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German Pages 439 [432] Year 2024
Jan Grossarth
Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen Eine Einführung
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Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen
Eine Begrünung, die kühlen kann und den Boden nicht versiegelt: Trambahnschienen in Odense. Foto Jan Grossarth
Jan Grossarth
Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen Eine Einführung
Jan Grossarth Frankfurt am Main, Hessen, Deutschland
ISBN 978-3-658-40197-9 ISBN 978-3-658-40198-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-40198-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Frieder Kumm Springer Vieweg ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.
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Wie gesund und hochinteressant könnten unsere Städte und Dörfer sein – wenn wir Menschen klug wären wie die Ameisen. Dann hätten wir keinen Abfall produziert, sondern Materialien schonend hin- und hergetragen, so wie ein Ameisenvolk. Aber in unserem Fall ist es anders gekommen: Seitdem im Bauwesen ab den 1950er-Jahren das Handwerk durch Industrie ersetzt wurde, wurde Wissen über den Wert der Stoffe ersetzt durch billige, dumm eingesetzte Chemie. Nun also bauten wir Wohnsiedlungen und Vorstädte, die eine ästhetische Zumutung sind und voller Sondermüll stecken – Asbest, Holzschutzmittel wie Lindan und Pentachlorphenol. Das verschont die Menschen bis heute nicht. Von den 2800 Chemikalien, die unser Umweltinstitut in Muttermilch findet, ist etwa ein Drittel aus dem Baubereich. Das ist ja traurig genug. Aber noch bedauerlicher ist – mit Blick auf die Generationen unserer Kinder, Enkel und Großenkel –, dass sich diese „urbane Mine“, wie man heute so schön sagt, nicht gut dafür eignet, dass die kostbaren verbauten Materialien eines Tages auch wiederverwertet werden. Wir stehen im Jahr 2023 nicht gerade am Anfang der Bemühung um Nachhaltigkeit. Seit vier Jahrzehnten reden wir davon. Die Unternehmen haben nun alle ihre Nachhaltigkeitsmanager und die Politik ihre Fachreferate. Und trotzdem, bis heute sieht es im Gebäudebau so aus: Styroporplatten werden vor dünne Kalksandsteinwände oder Betonwände geklebt, verdübelt und mit zahlreichen Schichten Putz, Folie, Netzen, Klebstoffen und Farben überdeckt. Die Nachhaltigkeitsbeauftragen berechnen die passenden U-Werte und beauftragen Dämmbilanzen, Ökobilanzen – und die Politik verschärft Ziele und Gesetze. Man muss nicht gleich sagen, dass all das sinnlos wäre. Aber es gleicht einer schneckenlangsamen Bremsung aus voller Fahrt in die verkehrte Richtung. In Wärmedämmverbundsystemen haben wir bis zu 27 Komponenten gezählt. Was ist das nur für eine Bankrotterklärung! Dabei gäbe es viele Upcycling- oder gute mineralische Dämmmaterialien – zum Beispiel geschäumtes Glas. Aber das ist teurer. Und deshalb müssten mehr Bauherren es als Wertanlage sehen und die Bauprodukthersteller die Verbindungen leicht trennbar gestalten. Oder Bauherren müssten sich die Dienstleistung der Dämmung leihen. Ja, unsere Gebäude müssen in großen Teilen als Dienstleistung
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gestaltet sein – sodass es nicht darum geht, eine „eigene Tür“ oder ein „eigenes Fenster“ zu besitzen, sondern sie zu nutzen. Ich habe schon sehr oft sinngemäß gesagt: Unsere Nachhaltigkeits-Expertokratie hilft, das Verkehrte zu optimieren. Zugleich gibt es gute Entwicklungen. Heute liegt der Fokus endlich mehr auf der „grauen Energie“ im Bausektor. Also auf der Material- statt nur der Energieseite. Dennoch ist die Bauwelt weiter eifrig damit beschäftigt, „ökologische Fußabdrücke“ zu minimieren, statt wirklich umweltfreundlich zu entwerfen und zu bauen. Dabei hat Cradle to Cradle zahlreiche Beispiele erzeugt, in denen Architektinnen, Bauherrinnen und Bauunternehmerinnen alles nicht nur „weniger verkehrt“, sondern richtig gut machten: trennbare Verbindungen der Bauteile und Gebäudeteile, Upcycling- und Recycling-Konzepte, eine sorgsame Materialauswahl mit dem Blick darauf, dass technische Bauteile möglichst lange in der Technosphäre weiterverwendet werden können und dass die nachwachsenden konsequent schadstofffrei sind und eines Tages als Kompost taugen mögen. Seit vier Jahrzehnten reden wir Deutschen und Europäer über Nachhaltigkeit. Das schlechte Gewissen, „Mutter Erde“ zu schaden, führte uns aber nicht entscheidend weiter. Wir Menschen – gut 8 Mrd. derzeit auf der Welt – müssten kein Problem sein für die Umwelt. Das Problem ist, dass wir Müll produzieren, immer mehr Abfall, Bauschutt. Das ist, was Ameisen nicht zustande brächten; sie haben insgesamt die größere Biomasse als die Menschheit, aber ihren „ökologischen Fußabdruck“ hat noch niemand zum Problem erklären müssen. Das Bauwesen war in den vergangenen 75 Jahren ein Paradebeispiel dafür, wie eine intelligente Menschheit nicht wirtschaften sollte. Giftige Chemikalien geraten in die umgebende Biosphäre – denken Sie an die Emissionen schädlicher Fassadenfarben oder an den Asbeststaub der Abbruchbaustellen oder an die ungeheuren Müllmengen im Bauschutt. Jahrzehnte wurde dieser deponiert, wertvolle Ziegel oder Natursteinbruch ist darin unwiederbringlich kontaminiert mit den Sulfiten vom Gipsbruch, allerhand Bruchteilen und Stäuben von Styropor, Fassadenputz, zerbrochenen Relikten von Sperrholz- und XPS-Platten, aber auch lehmiger Erdmasse. Heute machen wir es weniger schlecht und nennen das „Kreislaufwirtschaft“. Stahl oder Ziegelbruch haben hohe Recyclingquoten, Asphalt auch – aber dieses Recycling ist keines, es ist meist extremes, energieaufwendiges Downcycling. Selbst der Stahl – mit einer Recyclingquote von fast 100 % – ist problematisch. Denn Stahl wird aus meiner Sicht derzeit auch nur downgecycelt. Denn Baustahl ist mit Buntmetallen kontaminiert. Ein anderes Beispiel eines eigentlich hervorragenden zirkulären Materials: der Gips. Dieser zum Beispiel könnte eigentlich immer wieder in gleichbleibender Qualität eingesetzt werden: Kleinhacken, kochen, neu verwenden. Ein ideales Cradle-to-Cradle-Material! Doch, Sie ahnen es: Die Wirklichkeit ist anders. Gips enthält starke Rückstände aus der Rauchgasreinigung und Altpapier, von den Altpapier-Gipskarton-Platten. Und der Beton? Tja. Darin sind etwa 300 Additive enthalten, wie Kornbildner, Abbindeverzögerer, Emulgatoren und Schalungshilfsmittel. Von denen sind
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wiederum zwei Drittel Gifte für Mensch und Umwelt. Nur deswegen ist Beton schlecht – nicht an sich. 100 Additive sind unschädlich. Nachwachsende können hinzukommen, wie Pflanzenasche. Die Klimabilanzen könnten sehr ansehnlich werden: Beton ließe sich etwa, indem man ihn mit Kohlendioxid abbinden lässt, zu einem der kleineren Klimaprobleme machen. Aus dem Beton, der unter sehr großem Energieaufwand und durch starke Eingriffe in die Landschaft aus Sand, Gesteinen und Kalk hergestellt wurde, wird bestenfalls ein Fundament für den Straßenbau. Nur ein Bruchteil eignet sich für ein Recycling ohne Wertverlust. So soll es nicht sein. Nachwachsende Baustoffe müssten, frei von chemischen Kontaminanten, lange in der Nutzung gehalten werden – etwa Stufe für Stufe vom Hausbaustoff bis zum Brennmaterial weitergenutzt: erst vielleicht als Holzdeckenträger, dann als Tischfuß, dann als Sperrholzplatte, schließlich als Kamin-Pellet und dann als Dünger für die kommenden Bäume für kommende Tragwerke von Holzhochhäusern. Technische Bauteile hingegen – unser menschliches Privileg, subventioniert von endlichen mineralischen und fossilen Ressourcen – müssten sehr lange, vielleicht ewig zirkulieren. Der Baustahl ist diesbezüglich kein schlechtes Beispiel. Aber wie sieht es aus mit Beton, Ziegeln, Fenstern und Türen, mit Dämmstoffen, mit Dachziegeln oder Holzbalken aus Brettschichtholz? Ein Haus müsste aussehen wie ein Mammut. Wärme von innen, ein dickes Fell im Winter, ein dünneres im Sommer. Es darf dampfen und atmen. Es geht nicht darum, unsere Gebäude luftdicht zu verschließen, um Energie zu sparen. Ein Haus soll atmen, die Außenluft reinigen. Drinnen darf es grün sein, anders als im Mammut. Wir können Gebäude vielleicht vielmehr wie Bäume machen! Die Intelligenz muss am Anfang liegen, in der Gestaltung. Bioökonomie kann man als eine Inspiration verstehen, im Design von der Natur zu lernen – Bionik. Nicht erst am Schluss, in der Abfallbeseitigung. Dieses Prinzip, von der Wiege zur Wiege zu denken, ist für den Baubereich übrigens von besonderer Bedeutung. Denn mehr als die Hälfte aller Abfälle steht mit Gebäuden in Verbindung. Haben Sie schon einmal einen emissionsfreien Baum gesehen? Bäume sind nicht neutral, sie haben sogar einen positiven Einfluss. Die Häuser, von denen ich spreche, gibt es bereits, wie zum Beispiel die Stadtverwaltung in Venlo in den Niederlanden. Die Südfassade besteht aus Aluminium, das ohne Qualitätsverlust recycelt werden kann. Die Nordfassade besteht innen aus Holz. Die Fassadenbegrünung reinigt die Luft, die Luftqualität ist drinnen besser als draußen. Der Krankenstand wurde um mehr als 20 % verringert. Wir haben auch ein ganzes Quartier in der Nähe von Amsterdam erschaffen, es heißt „Park 2020“. Auch das neue Verwaltungsgebäude der RAG-Stiftung und der RAG-Aktiengesellschaft auf dem Welterbe Zollverein in Essen wurde nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip realisiert. In Düsseldorf wurde „The Cradle“ errichtet – ein Holzhybrid-Bürogebäude nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip gebaut.
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Die Energiewende versorgt uns zunehmend mit zu elektrischer Energie umgewandelter Sonnenkraft. Aber die Ressourcenschonung ist viel wichtiger. In meiner Kindheit enthielt Kupfererz noch etwa 40 kg Kupfer pro Tonne Gestein – heute sind es nur noch 1–2 kg Kupfererz pro Tonne. Dieses Buch von Jan Grossarth hat mehrere Stärken. Es tappt erstens nicht in die Falle, die Zukunft des Baus müsse nur auf Holz und biologischen Materialien beruhen – also ein „Zurück zur Natur“ des Bauens herbeizuträumen. Es bietet einen breiten Überblick über die verwirrend vielen Konzepte und auch Ideologien von Nachhaltigkeit und führt viele gute Wege, die sich für den Bau abzeichnen, zusammen. Ich begegnete dem Autor erstmals, als er noch Wirtschaftsredakteur war. Schon vor mehr als zehn Jahren fragte er irgendwie anders über Nachhaltigkeit als die meisten Journalisten. Seitdem hat er eine interessante Entwicklung vom Fragensteller zum Analytiker unserer seltsamen Welt genommen. Es ist schön, dass er nun vom Themenfeld der nachwachsenden Rohstoffe zum Bauwesen gefunden hat. Sein Werk ist ein interessantes Beispiel dafür, wie weit man kommt, wenn man die gängigen Katastrophen- und Heilserzählungen von der „Rettung des Planeten“ hinter sich lässt und besonnen, besorgt und humorvoll beobachtet, was ist und wird. Hoffentlich bleibt er in diesem Sinne Journalist. Michael Braungart, Jahrgang 1958, ist Professor für Ökodesign an der Leuphana Universität Lüneburg. Er ist Gastprofessor für Cradle to Cradle an der Erasmus-Universität Rotterdam und war dort von 2011 bis 2017 auch Lehrstuhlinhaber. Braungart erhielt 2022 den Ehrenpreis des Deutschen Nachhaltigkeitspreises für die Entwicklung des Konzepts Cradle to Cradle. Das von ihm und dem amerikanischen Architekten William McDonough verfasste gleichnamige Buch erschien 2002, wurde in viele Sprachen übersetzt und von der New York Times als eine der einflussreichsten Schriften über den Umweltschutz bezeichnet. Hamburg im März 2023
Prof. Dr. Michael Braungart [email protected]
Danksagung
Mehrere Kollegen lasen als Bauingenieure einige Kapitel Korrektur: Dimitrios Toris, Jörg Schänzlin, Sebastian Krug, Hannes Schwarzwälder. Sechzehn Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Disziplinen nahmen sich die Zeit für Interviews (Kap. 10 und 11). Julian Schleissing lektorierte das Buch begleitend, finanziell unterstützt vom Institut für Holzbau der Hochschule Biberach. Annika Kühn, Hochschule Biberach, erstellte einige Grafiken. Ich danke ihnen. Und vor allem für den produktiven fachlichen Austausch in den vergangenen Jahren: Stephan Schleissing (Technikethik), Gunther Hirschfelder (Kulturwissenschaft), Matthias Kussin (Soziologie). Die Kunst der Hermeneutik in ein ohnehin stark beladenes Schiff namens „Bioökonomie“ hineinzutragen, ist in einem ingenieurwissenschaftlichen Fachverlag ein gewisses Wagnis, sodass ich diesem für seine Offenheit danke – persönlich: Frieder Kumm von Springer Vieweg. Dem ehemaligen Rektor der Hochschule Biberach sage ich anerkennenden Respekt für die Inspiration, Bau und Bioökonomie miteinander zu verbinden. Das war seine Idee: André Bleicher. Seinem Nachfolger Matthias Bahr ist zu danken, dass er daran festhält. Immer wieder möchte ich auch Gottfried Stollwerk danken, dem ehemaligen Selbstversorger, der nur von dem lebte, was die Natur gab, und von etwas Mietzins. Gottfried brachte mich im Sommer 2009 auf den Geschmack, eines Tages die „dicken Bretter“ der Bioökonomie zu bohren, von denen ich damals nicht viel wusste. Größter Dank aber an meine liebe Eva. Jan Grossarth
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Anliegen und Bedeutungen des bioökonomischen Blickes: Eine Einführung und Einstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Sachebene: Bau-Bioökonomie als Ressourcenschonung. . . . . . . . . . . . 3 1.2 Bedeutungsebene: Bau-Bioökonomie als Metapher . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.3 Einstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.4 Das Anliegen dieses Buches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
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Der ressourcenschonende Bau als technische, ökonomische und kulturelle Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1 Der Klimaschutz als Zeitenwende für den Bau? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.2 Die kulturelle und kommunikative Herausforderung der Ressourcenschonung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.3 Charakter, Geschichtlichkeit, Atmosphären und Wirkung als Aspekte der Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.4 Die ökonomische und technische Herausforderung des ressourcenschonenden Bauens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.5 Resümee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
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Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? Perspektiven, Traditionen und Spannungsfelder der Bioökonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.1 Die Bioökonomie des Bauens vor dem Hintergrund der europäischen und deutschen Nachhaltigkeitspolitik . . . . . . . . . . . . 56 3.2 Was die Bioökonomie sein könnte: Annäherung an das assoziative Potenzial. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.3 Was die Bioökonomie ist: Zwei Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.4 Spannungsfelder der Bioökonomie des Bauens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.5 Schluss: Bioökonomie als Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
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Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.1 Relevanz vor dem Hintergrund der Klimapolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4.2 Biogene Polymere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.3 Exkursion: Das Bakterium Cupriavidus necator als panikfressender Erzeuger von Bioplastik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.4 Neue Pflanzenzuchttechnologien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4.5 Exkursion: Crispr-Cas9 – Wurzeloptimierung in Israel und an anderen Orten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4.6 Holzressourcen aus dem Forst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.7 Ressourcen der Zellstoff-Bioökonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4.8 Holzbauinnovationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.9 Agrarische nachwachsende Rohstoffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4.10 Das politische Konzept der Agrarökologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.11 Neue Flächenkonkurrenzen und neue Lösungswege. . . . . . . . . . . . . . . 151 4.12 Exkursion: Das Ackerland überdachen? Die Potenziale der Agrarphotovoltaik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4.13 Zusammenfassung und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
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Innovationen der Bau-Bioökonomie an Beispielen: Myzel-Komposite, 3-D-Druck und Bioharze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 5.1 Additive Fertigung (3-D-Druck) im Bauwesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 5.2 Funktionalisierung von Holz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 5.3 Neue Klebstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen. . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.4 Exkursion: Die vielen Einsatzbereiche von Myzel im Bauwesen. . . . . 174 5.5 Exkurs: Soziale und Value-Chain-Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
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Nachhaltigkeit als Rahmen der Bioökonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6.1 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6.2 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 6.3 Geschichte, Definitionen und Modelle von Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . 187 6.4 Schemata von Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 6.5 Professionalisierung und Datenbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 6.6 Nachhaltigkeit als Rahmen einer „Bau-Bioökonomie“. . . . . . . . . . . . . 198 6.7 Die Wirtschaft als Akteurin der Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 6.8 Aspekte nachhaltiger Waldwirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 6.9 Kritik der Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 6.10 Fazit: Die relativierende Stärke der Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . 212 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
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Nachhaltigkeit und Lebenszyklusbetrachtung im Bauwesen. . . . . . . . . . . . 217 7.1 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 7.2 Nachhaltiger Bau als soziale, ökonomische und ökologische Frage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 7.3 Politische Initiativen für den nachhaltigen Bau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 7.4 Zertifikate für den nachhaltigen Bau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 7.5 Nachhaltiges Bauen und die SDGs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 7.6 Kritische Würdigung der Nachhaltigkeitsansätze für das Bauwesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 7.7 Ökobilanzierung im Bauwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 7.8 Umweltproduktdatenblätter (EPD) und Datenbanken. . . . . . . . . . . . . . 252 7.9 Lebenszykluskosten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 7.10 Beispiele für LCA in wissenschaftlichen Studien zum nachhaltigen Bau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 7.11 Kooperation entlang der Lieferketten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 7.12 Digitalisierung und Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 7.13 Grenzen der Ökobilanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
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Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) im Bauwesen – Status quo, Potenziale, Stellschrauben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 8.1 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 8.2 Rohstoffe und Reserven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 8.3 Exkurs: Nachhaltigkeitspfade für den Beton. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 8.4 Exkursion: Lernen vom römischen Opus Caementitium?. . . . . . . . . . . 293 8.5 Vom Kreislaufwirtschaftsgesetz zur Zirkulärwirtschaft. . . . . . . . . . . . . 296 8.6 Aspekte einer Kreislaufwirtschaft im Bauwesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 8.7 Politik für die Zirkulärwirtschaft im Bauwesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 8.8 Beispiele für zirkuläres Entwerfen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 8.9 Cradle-to-Cradle-Zertifizierungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 8.10 Urban Mining und das anthropogene Baustofflager. . . . . . . . . . . . . . . . 317 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
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Was sollten wir unter zirkulärer Bioökonomie im Bauwesen verstehen und warum? Eine Annäherung durch 15 Interviews. . . . . . . . . . 337 9.1 Experteninterviews: Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . 337 9.2 Ziel, Vorgehen und Motivation der Interviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 9.3 Auswahl der Partizipierenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 9.4 Darstellung der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 9.5 Anhang: Namen und Funktionen der Partizipierenden . . . . . . . . . . . . . 364
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Inhaltsverzeichnis
10 Nachhaltigkeit als große Illusion? Und was brächten akademische Visionen von Nachhaltigkeit wie die Bioökonomie dann der Praxis? Ein Gespräch mit Armin Grunwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 10.1 Einführung: Technikfolgenabschätzung, Technikethik und Öffentlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 10.2 Das Interview. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 11 Feldbeobachtungen: Ausflüge in Bioökonomien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 11.1 Chinas Vorstellungen vom ökologischen Fortschritt.. . . . . . . . . . . . . . . 388 11.2 Israels Kampf gegen die Wüste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 11.3 Agroforst gegen die Dürre des Extremsommers 2018. . . . . . . . . . . . . . 396 11.4 Der schöpferische Landwirt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 11.5 Hausbau beim sambischen Kleinbauherrn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 12 Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft als technischer und kultureller Wandel im Bauwesen: Eine Zusammenfassung in zwölf Punkten. . . . . . . . 413 12.1 Institutionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 12.2 Stoffstrommanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 12.3 Technische „Gamechanger“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 12.4 Verbindung von Agrar, Forst und Bau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 12.5 Urban Mining. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 12.6 Projektkommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 12.7 Bewusstsein für Knappheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 12.8 Bioökonomisches Denken bedeutet Ent-Ideologisierung . . . . . . . . . . . 418 12.9 Transdisziplinäre Wissenschaft und hermeneutische Begleitforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 12.10 Geschichtlichkeit von Bauwerken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 12.11 Leidenschaft und Handwerk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 12.12 Bioökonomie als Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 12.13 Schluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
Über den Autor
Jan Grossarth wurde 1981 in Heidelberg geboren. Er lehrt das Fach Bioökonomie an der Hochschule Biberach. Seit 2021 war er dort Professor für Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft an der Fakultät für Bauingenieurwesen; 2023 nahm er einen Ruf als Professor für Bioökonomie und Ressourcen aus der benachbarten Fakultät für Architektur und Energieingenieurwesen an. Zudem war er von 2021 bis 2023 an der Ludwig- Maximilians-Universität München als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Vorsorge und Innovation als bioethische Prinzipien in der Bioökonomie“ engagiert. Seit 2010 arbeitet er zudem als Journalist über Themen der Bioökonomie: Seit 2022 überwiegend als Autor für die Welt am Sonntag und Welt, von 2010 bis 2019 als Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Promotion mit einer kulturwissenschaftlichen Arbeit über die Metaphern agrarökologischer Diskurse an der Universität Regensburg (2018). Zuvor Abschluss als Diplom-Volkswirt mit Schwerpunkten in Statistik und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München (2008). Er verfasste auch mehrere populäre Sachbücher.
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Anliegen und Bedeutungen des bioökonomischen Blickes: Eine Einführung und Einstimmung
Nachhaltigkeit ist kompliziert geworden. Die Begriffsgeschichte der Nachhaltigkeit begann dabei vor mehr als dreihundert Jahren mit der sehr simplen Idee, dass einem Wald nicht mehr Holz zu entnehmen sei als nachwächst. In den 2020er Jahren ist die Nachhaltigkeit auch für Bauwerke in umfassenden Kriterienkatalogen definiert. Manche von ihnen haben einen Umfang von mehr als 500 Seiten. Die Sache mit der Nachhaltigkeit wirkt, mit Abstand betrachtet, umso geheimnisvoller, je präziser ihre Teilkriterien definiert sind. Vielleicht liegt in der ingenieursmäßigen Verwissenschaftlichung auch ein Grund für die enorme Aufmerksamkeit, die der Architekt Florian Nagler seit 2019 für seine Forschungshäuser in Bad Aibling erhalten hat (Jarmer et al. 2021). „Einfach bauen“ war der Arbeitstitel des Projekts. Drei Häuser mit flexiblen Grundrissen und jeweils möglichst sortenrein. Eines aus Mauerwerk, eines aus Leichtbeton, eines aus Massivholz (Nagler, 2021). Ganz einfach. Aber die Frage, was nachhaltig sei, stellt sich aus Sicht der Wissenschaften – von der Ökobilanzierung bis zur Architektur, von der Ökologie bis zur Ethik und historischen Diskursanalyse – eben als weniger „einfach“ dar. Ein Konzept, das sowohl Werte wie Wirtschaftswachstum (SDG8), als auch implizit eine steigende Lebensmittelproduktion für die wachsende Weltbevölkerung (SDG2) und Klimagerechtigkeit der Weltwirtschaft (SDG13) zugleich einfordert, vereint in sich Spannungen und Konflikte. So lässt sich manche vereindeutigende Debatte darüber mit dem Gleichnis von den Blinden darstellen, die um einen Elefanten stehen. Das geht etwa so: Der eine fühlt den Schwanz, der andere das Knie, ein anderer die Zehen, eine vierte den Rücken, eine fünfte die Zunge. Der eine meint, es handle sich um eine Schlange, der zweite meint, es sei ein Knochen, der dritte, man habe es mit Steinen zu tun, die vierte denkt an einen Teppich und die fünfte an einen toten Fisch. Das Gleichnis ist wie dafür gemacht, um manche akademische (und erst recht: medialpolitische) Diskurse über die Nachhaltigkeit im Bauwesen zu beschreiben. Der © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 J. Grossarth, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40198-6_1
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1 Anliegen und Bedeutungen des bioökonomischen Blickes …
eine sieht die Ökobilanz, der zweite die ESG-Ratings. Andere sehen den überwindungswürdigen Beton und weitere zu großen Wohnraum, irreführende Normen, Kapitalismus – oder eine kurzlebige Architektur, die ihre schöngeistige Seele dem Mammon der Kurzlebigkeit preisgegeben habe. Niemand sieht das Ganze. Aber so ist das Konzept der Nachhaltigkeit eben auch nicht angelegt, in dessen Rahmen auch die Bioökonomie zu verorten wäre. Es verdeutlicht Spannungsfelder. Es illustriert Ziele, formuliert Zielgrößen, macht deren Erreichung politisch steuerbar, die (Miss-)erfolge messbar. Aber es vereindeutigt gerade nicht. Nachhaltigkeit bedeutet nicht unbedingt den holistischen Blick, sondern einen weiten Blick, der Zielkonflikte und Widersprüche nicht übersieht. Optimiertes Nachhaltigkeitsmanagement löst die Probleme nicht, aber trägt dazu bei, den ökologischen Fußabdruck einer Organisation zu verkleinern. Ein konsequent ressourcenschonender, zirkulärer Bau scheint aus den Vogelperspektiven der Governance ebenso wenig machbar, wie aus der Welt akademischer Fachsilos heraus. Es braucht mehr und höherwertiges Recycling (Hillebrandt und Seggewies 2018) bis hin zum Urban Mining (Hebel 2014). Es braucht aber auch, und vielleicht vor allem, die kreative Leidenschaft des Handwerks, der Planung, der Architektur (Kollhoff 2022). Für die Umsetzung – die Planung und Realisierung – ist wohl auch die Entscheidung für einen der Nachhaltigkeitsansätze zielführend. Das kann das „einfache Bauen“ sein oder ein anderer zum Beispiel ein materialbezogener (Haus aus Stroh, Haus aus Hanf) oder ein kreislauforientierter Ansatz (Urban Mining, Cradle to Cradle). Die akademische Sicht aber vereinfacht nicht – im Gegenteil. Sich auf die Diskursivität und auch die Widersprüchlichkeiten der Nachhaltigkeitsansätze einzulassen, kann trotzdem auch produktiv sein, sieht man deren Studium etwa als eine Reise zu verschiedenen Inseln der Nachhaltigkeit, von der die eine oder andere brauchbare Idee für die Praxis mitzunehmen wäre. Die Reiseerfahrung befähigt dazu, kenntnisreicher und reflektierter über Nachhaltigkeit zu sprechen. Aber was kann dabei ein weiterer, letztlich abstrakter, „akademischer“ oder in mancher Hinsicht planerischer Ansatz wie derjenige der Bioökonomie bringen? Die Zirkulärwirtschaft? Sollte man von beiden überhaupt getrennt sprechen oder verbunden – von der zirkulären Bioökonomie? Welche Forschung ist in den einzelnen Disziplinen, die sich mit Bioökonomie und Nachhaltigkeit befassen, zentral? Dieses Buch gibt einen Überblick und sucht nach Antworten. Es stellt zunächst die Frage danach, was zirkuläre Bioökonomie ist oder sein kann, und verbindet die Antwort mit sehr unterschiedlichen Ansätzen der nachhaltigen Ressourcenschonung im Bauwesen. Es unterscheidet sich damit von vergleichbaren Werken über die Bioökonomie und ebenfalls von denjenigen über nachhaltigen Bau. Somit möchte es neue Akzente setzen.
1.1 Sachebene: Bau-Bioökonomie als Ressourcenschonung
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1.1 Sachebene: Bau-Bioökonomie als Ressourcenschonung Welche Fäden führt dieses Buch zusammen? Der erste Faden ist derjenige der Bioökonomie oder genauer: der zirkulären Bioökonomie. Darüber schreiben zumeist Fachleute aus den akademischen Disziplinen der Agrar- und Forstwissenschaften. Als deutsche Wissenschaftler1 mit internationalem Renommee zu nennen wären hier, neben vielen anderen, Iris Lewandowski (Lewandowski, 2018) oder Ulrich Schurr (Schurr, 2020). Die Umweltingenieurwissenschaften sind ebenfalls federführend – hier sind etwa die Beiträge von Daniela Thrän herauszuheben – wie auch die Biotechnologie (Überblickswerke etwa von Manfred Kircher; Kircher, 2020). Über die Bioökonomie erschienen in den vergangenen Jahren bedeutende Überblickswerke, die die agronomischen, forstwirtschaftlichen, biotechnologischen Aspekte oft auch mit wachstums- und innovationstheoretischen „übergeordneten“ Fragen verbunden haben (Thrän & Moesenfechtel, 2020; Pietzsch, 2017). Die Bioökonomie wurde mit dem Paradigma der Nachhaltigkeit zusammengebracht (Lanzerath et al., 2022). Das zirkulärwirtschaftliche Konzept Cradle to Cradle ist erstmals von dem Chemiker Michael Braungart formuliert und international popularisiert worden (McDonough & Braungart, 2002). Neben den genannten Monographien und Überblickswerken ist in den vergangenen Jahren eine nicht mehr zu überblickende Fülle englischsprachiger Forschungspapers erschienen. Das lässt sich einerseits durch die gestiegene politische und forschungspolitische Bedeutung der Bioökonomie erkennen, andererseits im Zusammenhang mit der europäischen Klimapolitik (Green Deal) und den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen. Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten versuchten das Konzept der Bioökonomie einem breiteren Publikum nahezubringen. Sie kamen dabei gelegentlich zum Schluss, dass es sich eigentlich nicht popularisieren lasse – es erschließe sich breiteren Bevölkerungsschichten kaum (Grefe, 2016). Es gilt als zu abstrakt, als Fahnenwort oder Containerbegriff. Seine hohe Konjunktur ist begriffspolitisch zu erklären. Der zweite Faden, der hier mit demjenigen der zirkulären Bioökonomie verknüpft werden soll, ist derjenige des emissionsarmen, ressourcenschonenden Bauens. Zu diesem Thema äußerten sich im deutschsprachigen Raum in den vergangenen Jahren überwiegend Architekten wie etwa Felix Heisel, Annette Hillebrand oder – auf seine selbstbewusste, skeptische Weise – Hans Kollhoff. Hinzu kamen Architektenvereinigungen (BDA, Architects for Future) und Bauingenieure wie Werner Sobek, Dirk Hebel oder Thomas Auer (Sobek, 2022). Auch für das Bauwesen wurde der Cradle to Cradle-Ansatz beschrieben (Mulhall und Braungart, 2010). Architektenverbände diskutieren sogar die Option, den Neubau gänzlich einzustellen (BDA 2020) oder fordern dies dringlich
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der Regel wird in diesem Buch aus Affinität zur Prägnanz das generische Maskulin verwendet. Damit sind alle biologischen und kulturellen Geschlechter gemeint. Gelegentlich wird aus Affinität zur Variation auch variiert; auch dann soll sich niemand ausgeschlossen fühlen.
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(Architects for Future, 2021). Eine Fülle an programmatischen Broschüren staatlicher Stellen oder an Ressortforschungsberichten gesellte sich hinzu (etwa vom Bundesbauministerium, einigen Landesbauministerien oder dem Umweltbundesamt). Die Deutsche Bundesstiftung Umwelt trug zahlreich bei, wie auch die Autoren der erst 2022 begründeten wissenschaftlichen Fachzeitschrift nbau. Nachhaltig Bauen, die interdisziplinär ausgerichtet ist und die laut Selbstdarstellung des Verlages die „Silos des sektoralen Denkens zum Tanzen“ bringen will (NBau, 2023). Im selben Verlag erschien ein instruktiver Sammelband, der maßgebliche Autorinnen und Autoren des Nachhaltigkeitsdiskurses zu Wort kommen lässt (Hauke, 2021). Die weit darüber hinausgehende Fülle aktueller Publikations- und Forschungstätigkeiten darf nicht in Vergessenheit geraten lassen, dass akademische Schriften über die nachhaltige Entwicklung im Bau bereits eine jahrzehntelange Geschichte haben. Carl-Alexander Graubner und Katja Hüske veröffentlichten etwa (2003) das Buch Nachhaltigkeit im Bauwesen, das Entwicklungspfade wie eine Kreislaufführung der Materialien oder den selektiven Rückbau von Gebäuden bereits vorschlug. Eine breitere und radikalere Umsetzung solcher Postulate steht noch aus, zeichnet sich in den 2020er-Jahren auch aufgrund der Klimaschutzgesetze jedoch deutlich ab. Auch über ingenieur- und umweltwissenschaftliche Aspekte des nachhaltigen Bauens sind seit jüngerer Zeit gehaltvolle Überblickswerte erhältlich (Bauer et al., 2013; Friedrichsen, 2018; Bartels et al., 2022). Das gilt auch für Ansätze und technische Potenziale des Baustoffrecyclings (Müller, 2018), des zirkulären Bauens und der diesbezüglichen Digitalisierung (Heisel & Hebel, 2021; Campanella et al., 2022; Schwarzwälder, 2023). Die zirkuläre Bioökonomie und das nachhaltige Bauwesen – der Versuch, diese beiden unterschiedlichen Traditionen wissenschaftlichen „Sprechens über“ Nachhaltigkeit zusammenzuführen und auf Praxistauglichkeit im konkreten Branchenbezug zu überprüfen, mag gewagt scheinen. Sie haben bereits ihre eigenen, vielfältigen Forschungsliteraturen, die jeweils längst nicht mehr zu überblicken sind. Die Flut an Studien lässt sich am Beispiel der Ökobilanzierungen illustrieren (Abb. 1.1). Weist das Archiv in den Jahren 2000 und 2001 noch rund 4000 wissenschaftliche Studien zum „life cycle assessment“ aus, so waren es 2020 und 2021 schon mehr als 70.000. Der Versuch, den Begriff einer zirkulären Bau-Bioökonomie zu skizzieren, geschieht in diesem Buch aus keiner der genannten disziplinären Perspektiven heraus. Von welcher „Beobachterposition“ wird er hier stattdessen unternommen? Von einem interdisziplinär arbeitenden, kulturwissenschaftlich geschulten Beobachter und Vermittler, der aus den Forschungen der vielen unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen zusammenführen will, was sonst wenig Kenntnis voneinander hat. Denn was wissen Baustatiker von Landnutzungskonkurrenzen? Was wissen Architekten von Genome Editing? Und was wissen Wirtschafts- und Sozialpolitiker von der Ökobilanzierung? Was wissen Nachhaltigkeits-Zertifizierer von Atmosphären? Was wissen andererseits Pflanzenzüchter oder Biotechnologen von modernen Brettschichthölzern und was wissen Immobilienmakler von der Ökobilanzierung und was wissen Baupolitiker von der Agrarökologie? Die Zusammenführung von so vielfältigem Wissen war im Kern eine Recherchearbeit zwischen den vielen Disziplinen. Das Ergebnis soll einen Überblickscharakter
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Studien zur Ökobilanzierung
72800
18800 68
4140
1990-1991
2000-2001
2010-2011
2020-2021
Studien zur Ökobilanzierung (Suchabfragen ,,Life Cycle Assessment" bei Scholar Google, JG, 31.1.2023)
Abb. 1.1 Flut an Studien: die Ökobilanzierung als Forschungsthema. (Grafik JG)
haben und weniger spezialisierte Fachwissenschaftler mit neuen Erkenntnissen aus ihrem Fachgebiet erfreuen. Ein Anliegen ist die Verbindung der „Puzzlestücke“ der Forschung mit dem langen Blick der Wirtschafts- und Energiegeschichte. Das klimawissenschaftlich dringend empfohlene Programm einer schnellen Dekarbonisierung erscheint in der langen agrar- und industriehistorischen Sicht – unter Berücksichtigung der historisch gewordenen Pfadabhängigkeiten und Mentalitäten – und auch angesichts der stark angestiegenen Weltbevölkerung mit schnell wachsenden Konsumbedarfen in den Schwellenländern und insbesondere der bedeutenden Rolle Chinas als Militär-, Forschungs- und Wissenschaftsstandort als ein Wicked Problem. Die Vehemenz politischer Klimaproteste allein löst solch komplex verwobene Probleme nicht. Wahrscheinlich sind diese auch gar nicht „lösbar“. Die Klimagesetze sind beschlossen. Aber die konkreten Bedingungen der Umsetzung auch des Ziels eines netto-emissionsfreien Bauwesens bis 2045 liegen noch teilweise im Dunklen. Angesichts der bestehenden Klimaschutzgesetzgebung und partiell absehbarer Ressourcenknappheiten lässt sich Mitte der 2020er-Jahre zunächst annehmen, dass das Bauwesen vor einer tiefgreifenden und industriehistorisch epochalen Wende steht. Dieses Buch sucht nach Ansätzen, wie sie in Wahrung der sozialen, ökonomischen und ökologischen Interessen der vielen Akteure und Bürgerinnen und Bürger gelingen kann. Neben Interviews und Gesprächen mit relevanten Fachleuten unternimmt es eine Bündelung wissenschaftlich gesicherten Wissens. Die Hauptadressaten sind die vielen Akteure und Stakeholder des Bauwesens.
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Aber auch andersherum – von den spezifischen Nachhaltigkeitsanliegen des Bauwesens in die Fachwelt der Bioökonomie hinein – soll dieses Werk neue Perspektiven der Forschung und Anwendung anregen. Welche neuen Perspektiven sind gemeint? Die spezifischen Rohstoffbedarfe und Kohlenstoffspeicherkapazitäten des Bauwesens sind das eine. Eine andere ist nicht im Wortsinn „neu“, aber den stark natur- und ingenieurwissenschaftlich geprägten Fachtraditionen noch weitgehend fremd: Das ist eine kulturwissenschaftliche, hermeneutische Sicht auf die Themenfelder Bioökonomie und Nachhaltigkeit. Sie erlaubt Rückschlüsse auf die sinnstiftende Bedeutung des Bauens und Wohnens, aber auch des Ökologiediskurses. Dieser Ansatz ist im Fall der „zirkulären Bau-Bioökonomie“ besonders relevant, da hier der Faktor Langlebigkeit besonders ins Gewicht fällt.
1.2 Bedeutungsebene: Bau-Bioökonomie als Metapher Es geht in diesem Buch also nicht nur um die Fakten, Fortschritte, Politiken und Definitionen der zirkulären Bioökonomie des Bauwesens. Auch die Erzählungen über die (Nicht-)Nachhaltigkeit des Bauens und seiner Ressourcen- und Energiegrundlagen finden Berücksichtigung. Welche sind – neben dem Handlungsdruck wegen des Klimawandels – die relevanten Zeithintergründe, aber auch die lebensweltlichen oder politischen Orientierungen, die Konzepte von Bioökonomie und Kreislaufwirtschaft gesellschaftlich resonanzfähig machen? Die innovative Pointe dieser Teile des Buches ist ein Verständnis der Bioökonomie als Metapher (vgl. Abschn. 3.5). Mithilfe der Methode, Bioökonomie als Metapher zu verstehen, wird versucht, die vielen Ansätze zusammenzuführen, sprich: einen transdisziplinären Diskurs zu ermöglichen. Dies ist eine Weiterführung der eigenen Forschungsarbeit des Autors (Grossarth 2018). Hermeneutik und die historische Diskursanalyse stellen die „Erzählungen“ von Bioökonomie oder Klimaschutz in einen Zeit- und Wissenskontext. So werden auch Beobachtung und Deutung des Nebeneinanders – also die Parallelität unterschiedlicher Nachhaltigkeitserzählungen – zum Anliegen. Begriffe und Narrationen sind praktisch bedeutsam. Sie schaffen soziale und politische Orientierung, über sie organisieren sich Mehrheiten. Was folgt daraus für die Bioökonomie? Hermeneutische Ansätze öffnen Sensibilitätsräume für die erkenntnisbringende Funktion der Sprache, für Sprachwirkung und ebenfalls für den Aspekt der Macht (das ist ja der Kern des umgangssprachlich oft im Sinne von „Dialog“ verwendeten Diskursbegriffs). Die Macht politisch verführerischer Ideen, Worte und Metaphern ist unbestreitbar. Aber sie können auch „erhellen“ oder „erfrischen“ (Ludwig Wittgenstein). Bioökonomie führt semantisch die Biologie (wenn man es so übersetzen will: das „Lebendige“) mit der Ökonomie (also der „Haushaltslehre“) zusammen. Ökonomie bedeutet auch die Analyse von Knappheiten. Die Metapher ist originell. Ihre politische Originalität liegt darin, dass sie eine neue Dialektik in „eingestaubte“ Dis-
1.2 Bedeutungsebene: Bau-Bioökonomie als Metapher
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kurse über Nachhaltigkeit bringen könnte. Oft widersprüchliches, gegeneinander Gedachtes kommt hier zusammen. Sie lädt zum Dialog und zum Denken ein. Seitens der Perspektive der Ökonomie lässt sich mit ihr zum Beispiel bedenken, inwieweit Anliegen der Naturgemäßheit, aber auch der Lebens-, also Erfahrungsbezogenheit menschlicher Eingebundenheit in Wirtschaftsprozesse zur Geltung kommen. Seitens gesellschaftlich und politisch resonanzfähiger starker Vorstellungen von Nachhaltigkeit lässt sich fragen, ob die Bedingungen des Haushaltens der Bürgerinnen und Bürger und der Unternehmen von ihren Vertretern hinreichend „mitgedacht“ sind. Die Bioökonomie könnte in ihrer begriffspolitischen Bedeutung geradezu zur sozialpolitischen Leitmetapher der 2020er-Jahre avancieren, so wie die soziale Marktwirtschaft ab den 1950er-Jahren. Aber dafür ist sie hinsichtlich ihrer Bezogenheit auf die Alltags- und Lebenswelt noch zu blass. Der Mangel an Eindeutigkeit wäre hingegen als Stärke zu sehen. Der Philosoph und Schriftsteller Hans Blumenberg sieht die Metapher allgemein als etwas nicht ganz Entschlüsselbares; sie wahrt gegen alle Zugriffe der Dekonstruktion, aber auch des Verstehenwollens ihre Geheimnisse. Die Metapher, schreibt Blumenberg, „konserviert den Reichtum ihrer Herkunft, den die Abstraktion verleugnen muss“ (Blumenberg, 2014, S. 90). Schon in diesem Sinne wäre es töricht, Bioökonomie einfach nur als Framingbegriff zu verstehen, als ein abstraktes Ideal des zukünftigen Wirtschaftens oder im Sinne einer technizistischen Engführung. Die Stärke der Metapher liegt darin, dass sie persönlicher Wahrnehmung wieder zur Geltung verhilft. Die Metapher, schreibt Blumenberg weiter, konserviere den Begründungszusammenhang zwischen „Lebenswelt und Welt theoretischer Sachverhalte“ (ebd., S. 94). Sie ist ein Brückenschlag der Vermittlung in diesem Sinne – von den „zerrissenen“ Bereichen kausal-objektivistischer „Denkarten“ und der menschlichen Lebenswelt der Erfahrungen (ebd., S. 87–106). Die Erfahrungen des Lebens sind gemeint, das Empfinden, das Unbehagen, das Staunen, das Unsagbare, die Intention, transzendente Erfahrung. Blumenberg sieht die Metapher dann auch als „Grenzzone der Sprache, in der Niederschrift Scham vor der Öffentlichkeit wäre, ohne daß der Anspruch, etwas wahrgenommen zu haben, zurückgezogen würde“ (ebd., S. 96). Man kann also etwas Wahrgenommenes zur Sprache bringen, ohne aus der Ich-Perspektive zu reden, die im Apparat der Wissenschaft irrelevant oder peinlich ist und in der Politik im Ernstfall auch wenig Gewicht hat. Die Metapher bewahrt Erfahrungswerte auch unter den Objektivitätszwängen, die den Modus des Argumentierens im Wissenschafts- oder Politiksystem prägen. Metaphorisches Sprechen ist ein poetischer Grenzbereich der Unverfügbarkeit, der Widerständigkeit (Müller & Schmieder, 2016, S. 781.) Und darin kann auch ein Charme der Metapher der Bioökonomie liegen – nämlich, weil Bios „Leben“ bedeutet oder sogar „Lebendigkeit“ (Fehrenbach, 2011). Zu bedenken ist dabei allerdings, dass die Bioökonomie-Metapher als forschungspolitisches Wording eben aus dem Grenzbereich von Wissenschaft und Politik selbst stammt (Abschn. 3.3.1). Blumenbergs Hermeneutik untersuchte kulturelle Leitmetaphern wie Schifffahrten, Eisberge oder lichtvolle Höhlenausgänge. Seine Schriften
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fallen zeitlich vor die linguistischen Erklärungen der metaphorischen Strukturiertheit der Sprache insgesamt und der Erfahrungsbasiertheit des Verstehens (Lakoff & Johnson, 2008). Aber die Bioökonomie hat auch eine zweite Herkunft, die insbesondere in technischen Fachkreisen nicht so bekannt sein dürfte. Für Nicholas Georgescu-Roegen, der diesen Terminus ab den 1960er-Jahren nutzte, bezeichnet die Bioökonomie einen zivilisatorischen Entwurf, die Utopie einer radikal ökologisch nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise. Bei der Lektüre seiner längst klassischen und über Jahrzehnte nahezu selbst in volkswirtschaftlichen Fachkreisen vergessenen Texte wird deutlich, dass in Georgescu-Roegens Bioökonomie-Begriff auch die Lebenserfahrung eines wirtschaftswissenschaftlichen Autors „mitklingt“ (Abschn. 3.3.2). Sein in seiner Zeit randständiges und stures Beharren auf dem wahrscheinlichen Niedergang energiehungriger „amerikanischer“ Zivilisationsformen sieht er gewiss auch vor dem Hintergrund der dramatischen Epochenbrüche seiner Lebenszeit. Dazu zählten beide Weltkriege und seines unfreiwilligen Exils in den Vereinigten Staaten angesichts der kommunistischen Herrschaft in seiner rumänischen Heimat. Beim Blick auf Georgescu-Roegens Werk lässt sich der persönliche Standpunkt, die „lebensweltliche Erfahrung“, nicht übersehen, die sich im Präfix „bio“ (Leben) verbirgt – die vage Hoffnung auf menschliche Klugheit, die Katastrophen der Ressourcenverknappung vorausschauend vermeidet. Und diese Funktion hat die Bioökonomie-Metapher eben auch – bei Georgescu-Roegen, früher auch bei anderen: Sie hat eine Bedeutung als Korrekturmetapher, die einseitig technizistischen, daher übergriffigen Wissenschaftskonzeptionen „etwas entgegensetzt“. Hans Blumenberg diskutiert die Metapher überhaupt im Bezug zur ambivalenten Rolle der Wissenschaft. Ihre zentrale Rolle als gemeinsame Schnittmenge der „Vernünfte“ in einer modernen Gesellschaft hat die Erfahrung abgewertet. „Zwischen den Büchern und der Wirklichkeit ist eine alte Feindschaft gesetzt“ (Blumenberg, 2020 [1986], S. 17). Metaphorische Hermeneutik begleitet bei Blumenberg den ungeheuren technologischen Fortschrittsdrang der Nachkriegsjahrzehnte (Blumenberg, 2015). Er schreibt: „Wir wissen nicht mehr genau, weshalb wir das ganze gewaltige Unternehmen der Wissenschaft – unabhängig von all den Leistungen, die sie für die Lebensfähigkeit unserer Welt erbringt und die sie für diese unentbehrlich machen – überhaupt unternommen haben“ (Blumenberg, 2014, S. 93).
Auch so verstanden, und auf unser Thema übertragen, enthält der Ansatz der Bioökonomie mehr als dessen Traditionen von Genomveränderungen und Stoffstrommanagement, von Biomasseoptimierung und nachwachsenden Baustoffen. Als historisch in unterschiedlichen Kontexten „aufgetauchte“ Metapher verstanden, kann er „unterschwellig“ ein durchaus uneindeutiges, aber nicht marktschreierisches Momentum von Krisenwahrnehmung ausdrücken und auf die Offenheit der Zukunft und die menschliche Kreativität verweisen. Blumenberg spielt die Erkenntnis- und Erfahrungsbereiche nicht gegeneinander aus. Er weiß der Technik und Wissenschaft vieles zu verdanken:
1.3 Einstimmung
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„Ich werde das nicht einen Ansatz zur ‚Wissenschaftskritik‘ nennen, weil mir jede Verkennung des unüberbietbaren Lebensdienstes der neuzeitlichen Wissenschaft nicht nur fernliegt, sondern ungeheuerlich erscheint, folglich Kokettieren mit deren Verachtung verächtlich ist“ (Blumenberg, 2020 [1986]m S. 11 f.). Die Hermeneutik der Technik – oder der Technikkritik – bescheidet sich darauf, als Menschen nicht zu kapitulieren in der Hoffnung, sie der Lebensfreude dienlich zu machen: „Was bleibt dem Menschen? Nicht die ‚Klarheit‘ des Gegebenen, sondern die des von ihm selbst Erzeugten: die Welt seiner Bilder und Gebilde, seiner Konjekturen und Projektionen, seiner ‚Phantasie‘“ (Blumenberg, 2013, S. 12).
Die Metapher verweist nach Blumenberg also aus der Welt des Logos und der Wissenschaftlichkeit zurück in die ursprünglich motivierende Lebens- und Erfahrungswelt: Ist es nicht auch so gesehen eine Bereicherung, darüber nachzudenken, was es bedeuten könnte, ein Haus müsse wie ein Mammut sein, wie es Michael Braungart im Vorwort anregt? Und: Ist der Wunsch nach dem „Einfachen“ nicht auch einer nach der Behauptung sinnlicher Qualitäten? „Metaphern sind in diesem Sinne Leitfossilien einer archaischen Schicht des Prozesses der theoretischen Neugierde … Das Rätsel der Metapher kann nicht allein aus der Verlegenheit um den Begriff verstanden werden. Rätselhaft nämlich ist, weshalb Metaphern überhaupt ‚ertragen‘ werden“ (Blumenberg, 2014, S. 87).
Schließlich muss über die Grenzen eines Ansatzes nachgedacht werden, der so vieles zusammenbringen will – Agrar-, Forst- und Biotechnologie, Architektur, Bauingenieurwissenschaft, staatliche Planungsansprüche bezogen auf etablierte Märkte und Sensibilität für das Metaphorische. Manche der relevanten Aspekte können nur kursorisch und stark verkürzt angesprochen werden. Das „Schicksal“ der transdisziplinären Wissenschaft besteht wohl in dem Versuch, die Grenzen der zersplitterten Disziplinen im Interesse einer Praxisfrage zu sprengen. Das notwendige externe Expertenwissen vieler Wissenschaftler und Baupraktiker, von Bioökonominnen, Biotechnologen und der Technikfolgenabschätzung wurde nicht nur über Literaturrecherchen, sondern auch über Interviews einbezogen. An passenden Stellen ergänzen Reportagen den wissenschaftlichen Duktus. Sie sind mit „Exkurs“ oder „Exkursion“ betitelt. In mehr als zehn Jahren, in denen ich als Journalist über die Themen der Bioökonomie geschrieben habe, durfte ich an interessante Orte reisen und Beobachtungen machen, die mich später als Hochschullehrer weiterbeschäftigten (Kap. 11).
1.3 Einstimmung Die Beobachtung, die Wirkung eines Ortes, Gespräches, einer Situation, das Gefühl der Beobachtenden kommen über die Brücke der Metapher auch dort (schwach) zur Geltung, wo Rationalisierungen notwendig sind – in Ministerien, Behörden, Natur- und
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Ingenieurswissenschaften, Ökobilanzierung, Politik, auch der Umwelt- und Klimapolitik. Das metaphorische Sprechen kommt aus, ohne sich gegen die Verbindlichkeit wissenschaftlicher Vernunft zu richten, auch ohne der technischen oder juristischen „Vernünfte“ einen Subjektivismus oder Ästhetizismus entgegenzusetzen, ohne romantischen Kulturkampf, ohne die Arroganz der Klimajugend. Dieser Wunsch nach dem „Einfachen“ kann subtil sein. Wäre nicht etwas gewonnen, sähe man die Bioökonomie als Metapher in diesem Sinn? Diese Fotos entstanden auf einem Spaziergang durch ein Dorf im deutschen Mittelgebirge (Abb. 1.2). Sie zeigen Archetypen eines häufigen Siedlungsbildes. Wie wirken diese Neu- oder Umbauten auf die Betrachterinnen? Wie wirken sie auf Sie? Der behagliche Eindruck des alten Dorfkerns war angesichts der Bauwerke in den peripheren Straßen vollständig verkehrt. Die Wirkung dieser Bauwerke ließe sich mit den Adjektiven störend, unpassend, aufdringlich, lieblos fassen, auch: frivol, abgeschottet, rücksichtslos, fantasielos, charakterlos. Türen passen nicht zu Geländern, passen nicht zu Stufen, passen nicht zu Treppen und nicht zu Dächern. Man sieht zusammengewürfelte Sammelsurien nach dem Kriterium erschwinglicher Funktionalität. Steinterrassen, Bruchsteinmauern im Maschendrahtkorsett. Siedlungen entgrenzen das Dorf und fressen sich in die Felder vor. Jeder baut, wie er will, aber das Ergebnis ist nicht individuell, sondern Gleichförmigkeit. Auch: Ein historisch beispielloser Verlust an Stimmigkeit. Und müsste das alles so sein? Ist nicht vieles irrtümlicherweise zu groß geraten? Welche Rolle spielt im Bauprozess der Gedanke noch, dass ein Haus auch ein Beitrag für die Dorfgemeinschaft ist? Dieser Bau wird ausschließlich privat begriffen. Was ist hier zu sehen? Monster der Ökonomisierung? Die Zur-Stein-Werdung von Bequemlichkeit oder des Protzens? Oder der ästhetischen Kapitulation? Der Kapitulationen vor dem Anspruch, an einer schöneren Zukunft für alle mitzuwirken? Eine Baumarktarchitektur? Betonökonomie (Abb. 1.3)? Oder ist das zu sehen, was der Kinderbuchautor Michael 1973 in seinem klassischen Roman Momo in diesem Worten beschrieb: „Man sparte sich die Mühe, die Häuser so zu bauen, daß sie zu den Menschen paßten, die in ihnen wohnten; denn dann hätte man ja lauter verschiedene Häuser bauen müssen. Es war viel billiger und vor allem zeitsparender, die Häuser alle gleich zu bauen. […] Und genauso verlief auch das Leben der Menschen, die hier wohnten:Schnurgerade bis zum Horizont! Denn hier war alles genau berechnet und geplant, jeder Zentimeter und jeder Augenblick. Niemand schien zu merken, daß er, indem er Zeit sparte, in Wirklichkeit etwas ganz anderes sparte. Keiner wollte wahrhaben, daß sein Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter wurde.“ Wären dann auch solche Wahrnehmungen Gegenstand der Bioökonomie? Solche Metaphern haben alle ihre Stärken und Schwächen und bedeuten gewiss nicht, dass Baumärkte oder Beton abzulehnen wären (anders als Monster). Von ihnen müssen sich Betonbauingenieure und im Massivbau tätige Bauingenieurinnen nicht gekränkt fühlen. Sie wollen etwas zum Ausdruck bringen, was in der Bauplanung scheinbar nicht zur Sprache kam. Mit einem Ausdruck der Literaturwissenschaft geht es hier um
1.3 Einstimmung
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Abb. 1.2 Impressionen neuerer Bauwerke, die rund um einen historischen Ortskern im fränkischen Spessart entstanden sind. (Fotos Jan Grossarth)
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Abb. 1.3 „Man sparte sich die Mühe“ – Neubau in einem deutschen Dorf und ein gemischtes Bau- und Gewerbegebiet in „Feldrandlage“. (Fotos Jan Grossarth)
1.4 Das Anliegen dieses Buches
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so etwas wie „Einfühlungsästhetik“ (Braungart, 1995, S. 98). Beton wäre, so gesehen, nur eine Chiffre für die Kühle, die der Anblick dieser zeittypischen Bausiedlungen auslöst. (Auch ist Kühle ja nicht unbedingt abzulehnen, sie kann als Baustil passend sein.) Bioökonomie als Metapher wäre, was an diesem Beispiel deutlich werden soll, eben zumindest ein semantischer Gegenentwurf solcher Betonökonomien, selbst dann, wenn diese sämtlich hervorragend nachhaltigkeitszertifiziert wären.
1.4 Das Anliegen dieses Buches Es ist also auch nach Wirkung und Erfahrung zu fragen. Der bioökonomische Ansatz erlaubt es, solche Fragen politisch, betriebswirtschaftlich, ingenieurseitig und juristisch zu thematisieren. Sonst wäre Bioökonomie nur ein weiteres verlorenes „Buzzword“ (Vivien et al., 2019) oder ein Modewort – mit begrenztem Mindesthaltbarkeitsdatum –, ein Containerbegriff und ein Diskursphänomen, das seinen Grund in entsprechender Forschungsförderung hätte. In diesem Buch geht es erstens darum, die Zugänge der Zirkulärwirtschaft und Bioökonomie für eine baufachliche Zielgruppe zusammenzufassen. Zweitens sollen einem Leserinnenkreis aus den Fachbereichen der Nachhaltigkeit und der Bioökonomie die spezifischen Anliegen des Bauwesens vermittelt werden. Da hier insbesondere Langlebigkeit, Ressourcenschonung und Bestandsnutzung im Vordergrund stehen, wären für die wissenschaftliche Begleitung quantitative wie qualitative Methoden zu beachten, wie eine Hermeneutik der Bauwerke (Abschn. 2.3). Die Spaltung von Architektur – für derartige Anliegen traditionell offen – und den technischen Logiken verpflichteten Bauingenieuren ist in Anbetracht der Nachhaltigkeitsziele geradezu tragisch. Der Ansatz der zirkulären Bioökonomie kann diese Tragödie nicht rückgängig machen, aber ein neues, zartes Verbindungsfädchen spannen. Editorische Anmerkung: Die Teilkapitel mit dem Titel „Exkursion“ sind aktualisierte und ergänzte Reportagen oder Analysen, die erstmals in verschiedenen Zeitungen erschienen sind. Einige der Texte sind auch ursprünglich als unabhängig verfasste Leitartikel in einer Publikation der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) erschienen. Durch hierfür erhaltene Honorarzahlungen sind keine Interessenkonflikte entstanden. Die Ersterscheinungsorte und Titel der „Exkursionen“ waren wie folgt: Grossarth, J. (2014). Die Waldwirtschaft sagt der Kiefer leise servus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.11.2014. Grossarth, J. (2018). Brot für alle, Frankfurter Allgemeine Woche, 23.3.2018. Grossarth, J. (2018), Ölland, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2018. Grossarth, J. (2021), Agrarökologie: Eine globale politische Leitperspektive?, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (Hg.), Wie man die Welt ernährt, Ideen, Ansätze und Lösungen der Sonderinitiative Eine Welt ohne Hunger, Bonn/Eschborn.
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Grossarth, J. (2021), Auf Innovationen liegt die Hoffnung der Entwicklungspolitik, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (Hg.), Wie man die Welt ernährt, Ideen, Ansätze und Lösungen der Sonderinitiative Eine Welt ohne Hunger, Bonn/ Eschborn. Grossarth, J. (2021), Ich mag Müll, Die Zeit, 9.12.2021. Grossarth, J. (2021), Siegel, Zölle und Lieferkettengesetze: Nützen oder schaden sie Kleinbauern, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (Hg.), Wie man die Welt ernährt, Ideen, Ansätze und Lösungen der Sonderinitiative Eine Welt ohne Hunger, Bonn/Eschborn. Grossarth, J. (2022), Baut auf Hanf!, Welt am Sonntag, 3.7.2022. Grossarth, J. (2022), Das Ende der Landwirtschaft, Die Welt, 30.11.2022. Grossarth, J. (2022), Doppelte Ernte, Welt am Sonntag, 31.7.2022. Grossarth, J. (2022), Ein Baustoff steht im Walde, Welt am Sonntag, 11.9.2022. Grossarth, J. (2022), Mit Beton in die Zukunft, Welt am Sonntag, 20.12.2022. Grossarth, J. (2022), Perfekte Bäume aus dem Labor, Welt am Sonntag, 4.12.2022. Grossarth, J. (2023), Abrupter Wertewandel, Welt am Sonntag, 28.1.2023. Grossarth, J. (2023), Das besondere Rezept des römischen Betons, Die Welt, 10.1.2023. Einige Passagen anderer Kapitel sind Anfang 2023 als „Expert:innenpapiere“ von der Hochschule Biberach erschienen und von dieser an Fachleute des Bauwesens verteilt worden. Diese sind abrufbar unter https://www.one-h.de/bau-biooekonomie/; auch die für diese Texte erhaltene Honorarzahlung führten nicht zu Interessenkonflikten.
Literatur Architects for Future (2021). Klimaneutrales bzw. klimapositives Bauen. Vorschläge für eine Muster(um)bauordnung, o. O. Bartels, N., et al. (2022). Anwendung der BIM-Methode im nachhaltigen Bauen. Springer Vieweg. Bauer, M., et al. (2013). Green building: Leitfaden für nachhaltiges Bauen. Springer Vieweg. BDA (2020). Das Haus der Erde – Positionen für eine klimagerechte Architektur in Stadt und Land. Blumenberg, H. (2015). Schriften zur Technik. Suhrkamp. Blumenberg, H. (2013). Paradigmen zu einer Metaphorologie. (Erstveröffentlichung 1960). Suhrkamp. Blumenberg, H. (2014). Schiffbruch mit Zuschauer. (Erstveröffentlichung 1979). Suhrkamp. Braungart, G. (1995). Leibhafter Sinn: Der andere Diskurs der Moderne. De Gruyter. Campanella, D. et al. (2022). Echte Materialkreisläufe schaffen – Möglichkeiten und Herausforderungen der Wiederverwendung von Baustoffen. In C. Jacob & S. Kukovec (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer nachhaltigen, effizienten und profitablen Wertschöpfung von Gebäuden: Grundlagen – Neue Technologien, Innovationen und Digitalisierung – Best Practices. Springer Vieweg, S. 517–535. Fehrenbach, F. (2011). Lebendigkeit. In U. Pfisterer, (Hrsg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft.
Literatur
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Der ressourcenschonende Bau als technische, ökonomische und kulturelle Herausforderung
Als an einem Herbsttag im Jahr 2022 ein User1 des Nachrichtendienstes Twitter, der wenig später in X umbenannt wurde, seine Follower dazu aufforderte, in drei Worten den Weg in eine klimaneutrale Bauwirtschaft zu skizzieren, beteiligten sich viele. Die Antworten waren – neben aus wissenschaftlicher Sicht vernachlässigbaren Polemiken – vielseitig. Puutuoteteollisuus – das war der Account des „Verbandes der Holzverarbeitenden Industrie Finnlands“– antwortete mit: „Wood – Circular – Small“. In diesem finnischen Fall war die Präferenz für das Holz als Baustoff weniger überraschend als diejenige für die kleinen Gebäude. Schließlich braucht es für deren Bau auch weniger Holz. „#Baukultur“ antwortete der Account der deutschen Architektenvereinigung „Bauhaus der Erde“. Und die Degrowth-Aktivistin „@LotteMuh“ entschied sich für einen radikalen Verbotsweg: „Neubaumoratorium. Sanierung. Aufstockung mit Holz.“ Andere schlugen die Brücke von der Frage, mit welchen Materialien gebaut werde, zur Frage, wie der Bauprozess energetisch ermöglicht werde – fossil oder durch „grünen“ Strom. Denn wird nicht jeder Baustoff klimafreundlicher, wenn Rohstoffgewinnung, Herstellung und Transport durch Strom aus den sogenannten erneuerbaren Energien ermöglicht werden? „Electrification. Renewable. GEBs“, schlug der Architekt Scott Farbman aus Chicago konsequent vor – wobei GEBs für Grid-Interactive Efficient Buildings steht, ökoeffiziente und smart gesteuerte Gebäude, die zum Energiespeicher werden. Dann wurde auch eine Reihe konkreter Baumaterialien genannt: Stroh, Hanf, Gras, Erde, Reet, Lehm. Mit diesem Gespräch ist die Komplexität eröffnet. Es vermittelt aber auch einen
1 Tweet
von Michael Burchert, @BurchertMichael, vom 5. Oktober 2022: „Name 3 keywords to make construction climate neutral.“
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 J. Grossarth, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40198-6_2
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2 Der ressourcenschonende Bau als technische, …
Eindruck davon, dass Ressourcenschonung im Bau nicht anders diskutiert werden kann als in dieser Breite: Technik, Ökonomie, Energie, Materialien und Baukultur.
2.1 Der Klimaschutz als Zeitenwende für den Bau? 2.1.1 Die Nicht-Nachhaltigkeit des Bauwesens Gegenwärtige Baupraxis ist im Licht der Wissenschaft aus vielen Gründen nicht als nachhaltig zu bezeichnen (Lima et al., 2021; Hossain et al., 2020; Sev, 2009). Neben Knappheitsszenarien einzelner Rohstoffreserven (Kap. 8) und anderem verlangen die deutschen und europäischen Klimaschutzziele gravierende Änderungen im Bauwesen (Lützkendorf & Lalouktsi, 2022). Die Beheizung des Gebäudebestandes soll in Deutschland wie Europa bis Mitte des Jahrhunderts ebenso ohne Netto-Klimagasausstöße gelingen wie der Bauprozess von der Rohstoffgewinnung über die Errichtung bis zum Abbruch. Häufiger Abbruch und schneller Neubau stehen ebenso infrage wie die beliebte Wohnform im freistehenden Einfamilienhaus (Sanchez-Garrido et al., 2022).
2.1.1.1 Ressourcenverbrauch Der Ressourcenverbrauch im Bausektor2 steigt weltweit weiter stark an. Ein Vergleich verdeutlicht den Anteil Asiens: Allein China verbaute von 2011 bis 2013 mehr Beton als die Vereinigten Staaten im gesamten 20. Jahrhundert (Gates, 2021). Die Weltbevölkerung wird voraussichtlich bis Mitte des Jahrhunderts auf 9,5 bis mehr als 10 Mrd. Menschen anwachsen (UN, 2022). Bis 2060 wird illustrativen Prognosen des Ressourcenverbrauchs zufolge noch etwa 500-mal die Stadt New York gebaut werden müssen, um diesen Menschen urbanen Wohnraum zu geben (Glock et al., 2022). Auch diese Zahl illustriert die globale Dimension des Bauemissionsproblems, das mit regionalen oder nationalen Suffizienzstrategien – also Verzicht und Mäßigung etwa betreffend die Wohnungsgrößen oder die Materialstärken – allein kaum zu lösen sein wird. Der weltweit stark steigende Bedarf an nachhaltigem Wohnraum, in Verbindung mit den Klimaschutzzielen in Europa und global, lässt die Aufgabe der Klimagerechtigkeit und Nachhaltigkeit im Bauwesen wie eine Quadratur des Kreises erscheinen.
2 Ein „Bausektor“ ist in der amtlichen deutschen Klimastatistik zwar nicht erfasst, was die Interpretation der Statistiken voraussetzungsvoll macht. Dieser Wirtschaftssektor findet sich einerseits im Sektor Industrie wieder – darin sind etwa Baustoffe enthalten –, entsprechend gelten Minderungsziele. Andererseits gibt es THG-Minderungsziele für den Bereich Gebäude, wobei im Kern der Heizbetrieb gemeint ist.
2.1 Der Klimaschutz als Zeitenwende für den Bau?
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2.1.1.2 Holzbau und bioökonomische Innovationen Aber es gibt bedeutende Entwicklungspfade, die ein Gelingen ermöglichen können: Der vermehrte Holzbau erscheint als ein Weg zum klimagerechten Bauen (Wagner et al., 2022) und Fortschritte in der Materialnutzungseffizienz geben Hoffnung (Hertwich et al., 2019). Auch agrarische Reststoffe wie Stroh von Getreide oder Hanf und andere Lignozellulose-haltige Biomassen können Beiträge leisten (Grossarth, 2023), wie etwa Miscanthus (Lewandowski et al., 2000; Awty-Carroll et al., 2023). Die Nutzung von Abfallströmen wie Altholz zur Baustoffherstellung (Ferdous et al., 2021) oder die digitale Bauplanung auf Basis von Lebenszyklusanalysen (Hollberg, 2020) können weitere wichtige Faktoren sein. Schließlich trägt auch die konsequente zirkuläre Führung von Baustoffen zur Nachhaltigkeitsentwicklung bei, was aber einen veränderten rechtlichen und ökonomischen Rahmen bedeutet, etwa mit bindenden Rücknahmepflichten oder verpflichtenden Gebäudematerialpässen und Rückbauanleitungen (Munaro et al., 2020). Zuwächse erneuerbarer Energien für den Gebäudebetrieb und vor allem die Beheizung sind ebenfalls relevant für die Energie- und Klimabilanz. Ressourcenschonung ist ein zentrales Anliegen der Forschung zu Nachhaltigkeit. Technischen Innovationen kommen in der Bioökonomie eine zentrale Rolle zu. Chemische oder thermische Aufschlussverfahren, die die Nutzungsspielraume für Alt- oder Restholz erweitern, sind ein Beispiel (Abschn. 4.7, Kap. 5, Abschn. 8.2). Mit der wachsenden Bedeutung von Kohlenstoff bindenden, nachwachsenden Baustoffen wird im wissenschaftlichen und politischen Diskurs aber auch der „Blick über den Tellerrand“ für die Akteurinnen und Akteure des Bauwesens geradezu als eine Pflicht gesehen. Eine Bioökonomie des Bauens bedeutet also auch, die Fläche als knappes Gut und Rohstoffkonkurrenzen als ethisches Dilemma anzuerkennen (Vogt, 2018; Pinsdorf, 2022). Die Nutzung von Holz als Baustoff für vielleicht, global gesehen, Hunderte Millionen neuer Wohneinheiten ist unter Nachhaltigkeitsaspekten ambivalent (Mishra et al., 2022). Der Pfad der Bioökonomie führt nahezu unweigerlich in Zielkonflikte hinein. Ein Beispiel: Eine vermehrte Aufforstung und die Holznutzung als Baumaterial wären zum Beispiel eine über Jahrzehnte währende Kohlenstoffsenke. Doch andererseits wirkt die Entnahme von Holz und intensivere Waldbewirtschaftung der Kohlenstoffspeicherung der Waldböden entgegen. Andere Waldfunktionen wie der Erhalt von Biodiversität sind ebenfalls zu berücksichtigen. Entscheidungen über das Ausmaß der Biomassenutzung zu treffen, ist eine politische Angelegenheit. Die Wissenschaft(en) der Bioökonomie thematisieren Zielkonflikte, Ambivalenzen und Dilemmata – ihr Anliegen ist es nicht, diese über klimapolitische oder umweltpolitische Heilungsfloskeln zu überspielen. Wissenschaft blickt wertneutral, beschreibend, reflektiert und historisch informiert auf das Jahrhundertprojekt der Transformation der Wirtschaft. 2.1.1.3 Globale Klimaveränderungen Das Pariser Klima-Abkommen von 2015 hatte das Ziel, die Erderwärmung bis 2100 auf weit weniger als 2 °C zu beschränken (Dröge, 2015). Hierfür gelten Netto-Null-
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Emissionen von Treibhausgasen ab Mitte des 21. Jahrhunderts als nötig. Deutschland hat sich für 2045 verpflichtet, dieses Ziel zu erreichen. Das Bundesverfassungsgericht hat den Klimaschutz als Freiheitsrecht kommender Generationen definiert und verlangt vom Gesetzgeber, dass die Sektorenminderungsziele mit einer flankierenden Gesetzgebung erreicht werden sollen. Das Urteil bindet Freiheitsrechte an das Konzept der planetaren Grenzen (Calliess, 2021; vgl. auch späteres Kapitel zur Bioökonomie und Klimaschutzpolitik). Das Paris-Ziel wird vermutlich nicht erreicht. Die CO2-Konzentration der Erdatmosphäre hat von 1850 bis 2023 von 285 auf 421 ppm zugenommen (CO2 Earth, 2023). Ein weiterer Anstieg der globalen CO2-Emissionen um rund 50 % bis Mitte des Jahrhunderts wird erwartet, womit die Temperaturen wahrscheinlich über dem 2-GradZiel lägen; das pessimistische Prognoseszenario bis 2100 rechnet mit einem Anstieg der globalen mittleren Temperatur um 4 °C (Nguyen, 2019). Die Zerstörung von Erd- und Meeresökosystemen, das Auftauen des Permafrostes mit der Folge weiterer CO2-Freisetzungen aus den Böden, der ansteigende Meerespegel und das beschleunigte Artensterben sind die erwarteten und schon beobachteten Folgen (Mora et al., 2018). Das Bauwesen ist mit einem Beitrag von rund 39 % der global größte Emittent von CO2 (Chen et al., 2023). Es wird daher als „Elefant im Klimaraum“ bezeichnet (Schellnhuber, 2021). Das Bauwesen hat nicht nur großen Einfluss auf den Verbrauch mineralischer und metallischer Ressourcen, Holzressourcen, fossiler und erneuerbarer Energien, sondern auch auf den Wasser- und Flächenverbrauch. Auf das Bauwesen entfallen etwa 30 % des globalen Rohstoff- und rund 35 % des Energieverbrauchs (Goubran, 2019). Als größte dem Bauwesen zuzurechnende Emissionsquellen erweisen sich die Wohngebäude und auf Gebäudeteilebene Tragwerke, Fassaden und die Gebäudetechnik (Grafik 2.1a).
Grafik 2.1a Das Tragwerk der Wohngebäude als größte Emissionsquelle im Bauwesen. (Grafik JG)
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2.1.1.4 Bau-Klimapolitik Nicht nur Staaten bestimmen die Geschwindigkeit der sogenannten Bauwende durch ihre Klimagesetzgebung. Sie ist auch ein kommunales Anliegen. Bis Anfang 2023 hatten sich weltweit 29 Städte und Metropolregionen zur Klimaneutralität im Bauwesen verpflichtet, darunter Heidelberg, Kopenhagen, Kapstadt, London, New York oder Seattle (WGBC, 2023). In kommunalen Netzwerken ist oft die Initiative der Bauindustrie selbst maßgeblich, so etwa in Malmö. Der politische Planungsblick weitet sich von den Monaten oder wenigen Jahren des Bauprozesses auf den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes und darüber hinaus (Gursel et al., 2009). Die Lebenszyklusbilanzen im Gebäudesektor lassen sich auch nach Nutzungsart differenziert betrachten. Weltweit tragen Wohn- und Nicht-Wohngebäude über den Lebenszyklus zwar etwa gleich viel zu den Treibhausgasemissionen von Bau und Betrieb bei – aber das signifikant höhere Einsparpotenzial ist im Bereich der Bürogebäude zu sehen (Röck et al., 2020). Digitale Bauprozessmodelle (BIM) unterstützen diesen mit Informationen, die relativ einfach Vergleiche von Alternativen ermöglichen (Xiaoxiao et al., 2021). Die Fachwelt des Bauingenieurswesens folgt dem neuen Paradigma akademisch und in Prestigeprojekten in der Praxis; aber die Umsetzung in der Breite ist 2023 noch nicht verwirklicht. Methoden wie die Ökobilanzierung werden eher schleppend in die akademische Ingenieursausbildung integriert (BauFak, 2023). Das Bauwesen
Das Bauwesen ist ein weiter Begriff, der „alle Belange, die grundsätzlich mit dem Vorgang der Bautätigkeit zu tun haben“, umfasst (Juraforum, 2023). Hierzu zählen etwa Planung und Ausführung, Rohstoff- und Baustoffgewinnung, Logistik, Baupolitik, Bauklimapolitik, Baurecht, Architektur, Abriss, Deponierung, Baustoffrecycling, Baustoffhandel, aber auch das Wirken von Fachschulen, Hochschulen, Verbänden und Akademien der Weiterbildung. In der Nachhaltigkeitsbetrachtung des Bauwesens ist vor allem zu differenzieren zwischen dem Gebäudebetrieb, inklusive Beheizung, und dem Bauprozess mitsamt Rohstoffgewinnung; auf Erstere entfallen rund ein Viertel der Emissionen, auf Letztere drei Viertel (Elbers, 2022). In den Jahren von 2017 bis 2019 verfehlte das globale Bauwesen jeweils die notwendigen Zielwerte für eine Klimaneutralität bis 2050 (UNEP, 2020, S. 6).
Die Fokussierung auf Kohlenstoffemissionen bewirkt eine Ausrichtung des Bauwesens auf die Betrachtung des gesamten Gebäudelebenszyklus. Im Neubau kommt den Emissionen von CO2(-Äquivalenten) für die Materialerzeugung und im Bauprozess ein größeres Gewicht zu als in früheren Zeiten. Je neuer und energiesparsamer ein Gebäude im Betrieb ist, desto größer ist der Anteil der Rohstoff- und Bauindustrieseite an den gesamten Emissionen im Gebäudelebenszyklus (Cortes Vargas et al., 2021). Dieser empirische Befund verdeutlicht, dass auch zwischen den Zielen des energiesparenden
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und des emissionsarmen Bauens Zielkonflikte bestehen können. Denn blickt man nur auf die Bilanz des Gebäudebetriebes, so können Gebäude als umweltfreundlich erscheinen, die andererseits entweder große Mengen an „grauer Energie“ in der Gebäude- oder Dämmstofftechnik eingelagert haben oder aber aufgrund funktionaler oder ästhetischer Aspekte keine so lange Lebensdauer zu erwarten haben wie nach qualitativen Aspekten entworfene Wohngebäude.
2.1.1.5 Zwischenresümee Der ressourcensparsame Bau ist geboten. Viele Wege führen dahin. Die technokratische Idee vom Holzbau als großer globaler Kohlenstoffsenke wirft Fragen nach der Ressourcenverfügbarkeit und den sozioökologischen Folgen globaler Aufforstung von Plantagen auf. Das Waldwachstum selbst ist durch die Klimaveränderungen zunehmend unsicher vorherzusagen. Beispielsweise nehmen Waldbrände zu (Halofsky et al., 2020; späteres Kapitel). Es gibt weitere Risiken der Klimaveränderungen bezogen auf das Waldwachstum. Bei etwa 2 °C Erderwärmung steigt das Risiko stark an, dass die Wasserknappheiten global zunehmen; hinzu kämen deshalb Lebensmittelknappheiten, die die Flächenkonkurrenzen zwischen baustofflicher und ernährungsbezogener Nutzung verschärften (Shukla et al., 2019; späteres Kapitel). Steigende Temperaturen hätten aber ceteris paribus auch positiven Einfluss auf das Baumwachstum (Babst et al., 2019). Insgesamt lassen Sattelitenaufnahmen auf Aufforstungspotenziale von mehreren hundert Millionen Hektar degradierten Landes schließen, wobei keine großen Nutzungskonflikte zu befürchten seien (Bastin et al., 2019). Die Holzressourcenfrage ist kaum eindeutig zu beantworten (späteres Kapitel).
2.1.2 Ressourcenschonung als Anliegen einer transdisziplinären, problemorientierten Forschung Der Fokus der Klimapolitik verbindet die Forst-, Ernährungs-, Energie- und Baustofffragen aufs Engste miteinander. Daraus folgen Fragen wie diese: Wäre es nicht etwa politisch geboten, den flächenintensiven Konsum tierischer Proteine stark zu verteuern, „flächenschonendes“ Soja- oder Erbsenprotein hingegen zu vergünstigen? So würden Flächen frei für die Nutzung als Wälder. Wie also wären die nachwachsenden Baustoffe angesichts der Flächenkonkurrenzen zu priorisieren? Diese Fragen sind politisch, aber sie verdeutlichen, zu welch komplizierten Abwägungen das Thema der nachwachsenden Baustoffe führt. Es gibt agronomische Innovationen, die geeignet sind, Flächenkonkurrenzen zu entschärfen. Ökologische Systeminnovationen wie Agroforst, regenerative Landwirtschaft – und einfach landwirtschaftliche Diversifizierung – können zur Anpassung an die Klimaveränderungen beitragen und rohstoffseitig indirekt auch dem Bauwesen nützlich sein (Thevs et al., 2022).
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2.1.2.1 Wirtschaft „ohne“ Ressourcenverschwendung Eine zirkuläre Bioökonomie bedeutet – in der langen Tradition dieses Faches (Georgescu-Roegen, 1975) – einen konsequenten Blick auf die energetischen Grundlagen des Lebens und Wirtschaftens (Definitionen in späteren Kapiteln). Viele Expertisen tragen zur Ressourcenschonung bei – aus den Ingenieurwissenschaften, der Energietechnologie, der Land- und Forstwirtschaft, der Pflanzenzucht, Biotechnologie, aber auch der staatlichen Gesetzgebung. Umwelt- und Abfallrecht gehören zum einflussreichen Kreis der Stadt- und Siedlungsplanung, aber auch der große Bereich, der das Bauwesen bürokratisiert und rechtlich festlegt: die Bauprodukteverordnungen und Ersatzbaustoffverordnungen, Brandschutz und Gesundheitsschutz, unzählige Normen für Produkte, Prozesse und Berechnungen, von der Statik bis zur Ökobilanz. Von einer zirkulären Bioökonomie des Bauwesens zu sprechen, impliziert also keinesfalls, dass das „Nachwachsende“ oder „Natürliche“ – was auch immer Letzteres genau sein mag – die Grundlage für die (Bau-)Wirtschaft werden müsste. Stattdessen geht es um die Leitidee geschlossener Stoffkreisläufe, wofür die Natur manche Vorbilder gibt. Die extensive Land- und Forstwirtschaft markiert lediglich die Untergrenze der Ressourcenverfügbarkeit. Die regenerierbare nachwachsende Biomasse ist das Minimum, die engste denkbare energetische Grenze oder energiehistorisch gesagt: die „photosynthetische Grenze“ (Niklas & Kerchner, 1984). Ressourcenschonung in der gesamten Wirtschaft, in langer Frist, ist das zentrale Anliegen der zirkulären Bioökonomie. Im Mittelpunkt steht die Technosphäre, die mineralischen Baustoffe. 2.1.2.2 Langlebigkeit als Nachhaltigkeitswert Das Verständnis von der Langlebigkeit der Bauwerke ist ein gutes Beispiel für die Frage, was man sich genau unter ressourcenschonendem Bau vorzustellen habe. Was sind die zentralen Bestimmungsgrößen? Dem Faktor der Langlebigkeit von Gebäuden kommt in der Wissenschaft über den nachhaltigen Bau ein zunehmendes Gewicht zu, indem die „graue Energie“ – gemeint ist die für Rohstoffgewinnung, Transport, Baustofferzeugung, Bauprozess, Wartung, Abriss verwendete Energie (engl.: Embodied Energy) – der verbauten Materialien in den Fokus rückt (Dixit et al., 2010; Marzouk & Elshaboury, 2022; Skillington et al., 2022). Allerdings sind mit größerer Langlebigkeit häufig auch technische Nachteile verbunden – etwa der aufwendige Ersatz von technischen Bauteilen im Lebenszyklus (Bullen et al., 2011). Dass die internationale Klimapolitik den Verbrauch grauer Energie für die Baumaterialerzeugung und Bauprozesse stark bremsen dürfte, verändert die politischen Koordinaten jedoch auch in angrenzenden Themenfeldern. So sieht der Denkmalschutz neue Begründungszusammenhänge für eine Ausweitung des verpflichtenden Erhalts historischer Gebäudesubstanz (Guidetti & Ferrara, 2023). 2.1.2.3 Forschung jenseits der Disziplinen Ein Interesse am tatsächlichen Gelingen des Zieles der Bioökonomie, eines nachhaltigen Umgangs mit den Ressourcen, erfordert transdisziplinäre und problemorientierte
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Forschung. Es kann dabei nicht das Ziel sogenannter transformativer Wissenschaft sein, reale Probleme der Verwirklichung zu verdecken und der Politik marktschreierische Versprechungen zu machen. Sondern sie muss, die Sinnhaftigkeit des Zieles vor Augen, objektiv, realitätsbezogen und empirisch sein. Also ist auch die Optimierung der Ökobilanzen, die sich gegenwärtig als Goldstandard der Rechenmethoden der ökologischen Nachhaltigkeit etabliert, „nur“ ein Ansatz neben vielen. Ihre Expertenkreise selbst müssen sich die Frage gefallen lassen, ob durch die absehbare Dominanz des Ökobilanzansatzes im Planungsprozess nicht ein technokratischer Ansatz der Nachhaltigkeit dominieren wird (Abschn. 7.7). Ökobilanzierung kalkuliert in der Regel mit einheitlichen Lebensdauern von Gebäuden, etwa nach Gebäude-Dauerhaftigkeitsklassen nach Eurocode. Aber etwa auch das Ziel größerer Langlebigkeit von Gebäuden müsste – neben anderen – ein Anliegen der zirkulären Bau-Bioökonomie sein. Diesbezügliche Kreativität, etwa der Architektur, werden im Ökobilanzverfahren überhaupt nicht gewürdigt. Und müsste nicht auch eine Infragestellung der historisch hohen und steigenden „Nachfrage“ nach Wohnraum pro Kopf ein Anliegen einer ernsthaft an Nachhaltigkeit interessierten Politik sein? Nicht zuletzt sind auch die menschliche Kreativität und Gestaltungsfreude „Ressourcen“, die etwa durch bürokratische Auflagen oder technokratisch aufgefasste Nachhaltigkeitsansätze gehemmt werden können – so sinnvoll all diese gewiss sind, um Ressourcenschonung wirksam voranzutreiben. Transdisziplinarität in der bioökonomischen Forschung
Transdisziplinarität ist mehr als ein Modewort. Der auf Arbeiten des Sozialpsychologen Jean Piaget aus den frühen 1970er-Jahren zurückgehende Begriff Transdisziplinarität meint, dass disziplinäre Grenzen im Zuge einer Problemorientierung der Forschung aufgelöst werden. Das kann etwa Methoden oder die Zusammensetzung von Forschungs- oder Autorenteams betreffen, in denen Wissenschaftler und Praxisexperten oder auch „Laien“ zusammenarbeiten (Vilsmaier & Lang, 2014). Lang et al. (2012, S. 25 ff.) definieren die Transdisziplinarität etwas wolkig als „reflexives, integratives, methodengetriebenes wissenschaftliches Prinzip, das auf Lösungsbeiträge … gesellschaftlicher Probleme und zugleich damit verbundener wissenschaftlicher Probleme abzielt, indem Wissen aus verschiedenen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Wissensbeständen differenziert und integriert wird.“ Transdisziplinäre Forschung konzentriert sich laut dieser Definition auf ein gesellschaftlich relevantes Problem – etwa Nachhaltigkeit im Bauwesen. Sie setze eine Lernbereitschaft auch der Forschenden voraus, integriere das Fachwissen auch von Nicht-Akademikern in die Forschung. Insbesondere Letzteres unterscheidet sie von der Interdisziplinarität. Wer sich für solch weite transdisziplinäre Zugänge entscheidet, muss die Frage beantworten können: Aus welchem Grund ließe sich annehmen, dass „Laien“ ein tieferes Verständnis von Nachhaltigkeit haben als akademische Nachhaltigkeitsexperten? Transdisziplinäre
2.1 Der Klimaschutz als Zeitenwende für den Bau?
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Ansätze sind im Anwendungsfall der Nachhaltigkeitsforschung beliebt. Der Anspruch des „lernenden Forschens“ bezieht sich weniger auf konkrete Methoden oder Vorgehensweisen als auf eine Haltung. In dieses Buch fließt etwa die Expertise der wissenschaftlichen und praktizierenden Baufachleute über Interviews ein, aber auch von Dutzenden meiner Studentinnen und Studenten der Hochschule Biberach, die immer wieder fragend, kommentierend oder (aus ihrer Praxiserfahrung) erzählend auf meine Vorlesungsinhalte reagiert haben, was mich zu neuen Fragen, Lektüren und Einsichten gebracht hat.
Das Problem der „Nicht-Nachhaltigkeit“ überhaupt ist auf vielen Ebenen als „wicked problem“ zu sehen. Mit diesem Begriff beschreibt die Wissenschaft „böse“ oder „schelmenhaft“ komplex vernetzte, schwer lösbare Probleme (Rittel & Webber, 1974; Vogepohl et al., 2021; Urmetzer et al., 2020). Sowohl für ein Verständnis des Problems als auch der Verwobenheit der Barrieren, die einer Lösung im Wege stehen, ist ein breiter disziplinärer Blick notwendig. Der Ansatz dieses Buches versteht sich als „problemorientierte Forschung“ (Bechmann & Frederichs, 2005), die politische Praxis ernst nimmt und etwa Akzeptanzfragen mitdenkt, aber auch die relevanten natur- und umweltwissenschaftlichen Problemfelder benennt und auf die speziellen Anliegen des Bauwesens bezieht. Bioökonomische Forschung stellt sich als Musterfeld dar, in dem transdisziplinäre Forschung nicht nur Schlagwort bleiben darf, sondern geradezu notwendig ist (Krickhahn, 2022; Scheer & Konrad, 2020). Methodisch bieten sich Mischformen an aus qualitativen und quantitativen Ansätzen (Kelle, 2022). Beispiel
Was bestimmt die Langlebigkeit eines Gebäudes und wie sind die Zusammenhänge zur klimabezogenen Ökobilanzierung? Beispielhafte Fragen für transdisziplinäre Forschung der zirkulären Bau-Bioökonomie: • Wie verändert sich die treibhausgasbezogene Ökobilanz des Bauwerks mit einer um x Jahre verlängerten Lebensdauer? • Wie ließe sich der Faktor Lebensdauer in den Rahmen der Ökobilanznormen sinnvollerweise flexibler und realitätsnäher auf konkrete Bauprojekte einpflegen statt auf Durchschnittswerte von Gebäudetypen bezogen? • Welche Kriterien bestimmen für ein Bauwerk dieses Gebäudetyps die tatsächliche Lebensdauer? • Wie lassen sich Gebäudelebensdauern kostengünstig verbessern (etwa durch Aufstockungen in Holzmodulbauweise)?
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• Wie lassen sich technologische Entwicklungsszenarien für den Bau im Bestand oder das Urban Mining prognostizieren? • Wie lässt sich die Aufmerksamkeit von Bauherren auf Aspekte der Langlebigkeit lenken, sodass sie auch in die Entscheidung einfließen? • Mangelt es an Austausch und Kommunikation der am Bau beteiligten Akteure über den Aspekt der Langlebigkeit? • Wie ließe sich so ein Austausch wirksam moderieren? • Was sind die Beweggründe für einen Abbruch? Warum entscheiden sich Familien nicht für einen Ausbau oder die Sanierung des Bestandes? Wie verhält sich dies bei kommerziellen Unternehmern? Welche Informationen könnten zum Umdenken führen? Welche Rolle spielen Nachhaltigkeitswerte im Entscheidungsprozess, der den Abbruch festlegt? • Mangelt es den relevanten Akteurinnen und Akteuren an Wissen über Optionen? • Welche impliziten Norm- und Wertevorstellungen sind für die Akteursgruppen mit den Imperativen von „Nachhaltigkeit“ und „Klimaschonung“ verbunden? Und welche andererseits mit den Begriffen „Wohnen“, „Neubau“, „Eigenheim“, „Einfamilienhaus“? • Gibt es Reaktanzen in bestimmten Akteurskreisen oder sozialen Milieus, die dazu führen, dass sich Personengruppen dem Nachhaltigkeitsblickwinkel verschließen? Was sind die Gründe? • Welche Rolle spielen negative historische Erfahrungswerte, aber auch etwa gedankliche Kategorienfehler? (Ein Beispiel wäre, dass auf Holzbau aufgrund von Befürchtungen von Brandgefahren verzichtet wird, die Vorstellungen von Kurzlebigkeit begründen – auch wenn technische Messwerte für neue Holzbaustoffe wie Brettsperrholz diesbezüglich „entwarnen“.) • Welche Rolle spielt die Schönheit eines Gebäudes? Wie nehmen unterschiedliche Gruppen die Schönheit von Bestandshäusern wahr? Oder eher die „Besonderheit“, „Geschichtlichkeit“? Und sind solche Eigenschaften überhaupt ein Grund für Bemühungen um den Erhalt? Zu welchem Preis? • Wie unterscheiden sich empirisch-statistisch Schönheitswahrnehmungen voneinander? Kann hier zwischen Altersgruppen, Geschlecht (Gender), Stadt/Land oder Milieus unterschieden werden?
Dieser Fragenkatalog soll den Fächer der relevanten Fragen und ihrer komplexen Vernetztheit weit öffnen und er ließe sich noch weiter machen. Auf geeignete wissenschaftliche Methoden für die Untersuchung solcher vielschichtiger Fragen geht dieses Einführungsbuch eher kursorisch ein. Stattdessen soll ein Impuls in die Praxis und praxisnahe Ausbildung gesetzt werden, damit diese das Anliegen der problemorientierten Forschung wirklich ernst nehmen. Für Forschungsfragen, die sozial-kulturelle Aspekte wie „Akzeptanz“, „Vorstellungen“ und „Konzeptionen“ betreffen, empfehlen sich die
2.2 Die kulturelle und kommunikative Herausforderung der Ressourcenschonung
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einschlägigen Handbücher der empirischen und qualitativen Sozial- und Kulturwissenschaft (Baur & Blasius, 2014; Burzan, 2005; Glasze & Mattissek, 2021). Ob solche Forschung und Lehre, die Komplexität ernst nimmt, dann auch zur Lösung der Probleme beiträgt, ist aber eine andere Frage. Zumindest kann sie reflektiertes Praxishandeln befördern.
2.2 Die kulturelle und kommunikative Herausforderung der Ressourcenschonung Der Hinweis auf die Komplexität des Anliegens kommt gerade nicht aus dem „Elfenbeinturm“. Der weite soziokulturelle Rahmen ist gerade aus dem Anspruch der Praxisnähe heraus mitzudenken. Gerade wegen ihre Praxisrelevanz werden in diesem Aufsatz auch Begrifflichkeiten vorgeschlagen, die zum Verständnis qualitativer Aspekte des langlebigen Bauens geeignet erscheinen, wie beispielsweise „Schönheit“, „Atmosphäre“, „Charakter“ (eines Bauwerks). Diese Weitung ist gewiss ungewöhnlich im Rahmen der stark ökobilanziell, ingenieur- oder klimawissenschaftlich dominierten Literatur über den nachhaltigen Bau. Es wird aber auch in Anlehnung an aktuelle Literatur (Gould et al., 2023; Gkoutani et al., 2023) vorgeschlagen, unter dem Begriff der Bau-Bioökonomie eben diese Weitung zu wagen. Dann wäre nicht nur die Bioökonomie ein Untersuchungsobjekt der kulturwissenschaftlichen Arbeit – wie etwa ihre Konzeptionen von „Biomasse“ oder „Stoffstrommanagement“. Sondern es wäre so, dass auch die sozialund kulturwissenschaftlichen Methoden ein Teil des transdisziplinären Methodenkoffers der Bioökonomie selbst wären – insbesondere in der akteurszentrierten Forschung (Martin et al., 2023). Narrative und Deutungsmuster der (Bau-)Akteursgruppen sind ein zentrales Forschungsanliegen (Schmidlehner, 2023). Im weitesten Sinne geht es um ein Verständnis sozial anschlussfähiger „Technikzukünfte“ (Grunwald, 2014). Je mehr die sogenannte sozial- und kulturwissenschaftliche „Begleitforschung“ Akzeptanzfragen untersucht (Hempel et al., 2019; Grossauer & Stoeglehner, 2023), desto mehr ließe sich sogar fragen, ob sich nicht auch die Bioökonomie selbst mit Fragen von menschlichen Vorstellungen des „guten Lebens“ zu befassen hätte (Fehr, 2021) – jedenfalls in Bezug auf Nachhaltigkeit (Stein et al., 2018; Pyka, 2017; Winkler et al., 2019). Der erweiterte „Methodenkoffer“ verspricht auch ein Verständnis dafür, weshalb die Anliegen einer zirkulären Bioökonomie politisch und gesellschaftlich so schwer vermittelbar sind (Giurca, 2022). In der Praxis des professionellen Nachhaltigkeitsmanagements ist die Abfrage von Technikakzeptanz durch Corporate-Social-Responsibility-(CSR-)Ansätze und Stakeholderpartizipation allerdings seit etwa den 2010er-Jahren weit etabliert (Kussin & Berstermann, 2022; vgl. auch spätere Kapitel). Zuletzt wurden Akzeptanzfragen sogar im Rahmen der methodischen Fortentwicklung der Ökobilanzierung vorgeschlagen (Rebolledo-Leiva et al., 2023). Wo wären die Anknüpfungspunkte für die Bauwirtschaft?
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Die Weitung des Blickes ist notwendig, wenn man die nachhaltige Transformation nicht nur als technische, sondern auch als kommunikative Aufgabe anerkennt. Die internationale Wissenschaft der Technikfolgenabschätzung (TA) zum Beispiel vollzieht eben diese Perspektivweitung derzeit. Sie ist traditionell ingenieurwissenschaftlich geprägt. Autoren der TA-Forschung empfehlen nun selbst die hermeneutische Analyse gesellschaftlicher Deutungen von Techniken, ergänzend zu den etablierten Folgeabschätzungen (Grunwald, 2020; Kap. 10). So werden nicht nur faktisch erwartbare Folgen der Technik, Risiken, Gefahren und Chancen zum Forschungsanliegen, sondern auch das Denken und Sprechen darüber (Wittmayer et al., 2019; Schöggl et al., 2020). Texte oder Kunstwerke können Gegenstände der technikbezogenen Hermeneutik sein – aber warum nicht auch Architektenentwürfe von nachhaltigen Quartieren? Man könnte die neuen Musterhausmodelle im Entwurf verschiedenen Bürgern und Bürgerinnen, aber auch Landschaftsarchitekten und Ökologen und anderen „Stakeholdern“ (auch dies ein in der Wissenschaft und Praxis etablierter, jedoch schrecklich technizistischer Begriff, denn wer würde sich eigentlich selbst so nennen wollen?) zeigen und deren Rückmeldungen für Verbesserungen nutzen. Kulturelle Vorstellungen und soziale Werte zu betrachten, kann für technisch und ökonomisch orientierte Akteure mehrfach von Praxisinteresse sein. Es lässt erstens Rückschlüsse auf die Akzeptanz einer „Transformation“ zum klimagerechten Bau zu, zweitens die Kommunizier- und Vermarktbarkeit entsprechender Bauwerke oder Immobilien. Drittens aber erlaubt es der technischen Fachwelt oder der Bauwirtschaft einen Blick in den Spiegel. Denn viele Fragen stehen im Raum, wenn von „Transformation“ und ihrer Akzeptanz die Rede ist: Ist der politisch mehrheitsfähige Pfad der Nachhaltigkeit und Klimaneutralität der Wirtschaft tatsächlich realisierbar (Siegel & Lima, 2020)? Inwiefern ist dieser Anspruch kompatibel mit der anthropologischen Wirklichkeit des Menschen, der auch „wachsen“, formen und bauen will (Goh et al., 2020; Pelicice et al., 2021)? Passt er zur Wirklichkeit einer Welt, in der Knappheit und Krieg herrschen? Zu einer, in der das Modell des Autokratismus wieder an Attraktivität gewonnen hat? Kann man diesem Anspruch in einer politischen Realität gerecht werden, in der Nationalismus wieder zunimmt und die liberale Weltordnung zu scheitern droht (Colgan, 2017; Fukuyama, 2022)? Wie lässt sich der politische Ordnungsrahmen wirklich wirksam und anschlussfähig in Richtung Nachhaltigkeit ausrichten (Tomor et al., 2019)? Die naturwissenschaftsgetriebene „planetare“ Orientierung der Politik scheint angesichts der Komplexität der globalen Krisen aufs Ganze bezogen geboten, aber Politik muss sich an regionale Akzeptanz und Mehrheitswillen messen lassen. In diesem Zusammenhang stehen auch Fragen von Freiheitsvorstellungen und Freiheitseinschränkungen, wie das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts verdeutlicht hat. Eine „ethische Diskussion“ würde diesbezügliche Dilemmata thematisieren: Wie stehen etwa Freiheits- und Schutzrechte zueinander, Verbraucher- zu Unternehmerfreiheiten (Schleissing, 2022)? Man kann Nachhaltigkeit gewiss lediglich „technokratisch“ betrachten – also im engen Rahmen gesetzlicher Ziele, die technisch und flankierend
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politisch zu lösen seien. Man kann den Weg in Richtung Nachhaltigkeit aber auch als kommunikativen Prozess betrachten. In diesem Rahmen wäre selbst dann, wenn die Ziele sich als (noch) nicht erreichbar erwiesen, eine Ausrichtung an Nachhaltigkeit sinnvoll, da sie zum Beispiel die Kreativität und Innovativität menschlicher Freiheit dahingehend orientiert. Hierin liegt die Bedeutung einer klugen Begriffswahl. Gerade deshalb bedeutet der bioökonomische Blick, wie er in diesem Buch angeregt werden soll, dass nicht nur die großen statistischen Zielquoten, sondern jedes gelingende Gespräch, jedes erfreuliche Bauwerk, das größere Langlebigkeit verspricht und Nachahmung inspiriert, einen relevanten Beitrag leisten. Über Häuser treten Menschen mit ihrer Umwelt in Austausch. Bauen ist nicht nur ein technischer Vorgang, der Ressourcen beansprucht, sondern ist selbst Kommunikation. Jedes charaktervolle, schützenswerte und deshalb langlebige Haus ist ein Zeugnis einer wirksamen, unintendierten, praktischen Ressourcenschonung. Das Bauen als „kommunikative Handlung“ (Knoblauch, 2016) ist von Einfluss auf die Gesundheit der Umwelt und des Menschen. Sie gestaltet die menschlichen Lebensräume – ebenso wie zum Beispiel die Landwirtschaft die Landschaft formt. Im Ergebnis ist die Rede dann entweder von Kulturlandschaft oder Industrielandwirtschaft, von Streuobstwiesen oder Monokulturen. Ebenfalls wird im Fall des Bauwesens von Wohnblocks, Quartieren, Wohnsilos, Bettenburgen oder Eigenheimen gesprochen. Das sind kulturelle Deutungen. Um „bewusste Kommunikation“ – oder gar strategisch geplante – durch Bauentwürfe und -umsetzung geht es hier nicht. Auch der funktionale, bezahlbare, gesetzeskonforme und aus Energiespargründen förderwürdige Bau ist ein „kommunikativer Akt“. Damit kommuniziert ein Bauherr eben diese Merkmale. Sogar auch, was daran nicht gebaut wurde, ist Kommunikation (Watzlawick, 2015). Nachhaltigkeit ist einerseits eine Behauptung. Sie wird – zumindest medial – mit bestimmten Baustoffen oder Baustilen (Holzbau) in Verbindung gebracht, behauptet und in Abrede gestellt, berechnet und zertifiziert. Andererseits ist Nachhaltigkeit eine Deutung, sei sie mathematisch auch noch so aufwendig quantitativ unterfüttert, sei sie noch so eloquent begründet. Die Ökobilanz oder Zertifikate für nachhaltigen Bau suggerieren geradezu verführerisch eine absolute Objektivierbarkeit von Nachhaltigkeit. Doch sie basieren auf methodischen und kalkulatorischen Festlegungen, die sämtlich nicht „vom Himmel gefallen“ sind – und großen Gestaltungsspielraum lassen. Doch gerade das verschleiern sie in dem Maß, in dem sie Vielschichtiges vereindeutigen.
2.3 Charakter, Geschichtlichkeit, Atmosphären und Wirkung als Aspekte der Nachhaltigkeit „Ein schönes Haus wird von den Menschen geliebt, und ein solches Haus ist nachhaltiger als jedes andere auf der Welt“ (Cameron Sinclair; Archdaily 2020).
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2.3.1 Schönheitsempfinden und Nachhaltigkeit Bauwerke sind „Ergebnisse menschlicher Tätigkeit, Objektivierungen menschlichen Geistes“ (Kruse, 1974, S. 8). Ein Beispiel für die Relevanz qualitativer Forschung darüber ist der Wert der empfundenen Schönheit eines Bauwerks (Triantafyllidis, 2001). Schönheitsempfindungen sind abfragbar. So wurde im Fall des Empfindens von Schönheit verschiedener Landschaftstypen etwa empirisch gezeigt, dass offene, savannenartige Landschaften mehrheitlich als besonders ansprechend empfunden werden (Dawn & Terry, 2007; Pierskalla, 2016; Tveit et al., 2018). Im Fall von Bauwerken wären hier symmetrische Linienführung zu nennen (Schummer, 2006), harmonische und ruhige Formen, deren Einsatz im weiten historisch Rückblick durchaus wechselnden Moden und Entwicklungsdynamiken der Deutung unterliegt (Bisky, 2000; Abb. 2.1). Adaption von Naturschönheit versucht beispielsweise die japanische Baukunst Wabi-Sabi. Sie sucht die Schönheit in der Vergänglichkeit und dem gerade nicht Perfekten oder Symmetrischen. Eine Berücksichtigung ästhetischer Wirkung wird gelegentlich sogar als ein Kernanliegen ökologischer „Transformation“ beschrieben (Hosey, 2012, S. 8 ff.). Jedoch spielt sie in der politischen Governance der Nachhaltigkeit keine Rolle, da ästhetische Wirkung anscheinend nicht messbar und die Zielerreichung daher nicht kontrollierbar
Abb. 2.1 Schönheit durch einfache Mittel: Eine Fassade in Süddänemark, die ruhig und ausgleichend wirkt. Dorfbilder: Das historische Buchen im Odenwald mit Fachwerkhäusern – und ein Dorf in der Lombardei, in der Dorf und Umgebung klar abgegrenzt sind, anstelle der häufig ausufernden Zersiedlungen durch Neubau. (Fotos Jan Grossarth, Postkarte Delcampe)
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ist. Urteile über die ästhetische Wirkung unterliegen aber mitnichten subjektiver Willkür (McMahon, 2005) und werden im Fall von Bauwerken wissenschaftlich zum Beispiel anhand der Reaktionen der Betrachter von Bildern empirisch kategorisiert (Lavdas et al., 2022). Auch wenn das nicht die ursprüngliche Intention dieser Disziplin war, so kommt die auf Schönheit orientierte Arbeit der Landschaftsarchitektur auch in hohem Maß der Verbesserung der ökologischen Nachhaltigkeit zugute (Meyer, 2008). In Nachhaltigkeitszertifizierungen wie BREEAM werden ästhetische Faktoren auch beachtet, aber stark untergewichtet oder bestenfalls indirekt thematisiert. Selbst das explizit „Menschen-statt -Umwelt-zentrierte“ amerikanische Label WELL fokussiert nicht auf ästhetische Aspekte. Dies wurde als Mangel kritisiert: „This leads to the conclusion that sustainable architecture must contribute to social equity, aesthetic qualities of the environment and the preservation of cultural values. Therefore, aesthetics must be considered as an integral part of architectural sustainability“ (Grazuleviciute-Vileniske, 2021, S. 85 ff.). Doch solche Forderungen sind in der Literatur über bauliche Nachhaltigkeit Nischenphänomene. Ein Grund kann sein, dass der Wert der Schönheit in der Kunst- und Philosphiegeschichte der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gewissermaßen mit dem Ornament und Stuck „in Verruf“ geraten ist (Liessmann, 2009, S. 49). Angeregt werden soll mit den hier herausgestellten Bezügen von Schönheitsempfunden und dem Nachhaltigkeitswert der Langlebigkeit auch keinesfalls ein neuer architektonischer Ästhetizismus, der in irgendeine Opposition zum technischen Denken ginge, sondern einfach eine nachhaltige Baukultur, die sich mit der Technik versteht. Und anders herum: Eine nachhaltige, einfache Baukultur, die sich die Kunst der Technik anzueignen weiß, und nicht vor Sachzwängen und Normen kapituliert.
2.3.2 Bauen als Kommunikation Betrachtet man Bauprozesse als kommunikative Handlungen, ist es eine zwingende Schlussfolgerung, auch mit einem zeitgemäßen Kommunikationsbegriff zu arbeiten. Kommunikation ist nicht einseitig lineare Informationsübermittlung von Sender zu Empfänger. Wahrnehmung, Deutung sind persönlich und erfahrungsbasiert, sie sind sozialkulturell determiniert, robust und selbstreproduzierend; Grunwald spricht vom „hermeneutischen Zirkel“ (Grunwald, 2020). Ein weit etabliertes Kommunikationsschema – das sogenannte Eisbergmodell – unterscheidet die Sach-(Informations-) von der Beziehungsebene. Letztere ist weitgehend maßgeblich für das Verstehen. Hilfreiche Methoden wie die Ökobilanzierung wären auf der Sachebene anzusiedeln. Hierzu zählen auch Daten über die Dauerhaftigkeit, Energie- und CO2-Bilanzen, wie sie Datenbanken wie Ökobaudat oder Wecobis bereithalten (Kap. 7). Weil dieser Blick allein zu kurz greift, um sich dem Ziel des nachhaltigen Baus adäquat problem- und praxisorientiert zu nähern, ist das Eisbergmodell hilfreich (etwa Motschnig & Nylk, 2009, S. 46 ff.). Unter der Oberfläche befindet sich in diesem Modell der Großteil der Faktoren, die über ein „Gelingen“ von Kommunikation entscheiden (Grafik 2.1b). Das Gefühl, das der Anblick eines Bauwerks bei Menschen (einem, meh-
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reren, der Mehrheit in repräsentativen Befragungen) auslöst, wäre hier anzusiedeln. Sind diese Faktoren nicht ganz entscheidend, weil sie konkret in jedem Einzelfall über Lebensdauern von Gebäuden entscheiden? Eine Engführung auf „Schönheit“ ist dabei überhaupt nicht sinnvoll. Originalität, Besonderheit, Assoziation, Erinnerung, Seltenheit, Stimmigkeit, zeithistorische Faktoren wären weitere relevante Faktoren, die sich „unter der Oberfläche“ verorten ließen.
ESGRangs
Sach-und Beziehungsebene der Kommunikaon
Energiebilanz
Eisberg modell
am Beispiel der Kommunikaon über nachhalgen Bau
Ökobilanz
Urteile über Ästhek
Beziehungsebene
Rohstoffverbrauch
Sachebene Zahlen, Daten, Fakten
Normen für Nachhalgkeit
Atmosphäre, Wirkung
Deutungen Gefühle
Persönliche Einstellungen, Kultur, Werte Tradion
Erfahrungen, Erinnerungen
WertePräferenzen JG nach div. Vorlagen
Grafik 2.1b Das Eisbergmodell der Baukommunikation. (JG) Wenn in diesem Zusammenhang von „Kultur“ die Rede ist, dann ist die Kultur als ein Orientierungsmuster im Sozialen gemeint. „Kultur ist aufgebaut auf Ideen, Mustern und Werten, sie ist damit immer auch historisch bedingt, denn sie wird erlernt. … Kultur ist die abstrakte Grundlage von Verhalten und gleichzeitig das Produkt des Verhaltens“ (Gunther Hirschfelder, 2012b).
Kultur ist auch definiert als „fabric of meaning in terms of which human beings interpret their experience“ (Geertz, 2000, S. 145). Hier ist die Erfahrung schon definitorisch zentral.
2.3.3 Baukulturwissenschaft „Bauen“ im Althochdeutschen („buan“) war noch bedeutungsgleich mit dem „Wohnen“, also dem Verbleiben im Bauwerk, dem Dort-Sein. In kommerziellen, hoch arbeitsteiligen Bauprozessen haben die Menschen, die später Jahrzehnte in den Häusern, Wohnungen und Büros sein (müssen), meist keine Mitsprache. Das „Hegen und Pflegen“, lateinisch
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„colere“, wie es im Wort Agrarkultur als „Landbau“ noch mitklingt, bedeutet eigentlich auch ,,bebauen“, „bewohnen“, „Sorge tragen“, „verehren“, „heilighalten“ (Pons, 2023). Die kulturell positive Semantik, die im Wort „Landbau“ noch enthalten ist, lässt sich im Wort Bauwesen kaum mehr nachvollziehen – im Wort Baukultur hingegen durchaus. Gegenstand der baubezogenen Kulturforschung sind etwa (Heringer, 2015, S. 108): • Urbanität, • Baukultur, • Wohnkultur, • Ökologie, • Unternehmenskultur, • diesbezügliche Denkweisen, Mentalitäten.
2.3.4 Narrative und Nachhaltigkeit Auch Objektivierungen von Nachhaltigkeit – sei es in den Kriterienkatalogen der Zertifizierungsstellen, in den Baunormen oder in akademischen Definitionen – sind das Ergebnis von Ideen, Interessen, Standpunkten und Verhandlungen darüber. Auch technische Fachbegriffe haben Geschichte (Müller & Schmieder, 2016). Technikakzeptanz entscheidet sich nicht vorrangig aufgrund technischer Merkmale. Sie ergibt sich in einem diskursiven „Ringen um Deutungshoheit“ vor dem Hintergrund mehrheitsfähiger und „mächtiger“ Erzählungen (Traue et al., 2022). Ist die Agrarchemie ein Gift oder ein Fortschritt? Ist die Kernkraft klimaneutral oder tödlich? Ist Beton hervorragend langlebig oder eine Nachhaltigkeitssünde? Debatten darüber sind in ihrer medialen Bedingtheit, ihrer wissenschaftlichen Vielseitigkeit und ihrer Historizität zu verstehen und entsprechend zu bewerten. Die wissenschaftliche Deutungskunst ist die Hermeneutik. In diesem Sinne sind Nachhaltigkeit, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft auch Anliegen der wissenschaftlichen Disziplinen der vergleichenden Kulturwissenschaft, der Geschichtswissenschaft, der Diskursanalyse sowie der literarischen Hermeneutik (Grunwald, 2020). Nachhaltigkeit lässt sich selbst als Narration deuten – als sinnstiftende Erzählung.
2.3.5 Kultursemiotik des Bauens Man kann derart die Dokumente und Reden von Ingenieurskongressen betrachten, aber auch die Bundestagsdebatte über Holzbau, das Interview mit Studierenden der Architektur gleichermaßen wie Instagram-Posts von Klimaaktivisten oder die Prospekte und Annoncen von Wohnungsbaukonzernen, die mit Nachhaltigkeit werben. Der praktische Wert liegt darin, dass dadurch das Verständnis für die Komplexität von Kommunikation und damit die „Lösbarkeit“ komplexer Probleme wie des Klimawandels oder des Artensterbens in einem realistischeren Licht erscheinen. Es geht dabei auch nicht nur um eine
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Mäßigung von Erwartungshaltung, sondern ein besseres Gelingen von interkultureller Kommunikation (Heringer, 2015). In diesem Sinne lässt sich also wissenschaftlich auch über Aspekte des Bauwesens wie Schönheit, Charakter, Stimmigkeit und Wirkung sprechen, ohne dies normativ zu meinen (Böhme, 2013). Vielleicht gehört dazu auch die Geschichtlichkeit eines Gebäudes, das Interessante, das sich aus zeitlich, örtlich und biographisch zuordenbarer Zeichenhaftigkeit ergibt. Solche kultursemiotischen Ansätze sind schon auf den italienischen Philosophen Giambattista Vico zurückzuführen. In diesem Sinne wäre mit Schönheit so etwas zu verstehen, wie eine „innere“ Schönheit, die sich aus der „Lesbarkeit“ eines Bauwerks ergibt. Ein Verständnis des Bauens als kommunikative Handlung findet Entsprechung in kulturanthropologischen, psychologisch fundierten Ansätzen, die auf Vico Bezug nehmen: „People anticipate, invent, and pre-adapt through culturally suggested imaginative, narrative, and creative processes that lead to the production of meaningful actions and artifacts. These processes are not just intrapsychological or psychophysiological. They are also socioculturally embedded in everyday historically situated contexts of activity, following dialogical, imaginative, and narrative logics“ (Tateo, 2017a, S. xiii).
Ein Beispiel für eine erhellende Arbeit, die einen Kulturwandel im Bauwesen aufzeigt, ist eine Analyse von Wohnungsbauprospekten in langer historischer Perspektive. Hieraus lässt sich eine Deutung über einen Wandel der Ideen, Konzepte und Orientierungen der Planer, Bauherren und Vermarkter ableiten. Für den Raum Basel stellte eine solche qualitative Inhaltsanalyse beispielsweise fest, dass von etwa 1870 bis 1945 die soziale Klassenfrage in den Prospekten oder Annoncen für Neubauten entscheidend zum Ausdruck kam (Kriese & Scholz, 2012). Der Umzug von „Mietskasernen“, aus dem „Lärm und Staub“ der Städte, in Reihenhäuser in „Licht und Luft“ der Vorstadt wurde hier im Kontext der sozialen Klassenfrage beschrieben. Ein fundamentaler Wandel zu den Begründungslogiken einer Lebensstilgesellschaft ist schon ab den 1950er-Jahren festzumachen. Das „Eigenheim“ wird nun als symbolischer Code für familienbezogene Werte, aber auch den Rückzug vom Öffentlichen ins Private der kleinbürgerlichen Familie, beworben (Warda, 2020). Während Industriekonzerne in der Vorkriegszeit, geführt von patriarchischen Figuren, durchaus noch großzügige Wohnsiedlungen für ihre Arbeiter errichten ließen, um selbst als Akteur der Klassenfrage produktiv beizutragen, wird spätestens ab den 1950erJahren „jeder seines Glückes Schmied“. Die Annoncen der Wohnungsprojekte bezeugen dies (Kriese & Scholz, 2012): In den 1980er-Jahren rücken Möglichkeiten der Individualisierung vorgeplanter Reihenhäuser im Grünen in den Vordergrund der Darstellung in den Prospekten. Ab den 1990er-Jahren sind es Klischees vom glücklichen Landleben, dem „puren Wohnvergnügen“ oder später des lichten bodentiefen Fensters oder Ähnlichem. In Studien wie dieser kommt zum Ausdruck, dass nun die Vermarktungslogiken einer individualisierten Massenkonsumgesellschaft vorherrschen. Der dominierende Einfluss der Konsumentinnen und Konsumenten wird als machtkritische Theorie unter dem Begriff Konsumerismus thematisiert (Chase, 1991; Baum, 2022).
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Atmosphäre
Der zunächst in der Philosophie der Landschaftsästhetik verwendete Atmosphärenbegriff bezeichnet ein Beziehungsgeschehen zwischen Beobachter und Objekt – bezogen auf Landschaften, aber auch Gebäude (Böhme, 2013). „In jedem Fall setzt die Wirklichkeit von Atmosphären einen leiblich anwesenden Menschen voraus, der in seiner Befindlichkeit spürt, in welcher Art Raum er sich befindet“, heißt es bei Gernot Böhme (2020; Abb. 2.2). In dessen Standardwerk definiert er die Atmosphäre so: „Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Sie ist die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimmter Weise leiblich anwesend ist“ (Böhme, 1995, S. 34). Böhme sieht im Atmosphärenbegriff eine Weiterung des auf Immanuel Kant zurückgehenden Begriffes vom ästhetischen Geschmacksurteil hin zu einem Begriff der „sinnlichen Erkenntnis“ (Böhme, 2020). Auch die Philosophie der Architektur befasst sich ab Ende der 2010er Jahren verstärkt mit dem Atmosphärischen (Illies 2019). Illies und Düchs verstehen unter Atmosphären von Bauwerken „kleine Narrative“ (Düchs und Illies 2022). Dieser Hinweis verdeutlich, dass in der sinndeutenden Beschreibung der Wirkung eines Bauwerks das Atmosphärische erst
Abb. 2.2 Der Philosoph Gernot Böhme (1937–2022) bei einem Gespräch 2021. (Foto Jan Grossarth)
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zum Ausdruck kommt. Diesbezügliche Frage- und Interviewtechniken in die Bauplanungsprozesse zu integrieren, wäre ein Desiderat an die begleitende Forschung mit Blick auf die Praxis.
Diskursanalyse
Ingenieure vertrauen tendenziell auf die Überzeugungskraft des „Faktischen“. Aber von Nachhaltigkeit konkurrieren viele Vorstellungen. Welche sich politisch oder wissenschaftlich „durchsetzen“ – etwa in Standards oder Zertifizierungen –, ist Ergebnis von Diskursen darüber. Die Diskursanalyse ist die Untersuchung eines Argumentationsaustauschs mit einem strukturanalytischen Blick auf die darin vermittelten Ansprüche an Wahrheit und Vernunft sowie die Frage nach deren Legitimierung. Dieser Ansatz reicht weit über eine reine Argumentationsanalyse hinaus. Der französische Philosoph und Soziologe Michel Foucault verweist darauf, dass es in der Diskursanalyse darum gehe, „die Rhetorik, den Redner, den Redestreit wieder in das Feld der Analyse einzubringen“, und zwar um „den um Wahrheit geführten Diskurs als Ensemble rhetorischer Verfahren zu untersuchen, bei denen es darum geht, zu gewinnen, Ereignisse, Entscheidungen, Kämpfe, Siege zu produzieren“ (nach Grossarth, 2018, S. 48; Foucault, 2002, S. 779).
Hermeneutik
Zur Analyse der Vorstellungen von Nachhaltigkeit verschiedener Akteure eignet sich die Hermeneutik – sei es von Texten oder von Bauwerken. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Ansätze der Hermeneutik, die von „objektiver“ über „poetischer“ bis zur juristischen reichen. Hermeneutik ist „Sinn rekonstruierende Zeicheninterpretation“ (Kurt, 2008, S. 369). Als Deutungskunst leistet sie eine vielschichtige Einordnung von Quellen. Das können die Zeit- oder Lebensgeschichte der Urheber sein, Aspekte der Ideengeschichte (der Baugeschichte), historische Ereignisse oder eine Sprach- und Bildanalyse mit Blick auf Stilmittel, Symbolik/Metaphorik oder – im Fall von Textquellen – Begriffsgeschichten oder Etymologie der Wörter. Auch eine Einordnung in die Wirkungsgeschichte ist relevant. Das Ziel sind die Erforschung und „Rekonstruktion individueller und gesellschaftlicher Sinnkonstruktionen“, wobei nicht vollständiges Verstehen der Intentionen der Urheber oder des Sinngehaltes der Quelle die Pointe des hermeneutischen Ansatzes ist, sondern ein „typbildendes“ In-Beziehung-Setzen der menschlich-individuellen zur gesellschaftlichen und historischen Ebene. Zwei zentrale Annahmen der Hermeneutik lauten: Ähnlichkeiten und Gleichheit menschlichen Denkens und Deutens lassen sich (erstens) verstehen, obwohl (zweitens)
2.3 Charakter, Geschichtlichkeit, Atmosphären und Wirkung als Aspekte der ...
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„der Mensch dem Menschen ein Fremder ist“ (Grossarth, 2018, S. 52; Kurt & Herbrik, 2014, S. 477 ff.). Die hermeneutische Analyse wird auch für „sozialräumliche Phänomene“ wie Bauwerke angewandt. Sozialwissenschaftliche Hermeneutik eignet sich als „Herangehensweise an sozialräumliche Probleme“ wie das Wohnen; sie hat, etwa als „Beispielhermeneutik“, ihre Vorzüge in der lokalen, explorativ theoriebildenden Konkretion (Görgl, 2008, S. 42 ff.). Bei Blumenberg heißt es in fruchtbarer Weise auch für das hier unternommene „Lesen“ der Bioökonomie: „Hermeneutik geht auf das, was nicht nur je einen Sinn haben und preisgeben soll und für alle Zeiten behalten kann, sondern was gerade wegen seiner Vieldeutigkeit seine Auslegungen in seine Bedeutung aufnimmt. Sie unterstellt ihrem Gegenstand, sich durch ständig neue Auslegung anzureichern, so daß er seine geschichtliche Wirklichkeit geradezu darin hat, neue Lesarten anzunehmen, neue Interpretationen zu tragen“ (Blumenberg, 2020 [1986], S. 21).
2.3.6 Mensch-Technik-Diskurse Hermeneutik und Diskursanalyse erlauben Rückschlüsse auf die Beziehung von Mensch und Objekt/Technik. Der technische Themenzugang kann ebenso übergriffig sein, wie der Überschuss an Sinn (Paddock, 2004, S. 239 f.). Ingenieursmacht- oder -tragik ist ein Großthema der Literatur, insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der „Homo technicus“ oder „Homo oeconomicus“ wird in der Literatur zur technokratischen Unglücksgestalt (Irrgang, 2010; Blaschke, 2004). Auch die dominierende Rolle der Ingenieure und das fast uneingeschränkte politische Fortschrittsvertrauen in die Wissenschaft bis etwa 1970 werden kritisch gedeutet (Fraunholz & Wölfel, 2012). Um 1970 ist die Epochenwende, die das „Zeitalter der Ökologie“ beginnen ließ (Radkau, 2011). Die Ökologie ist eine Weise des sogenannten ganzheitlichen Denkens. Deren Thema, die verheerende Spaltung von technischer und emotionaler Vernunft (Meier-Seethaler, 2001), lässt sich auch auf Bereiche des Bauwesens übertragen. Dieses Dilemma ist hier weder zu lösen noch vertieft zu diskutieren. Jedoch ist ein solch weiter Blick auf das Problemfeld der Ressourcenverschwendung relevant – auch um die Hintergründe der medialen und politischen Themenkonjunkturen der Nachhaltigkeit zu verstehen. Denn es sind eben nicht nur die naturwissenschaftlichen Krisenerkenntnisse vom Klimawandel und von Biodiversitätsverlusten, die diese bewirkt haben (Uekoetter, 2012, Grossarth, 2018). Ein politisches Motiv ist das Unbehagen darüber, was aus dem Menschen in der technischen Zeit werde oder ob nicht gar von „Technik-Herrschaft“ zu sprechen sein sollte (Müller & Nievergelt, 1996, S. 79 f.). Gefühlsreaktionen auf Bauwerke können als Resonanz bezeichnet werden und der wissenschaftliche Begriff der Atmosphäre oder derjenige des Felt Sense können für deren wissenschaftliche Handhabung hilfreich sein.
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Baukultur
Wohn- und Bauformen lassen sich kulturwissenschaftlich als Kommunikationen von Identitätsverständnissen betrachten. Die Verwendung historischer Baustoffe könnte beispielsweise wie ein Traditionsanker verstanden werden. Aspekte der Baukultur sind Annehmlichkeit, Dauerhaftigkeit und Schönheit. Das Konzept ist nicht scharf definiert und in enger Verbindung mit der Ökologie als Beziehungswissenschaft verbunden (Furrer, 1992). Baukultur wird rein funktionalen Ansätzen entgegengesetzt. Im Falle landwirtschaftlicher Hofbauten wird neuerdings etwa eine stärkere Berücksichtigung von Schönheit und Wirkung der Bauten mit Blick auf die gesellschaftlichen Akzeptanzprobleme angeregt (Dauermann & Enneking, 2019).
2.3.7 Resonanz als Gefühlsreaktion auf Technik Dass in einer Massenkonsumgesellschaft eine persönliche Gestaltungsleidenschaft von am industriellen Prozess beteiligten Experten kaum mehr Raum und Geltung haben darf, war schon eine der Kernbeobachtungen der „Frankfurter Schule“. Die dementsprechende bekannte Kritik Theodor W. Adornos auch an der „Kulturindustrie“ ließe sich leicht auf das Bauwesen übertragen. Er sah etwa die Musik- oder Schreibkunst durch verlegerische Vermarktung und mediale Aufmerksamkeitsmechanismen zur Industrieware reduziert (Schweppenhäuser, 2019). Beklagt wurde ein Vorherrschen „instrumenteller Vernunft“ (Max Horkheimer). In dieser Tradition stehen aktualisierte kritische Thematisierungen, die die „reduzierte Existenz“ des Menschen in der industriell digitalisierten Moderne beschreiben (vgl. Friesacher, 2022, S. 57–66). Neuerdings wäre hier vor allem Hartmut Rosas Begriff der ,,Resonanz“ zu nennen, den er als Kern einer „Soziologie der Weltbeziehung“ vorstellt (Rosa, 2016, S. 20). Rosa bezieht sich auf das kommunikative Verhältnis von Mensch und Objekt. Resonanz meint so etwas wie die „Berührung durch das unverfügbare Andere“ (Rosa, 2016, S. 621). Weitere aktuelle Schriften in der Tradition der „Frankfurter Schule“ befassen sich mit Ideologien der Leistung oder dem Populismus, der darauf zurückgehe, dass selbst die Wahrheit zur Ware geworden sei (Distelhorst, 2014, 2019). Ökologische Krisenbeschreibungen lassen sich auch als Chiffren solcher kulturkritischen Wahrnehmungen hermeneutisch auslegen (Grossarth, 2018).
2.3.8 Felt Sense Der Psychoanalytiker Eugene Gendlin empfiehlt diesen Terminus für eine gefühlte, wahrgenommene Bedeutung. Das ist zum Beispiel die Gefühlsresonanz auf ein Problem, das sich im Gespräch offenbart, auf eine Zukunftsvorstellung, aber auch bei der Betrachtung eines Gegenstands, etwa eines Bauwerks (Wiltschko, 2000, S. 205 f.). Bei
2.4 Die ökonomische und technische Herausforderung …
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Gendlin heißt es: „So ein körperliches Gefühl kann man zu jeder Sache bekommen: zu einer kleinen oder großen, zu einer unangenehmen oder angenehmen, zu einer aus der Vergangenheit, aus der Gegenwart oder der Zukunft. Bei dieser ‚Sache‘ kann es sich um eine Idee handeln oder um eine Situation oder um einen anderen Menschen oder um ein Problem. Die ‚Sache‘ kann alles sein. Über so eine Sache kann man alles Mögliche denken, immer aber hat man gleichzeitig auch noch ein körperliches Gefühl zu dieser ganzen Sache. Dieses körperliche Gefühl ist ein guter Führer. Ich nenne es Felt Sense“ (Gendling, 1999, S. 2). Dieses Gefühl stellt sich zuerst ein, anschließend folgt die Rationalisierung. Die Rede ist bei anderen Autoren von „reasoning“ (Habermas & Köber, 2015) und „sense making“. Verwandt mit diesen je unterschiedlich akzentuierten Leiblichkeitsansätzen ist Thomas Fuchs’ Konzept des Embodiments (Fuchs, 2020; Fuchs, 2021). Die auch darin beschriebene komplexe Verbundenheit von Gefühl und Gedanken entlarvt etablierte Vorstellungen einer Trennung von Hirn und Körper, von Vernunft und Gefühl, als unterkomplex.
2.4 Die ökonomische und technische Herausforderung des ressourcenschonenden Bauens 2.4.1 Ökonomie: Arbeitsteilung und Rationalisierung als Gründe der Transformationsträgheit moderner Gesellschaft „Es gibt zum Beispiel in der chemischen Industrie einen Prozess des Umdenkens [in Richtung Nachhaltigkeit; JG] im Führungspersonal, wie man von Interviews weiß, und die Frage ist, wie sich das marktmäßig auswirkt. Wird das notwendigerweise in höhere Verschuldungsraten und geringere Verdienstmöglichkeiten führen, die dann die Fortsetzung dieser, genau dieser Politik wieder limitieren? Wenn man kein Geld hat, kann man natürlich auch nichts machen. Das sind die eigentlich interessanten Fragen, und da bin ich zunächst einmal ein unvoreingenommener Beobachter. Und ich glaube, daß das die entscheidenden Punkte sind“ (Niklas Luhmann auf eine Interviewfrage; Luhmann et al., 1990, S. 27).
Nachhaltigkeit verursacht betriebswirtschaftliche Kosten, Nicht-Nachhaltigkeit volkswirtschaftliche in langer Sicht. An diesem Dilemma hat sich seit 1990 nichts geändert. Luhmanns Zitat verdeutlicht im Rückblick, wie lange „man“ schon in vergleichbarer Weise wie in der Gegenwart an entscheidenden Stellen in Wirtschaft und Politik über das Anliegen und die Dringlichkeit der Nachhaltigkeit spricht. Der Soziologe Niklas Luhmann als Theoretiker der modernen Gesellschaft hat die begrifflichen Ansätze geliefert, um die Gründe dafür zu verstehen. Moderne Gesellschaft ist gekennzeichnet durch zunehmende Individualisierung der Lebensformen, Rationalisierung der Produktion und eine steigende funktionale Differenzierung sozialer Bereiche wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Religion (van der Loo & van Reyen, 1993; Braun, 1993; Luhmann, 2004). Eine Orientierung an Nachhaltigkeit wäre übergreifend. Durchaus stellt der hohe Grad an Arbeitsteilung, Speziali-
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sierung und Differenzierung der Aufgaben ein Problem für die „Ausrichtung“ auf Nachhaltigkeit dar. Modernisierung lässt sich nicht einfach revidieren. Für die Entwicklung gibt es Gründe, vor allem ökonomische Vorteile der Rationalisierung und Arbeitsteilung und entsprechende Institutionalisierung – zum Beispiel die immer spezialisierteren Ausbildungs- und Studiengänge. Die Wirtschaftsgeschichte, die diese Entwicklungen und das Wirtschaftswachstum als miteinander verbunden hervorgebracht hat, basiert auf linearen Wertschöpfungsketten, die zur Abfallentstehung, zu Umweltschäden und Ressourcenknappheiten führen. Im Bereich der Wirtschaft orientiert sich das Verhalten primär an binären Codes der Geldwerte wie Preis, Erlös, Rendite (Luhmann, 1984). Welcher Bauherr zahlte den dreifachen Preis für eine Stampflehmwand im Vergleich zur Massivholzwand? Ökonomische Faktoren werden aber erst für spezialisierte Fachkräfte des Einkaufs oder Verkaufs maßgeblich, die im Rahmen vorgegebener Budgets agieren. Ebenfalls sind sie von großer Handlungsrelevanz für Führungskräfte, wenn sich diese unter dem Druck zu veröffentlichender Quartalszahlen befinden, was Aktienkurse, die eigenen Vergütungen und Karriereperspektiven betrifft. Preisverhandlungen mit „harter Bandage“ sind die Handwerkskunst professioneller Einkäufer. Die Bonus- und Vergütungssysteme in Handels- wie Produktionsunternehmen und auch der Bau- und Immobilienmärkte sind entsprechend ausgerichtet. Die soziologische Systembetrachtung gibt ein Verständnis für die „Trägheit der Transformation“ (Nassehi, 2021). Sie bringt die Einsicht, dass sich die funktionale Differenzierung gewissermaßen selbst erhält und verstetigt (Schimak, 2009). Akteursgruppen in den Teilbereichen der Gesellschaft orientieren ihr Handeln demnach primär nach „binären Codes“ (Luhmann, 1993). Die Wirtschaft, die Technik, die Kommunikation sowie die Rechtsprechung haben ihre eigenen spezialisierten Expertengruppen, eigene Handlungslogiken und ein begrenztes Verständnis für die anderen Perspektiven – jedenfalls wäre dieses nicht handlungsrelevant. Ökologische Kommunikation
Die soziologische Systemtheorie beschreibt die Ordnung moderner Gesellschaft. Sie erklärt auch, warum Empörung und gesteigerte Betroffenheitsappelle an die Wirtschaft, dass diese schnellstmöglich transformativ werden müsse, kaum gefruchtet haben. Auch medial verstärkte moralische Anklagen gegen Manager und gegen Ideologeme des Homo oeconomicus führen nach dieser Theorie zu keiner Resonanz, sondern werden lediglich als Rauschen ohne Informationswert wahrgenommen. Es ist zwar gut möglich, dass selbst die Adressaten dem emphatisch zustimmen, doch am nächsten Tag im Büro wieder als Akteure des „Funktionsbereichs Wirtschaft“ gegenläufig handeln. Dass moderne Gesellschaft funktional ausdifferenziert ist, basiert auf historischer und technischer Entwicklung sowie stetiger Ausdifferenzierung wie fortschreitender Arbeitsteilung im ökonomischen oder Gewaltenteilung im politischen System. Doch die Modernisierung ist ambi-
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valent. Mit ihr sind nicht nur Nachteile wie nicht intendierte ökologische Folgekosten, sondern auch Vorteile verbunden wie steigende Produktivität der Wirtschaft, im Falle kompetitiver Marktwirtschaften hoher Preisdruck, was zu erschwinglichen Gütern für größere Kreise führt (sozialer Aspekt der Nachhaltigkeit). Die Ambivalenz mit ökologischen Ganzheitsforderungen lässt sich nicht durch guten Willen zur Transformation „heilen“. Diese Analyse sowie der Begriff der ökologischen Kommunikation selbst gehen auf Niklas Luhmann zurück, sind nicht neu, aber im Kontext verstärkter politischer Transformationsbemühungen wieder erinnerungswürdig (Luhmann, 1993).
2.4.1.1 Ändern Nachhaltigkeitskampagnen das Konsumverhalten? Die Vorstellung wäre naiv, mehr „Aufklärung“ und Information über wissenschaftliche Erkenntnisse der Klima- und Umweltfolgen bestimmter Bautechniken können das Handeln in den vorgegebenen Korridoren solcher Wirtschaftsakteure nennenswert verändern. Wirken Aufklärungskampagnen aber für Konsumentinnen und Konsumenten, indem sie das tatsächliche Kaufverhalten beeinflussen? Gewiss haben sie auch eine Inszenierungsfunktion für die Absender. Aber höhere Wertschöpfung lässt sich durch Nachhaltigkeitsinformation am Point of Sale durchaus – jedenfalls im Verbrauchergutbereich – erzielen, wie die Erfolgsgeschichte hochpreisiger Biosiegel im Lebensmittelbereich zeigt. Die sind nicht nur informativ, sondern haben den Charakter von Marken. Für das Bauwesen gibt es kaum einschlägige Studien, wie Nachhaltigkeitsinformationen auf Konsumentenentscheidungen wirken. Aber es gibt Forschungserkenntnisse aus dem Vergleichsfeld der Ernährung. Ernährungsbezogene Nachhaltigkeitskampagnen wirken sich zwar auf Einstellungsveränderungen hin zur Nachhaltigkeit aus, bewirken aber kaum Verhaltensänderung (Godfrey & Feng, 2017). Soziale Bezugsgruppen haben wohl größeren Einfluss auf das Verhalten als Informationskampagnen in klassischen Medien (Mc Kenzie-Mohr, 2011). Die überwiegend zu diesem Thema veröffentlichte psychologische Literatur oder Marketingliteratur fokussiert dabei mehr auf „Typen“ und „Werte“ der Konsumierenden, ökonomische Faktoren des Konsums werden hingegen nicht beachtet (Zhuang et al., 2021). Neben dem Preis stehen auch Alltagsroutinen einer konsumentengetriebenen Wende zur Nachhaltigkeit im Weg (Schäfer et al., 2012). Unter dem psychologischen und verhaltenswissenschaftlichen Konzept des Nudging versteht sich eine veränderte Platzierung der Produkte oder eine gezielte Information am Verkaufspunkt, in diesem Feld sind Verhaltensänderungen vor allem im Bereich der Gastronomie (Kantinen) oder im Lebensmittelhandel nachgewiesen worden (Vandenbroele et al., 2020). Auch diese Techniken der „sanften“ Marktbeeinflussung sind für ihre Eignung im Bauwesen – etwa der Immobilienvermarktung – wissenschaftlich bislang kaum untersucht. Die Handlungswirkung von Informationen wird oft überschätzt. Seit Jahrzehnten setzen biochemisch und ernährungsphysiologisch orientierte Expertenkreise auf die
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Überzeugungskraft von Informationen. Sie bringen Ernährungspyramiden und Schautafeln über die rechten Proportionen von Fleisch, Milch, Getreide, Gemüse und Obst in die Schulbücher – mit dem Ergebnis, dass diese Informationen zwar nun weitgehend bekannt sind, aber kaum Handlungsrelevanz im Alltag erlangen (Spiller & Nitzko, 2021). Die Kulturwissenschaft und Sozialpsychologie haben für dieses Scheitern der Ernährungsaufklärung Erklärungen geliefert (Baums, 2006; Hirschfelder & Pollmer, 2020; Spiekermann et al., 2021). Sie zeigen den hohen Erklärungsgehalt des soziokulturellen Blickes: Ernährung ist nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern das Essen selbst ist ein kultureller Akt, der wesentlich von Erinnerungen, Traditionen, Affekten (Lust und Unlust, Frust) determiniert ist (Hirschfelder, 2012a, 2012b). Beispielsweise offenbaren Teilnehmende von Adipositas-Selbsthilfekreisen bestes Wissen über gesunde Ernährung, aber erklären Müdigkeit und Antriebslosigkeit nach einem ermattenden Arbeitstag und langer S-Bahn-Rückfahrt als Gründe dafür, abends nicht den Salat mit Obst zu essen, sondern den schnellen fettigen Imbiss (Hitzler, 2020). Wie ließen sich solche Einsichten in Forschungsfragen übersetzen, die das Bauwesen betreffen? Welche Orientierungswerte, Einstellungen, Bezüge zu sozialen Referenzgruppen könnten Entscheidungen für das nachhaltige Bauen der Konsumenten in Entscheidungssituationen im Wege stehen?
2.4.1.2 Akteursgruppen der Bauwirtschaft und Bautechnik Eine schematische Skizze der Akteursgruppen und der ökonomischen Beziehungen untereinander im Bauprozess verdeutlicht die Komplexität einer „Transformation“ zur Nachhaltigkeit (Grafik 2.2). In so einer Prozesskette kommt es auf dutzenden Ebenen zu Preisverhandlungen. Die Skizze gibt indirekt auch einen Eindruck davon, wie wichtig die Regulierung des Finanzmarktrahmens und der nicht-finanziellen Veröffentlichungspflichten (EU-Taxonomie) ist, wenn die Politik hier Wirtschaftsprozesse wirksam auf Nachhaltigkeit orientieren will. Das ökonomische Handeln scheint dominierend, da es auf so vielen Ebenen wirksam wird. Die Skizze legt auch nahe, dass die Generalunternehmen, Architekturbüros oder der Rohstoffhandel zentrale Schaltstellen bezüglich des Ressourceneinsatzes sind. Und auch wird deutlich, dass die Käuferinnen und Käufer von Immobilien oft das letzte Glied in einer Kette nach maßgeblich ökonomischen Kriterien getroffenen Entscheidungen sind. Im Normalfall kommen sie erst dann ins Spiel, wenn längst entschieden ist, dass Nachhaltigkeit im Bauprozess kaum eine Rolle oder keine gespielt hat. 2.4.1.3 Value-Chain-Kommunikation Deswegen ist es so wichtig, dass eine veränderte Kommunikation der ökonomischen Akteursgruppen untereinander initiiert, moderiert und durchgehalten wird. Sie muss frühzeitig und begleitend gestartet und an konkreten Zielen der Nachhaltigkeit orientiert sein. Auf solchen Value Chain Innovations liegt die begründete Hoffnung, dass die Ohnmacht gegenüber dem ökonomischen Motiv nicht das „letzte Wort“ haben muss (De Angelis et al., 2018; Gupta et al., 2020). Aber auch solche projektbezogen kooperierenden Wert-
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schöpfungskettenakteure stellen – nach Luhmann – wohl kein „Allheilmittel“ für die gesamte Volkswirtschaft dar. Sie sind ein neuer und interessanter Weg, für den es aber noch wenige Leuchtturmprojekte aus dem Bauwesen gibt. Es bedarf Koordination und Moderation (Qu & Liu, 2022). Digitale Kommunikationstools und Blockchain können sie beschleunigen (Bhattacharya & Chatterjee, 2022). Die Abstraktionen der Systemtheorie und die Betonung der binären Codes – die sich eben nicht unter einer übergeordneten gesellschaftlichen Rationalität subsumieren lassen – der Entscheidungsfindung sind in dieser Skizze als modellhafte Vereinfachungen zu verstehen. Neben der funktionalen Differenzierung gibt es viele Ansätze, die Trägheit der Nachhaltigkeitsentwicklung zu erklären. Soziales Rollenverhalten oder Konformismus zählen hierzu, Letzteres ist ein Begriff aus der Sozialpsychologie.
Grafik 2.2 Die am Bauprozess beteiligten Akteursgruppen. (JG)
2.4.1.4 Konformismus – Konservatismus – Macht Anders als die soziologische, geradezu mechanische Betrachtung der „Systeme“ legt die Sozialpsychologie ihren Fokus etwa auf menschliche Irrationalität, die etwa mit der Lust oder Affinität zur Machtausübung verbunden ist. Sie belegt diese oft experimentell (Gerrig & Zimbardo, 2008). Solche Aspekte sind wichtige Ergänzungen, die etwa demokratischere Entscheidungsfindung, Stakeholdereinbindungen in operative oder strategische Unternehmensentscheidungen begründen können (wobei auch Letztere neue, andersartige Machtstrukturen mit sich bringen). Motive wie Machtausbau, Machterhalt oder Prestigegewinne können erheblichen Einfluss auf ökonomische Entscheidungen haben. Die experimentelle Sozialpsychologie offenbart im ökonomischen Prozess wirkmächtige menschliche Irrationalitäten wie
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• Konformismus, • Konservatismus, • Selbst- und Fremdattribution von Leistungen oder Versagen (die Schuld am Versagen wird tendenziell auf andere Menschen gegeben, Erfolge der eigenen Leistung attribuiert), • Herrschsucht, Grausamkeit, Profilierungssucht. Die Sozialpsychologie ist hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Wirtschaftsverständnis gewürdigt worden (Schlicht, 1998). Einen weiteren Blick auf die Besonderheiten menschlicher Wahrnehmung im Wirtschaftsgeschehen eröffnet die Verhaltensökonomie oder Behavioral Economics (Beck, 2014). Darüber hinaus relativiert die Institutionenökonomie als analytische Betrachtungsebene die dominierende Bedeutung rein ökonomischer Entscheidungsfaktoren. Sie fokussiert sich auf formelle und informelle Institutionen wie Rechte, Gesetze, Normen und deren ökonomische Bedeutung (Hodgson, 2004). Die Begriffe all dieser unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze können dazu beitragen, das Problemfeld der Nicht-Nachhaltigkeit im wirtschaftlichen Handeln und der Trägheit transdisziplinär zu erklären – aber auch dass wie Anfang der 2020er-Jahre in großen Kreisen der Wirtschaft „Nachhaltigkeitshypes“ entstehen (die nicht unbedingt von langer Dauer sein müssen und nicht unbedingt in Wirksamkeit münden).
2.4.1.5 Technikinnovation als „verhaltensneutrale“ Nachhaltigkeitsstellschraube Auf vielen Ebenen, vom Maschinenbau für das Bauwesen bis zu Rahmentechnologien des Baustoffhandels, verändert technische Entwicklung indirekt – über veränderte Kosten – auch die Entscheidungsbasis der Wirtschaftsakteure (Grafik 2.3). Höhere Energieeffizienz, Ressourceneffizienz oder klimafreundlichere Materialien können das Ergebnis technischer Entwicklung sein. In vorausschauenden, vergleichenden Ökobilanzstudien kommt der technischen Entwicklung das größte „Nachhaltigkeitspotenzial“ für das Bauwesen zu (Karlsson et al., 2021). Technikinnovationen haben deshalb eine große Bedeutung, weil technische Entwicklung zu ökologisch nachhaltigerem Handeln führen kann, ohne dass dabei die Last auf praktisch irrelevanten Hoffnungswerten wie „Wertewandel“, „moralischer Überzeugung“ und „neuen Verhaltensweisen“ liegen würde. Zum Beispiel müssten sich nicht alle Menschen einer Moral des Verzichts anschließen, wenn Fleischersatzprodukte aus Hafer, Erbsen oder der Petrischale ernährungsphysiologisch, geschmacklich wie auch haptisch identisch, aber günstiger als Fleisch wären. Dann müsste man nicht mehr sagen: Nachhaltigkeit ist wichtig – aber „it’s the economy, stupid“. Allerdings fällt technologische Entwicklung nicht vom Himmel. Gesellschaftliche Zukunftserwartungen bilden ihre Grundlage, insbesondere der Staat setzt die Anreize und Unternehmen entwickeln schließlich die Techniken.
2.5 Resümee
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Grafik 2.3 Technische Entwicklungen, die Nachhaltigkeit im Bauwesen beeinflussen. (JG)
2.5 Resümee Ressourcenschonung ist aus vielen Gründen anstrebenswert. Dieses Kapitel hat sich mit der Vielschichtigkeit des Transformationsvorhabens auseinandergesetzt. Es wurden zunächst die gravierenden Umwelt- und Klimafolgen des globalen Baus aufgeführt, um anschließend zu begründen, warum sich größere Nachhaltigkeit in einer pluralen und modernen Gesellschaft nicht einfach herbeiregulieren lässt. Die sozial differenzierte Struktur, Machtaspekte in Organisationen und die Reaktanz auf ökologische Narrative sind drei Beispiele für die Trägheit der Transformation trotzt akuter planetarischer Krisen. Nachhaltigkeit wurde als ein Ideal beschrieben, an das Annäherungen vor allem durch technischen Fortschritt und kommunikative Innovationen möglich werden. Eine zentrale Rolle kommt dabei digital unterstützten, moderierten Absprachen aller relevanten Akteure im Bauprozess zu. Schließlich enthält das Kapitel aber auch ein Plädoyer für eine kulturelle Öffnung des technisch geprägten Bausektors. Wie lassen sich Schönheit und Charaktereigenschaften von Häusern beschreiben und Einschätzungen vergleichen, um ihnen Geltung im Planungsprozess zu verschaffen? Auch hier bietet sich für die Praxis ein kultur- und kommunikationswissenschaftlich informierter Austausch in Form von professionell moderierten sogenannten Stakeholderdialogen und anderen Partizipationsformen an. Der Überblick soll zum einen ein adäquates Verständnis von Kommunikationsprozessen
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in einer eher technisch geschulten Fachwelt vermitteln. Zum anderen sollte er den Erwartungsrahmen der Transformation angemessen abstecken. Als Motivation zum nachhaltigen Handeln brauchen Menschen mehr als abstrakte Einsicht in die Notwendigkeit.
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Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? Perspektiven, Traditionen und Spannungsfelder der Bioökonomie
Wozu kann es gut sein, von der Bioökonomie, der Landwirtschaft und dem Bauen gleichzeitig zu sprechen? Was ist die Bioökonomie des Bauens? Die ersten beiden Kapitel versuchten eine Einführung auf der Sach- und Bedeutungsebene. Die folgenden nähern sich der Bioökonomie, wie sie definiert, institutionell geprägt und historisch geworden ist. Das Kapitel beginnt mit Bezügen zur Nachhaltigkeitspolitik, gefolgt von einer essayistischen Annährung an einen baukulturellen Begriff von Bau-Bioökonomie. Eine bioökonomische Tradition einer Sprache, die assoziativ, konkret dinglich und wissenschaftlich abstrakt zugleich ist, wird im Folgenden im Werk des „akademischen Gründungsvaters“ der ökonomischen Bioökonomie festgestellt – bei Nicholas Georgescu-Roegen. Im Folgenden sind zunächst die verschiedenen disziplinären wie praktischen Zugänge zum Themenfeld der Bioökonomie herauszuarbeiten. Dann wird die zunehmende intersektorale stoffliche Vernetzung als Konsequenz bioökonomischer Entwicklungen herausgestellt. Darauf folgen Überblicke über die Relevanz des Konzepts der Bioökonomie in der Politik und die gängigen Definitionen der Bioökonomie. Ausführlicher werden dann zwei Traditionen der Bioökonomie herausgearbeitet. Diese Two Cultures der Bioökonomie werden eine ressourcenorientierte und eine politökonomische genannt. Nach einer kurzen Diskussion verschiedener Ansichten darüber, ob die bioökonomischen Ansätze eine Aussage über die Möglichkeit dauerhaften Wirtschaftswachstums implizieren, folgt die Anregung dazu, jenseits der üblichen Pfade die Bioökonomie auch als ein Paradigma zum historischen Weitblick und kulturkritischer Reflexion zu begreifen, das in der Politik, Wissenschaft und Gesellschaft resonanzfähig ist.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 J. Grossarth, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40198-6_3
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3 Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? …
3.1 Die Bioökonomie des Bauens vor dem Hintergrund der europäischen und deutschen Nachhaltigkeitspolitik Im Jahr 2019 veröffentlichte die Europäische Union den „New Green Deal“ als industriepolitische Strategie, die als eine konsequente Ausrichtung der Wirtschafts- und Forschungspolitik auf Kreislaufwirtschaft und Kohlenstoffneutralität zu beschreiben ist (Bonoli et al., 2021). Seit Anfang der 2020er-Jahre ist die Klimaschutzpolitik in historisch ungekanntem Ausmaß das maßgebliche staatliche Handlungsfeld in Nachhaltigkeitsangelegenheiten (Kap. 1 und 2).
3.1.1 Treibhausgasminderungsziele und die Bau-Bioökonomie Das deutsche Klimaschutzgesetz formuliert Einsparpfade für verschiedene Sektoren, die seit 2023 wieder teils gegeneinander aufgerechnet werden können. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber im März 2021 zu einer strikten Regelsetzung verpflichtet, die diesen Pfad flankiert. Seitdem sind Kohlenstoffdioxidausstöße verfassungsrechtlich nicht mehr nur als „Privatemissionen“ zu sehen, die andere „Privatpersonen“ schädigen können, sondern deren Minderung gilt als staatlicher Schutzauftrag bezogen auf das Freiheitsgrundrecht kommender Generationen (Winter, 2022). Die Sektoreneinsparziele wurden in der Gesetzesnovelle von 2022 wie folgt für 2030 festgelegt (Tab. 3.1). Die Treibhausgasäquivalente, die bis 2030 in den für das Bauwesen relevanten Sektoren „Gebäude“ und „Industrie“ eingespart werden müssen, sind von substanziellem Ausmaß. Der Einsatz von Biomasse als klimaneutralem oder sogar klimapositivem Treib-, Werk- oder Nährstoff in allen Sektoren spielt eine zentrale Rolle. Um eine ressourceneffiziente Nutzung der Biomasse zu erreichen, sollen die Stoffe möglichst lange im Wirtschaftskreislauf geführt werden. Die zunehmenden Anreize und Pflichten zur Öko-
Tab. 3.1 Sektorenziele laut Bundesklimaschutzgesetz; in Mio. t. CO2-äq. (UBA, 2022, eig. Ber.) Emissionen Emissionshöchstmenge 2020 2030
Erlaubte Höchstmenge 2030, prozentual vom Wert von 2020
Energie
220
108
49 %
Industrie
172
118
69 %
Gebäude
119
67
56 %
Verkehr
146
85
58 %
Landwirtschaft
62
56
90 %
Abfallwirtschaft, Sonstiges
9
4
44 %
3.2 Was die Bioökonomie sein könnte: Annäherung an das assoziative Potenzial
57
bilanzierung (Life Cycle Assessment) mit Blick auf Treibhausgasemissionen dürften den Bausektor in wenigen Jahren tiefgreifend verändern, insofern die Politik die ambitionierten Pläne nicht wieder abschwächt – was auch aufgrund des „Klimaurteils“ des Bundesverfassungsgerichtes wenig plausibel scheint. Die Bioökonomie mit ihrem Blick auf nachwachsende Ressourcen rückt von daher neu und andersartig in den Fokus. Die klimawissenschaftlich vorgeschlagenen Ausbaupläne sind so groß gedacht, dass sie geradezu an technokratische Dimensionen des Geoengineering erinnern (Soeder, 2022): In der Studie von Churkina et al. (2020) heißt es etwa, der Holzbau für mehr als zwei Milliarden neue Stadtbewohner, die von 2020 bis 2050 weltweit erwartet werden, könne 0,01 bis 0,68 Gt Kohlenstoff jährlich speichern – in Abhängigkeit der Prognoseszenarien und angenommener Wohnflächenbedarfe. Über 30 Jahre wären die Kohlenstoffemissionen insgesamt von 0,3 bis 20 Gt zu reduzieren. Die Studie enthält mehrere Rechenszenarien. Ein solches Projekt könne nicht nur durch traditionellen Holzbau gelingen. Man sollte sich vielmehr eine globale Zellstoff-Bioökonomie des Bauens vorstellen: „Holz aus Bestands- und künftigen Gebäuden (welche für einfache Demontage entworfen sind) muss wiedergewonnen und wiedergenutzt werden als Rohstoffquelle für Konsumentenprodukte oder die Gebäude der kommenden Generation“ (Churkina et al. (2020), eigene Übersetzung).
3.1.2 Chancen und Risiken der Bioökonomie Die politisch beschlossene Entkarbonisierung stellt eine Epochenwende dar, die aus unterschiedlicher Perspektive beschrieben werden kann. Materialwissenschaftlich dürfte der Einsatz metallischer und mineralischer Baustoffe relativ zu den polymerischen, zu denen auch Zellulose zählt, zurückgehen. Energiehistorisch könnte ein Einschnitt bevorstehen, der Energie teurer, knapper und die in Baustoffen enthaltene „graue Energie“ (im Englischen treffender: Embodied Energy) wertvoller macht. Agrar-, forst- und umwelthistorisch dürfte der Druck auf die Fläche zunehmen, wenn mehr Holz und Agrarrohstoffe verbaut werden sollen, wie auch in anderen Sektoren stofflich genutzt. Zugleich besteht die historisch neue Möglichkeit, Determinismen der Flächenknappheit durch den Ausbau erneuerbarer Energien zu verhindern (Turnbull, 2021). Insgesamt bieten sich auf dem Pfad der Bioökonomie Chancen und Risiken, die sich wie folgt skizzieren lassen (Tab. 3.2; Thrän & Moesenfechtel, 2020, S. 4 f., Ergänzungen JG).
3.2 Was die Bioökonomie sein könnte: Annäherung an das assoziative Potenzial Wenn ich den Menschen in meinem Umfeld erzähle, ich sei ein Professor für Bioökonomie, denken diese nicht selten an Bioläden. Sie meinen, so spiegeln mir ihre Blicke oder Worte, Menschen wie ich arbeiteten daran, dass die ganze Wirtschaft werde wie ein
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3 Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? …
Tab. 3.2 Chancen und Risiken der Bioökonomie (Auswahl) Chancen
Risiken
• Sichere Ernährung der Weltbevölkerung durch Weiterentwicklung der Produktionssysteme (neue Proteine, Aquakultur, Urban Farming …) • Substitution fossiler Rohstoffe • Verbesserte Materialeigenschaften, intelligentere Prozesse und Produkte • Langlebigeres Bauen, der Bau als CO2Speicher •N eue Arbeitsplätze im ländlichen Raum; Bioökonomie als kultureller Wandel
• Zunehmende Konflikte um Biomasse und Flächennutzungskonkurrenzen • Ethisch kontroverse Fragen: Gentechnik, agrarische/forstwirtschaftliche Intensivierung • „Ökonomisierung“ des Lebendigen (Gottwald & Krätzer, 2014) • Bürokratische, „öko-planwirtschaftliche“ Überforderung unternehmerischer Akteure durch überambitionierte Ziele, etwa der Treibhausgasminderung
Bioladen: chemiefrei, duftend, teuer, exklusiv. Zwar hat die naturwissenschaftlich geprägte Stützwissenschaft der Bioökonomie keine solchen Absichten. Aber die Assoziation, die der Begriff offensichtlich unter wenig informierten Laien hervorruft, ist ernst zu nehmen. Die Bioökonomie wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch politische Praxis geprägt – aber zugleich, davon unabhängig, durch akademische Schriften, die in vielen verschiedenen akademischen Disziplinen zu verorten waren. Diese Begriffsgeschichte nachzuvollziehen, ist eine notwendige und erhellende Aufgabe. Ähnlich wie im Fall ihrer Schwester, der Nachhaltigkeit, ist die Bioökonomie für Vereinnahmungen geeignet. Warum sollte man das Nachdenken über die Bioökonomie nicht am Startpunkt der Assoziation beginnen, die das Wort auslöst? Das wäre also die Bioladen-Ökonomie. Diese Metapher mag atmosphärisch Angenehmes enthalten, aber sie birgt auch ökonomisch-soziale Sprengkraft (es gäbe Gewinner und Verlierer; der Bioladen ist nicht für günstige Preise bekannt). Solche Abwägungen entfalten sich, ordnet man die Bioökonomie unter das Dach der Nachhaltigkeit ein. Aber darum geht es in dieser Einleitung noch nicht. Es geht zunächst einfach um die Bilder, die sich mit der Bios-Ökonomie verbinden, und deren Wirkung, deren leibliches Nachempfinden (Embodiment). Die Attraktivität eines Gefühls von bioökonomischem Bauen – ein erfahrungsbasiertes, leiblich nachvollziehbares Verstehen – dürfte den Erfolg der Sachbuchliteraturen und Youtube-Filme erklären, die von Natur oder naturnahem Leben handeln: Bäume, Gärten, Hühner. Aber auch: Fachwerk, Lehmputz, Tiny House. Die diesen Worten und Bildern eigene „Biopoetik“ (Andreas Weber) liegt vermutlich auch darin, dass sie ein implizites Versprechen der Widerständigkeit beinhalten. Zudem eröffnet sie Ingenieuren den Inspirationsraum der Biologie – organische Formen, leichte Tragstrukturen, begrünte Dächer und Fassaden mit vielseitigem Nutzen (Abb. 3.1).
3.2 Was die Bioökonomie sein könnte: Annäherung an das assoziative Potenzial
59
Abb. 3.1 Das begrünte Dach des H. C. Anderssen Hauses in Odense (2022). Gründach in Darmstadt (2023). Tiny Houses in Bauwagenform im Ökodorf Siebenlinden (2010). (Fotos Jan Grossarth)
3.2.1 „The proud of most people were still at their homes – and their homes looked like it“ – ein Brückenschlag zu Wendell Berry Welche Assoziationsräume öffnet das Wort „Bioökonomie“? Imaginationen eines glücklichen Lebens, verbunden mit Werten wie Nachbarschaft, Fürsorge, Verantwortung im Nahbereich des Menschen? Bio bedeutete dann auch Lebensfreude. Die Verbindung von Arbeit und Bedeutung, Sinngebung, von Ökonomie mit Gemeinschaftsbezug und Kreativität wäre dann maßgeblich. Die Aufspaltung rationalistischer Berufslogiken und gefühlsbezogener Freizeit wäre höchst problematisch. Sind diese Ebenen auch Teil des Nachhaltigkeitsproblems? Die „newtonsche“ Spaltung in die objektive Vernunft der (Natur- und Technik-) Wissenschaften einerseits, und in eine vorwissenschaftliche Subjektivität andererseits, wird von Philosophen, Psychologen und Psychiatern mittlerweile als tragisch beschrieben. Auch sind Autoren dieser Wissenschaften sich wieder des Vorrationalen des leiblichen Empfindens bewusst geworden (Abschn. 2.3.5). Hinweise auf die tragische Spaltung gehen auf Giambattista Vico (1668–1744) zurück und werden bis in die Gegenwart vergegenwärtigt (Pern, 2019). Vico stellt Kreativität, Fantasie, Zeichenhaftigkeit,
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3 Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? …
Bedeutungszuschreibung mit der Erinnerungsgabe des menschlichen Geistes und dessen „poetischer Struktur“ in einen Zusammenhang (Pern, 2019, S. 474). Welche Ableitung ließe sich aus diesen Gedanken mit Blick auf den Themenkomplex des nachhaltigen Bauens machen – insbesondere mit Blick auf den hohen Grad an Arbeitsteilung und Spezialisierung? Anders gefragt: Was bezeugt die Wirkung trostloser Funktionalität eines grauen „KfW-45-Hauses“ mit Steinschottervorgarten in diesem Sinne? Stellt ein solches Bauwerk ein für künftige Generationen erhaltenswertes Gut dar? Geht es um das weite semantische Feld der Bioökonomie, bietet sich durchaus eine Exkursion in den Bereich der Landwirtschaft an. Der Schriftsteller Wendell Berry hat der Debatte über biologische, nachhaltige Landwirtschaft eine originelle poetische Prägung verliehen. Als er im Jahr 1974 zu einer Vorlesung an eine Agraruniversität eingeladen war, drückte er Distanz zu dieser Institution aus, indem er seine Rede mit seinem Befremden mit dem Vortragstitel eröffnete. Der war ihm von den Agraringenieuren vorformuliert worden: „I was asked to talk about ‚labor intensive microsystems agriculture‘. That’s not my language. It’s not the sort of language that I wish to use, because it’s the way people speak when they don’t want be understood by most people“ (Berry, 1974, wie auch folgende Zitate).
Hier entlarvt er die Arroganz technischer Wissenschaften als Abschottungs-, als Exklusionsstrategie. Dann führte Berry aus, dass akademische Ausdrucksweisen wie „arbeitsintensive kleinteilige Landwirtschaft“ strukturelle oder technologische Aspekte der Landwirtschaft überbetonten. Dies sei irreführend. Er grenzte sich ausdrücklich vom akademischen Zugang ab: „Perhaps I say something about my qualification. I’m not a farm expert, and I wasn’t educated in an agricultural college. I do come from a farm community, where my people have farmed five or six generations before me, and where I farm, and inherited my father’s and others’ concerns what happened to farmers.“
Später kam er auf Erinnerungen an Gärten wie an Bauwerke zu sprechen: „They grew gardens. They produced their own meat, milk and eggs. They were hardly diversified. The proud of most people were still at their homes. And their homes looked like it.“
Gewissermaßen dem naheliegenden Vorwurf der Romantisierung oder gar der Technikfeindlichkeit zuvorkommend, ergänzte er dann: „This was my no means a perfect society. But I have spoken of it's agricultural economy, of a generation ago, to suggest that there has also been good qualities and dignities to it, that might have been cultivated and build upon. But they were not cultivated and built upon. But they were repudiated as the stuff of a hopeless outlawed unscientific way of life.“
Statt zu einer Evolution der Landwirtschaft – und der Bauweise – kam es mit dem technischen Fortschritt zu radikalen Kulturbrüchen. Das betrifft nicht nur Bewirtschaftungsformen, sondern auch das Verschwinden von Viehmärkten im ländlichen Raum, von bäuerlichen Heiratsstrategien und dem Selbstverständnis der Kinder (Frie, 2023).
3.2 Was die Bioökonomie sein könnte: Annäherung an das assoziative Potenzial
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Berrys entscheidender Punkt ist: Nicht die Technik ist das Problem, durchaus aber die Arroganz der Technikwissenschaften und der Ingenieure. Diese Arroganz ist eine Folge von technischer und institutionalisierter Macht und der monetären Stärke, die die technische Entwicklung den Menschen verleiht. Aber die Arroganz ist auch ein Machtvehikel. Im Namen des Fortschritts werden die „good qualities and dignities“ des alten Handwerks als Anliegen nicht mehr gesehen. Überdies werden diejenigen verspottet, die daran erinnern. Wendell Berry nennt die soziokulturellen und damit wie untrennbar verbunden auch die ästhetischen Qualitäten von Gemeinschaft, kultureller Integriertheit und einem handwerklichen Stolz. Das „Unwissenschaftlich“ hat er auch als Kernvorwurf erkannt, mit dem sich eine technisch-akademische Expertokratie gegen derartige Anliegen abzugrenzen weiß. Und wäre in diesem Sinne nicht auch das Verhältnis mancher Bauingenieure, Baustoffhersteller oder Bauherren zu den Personen kritisch zu betrachten, die sich für Anliegen der Baukultur einsetzen? Wäre nicht in diesem Sinne das Anliegen der zahlreichen baukulturellen wie agrarkulturellen „Korrekturbewegungen“ zu deuten, seien es Low Tech, Agrarökologie, Bioland, die Right-to-Repair-Movement, viele weitere? Die Profiteure des Fortschritts gewinnen an Land, Maschinen, Macht und Professuren. Die Zurückgebliebenen leiden nicht nur am Verlust, sondern auch am Habitus der Sieger dieser einseitigen Technikgeschichte. Denn die Tragik des Verlustes, sagt der Katholik Berry weiter, werde dem Privatbereich der Betroffenen zugeordnet – als Bildungsverweigerung, Kauzigkeit oder persönliches Versagen. Auch darin liegt für ihn das Monströs-Verantwortungslose der technischen Expertenmacht: „And it’s a work of monsters’ ignorance and irresponsibility on the part of the experts and politicians who have prescribed, encouraged and applauded the disintegration of such farming communities all over this country into our miraculous modern American agriculture.“
Was „Fortschritt“ genannt werde, sei in Wahrheit eine Desintegration und Vertreibung von Millionen Menschen aus ihren Wirk- und Traditionsorten, stellt Wendell Berry dann fest. Das Paradigma des „get big or get out“ – im Deutschen hieß das „wachse oder weiche“ – würde im Ergebnis zu vergleichbaren Kulturrevolutionen und menschlichen Verarmungen führen wie die Agrarreformen im Kommunismus, sagt Berry. Er begründet diese These so: „The only difference here is in method. The first use for the communists is military. With us, it is mainly economy. A free market in which the freest where the richest. The attitudes were equally cruel. And I believe that in the long run the results will be equally damaging. … A healthy culture is a communal order of memory, insight, value and aspiration.“
Fällt es akademisch und erst recht politisch schwer, Qualitäten des „guten Lebens“ allgemeingültig zu benennen, so macht es Berry nicht zu kompliziert. Er spricht von einer „gesunden Kultur“. Und diese, sagt er, sei: • gemeinschaftsbezogen, • geschichtsbezogen,
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3 Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? …
• erfahrungsreich, • wertegebunden und • hoffnungsfroh. Technik wäre dabei für die Erleichterung der Arbeit sehr willkommen. Aber sie ist nicht die Quelle einer leidenschaftlichen Bezogenheit zur Arbeit, sondern kann aus den angedeuteten Gründen auch ein Hindernis sein. Sie kann vom Mittel zum Zweck werden. Und das ist der Grund, warum Wendell Berry mit Skepsis auf die Effekte einer (technik-)wissenschaftlichen Ausbildung blickt. Er sagt, berufsbezogene Leidenschaft gründe ohnehin selten in akademischer Ausbildung: „But this attitude does not come from technique or technology. It does not come from education. In more than two decades in universities, I have rarely seen it. It does not come even from principle. It comes from a passion that is culturally prepared. A passion for excellence and order, that is characteristically and maybe exclusively handed down to young people …“
Die „Leidenschaft, die kulturell angelegt“ ist und als Privileg der Jugend gewissermaßen wie ein Geschenk durch (in Liebe verbundene) Ältere „herabgereicht“ wird, wäre also der Kern einer „guten Ökonomie.“ Gibt es Ansätze, Bioökonomie als Metapher so einfach, so radikal einfach zu verstehen? Gilt nicht alles, was Wendell Berry sagt, auch übertragen auf das Bauwesen? Wäre „Bios“, das Leben, in einem kulturell weiten Verständnis der Bioökonomie nicht auch im Resonanzraum solcher Lebensqualitäten zu begreifen? Wie malen Kinder eigentlich ideal(isiert)e Häuser (Abb. 3.2)? Auch die Hermeneutik von Kinderzeichnungen ist – am Rande – ein lohnenswerter Forschungsgegenstand (Daum, 2019). Was nützt der Rückgriff auf Berry aber noch in den 2020er-Jahren – ein halbes Jahrhundert nach dieser Rede? Da wären die von ihm genannten Lebensqualitäten nicht einfach nur gegen die Übergriffe zu verteidigen, sondern neu und wieder zu entdecken gegen etablierte Routinen und mächtige Interessen. Das Scheitern ist höchstwahrscheinlich. Vor dieser Einsicht zu verstummen, führt aber nur in die Resignation oder in den Zynismus. Berry entscheidet sich für die Erinnerung und die Erzählung und das ist nicht leichtfertig zu verwechseln mit Romantisierung oder Nostalgie. Trotzdem sollte solche Kulturkritik ernst genommen, aber auch kritisch reflektiert werden mit Blick auf deren Tauglichkeit als politischer Kompass in einer pluralen Gesellschaft (Abschn. 3.5). Lebendige Sprache einer Baustoffkunde
Die Sprache einer Wissenswelt ist ein Indikator für den Erfahrungsbezug ihrer akademischen Kultur. Die Sprache des Bauingenieurwesens ist geprägt durch diejenige der Mathematik und der Normenwerke. Beim Blick in alte Werke dieser technischen Disziplin offenbart sich, dass dies nicht immer so war. Die „Bau-
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stoffkunde“ von 1922 (Haberstroh, 1922) beginnt mit folgenden Worten: „Zu den Hauptbaustoffen zählen wir die natürlichen Steine, Mörtel, künstlichen Steine, die Bauhölzer und das Eisen. Die Steine sind natürliche oder künstliche. Erstere werden unmittelbar von der Natur geliefert und bedürfen für die Verwendung nur noch einer Formgebung, während künstliche Steine noch außerdem vorher eine Umwandlung ihres Stoffes erfahren“ (Haberstroh, 1922). Diese Sprache lässt sich insofern als eine lebendige Sprache bezeichnen, als dass sich die Persönlichkeit des Autors nicht vollständig hinter Zwänge der Sachlichkeit versteckt. Haberstroh erzählt von den Baustoffen. Mit ihnen wird etwas gemacht und sie haben Eigenschaften. Die Baustoffkunde beschränkt sich nicht darauf, dass hier über technische Merkmale referiert würde. Das geschieht auch. Der Ausdruck „zählen wir“ verdeutlicht beispielsweise die Perspektivität des Autors. Er macht Standpunkt deutlich, das lädt zum Denken ein, durch Mitdenken, offenbart die Subjektivität solcher Kategorien wie „natürlich“. Die Natur „liefert“ hier, wie eine Person, die Steine „bedürfen“ etwas oder „erfahren“ gar. So eine Sprache ist – so antiquiert sie stellenweise wohl auch wirkt – jedenfalls vielfach interessant. Sie ist in Balance.
Abb. 3.2 Die Poesie des Bauens: Kinderzeichnung eines Landhauses. (Illustration Frieda Theresia Grossarth)
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3.2.2 Ein Brückenschlag zu Georgescu-Roegens Bioökonomie Was unterscheidet, was verbindet Wendell Berrys Rede und die Baustoffkunde von 1922? Zum Beispiel auch das: Der eine spricht über Leidenschaft, die andere bezeugt sie indirekt. Nicholas Georgescu-Roegen wiederum, der Begründer der Bioökonomie, ein Mathematiker und Volkswirt, unterscheidet sich durch eine assoziative, stellenweise humorvolle Schreibweise von vielen Professoren der mathematischen Ökonomik, die seine erklärten Gegner sind. Für Georgescu-Roegen ist die Bioökonomie eigentlich die geradezu utopische Großmetapher für eine dauerhaft stabile Lebens- und Wirtschaftsform (siehe späteres Kapitel). Er changiert in seinen Schriften bemerkenswert zwischen mathematischer Beweisführung im Modell – die er gegen die neoklassischen Ökonomien wendet – und hoch assoziativen Einbettungen. Folgende Untergangsfiktion ist ein Beispiel dafür: „Perhaps, the destiny of man is to have a short, but fiery, exciting and extravagant life rather than a long, uneventful and vegetative existence. Let other species – the amoebas, for example – which have no spiritual ambitions inherit an earth still bathed in plenty of sunshine“ (Georgescu-Roegen, 1972, S. 92).
Diese Passage ist ein Beispiel für einerseits ungeniert spekulatives, prophetisches Sprechen. Andererseits zeigt sich darin ein latent ironischer und poetischer Stil: Die Amöben, ambitionslos, baden im ewigen Sonnenschein, während die extravagante Menschheit allzu kurzlebig war! Georgescu-Roegen betreibt formale Wissenschaft nicht losgelöst von einem Interesse an Schicksal, Ereignis, Menschheitstragödie. Georgescu-Roegens Rollen sind die des Sehers, Mahners, intellektuellen Provokateurs. Seine Sprache, seine Anliegen technikbezogener Fortschrittsskepsis in Verbindung zu Umweltzerstörungen und Ressourcenschwinden weisen darauf hin: Ein Verständnis von Bioökonomie, das Qualitäten des „Bios“ nicht im weiten Horizont mitdenkt, wäre jedenfalls auch keines in der Tradition ihres Begründers. Er versteckt seine Deutungen und seine Perspektivität nicht hinter Formeln, sondern nutzt diese als ein Instrument.
3.3 Was die Bioökonomie ist: Zwei Traditionen Mit dem Begriff (zirkuläre) Bioökonomie werden umfassende Vorstellungen von einer nachhaltigen Volkswirtschaft insgesamt verbunden. Einerseits sollen fossile durch nachwachsende Rohstoffe und erneuerbare Energieträger ersetzt werden. Andererseits sollen die Stoffströme in der Volkswirtschaft und im internationalen Handel möglichst geschlossen werden. Beide Ansätze sind nicht mit der Klimaschutzpolitik erfunden worden. Beide Denktraditionen haben – voneinander unterschiedliche – Herkünfte, die einander aber in gegenwärtigen politischen Ansätzen berühren und überschneiden (Grossarth, 2022; Wie et al., 2022).
3.3 Was die Bioökonomie ist: Zwei Traditionen
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Im Folgenden wird eine gedankliche Unterscheidung in zwei „Schulen“ oder Traditionen der Bioökonomie vorgeschlagen. In der politischen Praxis oder in der Begriffsverwendung mögen diese nicht voneinander abgegrenzt sein. Die vorgeschlagene Distinktion ist idealtypisch (Grafik 3.1). Sie orientiert sich aber auch an der ideengeschichtlichen und institutionellen Gewordenheit der beiden Bioökonomie-Traditionen. Die hier angebotene Unterscheidung lautet in eine • ressourcenorientierte Tradition („Ressourcen-Bioökonomie“), die unter Bioökonomie agrarisch-forstwissenschaftliche und umweltingenieurwissenschaftliche Sektoren betrachtet und hierfür Forschungsmittel und Institutionalisierung organisiert, verbunden mit großen Innovationshoffnungen auf die Biotechnologie, und eine • politökonomische Tradition der Bioökonomie („politökonomische Bioökonomie“), die letztlich die gesamte Wirtschaft zur Nachhaltigkeit der Stoffströme transformieren will und auch das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger und die fiskalpolitischen Instrumente auf dieses Ziel hin verändern möchte. Dabei können unterschiedliche Vorstellungen über die Möglichkeit einer nachhaltigen Entwicklung auch im Sinne von Wirtschaftswachstum miteinander verbunden sein (späterer Abschnitt).
Grafik 3.1 Die zwei Traditionen der Bioökonomie. (JG)
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Diese Unterscheidung ist zwar nicht etabliert, aber sie findet Entsprechungen in der bioökonomischen Forschungsliteratur, in der bis heute gefragt wird, was denn Bioökonomie eigentlich sei. Die Dominanz der Natur- und Umweltingenieurswissenschaften ist evident. Eine Auswertung von 453 Forschungspapers bis 2016 ergab, dass die häufigsten Publikationsfelder die Biotechnologie und angewandte Mikrobiologie waren, gefolgt von der Energiewirtschaft, Umweltwissenschaften, Chemie, Umweltingenieurswissenschaften und den Lebensmittelwissenschaften (Bugge et al., 2016, S. 8). Auf der Suche nach den Traditionen der Bioökonomie ist die auf dieser Basis gemachte Kategorisierung aufschlussreich. Sie unterscheidet zwischen einer 1) Biotechnologievision, einer 2) Bioressourcenvision und einer 3) Bioökologievision (Grafik 3.2). Wohl insbesondere die Bioökologievision bietet Anknüpfungspunkte für die hermeneutische Lesart. In allen Fällen forciert der Ansatz der Bioökonomie intersektorale Verbindungen, zumindest auf der Ebene von Stoffströmen (Biotechnologie- und Ressourcenvision). Die hier vorgeschlagene Unterscheidung in zwei Traditionen findet in der englischen Sprache Anwendung, in der „bioeconomy“ die Sektoren- und RessourcenansatzBetrachtung bezeichnet, wohingegen „bioeconomics“ die politökonomische Disziplin meint. Dem entspricht das selten verwendete deutsche Wort „Bioökonomik“. Was unterscheidet beide, was trennt beide voneinander? Auf die eine oder andere Weise haben beide Ansätze der Bioökonomie einen starken Fokus auf Innovationen, wie auch die Effizienzsteigerungen der stofflichen Umwandlung solarer Energie – der erste gewiss deutlicher und explizit. Hierzu zählen die (biotechnologischen) Verfahren der Pflanzenzucht, weiße und rote Gentechniken, aber auch die Bioreaktoren, die etwa Zellulose in Energie oder chemische Grundstoffe umwandeln. Der zweite Ansatz fokussiert mehr auf den von Wissenschaft beratenen Staat als planenden Akteur. Die folgenden Abschnitte beleuchten die Traditionen und ihre Entstehungsgeschichten.
Grafik 3.2 Drei Visionen der Bioökonomie. (JG)
3.3 Was die Bioökonomie ist: Zwei Traditionen
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3.3.1 Die „Ressourcen-Bioökonomie“ als Sektorenvernetzung von Bau-, Forst- und Landwirtschaft 3.3.1.1 Entstehung ab 2007 Die Ressourcen-Bioökonomie oder Bioökonomie der nachwachsenden Rohstoffe als Thema der nationalen wie internationalen Politik ist auf die Forschungsagenda des deutschen Bundesforschungsministeriums (BMBF) zurückzuführen. Mit einer forschungspolitischen Strategie von 2007 war erklärtermaßen die Hoffnung verbunden, die EU könne die „führende wissensbasierte Volkswirtschaft“ der Welt werden („En Route to the Knowledge-Based Bio-Economy“, 2007). Das Papier „En Route“ knüpft an die im EUVertrag von Lissabon 2002 geäußerte Hoffnung an, die EU könne zur global führenden wissensbasierten Volkswirtschaft avancieren. Sie ist also im Fahrwasser der „Technikeuphoriewelle“ entstanden, die im Zuge der Entschlüsselung des Humangenoms durch Craig Venter begründet wurde (Venter, 2001). Damit waren Hoffnungen auf epochale Fortschritte in der Humanmedizin verbunden. Doch machte sich zeitgleich, im Grunde durch die BSE-Krise Anfang der 2000erJahre initiiert, eine zunehmend problematisierende Haltung gegenüber der „ingenieursgetriebenen“ Agrarindustrie und rein technischen Konzepten in diesem Bereich breit, wozu fortan auch die Pflanzengentechnik oder „grüne Gentechnik“ zählen sollte (Grossarth, 2018). Dass diese auch Nachhaltigkeitszielen des Green Deal dienen könnte, brachte die EU-Kommission erst gut 20 Jahre später im Zuge neuer technologischer Entwicklungen ins Spiel: „GT products have the potential to contribute to sustainable agrifood systems in line with the objectives of the European Green Deal“ (EU Kommission, 2021; späteres Kapitel). Die Pointe des Ressourcenansatzes der Bioökonomie lag zunächst – 2007 und folgende Jahre – eben nicht im makroökonomischen Blick, gerade nicht in ökologisch grundierter Wachstumsskepsis. Er wurde nicht vorrangig klimapolitisch begründet. Die Bioökonomie wurde vorrangig als ökonomische Standortchance für Europa beschrieben. Zentrale Akteure sind demnach Pflanzenzüchter, die Agrarwirtschaft, die biotechnologische Forschung. In deren Sinn wurde die mittlerweile stark im Zentrum der Politik verankerte kritische Thematisierung von mangelhafter Nachhaltigkeit aufgegriffen, um der Forschung und Entwicklung Rückenwind zu organisieren. Dieser Ansatz geht maßgeblich auf die Initiative des damaligen deutschen Forschungsministerialbeamten Christian Patermann zurück (de Lorenzo, 2022). Unter anderem durch Patermann wird die mittlerweile gesellschaftlich, politisch und wissenschaftlich stark bewusste Nachhaltigkeitsproblematik aufgegriffen und zum natur-, bio- und ingenieurwissenschaftlich geprägten Fortschrittsnarrativ gewendet. Im Zentrum stehen Agrar- und Biowissenschaften und die bioindustrielle Prozesstechnologie. 3.3.1.2 Der deutsche Bioökonomierat Der Bioökonomierat, nach eigenem Selbstverständnis anfangs ein reiner „Forschungsund Technologierat“ (Bioökonomierat, 2009), war zunächst angesiedelt bei der Deut-
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3 Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? …
schen Akademie der Technikwissenschaften Acatech und wurde in seiner Arbeit unterstützt vom Bundesforschungsministerium BMBF, dem Agrarministerium (damals: „BMELV“) und von dessen Ressortforschungseinrichtungen. Sein Leitthema ist der Ersatz fossiler durch nachwachsende Rohstoffe, wobei ein deutlicher Fokus auf die Beiträge biotechnologischer Innovationen zu größeren Erträgen und effizienterer Nutzung organischer Stoffströme in der gesamten Volkswirtschaft die Zielgrößen sind. Vertreter der BASF, der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft DLG oder des Biotechnologieunternehmens Brain AG ergänzen die Wissenschaftler im Ersten Bioökonomierat und empfehlen in Richtung Politik etwa die Intensivierung der Pflanzenzuchtforschung und ihrer Förderung (Bioökonomierat, 2010). Der oft verwendete Begriff „biobasierte Wirtschaft“ ist mit dem ressourcen- oder sektoralen Begriff identisch. Dieses Konzept erfuhr medial und politisch dann aber zunehmend Kritik von Umweltverbänden, Umweltschutzstiftungen oder ihnen verbundenen Autoren (Gottwald & Krätzer, 2014). Die Semantiken des Bioökonomierats änderten sich, wie bereits angedeutet. Der zweite Bioökonomierat (2012–2020) spricht nun von einer „Bioökonomiepolitik in Deutschland“, betont hier auch die Einordnung in das Konzept der nachhaltigen Entwicklung, in dem alle drei Säulen (Wirtschaft, Soziales und Umwelt) „gleichberechtigt berücksichtigt werden“ (Bioökonomierat, 2015). Eine solche Weitung des Blickes ist in dem Maße zeithistorisch nicht überraschend, da die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen 2015 beschlossen waren und international verbindlich umzusetzen sind. In der Definition des dritten Rates wird dann die Frage des „Wirtschaftssystems“ angerissen. Dass im Verständnis des Bioökonomierats der Sektorenansatz im Laufe der Jahre dem volkswirtschaftlichen Transformationsansatz ähnlicher wurde, lässt sich auch etwa anhand der personellen Zusammensetzung des Bioökonomierates erkennen. War dieser anfangs mit Professorinnen und Professoren aus natur- und agrarwissenschaftlichen Forschungsdisziplinen besetzt wie auch mit Industriefachleuten aus einschlägigen Unternehmen der „Kernbranchen“, so gehören dem 2020 zum dritten Mal neu zusammengesetzten Gremium auch etwa der Politologe Michael Böcher an, der Soziologe Thomas Lemke, der langjährige Biolandwirtschaftsfunktionär Felix zu Löwenstein oder die Soziologin und Vorständin der Grünen-nahen HeinrichBöll-Stiftung Imme Scholz. Der Rat war somit deutlich interdisziplinärer besetzt, aber wirkt insgesamt auch politischer. Die Bioökonomie soll nach Worten einer der Co-Vorsitzenden des Bioökonomierates, der Umweltingenieurin Daniela Thrän, etwa „nicht als Wirtschaftszweig verstanden werden, sondern als Zeugnis eines Umdenkprozesses zu einer ‚grünen Wirtschaft‘“ (Thrän & Moesenfechtel, 2020, S. 4); Bioökonomie sei im „System“ von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu betrachten. Trotz des immer weiteren Blickes des Bioökonomierates auf sein Anliegen bleibt der Terminus Bioökonomie einem breiteren akademischen wie allgemeinen Rezipientenkreis weitgehend unbekannt. Es scheint, als handle es sich um ein „Forschen über etwas, das kaum jemand kennt“, womit aus Sicht von Lukas Fehr, der sich als einer von wenigen Kulturwissenschaftlern mit der Begriffsgeschichte der Bioökonomie auseinandergesetzt hat, festzustellen wäre: „Bioökonomie dient … als eine Vorstellung von der Zukunft
3.3 Was die Bioökonomie ist: Zwei Traditionen
69
des Wirtschaftens und industrieller Produktion, die sich aus wissenschaftlichem Wissen, wirtschaftlichen und politischen Interessen und Best-Practice-Beispielen zusammensetzt“ (Fehr, 2021, S. 227–229).
3.3.1.3 Datenquellen zum Stand der Bioökonomie 3.3.1.3.1 National Das bundeseigene Thünen-Institut treibt seit einigen Jahren ein bundesweites Monitoring zur Bioökonomie voran. Ein erster Teilbericht wurde 2018 veröffentlicht.1 Gemeinsam mit dem Center for Environmental Systems Research (CESR) der Universität Kassel veröffentlichte Thünen 2021 erstmals einen Pilotbericht zum Monitoring der deutschen Bioökonomie mit zahlreichen Stoff- und Energieflussdiagrammen der deutschen Land-, Forst- oder Fischereiwirtschaft.2 Das Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung verfügt über eine Bioökonomiestrategie der Bundesregierung.3 Die Fachagentur für Nachwachsende Rohstoffe (FNR) des BMEL bietet anwendungsbezogene Projektförderungen in der Fördersäule „Nachwachsende Rohstoffe“.4 Über Forschungsförderung informiert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).5 Das BMBF fördert auch die wissenschaftsjournalistische Seite „bioökonomie.de“, die zahlreiche (Multimedia-)Reportagen zum Themenkreis bereithält.6 Der Bioökonomierat hält etliche Publikationen vor.7 Das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) hat mehrere Potenzialstudien zu Aspekten der Bioökonomie unternommen.8 Die Universitäten Hohenheim und München bieten Masterstudiengänge in Bioökonomie an. Das Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften (TTN) der LMU München unterhält eine Website zu biotechnologischen Entwicklungen der Bioökonomie und ethischen Aspekten.9 Das Agrar- und Umweltministerium von Baden-Württemberg
1 https://www.thuenen.de/media/institute/ma/Downloads/Dimension_1_Statuskonferenz_
20_03_2018_low_quality.pdf. 2 https://kobra.uni-kassel.de/handle/123456789/11591. 3 https://www.bmel.de/DE/themen/landwirtschaft/bioeokonomie-nachwachsende-rohstoffe/ueberblick-biooekonomie.html. 4 https://www.fnr.de/projektfoerderung/foerderprogramm-nachwachsende-rohstoffe. 5 https://www.bmbf.de/bmbf/de/forschung/energiewende-und-nachhaltiges-wirtschaften/biooekonomie/biooekonomie_node.html. 6 https://biooekonomie.de/. 7 https://www.biooekonomierat.de/publikationen/. 8 https://www.tab-beim-bundestag.de/themenfeld-energie-und-umwelt_nachhaltige-potenziale-derbiooekonomie-biokraftstoffe-der-3-generation.php. 9 https://www.pflanzen-forschung-ethik.de/.
70
3 Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? …
halten gemeinsam zahlreiche Informationen über Landesförderung und Landesprojekte bereit.10 3.3.1.3.2 International Die private amerikanische „The Schmidt Family Foundation“ des Google-Gründers Eric Schmidt veröffentlichte 2022 eine Zukunftsstudie über die Entwicklungschancen der amerikanischen Bioökonomie.11 Der EU-Bio-Monitor als europäisches Projekt zur Branchenquantifizierung beziffert die entsprechenden Sektoren in Euro und Cent.12 Die wichtigsten Datenbanken zu Fragen der globalen Landnutzung, Agrar und Forst sind diejenigen der Weltagrarorganisation der Vereinten Nationen (FAO).13 Globale Flächenverbräuche und ökologische Fußabdrücke sind den Datenbanken des Global Footprint Network zu entnehmen.14
3.3.1.4 Stoffströme der (deutschen) Bioökonomie Begreift man unter Bioökonomie im Sinne des Verständnisses der späten 2000er-Jahre den Ressourcenersatz, so sind die verfügbaren Mengen eine entscheidende Information. Nicht nur die Kapitel über Ressourcen für den Bau und über das Urban Mining, sondern auch folgende Tabelle verdeutlichen skizzenhaft die Größendimensionen – und dass auch das Abfall-Upcycling eine entscheidende Rolle spielen wird. Dämmstoffe auf Basis der Primärrohstoffe Schafwolle und auch Baumwolle hingegen können kaum in signifikantem Maß durch Polystyrol ersetzt werden (Tab. 3.2). Mit Blick auf das Bauwesen ist aber festzustellen, dass insbesondere die agrarische „Trockenmasse“ eine weitgehend ungenutzte Rohstoffquelle ist. Bislang wird hier vor allem das Holz stofflich genutzt (Grafik 3.3). Von rund 48 Mio. Tonnen jährlicher Holzrohware mit Reststoffen und Abfällen werden rund 34 Mio. Tonnen stofflich genutzt (Bringezu et al. 2020, S. 18). Diese Masse überwiegt den Anteil des energetisch genutzten Holzes bereits deutlich (25 Mio. Tonnen). Die gesamte jährlich verfügbare Trockenmasse aus dem agrarischen Bereich ist viel größer als die des Holzes, fast dreimal so hoch (137 Mio. Tonnen Trockenmasse). Dabei ist zu beachten, dass große Teile dieser Erträge sich durch die Zufuhr von Mineraldünger erklären, der zumeist über das Haber-Bosch-Verfahren auf Basis von Erdgas als Grundstoff wie als Energieträger gewonnen wird. Erste Pilotanlagen zur Stickstoffdüngerproduktion mittels Solarenergie sind in Betrieb (Wang et al., 2018).
10 https://biooekonomie.baden-wuerttemberg.de/Startseite. 11 https://www.schmidtfutures.com/wp-content/uploads/2022/04/Bioeconomy-Task-Force-Stra-
tegy-4.14.22.pdf. 12 https://biomonitor.eu/. 13 Fao.org/faostat/en/#data. 14 Data.footprintnetwork.org.
3.3 Was die Bioökonomie ist: Zwei Traditionen Tab. 3.2 Die Tabelle vergleicht Gewichtseinheiten, nicht etwa Energiedichte der Materialien, und ist in ihrer Aussagekraft nur auf einen groben Vergleich der fossilen, mineralischen und biogenen Rohstoffe in globaler Dimension beschränkt, auf 100 gerundete Werte, mit Ausnahme der Werte von weniger als 100. (Nach Türk 2014, S. 38)
71
Rohstoff
Jährliche globale „Produktionsmenge“ in Mio. t
Abfall
18.200
Steinkohle
6300
Rohöl
4100
Zement
3000
Holz
3000
Getreide
2500
Baumwolle
26
Schafwolle
2
Der Agrarsektor versteht sich traditionell als Ernährungssektor. Ernährt werden vor allem Masttiere für die Fleischproduktion: Der überwiegende Anteil der Agrartrockenmasse wird zu Tierfutter (rund 89 Mio. Tonnen). Es wird in Deutschland also fast dreifach so viel Trockenmasse an Nutztiere verfüttert, wie insgesamt Holz als Bau- und Werkstoff verwendet wird. Energetische und direkte menschliche Nahrungsmittelnutzung (ohne den „Umweg durch den Magen des Nutztiers“) zusammen machen in der agrarischen Verwendungsstatistik rund 45 Mio. Tonnen aus. Die stoffliche Nutzung agrarischer Trockenmasse ist noch verschwindend gering und beträgt rund 4 Mio. Tonnen, aber etwa ein Zwanzigstel der Tierfuttermenge.
Grafik 3.3 Stoffströme der deutschen Bioökonomie. (JG)
72
3 Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? …
Gemessen an den Klimaschutzzielen und den daraus abgeleiteten Entwicklungsszenarien der Bioökonomie in Deutschland sind gravierende Änderungen der Nachfrage im Bereich der stofflichen und energetischen Nutzung zu erwarten. In einem „konservativen“ Prognoseszenario des Zuwachses würde die Nachfrage nach stofflich genutzten „holzartigen Produkten“ bis 2050 in Deutschland jährlich um 0,5 % steigen, in der EU sogar um 1,7 %. Die Nachfrage nach Biomasse durch die chemische Industrie würde in Deutschland sogar jährlich um 5,1 % zunehmen (Poganietz et al., 2020, S. 192).
3.3.1.5 Amtliche Definitionen und Sektorenabgrenzungen 3.3.1.5.1 Definitionen Im Jahr 2018 legte die Europäische Kommission einen „Aktionsplan Bioökonomie“ vor (Kershaw, 2021). Darin wird die Bioökonomie als Pfad eines „grünen Wachstums“ beschrieben; die Darstellung wirkt wie ein Archetyp der Biotechnologievision und ist stark auf wirtschaftliche Chancen für relevante Sektoren bezogen, etwa indem auf die rund 18 Mio. Beschäftigten in den Sektoren der EU-weiten Bioökonomie hingewiesen wird, auf deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt der EU von 4,2 %. Indem zugleich behauptet wird, die europäische Bioökonomie könne die „Natur bewahren und gesunde Ökosysteme wiederherstellen“, sie werde „zusätzliche Einkommen für Bauern, Förster und Fischer“ generieren, die Kohlenstoffspeicher der Böden, Wälder und Ozeane wiederherstellen, entsteht geradezu der Eindruck, es handle sich um eine Zauberformelwissenschaft, die das Anliegen der Nachhaltigkeit allseits zu lösen imstande sei. Geradezu pathetisch klingt folgende Passage aus der Kurzfassung des Aktionsplanes Bioökonomie, in der auf das „Herz“ der Bioökonomie hingewiesen wird, welches die Nachhaltigkeit sei (EU Commission, 2018): „To be successful, the European bioeconomy needs to have sustainability at its heart and be circular by definition. The purpose of the updated European Bioeconomy Strategy is therefore to further develop a bioeconomy that valorises and preserves ecosystems and biological resources, drives the renewal of our industries and the modernisation of our primary production systems through bio-based innovation, involves local stakeholders, protects the environment and enhances biodiversity.“
Hier handelt es sich leicht erkennbar um politische Prosa. Aber wie lautet konkret eine tragfähige Definition davon, was Bioökonomie denn nun für den europäischen Gesetzgeber sei? Hierzu ist – gemäß der damaligen deutschen Definition der späten 2000erJahre – von der Vorstellung zu lesen, es gehe im Kern um die Sektoren, die mit nachwachsenden Rohstoffen zu tun haben (Kap. 4). Im Sinne der klimapolitischen Ambitionen der 2020er-Jahre scheint es allerdings fraglich, ob diese Definition überhaupt noch aktuell sei. Müsste es demnach nicht darum gehen, die gesamte Ökonomie zu einer nachhaltigen Bioökonomie zu machen? Die EU-Definition der Bioökonomie von 2018 –
3.3 Was die Bioökonomie ist: Zwei Traditionen
73
aus dem Jahr vor Bekanntgabe des Green Deal – ist jedenfalls stark sektorbezogen. Dies wird etwa auch in dieser Passage des Kommissionspapiers von 2018 deutlich: „The bioeconomy covers all sectors and systems that rely on biological resources – animals, plants, micro-organisms and derived biomass, including organic waste – as well as their functions and principles. It includes and interlinks: land and marine ecosystems and the services they provide; all primary production sectors that use and produce biological resources (agriculture, forestry, fisheries and aquaculture); and all economic and industrial sectors that use biological resources and processes to produce food, feed, bio-based products, energy and services“ (ebd.).
Laut dem Bioökonomierat als Beratungsgremium der Bundesregierung ist die Bioökonomie definiert als „die Erzeugung, Erschließung und Nutzung biologischer Ressourcen, Prozesse und Systeme, um Produkte, Verfahren und Dienstleistungen in allen wirtschaftlichen Sektoren im Rahmen eines zukunftsfähigen Wirtschaftssystems bereitzustellen“ (BMBF, 2020, S. 3).
Im Sinne der Deutschen Bundesregierung ist die Bioökonomie definiert wie durch den Bioökonomierat (s. o.; Bioökonomierat, 2019). Der Bezug auf politische Phrasen wie „Zukunftsfähigkeit“ und der umfassende Bezug auf das „Wirtschaftssystem“ lassen einen weiten, systemischen Blick feststellen, der sich am Leitbild der Nachhaltigkeit und einem umfassend volkswirtschaftlichen Transformationsansatz orientiert. Vergleichsweise eng auf die Entwicklung der Kernwirtschaftssektoren orientiert spricht hingegen die EU-Kommission von der Bioökonomie: „The bioeconomy means using renewable biological resources from land and sea, like crops, forests, fish, animals and micro-organisms to produce food, materials and energy.“ Solch ein sektorenorientierter Ansatz bleibt auch in den Vereinigten Staaten dominierend (Friscold et al., 2021). Dieser ist wohl politisch auch stärker konsensfähig, da er energieintensive Wirtschaftszweige prinzipiell nicht „angreift“ und mit diesem Pfad auch starke wirtschaftliche Interessen der Land- und Forstwirtschaft einhergehen. Dutzende weiterer Staaten auf der Welt haben nationale Bioökonomiestrategien. Viele fokussieren darin auf ihre jeweiligen Ressourcenschwerpunkte, etwa den Wald in Finnland oder Mais und Soja in Brasilien. In den mehr als 40 nationalen Bioöfig1 Bioökonomiestrategien der Welt werde jedoch deutlich, dass Definitionen weniger wichtig seien, als die genaue Erfassung der biogenen Stoffströme und Wachstumsbeiträge der bioökonomischen Sektoren (Thrän & Moesenfechtel, 2020, S. 41). Synonym zur Bioökonomie ist oft auch die Rede von biobasierter Wirtschaft. Zugehörige Themenaspekte sind hier die Ansätze einer „Biologisierung“ der Technik (also Design nach dem Vorbild der Natur, Bionik; Abb. 3.3) und die biologische Transformation. Diese meint die Integration von Naturprinzipien in sämtliche Wirtschaftssektoren. Zur Bezifferung der Branchengrößen und ihres Wachstums initiierte die EU das Projekt „EU Bio-Monitor“ (Haarich et al., 2017), aber diese Seite enthielt Anfang 2023 noch kaum relevante Inhalte (Biomonitor, 2023).
74
3 Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? …
Abb. 3.3 Könnte das Wurzelwerk dieses Baumes ein neuartiges Hochhausfundament inspirieren? Und was ließe sich von den Stacheln des Kaktus für ein Bauwerk abschauen? Fragen der Bionik. (Fotos Jan Grossarth)
Die Volksrepublik China will laut dem Fünfjahresplan der Kommunistischen Partei zum global führenden Innovationsstandort der Bioökonomie werden (vgl. auch die Exkursion nach China im Abschn. 11.1). Sie definiert Bioökonomie ebenfalls sektoral, aber verbunden mit Umweltschutzzielen, als ein „model focusing on protecting and using biological resources and deeply integrating medicine, healthcare, agriculture, forestry, energy, environmental protection, materials and other sectors“ (PR China, 2022). 3.3.1.5.2 Sektoren Es gibt unterschiedliche Abgrenzungen der Sektoren der Bioökonomie (Wackenbauer, 2020). Zu diesen zählen laut der Definition des Deutschen Bioökonomierates (2019): • • • • • • • •
die Land und Forstwirtschaft, der Energiesektor, die Fischerei und Aquakultur, die Chemie- und Pharmabranche, die Nahrungsmittelindustrie, industrielle Biotechnologie, die Papier- und Textilwirtschaft, die Umweltschutztechnik.
Hier ist das Bauwesen nicht aufgelistet. Andere offizielle Sektorenabgrenzungen verlaufen unterschiedlich. Das Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung (BMEL, 2014; vgl. Wackenbauer, 2020) etwa nennt als zehn Sektoren mit hervorragender Relevanz für Bioökonomie:
3.3 Was die Bioökonomie ist: Zwei Traditionen
• • • • • • • • • •
75
den Automobilsektor, den Bausektor, die Chemiebranche, die Energiewirtschaft, die Land- und Forstwirtschaft, den gesamten Maschinenbau, den Food-Sektor, die Pharmaindustrie, die Konsumgüterbranche, die Textilwirtschaft (Bekleidung).
Hier fällt auf, dass die Baubranche enthalten ist, anders als in der Sektorenabgrenzung des Bioökonomierates. Das mag an der traditionell engen Verbundenheit des Landwirtschaftsministeriums mit dem Forstsektor als Lieferant des Holzbausektors liegen, denn das BMEL ist auch ein Forstministerium. Die Europäische Union wiederum unterscheidet sektoral in eine Kern-, partielle und indirekte Bioökonomie („Bioeconomy development in EU regions“, 2017; vgl. Thrän & Moesenfelchtel, 2020, S. 24 f.): • Zur Kern-Bioökonomie, das heißt den „vollständig biobasierten“ Branchen, zählen hier: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, Aquakultur, Bioenergie und -kraftstoff, Lebensmittel, Getränke, Futtermittel, biobasierte Produkte und Verfahren. • Die partielle Bioökonomie umfasst demnach die „teilweise biobasierten“ Sektoren, darunter fällt auch das Bauwesen: Chemie, Kunststoff, Bau, Papier, Zellstoff, Abfallwirtschaft, Biotechnologie. • Schließlich versteht die EU unter der indirekten Bioökonomie „teilweise in Bezug zu biobasierten Produkten“ stehende Wirtschaftsbereiche, also: Maschinenbau, Technologien, Dienstleistungen, Wasserversorgung und Abwasserbehandlung, Energie, Einzelhandel. Je größer der Holzbauanteil (zuzüglich anderer nachwachsender Rohstoffe) sein wird, desto mehr lässt sich das Bauwesen als zumindest partieller, zunehmend auch kern-bioökonomischer Sektor betrachten. Die zunehmende Verwendung agrarischer oder anderer Lignozellulose enthaltener Rohstoffe rückt sie ins Zentrum der relevanten Sektoren. Hier ist die Klimapolitik der entscheidende Auslöser. Die „Ressourcen-“ oder „Biotechnologievision“ – verbunden mit einem Sektorenfokus – hat eine Tradition insbesondere in den Verwaltungs- und Politikbereichen der Forschungs- und Entwicklungs- wie auch der Agrarpolitik. Auch der Deutsche Bioökonomierat, gegründet 2009, folgte diesem Pfad in seiner ersten Arbeitsperiode. Statt eines „großen politischen Entwurfes“, wie ihn die EU-Kommission 2019 mit dem Green Deal im Angesicht der Klimakrise und der Klimaproteste vorgelegt hat, veröffentlichte der Bioökonomierat in den ersten Jahren seines Wirkens Politikempfehlungen für einzelne Teilbereiche der Ressourcenbereitstellung: Bodennutzung, Pflanzenforschung,
76
3 Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? …
Tierzucht, Biotechnologie, Aquakultur (Bioökonomierat, o. D.). Der Bioökonomierat definierte anfangs auf seiner Website die Bioökonomie noch rein sektoral und schloss sich damit der Definition der EU an; die Rede war noch von Bioökonomie als „Wachstumsbranche“ mit ihrem Kerninteresse, die nachwachsende Rohstoffbasis zu vergrößern für die Nutzung als • Food, • Feed, • Fibre, • Fuel. Genannt waren hier die Sektoren Land- und Forstwirtschaft, Nahrungsmittelindustrie, Fischerei, Aquakulturen, Chemie-, Pharmazie-, Kosmetik- und Textilindustrie sowie die Energieerzeugung (ebd.). Der Eindruck entsteht, dass der Bioökonomierat die Bioökonomie nunmehr eher politisch-transformativ begreift, was etwa in den zunehmend sozialwissenschaftlichen und ökolandwirtschaftlichen Profilen der Ratsmitglieder deutlich wird. Auch hier wäre eine semantische Analyse der womöglich veränderten „Sprechweise“ des Bioökonomierates über die Bioökonomie ein Forschungsanliegen, das noch nicht eingelöst wurde.
3.3.1.6 Verwandte Begriffe und Konzepte Weitere im Zusammenhang mit der Bioökonomie verwendete Begriffe sind: • Bioreaktoren (Bioraffinerien), also technische Anlagen, die sogenannte Biomasse – aus Forst, Landwirtschaft, Reststoff- oder Abfallströmen – zu Energie (Strom, Biogas, Bioethanol), chemischen Grundstoffen, Bioplastik o. Ä. umwandeln (Grafik 3.5). Die Bioreaktoren sind die „Herzen der Bioraffinerien“(bioöoekeonomie.de, 2022). Sie sind wiederum zu unterscheiden in (Kruse, 2020) – Zucker-Bioraffinerien (sie erzeugen Lebensmittel, Tenside), – Stärke-Bioraffinerien (neben Lebensmitteln auch Zellstoff, Papiere mit möglicher Verwendung im Bauwesen), – Pflanzenöl-Bioraffinerien (neben Kraftstoffen und Kosmetika auch Lacke, Farben, Tenside), – Algen-Bioraffinerien (ähnliche Produkte, wie die Pflanzenöl-Raffinerien) oder die – holzfaserstoffbasierten Lignozellulose-Bioraffinerien (als baustoffliche Produkte: Klebstoffe, Harze). • Grüne Chemie, das heißt chemische Grundstoffe, die aus Biomasse in Bioreaktoren gewonnen werden, kommen vermehrt zum Einsatz. Aber auch hier ist ein Ansatz eines zirkulären Systemdesigns in aktueller Literatur inkludiert: „Der Übergang von fossiler zu erneuerbarer Chemie muss in einem integrierten Systemkontext durchdacht gestaltet werden, um negative Auswirkungen zu berücksichtigen, die durch Landtransformation, Wassernutzung oder Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion
3.3 Was die Bioökonomie ist: Zwei Traditionen
77
verursacht werden könnten. Es ist unerlässlich, dass der wichtige Übergang zu nachwachsenden Rohstoffen mit einem Paradigmenwechsel von linearen zu zirkulären Prozessen einhergeht“ (Zimmermann et al. 2020; Übersetzung JG). • Biotechnologie, das ist der gesamte Technikbereich, der Biomasseumwandlungen und -erzeugungen effizienter, robuster, nachhaltiger und innovativ ermöglicht. • Biobasierte Wirtschaft, das sind alle Sektoren der Volkswirtschaft, die nur oder überwiegend auf nachwachsenden Rohstoffen basieren; dieser Begriff ist identisch mit den frühen oder international etablierten sektoralen Definitionen der Bioökonomie. • Biodiversität oder biologische Vielfalt. Ihre gängigen Indikatoren sind die Vielfalt der Arten, die Vielfalt der Lebensräume oder die genetische Vielfalt innerhalb der Organismen. Die Biodiversität hat auch ökonomisch bezifferbaren Wert. Sie wird in der Regel negativ beeinflusst von Landnutzungsänderungen hin zum Ackerbau, künstlicher Stickstoffdüngung, Klimaveränderungen oder dem Aufbau invasiver Arten. Die Anteile der bedrohten Arten sind unter Farnen, Amphibien oder Nadelbäumen besonders hoch (jeweils mehr als 60 %, 40 % oder 30 %; IPBES, 2019, S. 421; Grafik 3.4).
Grafik 3.4 Nadelhölzer sind zu größerem Anteil bedroht als Vogelarten. (Grafik Annika Kühn nach IPBES 2019, S. 412)
3.3.1.7 Kritik an der Ressourcen-Bioökonomie An diesem Ansatz wurde kritisiert, er führe zu einer rein instrumentellen Sicht auf die Natur als Ressource. Diese Gefahr wurde früh als „Irrweg“ und sogar als „totalitär“ bezeichnet (Gottwald & Krätzer, 2014). Der Kritikpunkt mangelnder kulturanthropologischer Bezüge am Konzept der Bioökonomie wird von der Umweltethik zur Sprache gebracht. Dies geschieht neuerdings auch mit der Aussicht, dass durch Erinnerungen an die Naturbezogenheit des Menschen die Bioökonomie künftig durchaus in hinreichend weiten Horizonten verstanden werden könnte, nämlich in einem soziokulturellen (Stahl, 2022): „However, if the potential of bioeconomy is assessed primarily in terms of profits for companies and shareholders, not only the question of the intrinsic value of nature is lost sight of, but also the fundamental, teleologically oriented question of what inventions in the context of modern biotechnologies bring ‚good‘ to mankind, as the philosopher Ludwig Siep noted. Since there is certainly more to this ‚good‘ than the satisfaction of elementary ma-
78
3 Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? … terial needs and economic interests, namely also social participation and self-determination as well as the enjoyment of cultural and aesthetic values, ethical debates in the bioeconomic context should take into account the aspects mentioned in this contribution“ (ebd., S. 278 f.).
Unter dem „Deckmantel“ der Bioökonomie können sich auch technokratische Vorstellungen „verbergen“ (Hogarth, 2015; Mukhtarov, 2017, S. 1018). Auch die bereits in den 2010er-Jahren enormen Flächenverbräuche europäischer Importe von Biomasse regen zum Nachdenken über deren Nachhaltigkeit an (O’Brien et al., 2015). Ethische Diskussion über Bioökonomie ist sich Zielkonflikten und Dilemmata bewusst und bringt sie unabhängig zur Sprache, statt sie durch simplifizierende Moralen zu überdecken (Zichy et al., 2014) (Grafik 3.5).
Grafik 3.5 Arten und Produkte von Bioraffinerien. (JG)
3.3.2 Die „politökonomische Bioökonomie“ als Paradigma radikaler Ressourcenschonung Blickt man auf die historische Entstehung des Konzepts der Bioökonomie, fällt auf, dass – wie einleitend angedeutet – eine von der biotechnologischen weitgehend unterschiedliche Entwicklungslinie Jahrzehnte zurückreicht. Diese ist eine im Kern volkswirtschaftliche. In dieser Tradition wird die Ressourcenabhängigkeit und -endlichkeit als unerkannte oder unterschätzte Grundlage des Wachstums und davon abhängigen Wohlstands thematisiert. Der Blick richtet sich auf gesamtwirtschaftliche Stoffkreisläufe. Aus dieser Perspektive leitet sich der Anspruch ab, dass ein Verlust von Materialqualitäten – etwa von Erdöl, Kohle oder Mineralien – vermieden oder deutlich gebremst werden muss. Gleichfalls geht es hier um die Problematisierung der Energieabhängigkeit moderner Wirt-
3.3 Was die Bioökonomie ist: Zwei Traditionen
79
schafts- und Lebensweisen. Eine ideale Bioökonomik ist nicht nur notwendigerweise zirkulär, sondern vor allem sparsam und ihr Wachstum wäre an das Agrarische gebunden.
3.3.2.1 Nicholas Georgescu-Roegen und die Degradation of Matter Dieser Bioökonomie-Begriff wurde ab den 1960er-Jahren bis in die 1990er-Jahre durch den rumänisch-amerikanischen Mathematiker und Ökonomen Nicholas Georgescu-Roegen begründet – aber zunächst nicht als politisches Paradigma, sondern im Rahmen ökonomisch akademischer Fachdiskurse, die kaum öffentlich beachtet wurden. Im Werk Georgescu-Roegens (1906–1996), der als Begründer der heutigen „ökologischen Ökonomie“ gilt, ist der Begriff Bioeconomics zentral. Es behandelt, auch im Eindruck des Zeitgeschehens wie der Ölkrise von 1973, zentral die Frage nach der problematischen Ressourcen- und Energieabhängigkeit moderner Lebens- und Wirtschaftsweisen. In seinem Hauptwerk geht er der von der akademischen Ökonomik seiner Zeit nicht erkannten Abhängigkeit des Wirtschaftswachstums von fossilen Energieträgern nach (GeorgescuRoegen, 1975). Der größtenteils seines Lebens in den Vereinigten Staaten forschende und lehrende Mathematiker, Statistiker und Ökonom war bemüht, die nicht nachhaltigen Energie- und Ressourcenverbräuche moderner Volkswirtschaften auf die Agenda vor allem der volkwirtschaftlichen Wachstumstheorie zu bringen (Maneschi & Zamagni, 1997). Er lenkte den Blick vor allem dieser akademischen Fachwelt auf die strukturell problematischen Abfallprobleme und auf die nicht-nachhaltige Ressourcenabhängigkeit in den wachstumsorientierten, konsumgetriebenen Volkswirtschaften. Volkswirtschaftliche Wachstumstheorien berücksichtigten die Tatsache der häufig irreversiblen Materialverschwendungen („degradation of matter“) überhaupt nicht. Das führte er einerseits auf das mechanistische Denken der Ökonomik zurück, andererseits auf deren Entstehungshintergründe – die historische Ausnahme einer schier unbegrenzten Materialfülle: „Two factors may explain the peculiar orientation of standard economics. First, its direct ancestor – the neoclassical school – emerged at a time when mechanistic dogma was still in great favor with philosophers and natural scientists. Second, the unique mineral bonanza enjoyed by the Western world (the home of the neoclassical school) since the beginning of the past century grew even more bounteous. When one’s pantry is more than amply stocked, one is apt to ignore the source of one’s fortune“ (Georgescu-Roegen, 1981).
Einmal verbrannte Kohle, verbranntes Erdöl oder zerbrochener Naturstein ist in dieser Hinsicht irreversibel für weitere gleichwertige Nutzungen verloren. In diesem Sinne sind „erneuerbar“ nur die nachwachsenden Rohstoffe, aber auch deren Wachstum basiert in der industrialisierten Landwirtschaft auf Maschinen, Erdöl, Mineraldüngereinsatz (Stickstoff aus Erdgas). Demnach ist auch eine Zirkulärwirtschaft nicht Roegens Anliegen: Auch diese wäre in seiner skeptischen Sicht wohl Teil des „mechanischen“ Denkens. Jedenfalls spottet er indirekt über derartige Annahmen der Mehrheitsökonomen: „Thus, the economic process is envisioned as a self-sustaining, circular affair, as we find it portrayed graphically in virtually all introductionary manuals“ (ebd.). Seinem bezüglich einer nachhaltigen modernen Lebensweise tiefen Pessimismus, den er mit (später auch
80
3 Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? …
zu Recht kritisierten) Vergleichen mit der Thermodynamik („Entropie“) illustrierte, setzt er die Vision einer „Bioökonomie“ entgegen.
3.3.2.2 Gilt das Gesetz der Entropie auch für Sandsteine? Mit dieser radikal skeptischen Denkweise von Bioökonomie verbunden ist eine lange Tradition der Übertragung der physikalischen Gesetze der Thermodynamik auf die stoffliche Nachhaltigkeitsbetrachtung. So wird die Energieabhängigkeit des modernen Wirtschaftens und Lebens zur zentralen Motivation der Bioökonomie. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, wonach Wärme von einem wärmeren in einen kälteren Körper übergeht, aber niemals anders herum, veranlasst Georgescu-Roegen nicht nur, die Energieabhängigkeit des modernen Lebens in poetischen Bildern zu verdeutlichen. Er überträgt diesen Hauptsatz sogar auf stoffliche Prozesse. Georgescu-Roegen leitet aus dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik eine These der letztlich unausweichlichen Degradation of Matter ab, also gewissermaßen einer „Zu-Staub-Werdung“ und damit eines Naturgesetzes vom Verfall der Materie, und nennt dies den Vierten Hauptsatz der Thermodynamik (Thompson, 1997). Dies macht die Verfallsprognosen gesetzmäßig. Auch bedeutet es letztlich, dass vollständiges Recycling unmöglich wäre. Material erleide stets einen Qualitätsverlust, wenn es in den wirtschaftlichen Kreislauf eingebracht werde (Abb. 3.4). So sei der gesamte Wirtschafts- und Wachstumsprozess begrenzt durch die „degradation of matter“, wobei Georgescu-Roegen im Kern am Beispiel der Verbrennung fossiler Rohstoffe, aber gewiss auch von daraus gewonnenen (Plastik-)Abfällen oder (Agrar-)Chemikalien argumentiert (siehe Zitat). „Having in mind the statistical interpretation of thermodynamics, one may argue that we can certainly reassemble the pearls of a broken necklace scattered over the floor. Is not recycling such a type of operation? To see the error in extrapolating from the molar to the molecular level, let us suppose that the same pearls are first dissolved in some acid and the solution is spread over the oceans — an experiment which depicts what actually happens to one material substance after the other. Even if we had as much energy as we pleased, it will take us a fantastically long, practically infinite time, to reassemble the pearls“ (Georgescu-Roegen, 1977, nach Ders. et al., 1999, S. 143).
Allerdings ist die Theorie der Degradation of Matter auch mit Recht kritisiert worden – die Übertragung des Zweiten auf einen Vierten Hauptsatz sei wissenschaftlich unseriös (Schwartzman, 2008; Hammond & Winnett, 2009). Auch wurden dem schon früh Gedankenmodelle einer Überwindung der fatalen Energieabhängigkeit durch eine erhöhte Ausbeute erneuerbarer Energien entgegengesetzt (Weinberg, 1981). Das Entropiegesetz wird fast 40 Jahre nach Erscheinen der Schriften Georgescu-Roegens von Autoren der Postwachstumsbewegung ins Feld geführt: „Entropie ist das physikalische Maß für Unordnung“ (Kümmel et al., 2018). An anderer Stelle aber ist genau das Gegenteil dieser Behauptung zu lesen: „Dass sie ein Maß für ‚Chaos‘ oder ‚Unordnung‘ in einem System sei, ist ein Beispiel für ein populäres und von Generation zu Generation weitertradiertes Bemühen, ihr eine Bedeutung zuzuweisen. Leider ist diese verkürzte Interpretation eine unzulässige Verflachung des Sachverhalts“ (Müller-Plathe, 2020, S. 250). Jedenfalls han-
3.3 Was die Bioökonomie ist: Zwei Traditionen
81
Abb. 3.4 Degradation of Matter: Eine Hand voll Ziegelbruch in einem Baustoffhof in Oberschwaben. (Foto Jan Grossarth)
delt es sich um eine interessante und in Maßen erhellende Metapher, deren Deutungskraft sich insbesondere vor dem Hintergrund der Lebens- und Zeitgeschichte GeorgescuRoegens erklärt (Amin et al., 2012).
3.3.2.3 Historische Vorläufer Das Problem der prekären Ressourcenabhängigkeit des Wachstums und dessen Instabilität war in den frühen Jahren von Georgescu-Roegens Wirken weder in der theoretischen Wirtschaftswissenschaft noch auf Regierungsebene angemessen erkannt oder berücksichtigt worden. Im akademischen oder publizistischen Blick – jenseits der Makroökonomik – jedoch hat es weit zurückreichende und mehrere Vorgänger. Regelmäßige Thematisierungen der Begrenztheit der Kohlevorkommen, die letztlich Treiber der industriellen Revolution ab dem 18. Jahrhundert gewesen waren, sind seit den Anfängen der Industrialisierung in Großbritannien publiziert worden (Frischknecht, 2020, S. 3–10). Der Begriff Bioökonomie ist auch nicht von Georgescu-Roegen erfunden worden. Er wird eher in unterschiedlichem Sinne von früheren Autoren verwendet. Der britische Biologe Hermann Reinheimer (später: Harry Ryner), ein gebürtiger Deutscher, nutzt ihn in einer Schrift im Jahr 1913, in der es ihm darum ging, den zeitgenössischen, politisch
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3 Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? …
Abb. 3.5 Historischer Buchtitel und das maßgebliche Papier „En Route“ (2007)
instrumentalisierten darwinistischen Konkurrenzkonzepten einen humanen Entwurf einer soziologischen Bios-Analogie entgegenzusetzen. Das tat er, in dem er diejenigen Aspekte des „Biologischen“ betonte, die auf Kooperation beruhen – etwa tierische oder pflanzliche Symbiosen (Barañano, 2021). So wollte er dem Sozial-Darwinismus, der in den präfaschistischen Dekaden wissenschaftlich und politisch Verbreitung fand, eine alternative Erzählung entgegensetzen. Eine weitere, sich davon unterscheidende Entwicklungslinie bioökonomischer Konzeptionen geht zurück auf Wilhelm Ostwald (1853–1932), dessen sogenannter Energismus auf den Imperativ komprimiert werden kann: „Vergeude keine Energie, verwerte sie.“ Ostwalds Schriften wie „Energietische Grundlagen der Kulturwissenschaft“ (Abb. 3.5) sollen noch etwa den früheren deutschen Wirtschaftspolitiker Hermann Scheer (SPD) beeinflusst haben, der als „Vater der Energiewende“ in Deutschland gilt (Scheer, 2012). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Terminus Bioökonomie seit der vergangenen Jahrhundertwende mit wechselnden Schwerpunkten und vor unterschiedlichen
3.3 Was die Bioökonomie ist: Zwei Traditionen
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zeithistorischen Folien als Metapher für eine stabile, krisenfeste Wirtschaft und Gesellschaft gebraucht wurde. In der Reihe der einschlägigen Autoren nimmt Nicholas Georgescu-Roegen die Rolle des kompromisslosen Schwarzmalers ein, der in erschreckend erhellenden Gleichnissen spricht.
3.3.2.4 Die agrarische Ökonomie als ferner Spiegel Georgescu-Roegens Modelle gründen auch in Reiseerfahrungen. Traditionelle Agrarökonomien sind sein Ziel. Er unternahm in den 1960er-Jahren Forschungsreisen in Entwicklungsländer wie Brasilien oder nach Südostasien (Georgescu-Roegen, 1960). Zudem beruft er sich an vielen Stellen auf seine Beobachtungen aus der bäuerlichen Wirtschaft in seinem Heimatland Rumänien in den 1940er-Jahren, wo er während des Zweiten Weltkriegs auch als hoher Regierungsbeamter für die monarchische Bauernpartei tätig war, ehe er vor dem kommunistischen Regime wieder in die Vereinigten Staaten reemigrieren musste, wo er schon vor dem Krieg in Harvard geforscht hatte. Die Schlüsse, die er aus seinen Reisebeobachtungen zog, führten ihn einerseits zu einer Kritik an der akademischen Ausrichtung der Entwicklungsökonomen, die auf die Entwicklungsfaktoren des Wirtschaftswachstums, also der Vergrößerung des Bruttoinlandsproduktes, fokussiert waren. Er selbst widmete sein Interesse der Ressourcen- und Energieabhängigkeit der Entwicklungsländer – der Agrarökonomien als „reality without a theory“ (ebd., p. 4). Dort sah er, dass Wachstum nur mit den Institutionen der Industriestaaten möglich sei – Banken, Notenbanken, Gerichte, Patentämter, Großkraftwerke, Fabriken. Nach Georgescu-Roegen unterschied sich die agrarische Produktion vor allem darin von der industriellen, dass Erstere nicht skalierbar sei. Das Wachstum sei stärker zeitgebunden und die energetischen Inputs (Sonne, Wasser, tierischer Dünger) seien nicht einfach durch andere Energieträger zu substituieren, wie im Falle von elektrisch betriebenen Fabriken (ebd., S. 5 f.). Karl Marx warf er vor, dass dieser seine Vorschläge von agrarischer Zwangsindustrialisierung ohne Grundlage eines Studiums der Wirklichkeiten bäuerlicher Ökonomien unternommen habe: „Probably the greatest error of Marx was his failure to recognize the simple fact that agriculture and industry obey different laws; as a result he proclaimed that the law of concentration applies equally well to industry and agriculture. To repeat, Marx had no opportunity to observe a peasant economy“ (ebd.). Georgescu-Roegen erscheint hier als mathematischer Ökonom, dessen Theoriebildung und Theoriekritik sich auf Erfahrungen als Beobachter, als Reisender ausbaut. Von da aus attackiert er die marxistische wie die kapitalistische Ökonomik. Seine letzte Brasilienreise machte er im Jahr 1978. 3.3.2.5 Georgescu-Roegen im Zeitkontext Georgescu-Roegens Wirken fällt historisch in die Jahrzehnte des stärksten Raubbaus an der natürlichen Umwelt. Seither – insbesondere seit der Rio-Konferenz von 1992 – hat sich zwar die Klimakrise verschärft, jedoch hat sich der Raubbau in mancher Hinsicht verlangsamt, abgeschwächt, wenn auch nicht umgekehrt. Seither haben die Staaten viele neue Schutzgebiete ausgewiesen. Die Zunahmen des Artensterbens, des Bio-
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masseverbrauchs und andere Umweltindikatoren waren in den Jahrzehnten von 1960 bis 1990 stärker als in den drei folgenden Jahrzehnten, setzen sich gleichwohl aber weiter fort. Eine teilweise Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch ist gelungen. Zwar steigt die Entnahme global und die von Baumineralien sogar überproportional stark. Jedoch erhöhte sich die Ressourcenproduktivität. In Deutschland etwa stieg die Rohstoffproduktivität zwischen 1994 und 2019 beispielsweise um rund 72 % (Umweltbundesamt, 2022). In die Zeit von Georgescu-Roegens Wirken fallen als energiehistorische Schocks die Ölpreiskrise von 1973. Auch der Vietnamkrieg und die Eindrücke des Zweiten Weltkriegs, der technokratisch geplanten und durchgeführten Massenmorde des NS-Regimes und der Atombombenwürfe von Hiroshima und Nagasaki motivierten eine Reihe einflussreicher technik- und fortschrittskritischer Schriften (Carson, 1962; Jonas, 1979). So erreichte etwa Rachel Carsons „Silent Spring“ ein Massenpublikum und gilt als Initiator der internationalen Umweltbewegung (Radkau, 2011), indem sie die ökologischen Schadfolgen des Insektizids DDT zur Dystopie des großen Aussterbens verdichtete. Georgescu-Roegens Rhetorik der „zivilisatorischen Sackgasse“ ist im Geist dieser Zeit zu lesen: „A highly mechanized and heavily fertilized cultivation does allow a very large population, Pi, to survive, but the price is an increase of the per capita depletion of terrestrial resources, si, which ceteris paribus means a proportionally greater reduction of the future amount of life [… and …] many species associated with old-fashioned, organic agriculture may gradually disappear, a result which may drive mankind into an ecological cul-de-sac from which there would be no return“ (Georgescu-Rogen 1972).
Der tiefe Skeptizismus hat einen Grund auch in der biographischen Erfahrung. Georgescu-Roegen hat einen frühen Verlust seiner Eltern und den Verlust seiner rumänischen Heimat erlebt; zwei Weltkriege, das kommunistische Regime. Nach wenigen Blütejahren in Harvard wirkte er im selbstgewählten „Exil“ einer amerikanischen Provinzuniversität. Sein Pessimismus, was die Kooperations- und Problemlösungsfähigkeit der Menschheit angeht, wiegt schwer und geriert sich kämpferisch wie enttäuscht angesichts der naiven amerikanischen Zukunftsversprechungen – aber im Prinzip ist für Georgescu-Roegen der Pfad der Geschichte nicht zum Untergang vorausbestimmt, sondern die Zukunft liegt an der Gestaltung durch die Menschen: „History, as it seems to me, is a sequence of absolute surprises all explained ex post, however.“ u Funds-and-Flows-Modell
Zentral im Werk Georgescu-Roegens ist das „Funds-and-Flows-Modell“, das sein Kernanliegen verdeutlicht – nämlich zu modellieren, inwieweit das ökonomische Wachstum stofflich angetrieben ist (Couix, 2020). Es illustriert den gesellschaftlichen Stoffwechsel, indem es Fluss- und Bestandsgrößen beziffert und die zeitlichen Veränderungen in Beziehung zueinander setzt. Fließen etwa Kohlebestände in die Produktion (Flows) und erhöhen das Wirtschaftswachstum, so schrumpfen deswegen die Kohlebestände (Funds) und damit künftige Wachstumsgrundlagen.
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Das Modell steht im Rahmen seiner Produktionstheorie. Diese berücksichtigt auch die Ressourcenabhängigkeit des Wachstums – anders als Standardproduktionsfunktionen, die etwa die Variablen Arbeit, Kapital und technisches Wissen berücksichtigten, nicht aber den Bestandsabbau des Ressourcenkapitals durch dynamische Abflüsse des Bestandes. Dies bemängelt die Bioökonomik an klassischen Wachstumstheorien. Das Funds-and-Flows-Modell kann als ein Vorläufer der Stoffstromanalysen und ihrer Fließbilder gesehen werden und auch als ein Vorläufer der Ökobilanzierung (späteres Kapitel). Aber das Funds-and-Flow-Modell ist anders als diese ein Teil einer makroökonomischen dynamischen Modellierung.
3.4 Spannungsfelder der Bioökonomie des Bauens 3.4.1 Zwischen Innovation und Tradition Ein Beispiel für die „Wiederentdeckung des Alten“ ist das große naturwissenschaftliche Forschungsinteresse an der langen Haltbarkeit des Opus Caementitium im Alten Rom – oder auch an den Romanzementen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert als Putze eine weite Verbreitung hatten, aber im Zuge des Siegeszuges des Portlandzements nahezu „ausgestorben“ waren (Abb. 3.6). Ihre Porosität und Wasserbeständigkeit macht sie zu einem unter Nachhaltigkeitsaspekten interessanten Material und etwa durch Gipszusätze lassen sich auch Nachteile wie Trocknungsrissbildungen vermindern (Sanytsky et al., 2021). Weitere Beispiele: Zum „historischen Innovationsfeld“ der Bioökonomie könnten etwa auch „ungebrannte künstliche Steine“ zählen (Haberstroh, 1922, S. 83 ff.), etwa Lehmziegel, da die energiebezogenen Emissionen hierfür geringer sind. Für diese wurden im historischen Bau neben natürlichen Bindemitteln wie Lehm oder Gips auch mineralische Füllstoffe wie Sand, Kies, Schlacke, Bims verwendet, aber eben auch organische aus der Forstwirtschaft, wie Sägespäne und Kork. Das ist geeignet, um auch die Klimabilanzen zu verbessern (Abb. 3.6). Steht das Paradigma der Energieeinsparung im Fokus, sind traditionelle Bauweisen wiederzuentdecken. In Italien baute man Kirchen und Bauernhöfe aus Bruchstein, in Dänemark baut man traditionell aufgrund der Natursteinknappheit kleine Häuser (Abb. 3.6). Und die niedrigen Deckenhöhen einfacher Bauernhäuser im fränkischen Spessart waren eine Anpassung an die Jahrhunderte vorherrschende Energieknappheit. Die Verwendung von Stroh als Fassadendämmung zum Schutz vor kalten Ostwinden in Ostgallizien, einer historischen Region im heutigen südlichen Polen und in Teilen der Ukraine. Da das Dämm-Stroh dort vermutlich regelmäßig wieder kompostiert und den Böden zurückgegeben wurde, fiele es heute in die Kategorie der Kaskadennutzung (Abb. 3.6). Der Innovationsfokus ist maßgeblich und verbindet die unterschiedlichen Traditionen der Bioökonomie. Für den Theologen Markus Vogt, ein langjähriges Mitglied im Bayerischen Bioökonomierat, wäre Bioökonomie überhaupt als die „innovative Seite der Nachhaltigkeit“ zu definieren (Vogt & Frankenreiter, 2022).
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Abb. 3.6 Neu zu entdecken? Strohaußenwanddämmung in Galizien, ein kleines Steinhaus in Westen Dänemarks, das Stalldachhaus in Unterfranken und eine Detailansicht einer Bruchsteinaußenwand einer Kirche in Ligurien. Das Detail zeigt die Stampflehmwand des Alnatura-Gebäudes in Darmstadt. (Fotos Jan Grossarth (4), Delcampe)
Insbesondere die Pflanzenzucht ist seit gut 80 Jahren, aber vor allem in der Gegenwart, Gegenstand technischer Innovationssprünge. Zu nennen sind eine steigende Anzahl an Selektions- und Zuchtverfahren, wie die Mutagenese (Mutationszüchtung) oder Genmarker. Seit den 1980er-Jahren kommen transgene, seit den 2010er-Jahren neuartige Genomeditierungsverfahren wie Crispr-Cas-9 hinzu (Abschn. 4.4 und 4.5). Der Begriff synthetische Biologie bezeichnet die Schaffung neuer (Mikro)Lebewesen im
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Labor. Auch Beschleunigungen der Photosynthese durch biotechnologische Verfahren sind Gegenstand der biotechnologischen Forschung. Stark gefallene Kosten von Genomsequenzierungen tragen zu vermehrter Forschung bei. Die tatsächlichen Beiträge der Biotechnologien zu einer bioökonomischen Transformation sind gegenwärtig noch nicht einzuschätzen. Es liegt „ein Großteil des Innovationspotenzials noch im Dunkeln“, ist schließlich erst ein „sehr kleiner Teil der schätzungsweise mehreren Hundert Millionen Mikroorganismenarten, die auf der Erde leben, klassifiziert“ (Thrän & Moesenfechtel, 2020, S. 5). Aber es ist davon auszugehen, dass nicht nur die kritische Thematisierung, wie sie seit den 1990er-Jahren intensiv medial, politisch wie wissenschaftlich geschehen ist, ein wichtiger Teil der ethischen Debatte ist, sondern auch eine Innovationsoffenheit im Zusammenhang mit einer nachhaltigen Entwicklung (Schleissing, 2022). Gerade angesichts der hohen Entwicklungsdynamik im Bereich der Energietechnologie, aber auch der Biotechnologien seit etwa Mitte der 2010er-Jahre müsste in den bioökonomischen Traditionen die Krisenerzählung der „energetischen Prekarität der industriellen Lebensweise“ wieder mehr als eine Geschichte mit offenem Ausgang betrachtet werden. Die hohe Dynamik der Forschung im Bereich der Genomforschung lässt sich exemplarisch an der Drastik der Senkung jener Kosten illustrieren, die für eine Genomsequenzierung anfallen: Kosten einer Genomsequenzierung
2006 2017 2023
r und 14.000.000 US$ 1500 US$ 399 US$
(Q. sequencing.com)
Denn insbesondere durch biotechnologische Innovationen kommt es zu großen Effizienzfortschritten in der Nutzung und Umwandlung der solar eingespeisten Energie. Eine Beschleunigung der Photosynthese über präzise Genomeingriffe oder gar künstliche Photosynthese, die Kreation von Organismen über die synthetische Biologie, verschieben die Grenzen des vor wenigen Jahrzehnten noch Undenkbaren (Grafik 3.6). Weiterhin hängen die Produktivität einer solar gespeisten Bioökonomie und die Effizienz ihrer Verfahren an Fortschritten in den Ingenieursbereichen der Pflanzenzucht, thermischen Press- und Klebeverfahren, von mechanischen und sensorischen Trennverfahren, die Abfälle besser nutzbar machen, verfahrenstechnischen Innovationen in den Baumaterial- oder Baustoffrecyclingtechniken.
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Grafik 3.6 Technologische Eingriffstiefen im Mensch-Umwelt-Verhältnis. (JG, nach Thrän und Moesenfechtel (2020), S. 14) Kulturkritik und Politik: Fragen zum Weiterdenken
Die Übertragung eindrucksvoller Zeugnisse der Wahrnehmung eines Kulturwandels als Verlust auf politische Programme ist anspruchsvoll und liefert widersprüchliche Ergebnisse. Was lässt sich über „mehrheitsfähige“ Schnittmengen von Vorstellungen vom „guten Leben“ in einer hochgradig individualisierten, pluralistischen und Lebensstil-orientierten Gesellschaft überhaupt aussagen? Gilt nicht die Freiheit der Konsumentenentscheidung? Unterliegt man mit Wendell Berry (vgl. einleitenden Abschnitt) womöglich einem Kategorienfehler, wenn das Verschwinden der dörflichen Strukturen, die geprägt waren von vielen FamilienLandwirtschaften, mit einem Verschwinden von damit verbundenen Werten wie Nachbarschaft, Fürsorge und so weiter gleichgesetzt wird? Oder suchen sich diese nicht in einem urbanen – und/oder auch digitalen – Kontext „neue Wege“ der Verwirklichung? War nicht das, was im Rückblick als „Wert“ gesehen wird, oftmals in der Wirklichkeit seines Entstehungsgrundes eine pragmatische Strategie? Gerade das Bäuerliche liefert für diese Annahme Beispiele, seien es „traditionelle Wissensformen“ oder Anbauformen der Landwirte. Sollte ein „kulturkritisch“ geweitetes Verständnis von Bioökonomie überhaupt ein Anliegen der Politik sein – oder wäre dies nicht in einer pluralen Gesellschaft geradezu zum Scheitern verurteilt? Ist nicht der Einzelne, die Familie in ihrer biographischen Situation und Verortung angesprochen, mutig zu sein, „leidenschaftlich“? Wendell Berry spricht
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gewissermaßen als Stimme einer Bürgerbewegung in großer Distanz zum Komplex „Staat und Wissenschaft“. Seine Abgrenzung davon hat abwehrenden Charakter. Er kämpft politisch, aber nicht um Mehrheiten. Er ermutigt handwerklich orientierte Unternehmer, angesichts einer technisch dominierten Entwicklung, die gegen ihre soziokulturellen Interessen gerichtet ist, nicht zu resignieren. Wenn aber eine Bioladen-Ökonomie zum politischen Programm wird, mag das für solche Handwerker de facto positive wie negative Effekte haben. Es entstehen neue Kriterien der Abgrenzung, neue Arten des Lobbyismus und neue Expertengruppen – für Zertifizierung, Labeling, Ökobilanzierung. Dann bestimmen diese über das „Drinnen“ und „Draußen“, über Zugehörigkeit und können Schutzräume schaffen und Räume der Möglichkeiten, aber auch andersartige Resignation derjenigen Akteure, die sich gern von unternehmerischer, handwerklicher, erfinderischer „Leidenschaft“ leiten lassen ließen.
Eine „bioökonomische Innovation“ ist nicht selten an Wiederentdeckungen und Weiterentwicklungen handwerklicher Traditionen orientiert. Ein Grund ist, dass sich diese unter den Bedingungen der Energieknappheit entwickelt hatten (Barnabas, 2022). Auch Hinweise aus historischen Baustoffkunden auf die vorteilhaften Energiebilanzen früher etablierter Baustoffe können die gegenwärtige Bau-Bioökonomie zu Innovationen anregen: „Höchst wichtig sind für uns zur Zeit diejenigen künstlichen Steine, die wir zur Herstellung von Wohnungen gebrauchen können, die schlechte Wärmeleiter sind und zu ihrer Herstellung keine oder möglichst wenig Brennstoffe erfordern wie Lehm-, Schwemm-, Schaumschlackesteine … Lehmsteine … fanden seit den ältesten Zeiten verbreitetste Verwendung, namentlich in Zeiten großer Holzknappheit, in den Zeiten der Not nach den großen Kriegen noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit der Zeit wurden sie durch gebrannte Ziegel mehr und mehr verdrängt, und ihre Technik ging wie die des Lehmstampfbaues allmählich verloren. Fest in die Form gedrückt, gut ausgetrocknet und vor Feuchtigkeit geschützt, geben sie bei durchaus genügender Festigkeit besonders für Kleinhäuser billige, trockene und warme Räume“ (Haberstroh, 1922, S. 83 ff.).
Für die auch Lehmpatzen genannten Lehmziegel wurden als organische Additive ebenfalls Stroh, Flachs- oder Hanfschäben oder auch Heidekraut verwendet (ebd., S. 84). Ein weiterer, etablierter Teil der Bau-Zirkulärökonomie ist seit mehr als 100 Jahren der Hochofenschwemmstein (ebd., S. 86 f.). Xylolith oder Steinholz, seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch aus Sägespänen oder Sägemehl gefertigt und wegen seiner Erschwinglichkeit auch von der Bauhausarchitektur der Zwischenkriegsjahre verwendet, kann ein weiteres Feld für Wiederentdeckungen sein. Insgesamt kann Bioökonomie (des Bauwesens) in zahlreichen alten Traditionen Anknüpfung suchen, wie beispielsweise diesen (vgl. etwa Abschn. 8.10.4):
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• Weihrauch wurde im alten Ägypten als Gummiharz zur Mumifizierung genutzt, aber auch als Heilmittel in Salben – ließe sich damit auch eine Holzverschalung gegen Insektenbefall haltbar machen? • Hefe, als Mikroorganismen seit Jahrtausenden zum Beispiel für das Bierbrauen verwendet, wird heute genverändert verwendet, um Phytopharmazeutika zu synthetisieren. Wo ließen sie sich vielleicht in der Baustofffertigung der Zukunft nutzen? • Die Algenproduktion – welche Arten ließen sich zum Beispiel auch als Dämmstoff nutzen? • Eine thermische Holzbehandlung nach der japanischen Tradition des Yakisugi – hätte sie das Potenzial, in der Masse in die Anwendung zu kommen? • Organisch intensivierte Bodenbewirtschaftung nach den historischen Vorbildern der Plaggen oder Wölbäcker – wären das Wege für eine nachhaltige baustoffliche Ressourcengewinnung „auf dem Acker“?
3.4.2 Zwischen Wirtschaftswachstum und Degrowth 3.4.2.1 Grenzfall I: Verzicht (Suffizienz, Postwachstum) Mit der bioökonomischen Ausrichtung ist die Frage verbunden, ob dauerhaftes Wirtschaftswachstum überhaupt möglich sein kann. Sie wurde insbesondere in den 2010erJahren akademisch, medial und politisch viel diskutiert. Vertreter der Postwachstumsökonomie (Degrowth) in Deutschland wie Niko Peach berufen sich auf die bioökonomischen Grenzen und zitierten Nicholas Georgescu-Roegen. Dieser hatte in seinen späteren Schriften, in denen er sich zunehmend an ein nicht mehr rein akademisches Publikum wandte, in der Tat eine Ökonomie des Verzichtes politisch gefordert. Sein rigoroses „bioökonomisches Minimalprogramm“ (1976) umfasste beispielsweise acht Punkte: • Verbot der Waffenproduktion, • Soforthilfen für unterentwickelte Länder, • allmählicher Rückgang der Bevölkerung auf ein Niveau, das nur durch ökologische Landwirtschaft aufrechterhalten werden könnte, • Vermeidung und strenge Regulierung des „verschwenderischen“ Energieverbrauchs, • keine „extravaganten Spielereien“ mehr, • keine Moden mehr, • haltbare und reparierbare Waren, • Work-Life-Balance statt Workaholicism. Während einige dieser Punkte utopisch sind (Pazifismus), sind andere strikt dirigistisch (Bevölkerungskontrolle im Rahmen – wie man heute sagen würde – planetarer Grenzen), andere illusionär (keine Moden mehr), so sind andere in westlichen Gesellschaften gegenwärtig längst allgemeines Ideengut oder politische Agenda (Work-Life-Balance, haltbare Waren, Soforthilfen für arme Länder). Einige Entwicklungen zeichnen sich im
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gewünschten Sinne ab, etwa die Verringerungen der Fertilitätsraten auf Werte von etwa 2 Kindern oder weniger in allen Erdteilen außer Afrika (Grafik 3.7). Die Bevölkerungswachstumsraten sind aber in den 2010er-Jahren in Großteilen der Welt stark zurückgegangen. Ein Rückgang der Weltbevölkerung bis Ende des Jahrhunderts wird auch ohne politische Bevölkerungskontrolle (mit Ausnahme Chinas, die ihren Beitrag leistete) und die Katastrophen unvorhersehbarer Weltkriege erwartet.
Grafik 3.7 Sinkende Geburtenziffern in allen Erdteilen. (Annika Kühn, UN 2022, S. 14) Der Zusammenhang der Umweltkrisen – Artensterben, Bodenerosion, Klimawandel, Flächen- und Ressourcenschwund – mit dem Wohlstands- und Konsumwachstum der Menschheit ist seither längst allgemeines Wissensgut. Trotzdem steigen bis in die Gegenwart der Pro-Kopf-Modekonsum oder die Leistungskraft der Automobile weiter (Grundwald, 2017). Eine Strategie, dem Dilemma zu entkommen, ist diejenige der Konsumreduktion (Suffizienz). Statt einer quantitativen werden qualitative Wohlstandsindikatoren vorgeschlagen, wie etwa ein Glücksindikator. Hierüber arbeiteten Anfang der 2010er-Jahre nicht nur akademische Volkswirte, sondern auch eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags, deren Ergebnisse nicht weiter politisch verfolgt wurden. Der Suffizienzansatz ist vielmehr eine interessante gedankliche Idealisierung als eine real mehrheitsfähige politische Option – zumal in wirtschaftlichen Krisenzeiten. Er ist in den (späten) Schriften des Gründungsvaters der politökonomischen Bioökonomie angelegt. Transformation in die „Postwachstumsökonomie“?
Einige Vertreter einer Postwachstumsökonomie regen es an, Konflikte, die mit einer Abkehr vom Wirtschaftswachstum aufkämen, sprachpolitisch zu harmonisieren. Sie wünschen etwa nicht, dass von „Verzicht“ gesprochen wird. Es sei statt
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von Verzicht besser davon zu reden, „sich auf eine Auswahl an Konsumaktivitäten und -objekten zu beschränken, die eingedenk begrenzter Aufmerksamkeitsressourcen noch bewältigt werden kann“ (Paech, 2018, S. 117). In diesem Zusammenhang werden auch Vorstellungen von einer Arbeitszeitreduktion auf eine 20 h-Woche formuliert. Die damit verbundenen Visionen eines vertieften sozialen Miteinanders tragen nach den Worten des bekanntesten deutschen Postwachstumsökonomen Paech starke utopische Züge. Er schreibt: „Gemeinschaftsgärten, Tauschringe, Netzwerke der Nachbarschaftshilfe, Verschenkmärkte, Einrichtungen zur Gemeinschaftsnutzung von Geräten und Werkzeugen würden nicht nur zu einer graduellen De-Globalisierung, sondern zu einem geringeren Bedarf an Technik, Kapital, Transportwegen und überdies zu mehr Autonomie verhelfen“ (ebd., S. 118). Die Wirtschaft werde radikal regional, die Industrie umgebaut. „Zudem würde sich die Herstellung von Produkten und technischen Geräten an einem reparablen und sowohl physisch als auch ästhetisch langlebigen Design orientieren.“ Diese Vorstellungen bedeuteten eine radikale ökosozialistische Abkehr von der Industriegesellschaft und Rückkehr zu Handwerk, Subsistenz und Landwirtschaft: „Eine drastische Reform des Bildungssystems müsste zum Ziel haben, handwerkliche Kompetenzen zu vermitteln, um durch Eigenproduktion und vor allem Instandhaltungs- sowie Reparaturmaßnahmen den Bedarf an Neuproduktion senken zu können und somit geldunabhängiger zu werden“ (ebd., S. 119).
3.4.2.2 Grenzfall II: Beschleunigte Innovation (Ökomodernismus, GeoEngineering) Gegenläufig sind die Konzepte, die gerade in einer größeren technischen Eingriffstiefe des Menschen die notwendige Reaktion auf die „planetarische Krise“ sehen. Denn wäre nicht eine großtechnische Antwort angemessen auf eine durch Mensch und Technik verursachte Krise, im Zeitalter des sogenannten Anthropozäns (Cruzen, 2002) – der „Menschenzeit“? Das Geo-Engineering ist eine solche gedankliche Ausrichtung. Der Begriff wird schon 1977 erstmals erwähnt, aber im Zuge der Klimapolitik erfährt er eine Renaissance (Meiske, 2021). Geo-Engineering ist definiert als „zielgerichtete großskalierte Manipulation der Umwelt. Die Umweltveränderung muss dafür das vorrangige Ziel sein, nicht nur ein Nebeneffekt, und die Veränderung muss groß sein, kontinental oder global wirksam“ (Keith, 2000). Beispiele dafür sind Manipulationen der Regenfälle, eine Minderung der Sonnenlichteinstrahlung durch ins All geschossene Sonnenreflektoren – oder auch das Vorhaben, durch den Holzbau für zwei Milliarden Menschen die Klimaziele des Paris-Abkommens zu erreichen. Der sogenannte Ökomodernismus ist stärker auf die Thematik der Energieversorgung fokussiert. Er geht nicht davon aus, dass Verzicht auf Konsum eine „Heilung“ der planetaren Krisen bringt, sondern propagiert eine Beschleunigung des technischen Fortschritts. In diesem Rahmen spielen moderne Kernkraftwerke, die eines Tages ohne Kern-
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schmelze auskommen sollen, eine Schlüsselrolle, aber auch die Biotechnologien wie das Genome Editing, die die landwirtschaftliche Flächenproduktivität – wie schon in den vergangenen Jahrhunderten – weiter steigern. Diese Denkrichtung lässt sich als idealtypischer Kontrast zum Postwachstum sehen und weist kühne Züge auf, wobei mit dem maximalen technischen Fortschritt eine möglichst weitgehende Bewehrung der Lebensformen ermöglicht wäre.
3.4.2.3 Exkurs: Die biotechnologisch revolutionierte Landwirtschaft ohne Tier – eine ökomodernistische Perspektive Die menschliche Früh- oder Vorgeschichte handelt von Jahrmillionen Mammutfleisch, Höhlenfeuer, Pilzen und Beeren. Dass der Mensch vom Jäger und Sammler zu einem Bauern und damit sesshaft wurde, hielt ihm die Kulturgeschichtsschreibung hingegen meist zugute. Die Erfindung der Landwirtschaft wurde als zivilisatorischer Fortschritt sondergleichen gedeutet. Der Ökomodernismus ändert in den 2020er-Jahren diese Deutung und sagt, es wäre an der Zeit, den Ackerbau technologisch zu überwinden. Die neolithische Revolution wurde in der Wirtschafts- und Sozialgeschichtsschreibung jedoch mit gesellschaftlichem Fortschritt in Verbindung gebracht. Etwa mit der beginnenden Individualisierung – nämlich dem Wandel vom Zusammenleben in Stämmen hin zur kleineren Kernfamilie. Sie ermöglichte das Entstehen von Städten und Imperien, Schrift, Buchhaltung, Wissenschaft, von Eigentumsrechten, aber auch von Sklaverei. Und tatsächlich weiß die Wirtschaftsgeschichte zwar bis heute nicht genau, aus welchem Grund die Landwirtschaft vor etwa 10.000 Jahren begann (Weisdorf, 2005). Die alte These vom großen Bevölkerungsdruck und einem Schwinden der Jagdtierbestände, etwa der Mammuts, hat neue Ergänzungen gefunden: Verlangten Klimaveränderungen – Kälte und Dürre – eine Sesshaftwerdung, da die wild zu findenden Gräser und Früchte weniger wurden? Oder waren es eher zufällige Ertragszuwächse von Wildpflanzen? Oder hatte es Prestigegründe, dass Stammesherren sich niederließen und mit Häusern und Feldern protzten? War das Hirn der Menschen erst jetzt so weit entwickelt, dass es zur abstrakten Leistung der Pflanzenzucht fähig wurde? Der Ackerbau wird grundsätzlich zum Problem erklärt – aus klimawissenschaftlicher Sicht. Über mindestens 150 Jahre zuvor diente die historische Kulisse des Bäuerlichen durchaus als Vorbild, die radikal technisierte Bezwingung der Natur hingegen als Problem: erst das Wachstum der Städte, dann die Materialschlachten mit Stickstoffdünger, Agrarchemie, Diesel-fressende Erntemaschinen und Monokulturen. Der Bauernhof bot Gelegenheit zur Idealisierung, war er doch vielfältig, am Erhalt von Stoffkreisläufen orientiert, schöner und schien irgendwie – in der Zeit der Alternativkulturen der 1980erJahre – auch kämpferisch. Die ökomodernistische selbsterklärte Avantgarde der Umweltbewegung sucht nun die Flucht nach vorn, jedenfalls einer ihrer prominenten Autoren, der 1963 geborene Brite George Monbiot. Seine „paulinische Wende“ ereignete sich anscheinend in Finnland: Dort sah er eine Pilotfabrik, in der genveränderte Bakterien unter Einsatz von erneuerbar gewonnenem Wasserstoff CO2 fressen. So müsste sich die gesamte Menschheit künf-
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tig ernähren, meinte Monbiot. „Das klingt wie ein Wunder“, berichtete er im Guardian, „aber das ist technisch nicht sehr schwierig – ich sah in einem Gewerbegebiet bei Helsinki, wie Wissenschaftler Wasser in Nahrung verwandeln.“ Nun möge die Welt davon satt werden. Pfannkuchen, ganz ohne Eier und Milch, ohne Kühe, Gras, Sojafutter und all das Schädliche. Sonnennahrung. „Verändert man die Bakterien entsprechend, machen sie uns die Proteine, die wir für Laborfleisch benötigen, für Milch und Eier. Andere machen Laurin- und Fettsäuren – Fischersatz aus dem Labor. Verbleibende Kohlenhydrate, nach Entfernung der Fette und Proteine, können Pasta und Kartoffelchips ersetzen“, schwärmt Monbiot (2021). Die Kernthese in Monbiots Buch Regenesis lautet: Der Ackerbau muss weg. Vor allem jede Form von Tierhaltung, nicht nur die pervertierte Massenhaltung. Essen aus dem Labor werde – zum Glück für den Planeten – bald die Landwirtschaft zerstören. Dann könnten Weiden und Felder aus der Landschaft verschwinden und die Urwälder und Moore wieder Kohlenstoffspeicher werden und der Mensch wirtschaftete unschädlich in seinen Gewerbegebieten. Der Gedanke der Bezwingung der Klima- und Umweltkrisen durch radikalen technischen Fortschritt ist hingegen nicht so neu. Er kursiert seit knapp zehn Jahren im amerikanischen Ökomodernismus. Die Fortschrittsgeschichte der Landwirtschaft habe es ermöglicht, auf immer weniger Fläche mehr Nahrung zu erzeugen. Extensivierungsstrategien wie der Ökolandbau seien ein irrwitziger Versuch, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Es brauche radikalen technischen Fortschritt der Landnutzung, um weiterhin Reservate und Schutzgebiete möglich zu machen. Auch die Atomkraft solle die Energie dafür liefern, sagen die Ökomodernisten. Dieser Gedanke aber lässt sich nur sinnvoll begründen, wenn zugleich Annahmen an eine nicht weiter steigende Energieabhängigkeit der Techniken plausibel sind. Monbiot, ein Umweltschutzmodernist mit der Bereitschaft zur mediengerechten Zuspitzung, steht in dieser Tradition. Aber geht den nächsten Schritt: die Landwirtschaft selbst zu skandalisieren. Schließlich erscheine die Maschine der Pflanze haushoch überlegen. Aus Solarkraftwerken grünen Wasserstoff zu gewinnen, sei schließlich zehnfach effizienter als die pflanzliche Photosynthese. Die Effizienz der Landnutzung der finnischen Proteinfabrik sei gar 20.000-fach höher, denn die Reaktoren wachsen in die Höhe und das Kunstprotein kann ganz gegessen werden, eine Pflanze hingegen nur zum Teil. Die Labortechnik sei zudem wassersparsam und wüstentauglich. So vollzieht zumindest ein prominenter Umweltschutzaktivist die radikale Kehrtwende weg von Vorstellungen, Natürlichkeit tauge als Kompass auf der Reise der Menschheit in eine klimastabile Zukunft. Wer auf die technischen Revolutionen rund um Genome Editing, Fermentation und Energietechnik blickt, wird wohl gar nicht anders können, als große Umbrüche der Nahrungsproduktion zu erwarten. Aber steckt hinter der Verdammung der Landwirtschaft nicht auch ein geschichtsvergessener, mitleidloser Blick? Ein besonders großes Problem in der „ökomodernistischen“ Sichtweise ist die Biolandwirtschaft, die zwar an Ort und Stelle die Artenvielfalt erhöht, jedoch für eine Tonne Ernte viel mehr Fläche frisst als der intensive Ackerbau. Bioland und Demeter
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grenzten sich bislang ja auch betriebswirtschaftlich erfolgreich von der konventionellen „Giftlandwirtschaft“ ab. In Deutschland entstand eine lebendige Lobby aus Biosupermärkten, Lebensmittelherstellern, Landwirten, Verbänden und politischem Netzwerk. Aus Monbiots Sicht ist dies nun selbst ironischerweise alles ein Teil des „Giftproblems“. Denn wie hielten wir es eigentlich mit dem Verschwinden von Kuhweiden, Streuobstwiesen, Kulturlandschaft? Hatten wir die nicht gern? Liegt in der Radikalisierung des technischen Denkens nicht eine Kapitulation der Idee vom Menschen als kreativem Gestalter der Umwelt? In ihrer Extremform wirkt sie wie eine mediengängige Provokation, die der politischen Polarisierung auch im Feld der Bioökonomie geschuldet ist. Als Kontrast bietet sich auch die Lektüre des alten Wendell Berry an. Er sagte: „Wem die Schönheit der Welt am Herzen lag, dem ist in den letzten Jahrzehnten gewiss nicht entgangen, wie sich einstmals vielgestaltige Farmen und Höfe in den USA und in Europa in durch und durch überkapitalisierte agrarische Wirtschaftsbetriebe verwandelt haben, auf denen für den traditionellen Farmer/Bauern und seine Lebenswelt kein Platz mehr ist. Die Zäune, Hecken und Wälle mitsamt ihrer vielfältigen Pflanzen- und Tierwelt, die Gehölze, Tümpel und Feuchtgebiete, die Weiden, Heuwiesen, die mit Gras bewachsenen Ufer noch frei fließender Bäche und Flüsse – alles verschwunden.“ Gut so, müsste man als Technikökologist nun sagen. Schon für die späten 2020er-Jahre erwartet George Monbiot also die dritte agrarindustrielle Revolution, nach dem Neolithikum und der Industrialisierung: „Wir befinden uns am Scheitelpunkt der größten wirtschaftlichen Transformation [...] Während über fleisch- oder pflanzenbasierte Diäten gestritten wird, machen neue Technologien diese Fragen schon bald irrelevant.“ Dann begänne das Zeitalter der Bakterien (vgl. Abschn. 4.3).
3.4.3 Zwischen Utopie und historischem Rückblick Historisch sind die Debatten und Diskurse über die Tragfähigkeit moderner Lebensweisen oder deren vorhersehbaren Niedergang und folglicher Rückfälle in agrarische oder voragrarische Zivilisationszustände älter und folgen ähnlichen Mustern. Der Pessimismus Robert Malthus' des 18. Jahrhunderts kann der Fortschrittshoffnung des Zeitgenossen Johann Peter Süssmilch kontrastiert werden (Smith, 2013), wie die pessimistische „Bioökonomie“ des amerikanischen Umweltaktivisten und Biologen William Vogt – im Angesicht der ausgehenden Guano-Reserven – mit der tatkräftigen Zucht des ertragreichen Hybridweizens durch den späteren Friedensnobelpreisträger Norman Borlaug in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Mann, 2018). Der agrarhistorische Detailblick ist wie eine Versicherung gegen Ideologisierung und Polarisierung von Ideen des Natürlichen. Historisch betrachtet gab es seit der neolithischen Wende zahlreiche „bioökonomische Innovation“. Die Land- und Forstwirtschaft ist mitnichten erst im ausdrücklichen Zeitalter der Bioökonomie „innovativ“. Biomassewachstum beruht auf Photosynthese. Das Photosynthese-getriebene Pflanzen-
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wachstum wird letztlich seit Jahrhunderten oder -tausenden durch gezielte Pflanzenzucht verändert. Die Geschichte effizienterer Landnutzung begann nicht erst mit den industriellen Ackerbausystemen. Der lange wirtschafts- und energiehistorische Blick ruft die lange, inkrementale Fortschrittsgeschichte der Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft in Erinnerung. Hierzu zählen Zuwächse der verwertbaren Ernten durch innovative Pflugsysteme, Fruchtfolgen, die Verbesserung und Etablierung der Wind- und Wassermühlen wie auch der vermehrte Handel und die Institutionen der bürgerlichen Wirtschaft wie Privateigentum und Gerichtsbarkeit (Jones, 2003). Die Relevanz des bioökonomischen Blickes auf das Wirtschaftsgeschehen – sektorenübergreifend – verdeutlicht sich in der historischen Perspektive. Der historische Blick lehrt, dass „vieles schon da war“, auch in vorindustriellen Zeiten, nämlich etwa • Flächenkonkurrenzen, • menschengemachte Umweltkatastrophen, • innovative Reaktionen auf anthropogene Umweltschäden. Erhellend sind insbesondere die Beiträge aus den Disziplinen der Agrar-, Umwelt- oder Energiegeschichte (etwa Sieferle et al., 2006). Im Folgenden sind zwei Beispiele genannt für anthropogene Umweltkatastrophen der vorindustriellen Zeit und daraus folgende technische Innovationen: Das Magdalenen-Hochwasser und der Niedergang der Kultur der Osterinseln.
3.4.3.1 Das Magdalenen-Hochwasser und die Erfindung der Steinbrücken Das Magdalenen-Hochwasser von 1342 war weit mehr als eine Naturkatastrophe (Bork & Winiwarter, 2014, S. 20 f.). Dass durch das Hochwasser großflächig fruchtbare Böden hinweggespült wurden – die Extremniederschläge dauerten mehrere Tage an –, war eine Folge von menschlichen Landnutzungsänderungen. Zugunsten von Äckern und Grünland war entwaldet worden, die Waldfläche in deutschen Gebieten im Jahr 1300 auf weniger als 15 % zurückgegangen. Im Frühmittelalter hatte sie fast 90 % betragen. „So trafen die Extremniederschläge im Juli 1342 auf kaum durch Vegetation geschützte Landschaften mit oftmals ausgelaugten Böden“ (ebd.). Die Folgen des Hochwassers sind teils bis in die Gegenwart sichtbar. Ortsweise regenerierte sich der Boden über die Jahrhunderte durch Neubewaldung und Humusbildung, so laut Bork in den sandreichen Regionen der Börde, aber in den Mittelgebirgen wurde der Boden bis zur Gesteinsgrenze abgetragen und lässt sich nicht wiedergewinnen. Zahlreiche Brücken wurden mitgerissen. Die „technische“ Reaktion bestand darin, dass man nun Brückenpfeiler verstärkte (Karlsbrücken-Neubau in Prag) oder erstmals aus Stein baute (Balduinbrücke in Koblenz; Bauch, 2019).
3.4 Spannungsfelder der Bioökonomie des Bauens
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Abb. 3.7 Die Osterinsel beherbergte eine erfinderische Bioökonomie, die technische Mittel zum Überleben fand. (Postkarte Delcampe)
3.4.3.2 Die Osterinsel und die Rettung durch Vulkansteinmulch Der Niedergang der Zivilisation auf den Osterinseln wird oft als Beispiel einer „Rache der Natur“ für menschliche Übernutzung gedeutet (Abb. 3.7). Aber man kann die Geschichte der verheerenden Entwaldung dort auch als Geschichte kreativer menschlicher Anpassung an verschlechterte, selbst herbeigeführte Umweltveränderungen „lesen“. Die europäischen Entdecker dieser Inseln fanden rätselhafte Steingärten vor, mehr als eine Milliarde Steine bedeckten die humosen, guten Böden (Bork, Winiwarter 2014, S. 46–47). Der war terrassenartig angelegt. Erst durch den Fund von Palmwurzeln und Holzkohle kam man auf den Befund, dass die Steine von Menschen hierher getragen worden waren und Ausdruck jahrhundertelanger Kultivierung sind. So reagierten die Menschen auf die Süßwasserknappheit und es gelang sogar eine Landwirtschaft, die zu Humusaufbau führte. Die Regenwasserabhängigkeit der Osterinsel (es gibt dort keine Flüsse und Seen) und eine vollständige Rodung der Palmwälder von 1200 bis 1600 n. C. zuvor war dem Bevölkerungswachstum und der Nutzung der Palmsäfte geschuldet, auch verbrannte man das Palmholz. Aber die Nutzung von Vulkangestein als Bodenschutz vor Wind- und Wassererosion, zum Wasserhalt – das war eine wahre bioökonomische Innovation. Nebenher führte sie wohl zu einer mineralischen Langzeitdüngung. Die Zivilisa-
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3 Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? …
tion der Osterinseln starb, weil die 15 lebendig zurückkehrenden Sklaven aus Peru ein für alle anderen tödliches Virus mitbrachten. Sie starb, aber nicht am „ökologischen Kollaps“.
3.5 Schluss: Bioökonomie als Metapher Bioökonomie ist eine hochinteressante Metapher. Über Bioökonomie zu sprechen, impliziert eine Einladung zum Denken. Der Begriff enthält in sich eine innere Dialektik, weil er sich aus zweien zusammensetzt, die sonst selten zusammengedacht werden: Biologie und Ökonomie. Bioökonomisch zu denken, bedeutet daher, ein Spannungsfeld zu sehen, zu ertragen und produktiv zu nutzen. Es verläuft zwischen der hohen Attraktivität der zahlreichen „grünen Leuchtturmprojekte“ und der attraktiv erscheinenden biotechnischen Forschungsvision einer „green economy“ einerseits und den klimapolitischen Ambitionen andererseits. Aber hinzu kommt ein dritter Punkt: die Trägheit des Wandels. Dieser wäre aus dem bioökonomischen Weitblick zu ertragen, besser zu verstehen und nachzuvollziehen. Bioökonomie als Metapher ist geeignet, Sinnstiftung für die Wirtschaft und Orientierung für die Politik zu schaffen. Aber metaphorische Konzepte bringen auch Unschärfe und verschleiern Aspekte der Wirklichkeit (Lakoff & Johnson, 2008). Das erklärt, dass das Konzept der Bioökonomie sowohl von vielen sehr heterogenen Akteursgruppen – konservative Parteien und grüne, Holz- und Agrarverbände, die wachstumskritische Ökonomie – verwendet wie auch kritisiert wird (Priefer et al., 2017). Denn auf der Sachebene bieten sich in der Tat viele kritische Fragen an ein Konzept wie die Bioökonomie an: Verbirgt sich dahinter eine Ideologie des Nachwachsenden? Was wäre an Monokultur-Plantagen „bio“? Droht hier gar die totale Ökonomisierung? Oder: Ist Erdöl denn, rein biochemisch, nicht auch „biobasiert“? Und so weiter. Bioökonomisches Denken verwehrt sich also auch den marktschreierischen Versprechungen, zur Lösung der dramatischen globalen Umwelt- und Klimaprobleme gebe es reibungslos oder überhaupt eindeutig planbare Verwirklichungspfade. Denn der ökonomische Fokus impliziert auch eine Anerkennung der empirischen Wirklichkeit der stark wachsenden Weltbevölkerung und des Wunsches nach einer Lebensweise in Wohlstand. Unter dem „Deckmantel“ der Bioökonomie können sich auch technokratische Vorstellungen „verbergen“ (Hogarth, 2015; Mukhtarov, 2017, S. 1018). Bioökonomisches Denken erzeugt Spannung und Reibung, indem es die im Terminus „Bio“ mit gemeinten technischen Visionen der Nachhaltigkeit einerseits zur Kenntnis nimmt und kommuniziert: etwa der Bionik als ingenieurswissenschaftliche Orientierung an natürlichen Organismen, an dem Ideal von ökosystemisch und planetar verträglichen Stoffkreisläufen von Kohlenstoff, Stickstoff oder Phosphor – einer letztlich atemberaubend planerischen Perspektive –, den berechtigten, bedeutenden kulturellen Leitwerten von „Natürlichkeit“ und „Enkelgerechtigkeit“ der Wirtschaft. Andererseits verschafft die ökonomische Empirie immer wieder Ernüchterung. So ist auf dem
3.5 Schluss: Bioökonomie als Metapher
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Spielfeld der Wirklichkeit des Alltagsgebrauchs, also der Ökonomie, von permanenten Rückfällen auf der großen politischen Reise der Transformation zu berichten. Dazu zählen die Insolvenzen vielversprechender „Green Start-Ups“ (Gatto & Re, 2021), immer wieder geschehene Renaissancen fossiler Energieträger durch geopolitische Dramen wie den Russland-Ukraine-Krieg ab 2022, durch neue Ölfördertechniken und plötzlich eintretende neue Preisschocks, schlichte Ressourcenknappheiten. Auch die großen Flächenverbräuche europäischer Importe von Biomasse regen zum Nachdenken über die ökologischen Kosten der Bioökonomie an (O’Brien et al., 2015). Eine ethische Kernfrage ist die Flächennutzungskonkurrenz. Auf wessen Kosten geht eine Ausweitung der Produktion oder Ernte von „Biomasse“? Bedeutet eine Ausweitung des Holzbaus in globaler Dimension nicht notwendigerweise ein Verlust der natürlichen Waldökosysteme oder eine Plantagennutzung von Mischwäldern? Ist es überhaupt angemessen, über eine starke Ausweitung agrarbasierter Rohstoffe für die baustoffliche Nutzung zu verfügen, wenn es doch Hunger und Mangelernährung auf der Welt gibt? Was ist aus der „Tank-oderTeller“-Debatte der späten 2000er-Jahre zu lernen, in der sich letztlich das politische Schicksal des Biokraftstoffs auf der EU-Ebene zuungunsten der Nutzung von Raps und Mais als Treibstoff entschieden hat (Herbes et al., 2014)? Die ethische Diskussion erfordert fundierte Kenntnisse über Rohstoffverfügbarkeit, Flächenpotenziale, relevante technische Entwicklungen, Handelsverflechtungen, mögliche biogene, fossile oder mineralische Rohstoffersatze, aber auch ökologisches Wissen und eine historische Perspektive, die zum Urteil befähigt. Ethische Diskussion über Bioökonomie ist sich Zielkonflikten und Dilemmata bewusst und bringt sie unabhängig zur Sprache, statt sie durch simplifizierende Moralvorstellungen oder ökologistische Normen zu überdecken (Zichy et al., 2014). Die Rede von Bioökonomie, als konzeptuelle Metapher betrachtet, kann mehrere Funktionen und Bedeutungen haben. Bei Georgescu-Roegen verweist sie auf natürliche Grenzen der nachwachsenden Energie- und Rohstoffe und enthält einen Imperativ zur Bescheidenheit, aber auch einen resignativen Beiklang. Die Biotechnologen der Pflanzenzucht verwenden sie, eben umgekehrt, als Metapher der Zukunftshoffnung im Geiste Norman Borlaugs – als Hoffnungssemantik einer „Rettung“ durch weiteren technischen Fortschritt. Dass so vieles unter Bioökonomie verstanden wird, kann irritieren: nämlich gerade zwei entgegengesetzte Extremstandpunkte polarisiert geführter Zukunftsdiskurse in den Arenen der Wissenschaft. Aber das augenscheinlich bis zur Beliebigkeit reichende Schwammige des Konzeptes ist zugleich dessen Stärke. Mit der Metapher der Bioökonomie sind die Gefahren verbunden, dass ihre Rezipienten einen der Extremstandpunkte übernehmen – der agrarischen (negativen) Utopie, des technokratischen „Weiter-so“ –, aber die Vieldeutigkeit enthält immer auch schon die „Arznei“ zur Abwehr gegen diese Gefahr. Kenntnisreich und reflektiert verwendet eignet es sich, um diverse Akteursgruppen miteinander ins Gespräch über Nachhaltigkeit zu bringen, die es sonst nicht wären, aber auch dank dieses Konzeptes nun sind. Aber die einseitigen Verwendungen und Verzerrungen – der „Raub“ eines ökologisch grundierten Verständnisses etwa durch Bio-
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3 Stoffstromoptimierung oder Kulturwandel? …
tech-Ingenieure (Vivien, 2019) – sind auch ein Problemfall. Ihre Beharrlichkeit zeigt, dass die anhaltende Begriffskonjunktur der Bioökonomie auch ethische Begleitung benötigt, etwa bezogen auf die Zielkonflikte der Flächennutzung. Die Bioökonomie-Metapher nimmt schließlich auch die Ökonomie als Hintergrund der Bedingungen des besseren Gelingens ernst, statt sie polemisch als Negativfolie zu verwenden oder „die Wirtschaft“ sogar als Antagonistin der Nachhaltigkeit zu karikieren. Eine solche metaphorische Sicht mag Professionelle, die darin geschult sind, das faktisch Korrekte zu verteidigen, irritieren, ja geradezu töricht scheinen. Aber Begriffe entscheiden Diskurse. Im Fall der Bioökonomie öffnen sie. Und auch das Törichte hat seine Funktion, wenn die Zeit auf Krise steht (Kor. 1,26–31). Die Bioökonomie-Metapher ist eine Einladung und Aufforderung zum Nicht-Nachlassen im Denken. Denn: „In such times of urgency, when we know we have to act, but don’t know how to act, thinking is needed“ (Slavoj Žižek, 2019).
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Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
Die Verwendung nachwachsender Baurohstoffe verbessert im Vergleich mit derjenigen konventioneller Baustoffe in vielen Fällen die Treibhausgasbilanzen von Bauwerken über deren Lebenszyklus (Röck et al. 2020; Pörtner et al. 2022). Das lässt sich sagen, auch wenn es etwa zahleiche definitorische Unschärfen bezüglich der konkurrierenden Konzepte von Klimaneutralität gibt (Lützkendorf & Frischknecht, 2020). In Bezug auf Lebenszyklusanalysen (Ökobilanzen) auf der Mikroebene, also von Baustoffen oder Bauwerken, lässt sich der relative Vorteil der nachwachsenden Baurohstoffe belegen. Komplizierter wird die Abwägung von Umweltfolgen jedoch angesichts der Frage, wie sich der Holzbau für zusätzlich Hunderte Millionen Menschen im Vergleich zum Status quo auf die verschiedenen Umweltzielgrößen wie Klimawandel, Landnutzung (Flächenverbrauch) oder Wasserressourcen auswirken würde. Es gibt für den Ingenieurholzbau auch traditionelle, hoch interessante Anwendungsvorbilder – die Kirche Santa Maria della Saluta in Venedig zum Beispiel steht auf mehr als einer Million Holzpfählen (Abb. 4.1). Immer vom Wasser bedeckt sind diese sehr langlebig. Zur Tradition kommt Innovation. Biotechnologisch progressive Anwendungsbeispiele der Lignozellulose-Bioökonomie werden das Bauwesen erreichen. Neben Vollholz spielen Brettschicht- und Brettsperrhölzer im Holzbau eine zunehmend große Rolle. Sie erweitern die Rohstoffbasis auf bislang baulich kaum genutzte Laubhölzer. Strukturelle Veränderungen des Holzes auf Mikro- oder Nanoebene kommen hinzu (Kap. 5). Aber auch landwirtschaftliche Rohstoffe wie Gräser, Getreide und Stroh werden zunehmend baustofflich relevant. Dieses Kapitel gibt einen Überblick.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 J. Grossarth, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40198-6_4
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4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
Abb. 4.1 Auf langlebigen Holzpfählen erbaut: Santa Maria della Saluta. (Postkarte Delcampe)
4.1 Relevanz vor dem Hintergrund der Klimapolitik
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4.1 Relevanz vor dem Hintergrund der Klimapolitik „Die Bauwende muss gelingen, wenn wir überhaupt die Chance haben wollen, unsere Zivilisation am Leben zu halten“ (Hans Joachim Schellnhuber, 2021).
Kann Holzbau die Klimakatastrophe verhindern? Die Verwirklichung dieser eindringlichen Forderung setzt Innovationsleistungen in der Holzwerkstoffforschung und in der forstlichen und agrarischen Ressourcenbereitstellung voraus. Der Holzbau basiert traditionell in großen Teilen auf der Verwendung von Vollholz, meist Nadelholz, etwa für Tragwerke oder Dachbalken. Hier sind die Festigkeitsgrade (Tab. 4.1) ein Faktor für die Holzwahl, der Preis der andere. Während Nadelhölzer günstiger sind und forstwirtschaftlich im 20. Jahrhundert im Zentrum des Interesses standen, wurden und werden Laubhölzer vorwiegend für den höherpreisigen Möbelbau verwendet. Holzwerkstoffe, die zu günstigen Preisen gewünschte bauliche Eigenschaften aufweisen und möglichst im Tragwerkbereich eingesetzt werden können, sind auch ein Hoffnungswert der internationalen Klimapolitik. Die CO2-Speicherpotenziale wurden berechnet, wobei zugleich die nachhaltige Waldbewirtschaftung und die Kreislaufführung auch von Bauholz über das Gebäudelebensende betont werden (Churkina et al., 2020). Nachwachsende Rohstoffe haben auch als Baustoffe Jahrhunderte bis Jahrtausende zurückreichende Anwendungsgeschichten. Reet oder Stroh (Abb. 4.2) wur-
Tab. 4.1 Druckfestigkeiten. (Q. DIN 68364, Kategorien nach Holzmann (2009, S. 90 f.); Bambus: Fachwissen Holz (2023), RWTH)
Holz-Druckfestigkeiten (N/mm2) von Hölzern Weichholz
32
Pappel
32
Tola
37
Fichte
45
Tanne
45
Kiefer Mittelhartes und hartes Holz
47
Kirsche
50
Eiche
52
Douglasie
54
Birke
60
Rotbuche
60
Bambusfaser*
>60
Nussbaum
65
Robinie
73
*Gepresst
als Hartholzersatz; botanisch ist Bambus ein Gras
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4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
Abb. 4.2 Das erste Strohballenhaus in Europa, errichtet 1921 in Frankreich. Die Ressource liegt auf dem Feld: Spätsommer in Süddänemark. (Fotos Archiv, Jan Grossarth)
den als Dämmstoffe verwendet wie für Dacheindeckungen, Getreidespreu als Schüttdämmung und Stroh von verschiedenen Getreidesorten war in manchen Regionen auch ein schützender Dämmstoff gegen die harten Winter-Ostwinde: Fotoaufnahmen aus Ostgalizien, dem Gebiet der heutigen Ukraine, aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zeigen beispielsweise, dass Bauernhäuser fassadenseitig außen mit nicht verputztem Stroh geschützt waren (vgl. Kap. 1). Die Bilder geben nicht Aufschluss darüber, wie das Stroh befestigt war und was nach der vermutlich kurzen Lebensdauer damit geschah – ob es beispielsweise verbrannt oder auf die Felder als Bodendünger zurückgeführt wurde. Stroh und dünne Hölzer dienten in weiten Erdteilen auch als Bewehrung für Lehmverputze und darin als Dämmstoff gegen Kälte oder auch Hitze. Die relative Bedeutung solcher nachwachsenden agrarischen Baustoffe wurde in industrialisierten Ländern und den Schwellenländern erst infolge der Massenverfügbarkeit von mineralischen und fossilen Baustoffen wie Beton und Dämmstoffen auf Erdölbasis in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg immer geringer. Eine historisch einmalig große Fülle von nutzbarer Energie, die auf raschen Förderzuwächsen von Erdöl, Erdgas und Kohle beruhte, bildete die Grundlage für eine immer günstigere Nutzbarkeit mineralischer Massenbaustoffe (Calder, 2021). War ab den 1970er-Jahren ein Ende dieser Epoche durch Ressourcenknappheiten erwartet worden (Bardi, 2009), so scheint diesem nun die Klimaschutzpolitik zuvorzukommen. Auch mit der Absicht einer Verringerung der ökologischen, sozialen wie volkswirtschaftlichen Folgeschäden des fortschreitenden Klimawandels (Tol, 2002) wird die Zeit der „billigen Emission“ politisch begrenzt. Und durch ihre Eigenschaft als – zumindest vorübergehender – Kohlenstoffspeicher gibt es spätestens seit dem Pariser Klimaschutzabkommen Mitte der 2010er-Jahre ein stark gestiegenes Anwendungs-, Forschungs- und Innovationsinteresse am Holzbau. Eines an den agrarischen Baustoffen wie Stroh kommt hinzu (Grossarth, 2023). Durch den erwarteten Bedeutungsgewinn der nachwachsenden Rohstoffe erfahren Jahrhunderte bis Jahrtausende zurückreichende Baustofftraditionen wieder Interesse. Dazu zählen etwa Schilf, Lehm oder Getreideschüttungen.
4.2 Biogene Polymere
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Ein Blick auf die globale Flächenverteilung gibt einen Eindruck von der Größe des Ressourcenpotenzials: Mehr als drei Viertel der bewohnbaren Erdoberfläche sind Wald, Weideland oder Savanne, also auch potenzielle Wachstumsregionen für Baustoffe (Unnerstall, 2020, S. 68). Allerdings ist zu erwarten, dass die globalen Temperaturerwärmungen und zunehmenden Dürren auch Waldschäden in unerwarteter Dimension auslösen können. Das könnte das mittel- und langfristige Waldwachstum im Vergleich zu historischen Erfahrungswerten verringern (Hartmann et al., 2022). Aber nicht nur die Wälder, Weiden und Savannen, sondern auch die Ozeane mit ihren Algen- oder Seegraskulturen kommen als CO2 speichernde Rohstoffquelle (etwa in Dämmstoffen) für nachwachsende Baustoffe infrage. Gegenwärtig werden auch diese wissenschaftlich vor allem in Bezug auf deren Nährwerte und die Welternährungsfrage betrachtet (Greene & Scott-Buechler, 2022). Nachwachsende Baustoffe können beitragen, Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Dessen Kernziel ist es, die Erderwärmung auf „weit unter 2 Grad“ zu beschränken und global „Netto-Null-Emissionen“ von Treibhausgasen (THG) ab Mitte des 21. Jahrhunderts zu erreichen. Laut dem Bundesklimaschutzgesetz (2019) und Änderungen daran (2021) haben – wie einleitend erwähnt – alle Sektoren verbindliche Treibhausgasminderungsziele bis 2030 zu erfüllen. Global werden laut den Prognosen der Klimawissenschaft Emissionsminderungen den Hauptteil zum Erreichen der Ziele beitragen. Erst an zweiter Stelle tragen technische Reduktionen wie die Kohlenstoffspeicherung in tiefen Bodengesteinsschichten bei (CCS) oder zuletzt der Rückgang von Emissionen durch Landnutzungsveränderungen (Rockström, 2017). Neben vielen Minderungsansätzen verspricht der Einsatz nachwachsender Rohstoffe, dass Kohlenstoff in der Bausubstanz gebunden wird. Das kann auf verschiedenen Wegen gelingen.
4.2 Biogene Polymere Biotechnologien erweitern den Raum der Möglichkeiten der biogenen Baustoffnutzung. Algen können nicht nur in Meeren „geerntet“, sondern auch als Mikroalgen in geschlossenen Anlagen gezüchtet werden. Der Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen steht im Kontext technologischer Entwicklungssprünge. Aus Altfetten lässt sich zum Beispiel über den Einsatz genomeditierter Bakterien Bioplastik erzeugen (Abschn. 4.3). Werkstoffchemisch betrachtet bedeuten auch solche technischen Innovationen, insofern sie auch zu marktreifen Produkten führen, dass im Vergleich zum 20. Jahrhundert – insbesondere dessen zweiter Hälfte mit seiner „Schwemme“ an günstigen, energieintensiv produzierten und global gehandelten Baustoffen – insgesamt die Volkswirtschaft wieder mehr auf polymerischen und elastomerischen Ressourcen beruhen wird. Der Anteil an Metallen nimmt ab (Neugebauer, 2019, S. 267). Die Poly- und Elastomere basieren auf Holz, agrarischer und maritimer Biomasse. Es kann sich neben den traditionellen Baustoffen auch etwa um sogenannte Hochleistungskunststoffe wie Hochtemperatur-Polymere und Biokunststoffe handeln. Gemischtwerkstoffe (Hybridmaterialien) aus nachwachsenden und petrobasierten Rohstoffen sind eine weitere Kategorie. Zellstoff- und Lignin-haltige Biomassen sind deren wichtigste Basis.
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4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
Sie lassen sich im 3-D-Druckverfahren nicht nur zu Bauteilen, sondern auch zu Bauteilen in der Automobil- oder anderen Industrien formen (Mohanty et al., 2022). Dabei wird Lignin als das Schlüsselmolekül einer werkstofflichen Wende zur Zirkulärwirtschaft gesehen. Allein das Altpapieraufkommen als eine „Rohstoffquelle“ ist nennenswert. Die globale Holzindustrie erzeugt im Jahr 50 bis 70 Mio. Tonnen Lignin. Großteile davon werden gegenwärtig noch verbrannt (Viera et al., 2022; vgl. Abschn. 4.6 und 4.7). Diese – hier nur kursorisch angerissenen – Entwicklungen im Bereich der Zellstoffund Lignin-Bioökonomie sind gemeint, wenn von der „holzbasierten“, manchmal auch der „Lignin-/Zellulose-Bioökonomie“ und der „agrarbasierten Bioökonomie“ die Rede ist (Pietzsch, Schurr 2017; Lippe et al. 2017). Holzbasierte Bioökonomie und die Bestandteile des Holzes
• Eine Definition der holzbasierten Bioökonomie bringt die Rohstoffseite ausdrücklich mit einer sparsamen, kaskadierenden Nutzung des Holzes in Bezug: „Die holzbasierte Bioökonomie nutzt den Rohstoff Holz (Stammholz, Kronenholz und gegebenenfalls Stockholz, Altholz aus vorausgegangener Nutzung) idealerweise kaskadenförmig. Hierbei werden die Veredelungsschritte immer weiter verfeinert (chemischer Aufschluss und Modifizierung) und Reststoffe sowie Nebenprodukte aus den vorangegangenen Schritten für die nächste Stufe genutzt. Erst am Ende dieses Prozesses steht dann sinnvollerweise die Nutzung der Reststoffe als Energieträger. Primäres Ziel ist aber die stoffliche Verwendung von Holz zum Beispiel zum Bauen, Wohnen oder für Papier und die damit einhergehende CO2-Speicherung sowie zur Substitution fossiler Stoffe“ (Miletzky et al., 2020, S. 52). Als Hauptbestandteile sind vom Holz wie auch von der nachwachsenden „Biomasse vom Feld oder Acker“ und vom Altholz in der holzbasierten Bioökonomie verwertbar: • Lignin, gewissermaßen der Klebstoff zwischen den Zelluloseketten; es ist verwendbar etwa als Inkrustierungssubstanz, wird als Basis für Bioasphalte oder Bioharze verwendet; • Zellulose, welche die hohe Zugfestigkeit des Holzes begründet; • Hemizellulose; • akzessorische Bestandteile wie Terpene (Harzsäuren, Terpentinöl), Wachse und Phytosterole – für die Erzeugung von Harzen, Klebstoffen, Holzschutzmitteln.
4.3 Exkursion: Das Bakterium Cupriavidus necator als panikfressender Erzeuger von Bioplastik Das Beweisfoto vom Elektronenmikroskop zeigt Cupriavidus necator, einen Auberginen-förmigen Einzeller (Abb. 4.3). Der Vielfraß ist vollgestopft mit weißen, styroporartigen Bällchen, überfettet wie eine Pute aus der Mast. Man hatte C. necator mit Fisch-
4.3 Exkursion: Das Bakterium „Cupriavidus Necator“ als panikfressender ...
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Abb. 4.3 Cupriavidus necator. (Foto Riedel, FU Berlin)
abfällen (Sprotten) gefüttert. Daraus zauberte der Stoffwechsel ein Bioplastik. Bakterien wie diese können das. Sie verstoffwechseln Abfall zu einem Wertstoff. Das ist die Wissenschaftsgeschichte in Kurzform. Schön, mag man sagen, dass das jetzt auch noch möglich ist. Aber womöglich ist es mehr als schön, womöglich wird es die Lösung sein. Denn C. necator mag nicht nur Sprotten, sondern Kohlenstoff im Allgemeinen. Man kann ihn mit allerhand Abfall füttern. Aber können Bakterien auch mit dem globalen Müllproblem fertig werden? Kann das Bakterium dafür sorgen, dass wir das Wort Müll aus unserem Wortschatz streichen können, weil jeder Müll dann eine Speise ist? Oder ist diese Geschichte eine technikfixierte Illusion, die in der Wirklichkeit doch wieder nicht gelingen wird, weil alles nur im Labor funktioniert, in der Umsetzung aber viel zu teuer wäre? Als Rohstoffbasis gibt es eine Menge Müll. In der Summe schlucken allein Deutschlands Müllheizkraftwerke rund 20 Mio. Tonnen Müll im Jahr. Das entspricht ziemlich genau der jährlichen Plastikproduktion der deutschen Kunststoffindustrie. Ist Müllverbrennung in diesem Maß also eine gute Idee? Die Klimabilanz hängt von der verfeuerten Abfallart ab: Ist es Holz, das verbrannt wird, ist der Effekt auf die Erderwärmung neutral. Die Verbrennung von Plastikmüll ist problematischer: Das Plastik wurde aus Erdöl hergestellt. Wenn es verheizt wird, ist das nicht viel klimafreundlicher, als würde man Erdöl verfeuern. Strenggenommen ist es gesetzeswidrig, Millionen Tonnen Abfall zu verheizen. Denn das Kreislaufwirtschaftsgesetz schreibt eine „Nutzungshierarchie“ für den Abfall vor: Verbrennung kommt an vierter und vorletzter Stelle – nach Vermeidung, Wiederverwertung und Recycling. Das Ökoinstitut sagt: „Bis zu einer echten Kreislaufwirtschaft ist es noch ein weiter Weg“ (Dehoust & Alwast, 2019).
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4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
Vielleicht ist es aber auch ein kurzer. Vielleicht führt er nur bis C. necator und dann hat man es schon. Denn warum verbrennt man als Menschheit den Müll? Weil er widerwärtig ist. Lange überstieg es die Fantasie der Menschen, wie gemischte Haushaltsabfälle „wiederzuverwerten“ sind. Aber für C. necator ist selbst stinkender Fisch mit Babywindel eine Köstlichkeit. Im Haushaltsmüll mischt sich Plastik und Papier mit Fetten, Wirsing, Käserinde und Pommesfett. Im Klärschlamm stecken Fette, Fäkalien und Arzneien. Solche Widerwertigkeiten taugen selbst nicht einmal als Futter für Insekten. Deswegen können nur Bakterien die Retter in der Not sein. C. necator ist ein besonders dankbarer Gast auf dem Speisetisch der Zivilisation. Aber wie groß ist sein Appetit, aufs große Ganze übertragen? Der Biowissenschaftler Sebastian Lothar Riedel weiß Genaueres. Er sitzt in seinem Büro in einem Klinkerbau aus der industriellen Gründerzeit in Berlin Mitte. Für seinen Arbeitgeber, die TU Berlin, leitet er dort zwei Forschungsprojekte, in denen es um die neuen mikrobiellen Wege der Müllverwertung geht. Riedel spricht von Sprottenköpfen und Hühnergedärmen und zeigt chemische Strukturformeln – und Bilder von hochinteressanten Fettklumpen, die sich in der Kanalisation von London gebildet hätten. All das schöne Fett, sagt er. Tonnenweise Nahrung für den kleinen Vielfraß. Riedel ist schon seit mehr als zehn Jahren mit C. necator im Bunde. „Man kann Plastik daraus machen, und man sollte“, sagt er. PHB oder PHA – Polyhydroxybutyrat oder Polyhydroxyalkanoate in ganzen Wörtern. Geeignet für die Produktion von Tüten, Besteck und anderen Gegenständen sind die spröden, kompostierbaren Stoffe – gemischt mit anderem Plastik aber für die Herstellung nahezu jedes Industrieprodukts (Santolin et al. 2021). Wie funktioniert das Verfahren? Stickstoff, Phosphor und Kohlenstoff braucht der Vielfraß als Futter. Und dann kommt der Trick: Einen Nährstoff gibt man zu knapp. Ist dann Stickstoff oder Phosphor aufgebraucht, gerät C. necator (lateinisch: der Töter) in Todesangst – und verstoffwechselt dabei Massen an Kohlenstoff zu Biopolymeren. Bis zu 90 % des Bakteriums bestehen am Ende aus Plastik. Plastikherstellung als Panikfressen. Die Bioplastikproduktion mit C. necator dauert 50 bis 70 h im Bioreaktor. „Ich würde C. necator als Superbakterium bezeichnen, denn es kann extrem viel“, sagt Sebastian Lothar Riedel. Und auch er kann viel damit machen: „Wir haben Gene ausgeknockt.“ Das heißt, den Stoffwechsel genverändert. Mittels sogenannter Genomscheren wie Crispr-Cas9 lassen sich Stoffwechselwege gezielt verändern, um PHAs mit maßgeschneiderter Zusammensetzung und somit einstellbaren Eigenschaften herzustellen. Das ist der entscheidende Schritt, damit die Produktion wirtschaftlich werden kann. Neben Genveränderungen entscheidet auch bestimmt die Art des Futters die Qualität und Menge an Bioplastik. Geeignet ist jedes Futter, das Kohlenstoff enthält. Eine neue Studie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der chinesischen Universität Zhejiang in der Zeitschrift Biotechnology for Biofuels gibt einen globalen Überblick: Bioplastik ist schon erfolgreich aus Molkereiabfällen gemacht worden, aus Altöl, aus Lebensmittelabfällen, Zitronenschalen, Brauereiabfällen oder Abfällen von Papierund Zellulosefabriken. Auch reines CO2 lässt sich als Kohlenstoffquelle verfüttern, auch Mikroalgen (Abb. 4.4). Als Fraßorganismen kommen auch agrarische Rohstoffe infrage.
4.3 Exkursion: Das Bakterium „Cupriavidus Necator“ als panikfressender ...
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Abb. 4.4 Mikroalgenzucht in Wageningen. (Foto Jan Grossarth)
Die Grundlagenforschung ist fortgeschritten. Jetzt gibt es eine Gründerwelle. Die TU Berlin kooperiert mit Animox, einem Berliner Biotechnologieunternehmen, das aus Schlachtabfällen und C. necator ein Plastikgranulat fertigt. Das geht dann an Cuba, ein Spritzgussunternehmen in Neuruppin. Daraus werden Maßanfertigungen aus Plastik für Industriekunden. Das Bioplastik ist zwar recht teuer, aber es gibt spezielle Nachfrager: Unternehmen etwa, die dringend ihren CO2-Fußabdruck verkleinern wollen, auch aus Bereichen, in denen Plastik verboten ist (Tüten, Einweggeschirr). Die Gefahr des Greenwashings ist allerdings stets gegeben. Kleinste Beimischungen von Bioplastik lassen sich groß als „grün“ vermarkten. Auch die Textilindustrie ist aufmerksam auf die neuen Verfahren. Ein Forschungsprojekt der TU Berlin mit dem Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen („PHAtex“) kümmert sich darum. Ohne Fermenter geht es nie. Die sind die Badewanne für Bakterium und Nährsubstrat. Fritzmeier Umwelttechnik, ein Unternehmen südlich von München, stellt solche Fermenter her. „Das Anwendungspotenzial der Fermenter ist sehr groß“, sagt der Forschungsleiter Michael Finke. Allerdings muss er die Erwartung an schnelle Weltrettung enttäuschen: Derzeit fütterten die meisten Abnehmer die Bakterien noch nicht mit Restmüll oder Klärschlamm, sondern mit Mais, Raps oder Zucker. „Denn je sauberer und unkomplizierter ein Substrat ist, desto besser“, sagt der Biotechnologe. Müll ist
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4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
kompliziert. Vor zwei Jahren eröffnete das japanische Unternehmen Kaneka eine mikrobakterielle Bioplastikfabrik, kurz zuvor hatte Danimer Scientific aus den Vereinigten Staaten eine PHA-Fabrik in Kentucky eingeweiht. Die beiden füttern ihre Bakterienstämme mit Abfallströmen aus Palmöl- und Rapsölfabriken. Der nächste Schritt der Kreislaufwirtschaft aber zeichnet sich schon ab: Aus Restmüll und Klärschlamm wird Bioplastik. Full Cycle nennt sich ein amerikanisches Start-up, das kommunale Lebensmittel- und andere organische Abfälle in naher Zukunft in industriellem Maßstab in PHA verwandeln will. Das Bioplastik könnte wieder und wieder in den organischen Kreislauf einfließen. Full Cycle ist Inhaber eines Patents über einen industriellen Prozess für die mikrobakterielle Müllverwertung. Ein weiterer Pionier sitzt in den Niederlanden, dem globalen Paradies der zirkulären Bioökonomie. Das frische Start-up Paques Biomaterials will Kunden dabei helfen, industrielle Abwasserströme für die Erzeugung von Bioplastik zu nutzen. Es verspricht auf seiner Website dank eigener Technik „eine zehnfach höhere Wirtschaftlichkeit“, als sie derzeit in der Abwasserverwertung möglich sei. In Deutschland ist die Emscher Genossenschaft – einer der größten Kläranlagenbetreiber – einen Schritt weiter als die meisten Abwasserbetriebe. Sie hat schon 2015 gemeinsam mit der Brain Biotech AG aus dem südhessischen Zwingenberg begonnen, die mikrobielle Nutzung von kohlenstoffreichen Abfallströmen zu testen. Aber dabei kamen nicht Plastik, sondern Lipide heraus, also Fette für die chemische Industrie. Der Schmierstoffhersteller Fuchs Petrolub machte daraus probeweise Additive. Jetzt soll das Verfahren tatsächlich in industriellem Maßstab wachsen. Es werde derzeit in „einen Verwertungsmaßstab überführt“, erklärt Guido Meurer, der bei Brain Abteilungsleiter für die Entwicklung von Bakterienstämmen ist: „Die Additive zeigen in der technischen Anwendung erstaunliche Eigenschaften.“ Sie sind biologisch abbaubar. Auch alte Socken könnten ein interessanter Rohstoff werden, meint man bei Brain. Sie erinnern sich: C. necator schreckt vor nichts zurück. Brain also will bald so weit sein. Der Leiter der Geschäftsentwicklung des Unternehmens, Martin Langer, sagt: „In Socken steckt heute oftmals Nanosilber, das könnte man mithilfe von optimierten Mikroorganismen oder Enzymen dort wieder herausholen.“ Bereits jetzt stellt Brain aus fermentierten Orangenschalen einen Wirkstoff her, der antimikrobiell wirkt und künftig herkömmliche Konservierungsstoffe ersetzen könnte. Eine erste Zulassung als Lebensmittelinhaltsstoff ist beantragt, erstmal für Amerika. Entscheidend ist die industrielle Nachfrage nach diesen Substraten – wie auch nach Bioplastik. Es ist eine Frage des Preises, ob unser Müll weiter verheizt wird. Je günstiger der Preis, desto größer wird die Nachfrage nach Bioplastik sein. Dann werden Unternehmen in große industrielle Fermenter investieren – und damit in die Massenhaltung von C. necator. Derzeit kostet ein Kilo PHA zwischen 5 und 20 Euro. Ein Kilogramm Plastik, das aus Erdöl gewonnen wird, ist günstiger als ein Euro. Auf der Welt produziert die Chemieindustrie Jahr für Jahr mehr als 360 Mio. Tonnen Kunststoff. Der Beitrag der Bakterien ist lächerlich gering. Die Weltproduktion von PHA und PHB betrug im vergangenen Jahr 36 Tausend Tonnen. Für Cupriavidus necator hat das Fressen gerade erst begonnen.
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Weiterführende Literatur über Anwendungsfelder des C. necator:
• Biotreibstoffe aus C. necator auf CO2-Basis: Panich, Justin, Bonnie Fong, and Steven W. Singer. „Metabolic engineering of Cupriavidus necator H16 for sustainable biofuels from CO2.“ Trends in biotechnology 39.4 (2021): 412–424. • C. necator als Proteinfutter für essbare Insekten: Chee, Jiun Yee, et al. „The potential application of Cupriavidus necator as polyhydroxyalkanoates producer and single cell protein: A review on scientific, cultural and religious perspectives.“ Applied Food Biotechnology 6.1 (2019): 19–34. • Biokunststoff aus CO2 mittels C. necator: Stöckl, Markus, et al. „From CO2 to Bioplastic–Coupling the Electrochemical CO2 Reduction with a Microbial Product Generation by Drop‐in Electrolysis.“ ChemSusChem 13.16 (2020): 4086–4093. • Wirtschaftlichkeit der Nutzung des C. necator: Pavan, Felipe A., et al. „Economic analysis of polyhydroxybutyrate production by Cupriavidus necator using different routes for product recovery.“ Biochemical engineering journal 146 (2019): 97–104.
Bioplastik: Bedeutet „biogen“ immer auch „abbaubar“?
Nachwachsend oder biogen bedeutet nicht, dass ein (Kunst-)Stoff auch biologisch abbaubar ist. Abbaubar sind etwa biopolymere Polymilchsäure (PLA) und Polyhydroxyalkanoate (PHA) oder Proteine, aber auch einige petrochemisch erzeugte aromatische Polyester. Persistent, also nicht schnell abbaubar, sind die petrochemisch erzeugten Massenkunststoffe wie Polyolefine wie PE, PP und PVC, PS oder PU. Sie verbleiben Jahre bis Jahrzehnte oder Jahrhunderte in Böden und im Meerwasser der Ozeane. Aber auch biogene Stoffe können persistent sein, wie Polymere aus Ölen, Schafwolle, bedingt auch Lignin. Der Bernstein ist ein Beispiel für persistente biogene Materialien (Türk, 2014, S. 55).
4.4 Neue Pflanzenzuchttechnologien Die Freisetzungen genveränderter, Zellulose oder Lignin „liefernder“ Nutzpflanzen war jedenfalls bis 2023 in der EU gesetzlich stark reglementiert. Sie fallen unter das Gentechnikrecht. Neue präzise biotechnologische Züchtungstechniken wie Crispr-Cas9 (Genome Editing) sind andererseits noch nicht lange etabliert. Sie sind nicht notwendigerweise transgen, sondern greifen in das Genom einer Pflanze ein mit „Ergebnissen“, wie sie durch Mutagenese oder klassische Züchtung auch erzielt werden könnten.
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4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
Grundsätzlich kann zwischen drei Anwendungsbereichen der Gentechnik unterschieden werden („grün“, „rot“, „weiß“ – also agrarisch-forstlich, medizinisch oder industrietechnisch). Nur im Fall der grünen Gentechnik stellt sich die „Freisetzungsfrage“. Unter dem Begriff Genome Editing versteht man eine Reihe neuartiger und präziser Genomveränderungstechniken. Diese wurden zunehmend seit Beginn der 2010erJahre entdeckt, erforscht und werden – im agrar- und hortikulturellen Bereich – auch angewandt. Seither erweiterte sich das Spektrum der über Crispr-Cas9- und vergleichbare Verfahren modifizierten Obst- und Gemüsesorten von zunächst Tomate und Orange (2014) über Gurken (2015) und Melonen (2016) auf Kiwi, Banane, Kakao, Papaya und andere (2018; vgl. Wang, 2019). Im Kontext der Bioökonomie können solche Verfahren auch beitragen, die Biomasseverfügbarkeit zu erhöhen. Genomeditierungstechniken wie Crispr-Cas9 ermöglichen es, schneller und präziser gewünschte Pflanzeneigenschaften zu erzielen als konventionelle Zuchttechniken oder auch die Mutagenese. Die ersten Pflanzen sind außerhalb Europas im Anbau. Krankheits- oder Pilzresistenz, Wachstumsgeschwindigkeit, Wurzellänge, Trockenresistenz sind einige der Zuchtziele (Ratner et al., 2016). Ziele der Resistenzzucht wurden schon erreicht. Bäume sind demgegenüber ein nachrangig beachtetes Forschungsobjekt. In der Plantagenwirtschaft erscheinen Anwendungen mittelfristig plausibel (Bewg et al., 2018), etwa mit schnell wachsenden Pappeln, Eukalyptus oder Bambus. Im Zuge der klimapolitischen Ambitionen, das Bauwesen zur Kohlenstoffsenke zu machen, kann Genomeditierung Beiträge leisten. Zellulose- oder Ligningehalte der Bäume oder Gräser können je nach Bedarf verändert werden. Aber es ist nicht trivial, die „Zuchterfolge“ aus dem Gewächshaus im Freiland zu replizieren oder umgekehrt (Chanoca et al., 2019; Jang et al., 2021; Fladung & Kersten, 2022). Grüne Gentechnik (Pflanzenzucht für Nahrungszwecke, aber auch die Forstwirtschaft)
• Molekulare Züchtung • Transgene Pflanzen (ab den 1990er-Jahren im Freiland, zunächst Mais, dann Baumwolle, Zuckerrohr, viele Gemüse, Pappeln) • BT-Toxin • Anreicherung mit Mikronährstoffen (Orange Maize) • Neue Züchtungstechniken, etwa Crispr-Cas9 • Anpassung der Pflanze an deren industrielle Verwendung • Etwa Veränderung der Ligningehalte von Holz (Pappel) oder Getreide Rote Gentechnik (Medizin, Veterinär) • Zellfabriken (Microbial Factories), z. B. Taxolgewinnung in Bakterien • „plantibodies“ als Impfstoffalternative
4.4 Neue Pflanzenzuchttechnologien
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Weiße Gentechnik oder Biotechnologie (industrielle Biotechnologie) • Fermentation, sonstige Biokatalyse • Technische Enzyme • Cellulase, Lipase, Protease, Amylase, Phytase, Xylase … synthetische Biologie („Programmierung“ von Bakterien)
Die Anfänge der Pflanzengentechnik liegen im Nahrungsmittelbereich. Sie brachten zunächst Resistenzzüchtungen etwa von Tomaten oder Getreide hervor (ab den 1980er-Jahren). Mit Bäumen – zunächst war dies und bleibt es bis Anfang der 2020er-Jahre die Pappel – gibt es ähnliche Bemühungen. Aber im Kontext der Nachhaltigkeit ist das Zuchtziel nun ein verändertes: Hier geht es etwa auch um eine erhöhte genetische Vielfalt der Wälder und auch der Arten und Spezies innerhalb von Baumgattungen (vgl. Abschn. 4.6). Etwa bezüglich Standortanpassungen werden der Genomanalyse, aber womöglich auch den biotechnologischen Genomveränderungen neben Risiken auf verschiedenen Ebenen auch mögliche positive Lösungsbeiträge zugeschrieben (Fernandez i Marti, 2018). Ein spezifisches technisches Hindernis für die Anwendung stellt die meist außerordentlich große Genomlänge sowie -komplexität wichtiger Nutzbaumarten dar (vgl. Cao, 2022). Von Ende 2021 sequenzierten 700 Pflanzenarten waren immerhin rund 200 Bäume und Gehölze. Die kleinsten Baumgenome haben das indische Sandelholz und der Pfirsichbaum. Die größten haben die bauwirtschaftlich bedeutende Fichte, die Weißfichte sowie Kiefern- und Tannenarten. „Die Bedrohungen für die biologische Vielfalt, die durch den Klimawandel entstehen, unterstreichen die Notwendigkeit eines besseren Verständnisses der genetischen Grundlagen phänotypischer Merkmale. Bei sesshaften, langlebigen Baumarten wird dies von größter Bedeutung, da der Erfolg von Populationen wahrscheinlich zu einem großen Teil von der bestehenden genetischen Variation abhängt. Die neuesten Technologien der Genbearbeitung (Crispr-Cas9) versprechen einen eleganten Ansatz, der die Genomik von Waldbäumen auf die nächste Stufe heben wird, indem er die rigorose Prüfung der Genfunktion und ihrer Rolle bei der Anpassung von Bäumen an ihre Umgebung ermöglicht“ (Angel Fernandez i Marti, 2018).
4.5 Exkursion: Crispr-Cas9 – Wurzeloptimierung in Israel und an anderen Orten Die Gewächshäuser der Pflanzenzüchter der Hebräischen Universität Jerusalem stehen in Rechovot im Süden von Tel Aviv. Dort wächst unter kontrollierten und von Wissenschaftlern überwachten Bedingungen viel Gemüse. Und das hat es in sich. Denn es könnte die Landwirtschaft der gesamten Region revolutionieren. „Unser Ziel ist es der-
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Abb. 4.5 Was wächst da? Ausblick aus einem Gewächshaus in Jordanien an der Grenze zu Israel. (Foto Jan Grossarth)
zeit, Pflanzen zu züchten, die kürzere Wurzeln haben“, erklärt der Professor Menachem Moshelion. Und zwar deshalb: Die kurzen Wurzeln vieler Gemüsesorten könnten schneller als eigentlich üblich Wasser aus der Erde aufsaugen. Solche Pflanzen ließen sich dann auf den Feldern im großen Stil einsetzen. Die Landwirtschaft Israels hat ein sehr gutes Bewässerungssystem (Abb. 4.5; Grossarth 2018). Sie ist von den Bedingungen der Wüste geprägt. Pflanzen auf den Feldern werden mit Tröpfchenschläuchen bewässert. Allerdings haben sie nur wenige Zentimeter salzfreien Boden für ihre Wurzeln zur Verfügung. Natürlich, sagt Moshelion, nutze er auch neue gentechnische Methoden, wie die Genscheren – etwa die sogenannte Crispr-Cas9. Aber er weiß auch, wie schwierig es ist, eine Sorte zu finden, die sich wirklich verkaufen lässt. Zwar geht es mit den neuen biotechnologischen Methoden schnell, in das Erbgut von Pflanzen einzugreifen. Auch lassen sich so schon problemlos Resistenzen gegen spezielle Pilze oder Herbizide ausbilden. Komplexe Fähigkeiten wie eine schnellere Durchlaufgeschwindigkeit von Wasser durch das Kapillarsystem einer Pflanze gentechnisch zu
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„programmieren“ ist aber noch nicht so richtig gelungen (Moshelion, 2020). Biologen in aller Welt arbeiten an solchen Aufgaben. In Deutschland lagen Ende der 2010er-Jahre beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) die ersten Anträge auf Genehmigung des Anbaus genveränderter Pflanzensorten vor. Sie betrafen zwei neue Rapssorten, die durch die sogenannte Punktmutation entstanden sind – also nicht durch das Einschleusen artfremder Gene. Wissenschaftler der Universität Kiel veränderten dank neuer Gentechniken ihren Versuchsraps so, dass dessen Schoten deutlich fester werden. Das Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie schaltete zwei Gene der Ackerschmalwand Arabidopsis thaliana aus, eines Kreuzblütengewächses und bevorzugten Studienobjekts vieler Pflanzengenetiker. Denn einerseits ist das Genom mit etwa einem Zwanzigstel des menschlichen Genoms relativ klein. Andererseits bestäubt sich die Ackerschmalwand normalerweise selbst. So sind die mütterlichen und väterlichen Kopien jedes Gens in einer Pflanze für gewöhnlich identisch. Daher kann man rasch jene Teile im Erbgut finden, die etwa den Unterschied im Blühverhalten oder in der Resistenz gegen Schädlinge ausmachen. Dies alles klingt recht einfach. Und es ist auch vergleichsweise preiswert. Ausschneiden, kopieren, einfügen. Umso wahrscheinlicher ist es, dass womöglich die Akzeptanz für den vermehrten Einsatz der „Genschere“ in der Landwirtschaft weiter wachsen wird. Forschungsprojekte, die wie ein Kapitel aus einem Science-Fiction-Roman klingen, sind längst Realität. In Kalifornien züchten Farmer mithilfe neuer Gentechniken hornlose Rinder. Sie orientieren sich dabei an einer Rasse wie dem Angus. Die hat von Natur aus keine Hörner. Üblicherweise brennen die Farmer ihren Kälbern nach der Geburt mit heißen Eisen die Hornanlage aus, um gesetzlichen Auflagen zur Haltung der Tiere zu entsprechen. Bei hornlosen Rindern ist das nicht mehr nötig. In Florida schwirren genmanipulierte männliche Moskitos der Firma Oxitec durch die Luft. Die sollen sich mit den Weibchen der Gelbfiebermücke Aedes aegypti paaren und so einen Nachwuchs zeugen, der aufgrund seines Erbgutes unfruchtbar ist. Davon versprechen sich die Behörden, gefährliche Krankheiten ausrotten zu können, welche die Mücken übertragen. Das schwedische Zuchtunternehmen Swe-Tree stattete vor mehreren Jahren Pappeln mit Genen von anderen Pflanzen aus. Das Ziel: Die Bäume sollten schneller wachsen. Sie sollen binnen kürzester Zeit mehr Biomasse in der Form von Holz schaffen als ihre komplett natürlichen Artgenossen. In dem Cold Spring Harbor Laboratory in New York gibt es seit einigen Jahren Tomatenpflanzen, deren Erbgut mit einer Crispr-Schere gentechnisch behandelt wurde. Sie wachsen heute nicht nur schneller, sie blühen auch eher und tragen mehr Früchte. Forscher der niederländischen Universität Wageningen haben auf eine ähnliche Art eine Kartoffel mit Resistenzgenen von Wildkartoffeln ausgestattet. Sie machten sie so gegen den Phytophthora infestans genannten Erreger der Kraut- und Knollenfäule resistent. Erste Freilandversuche zeigten, dass das Konzept aufging.
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Allerdings werden sowohl die Schweden als auch die Holländer ihre anvisierten Freilandversuche nun erst einmal vergessen können. Denn all ihre großen Erwartungen an Experimente und Zucht im Freiland sind 2018 enttäuscht worden. Damals hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) gegen die Empfehlung des Generalanwalts entschieden, dass alle Methoden der neuen Gentechniken unter die strengen europäischen Regulierungs- und Vorsorgestandards für Gentechnik fallen. Sogleich malte die Pflanzenzuchtbranche rund um Konzerne wie Bayer oder Syngenta bezüglich der Zukunft des Forschungsstandortes schwarz. „Europa läuft Gefahr, den Anschluss an andere Weltregionen zu verpassen“, sagte der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Joachim Rukwied. Und eine „deutliche Abkehr von Innovationen und Fortschritt in der Landwirtschaft“ machte der Bundesverband Deutscher Pflanzenzüchter (BDP) aus, der rund 130 überwiegend mittelständische Zuchtunternehmen vertritt. Auch eine eher subtil zu nennende sprachpolitische Schützenhilfe aus dem Bundesaußenministerium konnte bislang nicht helfen, weite Teile der öffentlichen Meinung hierzulande positiv zu beeinflussen. Das EuGH-Urteil führt für die Zuchtkonzerne und Wissenschaftler vor allem dazu, dass sie künftig aufwendige Risikoprüfungen finanzieren müssen. Auch werden sie ihre Produkte in den Geschäften als Gentechnik kennzeichnen müssen, was die Wahlfreiheit der Verbraucherinnen und Verbraucher wahrt, jedoch die Freiheiten der Landwirtschaft und Pflanzenzüchtungen einschränkt. Die EU-Kommission bemühte sich ab 2019 dann, das Urteil auszuhebeln, indem sie die Bedeutung der Biotechnologien für eine nachhaltige, klimaangepasste Landwirtschaft hervorhob; die politische Debatte darüber dauerte bis zum Sommer 2023 an. Die Fantasien, die mit der biochemischen Methode Crispr-Cas9 verbunden sind, ließen sich einfach in Science-Fiction-Romane integrieren: zum Beispiel die von genetisch optimierten Algen, aus denen Biosprit wird, von Baumstämmen, die im Dunkeln leuchten, oder auch, ganz profan, aber nützlich, von Krebsarzneimitteln, hornlosen Kühen, von Pilzen, die nicht mehr braun werden, oder von der Ausrottung der Malaria-Mücke in nur wenigen Jahren. Die Anwendung ist kinderleicht. Einfach zu haben war schon Ende der 2010er-Jahre zum Beispiel ein Laborset, mit dem jedes Kind eigene Bakterien kreieren kann. Wenige Hundert Dollar kostete das „Starter-Kit“ im amerikanischen Online-Shop The Odin. Es enthalte alles, was nötig sei, um mit dem „genetic engineering“ zu Hause zu beginnen, zumindest an Bakterien. Der Wissenssprung versetzte nicht nur Wissenschaftler in eine Gründerzeitstimmung. Auch Start-up-Unternehmer, vor allem amerikanische, aber auch die großen Konzerne aus der Agrar-, Chemie- und Pharmabranche steigen in die Forschung ein. Pharmakonzerne wie Bayer investieren Hunderte Millionen Euro in diese Forschung.
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In Berlin an der Charité forscht Stefan Mundlos, Professor am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik. „Wir erleben derzeit eine wissenschaftliche Revolution“, sagt er, „alle sind im Moment sehr aufgeregt.“ Für seine Forschung über angeborene Organfehlbildungen hat sich schon vieles erleichtert. Denn sein Team forscht mit Mäusen. Erwünschte Mutationen waren früher aufwendig herbeizuführen, heute ist es mittels der Crispr-Technik kinderleicht. „Crispr-Cas ist ziemlich easy“, sagt Mundlos. „Und die Anwendungsmöglichkeiten sind gigantisch.“ An der TU Dresden spricht der Biologe Frank Buchholz, ähnlich wie sein Berliner Forscherkollege, von einer kommenden „Revolution“. Er hat eine analoge Methode zum Crispr-Cas9 entwickelt und sie Brec1 genannt. China entwickelt schönere Koikarpfen, Biohacker in Kalifornien, fast noch im Teenageralter, versuchen sich an Bäumen, die mittels der Gene von Meeresalgen im Dunkeln leuchten. Crispr-Cas ermöglicht alle drei Varianten von Genveränderung: die Einschleusung artfremder DNA, die Einschleusung arteigener DNA oder einfach nur das „Wegschneiden“ einzelner Sequenzen. Am progressivsten scheint die Gesetzgebung in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und China zu sein. Dort gab es teilweise schon Experimente am menschlichen Embryo. Die Europäische Union begann die strikte Regulierung ab 2023 für solche genomeditierten Pflanzen zu lockern, deren Zucht mit arteigenem oder artverwandtem Erbgut auskommt (Einkreuzung von Wildspezies-Genomsequenzen in Zuchtsorten).
4.6 Holzressourcen aus dem Forst 4.6.1 Globale Waldflächen Wie groß sind die Holzressourcen, die nachwachsen werden oder können? Weltweit sind etwa ein Drittel der Landfläche oder 4,06 Mrd. Hektar Wald – und davon 45 % tropische, 27 % boreale Wälder. Damit gab es 2020 pro Mensch auf der Erde umgerechnet 0,52 Hektar Wald. • 93 % davon waren natürlich regenerierende Wälder und • 7 % Plantagenwälder. Der Anteil der Plantagenwälder allerdings steigt, insbesondere in Asien. Zwar geht weiter Waldfläche zugunsten von Landwirtschaft oder Städte- und Infrastrukturwachstum verloren. Doch die Rate des Waldverlustes nimmt seit 1990 ab (FAO, 2020). Von einem global einheitlichen Trend kann aber nicht die Rede sein. Manche Erdteile haben wachsende, andere schrumpfende Waldflächen. In Asien und Europa nehmen die Waldflächen seit den 1990er-Jahren wieder zu. In Südamerika und Afrika gehen sie hingegen deutlich zurück. Global verteilt sich die Ressource Holz zu 54 % auf nur fünf Staaten:
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• • • • •
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die Russische Föderation (20 % der globalen Holzressourcen), Brasilien (12 %), Kanada (9 %), die Vereinigten Staaten (9 %), China (5 %).
4.6.2 Möglichkeiten globaler Aufforstung Wie groß das Flächenpotenzial für Aufforstung wäre, ist umstritten. Die sogenannte Crowther-Studie der ETH Zürich bezifferte das globale Flächenpotenzial an degradiertem Land, das ohne oder mit minimalen Landnutzungskonflikten in Waldflächen umwandelbar wäre, auf rund 900 Mio. Hektar (Bastin et al., 2019). Das wäre annähernd so viel, wie die gesamte Landfläche der Vereinigten Staaten (983 Mio. Hektar) oder etwa 90-mal die deutsche Waldfläche (rund 11,4 Mio. Hektar). Einerseits brächte laut Crowther-Studie eine solche Aufforstung lokale Wasserkreisläufe wieder in „Ordnung“, könne lokale Wertschöpfung durch Holznutzung ermöglichen und die Biodiversität lokal erhöhen. Andererseits sind Nutzungskonflikte mit der Beweidung durch Nomaden zu erwarten. Diese Konflikte konnten durch die für die Studie ausgewerteten Satellitenbilder nicht identifiziert werden. Nomaden nutzen solche Flächen teils traditionell als Weideland. Und wo würden diese „neuen“ Bäume wachsen? In allen Erdteilen wäre ein Zuwachs der Waldflächen bis 2050 nötig, aber überproportional wiederum in den Vereinigten Staaten, in China, Indien, Brasilien und Kanada. Ein anderer oder ergänzender Ansatz zur Aufforstung wäre es, die Verbrennung von Holz zu Heizzwecken zu verringern. Eine Elektrifizierung des Heizens wäre dafür notwendig. Aber auch energieeffizientere (oder kleinere) Gebäude würden beitragen. Insbesondere in Asien und Afrika, aber auch in Südamerika ist das Volumen des genutzten Heizholzes pro Kopf jeweils höher als das Volumen des genutzten Rundholzes. Etwa die Hälfte der Holzernten wird global als Brennholz oder Holzkohle zum Heizen genutzt. Das ist wohl eine „Sünde“ gemessen am Ideal einer zirkulären Bioökonomie.
4.6.3 Wald und Klimaveränderungen Auch ist bei der Betrachtung künftiger Holzressourcen die zu erwartende Änderung der Artenzusammensetzung naturnaher Wälder aufgrund der klimatischen Veränderungen zu beachten. Aus europäischen Wäldern wird den Prognosen zufolge, jenseits der alpinen Hochlagen und von Skandinavien, die Fichte spätestens 2070 verschwunden sein. Aber auch die Buchenwälder werden dann auf dem Rückzug sein. Stattdessen dürften die Eichenwaldanteile steigen. Mediterrane Eichenarten oder kanadische Douglasien gelten als europäische Hölzer der erderwärmten nahen Zukunft. Sie müssten gezielt gepflanzt werden. Das Tempo der natürlichen Baumartenmigration kann mit der Geschwindig-
4.7 Ressourcen der Zellstoff-Bioökonomie
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keit der globalen Temperaturveränderungen nicht mithalten (Pearson, 2006). Als begrenzender Faktor des künftigen Waldwachstums gilt vor allem der mangelnde Niederschlag, weniger die steigende mittlere Temperatur (Unseld, 2017, S. 44).
4.6.4 Forstforschung in der EU Die Europäische Union förderte Anbau und Verwendung des Rohstoffes Holz maßgeblich im Rahmen des Förderprogramms „Horizon 2020“ (Forschung und Innovation Forst). Zuletzt gab die EU dafür etwa 460 Mio. Euro (2015–2017). Hinzu kam etwa die EU-Holzbauinitiative „Build in Wood“ (2019–2023). Es wird dafür mit der eingängigen Zahl geworben, dass jeder Kubikmeter nachgewachsenen Holzes eine Tonne CO2 speichere. Holz sei im innovativen Sinne ideal als Baustoff für die Vorfertigung großer Bauteile, es trage zur Abfallverringerung im Bauwesen bei, habe ein gutes Verhältnis von Gewicht zu Festigkeit – und die europäischen Wälder wachsen bereits seit Jahren zu: Dadurch lieferten sie durchschnittlich mehr als 800 Mio. Kubikmeter Holz im Jahr (EU, 2023).
4.6.5 Nachhaltig zertifizierte Forstwirtschaft Die nachhaltige Waldbewirtschaftung wird durch etablierte Zertifikate wie das Forest Stewardship Council (FSC) seit vielen Jahren sichtbar und marktgängig gemacht. Mehr als zwei Drittel der deutschen Waldfläche sind nachhaltigkeitszertifiziert. Das FSC-Siegel war eines der ersten Nachhaltigkeitszertifikate überhaupt. Zertifikate für das nachhaltige Bauen verlangen die Verwendung solcher Hölzer. Neben ökologischen Kriterien verlangt das FSC-Siegel eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und den Schutz traditioneller Waldnutzungsformen, wobei jeder Staat eigene angepasste Kriterien auf Basis eines Kataloges definiert.
4.7 Ressourcen der Zellstoff-Bioökonomie Das Ressourcenpotenzial der deutschen Bioökonomie insgesamt wird vom Thünen-Institut erfasst und in eindrucksvollen Stoffflussdiagrammansammlungen veröffentlicht. Hier ist für die Zwecke der Bau-Bioökonomie vor allem festzustellen, dass der Biomasseertrag der Äcker und Weiden deutlich höher ist als der der Wälder (Pillen et al. 2020). Diese Erkenntnis steht entgegengesetzt zur wissenschaftlichen und politischen Aufmerksamkeit, die der Holzbau im Vergleich zu agrarbasierten Baustoffen erfährt. Die agrarische entnommene Trockenmasse betrug in Deutschland (2015) etwa 137 Mio. Tonnen jährlich, die der Forste hingegen nur 48 Mio. Tonnen. Allerdings wird der Großteil der agrarischen Ernte als Futtermittel (65 % oder 89 Mio. Tonnen) verwendet, weshalb die
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stoffliche Nutzung des Holzes anteilig deutlich größer ist (71 % oder 34 Mio. Tonnen Trockenmasse). Die energetische Nutzung der Biomasse lag 2015 in Deutschland insgesamt bei 26 % oder 48 Mio. Tonnen Trockenmasse (Bringezu et al., 2020). Auch wäre die Nutzung der Recyclingstoffströme des Holzes weiter zu verbessern (Abschn. 8.2.7.7; Abb. 4.6). Recyclingholz trägt allerdings schon heute insgesamt mehr als die Hälfte der gesamten Menge der Rohholz-Verwendungsmenge aus dem Forst bei. Das Mengenverhältnis vom Recycling- zum Rohholz-Input beträgt 57 % (Bringezu et al., 2020). Der Anteil an Kaskadennutzung ist in Deutschland schon als vergleichsweise hoch zu betrachten: Rund 50 % des verarbeiteten Holzes werden vor der Verbrennung oder Kompostierung nochmals stofflich genutzt, also dem „Downcycling“ oder Recycling zugeführt. „Die Werte zeigen, dass die kaskadenförmige Verwertung von Holz in Deutschland bereits einen hohen Stand erreicht hat“ (Bringezu et al., 2022, S. 67). Bezogen auf Recyclingmöglichkeiten wird im Altholz ein großes Potenzial gesehen, aber es gibt auch große Schwierigkeiten wegen Formaldehyd-, Melamin- und anderer
Abb. 4.6 Dämmstoff aus Zellulosefasern. (Foto Jan Grossarth)
4.8 Holzbau-Innovationen
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Stör- oder Schadstoffkontaminationen. Auch steckt etwa in der stark wachsenden Anzahl von Rotoren von Windkraftanlagen großes und stark steigendes Recyclingpotenzial, die im Inneren, wie kaum bekannt ist, aus großen Mengen Balsaholzes gefertigt sind (Mamanpush et al., 2023).
4.8 Holzbauinnovationen 4.8.1 Zellstoffwerkstoffe Holzressourcen und Roh- und Reststoffe der holzbasierten Bioökonomie sind nicht nur für den Holzbau anwendbar. Auch andere Sektoren haben daran ein Interesse. Insbesondere dürften die roh- und reststofflichen Sektorenverbindungen von der Papier- in die Baubranche künftig zunehmen. In Innovationsstudien nennt die Papierindustrie selbst etwa baulich nutzbare Papierwerkstoffe wie: • Honigwaben-Sandwichkerne für den Leichtbau, deren Geruchsabsorptionsfähigkeit und Schallschutz hervorgehoben werden (Papiertechnische Stiftung (PTS) 2015), • sehr feste nanofibrillierte Cellulose, • Fassadendämmungen aus witterungsfestem Papier, • papierene PV-Modulträger für Dächer, • Beton, der durch Papierfasern bewehrt ist („Papierbeton“). Bauen mit Papier ist bereits in kleineren Einzelfällen als Tragwerk erprobt – etwa in einem japanischen Gartenpavillon; größer skalierbare Anwendungsfelder werden erwartet (Knaack, 2022). Wie diese Innovationen aus Sicht des zirkulären „Ideals“ der Sortenreinheit und Trennbarkeit zu bewerten sind, wird sich zeigen. Weitere holzbasierte Innovationen sind Klebstoffe und Kunstharz aus Lignin. Der folgende Abschnitt vertieft die innovativen bioökonomischen, Lignozellulose-basierten Baustoffe.
4.8.2 Brettschichtholz und Brettsperrholz Verschiedenen innovativen Holzwerkstoffen wird besondere Leistungsfähigkeit zugesprochen. Das ist etwa der Fall bei CLT (Cross Laminated Timber), dem Kreuzlagenholz aus kreuzweise verleimten Brettern. Sie sind nicht nur im Massivholzbau oder für Deckenkonstruktionen einsetzbar, sondern auch im Verbund mit Beton als Hybriddecken. Brettsperrholz hingegen besteht aus parallel verklebten Brettern. Furnierschichtholz (Laminated Veneer Lumber, LVL) sind dünne verklebte Holzfurniere (Marko et al. 2016). Unter dem Gesichtspunkt der Trennbarkeit und Sortenreinheit ist auch das genagelte Brettstapelholz interessant, wenn es auch seltener verwendet wird als die anderen drei Werkstoffe.
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CLT wird als Gamechanger bezeichnet, denn es macht Holzbaustoffe auch für vieletagige Bauwerke und den Ingenieurbau attraktiver. Durch verklebte Hölzer eignen sich auch Laub- und dünnstämmigeres Weichholz für die Errichtung konstruktiver Wände, von Decken- und Dachelementen bis nach Herstellerangaben zu 16 m Länge, 3,45 m Breite, 35 cm Dicke mit Festigkeitsnorm C24, wobei formaldehydfreie Klebstoffe verwendet würden (Storaenso, 2021). Das angeblich weltweit erste Gebäude, das aus Laubholz-CLT errichtet und 2017 eröffnet wurde, war das Maggi‘s Cancer Care Centre im britischen Oldham. Für das Brettsperrholz wurde das Holz vom amerikanischen Tulpenbaum verwendet, einer Magnolienart. Das daraus gefertigte Material weist ein besseres Verhältnis der Zugfestigkeit zum Materialgewicht auf als Beton und Stahl (Americanhardwood, 2023). Später wurde, ebenfalls in Großbritannien, die Kingsdale School Sports and Music Hall errichtet. Eine frühe CLT-Dachkonstruktion erhielt ein Wintergarten im britischen Sheffield schon im Jahr 2007 (PRS, 2023). Ein im Kontext einer herausragenden architektonischen Gesamtleistung beachtetes „späteres“ Tragwerk aus CLT erhielt etwa das 2020 errichtete Museum Andersen Hus im dänischen Odense (Abb. 4.7).
Abb. 4.7 Schönheit des Brettschichtholzes: Foyer des Andersen Hus in Odense. (Foto Jan Grossarth)
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Auch Hochhäuser werden weltweit seit einigen Jahren aus CLT errichtet. Zu nennen sind etwa Mjostarnet (2019) in Norwegen, das 85,4 m hoch ist (Dach & Holzbau, 2019), oder das Wohnhochhaus Woho in Berlin Kreuzberg, in Holz-Hybridbauweise mit geplanten 100 m Höhe (UBM, 2022). CLT bietet im Vergleich zu Vollholz auch für tragende Bauteile vielteiliger Bauwerke vielversprechende Nutzungsoptionen. Vor allem aber erweitert es die Rohstoffbasis. Seit Anfang der 2010er-Jahre stehen vor allem Birke und Buche im Fokus entsprechender Forschung über CLT-Anwendungen (Abb. 4.8). Nicht nur im Maggi’s Cancer Care Centre kam Tulpenbaum zum Einsatz, der im Amerikanischen Yellow Poplar heißt (Espinoza & Buehlmann, 2018). Nur wenige Forschungsarbeiten untersuchten die KUP-geeignete Pappel, insbesondere die „Robusta“ wurde hier erforscht – allerdings manchmal gekreuzt verklebt mit anderen Arten, wie etwa der Walnuss oder Kastanie, wodurch sich etwa die Nutzung solcher Hölzer aus Agroforstsystemen in Wert setzen ließe (ebd.; Abschn. 4.8.4). Während sich die Produktion von CLT weltweit noch überwiegend auf Mitteleuropa und Skandinavien konzentriert, wo es auch entwickelt wurde, wird angenommen, dass der größte Teil des Wachstums ab den 2020er-Jahren außerhalb dieses Kontinents statt-
Abb. 4.8 Brettschichtholz aus der Pappel: Geeignet für höhere Aufgaben? (Foto Institut für Holzbau der Hochschule Biberach)
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finden wird. Noch wird CLT weit überwiegend aus Fichte, Kiefer, Lärche und Douglasie hergestellt, aber es ist ein steigendes Interesse an der Verwendung von Laubholzarten zu verzeichnen (Espinoza & Buehlmann, 2018). So fertigt der Hersteller Pollmeier in Eisenach seit einigen Jahren Buchen-Furnierschichtholz und vermarktet es als „BauBuche“ (Abschn. 4.8.3). Hasslacher Norica, ein österreichisches Forstproduktunternehmen, hat in Lemberg, Österreich, ein Haus aus Birken-CLT gebaut. Und Waugh Thistleton, ein Architekturbüro in Großbritannien, ließ eine Fabrik und den Hauptsitz des Möbelbüros Vitsoe aus Buchen-CLT errichten. Es gibt auch ökologische und langfristige ökonomische Erwägungen, die für eine vermehrte Nutzung von Laubholz sprechen. Das ist etwa die veränderte Zusammensetzung einiger Wälder in Mitteleuropa, wo zunächst die Buche, dann Eichenarten zunehmend auftreten sollen. Ebensolches CLT wird auch von der Klimawissenschaft als Gamechanger für den Holzbau im Wettbewerb mit dem Beton angesehen. In Asien wird vor allem CLT mit Bambusanteilen eine große Zukunft zugesprochen. Der ist botanisch eigentlich ein Gras und wächst vielfach schneller als Waldbäume.
4.8.3 Exkursion: Die Erfindung der Buche als Bauholz Der Wald steckt voller Geschichte. Man sieht das zum Beispiel in der Eingangshalle des großen Sägewerks im thüringischen Creuzburg. Hier sind die Fundstücke der vergangenen Jahre ausgestellt – entnommen aus Baumstämmen, die aussortiert werden mussten, weil mittendrin im Holz alte Metallteile steckten. Inmitten der Bäume finden Mitarbeiter des Sägewerks bis heute zum Beispiel eingewachsene Hufeisen, Patronen, Bombensplitter oder Isolierteile von Stromkabeln. Buchen können Hunderte Jahre alt werden; die Fundstücke zeugen von frühindustriellen Zeiten, Kriegsverbrechen, Wiederaufbau. Aber auch die Bäume selbst erzählen Geschichten vom Zeitgeist. In der Bundeswaldinventur, dem großen Bericht des Bundes, der alle zehn Jahre erscheint und 2011/12 in der dritten Auflage veröffentlicht wurde, gibt es Alterspyramiden und Populationsdiagramme. Was sie verraten: Der deutsche Wald wird insgesamt älter und – sozusagen – „grüner“. Die jungen Wälder sind in der neuesten Waldinventur schon zu 51 % als sehr naturnah oder naturnah eingestuft, die reifen Wälder („Hauptbestockung“) erst zu 36 %. Naturnah, das heißt: Es gibt mehr Altholz für die Vögel, die Bäume werden älter und dicker und es gibt vor allem immer mehr Laub- und Mischwald und anteilig weniger Nadelwald. So wollen es die zunehmend ökologisch geschulten Förster und Waldpolitiker. Sie wollen, dass mehr Tierarten im Wald leben, die Bodenqualität steigt, der Wald weniger empfindlich wird für Orkanschäden oder Borkenkäferplagen. Das alles leistet der Mischwald. Besonders drastisch war der forstpolitische Wandel im Gebiet der früheren DDR: Lernten dort die Forstschüler noch die Technik der Rodung und des Kahlschlags und der schnellen Aufforstung, so stehen heute im ganzen Land Naturver-
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jüngung, behutsame Nachverdichtung und ökologisches Gleichgewicht auf dem Lehrplan. Irgendwann wird es in Zukunft also erstmals seit Jahrzehnten wieder mehr Laub- als Nadelbaumfläche geben. So war es schon in früheren Zeiten gewesen. Vor etwa 100 Jahren kippte dann das Verhältnis zugunsten der Nadelbäume. Denn sie wachsen schneller und lassen sich besser industriell verarbeiten. Dass es heute so viele Kiefern und Fichten gibt, gründet aber vor allem in der Nachkriegszeit. Denn die meisten Bäume, die heute gefällt werden, sind Kinder der 1950er- und 1960er-Jahre: Damals war es Konsens, dass die Wirtschaft wachsen sollte. Also pflanzte man auch im Wald, was schnell wuchs: im Westen Fichten, in der DDR vor allem Kiefern. 25 % aller Bäume im deutschen Wald sind heute Fichten, 22 % Kiefern. Sägewerke und Holzindustrie können diese Bäume früher verarbeiten und mit Kiefern lassen sich große freie Flächen, wie sie im Krieg entstanden waren, einfacher aufforsten. Eine Buche nimmt laut der neuesten Waldinventur im Jahr durchschnittlich rund 10 Kubikmeter je Hektar zu, eine Fichte rund 15 Kubikmeter. Seit den 1980er-Jahren hielt auch in der Forstwirtschaft das ökologische Denken Einzug. Zunehmend wurden mehr Laubbäume gepflanzt. Bei den 1–20 Jahre alten Bäumen ist nun im deutschen Wald erstmals wieder deutlich mehr Laubholz kartiert worden. Das trifft die Holzindustrie: Denn sie hat sich über die Jahrzehnte darauf eingestellt, dass mehr Fichten und Kiefern nachwachsen. Darauf sind die Sägewerke eingestellt. Die meisten sind nur für das – weichere – Nadelholz gemacht. „Buche wächst langsamer, die Leistungsfähigkeit des deutschen Waldes nimmt ab“, sagt Lars Schmidt, Hauptgeschäftsführer des Säge- und Holzindustrieverbands. Während die einen klagen, hat das erste große Unternehmen der Branche beschlossen, sich auf den Trend zur ökologischen Aufforstung einzustellen. Es ist Pollmeier in Creuzburg. Es fertigt als Erstes aus Laubholz einen neuen Baustoff, aus dem Hallen, Windräder oder Hochhäuser gebaut werden können. Hier in Thüringen, nahe Eisenach, an der früheren innerdeutschen Grenze, gibt es jetzt das zum Zeitpunkt seiner Gründung erste Sägewerk in Europa, das in großem Stil Buchenholz zu Baustoffen verarbeiten kann. Furnierschichtholz heißen die dicken Balken, die bis zu 35 m lang sind und in die Welt exportiert werden. Pollmeier investierte 105 Mio. € in das Werk, das im Sommer eröffnete. Hier werden die Bäume erst gekocht, dann von außen bis zum Kern geschält. Die dünnen Platten, die so entstehen, werden getrocknet, verleimt, es entstehen massive Balken, die so fest sind, dass man mit ihnen angeblich auch Hochhäuser bauen kann. Ansonsten wurde Laubholz bisher, wenn überhaupt, industriell vor allem von der Möbel-, Zellstoff- oder Parkettindustrie abgenommen. Einen Großteil verheizen die Deutschen aber in ihren Kaminen. Für den Bau taugte Laubholz nicht. Dabei stehen auch hier im Westen von Thüringen die Wälder voll von Buchen. Und das Buchenholz dürfte, nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, künftig noch günstiger werden. Laut Waldinventur wächst der Holzvorrat, der im Wald steht, bei keiner Baumart so schnell wie bei der Buche. Fichtenholz hingegen ist immer weniger da.
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4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
4.8.4 Ein Beispiel für die Erschließung neuer Holzressourcen: Die schnellwachsende Pappel als Bauholz Pappelholz aus Kurzumtriebsplantagen (KUP) oder Agroforstanbausystemen werden entweder in Biomasse- oder Heizkraftwerken zu elektrischem Strom umgewandelt oder stofflich etwa in Bioraffinerien verwertet. Gemäß dem Ideal der kaskadierenden Nutzung nachwachsender Stoffströme sollten sie aber auch auf ihre Eignung als hochwertige Baustoffe untersucht werden, als Brettschichtholz oder Brettsperrholz (Cross Laminated Timber, CLT) aus Pappelstäbchen. In eine Bioraffinerie könnten solche Baustoffe nach Ende der Gebäudelebenszeit grundsätzlich immer noch gegeben werden. Aus den dünnen Stämmen der etwa 4–8 Jahre gewachsenen Pappeln lassen sich rechteckige Stäbe zuschneiden, diese dann zu Brettern und anschließend zu Brettschichtholz bzw. Brettsperrholz verkleben. Das Verfahren ähnelt der Herstellung von CLT auch als tragende Bauteile aus Weich- und Laubholz wie der baustofflich lange vernachlässigten Buche, das sich – von europäischer Grundlagenforschung ausgehend – seit wenigen Jahren global in der Baupraxis durchsetzt (Espinoza & Buehlmann, 2018). Die Pappel weist für dieses Vorhaben, das am Institut für Holzbau der Hochschule Biberach in den Jahren 2022 und 2023 erstmals in zwei Abschlussarbeiten untersucht wurde (Abb. 4.8), besondere Vorteile auf: Sie ist durch europäische Baustoffnormen bereits als Rohstoff für verklebte Produkte zugelassen. Die entsprechende Norm DIN EN 14080 Abs. 5.2.2 erlaubt ein Verkleben von „Pappel (anwendbare Klone: populus x euramericana cv „Robusta“, „Dorskamp“, „I214“ und „I4551“)“ – und zwar als einzige Laubholzart. Ein Bauprodukt aus Pappel dürfte also heute schon als normenkonform in den Markt gebracht werden. Bezüglich der Realisierung von Brettschichtholz und Stäbchensperrholz aus Pappelstäbchen ergeben sich allerdings einige technische, wirtschaftliche und ökologische Fragestellungen (Schänzlin, 2022, siehe Kasten). Aspekte, die über einen Erfolg von Pappel-CLT im Bauwesen entscheiden werden
a) Herstellungsrelevante Aspekte • Abmessungen der optimalen Querschnitte für die Fertigung • Optimierter Verklebungsprozess • Ausbildung der Keilzinkenstöße • Erzielbare Sortierklasse des Ausgangsmaterials • Tauglichkeit biobasierter Klebstoffe, etwa auf Ligninbasis • Konsequente Berücksichtigung der Recyclingfähigkeit des Pappel-CLT unter Nachhaltigkeitsaspekten (weitere Kaskadennutzung, energetische Endnutzung) b) Tragfähigkeitsrelevante Aspekte • Einfluss der Stäbchenzuschnitte auf die Festigkeit
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• Wie wirken Äste auf die Tragfähigkeit? • Erreichbarkeit der Festigkeit von fehlerfreiem Holz (nach DIN 68364) c) Wirtschaftliche Aspekte • Optimale Querschnittsgröße der Stämme unter Berücksichtigung der Kleberfläche • Betrachtung der Wirtschaftlichkeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette vom Produzenten (Landwirtschaft) über die Verarbeitung (Sägeindustrie), Baustoffherstellung und -handel bis zum Endkunden oder der Endkundin. • Rückkopplung zu den herstellungsrelevanten und tragfähigkeitsrelevanten Aspekten zur Optimierung der Querschnitte und der Herstellungsprozesse d) Nachhaltigkeitsaspekte, etwa agrarökologische. Unter welchen Bedingungen und in welchen Schlagflächen können Pappelplantagen oder Pappel-Feldrandstrukturen zu den agrarpolitischen Zielen erhöhter Biodiversität, erhöhter Bodenfruchtbarkeit und eines sinkenden Pflanzenschutzmittelbedarfs beitragen (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, BMEL 2019)?
Bezüglich der Ressourcenfrage tun sich – sowohl praktisch umgesetzt als auch wissenschaftlich begleitet – mehrere Querverbindungen von der Landwirtschaft zur Holzproduktion auf, wie etwa über Agroforstsysteme, in denen Bäume Funktionen der Beschattung oder des Erosionsschutzes übernehmen, oder die vermehrte Anpflanzung von Feldrandhecken und Baumstreifen, die aus Gründen der Biodiversitätsförderung (Brutvögel, Nutzinsekten) oder gleichfalls des Wind- und Sonnenschutzes präferiert werden (Wassererhaltung im Boden durch Verringerung der Verdunstung). Auch hierzu eignen sich Pappelbepflanzungen (Deutsche Bundesstiftung Umwelt, 2010). Jedenfalls ist der Anteil stofflich genutzter nachwachsender Rohstoffe vom Agrarland stark ausbaubar (Abb. 4.9).
4.8.4.1 Eine neue Ressourcenquelle für den Bau? Kurzumtriebsplantagen (KUP) in der Landwirtschaft Neben den Pappeln werden auch Weiden, Birken, Erlen und Robinien zu den schnell wachsenden „Energiehölzern“ gezählt. Im Falle der Pappel beträgt das Umtriebsintervall mindestens 3 Jahre und bis zu 10 oder maximal 20 Jahre. Im europäischen Förderrecht werden KUP mit dem Begriff „Niederwald im Kurzumtrieb“ (KN-Code 06029041) klassifiziert. Diese dürfen maximal 20 Jahre stehen. Im Kontext der deutschen Energiewende kommt dem Ausbau der Biomasse eine bedeutende Funktion zu. Biomasse trägt zur Sicherung der Stromversorgung bei, auch um eine Grundlast in sonnen- und windknappen
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4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
Abb. 4.9 Nachwachsende Rohstoffe. (Skizze JG)
Zeiten zu sichern. Hierzu tragen überwiegend Mais oder Stroh bei – aber auch sogenannte holzartige Biomasse, zu der Pappeln oder Weiden aus KUP zählen (Schug 2022). In der Agrarwissenschaft hat sich hierfür der Fachterminus „Energieholzanbau“ etabliert Fachagentur für Nachwachsende Rohstoffe (o. D.). Angesichts des vielschichtigen staatlichen Förderrahmens ist der Sinn der Biomasseverstromung vor dem Hintergrund von Flächenverbräuchen, technischen Möglichkeiten, klima- und umweltpolitischen Aspekten und strukturpolitischen Erwägungen (Wertschöpfung im ländlichen Raum) seit den frühen 2000er-Jahren Gegenstand von Diskussionen. Die Anbaufläche von KUP für die energetische Nutzung ist im Verhältnis zu „klassischen“ Biomasseanbaupflanzen Mais, Getreide, Rüben und Gräser immer noch äußerst gering. Es gibt keine spezielle Statistik, die KUP ausweist, aber die FNR veröffentlicht Anbauflächen für nachwachsende Rohstoffe auf Ackerland in der Sammelrubrik „Festbrennstoffe“ (KUP, Miscanthus und andere), für die im Jahr 2021 insgesamt 11.200 Hektar verwendet wurden (FNR, 2022b). Auf diesem niedrigen Niveau liegt der Anbau seit mehreren Jahren. Die Anbaufläche der KUP liegt damit bei deutlich weniger als einem Prozent der Anbaufläche der Energiepflanzen (Mais, Getreide, Gräser, Rüben und andere) mit insgesamt 1,57 Mio. Hektar, wovon allein 56 % auf den Mais entfielen. Allerdings gibt es mehrere Gründe anzunehmen, dass sich in Zukunft die Verhältnisse zugunsten der KUP ändern werden. Die Biomasseverstromung etwa von Mais weist deutlich schlechtere Flächennutzungsbilanzen auf als die Installation der zunehmend effizienten Windkraft- oder PV-Anlagen. Die Substitution von Mais lässt Nutzungsräume für KUP erwarten. Schon vor Jahren war ein mittelfristiges Flächenpotenzial von 1 Mio. Hektar für KUP in Deutschland prognostiziert worden (Bundesumweltministerium, BMU, 2012). Eine Entwicklung der Technologien des „grünen Wasserstoffes“ oder von Stromspeichertechnologien könnte die Bedeutung der Biomasse für die Stromversorgung verringern. Ein Gutachten des Umweltbundesamtes betonte die ökologischen Vorteile von KUP gegenüber dem Mais. Es stellte auch fest, dass Biomasseenergie per se „gegenüber anderen erneuerbaren Energiequellen eine äußerst flächenineffiziente Form der
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Energiegewinnung darstellt“ (Umweltbundesamt, UBA, 2010). Hier werden KUP durchaus auch schon im Kontext damals erwarteter Rohstoffengpässe von Holz betrachtet. Demnach wären allein in Deutschland bis 2050 rund 1,3 Mio. Hektar Anbaufläche für KUP nötig, um die Engpässe auszugleichen (ebd., S. 52). Auch über eine Verwendung von Pappel aus KUP wird bisher im Wesentlichen im Sinne einer Verwendung als Brennstoff berichtet (Veste & Böhm, 2018). Auf die Pappelernte spezialisierte Unternehmen verbrennen sie zur Energiegewinnung, obwohl ihr Brennwert nicht besonders hoch ist (Tab. 4.2). Auch werden sie etwa als Vieheinstreu verwendet oder – „immerhin“ – zur Produktion von Spanplatten (Lignovis, o. D.; Garnica, 2017). Die Verwendung von Pappelhackschnitzeln zur Spanplattenfabrikation lässt sich nicht durch die amtliche Statistik quantifizieren. Sie stellt immerhin eine bestehende sektorale Querverbindung dar. Die Heizwerte der Pappel sind denen von Fichte, Kiefer, Buche oder Eiche hingegen gleichwertig (Tab. 4.2). Spanplatten werden nach ihrer Nutzung in Hackschnitzelheizanlagen verbrannt. So tritt in langer Frist gesehen keine Nutzungskonkurrenz der Rohstoffverwendung auf. Eine baustoffliche Nutzung der Pappel kann lediglich als weitere Kaskadenstufe betrachtet werden. Und es tut sich noch ein weiteres Einsatzgebiet auf: Pappeln sollen künftig auch vermehrt als Torfersatzstoff verwendet werden (FNR. 2022a). KUP-Anbausysteme sind für Landwirtschaftsbetriebe förderwürdig im Sinne der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik. Der Anbau kann schon auf eher minderguten Böden ab 30 Bodenpunkten wirtschaftlich sein. In reinen KUP-Systemen können von mehr als 1000 bis zu 13.000 Bäume je Hektar wachsen, in Agroforstsystemen sind es rund 100 Bäume je Hektar (FNR). Somit liegt der Hauptfokus aus Ressourcensicht im Bereich der KUP. Im Falle der Agroforstsysteme empfiehlt die FNR die Bepflanzung mit „Ahorn, Esche, Erle, Wildkirsche, Walnuss, Schwarznuss, Hybrid-Nussarten, Speierling, Elsbeere, Robinie, Linde und Ulme“; hier muss ein ökosystemisch sinnvoller Einsatz von Pappeln noch diskutiert werden.
4.8.4.2 Hybrid-CLT-Baustoffe aus gemischten Holzarten CLT verspricht eine höherwertige und auch für tragende Bauteile vielversprechende Nutzungsform der KUP-Hölzer. Während bislang vor allem Birke und Buche im Fokus
Tab. 4.2 Der Heizwert der Pappel ist etwa gleichwertig mit denen gängiger Laub- und Nadelhölzer. (Q. LWF Freising, 2003) Bei 10 % Wassergehalt, je kg Holz Kiefer und Fichte je
4,61 kWh
Eiche und Buche je
4,43 kWh
Pappel
4,43 kWh
134
4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
Tab. 4.3 Forschung über CLT aus Laubholz seit 2010. (Auswahl JG, nach Espinoza & Buehlmann, 2018, S. 4) Land der Studie
Untersuchte Holzart(en)
Kanada, Österreich
Birke
China
Eukalyptus
Schweiz, Deutschland
Birke
USA
Hybridpappel, amerikanischer Tulpenbaum
Deutschland
Birke und Esche
Italien
Pappel und Kastanie
Kanada
Espe, Birke und Ahorn
entsprechender Forschung über CLT-Anwendungen standen, haben auch einige wenige internationale Forschungsvorhaben die Eignung verschiedener Pappelsorten zur Verklebung von CLT untersucht (Espinoza & Buehlmann, 2018). Nur wenige Forschungsarbeiten untersuchten die KUP-geeignete Pappel – insbesondere die „Robusta“ wurde hier erforscht, allerdings manchmal mit anderen Hölzern wie Walnuss oder Kastanie kombiniert (Tab. 4.3).
4.8.4.3 Wie ökologisch nachhaltig sind KUP? KUP werden bevorzugt auf Niederertragsstandorten oder im Zuge von Landschaftsschutz- oder Rekultivierungsmaßnahmen angelegt (Deutsche Bundesstiftung Umwelt, DBU, 2010). Anders als bei Weiden ist zusätzliche Düngung von Pappeln in der Regel nicht von Vorteil und daher unüblich (ebd., S. 10). Der Anbau von Hybrid-Pappeln eignet sich zur Renaturierung degradierter Uferbereiche (Fortier et al., 2016). Als mehrjährige Tiefwurzler kommt ihnen eine Funktion im Bodenwassermanagement zu, etwa präventiv zur Verhinderung von Überschwemmungsereignissen nach Starkregen. Ihr Laubfall trägt zum Humusaufbau bei in der Größenordnung von 1 Tonne je Hektar KUP (DBU, 2010). Die Effekte auf die Artenvielfalt sind dann positiv, wenn die KUP in Blöcke von je 1 Hektar begrenzt sind und Grünstreifen und Wege integriert werden (ebd., S. 27). Im Vergleich zur ackerbaulichen Nutzung weisen Pappel-Anpflanzungen vielfach ökologische Vorteile auf (ebd., S. 54). In regionalen Einzelfallstudien wurde eine ökonomische Vorteilhaftigkeit von Agroforstsystemen mit Pappelstreifen nachgewiesen, so etwa für Sorghum-Weizen-Fruchtfolgen in Indien (Chavan et al., 2022). Während Weiden eher auf Ackerflächen mit besseren Bodenqualitäten angepflanzt werden und dadurch in höherer Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion stehen, erfolgt der Pappelanbau in Europa oft auf Brach- oder Weideland (vgl. für Schweden Xu & Mola-Yudego, 2021). Über 100 Jahre gerechnet ist die Pappel (hier Populus spp. tacamahaca) nach ersten Schätzungen imstande, über Aufforstungen im Rahmen der Pläne der EU-Kommission und stoffliche Nutzung weniger CO-Äquivalente im Holz zu speichern als Weide
4.8 Holzbau-Innovationen
135
und Lärche, aber mehr als Espen und Birke (Grafik 4.1). In diesem Vergleich erreicht die Pappel etwa 40 % niedrigere Werte als die Weide. Um auf diese Werte zu kommen, wurde mit einer sehr unterschiedlichen Pflanzdichte kalkuliert, die wissenschaftlichen Empfehlungen über die optimale Biomasseproduktion je nach Pflanzenart folgten. Dies waren 1500 Espen und Pappeln je Hektar, 1600 Birken und Lärchen, 2000 Fichten und 14.800 Weiden. Zur Interpretation der Zahlen zur CO2-Speicherung ist es aber wichtig zu sagen, dass die Pappel auch deshalb so viel schlechter als etwa Lärchen abschnitt, weil hier ein größerer Anteil an energetischer Nutzung unterstellt wurde (ebd., S. 11).
Grafik 4.1 Der Holzbau als Kohlenstoffspeicher. Die konkrete Pflanzdichte oder die Wachstumsgeschwindigkeit bestimmen die langfristige Treibhausgasbilanz des Anbaus verschiedener Baumarten. Im Vergleich wäre die Weide anderen Arten vorzuziehen. (JG, nach Lutter et al., 2012, S. 8)
4.8.4.4 Aspekte einer Wirtschaftlichkeitsanalyse der Pappel Was die Wirtschaftlichkeit der Pappel-KUP betrifft, fällt im Lebenszyklus einer PappelKUP auf der Kostenseite am stärksten die Ernte ins Gewicht. Dasselbe gilt für die Ökobilanz mit Blick auf die Klimafolgen. Dies ergab eine Lebenszykluskostenbetrachtung für Spanien, was einen Anbau von Pappeln dort zur Holzschnitzelerzeugung auch unrentabel mache (Meyer et al., 2021; San Miguel et al., 2015). Für Polen ergaben Feldversuche einen rentablen Anbau (Stolarski et al., 2020). Auf Steigerung der ökonomischen Effizienz liegt der Schwerpunkt in mehreren aktuellen Forschungsprojekten, wo agrarwissenschaftliche, pflanzenzüchterische und umweltplanerische Themen (Land Use) dominieren (Landgraf et al., 2020). Betriebswirtschaftlich verspricht die Pap-
136
4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
pel gemäß einem Praktikerbericht sogar höhere Deckungsbeiträge als der Maisanbau, mengenmäßig höhere Ernteerträge als die Weide, aber ihr Anbau gilt als anspruchsvoller. Erntemengen von 9 bis 10 Tonnen agrarischer Trockenmasse, bezogen aufs Jahr und Hektar, wurden erreicht (DBU, 2010, S. 50 ff.). Durch die Verwendung der Pappel als Bauholz dürfte der Ertrag bei gleichem Aufwand erhöht werden. Neuere Hybridpappelzüchtungen werden – auch in Form von Wald-KUP – zunehmend für die Waldaufforstung genutzt. Sie wachsen schnell, bilden schnell beschattende Kronen und kommen mit relativ wenig Wasser aus (Faust & Schirmer, 2022). Die Umtriebszeit der Pappeln ist besonders gering und liegt etwa nur bei einem Drittel der Zeit, die eine Esche zum Wachsen braucht. In der Forstwirtschaft wurden bisher im Wesentlichen Nadelhölzer für die bauliche Nutzung angepflanzt, da das Nadelholz aufgrund seiner Wuchsform, seiner Wuchsgeschwindigkeit und seiner Eigenschaften wirtschaftlicher als Laubholz angewandt werden kann. Durch die Klimaerwärmung findet allerdings ein Umbau des Walds hin zum Laubholz statt. Waldbäume wachsen bis zur Ernte etwa 50–60 Jahre (Nadelholz) bzw. 80–100 Jahre (Laubholz). Aufgrund der langen Zeit besteht ein gewisses Risiko eines (Total-)Verlusts, z. B. durch Unwetter oder Schädlingsbefall. Darin liegt ein weiterer Vorteil für die KUP-Bäume, da die Erntefolge hier kürzer ist.
4.9 Agrarische nachwachsende Rohstoffe Die auf landwirtschaftlichen Flächen wachsende KUP-Pappel war ein Beispiel aus der Schnittmenge von Forst- und Agrarkulturen. In vielen Fällen wird Holz oder zellulosehaltiger Pflanzenstoff verbrannt statt zunächst stofflich genutzt. Nicht nur die erwähnte, insgesamt größere Verfügbarkeit von Rohstoffen von „Feld und Acker“ ist ein Argument für die zunehmende baustoffliche Verwendung. Die stoffliche Nutzung der agrarischen Rohstoffe – etwa für die Bioplastikerzeugung oder chemische Grundstoffproduktion – ist in Deutschland gegenwärtig je nach Feldfruchtklasse sehr unterschiedlich hoch. Sie beträgt bei: - Getreide 10 % (ggü. 60 % Tierfutter, 8 % Energie), - Zuckerrüben 3 % (ggü. Energie 10 %), - Ölsaaten 28 % (ggü. Energie 34 %). Zu der Feststellung, dass die stofflichen Anteile der Nutzung noch sehr gering sind, kommt eine weitere bedeutsame für die Bau-Bioökonomie. Insgesamt wächst auf den Äckern und Weiden in Deutschland rund dreimal so viel Biomasse (in Trockenmasse) nach wie im Wald (Tab. 4.4). Allerdings wird der größte Anteil hier für den Anbau von Tierfutter verwendet. Auch dieser hohe Anteil ist aus der Perspektive der Flächennutzungsethik diskussionswürdig. Stroh wird zu hohen Anteilen nicht „geerntet“, sondern auf den Feldern nach der Ernte zurückgelassen. In europäischer Perspektive offenbart sich hier die größte noch kaum erschlossene Quelle für die baustoffliche Nutzung. Aus Gründen ökologischer Nährstoffkreislaufführung zur Regeneration der Böden sollte
137
4.9 Agrarische nachwachsende Rohstoffe
Tab. 4.4 Stoffliche Nutzung agrarischer und forstlicher Biomasse in Deutschland 2015. (Banse & Brüning et al., 2020) Ernte Trockenmasse (Mio. t)
Überwiegende Stoffliche Nutzung Energetische Nutzung (Mio. t) (Mio. t) Nutzung (Mio. t)
Agrarische Biomasse
137
89/21
23
Futter-/ Nahrungsmittel
„Verarbeitete Waren“
Forstliche Biomasse
48
34 Stofflich
34
23
25
zwar rund ein Drittel des Strohs auf dem Feld zurückgelassen werden. Dennoch ergeben Hochrechnungen, dass selbst im Fall der technologisch größtmöglichen Verwendung von Stroh als Baustoff für den gesamten Neubau sowie sämtliche Bestandssanierungen in allen EU-28-Ländern bis zum Jahr 2050 die verfügbaren Strohressourcen weit größer wären als der Bedarf (Göswein et al., 2021).
4.9.1 Gräser Pflanzenfasern aus Gräsern lassen sich auch für die Weiterverarbeitung in Bioraffinerien verwenden. Gräser wurden und werden wie Stroh im Bauwesen vor allem als Dämmstoffe eingesetzt. Das Biomassewachstum je Hektar ist hoch. Mehrere Ernten im Jahr sind möglich. Gräser sind als Zellulose-„Lieferanten“ nutzbar. Weidelgras und Miscanthus (Chinaschilf) gelten beide derzeit vorwiegend als „Energiegräser“. Aber sie lassen sich vor allem auch als Einblas- oder Schüttdämmstoff nutzen (Tab. 4.5). Miscanthus etwa lässt sich mit Erntemaschinen des Maisanbaus ernten. Er ist anspruchsarm, was Bodengüte und Pflanzenschutz angeht. Eine Reihe von Baustoffen wie Dämmplatten oder auch Ausfachsteine sind bereits am Markt, jedoch verhindern auch hier fehlende Baustoffnormen eine verbreitete Verwendung. Weidelgras (englisch Ryegrass) ist häufig auf Tierweiden, aber auch in Stadtparks oder auf Sportplätzen angepflanzt. Es gilt als unempfindlich und mit bis zu 90 cm als Tab. 4.5 Wärmespeicherkapazität ausgewählter marktgängiger Baustoffe: Spezifische Wärmekapazität C (J/kg K). (Q. JG nach Holzmann, 2009, S. 16 f.)
Wiesengras 2200 Holzfaser 2000 Seegras 2000 Getreidegranulat 1950 Hanf 1700 Flachs 1640 Stroh 1000 Beton 880
138
4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
schnell- wie hochwachsend. Weidelgras erlaubt bis zu drei Ernten je Sommersaison, sodass die Frischgras-Hektar-Erträge bei bis zu 28 t liegen, also mehr als dem Dreifachen von Weizen oder Mais. Getrocknet ergibt das etwa 8,5 t und davon rund 4,25 t Zellulose (Holzmann & Wengelin, 2009; S. 244 f.). Das Gras ergibt nach Trocknung und Verarbeitung etwa 15 % Zellulosefasern. Die übrigen Nebenprodukte können als Proteinfutter, Stickstoffdüngemittel oder als Lebensmittelzusätze verwendet werden. Die Hauptprodukte sind meist noch Strom und Wärme aus Grasbiomasse. Weidelgras-Pellets werden auch zu „Bioplastik“ gemacht, was wiederum zum möglichen Baustoff werden kann. Weidelgras gilt zudem als bestgeeignetes Gras für die Erzeugung chemischer Grundstoffe in sogenannten grünen Bioraffinerien. Weniger positiv im Vergleich zum Stroh schlägt es sich in der Energie- und Klimabilanz nieder. Der Grund ist, dass das feucht gemähte Weidelgras vor der Weiterverarbeitung getrocknet werden muss. Für den Brandschutz wird die getrocknete Graszellulose mit einer Borsalzlösung behandelt (auch wenn die Europäische Kommission Borsäure und Borax als besorgniserregende Stoffe nach REACH-Verordnung reproduktionstoxisch einstuft). WiesengrasDämmschüttung kann als Zwischensparrendämmung, Deckenunterdämmung, Bodenplattendämmung, Innenwanddämmung hinter Vorsatzschalen eingesetzt werden (DIN 4108), aber auch als biogene Bewehrung im Gussbeton oder in Putzen. Hervorragend ist die Wärmespeicherkapazität des Wiesengrases, was es als Dämmstoff qualifiziert, weniger aber als Stützfasern (Tab. 4.5). Die folgenden Abschnitte geben, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einen Überblick über die Eignung einzelner nachwachsender Rohstoffe vom Feld zu Bauzwecken.
4.9.1.1 Weidelgras (Ryegrass) Bestandteile: Für bauliche Zwecke ist der Hauptbestandteil Graszellulose interessant – das Gras enthält zu etwa 50 % Zellulosefasern. Koppelprodukte sind Tierfutter, Aminosäuren. Hauptverwendung im Bau: Das Interesse an diesem massenrelevanten Naturfaserdämmstoff steigt derzeit (Rüther, 2022). Getrocknet für Schütt- oder Einblasdämmstoffe; Baustoffklasse nach DIN 4102: B2. Geeignet auch für Vliese, Schallschutzplatten. Auch Biopolymere auf Grasfaserbasis eröffnen zahlreiche Anwendungsgebiete. Für die Herstellung der Dämmplatten wird in der Regel Bindemittel verwendet. Zellstoffbewehrung für Putze oder Beton oder als Spritzguss-Polymer. „Aufgrund ihrer langen, von zahlreichen parallelen Gefäßbündeln der Länge nach durchzogenen und faserreichen, festen Blätter ist die Futterpflanze schon zu Beginn des 20. Jhd. als Faserpflanze und Rohstoff für die Papierherstellung und für Flechtwerke beschrieben“ (Holzmann, 2009, S. 246). Wärmeleitfähigkeit λ: 0,040 W/(mK), Rohdichte ρ: 35–50 kg/m3 (freiliegend), 40–65 kg (eingeblasen), Wasserdampfdiffusionswiderstand μ: 1–2 (Baunetzwissen, 2023). Dämmstoff in Schütt-, Ein- oder Aufblasdämmung. Etwa als Zwischensparrendämmung, Innendämmung, Wanddämmung in Holzrahmenbauweise, Decken- oder Bodenplattendämmung. Wiesengras-Dämmschüttung aus 85 % aus Grasfaserzellstoff, 5 % Borsalz,
4.9 Agrarische nachwachsende Rohstoffe
139
10 % Wasser. Das Borsalz verbessert den Brandschutz. Es ist aber von der Europäischen Kommission als besorgniserregend nach REACH-Verordnung – nämlich: reproduktionstoxisch – eingestuft (Bestandteile Borsäure und Borax). Deutsche Anbaufläche (ha): sehr hoch. Im Jahr 2021 waren 28,5 % der deutschen landwirtschaftlich genutzten Fläche oder 4,7 Mio. Hektar Dauergrünland (UBA, 2022b). Es dient vor allem der Grasgewinnung für die Rinderfütterung oder der Weidewirtschaft oder Biogasgewinnung. Der Anteil des Bewuchses mit Weidelgras wird statistisch nicht erfasst. Erste Industrieanlagen fertigen aus Wiesengras sogenanntes Bioplastik, so etwa im Odenwald (THessen, 2023). Globale Anbaufläche (ha): nicht bekannt. Länder mit den höchsten Anbaumengen: Weidelgras wächst in großen Mengen in Deutschland selbst. Hektarertrag (t): 28 t im Jahr bei drei Ernten, das ergibt 8,5 t Trockensubstrat und halb so viel Graszellulose. Ökologisierungsbeiträge: Grasbewuchs mindert im Vergleich mit dem Ackerbau die Bodenerosion. Intensiver Anbau mit mehrmaligen jährlichen Stickstoffdüngergaben reduziert jedoch den Artenreichtum an Pflanzen und Insekten. Im Ackerbau gilt Weidelgras als „Ungras“ und wird chemisch „bekämpft“ (Bayer, 2023). Trockenresistenz: Die Erhöhung der Resistenz des Grases gegen Trockenstress ist ein Ziel der Zuchtforschung (LfL, 2022). Es ist in gewissem Maß salztolerant (Marcar, 1987). Recyclingpotenzial: Wird das Dämmmaterial trocken gehalten, ist es immer wieder verwendbar. Die Flammenschutzbehandlung mit Borsalz reduziert die organische Kompostierbarkeit und Wiederverwendung des Materials als Pflanzendünger. Aber es gibt bereits etablierte Verfahren, die auf Borsalz verzichten und ausschließlich mit Fermentierungsverfahren arbeiten, etwa Imprägnierungen mit Molke und/oder Soda (FNR, 2009). Übersicht
Ökobilanz CO2-Äquivalente: Haltbarmachung durch Silierung (Milchsäuregärung) ist nicht energieintensiv. Aber Waschung und maschinelle Trocknung können die Energiebilanz verschlechtern und das Global Warming Potential (GWP) erhöhen. Quellen: Holzmann und Wengelin (2009, S. 244 ff.); FNR (2009); Baunetzwissen (2023); LfL, 2023; UBA, (2022a); THessen, (2023); Rüther (2022); LfL, 2022; Bayer, 2023; Marcar, N. E. (1987).
4.9.1.2 Bambus Bestandteile: Bambus (Abb. 4.10) enthält Zellulose und andere Kohlenhydrate zu ca. 68 %, 25 % Lignin.
140
4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
Abb. 4.10 Der Riesen-Bambus mit seinem hohlen Inneren ist materialsparend und hochwüchsig. Er ist nicht nur als Baustoff interessant, sondern auch als Inspiration für den Leichtbau. (Foto Jan Grossarth)
Hauptverwendung im Bau: Derzeit noch meist im Innenausbau, etwa für Türen, Böden, Möbel, oder als Kunststoffverbundwerkstoff für den Außenbereich, etwa Terrassenböden (Baustoffwissen, 2016). In Asien nicht nur als Baugerüst, sondern vor allem zur Parkettfertigung (aus Moso-Bambus). Gepresst als Bauholz: Bohlen, Bretter; Insektizidresistenz wird traditionell auch durch Räuchern oder Kochen erreicht. Stark steigende Bedeutung als Brettschichtholz oder Brettsperrholz, etwa in Verbindung mit dem Holz der Hemlocktanne (Wie et al., 2019) oder in anderen Varianten (Yan et al., 2022). Anwendung des Bambus-Brettschichtholzes (Glulam) im Tragwerk, als Balken, dürfte stark zunehmen. Hier bestehen holzprozesstechnische Herausforderungen (Kumar & Mandal, 2022). Ein aktuelles Forschungsanliegen ist etwa die Frage, wie die schwierige Verklebbarkeit des Bambus zu verbessern sei. So konnten durch Bleichungen oder sogenannte Plasmabehandlungen die Benetzbarkeit und auch die Klebeleistung erhöht werden (Nkeuwa et al., 2022). Deutsche Anbaufläche (ha): keine oder nicht nennenswert. Wegen des in nördlichen Breitengraden langsamen Wachstums nicht lukrativ.
4.9 Agrarische nachwachsende Rohstoffe
141
Globale Anbaufläche (ha): Weltweit gab es 2005 rund 36 Mio. Hektar Bambuswald. Das waren rund 3,2 % der weltweiten Waldfläche (FAO, o. D., S. 12). Länder mit den höchsten Anbaumengen: Indien, Brasilien, China, Nigeria, Indonesien. Hektarertrag (t): sehr unterschiedlich nach Anbauland, Bambusart, Erntefrequenz. Zwischen 4 t und bis zu 26 t Trockenmasse pro Jahr und Hektar (NL Agency, 2013). Ernte bei geläufigen Sorten alle 4 Jahre (Moso-Bambus). Ökologisierungsbeiträge: Die Ernte ist noch überwiegend kleinbäuerlich organisiert. Bambus ist geeignet, um degradiertes Land zu kultivieren und die Böden zu verbessern (Solomon et al., 2020), was in vielen Ländern Asiens und Afrikas modellhaft praktiziert wird (Akoto et al., 2020; Dev et al., 2020). Trockenresistenz: Bambus benötigt meist feuchte Wachstumsbedingungen. Einige Arten können längere Trockenphasen laut Händlerangaben besser überstehen (Bambubatu, 2023). Gentechnische Zuchtmethoden sollen für eine Erhöhung der Trockentoleranz angewendet werden (Wu et al., 2020). Ökobilanz CO2-Äquivalente: Das schnelle Wachstum macht Bambus als Baurohstoff interessant. Je Hektar Erntefläche lassen sich niedrigere, gleiche oder höhere GesamtKohlenstoffbilanzen erreichen, was von Bewirtschaftung, Standort und Sortenwahl abhängt (van der Lugt et al., 2018). Insbesondere erscheint die Einsatzmöglichkeit zur Rekultivierung von degradiertem Land interessant.
Quellen: Holzmann und Wengelin (2009, S. 73–106); FAO (o. D.); van der Lugt et al. (2018); Bambubatu (2023); Wu und Min et al. (2020); Baustoffwissen (2016): Dev und Inder et al. (2020); Akoto und Daniel S. et al. (2020); Kumar und Mandal (2022); Nkeuwa und William Nguegang et al. (2022); Yan und X. I. A. O. et al. (2022); Wei und Peixing et al. (2019); NL Agency (2013).
4.9.1.3 Schilfgräser und Miscanthus Bestandteile: Das auch in Deutschland heimische Schilfröhricht besteht zu 42–45 % aus Zellulose, zu 22–24 % aus Lignin. Miscanthus – im Anbau noch nicht sehr verbreitet und wenn, dann zu energetischen Nutzungszwecken, aber auch als Baustoff vielfach erforscht – eignet sich für den Einsatz in Form von Dämmplatten, Zuschlägen für Leichtputze/-betone. Die Pflanzen der Gattung von mehrjährigen Gräsern, die in der Regel zwischen 1,5 m und 3,5 m hoch werden, enthalten in der Trockenmasse 35–50 % Zellulose, 10–25 % Lignin. Hauptverwendung im Bau: Dämmplatten sind vielseitig einsetzbar. Wärmedämmende, putztragende Innenausbauplatten, Putzträger, Reetdachdeckung, gedübelte Wärmedämmverbundsysteme (WDVS) wie im Falle aller organischen WDVS-Platten nur oberhalb der Spritzwasserzone, in der Regel dreilagig mit Dämmplatten, mineralischem Unterputzmörtel, Oberputz (Holzmann, 2009, S. 196). „Im Bauwesen wird Schilf
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4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
schon seit der Frühsteinzeit für einfache zeltartige Behausungen, später Dachdeckungen, und mit Haselnuss- oder Weidenruten verflochten als stabilisierendes Traggerüst (Putzträger) für Lehm- oder Kalkputze eingesetzt“ (Holzmann, 2009, S. 185). Miscanthus analog, aber auch als Betonadditiv, als Basis für die Papier- oder Biopolymerherstellung. Deutsche Anbaufläche (ha): geschätzt 10.000 bis 25.000 Hektar für den Anbau von Miscanthus, vor allem in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein. Die Anbaufläche von Schilfgras (auch als Rohrglanzgras bezeichnet) in Deutschland ist statistisch nicht ausgewiesen. Globale Anbaufläche (ha): n. b. Länder mit den höchsten Anbaumengen: Deutschland, Großbritannien, China, Indien. Hektarertrag (t): in Deutschland durchschnittlich 12–20 t im Jahr; Höchstwerte in Europa von bis zu 30 t. Schilfgras: 8–15 t trockener Biomasse (Heiermann et al. 2016; Lewandowski et al. 1999) auf sandigen Böden, sonst bis zu 25 t. Ökologisierungsbeiträge: Miscanthus kann auch in Agrarforst- und agrarökologischen Anbausystemen angebaut werden. Es hat aufgrund seiner tiefen Wurzeln und seiner Fähigkeit, Kohlenstoff und Nährstoffe im Boden zu speichern, Potenzial zur Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit und zur Reduzierung von Erosion. Schilfgräser sollen infolge der Moor-Wiedervernässungen an- und abgebaut und ökonomisch in Wert gesetzt werden. Miscanthus ist trockenresistent und kann in Regionen angebaut werden, die von Dürren oder Trockenperioden betroffen sind. Miscanthus hat ein tiefes Wurzelsystem, das bis zu drei Meter tief in den Boden reicht und ihm ermöglicht, Wasser aus tieferen Bodenschichten zu nutzen.
Quellen: Holzmann (2009, S. 182–214; S. 260 ff.); Heiermann M, Idler C, Plöchl M, et al. (2016). Biomass from perennial crops – a sustainable source of renewable energy. Journal of Cleaner Production, 127, S. 332–341.: Lewandowski I, Kicherer A, von Braun J (1999). A comparison of the energy yield of reed canary grass, wheat and winter barley grown on the same area and under different conditions in terms of life cycle analysis. European Journal of Agronomy, 10(2), S. 95–105.
4.9.1.4 Exkursion: Die erste Doppelhaushälfte aus Hanf in Norddeutschland Auf dem Richtfest kiffte niemand. Tut man auch nicht in der Oldenburger Baubranche. Es gab was Neues zu feiern: Das erste Doppelhaus aus Hanf in Niedersachsen. Der Bauunternehmer servierte Jever aus Flaschen. Christian Eiskamp geht neue Wege. Jahrzehnte baute er Stein auf Stein: Einfamilienhäuser in den ausladenden Wohnsiedlungen im Süden von Oldenburg. Dann machte sich in ihm das Gefühl breit, die große Zeit von Klinker und Beton könne sich dem Ende nähern, wegen der schlechten Klimabilanzen. Bei Google fand er Hanf als Baustoff. „Es war für mich ein Augenöffner, zu lesen, dass die Betonindustrie 60 % der globalen Treibhausgasemissionen verantwortet“, sagt
4.9 Agrarische nachwachsende Rohstoffe
143
Eiskamp. Damit begann seine Suche nach Alternativen. Er lud einen Berater ein, der sich „Hanfingenieur“ nennt, und begann das Doppelhaus zu bauen – auf eigene Rechnung, für sich selbst zur späteren Vermietung, ehe solche Hanf-Häuser in die größere Vermarktung sollen. Vom Hanf sieht man dem fertigen Haus im Ort Edewecht südlich von Oldenburg äußerlich nichts an (Abb. 4.11). Es ist holzverschalt, mit Veranda und Gründach, wie aus einem Pippi-Langstrumpf-Film. Die Bauweise kommt auch nicht ohne Beton aus, aber das steckt nur in der Bodenplatte und dem tragenden Gerüst. Ähnlich wie im Fachwerkbau ist dieses „Skelett“ ausgefacht, in diesem Fall mit gepressten Hanf-Steinen, die mit Kalkmörtel verklebt sind. Die Baukosten liegen im Vergleich zum Massivbau, bei gleicher Ausstattung, nach den ersten Erfahrungen etwa 15 % höher. Seitdem das Haus im Herbst fertiggestellt wurde, besichtigten es mehr als tausend Interessierte. In einem Juni im Jahr 2022 kamen an einem „offenen Wochenende“ allein mehr als 700 Menschen. In Edewecht soll als Nächstes eine Hanf-Ökosiedlung entstehen, mit kleinen Wohneinheiten, einem Gemeinschaftsraum, Carsharing und Rasenmäher-Sharing. Erstmals stimmten sogar die Grünen im kommunalen Parlament für die Neuausweisung eines Baugebietes. Langsam macht die Sache auch dem Bauunternehmer Spaß. „Der nachhaltige Bau ist für mich jetzt zur Überzeugungssache geworden“, sagt er. (Vgl. Maalouf et al. 2018) Hanf ist nur einer von vielen geeigneten nachwachsenden Baustoffen – neben Holz, verschiedenem anderen Stroh oder etwa Pilzen. Neu ist, dass Hanf-Häuser äußerlich nicht mehr nach Aussteigerhütten, Tiny House oder Ökodorf aussehen. Mit Stampflehm
Abb. 4.11 Das erste Hanfsteinhaus in Niedersachsen und sein Bau. (Fotos Eiskamp Bau)
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4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
und ausreichend Schlafplatz für ein Aussteigerpärchen. Das Oldenburger Schwedenhaus wirkt wie ein gewöhnliches Holzhaus und fällt auch in einer normalen Wohnsiedlung nicht sehr aus der Reihe. Die Vorteile sind vielseitig. Man baut Stein auf Stein – die Maurer und Massivbau-Unternehmen müssten nicht völlig neue Techniken lernen (allerdings gibt es auch alternative Bauweisen mit Hanf und Lehm oder Holzständerbauweisen). Am Ende der Hausnutzung, vielleicht nach 70 oder 100 Jahren, entsteht kein Müll. Der Hanf- und Kalkanteil des Hauses lässt sich im Prinzip kompostieren. Die Klimabilanz spricht dafür. Ein Haus aus Hanfsteinen bindet (wie ein Holzhaus) Kohlenstoffdioxid, solange das Haus steht und das Material nicht abbrennt oder verrottet. Der Potsdamer emeritierte Klimaforscher Hans-Joachim Schellnhuber spricht zwar seit Monaten über kaum ein anderes Thema als über den Holzbau. Der könne sogar bewirken, dass die Staaten ihr 1,5-Grad-Klimaziel erreichten. Aber über Hanf spricht er noch nicht. Dabei ist Holz schon heute sehr teuer. Und es ist fraglich ob die Ressourcen der Wälder und Plantagen für eine „Holzbauoffensive“ im globalen Maßstab genügen können, wie Schellnhuber sie sich vorstellt. Daher wird es nicht genügen, allein auf Holzbau zu setzen. Auf dem Feld wachsen neue Baurohstoffe schneller und mehr nach. Geeignet für den Bau ist alles, was Zellulose zu hohen Teilen enthält. Mehr als sechs Tonnen Hanfstroh pro Hektar können europäische Landwirte ernten. Eine Tonne Trockenmasse davon „speichert“ eine bis knapp drei Tonnen CO2. Das fanden polnische Wissenschaftler heraus (Kosiński et al., 2022). Besonders gut könnten als Baustoff Hanfschäben „als lose gefülltes Wärmedämmmaterial in Holzrahmenkonstruktionen eingesetzt werden“, schreiben sie. Eine dadurch gesteigerte Nachfrage nach Hanf könnte auch die Landwirtschaft ökologisch aufpeppen, denn er lässt sich sinnvoll in Fruchtfolgen integrieren und es gibt auch Wintersorten. Es gibt weitere ökologische Vorteile für den Anbau, etwa einen geringen Dünger- und Pestizidverbrauch. Aber war Hanf nicht eine Droge? In Europa hat es eine viel längere Tradition als Textilfaser, für die Tuch- und Segelmanufakturen. Und die erste industrielle Anwendung von Hanf, jenseits der über Jahrhunderte praktizierten Textilverarbeitung, geht auf Unternehmer im amerikanischen Bundesstaat Kentucky zurück. Die Kentucky-Illinois Hemp Company investierte vor knapp 100 Jahren in die industrielle Hanfverarbeitung – auch etwa zu Bioplastik. Henry Ford ließ seine Automobilingenieure mit Bioplastik experimentieren, das neben Hanffaser auch Soja-, Getreide- und Holzzellulose enthielt. Den Prototyp des „Sojaautos“ stellte Ford 1941 vor. Es enthielt einen Anteil Hanffaser, war leicht und sparsam. Häuser aus Hanf gab es damals aber noch nicht (Häuser aus Stroh durchaus). Dann aber ging es dem Hanf an den Kragen. Im Eindruck der drogensüchtigen Jugendkulturen verboten Amerika wie Deutschland in den Nachkriegsjahrzehnten jeden Anbau von „Marihuana“ – auch denjenigen von industriellen Hanfpflanzen, die kaum als Droge taugen. Und dann war plötzlich Schluss mit Sojaautos und Hanftextilien. Auch waren diese nicht mehr so interessant, da Beton, Stahl und andere Werkstoffe, aber auch Baumwolle aus Asien günstig und reichlich vorhanden waren. Nun herrscht nicht nur ein neues Klimagesetz, sondern auch Baustoffknappheit. Dass man Hanf zum Bauen wieder-
4.9 Agrarische nachwachsende Rohstoffe
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entdeckt, liegt nicht nur auf der Hand, sondern auch an neuen Ergebnissen der Baustoffforschung: Mit Kalk gemischt härtet das Material über Jahre nach dem Bau noch weiter aus. Daher hat sich im Englischen das Kunstwort „hempcrete“ gebildet – für Hanf und Concrete, also Beton. Die Hanfkalk-Steine basieren auf den Zellulose-haltigen Reststoffen aus der Faserverarbeitung von Industriehanf, den sogenannten Schäben. Sie werden mit Kalk als Bindemittel gemischt. Hanfkalk gibt es als Bausteine, aber auch als Dämmplatten oder als Dämmputz. Der Bauunternehmer Christian Eiskamp wählte die Steine, um seine Mitarbeiter nicht zu schockieren. Die meisten sind Maurer. Eine weitere Möglichkeit ist, Beton mit Hanf zu mischen. Das ergibt eine „höhere Biegefestigkeit, geringere Dichte, geringere Wärmeleitfähigkeit, höhere Flexibilität, bessere Haltbarkeit und Beständigkeit gegen Sulfatangriffe“, wie indische Wissenschaftler in einem aktuellen Überblickswerk zusammenfassen (Amziane & Sonebi, 2016). Vor allem interessant darin ist der deutlich verbesserte Dämmwert. Schon ein Prozent Hanfgehalt im Beton verringert die Wärmeleitfähigkeit gegenüber dem reinen Beton um ein Drittel, wie die Studie ergab. Eine andere Frage ist, wie viel Hanf es in Europa überhaupt gibt. Der Anbau ist noch sehr gering und Landwirte reagieren träge auf steigende Nachfrage. Laut Eurostat stieg die Anbaumenge von Industrie-Cannabis von rund 20.000 (2015) auf 36.000 Hektar in 2020 – und zwar in ganz Europa. Die Rohstoffmenge lässt sich nicht einfach so vervielfachen, zumal angesichts des Welthungers der Gegenwart wieder Weizenanbau politische Priorität hat. Die deutschsprachige Hanfbau-Community ist noch klein und alternativ. Die Bauingenieure, Baustoffhändler oder Anbauer nennen sich „Hanfbau-Kollektiv“, „Kommando Hanf“, „Hanfingenieur“ (das ist Henrik Pauly, ein Absolvent der Fakultät für Bauingenieurwesen der Hochschule Biberach, der auch das Oldenburger Projekt beriet) oder „Frankenwaldhanf“. Ähnlich wie in den Anfangsjahren des Biolandbaus sind mit dieser Bewegung erkennbar auch kulturelle Hoffnungen verbunden. Sie zielen auf eine mehr kooperative, handwerkliche und regional vernetzte Bauwirtschaft ab. Denn es ist noch unklar, wie sich die Ökobilanz entwickeln würde, wenn der Baustoff statt aus Deutschland, Polen oder Belgien eines Tages aus Marokko stammte. Das würde gewiss gern in seinem klimatisch dafür bestens geeigneten Rif-Gebirge mehr Baustoff-Hanf anbauen als Drogen-Hanf – jedenfalls, wenn die Preise stimmten.
4.9.2 Getreide Getreide wird als Nahrungs- und Futtermittel genutzt. Aber sein Schrot wurde und wird auch als Dämmstoff verwendet: als Getreide-Dämmschüttung in Form von Schütt-, Einoder Aufblasdämmung, Zwischensparrendämmung, Innendämmung, Wanddämmung in Holzrahmenbauweise, Decken- oder Bodenplattendämmung, Hohlraumdämmung von Mauerziegeln, Getreide-Dämmschüttung (diese etwa aus 35 % Roggenschrot, 35 % Roggenkleie, 25 % Kalkhydrat, 4 % Kaliwasserglas, 1 % Molke).
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Getreideschrot brennt nur bei direkter Beflammung (Holzmann, 2009, S. 121 ff.) Getreidestroh ist wie auch Hanf ein vielseitig einsetzbarer Baustoff. Neben der Dämmstoffnutzung ist dieser agrarische Rohstoff auch als tragender Wandbaustoff erprobt – verputzt mit Lehm, Strohballen als Trittschall-Dämmplatten. Strohballen-Häuser wurden infolge maschineller Presstechniken in den Vereinigten Staaten im späten 19. Jahrhundert erstmals gebaut, das erste in Europa steht in Frankreich seit gut 100 Jahren. Neben Roggen- oder Weizenstroh eignet sich auch Hanfstroh. Von besonderer Bedeutung für den Bau ist das Getreidestroh. Verwendet wird im Strohhausbau vor allem Weizen-, Dinkel-, Roggenstroh, aber auch Stroh von der Reispflanze oder von Triticale (BauStroh GmbH). Als Vorteil des Baustrohs wird neben den sehr guten Treibhausgasbilanzen vor allem dessen hervorragende Wärmespeicherfähigkeit gesehen wie auch hohe Schallabsorptionswerte (Ehling, 2020). Massiv errichtete Stohballenhäuser und auch Stroh-Holzrahmenhäuser erreichen U-Werte von Passivhäusern (Bernard & Bedner, 2014). Dieses innovative Anwendungsfeld ist arbeitsökonomisch günstig: Holzrahmen-Stroh-Module lassen sich teilstandardisiert vorfertigen („Mod-Cell-Paneele“; Bocco, 2014). Neben den Wandbauoptionen lassen sich Strohballen aber auch für die Konstruktion von Dachaufbauten verwenden. Hierfür sollen sie in nur 36 cm Stärke verwendet werden. Auch werden sie als Bodenfundamentdämmstoff, zum Feuchteschutz auf erhöhten Schraubfundamenten, eingesetzt. Energetisch ist die Bilanz der Herstellung der Strohdämmstoffe den erdölbasierten „haushoch“ überlegen. Für die Herstellung einer Strohwanddämmung mit dem U-Wert 0,10 W/(m2· K) werden etwa nur 10 kWh/m2 angegeben. Eine übliche XPS-Dämmung schlägt hingegen mit mehr als dem 30-fachen Wert, 345 kWh/m2, zu Buche. Auch für eine Holzfaserdämmplatte wird ein ähnlich hoher Wert von 329 kWh/m2 errechnet (Bernard & Dadner, 2014). Stroh wird auch in Lehmziegeln verwendet. Darin kann es zu Anteilen von etwa 20–30 % enthalten sein. Hierfür sind als „nachwachsende Alternativen“ aber auch Sägespänezusätze üblich (Illampas et al., 2014). Für Lehmputze nach Art der hergebrachten Fachwerkhäuser ist Stroh bekanntlich eine Haftgrundlage, wobei vorzugsweise dünnes, langes Stroh verwendet wird – also gerade solches, das in üblichem landwirtschaftlichen Anbau, der Hybridgetreide mit sehr kurz gezüchteten Halmen verwendet, eben nicht mehr „anfällt“. Als ein Gemisch aus Stroh und Lehm ist sogenannter Wellerlehm am Markt der „alternativen Baustoffe“. Für seine Herstellung werden – aus Sicht der Rohstoffverfügbarkeit interessant – gerade möglichst dünne Strohhalme von 30–40 cm Länge benötigt (Schäfer, 2021). Für die ökonomische Betrachtung sind die landwirtschaftlichen Erträge verschiedener Getreide eine interessante Information. Hinsichtlich der Halmerträge ist Roggen, auch im Verhältnis zu den Kornerträgen, Weizen oder Hafer tendenziell vorzuziehen, wobei es auf den konkreten Standort ankommt (Tab. 4.6).
4.10 Das politische Konzept der Agrarökologie
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Tab. 4.6 Korn- und Strohertrag ausgewählter Kulturarten. (Q. HOLZMANN 2006, S. 160.) Winterweizen
Korn 30–55 dt/ha
Stroh 45–75 dt/ha
Winterroggen
Korn 25–50 dt/ha
Stroh 50–80 dt/ha
Hafer
Korn 30–50 dt/ha
Stroh 40–55 dt/ha
4.9.3 Weitere – und maritime Quellen Zahlreiche weitere nachwachsende Rohstoffe können zumindest als Dämmstoff verwendet werden. Hierzu zählen Algen (Mikro- und Makroalgen), Seegras (als Dämmstoff in Schüttdämmung oder Aufblasdämmtechnik). Hier sind Zusätze von (giftigem) Borsalz für den Brandschutz wegen des natürlichen hohen Salzgehalts nicht nötig (Holzmann, 2009, S. 215–226). „Nach allgemeinen Angaben werden an die deutschen Küsten, je nach Region, zwischen 600 und 1200 m3 Seegras angespült. Da angeschwemmtes Seegras nur mit entsprechender Vorbehandlung entsorgt werden darf und das Aufbringen der angeschwemmten, unbehandelten Pflanzenteile auf die Felder in Teilen Deutschlands verboten ist, wird dieses Strandgut oft zu einem regionalen Entsorgungsproblem. Man kann jedoch erwarten, dass sich dies mit der Neuentdeckung des pflanzlichen Rohstoffes Seegras und der bekannten allgemeinen Umweltlage noch ändern wird“ (ebd., S. 218).
Ferner sind geeignet: Flachs, Kork (dieser etwa als Dämmplatten für WDVS), Baumwolle – auch wiederverwertet aus gebrauchten Kleidern wie Jeans, aus denen Dämmstoffe werden –, Kokos, Ananasfaser (Anbau als Faserpflanze ohne Fruchtstand etwa in Taiwan, Philippinen – große Robustheit lässt Eignung als Dämmfaserrohstoff erwarten (Holzmann, 2009, S. 255)),Jute (in Deutschland 1900 noch mit einer Anbaufläche von rund 1 Mio. Hektar (Holzmann, S. 258), Hopfen, der historisch auch als Faserpflanze genutzt wurde, Brennnessel, die auch traditionell als Faserpflanze für Textilherstellung genutzt wurde. Über die Zwischenstufe des Insekts, das agrarische Reststoffe frisst, lassen sich nicht nur Speisefette, sondern auch Lipide machen, die als Schmierstoffe oder zur Holzbearbeitung verwendet werden könnten (Abb. 4.12).
4.10 Das politische Konzept der Agrarökologie Nachwachsende Rohstoffe sollen angesichts der ökologischen Schadfolgen großflächiger Reinkulturen in „ausgeräumten“ Agrarlandschaften vor dem Hintergrund agrarökologischer Anbausysteme bereitgestellt werden. Aber was ist Agrarökologie (FAO 2015)? Sie lässt sich nicht in einem Satz definieren. Vielleicht aufgrund ihrer Vielschichtigkeit ist sie als politische Leitperspektive geeignet, gewissermaßen „allen zu gefallen“. Die Europäische Kommission (EU Kommission, 2019), zum Beispiel, stützt sich im Rahmen ihres
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4 Nachwachsende Rohstoffe für das Bauwesen
Abb. 4.12 Ein Fett aus Insektenbiomasse in einem Labor der ETH Zürich. (Foto Jan Grossarth)
„Transformations“-Zehnjahresplans „Green Deal“ auf das Konzept. Auch die ernährungspolitische Strategie der EU-Kommission mit dem Namen „Farm to Fork“ nimmt Bezug darauf (EU-Kommission, 2022). Die Welternährungsorganisation FAO lässt ihre höchsten Experten aus dem Beratergremium Committee on World Food Security (CFS) das Konzept auf 163 Seiten beleuchten (HLPE-Report, 2019). Allein die Kurzfassung benötigt elf Stichpunkte für eine Definition. Agrarökologie meint darin eine Präferenz für „natürliche Prozesse, sie begrenzt die Nutzung externer Inputs, unterstützt geschlossene Kreisläufe mit minimalen negativen externen Effekten, betont die Bedeutung lokalen Wissens und partizipativer Prozesse“
und soll auch soziale Ungleichheit verringern und den Wissenschaften zur Geltung verhelfen. Diese Vielschichtigkeit birgt aber auch die Gefahr der Unschärfe. Also auch dies womöglich ein Containerwort? Agrarökologie gefällt, salopp gesagt, vielleicht gerade deswegen sehr vielen Parteien, weil sie weniger starr definiert ist als die vielen „Bio“Standards (Wezel et al. 2009). Und weil sie aufgrund ihres Ansatzes der lokalen Standortangepasstheit des landwirtschaftlichen Anbaus praktikabler erscheint als der jahrzehntelang für Afrika von internationalen Organisationen empfohlene Weg der Ertrags-
4.10 Das politische Konzept der Agrarökologie
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steigerungen durch eine agrarindustrielle Intensivierung nach dem Vorbild der „grünen“ Revolution des Nordens. Das bedeutete damals ab den 1950er-Jahren noch einen agrarchemischen Weg. Der hatte nicht nur gesundheitliche und ökologische Nebenwirkungen, sondern scheitert oft am Mangel. Denn wie soll die Intensivierung gelingen, wenn es Bauern an Geld, Dünger und Pestiziden fehlt? Agrarökologie sieht vor, Landwirtschaft durch eine sogenannte Verstärkung von Ökosystemleistungen zu intensivieren, aber auch „konventionelle“ Maßnahmen wie bedarfsorientierte Düngung bleiben prinzipiell erlaubt. Die Integration lokaler Erfahrungen der Bauern und wissenschaftsbasierte Empfehlungen, die die Situation vor Ort betreffen, werden betont. Laut dem HLPE-Report ist dies ein „dynamisches Konzept“, „transdisziplinäre Wissenschaft“, befördert „biologisch-ökologische Prozesse“ in den Ernährungssystemen; Agrarökologie ist: Einbezug lokalen Erfahrungswissens, eine Wissenschaft, eine Sozialbewegung, ein „innovativer Denkansatz für 'Ernährungssysteme'“ (HLPE). Das Konzept ist jedenfalls klar abgegrenzt von „nachhaltiger Intensivierung“ (HLPE, S. 63). Agrarökologie ist demnach arbeits- statt kapitalintensiv, ist umfassend mit politisch-sozialen Aspekten wie der Demokratisierung, „Gerechtigkeit“, Menschenrechten verbunden. Auf der agronomischen Ebene ist sie somit nährstoffeffizienter und biodiversitätsfreundlicher. Sie sieht laut dem HLPE-Report unter anderem vor: „Nährstoffkreisläufe, biologische Stickstoff-Fixierung, Verbesserung der Bodengesundheit, Wasserschutz, Biodiversitätsschutz, Habitatmanagement, Kohlenstoffbindung, biologischer Pflanzenschutz, Diversifizierung im Ackerbau … Kompostnutzung“ (ebd., S. 36). Die 13 Prinzipien der vom HLPE definierten Punkte der Agrarökologie sind: 1. Recycling, vorwiegend Nutzung lokaler Nähr- und Baustoffe, 2. Reduktion der hofexternen Inputs (Dünger, Chemikalien), 3. Erhöhung der Bodengesundheit, 4. Erhöhung der Tiergesundheit und des Tierwohls, 5. Erhöhung der Biodiversität, 6. ökosystemische Synergieeffekte nutzen, 7. wirtschaftliche Diversifizierung (Einkommen der Kleinbauern auf breite Grundlage stellen), 8. Co-Kreation von Wissen: Verbesserung der Co-Kreation und horizontalen Verbreitung von Wissen, das lokale und wissenschaftliche Innovationen berücksichtigt, 9. soziale Werte und Ernährungsweisen: Aufbau von Ernährungssystemen auf der Grundlage von Kultur, Identität, Tradition, sozialer und Gender-Gerechtigkeit, 10. faire Preise für Farmer, Wahrung von Eigentumsrechten, 11. Konnektivität, möglichst direkter Kontakt und kurze Wege vom Erzeuger zum Verbraucher, 12. Governance von Land und natürlichen Ressourcen, 13. Partizipation: Soziale Organisationen und dezentrale Regierungsstellen wirken in der Wertschöpfungskette mit.
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Auch diese Liste macht deutlich, warum einerseits fast jede Interessengruppe irgendwo einen Punkt findet, der ihren Interessen entspricht. Einige Punkte erweisen sich bei näherem Blick als Leerformeln. Denn was genau sollte unter „fairen Preisen“ zu verstehen sein? Und andererseits wird klar, was der „Geist“ der Agrarökologie ist: Subsidiarität, Berücksichtigung lokaler kultureller Interessen, Respekt gegenüber Erfahrungswissen. Dieser Ansatz ist auch beliebt in der transdisziplinären Forschung, die etwa landwirtschaftliche Praxis vor Ort einbezieht. Ein Beispiel für einen von Agrarwissenschaft begleiteten Ansatz ist eine verstärkte „Wiederentdeckung“ traditioneller Anbauweisen von Getreide im Fruchtwechsel und in der Nähe zu anderen Feldfrüchten (Multi-Cropping) und deren Verbesserung. Das sogenannte Multi-Cropping von Erdnüssen und Hirse wird zum Beispiel von Wissenschaftlern hinsichtlich vieler Faktoren wie Produktivität und Auswirkungen auf das lokale Bodenökosystem begleitet. Agrarökologische Fischzucht: Das Beispiel „Fish CRP“
Ein konkretes Beispiel ist „Fish CRP“, eine Initiative des Fischforschungsprogramms des CGIAR in vielen Staaten Afrikas und Asiens, hinter dem das internationale Forschungszentrum World Fish, die niederländische Universität Waageningen, die australische James-Cook-Universität und die Universität Greenwich stehen (Li et al., 2022). In Dörfern werden kleine Fischzuchten geschaffen, in denen die Bauern Getreide zu Fisch „veredeln“ können. Das verbraucht kein Trinkwasser, sondern basiert auf Grundwasser oder geschieht in Flüssen, Seen und Teichen. Pflanzenabfälle werden zu Fischfutter. Das schmutzige Wasser dient als Dünger für die Felder. Dort wächst dann, im nächsten Schritt, idealerweise mehr als nur Mais, sondern eine Vielfalt an Früchten und dazwischen existieren Push- und Pull-Kulturen, die nützliche Insekten anziehen oder Fraßinsekten ablenken und so eine pestizidlose Landwirtschaft ermöglichen.
Agrarökologie ist also ein schwammiges Konzept oder wohlwollender gesagt: ein vielseitiges. Eine Gefahr ist einerseits, dass der Facettenreichtum zum Rosinenpicken einlädt. Andererseits verbindet sie – ähnlich wie die Bioökonomie – viele unterschiedliche Akteursgruppen. Im Prinzip lässt sie auch die „Tür offen“ für die Anwendung von Pestiziden und Stickstoffdünger, wenn sie denn „selektiv“ ist (HLPE-Report, u. a. S. 37, S. 46, S. 81). Ökologische Landwirtschaft als definierter Standard hat große Schnittmengen mit der Agrarökologie. Aber diese kann nicht nur als Weg dahin, sondern auch „darüber hinaus“ verstanden werden. Denn sie ist an sozial-kulturellen Aspekten der Landnutzung interessiert („Konnektivität“, „Fairness“). Für Agrarökologie gibt es in einzelnen Staaten, wie Brasilien, schon Förderprogramme für den Anbau oder auch staatliche Lebensmittelkaufprogramme in sozialpolitischem Kontext. Jedoch gibt es (noch) keine breit entwickelten Märkte, die den spe-
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ziellen Ansatz honorieren, so wie im ökologischen Landbau. In diesem Sinne beschäftigt Agrarökologie noch eher Ministerien und mehr noch Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die über den Tellerrand ihrer Ressorts und Disziplinen schauen wollen. Auch das hat sie mit der Bioökonomie und der Zirkulärwirtschaft gemeinsam.
4.11 Neue Flächenkonkurrenzen und neue Lösungswege Der bioökonomische Pfad des Ressourcenersatzes verschärft die Begehrlichkeiten nach Boden. Sollten die klimapolitischen Pläne und die erwartete, dafür nötige Ausweitung der bioökonomischen Ressourcennutzung von Bund und Ländern verwirklicht werden, würde die Nachfrage nach Biomasse stark ansteigen. Die Nachfrage nach holzartigen Rohstoffen für die stoffliche Nutzung würde schon in einem Prognoseszenario, das von mittelstarken Steigerungen der Nachfrage ausgeht, in Deutschland um 0,5 % jährlich steigen. Die Nachfrage nach Biomasse durch die chemische Industrie stiege sogar um 5,1 % jährlich (Poganietz et al., 2020, S. 194). Das ethische Hauptdilemma der Nutzung nachwachsender Rohstoffe für den Bau ist die Flächenkonkurrenz mit Lebensmitteln. Einerseits gilt „Food First“ als ethischer Konsens der Bioökonomie. Andererseits etabliert sich in der internationalen Entwicklungspolitik mehr und mehr ein Ansatz, der auf eine sozialökologische „Optimierung“ der gesamten Food Systems fokussiert (von Braun et al., 2023). Hier ist die Effizienz der Landwirtschaft ebenso ein Anliegen wie die Gesundheit der Menschen und die klimatischen Folgen der Landwirtschaften. Dieser neue Fokus verspricht im Grunde, das „Gegeneinander“ der Flächennutzung nicht mehr so starr zu denken wie bislang. Zwei Beispiele: Die stoffliche Holznutzung entzieht der Erdatmosphäre dauerhaft CO2, was sich positiv auf die Klimastabilität auswirken kann. Und eine Reduktion der flächenverbrauchenden Tierhaltung wäre imstande, die Flächenkonkurrenz auch bei steigender Weltbevölkerung zu entschärfen. Insbesondere die Frage menschlicher Fehlernährung ist eng mit der ineffizienten Flächennutzung verbunden. Seit Jahrzehnten steigen die Weltbevölkerung wie der Anteil an Übergewichtigen gleichermaßen und Letzterer auch in Entwicklungs- und Schwellenländern (Grossarth, 2019). Systemische Vernetzung ist gefordert. Insbesondere für die größere Flächenproduktivität in der Biomasseerzeugung durch Agroforstsysteme gibt es wissenschaftliche Belege (Abschn. 11.3). Dennoch werden höhere Kosten der Bewirtschaftung als Hindernis in der Umsetzung genannt (Lehmann et al., 2020). Agroforst kann insbesondere für den Holzbau interessant sein, da hier zahlreiche Gehölze integriert werden können, wie etwa Haseln, Vogelkirschen, Walnuss, Speierling oder verschiedene Obstbäume. In Feldversuchen in ariden Gebieten mit degradierten Böden wurden deutliche Verbesserungen der Bodenqualität, etwa Wasserspeicherfähigkeit, und eine Erhöhung der Erträge nachgewiesen (Ikromov & Kadamov, 2021). Ein agrarischer Ansatz, die ökologischen Zielkonflikte der Flächennutzung zu verringern, könnte auch der vermehrte Einsatz von mehrjährigen Kulturen sein, denn bei
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ihnen ist im Mittel die Rohstoffeffizienz im Verhältnis von ökologischem und intensivem Anbau bei Ersterem relativ günstiger – das heißt, sie kommen auch mit weniger energieintensiver Düngung und Pestizideinsatz näher an die Erträge der intensiven Landwirtschaft als einjährige Pflanzen. Maniok in Afrika ist ein Beispiel, Miscanthus, die Baustoffe und Energie gibt, ein Beispiel aus Zentraleuropa (Thünen, 2019, Abb. 4.3). Derart viele Aspekte sind zu beachten, wenn der stark vermehrte Einsatz nachwachsender Rohstoffe im Bau gefordert wird, aber so groß ist auch die Breite der kreativen Ausgestaltungen der Landschaftsplanung und -nutzung. Wichtige Stellschrauben sind auch (einmal ausgeklammert die Frage, wie demokratisch legitimiert denn daran „zu drehen“ wäre): Der Fleischkonsum: Dass Großteile der agrarischen Flächen für die Erzeugung tierischer Proteine verwendet werden (Abb. 4.13), wurde schon beschrieben. Wäre hier nicht angesichts der klimapolitischen Realitäten die Frage zu stellen, ob Holzbau (also Klimaschutz von der Fläche) der intensiven Futtermittelproduktion vorzuziehen sei? Es wäre vermutlich die näherliegende Frage, als hier über „Häuser oder Teller“ zu diskutieren.
Abb. 4.13 Größter Konkurrent um die Fläche, auf der auch agrarische Baustoffe wachsen könnten: das vielfressende Nutztier. (Foto Jan Grossarth)
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• Die Biomasse zur Stromerzeugung: Zu bedenken ist, neben dem hohen Fleischkonsum, auch der hohe Flächenbedarf von Holzschnitzelkraftwerken oder Biomasseanlagen. Solarenergie- und Windkraftanlagen erzielen pro Hektar Fläche das Fünfzigbis Hundertfache an Stromertrag in Kilowattstunden. Keine andere Form der Energieerzeugung verschärft die Flächenkonkurrenz so stark wie die Biomasse (Dumke, 2020, Tab. 41 f.). Biomasseanlagen, die mit Stroh „gefüttert“ werden, erzeugen bei einem Energieertrag von weniger als einem Viertel von gleicher Anbaufläche einen vielfach höheren Flächenbedarf für die Stromerzeugung als die schnellwachsenden Pflanzen Miscanthus oder Mais (ebd., Tab. 28). Das ist ein starkes Argument, aus Stroh zu bauen und es nicht zu vergären und auch nicht zu verbrennen. • Eine Kreislaufwirtschaft der Pflanzennährstoffe: Schon heute hängen die agrarischen Erträge in hohem Maße an der Zufuhr künstlich erzeugter Düngemittel wie Stickstoff, Phosphor und Kali. Die Ertragsvorsprünge der europäischen oder nordamerikanischen Landwirtschaft gegenüber afrikanischen Landwirtschaften können Großteils durch die unterschiedlichen Düngemittelaufwendungen erklärt werden (Grossarth, 2019). Schließlich waren die agrarischen Produktivitätszuwächse seit Beginn der Industrialisierung überwiegend subventioniert gewesen durch • Mineraldünger (organische wie Guano, später chemisch synthetisierter Stickstoff) ab 1840er-Jahre, • Erdöl, später Erdgas zu N-Dünger (Haber–Bosch-Verfahren, ab 1910er-Jahre), • Maschinisierung (Ersatz des Pferdes, des Ochsen durch Traktor), in Westeuropa flächendeckend ab 1950er-Jahre, • Agrarchemie (Pflanzenschutz), ab 1960er-Jahre. Flächenkonkurrenzen können auch entschärft werden durch eine Vielfachnutzung oder Vervielfachung der Fläche, etwa durch Multi-Cropping, Agroforstwirtschaft, vertikale Farmen in Hochhäusern oder durch Agrar-PV-Produktionssysteme auf Äckern. Im letzteren Fall ermöglichen die teils lichtdurchlässigen PV-Dächer noch immer ein – in der Regel leicht reduziertes – Wachstum von Getreide, Äpfeln oder Trauen über dem Boden oder in Strauchhöhe. Insbesondere den Methoden und Ansätzen der Agrarökologie und des Agroforstes wird zugetraut, die Flächenkonkurrenzen der Bioökonomie zu entschärfen (Tab. 4.7). Das sind Bodenverbesserungen, die auf einem Humusaufbau beruhen (Carbon Farming), und der Agroforst. Mögliche „Win-win-Effekte“ des Carbon Farming oder des Agroforstes sind in folgender Tabelle skizziert. Schließlich wird auch die oben skizzierte „biotechnologische Revolution“ dieses Jahrzehnts mit Hoffnungen verbunden, dass sich die Flächenkonkurrenzen der Bioökonomie verringern lassen. Zu den „disruptiven“ Entwicklungen werden auch Präzisionsfermentation gezählt, die Herstellung „günstiger Proteine“ im Bioreaktor aus Gras oder CO2 (Vanhercke & Colgrave, 2022). Als Treiber gelten die drastisch sinkenden Kosten der Schlüsseltechnologien wie der Genomsequenzierung oder der Rechenkapazität von Computern.
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Tab. 4.7 Bewertungsmatrix. (JG, IPCC, Lampking 2015, Pearce 2015) Landwirtschaftlicher Ansatz
Produktivität
Nutzung nicht-erneuerbare Energien, Treibhausgasausstoß
Biodiversität Bodenqualität Profitabilität und damit ver- und Wasserbundene Öko- ressourcen systemdienstleistungen
KohlenstoffErhöhung im Boden
+ (Besser als in der konventionellen Landwirtschaft)
+
+ + + (Viel besser als in der konventionellen Landwirtschaft)
0 (Ähnlich wie in der konventionellen Landwirtschaft)
Verringerter Gebrauch von synthetischen Pestiziden und Düngern
– (Deutlich niedriger als in der konventionellen Landwirtschaft)
+
+ +
+ +
–
Agroforst
+
+ +
+ +
+ +
+/− (Je nach Standort, Ertrag für Hölzer)
4.12 Exkursion: Das Ackerland überdachen? Die Potenziale der Agrarphotovoltaik Im Jahr 1981 erschien in der Zeitschrift Sonnenenergie ein Beitrag der Wissenschaftler Adolf Götzberger und Armin Zastrow. Er trug den Titel „Kartoffeln unter dem Kollektor“ (Götzberger & Zastrow, 1981; Abb. 4.14). Die Autoren schlugen vor, Äcker seien so zu nutzen, dass dort zweierlei geerntet würde: Kartoffeln und Solarstrom. Denn der Kartoffel bekommt der Schatten der Photovoltaikmodule (PV) besser als Sonnenschein im Zenit. Die Idee des „Agri-PV“ war geboren. Es dauerte dann aber mehr als 40 Jahre, bis sich auch die große Politik dafür begeisterte. Am 7. Juli 2022 beschloss der Bundestag eine Novelle des EEG-Gesetzes. Darin steht, dass Agri-PV fortan auch auf Grünland erlaubt sei. Und das Bundesagrarministerium teilte mit, dass für die Kombination von Kollektor, Kartoffel oder Grünland auch weiterhin die für Landwirte lebenswichtigen EU-Flächenprämien ausgezahlt würden. Das bedeutet: Agri-PV ist auch juristisch als Landwirtschaft zu betrachten, nicht als Kraftwerkbau. Zwei wichtige Stellschrauben sind umgestellt. Aber was sagen eigentlich die Landwirte? Grund, über Agri-PV nachzudenken, haben sie: Die Dürre drückt, Schattenspender sind überlebenswichtig. Auch in der bayerischen Rhön stauben die Böden wie-
4.12 Exkursion: Das Ackerland überdachen? Die Potenziale der Agrar-Photovoltaik
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Abb. 4.14 Wegweisend? Die Idee der Agri-PV wurde 1981 mit diesem Artikel geboren, aber erst ab 2022 politisch für wichtig befunden. (Bildzitat Sonnenenergie)
der. Auch hier schwebt die Frage über allem: Wie ernähren wir uns künftig noch von solchem Wüstenland? Der Bauer Mathias Klöffel beackert in der Rhön, in Großbardorf, mit seinem Sohn 180 Hektar Land. Hier reifen Weizen, Mais und anderes. Klöffel hat schon vieles dafür getan, um den Ackerbau an die neuen Klimabedingungen anzupassen. Weg vom Mais, hin zu Fruchtfolgen mit Triticalen, tief wurzelnden Luzernen, Leguminosen, Salbei. Vieles davon kommt in die Biogasanlage. An Agri-PV denkt er nicht ernsthaft. Klöffel wäre dabei ein idealer Interessent für die Agri-PV. Wäre es nicht schön, wenn Paneele seine Äcker vor dem schnellen Austrocknen schützten? Klöffel, auch Geschäftsführer der Energie-Genossenschaft Agrokraft, lächelt. Er denkt vor allem an Mehraufwand. Er rechnet am Beispiel seines Betriebes vor: 300 € spüle ein Hektar Weizenland in seine Betriebskasse und das sei nicht eben viel. Da müsse die Arbeit unkompliziert sein. „Wenn dazwischen fünf PV-Anlagen stehen“, so sagt er, „wird die Arbeitszeit für das Mähen viel zu lang.“ Sein persönlicher Weg in die Sonnenenergie war weniger kompliziert: Er ließ schon vor 20 Jahren seine Stalldächer mit PV-Modulen eindecken. Und die Genossenschaft
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betreibt eine klassische Solaranlage, die Fläche frisst. Aber Bedenken, wie die Klöffels, könnten sich eines Tages zerschlagen. Die Agri-PV-Technik entwickelt sich fort. Große Traktoren und Mähdrescher könnten durch die Reihen fahren – die Höhe der PV-Dächer liegt bei 6 m, der Abstand der Paneelreihen bei 18 m. In Geisenheim im hessischen Rheingau sollte im Jahr 2023 unter Agri-PV-Dächern geerntet werden. Aber nicht Getreide, sondern Weintrauben. Drei Meter hoch überdecken hier, am Geisenheimer Fuchsberg, Solardächer die jungen Reben. Die Fläche ist gering: ein halber Hektar. Auch hier geht es noch lange nicht um Markreife – sondern, wie es bei der Hochschule Geisenheim heißt, zum Beispiel darum, „gesellschaftliche Partizipation bei der Ausgestaltung der Energiewende am praktischen Beispiel“ zu erlangen. Weitere Forschungsziele sind, die Ertragsauswirkungen zu dokumentieren. Die immer sonnigeren Sommer führten gerade im Weinbau zu allzu früher Reife, hier könnte die Bedachung besonders positiv wirken, meinen die Wissenschaftlerinnen. Eine weitere Frage in Geisenheim ist, was man über die Integration sogenannter Biodiversitätsinseln – Blüh- und Nistfelder inmitten der Dächer – in dieser Hinsicht erreichen kann (HS Geisenheim, 2020). Aber jenseits solcher Forschungsprojekte in der praktischen Landwirtschaft sucht man in Deutschland noch weitgehend vergeblich nach Agri-PV. Markus Haastert will das ändern. Der Unternehmer in Berlin, der auch schon einige Forschungsprojekte praktisch begleitet hat, setzt mit seiner Agro Solar Europe GmbH auf dieses Feld. Er berät Landwirte und berichtet von stark gestiegenem Interesse nach dem Parlamentsbeschluss vom Juli. „Das Thema nimmt stark Fahrt auf“, sagt er. Sein Unternehmen habe allein in den vergangenen Wochen Beratungen für 400 Hektar Land geleistet; auch das ist noch eine relativ winzige Fläche. In Haasterts Beratungsgeschäft geht es um Fragen wie nach der optimalen Beschattung von Obst im Alten Land, Beeren in Brandenburg, Kartoffeln und Rüben im Rheinland. Aber es geht auch, sagt Haastert, um naturnähere Anlagen. „Wir wollen nicht Beton auf den Acker gießen, sondern Anlagen auf filigranen Stahlverankerungen, die wie Baumwurzeln gemacht sind.“ Aber der Ball liegt noch im Feld der Wissenschaft. Viele Forschungsfragen sind offen: Wie lassen sich Paneele so aufstellen, dass sie im Frühling Hagelschutz bieten, aber auch das Mikroklima im Sommer verbessern? Wie lassen sich Bewässerungsanlagen integrieren? Wie sind die Effekte auf die Artenvielfalt? Wie sind die Umweltauswirkungen auf Brutvögel – etwa durch Blendungseffekte? Wie lauten die konkreten Zahlen zur Wasserbilanz der Agri-PV? In der Agrarwissenschaft ist es oft und auch in diesem Fall so, dass sinnvolle Antworten nur in sehr konkreten Anwendungsbezügen gegeben werden. Jede Fruchtfolge, jeder Boden, jede Klimaregion haben eigene Bedarfe. Entsprechend bunt liest sich etwa auch die Liste der laufenden Fraunhofer-Forschung: Es geht um die optimale Beschattung von Getreide in Chile, den Einsatz für die lokale Versorgung in Mali und Gambia, um Solardächer für Shrimpsfarmen in Vietnam. Doch schon heute weiß die Wissenschaft schon vieles darüber, welche Anwendungsfelder landwirtschaftlich sinnvoll sind. Dauergrünland oder Getreide vertragen eine Beschattung am Morgen und Abend. Diese erreicht man über bodennahe, senkrecht aufgestellte Module. Damit ex-
4.12 Exkursion: Das Ackerland überdachen? Die Potenziale der Agrar-Photovoltaik
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perimentiert etwa der süddeutsche Energieversorger Lechwerke seit gut einem Jahr im Allgäu. Diese Paneele lassen etwa die Beweidung durch Schafe, Ziegen oder Hühner zu. Obstkulturen wie Birnen und Äpfel oder Kartoffeln, die Sonnenschutz in der Mittagszeit benötigen, lassen sich hingegen eher mit dachförmigen, auf Stelzen stehenden PVModulen kombinieren. Es gibt davon bislang nur wenige Versuchsanlagen in Deutschland – eine etwa am Bodensee, eine in Rheinland-Pfalz, wo Demeter-Apfelplantagen erfolgreich vor dem Sonnenbrand geschützt werden. Die erste wissenschaftliche Versuchsanlage in Deutschland entstand 2015 in Heggelbach am Bodensee. Federführend ist das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) in Freiburg. Beteiligt sind aber auch der Agrarhandelskonzern Baywa und andere wissenschaftliche Partner wie das KIT Karlsruhe. Sechs Meter hoch beschirmen in Heggelbach PV-Module die Felder, auf denen Sellerie, Kartoffeln, Klee und Weizen wachsen. Viel Licht dringt hindurch und schon die ersten Forschungsergebnisse waren vielversprechend: Die Ernten gingen durch die Beschattung insgesamt leicht zurück, aber die Stromausbeute verbessert die Gesamtbilanz. Das Land wurde insgesamt um 60 % effektiver genutzt als im Falle der reinen Feldwirtschaft. Im Fall des heißen Sommers von 2018 waren sogar die Getreideernten unter PV-Schatten etwas größer als auf den offenen Vergleichsfeldern. Im Freiburger ISH-Institut leitet Max Trommsdorff die Forschung zu Agri-PV. In seinen Augen ist nun deren Zeit gekommen und ,,schneller als gedacht“. Er sieht, wie er sagt, in der Agri-PV „eine Technologie, die das Potenzial hat, den Wasserverbrauch zu reduzieren und die Flächennutzung viel effizienter zu gestalten“. Vieles tue sich auch in der Materialforschung: vermehrtes Interesse an sogenannten organischen PV-Folien oder an Dünnschicht-PV, die passgenau eben die von den jeweils angebauten Pflanzen benötigten Lichtspektralfarben durchlassen. „Es gibt auch einen Trend zu sogenannten bifazialen PV-Anlagen, deren Rückseite ebenfalls elektrisch aktiv ist“, sagt Trommsdorff. Das bringt höhere Stromausbeuten je Quadratmeter Modulfläche (Trommsdorff, 2021). Trommsdorff hat nicht nur als Gitarrist die Welt umreist und darüber ein Buch geschrieben. Er ist auch Ökonom und er weiß, dass sich die Durchsetzung in der Praxis nicht nur in guten wissenschaftlichen Argumenten, sondern vor allem betriebswirtschaftlich entscheidet. Jetzt haben die Landwirte Klarheit: Die EU-Agrarförderung gibt es weiter, wenn „landwirtschaftliche Hauptnutzung“ vorliegt, also nicht mehr als 15 % des üblichen Ertrages durch die Solaranlagen verlorengehen. Klare Kriterien für die Tierhaltung fehlten noch, sagt Trommsdorff. Wie viel teurer aber ist eine hoch geständerte PV-Anlage, wie sie in Heggelbach steht? Das Kompetenzzentrum für Nachwachsende Rohstoffe Straubing der bayerischen Staatsregierung hat Daten darüber dokumentiert. 1234 € je Kilowatt-Peak Stromertrag fallen für hoch aufgeständerte Anlagen an, statt nur 572 € für gängige Freiflächenanlagen. Weil unter dem teureren Solardach aber eine Bewirtschaftung möglich ist, kommt der Ertrag aus dem Getreide- oder Obstverkauf hinzu ebenso wie die rund 300 € EU-Flächenprämie. Diese Zahlen lassen erkennen, dass sich die Agri-PV zunächst auf den sehr ertragreichen Böden rentieren wird, wo es lukrativ ist, Ernteerlöse zu erhalten.
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Hinzu kommt der Fakt, dass die Solaranlagen immer produktiver werden. Der ISH-Wissenschaftler Max Trommsdorff erinnert an den Rückgang der Einspeisevergütung durch die EEG-Umlagen: Von mehr als 50 Cent (2000) auf rund 5 Cent pro Kilowattstunde derzeit sei diese gesunken. Sie ist kaum mehr ein Faktor für Investoren. Der Berater Markus Haastert von Agro Solar Europa sagt: „Die meisten Landwirte entscheiden sich heute, das EEG zu umgehen und den Strom direkt an Abnehmer aus der regionalen Industrie zu vermarkten.“ Die Agri-PV ist nur eine von mehreren Möglichkeiten der sogenannten integrierten Photovoltaik. Das sind all die Felder, wo Solarpaneele in bestehende Infrastrukturen eingebaut werden: von Hausfassaden über Schienennetze, über Autodächer bis hin zu Baggerseen. Das Ausbaupotenzial der Agri-PV ist hier besonders groß, hat ISE-Forscher Trommsdorff mit anderen Fraunhofer-Forschern errechnet. Dazu verglich er die Potenziale der Agri-PV mit anderen Feldern: Auf 1700 Gigawatt-Peak kamen sie, das ist deutlich mehr als jeweils für den Solarausbau der Gebäude, der Straßen- und Schienenwege, der Wasserflächen, Lärmschutzwände oder eine entsprechende Nutzung der Autoflächen. Und es wäre vielfach mehr, als für die Klimaneutralität im Energiesektor laut Berechnungen des ISE nötig wäre. Aber der Ausbau geht nicht mit der Brechstange. Es gibt Konflikte mit der Landschaftsästhetik. Hierzu betreibt auch Fraunhofer ISE eigene Akzeptanzforschung. Erste Ergebnisse: Agri-PV wird von der Bevölkerung als weniger störend wahrgenommen als reine PV-Flächen oder vor allem als Windparks. Auch für eine der verbreitetsten Feldfrüchte kommt die Technik kaum infrage. Der Mais, der als sogenannte C-4-Pflanze besonders effektiv das Licht in Biomasse umsetzt, gilt als ungeeignet für PV-Kombinationen. Für den Mais ist es ideal, möglichst viel Sonnenlicht zu haben. Er kann nicht genug bekommen von der Photosynthese.
4.13 Zusammenfassung und Ausblick Der Einsatz nachwachsender Rohstoffe für den Bau wird vor dem Hintergrund der globalen Klimaschutzpolitik voraussichtlich mit historisch nicht gekannter Intensität zunehmen. Die traditionelle Betrachtung des „Vollholzes“ als maßgeblichen Baustoff bedarf dafür einer starken Weiterung – vor allem auf agrarische Rohstoffe und deren Bearbeitung mittels innovativer Biotechnologien. Viele biogene Rohstoffe sind oder werden für das Bauwesen als Massenbaustoffe relevant: Stroh und Gräser, wie Weidelgras – und Bambus in asiatischen und afrikanischen Regionen –, Flachs oder Baumwolle, Kokos, Ananas, Schilf, Rohrkolben, Hopfen, Jute, Brennnessel, Kiri-Bäume, Zuckerrohr. Die Verwendung nachwachsender Baustoffe steht im Begründungszusammenhang einer schon derzeit großen und zunehmenden Flächenkonkurrenz, mit dem politischen Ansatz der Agrarökologie, mit dem Vorrang der Nahrungsmittelproduktion und in Bezug auf die Chance einer zunehmenden hochwertigen Wiederverwertung organischer Reststoffe (umgangssprachlich: Abfallströme). Jede Innovation in Richtung einer Kreislauf-
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wirtschaft senkt den „Druck auf die Fläche“, also den Bedarf nach nachwachsenden Ressourcen. Deshalb ist eine Bioökonomie notwendigerweise in den Rahmen einer Zirkulärwirtschaft eingebunden. Der bioökonomische Bau in diesem Sinne verbindet traditionelle mit innovativen Rohstoff(nutzungsarten). Da der biogene Bau einen Kulturbruch mit einer Baupraxis darstellt, die sich seit mindestens 70 Jahren auf Abbruch und ressourcenintensiven Neubau fokussiert, sind zur Verwirklichung dieses Nachhaltigkeitsansatzes nicht nur materialwissenschaftliche Innovationen und Effizienzfortschritte in der agrarisch-forstlichen Rohstofferzeugung nötig, sondern auch Value-Chain-Innovationen, wie sie im einleitenden Kapitel angesprochen wurden. Die Schönheit und das angenehme Raumklima etwa von lehmverputzten Strohballenhäusern können zudem Menschen dazu einladen, auch kleinere Wohnflächen als lebenswert zu empfinden. Derartige kulturell-lebensweltliche Bezüge geraten aus dem technischen Blickwinkel auf „nachwachsende Rohstoffe und Biotechnologien“ leicht aus dem Sinn. Da die „Transformation“ auch in diesem Feld Kulturbrüche bedeuten würde, sind Reaktanzen und Widerstände von Akteuren, wie etwa den tierhaltenden Landwirten, zu erwarten, die dem umweltplanerischen Planungsblick Grenzen setzen. Deren Interessen sind ernsthaft mitzudenken. Wozu taugt dieser Schatz – jenseits der Verbrennung? (Foto Jan Grossarth)
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Innovationen der Bau-Bioökonomie an Beispielen: Myzel-Komposite, 3-D-Druck und Bioharze
Im Folgenden geht es um drei konkrete Beispiele für biotechnologische Innovationen, denen besonders große Praxisrelevanz für die Bauwirtschaft zukommen dürfte. Letztlich kreisen sie alle um die Idee, Holz und agrarische Rohstoffe in sehr kleine Bestandteile zu zerlegen (sei es in Nanopartikelgrößen oder darunter), sie thermisch, mechanisch oder chemisch zu verändern und so neue Baustoffeigenschaften zu kreieren.
5.1 Additive Fertigung (3-D-Druck) im Bauwesen Die Ergänzung traditioneller Bauweisen mit Konstruktionsvollholz geht nicht nur in die Richtung der zunehmenden Anwendung verklebter Holzwerkstoffe wie BSH (Glulam) oder Brettsperrholz (CLT). Auch auf Lignin und Zellulose basierende Materialien, die auf Basis von Veränderungen der Holzstrukturen auf viel kleinerer Partikelebene entstehen, sind zu beachten (Miletzky, 2020). Vielleicht sind solche Innovationen sogar der Kern dessen, was sinnvollerweise unter der Bioökonomie im Bauwesen im technischen Sinn verstanden werden sollte. Der traditionelle Bau- und Werkstoff Holz wird gewissermaßen in seine kleinsten Bausteine zerlegt oder diese werden so transformiert, dass ganz neue Eigenschaften entstehen. Die Rohstoffe dafür können (Alt-)Holz, Gräser oder agrarische Biomaterialien sein. Im Fall des 3-D-Drucks (oder der Zukunftstechnologie des „4-D-Drucks“) wird die Zellulose als (relativ kostengünstiges) Füllmaterial verwendet (Krapež & Kariž, 2022). Für den 3-D-Druck (oder „additive Fertigung“) dient die Lignozellulose als funktionales Additiv und als Verstärkung. Einerseits müssen die Materialeigenschaften des Lignozellulose-3-D-Drucks bis zur Marktreife noch verbessert, anderseits die Kosten der Produktion deutlich gesenkt werden (Lamm et al., 2020). Sie haben sich im Labormaßstab allerdings schon teilweise bewährt. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 J. Grossarth, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40198-6_5
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5 Innovationen der Bau-Bioökonomie …
Übliche 3-D-Druckverfahren in der Industrie basieren auf Kohlenstoff und Glasfaserstoffen und fossil basierten Polymeren. Mit Betonen als Grundstoff wurden hingegen schon erste Häuser auf Basis von additiv gefertigten Bauteilen errichtet – in den Vereinigten Staaten, in Belgien und Deutschland: Im westfälischen Beckum (House3D, 2020) wurde 2020 ein Musterhaus fertiggestellt – allerdings noch mit 200.000 € staatlich gefördert. Hierfür wurde nicht biogener Rohstoff, sondern Beton („I Tech® 3D von Heidelberg Cement) verwendet. Als wesentliche Vorteile solcher Fertigungsverfahren nennt die Literatur • • • •
die hohe Individualisierungsmöglichkeit (vom Massenfertighaus zum Unikat), die wenig arbeitsintensive, maschinisierte Fertigung, die Fertigung vor Ort oder die modulare Vorfertigung.
Ob sich Außenwände wie des Hauses in Beckum auf biogener Basis drucken lassen und wie das Feuchtigkeits- und Tragverhalten solcher Häuser sein wird, ist weitgehend unbekannt. Eine Anwendung im Innenbereich, für Innenwände etwa, oder im Möbelbau erscheint jedoch wahrscheinlich. Aus Sicht des bioökonomisch zirkulären Denkens sind diese Materialien interessant, denn der innovative Lignozellulose-3-D-Druck könnte Bauwerke entstehen lassen, die dem Anspruch zirkulärer, kaskadierender Stoffstromführung gerecht werden (Kromoser et al., 2022). Allerdings ist im Einzelfall zu fragen, wie genau dieser Anspruch auch erfüllt wird oder eben nicht (Risse, Richter 2018). Im biogenen 3-D-Druck lassen sich nachwachsende Rohstoffe auf unterschiedliche Weise einsetzen. Eine thermoplastische Komponente als Quervernetzer kommt dabei mit einem Zellulosematerial zusammen. Die Tab. 5.1 verdeutlicht, dass auch die erste Materialgruppe biogener Herkunft sein kann. Das „Bioplastik“ PLA (Abschn. 4.3) steht hier als Beispiel dafür, dass auch aus Altfetten umgewandelte Polymere zum biobasierten Lignozellulose-Grundstoff verwandelt werden können. Die innovative Bioökonomie überbrückt somit stoffliche Grenzen zwischen Sektoren auf historisch nicht gekannte Weise. Die wichtigen baumechanischen Eigenschaften der additiv gefertigten Biobaustoffe (Steifigkeit, Festigkeit, Elastizität) lassen sich durch die Rezepturen verändern; Zellulose lässt sich in Form von Nanokristallen oder Nanofasern verwenden und „Füllstoffgehalte von weniger als 30 Gewichtsprozent an Zellulose-Nanofasern sind am vielversprechendsten, wobei größere Mengen zu einer Abnahme aller drei mechanischen Eigenschaften führen“ (Lamm et al., 2020). Das neuartige Schichtdruckverfahren Individual Layer Fabrication (ILF) ermöglicht die Herstellung vergleichbarer Materialien mit konventionellen Spanplatten, die aber mit weniger Bindemitteln zu fertigen sind (Abb. 5.1). Dabei werden individuell konturierte Holzwerkstoffplatten additiv durch den dünnschichtigen Auftrag von Holzpartikeln geformt (Henke et al., 2021). Als Vorteil gegenüber anderen additiven Fertigungsverfahren wird hier genannt, dass mechanischer Druck angewandt werden kann und so höhere Festigkeiten des Materials bei geringerem Bindemitteleinsatz erreichbar seien. Dabei
5.2 Funktionalisierung von Holz
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Tab. 5.1 Übersicht über verschiedene 3-D-Druckverfahren. (Nach Lamm et al. (2020), Tab. 1) 3-D-Druckverfahren
Material 1 (thermoplastisch)
Material 2 (Lignozellulose)
Weitere Zusatzstoffe
Extrusionsbasiert (schichtweises Auftragen der Polymere); Herstellung von schmelzbaren Filamenten
Thermoplaste (PLA, ABS, PP, Nylon, Polyurethan); Hydrogelmaterial (Kollagen, Carrageen) oder Nanozellulose in wässriger Suspension
Holzmehl; sprüh- oder gefriergetrocknete Zellulose-Nanofasern; mikrokristalline Cellulose; Lignin
Pigmente, Haftvermittler, Schmierstoffe, Glas, Kohlenstoff
Granulare Materialbindung (FGF) (direkte Kunststoffgranulat-Verwendung statt Filaments); selektives Laser-Sintern; Wasseraktivierung
Thermoplaste; zement- Holzmehl, Hackgebundene Materialien schnitzel, (Gips, Natriumsilikat, Lignin Portlandzement)
Thermoplastische Emulsion; Harz
Wasser
Sägemehl, Holzmehl, Wasser Methylzellulose
lassen sich auch ungefüllte Hohlräume erzeugen, was insbesondere für die Anwendung in Leichtbaustrukturen und die Funktionalisierung von Bauelementen als interessant angesehen wird (Henke et al., 2021). Folgende Verfahrensschritte sind dabei zu beachten: Zunächst werden Holzspäne gestreut, dann lokal mit Klebstoff versehen; der Klebstoff wird unter mechanischem Druck gehärtet, dann werden so gebundene mit ungebundenen Holzspänen separiert, schließlich schichtet und laminiert der 3-D-Drucker das Material zu 3-D-Bauteilen (Bunze, 2023). Ein Ersatz gängiger, noch verwendeter Formaldehyde durch Protein- oder Stärke-basierte Bindemittel wird angestrebt; eine Nutzung von Altholz oder Schadholz soll die ökologische Bilanz verbessern (ebd., Teischiner 2023; Aßhoff et al., 2021), auch die Altpapierreststoffe kämen infrage (UBA 2020); Teischinger, Tiefenthaler 2009; Wasteresearch 2019; Altholz 2020).
5.2 Funktionalisierung von Holz Ein weiterer ingenieurwissenschaftlicher Forschungszweig, der aus dem Blick der zirkulären Bau-Bioökonomie sehr vielversprechend scheint, befasst sich mit der Schaffung neuer Materialfunktionen von Holzbaustoffen. Das kann die elektrische Leitfähigkeit betreffen, sodass aus Holzgrundstoffen etwa sensorische Lichtschalter gefertigt werden können (Dreimol et al., 2022), oder aber kann es die Wasserdurchlässigkeit oder Wasserdichte betreffen (Burgert, 2023). Hierfür sind Veränderungen der Lignin- und Zellulosegehalte ein Schlüssel und auch werden verschiedene Kompositmaterialien mit Zelluloseanteilen erforscht (Acatech 2022).
168
5 Innovationen der Bau-Bioökonomie …
Abb. 5.1 Ein ILF-Musterelement aus dem 3-D-Drucker. (Foto Jan Grossarth)
Nanozellulose ist hier als „neues Material“ besonders im Fokus. Die Idee besteht darin, das Holz in allerkleinste Bestandteile zu zerlegen und je nach gewünschtem Einsatzgebiet dann wieder zusammenzufügen. Die kritischen Punkte sind hier jedoch die Rezyklierbarkeit, Kaskadierbarkeit und die Ökobilanz der so entstandenen Materialien. Letztere wird maßgeblich vom Energieaufwand der Erhitzungs- oder Pressverfahren, inklusive der Trocknungen der Lignozellulose, beeinflusst. Der Baustoffwissenschaftler Ingo Burgert von der ETH Zürich sprach bei einem Vortrag in Rosenheim eindrucksvoll von vergleichbaren Anwendungen in der Nanomedizin – schon 2015 war erstmals ein künstliches Ohr gedruckt worden. Aber eine Außenwand ist kein Ohr. In Bezug auf Einsatzmöglichkeiten etwa im Tragwerk war er zurückhaltender – ebenfalls gegenüber dem 3-D-Druck, denn hier schien er die Eigenschaften des Vollholzes zu schätzen. Er sagte: „Der Baum ist unser 3-D-Drucker, der macht uns die Struktur“ (Burgert, 2023). Gleichwohl erkannte darin Burgert eine Fülle interessanter Forschungsergebnisse: Nach der Entfernung des Lignins werde Zellulose verformbar, zwar bei erhöhter Porosität, jedoch bei erhaltener Faserstruktur. Daraus lassen sich unter Zufügung von Polymeren und Verdichtungen durch Tränkungen in Harz hoch feste Zellstoffkomponenten für bauliche Zwecke formen (Densified Cellulose Materials; Frey et al., 2018, 2019).
5.2 Funktionalisierung von Holz
169
Festigkeit und Steifigkeit lassen sich variieren. Hoch wasserabweisende Fassadenverschalungen könnten eine interessante Anwendung im Bauwesen sein. Holzwerkstoffe mit Janus-Membranen machen sich den gerichteten Wassertransport des Holzes zunutze; mit Laserverfahren wird eine Seite der Holzmembran hydrophob, die andere hydrophil gemacht – eine ist also wasserdurchlässig, eine ist wasserabweisend (Ding et al., 2020). So lassen sich Atmungs- und Feuchteschutzeigenschaften gegenüber Naturhölzern fast nach Belieben variieren und erlauben Anwendungen vielleicht sogar im Tiefbau. Durch selektive Lignin-Entfernung und Polymerzugaben wurden auch Holzwerkstoffe mit verbesserten Dämmeigenschaften oder veränderter Wärmeleitfähigkeit entwickelt (Mi et al., 2020). Gewissermaßen sind auf diese Weise Holzbalken mit thermischen Eigenschaften wie „Dämmziegel“ herstellbar – mit womöglich gegenüber Styropor-gefüllten Dämmziegeln verbesserten Wiederverwertungsmöglichkeiten. Durch derartige Verfahren lassen sich poröse und leichte Hölzer verstärken und dies bei bis zu 80 %iger Verschlankung. Dies käme dem ökologischen Ziel der Flächenschonung zugute. Das verdichtete Holz weist etwa auch deutlich verbesserte Brandschutzeigenschaften auf (Ding et al., 2020). Auch lassen sich Holzwerkstoffe transparent machen wie Fenstergläser; sogar Beschichtungen von Photovoltaikzellen wurden entwickelt (ebd.). Im Prinzip könnten durch diese Verfahren sämtliche emissionsintensive Baustoffe funktional ersetzt werden (Grafik 5.1) – die Frage der Rohstoffverfügbarkeiten, des Energieaufwandes und der Energiekosten einmal ausgeklammert. Kommen diese Verfahren zur Marktreife, dürfte die Rohstoffwahl sich neben den Preisen auch an den Lignin- und Zellulose-Gehalten der Holzarten orientieren (Tab. 5.2).
Grafik 5.1 Verschiedene Innovationen machen es möglich, dass auch Stahl-, Betonoder Glasbauteile durch holzbasierte Baustoffe ersetzt werden. (JG nach Ding et al., 2020)
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5 Innovationen der Bau-Bioökonomie …
Tab. 5.2 Zellulose- und Lignin-Gehalte von Bäumen. (Nach Türke 2014, S. 175) Baumart
Zellulose-Gehalt (in %)
Lignin-Gehalt (in %)
Kiefer (Pinus radiata)
37,4
27,2
Rotbuche (Fagus sylvatica)
39,4
24,8
Douglasie (Pseudotsuga menziesii)
38,8
29,3
Kanadische Hemlock-Tanne (Tsuga canadensis)
37,7
30,5
Birke (Betula verrucosa)
41,0
22,0
Eukalyptus (Eucalyptus globulus)
51,3
21,9
Balsa (Ochroma lagopus)
47,7
21,5
5.3 Neue Klebstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen Die Angewiesenheit von innovativen Baustoffen aus Holz – oder im weiteren Sinn aus Lignozellulose – auf synthetische Klebstoffe, aber auch auf die Beigabe vom Flamm-, Frost- oder Pilzschutzmitteln, ist hinsichtlich der gewünschten Rezyklierbarkeit und der Möglichkeiten zu einem kaskadenförmigen Downcycling immer wieder das Hauptproblem. Einerseits können Steckverbindungen oder Schraub- und Dübelverbindungen, wie sie schon im traditionellen Fachwerkbau verwendet wurden, eine Lösung sein – etwa auch unübliche wie die als „japanische Verbindungen“ im Holzbau erprobten Steckverbindungen (Discoue & Quinn, 2022). Biobasierte Harze und Klebstoffe haben andererseits weitere Einsatzmöglichkeiten. Sie dürften vor allem im Kontext der oben erwähnten zirkulären Innovationen eine Rolle spielen, wobei im Einzelfall zu klären wäre, ob das „nachwachsende“ auch das biochemisch gesündere Mittel ist. So kommt die in Spanplatten massenweise eingesetzte, von der EU und dem Bund als karzinogen eingestufte Klebstoffzutat Formaldehyd auch „natürlich“ vor. Der Ansatz der nachwachsenden Rohstoffe aber ist in jedem Fall klimapolitisch relevant. In diesem Fall greift die Bauwirtschaft auf schon in vorindustriellen Jahrhunderten verwendete Rohstoffquellen für Klebstoffe zurück. Schon in der Jungsteinzeit soll Birkenpech als Klebstoff etwa für die Befestigung von Dachschindeln aus Rinde verwendet worden sein, wie Besucher etwa in Museumsdörfern wie dem Federseemuseum in Oberschwaben erfahren. Baumharze wurden als Klebstoff ebenso verwendet, wie Glutin aus gekochten Tierhäuten, wie Leime aus dem Käseprotein Casein, Naturasphalt aus Erdöl und andere. Die Kunstharze setzten sich erst ab den 1940er-Jahren durch und machten biobasierte Klebstoffe obsolet (Industrieverband Klebstoff 2017). Dem gingen Forschungserfolge
5.3 Neue Klebstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen
171
Abb. 5.2 Der frühe biobasierte Klebstoff Syndetikon als Reklamemarkenmotiv (undatiert). (Foto Delcampe)
voraus: 1909 wurde das Verfahren der Phenolharzhärtung patentiert, 1932 kam erstmals ein gebrauchsfertiger Klebstoff auf dieser Basis auf den Haushaltsmarkt (UHU); die Geschichte der Konstruktionsklebstoffe beginnt etwas später (Industrieverband Klebstoffe, S. 1–19). Die Natur liefert Vorbilder. Proteine selbst weisen Eigenschaften von Klebstoffen auf, ein biologisches Beispiel ist die Protein-verursachte körperliche Blutgerinnung (Rischka, 2007). Mit Syndetikon war ab 1880 bis mindestens in die 1910erJahre erstmals ein biobasierter Flüssigklebstoff (der deutschen Otto Ring & Co.) massenverfügbar (Abb. 5.2). Dies war wohl ein mit Essigsäure verdünnter, eingedickter Leim (Hahn & Holfert, 1906, S. 393), der anderen Quellen zufolge aber auf Basis von Fischprotein aus ausgekochten Fischabfällen, Zucker und Leim hergestellt wurde (Braun, 2017, Kap. 1). Er war auf dem deutschen und internationalen Massenmarkt. Die genaue Rezeptur ist nicht überliefert, sie war ein Betriebsgeheimnis. Im Deutschen Kaiserreich seit 1897 wurde unter dem Markennamen Galalith (im Wortsinn bedeutet dies „Steinmilch“) auf der Basis von Casein als Protein und Formaldehyd als Quervernetzer ein früher Kunststoff, der auf Basis eines biobasierten Proteins hergestellt wurde, vermarktet. Diese Innovation ist angeblich einer Katze zu verdanken, die im Labor des Erfinders
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5 Innovationen der Bau-Bioökonomie …
Adolf Spitteler eine Schale Formaldehyd umstieß, die sich in dem Katzen-Milchschälchen ergoss und dieses erhärten ließ. Der Rohstoffmengenbedarf für die Herstellung dieses teilbiobasierten Kunststoffes war groß: 6 % der erzeugten Milchmenge im deutschen Reich oder 30 Mio. Liter wurden dafür verwendet (Türk, 2014, S. 130–132). Daraus wurden aber keine Baustoffe, sondern Kinderspielzeug, Kämme oder Knöpfe hergestellt. Verschiedene neue Forschungsarbeiten befassen sich mit dem biogenen Ersatz fossil basierter Klebstoffe. „Susbind“ war von 2018–2022 dazu das große europäische Forschungsprojekt.1 Neben anderen untersuchen etwa auch das Kompetenzzentrum Holz der Forschungseinrichtung „Wood K Plus“ in Linz und die BOKU Wien seit Jahren verschiedene Klebstoffe auf Basis biogener Rohstoffe, wie etwa Tannin aus Edelkastanie, Radiata- oder Mimosa-Rinden, Lignin, Pflanzenprotein, tierisches Protein oder Pflanzenöl (van Herwijnen, 2010, 2023). Das Fernziel solcher Grundlagenforschung ist gewiss auch eine industrielle Skalierbarkeit – schließlich gehe es um einen signifikanten Ersatz großer Mengen großteils fossil basierter Klebstoffe, wie beispielsweise der rund 4 Mio. Tonnen allein von der europäischen Spanplattenindustrie verwendeten synthetisierten Formaldehyde, die auf petrochemischer Harnstoffbasis erzeugt werden (ebd.). Es gibt auf dem Markt gewiss (wieder) Klebstoffe, die alte Rohstofftraditionen aufgreifen und die teilweise biobasiert sind – wie Spanplatten, die auf Sojabasis verklebt sind (siehe Kasten). Besonders das Lignin steht im Fokus der Forschung aufgrund seiner Massenverfügbarkeit und der Strukturähnlichkeit mit Phenol-Formaldehydharzen (Averina et al., 2021). Das Anwendungsfeld ist breit und reicht von der Spanplatte bis zum Asphaltbindemittel. Auch Proteine werden bereits als Klebstoff für Holzwerkstoffe verwendet, meist aus Reststoffen der Stärke- oder Pflanzenölherstellung. Kohlenhydrate wie Stärke und Zucker werden als Rohstoffquelle auch intensiv beforscht, aber es gibt noch kaum marktfähige Ergebnisse (von Herwijnen, 2023). Eine Schlüsselrolle spielen die Presstechnologien (Solt et al. 2019). Die wissenschaftliche Suche nach einer Harzsynthese auf der Basis nachwachsender Rohstoffe war im Jahr 2023 noch nicht beendet. Lignin ist für den Wege- oder Straßenbau als Rohstoff für die Beimischung als sogenannter Biobitumen geeignet (Abb. 5.3). Spanplatten auf Sojabasis: Das Beispiel Purebond
In den Vereinigten Staaten verwendet Columbia Forest Products als erster Hersteller einen weit am Markt verbreiteten Soja-Proteinklebstoff („PureBond“) für Sperrholzplatten, die am nordamerikanischen Markt gehandelt werden; die hohe Flüssigkeit (Viskosität) des Klebstoffs stehe aber einer europäischen Anwendung und vielen weiteren Anwendungen im Baugewerbe entgegen. Das Sperrholz aus Sojaprotein weist vergleichbare hohe Wasserbeständigkeit, Scherfestigkeit und
1 https://susbind.eu/.
5.3 Neue Klebstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen
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Abb. 5.3 Radweg auf Lignin-Basis: Ein Forschungspfad in Wageningen. (Foto Jan Grossarth)
Haltbarkeit gegenüber Harzen auf Formaldehydbasis auf (Kennedy, 2017). Der große amerikanische Sperrholzhersteller Columbia Forest Products vermarktet es landesweit. In Europa ist es nicht vermarktbar, da die EU-Normen für Sperrholz strengere Anforderungen stellen und das verwendete Vernetzungsmittel Kyemne® als karzinogen eingestuft ist. Denn „etwas, was chemisch gut reagiert, das reagiert auch gut mit Menschen, was bedeutet, dass es toxisch ist“, sagte dazu im Vortrag Hendrikus van Herwijnen (2023). Auch sagte Herwijnen: „Jeder Klebstoff ist eine explodierte Apotheke.“ Gewiss gilt das nicht nur für fossil basierte, sondern auch „natürliche“ Klebstoffe.
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5 Innovationen der Bau-Bioökonomie …
5.4 Exkursion: Die vielen Einsatzbereiche von Myzel im Bauwesen Auch Pilze eignen sich zur biogenen Stoffumwandlung. Als vortrefflicher Biokatalysator gilt der Glänzende Lackporling. Man kennt ihn aus dem deutschen Wald. Der Baumpilz setzt sich mit Vorliebe auf müde gewordene Laubhölzer und zersetzt sie. Die Wurzelgeflechte, bestehend aus unzähligen sogenannten Hyphen, ergeben – getrocknet und erhärtet – einen Stoff, der auch zum Hausbau trägt. Der Lackporling oder Ganoderma lucidum, im Herbst eine recht schleimige Erscheinung, gilt in der chinesischen Medizin auch als Heilmittel gegen Neurosen. Im Rahmen des europäischen Green Deal soll er hingegen auf dem Weg zur zirkulären Bioökonomie beitragen, also dazu, dass Baustoffe besser und schadstoffarm wiederverwendet werden können, und damit auch, dass der Bau sich vom Beton emanzipiert. In Karlsruhe forscht der Professor für nachhaltigen Bau Dirk Hebel mit Lackporlingen. „Wir möchten hier eine neue Klasse von Baumaterialien züchten, die metallische und mineralische Stoffe ersetzen können“, erklärt Hebel (Grossarth, 2022). Der Architekt am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) gilt als einer der Pioniere mit diesem Baustoff. Er begann seine Forschungen über Bambus (Hebel et al., 2014) als nachwachsenden Baustoff und entdeckte wenige Jahre später mit anderen die Lackporlinge als sinnvolle Ergänzung (Heisel et al., 2017). Aber auch die Hyphen von Austernseitlingen und vielen anderen Pilzarten lassen sich für baustoffliche Experimente verwenden. Man gibt den Pilzen als Nährsubstrat, etwa Sägespäne oder andere Abfälle aus der Landwirtschaft, wie Mais- oder Getreidestroh. Sie müssen Zellulose, Hemizellulose und Lignin enthalten. Die Pilze zerlegen diese Stoffe dann in ihre Bestandteile. Dafür verwenden sie Enzyme. Jeder Pilz benötigt optimalerweise ein spezielles Futter. Das erklärt im Wald das Vorkommen so unterschiedlicher Waldpilze; sie haben sich auf unterschiedliche Baumbestände spezialisiert. Und jede Art hat eigene Anforderungen an die Raumtemperatur und Feuchtigkeit. Die Zucht ist schon für wissenschaftliche Zwecke kein Kinderspiel: Im Labor müssen immer sterile Bedingungen herrschen, eine Begegnung des Myzels mit einem schwarzen Schimmelpilz wäre tödlich für spätere Baustoffe, denn diese Schimmelsporen mag niemand im Wohnzimmer haben. Eine fortgeschrittene Entwicklung aus Hebels Team am KIT ist das New Wood, das auch eine Auszeichnung der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) erhielt. Der Zellulose- und Pilz-basierte Baustoff hat ähnliche Eigenschaften wie Spanholzplatten, aber er kommt ohne giftige und schwer kompostierbare Klebstoffe aus. Das New Wood besteht aus Pilzgeflechten als Bindemittel, die auf organischen Abfällen aus der Landwirtschaft gewachsen sind, dann getrocknet wurden und somit getötet und verhärtet. Seine Produktion ist, wie man so schön sagt, CO2-negativ. Seine Leitidee: Man müsste Abfallstoffe nutzbar machen für den Bau.
5.4 Exkursion: Die vielen Einsatzbereiche von Myzel im Bauwesen
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„Wir kommen jetzt von jahrelanger Grundlagenforschung an einen Punkt, wo wir erste Produkte greifbar haben. Mein Traum wäre, dass wir in einigen Jahren im Baumarkt wählen können zwischen mit synthetischen Klebern gebundenen Holzwerkstoffen oder pilzbasierten Holzwerkstoffplatten“ (Dirk Hebel, 2022).
Ein Kernproblem ist, dass die pilzbasierten Baustoffe wenig hart sind. Sie halten oft schon milden Belastungstests nicht stand. Um die Zugkraft zu erhöhen, will man vom Beton lernen. Auch der hat eine geringe Zugkraft und braucht daher Verstärkung. Seit etwa 100 Jahren gießt man ihn daher für den Haus- oder Brückenbau auf Stahlbewehrungen. Das Problem: Nach einem späteren Abbruch ist ein solches Materialgemisch nur aufwendig trennbar. Am KIT gibt es auch Forschungen, in denen textilbasierte, organische Bewehrungen für die Pilzbaustoffe zum Einsatz kommen – etwa aus Hanf oder Baumwolle. An der RWTH Aachen forscht der Bauingenieur und Professor für Tragkonstruktionen Martin Trautz mit Mitarbeitern aus demselben Grund an Möglichkeiten, die Myzelien zu verstärken (Trautz et al., 2022). Die pilzbasierten Verbundwerkstoffe der RWTH enthalten zur Verstärkung der Festigkeit Späne oder größere Holzteile oder laminiertes Holz. Andere wiederum enthalten Kieselsteine oder Splitt. Auch diese seien wieder leicht von der Biomasse trennbar. „Ich bin überzeugt, dass wir eines Tages die Festigkeit der Myzel-basierten Mauerwerksteine ziemlich gut einstellen können“, prognostiziert Trautz. Allerdings würde man trotzdem die Druckfestigkeit von Ziegeln oder Kalksandstein niemals erreichen können. Bis dahin „köcheln wir weiter in unserer Hexenküche“, sagt er – es braucht also weitere umfassende Versuchsreihen, Experimente mit neuen Pilzkulturen und auch erste Bauprojekte als Praxistest. An Fantasie mangelt es auch den Wissenschaftlern in Aachen nicht. Von wachsenden Steinen, die sich selbst verbinden, ist etwa die Rede. Und das Problem mangelnder Härte lasse sich etwa durch schichtweises und zeitversetztes Wachstum der Kulturen mindern, schreibt Trautz. Hier ergaben seine Baustoffversuche eine um 175 % erhöhte Tragfähigkeit. Auch der Einsatz von Holzrahmen, in die das fluffige Pilzgewächs gestopft wird, scheint ein vielversprechender Weg. Darüber hinaus kann die Wahl der Pilze große Verbesserungen der Festigkeit bringen: Der Zunderschwamm erzeuge bis zu 40 % festere Stoffe, da er einen um 20 % höheren Chitinanteil habe, schreiben Trautz und seine Mitarbeiter in einem aktuellen Überblicksaufsatz in der Zeitschrift Nachhaltig Bauen. Chitin ist der Stoff, aus dem Krebspanzer sind. Dass Pilze ihn enthalten, macht sie als Baustoff so interessant. Nach Auffassung der Wissenschaftler müssten etwa Ausfachungen mit Steinen aus solchen Myzelverbundstoffen, wie sie in Aachen erforscht werden, schon in naher Zukunft machbar sein. Aber bis sie wirklich in der Praxis eines Einfamilienhausbaus ankommen, müssen noch viele behördliche Baustoffzulassungen und deutsche oder europäische Normierungen erfolgen.
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Zudem müssen Baustoffunternehmen oder andere in diesem Bereich viel Geld investieren: in großtechnische Anlagen, in Forschung und Entwicklung. Und die Endkunden müssen die Pilzsteine auch nachfragen. Viele werden erst einmal abwarten wollen, welche Erfahrungen andere mit diesem organischen Baustoff machen, etwa hinsichtlich der Haltbarkeit und Feuchtetoleranz. Für pilzbasierte Dämmstoffe aber sollte die Zeit früher reif sein – etwa auch in Schaumform. „Wir wollen als allererstes PU-Schäume ersetzen“, sagt der Aachener Professor Trautz. Gemeint sind Polyurethan-Schäume, die seit Jahrzehnten als Dichtmittel, Dämmstoff, Mörtelersatz oder Klebemittel für Styropordämmplatten im Bau verwendet werden. Diese stellen nicht nur ein mögliches Gesundheitsrisiko dar (Werner, 2020), sondern auch ein Problem, wenn es darum geht, nach einem Abriss die Bauteile zu trennen und wiederzuverwerten. Auch Dirk Hebel in Karlsruhe spricht von Schäumen als „niedrig hängenden Früchten“, die bald zu ernten seien. Sein Wunschhaus ist kompostierbar und er möchte sich das Haus der Zukunft leicht, vielschichtig und ohne rein mineralische Wände vorstellen. Hebel spricht – nach dem Vorbild von Fachwerkhäusern – von Vollholztragwerken, ausgefacht, mit einer Dämmschicht vielleicht auf Pilzbasis, Lehmputz als Wärmespeicherschicht. Als zukünftige Kleber sieht er auch Systeme aus nachwachsenden und biologisch abbaubaren Quellen: „Hier gibt es noch keinen Durchbruch“, sagt Hebel. Vollholz wird nicht zu ersetzen sein. „Ohne Holz geht es nicht, wenn man tragende Materialien auf Pilzbasis möchte“, stellt Hebel heute mit Blick auf die gewünschten Festigkeitswerte fest. Derzeit erprobt sein Team sogenannte holzfurnierverstärkte Myzelverbundstoffe, etwa Mischungen aus Glänzendem Lackporling, Ahornfurnierholz und Hanf. Auch die Feuerbeständigkeit, Feuchtetoleranz oder Dämmwerte sind Forschungsthemen. „Den U-Wert können wir zum Beispiel durch Lufteinschlüsse auf sehr gute Werte bringen“, sagt Hebel. Hebels Spezialität bleiben Bewehrungen mit Bambusfasern, die dann von Pilzen ummantelt werden. Die erste selbsttragende Struktur daraus hatte er, viel beachtet, bereits vor fünf Jahren errichtet. Das war die Zeit der ersten Experimente mit dem Pilz als Baustoff. Schon 2014 entstand in New York ein erster Bau aus Maisabfällen und Myzelien, der sogenannte Hy-Fi-Tower in New York. Und 2019 dann errichteten niederländische Architekten und Materialdesigner in Eindhoven ein weiteres Pavillongebäude, das durch Baumwollfasern verstärkt ist, den „Growing Pavillon“. Die Frage, ob das ganze Vorhaben am Ende sinnvoll sein wird, entscheidet sich nicht nur an Materialeigenschaften und Preisen der so gezüchteten Baustoffe. Eine wichtige Frage ist auch, was die Pilze „fressen“. Oft gibt man heute Späne von Fichte, Buche, Birke. Ein weiterer Schritt in die Kreislaufwirtschaft ohne Abfälle ist aber die Möglichkeit, auch Altholz aus der Bauindustrie als Futter für die Pilze zu verwenden. Nicht zuletzt ist die Effizienzfrage entscheidend. Wie schnell wachsen die Pilze? Wie gut sind die Materialeigenschaften? Daran arbeitet Martin Ostermann, Professor für Baukonstruktion an der Uni Stuttgart. In seinem vom Bundesforschungsministerium (BMBF) geförderten
5.4 Exkursion: Die vielen Einsatzbereiche von Myzel im Bauwesen
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Projekt Mycomodul geht es um die Verwendung von Myzel im Leichtbau. Das Stuttgarter Labor „Future Material Lab“ wirkt wie eine Großbäckerei, jedoch steriler. Die Abläufe: Das Myzelkomposit wird in ein Formwerk geschüttet, dort wächst es, wird dann schließlich im Ofen gebrannt und getrocknet. „Wir erforschen zum Beispiel auch die Anwendung im 3-D-Druck“, sagt Ostermann. Stuttgarter Spezialitäten sind derzeit auch die Textilschalung, mit der die Pilze verwachsen. „Dann muss man sie nicht, wie beim Betonbau, nach dem Gießen wieder entfernen“, erklärt Ostermann. Er arbeitet dafür mit Biopolymeren oder Hanf. Die Uni Stuttgart hat einen Ruf für ihre Forschung über sogenannte Gradientenbauteile, das sind etwa Leichtbetonplatten, in denen Luftbläschen sind. So lässt sich Material einsparen. Solche Gradientenbauteile möchte Ostermann auch pilzbasiert erzeugen. Was mögliche Festigkeitswerte angeht, gibt er sich wenig zurückhaltend: „Wir wollen die Filamente des Pilzes verbessern, die Qualität des Pilzes verbessern“, sagt er – anders als amerikanische oder chinesische Wissenschaftler aber ohne Gentechnik. „Denn das Material soll ja einmal kompostierbar sein, also wieder in die Natur freigesetzt werden.“ Daher gilt auch hier: Alles voll kompostierbar. So soll unser Bauschutt der nächsten Generation zum Blumendünger werden. Pilze für den Ackerbau – Mykorrhiza als Weg in eine industrialisierte nachhaltige Ackerwirtschaft?
Pilzwurzelgeflechte, sogenannte Mykorrhiza, können in der Landwirtschaft eingesetzt werden und die Bodenfruchtbarkeit erhöhen. Sie kommen seit etwa 450 Mio. Jahren in jedem natürlichen Boden vor, wurden aber durch die Intensivbewirtschaftung der vergangenen Jahrzehnte auf den Äckern arg dezimiert. Jedes Pflügen zerreißt die unterirdischen Pilzwurzeln. Werden Monokulturen angebaut, wie im Landkreis der Mais, dann verarmt die Pilzwelt unter der Erde, denn viele der Wurzeln leben in Symbiose mit Pflanzen. Fehlen die Pilze, müssen die Landwirte mehr Dünger aufs Feld bringen, damit die Pflanzen trotzdem wachsen. Wie seit einigen Jahrzehnten bekannt ist, sind die Geflechte nämlich so etwas wie Lieferanten der Pflanze; sie fügen den Wurzeln die Nährstoffe wie Phosphor und Stickstoff zu, die sie allein nicht erreichen kann. Davon profitiert der Pilz wie auch das Getreide. Es gelangt an Reservoire von Wasser und Phosphor, an die es mit ihren Wurzeln allein nicht herankäme. Dadurch, dass Böden wenig neuen Humus bilden, nehmen die Pilzbestände im Boden ab, auch tragen monotone Fruchtfolgen wie in den Maisanbaugebieten für die Biogasanlagen nicht zur Belebung bei (Schüßler et al., 2021; Redecker et al., 2013). Pilze in Symbiose mit der Wurzel und bestimmten Bodenbakterien verbessern die Nährstoffaufnahme und das Pflanzenwachstum. Gibt man sie dem Boden zu, lässt sich etwa die Bilanz von Stickstoff- und Phosphordüngung verbessern. Phosphor ist endlich, die Schätzungen für ein Ende der Vorkommen reichen von we-
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5 Innovationen der Bau-Bioökonomie …
nigen Jahrzehnten (TU Sydney) bis zu etwa 300 Jahren (US Geological Survey). Verschiedene industrielle Hersteller bieten seit Mitte der 2010er-Jahre MykorrhizaPulver an.
5.5 Exkurs: Soziale und Value-Chain-Innovationen Eine Engführung des Innovationsbegriffes auf technische Aspekte wäre zu kurz gegriffen. Auch neue Kooperations- und Kommunikationsformen, die zu höherer Wertschöpfung führen, sind als (soziale oder Value-Chain-)Innovationen zu bezeichnen. Auf solchen Innovationen gründet zum Beispiel die Hoffnung auf eine „Bauwende“, aber auch von Kleinbauern oder der Entwicklungspolitik mit Afrika. Erfahrungen von konkreten Projekten zeigen, wie erfolgreiche Kooperation entlang von Wertschöpfungen gelingen kann. Sie werden auch für Marktdurchdringungen des Bauens mit Altholz empfohlen (Coenen, 2022). Wertschöpfungsketten-Innovationen konzentrieren sich Anfang der 2020er Jahre zwar noch auf den Lebensmittelsektor, aber lassen sich womöglich auf den Bausektor – auch den in Europa – übertragen. Was aber ist dabei zunächst überhaupt unter Innovation zu verstehen? Ist technischer Fortschritt immer Innovation? Nein. Das einfach nur Neue ist selten innovativ. So ist es mit der Technik. So ist es aber auch mit dem Lebendigen. Ein neues Kind zum Beispiel ist keine Innovation (auch wenn jeder der acht Milliarden Menschen auf der Erde ein Unikat ist). Eine neue Maispflanze ist nicht unbedingt innovativ (selbst dann nicht, wenn sie aus zwei unterschiedlichen Elternsorten gekreuzt wurde und neue „Nutzwerte“ hat, wie Größe und Stärkegehalte). In den Vereinigten Staaten sind die Maiserträge zwar stark gestiegen – aber die Anzahl der Hungernden dort ist deswegen nicht zurückgegangen. Solange das so bleibt, dürfte die Maiszucht – trotz ihrer historischen Beiträge – bezogen auf das gegenwärtige Hungerproblem der USA eher nicht als Innovation bezeichnet werden. Was ist das also dann: Innovation? Eine technische Neuerung ist innovativ, wenn sie bedürfnisgerecht ist. Das ist die entscheidende ethische Weiterung. Soziale Innovationen haben eine inhaltliche Dimension, Prozess- oder Beziehungsdimension, eine Empowerment-Dimension (Partizipation, Bildung, Ressourcenzugang). Das Wort Innovation hat eine lange und aufschlussreiche Geschichte. Die Sprachwissenschaftlerin Susanne Weber hat die Begriffsgeschichte der Innovation in ihrer 2018 erschienenen Berliner Dissertation erforscht und mitleidslos seziert. Sie sieht darin einen „Stopfgansbegriff“, ein „Fahnenwort“ oder „Zaubertrank“. Die Originalitätsbehauptungen würden selten tatsächlich eingelöst. Das Wort meine im politischministeriellen Sprachgebrauch oft nicht viel mehr als eine Beschleunigung des Neuen. Und als solches sei es, so Susanne Weber, „maßgebliche Bezugsgröße für Regierungshandeln“. Ein vergleichbares Musterbeispiel ist das oft substanzlose Gerede von Digi-
5.5 Exkurs: Soziale und Value-Chain-Innovationen
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talisierung (Weber, 2018). Interessant ist auch der historische Wandel von überwiegend negativer zur positiven Intention des Wortgebrauchs. Von der Antike über das christliche Mittelalter bis zur Neuzeit sei das Wort fast ausschließlich negativ konnotiert gewesen: im Sinne von Umsturz, Umwälzung, Ketzerei. „Nihil innovetur nisi quod traditum est“, lautet ein Zitat aus der frühchristlichen Zeit, das Papst Stephan I. zugeschrieben wird. „Nichts ist innovativ, was nicht an das Überlieferte anknüpft“, könnte man etwas frei übersetzen. Aber auch die Geschichte des Begriffes ermöglicht eine Anknüpfung an dessen Lichtseiten. An die hat sich auch die Entwicklungspolitik in den vergangenen Jahren zunehmend erinnert: Schon in Schumpeters „schöpferisch“ ist die Qualität von Innovation angedeutet. Nicht weniger interessant ist ein Hinweis auf ein uraltes Lexikon von 1564, in dem das mittelhochdeutsche „Erneuwern“ als Synonym für Verbessern, Erfrischen, wieder in Form bringen oder „Wider in die alt form bringen“ aufgeführt ist. Von der differenzierten ökonomisch-soziologischen Analyse Joseph Schumpeters (1911) und seinem Konzept der „schöpferischen Zerstörung“ über banalisierende Ideale vom „entrepreneurship“ schwingt in dem Begriff eine zunehmend einseitige Fokussierung auf ökonomische Inwertsetzung mit. Wissenschaftlerinnen und Politikern bringt seine Verwendung als Füllwort voraussetzungsarm Reputationsgewinne. Innovationen sind also bedürfnisgerechte Neuerungen. Fragt sich nur noch: Was genau ist ein Bedürfnis? Hier kommt die Ethik ins Spiel. Ein Bedürfnis kann materiell sein oder immateriell, aber nicht bösartig begründet. Könnte man ernsthaft sagen: „Es war mir ein Bedürfnis, meinen Mann zu töten?“ Oder selbst: „Es ist mir ein Bedürfnis, reich zu werden.“ Nicht ernsthaft. Positive Werte müssen berührt sein, vom Recht auf Leben in Würde bis zur kreativen Entfaltung. Das gilt für sämtliche UN-Nachhaltigkeitsziele (SDG). Innovationen bringen aber nicht ausschließlich Fortschritt zum Guten. Sie wirken ambivalent: Fast jeder Fortschritt hat seinen Preis. Die Erfindung des Automobils brachte mehr Verkehrstote und Umweltverschmutzung, aber auch neue Erlebnisse durch Reisen. Es gibt dank der Krankenwagen schnellere Hilfe für Kranke und Verletzte (auch die Verletzten durch Autounfälle). Eine binäre Codierung von „bedürfnisgerecht“ oder „bedürfnisungerecht“ ist unmöglich. Im Großen und Ganzen ist also eine Abwägung von Bedürfnissen gefragt. Diese Einsicht war der Grund für den Boom der Ethik als Begleitwissenschaft der Technikwissenschaften ab den 1980er-Jahren. Über Jahrzehnte basierte auch die Idee der „westlichen“ Entwicklungshilfe vor allem auf dem Export von Techniken in die südliche Welt. Sei es Saatgut, seien es Maschinen oder Institutionen – „demokratische“, „sozialistische“: Jede Saat kann nur aufgehen, wenn der Boden dafür fruchtbar ist. Ganz gleich, ob es um Traktoren geht, um Gentechniken, um moderne Regierungsstrukturen oder neue Verkehrsinfrastruktur: Jede technische oder institutionelle Neuerung ist nur „Innovation“, wo sie zur Lösung lokaler Probleme beiträgt. Sonst endet all dies in rostigen Maschinenfriedhöfen, hohlen und aufgeblasenen Verwaltungsstrukturen, maroden Straßen, die einmal gebaut wurden, aber für
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5 Innovationen der Bau-Bioökonomie …
deren Erhalt die finanziellen und fiskalpolitischen Grundlagen fehlen. Afrika ist voller Beispiele: Ruinen eines vergangenen Innovationsstrebertums. „Grow Africa“ in Südafrika ist zum Beispiel eine Initiative, die als Value-Chain-Innovation bezeichnet werden kann. Mehr als 100 Unternehmen hat Grow Africa in mehreren afrikanischen Staaten nach eigenen Angaben schon begleitet. Und zwar auf diese Weise, am Beispiel der Landwirtschaft: Für eine Region definieren Unternehmen und Stakeholder, welches die sogenannten Cash Crops sind – Cassava etwa (Maniok) oder Mais, Erdnuss, Süßkartoffel. Darauf konzentriert sich die Initiative dann. Jetzt kommen alle relevanten Akteure an einen Tisch: Bauernorganisationen und Handel, Logistik und Verarbeitung, Exporteure, Politik, die sogenannte Zivilgesellschaft. Von dem „Feld bis zum Teller“ entstehen so Produkte, die höhere Wertschöpfung versprechen und damit auch auskömmliche Einkommen für Bauern. Dazu holt die Initiative Investoren aus dem In- und Ausland in die Kette. Damit diese auch wirklich an das Gelingen des Vorhabens glauben und sich die einzelnen Mitglieder der Wertschöpfungskette an die getroffenen Absprachen halten, benennt der Kreis einen Chief Investment Officer. Der oder die wacht über die Einhaltung der Versprechen und berichtet den Investoren. Auf ähnliche Weise fördert die GIZ Good Governance junger Unternehmen – zum Beispiel im Rahmen ihrer Initiative „Skalierung digitaler Agrarinnovationen durch Start-ups“. Das Konzept der Wertschöpfungsketten-Innovation ist auch für die deutschen „grünen Innovationszentren“ zentral. 16 von ihnen – 14 in Afrika, eines in Indien und eines in Vietnam – gründete das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Aber können Bäuerinnen und Bauern auch vom Anbau und der Vermarktung leben? Das erfordert häufig Skalierung. Nach der Produktinnovation kommt für jedes neue Unternehmen, auch für jeden Bauern und jede Bäuerin, das Wachstum. Nicht jedes Geschäftsmodell ist beliebig skalierbar. Die „Cassanovas“ aus Nigeria, Chips aus Cassava, haben Markterfolge eben in Nigeria. Vielleicht gibt es auch gewisse Exportaussichten in begrenzte Käufermilieus des globalen Nordens. Aber schon die urbanen Konsumenten in den Nachbarländern Nigerias ziehen ihre jeweils einheimischen Produkte vor, Cassava aus Kamerun etwa. Und die Marke „It’s Wild“ in Sambia (Abb. 5.4) bietet 17 Produkte an, für die Tausende Kleinbauern die Rohstoffe liefern – das Logo ist ein sambischer Elefant. Denn: „Die inspirierendsten und dringend benötigten Innovationen stammen von Menschen, die lokale Wissensformen respektieren, gründlich verstehen und darauf aufbauen“ (Mayhunga, 2017).
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Abb. 5.4 Wie lässt sich aus bäuerlichen Produkten Wertschöpfung generieren? (Foto Jan Grossarth)
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Nachhaltigkeit als Rahmen der Bioökonomie
6.1 Zusammenfassung Nachhaltigkeit ist seit den 1990er Jahren ein Leitbegriff der Politik, häufig aber auch nur ein Schlag- oder Fahnenwort. Durch die Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) auch etwa auf der Ebene des Emissionsrechtehandels oder des „grünen“ Finanzmarktrahmens der EU ist ein vertieftes Wissen darüber spätestens ab den 2020erJahren für alle Praxisfachleute im Bauwesen unverzichtbar. Deswegen ist auch der bioökonomische Blick auf das Bauwesen sinnvollerweise im Rahmen der Nachhaltigkeit zu unternehmen. Der großen Ressourcen- und Energieabhängigkeit des Wirtschaftswachstums moderner Gesellschaften werden seit Jahrzehnten Konzepte einer dauerhaft tragfähigen Entwicklung wirtschaftlicher Prozesse entgegengestellt. Der Begriff nachhaltige Entwicklung ist durch die Agenda 2030 der Vereinten Nationen zu einem Anliegen geworden, das völkerrechtlich bindend ist. Der Begriff der Nachhaltigkeit selbst geht schon auf die vorindustrielle Holzknappheit des frühen 18. Jahrhunderts zurück (die womöglich eher eine „befürchtete“ als eine reale war; vgl. Küster, 2023, S. 30–44). Er wurde ab den 1980er-Jahren auf die Umweltprobleme der Industriegesellschaften angewendet und hat sich zunehmend institutionalisiert. Eine wachsende Anzahl von Unternehmen in der Europäischen Union muss und/oder will über Fortschritte bezogen auf Nachhaltigkeitsindikatoren, bezogen auf die Nachhaltigkeitsbilanzen des eigenen Unternehmens wie über Optionen für die Verbesserung öffentlich berichten und sich so auf den Pfad der Nachhaltigkeit verpflichten. In Ansätzen erweiterter Unternehmensverantwortung (CSR) oder der Stakeholderkommunikation werden Wege gesehen, diesbezüglich voranzukommen. Theoretisch ist Nachhaltigkeit eher schwach definiert, verschiedene Schemata haben je eigene Stärken und Defizite hinsichtlich ihrer Aussagekraft. Der europäische „Green Deal“ 2019 wird © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 J. Grossarth, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40198-6_6
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6 Nachhaltigkeit als Rahmen der Bioökonomie
als Rahmengebung eines Weges der europäischen Wirtschaft in die Nachhaltigkeit verstanden. Dieser hat eine jahrzehntelange Vorgeschichte. Auch ihre wichtigsten Wegmarken werden in diesem Aufsatz in Erinnerung gebracht.
6.2 Einführung Seit den späten 1980er-Jahren ist die Nachhaltigkeit der Wirtschaft – oder das Konzept der nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development) – vermehrt im öffentlichen wie politischen Interesse. Wissenschaftlich ist der Ansatz der Umwelt- und Ressourcenökonomie zuzuordnen. Er bedeutet, aus der Forstwirtschaft kommend, dass nicht mehr natürliche Ressourcen entnommen werden als nachwachsen. Popularisiert wurde er ab den 1990er-Jahren durch Nichtregierungsorganisationen (NGOs); medial, gesellschaftlich und politisch stieg die Aufmerksamkeit seit den 1990er-Jahren stetig (Grober, 2013) seit dem „Rio-Gipfel“ der Vereinten Nationen 1992 und der Veröffentlichung des Berichtes der Brundtland-Kommission fünf Jahre zuvor. Zunehmend setzt der Gedanke der Nachhaltigkeit aber nicht nur bei Ressourcenentnahme und industrieller Wertschöpfung an, sondern auch bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Bis in die 2020er-Jahre änderte sich die Perspektive des medial-öffentlichen Diskurses über Nachhaltigkeit in diesem Sinn: Der Fokus des „Redens über Nachhaltigkeit“ in der Gesellschaft wandelte sich von einem mehr politisch-strukturorientierten auf einen individual-lebensstilorientierten Blick, in dem „nachhaltige Lebensstile“ thematisiert wurden, etwa Ernährungsstile – so war auch der individuellen Moral ein Beitrag zur Problemlösung zugewiesen (Hirschfelder, 2014). Damit kam es parallel zu einer Verwissenschaftlichung der Nachhaltigkeit im Sinne von Stoffstromanalysen und makroökonomischem oder betrieblichem Stoffstrommanagement, gewissermaßen zu einer „Ideologisierung“ von Nachhaltigkeitsfragen (Schreckhaas, 2018). Obwohl sich Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum in den Industriestaaten aus unterschiedlichen Gründen entkoppelten (Abschn. 8.2), stieg der Gesamtverbrauch von Energie- oder Materialressourcen dennoch global weiter an. Spätestens in den 2020er-Jahren ist Nachhaltigkeit infolge der Klimagesetzgebung, der stark gewachsenen „grünen Kapitalmärkte“ und erweiterter Bilanzierungsregeln der Europäischen Union („Taxonomie“) auch zentral im Management von kleineren bis mittelgroßen Wirtschaftsunternehmen angekommen – die Konzerne waren bereits einige Jahre länger von Bilanzierungspflichten erfasst. Banken, Versicherungen, Wirtschaftskonzerne und zuliefernde Unternehmen scheinen dadurch von einst gegen die Zielrichtung der Nachhaltigkeit opponierenden „Lobbygruppen“ zu zentralen Akteursgruppen der Nachhaltigkeit geworden zu sein. Sie veröffentlichen zunehmend (immer mehr auch dazu gesetzlich verpflichtet) Nachhaltigkeitsberichte (Abb. 6.1), unterziehen ihre Aktivitäten Nachhaltigkeitsratings und formulieren Ziele für Verbesserungen des unternehmerischen Umweltfußabdrucks. Andererseits ist in diesem Zusammenhang Greenwashing zu vermuten, also eine einseitige, schönfärbende Darstellung positiver Beiträge bei gleichzeitigem Verschweigen der negativen Umwelteinflüsse.
6.3 Geschichte, Definitionen und Modelle von Nachhaltigkeit
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Abb. 6.1 Nachhaltigkeitsseiten der Hochtief AG (2023). (Screenshot JG)
6.3 Geschichte, Definitionen und Modelle von Nachhaltigkeit Akademisch wurde Nachhaltigkeit unterschiedlich definiert und illustriert: als Säule, als Schnittmengen-Schaubild oder Dreieck, in ihrer schwachen oder starken Ausprägung (Grafik 6.2), also dominierend ökologisch oder weiter akzentuiert – sogar selbst auch im Sinne einer „kulturellen Nachhaltigkeit“ (Meyer-Abich, 2001). Im Folgenden werden die gängigen Definitionen und Schaubilder seit Entstehung des Konzepts der nachhaltigen Entwicklung vorgestellt und voneinander abgegrenzt. Ist es eher sinnvoll, von einem „Dreieck“ zu sprechen oder „Säulen“ der Nachhaltigkeit?
6.3.1 Nachhaltigkeit – eine Idee aus der agrarischen Welt Der sogenannte Brundtland-Bericht, die Rio-Konferenz und die früheren pessimistischen Sichtweisen der wachstumskritischen Ökonomen wurden als Startpunkte der modernen Nachhaltigkeitsthematisierung bereits benannt. Der Begriff Nachhaltigkeit war aber viel früher, noch in der vorindustriellen, feudalen, bäuerlich geprägten Welt entstanden. Er wird dem preußischen Staatswissenschaftler Hans Carl von Carlowitz zugeschrieben und auf das Jahr 1713 datiert. Dessen Verortung in der vorindustriellen Welt des Agrarischen – wo die nachwachsende Rohstoffmasse als hauptsächlicher Treibstoff, Brennstoff, Werkstoff und Nahrungsmittel dienen musste – wirft auch grundsätzliche Fragen auf die
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6 Nachhaltigkeit als Rahmen der Bioökonomie
Übertragbarkeit in die industrielle Gegenwart auf. Wie genau wäre die Idee des „nimm nicht mehr als nachwächst“ auf mineralische Rohstoffe zu übertragen? Hier wäre wohl eher das Ideal der Langlebigkeit der Bau- und Werkstoffe die bestmögliche Übertragung. Carlowitz’ Sentenz erwuchs aus der Erfahrung der Holznot, wie groß diese auch immer tatsächlich gewesen sein mag (Küster, 2023; Freytag, 2006). Um Holzressourcen zu schonen, bedienten sich die Menschen vermehrt der Kohle und tierischer Ressourcen als Brennstoffe, wie Walfischöl. Ein Nachhaltigkeitsproblem folgte also dem nächsten. Die Wälder erholten sich, aber dafür nahmen die Emissionen zu, die Luft in London wurde „dick“ und die Wal-Bestände im Europäischen Nordmeer zwischen Island, Norwegen und Grönland wurden „dünn“. Die Kohle als Wälder und Wale schonender Alternativbrennstoff und später Motor des industriellen Wohlstandes ist im Laufe des 20. Jahrhunderts dann aber wiederum zum Problemfall als Hauptursache des Global Warming geworden. Daher soll im 21. Jahrhundert nach politischem Willen und wissenschaftlichem Diktum die Rückkehr zur Holzentnahme als Baustoff wieder mehr Kohlenstoff speichern. Historisch wird an den Beispielen deutlich, dass die Rede von der Nicht-Nachhaltigkeit offensichtliche Umweltkrisen zwar politisch handhabbar macht, gefundene „Lösungen“ aber in der Regel wieder andersartige Formen der Nicht-Nachhaltigkeit schaffen. Das gilt für fossile wie bioökonomische „Lösungen".
6.3.2 Von „Brundtland 1987“ bis „Rio 1992“ Die Umweltprobleme der Nachkriegsjahrzehnte, in denen Erdöl und Petrochemie zu maßgeblichen Treib-, Werk- oder Pharmastoffen wurden, werden ab den 1960er-Jahren populär und medial thematisiert, problematisiert sowie skandalisiert (Grossarth, 2018). Die Kulturbrüche, die etwa mit der Industrialisierung von Landwirtschaft einhergehen, sind ebenfalls öffentliches Anliegen (Berry, 2015); eine Zeitenwende für die Bauwirtschaft wird rückblickend etwa im Bulldozer gesehen, der Abriss günstig und sauber macht – die „culture of clearance“ führt aber andererseits zum Problem der wachsenden Bauschuttdeponien (Russello, 2016; Abb. 6.2). Die Staatengemeinschaft schaffte Institutionen, um der Probleme Herr zu werden. 1972 wurde die United Nations Conference on the Human Environment (UNCHE) gegründet. 1972 veröffentlichte die Denkfabrik „Club of Rome“ ihre einflussreiche Krisenschrift „Grenzen des Wachstums“ (vgl. etwa Kölzer, 2020, S. 2–14). Gut 15 Jahre später folgten die Institutionen, die sich dem Problemfeld der Klimainstabilität widmen: 1988 wurde das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) gegründet, neun Jahre später beschlossen die Staaten der Vereinten Nationen das Kyoto-Protokoll (1997), das 2005 in Kraft trat. Mit dem historisch bis heute als bedeutsam eingeschätzten sogenannten BrundtlandReport (Titel: „Our common future“) der UN-Weltkommission für Umweltfragen im Jahr 1987 war Nachhaltigkeit als eine Entwicklung beschrieben, die den materiellen Bedürfnissen der heutigen Generation nachkomme, dabei allerdings zukünftige Generatio-
6.3 Geschichte, Definitionen und Modelle von Nachhaltigkeit
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Abb. 6.2 Der Bulldozer: Eine Technologie, die die Welt des Abbruchs verändert. (Postkarte Delcampe)
nen nicht benachteilige. Schon Jahre vor „Brundtland“ formulierte der Umweltethiker Hans Jonas seinen ökologischen Imperativ nach Kant: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ (Jonas 2020 [1979], S. 38)“
Aber was sollte das eigentlich bedeuten – „Permanenz echten“ Lebens? Jonas’ theologisch unterfüttertes und anthropologisch anspruchsvolles Kulturprogramm geht im Laufe der akademischen Geschichte der Nachhaltigkeitsdefinitionen verloren. Umgangssprachlich und etwas salopp nennt sich die Nachhaltigkeit im Brundtland-Sinne dann „Enkeltauglichkeit“. Damit lässt sich rechnen. Knappe Güter sind zu schonen. In naher oder mittlerer Zukunft werden knappe Umweltgüter identifiziert, bestenfalls eingespart oder ersetzt. Produkte sollen langlebig und ihre Teile wiederverwendbar oder zumindest recyclebar sein. Ob nicht Permanenz trotzdem ein Phantasma ist, wäre eine andere Frage. Auf den Brundtland-Report wird bis in die Gegenwart Bezug genommen, so etwa 2019 vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Politisch kam der Begriff Nachhaltigkeit auf dem Umweltgipfel von Rio 1992 auf die große Bühne und Deutschland formulierte 20 Jahre später seine erste nationale Nachhaltigkeitsstrategie. Seither wird dieses Themenfeld vom Rat für Nachhaltige Ent-
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6 Nachhaltigkeit als Rahmen der Bioökonomie
wicklung der Bundesregierung bearbeitet, der 2001 von der rot-grünen Regierung initiiert wurde. Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung „beinhaltet die Hoffnung, dass die ökologische Frage keine Grenze für das Fortschritts- und Wachstumsmodell der Moderne darstellt, dass die ‚über den Kopf gewachsenen‘ Probleme vielmehr wieder in den Griff zu bekommen sind“ (Brand & Jochum, 2000, S. 7). Ebenso wie das Drei-Säulen-Modell (s. u.) ist das heutige Leitbild tendenziell liberal, freiheitlich und befürwortet grundsätzlich den industriellen Fortschritt. Demgegenüber war das Nachhaltigkeitsverständnis des einflussreichen Wuppertal-Instituts, zumindest in seinen Anfängen bis in die frühen 2000er-Jahre, von einer gegenläufigen Rhetorik geprägt, indem eher ökozentrische Semantiken gemäß einem „Zurück in die Grenzen der Natur“ tonangebend waren. Hier lag der Schwerpunkt auf Appellen an Konsummäßigung, Revision von ressourcenverbrauchender Industrialisierung und der Thematisierung von „ökologischsozialen“ Ungerechtigkeiten (Grafik 6.1).
Grafik 6.1 Das frühe Diskursfeld der Nachhaltigkeit (bis 1989). (Grafik Annika Kühn, HBC; nach Brand & Jochum, 2000, S. 183, 189)
6.3 Geschichte, Definitionen und Modelle von Nachhaltigkeit
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Abb. 6.3 Vor einer Unternehmenszentrale sichtbar: Ein SDG-Ziel, das sich auch das Unternehmen zu eigen macht. (Foto Jan Grossarth)
6.3.3 Die SDGs 2015 Im Jahr 2015 verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen im Rahmen einer „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ auch 17 Sustainable Development Goals (SDGs; Abb. 6.3). Sie sind bis heute für die Entwicklungs-, Wirtschafts-, Handels- oder Forschungspolitik der Mitgliedstaaten maßgebend und sollen eine nachhaltige Entwicklung in Ländern des globalen Südens und des Nordens gleichermaßen befördern. Die Agenda 2030 ist völkerrechtlich bindend – ebenso wie das „Paris-Ziel“, dass die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Niveau bis spätestens 2100 auf „deutlich unter 2 Grad“ zu bremsen sei. Diese SDGs vereinen aber in sich auch die vielen Widersprüche der Nachhaltigkeit, etwa wenn von einem Ende des Welthungers und zugleich der Ökologisierung der Landnutzung die Rede ist. So stehen hier weitere sehr unterschiedliche Ziele nebeneinander: keine Armut (SDG 1) neben nachhaltigem Konsum und Produktion (SDG 12), eine nachhaltige Landnutzung (SDG 15) neben Wirtschaftswachstum (SDG 8) und Innovation (SDG 9). Die SDGs adressieren also wirtschaftlichen Fortschritt, sozialen Ausgleich und ökologische Ziele zugleich. Nach
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6 Nachhaltigkeit als Rahmen der Bioökonomie
der Veröffentlichung der SDG passte die Bundesrepublik Deutschland bereits mehrmals ihre Nachhaltigkeitsziele an. Zu einflussreichen Schriften zur nachhaltigen Entwicklung zählt die Enzyklika des Papstes Franziskus I. „Laudato Si“ aus dem Jahr 2015. Sie findet inner- und außerhalb christlicher Kreise große Beachtung, setzt ihren Fokus auf die technokratische Ingenieursübergriffigkeit des Menschen und macht ökologische Nachhaltigkeit in einer eigenen Ausdrucksart zum zentralen Anliegen der Kirche (Barbato, 2020, S. 145–168).
6.4 Schemata von Nachhaltigkeit 6.4.1 Starke und schwache Nachhaltigkeit Unterschieden wird auch in schwache und starke Nachhaltigkeit (Corsten, 2012). • Starke Nachhaltigkeit „denkt“ das Natur- gegen das Sachkapital und betont so die „natürlichen“ Wachstumsgrenzen des Naturkapitals – etwa der Ressourcen und Biodiversität. Diese Grenzen seien strikt zu achten. • Die Idee der schwachen Nachhaltigkeit geht nicht von einer strikten natürlichen Begrenzung aus, sondern lässt Kompromisse zulasten der Umwelt zu – zum Beispiel Artenverlust, Bodenverlust, Klimaveränderung und Ressourcenschwund.
6.4.2 Säulen- und Schnittmengenmodell der Nachhaltigkeit Es gibt verschiedene Ansätze zur Messung und Bewertung von Nachhaltigkeit. Ein bekanntes Beispiel ist das Konzept der drei Säulen der Nachhaltigkeit, dessen Ursprung nicht klar ist (Grafik 6.2). Bemüht wurde es zum Beispiel 1998 im Abschlussbericht einer Enquete-Kommission der Bundesregierung mit dem Titel „Schutz des Menschen und der Umwelt“. Danach umfasst Nachhaltigkeit eine ökologische, soziale und wirtschaftliche Dimension. Die ökologische Dimension betrifft die Schonung und den Schutz der Umwelt sowie der natürlichen Ressourcen. Die soziale Dimension bezieht sich auf die gesellschaftlichen Aspekte von Nachhaltigkeit, wie zum Beispiel soziale Gerechtigkeit und die Gleichstellung von Männern, Frauen und diversen geschlechtlichen Identitäten oder aber Menschen verschiedener Ethnien und Konfessionen/Religionen. Die wirtschaftliche Dimension bezieht sich auf die ökonomische Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Gesellschaften. Diese drei Dimensionen in Einklang zu bringen, ist ein wichtiges Ziel der Nachhaltigkeit. Aber hat das Drei-Säulen-Modell nicht auch eine problematische Seite? Es überdeckt einerseits die Zielkonflikte und Widersprüche zwischen den Zielen, indem es deren Gleichrangigkeit und Einförmigkeit suggeriert – verdeutlicht im Bild von einem mächtigen Dach, das wir „gemeinsam tragen“. Es nährt damit die holistische Illusion,
6.4 Schemata von Nachhaltigkeit
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die allzu leichtfertig über reale Zielkonflikte hinwegsieht. In diesem Sinn mag es ironisch erscheinen, dass es in der Literatur gelegentlich das „magische Dreieck der Nachhaltigkeit“ genannt wird. Auch wird Nachhaltigkeit oft als Dreieck dargestellt, an dessen Ecken die drei Dimensionen stehen. Dies ist illustrativ klarer: Man kann – als Bauunternehmen, als Staat, als Kontinent – nicht in jeder Ecke stehen, sondern immer irgendwo dazwischen. Zuletzt scheint am passendsten mit Blick auf die Tatsache der Zielkonflikte das Kreisdiagramm mit den Schnittmengen der Nachhaltigkeit. Es verdeutlicht, dass eine Interessenharmonie in einer Welt begrenzter Ressourcen und steigender Bevölkerung(sansprüche) letztlich unmöglich ist, jedoch der gute Kompromiss in drei Schnittbereichen liegt: Erträglichkeit des Wirtschaftens (einschließlich wirtschaftlich-gesellschaftlicher Überlebensfähigkeit) und soziale wie ökologische Gerechtigkeit.
Grafik 6.2 Schaubilder der Nachhaltigkeit. (Grafik Annika Kühn)
6.4.3 Das Konzept des ökologischen Fußabdrucks Das Konzept des ökologischen Fußabdrucks beziffert den Flächen-, aber auch Ressourcenverbrauch des menschlichen Lebens. Regelmäßig erfahren wir, dass die Menschheit insgesamt mehr Ressourcen verbraucht als zur Verfügung stehen. „Sustainability and social justice imply that we learn to live more equitably within the biophysical means of nature [...] this requires reducing aggregate fossil energy and much material throughput (production and consumption) by 50 per cent globally by mid- to late century and 80 per cent in high-income countries“ (Rees 2018, S. 47). Eine Form, ökologische Fußabdrücke zu berechnen und zu vergleichen, ist die Ökobilanz (Abschn. 7.7). So lässt sich etwa die graue Energie von Hochschulgebäuden miteinander vergleichen – aber auch diese mit den Emissions- und Ressourcenverbräuchen des Gebäudebetriebs oder der Pendelbewegungen der Studierenden und Professoren (Helmers et al., 2022).
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6 Nachhaltigkeit als Rahmen der Bioökonomie
Der Ansatz des ökologischen Fußabdrucks weitet die Sichtweise von der reinen THGEmissionsbetrachtung etwa auf die Ressourcenverbräuche von • Flächen, • Ackerland, • Wald- und Weideland, • Fischgründe, • Wasserressourcen (Global Footprint Network, 2019). Der globale Fußabdruck wird in der Einheit globaler Hektar beziffert (gha), gelegentlich auch pro Person. Dieses rechnerische Maß veranschaulicht den weltweiten Verbrauch der Biomasseproduktion, die Menschen nutzen, inklusive der Abfallerzeugung, was dann umgerechnet wird auf Hektare nutzbaren Landes und Meeres. Nicht agrarisch, forstlich oder fischereilich nutzbares Land ist hier nicht eingerechnet. Bezogen auf den Bau würde etwa das Holz für den Holzbau einfließen wie vor allem auch der Flächenverbrauch. Das Konzept des ökologischen Fußabdrucks bezieht also Lebensstile auf nachwachsende Rohstoffe und ihre Grundlagen wie die Fläche, das Wasser, die Böden. Hiermit veranschaulicht es, wie viel mehr nachwachsende Ressourcen die Menschheit verbraucht als zur Verfügung stehen, was durch die Ausbeutung endlicher Rohstoffe ermöglicht wird. Ein Vergleich für 245 Länder und Regionen für die Jahre 1961 bis 2016 zeigte, dass die größten ökologischen Fußabdrücke weltweit die Vereinigten Staaten (rund 2,4 Mrd. globale Hektar, gha), gefolgt von China (rund 2,2 Mrd. gha), Russland (1,1 Mrd. gha), Indien (0,7 Mrd. gha) und Japan (0,6 Billionen gha) haben (Sarkodie, 2021). Das Ausmaß des ökologischen Fußabdrucks korreliert mit dem „Kohlenstoff-Fußabdruck“ und mit dem inländischen Materialverbrauch (vor allem Erdöl, Kohle, Erdgas, Metalle, nicht-metallische Mineralien, Biomasse; Rees 2018, S. 43–46) . Mit dem Konzept des ökologischen Fußabdrucks lässt sich auch veranschaulichen, wie viele „Erden“ die Menschheit benötigte, wenn alle Menschen so viel konsumierten wie die Bewohner eines Landes. Ein global praktizierter Lebensstil der Art der Menschen in Katar benötigte im Jahr 2018 rund 9,0 Erden, der US-amerikanische 5,1, der russische 3,4, der deutsche 3,0 und der globale Durchschnitt liegt bei 1,75 Erden. China liegt mit 2,4 darunter, Indien mit 0,8 darunter (Global Footprint Network, 2019). Wie folgt stellt sich für einzelne Länder das Verhältnis von Biokapazität pro Person und dem ökologischen Fußabdruck pro Person dar (Tab. 6.1). Aus dieser Tabelle ist auch der Zeitvergleich für die betrachteten Regionen abzulesen. Während die Biokapazität durch Flächenfraß oder Desertifikation zurückgeht, steigt der ökologische Fußabdruck pro Kopf in China stark, ebenfalls in der stark gewachsenen Bevölkerung Ägyptens, während er in den westlichen Industriestaaten zurückgeht, aber in Deutschland viel stärker als in den Vereinigten Staaten.
6.5 Professionalisierung und Datenbasis
195
Tab. 6.1 Was die Natur hergibt und was die Menschen verbrauchen – ein Ländervergleich. (Global Footprint Network (2023), in gha) Biokapazität pro Kopf
Ökologischer Fußabdruck pro Kopf
Deutschland 1980
1,6
7,0
Deutschland 2018
1,5
4,7
USA 1980
4,4
9,9
USA 2018
3,4
8,1
China 1980
0,8
1,3
China 2018
0,9
3,8
Ägypten 1980
0,4
1,2
Ägypten 2018
0,4
1,8
6.5 Professionalisierung und Datenbasis Infolge der gestiegenen Aufmerksamkeit haben sich spezialisierte, akademisierte Expertengruppen gebildet, die Nachhaltigkeit berechnen, definieren, indizieren und optimieren. ESG-Ratings werden etwa erstellt von Dienstleistern wie • • • •
Bloomberg (ESG Data Services), Dow Jones Sustainability, großen Beratungsunternehmen wie PwC, McKinsey, spezialisierten Anbietern wie Sustainalytics oder RepRisk.
Einerseits sind die Verfahren standardisiert und transparent. Für 28 ESG-Zielgrößen (Abschn. 6.3.3) werden Kennziffern erhoben und in große internationale Wirtschaftsunternehmen abbildenden Datensätzen mit anderen verglichen. So wird das Anliegen der Nachhaltigkeit aber auch vermehrt für ein kleines Expertenpublikum nachvollziehbar. Selbst für interessierte Laien kann es herausfordernd sein, kompetent darüber zu urteilen, ob es sich bei einem guten ESG-Rating um „Greenwashing“ handelt oder „harte Fakten“ der ökologischen Effizienz. Zum Beispiel liegen europäische Unternehmen in globalen Vergleichsrankings einfach schon deshalb sehr weit oben, weil sie europäische Gesetzesstandards zu erfüllen haben. Und neben den „harten Fakten“ der Ökobilanzen und Nachhaltigkeitsvergleiche tauchen in Nachhaltigkeitsberichten durchaus Anekdoten darüber auf, dass an einer Baustelle Vogelhäuschen zur Erhöhung der Biodiversität installiert worden seien.
196
6 Nachhaltigkeit als Rahmen der Bioökonomie
6.5.1 Bewertung von Nachhaltigkeit und Datenquellen Neben den vielen Nachhaltigkeitsberichten auf Unternehmensebene gibt es zahlreiche amtlich-statistische Daten zu Fortschritten in Sachen Nachhaltigkeit, etwa auf Branchen-, aggregierter volkswirtschaftlicher oder auf globaler Ebene: • Zahlreiche Zeitreihen mit statistischen Informationen über die Nachhaltigkeitsentwicklung der Wirtschaftssektoren veröffentlicht das Statistische Bundesamt. Hier finden sich anhand von mehr als 200 Indikatoren – von der Stickstoffeffizienz bis zur Gesamtressourceneffizienz – Belege auf der aggregierten Ebene.1 Beispielsweise gab es seit Anfang der 1990er-Jahre deutliche Verringerungen der Treibhausgasausstöße im Großteil der betrachteten Sektoren oder Verbesserungen der Stickstoffeffizienz. • Die Europäische Union (Eurostat) bietet viele Zeitreihen zur nachhaltigen Entwicklung. Auf der Überblicksseite finden sich Vergleiche zu den Zielen des Green Deal, internationale europäische Vergleiche oder Zeitreihen für einzelne Mitgliedstaaten.2 Für Unternehmer sind dies interessante Quellen, um etwa einen ersten Ansatzpunkt für „ökologische Fußabdrücke“ importierter Vorprodukte zu erhalten. • Die amtliche Statistik der Vereinigten Staaten3 ist nicht weniger ausführlich und die SDG-Datenseite der Vereinten Nationen berichtet in großer Breite und Tiefe über die Nachhaltigkeitsindikatoren von 132 Staaten.4 Wirtschafts-, Umwelt- und Ressourcenindikatoren machen dabei nur einen Teil der SDG-Nachhaltigkeitskriterien aus. Die Ressourceneffizienz, als ein Beispiel aus dem Interessenbereich der Bioökonomie, wird etwa nicht zu den Umweltindikatoren gerechnet, sondern als Teil des SDG-Ziels 8 (Wirtschaftswachstum und Beschäftigung) unter Teilindikator 8.4 folgendermaßen definiert: „Schrittweise Verbesserung der globalen Ressourceneffizienz in Verbrauch und Produktion bis 2030 und Bemühungen um die Entkopplung des Wirtschaftswachstums von der Umweltzerstörung im Einklang mit dem 10-Jahres-Rahmenprogramm für nachhaltigen Verbrauch und nachhaltige Produktion, wobei die Industrieländer die Führung übernehmen“.
Die konkreten statistischen Zielgrößen (Grafik 6.3) dazu sind:
1 https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Nachhaltigkeitsindikatoren/_inhalt.
html. 2 https://ec.europa.eu/eurostat/web/sdi. 3 https://sdg.data.gov/. 4 https://unstats.un.org/sdgs/dataportal.
6.5 Professionalisierung und Datenbasis
197
• der Material-Fußabdruck, Material-Fußabdruck pro Kopf und Material-Fußabdruck pro BIP, • inländischer Materialverbrauch, inländischer Materialverbrauch pro Kopf und inländischer Materialverbrauch pro BIP. Genaue Berechnungshinweise für die zahlreichen Teilindikatoren der SGDs geben die Vereinten Nationen (UN, 2022a) in regelmäßig erscheinenden Reports (UN, 2022b), die es auch auf europäischer Ebene gibt (EU, 2022).
Grafik 6.3 Materialflussindikatoren für den Ressourcenschutz. (Annika Kühn, HBC; nach UN, 2022a) In den Fällen, in denen es Erfolge bezüglich der Ressourceneffizienz gibt, ist die Frage nach den Gründen nur wissenschaftlich zu klären. Sie erklärt sich nicht aus den Daten allein. Liegt es an der Gesetzgebung? An verbreitetem akademischen Wissen? Also an der Professionalisierung – oder Institutionalisierung – von Nachhaltigkeit? Oder und in
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6 Nachhaltigkeit als Rahmen der Bioökonomie
welchem Maß an prozesstechnisch oder ingenieurwissenschaftlich getriebenen Innovationen? Oder vielmehr an verändertem Konsumverhalten der Menschen? Auch lässt sich im konkreten Fall immer diskutieren, was denn genau eine „Verbesserung“ sei. Beispielsweise steigt die Gesamtmenge der Plastikabfälle in der EU und den Vereinigen Staaten seit Jahrzehnten an, wenn auch mit leicht nachlassendem Wachstum. Zugleich aber sinkt die Menge des insgesamt deponierten Plastikabfalls, sei es als Folge der Abfallrahmen- oder Kreislaufwirtschaftsgesetzgebung oder der gestiegenen Rohstoffpreise. Zudem steigt der Recyclinganteil am gesamten Plastikabfall. In Daten oder Grafiken wie dieser über die Entwicklung der Plastikabfallströme ist eine Ambivalenz der Entwicklung mit Blick auf Nachhaltigkeit zu sehen. Man kann hieraus eine „Verschlimmerung“ oder „Verbesserung“ der Plastikmüll-Problemlage ablesen. Und im Denken der Ökobilanzierung werden Abfallmengen ohnehin mit einem konkreten, vorher entstandenen Nutzen der plastikhaltigen Produkte verbunden (Abschn. 7.7.4); im Falle aggregierter Daten wie derjenigen vom Plastikabfall wäre das gleichzeitige Bevölkerungswachstum eine wichtige Zusatzinformation, auf die sich die Zeitreihe normieren ließe.
6.6 Nachhaltigkeit als Rahmen einer „Bau-Bioökonomie“ Der zentrale „Mehrwert“ des Konzepts der Nachhaltigkeit ist, dass Ökonomie und Soziales hier neben der Ökologie berücksichtig werden. Andererseits macht dieser breite Ansatz die Aussagekraft von aggregierten Nachhaltigkeitsindikatoren zwar präzise kalkulierbar, aber intuitiv unscharf. Während die „Denktraditionen“ von Bioökonomie entweder auf nachwachsende Ressourcen oder – makro- und ressourcenökonomisch – auf das Zielbild einer ressourcenschonenden Volkswirtschaft fokussieren, ist der Ansatz der Nachhaltigkeit durch seine „drei Säulen“ mehr an den realen Folgen und Zielkonflikten des umweltbezogenen Handelns aller Akteursebenen ausgerichtet (Grafik 6.4). Dazu zählen auch sozioökonomischen Aspekte wie Einkommensgleichheit, weibliche Partizipation am Arbeitsmarkt oder betriebswirtschaftliche Überlebensfragen (Insolvenzen, Wettbewerbsbedingungen). Somit steht dieser Ansatz nicht in Konkurrenz zur Bioökonomie, sondern als erweiterter „ethischer Rahmen“ für den konkreten Anwendungsfall.
6.6 Nachhaltigkeit als Rahmen einer „Bau-Bioökonomie“
199
Grafik 6.4 Der unterschiedliche Fokus von Bioökonomie, Zirkulärwirtschaft und Nachhaltigkeit. (Grossarth/Kühn) Aber was ist dadurch gewonnen? Nicht wenig: Es ist damit der Schritt gemacht vom Utopismus oder sogar Dogmatismus einer eben nicht metaphorisch inspirierenden, sondern volkswirtschaftlich rigoros gedachten Bioökonomie (oder wahlweise vom „KleinKlein“ der biotechnologischen Innovationen der Land-, Forst- oder Abfallwirtschaft) hin zum Blick auf die Umsetzung mit all ihren Konsequenzen. So steckt der Blick auf Nachhaltigkeit auch indirekt die Bedingungen für die politische Durchsetzbarkeit ökologisch sinnvoll erscheinender Ideen ab und „erdet“ politische oder technische Machbarkeitsillusionen von ökologischer Nachhaltigkeit. Wirtschaftswachstum, bessere Lebensverhältnisse, Gesundheitsversorgung oder sozioökonomische Partizipation sind eben gleichrangige Nachhaltigkeitswerte. Deren teilweise Widersprüchlichkeit offenbart Zielkonflikte und zeigt den Wert von Kompromissen. Die Ressourcen- und Energieverfügbarkeit allerdings stehen über „allem“: Sie sind beschränkende Faktoren für wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Gerechtigkeit.
200
6 Nachhaltigkeit als Rahmen der Bioökonomie
6.7 Die Wirtschaft als Akteurin der Nachhaltigkeit Die (betriebliche) Wirtschaft gestaltet auch ihre stofflichen Wechselbeziehungen (Metabolismus) mit der Umwelt. Sie setzt um, innoviert, investiert, irrt und riskiert. Politisch zwingt der Bezugsrahmen der schwachen Nachhaltigkeit all jene Akteursgruppen, die geneigt sind, ausschließlich Umwelt- oder Klimaschutzinteressen zu verfechten, zur Weitung ihres Blickes auf die ökonomischen Rahmenbedingungen des Handelns auch der relevanten Wirtschaftsakteure. Diese wären zum Beispiel in der Bauwirtschaft die Bauherren und Immobilieninteressenten, das Personal der Makler-, Ingenieur- und Architekturbüros, Baustoffhändler, Baustoffproduzenten oder rahmengebende Organisationen. Preise und Löhne als Ausdrücke von Knappheiten der drei „klassischen“ Produktionsfaktoren (Arbeit – Kapital – technisches Wissen), Rendite(-Erwartungen), Handelsspannen, (Erwartungen von) Angebot und Nachfrage sind die zentralen Daten, die das alltägliche Handeln auf dieser ökonomischen Ebene moderner Gesellschaft (Luhmann, 2004) erklären. Aber auch Traditionen und in unternehmerischen Biographien gewachsene Werte sind handlungsrelevant und ließen sich nicht so einfach von außen „transformieren“. In diesem Sinne ist es paradoxerweise vielleicht das Hauptverdienst des Nachhaltigkeitskonzepts, dass es kinderleicht erkennbar aufzeigt, wie kompliziert die Sache der Nachhaltigkeit ist. Nachhaltigkeit ist zugleich ein längerfristiger Orientierungsrahmen für Wirtschaftsunternehmen, der diese – doppelt metaphorisch ausgedrückt – aus „Kurzsichtigkeit“ oder „bilanzieller Gefangenheit befreien“ kann. Im Zuge von CSR-Ansätzen oder Stakeholdereinbindungen in die Unternehmensentscheidungen fand in den vergangenen zehn Jahren eine starke Ausrichtung auf Nachhaltigkeit statt. In Dialogveranstaltungen bis hin zu Formaten gemeinsamer Entscheidungsfinder werden Umwelt-, Klimaschutz- oder Verbraucher-Interessengruppen in unternehmerische Prozesse eingebunden (Kussin, 2021). Stakeholdergespräche sind eine Möglichkeit, dies zu tun. Mitnichten kann daher noch wie Anfang der 2000er-Jahre von der Nachhaltigkeit als einem „kulturellen, bisher aber chancenlose[n]“ Modell gesprochen werden (Meyer-Abich, 2001). Vielmehr ist das Konzept der Nachhaltigkeit in der Wirtschaft institutionell breit verankert und daher nicht nur eine Krisengeburt, sondern mittlerweile selbst eine „handlungspolitische Norm“ der Wirtschaft (von Hauff & Jörg, 2013).
6.8 Aspekte nachhaltiger Waldwirtschaft
201
6.8 Aspekte nachhaltiger Waldwirtschaft Dieser Abschnitt orientiert sich an Tubiello et al. (2021) und den angegebenen Quellen.
6.8.1 Ökologische Waldkrise In Zeichen der Klimakrise ist von einer historisch neuen Dimension der ökologischen Waldkrise zu sprechen. Aus der Perspektive der historischen Bioökonomie steht diese in einer jahrhunderte- beziehungsweise jahrtausendlange Geschichte der Wald-Landschaftsveränderung und gewissermaßen auch Waldausbeutung durch den Menschen. Insbesondere die Kupfer-, Eisen- und Stahlwerke, die Glashütten, die Holzverkohlung sowie „einfache“ Rodungen veränderten und dezimierten die europäischen Wälder spätestens ab dem Mittelalter bis zur frühindustriellen Neuzeit gravierend. In Zeiten steigender Bevölkerung stieg der Nutzungsdruck auf die Wälder, in Zeiten reduzierter Bevölkerungszahlen (etwa durch Pestepidemien) erholten sich die Wälder wieder, die bewaldeten Flächen nahmen dann deutlich zu (Bartsch & Röhrig, 2015, S. 25 f.). Paradoxerweise „rettete“ die Industrialisierung die Wälder für einen Zeitraum von etwa 150 Jahren: Erst die verstärkte Kohlenutzung und die Industrialisierung – gewissermaßen als Nutzung des „unterirdischen Waldes“ – entlasteten den Nutzungsdruck auf das vergleichsweise deutlich weniger energiegehaltvolle Waldholz (Sieferle, 1982). So reduzierten die Kohle- und später Erdölnutzung für (brenn)stoffliche Zwecke den Nutzungsdruck auf die Wälder ab etwa 1850 trotz der seitdem stark gewachsenen Weltbevölkerung. Nahezu ein Drittel der Landflächen der Welt sind bewaldet oder rund 4 Mrd. Hektar oder 30,6 % der Landoberfläche. Davon zählen 93 % als natürliche Wälder und 7 % als Plantagenwälder (FAO, 2022; Abschn. 4.6). Unter den Baumarten dominiert in Europa seit etwa 3000 Jahren die Rotbuche, die sich vermutlich mit der menschlichen Besiedlung dort ausbreitete (Küster, 1997). Die Wälder sollten eine Schutzfunktion (etwa Wasser- und Kohlenstoffspeicher, Erosionsschutz), Nutzfunktion (Holzentnahme), Sozialfunktion (lokale Einkommen, Naherholung, Gesundheit) wie kulturelle Funktion erfüllen (Naturdenkmäler, Baumdenkmäler, Biotope etc.; Bartsch & Röhrig, 2015, S. 35). Dürren, Starkniederschläge und zunehmende Waldbrände bedrohen die Wälder. Das zeigt sich in den globalen Statistiken wie auch anhand einzelner, regionaler Beispiele, etwa im Mittelmeerraum (Miltiadou et al., 2021). Die Nachhaltigkeit der Waldwirtschaft wird sowohl durch anthropogene direkte Effekte (Industrieemissionen, zu große Holzentnahme oder Monokulturen) als auch durch indirekte anthropogene Effekte (vor allem die globale Erwärmung) infrage gestellt (Tubiello et al., 2021). Dabei sind Wälder als eine global bedeutende ökologische wie auch ökonomische Ressource zu betrachten. Ihre Böden wie auch Baumbestände stellen Kohlenstoffsenken dar. Ihre Hölzer, aber auch Pilze und Früchte tragen zum Einkommen der Menschen bei. Wurzelsysteme und Bodenfeuchte regulieren den Wasserhaushalt. Waldökosysteme mit hoher biologischer Vielfalt gelten als resilienter. Geringe biologische Vielfalt führt andererseits zu erhöhter Anfälligkeit für wetter- und klimabedingte Schäden,
202
6 Nachhaltigkeit als Rahmen der Bioökonomie
etwa infolge Insektenbefalls nach langen Dürren. Deshalb sollte die Bewertung von Biotechnologien in der Waldbaumzucht, etwa für den Holzbau, nur unter der Maßgabe der Erhaltung einer hohen Artenvielfalt von Bäumen, Sträuchern, Säugetieren, Vögeln, Insekten, Spinnen, Pilzen und Mikroorganismen sinnvoll betrachtet werden sollte. Das gilt insbesondere aufgrund unregelmäßiger Niederschläge und zunehmend heftiger Stürme. Auch in Mitteleuropa nehmen die Extremwetterereignisse zu. Allein in den vier Frühlingen und Sommern 2018, 2019, 2020 und 2022 haben Dürre, Stürme und darauffolgender Borkenkäferbefall weit über 160 Mio. Kubikmeter Schadholz hinterlassen. Drei Viertel des eingeschlagenen Holzes stammten im vergangenen Jahr von geschädigten Bäumen. Nutzungseinschränkungen für hoch inwertsetzende bauliche Verwendung sind die Folge. Laut der Waldzustandserhebung zeigten im Frühjahr 2022 mehr als 40 % der Buchen, Fichten und Eichen „deutliche Kronenverlichtungen“ (BMEL, 2021). Die wieder aufzuforstende Fläche betrug schon fast 100.000 Hektar und war abermals stark angestiegen. Wälder und Plantagen
Das „Gesetz zur Erhaltung des Waldes und zur Förderung der Forstwirtschaft“ oder Bundeswaldgesetz von 1975 legt in Deutschland fest, was rechtlich unter dem Wald zu verstehen ist. Demnach ist laut § 2 ein Wald: „Wald im Sinne dieses Gesetzes ist jede mit Forstpflanzen bestockte Grundfläche. Als Wald gelten auch kahl geschlagene oder verlichtete Grundflächen, Waldwege, Waldeinteilungs- und Sicherungsstreifen, Waldblößen und Lichtungen, Waldwiesen, Wildäsungsplätze, Holzlagerplätze sowie weitere mit dem Wald verbundene und ihm dienende Flächen [Nichtholzbodenfläche].“ Und nicht Wald im Sinne dieses Gesetzes sind: 1. Grundflächen, auf denen Baumarten mit dem Ziel baldiger Holzentnahme angepflanzt werden und deren Bestände eine Umtriebszeit von nicht länger als 20 Jahren haben (Kurzumtriebsplantagen). 2. Flächen mit Baumbestand, die gleichzeitig dem Anbau landwirtschaftlicher Produkte dienen (agroforstliche Nutzung). 3. mit Forstpflanzen bestockte Flächen, die … als landwirtschaftliche Flächen erfasst sind, solange deren landwirtschaftliche Nutzung andauert …
Neben technischen Innovationen tragen auch ökologische zur nachhaltigen Waldbewirtschaftung bei. So setzten viele Forstbetriebe nach der Erfahrung des „Waldsterbens“ der 1980er-Jahre weniger darauf, junge Hochleistungspflanzen aus Baumschulen zu pflanzen, sondern auf die Direktsaat von ausgewählten Baumsamen. Denn ein Umpflanzen junger Bäume führt dazu, dass das Wurzelwerk weniger kräftig ausgebildet wird. Im Zuge des „Waldumbaus“ weichen die in den Nachkriegsjahren präferierten, schnell und gerade wachsenden Fichten- oder Kiefernbestände vermehrt Eichen und Buchen. Stärker
6.8 Aspekte nachhaltiger Waldwirtschaft
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trockentolerante Arten wie die Rotbuche oder die nordamerikanische Douglasie werden seit den 2010er-Jahren zunehmend hinzugezogen oder erwogen. Die Biodiversität spielt aber nicht nur hinsichtlich der Artenwahl eine Rolle. Sie lässt sich forstwirtschaftlich „managen“ durch (Bartsch & Röhring, 2015, S. 64) • • • • • •
den Schutz seltener Waldlebensräume wie Feuchtbiotope, Belassen von Habitatbäumen von Vögeln und Insekten, eine Verlängerung der Umtriebszeit der Bäume, die Einrichtung von Wildkorridoren und Totholzflächen, die Bewahrung von Altbaumbeständen, das Belassen artenreicher Randstrukturen mit Totholz, Hecken.
6.8.2 Sozialökonomischer Rahmen Heute ist knapp ein Drittel Deutschlands als Waldfläche ausgewiesen. Dieser Wert liegt im globalen Durchschnitt. Wald ist nicht nur ein Wirtschaftsfaktor, der über nachgelagerte Bereiche wie die Säge- und Holzverarbeitungsindustrie, aber auch den Holzbau, die Zellstoff- und Papierindustrie zur regionalen Wertschöpfung beiträgt. Weltweit wird die monetäre Wertschöpfung der Waldbewirtschaftung auf rund 1,5 Billiarden US$ beziffert (Köhl et al., 2015). Die Waldbewirtschaftung ist, aus guten Gründen, auch hoch bürokratisiert. Das gilt für die Wahl, Zucht und Zulassung von Baumarten zur Verdichtung oder Nachbepflanzung. Seit 2003 regeln etwa in Deutschland das Forstvermehrungsgutgesetz (FoVG) und die Forstvermehrungsgut-Durchführungsverordnung (FoVDV) diese Fragen, so auch die Registrierung von Forstsamen- und Forstpflanzenbetrieben. Die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) führt dazu eine bundesweite Liste der angemeldeten Betriebe. Eine Saatguteinfuhr und Nutzung aus dem Ausland – etwa von trockenresistenteren Arten aus Nordamerika oder Südeuropa – sind im Prinzip möglich und erlaubt, aber behördlich anzeigepflichtig. Anders als im Falle der landwirtschaftlichen Saatgüter, die gleichsam Gegenstand staatlicher Saatgutbürokratie sind, agieren im Forstbereich Baumschulen und regionale Betriebe in der Ernte, Selektion und Zucht von Samen und Setzlingen, nicht hingegen größere oder gar globale Zuchtkonzerne. Das mag ein Grund dafür sein, warum das Thema der kosten- und wissensintensiven biotechnologischen Methoden hier verlangsamt ins Spiel kommt und wenn, dann seitens der staatlich finanzierten Grundlagenforschung. Im Kontrast oder in Ergänzung zur ökologischen und klimaadaptiven Funktion von Waldbaumarten und ihren Zusammensetzungen ist die ökonomische Sichtweise auf Nachwuchsmasse je Zeiteinheit konzentriert. Aus der Blickrichtung der Bioökonomie sind die Volumenleistungen einzelner Baumarten – als der jährliche Biomassenachwachs – ebenso interessant wie die ökonomischen Potenziale (Wertleistung). Von den Laubbäumen erreicht die Pappel (Abschn. 4.8.4) die
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6 Nachhaltigkeit als Rahmen der Bioökonomie
Abb. 6.4 Ein Manager vor der Zellulosefabrik von Stora Enso in Karelien, ein Stapel Brennholz und der Wald vor der Abholzung. (Fotos Jan Grossarth)
mit Abstand höchste Volumenleistung. Auch ist ihre Wachstumsdauer mit Abstand am niedrigsten. Unter den Nadelbäumen sind die stark trockenheitsanfälligen Fichten führend. Aber auch aus ökonomischer Sicht genügt der Blick auf die „Aufwuchsleistung“ einzelner Baumarten nicht. Die Gesamtproduktivität des Ökosystems muss betrachtet werden. Mischwälder sind bei gleicher Bewuchsdichte in der Regel ertragreicher als Reinkulturen.
6.8.3 Exkursion: Die Bioökonomie im finnischen Wald Schnipp, schnapp, der Baum ist ab und der nächste und der übernächste. Aus Wald wird eine Lichtung, im Mittsommer in Finnland. Ein gewachsenes Stück Wald verschwindet in wenigen krachenden und harzig duftenden Stunden. Dann ist platt und licht, was über 70 Jahre so gewachsen war. Die Erntemaschinen fahren weiter. Sie sind sehr schnell und präzise. Jetzt scheint die pralle Sonne auf den Boden. Die Feuchtigkeit dampft aus dem Moos heraus, aus den Spänen und Ästen, die gestapelt herumliegen. Es ist, als blute ein geschlachtetes Tier aus. Kai Lintunen, ein
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Herr vom finnischen Forstverband, schaut uns Journalisten fragend an. Er und der finnische Staat haben zur Recherche hierher eingeladen, in Finnlands Wälder (Abb. 6.4). „Und, was fühlen Sie, wenn Sie das sehen?“, fragt Lintunen. „Traurigkeit.“ Einen Kahlschlag sieht niemand gern. Aber Kai Lintunen winkt ab. Ein Kahlschlag sei das hier nicht, sondern „nachhaltige Forstwirtschaft“. Die geht so: Rund um die Lichtung bleibt Wald. Es dauert dann nur wenige Jahre, schon erobert er das Terrain zurück. Erst stirbt das Moos, trocknet der Boden. Doch dann kommen die Pflanzen zurück: erst die Bodendecker, dann die Moose, dann Kiefern und Birken. In wenigen Jahrzehnten steht die nächste Ernte an. Der Wald kommt wieder. Der Wald ist kein Porzellanservice, das für immer zerstört wäre. „Wir wissen, was wir tun“, sagt Lintunen, „und wir wissen, warum wir es tun.“ Die Abholzung hat guten Grund. Der Grund ist, dass die Menschheit weg muss vom Erdöl. Besser gesagt: dass Finnland darin eine große wirtschaftliche Chance sieht – für das Klima, aber auch für den Export. Holz soll Erdöl ersetzen. Das Land hat viel Holz, von Helsinki bis über den Polarkreis. Daraus kann so vieles werden, was die Menschen heute aus Öl und Ölprodukten formen, zum Beispiel Pullover, Terpentin, Treibstoff, Hochhäuser, Plastikverpackungen. Man muss vorsichtig mit solchen Geschichten sein. Denn der Wald wächst langsam, gerade hier im Norden. Und alles Erdöl durch Holz zu ersetzen, würde schnell dazu führen, dass es bald keinen Wald mehr gäbe. Außerdem ist das Öl gerade so billig. Aber diese Geschichte darf durchaus beginnen mit den Fantasien, die versprechen, Ökonomie und Ökologie zu verschmelzen. Hierzu treffen wir Esko Aho, einen Politiker der Konservativen. Aho war einst Premierminister Finnlands und reiste mit Helmut Kohl durch die Wälder. Auch lehrte er mal in Harvard, von woher Aho sein amerikanisches Selbstbewusstsein hat. Das ging auch durch den Niedergang von Nokia nicht verloren, den Aho mit verursachte: Er war mal Vizepräsident des Handykonzerns. Jetzt sitzt er in Helsinki, das sich in den vergangenen Jahren nebenbei auch zu einem Zentrum der IT-Branche aufgeschwungen hat, um auf einer Konferenz über die hölzerne Zukunft der Weltwirtschaft zu referieren. Er sagt: „Finnland ist Wald. Wir sind und waren immer total abhängig vom Wald. Bislang haben wir nur den Rohstoff produziert. Jetzt haben wir eine ganzheitliche Sicht. Wir sprechen nur noch von Bioindustrie.“ Aho will nicht mehr nur Holz produzieren, er will es auch verarbeiten. UPM, ein großer finnischer Konzern, hat gerade das Konzept für einen Kleinwagen vorgestellt, der nur aus Materialien besteht, die aus dem Wald kommen. „Holz ist das neue Gold“, sagt Aho. „Oder das neue Öl, aber ein nachwachsendes.“ Finnland, das neue Saudi-Arabien? Das nachhaltige Saudi-Arabien? Wir reisen durch ein Land, das fast zu 70 Prozent aus Wald besteht, um Antworten zu finden. Einer der kleinen Ölscheichs heißt Rolf Wickström und spaziert mit uns durch seinen Privatwald nahe Helsinki, den er vor einiger Zeit gekauft hat. Wickström sagt allerdings, das lohne sich nicht. „Ich habe zu viel dafür bezahlt, und ich ärgere mich am Wochenende mit den ganzen Leuten rum, die hier spazieren und ihre Hunde durchführen.“
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Mal gab es eine Borkenkäferplage, die kostete ihn Holz im Wert von vielen Tausend Euro. Etwa 100 Euro pro Hektar bringt der finnische Wald seinem Besitzer, allerdings nicht im Jahr, sondern nur alle paar Jahrzehnte, wenn Ernte ist, schätzt der Forstverband. Das ist aus Sicht des Einzelnen ein bescheidener Rohstoffreichtum. Allerdings gibt es sehr viele Einzelne: Mehr als die Hälfte des finnischen Waldes ist im Eigentum von Privatpersonen, gut ein Viertel gehört dem Staat, weniger als zehn Prozent den Holzkonzernen. Rolf Wickström sieht den Wald als eine Mischung aus Beschäftigungsobjekt und Rentenversicherung: „Wenn ich Geld brauche, verkaufe ich den Wald einfach.“ Gut 100.000 € würde er dafür bekommen, schätzt er. Käufer gibt es genug. In den Saunas der Ferienhotels, zum Beispiel ganz im Osten, im malerischen Koli-Nationalpark, kann man Gespräche von deutschen Fondsmanagern mithören, die hier sind, um Zehntausende Hektar Wald aufzukaufen. Wenn es für klassische Geldanlagen kaum noch Zinsen gibt, sucht das Geld der Welt nach anderen Renditequellen. Die Investoren seien interessierter denn je am Wald, ist zu hören. Bei Renten- und Staatsfonds ist die Geschichte von der klimafreundlichen Bioökonomie schon angekommen. In einer großen Zellstofffabrik in der Nähe von Joensuu, im mittleren Osten Finnlands, sieht sie zwar monumental, jedoch eher altmodisch aus. Hier gibt es Fabrikhallen, Staub und Förderbänder. Vor der Fabrik lagern Zehntausende Baumstämme auf Stapeln, die so hoch sind wie Häuser. Ringsum Wald und Seen. Aus 150 Lastwagenladungen Baumstamm wird hier am Tag so viel Zellulose, dass man daraus ungefähr 35 Mio. Milchpackungen machen könnte, sagen sie hier. Stora Enso heißt der Konzern, er hat Fabriken im ganzen Land und auf der ganzen Welt. „Alles, was man heute aus fossilen Rohstoffen macht, kann morgen aus einem Baum produziert werden“, erzählt ein Manager der Fabrik. Jahrzehntelang wurden aus dem Holz Zeitungen, Verpackungen, Möbel. Dann stürzte der Niedergang der Zeitungsbranche die finnische Papierindustrie in eine schwere Krise. Seit einigen Jahren geht es aber wieder besser. Vor vier Jahren begann hier in der Fabrik die Fertigung von Zellulose, aus der auch Viskose werden kann, eine Faser, aus der viele Pullover und Hemden sind. Der Stoff wird nun von hier aus durch Russland in die Textilfabriken nach China gebracht. Aus Sägespänen wird immer mehr elektrischer Strom, aus anderen Holzteilen werden bis zu 90 Tonnen Schweröl am Tag oder Bindemittel, die in Zahnpasta, Wurstpellen und Bonbonpapier stecken. Aus dem Kern des Kiefernstammes lässt sich Biodiesel machen. Holz wird auch als Baustoff immer beliebter: In Wien entsteht derzeit das erste Hochhaus aus Holz, das 80 Meter erreicht. Die Erbsensuppe Hernekeitto, die Arbeiter mittags in der Kantine der Fabrik essen, enthält kein Holz. Das Schlagwort Bioökonomie enthält auch eine politische Vision, vielleicht die Utopie einer industriellen Moderne ohne Erdöl und Kohle. Auch deshalb interessiert sich die Politik dafür. Ins Nirgendwo von Finnlands Wäldern hat die Europäische Union daher ein Forschungsinstitut gestellt, dessen Ziel es ist, zwischen Waldforschung und Politik zu vermitteln: das European Forest Institute. Hier gibt es viel zu lernen.
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Das Institut ist auf Holz gestützt und in Holz verkleidet. Hier arbeitet auch Georg Winkel, ein Forstwissenschaftler aus Deutschland. Sein Fachgebiet ist die Soziologie des Waldes. Ähnlich wie die romantischen Deutschen hätten auch die Finnen eine kulturelle Geschichte mit dem Wald, erzählt Winkel, wenn diese Beziehung auch mehr pragmatisch, vom Nutzen und dem nachbarschaftlichen Miteinander her geprägt sei anstatt von Schwärmereien aus der Ferne. „Viele meiner Kollegen leben im Wald“, sagt Winkel. „Die Finnen brauchen den Wald. Noch um das Jahr 1900 herum gab es hier Debatten um die Frage: Können Finnen in Städten leben?“ Heute versorgt der Wald die Städte mit Strom. Knapp ein Fünftel des elektrischen Stroms in Finnland kommt aus der Biomasse. Weil Kohle keine große Rolle spielt und russisches Erdgas auch aus politischen Gründen keine, ist hier die Atomkraft viel wichtiger als in anderen europäischen Staaten. So lässt Finnland bis heute neue Atomkraftwerke bauen. Im Institut gibt es aber auch Informationen darüber, wie begrenzt der schöne neue Ölersatz ist. Schon heute. Im hohen Norden wächst der Wald langsam – in nur einem Viertel der Geschwindigkeit wie im Schwarzwald. Finnland ist groß, aber hier wächst im Jahr auch nur so viel Holz nach wie in Deutschland. Ein großer Teil des Holzes, etwa ein Fünftel, wird bereits heute aus Russland importiert. Dort gibt es wahre Kahlschläge. Schon bevor das neue Energiezeitalter losgeht, wird das Öl der Zukunft knapp. Dabei ist die Waldwirtschaft schon heute relativ industrialisiert. In Finnland wie in Deutschland. Die Holzernten sind viel größer als in früheren Zeiten. „Seit 1970 hat sich das Waldwachstum verdoppelt“, sagt Antti Asikainen, ein anderer Wissenschaftler des Forstinstituts. „Wir leben in einem dichteren und dichteren Wald.“ Das hat mit neuen Baumzüchtungen zu tun, mit großen Aufforstungsprogrammen, und der Wald wird auch gedüngt: mit Stickstoffdünger, teils mit der Asche aus verbranntem Holz, für das es Sammlungen gibt. Die Böden sind nährstoffarm. Das wärmere Klima lässt die Bäume derzeit zwar etwas schneller wachsen, aber es hat auch Nachteile: Insekten wie der Borkenkäfer sind aktiver. Die Flora ändert sich. Niemand weiß, wie sie in 20 Jahren aussehen wird. Wie sagte der Manager von der Zellstofffabrik: „Mal sehen, was uns der Klimawandel noch bringt. Hoffentlich keine Bananenbäume. Sie taugen nicht zum Zellstoff.“ Dem großen Wachstumsversprechen steht ein weiteres Argument entgegen. Der Waldboden ist sensibel. Doch immer mehr und schnellere Ernten machen es nötig, dass schwere Maschinen darüber fahren. „Die Frage der Bodenverdichtung ist sehr ernsthaft“, sagt Forscher Asikainen, „der Boden bleibt über Dekaden verdichtet.“ Dann nimmt er nicht mehr so gut das Regenwasser auf, Wurzeln und unterirdische Pilzgeflechte können schwerer wachsen. Asikainen zählt auf, wie die Finnen die Schäden gering zu halten versuchen: Sie ernten Holz, wenn der Boden im Winter gefroren ist. Und nur alle 20 bis 30 Jahre fahre eine Erntemaschine an einen Ort. Die Maschinen bauen sie hier auch: Harvester, die aus Finnland in die ganze Welt verschickt werden. Die Maschinisierung der Waldwirtschaft hat vergleichsweise spät begonnen, noch später sogar als die der Landwirtschaft: um das Jahr 1970. In den bei-
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den Jahrzehnten davor holten die Förster noch mit einfachen Traktoren die Stämme aus dem Wald, davor mit Pferden. Im Jahr 1972 wurde in der Nähe von Joensuu eine Waldmaschinenfabrik gegründet, die heute zum amerikanischen Konzern John Deere gehört. Die Maschinen, die sie hier bauen, sind bis zu 20 Tonnen schwer. Ohne sie würde die Bioökonomie nicht funktionieren. Ein Harvester kostet eine Dreiviertelmillion Euro. Damit sich das lohnt, muss er viel Holz ernten. Gegen die Bodenverdichtung helfe niedriger Reifendruck, sagt Mika, ein leitender Ingenieur. Viele Finnen mögen die intensivierte Waldwirtschaft nicht. Auch hier gibt es, ähnlich wie in Deutschland, die historische Erfahrung, dass der Wald durch das Ausmaß der menschlichen Nutzung bedroht war. An der Westküste des Landes lag das bis zum frühen 19. Jahrhundert am Schiffsbau, für den man jede Menge Holz und Holzteer benötigte. In Kyrelien lag es an den brandrodenden, wandernden Hirten. Umweltorganisationen wie Greenpeace und der WWF haben schon in den 1980er-Jahren erreicht, dass seltene Waldflächen in Lappland unter Naturschutz gestellt werden. Doch heute haben die Umweltschützer in Europa andere Themen. Zwar schrumpfen die Wälder auf der Welt im Durchschnitt, doch in Europa nahmen sie in den vergangenen 15 Jahren sogar zu. Das gilt auch für Asien, dort allerdings deshalb, weil immer mehr Plantagen angepflanzt werden, etwa zur Gewinnung von Palmöl oder Eukalyptusholz für die Textilwirtschaft – auch dies: Bioökonomie. Dass wieder mehr Holz in Finnlands Wäldern nachwächst als gefällt wird, soll auch in Zukunft so bleiben. Daher gibt es komplizierte Pläne, die regeln, wie viel entnommen werden darf. „Die Vorräte sind größer als je zuvor“, sagt Kai Lintunen, der Mann vom Forstverband. „Wir nennen das unser Wachstumswunder. Wir fassen heute, anders als in früheren Jahren, nicht mehr das Kapital an, sondern entnehmen nur die Zinsen.“ Weil Finnland seit einigen Jahren in einer Wirtschaftskrise steckt, liegt die Besinnung auf die eigenen Rohstoffe nahe. Immer noch trägt die Wald- und Forstwirtschaft mehr als 20 Prozent zum finnischen Export bei. In den 1980er-Jahren waren es noch 40 Prozent. Mika, der Ingenieur bei John Deere, ist einer der 600.000 Finnen, die ein Stück Privatwald besitzen. Er sagt: „In meinen Wald würde ich keinen Harvester reinlassen, niemals. Ich will, dass der Wald so bleibt, wie meine Väter ihn mir hinterlassen haben.“
6.8.4 Klimaanpassung 6.8.4.1 Migration der Baumarten Der Klimawandel führt zu einer Migration der Baumarten. Die Waldgrenze, etwa von Birke, Fichte und Kiefer, verschiebt sich in Richtung des polaren Nordens (etwa in Norwegen, Russland, Alaska) und mediterrane Regionen desertifizieren (Tubiello et al., 2021). Die Klimaeffekte sind ambivalent; steigende CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre wirken auch wie ein Dünger, denn sie steigern die Wassernutzungseffizienz von Bäumen und lassen sie trockenere Böden tolerieren (Wang et al., 2020). Die Waldverluste im globalen Süden können durch die Zuwächse im Norden vermutlich „mehr als
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Abb. 6.5 Vor der Migration in Richtung Norden? Eichenbewaldung in Ligurien. Aber die natürliche Migration der Baumarten kann mit dem Tempo der Klimaveränderungen nicht Schritt halten. (Foto Jan Grossarth)
ausgeglichen werden …, was in den kommenden Jahrzehnten zu einer Welt mit mehr und schneller wachsenden Bäumen führen wird“ (ebd.). CO2-Düngung und Biomasseaufbau werden eng miteinander in Verbindung gebracht. Die Waldproduktivität in Mitteleuropa wird Prognosen zufolge wegen der Klimaveränderungen aber abnehmen. Prognosen für Bayern etwa reichen von 1,3–18 % Abnahme des Biomasseertrages. Eine erhöhte genetische Vielfalt der Wälder gilt als forstökologisches Patentrezept, um diese resilienter zu gestalten (Bartsch & Röhring, 2015, S. 159 ff.). Artenverteilungsmodelle sagen eine umfassende Umverteilung von Baumspezies im nächsten Jahrhundert voraus (Aitken et al., 2008). Das Ausmaß, in dem sich Populationen anpassen, hängt demnach ab von der phänotypischen Variation, der Stärke der Selektion, der Fruchtbarkeit und anderen Faktoren. Auf ihrer „großen Wanderung nach Norden“ können Bäume wegen ihrer erst nach Jahren einsetzenden Fruchtbarkeit und sehr langer Lebenszyklen mit tierischen Arten nicht Schritt halten (Abb. 6.5). Insbesondere langlebige Bäume geraten in einen Evolutionsnachteil. Ein exponentiell beschleunigtes Artensterbens von Wildvögeln, Amphibien und auch Pflanzen wird im 21. Jahrhundert im Vergleich zu früheren Jahrtausenden erwartet (Pereira et al., 2010).
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6.8.4.2 Trockentolerante Baumarten Die Planungshorizonte der Forstwirtschaft sind lang. Die Planungsgrundlage verkompliziert sich, da der Klimawandel die Wachstumsbedingungen der Zukunft zu einer Gleichung mit vielen Unbekannten macht. Spätfrosttoleranzen wie Trockentoleranzen werden wichtigere Entscheidungskriterien für die Wahl einer Art. Zum Beispiel ist die Toleranz von Spätfrost bei Rotbuchen und Weißtannen besonders hoch, hier schneiden Birken und Waldkiefern hingegen schlecht ab. Ein anderes Beispiel ist die Trockentoleranz. Von den heimischen Baumarten gelten Traubeneichen und Waldkiefern oder Robinien als besonders trockentolerant, Birken oder Fichten hingegen als wenig (Bartsch & Röhring, 2015, S. 83 f.). Die Buche weist Vorteile gegenüber anderen Baumarten Mitteleuropas auf. Deswegen hat sie sich über drei Jahrtausende so stark verbreitet: Sie ist relativ schatten-, spätfrost- und etwa mittelstark trockentolerant, ihre Schwäche aber ist die Pilzanfälligkeit infolge langanhaltender Nässe; sie verträgt eine große Bandbreite an Bodenqualitäten und -säurewerten (Bartsch & Röhring, 2015, S. 83–88). Trotzdem steht selbst die robuste Rotbuche angesichts verlängerter Trockenperioden wie heftiger Niederschläge infrage. In Nordamerika haben sich in der Vergangenheit die nordamerikanische Buche oder Arten wie der Zuckerahorn verbreitet, da diese besser als andere mit den jahreszeitlich stärker ausgeprägten Temperaturschwankungen leben können. Die Adaption fremder Arten wird in Forstkreisen zunehmend und kontrovers diskutiert. Ungewollte Schadwirkungen in komplexen Ökosystemgefügen sollen vermieden werden. Ein Beispiel wäre das Fehlen von blattverwertenden Mikroorganismen einer invasiven Baumart. In Europa werden als klimaangepasste, für den Anbau geeignete nicht-heimische Baumarten insbesondere Douglasie, Große Küstentanne und Roteiche ins Gespräch gebracht (ebd., S. 153). Insgesamt zeigt sich in der forstwirtschaftlichen Literatur eine große Unsicherheit mit Blick auf angemessene Strategien, den Folgen des Klimawandels zu begegnen. Regionale Rückgänge oder Einbrüche der Holzernten stehen Prognosen wachsender Waldbiomasse in nördlichen Ländern entgegen. Das dürfte mittel- bis langfristig zu veränderten globalen Handelsströmen und Klimaökobilanzen des Holzbaus führen.
6.9 Kritik der Nachhaltigkeit Ein Kritikpunkt an der Bemessung und Besiegelung von Nachhaltigkeit zielt auf die politische und wirtschaftliche Vereinnehmbarkeit ab. Sie führt zu einer verkürzenden Vereindeutigung, an dem Politik und Wirtschaftsakteure ein Interesse haben. Aber ist Nachhaltig wirklich erreicht, wenn sie per Zertifikat bescheinigt ist? Trotz des hohen Grades an Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung wird die politische Rede von Nachhaltigkeit gleichwohl eher als eine „intuitive Beschreibung“ politisch grundierter Beobachtungen als ein fundiertes „theoretisches Konzept“ kategorisiert (Neverla, 2020, S. 336). Oder mit anderen Worten:
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„Das Konzept der Nachhaltigkeit hat sich etabliert als Gegenentwurf zum ressourcenverschlingenden Leben der Spätmoderne, als kritische Gegenposition zur herrschenden sozialen Logik. Es ist zu einem Dachbegriff für politische, aber auch organisationelle Alternativentwürfe geworden. Es hat im akademischen Bereich durchaus eine gewisse Etablierung erreicht. Gemessen an der langen Zeitstrecke und an den vielfältigen gesellschaftlichen Feldern, in denen Nachhaltigkeit bereits diskutiert wurde und wird, ist die theoretische Fundierung von Nachhaltigkeit allerdings dünn geblieben. Die Theoretisierung dieses ursprünglich politischen Begriffs ist offenbar herausfordernd, mühsam und langwierig“ (Neverla, 2020, S. 336).
Andererseits gibt es Kritik an der konservativen Wirkung. Die Kritiker fragen: Müsste nicht ein radikaler Fokus auf Treibhausgas-Emissionsminderung alle anderen Kriterien der Nachhaltigkeit dominieren? Eine dritte, etwas seltener gewordene Kritik an den Nachhaltigkeitsindikatoren und -konzepten ist der qualitative Einwand. Er lautet, die Indikatoren und Konzepte seien weitgehend „blind“ für die kulturelle Dimension dessen, was man unter „Nachhaltigkeit“ auch denken müsse. Hierzu heißt es etwa: „Ich glaube unter diesen Umständen, dass die richtige Antwort auf die Frage, welcher Bestand eigentlich erhalten bleiben soll, immer noch nicht gefunden ist. Es ist weder das Gesamtkapital der ‚schwachen‘ Nachhaltigkeit noch das Naturkapital der ‚starken‘, und es ist auch nicht die Resilienz der mittleren Lösung, denn all dies sind nur quantitative Grenzsetzungen und keine qualitativen Ziele. Was eigentlich erhalten bleiben sollte, ist meines Erachtens der kulturelle Wert oder die Kulturförmigkeit der Wirtschaft. Dazu bedürfte es vor allem einer kulturellen oder wirtschaftskulturellen Nachhaltigkeit. Denn Kultur ist der am ehesten spezifisch menschliche Beitrag zur Naturgeschichte. Wenn eine Welt mit Menschen besser und schöner sein soll als eine Welt ohne Menschen, dann würde sie sich wohl vor allem durch Kultur unterscheiden. Nach diesem Kriterium hätten unsere Vorfahren mit den Kulturlandschaften und der dazugehörigen Agri-Kultur etwas unbestreitbar Gutes in die Welt gebracht, wohingegen unserem industriewirtschaftlichen Umgang mit der Natur ja kaum noch anzusehen ist, dass wir eigentlich ein Kulturvolk sind“ (Meyer-Abich, 2001).
Dieser Kritikpunkt fällt in den Resonanzraum, der in den einleitenden Kapiteln dieses Buches eröffnet wurde und mit den Begriffen der Agrar- oder Baukultur erfasst wird. Dieses Argument wird in der Bau-Nachhaltigkeitsdebatte der Gegenwart von Vertretern der Architektur eingebracht, etwa von Hans Kollhoff, der Schönheit und baukulturelles Erbe als große Nachhaltigkeitswerte ins Spiel bringt (vgl. Einleitung und Kap. 1). Der Begriff der „Kulturförmigkeit der Wirtschaft“ spielt auf Karl Polanyis Titel von der „Großen Transformation“ an, der ab den 1920er-Jahren Vorstellungen von einer kulturellen Rückeinbettung moderner industrieller, spezialisierter Arbeit in der freien Marktwirtschaft als wünschenswerten „dritten Weg“ zwischen dem Faschismus und Kommunismus entwickelt. Obwohl Polanyis Begriff von der „Transformation“ im gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdiskurs eine große Karriere gemacht hat und geradezu zum Leitbegriff der politischen und wirtschaftlichen Akteurinnen und Akteure geworden ist, fristet die Idee der kulturellen, also qualitativen Rückbettung von Wirtschaft ein Nischendasein – oder findet bestenfalls in „sozialwissenschaftlicher Begleitforschung“
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der Bioökonomie oder ökologischen Transformation eine Rolle. Man könnte geradezu sagen, die kulturelle Idee einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation geht völlig unter angesichts der empirischen Messungen, des „non financial reportings“. Oder die kulturellen Leitwerte der Ökologie wie die Freiheit und Kreativität, vor Ort zu gestalten, „ersticken“ im zunehmend technokratisch umgesetzten Projekt der Nachhaltigkeit (Grossarth, 2023). In diesem Sinn gibt es auch Kritik am Nachhaltigkeitskonzept von der „wachstumskritischen Seite“: Durch die Nachhaltigkeitsbetrachtung könnte der „auf Wachstum programmierte Motor des Ausgleichs zwischen Freiheit und Gleichheit unter der Hand weiterlaufen“ – mit der Folge der „Stabilisierung der Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn, 2013, S. 55; 258–274; Blühdorn & Welsh, 2008). Auch wurde gelegentlich kritisiert, dass eine politische Klasse durch „Reden von Nachhaltigkeit“ Diskursmacht gewonnen habe und somit an politische Macht gekommen ist, dort aber eher wirksames Handeln suggeriert und Symbolpolitik betreibt (Klaus, 2012).
6.10 Fazit: Die relativierende Stärke der Nachhaltigkeit Ein Baustoff ist nicht an sich (nicht-)nachhaltig. Ökonomisch wertvolle Baustoffe – wie etwa Beton – können zum Beispiel zugleich ökologisch nachteilig und sozial vorteilhaft sein. Das Beispiel des Betons soll zeigen, dass Nachhaltigkeit weder die Eigenschaft eines Materials sein kann noch einer Bauweise. Überhaupt lässt sich Nachhaltigkeit nicht als binärer Code verwenden. Die Feststellung ist wichtig, da eben dies medial und politisch oft geschieht. Man sagt beispielsweise pauschal, eine Industrie, eine Lebensweise oder ein Nahrungsmittel sei nicht nachhaltig. „Mehr Nachhaltigkeit“ in einer Hinsicht wird tatsächlich meist mit „weniger Nachhaltigkeit“ in anderer Hinsicht „erkauft“. Weder ein Kohle- noch ein Solarkraftwerk kann an sich nachhaltig sein und auch keine Schokoladenfabrik. Sie können aber unter bestimmten Gesichtspunkten ökologisch nachhaltiger als Kohlekraftwerke, Solarkraftwerke oder Schokoladenfabriken der Vergangenheit sein oder als solche in anderen Ländern. In der Ökobilanzierung gibt es auch aggregierte Indikatoren, die die Nachhaltigkeit auf einen einzigen Zahlenwert verengen – doch diese sind kaum öffentlich kommunizierbar, da letztlich nur für ein spezialisiertes Fachpublikum verständlich. Das Beispiel Beton eignet sich gut zur Illustration, warum sich ein Baustoff sinnvollerweise nicht binär als nachhaltig oder nicht bezeichnen lässt. Wäre es klimaoder steuerrechtlich erschwert oder verunmöglicht, im europäischen „Inland“ den als „Klimakiller“ ökologisch fragwürdig gewordenen Bestandteil Portlandzement zu erzeugen, könnte dies zum Beispiel die Produktion im Ausland erhöhen. Das hätte weitere Handelswege und überdies langfristig einen Verlust an technischem Wissen im Inland zur Folge. Dies wiederum bedeutete womöglich, dass auch technische Lösungswege wie material- oder prozesstechnische Verbesserungen der Ökobilanzen vermehrt im Aus-
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Abb. 6.6 Ein Segen angesichts der sozialen Frage: Mit viel Beton ließ die „neue Heimat“ etwa auch die Parkstadt Bogenhausen in München für Zehntausende Heimatvertriebene errichten (1958). (Postkarte Delcampe)
land gefunden und etwa in Form von Spin-offs umgesetzt würden. Ökologische Vorteile der Maßnahme stehen Nachteilen und Risiken gegenüber, die kaum quantitativ zu fassen sind. Für umfassende Risiko-Chancen-Analysen unter Einbezug der Nachhaltigkeit ist die Disziplin der Technikfolgenabschätzung als einer Politikberatung zuständig (Kap. 10). Immer hat jede „Transformation“ neben Verlierern auch Gewinner. Vielschichtig stellt sich die Frage dar, wie die soziale Dimension der Nachhaltigkeit beachtet wird. Das Soziale steht im Spannungsfeld, aber auch in Interessenharmonie mit den anderen beiden Ebenen der Nachhaltigkeit, Ökologie und Ökonomie. Der Versuch der Bremsung des anthropogenen Klimawandels durch rigorose Verbote von Emissionen könnte einerseits in sozialer Hinsicht positiv zu werten sein, da mit dem Klimawandel Verluste von Lebensgrundlagen etwa in der Landwirtschaft in Teilen der Welt einhergehen. So sind die Schäden der Erderwärmung ökonomisch und anteilig am Welt-Bruttoinlandsprodukt berechenbar. Andererseits haben etwa Schließungen von Kohlekraftwerken, Zementfabriken oder die Verteuerung von zementhaltigen Baustoffen durch Zölle, Steuern oder Abgaben in der kurzen Frist eindeutig sozial nachteilige Folgen.
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Der Beton etwa galt nicht ohne Grund in kommunistischen wie marktwirtschaftlichen Teilen der Welt als Baustoff, der langlebigen Wohnraum für Massen und breite, auch prekär lebende Bevölkerungsteile erstmals ermöglichte. Sowohl Stalins Sowjet-Musterstädte wie Magnitogorsk wurden – propagandistisch inszeniert – aus Beton und Stahl errichtet, aber eben auch die 100.000 Ostflüchtlinge beherbergenden Parkstädte der „neuen Heimat“ in den bundesdeutschen Nachkriegsjahren. Beton ist weder heute noch wäre er in den 1930er- oder 1950er-Jahren als ein „nachhaltiger“ oder „nicht nachhaltiger Baustoff“ zu bezeichnen gewesen. Aber seine Nachhaltigkeit wäre heute auf Basis des heutigen Wissens über die Klimafolgen und auch möglicher oder schon bestehender Alternativen in mancherlei Hinsicht anders zu bewerten als früher. Auch haben sich seit 1930 bzw. 1950 zumindest in Europa die Rahmenkoordinaten der sozialen Frage vom Massenelend zur Wohlstandsgesellschaft verändert (Abb. 6.6). Welche Nachhaltigkeitsindikatoren politisch prioritär behandelt werden, liegt an den wechselnden Umständen der Zeit. Standardisierte Nachhaltigkeitsbewertung ersetzt somit nicht politische Urteilsfindung. Die Stärke des Nachhaltigkeitskonzeptes ist, dass es offen für eine Kontextualisierung seiner Anliegen ist. Es zwingt den politisch Handelnden weg von den Imperativen der Katastrophenszenarien und lädt zur ernsten, realistischen Abwägung der letztlich nicht auflösbaren Zielkonflikte ein.
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Nachhaltigkeit und Lebenszyklusbetrachtung im Bauwesen
„Nachhaltiges Bauen ist ein wichtiger Teilaspekt für die Rettung der Zukunft“ (Sne Veselinovic, Architektin). „Weder nachhaltiges noch vorhaltiges Bauen wird unsere Zukunft retten – die Zukunft rettet sich selbst“ (Norbert Steiner, Architekt; Architects, 2023, S. 81, 218).
7.1 Zusammenfassung Nachhaltigkeit im Bauwesen hat viele Facetten. Sie bedeutet – alle ihre drei Dimensionen der Nachhaltigkeit, also Soziales, Ökologisches und Ökonomisches zusammengenommen – vor allem: Ressourcenschonung durch Materialeinsparungen und Langlebigkeit der Gebäude, Kreislaufführung von Baustoffen und Bauteilen, Energieeinsparungen durch Wärmedämmung, kleinere Wohnflächen pro Kopf oder die Verwendung nachwachsender Rohstoffe wie zertifizierten Holzes. Auch eine Verkürzung der Lieferwege (Regionalisierung) und der nötigen Energieverbräuche in den Liefer- und Produktionsketten kann ein „Puzzleteil“ der Nachhaltigkeit sein. Und auch: eine Baukultur, die sorgsame Pflege und Langlebigkeit verspricht. Um Messbarkeit und Vergleichbarkeit von Nachhaltigkeitswerten zu ermöglichen, gibt es eine Vielzahl an Zertifizierungsmöglichkeiten für Bauprodukte oder Bauwerke. Die ersten Angebote von Nachhaltigkeitssiegeln entstanden für das Bauwesen allerdings vergleichsweise spät: Die ersten Lebensmittel-Biozertifikate waren bei Einführung der deutschen DGNB-Bau-Zertifikate schon fast seit 30 Jahren auf dem Markt. Die ersten internationalen Forstwirtschafts-Nachhaltigkeitssiegel wie FSC hatte es da immerhin schon rund 20 Jahre gegeben. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 J. Grossarth, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40198-6_7
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Für unterschiedliche Gebäudeklassen und Bauträger bestehen je geeignete Zertifizierungsmöglichkeiten; fast alle basieren auch auf dem Ansatz der Ökobilanzierung. Sie ergänzen die daraus gewonnenen Informationen – zu gleichen Anteilen – mit Kennziffern zu ökonomischen und sozialen Aspekten des Baus. Hierzu zählt die Bezahlbarkeit des Wohnens für die Menschen, insbesondere in urbanen Ballungsräumen. Die relevanten Nachhaltigkeitskennziffern orientieren sich in großen Teilen an den international definierten Indikatoren der Sustainable Development Goals (SDGs), gehen aber darüber hinaus. Der gesetzliche Rahmen trägt auf verschiedenen Wegen zu einer wachsenden Nachhaltigkeitszertifizierung im Bauwesen bei. Ein Beispiel ist die EU-Taxonomie. Eine Frage der kritischen Würdigung des Konzeptes ist oder wird es im historischen Rückblick sein, wie das Verhältnis zunehmender bürokratischer Belastungen für Wirtschaftsakteure zu wirklichen Effekten der Nachhaltigkeitspolitik ist. Eine andere betrifft die Ambivalenz der zunehmenden Professionalisierung und Mathematisierung der Nachhaltigkeitsansätze, die deren baukulturelle Bezüge weit in den Hintergrund rücken lassen könnte.
7.2 Nachhaltiger Bau als soziale, ökonomische und ökologische Frage 7.2.1 Einführende Fakten: Lebenszyklusbetrachtung statt reiner Energiebilanz Nachhaltigkeit im Gebäudebereich ist weit mehr als die reine Energiebilanz. In den frühen 2020er Jahren hat sich der Blick der Wissenschaft und der staatlichen Regulierung zunehmend von der einseitigen Fokussierung auf Energiebilanzen des Wohnens auf die Umweltschäden des Bauwesens insgesamt geweitet. Standen viele Jahre die Gebäudeheizaufwendungen und Dämmpflichten im Fokus der Förderpolitik, sind es nun auch zusätzlich die Energie- und CO2-Emissionen der Material- und Rohstofferzeugung, der Reparaturen und des Abrisses des Gebäudes nach dem Ende des Lebenszyklus. Betrachtet werden im Kontext von öffentlichen Ausschreibungen, Kreditvergaben oder Zertifizierungen zunehmend die Umweltfolgen und Energieverbräuche in allen Lebenszyklusphasen, wobei die Heizenergie ein Teil der nutzungsbezogenen Emissionen ist. Aber auch die Rohstoffgewinnung, der Bauprozess und die Entsorgung können mehr als die Hälfte der gesamten Aufwände ausmachen. Der übrige Anteil entfällt auf Heizung und Betrieb. Je energieeffizienter ein Bauwerk ist, desto höher ist der Rohstoff- und Bauanteil an den Gesamtemissionen. Lag dieser nach dem Energiestandard von 2009 noch bei Werten von etwa 25 % bei einem Mehrfamilienhaus – die Heiz- und Betriebsaufwände lagen entsprechend bei 75 % –, so macht die „graue Energie“ beim Mehrfamilienhaus nach Passivhausstandard schon fast 50 % aus (Hasselbring, S. 109 ff.). Unter grauer Energie versteht man dabei die Summe an Energieaufwand, die im gesamten Bau und vorgelagerten Prozess anfällt, vom Bergwerk – etwa der Rohstoffgewinnung, Transporte – über die Bauprodukteherstellung bis zur Entsorgung der Roh- und Baustoffe. Mit zunehmenden Wohnflächen pro Person steigt oft der Bedarf an Sanierung und Heizenergie.
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Dies ist, bei gleichbleibendem Energiemix, ökologisch nachteilig. Die Wohnfläche pro Kopf steigt kontinuierlich. 2021 lag sie in Deutschland bei 47,7 m2 pro Kopf, 1990 waren es erst 38 m2 (und im Jahr 1950 in Westdeutschland 14 m2; Dena, 2022, S. 10). Insgesamt haben sich Fortschritte etwa bezüglich der Energieeffizienz bei der Gebäudebeheizung somit durch ein Größenwachstum der Wohnungen in der gesamten Energiebilanz des Wohnens pro Kopf wieder egalisiert (Rebound-Effekt). Auch in einer Umkehr dieses Trends kann eine wichtige Stellschraube auf dem Weg in eine ressourcenschonendere „Wohnzukunft“ gesehen werden. Die kleine Wohnung ist, ceteris paribus, „nachhaltiger“.
7.2.1.1 Soziales und Ökonomisches Während über ökologische Problemlagen des Bauwesens in diesem Buch schon viel gesagt wurde, folgen hier noch einige Fakten zur sozialökonomischen Dimension. Der Neubau ist Teil der sozialen Frage, denn Wohnungen sind insbesondere in den Städten teuer und knapp. Steigende Ausgaben für Mieten, Neubau oder hohe Kaufpreise belasten die Haushalte in Deutschland. Einerseits stagniert der Neubau von Gebäuden. Andererseits steigt die Anzahl der darin enthaltenen Wohneinheiten: In den vergangenen zehn Jahren wurden pro Jahr jeweils – bei tendenziell steigender Anzahl an darin enthaltenen Wohneinheiten – grob gerundet 100.000 Gebäude fertiggestellt. Noch 2009 war ein Tiefstand mit 83.000 Neubauten erreicht gewesen, im Jahr 1999 hingegen der Höchstwert nach der Wiedervereinigung von insgesamt 229.000 Wohngebäuden (Dena, 2022, S. 14). Zwar wächst der Bestand an Wohngebäuden insgesamt. Er beträgt 19,4 Mio. bei 43,1 Mio. Wohneinheiten (Dena, 2022, S. 8). Die Abrisssumme von Gebäuden insgesamt und von Mehrfamilienhäusern geht seit 20 Jahren stetig zurück. Zugleich sinkt die Anzahl von sozial gebundenen Wohnungen seit Mitte der 2000er-Jahre stetig – etwa durch Privatisierungen kommunaler Bestände (Dena, 2022., S. 11). Auch kann dies als Teil der sozialen Nachhaltigkeitsproblemlage gesehen werden. Das Bauwesen ist ein bedeutsamer Wirtschaftsfaktor und unternehmerisch weitgehend kleinteilig strukturiert. Das Baugewerbe trägt rund 6 % zur gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung Deutschlands bei. Knapp 6 % der Erwerbstätigen oder rund 2,6 Mio. Menschen arbeiten in dieser Branche, davon 1 Mio. im Bauhauptgewerbe und 1,6 Mio. im Ausbaugewerbe oder bei Bauträgern (Destatis, 2023). In Deutschland waren 2021 allein insgesamt 9123 Unternehmen mit jeweils mehr als 20 Mitarbeitenden im Bauhauptgewerbe tätig, die meisten in den Ländern Bayern (1710), Nordrhein-Westfalen (1520) und BadenWürttemberg (1065; Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2021). Eine Sicherung von Arbeitsplätzen und Wissen in der Baupraxis ist hier wirtschaftspolitisch geboten. 7.2.1.2 Energiebilanzen des Wohnens Etablierte Nachhaltigkeitsansätze im Gebäudebereich zielen mehr auf die Betriebsenergie ab („Passivhaus“, „Energieeffizienzhaus“; Abb. 7.1), andere neuere hingegen auf eine Minimierung der in den Baumaterialien enthaltenen „grauen Energie“ („einfach bauen“). In Deutschland gibt es mehrere Zertifizierungssysteme für Nachhaltigkeitswerte von Gebäuden. Sie greifen unter anderem auf Ökobilanzdaten der Baustoffhersteller zurück, berücksichtigen aber zu etwa gleichen Anteilen soziale und ökonomische Aspekte (Abschn. 7.4).
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Abb. 7.1 Die ersten Passivhäuser Deutschlands stehen seit 1991 in Darmstadt-Kranichstein. Sie gehen auf die Arbeit von Wolfgang Feist zurück und führten zu Betriebsenergieeinsparungen von rund 90 %. (Fotos Jan Grossarth)
7.2.1.2.1 Erfolge und Grenzen der Außendämmung Was ist der Status quo der Heizenergieversorgung? Was die Heizwärmeversorgung des Gebäudebestandes angeht, spielen die fossilen Brennstoffe Öl, Erdgas und Kohle eine
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nahezu konstant große Rolle – aber im Neubau eine stark abnehmende. Ihr Anteil im Wohnungsneubau lag 2017 erstmals bei weniger als 50 %. Andererseits lag der Anteil der mit Wärmepumpen beheizten neu fertiggestellten Wohngebäude im Jahr 2021 erstmals bei mehr als 50 %. Die Beheizung von Wohnräumen und anderen Gebäude(teilen) kostet trotzt vieler Dämmmaßnahmen aber immer noch vergleichsweise viel Energie: Raumwärme, Warmwasser, Klimaanlagen und die Beleuchtung der Gebäude in Deutschland verbrauchten 2021 rund 907 TWh an Endenergie, davon 817 TWh allein für Raumwärme und Warmwasser, wovon 69 % auf Privathaushalte entfielen (BMWK, Dena, 2022, S. 74 ff.). Anfängliche Verbesserungen der Gebäudeenergieeffizienz ließen sich zuletzt nicht fortsetzen. Der Endenergiebedarf für Raumwärme lag 2021 zwar rund 30 % niedriger als noch 1996, geht seit Anfang der 2010er-Jahre aber nicht mehr signifikant zurück (Dena 2022., Grafik 7.1). Ein Grund ist, dass die rechnerisch erwarteten Einsparungen durch Wärmedämmungen nicht durch das tatsächliche Nutzerverhalten bestätigt wurden – etwa deshalb, weil in automatisch be- und entlüfteten Energieeffizienzhäusern tatsächlich öfter als empfohlen die Fenster und Türen geöffnet werden und mehr Wärme als nötig entweicht (Lauss et al., 2022). 7.2.1.2.2 Verbesserungen der Treibhausgasbilanzen durch Elektrifizierung Die Elektrifizierung der Gebäudebeheizung weist statistisch auf die Treibhausgas(THG-)Emissionen bezogen bessere Lebenszyklusbilanzen auf. Eine vergleichende Ökobilanzierung für Großbritannien zeigte THG-Emissionsminderungen von rund 30 % durch Ersatz einer Gasheizung durch eine Luftwärmepumpe. Auch sonstige Umweltschäden wurden dadurch verringert, mit Ausnahme der Humantoxizität und der Wasser- wie Metallressourcenausbeutung (Lin et al., 2021). In einer vergleichenden Ökobilanzierung für Italien wies die Erdwärme nutzende Wärmepumpe nochmals deutlich bessere Klimabilanzen auf als die Luftwärmepumpe (Violante et al., 2022). Zahlreiche Studien kamen auf vergleichbare Ergebnisse (Levn et al., 2001; Auer & Schlote, 2009; Smith et al., 2021; Ramon et al., 2023). Die Ökobilanzergebnisse hängen hier wesentlich von den Strommixen der Anwendungsregion ab. Sollte sich „grüner Wasserstoff“ in der EU am Markt durchsetzen, dürfte dies allerdings die Ökobilanzergebnisse von gasgetriebenen Heizsystemen relativ verbessern (Famiglietti et al., 2023). Auch sind die Ergebnisse der Ökobilanzierungen von Wärmepumpen nicht einfach auf die Frage übertragbar, wie eine millionenfache Ausweitung der elektrischen Heizungen auf die verschiedenen Umweltbilanzindikatoren wirken würde. Die Kosten der Umstellung berührt die Soziale Frage. Die Nutzung von Wärmepumpen rentierte sich bis Anfang der 2020er Jahre in Bestandsgebäuden aus Umweltsicht oft nur begleitet von umfangreichen Dämmmaßnahmen. Monetär überzeugte der Vergleich die Bürger in Deutschland nicht: Im Jahr vor dem Inkrafttreten des deutschen Heizungsgesetzes 2024 verzeichnete der Bundesverband der Deutschen Heizungsindustrie Rekordeinbauzahlen neuer Öl- und Gasheizungen. Die Bürger fürchteten offenbar erhöhte Kosten, sollte der Gesetzgeber diese Heizformen ab 2024 verbieten, wie es zunächst vorgesehen war (Tagesschau 2023).
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Grafik 7.1 Der Endenergieverbrauch für Gebäuderaumwärme ging auch aufgrund besser gedämmter Gebäude zurück, aber seit 2010 kaum mehr. (Grafik Annika Kühn, nach: BMWK (2022), Abb. 69)
7.2.2 Paradigmen von Nachhaltigkeit im Bauwesen Nachhaltige Gebäude lassen sich hinsichtlich verschiedener Schwerpunkte ihrer Nachhaltigkeit nicht nur bewerten, sondern vor allem „durchdenken“ und planen (vgl. Hasselbring, 2022). Denn womöglich ist eine überzeugende Leitidee von Nachhaltigkeit als Orientierung für die Planung nützlicher, als die permanente Reflexion der Vielseitigkeit dieses Konzeptes oder der vielen Zielkonflikte. Oder, mit den Worten Michael Braungarts: „Die Ideologie war wichtig, weil man sonst keine Motivation gehabt hätte, einen Baum zu pflanzen“ (Michael Braungart (2015), über die Anfänge des Nachhaltigkeitsdenkens).
Solche Paradigmen von Nachhaltigkeit im Bauwesen sind beispielsweise • Energieeffizienz, • Suffizienz, • Ökopositivität, • Ressourceneffizienz/Permanenz.
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7.2.2.1 Ressourceneffizienz Hier ist die Ressourceneinsparung der zentrale Ansatz. Jedoch lässt sich das ebenfalls durch „bessere Materialien“ erreichen als nur durch „weniger“. Die innovative, intelligente Erhöhung der Ressourceneffizienz ist etwa durch den Ansatz des Leichtbaus anvisiert. Ein Beispiel für Materialeinsparungen ist in diesem Sinne Werner Sobeks „Gradientenbeton“, bei dem Luftbläschen nach Vorbild der Knochen in Betonbauteile „einbaut“ werden (Abschn. 8.3). Der Gradientenbeton wurde ab 2021 erstmals im Hamburger Quartier Elbbrücken für siebenstöckige Wohnblöcke und ein 13-etagiges Verbindungshaus verwendet. Als „so eine Art Luftschokolade“ bezeichnete ihn der verantwortliche Architekt Max Nalleweg (NDR, 2021a, 2021b). Der 3-D-Druck von Betongebäudeteilen kann auch zur Materialeinsparung beitragen, auch wenn, je nach Verwendung, andererseits durch fehlende Bewehrung wieder dickere Bauteile nötig sein können. Ein anderes Beispiel sind Holzständerwände. 7.2.2.2 Permanenz Dies bezeichnet den Ansatz, dass ein Gebäude für eine möglichst lange Nutzungszeit geplant, gebaut und tatsächlich erhalten wird. Dazu zählt ein Konzept der flexiblen Umnutzung von Räumen oder Bauwerken. In die Kategorie der Ressourceneffizienz fallen hingegen auch Erhöhungen von Recycling- und Upcycling-Möglichkeiten von Bauteilen, eine steigende Kreislauffähigkeit durch Demontierbarkeit von Bauwerken und zunehmende Sortenreinheit. Zur Erhöhung der Kreislauffähigkeit tragen digitale Handelsplattformen bei, die die Kreislaufwirtschaft der Bauteile in Schwung bringen (Concular u. a.; Abschn. 8.6.4). Andere Planungs- und Informationstools wie Madaster zeigen den Gebäudematerialwert in Echtzeit an und schaffen Anreize für Bauherren, die Perspektive des materialschonenden Bauens einzunehmen. 7.2.2.3 Suffizienz und Low Tech Aus dieser Sicht wäre die Frage zentral: Benötigen die Menschen wirklich so viel Wohnraum? Die Suffizienzforderung findet sich etwa auch im Imperativ des Bundes Deutscher Architekten, es solle weitgehend auf den Neubau verzichtet werden („Bauen muss vermehrt ohne Neubau auskommen“, BDA, 2019). Der Ansatz der Suffizienz nimmt auch Kennzahlen wie die Wohnungsgröße pro Person in den Blick. Hier wird das Bauen strikt dem Paradigma der Umweltverträglichkeit untergeordnet. Das bedeutet auch, Grundrisse nach Maßgabe möglichst großer Nutzungsvariabilität zu gestalten und sich in Planung und Bau an die sortenreine Trennbarkeit von etwa Tragwerksmaterialien zu orientieren. Ein Beispiel sind die einführend erwähnten Musterhäuser des „einfachen Bauens“ des Architekten Florian Nagler. Der Ansatz des einfachen Bauens hat einen Grund darin, dass vor allem Haustechnik ein Kostentreiber des Bauens war (Nagler, 2021, S. 10). So versteht Nagler unter seinem Ansatz des „einfachen Bauens“ unter anderem, dass Energieeinsparungen mit architektonischen Ansätzen erreicht werden, etwa einer optimalen Nutzung des einfallenden Sonnenlichts, Robustheit und Langlebigkeit der Konstruktionen, eine leichte Zugänglichkeit der technischen Systeme (ebd., S. 16). Ein Bei-
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Abb. 7.2 Co-Working-Office in Frankfurt. Die Leitungen sind nicht hinter Putz versteckt, sondern liegen dekorativ offen. (Foto Jan Grossarth)
spiel wäre, Lüftungs- oder Stromleitungen nicht unter Putz zu „verstecken“, sondern offen zu verlegen, was auch dekorative Effekte haben kann (Abb. 7.2). Vergleichbare Ziele verfolgt das Low-Tech-Bauen. Diesem Ansatz gemäß werden größere Materialverwendungen in Kauf genommen, um längere Wärmespeicherungen im massiven Mauerwerk zu ermöglichen und dadurch auf aufwendige Heiz- und Wärmerückgewinnungstechniken verzichten zu können. Werden etwa automatisierte Fensterlüftungen mit CO2-Sensoren verwendet, wäre die Rede von Mid Tech. Zur Beheizung eines Lowoder Mid-Tech-Gebäudes genügt idealerweise das durch große Südfenster einfallende Sonnenlicht, die Körperwärme der Gebäudenutzerinnen, die Abwärme der elektronischen Geräte und gegebenenfalls eine Feuerstelle. Auch auf versteckte Kabel und Rohre hinter Putz wird verzichtet. Sie bleiben sichtbar und für Wartungen leicht zugänglich.
7.2.2.4 Energieeffizienz In diesem Nachhaltigkeitsansatz liegt der Fokus traditionell auf der Gebäudenutzung. Die Raumwärme verursacht statistisch die größten Energieverbräuche. Beispiele für sehr niedrige U-Werte der Außenhülle sind KfW-Effizienzhäuser, Passivhäuser, Plusenergiehäuser. Die Geschichte des Passivhauses geht bereits auf Arbeiten in den frühen
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1990er-Jahren in Darmstadt-Kranichstein zurück (Feist, 1994). Der historische Rückblick lässt den Betrachter fragend zurück, warum sich seit mehr als dreißig Jahre erprobte und wissenschaftlich begleitete Energiesparhäuser so lange nicht etabliert haben. Das Kranichsteiner Passivhaus ist noch heute in Nutzung der Erbauerfamilie, die sich mit den erreichten Energieeinparungen weiterhin sehr zufrieden zeigt.
7.2.2.5 Ökopositivität Das Nachhaltigkeitsverständnis der Cradle-to-Cradle-Literatur beruht auf Vorstellungen von Ökopositivität („ein Bauwerk, das die Luftqualität verbessert“, und ähnliche Leitvorstellungen). Dieses Leitbild orientiert sich auch an qualitativen Kriterien, anders als die strenger objektivierenden Rechenmaße der Nachhaltigkeitsbewertung (vgl. späterer Abschnitt). Während sich Zertifizierungen oder veröffentlichte Ökobilanzen meist auf ein konkretes Bauwerk (oder einen Baustoff) beziehen, gibt es auch den weitenden Blick auf Raumbebauungssysteme und deren unterschiedliche Ressourcenbilanzen. Die urban dichte Bebauung ist diesbezüglich der ruralen, peripheren deutlich überlegen, und das sechsstöckige Etagenhaus (Wohnblock) in Reihe ist um ein vielfaches ressourcenschonender als Einfamilienhäuser, aber auch Hochhäuser (Weidner et al. 2022). Für letztere spricht aus Umweltsicht immerhin die Flächenschonung pro Wohneinheit. 7.2.2.6 Zusammenfassung: Paradigmen der Ressourcenschonung Mit folgenden Kernaussagen wird in der einschlägigen Literatur der Zukunftsweg „nachhaltiger Umgang mit Ressourcen“ für das Bauwesen abgesteckt. Möglichst sollte • der Energieverbrauch der Gebäude im Lebenszyklus zurückgehen, • kein Abfall im Lebenszyklus des Bauwerks mehr entstehen, • dazu möglichst wenig Down-Cycling von Baumaterialien stattfinden, dafür in steigenden und hohen Anteilen Re- oder Upcycling; • es soll kein Raubbau an Ressourcen geschehen, sei es an mineralischen oder natürlichen; • der Energieaufwand und negative Umweltauswirkungen des Bauens sollen minimal sein, wofür Gebäudeumweltbilanzen wie -kosten im Lebenszyklus des Bauwerks und darüber hinaus zu berechnen und in Entscheidungsprozessen von der Vergabe bis zum Bau zu berücksichtigen sind.
7.3 Politische Initiativen für den nachhaltigen Bau 7.3.1 Gesetzlich nicht bindende Initiativen Normen, Verordnungen und Kreislaufwirtschaftsrecht sind Stellschrauben, die zu nachhaltigerer Baupraxis führen können. Zum anderen aber sind einige europäische Initia-
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tiven zu nennen, die Visionen oder Leitbilder formulieren, aber zunächst gesetzlich unverbindlich sind. Die europäische Politik hat eine schwer zu überblickende Fülle von Initiativen für nachhaltigen Bau auf den Weg gebracht. Einige Beispiele sind hier zusammengefasst. Die EU-Mitgliedstaaten verabschiedeten schon 2007 die Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt. Sie betrifft die Stadtplanungspolitik und spricht eine Reihe von Nachhaltigkeitsaspekten der Wirtschaftsförderung, Lebensqualität und Energieeffizienzsteigerungen an (BMUB, 2007). 2020 wurde eine erneuerte Version durch den Ministerrat verabschiedet (BMI, 2020). Die Charta formuliert das Leitbild, „grün“, „gerecht“ und „produktiv“ solle die europäische Stadt sein. Die Leipzig-Charta wird vielfach aufgegriffen. Ein Beispiel ist der Leitfaden „SDG-Indikatoren für Kommunen“, der diesen konkrete Politikziele auf Basis der SDG-Ziele an die Hand gibt, was auch das Bauwesen betrifft (Bertelsmann Stiftung, 2022). Im Zuge des EU Green Deal startete die EU-Initiative Neues Europäisches Bauhaus (NEB) im Jahr 2020 (EU, 2021). Nachhaltigkeit wird als das Leitprinzip des NEB beschrieben, aber das meint mehr als Stoffstrom- und Energiebilanzen: Das Neue Bauhaus versteht sich insofern primär als Kulturinitiative, als es an der Geschichte des Dessauer Bauhauses ansetzt. Dieses wollte das Bauwesen angesichts des historischen Epochenbruchs der Industrialisierung im Sinne eines Kulturprojektes weiterentwickeln. Nun wird die Transformation zur Nachhaltigkeit als epochenbildend beschrieben. Dies begründet folgende vier Leitmotive des NEB: • • • •
Rückbesinnung auf die Natur, Beförderung einer Baukultur, die ein Zugehörigkeitsgefühl zum Wohnort bestärkt, Inklusion sozial schwacher Gruppen, kreislauforientierter industrieller Bau mit maßgeblichem Lebenszyklusdenken.
Nachhaltigkeit wird im Rahmen des NEB also ungewöhnlich – und dem Anliegen dieses Buches entsprechend – weit verstanden, da neben Klimabilanzen, sozialer Inklusion und Erhalt der Biodiversität auch die Ästhetik des Bauens und Identifikationswerte der Baukultur zentral sein sollen. Das NEB versteht sich als „Netzwerk“ für Baufachleute aus verschiedenen Professionen, Nationen und Kontinenten; auch die Hochschule Biberach gehört diesem Netzwerk an. Das Bauhaus der Erde ist demgegenüber nicht von der EU oder staatlich koordiniert, sondern eine Initiative in Form einer gemeinnützigen GmbH für den nachhaltigen Bau. Sie geht auf das Engagement von Persönlichkeiten wie dem Klimafolgenforscher Hans Joachim Schellnhuber und der engagierten Architektin Annette Hillebrandt zurück. Deren Engagement ist im Zusammenhang mit dem Phänomen zu sehen, dass sich Wissenschaftsfachleute vermehrt öffentlich politisch für stärkere CO2-Emissionsminderungen einsetzen, wie etwa in der Vereinigung Scientists for Future.
7.3 Politische Initiativen für den nachhaltigen Bau
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7.3.2 Gesetze und Regelwerke In zahlreichen Gesetzen, Verordnungen und rahmengebenden Regelwerken (Normen) werden Anforderungen an Nachhaltigkeit festgelegt. Dazu zählen vor allem: • • • •
das Gebäudeenergiegesetz, die Musterbauordnung, der Eurocode, die Bauprodukteverordnung.
7.3.2.1 Gebäudeenergiegesetz Das Gebäudeenergiegesetz (GEG) regelt die energetischen Anforderungen an Neubauten, Bestandsbauwerke und den Einsatz erneuerbarer Energien zur Versorgung des Bauwerks und legt auch die Kriterien für die Erstellung eines Energieausweises fest (seit 2020 in Nachfolge mehrerer Regelwerke). Im Jahr 2023 politisch umstrittene Änderungen legten strengere Anforderungen an den Einbau von Heizungen fest, was den Anteil erneuerbarer Energiequellen betrifft, nachdem Öl- oder Gasbestandsheizungen nicht mehr reparabel sind. 7.3.2.2 Musterbauordnung Sie adressiert – allerdings nur „am Rande“ – auch das Nachhaltigkeitsanliegen, etwa in § 16b, wonach Bauelemente eine „angemessene, dem Zweck entsprechende Zeit überdauern“ müssen; auch CE-gekennzeichnete Produkte werden in der Musterbauordnung verlangt (zuletzt novelliert in 2019). Die Musterbauordnung vereinheitlicht das Baurecht, das in Deutschland Ländersache ist; Urheber sind die Landesbauministerien, die ihre Landesbauordnungen wiederum an die Musterbauordnung „anlehnen“. 7.3.2.3 Eurocodes In europäischen Bemessungsnormen-Regelwerken für das Bauwesen zielen zahlreiche Normen auf Dauerhaftigkeit von Bauwerken ab, etwa in der Eurocode-0-Familie für die Tragwerksplanung durch Anforderungen an die Materialqualität oder etwa durch angemessenen Schutz der Materialien vor Witterungseinflüssen (Kölzer, 2020, S. 14 ff.). Der Eurocode 0 (DIN EN, 1990) ist im Nachhaltigkeitsrahmen besonders bedeutsam, auch weil in einem Bauwerk oft etwa zwei Drittel des Material- und Energieaufwands auf das Tragwerk entfallen (Stahel, 2021; Tab. 7.1). Zum Eurocode 0 kommen weitere Normen, die im Kern auf Nachhaltigkeit abzielen: In der deutschen und europäischen Normenwelt ist die Gruppe der DIN EN 15643 für Nachhaltigkeitsbezüge zu nennen („Grundsätze und Anforderungen für die Bewertung von Gebäuden und Ingenieurbauwerken hinsichtlich ihrer umweltbezogenen, sozialen und ökonomischen Qualität unter
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Tab. 7.1 Dauerhaftigkeitsklassen von Gebäuden nach Eurocode 0 (Tab. 2.1) Klasse
Planungsgröße
Beispiele
1
10 Jahre
Tragwerke mit befristeter Standzeit
2
10–25 Jahre
Lagerhäuser
3
15–30 Jahre
Scheunen, Stallungen
4
50 Jahre
Wohn- und Bürogebäude
5
100 Jahre
Brücken, Monumentalbauwerke, sonstige Ingenieurbauwerke
Berücksichtigung ihrer technischen und funktionalen Eigenschaften“1). Die DIN EN 15643 ersetzt seit 2021 die frühere Normenreihe DIN EN 15643-1 bis DIN EN 156435. Gegenwärtig wird eine Fülle von unterschiedlichen Normen überarbeitet oder neu erarbeitet, um dem Ziel einer Zirkulärwirtschaft im Bau näher zu kommen (DIN, DKE, VDI, 2021). Das gilt auch für die ISO 15392 (allgemeine Grundsätze nachhaltiger Bau)2.
7.3.2.4 EU-Bauprodukteverordnung Die Klimapolitik auf europäischer Ebene verpflichtet einen wachsenden Kreis an Unternehmen aus dem Bauwesen dazu, Informationen über die Klimabilanzen auch importierter Baustoffe vorzuhalten. Dies soll über die Bauprodukteverordnung geregelt werden. Zulassungen sollen sich auch an lebenszyklusbezogenen Daten orientieren (EU, 2022). 7.3.2.5 CO2-Zertifikate und Steuern Die Preise für CO2-Zertifikate steigen tendenziell, immer mehr Sektoren werden in den Handel aufgenommen und diese Maßnahme wirkt wie eine Emissionssteuer. Spezielle Baustoffsteuern werden von einigen Fachleuten gefordert, sind aber politisch auch angesichts der hohen Inflationsraten bis 2023 nicht ernsthaft auf der Tagesordnung.
7.3.3 Exkursion: Eine nachhaltigere Weltwirtschaft per Dekret? Über Lieferkettengesetze, Siegel und „ökologische Zölle“ In dem Maß, in welchem Unternehmen aus dem Bauwesen Ökobilanzdaten vorhalten müssen, verändern sich auch die Bedingungen des internationalen Handels. Das CO2Grenzausgleichssystem (CBAM) der EU erfordert beim Import energieintensiv her-
1 https://www.beuth.de/de/norm/din-en-15643/335506755#:~:text=Dieses%20Dokument%20 stellt%20die%20Grunds%C3%A4tze,technischen%20und%20funktionalen%20Eigenschaften%20 bereit. 2 https://www.beuth.de/de/norm/iso-15392/317795651.
7.3 Politische Initiativen für den nachhaltigen Bau
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gestellter Produkte, dass die einführenden Unternehmen emissionsbezogene Daten vorhalten. Ab 2026 sollen dann Zollzahlungen gekoppelt an produktionsbezogene Treibhausgasemissionen Pflicht werden. Baustoffe wie Zement, Stahl und Eisen fallen unter die Regelungen. Da Unternehmen innerhalb der EU Anfang 2024 schon Zertifikatspreise von rund 80 Euro je Tonne zahlen mussten, soll durch die Grenzabgabe internationale Wettbewerbsgerechtigkeit gewahrt werden. Aber Exporteuren von europäischen Industriegütern nützt das nichts, sie bleiben im Welthandel benachteiligt. Die ausländischen Hersteller, die nach Europa importieren, sollten nach den Plänen von Anfang 2024 zudem auch erst ab dem Jahr 2036 mit einem gleich hohem CO2-Preis belastet werden. Ein weiteres Beispiel wäre auch der Holzimport aus Brasilien (Sotiroy et al., 2022), für den sich sogenannte ökologische Sorgfaltspflichten verlangen ließen. Wann begann diese Art des Außenschutzes? In diesem Sinn bietet sich ein Exkurs auf die Geschichte der europäischen Lieferkettengesetzgebung an. Die hat nicht bei der Bauwirtschaft begonnen, sondern die Textilwirtschaft betreffend, und diesbezüglich die Menschenrechte der Arbeiterinnen. Über den Aspekt der Rohstoffförderung können gesetzliche Sorgfaltspflichten das Bauwesen aber unmittelbar betreffen. Der Bund verhängt seit 2020 solche Sorgfaltspflichten schon für den Import mancher Metalle aus Konflikt- und Hochrisikogebieten (Bundestag, 2020). Die Geschichte der europäischen Lieferkettengesetzgebung begann so: Nachdem im April 2013 in Bangladesch das achtgeschossige Fabrikgebäude Rana Plaza einstürzte, wo über 1000 Textilarbeiterinnen und Arbeiter unter den Trümmern starben, dominierte das Thema der Menschenrechte in Nähereien einige Tage die globalen Nachrichten. Vom Schock blieb Scham. Denn war nicht jeder irgendwie mitverantwortlich, der billige TShirts und Jeans kauft? Dann folgte die politische Debatte: Geschah die Katastrophe nicht in dem Bereich, in dem der Staat, also Bangladesch, die Einhaltung der Gesetze verantworten müsste? Oder können wir andererseits nicht auch mitbestimmen, nach welchen Regeln bei uns konsumierte Produkte produziert werden? Und zwar nicht nur durch unseren Konsum, sondern auch durch unseren Staat und unsere Unternehmen? Die Katastrophe wurde in Deutschland zum Startpunkt der politischen Diskussion zu einer Lieferkettengesetzgebung. Dabei hatte der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UN) schon 2011 die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte verabschiedet (Windfuhr, 2022). Neben dem staatlichen Schutz wurde hier international verankert, dass Unternehmen auch eine Verantwortung für die Einhaltung der Menschenrechte tragen. Um dies sicherzustellen, sollen Unternehmen entsprechende Sorgfalt in ihren Lieferketten walten lassen. Die Vereinbarung lautete so, dass die Importeure von Vorprodukten oder industriellen Erzeugnissen selbst kontrollieren, verantworten und nachweisen müssen, dass ihre Zulieferer die Vorgaben der Menschenrechte einhalten. Hiermit kommen sie ihrer Sorgfaltspflicht nach: keine Kinderarbeit, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Sicherheit am Arbeitsplatz. Vor allem in der Textilindustrie herrschen aber teilweise weiterhin Bedingungen, die die Bezeichnung Sklavenarbeit verdient hätten. Auch in der Rohstoffförderung sind die Arbeitsbedingungen an vielen Orten der Entwicklungs- und
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Schwellenländer ungeregelt und unmenschlich – hier ist der Bezug zum Bauwesen deutlich. Deutschland versuchte zunächst eine freiwillige Umsetzung der UN-Leitprinzipien. Aber weniger als 20 % aller deutschen Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern setzten diese bis zum Jahr 2021 um. Zehn Jahre nach ihrer Zustimmung zu den Leitprinzipien der internationalen Gemeinschaft beschloss die Bundesregierung ein Lieferkettengesetz, das große Unternehmen zu Nachweisen verpflichtet (Greenville et al., 2017; Windfuhr, 2022). Frankreich und Großbritannien hatten 2021 bereits gesetzliche Sorgfaltspflichten beschlossen, das niederländische Parlament auch. Und auch die EU bereitete unternehmerische Sorgfaltspflichten vor – neben Menschenrechten ging es auch um Ökologie, hier insbesondere um „entwaldungsfreie Lieferketten“. Dies betrifft das Bauwesen und den Holzbau im Kern. Auch der Kongress der Vereinigten Staaten feilte an einem Vorschlag für ein Lieferkettengesetz gegen Entwaldung. Was aber erreicht die Politik mit solchen Lieferkettengesetzen wirklich? Gewiss drohen Verlagerungen der Handelsbeziehungen in nicht regulierte Regionen. Länder und Produzenten, die den Anforderungen der Lieferkettengesetze nicht genügen können oder wollen, suchen stattdessen Märkte mit weniger hohen Anforderungen. Gegen das deutsche Lieferkettengesetz spricht unter anderem, dass es nur Firmen mit Sitz in Deutschland betrifft. Dadurch werden deutsche Unternehmen sogar im innereuropäischen Wettbewerb benachteiligt. Auf EU-Ebene soll dies anders gestaltet werden und alle Unternehmen betreffen, die in der EU verkaufen wollen. Sogenannte Sorgfaltspflichten müssen umsetzbar und wirksam sein und sollten nicht zu einer Verlagerung des Welthandels zu führen. An beidem scheiden sich schon jetzt die Geister: Lässt sich von Unternehmen verlangen, über die ökologischen und sozialen Missetaten nicht nur ihrer Tochtergesellschaften, sondern auch ihrer Zulieferer und deren Zulieferer Bescheid zu wissen und diese zu adressieren? Es besteht die Gefahr, dass europäische Unternehmen sich aus bestimmten Ländern oder Regionen zurückziehen, da ihnen die Behebung von Verstößen hier zu mühsam erscheint. Das hätte negative Auswirkungen auf die Produzenten vor Ort (Meemken, 2020). Und welche moralische Autorität oder welches politische Recht hat zum Beispiel Europa, das selbst eine industrielle Entwaldungsgeschichte sondergleichen hinter sich hat, von ärmeren Ländern „entwaldungsfreie“ Agrarproduktion zu fordern? Globale Lieferketten sind lang und oft gewollt kompliziert. Auf dem Weg der Baumwolle von der afrikanischen Plantage zum T-Shirt, zum Beispiel, gibt es viele Verarbeitungs-, Transport- und Handelsstufen. Einen Textilverkäufer dafür verantwortlich zu machen, wie die Baumwolle oder das Öl produziert wurde, aus dem die Fasern hergestellt wurden, ist demzufolge nicht trivial. Andererseits gelingt es Unternehmen aus Qualitätsgründen heute bereits sehr wohl, Ansprüche an ihre Zulieferer zu stellen. Sie tun dies oft schon aus Reputationsgründen. Im Agrarsektor muss teilweise noch das Transparenzproblem für die „erste Meile“, also zum Beispiel der Weg vom Kakaobauern zur Kooperative, gelöst werden. Bei Zulieferungen ist manchmal nicht überprüfbar, ob der Kakao nur von Kooperativmit-
7.4 Zertifikate für den nachhaltigen Bau
231
gliedern stammt oder aus Zukäufen nicht registrierter Bauern, die vielleicht jüngst Wald gerodet haben (Rudloff & Wieck, 2020). Aber auch hierfür haben Unternehmen bereits (teils digitale) Lösungen gefunden, die dies kenntlich machen können (Jouaniean, 2019). In einer Studie des Innovation Forums von 2020 heißt es: „Wir verstehen zu wenig über Einkommens-, Gesundheits- oder Sicherheitsaspekte der Arbeit in den Wertschöpfungsketten zwischen Bauernhof und Hafen“ (Stanbury, 2020). Selbst internationale Konzerne hätten oft nicht genügend relevante interne Daten über die Entstehungsbedingungen der Agrarrohstoffe. Künftig wird es mehr Wissen darüber geben, an welchen Stellen der Lieferkette die Wertschöpfung hoch ist und an welchen niedrig. Um Wissen und Wertschöpfung für ökologisch-soziale Qualitäten zu erhöhen, liegt große Hoffnung auf der Digitaltechnik. Direktvermarktung über lange Wege erscheint möglich. Technische Lösungen erhöhen die Transparenz und Rückverfolgbarkeit. Eine OECD-Studie stellt fest: „Eine Reihe von Technologien trägt zur digitalen Veränderung der Abläufe im Lebensmittelsektor und -handel bei: elektronischer Datenaustausch, Plattformen und Sensoren, das Internet der Dinge, Cloud Computing, Big Data, künstliche Intelligenz und Blockchain.“ Auch bestehende internationale Handelsregelungen können Wege zu ökologischen Sorgfaltspflichten sein. Ein Beispiel sind bedingte Zollerleichterungen für den Fall, dass bestimmte internationale Umwelt- und Sozialstandards von Partnerländern unterzeichnet sind (etwa das europäische „GSP + “). Auch bilaterale oder regionale Handelsabkommen wie Mercosur enthalten Nachhaltigkeitsaspekte. Diese müssen aber oft noch verbindlicher verankert werden. Ein relativ neuer rechtlicher Hebel der EU ist es, dass der wirtschaftsrechtliche Dumping-Begriff auch als Nicht-Einhaltung sozialökologischer Standards interpretiert wird und Zollschutz nach sich ziehen kann. Und die Regeln der den offenen Handel stärkenden WTO gestatten durchaus Ausnahmen. Bei aller Stärkung von Nachhaltigkeit im internationalen Handel seitens der EU ist zu beachten, dass viele Entwicklungsländer die Sorge vor „grünem Protektionismus“ eint. Sie äußern den Vorwurf, die EU wolle durch die Handelsregularien eigentlich den heimischen Markt abschotten.
7.4 Zertifikate für den nachhaltigen Bau Eine zunehmend zentrale Rolle in der Vermarktung von Nachhaltigkeitswerten spielen auch im Bauwesen Nachhaltigkeitszertifikate (auch: Siegel, kurz: N-Zertifikate). Diese sind eine vergleichsweise junge Entwicklung. Jahrzehnte später als im Nahrungsmittelbereich (das deutsche brancheneigene Bioland-Siegel wurde beispielsweise erstmals im Jahr 1981 vergeben; Bioland, o. D.) oder dem Forstwesen (internationale FSC-Zertifizierungen gibt es seit 1993; NDR, 2021a, b) begannen private oder staatliche Zertifizierer auch im Bauwesen damit, Gebäude- oder Baustoff-Siegel anzubieten. Die ersten Nachhaltigkeitszertifikate im Bauwesen wurden in Deutschland erst in den späten 2000er-Jahren initiiert. Sie erhöhen für Bauherren und Endkunden zwar den Aufwand und damit auch die Planungs- und Baukosten um Gebühren im niedrigen bis
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7 Nachhaltigkeit und Lebenszyklusbetrachtung im Bauwesen
mittleren fünfstelligen Bereich, bieten aber andererseits auch Vorteile: Bauherren entscheiden sich nicht nur aus ideellen Motiven für eine N-Zertifizierung, sondern auch aus strategischen oder finanziellen. Große oder kapitalmarktfinanzierte Bauunternehmen, die an Finanzierungen am Kapitalmarkt interessiert sind, werden gesetzlich zunehmend zu öffentlicher Berichterstattung über SDG-Indikatoren verpflichtet. Andere pflegen so ihre Marke und ihr Image. Ein Zertifizierungsprozess ist zunächst zwar teuer und aufwendig – er kann von geringen fünfstelligen bis zu sechsstelligen Summen kosten, je nach Größe des Bauprojekts. Jedoch gibt es schnelle Lernfortschritte und ermittelte nachhaltigkeitsbezogene Daten oder gewonnene Kontakte zu zertifizierten Zulieferern lassen sich für Folgeprojekte wieder verwenden. Finanziell vergünstigt eine N-Zertifizierung manchen staatlichen Förderkredit der KfW-Bank und diese bezuschusst in manchen Fällen auch die Zertifizierung. Das Jahr 2021 war eine Epochenwende in der staatlichen umweltbezogenen Gebäudeförderung. Seitdem förderte der Bund Nachhaltigkeitsaspekte in einer „NH-Klasse“ unter der Bedingung einer Lebenszyklus-orientierten Zertifizierung. Hierüber informieren das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) sowie die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW); ab 2023 gab es in diesem Rahmen für den Bau oder auch Kauf neuer Wohn- und Nichtwohngebäude Zuschüsse und Fördergeld des Programms „Klimafreundlicher Neubau“ (KfW, 2023). Das neue Förderregime macht die Ökobilanzierung im Gebäudesektor erstmals zur Förderbedingung anstelle nur des Gebäudeenergienachweises. Für die Erstellung der Ökobilanz erkennt der Gesetzgeber die Zertifikate der DGNB, NaWoh/QNB und BNK an beziehungsweise auch des BNB für den Nichtwohnungsbau. Als Ergebnis einer Ökobilanz kann in Einzelfällen sogar eine insgesamt klimapositive Ökobilanz herauskommen, jedoch setzt das sehr hohe Anteile nachwachsender Baustoffe voraus wie auch die positive Anrechnung von im Lebenszyklus erzeugtem Strom über Photovoltaikanlagen (König, 2023). Mehrere Zertifikate von staatlichen oder nicht-staatlichen Zertifizierungsstellen stehen zur Bewertung von Gebäuden zur Verfügung (Abb. 7.3). Die Kriterien sind unten genauer aufgeführt. In der Regel enthalten die Anforderungskataloge für N-Zertifikate einen unbedingt erfüllbaren „Kernbereich“ und einen graduell erfüllbaren „Randbereich“ an „weichen“ Kriterien (Tab. 7.2). Letztere sind dann laut gängigen Schemata untereinander abwägbar. Im Wohnungsbau wie Nichtwohnungsbereich müssen neben der kriteriengerechten Erfüllung der Ökobilanzergebnisse beispielsweise auch noch folgende Bereiche positiv beschieden werden: • Barrierefreiheit, • Schadstoffvermeidung in Baumaterialien, • nachhaltige Materialgewinnung (Verwendung zertifizierter nachwachsender Rohstoffe).
7.4 Zertifikate für den nachhaltigen Bau
233
Abb. 7.3 Übersichtlich? Die führenden Siegel deutscher Anbieter Anfang der 2020er Jahre. (Collage JG) Tab. 7.2 Anforderungen an nachhaltige Gebäude Erfüllungsbereich
Erfüllbarkeit
Abwägbarkeit
Gebotscharakter
Kernbereich
Nicht graduell
Nein
Satisfizierungsgebot
Randbereich
Graduell
Ja
Optimierungsgebot
7.4.1 DGNB-Zertifizierung Das Bau-Nachhaltigkeitszertifikat der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) wird seit dem Jahr 2009 vergeben. Die DGNB gilt heute als der führende Nachhaltigkeitszertifizierer. Sie ist auch in weiteren Staaten als Anbieter am Markt. Die DGNB wurde 2007 als gemeinnütziger Verein gegründet. Sie hatte nach eigenen Angaben 2023 mehr als 2000 Mitgliedsorganisationen. Dazu zählen etwa Baustoffhersteller, Bauunternehmen, Architektur- und Ingenieurbüros, aber auch Baumärkte, Stadtwerke oder Forschungsinstitute. Der Zertifizierungsprozess der DGNB dauert in der Regel mehrere Wochen oder Monate. Er wird von Gutachtern (Auditoren) für die DGNB begleitet. Die DGNB weist darauf hin, wie wichtig es ist, im Neu- oder Umbauprozess die Gutachterinnen oder Gutachter möglichst frühzeitig einzubeziehen, am besten in der frühen Phase der Vorplanung oder Grundlagenermittlung, spätestens aber in der Entwurfs- und Genehmigungsplanung. Danach sinkt der Grad der Beeinflussbarkeit des Zertifizierungsergebnisses sehr stark. Zugleich steigt der monetäre und zeitliche Aufwand für mögliche Änderungen, um das gewünschte Zertifikat zu erreichen.
234
7 Nachhaltigkeit und Lebenszyklusbetrachtung im Bauwesen
Am Ende erhält das Bauprojekt eine Bewertung, die sich am Grad der Gesamterfüllung aller Kriterien bemisst. Zu erreichen sind, am Beispiel der Gebäude im Betrieb (hier nicht Neubau), bei folgenden Prozentsätzen des Gesamt-Scores folgende Gütezeichen: • • • •
DGNB-Platin (Erfüllungsgrad von insgesamt mehr als 80 %), DGNB-Gold (mindestens 65 %), DGNB-Silber (mindestens 50 %), DGNB-Bronze (mindestens 35 %; die Kategorie Bronze wird nicht für Neubauten vergeben).
Die DGNB hatte bis 2023 eigene Bewertungssysteme für zehn verschiedene Gebäudetypenklassen entwickelt, das waren: Büro, Wohnen, Hotel, Bildungsgebäude, Verbrauchermarkt, Versammlungsstätte, Produktionsstätte, Shoppingcenter, Logistiklager, Geschäftshaus. Die genauen Kriterienkataloge und Punktebewertungssysteme für jeden Indikator und jede jeweilige Gebäudeklasse sind auf den Seiten der DGNB ausführlich hinterlegt und werden laufend aktualisiert. Auch gibt es jeweils eigene Kriterienkataloge für Gebäude im Betrieb und den Neubau. Sie und ihre Gewichtung in den je unterschiedlichen Gebäudekategorien sind Gegenstand fortlaufender Revision und wurden zuletzt im Jahr 2023 überarbeitet (DGNB, 2023a, b, c, d, e, f, g, h). Das Siegel DGNB Diamant lobt baukulturelle Leistungen aus, basiert auf einem Juryurteil und wurde bis 2023 keine fünfzehn Mal vergeben.
7.4.1.1 Sechs Kriterienkategorien Die ökologische Qualität wird von der DGNB nach insgesamt sechs Kriterienkategorien bemessen. Sie enthalten jeweils mehrere Einzelindikatoren. Daneben werden ökonomische, soziokulturelle, funktionale, technische und andere Qualitäten bewertet – in Klammern ist hier die Gewichtung dieser Kategorienbewertung für die Gesamtbewertung angegeben: • • • • • •
ökologische Qualität (22,5 %), ökonomische Qualität (22,5 %), soziokulturelle und funktionale Qualität (22,5 %), technische Qualität (15 %), Prozessqualität (12,5 %), Standortqualität (5 %).
Zu den Kategorien zählt die ökologische Qualität. Um beispielhaft einen Eindruck zu geben, wie facettenreich und aufwendig eine Nachhaltigkeitsbewertung ist, soll dieses Kriterium im Folgenden etwas ausführlicher erläutert werden.
7.4 Zertifikate für den nachhaltigen Bau
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7.4.1.2 Bewertung der ökologischen Qualität Die ökologische Qualität ist wiederum unterteilt in sechs Teilindikatoren, die ihrerseits verschiedene Kennzahlen beinhalten. Das waren 2023: 1. Ökobilanz des Gebäudes, 2. Risiken für die lokale Umwelt, 3. verantwortungsbewusste Ressourcengewinnung, 4. Trinkwasserbedarf und Abwasseraufkommen, 5. Flächeninanspruchnahme, 6. Biodiversität am Standort. Unter der Kategorie Ökobilanz des Gebäudes (1) versteht die DGNB eine „konsequente lebenszyklusorientierte Planung von Gebäuden, um emissionsbedingte Umweltwirkungen und den Verbrauch von endlichen Ressourcen über alle Lebensphasen eines Gebäudes hinweg auf ein Minimum zu reduzieren“ (DGNB, 2023b). Hier werden als Teilindikatoren berücksichtigt: Ökobilanzen in der Planung, Ökobilanzoptimierung, Ökobilanz-Vergleichsrechnung, „Agenda 2030 Bonus – Klimaschutzziele“, ein Bonus für Circular-Economy-Maßnahmen und die Reduktion halogenierter Kohlenwasserstoffe in Kältemitteln. Auch gilt es, Risiken für die lokale Umwelt (2) gering zu halten. Hier geht es darum, „alle gefährdenden oder schädigenden Werkstoffe, (Bau-)Produkte sowie Zubereitungen, die Mensch, Flora und Fauna beeinträchtigen bzw. kurz-, mittel- und/oder langfristig schädigen können, zu reduzieren, zu vermeiden oder zu substituieren“.3 In dieser Kategorie gibt es nur einen erhobenen Indikatorwert, nämlich „umweltverträgliche Materialien“. Drittens wird die verantwortungsbewusste Ressourcengewinnung (3) berücksichtigt. Hier geht es nach den Angaben der DGNB darum, „die Verwendung von Produkten im Gebäude und dessen Außenanlagen zu fördern, die hinsichtlich ökologischer und sozialer Auswirkungen über die Wertschöpfungskette transparent sind und deren Rohstoffgewinnung und Verarbeitung anerkannten ökologischen und sozialen Standards entsprechen“ (DGNB, 2023c). Die beiden Kriterien dafür lauten: Verantwortungsbewusst genutzte Rohstoffe seien einzusetzen und zweitens möglichst Sekundärrohstoffe aus Wiederverwertungsprozessen. Auch hier orientieren sich die konkreten Indikatoren, die für die Berechnung zugrunde gelegt werden, an den SDG der Vereinten Nationen. Im Falle der verantwortungsbewussten Ressourcengewinnung sind dies etwa die globale Ressourceneffizienz und Entkopplung von wirtschaftlicher Entwicklung (SDG-Indikator 8.4 der UN), nachhaltige Waldbewirtschaftung (Indikator 15.2), Nachhaltigkeitsberichterstattung (12.6), Abfallreduzierung und -vermeidung (Indikator 12.5). Auch hier ist das
3 https://www.dgnb-system.de/de/gebaeude/neubau/kriterien/risiken-fuer-die-lokale-umwelt/.
236
7 Nachhaltigkeit und Lebenszyklusbetrachtung im Bauwesen
genaue methodische Vorgehen, dem die Zertifizierungsstelle sich verpflichtet hat und dem die Auftraggeber folgen müssen, umfassend auf der Seite der DGNB dokumentiert (DGNB, 2023d). Viertens zählt zur ökologischen Qualität das Kriterium Trinkwasserbedarf und Abwasseraufkommen (4) mit den Teilindikatoren des Trinkwasserbedarfs und Abwasseraufkommens des Bauprojekts, der Außenanlagen und der diesbezüglichen „Integration in die Quartiers-Infrastruktur“ (DGNB, 2021e). Das fünfte Kriterium, die Flächeninanspruchnahme (5), berücksichtigt auch den Versiegelungsgrad oder getroffene Flächenausgleichsmaßnahmen (DGNB, 2023f). Wurden etwa Flächen von Kontaminationen mit Schadstoffen befreit, um sie wieder nutzen zu können, gibt es in dieser Kategorie einen Bonus in der Nachhaltigkeitsbewertung („Flächenrecycling“). Die Flächenverbräuche durch die Verwendung agrarischer oder forstwirtschaftlicher Biomasse oder die für deren Anbau nötigen Landnutzungsänderungen sind in diesem Teilindikator aber nicht berücksichtigt. Die Biodiversität am Bauplatz (6) ist die sechste Bewertungskategorie. Darunter versteht die DGNB die „Erhaltung biologischer Vielfalt im lokalen Kontext … Impulse … zum Aufbau, zum Erhalt oder zur Erweiterung der biologischen Vielfalt direkt an Gebäuden und deren anliegenden Außenflächen“. Hierzu werden Werte gleich zu sieben Teilindikatoren erhoben. Sie heißen: Biotopflächenqualität, Vielfalt der Tierarten im Außenbereich (des Gebäudes), Vielfalt der Tierarten direkt am Gebäude, invasive Pflanzenarten, Biotopvernetzung, Entwicklungs- und Unterhaltungspflege sowie Biodiversitätsstrategie (DGNB, 2023g). Salopp gesagt bedeutet das auch, dass kleine und womöglich „kosmetische“ Maßnahmen wie die Errichtung eines Froschtümpels oder von Nistkästen in der Gesamtbewertung ökologische Schadwirkungen wie Flächenverbrauch oder Emissionen positiv aufwiegen können – wenn Erstere auch nur mit sehr geringen Punktewerten einfließen. In Details wie diesen lassen sich Einfalltore für das Greenwashing sehen.
7.4.1.3 Ökonomische und sonstige Qualitäten Die detaillierte Übersicht über die ökologische Teilbewertung soll einen Eindruck über die Komplexität der N-Zertifizierung vermitteln. Für die übrigen Kategorien sind hier nur exemplarisch die Haupt-Unterkategorien genannt: • ökonomische Qualität: Lebenszykluskosten, Wertentwicklung, • soziokulturelle und funktionale Qualität: Funktionalität, Nutzerzufriedenheit, Gesundheit, • technische Qualität: Qualität der technischen Ausführung, • Prozessqualität: Planungsqualität, Qualität der Bauausführung, • Standortqualität.
7.4 Zertifikate für den nachhaltigen Bau
237
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das DGNB-Zertifikat etabliert ist, die Kriterienkataloge transparent, der Zertifizierungsprozess aufwendig und kostspielig. Es hat entscheidend beigetragen, die Nachhaltigkeitsorientierung im Bauwesen in der Praxis zu institutionalisieren. Das DGNB-Zertifikat ist nicht staatlich, sondern vereinsrechtlich organisiert. Im Zertifizierungsbeirat der DGNB waren Anfang 2023 weniger unabhängige Wissenschaftler, sondern eher Praxisexperten aus der Bau- und Bauproduktewirtschaft vertreten, sodass die Umsetzbarkeit aus Sicht der Praxis künftig ein zentrales Anliegen bleiben dürfte (DGNB, 2023h).
7.4.2 BNB-/QNG-Zertifizierung Das seit 2009 entwickelte und angewandte Bewertungssystem Nachhaltiges Bauen (BNB) und das daraus basierte Qualitätssiegel Nachhaltiges Gebäude (QNG) sind diestaatlichen Nachhaltigkeitszertifzierungsinstrumente für das Bauwesen in Deutschland. Die Kriterien für das QNG unterscheiden sich nur in Nuancen von denen der DGNB, denn sie basieren auf diesen. Das QNG-Zertifikat ist vor allem für Nicht-Wohngebäude gemacht und wird für staatliche Bauprojekte genutzt. Die DGNB wirkte mit in der Erstellung der Kriterienliste, aber federführend ist hier das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, das sich wissenschaftlich durch die ihm zugeordnete Bundesbehörde Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) beraten ließ. Derartige Koexistenz zweier methodisch und funktional einander so ähnlicher Bewertungssysteme scheint geradezu als Paradebeispiel für bürokratische Doppelstrukturen. In Nuancen unterschiedlich vom DGNB-Zertifikat setzte sich die Gesamtbewertung in 2023 hier wie folgt zusammen: • • • • •
ökologische Qualität (22,5 %), ökonomische Qualität (22,5 %), soziokulturelle und funktionale Qualität (22,5 %), technische Qualität (22,5 %), Prozessqualität (10 %).
Auch liegen die Grenzen für die einzelnen Auszeichnungsgrade etwas unterschiedlich, im BNB-Verfahren gibt es etwa erst ab einem Gesamtwert von 50 % der Punkte das Zertifikat in der Kategorie „Bronze“. Es hat seine Kriterienkataloge für weniger viele spezifische Nutzungsarten formuliert als die DGNB und bietet Varianten für Bürogebäude, Unterrichtsgebäude, Laborgebäude und Außenanlagen an – also für diejenigen Gebäudeklassen, in denen staatliche Stellen als Bauherrin auftreten. Sie sind eine Zielgruppe des BNB-Siegels.
238 Tab. 7.3 Die Beiträge der Teilbereiche „Soziokulturelles“ und „Prozessqualität“ zur Gesamtwertung für das QNG-Zertifikat. (BMI (2019), Leitfaden Nachhaltiges Bauen, S. 48)
7 Nachhaltigkeit und Lebenszyklusbetrachtung im Bauwesen Soziokulturelle und funktionale Qualität Aufenthaltsqualitäten
0,978 %
Gestalterische und städtebauliche Qualität
2,935 %
Kunst am Bau
0,978 %
Prozessqualität Integrale Planung
1,429 %
Ausschreibung und Vergabe
0,952 %
Qualitätssicherung der Bauausführung
1,429 %
Ferner gibt es Varianten für den Neubau, den Gebäudebetrieb und die vollständige Modernisierung eines Gebäudes. Sie basieren laut der BNB-Seite auf dem (sehr ausführlichen und instruktiven) „Leitfaden Nachhaltiges Bauen“ des Bundesministeriums des Inneren (BMI, 2019), das bis zum Jahr 2021 für die Bundesbaupolitik zuständig gewesen war. Das seither federführende Bauministerium oder die BBSR zertifizieren Bauprojekte zwar nicht selbst. Jedoch gibt es eine Reihe von autorisierten Zertifizierungsstellen. Dazu zählen die Berliner Steinbeis-Hochschule, die Bundesarchitekten- oder Bundesingenieurkammer oder die Zertifizierung Bau GmbH in Berlin (BNB, 2023). Ähnlich wie für das DGNB-Zertifikat ist auch im BNB-Rahmen soziokulturelle oder funktionale Prozessqualität Teil der Prüfung. Um hier auch diesen Teilbereich zu konkretisieren, sind beispielhaft einige Kriterien genannt – und die Anteile, die jeweils zum Gesamt-Score beitragen. Die Tab. 7.3 ist so zu lesen, dass etwa das Vorhandensein ansprechender Kunst am Bau die gesamte Nachhaltigkeitsqualität des Bauwerks um 0,978 % erhöht. Sind sämtliche soziokulturellen Ansprüche erfüllt, wären damit knapp 5 % der insgesamt erreichbaren 100 % des Nachhaltigkeits-Gesamt-Scores erreicht. Das Siegel QNG basiert auf den BNB-Kriterien. Es ist das staatliche Siegel für nachhaltigen Bau. Es gibt hier Differenzierungen nach „QNG-PLUS“ oder „QNGPREMIUM“; nützlich für Praktiker ist etwa der vom Bundesbauministerium vorgehaltene Bauproduktekatalog zur Schadstoffvermeidung (QNG, 2022). Der Bund förderte im Rahmen der Bundesförderung für effiziente Gebäude (BEG, s. o.) ab 2021 sogenannte NH-Gebäude aufgrund der Vergabe auch der QNG-Siegel. Eine List der Anforderungen steht auf den Seiten des QNG zur Verfügung (QNG, 2023). Ein interessanter Aspekt betrifft die Raumluftqualität, die durch die zunehmend „dichte“ Isolierung von Neubauten zum Problemfeld avanciert ist. Das Thema der Raumluftqualität rückt unter Gesundheitsaspekten zunehmend in den Fokus (Informationsdienst Holz, 2023). Das betrifft auch den Einsatz der zunehmend geforderten Holzbaustoffe. Hieraus diffundieren Kleb- oder Dichtstoffe oder Lösungsmittel. Hier gibt es im Möbelbereich mittler-
7.4 Zertifikate für den nachhaltigen Bau
239
weile größere Belastungen als im Baustoffbereich, aber die geringe Luftzirkulation in Neubauten entwickelt sich zum Problem (Weinisch, 2023).
7.4.3 NaWoh Auf Initiative des damaligen Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) gründete sich schon im Jahr 2009 der „Verein zur Förderung der Nachhaltigkeit im Wohnungsbau“, der bis heute auch das Nachhaltigkeitszertifikat „NaWoh“ vergibt. Die „Zielsetzung des Vereins ist die Verankerung des Gedankens der Nachhaltigkeit beim Wohnungsbau und das Angebot eines Qualitätssiegels auf der Grundlage des entwickelten Systems, die nicht auf Gewinnerzielung angelegt ist. Damit sollen die Grundsätze der Nachhaltigkeit in der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft befördert werden“ (Nawoh, 2022a).
Die ökologische Betrachtung basiert größtenteils auf der Ökobilanzierung und ist insgesamt deutlich weniger umfangreich als diejenige der DGNB. Auch im Zuge der staatlichen Pläne für den Neubau Hunderttausender neuer Wohnungen spielt das NaWoh-Siegel eine Rolle (Nawoh, 2022b). Es richtet sich wesentlich an Wohnungsbaugesellschaften. Mitglieder des Trägervereins sind hauptsächlich Verbände des Wohnungsbaus und verwandter Interessengruppen, Dachverbände und weniger – wie in der DGNB – der unternehmerischen Bauprivatwirtschaft in ihrer großen Breite. Zu den NaWoh-Mitgliedern zählen etwa der • • • • • •
Deutsche Mieterbund, die Deutsche Gesellschaft für Mauerwerks- und Wohnungsbau, der Evangelische Immobilienverband Deutschland, der Wohnungseigentümerverband Haus & Grund Deutschland, der Verband Privater Bauherren, und auch die Bundesarchitektenkammer.
Interessierte Organisationen des Wohnungsbaus können sich die Kriterien auf der Vereinsseite ansehen (www.nawoh.de). Dort ist auch zu erahnen, dass die Gesamtzahl der Zertifizierungen stark unter derjenigen von Zertifizierern wie der DGNB liegen dürfte: Für 2022 waren vier Projekte aufgeführt, für 2021 sieben (Nawoh, 2022c).
240
7 Nachhaltigkeit und Lebenszyklusbetrachtung im Bauwesen
7.4.4 Bewertungssystem Nachhaltiger Kleinwohnhausbau (BNK) Eigens für Kleinwohnhausbauten und Fertighäuser bietet das Darmstädter privatwirtschaftliche Institut BiRN (Bau-Institut für Ressourceneffizientes und Nachhaltiges Bauen GmbH), ausgegründet aus einem Forschungsprojekt der Hochschule München, ein weiteres Nachhaltigkeitszertifikat an: das Bewertungssystem Nachhaltiger Kleinwohnhausbau (BNK; BIRN, o. D.).
7.4.5 LEED und BREEAM Auch internationale Zertifizierer sind am deutschen Markt vertreten, so wie die DGNB im Ausland. „Leadership in Energy and Environmental Design“ (LEED) ist das amerikanische Pendant zur deutschen DGNB-Zertifizierung, BREEAM das britische. Beide sind weit weniger umfangreich als ihre deutsche Schwester; Letztere erfasst vor allem ökologisch-soziale Aspekte vielseitiger. Auch haben sie eine längere Geschichte. LEED, das vom schon 1993 gegründeten amerikanischen Green Building Council entwickelt wurde und bereits 2000 erstmals ein Zertifikat für den Neubau vergab, ist schon viele Jahre auch am deutschen Zertifizierungsmarkt präsent (USGBC, 2022). Es wird von Partnerunternehmen aus der Bauwirtschaft und Industrie getragen, darunter zahlreichen Großkonzernen aus vielen Branchen. Anders als die anderen deutschen Siegel zertifiziert LEED auch ganze Städte oder Gemeinden. An der Ähnlichkeit der Kriterien und des Konzeptes lässt sich erahnen, dass dieses amerikanische Vorbild auch die Arbeiten der deutschen DGNB inspiriert hat (GGBA, 2023). Die britische Building Research Establishment Environmental Assessment Method (BREEAM) blickt auf eine noch etwas längere Tradition zurück und bezeichnet sich als den Weltmarktführer für Gebäudenachhaltigkeitszertifizierungen (BRE, 2023).
7.5 Nachhaltiges Bauen und die SDGs Die zunehmende Etablierung der N-Zertifizierungen im Bau in den Jahren – vor allem in größeren Bauprojekten – insbesondere seit 2015 liegt in den völkerrechtlich bindenden SDGs begründet. Friedrichsen (2018, S. 16 f.) hat Ziele des nachhaltigen Bauens auf die SGD und deren Berücksichtigung in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie bezogen. Sie nennt – hier in Tab. 7.4 komprimiert dargestellt – folgende relevante staatlichen Ziele und Maßnahmen (Bilder: BMZ, Kürzungen und Ergänzungen: JG).
7.4 Zertifikate für den nachhaltigen Bau
241
Tab. 7.4 Die SDG-Ziele und konkrete Umsetzungsbereiche in Deutschland. (Grafiken BMZ) 811DFKKDOWLJNHLWV]LHO 6'*
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242
7 Nachhaltigkeit und Lebenszyklusbetrachtung im Bauwesen
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7.6 Kritische Würdigung der Nachhaltigkeitsansätze für das Bauwesen
243
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https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/08/PD22_N054_61.html
7.6 Kritische Würdigung der Nachhaltigkeitsansätze für das Bauwesen Nachhaltigkeit als Wert aus der agrarischen Zeit verpflichtet der ursprünglichen Wortverwendung gemäß auf einen sorgsamen Umgang mit nachwachsenden Rohstoffen. Konzepte des ökologischen Fußabdruckes (vgl. Abschn. 6.4.3) knüpfen daran mehr oder weniger an. Die „Tragfähigkeit“ der Erde (Carrying Capacity) wird – seit den frühen Jahren des modernen Naturschutzdenkens Anfang des 20. Jahrhunderts – als wirtschaftliches Handeln beschränkende Grenze gedacht. Dieser Ansatz ließ sich immer weiter durch eine Ausbeutung von Rohstoffreserven, aber auch agronomische und pflanzenzüchterische Erfolge, zumindest zeitweise, entkräften. Auch eine sorgsame Kreislaufführung der extrahierten Rohstoffe trägt dazu bei, dass die Begrenzungen des Nachwachsenden gelockert bleiben. Das Konzept der Nachhaltigkeit wurde in einer ab den frühen 1990er-Jahren intensivierten, nun auch politischen wie globalen Debatte über die Konsequenzen weit gedehnt und geweitet. Die Metapher der nachhaltigen Entwicklung schließt Ökonomie und So-
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ziales ein, was das Konzept vom ursprünglichen Bedeutungsgehalt entrückt. Allerdings scheint diese „Verwässerung“ den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft, enorm gewachsenen Weltbevölkerung und technologisch fortschrittsgetriebenen Industriegesellschaft auch angemessen. In Nachhaltigkeitsziele übersetzte, mathematisch fassbare Ziele (SGD), die einander teilweise auch widersprüchlich sind, und diverse Zertifizierungsmöglichkeiten machen Nachhaltigkeit bilanzierbar und letztlich binär codierbar. Erst durch ein Zertifikat wird es möglich, die Aussage zu treffen, ein Bauwerk oder Baustoff sei nachhaltig oder nicht. Akademisch ausgebildete und hoch spezialisierte „Nachhaltigkeitsmathematiker“ begleiten Konzerne und Unternehmen auch im Bauwesen und zertifizieren deren Produkte und Produktionsstandorte. Diese Entwicklung hat Licht- und Schattenseiten. Die Tragik liegt darin, dass die Nachhaltigkeit den Bedeutungszusammenhängen des Lebendigen, der Sorgfalt und des Mitgefühls mit der Umwelt entrissen wird. Facettenreichtum, Vielschichtigkeit, ökologisches Gefühl des sorgsamen Umgangs mit den Naturschätzen – all die mit diesen Begriffen umschriebenen Aspekte der Konkretionen der Mensch-Natur-Beziehung „verkümmern“ angesichts der Reduktion der Natur zu einer bloßen Ressource. Die Mathematisierung der Nachhaltigkeit, etwa durch Bilanzierungsansätze, macht diese instrumentell fassbar, prüfbar, belegbar. Die binäre Struktur oder auch stufenweise, graduelle Hierarchisierbarkeit der Zertifikate (Platin – Gold – Silber …) schafft zwar einerseits Vergleichbarkeit und Kommunizierbarkeit. (Und solche Art von binären Codes entspricht durchaus auch den Gewohnheiten der Rezipienten, wie den Nachrichtenwerten digitaler Massenmedien.) Debatten um Nachhaltigkeit verkümmern unter diesen Bedingungen jedoch andererseits zu Scheinkonflikten, in denen sich die Diskutierenden für Positionen zu entscheiden haben, etwa zwischen den ideologischen Grenzfällen der „Suffizienz (zurück in die Grenzen der Natur)“ versus „grünes Wachstum (ökobilanziell begleitet)“. Verlustig gehen dabei die Nachhaltigkeitswerte des Einfachen, des Lebensnahen, Praktischen, Atmosphärischen oder, wenn man so will, Poetischen. Aber auch diese Kritikpunkte sollten nicht radikalisiert werden und damit keinesfalls grundsätzlich gegen die bedeutende Entwicklung der Professionalisierung und Institutionalisierung von Nachhaltigkeit gewendet werden.
7.7 Ökobilanzierung im Bauwesen Die Ökobilanzierung ist die wichtigste Methode zur Bezifferung von Umweltschäden durch wirtschaftliches Handeln. Sie hat zahlreiche Anwendungsfelder und ist etwa auch die methodische Grundlage für die Berechnung der Angaben von umweltbezogenen Datenblättern (Environmental Product Declaration, EPD) für Bauprodukte. Aber auch Nachhaltigkeitszertifizierungen für Bauwerke basieren, wie ausgeführt, wesentlich auf dem Ansatz der Ökobilanzierung. Wissenschaftliche Studien auf Basis der Ökobilanzierung erhellen nicht nur Nachhaltigkeitsdefizite des Bauwesens. Aus ihnen gehen auch Verbesserungspotenziale
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der Klimabilanzen und bezüglich zahlreicher anderer Umweltzielgrößen – wie des Eutrophierungspotenzials, des Versauerungspotenzials oder des Sommersmogs – hervor. Deshalb ist die Ökobilanzierung ein wichtiges Instrument der Politikberatung, aber auch der Kommunikation im Bauwesen. Auch können durch Ökobilanzstudien die Potenziale der technischen Entwicklung zum Erreichen der internationalen Klimaziele deutlich werden. Ab etwa den 1980er-Jahren als Berechnungsmethode für die umweltbezogene Schadensmodellierung etwa von Kraftwerk- oder Fabrikbauten entwickelt, gibt es mittlerweile weit ausdifferenzierte Regeln auch für die gebäudebezogene Ökobilanzierung. Zu Zwecken der Zertifizierung speziell für Bauwerke liegen vereinfachte Rechenregeln etwa der DGNB vor. Verwandt mit der Ökobilanzierung (englisch: Life Cycle Assessment, LCA) ist der Ansatz der Lebenszykluskostenrechnung. Anders als die Ökobilanz erfasst sie auch die wirtschaftliche Seite einer Investition, jedoch mittel- bis langfristig. Die Ökobilanz fokussiert auf sogenannte Elementarflüsse. So sind die Rohstoffe bezeichnet, die aus der Umwelt entnommen werden, als Input im Bauprozess eingesetzt werden und schließlich in schädlicher Form wieder in die Umwelt gelangen können. Sie ist in erster Linie auf der Mikroebene anzusiedeln – etwa also von Produkten, Bauteilen, Bauwerken. Die Ökobilanz eines Gebäudes etwa beziffert dabei nicht die tatsächlich gemessenen Emissionen, sondern basiert auf zahlreichen Modellannahmen etwa zur Allokation der Emissionen vorgelagerter Wertschöpfungsprozesse, aber ebenfalls bezüglich zukünftiger betriebs- oder entsorgungsbedingter Emissionen. Die Ökobilanzierung ist eine ISO-, EN- und DIN-normierte Methode. Einführende Lehrbücher aus der Ökobilanzwissenschaft sind umfangreich und methodisch anspruchsvoll – sie eignen sich, um ein umfassendes Verständnis des Ansatzes auch jenseits der baubezogenen Anwendungen zu erwerben (Frischknecht, 2020). Einfache und klar strukturierte Übersichten über das konkrete Vorgehen bei der Erstellung einer LCA für die Baupraxis bieten etwa ein Aufsatz auf der Datenbankseite Wecobis4 oder – in kurzer Form – das Institut für Bauen und Umwelt.5
7.7.1 Ebenen der Umweltbilanzierung Ökobilanzen für das Bauwesen lassen sich für verschiedene Betrachtungsebenen berechnen, so etwa für • Bauprodukte (Dämmstoffe, Ziegel, Holzwerkstoffe …), • Bauteile (etwa ein Türsystem), 4 https://www.wecobis.de/service/sonderthemen-info/oekobilanz-zwischen-den-zeilen-inhalt-einleitung-info/gesamttext-zwischen-den-zeilen-von-oekobilanzen-info.html. 5 https://ibu-epd.com/oekobilanzierung/.
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• • • •
Gebäudeteile (etwa eine Decke aus Brettschichtholz und Beton), ganze Bauprozesse, das gesamte Gebäude, Szenarien technologischer Entwicklungen, etwa im Bauprozess oder der Baustoffherstellung, • globale Umweltfolgenabschätzung durch baupolitische Maßnahmen wie CO2-Bepreisungen der Zementproduktion („konsequenzenorientierte Ökobilanz“).
7.7.2 Normen Die Regeln der Ökobilanzierung sind in den Normen • DIN EN 14040 (Grundsätze und Rahmenbedingungen) und • DIN EN 14044 (konkrete Anforderungen und Anleitungen) beschrieben. Die Norm für die Erstellung von Umwelt-Produktdeklarationen (EPD) einzelner Bauprodukte ist die • DIN EN 15804 (Nachhaltigkeit von Bauwerken – Umweltproduktdeklarationen – Grundregeln für die Produktkategorie Bauprodukte) in Verbindung mit • DIN EN 14025 (Grundsätze und Verfahren für die Erstellung von Typ-III-Umweltdeklarationen). Da diese in der Regel veröffentlicht werden, gelten besondere Qualitätsanforderungen. • Geht es aber um die Ökobilanzierung ganzer Gebäude, ist DIN EN 15978 einschlägig (Nachhaltigkeit von Bauwerken – Bewertung der umweltbezogenen Qualität von Gebäuden – Berechnungsmethode) Hier sind neben Ökobilanzierungsmethoden auch andere Nachhaltigkeitsbewertungsverfahren beschrieben. Anforderungen für die Berichterstattung des Carbon Footprints eines (Bau-)Produktes sind in • DIN EN 14067 festgelegt.
7.7.3 Vier Phasen Die Ökobilanzierung ist stets gemäß einer Aufteilung in folgende vier Abschnitte gegliedert: • Festlegung des Ziels und des Untersuchungsrahmens, • Sachbilanz,
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• Wirkungsabschätzung, • Auswertung. Im ersten Abschnitt ist die Festlegung des betrachteten Systems, der relevanten Umweltschäden und der sogenannten funktionellen Einheit – dem Nutzenwert, den ein Produkt(system) bringt – zentral. Der zweite Hauptschritt der Ökobilanz ist die Sachbilanz, bei der im Fall der Gebäude-LCA im Wesentlichen (auf Basis der EPD-Datenblätter, s. o.) die Materialmengen erfasst werden und dazu die rechnerisch zuzuordnenden Emissionen der vorher definierten Schadenskategorien. Davon gibt es zahlreiche: Nicht nur die Treibhausgase, sondern auch Feinstaubemissionen, Gewässereutrophierungspotenziale, Ozonabbaupotenzial und viele andere sind mögliche Emissionen. Die Wirkungsabschätzung schließlich setzt die Emissionsmengen ins Verhältnis zu ihrer Auswirkung auf die Umwelt oder Ökosysteme. So lässt sich etwa die absolute oder relative Menge von Treibhausgasen, die durch ein Bauprojekt emittiert wird, beziffern und mit dem Ausmaß der Erderwärmung und deren Schadwirkungen in Bezug setzen. Wenn Beiträge zu „großen globalen Umweltproblemen“ beziffert werden sollen, aber deren Schadwirkung insgesamt marginal ist, und stattdessen Emissionswerte in Bezug zueinander gesetzt werden – etwa zum Vergleich zweiter Bautypalternativen –, so spricht man auch von „Mid-Point-Indikatoren“. In der Interpretation als Teil der Auswertung werden vor allem die Modellannahmen auf ihren empirischen Realitätsbezug bezogen. Die Schlussfolgerung gleicht schließlich die Ergebnisse mit Erwartungen, Studienlage und Stakeholderinteressen ab und formuliert gegebenenfalls Empfehlungen.
7.7.4 Wahl der funktionellen Einheit In der Ökobilanzierung sind die ermittelten Umweltschäden stets auf Nutzeneinheiten zu beziehen. Im Falle von Wohnungen oder Häusern wären das etwa die Einheit „Wohnund Nutzfläche“ oder „Wohnfläche pro Kopf“. Die Wahl dieser funktionellen Einheit beeinflusst das Ergebnis maßgeblich. Im Fall von Dämmstoffen können es die Dämmwerte je Kubikmeter Material sein oder die Dichte; oft wird die Masse (etwa in Kilogramm) Isoliermaterial, die zur Erzielung eines Wärmewiderstands R (alternativ: dessen Kehrwert, des Wärmeübergangskoeffizienten U) nötig ist, für eine festgelegte Fläche verwendet, die meistens mit einem Quadratmeter beziffert ist. Die Wahl der funktionellen Einheit variiert oft von Studie von Studie und mindert die Vergleichbarkeit (Füchsl et al., 2022). Auch ist die kalkulierte Nutzungsdauer zugrunde zu legen. Indem Nutzen und Schaden aufeinander bezogen werden, bewirkt die Ökobilanzierung eine Art „Brückenschlag“ von rein ökologischer Schadensbetrachtung (nach der normativen Lesart „achtet die absoluten Grenzen der Natur“) einerseits und einer sozialökonomischen Nachhaltigkeitsbetrachtung andererseits. Anders ausgedrückt ordnet der Ansatz der Ökobilanzierung starke Vorstellungen von Nachhaltigkeit in einen umfassenderen Rahmen der Nachhaltigkeit ein, indem dem Nutzen des Konsums, der Produktion (oder des Bauens) der Platz im „Nenner“ zukommt.
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Die funktionelle Einheit ist per Definition ein „quantifizierter Nutzen eines Produktsystems für die Verwendung als Vergleichseinheit in einer Ökobilanz‐Studie“ (ISO 14040). Weitere Beispiele für eine funktionelle Einheit sind folgende: Im Falle von TShirts könnte die funktionelle Einheit die Anzahl der Tage sein, an denen es getragen wird, im Fall von Kerzen wären es etwa die Brennstunden, im Fall eines Rasenmähers die gesamten Nutzungsstunden bis zum irreparablen Defekt. Die Beispiele zeigen, dass – übertragen auf die Gebäude – die Wohnfläche (pro Kopf) auch nicht die einzige Option ist, um wirklich den Nutzen zu fassen. Wohnflächennutzungsjahre kämen infrage – aber ja womöglich auch Raumluftgüte, Lichteinfall, andere gesundheitsbezogene architektonische Qualitäten. Qualitäten als „Funktion“ sind meines Wissens in der Literatur kaum diskutiert, jedoch ist diese umfangreich. Bezüglich der Wahl der funktionalen Einheit lässt die Norm der Wissenschaft Freiraum für Festlegungen. Die Auswahl der funktionellen Einheit kann dabei erhebliche Auswirkungen auf das Ergebnis einer Ökobilanz haben, wie etwa die angenommene Belegung einer Wohnung oder deren Lebensdauer (Souza, 2021). Dies illustriert auch folgendes zweites Beispiel aus dem Bereich der Dämmstoffe. Dass hier reine Vergleiche von Umweltschäden durch die Dämmstoffherstellung bestimmter Massen wenig sinnvoll sind, zeigt das Beispiel der EPS-Platten (Grafik 7.2). Schneiden sie im Vergleich des Global-Warming-Potenzials nach „Treibhausgasemissionen nach Masse“ deutlich schlechter ab als Mineralwolle oder Holzfaserdämmplatten, so nivelliert sich der Unterschied nahezu vollständig, wenn die „Dämmwirkung“ als funktionelle Einheit hinzugezogen wird.
Grafik 7.2 Die Wahl der funktionalen Einheit beeinflusst das Ergebnis der Ökobilanz entscheidend
7.7 Ökobilanzierung im Bauwesen
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7.7.5 Bilanzrahmen Die Ökobilanz basiert auf einem Lebenswegansatz, wobei die Umweltauswirkungen eines Bauwerks von der Gewinnung der Rohstoffe über die Herstellung, die Nutzung bis hin zur Entsorgung des Produkts erfasst und beurteilt werden können (Frischknecht, 2020). Die sogenannten Systemgrenzen – welche Lebenszyklusphasen des Gebäudes werden in der Berechnung konkret berücksichtigt – können allerdings sehr unterschiedlich definiert werden, etwa „von der Wiege bis zur Bahre“ (Cradle to Grave), also dem Abriss und der Entsorgung des Gebäudes, oder bis zum Werktor, also sozusagen der „Schlüsselübergabe“ (Cradle to Gate). Im Schema der Ökobilanz (Grafik 7.3) bezeichnen die Phasen Folgendes: • Phase A: Herstellung der Bauteile mitsamt Ressourcengewinnung, Transporten und die Errichtung des Gebäudes; • Phase B: Nutzungsphase (in der Regel über Jahrzehnte) mit Instandhaltungsarbeiten, dem Austausch defekter Gebäude(technik)teile oder dem Wasser- und Energieverbrauch; • Phase C: Umweltauswirkungen der „Entsorgung“, also des Abrisses oder Rückbaus, der Abfalldeponierung oder des Recyclings. Betrachtet werden in jeder Ökobilanz dabei mindestens die Prozessphasen A1–A3 (oder bis A5), maximal aber bis C4. Die Vorteile (und Belastungen) außerhalb der sogenannten Systemgrenzen wie eine Wiederverwendung von Bauteilen dürfen dabei nur separat ausgewiesen werden, müssen es aber nicht (Phase D). Ein Beispiel für Widerverwendung wäre, dass ein Abrissmaterial in einem späteren Bauprojekt wieder Verwendung finden kann, zum Beispiel Betonbruch als Gründungsschotter im Straßenbau. Dieser Vorteil für das zeitlich nachgelagerte „Produktionssystem Straßenbau“ ließe sich laut DIN-Norm also nicht im Rahmen der Ökobilanz des Gebäudes positiv anrechnen, aber entsprechende Werte dürften „am Rande“, also jenseits der Kernberechnung, ausgewiesen und diskutiert werden.
Grafik 7.3 Lebenszyklusphasen in der Ökobilanzierung
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7.7.6 Vereinfachte Gebäudeökobilanzierung laut DGNB Die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) erlaubt (sich) im Rahmen der Zertifizierung die Anwendung eines vereinfachten Berechnungsverfahrens für Gebäude. Dabei müssen „mindestens 90% der Massen sowie alle maßgeblichen Schichten eines Bauelements erfasst sein“
und es werden im Wortlaut der DGNB-Erläuterungen6 folgende Bauabschnitte in den Lebenszyklusphasen A1–A3 berücksichtigt: • Außenwände (inklusive Türen und Fenster) und Kellerwände, • Dach, • Geschossdecken (inklusive Fußbodenaufbau und -beläge und Beschichtungen), • Bodenplatte (inklusive Fußbodenaufbau und -beläge und Beschichtungen sowie Geschossdecken über Luft), • Fundamente, • Innenwände und Türen (inklusive Beschichtungen sowie Innenstützen), • Wärme- und Kälteerzeugungsanlagen sowie lufttechnische Anlagen, • sonstige gebäudetechnische Anlagen (z. B. Photovoltaik oder der Einsatz von solaren Kollektoren), • in Einzelfällen: Nutzerausstattung mit nennenswertem Energieverbrauch in der Nutzungsphase (sofern geeignete Ökobilanzdaten dafür vorliegen, bspw. Kühltheken und Kühlräume). Nicht berücksichtigt werden bei der Massenermittlung – einem Hauptschritt der Sachbilanzierung – hingegen Folgende: Transportaufwände, die Aufwände, die nur für den Baustellenbetrieb anfallen, Bodenaushub und andere Vorbereitungen, Verschnitt beim Einbau. Insbesondere das Weglassen des sehr energie- und kostenaufwendigen Bodenaushubs und die zugehörig aufwendigen Entsorgungen des Bodens sind kritische Punkte. Im vereinfachten Verfahren der DGNB ist die Nutzeneinheit der „Quadratmeter Nettogeschossfläche mal Nutzungsjahre“. Hierfür werden für Wohngebäude in der Regel 50 Jahre angesetzt. Auch diese Pauschalannahme ist diskussionswürdig. Ist es für die Beurteilung der Nachhaltigkeit eines individuellen Wohngebäudes wirklich sinnvoll, mit einem normenbezogenen Mittelwert zu rechnen? Der Energieverbrauch wird im vereinfachten Verfahren rechnerisch ermittelt. Die Lebenszyklusphasen A4–A5 werden aus-
6 https://static.dgnb.de/fileadmin/dgnb-system/de/gebaeude/neubau/kriterien/02_ENV1.1_Oeko-
bilanz-des-Gebaeudes.pdf.
7.7 Ökobilanzierung im Bauwesen
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gespart. Die Lebensdauern einzelner Bauteile können zum Beispiel dem Leitfaden Nachhaltiges Bauen des Bundesinnenministeriums entnommen werden (BMI, 2019).
7.7.7 Biogener und fossiler Kohlenstoff in der Ökobilanz Die DIN-Norm für den Ausweis der Gehalte biogenen Kohlenstoffes in Holzprodukten EN 16449 vereinheitlicht „Berechnungsverfahren zur quantitativen Bestimmung der Menge an atmosphärischem Kohlenstoffdioxid auf Grundlage des biogenen Kohlenstoffgehalts im Holz“ (Beuth, 2019). Biomasse wie Bäume entnehmen der Atmosphäre während des Wachstums Kohlenstoff. Dieser ist im Bauprodukt oder Gebäude während der Lebensdauer gebunden. Er wird nach deren Ende jedoch durch Verbrennung oder Kompostierung wieder zu Kohlenstoffdioxid freigesetzt oder der Holzwerkstoff wird stofflich wiederverwertet. Diesbezüglich gibt es zwei methodische Fragen, die in der Literatur diskutiert werden und in der Praxis sehr starken Einfluss auf die Ökobilanzergebnisse haben. Erstens ist dies die Frage, ob statische oder dynamische Verfahren angewandt werden; die dynamischen berücksichtigen Zeiteffekte der Kohlenstoffentnahme aus der Atmosphäre auf die Wirkungskategorie Klimaveränderungen (etwa der Wirkungsindikator GWP100). Zweitens ist die Frage nach Gutschriften für die Bilanzierung relevant für Wiederverwertungen nach dem Ende des Gebäude- oder Produktlebenszyklus. Diese (Phase D) dürfen, wie gesagt, ohnehin nur separat ausgewiesen werden. Aber wie hoch ist diese Gutschrift? Das hängt entscheidend an dem in der Ökobilanz angenommenen Zweck der Wiederverwertung. Wird das Holz verbrannt, um Strom zu erzeugen? Oder wird es als Grundstoff für die Herstellung von Spanplatten verwendet? Paradoxerweise schnitte der Holzwerkstoff in zweiterem Fall deutlich schlechter ab. Denn es wird davon ausgegangen, dass ein verbranntes Holz zur Stromerzeugung dazu führt, dass weniger Strom benötigt wird, der auf Grundlage des durchschnittlichen (oder prognostizierten) Strommix eines Jahres X produziert würde. Je höher der Anteil von Kohle, Erdöl oder Erdgas am Strommix, desto höher also die Gutschrift für das verbrannte Holz. Im Ergebnis kann diese Modellannahme das Ökobilanzergebnis für Brettschichtholz zum Beispiel um fast doppelt so gut oder schlecht ausfallen lassen (Heckmann & Glock, 2023). Wegen der offenkundig unbefriedigenden Sachlage erwarten Fachleute Änderungen der Ökobilanzvorgaben für den Fall des biogenen Kohlenstoffs. Dass bislang meist die energetische Verwendung für die nachwachsenden Rohstoffe gutgeschrieben wird, liegt auf der Hand, ist aber der Sache nach unbefriedigend. Ohnehin wird mit zunehmender Umstellung des Strommix auf erneuerbare Energien die rechnerische Gutschrift für die energetische Wiederverwertung immer mehr zurückgehen. Auch prognostizierte Strommixe lassen sich in dynamischen Ökobilanzierungen einrechnen. Aus Sicht des Anliegens der langlebigen Kohlenstoffspeicherung und des ressourcenschonenden Bauens müsste die stoffliche Verwertung deutlich attraktiver bilanzierbar sein (Leinonen, 2022).
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7 Nachhaltigkeit und Lebenszyklusbetrachtung im Bauwesen
Landnutzungsänderung
Der Land Use Change ist ein für die Ökobilanzierung biogener Baustoffe wichtiger Begriff. Die Frage in dieser Betrachtung ist, wie sich eine vermehrte Nachfrage nach Baustoffen auf die Nutzung von Landflächen auswirkt. Es wird dabei unterschieden in direkte und indirekte Landnutzungsänderungen. Die (a) direkte Landnutzungsänderung bedeutet, dass das Land einer anderen Nutzung zugeführt wird – beispielsweise, dass Grünland umgebrochen wird, um dort benötigtes Baustroh anzubauen. Die (b) indirekte Landnutzungsänderung entsteht durch marktbasierte Rückkopplungseffekte. Ein Beispiel wäre, wenn Bioenergiepflanzen auf bisherigen Futteranbauflächen angebaut werden und die Futtermittelproduktion dann auf Flächen ausweicht, die bisher bewaldet oder mit Grünland bewachsen waren.
7.8 Umweltproduktdatenblätter (EPD) und Datenbanken Für Bauprodukte (Baustoffe, -komponenten) lassen sich mittels der Ökobilanzierung Umweltproduktdeklarationen (EPD®) oder auch sogenannte Typ-III-Umweltkennzeichnungen erstellen. Sie enthalten Angaben über deren funktionale wie technische Eigenschaften bezogen auf die Energie- und Stoffflüsse im Lebenszyklus. Das internationale EPD®-System initiiert schon seit gut 25 Jahren die Erstellung solcher Datenblätter. Die Berechnungen leisten die Hersteller von Bauprodukten (oder Baudienstleister) selbst. Die Veröffentlichung ist freiwillig. Sie wird im Zuge der geänderten Finanzmarkt- und Veröffentlichungspflichten (Taxonomie) von immer mehr Kunden gefordert. Zudem verlangen immer mehr europäische Länder für Bauwerke zumindest im Bereich öffentlicher Bauten Ökobilanzierungen als Teil des Angebotskatalogs. EPD haben angegebene Gültigkeitsdauern. Sie werden von wissenschaftlichen Instituten überprüft. Für viele Bauprodukte sind zahlreiche EPD auf dem Markt. Sie erleichtern die Ökobilanzierung auf Bauwerksebene erheblich. Die methodisch bisweilen äußerst anspruchsvollen Fragen etwa der Allokation von Umweltschäden im Fall von Mehrproduktesystemen sind bereits für die Berechnung der EPD-Datenblätter erfolgt. Ein Beispiel für die komplexen Fragestellungen, die sich bezüglich der Allokation stellen, gibt der unten stehende Kasten. Die größte deutsche Ökobilanzdatenbank Ökobaudat des Bundesbauministeriums versammelt mehrere Tausend Datensätze zu Baustoffen und ihren Ökobilanzen, sie beruhen häufig auf EPD.7 Auch Wecobis, das vom selben Ministerium in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Architektenkammer angeboten wird, ist eine hervorragend detaillierte und übersichtliche Datenbank für die Ökobilanzerstellung.8 Das EPD-Tool des In7 https://www.oekobaudat.de/. 8 https://www.wecobis.de/.
7.9 Lebenszykluskosten
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stituts für Bauen und Umwelt Berlin vereinfacht die Erstellung von EPD.9 Professionelle Software wie Baubook enthält Ökobilanzdaten von zahlreichen Bauteilen. Beispiel für das „Ökobilanz-Denken“: Wie sehr schont es das Klima, wenn wir keine Kuhmilch mehr trinken?
Die Antwort auf diese – und vergleichbare Fragen – ist aus Sicht der Ökobilanzierung differenzierter als es das „Bauchgefühl“ sagt. Ein Beispiel wäre die Frage, ob ein Rückgang der Milchproduktion in Europa einen positiven Klimabeitrag hätte und wie groß dieser wäre. Über Steuern, umweltpolitische Vorgaben oder agrarpolitische Förderprogramme lässt sich die Summe der Milchkühe politisch regulieren. Eine Ökobilanz am Beispiel Dänemarks lenkt den Blick darauf, dass das Sojafutter, das meistens aus Brasilien importiert wird (was zu Abholzungen führt, also direkten Landnutzungsänderungen), Teil eines Mehrproduktesystems ist (Dalgaard et al., 2008). Sojaöl ist ein Produkt, das Sojamehl als Rinderfutter ein anderes. Würde weniger Soja in Brasilien hergestellt, weil Dänemark weniger Milchkühe hielte, gäbe es hinsichtlich der Klimaauswirkungen des Konsums der Dänen vielschichtige Auswirkungen. Anstatt der Milch würde Milchersatz wie Hafer-, Soja- oder Kokosmilch nachgefragt werden, was auch Klimaeffekte hat. Zudem müsste Sojaöl durch Palmöl oder Rapsöl ersetzt werden, da die Nachfrage nach Speiseölen ja ceteris paribus nicht verändert wäre. Anders betrachtet: Der dänischen Milchnachfrage muss in der Klimabilanz „zugutegehalten“ werden, dass durch sie auch Sojaöl entsteht, was den Produktionsbedarf von Palmöl geringer hält. Wie große Anteile von Treibhausgasemissionen nun dem Milchkonsum angerechnet werden, entscheidet sich durch die Wahl eines geeigneten Allokationsverfahrens. Die ISO 14040 sieht verschiedene Möglichkeiten an, etwa eine Allokation nach dem ökonomischen Wert der Haupt-, Koppel- und Nebenprodukte.
7.9 Lebenszykluskosten Die Ökobilanz gibt Informationen, die eine Entscheidungsgrundlage für wirtschaftliches Handeln oder Politik sein können. Ökonomische Faktoren sind aber wesentlich entscheidungsrelevant. Die Lebenszykluskostenrechnung (Life Cycle Costing, oder LCC) bietet sich daher als methodische Ergänzung zur Ökobilanzierung bereits in der Bauvorplanung an. Für einen Kostenvergleich alternativer Bauprodukte oder Gebäudevarianten leistet die LCC eine Auflistung sämtlicher relevanten Kosten. So wird der Blick von den
9 https://ibu-epd.com/faq_category/epd-online-tool/.
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reinen, zum Zeitpunkt t = 1 anfallenden Anschaffungskosten auf die Wartungs-, Betriebs-, Entsorgungs- und Umweltkosten geweitet. Mit Ergebnissen solcher LCC-Berechnungen lassen sich intern wie extern Entscheidungen für vermeintlich kostspieligere Alternativen argumentieren. Auch in öffentlichen Vergaben ist es in vielen Fällen europarechtlich zulässig, Lebenszykluskosten als Argument für den nicht unmittelbar preisgünstigsten Entwurf heranzuziehen. Im Zuge der Klimagesetzgebung sind Behörden sogar mehr und mehr dazu angehalten, bei Ausschreibungen und Vergaben Lebenszykluskostenrechnungen zu berücksichtigen, die auch Treibhausgasemissionen der Produkterstellung und -nutzung berücksichtigen (Umweltbundesamt, 2023; Grafik 7.4). Das deutsche Öko-Institut bietet als Ergebnis eines 2011 geendeten Projektes im Verbund mit vielen anderen internationalen Institutionen eine Reihe an digitalen Werkzeugen zur erleichterten Berechnung an.10
Grafik 7.4 Beispiel eines einfachen Excel-Tabellenmusters für die LCC.11
10 https://smart-spp.eu/index.php?id=7633. 11 Bearbeitung der Vorlage des UBA: https://view.officeapps.live.com/op/view.aspx?src=https% 3A%2F%2Fwww.umweltbundesamt.de%2Fsites%2Fdefault%2Ffiles%2Fmedien%2F515%2Fdokumente%2Flcc_tool.xls&wdOrigin=BROWSELINK.
7.10 Beispiele für LCA in wissenschaftlichen Studien zum nachhaltigen Bau
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7.10 Beispiele für LCA in wissenschaftlichen Studien zum nachhaltigen Bau Ökobilanzierung erlaubt als Methode quantitativer Forschung viele verschiedene Anwendungen in der Wissenschaft. In aufwendigen internationalen Überblicksstudien wurde zuletzt etwa herausgefunden, dass das Verringerungspotenzial der Treibhausgasemissionen im Lebenszyklus der Gebäude von Bürobauten vielfach größer ist als im Bereich der Wohngebäude (Frischeknecht et al., 2019). Ebenfalls ist es groß angelegten internationalen Ökobilanzstudien zu verdanken, dass der Fokus der Nachhaltigkeitsbemühungen im Bau zunehmend auf der „grauen Energie“ (Embodied Energy) liegt – weltweit ist im Fall neu gebauter Wohngebäude, die auf technisch fortschrittlichem Stand sind, deren Anteil schon etwa gleich groß wie der der Heiz- und Nutzungsenergie im Gebäudelebenszyklus (Röck et al., 2020; Lützkendorf & Balouktsi, 2022). Während (vereinfachte) Ökobilanzierungen von Gebäuden eine „handwerklich“ relativ einfache, wenn auch zeitlich aufwendige Angelegenheit sind, stellen sich wissenschaftliche Verwendungen dieser Methodik oftmals als höchst komplex dar. So lassen sich mit vergleichenden Ökobilanzen, etwa für die Politikberatung, auch technische Entwicklungsszenarien vergleichen oder verschiedene Vergleichsfälle modellieren. Da sie für sämtliche Branchen und oft für regionale oder nationale Fälle angewandt werden, ist von einer exponentiellen Zunahme internationaler Studien auf der Basis von LCA zu berichten. Erschienen 1990–1991 noch erst 68 Studien, die das Stichwort „Life Cycle Assessment“ enthielten, waren es in den beiden Jahren 2020–2021 rund 72.800 (Abschn. 1.1). Als Beispiel für die mögliche Breite der Forschungsanwendungen und für die konkreten Rückschlüsse für die Baupraxis wird hier eine Studie aus Schweden vorgestellt (Karlsson et al., 2021). Am Beispiel Schwedens wurde in diesem Fall methodisch aufwendig die Frage untersucht, ob und wie im Jahr 2050 Net-Zero-Emissionen im Bau möglich sein könnten. Die Forschungsfrage lautete, mit anderen Worten: Welche Stellschrauben führen zum Netto-Null-Emissions-Haus? Um sie zu beantworten, wurden gesamte Wertschöpfungsketten, die zum Bau von Mehrfamilien-Wohnhäusern führen, untersucht und die Energie- und Materialflüsse erhoben und modelliert. Die Autorinnen der Studie verglichen dann verschiedene Bautypen miteinander (etwa Beton massiv, Leichtbeton, Holzbau). Aber auch die im Bauprozess angewandten Techniken wurden untersucht – und zwar einerseits bezogen auf die Gegenwart, andererseits auch auf Basis der erwarteten technologischen Entwicklungspfade (bis 2045). Aber was weiß man darüber? Um plausible technische Entwicklungen vorauszusagen, fanden am Beginn des Forschungsprojektes Experten- und Expertinnenbefragungen statt. Eine solche Stakeholdereinbindung bündelt Wissen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einzelner Disziplinen nicht aufbringen können, und wirft früh im Forschungsprojekt relevante Fragen und Themenaspekte auf.
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Andere Angaben wurden auch aus der Forschungsliteratur oder Prognosen von internationalen und nationalen Fachbehörden oder zwischenstaatlichen Institutionen, wie etwa der Internationalen Energieagentur, entnommen. Betrachtet wurden Technikszenarien in der Kette der Baustofferzeugung, aber auch für die Energie- und Transporttechnologien. Ökobilanzierungen werden dann in verschiedenen Szenarien in Bezug auf Technik und Prognosejahr verglichen. Ein Ergebnis dieser Studie lautete etwa, dass eine rund 40 %ige Treibhausgasreduktion in solchen typischen Wohnungsbauprojekten schon auf Basis der gegenwärtig verfügbaren Techniken möglich wäre. Bis zu 80 % Reduktion sei bis 2030 zu erreichen und bis zu 93 % Minderungen bis 2045. Die schwedische Studie erlaubte es dann schließlich auch, technologische Hauptminderungsmöglichkeiten auf der Ebene einzelner Baumaterialien zu benennen, das wären etwa: • Im Bereich des Zements: Verringerung des Klinkeranteils durch Nutzung calcinierter Tone als Zementersatzstoff; verbesserte Rezepturen zur Zementherstellung; Verschlankung der Struktur der Betonbauteile; in den Zementwerken: Fossile durch biogene oder Abfallbrennstoffe ersetzen, Einführung von Carbon Capture and Storage (CCS) in den Klinkerwerken • Im Bereich des Stahls: Hier sei Altstahl als Konstruktionsstahl zu verwenden (nicht nur oder überwiegend als Bewehrungsstahl); Betrieb der Hochöfen mit CCS-CO2Verpressung; elektrischer Bergwerksbetrieb für die Erzgewinnung • Im Bereich der Logistik: Lieferketten effizienter gestalten; Transportwege einsparen; Einsatz von Hybrid-Lkw statt des reinen Dieselantriebs (mittlere Frist), reine ElektroLkws (lange Frist)
7.11 Kooperation entlang der Lieferketten Schon dieses Beispiel aus der Wissenschaft macht deutlich, dass die Klimafreundlichkeit des Bauwesens nicht allein aus der Baubranche heraus zu erreichen ist. Eine Elektrifizierung der Gesamtwirtschaft ist eine wichtige Grundlage. Aber auch jenseits dieser großen Stellschraube gibt es Spielräume. Mit der errechneten Hoffnung auf technische Lösungen enden die Schlussfolgerungen auch der schwedischen Studie daher nicht. Sondern es folgt die Feststellung, dass sich das Bauprojektmanagement gravierend umstellen werde müssen im Sinne einer umfassenden Kollaboration der vielen Akteursgruppen: „Um das Potenzial auszuschöpfen … sehen wir einen Bedarf für eine deutlich stärkere Zusammenarbeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Um das in dieser Studie aufgezeigte Emissionsminderungspotenzial am Beispiel von Beton zu realisieren, müsste eine enge Zusammenarbeit zwischen allen relevanten Akteuren der Lieferkette, einschließlich Zementherstellern, Betonherstellern, Statikern, Beschaffern, Bauherren, Architekten usw., bereits während der Entwurfs- und frühen Beschaffungsphase eingeleitet werden, mit engen und kontinuierlichen Kommunikationsaktivitäten während der gesamten Planungs- und Bauphase“ (Karlsson et al., 2021).
7.11 Kooperation entlang der Lieferketten
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Das deutsche, von der TU Rosenheim koordinierte Forschungsprojekt „One Forest“12 war ein weiteres Anschauungsprojekt (Laufzeit 2021–2024). Es verdeutlicht, dass über bioökonomische Rohstofffragen wie die Holznutzung für den Bau und Klimaschutz nur in breiter Perspektive entschieden werden soll. Eine „multikriterielle Optimierung“ das Nutzung der Waldressourcen vier europäischer Waldregionen, von Spanien bis Skandinavien, wird hier versucht, wobei ebenfalls Stakeholder aller Anspruchsgruppen an den Wald (Holzindustrie, Forst, Jagd, Freizeit) beteiligt werden; aus den Ergebnissen der verschiedenen Perspektiven soll abgeleitet werden, welches Holz wann in Zukunft – bis in 30, 40 Jahren – gefällt werden wird. In der Nachhaltigkeitswissenschaft wie in der nachhaltigkeitsorientierten Baupraxis wird die Kommunikation zu einem Faktor, der Ökobilanzergebnisse maßgeblich beeinflussen kann. Die Forderung nach Kooperation wird in ersten europäischen Städten umgesetzt. In der schwedischen Metropole Malmö etwa läuft ein Pilotprojekt für einen nachhaltigeren Bau. Dessen Ziele und Akteure sind beschrieben in einer „City Roadmap LFM30“.13 Malmö visiert einen klimaneutralen Gebäude- und Bausektor an, also NettoNull-CO2-Emissionen bis 2030 (Abb. 7.4). Hierfür kooperieren verschiedene Unternehmen aus der Bauwertschöpfungskette, es gibt ein gemeinsames Koordinationsbüro und koordinierende Beteiligung der Stadt. Um die Erfolge messen zu können, ist umfangreiche Ökobilanzierung notwendig. Von der Wertschöpfungskette zum Wertschöpfungsnetzwerk
Konkurrenz ist ein Prinzip der Marktwirtschaft. Preisabsprachen untereinander sind kartellrechtlich sogar verboten. Aber die Orientierung auf Nachhaltigkeit gelingt wahrscheinlicher aufgrund von Absprachen (Ricciotti, 2020). Als Ziele solcher Kooperation hält die Literatur fest (ebd.): Die 1) Beseitigung von Materialund Energieineffizienzen und Verschwendung, 2) die Abstimmung zwischen der Ressourcenallokation und den Verbraucherpräferenzen; 3) eine gemeinsame Förderung einer Entwicklung hin zu nachhaltigeren Produktions- und Beschaffungsmethoden; gemeinsame Findung von Wegen für die Wettbewerbsfähigkeit. Auch ist von „circular supply chains“ die Rede, um dem Ziel der zirkulären Materialführung näher zu kommen (Hossain et al., 2020). Hier werden vor allem genannt: Teilen marktrelevanter Informationen, gemeinsame wiederverwendungsorientierte Produktentwicklung (Sudusinghe & Seuring, 2021). Dafür wurden in den vergangenen Jahren vor allem in Europa und Asien viele Beispiele auch in der Bauindustrie gefunden; von „grünen Lieferketten“ ist die Rede (Badi & Murtagh, 2019). Durch Kooperationen seien die „Ziele der ökologischen Nachhaltigkeit“ zu erreichen, aber auch Wettbewerbsvorteile, da ethische und ökologische Interessen der staatlichen wie privaten Bauherren zunähmen, heißt es hier.
12 https://www.oneforest.eu/. 13 https://lfm30.se/wp-content/uploads/2021/01/Local-Roadmap-LFM30-English.pdf.
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7 Nachhaltigkeit und Lebenszyklusbetrachtung im Bauwesen
Abb. 7.4 In Malmö setzt sich die Bauindustrie selbst Klimaziele. Titelblatt eines Flyers der Initiative LFM30
7.13 Grenzen der Ökobilanzierung
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7.12 Digitalisierung und Nachhaltigkeit Auch gibt es Gründe anzunehmen, dass die Digitalisierung Nachhaltigkeitsfortschritte bringen wird, die in Ergebnissen der Ökobilanzen des Baus sichtbar werden. Der 3-DDruck ist mit Hoffnungen auf Materialersparnisse verbunden, aber er wirkt im Fall unbewehrter Betonbauteile auch in die gegensätzliche Richtung. Alternativvergleiche von Entwürfen oder Bauprozessen werden durch digitale Zwillinge ermöglicht. In digitalen Planungstools (BIM) lassen sich auch nachhaltigkeitsbezogene Daten einspeisen. Gewiss ist BIM mehr als dies; es vernetzt die Bauplanung, Produktion, die Errichtung und somit kann auf vielen Ebenen „graue Energie“ eingespart werden. Maßnahmen im Gebäudelebenszyklus lassen sich so in Alternativszenarios planen, etwa bei Um- oder Rückbauten oder durch den Abriss. In Zukunft können EPD-Daten in der digitalen Planung noch besser berücksichtig werden, was technisch erleichtert wird, indem die Datensätze von den PDF-Formaten in europäisch standardisierte Datenformate übertragen werden, womit bereits begonnen wurde (Röder, 2022). Einen Überblick über Nachhaltigkeitsbezüge der Digitalisierung im Bauwesen gibt Schwarzwälder (2023).
7.13 Grenzen der Ökobilanzierung Während die Methode der Ökobilanzierung den Verdienst hat, die Umwelt- und Energiebetrachtung des Bauwesens auf den gesamten Lebenszyklus ausgeweitet zu haben, werden ihr auch kritische Aspekte entgegengebracht. Ein wirkliches Verständnis des Zustandekommens der Ergebnisse bleibt Expertenkreisen vorbehalten und ist damit dem breiten Kreis der Gesellschaft kaum nachvollziehbar. Dies ist auch vor dem Hintergrund der einleitend geforderten Transdisziplinarität der Forschung problematisch. Aber letztlich ist es auch fraglich, ob Ökobilanzergebnisse – vor allem in Form methodisch diffiziler, aggregierter Wirkungsindikatoren – Zielgruppen in Politik und Gesellschaft wirksam erreichen oder die Konfusion in Nachhaltigkeitsfragen nicht vielmehr noch erhöhen und somit indirekt auch dem Greenwashing ein neues Tor öffnen; denn Konfusion ist der Nährboden des Greenwashings (Gomes et al., 2022). Eine Excel-basierte, einfache Ökobilanz für Gebäude(teile) auf Basis der hervorragenden Datenbanken wie Ökobautdat selbst zu erstellen ist vielleicht sogar einfacher, als Vergleiche von Ökobilanzen fundiert durchzuführen oder wissenschaftliche Studien darüber „kritisch zu lesen“. Die Methodendiskussion über den Umgang mit biogenen Rohstoffen (Abschn. 7.7.7) und die gewaltigen Auswirkungen von Modellierungsannahmen für die Ergebnisse zeigen hingegen die hohen Anforderungen an Methodenreflexion für ein wirkliches Verständnis. Eine Gebäude-Ökobilanz zu erstellen ist kinderleicht, aber ihre Grundlagen zu verstehen ist höchst kompliziert. Anders gesagt: Die Hürden für eine Scientific Literacy sind im Bereich der Ökobilanzierung sehr hoch. Und auch die Vergleichbarkeit von LCA-Ergebnissen unterschiedlicher Studien ist heikel, beruhen sie doch meist auf je sehr unterschiedlichen Methoden und Annahmen (wobei –
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für die einzelne Studie – als Qualitätskontrolle eine Sensitivitätsanalyse der kritischen Annahmen im Falle einer Veröffentlichung wie auch eine kritische externe Prüfung laut Norm Pflicht sein können). Durch den impliziten Nutzenbezug (Bezug des Umweltschadens auf die funktionelle Einheit) ist die Ökobilanzierung zumindest auch indirekt in den sozialökonomischen Rahmen der Nachhaltigkeit eingeordnet. Die Zielkonflikte der Nachhaltigkeit lassen sich auch durch Ökobilanzierungen aber nicht auflösen, aber noch besser beschreiben, verstehen und moderieren. Die Mathematisierung zur Objektivierung von Nachhaltigkeit ist verdienstvoll und notwendig, aber diskussionswürdig. Die Ökobilanzen können angesichts ihre Normenkonformität eine „faktische Eindeutigkeit“ suggerieren, die faktisch nicht gegeben ist. Eine Fülle von Modellierungsspielräumen – auch etwa für die Bewertung der Wiederverwertungsoptionen für biogenen Kohlenstoff – einerseits, fragwürdige Berechnungsgrundlagen wie die standardisierten Lebensdauerannahmen nach Eurocode oder andere Literaturtabellen für Gebäudetypen andererseits sind hier zu nennen. So hat sich im Rahmen von Ökobilanzierung ein Spezialisten- und Fachjargon etabliert, der einem allgemein interessierten Publikum so schleierhaft erscheinen wird, wie die einem Ergebnis zugrunde liegenden Modellierungsannahmen. Der Weg der mathematischen, bilanziellen Erfassung der Nachhaltigkeitskennziffern ist unumgänglich. Die Komplexität erhöht sich dadurch, dass Ergebnisse auf der Mikroebene („Gebäude-Ökobilanz Holzbau“) nicht mit denen auf der Makroebene kohärent sein müssen („Holzbau für 2 Mrd. Menschen“). Die Sorge ist zudem berechtigt, dass gewissermaßen Parodien lebensweltlicher Vorstellungen von Nachhaltigkeit mithilfe der Ökobilanz als besonders nachhaltig zertifiziert werden können. Der Eindruck stellt sich etwa ein, wenn man sich die monotone, beliebige Architektur mancher zertifizierter Büro- oder Wohnhochhaus-Neubauten ansieht oder auch das penetrante „Greenwashing“ einiger Nachhaltigkeitsberichte. In denen wird dann auch die Montage von Vogelbrutkästen oder merkwürdige Zahlen wie der „Menschen, die von den von uns errichteten Brücken profitieren“, groß reportiert werden, aber der tonnenweise Einsatz von Zementen nicht weiter unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten diskutiert wird. Das allerdings ist der Ökobilanz nicht anzurechnen. Der Weg der Ökobilanzierung allein wird dem historisch gewachsenen Sorgfaltsgedanken der ökologischen Nachhaltigkeit spürbar kaum gerecht. Jedoch ist er geeignet, um das Handeln großer Konzerne und kapitalmarktorientierter Bauunternehmen oder Investoren auf Nachhaltigkeit zu verpflichten. Diese sind es letztlich auch, die sich aufwendige Nachhaltigkeitszertifizierungen und Ökobilanzierungen relativ problemlos erlauben können. Die zunehmenden bürokratischen Pflichten dadurch könnten hingegen für Handwerksbetriebe und private Bauherren zu geradezu kontraproduktiven Ergebnissen führen. Werden sich aber auch kleine Zimmererbetriebe in Zukunft die womöglich auch für sie erforderlichen ökobilanziellen Berechnungen leisten können?
7.13 Grenzen der Ökobilanzierung
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Ein weiterer kritische Punkt ist, dass wegen ihrer Normenkonformität und methodischen Ausgereiftheit die Ökobilanzierung den Fachdiskurs über ökologische Nachhaltigkeit dominieren könnte. Wäre es eine attraktive Vorstellung, dass die gesamte Bauplanung, der Gebäudeentwurf, von digitalen Tools nach optimierter Ökobilanz automatisiert würde? Das Paradox einer einseitigen Ökobilanzorientierung lässt sich mit diesem Zitat des Umweltphilosophen Andreas Weber (2015) unterstreichen, der über die Nachhaltigkeit im Allgemeinen sagte: „Man kann das Scheitern einer Utopie daran erkennen, dass in ihr Zwecke zu Mitteln werden. Derzeit verwandelt die green economy das Lebendige in eine Dienstleistungsressource und will damit auch noch die Welt retten. Aber man rettet nicht, was man nicht erkennt, und man kann niemanden schützen, den man zugleich benutzt. | Ressourcendenken ist die Pointe unseres – gesellschaftlichen und persönlichen – Narzissmus. Aber mein Körper ist keine Ressource, mein Körper ist das, was ich bin. Auch die Natur, unser aller gemeinsamer Leib, ist kein Mittel, sondern das, was ich bin – aber auch das, was du bist, der andere Mensch, die anderen Wesen, und was wir alle nur zusammen werden können“ (Andreas Weber).
Das Ökobilanzdenken ist auch damit nicht grundsätzlich infrage gestellt, aber damit der Umgang mit ihm reflektiert bleibt, ist die Konfrontation mit der Kritik notwendig. Sonst wird das Mittel zum Zweck. Der Blick der Ökobilanzierung hat die Praxis des „ökologischen Bauens“ sehr auf das Messbare und Stoffliche verengt, und vor allem die Schadminimierung. Wie steht es aber um die Qualitäten des Bauens und deren Bezüge zur Langlebigkeit? Der Architekt Hans Kollhoff schimpfte in einem Zeitungsartikel so (Kollhoff, 2022): „Das Ökosiegel ist mit dem Vergleichszeitraum von 50 Jahren nichts anderes als eine Aufforderung zum schäbigen Bauen im Interesse einer technikgetriebenen und entsprechend anspruchslosen Bauindustrie, der nichts Besseres passieren kann, als den Schrott, den sie gerade hochzieht, möglichst schnell abzureißen und noch eiliger und dürftiger wieder zusammenzubasteln. Ist das nachhaltig?“ (Hans Kollhoff).
Dieser polemisch vorgetragene Punkt übergeht großzügig die enormen Fortschritte der Energiebilanzen des Wohnens, trifft allerdings keinesfalls vollständig daneben. Und weiter ergänzt Kollhoff, dann schon mehr zornig als polemisch: „Die Art, wie hier getäuscht und gelogen wird, nennt man Greenwashing.“ Kollhoff setzt der Praxis der beginnenden – man könnte sagen: Ökobilanzstreberei des Managements in der Bauwirtschaft – die europäische Baukultur entgegen, die lange vor der Bürokratisierung der Nachhaltigkeit über Jahrhunderte bestehende Bauwerke zustande gebracht hat: „Nie war es so wichtig, die Erinnerung wachzurufen an die wohl großartigste kollektive Errungenschaft, die dieser Kontinent hervorgebracht hat im Interesse eines glücklichen und erfüllten Lebens seiner Bürger: die europäische Stadt. Wie nirgends sonst in der Welt ist das in Italien erfahrbar, im alltäglichen Leben.“ Ähnlich lautet der – oft wiederholte – Vorwurf von Michael Braungart, die Nachhaltigkeitsexpertenwelt sei unablässig damit beschäftigt, das „Verkehrte zu optimieren“
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7 Nachhaltigkeit und Lebenszyklusbetrachtung im Bauwesen
statt einfach Gebäude zu schaffen, die der Umwelt nützten.14 Hier ist die Anspielung auf die Ökobilanzmethodik nicht zu überlesen. Und auch mit der Nachhaltigkeitswissenschaft geht Braungart (2015) ironisch um, etwa wenn er sagt: „Wenn Ihre Freundin Sie fragt: Wie geht es dir? – Antworten Sie dann: nachhaltig? Herzliches Beileid dann! ‚Komposchtierbar‘, würde Wolfgang Grupp von Trigema auf Schwäbisch sagen. Ein ‚komposchtierbares‘ T-Shirt. Ich bin ja schon kompostierbar geboren. Also, naja, das ist ja gerade das Minimum. Innovation kann nicht nachhaltig sein! Darüber hinaus fängt der Spaß doch erst an“ (Michael Braungart).
Solche Polemik hat Witz. Aber sie wird der Ökobilanzmethode nicht gerecht. Die Ökobilanzierung kann eine fruchtbare Rolle spielen in der zahlengetrieben Wirtschafts- und Ingenieurswelt, wie sie eben ist – dann jedenfalls wenn sie die anderen Sichtweisen nicht dominierte und erstickte, sondern ergänzte. Letztlich sind die Quantifizierung und Verwissenschaftlichung von Nachhaltigkeit wohl notwendig, wenn sie derart zum Politikziel wird, wie durch die internationale Klimapolitik. Aber die Spaltung kultureller Ansätze in Gesellschaft, Baupraxis und Architektur und in eine ökobilanzierende Expertenkaste kann dennoch als problematische Entwicklung gesehen werden. Das „akademische Diskursfeld der Nachhaltigkeit“, in dessen Zentrum die Ökobilanzierung und Lebenszykluskostenrechnung gerückt sind, ist nunmehr zunehmend quantitativ. Man muss die Sprache der Ökobilanzierung gewissermaßen sprechen lernen, um hier fundiert mitreden zu können. Die Qualitäten von Nachhaltigkeit betrachtet derweil die akademische wie praktische Architektur (vgl. Wittmann, 2021). Beides – Stoffströme, Geldströme, aber eben auch zugleich Ideen, Ästhetiken, Identitäten und Atmosphären der Ökologie und Nachhaltigkeit – im Blick zu haben, wäre für ein Verständnis eines Gelingens dieses politisch-sozialen Weges wesentlich. Der Vermeidungsfokus allein greift tatsächlich kurz. Denn ist in unseren Lebenswelten als Menschen nicht eigentlich deshalb so oft von Nachhaltigkeit die Rede, weil damit – zumindest indirekt – attraktive Vorstellungen von Werten wie Schönheit der Umwelt, Freiheit der Zukunftsgestaltung, Frieden, Glück im Zusammenleben mit Menschen und Tieren oder Gerechtigkeit verbunden wären? All diese weiten Bezüge sinnvoller Nachhaltigkeitsbegriffe zu deuten, wäre Aufgabe eines hermeneutischen Ansatzes der Nachhaltigkeit. Das aber überfordert die Ökobilanz. Sie ist als Objektivierungsweg von Bedeutung. Sie hat pauschale Polemik nicht verdient, aber muss sich Gegenwind gefallen lassen.
14 https://www.troldtekt.de/inspiration/transformation/gebaeude-sollen-unser-leben-besser-ma-
chen/.
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7 Nachhaltigkeit und Lebenszyklusbetrachtung im Bauwesen
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Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) im Bauwesen – Status quo, Potenziale, Stellschrauben
8.1 Zusammenfassung Die Entnahme und Verarbeitung mineralischer, metallischer und biogener Ressourcen tragen erheblich zu den globalen Treibhausgasemissionen bei. Die Summe global entnommener Rohstoffe dürfte sich bis Mitte des Jahrhunderts noch einmal nahezu verdoppeln. Ressourcenschonung auf allen Ebenen der Wirtschaft ist notwendig. Die Bauwirtschaft steht zentral im Fokus, da sie in Deutschland sowie weltweit die größten Abfallmengen verursacht. Eine Kreislaufführung schont Ressourcen. Eine Fülle von Maßnahmen kann zu einem sorgsameren Umgang mit den Rohstoffen führen. Sie reichen von Zertifizierungen für das Urban Mining über die Etablierung digitaler Baustoffbörsen bis zu strengeren abfallrechtlichen Vorgaben, die etwa Rücknahmepflichten für Baustoffe festschreiben oder verpflichtende Gebäudematerialpässe. Zu beachten sind in diesem Zusammenhang auch auf die Zirkulärwirtschaft hin angepasste wie auch neue Normierungen bis hin zu veränderten Bau-, Planungsprozessen und einem zirkulären Produktdesign. Das Konzept des Cradle to Cradle ergänzt den Anspruch dauerhafter Kreislaufführung technischer Bauteile um das Ideal einer konsequent auf „Kompostierbarkeit“ ausgerichteten Biosphäre – hierzu zählen etwa Baustoffe aus Holzfasern oder Stroh. Diese einfache wie radikale Vorstellung einer „industrialisierten Welt ohne Abfall“ nach dem Vorbild der Natur trägt zur Orientierung am Ziel der Ressourcenschonung bei, ist aber letztlich ahistorisch und als starre Norm praxisuntauglich. Sie ist für innovierende Unternehmen hoch attraktiv und wichtiger Teil der zirkulären Transformation. Ein weiterer sind Innovationen der Abfall- und Recyclingwirtschaft, die mit den Abfallströmen arbeiten müssen so, wie sie sind. Ein Beispiel ist die sensorische Trennung von Baustofffraktionen aus dem Abbruch.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 J. Grossarth, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40198-6_8
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8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
8.2 Rohstoffe und Reserven „Es ist tatsächlich nur bruchstückhaft bekannt, welche Baustoffe in den kommenden 20 Jahren wo auf der Welt benötigt werden – und noch weniger, wo sie vorhanden sind“ (Werner Sobek, 2023).
8.2.1 Rohstoffverbrauch und Treibhausgasemissionen Der Bau ist rohstoffintensiv (Abb. 8.1) und die Nachfrage nach den drei größten Massenrohstoffgruppen wird global in den kommenden Jahrzehnten aller Wahrscheinlichkeit nach weiter stark steigen (Grafik 8.2). Urbanisierung und wachsender Wohlstand sind die wesentlichen Treiber der Ressourcennachfrage für den Bau (Schiller, Roscher, 2023). Eine regionale Kreislaufführung von Materialien kann zur Ressourcenschonung beitragen. Allein auf die Rohstoffausbeutung und -verarbeitung entfallen rund 50 % der globalen Treibhausgasemissionen und sogar mehr als 90 % des Biodiversitätsverlusts (UN EN, 2019). Enthalten sind in dieser Rechnung – neben Metallen, nicht-metallischen Mineralien wie Steine und Sand und den fossilen Energieträgern wie Kohle und Erdöl – allerdings auch die agrarischen und forstwirtschaftlichen Rohstoffe.
Abb. 8.1 Rohstoffintensiver Bau im Frankfurter Bankenviertel. (Foto Jan Grossarth)
8.2 Rohstoffe und Reserven
269
Allein auf die Aufzucht und Entnahme dieser sogenannten Biomasse entfallen 17 % der TGH-Emissionen und auf die übrigen Rohstoffklassen: • auf die Metalle 10 %, • auf die „Fossilen“ 16 % und • auf die nicht-metallischen Mineralien 10 % (UN EN, 2019). Statistisch „verbraucht“ jeder Deutsche und jede Deutsche rund 16 t dieser Rohstoffe jährlich. Das ist etwa ein Drittel mehr als ein Mensch im globalen Durchschnitt. Weil die inländische Entnahme von Rohstoffen stärker zurückgeht als der Verbrauch, steigt der deutsche Rohstoffimport aus dem Ausland tendenziell (Umweltbundeamt, 2022a, b). Diese Tendenz dürfte sich fortsetzen. Aber auch der Verbrauch dürfte weiter rückläufig sein: Das Umweltbundesamt hält ein Rückgang des Rohstoffkonsums in Deutschland bis 2030 um rund ein weiteres Drittel für ein realistisch erreichbares Ziel.
8.2.2 Rohstoffe, Ressourcen, Reserven 8.2.2.1 Definitionen Mit Blick auf die zukünftige Verfügbarkeit sind besonders die Rohstoffreserven von Interesse. Der Terminus Ressourcen meint demgegenüber deutlich mehr: Er bezeichnet auch die unentdeckten und auch die wirtschaftlich (noch) nicht sinnvollerweise förderbaren Rohstoffe. Zur Illustration, dass Ressourcen – anders als Reserven – in vielen baurelevanten Fällen nahezu unbegrenzt sind, sind diese Zahlen interessant: Die Menschheit hat bislang laut geologischen Schätzungen jeweils erst 0,001 % der Kupferressourcen, 0,000002 % der Aluminiumressourcen, 0,0007 % der Eisenressourcen oder je 0,00005 % der Goldoder Lithiumressourcen ausgebeutet (Unnerstall, 2021, S. 128). 8.2.2.2 Historische Fehlprognosen der Reichweite Relevanter als die Ressourcen sind, mit Blick auf Knappheiten, überhaupt die Reserven, also die wirtschaftlich gewinnbaren und tatsächlich nachgewiesenen Ressourcen. Die Sorgen um Ressourcenverknappung sind dabei ein Phänomen, das Jahrhunderte nachweisbar ist und oft im Nachhinein trügerisch war (Schmidt, 2019). Prognosen über deren Reichweiten scheiterten historisch immer wieder, unter anderem weil technische Fortschritte wie Heißdampf-Injektionsverfahren für die Erdölförderung nicht voraussehbar waren (Abschn. 8.2.4). Einer der Gründe war, dass neue Lagerstätten gefunden wurden oder dass die gestiegene Ressourceneffizienz den Nutzungsdruck verringerte. So hatte der Club of Rome in seinem ikonischen Gutachten „Limits of growth“ 1972 bekanntlich noch vorhergesagt, dass die Erdgasreserven global im Jahr 2010 erschöpft wären, die des Erdöls schon 2003. Beides war verkehrt. Anstelle von Knappheitsszenarien tritt nun in vielen Fällen der Vorbehalt der THG-emissionsarmen Förderung.
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8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
8.2.2.3 Rohstoffvorkommen nach Ländern Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe hat nach verschiedenen Kriterien einen Gesamtindex der global an Rohstoffen reichsten Länder erstellt. Die führenden zehn sind (BGR, 2020, S. 18): 1. China, 2. Brasilien, 3. Australien, 4. Russische Föderation, 5. Vereinigte Staaten, 6. Kanada, 7. Indien, 8. Südafrika, 9. Chile, 10. Indonesien, 11. …, 18. Deutschland.
8.2.3 Welche Rohstoffe sind oder werden knapp? Ist eine pauschale Rede von Ressourcenknappheiten überhaupt angemessen? Mit Blick auf die wichtigste Gruppe der mineralischen Baustoffe kann man das grundsätzlich nicht sagen. Bei Weitem nicht alle baurelevanten Ressourcen sind knapp. Knappheitsszenarien betreffen einzelne Baustoffe. Über manche ist die Datenlage dünn und widersprüchlich: Bezüglich des Sandes, über dessen Knappheit und Umweltschädigungen durch den Raubbau – etwa an Flussbetten – viele regionale Berichte allgemein bekannt sind, ist statistisch wenig bekannt. Schwierig ist es, die globalen relevanten Sandreserven zu beziffern. Lokal werden ganze Sandstrände an Küsten oder Sand aus Flussbetten abgetragen, sei es in Marokko, Indien oder Jamaika; der Sand wird gewaschen und für die Betonproduktion verwendet. Die enormen Landschafts- und Umweltschäden werden medial viel beachtet. Aber nicht jede Sandqualität ist für Betonmischungen brauchbar. Ein Überblick über die globale baurelevante Rohstoffreichweite ist in der wissenschaftlichen Literatur meines Wissens nicht zu gewinnen. Im Falle der baustoffrelevanten Reserven gibt es aber auch gegenwärtig Prognosehorizonte von teils nur wenigen Jahrzehnten Verfügbarkeit. Das Bundeswirtschaftsministerium n stellt daher für diesen Sektor eine hohe Dringlichkeit für Einsparungen fest, denn: „Ohne eine ausreichende Verfügbarkeit heimischer mineralischer Rohstoffe lassen sich die heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen (Wohnungsbau, Mobilität, Umweltschutz) nicht bewältigen. Die Bundesregierung setzt sich daher dafür ein, dass die Rohstoffgewinnung in Deutschland gestärkt wird. Dies gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund der regionalen Verknappung von wichtigen Baurohstoffen“ (BMWI, 2019, S. 14).
8.2 Rohstoffe und Reserven
271
Tatsächlich ist es „aber nahezu unmöglich, die Reichweite eines bestimmten Rohstoffs anzugeben. Immer wieder werden neue Lagerstätten entdeckt, während bei bekannten Lagerstätten die Abschätzung der vorhandenen Erzmenge regelmäßig nach oben oder unten korrigiert werden muss. Steigende Preise oder neue Technologien können zudem Vorkommen profitabel machen, die zuvor als nicht lohnend galten. Langfristig werden Lagerstätten in abgelegenen Gebieten und Vorkommen mit geringem Erzgrad immer wichtiger werden“ (Neukirchen & Ries, 2016, S. 9).
Viele kritische Metalle wie Indium, Fluorit, Grafit, Kobalt, Niob oder Antimon sind zum Beispiel für Elektronikanwendungen relevant, von den für das Bauwesen direkt bedeutenden Mineralien sind laut dem USGS derzeit folgende statische globale Reserven angenommen: • Graphit (etwa pulverisiert als Additiv zur Erhöhung der Wärmeleitfähigkeit): 291 Jahre, • Eisen: 55 Jahre, • Kupfer: 43 Jahre, • Gips: 15 Jahre. Der Massenbaustoff Gips wird in Deutschland auch aus dem zusätzlichen Grund knapp und teuer werden, da der Kohleausstieg den Gipsplattenrohstoff REA-Gips aus den Rauchgasentschwefelungsanlagen der Kohlekraftwerke ausgehen lassen wird (BR, 2022). Aus Sicht des Bauwesens sind besonders die Massenrohstoffe von Interesse (Neukirchen & Ries, 2016, S. 317–332). Präziser als globale Werte lassen sich im Fall der Massenbaurohstoffe kommende regionale Knappheiten vorhersagen. Für einen klimafreundlichen Bau wäre aufgrund der Transportemissionen in vielen Fällen die Versorgung mit regionalen Rohstoffen bedeutend. Dividiert man die Reserve eines Rohstoffs durch den jährlichen Verbrauch, so erhält man die statische Reichweite. Für das Land Baden-Württemberg stellt sich beispielsweise die Reichweite der Reserven für relevante regional abbaubare Baustoffe wie folgt dar (Tab. 8.1). Auch Mineralien oder Metalle (Abb. 8.2) gehören zu den Rohstoffen mit dem höchsten Versorgungsrisiko für die deutsche Wirtschaft. Für das Eisen sehen Rohstoffgutachten Tab. 8.1 Statische Reichweite von Baustoffen in BadenWürttemberg. (LGRB, 2019)
Zementrohstoffe (inkl. Ölschiefer)
50 Jahre
Naturwerkstein
50 Jahre
Ziegelrohstoffe
< 50 Jahre
Hochreine Kalksteine
< 30 Jahre
Karbonatgesteine
20 Jahre
Sandige Kiese
15 Jahre
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8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
Abb. 8.2 Wo werden die Rohstoffe zuerst knapp? Kupferbergwerk im Norden von Sambia. Und Tonabbau im hessischen Spessart. (Fotos Jan Grossarth)
eine kritische Versorgungsperspektive (VBW, 2020, S. 14); aber auch diese Liste wird von anderen Stoffen wie seltenen Erden angeführt: Kobalt, Tantal, Yttrium, Rhodium, Gallium, Wolfram, Zinn, Indium, Niob und anderen. Unter den mineralischen Baustoffen werden in dieser Liste nur Gips und Anhydrit (als Kalziumsulfat etwa als Zusatzstoff für Estriche) sowie Glimmer – ein Keramikgrundstoff – als moderat kritisch eingeschätzt (VBW, 2020, S. 101 f.).
8.2.4 Exkursion: Über einen Ort, wo das Erdöl seit Jahrzehnten ausgeht – aber doch irgendwie weiterfließt Durch das Städtchen Emlichheim läuft ein Kanal. Das Wasser des Kanals wurde dem Moor abgerungen. Früher war es im Moor, jetzt ist es in den Kanälen, hier im Nordwesten Deutschlands, gar nicht weit von der Küste. Der kleine Kanal von Emlichheim ist kerzengerade und er ist mit Seerosen bewachsen. Die Angler fangen hier bis spät in den Herbst Plötzen und seltene Schleien. Die Schleien sind im Vergleich mit anderen Friedfischarten genau genommen eher scheu als selten – einmal gefangen, lassen sie sich dünsten oder backen, ein Fisch für Kenner. Vor vielen Jahrzehnten aber, als die Fotos noch schwarz-weiß waren und wenn der Kanal von Emlichheim im Winter zu Eis wurde, da rasten Kinder auf dem gefrorenen Wasserweg auf Schlittschuhen nach Holland. Das dauerte keine zehn Minuten. Und es gab damals tatsächlich einige Kinder, die waren schneller als der Zoll in seinen Volkswagen. Sie brachten Zigaretten und Whisky günstig herüber, im Auftrag der Eltern. Diese Zeiten waren rau und romantisch und man denkt gern daran zurück in Emlichheim, diesem deutsch-niederländischen Grenzort. Jedenfalls die Alten. Sie wissen noch, wie es war und woraus das wurde, was heute ist. Zweifelsohne fehlte es damals nicht nur an Zigaretten, sondern auch an Fleisch, Fisch oder Konservenobst. Die Grafschaft Bentheim – hier liegt Emlichheim – und das nahe
8.2 Rohstoffe und Reserven
273
Emsland hatten überhaupt wenige Naturschätze. Die Armut hatte eine lange Geschichte. Moore, aus denen Torf gewonnen wird, die gab es hier, Wasser und Gras. Von Kühen wurde niemand reich. Das heißt: Sie dachten bloß, sie hätten wenige Naturschätze. Aber dann fand man das Öl. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, im Herbst vor rund 85 Jahren, kündigte sich der kostbare Rohstoff an. Bohrungen nach Erdöl und Erdgas brachten zuerst Letzteres zutage. Auf fast 1600 m Tiefe strömte es an die Oberfläche und man wusste nicht so recht, wohin damit. Es ergab jedenfalls eine schöne Flamme. Die brannte gelb und blau und loderte in den Stürmen, in Ochtrup im Süden von Emlichheim ab dem Herbst 1938. Die Nazis kamen später mit Stahl und Winden und Heeren von Zwangsarbeitern und suchten nach Öl. Aber sie fanden es spät, im November 1943. Es sprudelte zutage, aber es war zu zähflüssig, um es durch Rohre zu leiten. Und dann, ab 1944, fuhren Karren auf Schienen hektisch zum Bahnhof und brachten den fernen Panzern ein paar Tonnen Öl, aber das brachte nichts. Der Krieg war verloren und die Panzer zogen sich zurück und fraßen meist Treibstoff aus Kohle. Und die Geschichte von Emlichheim und dem Öl, wie geht die? Gehen wir auf die Spuren des Öls. Dafür bietet sich der Fahrradweg „Erdölroute“ an. Es ist eine Rundstrecke für einen halben Tag. Rentner fahren sie gern, sie ist frei von Anstiegen und gefährlichen Kurven, hier fährt kaum ein Auto und wenn man ins Schlittern gerät, ist schon irgendwo das Rohr einer Pipeline, die dem Fahrrad Halt gibt. Man startet am besten auf deutscher Seite, hier gibt es auch einen Fahrradverleih. Im Herzen von Emlichheim, im Kreisverkehr, steht eine historische Ölpumpe in der traditionellen Pferdekopfform. Das Wappen der Stadt mit dem Bild einer Ölpumpe in Pferdekopfform ist auch zu sehen. An Frittenbuden und Landhandlungen vorbei und entlang vieler Backsteinhäuser führt der Weg raus in die Maisfelder; links ist ein kleiner Puff, aber das Fördergelände der Wintershall GmbH, das ist rechts. Direkt vor dem Werkstor hat ein Bauer seinen Hof und der steht auf Millionen Jahre altem schwarzen Gold. Ein Bauernhof auf Erdölgestein. Seit 80 Jahren weiß man es. Oben wachsen Mais oder Gerste, aber unten ist tausendmal Wertvolleres zu finden. Das hat auch den Bauern von Emlichheim schon viel Geld gebracht, aber niemals Reichtum. Sie konnten es sich nie leisten, einfach nicht mehr Mais zu säen. Unweit gibt es gerade neue Probebohrungen, der Konzern Wintershall investiert nochmals viele Millionen. Die Bauern bleiben von Beginn an unaufgeregt. Schon als Ende der 1940er-Jahre mit der Förderung begonnen wurde, sagte der Überlieferung nach ein Bauer auf Plattdeutsch: Dieses Erdöl, das sei doch was für die Frauen. Er habe gehört, da sei Parfum drin. Doch was er eigentlich gehört hatte, nur falsch verstanden, war Paraffin. Heute kriegen sie Entschädigung, wenn ein Förderturm auf ihrem Grund gebaut wird. Danach bekommen die Bauern Pacht; für 40 mal 40 Meter. Im Norden der Stadt steht auch die älteste Pferdekopfpumpe. Ihr gemächliches Auf und Ab symbolisiert die Geruhsamkeit dieses Ortes. Wie in Zeitlupe senkt sich der Pferdekopf, als wolle er den ölreichen Grund zärtlich küssen, doch ehe es zur Berührung
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8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
Abb. 8.3 Emlichheim, der Landstrich mit den unermüdlichen Pferdeköpfen. (Screenshot aus der FAZ)
kommt, hebt er sich kurzentschlossen wieder, bis er das flache Land und all den Mais und die Backsteinsiedlungen überblickt, um den Rückweg zum Boden zu suchen. Überall in der Landschaft stehen diese Pferdeköpfe, diese blassgrünen Zwischenwesen des Bodens und der Luft (Abb. 8.3). Aber das ist nicht das Besondere an dieser Geschichte, an der Geschichte Emlichheims mit dem Öl. Das Besondere ist die schlichte Dauer des Geschehens. Mehr als 70 Jahre Förderung. Konstante Fördermenge. Weltrekord. Im Pferdekopfrhythmus erreichte man diesen Rekord. In Arabien sei es so, dass Quellen einfach verlassen werden, wenn ein Drittel der Ölmenge ausgebeutet sei, sagen sie hier. In Emlichheim wird man gewissermaßen bis zum letzten Tropfen bleiben. Nach 40, 50 Jahren spätestens versiegen die meisten Ölquellen der Erde. In Venezuela, in Saudi-Arabien, auf der Nordsee und so weiter. Nicht aber in Emlichheim. Da geht es immer weiter, auf und ab. Horst Prei ist der Betriebsleiter der Förderstätte. Er ist ein Österreicher aus der Steiermark, arbeitete lange in Libyen. Er mag Emlichheim, sagt er. Prei trägt eine Brille wie ein Triathlet, sie schützt vor Fliegen und vor der Sonne. Die Leute aus dem Betriebsrat tragen Brillen, die weniger sportlich scheinen. „Die Wintershall ist überzeugt vom Standort Emlichheim“, sagt Horst Prei. Aber kommt nicht eines Tages das Ende des Förderung, der „Peak Oil“? Und was heißt das für unser Leben, die Mobilität, das Plastik, den
8.2 Rohstoffe und Reserven
275
Komfort, die Flugreisen, für Emlichheim? An ein Ende des Öls glaube er erst, wenn er es sehe, sagt Prei. Die Technik entwickle sich. „Wir haben noch Öl für viele Jahre.“ Das meiste unseres Öls kommt ja aus Norwegen, England – oder, vor dem Krieg, aus Russland. Aus Russland kamen vor dem Ukrainekrieg auch Ingenieure nach Emlichheim (andererseits wird hier die umweltfreundlichste Fördertechnik der Welt erprobt – Gase auffangen, wiederverwerten, komprimieren –, die dann in größere Ölfelder auch der arabischen Welt oder Russlands exportiert wird). Volodymyr Tsap, Lagerstätteningenieur, arbeitet in Emlichheim. „Nach unseren neuesten Einschätzungen können wir hier bis 2040, 2050 fördern“, sagt er. Der Peak Oil, das nahende Ende des fossilen Treibstoffs, sorgt in Emlichheim niemanden, jedenfalls nicht der Peak Oil Emlichheims. Auf holländischer Seite eines Kanals stehen die holländischen Pumpen. Sie haben keinen Pferdekopf, sondern pumpen mit einem mittigen Pumpelement, das nicht die Fantasie befördert. Die Pferdekopfpumpe auf deutscher Seite ist ein Designklassiker. Sie kommt aus Amerika und wurde viele Jahrzehnte von dort importiert. Im Zuge des Niedergangs der Industrie der Vereinigten Staaten, in den Jahrzehnten vor Donald Trump, verlagerte der Hersteller die Produktion der Pferdekopfpumpen nach Rumänien. Nun kommen sie von dort nach Emlichheim, um ihr gemächliches Auf und Ab zu wippen. Im Jahr förderte die Wintershall AG in Emlichheim im Jahr 2018 rund 1,2 Mio. Fass Rohöl. Das Öl hat bis heute einen hohen Wert und die Förderung wäre trotzdem schon mehrfach beinahe eingestellt worden. Denn immer wieder sah es danach aus, als werde der Strom des kostbaren Rohstoffs versiegen. Schon Anfang der 1980er-Jahre wäre Schluss gewesen mit der Ölförderung. Doch längst pressten die Ingenieure Wasser ins Erdreich und man konnte wieder ein Ölgemisch fördern. Als auch das nicht mehr reichte, injizierten sie heißes Wasser. Seit den 1980er-Jahren bis heute injizieren sie heißen Dampf in den Boden. Sie fördern dann 93 Prozent Salzwasser und sieben Prozent Reinöl. Eine Entsalzungsanlage aus Israel trennt dann Salz und Wasser. Die Israelis sind stolz auf diese Anlage. Es gibt weltweit keine, die so lange ohne Schäden läuft. Es waren schon Gruppen aus Israel in Emlichheim, um dieses Wunder zu besichtigen.
8.2.5 Bauabfälle und Baustoffrecycling in Deutschland Die Mengen an Abbruchmaterial steigen in Deutschland seit Jahrzehnten (Abb. 8.4 und 8.5). Dieser Trend dürfte sich fortsetzen. Ein Recycling oder eine Wiederverwendung von Baustoffen ist auch angesichts der reinen Materialfüllen an den Abriss geboten. Rund 200 von 340 Mio. Tonnen des deutschen Abfallaufkommens waren Bau- und Abbruchabfälle (2013; nach Pietzsch, 2017, S. 55). Die Baubranche ist mit Abstand die gewichtsmäßig größte Abfallquelle. Zugleich sind hier hohe Wiederverwertungsraten festzustellen. Bei den Bau- und Abbruchabfällen sind dies 87 % – im Vergleich: Von
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Abb. 8.4 Winterlicher Bauschutt auf dem Verwertungsbetrieb Heydt in Oberschwaben. (Foto Jan Grossarth)
Siedlungsabfällen werden nur 68 % wiederverwertet (Eurostat, 2021). Ein wesentlicher Grund für die vergleichsweise hohen Werte ist die Kreislaufwirtschaftsgesetzgebung. Tab. 8.2 zeigt die Recyclingquoten im Bauwesen. Hier fällt auf, dass die sehr hohe Recyclingquote von 93,7 % des Straßenbaubereichs die Gesamtbilanz des Bauwesens verbessert. Insbesondere die niedrigen Recyclingquoten im Bereich des Gipsbruchs und des Bodenaushubs fallen andererseits ins Auge. Was den Bodenaushub angeht, wäre eine Verwendung als Bestandteil für Lehmsteine un-
8.2 Rohstoffe und Reserven
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Abb. 8.5 Eine Schatzgrube? Gemischter, zerkleinerter Bauschutt. (Foto Jan Grossarth)
bedingt angebracht. Erste Forschungsprojekte dazu gibt es. Lehmsteine gelten als zirkuläres oder Closed-Loop-Material. Sie sind nach dem Ende eines Gebäudelebenszyklus vollständig wieder zu Lehmsteinen zu machen. Ein Normierungsvorhaben für tragendes Lehmstein-Mauerwerk ist 2023 abgeschlossen worden (DIN, 18940). Hier liegt ein großes Potenzial, den massenmäßig größten Bauabfallanteil zu Teilen hochwertig zu nutzen. Die Gipsanteile im Bauschutt bringen das Problem mit sich, zu unerwünschten Belastungen mit Sulfaten zu führen. Bauschutt enthält Gips und es gab in den vergangenen Jahrzehnten eine steigende und vielfältige Verwendung von Gips im Bauwesen. Hierin ist ein Hindernis für höhere Wiederverwertungsraten zu sehen. Trenntechniken oder sortenreiner Bau könnten das Problem lösen – Ersteres kurz- und mittelfristig, Letzteres in langer Frist, da die heute gebauten Gebäude frühestens in etwa 50 bis 70 Jahren abgerissen werden dürften. Die Bauschuttaufbereitung müsste zunächst präziser trennen können, was in der Tat mehr und stärker vermischt oder „verklebt“ ist. Die Baupraxis tendiert seit Jahrzehnten zu immer dünneren massiven Wandaufbauten, kombiniert mit zahlreichen verklebten und verdübelten Dämm- und Fassadenschutzschichten (Wärmedämmverbundsysteme). Bauschuttaufbereitung beginnt mit der Zerkleinerung, also dem mechanischen Aufschluss, gefolgt von Klassierung, Sortierung, Reinigung, Trennung.
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8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
Tab. 8.2 Fraktionen von Bau- und Abbruchabfällen in Deutschland (2014). (Nach BBS, Mettke et al., S. 127; * unter „Sonstige Verwertung“ ist laut § 6 KrWG die – erst nach Unmöglichkeit der Vermeidung, Vorbereitung zur Wiederverwendung und Recycling – vorzunehmende energetische Verwertung, der Bergversatz oder die Verfüllung von Gruben, Brüchen, Tagebauen zu verstehen. Letzteres ist das „stoffliche Schicksal“ großer Bauschuttmengen) Bauabfallgruppe Stoffe
Anfall Recyclingquote Sonstige Verin Mio. t in % wertung* in %
Beseitigung/ Deponierung in %
Bauschutt
Beton, Ziegel, Fliesen, Keramik
54,6
77,8
16,0
6,2
Straßenaufbruch
Bitumengemische
13,6
93,7
4,1
2,2
Bauabfälle auf Gipsbasis
Bauabfall auf Gipsbasis
0,7
5,4
35,6
59,0
Boden und Steine
Bodenaushub, Baggergut, Gleisschotter
118,5
10,2
75,5
14,3
1,4
96,9
1,7
14,6 Baustellenabfälle Holz, Glas, Kunststoffe, Metalle und Dämmstoffe, gemischte Bauund Abbruchabfälle
8.2.6 Wiederverwendbarkeit von Baustoffen Recycling und die Wiederverwendung von Rohstoffen werden als zentrale Strategien im Umgang mit wachsenden Knappheiten gesehen. In einer Publikation zur Ressourceneffizienz als Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise nennt das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) etwa als zielführende Strategien für eine Erhöhung der Materialeffizienz: • Leichtbau, • Substitution mineralischer Baustoffe durch Holz, • prozesstechnische Fortschritte in der Fertigung, die zu höherer Rohstoffeffizienz führen, • intensivere Nutzung der Produkte (Sharing Economy, aber auch kleinere Wohnflächen pro Kopf, geteilte Wohnbereiche, Mehrfamilien- statt Einfamilienhäuser), • erhöhte Wiederverwendungsraten, • verlängerte Lebenszyklen der Produkte (IRP, 2020, S. 37).
8.2 Rohstoffe und Reserven
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Geht man von Lebensdauern der Wohngebäude von 50 bis 70 Jahren aus, dann wird deutlich, dass die Bauwerke der 1950er- bis 1970er-Jahre derzeit abgebrochen werden – und somit Baustoffe, insbesondere Ziegel- und Betonbruch, in historisch nicht gekanntem Ausmaß in die Aufbereitung, Wiedernutzung und Deponierung kommen (Umweltbundeamt, 2013, S. 19). Das Material aus der Zeit einer wohl historisch massenintensiven Bauepoche wird gegenwärtig und in den kommenden Jahrzehnten also wieder in den „Materialkreislauf“ zurückgeführt (Grafik 8.1). Die entscheidende Frage allerdings ist diesbezüglich, in welchen Materialkreislauf sie rückgelangen, also wie hochwertig die Wiederverwertung gelingen wird.
Grafik 8.1 Betonbruch als Baustoff der Zukunft? Eine Prognose über anfallende Massen Das skizzierte Beispiel des Betons hat illustrativen Charakter. Die Baustoffherstellung ist energieintensiv. Die Bedeutung einer möglichst hochwertigen Wiederverwertung oder -verwendung steigt für alle Baustoffe, und zwar aus Gründen erwarteter Ressourcenknappheiten, steigender Energieknappheit, strengerer Emissionskosten von CO2. Zu Verringerungen treibt eine Gemengelage von ökonomischen, ökologischen und umweltpolitischen Gründen (auch die Deponierungskosten und -auflagen steigen, Klimabilanzen zählen mehr im betriebswirtschaftlichen Kalkül).
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8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
Einen detailreichen, hervorragenden Überblick über die vielen relevanten Aspekte des Baustoffrecyclings gibt das Standardwerk „Baustoffrecycling – Entstehung – Aufbereitung – Verwertung“ von Annette Müller (Müller, 2018; Müller & Martins, 2022 erschienen bei Springer Vieweg). Die Ausführungen der folgenden Seiten stützen sich in großen Teilen darauf (Tab. 8.3). Tab. 8.3 Auswahl und Ergänzung. (JG nach Müller, 2018, S. 366 f.) Baustoffgruppe
Wiederverwendung
Möglich bei schadfreier ZerKeramische Baustoffe (Dachziegeln, Mauerziegel) legung
Weiterverwertung / -verwendung Reinigung z. B. von Mörteln, Aufbereitung, Zerkleinerung, etwa zu Splitt
Naturstein
Abbauen und Sortieren, Wiederverwendung von Mauerelementen, Pflasterstein, Natursteinplatten möglich
Neu bearbeitbar, zerkleinerbar, im Grenzfall auch zu Splitt oder Feinzuschlagstoffen
Beton
Kaum monolithisch verbaut; Fertigbetonteile hingegen aufwendig transportierbar
Beton wird zertrümmert, zerkleinert, gemahlen zu Splitt oder als RC-Zuschlag; Bruchteile für Befestigungszwecke, etwa Deichbau
Stahl
Möglich, wenn Verformungen und Streckgrenzen erfasst sind; aber Bewehrungsstahl aus Stahlbeton ist schwer sortenrein trennbar
Schneidbar, umformbar; begrenzte Weiterverwendbarkeit; RC-Fähigkeit durch Einschmelzen sehr hoch
Mineralische Bindemittel
Kalk, Gips oder Zementmischungen sind nicht direkt verwendbar, weil abgebunden
Zermahlung zu Mehl und Weiterverwendungen möglich
Nicht-Eisen-Metalle
Aluminiumteile, Bleche aus Zink, Kupfer, ausbaubar wiederverwendbar
Sind neu zu schneiden, zu formen, aufzubereiten
Vollholz
Deckenbalken, Dachbalken, Holzvertäfelungen bis Schalungen wiederverwendbar (das gilt auch für viele Holzwerkstoffplatten, etwa Spanplatten)
Schneiden, hobeln, zerkleinern, zerfasern, zerspanen; bakteriell, thermisch oder chemisch aufschließbar, als Rohstoff der Papier- oder Zellstoffindustrien; verbrennbar, energetisch verwertbar, ggf. als Kompost verwendbar
8.2 Rohstoffe und Reserven
281
8.2.7 Schlaglichter auf einzelne Baustoffe 8.2.7.1 Mauerwerkbruch Reines Ziegelmauerwerk findet sich in den Abbruchmassen selten (folgende Ausführungen folgen Müller, 2018, S. 231–268). Zumindest liegt es gemischt mit Mörtelresten vor, meist mit vielen anderen Bauschuttfraktionen. Hier ist von ziegelreichem Mauerwerkbruch die Rede (Nebenbestandteile: Mörtel, Putz). Für die Wiederverwendbarkeit ist der Ziegelgehalt entscheidend: „Der maximale Ziegelgehalt dürfte bei 95 Masse-%, der durchschnittliche Gehalt bei 80 Masse-% liegen. Sortenreiner Ziegelbruch kann bei Dachumdeckungen anfallen oder durch Vorsortierung aus ziegelreichem Mauerwerkbruch gewonnen werden. Produktionsinterne Ziegelabfälle gehören ebenfalls zu dieser Kategorie“ (Müller, 2018, S. 232). Mauerwerkbruch „wird vielfach ohne oder nur mit einem Minimum an Aufbereitung für das Verfüllen von Gruben, Steinbrüchen und Tagebauen eingesetzt“ (ebd., S. 262). Höherwertige Nutzungen wären leicht zu erzielen. Von Störstoffen technisch „befreite“ Rezyklate aus Mauerwerk können verwertet werden im Straßenbau (dort, wo geringe Belastung vorherrscht), im Damm- und Wegebau. Mauerwerkbruch in sortenreiner Fraktion lässt sich zerkleinert, aber auch als Rohstoff für die Herstellung neuer Mauersteine einsetzen (Müller et al., 2013). Die Kontamination mit Gips und entsprechend hohe Sulfatgehalte stellen auch hier oft ein Hindernis der zirkulären Materialführung dar, etwa weil sie zu chemischen Reaktionen mit Ettringitbildung oder Hebungen führen. 8.2.7.2 Ziegelbruch Schon im Ziegelwerk fallen Produktionsreste an („Brennbruch“), die gemahlen und wieder für die Ziegelproduktion verwendet werden können: „Sie wirken als Magerungsmittel und verringern die Trocken- und ggf. auch die Brennschwindung. Für einen Teil des bei der Herstellung anfallenden Brennbruchs wird das bereits praktiziert. Eine Rückführung ist auch für sortenreine Ziegel aus dem Rückbau möglich. Aus Rohmischungen, bei denen bis zu 50 Masse-% des Tons durch Ziegelbruch ersetzt wurde, wurden Ziegel mit befriedigender Qualität hergestellt … Im Unterschied zu Bauprodukten aus genormten Ausgangsstoffen wie Beton ist bei der Ziegelherstellung die Höhe der Substitution sowohl von der Art des hergestellten Produkts als auch von den Merkmalen des verwendeten Primärrohstoffs abhängig. Beispielsweise war die Substitution von 20 Masse-% eines lehmigen Tons durch Ziegelbruch ohne Verschlechterung der Produktqualität möglich. Sehr plastische Tone wie z. B. Westerwälder Tone konnten bis zu 60 Masse-% des fein gemahlenen Füllers aufnehmen. Trotzdem waren qualitativ hochwertige Produkte mit geringer Porosität herstellbar“ (Müller, 2018, S. 253).
Die entscheidenden Qualitätsparameter für die Wiederverwertbarkeit sind Partikelgrößen des Bruchmaterials, Glühverluste, der Schwefel- und Kalziumkarbonatgehalt und die Anteile an den Störstoffen Mörtel und Beton (ebd.). Die Trennung, Reinigung und Rückführung möglichst großer Anteile des Mauerwerkbruchs in die Ziegelproduktion wären unter dem Aspekt der Rohstoffschonung ideal und ein Musterbeispiel für Upcycling. Die Dringlichkeit des Vorhabens wird unterstrichen durch die Begrenztheit regiona-
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8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
ler Tonreserven (Abb. 8.4). Schließlich lässt sich Ziegelsand auch als Sandersatz in Betonen verwenden – jedoch bei schwindender Festigkeit.
8.2.7.3 Betonbruch Immer noch ist der Anteil von Betonwiederverwendung sehr gering, extremes Downcycling ist die Regel. Recyclingbeton wird selten verwendet. Das lässt sich technisch allein nicht erklären. Denn: „Es besteht kein nennenswerter Unterschied zwischen sortenreinen Betonkörnungen und Recycling-Baustoffen aus Betonbruch“ (Müller, 2018, S. 200). Die Qualitätskennzahlen von Betonbruch lauten etwa: Roh-, Reindichte, Kornporosität und Wasseraufnahmefähigkeit. Beton aus rezyklierten Betongesteinskörnungen ist normengerecht, aber nur unter Einschränkungen im Hochbau einsetzbar. Auch gibt es im Ingenieurbau mit besonderen Anforderungen etwa an Feuchtigkeitsklassen Einschränkungen der Verwendung (Tab. 8.4). Schon in den 1990er-Jahren wurden für „Pionierbauten“ in Deutschland Recyclingbetone verwendet. Das waren etwa 1994/1995 der Hauptsitz der Deutschen Bundesstiftung Umwelt in Osnabrück oder 1998–2000 das Apartmenthaus „Waldspirale“ in Darmstadt (Abb. 8.6). Doch diese Vorbilder haben nur wenige Nachfolger inspiriert: „Obwohl mit diesen Demonstrationsprojekten mehrfach der Beweis erbracht wurde, dass Bauen mit anforderungsgerechten Rezyklaten möglich ist, gab es danach zunächst kaum Fortschritte in der praktischen Anwendung. In einer 2009 vom Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg gestarteten Initiative wurde belegt, dass Beton mit rezyklierten Gesteinskörnungen, der entsprechend den Vorschriften hergestellt ist, ein gleichwertiger Baustoff ist und ökologische Vorteile aufweisen kann“ (Müller, 2018, S. 220).
Die Gründe für das vorläufige Scheitern eines Masseneinsatzes dieser Baustoffe am Markt sind auch in den höheren Kosten des RC-Betons zu sehen. Hierfür wird auch die geringe Nachfrage als eine Ursache gesehen, durch Skaleneffekte steigender Produktion könnten die Preise sinken. Dabei sind die Preisaufschläge nicht unbedingt groß: An Beispielen für Deutschland werden rund 3 % höhere Kosten für den RC-Beton angegeben (Hinz, 2018). Tab. 8.4 Mittelwerte der genommenen Proben (Anzahl: n). (Auswahl JG; nach Müller, 2018, S. 201) Sortenreine Betonkörnung Reindichte (kg/m3) Rohdichte OD >4 mm
(kg/m3),
Körnungen
Partikelporosität, berechnet (Volumenprozent) Wasseraufnahme, Körnungen > 4 mm (Masseprozent)
RC-Baustoff aus Betonbruch
2678 (n = 34)
2596 (n = 13)
2316 (n = 45)
2277 (n = 28)
14,2 (n = 34)
14,5 (n = 13)
5,7 (n = 44)
4,6 (n = 13)
8.2 Rohstoffe und Reserven
283
Abb. 8.6 Ein früher Bau mit Recyclingbeton: Die Waldspirale in Darmstadt wurde 2000 fertiggestellt. (Fotos Jan Grossarth)
Aber auch Werte von 25 % und mehr Kostendifferenz zuungunsten des RC-Betons erscheinen in manchen Fällen als realistische Kalkulationsgrundlage (Bachmann et al., 2018, S. 26). Der Gesetzgeber verlangt zunehmend von Bauherren den Einsatz von RC-Baustoffen (vgl. spätere Abschnitte). So möchte der EU-Gesetzgeber Vorgaben für Mindestrezyklatanteile machen. Aber die Klimabilanz verbessert das kaum. In der im Kap. 7 vorgestellten schwedischen Studie wurde das Einsparpotenzial durch Betonrecycling nur auf gut 10 % taxiert (Abschn. 7.10). Denn sogenannter RC-Beton spart zwar den Bruch von neuem Naturstein ein, aber nicht nennenswert den besonders klimaschädlichen Zement (Mostert et al., 2021). Er eignet sich zudem auch nicht für die Herstellung von Bauteilen aus Spannbeton und Leichtbeton (Müller, 2018, S. 212). Aber immerhin können so große Mengen Material eingespart werden, wie wissenschaftlich begleitete Praxisbeispiele zeigen (Kreft, 2016). Optisch interessant sind bunte Gussbetone (Abb. 8.9).
8.2.7.4 Kalksandsteinbruch Sortenreine Kalksandsteinkörnungen aus dem Abbruch kommen im Pflanzenbau aufgrund ihrer hohen Porosität als Substrate, für die Begrünung von Flachdächern, im Straßenbau als Schottertragschicht oder in Frostschutzschichten, aber ebenfalls als Be-
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8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
standteil rezyklierter Körnungen in der Betonherstellung zum Einsatz. Eine Beigabe von 10 bis zu 30 Masseprozent ist zum Einsatz empfohlen. „Sortenreine Kalksandsteinrezyklate, die als Verschnittabfälle bei der Konfektionierung von Kalksandstein-Bausätzen anfallen, werden bereits zu geringen Anteilen in produktionsinternen Kreisläufen verwertet“ (Müller, 2018, S. 256).
8.2.7.5 Gips Gips ist eigentlich – wie Lehm – ein vollständig wiederverwertbarer Baustoff. Aber Verklebungen, Vermischungen und Verunreinigungen verhindern das Recycling in der Praxis. Der Großteil muss deponiert werden. Dafür wird er oft nach Osteuropa transportiert, wo die Deponierungskosten niedriger sind. Gipsfraktionen sind – wie schon beschrieben – ein großes Hindernis für die Bauschuttwiederverwertung, da sie dessen bautechnische Eignung verringern. Sie enthalten Störstoffe wie neben den erwähnten Sulfaten auch Chloride und andere sogenannte eluierbare Salze. Diese wirken mit anderen Störstoffen wie Asbest oder PCB (Umweltbundeamt, 2013; Müller, 2012). Ein höheres Recycling des Gipses selbst ist auch deshalb dringlich, weil mit dem deutschen Kohleausstieg ein Koppelprodukt zur Herstellung des REA-Gipses wegfallen wird – synthetischer Gips aus der Rauchgasentschwefelung; daraus werden derzeit 55 % des Gipsbedarfs gedeckt (Riechert, 2022). Eine selektive Trennung von Gipsplatten vor dem Abriss kann die Kontamination des Bauschutts signifikant verringern. 8.2.7.6 Kupfer, Eisen Auch bezogen auf die Reserven des Kupfers und deren Verfügbarkeit ist die Geschichte der Prognostik reich an Fehlern. In den „Limits of growths“ des Club of Rome hieß es, noch seien 1,5 Gigatonnen Kupfer abbaubar; bis heute wurden seither rund 0,7 Gigatonnen abgebaut – aber 2020 belief sich die Schätzung schon auf mehr als 5 Gigatonnen noch abbaubaren Kupfers. In der oberen Erdkruste werden insgesamt 60.000 Gigatonnen Kupferressourcen vermutet (Unnerstall, 2020, S. 129). Auch ist gerade die Metallförderung energieintensiv. Deshalb dürfte sie an Grenzen stoßen. Schon heute ist der Metallgehalt an abgebautem Kupfererz vielfach niedriger als vor Jahrzehnten (vgl. der Vorwort dieses Buches). Eine Eisenknappheit wird sich früher einstellen. Hier wird die bereits verbaute Menge zunehmend – und ab den 2050er-Jahren eindeutig – zur global wichtigeren Rohstoffquelle als Roheisen (Hiebel & Nühlen, 2016). 8.2.7.7 Altholz Aus Altholz lässt sich theoretisch – auch jenseits der skizzierten biotechnologischen Verfahren der Lignozellulosenutzung – vieles machen, ohne es gleich zu verbrennen. Man kann es aufpolieren und als Interieur für Luxushotels in alpinen Skigebieten verwenden. Manchmal wird Frischholz für solche Verwendungen sogar modifiziert, damit es wie Altholz aussieht. Die Verwendung im sogenannten ersten deutschen Recyclinghaus, das 2019 in Hannover Kronsberg überwiegend aus Recyclingmaterialien in den Innenräumen
8.2 Rohstoffe und Reserven
285
(etwa zur Vertäfelung) errichtet wurde, war vielfältig. Sie scheiterte jedoch im Außenbereich an der Schimmelbildung auf Altholz aus Saunabänken (Gundlach, 2020). Dieser Bereich ist gesetzlich umfassend geregelt. Die Altholz-Verordnung lässt für Altholz grundsätzlich folgende Verwertungswege zu: • stoffliche Verwertung: – Aufbereitung von Altholz zu Holzhackschnitzeln und Holzspänen für die Herstellung von Holzwerkstoffen, – Gewinnung von Synthesegas zur weiteren chemischen Nutzung, – Herstellung von Aktivkohle/Industrieholzkohle, • energetische Verwertung: – Verwertung von Altholz im Sinne des § 3 Absatz 23 in Verbindung mit dem Verfahren R 1 der Anlage 2 des Kreislaufwirtschaftsgesetzes. Besonders problematisch ist die Wiederverwendung von Altholz der Altholzkategorien A III und A IV (Letzteres ist „mit Holzschutzmitteln behandeltes Altholz, wie Bahnschwellen, Leitungsmasten, Hopfenstangen, Rebpfähle, sowie sonstiges Altholz, das aufgrund seiner Schadstoffbelastung nicht den Altholzkategorien A I, A II oder A III zugeordnet werden kann, ausgenommen PCB-Altholz“). Schadstoffbelastete Hölzer der Kategorie A IV dürfen nur thermisch verwertet werden. Insbesondere Holzfertighäuser aus den 1970er-Jahren können diesbezüglich gewissermaßen als Sondermülldeponien bezeichnet werden. Ihre Spanplatten waren sprichwörtlich in Formaldehyden getränkt worden. Diese emittieren bis heute in die Raumluft. Das kann bei geschlossenen Fenstern gesundheitsschädlich sein. In Österreich, heißt es, sei die Entsorgung eines Fertighauses aus den 1970er-Jahren teurer als die Entsorgung eines neuen Ziegelhauses (Teischinger, 2023). Altholz spielt als Rohstoff für den Holzbau eine faktisch äußerst geringe, jedoch potenziell eine relativ große Rolle (Türk, 2014, S. 341). Altholz macht einen großen Teil des deutschen Holzaufkommens aus: immerhin 11,5 % (Acatech, 2021). Das Altholzaufkommen insgesamt dürfte bis 2030 deutlich steigen (Wasteresearch, 2019). Fachleute sehen große Steigerungspotenziale für eine stoffliche Nutzung. 78 % des Altholzes gehen derzeit in die energetische Nutzung, nur 15 % in die stoffliche und 6 % werden entsorgt (Umweltbundeamt, 2020, S. 62). Die Anteile stofflicher Nutzung von Altholz variieren je nach konkretem holzbasierten Baustoff stark. Unter den Bauwerkstoffen sind es in Deutschland vor allem die Spanplatten, die den größten Anteil an Altholzanteilen aufweisen. In Deutschland sind dies rund 20 %. Italien erreicht hier deutlich größere Werte um 90 %, die skandinavischen Länder Finnland und Norwegen null: Dänemark hingegen rund 60 %; die stofflichen Wiederverwertungsraten von Altholz sind damit meist deutlich geringer als im Vergleich zum Plastik (Teischinger, 2023). Wiederverwendungen von Holzbauteilen wie Fensterrahmen oder sogar Tragwerkbalken sind wissenschaftlich vorgeschlagen und es gab ökonomische Potenzialanalysen
286
8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
für solche Projekte; in einem Abschlussbericht des Projekts „CaReWood“ etwa hieß es, die technischen Grundlagen seien gelegt (Risse & Richter, 2018). Was aber die Marktfähigkeit angeht, erwiesen sich als wesentliche Variablen, die über den Erfolg entscheiden dürften, der tatsächliche Altholzpreis und auch der erzielbare Verkaufspreis solcher zirkulären Holzbaustoffe (Risse & Richter 2018, S. 120 f.). Wegen der Unsicherheiten über die Entwicklungen dieser Preise bleibt die Industrie zurückhaltend. Aber: „Trotz der allgemeinen Vorbehalte seitens der Industrie gibt es aufgeschlossene und interessierte holzverarbeitende Unternehmen, die die Idee einer Vollholzaufbereitung für die Herstellung ihrer Produkte bereits aufgegriffen haben. Ein nächster Schritt wäre daher die Zusammenarbeit mit Unternehmen zur detaillierteren und praktischen Ausarbeitung des CaReWood-Prozesses, z. B. in Form einer Pilotanlage. Für den wirtschaftlichen Erfolg der Kaskadennutzung ist neben der industriellen die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber Kreislaufprodukten notwendig“ (ebd.).
Somit stößt die Umsetzung der technischen Möglichkeiten hier wieder an Grenzen der Akzeptanz und Zahlungsbereitschaft. Wie mühsam sie ist, zeigt auch, dass solche „Visionen“ für eine kaskadierende und überwiegend stoffliche Nutzung von Altholz schon in früheren Jahrzehnten formuliert und wissenschaftlich begleitet wurde (vgl. Niemz et al. 2023) – aber ohne durchschlagenden Erfolg (Teischinger, Tiefenthaler 2009, S. 9). Im Kontext der klimapolitischen Ambitionen und Zielvorgaben versucht eine steigende Anzahl von Unternehmen nun abermals, solche Geschäftsmodelle geschlossener Holzstoffkreisläufe umzusetzen. In einem niederländischen Projekt ist von „Timber Loops“ die Rede (Coenen et al., 2022). Die vielfachen Barrieren, auf die bisherige Versuche stießen, führten dazu, dass Wissenschaftler nach Prinzipien für ein Closed-Loop Supply Chain Management (CLSC) der Wertschöpfungsketten (Supply Chains) suchten. Dabei wurde nicht weniger als ein völlig neues Denken und Handeln der Holzverarbeitungsindustrie gefordert – ein „mental shift“, „a new way of thinking and acting“ – oder, wie es in der Studie auch heißt: „Achieving CLSC management requires a structural change in the way supply chain actors think and act. Although a growing number of supply chain actors participate in the discourse on the circular economy, so far successful breakthroughs towards CLSC management are rare.“
Diese frustrierende Feststellung wurde um eine abgrenzende Gegenüberstellung der Merkmale eines klassisch linearen und des zirkulären Holzbaumanagements ergänzt (Tab. 8.5). Aber haben viele Unternehmen der etablierten Holzwertschöpfungsketten Interesse an so tiefgreifendem Wandel? Sägewerke etwa verdienen sehr gut an der Herstellung von Heizpellets – wieso sollten sie die Forderung nach höheren Anteilen der stofflichen (Alt-) Holznutzung unterstützen oder mit umsetzen? Auch schmücken sich Unternehmen immer wieder mit Nachhaltigkeitsslogans, die dem ernsten Anspruch der Konzepte nicht gerecht werden. Rechtlich ungeschützte Begriffe wie „Sortenreinheit“ hafteten an den Kartonagen von Holzwerkstoffen schon in den 1990er-Jahren. Die Hersteller verwendeten sie als Abgrenzungsmerkmal etwa gegenüber italienischen Konkurrenten (Teischinger, 2023).
8.2 Rohstoffe und Reserven
287
Tab. 8.5 Vorschläge für Wertschöpfungsketteninnovation in der Holzwirtschaft. (Nach Coenen et al., 2022) a) Lineares Supply-Chain-Management
b) Closed-Loop-Supply-Chain-Management
• Maximierung „vielschichtiger“ Wert• Maximierung der wirtschaftlichen Wertschöpfung (Nachhaltigkeitswerte) schöpfung • Wirtschaftliche und technische Produktlebens- • Technische Produktlebenszyklen • Kaskadierende, miteinander verbundene zyklen Nutzungszyklen mehrerer Güter • Endlicher Nutzungszyklus der Produkte • Abfallmanagement
Altholzklassen
Laut der Altholz-Verordnung ist Altholz im Vergleich mit dem Industrierestholz, Gebrauchtholz und belasteten Holz definiert als (AltholzV, 2020): • Altholz: „Industrierestholz und Gebrauchtholz, soweit diese Abfall im Sinne des § 3 Absatz 1 des Kreislaufwirtschaftsgesetzes sind“ • Industrierestholz: „die in Betrieben der Holzbe- oder -verarbeitung a nfallenden Holzreste einschließlich der in Betrieben der Holzwerkstoffindustrie anfallenden Holzwerkstoffreste sowie anfallende Verbundstoffe mit überwiegendem Holzanteil (mehr als 50 Masseprozent)“ • Gebrauchtholz: „gebrauchte Erzeugnisse aus Massivholz, Holzwerkstoffen oder aus Verbundstoffen mit überwiegendem Holzanteil (mehr als 50 Masseprozent)“ • PCB-Altholz: „Altholz, das PCB im Sinne der PCB/PCT-Abfallverordnung ist und nach deren Vorschriften zu entsorgen ist, insbesondere Dämm- und Schallschutzplatten, die mit Mitteln behandelt wurden, die polychlorierte Biphenyle enthalten“ Die Verordnung definiert vier Altholzkategorien: • Altholzkategorie A I: „naturbelassenes oder lediglich mechanisch bearbeitetes Altholz, das bei seiner Verwendung nicht mehr als unerheblich mit holzfremden Stoffen verunreinigt wurde“ • Altholzkategorie A II: „verleimtes, gestrichenes, beschichtetes, lackiertes oder anderweitig behandeltes Altholz ohne halogenorganische Verbindungen in der Beschichtung und ohne Holzschutzmittel“ • Altholzkategorie A III: „Altholz mit halogenorganischen Verbindungen in der Beschichtung ohne Holzschutzmittel“ • A IV: mit Holzschutzmitteln behandeltes Altholz, etwa Bahnschwellen, Leitungsmasten (siehe Fließtext)
288
8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
8.2.7.8 Altpapier Der Einsatz von Altpapier verbessert die Wasser-, Energie- und Emissionsbilanzen der Papierherstellung deutlich und schont die Holzreserven (Türk, 2014, S. 190 ff.) Die Altpapierverwertungsquote lag 2020 in Deutschland bei mehr als 90 % (Teischinger, 2023). Die 100 % gelten als technisch nicht erreichbar, etwa da gewisse Kunststoffanteile im Altpapier enthalten sind. Altpapier kann für die Bauwirtschaft vor allem als Lignin- und Zellulosequelle von steigender Bedeutung sein.
8.2.8 Technische Trennung Die vielen Barrieren dafür, dass Menschen und Institutionen das Projekt der Transformation träge vorantreiben oder nicht mitmachen, sind die Beharrungskräfte des „linearen Modells“ der Wirtschaft. Die Bedeutung der technologischen Entwicklungen der Trenn- und Materialtechniken ist groß und im Baunachhaltigkeitsdiskurs oft zu wenig beachtet. Denn sie tragen dazu bei, dass aus Abfallstoffen höherwertigeres Neues (zu) machen (ist), und stärken eine Kreislaufwirtschaft, ohne dass dafür weitrechende Verhaltensänderungen der Menschen notwendig wären. Eine präzisere und mehrstufige technische Trennung der Bauschuttfraktionen erscheint überhaupt als ein Schlüssel für eine Kreislaufführung der „Ressourcen“ der urbanen Mine. Die Entwicklung von möglichst energiesparsamen • chemischen, • physikalischen, • mechanischen, • chemisch-physikalischen, • optischen, technologischen Trennungsprozessen ist also bedeutsam (Mettke et al. 2019, S. 123). Hier ist ein Problem der mehrfach erwähnte große Anteil an Gipsbruch – aber es ist auch ein Beispiel für trenntechnische Lösungen. Bezüglich der Trennung von schädlichen Gipsfraktionen sahen Fachleute zum Beispiel schon vor einigen Jahren eine praxisnahe, technische Lösung – jedenfalls für die Trennung des Gipses von Leichtbeton. Ein unter anderem an der Universität Weimar entwickeltes mechanisches Verfahren – die Nachtrennung mit einer Attritionstrommel – führte dazu, dass eine 90 bis 95 %ige Rückgewinnung des Leichtbetons möglich war (Baufachzeitung, 2013). Das Institut für Angewandte Bauforschung in Weimar (IAB) erprobte die Farbe der Baustofffraktionen (rote Ziegel, grauer Beton, braunes oder dunkelgraues Holz) als Kriterium zur Sortierung grober Gesteinskörnungen durch sensorgestützte Verfahren in Form von Infrarotkameras, wie sie seit Jahren schon erfolgreich im Recycling in der Papier- oder Glasaufbereitungsindustrie zum Einsatz kommen (Müller, 2018, S. 125 ff.). Das Ziel sind eine Abtrennung des Bauschutts von den Störstoffen Asbest, Plastik, Papier
8.3 Exkurs: Nachhaltigkeitspfade für den Beton
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sowie Gips und die Gewinnung sortenreiner Bruchteile von Ziegel, (Leicht-, Poren-) Beton, Kalksandstein und des Gipses selbst. Das Verfahren gilt noch als zu teuer und derzeit gibt es wenig Investitionsanreize für Abfallverwertungsbetriebe. Das könnte sich mit steigender Nachfrage nach RC-Material ändern, wofür umweltrechtlich ein Ende der „Abfalleigenschaft“ notwendig wäre. „Die optische Sortierung bewirkt eine fast 100 % reine Gipsfraktion“ (Müller, 2012).
8.2.9 Massivbau ohne Mörtel mit stahlverspanntem Kalksandstein Ein Ersatz von Mörtel durch Stahlspannverbindungen in Kalksandsteinmauerwerk ist eine erforschte und taugliche Alternative, die dem Anspruch an Trennbarkeit und Wiederverwendbarkeit der Mauersteine nachkommt. Sie wurde unter dem Akronym „ReMoMab“ an der TU Dresden untersucht (Youssef et al., 2019). Dessen Erkenntnisse lauten: Massives Bauen mit sortenreiner Zerlegung und Wiederverwendung ist möglich, und zwar für alle wesentlichen Bauteile des Wandaufbaus und auch der Trockendecke. Der Kalksandstein wäre nach Rückbau wieder sortenrein wiederverwendbar. Die Bauzeit ist kürzer, der Bau auch bei niedriger Wintertemperatur möglich, die Steine können maschinell verbaut werden (Berninger, 2021). Forschungsfragen, die noch offen sind, betreffen vor allem die Wirtschaftlichkeit, realistische Wege für die Entwicklung von Rücknahmesystemen oder die Entwicklung von Baufinanzierungssystemen, die die Wiederverwendbarkeit berücksichtigen (ebd.).
8.3 Exkurs: Nachhaltigkeitspfade für den Beton Was haben Beton und Nackensteaks miteinander gemeinsam? Sie zählen zur Familie der Klimakiller. Dieses Wort entstammt dem politischen Campaigning der „Extinction Rebellion“ und hat sich auch medial rasch verbreitet – vom ZDF bis zum Deutschlandfunk ist es in Beiträgen zu hören. Im medialen „Klimablick“ verdichtet sich das Thema schließlich hoch symbolisch zur Wahl zwischen zwei alternativen Baustoffen: Beton und Holz. Entweder oder. Das Attribut „Klimakiller“ ist zwar fratzenhaft, aber nicht unverdient. Die Klimaschädlichkeit des Zements – der diesbezüglich besonders kritische Bestandteil des Betons – ist mehr als doppelt so hoch wie die des globalen Flugverkehrs (Inside Climate News, 2022; Abb. 8.7). Rund 8 % der globalen CO2-Emissionen entfallen allein auf die Zementherstellung. Wäre die Zementindustrie ein Land, wäre sie nach China und den Vereinigten Staaten der drittgrößte Klimasünder der Welt. Denn bei rund 1450 Grad Celsius muss Kalk zu Zementklinker erhitzt werden und das kostet Unmengen (fossiler) Energie, zudem der chemische Prozess der Kalzinierung viel CO2 freisetzt. Aber es gibt einige Ansätze, wie der Beton klimafreundlicher zu produzieren oder einzusetzen wäre; die Alternativen sind oft noch in der Forschungsphase.
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8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
Abb. 8.7 Zement trägt in die Höhe: Ressourcen-intensiver Neubau der Hochhäuser „Four Frankfurt“. (Foto Jan Grossarth)
8.3.1 Biogene Additive Nachwachsende Rohstoffe müssen nicht gegen den Beton ausgespielt werden. Sie lassen sich ihm auch beimischen. Dann verschlechtern sich meist zwar die Eigenschaften wie Druck- und Zugfestigkeit, aber die Klimabilanz verbessert sich. Beispiele sind Papierasche, Hanfstroh oder Miscanthusfasern; auch sind Anwendungen im 3-D-Betondruck möglich (Acikel, 2011; Luhar et al., 2020). Für einen Betonbaustoff mit Stroh- und Holzasche gab es in Österreich sogar schon einmal eine unternehmerische Gründung, vielleicht aber zu früh. Denn der sogenannte Mixolith (Berger et al., 2008) verschwand offenbar wieder vom Markt. Das Mehl der Kaktusfeige als Bindemittel erhöhte sogar die Druckfestigkeit des Betons. Allerdings wird das Weltklima so nicht zu retten sein. Durch Kaktusfeigenmehl ließen sich nur 0,5–1 % des Zementpulvers ersetzen (Aquilina et al., 2018); andere Studien weisen Werte bis 4 % aus. Die Kaktusfeige kann geradezu als Musterbeispiel für eine bioökonomische Vielfachnutzung eines nachwachsenden Rohstoffes gesehen werden, da aus ihren Früchten auch Farbstoffe gewonnen werden
8.3 Exkurs: Nachhaltigkeitspfade für den Beton
291
können und die Früchte auch Speiseobst sind. Sie können in Agroforstsystemen sinnvoll integriert werden. Eine andere Frage aber ist, ob eine biogene Beimischung im Zement überhaupt gewünscht ist. Denn sie führt zu einer erschwerten Trennbarkeit der technosphärischen (mineralischen) und biogenen (nachwachsenden) Baustoffe.
8.3.2 Einfach, trennbar und langlebig bauen Wäre es also nicht besser, druckfeste Betonteile so zu konstruieren, dass sie „ewig“ halten? Das entspräche dem Ideal des Cradle to Cradle – Bauteile, die ewig wieder verwendet werden. Je länger die Lebenszeit eines Gebäudes, desto besser sind die Lebenszyklusbilanzen. Und wenn Betondecken oder -träger – und das selbst auch im Fall von Stahlbauteilen – verschraubt sind, können sie schadfrei getrennt und wiederverwendet werden. Beton hat so gesehen eine je größere Zukunft, je einfacher das Bauen von morgen sein wird. Ein Betonhaus in Bad Aibling des erwähnten Forschungsprojektes „Einfach Bauen“ der TU München wies ordentliche Emissionswerte auf, weil die Wissenschaftler auf sortenreinen Bau setzten (Kap. 1). Dass im Grunde Langlebigkeit die große Stärke des Betons sein kann, wissen Besucher Roms: Das Pantheon steht seit fast 2000 Jahren und wurde aus Opus Cementitium erbaut, einem entfernt verwandten Vorläufer des heutigen Betons (Abschn. 8.4).
8.3.3 Textil bewehrter Beton oder Karbonbeton In den Nachkriegsjahrzehnten setzte sich, für den Decken- wie Brückenbau, mit Stahl bewehrter Beton als Baustoff durch. Aber er kann Schaden nehmen, wenn Wasser eindringt. Deshalb müssen nun viele Brücken abgerissen und neu errichtet werden. Die Langlebigkeit kann stark zunehmen, wenn die Korrosionsgefahr durch neue Materialien verringert wird. Marcus Ricker von der Hochschule Rhein-Main hat mit Co-Autoren untersucht, wie sich ein Beton bewährt, der mit textilen Fasern bewehrt ist (Ricker et al., 2022). Er verwendete etwa in Epoxidharz getränkte Hanffasern. Das erste Ergebnis: Die Druckfestigkeit ist gegenüber unbewehrtem Beton höher. Das Material kann sich vielleicht nicht für den Brücken-, aber doch für den Deckenbau eignen. Zudem verbessert sich die Klimabilanz. Ein Arbeitskreis eines Fraunhofer-Institutes (2018) arbeitet auch mit Textilbewehrungen aus Flachs. In all diesen Fällen stellt aber die Kunstharzverwendung zur Erhärtung der bewehrenden Fasern einen ökologischen Nachteil bezogen auf die Trennbarkeit und Wiederverwendbarkeit nach Lebenszyklusende dar. Dieser Einwand der aufwendigen Trennbarkeit betrifft auch den Karbonbeton (Scope et al., 2022). Ein Vorteil des Textilbetons ist es, dass dünnere Betondeckungen möglich sind,
292
8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
da keine Korrosionsgefahr besteht, was schlankere Bauweisen und Materialeinsparungen ermöglicht (Rampel et al., 2015, Adam et al., 2020). Nachteile sind, dass für den Einsatz noch Einzelfallzulassungen nötig sind und die Herstellung der Bewehrungen des Karbonbetons sehr CO2-intensiv ist.
8.3.4 Selbstheilender Beton An einer anderen Stelle setzt ein Forschungsprojekt der TU München an. Die Idee: Ein Beton, der seine Risse selbst repariert und dadurch noch länger hält (Baunetzwissen, o. D.). Man nutzt dazu Bakterien, die Kalkablagerungen erzeugen. Sie leben auf, sobald der Beton Risse bildet und Feuchtigkeit eindringt – ein einschlägiger Anwendungsfall der Bau-Bioökonomie. An Ähnlichem forscht die Hochschule München. Hier sucht man nach Sporen, die bestenfalls Jahrzehnte oder Jahrhunderte ohne Wasser und Nährstoffe überleben können (HS München, 2021). Diese Anwendung verspricht, die Langlebigkeit von Betonfassaden zu erhöhen. Es gibt neben den Bakterien weitere Ansätze, dem Beton einen Schutzschirm überzustülpen – etwa aus Plastik (Polymeren) oder Mineralien. So wurden schon Kunststoffe der Klassen Polyurethane und Polyacrylate zur Heilung von Betonrissen verwendet (de Belie et al., 2018). „Selbstheilung kann die konkrete Lebensdauer um einen erheblichen Betrag verlängern, führt jedoch zu viel höheren Produktionskosten“, resümieren Wissenschaftler der Universität Rio (da Costa et al., 2021).
8.3.5 Leichtbeton, Gradientenbeton und Holzhybriddecken Jahrzehnte wurde an vielen Stellen aus heutiger Sicht unnötig – auf Basis des damaligen Standes des Wissens und der vorherrschenden Prioritäten jedoch nachvollziehbar – viel Beton verbaut. Solange die Energie billig war, ließ sich mit derartigen „Materialvergeudungen“ zum Beispiel haftungsrechtlichen Problemen vorbeugen. Allein durch dünnere Wände wie auch luftigere Betonwerkstoffe ließe sich die Klimabilanz verbessern. Für diese Idee steht vor allem Werner Sobek von der Universität Stuttgart. Eines seiner Rechenbeispiele: Die sogenannte graue Energie – alle Energie, die in der Bausubstanz steckt – eines 20-etagigen Hochhauses ließe sich mehr als halbieren, wenn statt konventionellen Stahlbetons weniger Material in den Fassaden und Hohlkörperdecken eingesetzt würden. Der Großteil der Einsparungen entfiele dabei auf den Beton; ein geringerer entfiele auf CO2-reduzierten Bewehrungsstahl. Verwendet man nun zusätzlich noch Holzhybriddecken, die aus Holz und Beton bestehen, verbesserte sich die Bilanz von 433 kg auf nur noch 94 kg CO2-Äquivalenten je Quadratmeter Wohnfläche. Eine weitere Idee Sobeks: Die Verwendung von Gradientenbeton, der viel Luft enthält und dem Aufbau von Knochen nachempfunden ist. Er bringt großes Einsparpotenzial. Schließlich ist die Klimaschädlichkeit des Zements auch keine reine Materialfrage. Die Politik müsste zum Beispiel aufhören, ländliche Wohngebiete für Einfamilienhäuser auszuweisen. Denn
8.3 Exkurs: Nachhaltigkeitspfade für den Beton
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ihre Klimabilanzen sind – inklusive der nötigen Erschließung – vielfach schlechter als die des urbanen Wohnens in mehrstöckigen Häusern (Weidner et al., 2021; Wörner et al., 2016). Zudem wird die Attraktivität des Lebens auf dem Land durch diese Zersiedlung verringert.
8.3.6 Carbon Capture and Storage Überhaupt die große unbekannte Variable in dieser Rechnung ist die Entwicklung des Carbon Capture and Storage (CCS). Wird es möglich sein, einen Großteil der CO2-Emissionen direkt am Zementwerk aufzufangen und in tiefen Gesteinsschichten der Erde zu verpressen? In Norwegen hat die erste Fabrik im Jahr 2021 damit begonnen. So wurde die Hälfte ihrer Emissionen eingespart (MAN, 2021). Heidelberg Cement sieht in dieser Technologie den Weg, künftig klimaneutral zu werden. Aber noch war dies Anfang der 2020er Jahre teuer. Der Zementpreis müsste sich etwa verdoppeln (Strunge, 2021).
8.4 Exkursion: Lernen vom römischen Opus Caementitium? Rom ist der Ort, an dem der Baustoff Beton seine zwei Seiten zeigt: Langlebigkeit und Marodität (Abb. 8.8). Die Langlebigkeit sieht man zum Beispiel im Trajansforum im antiken Zentrum. Dort überdauert römische Betonbaukunst in vielen Formen: als tragende Wände, Säulen, innen und außen – der Witterung fast 2000 Jahre ausgesetzt, aber unumstößlich. Im Kern bestehen diese Gemäuer aus felsenfestem Ziegelbruch-Mischmasch. Sie sind ein Fall von vorbildlichem „Upcycling“ von Bauschutt, würde man heute im Nachhaltigkeitsjargon sagen. Außen sind die Wände verkleidet mit Ziegeln oder Marmorscheiben. Innen sind sie zusammengeklebt vom Urahnen des Betons, dem
Abb. 8.8 Zwei Zementwelten in Rom: langlebiger Opus Caementitium im Trajansforum, kurzlebiger Stahlbeton in Strandnähe. (Fotos Jan Grossarth)
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Abb. 8.9 Kiesbeton lässt sich durch Einfärbung optisch attraktiver machen. (Foto Jan Grossarth)
„Opus Caementitium“. Und an antiken Orte wie dem Trajansforum offenbart sich auch nicht nur die Beständigkeit der antiken Baustoffe, sondern auch die Vielzahl der damaligen Baustoffhandwerkskunst. Es gab im Alten Rom – von Tausenden Sklaven – handgefertigte Ziegel von vielen Marken, die an eigenen Stempeln zu erkennen waren, ein Qualitätswettbewerb. Rom – oder eigentlich: ganz Italien – aber ist auch ein Ort, an dem man die Sünden der zementierten Ingenieurskunst der Nachkriegsjahrzehnte bestaunen darf. Eine kurze Fahrt nach Ostia, dem römischen Hafen, genügt etwa. Dort sieht man, in erster Reihe am Meer, zum Beispiel eine betongegossene Tankstelle der 1950er-Jahre. Sie ist jung, aber schon eine Ruine: Korrosionsschäden, würde der Baugutachter sagen. Rostige Stahlgestänge winden sich aus der bröckligen Betonmasse, Absperrbänder verhindern den Zugang. Niemand will von diesem Bauwerk mehr etwas wissen. Hundertfach mehr davon steht an Italiens Küste und im Inland, wo die zementstarken Brücken todessüchtig brechen. Früher war zwar auch am Bau nicht immer alles besser, aber der Beton im lateinischen Weltreich in vieler Hinsicht schon. Doch warum eigentlich? Die Korrosionsschäden, die ärgerliche Kurzlebigkeit der Ingenieursbauwerke des 20. Jahrhunderts sind einerseits ein spezielles Thema des Stahlbetons, etwa in Verbindung mit eindringender
8.4 Exkursion: Lernen vom römischen Opus Caementitium?
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Salzluft und Wasser. Doch auch jenseits dessen gibt es Unterschiede der Betonrezepturen, auf die es ankommt. Da muss doch etwas dran sein am römischen Zement, dessen Bauwerke 2000 Jahre überleben? Bis heute steht – ein weiteres Beispiel – die Kuppel des im Jahr 128 nach Christi Geburt aus Opus Caementitium errichteten römischen Pantheons. Noch heute läuft Wasser über uralte Aquädukte und sogar durch unterirdische Rohre aus diesem Material. Die Spurensuche in der antiken Baustofflehre erscheint umso wichtiger, als dass unter Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung in der „Klimasünderbranche“ Bau auch größere Langlebigkeit verstanden werden sollte. Die genaue Rezeptur des Opus Caementitium lässt die chemische Wissenschaft bis heute rätseln. Sogar Ochsenblut wurde diesem Baustoff beigemischt. Vor einigen Jahren erst fanden Forscherinnen der Universität Utah heraus, wie die zugegebenen Vulkanaschen die Selbstheilungskräfte des Betons stärkten – etwa wenn Meereswasser in Hafenanlagen eindrang (Jackson et al., 2017). In einer Studie im Journal American Mineralogist beschrieben sie 2018, welche chemische Reaktion von Meerwasser, Kalk aus Kalkstein und Vulkanasche der Grund für die Haltbarkeit sei. Die Aschen, sogenannte Puzzolane, waren schließlich, wie durch Laboruntersuchungen belegt wurde, vom Ort Pozzuoli bei Neapel weit transportiert und in Schiffen transportiert worden. Aber damit war doch nicht alles erklärt. Jetzt meldet die Wissenschaft den nächsten Erkenntnisdurchbruch. Admir Masic, ein Professor für Bau- und Umweltingenieurwesen des amerikanischen MIT, der noch einige Jahre zuvor am deutschen Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam geforscht hatte, hat mit seiner Doktorandin Linda Seymour und anderen den antiken „Beton“ noch genauer unter die Lupe genommen. Denn ihm, Masic, kam ein Detail an der bisherigen Baustoff-Geschichtsschreibung allzu merkwürdig vor: Waren es wirklich nur die puzzolanischen – also die für die Festigkeit des Betons entscheidende Nachhärtung verantwortlichen – Materialien wie Vulkanasche, die die lange Haltbarkeit verursacht hatten? Masic aber interessierte ein anderes Detail. Im Mikroskop sah er winzige, weniger als Millimeter kurze Mineralien. „Kalkklasten“ werden diese genannt. Nun gingen er und seine Forscher also diesen Kalkklasten auf die Spur. Das sind mikroskopisch kleine Teilchen des Kalksteins, die aus Fragmenten der Skelette uralter Korallen oder amöbenartiger Einzeller entstanden sind. Die Wissenschaftler um Masic von der amerikanischen Harvard-Universität haben mit Unterstützung aus Italien und der Schweiz die Spur der Kalkklasten genauer verfolgt und die Ergebnisse in dem Journal Science Advances veröffentlicht (Seymour et al., 2023). Die Kalkklasten, sagt die neue Studie, verliehen dem Beton Selbstheilungsfähigkeit. Derartige Kalkklasten seien „in modernen Betonformulierungen nicht zu finden“, sagte Masic dem Wissenschaftsdienst Eurakalert: „Warum sind sie also in diesen alten Materialien vorhanden?“ Bislang habe es geheißen, sie seien nur durch Vermischungen durch schlampige Arbeiter dort hineingeraten. „Wenn die Römer also so viel Mühe darauf verwendeten, ein hervorragendes Baumaterial herzustellen, nach genauen Rezepturen, die über Jahrhunderte optimiert wurden – warum sollten sie sich dann so wenig Mühe geben, ein gut gemischtes Endprodukt herzustellen?“
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Mikroskope, bildgebende Verfahren und chemische Kartierungstechniken halfen bei der Wahrheitssuche. Dabei fanden die Forscher heraus, dass der Opus Caementitium nass gemischt wurde, und zwar heiß. Das Geheimnis der Haltbarkeit liege also, heißt es, im heißen Mischen des gebrannten Kalkpulvers mit Wasser. Dieses setze eine unterschiedliche Reaktion in Gang. Die Wissenschaftler fertigten, um ihre Hypothese zu belegen, Proben heiß gemischten Betons nach römischer Art mit Branntkalk. Sie erzeugten kleine Risse im abgehärteten Material und stellten fest, dass sich diese tatsächlich „selbst heilten“. War kein Branntkalk enthalten, geschah das nicht. Die Kalkklasten bildeten so eine sprödere Struktur aus. Das mache, nach Erhärtung des „Cements“, dieses Material reaktiv mit eindringendem Wasser. Durch die Reaktion entstehe eine kalziumgesättigte Lösung, die die Risse „heile“. Eine Reaktion mit den puzzolanischen Aschen komme hinzu – somit ist die „alte“ Erklärung vom Geheimnis der Haltbarkeit gewissermaßen nicht außer Kraft gesetzt, sondern ergänzt. Schon bald, verriet Masic, solle die Rezeptur kommerziell genutzt werden. Dann könnte sie auch für Unternehmen wie Heidelberg Cement interessant werden. Masic spricht von Einsatzmöglichkeiten im 3-D-Druck von Betonbauwerken. Somit gibt es nun ein weiteres Puzzleteil der Hoffnung, dass auch eine klimagerecht lebende Menschheit in Zukunft auf den Beton nicht verzichten muss. Denn die Zementproduktion verursacht etwa 8 % der globalen Treibhausgasemissionen, mehr als doppelt so viel wie der globale Flugverkehr, und schon deshalb ist nichts so nachhaltig wie der langlebige Bau.
8.5 Vom Kreislaufwirtschaftsgesetz zur Zirkulärwirtschaft Die Vision des zirkulären Bauens reicht über die Praxis und die kleinteiligen Fortschritte der Kreislaufwirtschaft hinaus. Wer von Circular Economy spricht, zielt auf tiefgreifende Veränderung in der gesamten (Bau-)Wirtschaft ab. Darüber hinaus, bedeutet Zirkulärwirtschaft deren Einbettung in „ein neues Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, in dem der Mensch seine Rolle als selbstverständlicher und unterstützender Teil eines größeren Metabolismus innerhalb geschlossener Materialkreisläufe einnimmt“ (Heisel & Hebel, 2021, S. 11).
Abgesehen von der Frage, inwiefern die sympathische Idee, als Mensch oder Unternehmen eine „Rolle als selbstverständlicher und unterstützender Teil eines größeren Metabolismus“ einzunehmen, auch tatsächlich im Alltag der Menschen handlungsanleitend werden könnte, ist zu fragen: Wie kommt es überhaupt zu solchen Ideen, wie sind sie ideengeschichtlich geworden? Den Befund einer planetarischen „Kreislaufstörung“ machte schon Karl Marx, der um das Jahr 1860 den Begriff „Metabolismus“ im Zusammenhang mit der beschleunigten Urbanisierung dieser Zeit und eines entsprechend veränderten „Stoffwechsels“ von Stadt
8.5 Vom Kreislaufwirtschaftsgesetz zur Zirkulärwirtschaft
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und Land wohl erstmals nutzte (Saito, 2017). Der Begriff des „urban metabolism“ ist in den Geo- und Umweltwissenschaften und in der Stadtgeographie gebräuchlich (Kennedy et al., 2011; Walker & Beck, 2012). Der Gedanke der Kreislaufwirtschaft im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und der EU ist ebenfalls nicht neu. Mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz von 1996 ist er seit beinahe 30 Jahren in Deutschland gesetzlich verankert. Erfolge sind sichtbar. Die Recyclingquoten in sämtlich davon erfassten Stoffgruppen sind seitdem stark angestiegen, aber die Degradation of Matter (Nicholas Georgescu-Roegen) – also der Verlust an Materialqualitäten durch Downcycling – ist damit wohl nur gebremst, nicht gestoppt. Die Idee der Zirkulärwirtschaft meint mehr als nur hohe Recyclingquoten (geläufiger ist hierfür auch im Deutschen der englische Begriff Circular Economy). Eine Wiederverwendung von Baumaterialien oder sogar eine noch stärkere Inwertsetzung durch Upcycling von Abbruchmasse wären weit mehr als die mittlerweile etablierten Materialkreisläufe. Denn meist werden Abbruchmaterialien nur energieaufwendig getrennt, sortiert und dann häufig zu deutlich weniger wertvollen Zwecken wiederverwertet. Das Konzept der Zirkulärwirtschaft bezeichnet letztlich das Ideal einer Volkwirtschaft ohne Abfälle. Dieser Gedanke entspricht dem radikalen Verständnis von Bioökonomie (zur Kritik daran vgl. Abschn. 8.7.5). In der Praxis geht es ohnehin um einen Annährungsprozess, aber Visionen können diesen womöglich beschleunigen.
8.5.1 Kreislaufwirtschaftsgesetz Das KrWG definiert Abfälle, in Abgrenzung von Reststoffen, wie folgt: „Abfälle im Sinne dieses Gesetzes sind alle Stoffe oder Gegenstände, derer sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss. Abfälle zur Verwertung sind Abfälle, die verwertet werden; Abfälle, die nicht verwertet werden, sind Abfälle zur Beseitigung“ (§ 3, 1 KrWG).
Der Unterschied zu Reststoffen als Nebenprodukten der Produktion ist, dass diese – anders als Abfälle – wieder in die Produktion neuer Güter oder von Energie einfließen. Haben sie einen relativ hohen Marktwert, sind es Koppelprodukte, ist es ein geringer Wert, sind es Nebenprodukte der Produktion. Das Kreislaufwirtschaftsgesetz (KrWG) brachte wesentliche Änderungen der Stoffströme. Es leitete das Ende der Hausmülldeponien und einen deutlichen Rückgang des Anwachsens der Bauschuttdeponien ein. Die wesentlich neuen Prinzipien waren die • Produzentenverantwortung für den Umgang mit Abfällen und • Rücknahmepflichten für Abfall/Wertstoffe (Grüner Punkt, Duales System).
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Diese Gesetzgebung war damals weder in der federführenden CDU noch in der Wirtschaft unumstritten: Als 1994 das KrWG vom Parlament verabschiedet und 1996 in Kraft trat, sahen Industrieverbände geradezu den Wirtschaftsstandort Deutschland durch die bürokratischen Zumutungen in Gefahr. Der maßgeblich verantwortliche Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) sah sich derart lautender Kritik aus Wirtschaftskreisen ausgesetzt (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1993). Diese Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht, stattdessen inspirierte die „neue Sicht auf den Abfall“ technische Entwicklungen aus dem Bereich der Umweltingenieurswissenschaften, von Abfallverbrennungsanlagen bis hin zu Trennungs- und Wiederverwertungstechnologien. Mit dem KrWG war Deutschland der Ideengeber für die europäische Rahmengesetzgebung, die es inspirierte. Die KrWG-Novelle von 2012 war die Basis für die EU-Abfallrahmenrichtlinie. Mittlerweile fallen unter dieses „Dach“ etwa auch die • Verpackungsrichtlinie, • Elektroaltgeräterichtlinie, • Batterierichtlinie, • Altfahrzeugrichtlinie, • Deponierichtlinie. Nun dürfte zukünftig auf diesem Weg der Abfallrahmenrichtlinie der Pfad in Richtung Zirkulärwirtschaft ausgebaut werden: Weitere Novellierung des europäischen Abfallrechtsrahmens sollen den Weg von der Kreislaufwirtschaft in die Zirkulärwirtschaft ermöglichen. Schon die zurückliegende KrWG-Novelle von 2020 setzt einen verstärkten Fokus darauf, die Wiederverwendung von Baustoffen zu etablieren. Neu ist hier etwa die Pflicht der öffentlichen Hand, zirkuläre oder biogene Baustoffe zu priorisieren wie auch die Faktoren Langlebigkeit, Reparatur- und Recyclingfähigkeit zu berücksichtigen, allerdings vorbehaltlich eines vertretbaren Kostenrahmens (BPIE, 2022). Auch schreibt das KrWG für Bau- und Abbruchabfälle vor, dass bundesweit 70 % wiederzuverwenden seien (§ 14, Abs. 2). Kreislaufwirtschaftsgesetz und die Abfallhierarchie
Das KrWG regelt die Entsorgung von Abfällen auf betrieblicher Ebene. Seither müssen Wertstoffe vom Verursacher getrennt, gesammelt und sortiert werden. Die Sortierreste, die nicht verwertbar sind, müssen ferner behandelt oder verbrannt werden. Ausnahmen sind etwa tierische Nebenprodukte, Bergbauabfälle, gasförmige Stoffe, Kampfmittel oder Stoffe, die mit Abwässern über Klärwerke in Flüsse (Vorfluter) eingeleitet werden, für die je eigene rechtliche Regelungen gelten.
8.5 Vom Kreislaufwirtschaftsgesetz zur Zirkulärwirtschaft
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Neben den genannten ist der wichtigste Aspekt des Kreislaufwirtschaftsrechts das zentral verankerte Prinzip (§ 6) der fünfstufigen Abfallhierarchie. Es verlangt von Unternehmen in dieser Reihenfolge je nach Möglichkeit die 1. Vermeidung, 2. Vorbereitung zur Wiederverwertung, 3. das Recycling, 4. die energetische Verwertung, Verfüllung, sonstige Verwertung, 5. die Beseitigung von Abfällen.
Grafik 8.2 Nicht eben „Suffizienz“: Global dürfte sich der Verbrauch aller Rohstoffgruppen etwa verdoppeln. (Skizze JG)
8.5.2 Ersatzbaustoffverordnung Seit August 2023 ist die Ersatzbaustoffverordnung in Kraft, der jahrelange Gesetzgebungshistorie zugrunde liegt. „Gegenstand der Verordnung ist die Regelung mineralischer Ersatzbaustoffe, also von aus Recyclingmaterial, Nebenprodukten oder Abfällen gewonnenen Baustoffen.“1 Ziele der Verordnung sind:
1 https://ersatzbaustoffverordnung.de/.
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• Rechtsunsicherheiten bzgl. der Verwendung und Verwertung von mineralischen Ersatzbaustoffen für alle Beteiligten aufzuheben, • Bürokratieabbau bzgl. des Einbaus bzw. der Verwendung von mineralischen Ersatzbaustoffen, • Erhöhung von Wettbewerbschancen bei bundesweiten Bauleistungen und Lieferleistungen durch Aufhebung länderspezifischer Regelungen. Sie gilt aber nur für den Bau zu technischen Zwecken und mineralische Ersatzbaustoffe wie etwa: • Bodenmaterial der Klassen 0, 0*, F0*, F1, F2, F3, • Baggergut der Klassen 0, 0*, F0*, F1, F2, F3, • Hochofenstückschlacke der Klassen 1, 2, • Kupferhüttenmaterial der Klassen 1, 2, • Steinkohlenflugasche, • Hausmüllverbrennungsasche der Klassen 1, 2, • Recyclingbaustoff der Klassen 1, 2, 3, • Ziegelmaterial, • Gleisschotter der Klassen 0, 1, 2, 3.
8.5.3 Kreislaufgedanke in der Bauprodukteverordnung Seit 2013 in Kraft, enthält die Europäische Bauprodukteverordnung (EU, 2011) bereits im Grundsatz – wenn auch gewiss nicht in der visionären Radikalität des Green-DealTextes – den Gedanken des „circular design“ von Baumaterialien. Laut Anhang I zählt zu den Grundanforderungen, die Bauwerke zu erfüllen haben, neben der Gewährleistung der Standsicherheit, dem Gesundheits- und Umweltschutz auch die nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen, denn „das Bauwerk muss derart entworfen, errichtet und abgerissen werden, dass die natürlichen Ressourcen nachhaltig genutzt werden“ (Punkt 7, Anhang I). Insbesondere muss dafür laut Verordnung Folgendes gewährleistet werden (vgl. Achatz et al., 2021): • Das Bauwerk, seine Baustoffe und Teile müssen nach dem Abriss wiederverwendet oder recycelt werden können. • Das Bauwerk muss dauerhaft sein. Für das Bauwerk müssen umweltverträgliche Rohstoffe und Sekundärbaustoffe verwendet werden.
8.6 Aspekte einer Kreislaufwirtschaft im Bauwesen
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8.6 Aspekte einer Kreislaufwirtschaft im Bauwesen „Das Projekt bleibt einer Mondmission vergleichbar, weil die Ausmaße so gigantisch und die Aufgaben, die wir zu lösen haben, so komplex sind. Und es gilt für einen ganzen Kontinent“ (Ursula von der Leyen, Kommissionspräsidentin, über den EU Green Deal; Zeit, 2022).
Die Zirkulärwirtschaft ist schon seit vielen Jahren eine maßgebliche Ambition der Umweltpolitik. Seit 2019 ist sie auch ein Kernstück der europäischen Industriestrategie mit dem Ideal einer Wirtschaft ohne Abfall, also mit geschlossenen Stoffkreisläufen. Der Weg dahin ist im Rahmen des „EU Green Deal“ aufgezeigt im Aktionsplan Zirkulärwirtschaft (Circular Economy Action Plan). In dem Leitdokument des „grünen Deals“ der Vereinigten Staaten – dem Inflation-Reduction-Act – war das Wort „circular“ bemerkenswerterweise Anfang 2023 auf 184 Seiten hingegen kein einziges Mal enthalten (US Gov, 2022). Warum, das wäre eine interessante Forschungsfrage. Die folgenden Abschnitte fassen wichtige Aspekte des Ideals einer Zirkulärwirtschaft des Bauens zusammen.
8.6.1 Definitionen Ähnlich wie die Nachhaltigkeit sind die Kreislaufwirtschaft oder das radikalere Konzept der Zirkulärwirtschaft theoretisch vage Begriffe, die durch ihre in vielen Nuancen verschiedene Thematisierung in ihrer Ideen- und Begriffsgeschichte, aber vor allem durch die Praxis der Gesetzgebung und der Abfallwirtschaft konkretisiert wurden: Die Europäische Union formuliert im Rahmen des „Green Deal“ weitreichende Ansprüche an eine Zirkulärwirtschaft. Im Aktionsplan Zirkulärwirtschaft der EU-Kommission heißt es, dieser Plan folge einem „Modell des regenerativen Wachstums, das dem Planeten mehr zurückgibt als es ihm nimmt [und sorgt dafür, dass der] Ressourcenverbrauch innerhalb der Belastungsgrenzen des Planeten bleibt“.
Konkret heißt es im EU-Strategiedokument, dass der „Verbrauch zu senken und … der Anteil kreislauforientiert verwendeter Materialien in den kommenden zehn Jahren zu verdoppeln“ sei (EU Kommission, 2020). Zirkulärwirtschaft ist in diesem Sinne ausdrücklich durch eine planetarische Perspektive und den Bezug zu den planetarischen Belastungsgrenzen (Planetary Boundaries) definiert, die Ende der 2000er-Jahre vom Stockholm Resilience Centre definiert wurden (SRI, 2022). Offensichtlich neu ist die planetare Grenzsetzung. Demgegenüber war der Ansatz des KrWG eher am Anspruch der Vermeidung lokaler und regionaler Müll- und Abfallentsorgungsprobleme orientiert. Die Umweltorganisation WWF (2020) definiert die Zirkulärwirtschaft als
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„regenerative system, driven by renewable energy that replaces the current linear 'takemake-dispose' industrial model. Materials are instead maintained in the economy, resources are shared, while waste and negative impacts are designed out. A sustainable Circular Economy creates positive environmental and society-wide benefits and functions within planetary boundaries, supported by an alternative growth and consumption narrative“ (Prakash et al. 2022).
Hier ist die Weitung der Stoffstrombetrachtung auf die „sozialen Nutzen“ der Zirkulärwirtschaft bemerkenswert. In diesem Sinne ist in der Literatur auch manchmal von „sozialer Zirkularität“ die Rede. Dann würde die Zirkulärwirtschaft neben dem „stoffstromlichen“ auch einen „soziotechnischen Wandel“ bedeuten, was sich etwa in Modellen einer Shared Economy niederschlage, einem strukturellen Wandel von einem „Konsumkapitalismus“ zu Geschäftsmodellen, die auf Verleih basieren (Hobson, 2020). Der Konsument würde damit tendenziell zum Nutzer werden. Das Konzept erinnert an aus der Informationstechnologie vertraute Software-Geschäftsmodelle (User). Vermutlich wäre eben dies solch ein „alternatives Narrativ“, wie es der WWF verlangt. Heisel und Hebel (2021, S. 13) denken wiederum eher an Baumaterialienschonung. Sie definieren die Zirkulärwirtschaft mit ihrer eigenen Metaphorik: „Kreislaufwirtschaft als ein sich selbst erholendes und erneuerndes Wirtschaftssystem, dessen Prämisse der Erhalt des höchstmöglichen Nutz- und Geldwertes seiner Materialien und Produkte in geschlossenen Stoffkreisläufen ist.“
8.6.2 Stoffstrommanagement Der messbare Indikator für Fortschritte der Zirkulärwirtschaft sind die Stoffströme einer Volkswirtschaft – beziehungsweise ihre Geschlossenheit. Das Stoffstrommanagement ist in Deutschland akademisch etabliert, etwa am Umweltcampus Birkenfeld der Hochschule Trier,2 am KIT Karlsruhe3 oder ohnehin auch im betrieblichen Umweltmanagement4 (DIN EN 14001). Die Erstellung von Fließbildern zur Visualisierung gibt einen ersten Eindruck über die Rohstoffflüsse, die mit der Wirtschaftstätigkeit verbunden sind (VDI, 2023). Die Stoffströme im Bauwesen – rund 60 % des gesamten deutschen Abfallaufkommens – sind durch hohes Recycling, aber starke Qualitätsverluste gekennzeichnet. Das betrifft vor allem die Hauptfraktionen
2 https://www.stoffstrom.org/institute/aktuelles/?lang=en. 3 https://www.itas.kit.edu/index.php. 4 https://www.umweltpakt.bayern.de/management/fachwissen/226/stoffstrommanagement-im-betrieb.
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• Bodenaushub und Schutt, • Straßenaufbruchmaterial, • übrige Baustellenabfälle (Gemische aus Steinbruch, Sand, Gipsbruch, EPS-Dämmplattenbruch, Betonbruch, Rohr- und Kabelleitungsreste, Ziegel, Holzbruch und vieles mehr; Umweltbundeamt, 2022a, b). Die mehr als 90 %ige Verwertungsquote dieser Stoffströme darf nicht darüber täuschen, dass der Großteil „nur“ im Straßenbau wieder eingesetzt wird (ebd.).
8.6.3 Zirkuläres (Gebäude-)Design Die Prinzipien der demontagegerechten Konstruktion (Design for Disassembly) weichen von „konventioneller“ Planung ab, da sich Kosten- und Materialabnutzungskalkulationen hier über längere Zeithorizonte erstrecken müssen (Elbers, 2022). Das Produktdesign als Disziplin ist historisch zwar mit der linearen Ökonomie entstanden („take-make-dispose“), aber versteht man in dieser Tradition Produkte ausdrücklich als zeitgebunden und von begrenzter Lebensdauer. Das Wort „geplante Obsoleszenz“ bezeichnet sogar eine bewusst umgesetzte Strategie der geplanten begrenzten Haltbarkeit von Konsumund Gebrauchsgegenständen (Moreno et al., 2016). Davon grenzt sich der Planungsanspruch des Circular Design ab. Auch der historische Faden des Dessauer oder Weimarer Bauhauses wird im zirkulärökonomischen Sinn somit neu interpretiert. Bettete das historische Vorbild die neuen Möglichkeiten seiner Zeit, industriell zu bauen, noch vorrangig in den Kontext der sozialen Frage sowie kulturell ein, so beinhaltet der Anspruch einer „ökologischen Einbettung“ im Rahmen des Neuen Europäischen Bauhauses der 2020er-Jahre nun die Absicht einer Abkehr vom linearen Design. An dessen Stelle tritt eine umfassende Lebenszyklusorientierung im Sinne einer Berücksichtigung der Reparatur- und Wiederverwendungsmöglichkeiten. Die Planung von Prozessen und das Produktdesign müssten sich umfassend an dem Ideal der Zirkularität orientieren. Das betrifft viele Ebenen, etwa: • Materialkompositionen, • Materialverbindungen, • Materialhaltbarkeit, • Kommunikation: Zertifizierung, Marketing, Rückbauanleitungen, • Geschäftsmodelle: Verleih statt Verkauf, • die Stadtplanung (Bebauungspläne, Baugebietsnachweise).
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Prinzipien des zirkulären Designs
Eine Produkt-, Prozessgestaltung und Bauplanung hinsichtlich der Wiederverwertbarkeit sind oft die Voraussetzung für ihr Gelingen. Die amerikanische EllenMcArthur-Stiftung (2022) hat drei Prinzipien für das Circular Design formuliert. Sie lauten verkürzt: • Prinzip 1: Erhaltung und Verbesserung der natürlichen Ressourcen, kontrollierter Abbau endlicher Bestände, Ergänzung der Stoffströme durch erneuerbare Ressourcen mit Bedacht; • Prinzip 2: Optimierung der Ressourcenerträge. Produkte, Komponenten und Materialien werden jederzeit – sowohl in technischen als auch in biologischen Kreisläufen – mit dem höchsten Nutzen eingesetzt und zirkulieren möglichst lange; • Prinzip 3: Verringerung von Schäden für den Menschen (in den Bereichen Nahrung, Mobilität, Unterkunft, Bildung, Gesundheit und Unterhaltung); Minimierung negativer externer Effekte durch Landnutzung, Luft-, Wasser- und Lärmverschmutzung, Freisetzung toxischer Substanzen und Klimawandel (EMA, 2022).
Die deutschen Forschungsinstitute Ökoinstitut, Fraunhofer ISI und die FU Berlin stellen als wichtigste Merkmale der Zirkulärwirtschaft in einer Auftragsstudie für den WWF unter anderen folgende Kernelemente heraus, die den Prinzipien der McArthur Foundation stark ähneln (Prakash, 2022): • Ressourcenflüsse verlangsamen, • Design von langlebigen Gütern (Multifunktionalität, Haltbarkeit, Modularität, Upgradebarkeit), • Verlängerung der Produktnutzungsdauer (Reparatur, Wiederaufbereitung), • Nutzungsintensität von Produkten intensivieren, • Geschäftsmodelle und Praktiken des Sharing, • Leasingmodelle, • Materialsubstitution durch den Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen, • Ersatz von Schadstoffen durch nachhaltigere Substanzen, • Ressourcenkreisläufe schließen (hochwertiges werkstoffliches Recycling). Auch das zirkuläre Gebäudedesign folgt diesen Maximen. Im EU-Dokument „Eine Renovierungswelle für Europa – umweltfreundlichere Gebäude, mehr Arbeitsplätze und bessere Lebensbedingungen“ der EU-Kommission von 2020 heißt es diesbezüglich etwa:
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„In 10 Jahren werden die Gebäude in Europa ganz anders aussehen als heute. Sie werden ein Mikrokosmos einer resilienteren, umweltverträglicheren und digitalisierten Gesellschaft sein und einen Teil eines kreislauforientierten Systems bilden, in dem der Energiebedarf, die Entstehung von Abfällen und die Emissionen an allen Punkten minimiert werden und der Bedarf so weit wie möglich durch Weiterverwendung gedeckt wird“ (EU, 2020).
Auch dieser Text ist zwar nicht Gesetz, sondern politische Vision. Die politischen Pläne für eine Zirkulärwirtschaft des Bauens bedeuten eine radikale Umkehr vom konsumentengetriebenen, marktwirtschaftlichen System und sind eine historisch große und anspruchsvolle Planungs-, Koordinations- und Kommunikationsaufgabe. Nicht ohne Grund nannte die Kommissionspräsidentin der EU Ursula von der Leyen (CDU) den „EU Green Deal“ ein Mondlandungsprojekt – bloß, dass man den Mond in diesem nicht sieht, sondern sich ihn vorstellen muss, leuchtend und zirkulär.
8.6.4 Bauteilbörsen Digitale Handelsplattformen wie Concular5 erweitern die etablierten Bauteilbörsen. Hier werden Gebäudeteile wie Ziegel, Fensterrahmen, Gläser oder Inventar vor Abbruch fotografiert und eingestellt. Eine weitere Handelsplattform ist das Bauteilnetz Deutschland6 und auch die Kleinanzeigenplattformen wie Ebay Kleinanzeigen sind voll davon. Bauteilbörsen bestehen seit Jahrzehnten. Aber ihre Geschichte beginnt mit dem Handel dekorativ wertvoller oder hochwertiger antiker Bauteile. Seit 1992 besteht als Zusammenschluss der Händler der Unternehmerverband Historische Baustoffe. Der fungiert auch als Makler, an den sich Interessenten wenden können – sei es für den Kauf oder Verkauf alter Holzböden, Türen, Ziegel etc.7 Etablierte historische Baustoffhändler mit großen Lagerbeständen gibt es traditionell in Belgien und den Niederlanden. Die Verwendung historischer Baustoffe im Neubau oder der Sanierung hat jedoch Grenzen in den Energiesparverordnungen. So weisen ältere einfach oder zweifach verglaste Fenster, aber auch alte Ziegel, deutlich schlechtere U-Werte auf als vom Gesetzgeber verlangt (Umweltbundeamt, 2015, S. 54). Allerdings sind innovative Verwendungen im Innenbereich oder in Kombination mit energetischen nachträglichen Ertüchtigungen möglich.
5 https://concular.de/. 6 www.bauteilnetz.de. 7 https://www.historische-baustoffe.de/.
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8.6.5 Circularity Indicator Zur Messbarkeit der Zirkulierbarkeit auch von Baustoffen wurde der Material Circularity Indicator (MCI) von der Ellen MacArthur Foundation entwickelt. Er bewertet das Produkt mit einer Kennziffer zwischen 0 und 1, wobei Informationen wie der Rezyklatanteil, Wiedernutzungsoptionen und die Lebensdauer in den Wert einfließen. Die Berechnungsmethodik ist relativ anspruchsvoll, eignet sich für Unternehmen und wird auf den Seiten der Stiftung Schritt für Schritt erläutert (EAF, 2023). Der Indikator wurde 2023 überarbeitet, um Fragen der Anteile nachwachsender Rohstoffe und deren Vermischung mit mineralischen Rohstoffen angemessener als zuvor zu berücksichtigen.
8.6.6 Normen für Zirkularität Das umfangreich bestehende Regelwerk der Normierung wurde seit 2021 um Zirkularitätsnormen oder -ergänzungen erweitert. Das betrifft verschiedene Typen von Normen: • Sicherheits- und Qualitätsnormen, • Verfahrensnormen, • Maß- und Verständigungsnormen, • Planungsnormen, • Stoffnormen, • Dienstleistungsnormen. Seit 2021 wurde etwa die DIN EN 15978–1 (Nachhaltigkeit von Bauwerken) überarbeitet und ergänzt um eine Methode zur Bewertung der „Umweltqualität“ von Gebäuden auf Basis der Ökobilanz. Das Institut DIN gibt fortlaufend einen umfangreichen Überblick über aktuelle Bestrebungen, auf diesem Weg der Zirkulärwirtschaft näher zu kommen (DIN, 2023). Aufgeführt sind hier etwa Normen bezüglich der Lebenslaufakte für technische Anlagen, Materialeffizienz für energieverbrauchsrelevante Produkte, Messung von Zirkularität, Nachverfolgbarkeit von Lieferketten, Rahmenbedingungen und Grundsätze für die Umsetzung zirkulären Wirtschaftens, umweltbewusstes Design, Kreislaufführung von Materialien bei Design und Entwicklung, zirkuläre Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten. Grundsätzlich heißt es in einem Text des DIN über die Normierungsvorhaben: „Nachhaltige Lösungsansätze zur Verringerung des Ressourcenbedarfs, aber auch der geschlossenen Materialkreisläufe rücken damit verstärkt in den Fokus. Maßgebende Ziele sind eine Reduktion des Rohstoffeinsatzes beim Neubau, eine längere Lebens-/Nutzungsdauer, eine Verlängerung der Lebensdauer durch nachhaltige Nutzung und Ertüchtigung der bestehenden Bausubstanz sowie die Wiederverwendung der beim Umbau und Abbruch gewonnenen Bauteile und Materialien. Es besteht die Herausforderung, dass Anforderungen oder zukünftige Normen zur Stärkung der Circular Economy nur schwer in bestehende
8.7 Politik für die Zirkulärwirtschaft im Bauwesen
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Normstrukturen integrierbar sind. Parallele Normstrukturen führen zu einem erhöhten Aufwand und mindern die Akzeptanz des Gesamtanliegens“ (DIN, 2023, S. 158 ff.).
Damit ist die Konfliktlage treffend beschrieben. Historisch gewordene Brandschutz- oder Statiknormen lassen sich etwa nicht so einfach zugunsten der Zirkularität abschwächen; in den entsprechenden Ausschüssen sitzen entsprechende Fachleute mit anderem Fachfokus, auch gelten hier entsprechende gesetzliche Regelungen, die sich durch die Normierung natürlich nicht aushebeln lassen. Im Rahmen verschiedener Neudefinitionen sollen etwa standardisierte Eigenschaften festgelegt werden für: • selektive Demontierbarkeit (einfache Demontage, anspruchsvolle Demontage, schwierige Demontage), • empfohlene Verfahren der Wiederverwendbarkeitsprüfung (Sichtprüfung, Wiederholungen der normierten Prüfverfahren, Ausschlusskriterien für Wiederverwendbarkeit), • Kreislauffähigkeit von Bauprodukten (Standardrecycling, Herstellerrücknahme, Deponierung oder Beseitigung), • Rezyklatanteil, Grenzwerte für eine Klassifizierung (etwa 0–30 %, 30–80 %, 80– 100 %), • Dauerhaftigkeitsklassen (etwa für Bauteile im Rohbau kleiner als 20 Jahre, 20–50 Jahre, mehr als 50 Jahre; DIN, 2023, S. 158 ff.).
8.7 Politik für die Zirkulärwirtschaft im Bauwesen Ökoinstitut, Fraunhofer ISI und FU Berlin haben für den WWF auch Maßnahmen identifiziert und bewertet, die die Zirkularität des Hochbaus erhöhen können (Prakash, 2022, S. 64 ff.). Hier wurden etwa folgende identifiziert und in umfassenden Bewertungsmatrizen hinsichtlich Werte wie technologischer Reife, Zielkonflikte und unternehmerischer Umsetzbarkeit (meist positiv) bewertet: • Reduktion des Wohn- und Büroraumes pro Kopf, • Demontageplanung, Verwendung standardisierter Bauelemente, • verlängerte Gebäudelebensdauer, • lokale Rohstoffbeschaffung (Steine), • Rücknahmesysteme, • erhöhte RC-Anteile. Zusammenfassend heißt es, die Zirkularitätsmaßnahmen für den Hochbau hätten „fast alle ein großes Umweltentlastungspotenzial“. Kosteneinsparungen und Preisreduktionen seien vor allem bei einer Reduktion des Wohn- und Büroraums zu erwarten. Die aber werfen – in Verbindung mit den Wohnflächenpreisen für Miete oder Kauf – auch die
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8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
größten gesellschaftlichen Akzeptanzfragen auf. Auch die Etablierung von Rücknahmesystemen für Dämmstoffe gelten als relativ konfliktfreier Ansatz. Aus Sicht der Unternehmen seien jedoch bei „allen anderen“ Maßnahmen „mäßige“ bis „hohe“ Kostensteigerungen zu erwarten. Einschränkend heißt es hier aber auch, die Datenlage bezüglich der untersuchten Fragen sei noch „insgesamt mittelmäßig bis schlecht“. Verfügbare Daten basierten oft nur auf Fallstudien: „Eine Extrapolation der Daten auf die deutsche Bauwirtschaft erweist sich teilweise als schwierig.“ Für den Tiefbau sind die • Reduktion der Baustahlmassen, etwa des Betons durch schlankeres Design, und • alternative Zementbindemittel genannt. Auch sie versprechen „signifikante Umweltentlastungspotenziale“. Materialeinsparungen seien hier Win-win, da sie zu Kostensenkungen für Unternehmen und Preissenkungen führten. Allein der Einsatz des alternativ hergestellten Celitement (KIT Karlsruhe) verspreche eine Reduktion des Treibhausgaspotenzials in diesem Bereich von bis zu 50 %, jedoch sei er dreimal so teuer wie gebräuchliche Zemente. Eine konkrete Umsetzung ist nicht barrierefrei. Elbers (2022) nennt solche Hindernisse etwa in Bezug auf die ressourcenschonende Planung von Tragwerken. Die Wiederverwertung von Tragelementen sei erschwert vor allem durch die notwendigen Eignungsprüfungen, die sich nur bei ausreichend vorhandener Stückzahl rentieren könne. Aber auch diesbezüglich können digitale Plattformen Materialmengen erfassen und Nachfrage bündeln. In diesem Sinne kooperiert Madaster etwa mit dem internationalen Bauingenieurbüro Arup. Womöglich können Material-Mehrverbräuche im Tragwerksbereich sogar lohnenswert sein, da sie die Wiederverwendbarkeit erhöhen: „Für das Tragwerk kann ein System ohne Verbundsysteme zwar zu größeren Querschnitten und damit zu mehr Ressourcenverbrauch führen, gleichzeitig wird die zukünftige Rezyklierbarkeit gewährleistet.“ An Rücknahmesystemen für einzelne Baustoffe wird ebenfalls gearbeitet. Ihre Bedingungen werden wissenschaftlich erforscht. Ein Beispiel ist der Porenbeton als ein Nischensegment des Betonmarktes. In einer Pilotstudie mit dem Entsorgungsunternehmen Otto Dörner GmbH aus Hamburg und dem Porenbetonhersteller von Ytong (Xella) war die Forschungsfrage, wie und in welchen Mengen sich Porenbetonreste aus Abbruchhäusern oder sogar von Bauschuttdeponien für die Wiederverwendung als Porenbeton eignen. Man kam zu dem Ergebnis, dass die Sortenreinheit für die angestrebte Wiederverwertung „ausreichend“ war durch die Kombination etablierter und innovativer Trennverfahren wie Metallabscheidung, Windsichtung, Sink-Schwimm-Trennung, manuelle Nachsortierung, Vorzerkleinerung im Brecher und Sieben für festgelegte Körnungsbänder. Bis zu 15 % des so aufbereiteten Altporenbetons können in der Produktion eingesetzt werden (Kreft, 2016). Die geringe Prozentzahl erklärt sich auch aus den „oft sehr heterogenen Abbruchmassen“ und etwa hohen Verunreinigungen durch Bitumenreste aus Dachabdichtungen.
8.7 Politik für die Zirkulärwirtschaft im Bauwesen
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Damit sie sich signifikant erhöht, stellt „Sortenreinheit die entscheidende Voraussetzung dar“ (ebd.). Ferner führten im Bruchmaterial enthaltene Nägel, Schrauben und Dübel zu Produktionsschäden. Und auch Reste von Fliesen, Keramik, Korrosionsschutzmitteln, Gips, Putz und Polystyrol trennen die Praxis vom Ziel der Zirkulärwirtschaft – denn aus „prozess- und materialtechnischer Sicht ist die Produktion von hochwertigen Porenbetonsteinen mit Recycling-Splitt aus Altporenbeton bereits heute problemlos möglich“ (ebd.).
8.7.1 Materialkataster, Materialinventare und Gebäudematerialpässe Der Digitalisierung kann zirkuläres Bauen auf mehreren Ebenen ermöglichen. Informationen über Mengen, Qualitäten, Lagerstätten und Verbindungen von verbauten Materialien sind notwendig. Auf Bundesebene soll ein Materialkataster etwa Bauunternehmen verpflichten, diese Informationen für Neubauten vorzuhalten. Städte wie Aachen (Aachener Zeitung, 2022) und Heidelberg (Heidelberg.de, 2022) gingen mit Pilotprojekten voran. Das Umweltbundesamt hat 2022 die Pilotstudie „Kartierung des anthropogenen Lagers“ abgeschlossen (Umweltbundeamt, 2022b) und erarbeitet Indikatoren, die auch geeignet seien, regionale Materialkataster für Regionen und Kommunen zu „füttern“. Materialinventare bezeichnen Verzeichnisse für Einzelbauwerke, Materialkataster hingegen für Bauwerksbestände. Letztere sind demnach definiert als „Instrumente, mit deren Hilfe die Größe und Zusammensetzung von Materiallagern in Bauwerksbeständen und deren zeitliche Veränderungen beschrieben werden können. Sie beziehen sich auf Materialmengen und Materialqualitäten in definierten räumlichen Systemgrenzen bzw. Regionen und sind input- sowie output-seitig um rohstoff- und abfallwirtschaftliche Aspekte sowie materialinduzierte Wirkungen (z. B. Graue Emissionen) erweiterbar“ (Umweltbundeamt, 2022b, S. 25 f.).
Baumaterialflüsse finden sich demnach in der Bautätigkeitsstatistik oder Abfallstatistik. Nötig seien jedoch gebäudetypenbezogene Materialkennziffern; im Kartierungsprojekt des Umweltbundeamts ist der Anspruch, dass sich solche Daten dann „unmittelbar umrechnen lassen in Rohstoffe (durch Beachtung von Baumaterialrezepturen), Abfallkategorien (durch Zuordnung sowie weitere Differenzierung der Abfallkategorien) und graue Emissionen (durch Einbindung von Ökobilanzdatensätzen)“ (ebd., S. 26). Nach welchen Bauteilen solche Materialkataster etwa systematisiert sein sollten, erarbeiteten im Jahr 2023 Expertenkommissionen. Ein Vorschlag zeigte, dass es dabei längst nicht nur um Baumaterialien im Tragwerk geht. Die Liste enthielt:
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• • • • •
8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
Gründung, Unterbau, Außenwände, Innenwände, Decken, Dächer, Abwasser-, Wasser-, Gasanlagen, Wärmeversorgungsanlagen, Wärmeerzeugungsanlagen, Wärmeverteilnetze, raumlufttechnische Anlagen, Lüftungsanlagen, Klimaanlagen, Kälteanlagen, elektrische Anlagen, Eigenstromversorgungsanlagen, Kommunikations-, sicherheitsund informationstechnische Anlagen (Umweltbundeamt, 2022, S. 69).
Gebäudematerialpässe geben in Form einer mobilen Anwendung Auskunft über in einem Gebäude verbaute Materialien, ihre Ausbaufähigkeit und auch den Materialwert einer Immobilie. Madaster ist das bekannte Beispiel.8 Die Anwendung hält nach Erfassung der relevanten verbauten Materialien etwa auch Informationen über den Geldwert dieser Baustoffe, die Toxizität oder das Wiederverwendungspotenzial bereit. Es wurde Anfang der 2020er-Jahre in zahlreichen „Leuchtturmprojekten“ des zirkulären Bauens eingesetzt.
8.7.2 Zirkuläre Stadtplanung Materialeinsparungen lassen sich im Rahmen einer demokratischen Wirtschaftsordnung nicht unabhängig von Nachfrageänderungen nach ressourcensparenden Bauprodukten oder Bauwerken erzielen. Wenn diese ausbleiben, kommt das Projekt der Zirkulärwirtschaft nicht entscheidend voran. Der Stadtplanung kommt daher eine große Rolle zu, weil sie die rechtlichen Befugnisse und den größten „Impact“ hat, um unabhängig von der Nachfrage nach Wohnraumtypen auf materialschonendes Bauen hinzuwirken (Weidner et al., 2022). Das geschieht über Kriterien für die Bebauung. Im Vergleich der Bebauungstypen Einfamilienhaus, vier- und sechsgeschossiges Mehrfamilienhaus und 20- oder 40-geschossiges Wohnhochhaus ergeben sich deutliche Unterschiede. Die Ressourcenbilanz je Quadratmeter Bruttogeschossfläche des 6-etagigen Wohnblocks im urbanen Raum ist den anderen Wohnbebauungstypen dabei deutlich überlegen – inklusive der hier eingerechneten notwendigen Straßeninfrastruktur zur Erschließung (Grafik 8.3). Über eine „radikale Optimierung der Stahlbetonstruktur“ lässt sich die graue Energie auch für den Hochhausbau erheblich verringern. Mineralische Hohlkörperdecken reduzieren den Verbrauch von Beton und auch Bewehrungsstahl, was zu Einsparungen von 52 kg CO2-Äquivalenten je Quadratmeter Bruttogeschossfläche führt (ebd.). Die Verwendung von Recyclingbeton ist ein weiterer Weg wie auch CO2-reduzierter Zement, CO2-optimierter Bewehrungsstahl und der teilweise Einsatz von Holz. Einschränkend zur Feststellung der Rolle der öffentlichen Hand ist anzumerken, dass harmonisierte Bauprodukte behördlich nicht benachteiligt werden dürfen.
8 https://madaster.de/.
8.7 Politik für die Zirkulärwirtschaft im Bauwesen
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Grafik 8.3 Der Baublock mit 6 Etagen braucht am wenigsten Ressourcen. (HBC nach Weidner et al., 2022.) Nachverdichtung urbaner Raum
Man muss Urban Mining nicht auf die Rohstoffseite beschränken. Auch die Nachverdichtung des urbanen Raums, sei es durch Aufstockungen, Lückenschließungen, Anbauten oder Revitalisierung nicht genutzter Industriebrachen, ist Teil der schonenden Nutzung des städtischen Gebäude- und Flächenbestandes (Schneider et al. 2022). Neben der Nachverdichtung für Wohn- und Gewerbezwecke ist auch eine Nachverdichtung mit Kraftwerksflächen mitzudenken: Die Effizienz der Photovoltaikflächen hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten beachtlich erhöht und im Zuge der Energiewende werden zunehmend Dächer auch von Supermärkten und andere Dachflächen, Straßen- oder Zuglinienüberdachungen oder Umrandungen mit (teils transparenten) PV-Modulen wirtschaftlich attraktiv. In welchem Maß sich die inländische PV-Stromproduktion gegenüber dem Import aus dem sonnenreicheren Ausland begründen lässt, ist eine komplizierte und im Einzelfall zu klärende Frage. Die solare Strahlungsintensität in Deutschland ist im Jahresmittel um mindestens 40 % niedriger im Vergleich zu Standorten in Südeuropa oder Afrika.
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8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
8.7.3 Rücknahmerechte und -pflichten Das KrWG verpflichtet durch die Novelle von 2020 zur Rücknahme und Verwertung mancher Baustoffe (§ 23–27, insb. § 25), etwa von in der Möbelindustrie verwendeten, mitteldichten Holzfaserplatten (MDF). „Die bisherige Strategie, Holzwerkstoffe und damit auch Faserplatten nach dem Ende der Nutzung komplett thermisch zu verwerten, wird sich demnach verändern“ (Mäbert & Krug, 2023). Umfassendere Pläne für Rücknahmepflichten verfolgt die EU-Kommission. Ein Teil ihrer Kreislaufwirtschaftsinitiative ist die Sustainable Product Initiative (SPI), die Rechte auf Reparatur und nun auch Anforderungen an das zirkuläre Ökodesign jenseits von elektronischen Produkten formuliert; die Wirtschaft soll in diesem Sinne zur Erstellung von digitalen Produktdatenpässen verpflichtet werden (ebd.). Einführungen von Pfandsystemen auch für Bauteile werden als ein weiteres Puzzleteil auf dem Weg zu einer nachhaltigen Ressourcennutzung gesehen. Rückgaberechte und Rücknahmepflichten für Hersteller nach dem Prinzip des Flaschen- oder Dosenpfandes oder für Verpackungen wären ein politisch verpflichtender Weg. Sie versprechen für Endkunden laut Berechnungen am Beispiel der Szenarienvergleichsrechnung für ein Doppelbodensystem 10–25 % Kosteneinsparungen und Verringerungen von 37–48 % des emittierten CO2 und der benötigten Rohstoffmengen (Flamme, 2023). Der veränderte Finanzmarktrahmen der EU-Taxonomie dürfte die Emissionseinsparungen solcher Geschäftsmodelle am Markt künftig goutieren, aber der Weg zum „Geldverdienen“ damit scheint noch „dornig“ (Nußholz et al., 2019). Neben gesetzlichen Pflichten gibt es die freiwilligen Rücknahmesysteme von Baustoffherstellern. Hierzu einige Beispiele: Die Ziegel Recycling Bayern GmbH hat ein Rücknahmesystem für Ziegelbruch erstellt (Ziegel Recycling Bayern, 2022), der Baustoffhersteller Xella Deutschland GmbH tat schon 2015 selbiges für den Ytong-Porenbeton und Mineraldämmplatten (Xella, o. D.). Der Produzent von Holzfaserdämmstoffen Gutex etablierte zwar kein Rücknahmesystem für Dämmstoffe, dafür aber immerhin für Lieferpaletten (Allgemeine Bauzeitung, 2023). Das Wertstoffzentrum HWG in Hannover verwertet seit 2022, wie andere auch, zunehmend Recyclingbaustoffe aus dem Bauschutt speziell für die Baustofffertigung (Entsorgungsmagazin, 2022). Die Fachhochschule Münster betreibt ein eigenes Institut für Baustoffrecycling. Die Universität Weimar ist diesbezüglich in Deutschland traditionell forschungsstark.
8.7.4 Schadstoffproblematik am Beispiel der EPS-Platten Ein interessanter Anwendungsfall sind auch Rücknahmeregelungen für Wärmedämmverbundsysteme (WDVS). Hier gibt es aufgrund enthaltener Schadstoffe noch gravierende Probleme in Bezug auf die Wiederverwendbarkeit demontierter Platten; jedoch dürfte sich das in Zukunft ändern (Heller & Flamme, 2020). Dann würden Rücknahmepflichten oder freiwillige Rücknahmesysteme eine zirkuläre Wiederverwendung begünstigen. Derzeit aber werden in Deutschland die EPS-Platten noch fast ausschließlich verbrannt.
8.7 Politik für die Zirkulärwirtschaft im Bauwesen
313
Noch weiter entfernt vom Anspruch einer Zirkulärwirtschaft ist Europa, wo rund ein Drittel der EPS-Platten deponiert werden (Heller, 2020): Vor 2016 hergestellte EPSPlatten erhalten neben den „üblichen“ Klebstoffen und Putzresten laut Chemikalienverordnung REACH seitdem hoch dosierte Rückstände der Flammenschutzmittel HBCDD (Umweltbundeamt, 2017). Die wird nun strenger geregelt. 12.000 t HBCD sind bis dahin in Europa im Jahr eingesetzt worden, überwiegend für die Dämmstofferzeugung (ebd., S. 3). Gesetzliche Grenzwerte regeln auch die Entsorgung. Die Platten der Jahrgänge vor 2016 müssen ausschließlich verbrannt werden, dadurch wird das Flammenschutzmittel zerstört und unschädlich gemacht. Mittlerweile sind alternative Brandschutzmittel im Einsatz (bromiertes Styrol-Butadien-Copolymer; pFR).
8.7.5 Skeptische Fragen an die Realisierbarkeit Der Kreislauf, das Zirkuläre ist zunächst ein Bild – das Leitbild einer nachhaltigen Wirtschaft –, als Circular Economy eine Metapher, wie die Bioökonomie. Aber anders als Letztere ist Erstere seit Jahrzehnten umweltrechtlich maßgeblich. Das Bild vom Kreislauf ist selbst ein Sinnbild aus dem Bereich des Organischen, wenn man so will: des Medizinischen. Es erinnert an den menschlichen Blutkreislauf. Circular Economy ist eine Vision, in der Reinform gewiss eine utopische. Denn kann das wirklich gelingen, eine Welt ohne Wegwerfen? Gehört die Produktion von Abfall nicht irgendwie auch zum modernen Menschsein, die Verschwendung zur Lebensfreude – Unvernunft, Unsinn, Ekstase (Hanske & Sarreiter, 2023)? Ist nicht alles das sogar ein Teil des modernen Traumes vom urbanen Leben (Moholy-Nagy, 1968), der sich dann und wann verwirklicht? Lichter in der Nacht, Beton, Glas, verschwenderischer Komfort? Wie lässt es sich in das alltägliche Handeln integrieren, ständig daran zu denken, dass dies doch alles, im planetarischen Sinne, „ungesund“ ist – der Metabolismus von Land und Boden einerseits und Speise und Lebensort andererseits, in der industrialisierten Zivilisation unheilvoll getrennt? Oder: Wie lässt sich der umweltrechtliche Rahmen so setzen, dass Zirkulärwirtschaft zu vertretbaren Kosten möglich wird? Diese Fragen deuten die Konflikte an, die zirkuläre Planung und Ideale mit sich bringen. Dann wird sie zur Frage der ethischen Abwägung: zwischen planetarer Gesundheit, sozialer Teilhabe und privaten oder unternehmerischen Freiheiten (auch zu unvernünftigen Genüssen). Aber diese Fragen sollen nicht infragestellen, dass der Weg zur Circular Economy angesichts sich abzeichnender Begrenztheiten von Reserven und förder- und transportbezogener Energie tatsächlich alternativlos ist, eine Überlebensfrage für die moderne Menschheit, auch für die Freiheit, die Demokratie. Die Natur kennt keinen Abfall – oder?
„Die Natur kennt keinen Abfall.“ Dieser Satz ist oft zu hören auch in ingenieurfachlichen Sonntagsreden über die Nachhaltigkeit. Man findet ihn in den 2020er-Jahren auch in Werbungen und Annoncen von Handelsketten wie Coop oder Bauhaus, in wissenschaftlichen Schriften aus dem Bereich der Umweltingenieurwissenschaften
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8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
und auch des Stoffstrommanagements schon seit etwa den späten 1980er-Jahren. In den 2000er-Jahre wurde dieser normative Anspruch von Sachbuchautoren wie Franz Alt popularisiert (Alt, 2019). Die Natur wurde in genau diesem Sinne zum „Vorbild“ erklärt (Nachtigall, 1997). Das zeigt, wie funktional und prägnant diese Metapher als Orientierungsstiftung für Innovationen der Ressourcenschonung war und ist. Die Metapher impliziert jedoch auch, Natur habe ein Bewusstsein, eine Erinnerung, sei Person. Sie wird interpretiert im Sinne, dass Natur uns die klügeren Prinzipien lehre – also normativ. Der Geograph Wolfram Mauser hat die Metapher in umwelthistorischer Sicht kritisch in den Blick genommen (Mauser, 2016). Er hält daher eine Vorstellung von einer Ökonomie ohne Abfall für unrealistisch und unhistorisch. Ideen wie diejenige eines geschlossenen Wasserkreislaufs gehen bis auf die Antike zurück. Andererseits „lehrt“ die Natur auf Linearität: Planeten und Sterne haben begrenzte Lebenszeiten, vom Urknall bis zum ersten Leben auf der Erde haben sich „Stoffströme“ gravierend verändert, schwarze Löcher setzen „planetarische Grenzen“ auf ihre Art. Mauser blickt auf das Wirken der Cyanobakterien, die erstmals CO2 und Sonnenlicht in Biomasse umwandeln konnten. Zum zweiten betrachtet er die Foraminiferen und erste Muscheln, die daraus sogar Exoskelette aus Kalk schufen. Die Photosynthese ließ über die Jahrmilliarden den Kohlendioxidanteil der Erdatmosphäre von etwa 100 % auf Werte weit unter einem Prozent sinken. So stieg die Sauerstoffkonzentration, die höher entwickelte Lebensformen ermöglichte. Die Kalkrelikte hingegen sind die Grundlage für heutige Kalkgebirge. Mauser spricht etwas provokant von „Sauerstoff-Müllhalden“ und sieht darin „irreversibel verändert[e]“ Stoffströme – gewissermaßen rein „natürliche“ Erscheinungen, denn Lebewesen seien auf Abgrenzung und Reproduktion orientiert, nicht auf Abfallvermeidung. „Die Produktion von Abfall ist integraler Bestandteil dieses optimierenden Selbstorganisationsprozesses des Lebens. Die einzig erkennbare Norm, nach der dieser Bestandteil genutzt wird, ist der kurzfristige Erfolg bei der Reproduktion. Kategorien wie Abfallvermeidung, Ressourcenschutz, Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit sind nicht erkennbar“ (Mauser, ebd.). Aus historischer Sicht sind die fossil basierten Lebensformen der Moderne vergleichslos energiehungrig und leiten Stoffströme auf historisch neue Weise um, wobei vom CO2-Ausstoß bis zu den Mülldeponien neue „Abfallberge“ entstehen. Die Frage ist für Mauser, wie sind diese nutzbar, um dem Leben zu dienen? Ein vollständiger Verzicht auf die „billigen Energien“ müsste konsequenterweise auch zur Folge haben, dass Urbanisierung, soziale Daseinsvorsorge und Bildungssysteme revidiert oder „zurückentwickelt“ werden, da diese mit den „energiehungrigen“ Ökonomien und Systemen der politischen Teilhabe entstanden seien, argumentiert Mauser. Der besondere Fall der CO2-Problematik ist, dass er die Abfallproblematik „entortet“ hat. Die Idee der Kreislaufwirtschaft ist, reflektiert gedacht, ein sinnvoller Orientierungswert der Ressourcenschonung. Zugleich taugt die Natur als Normengeberin aus historischer Sicht nicht.
8.9 Cradle-to-Cradle-Zertifizierungen
315
8.8 Beispiele für zirkuläres Entwerfen Jenseits der Theorie (Vision) und Fragen an deren Umsetzbarkeit und auch jenseits der vielschichtigen juristischen, statistischen und Normierungsfragen der Zirkulärwirtschaft gibt es eine Reihe von bemerkenswerten Entwürfen und Bauwerken, die sich kreativ und praktisch der Idee des Upcyclings verpflichtet haben. Die Bandbreite soll anhand von drei sehr unterschiedlichen Beispielen angedeutet werden: • Im amerikanischen Hank Louis (Utah) wurden die Wohn-Tiny-Houses Whitehorse im Jahr 2000 als Studentenprojekt zu 90 % aus Gebrauchtmaterialien errichtet, darunter aus Telefonmasten als Pfahlerhöhung, unter der Wüstenflugsand hindurchwehen kann, oder aus Bahnschwellen, ausgemusterten Stadionbänken, Altholz verschiedener Herkünfte, aus alten Schiffspaletten (Edwards, 2017). • Im indischen Maharashtra ist das Collage House der Architekten Shilpa Gore-Shah und Pinkish Shah mit Fassaden aus Altmetall, Steinfliesen und Rohrstücken errichtet und das Fensterglas aus Altglas, die Materialien wurden von Abfallhändlern aus dem Slum Dharavi erworben; auch Stuhlbezüge sind aus Textilabfällen gemacht, Innenwände aus Rohrstücken von Schrottplätzen. Die Architekten werden mit einer kritischen Aussage zur Ökobilanzierung zitiert: „Mit einer gewissen Sorge beobachten wir, dass Nachhaltigkeit beim Bauen mehr und mehr auf Grundlage eines Punktesystems bewertet wurde. Es ging nur noch darum, umweltfreundliche Häuser aus entsprechenden Materialien zu bauen. Leider war das Ergebnis oft erschreckend banal und seelenlos“ (Shilpa Gore-Shah).
• Das Bürohaus The Cradle in Düsseldorf des Architekten Thomas Götzen wurde 2022 in Holzhybridbauweise konsequent nach Cradle-to-Cradle-Maßstäben errichtet und entsprechend zertifiziert. Es steht auf wiederverwendbaren V-Betonstützen, verwendet wurden für den Bau ausschließlich C2C-zertifizierte Materialien. Im Tragwerk ist RC-Beton verarbeitet, das Holz ist regional, sämtliche Bauteile sind digital im Madaster-Gebäudepass hinterlegt, mittels der Programmierung eines digitalen Zwillings im BIM-System in der Planungsphase wurde beim Bau konsequent die graue Energie minimiert (Handelsblatt, 2022).
8.9 Cradle-to-Cradle-Zertifizierungen Von den politisch-planerischen Ansätzen zur Ressourceneinsparung und Minimierung des ökologischen Fußabdrucks unterscheidet sich deutlich das unter dem Markennamen bekannte Cradle to Cradle (C2C). Die zentrale Idee ist hier eine strikte Trennung der Kreisläufe Technosphäre und Biosphäre (Braungart & McDonough 2002). Das auf diesem Gedanken aufbauende privatwirtschaftliche Zertifikat der EPEA GmbH geht
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8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
auf die Arbeiten ihres Gründers Michael Braungart zurück (siehe Vorwort). Die EPEA wurde 2019 an das Bauprojektunternehmen Drees & Sommer verkauft (Drees & Sommer, 2022). Parallel dazu besteht die C2C-NGO, die etwa ganze Kommunen in der Umsetzung von C2C-Modellen berät (C2C Bau, 2022). C2C ist vor allem, auch international, populär durch die Schriften Braungarts. Es ist zu einem Lifestyle-Label avanciert und seine Trennschärfe zu anderen Gebäude-Nachhaltigkeitszertifikaten erklärt sich durch die konsequente Ausrichtung auf Zirkularität, die sich auch durch die gelegentlich polemischen, jedenfalls sehr pointierten Äußerungen Braungarts über die Nachhaltigkeitsexpertenwelt und die ökozertifizierte Lebensmittelwirtschaft auszeichnet. Erstere, so sagt er sinngemäß, optimierten das Verkehrte und Letztere seien quasireligiöse Glaubenssysteme, die ihre Energie aus Schuldzuweisungen bezögen, der Mensch sei schädlich für die Natur. Dabei, so Braungart, könne Technik die Umweltqualität sogar verbessern. Statt ständig bemüht zu sein, die Umweltschädlichkeit des Menschen etwas weniger negativ zu machen, sollte das Bauen umweltpositiv werden: Die Menschheit solle ihren Fußabdruck dann „feiern“ (Braungart, 2016). Das ist der hohe Anspruch der C2C-Zertifizierung. EPEA zertifizierte schon zahlreiche Bauprodukte (EPEA, 2023; C2C Cert, 2023). Drei Kernkriterien für die Zertifizierung sind: • Wiederverwendung oder Wiederverwendbarkeit der Materialien, • Demontierbarkeit, • definierter Nutzungspfad über den Lebenszyklus des Produktes hinaus. Zentral sind für die Bewertung die verwendeten Montagesysteme. Sie entscheiden über Trennbarkeit. Das Schnellmontagesystem Würth Varifix ist ein Beispiel für ein zertifiziertes System (Kübler, 2021). In der Ortschaft Buch in Bayern wurde 2015 eines der ersten Einfamilienhäuser C2Czertifiziert. Dessen „Geschichte“ lautete: „Ein Haus wie ein Baum“ (Selbstdarstellung des Projekts, Sinnenwandel, 2016). Die Sprache der Bewertungskataloge unterscheidet sich sehr von denen anderer Nachhaltigkeitszertifizierer. Sie hebt auch auf ästhetische Werte ab. Im konkreten Beispiel ist etwa von „schön“ oder „gesund“ die Rede. So lauten die Kriterien für die Fassade des bayerischen Hauses (C2C Buildings, o. D.): • Positive Impact – „beautiful weathering and aging“, – „no maintenance needed“, – „FSC certified wood actively supports biodiversity in the forests“, • Benefits – „no maintenance needed“, – „no painting“ etc., • Used Materials – „FSC certified larch“, – „local production“,
8.10 Urban Mining und das anthropogene Baustofflager
317
oder für die Dämmung: • Positive Impact – „healthy insulation material“, – „all from wood“. Durch die bemerkenswerte Bildlichkeit der Sprache bringt die Cradle-to-Cradle-Zertifizierung einen ergänzenden Mehrwert in der großen Landschaft der Siegel und Zertifikate. Eine solche – geradezu poetische, weniger „wissenschaftliche“ – Sprache schiene im Vokabular des Abfallrechts und im ingenieursmäßigen Blick auf planetare Stoffströme und deren „Management“ gewiss deplatziert. Auch weil es sie hat, ist die Attraktivität des Bau-C2C-Siegels für umweltbewusste Gesellschaftskreise oder auch in Unternehmerkreisen vermutlich höher.
8.10 Urban Mining und das anthropogene Baustofflager Als Neologismus in Bezug auf den Wunsch einer intelligenteren Nutzung von Bauabbruchmassen und des Bauwerkbestandes ist vermehrt von Urban Mining die Rede. Die Metapher bezeichnet den Ansatz, Rohstoffe aus dem Gebäudebestand und Deponien zu verwenden. Die Abflüsse aus der urbanen Mine sind steigend und mengenmäßig sehr bedeutend. Indexwerte für den Grad der lokalen Wiederverwertung stehen zur Verfügung. Schadstoffkontaminationen und Energieaufwand der Förderung stehen dem Ziel entgegen. Es handelt sich beim Urban Mining laut Definition um die „Gewinnung sekundärer Rohstoffe aus den Lagerstätten der Zivilisationsabfälle und Produktionsreststoffe“ (Flamme & Krämer, 2010).
8.10.1 Vermessung der urbanen Mine Stellt man sich die gebaute Umwelt als Materiallager oder Rohstoffmine für die spätere Wiederverwertung vor, ist eine zentrale Frage, wie groß die darin lagernden Materialmengen sind. Relevant sind auch deren Zusammensetzung und Qualität. Der Materialbestand der „urbanen Mine“ in der gesamten Europäischen Union beträgt schätzungsweise rund 400 t Material pro Kopf, wovon 340 t in Form von Gütern, Gebäuden oder als Infrastruktur im Umlauf, in der Nutzung oder im Bestand sind und rund 60 t als Deponieabfälle lagern (Hebel & Heisel, 2021). Für Deutschland wird der Wert mit 317 t mineralischer Baumaterialien beziffert, die pro Kopf verbaut seien – das entspräche einem Gesamtmaterialwert von 350 Mrd. Euro (Acatech 2021). Die „urbane Mine“ wird auch als anthropogenes Materiallager bezeichnet. Zwischen 1900 und 2010 wuchs dieses weltweit schätzungsweise um den Faktor 23, womit die Summe der Rohstoffe, die nicht nur in Gebäuden und Infrastruktur, sondern auch in den
318
8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
Tab. 8.6 Wie wird die Abbruchmenge aus der „urbanen Mine“ genutzt? Bauabfall 2018. (Q. BVSE (2020), S. 65, und KWB (2021), S. 5 ff.) Verwertungsquote insgesamt
Summe in Mio. t (gesamt: 218,8)
Davon: Verwertung im Baustoffrecycling
Boden und Steine
86,2
130,3
13,3
Baustellenabfall
98,7
14
0,3
0,64
0,03
Gipsbauabfälle Bauschutt
Davon: sonstige Verwertung
Davon: Ver- Davon: füllung von Deponierung Abgrabungen über Tage/ Deponiebau 99
13,5
18 0,2
0,28
0,32
93,5
59,8
46,6
9,6
3,6
Straßenaufbruch 97,5
14,1
13,1
0,6
0,4
dauerhaften Gütern (etwa Maschinen) verbaut sind, im Jahr 2010 rund 792 Mrd. Tonnen betrug (Weidner et al., 2022). Allein in Deutschland betrug 2010 der Gesamtbestand an Bauwerken rund 50 Mrd. Tonnen Material (Umweltbundeamt 2010). Davon lagern rund 10 Mrd. Tonnen in dem Wohn- und Gewerbeimmobilienbestand und davon wiederum waren je rund: • Mineralische Baustoffe
9,7 t
• Baustähle
0,1 t
• Kupfer
0,003 t
• Holz
0,2 t
• Kunststoffe
0,008 Mio. t
Jährlich entstehen neue Bauabfälle. 2018 waren dies allein knapp 60 Mio. Tonnen Bauschutt. Die Verwertungsquoten aller Bauabfälle sind meist über 90 % und teilweise nahe bei 100 %. Dabei wird der Großteil des Bauschutts zu Recyclingbaustoffen und der Großteil des Bodenaushubs als Verfüllungsmaterial verwendet (Tab. 8.6). Die „Fördermengen“ aus der urbanen Mine (Abb. 8.10) Deutschlands sind, wenn man in diesem Sprachbild bleiben will, sogar größer als die zukünftige Baustoffverwendung. Das Umweltbundesamt jedenfalls sagt voraus, dass die Baurestmassen für den Abbruch insgesamt stark ansteigen werden – erstens durch weiteren Wegzug aus strukturschwachen Regionen, zweitens aber weil der Bau im Bestand zunehmen und damit der Materialbedarf sinken werde. Bis zum Jahr 2050 flössen dann etwa 1,5-fach so viel Baurestmaterial aus dem Wohngebäudebestand als „urbane Mine“ ab wie neu eingebracht würde. Auch schöne Materialien wie Altziegel und Kopfsteinpflaster sind darunter (Abb. 8.11).
8.10 Urban Mining und das anthropogene Baustofflager
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Abb. 8.10 Schrauben für viele Zwecke: Eine nicht verklebte Dämmstoffplatte lässt sich zum Beispiel schonend demontieren und wiederverwenden. (Foto Jan Grossarth)
Zwar gibt es keine amtlichen Statistiken zum Urban Mining. Jedoch existieren zahlreiche Schätzungen einzelner Aspekte auf Länderebene. So wurde geschätzt, dass 2009 in Österreich 4,5 t Eisen je Einwohner in Gebäuden und Infrastruktur lagern oder 200 kg Kupfer (Daxbeck et al., 2009). Am Beispiel des Kupfers verdeutlicht sich, dass im Falle einiger metallischer Mineralien der Umfang der urbanen Mine größer ist als derjenige der terrestrischen: Weltweit wurden in den 100 Jahren von 1910 bis 2010 rund 650 Mio. t (Mt) Kupfer aus der Erde gefördert. Das ist deutlich mehr, als in den geologischen Abraumbecken verbleibt, nämlich sind Letzteres nur 100 Mt. Für die „urbane Mine“ der verbauten Umwelt wird hingegen mit 350 Mt gerechnet, in den Deponien sollen 140 Mt liegen (Tercero Espinoza, 2020, S. 14 f.). Betrachtet man die urbane Mine für Kupfer, so
320
8 Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) …
Abb. 8.11 Schätze der urbanen Mine: alte Ziegel, Kopfsteinpflaster in einer dänischen Kleinstadt. (Fotos Jan Grossarth)
fällt auf, dass in allen Erdregionen jeweils der Gebäudebestand das größte anthropogene Kupferlager ausmacht. Zu unterscheiden ist auch zwischen der lang- und kurzfristig „abbaubaren“ urbanen Mine. Zu Ersterer zählen die Gebäude und Deponien. Ein Argument für das Urban Mining sind der teils deutlich geringere gesamte Energiebedarf und in vielen Fällen überlegene Treibhausgasbilanzen im Vergleich zu einer Förderung der Primärrohstoffe; der Energiebedarf der Primärförderung etwa kann bis zu 95 % höher sein (im Beispiel des Zinks). Schließlich sind auch die Rohstoffgehalte der urbanen Mine in vielen Fällen höher als in der terrestrischen Mine. So ist der Anteil des Edelmetalls Gold in Computerfestplatten oder alten Mobiltelefonen etwa 50bis 70-fach höher als im Golderz der Erzbergwerke (ebd.).
8.10.2 Begriffsgeschichte und Definitionen Als ein Vorläufer des „Urban-Mining-Denkens“ gilt die Richtlinie des Verbandes Deutscher Ingenieure (VDI) „Recyclingorientierte Produktentwicklung“ (1993). Hier ist die heute gebräuchliche Unterscheidung zwischen: Wieder-/Weiter-Verwendung/Verwertung gemacht – oder wie folgt, auf Englisch, mit Beispielen: • Pfandflasche (Re-use), • Senfglas als Trinkglas (Re-purposing), • Altglas zu Glasflaschen (Re-cycling), • Altglas als Streugut (Re-processing). Vom Urban Mining selbst aber ist kaum vor den 2010er-Jahren in der Wissenschaft die Rede; nur vereinzelt taucht der Begriff vorher im Zusammenhang mit dem Berg- und
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Tagebau in städtischen Regionen sowie in der japanischen Literatur auf. Ein Grund der steigenden Aufmerksamkeit für diesen Ansatz waren die Rohstoffkostensprünge der Jahre 2007 bis 2008 (ebd.). In Deutschland wurde der Begriff Urban Mining ab etwa 2010 maßgeblich durch das Wuppertal Institut (2010) popularisiert. In dieser Zeit wurden auch die heute im Zusammenhang mit dem nachhaltigen Bauen geläufigen Konzepte der Sortenreinheit oder der Gebäudematerialpässe öffentlich erstmals artikuliert. Aus dieser Sicht erschienen nun aus vielschichtigen Materialkompositionen verbundene Gebäudeteile wie Wärmedämmverbundsysteme, Faserbeton oder fassadenintegrierte Photovoltaikanlagen als problematisch (Kiefhaber, 2012). In Iserlohn fand ab 2010 einige Jahre in Folge ein internationaler wissenschaftlicher Kongress zum Urban Mining statt. Die gebaute Umwelt sollte dem gegenwärtig formulierten Anspruch des Urban Mining nach als Materiallager dienen, nicht bloß als Rohstofflager. Das bedeutet, dass Gebäudeteile und Baumaterialien • verlustfrei • und wertherhaltend umnutzbar seien. Damit dies möglich wäre, bräuchte es neue Verbindungsstrategien und Rückbauanleitungen als Servicedienstleistung der Bauwirtschaft (vgl. das Expertenpapier zur Zirkulärwirtschaft in Hebel & Heisel, S. 13; Tab. 8.7).
8.10.3 Am Beispiel einer Stadt: Die urbane Mine Berlin Praktikabler als der globale Gesamtüberblick ist es, lokale Beispielfälle zu beziffern. Berlins anthropogenes Lager, bestehend aus nur mineralischen Baustoffen, wird auf 1,12 Mrd. Tonnen beziffert (606 Mio. Tonnen im Hochbau und 514 Mio. Tonnen im Tiefbau). Diese Zahlen lassen sich zu Jahresbedarfen in Bezug setzen; das sind allein
Tab. 8.7 Abgrenzung des Urban Mining vom Bergbau. (Nach Tercero Espinoza, 2020, S. 10) Bergbau
Urban Mining
• Basiert auf geologischen Ressourcen • Begrenzt durch Verfügbarkeit geologischer Lagerstätten • Erweiterbar, um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden • Auf wenige Orte konzentriert • Erhebliche Umweltauswirkungen • Oft gegen den Willen der lokalen Bevölkerung
• Basiert auf anthropogenen Ressourcen • Begrenzt durch Menge an Materialien in der Anthroposphäre • Kann der steigenden Nachfrage nicht gerecht werden • Konzentriert in städtischen Gebieten (insbesondere in Industrieländern) • Eher geringere Umweltbelastung • Unterstützung der Bevölkerung weniger problematisch
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für die Beton- und Asphaltherstellung der ungebundenen Schichten im Straßen- und Wegebau rund 2,5 Mio. Tonnen und 3,7 Mio. Tonnen Sand, Kies und Splitte im Jahr. Das Gesamtaufkommen mineralischer Baustoffe in Berlin wird mit 4 Mio. Tonnen beziffert, woraus 1,2 Mio. Tonnen als Rohstoff der Recyclingbaustoffherstellung verwendet werden. Da die urbane Mine Berlin mehr Schutt abwirft als dort gebraucht wird, wird das benachbarte Brandenburg wohl Deponiekapazitäten ausbauen müssen (Hedemann et al., 2017, S. 91–127). Ein viel beachteter Fall des innovativen Baustoff-Urban-Mining ist Amsterdam, das im Zuge seiner Klimaneutralitätsstrategie einen Businesspark für entsprechende Ansiedlungen plant.
8.10.4 Historisch war „Urban Mining“ selbstverständlich 8.10.4.1 Die schonende Rückbaupraxis vor 1945 Erst die historisch vergleichslos günstige Verfügbarkeit von Energie nach dem Zweiten Weltkrieg ebnete dem sorglosen und verschwenderischen Umgang mit dem Gebäudebestand den Weg. Zuvor waren die Baustoffe viel zu wertvoll. Ein historisches Beispiel ist der Pariser Palais des Tuileries. Er wurde im Jahr 1882 abgebrochen. Dafür boten, wie üblich, mehrere Abbruchunternehmen und Achille Picard erhielt den Zuschlag. Die Stadt Paris sicherte sich einen Großteil der Materialien, die Natursteine – oder ganze Arkaden und Mauerabschnitte – sind bis heute in vielen in dieser Zeit entstandenen Bauwerken vorhanden, etwa Museen oder Parks. Auch viele Privatpersonen sicherten sich schon vor dem Abbruch wertvolle Baustoffe. Das Landschloss Château de la Punta auf Korsika wurde großteils aus dem Abbruchmaterial des Pariser Palais errichtet (NZZ, 2010). Noch in den 1920er-Jahren war in den Städten Europas und Amerikas ein arbeitsteiliger und handwerklicher Baugebrauchtstoffhandel etabliert und eng mit dem Abrissgewerbe verbunden. Auch in New York zahlen nicht Bauherren einem Abbruchunternehmen Geld für „Abriss“ und „Entsorgung“ – wie heute üblich. Sondern es war genau umgekehrt. Der Abbruchunternehmer zahlte. Jacob Vol war einer dieser Unternehmer der Metropole an der amerikanischen Ostküste. Er ersteigerte gegen andere Mitbewerber Rückbaulizenzen von Privatimmobilienbesitzern oder der Stadt. Ein Rückbauprojekt im Jahr 1921 machte Schlagzeilen. Es handelte sich um das zur Bauzeit – im Jahr 1910 – herausragend große Hochhaus der Stadt, das Gillender Building. Schon zwölf Jahre später galt es als zu klein für den wertvollen Standort, ringsum waren noch höhere Häuser errichtet worden. In nur 45 Tagen bauten es die zahlreichen Arbeiter für Jacob Vol ab. Die kurze Lebenszeit dieses modernen Bauwerks erschütterte zeitgenössische Beobachter. Der schnelle Rückbau des Gillender Building „läutete insofern gleichzeitig auch das Ende der gängigen Praxis einer direkten Wiederverwertung von Baumaterialien ein“ (Cortés et al., 2021, S. 80). Nun sah eine große Öffentlichkeit auch, wie schnell
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Abb. 8.12 Zeitenwende: der Rückbau des Gillender Building in New York 1921 nach nur elf Jahren. (Abbildung Delcampe)
selbst moderne Bauwerke wieder aus der Mode kommen und wie begrenzt ihre Lebensdauer geworden ist (Abb. 8.12). Historische Fotografien und Filmaufnahmen von Rückbauprojekten aus dieser Zeit – etwa ein Film im Zeitraffer vom Star Theatre in New York – zeigen, dass ein Gebäude von oben nach unten sorgsam abgetragen wurde wie ein Ameisenhaufen. Fensterrahmen
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und Gläser wurden abgetragen, Ziegel für Ziegel und auch das Vollholz der Dachkonstruktionen. Die Rückbauunternehmen unterhielten große Baustofflager. Die Gebrauchtbaustoffe hatten sogar Vorteile. Das Holz war bereits getrocknet und Bauherren konnten sich sicher sein, dass es nicht mehr schrumpfe. Für fast alles gab es Verwendung, wie eine Master Thesis der Columbia University zeigt (Arlotta, 2018). Mauerziegel und Natursteine wurden so demontiert und kartiert, dass Mauern wieder in gleicher Weise aufgebaut werden konnten. Die Ziegel und Natursteine wurden sorgsam gereinigt. Da man nicht den harten Portlandzement, sondern Kalkmörtel genutzt hatte, war das möglich. Weich gebrannte Ziegel, die sich dafür nicht mehr eigneten, wurden für die Errichtung nicht tragender Innenwände verwendet. Holzdielen wurden wiederverwendet und bruchstückhafte Dielenböden wurden in der Regel nicht verbrannt, sondern für die Spanholzproduktion verwendet. Nagel für Nagel wurde sorgsam gezogen, um die Holzdielen nicht zu demolieren. Bruchsteine wurden für die Fundierungen neuer Gebäude eingesetzt. Ganze Fensterrahmen und Fenstergläser wurden in Neubauprojekten wiederverwendet. Besonders wertvoll waren Marmor- oder Granitsteine oder -platten. Die Abbrucharbeit war wohl hart und es wäre infrage zu stellen, inwieweit sie unter den Bedingungen sozialverträglicher Mindestlöhne hinsichtlich des Ziels moderater Kosten für Gebrauchtbaustoffe in unserer Zeit überhaupt noch zu finanzieren wäre. Aber könnten Maschinen helfen? Wie könnte die Bauplanung einen möglichst einfachen späteren Rückbau berücksichtigen? Im Sinne dieser Fragen ist der Blick in die Geschichte nicht nur erhellend, sondern notwendig. Oogstkaart in den Niederlanden
Als Gebraucht-Baustoffmarktplatz in den Niederlanden ist Oogstkaart ein erfolgreiches Beispiel, das Urban Mining erleichtert. Mehrere Hundert Gebrauchtbaustoffe oder -teile finden sich dort, markiert auf Google Maps. Die Plattform entstand im Zusammenhang mit der Sanierung eines Wohnhauses im Hafenviertel von Rotterdam in der Wolphartstraat durch das Architekturbüro Suoeruse Studios, das sich die Maßgabe auferlegte, nach strenger Hierarchie folgender Kriterien zu planen: Erstens mussten Bauteile und Baustoffe wiederverwendet werden. Wenn das nicht möglich war, waren Nachwachsende zu verwenden. Drittens war Recyclingmaterial zu verwenden, das aus möglichst nahem Umkreis zu kommen hatte. Die genauen Transportwege der Materialien wurden dokumentiert. Erst an vierter Stelle war es erlaubt, neue, aber einmal wiederverwendbare Baustoffe zu verwenden.
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8.10.4.2 Culture of Clearance: Der Kulturbruch vom Rückbau zum Abriss Das abrupte Ende dieses Gewerbes war durch technische Neuerungen begründet, nämlich die Abrissbirne und der Bulldozer. Dies geschah ab den 1940er-Jahren (Arlotta, 2018). Durch sie veränderte sich die Ökonomie des Rückbaus, der Abriss war sehr kostengünstig zu haben und zugleich wurden die Massenbaustoffe infolge der Energiepreisrückgänge immer günstiger. Auch war es nun einfacher möglich, mit elektrifizierten Lastwagen Bauschutt abzutransportieren, später ihn auch statt der Deponierung zu zertrennen und aufzubereiten. Der „amerikanische Traum“ der Befreiung von der harten Knochenarbeit wurde wahr: „Americans were eager to leave the resource-strapped, penny-pinching war years behind, and the pendulum swung dramatically towards conspicuous consumption“ (ebd.). Die Erfindung und Verbreitung des Bulldozers ab den 1950er-Jahren revolutionierte nicht nur die Abbruch-, sondern auch die Baustoffwirtschaft, den Handel und verdrängte die Gebrauchtbaustoffmärkte in die Nischen der Liebhaberei. Mit dem Bulldozer hielt eine Culture of Clearance Einzug, wie die Kulturhistorikerin Francesca Russello Ammon schrieb (Ammon, 2016). Es wurde „normal“, vor einem Baubeginn die Fläche schnell und günstig durch maschinellen Abriss zu „reinigen“ und auf der „gereinigten Fläche“ neu zu bauen. Eine entsprechend arbeitsteilige Bau- und Abbruchwirtschaft entwickelten sich. In den 2020er-Jahren wäre die Frage zu klären, wie angesichts der hohen Arbeitsteilung und der etablierten „Wertschöpfungs“-Ketten in diesen Bereichen eine Ausrichtung auf eine schonende und zeitgemäße Rückbaukultur gelingen kann (siehe einleitende Akteursskizze im Abschn. 2.2).
8.10.5 Urban-Mining-Index Im Zusammenhang mit dem Anspruch des Urban Mining ist die Rede von • Loop-Materialien und • Closed-Loop-Materialien. Erstere lassen sich teilweise in situ wiederverwerten, Letztere vollständig und ohne Qualitätsverlust. Klinker zum Beispiel als Loop-Material lässt sich fein zerrieben wiederverwerten als Rohstoff für hochgebrannte Klinker, wobei nur maximal 20 % Zusatz von Altklinkermaterial möglich ist, da hier Ton als Bindemittel fehlt. Lehm hingegen wäre ein Beispiel für ein Closed-Loop-Material. Seine Wiederverwertung ist vollständig möglich, da er nicht gebrannt wird. Ein nahezu geschlossener Verwertungskreislauf ist erzielbar (Hillebrand, 2021, in Heisel, S. 54). Die Begrifflichkeiten stammen von Anja Rosen (2020) und der Nomenklatur ihres Urban-Mining-Index. Dieser gibt an, wie groß der Anteil der Materialienwiederverwertung und -verwendung in situ für ein konkretes Bauprojekt ist. In einem Mate-
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rial-Cycle-Status werden hier etwa der Anteil an verwendetem Recyclingmaterial, das Material-Loop-Potenzial und das Materialschicksal am Gebäudelebensende in einen Indexwert eingerechnet. Der Werkzeugkasten des Urban-Mining-Index bietet in einem umfangreichen Excel-Tool etwa auch eine Kriteriencheckliste für die Bauplanung und das Projektmanagement. Am Beispiel des Tragwerks etwa (hier jeweils: Sohlplatte, Außenwände, Innenwände, Decken, Dach) fragt er Kennziffern ab über die: • Suffizienz, also Sparsamkeit (etwa Bestandsweiternutzung in situ, Verzicht auf Material- oder Bauteilschicht, Re-use, Re-cycling), • Einsatz nachwachsender Rohstoffe (Anteil der zertifizierten Hölzer), • hochwertige Verwertung – Recycling, Kaskadennutzung (sortenrein recyclingfähiges Material biotischen Ursprungs, abiotischen Ursprungs, sortenrein hochwertig in Nutzungskaskaden verwertbares biotisches Material, abiotisches Material …), • Materialfügung (Verwendung lösbarer Fügungen oder einstofflicher Verbindungen?). Der Urban-Mining-Index selbst basiert auf einem relativ aufwendigen Rechenverfahren. Rosen (2020) gibt einen Überblick und ein Praxisbeispiel. Noch ist nicht absehbar, in welchem Maß sich dieser Index in der Praxis durchsetzen wird und auch ob er in der Außenkommunikation auf Resonanz stoßen wird. Der Abbruch und die Wiederverwertung von Beton als RC-Betonzuschlag in situ in Korbach, anhand dessen ein UrbanMining-Index berechnet wurde und der signifikante CO2-Emissionseinsparungen berichtet, fanden jedenfalls in der internationalen wissenschaftlichen Literatur Resonanz (Yang et al., 2023; Sameer et al., 2022; Harris et al., 2023). Häuser aus PET-Flaschen?
Zwar ist aus Sicht der Bauanwendung der relevanteste Massenbaustoff des Urban Mining der Beton (Acatech, 2021, S. 21 f.). Doch es gibt auch „exotische“ Anwendungsfälle von Relevanz. Die urbane Mine kann in bauwirtschaftlicher Hinsicht überraschend interessant sein. Polymerische Abfallstoffe lassen sich zu Baustoffen transformieren. Das gilt für Holzfaser- und alle zellstoffhaltigen Rohstoffe, aber auch etwa für PET-Flaschen. Diese, die für die Ökosysteme der Weltmeere zum Problem werden, lassen sich nicht nur zu Textilien oder Treibstoffen umwandeln, sondern auch zu Bausteinen für den Bau kleiner Häuser. Dies wurde in Entwicklungsländern entweder mit den ganzen Flaschen erprobt9 (sei es mit Sand oder Plastikmüll gefüllt) oder mit Steinen, die aus Sand und PET-Material gemacht wurden, so etwa in Bangladesch (Haque, 2019). Dieser Problemfall der urbanen
9 Etwa:
http://www.plasticbottlevillage-theline.com/en/why-live-in-a-plastic-bottle-house.
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Mine wurde andererseits in Nigeria als Bitumenzusatz im Straßenbau verwendet (Sojobi 2016). Über die Entstehung des angeblich ersten Plastikflaschenhauses Afrikas in Nigeria berichteten Nachrichtenportale schon im Jahr 2011 (BBC, 2011).
8.10.6 Grenzen des Urban Mining Womöglich sind die Realisierungsmöglichkeiten dieses Ansatzes überschätzt. Urban Mining wird seit erst gut zehn Jahren im Kontext des Pfades in eine Zirkulärwirtschaft als Nachhaltigkeitsparadigma formuliert. Aber es wurde noch kaum „auf Herz und Nieren“ hinsichtlich seiner Umsetzbarkeit geprüft – jenseits attraktiver, jedoch forschungs- statt praxisbezogener Fallbeispiele oder entwicklungspolitischer Anwendungen. Eine Studie über die Potenziale für die Niederlande kam 2022 etwa zu ernüchternden Ergebnissen (Yang et al., 2022): Urban Mining könne den zukünftigen Materialbedarf für den Neubau nicht decken und zudem sei das Treibhausgas-Emissionsminderungspotenzial des Urban Mining „sehr gering“. Vor allem gilt das in Relation zu den Potenzialen, die eine Transformation zu einem Ökostrommix für das Land hätte. Im Fall des Altholzes behindern starke Kontaminationen mit Formaldehyden und anderen Schadstoffen die stoffliche Weiternutzung. Die urbane Mine ist vielfach durch Schwermetalle, Asbest, Formaldehyde und andere Chemikalien „vergiftet“. Die Metapher des Urban Mining schärft den Blick auf dieses Problem und lenkt ihn auf eine Ausrichtung auf die Lebenszyklusperspektive und Wiederverwendung. Sie überbetont dabei einerseits die Wiedernutzung lokaler Baustoffe, andererseits wird dabei das Prinzip der Bioökonomie, der stofflichen Aufschlüsse und innovativen Neukombinationen unterbetont. So wird erwartet, dass bis Mitte des Jahrhunderts die weltweite Nachfrage nach Kohlenstoff und seinen Derivaten (etwa Polymere) zu 25 % aus CO2 als Rohstoffquelle gedeckt wird, 20 % aus biobasierten Rohstoffen wie Holz (Nova Institut, 2021). Aber 55 % entfallen dieser Prognose nach auf Recyclingmaterial. Das kann bis dahin aus Quellen kommen, die man „urbane Mine“ nennen mag – 2020 betrug der Anteil aber erst 5 %. Die stärkste Barriere für eine Ausweitung von Ansätzen des Urban Mining in der Praxis ist aber eine ökonomische. Wie kann es gelingen, dass Bauunternehmen eine Wiedernutzung von Baustoffen – bestenfalls in situ – priorisieren, auch wenn diese teurer wäre? Hier wäre abermals der Hinweis auf den Rahmen der Bilanzierungspflichten und Ökobilanzierung zu machen. Aber genügt das, um Ansätze des Urban Mining „in die Fläche“ zu bringen? Derzeit scheint das erfolgreichere Geschäftsmodell, der schnelle Abriss, der Abtransport des Bauschutts durch spezialisierte Abrissunternehmen und eine Trennung von Weitervermarktung, Entsorgung sowie Deponierung, das deutlich ertragreichere zu sein – und vor allem auch das etablierte für alle beteiligten Akteure. Der Urban-MiningAnsatz scheint auch deshalb deutlich komplizierter als eine Ausweitung des Baus im Bestand.
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Abb. 8.13 Abriss eines historischen Gasthofes im Ortskern von Bad Schussenried für Neubauzwecke einer Investorenimmobilie. Auf einen Erhalt und Wiederverwendbarkeit der Materialien wurde nicht Rücksicht genommen. (Fotos Jan Grossarth)
Und schließlich wird selbst über diesen aus Gründen der Arbeitsökonomie und der Vermarktbarkeit von Wohnungen anscheinend in aller Regel in der Praxis kaum nachgedacht. Die Fotos zeigen Aufnahmen von einem solchen Abbruchprojekt im oberschwäbischen Bad Schussenried. Hier wurde eine keineswegs baufällige alte Ortsgaststätte – schätzungsweise ein Baujahr um 1900 – für den Neubau einer InvestorenPflegeimmobilie brachial abgerissen, statt den Bestand schonend weiter zu nutzen. Beim Abbruch wurde wie so häufig nicht „selektiv“ vorgegangen. Ungeachtet dessen rühmt sich der Investor auf seinen Internetseiten, die sich an Anleger richten, seiner Nachhaltigkeit und präsentiert Ökobilanzierungen und CSR-Indexwerte. Die Gefahr ist gegeben, dass Urban Mining als weiteres Schlagwort für Sonntagsreden genutzt wird, während im Alltag Business as Usual herrscht (Abb. 8.13).
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9
Was sollten wir unter zirkulärer Bioökonomie im Bauwesen verstehen und warum? Eine Annäherung durch 15 Interviews
9.1 Experteninterviews: Zusammenfassung der Ergebnisse Der überwiegende Teil von 15 Befragten – großteils Bauingenieure – in Experteninterviews sieht große Nachhaltigkeitsdefizite im Bauwesen. Gewachsene „konservative“ Strukturen der Bauwirtschaft oder eine „Einzementiertheit“ in Normenregelwerken werden mehrfach als Gründe genannt. Einem breiten Verständnis der Bioökonomie als Einsatz nachwachsender Rohstoffe unter den Befragten steht eine weitgehende Unkenntnis europäischer oder deutscher Baunachhaltigkeitspolitik gegenüber. Was den Bereich der Potenziale biogener Rohstoffe für das Bauwesen angeht, war die Einschätzung wenig eindeutig. Sieht ein Teil der Fachleute größte Möglichkeiten, so überwiegt andererseits Skepsis bezüglich der baufachlichen Eignung – insbesondere für massenintensive Einsatzgebiete wie den Infrastruktur- und Kraftwerksbau und auch bezüglich der Frage hinreichender Ressourcenverfügbarkeit insgesamt. Die Kernergebnisse lauten stichwortartig: • Die Ausrichtung auf eine zirkuläre Bioökonomie impliziert eine Chance auf einen Kulturwandel in den Bauberufen • Mit der Ausrichtung auf eine Bioökonomie werden überwiegend Innovationen verbunden • Mit der Ausrichtung auf zirkuläre Bioökonomie werden aber auch Identitätsbrüche der Bauwirtschaft verbunden und Ängste vor einem Widerspruch mit einer auf Wachstum aufgelegten „DNA“ der Branche • Es bestehen überwiegend Befürchtungen bürokratischer Überlastung der Betriebe durch eine Bürokratisierung der betrieblichen Nachhaltigkeit • Die zirkuläre Bioökonomie wird als gesamtwirtschaftlicher Weg verstanden
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 J. Grossarth, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40198-6_9
337
338
9 Was sollten wir unter zirkulärer Bioökonomie …
• Nachwachsende Rohstoffe werden für das Bauwesen als noch nicht sehr relevant, aber in Zukunft bedeutsam eingeschätzt • In der ethischen Bewertung, wofür die Fläche zu nutzen sei, steht der Anbau von Baustoffen auf Platz 2 der Prioritäten, gleich mit Textilien – nach Nahrungsmitteln und vor Brennstoffen, Heizholz, Treibstoff • Nur einem Drittel oder weniger bekannt sind die Kreislaufwirtschaftsinitiativen der EU, Berichtspflichten zu Nachhaltigkeit, das im Koalitionsvertrag festgeschriebene Gebäude-Materialkataster • Die Bedeutung von Laubholz und Stroh wird als stark wachsend, die von Nadelholz als abnehmend eingeschätzt • Biogene Baustoffe werden vor allem in Innenausbau, Tragwerk und der Dämmung gesehen, in geringerem Maße für den Infrastrukturbau • Erst wenige der Befragten hatten sich zum Zeitpunkt der Befragung intensiver mit Lebenszyklusanalysen befasst.
9.2 Ziel, Vorgehen und Motivation der Interviews Insgesamt 15 Fachleute aus dem Bauwesen und der Bioökonomie wurden im ersten Halbjahr 2022 zum Themenkreis der Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen befragt. Dreizehn davon waren Hochschulprofessor(inn)en. Elf der 15 waren beruflich im Bauingenieurswesen/Bauprojektmanagement zu verorten. Elf von 15 unterrichteten als Professoren an der Hochschule Biberach (Abschn. 9.5). Die Interviews waren methodisch als Mischformen aus Experteninterview, biographischem und leitfadengestütztem Interview angelegt (vgl. Nohl 2017, S. 15–28). Zunächst wurden die Gesprächspartner gebeten, offen zu ihren biographischen und berufsbiographischen Bezügen zu den Themen des Gesprächs zu erzählen. In einem zweiten Teil wurde dann ein Fragebogen mit Leitfragen vorgelegt. Die Interviews dauerten zwischen jeweils rund 40 min und mehr als zwei Stunden. Ein Teil wurde persönlich, ein Teil über Videokonferenzen durchgeführt. Von allen Gesprächen liegen Tonaufnahmen und Mitschriften vor. Eine anonyme Auswertung wurde vereinbart mit auszugsweiser Veröffentlichung einzelner prägnanter Aussagen nach vorheriger schriftlicher Freigabe. Die Befragung war nicht repräsentativ. Die Darstellung der quantitativen Ergebnisse ist rein deskriptiv, die Darstellung der Textantworten selektiv. Die Anliegen dieses Vorgehens sind Folgende: Erstens ging es darum, die Vielzahl an verschiedenen Erwartungen und auch verschiedener Verständnisse der Metaphern der Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen in einem Expertenkreis von überwiegend Bauingenieuren abzufragen und zu dokumentieren. So sollte eine Bandbreite an Vorstellungen, Einschätzungen und Lösungsperspektiven bezüglich der Nachhaltigkeitsfrage im Bauwesen dokumentiert werden. Das Ziel der Expertenbefragung war es, die Ansichten führender Experten des Bauwesens und der Bioökonomie vorwiegend aus dem Hochschulbereich zu den Potenzialen und Risiken, Lösungsbeiträgen und -grenzen
339
9.3 Auswahl der Partizipierenden
und auch zu Nachhaltigkeitsdefiziten des Bauwesens und „Best-Case-Lösungen“ des bioökonomischen Bauens zu befragen. Der Fokus auf Forschende erklärt sich durch die Zukunftsgerichtetheit der Forschungsfrage. So sollten wesentliche Konturen des akademischen Stützfaches „Bau-Bioökonomie“ sichtbar werden, und zwar insbesondere aus der anwendungsnahen Perspektive des Ingenieurwesens. Es wurde den Teilnehmenden offengelassen, auf einzelne Fragen zu antworten oder nicht, sodass sich die Summe der Antworten nicht immer auf 15 summiert. In der folgenden Auswertung werden nur die häufig – also von einer Mehrheit der Partizipierenden – beantworteten Fragen und Antworten tabellarisch wiedergegeben. Antworten auf die Fragen des offenen Interviewteils werden in Form von Kurzprotokollen wiedergeben, die nach Kriterien der Relevanz und Originalität ausgewählt wurden. Die Reihenfolge der Darstellung richtet sich nach dem Fragebogen.
9.3 Auswahl der Partizipierenden Die Teilnehmenden wurden nach dem Kriterium angefragt, dass wesentliche relevante Fachrichtungen des Bauingenieurs vertreten sind. Zudem wurden mehrere Fachleute des Bauwesens wie der Architektur und des Denkmalschutzes befragt, die sich in der Debatte über nachhaltigen Bau öffentlich engagieren. Hinzu kamen Vertreterinnen der akademischen Bioökonomie (Bioökonomierat) und ein Vertreter des Bioökonomiereferats des Landwirtschaftsministeriums. Bauingenieure wurden großteils von der Hochschule Biberach ausgewählt, da der „Feldzugang“ hier leicht zu ermöglichen war und dem persönlichen Gespräch der Vorzug vor einem Videointerview gegeben wurde. Daten zur Befragung
Zeitraum: Februar bis August 2022 Teilnehmende, nach Funktion: Professor(in)
13
Selbständiger
1
Minissterialbeamter
1
Nach Fakultät (gegenwärtige Anstellung oder eigener Berufsabschluss): Bauingenieurwesen
8
Bauwesen-Projektmanagement
3
Architektur
1
340
9 Was sollten wir unter zirkulärer Bioökonomie …
Agrarwissenschaften
2
Umweltsystemforschung
1
Nach überwiegender Expertise: Bauwesen
12
Bioökonomie
3
Nach Geschlecht: männlich
13
weiblich
2
divers
0
Nach Institution: Hochschule Biberach
11
TU München
1
Universität Hohenheim
1
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung
1
Staatsministerium für Landwirtschaft
1
9.4 Darstellung der Ergebnisse 9.4.1 Offener, narrativer Teil Frage 1: Was verstehen Sie unter Bioökonomie? Was verstehen Sie unter Zirkulärwirtschaft? Wann hatten Sie erstmals mit diesen Konzepten zu tun? Hieraus ergaben sich folgende Aussagen:
9.4.1.1 Thomas Auer (I): „Die Politik war lange verkehrt unterwegs – und plötzlich geht es um die Weltrettung“ „Den Begriff Bioökonomie habe ich Mitte der 2010er-Jahre erstmals gehört. Ich meine, er habe sich in den letzten Jahren verwässert. Jetzt geht es mehr um die große Weltrettung – damals um die nachwachsenden Ressourcen, etwa für die Erzeugung von Bioenergie. Diese Tendenz zur Verwässerung entspricht unserer Debatte über nachhaltigen Bau. Hier kommen wir in Deutschland sozusagen von einem Extrem ins nächste. Zwanzig Jahre ging es um sparsamere Gebäudebetriebe – jetzt um das große Ganze. Dafür
9.4 Darstellung der Ergebnisse
341
gibt es gute Gründe: Auch unsere Lebenszyklusanalysen haben ergeben, dass die Rohstoffgewinnung und die Bauphase im Wohnungsbau etwa die Hälfte der Treibhausgasemissionen ausmachen. Bislang hatte sich der Gesetzgeber, aber auch die Baubranche auf die anderen 50 % – vor allem Heizenergie – konzentriert. Energiesparrichtlinien beförderten die Bauweisen mit Wärmedämmverbundsystemen. Mein beruflicher Weg war dieser Entwicklung gewisser Weise entgegengesetzt: Als ich 1994 Absolvent der Uni Stuttgart war, haben wir uns viel mit der Solartechnik beschäftigt. Uns ging es eigentlich darum, Solarenergie in die Architektur zu bringen, ins Bauen, in die gebaute Umwelt. Wir spezialisierten uns früh auf Computersimulationen. Wir waren diejenigen, die rechnen konnten. Die damals schon simulieren konnten, wie groß Energiebedarfe von Gebäuden im Lebenszyklus sein würden – verständlich aufgeteilt für das ganze Jahr, ggf. viertelstündlich aufgelöst. Bald aber haben wir uns auch mit der ungleich komplizierteren Frage beschäftigt: Was ist eigentlich gute Raumluftqualität? Und was ist guter thermischer Komfort? Ende der 1990er-, Anfang der 2000erJahre gab es – vor allem in den USA – Studien zum Thema „Arbeitsproduktivität und Raumkomfort“. Dieser Zusammenhang war damals auch für unsere Auftraggeber, vor allem Bauherren von großen Bürogebäuden, viel relevanter als die Frage der Ressourcen- und Klimaschonung: Was ist Aufenthaltsqualität? Was ist Komfort, was angenehmes Tageslicht? Wie kriegen wir blendfrei Tageslicht in den Raum? Die Energiefrage war für diese Menschen damals – aus monetären Gründen – sekundär, maximal. Die Kunden wollten ein schönes Haus, das repräsentativ ist und eine gute Aufenthaltsqualität hat. Dafür setzte man viel Technik ein: Klimaanlagen, Kanäle für Technik und und und. Aber wir suchten einfachere Lösungen. Für uns ging es zum Beispiel darum, wie man die Fassade anders gestalten kann, damit man nicht so aufwendige Technik braucht. Wie kann man Technik minimieren? Wie kann man über Architektur Aufenthaltsqualität schaffen? Und wir konnten nicht nur mit Ideen aufwarten, sondern konnten das auch per Simulation nachweisen. Das haben die Kunden geschätzt. Wir füllten ein Vakuum, wir waren die Hipster, die New Kids on the Block. Also kamen bald auch die ganz großen Architekten zu uns. Aber aus Sicht der Klimabranche sah die Welt damals noch anders aus – und noch viele Jahre länger. Aus deren Sicht waren wir die Schmuddelkinder, weil wir allen erzählt hatten, dass man gar keine große Klimatechnik brauche. Wir waren in diesen ganzen Lobbykreisen, die nun die Politikberatung machten, nicht angesagt. Wärmepumpe, Raumentlüftung mit Wärmerückgewinnung, Polystyrol, Fußbodenheizung. Und auch beim Bund war man nicht unbedingt angesagt. Das hat sich jetzt plötzlich geändert. Jetzt blickt die Politik auf die gesamte Umweltbilanz des Gebäudes, auch auf die übrigen 50 % – den Materialaufwand des Baus, des Rückbaus, der Entsorgung. In diesem Sinne war auch die Entscheidung der Bundesregierung richtig, die Effizienzhausförderung einzustellen. Die Politik war in dieser Sache lange Jahre auf einem verkehrten Pfad unterwegs, indem sie auf starke Außendämmung und maschinelle Lüftung setzte. Aber von einfachen, architektonischen, also weniger technischen Lösungen, wollten sie nichts wissen.“ Thomas Auer, Jg. 1965, ist Professor für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Bauen an der Technischen Universität München.
342
9 Was sollten wir unter zirkulärer Bioökonomie …
9.4.1.2 Daniela Thrän: „Der Baubereich ist mittlerweile zentral für die Bioökonomie“ „Es geht um neue Materialien wie das Thermoholz, das dauerhaft witterungsbeständig ist und chemiefrei. Der Baubereich ist für die Bioökonomie in Mitteldeutschland mittlerweile relevanter als der Chemiebereich – das war vor 15 Jahren noch anders. Eine Verbesserung der Materialeigenschaften wie Brandschutz oder Statik steht im Fokus der Forschung, aber auch eine Bezifferung des erheblichen Mengenbedarfs an nachwachsenden Materialien. Im Bioökonomierat diskutieren wir auch Fragen wie diejenige, wie wir zur Gentechnik in diesem Bereich stehen. Mit dem zweiten Bioökonomierat haben wir 2017 die Studie „Biobasierte Stadt“ herausgegeben, die wir weit gefasst haben – weit jenseits des Bauens. Da spielten auch die kumulierten Energieaufwände für den Lebensmitteltransport eine Rolle. Die bioökonomische Stadt ist also auch eine gewaltige Planungsaufgabe.“ Daniela Thrän, Jg. 1968, ist Professorin und Leiterin des Departments Bioenergie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung. 9.4.1.3 Gotthold A. Balensiefen: „Wir brauchen Rücknahmepflichten für Bauprodukte“ „Der für mich zentrale Oberbegriff in der Nachhaltigkeitsdebatte ist die Kreislaufwirtschaft. Denn er umfasst alle Stoffklassen, während die Bioökonomie zunächst nur organische Stoffe meint. Sowohl Bioökonomie als auch Zirkulärwirtschaft sind rechtlich nicht definiert. Sie sind also eher geschichtlich zu fassen und in ihrer Entwicklung zu betrachten: Die Kreislaufwirtschaft taucht aber schon früh in der Umweltpolitik auf, etwa 1990 im 'Sondergutachten Abfallwirtschaft' des Sachverständigenrates Umwelt. Der Dreiklang 'Vermeidung – Verwertung – Beseitigung' wurde tonangebend. Gefährliche Abfälle als 'Sondermüll' und überquellende Hausmülldeponien dominierten das Problembewusstsein der 1980er- und 1990er-Jahre. Das war noch Ausdruck eines 'Endof-the-Pipe-Denkens'. Die Schutzgüter Boden und Grundwasser standen im Fokus. Programmatisch ist die Entwicklung der Gesetzesbezeichnungen im Abfallrecht: vom Abfallbeseitigungsgesetz 1972 über das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz 1996 zum Kreislaufwirtschaftsgesetz 2012. Die Verwendung von bestimmten Bauabfällen insbesondere als Straßenunterbaumaterialien markierte in gewisser Weise den Anfang von Wiederverwertungen im Bausektor, einen der ersten quantitativ ins Gewicht fallenden Schritte in ein 'In-the-Pipe-Denken' im Baubereich, bedingt vor allem durch den immer knapper werdenden Deponieraum. Die abfallrechtliche Voraussetzung für die Wiederverwendung war vor allem eine Zuordnung von Erdaushub in die Z0-Kategorie, die eine Verwendung als Verfüllmaterial nahezu uneingeschränkt zuließ. Einen wichtigen Schritt weiter führte die Einführung von Rücknahmepflichten im Verpackungsbereich 1991 und von Pfandsystemen – etwa für Batterien, Elektrogeräte, Glasflaschen oder Dosen. Solche Instrumente wären neben neuen Anforderungen an Bauprodukte zur Langlebigkeit und Wiederverwendbarkeit im Rahmen einer novellierten Bauprodukteverordnung der EU auch für bestimmte Bauprodukte des immer umfangreicheren technischen Ausbaus
9.4 Darstellung der Ergebnisse
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denkbar und sinnvoll, das wären weitere umweltrechtliche Schritte in eine Kreislaufwirtschaft.“ Gotthold Balensiefen, Jg. 1958, ist Professor für Bau-, Planungs- und Umweltrecht an der Hochschule Biberach.
9.4.1.4 Heiko Rahm: „Es ist die Langlebigkeit, zu der wir zurückfinden müssen“ „Beide Begriffe, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft, wurden von außen in die Bauwirtschaft hineingetragen. Das zeigt uns, dass wir unseren Fokus vielleicht zu stark auf den Neubau gelegt haben und den Wert des Gebäudebestands nicht ausreichend wahrgenommen haben. Aber gerade der Altbestand an Baumaterialien ist oft unter großer Arbeitsmühe und unter großem Energieaufwand erstellt worden. Ein Beispiel von vielen, das mir dazu in den Sinn kommt, sind alte Pflastersteine. Das konnte ich kürzlich in meiner Nachbarschaft beobachten: Alte Pflastersteine werden von einem Abbruchunternehmen im kommunalen Auftrag ausgebaut und anschließend zu Schotter verarbeitet. Es wäre aber im Sinne der Nachhaltigkeit angebracht, die Steine schonender zu entnehmen und sie an anderer Stelle weiterzuverwenden. Solche Kreisläufe von Altmaterialien gibt es in der Gegenwart noch viel zu selten im Baugewerbe, was sicherlich auch mit Haftungsfragen zusammenhängt. Bioökonomie bedeutet für mich, dass wir in diesem Sinne von den Kreisläufen der Natur lernen. Und das zweite große Thema ist die Langlebigkeit, zu der wir zurückfinden müssen. Es gibt schließlich Eisenbahnbrücken aus dem 19. Jahrhundert, die heute noch in Betrieb sind – und andererseits Autobahnbrücken, die schon nach wenigen Jahrzehnten marode sind. … Wir brauchen im Bauwesen in der Breite ein Verständnis für Nachhaltigkeit, aber wir brauchen gewiss keine Spezialisten für Nachhaltigkeit. … Wenn ich den wenig konkreten Begriff der Transformation höre, kriege ich Pusteln. Ich finde ihn ganz, ganz furchtbar. Er steht für ein Schwarz-Weiß-Denken, als gäbe es nur die schlechte Welt, in der wir leben, und eine irgendwie transformierte und damit bessere Zukunft. Man kann nicht alles auf einen Schlag auf den Kopf stellen – es muss eher ein Evolutionsprozess sein und es wird dafür sehr schnell sehr viele kleine und große Schritte brauchen – konkrete Maßnahmen.“ Heiko Rahm, Jg. 1971, ist Professor für Konstruktiven Ingenieurbau an der Hochschule Biberach. 9.4.1.5 Thomas Auer (II): „Wir brauchen industrielle Massenfertigung mit Lehm“ „Was die nachwachsenden Baustoffe angeht, kenne ich wohl die Position, die sagt: Der Zuwachs an Wald reicht nie und nimmer. Auch nicht einmal für einen Bruchteil dessen, was global gebaut werden muss. Ich würde sagen, es gibt ein großes Potenzial für Materialkombinationen aus Holz und Lehm. Letzterer ist der Baustoff, in dem bereits etwa eine Milliarde Menschen leben. Eine Ressource, die wirklich überall vorhanden ist. Und auch wieder und wieder verwertbar. Nur ein bisschen Wasser und dann ist der Lehm wieder neu. So könnte man den Materialbedarf im Bauwesen längerfristig auf
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9 Was sollten wir unter zirkulärer Bioökonomie …
einen Bruchteil reduzieren. Das Holz und Lehm sich gut vertragen, ist auch schon seit vielen Hundert Jahren bekannt. Aber das Problem ist, dass diese Baustoffe heute in einer Bastelnische und deshalb auch viel zu teuer sind. Wir sind an diesem Thema dran mit Vertretern der Ziegelindustrie, weil die ja die Lehmgruben betreiben und auch die Förderlogistik haben. Wir brauchen auch in diesem Bereich Vorfertigung und Industrie 4.0: Mass Costumization. Ebenfalls forschen wir an der TU München an Holz-LehmDecken, um auch in diesem Bereich Zement zu ersetzen (Prof. Kathrin Dörfler, digitale Fabrikation). Hier spielt auch die Robotik eine Rolle, um Lehmbauteile ggf. in der Zukunft zu drucken. Ich glaube, dass man diese Dinge schon in naher Zukunft in die Praxis bringen könnte.“ Thomas Auer, Jg. 1965, ist Professor für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Bauen an der Technischen Universität München.
Lehmquelle: Tonerde im hessischen Kinzig-Kreis. (Foto Jan Grossarth)
9.4.1.6 Gerhard Haimerl: „Die Bauwirtschaft dreht sich im Kreis und braucht politischen Druck“ „Man dreht sich im Bauwesen, was die Nachhaltigkeit angeht, seit Jahren im Kreis. Die Bauwirtschaft sagt, die Kunden wollen das nicht; und die Kunden sagen, das gibt es nicht zu kaufen. Die Branche hängt an billigen Baustoffen und Rohstoffen, das Vergabe-
9.4 Darstellung der Ergebnisse
345
prinzip des niedrigsten Preises steht meist im Vordergrund. Es wird wohl leider Zwang und Verbote geben müssen, um mehr Nachhaltigkeit zu erreichen. Im engen Sinne geht es bei den Ansätzen der Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft um Materialien, etwa Baustoffe, im weiteren um Planungsprozesse und den staatlichen Rahmen. In meinem Bereich, dem Wasserbau, spielt das Problem der Kurzlebigkeit allerdings eine vergleichsweise nebensächliche Rolle. Die Bauwerke werden für Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte geplant; Stahl und Beton dominieren hier als langlebige Materialien – mit Ausnahme beweglicher Bauteile, die auch aus Holz sein dürfen. Aber es gibt auch traditionelle ingenieurbiologische Bauweisen, etwa bei Flussufer- und Böschungssicherungen mit Weidenbewuchs sowie bei Dämmen und Deichen wo die Grasnarbe auch technisch-statische Funktionen hat. … Den Begriff Transformation empfinde ich oft passiv und technokratisch, nach dem Motto: Da wird was mit mir gemacht. Er wirkt wenig proaktiv. Er provoziert deshalb eher eine Abwehrhaltung, als dass er Veränderungsgeist wecke. Doch das ist ja die Situation im Bauwesen: In der Praxis ist es meist wenig kreativ.“ Gerhard Haimerl, Jg. 1973, ist Professor für Wasserbau an der Hochschule Biberach. „Eigentlich müssten Bauwerke wie Aktiendepots sein, Materiallager für kommende Generationen. Aber wir gießen Beton in den Boden und verkleben Steine, als baue man für die Ewigkeit – was allerdings immer weniger zutrifft“ (Hannes Schwarzwälder, Professor für Digitalisierung von Bauprozessen an der Hochschule Biberach).
9.4.1.7 Rainer Weitschies: „Die öffentliche Hand muss in Vorleistung gehen“ „In meinen Augen gibt es im Hinblick auf nachhaltiges Bauen zwei unterschiedliche Strategien: Dauerhaftigkeit und Zirkularität. Beide haben ihre Berechtigung, teilweise überlagern sie sich auch. Mich interessieren beide Prinzipien. Urban Mining, verstanden als Wiedernutzung von Bauteilen dauerhaft konzipierter Bauten, war über Jahrtausende ganz normal. Es müssen dann auch nicht unbedingt biogene Baustoffe sein. Wenn beispielsweise aus Ziegelschutt neue Baustoffe hergestellt werden und die dazu notwendige Energie regenerativ erzeugt wurde, ist das völlig okay. Es ist eine Frage der Produktionstechniken und der Energieerzeugung, regenerativ oder fossil. Naturstein zum Beispiel gibt es genug auf der Erde. Wenn es gelingt, die für Gewinnung und Verarbeitung notwendigen Prozesse mit regenerativen Energien durchzuführen, ist Naturstein ein sehr nachhaltiges Material. Im Berufsalltag sind für uns Planer und Architekten das bestehende Normenwerk und die realen ökonomischen Verhältnisse oft ein großes Hindernis für nachhaltiges Bauen. Mir scheint, dass für ressourcenschonendes Bauen eine ganz andere Ökonomie notwendig wäre. Wir haben zum Beispiel versucht mit Lehm zu bauen. Lehm ist ein ressourcenschonendes vielfach wiederverwend-
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bares Material. Aber es ist als Lehmstampfwand leider noch dreimal so teuer wie eine Standardwand aus Mauerwerksziegel. Im Moment ist nachhaltiges Bauen sehr häufig noch ein Luxus, den man sich leisten können muss. Dies liegt in erster Linie daran, dass es in dieser Rechnung noch keine Kostenwahrheit gibt. Die Standard-Massivwand verursacht deutlich höhere CO2-Folgekosten, die im Moment noch von der Allgemeinheit bezahlt werden. Wären die Folgekosten korrekt bepreist, sähe die Rechnung anders aus und ein Material wie Stampflehm wäre eher auch ökonomisch konkurrenzfähig. An den Hochschulen werden nun zunehmend Lebenszyklusanalysen durchgeführt, die solche Emissionen beziffern und mit einkalkulieren. In der Praxis ist dies bis auf wenige Forschungsprojekte aber noch die große Ausnahme. Um hier Abhilfe zu schaffen, müssten Ausschreibungen konsequent auf der Basis von ressourcenschonenden Kriterien entschieden werden. Dies könnte dann beispielsweise bedeuten, dass in einer Ausschreibung für ein Bauprojekt nur regional verfügbare Materialien verwendet werden dürften. Was ganz und gar nicht der heute üblichen Baupraxis entspräche, in der es in der Regel dem Anbieter überlassen wird, woher er seine Materialien bezieht. Die Bauprozesse und heute üblichen ökonomischen Abhängigkeiten würden ziemlich auf den Kopf gestellt. Im Moment versuchen wir dies in einem Projekt für eine öffentliche Bauherrschaft, wo das Bauholz aus dem gemeindeeigenen Wald kommen soll. Dies geht nur, indem wir frühzeitig die Dimensionen des Holzes festlegen, die öffentliche Hand in Vorleistung geht und das Holz fällen und einsägen lässt und sich dann auch noch um die Zwischenlagerung kümmert. In der Ausschreibung wird dann die Holzlieferung als bauseits deklariert werden. Die üblichen ökonomischen Spielräume, die eine Bauunternehmung gemeinhin mit der Beschaffung des Materials hat, sind so nicht mehr vorhanden. Aber es ist extrem ressourcenschonend und nahezu CO2-neutral.“ Rainer Weitschies ist Professor für Entwurf und Materialkunde an der Hochschule Biberach und Inhaber des Büros für Architektur und Stadtplanung in Chur (Schweiz).
9.4.1.8 Dimitrios Toris: „Es gibt drei zentrale Pfade: Regionalisierung, leistungsbezogene Normen und eine zirkuläre Baustoffwirtschaft“ „Der Weg in ein nachhaltigeres Bauen wird über eine erweiterte Definition von Kosten führen müssen. Die Einbeziehung von Umweltkosten würde dann alte Bautraditionen einerseits und zirkuläre Baustoffwirtschaft andererseits als eine echte Option aufzeigen. Beton, beziehungsweise die massive Bauweise, bleibt zumindest mittelfristig der wichtigste Baustoff im urbanen Gebiet. Jedoch werden wir bereits in der Planungs- und Bauphase die Wiederverwendung mitdenken müssen, um Ressourcenschonung betreiben zu können. Insgesamt verstehe ich unter nachhaltigem Bauen noch etwas Weiteres: nämlich eine räumlich differenzierte Ausrichtung des Bausektors. Alte Baumaterialien stützen sich auf regional verfügbare Materialien. Da die überregionale Verfügbarkeit erst durch die energieintensiven automotiven Transportprozesse ermöglicht wurde, erscheint der
9.4 Darstellung der Ergebnisse
347
Weg in die Geschichte als plausibler Weg „zurück“ in die Zukunft. Die regionale und lokale Ebene müssten so wieder bei der Raumplanung und Bedarfsabsteckung in die Verantwortung genommen werden (auch wenn ich andererseits im Zusammenhang mit der Klimapolitik die Gefahr zunehmender politischer Lenkung sehe). Aber auch die Bundesebene hat vor dem Hintergrund der zunehmenden Europäisierung der Normung die Chance, innovationshemmende Pfade der Genehmigung und Ausführung von Bauwerken abzubauen. Manche Schrauben der Normierung (im Sinne der Regulierung der Beschaffenheit von Bauprodukten und Bauteilen) zu lockern ist wichtig, denn die Bauwirtschaft hat sich aus Rationalisierungsgründen und auf Kosten der freischaffenden Planer in weiten Teilen darauf eingestellt, dass sie streng nach deskriptiver Norm – beziehungsweise Zulassung – produziert. Hier muss ich einen Rückblick auf die unterschiedlichen Geschichten der Normengebung machen. Der deutsche Ansatz ist der Art: Die Norm beschreibt die Beschaffenheit eines Bauprodukts. Soll von dieser Beschaffenheit abgewichen werden, bedarf es der Erwirkung einer bauaufsichtlichen Zulassung, was für die am Bau Beteiligten beziehungsweise den Produkthersteller ein zeit- und kostenintensiver Prozess ist, der den Rahmen eines konkreten Bauprojekts sprengt. Im Zuge der Nachhaltigkeit ist es nun so, dass im europäischen Normenregelwerk die Tendenz von einer Normierung der Produktbeschaffenheit hin zu der Beschreibung der erforderlichen Leistungen gehen. Das folgt einer angelsächsischen Tradition und ist innovationsfreundlicher, da nicht die objektübergreifende Beschaffenheit, sondern die objektspezifisch differenzierte Leistung nachzuweisen ist. Der Übergang vom Deskriptiven zum Leistungsbasierten muss jedoch in der Lehre und Ausbildung beginnen und in einer Umverteilung der Baukosten zugunsten der Planung münden, da nur dort eine konzeptionelle und objektspezifische Wirkungsoptimierung erfolgen kann. Und dieses leistungsbasierte Denken ist für mich zugleich ein großer Schritt zurück zu den regionalen oder lokalen Bautraditionen (als primärer Lösungsansatz im ländlichen Bereich). Man kann – nachhaltig – nicht in Lappland nach gleicher Art und mit den gleichen Roh- und Baustoffen bauen wie am Mittelmeer. Für das urbane Gebiet wird mittelfristig die zirkuläre Baustoffwirtschaft der wichtigste Hebel sein, um nachhaltig bauen zu können.“ Dimitrios Toris, Jg. 1975, ist Professor für Baustoffkunde und Baukonstruktion an der Hochschule Biberach.
9.4.1.9 Alexander Moendel: „Die Bioökonomie bringt Leute auf ganz neue Weise zusammen“ „Als ich erstmals von der Bioökonomie hörte, dachte ich: Das ist ja nichts Neues – alter Wein in neuen Schläuchen. Das sehe ich mittlerweile ganz anders. Unter dem Dach der Bioökonomie kommen Leute zusammen, die sich sonst nicht austauschen würden. Oft werde ich gefragt, ob die Biomasse ausreicht, damit wir unseren Lebensstandard halten können. Aber darum geht es nicht. Sondern es geht darum, die extremen Ineffizienzen unserer Lebensweise abzustellen. Bioökonomie ist ein Systemansatz. Er bedeutet eine volkswirtschaftliche Orientierung an der Natur. Die Natur kennt kei-
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9 Was sollten wir unter zirkulärer Bioökonomie …
nen Abfall. Der eine lebt vom Abfall des anderen. Die Bau-Bioökonomie ist ein Thema, für das Baden-Württemberg prädestiniert ist. Wir sind das Holzbauland Nummer eins, mit einer 31 %-Holzbauquote von Einfamilienhäusern. Aber in diesem Bereich gibt es auch viele Innovationsthemen: neue Verbindungstechniken, Nutzung von holzbasierten stofflichen Nebenströmen. Die Bauwirtschaft war aber Jahrzehnte auf Beton und Stahl geschult worden. Die muss man nun erstmal wieder zurück schulen. In Baden-Württemberg sind wir auf dem Weg, den Holzbau in die Massen zu bringen, etwa indem wir nun die Sieben-Stockwerks-Obergrenze aufgehoben haben. Nachverdichtungen und Aufstockungen mit vorgefertigten Modulen aus Holz sind ebenfalls günstige Möglichkeiten.“ Alexander Moendel, Jg. 1971, ist Agraringenieur und leitet das Referat für Bioökonomie im Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz BadenWürttemberg. „Der Bausektor ist erzkonservativ, Neuerungen werden hier kritisch beäugt. Wenn es um Nachhaltigkeit geht, sagen viele, das wäre ja eine gute Idee, aber dann immer auch, warum das jetzt gerade nicht geht. Die Unbeweglichkeit der Branche ist über zahlreiche Normen gewissermaßen zementiert. Der Lobby der Bauindustrie und der Baustoffhersteller gefällt das. … Abfall ist ein Designfehler. Die alten Filme von Dieter Wielandt haben mich schon früh in meiner Laufbahn beeinflusst, das zu erkennen – die Bilder der alten Dörfer und Gebäude und als Kontrast die ganze moderne Verschandelung der Landschaft“ (Klaus-Jürgen Edelhäuser, Geschäftsführer Konopatzki & Edelhäuser Architekten).
9.4.1.10 Daniel Rubin: „Holz ist auch im Ingenieurbau zunehmend interessant“ „Zwar unterrichte ich Stahl- und Brückenbau, aber meine Anfänge als Bauingenieur machte ich mit einer Holzbrücke. Meine Diplomarbeit im Jahr 1992 handelte von einer Holzbrücke in Ojuéla in Mexiko. Sie hat meine Liebe zum Brückenbau entfacht: Eine wunderschöne, 271 m lange echte Hängebrücke mit einem Versteifungsträger in Form eines Holzfachwerkträgers. Zunächst hatte ich an der Uni in Wien nur ein SchwarzWeiß-Foto von ihr gesehen, dann flog ich hin und forschte über die Hängebrücke. Sie musste damals saniert werden und das war ein Erfolg. Sie steht bis heute und das schon seit mehr als 130 Jahren. Sie ist aus einem lokalen Holz gefertigt, Pinus durangensis, einer mexikanischen Kiefer. Aber sie war nicht gegen die Witterung geschützt – was in dieser Region auch nicht so wichtig ist, denn dort gab es relativ wenig Regen. Das ist in Mitteleuropa anders. Aber eine Holzbrücke kann auch hier fast ewig halten, wenn sie überdacht ist. In der Schweiz gibt es schöne historische Beispiele (Abb. 9.1). Diese Erinnerung an Ojuéla verbindet mich mit der Bioökonomie. Holz ist in diesem Sinne auch als Baustoff im Ingenieurbau zunehmend interessant. Aber auch der Stahl ist ein sehr nachhaltiges Material. Er ist nahezu zu 100 % kreislauffähig und wird auch heute schon fast vollständig wiederverwertet. Hier stellt sich die Nachhaltigkeitsfrage vor allem als Frage der Energieversorgung für das Einschmelzen dar. …
9.4 Darstellung der Ergebnisse
349
Abb. 9.1 Die historische Holzbrücke von Bad Säckingen führt über den Rhein. (Postkarte Delcampe)
Für das Holz und nachwachsende Rohstoffe gibt es Potenzial im Bereich des Verkehrswegebaus – Holz ist fast unbegrenzt haltbar, wenn es entweder immer trocken oder immer nass ist (dann aber ohne Kontakt mit der Luft, wie beispielsweise die Pfähle, auf denen Teile von Venedig gegründet sind – diese sind über 1000 Jahre alt und immer noch voll tragfähig). Insbesondere wenn Holz nur zeitweise feucht wird, sieht es ganz schlecht aus. … Die Transformation des Bauwesens ist ein unausweichlicher Weg.“ Daniel Rubin, Jg. 1969, ist Professor für Konstruktiven Ingenieurbau und Stahlbau an der Hochschule Biberach.
9.4.1.11 Chancen und Risiken der Bioökonomie Frage 2: Bitte nennen Sie je fünf Stichworte, die Ihnen zum Stichwort „Bioökonomie im Bau“ einfallen – Ihre spontanen positiven und negativen Assoziationen (Antworten anonymisiert und alphabetisch sortiert; stichwortartig oder als Kurzzitate).
350
9 Was sollten wir unter zirkulärer Bioökonomie …
Positiv
Negativ
• „Die Mentalität bei Bauherren und in der Baubranche ist das größere Problem – man kann das Mindset durch eine neue Orientierung verändern“ • „Schönes Altern kann ein spannendes Thema für die Architektur sein“ • „3-D-Druck materialsparsamer Betonhäuser, vor allem die Außenwände im mindestens zweigeschossigen Bereich, da das EFH eh nicht so die Zukunft ist“ • „Die Bauplanung wird wieder gedanklich anspruchsvoller“ • „Eine Chance für veränderte Kommunikation und Kultur im Bauwesen“ • „Der Wert der Ingenieursarbeit wird wieder steigen, da Materialeinsparungen ein anspruchsvolles Unterfangen sind“ • „Es gibt vieles zu verbessern“ • „Gebäude als Kohlenstoffspeicher“ • „Der Holzbau als große Hoffnung“ • Holz-Lehm-Bau • Klimaneutraler Stahl, indem Kohle durch Wasserstoff substituiert wird – erste Anlagen der großen Stahlerzeuger gehen 2022 und 2023 an den Start (Arcelor Mittal in Hamburg, Salzgitter) • Modul- und Fertighausbau • Neue Gebäudestrukturen, die mehrmalige Umnutzung zulassen • Pflanzenkohle als Betonzuschlag • Phosphorrückgewinnung • Re-Lokalisierung der Wirtschaft • Stahl als Top-Kreislaufmaterial • Straßenbau aus gesintertem RC-Glas oder RC-Gummireifen • Thermoholz, chemiefrei und dauerhaft witterungsbeständig • Verringerung des CO2-Fußabdrucks •Z urück zu den Wurzeln, und von da aus weiterdenken
• Angst vor eine „Bioökonomiediktatur“ • „ Bauen ist immer Wachstum – wird es ohne Wachstum wirklich noch gehen?“ • Bauen ist per se „Verschwendung pur“ • Bauen wird teurer • „ Dauerhaftigkeit und zirkuläre Wiederverwendung, also Dekonstruiertbarkeit, stehen in einem starken Wiederspruch“ • Es geht eigentlich mehr um Sanierungen als um Neubau • „Es wird mehr Bürokratie und Regelungswut geben – dabei müsste die Nachfrage nach Nachhaltigkeit eigentlich vom Kunden her kommen“ • Identitätsbrüche für die Bauingenieure, die eine Transformation schwerlich akzeptieren werden • Kostennachteile gegenüber dem Betonbau • Künstliche Kraftstoffe für die Bauprozesse • Melaminharze am Holzwerkstoff sind irgendwann auch Sondermüll • neue Aufwendige Nachweise und Belege für Nachhaltigkeit sind zu führen • Palmöl • Ressourcenmangel • „Es klingt wie ein Gegenteil der jetzigen Praxis, aber mit Wenden zum Gegenteil habe ich meine Probleme“ • „Viele Ideologien von Nachhaltigkeit, die teilweise aufeinander prallen“ • „Was kann Bioökonomie überhaupt im Bestand leisten?“
9.4 Darstellung der Ergebnisse
351
9.4.2 Geschlossene Fragen (Teil II) 9.4.2.1 Bedeutung der zirkulären Bioökonomie Frage 3: Sehen Sie die zirkuläre Bau-Bioökonomie als eine Option für die Gesamtwirtschaft (7) oder eher als (wachsende) Nische (1)?1 1
2
3
4
I
I
II
I
5
6
7
II
IIIIIIII
(n = 15, Durchschnittswert 5,4) Frage 4: Ist Bioökonomie mehr Wiederentdeckung des Alten (1) oder ein Innovationsprogramm (7)?2 1
2
3
II
4
5
6
7
III
II
I
IIIIII
(n = 14, Durchschnittswert 5,1) Frage 5: Eine gängige Definition der Bioökonomie lautet: „Die Bioökonomie ist die wissensbasierte Erzeugung und Nutzung biologischer Ressourcen, um Produkte, Verfahren und Dienstleistungen in allen wirtschaftlichen Sektoren im Rahmen eines zukunftsfähigen Wirtschaftssystems bereitzustellen.“ Wie sollte das Ihrer Ansicht nach verstanden werden – als ein Bereich der Volkswirtschaft oder als die „Biologisierung der Volkswirtschaft“?3 Als ein Bereich der Volkswirtschaft
Als Biologisierung der Volkswirtschaft
III
IIIII
(n = 8) Frage 6: Müssen beide Ansätze – Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft – miteinander verbunden sein? Bitte begründen Sie.
1 Eine Antwort
lautete: „Neubau 4, Sanierung 2“ – hier wurde der Durchschnittswert 3 eingetragen. Eine lautete: „Ich sage mal, positiv.“ Hier wurde die 7 eingetragen. 2 Zweimal wurde geantwortet: „Es gab Gründe, warum man das Alte nicht weiter verfolgt hat.“ JS „1 und 7 zugleich“, hier wurde der Mittelwert 4 eingetragen. 3 Weitere Antworten lauteten: „Als eine Querschnittsaufgabe mit hohem Anteil des Maschinenbaus.“ „Es geht um eine Regionalisierung der Volkswirtschaft.“ „Es geht um eine Rückbesinnung,“
352
9 Was sollten wir unter zirkulärer Bioökonomie …
Ja
IIIIIIII
Nein
III
(n = 11) Aus den Begründungen (anonymisiert und alphabetisch wiedergegeben): • „Holz muss nicht zirkulär genutzt werden, sondern wird am Ende der Nutzungsdauer verbrannt. Was Bauteile angeht, ergeben sich verschiedene Probleme einer konsequenten Umnutzung. Die Lagerkosten sind hoch, ebenfalls braucht man Prüfzeugnisse für die Materialien. Wie geht man dabei mit Bohrlöchern um? Mit verrotteten Bauelementen? Wie lassen sich Epoxidharz-verklebte Holzbauteile sinnvoll wiederverwenden, die in der Altholzklasse 4 eingeordnet sind? Die Anforderung der Kompostierbarkeit ist schwierig konsequent umsetzbar, denn Kleber muss dauerhafter sein als Holz. Die Verwendung von alternativem Harnstoffharz war doch etwa der Grund für den Einsturz der Schwimm- und Eislaufhalle in Bad Reichenhall in 2010. Kompostierbarkeit ist für mich kein sinnvolles Ziel, durchaus aber eine flexiblere Anpassbarkeit an neue Nutzungsformen. Das Adaptierbare ist das Entscheidende, nicht das Kompostierbare.“ • „Man kann sie durchaus getrennt betrachten. Ich betrachte zum Beispiel einen Fachwerkbalken als ewig haltbar, 500 Jahre und mehr. Ich denke dann auch nicht darüber nach, dass daraus mal Dünger werden sollte, sondern über Zweitnutzungen des Materials, als wäre es ein Stahlträger.“ • „Ohne Kreislaufwirtschaft gibt es keine Bioökonomie, das ist für mich das Gleiche.“ • „Sie müssen klar zusammengedacht werden. Ein Beispiel ist nicht abbaubares Plastik aus Biomasse – das ist widersinnig. Es wächst aus Holz nach, aber sorgt für einen Zuwachs in der Technosphäre.“ Frage 7: Wie hoch schätzen Sie die Relevanz der Bioökonomie für den Bau – als Gesamtbranche – ein? 1
2
3
III
IIIII
II
4
5
6
I
IIII
7
(n = 15, Durchschnittswert = 3,2) Frage 8: Wie hoch schätzen Sie die Relevanz der Bioökonomie für den Bau – als ein sich entwickelnder Teil der Branche – ein? 1
2
3
4
5
6
7
I
I
IIII
IIII
I
(n = 11; Durchschnittswert = 5,3)
9.4 Darstellung der Ergebnisse
353
Frage 9: Handelt es sich dabei eher um ein lukratives Hochpreissegment oder wird es global über massenweisen biogenen Bau – also auch für Hunderte Millionen wenig kaufkräftige Menschen – gelingen, die Klimaziele zu erreichen? Offene Antworten (anonymisiert und alphabetisch geordnet): • „Auf keinen Fall soll die Bauwirtschaft instrumentalisiert werden, um das Weltklima zu retten. Vorher müsste man politisch zum Beispiel erstmal die Kreuzschifffahrt verbieten.“ • „Der Holzbau wird nicht die Heilung des Klimaproblems bringen. Das Paradigma 'nur noch Holz' droht doch geradezu zu einer deutschen Neurose zu werden. Nein, der Betonbau ist nicht per se schlecht. Das Hauptthema ist die Trennbarkeit der Materialien. Jede zusätzliche Materialschichte heute kostet künftige Generationen Geld.“ • „Der nachhaltige Bau muss Massenware werden, sonst hat es eigentlich keinen Sinn.“ • „Die USA können ein Beispiel sein, da ist quasi alles aus Holz gebaut.“ • „Einerseits wird sie den Bau erstmal verteuern, andererseits: In Namibia werden immer noch die meisten Häuser aus Lehm gebaut, weil es günstiger ist.“ Frage 8: Wie hoch schätzen Sie die Relevanz der Zirkulärwirtschaft für den Bau – als Gesamtbranche – ein? 1
2
3
4
II
IIII
I
5
6
7
II
I
(n = 10; Durchschnittswert = 3,9 Frage 9: Wo sehen Sie größeres Ressourcenpotenzial: In der urbanen Mine oder auf Feld und Acker? Urbane Mine
IIIIIIIIIII
Feld und Acker
III
(n = 14)
9.4.2.2 Politischer und ethischer Rahmen Frage 10: Für welche Zwecke sollten nachwachsende Rohstoffe vorrangig verwendet werden? (Rangfolge 1 = vorrangig bis 6 = nachrangig). Treibstoff [4,9]
56516645556464
Baustoff [2,7]
32332424223332
Nahrungsmittel [1,2]
11141111111111
354
9 Was sollten wir unter zirkulärer Bioökonomie …
Textilien [2,7]
23253333322223
Brenn-/Heizstoffe [4,6]
55615552655455
Chemieersatz (etwa Kosmetika/Pharma)[4,3]
44364266424546
(in eckigen Klammern: durchschnittliche Rangzahl; n = 14) Anmerkungen: • „Nahrungsmittel möchte ich eigentlich differenzierter sehen: pflanzliche Nahrungsmittel Rang eins, Futtermittel nur Rang drei.“4 Frage 11: Wie kann der Staat erreichen, dass mehr mit Holz und biogenen Bau- und Dämmstoffen gebaut wird? Offene Antworten (anonymisiert): • „CO2-Bepreisung“ • „Die Brandschutz-Verordnung in Baden-Württemberg wurde dahingehend verändert, dass Holzbau nun deutlich vereinfacht wurde.“ • „Über das Vergaberecht“ Welche Bedeutung haben dafür … … Normen und Vorschriften5 1
2
3
4
5
6
7
I
I
I
I
I
IIIIIIIIII
(n = 15; Durchschnittswert 6,0) … forstwirtschaftliche Intensivierung 1
2
3
4
I
IIII
IIII
III
5
6
7
I
II
(n = 15; Durchschnittswert 3,5) … Stopp oder Reduktion des Verbrennens von Holz in Kaminen per Ordnungsrecht
4 Eingetragen
wurde nach Absprache Rang 1. Antwort lautete: „Das ist eine sehr, sehr wichtige Stellschraube, um nachwachsende Rohstoffe mehr und mehr im Bau zu etablieren.“ Hier wurde der Wert 7 eingetragen.
5 Eine
9.4 Darstellung der Ergebnisse
355
1
2
3
4
5
IIIIII
IIIII
II
I
I
6
7
(n = 15; Durchschnittswert 2,0) … Nutzung von Holz und Dämmstoffen aus Abfallströmen oder von Nebenprodukten der Land- und Ernährungswirtschaft? 1
2
3
III
4
5
6
7
I
II
III
III
(n = 12; Durchschnittswert 4,9) … größerer Import von Holz u. a. aus flächenreichen Staaten wie Russland oder Kanada? 1
2
3
4
IIII
III
I
II
5
6
7
II
(n = 12; Durchschnittswert 2,75) Anmerkungen: • „Das ist egal, wo es herkommt – der Preis ist ausschlaggebend.“ • „Ja, aber nur FSC-zertifiziertes Holz.“ Frage 12: Was müsste geschehen, damit Baustoffe künftig verstärkt auf zirkuläre Wiederverwendung hin konzipiert werden und diese auch nachgefragt werden? Offene Antworten (anonymisiert): • „Abbildung der wahren Kosten im Endpreis, vor allem über CO2-Steuern“ • „Deren Standardisierung“ • „Herabsetzung der Standards, ein steuerliches Bonus-Malus-System und die stärkere Berücksichtigung im Vergaberecht“ • „Höhere CO2-Steuern“ • „IT und Lagerlogistik – zum Beispiel die Just-in-Time-Lieferung – werden dabei helfen.“ • „Normierungen von Deutschland müssen dafür in den Blick genommen werden.“ Frage 12a: Welche Gesetzgebungsvorhaben oder Initiativen sind Ihnen diesbezüglich bekannt? (Mehrfachnennungen möglich) Ressourceneffizienzprogramm D
6 (von n = 15) Nennungen
Ersatzbaustoffverordnung
2
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9 Was sollten wir unter zirkulärer Bioökonomie …
Ressourceneffizienzprogramm D
6 (von n = 15) Nennungen
EU-DIN-Normierungen bzgl. der Rezyklierbarkeit
8
EU-DIN-Umweltmanagementnormen bzgl. zirkulärer Lieferketten
4
EU Circular Economy Action Plan
5
Neues Europäisches Bauhaus
8
Bauprodukteverordnung
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Gebäude-Materialkataster
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EU Environmental Claims
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Grüne Beschaffung GPP
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EU-Taxonomie
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Frage 13: Braucht die Bauwirtschaft neue Geschäftsmodelle, die auf Verleih statt Verkauf von Produkten oder auch Bauteilen setzen? (Im hohen Maße = 7) 1
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(n = 9; Durchschnittswert 3,0) Anmerkung: • „Wenn, dann bietet sich ein Mietvertrag für das Gesamtprodukt an, nicht für einzelne Bauelemente oder Baustoffe, sonst wird es zu kompliziert. Da sehe ich eine Chance. Zum Beispiel einen Mietvertrag für ein Wärmedämmsystem. Problematisch wird es, wenn es ins Bauliche eingreift.“ Frage 14: In welchem Maß sehen Sie die Gefahr überbordender Bürokratie? (7 = hoch) 1
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(n = 13; Durchschnittswert 5,5) • „Bürokratie ist nicht nur eine Gefahr. Die bestehende Bürokratie hat gute Gründe.“ • „Ich sehe eine Gefahr, dass Bauingenieursexpertise zum Staat abwandert: Bindet der Staat Fachkompetenz für die Kontrolle und Aufsicht, entzieht das der Wirtschaft Fachkompetenz.“ Fragenpaket 15: Rohstoffe. Wie relevant ist in Zukunft der Baustoff Laubholz … für die Baubranche als Ganzes?
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(n = 12; Durchschnittswert 4,2) … für wachsende Teilbereiche? 1
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(n = 11; Durchschnittswert 5,7) Wie relevant ist in Zukunft der Baustoff Nadelholz … für die Baubranche als Ganzes? 1
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(n = 12; Durchschnittswert 5,7) … für wachsende Teilbereiche? 1
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(n = 10; Durchschnittswert 5,1) Wie relevant ist in Zukunft Stroh … für die Baubranche als Ganzes? 1
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(n = 12; Durchschnittswert 3,1) … für wachsende Teilbereiche? 1
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(n = 11; Durchschnittswert 4,2) Wie relevant sind in Zukunft andere landwirtschaftliche Nebenprodukte … für die Baubranche als Ganzes?
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9 Was sollten wir unter zirkulärer Bioökonomie …
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(n = 11; Durchschnittswert 3,2) … für wachsende Teilbereiche? 1
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(n = 10; Durchschnittswert 4,2) Frage 13: Welche anderen biogenen Baustoffe halten Sie für bedeutsam? Offene Antworten, genannt werden (alphabetisch sortiert): • Abfälle, • Algen, • Bambus, • Baumwolle, • Farben, Klebstoffe aus Leinöl, • Flachs, • Hanf, • Harze, • Kalk und Chinin, • Kokos, • Kork, • Lignin, • Schafwolle II, • tierische Biomasse im Chemiebereich, • Typha (Rohrkolben, JG).
9.4.2.3 Beispiele des Gelingens Frage 14: Welches Bauwerk aus Ihrem Fachgebiet bezeichnen Sie als mustergültig nachhaltig (Abb. 9.2)? • „Das Bürogebäude von Alnatura, mit Lehmstampfwänden. Allerdings kostet eine solche Wand immer noch das Dreifache von gängigen Wänden. Daher müssen die Förder- und Verarbeitungsprozesse erheblich effizienter und industrialisiert werden“ (Thomas Auer). • „Das Kloster Maulbronn“ (Alexander Moendel). • „Das Kloster Obermarchtal, das ist ein wirklich sehr nachhaltiger Steinklotz. Für nachhaltigen Bau braucht man keinen Beton: Stein auf Stein, Lehmziegel und ein
9.4 Darstellung der Ergebnisse
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Abb. 9.2 Diese Bauwerke halten die Interviewpartner für mustergültig nachhaltig (Auswahl): Das Tiny House, der Wasserturm Augsburg, Kloster Obermarchtal, die Mustergebäude Einfach Bauen, Fachwerk in Quedlinburg, Gründerzeitwohnhäuser, die Alnatura-Zentrale in Darmstadt und der Baustoff Miscanthus. (Abbildungen Delcampe (5), Jan Grossarth)
Holzdachstuhl genügen. Große Teile des Klosters stehen seit etwa 800 Jahren“ (Thomas Auer). • „Das modulare Holz-Schulraumsystem der ERNE AG in Basel“ (Hannes Schwarzwälder). • „Das Tiny House. Denn wir benötigen viel zu große Wohnflächen“ (Daniela Thrän). • „Der Stuttgarter Westen mit seinen Gründerzeitvillen, dort insbesondere: die Schwabenstraße“ (Rainer Weitschies). • „Das Aufseßhöflein in Bamberg“ (Klaus Edelhäuser). • „Die König-Ludwig-Brücke in Kempten, sie ist 170 Jahre alt und weist kaum Schäden auf“ (Jörg Schänzlin). • „Ein Bau in Frankreich, der nur aus recyceltem Material war“ (Dimitrios Toris). • „Ein Haus aus Miscanthus“ (Iris Lewandowski). • „Eine Salzstraße in den chilenischen Anden“ (Jörg Hauptmann). • „Fachwerkhäuser in Quedlinburg aus dem 15. Jahrhundert“ (Hannes Schwarzwälder).
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9 Was sollten wir unter zirkulärer Bioökonomie …
Abb. 9.3 Bauen wie mit Lego? Straßenimpression aus Frankfurt. (Foto Jan Grossarth)
• „Historische Wasserkraftwerke wie die Augsburger Wassertürme. Sie laufen oft seit Hunderten Jahren und sind auch noch schön. Die alten Pumpanlagen in den Springbrunnen des Schlosses Nymphenburg in München. Schön sind auch die Kraftwerke Walchensee oder Gersthofen bei Augsburg oder Basel-Schaffhausen am Oberrhein“ (Gerhard Haimerl). • „Römische Viadukte und die genuesische Brücke auf Korsika“ (Daniel Rubin). • „Sichtschutzwände bei Nürnberg – recycelter Kunststoff, wie rotes Lego, gefüllt mit Erde und begrünt“ (vgl. Abb. 9.3; Heiko Rahm).
9.4.2.4 Nachwachsende Rohstoffe Frage 15: Können Wärmedämmverbundsysteme (WDVS) nachhaltig sein (1 = minimal, 7 = maximal)? 1
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(n = 11; Durchschnittswert 3,6)
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Frage 16: Wie groß sehen Sie die Potenziale für nachwachsende Baustoffe in den Bereichen … … des Tragwerkbaus? 1
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(n = 12; Durchschnittswert 5,3) … der Fassadendämmung? 1
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(n = 12; Durchschnittswert 6,5) … Infrastrukturbau? 1
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(n = 11; Durchschnittswert 3,2) Anmerkungen: • „Da gibt es Potenzial im Bereich des Verkehrswegebaus, aber in den Fällen, in denen Grundwasser ins Spiel kommt und das nur zeitweise, sieht es ganz schlecht aus – es sei denn, es ist konstant nass, wie in Venedig.“ • „Holz ist leichter, die Vorfertigung möglich und damit der schnellere Ersatz – vor allem im Brückenbau.“ … staatlicher und kommunaler Bau?6 1
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(n = 12; Durchschnittswert 5,6) … Innenausbau?7
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wird die „Holzbauoffensive Baden-Württemberg“. „Von Gips zu Holz.“
7 Eine Anmerkung:
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(n = 11; Durchschnittswert 6,3) … Sonstiges: „Behelfsbauten, Schalungen und Rüstungen.“ Frage 16: Wie hoch schätzen Sie die Potenziale des Baus ein, den globalen Klimawandel zu stoppen/begrenzen? 1
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(n = 10; Durchschnittswert 5,2)
• „Das ist der einzige vernünftige Weg, jenseits des Verzichtes.“ • „Nein, das wird eher durch technologische Fortschritte gelingen.“ Frage 17: Wie stark sehen Sie den Bausektor im Fokus der globalen Umweltpolitik? 1
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(n = 10; Durchschnittswert 4,4)
9.4.2.5 Der Begriff der Transformation Frage 18: Welche Assoziationen haben Sie mit dem Begriff der „Transformation“? (Ausgewählte Antworten anonymisiert, alphabetisch geordnet) • „Da kriege ich Pusteln, wenn ich ihn höre. Ganz, ganz furchtbar. Er erweckt den Eindruck von Schwarz-Weiß-Denken, als gäbe es nur die schlechte Welt, in der wir sind, und die gute Zukunft.“ • „Den sehe ich aus zwei Gründen kritisch: Er würdigt die Lehre und Forschung herab, denn diese haben auch einen Eigenwert jenseits des politischen Nutzwertes. Zweitens: Die Anteile der unternehmerischen Akteure geraten durch die dem Transformationsbegriff innewohnende Überbetonung des Staates aus dem Blick.“ • „Der Begriff ist passiv und technokratisch, nach dem Motto: Da wird was mit mir gemacht. Er wirkt wenig proaktiv. Er provoziert deshalb eher eine Abwehrhaltung, als dass er Veränderungsgeist wecke.“ • „Der ist sehr theoretisch, letztlich nur ein Schlagwort, ein Platzhalter – ein unangenehmes Marketingwort.“ • „Die Transformation des Bauwesens ist ein unausweichlicher Weg.“
9.4 Darstellung der Ergebnisse
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• „Er ist ziemlich hochgestochen, aber insgesamt eher positiv.“ • „In meine begriffliche Welt lässt sich dieser Begriff überhaupt nicht integrieren.“ • „Positiv. Er bedeutet für mich, Beton durch Holz zu ersetzen. Er schafft Raum für neue Ideen und räumt mit althergebrachten Argumenten der Betonköpfe endlich auf.“ • „Schade, dass ich schon zu alt dafür bin.“ • „Sie ist notwendig, aber zu schwierig umsetzbar und steuerbar; es gibt sozusagen immer zu viele SUV fahrende Leute, die grün wählen.“ Frage 20: Wie müsste sich die Ausbildung von Bauingenieuren und Projektmanagern hinsichtlich der „Transformation“ verändern? (Ausgewählte Antworten anonymisiert, alphabetisch geordnet) • • • • • •
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„Bestandsnutzung muss Lehrinhalt sein.“ „Das Themengebiet der Ersatzbaustoffverwendung muss in die Lehrpläne.“ „Es müsste einfach das Fach wieder ernstgenommen werden.“ „Holzbau ist in der Ausbildung die Säule Nummer 1 – so wie die Windkraft für die Energiewende.“ „Rückbau muss Lehrinhalt werden.“ „Wichtig ist die Reflexion über Energie- und Technikfragen und deren komplexe Verbundenheit. Das Bewusstsein dafür, dass wir da mittendrin stehen in dieser gebauten Umwelt. Ich würde sagen, es geht in diesem Sinne um die Vermittlung planetarer Sensibilität.“ „Baustoffverwendung auch als Standardlehrinhalt für Architekten“ „Wissen statt Kompetenzen“
Frage 21: Wie intensiv haben Sie sich bislang in Praxis oder Wissenschaft mit Lebenszyklusanalysen befasst? 1
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(n = 10; Durchschnittswert 2,8) Frage 22: Wie beurteilen Sie gegenwärtige Bau- und Abbruchpraktiken in langer historischer Perspektive? (Ausgewählte Antworten anonymisiert, alphabetisch geordnet) • „Gib ihm Saures!“ • „Sie sind Ausdruck einer Wegwerfgesellschaft. Man müsste Varianten in Ausschreibungstexten anbieten müssen. Folgekosten des Baus über einen Zeitraum von 30 bis 45 Jahren bis hin zu 100 Jahren müssten angegeben werden müssen.“
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9 Was sollten wir unter zirkulärer Bioökonomie …
• „Sie sind hinsichtlich der Verschwendung von Energie und Materialien mit nichts Früherem vergleichbar.“ • „Sie sind und bleiben eine historische Ausnahme. Es wurde missgewirtschaftet in einer ganz kleinen Zeitspanne, die wir jetzt wieder überwinden müssen.“ • „Sie sind wenig kreativ.“
9.4.2.6 Baukultur Frage 23: Welche Assoziationen löst der Begriff der Baukultur bei Ihnen aus? • „Baukulturen jeweiliger Epochen zeigen uns, wie ästhetisch man früher gebaut hat. Das vermisse ich heute sehr. Neu gebaute Wohngebiete sehen heute einfach furchtbar aus.“ • „Da denke ich an die alten Römer und Griechen oder an Naturvölker.“ • „Damit assoziiere ich als Bauingenieur nichts. Das ist etwas, das von den Architekten kommt.“ • „Extrem positive.“ • „Ganz positiv, das ist ein ganz wichtiger Begriff. Dieser Anspruch wird immer weniger eingelöst. Aber baukulturell wertvolle Bauten sind auch ökologisch nachhaltig.“ • „Klingt nach Old School – wir brauchen einen pragmatischeren und auskömmlichen Bau und vor allem weniger Bau.“
9.5 Anhang: Namen und Funktionen der Partizipierenden 1. Dipl.-Ing. (FH) Klaus Edelhäuser, Konopatzki & Edelhäuser Architekten und Beratende Ingenieure GmbH, Jurymitglied Bayerischer Denkmalpflegepreis, Redakteur Fraunhofer IRB, Vorstandsmitglied Bayerische Ingenieurkammer Bau 2. Ing. sc. agr. Alexander Moendel, Referatsleiter Referat 44 Bioökonomie, Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg, Stuttgart 3. Prof. DI Dr. techn. Daniel Rubin, Stahlbau, Hochschule Biberach 4. Prof. Dipl.-Ing. Rainer Weitschies, Professor für Werkstoffe und Entwerfen, Hochschule Biberach 5. Prof. Dipl.-Ing. Thomas Auer, Professor für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Bauen, TU München 6. Prof. Dr.-Ing. Dimitrios Toris, Baustoffkunde, Hochschule Biberach 7. Prof. Dr.-Ing. Christoph Gipperich, Projektmanagement, Infrastrukturprojekte, BIM, Hochschule Biberach 8. Prof. Dr. Iris Lewandowski, Lehrstuhl für Nachwachsende Rohstoffe und Bioenergiepflanzen an der Universität Hohenheim, Co-Vorsitzende des Bioökonomie-
9.5 Anhang: Namen und Funktionen der Partizipierenden
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rats, Sprecherin der European Bioeconomy University (EBU), Co-Vorsitzende Beirat "Nachhaltige Bioökonomie" der baden-württembergischen Landesregierung 9. Prof. Dr. iur. Gotthold Balensiefen, Bau-, Planungs- und Umweltrecht, Hochschule Biberach 10. Prof. Dr.-Ing. Daniela Thrän, Lehrstuhl Bioenergiesysteme, Universität Leipzig, Leiterin des Departments Bioenergie (BEN) am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH, Bereichsleiterin Bioenergiesysteme, Deutsches Biomasseforschungszentrum – DBFZ, Leipzig, Co-Vorsitzende des Bioökonomierats 11. Prof. Dr.-Ing. Gerhard Haimerl, Wasserbau, Hydraulik, Flussbau, Gewässeröko logie, Wasserkraft, Hochschule Biberach 12. Prof. Dr.-Ing. habil. Jörg Schänzlin, Leitung Institut für Holzbau, Hochschule Biberach 13. Prof. Dr.-Ing. Hannes Schwarzwälder, Digitalisierung im Bauwesen, Hochschule Biberach 14. Prof. Dr.-Ing. Heiko Rahm, Technische Mechanik, Tragwerkslehre, Baustatik, Tragwerksanalyse, Baudynamik, Hochschule Biberach 15. Prof. Dr.-Ing. Jörg Hauptmann, Verkehrswesen, Schienenbau, Hochschule Biberach
Nachhaltigkeit als große Illusion? Und was brächten akademische Visionen von Nachhaltigkeit wie die Bioökonomie dann der Praxis? Ein Gespräch mit Armin Grunwald
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10.1 Einführung: Technikfolgenabschätzung, Technikethik und Öffentlichkeit 10.1.1 Vorbemerkungen zum Interview Das Gespräch mit Armin Grunwald, einem der führenden internationalen Technikfolgenwissenschaftler, findet im Frühjahr 2023 in Karlsruhe statt. Die Technikfolgenabschätzung (kurz: TA) ist von Grunwald maßgeblich methodisch weiterentwickelt worden. Sie ist definiert als • problemorientierte Forschung, • die „auf praktische Relevanz und Impact“ abzielt, • die der Politik unabhängig und vielschichtig Bewertungsgrundlagen in Form von Studien gibt über – neue Technologien – oder von Technologien, deren Bewertungsgrundlage sich verändert, • die einen reflektierten Umgang mit Technik befördert, • die demokratische Gestaltung von Technik ermöglicht (vgl. Grunwald, 2022, S. 215). „Wundertechnologien“ gibt es für Armin Grunwald nicht. Das gilt auch für die Techniken der Bioökonomie. Grunwald sieht die Technikethik oder auch die Technikfolgenabschätzung, wie er im Gespräch sagt, als beobachtende „Kartographie“ des zunehmend komplexen Verhältnisses von Gesellschaft, Politik und Wissenschaft (vgl. Grunwald 2013, Grunwald & Hillebrand 2013, Grunwald 2014).
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 J. Grossarth, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40198-6_10
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10 Nachhaltigkeit als große Illusion? …
10.1.2 Zum Verhältnis von Medienöffentlichkeit und Wissenschaft Die abstrakte wie ausgelutschte Formel vom „gesellschaftlichen Diskurs über Technik“ weist noch nicht auf die schwierigen und veränderten Umstände hin, unter denen dieser stattfindet. Die politischen Mehrheitsverhältnisse sind auch in westlichen Demokratien instabiler geworden. Die digitale Medienöffentlichkeit ist zunehmend fragmentiert (Grossarth, 2022). Demokratische Werte scheinen erratisch, instabil. Auch das Rollenverhältnis von Wissenschaft und Politik ist schwierig – insbesondere bezüglich der „Transformation“ zur Nachhaltigkeit. Die Politik neigt diesbezüglich dazu, die Wissenschaft wie eine „Autoritätsinstanz“ zu nutzen, um öffentlich längst gefällte Entscheidungen zu begründen. Oder aber sie folgt nahezu leidenschaftslos der Empfehlung von Wissenschaftsbeiräten, als wolle sie sich vor einer eigenen Positionierung in umstrittenen Themenfeldern drücken. Des Weiteren treten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gelegentlich selbst als öffentliche politische Stimmen auf, die Imperative auf der Basis natur- oder klimawissenschaftlicher Erkenntnisse formulieren, die dann medial verstärkt werden. Die Genese der Klimapolitik war ein Beispiel (Post, 2008). Armin Grunwald hat, wie er im Gespräch sagt, andere Vorstellungen von der Rolle der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im öffentlichen Raum. Persönlich zurückgenommene Intermediäre, die zwischen Grundlagenforschung und Politik vermitteln, sind für ihn für einen gelingenden demokratischen Technikdiskurs unerlässlich (Grunwald 2015a, 2015b, 2016; Grunwald & Hubig 2018). In der Sprache der TA werden diese Honest Broker genannt. Das autorisierte Gespräch mit Grunwald wird im Folgenden im Wortlaut wiedergegeben. Über Armin Grunwald
Armin Grunwald, geboren 1960, ist einer der international führenden akademischen Vertreter der Technikfolgenabschätzung (TA). Er vertritt mit dieser Disziplin den Standpunkt, dass technische Entwicklungen gesellschaftlich diskutiert und eingebettet sein sollen. In diesem Sinn diskutiert auch das seit 2002 von ihm geleitete Büro für Techikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) die „großen und kleinen“ Themen der Technik – und stellt den Abgeordneten Informationen über Zukunftstechnologien zur Verfügung. Auch viele Aspekte des Bauwesens (Kehl 2022) der Bioökonomie (Grunwald 2020) und Zirkulärwirtschaft waren schon zentrale Themen der Studien des TAB, etwa die Thematik der nachwachsenden Rohstoffe, der maritimen Biotechnologie oder des innovativen Holzbaus (Kind 2022). Armin Grunwald (Abb. 10.1) ist Diplom- und promovierter Physiker, wurde aber in Philosophie habilitiert. Er arbeitete wissenschaftlich im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, später beim Wissenschaftsrat, ab 1996 als stellvertretender Direktor der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen (Bad Neuenahr-Ahrweiler),
10.2 Das Interview
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Abb. 10.1 Armin Grunwald. (Foto KIT)
leitete dann ab 1999 das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) in Karlsruhe, was er bis 2023 weiter tat. Auch ist er seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Technikphilosophie und -ethik am Karlsruher Institut für Technologie. Er ist engagiert in internationalen akademischen TA-Netzwerken.
10.2 Das Interview Herr Professor Grunwald, ich möchte mit Ihnen gern über den Wandel im Verhältnis von Gesellschaft und Technik sprechen. Diesbezüglich scheint das Jahr 2022 eine weitere Epochenwende gebracht zu haben. Europa stand plötzlich am Abgrund des Kriegs. Aus europäischer Sicht war es das politisch turbulenteste Jahr seit dem Ende des Kalten Krieges. Nicht nur der deutsche Bundeskanzler sprach von einer „Zeitenwende“. Wie verändert sich durch politische Zäsuren wie die Kriegsbedrohung das gesellschaftliche Verhältnis zur Technik? Oder zunächst konkreter gefragt: Welches war für Sie das dominierende Technikthema dieses besonderen Jahres? Das war die Zukunft der Energiewende, vor dem Hintergrund der Energie- und Gaskrise. Und in diesem Zusammenhang ging es plötzlich auch wieder um eine mögliche Zukunft der Kernenergie. Das war für mich überraschend: Wie stark das Thema der Laufzeitverlängerungen auf einmal wiedergekommen ist. Sie sind nahe am Parlament, da Sie mit dem Büro für Technikfolgenabschätzung (TAB) den Bundestag in Technikfragen beraten. Wird hinter den öffentlichen Fassaden
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10 Nachhaltigkeit als große Illusion? …
der Parteipolitik auch wieder ernsthaft über dauerhafte Beiträge der Kernenergie zum Strommix diskutiert? Ja. Es gibt nicht kleine Strömungen in den Parteien, denen der Atomausstieg 2011 nach Fukushima immer noch Schmerzen bereitet. Hier gibt es die Bereitschaft, auch relativ schnell wieder vom alten Ausstiegsbeschluss gedanklich abzurücken. Und es gibt seit Fukushima ja auch neue technische Entwicklungen, neue Reaktortypen. Genauer gesagt: Die gibt es noch nicht, sondern sie sind versprochen. Das muss man sehr sorgfältig unterscheiden. Technikfolgenabschätzung – das Wort klingt zunächst etwas behördlich und unattraktiv. Vermutlich weiß auch kaum ein Bürger, was das ist – aber auch nicht so viele Bauingenieurinnen oder Architekten. Diese Disziplin feiert dabei in unserer Zeit schon ihr 30. Jubiläum. Seit 1993 gibt es die Politik beratende Technikfolgenabschätzung (TA) in den Niederlanden, seit 1990 arbeitet das von Ihnen geleitete Büro für Technikfolgenabschätzung (TAB). Es erstellt Gutachten über die großen und kleinen Zukunftsthemen der Technik: Es begann mit nachwachsenden Rohstoffen und derzeit sind Sie bei maritimer Bioökonomie und urbanen Seilbahnen. Ja. 30 Jahre sind eine typische Zeit für europäische parlamentarische Technikfolgenabschätzung. Aber eigentlich haben wir in 2022 sogar den 50. Geburtstag gefeiert, nämlich von der vom amerikanischen Kongress gegründeten TA. Das amerikanische „Office for Technology Assessment“ (OTA), das in anderer Form weiter besteht, war zwischenzeitlich aber auch einmal abgeschafft worden. Das verantworteten damals Akteure der republikanischen Partei. Als im Jahr 1995 die Republikaner in beiden Häusern die Mehrheit hatten, da gab es einen Mehrheitsführer im Kongress, ein Mann namens Newt Gingrich. Er war der erste jener Scharfmacher, an deren vorläufigem Ende Donald Trump stand. Er hatte in den 1990er-Jahren die „neokonservative Revolution“ ausgerufen, gegen dieses ganze Establishment in Washington, das den einfachen Leuten das Geld aus der Tasche ziehe. Die politische Erzählung von der nutzlosen Wissenschaft, die teuer ist und bloß irgendwelche Eliten beschäftigt hält? Ja, und die sogar noch wirtschaftlichen Schaden anrichtet, weil sie die eigentlichen Eliten nach Meinung der Republikaner hemmt – die Wirtschaftsbosse, die Manager. Aus der neokonservativen Revolution ist dann die Tea Party geworden und dann später eben die Trump-Bewegung. Sie haben sich früh während Ihrer Karriere als Wissenschaftler, als Physiker in Ihrem Fall, in dieses Feld der Technikfolgenabschätzung begeben. Damit sind Sie weiter weg von Grundlagenforschung, aber nahe dran an der Welt der Politik. Ich stelle mir das vor wie einen Balanceakt zwischen Nähe und Distanz. Sie müssen sich politisch finanzieren lassen. Zugleich müssen Sie objektiv bleiben. Wer sind Sie als Experte für Technikfolgenabschätzung? Ein Schiedsrichter?
10.2 Das Interview
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Da gibt es sehr unterschiedliche Rollenbeschreibungen der Technikfolgenabschätzung. Aber „Schiedsrichter“ würde ich auf gar keinen Fall sagen. Weil es zu autoritär klingt? Eher nach einer Art Zensurbehörde – eben so, wie es manche Leute von der Ethik erwarten. Dass es seitens der Ethik einfach so einen Stempel geben müsse, und dann steht auf einer Technik: „ethisch geprüft“. Das also nicht. Aber gibt es nicht einige Akteure im Spielfeld der Ethik, die auch so auftreten? Das ist wahr. Ich halte das aber ehrlich gesagt für Scharlatanerie. Ethik als Wissenschaft kann auch nur „Wenn-dann-Aussagen“ machen – so wie die Technikfolgenabschätzung. Welche normativen Prämissen, also an Werte gebundene Voraussetzungen, zu gelten haben, das darf ich mir als Wissenschaftler aber doch nicht anmaßen, zu entscheiden. Das ist die Aufgabe der legitimierten Entscheidungsinstanz, des Bundestages. „Ethik als Wissenschaft kann auch nur 'Wenn-dann-Aussagen' machen – so wie die Technikfolgenabschätzung. Welche normativen Prämissen, also an Werte gebundene Voraussetzungen, zu gelten haben, das darf ich mir als Wissenschaftler aber doch nicht anmaßen, zu entscheiden.“
Gesellschaftlich mehrheitlich geteilte Werte sind historisch nicht stabil und die politische „Zeitenwende“ bringt sie anscheinend in unserer Zeit wieder ins Wanken. Wir hatten Ende 2022 eine weitgehend positive Sicht auf die Rüstungsindustrie. Eine 180-GradWende innerhalb eines Jahres: Leopard-Panzer gewissermaßen als Geschenke, die den Frieden der freien Welt sichern könnten (wenn sie funktionierten). Oder nehmen Sie das „Carbon Capture and Storage“(CCS) – jahrelang von den Grünen als industrienahe Technologie bekämpft, nun aber plötzlich befürwortet. Sind gesellschaftliche Technikwerte jemals so ins Rutschen geraten? Daran kann ich mich in diesem Maß in der Tat nicht erinnern. Selbst die Covid-Pandemie – auch sie: ein abruptes Ereignis – hat aber nicht zu einem solchen Wertewandel geführt. Jetzt ist es schon erstaunlich bis erschreckend zu sehen, wie schnell manche Positionen, die wirklich zu den Gründungsgeschichten von politischen Parteien gehören, über Bord geworfen werden. Wieso finden Sie das erschreckend? Weil es so schnell geht und damit der Eindruck entsteht: Wer diesen Veränderungen nicht folgt, der steht nicht mehr für die eine politisch korrekte Meinung. Dass sich etwas ändert und auch schnell ändert, finde ich durchaus nachvollziehbar. Die Weltlage hat sich dramatisch verschärft, vermeintliche Sicherheiten sind nicht mehr da, die Energiesituation ist eine andere. Dieser Wandel ist aber einfach passiert. Jenseits dieser Beobachtung – der abrupten, nicht wirklich debattierten Wertebrüche – kann man aber auch sagen: Der Wertewandel ist historisch völlig normal. Nehmen Sie das Beispiel der rotgrünen Koalition ab 1998. Bis die zustande kommen konnten, gab es eine 30-jährige Vor-
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10 Nachhaltigkeit als große Illusion? …
geschichte. Sie beginnt mit den „68ern“ und setzt sich mit der Antiatombewegung fort, der Entstehung der Grünen. „Es gab niemals eine gesellschaftliche Technikfeindlichkeit.“
Es ging Jahrzehnte kontinuierlich in eine Richtung: Nachhaltigkeit. Die Ökobewegung hat seit 30 Jahren enorm zum Wertewandel beigetragen. Aber das hatte Jahrzehnte gedauert. Und jetzt fielen einige dieser Werte in wenigen Tagen. Lassen Sie uns diesen Aspekt vertiefen. In der über 70-jährigen Friedensgeschichte in Europa herrschte lange Zeit ein Narrativ, das technische Entwicklungen gegen soziale und ökologische Interessen deutete. Ich denke an heute klassische Werke der Ethik: Hans Jonas' „Heuristik der Furcht“ oder aus der Soziologie Ulrich Becks „Risikogesellschaft“. Das war verbunden mit einem Zeitgeschehen, das die Furcht bedingte: Hiroshima, DDT, Tschernobyl. Irgendwie hat man sich angewöhnt, Technik im Zweifel gegen den Menschen zu denken. Nun bricht der Krieg in unsere Welt. Ist das ein Moment, der das Koordinatensystem der Technikfolgenabschätzung verschiebt – in dem neuer Raum ist für eine „Heuristik der Technikhoffnung“? Die Schreckensbilder des Krieges sind 2022 und 2023 plötzlich sehr nahe gerückt, an die Grenze von Polen. Trotz aller Drohnen und moderner Waffen ist die Kriegsführung eine ziemlich altmodische, ein Stellungskrieg wie der Erste Weltkrieg. Artillerie, Panzer. Und aus der Luft werden Bomben geworfen wie im Zweiten. Da bin ich also ganz Ihrer Meinung, was diese veränderte Dominanz der Furcht betrifft. Aber auch in den 1970er-Jahren – in denen das Buch Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas so großen Erfolg hatte, obwohl es ja für normale Menschen gar nicht lesbar ist und für auch für Philosophen eine Zumutung – herrschte erstens ebenfalls Kriegsangst. Das war nach der NATO-Nachrüstung. Zweitens herrschte damals erstmals ein Eindruck großer Naturschäden, die plötzlich nicht nur lokal oder regional, sondern global waren: Ozonloch, Klimawandel. Damals war der Pfad der Nachhaltigkeit angelegt, des „planetaren Bewusstseins“? Ja. Aber in einem widerspreche ich: Es gab dabei niemals eine gesellschaftliche „Technikfeindlichkeit“. Und zwar insbesondere in Deutschland nicht. Das ist eine politische Legende. Letztlich war Franz Josef Strauß der Erfinder dieser These, damit hielt er für die CSU in den 1980er-Jahren in Wahlkämpfen die Grünen klein. Das ist eben schön eingängig und polemisch: Wer gegen die Kernenergie ist, will, dass wir alle in die Steinzeit zurückgehen. Dann werden alle Lichter ausgehen. Wenn wir die Reaktoren abschalten. Und so weiter. Das war eben auch Angstrhetorik – von der anderen Seite.
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Die Energiewende ist ein technisches Großprojekt. Wie sehen Sie das Potenzial der Sonnen- und Windkraft in Deutschland? Potenziale – das ist zunächst ein ganz gefährliches Wort, für mich fast ein Feindbegriff. Denn viele Menschen gehen damit allzu unkritisch um. Die denken, nur weil etwas ein „Potenzial“ habe, sei es fast schon da. Die Erneuerbaren haben ein Riesenpotenzial, das 10.000-Fache unseres Energiebedarfs zu decken. Wenn wir ein Drittel des Landes mit der Photovoltaik pflastern? Wenn, wenn. Also, wenn: Wenn was genau? Ralf Fücks hat 2011 – in der Euphorie der Energiewende – ein altes Wort aus der Atomdebatte wieder ausgegraben: das von der kommenden Energieüberflussgesellschaft oder „Energie-Plus-Gesellschaft“. Eine schöne Idee. Allerdings gibt es viele Flaschenhälse und Engpässe bei den Erneuerbaren: von der knappen und umstrittenen Landfläche bis zu den seltenen Metallen, die man braucht, um bestimmte Bauteile anzureichern. Würden Sie eine Prognose wagen? Wie groß wird die Energieverfügbarkeit sein in 10, 20 Jahren aus den Erneuerbaren? Ich finde die Erfolgsgeschichte der Erneuerbaren in Deutschland atemberaubend. Sogar die Befürworter haben es vor 20 Jahren nicht für möglich gehalten, dass sie so schnell gehen würde. Und selbst in China ist ja der Anteil von Wind- und Solarstrom nicht mehr so ganz klein. Von daher denke ich: Die Geschichte wird gut weitergehen. Es ist aber trotzdem so, dass wir unglaublich viel mehr Elektrizität als bisher benötigen werden, wenn wir die fossilen Treibstoffe durch E-Autos ersetzen wollen. Das macht mich vorsichtig, Prognosen zu wagen. Wir reden seit mehr als 30 Jahren auch bezogen auf die Energieversorgung viel über „nachhaltige Entwicklung“. Würden Sie da eine Bilanz anstellen wollen? Was hat all das Reden über Nachhaltigkeit, jenseits der vielen neu entstandenen Wind- und Solarparks, gebracht? In vielen Feldern ist unglaublich viel geleistet worden. Aber was das große Ganze betrifft, eigentlich nicht. Positiv sehe ich vor allem, dass die Entkopplung des Wirtschaftswachstums von dem Wachstum des Energieverbrauchs gelungen ist. Das ist einfach ein Erfolg. Das hatte man in den 1960er-Jahren noch total anders erwartet, als man die Energiebedarfsprognosen gemacht hatte – und für 3 % Wirtschaftswachstum jährlich 3 % mehr Energieverbrauch einplante. In der Mobilität ist diese Entkopplung andererseits noch nicht gelungen. Zwar ist die technische Effizienz der Motoren unglaublich stark gestiegen. Die Ingenieure haben Meisterleistungen vollbracht. Aber wofür? Die Autos sind immer schwerer geworden, trotz der Innovationen im Leichtbau. Weil mehr Luxus, mehr Technik drin ist.
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„Positiv sehe ich vor allem, dass die Entkopplung des Wirtschaftswachstums von dem Wachstum des Energieverbrauchs gelungen ist. Das ist einfach ein Erfolg. Das hatte man in den 1960er-Jahren noch total anders erwartet.“
Also gibt es keine großen Sprünge in die Nachhaltigkeit? Nachhaltigkeit ist vermutlich nicht mit bestimmten Grundsätzen einer freien, wachstumsorientierten und wettbewerbsgetriebenen Wirtschaft in Einklang zu bringen. Denn wie soll es möglich sein, jedes Jahr 1–3 % Wachstum zu haben? In manchen Gegenden der Welt sind es ja auch deutlich mehr, das ist das sogenannte nachholende Wachstum. Kann es möglich sein, dieses Wachstum zu haben und gleichzeitig nachhaltig zu werden? Ich bin da kein Experte. Vermutlich kann man das auch heutzutage nicht objektiv sagen, aber den Verdacht habe ich schon, dass es mit dauerhaftem Wachstum nicht so geht. Ein Versagen der Marktwirtschaft? An deren Prinzipien wird niemand rangehen. Die Wettbewerbsanreize sind aber eben nach wie vor an den Kosten orientiert: Alles billig, billig, billig machen, damit man Wettbewerb gewinnt. Aber billig geht oft auf Kosten der Nachhaltigkeit. Um voranzukommen, haben wir aber auch die Pädagogik: Man füttert Verbraucherinnen und Verbraucher mit Informationen, damit sie nachhaltiger konsumieren mögen. Zumindest ist in den letzten zehn Jahren ja eine „Ethik des Verzichts“ zum Grundschulthema geworden. Sie können sich ja von 10- bis 12-jährigen Kindern durchaus lange anhören, was alles nicht zu erfolgen hat, vom Fleischkonsum bis zum Autofahren. Dem Biss ins Bratwürstchen auf dem Weihnachtsmarkt oder dem Bringdienst zur Schule bei Regen tut das dann aber doch keinen Abbruch. Führt eine solche „Moral vom Verzichten“ weiter? Wird diese Verzichtsethik in der nächsten Generation eine nachhaltigere Menschheit hervorbringen? Ohne die Menschen und ein Verständnis für die Beweggründe für ihr Verhalten im täglichen Leben kann man keine Nachhaltigkeit erreichen. Ich glaube auch wirklich, es wäre eine Illusion, zu glauben, wenn alle so ein bisschen verzichten und Müll trennen, dass man dann die große Wende hinbekäme. Erstens schon mal deswegen, weil die das ja niemals mehrheitlich tun. Um Nachhaltigkeit zu erzielen, müsste der Moral vom Verzicht dann ja, zweitens, auch weltweit befolgt werden. Also das möchte ich mal sehen, dass das passiert. Und, drittens, ist diese Verzichtsmoral auch sehr labil. Es gibt also, sagen wir, jetzt eine „Generation Verzicht“ – aber dann kommt vielleicht bald auch eine andere Generation, die wird Dinge wieder anders sehen. Diesen Gedanken traue ich mich ja gar nicht wirklich zu sagen: Aber es kann sein, dass das eine große Illusion ist. Mein Ideal wäre, dass vom Supermarkt bis zum Reisebüro alles, was man findet, nachhaltig ist. Mein Ideal ist eine liberale Gesellschaft, mit voller Konsumentenfreiheit und Nachhaltigkeit gleichzeitig.
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Sie sehen auch die Technikfolgenabschätzung in einer liberalen Tradition? Ja. Eine ihrer Aufgaben ist die Politikberatung. Am Anfang, vor 50 Jahren, hat man gesagt, es gibt viele Parlamentarier, die wissen nicht genug über Technik, um kompetent zu entscheiden. Ist das heute noch ähnlich? Wie hat sich die Politikberatung verändert? Also auch das, was die Politiker nachfragen? Als ich angefangen habe in Berlin – das ist gut 20 Jahre her –, da waren im Forschungsausschuss meist lauter graue, ältere Herren, kaum Frauen und auch kaum Leute mit akademischem Hintergrund. Im Forschungsausschuss! Das Interesse für unsere Themen war auch nicht gerade groß. Es gab Ausnahmen, einzelne Abgeordnete. Die haben dann die Fahne hochgehalten und dafür gesorgt, dass in ihren Fraktionen etwas mit unseren Berichten passiert. Und heute? Heute ist der Bundestag viel bunter geworden, viel diverser, viel jünger, viel offener gerade auch für Wissenschafts- und Technikthemen. Große Offenheit quer durch alle Parteien. Die Kommunikation mit den Abgeordneten hat sich verändert, weil wir heute viel mehr Wissen auf der anderen Seite voraussetzen dürfen. Auch kommen wir noch aus einer Zeit, die mit der Seriosität von dicken Berichten gearbeitet hat. Die braucht man zwar immer noch, auch deswegen, weil man komplexe Themen nicht einfach auf fünf Seiten erschöpfend behandeln kann. Aber die Nachfrage nach kurzen Formaten, nach knapper Darstellung, nach auch Internet-kompatiblen Darstellungen, die hat stark zugenommen. Kann man es sich nicht auch so vorstellen, dass Politik oft schon weiß, welches Ergebnis sie will – und von Ihnen die Bestätigung möchte? Dem ist ein Riegel vorgeschoben, weil sowohl die Beauftragung der Projekte als auch die Abnahme der Berichte im Konsens der Parteien erfolgt. Außerdem ist in unserem Vertrag mit dem Bundestag niedergelegt, dass wir in wissenschaftlicher Unabhängigkeit arbeiten. Ich musste nur relativ selten in meinen 20 Jahren auf diesen Passus hinweisen. Zudem bearbeiten wir in der TA oft gerade aufkommende Themen, über die sich die Parteien selbst noch keine Meinung gebildet haben. Das ist eine gute Situation. Dazu gehören auch eher als randständig wahrgenommene Themen, wie die maritime Biotechnologie, Seilbahnen in Städten – nicht allzu politisierte Themenfelder. Ja, es gab mal eine ganze Welle von solchen visionären Themen – denken Sie an die synthetische Biologie oder Themen der Hirnforschung wie das Alltagsdoping. Genau dafür nutzt der Bundestag uns, um solche relativ neuen Schlagworte, mit denen die Abgeordneten wahrscheinlich in Wahlkreisen konfrontiert werden, zu unterfüttern.
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Welches waren denn so die Sternstunden der TAB in den letzten 30 Jahren? Gutachten, von denen Sie sagen würden: Da haben wir wirklich zu einer Niveauverbesserung der Politik beigetragen? Das waren zum einen diese visionären Geschichten, die waberten durch die Feuilletons der großen überregionalen Zeitungen, zum Beispiel der F.A.Z. Die Zeit von Gerhard Schröder, dem „Kanzler der Moleküle“, der auf einmal die Nanotechnologie entdeckt hatte. Darüber gab es große, breit wahrgenommene Debatten. Die einen sahen die Weltrettung durch die Nanotechnologie, andere befürchteten den baldigen Weltuntergang. Da konnten wir sinnvoll beitragen, beidseitig die Luft rauszulassen und auf den Boden des Belastbaren zurückzukommen. Dann denke ich auch an unsere Blackout-Studie aus dem Jahr 2011. Wie kam es dazu? Damals kamen zwei Bundestagsabgeordnete zu mir ins Büro, die sagten: Wir machen uns Sorgen, ob wir genügend an Krisenfälle denken. Wir sind seit 20 Jahren ehrenamtlich im Katastrophenschutz und Zivilschutz engagiert. Und wir sehen, es geht da alles den Bach runter seit dem Ende des Kalten Krieges. Wir glauben, es sei das „Ende der Geschichte“, alles sei nun ewig gut. Und deshalb werde nicht mehr in den Katastrophenschutz investiert. Die Studie, die das im Grunde bestätigte, hatte dann viele Folgen, konkrete Verbesserungen vor Ort. Und sie wurde ja jetzt sogar im Jahr des Ukraine-Krieges wieder ausgegraben, weil es keine andere zu diesem Thema gab. Drittens: Die Bilanz der Sommerzeit. Und wie ist die Bilanz? Die erwarteten positiven Effekte der Energieeinsparung lassen sich in keiner Weise statistisch nachweisen. Stattdessen konnten wir sogar kleine negative Effekte zeigen. Zum Beispiel, dass in der ersten Woche nach der Zeitumstellung im Frühling die Zahl der Krankenhauseinweisungen zwar geringfügig, aber signifikant höher liegt. Knapp zusammengefasst: Wenn die Menschen zu wenig Schlaf haben, kriegen einige ihren Herzinfarkt früher, als sie ihn wohl sonst gekriegt hätten. „Ethik hilft den Menschen, selbst zu denken und selbst zu entscheiden.“
Das TAB hat kürzlich ein Gutachten zum emissionsärmeren Bau veröffentlicht. Bringt die Klimapolitik jetzt sozusagen das Alltägliche – uralte Technik – als neu deklarierten Problemfall neu auf den Prüfstand? Zement als Baustoff, Beton? Ja, aber die Technikfolgenabschätzung war immer auch auf die Zeit, auf den Kontext der Zeit bezogen. Mit Recht hätte im Jahr 1980 eine Studie zu einem anderen Ergebnis kommen können als im Jahr 2023. Wenn man in den 1960er-Jahren eine TA zur Kernenergie gemacht hätte, dann hätte man vermutlich immerhin auf das Atommüllproblem hingewiesen. Aber das wurde tatsächlich erst mal ausgeblendet. Jetzt zum Klimawandel: Der Verbrennungsmotor, zum Beispiel, ist eine der etabliertesten Techniken, die wir haben. Es gibt Hunderte von Millionen oder Milliarden von solchen Motoren auf der Welt und sie funktionieren alle einwandfrei – meistens. Und die stehen jetzt natürlich
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in einem anderen Licht als noch vor 20 oder 40 Jahren. Oder eben die von Ihnen angesprochene Bauwirtschaft und die großen CO2-Emissionen der Zementherstellung. Interessant scheint mir der Anspruch der TAB, eine langfristige Perspektive in die kurzatmige Politik reinzubringen. Aber wie gelingt das beispielsweise? Gerade jetzt, da wir viele Akteure aus der Wissenschaft selbst haben, die gegenüber der Politik Imperative formulieren. Nehmen wir Hans-Joachim Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Der sagt nun sinngemäß: 90 % der künftigen Häuser sollten aus Holz gebaut werden, damit so viel CO2 gespeichert wird, wie es nötig ist. Diese Agenda trägt er in die Baupolitik. Dieses kategorische Sagen, man müsse das jetzt so und so machen, das liegt uns fern. Wir Wissenschaftler haben – ich sagte es schon – nicht das Mandat, der Gesellschaft Vorgaben zu machen. Auch als Professor für Ethik und Philosophie sage ich niemals, dass die Ethik sagt, was gut und schlecht ist. Sie hilft den Menschen, selbst zu denken und selbst zu entscheiden. Und so sind wir in der Technikfolgenabschätzung auch darauf aus, Alternativen zu entwickeln – in mittel- oder langfristiger Perspektive. Das ist wirklich etwas anderes als ein Schiedsrichter. Wir sind eher so etwas wie Kartographen. Wir entwickeln Karten für eine offene Zukunft. Straßenkarten für die Zukunft. Die Straßen sind langfristige Pfade. Und wir versuchen auch, diesen einzelnen Straßen jeweils Eigenschaften zuzuweisen: Kosten- und Konfliktpotenzial, Nachhaltigkeit, andere Aspekte. Aber welche Straße befahren wird, das entscheiden dann die, die das Mandat dafür haben. Deswegen ist mir dieser Schellnhuber-Vorschlag – und ähnlich machen es immer wieder auch wissenschaftliche Akademien wie Leopoldina – fremd. Auch das klingt nicht sehr bescheiden: „Landkarten für die Zukunft“ entwerfen zu wollen. Die Zukunft ist offen. Es passieren immer Dinge, an die man nicht gedacht hat. Der Krieg, die Pandemie und Fukushima waren solche Ereignisse. Danach sieht die Welt anders aus als vorher. Und dann gibt es immer wieder gute Gründe, die Strategien, die man vorher lange betrieben hat, zu ändern. Wozu dann Landkarten? Wenn die Landkarte nicht mehr aktuell ist, dann sagen die Menschen: Der Wissenschaft kann man nicht mehr vertrauen. Wissenschaftler müssten doch wissen, was der Fall ist. Aber so ist die Welt nicht, das Zeitgeschehen ändert die Blickweise immer wieder. Also nicht die Wissenschaft hat geirrt, sondern die Menschen irren, die sich von der Wissenschaft absolute normative Orientierung erwarten. Ein interessanter Gedanke. Aber wer hat diesen Autoritätsanspruch eigentlich an die Wissenschaft herangetragen?
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War es die Politik? Die Medien? Oder waren das nicht auch die Leute aus der Wissenschaft selbst? Politik sucht gelegentlich Entlastung. Es lässt sich sehr einfach sagen: Die Wissenschaft gibt das und das vor und deswegen machen wir das. Aber das Verhältnis ist ambivalent: Eigentlich will Politik auch gestalten. Ich glaube tatsächlich, dass das Phänomen der Wissenschaftsautorität eigentlich aus dem 19. Jahrhundert kommt, der Zeit des ersten Siegeszugs der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik. Der wissenschaftliche Experte als der große Gelehrte, der noch Orientierung habe? Ja. Ganz viele Kollegen – Professoren – und Kolleginnen denken bis heute so. Derart: Wir sind die Experten, wir wissen es am besten und mich sollten die mal ranlassen, dann wird alles gut. Dabei sind sich schon Fachingenieure in Sachfragen ganz uneinig: Die einen sagen „Brennstoffzelle“, die anderen sagen „Elektroantriebe“. Je nachdem, welche Gruppe man da fragt, hat die auch unterschiedliche Ergebnisse. Und man lernt im Ingenieursumfeld schnell, wie oft gerade dort das Wort „ich glaube“ verwendet wird. Ihre eigene wissenschaftliche Biographie weist sehr vielschichtige Publikationsthemen auf. Als Physiker kann ich mich selbst wirklich nicht mehr bezeichnen. Das weiß ich spätestens, seitdem ich meinen Kindern meine Doktorarbeit erklären wollte. Es ist mir nicht mehr gelungen. Ich verstehe sie nicht mehr. Wie kann man so eine intellektuelle Biographie wie Ihre erklären – mit Veröffentlichungen in den Disziplinen der Physik, über die Anthropologie, Ethik, Philosophie und Hermeneutik bis zur Ideen- und Begriffsgeschichte? Leiten Sie Ihre Forschungsfragen aus Beobachtungen ab, aus Begegnungen, aus Lektüren? Ich vertrete eine problemorientierte Forschung. Eigentlich so, wie es die Ingenieure auch handhaben. Die klassischen Naturwissenschaften sind anders strukturiert. Zur Hermeneutik bin ich nach vielen Jahren gekommen. Das klassische Verständnis der Technikfolgenabschätzung ist ja: Wir machen Zukunftsanalysen und bewerten, was da rauskommt. Wir ziehen dann einen Rückschluss auf die Gegenwart. Die Leitfrage lautet dabei: Was müsste man heute tun, um bestimmte Szenarien wahrscheinlicher zu machen? Wenn man aber tut, wenn diese Zukunftsanalysen zu keinen belastbaren Ergebnissen führen, weil die Zukunft so offen ist – was ist dann zu tun? Dann nähern wir uns hermeneutisch den Visionen, die diesbezüglich gegenwärtig artikuliert werden. Die analysieren wir als einen Text aus einer jeweiligen Gegenwart, den wir daraufhin befragen. Was sagen diese visionären Texte über die Gegenwart? Warum, zum Beispiel, denken Menschen heute so über Nanotechnologie? Warum gibt es diese Kontroverse überhaupt? Wo kommt die her? Warum sind manche Themen, obwohl sie spekulativ sind, so persistent – und beschäftigen ganze Wissenschaftlergenerationen?
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Da wäre die Gentechnik ein treffliches Beispiel, oder? Anfang der 2000er-Jahre waren transgene Baumwolle und Mais ein Top-Politikum, ein Medienthema von erstem Rang. Monsanto, gewissermaßen als der „amerikanische Kapitalist“, wurde medial zum Bösewicht erklärt – und in der Sprache des Protestes gelegentlich zum „Mon-Satan“. Anfang der 2020er-Jahre ging es dann um neue gentechnische Züchtungstechnologien wie Crispr-Cas9. Seit Jahren sind die medial und politisch ein Nischenthema – in der Bevölkerung weitgehend unbekannt, in den Zeitungen ein Fall für die Wissenschaftsseiten. Wie deuten Sie dieses Phänomen? Ich kann darauf nicht wirklich antworten. Das kann vielleicht auch niemand. Sie haben aber völlig recht: Genetisches Editieren ist kaum ein Thema, höchstens bezogen auf Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Das interessiert die Menschen auf der Straße nicht mehr wirklich. Über manche Fragen kann man vielleicht auch sagen: Warum ist das jetzt ein Klimathema? Das CO2 steht jetzt seit ein paar Jahren derart groß auf der Agenda. Erst Fridays for Future und dann Leute, die in Museen irgendwelche Bilder mit Bratensoße bewerfen. Aber wie kommt es dazu? Das bleibt oft ein Rätsel, zumal der Klimawandel seit den 1980er-Jahren auf der Agenda steht. Jetzt wirft man mit Tomatensoße auf den alten van Gogh, um so das Weltklima zu retten – und das mit der Gewissheit, auf der Seite der Wissenschaft zu stehen. Was psychologisch dahinter steht, davon habe ich keine Ahnung. Sie fragen ja nach der Eskalation des Protestes, der Krisenwahrnehmung der Aktivisten. Von der Sachlage erkläre ich mir das so: Wir hatten ja bis etwa 2015, und ich habe das auch geglaubt, so den Eindruck: Der Klimawandel bringt das Schlimmste und dagegen wird zu wenig getan. Doch zugleich wurde uns auch immer gesagt, dass wir hier in Deutschland, in der gemäßigten Klimazone, halbwegs glimpflich davonkommen. Es treffe vielmehr Länder wie Bangladesch und viel schlimmer noch Gebiete südlich der Sahara. Es hörte sich – aus unserer Sicht – händelbar an. Doch jetzt haben wir diese fatalen Dürresommer gehabt und diese Hitzerekorde über Wochen. Wir haben großflächig vertrocknete Wälder, wo dann noch der Borkenkäfer tobt. Dann das Hochwasser. Wirklich greifbare Ereignisse – ein Hochwasser mit mehr als 130 Toten. Zahlen, die hat man sonst nur aus Brasilien oder Bangladesch gekannt. Es braucht einen konkreten, nahen und bildstarken Impuls (Abb. 10.2) und dann wird ein Thema – ein Nachhaltigkeitswert sozusagen – wichtig und überholt andere? Wenn so etwas passiert, ändert sich der Blick auf Themen. Und dann haben Sie Ihre schöne Landkarte, die nicht mehr taugt? Die muss dann halt gedreht werden. Dann liest man von der anderen Seite und sieht anders. Schließlich ist die Angst vor den Klimafolgen gar nicht neu, 40 Jahre älter. Der Spiegel hatte einmal dieses berühmte Titelbild mit dem Kölner Dom im Wasser.
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Abb. 10.2 Symbolischer Protest. Aber was bedeutet diese Forderung „Wald statt Asphalt“ genau? (Foto Jan Grossarth)
Das waren die 1980er-Jahre. Und es war eben doch nur ein hysterisches Bild, weil das alles so ja nicht so stattgefunden hat. Ja, damals gab es einige Hysterie. Ich erinnere mich an die Anti-AKW-Bewegung der 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahre. Die hatte nicht nur etwas gegen die Kernenergie, sondern – geprägt durch die Studentenbewegung – war sie gegen das Establishment in vielen Bereichen: dem Militär, der Wirtschaft, der Konzerne. Das war eben auch ein Aufstand gegen diese Welt der vermuteten dunklen Mächte. Zurück in die Zukunft. Wir haben seit 2019 den europäischen „Green Deal“, die große Industriestrategie der Kohlenstoffneutralität. Die Umweltpolitik der 2020er-Jahre verfolgt den ambitionierten Anspruch, eine ganzheitliche Politik zu machen, die alle Sektoren in allen möglichen Bereichen erfasst. Nachhaltigkeit ist zum übergreifenden wirtschaftspolitischen Leitthema avanciert. Ja. „Politisch muss wahrscheinlich alle paar Jahre ein Riesen-Tamtam gemacht werden, Programme und Aktionspläne, damit in der Praxis etwas passiert.“
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Diesbezüglich gibt es viele Pläne und Strategiepapiere: Klimaneutralität, „Circular Economy Action Plan“, „Neues Europäisches Bauhaus“, die EU-Taxonomie, also der neue grüne Finanzmarktrahmen. Man könnte diese Schriften aus Brüssel von morgens bis abends lesen, so viele gibt es, so viel Bewegung. Aber kaum ein Mensch kann das noch nachvollziehen in der Welt der Praktiker – seien es Bauingenieure, Architekten, Handwerker oder geschweige denn Konsumentinnen, die sich über die Weltlage durch Lesen und Fernsehen auf dem Laufenden halten. Von den Fachleuten der Wirtschaft aber dämmert es vielen, dass die Ökobilanzierung maßgeblich wird in allen Bereichen der Produktentwicklung, der Industrie. Wo führt dieser Paradigmenwechsel hin? Sind die Entwicklungsgeschwindigkeiten im Bereich der Planungen und Gesetzgebungsinitiativen in Brüssel für den Handwerksbetrieb in Niederbayern noch nachvollziehbar? Wird dieses Projekt gut gehen? Sie kennen ja die politische Welt ganz gut, aber auch die Praxis der Ingenieure und den Elfenbeinturm der Wissenschaften. Die Entwicklung geht in vielen Schritten. Es gibt ja immer wieder Fälle, wo das, was da in Brüssel passiert, durchschlägt bis auf die alltägliche Ebene. Die Datenschutzgrundverordnung etwa – das ist etwas, das kennt inzwischen jeder. Und wenn so ein Ökobilanzdenken auf diese Weise „von oben“ verordnet würde, dann würde es auch wirksam unten ankommen. Ich befürchte aber immer – siehe Datenschutzgrundverordnung, die ich ja vom Prinzip her begrüße –, dass so die gesetzlichen Vorgaben, die den Strategien folgen, in den Details zu einer Menge Bürokratie führen und dass im schlimmsten Falle sogar der ursprüngliche Sinn verblasst. So könnte es eines Tages auch mit Pflichten für die Ökobilanz kommen. Schlimmstenfalls macht so etwas überwiegend Ärger, verursacht Kosten und erzeugt vielleicht sogar antieuropäische Ressentiments. Aber das muss man beobachten. Manche Umweltgesetze sind große Erfolge. Blicken Sie auf das Kreislaufwirtschaftsgesetz. Das ist vor mehr als 30 Jahren verabschiedet worden in Deutschland. Bis heute sind die Abfallprobleme nicht gelöst, aber die Stroffstromnutzung hat sich sehr verbessert. Das Beispiel zeigt andererseits, wie mühsam dieses Geschäft ist. Die Umsetzung ist die Mühe der Ebene. Anders geht es aber vielleicht nicht: Politisch muss wahrscheinlich alle paar Jahre ein Riesen-Tamtam gemacht werden, Programme und Aktionspläne, damit in der Praxis etwas passiert. Die Legislative macht Tamtam und nur wenig sickert durch in die Praxis, auf die es ankommt. Genau. Das erinnert mich an „Planen und handeln“ – so begann der Titel einer Ihrer ganz frühen Arbeiten. Dieses Spannungsfeld bleibt zeitlos interessant? Ja. Die Frage lautet: Wie steuert man so einen Tanker um? Ob das jetzt EU ist oder gar die energetisch fossil dominierte Weltwirtschaft. Wie steuert man den um? Es gibt ja nicht dieses große Lenkrad, sondern nur eben diese Möglichkeit, an ganz vielen Stellen etwas zu tun und dann zu hoffen, dass sich in der Gesamtsicht des Tages auch etwas
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ändert. Einige Menschen hoffen jetzt, dass künstliche Intelligenz unser Klima retten könnte, wenn es schon die Menschen selbst nicht schaffen. Fühlen Sie sich in Ihrem Humor geschult durch Ihr Engagement in der Technikfolgenabschätzung – durch Ihre Erfahrungswerte in der Beobachtung, wie zufällig oder erratisch letztlich politische Entscheidungen sind, aber auch durch diese Distanz, die Sie zu allen Seiten haben müssen? Humor ist ein schönes Wort für die Distanz zu den Dingen. Wir würden ja unseren Beruf verfehlt haben, wenn wir Teil einer politischen Debatte würden. Aber ebenfalls, wenn wir zum Teil einer „Ingenieurs-Entwicklergemeinschaft“ würden. Wir brauchen die Unabhängigkeit in beide Richtungen. Und die gelingt eben nur, wenn man immer wieder über Nähe und Distanz nachdenkt und die Unabhängigkeit aushält. Es gibt ja die großen Visionäre der Welt ohne Abfall, die mitreißende Vorträge halten und sagen: Wir müssen weg vom „linearen Denken“, der „Trennung von Mensch und Natur“, dem „End-of-the-Pipe-Denken“. Wie viel versprechen Sie sich von diesen großen Visionären der Nachhaltigkeit? Es ist gut, dass es sie gibt. Weil ich glaube schon, dass mit Visionen viel bewegt wird. Das ist auch der Grund für mich, irgendwann mal diese hermeneutische Frage zu stellen. Was bedeuten Visionen eigentlich? Weil ich gesehen habe, dass viele Menschen ihnen folgen. Sie haben große Relevanz auch für die Forschungsförderung. Wenn ein Unternehmer ein paar Milliarden investiert, weil da eine Vision da ist, aber keiner weiß, ob jemals was rauskommt – trotzdem wird das dann gemacht. „Das Haus kommt wohl kaum in allen Sparten ohne CO2-Emissionen aus. Nicht durch Visionen, sondern an der Basis entscheidet sich der Fortschritt.“
Was werden Visionen im Bauwesen bewirken? Das Haus kommt wohl kaum in allen Sparten ohne CO2-Emissionen aus. Nicht durch Visionen, sondern an der Basis entscheidet sich der Fortschritt. Das ist ein unglaublich widerständiges Feld, weil sehr viele Abhängigkeiten existieren – seien sie technischer, ökonomischer oder regulativer Art. Und vor allen Dingen sitzt der Widerstand in den Köpfen der Menschen, weil die einfach über Jahrzehnte sozialisiert worden sind. Wo zwischen „Handeln“ und „Planen“ steht dieses Megainstrument der Ökobilanz? Kann die Pflicht zur Bilanzierung handlungsanleitend sein? Wichtig dafür ist vielmehr, dass die Leute genau die Richtung verstehen, was eine Ökobilanz macht und warum das Ergebnis so rauskommt und nicht anders. Das wäre die hermeneutische Perspektive. Denn es kommt ja nicht einfach etwas Objektives bei der Ökobilanz raus. Ich habe mir mal den Spaß gemacht, diese ISO-Normen zu lesen. Was für mich interessant war, dass das Ideal der Objektivität Quatsch ist. Wenn man dann die Wortwahl der ISO liest: Es muss alles, was „hinreichend wichtig“ ist oder die „wesent-
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lichen Effekte müssen berücksichtigt werden“. Das heißt, irgendjemand entscheidet, was ist relevant, was ist hinreichend. Irgendein Mensch. Ein Illusionstheater von Objektivität? So gesehen, ja. Man kann es aber positiv umdrehen und etwas draus lernen. Wenn man mich dann fragt: Warum kommt das denn so raus? Ein kontraintuitives Ergebnis? Dann muss man eben doch fragen, welche Daten, welche Informationen sind denn reingesteckt worden? Dabei lernt man doch etwas! Dann könnte man doch mal fragen, was passiert, wenn ich jetzt was anderes reinstecke? Kommt dann was anderes raus? Wie sensitiv sind die Ergebnisse? Das finde ich viel interessanter als „objektive“ Ergebnisse. Und so, glaube ich, kann das „Illusionstheater“ dann auch handlungsleitend werden. Es kann ja auch immer mal sinnvoll sein, unsere intuitiven Vorstellungen zu hinterfragen. Intuitiv würde man ja auch meinen: Die Erde ist eine Scheibe. Ja, der Schein trügt. Schließlich noch eine Frage zu einem Begriff, der von Ihnen erfunden wurde: Technikzukünfte. Damit meinen Sie, dass auch ein Zusammendenken von Technik, Zukunft, Gesellschaft und menschlichen Wünschen Teil der TA sein müsste – viel mehr also als Risiko-Nutzen-Abwägungen. Es kann der Eindruck entstehen, dass die tonangebenden Kreise in Deutschland Technikzukünfte von Regionalität, Verzicht, Weniger, Rücknahme der Globalisierung sehen. Aber ich meine, dass, wenn man Megacities mit Energie versorgen will, für manche Zwecke zum Beispiel auch Großkraftwerke eine sinnvolle Sache sind. Die Effizienzargumentation spricht ja in diesem Fall für Größe. Und wer weiß, ob nicht gesellschaftliche Erinnerungen an die Vorteile von „Big Technik“ wieder zurückkommen. Ich würde auch überhaupt nicht von Errungenschaften sprechen, wenn man also heute so denkt und vor 50 Jahren anders gedacht hat. Das sind zeitliche Entwicklungen, die können auch wieder in die andere Richtung laufen. Die TA entstammt einer westlichen Tradition des demokratischen Diskurses über Technik. Wie entwickelt sich diese Disziplin in China, in der neuen Welt Asiens? Bescheiden. Allerdings fühle ich mich seit Jahren auch verpflichtet, meinen Beitrag dazu zu leisten, damit dort eben gute Dinge passieren. Und die gibt es ja zum Glück auch. Aber natürlich darf man das nicht überziehen. Das Thema TA ist ja einmal national entstanden. Der amerikanische Demokrat Edward Kennedy war ein Gründungsvater. In Deutschland könnte man als einen der Väter Jürgen Habermas nennen. Seine ersten Arbeiten zur Politikberatung aus den 1960er-Jahren hatten großen Einfluss bei uns. Nennen Sie das „typisch westliche Philosophie“? Na gut, John Dewey in den USA, sein liberaler Pragmatismus, der nimmt Bezug auf Immanuel Kant. Da kommt das alles her. Aber ja, auch das ist nun in der Krise, weil ja viele Demokratien in die Krise geraten sind, weil autoritäre Figuren populär werden. Das andere Thema, wonach Sie ja fragen, sind Regionen, Weltregionen, Länder, die erst mal komplett aus anderen Traditionen kommen. Dort sind wir seit Jahren dabei, auch globale Netzwerke aufzubauen – im „Global Techno-
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logy Assessment Netzwerk“, das kurz vor der Pandemie gegründet wurde. Die Pandemie hatte erstmal alles wieder zum Stillstand gebracht. Danach ging es so langsam weiter. Die ersten Kontakte machten wir in Afrika, das ist noch so ein weißer Fleck auf der Landkarte der TA. Dann gibt es gute Kontakte zu Technikforschern in China. China will auch nachhaltig werden. Die haben CO2-Reduktionsprogramme und sie haben Riesenprobleme mit ihrer lokalen Umweltverschmutzung. Wir haben gute Kontakte zur chinesischen Akademie der Wissenschaft, aber nicht zur politischen Ebene. Ich weiß nicht, was die KP Chinas über die TA denkt. Auf Arbeitsebene ist eine große Aufgeschlossenheit. Sehr gute Kontakte hatten wir auch über lange Zeit nach Russland. Die sind nach der Invasion der Ukraine geradezu tragisch ruiniert. Russische Baukonzerne haben Syrien aufgebaut. Chinesische haben jetzt Kairo neu errichtet – Neu Kairo, aus Beton und Stahl. Genau. So, wie westliche Bauherren in den 1950er-Jahren Brasilia errichteten, die moderne Hauptstadt Brasiliens. Gegenwärtig dominiert in Europa die Vorstellung von Technikzukünften, die auf kleinerer, regionaler Versorgung basieren. Aber auch diesbezüglich würde ich nicht sagen: Die Attraktivität großtechnischer Projekte ist damit endgültig überwunden. Vielmehr meine ich, sie hatte ihre Zeit, die nun vergangen ist, aber vielleicht eines Tages wiederkommt. Die Zukunft ist und bleibt offen.
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Feldbeobachtungen: Ausflüge in Bioökonomien
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In der Beobachtung und in der Erfahrung von Gesprächen wird das abstrakte Wissen lebendig. Im Eindruck des Beobachters reibt sich der Anspruch von Modellen, Ideen und Visionen an der Wirklichkeit derjenigen, die sie umsetzen sollen. Hierin liegt der Wert der bioökonomischen Feldforschung, ob methodisch strukturiert, oder als Exkursion oder journalistische Reportage angelegt. In den folgenden Reportagen spiegeln sich in diesem Sinne zahlreiche Themen der früheren Kapitel. Im ersten Ausflug geht es um die chinesischen Deutungen der ökologischen Transformation (Grossarth 2021b). Im zweiten sind Israels und Jordaniens agrartechnische und bioökonomische Innovationen das Thema, womit der Wüste neues Leben eingepflanzt wurde (Grossarth 2018a). Der Agroforst in Brandenburg als Anpassung gegen die Dürren beschäftigt die Bauern und Bioökonomen dort gleichermaßen, darum geht es im dritten Text (Grossarth 2018b). Zwischen Industrie und Agrarkultur hin- und hergerissen war lebenslang ein Unternehmer und Biolandwirt, den ich bei München besuchte. Als Erinnerung an diese Begegnung, die auch Fragen an den „agrarkulturellen“ Ansatz enthält, folgt die vierte Reportage – und darauf ein Gespräch mit einem interessanten, eigenwilligen Landmaschinenunternehmen über ökologische Anliegen (Grossarth 2021a). Am Ende folgt ein kurzer Besuch bei einem sambischen Kleinbauern, der weg will vom elenden Lehm und auf ein Backsteinhaus spart (Grossarth 2018c). Diese kurze abschließende Geschichte erinnert an die kulturell-ökonomische Eingebundenheit „unserer“ Debatten über nachhaltige Baumaterialien und führt auch zurück in die globale Perspektive auf das Problemfeld des nachhaltigen Baus, die eingangs eröffnet worden war.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 J. Grossarth, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40198-6_11
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11.1 Chinas Vorstellungen vom ökologischen Fortschritt. Vor etwa 20 Jahren erforschte der chinesische Journalist Pan Yue die ökologische Tradition seines Landes. Aber Pan Yue ist auch Politiker und Staatsbeamter, also forschte er nicht nur wie ein Wissenschaftler, sondern tat dies mit Blick auf den politischen Nutzen für die Gegenwart und Zukunft des chinesischen Volkes. Er blickte auch mit den Augen des Apparats auf die ferne Vergangenheit. Pan suchte kulturelle Identität. Vielleicht ist das vergleichbar damit, wie vor 200 Jahren in Deutschland die Brüder Grimm – am Vorabend der industriellen Revolution – durch die Dörfer zogen, um die letzten mündlich überlieferten Märchen einzusammeln, und daraus so etwas wie eine deutsche Seele kneteten. Pan studierte Texte, die von der 4000 Jahre zurückliegenden Xia-Dynastie handelten. Darin las er, dass es im damaligen Kaiserreich umfassende Verbote gegeben habe, die natürliche Umwelt zu schädigen. Die Jagd von Jungvögeln war verboten, das Abschlagen junger Bäume im Frühling, es gab eine streng geregelte Fischerei. Waren all dies nicht Belege für eine jahrtausendealte ökologische Tradition? Pan ist aber ein Mann der neuen Zeit, des Kommunismus. Heute ist er Spitzendiplomat und leitet das Büro für Übersee-Angelegenheiten. Auch damals hatte Pan schon in leitenden Funktionen in der Armee und in der Staatsverwaltung gearbeitet. Als Journalist, der er auch immer war, interessierte ihn zunehmend das ökologische Herz Chinas, das er in ferner Vergangenheit schlagen zu hören versuchte. Im Jahr 2003 schrieb er einen bis heute einflussreichen Aufsatz. „China hat eine lange Geschichte und eine großartige Kultur“, schrieb er darin und prophezeite: „Chinas ökologische Kultur wird weitreichend die weltweiten Errungenschaften der Ökologie aufsaugen und auf dieser Grundlage den Völkern der Welt eine einzigartige Variante anbieten, die für die neuen Zeiten tauglich ist, um gemeinsame Ziele zu erreichen.“ Chinas grüner Weg ist damit angedeutet: Es will das westliche Verständnis von Ökologie adaptieren, transformieren, machtpolitisch füllen – und in die Welt tragen. Die Praxis sieht anders aus. Die Luft in den Städten ist dick, China ist der weltgrößte Exporteur von Giftspielzeug, liefert Plastikware nach Afrika und erhält im Gegenzug strategisch wertvolle Rohstoffe. Es baut und finanziert Kohlekraftwerke im eigenen Land und in seiner wachsenden Machtsphäre. Wo Bestäuber wie Wildbienen ausgestorben sind, befruchten geknechtete Landarbeiter die Obstbäume der Plantagen mit Hand und Pinsel. Der Kampf gegen die wachsenden Wüsten wird mit Mitteln des Militärs geführt: Hunderttausende Bäume sollen die Wüste aufhalten, gespeist von modernen Bewässerungssystemen und Flugzeugen, die die Wolken beschießen und regnen lassen. Das ist ein Kampf mit Mitteln der Technik und sieht nicht aus wie die „Harmonie“ von Mensch und Natur, von der Konfuzius sprach. Die Umweltprobleme sind nicht zu verschleiern. Die zweitgrößte Volkswirtschaft ist mit Abstand der größte Klimagasemittent der Welt. Seine CO2-Emissionen verdreifachten sich seit dem Erscheinen von Pans Aufsatz über die schöne, grüne Kaiserzeit. China will 2060 kohlenstoffneutral werden, zehn Jahre später als die EU – die, wie die ganze Welt, so gern chinesische Produkte importiert. Die ökologische Schieflage im wirtschaftlich rasant wachsenden China ist jedem bewusst und auch im Land ein kriti-
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sches Thema. Die von Pan vorgedachte ökologische Transformation ist derweil Staatsprogramm. Sie soll Vergangenheit und Gegenwart verknüpfen, Kaiserreich und kommunistische Partei, Westen und Osten. Das von Pan erstmals 2006 verwendete Schlagwort lautet „ökologische Zivilisation“ – oder, in alternativer Übersetzung, „ökologischer Fortschritt“ (Shengtai Wenming). Der Begriff taucht 2007 erstmals im Parteiprogramm auf. 2012 verwendet ihn der damalige Staatspräsident Hu Jintao auf seiner Rede auf dem 18. Parteikongress, ein Jahr später erklärt sein Nachfolger Xi Jinping den „ökologischen Fortschritt“ zum Rahmen für die Umweltgesetzgebung des Landes. Seither wurde das Konzept in der Verfassung aufgewertet. Und mehr als 4000 Bücher und 170.000 Zeitungsartikel machten die Utopie der „ökologischen Zivilisation“ populär, wie ein Aufsatz der norwegischen Kulturwissenschaftlerin Mette Halskov Hansen von der Universität Oslo aufzeigt (Hansen et al., 2018). Aber was soll das bloß bedeuten: ökologische Zivilisation? Mette Halskov Hansen sagt, das Konzept sei der utopische Dreh- und Angelpunkt der chinesischen Parteipolitik überhaupt. Sie sei „Vision für die globale Zukunft“, wurzle in „chinesischer Identität“, solle den Weg ebnen für eine „sozialistisch-ökologische Zukunft“. Die ökologische Zivilisation solle China zurückbringen in die Rolle der zentralen Weltmacht und zugleich eine „moralische Grundlage für zivile Einstellungen und Verhaltensweisen“ darstellen. „Technologische Werte und Zukunftsvisionen sind hier verwoben mit politischen, sozialen und kulturellen Werten“, schreibt die norwegische Professorin mit ihren Co-Autoren. Die chinesische Seele, wie sie gegenwärtig konstruiert wird, ist grün und rot zugleich. Das ökologische Denken weist nicht nur zurück zu Konfuzius, sondern auch Marx. Schon Karl Marx hat sich auf bis heute bedeutende Weise mit den Umweltschäden durch die kapitalistische, industrielle Gesellschaft und Wirtschaft befasst. Eine „Stoffwechselstörung“ von Stadt und Land sah er durch die Verstädterung und beklagte im selben Atemzug den Verlust eines „gemüthlichen“ Verhältnisses von Mensch und Natur. Der westliche Anthropozentrismus sei die Ursache der globalen Umweltverschmutzung. China (das viel davon kopiert habe) müsse diesen „überwinden“ zugunsten von Konzepten einer Ganzheit, einer Harmonie von Mensch und Umwelt. So sagt es auch Pan Yue und mit ihm die KP China. Die „ökologische Zivilisation“ chinesischer Prägung solle Harmonie bringen, eine neue geistig-kulturelle Stufe der Menschheitsentwicklung darstellen, die sich am alten China orientiert. Die „westlichen Industriegesellschaften“ werden im Gegenzug als destruktiv und gescheitert beschrieben. Eines Tages mag China umwelttechnisch führend sein. In manchen Bereichen sieht es schon heute danach aus: Weltweit einzigartig ist ein Kohlekraftwerk der China Huaneng Group, das seine CO2-Abfälle in Tanks speichert. Das wird zu Kohlensäure für Cola oder Bier. Chinesische Unternehmen haben Urintrenntoiletten vorgestellt und die „Ökostadt“ Tianjin mit autofreiem Stadtkern soll das grüne Utopia selbst werden. Der weltgrößte Windpark der Welt, der in Planung ist, soll allein die Leistung aller Atomkraftwerke bringen, die in Deutschland vor dem Atomausstieg in Betrieb gewesen waren. Die installierte Windstrommenge Chinas ist schon heute mehr als doppelt so groß wie
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die Deutschlands und größer als die der Vereinigten Staaten. Doch immer noch bezieht auch China 85 % seiner Energie aus Kohle, Öl und Gas. Zweifellos ist Chinas grüne Utopie eine technische. In Europa – jedenfalls vor der Covid-Krise – populäre Ideen von Verzicht, Postwachstum und Umverteilung spielen im kommunistischen China keine Rolle. Das setze kompromisslos auf Wirtschaftswachstum, wie auch die Anthropologin Mette Hansen feststellt. Wenn sich Chinas „ökologische Zivilisation“ durchsetzte, könnte es nicht nur Technik, sondern auch politischen Einfluss in den Westen exportieren. So ist es schließlich der ausdrückliche Plan der Partei: dass China die Welt vom „westlichen Anthropozentrismus“ kuriert und in eine sozialistische Zukunft führt, in welcher der in den Augen der Staatspropaganda pervertierte Individualismus überwunden werde. Die Staatsutopie einer ökologischen Zivilisation ruht auf drei Säulen. Die erste ist der technische Fortschritt, die zweite sind staatliche Lenkung und Planung und die dritte ein „neuer ökologischer Mensch“: umweltbewusst in Einstellung und Praxis, gewissermaßen auf einer neuen Bewusstseinsstufe. Er konsumiert dabei keinesfalls weniger, aber erzeugt weniger Müll. Dies nennt sich dann „Ökozentrismus“. Diesen hat ebenfalls Pan Yue entdeckt, und zwar bei Konfuzius, und zwar in dessen Wort von der „Einheit von Himmel und Mensch“. Aber was bedeutet das genau? Der Himmel, erklärt die Anthropologin Hansen, steht in dieser Tradition nicht nur für Natur. Sondern eigentlich für Macht, Herrschaft, Autorität. Der chinesische ökologische Weg bedeutet sozialistische Lenkung und einen propagandistischen Kampf gegen den „verkehrten Geist“ des „westlichen Industrialismus“. Der kann übel enden für alle, die sich querstellen. Nicht nur die gewaltige Umweltverschmutzung Chinas gibt einen Hinweis darauf, dass die Staatsphilosophie der „ökologischen Zivilisation“ Skepsis verdient hat. Der ,,westliche“ Wert der Freiheit ist hier durchaus verzerrend missverstanden und auch wird die Geschichte des ökologischen Denkens in ihrem Freiheitsmomentum kaum gewürdigt. Dabei war gerade die amerikanische ökologische Literatur, etwa Rachel Carsons Stummer Frühling (1962), in einem Geist von individueller Emanzipation verfasst. Viele Wissenschaftler, auch in China, haben Pans Identitätssuche in den Kaiserzeiten kritisiert. Heiner Roetz, Sinologe an der Uni Bochum, hält die Lesart, der Konfuzianismus sei „ökozentrisch“, für ideengeschichtlich unhaltbar. Im Gegenteil sei dieser selbst anthropozentrisch. Er sehe den Menschen als Herrscher über die mangelhafte Natur. Und Historiker merkten an, dass die „Umweltpolitik“ der Xia-Dynastie – etwa ihre Jagd- und Fischereiverbote – gar nicht ethische oder moralische Gründe gehabt hätten. Sie habe einfach nur zur Privilegierung der Herrschenden gedient. Denn wenn das einfache Volk genügsam ist, bleibt auch mehr für die herrschende Klasse.
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11.2 Israels Kampf gegen die Wüste Da wachsen Ölbäume, wo ringsum nichts ist außer Sand und Steinen und Wind (Abb. 11.1). Eine Jojobaplantage in der Wüste Negev. Fünfhundert Hektar Bäume, ein Fünftel der Weltproduktion von Jojobaöl auf kleinem Raum. Wie diese Plantage ist Israel: klein, aber leistet Großes. Israel ist der globale Hotspot der aufkommenden Wüstenlandwirtschaft. So wie hier, in der Jojobaplantage von Hatzerim, so grünt es an immer mehr Orten in einem zwar heiligen, aber ausnehmend lebensfeindlichen Landstrich – bis runter an die Küste des Roten Meeres, wo der Sinai beginnt und Arabien am Abendhorizont leuchtet. Hatzerim – für Bewohner des israelischen Kibbuz ist dies auch ein politisch symbolischer Ort. „Das ist der Zionismus“, sagt der Geschäftsführer der Ölplantage Jojoba Desert, Jonathan Regev. „Ja, wir machen die Wüste grün.“ Die ersten jüdischen Siedler gründeten diesen Kibbuz im Jahr 1946. Jetzt sitzt hier der Weltmarktführer für Tröpfchenbewässerung, Netafim – 5000 Mitarbeiter, zwölf Werke rund um den Globus. Eine Jahresproduktion von Wasserschläuchen, die zusammengenommen angeblich 120-mal um die Erde reichen würden. Und dank dieser Schläuche gibt es hier eben auch „Jojoba
Abb. 11.1 In der Wüste wächst wieder etwas: Dattelplantagen sind nur ein Beispiel. (Foto Jan Grossarth)
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Desert“, den Weltmarktführer auf dem Zwergenmarkt für kosmetisch verwendetes Jojobaöl. Kosmetikkonzerne wie L’Oréal mischen Tröpfchen davon in ihre teuersten Cremes. Von hier bis zur Südgrenze Israels, auf diesem gut 200 Kilometer weiten, nach Süden hin immer schmaler werdenden Wüstenstreifen, stechen auch grüne Dattelpalmen und Mandelbäume heraus. Es reift sogar Wein dort, wo die Böden Salzkrusten tragen, der Wind unerbittlich weht, wo weit und breit das einzige sichtbare Wasser dasjenige des Toten Meeres ist. Dieses Wasser aber ist so salzig, dass es widerlich schmeckt und zu nicht viel mehr taugt, außer Rehapatienten in Hoffnung auf Heilung zu tragen. Selbst südlich dieses heilvollen Meeres wächst jetzt Obst. Jedenfalls in vereinzelten, künstlich geschaffenen Oasen. Die Datteln der Plantagen, die sich entlang der Grenze bis nach Jordanien hinziehen, versorgen auch die arabischen Nachbarländer, notfalls wohl über Drittländer, wenn offiziell Handelsboykotte bestehen. „Hier ist ein Traum wahr geworden“, sagt Jonathan Regev, der Geschäftsführer der Jojobaölplantage. Für ihn ist es wie die Einlösung eines politischen Heilsversprechens. So habe es David Ben-Gurion vorhergesagt, der Staatsgründer Israels, als in den späten 1940er-Jahren jüdische Siedler hier beinahe schon wieder entmutigt aufgeben und weiterziehen wollten in den Norden Israels, weil es dort Wasser gab. Bleibt hier, meinte Ben-Gurion, und überlegt euch, wie die Wüste grün werden kann. Bald wurde dann die erste, 40 Kilometer lange Bewässerungspipeline gebaut. Ohne diese Pipelines grünte es in der Wüste keinesfalls, bis heute nicht. Und in Zukunft? Das entscheidet sich auch in der Pflanzenzucht (Abschn. 4.4). Und darin, andere Wasserquellen zu erschließen als See- und Grundwasser. Selbst salziges Wasser, das lässt sich durchaus verwerten. Die Israelis bauen einige Feldfrüchte an, die damit zurechtkommen: die neu entdeckte Quinoa, einige süße Tomatensorten und Wassermelonen. Jojobaöl ist nicht essbar. Aber auch Jojobabäume sind anspruchslos und hitzebeständig. Der Wind macht ihnen wenig aus, auch die Kälte der Wüstennächte nicht. Aber ohne das Wasser aus den Plastikschläuchen von Netafim wüchse im Kibbuz Hatzerim kein einziger Jojobabaum und auch nichts Essbares. Alles basiert auf dem Wasser, das durch kilometerlange Schlauchnetze von Norden aus durchs Land geleitet wird. Israel ist, bezogen auf die Ernährungslage, wie ein Mikrokosmos der Welt. Im Norden hat es fruchtbare Böden und ausreichend Niederschlag, im Süden die Wüste. Die Bevölkerung wächst stark. Neun Millionen Einwohner sind es derzeit, bis 2050 sollen es 15 Mio. Israelis werden. Das Land ist etwa so groß wie Hessen. Aber Hessen hat nur sechs Millionen Einwohner. Und Hessen hat Regen und, im geographischen Sinne, keine Wüste. Ernährung, denkt man, hängt an Bäumen, Pflanzen, Dünger. Aber in der Wüste kommt es auf etwas anderes an: Rohre, Leitungen, Schläuche. Um Wasser gibt es immer wieder Konflikte mit den autonomen Palästinensergebieten im Westjordanland. Der Norden Israels verfügt über Grundwasserreservoirs. Doch immer mehr Wasser kommt aus den Meerwasserentsalzungsanlagen an der Küste. Allerdings ist es nicht einfach, mit entsalztem Meerwasser Landwirtschaft zu betreiben, ohne dabei Verluste zu erwirtschaften. Denn die Anlagen brauchen viel Ener-
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gie und das entsalzte Wasser ist teuer. Es kostet etwa 1,5 Schekel pro Kubikmeter, zu viel für eine profitable Gemüsezucht. Also geht es zunächst an die Millionen Haushalte zwischen Tel Aviv, Haifa im Norden und Jerusalem. Der Landwirtschaft bleibt das Schmutzwasser. Im Norden nützt aber auch das nichts, denn Bewässerung mit dem immer noch phosphor- und kalihaltigen aufbereiteten Abwasser würde dort das Grundwasser verdrecken. Anders in der Wüste: Hier findet das geklärte Schmutzwasser seinen Einsatz. Etwa 30 Anlagen, in denen Schmutzwasser aufbereitet wird, stehen in Israel. Zum Beispiel wird schon die Hälfte des Abwassers der Stadt Jerusalem gefiltert und geklärt. Dieses Wasser fließt dann zum Kibbuz Tzora. Wie Adern ziehen sich Kanäle und Leitungen weiter in den Süden. Israel gilt als das Land, das weltweit den größten Anteil an Abwasser wiederverwertet. Rund 90 % sind es hier nach Angaben der Behörden, nur rund 20 % in Spanien, ein Prozent in den Vereinigten Staaten. Und trotz aller Fortschritte hängt Israel – nicht weniger als Nachbarländer wie Ägypten oder Jordanien – am Import von Getreide. Es sind die Vereinigten Staaten, Russland und die EU, die die Wüstenanrainer versorgen. Zwar exportiert insbesondere Israel wertvolles Obst wie Datteln und Kakis oder Avocados ins Ausland – so wie auch Ägypten, das reich an Nilwasser ist. Aber Getreideanbau in der Wüste gelingt kaum. Etwa 90 % des Getreides muss Israel importieren, 50 % von Ölen und Fetten. Nur Milch und Geflügel kann es ausreichend produzieren. Also bleibt Ben-Gurions Wort wie eine Losung für weitere Jahrzehnte: Lasst euch was einfallen! So, wie im Kibbuz Hatzerim vor mehr als 70 Jahren. Die Erfindung des Tröpfchenschlauchs war eine wenig beachtete technische Revolution. Er besteht zu 98 % aus Plastik, zu 2 % aus Ruß und ist 20 oder 30 Jahre haltbar – wenn nicht Spechte kommen und drauflospicken. Tröpfchenbewässerung nützt nicht nur den relativ reichen Israelis, sondern auch Afrikas Kleinbauern. Netafim vertreibt in den ärmsten Ländern der Welt ein kleines, angepasstes System. Es ist, sagen sie hier, eine Erfolgsgeschichte. „Die Kosten werden meist nach zwei Jahren zurückbezahlt“, erzählt ein Mitarbeiter von Netafim. Denn die Erntefortschritte seien sehr groß: Auf 1000 m2 mit Sprinklerbewässerung erziele ein Bauer vier Tonnen Tomatenernte, mit Tröpfchenbewässerung hingegen 20. In Hatzerim fing alles an. Die Geschichte dieses Kibbuz und der Bewässerungsfirma Netafim ist eine des Neuanfangs nach der Katastrophe. Danny Retter, Jahrgang 1942 und einer der Gründer von Netafim, lebt schon seit Jahrzehnten hier und arbeitet bis heute als Ingenieur für Netafim. Er führt die deutschen Gäste durch die Produktion. Sein Deutsch ist perfekt. „Wenn ich muss, spreche ich noch Deutsch“, sagt er und lächelt gequält. Seine deutsche Geschichte lieg ewig zurück. Ein Teil von Dannys Familie kam aus Wien, Deutsch ist seine Muttersprache, er kam in der Bukowina zur Welt. Der Familie gelang die Flucht vor den Nationalsozialisten. Einige der Gründer von Hatzerim waren Flüchtlinge, die als Kinder den Nazis aus dem östlichen Europa über Teheran nach Palästina entkamen. In der Wüste kamen sie also an. Anfang der 1960er-Jahre war Danny Retter immer noch jung, suchte Arbeit und fand den Kibbuz. Er hat als Ingenieur später die Tröpfchensysteme immer weiter verbessert. Mit ihm begann in Hatzerim die Geschichte der
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Bewässerung mit Schläuchen, die gezielt Tröpfchen über die Wurzeln absondern, statt ganze Flächen zu bewässern. So verdunstet das Wasser nicht großflächig, sondern kommt jeder sprichwörtliche Tropfen gezielt dort an, wo er von der Pflanze aufgesaugt werden kann. Danny Retter erklärt: „Einer der Hauptvorteile der Tröpfchenbewässerung ist neben den Wasserersparnissen, dass die Pflanze keine Energie braucht, um das Wasser suchen zu müssen.“ Sie bekommt es an die Wurzel geliefert. Und das regelmäßige Tröpfeln spült das Salz aus den Böden – an der kleinen, entscheidenden Stelle, an der die Wurzeln sind. Bis heute leben sie hier im Kibbuz in sozialistischer Gütergemeinschaft; das Einkommen geht an die Gemeinschaft, daraus bezahlen sie Gemeinschaftsverpflegung, Ärzte, Wäscherei, Schulen, Kindergärten und den Hausbau für die jungen Familien. Zwanzig Prozent hält diese Gemeinschaft am Netafim-Konzern, die übrigen 80 Prozent kaufte im vergangenen Jahr der mexikanische Chemiekonzern Mexchem für 1,5 Mrd. $ vom Finanzinvestor Permira. Die Tröpfchenschläuche bewässern Felder in China und Südamerika, im Nahen Osten und selbst in Skandinavien. Eines der größten Werke steht im Kibbuz, sieben Millionen Tropfer am Tag verlassen die Plastikpresswerke. Viele der Bewohner arbeiten im Werk. Zum Beispiel auch der Sohn des Ingenieurs Danny, der nicht mehr Deutsch spricht; „noch nicht“, sagt er. Oasen sind auch in Israels Wüstennachbarland Jordanien zu sehen. Auch in diesem Land, in dem sich die Bevölkerungszahl seit 1990 auf gut neun Millionen etwa verdreifacht hat, fruchtet die Bewässerung. Kreisrunde Getreidefelder werden in der Wüste Wadi Rum großzügig mit Sprinklern begossen, am Rande einer malerischen Landschaft von bizarren roten Felsen. Hier wurden große Filme gedreht wie Lawrence von Arabien und Der Marsianer. In dieser Marslandschaft aber droht das Grundwasser knapp zu werden. Das Wasser der Felder kommt seit etwa 30 Jahren aus der Tiefe, es ist rein und vortrefflich, aber der Pegel sinkt. Die Ressourcen sind Zehntausende Jahre alt und nicht erneuerbar. Sie reichen angeblich noch für 50 Jahre. Aber auch in Jordanien wachsen die Früchte der Zukunft. Sie haben einen vertrauten Namen: Gurke. Der Ort, an dem die ersten Gurken der Zukunft wachsen, ist ein Gewächshaus nahe dem Grenzstreifen nach Israel, einige Hundert Meter vom Grenzzaun entfernt. Der Name des Unterfangens: Sahara Forest Project. Das Ziel: mit weniger Wasser auskommen. Mit Meerwasser. Und nur mit Sonnenstrom (Abb. 4.6). Norweger haben es initiiert. Neben der norwegischen Stiftung Grieg Foundation gehört zu den Partnern des Projekts auch die amerikanische Hilfsorganisation US Aid, der norwegische Düngerhersteller Yara und der norwegische Finanzinvestor Sundt AS. Auch die Gurke, die man hier wachsen sieht, ist keine, die es in Jordanien vor fünf Jahren schon gegeben hätte. Es sind Gurken mit dem profanen Namen Snack-Gurke, sie kommen aus den Niederlanden und sind erntereif mit neun Zentimetern. Man wollte die lokalen Märkte nicht stören; die Bauern im fruchtbaren Norden Jordaniens ernten größere Freilandgurken. Die ersten Ernten im Gewächshaus sind eingefahren. Siebzig bis 100 Kilo ernten sie hier am Tag mit drei Mitarbeitern; verkauft werden die Gurken auf dem Markt in der nahen Stadt Aqaba. Die Gurken sind mit einem Kilopreis von um-
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gerechnet etwa 1,50 € auch eher eine Angelegenheit für die jordanischen Mittel- und Oberschichten, nicht für die armen Massen. Aber immerhin: Die Gurken reifen. Doch es muss schneller vorangehen. In Jordanien leben weit mehr als eine Million Flüchtlinge aus Syrien neben staatenlosen Palästinensern und deren Nachkommen, die Israel verlassen mussten. So wie hier stellt sich das Konsortium um die Grieg Foundation die Zukunft der Wüstenlandwirtschaft vor. Die Gurken wachsen tatsächlich gut und schnell. Vier Wochen nach der Keimung sind die ersten erntereif. Auch die meisten Schädlinge haben sie im Griff; sie werden mit Insekten bekämpft, die Schädlinge fressen, nicht mit chemischen Insektiziden. Sonne ist genug da – mehr als genug. „Gurken brauchen Ruhepausen, wie Menschen, und hier ist im Sommer eigentlich zu viel Licht“, sagt Frank Utsola, ein Norweger, der führende Ingenieur des Gurkenprojekts. Doch nicht das Zuviel bereitet große Sorgen. Das Zuwenig ist das größere Problem. Zum Beispiel mangelt es in Jordanien an den Säcken aus Kokossubstrat, in denen das Gemüse wächst, an den Gurkensamen, an den Nützlingseiern, an Materialien für moderne Gewächshäuser. All dies muss kostspielig aus Belgien, Holland oder Asien eingeführt werden. Die langen Bearbeitungszeiten im Zoll verzögern den Anbau – mehr noch als die Versandzeit via Schiff oder Flugzeug, ist zu hören. Aber das noch viel größere Problem dieser jordanischen Wüstenutopie ist: Immer noch gibt es nicht die erhoffte Pipeline, die Meerwasser zum Gewächshaus bringen soll. Das Wasser kommt weiterhin mit Dieseltanklastern. Das entspricht nicht der Vision von Nachhaltigkeit, die mit dem Projekt verbunden ist. Woran scheitert es? Am Geld, auch. Und sonst? Der Schriftverkehr mit den Behörden ist zäh. Westliche Stiftungen zahlen kein Bestechungsgeld. Zurück in Israel. Dank der Tröpfchenbewässerung wurde es hier sogar möglich, Weinberge am Rand der Wüste anzulegen. Yatir heißt der Weinproduzent, der am weitesten nach Süden vorgedrungen ist. Etwa 30 Kilometer östlich von der Wüstenstadt Beerscheva, auf halber Strecke zum Toten Meer. Der stärker privatwirtschaftlich organisierte Kibbuz exportiert Weine auch in die Vereinigten Staaten, nach Großbritannien und China. Der Wein wächst in einem Tal des Nichts. Die Reben verlieren schon ihre Blätter, es ist später Herbst, in den Nächten wird es kalt. Die meisten Reben stehen einige Kilometer weiter, erhöht auf einem nahen Berg, umgeben von einem kleinen Wald, der die natürliche Grenze zur Wüste markiert. Hier ist die Luft tagsüber so heiß und trocken, dass die Winzer – anders als in Westeuropa – kaum chemische Fungizide brauchen. Und die besten Lagen sind die Nordhänge, weil hier nicht zu viel Licht einfällt. Der Winzer Yaacov Ben Dor arbeitete einmal als Ingenieur im Flugzeugbau, doch vor 30 Jahren zog es ihn raus in die Wüste. Er schwärmt von dieser Rückkehr ins biblische Land. Schon lange vor der Eroberung durch die Muslime sei hier Wein angebaut worden, erzählt Yaacov Ben Dor. Viele Zeugnisse dafür gebe es in der Bibel. Jetzt sei der Wein zurück, ein Wunder, nach Jahrhunderten des jüdischen Exils. „In der Wüste musst du exzellent sein oder das Gelände verlassen“, sagt Ben Dor. Seine Vorfahren lebten bis
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zur inquisitorischen Vertreibung 1496 in Portugal. Sie hießen Negro. Sie flüchteten nach Österreich und hießen Schwarz. Irgendwann hießen sie dann Blau. Als seine Eltern nach Israel emigrierten und der Staatspräsident Ben-Gurion verlangte, dass die Emigranten hebräische Namen annehmen, nannten sie sich Ben Dor. Der Wein ist zurück. Aber Yaacov Ben Dor will nicht zurück, sondern vorwärts. „Der Weinbau ist für uns eine Reise ins Ungewisse“, sagt er. „Wir führen hier keine Tradition weiter, wir versuchen nicht zurückzugehen. Als ich ankam, hatte ich nicht an Wein gedacht.“ Immer noch experimentiert er mit neuen Rebsorten und Sortenmischungen. Immer öfter, sagt er, bekomme er auch Besuch von deutschen Winzern. Sie wollten sich im Eindruck der zuletzt trockenen heimischen Sommer ansehen, wie die Tröpfchenbewässerung funktioniert. „Wir sind unserer Zeit voraus“, sagt Yaacov Ben Dor.
11.3 Agroforst gegen die Dürre des Extremsommers 2018 Für die Regenwürmer war es der letzte Sommer. Da steht die Bodenzoologin Monika Joschko nun also auf ihrem schönen Versuchsfeld „Sandstandort Lebuser Platte“, östliches Brandenburg, für das seit mehr als 20 Jahren ihr Herz brennt, und sie blickt auf nichts als Staub, trockene Halmreste und seltsame Wurzeln, die aussehen wie Maniok in Afrika. Was aber unter der Erde lebt, stirbt und vertrocknet, all das sieht man nicht. Joschkos Forschungen mit den Würmern reichen Jahrzehnte zurück, auch in den sogenannten Jahrhundertsommer 2003. Der hatte, das weiß man, eine verheerende Wirkung aufs Bodenleben. Die Kurve, die in Joschkos Statistikordner die Regenwurmfunde anzeigt, weist für 2003 einen heftigen Einbruch aus. Zuvor hatte es hier, wo ein Landwirt vorbildlich ackert, außerordentlich viele Regenwürmer gegeben, danach zunächst kaum mehr welche. So ähnlich wird auch die Kurve für viele kommende Jahre aussehen. „Regenwürmer brauchen die Feuchtigkeit wie einen Mantel, der sie umhüllt“, erklärt die Wurm- und Bodenforscherin, „wenn die Erde zu trocken wird, kringeln sie sich zum Schutz zusammen.“ Und als dann irgendwann immer noch kein Regen fiel, wurden die Kringelwürmer von Alt Madlitz sehr bald selbst zu Staub. Solche Geschichten boten die zurückliegenden Hitzesommer mannigfach. Auf der gesamten Nordhalbkugel brannten außergewöhnlich viele Wälder, altersschwache Menschen starben, das Gras für die Rinder verbrannte. In Südrussland, in Schweden, in Griechenland, in Westfalen und hier im Osten von Brandenburg. Dort trockneten die Böden immer öfter schon im Frühjahr aus. Im März fiel hier kaum Regen, im April nicht, im Mai nicht, auch im Juni nicht. Es war nie zu heiß, aber immer zu trocken. Als es im Juli 2018 erstmals regnete, hatte der Weizen längst seine Blätter abgeworfen, seine Körner reduziert. Jetzt stehen die dürren Halme da wie Mumien. Niederschläge in Alt Madlitz, Sommer 2018, in Zahlen: im März 26 Liter je Quadratmeter, im April 24 Liter, im Mai acht Liter. Im Juni 16 und von Anfang bis Mitte Juli 18 Liter pro Quadratmeter. In Worten: nahe null.
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In weiten Teilen Deutschlands wurden nicht nur Würmer, sondern vieles, was wuchs, allzu schnell wieder zu Staub. Die Blätter der Weizenpflanzen. Diese warfen irgendwann alles Grün ab, um wenigstens die Ähren durchzubringen. Aber auch die kamen nicht unbeschadet durch den Sommer. Die Pflanzen „reduzierten“, wie man sagt, ihre Fruchtstände. Zehn, 20, 30 bis hin zu 60 Prozent der Ernte verlieren die Bauern zwischen dem Emsland und der Oder – im Bundesschnitt gute zehn Prozent zum schwachen, verregneten Vorjahr, laut Bauernverband. Benedikt Bösel (Abb. 11.2) ist ein Biobauer in Alt Madlitz. Das ist kein Kleinbetrieb; auch nicht einer, den dieser schreckliche Sommer finanziell erledigen würde. Er hat vor zwei Jahren den Hof seiner Eltern in Alt Madlitz übernommen. Gutshaus, Gästehaus, Lagerräume, Forst mit Rehen und Wildschweinen, gute 1100 ha Acker. Bösel, Jahrgang 1984, steht auf einem Weizenfeld, weit hinten fährt der Mähdrescher und zieht eine Staubwolke hinter sich her. Und nun sieht man erst, im Vergleich mit seinen TimberlandSchuhen, die an Ibiza erinnern, wie kurz und dürr die Halme sind und wie mager die Ähren. Die Ernte ergibt kaum mehr als eine Tonne je Hektar. Bösel scheint das etwas unangenehm zu sein. Andere benachbarte Bauern haben drei Tonnen vom Feld geholt; der Weizen kann unter idealen Bedingungen – Wasser, Dünger, Insektengifte – aber zehn oder mehr schaffen. Andere Biobauern ernteten selbst in den Nachbarorten vier, viereinhalb Tonnen Weizen je Hektar – so viel etwa wie konventionelle Großagrarier in der Nachbarschaft. Wo die Böden mehr Lehm enthalten, bleiben sie eben länger feucht. So ein Dürresommer wirft die Verhältnisse durcheinander. Die konventionellen Bauern konnten ihre „Stärken“ nicht ausspielen, denn die Hochleistungszuchten brauchen viel Wasser und viel Dünger, den sie aber ohne Wasser im Boden nicht aufnehmen können. Es ist dann, als dünge man eine Asphaltplatte. Hat er, Bösel, also etwas verkehrt gemacht, weil er auf diesem Feld so wenig ernten wird? War es das übermächtige Wetter? Das Klima? In so trockenen Jahren, sagen die Pflanzenwissenschaftler, lässt sich die Missernte nicht umgehen. Da kann der Bauer tun, was er will. Und je sandiger die Böden, je geringer der Humusanteil, desto schneller trocknen sie aus. Dieser Acker hier ist extrem sandig, hier kann man in solchen Sommern die Landwirtschaft vergessen. Und auf seinen Feldern, wo er aufwendig Untersaaten anbaute, die den Boden schonen und eigentlich im Spätsommer der Schäfer mit seinen Schafen kahl frisst – da kann in diesem Jahr kein Schaf etwas fressen. Nicht ganz Brandenburg ist ein Jammertal der Dürre, ja nicht einmal ganz Alt Madlitz. Bösel erntete selbst hier ordentlich Roggen; der kommt besser mit der Trockenheit klar. Es gibt selbst an diesem kleinen Ort, dieser Miniatur des deutschen Hitzesommers, Flächen, die für die Trockenheit besser gemacht sind. In Senken steht das Grundwasser höher; es blüht sogar noch hier und da eine grünblättrige Luzerne, ein Tiefwurzler. Der klimatisierte ICE fährt quer durch Deutschland in den Westen. Das Land ist braun. Die Wälder aber grün, sie können viele Trockenwochen wegstecken. Wo am Wochenende kleine Regenschauer fielen, keimen auf den Feldern schon die ersten Körner von Raps und Weizen, die nach dem Dreschen auf dem Boden bleiben. Die Natur hat noch Lust aufs Grünen. Am anderen Ende Deutschlands sieht es trotzdem auch dürr aus.
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Abb. 11.2 Was tun angesichts der zunehmenden Dürren? Der Landwirt Benedikt Bösel (links im Bild) im Gespräch. Und in Windersheim, Rheinland-Pfalz, hat ein Landwirt auf Agroforst umgestellt: Die Bäume bringen wirtschaftliche Erträge, weil ein Duftstoffhersteller die grünen Walnüsse kauft. Das Walnussholz war gar nicht im Kalkül. (Foto Jan Grossarth)
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Hellbraune Stoppelfelder, Trockenlandschaften, deren Färbung mal ins Gelbliche geht, Ocker, je nach Sonnenlicht. In Rheinhessen, in Wintersheim südlich von Mainz, lebt und ackert Axel Dettweiler auf mehr als 300 Hektar Land. Normalerweise beneidet er die Bauern in Brandenburg. Denn sie haben viel größere Felder, breitere Straßen für die großen Mähdrescher; Ostdeutschland gilt als Paradies für den modernen Ackerbau. Das Land ist dünn besiedelt, die Menschen haben nichts gegen Pestizide. Im Jahr 2018 aber hat Dettweiler hier in Rheinland-Pfalz den besseren Standort. „Wir hatten hier eine gute Durchschnittsernte“, sagt der Ackerbauer. 6,5–7,5 t Weizen pro Hektar, fünf bis sechs Tonnen Sommergerste, alles in guter Qualität. Auch der Mais sieht hier, anders als in Nord- und Mitteldeutschland, gesund aus und wächst hoch; das ist wichtig, damit Dettweiler sein Maislabyrinth im Spätsommer anlegen kann. Der Daueralarm, der in den Medien schrillt, täuscht ein wenig; nicht allen Bauern geht es schlecht. Rheinhessen ist eine der Regionen in Deutschland, in denen ausreichend Regen fiel – vor allem zwischen März und Anfang Juni, als die Pflanzen hochschossen. Auch in Teilen Baden-Württembergs und in Oberbayern werden noch grüne Weiden gesichtet. Was kann man tun als Bauer in Zeiten der Wetterextreme? Beregnungsanlagen, sagt Dettweiler, sind viel zu teuer. Die können sich nur die Gemüsebauern leisten, von denen es in Dettweilers Nachbarschaft viele gibt. Sie haben nicht so große Flächen und wertvollere Früchte. Die Bewässerung von Getreidefeldern lohnt sich vielleicht in Afrika, wenn man kaufkräftige chinesische Kunden hat, oder in Südeuropa, wenn es noch genug Grundwasser gibt. Aber nein, nicht in Brandenburg, nicht in Wintersheim. Da ist es mal trocken, mal sehr nass im Sommer. Im vergangenen Jahr hingegen war es viel zu feucht. Da wäre die Bewässerung eingerostet. Bösel will in Alt Madlitz einen ganz anderen Weg gehen. Er will die Landwirtschaft neu denken, er will in futuristische Pflanzkonzepte investieren. Er war ja länger Investor als Biobauer. Bevor er Bauer wurde vor zwei Jahren, studierte er Finanzwesen in England, er arbeitete dann in Frankfurt für Banken und einen Baukonzern, er sammelte Geld von Investoren. Jetzt will er auch wieder investieren, in die Böden, in die Nachhaltigkeit. Denn er hat schon einmal erlebt, wie ein stabil geglaubtes System zusammenbricht. Gestern feierte man mit Champagner, dann kippte Lehman Brothers und plötzlich standen seine bewunderten Chefs mit ihren Familien ohne Arbeit da. Das war seine ganz persönliche Finanzkrisenerfahrung. Er hält nun auch die Landwirtschaft für ein instabiles System. Und als Bösel irgendwann in diesem Juni auf seinem Problemfeld stand und sah, wie die ersten trockenen Eicheln vom Baum fielen, weil die Eichen also schon ums Überleben kämpften, und wie auch andere Bäume mit letzter Kraft versuchten, ihre Früchte durchzubringen, dem Tode geweiht, da war es für ihn, als müsse man mitfühlen. Wie eine Wüste wird das hier, dachte Bösel. Und weil die Meteorologen und Klimaforscher sagen, dass diese Extremsommer sich in Zukunft häufen werden, will Bösel besser darauf vorbereitet sein: Bäume pflanzen, die dem Getreide Schatten spenden, Hecken und Beeren, angepasste Arten. Er las amerikanische Bücher über regenerative Landwirtschaft, die die Böden wiederbelebt statt auslaugt,
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er will sich von der Permakultur inspirieren lassen, klug werden wie die Natur oder den Klimawandel mit der Klugheit der Natur überlisten (Bösel, 2023). Pflanzensysteme schweben ihm vor, die so intelligent aufeinander abgestimmt sind, dass sie das Wasser viel länger im Boden halten, den Boden wieder beleben und eine Balance aus nützlichen und schädlichen Insekten hergestellt wird. Und das in großem Stil, für den Markt und mit der Wissenschaft, nicht als Aussteigermodell. Also spricht er nun ständig mit Leuten, die sich auskennen, mit der Rentenbank, mit Ministerien und zum Beispiel mit Agrathaer, einer Ausgründung des nahen Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung in Müncheberg. Und, wie gewohnt, mit Leuten, die Ahnung oder Geld haben. Unter ihnen Hippies, Agronomen, Investoren. Drei Arten Regenwurm gibt es hier in der Mark Brandenburg. Lumbricus terrestris, der wird bis zu drei Jahre alt und zieht sich in einen Meter Tiefe zurück. Er hat derzeit die größten Überlebenschancen. Aporrectodea caliginosa und Aporrectodea rosea haben es nicht so einfach bei Hitze, denn sie wühlen in oberen Schichten. Sie werden auch nur ein Jahr alt. Aber viele Würmer, die den Sommer nicht überlebten, legen die Eier nicht, die Grundlage für die nächste Generation sind. Würmer sind unter Agrarwissenschaftlern wie Monika Joschko, die am Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) arbeitet, ein Indikator für lebendige Böden. Und lebendige Böden sind für die Bauern der Strohhalm, nach dem sie greifen. Je mehr Wurmlöcher, desto mehr Wasser speichert der Boden. Diesbezüglich ist der Biobauer auch nicht unbedingt besser als der konventionelle. Er muss pflügen, wo der andere Glyphosat und Herbizide einsetzt. Der Pflug zerreißt Bodenwurzeln und Würmer und dadurch trocknet der Acker schneller. „Auch wir haben natürlich durch den Pflug einigermaßen das Bodenleben zerstört, auch wenn wir Bio machen“, sagt Biobauer Bösel. Felix Gerlach ist konventioneller Ackerbauer. Er ist ein schüchterner, misstrauischer und hoch akkurater Mann. Nicht der Landbesitzer, aber der Betriebsleiter der Komturei Lietzen mit mehr als 2000 Hektar Ackerland, Wäldern und einem Angelsee. Gerlachs Ernten in diesem Sommer: 21 % weniger Raps als im Zehnjahresmittel, 20 % weniger Weizen, 19 % weniger Roggen, acht Prozent weniger Winterroggen. Der Winterroggen profitierte davon, dass es bis Februar regnete. Gerlach trägt rotes Karohemd, hat einen interessanten Humor und hält nicht viel von Bösels Angst vor Verwüstung. Er setzt auf „gute fachliche Praxis“. Und er tue viel, so lobt ihn Frau Joschko. Er stellt ihr seit mehr als 20 Jahren das Versuchsfeld für die Regenwürmer zur Verfügung und dort pflügt er dann nicht, sondern ackert bodenschonend. Das Ergebnis: ein Vielfaches an Bodenleben. Auch Gerlach ist ja nicht von gestern. Er tut auch etwas, um sich auf die Trockenheit einzurichten. Gerlach setzt nicht auf Getreide-Baum-Symbiosen, sondern auf Sensoren. Er hat seine Felder virtuell in drei Hektar große Parzellen aufgeteilt. Seine Leute nehmen dort Bodenproben und dann weiß man, wie viel Kalk und Dünger jede einzelne Fläche braucht; das spart Ressourcen und Geld. Um den Boden zu schonen, ihn nicht zu verdichten, fährt er mit den schweren Maschinen die immer selben Spuren übers Feld, Jahr für Jahr, zentimetergenau mit GPS. Das werde bald auch in der Maissaat zum Standard, sagt er. Dann muss man auch im Grunde nur die wenigen Zentimeter, in die das Mais-
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korn gesät wird, maschinell „lockern“. Der Rest bleibt unberührt. Je mehr Boden unberührt bleibt, desto ungestörter das Leben darin. Das sind Mikrolebewesen, Milliarden Bakterien in einem Krümel Erde, Pilze, Würmer. Möglichst wenig pflügen, möglichst wenig den Boden aufwühlen, so die Idee. Darauf setzt Gerlach. „Bodenschonende Landwirtschaft“ heißt dieses Modell. Hier verrotten Halme der Vorjahresernte auf dem Feld, auch das schützt den Boden ein wenig gegen Verdunstung. Pfluglose Bodenbearbeitung – dafür braucht man Totalherbizide wie das aus anderen Gründen umstrittene Glyphosat – oder auch nicht. Oberflächliches Grubben, 15 Zentimeter tief, vernichtet das Unkraut, aber lässt das Bodenleben darunter intakt. „Je lebendiger der Boden, desto besser speichert er das Wasser“, sagt die Regenwurmforscherin Joschko. Sie spricht von Wurzelresten, Bodenporen, Regenwurmgängen, die auch Jahre nach dem Tod des Wurms noch von anderen genutzt werden und Wasser speichern. Monika Joschko hat interessante Ergebnisse: Der Humusanteil im Boden stieg durch Gerlachs Bodenschonungsprogramm stark, es gibt viel mehr Regenwürmer dort, wo der Boden heil bleibt. „Der Humus ist wie so ein Puffer, der in Extremsituationen hilfreich sein kann“, sagt Joschko, „das erhöht die Resilienz, also die Selbstheilungskräfte, des Bodens.“ Bodenschonender Ackerbau – das sind Konzepte, wie sie Entwicklungsorganisationen wie die GIZ oder die Vereinten Nationen Afrikas Bauern empfehlen. Für Dürren lernen heißt von Afrika lernen. „Diese ausgeprägte Vorsommertrockenheit, die hat in den letzten 20 Jahren zugenommen“, sagt Dietmar Barkusky, der Leiter der Versuchsanstalt Müncheberg am ZALF. Auch schon die Zwerghirse Teff aus Eritrea ließ er versuchsweise anbauen, aber die wurde viel zu spät reif und die Körner waren zu fein für die groben brandenburgischen Mähdrescher. Besonders trocken war es in Brandenburg schon immer. Kontinentalklima, 523 mm Niederschlag im Jahr stehen im Statistikbuch für die Felder rund um Alt Madlitz. Schon vor 90 Jahren forschten in der Mark Brandenburg Agronomen an trockenresistenten Sorten. Auch Hirse wuchs hier schon. Vor 90 Jahren wurde das Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung gegründet. Hier, in der preußischen Wüste, wollte man besonders widerstandsfähige Sorten züchten, ein Gedanke aus der Welt des deutschen Militarismus. In der DDR war hier ein Zuchtinstitut von großem Ruf angesiedelt, heute ist es das Leibniz-Institut ZALF. Frank Ewert, Pflanzenbauprofessor von der Universität in Bonn, ist sein Direktor. Er kennt die Statistiken über Wetter, Klima und Ernten und resümiert sie in einem Professorensatz: „Es gibt einen geringen Anstieg der Auswirkung der zunehmenden Variabilität des Wetters auf die Variabilität der Erträge.“ Also: mehr Wetterextreme, etwas stärker schwankende Ernten. Ewert rät daher zu weitreichenderen Schritten, als nur auf den Pflug zu verzichten; er sagt, dass die Bauern die Monokultursysteme der hochindustrialisierten Landwirtschaft anpassen sollen. Auf den Boden achten: Tiefwurzler in der Fruchtfolge integrieren, verschiedene Getreidesorten zugleich anbauen, diversifizieren – etwa früh und spät reifenden Weizen und Roggen. Sorten gibt es ja genug. Das Problem sind die Märkte, die nur wenige Anbaufrüchte goutieren. „Die ganze Ausrichtung des Agrarsystems hat zur Verarmung des Fruchtartenspektrums geführt“, sagt
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Ewert. Die Bauern sollten auch mehr Mischfruchtanbau betreiben, um dadurch den Chemikalieneinsatz zu verringern. Der Weg in eine trockenresistente Landwirtschaft ist eigentlich klar: mehr Vielfalt auf den Feldern. Weniger Marktfrüchte, mehr Luzernen, Kleegras, Leguminosen für intensive Durchwurzelung, für einen höheren Humusgehalt. Aber schaffen das die Bauern? Monika Joschko klappt die Mappe mit ihren Wurmstatistiken zu. „Die meisten Bauern hier kämpfen um die Existenz, da ist keine Zeit mehr für Spielchen und auch keine Zeit für Wissenschaft“, sagt sie. „Die Regenwürmer tun mir eigentlich nicht leid, die Bauern tun mir leid.“ Jetzt fordern sie Nothilfen vom Staat. Monika Joschko glaubt nicht daran, dass sich viele Menschen für Bauernschicksale erwärmen können. „Das interessiert keinen Menschen, wenn der Landwirt nur die Hälfte der Ernte erzielt“, sagt sie. Der Biobauer Bösel stimmt ihr zu: „Die Supermärkte sind doch prall gefüllt.“ Die Produktivität von Agroforst
Agroforst wird auch als Landwirtschaft bezeichnet, die drei- statt zweidimensional angelegt ist. Statt nur die Fläche wird zunehmend der Boden als Teil des Produktionssystems betrachtet. Kombinationen von tief wurzelnden Bäumen und dem flach wurzelnden Getreide können die Wasserspeicherung des Bodens erhöhen und somit auch die Getreideerträge steigern. Gemessen wird ein Effizienzgewinn des Agrarsystems mit der Kennzahl der Land-Äquivalenz einer gegebenen Produktion (Land Equivalent Ratio, LER). Eine Rate von 1,4 bedeutet, dass ein separater Anbau etwa der Bäume und des Getreides 1,4-fach so viel Fläche benötigte, wie ein Anbau im Agroforstsystem. Liegen diese über 1,0, so ist das Agroforstsystem hinsichtlich der Produktivität vorteilhaft, was etwa in Feldversuchen in Brandenburg in vielen Fällen gemessen und berechnet wurde (Raintree 1983; Seserman 2018). Durch höheren Arbeits- und Maschineneinsatzaufwand ist die ökonomische Umsetzung jedoch häufig erschwert (Lehmann et al., 2020).
11.4 Der schöpferische Landwirt 11.4.1 Ökobauer Dieser Ort, im Schoß der Natur, macht ein erhabenes Gefühl. Vom Landgut blickt man herab auf Äcker und Weiden und weit hinten erhebt sich der Alpenkamm. Das Erhabene im Blick, das Wachsen und Werden vor der Nase, das Profane vor den Füßen: Schweine, Hühner, das ist Schweisfurths Leben. „Das ist das Sulmtaler Huhn, früher nannte man es Kardinalshuhn, eine uralte Rasse“, erzählt der Gutsbesitzer Karl Ludwig Schweisfurth. Sein Landgut Herrmannsdorf ist die Welt, die er schuf und sorgsam beobachtet
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Schweisfurth (2002). Mit Trachtenjacke und buntem Schal und Filzhut spaziert er, 84 Jahre alt, an diesem Tag im Jahr 2014 über das Gehöft. Um seinen Hals hängt eine Goldkette mit Stierfiguren, am Hut pendelt ein Minischinken aus Holz, der alte Mann sieht aus wie ein guter Hirte und auch ein bisschen so, wie man sich einen Künstler vorstellt. Schweisfurth begrüßt mit tiefem Blick aus hellblauen Augen: „Ich zeige Ihnen hier, wie wir Lebensmittel produzieren – Lebens-Mittel, die Betonung liegt auf Leben.“ Herrmannsdorf ist eine Gegenwelt zu den Fleischfabriken. Der gute Hirte exerziert auf seinem Landgut bei München seit 30 Jahren Landwirtschaft wie aus dem Bilderbuch. Die Lebensmittelmanufaktur Herrmannsdörfer, die Brot, Bier, Milch und Fleisch direkt am Hof und in München verkauft, hat er an die Kinder übergeben. Der Vater beobachtet, denkt und schreibt. Oberhalb des Landgutes lässt er Schweine, Hühner und Esel friedlich miteinander leben. Das Schwein weidet, es frisst nichts als Gras und wühlt Wurzeln aus dem Boden, es schützt die Hühner vor Greifvögeln, das Huhn dankt es ihm, indem es parasitäres Kleingetier vom Schwein pickt, und der Esel frisst die Disteln – dies alles geschieht antibiotikafrei, pestizidfrei, sojafrei, rundum frei. „Symbiotische Landwirtschaft“ nennt Schweisfurth sein Werk. Die Schweine wühlen den Boden auf, man braucht keinen Traktor, keinen Diesel. Alles Natur. Wenn kein Grashalm mehr steht, geht die Tierfamilie auf die nächste Weide. So schön. So teuer. Der Weideschwein-Schinken kostet viel mehr als der teure Bioschinken. Mit seinem Werk kann Schweisfurth gut leben. „Ich will hier das Maximum vorleben, was in der Landwirtschaft geht, ich will ein Leuchtturm sein“, sagt er. Aber er könnte nicht so leben, wenn nicht sein vorheriges Leben gewesen wäre. Damals ließ er Millionen Schweine in Massentierhaltung halten. Er ließ die Tiere auf Fließbändern im Akkord schlachten und verkaufte die Wurst in Vakuumfolien. Er machte die Wurstfabrik Herta vom Familienbetrieb zum Industriekonzern. Den verkaufte er später für viele Millionen Euro an Nestlé. Ohne diese Millionen könnte er jetzt nicht in Herrmannsdorf leben und sich an den freien Schweinen freuen. Der alte Mann weiß es, er nennt das Entwicklung. Die meisten Schweine leben nicht auf der Weide, sonst bräuchte Schweisfurth viel mehr Platz, um die Nachfrage in München zu bedienen. Sie leben im Stall und können draußen auf Stroh liegen, normale Biohaltung. Viele kommen von Höfen aus dem Umland. Ihr Fleisch ist teurer als anderes Ökofleisch, weil auch das letzte Stündlein hier besonders ist. Persönlich, handwerklich. Dreißig Schlachtungen in der Woche. Der Metzger führt die Tiere einzeln, sodass sie ganz ruhig sind, in einen kleinen Schlachtraum und betäubt sie, wenn sie nichts ahnen, mit einem Bolzenschuss. Alles nach handwerklicher Tradition: Der Körper wird nicht wie üblich am Fließband von ungelernten Arbeitern zerkleinert, die immer nur jeder einen Schnitt machen, sondern von echten Metzgern liebevoll zerteilt. Wenn das Fleisch noch körperwarm ist. „Ich bin immer noch tief berührt, wenn ich ein Tier töte“, wird der Metzgermeister Jürgen in einem Prospekt von Herrmannsdorfer zitiert, „meine Ruhe und Achtsamkeit
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überträgt sich auf das Tier.“ Es folgt eine Fotodokumentation der Schlachtung mit martialischen Titeln: • • • • • • • •
Selbst Hand anlegen, sich die Hände blutig machen. Sich einlassen auf das getötete Tier. Den Genuss des Fleisches sich redlich erarbeiten. Klaffend wie eine Wunde ist der ausgeweidete Körper. Das Herz – nun in Menschenhand. Schlachten ist Hand-Werk im besten Sinn des Wortes. Staunen vor dem Großen. Das Werk ist getan. Zufriedenheit kehrt ein.
Das Schlachten erhält an diesem Ort einen besonderen Sinn. Das fällt an vielen Stellen auf. Überall auf dem weitläufigen Hof hängen Schilder mit Aphorismen, die das Signet von Karl Ludwig Schweisfurth tragen: ein schlangenähnlich geschwungenes KLS. Etwa: „Landwirtschaft und Lebens-Mittelerzeugung sind zuallererst und ihrem Wesen nach kulturelle Veranstaltungen, die dem Leben dienen.“ Die Schilder lassen die Tiere sprechen: „Guten Tag. Wir sind die Muttersauen in Herrmannsdorf. Wir gehören zu der inzwischen wieder berühmt gewordenen Schwäbisch-Hällischen Rasse. Die Nazis haben uns fast ausgerottet. Vielleicht, weil unsere Ur-Ur-Ur-Ur-Großväter aus China kamen.“ Vater Schweisfurths Weg: vom Fleischindustriellen zum Bewahrer des Handwerks, vom Agrarindustriellen zum Ökobauern. Sein Lebenslauf liest sich wie der eines Konvertiten. So auch in seiner bald erscheinenden Autobiographie, die ein befreundeter Journalist schrieb. Sie heißt: „Der Metzger, der kein Fleisch mehr isst …“. Der „Metzger, der kein Fleisch mehr isst“, ist ein herzlicher Gastgeber. Beim Rundgang durch die Schlachträume und die Gewölbekeller, in denen Schinken reifen, bietet er zum Probieren an, was der Wurstkessel hergibt: Mett von der Tagesschlachtung („Sagen Sie ehrlich: Hat Sie der Gedanke gestört, dass dieses Tier vor zwei Stunden noch gelebt hat?“), Weißwurst, Steak vom Weideschwein, frische Bratwurst. Er isst immer gern mit. Denn: Er ist ein Metzger, der kein Fleisch mehr isst …, wenn er nicht weiß, wo es herkommt. Hier hat er sich eine natürliche Kunstwelt geschaffen. Mehr Öko geht nicht. Jeder weiß, dass damit die Erdbevölkerung nicht annähernd ernährt werden könnte, auch wenn sie weniger Fleisch äße. Schweisfurth weiß es auch. Er wird nachdenklich, wenn dieses Dilemma zur Sprache kommt. „Ich habe, ehrlich gesagt, darauf keine Antwort.“ Im Schlachthaus hängen allerhand Kunstwerke, die Schweine, angedeutete Schweine, Jagdszenen und dergleichen zeigen. Überall auf dem Landgut zwischen dem aus Holz gebauten Restaurant, der Brauerei, dem Hofladen mit Münchner BMW davor, selbst im Schweinegehege steht Kunst: alte chinesische Schweineskulpturen, ein Bulle aus Bronze, eine sauteure Skulptur von Markus Lüpertz. Auch das Fleisch wird wie Kunst präsentiert: Im Restaurant liegen die Schweineteile in einer Glasvitrine und erstrahlen rot
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bis bräunlich in hellem Licht. Der Wind geht leicht, Schweisfurth zeigt die Skulpturen. „Kunst geht in die Natur und mitten hinein ins Leben“, sagt er. Schweisfurth sieht das Schlachten als Kunsthandwerk und die Landschaften, die er hier geschaffen hat, sehen aus wie Gemälde. Er meint, sein Leben habe mehr Kontinuität, als man auf den ersten Blick meinen kann: „Ich war immer Metzger, ich bin Handwerker und Unternehmer, und das war immer so.“ Unternehmer wurde er mit Mitte 20. Seine erste Wende in den 1950er-Jahren: Karl Ludwig Schweisfurth, der halbherzig BWL studiert und mit ganzem Herzen eine Metzgerlehre macht, reist mit anderen Sprösslingen deutscher Wurstmanufakturen nach Chicago. Der Vater schickte ihn da hin, ein Nazi-Mitläufer, der von der Kriegswichtigkeit seiner Wurstfabrik profitierte und viele Zwangsarbeiter beschäftigte, die angeblich gut behandelt wurden. In Amerika sehen die Söhne Schlachthöfe mit zigtausend Tieren und Fließbandarbeit wie in der Autoindustrie. Karl Ludwig ist von dem Gedanken beseelt, diese technische Segnung nach Deutschland zu bringen. Als er seinem Vater davon erzählt, erlaubt der das und übergibt dem Sohn die Verantwortung. Er lässt Fließbänder und Kühlhallen bauen. Dann kam die Vakuumfolie. Jetzt konnte er frisches Fleisch haltbar machen, weit verschicken und im Supermarkt verkaufen, nicht mehr nur beim Metzger. Damit begann das Sterben des Metzgerhandwerks und der Siegeszug der Fleischindustrie. Die Fleischer hassten Schweisfurth dafür. Als er „Herta“ anderen überließ, war es der größte Schlacht- und Wurstkonzern Europas, Jahresumsatz 1,5 Mrd. Mark. Wie viel Geld er bekam, verrät er nicht. Der zweite Wandel hatte einige Jahre zuvor begonnen: als die ökologische Bewegung den Zeitgeist immer mehr prägte, in den frühen 1980ern. Schweisfurth, Anfang 50, war damals kein Demonstrant gegen Atomkraft und Waldsterben. Er war einfach ein hart arbeitender Wurstfabrikant, der wichtigste Mann in Herten mit mehr als 5000 Mitarbeitern. Für die spickte er die Herta-Hallen mit wertvoller Kunst – Jagdszenen, Schlachtszenen, Schweinemotive. Der Mensch sollte sich als Mensch fühlen, wertgeschätzt. Aber zunehmend haderte Karl Ludwig Schweisfurth mit zwei Dingen: Herta musste sich spezialisieren, um nicht von der Konkurrenz überrannt zu werden. Weniger Wurstsorten, weniger Metzgermeister, mehr Hilfsarbeiter. Kosten senken. Produktion erhöhen. Da wollte er raus. Der freie Markt engte ihn ein. Zweitens taten ihm die Tiere leid. Seine Tochter war arg in ein Pferdchen verliebt, sie fuhren an jedem freien Tag raus aufs Land. Und dann taten ihm auch die Bauern leid. Besser gesagt, er ekelte sich vor ihnen. An einem Tag reiste er nach Osnabrück und besuchte einen Schweinebauern, der Ferkel für „Herta“ mästete. Dieser habe nach Schnaps gestunken, die Landschaft nach Gülle, der See in der Nähe sei gekippt gewesen, voller Algen. „Wenn ich daran denke, wird mir heute noch schlecht.“ Dann dauerte es trotzdem noch mal einige Jahre, ehe er Herta – nachdem auch die erste Ehe hinüber war und er sich beim Fasten in Marbella fragte, wie sein Leben weitergehen möge – verkaufte. Heute ist seine Kernbotschaft: Unser Fleischkonsum zerstört die Welt. „Gemeinsam mit den Tieren fressen wir die Erde kahl.“ Deshalb: Wir essen Schweine, die fressen Soja, das Soja frisst den Regenwald, der Regenwald das Klima.
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Also soll man das Fleisch essen, das aus heimischer Ökolandwirtschaft kommt. Am besten vom Weideschwein. So, wie er es macht. Denn unser Essen zerstöre auch uns. Man isst, was man ist, und einige sind ein bisschen mehr. Er sagt: „Wichtiger als der äußere schöne Schein und der niedrige Preis ist der innere Wert unserer Lebens-Mittel.“ Die Industrie kenne nur Effizienz und Hygiene. Seine frühere Welt ist ihm völlig fremd geworden. Seit seiner Ökowende 1984 hat Karl Ludwig Schweisfurth keinen konventionellen Tierstall mehr von innen gesehen und nur ein Mal eine Fleischfabrik. Die Schlachthöfe der neuen Dimension wie von Tönnies, wo am Tag 25.000 Schweine getötet werden, kennt er nur vom Hörensagen. Böse Menschen seien solche Unternehmer nicht, aber sie müssten umkehren, wenn sie bemerkten, dass sie Falsches tun. Sein Vater, der Mitläufer, habe das nicht tun können, sagt er, denn er habe Todesangst vor den Nazis gehabt. Heute sei man so frei und könne umkehren. Nun genießt er den Fernblick. „Früher lebte ich in Herten, einer Bergbaustadt. Jetzt darf ich hier leben“, sagt er mit Blick auf Hühner und Alpen, „können Sie sich vorstellen, wie dankbar ich dafür bin?“ Die Konstante seines Lebens aus seiner Sicht: das Handwerk. Schlachten. „Ich bin in meinem Metier geblieben, ich bin passionierter Metzger, aber habe das transformiert in eine neue Zeit. Ich will auch nicht die alte Landwirtschaft wieder. Ich mache keine ÖkoRomantik. Das hier ist machbar.“ „Ich bin in meinem Metier geblieben, ich bin passionierter Metzger, aber habe das transformiert in eine neue Zeit. Ich will auch nicht die alte Landwirtschaft wieder. Ich mache keine Öko-Romantik. Das hier ist machbar“ (Karl Ludwig Schweisfurth, 1930–2020).
Auch gegen Technik habe er nichts, sagt er. Sie sei gut bis zu dem Punkt, an dem der Mensch nicht mehr begreife, was sie mit dem Leben mache. Der Gewölbekeller ist eine Schatzkammer voller Schinken, Schimmel, Rauchduft. In zwei Kellern hängen Schinken im Wert von einer halben Million Euro. „Der ist unsere Bank“, sagt der Metzgermeister. Schweisfurth zeigt die Schinken mit Leidenschaft. Obwohl er sich als handwerklicher Pragmatiker gibt, hat er seit seiner Wende auch einen Hang zum Schreiben. Eine Menge an Büchern und Prospekten sind in den Jahren zusammengekommen – über symbiotische Landwirtschaft, Kreislaufwirtschaft, den Leuchtturm Herrmannsdorf. Für einen Intellektuellen hält er sich aber nicht und das würde er auch nie werden wollen. Er schreibt mit fühlendem Herzen. Verstand nennt er das und für ihn ist Intelligenz ein Gegenbegriff, etwas Kritisches: „Die Intelligenz hat die Bodenhaftung verloren.“ Schweisfurth schreibt mit Bodenhaftung: „Über-Lebens-Mittel“; „Essen ist unser Schicksal“; „Über Natur und Recht“. Fünfzig Millionen Euro gab er der Schweisfurth Stiftung, die Bücher und Forschung über den Ökolandbau und die Agrarwende fördert. Karl Ludwig Schweisfurth ist der Souverän seines Verstandes, er lässt sich in keine Schublade pressen. Linker? Nein, Vollblutunternehmer. Konservativ? Nur, was die Natur angeht. Protestant? Gewesen. Buddhist? Nein, aber viel von ihnen gelernt. Esoteriker?
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Nein, Handwerker. Anthroposoph? Schon nahe dran, aber er konnte, ehrlich gesagt, Steiners Schriften nie verstehen. Konvertit? Nein, nein. Auch Vegetarier ist er nie geworden: „Die sagen, Schweine sind so niedlich, das sind meine Brüder und Schwestern. Nein, bei allem Respekt: Das sind Schweine, und ich will nicht mit Schweinen auf eine Stufe gestellt werden.“ Nun beobachtet er Schweine und Hühner vom Hochstuhl aus und reflektiert die indianische Weisheit vom weißen Mann, der die Erde kahl frisst und am Ende nur noch ungenießbares Geld hat. Dass er sich im Gespräch und in den Büchern manchmal widerspricht, scheint ihn nicht zu stören. Mal sagt er: „Ich will hier ein Beispiel geben und die Messlatte hoch hängen, ich will das Beste machen, was möglich ist.“ Dann formuliert er durchaus einen Absolutheitsanspruch seiner Agrarwelt: „Im Grunde können Sie derzeit Fleisch nur von ,Herrmannsdorfer' kaufen.“ Das letzte Familienfoto zeigt 18 Personen, Kinder, Enkel, und ein Urenkel ist unterwegs. Schweisfurth zeigt es stolz und sagt mit väterlicher Liebe: „Keines ist dem anderen gleich, jedes ist eine individuelle Persönlichkeit, so wie bei den Schweinen auch, davon bin ich überzeugt, und auch jeder Schinken ist eine individuelle Persönlichkeit, denn jeder schmeckt anders.“ Karl Ludwig Schweisfurth starb sechs Jahre nach unserer Begegnung (Grossarth 2014), im Jahr 2020. Die Herrmannsdorfer Landwerkstätten wurden von seinen Kindern fortgeführt.
11.4.2 Maschinenbauer Michael Horsch gründete 1984 mit seinem Bruder Walter das Unternehmen Horsch Maschinen GmbH. Er begann als Bastler und hat kein Studium. Heute ist Horsch ein weltweit führender Hersteller von Landmaschinen mit dem Hauptsitz im bayerischen Schwandorf. Mehr als 1600 Mitarbeiter erwirtschaften Anfang der 2020er-Jahre knapp eine halbe Milliarde Euro Umsatz jährlich. Das Gespräch fand 2021 statt. Herr Horsch, müssen die Ackerschläge wieder kleiner werden? Wir kommen nicht zurück zum Pferd, nicht zurück zur Harke und Spaten. Wir sind schon ein Gegner der Natur, nur weil wir da sind. Wir müssen aber wieder mehr Kompromisse mit der Natur machen und nicht so einseitig arbeiten, wie wir es in den letzten Jahrzehnten gemacht haben. Ich würde nicht sagen, wir müssen Ackerschläge wieder verkleinern. Aber Sinn macht es durchaus, die Vielfalt im Acker zu erhöhen. Wie geht das? Die Landwirte sind oft weiter als die Wissenschaft. Ich komme weltweit viel herum. Seit einigen Jahren gibt es erfolgreiche Experimente, nach den Monokulturen auch Zwischenkulturen anzubauen mit so hoher Biodiversität, dass sich das Bodenleben regeneriert – dass sich die Bakterien wieder erhöhen, Enzyme gebildet werden und so weiter. Und sie binden Kohlenstoff aus der Luft, sodass der Bedarf an Dünger aus dem Sack nicht so groß ist. Und wissen Sie, wo man daran am weitesten ist?
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Nein. In Brasilien. Ach, ausgerechnet? Ja, genau die sind am weitesten! Wo wir Deutschen und Sie Journalisten immer ganz genau wissen, dass dort alles schlecht ist, dass dort der Regenwald abgeschlagen wird. Aber gerade dort sind uns die Ackerbauern in der angewandten Mikrobiologie am weitesten voraus. Warum? Weil die sich schon am längsten damit befassen. Ich kann die Veränderungen ja bezeugen. Dort treiben unternehmerische Landwirte den ökologischen Wandel voran! Da gibt es Betriebe, die fast komplett auf biologische Fungizide und Herbizide umgestellt haben. Da träumen Sie nur davon als deutscher Journalist, der die Welt verändern will. Also, ich bin auch viel durch die Welt gereist, um Landwirtschaft zu beobachten. Mag sein, aber Sie müssen immer wiederkommen an die Orte, um Veränderung zu sehen! Es gibt keine dummen Menschen, auch nicht in Brasilien. Dumm sind höchstens wir in unserem kleinen Deutschland, wenn wir in die Welt hinaussehen und meinen, wir können uns alles anlesen. Weil wir arrogant sind, weil wir meinen, wir wissen alles besser. „Dumm sind höchstens wir in unserem kleinen Deutschland, wenn wir in die Welt hinaussehen und meinen, wir können uns alles anlesen. Weil wir arrogant sind, weil wir meinen, wir wissen alles besser“ (Michael Hosch).
Also, Sie glauben an die Klugheit des freien, reisenden Unternehmertums. Ja. Wir haben eine ganze Reihe unserer Kinder, die rein wollen in unser Unternehmen. Wir haben ihnen gesagt: Glaubt nicht, dass ihr erfolgreich seid, wenn ihr unseren Weg der Vergangenheit fortsetzt. Dann haben wir lange überlegt, wie wir den Nutzen unseres Unternehmens sehen. Und wir sind auf diesen einen Satz gekommen: Wir wollen den Menschen dienen, durch die Ernährung gesünder zu werden. Werden sich dafür die Landmaschinen verändern? Wir sind ja einer der größten Pflanzenschutz-Spritzenhersteller in Europa. Die Dinger, um Gift auszubringen … … die braucht man dann nicht mehr! Nein! Wissen Sie, was die sein werden? Eines der wichtigsten Werkzeuge. Und zwar nicht mehr um Chemie auszubringen, sondern um Bakterien- und Pilzkulturen auf den
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Pflanzenbestand auszubringen, wenn das nicht schnell genug vom Boden nachgeliefert wird. Werden die Maschinen kleiner? Etwas. Vor allem aber werden sie voll autonom. Traktoren und Kabinen werden deutlich weniger. Und wozu braucht man noch Landwirte? Die Maschinen und Computer sind Hilfsmittel. Wir werden den Landwirt, der nicht nur das Wissen hat, sondern das Gefühl hat für Boden und Tiere, nie ersetzen können. Warum? Sie haben es mit Natur zu tun. Und die Natur hat so viele Facetten, die du nicht mit einem Sensor oder einer Kamera in jeder Sekunde erfassen kannst und daraufhin Entscheidungen treffen, die besser sind als das, was der Mensch entscheidet. Der Mensch sitzt nicht mehr auf der Maschine, aber er läuft noch hinterher. Und da sieht er den Boden besser als zuvor. Landwirtschaft wird nicht durch Konzerne ersetzt? Da habe ich überhaupt keine Sorgen. Ein Konzern kann einen Hühnerstall bauen. Aber er blickt nicht mit dem Auge des Herrn. Sie sind nicht Akademiker. Sind Sie erfolgreicher, weil Ihre Intuition intakt ist? Ja, beziehungsweise weil ich Passion habe, weil ich interessiert bleibe. Deswegen habe ich bezüglich der Natur und Gesundheit viel mehr dazugelernt als in der Technik. Weil sie ungewöhnlicher Weise völlig unarrogant sind? Meinen Sie? Ja. Arroganz ist eine Falltür für echtes Interesse. So ist es. Arroganz bedeutet, etwas Größeres sein zu wollen, als man ist, und dann ist man woanders.
11.5 Hausbau beim sambischen Kleinbauherrn Felix Kangwa will sein Haus verkaufen. Das Haus steht in Nkolemfumu. Das ist eine halbe Stunde von Kasama entfernt, wohin Kangwa liebend gern umziehen möchte. Denn in Kasama, dem Hauptort der Nordprovinz von Sambia, gibt es viele Kirchen und Bars und einen großen Markt, 200.000 Menschen, einen modernen Shoprite-Supermarkt. Da will man leben.
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Das Dorf Nkolemfumu hat zwar auch viele Kirchen, aber nur zwei Bars, vielleicht 300 Seelen, einen winzigen Gemüsemarkt, keinen Shoprite. Die Urbanisierung ist im Gange, auch in Sambia. Wer es sich leisten kann, zieht in die Städte. Die vielen Tausend Tagelöhner aus dem Provinzfürstentum Nkolemfumu – dem Großraum um das Dorf – schaffen das nicht. Sie haben kein Geld, jedenfalls nicht über den Tag hinaus, und wenn sie einen Lohn erhalten, dann ist er sofort in Maisbrei, frischem Zuckerrohr und schlimmstenfalls Bier angelegt. In der Stadt lebt man in Beton oder Ziegel, als Kleinbauer in Lehm. Die Stadt ist unerschwinglich. Es sind nur herausragend erfolgreiche Kleinbauern wie Felix Kangwa, denen ein Umzug in die Stadt gelingen kann. Er ist der beste Bauer im Ort: trinkt nicht, spart, wirtschaftet klug und lässt sich dabei beraten. Jetzt also will Kangwa wegziehen. „Nkolemfumu ist langweilig und es ist für die Entwicklung von Kindern besser, wenn sie in der Stadt groß werden“, sagt der siebenfache Vater. Wäre nur der Hauspreisboom nicht. Die Preise steigen. Ein großes Haus mit vier Schlafzimmern, Grundwasserpumpe, Swimmingpool kostet etwa 3 bis 45 Mio. sambische Kwacha. Das sind umgerechnet 290.000 €. Eine solche Villa nahe der belebten Leopard’s Hill Road ist aber nicht das, wovon Kangwa träumen darf. Kangwa würde sich sein Haus natürlich selbst bauen. Kleiner und ohne Pool. 50 m2 und drei Zimmer wären prima. Eben so, wie er jetzt wohnt in Nkolemfumu. Dort ist er einer der Wohlhabendsten: ein Steinhaus, elektrischer Strom, Besitz von rund 6 ha Land. Sein Haus in Nkolemfumu muss er aber erst mal verkaufen, sonst wird nichts aus dem Traum vom Umzug. Dafür hätte er gern 55.000 bis 65.000 Kwacha, umgerechnet rund 5500 €. Noch aber ist kein Käufer gefunden. Wer hat schon so viel Geld in Nkolemfumu, wo ein Tagelöhner 2 € verdient und es nicht einmal einen Bauern gäbe, der sich einen Ochsenpflug für 600 € leisten könnte? Auf dem Land in Sambia, einer der ärmsten Regionen der Erde, gibt es also alles andere als einen Immobilienboom. Der Wirtschaftsaufschwung findet in den Städten statt, eigentlich vor allem in Lusaka, der Hauptstadt, und im touristisch frequentierten Livingstone. Die Kluft zum Land wird immer größer – materiell und kulturell. Kangwa spürt das und er will den Sprung in die Stadt noch machen mit seinen 56 Jahren – seinen Kindern zuliebe, sich selbst zum Vergnügen. Ausgerechnet hat er alles bis auf den letzten Kwacha. Ein Grundstück in einer Randlage von Kasama wäre, ohne Bohrloch, für 30.000 bis 50.000 Kwacha zu haben. Er bräuchte dafür 4000 Bausteine. Einer kostet 1 Kwacha, das weiß man hier. Überwiegend türkische Bausteinhändler verkaufen sie an jeder Hauptstraße. Also noch mal 4000 Kwacha. Dazu 200 Kwacha für den Sand. 40 Säcke Zement, je 75 Kwacha, also 3000 Kwacha. Für die Dachrinne 15 Kwacha pro Rohrstück, also vielleicht 1500 Kwacha in Summe. Für das Dach 40 Stücke Blech à 75 Kwacha, also noch mal 3000 Kwacha. Für seine bisherigen Häuser, die Kangwa alle eigenhändig gebaut hatte, nahm er für den Dachbalken stets Holz aus dem Wald. „Die Wälder in Kasama sind aber am Ende“, sagt er. Also müsste er nun auch fünf 4 m lange Dachstangen kaufen, sie werden aus Ndola geliefert und kosten zusammen 1000 Kwacha.
11.5 Hausbau beim sambischen Klein-Bauherrn
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Nur wenn er einen Käufer für sein altes Haus fände, könnte er sich ein neues selbst bauen. Denn sonst ist bei Kangwa nicht viel zu holen. Auch seine Ackerflächen braucht Kangwa für den Lebensunterhalt. Er würde als Bauer weiter arbeiten, dazu ist er bis zum Tod verdammt. „Ich brauche die Felder auch als Sicherheit für meine Kinder“, sagt er, „auch wenn sie Schulabschlüsse haben und studieren. Es gibt in der Stadt viele Arbeitslose, auch ausgebildete Leute, und wenn es auch ihnen so ergehen würde, könnten meine Kinder wenigstens wieder Farmer werden.“ Seine 25 Hühner sind kürzlich gestorben, es lag an der Krankheit Newcastle, dieser Massentod kostete ihn 1250 Kwacha. In Afrika auf dem Dorf legt man sein Geld in Hühner an, so ist es eben, und in Häuser. Sein Konto bei der Zamaco Bank nutzt Kangwa fast nicht. Es gibt ja meist etwas dringlich zu kaufen: Bügeleisen, Hemden, Hühner. In Sambia muss eine „urbane Mine“ erst entstehen, ehe Kangwas Kindeskinder sie eines Tages als Baustofflager nutzen können (Abb. 11.3).
Abb. 11.3 Steinhäuser – ein Privileg für wenige in Nkolemfumu, Sambia. Lehm hingegen, in Europa ein teurer Ökobaustoff, ist hier das Baumaterial der armen Mehrheit. (Foto Jan Grossarth)
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11 Feldbeobachungen: Ausflüge in Bioökonomien
Literatur Bösel, B. (2023). Rebellen der Erde, Wie wir den Boden retten – und damit uns selbst! Scorpio. Grossarth, J. (2019). Future Food – Die Zukunft der Welternährung. wbg Theiss. Hansen, M. H., et al. (2018). Ecological civilization: Interpreting the Chinese past, projecting the global future. Global Environmental Change, 53, 195–203. Lehmann, L. M., et al. (2020). Productivity and economic evaluation of agroforestry systems for sustainable production of food and non-food products. Sustainability, 12, 13. Raintree, J. B. (1981). Bioeconomic considerations in the design of agroforestry cropping systems. In A Consultative Meeting on Plant Research and Agroforestry, Nairobi (Kenya), 8–15 Apr 1981. Schweisfurth, K. L. et al. (2002). Toward sustainable agriculture and food production: A vision for the future viability of food production, processing, and marketing, o. O. Seserman, D.-M. (2018). Benefits of agroforestry systems for land equivalent ratio-case studies in Brandenburg and Lower Saxony, Germany. In European Agroforestry Conference-Agroforestry as Sustainable Land Use, 4th. EURAF. Die ursprünglichen Ersterscheinungsorte und Titel der Reportagen waren wiefolgt; die Texte wurden für dieses Buch aktualisiert und ergänzt: Grossarth, J. (2014). Der alte Metzger leuchtet. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14, S. 2. Grossarth, J. (2018a). Retter der Wüste. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 285, S. 18. Grossarth, J. (2018b). Trockengebiete. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 173, S. 3. Grossarth, J. (2018c). Von Menschen und Hauspreisen in Nkolemfumu. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 103, S. 11. Grossarth, J. (2021a). Brasiliens Ackerbauern sind uns am weitesten voraus. Die Welt, 29.1.2021, S. 10. Grossarth, J. (2021b). Chinas grüner Anstrich. Die Welt, 13.2.2021, S. 12.
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Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft als technischer und kultureller Wandel im Bauwesen: Eine Zusammenfassung in zwölf Punkten
Die zirkuläre Bioökonomie lässt sich für das Bauwesen so definieren: Die zirkuläre Bioökonomie im Bauwesen bedeutet im Kern eine konsequente Ausrichtung der Planung und Realisierung auf die Stoffschicksale der verwendeten Materialien. Dies umfasst eine Primärressourcen schonende Rohstoffgewinnung, den möglichst langen Bauwerkserhalt und eine qualitativ hochwertige Weiterverwendung der Baustoffe und Bauteile. Ressourcenschonung ist das zentrale Anliegen. Nachwachsende Baustoffe und deren kaskadierende Nutzung spielen im Zuge der Klimafolgenbilanzierung und technisch begründeter zunehmender Einsatzmöglichkeiten eine wachsende Rolle. Biologische Kreisläufe können eine Inspiration für die schonende Ressourcenführung sein.
Während diese Definition auf der Sachebene liegt (Kap. 1), lässt sich bezüglich der Semantik ergänzen: Die Metaphorik der Bioökonomie ist diskursiv originell. „Bios“ als das Leben weitet den Blick etwa auf Qualitäten langlebiger Architektur und den Zusammenhang von Lebensqualität und Baukultur. „Oikos“ als der Haushalt „erdet“ ambitionierte Nachhaltigkeitskonzepte des Bauens auf den Boden des Umsetzbaren angesichts von finanziellen, energetischen und materiellen Knappheiten.
Die Bioökonomie als Metapher zu „lesen“ erlaubt es, interessante Lebens-Semantiken mit Branchenlogiken und technischen Lösungsansätzen zu verbinden. So verstanden macht dieser Ansatz das Bauen auch wieder stärker zu einem öffentlichen Anliegen. Für eine intelligentere, schonende Nutzung von Baustoffen gibt es viele praktische Vorbilder und innovative Ansätze. Dieses Buch gibt einen breiten Überblick. Der Einsatzraum biogener Materialien weitet sich durch bedeutende prozesstechnische und
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2024 J. Grossarth, Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40198-6_12
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materialwissenschaftliche Innovationen. Sie sind ein Kern der zirkulären Bioökonomie im Bauwesen. Als Lehnwissenschaft kann sie den vielen Akteuren aus der Praxis des Bauwesens Vorbilder sammeln. Als Leitmetapher kann die Bioökonomie Orientierung geben, damit deren Planungs-, Bau-, Innovations- und Investitionstätigkeiten konsequent am Ziel der Ressourcenschonung ausgerichtet werden. Das bewirkte Emissionsminderungen. Traditionsreiche Ideen und metaphorische Konzepte wie „von der Wiege bis zur Wiege“ (Cradle to Cradle) geben Korridore vor. An der Lehnwissenschaft der zirkulären Bau-Bioökonomie lehnt vieles mehr, was „Inspiration“ für institutionellen Wandel sein kann: historisch Dagewesenes, unternehmerische Fallbeispiele, biotechnologische Technikutopien und die Natur selbst als Vorbild für Technikinnovationen und Stoffstromführung. Ethische Abwägungsfragen der Flächennutzung oder Biotechnologieeinsätze schließen sich daran an. Die Rede von der zirkulären Bau-Bioökonomie lässt sich auch als eine Friedensbrücke im Politischen begreifen. Als solche ermöglicht sie neuartige Gesprächskonstellationen und Kooperationen – etwa von Akteuren im Bauwesen untereinander am Ziel der Kohlenstoffneutralität. Und sie regt an, Förder- und Forschungspolitik am Ziel der Ressourcenschonung auszurichten, wo sie es nicht schon ist. Blickt man auf dieses Ziel der Ressourcenschonung und die Bedingungen ihrer Verwirklichung beziehungsweise Institutionalisierungen – juristisch, ökonomisch, technologisch, soziologisch –, so blickt man auf die Sachebene. Blickt man auf die motivationalen und kulturellen Bedingungen der Ressourcenschonung – psychologisch, ethnographisch –, so blickt man auf die Bedeutungsebene. Sie ist wichtig für ein Verständnis von Akzeptanz, Motivation, überhaupt für die anthropologischen Gründe des Vorhabens und somit die Praxisrelevanz. Wesentliche Handlungs- und Analysefelder der zirkulären Bioökonomie im Bauwesen sind im Folgenden in zwölf Punkten zusammengefasst.
12.1 Institutionen Das Bauwesen ist in hohem Maß durch Normen, durch funktionale und – in Deutschland – vor allem die Produktbeschaffenheit betreffende Standards geprägt. Auch ist es durch vielgliedrige Wertschöpfungsketten und kompetitive Märkte gekennzeichnet. Das führt zu hohem Preis- und Kostendruck auf vielen Ebenen (Kap. 2). Konservatismus ist zu beobachten. Ein Gesprächspartner der Interviews aus diesem Band sprach von einer „Einzementiertheit“ der Bauindustrie in Normenwerken (Kap. 9). Die institutionellen Rigiditäten sind aber zunehmend mit einem institutionellen Wandel konfrontiert: Änderungen der staatlichen Anforderungen in der Genehmigungen von Ersatzbaustoffen (Ersatzbaustoffverordnung), in der Ausschreibungspraxis zugunsten sekundärer Baustoffe, neue Rücknahmepflichten oder neue Normen, die Zirkularität von Bauprodukten regeln (etwa Demontierbarkeitsklassen). Doch der prinzipielle Wunsch zum Wandel ist oft mit Kos-
12.3 Technische „Game Changer“
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ten- oder Anwendungsvorbehalten konfrontiert. Der europäische Green Deal verheißt ab den 2020er-Jahren mit den Klimaschutzgesetzen einen epochalen institutionellen Wandel des Wirtschaftssystems (Abschn. 2.1). Aber die Akzeptanz in der Bevölkerung und somit die Bedingungen der Realisierung schienen angesichts hoher Baukosten und allgemein unsicherer geopolitischen Lage auch Mitte der 2020er Jahre noch unklar. Die staatliche Rahmensetzung für eine zirkuläre Bioökonomie war auf europäischer Ebene vorbereitet (Abschn. 8.7). Dies gibt unternehmerischer und technikwissenschaftlicher Innovationstätigkeit eine neue Orientierung, die Qualitäten einer Disruptivität von „schumpeterischem“ Ausmaß haben könnte (Pyka, 2017). Auch die planmäßig steigenden CO2-Zertifikatepreise und CO2-Abgaben in Deutschland und der EU und die zunehmenden ESGBerichtspflichten im Rahmen der Taxonomie wie auch Erweiterungen entsprechender KfW-Kreditförderstrukturen auf den Lebenszyklusansatz (graue Energie) verändern das ökonomische Kalkül der Akteursgruppen im Bauwesen. Womöglich werden aber auch Standards abgesenkt werden müssen, wenn die Emissionsneutralität ernsthaft als prioritäres Nachhaltigkeitsziel betrachtet wird – etwa Normenvorgaben zum Brandschutz, Schallschutz oder Höchsttraglasten von Straßen.
12.2 Stoffstrommanagement Schon gegenwärtig hat Deutschland mit einer der weltweit höchsten Recyclingquoten eine bemerkenswert erfolgreiche Anwendungspraxis der Wiederverwertungs- und -verwendungstechnologien von Bauschutt (Abschn. 8.2). Im Kreislaufwirtschaftsrecht und in der Bauprodukteverordnung ist eine kaskadierende Materialführung bereits angelegt. Erste Rücknahmepflichten der Hersteller sind in Kraft. Digitale Handelsplattformen beleben den Gebrauchtbaustoffhandel neu. Aber die chemischen Kontaminationen der vergangenen Jahrzehnte stellen noch heute und auf lange Sicht eine Barriere dar, die „urbane Mine“ wirklich gemäß der Idee einer Wiederverwendung oder des Upcyclings nutzen zu können (Abschn. 8.10.5). Hierfür ist das Altholz ein Negativbeispiel. Die Bedeutung von Closed-Loop-Materialien wie Lehm(bausteinen) dürfte angesichts des Ziels des zirkulären Bauens erheblich steigen, diejenige von Loop-Materialien wie Klinker relativ zurückgehen. Die Lebenszyklusanalyse wird zum Standardlehrinhalt jedes Bachelors aus Bauberufen.
12.3 Technische „Gamechanger“ Technischer Wandel kann verhaltensneutrale Verringerungen der Umweltfolgen des Konsums bringen. Eine Erhöhung der Kreislaufführung mineralischer wie biogener Stoffströme ist von verschiedenen biotechnischen Innovationen zu erwarten (Kap. 5). Dies sind etwa organische Biomasse verstoffwechselnde Bakterien, Insekten oder
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Pilze (Myzel; Abschn. 5.4). So verzahnen sich die Stoffströme der agrarischen Biomasse, der organischen Abfallbiomasse und der Baubranche zunehmend. Genome Editing kann eine Rolle spielen, was die Erhöhung der Ressourceneffizienz und damit die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit dieser Prozesse angeht. Das „Plastik“ produzierende Bakterium C. necator ist ein Beispiel: Erst eine Genomveränderung erhöhte die Umwandlungseffizienz von Futterfetten zu „Bioplastik“ signifikant und brachte diese Technologie bis Anfang der 2020er-Jahre nahe an die Marktreife (Abschn. 4.3). Umwelttechnologie wirkt auf vielen Ebenen: Bewässerungsschläuche zur sparsamen Bewässerung sind ein Beispiel, Entsalzungsanlagen ein anderes (Abschn. 4.5). Anpassungen von Ligningehalten von Pappeln ist ein Beispiel, das das Bauwesen direkt betrifft (Abschn. 4.8.4). Sensorgestützte Trenntechnologien von Bauschutt sind ein weiteres, das sortenreinere Trennung ermöglicht (Abschn. 8.2.5). Gradientenbeton oder die CCS-Technologien, die Zementproduktion deutlich klimaschonender machen können, sind ebenfalls beachtlich (Abschn. 8.3). Zu „Gamechangern“ werden diese aber erst, wenn die Kosten-Nutzen-Relation der Forschung, Entwicklung und Etablierung in der industriellen Fertigung oder Verarbeitung eine Marktreife ermöglicht.
12.4 Verbindung von Agrar, Forst und Bau Insgesamt erhöht sich die Vernetzung der agrarforstlichen Sektoren mit dem Bauwesen durch die zirkuläre Bioökonomie erheblich. Auch die additive Fertigung mittels Lignozellulose-basierter Rohstoffe („Holz“-3-D-Druck) erhöht die Begehrlichkeiten nach „Biomasse“ von Feld, Wald und Weide (Abschn. 4.9). Für Abfall, insbesondere Altholz und Lignozellulose – etwa aus agrarischen Nebenstoffströmen –, eröffnen sich zunehmend Verwertungsoptionen im Sinne eines „Upcyclings“. Der weite Horizont des Agrarischen verlangt von Praxisakteuren des Bauwesens, jedenfalls im hohen Management, Kenntnisse und Kompetenzen, die Problematik der Flächenkonkurrenzen und der Ökologie mit zu begründen, wenn ein Unternehmen auf solche Stoffe setzt. Man könnte diese als „bioökonomische Sprachfähigkeit“ – oder auch in diesem Sinne ethisches Reflexionsvermögen – bezeichnen. Ökologisierungen und Klimaanpassungen der Landwirtschaft wie Agroforstsysteme und Landschaftsstrukturelemente (Hecken, Baumreihen) ergeben indirekt auch neue Rohstoffquellen für den Bau. In der Landwirtschaft, die sich traditionell als Ernährerin der Nation versteht, besteht diesbezüglich noch Informationsbedarf. Gerade dem Stroh als Koppelprodukt der Getreideerzeugung könnte eine große Karriere als Baurohstoff bevorstehen, denn seine Verfügbarkeit ist in Europa mehr als ausreichend und seine Talente als langfristiger Kohlenstoffspeicher sind hervorragend. Hanf und Kork sind weniger massenrelevant.
12.6 Projektkommunikation
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12.5 Urban Mining Der Bau im Bestand, selektiver Rückbau und eine sortenreine Trennung mittels innovativer Trenntechniken – etwa einer sensorischen Trennung nach Farben – werden voraussichtlich stark an Bedeutung gewinnen. Die so erhaltenen Materialien können die klimabezogenen Ökobilanzen auf der Rohstoffseite verbessern. Während die Methode der Gebäude-Ökobilanzierung Wieder- und Weiterverwendungsoptionen von Bauteilen nach dem Ende eines Gebäudelebenszyklus nur jenseits der Systemgrenze – und/oder eben in Ökobilanz des folgenden Gebäudes – auszuweisen erlaubt, fallen Re-Use-Ansätze im Circular Design von Gebäuden in spezialisierten Indizes wie dem Urban-Mining-Index positiver ins Gewicht. Der Madaster-Zirkularitätsindex leistet Ähnliches. Auf Kreislaufführung legt schließlich auch das privatwirtschaftliche C2C-Zertifikat für Gebäude Wert. Hier gelingt insbesondere eine attraktive Erzählung über die positiven Beiträge des Bauwesens zur Umwelt-Verbesserung – anstatt auf politisch populäre Semantiken von „Klimaschuld“ oder „planetaren Grenzen“ abzuzielen. Diese Ansätze stehen im Zusammenhang mit einer Erweiterung des „alten“ Energieeffizienzansatzes zum Lebenszyklusansatz – und darüber hinaus. Durch technische oder Produktinnovationen können wertlose Stoffe verwertbar gemacht werden. Das etablierte Re- und Upcycling von PETFlaschen, aus denen sogar Bausteine für Häuser werden, oder aber die Verwendung von Wüstensand als Füllung neuartiger Bausteine sind zwei Beispiele.
12.6 Projektkommunikation Die vielen, teils konkurrierenden Interessen an der konkreten Ausgestaltung (und auch manche Reaktanzen gegen das Projekt) machen die „grüne Transformation“ träge. Sie erfordern Dialog und Moderation. Die politische Trägheit ist nicht nur unter Rückgriff auf soziologische Modelle moderner Gesellschaft zu verstehen, sondern auch ernst zu nehmen und in einer demokratischen Gesellschaften zu respektieren. Eine moderierende und frühzeitige Projektkommunikation im konkreten Bauprojekt – intern wie extern – ab der Vorplanungsphase erhöht die Chancen auf Nachhaltigkeitsausrichtung. In mangelnder Kooperation bezüglich der Nachhaltigkeitsziele scheint ein Momentum der Trägheit in der Bauplanung zu liegen. Neue Formen der Zusammenarbeit verschiedener Akteure und Stakeholder werden in mehreren europäischen Städten wie Malmö oder Heidelberg versucht. Sie sind wissenschaftlich empfohlen. Das materialschonende, zirkuläre Bauen dürfte dabei, vergleichsweise mit den Herausforderungen anderer Branchen (Flugverkehr, Energiesektor, Ernährungssysteme), eine weniger gigantisch große technische Herausforderung darstellen. Bauprodukte nach dem „Lego-Prinzip“ (das Projekt ReMoMab ist nur ein Beispiel, Abschn. 8.2.9) sind technisch reif. Tatsächlich scheitern sie augenscheinlich an der geringen betriebswirtschaftlichen Motivation der Bauwirtschaft, diese „aufs Feld“ zu bringen. Aber eigentlich scheint ein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Transformation zur Ressourcenschonung unter den Akteu-
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ren des Bauwesens weitgehend vorhanden zu sein, wie auch die Experteninterviews für dieses Buch deutlich nahelegen. Die Gesprächspartner sehnen teils geradezu einen Veränderungsdruck durch „äußere Kräfte“ herbei (Kap. 9).
12.7 Bewusstsein für Knappheiten Um ein Bewusstsein und das Bemühen um eine frühzeitige Verhinderung von Rohstoffknappheiten zum wirklich handlungsrelevanten Motiv zu machen, bräuchte die Baufachwelt in diesem Feld zunächst überhaupt mehr faktische Klarheit. Die allerdings hat nicht einmal die Wissenschaft. In der Tat ist es wissenschaftlich schwer zu ergründen, wie weit Reserven der Massenbaustoffe reichen. Von Sandknappheiten liest man oft an Beispielen in den Medien, aber die Wissenschaft ist hier vage. Prognosen ändern sich immer wieder. Es gibt historische Erfahrungen mit Fehlprognosen (Peak Oil). Dies in Summe birgt die Gefahr, dass die Knappheitsgefahren nicht ernstgenommen werden. Jedoch gibt es etwa amtliche Prognosen einer Verknappung von Gips, dann auch von regionalen Knappheiten von sandigen Kiesen, Karbonatgesteinen und Kalksteinen in Süddeutschland. Die Metallanteile von neu geförderten Erzen sind teils schon stark gesunken, wie das Beispiel Kupfer zeigt (siehe Vorwort). Die Rohstoffverfügbarkeit ist die Basis für Wohlstand, Demokratie und Frieden, und auch für wirksamen Umweltschutz in einer industriellen Ökonomie.
12.8 Bioökonomisches Denken bedeutet Ent-Ideologisierung Der Ansatz der zirkulären Bioökonomie im Bauwesen beinhaltet nicht nur technische und organisatorische, sondern auch politische Hoffnungswerte. Er ist geeignet, das Vorhaben der Transformation zu entideologisieren. Ideen von Nachhaltigkeit und das Ökonomische als Handlungsebene sind in dieser Metapher nicht dialektisch gegeneinander ausgespielt, sondern originell miteinander verbunden. Sie regt zum „dialektischen“ Denken im Bewusstsein von Zielkonflikten an, aber auch zur Konkretisierung durch lokale Beobachtung. Der historische Rückblick auf die Ideen, Agrar- und Energiegeschichte als Teil der Bioökonomie leistet einen weiteren Beitrag zur Einordnung (Abschn. 3.3.2, 3.4.3, 6.3.2). Er lenkt den Blick vom wissenschaftlich höchst begründeten, medial resonanzstarken, aber oft wenig praxistauglichen klimapolitischen Katastrophenmodus auf historisch-technologische Bewältigungsleistungen, aber auch umweltgeschichtliche Katastrophenereignisse. Er mahnt zum entschiedenen Handeln und bestärkt zugleich die Hoffnung in die menschliche Problemlösungsfähigkeit. Die „malthusianisch“ anmutende Untergangsprophetie des „Gründungsvaters“ der politökonomischen Bioökonomik, Georgescu-Roegen, ist im Hintergrund seiner Lebens- und Zeitgeschichte und seiner Außenseiterrolle in einer bornierten akademischen
12.9 Transdisziplinäre Wissenschaft und hermeneutische Begleitforschung
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Welt nachvollziehbar. Und dessen Schriften sind auch fruchtbar für die transdisziplinäre Fortentwicklung der bioökonomischen Disziplin, wozu schon sein origineller Bild- und Metaphernreichtum beiträgt, mit dem er die Visionen der „entropischen“ Katastrophe skizziert. Georgescu-Roegens geradezu poetische Sprachtradition der Bioökonomik bezeugt die Verbindung von Erfahrung, Beobachtung, Abstraktion und Formalismus, die dem weiten Horizont gerecht wird, den die Metapher eröffnet. Das auch von Georgescu-Roegen so intensiv begutachtete wie bereiste und biographisch noch erfahrene „agrarische Zeitalter“ ist aus Sicht der (Bau-)Bioökonomie als Negativfolie des Rückfalls zu betrachten. Die Erinnerung an das Agrarische ist wie eine Mahnung, dass eine moderne Menschheit ohne industrielle Techniken nicht überleben können, aber auch nicht ohne technische Entwicklung. Der ferne Spiegel des Agrarischen ist allerdings auch fruchtbar zu nutzen als positives Bildreservoir und als Inspirationsquelle für die Wiederentdeckung eines charaktervollen wie zugleich energieschonenden Bauens. Man könnte geradezu sagen: eines einfachen Bauens (vgl. Kap. 1). Aus all diesen Gründen „befreite“ diese bioökonomische Perspektive davon, Nachhaltigkeit entlang binärer Kategorien diskutieren zu müssen: „Holz oder Beton?“ „Elektromotor oder Bioethanol?“ „Fleisch oder Soja?“ Anhand der letzten Frage lässt sich der Mehrwert solcher semantischer Sensibilität illustrieren: Vegetarisch per Definition – oder: auf der Sachebene – bedeutet: kategorisch fleischlos. Vegetarisch, von der Wortherkunft her betrachtet, bedeutet aber auch belebend, belebt (lat. „vegetabilis“). So gesehen könnte man fragen: In welchem Maß könnte Fleisch in einer Ernährungsweise eine Rolle spielen, von der wir als „belebend“ sprechen? Welche Rolle spielt die Herkunft, die Aufwuchs- und die Lebensgeschichte eines Tieres (Abschn. 11.4.1)? Geht es der „Gesellschaft“ wirklich nur um die „Sache“ oder um Beziehungen? Geht es um Lebens-, um Baustoffgeschichten? Wäre nicht ein solcher semantisch reflektierter Standpunkt des Urteilens eigentlich motivierender dafür, den Anteil an klimaschädlichem Massentierhaltungsfleisch zu reduzieren, als die wortwörtlich verstandene vegetarische Diät? Zumal dann, wenn dies aus Schulderwägungen oder Abgrenzungsaffekten heraus gemacht würde? Hängen Kreativität und das materielle wie geschichtliche Verbundensein mit den Dingen nicht miteinander zusammen? In diesem Sinne käme es aus der Sicht einer so weit gefassten Bioökonomie, wie sie hier vorgeschlagen wird, auch auf die Geschichtlichkeit von Bauwerken an.
12.9 Transdisziplinäre Wissenschaft und hermeneutische Begleitforschung Da die international maßgebliche ressourcenorientierte Tradition der Bioökonomie in der Tat Gefahr läuft, im Blick auf den Nutzwert der „Biomasse“ übergriffig gegenüber dem Lebendigen zu sein, ist ein Blick auf Qualitäten einer bioökonomischen „Transformation“ des Bauens unbedingt notwendig. Für die wissenschaftliche Begleitung wurde daher ausdrücklich eine problemorientierte und transdisziplinäre Forschung emp-
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fohlen, die Ethik, Ethnographie und Semiotik nicht aussperrt. Außerwissenschaftliche, gesellschaftliche Akteure werden mit einbezogen, indem ihr Eindruck von Gebäuden oder Entwürfen berücksichtigt wird. Die Hermeneutik wird Teil der Technikfolgenabschätzung (Kap. 10).
12.10 Geschichtlichkeit von Bauwerken Die Nicht-Nachhaltigkeit des Bauwesens hinsichtlich ihres hohen Ressourcenverbrauches lässt sich auf verschiedene Weise beschreiben. Dieses Buch ist reich an Beispielen. Die Abfallstatistiken erzählen davon, die Ergebnisse der Ökobilanzen oder Lebensdauern von Gebäuden. Daneben steht die These, dass Bauwerke an Eigenart, Charakter, Individualität eingebüßt haben gegenüber Zeiten etwa der 1880er bis 1930er Jahre. Vielfach wird das Problem als „Investorenarchitektur“ oder mit anderen Metaphern beklagt. Die Culture of Clearance der 1950er-Jahre – schneller Abriss, Entsorgung, Neubau – hat die Praktiken des Rückbaus und Neubaus radikal verändert (Abschn. 8.10.4.2). Die Ökonomisierung des Bauwesens – mag sie historisch auch viel und günstigen Wohnraum gebracht haben und beispiellos große Wohnflächen pro Kopf und damit dem Ziel der „sozialen Nachhaltigkeit“ gedient haben – wäre aber auch selbst als Nachhaltigkeitsproblem wahrzunehmen. Die gedankliche Brücke in die „Sprache“ der Ökobilanzierung ist die fatale Kurzlebigkeit derjenigen Bauwerke, die das Bauwesen in den vergangenen rund 60 Jahren erzeugt hat. Sie ist historisch beispiellos. Diesbezüglich wurden in diesem Einführungsbuch die Konzepte der Wirkung, Atmosphäre, Schönheit und Geschichtlichkeit vorgestellt. Auch wurden sie auf den Begriff Baukultur bezogen (Abschn. 2.2). Ein Vorhaben von zwei Architektur-Absolventinnen der Universität Weimar, die „Bergungs-Geschichten“ von Baustoffen, die weiterverwendet werden, zu dokumentieren und digital zu erfassen, passt sehr gut zu diesen Gedanken (Iannone & Heyer, 2023). Das soziokulturelle Hintergrundgeschehen ist ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis der Vielschichtigkeit der Nachhaltigkeitskrise. Individualisierung, Lebensstilgesellschaft, Konsumgesellschaft sind als theoretische Erklärungen geeignet, um den Verlust des Anspruchs der Bauherren zu erklären, mit dem Bau auch einen Beitrag für den öffentlichen Raum zu leisten (Abschn. 2.3.5, Abschn. 3.4.1 und Abschn. 6.4.3).
12.11 Leidenschaft und Handwerk Der Ansatz der zirkulären Bioökonomie lädt umweltingenieurwissenschaftlich geprägte Ansätze der Nachhaltigkeit zum „Gespräch“ mit der Lebenswelt ein. Handwerk und Leidenschaft für den Bau könnten, metaphorisch ausgedrückt, eine große Rolle in der Vermittlung von „Kopf“ und „Hand“ spielen. Als Zeuge für handwerkliche Leidenschaft erinnerte diese Monographie an Worte Wendell Berrys – nämlich seine „historische“ Rede von einer Agrarkultur (Abschn. 3.2.1). Der Stolz auf das Haus, das Handwerk, die
12.12 Bioökonomie als Metapher
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Früchte der Arbeit schienen ihm maßgeblich für das gute Leben überhaupt. Industrialisierung, Individualisierung und auch die technische Akademisierung spielen diesbezüglich ambivalente Rollen. Sie ermöglichen, sie normieren. Zur industrialisierten Landwirtschaft sagte Berry 1974: „And it’s a work of monsters’ ignorance and irresponsibility on the part of the experts and politicians.“ Das war nicht technikfeindlich gemeint, aber in begründeter Sorge darüber formuliert, dass die Menschen angesichts technischer Macht und in immer abstrakterem Verhältnis zum Gegenstand ihres Nachdenkens und Schaffens nicht mehr wahrzunehmen imstande sind, dass sie als Menschen gemeinschaftsbezogen, geschichtsbezogen, erfahrungsreich, wertegebunden und hoffnungsfroh leben und arbeiten möchten. Georgescu-Roegen sprach von „exosomatischer Macht“, die der Mensch durch die Technik erlangt habe. Wendell Berrys Gedanken sind anschlussfähig an neuere Perspektiven aus den Neuro-, psychologischen und psychiatrischen Wissenschaften wie aus der Phänomenologie, die unter dem Oberbegriff Embodiment das leibliche Spüren wieder stärker in den Blick rücken – zum Beispiel von stimmiger Architektur. Das leibliche Empfinden geht der rationalen Urteilsfindung voraus. Warum haben Menschen die Gründerzeitbauten so gern? Wie hängen Staunen, Sympathie und Langlebigkeit von Bauwerken miteinander zusammen (Abschn. 2.3)? Kümmern sie sich um Gegenstände, die liebenswert sind, nicht sorgsamer? Wird so etwas von Lebensdauertabellen, empirischen Studien über Gebäudelebensdauern, von den kalkulatorischen Annahmen der Ökobilanzierung angemessen erfasst?
12.12 Bioökonomie als Metapher Die Metapher der Bioökonomie legitimiert solche Überlegungen im Diskursfeld von Politik, Ökonomie und Ingenieurwissenschaft. Sie verbindet Erinnerung, Erfahrung und Leiblichkeit mit der Sachebene: Baustoffe und ihre ingenieurtechnischen Kennwerte, Stoffflüsse in der Volkswirtschaft, Ressourcenverfügbarkeit, Lebenszyklusbilanzen. Sie erlaubt es, Emotion, Empfinden und Persönlichkeit dort indirekt zu artikulieren, wo auf die eine oder andere Weise strenge Objektivierungsnorm herrscht. Das ist etwa in der (Fach-)Politik, auf der Investorenkonferenz, auf der Bauingenieursfachtagung. Im Wortteil „Bios“, dem Leben, sind die Sinngehalte von Alltag, Lebenssinn, Würde und Freude, Schmerz und Scheitern verborgen, wenn auch schwer zugänglich wie „Leitfossilien“ (Hans Blumenberg). Etwas beschämt darüber, solches in einem ingenieurwissenschaftlichen Fachverlag auszusprechen, sollte der originelle Beitrag dieses Buchbeitrags sein, auch die „Tiefe“ von Fragen nach gutem und einfachem Bauen mit dem Bioökonomiediskurs zu verknüpfen. Ein Sinn solchen akademischen Redens und Forschens über Nachhaltigkeit wäre dann, dass es einen Ausweg aus den manchmal technokratischen Gefängnissen der Berufswelten und Spezialistentürme ermöglicht, wie auch die Praktiker und Unternehmer des Bauwesens wieder zur Würde zurückzuführen, Entscheidungen zu treffen, statt vor allem Bedürfnissen von Wohn- und Immobilienkonsumenten nachzukommen. Ganz einfach. Vielleicht sollte überhaupt – trotz aller Verdienste dieses uralten Konzepts – weniger von Nachhaltigkeit die Rede sein, sondern mehr von dem gelingenden und sinnerfüllenden
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Bemühen und Dialog über einen bedeutungsvollen, schönen, erfreulichen Neu-, Um- und Rückbau. Die Bioökonomie-Metapher unterstützt diesen Blick und reicht so über den stark naturwissenschaftlich geprägten Bioökonomiebegriff hinaus. Dies bedeutet gewissermaßen, den Imperativ der planetarischen Grenzen durch die Kultivierung planetarischer Sensibilität zu ergänzen. Metaphern sind nicht wortwörtlich, aber ernst zu nehmen.
12.13 Schluss Kommunikation hat eine Sach- und Bedeutungsebene. Auch Bauen ist Kommunikation. Wenn private Bauherren, Baufachleute, Baustoffhersteller, Ingenieurinnen und Ingenieure, das – auch angesichts der tragischen Berufsspaltung mit der Architektur – vergessen mussten, ist es nicht nur ihr Problem, sondern auch eines zukünftiger Generationen. Die akademischen Annäherungen an Bioökonomie verkomplizieren die Bemühungen um Nachhaltigkeit zunächst. Für die Praxis bieten sie aber auch zahlreiche Ansätze für die Umsetzung. Praktisch bietet es sich an, von der Komplexität zu vereinfachen, sich für einen Ansatz zu entscheiden. Wenn gegenwärtig im Bemühen um Nachhaltigkeit „Einfach bauen“ große Resonanz findet, so wäredas vielleicht so zu deuten, dass das Gute „einfach“ erkannt werden will. Ein Gespür für das nachhaltige Gebäude gesellt sich zu den zahlreichen Normen und teils rechtlich definierten Standards, wie den ESG-Kriterien, den Ökobilanzdaten – und den Ressourcen- und Landkonfliktaspekten, die ethisch stets mitzudenken sind. Das Dach der Bioökonomie erstreckt sich auf vielfältige Weise über die Sach- und Bedeutungsebenen der Ressourcenschonung. Das lässt sich von der jahrzehntelangen Rede von Nachhaltigkeit so nicht sagen. Das bioökonomische Denken lädt eben nicht dazu ein, die Sach- und Beziehungsebene voneinander abzugrenzen oder sie gegeneinander auszuspielen. In ihm liegt die Chance, künftig das zu verhindern, was Michael Braungart im Vorwort zutreffend sagt: „Unsere Nachhaltigkeits-Expertokratie hilft, das Verkehrte zu optimieren.“ Die Bioökonomie als Metapher versperrt sich auch der sinnlichen Vernunft der Nachhaltigkeit nicht. Diese ist schon in den Schriften ihres Begründers Georgescu-Roegen angelegt gewesen (was auch immer von dessen Zivilisationspessimismus zu halten ist). Abschließend zu diesem Versuch eine letzte Weiterung. Ein metaphorisches Verständnis der Anliegen der Umweltbewegung kommt in hervorragender Weise in der international viel und auch weit über Kirchenkreise hinaus beachteten sogenannten Ökoenzyklika Laudato Si des Papstes Franziskus aus dem Jahr 2015 zum Ausdruck. Zur Klimakrise heißt es darin etwa: „Wenn wir uns der Natur und der Umwelt ohne diese Offenheit für das Staunen und das Wunder nähern, wenn wir in unserer Beziehung zur Welt nicht mehr die Sprache der Brüderlichkeit und der Schönheit sprechen, wird unser Verhalten das des Herrschers, des Konsumenten oder des bloßen Ausbeuters der Ressourcen sein, der unfähig ist, seinen unmittelbaren Interessen eine Grenze zu setzen. Wenn wir uns hingegen allem, was existiert, innerlich verbunden füh-
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Abb. 12.1 Dies oben war das Haus meiner Großeltern. Es wurde Anfang der 1950er-Jahre als Familienwohnsitz errichtet. Nach dem Tod meiner Großmutter und einem Familienerbstreit wurde es verkauft und von den neuen Eigentümern abgerissen. Um das Jahr 2020 entstand der Neubau. Wie wirkt er? Welche Veränderung der Baukultur ist anhand dieser beiden Häuser zu beobachten? Einladung an eine Bauwerkhermeneutik. (Fotos Gabriele Prell-Grossarth)
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len, werden Genügsamkeit und Fürsorge von selbst aufkommen. Die Armut und die Einfachheit des heiligen Franziskus waren keine bloß äußerliche Askese, sondern etwas viel Radikaleres: ein Verzicht darauf, die Wirklichkeit in einen bloßen Gebrauchsgegenstand und ein Objekt der Herrschaft zu verwandeln“ (Franziskus, 2015, S. 12).
Insofern kann Bioökonomie zu einer besonderen Haltung einladen, die jenseits weltanschaulicher Lager steht, auch zu einer Sprache und Formensprache der Lebendigkeit. Ihr Vokabular schließt Begriffe wie Staunen, Beziehung, Wunder, Schönheit, Fürsorge nicht als „vorwissenschaftlich" aus.. Suffizienz ist nicht Selbstzweck und auch nicht der Heilsweg. Es geht im Sinne der metaphorischen Bioökonomie also auch um die Wiederetablierung der Einfühlung in einer einseitig technisch, naturwissenschaftlich und normativ dominierten Industrie. In Häuser lässt es sich wunderbar einfühlen. Diesbezüglich lädt der Autor um einen abschließenden Blick auf die Abbildung der beiden abgebildeten Häuser ein (Abb. 12.1). Das obere wurde abgerissen, um das untere zu errichten. Ein Schicksal, dass zehntausende technisch funktionsfähige Häuser im Jahr teilen. Aufgrund des hier illustrierten Beispiels fragt sich der Autor dieses Buches: Warum ist das geschehen? Wissen Sie es? Haben Ihnen manche Überlegungen in diesem Buch gefunden, eine Antwort zu formulieren? Oder andere Fragen? Dieses Buch sollte aber vor allem wissenschaftliche Faktenkenntnisse zusammentragen und deren Praxisrelevanz auch vor dem Hintergrund der vielschichtigen Diskursivität von Nachhaltigkeitsvorstellungen analysieren. Jedoch war es ebenfalls sein Anliegen, die anthropologische Dimension der Ressourcenschonung mitzudenken. Sie kommt in der anwendungsbezogenen Wissenschaft von der Nachhaltigkeit erheblich zu kurz. Das Staunen ist gewiss nicht das Kernanliegen der Bauingenieurswissenschaft und anderer Technik- oder ökonomischer Disziplinen, denen die moderne Menschheit so viel Lebensqualität zu verdanken hat. Aber auch das Bauwesen kann sich angesichts der ökologischen Krisen „entlang“ der lebensweltlichen Phänomene fortentwickeln. Modeworte aus dem akademischen Elfenbeinturm wie „transdisziplinär“ oder „transformativ" sind dafür aus Praxissicht vielleicht nicht überaus einladend. Wichtiger dürfte es sein, die ökologische Krise angemessen zu begreifen und die eigene Verwobenheit in ihre Ursachen. Kenntnisreichtum in Nachhaltigkeitsfragen kann zu einem reflektierteren Handeln technischer Fachleute führen. Die Fähigkeit zum Staunen geht der Imagination attraktiver Technikzukünfte voraus. So entsteht bioökonomische Bauinnovation. Die unverzichtbaren technischen Voraussetzungen entstehen in der mühsamen Detailarbeit der Labore.
Literatur Franziskus (2015). Enzyklika Laudato Si. Über die Sorge für das gemeinsame Haus. Vatikan. Iannone, N. & Heyer, M. (2023). Materialgeschichten, nbau. Nachhaltig Bauen, 2, 2, 59–60. Pyka, A. (2017). Die Bioökonomie unter dem Blickwinkel der Innovationsökonomie. In Pietzsch, J. (Hrsg.), Bioökonomie für Einsteiger, Springer, 129–138.