a sein. Ebenso, wenn 99 von 100 (0,99) A sind, dann muß 1 Allel (0,01) a sein. Wie kann man aber die relativen Verhältnisse von AA, Aa und aa bestimmen? Diese Verhältnisse kann man berechnen, indem man die Häufigkeit von A beim Männchen (¿) mit der Häufigkeit von A beim Weibchen (?) multipliziert: [A2]; A (¿) mit a (?) multipliziert: [Aa]; a (J) mit A (?) multipliziert: [Aa]; und a (¿) mit a (?) multipliziert: [a2]. Diese Multiplikation kann man als algebraische Gleichung formulieren: p 2 + 2pq + q 2 = (p + q) 2 . Wenn p + q = 1 ist, dann ist auch (p + q) 2 = 1. Das bedeutet, wenn der Genpool zur Hälfte das Allel A und zur Hälfte das Allel a besitzt, so beträgt der Anteil an AA 0,25, an Aa 0,50 und an aa 0,25; ein Ergebnis, das genau mit den Beobachtungen Mendels übereinstimmt: A 2 + 2Aa + a 2 = (0,50)2 + 2(0,50)-(0,50) + (0,50)2 = (0,25) + 2(0,25) + (0,25) = 0,25 + 0,50 + 0,25 = 1. Was geschieht in den nachfolgenden Generationen? Wie aus Abb. 9-4 hervorgeht, bleiben die Häufigkeiten der Genotypen konstant. Auch die Häufigkeit der Gene bleibt konstant p(A) = 0,5 und q(a) = 0,5. Das Hardy-Weinberg-Gesetz sagt also eine Art „genetisches Gleichgewicht" voraus.

9.1.2 Abweichungen vom HardyWeinberg-Gesetz Wir wissen jedoch, daß sich viele Populationen nicht im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht befinden. Wenn sie es wären, so könnte keine Evolution stattfinden. Es sind vier Faktoren, die Abweichungen von diesem Gleichgewicht hervorrufen: 1.

Abb. 9-4 Kreuzungsmöglichkeiten zwischen Gameten einer Population aus AA, Aa und aa-Individuen. Es soll das Prinzip des Hardy-Weinberg-Gleichgewichts demonstriert werden. Nach dem Hardy-Weinberg-Gesetz ist p + q = 1; also ist auch (p + q) 2 = p 2 + 2pq + q 2 = 1; das bedeutet, wenn die Genhäufigkeiten für A und a gleich p bzw. q sind, so werden diese Genhäufigkeiten auch durch Paarung in nachfolgenden Generationen nicht verändert; sie bleiben vielmehr von Generation zu Generation konstant.

Populationsgröße

Wie bereits erwähnt, trifft das Hardy-Weinberg-Gesetz nur für eine ideale, d.h. unendlich große Population zu. Bei einer kleinen Population kann der zufällige Verlust von ein oder mehreren individuellen Genotypen - z.B. dadurch, daß sie sich nicht fortpflanzen konnten - zur Elimination eines der Allele aus der Population führen. 2.

Wanderung

Weitere Änderungen können durch Wanderungen in eine Population hinein oder aus einer solchen heraus eintreten. Wenn Individuen mit bestimmten genetischen Eigenschaften die Population verlassen oder in sie eintreten, und zwar in einem anderen Genotypverhältnis als es in

KAPITEL

der bestehenden Population vorlag, werden sich die Genund Genotyphäufigkeiten verändern. Wanderung - z. B. durch Verbreitung von Samen - ist für Pflanzen ebenso charakteristisch wie für Tiere. 3. Mutationsrate Wenn ein bestimmtes Gen zu einer allelen Form mutiert, und zwar in einer Rate, die höher ist als die der Rückmutation, so kann die Population für dieses bestimmte Gen nicht im Gleichgewicht bleiben. 4. Selektion Der Hauptfaktor, der ein Gleichgewicht entsprechend dem Hardy-Weinberg-Gesetz verhindert, ist die Selektion. Auf ihr beruht unser derzeitiges Verständnis des Evolutionsgeschehens. Natürlich sind Mutationen für die Variabilität der Individuen verantwortlich, aber Veränderungen in der Population sind das Ergebnis der Selektion. Selektion ist eine nicht-zufällige Reproduktion von Genotypen. In jeder veränderlichen Population werden einige Individuen stets mehr Nachkommen hinterlassen als andere. Dies bedeutet, daß in einer Population bestimmte Gene mit der Zeit häufiger auftreten als andere. Wenn der Anteil eines bestimmten Gens in einer gegebenen Generation größer ist als in der vorhergehenden, und es dafür keine begründete andere Erklärung gibt, so hat eine Selektion stattgefunden. Die Selektion verursacht nicht die auftretenden Merkmalsänderungen der Population, sondern wählt, da sie ständig unter bestimmten Bedingungen bestimmte Genotypen einer Population eliminiert, unter den durch Mutation und Rekombination verursachten Merkmalsänderungen aus und läßt nur Veränderungen in eine bestimmte Richtung zu. Auf diese Weise führt die Selektion zur Produktion von Individuen, die unter den gegebenen Bedingungen besser überleben können als die eliminierten. Unter außergewöhnlichen Bedingungen können bestimmte Genotypen, die im normalen Verbreitungsgebiet einer Art selten vorkommen, durch Selektion stark vermehrt werden. Selektion ist also kein kreativer Vorgang; ihre Richtung verändert sich zwangsläufig, wenn die Umweltbedingungen sich verändern. Ein schädliches, rezessives Gen, ja sogar ein solches, das in homozygoter Form den Tod eines Individiums bewirkt, wird umso weniger von der Selektion betroffen, je geringer seine Häufigkeit in einer Population ist. Das liegt daran, daß der Anteil an homozygot rezessiven Organismen steil abnimmt, wenn die Häufigkeit des rezessiven Gens sinkt. Je kleiner also die Gesamthäufigkeit eines rezessiven Gens, umso weniger ist es der Selektion in homozyter Form ausgesetzt und umso mehr verlangsamt sich seine Eliminierung aus der Population.

9.2

9

Entstehung der Pflanzenarten

163

Auswirkungen der Selektion

9.2.1 Genetische Faktoren Wie sich eine Selektion auf eine Population auswirkt, wird durch die in Kapitel 8 besprochenen Gesetze der Genetik bestimmt. Im allgemeinen wird nur nach dem Phänotypus ausgelesen; allein die Beziehung zwischen dem Phänotypus und seiner Umwelt bestimmt den Fortpflanzungserfolg eines Lebewesens. Da aber fast alle Merkmale natürlicher Populationen durch das Zusammenspiel vieler Gene bestimmt werden, können selbst phänotypisch gleiche Individuen eine recht verschiedene genetische Zusammensetzung haben. Bei einigen Merkmalen - z. B. der Größe - führt eine strenge Selektion auf dieses Merkmal hin zu einer Anhäufung von Genen, die es verstärken, und zu einer Abnahme von Genen, die ihm entgegenwirken. Die Selektion auf ein polygenisch bestimmtes Merkmal hin, bedeutet jedoch nicht einfach die Anhäufung eines Gensatzes und die Elimination seiner Allele. Geninteraktionen, wie Epistase und Pleiotropie, bestimmen entscheidend den Selektionsverlauf in einer Population. So können einige Wirkungen eines Gens auf ein anderes Gen für ein Lebewesen von Vorteil sein oder das Merkmal, auf welches hin selektiert wird, verstärken. Andere hingegen können schädlich sein oder dem Merkmal, auf welches hin selektiert wird, entgegenwirken. Wegen der Geninteraktionen kann man die phänotypischen Auswirkungen eines bestimmten Gens immer nur in einem bestimmten genetischen Zusammenhang sehen. Da die Selektion auf bestimmte Gene hin auch das Vorkommen der anderen Gene in der Population verändert, werden allmählich auch die Effekte, die durch Wechselwirkung mit den selektierten Genen zustande kommen, andere. Damit verändert sich auch die Bedeutung dieser Gene für die Ausbildung eines bestimmten Merkmals oder für die Tauglichkeit des Lebewesens als Ganzes. Die Selektion muß darauf abzielen, ein „funktionsfähiges" Lebewesen hervorzubringen. So kann z. B. die strenge Auslese auf ein Merkmal hin unterbunden werden, weil es sonst zu einer Anhäufung von so vielen unerwünschten Nebeneffekten kommen würde, daß das Lebewesen nicht länger überleben könnte oder unfruchtbar würde. Die Ergebnisse des in Abb. 9-5 dargestellten Experiments lassen vermuten, daß die geschilderte Population von Drosophila melanogaster durch Selektion ein neues genetisches Gleichgewicht erreicht hat, das die Erzeugung fruchtbarer, ansonsten normaler Individuen mit 42 statt 36 Hinterleibsborsten gestattet. Dieses Gleichgewicht, das man als Maß für den Widerstand einer Population gegenüber genetischen Veränderungen ansehen kann,

164

TEIL 3

Genetik und Evolution

Abb. 9-5 Auslese nach Anzahl der Hinterleibsborsten bei der Fruchtfliege Drosophila melanogaster. Beim Ausgangsstamm betrug die Anzahl der Borsten auf der Ventralseite des Abdomens 36. Daraus wurde ein Stamm nach steigender Borstenzahl, der andere nach abnehmender Borstenzahl ausgelesen. Der auf hohe Borstenzahl selektierte Stamm erreichte in 21 Generationen einen Anstieg der Borstenzahl von 36 auf 56; er wurde jedoch bald steril. Die Selektion wurde nach der 21. Generation ausgesetzt und dann bei der 25. Generation wieder aufgenommen. Diesmal erlangte der Stamm die erreichte hohe Borstenzahl zurück, ohne dabei steril zu werden. Ein Teil dieses Stammes, der keiner weiteren Selektion unterworfen wurde, erlangte ein neues genetisches Gleichgewicht, das die Bildung von fruchtbaren, normalen Individuen mit 42 statt bisher 36 Hinterleibsborsten gestattete. Die Selektionslinie auf niedrige Borstenzahl, die kein neues genetisches Gleichgewicht erlangen konnte, starb wegen Sterilität aus. Die Selektion eines einzigen „neutralen" Gens, wie hier die Anzahl der Hinterleibsborsten, hat also weitgehende Auswirkungen auf die gesamte genetische Zusammensetzung der Lebewesen.

wurde von I. Michael Lerner (University of California) als genetische Homöostase bezeichnet. (In der physikalischen Chemie ist Homöostase ein Fließgleichgewicht [steady State], ein stationärer Zustand mit Transportvorgängen an den Grenzen des Systems). Die genetische Homöostase zielt darauf ab, die Population in einem solchen Zustand zu halten, daß diese einen hohen Prozentsatz an Individuen hervorbringt, die an ihre Umweltbedingungen angepaßt sind.

9.2.2 Phänotypische Faktoren Andersartige Grenzen werden der Selektion dadurch auferlegt, daß ein Individuum Anforderungen der Umwelt nachkommen muß, die miteinander im Konflikt stehen. So besteht ein enger Zusammenhang zwischen den langen, herrlich gefärbten Schwanzfedern des männlichen Pfaus und dem Paarungserfolg des Vogels. In dieser Hin-

sicht ist es also eindeutig ein Vorteil für den Vogel, die größten und prächtigsten Federn zu besitzen. Auf der anderen Seite muß der Pfau aber auch seinen Feinden entkommen, und hier könnten besonders lange und prächtig gefärbte Schwanzfedern ein Nachteil sein. Die natürliche Selektion zieht eine Art Saldo zwischen den beiden Selektionskräften. Die Folge ist, daß Pfaue mit Schwanzfedern, die entweder zu lang und zu farbenprächtig oder zu kurz und zu eintönig gefärbt sind, weniger Nachkommen in die folgenden Generationen einbringen, als diejenigen Pfaue, deren Schwanzfedern „gerade richtig" in Größe und Farbe sind. Genausogut müssen Pflanzen in rauhen, alpinen Regionen sehr schnell wachsen und photosynthetisch sehr aktiv sein, wenn sie genügend Kohlenhydrate anhäufen wollen, um die langen, strengen Winter zu überleben. Deshalb müssen sie bereits auf erste Anzeichen günstiger Bedingungen ansprechen. Sie dürfen jedoch nicht so empfindlich reagieren, daß sie bereits bei einem vorübergehenden Tauwetter im tiefsten Winter mit Wachstum und Photosynthese beginnen, sonst werden sie von der Population eliminiert. Wüstenpflanzen, deren Samen keimen, sobald genügend Wasser zur Verfügung steht, die aber nicht keimen, wenn noch zu wenig Wasser vorhanden ist, sind in einer ähnlichen Lage. Vorzeitige Keimung wird bei einigen Pflanzen dadurch verhindert, daß sie Keimhemmer in ihrer Samenschale produzieren; erst wenn genügend Regen gefallen ist, um diese Hemmstoffe aus der Samenschale auszuwaschen, können die Samen keimen. Daniel Janzen von der Universität Michigan/USA entdeckte eine interessante Entwicklungsstrategie bei tropischen Gehölzen aus der Familie der Fabaceen (Schmetterlingsblütler). Er fand in Zentralamerika zweierlei Typen von Fabaceen-Gehölzen: solche mit zahlreichen, kleinen Samen und solche mit wenigen, großen Samen. Beide Typen können jedes Jahr nur einen bestimmten Teil ihrer Nahrung für die Samenproduktion verwenden, und sie können daher entweder eine große Zahl kleiner Samen oder eine kleine Zahl großer Samen bilden. Warum aber schlagen einige Arten den einen, und einige den anderen Weg ein? Große Samen bedeuten für die Keimlinge eine größere Nahrungsquelle. Weil jeder elterliche Baum oder Strauch im Durchschnitt nur durch einen einzigen Baum oder Strauch ersetzt wird, wäre es am besten für ihn, wenige große Samen mit einer ausreichenden Nahrungsreserve zu bilden. Aber das ist in den Tropen wegen des sehr starken Insektenbefalls von Fabaceensamen - besonders durch Samenkäfer-Arten (Fam. Bruchidae) - nicht immer möglich. Die erwachsenen Samenkäfer legen ihre Eier an den Früchten ab und ihre Larven entwickeln sich in den Samen. Die Samenkäfer treten oft so zahlreich auf,

9

KAPITEL

daß sie in bestimmten Jahren tatsächlich alle Samen einer Fabaceen-Art zerstören, abgesehen von einigen, die z. B. von Vögeln gefressen wurden, bevor die Samenkäfer sie finden konnten. Janzen untersuchte den Samenkäfer-Befall bei großsamigen und kleinsamigen Fabaceen-Arten. Zu seiner Überraschung fand er heraus, daß die kleinsamigen Arten sehr stark befallen werden, so daß immer nur wenige lebensfähige Samen übrigbleiben, wohingegen fast alle großsamigen Arten unbefallen bleiben. Später entdeckte er, daß diese großen Samen, im Gegensatz zu den kleinen, chemische Substanzen enthalten, die sie offensichtlich vor den Samenkäfern schützen. Diese Ergebnisse deuten daraufhin, daß den Fabaceen im Laufe der Evolution zwei Möglichkeiten offenstanden. Sie konnten entweder eine sehr große Anzahl kleiner Samen mit einem relativ begrenzten Nahrungsvorrat für ihre Keimlinge produzieren, wobei wenigstens einige der Samen die Chance haben, dem Käferbefall zu entgehen. Oder sie konnten eine kleinere Zahl großer Samen mit einem großen Nahrungsvorrat für die Keimlinge produzieren. Die zweite Möglichkeit konnten sie jedoch nur wählen, wenn die Samen vor den Käfern geschützt waren. Derartige Kompromisse hat es im Laufe der Evolution häufig gegeben. Wenn man um die verschiedenartige Samenproduktion tropischer Fabaceen weiß und deren entwicklungsgeschichtliche Hintergründe kennt, so ist es interessant, zu erfahren, daß Samen und Früchte von Inselpflanzen oftmals größer sind als die verwandter Festlands-Arten (Abb. 9-6). Schädlinge, welche die Festlandspflanzen befallen, fehlen häufig auf den Meeresinseln. Inselpflanzen müssen also nicht zahlreiche kleine Samen bilden, damit einige davon dem Schädlingsbefall entgehen können, sondern haben die Möglichkeit, größere Früchte und Samen zu bilden, die den Keimlingen bessere Startchancen geben. Diese räumliche Trennung von den Schädlingen ist also - genau wie der biochemische Schutz der großsamigen tropischen Fabaceen gegenüber Käferbefall - ein Faktor, der Großsamigkeit begünstigt.

9.2.3 Veränderung natürlicher Populationen In den letzten Jahren ist es möglich geworden, Veränderungen natürlicher Populationen zu untersuchen. Klimaänderungen und Naturkatastrophen kennzeichnen die Welt von Anbeginn, und in früheren Zeiten haben die Populationen hierauf in ähnlicher Weise reagiert wie heute. Einige der daraus resultierenden Populationsveränderungen waren derart, daß wir sie als Evolutionsprozesse ansehen können. Es überrascht uns nicht, daß viele der

Entstehung der Pflanzenarten

Zanlhoxylum dipetala (Hawaii)

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Zanthoxylum ailanthoides (asiatisches Festland)

«

Frucht

Same

OL

• Same

Abb. 9-6 Inselbewohnende Pflanzenarten, die von ihren natürlichen Feinden isoliert sind, können häufig größere Früchte und Samen bilden, als verwandte Arten auf dem Festland. Hier sind zwei miteinander verwandte Zanthoxylum-Arten (Stachelesche) abgebildet, von denen die eine von Hawaii, die andere vom asiatischen Festland stammt.

relativ schnellen Veränderungen natürlicher Populationen, die man im Laufe des letzten Jahrhunderts beobachten konnte, auf Einwirkungen des Menschen beruhen, einem ökologisch dominanten Faktor, wie es in der Weltgeschichte keinen zweiten gegeben hat. Einige der spektakulärsten Veränderungen konnten bei Populationen haploider Mikroorganismen beobachtet werden. Wegen des haploiden Chromosomensatzes kommen Mutationen bei ihnen unmittelbar im Phänotypus zum Ausdruck, und eine Selektion bzw. Elemination der Mutation findet sofort statt. Alle haploiden Lebewesen haben eine kurze Generationsdauer; dies ist vielleicht notwendig, damit sich ihre Populationen erfolgreich verändern können, denn in ihnen ist ja nicht die Fülle an Variabilität für eine genetische Rekombination gespeichert wie bei diploiden Lebewesen. Auch bei Pflanzen konnten starke selektive Kräfte beobachtet werden, die schnelle Veränderungen natürlicher Populationen hervorrufen. Eine Wiese im südlichen Maryland/USA z. B. wurde vor vielen Jahren in zwei Teilstücke untergliedert - ein Teilstück wurde beweidet, das andere nicht. Die Pflanzen auf dem beweideten Teilstück waren viel niedriger als auf dem unbeweideten und man nahm zuerst an, daß dies direkt auf die Beweidung zurückzuführen sei. Um dies zu prüfen, grub man einige Pflanzen des beweideten Landstückes aus und pflanzte sie in normale Erde. Man nahm an, daß die Pflanzen, wenn sie nur aufgrund der Beweidung klein gelieben waren, unter den veränderten Bedingungen nun genauso groß würden wie die Pflanzen auf dem unbeweideten Teilstück. Für einige Pflanzen traf das auch zu, aber Trifolium repens (Weißklee), Poa pratensis (Wiesenrispengras) und Dactylis glomerata (Knauelgras) blieben kleinwüchsig. Das bedeutet, daß diese Populationen sich unter dem selektiven Druck der Beweidung rasch genetisch verändert hatten. Nur solche Genotypen, die kleinwüchsige Individuen hervorbrachten, konnten unter der Beweidung zur Keimung gelangen. Ein ähnliches Beispiel zeigt Abb. 9-7.

166

TEIL 3

Genetik und Evolution

Ein weiteres Beispiel für rasche Veränderung von Populationen durch Selektion ist folgendes: In Wales gibt es eine Reihe verlassener Bleibergwerke. Die Abraumhalden und das Gebiet rings um diese Bergwerke sind reich an Blei und fast ohne Pflanzen wuchs. Eine Grasart jedoch, Agrostis tenuis (Rotes Straußgras), besiedelt dieses Gebiet, dessen Erde bis zu 1 % Blei und 0,03 % Zink enthält. In einem Experiment wurden Pflanzenproben von Abraumhalden und nahegelegenen Weiden entnommen und nebeneinander in normaler und bleihaltiger Erde angezogen. In normaler Erde wuchsen die von den Bleiabraumhalden stammenden Pflanzen eindeutig langsamer und waren kleiner als die Weideland-Pflanzen. Auf bleihaltiger Erde wuchsen die von den Bleiabraumhalden stammenden Pflanzen normal; die Weideland-Pflanzen hingegen wuchsen gar nicht, die Hälfte von ihnen war sogar nach drei Monaten abgestorben und hatte mißgebildete Wurzeln, die kaum länger als 2 mm waren. Einige der Weideland-Pflanzen (3 von 60) zeigten jedoch eine gewisse Resistenz gegenüber der bleireichen Erde; sie waren somit offensichtlich den Pflanzen ähnlich, aus denen die bleiresistente Rasse selektiert worden war. Da das Bergwerk zum Zeitpunkt des Versuches erst 100 Jahre alt war, muß sich die resistente Rasse also in dieser sehr kurzen Zeitspanne entwickelt haben.

Abb. 9-7 Prunella vulgaris (Gemeine Braunelle) ist eine weit verbreitete, krautige Pflanze aus der Familie der Lamiaceae (Lippenblütler), die in Wäldern, Wiesen und auf Rasenplätzen ganz Nordamerikas und auch Deutschlands vorkommt. Die meisten Populationen bestehen aus aufrecht wachsenden Pflanzen, wie den unter (a) gezeigten, die auf einer verlassenen Weide in Connecticut/USA gefunden wurden. Populationen von Rasenplätzen hingegen bestehen immer aus niederliegenden Pflanzen, wie den bei (b) dargestellten. Aufrecht wachsende Pflanzen können auf Rasenplätzen nicht überleben. Verpflanzt man Braunellen von einem Rasenplatz in einen Versuchsgarten, so bleiben einige von ihnen niederliegend, während andere aufrecht werden. Der Habitus der niederliegenden Braunelle ist im ersten Falle genetisch bedingt, im zweiten Falle durch die Umwelt determiniert.

9.2.4 Evolution bei asexuellen Populationen Bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung (auch vegetative Vermehrung oder Apomixis genannt) entsteht eine Nachkommenschaft, die mit dem elterlichen Organismus identisch ist. Bei Pflanzen gibt es viele Formen der ungeschlechtlichen Vermehrung, von der Entwicklung eines Organismus aus einer unbefruchteten Eizelle bis hin zur Teilung des elterlichen Organismus in fast gleiche Teile. In all diesen Fällen entstehen die neuen Individuen durch Mitose und sind daher genetisch identisch mit dem elterlichen Individuum. Populationen, die sich geschlechtlich fortpflanzen, können durch Selektion verändert werden (s. Kap. 9.2.3), in asexuellen Populationen mit ihren genetisch identischen Individuen gibt es keine Selektion. Höhere Pflanzen vermehren sich oft sowohl geschlechtlich als auch ungeschlechtlich und nutzen damit beide von der Evolution gegebenen Möglichkeiten aus (Abb. 9-8). Viele Arten vermehren sich jedoch nur ungeschlechtlich, aber sicher ist, daß selbst deren Vorfahren sich geschlechtlich fortpflanzen konnten. Die ungeschlechtliche Vermehrung muß folglich als eine Alternative angesehen werden, die im Laufe der Evolution als Antwort auf die Forderung nach

KAPITEL

9 Entstehung der Pflanzenarten

167

extremer Einheitlichkeit entstanden ist. Wird dieser alternative Weg der Fortpflanzung strikt eingehalten, so schränkt das die Fähigkeit einer Population, sich an veränderte Bedingungen anzupassen, stark ein. Die verschiedenen, asexuellen Populationen derselben Art können jedoch so verschieden sein, daß sie an sehr unterschiedlichen Standorten zu finden sind.

9.3 Divergenz von Populationen Die Erde ist kompliziert gebaut und von einer ungeheueren Vielfalt von Organismen bewohnt. Die Populationen der einzelnen Pflanzenarten sind fast immer zusammenhanglos über die Erde verteilt. Ihre Standorte - seien es Seen, Flüsse, Bergspitzen, bestimmte Böden, schattige Waldstücke oder anderes - sind nur selten miteinander verbunden. Durch diese räumliche Isolation ist der Austausch von Erbanlagen zwischen benachbarten Populationen mehr oder weniger begrenzt. Die einzelnen Populationen einer Art reagieren daher nur auf den lokalen Selektionsdruck ihres speziellen Standortes. Auch wenn ein Genfluß zwischen benachbarten Populationen stattfindet, kann er die Auswirkungen lokaler Selektion nicht verhindern. Es entstehen Rassen. Die Entfernungen, die notwendig sind, um Populationen wirksam zu isolieren, hängen von der Verbreitungsfahigkeit der Populationen ab, sind oft jedoch recht klein. Bei vielen insektenbestäubten Pflanzenarten der gemäßigten Breiten kann bereits eine Lücke von 15 Metern zwei Populationen erfolgreich isolieren. K a u m 1 % des Pollens, mit dem eine Pflanze bestäubt wird, kommt von so weit her. Sogar bei Windbestäubung wird der Pollen normalerweise selten weiter als 50 Meter getragen, und die Chance, daß der Pollen eine N a r b e trifft, nimmt demnach bei einer Entfernung von mehr als 50 m rapide ab. Das bedeutet nicht, daß zwei Kiefern, die 50 m auseinanderstehen, keinen genetischen K o n t a k t mehr miteinander haben, sondern daß jeder Baum bei der Produktion seiner Nachkommenschaft in erster Linie auf artverwandte Bäume in seiner unmittelbaren N ä h e angewiesen ist. Zwei voneinander getrennte Populationen weichen voneinander ab, divergieren, weil sie einem andersartigen Selektionsdruck ausgesetzt sind. Wenn sie wieder miteinander K o n t a k t bekommen, können sie entweder wieder miteinander verschmelzen, oder aber die zwischen ihnen aufgetretenen Unterschiede sind so groß, d a ß sie eine genetische Isolation bedingen. Eine solche genetische oder reproduktive Isolation, also die Fortpflanzungsunfähigkeit zwischen zwei Populationen, führt zur Artenbildung und kann auf verschiedene Weise zustande kommen, wie wir später in diesem Kapitel sehen werden.

Abb. 9-8 Veilchen vermehren sich geschlechtlich und ungeschlechtlich. Die größeren Blüten werden von Insekten bestäubt, und die Samen können durch den Wind oder auf andere Weise verbreitet werden. Die kleineren Blüten wachsen näher am Erdboden, sind selbstbestäubend und öffnen sich nie (kleistogame Blüten). Die Samen dieser Blüten fallen direkt neben der mütterlichen Pflanze zu Boden und bilden Pflanzen, die genetisch mit der elterlichen Pflanze identisch sind und daher wahrscheinlich gut direkt neben ihr gedeihen können. Auch unterirdische Sprosse (Rhizome) können bei manchen Arten eine Reihe genetisch identischer Pflanzen direkt neben der Elternpflanze hervorbringen.

9.3.1 Ökotypen und Coenoclinen Modifikative Plastizität ist die Neigung genetisch identischer Lebewesen, unter dem Einfluß unterschiedlicher Umweltbedingungen stark voneinander abzuweichen. Eine solche modifikative Plastizität ist bei Pflanzen viel ausgeprägter als bei Tieren. Im Gegensatz zur „geschlossenen" F o r m der Tiere haben die Pflanzen eine „offene" Form, d.h. Wachstum und Entwicklung neuer Organe dauern bei der Pflanze bis zum Tode an. Wegen dieser „offenen" F o r m kann die Pflanze viel leichter in unterschiedlicher Weise modifiziert werden, wobei auffallende Unterschiede zwischen den einzelnen Individuen entstehen können. Jeder Gärtner weiß, d a ß Umweltfaktoren den Phänotypus vieler Pflanzenarten tiefgreifend verändern können. So sind z. B. Schattenblätter dünner, großflächiger, haben größere Interzellularen, ein dünneres Palisadenparenchym und weniger Stomata als Sonnenblätter derselben Pflanze. Auch die Tageslänge - d. h. der Zeitraum innerhalb eines 24h-Tages während dem eine Pflanze belichtet wird - kann die Blattform beeinflussen. Bei Kalanchoe z. B. haben Pflanzen, die unter Kurztagbedingungen (8 h Licht) heranwachsen, kleine dickfleischige Blätter mit glattem Rand; Pflanzen, die unter Langtagbe-

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TEIL 3

Genetik und Evolution

dingungen (16 h Licht) heranwachsen, haben hingegen Blätter mit gekerbtem Rand. Wenn man so etwas beobachtet, verwundert es nicht, d a ß manche Forscher bis ungefähr 1930 glaubten, die natürliche Variabilität der Pflanzen sei unmittelbar durch die Umgebung bedingt und habe keine genetische Basis. Sind die Unterschiede zwischen Pflanzenrassen verschiedener Standorte nun aber genetisch- oder bloß umweltbedingt? Die erste klare Antwort auf diese Frage gab der schwedische Botaniker Göte Turesson, der Rassen zahlreicher Pflanzenarten Südschwedens in seinen Versuchsgarten pflanzte. Bei dem größten Teil der 31 von ihm untersuchten Arten waren die in freier N a t u r auftretenden Rassenunterschiede genetisch bedingt; bei einigen wenigen herrschte durch Umwelt bedingte Modifikation vor. Unterschiede im Wuchs der Pflanze, in der Blütezeit, der Farbe der Blätter und ähnliches waren meist genetisch bedingt. Turesson bezeichnete solche Rassen, die sich im Hinblick auf bestimmte Standorte entwickelt haben und sich genetisch voneinander unterscheiden, als Ökotypen. Besonders wichtig für das Verständnis von Ökotypen sind die Versuche von Jens Clausen, David Keck und William Hiesey. Sie wurden unter der Schirmherrschaft des Carnegie-Instituts/Washington in Kalifornien durchgeführt. Die Forscher untersuchten eine Reihe von Pflanzenarten aus den westlichen U S A und kultivierten sie in 3 Versuchsstationen: Stanford, ungefähr in Meereshöhe gelegen; Mather, im Herzen der Sierra Nevada, ungefähr 1400 m hoch gelegen; und Timberline, ungefähr 3050 m hoch gelegen (Abb. 9-9). Sie arbeiteten hauptsächlich mit Pflanzen, die auch ungeschlechtlich vermehrt werden können, um an allen 3 Standorten genetisch einheitliche Ausgangsindividuen zu haben. Auf diese Weise bauten sie einige der Turesson'schen Experimente weiter aus. Die westlichen U S A sind ein Gebiet mit sehr unterschiedlichen Umweltbedingungen. So ist es auch nicht verwunderlich, d a ß viele Pflanzenarten dieser Region genau abgrenzbare Ökotypen entwickelt haben. Eine Pflanzenart, die von der Forschergruppe des Carnegie-Instituts untersucht wurde, ist das Fingerkraut Potentilla glandulosa, eine mehrjährige, krautige Pflanze. Sie ist nahe verwandt mit der Erdbeere (Fragaria) und besiedelt ganz unterschiedliche klimatische Gebiete Kaliforniens. Natürliche Populationen von P. glandulosa treten in der N ä h e aller drei Versuchsstationen auf. Wurden P. glandulosaPflanzen von verschiedenen Standorten im Versuchsgarten nebeneinander kultiviert, so wurden einige Unterschiede zwischen den Ökotypen deutlich. Es stellte sich heraus, daß es 4 Haupt-Ökotypen gibt. Ihre morphologischen Kennzeichen stehen in deutlichem Zusammenhang mit ihren für das Überleben wichtigen physiologischen Eigenschaften.

So wachsen Pflanzen des Küsten-Ökotyps in Stanford sowohl im Sommer als auch im Winter kräftig. Sie überleben auch in Mather, wo sie 5 Monate kalten Winter überstehen müssen. Zu der Zeit halten sie eine Art Winterschlaf, haben aber aus der vergangenen Vegetationsperiode genügend N a h r u n g gespeichert, um diese ungünstige Jahreszeit überstehen zu können. In Timberline hingegen

Einige Formen vegetativer Vermehrung Bei Pflanzen gibt es zahlreiche verschiedene Möglichkeiten der vegetativen Vermehrung. Einige Pflanzen vermehren sich durch Ausläufer (Stolonen), d. h. durch lange dünne Sprosse, die entlang der Erdoberfläche wachsen. Bei der Erdbeere (Fragaria x ananassa, einer Hybride aus zwei Fragaria- Arten) z. B., werden an jedem zweiten Knoten des Ausläufers Blätter, Blüten und Wurzeln gebildet. Kurz hinter einem solchen Knoten richtet sich die Spitze des Ausläufers auf und verdickt sich. Dieser verdickte Teil bildet zunächst Adventivwurzeln und dann einen neuen Sproß, der den Ausläufer fortsetzt. Auch Rhizome (unterirdische Sprosse mit unbegrenztem Wachstum) sind sehr wichtig für die vegetative Vermehrung - besonders bei Gräsern, wo sie Sprosse mit Blättern und Blüten bilden. Während ihres Wachstums können die Rhizome das Erdreich in unmittelbarer N ä h e der elterlichen Pflanze durchdringen. Jeder neue Knoten kann eine neue Pflanze hervorbringen, so d a ß das Überleben der Art nicht allein von der Samenbildung abhängig ist. Viele Unkräuter zeigen dieses Wuchsverhalten. Auch viele Gartenpflanzen, wie z.B. Iris , werden fast aus-

Die Vermehrung der Erdbeere (Fragaria x ananassa) erfolgt durch Ausläufer - lange, dünne Sprosse, die entlang der Erdoberfläche wachsen. Dabei bildet jeder zweite Knoten Wurzeln und danach einen neuen Sproß. Die Erdbeerpflanzen bilden auch Blüten und können sich geschlechtlich vermehren.

KAPITEL 9

Entstehung der Pflanzenarten

169

sterben Pflanzen des Küsten-Ökotyps beinahe ausnahmslos im ersten Winter; die kurze Vegetationsperiode in dieser großen Höhe läßt sie nicht überleben. Auch andere Pflanzenarten aus dem Küstengebiet bilden Ökotypen, die physiologisch ähnlich reagieren wie der eben beschriebene Küsten-Ökotyp von Potentilla glandulosa. Oft sind verschiedene Pflanzenarten, die zusammen an einem

Standort wachsen, einander physiologisch ähnlicher als verschiedene Populationen derselben Art. Die physiologischen und morphologischen Eigenschaften von Ökotypen haben normalerweise eine sehr komplizierte genetische Basis, wobei Dutzende, oder in einigen Fällen sogar Hunderte von Genloci eine Rolle spielen. Deutlich abgrenzbare Ökotypen sind für Gebiete charak-

schließlich durch Rhizome vermehrt. Bananen vermehren sich normalerweise durch Samen. Werden sie jedoch wegen ihrer Früchte kultiviert, so bilden sie keine Samen und müssen durch Schößlinge vermehrt werden, die aus dem unterirdischen Rhizom hervorkommen. Zwiebeln und Knollen sind unterirdische Sprosse mit begrenztem Wachstum, die auf die Speicherung von Nährstoffen und die Bildung neuer Individuen spezialisiert sind. Kartoffeln werden künstlich durch Knollensegmente mit einem oder mehreren „Augen" vermehrt. Aus diesen „Augen" entstehen die neuen Pflanzen. Süßkartoffeln werden i.a. durch kleine, ganze Wurzeln vermehrt. Die neuen Sprosse entstehen aus Adventivknospen. Die Wurzeln einiger Pflanzen - wie Kirsche, Apfel, Himbeere und Brombeere - bilden Wurzelsprosse, aus denen neue Pflanzen entstehen. Wenn die Wurzel vom Löwenzahn verletzt wird - durch weidende Tiere oder den Spaten - bildet sich aus jedem Wurzelbruchstück eine vollständige neue Pflanze. Bei einigen Arten sind sogar die Blätter reproduktive Organe. Ein Beispiel hierfür ist die Gattung Kalanchoe. (Fam. Crassulaceae = Dickblattgewächse; Bryophyllum = Kalanchoe-hri mit Brutknospen). Kalanchoe pinnata (früher Bryophyllum calycinum) ist das durch Goethe be-

rühmt gewordene Brutblatt. Diesen Namen trägt die Pflanze wegen der zahlreichen Pflänzchen, die aus dem meristematischen Gewebe in den Kerben ihrer Blattränder entstehen. Das Brutblatt vermehrt sich hauptsächlich durch diese kleinen Pflänzchen. Ein anderes Brutblatt ist Kalanchoe daigremontiana (früher Bryophyllum d.) Auch bei dem Streifenfarn Asplenium rhizophyllum bilden sich an den Blättern Pflänzchen, und zwar, wenn die Enden der spitz zulaufenden Blätter den Erdboden berühren. Bei vielen Samenpflanzen, z.B. zahlreichen Citrusgewächsen, einigen Gräsern und auch beim Löwenzahn, kann der Embryo im Samen auf ungeschlechtliche Weise gebildet werden. Die aus solchen Samen entstehenden Pflanzen sind genetisch identisch mit dem elterlichen Organismus und sind somit ein weiteres Beispiel für eine ungeschlechtliche Vermehrung. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung ermöglicht also die genaue Reproduktion von Individuen, die besonders gut an bestimmte Umweltbedingungen - einen ganz bestimmten Standort - angepaßt sind. Sie sichert also den Fortbestand von Eigenschaften, die ein Überleben unter bestimmten natürlichen Gegebenheiten gestatten oder wie im Falle der Kultur- und Zierpflanzen - als besonders wünschenswert gelten.

Kalanchoe daigremontiana (früher Bryophyllum d.), ein „Brutblatt". In den Kerben des Blattrandes haben sich kleine Pflänzchen entwickelt. Später fallen sie dann zu Boden und bilden Wurzeln.

Asplenium rhizophyllum (Streifenfarn) an einer Felswand in West Virginia. Dort, wo die langen, dünnen Blattspitzen den Erdboden berühren, bilden sich kleine Pflänzchen. Auf diese Art und Weise entstehen große Kolonien genetisch identischer Farnpflanzen.

170

TEIL 3

Genetik und Evolution

teristisch, in denen die Grenzen zwischen den benachbarten Standorten deutlich sind. Wenn sich die Umgebung hingegen allmählich - ohne deutliche Sprünge - verändert, können sich auch die Merkmale der Populationen entlang des Umweltgradienten kontinuierlich verändern. Eine solche Kette entlang eines Gradienten von Umweltfaktoren kontinuierlich sich verändernder Populationen bezeichnet man als Coenocline (Gemeinschaftsgradient); Coenocline und Umweltgradient zusammen als Ökocline. Solchen Ökoclinen begegnet man oft bei Meeresorganismen, da sich im Meer die Temperatur des Wassers oft ganz allmählich mit dem Breitengrad ändert. Sie sind auch für Gebiete wie die östlichen U S A charakteristisch, wo sich Niederschlagsgradienten über Tausende von Kilometern erstrecken können. Sammelt man Pflanzenpopulationen längs einer solchen Ökocline, so sind die Entfernung zwischen den einzelnen Populationen und der Grad ihrer Verschiedenheit einander proportional. Im Kleinen zeigen auch die einzelnen Pflanzenpopulationen in sich ähnliche Merkmalsvariationen - mit fließenden oder stufenweisen Übergängen - in Abhängigkeit von den lokalen Umweltbedingungen.

9.3.2 Physiologische Unterschiede

Abb. 9-9 Versuchsgärten des Carnegie Instituts, (a) Stanford, ungefähr in Meereshöhe gelegen; (b) Mather, im Herzen der Sierra Nevada, ungefähr 1400 m hoch gelegen; und (c) Timberline, 3050 m hoch gelegen.

Eines der z.Zt. intensivsten Forschungsgebiete der Botanik ist die Aufklärung der physiologischen Unterschiede zwischen Ökotypen. So zeigen z.B. skandinavische Rassen der Echten Goldrute (Solidago virgaureä) von schattigen bzw. sonnenbeschienenen Standorten während ihres Wachstums bei gegebener Lichtintensität U n terschiede in der Photosyntheseaktivität. Die Pflanzen von schattigen Standorten wachsen bei geringer Lichtintensität sehr schnell, wohingegen ihre Wachstumsrate bei hoher Lichtintensität deutlich verringert ist. Im Gegensatz dazu wachsen Pflanzen von sonnigen Standorten bei hoher Lichtintensität schnell. In einem anderen Experiment wurden arktische und alpine Populationen des Säuerlings (Oxyria digyna) untersucht. Hierbei wurden Rassen längs eines Gradienten gesammelt, der sich über viele Breitengrade hinweg von Thüle in Grönland und Point Barrow in Alaska bis in die Berge von Kalifornien und Colorado erstreckte. M a n fand heraus, d a ß der Gehalt an Blattchlorophyll in südlicher Richtung zunimmt; d a ß die Atmungsrate von Pflanzen aus nördlichen Populationen bei allen Temperaturen höher ist als bei Pflanzen aus südlichen Populationen; und d a ß bei Hochgebirgspflanzen aus dem südlichsten Verbreitungsgebiet der Art eine „Lichtsättigung" bei der Photosynthese erst mit einer höheren Lichtintensität erreicht wird als bei Tieflandpflanzen aus nördlicheren Regionen. Das Vorkommen von Oxyria digyna in einem

KAPITEL 9

solch großen Gebiet und unter so verschiedenen ökologischen Bedingungen ist teilweise sicher nur möglich wegen des unterschiedlichen Stoffwechselpotentials ihrer Populationen.

9.3.3 Reproduktive Isolation Das genetische System einer Pflanzenpopulation reagiert auf die Selektion als einheitliches Ganzes. Aus diesem Grunde können sehr stark voneinander abweichende Populationen manchmal nicht mehr miteinander gekreuzt werden und somit keine Hybriden bilden (Hybriden = Nachkommenschaft zweier genetisch verschiedener Eltern). Wenn aber dennoch eine Kreuzung stattfindet, können die entstehenden Hybriden unfruchtbar sein. Im allgemeinen gilt: je mehr sich zwei Populationen in ihrem Äußeren voneinander unterscheiden, umso unwahrscheinlicher ist es, daß sie miteinander gekreuzt werden können. Von dieser Verallgemeinerung gibt es jedoch wichtige Ausnahmen. Wenn zwei Populationen reproduktiv isoliert werden d.h. wenn sie nicht mehr in der Lage sind, miteinander fortpflanzungsfähige Hybriden zu bilden - können sie ihre Evolution gegenseitig nicht mehr beeinflussen, wenigstens nicht im genetischen Sinne. Eine solche reproduktive Isolation ist deshalb einer der entscheidendsten Schritte zur stammesgeschichtlichen Divergenz von Populationen. Diese Kreuzungsunfähigkeit ist oftmals als Basis für die Definition des ^/-Begriffes herangezogen worden. Jedoch sind sehr unterschiedlich aussehende, ökologisch genau unterscheidbare „Arten" bei einigen Pflanzengruppen - besonders den langlebigen, wie Bäume und Sträuc h e r - h ä u f i g in der Lage, miteinander zu kreuzen. Auf der anderen Seite sind Hybriden zwischen krautigen, kurzlebigen Pflanzen-„Arten" im allgemeinen steril. Aber auch Hybriden zwischen einzelnen Populationen (Varietäten) innerhalb einer solchen Art sind oft steril. Es ist daher unmöglich, zur Definition des Artbegriffes im Pflanzenreich ein einziges Kriterium heranzuziehen. (Die Frage, was eine Art ausmacht, wird in Kapitel 10 näher besprochen). Populationen einjähriger Pflanzen verändern sich wahrscheinlich viel schneller als Populationen mehrjähriger Pflanzen. Das liegt nicht nur an ihrem kürzeren Entwicklungszyklus, sondern auch daran, daß ihr Fortbestand alljährlich von der Samenbildung abhängig ist. Die Samenbildung ist ein Faktor, der die Auswirkung natürlicher Selektion erhöht und somit bewirkt, daß die Populationen einjähriger Pflanzen schneller voneinander abweichen als Populationen mehrjähriger Pflanzen. Neben Kreuzungsbarrieren und Sterilität der Hybriden gibt es weitere Möglichkeiten, die Verschiedenartigkeit

Entstehung der Pflanzenarten

171

nebeneinander wachsender Populationen zu erhalten. Eine Möglichkeit ist die Vermeidung der Hybridenbildung überhaupt. So können z. B. zwei Pflanzenpopulationen, die miteinander fertile Hybriden bilden könnten, an ganz verschiedenen Standorten vorkommen. In den östlichen USA z.B. tritt Quercus coccinea (Scharlacheiche) über Tausende von km 2 neben Quercus velutina (Färbereiche) auf. Hybriden zwischen beiden Eichen sind jedoch selten. Normalerweise kommt nämlich Quercus coccinea in ziemlich feuchten, flachen Gebieten mit saurem Boden vor, während Quercus velutina in trockeneren, gut entwässerten Gebieten gedeiht. Nur dort, wo die Standorte stark zerstört wurden, sind Kreuzungen häufig, aber hier ist auch die Zuordnung zu einem der beiden Standorte nicht eindeutig. Eine andere Möglichkeit, die Kreuzung nebeneinander auftretender Arten zu verhindern, sind unterschiedliche Blütezeiten. Wenn zwei Arten nicht zur selben Zeit blühen, können sie nicht miteinander kreuzen, auch wenn sie direkt nebeneinander wachsen. Beispiele für solche photoperiodischen Ökotypen gibt Kapitel 26. Zwei nebeneinander vorkommende Arten können sich auch in der Art der Bestäubung voneinander unterscheiden (siehe Kapitel 19). Wenn sie von unterschiedlichen Insekten besucht und bestäubt werden, kommt es nur dann zu einer Kreuzung, wenn diese Insekten „Fehler" machen und die „falsche" Blume besuchen.

9.3.4 Evolutionäre Auffächerung Die Evolutionsprozesse, die wir besprochen haben, führten zur Entstehung von Gruppen verwandter Arten in zahlreichen verschiedenen geographischen Gebieten (siehe Evolutionäre Auffächerung der Gattung Nigella, auf S. 174). Berühmt sind die Artengruppen des GalapagosArchipels, wegen ihrer Bedeutung für die Entstehung der Darwinschen Evolutionstheorie. Auf Inseln ist die Differenzierung der Organismen besonders eindrucksvoll, weil sie hier wegen des fehlenden Konkurrenzdruckes viel eher als auf dem Festland in der Lage zu sein scheinen, bizarre Formen auszubilden. Offensichtlich bieten Inseln besonders günstige Bedingungen für große entwicklungsgeschichtliche Veränderungen, wie sie bei der Entstehung neuer Gattungen und Familien stattfinden müssen. Auf Inseln verändern sich Pflanzen und Tiere häufig sehr viel schneller als auf dem Festland und nehmen Formen an, die sonst nirgendwo auftreten. Ein Beispiel hierfür bietet die Gattung Cyanea aus der Familie der Lobeliaceen (Lobeliengewächse). Diese Gattung kommt nur auf den Inseln Hawaiis vor und untergliedert sich in wenigstens 60 Arten, die sich in fast allen Eigenschaften deutlich voneinander unterschei-

172

TEIL 3

Genetik und Evolution

den (Abb. 9-10). Es ist jedoch für alle Organismengruppen, die sich rasch ausbreiten, charakteristisch, daß ihre Arten auffächern, auch wenn sie sich nur durch geringfügige Abweichungen voneinander unterscheiden. Dies ist das unausweichliche Ergebnis der Evolutionsprozesse, die wir besprochen haben.

9.4 Bedeutung der Hybridisierung für die Evolution Auch wenn zwei Arten in der Natur nur selten miteinander kreuzen, so können die im Falle einer Kreuzung entstehenden Hybriden wegen der Rekombination der elterlichen Eigenschaften doch von Bedeutung sein. Die Umwelt ändert sich wiederholt und Individuen, die aus solchen Kreuzungen hervorgehen, können sich oft aufgrund ihres mischerbigen genetischen Materials besser an die neue Umgebung anpassen, als die beiden Eltern. Solche Hybriden können zuweilen selbst Standorte besiedeln, an denen keiner der beiden Eltern wachsen kann. Wenn die Standorte der beiden Elternarten dicht beieinander liegen, aber scharf voneinander getrennt sind, ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine Hybridisierung stattfindet, gering. Wenn jedoch die Standorte allmählich ineinander übergehen oder zerstört wurden, sind Kreuzungen wahrscheinlicher. Die Rekombination des genetischen Materials zweier Arten bietet hier eine größere Chance für die Entstehung gut angepaßter Nachkommen als Veränderungen innerhalb der einzelnen Populationen. Der Variabilitätsgrad, der durch die Kreuzung zweier Arten ent-

C.

Abb. 9-10 Die Gattung Cyanea (aus der Familie Lobeliaceae, Lobeliengewächse) kommt nur auf den Hawaii-Inseln vor. Ihre Arten unterscheiden sich voneinander deutlich in Blattgröße, Blattform und Wuchsform. So kommt Cyanea linearifolia mit ihren kleinen, schmalen Blättern normalerweise an trockenen, sonnigen Standorten vor. Cyanea-Arten mit farnartigen Blättern, wie sie in der rechten Hälfte der Abbildung dargestellt sind, kommen hingegen an schattigen Standorten vor, wo dünne Blätter mit einer großen Oberfläche das einfallende Licht besser einfangen können. Sie sind wahrscheinlich alle aus Arten wie C. lobata (Mitte der Abbildung) hervorgegangen.

linearifolia

\ J J * C. angustifolia

steht, ist viel größer als derjenige, welcher der einzelnen Art zur Verfügung steht. Die Chance, daß Individuen entstehen, die an den neuen Standort gut angepaßt sind, ist bei Kreuzung entsprechend größer (Abb. 9-11). Offenbar kann durch Hybridisierung die Verschiedenheit zweier klar unterscheidbarer Arten abgeschwächt oder verringert werden, indem sich mehrere intermediäre Populationen bilden. Diese können festen F u ß fassen, wenn sie an bestimmte Standortbedingungen besser angepaßt sind als beide Eltern. Es ist oft schwierig, mit Sicherheit nachzuweisen, daß eine bestimmte intermediäre Population durch Kreuzung zwischen zwei verschiedenen Arten entstanden ist. Dennoch nehmen die Beweise dafür zu, daß Hybridisierung ein wichtiger Evolutionsmechanismus ist, der Pflanzengruppe für Pflanzengruppe erfaßt. Bei manchen Gattungen scheint die Rekombination des genetischen Materials zweier Arten die Hauptmöglichkeit zu sein, auf Umweltveränderungen zu reagieren und neue Arten zu bilden. Dies trifft hauptsächlich für holzige Pflanzen wie z. B. Ceanothus (Säckelblume) (Abb. 9-12) und Arctostaphylos (Bärentraube) zu. Artengruppen, die einander auf diese Weise beeinflussen, treten am häufigsten auf Inseln oder in sehr inhomogenen, sich sehr schnell verändernden Gebieten - wie Kalifornien oder seine Nachbarstaaten - auf. Ein weiteres Beispiel für die Bildung einer intermediären Population gibt (Abb. 9-13). Bildung und Stabilisierung von intermediären Hybridenpopulationen gelingen nur dann, wenn die Hybriden fertil sind. Aber auch dann, wenn die Hybriden steril sind,

KAPITEL

Abb. 9-11 Bei den Platanen (Platanus) gibt es hochdifferenzierte Populationen, die die Fähigkeit, miteinander zu kreuzen, behalten haben. Die heute lebenden Arten dieser sehr alten Gattung sind vor wenigstens 50 Millionen Jahren in weit über die nördliche Hemisphäre verstreuten Standorten voneinander isoliert worden. Das Verbreitungsgebiet einer dieser Platanen, Platanus orientalis, erstreckt sich vom östlichen Mittelmeer bis östlich des Himalaja. Dieser hübsche Baum wird seit der Römerzeit in Südeuropa häufig kultiviert, gedeiht aber nicht in Nordeuropa, außerhalb der Gebiete mit gemäßigtem atlantischem Klima. Nach der Entdeckung der Neuen Welt wurde die aus dem östlichen Nordamerika stammende Platane, Platanus occidentalis, in den kälteren Gebieten Nordeuropas angepflanzt und gedeiht dort gut. Ungefähr um 1670 wurden diese beiden sehr unterschiedlichen Platanen zusammen im botanischen Garten der Universität Oxford kultiviert. Dort kreuzten sie miteinander und dabei entstand die intermediäre, fertile Londoner Platane, Platanus x hybrida. Diese fertile Hybride kann selbst in Gebieten mit kalten Wintern wachsen und gedeiht dort sehr viel besser als ihre beiden Eltern. Sie wird heutzutage in den gesamten gemäßigten Breiten der Welt als Straßenbaum angepflanzt, da sie gegenüber Abgasen sehr unempfindlich zu sein scheint.

können sie sich weiterverbreiten - entweder ungeschlechtlich durch Apomixis oder durch Rückerlangung ihrer Fertilität mittels Polyploidie.

9.4.1 Hybridisierung und Apomixis Sterile Hybriden können sich auf verschiedene Weise vegetativ (durch Apomixis) vermehren (Abb. 9-14). Am flexibelsten sind Systeme, in denen zwar Apomixis vorherrscht, in denen jedoch gelegentlich Kreuzungen stattfinden, die zur Bildung variabler, neuartiger Genkombinationen führen. Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist Poa pratensis (Wiesenrispengras), ein hochgradig veränderbares Gras, das in der einen oder anderen Form über die ganze nördliche Hemisphäre verbreitet ist. Gelegentliche Kreuzungen mit einer ganzen Reihe verwandter Arten führten zur Bildung Hunderter apomiktischer Rassen, die alle an ihren jeweiligen Standort gut angepaßt sind. Hier haben wir also ein System vor uns, in welchem ständig neue Genotypen entstehen und die am besten adaptierten durch Apomixis erhalten bleiben. In einem solchen System ist es gleichgültig, ob diese so gut an ihren Standort angepaßten Individuen steril sind oder nicht, denn ihr Fortbestand hängt nicht von geschlechtlicher Vermehrung ab. Indivi-

9

Entstehung der Pflanzenarten

173

Plalanus occidentalis

duen, die sich apomiktisch vermehren, haben besonders in arktischen Gebieten große Chancen, weil dort nur in beschränktem Maße Insektenbestäubung stattfinden kann, und weil sich bestimmte, eng umrissene Genotypen unter den rauhen, arktischen Bedingungen vielleicht erfolgreicher durchsetzen und halten können, als die stärker veränderlichen Populationen sich geschlechtlich fortpflanzender Organismen. Die zahlreichen Weißdornarten (Crataegus) und Brombeerarten (Rubus) der östlichen USA sind apomiktische Abkömmlinge von Populationen, die gelegentlich Hybriden bilden, genau wie bei Poa pratensis. In all diesen Fällen hat die massenhafte Zerstörung der natürlichen Standorte durch den Menschen zur Entstehung zahlreicher neuer Genotypen geführt, die in den ursprünglichen Wäldern dieser Region keinen Platz gehabt hätten.

9.4.2 Hybridisierung und Polyploidie Zellen oder Individuen, die mehr als den doppelten Chromosomensatz besitzen, nennt man polyploid. In der Natur entstehen polyploide Zellen in geringem Maße durch einen „Fehler" in der Mitose, wobei sich zwar die Chromosomen teilen, ihre Spalthälften aber nicht auf zwei Tochterkerne und Tochterzellen verteilt werden. Wenn aus ei-

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der Gattung

Nigella

Die Gattung Nigella (Schwarzkümmel), durch einjährige krautige Arten vertreten, gehört zu den Ranunculaceen (Hahnenfußgewächse). Die verschiedenen „Spielarten", die auf den Inseln der Ägäis zu finden sind, werden auf einen Vorläufer zurückgeführt, der vermutlich über die noch im Pleistozän bestehenden Landbrücken zwischen den Inseln oder auch später über weite Strecken hinweg mit dem Meerwasser verbreitet worden ist. Aus den kleinen Populationen des Vorläufers, die auf den Inseln iso-

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Auffächerung

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\ liert entstanden, sind durch ein Zusammenspiel von Isolation, natürlicher Selektion und zufälligem Verlust einzelner Genotypen schließlich die verschiedenen Ökotypen entstanden. Stellvertretend für einen jeden von diesen sind ein Staubblatt und ein Honigblatt (welches das Nektarium trägt) abgebildet. Diese evolutionäre Auffächerung der Gattung Nigella auf den Ägäischen Inseln wurde von Prof. Arne Strid (Universität Kopenhagen) entdeckt, der auch die hier abgebildeten Blüten malte.

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Meiose unreife Gametangien

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freilebend (siehe Abb. IO-IOC). Bei einigen Braunalgenarten ist der Generationswechsel isomorph, bei anderen heteromorph. Einen heteromorphen Generationswechsel findet man bei Laminaria (Abb. 14-27), einen isomorphen bei der fädigen G a t t u n g Ectocarpus, deren Sporophyt und Gametophyt gleichgestaltet sind. Die weiblichen Gameten mehrerer Braunalgengattungen scheiden Substanzen aus, mit denen sie die männlichen Gameten anlocken. Die Strukturaufklärung zeigte, d a ß es sich bei diesen Substanzen um olefinische Kohlenwasserstoffe handelt. Fucus zeigt einen anderen, sehr ungewöhnlichen Entwicklungszyklus (Abb. 14-28). Der Kernphasenwechsel von Fucus ist gametisch, die Zygote wächst direkt zu einem neuen diploiden Organismus heran (siehe Abb. 10-10 b). Ein zygotischer Kernphasenwechsel, wie er bei den Grünalgen sehr verbreitet ist, k o m m t bei den Braunalgen nicht vor.

14.4 Rotalgen - Abteilung Rhodophyta Bei den Rotalgen kommen keine begeißelten Zellen vor. Sie sind kompliziert gebaut (Abb. 14-29) und haben sehr verwickelte Entwicklungszyklen. Im Gegensatz zu den Grünalgen und den Braunalgen, die in allen Zellen Centrosomen besitzen, fehlen diese bei den Rotalgen gänzlich. Es gibt ungefähr 4000 Rotalgenarten. Sie treten be-

sonders reichlich in tropischen und warmen Gewässern auf, viele von ihnen kommen aber auch in kühleren Regionen der Erde vor (siehe Tabelle 14-1). Weniger als 100 Arten leben im Süßwasser; die Zahl der im Meer lebenden Rotalgenarten ist jedoch größer als die Artenzahl aller anderen Meeresalgen zusammen. In antarktischen Gewässern fehlen die größeren Braunalgen gänzlich und werden durch eine Tang-ähnliche Rotalge, Himantothallus, ersetzt, die mehr als 10 m lang werden kann. Die wasserlöslichen Phycobiline, welche die Farbe des Chlorophylls a der Rotalgen verdecken und ihnen ihre charakteristische Farbe verleihen, sind akzessorische Pigmente, die besonders gut für die Absorption von grünem, violettem und blauem Licht geeignet sind, welches in die Tiefe des Meeres vordringt. Rotalgen kommen in größeren Tiefen vor als alle anderen Algen, manche von ihnen sogar in Tiefen bis zu 175 m. Weil Phycobiline auch bei Cyanobakterien vorkommen, ist es wahrscheinlich, daß die Chloroplasten der Rotalgen einer Symbiose der Rotalgen mit Organismen entstammen, die den heute lebenden Cyanobakterien sehr ähnlich waren. D a s Reservekohlenhydrat der Rotalgen ist die Florideenstärke, die dem Amylopektin der Pflanzen ähnlich ist. Die Florideenstärkekörner kommen normalerweise im Cytoplasma vor, und zwar an oder in der Nähe der Plastidenoberfläche, nicht aber in der Plastide selbst.

KAPITEL

14

Autotrophe Protisten: Algen

295

Abb. 14-29 Rotalgen, (a) Bei Pleonosporium dasyoides erkennt man deutlich den fadenförmigen Bau der Rotalgen. Anscheinend hat sich die Vielzelligkeit bei den Rotalgen unabhängig von der Vielzelligkeit der Grünalgen und Braunalgen entwickelt, bei denen ähnliche Bauprinzipien (Fadenthallus des Springbrunnen- oder Zentralfadentyps) nicht vorkommen. (b) RifFbildende Kalkrotalge Porolithon craspedium, von einem Riff der Marshallinseln im Südpazifik, (c) Chondrus crispus (irländisches Moos), eine der häufigsten Algen des Nordatlantiks und der Nordseeküsten, ist der Rohstoff für die Gewinnug von Carrageen und anderen Emulgatoren.

Die Zellwände der meisten Rotalgen bestehen aus einem festen inneren Teil aus Cellulosemikrofibrillen und einem schleimigen äußeren Teil, meist aus Schwefelsäureestern von Polysacchariden, wie Agar-Agar und Carrageen, bestehend (siehe Wirtschaftliche Nutzung von Algen, S.298). Es sind diese zuletzt genannten Bestandteile der Zellwand, die den Rotalgen ihre charakteristische flexible, schlüpfrige Beschaffenheit verleihen. Bei einer Reihe von Rotalgen findet man starke Calciumcarbonateinlagerungen. Diese Kalkrotalgen spielen eine große Rolle bei der Bildung von Korallenriffen (Abb. 14-29 b). Unter den Fossilien sind Kalkrotalgen seit dem Präkambrium reichlich vertreten. Marine Kalkrotalgen traten erstmals zu Ende des Mesozoikums auf.

Die Rotalgen sind meist an Gestein oder andere Algen angeheftet. Es gibt nur wenige frei treibende Arten und nur wenige einzellige oder koloniebildende Formen. Die meisten Rotalgen bestehen aus heterotrichen Zellfäden. Das ist jedoch oft schwer zu erkennen, da sich die Fäden reich verzweigen und zu Flechtgeweben (Plectenchyme) dicht zusammenlagern, zum Teil sogar sekundär miteinander verwachsen (z. B. Delesseriä). Bei vielen Rotalgen treten ausgeprägte Tüpfel auf, jedoch stets nur zwischen Zellen ein und desselben Astes. Die primitiveren Formen bestehen deutlich aus Zellfäden, bei denen Zellteilungen meistens über den ganzen Faden verteilt stattfinden. Bei den höher organisierten Rotalgen besteht der Thallus aus Zellfäden, die haupt-

296

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Abb. 14-30 Schemata des Thallusbaus von Rotalgen. Zentralfadentypus: Längsschnitt (a) und Querschnitt (b) durch Chondria (zf = Zentralfaden; s = Seitenast). Springbrunnentypus: bei Melobesia (c), bei Furcellaria (d). (Aus Weberling, F. & Schwantes, H.O.: „Pflanzensystematik", Stuttgart 1979.)

sächlich durch Spitzenwachstum der einzelnen Fäden wachsen. Dabei treten vor allem zwei Organisationstypen auf, der Springbrunnentypus und der Zentralfadentypus (Abb. 14-30). Beim Springbrunnentypus findet man dichotom verzweigte, parallele Fäden mit Spitzenwachstum, die sich zu zweidimensionalen (Melobesia) oder räumlichen Gebilden mit kompakter Rindenschicht (Furcellaria) zusammenlagern. Beim Zentralfadentypus (z. B.

(a)

(b)

(c)

(d)

Chondria) hingegen gehen wirtelige (s. Kap. 23.5.) Verzweigungen unterhalb der Scheitelzelle von einem einzigen Zentralfaden mit Scheitelwachstum aus. Die Rotalgen machen einen Generationswechsel durch (Abb. 1431). Bei den meisten Rotalgen sind Gametophyt und Sporophyt gleichgestaltet, der Generationswechsel ist also isomorph; es werden jedoch auch mehr und mehr Rotalgen mit heteromorphem Generationswechsel entdeckt.

14 Autotrophe Protisten: Algen

KAPITEL

Abb. 14-31 Entwicklungszyklus von Polysiphonia, einer in den Meeren weit verbreiteten Rotalge. Die Gametophyten entstehen aus haploiden Tetrasporen und sind eingeschlechtig. Die Geschlechtsorgane entstehen in der Nähe der Zweigspitzen. Die männlichen Geschlechtsorgane, die Spermatangien, treten in dichten Haufen auf. Die unbeweglichen männlichen Gameten, die Spermatien, entstehen einzeln in den Spermatangien. Das weibliche Geschlechtsorgan, das Karpogon (Endzelle eines 3 - 4 zelligen Karpogonastes) entwickelt an seiner Spitze ein langgestrecktes Empfängnisorgan, die Trichogyne. Der vergrößerte Basalteil des Karpogons enthält den Zellkern und funktioniert als Eizelle. Die Spermatien werden passiv vom Wasser zur Trichogyne getragen. Wenn ein Spermatium an der Trichogyne kleben bleibt, lösen sich die Wände zwischen Spermatium und Trichogyne an der

Kontaktstelle auf. Der Spermatiumkern tritt in die Trichogyne ein und wandert zum Kern der Eizelle, um mit diesem zu verschmelzen. Auf den äußerst komplizierten Befruchtungsvorgang folgt eine Reihe von Ereignissen, die zur Bildung von Karposporangien führen, in denen nackte Karposporen (Mitosporen) entstehen. Wenn die Karposporen reif sind, werden sie durch eine Öffnung im Perikarp entlassen. Nach der Keimung entsteht aus jeder Karpospore ein Tetrasporophyt, der in Größe und Gestalt dem Gametophyten gleicht. Die Tetrasporophyten bilden Tetrasporangien, in denen unter Meiose je vier haploide Tetrasporen entstehen. Die Tetrasporen entwickeln sich zu Gametophyten; der Entwicklungszyklus - ein isomorpher Generationswechsel - ist geschlossen.

Trichogyne

T

297

männlicher Gametophyt

weiblicher Gametophyt Ei (Basalteil d e s K a r p o g o n s mit Zellkern) Tetrasporen

Syngamie

Meiose

Karposporen

Tetrasporangien Perikarp Karposporangien

Tetrasporophyt

298

TEIL

4

Wirtschaftliche

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Nutzung

von

Algen

In verschiedenen Teilen der Erde, besonders im fernen Osten, essen die Menschen Rotalgen und Braunalgen. Eine der Rotalgen, Porphyra, wird als Meerlattich (Amanori oder Asakusanori) von den Bewohnern des Nordpazifischen Beckens so gerne gegessen, daß sie seit Jahrhunderten in Japan und China angebaut wird. Die „Nori"Industrie beschäftigt zur Zeit allein in Japan mehr als 30000 Menschen. Auch zahlreiche andere Rotalgen werden auf den pazifischen Inseln und an den Küsten des Nordatlantik gegessen. Die Meeresalgen besitzen meist keinen hohen Nährwert, denn die Menschen und auch die meisten Tieren haben keine Enzyme, um die in ihnen gespeicherten Kohlenhydrate abzubauen. Die Meeresalgen enthalten jedoch wichtige Nährsalze und eine Reihe wichtiger Vitamine und Spurenelemente, so daß sie eine wertvolle Zusatznahrung sind. In vielen nördlichen gemäßigten Breiten hat man Seetange wegen ihres hohen Sodaund Pottaschegehaltes geerntet und industriell verwertet. Auch Jod wird industriell aus Seetang gewonnen. Algen werden auch oft geerntet und direkt zu Düngemitteln verarbeitet. Alginate werden aus Meerestangen (Braunalgen) wie Macrocystis gewonnen. Sie werden wegen ihrer hervorragenden kolloidalen Eigenschaften als Appretur-, Stabilisierungs- und Bindemittel in der Nahrungsmittel-, Textil-, Kosmetik- und Arzneimittelindustrie und beim Schweißen verwendet. Chirurgische Nähfäden werden aus dem Ca-Salz der Alginsäure hergestellt und bekannt sind auch die „Laminaria-Stifte", Quellstifte zum Offenhalten von Wunden. In einiger Entfernung von der Westküste der

USA können Macrocystis-Felder durch „Stutzen" direkt unter der Wasseroberfläche mehrfach im Jahr abgeerntet werden. Momentan laufen Versuche, diesen Riesentang in großem Maßstab zu kultivieren. Eine der wichtigsten Verwendungsmöglichkeiten von Algen ist die Gewinnung von Agar. Er besteht aus schleimigem Material (einem Polysaccharid aus Galaktoseresten, die z.T. mit Schwefelsäure verestert sind), das aus den Zellwänden mehrerer Rotalgen-Gattungen extrahiert wird. Agar wird verwendet zur Herstellung von Vitaminund Arzneimittelkapseln, als Material für Zahnabdrücke, als Basis für Kosmetika und als Kultursubstrat für Bakterien und andere Mikroorganismen. Er wird auch bei der Herstellung von Backwaren als Schutz gegen Austrocknung verwendet, ferner bei der Pudding- und Geleebereitung auf kaltem Wege und in tropischen Gebieten als kurzfristiges Konservierungsmittel für Fleisch und Fisch. Agar wird in vielen Teilen der Erde gewonnen, Japan aber ist der Hauptlieferant. Ein ähnlicher kolloidaler Stoff aus Algen ist das Carrageen. Dieser Stoff besteht zu 80 % aus Membranschleimen und wird nicht nur als reizmilderndes Hustenmittel, sondern lieber noch als Agar auch zum Stabilisieren von Emulsionen - wie Farben, Kosmetika und Milchprodukte (z. B. Speiseeis) - verwendet. Der Phykologe (Algenkundler) Clinton Dawes von der University of South Florida (USA) hat vor kurzem vorgeschlagen, die in Florida häufig vorkommende Rotalge Eucheuma isiforme in Behältern zu kultivieren, um Carrageen in großem Maße gewinnen zu können.

14.5 Diatomeen und goldbraune Geißelalgen - Abteilung Chrysophyta

normalerweise als große Öltröpfchen gespeichert. In einer Hinsicht unterscheiden sich die Chrysophyta von den Braunalgen sehr deutlich. Ihre Zellwände bestehen hauptsächlich aus Pektinen, die oft verkieselt und damit sehr starr sind. Die Wände enthalten keine Cellulose. Es ist zur Zeit noch schwierig zu entscheiden, ob die Chrysophyta mit den Braunalgen direkt verwandt sind oder nicht. Die beiden Hauptklassen der Chrysophyta sind die Bacillariophyceae und die Chrysophyceae, die beide voneinander sehr verschieden sind; daneben gibt es noch eine kleinere Klasse - die gelbgrünen Algen (Xanthophyceen).

Diatomeen und goldbraune Geißelalgen (s. Tab. 14-1) sind einzellige Organismen. Es sind außerordentlich wichtige Bestandteile des Phytoplanktons, zu dem alle mikroskopisch kleinen, photoautotrophen, im Wasser schwebenden Organismen gehören. Daher sind sie eine primäre Nahrungsquelle für Süßwasser- und Meerestiere. In der Abteilung Chrysophyta gibt es schätzungsweise 11 500 rezente Arten. Genau wie die Braunalgen, so besitzen auch die Chrysophyta die Chlorophylle a und c, deren Farbe weitgehend von dem akzessorischen Pigment Fucoxanthin verdeckt wird. Der Kohlenhydratreservestoff ist Chrysolaminarin (früher Leucosin genannt), welches in seiner Struktur dem Laminarin der Braunalgen ähnlich ist. Bei den Chrysophyta werden die Photosyntheseprodukte

14.5.1 Diatomeen - Klasse Bacillariophyceae Die meisten Arten der Abteilung Chrysophyta gehören zu dieser großen Gruppe einzelliger Organismen - minde-

KAPITEL 14

jrtrvtvr

A u t o t r o p h e Protisten: Algen

299

(b)

(a) Eine feststehende Vorrichtung zur Kultivierung der Rotalge Porphyra. Das „Nori"-Netz ist dicht mit Algen bewachsen und kann abgeerntet werden, (b) Zwei Fischer ernten Porphyra von einer frei treibenden Kulturvorrichtung mit Hilfe einer modernen Erntemaschine, welche die Thalli wie ein Rasenmäher abschneidet, (c) Halle für die Kultur von Rotalgen; Beimpfung von Netzen, die in Betonbehältern installiert sind, mit Conchosporen - haploiden Sporen von Conchocelis, einer fädigen Rotalge.

stens 40 000, wenn nicht sogar 100 000 Arten (davon ungefähr 11 500 rezente). Auf kleinem Raum findet man oft einen enormen Artenreichtum an Diatomeen. So wurden z.B. in zwei kleinen Schlammproben aus Beaufort in North-Carolina (USA) 369 Arten entdeckt. Die meisten Diatomeenarten findet man im Plankton, einige jedoch leben am Grunde von Gewässern oder wachsen auf anderen Algen oder Pflanzen. Diatomeen leben sowohl im Süß- als auch im Salzwasser. Die Zellwand der Diatomeen besteht innen und außen aus Pektin, mit einer dazwischenliegenden Schicht aus amorphem Siliziumdioxid (Si0 2 • n H 2 0 ) . Sie setzt sich aus zwei Hälften zusammen; die größere (Epitheka) paßt genau auf die kleinere (Hypotheka), so wie der Deckel einer Pillendose auf ihren Boden. Boden- und Deckelflächen bezeichnet man als Schalen (Valvae), die übereinandergreifenden Ränder als Gürtelbänder (Pleurae). Besonders in Schalenansicht besitzt die Kieselsäureschicht häu-

fig sehr zarte Strukturen, deren Größe an der Grenze des lichtmikroskopischen Auflösungungsvermögens liegt. Diatomeenschalen werden deshalb als Testobjekte für die Güte von Mikroskoplinsen verwendet. Elektronenmikroskopische Untersuchungen haben gezeigt, daß es sich bei diesen zarten Strukturen auf den Diatomeenschalen in Wirklichkeit um zahlreiche winzige, kompliziert gebaute Vertiefungen, Poren oder Kämmerchen handelt, die das lebende Protoplasma innerhalb der Schale mit der Außenwelt verbinden (Abb. 14-32). Die auffälligsten Merkmale des Diatomeenprotoplasten sind die bräunlichen Piastiden, die, genau wie bei den Braunalgen, die Chlorophylle a und c und auch Fucoxanthin enthalten. Die meisten Diatomeen vermehren sich durch Zweiteilung (Abb. 14-33), also ungeschlechtlich. Aufgrund der Symmetrie kann man zwei Typen von Diatomeen unterscheiden: die Pennales (Abb. 14-32d) mit ihrer bilateralen Symmetrie (stab- oder schiffchenför-

300

TEIL

4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

30 /im

(C)

I

2.5 FIM

(a) Abb. 14-32 (a) Eine Auswahl mariner Diatomeen, mit dem Lichtmikroskop betrachtet. Rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen einer Valva der Kieselschale (b) von Entogonia, und (c) von Thalassioria nordenskioeldii, einer Diatomee mit Radiärsymmetrie (Ordnung Centrales), (d) Pinnularia, eine Diatomee mit bilateraler Symmetrie (Ordnung Pennales), mit dem Lichtmikroskop betrachtet.

mig) und die Centrales (Abb. 14-32c) mit ihrer Radiärsymmetrie (kreisrund, manchmal auch dreieckig). Die Centrales kommen hauptsächlich im Meer vor. Die sexuelle Fortpflanzung der Centrales ist eine Oogamie. Die Spermatozoiden tragen eine einzige Peitschengeißel an ihrem Vorderende; sie sind die einzigen begeißelten Zellen im Verlauf des Entwicklungszyklus der Centrales. Die sexuelle Fortpflanzung der Pennales ist eine Isogamie; hier sind beide Arten von Gameten unbegeißelt. Die meisten Diatomeenarten sind autotroph; viele Arten jedoch - vor allem Pennales, die am Grunde seichter Meeresgewässer leben - müssen nicht photosynthetisch aktiv sein, sondern können auch durch Nahrungsresorption existieren. Einige Arten sind obligat heterotroph; sie sind also nicht mehr in der Lage, ihre Nahrung durch Photosynthese selber zu produzieren. Einige andere Diatomeen wiederum, denen die charakteristischen Diatomeenschalen fehlen, leben als Symbionten in großen marinen Protozoen (Foraminifera) und liefern diesen heterotrophen Organismen die Nahrung. Obwohl sie keine Wimpern, Geißeln oder andere Bewegungsorganellen besitzen, sind viele Diatomeenarten aber nur die pennaten - beweglich. Ihre Bewegung erfolgt durch eine genau kontrollierte Sekretion, die auf verschie-

dene chemische und physikalische Reize hin erfolgt. Alle beweglichen Diatomeen besitzen in der Längsachse der Valven einen feinen Spalt, die Raphe, eigentlich ein durch einen feinen Spalt verbundenes Porenpaar. Diese Poren befinden sich voneinander weit entfernt in den Endknoten; in der Mitte der Raphe liegt der Zentralknoten. Die Raphe ist außen mit Exoplasma ausgekleidet. Dieses hat durch den Spalt Kontakt mit dem Plasma der Zelle. Viele unbewegliche Diatomeen sind coenobial zu Bändern (oder auch Fächern) vereinigt. Apikaiporen scheiden Substanzen aus, durch welche diese unbeweglichen Diatomeen zu Fäden vereinigt werden. Die Raphe der beweglichen Diatomeen entstand als Bewegungsvorrichtung offenbar durch Modifikation dieser Apikaiporen. Eine Kieselalge bewegt sich aufgrund äußerer Reize wie mechanische Einflüsse, Licht, Hitze oder Toxine. Diese lösen in Fibrillen, die dem Raphensystem anliegen, Kontraktionen aus. Durch diese Kontraktionen werden kristalline Körperchen in die Nähe der Raphenporen transportiert. In den Poren nehmen sie Wasser auf und dehnen sich zu gedrehten Fibrillen aus. Diese wandern die Raphe entlang, bis sie an irgendein Objekt stoßen. Dort bleiben sie sofort haften und ziehen sich zusammen. Wenn das Objekt, dem sie anhaften, groß genug ist, so bewegt

I

14 Autotrophe Protisten: Algen

KAPITEL

Abb. 14-33 Die Diatomeen vermehren sich hauptsächlich ungeschlechtlich durch Zweiteilung. Jede Tochterzelle bekommt eine der ursprünglichen Schalenhälften und baut eine zweite, passende dazu. Die alte Schalenhälfte bildet immer den Deckel (Epitheka) der Schachtel, die neue Schalenhälfte das dazu passende Unterteil (Hypotheka). Folglich ist eine der beiden neu gebildeten Zellen kleiner als die Mutterzelle. Durch zahlreiche Teilungen kann eine Population so immer winziger werden. Diesem Kleinerwerden der Population wirkt bei einigen Arten entgegen, daß ihre Schalen dehnbar sind und sich vergrößern, wenn das von ihnen umschlossene Protoplasma wächst. Bei anderen Arten mit starreren Schalen wird die Zelle hingegen nur bei der geschlechtlichen Fortpflanzung wieder vergrößert. Diese setzt ein, wenn die Individuengröße auf 30% ihres Maximums abgefallen ist. Bestimmte Zellen werden zu männlichen Gametangien; jedes von ihnen bildet durch Meiose 4 Spermatozoiden. Andere Zellen werden zu weiblichen Gametangien; in jedem von ihnen wird ein Ei gebildet - 3 der 4 Meioseprodukte gehen also zugrunde. Nach der Befruchtung wächst die Zygote (Auxospore), welche nicht in Schalen eingeschlossen ist, heran, bis das Protoplasma die volle, für diese Art charakteristische Größe erreicht hat. Die Wände, die von den Auxosporen gebildet werden, unterscheiden sich oft von denen der vegetativen Zellen. Gelegentlich sind Auxosporen so-

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Spermatozoid

301

Syngamie

Meiose

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ungeschlechtliche Fortpflanzung: Bei der Zweiteilung weichen die Schalenhälften auseinander und werden zu Epitheken der Tochterzellen, die dazugehörigen Hypotheken werden £ neu gebildet.

Zygote (Auxospore)

Auxospore bildet Schalen hälften

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gar als neue Gattung oder Art beschrieben worden. Wenn das Wachstum vollendet ist, bildet die Auxospore neue Schalenhälften aus, die genau dasselbe komplizierte Schalenmuster wie ihre Vorgänger aufweisen. Die

sich die Diatomee selbst darauf zu und hinterläßt eine Sekretspur, ähnlich der Schleimspur einer Schnecke. Wenn das Objekt jedoch klein ist, so wird es entlang der Raphe transportiert, und die Diatomee bleibt, wo sie war. Solche beweglichen Diatomeen ruhen aber meist; jede Zelle hat nur einen beschränkten Aktionsradius, denn sie besitzt nur eine begrenzte Zahl der zur Bewegung erforderlichen kristallinen Körperchen. Die über Millionen von Jahren abgelagerten verkieselten Diatomeenschalen bilden die Diatomeenerde (Kieselgur), die zum Polieren von Silber, zum Filtrieren, als Isoliersubstanz und zur Herstellung von Dynamit verwendet wird. Auch die Farbe, mit der die Mittelstreifen der Straßen gemalt werden, enthält Diatomeenerde; sie hat nämlich die Eigenschaft, Licht, das in kleinem Winkel auf-

Diatomee kann sich dann wieder ungeschlechtlich vermehren. Die Zeichnung gibt einen Überblick über die geschlechtliche und die ungeschlechtliche Vermehrung einer Diatomee mit Radiärsymmetrie (Ordnung Centrales).

trifft, zu reflektieren. Man schätzt, daß 1 m 3 Diatomeenerde ungefähr 4,6 Millionen Organismen enthält. In den Ölfeldern von Santa Maria (Kalifornien, USA) gibt es ein 900 m dickes, unterirdisches Lager von Diatomeenerde. In der Nähe von Lompoc (Kalifornien, USA) werden jährlich mehr als 270000 Tonnen Diatomeenerde für industrielle Zwecke abgebaut. Größere Ablagerungen von Diatomeenerde in Europa finden sich in der Lüneburger Heide, in Brandenburg, Böhmen und Frankreich. Solche Massen von Diatomeen traten erstmals in der Kreide, also vor ungefähr 100 Millionen Jahren auf. Viele dieser fossilen Arten sind mit den heute lebenden identisch. Die Diatomeen sind also über die geologischen Zeitalter hinweg fast unverändert geblieben.

302

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

14.5.2 Goldbraune Geißelalgen - Klasse Chrysophyceae Die a n d e r e Klasse der C h r y s o p h y t a , die C h r y s o p h y c e e n , bestehen aus u n g e f ä h r 1500 A r t e n (Abb. 14-34). Bis vor kurzem glaubte m a n , d a ß Vertreter dieser A l g e n g r u p p e hauptsächlich im Süßwasser leben. I m letzten J a h r z e h n t h a t m a n j e d o c h h e r a u s g e f u n d e n , d a ß sie eine große Rolle im m a r i n e n P l a n k t o n , vor allem im Nannoplankton, spielen. Z u m N a n n o p l a n k t o n gehören P l a n k t o n o r g a n i s m e n , die so klein sind, d a ß sie bei einem n o r m a l e n P l a n k t o n netz mit einer Maschenweite von 40 bis 76 (xm d u r c h die M a s c h e n schlüpfen. Ein Teil des N a n n o p l a n k t o n s besteht aus winzigen Dinoflagellaten u n d D i a t o m e e n , aber a u c h C h r y s o p h y c e e n sind d a r i n o f t reichlich vertreten. M a n glaubt n u n sogar, d a ß die Chrysophyceen vielleicht die H a u p t n a h r u n g s p r o d u z e n t e n der Meere sind. Einigen C h r y s o p h y c e e n fehlt die Zellwand, wohingegen a n d e r e eine richtig ausgebildete, pektinreiche Zellw a n d besitzen. Viele A r t e n besitzen a n der A u ß e n f l ä c h e oder im Inneren S c h u p p e n oder Skelette aus kieselhaltigem o d e r organischem Material. Die Skelette k ö n n e n außerordentlich kompliziert g e b a u t sein. Viele C h r y s o p h y ceen sind beweglich u n d besitzen zwei Geißeln (s. A b b . 124), w ä h r e n d a n d e r e a m ö b o i d sind u n d keine Geißeln haben. A u ß e r d u r c h ihre C h l o r o p l a s t e n unterscheiden sich die a m ö b o i d e n C h r y s o p h y c e e n nicht von den a m ö b o i d e n P r o t o z o e n . Es k a n n sein, d a ß diese beiden G r u p p e n n a h e miteinander v e r w a n d t sind. Die C h r y s o p h y c e e n vermehren sich größtenteils ungeschlechtlich d u r c h Z o o s p o r e n .

14.5.3 Gelbgrüne Algen - Klasse Xanthophyceae Die gelbgrünen Algen sind den anderen Klassen der C h r y s o p h y t a insofern ähnlich, als a u c h sie kein C h l o r o -

Abb. 14-34 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen zweier mariner Chrysophyceengattungen. (a) Distephanus speculum, eine Kaltwasserart mit einem zierlichen Kieselskelett im Zellinneren; dieses wird von amöboidem Ektoplasma mit zahlreichen Chloroplasten umgeben, (b) Eine Art der Gattung Gyphyrocapsa, extrem kleine Vertreter einer Chrysophyceengruppe, die man als Coccolithophoriden bezeichnet. Diese Nannoplanktonorganismen sind zwar sehr häufig, aber sehr schwierig zu fangen, auch zu untersuchen. (Zersetzung in sauren Fixiermitteln).

phyll b besitzen; sie unterscheiden sich von diesen j e d o c h d a d u r c h , d a ß ihnen d a r ü b e r hinaus noch das akzessorische Pigment F u c o x a n t h i n fehlt. Wegen ihrer grünlichen oder gelbgrünen F a r b e werden die X a n t h o p h y c e e n o f t mit G r ü n a l g e n verwechselt. Einer der b e k a n n t e s t e n Vertreter dieser Klasse ist Vaucheria, eine coenozytische, wenig verzweigte fädige Alge. Sie vermehrt sich sowohl ungeschlechtlich als a u c h geschlechtlich. Bei der ungeschlechtlichen F o r t p f l a n z u n g werden große, vielgeißlig aussehende S y n z o o s p o r e n gebildet, die sich aus allen im S p o r a n g i u m gebildeten Z o o sporen zusammensetzen. Die geschlechtliche F o r t p f l a n zung von Vaucheria ist eine O o g a m i e (Abb. 14-35). Vaucheria ist im Süßwasser, Brackwasser u n d im M e e r weit verbreitet, o f t k o m m t sie a u c h auf S c h l a m m vor, der a b wechselnd u n t e r Wasser steht u n d trockenfällt.

14.6 Dinoflagellaten - Abteilung Pyrrhophyta Die Dinoflagellaten sind größtenteils einzellige, zweigeißlige O r g a n i s m e n (s. Tab. 14-1). Es gibt m e h r als 1000 A r ten, viele von ihnen sind wichtige Bestandteile des Meeresplanktons; a n d e r e leben im Süßwasser. Die Geißeln der Dinoflagellaten verlaufen in zwei F u r c h e n ; die eine umzieht den K ö r p e r wie ein G ü r t e l (Querfurche), die a n dere verläuft senkrecht d a z u (Längsfurche). Die Geißeln setzen ventral an; das S t e u e r o r g a n ist eine in der Q u e r f u r che verlaufende Flimmergeißel, die in der L ä n g s f u r c h e verlaufende Peitschengeißel dient als Schubgeißel. Es gibt a u c h zahlreiche unbewegliche Dinoflagellaten, von d e n e n einige unbegeißelt sind. Viele Dinoflagellaten sind bizarr g e f o r m t , mit einer W a n d ( T h e k a ) aus polygonalen Celluloseplatten, die o f t aussieht wie ein H e l m o d e r ein Teil einer R i t t e r r ü s t u n g

KAPITEL

Antheridium

14 Autotrophe Protisten: Algen

303

Gymnodinium coslatum

Oogonien

Ceratium

Abb. 14-35 Vaucheria, ein Vertreter der Abteilung Chrysophyta, der coenocytische Fäden bildet. Die im Süßwasser oder auf feuchter Erde vorkommende Vaucheria ist oogam, sie bildet Oogonien und Antheridien. Das hier gezeigte Antheridium ist leer; es hat die zahlreichen, winzigen Spermatozoiden bereits ins Oogonium abgegeben.

(Abb. 14-36 und 14-37). Die Celluloseplatten der Wand befinden sich in Vesikeln innerhalb der Plasmamembran und nicht außerhalb davon, wie die Cellulosewände der meisten Algen. Die meisten Dinoflagellaten enthalten die Chlorophylle a und c. Die Chlorophylle werden meist von Carotinoiden verdeckt. Das Reservekohlenhydrat ist Stärke. Einige Arten enthalten kein Chlorophyll, sie leben heterotroph; wegen ihres Baus gehören sie aber ganz eindeutig zu dieser Abteilung. Sogar die autotrophen Arten sind normalerweise auf externes Vitamin B 1 2 angewiesen, genau wie viele Diatomeen; man kann sie daher nur bedingt als Primärproduzenten ansehen. Einige Dinoflagellaten können andere Zellen verdauen. Man nimmt an, daß die farblosen Formen andere Zellen oder kleine Teilchen organischen Materials abweiden, verdauen und sich so ernähren. Tropische Dinoflagellaten sind häufig von symbiontischen Cyanobakterien bewohnt. Auf der anderen Seite leben auch Dinoflagellaten als Symbionten in zahlreichen Organismenarten, z. B. in Schwämmen, Quallen, Seeanemonen, Korallen, Schnecken, Strudelwürmern und einigen Protozoen-Gruppen. Als Symbionten besitzen die Dinoflagellaten keine Thekae; sie sind dann goldfarben und kugelförmig, sog. Zooxanthellen. Zooxanthellen sind es vor allem, die durch ihre Photosyntheseaktivität das Wachstum der Korallenriffe in den nährstoffarmen, tropischen Gewässern ermöglichen. Dinoflagellaten können auch in das Leben der Menschen entscheidend eingreifen. Im Winter und Frühjahr des Jahres 1974 wurde die Westküste von Florida von der 25sten großen „red tide" (rote Flut) seit 1844 heimge-

Gymnodtnium neglectum

Exuviaella Abb. 14-36 Der Panzer einiger Dinoflagellaten besteht aus Celluloseplättchen, die von der Plasmamembran vollständig umhüllt sind. Arten, die nackt aussehen, besitzen dünnere Celluloseplättchen, die sich aber nicht grundsätzlich von denen der gepanzerten Formen unterscheiden.

304

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Abb. 14-37 (a) Ceratium tripos, ein gepanzerter Dinoflagellat. (b) Noctiluca scintillans, ein mariner Dinoflagellat, der Biolumineszenz zeigt, (c) Gonyaulax polyedra, der Dinoflagel-

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lat, der die spektakulären „red tides" an der Küste Südkaliforniens hervorruft.

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sucht. Hunderttausende stinkender toter Fische lagen an den Stränden, und die Touristen blieben aus. Solche „red tides" gehen auf eine Massenentwicklung (Wasserblüte) verschiedener roter Dinoflagellaten zurück, die das Meer rot oder braun färben. Diese Dinoflagellaten werden nicht nur von Fischen, sondern auch von Muscheln gefressen, die davon aber selbst nicht beeinträchtigt werden. Die Muscheln reichern die von den Dinoflagellaten gebildeten Toxine an, und je nach Dinoflagellatenart kann der Verzehr solcher Muscheln für den Menschen gefährlich werden. Im Herbst des Jahres 1972 wurde die Küste Neuenglands zwischen Maine und Cape Cod von ihrer ersten „red tide" heimgesucht. 26 Personen starben nach dem Verzehr von Muscheln, die Toxine von Gonyaulax excavata angereichert hatten, und die Menschen bekamen solche Angst Muscheln zu essen, daß die Muschelindustrie von Massachusetts 4 Jahre danach erst wieder 2/3 ihres früheren Ausmaßes erreicht hatte. Das Problem der „red tides" tritt periodisch immer wieder auf. Bei der schlimmsten „red tide" seit 1972 wurde die gesamte Küste von Maine von Mitte August bis Mitte Oktober 1980 für den Muschelfang gesperrt. Die Muschelfischer hatten dadurch einen enormen finanziellen Verlust. Die Giftstoffe, die von einigen Dinoflagellaten, wie z. B. Gonyaulax catanella, gebildet werden, sind ungeheuer starke Nervengifte. Die chemische Struktur und die biologische Aktivität der meisten dieser Toxine ist inzwi-

sehen bekannt. Warum aber eine „red tide" entsteht, ist noch unbekannt. Hierbei scheint das Angebot von Nährstoffen und Spurenelementen eine Rolle zu spielen, ferner Abwassergehalt, Salzgehalt, Temperatur, Wind, Licht und andere Faktoren. Das periodische Wiederauftreten der „red tides" geht mit der Beobachtung einher, daß nach einer solchen „Wasserblüte", bei starker Verschlechterung der Lebensbedingungen, die Dinoflagellaten ihre Geißeln verlieren und Dauercysten bilden können, die zum Meeresgrunde sinken und dort in diesem Ruhestadium verharren, bis die Lebensbedingungen wieder günstiger sind. Die Dinoflagellaten vermehren sich hauptsächlich durch Längsteilung. Dabei bekommt jede Tochterzelle eine Geißel und einen Teil des Panzers mit und muß die fehlenden Teile in genau festgelegter Reihenfolge ersetzen (siehe: Mitose bei den Dinoflagellaten, auf S. 307). Einige unbewegliche Arten bilden Zoosporen; bei einigen dieser Arten haben nur die Zoosporen die typische Dinoflagellatenstruktur, während die reifen Zellen keine Geißeln besitzen und sogar zu Fäden miteinander verbunden sein können. Geschlechtliche Fortpflanzung kommt bei mehreren Dinoflagellatenarten vor; meist ist es eine Isogamie, seltener eine Anisogamie.

KAPITEL

14.7 Abteilung Euglenophyta Es gibt mehr als 800 Euglenophytenarten, von denen die meisten im Süßwasser leben, besonders in Gewässern, die reich an organischem Material sind (s. Tab. 14-1). Ihre Form ist sehr unterschiedlich und ihre Länge kann von weniger als 10 |im bis hin zu mehr als 500 um (0,5 mm) reichen. Alle Euglenophyta sind einzellig, abgesehen von der koloniebildenden Gattung Colacium. Im Laufe ihrer Evolution haben einige Euglenophyten Chloroplasten bekommen, die denen der Grünalgen in biochemischer Hinsicht gleichen, aber anders gebaut sind als diese. Ungefähr ein Drittel der fast 40 Euglenophyten-Gattungen besitzen Chloroplasten. Diese autotrophen Gattungen enthalten die Chlorophylle a und b und verschiedene Carotinoide. Die Euglenophyten speichern ihre Kohlenhydrate in Form von Paramylum - einem Polysaccharid, das in keiner anderen Organismengruppe vorkommt und - anders als die Stärke - außerhalb der Piastiden gebildet wird. Von den chloroplastenfreien, heterotrophen Gattungen resorbieren einige organisches Material, andere nehmen geformte organische Nahrung (Bakterien, Hefen, Flagellaten etc.) auf. Die Euglenophyten vermehren sich durch einfache Zweiteilung. Die Mutterzelle teilt sich längs und bildet zwei spiegelbildliche Tochterzellen. Während des gesamten Teilungsvorgangs bleiben die Zellen beweglich. Die

14 Autotrophe Protisten: Algen

305

Kernhülle bleibt während der Mitose erhalten, genau wie bei den meisten Grünalgen, den Dinoflagellaten, vielen Pilzen und einigen begeißelten Protozoen. Die Centrosomen fungieren als Basalkörper und von ihnen geht die Bildung einer normalen Kernspindel innerhalb der Kernhülle aus. Die Chromosomen verbleiben - genau wie bei den Dinoflagellaten - während der Interphase und der gesamten Mitose in kontrahiertem Zustand; im Gegensatz zu den Chromosomen der Dinoflagellaten enthalten die Chromosomen der Euglenophyten jedoch Histone. Eine geschlechtliche Fortpflanzung ist unbekannt. Die Abteilung hat ihren Namen von ihrer Hauptgattung, Euglena. Viele Euglena-Arten sind länglich gebaut (Abb. 14-38). Die Zelle ist kompliziert gestaltet und enthält zahlreiche kleine Chloroplasten, einen Zellkern, eine lange, nach außen ragende Geißel mit einseitig orientierten Flimmerhaaren und eine kurze, nicht herausragende Geißel. Die nach außen ragende Geißel funktioniert wie ein Ruder. Bei Euglena sind die Geißeln am Grunde einer flaschenförmigen Vertiefung - dem Schlund - am Vorderende der Zelle inseriert. In diesen Schlund entleert sich die pulsierende Vakuole, die überschüssiges Wasser aus allen Teilen der Zelle sammelt und in die Höhlung abgibt. Der Protoplast ist außen von einer dünnen elastischen Haut aus verdichtetem Ektoplasma - der Pellicula - umgeben. In dieser sind Serien biegsamer, miteinander verbundener

Augenfleck (Stigma) zweite, nicht herausragende Geißel

Mitochondrium Schlund pulsierende Vakuole Basalkörper

Pellicula Nucleus

Chloroplast Pyrenoid

Paramylumkörner

' (a)

* 25 um '

Abb. 14-38 (a) Euglena, mit zwei Paramylumkörnern. Man erkennt deutlich die schraubige Struktur der Pellicula. (b) Aus elektronenmikroskopischen Aufnahmen abgeleiteter Bau von Euglena.

306

TEIL

4

Coleochaete:

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

eine hoch entwickelte Grünalge

Die Grünalge Coleochaete gilt schon seit langem als mögliche Verwandte der Landpflanzen, weil einige Coleochaeiew-Gattungen parenchymatisch sind und mit einem Randmeristem wachsen, und weil ihre geschlechtliche Fortpflanzung eine Oogamie ist und die Zygote von einer Schicht steriler, vegetativer Zellen umgeben ist. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, d a ß Coleochaete und einige andere Grünalgen den Landpflanzen insofern gleichen, als sie bei der Cytokinese einen Phragmoplasten ausbilden, in Peroxisomen das Lichtatmungsenzym Glykolatoxidase besitzen, und eine vielschichtige Struktur (multilayered structure; MLS) in ihren begeißelten Fortpflanzungszellen enthalten, in der N ä h e des Basalkörpers

der Geißel. Fossile Funde lassen vermuten, d a ß Coleochaete eine „archaische" Grünalge ist, also eine heute lebende Form, bei der viele Eigenschaften ihrer Vorfahren erhalten geblieben sind, die zur Zeit des Erscheinens der ersten Landpflanzen gelebt haben. Fossile Funde haben aber bisher noch keine Auskunft über Organismen geben können, die den Übergang zwischen den Grünalgen und den heute lebenden Pflanzen gebildet haben, wohl weil die unverholzten Gewebe nicht gut erhalten geblieben sind. Dennoch sind Coleochaete und ihre Verwandten wertvolle Hilfen für die Beantwortung der Frage, wie sich die grünen Pflanzen in Bau und Biochemie ans Landleben angepaßt haben.

Zygote

(b)

' 0.25 um '

(a) Coleochaete von Stengeln einer aquatischen Blütenpflanze aus dem seichten Litoral eines Sees. Diese Alge ist eine parenchymatische Scheibe, meist eine Zellschicht dick. Die großen Zellen sind Zygoten, von einer zellulären Hülle bedeckt. Die Haarzellen, die von der Scheibe nach außen ragen, sind an ihrer Basis von einer Scheide umgeben. Coleochaete bedeutet soviel wie „Scheidenhaar". Man glaubt, daß diese Haare Wassertiere davon abhalten, die Alge zu fressen, (b) Elektronenmikroskopische Aufnahme vom Vorderteil eines

Cofeoc/iöete-Spermatozoiden. Beachten Sie die vielschichtige Struktur („multilayered structure" - MLS) in der Nähe der Mitochondrien. Ein Band von Mikrotubuli erstreckt sich von der MLS nach hinten in die zellwandlose Zelle und dient ihr als Cytoskelett. Die Plasmamembran der Zelle und die Geißelmembran sind von einer Schicht rhombischer Schuppen bedeckt. Derartige Schuppen haben sich als sehr hilfreich für die Bestimmung der stammesgeschichtlichen Verwandtschaft der Grünalgen erwiesen.

Proteinstreifen schraubig angeordnet und verleihen der Pellicula ein schraubig-gestreiftes Aussehen. Anders als die starren Zellwände von Pflanzenzellen erlaubt die biegsame Pellicula, d a ß die Euglenen ihre F o r m verändern. Auf diese Weise können im Schlamm lebende Formen sich fortbewegen. Wenn man eine Euglena-Kultur an einem sonnigen

Fenster stehenläßt, so bildet sich im Wasser eine deutlich sichtbare, grüne Wolke. Wenn das Licht sich verändert, so wandert diese grüne Wolke, stets auf einen hellen - aber nicht zu hellen - Punkt zu. Ist das Licht zu hell, so schwimmen die einzelnen Euglenen von ihm fort. Wie Chlamydomonas, so ist auch Euglena wahrscheinlich in der Lage, sich mit Hilfe spezieller Strukturen - dem Pho-

KAPITEL

Mitose

bei den

Autotrophe Protisten: Algen

307

Dinoflagellaten

Die Dinoflagellaten führen eine einzigartige Mitose durch, die Merkmale von Eukaryonten und Prokaryonten vereint. Der zelluläre Aufbau der Dinoflagellaten ist in der Tat so andersartig, daß man ihn in zunehmendem Maße als „dinokaryontisch" bezeichnet, um ihn vom prokaryontischen und eukaryontischen Zellorganisationstyp abgrenzen zu können. So sind z. B. die Chromosomen der Dinoflagellaten immer sichtbar (a), sie verkürzen sich also nicht erst zu Beginn der Mitose. Der DNS-Gehalt der einzelnen Zelle ist extrem hoch. Die Kernhülle bleibt während der Mitose erhalten; an dieser heften sich die Chromosomen an. Die Dinoflagellaten haben ein viel geringeres Protein/DNS-Verhältnis als andere Eukaryonten; die typischen eukaryontischen Histone fehlen, wenn auch ein histonähnliches Protein vorhanden ist. Zur Zeit der Mitose dringen Cytoplasmakanäle (siehe Mitte von b) in den sich teilenden Kern ein. Die Chromosomen bleiben an die Kernmembran geheftet und werden

Nucleolus Chromosom

14

an den Flanken dieser Cytoplasmakanäle entlangtransportiert. Die Cytoplasmakanäle enthalten Bündel von Mikrotubuli, ähnlich denen des eukaryontischen Spindelapparates. Diese Mikrotubuli liegen alle in einer Richtung und regulieren vermutlich die Trennung der Kernmembranteile mit den daran haftenden Chromosomen. Der in (a) und (b) beschriebene Organismus ist Cryptothecodinium cohnii. Zumindest zwei Dinoflagellaten-Arten haben binucleate Zellen, wobei einer der Kerne dinokaryontisch, der andere eukaryontisch ist. Bei diesem zweiten, eukaryontischen Kern - der vermutlich durch einen chrysophytenähnlichen, symbiontischen Organismus in den Dinoflagellaten gelangt ist - kontrahieren sich die Chromosomen während des gesamten Zellteilungszyklus kein einziges Mal. Diese Beobachtung deutet darauf hin, daß diese Chromosomen wohl doch nicht mit „typischen" eukaryontischen Chromosomen identisch sind.

Nucleus

0.5 (im

308

TEIL

4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Herkunft der verschiedenen

Algen-Abteilungen

Alle eukaryontischen Zellen - von Pflanzen, Tieren, Protisten oder Pilzen - besitzen ein endoplasmatisches Reticulum, Golgi-Körper, große Ribosomen, Mitochondrien, Mikrotubuli und einen kompliziert gebauten Zellkern. Der Zellkern besteht aus einer Kernhülle einer Doppelmembran, die oft mit dem endoplasmatischen Reticulum in Verbindung steht; aus Chromosomen, die DNS und Proteine* enthalten und eine Mitose und Meiose unter Bildung einer Kernspindel durchmachen; und aus ein oder mehreren Nucleoli. Alle Hauptentwicklungslinien der Eukaryonten, mit Ausnahme der Rhodophyta, besitzen begeißelte Formen, deren Geißeln den in Kapitel 1 beschriebenen (9 + 2)-Aufbau aufweisen. Es ist daher anzunehmen, daß der gemeinsame Vorfahre aller lebenden Eukaryonten all die soeben erwähnten Eigenschaften gehabt hat. Würde ein solcher Organismus heutzutage leben, so würde man ihn zu den Protozoen rechnen. Beide, die prokaryontischen Cyanobakterien und die eukaryontischen Rotalgen (Abteilung Rhodophyta) besitzen Chlorophyll a, Carotinoide und Phycobiline. Die Phycobiline kommen nur bei diesen beiden Organismengruppen vor (und bei der Abteilung Cryptophyta, einer kaum untersuchten, ganz andersartigen Algengruppe, die aber in diesem Buch nicht behandelt wird). Bei den Cyanobakterien sind diese Photosynthesepigmente auf * Bei den Dinoflagellaten und den Pilzen sind keine Histon-Proteine mit der Chromosomen-DNS gekoppelt, und es treten nur begrenzt andere Proteine an deren Stelle.

torezeptor und dem Augenfleck (Stigma) - nach dem Licht zu orientieren. Der Photorezeptor ist eine Anschwellung an der Geißelbasis. Bei einer bestimmten Orientierung zum Licht wird dieser Photorezeptor vom Augenfleck beschattet. Dies scheint für die gezielte Bewegung von Euglena von Bedeutung zu sein. Nur wenige nichtgrüne Euglenen besitzen einen Augenfleck. Einige Euglena-Arten können im Dunkeln, wo sie keine Photosynthese machen können, überleben, und zwar so lange, wie man ihnen eine Kohlenstoffquelle, Vitamine und Nährsalze anbietet. Kultiviert man bestimmte Euglena-Stämme im Licht, bei günstiger Temperatur und in nährstoffreichem Medium, so kann es sein, daß sich die Zellen schneller teilen als die Chloroplasten. So entstehen Zellen, die zwar keine Photosynthese machen, aber in geeignetem Medium unbeschränkt lange überleben können.

Membranen über die ganze Zelle verteilt, während sie bei den Rotalgen auf die Chloroplasten beschränkt sind. Die Thylakoide sind in den Cyanobakterien ähnlich angeordnet wie in den Chloroplasten der Rotalgen. Die einfachste Erklärung für all diese Übereinstimmungen wäre, daß die Chloroplasten der Rotalgen eigentlich Cyanobakterien sind, die vor langer Zeit eine Symbiose mit primitiven Protozoenzellen eingegangen sind. Die Grünalgen (Abteilung Chlorophyta) besitzen die Chlorophylle a und b und Carotinoide, genau wie die Pflanzen. Bis vor kurzem kannte man keinen Prokaryonten mit dieser Kombination von Photosynthesepigmenten; inzwischen hat nach jedoch das photoautotrophe Bakterium Prochloron entdeckt, das diese Photosynthesepigmentkombination enthält (s. Kap. 11.1.3 und Abb. 11-15). Ob dieser Organismus der prokaryontischen Linie zuzurechnen ist, aus der die Chloroplasten der Grünalgen und damit auch der Pflanzen hervorgegangen sind, weiß man nicht; so wie dieses Bakterium könnte jedoch ein Organismus ausgesehen haben, der zur Entstehung von Chloroplasten geführt hat. Die Vertreter der Abteilung Euglenophyta besitzen dieselben Photosynthesepigmente wie die Grünalgen und die Pflanzen, und auch der Feinbau ihrer Chloroplasten ist in etwa ähnlich. In anderer Hinsicht unterscheiden sich die Euglenophyten jedoch sehr von den übrigen Algenabteilungen. Die Euglenophyten sind eigentlich Protozoen: ihre Nahrung speichern sie außerhalb der Chloroplasten,

14.8 Zusammenfassung Die Algen sind eine große, verschiedengestaltige Gruppe photoautotropher, eukaryontischer Organismen. Sie umfaßt ungefähr 26000 rezente Arten. Die Algen werden hier in sechs Abteilungen eingeteilt, die wahrscheinlich aus einer Reihe paralleler Entwicklungslinien entstanden sind. Die Algen leben meist im Wasser und sind besonders in marinen Standorten von großer Bedeutung, wo sie eine ähnliche ökologische Rolle spielen wie die grünen Pflanzen in terrestrischen Standorten. Im offenen Meer kommen Algen normalerweise als Plankton vor. Größere, komplizierter gebaute Algen findet man längs der Küste. Auch im Süßwasser kommen viele Arten vor, einige findet man auch auf dem Land. Im allgemeinen haben die Algen ziemlich einfach gebaute Körper aus ein oder mehreren Zellen. Algen aus vier der sechs Abteilungen können mit Cellulose in ihren Zellwänden ausgestattet sein. Die meisten Algen besitzen

KAPITEL

14 Autotrophe Protisten: Algen

309

der Augenfleck ist nicht im Chloroplasten lokalisiert und anstelle der Zellwand besitzen sie eine elastische, eiweißhaltige Hülle (Pellicula). Auf Grund dieser Eigenschaften hat man vermutet, daß der Prokaryont, aus dem die Chloroplasten der Grünalgen entstanden sind, unabhängig davon auch zur Entstehung der Chloroplasten bei den Euglenophyten geführt hat. Noch überzeugender ist jedoch die Vermutung, daß die Euglenophyten ihre Chloroplasten von Grünalgen erlangt haben, durch Einverleibung ganzer Algenzellen. Dem müßte dann ein schrittweiser Verlust der anderen Elemente der symbiontischen Grünalge gefolgt sein, bis schließlich nur noch der Chloroplast und die Plasmamembran übrig geblieben sind. Durch eine solche Art der Entstehung ließe sich erklären, warum die Chloroplasten der Euglenophyten von drei Membranen umhüllt sind, und die der Grünalgen nur von zweien, trotz ihrer sonst sehr großen Ähnlichkeit. Diese wenigen Beispiele untermauern die Vermutung, daß die Chloroplasten nicht alle durch eine einzige Symbiose entstanden sind. Es ist vielmehr sehr wahrscheinlich, daß die Chloroplasten der einzelnen Algengruppen sowohl auf mehrere Symbiosen zwischen Eukaryonten und verschiedenen photoautotrophen Prokaryonten zurückgehen, als auch auf die Übertragung von Chloroplasten von einer Eukaryontengruppe in die andere. All die verschiedenen Algengruppen haben eigentlich nichts anderes gemeinsam, als daß sie vorwiegend aquatisch lebende, photoautotrophe Eukaryonten sind.

Glaucocystis besteht aus farblosen, eukaryontischen Wirtszellen, die blaugrüne „Cyanellen" enthalten, welche als Chloroplasten fungieren und sich mit der Wirtszelle synchron teilen. Man vermutet, daß es sich bei den Cyanellen um Cyanobakterien handelt, die ihre Zellwände verloren haben und durch Anpassung an ein endosymbiontisches Leben die Fähigkeit zu einer unabhängigen Existenz verloren haben. Die Existenz von Glaucocystis und ähnlichen Organismen untermauert die Endosymbiontentheorie zur Herkunft eukaryontischer Zellen und Organellen.

einzellige Fortpflanzungsorgane und keine Leitgewebe. Trotz dieser Gemeinsamkeiten zeigen gewisse biochemische und strukturelle Unterschiede zwischen den einzelnen Algengruppen, daß sie entwicklungsgeschichtlich nicht nahe miteinander verwandt sind. Die wichtigsten Kriterien für die systematische Einordnung der Algen sind die Art der Pigmente, der Kohlenhydratreservestoffe, der Zellwandbestandteile und der Geißeln. Auch das Fehlen von Geißeln ist ein solches Ordnungskriterium. Die verschiedenen Algenabteilungen scheinen ihren Ursprung in symbiontischen Beziehungen zwischen photosynthetisch inaktiven, protozoenartigen, eukaryontischen Zellen und ein oder mehreren Gruppen photoautotropher Prokaryonten zu haben. Drei der sechs Algenabteilungen zeigen Vielzelligkeit: die Chlorophyta, die Phaeophyta und die Rhodophyta. Bei den Chlorophyta und den Rhodophyta gibt es auch einzellige Formen. Die anderen drei Abteilungen - die Chrysophyta, die Pyrro-

phyta und die Euglenophyta - bestehen fast nur aus einzelligen Organismen. Die Grünalgen (Abteilung Chlorophyta) bilden die größte und verschiedengestaltigste Algengruppe, und sie sind es auch, aus denen sich wahrscheinlich die Pflanzen entwickelt haben. Man nimmt an, daß Chlamydomonas, eine häufige einzellige Form, einer primitiven Urform der Grünalgen gleicht, abgesehen von dem Phycoplasten, der bei der Zellteilung auftritt. Andere Grünalgen, Vertreter der Klasse Charophyceae, zeigen eine Art der Zellteilung, bei der ein Phragmoplast beteiligt ist, genau wie bei den Pflanzen. Von einer Chlamydomonas-artigen Zelle können mehrere Entwicklungslinien abgeleitet werden. Die größten und kompliziertest gebauten Meeresalgen gehören zu den Phaeophyta (Braunalgen). Bei vielen Arten ist der Vegetationskörper deutlich in Haftorgan (Rhizoid), Stiel (Cauloid) und Blatt (Phylloid) gegliedert. Einige besitzen sogar ein den Gefäßpflanzen vergleichbares

310

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Leitgewebe für Assimilate. Die Braunalgen enthalten die Chlorophylle a und c und große Mengen des Xanthophylls Fucoxanthin, welches ihnen die typische olivgrüne bis dunkelbraune Farbe verleiht. Der Sporophyt ist gewöhnlich größer als der Gametophyt. Die Rhodophyta (Rotalgen) sind eine große Algengruppe, die vor allem in wärmeren Meeren häufig auftritt. Die Rotalgen sind fast immer an ein Substrat geheftet, und einige von ihnen wachsen in großen Tiefen (bis hinab zu 175 m). Sie enthalten Phycobiline, die ihnen ihre charakteristische Farbe verleihen. Die Chrysophyta sind wichtige Bestandteile des Süßwasser- und Meeresphytoplanktons. Die meisten der bisher bekannten Arten sind Diatomeen - einzellige Organismen, deren Si0 2 -haltige Zellwand aus zwei Hälften, den Schalen, besteht. Von diesen Diatomeenschalen gibt es viele fossile Funde. Die zweite wichtige Klasse der Chrysophyta sind die goldbraunen Geißelalgen (Chrysophyceae). Ihre oft sehr kleinen Zellen ( 1 - 3 um) sind in großer Zahl im Nannoplankton zu finden. Die Chrysophyten sind wichtige Symbionten von Meeresorganismen. Eine dritte Klasse - die Xanthophyceen - besteht

aus einigen Organismen, die weder Chlorophyll b, noch das akzessorische Pigment Fucoxanthin enthalten. Die Pyrrophyta (Dinoflagellaten) sind einzellige, zweigeißlige Organismen, von denen viele im Meer leben. Die Dinoflagellaten sind durch den Besitz von zwei Geißeln gekennzeichnet, die in zwei verschiedenen Ebenen schlagen und so den Organismus steuern und vorwärtsbewegen. Die Dinoflagellaten besitzen oft steife, bizarr geformte Cellulosepanzer. Die Euglenophyten sind eine kleine Organismengruppe. Sie leben meist im Süßwasser und sind einzellig. Sie enthalten die Chlorophylle a und b und speichern Kohlenhydrate in Form von Paramylum, einem ungewöhnlichen Polysaccharid. Die Zellen besitzen keine Zellwand, sonders sind nackt oder mit einer Pellicula versehen. Diese besteht aus verdichtetem Ektoplasma, in das flexible Proteinbänder eingebaut sind. Die Zellen sind sehr stark differenziert. Sie enthalten Chloroplasten, eine pulsierende Vakuole, in Verbindung mit einem an der Basis erweiterten Schlund, einen Augenfleck und Geißeln. Eine geschlechtliche Fortpflanzung ist nicht bekannt. Sie zeigen eine enge Verwandtschaft zu nicht-photosynthetisch aktiven Protozoen.

Kapitel 15 Moose (Bryophyta)

Abb. 15-1 Nebelwald bei Vera Cruz, Mexiko. Die Stämme und Zweige der Bäume sind mit einer dicken Schicht von Laubmoosen und Lebermoosen bedeckt.

Im vorigen Kapitel haben wir erwähnt, daß sich die Moose (Bryophyta) und die Gefäßpflanzen - also die Pflanzen im eigentlichen Sinne (Plantae) - wahrscheinlich aus irgendeiner urförmigen Grünalgengruppe entwickelt haben. Diese Hypothese beruht auf mehreren Tatsachen. Genau wie die Grünalgen, so besitzen auch die Pflanzen als Hauptphotosynthesefarbstoff Chlorophyll a und als akzessorische Pigmente Chlorophyll b und Carotinoide. Bei Grünalgen, Moosen und Gefäßpflanzen ist Stärke das Hauptreservekohlenhydrat, und - mit Ausnahme einiger Grünalgengattungen - bestehen die Zellwände aller drei Organismengruppen hauptsächlich aus Cellulose. Schließlich bilden alle Pflanzen bei der Zellteilung einen Phragmoplasten und eine Zellplatte. Die einzigen lebenden Organismen, bei denen dies sonst noch der Fall ist, sind eine einzige Braunalge und einige Grünalgen. Wegen dieser Gemeinsamkeiten ist es wahrscheinlich, daß Moose und Gefäßpflanzen von einer gemeinsamen Urform abstammen, der es gelungen ist, im terrestrischen Lebensraum Fuß zu fassen. Wenn diese Hypothese richtig ist, so müssen sich die Entwicklungslinien von Moosen und Gefäßpflanzen schon vor sehr langer Zeit voneinander getrennt haben. Die ältesten Moos-Fossilien stammen aus dem Devon (siehe Anhang D), sind also mehr als 350 Millionen Jahre alt. Diese fossilen Moose sind den heute lebenden Arten sehr ähnlich. Die ältesten Fossilien von Gefäßpflanzen stammen aus dem Silur, sind also ungefähr 400 Millionen Jahre alt. Das bedeutet, daß sich der hypothetische gemeinsame Vorfahre der Moose und Gefäßpflanzen - eine wahrscheinlich hoch entwickelte Grünalge - vor mehr als 400 Millionen Jahren auf dem Land angesiedelt haben muß. Wahrscheinlich besaß der gemeinsame Vorfahre der Moose und Gefäßpflanzen einen gut entwickelten Generationswechsel, denn auch alle Moose und Gefäßpflanzen besitzen einen solchen. Wahrscheinlich haben seine Gametophyten vielzellige Gametangien gebildet, denn alle Moose und Gefäßpflanzen besitzen vielzellige Gametangien. Weil dieser gemeinsame Vorfahre im Wasser gelebt hat, werden seine Sporophyten kein Wasserleitgewebe gehabt haben, vielleicht waren aber Leitstränge aus langge-

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TEIL

4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

streckten, dünnwandigen Zellen vorhanden. Dieser gemeinsame Vorfahre der Moose und Gefäßpflanzen bildete vermutlich eine Endomykorrhiza, mit einem Zygomyceten als Partner (s. Kap. 12.5.). Beim Übergang vom Wasser zum Land waren viele physiologische und morphologische Anpassungen zum Schutz vor Austrocknung erforderlich. So entstand z. B. eine Hülle aus sterilen Zellen rings um die fertilen Zellbereiche der männlichen und weiblichen Gametangien, der Antheridien und Archegonien. In ähnlicher Weise wurde auch eine Hülle aus sterilen Zellen rings um die sporenbildenden Zellen der Sporangien gebildet. Auch verblieb die Zygote mit Beginn des terrestrischen Lebens im weiblichen Gametangium, wo sie zum Embryo, dem jungen Sporophyten, heranwächst. Das bedeutet, daß der junge Sporophyt während der frühen, entscheidenden Entwicklungsphasen vom weiblichen Gametophyten geschützt wird. Bei den Algen hingegen führt die Zygote ein eigenes, vom weiblichen Gametophyten relativ unabhängiges Dasein. Die an die Luft grenzenden Teile der meisten Gefäßpflanzen sind von einer wachsartigen Schutzschicht, der Cutícula, bedeckt, die einer Austrocknung entgegenwirkt. Diese Cutícula hat die Entwicklung von Stomata erforderlich gemacht. Stomata sind Öffnungen in der Epidermis, die in erster Linie den Gasaustausch regulieren. Den meisten Moospflanzen fehlt offensichtlich eine Cutícula; jedoch besitzen die Sporophyten der Hornmoose (Anthocerotopsida) und Laubmoose (Muscopsida) Stomata. Bei den Hornmoosen bleiben die Stomata aber offenbar bis zu einem späten Entwicklungsstadium ständig geöffnet und bei den Laubmoosen schließen sie sich nur bei extremer Austrocknung des Sporophyten. Alle Moose und Gefäßpflanzen sind oogam und besitzen einen heteromorphen Generationswechsel.

selbst die langen Perioden extremer Kälte, die es in der Antarktis gibt, überstehen. Genau wie die Flechten, so sind auch die Moose gegenüber Luftverschmutzung - vor allem mit Schwefeldioxid - sehr empfindlich. In Gebieten mit hoher Luftverschmutzung fehlen Moose oft gänzlich oder sind nur durch einige Arten vertreten. Einige Moose (sowohl Laubmoose als auch Lebermoose) leben im Wasser, einige kommen sogar auf umbrandeten Küstenfelsen vor, aber kein einziges Moos ist wirklich marin. Es gibt ungefähr 16000 Arten von Moosen, also mehr als zu irgendeiner anderen Pflanzengruppe gehören, wenn man von den Blütenpflanzen einmal absieht. Abbildung 15-2 zeigt ein typisches Laubmoos. Die Moose unterscheiden sich von den Gefäßpflanzen durch zwei sehr wichtige Merkmale. Das eine Unterscheidungsmerkmal ist, daß Moose keine typischen Leitgewebe - Xylem und Phloem - besitzen; demgemäß haben sie genau genommen auch keine echten Blätter, Stengel und Wurzeln. Ungeachtet dessen werden die Begriffe Blatt und Stengel häufig zur Bezeichnung der blattähnlichen und stengelähnlichen Strukturen der Gametophyten von Laubmoosen und foliosen Lebermoosen verwendet. Dies wird auch in diesem Buch der Fall sein. Es muß allerdings erwähnt werden, daß die Gametophytenstengel bei vielen Laubmoosgattungen einen zentralen Strang wasserleitender Zellen - sog. Hydroiden besitzen. Hydroiden sind gestreckte Zellelemente mit extrem schräg gestellten Endwänden, ohne die für Gefäßpflanzen-Tracheiden charakteristischen Wandverdickungen. Die reifen Hydroiden besitzen keinen Zellkern und erscheinen somit leer.

15.1 Kennzeichen der Moose Die Moose - Lebermoose, Hornmoose und Laubmoose sind relativ kleine Pflanzen. Viele von ihnen sind weniger als 2 cm, die meisten aber weniger als 20 cm lang. Man findet sie am häufigsten in warmen, feuchten Gebieten, besonders in den Tropen und Subtropen; dort gedeihen sie üppig und in großer Artenzahl. Die Moose sind jedoch nicht auf solche Gebiete beschränkt; einige von ihnen kommen selbst in relativ trockenen Wüsten vor, und viele wachsen in großer Zahl auf trockenen, exponierten Felsen, wo sehr hohe Temperaturen auftreten können. Laubmoose beherrschen manchmal sogar das Terrain unter Ausschluß aller anderen Pflanzen; dies trifft für weite Gebiete des hohen Nordens und für Felshänge der Gebirge oberhalb der Baumgrenze zu. Etliche Laubmoose können

Abb. 15-2 Physcomitrium turbinatum (Blasenmütze). Die Sporenkapsel ist birnenförmig. Von einigen Sporenkapseln ist die schützende Haube (Kalyptra) abgefallen. So kann man den Deckel (Operculum) der Sporenkapseln erkennen.

KAPITEL

20 Mm

Abb. 15-3 Leitgewebestränge aus der Sporophyten-Seta des Mooses Dawsonia superba. (a) Aufbau der Seta; Querschnittsüberblick mit dem Rasterelektronenmikroskop betrachtet, (b) Setaquerschnitt mit dem zentral gelegenen Hydroi'denstrang, umgeben von Leptoiden, und den außerhalb von diesen gelegenen parenchymatischen Rindenzellen, (c) Längsschnitt durch einen Teil des Setenzentrums; von links nach rechts sind Hydroiden, Leptoi'den und Parenchymzellen zu sehen.

15

Moose (Bryophyta)

313

Bei einigen Gattungen wird der Hydroi'denstrang von Leptoiden - Zellen, die Nährstoffe transportieren können - umgeben (Abb. 15-3), ähnlich, wie bei einigen Gefäßpflanzen das Xylem von Phloem umgeben ist. Die Leptoi'den sind den am geringsten spezialisierten Leitzellen, die im Phloem primitiver Gefäßpflanzen zu finden sind, sehr ähnlich. Hydroidenstränge können auch in den Sporophytenstengeln der Laubmoose vorkommen, Leptoi'den hingegen sind in den Sporophyten nur weniger Gattungen gefunden worden. Bei den meisten Moosen wird der Gametophyt mittels Rhizoiden (langgestreckte Einzelzellen oder Zellfäden) am Substrat befestigt. Die Rhizoide dienen im allgemeinen nur dazu, die Moose am Substrat zu verankern; die Aufnahme von Wasser und Nährsalzen geschieht normalerweise direkt und sehr schnell über den ganzen Gametophyten. Wurzelähnliche Strukturen fehlen, die unterirdischen Stengelteile einiger Laubmoose sind jedoch recht kompliziert gebaut. Das zweite, wichtige Unterscheidungsmerkmal der Moose gegenüber den Gefäßpflanzen ist die Art ihres Generationswechsels. Bei den Moosen sind die Gametophyten stets größer als die Sporophyten und ernähren sich selbst. Die Sporophyten hingegen sind kleiner, sitzen stets dem Gametophyten auf und sind von diesem abhängig. Mit anderen Worten, bei den Moosen ist der Gametophyt die auffallende, dominante Generation, bei den Gefäßpflanzen hingegen der Sporophyt (siehe Abb. 10-10 c). Die Moose leben an feuchten oder zumindest periodisch feuchten Standorten. (Zuweilen werden die Moose als „Amphibien" des Pflanzenreiches bezeichnet). Damit eine Befruchtung stattfinden kann, müssen die zweigeißligen Spermatozoiden durch Wasser zum Ei im Inneren ei-

314

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

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Archegonien

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Eizelle

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15-5 Marchantía. Entwicklungsstadien des Sporophyten. (a) Der Embryo, der junge Sporophyt, ist eine undifferenzierte, kugelige Zellmasse, die im erweiterten Archegonienbauch (der späteren Kalyptra) liegt, (b) Nun kann man bereits Fuß, Seta und Kapsel unterscheiden, (c) Fast reifer Sporophyt. Beachten Sie die Elateren (fadenförmige Zellen mit schraubenförmiger Wandverdickung, die der Sporenverbreitung dienen) zwischen den Sporen in der Sporenkapsel.

spermatogenes Gewebe

sterile Hüllschicht

Stiel

100/xm Abb. 15-4 Gametangien von Marchantía, (a) Teil eines Archegonienstandes mit verschieden weit entwickelten Archegonien. (b) Teil eines Antheridienstandes mit heranreifenden Antheridien.

nes Archegoniums schwimmen. Dieses Archegonium, welches gestielt sein kann, ist ein flaschenförmiges Gebilde mit einem langen Hals und einer angeschwollenen Basis, dem Bauch. Dieser enthält nur eine einzige Eizelle (Abb. 15-4a). Die im „Flaschenhals" gelegenen Halskanalzellen verschleimen, sobald das Archegonium reif ist. Dabei entsteht eine Flüssigkeit, in welcher die Spermatozoiden den Halskanal passieren, um zur Eizelle zu gelangen. Das keulenförmige oder kugelförmige Antheridium ist normalerweise gestielt und besteht aus einer einzelligen, sterilen Hüllschicht, die zahlreiche spermatogene Zellen umschließt (Abb. 15-4 b). Jede spermatogene Zelle bildet zwei Spermatiden, die sich in je ein zweigeißliges Spermatozoid umwandeln. Die Eizelle wird im Archegonium befruchtet, und die Zygote verbleibt im Bauch des Archegoniums, wo sie sich zum Embryo entwickelt. Eine Zeitlang macht der

KAPITEL

„Bauch" des Archegoniums Zellteilungen durch, um mit dem Wachstum des jungen Sporophyten im Archegonium Schritt zu halten. Später reißt die Archegonienwandung quer ab, und der größere Teil entwickelt sich zur Haube {Kalyptra) (Abb. 15-5 a), welche die heranreifende Sporenkapsel bedeckt. Der reife Sporophyt vieler Moose besteht aus einem Fuß, der im Archegonium verbleibt, einem Stiel (Seta) und einer Sporenkapsel (Sporangium; Abb. 15-5b und 15-5c). Die Seten der Laubmoossporophyten enthalten einen zentralen Leitgewebestrang, der aus Hydro'iden, selten zusätzlich auch aus Lepto'fden besteht. Die Zellen des jungen, heranreifenden Sporophyten besitzen Chlorophyll und sind photosynthetisch aktiv. Wenn aber die Meiose in der Kapsel stattfindet und die Sporen gebildet werden, ist das Chlorophyll normalerweise bereits verschwunden. Bei den Laubmoosen wird

15

Moose (Bryophyta)

315

die Kalyptra zusammen mit der Kapsel emporgehoben, wenn sich die Seta streckt. Bevor die Sporen ausgestreut werden, fallt die schützende Kalyptra ab. Die Sporen werden mittels zahlreicher verschiedenartiger Öffnungsmechanismen ausgeschleudert. Die Abteilung Bryophyta (Moose) wird in drei Klassen eingeteilt: die Hepaticopsida (Lebermoose, 6000 Arten), die Anthocerotopsida (Hornmoose, 100 Arten) und die Muscopsida (Laubmoose, 9500 Arten).

1 5 . 2 Lebermoose - Klasse Hepaticopsida Die Lebermoose sind kleine Pflanzen, meist unauffälliger als die Laubmoose. Ihr Name stammt aus dem 9. Jahrhundert. Damals glaubte man, daß diese Organismen wegen der bei einigen Gattungen leberförmigen Umrisse des Gametophyten zur Behandlung von Leber-

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TEIL

4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

(b)

(c)

'

50 u m

Abb. 15-6 Querschnitte durch zwei thallose Lebermoose, (a) Marchantía polymorpha und (b) Reboulia hemisphaerica (nur oberer Teil). Zahlreiche chlorophyllhaltige Zellen sind zu sehen. Die Photosyntheseschicht ist bei Reboulia dicker als bei Marchantía. Beide Gattungen besitzen unterhalb der Photosyntheseschicht eine mehrere Zellreihen starke Schicht farbloser Zellen. Außerdem besitzen beide Gattungen Rhizoide, mit denen sie sich am Substrat verankern. Öffnungen in der

oberen Epidermis erlauben einen Gasaustausch zwischen den luftgefüllten Räumen der Photosyntheseschicht und der Außenwelt. Diese Poren haben also ähnliche Aufgaben wie die Stomata höherer Pflanzen. Anders als die Stomata können sie sich jedoch nicht öffnen und schließen. Eine rasterelektronenmikroskopische Aufnahme solcher Poren bei Marchantía ist in (c) zu sehen.

krankheiten verwendet werden könnten. Dem liegt die im Mittelalter gültige Ansicht zugrunde, man könne aus der äußeren Gestalt eines Körpers auf seine speziellen Eigenschaften schließen. Die Gametophyten einiger Lebermoose sind flache, dorsiventral (unterscheidbare Unter- und Oberseite) gebaute Thalli, die mit einem Scheitelmeristem wachsen. Die Gametophyten der meisten Arten sind jedoch laubartig und wachsen mit einer einzigen, dreischneidigen Scheitelzelle, die einer umgekehrten Pyramide mit einer Grundfläche und drei Seitenflächen ähnelt. Diese Scheitelzelle gibt Tochterzellen ab. Die Rhizoide der Lebermoose sind einzellig, anders als bei den Laubmoosen, wo sie aus mehreren Zellen bestehen. Die Gametophyten entwickeln sich direkt aus den Sporen. Die Sporophyten der meisten Lebermoose sind i. a. weniger kompliziert gebaut als die der Laubmoose, und ihre Sporenkapseln verfügen über ganz andere Öffnungsmechanismen.

Man findet sie in feuchten, schattigen Gräben, an feuchten Mauern oder Felsen und an anderen geeigneten Plätzen, z. B. auf Blumentöpfen im Gewächshaus. Der Thallus ist vielschichtig - an der Mittelrippe ungefähr 30 Zellreihen und an den dünneren Teilen ungefähr 10 Zellreihen stark. Er ist deutlich in einen dünnen, chlorophyllreichen, oberen (dorsalen) Teil und einen dickeren, farblosen, unteren (ventralen) Teil gegliedert (Abb. 15-6). An der Unterseite befinden sich zwei verschiedene Sorten einzelliger Fadenrhizoide. Die einen besitzen vollkommen glatte Zellwände, bei den anderen ragen Zellwandvorsprünge nach innen (Zäpfchenrhizoide). Dazwischen stehen in dichter Anordnung einschichtige Ventralschuppen. Die Oberseite ist in rhombische Felder untergliedert. Unter jedem dieser Felder liegt eine Luftkammer, die durch eine große Öffnung, die Atemöffnung („Schornstein"), mit der Außenwelt in Verbindung steht. Dem Boden jeder Luftkammer entspringen eine Anzahl chloroplastenreicher Zellen, die der Assimilation dienen. Die chlorophyllarmen Zellschichten unterhalb des Assimilationsgewebes dienen der Speicherung von Stärke, aber auch von Öl, das in Form von Ölkörpern abgelagert wird. Bezüglich des Sporophytenbaus gehören Rieda und

15.2.1 Thallose Lebermoose Die thallosen Lebermoose sind unbeblättert. Sie bilden dorsiventrale Thalli von recht unterschiedlicher Form.

KAPITEL

Moose (Bryophyta)

317

(b)

(a) Abb. 15-7 Gametophyten von Ricciocarpus natans, einem amphibisch lebenden Lebermoos. Der Thallus ist dichotom verzweigt, die Hauptachse und alle folgenden Achsen teilen

männliche Pflanze Brutbecher

Archegonienstand

15

Sporophyten

weibliche Pflanze

Brutbecher

Abb. 15-8 Das thallose Lebermoos Marchantía. Die Antheridien und Archegonien befinden sich an gestielten stern- oder schirmförmigen Antheridien- bzw. Archegonienständen. Marchantía ist getrenntgeschlechtig, diöcisch (zweihäusig); Antheridien und Archegonien entstehen also auf zwei verschiedenen Pflanzen (Gametophyten).

sich also jeweils gabelig in zwei Äste. Diese Art der Verzweigung tritt bei der terrestrischen Form (b) deutlicher hervor als bei der im Wasser lebenden (a).

318

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

50 Jim Abb. 15-9 Reife Sporen und Elateren aus einer Sporenkapsel von Marchantia.

Abb. 15-10 Das Lebermoos Marchantia, mit Brutbechern, in denen sich Brutkörper entwickeln. Die reifen Brutkörper werden vom Regen herausgeschlagen und wachsen in der Nähe der Mutterpflanze zu neuen Thalli heran.

Ricciocarpus zu den einfachsten Lebermoosen. Ricciocarpus (Abb. 15-7), ein amphibisches Lebermoos, ist gemischtgeschlechtig, monöcisch (einhäusig), d. h. Antheridien und Archegonien entstehen auf derselben Pflanze. Auch einige Arten der Gattung Riccia leben amphibisch; die meisten Arten sind jedoch terrestrisch. Die Gametophyten von Riccia können getrenntgeschlechtig, diöcisch (zweihäusig), oder gemischtgeschlechtig, monöcisch, (einhäusig) sein. Die Sporophyten sind tief in die dichotom verzweigten Gametophyten von Riccia und Ricciocarpus eingebettet und bestehen fast nur aus dem Sporangium. Bei diesen Sporophyten findet man keine besonderen Mechanismen zur Sporenverbreitung. Erst wenn der Teil des Gametophyten, der die reifen Sporophyten enthält, abstirbt und vermodert, werden die Sporen frei. Eines der bekanntesten Lebermoose ist Marchantia, eine weitverbreitete terrestrische Gattung, die auf feuchter Erde und Gestein wächst (Abb. 15-8). Die dichotom verzweigten Gametophyten von Marchantia sind größer als die von Riccia und Ricciocarpus. Bei den beiden letztgenannten Gattungen sind die Gametangien auf der Thallusoberseite (seiner dorsalen Oberfläche) verteilt. Bei Marchantia hingegen sind die Gametangien auf die Gametophoren beschränkt. Marchantia ist getrenntgeschlechtig, diöcisch (zweihäusig). Männliche und weibliche Gametophyten kann man leicht an ihren Gametophoren erkennen, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Die Antheridien entstehen an der Oberseite gestielter, achtstrahliger, sternförmiger Scheiben (Antheridienstände). Die Archegonien entstehen an der Unterseite gestielter, neunstrahliger Schirme (Archegonienstände) (Abb. 15-8).

Die Sporophyten (Sporogone) von Marchantia sind viel höher differenziert als bei Riccia und Ricciocarpus. Sie bestehen aus einem Fuß, einem kurzen Stiel und einer Sporenkapsel (Sporangium) (Abb. 15-5c). Neben den Sporen enthält die reife Sporenkapsel auch noch fadenförmige Zellen mit zwei schraubenförmigen Wandverdikkungen, sog. Elateren (Abb. 15-9). Wenn die Sporenkapsel mit einer Reihe blütenblattartiger Segmente aufreißt, so geben die Elateren ihr Füllwasser ab, krümmen sich, lockern so die Sporenmasse auf und streuen die Sporen aus. Die ungeschlechtliche Vermehrung der Lebermoose erfolgt oft über Thallusstücke (Gemmen); bei Marchantia aber durch Brutkörper. Dies sind winzige, linsenförmige Körperchen, die sich zu neuen Pflanzen entwickeln. Sie entstehen in Brutbechern, welche der Mittelrippe des Thallus (Gametophyt) oberseits aufsitzen (Abb. 15-8 und 15-10). Brutbecher werden von Marchantia und Lunularia gebildet; sie fehlen den meisten anderen thallosen Lebermoosen.

15.2.2 Foliose Lebermoose Die foliosen Lebermoose (Abb. 15-11) sind eine sehr verschiedengestaltige Gruppe, zu der zwei Drittel aller bekannten Lebermoose gehören. Sie sind besonders häufig in den Tropen und Subtropen, in Gebieten mit hoher Niederschlagsmenge oder hoher Luftfeuchtigkeit, kommen aber auch in großer Zahl in den gemäßigten Breiten vor. Die Moospflänzchen sind normalerweise reich verzweigt und bilden kleine Polster.

KAPITEL

Sporenausstreuung

bei den

15

Moose (Bryophyta)

319

Lebermoosen

Bei den Lebermoosen gibt es drei Arten der Sporenausstreuung. Die meisten streuen ihre Sporen ähnlich wie Cephalozia, einige wie Marchantía, ganz wenige wie Frullania aus.

An der Luft trocknen die Elateren von Cephalozia und bekommen enge Windungen, die sich beim Überwinden der Kohäsionskräfte plötzlich wieder ausdehnen. Dadurch werden die Sporen feuchte Elatere

Sporenkapsel von Frullania. Beim Austrocknen öffnet sich die Sporenkapsel mit vier Teilen. Die Elateren, die zuvor an beiden Enden angeheftet waren, reißen von der Mitte des Sporangiums ab und streuen so die Sporen aus. Wenn sie austrocknen, streuen die Elateren von Marchantía die Sporen aus den offenen, vom Archegonienstand herabhängenden Sporenkapseln aus.

feuchte Elatere

trockene Elatere

Die Gametophyten der foliosen Lebermoose bestehen aus Stengel- und blattartigen Elementen. Das Stämmchen wächst mit einer dreischneidigen Scheitelzelle. Am Stämmchen sind die Blätter oft in zwei Zeilen angeordnet (sog. Flankenblätter); eine dritte Zeile kleinerer, andersartiger Blätter, die Bauchblätter (Amphigastrien), befindet sich bei manchen Gattungen auf der Unterseite. Die Flankenblätter sind oft zweilappig und jeder Lappen wächst mit einem eigenen apikalen Wachstumspunkt. Bei Frullania, einem verbreiteten, rindenbewohnenden Lebermoos, bestehen die Flankenblätter aus einem großen ungeteilten Dorsallappen und einem kleinen, helmförmigen Ventrallappen (Wassersack) (Abb. 15-11 c). Die Blät-

Die Opfta/ozia-Sporenkapsel trocknet, reißt auf und setzt die Elateren der Luft aus. Nach dem Austrocknen dehnen sich die Elateren plötzlich aus und schleudern die anhaftenden Sporen weg.

ter der Lebermoose, wie die der Laubmoose, bestehen im allgemeinen nur aus einer einzigen Zellschicht, sind also ganz anders gebaut als die Blätter von Gefäßpflanzen. Bei den foliosen Lebermoosen entstehen die Antheridien in den Achseln besonders gestalteter Hüllblätter, diese decken sich dachziegelartig, und bedingen so die ährenförmige Gestalt des Antheridienstandes. Die Archegonien entstehen am Scheitel der Haupt- und Nebensprosse; die Archegonienstände - wie auch der nach Befruchtung eines Archegoniums entstehende Sporophyt - sind normalerweise von einer becherförmigen Hülle, dem Perianth (Abb. 15-llc), umgeben, das durch Verwachsung aus drei Blättern hervorgegangen ist.

320

TEIL

4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Perianth

Antheridienstand

Abb. 15-11 Foliose Lebermoose, (a) Clasmatocolea puccioana, mit der charakteristischen A n o r d n u n g der Blätter, (b) Ende eines Gametophytenastes von C. humilis. Die Sporenkapsel und der lange Stiel des Sporophyten sind zu sehen, (c) Teil eines Gametophytenastes von Frullania, mit der charakteristischen A n o r d n u n g der Blätter, einem Antheridienstand und dem vom Perianth umhüllten Archegonienstand. Abb. 15-12 Anthoceros, ein Hornmoos, (a) Gametophyt mit darauf sitzenden Sporophyten, die reife Sporangien tragen, (b) Spaltöffnung von einem der photosynthetisch aktiven Sporophyten. (c) Sich entwickelnde und (d) reife Sporen, in Tetraden zusammenhaftend.

das reife Sporangium reißt in zwei Klappen auf und entläßt die Sporen

Gametophyt

(a)

15.3 Hornmoose - Klasse Anthocerotopsida Die Klasse Anthocerotopsida besteht aus nur sechs kalkmeidenden Gattungen mit insgesamt ungefähr 100 Arten. Die bekannteste ist die Gattung Anthoceros. Sie ist weltweit verbreitet und kommt meist an feuchten, schattigen Standorten vor. Auf den ersten Blick ähnelt der Gametophyt von Anthoceros dem Gametophyten thalloser Lebermoose (Abb. 15-12). Bei Anthoceros jedoch besitzt jede Zelle normalerweise einen einzigen großen, schüsseiförmigen Chloroplasten, ähnlich dem vieler Algen, und nicht viele kleine, scheibenförmige Chloroplasten wie die Zellen anderer Moose und der Gefäßpflanzen. Jeder Chloroplast enthält ein Pyrenoid, was die Ähnlichkeit mit den Algen noch deutlicher macht. Die streng dorsiventral gebauten Gametophyten sind rosettenförmig und messen oft weniger als 2 cm im Durchmesser. Sie besitzen große Interzellularräume, die jedoch anders als bei den thallo-

SpSf (d)

KAPITEL

15

Moose (Bryophyta)

321

Stoma

I

Gametophyt

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(a)

(b)

I 100 „m '

Abb. 15-13 (a) Längsschnitt durch den Basalteil des Sporogons von Anthoceros. Der Fuß (Haustorium) des Sporophy-

ten ist in das Gametophytengewebe eingesenkt, (b) Längsschnitt durch die Sporenkapsel mit Sporentetraden.

sen Lebermoosen nicht mit Luft, sondern mit Schleim gefüllt sind. Diese schleimgefüllten Interzellularen werden oft von Cyanobakterien der Gattung Nostoc bewohnt, die ihren Wirt durch Luftstickstoff-Fixierung mit Stickstoff versorgen. Einige Anthoceros-Arten sind getrenntgeschlechtig, andere gemischtgeschlechtig. Die Antheridien und Archegonien sind in die Oberseite des Gametophyten eingesenkt. Auf einem einzigen Gametophyten können zahlreiche Sporophyten entstehen (Abb. 15-12). Das hornförmige Sporogon (Sporophyt) von Anthoceros besteht aus einem Fuß (Haustorium) und einer langen, schotenförmigen Sporenkapsel (Sporangium) (Abb. 15-13). In einem sehr frühen Entwicklungsstadium bildet sich ein Meristem zwischen Fuß und Sporangium aus. Dieses Meristem ist aktiv, solange die Wachstumsbedingungen günstig sind. Folglich verlängert sich der Kapselteil ständig und wird auch nicht als Ganzes auf einmal reif. Im Inneren der Sporenkapsel befindet sich eine sterile Gewebesäule, die Columella, die von der sporenbildenden Zellschicht, dem Archespor, bedeckt wird. Das Archespor bildet aber nicht nur Sporen, sondern auch sterile Zellen, die Elateren. Die Sporenkapsel reißt zunächst an

der Spitze auf und dieses Aufklaffen schreitet parallel zur Sporenreife basalwärts fort. Das Sporangium spaltet sich schließlich längs in zwei Klappen, womit die Form eines gedrehten Gehörns angenommen wird (Abb. 15-12). Die Sporogonwand besitzt mehrere Schichten photosynthetisch aktiver Zellen. Ihre Epidermisoberfläche ist von einer Cuticula bedeckt und besitzt Stomata (Abb. 15-13 b).

15.4 Laubmoose - Klasse Muscopsida In der Klasse der Musci sind die Laubmoose vereint. Sie besteht aus drei Unterklassen: den Bryidae (Echte Laubmoose), den Sphagnidae (Torfmoose) und den Andreaeidae (Klaffmoose).

15.4.1 Echte Laubmoose - Bryidae Die Gametophyten aller Laubmoose kommen in zwei verschiedenen Zustandsformen vor, als Protonema (Zellfaden), welches direkt aus der keimenden Spore entsteht, und als beblätterter, Antheridien und/oder Archegonien tragender Trieb. Bei den echten Laubmoosen ist das Pro-

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TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Abb. 15-14 Moosprotonema. Protonemata sind Jugendstadien von Gametophyten. Sie sind charakteristisch für die Laubmoose und einige Lebermoose. Oft sehen sie wie fädige Grünalgen aus.

Abb. 15-15 Männliche Gametophyten von Polytrichum piliferum, einem Laubmoos. Man kann deutlich die reifen Antheridienstände erkennen.

tonema ein uniseriater (die einzelnen Zellen liegen in einer Kette hintereinander), sich verzweigender Zellfaden, der auf den ersten Blick einer fädigen Grünalge gleicht (Abb. 15-14). Einige Seitenzweige des Protonemas dringen ins Substrat ein und werden zu farblosen Rhizoiden, an anderen hingegen entstehen winzige Moosknospen, die zum beblätterten Gametophyten auswachsen (Abb. 15-15). Protonemata kommen auch bei einigen Lebermoosen vor. Bei den echten Laubmoosen ist der Gametophyt beblättert und normalerweise aufrecht, nicht dorsiventral abgeflacht wie bei den foliosen Lebermoosen. Er wächst, ähnlich wie die foliosen Lebermoose, mit einer dreischneidigen Scheitelzelle. Zunächst entstehen die Blättchen in drei Zeilen. Die Dreizeiligkeit kann aber durch anschließende Drehung der Stämmchenachse zu einer schraubigen Anordnung der Blätter werden. Bei einigen Gattungen (z. B. bei Fontinalis, einer im Wasser lebenden Laubmoosgattung) ist die dreizeilige Anordnung der Blätter auch noch beim reifen Gametophyten zu erkennen. Die Gametophyten der Laubmoose erreichen Längen von wenigen Millimetern bis zu 50 cm oder mehr. Sie sind verschieden stark differenziert und unterschiedlich kompliziert gebaut. Alle besitzen vielzellige Rhizoide und ihre Blätter sind, bis auf die Mittelrippe (die bei einigen Gattungen fehlt), normalerweise nur eine Zellschicht dick. Ei-



nige Laubmoose, z.B. Dawsonia superba (siehe Abb. 153) und Polytrichum, besitzen in ihrem Stengel einen zentralen Strang von Leitgewebe - zentral gelegene Hydro'iden und LeptoTden, die teilweise von dickwandigen Stützzellen umgeben sind. Andere Gattungen hingegen besitzen solche Gewebe nicht oder nur andeutungsweise. Zwei verschiedene Wuchsformen kommen bei den Gametophyten der Laubmoose vor (Abb. 15-16). Bei denorthotrop wachsenden Laubmoosen sind die Gametophyten aufrecht, verzweigen sich nur wenig, und die Sporogone entstehen am Ende des Hauptstengels (akrokarpe Moose = Gipfelfrüchtler). Bei den plagiotrop wachsenden Laubmoosen sind die Gametophyten niederliegend, stark (oft fiederig) verzweigt, und die Sporogone entstehen an kurzen Seitenästen (pleurokarpe Moose = Seitenfrüchtler). Diese zweite Wuchsform kommt bei Laubmoosen vor, die in feuchten Gebieten als üppige Bewüchse Bodenerhebungen, Felsen und Bäume bedecken oder gar von den Ästen der Bäume herabhängen. Einige Laubmoose (z. B. Schistostega, das Leuchtmoos) bilden ein Dauerprotonema - es wird zum Hauptphotosyntheseorgan - , während der beblätterte Gametophyt stark reduziert ist. Wenn sie ausgewachsen sind, bilden die meisten beblätterten Gametophyten Gametangien (Abb. 15-17), die ent-

KAPITEL 1 5

Moose (Bryophyta)

323

Abb. 15-16 Zwei übliche Wuchsformen von Laubmoos-Gametophyten. (a) Polytrichum juniperinum, die orthotrope Wuchsform, mit aufrechten, wenig verzweigten Gametophyten. Die Sporogone, Sporenkapseln auf einer langen dünnen Seta, ragen über die Gametophyten hinaus (akrokarpe Moose), (b) Thuidium delicatulum, die plagiotrope, fiedrige Wuchsform, mit niederliegenden, reich verzweigten Gametophyten.

weder am Ende des Hauptstengels (akrokarpe Moose) oder an einem Seitenzweig (pleurokarpe Moose) entstehen. Bei einigen Gattungen sind die Gametophyten getrenntgeschlechtig, diöcisch (zweihäusig) (Polytrichum, Mnium), bei anderen hingegen (Funaria) werden Archegonien und Antheridien an verschiedenen Ästen derselben Pflanze gebildet (monöcisch, gemischtgeschlechtig). Im Vergleich zu den Gametophyten sind die Sporophyten (Sporogone) der Laubmoose oft recht klein (Abb. 1518). Die Sporenkapseln werden i. a. von einem Stiel (Seta) getragen, der in manchen Fällen bis zu 15 oder 20 cm lang werden kann. Einige Arten hingegen besitzen überhaupt keine solchen Seten. An der Basis der Seta befindet sich ein kurzer Fuß, mit dem der Sporophyt im Gametophytengewebe verankert ist. Bei den Laubmoosen streckt sich die Seta bereits in einem frühen Entwicklungsstadium des Sporophyten (im Gegensatz zu den Lebermoosen), und das Sporogon ist photosynthetisch aktiv. Das Sporogon (Sporophyt) der Laubmoose ist daher bezüglich seiner Ernährung viel weniger vom Gametophyten abhängig als der Sporophyt der Lebermoose. Die Sporogone der Laubmoose besitzen normalerweise Stomata, im Gegensatz zu den Lebermoosen. Die Anatomie der Laubmoossporogone ist kompliziert. Viele Gattungen besitzen im Inneren der Seta einen Zentralstrang aus länglichen Leitgewebezellen. Wenn das Laubmoos-Sporogon reif ist, verliert es allmählich die Fähigkeit zur Photosynthese und wird erst gelb, dann orange und schließlich braun. Schließlich platzt der Deckel der Sporenkapsel, das Operculum, ab und gibt eine Öffnung frei. Diese ist normalerweise von einer Reihe von Peristomzähnen (Abb. 15-19) umgeben,

die das Ausstreuen der Sporen regulieren (Abb. 15-20). Das Peristom ist für die Unterklasse Bryidae (Echte Laubmoose) charakteristisch, es fehlt den beiden anderen Unterklassen der Laubmoose. Abb. 15-21 zeigt einen repräsentativen Entwicklungszyklus eines Laubmooses. Die echten Laubmoose vermehren sich weitgehend durch Brutkörper oder durch Gemmen - staubartige Fragmente aus winzigen Zellen, die vorwiegend an den Blättern des Gametophyten entstehen. Eigentlich ist aber jeder Teil des Gametophyten regenerationsfähig, auch die sterilen Teile der Gametangien.

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TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Abb. 15-17 Gametangien von Mnium, einem Laubmoos, (a) Längsschnitt durch einen Archegonienstand. Zwischen den Archegonien stehen mehrzellige, sterile Safthaare, die Paraphysen. (b) Längsschnitt durch einen Antheridienstand mit Paraphysen.

KAPITEL

15

Moose (Bryophyta)

325

r •M

(d)

(b)

Abb. 15-18 Sporophyten (Sporogone) von Laubmoosen, (a) Ptilium crista-castrensis, ein plagiotropes, fiedriges Laubmoos, das den Boden borealer Nadelwälder oft wie ein Teppich bedeckt. Der weibliche Gametophyt links im Bild trägt auf zwei langen, gedrehten Seten je eine Sporenkapsel. Jede Sporenkapsel besitzt einen Deckel, das Operculum. (b) Sphagnum. Diese Gattung ist hauptsächlich auf wasserreiche Standorte beschränkt. Viele der hier abgebildeten Sporenkapseln sind bereits aufgeplatzt, (c) Sporenkapseln tragende Seten von Pogonatum brachyphyllum (Filzhaube), (d) Seta und Sporenkapsel eines Laubmoossporophyten, mit teilweise (links) oder völlig entfernter (rechts) Kalyptra (oberer Teil des erweiterten Archegonienbauches); rechts ist der Deckel, das Operculum, der Sporenkapsel freigelegt.

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TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Abb. 15-19 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines Teils der Kapselöffnung eines Laubmooses, Bryum capillare, mit 9 der 16 äußeren Peristomzähne.

Abb. 15-20 Sporenentleerungsmodi bei Laubmoosen, (a) Brachythecium hat ein doppeltes Peristom (mit einer äußeren Reihe kräftiger und einer inneren Reihe zarterer Peristomzähne), welches die Kapsel durch hygroskopische Bewegung öffnen und schließen kann. Im feuchten Zustand verzahnen sich die äußeren Peristomzähne mit den inneren; bei Austrocknung biegen sie sich zurück und die Sporen werden mit dem Wind

7p ¡um

verstreut, (b) Wenn die Sphagnum-Kapsel reift, schrumpfen ihre Gewebe im Inneren und ihr Volumen füllt sich mit Gas; bei Austrocknung zieht sie sich zusammen, in ihrem Inneren entsteht ein Überdruck; sie platzt auf und entläßt eine Wolke von Sporen, (c) Das Sporangium von Andreaea schrumpft beim Austrocknen, es reißt längs auf und die Sporen fallen heraus. Die meisten Laubmosse entleeren ihre Sporen ähnlich wie Brachythecium. trocknende Kapsel

feuchte Kapsel

feuchtes Sporangium

trockene Kapsel

trockenes Sporangium

KAPITEL

Abb. 15-21 Repräsentativer Entwicklungszyklus eines Laubmooses. Aus einer Sporenkapsel werden Sporen entleert. Die Kapsel öffnet sich, wenn ein kleiner Deckel (Operculum) abplatzt. Die haploide Spore keimt zu einem verzweigten, fädigen Protonema heran, an dem sich ein beblätterter, haploider Gametophyt entwickelt. An diesem entstehen die Gametangien (Antheridien und Archegonien). Spermatozoiden, die vom reifen Antheridium abgegeben werden, werden ins Archegonium gelockt, wo sich einer von ihnen mit der Eizelle zur Zygote vereinigt. Die Zygote teilt sich mitotisch und bildet den diploiden Sporophyten. Zur selben Zeit teilen sich die Bauchzellen des Archegoniums und bilden die schützende Kalyptra. Der Sporophyt (Sporogon) besteht aus einer Sporenkapsel - die einem Stiel (Seta) aufsitzen kann und einem Fuß, der im Gametophyten verankert ist. Die Meiose findet in der Sporenkapsel statt; es entstehen haploide Sporen. Die Laubmoose besitzen einen heteromorphen Generationswechsel, der Kernphasenwechsel ist intermediär.

15

Moose (Bryophyta)

327

junger beblätterter Gametophyt

Sporen

Operculum keimende Spore

Kalyptra

Rhizoid

Antheridium Archegonium Syngamie

Meiose

Zvsote

sich erweiternder Bauch des Archegoniums

Rhizoide

15.4.2 Torfmoose - Sphagnidae Die mehr als 300 Torfmoosarten der einzigen Gattung Sphagnum bilden eine ganz gesonderte Gruppe, die sich zweifellos vor langer Zeit von der Hauptentwicklungslinie der Moose abgetrennt hat. Die Sphagnum-Gametophyten sind deutlich in einen Langtrieb und Büschel von Kurztrieben, oft an jedem Knoten fünf, untergliedert. In der Nähe der Spitze ist das Stämmchen dichter bebüschelt als weiter unten (Abb. 15-22). Die Gametophyten von Sphagnum entstehen an einem kleinen, gelappten, flächenförmigen (nicht fädigen) Protonema. Die Sphagnumblätter besitzen keine Mittelrippe, und das ausgewachsene Moospflänzchen besitzt keine Rhizoide. An den sumpfigen Stellen, wo Sphagnum wächst, sind die Torf-

moospflänzchen fast immer turgeszent und stehen daher aufrecht. Die Blätter sind erstaunlich stark differenziert: Sie besitzen große, tote Zellen mit ringförmigen Wandverdickungen und vielen Poren, durch welche Wasser direkt aufgenommen werden kann. Zwischen diesen wasserspeichernden Zellen liegen schmale, kleinere, dickwandige Zellen mit vielen Chloroplasten. Wegen ihres Gehaltes an anthocyanartigen Zellwandfarbstoffen sind die Sphag«wm-Pflänzchen oft rötlich oder purpurn getönt. Auch die Sphagnum-Sporophytcn (siehe Abb. 15-18 b und 15-22 d) sind anders als die übrigen Laubmoossporophyten gebaut. Die Sporenkapseln sind fast kugelig und sitzen auf einem Stiel, dem Pseudopodium, einem Teil des Gametophyten. Das Sporogon selbst hat nur einen sehr kurzen Stiel zwischen Fuß und Sporenkapsel. Auch die

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TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Abb. 15-22 Torfmoos. Sphagnum cymbifolium (a-c). (a) Langtrieb mit Kurztrieben und Sporogon (Sp). (b) Blattgewebe in Aufsicht mit toten, wasserspeichernden Zellen und chloroplastenreichen, lebenden Zellen (Z). Die toten Zellen besitzen ringförmige Wandverdickungen (R) und große Poren (P) für die Wasseraufnahme. (c) Blattgewebe im Querschnitt. (d) Sphagnum squarrosum, reifes Sporogon am Ende eines Kurztriebes (O = Operculum; Aw = Rest der Archegonienwandung; Ps = Pseudopodium). (Aus Weberling/Schwantes: „Pflanzensystematik", Stuttgart 1979.)

Sporenentleerung von Sphagnum ist bemerkenswert. Wenn die Sporenkapsel reif wird, schrumpft ihr inneres Gewebe, und es entsteht ein luftgefüllter R a u m im Kapselinneren. Die Kontraktion der reifenden Sporenkapsel verursacht im Inneren einen Überdruck, durch den schließlich der Deckel (Operculum) abgesprengt wird. Die ausströmende Luft reißt eine Sporenwolke mit sich (Abb. 15-20). Die charakteristischen Merkmale der Sphagnidae sind die sehr eigenartige Morphologie des Gametophyten und das Fehlen eines Peristoms an der Sporenkapsel.

Ökologie von Sphagnum Die Torfmoose spielen in allen kalten und gemäßigten Regionen der Welt eine sehr wichtige ökologische Rolle. Sie bilden nämlich ausgedehnte Polster und Decken, die an ihrer Oberfläche weiterwachsen, in den unteren Schichten aber absterben und in Torf übergehen. So entstehen ausgedehnte Torfmoore. Durch selektive Ionenaufnahme beeinflussen Torfmoose die Acidität ihrer eigenen Umgebung. Der pH-Wert im Inneren eines Torfmoospolsters ist oft viel niedriger (z.B. p H 4,4) als im umgebenden Boden und Wasser (z. B. p H 6,0). Wegen seines ausgezeichneten Absorptionsvermögens und seiner hohen Acidität wird Torfmoos oft mit Gartenerde vermischt, um deren Wasserspeicherkapazität zu erhöhen

und ihren p H - W e r t zu erniedrigen. In Irland und einigen anderen nördlichen Regionen wird getrocknetes Torfmoos häufig als Brennmaterial verwendet.

15.4.3 Klaffmoose - Andreaeidae Die Gattung Andreaea besteht aus ungefähr 50 Arten; kleinen, schwarzgrünen oder olivbraunen, kalkfeindlichen Moosen, die auf Felsen (vor allem Urgestein) wachsen und diese mit flachen Pölsterchen überziehen. Die Klaffmoose sind genauso eine besondere G r u p p e wie die Torfmoose. Ihr Gametophyt ähnelt zwar dem der echten Laubmoose sehr, er entsteht aber an einem bandförmigen (nicht fädigen), verzweigten Protonema. Wie bei Sphagnum, so besitzt auch das Sporogon von Andreaea keine richtige Seta, es erhebt sich wie bei Sphagnum auf einem Pseudopodium, einem Stiel aus Gametophytengewebe. Die winzige Sporenkapsel von Andreaea öffnet sich durch vier Längsspalten. Die so entstehenden vier an Spitze und Basis verbundenen Klappen reagieren auf Luftfeuchtigkeitsunterschiede sehr empfindlich. Wenn die Luft trokken ist, öffnen sie sich, wenn sie feucht ist, schließen sie sich. Diese Art der Sporenentleerung ist anders als bei allen übrigen Moosen (Abb. 15-20). Im Jahre 1976 wurde in Alaska eine zweite Klaffmoosgattung entdeckt, die Gattung Andreaeobryum. Diese unterscheidet sich von der G a t t u n g Andreaea insofern, als

KAPITEL 1 5

ihre Vertreter Sporophyten mit echter Seta besitzen und Kapseln, die bis zur Spitze aufreißen.

15.5 Zusammenfassung Die Bryophyta (Moose) sind eine eigene Abteilung des Pflanzenreiches, die sich in drei Klassen untergliedert: Die Hepaticopsida (Lebermoose), die Anthocerotopsida (Hornmoose) und die Muscopsida (Laubmoose). Bezüglich ihrer Farbstoffe und Speicherstoffe ähneln sie den Grünalgen und Gefäßpflanzen. Einige Hornmoose und die meisten Laubmoose besitzen auf ihren Sporophyten Stomata, genau wie die Gefäßpflanzen. Bei einigen Laubmoosen und Lebermoosen sind die Blätter von einer Cutícula bedeckt. Die meisten Bryophyten besitzen keine besonderen Leitgewebestränge. Sie nehmen Wasser direkt über die Blätter und Stämmchen auf. Da hoch entwickelte Gattungen aber Leitgewebestränge aufweisen, glaubt man, daß die Moose und die Gefäßpflanzen vor langer Zeit einen gemeinsamen Vorfahren hatten. Alle Moose besitzen einen heteromorphen Generationswechsel, in welchem der Gametophyt dominant ist. Die männlichen Geschlechtsorgane, die Antheridien, und die weiblichen Geschlechtsorgane, die Archegonien, sind

Moose (Bryophyta)

329

vielzellig und besitzen immer eine sterile Hüllschicht. In jedem Archegonium entsteht eine einzige Eizelle. In jedem Antheridium werden zahlreiche Spermatozoiden gebildet. Die Spermatozoiden sind gewunden, frei beweglich, und besitzen an ihrem Vorderende 2 lange Peitschengeißeln. Der Sporophyt (Sporogon) entsteht im Archegonium, wächst aber normalerweise aus diesem heraus. Er bleibt jedoch immer über den Fuß mit dem Gametophyten verbunden. Bei den meisten Moosen besteht das Sporogon aus Fuß, Seta (Stiel) und Sporenkapsel (Sporangium). Das Sporogon der Hornmoose ist einzigartig, denn es besitzt an der Kapselbasis ein Meristem, durch welches sich das Sporangium über längere Zeit ständig verlängert. Das Sporogon der Hornmoose ist bezüglich seiner Ernährung vom Gametophyten ziemlich unabhängig. Das trifft auch für die Laubmoose zu. Das Sporogon der Lebermoose hingegen ist, was die Ernährung betrifft, viel abhängiger; zuweilen bleibt es selbst im reifen Zustand vom Gametophytengewebe umhüllt. Die Sporen der Laubmoose keimen zu einem fädigen oder flächigen Protonema aus, an dem dann der beblätterte Gametophyt aus Knospen entsteht. Die Sporen der meisten Lebermoose und aller Hornmoose hingegen wachsen direkt zum richtigen Gametophyten heran; hier fehlt also ein Protonema.

Kapitel 16 Gefäßpflanzen: Eine Einführung

Abb. 16-1 Rekonstruktion eines Steinkohlenwaldes. Die meisten der hier gezeigten hohen, baumförmigen Pflanzen gehören heute ausgestorbenen Gattungen an. Einige der kleineren, krautigen Pflanzen sind Verwandte heute lebender Arten von Lvcopodium (Bärlapp) und Selaginella (Moosfarn).

Die Vorfahren der Gefäßpflanzen stammen - genauso wie die Vorfahren aller anderen Lebewesen - aus dem Wasser. Ihre Entwicklungsgeschichte ist eng mit einer allmählichen Anpassung an das Landleben verknüpft. Eines der Schlüsselereignisse bei der Eroberung des terrestrischen Lebensraumes war die Bildung von Sporen mit ausdauernden, vor Austrocknung bewahrenden Schutzwänden. Dies ermöglichte die Verbreitung der Sporen an der Erdoberfläche durch den Wind. Ein anderer wichtiger Schritt bei der Evolution der Gefäßpflanzen war die Entstehung von Cutin, einer wachsartigen Substanz, die den Pflanzenkörper vor Verdunstung schützt. Die Evolution leistungsfähiger Leitsysteme aus Xylem und Phloem löste das Problem des Wasser- und Assimilattransportes. Schließlich wurden die unterirdischen Teile des Sporophyten zu Wurzeln, die der Aufnahme von Wasser und Nährsalzen und der Verankerung dienen, und der oberirdische Teil des Sporophyten wandelte sich teilweise in Blätter, die Hauptphotosyntheseorgane, um. Darüber hinaus fand eine zunehmende Reduktion der Gametophyten-Generation statt. Der Gametophyt wurde mehr und mehr vom Sporophyten geschützt und von diesem immer abhängiger. Schließlich entstanden bei einer Reihe von Entwicklungslinien Samen, Strukturen zum Schutz des Sporophytenembryos gegenüber den Unbilden des terrestrischen Lebens. Die Samen ernähren den Embryo und lassen ihn ungünstige Bedingungen überdauern. Wie bereits in Kapitel 15 erwähnt, war der gemeinsame Vorfahre der Moose und Gefäßpflanzen wahrscheinlich eine relativ kompliziert gebaute, vielzellige Grünalge, die vor mehr als 400 Millionen Jahren aufs Land vorgedrungen ist, und vermutlich mit einer Endomykorrhiza (s. Kap. 12.5) ausgestattet war. Im Entwicklungszyklus dieser Grünalge war vermutlich der Sporophyt die dominante Generation. Wegen ihrer ausgeprägten Anpassung an die Bedingungen des terrestrischen Lebensraumes sind die Gefäßpflanzen die dominanten Landpflanzen der Biosphäre. Es gibt neun Abteilungen mit lebenden Vertretern; zu ihnen gehören ungefähr 250000 rezente Arten. Darüber hinaus

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TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

gibt es mehrere Abteilungen, deren Arten sämtlich ausgestorben sind; in diesem Kapitel werden drei dieser Abteilungen besprochen und einige generelle Entwicklungsstufen der Gefäßpflanzen beschrieben. In den Kapiteln 17 und 18 werden dann die Abteilungen mit rezenten Vertretern der Reihe nach besprochen.

16.1 Primitive Gefäßpflanzen 16.1.1 Abteilung Rhyniophyta Die ältesten Gefäßpflanzen, die man kennt, gehören zur Abteilung Rhyniophyta, einer Pflanzengruppe, die bis ins Silur zurückreicht, also ungefähr 400 Millionen Jahre alt ist. Diese Pflanzen bildeten noch keine Samen. Sie waren noch nicht in Wurzel, Stamm und Blätter untergliedert, sondern bestanden vielmehr aus einfachen, gabelförmig (dichotom) verzweigten, untereinander gleichwertigen Trieben, den Ur-Telomen. Ihre endständigen Sporangien bildeten nur eine Sorte Sporen. Cooksonia, ein Vertreter der Rhyniophyta und vermutlich ein Sumpfbewohner, ist die älteste Gefäßpflanze, die man kennt (Abb. 16-2). Ihre blattlosen, oberirdischen

Triebe waren dichotom verzweigt und endeten in kugelförmigen Sporangien; in diesen entstanden Sporen mit cutingetränkten, schützenden Wänden. Zwar ist über die unterirdischen Teile nichts bekannt, jedoch ist es wahrscheinlich, daß Cooksonia ein Rhizom oder einen unterirdischen Trieb besessen hat, an dem die oberirdischen Teile entsprungen sind. In mazerierten Achsenstückchen hat man Tracheiden, die typischen wasserleitenden Elemente primitiver Gefäßpflanzen, entdeckt. (Unter Mazeration pflanzlicher Gewebe versteht man die Zerstörung des Zell verbandes - also den Zerfall des Gewebes in Einzelzellen - durch Auflösen der Mittellamellen unter Einwirkung chemischer Substanzen oder bakterieller Enzyme). Der bekannteste Vertreter der Rhyniophyta ist Rhynia (Abb. 16-3a), vermutlich ein Sumpfbewohner. Die blattlosen, dichotom verzweigten oberirdischen Triebe von Rhynia ragten aufrecht in die Luft und saßen an einem unterirdisch wachsenden Rhizom mit Büscheln wasserabsorbierender Rhizoide. Die oberirdischen Triebe waren von einer Cuticula bedeckt, besaßen Stomata und waren die Hauptphotosyntheseorgane. Der innere Bau von Rhynia war dem vieler heute lebender Gefäßpflanzen ähnlich. Eine einzige Schicht von Oberflächenzellen, die Epidermis, umgab das photosynthetisch aktive Rindengewebe. Im Zentrum der Sproßachse befand sich eine geschlossene Xylemsäule, umgeben von ein oder zwei Zellschichten, von denen man nicht weiß, ob sie aus Phloemzellen bestanden oder nicht. Offensichtlich lagen die ältesten Xylemzellen im Zentrum der Sproßachse, die jüngsten an der Peripherie des Zentralstranges.

16.1.2 Abteilung Zosterophyllophyta

(b)

Abb. 16-2

Rekonstruktion der ältesten Gefäßpflanzen, die

man kennt, (a) Cooksonia caledonica. (b) Cooksonia hemisphaerica.

Im unteren und mittleren Devon, also vor ungefähr 395 bzw. 350 Millionen Jahren, tauchte eine zweite G r u p p e primitiver Gefäßpflanzen auf, die Zosterophyllophyta. Genau wie die Rhyniophyta waren diese Pflanzen unbeblättert und dichotom verzweigt. Möglicherweise waren sie Wasserbewohner. Ihre aufrechten Triebe waren von einer Cuticula bedeckt, aber nur die oberen besaßen auch Stomata; das läßt vermuten, d a ß die unteren Zweige vielleicht im Sumpf gesteckt haben. Bei Zosterophyllum bildeten die unteren Triebe häufig sich gabelnde Seitentriebe. Von den beiden Gabelästen wuchs einer nach oben, der andere nach unten (Abb. 16-3b). Die abwärts wachsenden Äste hatten vermutlich Stützfunktion und ermöglichten der Pflanze eine seitliche Ausdehnung. Anders als bei den Rhyniophyta entstanden die Sporangien der Zosterophyllophyta seitlich auf kurzen Stielen. N u r eine Sorte Sporen wurde gebildet. Der innere Bau der Zosterophyllophyta glich zwar im wesentlichen

KAPITEL

16

Gefäßpflanzen: eine Einführung

333

(c) Abb. 16-3 Primitive, ausgestorbene Gefäßpflanzen, (a) Rhynia major gehört zu den Rhyniophyta, den einfachsten Gefäßpflanzen, die man kennt. Die Sproßachse war blattlos und dichotom verzweigt. Die Sporangien waren endständig und rissen bei der Sporenentleerung längs auf. (b) Bei Zosterophyllum, der bekanntesten Gattung der Zosterophyllophyta, waren die nierenförmigen Sporangien seitenständig und zu einer Art endständiger Ähre angeordnet. Bei der Sporenentleerung rissen die Sporangien entlang genau festgelegter Schlitze am äußeren Rand auf. Die Zosterophyllophyta waren größer

als die Rhyniophyta, aber wie diese meist dichotom verzweigt. Sie waren entweder kahl, dornig oder gezähnt, (c) Zu den Trimerophyta gehörten Pflanzen mit starker Hauptachse und kleineren Seitenzweigen. Die Seitenzweige waren dichotom verzweigt und besaßen oft endständige Büschel paariger Sporangien. Die Sporangien liefen an beiden Enden spitz zu. Die bekanntesten Vertreter dieser Gruppe sind Psilophyton und Trimerophyton. Hier ist eine Rekonstruktion von P. princeps zu sehen.

dem der Rhyniophyta, jedoch lagen bei den Zosterophyllophyta - anders als bei den Rhyniophyta - die ältesten Xylemzellen an der Peripherie des Xylemstranges und die jüngsten im Zentrum. Die Vertreter der Zosterophyllophyta werden von einigen Paläobotanikern für die möglichen Vorfahren der Lycophyta (s. Kap. 17.2) gehalten; denn deren Sporangien würden anfangs auch seitlich gebildet und ihr Xylem differenzierte sich ebenfalls zentripetal (von der Peripherie zum Zentrum des Xylemstranges). Egal, ob die Lycophyta von den Zosterophyllophyta abstammen oder nicht, diese beiden Organismengruppen haben auf jeden Fall gemeinsame Merkmale, die sie von den Rhyniophyta und den im folgenden beschriebenen Trimerophyta deutlich abheben.

16.1.3 Abteilung Trimerophyta Einige Paläobotaniker glauben, daß die Abteilung Trimerophyta direkt aus den Rhyniophyta entstanden ist und daß von ihr die Vorfahren der Farne, vielleicht auch der Schachtelhalme, abstammen. Die Trimerophyta (Abb. 16-3 c) traten erstmals im mittleren Devon, also vor ungefähr 360 Millionen Jahren auf. Die Trimerophyta waren zwar höher entwickelt als die Rhyniophyta, besaßen aber ebenfalls noch keine Blätter. Die Hauptachse bildete Seitenzweige, die sich mehrfach dichotom verzweigten. Einige der kleineren Triebe trugen an den Spitzen längliche Sporangien, in denen nur eine Sorte Sporen gebildet wurde; die anderen Triebe waren rein vegetativ. Neben einem komplizierteren Verzwei-

334

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

gungssystem besaßen die Trimerophyta noch ein massiveres Leitgewebesystem als die Rhyniophyta. Zusammen mit einer breiten Rinde aus dickwandigen Zellen war der starke Leitgewebestrang vermutlich in der Lage, eine ziemlich große Pflanze ausreichend zu stützen. Wie bei den Rhyniophyta erfolgte die Xylemdifferenzierung bei den Trimerophyta zentrifugal, d. h. die ältesten Xylemelemente lagen im Zentrum. Abb. 16-4 zeigt den möglichen Verlauf der Evolution anderer Abteilungen der Gefäßpflanzen ausgehend von den Zosterophyllophyta und den Rhyniophyta.

16.2 Bau der Gefäßpflanzen Aus dem bisher gesagten geht deutlich hervor, d a ß der Sporophyt - der Pflanzenkörper - der ersten Gefäßpflanzen aus dichotom verzweigten Trieben ohne Blätter und Wurzeln bestand. Im Laufe der Evolution entstanden morphologische und physiologische Unterschiede zwischen verschiedenen Teilen des Pflanzenkörpers, was zur

Differenzierung von Wurzel, Stamm (Sproßachse) und Blatt, den drei Grundorganen der Gefäßpflanzen führte (Abb. 16-5). Alle Wurzeln zusammen bilden das Wurzelsystem-, es verankert die Pflanze im Boden und entnimmt ihm Wasser und Nährsalze. Alle Sproßachsen und Blätter zusammen bilden das Sproßsystenr, dabei dienen die Sproßachsen dazu, die hochspezialisierten Photosyntheseorgane - die Blätter - in eine günstige Position zum Sonnenlicht zu bringen, und Wasser zu den Blättern hin und die Endprodukte der Photosynthese von den Blättern weg zu transportieren. Die vielen verschiedenen Zellsorten des Pflanzenkörpers bilden Gewebe, und diese wiederum noch größere Einheiten, die Gewebesysteme. Die drei Gewebesysteme das Grundgewebesystem, das Haut- oder Abschlußgewebesystem und das Leitgewebesystem - treten in allen Pflanzenorganen auf; sie erstrecken sich kontinuierlich von Organ zu Organ, was beweist, daß der Pflanzenkörper im Grunde genommen ein einheitliches Gebilde ist. Das Hautgewebesystem bildet die äußere Schutzhülle der

Quartär krautige Bärlappe

Tertiär

Farne andere \ (Gymnospermen

Kreide Jura

Trias

Perm Karbon Pennsylvanian (Oberkarbon)

Bärlappbäume

Samenfarne

Mississippian (Unterkarbon) Progymnospermenl

Devon Trimerophyta Zosterophyllophyta

Abb. 16-4 Möglicher Verlauf der Evolution der Gefäßpflanzen, ausgehend von den Zosterophyllophyta und den Rhyniophyta. Die Länge des Devons ist übertrieben breit darge-

Rhyniophyta

stellt, und über die verwandtschaftliche Beziehung der Angiospermen oder Blütenpflanzen zu den übrigen Gefäßpflanzen wird hier nichts ausgesagt.

KAPITEL

16

Gefäßpflanzen: eine Einführung

335

Knospe

Leitbündel Knoten (Nodium) Internodium

Knoten Sproßachse

Keimblatt

primare

Knospe

Erdoberfläche

Seitenwurzeln

Zentralzylinder

Primärwurzel

Abb. 16-5 Schematische Darstellung einer dikotylen Pflanze mit den Grundorganen des primären Pflanzenkörpers. Querschnitt durch die einzelnen Organe - (a) Blatt, (b) Stamm (Sproßachse), (c) Wurzel - lassen deren Gewebezusammensetzung erkennen. In allen drei Organen ist das Hautgewebesystem durch eine Epidermis vertreten, und das Leitgewebesystem - bestehend aus Xylem und Phloem - ist in das Grundgewebesystem eingebettet. Das Grundgewebesystem ist im Blatt durch das Mesophyll vertreten, in der Sproßachse durch Rinde und Mark und in der Wurzel allein durch die Rinde. Das Blatt ist auf die Photosynthese spezialisiert, die Sproßachse auf den Transport und darauf, die Blätter zu tragen, und die Wurzel auf Absorption und Verankerung.

Pflanze. D a s Leitgewebesystem b e s t e h t a u s d e n Leitgeweb e n - X y l e m u n d P h l o e m - u n d ist in d a s G r u n d g e w e b e s y stem eingebettet ( A b b . 16-5). D i e H a u p t u n t e r s c h i e d e i m A u f b a u v o n Wurzel, S t a m m u n d Blatt liegen v o r allem in der relativen A n o r d n u n g d e r Leit- u n d G r u n d g e w e b e s y steme (siehe Teil 5).

16.2.1 Primäres und sekundäres Wachstum Als p r i m ä r k a n n m a n d a s W a c h s t u m bezeichnen, d a s ziemlich d i c h t a n d e r S p r o ß s p i t z e u n d a n der Wurzelspitze stattfindet. Es w i r d d u r c h die A p i k a i m e r i s t e m e eingeleitet u n d dient h a u p t s ä c h l i c h d e r V e r l ä n g e r u n g des P f l a n z e n -

336

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

körpers. Während des primären Wachstums entstehen die primären Gewebe. Den Teil des Pflanzenkörpers, der aus diesen Geweben besteht, nennt man den primären Pflanzenkörper (Abb. 16-5). Die meisten primitiven Gefäßpflanzen bestanden nur aus primären Geweben, doch kennzeichnet dies allein noch nicht eine primitive Pflanze, denn auch viele heute lebende Pflanzen bestehen nur aus primären Geweben. Neben dem primären Wachstum findet bei zahlreichen Samenpflanzen noch ein zusätzliches Wachstum statt, durch welches Stamm und Wurzel in die Dicke wachsen. Dieses sekundäre Dickenwachstum beruht auf der Aktivität eines Lateralmeristems, des Cambiums. Dieses bildet die sekundären Leitgewebe, das sekundäre Xylem und das sekundäre Phloem (siehe Abb. 24-6). Mit der Bildung sekundärer Leitgewebe geht gewöhnlich auch die Aktivität eines Korkcambiums einher. Dieses bildet ein Periderm, das größtenteils aus Korkgewebe besteht. Das Periderm tritt an die Stelle der Epidermis als neues Hautgewebesystem der Pflanze. Die sekundären Leitgewebe und das Periderm machen den sekundären Pflanzenkörper aus. Obwohl nur einige lebende Vertreter der samenlosen Gefäßpflanzen ein solches sekundäres Dickenwachstum zeigen, trat ein durch die Aktivität eines Cambiums bedingtes, sekundäres Dickenwachstum bereits im mittleren Devon (also vor ungefähr 360 Millionen Jahren) bei Vertretern mehrerer, nicht verwandter Gefäßpflanzen-Gruppen auf.

komponente konnten die Pflanzen größer werden als zuvor und aufrecht wachsen. Ausgedehnte vergleichende Untersuchungen der trachealen Elemente zahlreicher Gefäßpflanzen haben deutlich gezeigt, daß die Tracheide, verglichen mit dem Gefäßelement (s. Kap. 21.2.4) - der eigentlichen wasserleitenden Zelle des Angiospermenxylems - , die primitivere ist. Es ist ziemlich sicher, daß die Gefäßelemente unabhängig von den Tracheiden in mehreren Gruppen von Gefäßpflanzen entstanden sind - so bei den Dikotylen und den Monokotylen (den beiden Angiospermengruppen), den Gnetophyta (Gymnospermen mit Gefäßen), bei mehreren, nicht miteinander verwandten Farnarten, und einigen Arten von Selaginella (Moosfarn; Abteilung Lycophyta) und Equisetum (Schachtelhalm; Abteilung Sphenophyta). Die Entstehung des Gefäßelementes ist ein hervorragendes Beispiel für sog. Konvergenz, d. h. die unabhängig voneinander entstandene gleichartige Ausgestaltung nicht miteinander verwandter oder nur entfernt miteinander verwandter Organismen als gleichsinnige Anpassung an analoge Lebensbedingungen, (siehe: Konvergenz, auf S.513)

16.2.2 Tracheale Elemente Das Vorkommen von Phloem in Pflanzen aus dem Devon ist noch nicht eindeutig bewiesen. Der Grund dafür ist, daß die Siebelemente, die Leitelemente des Phloems, nur zarte Zellwände besitzen und nach ihrem Absterben oft kollabieren und somit fossil nur schlecht erhalten sind. Die trachealen Elemente hingegen, die Leitelemente des Xylems, haben starre, dauerhafte Zellwände. Vor allem diese trachealen Elemente sind es, die herangezogen werden, um Fossilien von Gefäßpflanzen zu identifizieren. In Fossilien aus dem Silur und Devon sind die trachealen Elemente langgestreckte Zellen mit spitz zulaufenden Enden. Diese trachealen Elemente, die sog. Tracheiden (s. Kap. 21.2.4), sind die ältesten fossil nachzuweisenden wasserleitenden Zellen, aber auch die einzigen wasserleitenden Zellen der meisten lebenden samenlosen Gefäßpflanzen und Gymnospermen. Die Tracheiden waren aber nicht nur die Kanäle, durch die Wasser und Nährsalze in der Pflanze transportiert werden konnten, sondern sie dienten auch der Pflanzenachse als Festigungselemente. Die Festigkeit der Zellwände von Tracheiden und anderen Xylemzellen beruht größtenteils auf ihrer Lignifizierung. Mit der Entstehung von Lignin als Zellwand-

(a)

(b)

Abb. 16-6 Längsschnitte durch Knotenregionen (Teile der Sproßachse, an denen die Blätter sitzen) von beblätterten Sproßachsen, (a) Sproßachse mit einem ziemlich kleinen, einnervigen Blatt, einem Mikrophyll. (b) Sproßachse mit einem relativ großen, reich geäderten Blatt, einem Megaphyll. Mit Ausnahme der einnervigen Equisetum-Blätter (Schachtelhalm) entstehen Mikrophylle stets an Sproßachsen mit Protostelen, Megaphylle hingegen an Sproßachsen mit Siphonostelen oder Eustelen. (c) und (d) zeigen Querschnitte durch (a) und (b) in Höhe der gestrichelten Linie. Beachten Sie Mark und Blattlücke in (b) und (d), beide fehlen bei (a) und (c).

KAPITEL

16.2.3 Stelen Die primären Leitgewebe - primäres Xylem und primäres Phloem - und das Mark (falls vorhanden) bilden zusammen den Zentralzylinder oder die Stele des primären Pflanzenkörpers von Stamm und Wurzel. Es gibt mehrere grundsätzlich verschiedene Typen von Stelen, drei davon sind die Protostele, die Siphonostele und die Eustele. Die Protostele besteht aus einer zentralen Leitgewebesäule, in welcher entweder das Xylem von einem Phloemmantel umgeben ist oder das Phloem ins Xylem eingestreut ist (Abb. 16-6). Die Protostele ist der primitivste Stelentyp; sie kommt bei Rhynia, Zosterophyllum und Psilophyton vor. Protostelen findet man auch bei den Psilophyta, Lycophyta und jungen Sproßachsen einiger anderer Gefäßpflanzen-Gruppen. Dieser Stelentyp kommt darüber hinaus bei den meisten Wurzeln vor. Die höher entwickelte Siphonostele besitzt eine zentrale Grundgewebesäule, das Mark. Das Leitgewebe liegt röhrenförmig um das Mark herum (Abb. 16-6). Das Phloem liegt entweder nur außerhalb des Xylems, oder außerhalb und innerhalb. Siphonostelen findet man in den Sproßachsen vieler Farne und gewisser Gymnospermen und Angiospermen. Die Eustele, die bei Equisetum und gewissen Gymnospermen und Angiospermen vorkommt, besteht aus einem System von Leitgewebesträngen, die ein Mark umgeben und voneinander durch Grundgewebe getrennt sind. Bis noch vor kurzem hat man geglaubt, daß die Eustele der Samenpflanzen aus einer Siphonostele entstanden sei, wie sie bei Farnen vorkommt, und zwar durch Aufspaltung des Leitgewebes in einzelne Stränge. Vergleichende Untersuchungen der Leitgewebesysteme von Coniferen

16

Gefäßpflanzen: eine Einführung

337

und dikotylen Pflanzen und eine Prüfung des fossilen Materials führten jedoch zu der Überzeugung, daß die Eustele der Samenpflanzen vermutlich aus einer Protostele älteren Typs, wie sie bei den ältesten fossilen Gymnospermen vorkommt, entstanden ist. Den vermutlichen Ablauf der Entstehung einer Eustele aus einer Protostele zeigt Abb. 16-7.

16.2.4 Herkunft von Wurzeln und Blättern Fossile Zeugnisse geben uns über die Herkunft der Wurzeln, so wie sie sich uns heute darbieten, kaum Auskunft. Die Wurzeln scheinen sich aber aus unterirdischen Teilen (Rhizomen) des primitiven, sproßachsenähnlichen Pflanzenkörpers entwickelt zu haben. Meistens sind die Wurzeln recht einfach gebaut; bei ihnen sind viele der primitiven Strukturmerkmale erhalten, die bei den Sproßachsen heute lebender Pflanzen nicht mehr zu finden sind. Die Blätter sind die wichtigsten seitlichen Anhängsel der Sproßachse; sie entstehen - unabhängig von ihrer endgültigen Größe und ihrem Bau - als Auswüchse (Blattprimordien) des Apikalmeristems des Sprosses. Es gibt zwei verschiedene Blatt-Typen, die Mikrophylle und die Megaphylle, die auch auf verschiedene Weise entstanden zu sein scheinen. Mikrophylle sind relativ kleine, einnervige (1 Leitgewebestrang) Blätter (Abb. 16-6). Mit Ausnahme der einnervigen Equisetum-Blätter entspringen Mikrophylle stets an Sproßachsen mit Protostelen, so z. B. bei den Psilophyta und den Lycophyta. Untersuchungen von Sprossen mit Mikrophyllen haben gezeigt, daß die Blattspur (der Leitgewebestrang, der von der Protostele ins Blatt abbiegt) das Stelenmuster nicht unterbricht. Der Name Mikro-

Protostele

Anhangsgebilde Rinde

(a)

(b)

Abb. 16-7 (a) Eine primitive Protostele, mit abzweigenden Anhangsgebilden, den Vorläufern der Blätter, (b) Eine in drei Leitgewebestränge zerklüftete Protostele, mit Mark, (c) Hier ist die Anzahl der Leitgewebestränge höher und das Mark größer als bei (b). Die Leitgewebestränge der Anhangsgebilde

in (a) und (b) kann man nun als Blattspuren bezeichnen, (d) Die Stengelbündel und die zu ihnen gehörenden Blattspuren - beide zusammen bilden Sympodien - verlaufen wellenförmig und die Grundgeweberegionen oberhalb der abzweigenden Blattspuren sind Blattlücken gleichzusetzen.

338

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

phyll bedeutet zwar „kleines Blatt", einige Isoetes-Arten (Brachsenkraut) haben jedoch ziemlich lange Mikrophylle. Auch einige im Karbon und Perm lebende Vertreter der Lycophyta besaßen Mikrophylle; diese waren bis zu 1 m lang oder länger. Man glaubt, daß die Mikrophylle als oberflächliche, seitliche Auswüchse des Stammes entstanden sind (Abb. 16-8). Zunächst waren es kleine schuppen- oder dornenförmige Auswüchse ohne Leitgewebe. Allmählich entstanden dann rudimentäre Blattspuren, die sich anfangs nur bis in die Basis des Auswuchses erstreckten. Schließlich erstreckten sich die Blattspuren bis in die Auswüchse hinein und so entstand das primitive Mikrophyll. Wie der Name schon sagt, sind die Megaphylle meist große Blätter. Mit wenigen Ausnahmen entspringen Megaphylle an Sproßachsen mit Siphonostelen oder Eustelen. Die Lamina (Blattspreite) der meisten Megaphylle ist - anders als bei den einnervigen Mikrophyllen - kompliziert geädert (Ader = Leitgewebestrang). Ferner werden die Blattspuren der Megaphylle von Blattlücken in der Stele der Sproßachse begleitet. Die Blattlücke ist eine Grundgeweberegion innerhalb der Stele, die dadurch hervorgerufen wird, daß die Blattspur von der Stele ins Blatt hinein abbiegt. Man glaubt, daß sich die Megaphylle aus ganzen Seitentriebsystemen über eine Reihe von Stufen entwickelt haben (Abb. 16-8). Ausgehend von einer blattlosen, sich dichotom verzweigenden Achse (Telom) kam es durch ungleiche Verzweigung zur Ausbildung stärkerer Seitentriebe, die die schwächeren „übergipfelten". Dann folgte die „Pianation", das Einrücken der Telome der untergeordneten Seitentriebe in eine Ebene. Schließlich fand die „Verwachsung" statt, wodurch die einzelnen Seitentriebe zur primitiven Lamina vereinigt wurden. Der Definition nach sind die Blätter der heutigen Equisetum-Arten zwar Mikrophylle, einige Vertreter der Sphenophyta besaßen jedoch ziemlich große Blätter mit dichotomer Nervatur. Es kann daher sein, daß die kleinen Equisetum-Blätter aus größeren, komplizierter gebauten durch Reduktion entstanden sind.

16.3 Fortpflanzungssysteme Alle Gefaßpflanzen sind oogam und alle haben einen Generationswechsel (Abb. 16-9). In ihrem Entwicklungszyklus ist der Sporophyt dominant; er ist größer und komplizierter gebaut als der Gametophyt. Fast alle bisher in diesem Kapitel gemachten Aussagen bezogen sich auf den vegetativen Bau des Sporophyten. Wir werden nun einige Grundzüge der Fortpflanzungssysteme der Gefäßpflanzen besprechen.

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Abb. 16-8 Nach Meinung vieler Botaniker entstanden die Mikrophylle (oben) als Auswüchse der Hauptachse der Pflanze. Die Megaphylle (unten) hingegen entstanden durch Verwachsung von Zweigsystemen.

Gametophyt (n) Antheridien mit Spermazellen (n)

Spore /

Archegonien^ mit Eizellen (n)

VSyngamie

Sporentetraden (n)

J

Zygote (2n)

Meiose Sporenmutterzellen (2n)

\

Sporangien

Embryo Sporophyt (2n)

Abb. 16-9 pflanze.

Allgemeiner Entwicklungszyklus einer Gefäß-

KAPITEL 1 6

16.3.1 Isosporie und Heterosporie Bei der Besprechung der primitiven Gefäßpflanzen haben wird erwähnt, daß sie nur eine Sporensorte gebildet haben. Solche Gefäßpflanzen bezeichnet man als isospor bzw. homospor (gleichsporig). Bei den lebenden Gefäßpflanzen findet man Isosporie bei den Psilophyta, Sphenophyta, einigen Lycophyta und fast allen Farnen. Nach der Meiose bilden die homosporen Pflanzen in ihrem Sporangium nur eine Sporensorte. Diese Sporen keimen aus und wachsen zu gemischtgeschlechtigen (monöcischen) Gametophyten heran. Antheridien und Archegonien entstehen also auf demselben Gametophyten. Heterosporie (Verschiedensporigkeit) - also die Bildung von zwei Sporensorten in zwei verschiedenen Sporangien kommt bei einigen Lycophyta, einigen Farnen und allen Samenpflanzen vor. Im Laufe der Evolution der Gefäß-

Gefäßpflanzen: eine Einführung

339

pflanzen ist die Heterosporie mehrfach und in miteinander nicht verwandten Gruppen entstanden. Sie war bereits im Devon, also vor mehr als 350 Millionen Jahren, verbreitet. Die beiden Sporensorten bezeichnet man als Mikrosporen und Megasporen; sie werden in Mikrosporangien bzw. Megasporangien gebildet. Wenn auch die Silbe mikro klein und mega groß bedeutet, so sind doch die Megasporen nicht immer größer als die Mikrosporen, das gilt besonders für die Samenpflanzen. Die beiden Sporensorten sollten nach ihrer Funktion, nicht nach ihrer Größe unterschieden werden. Aus den Mikrosporen entstehen die männlichen Gametophyten (Mikrogametophyten) und aus den Megasporen die weiblichen Gametophyten (Megagametophyten). Die Größe beider eingeschlechtiger Gametophyten ist im Vergleich zu dem gemischtgeschlechtigen Gametophyten der homosporen Gefäßpflanzen stark reduziert.

nahezu reife Spermazellen

Eizelle

Abb. 16-10 Gametophyt des Farns Gleichenia dichotoma. Aufeinanderfolgende Stadien in der Entwicklung der Gametangien: (b) bis (e) zeigt die Antheridienentwicklung; (f) bis

(i) zeigt die Archegonienentwicklung. Vielzellige Gametangien sind für viele samenlose Gefäßpflanzen charakteristisch,

340

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

16.3.2 Gametophyten und Gameten. Die relativ großen Gametophyten der isosporen Pflanzen ernähren sich unabhängig vom Sporophyten. Die unterirdischen Gametophyten einiger Arten - z. B. aller Psilotum- und mehrerer Lycopodium- Arten - sind jedoch deutlich heterotroph; um leben zu können, müssen sie eine Endomykorrhiza mit einem Pilz bilden. Andere Lycopodium-Arten (Bärlapp) besitzen, genau wie die meisten Farne und die Schachtelhalme, frei lebende, photoautotrophe Gametophyten. Im Gegensatz dazu sind die Gametophyten der heterosporen Gefäßpflanzen von den Speicherstoffen abhängig, die der Sporophyt für ihre Ernährung bereitstellt. Die Evolution der Gefäßpflanzen-Gametoplyten ist durch Größenabnahme und Reduktion der Zellenzahl gekennzeichnet. Die Gametophyten der Angiospermen sind am stärksten reduziert. Die reifen Megagametophyten der Angiospermen bestehen gewöhnlich nur aus sieben Zellen, eine davon ist die Eizelle. Die reifen Mikrogametophyten enthalten nur drei Zellen, zwei davon sind Spermazellen. Antheridien und Archegonien, die bei allen samenlosen Gefäßpflanzen vorkommen (Abb. 16-10), fehlen bei allen Angiospermen und bei einigen Gymnospermen. Bei den samenlosen Gefäßpflanzen, einschließlich der Farne, schwimmen bewegliche Spermatozoiden durchs Wasser zum Archegonium. Diese Pflanzen müssen daher an Standorten wachsen, wo Wasser zumindest manchmal in ausreichender Menge vorhanden ist. Bei den Gymnospermen und Angiospermen aber werden die ganzen Mikrogametophyten {mehrzellige Pollenkörner) in die Nähe des Megagametophyten transportiert (Bestäubung). Dort formen sie besondere Gebilde, die Pollen-

schläuche, welche die beiden Spermazellen zum Ei bringen. Da die Samenpflanzen zur Befruchtung (Vereinigung von Ei und Spermazelle) kein freies Wasser benötigen, können sie in vielen Gebieten leben und sich fortpflanzen, wo dies für andere Pflanzen unmöglich ist.

16.3.3 Evolution der Samen Eine der folgenreichsten Neuerungen bei der Evolution der Gefäßpflanzen war die Entstehung von Samen (Abb. 16-11). Der stark reduzierte Megagametophyt verblieb in der Megaspore und diese ihrerseits im Megasporangium (Nucellus) des Sporophyten. Außerdem entstand rings um das Megasporangium - anders als sonst bei heterosporen Gefäßpflanzen - eine Hülle (Integument). Das Megasporangium und diese Hülle zusammen bildeten die Samenanlage (Abb. 16-12), die befruchtete Samenanlage den Samen - mit Embryo (junger Sporophyt), Reservestoffen und Samenschale (umgewandeltes Integument) (siehe auch Kap. 18). Die Evolution der Samen ist einer der wichtigsten Gründe für das Übergewicht der Samenpflanzen in der heutigen Flora. Der Same ermöglicht es nämlich dem jungen Sporophyten, geschützt von der Samenschale und mit Reservestoffen ausgerüstet, ungünstige Bedingungen ruhend zu überdauern, und das Wachstum erst dann wieder aufzunehmen, wenn die Bedingungen günstig sind. Die ältesten Samen stammen aus dem späten Devon, sind also vor ungefähr 350 Millionen Jahren entstanden (Abb. 16-13). Während des restlichen Paläozoikums und während des Mesozoikums kam es dann zur Bildung zahlreicher verschiedener Samentypen.

Abb. 16-11 Samenartige Gebilde einiger fossiler Pflanzen aus dem Paläozoikum. Bei Genomosperma entspringen an der Basis des Megasporangiums 8 fingerartige Fortsätze. Bei G. kidstonii sind diese Fortsätze frei, bei G. latens an der Basis bis zu 1 / 3 ihrer Länge verwachsen. Bei Eurystoma angulare ist die Fusion der Fortsätze fast, bei Stamnostoma huttonense ist sie ganz vollendet. Diese 4 Beispiele zeigen die schrittweise Entstehung eines ersten Integumentes rings um ein fertiles Megasporangium, den Nucellus; sie repräsentieren also verschiedene Stadien in der Evolution der Samen.

G. kidstonii

G.

latens

E.

angulare

S.

huttonense

KAPITEL

16

Gefäßpflanzen: eine Einführung

341

Die ältesten fossilen Funde von Angiospermen (Bedecktsamer: s. Kap. 18.3), der heute dominanten Gefäßpflanzengruppe, stammen jedoch erst aus der Kreidezeit, sind also erst ungefähr 127 Millionen Jahre alt. Die Angiospermen sind also Neulinge in der Entwicklungsgeschichte der Gefäßpflanzen.

Integument

Megasporangium

16.4 Zusammenfassung Gefäßpflanzen sind Pflanzen, die Xylem und Phloëm besitzen und einen Generationswechsel zeigen, bei dem der Sporophyt dominiert und autotroph ist. Die ältesten Gefäßpflanzen, die man kennt, gehören zur Abteilung Rhyniophyta und stammen aus dem Silur, welches ungefähr 400 Millionen Jahre zurückliegt. Der Pflanzenkörper der Rhyniophyta und ihrer Zeitgenossen bestand aus einfachen, dichotom verzweigten Trieben ohne Wurzeln und Blätter, den Telomen. Im Laufe der Evolution entstanden zwischen verschiedenen Teilen des Pflanzenkörpers morphologische und physiologische Unterschiede. So entstanden Wurzel, Stamm (Sproßachse) und Blatt. Viele Gefäßpflanzen bestehen nur aus primären Geweben. Das sekundäre Dickenwachstum beschränkt sich heutzutage größtenteils auf die Samenpflanzen, obwohl es auch bei mehreren, nicht miteinander verwandten fos-

Megaspore

Abb. 16-12 Schematische Darstellung eines Längsschnittes durch die Samenanlage oder den Samen von Eurystoma angulare, woraus die räumliche Verteilung von Integument, Megasporangium (Nucellus) und Megaspore hervorgeht. Die wichtigsten Ereignisse, die zur Samenevolution geführt haben, waren (1) der Verbleib der Megaspore (und damit auch des Megagametophyten) im Megasporangium des elterlichen Sporophyten und (2) der Einschluß des Megasporangiums in eine Schutzhülle, das Integument.

(b) Abb. 16-13 (a) Rekonstruktion eines Cupulae tragenden Zweiges von Archeosperma amoldii, einer Pflanze mit samenartigen Gebilden aus dem späten Devon. Die Cupulae sind paarweise angeordnet und jede Cupula enthält zwei Samen, (b) Schematische Darstellung des Samens, aus der sich die

(c) Lage der Megaspore im Samen ergibt, (c) Megaspore, durch Mazeration (s. Kap. 16.1.1) aus dem Samen freigelegt. Diese Fossilien zeigen, daß Samenpflanzen bereits vor ungefähr 350 Millionen Jahren existiert haben.

342

TEIL

4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

silen Pflanzengruppen nachgewiesen worden ist. Die primären Leitgewebe und die dazugehörigen Grundgewebe können auf dreierlei Art angeordnet sein: (1) als Protostele, welche nur aus einer zentralen Leitgewebesäule besteht; (2) als Siphonostele, die ein Mark enthält, welches von Leitgewebe röhrenförmig umgeben ist; und (3) als Eustele, die aus einem System von Leitgewebesträngen besteht, die ein Mark umgeben und voneinander durch Grundgewebe getrennt sind. Die Wurzeln haben sich aus den unterirdischen Teilen des primitiven Pflanzenkörpers entwickelt. Die Blätter entstanden auf mehr als eine Weise. Die Mikrophylle, einnervige Blätter, deren Blattspuren keine Blattlücken hinterlassen, entstanden als oberflächliche, seitliche Auswüchse der Sproßachse. Die Megaphylle, Blätter mit komplexer Nervatur und Blattspuren, die Blattlücken in der Stele hinterlassen, entstanden aus Zweigsystemen. Mikrophylle entstehen immer an Sproßachsen mit Protostelen, Megaphylle hingegen an solchen mit Siphonostelen und Eustelen. Die Gefäßpflanzen sind entweder isospor (homospor) oder heterospor. Die homosporen (gleichsporigen) Pflan-

zen bilden nur eine Sporenart, aus der ein gemischtgeschlechtiger Gametophyt entsteht. Die heterosporen (verschiedensporigen) Pflanzen bilden Mikrosporen und Megasporen, aus denen nach Keimung männliche bzw. weibliche Gametophyten entstehen. Die Gametophyten der heterosporen Pflanzen sind in ihrer Größe stark reduziert, verglichen mit denen der isosporen Pflanzen. In der Entwicklungsgeschichte der Gefäßpflanzen ist Heterosporie mehrfach entstanden. Im Laufe der Evolution ist der Gametophyt immer kleiner und im Bau weniger kompliziert geworden; am ausgeprägtesten ist diese GametophytenReduktion bei den Angiospermen. Die primitiven Gefäßpflanzen besitzen Antheridien und Archegonien; diese sind aber bei einigen Gymnospermen und allen Angiospermen verlorengegangen. Ein Same ist ein Gebilde, das aus einer reifen Samenanlage hervorgeht. Nach der Befruchtung wird ein Embryo, ein junger Sporophyt, gebildet, und das Integument oder die Integumente der Samenanlage wandeln sich in eine Samenschale um. Die ältesten Samenpflanzen, die man kennt, stammen aus dem späten Devon, haben also vor ungefähr 350 Millionen Jahren gelebt.

Abb. 17-1 Rekonstruktion eines Steinkohlenwaldes mit Lepidodendron (Schuppenbaum; die hohen Bäume, von links bis hin zur Mitte), Sigillaria (Siegelbaum; die wenig verzweigten Bäume mit endständigen Blattbüscheln; in der Mitte), Calamites (die riesigen Schachtelhalme), Cordailes (rechts) und Baumfarnen (im Vordergrund, von links bis hin zur Mitte). Lepidodendron und Sigillaria waren b a u m f ö r m i g e Bärlappgewächse. Cordailes war ein reich verzweigter Baum mit zapfenähnlichen, samenhaltigen Gebilden, unseren heutigen N a delbäumen verwandt (siehe: Steinkohlenpflanzen, S. 358).

Kapitel 17 Samenlose Gefäßpflanzen

Die Gefäßpflanzen kann man künstlich in zwei Hauptgruppen unterteilen: die samenlosen Gefäßpflanzen und die Samenpflanzen. Von den samenlosen Gefäßpflanzen haben wir im vorigen Kapitel drei der gänzlich ausgestorbenen Abteilungen besprochen. In diesem Kapitel werden wir die 4 Hauptabteilungen der samenlosen Gefäßpflanzen besprechen, von denen es noch rezente Vertreter gibt: die Psilophyta, die Lycophyta, die Sphenophyta und die Pterophyta. Die größte Gruppe sind die Farne, die Pterophyta, mit ungefähr 12000 über die ganze Erde verbreiteten Arten.

17.1 Abteilung Psilophyta - Urfarne Zu den Psilophyta (Urfarne) gehören nur zwei lebende Gattungen, Psilotum und Tmesipteris. Psilotum kommt in den Tropen und Subtropen vor. In den USA findet man es in Florida, Louisiana, Arizona, Texas, Puerto Rico und auf Hawaii. Tmesipteris ist auf Australien, Neu-Kaledonien, Neuseeland und andere südpazifische Inseln beschränkt. Früher rechnete man Psilotum und Tmesipteris zu selben Gruppe wie Rhynia und Psilophyton. Neuere paläobotanische Forschungsergebnisse haben jedoch zu einer systematischen Neueinordnung der beiden fossilen Gattungen geführt. Seit kurzem vermutet man sogar, daß Psilotum und Tmesipteris eigentlich primitive Farne sind. Wegen ihrer einfach gebauten Sporophyten werden sie in diesem Buch einer eigenen Abteilung zugeordnet. Psilotum ist unter den lebenden Gefäßpflanzen einzigartig, denn ihm fehlen sowohl Blätter als auch Wurzeln. Der Sporophyt besteht aus einem dichotom verzweigten oberirdischen Teil mit kleinen, schuppenförmigen Auswüchsen, und einem verzweigten unterirdischen Teil mit Rhizoiden, dem Rhizom (Abb. 17-2). In den äußeren Rindenzellen des Rhizoms treten Pilze auf, die eine Mykorrhiza bilden. Die Stele von Psilotum (Abb. 17-3) wird von manchen Morphologen als Protostele, von anderen als Siphonostele angesehen. Die Schwierigkeit, dies zu entscheiden, liegt in der Natur des inneren Stelengewebes - es

346

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Abb. 17-2 Psilotum nudum. (a) Habitus (charakteristisches Aussehen) des Sporophyten mit Rhizom und dichotom verzweigtem, oberirdischen Trieb, (b) Vergrößerter Ausschnitt aus dem oberirdischen Teil, mit Sporangien (zu dritt vereint) und schuppenförmigen Auswüchsen.

Stoma

Rinde

(a)

h

500 f o n

100 u m

Abb. 17-3 Psilotum nudum. (a) Querschnitt durch die Sproßachse mit ausdifferenzierten Geweben, (b) Ausschnitt aus der quer geschnittenen Stele, mit Xylem und Phloem.

ist ungewiß, ob es sich dabei um Xylem (Leitgewebe) oder sklerifiziertes Mark (Grundgewebe) handelt. Psilotum ist isospor. Die Sporen entstehen in Sporangien, die am Ende kurzer Seitentriebe stehen (Abb. 17-4). Nach der Keimung entstehen aus den Sporen unterirdische, gemischtgeschlechtige Gametophyten, die Teilen des Rhizoms ähnlich sind (Abb. 17-5). Genau wie das Rhizom, so lebt auch der Gametophyt in Symbiose mit

einem Mykorrhizapilz. Darüber hinaus besitzen manche Gametophyten Leitgewebe. Die Spermatozoiden von Psilotum sind vielgeißelig und benötigen Wasser, um zur Eizelle schwimmen zu können. Anfangs ist der Sporophyt im Gametophyten mit einem Fuß verankert, einem Gebilde, mit dem er Nahrung vom Gametophyten resorbieren kann. Schließlich löst sich der Sporophyt vom Fuß und dieser bleibt im Gametophyten zurück.

KAPITEL

Abb. 17-4 Psilotum nudum. Längsschnitt durch Teile zweier Sporangien mit reifen Sporen. Unterhalb der Sporangien befindet sich ein schuppenförmiges Anhängsel.

17

Samenlose Gefäßpflanzen

347

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Rhizoide schuppenförmiges Anhängsel

(a) Abb. 17-5 Psilotum nudum. (a) Gemischtgeschlechtiger Gametophyt mit Antheridien und Archegonien. (b) Vergrößerter Ausschnitt aus dem Gametophyten.

500 (x m Abb. 17-6 (a) Tmesipteris parva, auf dem Stamm des Baumfarnes Cyathea australis in Neusüdwales, Australien, (b) T. lanceolata, aus Neukaledonien.

Tmesipteris wächst epiphytisch auf Baumfarnen und anderen Pflanzen (Abb. 17-6). Die blattartigen Anhängsel von Tmesipteris sind größer als die schuppenförmigen Auswüchse von Psilotum und werden von einigen Morphologen als kleine abgeplattete Seitentriebe angesehen, nicht als Mikrophylle. Im übrigen ist Tmesipteris im wesentlichen Psilotum ähnlich.

17.2 Abteilung Lycophyta - Bärlappgewächse Die zur Abteilung Lycophyta (Bärlappgewächse) gehörenden fünf lebenden Gattungen (von denen hier aber Phylloglossum und Stylites nicht besprochen werden) mit ungefähr 1000 rezenten Arten sind Vertreter einer Entwicklungslinie, die bis ins Devon zurückreicht. Die Vorfahren der Lycophyta scheinen Zosterophyllum-ähnliche

348

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Pflanzen (siehe Abb. 16-3) gewesen zu sein. Die Lycophyta haben sich schon früh in zwei Hauptgruppen aufgespalten. Die eine Gruppe blieb krautig und kommt noch in der heutigen Flora vor. Die andere Gruppe, die Lepidodendriden (Schuppenbäume), verholzte und wurde baumförmig. Die Lepidodendriden gehörten zu den dominierenden Pflanzen der Steinkohlenwälder des Karbons (Abb. 17-1), starben aber im Perm, also vor ungefähr 280 Millionen Jahren, aus. Einige von ihnen besaßen samenartige Gebilde, analog denen der heutigen Samenpflanzen.

17.2.1 L y c o p o d i u m - Bärlapp Die wohl bekanntesten lebenden Vertreter der Lycophyta sind die Bärlappe (Lycopodium). Zu dieser Gattung gehören ungefähr 200 Arten, mit einem Verbreitungsgebiet, das sich von arktischen Regionen bis hin zu den Tropen erstreckt. Nur selten sind die Bärlappe auffällige Elemente von Pflanzengemeinschaften. Die meisten tropischen Arten sind Epiphyten; man nimmt sie deshalb kaum wahr. In den gemäßigten Breiten bilden viele Lycopodium-Arten auf dem Waldboden deutlich sichtbare Matten; weil sie immergrün sind, sieht man die Bärlappe dort am deutlichsten im Winter. Der Sporophyt von Lycopodium besteht aus einem sich verzweigenden Rhizom, von dem oberirdische Triebe und

HP

s*

Abb. 17-7 Lycopodium obscurum, Habitus des Sporophyten. Man sieht das Rhizom und die oberirdischen Triebe mit den Mikrophyllen. Vom Rhizom gehen Adventivwurzeln aus. An den Spitzen der oberirdischen Triebe kann man drei junge, ährenförmige Sporophyllstände erkennen. Phloem

(a)

1

500 u m

Abb. 17-8 Lycopodium. (a) Querschnitt durch die Sproßachse mit ausdifferenziertem Gewebe, Stele und Blattspuren. Eine Blattspur ist ein Leitbündel, welches die Leitgewebe der Sproßachse mit denen der Blattbasis verbindet, (b) Protoste-

le, mit Xylem und Phloem (farbig hervorgehoben); Ausschnitt aus (a). Beide, Sproßachse und Wurzel von Lycopodium besitzen eine Protostele.

KAPITEL

Adventivwurzeln ausgehen (Abb. 17-7). Die meist spiralig angeordneten Blätter sind Mikrophylle. Stamm und Wurzel haben Protostelen (Abb. 17-8). Lycopodium ist isospor. Die Sporangien stehen einzeln auf der Oberfläche fertiler Mikrophylle, den sog. Sporophyllen, modifizierte Blätter oder blattähnliche Organe, die Sporangien tragen (Abb. 17-9). Bei einigen Arten ähneln die Sporophylle normalen Mikrophyllen und sind zwischen den sterilen Mikrophyllen verteilt (Abb. 1710 a). Bei anderen Arten hingegen sind photosynthetisch inaktive Sporophylle an den Spitzen der oberirdischen Triebe zu ährenförmigen Sporophyllständen vereint (Abb. 17-1 Ob). Nach der Keimung entstehen aus den LycopodiumSporen gemischtgeschlechtige Gametophyten, die Prothallien. Je nach Art sind dies entweder grüne, unregelmäßig gelappte Gewebekörper oder unterirdische, sich verzweigende Gebilde ohne Chlorophyll. Wie die Gametophyten von Psilotum und Tmesipteris, so leben auch die unterirdischen Ljro/wc/iwm-Gametophyten in Symbiose mit einem Pilz. Die Entwicklung und Reifung der Antheridien und Archegonien des Lyco/wd;«m-Gametophyten dauert 6 bis 15 Jahre. Einige unterirdische Prothallien werden sogar 25 Jahre alt. Sie können mehrere Sporophyten in nacheinander angelegten Archegonien bilden.

Abb. 17-10 Bei einigen LycopodiumArten sind die Sporophylle zu ährenförmigen Sporophyllständen vereint, bei anderen hingegen stehen sie zwischen sterilen Mikrophyllen. (a) Lycopodium lucidulum, ohne Sporophyllstände. (b) Lycopodium clavatum (Kolben-Bärlapp) mit ährenförmigen Sporophyllständen.

17

Samenlose Gefäßpflanzen

349

Sporangium

Sporophyll

500 ¡im Abb. 17-9 Lycopodium. Längsschnitt durch einen reifen Sporophyllstand. Auf jedem Sporophyll sitzt ein einziges Sporangium. Lycopodium ist isospor, bildet also nur eine Sporensorte. Alle Sporen sind gleich groß.

350

TEIL 4

F o r m e n m a n n i g f a l t i g k e i t der O r g a n i s m e n

Abb. 17-11 Entwicklungszyklus des Bärlapps (Lycopodium). Lycopodium ist ein isospores Bärlappgewächs - der Sporophyt bildet also nach der Meiose nur eine Sorte Sporen. Eine solche Spore keimt zu einem Gametophyten (Prothallium) aus, an welchem Antheridien und Archegonien entstehen. Jedes Archegonium enthält eine Eizelle, jedes Antheridium bildet zahlreiche, zweigeißlige, bewegliche Spermatozoiden. Die

Gametophyten (Prothallien) einiger Lycopodium-Arten leben unterirdisch und benötigen zum normalen Wachstum die Symbiose mit einem Mykorrhizapilz. Zur Befruchtung ist Wasser notwendig. Die Spermatozoiden schwimmen im Wasser zum Archegonium hin. Die Eizelle wird befruchtet, und die Zygote entwickelt sich im Archegonium zum Embryo, ähnlich wie bei manchen Samenpflanzen. Archegonien

Sporangium

Gametophyt (Prothallium)

Syngamie

Meiose sporogenes Gewebe

junger Sporophyt Sporangium

Sporophylle

Gametophyt

Sporophyt

KAPITEL

Abb. 17-12 Lycopodium. Gametophyt (Prothallium) mit daran festsitzendem jungen Sporophyten.

Zur Befruchtung ist Wasser erforderlich. Die zweigeißligen Spermatozoiden schwimmen durchs Wasser zum Archegonium und wandern dann durch dessen Hals zur Eizelle. Die Eizelle wird befruchtet und aus der Zygote entsteht ein Embryo, der im Bauch des Archegoniums heranwächst. Der junge Sporophyt kann mit dem Gametophyten lange Zeit verbunden bleiben (Abb. 17-12), schließlich jedoch wird er eine unabhängige Pflanze. Der Entwicklungszyklus von Lycopodium ist in Abb. 17-11 dargestellt. Lycopodium ist eine der drei lebenden Lycophyta-Gattungen, die in diesem Buch besprochen werden.

17.2.2 Selaginella - Moosfarn Selaginella (Moosfarn) ist die lebende Lycophyta-Gattung mit den meisten Arten, ungefähr 700. Sie leben meist

17

Samenlose Gefäßpflanzen

351

(b) Abb. 17-13 (a) Selaginella kraussiana, eine niederliegende, kriechende Pflanze. Am Ende färb- und blattloser Sprosse (Rhizophoren) entspringen Wurzelbüschel. Die Rhizophoren entspringen an den Gabelungsstellen der beblätterten Stengel, (b) Selaginella rupestris mit ährenförmigen Sporophyllständen.

in den Tropen. Viele von ihnen wachsen an feuchten Orten. Einige wachsen auch in Wüsteil, treten aber während der trockensten Zeit des Jahres in einen Ruhezustand, so z. B. Selaginella lepidophylla, die „Falsche Rose von Jericho". Diese aus Mexiko stammende Pflanze erstreckt sich nördlich bis nach Texas und Neu-Mexiko. Bei Trockenheit rollen sich die Stengel ein und der trockene Ballen kann so jahrelang verharren; bei ausreichender Feuchtigkeit breitet er sich wieder zu einer dunkelgrünen Rosette aus. In den Grundzügen ist der Sporophyt von Selaginella dem Lycopodium-Sporophyten ähnlich. Auch er trägt Mikrophylle und seine Sporophylle sind zu ährenförmigen Sporophyllständen vereint (Abb. 17-13). Anders als bei Lycopodium befindet sich bei Selaginella am Grunde der Blattoberseite (sowohl der sterilen Mikrophylle als auch der Sporophylle) ein kleiner, häutiger, chlorophyllfreier,

352

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

1

500 /x m

1

Abb. 17-14 Selaginella. Teil des ährenförmigen Sporophyllstandes. Rechts befinden sich Megasporangien mit Megasporen, links sind Mikrosporangien mit Mikrosporen zu sehen. Am Grunde der Blattoberseite einiger Sporophylle kann man eine Ligula (Pfeil) erkennen.

Abb. 17-15 Selaginella. (a) Querschnitt durch die Sproßachse mit ausdifferenzierten Geweben. Die Protostele befindet sich im Zentrum des Stämmchens, gehalten von langgestreckten Rindenzellen (endodermale Zellen), den sogenannten Trabeculae. (b) Ausschnitt aus der Protostele mit Xylem und Phloem.

schuppenförmiger Epidermisauswuchs, die Ligula (Abb. 17-14). Stämmchen und Wurzel besitzen eine Protostele (Abb. 17-15). Lycopodium ist isospor, Selaginella hingegen heterospor. Dies ist der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Gattungen. Bei Selaginella trägt jedes Sporophyll an seiner Oberseite ein einzelnes Sporangium. Die Megasporangien entstehen auf Megasporophyllen, die Mikrosporangien auf Mikrosporophyllen. Beide Sporangiensorten treten im selben Sporophyllstand auf (Abb. 17-14). Die heterospore Selaginella bildet eingeschlechtige Gametophyten (Prothallien) (Abb. 17-17a). Aus jeder Mikrosporenmutterzelle entstehen durch Meiose vier Mikrosporen, aus denen die männlichen Gametophyten (Mikrogametophyten) hervorgehen. Der männliche Gametophyt entwickelt sich in der Mikrospore und besitzt kein Chlorophyll. Im reifen Zustand besteht er aus einer einzigen Prothalliumzelle (vegetative Zelle) und einem Antheridium, in dem zahlreiche, rundliche Spermatiden entstehen, die sich zu zweigeißligen Spermatozoiden entwickeln. Die Mikrosporenhaut muß aufplatzen, damit die Spermatozoiden ins Freie gelangen können. Während der Entwicklung des weiblichen Gametophyten (Megagametophyt) reißt die Megasporenwand an drei Sporenkanten auf, und der Gametophyt tritt an diesen Stellen etwas nach außen hervor und bildet drei kleine Gewebehöcker. Dies sind die Teile des weiblichen Gametophyten, an denen die Archegonien entstehen. Es ist zwar beobachtet worden, daß die weiblichen Gametophyten manchmal Chloroplasten entwickeln, es sieht jedoch so aus, als würden sie ihre Nahrung weitgehend von den Reservestoffen der Megasporen beziehen. Die Spermatozoiden benötigen Wasser, damit sie zu den Archegonien schwimmen und die Eizellen befruchten können. Die Befruchtung findet normalerweise erst statt, nachdem die Gametophyten vom ährenförmigen Sporo-

Rinde

Epidermis Xylem

Trabeculae

Trabeculae

KAPITEL

Mikrogametophyt (innerhalb der M ikrosporenwand )

17

Samenlose Gefäßpflanzen

353

Spermatiden Spermatozoiden

M i k r o s p u r e n ¿èpe

Archegonium \ Eizelle

Spermatozoid

Megasporen

Mikrosporangium

Megasporangium

Megagametophyt (innerhalb der M e g a s p o r e n w a n d )

Meiose

Syngamie

Apikaimeristem

Suspensor

Sproß| spitze

Megasporangium

embryonale Wurzel Mikrosporenmutterzelle

M ikrosporangium

junger Sporophyt. während der frühen Entwicklungsphase vom Megagametophytengewebe umhüllt

Sporophyt

Abb. 17-16 Entwicklungszyklus von Selaginella (Moosfarn), einem heterosporen Bärlappgewächs. Auf dem Sporophyten entstehen zwei Sorten von Sporangien. In diesen werden entweder Mikro- oder Megasporen gebildet. Diese entwickeln sich dann zu zwei morphologisch verschiedenen Gametophyten, die beide kleiner als der reife Sporophyt sind. Der junge

Sporophyt ist - genau wie bei den Samenpflanzen - vom Gewebe des Megagametophyten umschlossen. Die Hauptnahrungsquelle für den heranwachsenden Embryo sind die im Megagametophyten gespeicherten Reservestoffe. Bei der Embryoentwicklung von Selaginella fehlt ein Ruhestadium, wie es bei vielen Samenpflanzen üblich ist.

phyllstand ausgestreut worden sind. Bei der Embryoentwicklung von Lycopodium und von Selaginella wird ein Suspensor (Embryoträger) gebildet. Er ist bei Lycopodium und einigen Selaginella-Arien ohne Funktion; bei anderen Selaginella-Arten hingegen dient er dazu, den heranwachsenden Embryo tief im nährstoffreichen Gewebe des weiblichen Gametophyten zu verankern. Allmählich tritt

der heranwachsende Sporophyt aus dem Gametophyten hervor (Abb. 17-17 b) und entwickelt sich zu einer selbständigen Pflanze. Der Entwicklungszyklus von Selaginella, einer zweiten lebenden Lycophyta-Gattung, ist in Abb. 17-16 dargestellt.

354

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

17.2.3 Isoetes - Brächsenkraut

20(1 um

Ein ganz anderer Vertreter der Lycophyta ist Isoetes, das Brachsenkraut. Der Sporophyt dieser im Wasser oder amphibisch lebenden Gattung besteht aus einem kurzen, fleischigen, unterirdischen Stamm, der an seiner Oberseite eine dichte Rosette pfriemförmiger Blätter trägt, und an dessen Unterseite dichotom verzweigte Wurzeln entspringen (Abb. 17-18). Die Blätter von Isoetes sind zwar relativ lang, sie werden aber dennoch als Mikrophylle angesehen. Sie sind nämlich einnervig und ihre Blattspuren hinterlassen keine Blattlücken. Jedes Blatt ist ein potentielles Sporophyll. Isoetes ist, genau wie Selaginella, heterospor. Die Megasporangien entstehen an der Basis der äußeren Blätter der Rosette. Auf den weiter innen gelegenen, jüngeren Blättern entstehen die Mikrosporangien (Abb. 17-19). Direkt über dem Sporangium eines jeden Sporophylls befindet sich eine Ligula. Eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale von Isoetes ist der Besitz eines Cambiums, durch das der Stamm sekundär in die Dicke wächst. Nach außen gibt das Cambium nur Parenchymgewebe ab, nach innen zu bildet es ein besonderes Leitgewebe aus Siebelementen, Parenchymzellen und Tracheiden in unterschiedlicher Menge.

Wurzel

Wand

200 /um

Abb. 17-17 Selaginella (a) Weiblicher (?) Gametophyt und männliche (o) Gametophyten. Der viel größere, weibliche Gametophyt ist aus der Megaspore herauspräpariert worden. Ein Teil der Megasporenwand ist unten links im Bild zu sehen. (b) Junger, aus dem weiblichen Gametophyten herauswachsender Sporophyt. Beachten Sie die vielen Mikrosporen, die an Blatt und Wurzel des Sporophyten haften.

Abb. 17-18 Isoetes muricata, Habitus des Sporophyten. Man erkennt die Wurzeln, den kurzen Stamm und die pfriemförmigen Blätter.

KAPITEL

17

Samenlose Gefäßpflanzen

355

17.3 Abteilung Sphenophyta Schachtelhalmgewächse Mikrosporangium

Megasporangium

Stamm

Wurzeln

Abb. 17-19 Zeichnung eines Längsschnittes durch eine Isoetes-Pflanze (Brachsenkraut). Blätter entstehen an der Oberseite und Wurzeln an der Unterseite eines kurzen, fleischigen, unterirdischen Stammes. Einige Blätter (Megasporophylle) tragen Megasporangien und andere (Mikrosporophylle) Mikrosporangien. Die Mikrosporophylle befinden sich näher am Zentrum der Pflanze.

Abb. 17-20 Equisetum. (a) Fertile Sprosse von E. arvense (Acker-Schachtelhalm), jeder mit einem endständigen, zapfenförmigen Sporophyllstand. An jedem Knoten entspringt ein Quirl schuppenförmiger Blätter, (b) Reich verzweigte vegetative Sprosse von E. hyemale (Winter-Schachtelhalm).

Genau wie die Lycophyta, so reichen auch die Sphenophyta (Schachtelhalmgewächse) bis ins Devon zurück. Die Sphenophyta waren am stärksten im späten Paläozoikum vertreten, also vor ungefähr 300 Millionen Jahren. Damals besaßen sie auch ihren größten Artenreichtum. Im oberen Devon und im Karbon waren sie durch die Gattung Calamites vertreten - baumförmige Schachtelhalme, die etwa 15m hoch waren und einen Stammdurchmesser von über 20 cm erreichten. Heute bestehen die Sphenophyta nur noch aus einer einzigen, krautigen Gattung, Equisetum, mit 15 Arten. Equisetum (Schachtelhalm) ist weit verbreitet, man findet es an feuchten Orten, an Bächen oder an Waldrändern (Abb. 17-20). Die Schachtelhalme sind leicht zu erkennen, an ihren wirteligen Ästen und ihrer rauhen Oberfläche. Die kleinen, schuppenförmigen Blättchen, die Mikrophylle, sitzen zu Quirlen vereint an den Knoten. An ihrer Basis sind sie miteinander zu einer den Stengel umhüllenden Scheide verwachsen. Wenn Seitenzweige vorhanden sind, so entspringen sie nicht in den Blattachseln, sondern seitlich zwischen den Mikrophyllen. Blättchen und Seitentriebe alternieren also miteinander. Die Internodien (die zwischen den Knoten liegenden Teile des Stengels) sind gerippt. Die Rippen sind fest und besitzen in den Epidermiszellen Kieselsäureablagerungen. Die unverzweigten Schachtelhalmarten sind aus diesem Grunde in

356

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

collatérales L e i t b ü n d e l

Epidermis

Rinde

Carinalkanal Vallecularkanal

'

Abb. 17-21 Equisetum. zierten Stengel.

500 (xm

Querschnitt durch den ausdifferen-

Phloem

'

Endodermis

(b)

!

50.iim

Abb. 17-22 Equisetum. Ausschnitt aus einem collateralen Leitbündel mit Xylem, Phloem und Carinalkanal.

f

=,00 ix m

Abb. 17-23 Equisetum arvense (Acker-Schachtelhalm), (a) Reifer zapfenförmiger Sporophyllstand, mit tischförmigen Sporophyllen (dunkel) und den daran sitzenden Sporangien (hell), (b) Längsschnitt durch den zapfenförmigen Sporophyllstand. M a n kann die Sporophylle und die unreifen Sporangien erkennen. Beim mittleren Sporophyll erkennt man deutlich das „Bein" des „Tischchens".

KAPITEL

17 Samenlose Gefaßpflanzen

357

Abb. 17-24 Sporen von Equisetum telmateia (Riesen-Schachtelhalm) im trockenen (links) und im feuchten (rechts) Zustand. Wenn eine Spore auf einen Boden fällt, der für die Keimung zu trocken ist, so bleiben die Hapteren ausgebreitet, und die Spore kann durch den Wind weiterverbreitet werden.

früheren Zeiten zum Putzen von Zinngefäßen verwendet worden; daher der N a m e „Zinnkraut". Die Wurzeln sind Adventivwurzeln, sie entstehen an den Knoten der Rhizome. Die oberirdischen Triebe von Equisetum entspringen verzweigten, unterirdischen Rhizomen. Die oberirdischen Triebe können während ungünstiger Jahreszeiten absterben, die Rhizome aber sind ausdauernd. Die Anatomie der oberirdischen Stengel ist ziemjich kompliziert (Abb. 17-21). Im reifen Zustand besitzen die Internodien im Inneren eine Markhöhle, die von einem Ring kleinerer Kanäle umgeben wird. Diese sog. Carinalkanäle entstehen im Xylem der konzentrisch angeordneten collateralen Leitbündel (Abb. 17-22). Auch in der Rinde entsteht ein Kreis von Kanälen, die sog. Vallecularkanäle. Equisetum ist isospor. Die Sporangien entstehen in Gruppen von 5 - 1 0 an den Rändern der Sporophylle, welche die Form einbeinigerTischchen haben. Diese sind an den Triebenden zu zapfenförmigen Sporophyllständen vereint (Abb. 17-23). Die fertilen Sprosse einiger Arten besitzen kein Chlorophyll. Diese Sprosse unterscheiden sich somit deutlich von den vegetativen und erscheinen oftmals vor diesen im zeitigen Frühjahr (siehe 17-20a). Bei anderen Arten entstehen die zapfenförmigen Sporophyllstände an der Spitze normaler vegetativer Sprosse. Wenn die Sporen reif sind, ziehen sich die Sporangien zusammen und springen durch einen Längsriß an der Innenseite auf. Sie entlassen dann zahlreiche Sporen. Der aus Endospor und Exospor bestehenden Sporenwand wird ein mehrschichtiges Perispor aufgelagert. Dessen äußere Schicht besteht aus zwei, an ihren Enden spateiförmig verbreiterten Spiralbändern, den Hapteren. Diese breiten sich bei Trockenheit aus und rollen sich bei Feuchtigkeit ein. Die Hapteren spielen auf diese Weise vermutlich eine Rolle bei der Sporen Verbreitung (Abb. 17-24).

Die Gametophyten (Prothallien) von Equisetum sind grün und frei lebend; meist sind sie stecknadelkopfgroß. Es gibt zweierlei Gametophyten: rein männliche oder gemischtgeschlechtige. Bei den gemischtgeschlechtigen Gametophyten entstehen die Archegonien vor den Antheridien (Abb. 17-25); dies begünstigt eine Fremdbefruchtung. Die schraubenförmigen Spermatozoiden besitzen zahlreiche Geißeln und benötigen Wasser, u m zur Eizelle zu gelangen. Auf einem Gametophyten können die Eizellen mehrerer Archegonien befruchtet werden und zu Embryonen (jungen Sporophyten) heranwachsen.

Antheridium

Rhizoid

Archegonium

Abb. 17-25 Equisetum. Gemischtgeschlechtiger Gametophyt mit Antheridien, Archegonien und Rhizoiden.

358

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Steinkohlenpflanzen Bei der Photosynthese verwenden Pflanzen und Algen Sonnenenergie, um Kohlendioxid und Wasser in Kohlenhydrate umzuwandeln. Diese Kohlenhydrate werden dann oxidiert; entweder von den Pflanzen selbst, von den heterotrophen Organismen, welche die Pflanzen fressen, durch Verwesung oder seltener durch Feuer (z. B. Waldbrand). Im Laufe der Oxidation entsteht wieder Kohlendioxid. Jährlich werden ungefähr 100 Milliarden Tonnen Kohlendioxid bei der Photosynthese verarbeitet. Ungefähr dieselbe Menge (mit Schwankungen um 1/10000) Kohlendioxid gelangt durch Oxidation lebenden Materials wieder in die Luft zurück. Die kleine Differenz zwischen Kohlendioxidverbrauch und -rückbildung resultiert daraus, daß einige Organismen von Sedimenten oder Schlamm begraben werden; sie befinden sich dann unter Sauerstoffausschluß und werden nur zum Teil abgebaut. Ansammlungen von teilweise verwestem organischen Material (z. B. Torf) können schließlich von Sedimentgestein bedeckt und auf diese Weise großem Druck ausgesetzt werden. In Abhängigkeit von der Zeit, der Temperatur und anderen Faktoren kann das organische Material dabei zu Braunkohle, Steinkohle, Petroleum oder Erdgas - den sog. fossilen Brennstoffen - komprimiert werden. Während bestimmter Erdzeitalter wurden mehr fossile Brennstoffe gebildet als zu anderen Zeiten. Eines dieser Zeitalter ist das Karbon, das ungefähr 300 Millionen Jahre zurückliegt (siehe Abb. 17-1). Damals war das Land eben und mit flachen Seen oder Sümpfen übersät. In den heutigen gemäßigten Breiten Europas und Nordamerikas gab es das ganze Jahr über günstige Wachstumsbedingungen. Euramerika war tropisch bis subtropisch, und der Äquator verlief quer über die Appalachen, über Nordeuropa und durch die Ukraine. Fünf Pflanzengruppen beherrschten die Sumpfmoore: drei Gruppen samenloser Gefäßpflanzen - die Lycophyta, Sphenophyta und Pterophyta - und zwei Gruppen gymnospermer Samenpflanzen - die Samenfarne (Pteridospermales) und die Cordaiten (Cordaitales). Weil sie eine so große Rolle in der Steinkohlenflora gespielt haben, werden die Samenfarne und die Cordaiten an dieser Stelle, und nicht erst in Kapitel 18 (Samenpflanzen) besprochen. Bärlappbäume Zwei Drittel des Oberkarbons (Pennsylvanian) waren beherrscht von Bärlappbäumen (Lepidodendren), die meist 10 bis 25 m hoch und nur wenig verzweigt waren (a). Wenn die Pflanzen mehr als die Hälfte ihrer endgültigen Höhe erreicht hatten, verzweigte sich ihr Stamm dicho-

I * t\< • l•

(a) Einer der dominierenden Bäume des K a r b o n s war Lepidodendron, ein Bärlappbaum von 10 bis 25 m Höhe. Die Lepidodendren sind fossil so gut erhalten geblieben, d a ß die Paläobotaniker hieraus einen großen Einblick in die Entwicklung der Pflanzen erhalten konnten.

tom. Durch weitere Verzweigung entstanden nach und nach immer kleinere Äste, bis schließlich die Gewebe der Zweigspitzen ihr Wachstum einstellten. Die Zweige trugen lange Blätter, die nach dem Blattfall Blattnarben zurückließen. Die Bärlappbäume hatten zwar das Aussehen von Bäumen, waren aber in Wirklichkeit riesige krautige Pflanzen, die hauptsächlich von einer dicken Rinde getragen wurden, die einen ziemlich kleinen Xylemteil umgab. Weil es Flachwurzler waren, wurden diese riesigen Sumpfpflanzen leicht vom Wind umgeworfen. Die Bärlappbäume waren - wie die heutigen Selaginellen - heterospor, und ihre Sporophylle waren zu Zapfen vereinigt. Einige Lepidodendren bildeten samenähnliche Gebilde. Als gegen Ende des Karbons die Sumpfmoore auszutrocknen begannen, und das Klima anfing sich zu verändern, verschwanden die Bärlappbäume fast über Nacht gemessen an der Dauer der Erdzeitalter. Im Karbon gab

KAPITEL

17 Samenlose Gefäßpflanzen

359

es auch krautige Lycophyten, ähnlich Lycopodium und Selaginella - zwei der fünf in unserer heutigen Flora noch existierenden Lycophyten-Gattungen. Riesenschachtelhalme Die Calamites oder Riesenschachtelhalme waren baumförmige Pflanzen, 18 m hoch oder mehr (siehe Abb. 17-1). Wie bei Equisetum, so bestand auch der Pflanzenkörper der Calamiten aus einem verzweigten oberirdischen Teil und einem unterirdischen Rhizom. Die Stämme waren wirtelig verzweigt und die Blätter zu Quirlen angeordnet. Auch der A u f b a u des Stammes war dem von Equisetum erstaunlich ähnlich, zeigte aber darüber hinaus noch eine mächtige Sekundärholzbildung, die für die Dicke des Stammes (Durchmesser bis zu 1 / 3 m) hauptverantwortlich war. Calamites bildete zapfenförmige Sporophyllstände. Die meisten Riesenschachtelhalme waren homospor, einige aber auch heterospor. Die Riesenschachtelhalme überlebten das K a r b o n nur relativ kurze Zeit, ähnlich wie die Bärlappbäume. Farne Die fossilen Farne kann man eindeutig heute lebenden primitiven Farnfamilien zuordnen. Das „Farnzeitalter" des Oberkarbons wurde von Baumfarnen wie Psaronius beherrscht. Dieser Farn war bis zu 7,5 m hoch und hatte eine sehr breite Stammbasis. Der Stamm verjüngte sich zur Spitze hin und endete in einem Schopf großer gefiederter Wedel. Weit oben am Stamm entsprangen Adventivwurzeln, die dann im äußeren Bereich des Stammes oder an seiner Oberfläche entlang nach unten wuchsen. Einige dieser Wurzeln erreichten schließlich den Boden und dienten der Pflanze als Stützstelzen. Samenpflanzen Die beiden restlichen Pflanzengruppen, welche die Sumpfmoore Euramerikas beherrschten, waren die Samenfarne und die Cordaiten. Überreste der Samenfarne sind in Gesteinsschichten des Karbons häufig. Ihre großen gefiederten Wedel waren so farnähnlich, d a ß man die Samenfarne lange Zeit für Farne gehalten hat (b). Im Jahre 1905 jedoch konnten F.W. Oliver und D . H . Scott zeigen, daß diese Pflanzen Samen getragen haben und demnach Gymnospermen waren. Die Samenfarne waren bis zu 5 m hoch und ihre Wedel entsprangen an der Spitze eines schlanken Stammes. Die Mikrosporangien und die Samen saßen auf den Wedeln. Die Samenfarne reichen bis ins Mesozoikum hinein. Bislang hat man angenommen,

(b) (b) Eine der interessantesten Gruppen der Gymnospermen sind die Samenfarne (Ordnung Pteridospermales). Überreste dieser bizarren Pflanzen sind in Gesteinsschichten des Karbons häufig und den Paläobotanikern seit über 100 Jahren bekannt. Ihre vegetativen Teile sind denen der Farne so ähnlich, daß man die Samenfarne lange Zeit den Farnen zugeordnet hat. Die Zeichnung zeigt eine Rekonstruktion des Samenfarnes Medullosa noei aus dem Karbon. Die Pflanze ist ungefähr 5 m hoch gewesen.

(c) (c) Zweigende der primitiven Conifere Cordaites mit langen, bandförmigen Blättern und zapfenförmigen Blütenständen.

360

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

daß die Samenfarne und die Farne einen gemeinsamen Vorfahren gehabt haben; in Abb. 16-4 ist jedoch eine andere, wahrscheinlichere Hypothese für ihre Abstammung dargestellt. Die Cordaiten waren im Karbon reichlich vertreten, sowohl in den Sümpfen, als auch an trockeneren Standorten (siehe Abb. 17-1). Es waren hohe (15 bis 30 m), reichverzweigte Bäume, die ausgedehnte Wälder bildeten. Ihre bis zu 1 m langen bandförmigen Blätter saßen, schraubig angeordnet, an den Spitzen der jüngsten Zweige (c). Das Zentrum des Stammes nahm ein breites Mark ein, und von einem Cambium aus wurde ein vollständiger Zylinder aus sekundärem Xylem gebildet. Auch das Wurzelsystem, an der Basis der Pflanze, enthielt sekundäres Xylem. Pollen und Samen wurden in getrennten (männlichen und weiblichen) zapfenförmigen Blütenständen gebildet. Die Cordaiten starben im Verlauf des Perms aus. Schlußbetrachtung Die dominierenden Pflanzen des Karbons - die Bärlappbäume und Riesenschachtelhalme - verschwanden kurz nach Ende dieses Zeitalters, im Perm, von der Erde. Das Perm war das Zeitalter weltweiter Trockenheit und ausgedehnter Vergletscherung. Nur die krautigen Verwandten der im Karbon so stark vertretenen Gehölze gediehen weiter und überlebten bis heute, genauso wie mehrere der im Karbon existierenden Farnfamilien. Die Samenfarne und Cordaiten starben schließlich aus. Nur eine Gruppe der im Karbon existierenden Gymnospermen, die Coniferen (damals jedoch keine dominierende Gruppe) überlebte und entwickelte im Verlauf des Perms neue Formen (siehe Abb. 16-4). Die heute lebenden Coniferen werden genauer in Kapitel 18 besprochen.

17.4 Abteilung Pterophyta - Farne Vom Karbon an gibt es viele Funde fossiler Farne, aus dem Devon jedoch sind noch keine bekannt. Ungefähr zwei Drittel der schätzungsweise 12000 heute lebenden Farnarten kommen in den Tropen vor; das andere Drittel lebt in den gemäßigten Breiten, auch in Wüstengebieten. Habitus und Standort der einzelnen Farne sind sehr unterschiedlich (Abb. 17-26). Einige Gattungen sehen für einen Farn recht untypisch aus; so z. B. Salvinia, ein Wasserfarn mit ungefähr 2 cm langen Blättern (Abb. 17-26d). Die größten Farne sind die Baumfarne (Abb. 17-26 b) z.B. Vertreter der Gattung Cyathea, von denen einige mehr als 24 m hoch werden können, mit Blättern von 5 m Länge oder mehr. Die Stämme dieser Baumfarne können einen Durchmesser von über 30 cm erlangen, bestehen aber dennoch nur aus Primärgewebe. Nur Botrychium, der relativ kleine Rautenfarn (Abb. 17-30d), besitzt ein Cambium. Die meisten Garten- und Waldfarne der gemäßigten Breiten besitzen fleischige, unterirdische Rhizome mit einer Siphonostele (Abb. 17-27 und 17-28). An diesen Rhizomen entstehen jedes Jahr neue Blätter. Adventivwurzeln entspringen am Rhizom in der Nähe der Blattbasen. Die Blätter (Wedel) sind Megaphylle und der auffälligste Teil des Sporophyten. Der Besitz von Megaphyllen ist einzigartig unter den samenlosen Gefäßpflanzen. Die Wedel sind normalerweise zusammengesetzt, d. h. die Blattspreite (Lamina) ist in Fiederblättchen unterteilt, die einer Spindel (Rhachis) ansitzen, der Verlängerung des Blattstieles (Petiolus). Bei fast allen Farnen (Ausnahme: Ophioglossales) sind die Blätter in der Knospe krummstabartig eingerollt, sie entwickeln sich akropetal (Abb. 17-29). Die Einrollung beruht darauf, daß das Blatt im frühen Entwicklungsstadium an seiner Unterseite schneller wächst als an seiner Oberseite. Dieses Wachstum wird von dem Wuchsstoff Auxin gesteuert, welcher von den jungen Fiederblättchen auf der Innenseite des „Krummstabes" gebildet wird. Bis auf einige Gattungen sind alle Farne isospor. Die Sporangien sitzen auf der Unterseite der Blätter. Oft gleichen die Sporophylle den sterilen Blättern, bei einigen Farnen kann man jedoch sterile und fertile Wedel unterscheiden. Andere Farne wiederum besitzen gespaltene, in einen sterilen und einen fertilen Abschnitt differenzierte Wedel. Die Sporangien sind meist gruppenweise vereint, zu sog. Sori. Bei vielen Gattungen sind die Sori von besonderen Auswüchsen des Blattes, den Indusien, bedeckt. Wenn die gestielten Sporangien reif sind, können diese Häutchen einschrumpfen (Abb. 17-30 und 17-31). Dann werden die reifen Sporen - das Ergebnis der Meiose in den Sporenmutterzellen - ausgeschleudert. Der Mechanismus

KAPITEL

17

Samenlose Gefäßpflanzen

361

Abb. 17-26 Farne, (a) Osmunda cinnamomea, verwandt mit unserem einheimischen, geschützten Königs-Rispenfarn - Osmunda regalis. (b) Baumfarne - Sphaeropteris glauca - von Java, (c) Phyllitis scolopendrium (Hirschzunge), ein geschützter, einheimischer Farn, (d) Salvinia natans (Gemeiner Schwimmfarn) und (e) Marsilea (Kleefarn), beides einheimische heterospore Wasserfarne.

362

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen Blattlücke

Epidermis

Mark

Perizykel

Phloëm

Siebelemente

Phloëm

Abb. 17-27 Adiantum (Lappenfarn), ein isosporer Farn. Querschnitt durch das Rhizom mit Siphonostele, die von einer einzelnen großen Blattlücke durchbrochen ist.

Rinde

Phloëm

Rinde

Endodermis

Abb. 17-28 Dicksonia, ein isosporer Farn. Rhizomquerschnitt, Ausschnitt aus dem Leitgewebe. Das Phloem besteht hauptsächlich aus Siebelementen. Das Xylem besteht nur aus Tracheiden.

Abb. 17-29 „Krummstabartig" eingerollte, junge Blätter des Rispenfarns Osmunda cinnamomea. Vor Jahren wurden die jungen eingerollten Blätter solcher Farne in den besten Hotels Neu-Englands und New Yorks als Delikatesse angeboten und sind an einigen Orten auch heute noch erhältlich.

KAPITEL

17

Samenlose Gefäßpflanzen

363

(b)

(c)

Abb. 17-30 Sori sind Gruppen von Sporangien auf der Unterseite von Farnblättern, (a) Bei Polypodium virginianum und anderen Farnen dieser Gattung (z. B. P. vulgare, Gemeiner Tüpfelfarn) sind die Sori nackt, (b) Bei Pellaea glabella (Nacktfarn; hier abgebildet), bei Pteridium aquilinum (Adlerfarn) und bei Adiantum (Lappenfarn) befinden sich die Sporangien am Rande der Fiederblättchen, deren Ränder sich nach unten einkrümmen und so schützend über die Sporangien legen, (c) Bei Dryopteris marginalis (Wurmfarn) befinden sich auf der Unterseite der Fiedern Sori, die von nie-

renförmigen Indusien ganz bedeckt werden, (d) Bei Botrychium virginianum (Virginische Mondraute) sitzen die kugeligen Sporangien am fertilen Abschnitt des Blattes, der in der oberen Blatthälfte abzweigt und sich deutlich vom sterilen Abschnitt des Blattes unterscheidet. Sporangien vieler Farne besitzen komplizierte Öffnungsmechanismen zur Sporenverbreitung und einschichtige Wände. Bei einigen primitiveren Gruppen von Farnen, z. B. bei Botrychium, reißen die Sporangien jedoch längs einer einfachen Reihe dünnwandiger Zellen auf. Diese Sporangien besitzen mehrschichtige Wände,

Sporangien Indusium

Abb. 17-31 Cyrtomium falcatum, ein isosporer Farn. Querschnitt durch ein Blatt mit Sorus auf der Unterseite. Die Sporangien befinden sich in verschiedenen Entwicklungsstadien und werden von einem schirmförmigen Indusium bedeckt.

364

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

(a) v

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Eizelle '

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Halskanal

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(b)

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/Ii/;. 17-32 Osmunda. (Rispenfarn). Gametangien. (a) Antheridien. In den beiden mittleren Antheridien sind die Spermatiden fast reif, (b) Archegonium.

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ist folgender: Jedes Sporangium besitzt einen Ring von Zellen mit ungleichmäßig verdickten Zellwänden, den Anulus. Beim Austrocknen kontrahieren sich die Anuluszellen, es entsteht an der Oberfläche des Sporangiums ein tangentialer Zug, und das Sporangium reißt an einer präformierten Stelle, dem Stomium, zwischen den beiden sog. Peristomiumzellen auf. Der Anulus biegt sich - gewissermaßen zum Ausholen - auf und schnellt in seine Ausgangslage zurück, wenn die Austrocknung die Adhäsion des Wassers in den Anuluszellen übersteigt. Dabei werden die Sporen weit fortgeschleudert. Obwohl viele der ausgestorbenen Farne heterospor waren, tritt Heterosporie heute nur noch bei zwei Gruppen von Wasserfarnen auf (Abb. 17-26d und e). Aus den Sporen der meisten isosporen Farne entstehen grüne, frei lebende, gemischtgeschlechtige Gametophyten. Der Gametophyt besteht anfangs aus einer kleinen, blaßgrünen Kette von Zellen, dem Keimfaden (Protonema). Unter dem Einfluß von Blaulicht entwickelt sich der Keimfaden dann zu einer flächigen, herzförmigen Struktur, dem Prothallium. Dies trägt an seiner Unterseite zahlreiche Rhizoide. Auf der Unterseite des Prothalliums entstehen auch die Antheridien und Archegonien (Abb. 17-32), u. zwar die Antheridien in der Regel früher als die Archegonien. Die Antheridien befinden sich überwiegend zwischen den Rhizoiden, die Archegonien hingegen in der Nähe der Einkerbung des Prothalliums. Die einen Geißelschopf tragenden Spermatozoiden benötigen bei iso- und heterosporen Farnen Wasser, um zu den Eizellen schwimmen zu können (Abb. 17-33). Anfangs ernährt sich der Embryo (der junge Sporophyt) über einen Fuß vom Gametophyten (Prothallium) (Abb. 17-34). Der Sporophyt wächst jedoch schnell zu einer unabhängigen Pflanze heran. Der Gametophyt geht dann zugrunde.

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Abb. 17-33 Reifes Spermatozoid von Marsilea, dem Kleefarn. Jedes Spermatozoid besitzt mehr als 100 Geißeln.

Wurzel

Abb. 17-34 Junger Farnsporophyt, der dem Gametophyten (Prothallium) aufsitzt.

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KAPITEL

Der Entwicklungszyklus eines isosporen Farnes ist in Abb. 17-35 dargestellt.

17.5 Zusammenfassung Die lebenden samenlosen Gefäßpflanzen werden in vier Abteilungen eingeteilt: die Psilophyta (Urfarne; Psilotum und Tmesipteris), die Lycophyta (Bärlappgewächse; Lycopodium, Selaginella und Isoetes), die Sphenophyta (Schachtelhalmgewächse; Equisetum) und die Pterophyta (Farne). Die meisten der samenlosen Gefäßpflanzen sind isospor. Heterosporie kommt bei Selaginelle, Isoetes und einigen Wasserfarnen vor.

reifes Sporangium mit Sporen

keimende Spore

Rhizoide

Eizelle Gametophyt Arcliegonium Antheridium

Spermatozoid Syngamie

Meiose Blatt des jungen Sporophyten

\

Sorus (Sporangienhäufchen)

ausgewachsener Sporophyt

Rhizom

Wurzeln

Samenlose Gefaßpflanzen

365

Die Entwicklungszyklen der samenlosen Gefäßpflanzen sind untereinander im wesentlichen gleich; es ist bei allen ein heteromorpher Generationswechsel mit dominantem, frei lebendem Sporophyten. Die Gametophyten der isosporen Arten sind gemischtgeschlechtig, bilden also Antheridien und Archegonien und ernähren sich unabhängig vom Sporophyten. Die Gametophyten der heterosporen Arten sind viel kleiner, eingeschlechtig und von Reservestoffen abhängig, die der Sporophyt für ihre Ernährung bereitstellt. Alle samenlosen Gefäßpflanzen besitzen bewegliche Spermatozoiden, die nur über Wasser zu den Eizellen hinschwimmen können. Die Psilophyta unterscheiden sich von anderen lebenden samenlosen Gefäßpflanzen dadurch, daß ihnen Blät-

Anuius

Sporen ausstreuendes Sporangium

17

Abb. 17-35 Entwicklungszyklus eines isosporen Farns. Nach der Meiose entstehen in den Sporangien Sporen, die ausgestreut werden und zum Gametophyten auskeimen. Die Gametophyten (Prothallien) sind bei den meisten Arten grün und autotroph. Oft sind sie nur eine Zellschicht dick, herzförmig, mit einem Einschnitt am apikalen Ende. Andere hingegen sind dicker und unregelmäßiger gestaltet. Von der Unterseite des Gametophyten gehen Zellfaden aus, die sog. Rhizoide, mit denen sich die Prothallien im Substrat verankern. Auf der Unterseite des Gametophyten entstehen flaschenförmige Archegonien, deren unterer, bauchiger Teil im Gametophytengewebe eingesenkt ist. Ihr Hals besteht aus einigen bis vielen Zellschichten. Auf der Unterseite des Gametophyten entstehen auch die Antheridien. Ihre sterile Hülle ist einschichtig. In ihrem Inneren entstehen zahlreiche Spermatiden. Wenn sie reif sind, platzt die Deckelzelle des Antheridiums ab, die Spermatiden treten aus und entlassen je ein korkenzieherartig gewundenes, mit einem Geißelschopf versehenes Spermatozoid. Wenn genügend Wasser vorhanden ist, schwimmen die Spermatozoiden ins Archegonium. Im unteren Teil des Archegoniums wird die Eizelle befruchtet, eine Zygote entsteht, die sofort anfängt, sich zu teilen. Der junge Embryo wächst zum reifen Sporophyten heran. Dabei wird er anfangs vom Gametophyten ernährt, kann aber schon bald genügend Photosynthese machen, um sich selbst zu ernähren. Sobald sich der junge Sporophyt im Boden verwurzelt hat, stirbt der Gametophyt ab.

366

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

ter (vielleicht Tmesipteris ausgenommen) und Wurzeln fehlen. Die Lycophyta sind durch den Besitz von Mikrophyllen gekennzeichnet. Die Equisetum-Blätter werden zwar für Mikrophylle gehalten, entwicklungsgeschichtlich gesehen kann es sich aber auch um stark reduzierte Megaphylle handeln. Im Unterschied zu den übrigen samenlosen Gefäßpflanzen besitzen die Farne Megaphylle. Von den vier hier besprochenen Gruppen der samenlosen Gefäßpflanzen reichen zwei - die Lycophyta und die

Sphenophy ta - zurück bis ins Devon; aber nur die Farne die erstmals im Karbon auftraten - kommen noch heute in großer Artenzahl vor. Fünf Gruppen von Gefäßpflanzen waren in den Wäldern des Karbons (den Steinkohlenwäldern) vorherrschend, drei davon waren samenlose Gefäßpflanzen - die Lycophyta, die Sphenophyta und die Pterophyta. Die beiden anderen Gruppen waren Gymnospermen - die Samenfarne und die Cordaiten.

Kapitel 18 Samenpflanzen

Abb. 18-1 Rekonstruktion der progymnospermen Pflanze Archaeopteris, einer im Osten von Nordamerika häufigen fossilen Pflanze. Exemplare von Archaeopteris erreichten Höhen von 20 m oder mehr.

Die Entstehung von Samen war wohl die folgenreichste Neuerung im Laufe der Evolution der Gefäßpflanzen. Samen dienen dem Überleben, und ihr Besitz ist sicherlich einer der Gründe für die Dominanz der Samenpflanzen in der heutigen Flora. Wie bereits in Kapitel 16.3.3 erwähnt, stammen die ältesten Samen aus dem späten Devon, aus einer Zeit, die ungefähr 350 Millionen Jahre zurückliegt. Während der folgenden 50 Millionen Jahre entstand eine große Vielfalt von Samenpflanzen - so die Samenfarne, die Cordaiten und die Coniferen, sämtlich gymnosperme Pflanzen. Bei den Samen der heutigen Gymnospermen (Nacktsamer) und Angiospermen (Bedecktsamer) sitzt der Megagametophyt in einer fleischigen Hülle, dem Nucellus, welcher morphologisch dem Megasporangium äquivalent ist. Dieser Nucellus wird seinerseits von ein oder mehreren zusätzlichen Hüllen, den Integumenten, umgeben. Das Integument umhüllt das Megasporangium völlig, bis auf eine Öffnung an der Spitze, die Mikropyle. Das Megasporangium mit seinem Integument (bzw. seinen Integumenten) bezeichnet man als Samenanlage. Die befruchtete Samenanlage wird zum Samen, dabei wandeln sich die Integumente (bzw. das Integument) zur Samenschale (Testa) um. Bei den meisten der heute lebenden Samenpflanzen entwickelt sich vor der Samenverbreitung im Samen ein Embryo (junger Sporophyt). Bei den Samenpflanzen früherer Zeiten hingegen wurden die Samen normalerweise schon abgeworfen, ehe sich ein Embryo entwickelt hatte. Die ältesten embryohaltigen Samen wurden 1973 in West-Texas gefunden. Sie stammen aus dem Unteren Perm, einer Zeit, die ungefähr 270 Millionen Jahre zurückliegt und klimatisch sehr rauh war. Vielleicht kam es zu dieser Entwicklung, weil Samen, in denen sich der Embryo vor dem Samenfall bildet, eher in der Lage, sind, klimatisch rauhe Zeiten zu überstehen, als andere. Neben der Megaspore bzw. dem Embryo und einer Samenschale besitzen Samen fast stets irgendwelche Speicherstoffe. Durch die Evolution von Samen waren die Pflanzen gut an das terrestrische Leben angepaßt. Innerhalb der Samenschale kann der Embryo oft in einem Ruhezustand verharren, bis die Keimbedingungen günstig sind, und so

368

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Abb. 18-2 Radialer Längsschnitt durch das sekundäre Xylem - das Holz - der Progymnosperme Callixylon newberryi. Dieses fossile Holz hat erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Gymnospermenholz.

100 Mm

Dürre, Frost und andere ungünstige Bedingungen überleben. Der gespeicherte Nahrungsvorrat ist i.a. mehr als ausreichend, um die junge Pflanze bis zu ihrer Unabhängigkeit zu ernähren. Zu den Samenpflanzen, die sämtlich Megaphylle besitzen, gehören fünf Abteilungen mit lebenden Vertretern: die Cycadophyta, die Ginkgophyta, die Coniferophyta, die Gnetophyta und die Anthophyta. Bevor wir mit der Besprechung der Samenpflanzen beginnen, werden wir noch eine weitere Gruppe samenloser Gefäßpflanzen, die gänzlich fossilen Progymnospermen, besprechen. Sie werden an dieser Stelle - nicht in Kapitel 1 7 - besprochen, weil sie wahrscheinlich die direkten Vorfahren der Gymnospermen sind.

18.1. Progymnospermen Im Paläozoikum gab es eine Pflanzengruppe - die Progymnospermen - deren Merkmale zwischen denen der Trimerophyta und denen der Gymnospermen lagen. Die Progymnospermen vermehrten sich zwar durch Sporen, bildeten aber ein sekundäres Xylem, das dem der Gymnospermen erstaunlich ähnlich war (Abb. 18-2). Die Progymnospermen und die paläozoischen Farne scheinen aus den noch älteren Trimerophyten hervorgegangen zu sein (Abb. 16-4), von denen sie sich vor allem durch verwickeitere Zweigsysteme und dementsprechend kompliziertere Leitgewebesysteme unterschieden. Eine Gruppe von Progymnospermen, der Aneurophyton-Typ, kam im Devon vor, also vor 350-370 Millionen Jahren, und war vor allem durch ein dreidimensionales Verzweigungssystem gekennzeichnet (Abb. 18-3). Das primäre Xylem war in Form einer Protostele angeordnet. Der Bau dieser Pflanzen glich dem mancher früher Samenfarne; dies veranlaßte die Paläobotaniker zu der Annahme, daß die Zweigsysteme der Progymnospermen vom Aneurophyton-Typ die Vorläufer der farnartigen Blätter der frühen Samenfarne gewesen sein könnten.

Abb. 18-3 Rekonstruktion eines Teils des Zweigsystems von Triloboxylon ashlandicum, einer Progymnosperme vom Aneurophyton-Typ. Die Hauptachse trägt oben und unten vegetative Zweige und dazwischen fertile Organe mit Sporangien.

KAPITEL

Die zweite Hauptgruppe von Progymnospermen, der Archaeopteris-Typ, trat ebenfalls im Devon - also vor ungefähr 360 Millionen Jahren - auf, reichte aber noch bis ins frühe Mississipian (Unterkarbon) hinein, welches 340 Millionen Jahre zurückliegt (siehe Abb. 18-1). Diese Gruppe gilt als höher entwickelt, denn ihre seitlichen Verzweigungen wurden in eine Ebene eingerückt und trugen blattartige Gebilde (Abb. 18-4). Diese belaubten Zweigsysteme ähneln denen der frühen Gymnospermen. Die größeren Zweige der Progymnospermen vom Archaeopteris-Typ besaßen ein Mark. Obwohl die Progymnospermen im typischen Falle isospor waren, gab es in der Gattung Archaeopteris auch einige heterospore Arten. Die Progymnospermen sind eindeutig eine Pflanzengruppe, die einen Entwicklungsstand erreicht hat, der dicht an den der Gymnospermen heranreicht. In den letzten Jahren haben sich die morphologischen Beweise gehäuft, daß die Gymnospermen durch die Entwicklung von Samen in mehreren Entwicklungslinien aus den Progymnospermen hervorgegangen sind.

Abb. 18-4 Rekonstruktion des vegetativen lateralen Zweigsystems der Progymnosperme Archaeopteris macilenta. Das Zweigsystem sitzt einer größeren Achse an (siehe auch Abb. 18-1).

18

Samenpflanzen

369

18.2 Gymnospermen Zu den Gymnospermen gehören vier Abteilungen mit heute lebenden Vertretern: die Cycadophyta (Palmfarne), die Ginkgophyta {Ginkgo-Gewächse, z.B. der Fächerblattbaum, G. biloba), die Coniferophyta (Nadelhölzer) und die Gnetophyta (Gymnospermen mit Tracheen). Der Name Gymnospermen, „Nacktsamer" (gr. gymnós = nackt; spèrma = Same), weist auf eines der wichtigsten Merkmale hin, das allen Vertretern dieser Gruppe von Gefäßpflanzen gemeinsam ist: ihre Samenanlagen und Samen sitzen frei auf der Oberfläche von Megasporophyllen oder analogen Strukturen und sind nicht von diesen vollständig umschlossen. Die vier Abteilungen der Gymnospermen sind wahrscheinlich das Ergebnis der Weiterentwicklung verschiedener Abkömmlinge der Progymnospermen. Mit wenigen Ausnahmen bilden die weiblichen Gametophyten der Gymnospermen jeweils mehrere Archegonien. Folglich kann mehr als eine Eizelle pro Gametophyt befruchtet werden, und daher können auch in einer einzigen Samenanlage mehrere Embryonen gleichzeitig mit ihrer Entwicklung beginnen. Dieses Phänomen bezeichnet man als Polyembryonie. In den meisten Fällen bleibt jedoch nur ein Embryo am Leben, so daß also nur relativ wenige ausgereifte Samen mehr als einen Embryo enthalten. Bei den samenlosen Gefäßpflanzen ist Wasser erforderlich, damit die begeißelten Spermatozoiden zu den Eizellen gelangen und diese befruchten können. Bei den Gymnospermen hingegen ist kein Wasser als Transportmedium erforderlich, damit die Spermazellen zur Eizelle gelangen können. Statt dessen gelangt der teilweise entwikkelte männliche Gametophyt im Pollenkorn durch Windbestäubung in die Nähe des weiblichen Gametophyten. Nach der Bestäubung bildet der männliche Gametophyt einen Pollenschlauch aus. Bei den Coniferen und den Gnetophyta sind die Spermazellen unbeweglich, sie werden vom Pollenschlauch direkt zum Archegonium gebracht. Bei den Cycadophyta und bei Ginkgo sind die Spermazellen begeißelt, und der Pollenschlauch dient hier offensichtlich hauptsächlich als eine Art Haustorium (analog dem Haustorium parasitärer Pilze), das in die Samenanlage eindringt und aus dieser Nahrung direkt aufnehmen kann. Der Pollenschlauch kann mehrere Monate lang im Nucellusgewebe (Megasporangium) wachsen, ehe er in eine Höhle gelangt, die sich über dem weiblichen Gametophyten befindet. Dort angelangt platzt der Pollenschlauch und entleert seine beiden Spermazellen direkt in diese Höhle. Die beiden Spermazellen schwimmen dann zu einem Archegonium, und eine von ihnen befruchtet das Ei. Mit der Bildung von Pollenschläuchen zum Trans-

370

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

port der Spermazellen war die Befruchtung dieser Gefäßpflanzengruppen nicht länger mehr vom Wasser abhängig-

18.2.1 Coniferen Die weitaus größte und bedeutendste Abteilung der heute lebenden Gymnospermen bilden die Coniferophyta (Nadelhölzer), mit ungefähr 50 Gattungen und 550 Arten. Die größten Gefäßpflanzen, so z. B. Sequoia sempervirens (Küstenmammutbaum; siehe Abb. 29-1) von den Küsten Kaliforniens und Südwest-Oregons, gehören hierher. Diese Bäume werden bis zu 117m hoch und erlangen Durchmesser von l i m und mehr. Die Coniferen - zu denen auch Kiefern, Tannen und Fichten gehören - sind von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Stattliche Nadelwälder sind der Reichtum weiter Teile der nördlichen gemäßigten Breiten. Während des frühen Teritärs, also vor ungefähr 60 Millionen Jahren, waren einige Coniferengattungen weiter verbreitet als heute, und waren in weiten Teilen aller nördlichen Kontinente dominierend. Die Coniferen reichen zumindest bis ins späte Karbon, also ungefähr 290 Millionen Jahre, zurück. Die Blätter der Coniferen besitzen viele Merkmale, die einer Austrocknung entgegenwirken. Vielleicht liegt der Ursprung der Coniferen daher im relativ trockenen Perm, welches unmittelbar auf das Karbon folgte. Zu dieser Zeit muß die weltweit zunehmende Trockenheit ein mächtiger Evolutionsfaktor gewesen sein.

(a) Abb. 18-6 Keimling von Pinus palustris (Sumpfkiefer) aus Georgia/USA. Man erkennt die Jugendblätter, lange Einzelnadeln, und erste 3-nadelige Kurztriebe, wie sie bei der erwachsenen Kiefer üblich sind, (b) Keimling von Pinus edulis

Abb. 18-5 Pinus nigra (Schwarzkiefer, links) und Pinus silvestris (Gemeine Kiefer; rechts, mit der rötlichen Rinde), europäische Kiefern.

(b)

(Nußkiefer) mit Kotyledonen, Primärblättern und junger Pfahlwurzel. Die späteren Nadeln dieser Kiefer stehen zu zweit in Kurztrieben.

KAPITEL

Abb. 18-7 (a) Zweig von Pinus silvestris (Gemeine Kiefer) mit purpurfarbenen $ Blütenständen an den Spitzen neuer Triebe, und einem jungen Zapfen. Die Nadeln dieser einheimischen Kiefer sind zu zweit an einem Kurztrieb angeordnet, (b) Pi-

Kiefern Die vielleicht bekanntesten Gymnospermen sind die Kiefern (Gattung Pinus) (Abb. 18-5). Sie sind in weiten Teilen Nordamerikas und Eurasiens vorherrschend und werden sogar häufig auf der Südhalbkugel kultiviert. Es gibt ungefähr 90 Kiefern-Arten. Sie alle besitzen eine Blattanordnung, die einzig ist unter den lebenden Coniferen. Die Blätter sind nadeiförmig. Bei den Keimlingen stehen sie einzeln und sind schraubig um den Stamm angeordnet (Abb. 18-6). Nach ein oder zwei Jahren bildet die junge Kiefer ihre Blätter in Bündeln. Jedes Bündel enthält eine charakteristische Zahl langer Nadelblätter - je nach Kiefernart 1 bis 8 Stück. Bei diesen Bündeln, die am Grunde von einer Reihe kurzer, schuppenförmiger Blätter umgeben sind, handelt es sich in Wirklichkeit um Kurztriebe, bei denen die Aktivität des Apikalmeristems eingestellt worden ist (Abb. 18-7). Ein Nadelbündel einer Kiefer ist also morpholgisch ein Seitentrieb mit begrenztem Wachstum. Unter ungewöhnlichen Umständen kann das Apikalmeristem im Nadelbündel einer Kiefer reaktiviert werden und zu einem Trieb mit unbegrenztem Wachstum (einem Langtrieb) werden. Manchmal kann sich ein Kurztrieb sogar bewurzeln und zu einer ganzen Kiefer heranwachsen (Abb. 18-8) Die Blätter der Kiefern sind, wie die vieler anderer Coniferen, ausgezeichnet an ein Leben unter ariden (trockenen) Bedingungen angepaßt (Abb. 18-9). Die Epidermis ist von einer dicken Cuticula bedeckt. Unter der Epidermis befindet sich die ein- bis mehrere Schichten dicke Hypodermis. Die Stomata sind in die Blattoberfläche eingesenkt. Das Mesophyll, das Grundgewebe des Blattes, besteht aus Parenchymzellen mit Wandfalten, die ins Innere

18

Samenpflanzen

371

nus mugo (Hakenkiefer), Zweig mit endständigem jungen $ Zapfen, daneben reifer Zapfen und Samenschuppen mit Samen.

der Zellen vorspringen (Faltenparenchym). Das Mesophyll ist normalerweise von auffälligen Harzkanälen durchzogen. Im Zentrum des Blattes befinden sich ein bis zwei, in Transfusionsgewebe eingebettete Leitbündel. Das Transfusionsgewebe, ein Gewebe aus lebenden Parenchymzellen und kurzen, toten Tracheiden - ähnlich den wasserleitenden Xylemtracheiden - wird vom Mesophyll durch eine Endodermis getrennt.

Abb. 18-8 Drei einjährige Kiefern (Pinus radiata, MontereyKiefer), die aus bewurzelten Kurztrieben hervorgegangen sind. Diese Versuche zur Kultur von Kiefern aus dreinadeligen Kurztrieben wurden von Jochen Kummerow an der San Diego State University durchgeführt. Sie lassen erkennen, daß das Nadelbündel der Kiefer ein Kurztrieb ist, bei dem die Aktivität des Apikalmeristems nur ruht, unter geeigneten Umständen aber wieder aufgenommen werden kann.

372

TEIL 4

F o r m e n m a n n i g f a l t i g k e i t der O r g a n i s m e n

Harzkanal Transfusionsgewebe

Endodermis

Xylem

Leitbündel

Phloëm

Hypodermis

Mesophyll

Epidermis Stoma

Abb. 18-9 Pinus (Kiefer). Querschnitt durch eine ausdifferenzierte Nadel.

Bei den Kiefern und anderen Coniferen beginnt das sekundäre Dickenwachstum schon früh. Nach innen wird sekundäres Xylem, nach außen sekundäres Phloem abgegeben (Abb. 18-10). Das Xylem besteht hauptsächlich aus Tracheiden, das Phloem aus Siebzellen (den typischen, Assimilate leitenden Zellen der Gymnospermen und samenlosen Gefäßpflanzen). Beide Gewebe werden radial von schmalen Strahlen durchquert. Nach einer Weile sekundären Dickenwachstums wird die Epidermis durch ein Periderm ersetzt, welches von der äußeren Zellschicht der Rinde abstammt. Wenn das sekundäre Dickenwachstum fortschreitet, werden weitere Periderme tiefer im Inneren der Rinde angelegt. Fortpflanzung der Kiefern. Die Mikrosporangien und Abb. 18-10 Pinus. Stammquerschnitt, mit sekundärem Xylem und sekundärem Phloem und dazwischen liegendem Cambium. Alle Gewebe, die außerhalb des Cambiums liegen, gehören zur Rinde.

sekundäres Phloem

Megasporangien der Kiefern und anderer Coniferen entstehen in getrennten Zapfen, normalerweise aber am selben Baum. Meist stehen die männlichen Zapfen an tieferen, die weiblichen an höheren Zweigen des Baumes. Die männlichen Kiefernzapfen (zapfenförmige Mikrosporophyllstände) sind ziemlich kleine, meist 1 - 2 cm lange Kurztriebe (Abb. 18-11). Die Mikrosporophylle (Abb. 18-12) sind schraubig an einer Zapfenachse angeordnet und mehr oder weniger dünnhäutig. Auf jedem Mikrosporophyll sitzen zwei Mikrosporangien. Jedes junge Mikrosporangium enthält viele Mikrosporenmutterzellen. Im zeitigen Frühjahr teilen sich die Mikrosporenmutterzellen meiotisch und aus jeder entstehen vier haploide Mikrosporen. Jede Mikrospore entwickelt sich

Harzkanäle

- Cambium

Mark

sekundäres Xylem

h .00 um

KAPITEL

18

Samenpflanzen

373

500 iim

Abb. 18-11 Pinus banksiana (Banks-Kiefer). Pollenstäubende männliche Zapfen.

(3)

Abb. 18-12 Pinus. Längsschnitt durch einen Teil eines männlichen Zapfens. Man sieht die Mikrosporophylle und die Mikrosporangien mit reifen Pollenkörnern.

io j.m

I 20 um

Prothalliumzellen

generative Zelle

Pollenschlauchzelle

Abb. 18-13 Pinus. (a) Pollenkörner mit unreifem, männlichen Gametophyten im Inneren. Jeder der Gametophyten ist vierzellig und besteht aus zwei winzigen Prothalliumzellen, einer ziemlich kleinen generativen Zelle und einer großen vegetativen Zelle (Pollenschlauchzelle). (b) Etwas älteres Pol-

lenkorn als in (a) dargestellt. Die Prothalliumzellen sind hier bereits zugrunde gegangen, (c) Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines Pollenkorns mit zwei Luftsäcken. Wenn das Pollenkorn keimt, tritt der Pollenschlauch zwischen den Luftsäcken aus.

374

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

(c) .Abb. 18-14 Einige reife Kiefernzapfen (?), gleich stark verkleinert, um die Größenunterschiede sichtbar zu machen, (a) Pinus sabiniana (Digger-Kiefer). (b) Pinns edulis (Nußkiefer) in Aufsicht und Seitenansicht. Ihre eßbaren Samen bezeich-

net man als „Pinienkerne", (c) Pinus lambertiana (Zuckerkiefer). (d) Pinus ponderosa (Gelbkiefer), (e) Pinus strobus (Weymouths-Kiefer). (f) Pinus resinosa (Amerikanische Rotkiefer).

zu einem Pollenkorn mit zwei Luftsäcken. Die gelblichen Pollenkörner werden in großer Menge („Schwefelregen") durch den Wind zu den weiblichen Zapfen getragen. Zum Zeitpunkt des Stäubens befinden sich im Inneren des Pollenkorns bereits vier Zellen: zwei Prothalliumzellen, eine generative (antheridiale) und eine vegetative Zelle (Pollenschlauchzelle) (Abb. 18-13). Dieses vierzellige Gebilde ist der unreife männliche Gametophyt (das Mikroprothallium). Die weiblichen Kiefernzapfen sind viel größer als die männlichen und viel komplizierter gebaut (Abb. 18-14). Sie nehmen die Stelle von Langtrieben ein. An der Zapfenachse stehen Deck-Samenschuppenkomplexe: d.h. in den Achseln steriler Deckschuppen steht je eine Fruchtschuppe (Samenschuppe), die oberseits je zwei Samenanlagen trägt (Abb. 18-15). Die Samenschuppe ist kein Megasporophyll, sondern ein Kurztrieb mit sterilen und fertilen - zu Samenanlagen umgewandelten - Schuppenblättern. Die Zapfenschuppen sind schraubig um die Zapfenachse angeordnet. Jede Samenanlage enthält einen vielzelligen Nucellus (Megasporangium), welcher von einem kräftigen Integument mit einer Öffnung (Mikropyle) umgeben ist. Die Mikropyle ist zur Zapfenachse gerichtet. Jedes Megasporangium enthält nur eine einzige Mega-

sporenmutterzelle, aus der schließlich unter Meiose vier Megasporen entstehen, die in einer Reihe hintereinander liegen. Von diesen vier Megasporen gehen jedoch drei zugrunde; nur die von der Mikropyle am weitesten entfernte (Embryosackzelle) ist funktionstüchtig. Die Bestäubung der Kiefern erfolgt im Frühjahr. Der Pollen bleibt in der Nähe der Mikropyle an einem klebrigen Tropfen hängen. In diesem Stadium stehen die Schuppen der weiblichen Zapfen weit auseinander. Wenn die Mikropylenflüssigkeit verdunstet, wird das Pollenkorn in den Raum zwischen Mikropyle und Nucellus (Megasporangium) gesogen. Nach der Bestäubung wachsen die Schuppen zusammen und bieten den sich entwickelnden Samenanlagen somit größeren Schutz. Kurz nachdem das Pollenkorn in Kontakt mit dem Nucellus gekommen ist, keimt es aus und bildet einen Pollenschlauch. Zu diesem Zeitpunkt hat die Meiose im Megasporangium noch nicht stattgefunden. Ungefähr einen Monat nach der Bestäubung werden die vier Megasporen gebildet, von denen sich nur eine zum Megagametophyten (Embryosack) entwickelt. Die Entwicklung des weiblichen Gametophyten erfolgt sehr langsam. Oft beginnt sie erst sechs Monate nach der Bestäubung und es kann dann weitere sechs Monate dauern, ehe sie beendet ist. Während der frühen Ent-

KAPITEL

18

Samenpflanzen

375

Samenschuppe Deckschuppe

Megasporenmutterzelle

(b) Abb. 18-15 Pinus. (a) Längsschnitt durch einen jungen weiblichen Zapfen, der dessen komplizierten Bau erkennen läßt, (b) Ausschnitt von (a) mit Deck-Samenschuppenkomplexen. Die

Megasporenmutterzelle der Samenanlage ist vom Nucellus umgeben, und dieser seinerseits von einem kräftigen Integument.

1000 f/m

wicklungsstadien des Megagametophyten findet Mitose ohne unmittelbar darauf folgende Zellwandbildung statt. Erst ungefähr 13 Monate nach der Bestäubung, wenn der weibliche Gametophyt bereits ca 2000 freie Kerne besitzt, beginnt die Bildung von Zellwänden. Ungefähr 15 Monate nach der Bestäubung entstehen an dem der Mikropyle zugewandten Ende des Megagametophyten Archegonien, meist 2 - 3 Stück (Abb. 18-16). Nun erst kann die Befruchtung erfolgen. Vor einem Jahr hatte das Pollenkorn begonnen, zu keimen und langsam seinen Weg durch den Nucellus zum heranreifenden weiblichen Gametophyten genommen. Ungefähr 12 Monate nach der Bestäubung teilt sich die generative Zelle des vierzelligen männlichen Gametophyten in eine Stielzelle (Dislokatorzelle) und eine spermatogene Zelle. Bevor der Pollenschlauch den weiblichen Gametophyten erreicht, teilt sich die spermatogene Zelle dann noch in zwei Spermazellen. Der männliche Gametophyt, das keimende Pollenkorn, ist nun reif. Der männliche Gametophyt bildet also kein Antheridium. Ungefähr 15 Monate nach der Bestäubung erreicht der Pollenschlauch die Eizelle eines Archegoniums. Er entleert einen großen Teil seines Cytoplasmas und seine beiden Spermazellen ins Cytoplasma der Eizelle (Abb. 18-

17). Ein Spermakern vereinigt sich mit dem Eikern, der andere geht zugrunde. Normalerweise werden die Eizellen aller Archegonien befruchtet und beginnen Embryonen zu bilden (Polyembryonie). Jedoch nur einer der Embryonen entwickelt sich zu Ende. Während der frühen Embryogenese entstehen am unteren Ende des Archegoniums vier Stockwerke mit je vier Zellen. Aus jeder der vier Zellen des untersten Stockwerkes (d.h. dem von der Mikropyle am weitesten entfernten) beginnt sich ein Embryo zu bilden, während sich die vier Zellen des dritten Stockwerkes, die Suspensorzellen, stark verlängern und die sich entwickelnden Embryonen weit ins Gewebe des weiblichen Gametophyten hineinschieben. Ein zweites Mal im Entwicklungszyklus der Kiefer begegnen wir hier einer Polyembryonie. Im allgemeinen entwickelt sich jedoch nur einer der heranreifenden Embryonen zu Ende. Während der Embryogenese entsteht aus dem Integument die Samenschale. Der Same der Kiefer und anderer Coniferen ist ein bemerkenswertes Gebilde. Er besteht aus zwei Sporophytengenerationen - der Samenschale und dem Embryo und aus einer Gametophytengeneration, die als Speichergewebe dient (Abb. 18-18). Samenschale und Embryo sind diploid, der weibliche Gametophyt ist haploid. Der

376

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

weiblicher Gametophyt

Archegonium

Integument

100 Mm

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-



Spermakerne

Pollenschlauch

Pollenschlauch

500 mn

Abb. 18-16 Pinus. (a) Medianer Längsschnitt durch eine Samenanlage; man erkennt den weiblichen Gametophyten mit zwei Archegonien. (b) Ausschnittsvergrößerung des distalen Teils einer längs geschnittenen Samenanlage-

Abb. 18-17 Pinus. Befruchtung: Verein i g u n g eines Spermakerns mit dem Eikern. Der zweite Spermakern (unten) hat offenbar keine Funktion und geht zugrunde.

KAPITEL

18

Samenpflanzen

377

Abb. 18-18 Pinus. Längsschnitt durch einen Samen. Samenschale

Keimblatt Apikaimeristem Hypocotyl-WurzelAchse

Apikaimeristem weiblicher Gametophyt Wurzelhaube

1000

ixm

Embryo besteht aus einer Hypocotyl-Wurzel-Achse, mit Wurzelhaube und Apikaimeristem am einen Ende und Apikaimeristem und mehreren (meist acht) Kotyledonen (Keimblätter) am anderen Ende. Das Integument ist dreischichtig. Die mittlere Zellschicht verhärtet sich und wird zur Samenschale. Die Kiefernsamen fallen oft im Herbst des zweiten Jahres nach dem Erscheinen der Zapfen und der Bestäubung von den Bäumen. Im reifen Zustand sind die Zapfenschuppen voneinander getrennt. Die geflügelten Samen flattern durch die Luft und werden manchmal durch den Wind erstaunlich weit getragen. Bei einigen Kiefernarten

- z. B. Pinus banksiana (Banks-Kiefer) - trennen sich die Zapfenschuppen erst unter großer Hitzeeinwirkung. Manchmal bleiben die geschlossenen Zapfen der BanksKiefer jahrelang auf den Zweigen der Bäume, und das Holz der wachsenden Stämme und Äste schwillt rings um sie an (Abb. 18-19). Wenn ein Feuer über die Kiefernwälder geht und die Bäume abtötet, so öffnen sich die Zapfen und entlassen die Samen vieler Jahre, um so die Art auf dem verbrannten Boden zu erhalten. Der Entwicklungszyklus einer Kiefer ist in Abb. 18-20 dargestellt.

Abb. 18-19 Aststück von Pinus banksiana (Banks-Kiefer), mit weiblichem Zapfen, der ins Holz eingewachsen ist.

378

TEIL 4

F o r m e n m a n n i g f a l t i g k e i t der O r g a n i s m e n männliche Zapfen

Megagametophyl Pollen

Pollenkorn



Archegonium • weiblicher Zapfen • . . Eizelle

Megasporen Megagametophyl Mikrosporen

Archegonium Integument Mikropyle •

Mikrogametophyt (keimendes Pollenkorn)

3 der 4 Megasporen gehen zugrunde Samenanlagen

Syngamie

Meiose Samenschuppe

Zygoten

weiblicher Zapfen Samenanlage

Megasporen mutterzelle

sich entwickelnde Embryonen

weiblicher Zapfen

Suspensoren

Mikrosporenmutterzellen Samen

männliche Zapfen

Embryo Samenschale Megagametophyt Sporophyt

Mikrosporophyll mit Mikrosporangien

Abb. 18-20 Entwicklungszyklus einer Kiefer (Pinns). Die Gametophyten sind stark reduziert und werden vom Sporophyten ernährt. Sie sind von Sporophytengewebe umschlossen. Die Samenanlage mit ihrem Megagametophyten reift

nach der Befruchtung zum Samen heran. Der für die Kiefern charakteristische Suspensor geht zugrunde, sobald der Embryo fertig entwickelt ist.

KAPITEL

18

Samenpflanzen

379

Andere Coniferen Auch wenn andere Coniferen (Abb. 18-21 bis 18-28) nicht wie die Kiefern Nadelbündel besitzen und ihr Fortpflanzungssystem in vielen Kleinigkeiten abweicht, so ist die Gruppe der Coniferen dennoch ziemlich homogen. Ihre wichtigsten Gattungen sind Tanne (Abies), Fichte {Picea), Hemlockstanne (Tsuga), Douglasie (Pseudotsuga), Zypresse (Cupressus) und Wacholder {Juniperus). Bei den Eiben (Familie Taxaceae) sind die Samenanlagen nicht in Zapfen angeordnet, sondern die weiblichen Blüten entstehen in der Achsel einer Nadel und tragen nur eine einzige, endständige, atrope Samenanlage. Ein meristematischer Ringwulst am Grunde der Samenanlage wächst bei der Samenreife zu einem roten, fleischigen, den Samen umhüllenden Becher heran. Dieser süß schmeckende Arillus (siehe Abb. 18-25 a) dient der Samenverbreitung durch Vögel. Eine Reihe anderer Coniferengattungen findet man nur auf der Südhalbkugel der Erde. Einige von diesen, z. B. die Araukarien Araucaria excelsa und A. araucana werden in Westeuropa häufig in Gärten und Parks kultiviert. Eine der interessantesten Gruppen der Coniferen sind die Taxodiaceen (Sumpfzypressengewächse), zu denen auch die größte Gefäßpflanze Sequoia sempervirens (Redwood oder Küstenmammutbaum, siehe Abb. 29-1) gjehört. Auch der berühmte Mammutbaum {Sequoiadendron giganteum) gehört hierher. Er bildet weit verstreute Haine an den Westhängen der Sierra Nevada in Nordkalifornien. Die Familie hat ihren Namen von der Sumpfzypresse {Taxodium), die im Südosten der USA und in Mexico beheimatet ist (Abb. 18-26). All diese Gattungen waren im Tertiär viel weiter verbreitet als heute (siehe Abb. 18-28). Eine andere, im Tertiär in Eurasien und Nordamerika weit verbreitete Gattung der Taxodiaceen ist Metasequoia (Chinesisches Rotholz, Abb. 18-27). Von der oberen Kreide bis zum Miozän (also während des größten Teils des Tertiärs; bis vor ungefähr 25 Millionen Jahren) war Metasequoia die häufigste Conifere des westlichen Nordamerika und der amerikanischen Arktis. Die Gattung Metasequoia wurde erstmals im Jahre 1941 als fossile Pflanze von dem japanischen Paläobotaniker Shigeru Miki beschrieben. Drei Jahre später besuchte der Förster Tsang Wang vom chinesischen Zentralinstitut für Forstwissenschaft das Dorf Mo-tao-chi in der abgelegenen Provinz Szechuan. Dort entdeckte er einen riesigen, ihm bislang unbekannten Baum. Die Eingeborenen hatten um die Stammbasis einen Tempel errichtet. Tsang sammelte Nadeln und Zapfen des Baumes, und die chinesischen Botaniker Hu und Cheng stellten fest, daß es sich bei diesem Baum um die bisher nur fossil bekannte Metasequoia han-

Abb. 18-21 Weiblicher Zapfen von Abies balsamea (Balsamtanne). Die aufrecht stehenden Zapfen sind 5 bis 10 cm lang. Anders als die Fichtenzapfen fallen die Tannenzapfen nicht als Ganzes zu Boden, sondern zerfallen bei der Reife in Schuppen und verstreuen die geflügelten Samen.

Abb. 18-22 Europäische Lärche {Larix decidua). Lärchen gibt es auf der ganzen Nordhalbkugel. Diese Art findet sich in den Alpen von Savoyen bis Tirol und erstreckt sich ostwärts bis nach Wien. Die Lärchen besitzen Lang- und Kurztriebe. Die Langtriebe tragen im 1. Jahr nadeiförmige Blätter. In deren Achseln entstehen im 2. Jahr Kurztriebe mit quirlförmig zu Büscheln angeordneten Nadeln. Anders als die meisten Coniferen sind die Lärchen sommergrün, sie verlieren ihre Blätter am Ende einer jeden Vegetationsperiode. Das Photo zeigt einen Zweig mit einem jungen 9 Blütenstand (aufrecht) und drei jungen 3 Blütenständen (hängend).

delt. Im Jahre 1948 unternahm der amerikanische Paläobotaniker Ralph Chaney von der University of California eine Expedition zum Jangtse-Fluß und über drei Bergketten hinweg in Täler, wo Tausende von Metasequoien wuchsen, letzte Überreste der einst riesigen MetasequoiaWälder. Inzwischen sind Tausende von Samen über die ganze Welt verbreitet worden. Dies ist vor allem dem

380

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

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Abb. 18-23 Zweig von Cupressus goveniana (Gowens Zypresse). Diese Zypressenart, mit ihren kleinen, im ausgewachsenen Zustand nur 6 m hohen Bäumen, kommt nur in der Nähe von Monterey/Kalifornien vor.

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Abb. 18-24 Juniperus communis (Gemeiner Wacholder). Juniperus besitzt ? Blütenstände mit drei aufrechten Samenanlagen und zahlreichen Schuppenblättern. Nach der Bestäubung werden die drei oberen Schuppenblätter fleischig und verwachsen miteinander. Es entstehen die kugeligen Beerenzapfen, die Wacholderbeeren; sie sind erst im dritten Jahr nach ihrer Anlage reif. Die Wacholderbeeren dienen als Gewürz und geben dem Gin seinen charakteristischen Geruch und Geschmack.

kürzlich verstorbenen Elmer Drew Merrill vom Arnold Arboretum in Boston zu verdanken. Heute wächst dies „lebende Fossil" in Parkanlagen und botanischen Gärten der ganzen Welt.

(b) Abb. 18-25 Zu den Coniferen gehören auch die Eibengewächse (Taxaceae). (a) Eiben {Taxus) kommen auf der ganzen Nordhalbkugel vor. Ihre Samen sind von einem roten, fleischigen und süßschmeckenden Becher, dem Arillus, umhüllt. Dieser lockt Vögel und andere Tiere an, welche die „Früchte" essen und so die Samen verbreiten, (b) Sporophylle und Sporangien der männlichen Eibenzapfen. Männliche und weibliche Zapfen kommen auf verschiedenen Pflanzen vor.

KAPITEL 1 8

381

Abb. 18-27 Metasequoia glyptostroboides (Chinesisches Rotholz). Dieser Baum, der in der Provinz Hubei in Zentralchina wächst, ist über 400 Jahre alt.

Abb. 18-26 Sumpfzypresse (Taxodium distichum), eine sommergrüne Taxodiacee aus den Sümpfen der südöstlichen USA.

Abb. 18-28 Fossiler Zweig von Metasequoia, ungefähr 50 Millionen Jahre alt. Die nebenstehende Karte zeigt die geographische Verbreitung lebender und fossiler Taxodiaceen.

Samenpflanzen

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fossile S e q u o i a ( K ü s t e n m a m m u t b a u m ) fossile M e t a s e q u o i a (chinesisches R o t h o l z )

382

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

Abb. 18-29 Weibliche und männliche Pflanzen von Zamia pumila (einer Zapfenpalm e), der einzigen in den USA einheimischen Cycadee. Die Stämme wachsen fast vollständig unterirdisch und dienten in früheren Zeiten den Seminole-Indianern als Nahrung. Die beiden großen grauen Zapfen im Vordergrund sind weiblich, die kleineren braunen männlich.

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18.2.2 Andere lebende Gymnospermen Cycadeen

Abb. 18-30 (a) Encephalartos altensteinii, eine aus Südafrika stammende Cycadee (Farnpalme), u. zwar eine männliche Pflanze mit männlichen Zapfen (Mikrosporophyllstände). (b) Weibliche Pflanze von Cycas revoluta (Falsche Sagopalme) mit Megasporophyllen, die locker rings um eine Krone junger Blätter angeordnet sind. An den Rändern der Megasporophylle sitzen Samen.

Die anderen Gruppen lebender Gymnospermen sind sehr verschiedenartig und ähneln einander kaum. Hierzu gehören die Cycadeen (Farnpalmen), Abteilung Cycadophyta, eine Reihe palmähnlicher Gewächse der Tropen und Subtropen. Diese bizarren Pflanzen waren im Mesozoikum so zahlreich, daß man dieses Zeitalter oft als „Zeitalter der Cycadeen und Dinosaurier" bezeichnet. Heute leben noch 10 Gattungen mit etwa 100 Arten. Zamia pumila, ein häufiger Bewohner der sandigen Wälder Floridas (Abb. 18-29), Cycas aus Ostasien und Polynesien und Encephalartos aus Afrika gehören hierher (Abb. 1830). Die meisten Cycadeen sind ziemlich groß, manche werden 18 m hoch oder höher. Viele haben einen richtigen Stamm, der dicht von Blattbasen abgeworfener Blätter umhüllt ist. Die funktionstüchtigen Blätter befinden sich als Schopf am Ende des Stammes, daher das palmartige Aussehen. Anders als die Palmen besitzen die Cycadeen jedoch ein echtes, wenn auch langsames, von einem Cambium ausgehendes, sekundäres Dickenwachstum. Im Inneren ihrer Stämme befindet sich ein stark entwickeltes Markgewebe. Die Fortpflanzungsorgane der Cycadeen sind mehr oder weniger reduzierte Blätter, auf denen Sporangien sitzen und die an der Spitze der Pflanze zu lockeren oder festeren, zapfenartigen Gebilden angeordnet sind. Bei den Cycadeen entstehen männliche und weibliche Zapfen auf verschiedenen Pflanzen (Abb. 18-30).

Ginkgo Den Fächerblattbaum (Ginkgo biloba) (Abb. 18-31) kann man leicht an seinen fächerförmigen Blättern mit gabelig

KAPITEL

18

Samenpflanzen

383

(dichotom) offener Nervatur erkennen. Die Blätter der zahlreichen Kurztriebe sind nicht oder kaum gelappt, die der Langtriebe und Keimlinge hingegen sind tief gelappt. Anders als die meisten Gymnospermen ist Ginkgo sommergrün. Vor dem Blattfall im Herbst färben sich die Blätter leuchtend goldgelb. Ginkgo ist der einzige lebende Vertreter einer Entwicklungslinie, die bis ins späte Paläozoikum zurückreicht und während langer Abschnitte des Mesozoikums häufig war. Die Abteilung Ginkgophyta war einst weit verbreitet, aber anscheinend nur in geringer Artenzahl. Vielleicht gibt es gar keinen echten wildwachsenden Ginkgobmm mehr. Gingko biloba ist jedoch seit langem schon in den Tempelgärten Chinas und Japans kultiviert worden und ist seit mehr als 150 Jahren auch nicht mehr aus den Gärten der gemäßigten Breiten fortzudenken. Der Gingkobaum ist äußerst unempfindlich gegenüber Luftverschmutzung und wird daher häufig in Städten angepflanzt. Genau wie die Cycadeen, so trägt auch Ginkgo Samenanlagen und Mikrosporangien auf verschiedenen Pflanzen. Die Samenanlagen von Ginkgo stehen paarweise am Ende kurzer Stiele und reifen im Herbst zu Samen heran. Die Befruchtung erfolgt ein paar Monate nach der Bestäubung durch Spermatozoiden, und zwar erst dann, wenn die Samenanlagen vom Baum abgefallen sind. Die zweikeimblättrigen Embryonen werden während der späteren Reifungsstadien des Samens gebildet, die am Boden ablaufen. Aus dem Integument entwickeln sich eine dickfleischige Sarcotesta und eine innere Sklerotesta. Die Samen riechen wegen des Buttersäuregehaltes ihrer Sarcotesta stark ranzig. Aus diesem Grund werden als Straßenbäume und in Parks meist männliche Bäume angepflanzt. Die Bäume werden vegetativ vermehrt; männliche Bäume sind somit einfach zu bekommen. Die Mikrosporophylle sind in großer Zahl an einer langen Achse aufgereiht, so daß der Mikrosporophyllstand den Eindruck eines lockeren Kätzchens macht. Jedes Mikrosporophyll trägt zwei Mikrosporangien.

Gnetophyta Die Abteilung Gnetophyta ist eine kleine Gruppe von Gymnospermen mit drei Gattungen - Gnetum, Ephedra und Welwitschia - und ungefähr 70 Arten. Die drei Gattungen wurden zwar lange Zeit in einer Ordnung zusammengefaßt, nun aber wird jede für sich in eine eigene Ordnung gestellt, denn jede von ihnen unterscheidet sich von den beiden anderen sowohl im Bau als auch in der Art der Fortpflanzung. Gnetum, eine Gattung mit ungefähr 30 Arten, besteht aus tropischen Bäumen und Kletterpflanzen mit großen,

Abb. 18-31 (a) Ginkgo biloba. Habitus des Baumes, (b) Ginkgo-Blätter und fleischige Samen an Kurztrieben.

384

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

ledrigen Blättern, die denen von Dikotylen sehr ähnlich sind (Abb. 18-32). Vertreter dieser Gattung kommen in allen feuchten tropischen Gebieten der Erde vor. Die meisten der ungefähr 35 Ephedra-Arten (Meerträubel) sind reich verzweigte Rutensträucher mit dunkelgrünen, gerieften Zweigen und unscheinbaren, schuppenförmigen Blättern (Abb. 18-33). Wegen der kaum sichtbaren Blätter und der knotig gegliederten Stengel erinnert Ephedra auf den ersten Blick an einen Schachtelhalm. Ephedra kommt in allen subariden und semihumiden Teilen der Welt vor (z. B. im Mittelmeergebiet und in Trokkengebieten Asiens und Amerikas). Die Ephedra-Arten sind zweihäusig. Welwitschia ist vielleicht die ungewöhnlichste Gefäßpflanze, die es gibt (Abb. 18-34). Sie besitzt eine mächtige

Abb. 18-32 Die großen ledrigen Blätter von Gnetum ähneln den Blättern einiger Dikotylen. Die Gnetum-Arten wachsen als Sträucher oder holzige Kletterpflanzen in tropischen und subtropischen Wäldern.

Pfahlwurzel und einen kurzen, dicken Stamm, der größtenteils im sandigen Boden verborgen ist. Man sieht nur einen Teil des Stammes als massive, verholzte, konkave Scheibe, an deren Rand zwei riemenförmige Blätter entspringen. Diese sind bei alten Exemplaren in viele Längsbänder zerrissen. Welwitschia wächst nur in der NamibWüste Südwestafrikas. Die Gnetophyta besitzen viele Angiospermen-Merkmale: die Zapfen ähneln Angiospermen-Infloreszenzen, das Xylem besitzt Tracheen, und bei Gnetum und Welwitschia fehlen die Archegonien. Daher haben einige Botaniker sie für ein Bindeglied zwischen Gymnospermen und Angiospermen gehalten. Heutzutage jedoch gelten sie als spezialisierte Endpunkte in der Gymnospermenevolution.

KAPITEL

18

Samenpflanzen

385

Abb. 18-34 Große, samenbildende Pflanze von Welwitschia mirabilis aus der südafrikanischen Namib-Wüste. Die Pflanze bildet während ihres ganzen Lebens nur zwei lange Blätter, die jedoch 100 Jahre alt werden können. Die Blätter wachsen von einem Basalmeristem aus ständig nach, reißen an ihren Spitzen auf und spalten sich längs, so daß ältere Pflanzen zahlreiche Blätter zu besitzen scheinen. Die Pfahlwurzel und der mächtige, kurze Stamm, der nur wenig aus dem Sandboden herausragt, speichern Wasser.

1 8 . 3 Angiospermen Die Blütenpflanzen, Abteilung Anthophyta, umfassen 235 000 Arten; sie sind also bei weitem die artenreichste Pflanzengruppe. Ihr vegetativer Bau ist sehr verschiedenartig. Ihr Größenspektrum reicht von über 100 m hohen Eucalyptus-Bäumen mit fast 20 m Umfang (Abb. 18-35) bis hin zu den winzigen Zwerglinsen ( Wolffia, Abb. 1836), einfachen, nur ungefähr 1 mm langen Schwimmpflanzen. Einige Angiospermen sind Kletterpflanzen, die bis hoch hinauf ins Blätterdach tropischer Regenwälder klettern, andere leben dort oben als Epiphyten. Viele Angiospermen, z. B. die Kakteen, sind an ein Leben in extrem ariden Gebieten angepaßt. Der größte Teil der Blütenpflanzen lebt autotroph, es gibt aber auch parasitische und scheinbar saprophytische Formen (Abb. 18-37). Die Anthophyta unterteilen sich in zwei große Klassen: die Monocotyledoneae (einkeimblättrige Pflanzen) mit ungefähr 65000 Arten, und die Dicotyledoneae (zweikeimblättrige Pflanzen) mit ungefähr 170000 Arten. Die Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Pflanzengruppen sind viel größer als die Unterschiede. Dennoch bilden beide Klassen klar erkennbare natürliche Einheiten. Zu den monokotylen Pflanzen gehören z.B. Gräser, Lilien, Schwertlilien, Orchideen, Rohrkolben und Palmen (Abb. 18-38). Zu den dikotylen Pflanzen gehören sowohl fast alle bekannten Bäume und Sträucher, die nicht zu den Coniferen rechnen, als auch einjährige Kräuter, außerdem noch viele andere Pflanzen, die dazwischen einzuordnen sind (Abb. 18-39). Die Hauptunterschiede zwischen monokotylen und dikotylen Pflanzen sind in Tabelle 18-1 zusammengefaßt.

Abb. 18-35 Stammbasis des Rieseneukalyptus Eucalyptus jacksonii aus dem „Valley of the Giants" in Südwestaustralien. Vergleicht man ihren Umfang mit der Größe des Mannes, der in der ausgebrannten Stammbasis steht, so kann man sich vorstellen, wie riesig dieser Baum ist.

386

TEIL 4

F o r m e n m a n n i g f a l t i g k e i t der O r g a n i s m e n

Abb. 18-36 Die winzige Zwerglinse, Wolffia microscopica, nur ungefähr 1 mm lang, ist die kleinste Angiosperme, die man kennt. Die Zwerglinsen sind frei schwimmende, untergetaucht lebende Wasserpflanzen. Die Zeichnung zeigt den Aufbau der Pflanze und die sehr einfache Blüte. Die Zwerglinsen sind monokotyl.

Anthere dorsale Furche

Karpell

Samenanlage blattartiges Tochterglied blattartige Enkelglieder wurzelartiger Fortsatz

(a) Abb. 18-37 Nichtgrüne Angiospermen, (a) Cuscuta cuspidata (Teufelsseide), mit nur geringem Chlorophyllgehalt, lebt parasitisch auf anderen Angiospermen (in diesem Falle auf Magnolia virginianä). Die leuchtend gelben oder orangefarbenen Cuscuta-Pflanzen decken den größten Teil ihres Kohlenhydratbedarfes aus Vorräten der Wirtspflanze. Cuscuta gehört zu den Convolvulaceen, den Windengewächsen, (b) Conopholis americana, ein Parasit an Baumwurzeln, meist Eichen. Diese parasitische angiosperme Pflanze ist in den USA heimisch und eng verwandt mit der europäischen Orobanche (Würger). Von einer unterirdischen Hypokotylknolle gehen Haustorien in die Wurzeln des Wirts, und nur die mit schup-

(b)

fe) penförmigen Tragblättern versehenen Blütenstände erscheinen über der Erde, (c) Monotropa uniflora, eine Verwandte unseres einheimischen Fichtenspargels - Monotropa hypopitys, hat man lange Zeit für einen Saprophyten gehalten, der sich von verwesendem organischem Material ernährt. Vor kurzem jedoch konnte gezeigt werden, daß dieser „Saprophyt" in Symbiose mit einem Mykorrhizapilz lebt, der seinerseits an eine zweite, in diesem Falle grüne, photoautotrophe angiosperme Pflanze gebunden ist. Der Pilz bildet eine Brücke, über welche die Kohlenhydrate der photoautotrophen Pflanze zur chlorophyllfreien Monotropa gelangen. Cuscuta, Conopholis und Monotropa sind dikotyle Pflanzen.

KAPITEL

(a)

(b)

Abb. 18-38 Monokotyle Pflanzen, (a) Eine Palme, Cocos nucífera (Kokospalme) aus Tehuantetec, Oaxaca, Mexiko. Die Frucht, die Kokosnuß, ist keine echte Nuß, sondern eine Steinfrucht, (b) Blüten und Früchte der Bananenpflanze

18

Samenpflanzen

387

(c) (Musa x paradisicä). Die einzelne Bananenblüte hat einen unterständigen Fruchtknoten, und die Spitze der Frucht trägt eine große Narbe, dort, wo die Blütenteile abgefallen sind, (c) Oryza sativa (Reis), ein Gras.

..V •

(a) Abb. 18-39 Dikotyle Pflanzen, (a) Eine Seerose (Nymphaea odoralä). Die radiärsymmetrische Blüte besitzt zahlreiche Kronblätter und Staubblätter. Die Blütenhülle ist doppelt, in Kelch und Krone gegliedert. Die Gattung Nymphaea ist in den tropischen und gemäßigten Breiten der ganzen Welt zu finden, (b) Camegiea gigantea (Kandelaberkaktee). Die Kakteen mit ihren ungefähr 2000 Arten kommen fast ausschließlich in der Neuen Welt vor. Die dicken, fleischigen Stämme

b

(c) speichern Wasser und dienen als Photosyntheseorgane, (c) Hepatica americana, eine Verwandte unserer einheimischen Hepatica nobilis (Leberblümchen), einer Frühjahrsblume unserer Laubwälder. Die Blütenhülle ist nicht in Kelch und Krone gegliedert; sie besteht aus 6-7 blauen Tepalen. Die Blüte enthält zahlreiche spiralig angeordnete Staub- und Fruchtblätter. Dicht unter der Blüte befinden sich drei grüne, kelchartige Hochblätter.

388

TEIL

4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

In Teil 5 werden wir Bau und Entwicklung des Pflanzenkörpers der Blütenpflanzen, also des Sporophyten, näher betrachten. Der Rest dieses Kapitels ist dem Hauptmerkmal der angiospermen Pflanzen, der Blüte, und der Fortpflanzung der Blütenpflanzen gewidmet.

Tab. 18-1 Zusammenfassung der Hauptunterschiede zwischen monokotylen und dikotylen Pflanzen Merkmal

Dikotyle Pflanzen

Monokotyle Pflanzen

Blütenteile

4- oder 5-zählig (normalerweise)

dreizählig (normalerweise)

Pollen

im wesentlichen tricolpat (mit 3 Falten oder Poren)

im wesentlichen monocolpat (mit einer Falte oder Pore)

Keimblätter

zwei

eins

Blattnervatur

normalerweise netznervig

normalerweise streifennervig

primäre Leitbündel im Stengel

ringförmig angeordnet

zerstreut angeordnet

Echtes sekundäres Dickenwachstum, vom Cambium ausgehend

normalerweise vorhanden

fehlt

18.3.1 Die Blüte Das deutlichste Merkmal der Angiospermen ist die Blüte, ein Sproß mit begrenztem Wachstum, an dem Sporophylle stehen (Abb. 18-40). Der Name „Angiospermae" leitet sich von den griechischen Wörtern angeion (Gefäß oder Behälter) und spèrma (Same) ab. Das wohl wichtigste Merkmal der Blüte ist das Karpell (Fruchtblatt), der Behälter, der die Samenanlagen enthält, die sich nach der Befruchtung zu Samen entwickeln. Die Blüten können auf verschiedene Weise zu Blütenständen, Infloreszenzen (Abb. 18-41 und 18-42) vereinigt sein. Den Stiel einer Infloreszenz oder einer Einzelblüte nennt man Pedunculus. Den Stiel der einzelnen Blüte im Blütenstand nennt man Pedicellus. Den Teil des Sprosses, dem die Blütenorgane aufsitzen, bezeichnet man als Receptaculum (Blütenboden oder Blütenachse). Wie jede andere Sproßspitze, so besteht auch das Receptaculum aus Knoten und Internodien. In der Blüte sind die Internodien sehr kurz, die Knoten liegen also sehr dicht übereinander. Die meisten Blüten besitzen zweierlei sterile Blütenorgane, die Sepalen (Kelchblätter) und die Petalen (Kronblätter). Sie sitzen unterhalb der fertilen Blütenorgane dem Receptaculum an. Die fertilen Blütenorgane sind die Stamina (Staubblätter) und die Karpelle (Fruchtblätter). Die Kelchblätter stehen unter den Kronblättern, die Staubblätter unter den Fruchtblättern. Alle Kelchblätter

Blütenstiel

(a) Abb. 18-40 Blüten von Lilium henryi. (a) Intakte Blüte. Bei einigen Blüten - z. B. denen der Lilien - sind Kelchblätter und Blütenblätter gleichgestaltet. Eine solche, einheitliche Blütenhülle bezeichnet man als Perigon; ihre Glieder als Tepalen. Bei Blüten mit doppelter Blütenhülle sitzen die Kelchblätter (Sepalen) stets unterhalb der Blütenblätter (Petalen)

an der Blütenachse, (b) Aufgeschnittene Blüte; zwei Tepalen und zwei Staubblätter wurden entfernt, um den Fruchtknoten freizulegen. Der Stempel (Gynoeceum) besteht aus Fruchtknoten, Griffel und Narbe. Das Staubblatt besteht aus Staubfaden (Filament) und Staubbeutel (Anthere); alle Staubblätter zusammen bilden das Androeceum.

KAPITEL

18

Samenpflanzen

389

h Ks 4 • m

\

r

Y j d

(d) >466. ¡8-41 Verschiedene Infloreszenzen, (a) Dolde: Primula elatior (Hohe Schlüsselblume), links, und Primula veris (Duftende Schlüsselblume), rechts, (b) Traube: Lupinus diffusus (Lupine), (c) Rispe: Syringa vulgaris (Flieder), (d) Zusam-

mengesetzte Dolde: Angelica silvestris (Wald-Engelwurz), (e) Kätzchen: Populus nigra (Schwarzpappel), (Siehe auch Abb. 18-42).

390

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

(a) Einfache Infloreszenzen:

(a)

Kätzchen

Ähre

(b)

Traube

(c)

Abb. 18-43 Drei verschiedene Anordnungen von Placenten im coenokarpen Gynoeceum. (a) Zentralwinkelständig (synkarper Fruchtknoten), (b) Parietal (parakarper Fruchtknoten). (c) Zentral und freiständig (parakarper Fruchtknoten).

Doldentraube

(b) Zusammengesetzte Infloreszenzen:

zusammengesetzte Dolde

b 1 Köpfchen

Rispe

Abb. 18-42 Infloreszenzen angiospermer Pflanzen.

\

IP

zusammen bilden den Kalyx (Kelch), alle Kronblätter zusammen bilden die Corolle (Krone). Kelch und K r o n e bilden zusammen das doppelte Perianth (Blütenhülle; wörtlich: „um die Blüte"). Kelchblätter und Kronblätter sind blattähnliche Strukturen. Normalerweise sind die Kelchblätter grün und die Kronblätter prächtig gefärbt. Bei vielen Blüten (z. B. Lilien und Tulpen) besteht die Blütenhülle jedoch nicht aus Kelchblättern und Kronblättern, sondern aus gleichartigen Gliedern (Tepalen) (Abb. 18-40). Dieses einfache Perianth bezeichnet m a n als Perigon. Alle Staubblätter zusammen bilden das Androeceum („Haus des Mannes"). Die Staubblätter sind Mikrosporophylle. Bei den allermeisten lebenden Angiospermen bestehen sie aus einem dünnen Staubfaden, dem Filament, an dessen Spitze ein in zwei Theken gegliederter Staubbeutel (Anthere) sitzt. Jede Theka (Pollensackgruppe) besteht aus zwei Pollensäcken (Mikrosporangien). Die beiden Theken sind durch ein steriles Mittelstück, das sog. Konnektiv miteinander verbunden. Die Karpelle (Fruchtblätter) sind längs gefaltete Megasporophylle, die ein bis mehrere Samenanlagen einschließen. Alle Fruchtblätter zusammen bilden das Gynoeceum („Haus des Weibes"). Eine Blüte kann ein oder mehrere Fruchtblätter besitzen. Ist mehr als ein Fruchtblatt vorhanden, so können sie voneinander getrennt (freiblättri-

KAPITEL

ges, apokarpes Gynoeceum) oder miteinander verwachsen (verwachsenblättriges, coenokarpes Gynoeceum) sein, entweder teilweise oder völlig. Die Gesamtheit der miteinander verwachsenen Karpelle bezeichnet man als Pistill (Stempel), weil das coenokarpe Gynoeceum oft die Form eines Pistills hat, wie es der Apotheker zum Zermörsern von Substanzen benutzt. Bei den meisten Blüten gliedert sich das einzelne Karpell oder die Gesamtheit der verwachsenen Karpelle in einen unteren, fertilen Abschnitt (Fruchtknoten oder Ovar), der die Samenanlagen umschließt, und einen oberen, sterilen Teil {Narbe oder Stigma), welcher den Pollen aufnimmt. Bei vielen Blüten sind Fruchtknoten und Narbe über einen mehr oder weniger langgestreckten Teil, den Griffel, miteinander verbunden. Wenn mehrere Fruchtblätter miteinander verwachsen sind, so können sie einen gemeinsamen Griffel oder eine gemeinsame Narbe besitzen, oder jedes Karpell behält seinen eigenen Griffel und seine eigene Narbe. Der aus mehreren Fruchtblättern gebildete Fruchtknoten ist normalerweise, aber nicht immer, in mehrere Fächer unterteilt. Den Teil des Fruchtknotens, an dem die Samenanlagen sitzen, bezeichnet man als Placenta. Die Anordnung der Placenten und damit auch der Samenanlagen ist bei den verschiedenen Blüten sehr unterschiedlich (Abb. 18-43). Bei einigen Blüten entspringen die Samenanlagen zentral an den Rändern der miteinander zu einem gefächerten Fruchtknoten verwachsenen Karpelle (synkarper Fruchtknoten). Die Samenanlagen sind zentralwinkelständig. Bei anderen Blüten ist der Fruchtknoten des coenokarpen Gynoeceums gänzlich oder teilweise unseptiert, der Fruchtknoten ist parakarp. Hier kann die Plazentation parietal sein, d.h. die Samenanlagen entstehen an der Wand des Fruchtknotens oder an Vorsprüngen desselben. Manchmal entspringen die Samenanlagen aber auch zentral und freiständig in der Mitte des parakarpen Fruchtknotens an einer Gewebesäule, die keine Verbindung zur Fruchtknotenwand hat. Bei einigen Blüten schließlich entsteht nur eine einzige Samenanlage ganz am G r u n d e eines einfächrigen Fruchtknotens. Diese Placentation bezeichnet man als basal. Der besprochene G r u n d a u f b a u einer Blüte kann auf mannigfaltige Weise verändert sein. Die meisten Blüten sind zwittrig, enthalten also Staubblätter und Fruchtblätter. Wenn eins von beiden fehlt, sind die Blüten eingeschlechtig; sie sind dann entweder männlich oder weiblich (Abb. 18-44). Wenn männliche und weibliche Blüten auf einer Pflanze vorkommen (z. B. beim Mais und bei den Eichen), so ist die Art monöcisch (einhäusig). K o m m e n sie hingegen auf getrennten Pflanzen vor (z.B. bei den Weiden), so ist die Art diöcisch (zweihäusig). In einer Blüte kann normalerweise jedes der Blütenor-

18 Samenpflanzen

391

Abb. 18-44 Männliche und weibliche Blüten von Fagus silvatica (Rotbuche). Die Rotbuchen sind monöcisch, die männlichen (hängend) und die weiblichen (aufrecht) Blütenstände entstehen am selben Baum.

gane - Kelchblatt, Kronblatt, Staubblatt oder Fruchtblatt - fehlen. Blüten, die alle vier Sorten von Blütenorganen besitzen, bezeichnet man als vollständig; wenn eine Sorte fehlt, bezeichnet man die Blüte als unvollständig. Eine eingeschlechtige Blüte ist also stets unvollständig, aber nicht jede unvollständige Blüte ist auch zwangsläufig eingeschlechtig. Die Blütenorgane können entweder schraubig auf einem mehr oder weniger gestreckten Blütenboden angeordnet sein, oder die verschiedenen Blütenorgane können in Wirtein übereinander stehen, d. h. gleichartige Blütenorgane - z. B. die Kronblätter - entspringen auf demselben Niveau. Die Blütenorgane desselben Wirteis können untereinander oder mit Gliedern eines anderen Wirteis verwachsen sein. So sind z. B. die Staubblätter ziemlich häufig mit der Blütenkrone verwachsen. Wenn die Blütenorgane desselben Wirteis nicht miteinander verwachsen sind, so bringt man das durch die Vorsilben apo oder poly zum Ausdruck (z. B. apokarpes oder polykarpes Gynoeceum). Sind die Blütenorgane desselben Wirteis jedoch miteinander verwachsen, so bringt man das durch die Vorsilbe syn bzw. sym zum Ausdruck (sympetal, synandrisch, synkarp). Die Blütenorgane können also entweder schraubig oder wirtelig angeordnet sein; darüber hinaus ist aber auch noch die Stellung des Fruchtknotens in Relation zur Lage der Kelchblätter, Kronblätter und Staubblätter und der Verwachsungsgrad des Fruchtknotens mit dem Blü-

392

TEIL

4

F o r m e n m a n n i g f a l t i g k e i t der

Organismen

(c) Narbe

Blütenkrone

Griffel Staubfaden

Staubbeutel

(b)

I

1000 (im

Abb. 18-45 (a) und (b) Kirschblüten (Prunus) sind perigyn; ihre Kelchblätter, Kronblätter und Staubblätter sitzen am Rande eines becherförmig emporgewölbten Receptaculums, dem Blütenbecher (Hypanthium). Ihr Fruchtknoten ist oberständig, also nicht mit dem Blütenbecher verwachsen. In (b) liegen die Staubblätter dicht gedrängt im Blütenbecher, weil die Blütenknospe noch geschlossen ist. (c) und (d) Apfelblüten {Malus) hingegen sind epigyn; ihre Kelchblätter, Kronblätter und Staubblätter entspringen am Rande eines becherförmigen Receptaculums, das sich ganz über dem Gynoeceum zusammenschließt. Fruchtknoten und Blütenbecher sind ganz miteinander verwachsen, der Fruchtknoten ist also unterständig. In (d) ist die Blütenknospe fast geöffnet, die Staubblätter jedoch sind noch nicht ganz entfaltet.

Fruchtknoten

Blütenachse

KAPITEL

tenbecher bei den verschiedenen Blüten unterschiedlich. Wenn Kelchblätter, Kronblätter und Staubblätter unterhalb des Fruchtknotens der Blütenachse entspringen, so ist der Fruchtknoten oberständig, die Blüte hypogyn. Bei einigen Blüten stehen Kelchblätter, Kronblätter und Staubblätter am Rande eines mehr oder weniger weit emporgehobenen, becherförmigen Receptaculums, dem sog. Blütenbecher (Hypanthium), und das Gynoeceum an dessen Grunde. In diesem Falle ist die Blüte perigyn (Abb. 18-45 a + b). Der Fruchtknoten perigyner Blüten kann oberständig (keine Verwachsung der Blütenachse mit dem Fruchtknoten; Abb. 18-45 b), aber auch mittelständig sein. Beim mittelständigen Fruchtknoten ist der Blütenbecher teilweise mit dem Fruchtknoten verwachsen. Bei noch anderen Blüten schließt sich dieser Achsenbecher über dem Gynoeceum zusammen. Der Fruchtknoten ist dann unterständig, die Blüte epigyn (Abb. 184 5 c + d). Für den Bau der Blüte ist schließlich noch die Symmetrie von Bedeutung. Bei einigen Blüten besteht die Krone aus gleichgroßen Kronblättern, die vom Zentrum der Blüte ausstrahlen und gleich weit voneinander entfernt sind. Solche Blüten sind radiärsymmetrisch. Bei anderen Blüten unterscheiden sich ein oder mehrere Glieder wenigstens eines Kronblatt-Wirtels von den übrigen Gliedern desselben Wirteis. Diese Blüten können entweder zwei (disymmeirische Blüten), eine (zygomorphe Blüten) oder keine {asymmetrische Blüten) Symmetrieebene besitzen.

18.3.2 Entwicklungszyklus der Angiospermen Die Gametophyten der Angiospermen sind sehr stark reduziert - mehr als bei irgendeiner anderen heterosporen Pflanze, einschließlich der Gymnospermen. Der reife Mikrogametophyt besteht aus nur drei Zellen. Der reife Megagametophyt, der zeit seines Lebens von Sporophytengewebe umschlossen ist, besteht in den meisten Fällen aus nur sieben Zellen. Antheridien und Archegonien fehlen. Die Bestäubung ist indirekt. Der Pollen (Blütenstaub) gelangt auf die Narbe, und die beiden unbeweglichen Spermazellen gelangen mit Hilfe des Pollenschlauches zum weiblichen Gametophyten. Nach der Befruchtung entwickelt sich die Samenanlage zum Samen. Gleichzeitig entwickelt sich der Fruchtknoten, der die Samenanlagen enthält, zur Frucht.

Mikrosporogenese und M ikrogametogenese Die Mikrosporogenese ist die Bildung von Mikrosporen (einkernige Pollenkörner) in den Mikrosporangien (Pol-

18

Samenpflanzen

393

lensäcke) der Anthere. Die Mikrogametogenese ist die Entwicklung der Mikrospore zum Mikrogametophyten (mehrzelliges Pollenkorn). Die Anthere besteht zunächst aus einer Zellmasse ohne sichtbare Differenzierung, abgesehen von einer teilweise differenzierten Epidermis. Schließlich entstehen in dieser Zellmasse vier mehr oder weniger leicht erkennbare, andersartige Zellgruppen, und zwar in jeder Theka zwei. Wenn sich die Zellen dieser vier Gruppen teilen und die Zellgruppen größer werden, so untergliedern sie sich bald in sterile periphere Zellen und fertile Zellen im Inneren (Archespor). Die sterilen Zellen werden zur mindestens vierschichtigen Wand des Pollensacks. Die zweitäußere Schicht wird zum Endothecium, der sog. Faserschicht, die beim Öffnen des reifen Pollensacks tätig wird. Die innerste oder die beiden innersten Schichten bilden das Tapetum, von dem sich die heranwachsenden Mikrosporen ernähren. Die fertilen (sporogenen) Zellen (Archespor) werden zu Mikrosporenmutterzellen (Pollenmutterzellen; Abb. 18-46). Diese teilen sich meiotisch, und aus jeder diploiden Mikrosporenmutterzelle entstehen vier haploide Mikrosporen (einkernige Pollenkörner). Damit ist die Mikrosporogenese abgeschlossen. Bei der Meiose kann unmittelbar auf die Kernteilungen (also nach Ablauf der I. und nach Ablauf der II. Reifeteilung) eine Zellwandbildung erfolgen (sukzedane Bildung von Pollenkörnern), oder es werden erst nach vollständig beendeter Meiose die vier Mikrosporenprotoplasten gleichzeitig mit einer Zellwand umgeben (simultane Bildung von Pollenkörnern) (Abb. 18-47). Die sukzedane Bildung von Pollenkörnern ist bei den Monokotylen häufig, die simultane bei den Dikotylen. Die gesamte Tetrade und ihre vier Pollenkörner sind zunächst von Callose umgeben, die in der Pollenmutterzelle gebildet wird. Nach Auflösung der Callosehülle durch das Enzym ß-1,3Glucanase werden die Pollenkörner frei und bilden eine widerstandsfähige Außenwand, die Exine, die artspezifisch strukturiert ist (Abb. 18-48), sowie eine Innenwand, die Intine. Die Exine besteht aus einem sehr widerstandsfähigen Isoprenpolymer, dem Sporopollenin, welches nach Abbau der Callosehülle wahrscheinlich teilweise vom Tapetum, teilweise von den Sporen selbst geliefert wird. Die Intine besteht aus Cellulose und Pektin und wird vom Sporenprotoplasten gebildet. Form und Größe der verschiedenen Pollenkörner sind sehr unterschiedlich. Ihr Durchmesser reicht von weniger als 20 |im bis hin zu mehr als 250 um. Auch Zahl und Anordnung der Keimporen oder -spalten für den Austritt des Pollenschlauches sind unterschiedlich. Fast alle Familien, viele Gattungen und eine ganze Reihe von Arten der Blütenpflanzen kann man allein aufgrund ihrer Pollenkörner voneinander unterscheiden. Im Gegensatz zu grö-

394

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen Pollenmutterzellen

Tapetum

500 fim

(b)

1

500 Mm

Abb. 18-46 Zwei Querschnitte durch Antheren von Lilium. (a) Unreife Anthere. Man erkennt die vier Pollensäcke mit den Mikrosporenmutterzellen (Pollenmutterzellen), die vom Tapetum umgeben sind, (b) Reife, aufplatzende Anthere mit Pollenkörnern. Die Trennwand zwischen den beiden benachbarten Pollensäcken wird vielfach vor dem Aufplatzen der Pollensäcke resorbiert.

ßeren Pflanzenteilen - wie Blätter, Blüten u n d F r ü c h t e sind die P o l l e n k ö r n e r sehr h ä u f i g fossil e r h a l t e n . D a s liegt einzig a n d e r Resistenz ihrer Exine. D i e P o l l e n a n a l y s e k a n n u n s also zeigen, welche P f l a n z e n in der V e r g a n g e n heit gelebt h a b e n u n d welches K l i m a d a m a l s geherrscht hat. D i e M i k r o g a m e t o g e n e s e der A n g i o s p e r m e n ist sehr einheitlich. Sie b e g i n n t , w e n n sich die M i k r o s p o r e (das einkernige P o l l e n k o r n ) m i t o t i s c h teilt u n d i n n e r h a l b der u r s p r ü n g l i c h e n S p o r e n w a n d zwei Zellen e n t s t e h e n . D i e g r ö ß e r e ist die vegetative Zelle (Pollenschlauchzelle), die kleinere die generative Zelle ( A b b . 18-49). Bei vielen A r ten befindet sich der M i k r o g a m e t o p h y t (das mehrzellige P o l l e n k o r n ) in diesem zweizeiligen S t a d i u m , w e n n die A n t h e r e a u f r e i ß t u n d die P o l l e n k ö r n e r e n t l ä ß t . Bei a n d e -

Abb. 18-47 Schematische Darstellung der Mikrosporogenese, in deren Verlauf die Mikrosporen (einkernige Pollenkörner) gebildet werden, (a) Bei der sukzedanen (lat. succedere = nachfolgen), d. .h schrittweisen Bildung der Pollenkörner, die bei monokotylen Pflanzen üblich ist, erfolgt die Zellwandbildung jeweils unmittelbar nach der ersten und nach der zweiten Reifeteilung, (b) Bei der simultanen (lat. simultaneus = gleichzeitig) Bildung der Pollenkörner, die bei dikotylen Pflanzen üblich ist, erfolgt im Anschluß an die erste Reifeteilung keine Zellwandbildung. Erst im Anschluß an die zweite Reifeteilung werden die vier Mikrosporenprotoplasten gleichzeitig mit einer Zellwand umgeben. In beiden Fällen (a und b) kommt es zur Bildung von Mikrosporentetraden.

KAPITEL

100 firn

(c)

5 /um

18

Samenpflanzen

395

Abb. 18-48 Die Wand des Pollenkorns schützt den männlichen Gametophyten auf seiner oftmals gefährlichen Reise zwischen Anthere und Narbe. Die äußere Schicht, die Exine, besteht hauptsächlich aus Sporopollenin, das durch Polymerisation von „aktivem Isopren" gebildet wird. Die sehr zähe und widerstandsfähige Exine ist oft sehr kunstvoll gestaltet, und zwar bei den einzelnen Arten in sehr unterschiedlicher, charakteristischer Weise. Die Pollenkörner verschiedener Arten sehen also sehr unterschiedlich aus, wie den folgenden rasterelektronenmikroskopischen Aufnahmen zu entnehmen ist. (a) Pollenkörner der Roßkastanie (Aesculus hippocastanum). (b) Pollenkörner einer Lilie (Lilium longiflorum). (c) Ausschnitt aus der Oberfläche eines Pollenkorns von Lilium longiflorum. (d) Pollenkorn von Ambrosia psilostachya (Ausdauernde Ambrosie); stachelige Pollenkörner wie dieses hier sind bei Asteraceen (Korbblütler) verbreitet.

396

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

20 tim

1

20 um

1

Abb. 18-49 Reifes Pollenkorn von Lilium mit zweizeiligem männlichem Gametophyten. Die spindelförmige generative Zelle teilt sich mitotisch in zwei Spermazellen. Die größere, vegetative Zelle (Pollenschlauchzelle) bildet später den Pollenschlauch.

Abb. 18-50 Reife Pollenkörner von Silphium (Kompaßpflanze), einem Korbblütler, mit dreizelligen, männlichen Gametophyten. Bevor die Bestäubung stattfindet, enthält jedes Pollenkorn zwei fadige Spermazellen, die im Cytoplasma der größeren, vegetativen Zelle liegen.

ren Arten hingegen teilt sich der generative Kern vor dem Freiwerden der Pollenkörner. Hierbei entstehen zwei männliche Gameten, die Spermazellen (Abb. 18-50).

tisch in vier haploide Megasporen, die normalerweise in einer linearen Tetrade angeordnet sind. Hiermit ist die Megasporogenese beendet. Von den vier Megasporen gehen normalerweise drei zugrunde. Die am weitesten von der Mikropyle entfernt gelegene Megaspore (einkerniger Embryosack) bleibt am Leben und entwickelt sich zum Megagametophyten. Die funktionstüchtige Megaspore (einkerniger Embryosack = Embryosackzelle) beginnt sich auf Kosten des Nucellus zu vergrößern. Ihr Kern teilt sich mitotisch (Abb. 18-51 b). Jeder dieser Kerne teilt sich nochmals mitotisch, und die so entstandenen vier Kerne ebenfalls. A m Ende der dritten mitotischen Teilung sind acht Kerne in zwei Vierergruppen im Embryosack angeordnet. Eine Kerngruppe befindet sich an dem der Mikropyle zugewandten Pol des Embryosacks, die andere am entgegengesetzten, der Chalaza zugewandten Pol. Von jeder Gruppe wandert ein Kern ins Zentrum des achtkernigen Embryosacks. Diese beiden Kerne sind die Polkerne. Die drei Kerne am Mikropylenende des Megagametophyten umgeben sich mit Zellwänden. Die drei dabei entstehenden Zellen bilden den Eiapparat, aus Eizelle und zwei Synergiden (Gehilfinnen). Auch am entgegengesetzten Ende kommt es zur Zellwandbildung, es entstehen die drei An-

Megasporogenese und Megagametogenese Die Megasporogenese ist die Megasporenbildung im N u cellus (Megasporangium). Die Megagametogenese ist die Entwicklung der Megaspore zum Megagametophyten. Die Samenanlage ist recht kompliziert gebaut. Ein Stiel, der Funiculus, trägt den von ein oder zwei Integumenten umhüllten Nucellus. Je nach Art sitzen an den Placenten des Fruchtknotens ein bis viele Samenanlagen. Die Samenanlage besteht anfangs nur aus dem Nucellus, bald aber entstehen ein bis zwei Hüllschichten, die Integumente, die an einem Ende eine kleine Öffnung, die Mikropyle, freilassen. Die der Mikropyle gegenüber liegende Basalregion der Samenanlage bezeichnet man als Chalaza. Schon früh in der Entwicklung einer Samenanlage entsteht im Nucellus eine Megasporenmutterzelle (Abb. 1851 a). Die diploide Megasporenmutterzelle teilt sich meio-

kapitel 18 Samenpflanzen Abb. 18-51 Lilium. Einige Entwicklungsstadien der Samenanlage und des Embryosackes, (a) Zwei junge Samenanlagen. Beide enthalten eine einzige, große Megasporenmutterzelle. Integumente sind noch nicht entwickelt, (b) Nun besitzt die Samenanlage Integumente. Die Megasporenmutterzelle befindet sich in der Prophase I der Meiose. (c) Samenanlage mit 8-kernigem Embryosack (hier sind nur 6 der 8 Kerne zu sehen). Die Polkerne sind noch nicht zum Zentrum des Embryosackes transportiert worden.

100 nun

Funiculus

Integument

(c)

397

398

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

tipoden. Die Zelle im Zentrum des Embryosacks bleibt zweikernig. Das achtkernige, siebenzellige Gebilde ist der reife, weibliche Gametophyt, der Embryosack (Abb. 18-51 c). Von diesem Normaltypus der Embryosackentwicklung weichen ungefähr ein Drittel der untersuchten Angiospermenarten ab.

Bestäubung und Befruchtung Wenn die Antheren aufgeplatzt sind, werden die Pollenkörner auf verschiedene Weise zu den Narben transportiert (siehe Kapitel 19). Wenn das Pollenkorn mit der Narbe (Stigma) in Berührung gekommen ist, keimt es, angeregt durch Narbensekrete, aus und bildet einen Pollenschlauch. Wenn sich die generative Zelle bislang noch nicht geteilt hat, so tut sie das jetzt, und es entstehen zwei Spermazellen. Das gekeimte Pollenkorn, mit seinen zwei Spermazellen und dem vegetativen Kern (Pollenschlauchkern), ist der reife Mikrogametophyt (Abb. 18-52). Narbe und Griffel sind anatomisch und physiologisch so gestaltet, daß sie die Pollenkeimung und das Wachstum des Pollenschlauches fördern. Die Oberfläche der Narbe ist papillös und scheidet ein zuckriges Sekret aus. Dieses papillöse Gewebe (Narbengewebe) ist mit der Samenanlage über ein stigmatoides Leitgewebe verbunden, in wel-

.

Pollenschlauchkern

chem der wachsende Pollenschlauch seinen Weg durch den Griffel nimmt. Einige Griffel enthalten einen hohlen Griffelkanal mit papillöser Oberfläche; die Pollenschläuche wachsen dann entweder an der papillösen Oberfläche des Kanals entlang oder zwischen den Zellen, die den Griffelkanal auskleiden. Bei den meisten Angiospermen sind die Griffel jedoch nicht hohl; die Pollenschläuche wachsen dann zwischen den Zellen des stigmatoiden „Leitgewebes" oder in dessen verdickten Zellwänden zu den Samenanlagen hin. Der Pollenschlauch tritt meist durch die Mikropyle in die Samenanlage ein. Er dringt dann in eine der Synergiden ein. Spermazellen und vegetativer Kern werden durch eine subterminale Öffnung, die im Pollenschlauch entsteht, in die Synergide entleert. Dabei geht die Synergide zugrunde. Auch der vegetative Kern geht früher oder später zugrunde. Schließlich dringt einer der Spermakerne in die Eizelle ein und verschmilzt mit dem Eikern. Die andere Spermazelle wandert zur Mitte des Embryosackes und ihr Kern verschmilzt mit den beiden Polkernen (oder dem aus diesen hervorgegangenen sekundären Embryosackkern) zum triploiden Embryosackkern (Abb. 18-53). Sie werden sich daran erinnern, d a ß bei den Gymnospermen nur eine der beiden Spermazellen funktionsfähig ist; die eine verschmilzt mit der Eizelle und die andere geht zugrunde. Die bei den Angiospermen stattfindende Beteiligung beider Spermazellen - die Verschmelzung des einen Spermakerns mit dem Eikern und die Verschmelzung des anderen Spermakerns mit den Polkernen - bezeichnet man als doppelte Befruchtung. Dies ist eines der Hauptmerkmale der Angiospermen. (Wie bereits erwähnt, ist die eigentliche Befruchtung nur die Vereinigung zweier Gameten, in unserem Falle Spermazelle und Eizelle). Durch Vereinigung von Spermazelle und Eizelle entsteht die diploide Zygote. Durch Verschmelzung des anderen Spermakerns mit den Polkernen wird die Bildung des triploiden sekundären Endosperms eingeleitet. Im Gegensatz zum primären, vor der Befruchtung gebildeten Endosperm der Gymnospermen entsteht das sekundäre Endosperm der Angiospermen also erst dann, wenn es tatsächlich zur Versorgung eines Embryos benötigt wird.

Entwicklung von Same und Frucht HT 2^

1 Aon

Abb. 18-52 Reifer, männlicher Gametophyt (Mikrogametophyt) von Polygonatum (Salomonssiegel). Im Pollenschlauch kann man die beiden Spermazellen und den Pollenschlauchkern erkennen.

Durch die doppelte Befruchtung wird eine Reihe von Prozessen eingeleitet: der triploide Endospermkern teilt sich und es entsteht das sekundäre Endosperm. Die Zygote entwickelt sich zum Embryo. Aus den Integumenten wird die Samenschale. Die Fruchtknotenwand und ähnliche Strukturen wandeln sich zur Frucht um.

KAPITEL

100 /um

O c l Q M

0

Bildung d e s triploiden Endospermkerns

O A O :0/

B i l d u n g des d i p l o i d e n Zygotenkerns

''

Abb. 18-53 Lilium. Doppelte Befruchtung. Die eigentliche Befruchtung, die Vereinigung von Spermakern und Eikern (Bildung des diploiden Zygotenkerns), kann man im unteren Teil der Mikrophotographie erkennen. Darüber, in der Mitte des Embryosackes, findet die Verschmelzung der beiden Polkerne mit dem anderen Spermakern (Bildung des triploiden Endospermkerns) statt.

18

Samenpflanzen

399

Im Gegensatz zur Embryogenese der meisten Gymnospermen, die mit einer freien Kernteilungsphase beginnt, ähnelt die Embryogenese der Angiospermen derjenigen niederer Gefaßpflanzen insofern, als hier mit der ersten Teilung des Zygotenkerns gleich eine Zellwandbildung einhergeht. Während der frühen Entwicklungsstadien machen dikotyle und monokotyle Embryonen ähnliche Teilungsfolgen durch, beide wachsen zunächst zu kugeligen Gebilden heran. Erst mit Bildung des oder der Keimblätter beginnen sich monokotyle und dikotyle Embryonen zu unterscheiden. Bei den dikotylen Embryonen entstehen zwei Keimblätter, der monokotyle Embryo hingegen bildet nur ein Keimblatt. Die Embryogenese der Angiospermen wird in Teil 5 genauer besprochen. Die Bildung des sekundären Endosperms wird durch Teilung des triploiden Endospermkerns eingeleitet und beginnt meist früher als die Teilung der Zygote. Bei den meisten Arten erfolgt die Bildung des Endosperms nucleär, d. h. der triploide Kern teilt sich zunächst in eine mehr oder weniger große Zahl freier Kerne, erst dann setzt die Zellwandbildung ein. Bei anderen Arten wird das Endosperm zellulär gebildet, d. h. auf jede mitotische Kernteilung folgt gleich die Bildung einer Zellwand. Auch wenn die Entstehung des Endosperms auf unterschiedliche Weise verlaufen kann, so bleibt doch seine Funktion dieselbe: es dient der Ernährung des Embryos und in vielen Fällen auch des jungen Keimlings. Bei einigen Samen entsteht auch aus dem Nucellus ein Speichergewebe, das Perisperm. Manche Samen (z. B. von Beta, Rübe) können sowohl ein Endosperm als auch ein Perisperm enthalten. Bei vielen dikotylen Pflanzen und einigen monokotylen Pflanzen werden diese Nährgewebe bereits vom sich entwickelnden Embryo ganz aufgebraucht, noch ehe der Same in sein Ruhestadium eintritt. Die Embryonen solcher Samen bilden meist fleischige, Nährstoffe speichernde Keimblätter. Bei anderen Angiospermen, vor allem monokotylen Pflanzen, enthält der Same unterschiedliche Mengen an Endosperm, welches erst bei der Samenkeimung vom Embryo verbraucht wird. Die Hauptreservestoffe der Samen sind Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße. Die Speicherstoffe der Angiospermen-Samen haben einen anderen Ursprung als die der Gymnospermen-Samen. Das Nährgewebe der Gymnospermen ist das primäre Endosperm, das Nährstoffe speichernde Megaprothallium. Es ist also gametophytischen Ursprungs und deshalb haploid. Das Nährgewebe der Angiospermen, das sekundäre Endosperm, ist hingegen weder gametophytischen noch sporophytischen Ursprungs. Gleichzeitig mit der Umwandlung der Samenanlage zum Samen entwickelt sich der Fruchtknoten - und manchmal auch andere Teile der Blüte oder des Blütenstandes - zur Frucht. Wenn sich der Fruchtknoten zur

400

TEIL 4

F o r m e n m a n n i g f a l t i g k e i t der O r g a n i s m e n

achtkerniger Embryosack (Megagametophyt) keimendes Pollenkorn

1 (

generative Zelle Pollenschlauchzelle

Samenanlage

Spermazellen Pollenschlauch Pollenkorn

Antipoden Spermakerne

Polkerne

funktionstüchtige Megaspore A n t h e r e reißt auf und entläßt die reifen Pollenkörner Integumente

eine Synergide

Mikropyle Syngamie

Meiose Anthere

junger

Filament

Pollen sack mit M i k r o s p o r e n mutterzellen reifer E m b r y o Narbe

ausgewachsener S p o r o p h y t mit Blüten

Same

Samenschale

Griffel Fruchtknoten Megasporen mutterzelle

Abb. 18-54 Das Leben einer angiospermen Pflanze geht vom Samen aus, welcher aus einem Embryo, Nährgewebe (bei dem hier abgebildeten Samen das Endosperm) und einer schützenden Samenschale besteht. Der Sporophyt wächst heran und blüht schließlich. In den Antheren der Blüte entstehen Mikrosporenmutterzellen, die sich meiotisch teilen. Aus jeder Mikrosporenmutterzelle entstehen vier haploide Mikrosporen. Jede Mikrospore (einkerniges Pollenkorn) teilt sich in eine vegetative und eine generative Zelle. Dieses zweizeilige Gebilde ist der unreife Mikrogametophyt, oder das mehrzellige Pollenkorn. Entweder vor oder während der Pollenkeimung teilt sich die generative Zelle in zwei Spermazellen, die mit Hilfe des Pollenschlauches zum Eiapparat gelangen. Das gekeimte Pollenkorn, mit Pollenschlauchkern und zwei Spermazellen, ist der reife männliche Gametophyt. In der Samenanlage entsteht eine einzige Megasporenmutterzelle. Aus der Megasporenmutterzelle entstehen durch Meiose vier Megasporen, von denen drei zugrunde gehen.

Die vierte entwickelt sich zum Megagametophyten (weiblicher Gametophyt), im reifen Zustand ein siebenzelliges, achtkerniges Gebilde. Der Megagametophyt wird gewöhnlich als Embryosack bezeichnet. Das Pollenkorn keimt auf der Narbe aus und bildet einen Pollenschlauch, der durch den Griffel in den Fruchtknoten wächst und über die Micropyle in die Samenanlage gelangt. Ein Spermakern aus dem Pollenschlauch verschmilzt mit der Eizelle zur Zygote. Der zweite Spermakern verschmilzt mit den beiden Polkernen des Megagametophyten unter Bildung des triploiden (3 n) Endospermkerns. Diese „doppelte Befruchtung" findet man nur bei den Angiospermen. Im Embryosack wächst der Embryo heran, und die Integumente der Samenanlage werden zur Samenschale. Schließlich wird der Same aus dem Fruchtknoten entlassen. Die in diesem Entwicklungszyklus dargestellte Pflanze ist Oxalis pes-caprae, ein aus Südafrika stammender Sauerklee, der aber in vielen Teilen der Erde kultiviert wird.

KAPITEL

Frucht umwandelt, verdickt sich häufig seine Wand. Diese Fruchtwand, das Perikarp, ist in ein äußeres Exokarp, ein inneres Endokarp und ein dazwischenliegendes Mesokarp, oder aber auch nur in Exo- und Endokarp, gegliedert. Diese Schichten sind bei fleischigen Früchten im allgemeinen deutlicher zu erkennen als bei trockenen. Früchte werden in Kapitel 19 ausführlicher besprochen. Der Entwicklungszyklus der Angiospermen ist in Abb. 18-54 dargestellt.

18.4 Zusammenfassung Die Samenpflanzen gliedern sich in die Gymnospermen und die Angiospermen. Neben Samen besitzen alle Samenpflanzen Megaphylle. Die Voraussetzungen für den Besitz von Samen sind: Heterosporie, Verbleib der einzigen Megaspore im Megasporangium, Entwicklung des Embryos (des jungen Sporophyten) im Megagametophyten (in der Megaspore, im Megasporangium), und Bildung von Integumenten. Alle Samen bestehen aus einer Samenschale (die aus dem Integument oder den Integumenten hervorgeht), einem Embryo und gespeicherten Nährstoffen. Bei den Gymnospermen werden die Speicherstoffe vom haploiden, weiblichen Gametophyten (primäres Endosperm) bereitgestellt, bei den Angiospermen hingegen vom triploiden, sekundären Endosperm. Die Bedeutung der Samen liegt in ihrer großen Überlebenschance bei ungünstigen Bedingungen. Die ältesten fossilen Samen stammen aus Gesteinsschichten des oberen Devons. Die Vorläufer der Gymnospermen sind wahrscheinlich die Progymnospermen, eine Gruppe samenloser Gefäßpflanzen aus dem Paläozoikum. Die lebenden Gymnospermen untergliedern sich in vier Abteilungen: die Cycadophyta, die Ginkgophyta, die Coniferophyta und die Gnetophyta. Die Angiospermen oder Blütenpflanzen gehören zur Abteilung Anthophyta und untergliedern sich in zwei große Klassen, die Monocotyledoneae und die Dicotyledoneae. Die Entwicklungszyklen von Gymnospermen und Angiospermen sind im wesentlichen gleich: ein heteromorpher Generationswechsel mit großem, autotrophen Sporophyten und stark reduziertem Gametophyten. Bei den Gymnospermen entstehen die Samenanlagen (Megasporangien mit Integumenten) frei an der Oberfläche von Megasporophyllen oder analogen Strukturen. Bei den Angiospermen hingegen entstehen die Samenanlagen innerhalb von Megasporophyllen (den zu Fruchtknoten verwachsenen Karpellen). Die Blüte, das charakteristische Fortpflanzungsorgan der Angiospermen, ist gekenn-

18

Samenpflanzen

401

zeichnet durch den Besitz eines oder mehrerer Fruchtknoten. Die Gametophyten der Angiospermen sind viel stärker reduziert als die der Gymnospermen. Der reife, weibliche Gametophyt der meisten Gymnospermen ist eiri vielzelliges Gebilde mit mehreren Archegonien. Bei den Angiospermen ist der weibliche Gametophyt, der Embryosack, meistens ein siebenzelliges, achtkerniges Gebilde. Archegonien fehlen, und die Eizelle wird von zwei Synergiden begleitet. Die Eizelle und die beiden Synergiden zusammen bezeichnet man als Eiapparat. Die männlichen Gametophyten von Gymnospermen und Angiospermen entwickeln sich als Pollenkörner. Antheridien fehlen bei beiden Gruppen von Samenpflanzen. Bei den Gymnospermen entstehen die männlichen Gameten (Spermazellen) aus der spermatogenen Zelle (die durch Teilung der generativen Zelle in eine basale Stielzelle und eine spermatogene Zelle entstanden ist), während sie bei den Angiospermen direkt aus der generativen Zelle entstehen. Das gekeimte Pollenkorn mit seinen zwei Spermazellen ist der reife, männliche Gametophyt. Abgesehen von den Cycadophyta und den Ginkgophyta, welche begeißelte Spermatozoiden besitzen, sind die Spermazellen der Samenpflanzen unbeweglich und gelangen mittels eines Pollenschlauches zur Eizelle. Bei den Samenpflanzen benötigen die Spermazellen kein Wasser, um zu den Eizellen zu gelangen. Statt dessen gelangen die Spermazellen durch eine Kombination von Bestäubung und Pollenschlauchbildung zu den Eizellen. Bei den Gymnospermen ist die Bestäubung die Übertragung der Pollenkörner vom Mikrosporangium zum Megasporangium. Bei den Angiospermen ist die Bestäubung die Übertragung der Pollenkörner von der Anthere auf die Narbe. Bei den Gymnospermen verschmilzt eine Spermazelle des männlichen Gametophyten (gekeimtes Pollenkorn) mit der Eizelle eines Archegoniums. Die zweite Spermazelle hat offenbar keine Funktion und geht zugrunde. Bei den Angiospermen haben beide Spermazellen eine Aufgabe. Die eine verschmilzt mit der Eizelle (Syngamie oder eigentliche Befruchtung). Die andere verschmilzt mit den beiden Polkernen. Hierbei entstehen eine diploide (2n) Zygote und ein triploider (3n) Endospermkern, Ausgangspunkt für das sekundäre Endosperm. Diese sog. doppelte Befruchtung ist eines der Hauptmerkmale der Angiospermen. Nach der Befruchtung entwickeln sich bei den Gymnospermen die Samenanlagen zu Samen. Bei den Angiospermen entwickeln sich die Samenanlagen zu Samen und die Fruchtknoten (manchmal auch andere Blütenteile) zu Früchten, welche die Samen in sich einschließen.

403

Kapitel 19 Evolution der Blütenpflanzen

(b) Abb. 19-1 Bockkäfer (Familie Cerambycidae) im Blütenköpfchen einer kalifornischen Asteracee (Korbblütler), (b) Fossiler Carapax eines Käfers aus derselben Gesteinsschicht, in der auch Liriophyllum zu finden ist, eine ausgestorbene angiosperme Pflanze, die vor ungefähr 100 Millionen Jahren gelebt hat (siehe Frühe Angiospermen und ihre Blüten; S.407). Die Evolution der Blütenpflanzen ist zum großen Teil die Geschichte eines immer enger werdenden Zusammenwirkens zwischen den Blüten und ihren Bestäuberinsekten, wobei zu Beginn vor allem die Käfer eine wichtige Rolle gespielt haben.

Die Angiospermen machen einen großen Teil unserer heutigen sichtbaren Pflanzenwelt aus. Bäume und Sträucher, Rasen und Gärten, Weizenfelder und Feldblumen, Früchte und Gemüse auf dem Markt, bunte Blumensträuße in Blumengeschäften, Geranien in Blumenkästen, Wasserlinsen und Seerosen, Gräser und Kandelaberkakteen - wo immer Sie sind - überall sind Sie von Blütenpflanzen umgeben. In einem Brief an einen Freund bezeichnete Charles Darwin das plötzliche, sichtbare Auftreten dieser großen Pflanzengruppe als an abominable mystery (scheußliches Geheimnis). In fossilienhaltigem Gestein findet man zunächst Schicht auf Schicht baumförmige Bärlappe und Schachtelhalme, die - zusammen mit primitiven Gymnospermen - die üppige Vegetation der Steinkohlenwälder ausmachten (siehe Abb. 17-1). Dann folgen Farne, Cycadophyten, Samenfarne, Ginkgo-Bäume und Coniferen; und schließlich, im Verlauf der ersten Hälfte der Kreidezeit, die Angiospermen. Die Blütenpflanzen übernahmen allmählich weltweit die dominierende Rolle in der Vegetation; vor ungefähr 75 Millionen Jahren waren dann schon viele der heute noch existierenden Familien und sogar einige der heutigen Gattungen vorhanden (Abb. 19-2). Wie aber konnten die Angiospermen weltweit die dominierende Rolle im Pflanzenreich erlangen und einen so großen Artenreichtum entwickeln? Im vorliegenden Kapitel werden wir versuchen, diese Frage zu beantworten. Drei Themen werden behandelt - der Ursprung der Angiospermen, die Evolution der Blüte und die Rolle bestimmter chemischer Substanzen bei der Evolution der Angiospermen.

19.1 Ursprung der Angiospermen Man nimmt heute an, daß die Angiospermen von einer primitiven Gymnosperme abstammen, wahrscheinlich von einem Strauch. Im frühen Mesozoikum und im Paläozoikum gab es eine Reihe von Gymnospermen, die bestimmte Angiospermenmerkmale in sich vereinigten. Aus dem späten Mesozoikum, der Kreidezeit, sind derartige Gymnospermen jedoch nicht mehr bekannt. Dies läßt ei-

404

TEIL

4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

(a)

(c) Abb. 19-2 Fossilien einer Gymnosperme (a) und zweier Angiospermen (b) und (c) aus Gesteinsschichten der oberen Kreide. Die F u n d e stammen aus Wyoming, (a) Zweig und einzelne Zapfenschuppen von Araucarites longifolia, einer ausgestorbenen Coniferenart aus der Familie der Araucariaceen. Diese Familie ist heute auf die Südhalbkugel beschränkt. (b) Blatt einer Fächerpalme, Sabalites montana, einer ausgestorbenen Art, die mit den Palmettos (Palmen der G a t t u n g Sabal) im Südosten der U S A entfernt verwandt ist. (c) Blatt von Viburnum marginatum, einer ausgestorbenen Art der heute weitverbreiteten Strauch-Gattung Viburnum (Schneeball).

ne frühere Entstehungszeit für die Angiospermen vermuten, als den fossilen Funden entnommen werden kann. Die ersten fossilen Pflanzenteile, die deutlich angiospermen Ursprungs sind, stammen aus der frühen Kreidezeit, einer Zeit, die ungefähr 127 Millionen Jahre zurückliegt. Es handelt sich um Pollenkörner mit einer einzigen Keimpore, die zwar den Sporen der Farne und den Pollenkörnern der Gymnospermen sehr ähnlich, aber doch deutlich von diesen zu unterscheiden sind. Es ist anzunehmen, daß die meisten Angiospermen, die vor mehr als 127 Millionen Jahren gelebt haben, Pollenkörner besessen haben, die von denen der Gymnospermen nicht zu unterscheiden waren. Alle monokotylen Pflanzen und auch die meisten primitiven dikotylen Pflanzen besitzen Pollenkörner, die den ältesten, fossil erhaltenen Pollenkörnern ähnlich sind. Vor 120 Millionen Jahren traten dann die dreiporigen Angiospermen-Pollenkörner auf, die für die meisten dikotylen Pflanzen, außer den primitivsten, charakteristisch sind. Vor ungefähr 8 0 - 9 0 Millionen Jahren waren die Angiospermen schließlich überall auf der Welt häufiger vertreten als alle anderen Pflanzen. Nach Meinung des Paläobotanikers Daniel Axelrod von der University of California könnte die frühe Evolution der Angiospermen außerhalb der Tiefebenen, dem normalen Fundort von Fossilien, stattgefunden haben. Wenn das stimmt, könnten die Angiospermen auf Anhöhen und in den Hochländern tropischer Regionen bereits einen großen Artenreichtum erlangt haben, ohne daß Pflanzenreste davon als Fossilien konserviert worden sind. Als diese Angiospermen dann vor 120 Millionen Jahren auch in die Tiefebenen vordrangen und sie besiedelten, wurden sie dominierend und übernahmen weltweit die führende Rolle in der Vegetation.

KAPITEL

19

Evolution der Blütenpflanzen

405

Abb. 19-3 Relative Lage der Südkontinente zu der Zeit, aus der die ersten fossilen Angiospermen stammen. In der mittleren Kreidezeit, also vor 110 ( ± 1 0 ) Millionen Jahren, war Südamerika direkt mit Afrika, Madagaskar und Indien verbunden, und über die Antarktis auch mit Australien. Diese miteinander verbundenen südlichen Landmassen (hier farbig dargestellt) bildeten den Riesenkontinent Gondwana.

Schon ganz in den Anfängen der Evolution der Blütenpflanzen erwarben verschiedene Entwicklungslinien Eigenschaften, die sie besonders widerstandsfähig gegenüber Trockenheit und Kälte machten. Solche Eigenschaften waren z. B. derbe Blätter, oft von reduzierter Größe; Gefäßelemente (wasserleitende Zellen); und ein harter, widerstandsfähiger Same, der den jungen Embryo vor dem Austrocknen schützt. Viele Angiospermengruppen wurden laubabwerfend; d.h. sie werfen ihre Blätter zu bestimmten Zeiten des Jahres, wo vegetatives Wachstum nicht möglich ist, ab. Laubabwerfende Pflanzen traten zuerst in tropischen Gebieten mit periodischer Trockenheit auf. Sie drangen dann weiter nach Norden vor, wo Teile des Jahres so kalt waren, daß kein Wasser für das Wachstum zur Verfügung stand. Auch ist die Bestäubungsform der Angiospermen, die ja kein freies Wasser benötigt, wahrscheinlich an trockenen Standorten von großem Vorteil. Diese Eigenschaften, die viele Angiospermen besonders resistent gegenüber Trockenheit und Kälte machen, kommen nicht bei allen Blütenpflanzen vor, sind auch nicht auf die Angiospermen beschränkt; sicherlich aber haben sie eine große Rolle bei der Entstehung des Artenreichtums dieser Pflanzengruppe gespielt. Vor ungefähr 127 Millionen Jahren - also zu der Zeit, aus der die ersten fossilen angiospermen Pollenkörner stammen - waren Afrika und Südamerika miteinander verbunden und bildeten mit der Antarktis, Indien und Australien einen großen, südlichen Superkontinent Gondwana (Abb. 19-3). Afrika und Südamerika begannen sich zu dieser Zeit zu trennen, unter Bildung des Südatlantik. In den tropischen Gebieten trennten sich Südamerika und Afrika aber erst vor 90 Millionen Jahren endgültig. Ungefähr zur selben Zeit begann Indien nach

Norden zu wandern und stieß vor ungefähr 45 Millionen Jahren mit Asien zusammen. Dabei wurde das Himalayagebirge aufgeworfen. Australien begann sich vor 55 Millionen Jahren von der Antarktis zu trennen. Die Trennung war aber erst vor 40 Millionen Jahren beendet. In den zentralen Teilen von West-Gondwana, welches' aus dem heutigen Südamerika und Afrika bestand, hat es bestimmt viele aride bis subhumide Standorte von der Art gegeben, wo nach Meinung von Axelrod und anderen Wissenschaftlern die frühe Evolution der Angiospermen stattgefunden haben könnte. Ungefähr zu der Zeit, als die Zahl fossil nachweisbarer Angiospermen weltweit zunahm, trennten sich Südamerika und Afrika endgültig voneinander. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Klima der Erde sehr stark verändert, besonders in den zentralen Gebieten Südamerikas und Afrikas, die nun milder und weniger extrem in Temperatur und Luftfeuchte geworden waren. Man glaubt, daß diese klimatischen Veränderungen mit der Expansion und der günstig verlaufenden Evolution der frühen Angiospermen im Zusammenhang stehen. Als Indien und Australien sich noch ganz im Süden befanden, waren sie von einer Vegetation bedeckt, die für kühle gemäßigte Regionen typisch ist. Bestimmte Gruppen von Pflanzen und Tieren treten heutzutage sowohl im Süden von Südamerika als auch im südöstlichen Australien (Tasmanien) auf. Sie sind in diese Gebiete durch Wanderung über die Antarktis gelangt, und zwar lange bevor dort das ewige Eis gebildet worden war. Diese Vereisung fand vor ungefähr 20 Millionen Jahren statt (Abb. 19-4). Als Australien während der vergangenen 55 Millionen Jahre nach Norden wanderte, gelangte es in die große aride Zone, die an die Tropen grenzt, und die heute dort

406

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

(a) Abb. 19-4 (a) Nothofagus menziesii (Schein- oder Südbuche) aus dem „ U p p e r Caples Valley" in Neuseeland, ist ein Relikt der antarkto-tertiären Baumflora, die sich vom heutigen Süden Südamerikas über die Antarktis bis nach Australien und Neuseeland erstreckte. Diese Gebiete waren bis zum Mittleren Eozän, also bis vor ungefähr 45 Millionen Jahren, be-

verbreiteten ariden Pflanzengesellschaften dehnten sich stark aus. Als Australien sich Asien näherte, gelangte sein nördlicher Teil in einen tropischen Klimabereich, und Pflanzen und Tiere aus dem tropischen Asien drangen dort ein. Die für Asien und Australien charakteristischen Pflanzen sind jedoch weitgehend geographisch voneinander getrennt geblieben. Die Linie, die die Gebiete voneinander trennt, in denen die asiatischen bzw. australischen Arten vorherrschen, nennt man die „Wallace-Linie", nach Alfred Rüssel Wallace, einem der ersten Naturforscher in diesen Gebieten. (Wallace hat gleichzeitig mit Darwin die Theorie von der Evolution durch natürliche Selektion aufgestellt). Die ursprünglichen Pflanzen und Tiere aus dem kühlen, gemäßigten Australien sind nur in seinem Südosten, in Tasmanien, und in Neuseeland erhalten geblieben. Neuseeland war bis vor 80 Millionen Jahren ein Teil des Antarktisch-Australischen Kontinents und wanderte dann nach Norden. Von der ursprünglichen Flora und Fauna Indiens sind heute nur noch einige Überreste vorhanden. Indien wanderte viel weiter als Australien und überquerte nacheinander die südliche aride Zone, die glühend heißen Tropen und die nördliche aride Zone. Daher starben fast alle ursprünglichen Pflanzen und Tiere aus und wurden durch

(b) nachbart. (b) Nypa fruticans, eine Palme, die am R a n d e sumpfiger Gebiete der Gezeitenzone wächst. Im Eozän, als Afrika und Südamerika dichter beieinander waren, war Nypa in den wärmeren Gebieten der Erde weit verbreitet. Heute ist diese Palme auf Südostasien, N o r d - und Nordostaustralien und einige pazifische Inseln beschränkt.

die Wüsten-, Tropen- und Gebirgsflora und -fauna Eurasiens ersetzt. Im Verlauf der Evolutionsgeschichte der Angiospermen sind immer wieder neue Entwicklungslinien entstanden, wenn sich das Klima der Erde veränderte. Bei der Entstehung der Angiospermen, bei der nachfolgenden Bildung ihres Artenreichtums und bei ihrer Neugruppierung in modernen Pflanzengesellschaften hat zunehmende Aridität mehrfach entscheidend mitgewirkt. Die zunehmende Trockenheit stellte eine mächtige Selektionskraft dar, unter deren Druck sich immer neue Angiospermen-Arten bildeten, bestehende Arten eliminiert oder nach Süden zurückgedrängt wurden. Nur relativ wenige waren in der Lage, in den ariden Gebieten zu leben. Der Bau der Angiospermen, die in ariden Gebieten leben können, ist oft völlig anders als der ihrer Vorfahren.

KAPITEL 1 9

Frühe Angiospermen

und ihre

Evolution der Blütenpflanzen

407

Blüten

Liriophyllum, Vertreter einer ausgestorbenen Angiospermenfamilie der mittleren Kreidezeit (vor ungefähr 100 Millionen Jahren) aus Mittelkansas/USA. Der fertile Sproß der Pflanze (a) besteht aus einer bis zu 12 cm langen Achse, an der schraubig angeordnet mehr als 50 vielsamige Karpelle mit einer ventralen Verwachsungsnaht sitzen. Weder die fertilen Sprosse, noch die großen, ganzrandi-

gen, zweilappigen Blätter (b) von Liriophyllum können mit irgendeiner heute lebenden Angiospermenfamilie in Verbindung gebracht werden. Eingehende Untersuchungen von David L. Dilcher und seinen Mitarbeitern (Indiana University, USA) haben über die Natur der frühen Angiospermen und ihrer Blüten viel in Erfahrung gebracht. ; ,1

408

TEIL 4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

19.2 Evolution der Blüte 19.2.1 Blütenorgane

Fruchtblätter

Das einzige Merkmal, das die Angiospermen von allen anderen Pflanzengruppen abhebt, ist die Blüte. All unsere Vermutungen über die Evolution der Blüte beruhen auf vergleichenden Studien heutiger Formen. Wegen ihrer Zartheit sind Blüten nämlich nur sehr selten fossil erhalten, und wenn, dann sind sie nur sehr schlecht konserviert; erst seit kurzem werden kritische Untersuchungen fossiler Blüten zur Aufklärung der Angiospermenevolution herangezogen. Wir haben bereits früher erwähnt, daß die Blüte ein Sproß mit begrenztem Wachstum ist, der zahlreiche blattartige Anhängsel trägt; nun werden wir genauer untersuchen, welcher Art die Verwandtschaft der verschiedenen Blütenorgane mit den Blättern ist.

Narbengewebe

primitives Karpell lateral versiegeltes Karpell mit Narbengewebe-Schopf

Das primitivste Fruchtblatt (Karpell) ist ein in der Mitte gefaltetes Blatt. Wie Abb. 19-5 zu entnehmen ist, gibt es bei einigen Fruchtblatt-Typen keine bestimmte Zone für die Aufnahme von Pollenkörnern. Beide Ränder des gefalteten Blattes sind mit Narbengewebe bedeckt. Das gefaltete Fruchtblatt umgibt die Samenanlagen, die auf seiner Innenfläche sitzen. Bei allen lebenden Angiospermen sind die Fruchtblätter geschlossen, auch wenn dies bei den verschiedenen Arten verschieden weit geht. Die primitiven Angiospermen besitzen große Flächen mit Narbengewebe, unmittelbar auf den „unversiegelten" Karpellen. Höher spezialisierte Formen, zu denen fast alle heute lebenden Arten gehören, besitzen eine viel kleinere Narbe, die auf einem Griffel über dem Fruchtknoten sitzt. Die Samenanlagen, die bei den ersten Angiospermen vermutlich in Reihen entlang den Rändern und in deren Nähe auf der Innenseite des Karpells gestanden haben, wurden bei den höher entwickelten Karpellen in unterschiedlicher Weise angeordnet. Die primitiven Angiospermen besaßen viele Samenanlagen, die höher entwickelten Arten nur wenige. Das Gynoeceum der primitiven Angiospermenblüte enthielt eine Anzahl freier Karpelle. Im Laufe der Höherentwicklung der Blüte nahm die Zahl der freien Karpelle ab, oder sie verwuchsen miteinander, oder beides war der Fall (Abb. 19-6).

Karpell mit submarginalen Samenanlagen

Deformation des Karpells

basal versiegeltes Karpell

Narbengewebe-Schopf an der Spitze eines Griffels

Abb. 19-5 Beispiele für Veränderungen, die im Laufe der Evolution des Angiospermen-Karpells aufgetreten sind. Das primitive Karpell ist längs zusammengefaltet. Es umschließt eine Reihe von Samenanlagen, die an seiner Innenfläche sitzen. Seine Ränder sind nicht verwachsen und auf seiner Innenseite sitzen zahlreiche Papillen von Narbengewebe; eine genau lokalisierte Narbe gibt es nicht. Bei den Karpellen, die sich von dieser primitiven Form ableiten, sind die Ränder mehr oder weniger weit verwachsen, und das den Pollen aufnehmende Narbengewebe ist auf einen Schopf beschränkt.

Fruchtknoten, aus einem einzigen Karpell durch Einfaltung und Verwachsung der Ränder hervorgegangen

Fruchtknoten, durch Verwachsung mehrerer getrennter Karpelle hervorgegangen

Abb. 19-6 ceums.

Vermutlicher Verlauf der Evolution des Gynoe-

KAPITEL 19

Evolution der Blütenpflanzen

409

Staubblätter

Blütenhülle

Die Staubblätter (Stamina) der heutigen Blütenpflanzen ähneln in der Regel kaum noch Blättern; bei den Magnolien und deren Verwandten aber kann man auch heute noch blattähnliche Staubblätter finden. Wie diese, so können auch die primitiven Staubblätter blattförmig gewesen sein, mit Sporangien nahe dem Zentrum des Blattes (Abb. 19-7). Eine Hypothese behauptet, das Blatt habe sich in einen dünnen Stiel (Filament) umgewandelt, der an seiner Spitze Sporangien trägt. Eine andere Hypothese aber behauptet, daß die Stamina aus dünnen Verzweigungssystemen mit terminalen Sporangien hervorgegangen sind, die allmählich verschmolzen und in einigen Fällen blattartig geworden sind. Bei einigen Blüten verwuchsen die Staubblätter sogar untereinander oder mit anderen Blütenteilen. So können die Staubblätter miteinander zu einer Röhre verwachsen sein, wie bei der Melone, Erbse und Sonnenblume; oder sie können mit der Krone verwachsen sein, wie bei Phlox, Löwenmäulchen und Pfefferminze. Bei einigen hochentwickelten Blüten sind die Staubblätter sekundär steril geworden, d. h. sie haben ihre Sporangien verloren und sind z. B. zu Nektarien umgewandelt worden. Diese Nektarien sind Drüsengewebe, die Nektar ausscheiden, eine zuckrige Flüssigkeit, welche Bestäuber anlockt und ihnen als Nahrung dient. (Die meisten Nektarien sind jedoch nicht durch Umwandlung von Staubblättern entstanden). Wie wir später sehen werden, haben die Staubblätter auch bei der Evolution der Kronblätter eine Rolle gespielt.

Die Blütenhülle, das Perianth, besteht aus Kelchblättern (Sepalen) und Kronblättern (Petalen). Die Kelchblätter der meisten Blüten sind grün und photosynthetisch aktiv. Sie werden durch mehrere Leitbündel versorgt und ähneln so den Laubblättern. Man vermutet, daß sie direkt aus Laubblättern hervorgegangen sind. Bei einigen Familien - z. B. den Seerosen - scheinen die Kronblätter aus Kelchblättern hervorgegangen zu sein. Bei den meisten Angiospermen aber scheinen die Kronblätter auf Staubblätter zurückzugehen, die ihre Sporangien verloren haben und für ihre neue Aufgabe - Aufmerksamkeit auf die Blüte zu lenken - umgestaltet worden sind. Die meisten Kronblätter besitzen nur ein Leitbündel, genau wie die Staubblätter. Die Kelchblätter hingegen besitzen - genau wie die Laubblätter - normalerweise drei oder mehr Leitbündel. Im Laufe der Evolution hat bei vielen Angiospermengruppen eine Verwachsung der Kronblätter stattgefunden. So entstand die für viele Familien charakteristische Kronröhre. Ist eine Kronröhre vorhanden, so verwachsen die Staubblätter häufig mit dieser, und es sieht dann so aus, als würden sie aus der Kronröhre entspringen. Bei einer Reihe höher entwickelter Familien sind auch die Kelchblätter zu einer Röhre verwachsen.

Abb. 19-7 Staubblätter primitiver Angiospermen. Bei diesen holzigen Pflanzen entstehen die Antheren auf der Ober- oder Unterseite eines blattartigen Mikrosporophylls. Die Mikrosporophylle von Himantandra und Degeneria sind hier von unten, die von Austrobaileya und Magnolia von oben gesehen. Bei den meisten der heute lebenden Angiospermen ist der Anteil des sterilen Gewebes, gemessen an den Sporangien, viel geringer. Die Anthere sitzt am Ende eines meist dünnen Filamentes. Solche Staubblätter sind überhaupt nicht blattähnlich. Diese Unterschiede zwischen den Staubblättern primitiver und moderner Angiospermen sind schwierig zu erklären und haben zu der Hypothese geführt, daß blattähnliche Stamina wie diese hier vielleicht in Wirklichkeit aus Zweigsystemen mit terminalen Sporangien hervorgegangen sind, die allmählich miteinander verschmolzen und blattartig geworden sind.

Austrobaileya

19.2.2 Evolutionstendenzen bei den Blüten Eine heute vorkommende Blüte, die im Aufbau einer primitiven Blüte gleicht, ist die Magnolienblüte (Abb. 19-8).

Himantandra

Degeneria

Magnolia

410

TEIL

4

Formenmannigfaltigkeit der Organismen

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Mi 7P-S Blütenbau von Magnolia grandiflora (a und b). Das zapfenförmige Receptaculum ist von spiralig angeordneten Fruchtblättern mit gekrümmten Griffeln besetzt. Unterhalb der Fruchtblätter stehen die cremefarbigen Staubblätter, (a) Eine noch geschlossene Blütenknospe, längs aufgeschnitten, um die Pollen-aufnehmenden Narben erkennen zu können; die Antheren sind noch unreif, können also ihren Blütenstaub noch nicht abgeben, (b) Receptaculum einer zwei

Sie besitzt zahlreiche Fruchtblätter, Staubblätter und Blütenhüllblätter, die alle nicht unter- oder miteinander verwachsen sind. Die schraubige Anordnung der Blütenorgane an der Spitze der Blütenachse (Receptaculum) ist deutlich zu sehen. Die langgestreckte, zapfenförmige Gestalt des Magnoliaceen-Receptaculums ist sicherlich eine sekundäre Spezialisierung, die von anderen primitiven Angiospermen-Familien nicht geteilt wird. Vergleicht man solch eine primitive Blüte mit einer höher entwickelten, so zeichnen sich vier Haupttendenzen in der Evolution der Blüte ab (siehe Abb. 19-9 und Abb. 19-10). 1. Aus Blüten mit zahlreichen gleichartigen Blütenorganen, von unbegrenzter Zahl, haben sich Blüten mit wenigen gleichartigen Blütenorganen, von begrenzter Zahl, entwickelt. 2. Die Zahl der in der Blüte vorkommenden verschiedenartigen Blütenorgansorten ist von vier, bei den primitiven Blüten, auf drei, zwei oder sogar nur eine, bei den höher entwickelten Blüten, reduziert worden. Der Sproß wurde gestaucht, so daß die ursprünglich spiralige Anordnung der Blütenorgane verlorenging. Gleichartige Blütenorgane verwuchsen miteinander und verschiedenartige untereinander. 3. Der oberständige Fruchtknoten wurde unterständig. 4. Der regelmäßige, radiäre Bau der primitiven Blüte wich dem disymmetrischen, zygomorphen oder asymmetrischen Bau der höher entwickelten Blüten.

Tage alten Blüte, mit > hig sind und Staubblät (c) Frucht von Magnol umgebildeten Karpellei einem dünnen Faden a hängen. Dieser Faden kung eines Gefäßes au:

Abb. 19-9 Blütenbau dreier bekannter Dikotylen-Familien mit unterschiedlicher Stellung des Fruchtknotens. Viele Rosaceen (Rosengewächse) haben oberständige Fruchtknoten, die übrigen Blütenorgane sitzen am Rande eines schüsseiförmig erweiterten, jedoch nicht mit dem Gynoeceum verwachsenen, Receptaculums. Diese Blüten sind perigyn. Die Apiaceen (Doldengewächse) und Onagraceen (Nachtkerzengewächse) haben unterständige Fruchtknoten, der Blütenbecher ist also vollständig mit dem Fruchtknoten verwachsen; die übrigen Blütenorgane sind oberhalb des Fruchtknotens inseriert, die Blüten sind also epigyn.

KAPITEL

19 Evolution der Blütenpflanzen

411

Narben

Staubfadenröhre Griffel

Kelchblattbasis Kronblattbasis Fruchtknotenfach mit Samenanlagen

Hochblatt

Abb. 19-10 Beispiele für Weiterentwicklungstendenzen von Blüten, (a) Chimaphila umbellata (Winterlieb). Die Kelchblätter (auf dem Photo nicht sichtbar) und die Kronblätter sind auf je 5, die Staubblätter auf 10 reduziert, und die fünf Fruchtblätter sind zu einem einzigen Stempel mit nur einer Narbe verwachsen, (b) Nelumbo lutea (Lotusblume). Die Blütenhüllblätter sind gleich gestaltet (Tepalen). Blütenhüllblätter und Staubblätter sind zahlreich, frei und spiralig angeordnet; die Fruchtblätter jedoch sind zu einem einzigen Stempel verwachsen. (c) Nemophila menziesii, eine Hydrophyllacee (Wasserblattgewächs). Die Kelchblätter (auf diesem Photo nicht sichtbar), Kronblätter und Fruchtblätter sind jeweils untereinander verwachsen. Die Staubblätter sind auf fünf reduziert und sitzen an der Blütenkrone, (d) Gossypium (Baumwolle). Die Baumwollblüte zeigt die für die Malvaceen (Malvengewächse) charakteristische, den Griffel umschließende Staubfadenröhre, die durch Verwachsung der Filamente entsteht. Die Antheren sitzen somit einer kleinen Säule (Columna) auf.

1 9 . 2 . 3 Beispiele für höher entwickelte Angiospermen-Familien Z u den a m h ö c h s t e n entwickelten Blüten gehören die Blüten der dikotylen Asteraceen u n d der m o n o k o t y l e n O r chideen. Dies sind auch die beiden artenreichsten F a m i lien der A n g i o s p e r m e n . Bei den Asteraceen ( K o r b b l ü t l e r ) sind ziemlich kleine, epigyne Blüten eng n e b e n e i n a n d e r zu einem k ö p f c h e n f ö r migen B l ü t e n s t a n d vereinigt. Jede dieser winzigen Einzelblüten besitzt einen u n t e r s t ä n d i g e n , einfachrigen F r u c h t k n o t e n a u s zwei m i t e i n a n d e r verwachsenen F r u c h t b l ä t tern. Jeder F r u c h t k n o t e n e n t h ä l t n u r eine S a m e n a n l a g e ( A b b . 19-11).

412

TEIL 4

F o r m e n m a n n i g f a l t i g k e i t der O r g a n i s m e n

Abb. 19-11 (a) Bau eines Asteraceen-Blütenköpfchens (Korbblütler). Die einzelnen Blüten sind zu einem Blütenköpfchen vereinigt, das bei der Anlockung bestäubender Insekten wie eine einzige große Blüte wirkt, (b)-(d) Verschiedene Asteraceen: (b) Taraxacum officinale (Löwenzahn), alle Blüten zungenförmig; (c) Cirsium pastoris (Kratzdistel), alle Blüten röhrenförmig; (d) Helianthus annuus (Sonnenblume), nur die Scheibenblüten röhrenförmig, die Randblüten zungenförmig. Scheibenblüte

Längsschnitt durch ein Blütenköpfchen Narbe verwachsene

Bei den Asteraceen-Blüten ist die Zahl der Staubblätter auf fünf reduziert. Ihre Antheren sind normalerweise zur Staubblattröhre verwachsen, ihre freien Filamente sind an der Blütenkrone befestigt. Die fünf Kronblätter sind untereinander zur Kronröhre verwachsen. Die Kelchblätter sind stark reduziert oder durch eine Haarkrone, den Pappus, ersetzt. Dieser Pappus bleibt oft an der Frucht sitzen und dient als Flugapparat, so z.B. beim Löwenzahn (siehe Abb. 10-7 f)- Bei anderen Asteraceen, z. B. bei Bidens (Zweizahn), ist der Pappus borstenförmig und dient der Verbreitung durch Tiere. Bei vielen Asteraceen befinden sich in einem Blütenköpfchen zwei verschiedene Blütentypen - Scheibenblüten, die in der Mitte des Köpfchens sitzen - und Strahlblüten (Randblüten) am Rande des Köpfchens. Die Randblüten sind manchmal steril ( '0 fit)

Bei den meisten verholzten Wurzeln und Sproßachsen entsteht nach Beginn der Bildung von sekundärem Xylem und Phloem ein Korkgewebe, das die Epidermis als Schutzhülle ersetzt. Der Kork, das Phellem, wird vom Korkcambium, dem Phellogen, gebildet. Aus diesem Phellogen entsteht außerdem auch noch das Phelloderm. Das Phellem wird vom Phellogen nach außen, das Phelloderm nach innen abgegeben (Abb. 24-11 und 24-12). Alle drei Gewebe zusammen Kork, Korkcambium und Phelloderm-bezeichnet man als Periderm. Bei den meisten Dikotylen und Gymnospermen wird das erste Periderm normalerweise bereits im ersten Wachstumsjahr von Wurzel oder Stamm angelegt, und zwar in Teilen, deren Streckungswachstum beendet ist. Bei den Sproßachsen entsteht das erste Korkcambium im allgemeinen in einer unmittelbar unter der Epidermis gelegenen Rindenzellschicht (Abb. 24-6 und 24-11), bei vielen Arten entsteht es jedoch auch aus der Epidermis selbst. Bei den Wurzeln entsteht das erste Korkcambium durch perikline Teilung der Perizykelzellen, wobei sich die nach außen abgegebenen Tochterzellen zu einem ge-

KAPITEL

24

Sekundäres Dicken Wachstum

525

Abb. 24-12 Lenticelle der Kletterpflanze Aristolochia (Osterluzei) im Querschnitt. Anders als bei Sambucus (Holunder) ist das Phelloderm von Aristolochia überall mehrschichtig.

Epidermis Kork

Phelloderm

schlossenen Korkcambiumzylinder vereinigen. Später dann können sich die restlichen, unter dem Periderm gelegenen Perizykelzellen teilen und ein rindenähnliches Gewebe bilden (Abb. 24-6 und 24-7). Wiederholte Teilungen des Korkcambiums führen zur Bildung radialer Reihen dicht gepackter Zellen, zumeist Korkzellen (Abb. 24-11 und 24-12). Im Verlaufe ihrer Differenzierung werden die Wände der Korkzellen innen mit einer ziemlich dicken S'«6en/jschicht ausgekleidet. Diese hochpolymeren Fettsäureester machen das Korkgewebe höchst undurchlässig für Wasser und Gase. Die Wände der Korkzellen können außerdem verholzen. Im reifen Zustand sind die Korkzellen tot. Die Phellodermzellen hingegen sind im reifen Zustand lebend, nicht mit Suberin ausgekleidet und ähneln parenchymatischen Rindenzellen. Die Phellodermzellen kann man von den Rindenzellen dadurch unterscheiden, daß sie - anders als diese - als innerste Zellen des Periderms mit dessen übrigen Zellen in radialer Reihe stehen (Abb. 24-12). Mit der Bildung des ersten Periderms in der Wurzel werden primäre Rinde - einschließlich Endodermis - und Rhizodermis vom übrigen Wurzelgewebe abgetrennt. Von der Wasser- und Nährsalzzufuhr durch die undurchlässige Korkbarriere abgeschnitten, sterben primäre Rinde und Rhizodermis schließlich ab und werden abgestoßen. Bei der Sproßachse aber entsteht das erste Periderm normalerweise unmittelbar unter der Epidermis. Deshalb wird die primäre Rinde der Sproßachse während des ersten Jahres nicht abgestoßen (Abb. 24-6 und 24-9); die Epidermis trocknet jedoch aus und schält sich ab. Nach der ersten Wachstumsperiode (am Ende des ersten Jahres) enthält eine verholzte Wurzel folgende Gewe-

be (von außen nach innen): Reste der Rhizodermis und der primären Rinde, Periderm, Perizykel, primäres Phloem (Fasern und zerdrückte, dünnwandige Zellen), sekundäres Phloem, Cambium, sekundäres Xylem und primäres Xylem. Eine verholzte Sproßachse enthält am Ende des ersten Jahres folgende Gewebe (von außen nach innen): Epidermisreste, Periderm, primäre Rinde, primäres Phloem (Fasern und zerdrückte, dünnwandige Zellen), sekundäres Phloem, Cambium, sekundäres Xylem, primäres Xylem und Mark (Abb. 24-6).

Lenticellen Im vorigen Abschnitt haben wir erwähnt, daß die mit Suberin ausgekleideten Korkzellen dicht nebeneinander liegen und das Korkgewebe eine für Wasser und Gase undurchlässige Barriere ist. Die inneren Gewebe der Sproßachse sind jedoch, wie alle stoffwechselaktiven Gewebe, auf den Gasaustausch mit der Außenluft angewiesen. Auch die inneren Gewebe der Wurzel sind auf Gasaustausch angewiesen, und zwar mit den Lufträumen zwischen den Erdpartikeln. In Wurzeln und Sproßachsen mit Periderm findet dieser Gasaustausch über die Lenticellen (Abb. 24-11 und 24-12) statt. Es handelt sich hierbei um Teile des Periderms, in denen das Phellogen (Korkcambium) aktiver ist als an anderen Stellen. Dies führt zur Bildung eines sehr interzellularenreichen Gewebes. Darüber hinaus besitzt auch das Phellogen selbst im Bereich der Lenticellen Interzellularen. Die Bildung von Lenticellen beginnt während der Entstehung des ersten Periderms (Abb. 24-11). Bei der Sproßachse treten Lenticellen i.a. unterhalb einer Spaltöffnung oder Spaltöffnungs-Gruppe auf. Sie bilden an der Ober-

526

TEIL

5 Bau und Entwicklung des angiospermen Pflanzenkörpers

Abb. 24-13 Blockdiagramm vom Stamm der Roteiche {Quercus rubra) mit Blick auf Querschnitt, Tangentialschnitt und Radialschnitt. Die dunkle Zone im Zentrum des Stammes ist Kernholz, das hellere Holz ist Splintholz.

Aufsicht auf das C a m b i u m

fläche von Sproßachse oder Wurzel runde, ovale oder längliche Erhebungen (siehe Abb. 24-18). Auch auf einigen Früchten kommen Lenticellen v o r - s o sind z.B. die kleinen Punkte auf der Schale von Äpfeln und Birnen Lenticellen. Wenn die Wurzeln und Stämme älter werden, bilden sich neue Lenticellen am Grunde von Borkenrissen aus neu angelegten Peridermen heraus.

Rinde

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I

Abb. 24-14 Querschnitt durch Borke, sekundäre Rinde und einen Teil des sekundären Xylems von einem alten Lindenstamm (Tilia americana). Mehrere Periderme durchziehen die größtenteils bräunliche Borke im oberen Drittel des Querschnittes. Unterhalb der Borke liegt die sekundäre Rinde; sie hebt sich deutlich von dem heller gefärbten Xylem im unteren Drittel des Querschnittes ab.

Die Begriffe Kork, Borke und Rinde werden häufig und eigentlich unnötigerweise miteinander verwechselt. Wie wir gerade gesehen haben, ist der Kork einer der drei Bestandteile des Periderms, eines sekundären Abschlußgewebes, das die Epidermis der meisten verholzten Wurzeln und Sproßachsen ersetzt. Der Begriff Rinde hingegen bezeichnet das gesamte Gewebe außerhalb des Cambiums, bis hin zur Epidermis oder zum jüngsten Korkcambium (Abb. 24-13 und 24-14). Wenn das Cambium gebildet, aber noch kein sekundäres Phloem abgegeben worden ist, besteht die Rinde nur aus primären Geweben, weshalb sie primäre Rinde genannt wird. Nach der ersten Wachstumsperiode, am Ende des ersten Jahres, gehört zur Rinde alles noch vorhandene lebende primäre Gewebe und das sekundäre Phloem (die sekundäre Rinde). In jeder Vegetationsperiode gibt das Cambium neues sekundäres Phloem (Bast) nach außen an die Rinde und neues sekundäres Xylem (Holz) nach innen ab. Wie bereits erwähnt, bildet das Cambium in der Regel weniger sekundäres Phloem als sekundäres Xylem. Darüber hinaus werden die dünnwandigen Zellen (Siebelemente und verschiedene Sorten parenchymatischer Zellen) des alten

KAPITEL

24 Sekundäres Dickenwachstum

527

Phloemstrahl Phloemstrahl

Siebelemente

Periderm

Cambiumzone sich differenzierendes Xylem sekundäres leitendes nichtleitendes Xylem sekundäres Phloem sekundäres Phloem

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' 100 um

Abb. 24-15 Querschnitt durch die Rinde eines Robinienstammes (Robinia pseudo-acacia). Sie besteht hauptsächlich aus nichtleitendem sekundären Phloem. Das leitende sekundäre Phloem und Teile des nichtleitenden sekundären Phloems sind in Abb. 24-16 vergrößert dargestellt.

Abb. 24-16 Querschnitt durch das sekundäre Phloem der Robinie (Robinia pseudo-acacia), auf dem hauptsächlich leitendes Phloem zu sehen ist. Die Siebelemente des nichtleitenden Phloems (Pfeile) sind obliteriert (zusammengedrückt).

sekundären Phloems in der Regel zerdrückt (obliteriert; siehe Abb. 24-15 bis 24-17). Schließlich aber wird das alte sekundäre Phloem als Borke vom restlichen Phloem durch ein neu gebildetes Periderm abgetrennt. Daraus folgt, daß Stamm oder Wurzel wesentlich weniger sekundäres Phloem als sekundäres Xylem anhäufen, das ja von Jahr zu Jahr kontinuierlich zunimmt. Wenn Stamm oder Wurzel an Umfang zunehmen, sind die älteren Rindengewebe erheblichem Zug ausgesetzt. Bei einigen Pflanzen zerreißen diese Gewebe unter Bildung großer Hohlräume. Bei vielen Pflanzen teilen und vergrößern sich die Parenchymzellen des axialen Systems und die Strahlen. Auf diese Weise kann das alte sekundäre Phloem eine Zeitlang mit der Umfangserweiterung Schritt halten. Bereits früher haben wir erwähnt, daß bei der Umfangserweiterung durch tangentiales Wachstum (Dilatation) im 77//a-Stamm bestimmte Rindenstrahlen, vor allem die primären Markstrahlen, in tangentialer Richtung besonders stark verbreitert werden. Das zuerst angelegte Periderm kann mit der Umfangserweiterung von Wurzel oder Stamm einige Jahre lang Schritt halten, wobei das Korkcambium zeitweise aktiv, zeitweise inaktiv ist. Dieser Wechsel in der Aktivität des

Korkcambiums kann mit dem Aktivitätswechsel des Cambiums zusammenfallen, muß es aber nicht. Bei den Stämmen des Apfel- (Malus sylvestris) und des Birnbaumes (Pyrus communis) kann das zuerst angelegte Korkcambium ungefähr 20 Jahre lang funktionstüchtig bleiben. Bei den meisten holzigen Pflanzen werden zusätzliche Periderme gebildet, wenn Wurzel und Stamm an Umfang zunehmen. Die auf das erste Periderm folgenden Periderme werden tiefer und tiefer in der Rinde angelegt (Abb. 24-13 und 24-14). Sie entstehen aus Parenchymzellen des nicht mehr am Stofftransport beteiligten Phloems. Diese Parenchymzellen werden meristematisch und bilden neue Korkcambien. Das gesamte außerhalb des jüngsten (innersten) Korkcambiums gelegene Gewebe - sämtliche Periderme mit allem dazwischenliegenden primären Rindengewebe und Phloemgewebe - bezeichnet man als Borke (Abb. 24-13 und 24-14). Wie Sie wissen, schneiden die ausdifferenzierten, mit Suberin ausgekleideten Korkzellen alles außerhalb von ihnen gelegene Gewebe von der Wasser- und Nährstoffzufuhr ab. Die lebenden Gewebe der Borke können also nicht mehr von der Mutterpflanze versorgt werden, sie sterben ab.

528

TEIL 5

Cambiumzone

Bau und Entwicklung des angiospermen Pflanzenkörpers Siebröhren

leitendes sekundäres Phloem

nichtleitendes sekundäres Phloem

Abb. 24-17 Radialer Längsschnitt durch die Rinde der Robinie (Robinia pseudo-acacia). Der Längsschnitt zeigt zum größten Teil nichtleitendes sekundäres Phloem mit obliterierten Siebelementen (Pfeile). Bei Robinia ist nur das in der laufen-

den Vegetationsperiode gebildete sekundäre Phloem leitend; im Spätherbst, wenn seine Siebelemente absterben, wird es zum nichtleitenden Phloem. Später dann werden die Siebröhren zusammengedrückt.

Die Art und Weise, wie die neuen Periderme angelegt werden und welche Gewebe durch sie abgetrennt werden, bestimmt das äußere Erscheinungsbild der Borke (Abb. 24-19). In manchen Rinden entstehen die neuen Periderme als unzusammenhängende, bogenförmige, einander überlappende Schichten. Auf diese Weise entsteht die sog. Schuppenborke (Abb. 24-13 und 24-14). Solche Schuppenborken kommen unter anderem bei jungen Stämmen von Kiefer (Pinus) und Birnbaum (Pyrus communis) vor. In anderen Rinden entstehen die neuen Periderme als mehr oder weniger zusammenhängende, parallel zur Stammachse verlaufende, kurze Hohlzylinder. Auf diese Weise entsteht die sog. Ringelborke. Solche Ringelborken kommen seltener vor als Schuppenborken; man findet sie z. B. bei der Weinrebe (Vitis) und beim Geißblatt (Lonicerä). Die Borken der meisten Pflanzen sind ein Mittelding zwischen Ringel- und Schuppenborke. „Flaschenkork" wird aus der Rinde der Korkeiche (Quercus suber) gewonnen, die aus dem Mittelmeergebiet stammt. Das erste Korkcambium dieses Baumes entsteht in der Epidermis. Das von diesem Korkcambium gebildete Korkgewebe hat nur geringe wirtschaftliche Bedeutung. Wenn der Baum ungefähr 20 Jahre alt ist, wird dies zuerst angelegte, stark zerklüftete Periderm vorsichtig gelöst und kommt als Jungfernkork für Dekorationszwecke in den Handel. N u n legt der Baum nur wenige Millimeter

unterhalb des zuerst angelegten Korkcambiums ein neues Korkcambium in der Rinde an. Das Korkgewebe, welches von diesem neuen Korkcambium gebildet wird, nimmt rasch an Dicke zu, hat eine glatte Oberfläche und bereits nach 10 Jahren ist die Korkschicht dick genug, um vom Baum geschält zu werden. Wieder entsteht unterhalb des letzten Korkcambiums ein neues und das von diesem gebildete Korkgewebe kann weitere 10 Jahre später geerntet werden. Diese in 10-Jahres-Abständen erfolgende wirtschaftliche Nutzung kann sich über mehr als 150 Jahre erstrecken. Bei den Punkten und langen dunklen Streifen an der Oberfläche des Flaschenkorks handelt es sich um Lenticellen. Bei den meisten holzigen Wurzeln und Stämmen ist nur ein ganz geringer Teil des sekundären Phloems wirklich am Stofftransport beteiligt. Bei den meisten Arten nimmt nur der letztjährige Zuwachs an sekundärem Phloem aktiv am Ferntransport der Nährstoffe durch den Stamm teil. Das liegt daran, daß die Siebelemente kurzlebig sind (Kapitel 21) und zumeist schon am Ende desjenigen Jahres absterben, in dem sie vom Cambium gebildet worden sind. Bei manchen Pflanzen, so bei der Robinie (Robinia pseudo-acacia) kollabieren die Siebelemente und werden bald nach ihrem Absterben zusammengedrückt (Abb. 24-15 bis 24-17). Den innen gelegenen, aktiv am Stofftransport beteilig-

KAPITEL

24 Sekundäres Dickenwachstum

529

1 / Terminalknospe Achselknospe Seitenknospe

Lenticelle

Narben terminaler Knospenschuppen

Blattnarbe

Seitenknospe Lenticelle

Seitenknospe Blattspurnarbe

Lenticellen Lenticelle Narben terminaler Knospenschuppen

Seitenknospe

Knospennarbe Blattnarbe Narben terminaler Knospenschuppen

Blattnarbe

Blattnarb

Blattspurnarbe

Blattspurnarben

Blattnarbe Seitenknospe Narben terminaler Knospenschuppen

Lenticellen

Seitenknospe Blattnarbe

Blattspurnarbe Blattspurnarbe Dorn (aus einem Nebenblatt entstanden) Blattnarbe

Blattspurnarben Blattnarbe Lenticelle Narben / terminaler ' Knospenschuppei

Lenticelle

Lenticelle

Abb. 24-18 Zweige sommergrüner, jährlich ihr Laub abwerfender Gehölzpflanzen im Knospenzustand; die Analyse ihres äußeren Erscheinungsbildes gibt viele Hinweise über den Bau und die Entwicklung der Sproßachsen. Die auffälligsten Strukturen sind die Knospen. Knospen kommen an Zweigspitzen (End- oder Terminalknospen) und in Blattachseln (Seiten- oder Achselknospen) vor. Darüber hinaus findet man bei manchen Arten noch Beiknospen; serial über der Achselknospe oder collateral meist paarweise rechts und links von einer Achselknospe. Meist entwickeln sich die Beiknospen nicht, wenn sich die Achselknospe normal entwickelt. Nach dem Laubfall kann man unterhalb der Achselknospen Blattnarben mit Leitbündelnarben erkennen. Die Blattnarbe geht aus der Schutzschicht der Trennzone hervor. Die Leitbündelnarben sind die Enden der durchtrennten Blattspurbündel, die vor dem Laubfall in den Blattstiel hineinragten.

Gruppen von Narben terminaler Knospenschuppen lassen erkennen, an welchen Stellen sich früher Endknospen befunden haben. Bevor diese Narben durch sekundäres Dickenwachstum undeutlich werden, kann man mit ihrer Hilfe das Alter des Zweiges bestimmen. Die Länge des Sproßabschnittes, der zwischen zwei Gruppen terminaler Knospenschuppen-Narben liegt, entspricht dem in einem Jahr erreichten Längenzuwachs des Zweiges. Die Lenticellen erscheinen als kleine Erhebungen auf der Sproßachse. (a) Rotesche (Fraxinus pennsylvanica var. subintegerrima). (b) Amerikanische Weißeiche (Quercus alba), (c) Amerikanische Linde (Tilia americana). (d) Eschen-Ahorn (Acer negundo). (e) Amerikanische Ulme (Ulmus americana). (f) Roßkastanie (Aesculus hippocastanum). (g) Butternuß {Juglans cinerea), (h) Robinie (Robinia pseudo-acacia), bei der die Knospe unter der Blattnarbe verborgen ist.

530

TEIL 5

Bau und Entwicklung des angiospermen Pflanzenkörpers

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Abb. 24-19 Borken von vier verschiedenen Baumarten, (a) Betula papyrifera (Papierbirke) mit weißer, sich in besonders großen, papierdünnen Fetzen ablösender Borke. Die Querstreifen auf der Außenfläche der Rinde sind Lenticellen. (b) Carya ovata (schindelrindige Hickorynuß) mit einer zottelig rauhen Borke, (c) Platanus occidentalis (Amerikanische Platane) mit fleckiger, in großen Schuppen abblätternder Borke, (d) Quercus velutina (Färber-Eiche) mit tief längs gefurchter Borke.

ten Teil der Rinde bezeichnet man als leitendes Phloem. Den weiter außen liegenden Teil, dessen Siebelemente ihre Tätigkeit eingestellt haben oder obliteriert sind, bezeichnet man hingegen als nichtleitendes Phloem. Die früher hierfür verwendete Bezeichnung „funktionsloses Phloem" ist nicht korrekt, da zwar die Siebelemente außerhalb des leitenden Phloems tot sind, nicht aber die Phloemparenchymzellen und die Strahlzellen. Sie können am Leben bleiben und für Jahre als Speicherzellen dienen. Nur die in der Borke eingeschlossenen Parenchymzellen haben ihre Speicherfunktion aufgegeben.

24.3 Holz: sekundäres Xylem Zahlreiche pflanzliche Gewebe dienen dem Menschen als Nahrung, aber in der Geschichte der Menschheit war kein einziges pflanzliches Produkt für das Überleben so unentbehrlich wie das Holz, das sekundäre Xylem. Oft werden die Hölzer in Harthölzer und Weichhölzer eingeteilt, wobei Dikotylenholz als Hartholz, Coniferenholz als Weichholz bezeichnet wird. Dikotylenholz und Coniferenholz unterscheiden sich in ihrem Aufbau grundsätzlich, eine Gleichsetzung von Dikotylenholz und Hartholz bzw. Coniferenholz und Weichholz ist jedoch sprachlich nicht ganz korrekt, da in beiden Gruppen harte und weiche Hölzer vorkommen. So ist z. B. eines der leichtesten und weichsten Hölzer, das Balsaholz (Ochroma lagopus), ein tropisches Dikotylenholz. Auf der anderen Seite sind einige Coniferenhölzer, so z. B. das von Tsuga (Hemlockstanne), härter als manche Dikotylenhölzer.

KAPITEL

24.3.1 Coniferenholz Coniferenholz ist im Vergleich zu den meisten Dikotylenhölzern ziemlich einfach gebaut. Coniferenholz besitzt keine Gefäße (Kapitel 19) und nur einen geringen Anteil an axialem, d.h. Holzparenchym. Lange, spitz zulaufende Tracheiden sind im axialen System des Coniferenholzes vorherrschend. Bei einigen Gattungen, so z. B. bei Pinus (Kiefer), sind die Parenchymzellen, welche die Harzkanäle auskleiden, die einzigen Parenchymzellen des ganzen axialen Systems. Die Harzkanäle sind ziemlich große, schizogene (durch lokale Auflösung der Mittellamelle entstandene) Intercellularräume. Die dünnwandigen Parenchymzellen, die den Harzkanal auskleiden, sondern Harz in den Harzkanal ab. Bei Pinns kommen Harzkanäle sowohl im axialen System als auch in den Strahlen vor (Abb. 24-20 und 24-21). Verwundung, Druck, Einwirkungen von Frost und Wind können die Neubildung von Harzkanälen in Coniferenholz auslösen; einige Forscher glauben daher sogar, daß alle Harzkanäle traumatischen Ursprungs sind. Das Harz schützt offensichtlich die Pflanze vor dem Befall mit fäulniserregenden Pilzen und Borkenkäfern. Die Tracheiden des Coniferenholzes zeichnen sich durch große, runde Hoftüpfel aus, die besonders reichlich an den einander überlappenden Tracheidenenden auftreten (Abb. 24-20 bis 24-22). Die Hoftüpfelpaare (s. Kap. 1.15.2) zeigen bei Pinus und einigen anderen Gattungen an ihrer Schließhaut eine Besonderheit, den Torus (Plural: Tori). Der Torus ist der verdickte mittlere Teil der Tüpfelhaut (Abb. 24-23). Er ist etwas größer als die äußere Apertur (Porus) des Hofes (Abb. 24-22). Die Schließhaut ist flexibel und kann unter bestimmten Bedingungen erschlaffen. Dann kann der Torus einen der Pori verschließen und so den Wasser- oder Gasaustausch durch dieses Tüpfelpaar hindurch behindern (Abb. 24-22). Abb. 24-20 zeigt ein Blockdiagramm des Holzes von Pinus strobus (Weymouths-Kiefer), welches auf den drei in Abb. 24-21 dargestellten Schnitten durch das PinusHolz basiert. In senkrecht zur Längsachse von Wurzel oder Stamm geführten Schnitten - den Querschnitten sehen die Tracheiden rechteckig oder quadratisch aus und man sieht, wie die Strahlen transversal das Holz durchziehen (Abb. 24-21 a). Es gibt nur zwei Schnittrichtungen, um Holz längs zu untersuchen: radial und tangential. Radiale Längsschnitte verlaufen parallel zu den Strahlen: hier erscheinen die Strahlen als Flächen von Zellen, die rechtwinklig zu den längsgestreckten Tracheiden des axialen Systems orientiert sind (Abb. 24-21 b und 24-22d). Tangentiale Längsschnitte hingegen werden senkrecht zu den Strahlen geführt und zeigen, wie hoch und breit die Strahlen sind. Bei Pinus sind die Strahlen nur eine Zelle

24

Sekundäres Dickenwachstum

531

breit, Ausnahmen bilden die Strahlen mit Harzkanälen (Abb. 24-21c). Ausschnitte aus dem Pinus-Yio\z zeigt die Abb. 24-22.

Harzkanal

Harzkanal

Strahl

Abb. 24-20 Blockdiagramm des sekundären Xylems von Pinus strobus (Weymouths-Kiefer). Abgesehen von den Parenchymzellen, welche die Harzkanäle auskleiden, besteht das axiale System nur aus Tracheiden. Die Strahlen sind nur eine Zelle breit, die Strahlen mit Harzkanälen ausgenommen. Die Begriffe Frühholz und Spätholz werden in Kapitel 24.3.3 näher erläutert.

532

TEIL 5

Bau und Entwicklung des angiospermen Pflanzenkörpers

Abb. 24-21 Holz der Weymouthskiefer (Pinus strobus), einer Conifere. (a) Querschnitt, (b) Radialschnitt und (c) Tangentialschnitt.

Strahl mit Harzkanal

Strahl

KAPITEL

24

Sekundäres Dickenwachstum

533

Torus

Hof Torus

Strahl

(a)

1

iu

1

(c)

Hoftüpfelpaar

Strahlparenchym Strahl;racheide

1

10 Mm

1

Abb. 24-22 Ausschnitte aus dem Holz der Weymouthskiefer (Pinus strobus). (a) Quergeschnittene Tracheiden mit Hoftüpfelpaaren in den Radialwänden. (b) Radialschnitt, der die Hoftüpfel in den Wänden der Tracheiden in Aufsicht zeigt, (c) Tangentialschnitt durch Tracheiden mit Hoftüpfelpaaren, (d) Radialschnitt mit Strahl. Die Strahlen der Kiefer und anderer Coniferen bestehen aus Strahltracheiden und Strahlparenchymzellen. Die Strahltracheiden besitzen Hoftüpfel.

Hoftüpfel

Margo

Torus

Abb. 24-23 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme von der Schließhaut eines Hoftüpfelpaares aus der Wand einer Tracheide der Weymouthskiefer (Pinus strobus). Den verdickten Teil der Schließhaut bezeichnet man als Torus (lat. torus = Wulst, Polster). Den dünnen Teil der Schließhaut, der den Torus umgibt, bezeichnet man als Margo (lat. margo = Rand, Grenze).

534

TEIL 5

Bau und Entwicklung des angiospermen Pflanzenkörpers

200 Jim

Gefäß

Parenchymstrang

Strahlen

Gefäß

(b) Abb. 24-24 Holz der Roteiche (Quercus rubra), (a) Querschnitt, (b) Radialschnitt und (c) Tangentialschnitt.

24.3.2 Dikotylenholz Der Bau des Dikotylenholzes ist wesentlich vielfältiger als der des Coniferenholzes. Das liegt zum Teil an der größeren Zahl von Zelltypen im axialen System, wozu Gefäßelemente, Tracheiden, verschiedene Fasertypen und Parenchymzellen gehören (Abb. 24-24; siehe auch Abb. 2111). Dikotylenholz besitzt Gefäßelemente, das ist der wichtigste Unterschied zum Coniferenholz. Die Strahlen der Dikotylenhölzer sind oft viel größer als die der Coniferenhölzer. Bei den Coniferenhölzern sind die Strahlen größtenteils nur eine Zelle breit und 1 bis 20 Zellen hoch. Die Strahlen des Dikotylenholzes hingegen können ein bis viele Zellen breit und ein bis mehrere hundert Zellen hoch sein. Bei einigen Dikotylenhölzern, z. B. bei der Eiche, kann man die großen Strahlen schon mit bloßem Auge erkennen (Abb. 24-13). Die in Abbildung 24-24c dargestellten großen Strahlen der Roteiche (Quercus rubra) sind 12 bis 30 Zellen breit und mehrere hundert Zellen hoch. Neben diesen großen Strahlen besitzt das Eichenholz jedoch auch zahlreiche Strahlen, die nur eine Zelle breit sind. Bei der Roteiche machen die Strahlen ungefähr 21 % des gesamten Holzvolumens aus. Der Volumenanteil der Strahlen am Hartholz macht im Schnitt ungefähr 17 % aus, beim Coniferenholz beträgt er hingegen nur ungefähr 8 %.

KAPITEL

24

Sekundäres Dickenwachstum

535

Abb. 24-25 Querschnitte durch verschiedene Hölzer, die Jahrringe erkennen lassen, (a) Quercus rubra (Roteiche), ein ringporiges Holz. Die weitlumigen Gefäße ringporiger Hölzer befinden sich im Frühholz. Die dunklen, radial verlaufenden Linien sind Strahlen. (b) Liriodendron tulipifera (Tulpenbaum), ein zerstreutporiges Holz.

Wie beim Coniferenholz, so kann man auch in Querschnitten durch das Dikotylenholz radiale Zellreihen erkennen, die von den Cambiuminitialen abstammen (Abb. 24-24 und 24-25). Das gilt sowohl für das vertikale (axiale) als auch für das transversale (Strahl-)System. Die Zellreihen sind hier jedoch nicht so gleichmäßig angeordnet wie beim Coniferenholz, denn durch die Verbreiterung der Gefäße und die Verlängerung der Fasern werden viele Zellen aus ihrer ursprünglichen Lage verdrängt. Die Verdrängung von schmalen Strahlen aus ihrer ursprünglichen Lage durch Gefäße ist deutlich im Querschnitt durch das Holz der Roteiche (Quercus rubra) (Abb. 24-25a) zu erkennen.

24.3.3 Zuwachsringe Durch die periodische Aktivität des Cambiums-eine Erscheinung, die in den gemäßigten Breiten in enger Beziehung zum Wechsel der Jahreszeiten steht-werden sowohl im sekundären Xylem als auch im sekundären Phloem Zuwachszonen oder Zuwachsringe gebildet. Die Zuwachsringe des Phloems sind jedoch nicht immer deutlich zu erkennen. Die Zuwachszone eines Jahres bezeichnet man als Jahrring. Durch plötzliche Schwankungen in der Wasserversorgung und andere Umwelteinflüsse kann zuweilen mehr als ein Zuwachsring pro Jahr gebildet werden;

diese zusätzlichen Zuwachsringe bezeichnet man als falsche Jahrringe. Zählt man die Anzahl der Jahrringe auf einem Stammquerschnitt, so kann man normalerweise das Alter des Baumes bestimmen. Das so ermittelte Alter kann jedoch falsch sein, wenn außer den normalen Jahrringen auch falsche Jahrringe im Holz vorkommen. Die Breite der einzelnen Zuwachsringe kann von Jahr zu Jahr stark schwanken, sie hängt von Umweltfaktoren wie Licht, Temperatur, Niederschlagsmenge, Bodenfeuchtigkeit und Länge der Vegetationsperiode ab. Die Breite eines Jahrringes gibt ziemlich genau Auskunft über die Niederschlagsmenge des betreffenden Jahres. Unter günstigen Bedingungen-d.h. wenn genug oder reichlich Regen fällt-sind die Jahrringe breit; unter ungünstigen Bedingungen sind sie schmal. In semiariden Gebieten mit ihren geringen Niederschlagsmengen sind Bäume sehr empfindliche „Regenmesser". Ein ausgezeichnetes Beispiel hierfür ist die in den White Mountains von Kalifornien wachsende Kiefer Pinus longaeva. Bei dem in Abb. 24-26 gezeigten Querschnitt durch den Stamm einer solchen Kiefer sieht jeder Jahrring anders aus, und die genaue Untersuchung dieser Ringe gibt Auskunft über die Umweltbedingungen, die vor Tausenden von Jahren geherrscht haben. Das älteste lebende Exemplar von Pinus longaeva ist 4900 Jahre alt. Dendrochronologen-Wissenschaftler, die eine auf den Jahrringen von Bäumen basierende Geschichtsforschung

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TEIL

5

Bau und Entwicklung des angiospermen Pflanzenkörpers

(a) Abb. 24-26 (a) Pinus longaeva aus den White Mountains in Ost-Kalifornien. Diese Kiefern, die in der N ä h e der Baumgrenze wachsen, sind die ältesten lebenden Bäume überhaupt; das älteste lebende Exemplar von Pinus longaeva ist 4900 Jahre alt. (b) Querschnitt durch das Holz von Pinus longaeva, der die unterschiedliche Breite der Jahrringe zeigt. Dieser Querschnitt beginnt bei Jahrringen, die vor ungefähr 6260 Jahren angelegt worden sind; das Band farbig markierter Jahrringe umfaßt den Holzzuwachs in den 30 Jahren von 4240 bis 4210 v. Chr. Durch den Vergleich lebender und toter Bäume und das Aufspüren einander überlappender Jahrringmuster ist es möglich geworden, eine Aussage über die relative Niederschlagsmenge in diesem Gebiet während der letzten 8200 Jahre zu machen.

Abb. 24-27 Rasterelektronenmikroskopische A u f n a h m e eines Holzblöckchens von Ulmus americana (Weiß-Ulme), von drei Seiten gesehen. Durch Vergleich mit den Abbildungen 24-20, 24-24 und 24-25 läßt sich die Lage der drei Seiten des Holzblöckchens im Ulmenstamm bestimmen. Das Ulmenholz ist ein ringporiges Holz, bei dem auch im Spätholz Gefäße auftreten. Diese sind wellenförmig angeordnet - ein charakteristisches Merkmal des Ulmenholzes. Die kompakten Teile des Holzes zwischen den Gefaßgruppen bestehen hauptsächlich aus Fasern. Das Ulmenholz enthält auch axiales Parenchym, dies ist jedoch bei der hier verwendeten Vergrößerung nicht zu erkennen.

1500

ixm

KAPITEL 24

betreiben-verglichen Holz lebender und toter Bäume und konnten durch Aufspüren von Koinzidenzen (sog. Überbrückungsmethode) sogar eine lückenlose Kette von Jahrringen aufstellen, die mehr als 8200 Jahre zurückreicht. Die Breite der Jahrringe von Pinus longaeva steht in größeren Höhen (obere Baumgrenze) in engem Zusammenhang mit Temperaturschwankungen. Wenn man die durchschnittliche Jahrringbreite dieser Bäume untersucht, so bekommt man Auskunft über die Temperaturen und die klimatischen Bedingungen vergangener Zeiten. So weiß man aus solchen Untersuchungen, daß in den White Mountains von Kalifornien die Sommer der Jahre 3500 bis 1300 v.Chr. ziemlich warm waren, und daß die Baumgrenze ungefähr 150 m über der heutigen lag. Die Sommer der Zeit von 1300 bis 200 v. Chr. hingegen waren kühl. Man kann die Zuwachsringe im Holz nur deshalb erkennen, weil zwischen dem zu Anfang der Vegetationsperiode und dem später gebildeten Holz Strukturunterschiede bestehen (Abb. 24-21, 24-24 und 24-25). Das sog. Frühholz hat eine geringere Dichte (mit größeren, im Verhältnis dünnwandigeren Zellen) als das Spätholz (mit englumigeren, im Verhältnis dickwandigeren Zellen). Innerhalb eines Jahrringes kann der Übergang vom Frühzum Spätholz sehr allmählich und fast nicht wahrnehmbar erfolgen. Dort jedoch, wo das Spätholz eines Zuwachsringes an das Frühholz eines jüngeren Zuwachsringes grenzt, ist der Wechsel abrupt und deutlich zu erkennen (sog. Jahrringgrenze).

(a)

'

Sekundäres Dickenwachstum

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Beim Dikotylenholz kann der Unterschied in der Weite der Gefäße oder Poren zwischen Früh- und Spätholz sehr deutlich sein. Die Poren des Frühholzes sind dann deutlich größer als die des Spätholzes. (Der Begriff Pore wird von Pflanzenanatomen für das L u m e n - d e n von der Zellwand umgrenzten Raum-quergeschnittener Gefäße verwendet). Solche Hölzer bezeichnet man wegen der ringförmigen Anordnung der weitlumigen Gefäße als ringporig (Abb. 24-24a und 24-25a). Bei anderen Dikotylenhölzern ist der Durchmesser aller Poren ungefähr gleich, und sie sind ziemlich gleichmäßig über den ganzen Jahrring verteilt. Solche Hölzer bezeichnet man als zerstreutporig (Abb. 24-25b). Bei ringporigen Hölzern wird fast das gesamte Wasser in der äußersten Zuwachsschicht transportiert; die dabei erzielte Transportgeschwindigkeit kann bis zu 10 mal größer sein als bei zerstreutporigen Hölzern.

24.3.4 Splintholz und Kernholz Wenn das Holz älter wird und nicht mehr als Transportgewebe dient, sterben seine Parenchymzellen schließlich ab. Bevor dies passiert, finden im Holz allerdings häufig deutlich sichtbare Veränderungen statt, so z. B. der Verlust der Reservestoffe und die Infiltration des Holzes mit zahlreichen Substanzen (Öle, Gummi, Harze und Gerbstoffe), die es färben und ihm in manchen Fällen D u f t verleihen. Dieses oftmals dunklere, nichtleitende Holz bezeichnet man als Kernholz, das i. a. hellere, leitende Holz hingegen als Splintholz (Abb. 24-13). Viele Hölzer bilden in ihren

I00 /XM '

Abb. 24-28 Thyllen, blasenartige Auswüchse von Parenchymzellen, die ganz oder teilweise das Gefaßlumen verstopfen, (a) Querschnitt und (b) Längsschnitt durch das

Holz von Quercus alba (Weiß-Eiche) mit Thyllen in den Gefäßen (Lichtmikroskop),

(c) Thyllen in Gefäßen von Carya ovata (Schindelrindige Hickorynuß), (Rasterelektronenmikroskop).

(c)

100 um

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TEIL S

Bau und Entwicklung des angiospermen Pflanzenkörpers

inaktiv werdenden Gefäßen Thyllen (Füllzellen) (Abb. 24-28). Dabei handelt es sich um Auswüchse von Parenchymzellen des axialen oder des Strahlsystems, die sich durch die Tüpfelkanäle der Gefäßwände in die Gefaßelemente hineinwölben. Die Thyllen können streckenweise das Gefäßlumen ganz verstopfen. Oft wird die Bildung von Thyllen auch vorzeitig durch Pflanzenpathogene induziert. Als Folge davon kann die Pflanze sterben. Dies ist bei einigen „Welkekrankheiten" der Fall, wo als Folge solcher Thyllenbildung der Wassertransport in den Sproß hinein unterbunden ist. Das Verhältnis von Splintholz zu Kernholz und der Grad ihrer sichtlichen Verschiedenheit ist von Art zu Art sehr unterschiedlich. Einige Bäume, wie z.B. Ahorn (Acer), Birke (Betula) und Esche (Fraxinus) haben ein dikkes Splintholz, während andere, wie z. B. Robinie (Robinia), Trompetenbaum (Catalpa) und Eibe (Taxus) nur eine dünne Splintholzschicht besitzen. Bei anderen Bäumen wiederum kann man nach dem Querschnittsbild gar nicht zwischen Splintholz und Kernholz unterscheiden, so bei Pappel (Populus), Weide (Salix) und Tanne (Abies).

24.4 Zusammenfassung Sekundäres Dickenwachstum (die Umfangserweiterung in Pflanzenteilen, deren Streckungswachstum beendet

ist), findet bei allen Gymnospermen und den meisten Dikotylen statt. Es sind daran zwei Lateralmeristeme beteiligt, das Cambium und das Korkcambium (Phellogen). Krautige Pflanzen zeigen entweder kein oder nur ein geringes sekundäres Dickenwachstum, während Gehölzpflanzen - Bäume und Sträucher - jahrelang in die Dicke wachsen können. Die Abbildung 24-29 faßt die Entwicklung von Wurzel und Stamm einer Gehölzpflanze noch einmal zusammen. Die Entwicklung beginnt mit dem Apikaimeristem und endet mit den im Verlauf des ersten Jahres gebildeten sekundären Geweben. Das Cambium besteht aus zweierlei Sorten von Initialen, den fusiformen Initialen und den Strahlinitialen. Durch perikline Teilungen entstehen aus den fusiformen Initialen die Elemente des im aufrechten Stamm vertikal verlaufenden axialen Systems, und aus den Strahlinitialen Elemente des radial-transversal verlaufenden Strahlsystems. Die Umfangserweiterung des Cambiums erfolgt durch antikline Teilungen seiner Initialen. Das erste Korkcambium (Phellogen) entsteht bei den meisten Stämmen in einer direkt unter der Epidermis gelegenen Zellschicht. In der Wurzel hingegen entsteht das erste Korkcambium im Perizykel. Das Korkcambium gibt nach außen den Kork (Phellem), nach innen das Phelloderm ab. Korkcambium, Kork und Phelloderm zusammen bilden das Periderm. Der größte Teil des Peri-

Übersicht über die Entwicklung des S t a m m e s primäre Meristeme Protoderm Apikaimeristem

Procambium • Grundmeristem

primäre Gewebe

sekundäre G e w e b e

- ) Epidermis > primäres Phloem

fasciculares Cambium

> primäres Xylem Grundgewebe: Mark

sekundäres Xylem

interfasciculares Cambium

Markstrahlen — , primäre Rinde •

sekundäres Phloem geschlossener »Cambium mantel Kork*

Korkcambium Phelloderm*

Übersicht über die Entwicklung der Wurzel

primäre Meristeme

primäre Gewebe

Protoderm

Rhizodermis

Procambium -

Zentralzylinder:

sekundäre Gewebe Kork*

Apikaimeristem

Grundmeristem

primäre Rinde

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Kork- _ cambium* Phelloderm*

Perizykel primäres Phloem Procambium-

sekundäres Phloem »Cambium sekundäres Xylem

primäres Xylem

Abb. 24-29 Übersicht über die Wurzel- und Stammentwicklung einer Gehölzpflanze während des ersten Wachstumsjahres.

' b i l d e n z u s a m m e n das Periderm

KAPITEL

derms besteht aus dicht gepackten Zellen, die jedoch vereinzelt durch interzellularenreiche Abschnitte, die Lenticellen, unterbrochen werden. Zur Rinde gehören alle außerhalb des Cambiums gelegenen Gewebe, bis hin zur Epidermis oder zum jüngsten Korkcambium. Hat das Cambium noch kein sekundäres Phloem (sekundäre Rinde) abgegeben, so besteht die Rinde nur aus primären Geweben (primäre Rinde). In alten Wurzeln und Stämmen ist der größte Teil des sekundären Phloems, der sekundären Rinde, nichtleitend. Siebelemente sind kurzlebig, und normalerweise enthält nur die jüngste Zuwachszone der Rinde leitende Siebelemente. Auf das erste Periderm folgen noch weitere, die immer tiefer in der Rinde aus Parenchymzellen des nichtleitenden Phloems entstehen. Das gesamte, außerhalb des jüngsten Korkcambiums gelegene Gewebe-sämtliche Periderme mit allem dazwischen liegenden primären Rindengewebe und Phloemgewebe-bezeichnet man als Borke.

24

Sekundäres Dickenwachstum

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Die Hölzer werden in Weich- und Harthölzer eingeteilt. Die Weichhölzer sind größtenteils Coniferen und die Harthölzer dikotyle Pflanzen. Verglichen mit dem Dikotylenholz ist das Coniferenholz einfach gebaut und besteht nur aus Tracheiden und Parenchymzellen. Einige Coniferenhölzer besitzen Harzkanäle. Dikotylenhölzer hingegen können sich aus folgenden Zelltypen zusammensetzen: Gefäßelemente, Tracheiden, verschiedene Fasern und Parenchymzellen. Zuwachsschichten, die alle im Laufe eines Jahres vom Cambium gebildeten Zellen des sekundären Xylems enthalten, bezeichnet man als Jahrringe. Der deutliche Dichteunterschied zwischen dem Spätholz des einen Jahrringes und dem Frühholz des folgenden ermöglicht es, die beiden Jahrringe voneinander zu unterscheiden. Bei einigen Gehölzpflanzen kann man ein nichtleitendes Kernholz vom leitenden Splintholz mit bloßem Auge unterscheiden.

Teil 6 Wachstumsregulation und Wachstumsreaktionen

Kapitel 25 Phytohormone: Wachstumsund Entwicklungsregulatoren

Zum Wachsen benötigt eine Pflanze Sonnenlicht, Kohlendioxid aus der Luft sowie Wasser und Nährsalze (einschließlich Stickstoff) aus dem Boden. Aus diesen einfach gebauten anorganischen Substanzen bildet sie körpereigene, kompliziert gebaute organische Verbindungen, die Bausteine vieler heterotropher Lebewesen sind. Wie bereits im vorhergehenden Teil des Buches besprochen, werden beim Wachstum der Pflanze nicht nur Masse und Volumen vergrößert, sondern es geschieht dabei wesentlich mehr. Die Pflanze differenziert und entwickelt sich, nimmt Gestalt an, indem sie viele verschiedenartige Zellen, Gewebe und Organe bildet. Wie aber können aus einer einzigen Zelle, der befruchteten Eizelle, die zahllosen Gewebe und Organe entstehen, die eine „ n o r m a l e " Pflanze ausmachen? Viele Einzelheiten über die Regulation dieser Prozesse sind unbekannt, es ist jedoch inzwischen klar, daß die normale Entwicklung einer Pflanze von dem Zusammenspiel zahlreicher innerer und äußerer Faktoren abhängt. Die wichtigsten internen Regulationsfaktoren für Wachstum und Entwicklung der Pflanze sind chemischer Natur; sie sind Gegenstand dieses Kapitels. In Kapitel 26 werden einige äußere Faktoren besprochen, die Einfluß auf das Wachstum einer Pflanze haben, so z. B. Licht, Temperatur, Tageslänge und Schwerkraft.

Abb. 25-1 Photoperiodismus nennt man das Phänomen, welches dafür verantwortlich ist, daß sämtliche Pflanzen einer Art Jahr für Jahr gleichzeitig zu blühen anfangen. Die Blüte wird durch die Interaktion äußerer (Umwelt-) und innerer (hormoneller) Faktoren induziert. Das Bild zeigt einen blühenden Kirschbaum (Prunus) im Frühling.

Pflanzliche H o r m o n e {Phytohormone) spielen bei der Wachstumsregulation eine bedeutende Rolle. Hormone der Begriff stammt aus der Tierphysiologie - sind organische Substanzen, die in dem einen Gewebe gebildet und dann zu einem anderen, ihrem Wirkungsort, transportiert werden. D o r t rufen sie eine physiologische Reaktion hervor. Sie sind bereits in sehr geringen Konzentrationen wirksam. So findet man im Sproß der Ananaspflanze {Ananas comosus) pro Kilogramm Pflanzenmaterial nur 6 (ig eines weit verbreiteten Phytohormons, des Auxins. Das Gewicht des Phytohormons verhält sich zum Gewicht des Sprosses wie das Gewicht einer Stecknadel zu einem 20 Tonnen schweren Heuhaufen. Der Begriff „ H o r m o n " leitet sich von dem griechischen Wort horme ab, was soviel wie Anstoß, Antrieb bedeutet.

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TEIL

6

Wachstumsregulation und Wachstumsreaktionen

Inzwischen ist jedoch klar, daß viele Hormone nicht stimulierend, sondern hemmend wirken. So ist es vielleicht sinnvoller, Phytohormone nicht als Stimulatoren, sondern als chemische Regulatoren anzusehen. Aber auch diese Definition bedarf einer Einschränkung. Wir werden sehen, daß die Antwort auf eine bestimmte „Botschaft" des Regulators nicht nur von deren Inhalt (chemischer Struktur) abhängt, sondern auch davon, wie sie vom Empfänger „gelesen" wird (Gewebespezifität).

25.1 Auxin Einige der ersten Experimente über Wachstumsregulatoren, von denen es Aufzeichnungen gibt, sind von Charles Darwin und seinem Sohn Francis durchgeführt worden. Sie wurden 1881 in dem Buch The Power of Movement in Plants veröffentlicht. Zunächst stellten die Darwins systematische Beobachtungen darüber an, wie sich Graskeimlinge (Phalaris canariensis und Avena sativa, Hafer) zu einer Lichtquelle hin krümmen (Phototropismus, s. Kap. 26.1.). Dann deckten sie den oberen Teil der Koleoptile - jener schützenden Hülle, die das erste Blatt des Graskeimlings umgibt - mit einem Zylinder aus Metallfolie oder einem schwarz gefärbten Glasrohr ab und belichteten den Keimling von der Seite her; die charakteristische Krümmung unterblieb (Abb. 25-2). Umhüllten sie die Koleoptilenspitze jedoch mit durchsichtigem Glasrohr, so krümmte sich der Keimling normal. Darwin und sein Sohn zogen daraus den Schluß, daß bei seitlicher Belichtung des gesamten Keimlings ein „Einfluß" von der Spit-

Abb. 25-2 Experimente von Charles und Francis Darwin, (a) Normalerweise krümmten sich die Graskeimlinge auf die Lichtquelle zu. (b) Wenn die Spitze des Keimlings von einer lichtundurchlässigen (nicht aber von einer lichtdurchlässigen) Hülle bedeckt war, trat diese Krümmung nicht auf. (c) Wurde die lichtundurchlässige Hülle jedoch unterhalb der Keimlingsspitze angebracht, so fand die charakteristische phototropische Reaktion statt. Aus diesen Versuchen schlössen Charles und Francis Darwin, daß bei Belichtung der Keimlingsspitze von dieser ein „Einfluß" ausgeht, der die Krümmung des Keimlings bewirkt, und daß dieser „Einfluß" von der Spitze auf den unteren, sich krümmenden Teil des Keimlings übertragen wird.

ze (dem oberen Teil) - also dem Gewebe, das den Lichtreiz aufnimmt - auf den Rest der Koleoptile (den unteren Teil) ausgeübt wird, derart, daß sich dieser krümmt. Im Jahre 1926 gelang es dem holländischen Pflanzenphysiologen Frits W. Went, diesen „Einfluß" aus Koleoptilenspitzen zu isolieren. Went schnitt die Spitzen zahlreicher Hafer-Koleoptilen (Avena sativa) ab und setzte sie für ungefähr eine Stunde mit der Schnittfläche auf ein Stückchen Agar. (Agar ist eine gelatinöse Substanz, die aus Rotalgen gewonnen und zur Herstellung neutraler Wachstumsmedien verwendet wird). Went schnitt diesen Agar dann in kleine Blöckchen und legte sie auf eine Schnittflächenhälfte der dekapitierten Keimlingsstümpfe; diese standen während des ganzen Versuches im Dunkeln. Innerhalb einer Stunde beobachtete Went eine deutliche Krümmung des Keimlingsstumpfes vom Agarblöckchen weg (Abb. 25-3). Agarblöckchen hingegen, die nicht mit einer Koleoptilenspitze in Berührung gekommen waren, verursachten entweder keine oder nur eine leichte Krümmung des Keimlingsstumpfes, und zwar auf das Agarblöckchen zu. Auch Agarblöckchen, die mit einem tiefer gelegenen Teil der Koleoptile in Berührung gebracht worden waren, hatten keinerlei physiologische Wirkung. Mit diesen Versuchen konnte Went zeigen, daß die Koleoptilenspitze wohl eher aufgrund einer von ihr ausgehenden chemischen Substanz wirksam ist, als aufgrund eines physikalischen, z. B. eines elektrischen, Reizes. Diese chemische Substanz nannte Went Auxin; der Name leitet sich von dem griechischen Wort auxanein (vermehren, wachsen) ab.

Licht lichtundurchlässige Hüllen

KAPITEL

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Phytohormone: Wachstums- und Entwicklungsregulatoren

Abb. 25-3 Experiment von Frits W. Went. (a) Went entfernte die Koleoptilenspitzen von Haferkeimlingen (Avena sativa) und legte die abgeschnittenen Spitzen für ungefähr eine Stunde auf Agar, (b) Der Agar wurde dann in kleine Blöckchen zerschnitten und diese auf eine Schnittflächenhälfte der dekapitierten Keimlingsstümpfe gelegt, (c) Die während des ganzen Versuches dunkel gehaltenen Keimlinge krümmten sich stets vom Agarblöckchen weg. Hieraus schloß Went, d a ß der „Einfluß", aufgrund dessen sich ein Keimling krümmt, chemischer N a t u r ist, und d a ß sich diese Substanz an der lichtabgewandten Seite anhäuft.

(b)

Die Krümmung des /tvena-Koleoptilenstumpfes weg von dem einseitig applizierten, auxinhaltigen Agarblöckchen, wird durch eine asymmetrische Verteilung des Auxins im Koleoptilenstumpf bewirkt; denn diese hat ein asymmetrisches Streckungswachstum der Zellen zur Folge. Die Bedingungen für die Handhabung der AvenaKeimlinge und das Aufbringen der Agarblöckchen sind so sehr standardisiert worden, daß die Krümmungsintensität, die eine /I v