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German Pages [194] Year 2021
Dirk Kutting
Bühne frei
Ein Auftrittscoaching für Leib und Seele
mit Audioadund Downlo material
Dirk Kutting
Bühne frei: Ein Auftrittscoaching für Leib und Seele Mit einer Abbildung
Vandenhoeck & Ruprecht
Meiner Frau Uli und unseren Töchtern Eva, Paula und Katja
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Sergey Nivens / Shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40772-7
Inhalt
Ein paar Worte vorab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf . . . . . . . . . . . . . . . . 11 »Ich möchte souverän wirken wie Petra Gerster!«: Durch Erwartungsklippen steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 »Du darfst dich nicht verhaspeln!«: Stressauslöser unter die Lupen nehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 »Ich muss dem Bild der perfekten Rednerin entsprechen!«: Die Alarmglocken zum Verstummen bringen . . . . . . . . . . . . . . 26 »Da hätten wir lieber eine andere genommen!«: Die Achtsam keitsstufen erklimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 »Ich bin hier die Vorsitzende!«: Die mentale und körperliche Haltung stärken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 »Hör auf! Lass das!«: Sich gegen Störmanöver abgrenzen . . . . 56 »Das sind die schönsten Momente, wenn man weiß, was man schafft und dass man es auch schafft!«: Sich vor Belastungen schützen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 »Ich schreibe meine Heldinnengeschichte!«: Die Kraft der Erzählungen nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachdenken über den eigenen Auftritt: Erfahrung . . . . . . . . . . Gewissheit, die Unsichtbares sichtbar macht: Spiritualität . . . . Mentale Stärke, die der Muße entwächst: Meditation . . . . . . . . Lösungen, die Muster überwinden: Systemisches Denken . . . . Kraft, die hilft, nicht aufzugeben: Kampfsport . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Imperative, die aufgelöst werden: Introvision . . . . . . . . . . . . . . . 139 Verkörperungen, die standfest machen: Embodiment . . . . . . . 149 Geschichten, die mich neu erfinden: Storytelling . . . . . . . . . . . . 155 Teil drei: Und jetzt Sie – Anregungen zum Selbstcoaching . . 163 Wer möchte ich im Vortrag sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Wie nehme ich Stress beim Vortrag wahr? . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Wie lösche ich behindernde Imperative? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Was trage ich dazu bei, mich selbst zu blockieren? . . . . . . . . . . 174 Wie positioniere ich mich neu? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Wie lasse ich Kritik an meinem Auftritt ins Leere laufen? . . . . 178 Wie bleibe ich auch in Ausnahmesituationen dennoch bei mir? 182 Wie erstelle ich einen bühnenreifen Vortrag? . . . . . . . . . . . . . . . 182 Ein paar Worte danach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
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Inhalt
Ein paar Worte vorab
Wir können viele Bücher über sichere Performance lesen und lassen uns in bestimmten Situationen doch mehr gefallen, als uns lieb ist. Wir lernen Theorien über Achtsamkeit und fahren trotzdem manchmal bei Kleinigkeiten aus der Haut. Wir schauen uns Youtube-Videos zum perfekten Auftritt an und haben trotzdem den Eindruck, gehemmt und unzureichend vorbereitet in Präsentationen zu gehen. Oft setzen Trainings dabei an, etwas zu verkörpern, was wir nicht sind. Es bleibt manchem von uns fremd, wenn wir den Tiger in uns wecken sollen und doch das Gefühl haben, uns lächerlich zu machen. Es mutet mitunter komisch an, auf einen Tiger zu setzen und uns im Spiegel anzuschauen. Dieser Ratgeber verspricht nicht, alles anders und besser zu machen, aber eines kann er zeigen. Er zeigt, wie Frau Adam die Bühne erobert. Frau Adam wird in einem Einzelcoaching begleitet und die Beratungsschritte werden jeweils erläutert. Das Konzept, das im Coaching beschritten wird, nimmt Vortragsängste und Unsicherheit beim Auftritt ernst und zeigt auf, wie wir Sicherheit und Stärke verkörpern können. Ich nenne das »M8sam« sein. »M8sam« ist zunächst ein Wortspiel, das auf die Verbindung von verkörperter Stärke und einem achtsamen Umgang mit unseren Ängsten hinweisen will. Macht wird dabei in dem Sinne verstanden, dem eigenen Können zu vertrauen, Stärke zu spüren und sie auch zu zeigen. Achtsamkeit wird verstanden als Fähigkeit, sich selbst auf verschiedenen Ebenen wahrzunehmen und sich wohltuend und wohlwollend mitteilen zu können. Dass dieses Coaching- oder Trainingsprogramm auch noch in acht Schritten vollzogen wird, ist ein Nebeneffekt. Ein paar Worte vorab
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Der Dreh- und Angelpunkt unseres Auftritts liegt darin, dass wir unsere Fähigkeiten verkörpern. Am besten lassen sich Vorstellungen verkörpern, die wir selbst erfahren haben und die wir anderen Menschen überzeugend erzählen können. Um dies effektiv umsetzen zu können, müssen wir alte, persönliche Glaubenssätze, die uns gehemmt haben, erkennen und überwinden. Unsere bisherige Wetterseite bekommt einen dichten Regenschutz, wenn wir unsere Ängste und Hemmungen anschauen und wirksam überwinden. Dann sind wir frei, mit unseren Erfahrungen eine Erfolgsgeschichte zu schreiben. Die Lichtblicke unseres Lebens verdichten sich zu einem Sonnendurchbruch. Uns wird es gelingen, unsere Geschichte in unsere Performance zu verwandeln. Unvergesslich wird unsere Geschichte zur Verkörperung unserer Führungsstärke. Applaus! Warum das funktioniert?! Erfahrung ist besser als Theorie. Unsere eigene Erfahrung ist besser als eine fremde Erfahrung. Unser Handeln aufgrund unserer Erfahrung ist besser als auswendig gelerntes Verhalten. Wir nehmen eine neuronale Vernetzung vor, die uns niemand mehr nehmen kann. Immer wenn wir künftig unseren »Executive Mode« verkörpern, werden unsere Gesprächspartnerinnen und -partner unsere Professionalität spüren. Dieses Auftrittsprogramm ist entstanden, weil ich im Coaching Menschen erlebe, die beruflich sehr erfolgreich sind, aber dennoch bei öffentlichen Auftritten in Stress geraten. Sie haben Hemmungen, sich zu zeigen, wie sie sind. Oft stehen ihnen dabei Bilder im Weg, aus denen sie entnehmen, wie sie sein wollen. Noch schlimmer, oft orientieren sie sich an Vorbildern, die ihnen vermitteln: So sollst du sein. Und am schlimmsten: So bist du nicht! Du entsprichst nicht dem Bild für eine gute Performance. Nicht deinem Anspruch gemäß und schon gar nicht unseren vermeintlichen Ansprüchen. Oft reicht eine unangenehme Erfahrung aus, um sie in entsprechenden Situationen immer wieder zu aktivieren. Bei einem Vortrag gestottert zu haben, rot geworden zu sein oder den Faden verloren zu haben, wird zu einer Wiederholungsfalle. Schon der Gedanke an den künftigen Auftritt löst Angst machende Gefühle mit den dazugehörenden körperlichen Reaktionen aus. Dem kann dieses Auftrittstraining wirksam entgegensteuern oder besser gesagt, es kann helfen, statt Stress Lust am Auftritt und 8
Ein paar Worte vorab
Vortrag zu finden. Dem Stress wird die Spitze gebrochen und gute Erfahrungen können an seine Stelle treten. Das Auftrittsprogramm stellt ein mentales Training dar, bei dem nicht über die eigenen Grenzen gesprungen wird wie bei vielen »Denk positiv«-Programmen. Es findet keine Konditionierung statt, sondern die Coachees beschreiten einen Weg, bei dem sie sich selbst und ihren Ängsten begegnen und auf dem sie vorankommen. Sie schauen unangenehme Selbstwahrnehmungen liebevoll an und gewinnen leibhaftig, das heißt seelisch und körperlich, Stärke. Nicht Optimierung und Perfektion sind Leitbegriffe, sondern die Fähigkeit, Kraft und Stärke unter Einschluss persönlicher Grenzen darzustellen. Dies kann als lustvoll erlebt werden. Dieses Programm ist nichts Neues. Einzig für die besondere inhaltliche Kombination und Abfolge der methodischen Schritte beanspruche ich die Urheberschaft. Das inhaltliche Gerüst geht auf die systemische Beratung zurück. Die methodischen Schritte beruhen auf der Verbindung von Introvision, Embodiment, mentalem Training und Storytelling. Jeder dieser Schritte wird im Kontext des Coachings mit Frau Adam erklärt.1 Die einzelnen Schritte werden immer mit »Fürs Mindset« abgeschlossen. Ein Mindset hat jeder Mensch, und das immer. Gemeint ist damit unsere durch Erfahrungen geprägte Haltung oder Einstellung. Das einfachste und grundlegende Mindset ist die Reaktion auf Bedrohung: Fliehe ich oder kämpfe ich, vermeide ich Herausforderungen oder gehe ich diese an? Unser Mindset begleitet und beeinflusst meist unbewusst unsere Handlungen. Da das Mindset nichts Statisches sein muss, lässt es sich ändern. Wir können Neues ausprobieren und ein dynamisches Selbstbild entwickeln. Dazu sollen die Mindset-Impulse kleine Wegmarken sein. Eine Chefin sagte mal zu mir, ich träte auf wie »Jung Siegfried«. Das hat mich überrascht, mein Selbstbild sah nämlich ganz anders aus. Ich halte mich für einen ruhigen, vorsichtigen Menschen. Aber vielleicht habe ich mich diesem scheiternden Helden doch ein wenig 1 Ich danke meinen Klientinnen und Klienten und insbesondere natürlich der »echten« Frau Adam für viele inspirierende Begegnungen und gemeinsam entwickelte Gedanken, die Niederschlag in diesem Buch gefunden haben. Ein paar Worte vorab
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angenähert. Ich bin zwar Lehrer, Pfarrer und Seelsorger, treibe aber seit einigen Jahren Kampfsport. Zwar bin ich seit dreißig Jahren Beamter, habe mich aber vergeblich auf kirchliche und staatliche Leitungsfunktionen beworben. Zwar liebe ich die Sicherheit meines Berufs, aber habe mich immer jenseits des Laufställchens bewegt und nebenbei promoviert und eine mehrjährige Weiterbildung zum systemischen Berater gemacht. Inzwischen habe ich meine Dienstpflichten ein wenig reduziert, um meiner Liebe zur Arbeit mit Erwachsenen selbstständig nachzugehen. Ich bin sehr darauf versessen, Menschen in ihrem beruflichen Kontext zu unterstützen. Hier will ich leidenschaftlich Seelsorger sein – und auch ein Kämpfer für größere Zufriedenheit im Beruf. Mein Thema ist die Verbindung von Körper und Seele, Leib und Geist. Ich liebe es, zu predigen und Vorträge zu halten. Jedoch war es ein langer, herausfordernder Weg, mich dabei wirklich wohlzufühlen und keinen trockenen Mund zu bekommen, nicht mit der Stimme zu zittern, keine weichen Knie oder das Gefühl von Blackouts zu haben, wenn ich ein paar Sätze frei sprechen wollte. Oft dachte ich dann, mein Gehirn ist wie eine ausgedrückte Zahnpastatube. Ich musste mich im Studium, im Pfarramt, im Schuldienst oder bei wissenschaftlichen Kolloquien ständig überwinden und lernen, den Stier bei den Hörnern zu packen. Ich hatte keine Chance, meine Vortragsangst zu vermeiden. Mein Vorteil: Ich konnte diese beängstigenden Herausforderungen Hunderte Male angehen. Langsam verbesserte sich mein Gefühl in solchen Situationen. Ich schwamm mich frei, wie man sagt. Danach erst fand die Reflexion über die Veränderung statt, die ich wahrnehmen konnte. Das Ergebnis dieser Reflexion und ihre praktischen Auswirkungen halten Sie nun in der Hand. Es ist möglich, die Bühne zu erobern. Viel Spaß dabei!
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Ein paar Worte vorab
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
»Ich möchte souverän wirken wie Petra Gerster!«: Durch Erwartungsklippen steuern Frau Adam wollte an einem meiner Coaching-Workshops »Kein Stress mit Auftritt und Vortrag!« teilnehmen, brach sich aber leider den Arm und musste operiert werden. Deswegen vereinbarten wir ein Einzeltreffen in Frau Adams Büro. Frau Adam holt mich vom Bahnhof ab. Natürlich hat mein Zug Verspätung. Umso besser, dass mir am Bahnhofsausgang eine gut gelaunte Dame mit ihrem gebrochenen Arm zuwinkt, unser Erkennungszeichen. Frau Adam ist seit sieben Jahren Vorsitzende einer Berufsorganisation und hat deren Jahrestagung vorzubereiten und natürlich als Vorsitzende das Eingangsreferat zu halten. Dieses will sie mit mir durchgehen und ihren Auftritt proben, dazu soll ich einige Tipps geben. Soweit ihre Erwartung. Von meiner Vorgehensweise weiß sie nichts, aber sie ist bereit, mit mir nach meinen Vorgaben an ihrem Thema zu arbeiten. Das Spannende dabei ist zu sehen, wie es gelingt, mit meinen Werkzeugen bei ihr und ihrem Anliegen zu bleiben. Ich sehe mich wie ein Lotse, der Frau Adam hilft, durch die Rheinenge der Loreley zu navigieren und bei starker Fließgeschwindigkeit an den gefährlichen Felsen sicher vorbeizukommen. Ohne Warm-up, Kaffeepause und weitere Begrüßungspräliminarien geht es gleich los. Ich bitte Frau Adam, ihren Vortrag zu halten. Zunächst geht sie etwas zur Seite, sammelt sich für einen Augenblick und kommt dann in die Mitte des Raumes. Sie hat eine recht gut sichtbare Sanduhr in der Hand. Nach einer kurzen Begrüßung weist sie auf die Sanduhr hin: »Sie fragen sich vielleicht, warum ich »Ich möchte souverän wirken wie Petra Gerster!«
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eine Sanduhr in der Hand halte. Das hat zwei Gründe: Sie wissen, wir haben uns in unserem Verband in einem begrenzten Zeitrahmen auf die neue gesetzliche Lage einzustellen. Außerdem bin ich, wenn ich etwas in der Hand halte, nicht so nervös …« Im weiteren Verlauf des Vortrags scheint Frau Adam unentschieden, ob sie auf das Manuskript schauen soll oder zu mir, ob sie ablesen darf oder frei sprechen soll. Anschließend besprechen wir ihre und meine Wahrnehmung. Sie selbst fühlte sich unsicher und hadert mit einem Versprecher und einem Haspler. Sie teilt mit, dass es ihr Anspruch sei, frei zu sprechen, daher klappten die ersten Sätze gut, aber sobald sie zu überlegen beginne, falle ihr das freie Sprechen schwer. Sie schwanke dann zwischen Manuskript und Publikum hin und her. Ich kann ihre Wahrnehmung nur bedingt bestätigen, für mich als Außenstehenden sah es so aus, dass Frau Adam, nachdem sie sich gesammelt hatte und ihre Anspannung spürbar gewesen war, einen guten Start hingelegt hatte. Eine gewisse Verlegenheit zeigte sich mir erst, nachdem das Wort »nervös« gefallen war. Also beginne ich mit der Formulierung »nicht so nervös« und frage, ob es einen Unterschied ausmache, wenn sie gesagt hätte: »Außerdem bin ich, wenn ich etwas in der Hand halte, ruhiger.« Daran schließt sich ein kleiner Exkurs über unsere Suggestionen an. Obwohl wir wissen, dass unser Gehirn keine Negationen kennt, arbeiten wir unwillkürlich oft mit diesen. »Sei nicht nervös!« Sicher kennen Sie das Beispiel: »Denken Sie nicht an eine lila Milka-Kuh!« Automatisch steht uns die alte Schokoladenwerbung mit ihren lilafarbigen Kühen vor Augen. Genauso gilt auch: Wir können uns nicht beruhigen, wenn wir uns sagen, dass wir nicht nervös sein sollen. Diese Befehle verstärken das Übel, das es zu beseitigen gilt. Wie in einem hypnoiden Zauber lassen wir die Geister aufsteigen, die wir bannen möchten: Nervosität, Angst und Unsicherheit. Frau Adam hat einen noch besseren Vorschlag, als das Wort »nervös« durch das Wort »ruhiger« zu ersetzen: »Ich lasse es ganz weg, weil mich auch das Wort ›ruhig‹ unbewusst an meine Nervosität erinnern könnte. Ich halte einfach die Sanduhr in der Hand, weil mich das eben ruhiger macht, das muss ich gar nicht sagen.« Ein erster Hinweis auf die Verbindung von Körper und Geist, der mich freut. Dann spricht sie ihr Dilemma an. Sie will frei spre12
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
chen, fühlt sich aber mit Manuskript einfach sicherer. »Ich möchte gern so sicher und souverän wirken wie Petra Gerster!« Ich mache ihr Mut, vom freien souveränen Auftritt einer geschulten Journalistin Abschied zu nehmen. Das ist nicht ihre Profession und ein Bild, dem sie nicht entsprechen kann, wenn sie kein außergewöhnliches Naturtalent ist. Erleichtert verabschiedet sich Frau Adam von ihrer Vorgabe, frei sprechen zu müssen. Wir erarbeiten folgendes Vorgehen: Sie wird ihr Stehpult, von dem aus sie sprechen wird, vorbereiten. Sie wird nicht mit Manuskript und Sanduhr in der Hand vor das Publikum treten, sondern beides hat sie vorher für sie gut sichtbar, aber für die Zuschauenden verborgen hingelegt bzw. aufgestellt. Ohne etwas in der Hand wird sie zum Pult gehen und die Sanduhr ohne Erläuterung umgekehrt aufstellen, dass der Sand rieseln kann. Dann wird sie ihre Brille aufsetzen und mit der Begrüßung beginnen. Sie wird zwar genau am Manuskript bleiben, aber durch es hindurchlesen. Heißt, sie wird immer aufs Manuskript schauen und dann den gelesenen Satz sprechen, während sie ins Publikum blickt. Falls sie unsicher wird, wird sie sich für eine Sekunde lang einen bestimmten Punkt im Raum ansehen und kurz ausatmen. So wird sie sich wieder fokussieren. Im besten Fall wird sie die Sätze, die sie liest, immer auch denken, weil jeder Satz, der durch das Manuskript hindurchgelesen wird, eben nicht vorgelesen, sondern zuvor gelesen war, jeder Satz wird frei gesprochen mit Blickkontakt. Um die Zeile nicht zu verlieren, fährt Frau Adam mit dem Finger am Zeilenende entlang. Sie wird die Blätter nicht umblättern, sondern Blatt für Blatt unbemerkt von den Zuhörenden weiterschieben. Damit nichts durcheinandergerät, hat sie groß und gut sichtbar unten rechts die Seitenzahl notiert. Suggestiv verstärken wird sie ihre Sicherheit, indem sie sich eine Person aus dem professionellen Kontext, die ihr freundlich gesinnt ist, vorstellt bzw. diese, wenn sie anwesend ist, im Geiste anspricht. All das kann Frau Adam für sich adaptieren und üben. Dennoch hadert sie mit etwas. Es ist ihre Vorstellung von der souveränen Journalistin, wie zum Beispiel Petra Gerster, die sie sehr bewundert und von der sie sich gern ein Stück weit deren sichere Authentizität abgucken würde. Frau Adam ist irritiert, als ich sage, dass Frau Gerster äußerst professionell sei und keineswegs authentisch. All ihre »Ich möchte souverän wirken wie Petra Gerster!«
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Souveränität beruht in einer professionellen Haltung, sie nimmt genau die Position ein, die von ihr verlangt wird, das wirkt authentisch, ist aber voll und ganz die Ausfüllung der Erwartung an ihre Professionalität. Ich frage Frau Adam, was das für sie bedeuten würde, wenn sie professionell die Bühne betritt. Antwort: »Ich würde klar als Vorsitzende die Tagung eröffnen, nicht primär als Frau Adam.« Genau! Damit könnte das Coaching beendet sein, jetzt aber fängt es erst an. Frei sprechen?
Wenn wir frei sprechen wollen, kann das in der Regel nur gelingen, wenn wir aus Erfahrung sprechen. Dazu ist es nötig, szenische Erinnerungen vor Augen zu haben, die wir mündlich wiedergeben. Das kann unter Umständen auch mit theoretischen Sachverhalten gelingen, wenn wir diese nachvollziehen können. Wenn ich die Inhalte ähnlich einer Bauanleitung oder einem Kochrezept Schritt für Schritt präsent habe, ist ein freier Vortrag kein Problem. Leider werden jedoch freie Vorträge oft auswendig gelernt, was das Publikum merkt. Der Vortrag wirkt dann doch auswendig gelernt, obwohl er als freie Rede bei den Hörerinnen und Hörern ankommen soll. Das liegt daran, dass die Vortragenden versuchen, sich an die Worte zu erinnern und eben nicht an die vorausgehenden szenischen Erinnerungen. Der Unterschied ist sofort spürbar, ob ein Bräutigam erzählt, wie er seine Frau kennenlernte, und sich beim Erzählen daran erinnert oder ob er versucht sich an das zu erinnern, was er zuvor über das Kennenlernen aufgeschrieben hat. Daher empfehle ich für einen Vortrag, der wenige szenische Erinnerungen enthält, das folgende Vorgehen. Mut, ohne PowerPoint zu sprechen
Wenn jemand Ihre fehlende PowerPoint-Präsentation bemängelt, sagen Sie: »Ich komme mit Power zum Point!« Es nervt, wenn die PowerPoint-Präsentation nur das wiedergibt, was ohnehin gesagt wird. Es verhindert zudem das konzentrierte Zuhören. Wenn die PowerPoint-Präsentation wirklich eine Präsentation neuer Inhalte 14
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
ist, dann sollte diese natürlich alleiniger Gegenstand des Vortrags sein. Sie werden aber mehr Eindruck machen, wenn Sie einen guten Vortrag ohne mediale Unterstützung halten. Oder haben Sie schon einmal die Neujahrsansprache des Bundespräsidenten mit PowerPoint im Hintergrund verfolgt? Die Person wirken lassen
Sie wissen, dass die nonverbale Botschaft sowie Tonfall und Stimme stärker wahrgenommen werden als der Inhalt. Es heißt, dass nur 7 Prozent des Inhalts in Erinnerung bleiben (Pyczak, 2019, S. 77). Wenn der Auftritt, die Stimme und der Tonfall stimmen, dann trägt die referierende Person den Inhalt. Ich empfehle nicht, die Person mit ihrem Auftritt den Inhalt verdrängen zu lassen, weil das peinlich ist und ebenfalls vom Publikum gelesen wird. Mir ist völlig schleierhaft, warum mit Headset versehene Vortragende, die auf einer Bühne hin und her tigern, tolle Rednerinnen und Redner sein sollen. Anscheinend haben diese die Zahl 7 Prozent verinnerlicht und 93 Prozent ihres Inhalts von vornherein gestrichen (oder gar nicht erst bedacht). In solchen Fällen überwiegt die Form des Auftritts die Inhalte, weil es keine gibt oder das Publikum für dumm gehalten wird. Wenn Sie etwas zu sagen haben, dann sagen Sie es ohne Abstriche, wenn nicht, lassen Sie es sein. Ein ruhiger, gesammelter Auftritt einer greifbaren Person ist wertvoller als eine durchschaubare Show. Die Rolle ausfüllen
Als wichtigster Grund für die Wahlentscheidung amerikanischer Wählerinnen und Wähler, die einst Donald Trump wählten, wurde genannt, dass er authentisch sei. Er ist authentisch, wenn er sexistisch, rassistisch ist und gegen Minderheiten wettert, ja, er scheint sogar ehrlich zu sein, wenn er lügt. Er lässt wie kein anderer seine Person wirken. Aber nimmt er auch seine Rolle ein? Authentizität ist ein Mythos. Wir können so wenig willentlich authentisch sein, wie wir willentlich cool sein können. Entweder wir sind es oder wir sind es nicht, also brauchen wir uns darum auch nicht zu kümmern. »Ich möchte souverän wirken wie Petra Gerster!«
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Wichtiger ist es für einen Redner oder eine Rednerin, sich klar zu sein, in welchem Verhältnis Person und Rolle stehen. Es sollte selbstverständlich sein, dass, wenn ich ein Amt bekleide, ich dieses auch ausfüllen muss. Nur in Ausnahmefällen sollte ich privat werden. Für die Rolle einzustehen, aus der heraus ich sprechen soll, ist die einzige Chance, dass ich Sicherheit ausstrahle. Es ist auch die einzige Chance, dass beim Publikum keine unangenehmen peinlichen Reaktionen entstehen. Dennoch bleiben Person und Rolle eng verbunden, weil die Rolle ohne die Person schnell zum Klischee verkommt. Dann spiele ich Vorsitzender und bin es nicht. Als öffentlich auftretende Person ist es entscheidend, dass ich meine Rolle verantwortlich ausfülle. Das kann authentisch wirken, machbar ist es nicht. Im Gegenteil, der Versuch, authentisch zu wirken, bedeutet einen Ausstieg aus der Verantwortung, die wir für unseren professionellen Auftritt tragen und übernehmen sollten. Inhalte zur Sprache bringen
Ich bin mir sicher, dass es in jedem Publikum viele Menschen gibt, die sich nach guten Inhalten sehnen. Oft begegnen uns in den Medien Moderierende und Fachleute, die Zahlen, Daten, Fakten nennen, ohne dass klar wird, was eigentlich mit diesen transportiert werden soll. Worum geht es eigentlich?, fragen wir uns. Das andere Extrem sind die Geschichtenerzählerinnen und -erzähler, die uns bestens unterhalten, aber auch das Gefühl hinterlassen: Ja, und was nun? Es gilt: Inhalte müssen sorgfältig und genau überprüfbar sein, nämlich richtig. Aber was sind »matters of fact«, wenn sie nicht auch »matters of concern« sind? Richtig: bedeutungslos. Warum wird etwas gesagt? Welche Botschaft habe ich? Wozu möchte ich meine Zuhörenden motivieren? All das gehört zu einem guten Inhalt: seine Relevanz und Wichtigkeit. Und wenn dann der Vortrag noch unterhaltsame Beispiele enthält, umso besser. Machen Sie es nicht wie in vielen Youtube-Tutorials zum freien Reden, die uns die Zeit stehlen, weil wir auf die oft hoch angepriesenen, aber nur angekündigten Inhalte warten. Wirklich gute Inhalte sollten klar und deutlich kommuniziert und auf den Leuchter gestellt werden. Jedes Umzingeln der Inhalte, ohne sie auch zu benennen, wirkt wie ein stolzer Cowboy 16
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
auf seinem Hengst, dessen Lasso nichts fängt. Schön anzusehen, aber nichts weiter. Den Auftritt vorbereiten und verkörpern
Falls vorhanden, empfehle ich zum Vortrag die Nutzung eines Stehpults. In der Kirche ist das bekanntlich die Kanzel. Eine Pfarrerin sagte einmal: »Ich benutze keine Kanzel, ich will mich nicht über die Gemeinde stellen!« Genau damit tut sie es, weil sie sich damit wichtiger nimmt als eine gut zu hörende Predigt. Ein Pult erlaubt zunächst, im Stehen zu sprechen und besser gehört zu werden. Sodann erlaubt es, eine aufrechte, gerade Haltung einzunehmen, die deshalb wichtig ist, weil eine krumme Haltung ein Fragezeichen hinter den Inhalt setzt. Ein Pult erlaubt, durch das unsichtbare Manuskript hindurchzusprechen, das kommt einer freien Rede nahe, gibt aber zugleich Schutz und Sicherheit. Am besten haben wir das Manuskript schon zuvor auf das Pult gelegt. Es sollte aber sichergestellt sein, dass niemand anderes es zufällig verschwinden lässt. Es wirkt einfach gut, wenn wir ohne Papiere in den Händen an das Lesepult gehen können. Zusätzlich verhilft das Pult auch dazu, die Hände frei zu haben. Wir können sie hängen lassen. Eine große Kunst ist es, nichts mit den Händen zu tun. Bitte nicht eine Hand in die Hosentasche stecken, bitte nicht die Arme verschränken, schon gar nicht hinter dem Rücken. Angela Merkel hat dank ihrer berühmten Handraute eine optimale Lösung gefunden, nur ist diese damit schon vergeben. Wir können natürlich auch die Hände auf den Rand des Pults legen und mit ihnen einzelne Dinge unterstreichen. Wir können das üben, aber es muss nicht sein, da dieses »Unterstreichen« oft zu unwillkürlichen Ablenkungsmanövern führt, wenn es gewollt aussieht oder immer die gleiche Bewegung ist. Auch hier gilt: In der Ruhe liegt die Kraft. Fehler integrieren
Als Thomas Gottschalk noch »Wetten, dass …?« moderierte, baute er in die Generalprobe beim ZDF immer bewusst gleich zu Anfang einen Fehler ein. Er bewies damit eine gute Intuition, die den Psy»Ich möchte souverän wirken wie Petra Gerster!«
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chiatern Milton Erickson (vgl. Haley, 1978) und Viktor Frankl (1993, S. 154 ff.) gefallen haben dürfte. Beide verschrieben nämlich ihren Klientinnen und Klienten Symptome. Genau das, was vermieden werden sollte, sich leider aber immer wieder unwillkürlich einstellte, wurde ihnen empfohlen zu tun. Derjenige, der sich fürchtete, rot zu werden, sollte rot werden wie eine heiße Kochplatte und diejenige, die sich fürchtete, in Schweiß auszubrechen, sollte zehn Liter ausschwitzen. Auf diesem Weg wird das Unbewusste ausgetrickst. Bewusst kann ich unwillkürliche Prozesse nicht herbeiführen. Ich kann mir bewusst vornehmen, in Ohnmacht zu fallen, wenn der nächste Familienstreit ansteht, aber es wird mir nicht gelingen. Welcher Sinn steckt dann in Gottschalks Fehler, immerhin gelingt es ihm ja, bewusst Fehler zu machen? Er hat ganz einfach Spaß daran. Er denkt sich bewusst etwas aus und stellt es dar. Er nimmt sich die Angst vor den unwillkürlichen Fehlern und schafft wohltuende Selbstdistanz. Schaut her, auch ich kann es, Fehler machen! Vertrauen ins Publikum
Last, but not least: Die Wahrnehmung der Zuhörenden ist nicht deckungsgleich mit der eigenen Wahrnehmung. Schon oft habe ich von Vortragenden die überraschte Frage gehört: »Haben Sie meine Aufregung nicht gemerkt?« Nein, oft wirklich nicht. Die Aufregung ist zwar nicht gut, weil sie uns hemmt, uns selbst öfter dem Stress eines Vortrags auszusetzen, aber für andere ist diese oft weniger sichtbar, als wir annehmen. Und wenn sie sichtbar werden sollte, dann mag dies zwar vom Vortrag ablenken, würde aber in den meisten Fällen weniger Kritik hervorrufen, als wir fürchten, weil diese Gefühle alle kennen. In den seltensten Fällen ist unser Publi kum eine Höhle der Löwen und die vermeintlichen Löwen sind oft wohlwollend und im schlechtesten Fall nicht interessiert. Die Zuschauenden nehmen unsere Fehler nicht so ernst, wie wir es tun. Sie haben sie ja auch nicht gemacht. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer können auch ein richtiger Segen sein. Einmal hatte ich als Vikar im Gottesdienst beim Glaubensbekenntnis vergessen zu sagen: »Auferstanden von den Toten«, die freundliche Küsterin erklärte 18
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mir anschließend, ich hätte es weggelassen wegen der Passionszeit. »Danke«, dachte ich, »ich könnte Sie knutschen!« Es ist kein Fehler, manchmal Fehler bewusst einzuplanen. Ich habe z. B. Angst, Fehler ans Flipchart zu schreiben und mich damit zu plamieren. Warum dies nicht beim Vortragstraining vorführen? Fürs Mindset: Seien Sie professionell, bereiten Sie sich vor, trauen Sie sich, ein gutes Manuskript vorzulesen, nutzen Sie den Schutz eines Stehpults, stehen Sie aufrecht, machen Sie beim Sprechen Pausen, damit Sie hin und wieder Kontakt zu den Zuhörerinnen und Zuhörern aufnehmen können.
»Du darfst dich nicht verhaspeln!«: Stressauslöser unter die Lupen nehmen Ich frage Frau Adam, was genau bei ihr Stress auslöst und welche körperlichen Reaktionen sich zeigen. Sie nennt die ungewohnte Rolle, als Vorsitzende aufzutreten und eben nicht die Arbeit zu machen, die sie tagtäglich gut und ohne Nervosität bewältigt. Im alltäglichen Kundenkontakt sei sie überhaupt nicht nervös, da wisse sie genau, was zu tun sei. Bei einem Vortrag jedoch habe sie Angst, sich zu verhaspeln und dadurch noch nervöser zu werden und schließlich nichts mehr rüberbringen zu können, weil sie eine Leere im Kopf oder besser im Gehirn fühle. Die körperlichen Reaktionen seien Schweißausbruch, Erröten und ein Zittern, das von den Beinen aufsteige. Verstärkt werde das alles, weil die Angst zunehme, dass andere ihre Unsicherheit wahrnehmen könnten, zum Beispiel am sichtbaren Achselschweiß, dem roten Gesicht und besonders den roten Ohren und ihrer zeitweise vorhandenen Sprachlosigkeit, die sich manchmal in leichtem Stottern äußere. Ich frage nach dem Imperativ, den sie vor Augen habe, und erkläre: Oft sind es Imperative, die wir in uns gespeichert haben, die als Stressauslöser fungieren. Unsere inneren Gebote, die mit »Du darfst nicht …!« anfangen, bilden die Fallstricke, die uns zum Straucheln bringen. Diese Art von Geboten lösen Angst aus. Wir werden später noch sehen, warum das so ist. »Du darfst dich nicht verhaspeln!«
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»Steht Ihnen ein Imperativ vor Augen, wenn Sie einen Vortrag halten? Was darf nicht passieren?« »Du darfst dich nicht verhaspeln!« »Steckt da noch ein anderer Imperativ dahinter, der sagt, Sie dürfen sich nicht verhaspeln?« »Na ja, du darfst keinen schlechten Eindruck machen!« »Und was denken Sie, warum wollen Sie keinen schlechten Eindruck machen? Was denken die anderen?« »Die anderen denken: ›Sie mag ja unsere Vorsitzende sein, aber eine gute Rednerin ist sie nicht.‹ Also ich denke, der wichtigste Imperativ lautet: ›Du musst dem Bild der perfekten Rednerin entsprechen!‹« »Können Sie diesen Imperativ noch einmal zusammenfassen?« »Dann lautet er: ›Sei perfekt!‹« »Und wenn Sie nicht das Bild einer perfekten Rednerin abgeben und nicht perfekt sind, was macht das mit Ihnen?« »Es tut richtig weh.« Frau Adam kommen die Tränen. Nach ein paar Sekunden des Schweigens frage ich: »Was passiert jetzt?« »Ach, ich denke an meinen Vater, der vor ein paar Monaten gestorben ist. Wenn ich an ihn denke, gerate ich immer durcheinander, da ist die Trauer über den Verlust dieses für mich starken Menschen, der mir viel gegeben hat, und da ist immer das Gefühl, nicht zu genügen, immer könnte man noch mehr tun und besser sein, ohne die Anerkennung zu bekommen, die man sich wünscht.« »Was wünschen Sie sich? Was soll er Ihnen sagen?« »Ich bin stolz auf dich! Das hätte ich gern mal klar ausgesprochen gehört!« »Ich bin mir sicher, dass er sehr stolz auf Sie gewesen ist. Sie können aber auch stolz auf Ihr Gefühl sein. Vielen Dank, dass Sie sich hier so offen zeigen! Was würde passieren, wenn andere das mitbekommen?« Frau Adam zögert und antwortet fragend: »Dann schäme ich mich?« »Meinen Sie, Ihre Zuhörerinnen und Zuhörer nehmen es Ihnen übel, wenn sie Ihre Rührung sehen?« »Na, unpassend ist es schon, auch wenn sie es mir nicht übel nehmen.« »Könnten Sie den Zuhörenden Ihre Rührung erklären, ohne sich schämen zu müssen? Was könnten Sie sagen, falls dies passiert?« »Ich weiß nicht!« 20
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
»Was wissen Sie nicht?« »Am liebsten wäre ich gar nicht auf die Bühne gegangen, bevor so etwas passiert!« »Stellen Sie sich vor, Sie wissen, es kann passieren, dass Ihnen die Tränen beim Vortrag kommen, und deswegen würden Sie Ihren Vortrag von jemand anderem halten lassen. Sie sitzen im Publikum und hören zu. Und nun stellen Sie sich vor, Sie hätten den Vortrag gehalten und Sie hätten Ihre Rührung mit ein paar Tränen gezeigt. Und jetzt ist es Abend, die Tagung ist beendet und Sie wollen sich schlafen legen. Wann geht es Ihnen besser? Wenn Sie den Vortrag mit Rührung gehalten haben oder wenn Sie den Vortrag aus Angst vor Rührung abgesagt haben?« »Lieber halten«, sagt sie mit dem Tonfall eines trotzigen Mädchens. »Und was könnten Sie sagen, wenn das passiert?« Sie überlegt: »Ich könnte sagen, jetzt sehen Sie mich gerührt, ich habe mir gerade vorgestellt, dass mein verstorbener Vater heute hier im Publikum sitzt!« »Und wie geht es Ihnen damit?« »Gut!«, antwortet eine Frau, die stolz auf sich ist.
Gedanken erzeugen Gefühle und Reaktionen
Wenn wir auf unsere Vortragserfahrung schauen und die damit verbundene unangenehme Selbstwahrnehmung in den Blick nehmen, dann können die meisten von uns Folgendes feststellen: Die Gedanken an die Situation reichen aus, um bei uns Stress auszulösen. Das ist einerseits schlecht, denn Stress möchten wir gern vermeiden, aber andererseits ist das auch schon ein Lösungsschritt. Die Gedanken reichen aus, um die bekannten Angstgefühle entstehen zu lassen und die entsprechenden körperlichen Reaktionen hervorzurufen. Die Lösung lautet, sich klarzumachen, dass dies die Realität der Gedanken ist und nicht die Realität der Situation. Wir sollten nicht sagen, es sind nur Gedanken, da wir ja merken, welche Macht die Gedanken haben. Auch Gedanken sind real, aber sie tauchen außerhalb der beängstigenden Situation auf, zum Beispiel in der Sicherheit unseres heimischen Betts, wenn wir nicht schlafen können. Nachts ist es am besten, Gedanken nicht festzuhalten, sondern sie weiterziehen zu lassen. Ein gutes Mittel ist es, mit geschlossenen »Du darfst dich nicht verhaspeln!«
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Augen nach oben zu gucken und sich zu sagen: »Ich schaue mir Bilder an und werfe sie nach hinten!« Das funktioniert, weil unser Bilderleben ein anderes ist als unser »Gedankenerleben«. Das erste führt uns in Trance, das zweite macht wach. Im Wachzustand am Tag haben wir die Möglichkeit, uns unsere ängstigenden Gedanken anzusehen. Ich kann mir die Angst anschauen! »Hallo Angst, da bist du wieder. Was willst du mir sagen? Setz dich einen Augenblick auf meine Schulter und lass dich genauer wahrnehmen.« Das ist der erste Schritt, der Angst die Spitze zu brechen. Unsere Imperativketten
Wir hörten vorhin im Gespräch, dass die Gebote, die wir uns geben, Angst machen. Wir fühlen uns schnell schuldig, wenn wir entweder gegen Verbote verstoßen oder sie nicht einhalten können. Bei der Vortragsangst steht zunächst oft ein konkreter Imperativ am Anfang, zum Beispiel »Du darfst dich nicht versprechen!«. Wenn man nach dem Warum fragt, folgt oft ein tiefer liegender Grund: »Ich darf keinen schlechten Eindruck machen!« Das kann man als zentralen Imperativ bezeichnen. Leider gibt es jedoch meist einen Imperativ, der eng mit unserer Persönlichkeit und unserer Bildungsgeschichte verbunden ist. Hier kann er lauten: »Ich darf kein Versager sein!« So entsteht in unserem Inneren eine Kausalkette: Wenn ich mich verspreche, mache ich einen schlechten Eindruck. Wenn ich einen schlechten Eindruck mache, bin ich ein Versager! – Muss ich mir das anschauen? Fängt jetzt im Coaching die Psychotherapie an?, fragen Sie sich nun vielleicht. Ja, denn was nützt es mir, wenn ich mich nicht verspreche und ich stattdessen den Faden verliere, ein Blackout habe, mir die Stimme versagt oder sich einfach mein Gehirn leer anfühlt? Der Kernimperativ wird sich melden. Also sollten wir uns diese unangenehmen Dinge anschauen. Die Kraft der unangenehmen Selbstwahrnehmung
Jemandem mitzuteilen, dass uns bestimmte Gefühle oder Situationen unangenehm sind, ist eine nicht hoch genug zu schätzende Leistung. Die Artikulation des Unangenehmen ist hilfreich, weil wir es 22
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
für uns selbst erkennen und es einem Gegenüber mitteilen (Herms, 1991, S. 40–62). Damit liegen die Sachen offen auf dem Tisch. Das Versteckspiel hört auf. Wichtig ist nun die Reaktion des Gegenübers. Nicht infrage kommt natürlich eine Verurteilung: »Stimmt, gut, dass du das sagst, du hast schon immer …!« Nicht infrage kommt aber auch eine Beschwichtigung: »Du, das passiert jedem einmal, mir ist das auch schon passiert!« Die passende Reaktion ist die gemeinsame Wahrnehmung des Unangenehmen. Jetzt ist es offen ausgesprochen – und wir können das gemeinsam betrachten. Es liegt viel Stärke in einem solchen Moment. Eine Stärke, die bleibt, auch wenn man wieder auseinandergeht. Eben weil es hier ein gemeinsames Tragen gab. Wenn wir eine unangenehme Selbstwahrnehmung im Angesicht eines anderen artikulieren, dann ist das immer hilfreich und heilsam. Ob wir das nun als Coaching, Psychotherapie oder Seelsorge bezeichnen, ist zweitrangig. Konfliktvermeidung
Am meisten Druck macht uns die Bemühung, Konflikte zu vermeiden. In der Psychologie heißt das Abwehr. Unserer Abwehr steht ein ganzes Arsenal von Mechanismen zur Verfügung. Gegen die Ängste wird aufgeboten: ignorieren, ausblenden, verdrängen, herunterspielen, bagatellisieren, sich selbst beruhigen (»alles nicht so schlimm«), sich selbst täuschen (»eigentlich bin ich super«), neue Imperative (»ab morgen werde ich …«), resignieren (»werde ich eh nie lernen«), sich Mut machen (»das nächste Mal …«). Wir legen den Deckel auf den Schnellkochtopf und verschließen ihn gut. Das Ziel »Ich darf keinen Fehler machen!« wird zu einem Vermeidungsziel. Und leider ist es so: Vermeidungsziele lassen sich nicht verwirklichen. Es lässt sich nicht erreichen, keinen Fehler zu machen, unmöglich, unter keinen Umständen. Wenn wir Vermeidungsziele artikulieren, können wir nur scheitern. Allmacht und Ohnmacht
Die Vermeidungsziele verweisen auf ein kindliches Bedürfnis. Das Kind meint, alles zu können oder gar nichts hinzubekommen. Es »Du darfst dich nicht verhaspeln!«
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kann den höchsten Holzturm der Welt bauen oder schmeißt alles hin. Über dieses kindliche Alles-oder-nichts hat Melanie Klein genauer aufgeklärt (vgl. Kohrs u. Boll-Klatt, 2019, S. 32–43). Allmacht und Ohnmacht sind aufs Engste miteinander verbunden und können pathologisch als manisch-depressive oder bipolare Störung bezeichnet werden. Aber wir alle kennen, auch ohne psychisch krank zu sein, diese beiden Tendenzen in uns. Wenn es nicht klappt, lasse ich es lieber sein. Hochmut kommt vor dem Fall. Wenn mein Ergebnis nicht perfekt ist, laufe ich weg und stecke den Kopf in den Sand. Diesen Extremen, ja sogar einer extremistischen Haltung entspricht natürlich auch so manches politische Handeln. Alles muss so sein, wie ich es will. Sonst tritt das Rumpelstilzchen wütend mit dem Fuß in den Boden und reißt sich mitten entzwei. Dabei gilt es doch immer, das Mittlere zu suchen. Realismus
Der schlimmste Begriff, den ich manchmal im Coaching benutze, lautet »heilsame Resignation«. Das wird von Teilnehmenden regelmäßig kritisiert. Was soll das denn? Ich will damit nichts anderes sagen als das, was Fakt ist: Ich kann nicht perfekt sein. Ich kann die Welt nicht aus den Angeln heben. Das muss ich verstehen, wenn ich in der Welt handeln will als jemand, der die Dinge sieht, wie sie sind, und dennoch sein Bestes gibt. Was will eine realistische Person in ihrem Beruf? Ich nenne es arbeiten! Heilsame Resignation bedeutet, dass ich meine Grenzen kennenlerne und dies als Teil der Bedingungen verstehe, unter denen Menschen leben. All meine Freiheit ist Freiheit unter Bedingungen. Die Bedingungen können äußere, wie mein Arbeitsplatz, sein, sie können auch innere, wie meine individuellen Fähigkeiten, sein. In jedem Fall sind wir aber nur relativ frei und nie absolut. Diese realistische Sicht der Dinge nenne ich heilsam. Annäherungsziele
Was machen wir also mit unserem Schnellkochtopf, auf dem Druck ist? Wir lassen Dampf ab, öffnen den Deckel und sehen hin, was da denn so gekocht hat. Wir schenken dem Thema Vortragsangst 24
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Wir nehmen wahr, was den Konflikt auslöst, und lösen ihn so auf. Da ich nicht perfekt bin, mache auch ich Fehler. Wenn ich nun einen Imperativ formulieren sollte, lautete er: »Ich will zeigen, was ich kann, auch wenn ich Fehler mache!« Das nennt man Annäherungsziele. Der Vorteil ist, dass diese Ziele im Unterschied zu Vermeidungszielen erreichbar sind. Wenn ich mir erlaube, Fehler zu machen, bin ich frei zu zeigen, was ich kann (und nicht kann). Bewertung vermeiden, keine Erwartungen erfüllen
Die Imperativkette macht deutlich, dass wir im beruflichen Kontext oft in eine Situation der Bewertung geraten. Wir fühlen uns bewertet. Wenn ein Vortrag eine Präsentation darstellt und es um einen Auftrag und viel Geld geht, dann fühlt man sich natürlich bewertet, wenn andere den Zuschlag einheimsen. Trotzdem ist das Bedürfnis, den Erwartungen anderer zu entsprechen und für unsere Leistung eine externe Anerkennung zu bekommen, ein kindliches Bedürfnis. Mama und Papa sollen mir sagen, dass ich gut bin. Wir merken hoffentlich die Falle, in die wir damit geraten. Wir machen uns abhängig vom Urteil anderer. Also scheint die Alternative zu sein, nur den eigenen Erwartungen zu entsprechen. Sicher ein guter Weg, wenn dies zu einer Befriedigung führt. Schlecht, wenn wir mit uns kritischer umgehen als unsere schärfsten Kritikerinnen und Kritiker. Ziel müsste es sein, uns nicht nur von der externen Anerkennung frei zu machen, sondern auch von unserem inneren Gericht, unserem schlechten Gewissen, nicht zu genügen. Die Befreiung aus dem Wahn der Bewertung sollte am besten bei uns selbst anfangen, bei der eigenen Wertschätzung. Üben lässt sich das, indem wir die Bewertung anderer unterlassen. Sehr schwer umzusetzen, wenn es in der Cafeteria unter Kolleginnen und Kollegen heißt: »Jammern wir noch oder lästern wir schon?«, und wenn einer den anderen übertrumpft in kritischer Bewertung. Ich halte es schlicht für die zentrale Übung unseres Lebens, andere nicht zu bewerten und sich nicht bewerten zu lassen. Wenn wir dann noch hinbekommen, nicht die Erwartungen anderer zu erfüllen, sondern nur diejenigen, die wir selbst erfüllen wollen, fehlt nicht viel und wir sind Heilige, oder? »Du darfst dich nicht verhaspeln!«
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Fürs Mindset: Ich stehe besser da, wenn ich mir erlaube, schlecht dazustehen. Genauso wenig wie ich die Anerkennung bekomme, die ich mir wünsche, können mich Bewertungen treffen, die ich fürchte. Selbstverständlich bin ich nicht perfekt. Ich gebe mein Bestes, mehr nicht. Mein Bestes reicht aus, es ist, wie es ist, und es ist gut.
»Ich muss dem Bild der perfekten Rednerin entsprechen!«: Die Alarmglocken zum Verstummen bringen Das Coaching mit Frau Adam geht weiter. Ich frage: »Können wir uns noch mal den Imperativ genauer ansehen? ›Ich muss dem Bild der perfekten Rednerin entsprechen!‹ Was ich nun gern mit Ihnen machen möchte, lautet Introvision (vgl. Dehner u. Dehner, 2015). Wörtlich übersetzt heißt es »Hineinschauen«. Es geht darum, sich den Alarm anzuschauen, der schrillt, wenn Sie an den Imperativ denken: ›Ich muss dem Bild der perfekten Rednerin entsprechen!‹ Immer wenn Sie daran denken, klingt der Alarm mit: ›Es kann aber sein, dass ich dem Bild der perfekten Rednerin nicht entspreche!‹ Dieser Alarm macht Angst. Diesem Alarm wollen wir die Spitze nehmen. Und das können wir tun, indem wir ihn uns etwas genauer anschauen. Die Idee ist folgende: Der Alarm löst Angst und Stress aus. Sie müssen dazu nicht in der realen Situation sein, sondern es reicht, an den Alarm zu denken, um all die damit verbundenen unangenehmen Gefühle auszulösen. »›Es kann sein, dass ich dem Bild der perfekten Rednerin nicht entspreche!‹ Wenn Sie an diesen Satz denken, löst das Reaktionen aus? Was spüren Sie?« »Wenn ich mir das konkret vorstelle, merke ich sofort eine leichte Blutdrucksteigerung.« »Und deshalb möchte ich mir den Satz mit Ihnen gemeinsam genauer ansehen. Wie Sie gerade gemerkt haben, hat der Satz ein gewisses Energiebereitstellungsniveau. Das ist für uns Menschen wichtig, um auf stressauslösende Situationen reagieren zu können. Der 26
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
Körper schüttet Cortisol aus, das uns mit Energie versorgt, um aktiv reagieren zu können, wenn es Stress gibt. Wir brauchen diese Energie, um zu kämpfen oder zu flüchten. Nur müssen Sie beim Vortrag genau das Gegenteil tun als flüchten oder kämpfen, Sie wollen ruhig bleiben und auch Ruhe ausstrahlen. Was macht Ihr Körper, wenn Sie daran denken: ›Es kann sein, dass ich dem Bild der perfekten Rednerin nicht entspreche!‹? Er lässt den Blutdruck steigen. Ihre Gedanken können Stress und die damit verbundenen Reaktionen erzeugen.« »So habe ich das noch nicht gesehen. Ich habe immer gedacht, wenn man Termine nicht einhalten kann, ist das stressig, wenn Kunden auf der Matte stehen und Druck machen.« »Es ist sehr realistisch, dass da fast jeder in Stress gerät. Aber auch in dieser Situation lassen sich Imperative feststellen.« »Ja. Mach es dem Kunden recht! Wirklich dumm, wenn man das gleichzeitig denkt: Mach es perfekt! Und: Mach es dem Kunden recht! Da befinde ich mich oft in der Zwickmühle. Die Qualität meiner Arbeit braucht Zeit und das Interesse der Kunden ist es, schnell gute Ergebnisse zu sehen. Das hat mich schon oft fertiggemacht.« »Und auch hierbei sind nicht nur reale Handlungen im Spiel, sondern ebenso Ihre Gedanken. Haben Sie schon mal einen spannenden Film gesehen, der Ihnen wirklich Gänsehaut bereitet hat?« »Ja. Am schlimmsten war ›Shining‹ mit Jack Nicholson.« »Und haben Sie ihn mehrmals gesehen?« »Ja. Sicher vier, fünf Mal.« »Und wann hatten Sie die meiste Gänsehaut?« »Natürlich beim ersten Mal!« »Und bei den anderen Malen jeweils weniger?« »Ja. Das hat natürlich nachgelassen. Man weiß ja jetzt, was kommt: Die beiden Mädchen, die sagen: ›Komm, spiele mit uns!‹ Oder der kleine Junge, der vor sich hin murmelt: ›Redrum, Redrum‹, kennt man alles und weiß sofort, dass er ›Murder‹ meint.« »Sehen Sie, genauso funktioniert Introvision. Im ›Redrum‹ ›Ich muss dem Bild einer perfekten Rednerin entsprechen!‹ steckt schon der Alarm ›Murder‹: ›Es kann sein, dass ich dem Bild der perfekten Rednerin nicht entspreche!‹ Wenn Sie Ihr umgedrehtes ›Redrum‹ kennen und es sich oft genug anschauen, dann dauert es nicht lange, bis es nur noch ein Alärmchen ist! Dem Alarm wird dadurch die Spitze gebrochen.« »Ich muss dem Bild der perfekten Rednerin entsprechen!«
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»Meinen Sie wirklich?« »Schauen wir mal. Ich gebe Ihnen einen Fragebogen. Beantworten Sie bitte die Fragen für sich. Das ist eine erste Annäherung, sich den Alarm genauer anzuschauen. Anschließend werden wir mit dem Alarm ›Es kann sein, dass ich dem Bild der perfekten Rednerin nicht entspreche!‹ meditieren.« Frau Adam blickt mich erstaunt an, nimmt einen Kuli, beginnt nachzudenken und zu schreiben.
VORTRAG UND STRESS2
Welche Situation beim freien Sprechen nervt Sie besonders? Erinnern Sie sich an ein bestimmtes Ereignis? Was hat das mit anderen zu tun (Kolleginnen, Chefs, Kunden)? Was daran würden Sie als eine Art Stressauslöser für sich persönlich bezeichnen? Inwiefern kann man diesen Stressauslöser als einen Imperativ verstehen? Ein Imperativ, der mit »Ich muss …/Ich soll …/Ich darf nicht …« beginnt. 2 Den Fragebogen finden Sie auch im Downloadbereich unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/Buehne_frei.
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Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
KÖRPER
Woran spüren Sie, dass die genannte Situation wieder da ist? Welche körperliche Reaktion zeigt sich bei Ihnen konkret, wenn Sie einen Moment darüber nachdenken? Kreuzen Sie an! ☐ Hals ☐ Kopf ☐ Rücken ☐ Bauch ☐ Augen ☐ Ohren ☐ Nase ☐ Stimme ☐ Haut Anderes: Was genau spüren Sie körperlich? GEFÜHL
Wenn die genannte Situation eintritt, was fühlen Sie? Welche emotionale Reaktion zeigt sich bei Ihnen konkret, wenn Sie einen Moment nachspüren oder darüber nachdenken? Kreuzen Sie an! ☐ Angst ☐ Ärger ☐ Trauer ☐ Freude ☐ Zuneigung ☐ Scham ☐ Schuld ☐ Ekel Anderes: Was genau fühlen Sie? DENKEN
Was geht Ihnen im Kopf herum, wenn Sie sich die Situation vorstellen?
»Ich muss dem Bild der perfekten Rednerin entsprechen!«
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Betrachten Sie Ihre Gedanken! Sind es Erinnerungen? Sind es Gedanken an die Zukunft? Worum kreisen Ihre Gedanken? Was denken Sie? ICH SELBST
Wie bewerten Sie sich und andere in der Ausgangssituation? Geht es Ihnen um Wertschätzung und Anerkennung anderer? Haben Sie den Eindruck, die Situation nicht im Griff zu haben bzw. kontrollieren zu können? Bereitet sie Ihnen einfach Unlust? Taucht für Sie der Eindruck auf, herabgesetzt zu werden? Müssen Sie um Ihren Selbstwert kämpfen? Wer sind Sie in der Situation? Haben Sie etwas versucht, um die Situation zu vermeiden? Was genau? Nennen Sie ein Vorbild (eine Roman- oder Filmfigur oder eine Märchengestalt), die die Situation anders als Sie meistern würde. Welche Eigenschaft dieser Figur könnte für Sie eine wichtige Ressource sein?
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Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
VON GENERATION ZU GENERATION
Was tragen Sie als Erbe in diese Situation hinein? Welche Aussagen Ihrer Eltern oder anderer in Ihrer Entwicklung für Sie wichtiger Personen fallen Ihnen dazu ein? Wie reagieren Sie auf diese Aussagen, wenn Sie sich vorstellen, wieder ein Kind zu sein (angepasst, rebellisch, ungezwungen)? Wie würden Sie gern reagieren, wenn Sie erwachsen reagieren könnten? Eltern-Aussage: Kind-Reaktion: Erwachsenen-Reaktion: NONDUAL GANZHEITLICH
Schieben Sie nun alle körperlichen Reaktionen, Gefühle und Gedanken für einen Moment zur Seite. Stellen Sie sich vor, jemand hat mit einem Arm alles, was auf einem Tisch stand, weggeschoben. Der Tisch ist blank und leer. Was fällt Ihnen im Augenblick zu der Vortragssituation ein? Überlegen Sie nicht! Schreiben Sie jetzt das Erste auf, was Ihnen in den Sinn kommt! ZUSAMMENFASSUNG
Ein Imperativ! »Ich muss …/Ich soll …/Ich darf nicht …« Ein Alarm! »Es kann aber sein, dass … (genau das) eintritt.« Skalierung: Wie hoch schätzen Sie das belastende Stresslevel ein? niedrig 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 hoch »Ich muss dem Bild der perfekten Rednerin entsprechen!«
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Die Methode der Introvision erkläre ich im zweiten Teil des Buches ausführlicher (S. 139 ff.). Hier nur so viel: Die Alarmglocken bringen wir dann zum Verstummen, wenn wir uns ihren Klang mit genügend Abstand anhören. Ich weiß, wovon ich rede. Im Vikariat wohnte ich neben der Kirche und jedes Glockenklingen erinnerte mich an die Arbeit, die noch vor mir lag. Das war keine freundliche Einladung, sondern eine sehr fordernde. Das Glockenspiel der Christuskirche neben der Schule, an der ich unterrichte, das immer um 7:45 Uhr und 12:00 Uhr ein aktuelles Kirchenlied anstimmt, erfreut mich heutzutage hingegen. Es liegt ja auch noch eine Straße zwischen meiner Schule und der Kirche. Fürs Mindset: Stark ist es, die Schwächen anzuschauen. Was uns schwächt, sind Imperative, die uns unterdrücken. Schauen wir uns diese Imperative mit Distanz an, werden sie schwächer. Es kann sein, dass ich dem Imperativ nicht genüge. Ich muss ihm nicht Folge leisten. Ich werde nicht sterben.
»Da hätten wir lieber eine andere genommen!«: Die Achtsamkeitsstufen erklimmen Unsere gemeinsame Arbeit geht weiter, und zwar in Form einer Meditation, die ich Frau Adam anbiete3. Das Schöne am Meditieren ist, dass man fürs Nichtstun belohnt wird. Setzen Sie sich in einer Haltung hin, die Ihnen guttut. Atmen Sie einmal tief aus. Schließen Sie die Augen und genießen Sie das Miteinander, bei dem Sie ganz für sich allein sind. Ihr Atem wird ruhiger. Ihr Puls ist langsamer.
3 Diese Meditation finden Sie sowohl als Text als auch als 9-minütiges Audio »Meditation_1« im Downloadbereich unter www.vandenhoeck-ruprechtverlage.com/Buehne_frei.
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Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
Ihre Füße spüren den Boden, sie sind schwer, ganz schwer … bleischwer. Sie können Ihre Beine wahrnehmen, sie sind ebenfalls schwer, ganz schwer … bleischwer. Ihr gesamter Körper ist schwer, ja, bleischwer, Sie tragen ihn gut und halten Ihren Körper gut zusammen. Sie sind eins mit sich und Ihrem Körper. Sie hören … Rascheln, Autos, Heizung. Sie spüren … den Stuhl, auf dem Sie sitzen, Ihre Kleidung, Wärme in den Adern. Sie fühlen angenehme Freude, Zuneigung zu sich, Zuneigung zu anderen Menschen. Sie betrachten Ihre Gedanken, Sie begrüßen diese freundlich und winken sie weiter, ein Gedanke nach dem anderen wird weitergewinkt, wie die Autos, die ein Verkehrspolizist weiterwinkt. Sie schieben die Gedanken weg wie ein Scheibenwischer die Regentropfen auf einer Windschutzscheibe. Jetzt können Sie sich selbst verlassen, wie ein Geistwesen. Sie können an einen Platz in diesem Raum schweben und sich selbst betrachten. Sie sehen sich, Ihren Körper, wie Sie da auf einem Stuhl sitzen. Ihr Unbewusstes wird sich automatisch und von ganz allein an all seine Möglichkeiten erinnern und alles tun, damit Sie wachsen. Sie machen das sehr gut. Ihr Körper zeigt ruhige Atmung, Ihr Puls einen regelmäßigen Schlag. Ihr Unbewusstes kann sich jetzt darüber klarwerden, welche Veränderungen stattfinden werden. Es zeigt Ihnen neue Alternativen in Ihrer Zukunft. Zeigen Sie Ihrem Unbewussten den Satz, den Sie vorhin aufgeschrieben haben: Es kann sein, dass … Nehmen Sie diesen Satz, lassen Sie ihn in sich hineinfallen wie in einen Brunnen und lassen Sie Ihr Unbewusstes mit diesem Satz arbeiten. Ihr Unbewusstes zeigt Ihnen, was dieser Satz Sie körperlich spüren lässt … Ihr Unbewusstes kommt Ihren Gefühlen auf die Spur, die der Satz tief innen bei Ihnen auslöst. Alle Gedanken, die der Satz durch Ihren Kopf gehen lassen möchte, wischt Ihr Unbewusstes weg, es winkt alle Gedanken weiter. »Da hätten wir lieber eine andere genommen!«
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Ihr Unbewusstes bringt Sie mit sich selbst in Kontakt. Sie können sich sehen als einen Menschen, der wertvoll ist, der die Anerkennung anderer nicht braucht. Lassen Sie sich vom Unbewussten zeigen, wie sich der Satz »Es kann sein, dass …« nun anfühlt, wenn Sie sich als wertvoll wahrnehmen. Ihr Unbewusstes zeigt Ihnen auch einen neuen Umgang mit dem, was Sie als Kind erfahren haben. Sie sind kein Kind mehr, Sie sind gewachsen, ja, Sie können weiterwachsen. Schauen Sie sich Ihr künftiges Wachstum einen Moment lang an. Hören Sie nun eine Weile dem zu, was Ihnen Ihr Unbewusstes noch zu sagen hat, nehmen Sie die Bilder wahr, die es Ihnen zeigt … Nehmen Sie Ihren Satz »Es kann sein, dass …« und betrachten Sie, woran Sie Ihr Unbewusstes von ganz allein erinnert, es tut dies automatisch, von ganz allein … »An einer bestimmten Stelle gegen Ende der Meditation haben Sie ein wenig geseufzt. Haben Sie irgendetwas gesehen? Ist etwas Überraschendes vor Ihrem inneren Auge aufgetaucht? Ein Bild, eine Aussage?«, frage ich Frau Adam. »Da hätten wir lieber eine andere genommen.« »Was meinen Sie? Wie ist das zu verstehen?« »Das hat mal vor ein paar Jahren einer aus dem Vorstand gesagt. Nachdem ich eine Rede gehalten habe. Anscheinend fand er meinen Vortrag nicht einer Vorsitzenden würdig. Oder gar für unseren ach so tollen Berufsverband.« »Und er hat gesagt: ›Da hätten wir lieber eine andere genommen?‹« »Ja. Genau der Wortlaut stand in der Meditation wieder vor mir. Das hat er ganz unverblümt in einer Vorstandssitzung gesagt.« »Und die Reaktionen?« »Der hat natürlich mächtig Gegenwind bekommen von den anderen Vorstandsmitgliedern.« »Und er?« »Der hat sich dann herausgeredet. Er meinte nicht mich, sondern uns alle. Wir sollten bei solchen Veranstaltungen doch lieber Profis sprechen lassen. Da würde unser Verband besser präsentiert. Und so weiter und so fort.« »Und Sie?« 34
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»Ich habe gesagt, dass wir ja schon immer Gastredner haben, aber einer müsse die Begrüßung und Einleitung vornehmen. Und das sei ja wohl am ehesten Aufgabe der Vorsitzenden.« »Und die anderen?« »Die haben mir zugestimmt und gesagt, dass ich das gut mache. Damit war das Thema vom Tisch.« »Aber nicht für Sie?« »Nein. Ich habe das verdrängt. Darüber will ich eigentlich nicht reden, weil mir das zu peinlich ist.« »Aber es begleitet Sie?« »Ja. Immer wenn ich auf die Bühne gehe, ist da unterschwellig diese Stimme, die sagt: ›Da hätten wir lieber eine andere genommen‹.« »Die ist keine repräsentative Vorsitzende. Die ist peinlich. Die gibt eine schlechte Figur ab. Da würden wir lieber eine andere hinstellen. Petra Gerster vielleicht.« »Machen Sie keine Witze, aber genau so ist es!« »Aber leider ist Petra Gerster nicht die Vorsitzende Ihres Verbandes!« »Nein. Ich bin das! Ich bin die Vorsitzende!«, sagt Frau Adam mit trotzigem Tonfall. »Und wie sind Sie Vorsitzende geworden? Darf ich etwas provozieren? Beim ersten Mal wollte niemand anderes. Bei zweiten Mal hat niemand gemerkt, wie schlecht Sie sind. Und bei der nächsten Wiederwahl war es schon Tradition, Sie zu wählen?« Sie lacht. »Ja, beim ersten Mal war es wirklich so, und bei der ersten Wiederwahl habe ich auch so gedacht, wie Sie sagen. Es hat Gott sei Dank niemand gemerkt, was ich alles nicht kann.« »Ist das so ein Frauending?« »Ja, wird wohl so sein. Vielleicht ist es auch ein Familiending.« »Das heißt?« »Na so halt. Mein Bruder war schon auf dem Gymnasium, da brauchte ich also nicht auch noch hin. Aber ich wollte unbedingt und habe mich durchgesetzt, also konnte ich Abi machen.« »Prima!« »Teils, teils.« »Wie?« »Ich habe mich immer durchgebissen, sogar besser als mein Bru»Da hätten wir lieber eine andere genommen!«
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der, aber da war dennoch immer eine Stimme, die sagte, eigentlich gehörst du da nicht hin.« »Wo?« »Ja an die Uni halt, ins Studium. Immer begleitete mich diese Stimme, die sagt: Pass auf, dass die nicht merken, dass du eigentlich nicht hierhingehörst.« »Aber Sie haben doch alle Abschlüsse gemeistert!« »Stimmt schon, auch wieder besser als die meisten, dennoch hatte ich im Examen das Gefühl, mit Fleiß und Glück durchgekommen zu sein.« »Die anderen haben einfach nicht gemerkt, dass Sie eigentlich nichts können!« »Genau so hat es sich angefühlt. Ich war regelrecht überrascht, mit dem Examen in der Hand dazustehen. Nach all der Paukerei wusste ich erst mal nichts mit mir anzufangen. Ich traute mich nicht, mich auf ansprechende Stellen zu bewerben.« »Aber irgendwie hat es doch geklappt.« »Könnte man auch wieder Zufall nennen. Einer der Dozenten hat sich selbstständig gemacht und mich angesprochen, bei ihm zu arbeiten.« »Möglicherweise hat er Sie angesprochen, weil Sie gut waren?« »Ja, inzwischen kann ich das auch so sehen. War aber ein langer Weg. Entscheidend war, mich irgendwann allein selbstständig gemacht zu haben. Das hat mir gutgetan, zu merken, ich kann das allein.« »Und jetzt sind Sie schon viele Jahre lang Vorsitzende Ihres Berufsverbandes!« »Zunächst wollte das ja kein anderer machen. Zunächst war es mir fremd, Vorsitzende zu sein, das kam mir wieder wie eine Anmaßung vor. Aber nun ist es schon anders. Eigentlich halte ich mich inzwischen für eine gute Vorsitzende.« In der Mittagspause bei leckeren Brezeln mit Dipp unterhalten wir uns über unsere Namen: »Ich habe gesehen, dass Sie mit Vornamen Eva heißen. Wie ist das, Eva Adam zu heißen?« »Ja, ich weiß nicht, ob meine Eltern das lustig fanden. Glaube ich aber nicht, die haben das wohl eher religiös gesehen. Mein zweiter Vorname ist nämlich Maria.« »Sind Sie katholisch?« 36
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»Nein, evangelisch, aber meine Eltern haben sich meine Vornamen bewusst überlegt.« »Eva, die Mutter des Lebens, und Maria, die Mutter Gottes. Ganz schön viel Mutter!« »Ich sehe mich schon als Muttertier, wenn es um meine Kinder geht, ich bin ja auch vom Sternzeichen eine Löwin. Die kämpfen um ihre Kinder.« »Und wie haben Sie das mit dem Beruf hinbekommen?« »Der war, als die Kinder kamen, eher zweitrangig, aber jetzt nimmt er schon viel Raum ein. Aber genug jetzt von mir, ich habe schon ausreichend über mich nachgedacht. Hat Ihr Name auch irgendwelche Bedeutungen?« »Manches denkt man sich ja aus. Einer meiner Lehrer sagte einmal, in Schottland gebe es einen Dolch namens ›Dirk‹, dann würde mein Name einen indianischen Klang bekommen: ›Schneidender Dolch‹. ›Kutting‹ könnte man mit etwas Fantasie auch mit ›good thing‹ übersetzen und auch an den Versammlungsort Thing denken. Mein Name würde dann zu einer guten Versammlung einladen. Nett, nicht?« »Und wie kamen Ihre Eltern auf Dirk?« »Kürzlich ist mir eingefallen, dass meine Mutter Sigrid heißt und die letzten vier Buchstaben rückwärts gelesen meinen Vornamen ergeben: ›dirg‹.« »Und war das Absicht?« »Ich habe meine Mutter gefragt, aber sie hat das nicht bestätigt.« Nun kommt unser Essen, das wir uns schmecken lassen.
Achtsamkeit
Sie erinnern sich an den Fragebogen, den Frau Adam ausgefüllt hat? Ich bespreche mit Frau Adam nicht, was sie aufgeschrieben hat. Das Schreiben dient der Vertiefung und persönlichen Auseinandersetzung mit dem stressauslösenden Imperativ. Das ist ein bewusster, kognitiver Vorgang. Ich verzichte deshalb auf eine Besprechung, damit man nicht zu sehr am Rationalen »kleben« bleibt und die Illusion verstärkt wird, man könne eine rationale Lösung für das Problem finden. Oft denken wir, Probleme ließen sich wie Kreuzworträtsel lösen. Leider verfestigt das Nachdenken »Da hätten wir lieber eine andere genommen!«
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das Problem, weil es sich nicht lösen (im Sinne von lockern) kann. Daher wird die Reflexion besser erst im Anschluss an die Meditation vorgenommen, nachdem die bewussten Inhalte jenseits begrifflicher Genauigkeit betrachtet wurden. Die Meditation dient der Erschließung unbewusster Bilder, die im Kontext des Imperativs auftauchen können. Dem Erscheinen dieser Bilder oder den gefühlten bzw. gespürten Reaktionen kann dann im Gespräch nachgegangen werden. Statt also über das Geschriebene zu reden, erkläre ich die sechs Achtsamkeitsstufen (vgl. Mohr, 2014) des Fragebogens. Das hat zwei Funktionen: Erstens informiere ich darüber, was diese Stufen im Kontext von Achtsamkeit bedeuten. Dadurch wird das Thema Achtsamkeit etwas griffiger. Zweitens kann ich mit der Erklärung die kognitive Herangehensweise des Aufschreibens unterbrechen. Die Erklärung ist dann bereits eine Vorbereitung der Meditation, weil durch die Ablenkung während meiner Erklärung bei Frau Adam schon unbewusst ein Klärungsprozess beginnt (vgl. Hütter u. Lang, 2017). Im Folgenden erläutere ich Achtsamkeit und die sechs Aufmerksamkeitsebenen, die dem Fragebogen zugrunde liegen, etwas ausführlicher, als ich es im konkreten Coaching mache. Insgesamt lässt sich Achtsamkeit umschreiben als Ȥ Übung in nicht bewertender Wahrnehmung, Ȥ offenes, nicht urteilendes Gewahrsein, von Augenblick zu Augenblick, Ȥ aufmerksames und unvoreingenommenes Beobachten aller Phänomene, Ȥ wahrnehmen, was in Wirklichkeit ist, Ȥ Vermeidung von Verzerrungen durch »Gefühle«, die durch Denken erzeugt werden, Ȥ rezeptives Gewahrsein, Ȥ Bewusstmachung innerer und äußerer Reize, Ȥ im Moment gegenwärtig bleiben, Ȥ abschalten des Autopilotmodus (= automatisches Reagieren), Ȥ Erfahrungen nicht bewerten und sie so akzeptieren, wie sie sind, Ȥ Dinge betrachten, nicht in Konzepte einschließen, Ȥ Dinge zulassen und erlauben, statt zu vermeiden oder zu unterdrücken, 38
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Ȥ meditieren, um zu meditieren, nicht um zu verändern, Ȥ Innehalten. Die sechs Aufmerksamkeitsebenen sind: Spüren, Fühlen, Denken, Urteilen, Erben, Erleben. Achtsamkeit als körperliche Aufmerksamkeit: Spüren
Wir hatten schon über die Bereitstellungsenergie gesprochen, die Stress erzeugt. Die nicht abgebaute, unterdrückte Energie macht etwas mit uns. Da brauchen wir nur unseren Körper vom Atmen bis zu unserer Haut zu betrachten: Atemlosigkeit, Kopfschmerz, Herzklopfen, Rückenschmerzen, Verstopfung, Durchfall, trockene Augen mit Lidrandentzündung, Tinnitus, Schnupfen, Heiserkeit, Schwitzen, Akne, Neurodermitis können die Folge sein. Achtsamkeit auf der Gefühlsebene: Fühlen
Wenn wir bereit sind, unangenehme Gefühle zuzulassen und zu beobachten, verkürzt das deren Verweildauer. Das Geheimnis liegt darin, sie nicht ergründen oder ändern zu wollen. Oft sind Gefühle Denk-Gefühle, nämlich Bewertungen oder Konzepte nach dem Muster: Situation – Bewertung – Gefühl – Verhalten (Reaktion). Unsere Bewertung einer Situation erzeugt ein Gefühl und löst ein bestimmtes, oft reflexhaftes Verhalten aus. Die konkrete Ausprägung von Gefühlen ist dann eine gelernte Reaktion. Beispiel: Bei meinem Vortrag sehe ich zwei Zuhörer tuscheln, ich denke, das bezieht sich auf meinen Vortrag, ich werde wütend und meine Stimme wird angespannt, ich rede gepresster und lauter, als es nötig ist. Manchmal können aber umgekehrt Kognitionen, bewusste Umdeutungen von Gefühlen helfen, damit es uns in stressigen Situationen besser geht: Wir können Angst als schützende Furcht betrachten, kindliche Wut in mutigen Zorn verwandeln und Trauer als heilsame Resignation sehen. Unsere Scham können wir im Geist bekleiden und so verhüllen, indem wir uns vorstellen, dass unsere Lieblingskleidung uns schützt. Gefühle von Schuld lassen sich überwinden, indem wir uns zu unseren Fehlern bekennen und diese offen »Da hätten wir lieber eine andere genommen!«
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ansprechen. Im Ekel mag sich eine Warnung zeigen, unsere Grenzen zu achten, und selbst das Erbrechen kann als reinigende Abwehr gegen Grenzüberschreitung betrachtet werden. Achtsamkeit und Denken
Der Zusammenhang von Fühlen und Denken (»Bewerten«) wurde soeben angesprochen. Einen der schlimmsten Feinde unserer Achtsamkeit stellt die kognitive Dissonanz dar, die entsteht, wenn sich kognitive Elemente widersprechen bzw. unvereinbar sind. Ich habe einen guten Vortrag ausgearbeitet, es passiert aber, dass ich mich beim Vortrag verhaspele. Es tritt ein Widerspruch zwischen meiner Einstellung (»Mein Vortrag ist gut«) und meinem Verhalten (»Ich verhaspele mich«) auf. Das konkrete Verhalten, den aktuellen Fehler, bewerte ich höher als meine gute Vorbereitung des Vortrags und die an sich guten Inhalte. Ich halte diese kognitive Dissonanz nicht aus und löse sie dadurch auf, dass ich mich für inkompetent halte (»Ich bin ein Versager«). Die Suche nach Einklang ist für unser Gehirn vorrangig gegenüber dem Aushalten eines Widerspruchs (Kahne man, 2012, S. 32 ff.). Wenn ich mich als Versager fühle, fühle ich mich zwar schlecht, aber zugleich ist mein Denken wieder stimmig, meine Welt ist bestätigt. Im Mobbing werden kognitive Dissonanzen bewusst erzeugt. Die Arbeitsleistung wird kritisiert, obwohl sie objektiv tadellos ist; das geschieht so lange, bis die kritisierte Person selbst an ihren eigentlich guten Fähigkeiten zweifelt und das Urteil des oder der Vorgesetzten übernimmt. Die Gemobbten steigern ihren Arbeitseinsatz so lange erfolglos, bis es zum Zusammenbruch kommt. Sie lösen das Dilemma auf Kosten ihrer Gesundheit. Achtsamkeit auf der Ich-Konstrukt-Ebene: Urteilen
Das Ich kann eine Fassade sein: Meine Familie, mein Haus, mein Auto und an erster Stelle: mein Beruf – das bin ich. Das »Ich« tritt nach außen in Erscheinung. Doch wie steht es um mein inneres tragfähiges Selbst? Das Selbst ist der tiefere, innere, durch Vertrauen getragene Teil von mir. Wie bin ich mir unmittelbar gegeben? Wer bin ich, wenn ich mal alle Etiketten weglasse? Welche Titel werden 40
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
nicht alle gerade im Berufsleben wie Orden umhergetragen? CEO, CFO, CHRO, CIO, CKO, CMO, CRO, CTO bis hin zum CVO! Entsprechen die Titel dem eigenen Selbstwert? Entsprechen Sie dem Wert, mit dem hier Anerkennung verliehen wird? Mein Unterscheidungskriterium in der Bewertung von Titeln ist die Frage: Sind Titel Prothesen wie das Zepter eines Königs, die mir etwas zusprechen, was ich nicht bin, oder sind Titel Ausdruck meiner Kompetenz, die sich in meiner Arbeit zeigt und selbstverständlich gegeben ist? Je mehr die Anerkennung durch andere und auf dem Weg von Titeln erreicht werden soll, desto geringer scheint die Selbstachtung zu sein. Die Psychoanalyse unterscheidet zwischen Ideal-Ich und Ich-Ideal (Lacan, 1961/2011). Das Ideal-Ich bezeichnet das Selbstbild, das man anstrebt, etwa: Ich möchte mich als guten Redner erleben. Dem gegenüber steht das Ich-Ideal, das sind die Zuschreibungen, die ich unbewusst oder bewusst mit mir herumtrage, zum Beispiel: Wenn ich eine Rede halte, will ich den Erwartungen meiner Eltern entsprechen, die sie an mich als Kind hatten. – Wir sehen schnell, dass das Ich-Ideal uns Probleme bereiten kann. Das leitet über zum nächsten Punkt. Achtsamkeit auf der transgenerationalen Ebene: Erben
Im Unterschied zu dem bekannten Instanzenmodell Sigmund Freuds (1923), der den psychischen Apparat in Es, Ich und Über-Ich differenziert sieht, spricht der Transaktionsanalytiker Eric Berne (1967) von Eltern-Ich, Erwachsenem-Ich und Kind-Ich. Spannend für unser öffentliches Auftreten wird dies, wenn wir ähnlich einer Tonaufzeichnung, die in uns abläuft, Stimmen der Eltern hören. Manchmal übernehmen wir diese Stimmen und reagieren dann wie unsere Eltern. Ich spüre zum Beispiel sehr genau, dass ich wie mein Vater spreche, wenn ich bei einem Vortrag auf Forderungen zu sprechen komme. Meine Stimme bekommt etwas Knatschiges und ich stecke mehr Energie hinein, als der Sache guttut. Ich erzeuge dann manchmal die Abwehr, die ich als Kind selbst an den Tag legte, wenn mein Vater etwas von mir wollte. Es kann aber auch sein, dass ich nicht die Stimme und Stimmung der Eltern imitiere, sondern auf die Eltern in mir wie ein »Da hätten wir lieber eine andere genommen!«
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Kind reagiere. Wenn man, wie ich, den Vater beruflich überholt und ein besseres Einkommen hat als er einst, dann können Stimmen in einem laut werden, die sagen: »Was maßt du dir da eigentlich an? Hältst du dich für etwas Besseres?« Wenn man auf diese Stimme wie ein Kind reagiert, dann wird man sich schuldig fühlen und kleinmachen, was für eine Vortragstätigkeit nicht zuträglich ist. Auch, wenn man gegen diese Stimme ankämpft und sich sagt, »Ja, ich maße mir das an!«, kostet dies Energie. Hier achtsam zu sein, die Stimmen aus der Kindheit, aus dem Hause der Eltern und Großeltern zu hören, um diese zu identifizieren, ist hilfreich, weil wir uns dann weniger unbewusste Fesseln anlegen (lassen). Wir haben viel von unseren Eltern geerbt, müssen aber nicht jedes Erbe annehmen. Achtsamkeit auf der nondualen Ebene: Erleben
Günther Mohr (2014), auf den ich mich hier berufe, spricht lieber von nondual als von ganzheitlich oder religiös. Er will darauf hinweisen, dass Achtsamkeit mit einem gemeinsamen Spüren, Fühlen und Denken und also verschiedenen Zugangsweisen zu unserer Wirklichkeit zu tun hat. Achtsamkeit hat die integrierende Kraft, verschiedene Modi unserer Wahrnehmung zusammenzubringen. Wenn es darum geht, wirklich etwas wahrzunehmen, dann bilden die Person, die etwas wahrnimmt, und das Wahrgenommene eine Einheit, die die traditionelle Subjekt-Objekt-Spaltung hinter sich lässt. Martin Luther soll gesagt haben: »Dem Menschen fehlt nichts, als dass er einmal eine Kreatur richtig angesehen hat.« Und Friedrich Schleiermacher postuliert: »Das Universum offenbart sich uns jeden Augenblick. […] Alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl« (1799/1958, S. 31 f.). William James bezeichnet Religion als »die Stelle, an der unser Selbstbehauptungswille verstummt«, als »die Gesamtreaktion des Menschen auf das Leben. Man muss durch die Oberfläche der Existenz hindurch hinabreichen zu jenem eigenartigen Empfinden, in dem wir den ganzen Kosmos als etwas ständig Gegenwärtiges erfahren« (1997, S. 67). Schließlich kann sich für Mircea Eliade 42
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
etwas Heiliges in den Gegenständen unserer natürlichen Welt zeigen: »Das ganz Andere, eine Realität, die nicht von unserer Welt ist« (in Schlieter, 2010, S. 183). Wenn wir einen Zugang zur Abwesenheit von willentlicher Intention bekommen und uns eine interesselose Betrachtung unserer Vorhaben und Aufgaben gelingt, dann können wir uns im Gegenstand verlieren, dann werden ich und meine Aufgabe für einen Moment eins. Aber das ist sicher die größte Aufgabe eines jeden Lebens, das Ganze des Lebens in einem jeden Moment genießen zu können. Vielleicht muss oft die Ahnung reichen, dass dies möglich sein könnte. Problem: Ein Imperativ darf kein Mantra werden
Wie gesagt, dienen diese Hinweise der Erläuterung des Fragebogens, sollen aber auch vor dem Meditieren eine kleine Ablenkung darstellen, um unbewussten Prozessen ein wenig Zeit zu lassen, in Gang zu kommen. Ein Hinweis ist jedoch vor der Meditation wichtig: Der Imperativ bzw. sein Alarm »Es kann sein, dass ich nicht dem Bild der perfekten Rednerin entspreche!« darf in der Meditation nicht wie ein Mantra genommen werden, weil er sich dann verstärkt. Ich weise darauf hin, den Satz nicht wiederholt zu denken, sondern ihn nur dann zu betrachten, wenn ich ihn in der Meditation nenne. Ein Mantra kann etwas sehr Sinnvolles sein, wenn ich mein Stärkeempfinden mit einem Leitspruch verankern möchte. Dann dient das Mantra als Autosuggestion. Wenn ich aber den »Alarm« betrachten will, dann darf ich mir diesen nicht wie ein Mantra aufsagen, weil ich dann die mit ihm verbundenen inneren Bilder und Gefühle blockiere. Fürs Mindset: Achtsam sein heißt nicht, sich kleinzumachen. Achtsam sind wir, wenn wir merken, hier stimmt etwas nicht. Gerade bin ich nicht bei mir. Ich lasse mir aus der Vergangenheit etwas sagen, was mir heute nicht guttut. Ich lasse mich von anderen dominieren. – Meistens ist dieses nur gedacht. Ich denke, dass andere mich schlecht bewerten oder dominieren wollen. Ich weiß es nicht. Es tut auch nichts zur Sache. Ich muss diesen Gedanken nicht glauben. Meist liege ich falsch, die anderen sind nicht so schlecht, wie ich denke. »Da hätten wir lieber eine andere genommen!«
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»Ich bin hier die Vorsitzende!«: Die mentale und körperliche Haltung stärken In der Fortsetzung des Coachings mache ich Frau Adam einen Vorschlag: »Ich möchte Ihre Auftrittssicherheit mit ein paar kleineren Übungen verstärken. Eine Freundin von mir macht vor jeder Präsentation vor dem Spiegel folgende Übung, die sich Power-Posing nennt. Sind Sie dabei? Lassen Sie uns die Siegespose einnehmen. Stehen Sie schulterbreit. Das Gewicht gleichmäßig auf die Füße verteilt. Das Brustbein ist gehoben, die Schulterblätter sind gesenkt, die ausgestreckten Arme zeigen in V-Position nach oben« (Albrecht, 2018, S. 48). Wir stellen uns voreinander hin mit zu einem V ausgebreiteten Armen, die etwas vor den Ohren in die Höhe gereckt werden. Ich korrigiere Frau Adams Haltung, damit sie mehr Kraft zeigt: »Der Blick geht nach vorne. Die Augen sind offen. Man muss dabei das Gefühl haben, die Arme fast durchzubrechen, dann kann man den Trizeps spüren und bei voller Spannung auch den Bauch. In dieser Haltung sollten Sie zwei bis drei Minuten verharren. Das darf ruhig anstrengend sein. Genießen Sie die Streckung, lassen Sie den Atem im eigenen Rhythmus fließen.« Während wir in dieser Haltung keine Minuten, aber einige zehn Sekunden verharren, frage ich: »Wie könnte denn nun Ihr Mantra lauten, wenn Sie sich als starke Frau erleben, die sich morgen eine Stunde vor der Eröffnung der Tagung in dieser Haltung vor den Spiegel stellt. Was würden Sie dem Herrn sagen, der der Meinung ist, dass man besser eine andere nehmen sollte?« Frau Adam hält einen Moment inne und schließt die Augen. Als sie sie wieder öffnet, sagt sie in aller Ruhe und Überzeugung: »Ich bin hier die Vorsitzende! Ich mach das!« Ich wiederhole langsam: »Ich bin hier die Vorsitzende! Ich mach das!« Dann sage ich nach einem weiteren stillen Atemzug: »Halten Sie diesen Moment fest! Und jetzt verstärken wir das Ganze noch mal, indem wir die Fäuste ballen und Fäuste und Schulterblätter nach unten reißen und ›Ja!‹ rufen.« Wir machen diesen sogenannten Booster (Albrecht, 2018, S. 51) und bleiben einen Augenblick voreinander stehen. 44
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
»Spüren Sie die Kraft, die in Ihnen steckt! Wie geht es Ihnen?« »Gerade könnte ich Bäume ausreißen, ehrlich! Der Herr Kollege aus dem Vorstand ist mir gerade so was von egal.« »Schön! Setzen wir uns? Haben Sie dafür eine Erklärung?« »Ich spüre es. Ich bin die Vorsitzende. Ich mache das. Das ist meine Aufgabe!« »Ist das authentisch oder professionell?« Sie lächelt: »Wie meinen?« »Sie sagten doch, dass Sie authentisch rüberkommen wollen, wenn Sie die Tagung eröffnen. Wie fühlen Sie sich jetzt? Wollen Sie als Frau Adam die Bühne betreten oder als Vorsitzende?« »Da gibt es kein ›oder‹ im Moment. Ich, Eva Adam, bin seit vielen Jahren die Vorsitzende. Ich bin authentisch in meiner Rolle! Ganz einfach. Ich bin die Vorsitzende!« »Und das ist kein Orden – wie ein Fastnachtsorden oder ein Krönchen wie von einer Weinkönigin?« »Nein. Das ist nicht aufgesetzt, das bin ich.« »Wie fühlt sich das an?« »Na deckungsgleich. Da ist im Moment nichts Fremdes zwischen mir und meiner Rolle. Ich fülle die Rolle mit meiner ganzen Persönlichkeit aus.« »Und Körper und Geist?« »Wie ein gerade geladenes E-Mobil!« »Wie sieht es inzwischen mit dem Alarm aus: Es kann sein, dass ich nicht dem Bild der perfekten Rednerin entspreche?« »Kann sein. Ich bin halt die Vorsitzende. Es gibt bestimmt langweiligere Typen als mich. Ist schon okay.« »Kennen Sie Bert Brechts Geschichten vom Herrn Keuner?« »Nein. Wieso?« »Herr Keuner wird in etwa gefragt: • Was machen Sie, wenn Sie einen Menschen kennenlernen? • Ich mache einen Entwurf von ihm! • Und dann? • Dann schaue ich, dass er ihm ähnlich sieht! • Der Entwurf dem Menschen?! • Nein. Der Mensch dem Entwurf!« »Was hat das mit meinem Alarm zu tun?«, will Frau Adam jetzt wissen. »Ich bin hier die Vorsitzende!«
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»Sagen Sie es mir!« »Ich könnte das Bild der Rednerin nach mir formen und nicht nach dem Bild, das andere davon haben.« »Das wäre sicher eine große Entlastung, wenn wir nicht den Bildern anderer entsprechen, sondern uns selbst.« »Also doch mehr authentisch als professionell?« »Das ist wirklich nicht so einfach. Es gibt Leute, die sagen, wir sind keine Individuen, wir sind Dividuen. Wir sind anscheinend immer eine Mischung aus den Erwartungen, die wir an uns selbst haben, und den Erwartungen, die andere an uns herantragen. Wir sind dann demnach Erwartungsbündel.« »Und was macht man damit?« »Nun, die Frage lautet, wie weit mache ich mich von den Bildern und Erwartungen anderer abhängig? Freiheit gewinne ich erst, wenn ich nicht den Erwartungen anderer entspreche und zugleich den Forderungen meiner Profession genüge.« »Also nicht authentisch?« »Das hängt davon ab, welches Bild von authentisch man hat. Ist authentisch, was die anderen toll finden? Ist es authentisch, jenseits aller sozialen Beziehungen zu leben? Ist es authentisch, nicht innerhalb bestimmter Bedingungen zu handeln?« »Was kann man da tun?« »Sie haben es gerade eben erlebt.« »Was?« »Sie haben vorhin Ihr Mantra empfunden und verkörperlicht: ›Ich bin hier die Vorsitzende! Ich mach das!‹ Sie haben erlebt, dass Ihre Persönlichkeit und Ihre Rolle deckungsgleich waren. Das ist das Wichtigste, dass Sie das spüren und körperlich verankern.« »Und wenn der Glaube fehlt?« »Dann üben Sie es. Wenn Sie ins Fitnessstudio gehen, sind Sie auch nicht nach dem ersten Besuch fit, oder? Das ist Training! Auch mentales Training ist Training. Das kann niemand für uns üben. Mentales Training ist immer Eigenleistung!« »Okay, dann stelle ich mich vor den Spiegel und sage mir: ›Ich bin die Vorsitzende! Ich mach das!‹ Und lade mich auf.« »Ja, und der Glaube kommt aus der Verbindung von Gedanke und Handlung. Das ist zwar eine Suggestion, aber keine Lüge nach dem 46
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
Motto: Denke positiv. Denn das, was Sie verkörpern und denken, muss für Sie stimmig sein. Es ist Ihr Mantra!« »Gut – ich habe vorhin gespürt, dass es stimmt, aber wenn man so redet, verliert es sich wieder.« »Darum regelmäßig üben! Das können Sie übrigens auch unbemerkt in einer Sitzung machen!« »Was?« »Sich mit Energie auftanken!« »Wie?« »Sie können die Powerhaltung zum einen auch im Sitzen einnehmen, wenn Sie allein sind. Wenn andere dabei sind und es brenzlig wird, dann können Sie die ›Instant-Notfall-Position‹ im Sitzen durchführen. Stemmen Sie die Unterarme unauffällig, aber kraftvoll für ein bis zwei Minuten nach unten auf den Tisch, lassen Sie den Atem ruhig fließen. Achten Sie darauf, dass Sie die Schulterblätter ebenfalls kraftvoll nach unten ziehen und das Brustbein nach oben drücken. Schließen Sie nicht die Augen. Behalten Sie den Kontakt nach außen. Das können Sie unauffällig während einer Sitzung durchführen und sich so mit Energie aufladen« (Albrecht, 2018, S. 55). Während wir diese Haltung im Sitzen einüben, klingelt das Telefon. Frau Adam nimmt das Gespräch an, es scheint mit der morgigen Tagung zu tun zu haben. Ich höre nur: »Dieser Flegel! … Schau, dass die beiden nicht abspringen, biete Ihnen an, hundert Euro pro Person mehr zu bezahlen …«
Nach Beendigung des Telefonats sehe ich, dass sich Frau Adams Augen mit Tränen füllen, aber da ist weniger Trauer als Wut zu sehen! Haltung und Energie
Der Psychotherapeut Frank Farrelly (vgl. Farrelly u. Brandsma, 1986) nennt sich selbst »Maschinengewehr des Teufels«, weil er seine Klientinnen und Klienten extrem provoziert. Er erzählt von einer Klientin, die im Morgenmantel zur Sprechstunde in sein Beratungszimmer schlurft. Sie ist ein Ausdruck des Jammers. Farrelly sagt: »Setz dich mal hier hin, altes Mädchen!« Sie schlurft hin. »Ach nein, meine Süße, setz dich doch lieber da rüber!« Sie schlurft hin. »Nee, »Ich bin hier die Vorsitzende!«
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lass mal, setz dich doch lieber hier vorne hin!« Das geht so lange, bis die Klientin mit dem Fuß aufstampft und losschreit: »Ich setze mich hin, wo ich will!« Was ist passiert? Farrelly hat auf sadistische Weise mit ihr gespielt und eine Veränderung des Körperschemas und der persönlichen Haltung erreicht. Plötzlich ist da Energie: »Ich lasse mir nicht alles gefallen!« Genau das hat Farrelly provoziert. Zumindest für einen Augenblick hat die Klientin gezeigt, dass sie dem Bild der energielosen Kranken nicht entsprechen muss, sondern auch jetzt Energie in ihre Haltung bringen kann. Beide Male sind Körper und Seele identisch, sowohl als »Kranke« als auch als »Wütende«. Vom Kopf zum Bauch: Die Seele beeinflusst den Körper
In einer Untersuchung wurde die Körperhaltung von männlichen Highschool-Absolventen analysiert, unmittelbar nachdem diese über ihre Examensnote in Kenntnis gesetzt worden waren (Storch, Cantieni, Hüther u. Tschacher, 2017, S. 37). Diejenigen mit den besten Noten richteten sich mehr auf, diejenigen mit schlechten Noten nahmen eine gebeugte Haltung ein. Die im mittleren Notenbereich zeigten keine Veränderung der Körperhaltung. Daraus wird gefolgert: Psychisches Erleben findet seinen Niederschlag auch im äußerlich sichtbaren Körpergeschehen. Das ist für uns leicht nachvollziehbar. Was aber, wenn solche Erfahrungen wie die negative Bewertung durch ein Examen seelisch-körperlich auf Dauer gestellt wird? Wenn wir uns als Loser fühlen und dies ungewollt körperlich zum Ausdruck bringen? Ist da nichts zu machen? Die Schwierigkeit liegt in unserem »Autopiloten«, der keine Veränderungen will. Wir können aber ein neues Wegenetz lernen, um eingeschliffene Muster zu überwinden! Vom Bauch zum Kopf: Der Körper beeinflusst die Seele
Muster lassen sich überwinden, weil glücklicherweise der Weg genauso gut andersherum läuft. Wir können uns beeinflussen, indem wir die körperliche Haltung einnehmen, die unserem inneren Gefühl entsprechen soll. Eine aufrechte, gut gelaunte Haltung macht etwas 48
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
mit uns. Das lässt sich experimentell nachweisen. Die Erfahrung lehrt, dass, wenn wir bestimmte Gesichtsausdrücke annehmen, die dargestellten Emotionen auch empfinden: Wenn ich lächle, fühle ich mich wohler. Wenn ich traurig dreinschaue, dann überkommt mich auch mit der Zeit ein Gefühl der Trauer. Im Experiment (Storch et al., 2017, S. 41) wurde versucht, eine Anordnung zu finden, bei der Menschen Gesichtsausdrücke darstellen, ohne zu wissen, welche Emotion mit ihnen verbunden ist. Dazu wurden die Versuchspersonen in drei Gruppen eingeteilt und gebeten, einen Stift entweder mit den Lippen, den Zähnen oder der nicht dominanten (meist linken) Hand zu halten. Hält man den Stift mit den Zähnen, werden Muskeln aktiviert, die man zum Lächeln braucht. Hält man den Stift mit den Lippen wird die Aktivierung genau dieser Muskeln verhindert. Das Halten mit der Hand war zur Kontrolle eingeführt worden, weil hier keine Gesichtsmuskeln aktiviert werden. Die Teilnehmenden wurden über den wahren Sinn der Untersuchung getäuscht, ihnen wurde aufgetragen, Bilder zu malen, ohne die rechte Hand benutzen zu dürfen. Anschließend sollten sie beurteilen (durch Skalierung), ob sie Comics lustig fanden oder nicht. Ergebnis: Die Gruppe, die den Stift lachmuskelaktivierend mit den Zähnen hielt, hatte die höchsten Lustigkeitsempfindungen, die Gruppe, die den Stift mit den Lippen führen musste, schätzte die Lustigkeit am niedrigsten ein. Dies zeigt: Die Gesichtsmuskulatur hat Einfluss auf die Stimmung, auch ohne Bedeutungsgebung! Lächeln macht eine bessere Stimmung. Das muss nichts mit Schauspielerei zu tun haben, sondern mit einer bewussten körperlichen Haltungsänderung, die auch unsere innere Haltung verändern kann: »no motion without emotion«! Nonverbale Kommunikation
Wie kann man nonverbal körperlich Menschen beeinflussen? Falsche Frage, wir tun es! In der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten bat Jon KabatZinn sie, jeden Krankenbesuch mit der Frage zu beenden: »Haben Sie noch eine Frage an mich?« Dadurch, so hoffte er, verbessere sich »Ich bin hier die Vorsitzende!«
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das Verhältnis von Behandelnden und Behandelten, weil die Frage Vertrauen schaffe. Zu seiner Verblüffung hatten die Patientinnen und Patienten keine Fragen. Wie war das zu erklären? Kabat-Zinn betrachtete Videoaufzeichnungen der Behandlungen und konnte sehen, dass die Fragenden ihre Erkundigung »Haben Sie noch eine Frage?« mit langsamem Kopfschütteln begleiteten. Nonverbal wurde die Frage in ihr Gegenteil gekehrt und die Reaktion ausgelöst, die die jungen und unerfahrenen Ärztinnen und Ärzte haben wollten, denn Fragen verunsichern (Kabat-Zinn, 2013, S. 302 f.). Wie können wir nun umgekehrt Menschen dazu bringen, uns zuzustimmen, obwohl sie es ursprünglich nicht wollten? Richtig, wir müssen sie zum Kopfnicken bringen. In einem Experiment (Storch et al., 2017, S. 49 ff.) wurde die Hypothese überprüft: Kopfnicken ist unvereinbar mit ablehnenden Gedanken! Dazu wurde folgende Cover-Story erfunden: Studierende wurden zum Kopfhörertesten eingeladen. Es ging angeblich um deren Tragekomfort. Gruppe eins musste nicken, Gruppe zwei musste den Kopf schütteln, Gruppe drei nichts tun. Ein Beitrag zur Erhöhung von Studiengebühren wurde neben Musik eingespielt. Schließlich wurden die Testpersonen am Ende gefragt, welche Höhe von Studiengebühren sie für angemessen hielten: Die Teilnehmenden aus Gruppe eins (Kopfnicken) gaben im Schnitt 646 USD als angemessen an, die Neutralen aus Gruppe drei 582 USD und die Personen aus Gruppe zwei (Kopfschütteln) 467 USD. Nonverbale Signale können unsere Zuhörerinnen und Zuhörer beeinflussen und machen, wie wir schon sahen, 55 Prozent der Kommunikation aus, Worte und Inhalt hingegen nur 7 Prozent (Pyczak, 2019, S. 77). Körpersprache
Die Körpersprache ist evolutionär betrachtet unsere erste Sprache. Das Lesen von Körpersignalen kann überlebenswichtig sein. Man denke nur an Gewaltakte. Wir sollten uns klarmachen, dass es bei unseren Auftritten nicht ums Überleben geht. Ein besseres Ziel ist es, zu einer Stimmigkeit von Intonation, Inhalt und Körpersprache zu kommen. So können wir eine kognitive Dissonanz zwischen Selbstdarstellung und Selbstbewertung vermeiden. Unsere Körperhaltung 50
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beeinflusst, wie wir über uns denken und wie wir uns fühlen. Unser Körperausdruck verändert unser Bewusstsein und unseren Gemütszustand. Die innere Haltung wirkt sich auf unseren Auftritt aus und wird für unser Gegenüber sichtbar. Bei all unseren Auftritten zeigt sich entweder ein »Hochstatus«, durch den wir selbstsicher, kraftvoll, übergeordnet und dominant wirken, oder aber ein »Tiefstatus«, der uns unsicher, weich, untergeordnet oder unterworfen erscheinen lässt (Timpner u. Eckert, 2016, S. 58 ff.). Wir müssen aber festhalten, dass nicht das eine gut und das andere schlecht ist. So kann ein dauernder Hochstatus bei unseren Zuhörenden Angst und Widerstand auslösen. Scheinbar am besten ist es, wenn wir einen inneren Hochstatus aufbauen können, bei dem Körperlichkeit und Selbstwertgefühl in einem guten Sinne kongruent sind, wir aber zugleich in unserer Außenwirkung zwischen Hochund Tiefstatus hin- und herwechseln können. Dann fühlen wir uns zwar stark, können aber weich auf die Anliegen anderer eingehen. So entsteht Augenhöhe. Von tief zu hoch lautet der Leitsatz: »Jetzt bin ich dran!« Von hoch zu tief: »Jetzt bist du dran. Ich höre dir zu!« Übung: Wir können versuchen, dem oder der anderen Worte wie ein Geschenk zu überreichen, und stellen uns vor, es seien Pralinen. Dazu zählen wir 21, 22, 23, 24, 25. Dies können wir durch Lächeln und eine leicht geneigte Kopfhaltung unterstützen. Eine Hand legen wir auf die Brust und die andere bietet an. Auch die Gestik lässt sich üben; es macht einen Unterschied, ob ich auf jemanden mit dem Finger zeige und befehle: »Komm nach vorne!«, oder ob ich mit geöffneter, weicher Hand ermuntere: »Komm doch bitte mal nach vorne!« In der ersten Situation provozieren wir unmittelbar Widerstand, in der zweiten laden wir ein. Stellen Sie sich vor, Sie laden zum Tanz ein. Präsenz zeigen
Präsent sein kann ich, wenn ich stimmig bin. Stimmig bin ich in Übereinstimmung von Person und Rolle und in Übereinstimmung von Seele und Körper. Ich bin im Moment verankert und nicht mit anderen Dingen beschäftigt. »Von meiner Körpermitte geht ein »Ich bin hier die Vorsitzende!«
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strahlendes Licht aus.« Ich lasse mein Licht leuchten und stelle es nicht verschämt unter den Scheffel. Ich achte auf das, was ich tue. Spüre den Bodenkontakt, zentriere mich innerlich. Ich kann den Fokus wechseln vom Blick auf Einzelne/-s zum Überblick über alle/-s. Meine Körperspannung wechselt mit Entspannung und erzeugt Aufmerksamkeit. Mir gelingt es, möglichst viele Teilnehmende an meinen Veranstaltungen zu aktivieren. Als Mittel bei Unaufmerksamkeiten und Störungen dienen mir folgende Verhaltensweisen: anblicken, abbrechen und schweigen, eine Handbewegung Richtung Störerin oder Störer, Zeigefinger kurz an den Mund legen, still werden, die Stimmlage ändern, eventuell flüstern, mit dem Stift einmal kurz auf den Tisch klopfen, auf den Platz, den ich einnehme, achten. Ich gestalte mein Verhalten unabhängig davon, wie mir andere begegnen, und bleibe mir treu. Wenn jemand über meine Grenzen tritt, sage ich mir, das Land, das du betrittst, ist heiliges Land. Im Extremfall werde ich zum Fels und werde still, weil ich meine »Perlen« nicht vor die »Säue« werfe. Ich verausgabe mich nicht umsonst. Person und Rolle stimmen überein, weil die Rolle meine Rolle ist und ich ich selbst bin, wenn ich die mir gegebene Rolle bewusst annehme und persönlich ausfülle. Die Rolle bin auch ich, sie verändert mich, wie sich ein Ring verändert, wenn er bei der Hochzeit an den Finger gesteckt wird. Der Ring erlangt eine neue Bedeutung, auch wenn er sich physikalisch nicht verändert. Der Ring (die Rolle) gehört aber künftig zu mir, er (sie) ist mir nicht übergestülpt, er (sie) ist ich. Ich bin präsent in der Rolle. Genauso ist es mit Seele und Körper. Wenn beides eins ist, sprechen wir vom Leib – das, was wir erleben und erlebt haben, ist leibhaftig. Wenn wir leibhaftig präsent sind, dann ist das keine Vorstellung und keine gedankliche Kon struktion, sondern Ausdruck unseres erlebenden Leibes und des leibhaften Erlebens. Wir zeigen Präsenz. Einübung von Körperhaltungen zur Stärkung unserer Selbstwahrnehmung: Power-Posing
Diese Präsenz wird durch eine aktive Einübung bestimmter Körperhaltungen oder Posen vertieft, geformt und bestärkt, die ich im Folgenden kurz beschreibe. Die Siegespose (Albrecht, 2018, S. 41), 52
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
das hohe V – Arme nach oben, Körper strecken, Blick nach vorn oben. Diese Pose gilt (noch) nicht für Zuschauende, sondern dem inneren Erleben. Die Königspose (S. 42), das weite V – Arme werden weit geöffnet, die aufgebaute innere Kraft wird nach außen gebracht. Der Booster (S. 43), die Faust als Verstärker. Die Faust wird geballt und von der Brust aus nach unten gezogen. Das kann man mit einem »Ja« unterstützen. Das Power-Posing hilft uns, für uns selbst Stärke zu erleben, aber sie auch zu zeigen. Das ist alles andere, als sich in der Meeting-Pause auf der Toilette vor einen Spiegel zu stellen, sich zu ohrfeigen und sich aggressiv zu pushen. Da wird keine Stimmigkeit hergestellt, sondern ein Brett auf eine Stahlfläche genagelt. Das ist unglaubwürdig. Power-Posing ist glaubwürdig (auch wenn es auf der Toilette vor dem Meeting praktiziert wird!), weil ich mich nicht anlüge, sondern mich in mir einfinde und mich in meiner vorhandenen, wenn auch vielleicht noch nicht richtig wahrgenommenen Stärke sehe. Deswegen helfen da auch ein Spiegel und das vorbehaltlose Ja zu sich zu sagen. Das ist nicht narzisstisch! Narzisstische Menschen können nicht vorbehaltlos Ja zu sich sagen, das sollen andere für sie tun. Beim Power-Posing ist das eigene Wohlwollen Ausgangspunkt für das Wohlwollen anderen gegenüber. Power-Posing ist mentales Training: Brain Gym und Body Gym in einem. Finden eines Mantras zur Stärkung unseres Körperausdrucks
»Ich bin stimmig, glaubwürdig, überzeugend.« Wenn Sie sich zwei Minuten im Power-Posing vor den Spiegel stellen, verstärken Sie Ihre Wahrnehmung durch ein für Sie und Ihren jeweiligen Auftritt passendes Mantra. Achten Sie dabei darauf, dass Sie sich keine einfachen »Denk positiv«- oder »I kill you all«-Phrasen beibringen. Kein Mantra, das uns fremd ist, kann uns unserer selbst vergewissern. Keine unglaubwürdigen Ziele lassen sich mental verankern. Keine Bilder von Vorbildern, denen wir nicht entsprechen, machen uns Mut. Es geht um Ihre Stimmigkeit und um Ihren Auftritt. Sie wollen niemanden imitieren. Sie wollen Ihr Mantra finden. Eine kleine Auswahl als Gedankenimpulse für Ihre Suche:
»Ich bin hier die Vorsitzende!«
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»Ich bin ein Fels und lasse mich nicht aus der Ruhe bringen.« »Ich halte den Stürmen stand.« »Ich bin nur mir verantwortlich und frei wie ein Adler.« »Ich gehe meinen Weg und schaue nach rechts und links.« »Ich bin ein Fluss, der auch im seichten Gelände vorankommt.« »Bogen, Pfeil und Ziel sind eins.« »Ich stehe fest verwurzelt wie eine Eiche.« »Ich schlage den Knoten durch.« »Ich sehe Licht am Ende des Tunnels.« »Ich verbinde Hoffnung und Gelassenheit.« »Es ist, wie es ist, und es ist gut.« »Du kannst nichts tun, gib dein Bestes und werde glücklich.« »Ich gehe den ersten Schritt.« »Ich erfahre Schwerkraft und Gnade.« »Ich unterscheide Widerstand und Ergebung.« »Ich übernehme Verantwortung und leiste mir Fehler.« »Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig.« »Ich hebe den Blick frei.« »Ich weiß, wo es langgeht.«
Haben Sie Lust, ein Mantra für sich zu entdecken? Dann können Sie sich gern über Folgendes Gedanken machen4: Ich kann gut (je drei Nennungen): privat beruflich Ich bin (je drei Nennungen): privat beruflich
4 Die folgenden Übungen finden Sie auch im Downloadbereich unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/Buehne_frei.
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Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
Ich mag an mir (drei Nennungen): Mein Kernwert: Mein Mantra! (drei Worte oder ein Satz) Nehmen Sie dazu eine körperliche Haltung ein! Fürs Mindset: Unsere Rolle schützt unsere Person. Wir verstecken uns nicht hinter unserer Rolle, aber wir füllen sie aus. Die Rolle gibt uns Kraft, weil wir sie nicht begründen müssen, es gibt sie schon länger, als es uns gibt. Die Rolle schützt unsere Person und bringt das Stärkste unserer Person zum Vorschein, unser professionelles Können. Dazu müssen wir keine Show initiieren, sondern nur zeigen, was wir zeigen sollen, wollen und können.
»Ich bin hier die Vorsitzende!«
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»Hör auf! Lass das!«: Sich gegen Störmanöver abgrenzen Frau Adam stellt das Telefon aus. »Darf ich fragen, worum es ging?«, erkundige ich mich. »Ja, ist okay. Es ging natürlich um morgen, wirklich zu dumm, dass wir uns erst heute treffen konnten, ich fehle da heute bei der Vorbereitung der Tagung. Dummer Unfall.« »Was ist los?« »Das läuft alles so gut. Wir haben so ein tolles Team. Auch die Kooperation mit den Hochschulen ist einfach prima, und erst recht die studentischen Hilfskräfte. Nur dieser Flegel muss immer dagegenschießen und weiß sich nicht zu benehmen.« »Welcher Flegel?« »Ein Professor, unser Kontakt zur Uni.« »Inwiefern schießt er immer dagegen?« »Er meckert und nörgelt an allem herum und am schlimmsten, die beiden wichtigsten studentischen Hilfskräfte, zwei Studentinnen, die so viel für uns tun und selbstverantwortlich arbeiten, die musste er heute Morgen fertigmachen wegen irgendwelcher Lappalien. Die wollten gerade ihr Zeug packen und gehen.« »Deswegen die Sache mit dem Geld?« »Ja, ich habe meine Kollegin vor Ort gebeten, sie zu bitten zu bleiben und ihnen dafür hundert Euro mehr zu bezahlen. Das war sicher die letzte Zusammenarbeit mit dem Scheusal, da suche ich mir einen anderen Kooperationspartner. Das mit den beiden Studentinnen wird zum Glück wohl funktionieren.« »Aber?« »Aber ich habe Angst, dass ich morgen Abend wieder wütend werde und mir vor Zorn dann doch die Tränen kommen, wenn ich diesem Scheusal begegne.« »Das muss nicht sein. Das können wir üben. Aber zunächst, was macht er genau, haben Sie ein Beispiel?« »Da kann ich viel nennen. Zum Beispiel stellt er mir plötzlich und unvermittelt irgendwelche Fragen nach irgendeinem Detail, das ich angeblich wissen soll, die ich aber nicht beantworten kann, weil ich dazu in meinen Unterlagen nachschauen müsste. Also steht man dumm da und bekommt von ihm gespiegelt, dass man inkompetent sei.« 56
Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf
»Und bezogen auf die Studentinnen?« »Die zeichnen sich ja eigentlich durch Sachkompetenz aus und bereiten viel vor im Vorfeld unserer Jahrestagung, vor allem auch inhaltlich, also die haben recht große Rechercheaufgaben am Bein. Bekommen die auch prima hin. Je näher dann die Tagung rückt, müssen sie auch ganz konkrete Dinge tun. Ich sage mal, Einladungen rausbringen, bestimmte Plätze reservieren, die Presse kontaktieren, bis hin zum Blumenschmuck etc. auf der Bühne. Läuft alles prima. Und dann kommt der Herr Kollege ins Spiel, es sind ja seine Studentinnen: ›Habe ich nicht gesagt, das Pult soll da stehen. Habe ich nicht gesagt, keine gelben Servietten, wir sind hier doch nicht bei der FDP.‹ So geht das, er ist dann auch ständig da, muss er gar nicht. Ich weiß auch nicht.« »Warum ist er denn überhaupt dabei?« »Ganz ehrlich gesagt, er ist einfach genial in seinem Gebiet und kann jede Tagung mit Informationen bereichern, die sonst einfach fehlen würden.« »Trotzdem wollen Sie nun einen Schlussstrich ziehen?« »Muss wohl so sein!« »Haben Sie eine Fantasie, warum er sich so verhält?« »Kann ich nicht sagen.« »Verhält er sich auch Männern gegenüber so?« »Ist mir in dieser Massivität noch nicht begegnet.« »Vielleicht bereitet es ihm Lust, Frauen abzuwerten und zu erniedrigen!« »Meinen Sie, da liegt der Hase im Pfeffer?« »Was denken Sie?« »Kann schon sein, dass er eigentlich den Minderwertigkeitskomplex hat, den er den Frauen unterjubeln will.« »Kann sein, wir müssen ja auch nicht seine Probleme analysieren, aber es hört sich schon ein wenig, ich möchte mal sagen, gewalttätig an, wie er sich verhält. Normalerweise hat man in Konflikten mehrere Möglichkeiten. Man kann nachgeben, das kann schlecht sein, weil man dem anderen sein Verhalten durchgehen lässt. Man kann aber auch widerständig sein, indem man bewusst und aktiv nachgibt, einfach weil man so schlau ist, die eigene Kraft zu sparen. Mein alter Freund Andreas sagte immer: Ich nutze die Technik der zurückweichenden Wand und biete keine Angriffsfläche. Das scheint hier nicht die beste »Hör auf! Lass das!«
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Lösung. Dann kann man sich kleinmachen und sagen, bitte tu mir nichts. In diesem Fall sicher auch nicht gut. Dadurch fühlt der andere sich nur bestätigt. Man kann ein Stück weit mit ihm mitgehen und ihn bestätigen. Ihn quasi umarmen. Passt hier wohl auch nicht, weil er anscheinend nie genug Bestätigung bekommen kann. Sie haben vorhin gesagt, dass Sie ihn für genial halten. Also sind Sie ja auch schon mit ihm ein Stück gegangen, ohne ihn bedroht zu haben. Ich glaube, es hilft nur, wenn Sie lernen, standzuhalten.« »Das soll ich hinbekommen?«, ist sich Frau Adam unsicher. »Da bleibt Ihnen wohl nichts anderes übrig. Leider. Gewalttäter. Ich benutze das Wort jetzt sicher etwas überzogen, aber absichtlich. Sagen wir in diesem Fall Männer mit einem hohen Gewaltpotenzial, wie Ihr Professor, schauen, wie weit sie gehen können, da sind sie sehr sensibel, und wenn sie das rausbekommen haben, dann gehen sie einen Schritt weiter und so fort, das hört nicht auf, bevor eine klare Grenze gezogen wird.« »Wie?« »Eine klare Körpersprache anwenden. Situation erkennen und gleich, das heißt so früh wie möglich, abstoppen. Augenkontakt herstellen. Grenzen setzen. Den eigenen persönlichen Raum wahren und seinen Raum einschränken.« »Das kann ich üben?« Sie schaut etwas zweifelnd. »Klar können Sie das üben! Aber am wichtigsten ist, dass Sie es fühlen und glauben. Der wichtigste Punkt ist, dass Sie Ihrem Gefühl vertrauen.« »Und wenn nicht?« »Dann überlassen Sie diesem Mann das Feld.« »Und wie kann ich meinem Gefühl vertrauen?« »Sie tun es bereits!« »Wie?« »Sie haben es doch vorhin schon empfunden, als Sie Ihr Mantra entwickelt haben, gegenüber Ihrem Vorstandskollegen! Sie haben gesagt, dass Sie sich als Person in Ihrer Rolle als deckungsgleich empfinden.« »Stimmt. Dann soll ich zu dem Rüpel sagen: ›Ich bin hier die Vorsitzende!‹?« »Warum nicht, wenn Sie in diesem Zusammenhang das Sagen haben. Aber vielleicht fällt Ihnen hierzu noch ein besseres Mantra ein. Bei 58
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Ihrer Rolle als Vorsitzende geht es schließlich darum, dass Sie diese Rolle einnehmen und für sich selbst glaubhaft verkörpern. Da ist der Satz ›Ich bin hier die Vorsitzende!‹ sehr wichtig. Aber in erster Linie gilt dies für Ihre Selbstwahrnehmung. Bei unserem Professor ›Rüpel‹ (sie lacht) geht es darum, Ihre Fremdwahrnehmung zu stärken. Welches Mantra bzw. auch welcher laut ausgesprochene Satz hilft Ihnen, damit er merkt: Bis hierhin und nicht weiter?« »Das wird er mir abnehmen?« »Haben Sie einen Hund?« »Ja, warum?« »Was sagen Sie, wenn er Mist baut?« »Aus, sitz!« »Zeigen Sie mir das mal!« »Okay??«, sagt sie etwas verdutzt. »Stehen wir auf. Stellen Sie sich vor, ich wäre Ihr Hund, jetzt sagen Sie mir: ›Aus, sitz!‹ Nicht dass ich darauf entsprechend reagiere, ich will nur spüren, ob es ankommt!« Wir lachen beide. Frau Adam stellt sich vor mich hin: »Aus! Sitz!« Ich bin nicht zufrieden, das löst keine unmittelbare Reaktion bei mir aus. »Stellen Sie sich wirklich Ihren Hund vor, der vom Mittagstisch eine Bratwurst klauen will!« »Okay!« Sie sammelt sich einen Augenblick, dann bricht es aus ihr heraus: »Aus! Sitz!« Ich zucke etwas zusammen, das kam an. »Sie merken schon den Unterschied?« »Ja super, fühlt sich gut an, aber das kann ich doch Professor Lümmelmann (so langsam fangen wir an, Spaß an einer etwas verspielten Aggressivität zu bekommen) nicht sagen.« »Duzen Sie sich?« »Ja.« »Dann sagen Sie mir einen Befehl, der einen Menschen anspricht, den Sie duzen!« Frau Adam hält einen Moment inne, dann fährt sie mich an: »Hör auf! Lass das!« Sie lässt das sehr überzeugend raus. Dabei geht sie jedoch einen Schritt zurück. »Hör auf! Lass das!«
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»Ganz toll gemacht, das kam verbal wirklich an! Vor allem die beiden Zischlaute!« »Verbal?« »Ja. Stimme, Mimik, Worte, alles prima. Nur sind Sie dabei zurückgegangen, das ist das falsche Körpersignal. Wenn Sie standhalten wollen, dann müssen Sie auch standhalten. Also auf der Stelle stehen bleiben und unter keinen Umständen zurückweichen. Sprache und Körpersprache sollten kongruent sein. Versuchen wir es noch mal. Ich komme jetzt von vier Metern Abstand aus auf Sie zu und Sie stoppen mich, wenn Sie es für richtig halten.« Ich bewege mich langsam auf sie zu. »Hör auf! Lass das!«, bekomme ich mit ca. zweieinhalb Metern Abstand entgegengerufen. Ich stoppe! »Zufrieden?«, will Frau Adam wissen. »Ja, sehr, Sie machen das gut! Was können Sie mit den Händen tun?« »Ich kann meine rechte Hand so abwehrend nach vorne drücken!« »Und die linke Hand?« »Na, das sieht komisch aus, wenn die auch noch nach vorne schnellt!« »Stimmt. Probieren Sie einmal aus, wenn die rechte Hand offen mit gespreizten Fingern noch vorne schnellt und die linke Hand sich dabei schützend auf die Brust legt. Probieren Sie es aus.« Sie tut es. »Hör auf! Lass das!« »Wie fühlt es sich an?« »Gut. Stimmig. Und das soll ich jetzt morgen dem Sie-wissen-schonwer sagen?« »Nein. Das müssen Sie nicht. Es kommt nur auf Ihre innere Haltung und die stimmige Verkörperung an. Dann werden Sie alles richtig machen, nicht zurückweichen, sondern Grenzen zeigen und sich wehren.« »Da bin ich mal gespannt.« »Sie glauben sich nicht?« »Doch schon, aber ich möchte es noch mehr spüren.« »Vielleicht versuchen Sie es noch mal, sagen wir mal, ökonomisch, Sie führen die Bewegung recht sparsam aus und sagen die Worte überzeugt, sodass es für Sie stimmt, ohne viel Kraftaufwand.« Frau Adam macht es. »Bei mir kommt dies sehr deutlich an«, bemerke ich. 60
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»Ja, für mich hat es sich jetzt am klarsten angefühlt. Mit dieser Haltung wird niemand über meine Grenzen gehen. Ich fühle mich wie die Löwenmutter, die ihre Jungen beschützt.« »Gutes Bild, behalten Sie auch das. Sie sehen, es liegt nicht an der nach außen transportierten Kraft, sondern einzig an der inneren Stärke und Überzeugung. Und nun lassen Sie uns einen Stare Down Battle machen.« »Ein was?« »Stare Down Battle. Der wird beim Boxen oder bei den Mixed Martial Arts vor einen Kampf als Ritual vollzogen. Die zwei Kontrahenten stehen Aug in Aug einander gegenüber und schauen sich reglos in Kampfhaltung an. Wer zuckt, hat verloren. Das ist natürlich ein billiges Hahnenkampfverhalten, das irgendwo tief aus unseren biologischen Wurzeln herrührt, aber cool ist es schon. Üben?« »Ja, und dann soll ich ›Hör auf! Lass das!‹ sagen und meine Handbewegung machen?« »Nein. Wir stellen uns gegenüber und ballen die Fäuste, wie vorhin am Schluss des Boosters nach unserer Siegespose. Wir schauen uns in die Augen. Sie nehmen währenddessen den Satz ›Hör auf! Lass das!‹ als Mantra im Kopf zu Hilfe, um sich zu stärken.« »Kann ich auch etwas anderes nehmen?« »Klar, was?« »Ich denke lieber ›Mich kriegst du nicht unter!‹« »Und wie wäre ›Ich bleib stehn!‹?« »Ja, das ist perfekt, das nehme ich!« Wir stellen uns nahe gegenüber, ballen die Fäuste, die Gesichter sind höchstens dreißig Zentimeter voneinander entfernt. Das halten wir sechs, sieben Sekunden lang aus, lachen oder schmunzeln nicht. Als ich die Übung beende, geht Frau Adams linke Augenbraue leicht fragend nach oben. »Ja, wieder gut gemacht, am Ende habe ich ein leichtes Fragezeichen in Ihrem Gesicht gesehen. Haben Sie das gemerkt?« »Ja stimmt. Da wollte ich vielleicht Ihre Zustimmung.« »Brauchen Sie nicht, nur Ihr Gespür der Stimmigkeit zählt. Noch mal?« Wieder stellen wir uns voreinander hin und wiederholen das Stare Down. »Hör auf! Lass das!«
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»Ja, jetzt passt es«, sagt Frau Adam. »Es ist wirklich da: ›Ich bin die Vorsitzende!‹; ›Hör auf! Lass das!‹; ›Mich kriegst du nicht unter!‹; ›Ich bleibe stehen!‹. Alles war bei mir auf einmal da, dabei habe ich die Sätze nicht einmal gedacht. Es war einfach da!« »Das habe ich gemerkt. Behalten Sie diesen Augenblick. Heben Sie ihn gut auf!« »Ach, wenn das ginge. Morgen ist es dann wieder weg.« »Dann müssen Sie Ihren eigenen mentalen Trainingsplan schreiben!« »Auch das noch, wie soll das nun wieder gehen?« »Ich denke mal, für heute haben wir genug gearbeitet. Kann es für heute so stehen bleiben? Ich bin mir sicher, Sie bekommen das morgen gut hin. Sie werden mit sich zufrieden sein. Für so eine Art Skript, von dem Sie noch längere Zeit profitieren können, könnte ich nächste Woche noch mal für zwei, drei Stunden kommen. Wäre Ihnen das recht? Dann können wir auch gemeinsam schauen, wie es Ihnen beim Vortrag ging. Sollen wir?« »Ja, dann geht es mir bestimmt besser, wenn alles vorbei ist. Ich bringe Sie noch zum Bahnhof.« »Vielen Dank!«
Stare Down
Bei vielen Kampfsportveranstaltungen (wie Boxen oder Mixed Martial Arts, MMA) gibt es im Vorfeld ein Stare Down, bei dem sich die Kontrahentinnen oder Kontrahenten gegenüberstehen und versuchen, dem Blick der oder des anderen standzuhalten und ein typisches Dominanzverhalten an den Tag zu legen. Eine der dominantesten Stare-Down-Vorstellungen gab vor ein paar Jahren die siebenfache MMA-Weltmeisterin Joanna Jędrzejczyk. Dabei provozierte sie ihre Gegnerinnen so sehr, dass sich viele davon beeindrucken ließen. Nicht so jedoch Rose Namajunas, sie galt als absoluter »Underdog« und gewann dennoch gegen Joanna in der ersten Runde durch K. o. Nach dem Stare Down wurde sie gefragt, was sie vor sich hingemurmelt habe. Ihre Antwort: »Ich betete ein Vaterunser.«5 Nach dem Sieg verriet sie, dass sie sich mental mit 5 https://www.youtube.com/watch?v=xLLJFxN5eK0.
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einem Mantra auf den Kampf vorbereitet habe, um sich vor den Widrigkeiten und Anfeindungen, die ihr begegneten, zu schützen: »Confidence, conditioning, composure, content. I’m a champion.« In dem Moment als sie den Weltmeisterinnengürtel umgelegt bekam, sagte sie im Interview: »Das bedeutet nichts. Das hier ist nur Unterhaltung. Es kommt darauf an, aus der Welt einen besseren Ort zu machen. Wir haben die Pflicht, als Kämpfende ein besseres Vorbild zu sein, ein gutes Beispiel zu geben.«6 Stellen wir uns die Aufgabe, ein Mantra zu formulieren, das unsere Stärken, Fähigkeiten und Werte in wenigen Worten zusammenfasst, und nehmen wir dies mit in die Herausforderung, Vorträge zu halten, bei denen einzelne Personen im Publikum Vorbehalte gegen uns haben. So ein Mantra könnte lauten: »Sei klar, offen, kampfstark!« Dies sollten wir auch üben – entweder Face to Face mit einem oder einer Bekannten oder mit uns selbst vor dem Spiegel. Es geht darum, dem Blick standzuhalten und auf Lächeln und andere Ausweichmanöver zu verzichten. Stoppsignale
Auch »Stopp« zu sagen kann man üben. »Stopp, das reicht jetzt!« Das kann man wieder zu zweit ausprobieren, bis es passt, das heißt, das Stopp kommt, ohne aggressiv zu sein. Bestimmt sein muss nicht aggressiv sein. Sie werden die Erfahrung machen, je überzeugter Sie sind, desto weniger Energie müssen Sie in Ihre Stimme und Ihre Gestik legen. »Ganz ruhig, alles in Ordnung!« Bei dieser deeskalierenden Äußerung führen wir die offenen Hände in Richtung des Gegenübers auf unsere Hals-Kinn-Höhe und halten sie mit ca. 20 Zentimeter Abstand. Denn wenn nun jemand wirklich aggressiv reagieren würde, könnten wir schnellstmöglich unser Gesicht schützen. Die Beschwichtigung dient zugleich als Vorbereitung unseres Schutzes. »Halt, jetzt rede ich!« Auch das sollte man ausprobieren, ohne vorher zu sagen, das kann ich nicht. Darin liegt ja der Reiz der »Trockenübung«, einfach mal auszuprobieren, anders zu agieren. 6 https://www.youtube.com/watch?v=xLLJFxN5eK0. »Hör auf! Lass das!«
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Wenn dieses eingeübt ist, verändert das unsere Haltung, bis wir da ankommen, wo wir keine Worte oder Gesten mehr brauchen, weil wir unsere Präsenz gefunden haben. Daher lohnt es sich auch, die Übung nonverbal durchzuführen: Einer geht auf den anderen zu, der macht ein deutliches Stopp-Zeichen nur mit Hand und Körper. Hierbei ist eine andere Person zum Üben wichtig, die genau zurückmeldet, wann man überzeugend war. Auch Ja- oder Neinsagen lässt sich üben. Zwei Menschen stehen einander gegenüber, der eine sagt »Ja«, der andere sagt »Nein«. Das wird zehn- bis 15-mal wiederholt und dann wird gewechselt. Was hat mehr Spaß gemacht? Den meisten macht das Neinsagen mehr Spaß! Das geht auch nonverbal mit »Kopfnicken« und »Kopfschütteln«. Aikido-Übung
Aikido ist nicht unbedingt meine bevorzugte Kampfkunst, da ich Krav Maga praktiziere, das sich weder als Sport noch als Kunst, sondern als effektive Selbstverteidigung versteht und in extremen Konfliktsituationen unfaire Mittel für legitim hält. Aikido wurde von Morihei Ueshiba (1883–1969) entwickelt, um aus destruktiven Formen der Kriegskunst eine Selbstverteidigung der Einheit, Harmonie und Liebe zu entwickeln. Was man als Laie für den Umgang mit Konflikten lernen kann, ist, nicht gegen die Energie der Gegnerin oder des Gegners zu kämpfen, sondern diese mitzunehmen und umzulenken. »Das Ideal ist, nicht schneller oder stärker als der Gegner zu werden, sondern durch das Zusammenführen der Angriffsenergie mit dem Partner zu einer neuen Bewegung zu verschmelzen, um sich in einer für beide sicheren Position wieder daraus zu lösen« (Dirnberger, 2013, S. 195). Auch das kann man einfach üben und damit seine Erfahrung machen. Einer geht mit geballten Fäusten und ausgestreckten Armen (ähnlich einem Zombie) auf den anderen zu. 1. Reaktion: Man duckt sich passiv hilflos weg. »Bitte tu mir nichts!« 2. Reaktion: Man geht zur Seite und ruft passiv-aggressiv: »Was soll das, was ist mit dir los, spinnst du?« 3. Reaktion: Man geht aktiv aggressiv vor und schiebt mit den Händen dagegen. 4. Reaktion (Aikido): Man versucht, dem Gegenüber achtsam zu 64
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begegnen. Man nimmt den anderen an, hakt sich vielleicht bei ihm unter, geht ein paar Schritte neben ihm und sagt: »Komm, es ist alles okay!« Bei dieser Übung spürt man, dass diese Haltung am wenigsten Widerstand beim Gegner auslöst. Stopp-Haltung
Das Körperliche und das Mentale sind eng verbunden. Es taucht bei unseren öffentlichen Auftritten immer die Frage auf, was lasse ich mit mir machen, wo setze ich Grenzen. Das Beste ist, die Grenzüberschreitungen frühzeitig wahrzunehmen, und das Ideal ist, sich dennoch nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Dann kann man mit verschiedenen Haltungen spielen und ist frei zu reagieren. Auf das Problem zugehen. Sich auf die Seite drehen. Die Kritik aufnehmen. Sie vorbeigehen lassen. Sie vorbeiführen. Mitgehen. Spüren von Selbstwirksamkeit in der Umleitung. Man kann bleiben und standhalten! Man kann auf die kritisierende Person aggressiv zugehen. Meist schlecht, aber in Ausnahmen nötig, dies zu können. Manchmal muss man auch im Auto eine Vollbremsung hinlegen und sollte das geübt haben. Man kann auch zurückweichen und deeskalieren. Die Freiheit besteht in der Wahrnehmung und darin, sein Handlungsrepertoire situationsgerecht auszuschöpfen. Es gibt viele Formen der Stopp-Haltung: Ȥ Mental: Ich bewerte nicht, ich betrachte, nehme wahr, bin achtsam. Ȥ Psychologisch: Ich lasse mich nicht zum Spiel einladen oder ködern, in Konflikt zu gehen. Ȥ Entwickelt: Ich bin ich und bleibe erwachsen. Ȥ Körperlich: Ich nehme eine präsente Haltung ein. Ȥ Sozial: Ich mache ein deutliches Stopp-Zeichen mit der Hand. Ȥ Verbal: Ich sage »Halt!«, »Hör auf!«, »Lass das!«. Ȥ Feedback: Ich wende die WWW-Regel an. Ich teile meine Wahrnehmung mit, benenne die Wirkung, die die Äußerung der anderen Person bei mir erzeugt, und formuliere einen Wunsch für die Zukunft. (Beispiel: Du hast bei meinem Vortrag drei Mal aufs Handy geschaut. Das wirkt auf mich desinteressiert. Kannst du das bei meinem nächsten Vortrag bitte lassen?) »Hör auf! Lass das!«
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Ȥ Gewaltfreie Kommunikation: Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis, Bitte. (Beispiel: Du kamst zu spät zu meiner Präsentation. Das verunsichert mich. Mir ist deine Zuverlässigkeit wichtig. Bitte lass solche Verspätungen nicht einreißen.) Das klingt natürlich etwas gestelzt und nicht spontan, weil wir selten so sprechen, jedoch wird auch hier eine Haltung deutlich. Ich grenze mich ab und artikuliere mein Bedürfnis, ohne in eine unendliche Schleife von Rede und Gegenrede, Angriff und Verteidigung zu verfallen. Stärke ist Selbstgewissheit
Selbstgewissheit steht nicht jenseits von Selbstzweifeln. Selbstgewissheit bedeutet zu wissen, nicht alles im Griff zu haben. Sie drückt sich in einer unerschütterlichen Haltung aus, die schon Krisen gemeistert hat. Wer selbstgewiss ist, gibt sein Bestes, obwohl er weiß, dass er scheitern kann. Gerade das Scheitern kann die Selbstgewissheit stärken, weil es die stärksten Kräfte mobilisiert. Souveränität baut auf die Gewissheit: Alles ist, wie es ist, und es ist gut. Stark können wir als Vortragende nur sein, wenn wir wissen, dass wir nicht gegen die Zuhörenden sprechen. Wir müssen uns auf Schatzsuche begeben. Bei den Zuhörenden müssen wir etwas finden, was wir wirklich mögen. Dann können wir sie auch überzeugen. Wenn wir die eigene Rolle als Vortragende im Griff haben und unsere Kompetenzen kennen und beides mit in die Beziehung zu den Zuhörerinnen und Zuhörern bringen, werden sie unseren Einsatz auch wahrnehmen und wertschätzen. Stärke baut auf Inhalte. Inhalte machen das Thema zu unserer gemeinsamen Sache. Die vorgestellten Inhalte bzw. Produkte sind der größte Motor gemeinsamer Arbeit. Sie geben starke und unmittelbare Rückmeldung über unsere Erfolge. Inhalte, die ankommen, geben Feedback, nicht über uns, sondern über die gemeinsame Sache. Je klarer Sie Publikum und Inhalte vor Augen haben, desto höher wird Ihre Selbstgewissheit sein. Es gilt, ein Spannungsdreieck aufzubauen und zu halten: die Einheit von persönlicher Autorität, empathischer Sympathie und inhaltlicher Kompetenz.
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Stärke freut sich über Kontrahenten
Kontrahentinnen und Kontrahenten sind wichtig. Sie zeigen uns unsere Fehler und Schwächen, dafür können wir dankbar sein. Aus dem Kampf können wir lernen, Nehmerqualitäten zu entwickeln, was viel wichtiger ist, als man denkt. Denn nur wer auch einstecken kann, ist wirklich stark. Daher sollten wir jedem Kontrahenten, der uns Fehler zeigt, danken. Gleichzeitig gilt jedoch auch: Stärke muss nicht kämpfen! Wer gewohnt ist, in Kategorien der Selbstverteidigung zu denken, weiß, dass es wichtig ist, immer die Umwelt auf Gefahren hin im Blick zu behalten. Wenn das zu einer zweiten Natur wird, dann bedeutet das gerade nicht, ängstlich umherzugehen, sondern sich sicher zu fühlen. Wer sich seiner Stärke sicher ist, kann immer zu einer Deeskalation einer kritischen Situation beitragen. Was mir beim Krav Maga am meisten Spaß macht, ist, dass wir immer zusammenarbeiten. Auch wenn wir uns im Sparring schlagen, geschieht das mit Respekt, aber auch unnachgiebig, denn wir schonen uns nicht, sondern zeigen uns unsere Fehler. Stärke hat Spaß am Kampf, nicht am Sieg! Wer wirklich in einem guten Sinne Spaß am Kampf hat, wird nicht siegen wollen, weil der gemeinsame, gegenseitige Respekt für den Gegner oder die Gegnerin und einen guten Kampf größer ist als die Lust am Sieg. Wenn überhaupt, dann ist der Sieg die gemeinsame Erfahrung und nicht die Niederlage der Kontrahentin, des Kontrahenten. Wer das nicht erfahren hat, hat noch nicht richtig gekämpft und ist gemeinsam an die Grenzen gegangen. Kampf im guten Sinn ist immer ein Gemeinschaftsakt, der Gemeinschaft auf Grundlage von gegenseitigem Respekt schafft. Mentale Stärke
Bislang hatten wir uns eher kritisch über ein positives Denken geäußert; wenn es aber um mentale Stärke geht, haben wir es häufig mit inneren Vorstellungen und Leitbildern zu tun, die ein gewünschtes Ergebnis beeinflussen sollen. Hier muss dann absichtsvoll mit Visualisierungen innerer Bilder gearbeitet werden. Mentales Training und Meditation können daher als Gegensatz verstanden werden. In der Meditation bewegen wir uns absichtslos in unserem »Innenraum«, bestenfalls vertrauen wir darauf, dass Meditation gut»Hör auf! Lass das!«
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tut, aber im strengen Sinne meditieren wir eben um des Meditierens willen, weil es um eine Haltung des Loslassens geht. Beim mentalen Training geht es darum, durch unsere aktive Haltung beim Visualisieren künftiges Verhalten zu beeinflussen. Wenn wir das eine tun und das andere nicht lassen, dann ergänzen sich Meditation und mentales Training (vgl. zum Folgenden Gonzalez, 2015; Vopel, 1998). Primär geht es um eine Einstellungsänderung. Eine gute Einstellung gibt Kraft, das zu tun, was notwendig ist, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die getan werden müssen. Eine gute Einstellung arbeitet nie gegen uns selbst. Eine Siegerin eignet sich die Fähigkeit an, die Dinge mental umzudrehen. Rückschläge sind vorläufig und die Chance zu einer Verbesserung. Aus Niederlagen zu lernen macht uns besser und stärker. Mentale Kontrolle beginnt mit einer bewussten Entscheidung. Drehen Sie es in Ihrem Kopf um! Unterbrechen Sie negative Selbstgespräche, halten Sie sich nicht bei dem auf, was Sie vermeiden wollen. Zünden Sie ein Feuerwerk positiver Gedanken: Ich bin schnell. Ich bin konzentriert. Ich bin gut. Füttern Sie sich mit Selbstvertrauen. Schalten Sie negative Gedanken aus und ersetzen Sie sie durch Gefühle und Bilder von Erfolg, die Sie mit dem konkreten bevorstehenden Ereignis in Verbindung bringen. Zeigen Sie Ihrem Geist, was geschehen soll: Imagineering! Ohne starken Glauben an uns selbst hat unsere Stärke keine Sicherheit. Dazu müssen Sie in Ihr Inneres schauen, Ihre Vorstellungskraft einsetzen, um die Erfolge als schon errungen zu sehen. »Imagineering« steht für die Technik, unserem Geist zu zeigen, wie die Dinge laufen sollen. Vor einem Auftritt und einem Vortrag muss man das gesamte Ereignis im Geist bereits gesehen und erlebt (und gefühlt!) haben. Man muss üben und im Geist akzeptieren, dass es so sein wird. Dabei sind die entscheidenden drei Faktoren Atmung, Entspannung und Vorstellungskraft! 1. »Konzentrierte Atmung« können Sie formlos üben, wann immer Sie wollen. Achten Sie auf Ihre Atmung. Wenn ein Gedanke hochkommt, kümmern Sie sich nicht um ihn, dann verschwindet er bald wieder. Atmung verhilft, zentriert zu bleiben und in die reale Welt zurückzukehren und mentale Kontrolle zu finden. 2. »Geistige und körperliche Entspannung« ist die Voraussetzung dafür, unsere Erfolgsbilder und unsere Erfolgsgefühle klar zu 68
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sehen, dann nämlich hört das kritische Bewusstsein auf, der Filter des Unbewussten zu sein. Neben der Einübung von Entspannung – hier kommt wieder Meditation ins Spiel – ist ausreichend Schlaf wichtig (hilfreich ist das Buch von Nick Littlehales [2018], der als Schlaf-Coach internationale Spitzensportler berät). 3. »Vorstellungskraft« ist ein zielorientierter Mechanismus des Unbewussten. Wenn Bilder und Gefühle vorgestellt werden, als ob sie bereits erreicht wären, sieht das Unbewusste den Eindruck dieser Bilder und Gefühle als wahr an. Bilder, Gefühle und Gedanken sollten folgende Richtung anvisieren: Ich lasse mich nicht einschüchtern. Mein Selbstvertrauen ist zu fest verankert, um erschüttert zu werden. Ich liebe den Kampf. Ich weiß, wie ich unter den widrigsten Umständen konzentriert bleiben kann. Ich bin bereit. Ich habe gelernt, mit äußerem Druck umzugehen, ich gehe immer vorwärts. Ich werde nicht aufgeben und arbeite geduldig daran, einen Weg zum Sieg zu finden. Ich bin zielorientiert. Ich weiß, wie ich meine Emotionen so weit kontrollieren kann, dass sie meine Leistung nicht beeinträchtigen. Ich verliere im Eifer des Gefechts nicht meine Fassung und meine Selbstkontrolle. Ich bin tapfer, mutig, stark und mit dem Herzen bei der Sache. Ich imaginiere konzentriert und bleibe beharrlich. Insgesamt gilt: Mentales Training ist immer auch harte Arbeit. Einem Mixed-Martial-Arts-Kämpfer wurde einmal gesagt: »Bei deinem Sieg hast du wohl Glück gehabt!« Seine Antwort: »Nun, je härter ich arbeite, desto mehr Glück habe ich.« Stark bleiben trotz widriger Umstände
Zorn: Wenn wir unseren Zorn nicht kontrollieren können, wird dieser uns kontrollieren. Ich sage mir immer, wenn ich zornig werde: Zorn ist Kind. Diese Gefühle gehören nicht ins Jetzt, sondern in meine Kindheit, als irgendwelche Bedürfnisse nicht befriedigt wurden. Der aktuelle Zorn hat nichts mit der jetzigen Situation zu tun. Gelingt nicht immer, daher gilt auch: Manchmal können wir die Energie des Zorns nutzen, aber wir dürfen dann nicht die Kontrolle »Hör auf! Lass das!«
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verlieren. Hilfreich ist es, uns zu fragen: Wer hat hier das Kommando – ich oder mein Zorn? Durch diese Frage gewinnt unser Kampfgeist die Kontrolle zurück. Niederlagen: Wir wissen, dass wir nicht immer den Ablauf der Ereignisse kontrollieren können. Daher sollten wir uns auf das konzentrieren, was wir kontrollieren können. Eventualitäten blenden wir aus. Zeitweilige Rückschläge muss man hinnehmen, sie schmerzen, dann sind aber Lehren aus ihnen zu ziehen. Wir können uns Nelson Mandela ins Gedächtnis rufen, der gesagt haben soll: »Wenn ich kämpfe, kann ich nur siegen oder lernen.« Niederlagen sind Lerngelegenheiten. Wenn wir nie verlieren, ist die Herausforderung zu gering. Lernen Sie aus Niederlagen, aber plagen Sie sich nie mit Selbstvorwürfen. Arbeiten Sie an der nächsten Herausforderung und tragen Sie den Kopf hoch. Geben Sie sich einen Ruck. Rappeln Sie sich auf. Bleiben Sie beharrlich. Versagensangst: Die Angst vor dem Versagen kann uns dazu bringen, auf Nummer sicher zu gehen und die Herausforderung von Vortrag und Auftritt zu vermeiden. Die Rückseite der Medaille der Versagensangst ist meist unser Perfektionismus. Dieser macht selbstkritisch und hemmt uns. Auch hier gilt: Scheitern ist ein wertvolles Feedback. Nichts ist schlimmer als die Realität, es gar nicht versucht zu haben. Lernen Sie, konstruktiv zu scheitern. Mit unserer Versagensangst nehmen wir uns wichtiger, als unsere Zuhörenden uns wahrnehmen. Für diese sind wir gar nicht so wichtig. Mit unserem Perfektionismus legen wir gleichzeitig die Erfolgslatte zu hoch. Die Ziele müssen gar nicht so hoch sein. Manchmal reicht es, es versucht zu haben. Meine größten Erfolge waren meine gescheiterten Bewerbungen, nirgends habe ich so viel gelernt und über nichts bin ich heute glücklicher als über die Tatsache, die Jobs, in denen viele andere unglücklich wurden, nicht bekommen zu haben. Angst beherrschen: »Im Auge des Zyklons herrscht Frieden, nur außerhalb entwickelt er seine Macht und Gewalt« (Gonzalez, 2015). Angst ist eine natürliche Reaktion auf eine Gefahr. Aber es ist nicht gut und gesund, wenn die Angst die Kontrolle übernimmt. Die Angst kann uns dazu bringen, nicht verlieren zu wollen. Das ist aber das Gegenteil von gewinnen oder lernen. Wenn man nicht verlieren will, geht das Selbstvertrauen verloren. Die Angst entsteht in Ihrem Kopf, 70
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deswegen kann sie in Ihrem Kopf bewältigt werden. Die Angst darf nur so mächtig sein, wie Sie es zulassen. Konzentrieren Sie sich auf die Gegenwart. Das erreichen Sie über Ihre Atmung. Bringen Sie die Atmung unter Kontrolle, um sich in der Gegenwart zu erden. Sehen Sie Ihrer Angst ins Auge. Ringen Sie sie nieder. Denken Sie an Erfolge. Lassen Sie sich auf die Herausforderung ein, trotz aller Angst. Unterbrechen Sie negative Gedanken in dem Moment, in dem sie auftauchen. Ersetzen Sie sie, ersticken Sie sie. Leiten Sie sie um. Gegen die Angst können Sie immer gewinnen und ihre Energie nutzen. Die Leistung setzt aus: Ein Aussetzer geht über die Angst hinaus, denn er ist eine reale physische Reaktion, die von der psychischen Bedrohung unseres Selbstwertgefühls ausgelöst wird. Angst ist im Kopf, ein Aussetzer passiert, wenn die Dinge schlecht laufen. Aussetzer werden von einem Ich ausgelöst, das Angst davor hat, eine schlechte Figur zu machen (nicht durch reale Gefahr). Also heißt das: Aussetzer entstehen durch unser Ego. Nur konzentrierte Atmung hilft. Fühlen Sie die Entspannung, wenn Sie ausatmen, dann bringen Sie die Unruhe unter Kontrolle. Suchen Sie sich einen Fixpunkt in Ihrer Umgebung, richten Sie Ihre Augen auf ihn. Das lenkt vom Ich ab. Lernen Sie, Ihr Ego von dem Ereignis auszuschließen. Unter Druck die Ruhe bewahren: Der Druck, den Sie verspüren, kommt aus Ihrem eigenen Inneren. Wenn Sie das verstanden haben, können Sie Ihre Fähigkeiten frei entwickeln. Wieder kommt es darauf an, die Atmung zu kontrollieren. Mit dem Ausatmen lassen Sie die Anspannung raus. Muskelentspannung und positive Affirmationen helfen: »Ich bin stark! Ich kann das!« Manche beamen sich in einer Pause an einen anderen Ort. Manchmal kann man sich auch einfach gehen lassen. Nicht auf das Ergebnis konzentrieren, sondern ganz in der Situation aufgehen. Auch Rituale können Sicherheit geben. Oder rufen Sie sich ein Ereignis in Erinnerung, bei dem Sie eine Drucksituation gemeistert haben. Notieren Sie genau die Dinge, die Ihnen in der Vergangenheit geholfen haben. Druck ist mental und kann mental abgebaut werden! Der innere Kritiker, die innere Kritikerin: Das können Stimmen aus unserer Vergangenheit sein, die Eltern, frühere Vorgesetzte …, »Hör auf! Lass das!«
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aber der stärkste innere Kritiker sind natürlich Sie selbst. Ich versuche, wenn mein innerer Kritiker auftaucht, mir zu sagen: Warum will ich mir schaden? Dann wird mir klar, dass die Stimme des Kritikers von mir selbst gemacht ist und dann auch von mir selbst zum Schweigen gebracht werden kann. Schalten Sie die innere Kritik aus. Das ist möglich, denn es ist Ihre eigene Stimme. Zu intensiv sein: Es schadet der Leistung, wenn wir an einem zu hohen Punkt der Leistungskurve in eine Vortragssituation einsteigen. Versuchen wir mit unserer Energie hauszuhalten und immer ein paar Reserven zu behalten. Wenn wir unterhalb der höchsten Intensität einsteigen, können wir die Leistung steuern und steigern. Oft ist es besser für die Leistung, die Intensitätsebene zu drosseln. Wir müssen die Ebene finden, auf der wir am effektivsten sind. Nur im richtigen Moment sollten wir die ideale Intensitätsebene erreichen. Wir müssen lernen, uns zu kontrollieren, um unsere Leistung zu kontrollieren. Fürs Mindset: Nichts geht über Stopp-Zeichen. Das wichtigste Signal ist das Gefühl: Hier läuft etwas falsch. Etwas gefällt mir nicht. Dann gilt der innere Stopp. Nicht unmittelbar reagieren. Nicht zurückschlagen. Sondern sich fragen: Was passiert hier? Innehalten! Dann kann gefragt werden: »Wie meinst du das?« Dann kann eine Grenze gezogen werden: »Darüber möchte ich jetzt nicht diskutieren!« Dann kann ein Feedback gegeben werden: »Ich fühle mich nicht verstanden!« »Ich fühle mich verletzt!« Dann kann ein Wunsch formuliert werden: »Bitte, lass das!«
»Das sind die schönsten Momente, wenn man weiß, was man schafft und dass man es auch schafft!«: Sich vor Belastungen schützen Den zweiten Besuch bei Frau Adam unternehme ich mit dem Auto. Wir starten wieder mit einem Glas Wasser auf dem Tisch. So gern ich Kaffee trinke, im Coaching verzichte ich lieber auf diese Art der Gemütlichkeit. 72
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»Wie lief es letzten Donnerstag?«, leite ich unser Gespräch ein. »Na, also rein organisatorisch gab es bis kurz vorher schon noch reichlich Hektik. Mit unserem Professor bin ich auch noch aneinandergeraten, aber habe mich gut behauptet. Er saß dann etwas eingeschnappt auf seinem reservierten Platz, hat aber Ruhe gegeben. Bei meiner Begrüßung und Eröffnung hatte ich zum Glück keine Denkblockaden. Es war für mich schon eine große Entlastung, nicht frei sprechen zu müssen, sondern mich ans Konzept zu halten. Kleinere Korrekturen im Vortrag habe ich aber frei gehalten. Lief gut, danke Ihnen noch mal.« »Und haben Sie sich zum Einstimmen in der Powerhaltung vor den Spiegel gestellt?« »Nein. Nicht vor den Spiegel, so weit bin ich noch nicht. Aber ich habe mich von innen vor die geschlossene Balkontür gestellt. Das ist so etwas wie mein morgendliches Aufwachritual. Mein Mann nimmt es mit Humor.« »Eine Freundin, die Judotrainerin ist, macht manchmal Kurse speziell für Mädchen, so eine Art Selbstbehauptungstraining. Die müssen da zum Beispiel mit der Faust aufgeblasene Luftballons zerschlagen. Aber wissen Sie, was die schwierigste Übung ist?« »Sagen Sie es mir!« »Am schwersten fällt es den Mädchen, in der Gruppe zu sagen, was sie an sich mögen!« »Kann ich verstehen. Wir Frauen sind halt sehr selbstkritisch. Warum erzählen Sie das?« »Ich kam darauf wegen des Spiegels. Der Spiegel ist ja immer ein Symbol für den Narzissmus. Das stimmt nicht. Es ist gut, sich im Spiegel wohlwollend zu betrachten. Es heißt ja auch ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‹. Sich selbst wohlwollend zu betrachten, kann eine große Befreiung sein!« »Inwiefern?« »Wenn wir uns mögen, brauchen wir weniger die Bestätigung durch andere!« »Und das ist kein Narzissmus?« »Nein. Narzissten brauchen einzig Bestätigung von außen, aber diese kommt nie im Inneren bei ihnen an. Sie sind wie ein Fass ohne Boden, jedes Lob, jede Anerkennung versickert sofort, da bleibt nichts hängen.« Sich vor Belastungen schützen
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»Aber solche Narzissten wie vielleicht auch unser Professor wirken immer super selbstbewusst.« »Sie wirken stolz und selbstverliebt, sind aber abhängig von anderen«, erwidere ich. »Ihre Gier nach Anerkennung kann keiner befriedigen, egal wie groß die Bühne ist, egal wie viele Follower sie haben. Finden sie keine Bühne, dann sitzen sie schmollend in der Ecke, dass auch das noch jeder mitbekommt.« »Da urteilen Sie aber hart.« »Ja, stimmt. Ich habe leider schon manchmal mitbekommen, welche toxische Gewalt Narzissten in Organisationen entwickeln können. Da hilft dann oft auch keine Resilienz mehr.« »Resilienz ist aber auch so ein Modewort!«, findet Frau Adam. »So ist es und manchmal wirkt das dann wie ein Aufkleber, den man sich an die Windschutzscheibe klebt. Dennoch möchte ich gleich gern auch etwas zum Thema Resilienz mit Ihnen machen.« »Ja, lassen Sie die Katze aus dem Sack, was haben Sie vor?« »Letzten Mittwoch ging es darum, uns anzuschauen, was Ihnen Stress macht. Wir haben uns dann mit dem Alarm beschäftigt: ›Es kann sein, dass ich nicht dem Bild der perfekten Rednerin entspreche!‹ Und dann haben wir an der Verkörperung dessen gearbeitet, was es heißt: ›Ich bin hier die Vorsitzende, ich mache das!‹ Schließlich haben Sie geübt, sich gegen Störmanöver aus der Außenwelt abzugrenzen: ›Hör auf! Lass das!‹ Sie haben zum Schluss für sich den Satz gefunden: ›Ich bleibe stehen!‹, und sich im Stare Down gegen mich behauptet. Stress anschauen. Ihre Rolle verkörpern. Und Grenzen ziehen. Alles stark vermittelt über Ihre körperliche Selbstwahrnehmung. Sie haben die Befürchtung geäußert, dass das nicht nachhaltig ist, dass das, was Sie gespürt haben, nicht lange vorhält. Sie können Ihre Mantras in Powerhaltung üben, aber es ist noch etwas mehr möglich. Wir können heute schauen, wie Sie Ihre Resilienz mental stärken können, und dann würde ich gern an Ihrer Erfolgsstory mit Ihnen arbeiten. Das kann Ihnen helfen, beim Auftritt und Vortrag noch souveräner zu werden. Okay?« »Okay!« »Ich möchte Ihnen zunächst ein paar Informationen zum Thema Resilienz geben, bevor wir nochmals meditieren, dabei geht es etwas genereller um unsere Selbstwahrnehmung im Beruf und etwas weniger um Auftritt und Vortrag. Also: Resilienz ist so etwas wie ein starkes 74
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Immunsystem. Wenn alles gut läuft und man gesund seine Arbeit erledigen kann, spricht man von einem Kohärenzgefühl. Unser Selbstgefühl und unsere Tätigkeit stehen in keinem Widerspruch zueinander. Wir verstehen, was wir tun sollen. Wir bewältigen, was wir tun müssen. Und wir empfinden unser Tun auch als sinnvoll (vgl. Antonovsky, 1997). Manchmal sind wir dann selbstvergessen bei der Sache, was als Flowgefühl bezeichnet wird. Alles geht leicht von der Hand und wir sind überrascht über das Verfließen der Zeit. Ich vermute einmal, das kennen Sie!« »Ja, wirklich, das sind die schönsten Momente, wenn man weiß, was man schafft und dass man es auch schafft, und am Ende ist man zufrieden mit dem Geleisteten und hat völlig die Zeit vergessen. Wenn man das Kohärenzgefühl nennt, dann kenne ich das. Und ist das dasselbe wie Resilienz?« »Nicht ganz. Wie gesagt, Resilienz meint so etwas wie unser Immunsystem bezogen auf unsere Arbeit, unser Handeln. Resilienz kommt zum Tragen, wenn man in eine Situation gerät, in der diese Faktoren nicht gegeben sind. Resilienz ist dann die Fähigkeit, mit widrigen Bedingungen umzugehen. Darüber haben wir ja auch schon gesprochen. Die äußeren Faktoren wie Termindruck oder Perfektionismus oder beides zusammen; Ärger mit Mitarbeitern, weil sie unzuverlässig oder unpünktlich oder beides sind. Weit schädlicher sind jedoch unsere Gedanken und Bewertungen, die damit einhergehen, sie stressen richtig und bringen uns um den Schlaf. Mit einem Wort, es ist der Ärger, der uns krank macht. Das kann man physiologisch messen. Resiliente Menschen produzieren weniger negative Dopamine als nicht resiliente.« »Wie will man das denn unterscheiden?« »Anhand von Fragebögen kann man die Personengruppen unterscheiden und die hormonellen Unterschiede in Stresssituationen messen.« »Und das ist dann naturgegeben?« »Nein, Resilienz ist erlernbar. Das Wichtigste ist zunächst einmal das Hinsehen. Man muss das Problem überhaupt einmal wahrnehmen und sich sein momentanes Scheitern eingestehen. Das ist für viele Menschen eine riesige Hürde. Das haben Sie letzten Mittwoch hinbekommen, als Sie mir die Geschichte Ihres Vorstandskollegen erzählten, der sagte: ›Da hätten wir auch eine andere nehmen können!‹ Das ist mutig, Sich vor Belastungen schützen
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darauf zu schauen, was einem unangenehm ist, aber auch gesund. Das Zweitwichtigste ist, sich nicht als Opfer der Umstände zu betrachten. Wenn man sich als Opfer sieht, dann bewertet man sich negativ und macht die Opferhaltung zu einem eigenen Konzept, da kommt man nur schwer wieder raus. Opfer lehnen es ab, Verantwortung für ihren Teil der Zustände zu übernehmen. Aber vor allem sehen Opfer keine Lösungsoptionen. Das wäre der dritte Faktor von Resilienz. Jemand, der resilient ist, vermag seine Ressourcen zu nutzen, um einen Weg aus der Krise zu finden. Jemand, der Resilienz zeigt, steckt nicht den Kopf in den Sand, sondern handelt. Er ergreift aus einer Reihe von Möglichkeiten eine Lösung und setzt sie um.« »Hört sich erst mal abstrakt an.« »Bei einer Hochzeit saßen meine Frau und ich einmal am Tisch mit einem Ehepaar aus Thüringen, mit dem kamen wir nett ins Gespräch. Die erzählten von all ihren Jobs und Berufen, die sie schon ausgeübt hatten: hausmeistern, Forellen züchten, landschaftsgärtnern, Wild jagen und entsprechend Fleisch und Wurst herstellen und verkaufen. Die beiden sahen sehr zufrieden und glücklich miteinander aus. Sie sagten: Wir haben einfach festgestellt, wenn das eine nicht lief, kam etwas anderes. Man kann immer etwas tun. Für mich sind diese beiden das perfekte Vorbild für Resilienz.« »Und das kann man üben?« »Ich übe zum Beispiel schon, wenn ich die Geschirrspülmaschine leer räume.« »Wie das?« »Ich versuche das als Meditation zu nehmen. Das ist wirklich eine Übung, denn es gibt zwei Haltungen, mit denen ich das tun kann. Entweder denke ich, warum haben die Faultiere, also meine Kinder, das nicht gestern Abend gemacht, warum bleibt das morgens immer an mir hängen, nur weil ich als Erster aufstehe. Oder ich denke und bewerte das nicht und räume einfach die Geschirrspülmaschine leer.« »Ja, und Sie sind dann immer der Dumme.« »Nur, wenn ich das so sehe.« »Aber die Kinder ruhen sich dann immer auf Ihre Kosten aus.« »Das heißt ja nicht, dass ich ihnen alles aus dem Weg räume und das immer tun muss. Nur wenn ich es mache, möchte ich es, wie man so schön sagt, achtsam machen.« 76
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»Sie ärgern sich dann nicht?« »Wenn ich mich ärgere, tut mir das nicht gut. Also versuche ich die Bewertungen wegzulassen.« »Dann sind Sie so eine Art Buddhist?« »Ich bin Christ, aber Buddhismus ist auch etwas Gutes, von der Haltung kann man etwas lernen. Ich habe eine Meditation für Sie vorbereitet, die ich jetzt gern mit Ihnen durchführen möchte. Es geht dabei um die Stärkung von Resilienz. Dazu muss ich aber eine Vorbemerkung machen. Meditieren ist Selbstzweck, nicht Mittel zum Zweck. Beim Meditieren geht es einzig ums Meditieren. In der Meditation erziele ich nicht die Effekte, die ich erreichen will. Dennoch sehe ich Meditation als Form des mentalen Trainings an. Wenn ich meditiere, erzwinge ich keine Effekte, das ist widersinnig, aber ich öffne mich dem Eintreffen der Effekte. Meditation bedeutet nicht Sit-ups für das Gehirn. Ich trainiere keine Muskeln wie im Fitnessstudio, aber Meditation ist Teil des mentalen Trainings. Ich öffne mich für eine wertfreie Betrachtung der Wirklichkeit, für die Wahrnehmung unangenehmer Situationen und dafür, Stimmigkeit zu finden und den Halt zu wahren. Die Meditation, die ich Ihnen gleich vorlese, dürfen Sie gern behalten, um sie als Übung zu verwenden.7 Ich kann sie Ihnen auch gern als Sprachnachricht schicken, wenn Sie möchten. Sie können am Tisch sitzen bleiben, ich drehe mich weg von Ihnen und schaue aus dem Fenster. Sind Sie bereit? Fangen wir an!« »Legen Sie die Arme auf den Tisch, den Kopf auf die Arme, schließen Sie die Augen und atmen Sie einmal tief aus. Sie spüren die Füße auf dem Boden. Sie spüren die Schwere Ihres Körpers, der auf die Sitzbeinhöcker drückt. … Sie spüren auch die Schwere Ihres Kopfes auf Ihren Armen. … Schwer. … Bleischwer. … Und Sie nehmen die Wärme des Raumes wahr. … Auch Ihre Kleidung hält Sie schön warm. … Auch Ihr Blut zirkuliert gut und wärmt Ihren gesamten Körper. … Sie können ein paar Geräusche wahrnehmen. … Nun stellen Sie sich vor, Ihr Kopf sei ein kugelrundes Aquarium, sein Wasser 7 Diese Meditation finden Sie sowohl als Text als auch als 12-minütiges Audio »Meditation_2« im Downloadbereich unter www.vandenhoeck-ruprechtverlage.com/Buehne_frei. Sich vor Belastungen schützen
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ist trübe, Sie reinigen das trübe Wasser. Mit jedem Atemzug, den Sie gleich vornehmen, wird das trübe Wasser etwas klarer. Atmen Sie vom Bauch ausgehend bis hinauf zum Kopf und reinigen Sie mit jedem Atemzug das trübe Wasser, das langsam immer klarer wird. … Lassen Sie sich dafür einen Moment Zeit. … Sie merken, wie das Wasser an Reinheit und Klarheit gewinnt. … Nun ist es rein und klar. … Sie können hindurchsehen, wie durch eine Windschutzscheibe eines Autos. … Regen fällt auf die Windschutzscheibe. Der Scheibenwischer wischt nach und nach die fallenden Regentropfen auf der Windschutzscheibe weg. … So geschieht es auch mit Ihren Gedanken. Gedanke um Gedanke wird weggewischt. Sie kommen, prasseln kurz auf die Windschutzscheibe und werden weggewischt. Einer nach dem anderen. … Jetzt sehen Sie gut und klar durch die Windschutzscheibe. Sie sehen sich selbst als Rednerin auf der Bühne. … Sie hören in sich eine Stimme: ›Es kann sein, dass ich nicht dem Bild der perfekten Rednerin entspreche.‹« … Sie widersprechen nicht. … Ja, es kann sein, dass ich nicht dem Bild der perfekten Rednerin entspreche. Akzeptanz breitet sich in Ihnen aus. … Es kann sein … und es darf so sein. … Es ist gut. Wieder wischt der Scheibenwischer Regentropfen von der Windschutzscheibe. Wieder sehen Sie sich auf der Bühne als Rednerin. Sie nehmen Ihren Vorstandskollegen wahr. Sie betrachten ihn so, wie er ist, ein Mensch mit seinen eigenen Sorgen und Nöten. Sie sehen ihn einfach, wie er ist. Er gähnt. Vielleicht ist er müde. Er sieht wirklich müde aus. Er scheint zu denken: ›Da hätten wir lieber eine andere genommen!‹ … Sie betrachten den Satz mit neutraler Haltung. Mag sein, es mag Bessere geben. Mag sein. Vielleicht hat er recht. Es kann sein, dass es so ist, und es darf auch so sein. Es ist okay. Sie sind eins mit sich. Sie sind eine gute Vorsitzende. Ja, ich bin es. Ich bin eine gute Vorsitzende. … So ist es und es darf sein. Das stimmt und ist gut. Wieder wischt der Scheibenwischer Regentropfen von der Windschutzscheibe. Wieder sehen Sie sich auf der Bühne als Rednerin. Am Rand der ersten Reihe nehmen Sie unseren Professor wahr. Er scheint zu schmollen. … Deine Gefühle sind nicht meine Gefühle. Ich bin ich. Ich behalte meinen Platz am Rednerpult. Das ist mein 78
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Platz. Den nimmt mir niemand. Ich halte stand. Ich habe festen Boden unter den Füßen. … Sie schauen ihn etwas genauer an. Sie sehen ein schmollendes Kind, das manches nicht bekommen hat. … Dafür habe ich keine Verantwortung. … Sie können ihn sehen und lassen seine Gefühle bei ihm. Deine Gefühle sind deine Gefühle. Ich bleibe bei mir. Ich spüre meine Kraft. Ich spüre meine Stärke. Das ist mein Körper. Und das bin ich als Ganzes. Ich bin stark. So ist es und darf auch so sein. Wieder wischt der Scheibenwischer Regentropfen von der Windschutzscheibe. Wieder sehen Sie sich auf der Bühne als Rednerin. Ganz hinten im Publikum sehen Sie einen älteren Herrn. Es könnte Ihr Vater sein. … Der ältere Herr blickt wohlwollend zu Ihnen herüber. Sie spüren Anerkennung und Wertschätzung. Sie nehmen das einen Augenblick lang wahr. … Der ältere Herr wirkt für Sie wie eine Tankstelle. Das tut gut. Sie nehmen das Wohlwollen an, es ist ein Teil von Ihnen. Ich kann mich wohlwollend annehmen. Ich bin angenommen. Ich nehme mich an. … Das ist gut. Wieder wischt der Scheibenwischer Regentropfen von der Windschutzscheibe. Wieder sehen Sie sich auf der Bühne als Rednerin. Links in einer mittleren Reihe nehmen Sie ein Kind wahr. Es könnten Sie selbst als junges Mädchen sein. Das Mädchen blickt Sie stolz und aufmunternd an. Das Mädchen ist ein freies und unabhängiges Kind. … Sie spüren, da sitzt meine Freiheit. Ich kann tun, was ich will. Es gibt so viele Möglichkeiten. Da sitzt so viel Zukunft. Was ich künftig mache, wird gut. Es wird gut. Wieder wischt der Scheibenwischer Regentropfen von der Windschutzscheibe. Wieder sehen Sie sich auf der Bühne als Rednerin. … In der Mitte eine Frau. Eine Frau wie Sie selbst. In der Mitte ihres Lebens. Sie weiß, wo sie hingehört. In der Mitte die Frau, die Sie selbst sind, weiß, was sie kann. Sie hat manches getragen. Das hat sie stark gemacht. Sie ist genau zu der Frau geworden, die sie sein will. Das stimmt. Das darf sein und ist gut. Wieder wischt der Scheibenwischer Regentropfen von der Windschutzscheibe. Das tut er ein paar Mal und wischt alle Gedanken weg. Langsam kommen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit zurück an diesen Ort. Sie recken und strecken sich ein wenig und sind wieder hier, erfrischt und wach.« Sich vor Belastungen schützen
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Frau Adam schüttelt sich ein wenig. »Danke, aber jetzt brauche ich eine Pause«, meint sie. »Ich koche uns nun doch mal einen Kaffee. Ich habe auch ein paar Kaffeestückchen besorgt.« Frau Adam stellt sie auf den Tisch zwischen uns. Ich liebe Rosinenschnecken, besonders wenn sie gut sind wie diese, etwas fest, aber nicht hart und vor allem lassen sich diese leicht aus der gerollten Form zupfen. Unvermittelt fragt Frau Adam: »Warum haben Sie mich meinem Vater und mir als Kind und als Erwachsene begegnen lassen?« »Der Psychoanalytiker Eric Berne sagt, dass wir immer verschiedene Ich-Zustände haben«, erläutere ich, »nämlich Kind-Ich, ErwachsenenIch und Eltern-Ich. Je nach dem, was wir erlebt haben, kann unser Kind-Ich rebellisch, angepasst oder frei sein. Und je nach dem, wie unsere Eltern auf uns gewirkt haben, kann das eher kontrollierend oder fürsorglich gewesen sein. Und unser Erwachsenen-Ich kann sachlich analysieren und vernünftig urteilen. Wir merken im Umgang mit anderen intuitiv, ob sie uns als Kind, als Erwachsene oder als Eltern ansprechen. Wenn uns jemand zum Beispiel sagt: ›Vergiss bitte nicht, die Kühlschranktür zuzumachen!‹, dann fühlen wir das Kind in uns angesprochen und reagieren entsprechend den Mustern, die wir gelernt haben: ›Mach doch selber!‹, ›Ja, sofort, entschuldige!‹, ›Ja, kein Problem, wenn ich die Butter gefunden habe!‹.« Und ich ergänze: »Sie haben auf mich den Eindruck gemacht, dass Ihnen Ihr Vater vermittelt hat, dass er Ihnen nicht so viel zugetraut hat und Sie gleichzeitig immer noch mehr hätten bringen können. Gleichzeitig hat mir Ihre Rührung letzte Woche auch gezeigt, dass es da dennoch eine innige Beziehung zwischen Ihnen gab. Ich dachte, bestimmt hat er die Wertschätzung für Sie empfunden, wenn er sie auch nicht deutlich gezeigt hat oder gar zeigen konnte. Ich wollte Ihnen ermöglichen, dem in der Meditation nachzugehen.« »Ist das nicht etwas manipulativ?« »Zu einem gewissen Grad vielleicht. Man sagt aber, es ist nie zu spät, eine gute Kindheit gehabt zu haben. Das heißt nicht, die eigene erlebte Kindheit durch eine erträumte Kindheit zu ersetzen, sondern eher Aspekte, die es real auch gab, zu verstärken. Konnten Sie denn die Wertschätzung und Anerkennung Ihres Vaters in der Meditation annehmen?« 80
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»Ja, sehr, das hat gutgetan und es hat auch gestimmt für mich heute.« »Und wenn das Bild nicht gestimmt hätte, dann hätten Sie sich dagegen gewehrt und eine Abwehrreaktion gezeigt. Das wäre zwar für die Meditation schade gewesen, aber nicht zu ändern. Dann hätte ich einen Fehler gemacht, wenn ich Ihnen Dinge suggerieren wollte, die nichts mit Ihnen zu tun haben. Auch in der Meditation sind Sie Herrin der Lage!« »Und was ist mit den Hypnotisierten, die sich die Kleider vom Leib reißen, weil der Hypnotiseur sagt, wir hätten 40 Grad im Schatten?« »Wenn Sie sich dagegen wehrten, würden Sie es nicht tun. Der Hypnotiseur kann nur mit den Menschen arbeiten, dazu benutzt er ihre eigenen Vorstellungen, Wünsche oder auch Ressourcen. Wie erging es Ihnen mit dem Kind und der Erwachsenen?« »Das Mädchen war wirklich ich selbst und es hat mich glücklich gemacht, mich mit den Augen des Kindes zu sehen, das ich einmal war, und zugleich auch das Kind zu sehen. Das ging also so hin und her zwischen mir jetzt und damals. Interessanterweise habe ich mich heute von dem Kind bejaht gefühlt. So als hätte ich ganz viel von diesem Kind noch in mir, was mir guttut. So eine Form der Unabhängigkeit, die mir niemand nehmen kann, weil sie schon lange ein Teil von mir ist. Ja und die Frau, die kann ich auch an mich heranlassen, das bin ich, genau so habe ich mich im besten Moment als Rednerin gesehen. Und so bin ich ja auch als Vorsitzende. Ich nehme genau den Platz ein, den ich einnehmen will.« »Und die Männer im Publikum?«, frage ich weiter. »Ach wissen Sie, die waren nicht so wichtig, wie sie selbst sich vielleicht nehmen. Die konnte ich mir anschauen, na halt anschauen, die haben mir keine Angst gemacht, die haben mir auch nicht leidgetan, ich habe sie einfach gesehen. Ohne Emotion, so wie ich da die Milch und den Zucker auf dem Tisch sehe. Auch okay.« »Das klingt gut!« »Und jetzt soll ich die Meditation jeden Tag mit Ihrer Sprachnachricht hören, damit es mir besser geht?« »Ihnen geht es ja nicht schlecht und tun sollen Sie auch nichts. Es ist Ihre Sache, ob Sie mit dem Thema Meditation weiterhin Erfahrungen machen möchten. Da gibt es Kurse, Youtube-Tutorials, Bücher, aber Sich vor Belastungen schützen
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wie ich schon sagte: Zum einen meditiert man, um zu meditieren; alle Effekte, die das hat, sind sozusagen ›Abfallprodukte‹. Zum anderen, wenn man etwas erfahren möchte, dann ist eben auch die meditative Form des mentalen Trainings eine Eigenleistung. Man muss es regelmäßig machen, wie andere Work-outs auch. – Sie wirken nachdenklich?« »Ja, mich beschäftigt gerade noch etwas.« »Ja?« »Sehen Sie, da waren Vater, Kind und Frau in der Meditation. Ich denke gerade, was ist mit der Mutter? Das, was mich am meisten beschäftigt, seit meine beiden Kinder aus dem Haus sind, ist die Frage, habe ich alles richtig gemacht? Das ist im Beruf und in der Familie ein ähnliches Gefühl. Ich will es richtig machen, ehrlich gesagt, perfekt, aber habe oft das Gefühl, zu versagen oder versagt zu haben.« »Sie haben das Gefühl?« »Ja, das ist nicht real, da ich weiß, dass ich die Sachen hinbekomme, aber es ist wie so ein Begleitgeräusch: Das hättest du besser machen können. Da ist halt immer noch so ein unterschwelliges Angstgefühl, dass andere merken, dass ich Fehler mache, und ich selber merke ja ohnehin, dass ich Fehler mache, und dann fällt es mir schwer, mir zu vergeben. Ich weiß nicht, irgendwie fühle ich mich dann schuldig.« »Mir hat mal jemand gesagt, Schuldgefühle entstehen, wenn man sich Fehler nicht eingesteht. Aber vielleicht ist es bei Ihnen ja anders, Sie sind sehr sensibel darin, Ihre Fehler zu sehen.« »Um da loszukommen, versuche ich immer, mir ganz bewusst zu sagen: Du warst keine schlechte Mutter. Aber ganz tief im Inneren glaube ich mir das einfach nicht richtig.« »Sie sagten, die Mutter fehle in der Meditation. Wenn Sie nun mal einteilen in Mutter, Frau und Kind. Nehmen Sie einmal diese drei Stifte und legen Sie diese hin, wie Sie sich als Mutter, Frau und Kind sehen. Wie stehen die drei zueinander? Wie würden Sie die drei legen?« Frau Adam überlegt kurz und legt die drei Stifte mit gleich großen Abständen nebeneinander: 1. Mutter; 2. Frau; 3. Kind: M – F – K. »Was sehen Sie?«, frage ich. »Ich als Frau steh dazwischen! Ich stehe immer dazwischen. Als Mutter, als Vorsitzende.« »In dem Bild stehen Sie als Mutter nicht dazwischen.« »Stimmt, als die, die ich heute bin, als erwachsene Frau halt.« 82
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»Richtig, es geht um Sie als Mutter, um Sie als Frau heute und um Sie als Kind! Warum kommt das Kind als Letztes?« »Ist mir nicht aufgefallen, ich habe das einfach so gelegt, außerdem haben Sie es in der Reihenfolge gesagt.« »Aber trotzdem haben Sie das Kind als Letztes gelegt. Wenn Sie die Reihenfolge umdrehen würden, wie wäre das?« Frau Adam tauscht die Stifte für Mutter und Kind aus: K – F – M. Sie sagt: »Das passt besser. Jedenfalls von der Reihenfolge.« »Jedenfalls von der Reihenfolge?« »Ja, Kind, Frau, Mutter in der Reihenfolge meiner Geschichte. Zuerst war ich Kind, dann wurde ich Frau und schließlich Mutter. Ganz trivial.« »Mhm. Sie scheinen nicht zufrieden.« »Ja, so fühlt sich meine Angst irgendwie nicht an. Zuerst kommt die Mutterrolle in Beziehung zum Kind. Das ist zu kompliziert. Ich sehe im Kind nicht mich, sondern meine Tochter, weniger meinen Sohn.« »Und wenn Sie sich als Kind sehen und nicht in Ihrer Mutterrolle?« »Na, dann denke ich bei Mutter sofort an meine Mutter, wie gesagt, echt kompliziert.« »Das ist anscheinend so, immer tauchen wir in unserer Familienkonstellation, in bestimmten Positionen öfter auf. Vielleicht wollen Sie das Ganze ja so kompliziert machen, wie es ist, und nehmen noch zwei Stifte für Ihre Mutter und Ihre Tochter hinzu. Welches Bild würde entstehen, sagen wir, wenn es Ihrem Ideal entsprechen würde?« Jetzt braucht Frau Adam etwas länger. Dann entsteht folgendes Bild: Frau Adams Mutter
Frau Adam als Mutter
Frau Adam als Frau
Frau Adam als Kind
Frau Adams Tochter
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Frau Adam blickt mich gelöst an. »Und immer noch dazwischen und zerrissen?«, möchte ich wissen. »Nein. So passt es. Ich bin in diesem Bild meiner Mutter nahe und ich als Mutter auch meiner Tochter. Und in der Mitte stehe ich. Und bin das Zentrum, gefällt mir.« »Nehmen wir einmal an, Ihre Mutter hätte ebensolche Schuldgefühle wie Sie, weil sie den einen oder anderen Fehler in Ihrer Erziehung gemacht hat, was würden Sie ihr sagen?« »Mensch, Mutter, du machst dir immer so einen Kopf, du bist meine Mutter, das ist okay. Ich liebe dich, wie du bist.« »Und was würde Ihre Tochter Ihnen sagen?« »Dasselbe, vermutlich?« »Was lässt Sie zweifeln? Sagen Sie es einfach noch einmal, was Sie gerade gesagt haben, und stellen Sie sich vor, es sei Ihre Tochter, die das sagt.« Sie beginnt zögernd: »Mensch, Mutter, du machst dir immer so einen Kopf, du bist meine Mutter, das ist okay. Ich liebe dich, wie du bist.« »Wie fühlt sich das an?« »Ja, ich glaube schon, dass sie das auch so sagen würde, denke schon.« »Gut und wie fühlt es sich an?« »Ja gut.« »Aber?«, hake ich nach. »Sie sagt es ja nicht und ich habe es meiner Mutter ja auch so nicht gesagt.« »Das sollte Ihre Tochter auch nicht und Sie sollten es Ihrer Mutter eigentlich auch nicht so sagen.« »Warum? Verstehe ich nicht!« »Es ist nicht die Aufgabe des Kindes. Das Kind soll nicht die unbewussten Bedürfnisse der Eltern befriedigen. Das Kind kann uns nicht von unseren Allmachtsgefühlen und Ohnmachtsängsten befreien. Unsere Eltern waren nicht perfekt und wir sind es auch nicht. Dies uns einzugestehen, bedeutet Verantwortung für unser Leben zu übernehmen.« »Wie soll das gehen?« »Man muss sich seine Fehler anschauen und auch seine Schuld, 84
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aber das ist unabhängig vom Erleben der Kinder. Sie haben ihre eigene Sicht der Dinge. Das Schlimmste ist, wenn wir uns von dem Wohlwollen unserer Kinder abhängig machen. Das ist eine schwere Bürde für die Kinder, so wird nämlich das Schuldgefühl vererbt.« »Und was soll man dann tun?« »Ich nenne das heilsame Resignation.« »Wie bitte?« »Wir müssen, wenn wir erwachsen werden wollen, heilsam resignieren. Wir sind nicht allmächtig und wir sind nicht ohnmächtig. Es geht nicht um alles oder nichts. Es geht darum, sich einzugestehen, nicht perfekt zu sein, Fehler zu machen.« »Und haben Sie da auch wieder so ein Mantra?«, will Frau Adam wissen. Ich muss lachen: »Ja, sogar zwei, wenn ich ehrlich bin. Ich sage mir: Du kannst nichts machen, gib trotzdem dein Bestes und werde glücklich. Und: Es ist, wie es ist, und es ist gut!« »Es ist aber so schwer, nicht perfekt sein zu wollen. Dann denke ich immer schnell, ich bin ein Loser.« »Das ist wirklich nicht leicht. Der Psychoanalytiker Donald Winnicott hat gesagt: Das Beste für ein Kind ist eine ausreichend gute Mutter.« »Note 4?« »Ja, er war der Meinung, der Perfektionismus der Mütter schade den Kindern mehr, als wenn sie mit allen Stärken und besonders auch Schwächen ihr Bestes geben und wissen, es gibt kein Bestes. Ausreichend gut ist das Bessere.« »Oh mein Gott, eine schwere Lektion.« »Lassen Sie das erst mal sacken, oder vergessen Sie es einfach. Schauen Sie sich noch mal die Stifte hier an, mit denen Sie Ihre FrauMutter-Kind-Konstellation gelegt haben. Schauen Sie sich die erwachsene Frau in der Mitte an, die Sie selbst sind. Wenn Sie sich nicht von den unbewussten Mutter-Kind-Regungen leiten lassen, sondern einmal im vollen Bewusstsein Ihrer selbst sagen, wie Sie sich da in der Mitte wahrnehmen: Welcher Satz würde Ihnen für Ihre Position als erwachsene Frau heute einfallen?« »Das ist leicht. Ich würde sagen: Ich habe meinen Platz gefunden!« »Als Mutter?« Sich vor Belastungen schützen
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»Nein, mehr: als Mutter, Ehefrau und in meinem Beruf auch. Das ist so und stimmt so!« »Ist es übertrieben zu sagen, Sie sind nach einer langen Reise angekommen?« »Na ja, ich bin ja immer noch unterwegs. Aber angekommen bin ich auch. Ich habe meinen Platz gefunden. Und gut ist. Und das ist also Resilienz?« »Ja, das sind Ihre Ressourcen. Ihr privates und berufliches Immunsystem wird gestärkt durch die Rollensicherheit, die Sie als Mutter, Ehefrau und Berufstätige an den Tag legen.« Frau Adam seufzt: »Ja, ich habe meinen Platz gefunden! Das würde sicher auch mein Vater so sehen.« »Er war sicher stolz auf seine Tochter und wäre es heute auch!« Wir schweigen einen Augenblick. »Lassen Sie uns in diesem Coaching für heute noch einen letzten Schritt gehen. Das sollten wir in den verbleibenden eineinhalb Stunden noch schaffen. Kurze Pause?«
Resilienz
Unter Resilienz kann man Widerstandskraft verstehen, nämlich die persönliche Stärke, Konflikte und Herausforderungen, wie zum Beispiel Präsentationen und Auftritte, zu meistern, ohne darauf mit Krankheit oder Vermeidung zu reagieren. Resilienz zeigt jemand, wenn er trotz hoher Belastung gesund bleibt. Einerseits ist die Kompetenz gemeint, die bei Stress abgerufen wird, andererseits die Fähigkeit zur Erholung, nachdem Krisen überstanden wurden. Resilienz ist als Prozess zu verstehen, in dem ungünstige Entwicklungen kompensiert werden. Resilienzforschung wird besonders in Bezug auf die kindliche Entwicklung betrieben. Im Kontext dieses Buches wird Resilienz auf Herausforderungen im Beruf bezogen, wie sie öffentliche Auftritte und Präsentationen darstellen können. Anscheinend wird Resilienz als Faktor im Umgang mit psychischen Belastungen im Beruf immer wichtiger. Mit hohen Belastungen umgehen zu können, ohne krank zu werden, ist wünschenswert, es sollte jedoch auch die Kehrseite unserer Resilienz im Blick bleiben. Unsere persönliche Widerstandskraft kann verhindern, Widerstand gegen ungerechte 86
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Verhältnisse zu leisten und für bessere Bedingungen zu kämpfen. Unsere Resilienz kann ausgenutzt werden: »Gut möglich, dass Resilienz in Bewerbungsverfahren vermehrt standardisiert erfasst wird« (Graefe, 2021, S. 37). Es könnte die falsche Antwort sein, Resilienz zu entwickeln, um übermenschlichen Belastungen im Beruf standzuhalten. Es kann aber auch die einzig mögliche Antwort sein, in äußerst belastenden Situationen nicht unterzugehen. Schutzfaktoren
Schutzfaktoren sind Faktoren, die eine psychische Störung oder eine krankhafte Entwicklung nach Auftreten von belastenden Ereignissen abmildern oder verhindern. Unterschieden werden a) personale Ressourcen (Selbstwahrnehmung, Selbstwirksamkeit, Selbststeuerung, soziale Kompetenz, Problemlösungsfähigkeiten) und b) soziale Ressourcen (stabile Bezugspersonen, Zusammenhalt in der Familie, enge Geschwisterbindungen, unterstützendes Netzwerk, hoher sozioökonomischer Status). Im beruflichen Kontext sind es gute Arbeitsbedingungen und eine sichere Beschäftigungsmöglichkeit. Als durchgängig wichtigster Schutzfaktor wird eine stabile, wertschätzende und emotional warme Beziehung zu einer erwachsenen Bezugsperson genannt (Fröhlich-Gildhoff u. Rönnau-Böse, 2015, S. 32). Belastender Faktor: Gedanken
Zunächst erweisen sich immer wieder unsere Gedanken als erheblich belastend. Zu unterscheiden sind Gedanken, mit denen wir im mentalen Training arbeiten, von den unwillkürlichen Gedanken, die uns zu schaffen machen. Es ist hilfreich, ängstigende Situationen gedanklich vorwegzunehmen und mit ihnen zu arbeiten, wie wir in der Introvision gesehen haben. Die unwillkürlichen Gedanken, die uns um das Thema kreisen lassen, sind jedoch äußerst störend. Meistens liegen den Gedanken unzutreffende Annahmen über uns selbst zugrunde: Wir sind nicht gut genug. Wir bleiben hinter den eigenen Ansprüchen zurück. Eine resiliente Haltung würde sich des sozialen Kontextes vergewissern. Ich persönlich verbiete mir Gedanken, Sich vor Belastungen schützen
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mit denen ich mich herunterziehen will. Und genauso sage ich mir das auch: Warum willst du dich herunterziehen? Diese Gedanken werden dadurch als meine eigene Aktivität verstanden und nicht als unwillkürliche Ereignisse. Wenn ich die Gedanken aufrufen kann, kann ich sie auch aktiv verbieten. Von Immanuel Kant wird überliefert, dass er einen diebischen Diener entlassen musste, aber seinen Schmerz darüber nicht verwinden konnte und, um sich dazu zu zwingen, an eine Zimmerwand eine Tafel hängte mit der Aufschrift: »Mein Diener muss vergessen werden.« Belastender Faktor: Bewertungen
Bei Gedanken sind wir meistens die Person, die sich negativ bewertet. Wenn Bewertungen Stress erzeugen, kann das natürlich eine konkrete Gegebenheit sein, wie ein Zeugnis einer Institution oder ein Urteil einer Person. Hier ist die Frage, ob wir uns durch eine Bewertung persönlich abwerten lassen oder sie als ein Sachurteil in Bezug auf eine bestimmte Leistung betrachten. Die resiliente Haltung würde eine klare Unterscheidung verlangen: »Sie können meine Leistung kritisieren, aber sollten mich dabei bitte nicht persönlich abwerten!« Allein eine solche Aussage schützt uns. Schwieriger ist es jedoch, wenn die Bewertungen nicht greifbar (z. B. in Form eines Feedbacks) vorliegen, sondern unzutreffende Annahmen über unsere Wirkung auf andere sind. Wir fühlen uns vielleicht nur aufgrund einer Unaufmerksamkeit eines Zuhörers bewertet, die überhaupt nichts mit unserer Person zu tun hatte. In einer Supervision schaute eine Teilnehmerin zwei-, dreimal aufs Handy, was ich beinahe persönlich genommen hätte, zum Glück erläuterte die Teilnehmerin, dass es sich um die Absage eines anderen Gruppenmitglieds gehandelt habe. Zwei Kollegen, deren Gespräch verstummte, als ich die Kaffeeküche betrat, müssen nicht über mich gesprochen haben! Meist sind diese gedachten Bewertungen ganz einfach unsere Projektionen, was wir uns ganz rational klarmachen sollten. Und wenn die beiden Kollegen wirklich über mich gesprochen hätten, dann wäre es immer noch gesünder, an eine Projektion meinerseits zu glauben. Sich etwas weniger zu verachten, weil man zu gewissenhaft mit anderen umgeht, und sich etwas weniger zu beachten, weil 88
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man zu bewusst mit sich umgeht, wäre eine Alternative, das heißt, etwas mehr aus einer Haltung der Selbstvergessenheit zu agieren. Sich weniger beobachten und gedanklich bewerten, sondern sich Menschen und Situationen ausliefern, sich um der Sache willen preisgeben. Wer sich verliert, wird sich finden. Günter Grass sagt: »Und geh ich verloren, mein Finder geht mit« (2001, S. 39). Belastende Faktoren: Doublebind und toxische Institution
Aus Doublebind-Situationen kommen wir nicht heraus. Doppelbotschaften machen uns das Leben schwer, mehr noch, sie können regelrecht Verrücktheit erzeugen. »Gut, dass du bei deinem Vortrag nicht so gestottert hast.« »Schön, dass du dir während deiner Rede nicht ständig mit den Händen im Gesicht herumgefahren bist.« »Dein Auftritt war heute mal gelungen!« Wenn wir mit solchen Unverschämtheiten konfrontiert werden, fällt uns nicht ein, wie wir reagieren sollen, das macht uns noch ohnmächtiger. Aber es gibt für diese Doublebind-»Gesprächsangebote« eben auch keine richtige Situation, weil Menschen, die diese anwenden, ein feines Gespür dafür haben, uns verrückt zu machen. Doublebind ist die Einladung zur Schizophrenie, weil wir eben immer nur falsch darauf reagieren können. Ich sage: »Danke, dass du deine Kritik so schön verpackt hast!« Das Gegenüber antwortet: »Willst du mir vorwerfen, dass ich dich kritisieren wollte? Von mir bekommst du kein ehrliches Feedback mehr, wenn du nur gelobt und angelogen werden willst.« Es gibt keine logische, argumentative Umgangsweise, die das verrückt machende Schema nicht verstärkt. Also bleibt als einzige Möglichkeit, dies zu erkennen, nur kurz »Danke!« zu sagen und freundlich zu bleiben. Richtig tragisch wird es, wenn wir es mit einem Doublebind zweiter Ordnung zu tun haben, wenn es bestimmten Menschen in Organisationen gelingt, die ganze Organisation mit ihrem Narzissmus krank zu machen. Hierbei werden alle Formen gedeihlichen Zusammenarbeitens bewusst verletzt. Ein Vortrag wird unterbrochen. Es wird hineingerufen. Man wird aus dem Konzept gebracht. Es ist aber zugleich die kleinste Gegenwehr verboten. Leider werden manchmal solche »Psychopathen« belohnt, weil es ihnen gelingt, jede Konkurrenz wegzuwalzen. Oder das Ganze fußt sogar auf einem Sich vor Belastungen schützen
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betriebsintern belohnenden System. Das nennt man dann »toxische Institution« (Kutz, 2018). Die Anforderungen übersteigen die Möglichkeit der Bewältigung, weil ein Spiel gespielt wird, bei dem von den Machern die Spielregeln ständig geändert werden. Das einzig Entlastende ist, dass das Ziel der Effizienzsteigerung, das propagiert wird, ein gewaltiger Trugschluss ist, weil Mitarbeitende innerlich oder wirklich kündigen. Angelika Kutz (2018) spricht von einer Doublebind-Pandemie, die zum Organisationsuntergang führe. Eine große Herausforderung besteht für Betroffene darin, ihr Selbstwertgefühl zu behalten. Das wichtigste Mittel zur Resilienz sind, wie schon gesagt, sichere Bindungen und die Wertschätzung von Mitmenschlichkeit. In Bezug auf toxische Institutionen gibt es nur einen Rat: Mach nicht mehr mit! Schutzfaktor: Horizontal denken
Vertikale Beziehungen funktionieren aus der Über- und Unterordnung. Ein Leben ohne Hierarchien ist sicher schwer vorstellbar, zumindest vereinfachen sie viele unserer kommunikativen Bezüge: Eltern und Kinder, Lehrerinnen und Schüler, ja und auch Vorgesetzte und Mitarbeitende. Klare Hierarchien entlasten die Kommunikation und vereinfachen die sozialen Beziehungen. Ein Freund, der eine große Affinität zur Bundeswehr hat, fragte: »Wie kann man Soldaten führen?« Und gab auch die Antwort: »Das funktioniert nur über Enttäuschung. Du musst so gut sein, dass du bei deiner Mannschaft Anerkennung findest, dann werden sie alles für dich tun, um dich nicht zu enttäuschen.« Ich kann das gut nachvollziehen, weil mein Krav-Maga-Trainer eine absolute Autorität ist und nichts tut, als Ansagen zu machen, für die wir uns zerreißen – wer das nicht will, ist hier falsch. Jedoch ist das horizontale Denkschema gefährlich, wenn man sich persönlich nicht daraus lösen kann und sich in allem vom Urteil anderer abhängig macht. Vertikale Beziehungen leben von Lob und Tadel und davon, dass immer jemand urteilt und man sich dem Urteil beugt. Demgegenüber können wir von horizontalen Beziehungen nur profitieren, wenn es uns gelingt, aus der Bewertungsabhängigkeit herauszukommen. Dazu müssen wir lernen, auf externe Rückmeldungen zu verzichten, und uns und unse90
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rer Leistung selbst vertrauen. Ermutigung erfahren wir dann allein aus unserem eigenen Gefühl der Dankbarkeit, Situationen, wie es schwierige Vorträge darstellen, gemeistert zu haben. Das heißt aber auch, Verzicht auf den Hunger nach Lob zu üben. Dazu müssen wir zwei mal zwei Haltungen trainieren: 1. Selbstakzeptanz als eine Selbstaffirmation, in der wir uns ohne Bedingung vertrauen, und eine affirmative Resignation, dank der wir uns so annehmen, wie wir sind, und niemand anders sein wollen. 2. Vertrauen in andere, das Gefühl, ein Mit-Mensch zu sein und sich mit anderen wohlzufühlen, sowie Engagement für andere, um sich nützlich zu machen und für sich selbst zu erfahren, wichtig zu sein. Schutzfaktor: Sachlichkeit im Schutz der Institution
Jedes Wissen, das wir in unseren Vorträgen vermitteln wollen, knüpft an ein implizites Vorwissen an. Der Mensch ist keine Tabula rasa, die erst nach und nach beschrieben wird. Auch der aufgeklärte, vernünftige Zugriff auf unsere Welt geschieht nicht von außen in diese Welt hinein und greift sich aus ihr Dinge heraus. Wir stehen immer schon in Verbindung zu den Inhalten, die wir vermitteln möchten. Das heißt, wir als Person und unsere Informationen oder Inhalte bilden im Vortrag eine Einheit. Wenn wir die Sache präsentieren, präsentieren wir uns zugleich. Wir präsentieren hoffentlich Inhalte, die sich uns erschlossen haben und nicht fremd geblieben sind. Das wäre nämlich das größte No-Go beim Vortrag, von Dingen zu reden, die wir nicht verstanden haben, oder anstelle von Dingen, die wir verstanden haben, über anderes zu reden. Wir haben schon über die Einheit von Person und Rolle gesprochen, jetzt kommt also auch noch die Einheit von Person und Sache hinzu. Wie ist das zu schaffen? Zunächst, wir sind immer wir selbst, auch wenn wir uns immer verändern. Wir vertrauen auf unsere Identität, verlassen uns auf unseren Wert, den wir haben, und unsere Würde, die uns niemand nehmen kann. Man kann sagen, wir sind bleibend Personen in der Veränderung ihres Werdens. Bezogen auf Rolle und Sachlichkeit kann uns sodann aber entlasten, dass wir uns nicht selbst als Vortragende erschaffen müssen. Gerade unsere Rolle und unsere SachSich vor Belastungen schützen
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lichkeit können einen großen Schutz für unsere Person bedeuten, wenn wir uns nicht erfinden müssen, sondern uns hineinstellen in den gegebenen Auftrag, den wir in unserem Vortrag erfüllen sollen. Wir treten nie (wirklich nie!) als Individuen auf, sondern immer in Institutionen. Die Institution (der Betrieb, der Heilberuf, die Kirche, die Schule, der Berufsverband …) fordert von uns eine Darstellung und schützt uns zugleich, wenn wir uns als Teil dieser Insti tution verstehen. Wir erfinden nicht uns, den Inhalt, das Publikum, den Betrieb, sondern bedienen uns der Inhalte, die der Institution erwachsen. Daher rührt die Kritik am »authentischen« Auftreten. Wir nehmen uns damit alle Sicherheit und wollen etwas sein, was es nicht gibt, ein einsamer Stern, losgelöst von allem. Wenn es trotz bester professioneller Sachlichkeit und einer uns gut schützenden Institution so etwas wie Spontaneität gibt, dann ist diese bestenfalls eine Spontaneität zweiter Ordnung, nämlich der Sache dienend und keine reine Individualität, der niemand folgen kann und die berechtigtes Kopfschütteln erzeugen würde. Schutzfaktor: Begehren entdecken
Kinder, vor allem wenn sie noch sehr klein und hilflos sind, brauchen die Unterstützung von Erwachsenen, damit sie überleben. Sie müssen ihre Bedürfnisse artikulieren, ohne sich oft adäquat ausdrücken zu können, also wird geschrien, was das Zeug hält. Manche Eltern halten das besser aus als andere. Auch wenn es keine gute Maxime ist, die Kinder schreien zu lassen und lebenswichtige Bedürfnisse, zu denen auch Nähe gehört, zu ignorieren, lernen Kinder durch diese nicht immer prompte Erfüllung ihrer Wünsche. Sie müssen lernen, dass Ansprüche an andere von diesen zurückgewiesen werden können. Erst durch diese Frustration lernen sie das Begehren. Anspruchsdenken verlangt: Mach du für mich! Begehren weiß: Ich muss selbst etwas tun. Im Begehren mache ich mich verletzlich und mute mich dem anderen zu, auch auf die Gefahr hin, dass dieser meine Bedürfnisse nicht befriedigt. Das nennt man dann Freiheit. Begehren ist somit ein kernresilientes Verhalten. Begehren bedeutet, sich zu aktivieren, ohne Gewissheit auf Erfolg. Die Alternative dazu wäre eine buddhistische Haltung des Freiwerdens von 92
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Bedürfnissen. Ich brauche nichts! Sicher ein guter Weg, der Weg der Meditation, des Meditierens um des Meditierens willen. Aber es gibt auch den Weg des Genusses. Das wache Dabeisein in allen Tätigkeiten. Dies ist weniger die Verlängerung eines orgiastischen Lustverlangens à la Nietzsche, »Alle Lust will Ewigkeit!«, sondern eher ein Genuss der Freude am Endlichen. Ich liebe Psalm 1, in dem es heißt: »Wohl dem, der Lust hat am Gesetz des Herrn.« Mein Begehren kann Erfüllung in der Hingabe an die Dinge und Aufgaben finden, die vor mir liegen. Fürs Mindset: Bei Stress einmal tief einatmen und mit offenem Mund ausatmen. Den Blick weit stellen, möglichst für einen Augenblick in die Ferne schauen und noch einmal tief ausatmen. Dann das Denken unterscheiden: Berechtigte Kritik kann ich annehmen. Sie macht mich besser und stärker. Danke. Unberechtigte Kritik lasse ich an mir vorbeiziehen. Sie kann mich nicht treffen. Sie meint mich nicht. Die Kritisierenden kennen mich nicht. Daher wehre ich mich nicht und ziehe mich nicht zurück. Ich bleibe dran. Ich zeige mich. Ich kann mich sehen lassen. Ich zeige, was ich kann. (Wenn ich will.)
»Ich schreibe meine Heldinnengeschichte!«: Die Kraft der Erzählungen nutzen »So, können Sie weitermachen?«, frage ich nach der Pause. »Auf jeden Fall!«, antwortet Frau Adam. »Was gibt es nun?« »Ich möchte, dass Sie gleich Ihre Erfolgsstory schreiben.« »Oh, da bin ich raus. Ich kann doch nicht gerade mal so eine Geschichte schreiben.« »Können wir ja mal sehen. Ich erkläre erst mal, um was es geht. Der alte Fußballstar Pele hat sich angeblich vor jedem Spiel und vor jedem Training an einen Ort zurückgezogen und seine Erfolgsgeschichte meditiert. Er ist dabei mental wichtige Stationen seines Lebens durchgegangen. Das hat er immer wieder und wieder gemacht. Ich möchte Ihnen das Schema der Heldenreise geben, und entweder Sie schreiben dann allein Ihre Erfolgsstory oder, wenn Sie wollen, entwerfen wir das »Ich schreibe meine Heldinnengeschichte!«
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gemeinsam, anhand dessen, was wir in den zwei Tagen miteinander besprochen haben.« »Das hört sich schon besser an! Was ist das für ein Schema?« »Es gibt in mehreren Varianten ein Schema, nach dem viele Hollywoodfilme konstruiert werden, anscheinend beruhen auch viele Mythen und Sagen auf diesem Schema. Meine Idee ist wie gesagt, dass Sie oder wir zusammen Ihre Heldengeschichte aufschreiben und dass Sie mir am Ende unserer Sitzung Ihre Geschichte vortragen. Dann haben Sie einen Vortrag, der nur Ihnen gehört und in dem noch mal das Wichtigste unseres Coachings festgehalten ist, sodass Sie ihn sich zur Hand nehmen können, wenn es nötig ist und etwas ansteht, für das Sie sich stärken möchten.« »Ich würde das gern mit Ihnen zusammen machen. Nur eine kleine Änderung …!« »Ja?« »Wir schreiben meine Heldinnengeschichte!« Ich muss schmunzeln. »Ja, logisch, Ihre Heldinnengeschichte, gern.«
Ich reiche Frau Adam das Schema »Heldenreise«. Dieses Schema geht auf Joseph Campbell (2011) zurück. Eine gendersensitive Sicht liegt nicht in Campbells Blick. Aber Frau Adam hat dazu die passende Antwort gegeben. Sie schreibt ihre Heldinnengeschichte! Heldinnen- bzw. Heldenreise 1. Die alte, gewohnte Welt eines/einer Gelangweilten. 2. Der Held/Die Heldin wird von jemandem (einem Mentor/einer Mentorin) zum Abenteuer gerufen. 3. Er/Sie weigert sich zunächst. Zaudert. (Oder: Ein Gegner/Eine Gegnerin hindert ihn/sie.) 4. Der Mentor/Die Mentorin überredet ihn/sie, nimmt ihn/sie an die Hand. 5. Der Held/Die Heldin überschreitet eine Schwelle, nach der es kein Zurück mehr gibt. 6. Der Held/Die Heldin wird vor eine Bewährungsprobe gestellt (trifft Verbündete und Feinde/Feindinnen). 7. Der Held/Die Heldin dringt bis zur tiefsten Höhle, zum gefährlichsten Punkt vor. 94
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8. In Konfrontation mit dem Gegner/der Gegnerin findet die entscheidende Prüfung statt. 9. Der Held/Die Heldin kann nun den »Schatz« rauben (eine entscheidende Erkenntnis finden). 10. Er/Sie tritt den Rückweg an. Es kommt zu einer »Auferstehung« aus der »Todesnähe«. 11. Der Feind/Die Feindin ist besiegt. Der Schatz im Besitz. Der Held/Die Heldin ist erwachsen geworden. 12. Der Rückkehrer/Die Rückkehrerin wird zu Hause mit Anerkennung belohnt. »Haben Sie mal ein Beispiel?«, will Frau Adam wissen. »Wenn Sie möchten. Ich habe das auch mal für mich ausprobiert.« Meine Heldenreise Als ich in die Oberstufe kam, hielt ich es bald nicht mehr aus in der Schule. Nicht, dass ich schlecht gewesen wäre, aber ich dachte, wann ist das endlich mal vorbei, wann kann ich endlich mein eigenes, selbstbestimmtes Leben beginnen. Genauso ging es mir mit der Frage, gehe ich zur Bundeswehr oder mache ich Zivildienst. Viele meiner Freunde wollten zum Bund, bis mein bester Freund Mike sagte, er wolle auf jeden Fall den Kriegsdienst verweigern und etwas Soziales im Zivildienst machen. Von da ab war ich Feuer und Flamme für die Verweigerung. Problem: Mein Vater war ein ehemaliger Berufssoldat, der damit überhaupt nicht einverstanden sein würde. Ohne Rücksprache mit der Familie ging ich dann zur Musterung und sagte dort, dass ich verweigern möchte. Es fiel mir zwar schwer, dies auf dem Terrain des Kreiswehrersatzamtes zu sagen, aber ich tat es dennoch. Überraschenderweise reagierten die zuständigen Beamten darauf sehr professionell. Sie müssten meine Wehrtauglichkeit dennoch prüfen, weil ohne Tauglichkeit auch kein Zivildienst. Ich wurde ohne Einschränkung für wehrtauglich erachtet. Dann kam jedoch das aufgeschobene Gespräch mit den Eltern. Mein Vater warf mir vor, die Familie im Stich lassen zu wollen und nicht bereit zu sein, uns verteidigen zu wollen. Wir bekamen einen riesigen Krach. Ich erinnere mich, dass ich mich irgendwann allein auf »Ich schreibe meine Heldinnengeschichte!«
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den Balkon verzog und am liebsten gesprungen wäre. So enttäuscht und wütend war ich. Allerdings konnte ich am nächsten Tag feststellen, dass mein Vater nun meine Entscheidung akzeptierte. Zum ersten Mal hatte ich mich in einer Auseinandersetzung mit ihm durchgesetzt und meinen eigenen Standpunkt vertreten. Ich kam mir nun ihm gegenüber fast gleichberechtigt vor. Dieser Morgen machte mich richtig stolz. Jedoch stand ja immer noch der Gewissens-TÜV bevor. Meine Anerkennung als KDVler durch eine Kommission, zu der ich geladen war. Mein Religionslehrer unterstützte mich in dieser Zeit sehr und bot an, mit mir dahin zu gehen, meinte aber, stärker sei es, dies allein durchzustehen, was ich dann auch tat. Die Kommission, die über meinen Antrag zu befinden hatte, war damals berühmt für ihre vielen Ablehnungen. Den Vorsitz hatte ein ehemaliger Oberstaatsanwalt, der viele KDVler in Angst und Schrecken versetzte. Ich erzähle jetzt nicht die ganze Verhandlung nach. Nur so viel, dieser Oberstaatsanwalt a. D. sagte zum Schluss, dass er selten so eine überzeugende Verweigerung erlebt habe. Ich kenne noch genau das Glücksgefühl, als ich mich allein auf den Nachhauseweg machte. Ich flog förmlich heim und musste oft laut lachen vor Freude. Zu Hause angekommen empfing mich mein Vater mit der Nachricht, er habe eine Zivildienststelle in der Werkstatt für Behinderte für mich klargemacht, er kenne den Leiter. Also begannen für mich nach dem Abitur 18 Monate Zivildienst in der WfB, in denen ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, etwas wirklich Sinnvolles zu tun. Frau Adam blickt mich an: »Und das soll ich jetzt einfach mal so aufschreiben?« »Versuchen wir es doch thematisch entlang unseres Coachings Schritt für Schritt gemeinsam, und wenn Sie Spaß daran finden, schreiben Sie für sich allein in den nächsten Tagen noch mal Ihre Heldinnengeschichte. Nehmen Sie einfach Ihr Notebook, dann legen wir los!« Frau Adam will ihre Wahl zur Vorsitzenden zur Grundlage nehmen und nun auch schon ein paar Elemente aus dem Coaching in die Geschichte einbauen. Nach einer Dreiviertelstunde Arbeit steht die Heldinnengeschichte: 96
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Mit Mitte vierzig hatte ich eigentlich alles, was ich wollte: einen lieben Mann, zwei liebe Kinder. Einen Jungen und ein Mädchen. Einen tollen Beruf, in dem ich erfolgreich bin und der mir Freude macht. Alles war gut, wenn da nicht so unausgelebter Ehrgeiz in mir geschlummert hätte. Dieser Ehrgeiz bekam plötzlich Nahrung. Bei einer unserer Vorstandssitzungen wurde darüber nachgedacht, wer als nächster Vorsitzender kandidieren könnte. Meine Kollegin Gabriele nannte plötzlich meinen Namen. Überraschenderweise hatten die anderen Vorstandskollegen keine Einwände. Unser noch amtierender Vorsitzender sagte sogar: »Mein Amt würde ich gern an dich übergeben.« Mir jedoch krampfte der Bauch zusammen. Es war wieder so wie schon so oft in meinem Leben. Wollen wollte ich schon, aber zutrauen wollte ich es mir nicht. Bei einem Vortrag, den ich öffentlich halten musste, hatte der Vorstandskollege Johannes einmal im Anschluss gesagt, da hätten wir auch eine andere nehmen können. Dafür hatte er zwar Kritik aus dem Vorstand erfahren, aber trotzdem steckte dieser Satz wie ein Pfeil in mir. Ich traute mir die Sache einfach doch nicht zu. Ich sagte: »Schaut doch erst mal, ob sich nicht jemand anderes findet.« In der Mittagspause unserer Sitzung nahm mich Monika zur Seite. »Sei bitte nicht dumm. Jeder von uns weiß, dass du die Beste für dieses Amt bist. Du hast deinen Betrieb gut in der Reihe. Du kannst gut organisieren. Bist dabei noch schnell und gründlich – und das Wichtigste für dieses Amt: Du weißt einfach, wie man einen Laden zusammenhält. Du bist jemand, der ein Netzwerk hat.« Ich zweifelte: »Und der Johannes? Der wird garantiert dagegenschießen.« »Soll er halt gegen dich kandidieren. Der hat eh keine Chance!« Als die Sitzung weiterging, meldete sich Monika zu Wort: »Ich möchte den Vorschlag von Gabriele gern bekräftigen. Eva wäre eine gute Kandidatin für unseren Vorsitz.« Nun gab es kein Zurück mehr für mich. »Wenn ihr das so seht, bin ich bereit, mich zur Verfügung zu stellen.« Nun trat jedoch Johannes auf den Plan. »Eva, du bist bestimmt eine prima Verwaltungsfrau, aber die Vorsitzende hat eine Menge öffentlicher Auftritte zu bewältigen und auch mit den Medien einige Termine im Jahr. Ist das das Richtige für dich?« Gabriele fuhr ihn an: »Willst du den Vorsitz übernehmen? Dann kannst du ja gegen Eva kandidieren!« Daraufhin blieb Johannes still. »Ich schreibe meine Heldinnengeschichte!«
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Dann kam die Mitgliederversammlung. Ich musste mich vorstellen und meine Kandidatur begründen. Natürlich war ich aufgeregt und hatte Angst, mich zu verhaspeln, aber ich hielt mich einfach an mein Konzept und brachte die Sache gut hinter mich. Dann fand jedoch die Befragung durch die Mitglieder statt. Und anscheinend war es Johannes gelungen, ein paar Leute zu finden, die mir auf den Zahn fühlen sollten. Er hielt sich vornehm zurück und versuchte mich zu demontieren, bevor ich gewählt war. Oder hatte er sogar vor, seine Kandidatur aus dem Hut zu zaubern, falls ich versagte? Das ging mir durch den Kopf und wieder hörte ich auch meine innere Stimme, die sagte: »Da hätten wir auch eine andere nehmen können.« Bei der Mitgliederbefragung, bei der auch wieder die Wichtigkeit des öffentlichen Auftritts betont wurde und die Bedeutung der Außenwirkung der Rolle eines Vorsitzenden, musste ich all meine Kraft aufbringen. Zwei Sätze stellte ich mir wie ein Mantra vor Augen. »Ich bleibe bei meiner Kandidatur!« Und: »Ich werde eine ausreichend gute Vorsitzende sein!« Das nahm mir den Druck und gab mir meine Überzeugung zurück. Die kritischen Stimmen wurden leise und die aufmunternden Fragen nahmen zu. Ich wurde zur neuen Vorsitzenden unseres Verbandes gewählt, als erste Frau in diesem Amt. Nachdem endlich die Versammlung, die Gratulationen und der Sektempfang gemeistert waren, versuchte ich zu Hause zur Ruhe zu kommen. Das fiel mir schwer. Mir ging meine Geschichte durch den Kopf. Immer musste ich gegen Widerstände kämpfen, weil mir nichts zugetraut wurde. Das fing schon bei meinem Vater an. Im Studium hatte ich fast selbst schon den Glauben an mich verloren. Aber anscheinend bekam ich trotzdem alles hin, was ich anpackte. Ganz rational hielt ich mir das nun vor Augen. All die erfolgreichen Etappen: Schule mit Abitur, Studium mit super Diplom, Anstellung in einem tollen Betrieb, Selbstständigkeit, eine schöne Ehe, liebe Kinder und nun der Vorsitz. So ließ ich meinen inneren Film vor mir ablaufen und musste an einigen Stellen in mich hineingrinsen. Gegen alle Widerstände hatte ich es geschafft und war mit mir zufrieden. An Johannes denke ich nicht mehr. Er hat sich auch mit meiner Rolle angefreundet. Wenn er mir mal etwas schräg von der Seite kommt und dumm daherredet, dann denke ich: »Halt, stopp, ich bin die Vorsitzende.« Das hilft mir. Meine neue Rolle passt zu mir und macht mir Spaß. Dann 98
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brauche ich nicht einmal zu kritisieren oder in die Schranken zu weisen, weil ich mich durch meine Rolle und unseren Verband gut geschützt weiß. Nun bin ich schon zum zweiten Mal wiedergewählt worden. Und halte auch meine öffentlichen Vorträge mit Freude. Natürlich mache ich Fehler oder verhaspele mich mal. Was soll es? Ich weiß, was ich kann, und empfinde es als gut und entlastend, nicht perfekt sein zu müssen. Es gibt immer auch andere, die mir helfen. Ich kann mich auf viele tolle Menschen in meinem Umfeld verlassen, die mir wohlgesonnen sind und die etwas draufhaben. Ich mag ganz viele von ihnen und bin mir sicher, dass sie mich auch mögen. Und eines weiß ich ganz genau: Ich habe meinen Platz gefunden, in der Partnerschaft, im Beruf und in der Familie. Ja, meinen Platz im Leben. Als wir mit der Niederschrift fertig sind, sage ich: »So, liebe Frau Adam, nach der Pflicht die Kür, jetzt müssen Sie mir Ihre Heldinnengeschichte noch vortragen!« »Kein Problem! Dann müssen Sie aber hinterher auch laut applaudieren!« Wir beide lachen.
Der Sinn der Konvention
Ganz egal, wann und wo wir im öffentlichen Raum auftauchen, immer müssen wir soziale Kontakte knüpfen. Das möchten wir manchmal gern umgehen, das ist aber in der Regel zumindest unhöflich, wenn nicht gar geschäftsschädigend. Darum haben die Menschen gelernt, sich im ungewohnten öffentlichen Kontext konventionelle Schutzmäntel umzulegen, zum Beispiel den Small Talk: »Guten Tag!« »Ah, Sie auch hier!« »Schönes Wetter heute!« »Ja, ich genieße es, aber es könnte auch mal wieder regnen!« »Was machen Sie im Sommer?« »Wie geht es den Kindern?« »Zum Glück ist heute Freitag, das Wochenende kommt mir wie gerufen!« Wie oft sitzen wir manchmal gezwungen und zufällig mit Menschen bei Veranstaltungen oder beim Mittagessen zusammen, die wir vielleicht nur einmal im Leben sehen, und doch müssen wir anknüpfen und den Konventionen genügen. Also machen Sie es! Sonst geht es Ihnen wie mir einmal in einem Mobbingseminar, bei dem die »Ich schreibe meine Heldinnengeschichte!«
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Teilnehmenden den Auftrag bekommen hatten, mich bei einer gespielten Party zu ignorieren. Da werden zwei, drei Minuten zum Höllentrip und zehn Minuten in solch einer Situation unvorstellbar. Daher nie vergessen: »Wie sind Sie hierhergekommen?« »Mit der Bahn!« »Und war sie pünktlich?« Oder: »Mit dem Wagen!« »Und wo parken Sie?« Beste Gelegenheiten, konventionell anzuknüpfen und gemeinsam ein wenig zu jammern und zu schimpfen, man muss ja nicht gleich anfangen zu lästern. Die Stärke von Geschichten
Personalchefs werden es kennen. Da sitzen eine Reihe von Bewerberinnen und Bewerbern vor ihnen und alle spulen dasselbe ab und wirken wie eine leere Schablone. Das Gerede macht müde oder die aufgesetzte Fröhlichkeit macht krank. Schön, wenn mal ein Mensch in Erscheinung tritt. »Warum haben Sie sich bei uns beworben?« »Wissen Sie, ich mag einfach das Blau in Ihrem Firmenlogo, das erinnert mich an den Künstler Yves Klein!« »Tut mir leid, den kenne ich nicht, was hat es mit dem auf sich?« »Von dem habe ich die Geschichte gehört, dass er als junger Mann am Strand lag, in den Himmel schaute und mit der Hand seinen Namen in den Sand schrieb und später sagte: ›Ich hatte mein erstes Bild signiert.‹ Daher seine Vorliebe für Blau!« Nun, von solch einem Gespräch kann man nur träumen, aber eines dürfte klar sein: Wenn es gleich gute Bewerber gibt, wird sich sicher an »den mit dem Blau« erinnert und es wird nicht zu dessen Nachteil sein. Wir brauchen Geschichten, weil sie uns atmosphärisch sofort hineinholen in Zeiten, als uns Märchen erzählt und Geschichten vorgelesen wurden. Das waren glückliche Zeiten, die immer noch wirken, wie der Erfolg von Hörbüchern zeigt. Thomas Pyczak (2019, S. 31 f.) berichtet von einer Studie über Gespräche von Buschmännern in Namibia und Botswana. In den Tagesstunden wurde gleichmäßig verteilt über Wirtschaftliches, Beschwerden und Konflikte gesprochen. Abends jedoch wurden fast ausschließlich Geschichten erzählt. Mit diesen Geschichten konnten sie sich von den Sorgen des Tages entfernen und ihre sozialen Beziehungen festigen. Und der Ort dieses Geschehens war natür100
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lich das Lagerfeuer. Wer weiß, vielleicht entspricht unser abendlicher Hunger nach Filmserien genau dieser alten Sehnsucht nach dem Lagerfeuer und seinen Geschichten. Und diese dürfen durchaus bekannt sein. Meinen alten WG-Mitbewohner Michael aus Studentenzeiten bitte ich manchmal: »Erzähl doch noch mal die Geschichte, als du meinen Staubsauger repariert hast, indem du den vertrockneten Apfelbutzen aus dem Ansaugschlauch entferntest!« Persönliches professionell
Für mich gibt es nichts Unerträglicheres als persönliche Geschichten von Pfarrern in Predigten. Ich denke dann: »Haben die nichts anderes zu sagen? Wen interessiert das? Wie peinlich.« Und dennoch muss ich zugeben, es kommt darauf an, was wie persönlich angesprochen wird. Ein Beispiel: Der jüdische Theologe und Religionswissenschaftler Pinchas Lapide erzählte einmal folgende persönliche Anekdote: »Ich war, wie Sie wissen, 1956 bis 1958 israelischer Konsul in Mailand, als Italien das zehnjährige Jubiläum seiner Befreiung feierte. Eines Tages bekomme ich einen Brief, unterschrieben von 27 Israelis ganz verschiedener Herkunft und Berufe, die ein gemeinsamer Nenner eint: Sie haben 25 Monate ihres Lebens im Keller eines Franziskanerinnenklosters verbracht und verdanken dieser Tatsache ihr Überleben. Und nun, zehn Jahre später, wollen sie auf eigene Kosten zurückkehren, um den Nonnen einen Dankbesuch abzustatten. Sie schreiben mir, damit ich die Massenmedien alarmiere, mitkomme und dem ganzen Besuch einen offiziellen Charakter verleihe. Selbstverständlich, gesagt – getan. Eines Tages fährt ein Konvoi hinunter in dieses Kloster in der Kleinstadt. Ein wuchtiges Gebäude aus dem 13. Jahrhundert. Das müssen Sie sich vorstellen, die Quadersteine, die enge Pforte, vorn stehen 30 Nonnen schwarz gekleidet, in ihrer Mitte die Mutter Oberin, eine alte Dame, die schlecht sieht, nicht gut hört und die von zwei Schwestern gestützt wird. Es beginnen die Dankreden und das, was Sie sich vorstellen können. Und nachdem das zwei Stunden gedauert hat, gehe ich zu der Oberin hin und sage: »Ich schreibe meine Heldinnengeschichte!«
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›Signora, entschuldigen Sie das Getöse, aber die Welt hat schlechte Nachrichten zur Genüge; vielleicht sollten die Menschen auch mal etwas Gutes hören. Und daher mussten alle diese Menschen da sein, die da knipsen, Lärm machen und schreiben.‹ Nach diesen Worten sagte sie einen Satz, den ich nie vergessen werde: ›Sagen Sie, Herr Konsul, seid Ihr Kommunisten oder Faschisten?‹ Darauf bin ich das erste Mal in meinem Leben die Antwort schuldig geblieben. Ich sage, ›Signora, seit zwei Stunden reden wir über die Bergpredigt, von der Nächstenliebe, vom Heiligen Land, von Jerusalem und der Bibel, und Sie stellen mir diese Frage?!‹ Hierauf wird die alte Dame rot im Gesicht, stottert und sagt Folgendes: ›Sie wissen, Herr Konsul, ich bin eine alte Frau, Sie müssen etwas Rücksicht nehmen. Aber in dem Keller dort unten, den wir Ihnen gezeigt haben – wo die Nonnen zwei Mal auf ihrem Hostienofen Matzen gebacken haben, damit die Juden im Keller nicht nur leben, sondern ein Pessach feiern konnten –, in demselben Keller, 600 Meter vom GestapoBüro entfernt, da haben wir 1942 Kommunisten versteckt, 1943 bis 1945 Juden und 1946 bis 1947 Faschisten. Jetzt bin ich ein bisschen durcheinandergekommen.‹« Lapide endet seine Anekdote mit den Worten: »Gott sei Dank gibt es auch solche Leute in unserer Welt« (Frankl u. Lapide, 2014, S. 142 f.).
Ich hoffe, Sie können zustimmen, das ist persönlich, doch ohne eine Spur von Peinlichkeit. Einen Vortrag, der auf solche Weise verankert ist, den vergisst man nicht. Die Geschichte steht auch in Beziehung zum Gesagten, weil es im Kontext um Leid und Schuld sowie Liebe und Lebenssinn ging. Schließlich werden hier auch Charakterzüge lebendig. Es lässt sich wohl kaum verhindern, die alte Signora vor sich zu sehen. Spannung erzeugen
Alfred Hitchcock war immer der Meinung, dass die Logik seiner Filme sich der Suspense-Technik unterzuordnen habe. Die Spannung kommt an erster Stelle, und das hat für ihn nichts mit Rätselraten zu tun wie in Agatha-Christie-Krimis, bei denen es meist darum geht, 102
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die Frage zu beantworten: Wer war es? Bei Hitchcock und seinem Verständnis von Spannung geht es nicht um intellektuelle Rätsel, sondern um die Erzeugung von Emotionen. Hitchcock erzählt ein Beispiel: »Jemand dringt neugierig in ein fremdes Zimmer ein und durchsucht die Schubladen. Sie zeigen, wie der Bewohner des Zimmers die Treppe rauf kommt. Dann gehen Sie wieder zurück zu dem, der in der Schublade herumsucht. Der Zuschauer möchte ihn warnen: Passen Sie auf, da kommt jemand die Treppe rauf! Also braucht der, der herumsucht, gar nicht sympathisch zu sein, der Zuschauer ist trotzdem auf seiner Seite. Natürlich, wenn der, der etwas sucht, sympathisch ist, wie zum Beispiel Grace Kelly in Rear Window, dann nimmt der Zuschauer doppelt Anteil« (Truffaut, 1997, S. 63). Spannung wird erzeugt, indem etwas gezeigt wird und das Ende für eine gewisse Zeit lang offenbleibt. Das Beispiel mit der Schublade zeigt, wie es geht, die Zuschauer bzw. Zuhörer wissen mehr als die in der Geschichte beteiligten Personen. Schafft der Eindringling es, vorher zu entkommen, oder nicht? Wie wäre es mit folgender auf Vorträge bezogenen Variante: »Weite Passagen aus meiner Hochzeitsansprache hatte ich dem Buch ›Die 100 schönsten Hochzeitspredigten‹ entnommen. Als ich später vom Vater der Braut angesprochen wurde, konnte ich nicht wissen, dass er der Autor des Buches war.« O mein Gott, wie peinlich, werden die meisten denken. Aber zugleich die Frage im Kopf haben, wie hat sich der Vortragende aus dieser Situation gerettet. Spannend! Bildhaft sprechen, Dinge zeigen statt sagen
Auch hier gilt wieder: Bilder sind nicht gleich Bilder, sondern oft leider eher Klischees. Sie sind zu eindeutig und zu oberflächlich, dazu muss man sich nur #sonnenuntergang ansehen. Wenn wir bildhaft sprechen möchten, sollten wir Dinge genau zeigen, damit die Zuhörenden sie auch sehen können. Eine der von mir so verpönten persönlichen Geschichten gefällig? Als Vikar hatte ich in einer Dorfkirche einen Abendmahlsgottesdienst zu feiern. In dem Moment als ich den Kelch mit den Worten hochhob »Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Abendmahl, dankte und gab ihnen den und sprach …«, flog eine dicke, fette Mücke um meinen Kopf herum. Ich dachte (so leid es mir tut): »Hau ab, du Vieh!« Worauf das Vieh aufs »Ich schreibe meine Heldinnengeschichte!«
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Wort gehorchte, abhaute, genau mitten in den Kelch hinein, in dem es dann laut brummend im Kreis schwamm. Da war der Vikar herausgefordert. Was tun? Sollte ich die Finger nehmen und die Mücke entfernen? Das war mein erster Impuls. Doch letztlich gab mir der Heilige Geist ein, besonnener zu reagieren. Ich stellte den Kelch zurück auf den Altar und nahm einen anderen Kelch, die Küsterin half mir, indem sie das Gefäß mit der Mücke unauffällig in die Sakristei brachte und dort entleerte. Nicht auszudenken, welche Konflikte ein katholischer Priester mit dieser Situation gehabt hätte. – Am einfachsten ist es, wenn die Bilder, die wir im Vortrag benutzen wollen, wirklich auch vor unseren eigenen Augen stehen, noch besser ist es, wenn wir die Bilder aus unserer szenischen Erinnerung wiedergeben können. Aufforderungscharakter des Endes
Wenn wir zu Beginn eines Vortrags ein Problem, eine Frage oder einen Konflikt benennen, dann sollten wir auch am Ende dazu eine Lösung oder Antwort parat haben. Denn auch dies ist störend, wenn zu Beginn beispielsweise die globalen Krisen aufgerufen werden und am Ende dazu nichts gesagt wird, außer vielleicht warme Luft zu fächern. Wenn wir anfangs nicht zu hoch hinauswollen, müssen wir uns nicht am Ende des Vortrags von der Wand kratzen, gegen die wir gelaufen sind. Wenn wir unseren Vortrag mit Aristoteles beginnen: »Der erste Schritt ist die Hälfte des Weges!«, dann sollten wir am Schluss des Vortrags auch den ersten Schritt genau bezeichnen! Besonders wirkungsvoll ist es, wenn die Zuhörerinnen und Zuhörer erfahren, wie sie selbst diesen Schritt gehen können und dass dieser Schritt auch in einem bestimmten Zeitrahmen gegangen werden kann und dieser Schritt wirklich ein Schritt ist und kein Marathonlauf. Etwa so: »Ich habe zu Beginn meines Vortrags gefragt, wie wir das Blau unseres Firmenlogos wieder zum Leuchten bringen können. Wenn Sie jetzt in die Mittagspause gehen, dann nehmen Sie bitte die blaue Karte, die auf Ihrem Sitz liegt, und schreiben Sie, bevor Sie den ersten Schritt in die Pause gehen, einen einzigen Gedanken, Impuls, eine Frage oder Kritik auf, die für uns alle von Belang sein könnte. Dies wird die Grundlage für unsere Aussprache zu meinem Vortrag sein.« 104
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Held bzw. Heldin sein
»Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!«, sagt Erich Kästner und recht hat er, daher muss der Vortrag der Helden- oder Heldinnenreise auch wirklich Face to Face gehalten werden. Was bringt die schönste Trockenschwimmübung, wenn man nicht doch mal mit Wasser in Berührung kommt? Vorträge müssen gehalten werden! In der Story und ihrer Performance kommt alles zusammen. Ein Vortrag wird geübt. Eine Erfolgsgeschichte wird meditativ adaptiert. Diese Erfahrung wird schriftlich fixiert. Die Story dient als neurobiologische Verankerung und kann ins mentale Training eingebaut werden, indem sie wiederholt gedanklich erinnert wird. Die Geschichte macht persönlich stark und bildet einen Schutz gegen fremde Kritik. Die Geschichte wurde erlebt und ist somit unangreifbar. Wir werden uns in der Geschichte auf eine ressourcenstärkende Weise selbst ansichtig. Können vor uns bestehen. Und wir setzen uns mit unserer Geschichte anderen aus. Wir werden zum Botschafter, zur Botschafterin unserer Stärke und dies öffentlich. Besser geht nicht? Applaus
Doch! Wir bekommen ein direktes Feedback, den Applaus unserer Zuhörerinnen und Zuhörer! Fürs Mindset: Wenn Sie etwas Persönliches sagen wollen, dann sagen Sie etwas Persönliches, das Sie erlebt haben und das Ihnen szenisch vor Augen steht, das können Sie ohne Konzept erzählen, weil Sie alles vor Augen sehen. Schreiben Sie für den privaten Gebrauch (nicht für die Öffentlichkeit!) Ihre Heldinnen- oder Heldengeschichte und gehen Sie diese meditativ vor jeder neuen Herausforderung durch. Wer das nicht will, kann auch die eigenen Erfolge wie die Perlen einer Kette nacheinander aufziehen. Warum sollte man das nur mental machen? Basteln Sie Ihre Erfolgskette, nehmen Sie ein langes Band, damit es reicht.
»Ich schreibe meine Heldinnengeschichte!«
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Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
Nachdenken über den eigenen Auftritt: Erfahrung Nachdem wir unserer Heldin Frau Adam gefolgt sind und sie nun verabschieden können, wollen wir einige Hintergründe für die Entwicklung unserer achtsamen Stärke im Auftritt beleuchten. Hier und da wird es dabei etwas theoretisch zugehen. Dies dient aber immer unserer konkreten Praxis. Ich reflektiere, was mir geholfen hat, zu dem mehr oder weniger guten Redner zu werden, der ich heute bin, und leite davon ab, was auch für Sie hilfreich sein kann. Theorie folgt unserer Erfahrung, sie versucht, unsere Erfahrung zu verstehen und wiederum unserem Handeln zu dienen. Also kann es keine bedeutsame Theorie geben, in der wir nicht vorkommen. Theorie muss durch uns hindurchgegangen sein, damit sie Bedeutung für unser Leben hat. Wie soll es anders möglich sein? Daher werde ich ähnlich wie in dem biografischen Ansatz mit Frau Adam, der exemplarisch zeigen sollte, wie wir Auftrittssicherheit gewinnen können, nun nachzeichnen, wie sich in mir Theorien angereichert haben. Dabei stehen mir folgende Fragen vor Augen, die ich gern zu Ihrer Unterstützung versuche zu beantworten: Ȥ Wie kann es Ihnen gelingen, Sicherheit in Ihren Interaktionen mit anderen Menschen im sozialen und beruflichen Umfeld zu finden? Ȥ Welche praktischen Methoden können Ihnen dabei helfen? Ȥ Wie ist das Hilfreiche bestimmter Methoden zu verstehen und anzuwenden? Ȥ Wie können Sie Probleme in der Interaktion mental lösen? Ȥ Wie können Sie diese Lösung körperlich erfahrbar verankern? Nachdenken über den eigenen Auftritt: Erfahrung
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Ȥ Welche Ihrer Erfahrungen können Sie sich selbst erzählen, um Auftrittssicherheit mit Ihrer je persönlichen Geschichte zu verbinden? Menschen, die mir heute begegnen, sagen über mich, dass ich viel positive Energie ausstrahle und andere darin mitnehme. Das war nicht immer so, ein Großteil meiner Kindheit bestand in Umzügen und Schulwechseln, die durch die berufliche Tätigkeit meines Vaters bedingt waren. Das hat mich immer wieder sehr verunsichert. Immer wieder musste ich mich als »Neuer« in fremden Schulklassen vorstellen. Und wenn man zum Beispiel vom Schwarzwald nach Niedersachsen zieht, dann ist es unvermeidlich, dass man Lacher auslöst, wenn man vom »Mäpple« spricht und »Vesper« hält. Ich musste lernen, sensibel auf fremde Situationen zu reagieren, die Antennen auszufahren und mich unauffällig anzupassen. Dies gelang nicht immer. Mit anderen Worten, ich ließ mir so lange viel gefallen, bis ich aus der Haut fuhr und aggressiv reagierte. Meine Mutter musste dann in der Schule die Wogen glätten. Generell machte ich aber eher den Eindruck eines Jungen, der viel mit sich machen lässt und selten Kritik an anderen äußert, dies gepaart mit einer gewissen Fröhlichkeit und einer eher weinerlichen Stimme. Jedoch scheinen die Umzüge etwas Gutes gehabt zu haben, ich setzte mich auch später immer wieder neuen sozialen Kontexten aus, ob beim Sport im Leichtathletikverein, ob in der Politik in der Jugendorganisation einer Partei oder als Autor von Jugendzeitschriften, die wir selbst herausgaben. Meine Innensicht wurde geprägt von Literatur, die meine Sehnsucht nach Wahrheit stillen sollte. Reclam-Hefte begleiteten mich, von denen ich in den Ferien morgens eines kaufte und bis abends las. Dennoch war die Angst vor öffentlichen Auftritten nicht weg. Der schlimmste Satz, den ich im Vikariat nach dem Theologiestudium von meinem Lehrpfarrer zu hören bekam, lautete: »Geben Sie sich für den Weihnachtsgottesdienst Mühe, die Gemeinde erwartet viel von Ihnen.« Dieser Satz machte mir schlicht und einfach Angst. Wenn ich im Vorfeld Kirchenglocken hörte, bekam ich Bauchschmerzen. Die Angst saß mir aber auch sprichwörtlich im Nacken. Sie überfiel mich wie eine fremde Macht. Vielleicht machte ich damals, ohne 108
Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
es zu wissen, meine erste Erfahrung mit Introvision und paradoxer Intention. An einem sonnigen Morgen überkam mich wieder die Angst, ich setzte mich auf die Treppe vor dem Haus, in dem ich wohnte, und schaute mir die Angst an. Gefühlt saß sie nun nicht mehr im Nacken oder im Bauch, sondern auf meiner Schulter. Ich konnte mir die Angst anschauen wie eine Katze, die dasitzt, und fragen: Was willst du mir sagen, wovor willst du mich warnen? Ich konnte in diesem Moment das Gefühl entwickeln, dass es okay ist. Die Angst saß nun auf meiner Schulter, weil sie nicht mehr in mir war, sondern körperlich außen. Ich konnte sagen: Es ist gut, dass du da bist, aber halte ruhig etwas Abstand. Das half und beruhigte mich. Endlich bekam ich die Freiheit, die Gottesdienste nicht mehr als etwas Schlimmes anzusehen, bei dem vermutlich alle auf meine Fehler lauerten. Ich konnte nun auch die Menschen sehen, die mir freundlich und wohlwollend gesinnt waren, und das waren viele. Mir war es gelungen, der Angst ins Auge zu schauen und die Ruhe im Orkan zu finden. Eine Introvision, wie gesagt, ohne etwas von ihr zu wissen. Darin zeigt sich, dass gute Theorie Erfahrungen aufnimmt und der Erfahrung weiterhilft. Im Folgenden erläutere ich Ansätze, die helfen, Auftrittssicherheit zu finden, weil sie sich mit unserer Erfahrung verankern lassen. Fürs Mindset: Betrachten Sie Ihre Angst vor kritischer Öffentlichkeit einmal wie eine Katze, die auf Ihrer Schulter sitzt. Das mag etwas unheimlich sein, aber auch zutraulich. Was will das Tier Ihnen sagen? Hat es eine Warnung mitzugeben? Kann es Sie auch begleiten? Kann es zu einem Teil von Ihnen werden, den Sie sich von der Seite aus anschauen möchten? Können Sie Ihren Kopf vorsichtig auf die Seite der Angst legen und mit der Katze eine Berührung wagen? Schließen Sie die Augen, neigen Sie den Kopf und heben Sie ihn vorsichtig hoch und runter! Merken Sie, wie die Katze Ihre Zärtlichkeit erwidert? Denken Sie nicht nach, spüren Sie die Veränderung!
Nachdenken über den eigenen Auftritt: Erfahrung
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Gewissheit, die Unsichtbares sichtbar macht: Spiritualität Meinen Konfirmationsspruch hat mir damals mein Pfarrer gegeben, das halte ich für bedeutsam, weil der Spruch sozusagen »über« mich gekommen ist. Er stammt von Paulus, der schreibt: »Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht« (Philipper 4,13). Damit ist mein Lebensthema treffend beschrieben. Fragt sich nur, wie? Ursprünglich habe ich schon mit diesem Wort gelebt, bevor ich es überhaupt kannte. Das hat damit zu tun, dass mir meine Oma meinen verstorbenen Opa als »Ich-Ideal« zeichnete: »Dein Opa konnte alles, du bist wie dein Opa!« Man mag darüber streiten, ob mir diese Vater-Imago geholfen oder geschadet hat, jedenfalls trifft sie sich mit meinem Konfirmationsspruch, den ich bis vor wenigen Jahren falsch verstand. Ich dachte, Paulus sei ein Supermann und ich (zumindest in meinen Wünschen) Jung Siegfried. Dass Paulus viel mehr meint, als die Projektion eines Alleskönners zu bedienen, ging mir erst später auf. Paulus denkt dialektisch theologisch: Er kann alles Gute, das von Gott kommt, annehmen und genießen, aber wird mit gleicher Freude und Zuversicht auch alles Unangenehme annehmen und tragen, zum Beispiel Gefangenschaft und Tod. Dieses Verständnis hat sich inzwischen in mir verfestigt und ein paar meiner Maximen angestoßen, ich nannte sie bereits: »Du kannst nichts tun. Gib dein Bestes. Werde glücklich.« Und: »Es ist, wie es ist, und es ist gut.« Diese Maximen halte ich keineswegs für stoisch, sondern für fromm. Ich sehe mich zwar als meines Glückes Schmied, aber alles, was ich schmiede, ist mir gegeben. Und alles, was ich »erzeuge«, empfange ich eher, als dass ich es gemacht habe. Meine Produkte sind Zufälle im besten Sinne des Wortes. Ich möchte ein paar dieser spirituellen Zufälle aufzählen. Wenn man Theologie studiert, fragt man sich immer: Sind die Inhalte, die ich da mitgeteilt bekomme, dogmatische Wahrheiten, die man einfach übernimmt, weil sie wahr sind? Glaubt man aufgrund der Autorität der Bibel oder aufgrund der Autorität des Professors, den man gut findet oder mag? Ein Aha-Erlebnis schenkte mir mein späterer Doktorvater Prof. Dr. Eilert Herms. Wir verstanden uns politisch und ethisch überhaupt nicht. Dies führte dazu, dass Herms in einer 110
Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
Vorlesung sagte: »Das wird mir Herr Kutting nun nicht glauben.« So ernst genommen zu werden, freute mich, aber es führte auch dazu, dass ich seine Offenheit erkannte. Herms stellte seine Sicht der Dinge vor, ohne dass er Rücksichten nahm. Ihn interessierte der Zuspruch seiner Zuhörenden nicht, er blieb unbeirrt bei seiner Sache. Zugleich jedoch glaubte er an die Überzeugungskraft dieser Sache und eben nicht an die Überredungskraft seiner Worte. Er stellte das, was er sagte, ins Offene. Jeder konnte allein beurteilen, ob er der Sachlichkeit von Herms folgen konnte und wollte oder nicht. Davon habe ich unglaublich für meine Rolle als Pfarrer und Lehrer in der Schule gelernt. Die Wahrheit lässt sich nicht beweisen; wenn sie wahr ist, muss sie sich dem einzelnen Menschen zeigen. Sie kann sich einem also nur individuell erschließen. Wie gesagt, man muss in der Theorie vorkommen. Daher wurde mir das Wahrheitsverständnis in der Fassung Martin Heideggers (1928–29/1996, §§ 12–14) immer wichtiger. Er spricht von der Wahrheit als Unverborgenheit (aletheia). Wahrheit in diesem Sinne ist keine Formel oder begriffliche Konstruktion, sondern das, was immer schon anwesend ist und bei Licht betrachtet werden sollte. Das deckt sich mit allem, was mir theologisch lieb und teuer ist. Mein Erleben ist immer schon da, vor aller Reflexion. Ich bin mir selbst gegeben und bin zugleich meine eigene Aufgabe. In allem, was mir begegnet, ist Wahrheit, ich muss sie nur anschauen und entdecken. Vor allem aber, auf den Auftritt und die Predigt bezogen, muss ich anderen nicht mit der Wahrheit hinterherrennen. Ich kann ganz einfach das, was sich mir als wahr zeigt, sagen. Ob dies Gesagte zu einer Mitteilung wird, liegt schon nicht mehr in meiner Hand. Ich muss nichts inszenieren, sondern auf das hinweisen, was mir wichtig ist. Das Wichtige, das, was ich sage, ist aber es selbst. Ich gebe das, was ich sage, frei. Die Hörerinnen und Hörer dürfen selbst denken und sich ihr Urteil bilden. Das Gedachte, das Gesagte, das Mitgeteilte gehört dann nicht mehr mir, sondern ihnen, sie können damit machen, was sie wollen. Sie können es sogar kritisieren. Muss ich mich deshalb kritisiert fühlen? Nicht, wenn ich das Gesagte freigebe. »Das werden Sie mir nicht glauben!« Das heißt dann, dass nicht mir geglaubt wird, sondern vielleicht »nur« dem Gesagten. Wenn wir Reden halten, geht es viel weniger um uns, als uns bewusst ist. Zumindest könnte dieses »Von-uns-weg-Sehen« uns Gewissheit, die Unsichtbares sichtbar macht
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helfen, uns als Rednerin oder Redner nicht so wichtig zu nehmen. Außerdem müssen wir gar nicht perfekt sein. Wenn es richtig ist, dass dem Menschen nichts fehlt, außer ein Mitgeschöpf einmal richtig angesehen zu haben, dann steckt in dieser Form wohlwollender Wahrnehmung eine Glaubensformel Martin Luthers: »Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen« (Luther, 1529/2004). Ist da von Perfektionismus, von Optimierung, von »höher, schneller, weiter« die Rede? Viel eher, so verstehe ich das, geht es um die Annahme von allen Menschen und allem Leben, mit allen Fehlern und Mängeln. So kann man leben und vor anderen auftreten. Die Wahrheit ist verborgen im Acker, der Schatz ist in Tonkrügen, wie Paulus sagt. Wenn ich übertreibe, dann ist auch noch im Dreck ein Schatz zu finden. Probleme sind Ackerland. Angst ist guter Humus. Wenn wir sprechen, ist Erde, Staub und Asche im Mund, wir sind Zeugen der Endlichkeit. Wenn wir umgraben und Stärke pflanzen, kann Kraft strahlen. Der menschliche Leib wird »Erde, aus der Licht quillt« (Novarina, 2011, S. 35). Ein Mensch, der sich zeigt, unterscheidet sich von cleanen, glatten Auftritten. Die wichtigste Lektion, die ich von Paulus und Luther lerne, heißt, den wohlwollenden Blick nicht vom Hinfälligen abzuwenden, sondern liebend alles Nicht-Perfekte anzuschauen. Wenn wir an die klischeehaften Vorstellungen von perfekter Schönheit denken, dann wandelt sich diese gleichförmige stereotype Perfektion schnell in etwas Oberflächliches, das gar nicht mehr schön ist. Unsere Welt als die beste aller Welten, wie sie Leibniz sah, ist nicht perfekt, weil sie Mängel ausschließt, sondern weil sie sie einschließt. Diese Welt, in der es Falten, Narben und Brüche gibt, hat Gott geliebt, warum sollten wir es ihm nicht gleichtun und unsere Fehler gnädig betrachten. Übrigens wird Luther als derjenige zitiert, der die kürzeste Rhetorik-Vorlesung hielt und das kürzeste Auftrittsseminar gab, das jemals gehalten wurde: »Tritt fest auf! Mach’s Maul auf! Mach’s bald zu!« Neben Paulus und Luther ist Schleiermacher der dritte theologische Gewährsmann, der daran denkt, das Unsichtbare sichtbar zu machen, und der Zweifel in Gewissheit zu verwandeln sucht. In einem seiner frühen Texte schreibt er: »Das Universum ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augen112
Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
blick. Jede Form, die es hervorbringt, jedes Wesen, dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein gibt, jede Begebenheit, die es aus seinem reichen, immer fruchtbaren Schoße herausschüttet, ist ein Handeln desselben auf uns; und so alles einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion« (Schleiermacher, 1958, S. 32). Damit kann man leben und sich anderen zeigen, weil wir alle ohne Ausnahme nicht perfekt sind, sondern gute endliche Wesen, die sich Liebe nicht verdienen müssen, sondern Liebe verdienen – so wie wir sind. Daher sollten wir mit gutem Beispiel vorangehen und andere Menschen wohlwollend betrachten. Wenn sie nicht grüßen, grüßen wir, weil wir nicht denken, dass sie uns ignorieren wollten, sondern nur beschäftigt waren. Wenn sie schweigsam sind, sprechen wir sie an, weil wir uns trauen zu fragen, wie es ihnen geht. Ganz ohne Vorleistung ihrerseits. Wie sagte einer meiner theologischen Lehrer, Hartmut Ruddies, einmal? »Ein Christ schämt sich nicht! Kein anderer kann ein Urteil über mich sprechen! Gottes Zuspruch wiegt schwerer als jede Kritik.« Spirituell ist die Auftrittssicherheit dann, wenn die Selbstgewissheit, mit der ich auftrete, nicht meine gedankliche Konstruktion ist, nicht eine Vorstellung von mir als jemandem, der die Welt aus den Angeln heben kann, sondern die Gewissheit eines frommen Menschen, der alles dankend aus der Hand eines anderen nimmt. Wir können mehr, als wir denken, denn Gewissheit ist das Geschenk des Glaubens. Der Motor des Verstehenwollens ist immer die Ungewissheit, die man überwinden möchte. Der Treibstoff ist aber immer schon die Gewissheit, nämlich das lebendige Leben, das da ist, vor aller Erkenntnis. Die Theorie des Auftritts steht theologisch-philosophisch betrachtet in einem romantisch-phänomenologischen Begründungszusammenhang. Hier wurde am deutlichsten darüber nachgedacht, wie wir uns selbst und anderen begegnen und wie wir uns selbst in der (Außen-)Welt finden und sich uns die (Außen-)Welt erschließt. Das Erkennen eines anderen Wesens und die Selbsterkenntnis bedingen sich. »Alles, was ist, steht nicht nur in einer dynamischen Beziehung zu anderen Dingen, sondern auch zu sich selbst« (Eilenberger, 2018, S. 50). Gewissheit, die Unsichtbares sichtbar macht
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Machen Sie ein Experiment: Schließen Sie die Augen. Lassen Sie die Finger Ihrer rechten Hand über den Handrücken Ihrer linken Hand streichen. Einen Moment Pause. Dann lassen Sie die Finger Ihrer linken Hand über den Handrücken Ihrer rechten Hand streichen. Einen Moment Pause. Nun reiben Sie die Handflächen leicht gegeneinander.
Überlegen Sie: Was berührt? Was wird berührt? Inwiefern ist die Fähigkeit, sich berühren zu können, die Voraussetzung, andere zu berühren und »verstehen« zu können? Inwiefern ist unsere Leiberfahrung immer eine Welterfahrung? Beziehungsweise: Inwiefern ist unsere Welterfahrung immer eine Leiberfahrung? Wir können folgern: Die Empfindung ist eine doppelte, wir wechseln in den Rollen, berührend/berührt, aktiv/passiv, Subjekt/Objekt, Außensicht/ Innensicht. Meine »innere« Leiberfahrung beinhaltet die Erfahrung meiner »Außenseite«. Das ist vergleichbar mit der Fremderfahrung anderer Menschen und Dinge. Leibhaftes Erleben bedeutet, anderes (die Außenwelt) erfahren zu können, weil meine Selbsterfahrung in sich schon eine Außenperspektive beinhaltet: Ich erlebe und betrachte mein Erleben. »Mein leibliches Dasein in der Welt ist von jeher intersubjektiv und sozial. Gerade weil ich keine reine Innerlichkeit bin, sondern ein leibliches Sein, das außer sich lebt, das sich selbst transzendiert, kann ich anderen, die in derselben Weise existieren, begegnen und sie verstehen« (Zahavi, 2007, S. 75). Das unglaublich Spannende daran ist, dass wir bei unseren Auftritten anderen Menschen nicht etwas sagen, also Worte als akustische Zeichen mitteilen, sondern lebendig-leibhaft in Kontakt kommen. Die Zuhörerinnen und Zuhörer können uns nur verstehen, weil sie so sind wie wir und sich wie wir zugleich wahrnehmend und erlebend im selben Raum befinden. Wir sind alle berührende, berührte Hände miteinander. Wir können einander Hände reichen. Das Gebot der Nächstenliebe wird manchmal übersetzt: Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du. Wir können romantisch-phänomenologisch erweitern: Liebe deine Zuhörer, denn sie sind wie du. Wir präsentieren nicht nur Worte leibhaft, sondern werden auch als Sprechende immer leibhaft wahrgenommen. Wenn es sich nicht so abgedroschen anhören würde, kann man sagen: ganzheitlich. Das 114
Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
mag die Sache schwieriger machen, weil man sich noch weniger verstecken kann, aber es macht die Sache auch einfacher. Das Gleiche gilt für unsere Zuhörenden, auch sie präsentieren sich ganz. Unsere Zuhörerinnen und Zuhörer bekommen eine »Ahnung« von uns. Ahnung ist die erste Form des Verstehens, ohne sie geht gar nichts. In der Ahnung leibhafter Präsenz bleiben wir uns gegenseitig nicht fremd. Die Ahnung ist die Überwindung des Äußeren, weil wir das Gegenüber nicht mehr nur als Außen sehen, sondern auch auf sein Inneres schließen können. Denken Sie an die Wahrnehmung Ihrer Hand und die Frage, was berührt, was wird berührt. Es geschieht gegenseitig, aufeinander bezogen. Vor aller Kommunikation und Reflexion tun wir einander präkommunikativ kund. Wir offenbaren einander und bleiben dennoch füreinander ein Geheimnis. »Wo das Innere vollständig mitteilbar oder verstehbar wäre, hörte es als Inneres im Äußeren auf zu sein; wo das Innere sich in keiner Weise kundtun könnte, verginge es in sich selber« (Hogrebe, 1996, S. 72). Jeder Vortrag bedeutet eine Kopplung von Welt, sinnlichem Erleben und körperlicher Bewegung für Vortragende und Zuhörende. Unsere Vorträge machen immer vor aller Mitteilung Unsichtbares sichtbar. Ich nenne das leibhaftig gegenwärtig sein. Bei dem als Skeptiker verschrienen Ludwig Wittgenstein kann man für diese unmittelbare Selbstgewissheit folgende Beschreibung lesen: »Dies könnte man das Erlebnis der absoluten Sicherheit nennen. Damit meine ich den Bewusstseinszustand, in dem man zu sagen neigt: ›Ich bin in Sicherheit, nichts kann mir weh tun, egal, was passiert‹« (zit. nach Eilenberger, 2018, S. 398). Das Wichtigste ist geschafft, wenn wir mit Ruhe und Überzeugung ans Redepult geschritten sind. Der Vortrag selbst ist dann ein Zubrot. Fürs Mindset: Am besten vertreten wir eine Sache, wenn wir uns nicht selbst vertreten, sondern eben allein die Sache. Wir entschuldigen uns nicht für unseren Vortrag. Nie! Wir halten ihn. Wir stellen ihn ins Offene. Wir sehen von uns ab. Wir geben der Wirkung unserer Worte Raum. Wir lassen los. Nicht uns, sondern den Vortrag! Auch zeigen wir uns anderen im Vortrag. Eventuell offenbaren wir uns auch. Wir bleiGewissheit, die Unsichtbares sichtbar macht
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ben dennoch immer auch ein Geheimnis. Wir erfahren nie das Wesen voneinander. Wir bekommen eine Ahnung von Geschöpfen, die wohlwollend angenommen werden wollen. Wer wir wirklich sind, wissen wir nicht, aber wir können mit Paulus sagen: »Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin« (1. Kor. 13,12). So erkannt können wir aufs Ganze gesehen nicht missfallen, sondern finden Gefallen.
Mentale Stärke, die der Muße entwächst: Meditation Ich arbeite seit Langem im Schuldienst. Am meisten Spaß hatte ich als junger Lehrer in der Berufsschule und jetzt als einer, der zu den Alten im Kollegium gehört. Dazwischen hatte ich manchmal Durststrecken zu überstehen. Die erste Zeit war einfach dadurch geprägt, dass ich die Kfz-Mechaniker und Metallbauer, die ich unterrichtete, wahrscheinlich irritierte. Mein Konzept sah vor, im Fach Religion auf das Eigentliche der Bildung einzugehen, das heißt, neben der Vermittlung von technischem Können auch das Wesen der Schule nicht zu vergessen und Muße zu finden für ein Fragen nach dem Sinn des Lebens. Völlig naiv stand ich manchmal mit meinen Schülern im Unterrichtsraum am Fenster der Frankfurter Heinrich-KleyerSchule, schaute mit ihnen hinaus in die Skyline und unterhielt mich mit ihnen. Nach den Regeln eines guten Unterrichts eine Katastrophe. Aber meine Schüler, die in manchen Lerngruppen aus 15 verschiedenen Ländern kamen, sagten: »Herr Kutting, mit Ihnen das Rumgelaber, wir reden mit Ihnen über Sachen, über die wir sonst mit keinem reden.« Das war genau die Bandbreite, die ich abdeckte: »Laberfach« und »Persönlichkeitsbildung«. Die Schulleitung ließ mich gewähren, weil ich den Ruf hatte, in jede auch schwierige Lerngruppe geschickt werden zu können. Nach acht Jahren wechselte ich dann ans humanistische Gymnasium. Hier ticken die Uhren anders, hier geht es vor allem um Leistung und Noten, zunächst ein Kulturschock für mich. Das Kollegium machte enorm Stress, das Niveau der Schule zu halten. Und die Schülerinnen und Schüler sind auch eher daran interessiert, 116
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gute Noten und viele Punkte zu bekommen, als zum Beispiel offen Kritik am Lehrpersonal zu üben; es könnte ja schlechtere Noten geben. Wie konnte ich mir und meinem Ansatz treu bleiben, wie ihn auch theoretisch für mich selbst verstehen? Ich kaufte mir von Klaus W. Vopel das Buch »Meditieren für Jugendliche« (2000) und las ab und zu am Beginn meines Unterrichts eine kleine Meditation vor. Das war meine private Meditationsschule, weil ich im Laufe der Zeit merkte, dass ich kein Buch mehr brauchte, sondern selbst situationsgerecht und anwendungsbezogen Meditationen anzuleiten lernte: »Setz dich bequem hin, lege die Arme auf den Tisch, den Kopf auf die Arme, schließe die Augen, atme einmal tief aus. Genieße für ein paar Minuten, dass du ganz allein für dich sein kannst und Ruhe hast und dabei zugleich auch mit anderen diesen Raum teilst. Jeder für sich, alle miteinander.« Später folgten auch gelenkte Fantasiereisen, wie zum Beispiel: »Stell dir vor, du bist eine Fledermaus im Mainzer Dom und hängst an der Kuppel und schaust dir die Welt von oben an./Stell dir vor, du läufst an den Rhein (dabei wird genau der Weg aus dem Klassenraum bis zum Rhein beschrieben), schaust ins Wasser und lässt Schiffchen treiben. Schreibe in Gedanken auf, was alles wegschwimmen kann und soll, falte ein Schiff und lass es treiben./Stell dir vor, du wurdest gerade geboren und wirst freundlich angeblickt./Stell dir vor, du sitzt im zweiten Stock eines Hauses auf einem Balkon und du schaust auf einen schönen, belebten Platz./Stell dir vor, du öffnest eine Schatulle, in der ein Zettel liegt, auf dem steht »Das bist du!« und im Deckel der Schatulle findet sich ein Spiegel …« Manchmal lasse ich mir auch von den Schülerinnen und Schülern vorgeben, worüber ich meditieren soll. Das Ende ist immer gleich: »Komm nun mit deiner Aufmerksamkeit zurück in diesen Raum, öffne die Augen, atme einmal tief aus, reck und streck dich ein bisschen und sei wieder hier, erfrischt, wach und aufmerksam für den Unterricht.« In all den Jahren, in denen ich mit Jugendlichen meditiere, ist ein einziger Schüler für die Zeit der Meditation aus dem Unterricht gegangen, weil er die Stille nicht aushielt. Die meisten lieben diese Unterbrechung des Stundenlaufs. In den Abi-Zeitschriften gibt es Mentale Stärke, die der Muße entwächst: Meditation
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natürlich immer ironische Texte, nach dem Motto: »Komm herein, fühl dich wohl, im Reli-Unterricht bei Herrn Dr. Kutting …« Das kann ich gut ertragen, weil ich wohlwollend verkackeiert werde und weil ich weiß, dass es nach der Meditation ruhigen und konzentrierten Unterricht gibt. Klaus Vopel (1998) bezeichnet Meditation als emotionale Selbstverteidigung. Obwohl dieser Begriff sehr funktional ist und dem Wesen der Meditation und ihrer Zweckfreiheit widerspricht, halte ich ihn doch für richtungsweisend. Schule soll Schülerinnen und Schüler mental stärken und nicht schwächen, wie es leider oft geschieht. Das vermittelte Wissen und Können hat nur Erfolg, wenn sich die Persönlichkeit entwickeln konnte. Und das kann sie nur, wenn die zwei Weisen des Denkens, das kognitiv-rationale und das emotional-intuitive Denken, verbunden sind und beides Raum erhält (vgl. Kahneman, 2012). Wie geschieht dies? Die wichtigste Erkenntnis hat mir Donald Winnicott geliefert. In seiner psychoanalytischen Reflexion der Therapie von Kindern trat immer mehr das Konzept des Übergangsphänomens in den Blick. Das Kleinkind lernt die Abwesenheit der Mutter mittels Übergangsobjekten (Nuckel, Teddy, Bettzipfel) zu ertragen. Diese Objekte füllen einen Zwischenraum bzw. eine Zwischenerfahrung aus, in der es noch nicht »fein säuberlich« abgegrenzt das Selbst des Kindes und die anderen Objekte gibt, sondern Dinge, die Nicht-Ich sind und zugleich fest zu mir gehören. Es wird ein Übergangsraum gestaltet, der Schutz und Geborgenheit gibt und das Alleinsein kompensiert bzw. erträglich macht. Dieser intermediäre Raum ist für die Entwicklung mentaler Stärke nicht zu unterschätzen. Er umschreibt einen »Zwischenbereich von Erfahrungen, zu denen innere Welt und Außenwelt gleichermaßen ihren Beitrag leisten« (Winnicott, 1971, S. 11). Wir alle bedienen uns mehr oder weniger offen und bewusst ständig dieser Übergangsräume, wenn wir tagträumen, an Sex denken oder uns für Augenblicke ablenken lassen. In der Meditation betreten wird absichtlich diese Übergangssituation und lassen uns im Meer des Unbewussten treiben. Emotionale Selbstverteidigung und mentale Stärke ergeben sich aus der Tatsache, dass dies Introspektion ermöglicht. Meditation hilft, Abstand von dem dauernden Beschuss der Reize der Außenwelt zu finden. 118
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Aber mehr noch, emotionale Selbstverteidigung und mentale Stärke verhelfen zu einem größeren Realismus. Melanie Klein, die Lehrerin Winnicots (vgl. Kohrs et al., 2019), sah in der verzweifelten Situation des Säuglings, dem im »Besitz« der Mutterbrust Allmacht und im »Verlust« der Mutterbrust Ohnmacht begegnen, den Ausgangspunkt der Persönlichkeitsentwicklung. Das Entwicklungsstadium, dem der Säugling ausgesetzt ist, nennt Melanie Klein paranoid-schizoide Position, das Gefühl von Allmacht und Ohnmacht eben. Überwunden wird dieses Stadium durch die entwickeltere »depressive Position«, die die Voraussetzung für eine realistische Sicht der Dinge ist. Kleins Konstrukt ist sehr umstritten, kann aber helfen, die Angst vor öffentlichen Auftritten besser zu verstehen. Der Gedanke an den Vortrag wird mit extremen Gefühlen besetzt. Entweder ich rocke den Laden und bin die oder der Größte oder ich werde meinen Ansprüchen nicht gerecht und fühle mich als Nichts. Wir sind in der paranoid-schizoiden Position gefangen. Es geht um alles oder nichts. Entweder Rumpelstilzchen bekommt der Königin Töchterchen oder es reißt sich mitten entzwei. Die Aufgabe wird überemotionalisiert und überbewertet. Damit geht in eins die Bewertung unserer Person. Gerade ängstliche, scheue Menschen entwickeln Allmachtsfantasien. Aus diesem Stoff ist Extremismus, wie Hass gegen Frauen und Fremde (meistens beides zusammen), gemacht. Oft können wir in Täterprofilen lesen, dass diese unauffällig waren und niemandem zur Last fielen. Das Problem, für sich in Beziehung mit anderen Bedeutung gewinnen zu können, wird durch Gewaltfantasien kompensiert, in denen den anderen »gezeigt« wird, wer man(n) ist. Die depressive Position entspricht demgegenüber einem kognitiven Realismus. Mentale Stärke resultiert aus einer relativierenden Einschätzung, es geht nicht (nie!) um alles oder nichts, es geht immer nur um besser oder schlechter. Ein Mittel der Wahl, um das Mittlere zu finden und Abstand zu den Gefühlen von Allmacht und Ohnmacht zu erreichen, ist die Meditation. Sie hilft dem Realismus, weil sie unsere Gefühle reguliert und Extreme relativiert. Meditation bricht den Extremen die Spitze, allem voran unserem Narzissmus. Das kognitiv-rationale und das emotional-intuitive Denken lassen sich selten sauber unterMentale Stärke, die der Muße entwächst: Meditation
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scheiden. Beide Codes, der elaborierte (sprachlich eindeutige) und der restringierte (erlebte vieldeutige), kommen in meinem Unterricht jedoch vielleicht eher zu ihrem Recht, als wenn die Schülerinnen und Schüler während des Unterrichts aus dem Fenster schauen. Der Übergangsraum, den die Meditation öffnet, kann einen Zugang zum Religiösen darstellen. Der Narzissmus des oder der Einzelnen wird verwiesen an den Ursprung allen Erlebens und seine Beziehung zum Göttlichen. Profanes verwandelt sich in Heiliges. Wie Jakob, der sein Haupt auf einen Stein legt, um zu schlafen, und im Traum eine Leiter sieht, an der die Engel hoch- und runtersteigen, wird Profanes in Heiliges verwandelt. »Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht« (1. Mose 28,16). Der Übergangsraum, den die Meditation öffnet, hat integrierende Funktion. Das Bewusstsein erhält Zugang zu unbewussten »Ablagerungen«, die auftauchen können. Ein Problem wird traum-, mythen- oder märchenhaft verkleidet oder ganz konkret und real wieder gesehen. Die Meditation erlaubt manchmal filterlosen Zugang zu sich. Das dynamische Unbewusste kann Gedächtnisinhalte, die im Zusammenhang mit dem »Thema« der Meditation stehen, in Erinnerung bringen. Das müssen keine nichtverbalen verdrängten frühen affektiven Zustände der Kindheit sein, sondern können einfach Geschichten sein, die implizit geblieben sind, weil wir »keine Lust« hatten, sie uns genauer anzuschauen. Die Verletzung, die diese »alte Geschichte« mitbrachte, wollten wir nicht an uns heranlassen. Bei Frau Adam tauchte in der Meditation die Erinnerung auf: »Da hätten wir auch eine andere nehmen können!« Nichts direkt Unbewusstes, aber etwas, das sie in ihrer Gedankenwelt versuchte beiseitezuschieben. Jedoch ließ sich der Satz nicht beiseiteschieben. Er tauchte in ihren Vorträgen immer wie ein stiller Begleiter auf. Er lief implizit mit. Das kann man einen mitlaufenden Anfang nennen, der Ursprung von etwas Belastendem und Unangenehmem stellt sich unwillkürlich neben die gewollte Interaktion. »Da hätten wir auch eine andere nehmen können!« wird zur stillen Begleitmusik eines jeden Auftritts. Erst wenn das Implizite expliziert wird, kann es wirklich integriert werden. Der Eindringling wird gestellt. Das Flüchtige wird erfasst. Es findet keinen Resonanzboden mehr. Bei 120
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Lichte betrachtet, verliert es sein Schattendasein. Wir wissen, blutsaugende Vampire scheuen das Licht der Sonne. Die Lösung liegt darin, das Problem zu Gesicht zu bekommen und es verbalisieren zu können. Aus der Muße der Meditation erwächst mentale Stärke. Eine der eindrücklichsten meditativen Erfahrungen machte ich einmal im Unterricht. Eine Schülerin fragte: »Können wir nicht auch selbst mal in der Meditation sprechen, wenn uns etwas einfällt?« Gut, ich begann mit der Meditation und gab den Raum frei für Äußerungen meiner Lerngruppe. Die Schülerinnen und Schüler begannen zu sprechen, in Dialog zu treten, Fäden weiterzuspinnen. Vor allem das Thema Tod und Ewigkeit wurde bedacht. Ich griff nicht ein und beendete nach einer halben Stunde dieses unglaublich schöne Ereignis. Fürs Mindset: Bauen Sie Instant-Meditationen in den Alltag ein! (A) Atmen im Viererrhythmus: Augen schließen. In den Bauch atmen (auf drei zählen). Luft halten (auf drei zählen). Ausatmen (auf drei zählen). Anhalten (auf drei zählen). Zehn Wiederholungen. (B) Meditieren Sie liegend die Schwere Ihrer Körperteile, von den Füßen bis zum Scheitel. (C) Meditieren Sie Ihre Erfolge: den Stolz aufs Fahrradfahren. Den Stolz aufs Schwimmenkönnen. Den Stolz auf den Sieg im 400-m-B-Lauf in der Vereinsmeisterschaft. (D) Meditieren Sie Ihre kleinen Freuden: Ihre Freundinnen und Freunde. Menschen, die Ihnen gutgetan haben. Speisen, die besonders gut geschmeckt haben. Eine Arbeit, die Sie zufrieden erledigt haben. Ein Ausblick, den Sie genießen. (E) Wenn nichts mehr geht, putzen Sie Ihre mentale Festplatte: Befreien Sie in der Fantasie einen Parkplatz mit dem Schneeschieber von frisch gefallenem Schnee. Mähen Sie mit einem motorisierten Rasenmäher den Rasen eines Fußballstadions. Stellen Sie sich vor, Sie fahren bei einem Schneegestöber Auto und beobachten den Scheibenwischer bei seiner Arbeit. (F) Wenn ich Dinge sehen möchte, die mir eventuell etwas sagen, dann bitte ich, ich möchte Bilder sehen, und schaue, was passiert. Oft habe ich dann Wachträume.
Mentale Stärke, die der Muße entwächst: Meditation
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Lösungen, die Muster überwinden: Systemisches Denken Systemisches Denken kann Spaß machen. Der Nutzen besteht einfach darin, Dinge mit anderen Augen zu betrachten, um die Ecke zu denken und, wie man so sagt, out of the box zu kommen. Ich achte zum Beispiel darauf, welchen ersten Impuls ich in einem Gespräch habe, und sage ihn. Da kann ich anecken, aber oft tritt Überraschung ein, gefolgt von einem Lachen. Selbstverständlichkeiten werden einfach frech und liebevoll infrage gestellt und es wird an die Wachheit des Gegenübers appelliert. Dabei ist es äußerst wichtig, nicht in ein alles ironisierendes Fahrwasser zu geraten. Das kann nerven, weil ein ironisierendes Gegenüber nicht mehr greifbar ist und sich hinter einer »witzigen« Fassade versteckt. Das systemische »Um-dieEcke-Denken« ist etwas komplett anderes. Die spontanen Gesprächsimpulse zielen immer zugleich auf ein kritisches Hinterfragen ohne Besserwisserei und eine am Gegenüber bleibende Annahme. Wer etwas von systemischem Denken verstanden hat, wird nie sich selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern immer die Gesprächspartnerin oder den Gesprächspartner. Ein Beispiel: Ein Teilnehmer sagt: »Das hat mir niemand an der Wiege gesungen!« Darauf wird reagiert mit: »Da passt du auch gar nicht mehr rein!« Der Teilnehmer seufzt und lacht. Zwei Emotionen haben sich gezeigt: Ich bin kein Kind mehr. Heute kann ich erwachsen auf die Situation reagieren. Systemisches Denken ist von unschätzbarem Wert, wenn es darum geht, rund um das Auftrittsgeschehen anderen Menschen ein direktes Feedback zu geben. Wir können lernen, wie wir aus eingefahrenen Mustern aussteigen und neue Gesprächsansätze finden. Dazu später mehr. In der Weiterbildung zum Schulseelsorger vor mehr als zwanzig Jahren kam ich das erste Mal mit Systemischer Theorie und Praxis in Kontakt. Das löste damals bei mir sehr viel Ablehnung aus, weil ich die konstruktivistischen Prämissen einfach nicht mitgehen wollte. Zwar schätzte ich Paul Watzlawick und Milton Erickson sehr, aber wenn Heinz von Foerster postulierte, »Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners« (Foerster u. Pörksen, 1999), dann widersprach das 122
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allem, woran ich glaube. Für mich war auch der manchmal totalitäre Relativismus nicht akzeptabel: »Aus systemtheoretischer Sicht ist Sinn immer kontext- und systemspezifisch, das heißt, es gibt keinen übergeordneten allgemeingültigen Sinn. Das gilt auch für spirituelle Fragen nach dem Sinn des Lebens, der Natur oder der Geschichte, die lediglich konstruktivistisch, nicht aber ontologisch beantwortet werden können« (Simon, Clement u. Stierlin, 1999, S. 298). Diese Aussage ist selbstwidersprüchlich, weil sie den Relativismus als etwas Absolutes setzt. Dennoch: Um der Sache auf die Spur zu kommen, setzte ich mich intensiv mit Kognitionsbiologie auseinander (vgl. Maturana u. Varela, 1992). Auch das konnte mich nicht überzeugen, wird hier doch die Biologie in die Funktion einer Metaphysik gebracht. Entscheidend wurde dann die zweijährige Weiterbildung zum systemisch-lösungsorientierten Berater der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie. Bei Maria Klima-Hahn, Kurt Hahn und Rudi Klein lernte ich eine Praxis kennen, die weit weniger theoretisch aufgeblasen daherkam. Wir wurden in der Weiterbildung wirklich eingeführt, ja man kann sagen, an die Hand genommen. Eine im besten Sinne systemische Haltung, die Wertschätzung, Neugier und Allparteilichkeit umfasste, machte es leicht mitzugehen und zu erfahren, wie menschenfreundlich und zielführend beraten werden kann. Wieder war die Theorie durch mich hindurchgegangen. Inzwischen bilde ich selbst Schulseelsorgerinnen und Schulseelsorger in systemischer Beratung aus. Das konstruktivistische Wirklichkeitsverständnis habe ich für mich auf ein paar wenige Essentials heruntergebrochen und glaube, dass das mit meinem oben angeführten phänomenologischen Ansatz zusammenpasst. System: Systeme strukturieren sich so, dass sie sich in selbstorganisierender Weise reproduzieren und so ihren Bestand gewährleisten. Ein System definiert sich nicht durch die einzelnen Bestandteile, sondern durch die Beziehung zwischen den Elementen. Es werden nicht Eigenschaften des oder der Einzelnen definiert, sondern es wird nach der Interaktion untereinander gefragt. Ein Beobachter kann ein System definieren. Wenn er seine Beobachtungen mit Systemteilnehmenden kommuniziert, wird er jedoch selbst zum Lösungen, die Muster überwinden: Systemisches Denken
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Teil eines Systems. Bezogen auf das Thema Auftritt lässt sich folgern: Entscheidend ist das, was zwischen den Vortragenden und dem Publikum geschieht. Die Güte eines Vortrags ist nicht isoliert zu beurteilen, sondern abhängig von der Wahrnehmung, der Zuhörerschaft, die ich nicht beeinflussen kann. Ich kann den Neid, den ein Zuhörer hat, weil ich rede und nicht er, nicht aus der Welt schaffen. Die Kritik dieses Zuhörers hat dann nichts mit meinem Vortrag und seiner Qualität zu tun, sondern mit seiner Bezogenheit auf mich. Ganzheit: Eine Veränderung in einem Teil des Systems beeinflusst das ganze System. Das lässt sich leicht am Bild eines Mobiles klarmachen. Jemand, der als Letzter den Saal betritt und sich mit verschränkten Armen in den Mittelgang stellt, wirkt auf das Ganze der Veranstaltung. Ebenso ist aber auch die Rollensicherheit der Vortragenden ein entscheidender Faktor für das Gelingen des Ganzen. »Ich freue mich, dass Sie unsere Veranstaltung besuchen, bitte nehmen Sie Platz, hier vorne hat es noch ein paar freie Plätze!« Übersummativität: Das Ganze unterscheidet sich von der Summe der Teile. Heinz, Maria, Gerd und Frank können eine Doppelkopfrunde darstellen oder eine Familie. Wenn es sich beim Besucher mit den verschränkten Armen um den Hausmeister des Veranstaltungsortes handelt, sollte ich besser sagen: »Wir bedanken uns bei unserem Hausmeister, der für die technischen Voraussetzungen unserer Veranstaltung Sorge getragen hat. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Wenn Sie der Veranstaltung folgen möchten, sind Sie herzlich eingeladen, sich einen Sitzplatz zu suchen!« Zirkularität: Die Folge von Ursache und Wirkung kann linear gesehen werden. Muss es aber nicht. Die Beschreibung einer Wirkung kann zur Ursache einer Wirkung werden. Die Information »Es gibt Engpässe beim Toilettenpapier!« führt zu Engpässen beim Toilettenpapier. Ursache und Wirkung stehen oft zirkulär in Wechselbeziehung und verstärken einander. Beim Vortrag mag meine Unsicherheit zu einer gewissen Unruhe führen. Die wahrgenommene Unruhe verstärkt meine Unsicherheit. Und so weiter … 124
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Die einzige Möglichkeit, dies zu ändern, liegt in der Unterbrechung dieser Regelkreisläufe. »Ich sehe, dass ein paar wenige unserer Zuhörer am Mobilphone wichtige Nachrichten checken müssen. Das führt zu einer gewissen Unkonzentriertheit hier im Raum. Ich bitte Sie, dies in die Pause zu legen. Ich wünsche mir für meinen Vortrag Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Vielen Dank für Ihr Verständnis!« Der Erfolg einer solchen Intervention liegt darin, dass wir als Vortragende auf keinen Fall beleidigt, kritisch oder ironisch reagieren. Der Erfolg liegt in der klaren Mitteilung von Wahrnehmung, Wirkung, Wunsch und nicht zu vergessen Dank! Offenheit: Systeme erhalten zwar sich selbst und stellen etwa eine betriebliche Organisation dar, aber sie stehen zugleich in einem ständigen Austausch mit ihrer Umwelt (z. B. Kunden). Ohne diesen Austausch werden sie zu geschlossenen Systemen und sind zum Sterben verurteilt. Eine toxische, krank machende Organisation verhindert offene Kommunikation im Inneren und Öffentlichkeit nach außen. Das Maß an Offenheit und Öffentlichkeit spricht für die Gesundheit eines Unternehmens oder Verbands. »Ich möchte meinen Vortrag gern im Zusammenhang halten, daher bitte ich Sie, dass Sie Ihre Fragen für die anschließende Diskussion notieren. Sie haben dazu einen Block und Bleistift auf Ihrem Platz gefunden. Den Vertretern unserer Tageszeitung werde ich den gesamten Vortrag in der Pause zugänglich machen.« Homöostase: Systeme haben die Neigung, stabile – homöostatische – Zustände zu erhalten. Positiv gesehen, soll ein selbstregulierendes Gleichgewicht hergestellt werden. Nachteilig kann sein, dass dies Veränderung verhindert oder schlimmer, dass Probleme helfen, das System zu stabilisieren. Ein Kind entwickelt ein Symptom, damit sich die Eltern nicht scheiden lassen. In diesem Fall ist das Symptom eine maskierte Aussage, weil es vielleicht primär nicht um die Essstörung oder das selbstverletzende Verhalten geht, sondern um den Zusammenhalt der Familie. Die Eltern könnten sagen »Wenn es unserem Kind gut ginge, dann wäre alles gut zwischen uns.« Das Kind spürt: Wenn ich nicht das Problem bin, bekommen die Eltern ihre Probleme miteinander nicht in den Griff. Lösungen, die Muster überwinden: Systemisches Denken
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Bei einem Vortrag kann ein homöostatisches Ritual darin bestehen, Zukunftsvisionen zu entwickeln, ohne den konkreten ersten Schritt der Veränderung kontrollierbar einzuführen. Je schöner das Zukunftsbild gemalt wird, desto gemütlicher kann man dem Vortrag folgen. Manchmal hilft Disruption: Die Coronakrise führte dazu, dass unsere Schule von heute auf morgen eine Lernplattform bekam und das gesamte Kollegium und alle Schülerinnen und Schüler schnellstens in die Lage versetzt wurden, diese online zu nutzen. Auch die Eltern partizipierten im Homeoffice an der neuen Offenheit. Leider fanden aber manche Eltern ihre Hausaufgaben nicht ausreichend gewürdigt, wenn sie nämlich selbst die Autoren waren. Ein Vortrag könnte beginnen: »Ich werde Ihnen heute nicht sagen, was Sie gern hören möchten. Ich werde Ihnen kein Bild unserer Zukunft in fünf Jahren zeichnen. Ich werde Ihnen nur sagen, was ich für den einen Zementsack halte, der uns im Weg steht und den wir nutzen müssen. Ich möchte sagen, wie wir den Zementsack zur Seite räumen, indem wir den Zement nutzen! Was uns im Weg steht, ist nämlich eine ungenutzte Ressource!« Ganzheit zweiter Ordnung: Oft wissen die Teilnehmenden eines Systems, dass ihre Homöostase nicht gut ist. Etwas läuft falsch, das spüren alle und das sehen auch alle, die auf das System von außen schauen. Manchmal wissen sogar alle die Lösung für das sich stabilisierende feststeckende System. Aber womöglich ist niemand dieser Teilnehmenden bereit, die Kosten für die Lösung zu bezahlen. Ganzheit zweiter Ordnung kann heißen, dass man die Lösung als schon vollzogen in den Blick nimmt und von da aus zurückfragt: »Stellen Sie sich vor, Sie hätten all die Probleme mit Ihrem Vortrag und den Kritikern unter den Zuhörenden nicht, welche Probleme hätten Sie dann?« »Dann müssten wir im Vorstand darüber sprechen, ob sich manche Mitglieder nicht genügend in ihrer Arbeit wahrgenommen und wertgeschätzt fühlen.« Lösungen können manchmal die wahren Probleme zeigen, diese zu lösen verursacht immer auch Kosten. Wenn man die Kosten (Konflikte) scheut, schaut man besser weg oder man schaut halt eben unter Schmerzen gemeinsam drauf: »Lasst uns den Trümmerhaufen unserer Vorstandsarbeit einmal betrachten: Welchen Schutt wollen wir wegräumen?« 126
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Soweit meine Aneignung konstruktivistischer Grundsätze und ihre Übertragung auf Fragen des Auftritts. Ich möchte jedoch auch einige methodische Werkzeuge exemplarisch aufführen und diese auf den für Frau Adam unangenehmen Satz anwenden: »Da hätten wir auch eine andere nehmen können!« Das Beispiel zeigt den Zugang zu etwas implizit Unbewusstem, das auf dem Wege der Meditation explizit wurde. Wie jedoch damit umgehen? Wir werden uns im Abschnitt »Imperative, die aufgelöst werden« die Methode der Introvision genauer anschauen (S. 139 ff.). Aber es gibt auch reichhaltige Bearbeitungsmöglichkeiten, die das systemische Denken bereitstellt, wenn es rund um das Auftrittsgeschehen darum geht, persönlich besser zurechtzukommen oder anderen Menschen ein direktes Feedback zu geben. Dissoziation: Ich distanziere mich von dem erkannten Problem. Das heißt nicht, dass ich es verstecke oder ignoriere. Mir ist das Problem bewusst, jedoch kann ich mir nun sagen, das hat nichts mit mir zu tun. Natürlich hätte man eine andere nehmen können. Aber ich bin ich. Ich bin keine andere. Und er ist er. Er darf seine Meinung haben. Framing: Ich rahme meinen Auftritt neu. Ich versuche nicht, es dem Kritiker recht zu machen und ihn gegen seinen Widerstand doch noch zu überzeugen. Nein. Ich spreche zu den Menschen, die mir wohlgesonnen sind. Da sind viele Menschen, die mich mögen und achten. Ich kann sofort drei, vier aufzählen. Diese Menschen bilden den Rahmen meines Vortrags. Umdeutung: Ich sage nicht: »Da hätten wir auch eine andere nehmen können!« Ich sage: »Da haben wir mich genommen!« Aus einer emotional negativ bewerteten Verlustrechnung wird im neuen Gewand ein Gewinn: »Sie haben mich bekommen!« Priming: Ich bahne meinen Auftritt neu. Ich stelle die Hauptsache in den Mittelpunkt. »Die Vorsitzende spricht!« Worte und Handlungen bahnen die Assoziationen der Zuhörenden. Wörter primen Gedanken. Gedanken primen Verhalten. Wenn in einem Vortrag oft das Wort »alt« auftaucht, bewegen sich die Zuhörenden anschließend Lösungen, die Muster überwinden: Systemisches Denken
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langsamer. Wenn ich in einer Übung die Teilnehmerinnen und Teilnehmer langsam gehen lasse, fühlen sie sich anschließend »alt«. »Wenn man geprimt wurde, an hohes Alter zu denken, neigt man zu seniorentypischem Verhalten, und wenn man sich wie ein älterer Mensch verhält, verstärkt dies den Gedanken an hohes Alter« (Kahneman, 2012, S. 7). Wenn ich meinen Auftritt primen möchte, dann hilft zum Beispiel, wenn ich angekündigt werde: »Nun spricht die Vorsitzende!« Jeder weiß, nun kommt etwas für alle Wichtiges. Rolle: Ich nehme meine Rolle an. In einer Rolle werde ich typisches Verhalten immer wieder anwenden. In dem Kontext, in dem das geschieht, werde ich in meiner Rolle erkennbar. Dadurch schaffe ich Erwartungen, nämlich meine Rolle auszufüllen. Enttäusche ich diese Erwartungen, kann es zu Sanktionen mir gegenüber kommen, zum Beispiel zu Ärger oder Rückzug (Schwing u. Fryszer, 2009, S. 54 f.). Dies hört sich zunächst einengend an, deswegen bevorzugen wir die viel beschworene Authentizität. Diese kann jedoch immer nur Resultat, nie Ziel meines Handelns sein. Daher würde ich empfehlen, von Rollenintegrität zu sprechen. Das heißt, ich mache mir bewusst, dass meine Rolle viele Implikationen hat, die ich integriere und verkörpere. Meine Rolle ist dann kein Klischee, sondern eine reiche Form von Möglichkeiten, die ich ausfülle. Ich verstecke mich nicht hinter meiner Rolle, sondern verkörpere sie, das gibt Sicherheit und Stärke: »In aller Bescheidenheit: Ich bin die Vorsitzende! Ich mache meinen Job! Ich übernehme Verantwortung.« Diagnosevermeidung: Ich frage nicht, warum er sagte: »Da hätten wir auch eine andere nehmen können!« Menschen sind in systemischer Sicht oft Erwartungsbündel bzw. Attributionsopfer. Eine positive oder negative Zuschreibung erschafft ein Bild eines Menschen, in das er sich einpasst. Er versucht den Erwartungen zu entsprechen oder übernimmt die Merkmale, die ihm zugeschrieben werden. Eine der nachhaltigsten Festlegungen erfolgt über Diagnosen: Du hast das UVW-Symptom! Du hast die XYZ-Krankheit! Meistens entlastet solch eine klare Diagnose die Betroffenen, weil dann scheinbar gehandelt werden kann. Du hast dies und das, also nimm jenes! Oft Medikamente. Auch den Beraterinnen und 128
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Beratern hilft eine Diagnose: Ich weiß, was dir hilft! Demgegenüber versucht die systemische Beratung auf Diagnosen zu verzichten, weil das Problem sich dadurch eher verfestigt, weil der oder die Hilfesuchende entmündigt wird und weil das eventuell krank machende Umfeld (das System) aus dem Blick gerät. Für die anderen Systemteilnehmenden kommt eine Diagnose auch oft sehr gelegen, weil sie selbst sich nicht ändern müssen. Diagnoseverweigerung im Fall von Frau Adam heißt, nicht zu glauben, was ein Zuhörer scheinbar diagnostiziert: Sie ist keine Rednerin. Falsche Diagnose. Richtige Feststellung: Ich rede, also bin ich eine Rednerin. Diagnoseverweigerung heißt auch, nicht danach zu fragen, warum man eine schlechte Rednerin ist, weil man sonst erstens der falschen Diagnose recht gibt und zweitens sicher Gründe für das Scheitern feststellt, aber dadurch das Problem auf Dauer stellt. Musterunterbrechung: Ich lasse mich nicht auf ein Muster festlegen: »Einmal keinen hervorragenden Auftritt hingelegt – immer schlechte Auftritte hinlegen.« »Unsere Vorsitzende mag eine gute Vorsitzende sein, aber Reden halten kann sie nicht.« Probleme können als rekursive Muster betrachtet werden. Prozesse verselbstständigen sich und bilden Regelkreisläufe. Es werden Muster ausgebildet, dank deren man sich wiedererkennt. Dann heißt es: »Das ist halt so. Ich bin halt keine Rednerin. Hegel war auch kein guter Redner. Das ist halt nun mal mein Muster. Immer wenn ich ans Pult gehe, komme ich aus der Ruhe und verhaspele mich. Kenne ich, da kann ich nichts machen.« Ähnlich wie bei der Diagnose ist es auch beim Muster wichtig, sich zu verweigern. Ein Muster könnte sein, dass man vor dem Vortrag als Vorsitzende noch dies und das erledigen muss und gar keine Zeit hat, sich zu sammeln. Man ist halt Vorsitzende und Mädchen für alles, also kümmert man sich um alles. Eines macht man jedenfalls nicht, sich abgrenzen. Sich abzugrenzen heißt hier, das Muster unterbrechen. Eine Musterunterbrechung kann sein, sich vor dem Vortrag für ein paar Minuten zurückzuziehen und einen Moment der Ruhe zu haben, um seine Präsenz zu finden. Eine Musterunterbrechung kann sein, jemanden zu delegieren, der einem vor dem Vortrag den Rücken freihält. »Macht ihr das mal, ich will mich auf meinen Vortrag konzentrieren! Ihr bekommt das hin!« Lösungen, die Muster überwinden: Systemisches Denken
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Ressourcenblick: Ich betrachte mein Defizit als Noch-nicht-Fähigkeit! Wir hassen es, wenn uns jemand sagt: Da hast du noch Entwicklungspotenzial, oder noch besser: Da ist noch Luft nach oben. Jedoch ist das natürlich immer so. Man macht Fehler und kann sich immer auch noch verbessern. Gott sei Dank ist das Leben nicht perfekt. Aber: Ich lasse mich nicht zum Opfer fremder Zuschreibungen machen. Ich lege mein Glück auch nicht in die Hände anderer. Ich kann selbst etwas und ich habe Ressourcen. Die sollte man sich aber auch bewusst machen und aufschreiben. Am besten morgens, wie in der Schule am besten zehnmal: »Ich bin gut vernetzt! Ich habe eine tolle Tagung vorbereitet! Mein Mann ist mein größter Fan! Ich mache einen tollen Job!« Bei jedem kritischen Blick anderer, der so gern zu einer Selbstzuschreibung wird, sofort den Zettel rausholen und durchlesen. Aber nicht zu viel! Drei, vier stimmige Ressourcen genügen, sehr unüberlegt aufschreiben, nicht darüber grübeln. Wenn Ihnen nichts einfällt, schreiben Sie zehnmal: Ich mag mich! Auch ein Nichtkönnen kann eine Ressource sein: »Von den schlechten Rednerinnen bin ich die beste!« Zirkulär fragen: Zirkuläres Fragen verstehe ich als Kür systemischen Handelns. Angenommen, der Kritiker hätte gesagt: »Gut, dass wir sie genommen haben!« Es wird nach Unterschieden gefragt, nach typischen sich wiederholenden Abfolgen. Vor allem geht es ums Fragen, Fragen, Fragen. Wann fing es an? Wann war es besser? Was war da anders? Wie können Sie das jetzt reaktivieren? Welche Hindernisse gibt es? Was ist der erste Schritt? Wann gehen Sie ihn? Wann sind Sie diesen gegangen? Woran merken Sie das? Wie können Sie das verfestigen? Wie kontrollieren? Was brauchen Sie dazu? … Beim zirkulären Fragen wird in diesen Fragenhagel immer noch eine Komponente eingebaut, nämlich die anderen Teilnehmerinnen am System. Das Wörtchen »angenommen« spielt dabei die Hauptrolle! Angenommen, statt des Kommentars von Schulze hätte Meier einen Kommentar abgegeben, wie sähe der Unterschied aus? Angenommen, damals hätte keiner gemerkt, dass Sie sich verhaspelt haben, wie wäre es mit Ihrer Vortragstätigkeit weitergegangen? Angenommen, Sie könnten das Glücksgefühl, das Sie damals nach der Schultheateraufführung hatten, mit in den nächsten Vortrag nehmen, was wäre 130
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anders? Angenommen, Sie sind voll und ganz eins mit Ihrer Rolle als Vorsitzende, wie treten Sie auf? Angenommen, … Probleme beschreiben die Wirklichkeit – Lösungen eröffnen Möglichkeiten: »Gut, nehmen wir mal als Fakt, dass ich damals meinen Vortrag nicht gut gehalten habe. Heute habe ich die Möglichkeit, viele Kleinigkeiten zu verändern, die mir insgesamt ein gutes Gefühl für meine Vortragstätigkeit geben.« Wir sollten uns unsere Probleme ansehen. Das Problem, das damit aber entstehen kann, ist leider, in eine Problemtrance zu geraten. Wenn ich mir wie ein Mantra aufsage, dass ich keine Angst haben muss, dann verstärke ich die Angst. Problemtrance, die die Schwierigkeiten als naturgegeben auf Dauer stellt, nein, dies lieber nicht. Daher sollte die Regel heißen, Problembegehung in Form einer Betrachtung, was genau los ist. Die wichtigsten Fragen lauten hier: Wann trat es zuerst auf? Was war damals so, dass das Problem auftreten konnte? Und dann systemisch weiterfragen: Was können Sie tun, um das Problem zu erhalten? Der Stellenwert dieser Frage liegt in einer subtilen Umdeutung, sie macht aus einem Opfer einen Täter. Das Problem ist kein Schicksal, sondern ich kann es selbst erzeugen, und wenn ich es erzeugen kann, kann ich es auch überwinden. Wie? Hier gilt es dann, den weiten Raum der Möglichkeiten zu betreten. Wenn wir etwas ändern wollen, dann brauchen wir immer zumindest eine Alternative. Erst dann haben wir es mit Handeln zu tun, ohne Entscheidung liegt ein Verhalten vor. Jede Veränderung braucht das Freiheitsmoment der Entscheidung und in eins damit die Übernahme von Verantwortung für mein Leben. Im Raum der Möglichkeiten wird Veränderung wirklich, nämlich dann, wenn ich bereit bin, mich zu entscheiden und auch Risiken einzugehen und eventuell Kosten zu bezahlen. Ich kann den Vortrag als Interview führen. Ich kann eine Videobotschaft des Vorstands mit einem Schlusswort einspielen. Ich kann jeden Vortrag mit einem gespielten Fehler beginnen. Ich kann bei jedem Vortrag meine beste Freundin in die erste Reihe setzen. Ich kann jeden Vortrag am Vortag als beendet und gelungen meditieren und mir den Applaus vorstellen. Ich könnte vieles, aber Bestimmtes kann (und sollte) auch umgesetzt werden. Lösungen, die Muster überwinden: Systemisches Denken
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Fürs Mindset: Üben Sie sich in liebevoller Frechheit. Vor allem sich selbst gegenüber. Sie müssen nicht darauf beharren, etwas nicht zu können. Man kann etwas nicht können, aber man muss sich nicht darauf festnageln. Manches lässt sich ändern. Überlegen Sie sich zehn Möglichkeiten. Nehmen Sie als Erstes die Möglichkeit, die sich am leichtesten umsetzen lässt. Setzen Sie diese um! Andere Umsetzungen können folgen. Es gibt keine Ausrede. Sie können sogar umsetzen, nichts umzusetzen. Nein, ich möchte diesen Vortrag nicht halten. Dies sollte aber nur passieren, wenn Sie sich nicht drücken wollen.
Kraft, die hilft, nicht aufzugeben: Kampfsport Was soll Kampfsport für das Auftrittstraining bringen? Nun, es geht darum, sich zu überwinden, standzuhalten, nicht auszuweichen, Nehmerqualitäten zu entwickeln, wieder aufzustehen, wenn man in die Knie gegangen ist, Belastungen auszuhalten, Situationen einzuschätzen, alles im Blick zu haben, was gefährlich werden könnte, eine Haltung einzunehmen, die Sicherheit verkörpert, Angst anzuschauen, mutig nach vorne zu gehen oder beherzt wegzulaufen. Gar nicht wenige Tools, die der Kampfsport einem an die Hand gibt. Wenn man dann noch körperliche Fitness und Stärke dazunimmt, kann man eine Empfehlung dafür aussprechen. Was kann man als Vortragender von Krav Maga lernen? Zum einen kann man sich das klare Leitungsverhalten des Krav-MagaInstrukteurs anschauen und von ihm lernen. Zum anderen verändert man sich selbst als Krav-Maga-Student, wenn man am Training teilnimmt. Drittens hilft die Verinnerlichung wichtiger Krav-MagaPrinzipien, die eigene Leitungsstärke zu verbessern. Das Training fängt an, wenn es anfängt! Zu Beginn des Trainings steht der Instrukteur meistens eher für sich, es kann sich mal ein Small Talk ergeben, manchmal begrüßt man sich auch mit Handschlag, aber das Training fängt an, wenn der Trainer sagt: »Eine Linie!« Er tritt der Linie gegenüber, schaut einmal von links nach rechts, sagt »Hände nach vorne!« und verneigt sich mit dem Wort »Kida!« (was auf Hebräisch Verneigung heißt). Dann sagt er zum 132
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Beispiel: »Die Deckung ist oben. Alle laufen durch den Raum, so oft wie möglich durch die Mitte. Keiner läuft hinter dem anderen her.« Beim Aufwärmen zeigen sich schon mehrere Prinzipien. Es fängt gemeinsam an. Wenn eine Person zu spät kommt, muss sie gesondert arbeiten. Wenn mehrere zu spät kommen, arbeiten alle mehr. Es wird nicht geredet und erklärt, sondern direkt begonnen. Beim Aufwärmen wird immer die Gruppe als Ganzes angesprochen und bekommt bestimmte Kommandos. Etwa: »Eins heißt: Soft Break Fall nach vorne. Zwei heißt: Soft Break Fall nach hinten. Drei: Rolle vorwärts. Vier: Rolle rückwärts. Habt ihr das verstanden?« Einige antworten »Ja«. Dann gibt es weitere Kommandos wie: »Kreisrunde Angriffe auf Kopf, Schulter und Oberschenkel!« Das heißt, während der Puls langsam nach oben geht, wird man gleichzeitig mehrfach gefordert: Man muss auf sich aufpassen, angreifen und auch noch die Kommandos berücksichtigen, die manchmal zudem von Fragen flankiert werden: »Angreifen einstellen, weiterlaufen, Deckung bleibt oben. Welche Arten des Aufstehens vom Boden haben wir kennengelernt?« »Nach vorne! Nach hinten! In Sprintposition!« »Gut, welches sind die Checkpoints für das Aufstehen nach vorne?« Alle sind die ganze Zeit körperlich in Bewegung, aber immer zugleich auch mental gefordert. Man ist gleichzeitig Läufer, Angreiferin, Verteidiger, Zuhörer, Anwenderin bestimmter Techniken und Antwortende auf Fragen. Von Anfang an herrscht ein hoher Aktivierungsgrad, den der Instruktor am Laufen hält. Außerdem wird man von Anfang an dabei beobachtet, ob das Gelernte richtig angewendet wird. »XY, Arme tiefer. Deine Hände schützen Kinn und Hals. YZ, halte die Ellenbogen näher zusammen, warum?« »Ich will keinen Roundhouse-Kick in die Rippen bekommen!« »Richtig!« Ziel ist es, das Gelernte in Stresssituationen anzuwenden und auch geistig präsent zu haben. Weil beim Krav Maga alle Techniken auf natürlichen Reflexen beruhen, diese aber jeweils auf bestimmte Situationen Anwendung finden, müssen die Verteidigungen automatisiert werden, damit sie eben unter Stress abrufbar sind. Dazu braucht es viele Wiederholungen und immer neue Anwendungssituationen. Denn so schablonenhaft, wie sich die geschilderte Eingangssituation anhört, ist sie nicht. Kein Training ist zweimal gleich. Dieselben Lerninhalte werden in immer neue Impulse verpackt. Das Kraft, die hilft, nicht aufzugeben: Kampfsport
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macht das Training spannend und abwechslungsreich, vor allem aber hält es die Teilnehmenden wach. Aber es zeigt auch, wie wichtig bestimmte verinnerlichte Inhalte sind. Was können wir ablesen und für uns in unserer Vortragstätigkeit übernehmen? Weniger reden und trotzdem wachhaltende Impulse setzen. Es geht natürlich nicht darum, ein autoritäres Befehl-Gehorsam-Szenarium aufzubauen, sondern es zeigt, wie klar und entlastend deutliche Ansagen sind. Der Auftritt des Instruktors gibt den Teilnehmenden Sicherheit. Er leitet. Und er fordert die Krav-Maga-Studentinnen und -Studenten. Der Unterschied zur Vortragssituation liegt allein darin, dass im Training alle freiwillig sind: »Jeder ist hier freiwillig. Keiner wird zu etwas gezwungen.« Wir unterstellen uns also freiwillig den Anforderungen, die der Trainer setzt. Wie sieht es mit Kollektivstrafen aus, die immer wieder ins Training eingebunden werden? Haben wir es mit sadistischen Ritualen zu tun, die nur im militärischen Zusammenhang zu verstehen sind? Nein, denn auch diese haben Sinn. Wir arbeiten zusammen. Die Nachlässigkeit des Trainers würde meine Nachlässigkeit fördern. Die Kollektivstrafe fördert den Zusammenhalt. Von meiner richtigen Deckung hängt es ab, ob alle Liegestütze machen oder nicht. Wenn alle Liegestütze machen müssen, weil eine Person die Deckung fallen gelassen hat, dann wissen alle, wir sind füreinander verantwortlich. Immer. Man möchte nicht im Stich gelassen werden, wenn man einmal angegriffen werden sollte, und daher lässt man auch niemanden im Training im Stich. Ich habe es noch nie erlebt, dass eine Person dafür kritisiert wurde, weil wir wegen ihr gemeinsam Liegestütze machen mussten. Die freiwillige »Unterwerfung« unter die Anforderungen des Instruktors ist eine Erfahrung, die die Trainierenden machen können. Es ist immer so, dass es einer Selbstüberwindung bedarf, um zum Training zu gehen. Man weiß, dass man gefordert wird. Es ist aber auch so, dass man gefordert werden will, denn es gibt nichts Schlimmeres als ein Training, das einen unterfordert. Dann lieber gar kein Training. Die Anstrengung, die im Training geleistet wird, hilft, sich selbst zu überwinden. Der Körper darf müde werden, aber nicht der Kopf. Wir lernen, uns zu überwinden, und werden alle miteinander immer stärker und besser. Unser Kopf, der Wille, nicht aufzugeben, 134
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ist stärker als unsere Atemnot nach einem Tabata Drill, bei dem wir zum Beispiel zwanzig Sekunden intensiv am Sandsack arbeiten, dann zehn Sekunden Ruhe haben, um erneut zwanzig Sekunden alles zu geben. Bei acht Durchgängen kommt man gerade einmal auf vier Minuten und ist anschließend erst mal fertig. Einmal fragte eine Teilnehmerin beim Training während der Durchführung ermüdender Ausfallschritte in Kombination mit Froschsprüngen: »Warum bist du heute gekommen?« Scherzhafte Antwort: »Eine Domina war mir zu teuer!« Gibt es also doch masochistische Tendenzen bei den Teilnehmenden bzw. sadistische bei den Trainern? Lernen wir den Drill am eigenen Leib, um dann in unseren beruflichen Kontexten diesen an andere weiterzugeben? Das würde völlig am Sinn des Drills vorbeigehen. Wir sind alle freiwillig beim Training und gern! Das einzige Ziel der Drills ist es, unsere Willenskraft zu trainieren. Es geht gerade nicht um Dominanz und es geht noch viel weniger um die Adaption von Dominanz für einen selbst. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn mein Durchhaltevermögen erweitert wird, dann werde ich mich nicht unterkriegen lassen, wenn ich angegriffen werde. Und wenn ich nicht angegriffen werde, bleibe ich die Ruhe in Person. Mir kann niemand etwas, aber das werde ich den anderen nicht spüren lassen, weil ich es nicht nötig habe. Wenn ich meine körperliche Stärke und mein geistiges Durchhaltevermögen kenne, brauche ich das nicht zu zeigen wie ein unsicherer Schuljunge oder ein pubertärer Raufbold. Die Grenze, bei der man in Stress gerät, wird im Training immer angesteuert. Mal wird bei flackerndem Licht trainiert, mal im Dunkeln, mal wird man von verschiedenen Angreifern attackiert und muss dementsprechend verschiedene Abwehrtechniken anwenden bzw. Troubleshooting vollziehen, mal hat man es im Sparring nur mit einem Gegner zu tun, der genauso wie man selbst die Schwachpunkte des Gegenübers versucht aufzudecken. Der Stress dient dazu, dass man unter Stress keinen Tunnelblick und kein Blackout bekommt. Wir lernen, unter Stress handlungsfähig zu bleiben, darum unterbricht ein Trainer sofort den Kampf, wenn zwei Studenten anfangen, die Kontrolle zu verlieren, und wild aufeinander einprügeln. »Zwanzig Push-ups!« heißt es dann beispielsweise. Kraft, die hilft, nicht aufzugeben: Kampfsport
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Warum wird kontinuierlich das Stresslevel erhöht und gleichzeitig verboten, sich gegenseitig »fertigzumachen«? Es geht darum, einerseits Geber- und Nehmerqualitäten zu entwickeln, aber andererseits, wie unsere Instrukteure sagen, nur 98 Prozent zu geben. Warum? Wir sollen kontrolliert bleiben, weil wir keine Schlägerinnen und Schläger sind, wir lernen Selbst-Verteidigung, da sind Ausraster nicht hilfreich, auch nicht im Sinne der Selbstverteidigung. Nur kontrolliert behalte ich den Überblick, sehe, ob da noch weitere Angreifer sind, erkenne, ob jemand ein Messer zieht, schaue, wo der Ausgang ist, weiß, dass ich nur und einzig in Notwehr agieren werde. Ruhig Blut bewahren, weil es nur darum gehen kann, mich und andere im Notfall zu verteidigen, und nie und nimmer darum, zu zeigen, was für ein toller Kämpfer ich bin. Wenn also ein Angreifer verletzt am Boden liegen würde, müsste der erste Griff zum Handy gehen und noch vor der Polizei der Notarzt angerufen werden. 98 Prozent, ruhig Blut, keine Wut, keine Rache! Man könnte auch sagen, keinen Stress! Stress gehört zum Training, nicht zum Alltag. Wir geben keinen Stress an andere zurück, weil wir uns weniger stressen lassen. Wir sind weniger gestresst, weil unser Trainingsstress immer körperliche Überwindung bedeutet und einen auch mental fordert, aber dies führt immer zu Stolz auf die eigene und die gemeinsame Leistung im Training. Es geht nie darum, jemand anderen zu zerstören, sondern immer darum, gemeinsam besser zu werden. Es geht um Stolz auf die eigene Leistung und Achtung vor der Leistung der anderen. Das ist ein ganz anderer Stress als der, der in unserem beruflichen Kontext entsteht. Hier macht meist das Unerledigte, das uns gedanklich Fesselnde Stress. Das Kreisen um die vielen Aufgaben, die noch gemacht werden müssen. Das Wissen um die langen To-doListen. Diesen Stress können wir mithilfe von Krav Maga sicher nicht loswerden, weshalb gefragt werden kann, was einem Krav Maga in einer beruflichen Welt voller Restriktionen bringen soll. Wenn ich mich in einem Haifischbecken befinde und dort schwimmen soll, muss ich doch Stress bekommen. Ja, wir leben in keiner Welt ohne Restriktionen, wir sind oft ohnmächtig und können die Bedingungen nicht nach unserem Gutdünken ändern. Wir können nur uns und unsere Haltung zu den Restriktionen beeinflussen und da ist eine größere Fähigkeit, im Stressdrill bestehen zu können, auf jeden Fall 136
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hilfreich. Die wichtigsten Elemente der Haltung, die man beim Krav Maga verinnerlichen kann, sind folgende: Lernen, durchzuhalten: Bei einem »Never give up«-Seminar, bei dem die Teilnehmenden an und über ihre Grenzen gehen sollten, habe ich nach zwanzig Minuten gedacht, ich gehe jetzt nach Hause, ich brauche das nicht. Doch dann passierte etwas in meinem Kopf. Ich begann in meinem Inneren eine Belastungssteuerung »einzubauen«. Immer wieder im Kampf schauen, was der andere macht, ihn mal arbeiten lassen und eher mal nur reagieren und dann wieder reingehen und selbst aktiv werden. Nicht aufgeben: Jetzt ist jetzt, also kann ich nicht wegrennen. Später kann ich mich ausruhen. Oft schon habe ich gedacht, was mache ich hier eigentlich, aber ein Aufgeben braucht dennoch keine Option zu sein. Nehmerqualitäten entwickeln: Wenn wir gut getroffen werden, danken wir unserem Gegner. Er hat uns einen Fehler gezeigt. Nach einem Kampf liegen wir uns oft in den Armen, weil wir uns gegenseitig Respekt zollen. Und das ist kein Männerding, ca. die Hälfte der Trainingsgruppe sind Frauen. Kontaktkampf ist Kontakt: Als wir im Schulkollegium einmal eine Krav-Maga-Einheit von drei Stunden für einen kollegialen Studientag planten, sagte ich: »Aber das ist Kontaktkampf.« Unser Schulleiter antwortete verblüffend: »Hauptsache, wir kommen im Kollegium überhaupt in Kontakt.« Einmal mussten Schülerinnen und Schüler bei einer Krav-Maga-Einheit in der Schule auf ein Zeichen hin auf eine am Boden liegende Pratze steigen. Alle, die das nicht schafften, mussten Liegestütze machen. Plötzlich standen eine Schülerin und ein Schüler, die sich wirklich hassten, gleichzeitig vor einer Pratze, hielten kurz inne und stiegen gemeinsam darauf und hielten sich gegenseitig fest. Ein guter Kontakt war entstanden, der mich anrührte. Wir boxen nicht mit Boxern und ringen nicht mit Ringern: Wir machen immer das Gegenteil von dem, was mögliche GegnerinKraft, die hilft, nicht aufzugeben: Kampfsport
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nen oder Gegner können. Das ist bewusst unfair. Die wichtigste Verteidigungsform vor allem für Frauen ist ohnehin der Tritt zwischen die Beine. Geduld mit Fehlern: Eine der wichtigsten Erfahrungen für mich ist der Umgang mit Fehlern durch unseren Trainer. Er korrigiert die Fehler, wenn es sein muss, hundertmal. Und wenn man tausendmal dasselbe fragt, dann beantwortet er dieselbe Frage tausendmal. Ich habe in der Schule und in Seminaren immer das Gefühl, es reicht, wenn ich einmal etwas sage. Beim Krav Maga lerne ich, dass wichtige Inhalte auch wiederholt werden müssen. Es dauert lange, bis man etwas wirklich automatisiert abrufbar gelernt hat. Gerade die einfachsten Übungen müssen immer wieder wiederholt werden, bis man, wie mein Trainer sagt, sie nicht mehr falsch machen kann. Umwelt im Blick haben: Selbstverteidigung bedeutet, nicht kämpfen zu wollen bzw. es erst gar nicht so weit kommen zu lassen. Prävention ist der zentrale Trainingsinhalt. Das wird meistens mit einer »Timeline« erklärt: 1. Gefährliche Situationen meiden. 2. Habe ich die Chance wegzugehen, gehe ich weg. 3. Kann ich nicht weg, weil ich jemanden beschützen muss, dann gibt es entsprechend der Entfernung der angreifenden Person Angriffe in unterschiedlicher Entfernung: lang, mittel, kurz. 4. Immer gilt: Verhältnismäßigkeit der Mittel, umschauen, weggehen und Polizei oder Notdienst benachrichtigen, wenn ich sicher bin. Ich kann insgesamt nur sagen, dass ich den »Sport« als unschätzbar für jeden Auftritt halte, aber das ist natürlich überhaupt keine Norm, sondern wieder das, was für meine Theorie durch mich ging und somit Teil von mir ist. Alles kann der Auftrittssicherheit dienen: Ob Yoga oder Zumba, Flöte oder Flügel, das Gärtnern oder Wandern, alles ist gut, was meinen Blick hebt. Und den Kopf immer oben zu behalten, ist auch für mich eine bleibende Herausforderung. Eine schlaflose Nacht hatte ich, als meine beiden besten und liebsten Trainingspartner von unserem Trainer gefragt wurden, ob sie am Krav-Maga-Instructor-Kurs teilnehmen und selbst Trainer werden wollten. Warum hat er nicht auch mich gefragt? Ich grübelte eine 138
Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
Nacht lang und kämpfte mit meiner Enttäuschung, obwohl ich gar keine Zeit gehabt hätte, selbst Trainer zu werden. Es ist eine schwere Bürde, wenn man immer gut und vielleicht der Beste in allem sein will. Das Wort meines Vaters »Lieber der Erste im kleinsten Dorf als der Zweite in Rom!« hat gute Arbeit geleistet! Eine Introvision half mir. Ich meditierte den Satz: »Es kann sein, dass sie besser sind!« Seitdem bin ich versöhnt und das Training macht sogar noch mehr Spaß, weil ich weniger Druck habe, der Beste sein zu müssen. Ich kann nun viel besser die Korrekturen und Ratschläge meiner Kameradinnen und Kameraden annehmen, deshalb werde ich von ihnen nicht weniger respektiert. Schauen wir, was die Introvision für unsere Vortragstätigkeit bringt oder besser, wie wir sie gegen unsere Ängste ins Feld führen können. Fürs Mindset: Kämpferinnen und Kämpfer müssen nicht kämpfen. Sie können Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen. Sie wissen, was sie können, wenn es drauf ankommt. Aber es kommt selten drauf an, meist reicht es, aufrecht durchs Leben zu gehen, Gefahren frühzeitig zu erkennen und zu wissen, wo der Ausgang ist. Sind alle Ausgänge versperrt, muss man kämpfen, möglichst schnell, überraschend und aggressiv, um dann wieder lange und nachhaltig ruhig und gelassen zu bleiben. Kämpferinnen und Kämpfer wissen, wann es drauf ankommt, aber zum Glück kommt es nur selten drauf an.
Imperative, die aufgelöst werden: Introvision Die Introvision halte ich für das wichtigste Instrument, wenn es darum geht, Vortragsängste zu beherrschen oder besser gesagt, diese möglichst milde werden zu lassen und sogar zu löschen. Mit etwas Übung ist sie leicht in vielen Situationen anzuwenden. Daniel Kahneman stellt fest, dass unser Gehirn nicht dafür ausgelegt ist, geringe Wahrscheinlichkeiten richtig einzuschätzen, nämlich als gering (Kahneman, 2012, S. 410). Dazu verweist er auf die Gefahr, durch Unfälle oder durch Terror ums Leben zu kommen. Die Terrorgefahr spricht uns emotional viel stärker an und wird als Imperative, die aufgelöst werden: Introvision
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gefährlicher eingeschätzt, was statistisch gesehen ein Fehlschluss ist. Ereignisse, die mit Gefahren und Verlusten einhergehen, werden aus evolutionsbiologischen Gründen stärker emotionalisiert als Freuden und Gewinne, weil es dem Überleben dient. Kahneman fasst unser Denken mit den Metaphern »System I«, dem intuitiv-schnellen Denken, und »System II«, dem rational-langsamen Denken, zusammen. In Stresssituationen, wie einem Auftritt, übernimmt System I das Ruder und bestimmte Vorgänge laufen dann, wie man sagt, auf Autopilot. Kognitive Verzerrungen sind die Folge, zum Beispiel eben die, Auftritte als bedrohlich und angstmachend zu erleben, obwohl unser Überleben nicht davon abhängt. Intuitiv wissen wir wahrscheinlich, dass es besser ist, sich die Stresssituation rational anzuschauen, aber wir vermeiden es trotzdem. Im Vikariat musste ich einmal einen Gottesdienst im sehr geräumigen Geräteschuppen der freiwilligen Feuerwehr halten, was mich mal wieder unter Druck setzte. Ich begann mit einem bekannten Spaß: »Was haben Feuerwehr und Kirche gemeinsam? Man denkt nur an sie, wenn es brennt!« Mir half das, emotional entspannt die Aufgabe zu erfüllen. Unwillkürlich habe ich eine Introvision vorgenommen. Ich habe die Aufregung angenommen, sie angeschaut und einen Weg gefunden, damit umzugehen. Vermutlich gehen wir mit mancher Bedrohung, ohne es zu wissen, so um, wie es die Introvision methodisch kontrolliert anwendet. In diesem Fall heißt das, die Theorie der Introvision untersucht eine wirksame Praxis, die unsichtbar im Schwange ist, und versucht diese methodisch sicher anwendbar zu machen, damit ihr Nutzen verbessert wird. Angelika Wagner hat den Begriff der Introvision geprägt (Wagner, 2007; Dehner u. Dehner, 2015). Sie bezeichnet Introvision als eine Methode des Selbstmanagements, die darauf abzielt, in Konfliktsituationen Gelassenheit und Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Wagner hat Introvision in umfangreichen Forschungsprogrammen entwickelt und ihre Wirksamkeit empirisch überprüft. Der Ausgangspunkt für ihre Studien stellte die Redeangst dar. Quelle der Redeangst bilden Gefühle von Ausweglosigkeit, die einhergehen mit gedanklichem Kreisen, generalisierten Angstzuständen und überhaupt sich Sorgen zu machen. Eine dysfunktionale Selbstaufmerk140
Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
samkeit greift Raum, eine »falsche« Achtsamkeit, die sich auf das Problem konzentriert, automatisch werden Gedanken entwickelt und mittels innerer Bilder und Gefühle verstärkt (Wagner, 2007, S. 43 f.). Als Grund dafür nennt Wagner die Verletzung subjektiver Imperative. Wagners Theorie subjektiver Imperative beruht auf der Annahme, dass Ist-Soll-Diskrepanzen unangenehme Gefühle auslösen, weil man bestimmte Handlungen als ethisch unrichtig einschätzt. »Muss-darf-nicht-Gefühle« entstehen, die entweder eine Forderung (»So muss es sein!«) oder ein Verbot (»Das darf nicht geschehen!«) beinhalten, etwa: »Ich muss diese Angst loswerden! Es darf nicht sein, dass ich stottere! Es darf nicht sein, dass ich mich blamiere!« Teilnehmende der Experimentalgruppe Redeangst berichten: »Die Angst erscheint mir im Moment am größten zu sein vor diesem Bloßgelegtwerden, Durchdrungenwerden. Nackt, schutzlos, hilflos. Vernichtet zu werden und zertreten zu werden.« »Ja, es sitzt im Bauch und es ist irgendwie auch wie ein Loch. Es ist ja fast so ein bisschen wie hilflos und lähmend, weil ich nicht weiß, wohin mit der Wut dann, über mich, über die anderen oder den anderen.« »Das ist natürlich ein ganz schöner Hammer […] Das ist so ein Gefühl wie schämen, wie Scham, Nacktheit und Scham. Ich kann das nicht aushalten.« »Es ist wie im Feuer. Wenn Sie da reingehen, dann können Sie da nicht mehr ausweichen und so ist das eben, aber eine Wärme, die nicht angenehm ist.« »Da ist ein Gefühl, sich klein zu fühlen, weinen zu wollen.« »Ich merke, dass ich da einen ganz dollen Druck habe. Wie so ein Stein oder ja, der liegt auf irgendetwas drauf. Das Gefühl habe ich da, da liegt ein Brocken drauf. […] als wäre das eine Faust, die sich um irgendetwas geschlossen hat.« »Da ist Druck, nur Druck. Er fühlt sich so an, als ob er auf dem Herzen drauf liegt.« »Ich habe ein Gefühl von Erdrücktwerden, Schutzlosigkeit. Ich habe Angst, dass andere dann über mich hinwegrennen und mir quasi noch den Rest geben dann.« »Das hämmert dann im Hals und dann wird mir schlecht.« »Ich spüre so eine Beklemmung, so ein Atemanhalten, so ein Verkrampfen« (Wagner, 2007, S. 69). Die Ursache für die Stärke der Redeangst bezeichnet Wagner als »imperieren«, als sich selbst etwas befehlen, auferlegen oder zumuten (S. 52 f.). Wenn ich gegen diese Befehle verstoße, indem ich zum BeiImperative, die aufgelöst werden: Introvision
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spiel sage: »Morgen fange ich an, meinen Vortrag zu schreiben!« und es dann vermeide oder aufschiebe anzufangen, dann gerate ich in einen Imperativverletzungskonflikt. Imperativ (Wollen) und Wirklichkeit (Tun) widersprechen sich. Oder: Imperative stehen miteinander in Konflikt. »Es muss sein, es darf nicht sein …« Ich muss in einer Rede einen Sachverhalt eingehend erklären, aber darf nicht zu ausschweifend sein. Oder: Imperative sind undurchführbar, weil sie paradox sind. Ich will konzentriert bei der Sache und zugleich spontan und authentisch sein. Oder: Zwei Imperative stehen miteinander in Konflikt und widersprechen sich. Aus dem ersten Imperativ »Ich darf keine Redeangst haben!« wird ein Konflikt zweiter Ordnung, weil ich mich über den Imperativ ärgere: »Es kann doch nicht sein, dass ich nach so vielen Jahren immer noch Lampenfieber habe!« (S. 63 f.). Rekursive Schleifen arbeiten in uns. Wir haben in Bezug auf Frau Adam schon beschrieben, dass es in einem ersten Schritt wichtig ist, in den imperativischen Vorstellungen den Kernimperativ zu identifizieren. Ziel ist es, sich den unangenehmen Gefühlen zu nähern, um mit dem Kernimperativ arbeiten zu können. Wagner nennt dies das »Schlimm-Gefühl«. Den Kernimperativ haben wir erkannt, wenn wir keine weitere Vertiefung mehr finden und dabei enden, dass wir sagen: »Das ist wirklich schlimm!« »Ich darf mich nicht verhaspeln, denn wenn ich mich verhaspele, denken die anderen schlecht über mich. Wenn die anderen schlecht über mich denken, dann fühle ich mich als Versager und das ist schlimm!« (S. 67 f.). Diese Kernimperative sind immer relational begründet und äußerst individuell, weil sie sich dem persönlichen Erleben der eigenen Biografie verdanken. Das heißt, sie verdanken sich meist einem früheren Ereignis mit bestimmten Menschen. Wagner geht davon aus, dass es zwei Systeme menschlicher Informationsverarbeitung gibt, die in Konflikt geraten (S. 129 ff.). Das epistemische (»wissenschaftliche«) System umfasst eine Vielzahl kognitiver Operationen, neben sinnlicher Wahrnehmung vor allem nachdenken, erkennen, verstehen, planen, Probleme lösen. Im epistemischen System wird wahr, falsch und wahrscheinlich unterschieden. Dauert es lange oder ist es schwierig, Lösungen zu fin142
Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
den, und droht ein »kognitiver Hänger«, übernimmt laut Wagner das introferente (das heißt »hineintragende«) System die Führung. Leerstellen und Widersprüche werden mit epistemisch nicht gültigen Kognitionen überbrückt. Weil Widersprüche nicht ausgehalten werden, treten falsche Antworten an die Stelle ungelöster epistemischer Probleme. Folge sind erhöhte Erregung, physiologische Hemmung, Ersetzung der rationalen Informationsverarbeitung durch Quasi-Kognitionen. »Wenn ich vor tausend Menschen sprechen muss, sterbe ich.« »Wenn ich eine Frau ansprechen soll, falle ich in Ohnmacht.« Verstärkt wird dieser Prozess durch Versuche von sekundärem Eingreifen mit dem Ziel, der Quasi-Kognition Herr zu werden – allerdings mit dem Ergebnis stärkerer Erregung und stärkerer Angst. Die Introferenz hat das Sagen. Die Leerstellen, die nach dem Motto »lieber falschliegen als nicht weiterwissen« quasi epistemisch aufgefüllt werden, springen immer früher an und werden mit immer höherer Energie gespeist, bis hin zur Panik. Machte ursprünglich ein Vortrag Stress, dann macht später schon der Gedanke an einen konkreten Vortrag Stress, schließlich macht schon die Betrachtung eines Vortragenden im Fernsehen Stress, ja, kann sogar Panik auslösen. Um die Introferenz zu beenden, empfiehlt Wagner zwei Schritte: 1. das konstatierende aufmerksame Wahrnehmen und 2. die Durchführung von Introvision zur Auflösung des Konflikts. Zu 1.: Um das introferente Eingreifen zu beenden, wird das Problem, etwa die Angst, weit gestellt betrachtet. Ich richte einen weiten Fokus auf das Problem, betrachte es wie eine Wiese, bei der ich gleichzeitig verschiedene Blumen, Gräser, Schmetterlinge, einen Zaun, Verdorrtes und Blühendes sehe. Der Blick wird weit gestellt und nicht auf Einzelnes konzentriert. Eine Meditation mit Weichzeichner, die andere Gedanken nicht ausschließt, aber auch nicht aktiv eine Problemlösung sucht. »Konstatierende Wahrnehmung bedeutet […], dass die Aufmerksamkeit eine Zeitlang still steht und ›dabei bleibt‹ – nämlich bei der jeweiligen Kognition im Zentrum der Aufmerksamkeit; dies kann ein Gefühl sein, ein Bild, eine Erkenntnis oder eine Erinnerung. Es geht darum, diese Kognition innerlich zu konstatieren, im Sinne von ›so ist es‹, […] ›so riecht es‹, ›so sieht es aus‹, ›so fühlt es sich an‹« (Wagner, 2007, S. 135 f.). Imperative, die aufgelöst werden: Introvision
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Zur Betrachtung der Kognition wandere ich, wie in der Meditation mit Frau Adam gezeigt, verschiedene Achtsamkeitsstufen (spüren, fühlen, denken …) entlang. Es gilt, die Kognition gewissermaßen passiv-neugierig zu betrachten und nicht als Mantra zu wiederholen. Das Ganze geschieht im Kommen- und Gehenlassen der Gedanken und nicht im Kontrollieren, Verzerren oder Blockieren. Es ist, was ist, es wird gesehen, was gesehen wird. Das konstatierend aufmerksame Wahrnehmen kann geübt werden. Etwa so: »›Sehen‹: Wirklich weites Sehen eines Gartens, eines Platzes, eines Raumes in einem weiten Fokus für zwei Minuten. ›Hören‹: Schließen der Augen und Hören aller Geräusche für zwei Minuten. ›Spüren‹: Richten der Aufmerksamkeit auf körperliche Vorgänge und seine Umweltwahrnehmung für zwei Minuten« (Wagner, 2007, S. 139).
Diese Art der Wahrnehmung kann in den Alltag eingebaut werden und beim Rasengießen, Zähneputzen und beim Leerräumen der Geschirrspülmaschine geübt werden, es geht einher mit einer nicht urteilenden Haltung. Ziel ist es, diese Art der Wahrnehmung auch auf den Umgang mit Konflikten im beruflichen Umfeld zu übertragen, was die Fähigkeit bedeutet, nicht sofort anzuspringen, wenn Kritik auftaucht, sondern zu lernen, erst einmal zu gucken. Dieser Zeitgewinn ist immer eine Stressreduktion und macht gelassen. Konstatierendes aufmerksames Wahrnehmen (KAW) umfasst folgende methodische Elemente (S. 164 f.): Ȥ Auch wenn unbewusste Inhalte beim KAW wiedererkannt werden können, ist es eine Weise des Bewusstmachens. KAW arbeitet bewusst. Ȥ KAW arbeitet nicht suggestiv. Es werden keine fremden Inhalte über die hemmenden Gefühle gestülpt. Es wird nicht Altes überschrieben. Nein, es wird nicht gesagt, du bist der Größte, wenn du es nur glaubst. Ȥ Es wird hingeschaut. Nämlich auf das, was tatsächlich anliegt. Das Tatsächliche wird gespürt und belauscht. Kognitionen, wie gute Vorsätze, werden eher selten repetiert. 144
Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
Ȥ Die Aufmerksamkeit soll konstant bei der Sache bleiben. Auch wenn der innere Scheinwerfer hin und her strahlt und Verschiedenes anleuchtet, bleibt die hauptsächliche Frage im Fokus. Ȥ Die Aufmerksamkeit wird nicht verengt, sondern bleibt weit gestellt. Ȥ Sinnesempfindungen werden wahrgenommen und ebenfalls betrachtet, aber auch abstrakte Gedanken können angeschaut werden. Zu 2.: Ein Beispiel aus meinem Erleben: Zu Beginn der Coronapandemie überkam mich ein Moment der Angst. Ich schaute auf mein Leben und alles, was mir lieb und wertvoll ist, und fühlte mich dem Tod nahe. Verstärkt wurde dieses Gefühl dadurch, dass in einem Vierteljahr eine Schülerin und drei (ehemalige) Kollegen von mir plötzlich gestorben waren. Ein kurzer, aber kräftiger Schauer durchfuhr mich. Dann überlegte ich, wie eine Intervention aussehen würde, die die Introvision berücksichtigt. Was sind die Imperative und ihre Gefühle? »Es muss sein, dass ich lebe! Es darf nicht sein, dass ich sterbe!« (Ich dachte in diesem Moment wirklich nur an mich, an meine Familie zu denken hätte mir völlig den Boden unter den Füßen weggezogen.) Die Gefühle waren Ohnmacht und eine Art von Erstaunen darüber, alles, was mich ausmacht, verlieren zu können, radikale Endlichkeit als reale Möglichkeit. Ich setzte mich einen Augenblick lang hin und dachte: Es kann sein, dass ich sterbe. Ich schaute der Angst ins Auge. Betrachtete mit weiten Fokus unser Wohnzimmer und die Bücher im Regal. Bei manchen Abteilungen blieb ich etwas hängen, weil meine Erinnerung oft daran gekoppelt ist, was ich wann las. Es ist dann umgekehrt, ich sehe die Bücher und nicht deren Inhalte, sondern die Zeit und das Drumherum des Lebens: die Zeit der Heirat, die Zeit des Kinderempfangens, des Hausbaus. Zeiten, in denen wir bevorzugt Dänemark oder Frankreich als Urlaubsland bereisten. Das alles stand mir kurz vor Augen, als ich dachte: Es kann sein, dass ich sterbe. Und wirklich, die Angst verflog. Ich konnte den Satz denken, weit gestellt betrachten, an mich heranlassen und annehmen. Gleichzeitig wurde aber auch das Bewusstsein stark, jetzt lebe ich und will leben und neunzig Jahre alt werden. Auf jeden Fall ging es mir besser und ich hoffe, mich nicht Imperative, die aufgelöst werden: Introvision
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zu belügen, wenn ich sage: »Es kann sein, dass ich sterbe. Egal, was passiert, ich habe ein gutes Leben. Es ist, wie es ist, und es ist gut. Es kommt, was kommt, und ich nehme es an«. (Hoffe ich.) Introvision ist der Name für Erfahrungen, die es gibt. Wie sollte eine Methode funktionieren, wenn sie nicht mit dem Leben verankert ist? Introvision stellt keine Gehirnwäsche dar. Betrachte ich introspektiv Erlebnisse, dann verändern sie sich. Es ist eine altbekannte Tatsache, dass zum Beispiel Wut ihre emotionale Wucht verliert, wenn man sie innerlich betrachtet, also gedanklich von außen auf sie schaut. Eine Introvision hat folgende Phasen (Wagner, 2007, S. 169 ff.): Ȥ Als Erstes werden die dem Konflikt unterliegenden Subkog nitionen gesucht. »Was geht Ihnen in der entsprechenden Situation durch den Kopf?« Ziel ist es, zu identifizieren, was das Zentrum des Unangenehmen ist. Was darf gefühlsmäßig nicht sein? Wagner empfiehlt die Standbildtechnik. Der Film wird an einer entscheidenden Stelle angehalten und geschaut, was da los war. Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken können erinnert werden. Was genau war damals los, als das Nicht-Gewollte passierte? Ȥ Die imperativischen Vorstellungen werden identifiziert. »Was ist es, das nicht sein darf?« Es wird zum nachträglichen lauten Denken eingeladen. Oft wird ein erster Imperativ genannt, dem auf weiteres Fragen hin auch weitere Imperative folgen. Hilfreich ist es manchmal, Formulierungsvorschläge anzubieten. Der Gesprächspartner wird dann eine feinere Justierung vornehmen. »Nein, so ist es nicht, es ist eher so …!« Wichtig ist es, auf die Stärke der inneren Beteiligung bzw. Erregung zu achten, weil diese den zentralen Imperativ begleitet. Eine erste Entlastung ergibt sich aus der Formulierung für einen Alarm: »Es kann sein, dass Sie sich dann ärgern! Was geht Ihnen dann durch den Kopf? Worüber ärgern Sie sich?« Ȥ Die Subkognition wird erschlossen: »Es kann sein, dass … genau das geschieht, was nicht geschehen darf.« »Introferenztheoretisch ist es die Erkenntnis, dass das geschehen könnte, was nicht geschehen darf, die den Klienten beunruhigt – unabhängig davon, wie groß tatsächlich die Wahrscheinlichkeit ist, dass dies faktisch eintreten könnte oder bereits geschehen ist« (S. 173). Es 146
Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
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geht darum, dass Schlimmstmögliche wortgetreu wiederzugeben. Nur durch die Betrachtung des Unangenehmen hindurch kann es Entlastung geben. Die Imperativkette an den Anfang zurückverfolgen: »Was daran ist für Sie irritierend, unangenehm oder schlimm, wenn das und das (nicht) passiert?« Das Zentrum des Unangenehmen wird gefunden sein, wenn der Gesprächspartner sagt: »Das ist schlimm!« Es sollte an diesem Punkt nicht weiter gefragt werden, sondern es sollte genau dieser Punkt festgehalten werden. »Es ist schlimm, wenn …!« Ja, das ist schlimm. Diese Aussage wird weder dramatisiert noch bagatellisiert. Nun sollten Konfliktumgehungsstrategien abgeschnitten werden. Es kann sein, dass der Gesprächspartner nun selbst sagt: »So schlimm ist das ja nicht, ich bin ja nicht daran gestorben …« Wichtig ist es jedoch, bei der Sache zu bleiben: »Es kann sein, dass es so ist, und das ist schlimm!« Ebenso werden keine praktischen Problemlösungen in den Blick genommen: »Ja, aber ich mache dann nächstes Mal …« Daher beginne ich das Coaching oft mit eher technischen Fragen des Auftritts; wenn es hier eine kleine Begehung mit einigen hilfreichen Hinweisen gab, kann ich nun bei dem entsprechenden Punkt bleiben. Weitere praktische Problemlösungsstrategien können aber auch auf später vertagt werden. Schließlich wird der Alarm »Es kann sein, dass genau das eintritt!« mit der Methode der KAW eingehend betrachtet. Ich finde eine angeleitete Meditation, die verschiedene Achtsamkeitsstufen abschreitet, sinnvoll, wie sie oben schon bei Frau Adam angewendet und genauer beschrieben wurde (S. 32 ff. und auch als Audio-Meditation im Downloadbereich unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/Buehne_frei). Die Auswertung fragt danach, ob der Gesprächspartner den Alarm tatsächlich in den Blick nehmen konnte. Im Coaching versuchen wir zu verstehen, was dabei passierte. Eine Weiterarbeit mit der Hausaufgabe, sich den Alarm auch weiterhin in nächster Zeit während einiger Minuten anzuschauen, ist sehr empfehlenswert. Hilfreich ist es manchmal, den Alarm genau aufzuschreiben. Überhaupt kann es sinnvoll sein, dem GesprächsImperative, die aufgelöst werden: Introvision
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partner Zeit zu geben, sich Notizen zu machen. Den Abschluss der Introvision bilden die Fragen: »Wie fühlen Sie sich jetzt? Kann es für den Moment so stehen bleiben?« Die Auswirkungen der Introvision (Wagner, 2007, S. 181 f.) können folgende sein: Ȥ Die Erregung, die der Alarm auslöst, kann schnell und deutlich abnehmen. »Ich habe gemerkt, nichts ändern zu können, da habe ich mich befreit gefühlt.« Ȥ Es kann die Erregung auch erst einmal leicht steigen, bevor sie langsam abnimmt. Je mehr im Alltag der Alarm ausgeblendet wurde, desto eher wird seine Wahrnehmung für das Erste etwas stärker sein, bevor es gelingt, eine weniger emotionsgeladene Haltung zu finden. Ȥ Manche Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner im Coaching sind überrascht, dass sich schnell keine Erregung mehr einstellt, wenn an den Alarm gedacht wird. Das mag irritierend sein, aber kann passieren. Ich gebe dann den Hinweis, zur Kon trolle in ein paar Tagen die Introvision nochmals durchzuführen und zu schauen, ob der Imperativ wirklich gelöscht ist und der Erregungsgrad niedrig bleibt. Fürs Mindset: In Gedanken die Augen weit aufmachen, die Gefühlswelt öffnen und nicht fokussiert hinschauen, den Blick wandern lassen. Wir schauen uns an, was uns Angst macht und stresst, und betrachten es von allen Seiten, von unten nach oben, von vorne und hinten: »Es kann sein, dass ich rot werde!« »Es kann sein, dass ich Angst habe, mich zu blamieren!« »Es kann sein, dass ich meine Eltern enttäusche!« »Es kann sein, dass ich nicht die Beste bin!« »Es kann sein, dass ich nicht der Tollste bin!« »Es kann sein, dass mein Vortrag nicht großartig ist!« »Es kann sein, dass ich zu schwitzen anfange!« »Es kann sein, dass die Knie zittern!« Es kann sein. Es darf sein. Es mag sein. Mal schauen, ob es wird.
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Verkörperungen, die standfest machen: Embodiment Wenn wir unsere angstmachenden Imperative, die uns beim Vortrag belästigen wollen, auf ein niedriges Niveau herunterfahren konnten, dann fehlt uns nur noch, unsere wiedergewonnene Selbstsicherheit auch zu verkörpern. Unsere neu justierte innere Haltung möchte auch einen körperlichen Ausdruck finden. Es ist nützlich, am physischen Auftreten zu arbeiten. Manchmal hilft ein Spiegel. Manchmal ein Video. Manchmal eine Freundin, die uns korrigierend Rückmeldung gibt, wie wir da stehen. Unser Körper ist das Medium unseres Vortrags. Das Wort ward Fleisch. Erde, aus der Licht quillt. Beim 38. Fachkongress der Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse, der in Wien stattfand, gab es eine Reihe von Workshops zum Thema Embodiment. Ich saugte das alles förmlich auf. Eine Begegnung gab mir allerdings zu denken. Meine männliche, vorurteilsbehaftete Sicht wurde mir vor Augen geführt. Zu einem Workshop kam ich als Letzter und es war nur noch ein Platz neben einer sehr dicken Frau frei. Ich setzte mich mit dem Gedanken, dass ich mir nur schlecht vorstellen konnte, mit dieser Frau eine körperorientierte Übung zu machen. Aber natürlich gab es irgendwann die Aufgabe, mit der Nachbarin zu arbeiten. Am Ende der Übung standen wir noch zusammen und ich fragte die Frau, wie ihr der Workshop gefalle. Sie antwortete, dass sie sich mehr von dem Workshop versprochen habe, weil sie hoffte, stärker motiviert zu werden, sich mehr zu bewegen. Sie wolle sich wegen ihres Gewichts mehr aktivieren, etwas körperlich zu tun. Dies offene Bekenntnis änderte mit einem Schlag meine Wahrnehmung der Frau. Ich schämte mich meiner ablehnenden Gedanken und betrachtete die Übungspartnerin jetzt ohne verletzendes Vorurteil. Plötzlich stand eine offene, interessante Frau vor mir, die ich während des Kongresses noch öfter traf und mit der ich nette Gespräche führte. Ich bin sehr dankbar für diese Begegnung und die Gelegenheit, meine beschränkte Sicht zu erweitern. Bei dem Kongress kaufte ich das Buch »Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen« (Storch et al., 2017), das folgende Begriffsklärung enthält: »Unter Embodiment (deutsch etwa ›Verkörperung‹) verstehen wir, dass der Geist Verkörperungen, die standfest machen: Embodiment
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(also Verstand, Denken, das kognitive System, die Psyche) mitsamt seinem Organ, dem Gehirn, immer in Bezug zum gesamten Körper steht. Geist/Gehirn und Körper wiederum sind in die restliche Umwelt eingebettet. Das Konzept Embodiment behauptet, dass ohne diese zweifache Einbettung der Geist/das Gehirn nicht intelligent arbeiten kann. Entsprechend kann ohne Würdigung dieser Einbettungen der Geist/das Gehirn nicht verstanden werden« (S. 15). Embodiment meint zudem die Verkörperungen konkreter Emotionen im Individuum und den habituellen Niederschlag von Lebenserfahrung im Körper. Das Konstrukt des Embodiment folgt Einsichten, die auch manche Neurobiologen wie beispielsweise Thomas Fuchs teilen: »Das Subjekt ist im Gehirn gar nicht zu finden. Das Gehirn ist vielmehr ein Organ, das unsere Beziehung zur Welt, zu anderen Menschen und uns selbst vermittelt. Es ist der Mediator, der uns den Zugang zur Welt ermöglicht, der Transformator, der Wahrnehmungen und Bewegungen miteinander verknüpft. Das Gehirn für sich wäre nur ein totes Organ. Lebendig wird es erst in Verbindung mit unseren Muskeln, Eingeweiden, Nerven und Sinnen, mit unserer Haut, unserer Umwelt und mit anderen Menschen. […] Es ist ein Beziehungsorgan« (Fuchs, 2009, S. 21). Er widerspricht damit dem gängigen neurobiologischen Mainstream, der kognitive Leistungen unter konstruktivistischen Vorzeichen ontologisiert und isoliert betrachtet, was zu einem dualistischen Menschenbild führt. Gehirnen kann man kein Bewusstsein zusprechen, sondern nur Menschen, die mit ihrer Umwelt interagieren. Thomas Fuchs spricht daher von einer verkörperten Anthropologie und beruft sich auf die Forschungsrichtung »embodied cognitive neuroscience«. Der zufolge bedarf das Bewusstsein der Materialität des Körpers, um zu existieren (Siemons, 2020, S. 36). Wir verkörpern mentale Stimmungen, ebenso wie bestimmte Körperhaltungen Einfluss auf unsere Stimmung haben. Ich habe weiter oben schon die Umgangsform des Therapeuten Frank Farrelly erwähnt. Eine DVD (Farrelly 2010) dokumentiert einen Workshop Farrellys und es macht keinen Spaß, sie anzuschauen, weil Farrelly so respektlos mit Menschen umgeht, wie ich es noch nicht gesehen habe. Er spricht ohne Filter jeden körperlichen Makel an und verzichtet nicht auf übertriebene Beleidigungen. Das eigentlich Erstaunliche 150
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sind jedoch die freiwilligen Teilnehmerinnen und Teilnehmer an seinen Demonstrationen. Am Schluss beim Feedback fragt Farrelly immer: »Hatten Sie Reaktionen während des Gesprächs?« Keiner der Teilnehmer äußerte Wut, alle sagten für mich sehr überraschend: »Ich hatte das Gefühl, Sie verstehen mich. Sie sagten Dinge, die ich im Geheimen über mich selbst denke.« Die Freiwilligen äußerten ein Gefühl von Entlastung und Befreiung. Anscheinend liegt also in der Ansprache des gefühlten Körperschemas etwas Ähnliches, wie wenn in der Introvision dem Feind ins Auge gesehen wird. Eine Chance also, die Introvision mit dem Embodiment zu verbinden. Leib und Seele sind immer verbunden. Wenn wir uns in einem Spiegel betrachten, treten wir uns selbst gegenüber. Wir sehen uns selbst. Aber zugleich sehen wir uns auch immer mit den Augen anderer. Wir fragen uns, wie andere die Person sehen, die ich da vor mir sehe. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan unterschied IdealIch und Ich-Ideal. Das heißt, auch ohne Spiegel habe ich immer ein leib-seelisches Bild von mir. Wenn ich schnell Auto fahre, habe ich von mir das Bild eines Rennfahrers (Ideal-Ich). Wenn ich mir dann aber die Frage stelle: Was macht es, dass ich mich wie ein Rennfahrer fühle?, dann kann ich mich fragen: Für wen möchte ich als Rennfahrer gesehen werden (Ich-Ideal)? (vgl. Leader u. Groves, 2013, S. 48). Möchte ich so sein wie mein Vater, der einen erschreckend furchtlosen Fahrstil an den Tag legte? Will ich so ein Draufgänger sein wie er? Oder: Will ich heute die Angst besiegen, die ich damals hatte? – Das Beispiel zeigt vielleicht, wie sehr Introvision und Embodiment, wie sehr seelisches und körperliches Erleben verbunden sind. Für mich war jedenfalls klar, ein Auftrittstraining ohne Übung von Körperhaltungen ist nicht möglich. Dabei soll es wieder nicht um Suggestionen gehen, sondern darum, für sich eine Haltung zu finden, die genau das verkörpert, was man will. Das kann jede und jeder vor dem Spiegel üben, aber besser ist in jedem Fall eine Haltungskorrektur durch ein Gegenüber. Der Sinn ist ein zweifacher: Erstens fällt es uns schwer, uns so beobachtet vor anderen zu zeigen, was an sich schon einen Trainingseffekt hat, zweitens sieht das Gegenüber oft besser, welche Zweifel der oder die Darstellende ausdrückt. Die Haltung soll das Gegenüber von der Rollensicherheit des oder der Auftretenden überzeugen, daher ist Korrektur wichVerkörperungen, die standfest machen: Embodiment
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tig. Wenn zum Beispiel jemand eher vorsichtig ist, dann hat er sehr schnell das Gefühl zu übertreiben, wenn er eine körperorientierte Haltung einnimmt. Aber für den Betrachter ist da immer noch Luft nach oben. Wir selbst sehen die geheimen relativierenden Fragezeichen gar nicht, die wir in eine scheinbar dominante Haltung einbauen. Das muss jemand anderes sehen und sagen. Ist das Fremdbestimmung? Ich glaube nicht, weil mir noch nicht passiert ist, dass die Person, die an ihrer Haltung arbeitete und korrigiert wurde, im Anschluss die Korrekturen ablehnte. Alle konnten die Stimmigkeit spüren, die entstanden war. Embodiment in der Beratung besteht für mich aus folgenden drei Schritten: Auftrittshaltung finden: Die Frage lautet: Wer möchte ich beim Auftritt sein, was will ich verkörpern? Da sind eine Reihe von Möglichkeiten zu nennen: Profi, Dozent, wache Rednerin, Geschichtenerzähler, Musiker, Ausbilderin, Vertreterin meines Berufsstandes … Es können aber auch fiktionale Figuren in den Blick treten: Johnny Depp sagte einmal, dass er bei der Figur des Captain Jack Sparrow in dem Film »Fluch der Karibik« immer daran dachte, Keith Richards von den Rolling Stones verkörpern zu wollen. Er wollte die coole, leicht zugedröhnte Weise eines Rock ’n’ Rollers zeigen. Es ist gut zu verstehen, dass dieses »bildgebende Verfahren« helfen kann. Unsere Vorstellungen beeinflussen und bahnen unsere Verkörperungen, auch wenn wir nicht Schauspieler sein wollen. Meine für mich stärkste Erfahrung ist der Beginn unserer schulischen Weihnachtsgottesdienste. Da sind mehr als hundert Musikerinnen und Musiker verschiedener Orchester und Chöre. Weiterhin 400 bis 500 teilnehmende Schülerinnen und Schüler, Lehrende, Eltern. Es ist so laut, bevor der Gottesdienst beginnt, dass man die Mikrofone nicht mehr testen kann, weil man sie einfach nicht hört. Wenn es dann losgehen soll, stelle ich mich vor den Altar und lege den Finger an den Mund und warte, bis es ruhig ist, was immer überraschend schnell geht. Ich liebe diesen Schweige-Impuls. Niemals würde Stille entstehen, wenn ich riefe: Bitte leise! Nebenbemerkung: Meine früher manchmal anwesenden Töchter hassten es, wenn ich auf diese Weise für Ruhe sorgte. 152
Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
Power Posing (Albrecht, 2018): Wir verbringen täglich durchschnittlich ca. sechs Stunden im Sitzen. Das schwächt die Muskeln. Eine aufrechte Körperhaltung kann man auch im Sitzen einüben. Dann kann das Sitzen ein diskreter Kraftspender bei der Arbeit sein. Power-Sitzen gibt innere Kraft, kräftigt den Rücken und lässt richtig durchatmen. In einigen Untersuchungen (vgl. Albrecht, 2018, S. 18) wurde nachgewiesen, dass Menschen, die eine »High Power Pose« (aufrechte Haltung: Machtposen) einnahmen, im Unterschied zu den Menschen, die eine »Low Power Pose« (gebeugte Haltung: Unsicherheitsposen) einnahmen, einen höheren Testosteronwert und einen niedrigeren Cortisolwert hatten. Power-Posing-Übungen können wir als »Tankstellen« betrachten, die wir in den Alltag integrieren. Im Folgenden nenne ich ein paar sitzende Haltungen, die Ihnen helfen können, sich wohler zu fühlen. Entspannte Ladeposition: Bequem sitzen auf den Sitzbeinhöckern. Po ist an die Lehne gedrückt. Aufrichten. Dazu muss die Hüfte noch vorn rollen. Die Füße und Beine stehen parallel (nicht übereinanderschlagen und nicht hochlegen!). Die Hände hinter dem Kopf falten und den Kopf in die Hände legen und in eine Streckung im Rumpf kommen. Zwei Minuten gestreckt bleiben, dabei verlangsamt über den Bauch atmen. Aktive Ladeposition: Nach vorn an die Stuhlkante rutschen. Gesäß ganz nach hinten schieben. Arme in V-Position heben. Arme und Ellbogen vor den Ohren platzieren. Kraftvoll den Rumpf strecken. Zwei bis drei Minuten so bleiben. Instant-Notfall-Position im Sitzen: Beim Sitzen sich in angenehmer Streckung leicht nach vorn lehnen. Hände und Unterarme liegen natürlich auf dem Tisch. Die Unterarme stemmen sich unauffällig, aber kraftvoll nach unten auf den Tisch, der Atem fließt natürlich. Schulterblätter kräftig nach unten ziehen und das Brustbein nach oben drücken. Nicht die Augen schließen. Kontakt nach außen behalten. Geradeaus blicken. Diese Haltung kann unbemerkt für eine Minute im Beisein anderer eingenommen werden. Siegespose im Stehen: Dies gehört für mich zu einem täglichen Ritual. Die Arme werden in V-Haltung weit nach oben gestreckt und bleiben kurz vor den Ohren gereckt. Wichtig ist, die Spannung bis in Verkörperungen, die standfest machen: Embodiment
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die Fingerspitzen zu spüren. Ein paar Minuten kann man das auch vor dem Spiegel durchführen. Den Schluss bildet die sogenannte Boris-Becker-Faust oder der Booster, ein unglaublicher Verstärker. Die rechte Faust wird nach unten gerissen, am besten mit dem Ausruf »Yeah!«. Da durchströmt wirklich Kraft den Körper. Ich habe noch niemanden gesehen, der das nicht bestätigt hat. »Power Posing«, »Body Positivity« oder »Body Neutrality« scheinen neue Trends zu sein, gelassener mit sich und seinem Körper umzugehen, es geht bei dieser Art des »Empowerments« gerade nicht um eine Veränderung des eigenen Körperschemas. Kein Bodybuilding, keine Veränderung wird verlangt. Das einzige Ziel sind eine veränderte Selbstwahrnehmung und der Gedanke, dass mit einer akzeptierenden Selbstwahrnehmung ein besseres Körpergefühl einhergeht, das angebliche Makel nicht versteckt, sondern als zum Ganzen der eigenen Erscheinung dazugehörig integriert. Es ist gut, sich ganz lieb zu haben. Und alles Nicht-Perfekte an uns steigert unsere Vollkommenheit. Ein nicht perfekter Körper ist vollkommener, hat mehr zu bieten als ein perfekter. Die Abweichung von der Norm verstärkt unsere optimale Diskrepanz. Übersetzung: Sowohl Entfaltung durch Fülle als auch Lachfalten sind schön. Fürs Mindset: Manche halten es für einen Ausdruck von Bescheidenheit, wenn sie sich beim Vortrag kleinmachen, die Schultern nach vorn ziehen, die Beine verknoten. Das machen wir nicht. Wir wollen kein Fragezeichen darstellen, sondern ein Ausrufezeichen! Wir stehen auf zwei Beinen, die Füße hüftbreit geöffnet. Wir haben den Mut, nichts mit unseren Armen zu tun, sie hängen einfach, nur manchmal unterstreichen die Hände etwas. Der Kopf ist nicht überstreckt nach oben, er hängt nicht nach unten und betont unser Doppelkinn, schon gar nicht schwenkt er fragend zur Seite. Wir brauchen keine Zustimmung der Zuhörenden, schon gar nicht bitten wir um ihre Zustimmung. Hinter jedem Satz, den wir sagen, steht kein Komma, nach dem wir mit der Stimme in die Höhe gehen, sondern ein Punkt.
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Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
Geschichten, die mich neu erfinden: Storytelling Wir haben unsere hemmenden Imperative gelöscht. Wir haben eine gute Verkörperung für unseren Vortrag gefunden. Was fehlt? Der Vortrag. Beim Storytelling, wie es nun eingeführt wird, geht es darum, einmal einen Mustervortrag zu konzipieren, mit dem wir das Vortragen üben können und in dem wir den Mut haben, uns von unserer besten Seite zu zeigen, und sei unser Auditorium auch einzig ein Spiegel, vor dem wir unsere Heldinnengeschichte erzählen. Vor mehr als zwanzig Jahren nahm ich an einer einwöchigen Schreibwerkstatt teil. Hier ein Beispiel für eines meiner kleinen Ergebnisse: »Ich benutze keine Flaschenöffner für Bierflaschen. Ich öffne Bierflaschen mit dem Feuerzeug, einem Löffel oder sonst etwas. Flaschenöffner sind mir verhasst aus der Zeit, als ich sie noch nicht kannte. Ich war drei, als ich die Böschung neben der Siedlung hochstieg. Am Ende eines Trampelpfads schabten ein paar Jungs Rinde von einem dicken Ast, der in Brusthöhe waagrecht aus einem Baum wuchs. Sie schabten mit einem Flaschenlöffner und riefen, komm, leg deinen Kopf hier rein, wir schneiden ihn dir ab.« Wie schon erwähnt, sagen Systemiker gern, es ist nie zu spät, eine gute Kindheit gehabt zu haben. Systemisch gedacht, bedeutet das, dass sich Biografien neu interpretieren und umdeuten lassen. Wir wissen, bestimmte Bewertungen von Zuständen und Vorgängen können zu schlimmen Kainsmalen werden. Früher war das zum Beispiel bei meiner Mutter so. Sie war »berufstätig«, und das kam in den 1970er-Jahren kurz vor Kindeswohlgefährdung. Meine Mutter litt sehr darunter, dass sie sowohl die Doppelbelastung als auch die negative Bewertung zu tragen hatte. Hinzu kam dann später noch das Kainsmal »geschieden«. Für sie war nicht die viele Arbeit und Organisation des Alltags belastend, das war zwar viel, aber sie konnte all das gut managen. Es überraschte uns immer, in welcher beiläufigen Geschwindigkeit sie das Essen auf den Tisch brachte. Und wenn es mal nicht klappte, dann kochten halt meine Schwester und ich selbst. Belastend für sie waren die Zuschreibungen »berufsGeschichten, die mich neu erfinden: Storytelling
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tätige Mutter« und »geschieden«. Die Politik der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bedeutet deshalb für meine Mutter eine nachträgliche Genugtuung. Heute kann sie stolz auf das Geleistete sein. Die Neubewertung hat ihr geholfen. Ihre Biografie erscheint in einem neuen Licht. Ist das nur eine gedankliche Konstruktion? Nein, können wir bei Daniel Kahneman (2012, S. 482 ff.) lernen. In vielen Untersuchungen konnte er zeigen: »So seltsam es auch erscheinen mag, ich bin mein erinnerndes Selbst, und das Selbst, das mein Leben lebt, ist für mich wie ein Fremder« (S. 481). Wie ist das zu verstehen? Kahneman unterscheidet das erlebende Selbst und das erinnernde Selbst. In Experimenten konnte er nachweisen, dass die Intensität eines Schmerzes in der Erinnerung geringer eingeschätzt wurde, wenn der Schmerz gegen Ende (z. B. einer medizinischen Untersuchung) abflaute, als wenn der Schmerz bis zum Ende der Untersuchung anhielt. Das Überraschende war, dass dies auch so eingeschätzt wurde, wenn die zweite Untersuchung viel kürzer war und die Schmerzintensität gleich groß (S. 470). In der ersten Situation war das Erleben schlimmer, aber die Erinnerung besser. Es schlossen sich weitere Untersuchungen zum Vergleich von Wohlbefinden (dem realen Erleben) und Lebenszufriedenheit (dem erinnerten Leben) an. Ergebnis: Die biografische Erinnerung ist entscheidend für das Gefühl von Lebenszufriedenheit, damit werden auch anstrengende Perioden, wie die Arbeit und die Kindererziehung, die früher das Wohlbefinden real beeinträchtigt haben, als wertvoll kontextualisiert. Diese längere Vorrede ist die Brücke zum Storytelling (Pyczak, 2019) in einem dreifachen Sinne. Das Storytelling hebt hervor, dass Geschichten wichtig für unser Erleben und unsere Vorträge sind. 1. Geschichten in Vorträgen werden besser erinnert als Fakten. 2. Mit unseren Geschichten vermitteln wir Selbstachtung. Das Storytelling regt dazu an, sich der eigenen Biografie und deren Geschichten zu stellen und diese als wertvoll (vgl. das zur »Helden- und Heldinnenreise« Gesagte) zu betrachten. 3. Sich mit seiner Geschichte im Vortragstraining einem Publikum zu stellen, hat den größten Lerneffekt. Das Storytelling hat im Vortragsseminar seinen besonderen Stellenwert, wenn nämlich die eigene Geschichte vorgestellt wird und alle Ebe156
Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
nen zusammenkommen: das Geschichtenerzählen, die biografische Verankerung und die Performance dieser persönlichen Geschichte in einem Vortrag. Das Beste kommt zum Schluss: eine gute Erinnerung ans Seminar, in dem jede und jeder einen Auftritt mit der eigenen Story meisterte. Hierfür ist natürlich besonders ein Training in der Gruppe nötig, aber der Vortrag der eigenen Heldinnengeschichte im Angesicht eines Coachs ist auch nicht zu verachten. Der Wert von Geschichten: Geschichten bringen uns etwas, das wir sehen können. Wir erfahren etwas nicht gedanklich, sondern leibhaftig. Szenische Erinnerungen sind immer bildhaft und emotional nachvollziehbar. Wir treten unmittelbar in Kontakt zu dem Erzählten. Erinnerungen vergewissern uns unserer Welt, in der wir leben, weil wir uns unmittelbar in Beziehung zu den Geschichten setzen können. Von der oder dem Erzählenden werden wir aufgefordert, unsere verschiedenen Lebensperspektiven, Erfahrungen und Deutungen zu vergleichen und uns auf das Erzählte einzulassen oder uns davon abzugrenzen. In der hebräischen Bibel, dem Alten Testament, geht es in den meisten Geschichten um die einfachen Tatsachen des Lebens: Partnerwahl (oft am Brunnen vor dem Tor der Stadt, dem Treffpunkt der damaligen Jugend, vgl. die Brautwerbung für Isaak, 1. Mose 24), Hochzeit (Jakob bekommt Lea zur Braut, obwohl er in Rahel verliebt ist, vgl. 1. Mose 29), Nachwuchs (wie heute geht es da oft darum, überhaupt Kinder zu bekommen, siehe Abrahams Frau Sara, die lachen muss, als sie hört, dass sie auf ihre alten Tage noch ein Kind bekommen soll. Bezeichnenderweise bedeutet der Name ihres Sohnes Isaak »Gott hat mir ein Lachen geschenkt!«, vgl. 1. Mose 18 und 21), Wohnstätten und Arbeit (der tödliche Kampf der Brüder Kain und Abel kann als Übergang der Jäger und Sammler (Abel) zu den Hirten und Bauern (Kain) gelesen werden, vgl. 1. Mose 4). Allen diesen zum Teil tragischen Familiengeschichten ist gemeinsam, dass der Segen Gottes die Menschen begleitet. Der rote Faden bzw. der mitlaufende Anfang der Geschichten ist die Nähe oder Ferne Gottes. Wenn man so will, scheinen die Geschichten der kleinen Leute Gott zu interessieren. Die einfachen Tatsachen des Lebens haben in Gottes Perspektive gesehen Sinn. Geschichten, die mich neu erfinden: Storytelling
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Als das Christentum den griechischen Sprachraum betritt, werden die Geschichten weniger und die Begriffe gewinnen an Bedeutung, es wird abstrakter. Mehr und mehr treten Lehrformeln an die Stelle von Geschichten, man will wissen, wie etwas wirklich ist. Je präziser die Formeln werden, desto weniger wird dem Erzählen Raum gegeben. Man kann versuchen, die Wahrheit auf eine Formel (»Logos«) zu bringen oder aber muss die Wahrheit aus einer Geschichte heraus entwickeln (»Mythos«). Beides mag sich bedingen wie Schale und Kern, weshalb manche Geschichte endet: »… und die Moral von der Geschicht …« Ich habe jedoch das Gefühl, dass das Wegschälen der Schale, um an den Kern der Wahrheit zu kommen, manchmal dem Schälen einer Zwiebel ähnelt. Zum Schluss gibt es keinen Kern, aber man hat Tränen in den Augen. Was ist die Wahrheit einer Geschichte, die mich anrührt? Es ist kein Begriff, sondern die Resonanz, die die Geschichte bei mir erzeugt. Es ist, einfach gesagt, die Lebendigkeit, die anrührt, und es sind die Personen, die hinter der Geschichte stehen. Deshalb: »Eine gute Geschichte ist viel mehr als eine Reihe von Fakten. Sie berührt, bewegt, inspiriert. […] Geschichten sind eine entspannte Art zu überzeugen, ohne sich aufzudrängen, Vorschriften zu machen oder seine Meinung einzutrichtern. […] Storys sind Angebote, eine andere Sicht der Wirklichkeit kennenzulernen und dem Erzähler vielleicht zu folgen« (Pyczak, 2019, S. 18 f.). Geschichten lassen sich viel leichter erinnern als Fakten und Formeln, dies hat mit der Entwicklung einer Geschichte zu tun, die immer darauf angelegt ist, verschiedene Ereignisse miteinander zu verbinden. Es wird ein Erzählfaden gesponnen, der eine emotionale Nähe zu den Zuhörenden herstellt, wie es Fakten nicht können. Das Tagesgeschäft hat es oft und meistens mit Zahlen und Daten zu tun, der Abend und die Nacht sind den Geschichten vorbehalten. Der Einfluss des Lagerfeuers auf Kultur und Gesellschaft und das damit verbundene Geschichtenerzählen wurden – wir erwähnten es – in anthropologischen Studien belegt (S. 31 ff.). Dazu passt das immer noch gepflegte Vorlesen von Büchern am Bett der Kinder, was sicher zu den schönsten Erlebnissen der Kindererziehung gehört. Welche Freude macht es, beim Vorlesen in den Geschichten, die man früher gehört hat, nun auch die eigene Kindheit wiederzuentdecken. 158
Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
Vielfach ersetzt der Streamingdienst das Buch, warum nicht? Auch über gesehene Filme kann man reden. Das Lagerfeuer des Lehrerzimmers ist der Kopierer, der zu einem kurzen Plausch einlädt. Den Brunnen in alten Zeiten, die Kneipe in neueren Zeiten hat unter der Coronazeit der Messengerdienst übernommen, leider mit oft sehr seriellen Nachrichten. Der Wert der Biografie: Hier und da wurde schon deutlich, dass ich Probleme mit einer konstruktivistischen Weltsicht habe. Ich mag nicht, dass die Geschichte, die ich von mir erzähle, eine Erfindung sein soll. Aber muss ich so streng sein? Natürlich entwerfe ich ein Bild von mir, nämlich das, welches ich sein will. Das kann man Konstruktion nennen oder Gestalt. Ich bin Ehemann, Vater, Pfarrer, Lehrer, Dozent, Trainer, Freund, Sporttreibender … Beschreibt mich einer dieser Begriffe ganz oder bin ich all das zusammen? Augenzwinkernd kann ich sagen, ich bin unbeschreiblich. Aber genau so ist es. Ich bin unbeschreiblich, hundert wohlgewählte und passende Adjektive können mich nicht treffend und zureichend benennen. Niemand kennt mich wirklich und doch hat jeder ein Gesamtbild von mir. Und auch ich kenne mich nicht vollständig, sondern bin in meinen authentischsten Minuten ein Entwurf meiner selbst. Immer wenn ich in die Öffentlichkeit gehe, gehe ich mir voraus und entwerfe mich auf die Situation hin, die mir begegnet. Ich glaube, dass ich in meinem unmittelbaren Selbstbewusstsein in Beziehung zu Gott stehe, der mich kennt. Aber mein unmittelbares Selbstbewusstsein kann ich nicht betrachten, ich kann nur konstatieren, dass ich hinter mein Gegebensein als Person nicht zurückkann. Ich bin für mich selbst etwas von woandersher Gegebenes. Nun sind aber alle meine Lebensäußerungen das, was ich aus der Gabe, die ich selbst bin, mache. Also sollte ich das Beste aus ihr machen und auch das Beste von ihr zu zeigen suchen. Ich darf mich als ein Kämpfer fühlen, wenn ich meine Sportsachen anziehe, um ins Training zu gehen. Und im Training selbst muss ich das Bild von mir als Kämpfer adaptieren, um eine gute Trainingsleistung zu bringen. Das geht gar nicht ohne ein entsprechendes Bild von mir. Ich bin immer der Entwurf meiner selbst, auch wenn ich im heideggerschen Sprachgebrauch einer bin, der in seine Lebenssituation »geworfen« ist. Als »geworfener EntGeschichten, die mich neu erfinden: Storytelling
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wurf« nehme ich mich und meine Biografie wichtig und versuche ihr eine Richtung zu geben. Wir haben oft davon gesprochen, dass es nicht gut und gesund ist, wenn man sich und andere bewertet. Jedoch gilt für das Storytelling, das die eigene Biografie zum Gegenstand nimmt, das Gegenteil: Wir kommen nicht an einer Bewertung unserer Person vorbei. Wir wollen uns so zeigen, wie wir uns zeigen wollen. Wir geben dem Zeigen unserer Selbst eine Richtung, die uns weiterbringen soll und für die wir unsere Zuhörenden einladen, uns zu folgen. Darin liegt Macht. Ich habe es in der Hand, mich so zu zeigen, wie ich gesehen werden will. Ein Freund von mir, ich nenne ihn hier Eddy, spielt in einer Coverband. Er ist halt so ein typischer Rock ’n’ Roller geblieben, der in die Jahre gekommen ist. Ich liebe seine Auftritte und seine »slow hand«. Eddy spielt Bass und sein Held ist Hellmut Hattler, der in den 1970er-Jahren mit der Band »Kraan« recht bekannt geworden ist. Ich weiß noch, wie Eddy damals davon sprach, sich die Hände abhacken zu wollen, nachdem er Hellmut Hattler das erste Mal in einem Livekonzert gesehen und gehört hatte. Nun hat Eddy in der Band nicht nur den Job, Bass zu spielen, sondern er muss auch die Moderation machen. Beim Bassspielen kann er sich selbst vergessen und voll bei der Sache sein, die Moderation fällt ihm schwer. Er will locker rüberkommen und fühlt sich gleichzeitig von seiner Rolle als Moderator beansprucht. Ich fragte ihn: »Wer willst du sein, wenn du auftrittst?« Seine Antwort: »Ehrlich gesagt, wie Hellmut Hattler.« »Warum bist du nicht Hellmut Hattler?« »Okay?!?« Eddy holt sich seine Biografie, die er im Kontext seiner Lieblingsmusik erinnert, ins Gedächtnis und schreibt seine Heldengeschichte als Musiker auf, dessen Alter Ego Hellmut Hattler heißt. Alles wird da hineingepackt, was ihm lieb und wichtig ist. Auch ein paar Widrigkeiten, vermasselte Auftritte und Eifersüchteleien, die die Band fast hätten zerbrechen lassen, finden ihren Platz in Eddys »Hattler-Story«. Diese Story musste er mir mit den »handelsüblichen« Tools vortragen: Körperhaltung, Stimme, Betonung etc. Dann übten wir seinen Auftritt als Hellmut Hattler nonverbal. Eddy sollte nur virtuell auf die Bühne kommen, mit dem Gedanken »… und jetzt Hellmut Hattler«. Er sollte 160
Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
mir den Auftritt zeigen und wir schauten nach der Stimmigkeit und der Verkörperung seines inneren Bildes. Nachdem ihm das überzeugend gelungen war, musste er seine Band und die ersten Songs vorstellen. Er zeigte eine stimmige, überzeugende Performance. Ein Bild von Hellmut Hattler selbst zu verkörpern, half ihm, künftig seine Auftritte und vor allem die verhasste Moderation besser hinzubekommen. Was hatte sich geändert? Hellmut Hattler zu verkörpern, war nicht mehr sein geheimer Wunsch – an diesen Musiker kommt man ohnehin nicht ran, weil er so unerreichbar gut ist. Eddy hatte Hellmut Hattler mit seiner Biografie gekoppelt. Er hat sich neu erfunden, indem er das annahm, was er ohnehin insgeheim schon immer wollte.
Der Wert des Performens: Bei einem Workshop sagt eine Teilnehmerin, dass sie ihren Vortrag, den sie ausgearbeitet hat, nicht vor der Gruppe präsentieren möchte. Das ist natürlich zu respektieren. Dennoch frage ich: »Wenn Sie heute Abend zu Hause sind, sich hinsetzen, ein Glas Wein trinken und über den Tag nachdenken, wann geht es Ihnen besser: wenn Sie hier Ihren Vortrag gehalten haben oder wenn Sie ihn nicht gehalten haben?« Die Teilnehmerin beantwortet meine Frage nicht, sondern geht nach vorn zum Pult und hält ihren Vortrag. Die Zuhörerinnen und Zuhörer sind begeistert, allen ist klar, dass es ein Verlust gewesen wäre, diesen persönlichen Vortrag nicht gehört zu haben. In einem Reiseführer las ich einmal über den Unterschied von Deutschen und US-Amerikanern. Wir Deutschen wollen zwar gut sein, aber sind zu verschämt, dies auch zeigen zu wollen. Wir fürchten, Fehler zu machen, und noch viel mehr fürchten wir, dass andere uns für Angeber halten könnten. Am schlimmsten ist die Befürchtung, etwas vorzuführen, was wir nicht können. Also als anmaßende Angeber zu gelten, die anderen etwas vorgaukeln wollen, was sie nicht wirklich »draufhaben«. Man möchte insgeheim für sein Können gelobt und bewundert werden, aber niemand darf das wissen. Es soll einfach »authentisch« und leicht, aber perfekt »rüberkommen«. Sehr sympathisch »unser« Zug, aber auch hinderlich für Performances. Es ist ein Teil unserer DNA, erst mit Dingen an die Öffentlichkeit zu treten, wenn sie absolut hieb- und stichfest sind. Geschichten, die mich neu erfinden: Storytelling
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Unsere US-amerikanischen Freunde haben eine andere DNA mitbekommen, deren Leitbegriffe sind »to show« und »to applaud«. Es wird gezeigt und applaudiert, was das Zeug hält. Schon kleine Kinder sind im Vorführmodus und werden permanent bestärkt und bestätigt. Das kann man als gekünstelt und unecht ablehnen, aber es hat für mein Gefühl auch einen gewissen Charme zu zeigen, was man draufhat, auch wenn es mal peinlich wird. Ich erinnere mich da zum Beispiel an einen schlimmen Karaoke-Auftritt von mir in einer Bar in Manhattan. Hätte ich das nicht gemacht, könnte ich jetzt aber auch nicht davon schreiben. Wenn wir den Wert des Storytelling höher veranschlagen als die Angst vor unserer Peinlichkeit, sind wir auf der richtigen Seite. Die Teilnehmerin meines Workshops, die ihre Geschichte vortrug, hat uns allen gezeigt, was sie kann, aber vor allem hat sie sich selbst gezeigt, wer sie sein kann und was in ihr steckt. Sie hat uns wirklich beeindruckt und uns allen mit ihrer Geschichte eine neue unbekannte Seite eines interessanten Menschen präsentiert. Alle waren beeindruckt und alle gaben warmen, herzlichen Applaus. Fürs Mindset: Nehmen Sie sich ernst. Denken Sie sich in eine Ihrer Heldinnengeschichten hinein. Schreiben Sie Ihre Erfolgsgeschichte auf. Nehmen Sie diese ohne Widerspruch an. Verbannen Sie jeden Kritiker des virtuellen Raums Ihrer Gedanken. Meditieren Sie Ihre Heldinnengeschichte. Verkörpern Sie sie vor dem Spiegel. Performen Sie sie vor anderen. Genießen Sie den Applaus. Sie haben ihn verdient.
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Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben
Teil drei: Und jetzt Sie – Anregungen zum Selbstcoaching
Im Folgenden möchte ich Sie auf eine kleine Übungsreise mitnehmen. Die Übungen wurden in Coaching-Seminaren erprobt. Sie sind hilfreich! Worauf warten? Ja, es gilt, Widerstände zu überwinden. Denn unsere Erfahrung mit guten Vorsätzen lehrt: Ein Selbstcoaching ist ungefähr so schwierig, wie das tägliche Trainingsritual durchzuhalten oder eine Meditationseinheit in den Alltag einzubauen. Viel leichter fällt es uns, beim Frühstück die Zeitung zu lesen oder um 20:00 Uhr die Tagesschau zu gucken. Personal Trainer haben Konjunktur, weil sie den Takt vorgeben, dem wir nur noch folgen müssen. Aber Sie machen das anders! Sie steuern sich selbst und fangen einfach an. Lesend und übend coachen Sie sich selbst, hin und wieder trainieren Sie einzelne Elemente auch mit einem lieben Menschen Ihrer Umgebung, dann haben schon zwei Personen etwas von Ihrem Auftrittscoaching. Es lässt sich nicht ändern. Die Pflicht kommt vor der Kür. Das Training einer kritischen Verbesserung Ihrer Selbstwahrnehmung und der körperlichen Verankerung Ihrer Fortschritte ist Voraussetzung, dass auch Sie die Bühne erobern! Jetzt müssen Sie sich nur noch Ihr persönliches Coachingheft für Ihre Notizen besorgen, damit es losgehen kann.
Wer möchte ich im Vortrag sein? Bei einem Vortrag nehmen angeblich unsere Zuhörerinnen und Zuhörer zu 55 Prozent die nonverbale Botschaft (unsere sichtbare körperliche Präsenz, Haltung, Kleidung etc.) wahr, sie achten zu 38 Prozent auf Stimme und Tonfall und können anschließend 7 ProWer möchte ich im Vortrag sein?
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zent des Inhalts erinnern (Pyczak, 2019, S. 76 ff.). Der Faktor 22 hält fest, dass wir 22-mal besser Geschichten als Fakten erinnern. Daten stellen die Substanz von Geschichten dar. Die Beispiele und Übungen sollen helfen, dass wir lernen, über uns in kleinen Geschichten und Anekdoten zu sprechen. Nutzen wir Faktor 22 für unsere Public Relations und für interessante Gesprächsanlässe, die auch Partys spannender machen. Überlegen Sie sich, wie Sie sich einer unbekannten Gruppe vorstellen würden, wenn Sie 1. eine Sache, 2. ein Tier, 3. eine Filmfigur und 4. einen Archetyp repräsentieren. Die Kunst wird sein, diese Form der Selbstbeschreibung angepasst an die jeweiligen Anlässe zu artikulieren. Es wäre sonderbar zu sagen: »Übrigens, ich sehe mich als einen Biber!« Wenn ich jedoch bei einem Vorstellungsgespräch sage: »Für die Aufgaben, die ich bei Ihnen gern erfolgreich umsetzen möchte, habe ich einen Biber vor Augen. Ein Biber ist ein hervorragender Architekt, er nutzt die Möglichkeiten seiner Umwelt, und wenn etwas nicht passt, dann hat er einen ausgezeichneten Biss. Ihm gelingt es, Dinge zu verändern, auch wenn es schwierig ist.« Ich spiele diese vier Möglichkeiten, Faktor 22 zu nutzen, für mich selbst durch: Die Sache: Ich habe mir vier T-Shirts bedrucken lassen, die folgende Motive zeigen: ein weißes mit »Kuschelweich«-Weichspülerwerbung; ein gelbes mit »Entkalker«-Werbung; ein orangefarbenes mit »Klarspüler«Werbung und ein rotes mit »Rohrreiniger«-Werbung. Meine Story: Ein Kollege meinte mal, ich sei ein Weichspüler im Kollegium, weil ich versuche, Konflikte, je nachdem wie man es sieht, aufzulösen oder zu umgehen. Zunächst habe ich diesem Urteil zustimmen können, inzwischen bin ich aber lieber ein Entkalker oder Klarspüler, der seine Position deutlich verkörpert. Manchmal bin ich auch ein Rohrreiniger, wenn ich hin und wieder Themen provozierend und direkt anspreche. Die Farbenzuordnung kommt aus dem Kampfsport: Weiß steht für das sichere Zuhause, bei dem man die Außenwahrnehmung nicht braucht. Gelb steht für die Bewegung auf der Straße, die immer aufmerksam sein sollte. Orange bedeutet, dass eine bedrohliche Lage eintritt, etwa: Es streiten Leute. Jemand schreit. Eine Gruppe von 164
Teil drei: Und jetzt Sie – Anregungen zum Selbstcoaching
Menschen läuft einem grölend entgegen. Das heißt, dass ich versuche, eine protektive Haltung einzunehmen und zum Beispiel wegzugehen oder zu schauen, ob jemand Hilfebedürftiges Unterstützung braucht. Bei Rot befinden wir uns in einem Konflikt, wir müssen flüchten oder uns und unsere Lieben verteidigen. Mit T-Shirt, Werbung, Farben und Selbstverteidigung kann ich etwas von mir erzählen, ich könnte sogar die T-Shirts zu einem Vortrag mitbringen, um meine Haltung zu verdeutlichen und mit Inhalten zu koppeln. Besitzen Sie einen Gegenstand, der etwas über Sie aussagt, mit dem Sie beiläufig eine kleine Geschichte verbinden können? Zum Beispiel: »Sie wundern sich vielleicht über diesen billigen PETARecyclingkuli, den ich immer benutze. Den hat mir meine Tochter, eine überzeugte Veganerin, geschenkt. Er soll mich daran erinnern, ab und zu auf Fleisch in der Mittagspause zu verzichten.« Das Tier: Am liebsten wäre ich im beruflichen Kontext ein Border Collie, der versucht, die Herde zusammenzuhalten. Ich verstehe mich weniger als Hirte denn als Helfer des Hirten. Das entspricht der Haltung eines Netzwerkers. Immer möchte ich Verbindungen herstellen und andere miteinander verbinden. Deshalb beantworte ich auch immer sofort E-Mails und WhatsApp-Nachrichten, manchmal etwas anstrengend, aber Teil meines Wesens. Welches Tier könnte Ihnen helfen, einem Vortrag eine andere Note zu verleihen? Es muss ja nicht gleich der Trigema-Affe sein. Oder vielleicht doch? Es ist schön anzuschauen, wenn sich jemand bei einer Präsentation genüsslich eine Banane schält! Oder stellen Sie sich vor, im aufrechten gemächlichen Gang einer Giraffe ans Redepult zu treten. Die Filmfigur: Ich wäre gern wie Brad Pitt in der Rolle von Cliff Booth im Film »Once Upon a Time in Hollywood«, der der Stuntman und einfach ein guter Freund des zweitklassigen Schauspielers Rick Dalton (Leonardo DiCaprio) ist. Er schiebt für ihn im Flughafen den Kofferwagen, aber dies in bester Laune, er fühlt sich dabei überhaupt nicht ausgenutzt, sondern ist einfach glücklich in der Nähe seines Freundes. Wer möchte ich im Vortrag sein?
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Er geht auf in der Rolle eines uneigennützigen Freundes und verlangt dafür weder Dank noch Anerkennung. Ich liebe diese Figur. Welche Filmfigur verkörpert Ihren Auftritt am besten? Es muss ja nicht gleich Petra Gerster sein, die charmant, professionell und mit einer tollen körperlichen Haltung ihre Nachrichten vorstellt. Oder vielleicht doch? Man kann sich einiges von ihr abgucken, die Spiegelneuronen tun ihr Übriges, wenn wir uns nicht verstellen, sondern auch in der Vorstellung einer Petra Gerster wir selbst bleiben. Der Archetyp: Wichtige Archetypen nach C. G. Jung sind (Pyczak, 2019, S. 131): Der Unschuldige. Der Weise. Der Entdecker. Der Rebell. Der Zauberer. Der Held. Der Liebende. Der Narr. Der Jedermann. Der Betreuer. Der Herrscher. Der Schöpfer. Zu Recht kann man sich darüber beschweren, dass alle Typen männlich sind. Aber wir haben von Frau Adams Heldinnengeschichte gelernt: Es geht alles auch anders. Ich finde mich spontan bei dem Typus des »Helden« wieder. Als Held sehe ich in mir den tragischen Helden Siegfried, der sehr mutig, aber auch naiv seinen Weg geht und scheitert. Davon habe ich mich jedoch nie unterkriegen lassen, eher erzeugt eine gescheiterte Bewerbung bei mir Energie, um besser zu werden. Für mich eine gute Sache. Welcher Archetypus steht Ihnen vor Augen, um besser voranzukommen? Findet sich in einer der Figuren etwas für Sie Typisches? Oder fragen Sie sich: Welcher Archetyp steht mir im Weg, wenn ich vorankommen möchte? Hat dieser Typ eine gute geheime Botschaft? Eine stille Ressource, der Sie vertrauen können? Haben Sie Angst, sich zum Narren zu machen, wenn Sie einen motivierenden Vortrag halten sollen? Nutzen Sie die spielerische Freude des Narren, unangenehme Dinge sogar dem König sagen zu dürfen!
Wer möchten Sie beim Vortrag sein? Ich höre Sie sagen: »Ich selbst!« Aber leider waren es oft zuvor andere Menschen und deren Erwartungen an Sie, die Ihr Selbstbild prägten und prägen. Um »Sie selbst« beim Vortrag zu sein, müssen Sie das, was Ihnen Stress macht, betrachten.
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Teil drei: Und jetzt Sie – Anregungen zum Selbstcoaching
Wie nehme ich Stress beim Vortrag wahr? Wahrscheinlich kennen Sie Ihre Vortragsängste. Doch schauen wir sie trotzdem etwas genauer an, um Angst, körperlicher Reaktion und unserer jeweiligen Vermeidungsstrategie auf die Spur zu kommen. Lesen Sie einmal vor dem Spiegel folgenden Text aus Shakespeares »Hamlet« (um 1603; Shakespeare, 1994) und stellen Sie sich ein kritisches Publikum vor, bringen Sie sich also ruhig ein wenig in eine Stimmung, die Ihnen Druck macht. Vielleicht ist ja virtuell auch ein Fernsehteam bei Ihnen vor Ort, um Ihren Vortrag aufzuzeichnen! Shakespeare, Hamlet, 1. Akt, 3. Szene Polonius zu Laertes, »Ein Tugendspiegel« »Und diese Regeln präg’ in dein Gedächtnis: Gib den Gedanken, die du hegst, nicht Zunge, Noch einem ungebührlichen die Tat! Leutselig sei, doch keineswegs gemein! Den Freund, der dein, und dessen Wahl erprobt, Mit ehr’nen Haken klammr’ ihn an dein Herz! Doch härte deine Hand nicht durch Begrüßung Von jedem neugeheckten Bruder! Hüte dich, In Händel zu geraten; bist du drin: Führ’ sie, dass sich dein Feind vor dir mag hüten! Dein Ohr leih jedem, wen’gen deine Stimme; Nimm Rat von allen, aber spar’ dein Urteil! Die Kleidung kostbar, wie’s dein Beutel kann, Doch nicht ins Grillenhafte; reich, nicht bunt: Denn es verkündigt oft die Tracht den Mann, Und die vom ersten Rang und Stand in Frankreich Sind darin ausgesucht und edler Sitte. Kein Borger sei und auch Verleiher nicht: Sich und den Freund verliert das Darlehen oft, Und Borgen stumpft der Wirtschaft Spitze ab. Dies über alles: Sei dir selber treu, Wie nehme ich Stress beim Vortrag wahr?
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Und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage, Du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen. Leb wohl! Mein Segen fördre dies an dir!« Wie haben Sie sich beim Vortrag wahrgenommen? Wie standen Sie? Wie sprachen Sie? Was spürten Sie? Traf Sie eine reale oder erinnerte Angst? Kreuzen Sie die für Sie wichtigste Vortragsangst an8: – ausgelacht werden – nicht verstanden werden – andere denken schlecht über mich – keine Antworten auf Rückfragen haben – Text vergessen – andere denken, ich kann es nicht – Vorgesetzte etc. (mich selbst) enttäuschen – Erwartungen nicht erfüllen – Blamage – Aussetzer – Angst, vor (unbekannten) Leuten zu stehen – Selbstzweifel – schlechte Vorbereitung – Vortrag und Folien asynchron – Angst, schlecht bewertet zu werden – Angst, zu versagen Welche körperlichen Reaktionen konnten Sie feststellen? Welches war die unangenehmste? – zittern – stottern, verhaspeln – rot werden – schwitzen – Schwindel, Magenschmerzen, Harndrang … – unsichere Haltung – sich kleinmachen – nervöse Hände 8 Die folgenden Übungen finden Sie auch im Downloadbereich unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/Buehne_frei.
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Teil drei: Und jetzt Sie – Anregungen zum Selbstcoaching
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es schnell hinter sich bringen, Hektik trockener Mund Übersprungshandlungen weinen vor Lampenfieber, nervöses Lachen
Analysieren Sie Ihre bisherigen Konfliktumgehungsstrategien! Welche davon ist Ihre bevorzugte Herangehensweise? – ignorieren – verdrängen – herunterspielen – dramatisieren – sich selbst täuschen – versuchen, sich selbst Mut zu machen – versuchen, sich selbst zu beruhigen
Diese Strategien werden als Vermeidungsziele identifiziert. Sie stellen Versuche dar, Konflikte zu umgehen. Nehmen wir an, Sie haben Angst, dass andere schlecht über Sie denken. Sie fürchten sich, rot zu werden, und versuchen dies immer wieder herunterzuspielen. Der erste Introvisionsschritt wäre zu sagen: Ja, manchmal denken Menschen schlecht über mich. Ja, ich werde rot. Und ja, ich versuche vergeblich, dies herunterzuspielen. Introvisionssätze wären dann: »Es kann sein, dass andere schlecht über mich denken!« »Es kann sein, dass ich rot werde!« »Ich lasse es an mich heran. Das schaue ich mir an!« Betrachten Sie nun die schon öfter erwähnten Stressauslöser und versuchen Sie, ausgehend von einer imperativischen Vorstellung (»Ich darf nicht rot werden!«) den zentralen Imperativ zu identifizieren (»Andere dürfen nicht schlecht über mich denken!«), um schließlich zum Kernimperativ zu gelangen! Mögliche Kernimperative können innere Antreiber (Dehner u. Dehner, 2013, S. 173 ff.) sein. Lesen Sie die folgenden Imperative/Antreiber durch! Bei welchem Imperativ sagen Sie: »Das ist schlimm!«? Dies scheint Ihr Kern imperativ zu sein. – Sei perfekt! – Mach es anderen recht! Wie nehme ich Stress beim Vortrag wahr?
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– Sei stark! – Streng dich an! – Zeig dich nicht!
Notieren Sie Ideen zur Herkunft dieses Kernimperativs!
Der Kernimperativ stellt ein Vermeidungsziel dar. Können Sie stattdessen ein Annäherungsziel formulieren? Zum Beispiel wird aus dem Vermeidungsziel: »Ich darf keinen Fehler machen! Ich muss perfekt sein!« das Annäherungsziel: »Ich will zeigen, was ich kann, auch wenn ich Fehler mache! Ich bin nicht perfekt, das ist gut!« Denken Sie an die Metapher »Käse«: Wir sind es gewohnt, auf die Löcher im Käse zu schauen, nämlich auf die Fehler und deren Vermeidung. Wir sollten aber lieber auf den Käse schauen, nämlich auf passende Lösungen und unsere Ressourcen! Welche Form der Scham begleitet Ihren Imperativ? – Schamangst: die Angst vor Bloßstellung: Die anderen merken, dass ich nicht gut bin! – Schamaffekt: die folgenden spürbaren Emotionen, die einer Demütigung gleichkommen: Sie sehen, dass ich rot werde! – Schamhaftigkeit: der Versuch, bloßstellende Situationen und deren spürbare Emotionen zu vermeiden: Ich kann das einfach nicht, ich bin nicht gut genug!
Wahrscheinlich vermuten wir, dass die Schamaffekte am schwersten zu verhindern sind, da sie unwillkürlich über uns kommen und eintreten, ohne verhindert werden zu können. »Ich werde halt rot!« Jeder Gedanke, der dies verhindern will, macht es umso schlimmer. Ein wichtiger erster Schritt kann sein, es zuzulassen: »Ich werde rot, ich scheine aufgeregt zu sein.« Auch das kann mit neutraler Aufmerksamkeit geschehen und so abgemildert werden. Das Verbot der Reaktion wirkt verstärkend.
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Teil drei: Und jetzt Sie – Anregungen zum Selbstcoaching
Welche Impulse haben Sie, wenn unter Stress Ihr Reptiliengehirn9 spricht? 1. Impuls: Flucht – wegrennen wie vor einem Säbelzahntiger. Die Energie bekommen wir vom Adrenalin. Der Antreiber heißt Angst! Es geht ums Überleben! Als Folge wollen wir solche Situationen vermeiden. 2. Impuls: Tot stellen – ich bin nicht mehr da! Ich halte mir wie ein Kindergartenkind die Augen zu! Ich bin enttäuscht, traurig, verbittert. Ich glaube, ich werde depressiv. Ich »hole mir« einen Burn-out. 3. Impuls: Kampf – ich hau alles kurz und klein, wenn es so weitergeht. Der Nächste, der mir zwischen die Finger kommt, kriegt was ab. Ich bin rasend vor Wut. Das Resultat: Wir reagieren aggressiv, um eine Belastung abzuwehren und fernzuhalten.
Wir wissen: All diese Verhaltensweisen dien(t)en dem Überleben: nämlich schnelle Reaktion, ohne lange überlegen zu müssen! Dieses Reagieren ist gut, weil es schnell geschieht, aber gefährlich, weil es auch notwendigerweise falsches Verhalten ignoriert und oft fehlerhaft ist. Hinzu kommt, dass Stresshormone neurotoxisch wirken und krank machen. Demgegenüber ist nachgewiesen, dass Achtsamkeitsübungen neurotroph, also nervenschonend sind.10 Wie kommen Sie nun da raus? Wie können Sie Ihren Alarm ausschalten?
Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen bewertenden Gedanken und Stress: Wir bewerten die Situation, die Umstände: Heute ist mal wieder ein grässlicher Tag, alles kommt wie so oft auf einmal. Hektik pur. Ich hasse es, wenn ich nicht in Ruhe meine Arbeit machen kann.
9 Eine Metapher für Gehirnareale, die wichtig für die Bewegungssteuerung sind (Hütter u. Lang, 2017, S. 30). 10 Adelheid Krohn-Grimberghe in einem Workshop beim 38. Fachkongress der DGTA, Wien 2018. Wie nehme ich Stress beim Vortrag wahr?
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Wir bewerten die anderen, die Kinder, die Kunden: Die meckern bestimmt gleich wieder los, weil sie warten müssen. Die halten sich wohl für ganz besonders wichtig. Am liebsten würde ich die rausschmeißen, aber es sind halt nun mal Kunden. Wir bewerten uns: Wie soll ich das alles nur schaffen? Jetzt war ich schon wieder unfreundlich und kurz angebunden. Ich müsste alles besser organisieren. Wenn ich mich jetzt nicht beeile, komme ich noch mehr unter Druck. Für eine wirklich nachhaltige Veränderung ist es wichtig, aus den Bewertungen, die uns selbst treffen, herauszukommen. Das erfolgreiche Mittel der Wahl ist es zu lernen, die Situation ohne Bewertung anschauen zu können. Das lernen wir durch ein mentales Training. Wir können uns präventiv gegen Stress wappnen und wir können mentale Härte und Stärke entwickeln. Das funktioniert aber nicht durch Zauberkünste, sondern nur durch Eigenleistung: Training, Meditation, Introvision. Ziel sollte es zunächst sein, zwischen Reiz und Reaktion Zeit zu bringen. Je mehr Zeit zwischen einem kritischen, belastenden Impuls und einer Reaktion vergeht, desto eher kann sich das rationale Denken einschalten. Das rationale »langsame« Denken hat schwache bis keine emotionale, körperliche Auswirkung. Impuls und Ausführung werden entkoppelt. So können wir das Reiz-Reaktions-Schema abschalten und eine Unterbrechung des Musters durch Wahrnehmung ermöglichen.
Wie lösche ich behindernde Imperative? Noch einmal: Worum geht es? Es geht darum, innere, angstmachende Imperative zu löschen! Die Imperative lauten: »Etwas muss so oder so geschehen!« Oder: »Etwas darf auf keinen Fall so oder so geschehen!« Für das Gehirn sind solche Imperative wichtig, weil sie Entscheidungen verkürzen und wir lernen, schnell auf bestimmte Situationen zu reagieren. Das Problem ist, dass wir manchmal etwas nicht Hilfreiches gelernt haben. Für wen es früher einmal, zum Beispiel in der Herkunftsfamilie, wichtig war, den inneren Imperativ zu installieren: »Ich muss mich anpassen!«, für den wird es heute schwer, wenn die Arbeit fordert: »Du musst dich durchset172
Teil drei: Und jetzt Sie – Anregungen zum Selbstcoaching
zen!« oder: »Du musst aus der Reihe tanzen!« Je stärker Imperative verankert sind, desto schwerer fällt es, sich von diesen Verboten zu trennen. In jeder Situation, die Durchsetzung verlangt, erfolgt ein Warnsignal, das sagt: »Das darf nicht geschehen, du musst dich anpassen!« Diese Alarmmechanismen haben ihren Sitz in unserem Gehirn und sorgen dafür, dass unsere Überlebensmechanismen funktionieren. Daher die äußerst schnelle Reaktionsfähigkeit. Wir können so zusammenfassen: Der Imperativ besteht in einer Situationsdeutung: »Du musst jetzt die Ruhe bewahren!« Der dazugehörige Alarm (im limbischen System unseres Gehirns, das älter ist als unser Bewusstsein) löst das Gegenteil aus: »Ich bin aber fuchsteufelswild!« Dies ruft erhöhten Blutdruck hervor, der Puls steigt etc. Und gerade der Widerspruch zwischen dem Imperativ »Du darfst nicht, sollst nicht!« und »Es passiert aber trotzdem!« macht alles noch schlimmer! Und was noch mal schlimmer ist: Schon der Gedanke an die Situation reicht aus, um die körperlichen Reaktionen folgen zu lassen. Wenn also der Imperativ mitsamt dem Alarm nicht gelöscht wird, werden wir immer auf die gleiche Art reagieren. Die Lösung besteht darin, zu lernen, den Alarm ins Leere laufen zu lassen. Das geschieht dadurch, ihn bewusst wahrzunehmen, ohne ihn zu bewerten. Das Einzige, das hilft, ist, den Alarm gänzlich zu integrieren und sich seiner anzunehmen. Nur dieses Annehmen kann Frieden, Ruhe und Gelassenheit geben. Das Paradoxe an Introvision ist, dass wir eine Veränderung erreichen gerade dadurch, dass wir nichts (mehr) verändern wollen. Wir lernen, die Situation teilnehmend (»assoziativ«) zu betrachten und gleichzeitig vom eigentlichen Geschehen getrennt (»dissoziativ«) zu bleiben. Wir schauen wie durch ein Fenster auf eine befahrene Kreuzung und betrachten den Straßenverkehr. Dies geschieht in der Haltung: Was ist, darf sein, was sein darf, verändert sich. Nehmen Sie den Fragebogen (S. 28 ff. sowie auch im Download bereich unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/Buehne_ frei), den Frau Adam ausgefüllt hat, und bearbeiten Sie ihn! NotieWie lösche ich behindernde Imperative?
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ren Sie Ihren Alarm: »Es kann sein, dass … (genau das, was nicht passieren soll und darf, passiert)!« Betrachten Sie Ihren Alarm! Lassen Sie sich die Meditation (S. 77 ff. und auch als Audio-Meditation im Downloadbereich unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/Buehne_frei) vorlesen und notieren Sie anschließend Ihre Bilder und Gedanken! Können Sie bestimmte Muster bzw. Lösungsblockaden identifizieren? Die wichtigste Übung besteht darin, sich mehrmals dem Alarm auszusetzen und ihn immer mal wieder mit weitem Fokus anzuschauen. Das kann in einer Meditation geschehen, aber auch ganz einfach, wenn Sie für eine Minute aus dem Fenster schauen, den Blick weit stellen und sich den Alarm aufsagen: »Es kann sein, dass das und das passiert!« Und wie schon gesagt, sehen Sie sich den Alarm im Kontext Ihrer Wahrnehmung an: Was spüre ich? Was fühle ich? Was denke ich? Was denken andere? Welches Denken habe ich von anderen? Was glaube ich tief in meinem Inneren? Der Alarm ist kein Mantra!
Was trage ich dazu bei, mich selbst zu blockieren? Mögliche Lösungsblockaden, zu denen wir selbst beitragen, könnten sein: Ȥ Wir machen uns Selbstvorwürfe, die unser Selbstwertgefühl stören. Ȥ Wir machen Fremdvorwürfe, bei denen wir anderen, wie den Eltern, die Schuld an unseren Blockaden geben. Ȥ Wir erwarten von anderen Lösungen für unsere Misere und stellen uns hilflos an. Ȥ Wir machen uns emotional wieder zu einem Kind, das vieles noch nicht kann. Ȥ Wir wollen nicht besser sein als unsere Eltern, die nicht so erfolgreich wie wir waren. Ziel ist es festzustellen, dass wir etwas unbewusst dazu betragen, uns und unsere Fähigkeiten zu hemmen. Wenn uns dieser Mechanismus bewusst wird, können wir auch bewusst etwas ändern – indem wir 174
Teil drei: Und jetzt Sie – Anregungen zum Selbstcoaching
uns sagen, dass diese Reaktionen einmal, nämlich früher, eine wichtige Funktion hatten, wir diese Blockaden nun jedoch nicht mehr brauchen. Wir können Worte einüben, die hilfreich sind, Lösungsblockaden zu überwinden. Laden Sie Ihre Lösungsblockaden einmal aus, z. B. so: »Früher wollte oder konnte ich nicht anders, jetzt verzeihe ich mir (bzw. dir, euch …) und achte mich, so wie ich bin, egal, was andere sagen. Ich nehme heute nur noch Verantwortung für den Anteil, für den ich verantwortlich bin.«11
Wie positioniere ich mich neu? Alles, was schon gesagt wurde zu Power Posing, Stare Down und Stopp-Signalen kann allein, am besten jedoch in Partnerübungen trainiert werden. Dabei hängt alles daran, dass sich das Gegenüber erst zufriedengibt, wenn es überzeugt ist. So lange sollte geübt werden. Die Wahrnehmung und die Rückmeldungen des Gegenübers sollen in erster Linie der Selbstwahrnehmung dienen. Sie stellen keine Kritik an körperlichen Eigenheiten dar, sondern unterstützen einzig und allein darin, eine Stimmigkeit für sich selbst zu finden. Zentrales Anliegen ist die Wandlung vom Fragezeichen zum Ausrufezeichen. Den Vollzug kann jede und jeder fühlen. Stellen Sie sich vor die andere Person und sagen Sie sich in Gedanken: »Ich bin ich. Ich nehme mir Raum. Ich halte stand.« Lassen Sie den Partner oder die Partnerin überprüfen, ob Ihr Auftritt überzeugt hat und was zu verändern ist.
Wollen Sie einmal mit einer Person Ihres Vertrauens die DoubleMethode versuchen? Bei dieser Übung verkörpert ein Partner eine bestimmte Stimmung bzw. Haltung, die der andere nachahmt und über diese »Nachahmung« versucht zu verstehen, das heißt, das 11 Den Hinweis auf die Lösungsblockaden verdanke ich Iris und Ralf-Rüdiger Fassbender beim DGTA-Fachkongress in Wien, Mai 2018. Wie positioniere ich mich neu?
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Wahrgenommene versucht zu erraten und zu verbalisieren. Dies kann weitergeführt werden im Doublen der Art zu sprechen, des Tonfalls, des Gesichtsausdrucks und des Lachens. Eine Variante ist es, vor dem Doublen die Plätze zu tauschen, damit klar wird, wer wann die Position der anderen Person und ihre Empfindung nachahmt. Wie fühlt es sich auf dem Platz der anderen an? Wir lernen in der »Nachahmung« uns und unsere Partnerin auch ohne verbalen Austausch gut kennen. Übungsbeispiel: Person A denkt sich folgende Situation: »Schatz, kannst du eben mal die Wäsche aufhängen?« Nun sagt Person A, nachdem sie sich die Situation vorgestellt hat und eigentlich nicht gern die Wäsche aufhängen will, laut: »Ja, Liebling!« Person B wiederholt dieses »Ja, Liebling!« möglichst ähnlich. Anschließend rät Person B, was vorausgegangen ist bzw. worauf mit »Ja, Liebling!« reagiert wurde: »Kannst du die Geschirrspülmaschine leer räumen, Schatz?«
Die folgende, sehr persönliche Übung mit einer zweiten Person kann ebenfalls helfen, Hürden abzubauen, die uns heute manchmal noch daran hindern, »die Bühne zu rocken«. Schreiben Sie den eigenen Namen, dann den Namen der Partnerin oder des Partners ganz langsam, möglichst in Zeitlupe. Sprechen Sie mit Ihrer Partnerin bzw. Ihrem Partner über die dabei entstandenen Gefühle.
Eine Partnerübung zum Umgang mit unguten Gefühlen bzw. unangenehmen Selbstwahrnehmungen nenne ich »Stehen zu zweit!«. Sie können ein Gefühl nehmen, das Sie bei Auftritten verfolgt. Sie können aber auch die obigen Listen der Ängste und körperlichen Reaktionen nutzen wie zum Beispiel Angst vor Stottern, Schweißausbruch etc. Die Übung erfolgt in zwei mal drei Schritten und geht so:
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Teil drei: Und jetzt Sie – Anregungen zum Selbstcoaching
1. Nennen Sie ein Gefühl. Ihre Partnerin/Ihr Partner stellt sich hinter Sie: »Ich stelle mich hinter dich und dein Gefühl. Ich bin dein Hilfs-Ich, damit du dein Gefühl besser wahrnehmen kannst.« Es folgt ein kurzer Austausch. 2. Dann stellt Ihre Partnerin/Ihr Partner sich Ihnen gegenüber: »Ich stelle mich dir und deinem Gefühl gegenüber. Ich bin der Spiegel deines Gefühls. Du bist du. Ich bin ich. Ich konfrontiere dich mit deinem Gefühl. Wir klären dein Gefühl.« Kurzer Austausch. 3. Schließlich stellt sich Ihre Partnerin/Ihr Partner neben Sie: »Ich stelle mich neben dich und dein Gefühl. Wir betrachten es gemeinsam und üben uns in der Außenbetrachtung. Wir werden zu Beobachtenden, distanzieren uns und schauen drauf.« Kurzer Austausch. Dann erfolgt ein Wechsel der Rollen. Man kann die Übung bei einem vertrauensvollen Miteinander auch noch einmal ohne Austausch durchspielen. Dies geschieht so, dass die erste Person, indem sie das Gefühl noch einmal benennt, sich leicht zu jeweils einer Seite fallen lässt, während die unterstützende zweite Person noch einmal die Sätze wiederholt und die erste Person dabei vorsichtig auffängt.
Wie gesagt, können Sie alles, was schon zum Power Posing und Stare Down gesagt wurde, nutzen und üben, um sich neu zu positionieren. Dies können Sie allein vor einem Spiegel oder mit einer Partnerin oder einem Partner tun. Nehmen Sie sich wahr! Nehmen Sie Ihr Spiegelbild an! Machen Sie Erfahrungen im Power Posing! Entwickeln Sie Ihr Mantra, das Ihr realistisches Selbstbild und ein gutes Bild von Ihnen vereint! Lassen Sie sich und Ihre Haltung von einer Freundin oder einem Freund korrigieren! Üben Sie, mit ihr oder ihm Face to Face zu stehen und ein Stare Down auszuhalten! Oder stellen Sie sich vor, Ihr Spiegelbild ist Ihr Gegner: Halten Sie sich aus, halten Sie stand, schauen Sie ernst, grinsen Sie nicht! Und vergessen Sie den Booster zum Schluss nicht: Ja!!
Wie positioniere ich mich neu?
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Wie lasse ich Kritik an meinem Auftritt ins Leere laufen? Wir neigen dazu, uns bei Kritik an unserem Vortragsstil oder -inhalt schnell zu entschuldigen. Man kann dann Aussagen zu hören bekommen wie die folgenden: Ȥ Ich habe mir doch Mühe gegeben. Ȥ Könnten Sie vielleicht weniger kritisch sein? Ȥ Das ist jetzt irgendwie belastend für mich. Ȥ Ich hatte noch so viel für XY zu tun. Ȥ Im Moment habe ich eine schwierige Phase. Ȥ Können Sie mir genau sagen, was »Mist« war (das heißt, implizit wird das Wort »Mist« akzeptiert)? Ȥ Das haben Sie ein bisschen hart formuliert. Ȥ Das war nicht so nett. Alle diese Äußerungen haben mir Schülerinnen und Schüler in einem Workshop mitgeteilt, nachdem ich sie fragte, wie sie mit Kritik von Lehrerinnen und Lehrern in Bezug auf Referate umgehen. Ich empfehle, keine dieser Aussagen zu übernehmen und zu gebrauchen. Es sind No-Gos, weil wir pauschale Kritik annehmen und uns kleinmachen. Wenn wir es wirklich mit einem hilfreichen Feedback auf unseren Auftritt zu tun haben, merken wir das sofort und können das daran ablesen, wie konkret der Hinweis war. Unser Kriterium sollte sein: Kann ich das Feedback annehmen, ist es konkret und hilfreich? Wenn ich mich verletzt fühle, scheint etwas im Spiel zu sein, was nicht mit dem Vortrag an sich zu tun hat. Dann habe entweder ich ein Problem, über das ich nachdenken sollte, oder es handelt sich um Konkurrenz, Abwertung oder bewusste Verletzung. Fühle ich mich in irgendeiner Weise kleingemacht oder wie ein Kind behandelt, sollte sofort ein Stopp im Inneren auftauchen und dies sollte möglichst mit einer körperlichen Haltung gekoppelt werden. Ich halte es nicht für richtig, zu fragen, was genau man falsch gemacht hat. Wenn das nicht in der ersten Äußerung klar wurde, dann tut es nicht gut, dem oder der anderen die Möglichkeit zu geben, weitere Vorwürfe ins Spiel zu bringen. Denn schnell entsteht ein Spiel aus angeblichem Feedback und hilfloser Selbstverteidigung. Skeptisch sollten wir sein, wenn gesagt wird: »Das hast 178
Teil drei: Und jetzt Sie – Anregungen zum Selbstcoaching
du gut gemacht, aber …« Wenn solch ein »Aber« kommt, handelt es sich immer um ein Spiel, das das Gegenüber mit uns spielen will. Wir sollen in eine Verteidigungsrolle gebracht werden. Es gibt dann nur einen Selbstschutz, der heißt: Nie auf solche Spiele eingehen! Eine amüsante und wirksame Methode, mit vermeintlich wohlwollender Kritik umzugehen, ist die Vernebelungstaktik: Eine Nebelwand bietet keinen Widerstand. Sie hat keine Wände, von denen etwas abprallen kann. Steine, die in eine Nebelwand geworfen werden, fliegen ohne Widerstand hindurch. Niemand kann Nebel verändern. Folgendes Zitat mag das verdeutlichen (Smith, 1990, S. 176 ff., von mir leicht abgeändert): – »Sue, danke, dass du mich gebeten hast, Feedback zu geben, das wird dir bestimmt helfen, deinen Vortragsstil zu verbessern. – Das glaube ich auch. – Du hast manchmal ziemlich genuschelt. – Wahrscheinlich hast du recht. – Du solltest keine Wörter gebrauchen, die du nicht richtig aussprechen kannst. – Das ist richtig. – Und dann dein Akzent. Es klingt, als ob du Deutsch in Mannheim gelernt hättest. – Ludwigshafen, aber ich bin sicher, dass ich einen Akzent habe. – Überhaupt, so wie du sprichst, hört sich das an, als ob du zu dem Gesagten kein Vertrauen hast. – Ich glaube dir, dass ich manchmal weniger überzeugt klinge, als ich es sollte. – Stattdessen hast du gezeigt, dass du offensichtlich Angst vor deinem Publikum hast. – Das stimmt, ich bin etwas nervös gewesen. – Sue, ich sage dir das, weil ich dein Freund bin. Ehrlich gesagt, ein Winston Churchill bist du nicht als Redner. – Das stimmt. Ich bin kein Winston Churchill. Ich bin eine Susan Levine.«
Ein schöner Dialog, der zeigt, wir können uns gegen Kritik immunisieren. Wir brauchen keine toxischen Pfeile in uns eindringen Wie lasse ich Kritik an meinem Auftritt ins Leere laufen?
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zu lassen, wir können dem Einsteigen in einen ansteckenden und anstrengenden Dialog entgehen. Um Kritik ins Leere laufen zu lassen, gibt es einzig eine Übung: »Lass sie vorbeiziehen!« Die Übung besteht aus folgenden Schritten: Nehmen Sie wahr, dass etwas nicht stimmt. Sagen Sie sich: »Halt, hier stimmt etwas nicht.« Reagieren Sie nicht spontan und intuitiv. Schlagen Sie nicht zurück. Verteidigen Sie sich nicht. Wenn Ihnen nichts einfällt, sagen Sie nichts. Lassen Sie es vorbeiziehen. Wenn Sie richtig gut sind, reagieren Sie ernst gemeint freundlich. Wenn Sie verletzt sind, reagieren Sie besser nicht, weil sich Ihre Freundlichkeit dann nicht freundlich, sondern ironisch anhört und anfühlt.
Oben nannte ich einige No-Gos, mit denen wir uns unnötig kleinmachen. Eine dieser Reaktionen kann jedoch manchmal hilfreich sein. Auf eine harsche Kritik eines Kursteilnehmers erwiderte ich in fragendem Ton: »Das war jetzt aber vielleicht nicht so richtig nett?« Das kam sowohl bei ihm als auch bei der Gruppe an. Die Gruppe konnte sich entspannen, weil ich nicht in einen Machtkampf gegangen bin, und der Teilnehmer suchte in der Pause das Gespräch mit mir, um sich zu entschuldigen. Folgender Dialog Schallplatte mit Sprung (Smith, 1990) soll zeigen, dass Beharrlichkeit manchmal wichtiger ist als gute Argumente. So gut wie immer geben wir nach dem ersten Nein auf. Wir wollen nett sein und brav zuhören. Jedoch kann es helfen, beharrlich unsere Wünsche zu wiederholen, ohne zornig, gereizt oder laut zu werden. Wir dürfen keine Gründe, Rechtfertigungen oder Entschuldigungen für unsere Wünsche vorbringen, wenn wir beharrlich sein möchten. Wir müssen Aussagen, die an unser Schuldgefühl appellieren, ignorieren. Nun der Dialog, bei dem ein Umtausch vorgenommen werden soll (Smith, 1990, S. 72 f., von mir gekürzt): »– Ich bin nicht zuständig. Sie müssen sich an den Abteilungsleiter wenden. – Wie heißt er? – Herr Schmidt. 180
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Rufen Sie ihn bitte her. Gehen Sie ruhig nach hinten, Sie werden ihn schon finden. Ich sehe dort niemanden, bitte rufen Sie ihn her. Gehen Sie nach hinten, er kommt sicher gleich. Ich habe keine Lust, nach hinten zu gehen und stundenlang zu warten, also rufen Sie ihn bitte her. Sie halten den Betrieb auf, die anderen Kunden wollen auch bedient werden. Ich weiß, dass sie bedient werden wollen, genau wie ich. Bitte holen Sie den Abteilungsleiter her. O. K., er wird gleich hier sein. Vielen Dank.«
Das Prinzip ist klar und es ist wirksam. Manchmal wird gesagt: »So geht man doch nicht mit anderen um!« Stimmt nicht, wenn man sich zu Hause ärgern will, weil man sich hat abwimmeln lassen. Stimmt nicht, wenn man gern in Argumentationsorgien gerät. Und stimmt auch nicht, wenn man sich gern auf Spiele einlässt, die man verliert. Um sich durchzusetzen, gibt es einzig eine Übung: Nutzen Sie die hängen gebliebene Schallplatte. Wiederholen Sie ruhig und gelassen Ihre Wünsche, lernen Sie Beharrlichkeit, Sie brauchen sich nicht vorher schon Argumente zurechtzulegen, um Ihrem Gesprächspartner gewachsen zu sein, so ersparen Sie sich Ärger. Wenn Sie etwas wollen, geben Sie keine Begründung oder Erklärung – Sie wollen es. Lassen Sie Ihr Gegenüber arbeiten, bis es auf Ihr Anliegen eingeht. Wenn Sie weiter üben wollen, treten Sie öfter als bislang an andere Menschen mit Bitten oder Wünschen heran. Übrigens soll dies eine gute Methode sein, dass andere uns mehr beachten und Zuneigung schenken. Menschen, die anderen einen Gefallen getan haben, schätzen die Personen, denen sie geholfen haben, mehr als vorher.
Wie lasse ich Kritik an meinem Auftritt ins Leere laufen?
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Wie bleibe ich auch in Ausnahmesituationen dennoch bei mir? Manchmal klappt trotz guter Vorbereitung nichts. Manchmal ist das Publikum schwer zu erreichen. Manchmal scheint es unkonzentriert. Manchmal fühle ich mich nach einem Vortrag aus mir unbekannten Gründen unwohl. Kann alles passieren. Dann gerate ich in eine leicht depressive Stimmung. Immer wenn so etwas passiert, hilft mir folgende Übung: Fragen Sie sich als Erstes: »Warum willst du es dir schlecht gehen lassen? Wofür willst du dich bestrafen?« Als Zweites sagen Sie sich eines oder mehrere Ihrer Mantras auf: »Es ist, wie es ist, und es ist gut!« »Du kannst nichts ändern, gib dein Bestes und werde glücklich!« »Ich vermag alles durch den, der mich stärkt!« Als Drittes legen Sie sich die Hand auf die Brust und sagen Sie sich Folgendes: »Ich kann sein! Ich kann so sein, wie ich bin! Egal, ob das Problem bleibt, ich kann bleiben, wie ich bin! Auch wenn sich nichts tut und sich nichts verändert, kann ich bleiben, wie ich bin! Ich muss mich nicht verändern, ich kann so bleiben, wie ich bin!«12
Wie erstelle ich einen bühnenreifen Vortrag? Es wurde schon einiges zum Storytelling und der Heldenreise gesagt. Es geht schlicht und einfach darum, das eigene Auftrittscoaching durch einen Vortrag abzuschließen, der eine eigene Matrix entwickelt. Sie sind die Heldin, der Held Ihres Mustervortrags. Sie finden selbst in Ihrem Vortrag statt. Das heißt nicht, dass Sie diesen Vortrag künftig bei Geburtstagen oder Hochzeiten halten sollen. Sondern es geht darum, dass Sie sich diesen Vortrag für Ihr persönliches Mindset erschaffen. Sie können mit diesem Vortrag ganz praktisch das Vortragen üben und daraus Selbstbewusstsein schöpfen. Sie können diesen Vortrag aber auch mit geschlossenen Augen medi12 Dieses Zitat lehnt sich an ein Gespräch mit Iris und Ralf-Rüdiger Fassbender an, Fachkongress DGTA, Wien, Mai 2018.
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tieren, wenn schwierige Aufgaben vor Ihnen liegen. Ihre Heldinnenoder Heldengeschichte ist die Matrix, die Bühne zu erobern. Schreiben Sie Ihre Heldinnen-, Heldengeschichte (S. 93 ff.) und tragen Sie diese für sich selbst oder einer Freundin oder einem Freund vor!
Für andere Vortragsanlässe bieten sich andere Aufbau- und Gliederungsprinzipien an, von denen einige hier aufgeführt werden. Für das Predigen galt lange ein Dreierschema, das die Elemente »lehren« (docere), »bewegen« (movere) und »unterhalten« (delectare) enthält. Die sachgemäße Auslegung des Textes sollte immer auf ethische Handlungsoptionen zielen, und dies soll auf eine »unterhaltsame« Weise geschehen, durch die die Gemeinde erfreut, erheitert, gefesselt und vergnügt wird. Ob das in unseren Predigten geschieht, darf jeder selbst entscheiden. Zumindest kann dieses Schema auch für andere öffentliche Vorträge angewendet werden. Für den Philosophen Bruno Latour hat die religiöse Rede keine Referenz, weil sie etwas nicht Greifbares zu greifen sucht, er vergleicht diese Rede daher mit dem Austausch zwischen Liebenden, die den konkreten Inhalt ihrer Liebe nie wirklich in Worte fassen können (Latour, 2011). Sehr wichtige Hinweise geben Hinnen und Hinnen in ihrem Buch »Reframe it!« (2017). Demnach zeichnen sich Vorträge durch Richtigkeit (Sorgfalt und Genauigkeit) und Wichtigkeit (Botschaft und Sinn) aus (S. 17). Wir sollten versuchen, aus »matters of fact« (Fakten) »matters of concern« (Dinge von Belang) zu machen. Dies geschieht dadurch, dass wir vom Inhalt überzeugt sind, die Sprache der Zielgruppe sprechen und eine Verbindung zwischen uns als Vortragenden und den Zuhörerinnen und Zuhörern entsteht. Das ist gar nicht so weit weg von eben genannter Predigtlehre. Wenn wir einen wichtigen Inhalt mit einer Botschaft zur Sprache bringen wollen, können wir die SEEC-Methode anwenden (S. 35 ff.):13
13 Die SEEC- und die SUCCESS-Methode finden Sie auch im Downloadbereich unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/Buehne_frei. Wie erstelle ich einen bühnenreifen Vortrag?
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1. Statement (Aussage): Meine These/Behauptung/Botschaft ist … 2. Explanation (Begründung): Dies ist wichtig, weil … 3. Example/Evidence (Beispiel/Beweis): Es hat sich gezeigt …; Denkt nur einmal an … 4. Constraint (Beschränkung): Wir brauchen nur …; Dies gilt nur für dieses Projekt … Der letzte Punkt ist darum wichtig, weil wir uns eher auf zeitlich klar umrissene Projekte einlassen als auf eine nebulöse Arbeit. Ein Schluss könnte sein: »Wir treffen uns am Freitag um 10:00 Uhr und entrümpeln unseren Betrieb. Aller Schrott wird abgeschrieben und kommt weg. Ein Container ist bestellt. Um 16:00 Uhr sind Sie zum Grillen eingeladen.« Die SUCCESS-Methode macht deutlich, wann eine Botschaft gut ankommt. Zu fragen ist: Ist die Botschaft … 1. Simple: … einfach und klar? 2. Unexpected: … unerwartet und überraschend? 3. Concrete: … schnell zu erfassen, zum Beispiel bildhaft? 4. Credible: … glaubwürdig, zum Beispiel persönlich, real verankert? 5. Emotional: … berührend? 6. Story: … gut erzählt? 7. Style: … stilistisch überzeugend?
Ich habe versucht, das einmal auf einen Israelurlaub anzuwenden: 1. Simple: Israel ist ein tolles Reiseland! 2. Unexpected: Deswegen wollen alle da hin, auch Fatah, Hamas und Hisbollah. 3. Concrete: Tel Aviv hat seine Partymeile direkt an einem kilometerlangen Strand. 4. Credible: Hier treffen sich tolle Menschen aus der ganzen Welt. Davon konnte ich mich persönlich überzeugen. 5. Emotional: A: Kaum saß ich dort am Strand, schon wurde ich zum Beachvolleyball eingeladen. 184
Teil drei: Und jetzt Sie – Anregungen zum Selbstcoaching
B: Kaum saßen wir in einem Biergarten in der Dizengoff Street, sprachen uns ein paar verrückte Australier an, die gerade Poolreinigungsroboter verkauft hatten, und stellten uns die ersten Shots auf den Tisch! 6. Story: A: Größere Probleme als das Spiel bereitete es mir, die vielen Namen aus verschiedenen Kulturräumen zu lernen, aber meine Mitspielerinnen und Mitspieler halfen mir, indem sie die angespielten Personen immer mit ihrem Namen riefen. Und nach einigem Üben konnten sie auch meinen Vornamen richtig aussprechen. B: Als einer der Australier rausbekommen hatte, was ich beruflich mache, musste ich die Frage beantworten: »Sage mir einen Satz, warum ich an Gott glauben soll!« Meine Antwort: »Für manche ist Gott ein Ausrufezeichen, für andere ein Fragezeichen«, kommentierte er: »Du massierst mein Gehirn!« Nach den Shots nur nachvollziehbar. 7. Style: Ich kann Israel als Reiseland nur empfehlen, es ist klimatisch warm, kulturell anziehend und menschlich sehr offen und vielfältig. Selbst an der Tankstelle bekommst du zugerufen: Enjoy Israel!
Im Folgenden habe ich versucht, wichtige Storytelling-Aspekte in einen kleinen Beispielvortrag einzubauen. 1. Lassen Sie Ihre Zuhörerinnen und Zuhörer in Ihre Geschichte eintauchen! Die Zuhörenden sollen in Beziehung zu Ihrer Geschichte treten können! Sprechen Sie von echten Menschen und Situationen! (»Kennen Sie Frau Plato? Sie arbeitet bei uns an der Essensausgabe …«) 2. Erzählen Sie eine persönliche Geschichte! Die Zuhörenden sollen in Beziehung zu Ihnen treten können! (»Als ich meinen ersten Tag der offenen Tür unserer Firma vorbereiten musste und deswegen ziemlich unter Strom stand, sagte sie: ›Sie wissen doch, bei uns klappt immer alles!‹«) 3. Erzeugen Sie Spannung! (»Das machte mir Mut. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich aber noch nicht, dass das Kaffee-Team nicht die Stromanschlüsse für den Standort der Kaffeemaschinen gecheckt hatte. Es fehlten um 14:00 Uhr entweder Verlängerungskabel oder Wasseranschlüsse und um 15:00 Uhr würden 250 Menschen Kaffee verlangen.«) Wie erstelle ich einen bühnenreifen Vortrag?
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4. Lassen Sie Charakterzüge lebendig werden! (»Zum Glück gibt es unseren Hausmeister Herrn Nikolaus, der kein Wort zu viel spricht, wenn es sich nicht um die Leistung unserer ›Nullfünfer‹ handelt.«) 5. »Show, don’t tell.« Zeigen Sie! Sagen Sie nicht. Verwenden Sie sprachliche Bilder! Visualisieren Sie! (»Sie werden ihn alle kennen, er trägt immer ein Mainz-05-Käppi!«) 6. Bauen Sie einen S.T.A.R.-Moment ein: Something they’ll always remember! (»Sie werden nicht glauben, wie er unsere Kaffee-Misere meisterte. Ich spreche nicht von der Kabeltrommel, die er in Windeseile herbeigezaubert hatte. Nein. Er förderte einen neuen, noch eingeschweißten 20-Meter-Schlauch zutage, den er im Handumdrehen mit zwei Schellen zum Einsatz brachte!«) 7. Sprechen Sie, wie Sie normalerweise sprechen! (»Die Kaffee-Misere war vom Tisch!«) 8. Lassen Sie unwichtige (langweilende) Details weg! (»Ich erspare Ihnen die Einzelheiten der weiteren Beinahekatastrophen meines ersten Tags der offenen Tür!«) 9. Nennen Sie Konflikte, Fragen, Helden und Feinde! (»Nur so viel, die Peinlichkeit, dass jemand den Schlauch entdeckte und böse Fragen stellen konnte, blieb uns dank des Geschicks von Herrn Nikolaus erspart! Mit Panzerband hatte er in null Komma nichts diesen Schlauch so verlegt, dass erstens keine Unfälle passierten und er zweitens für das Publikum unsichtbar blieb.«) 10. Enden Sie mit einem positiven Mitnahmeeffekt! (»Zwei Wünsche habe ich an Sie alle: Machen Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen in schwierigen Situationen Mut, wie es Frau Plato bei mir gemacht hat. Und: Lassen Sie sie nicht im Stich, lassen Sie sich lieber etwas einfallen! Ein Letztes: Mut und Hilfe sind nicht abhängig von der Position, die Sie in unserer Firma bekleiden! Daher: Danke, Frau Plato! Danke, Herr Nikolaus!«) Nutzen Sie die vorgeführten Methoden und entwerfen Sie einen kleinen Mustervortrag. Als Themen bietet sich einiges an: Schreiben Sie einen Urlaubs-Small-Talk für die nächste Party. Schreiben Sie einen interessanten Minibeitrag, den Sie als Stegreifgeschichte 186
Teil drei: Und jetzt Sie – Anregungen zum Selbstcoaching
in das nächste Bewerbungsgespräch einfließen lassen. Entwickeln Sie einen Vortrag, in dem Sie sich als Produkt anpreisen. Blicken Sie auf Ihr Leben zurück und beschreiben Sie, was Sie in zwanzig Jahren erreicht haben werden. Notieren Sie die Story Ihrer besten Fehler oder Ihrer wichtigsten Misserfolge. Oder halten Sie einfach eine schöne Erinnerung fest, die Sie dem Sandmann erzählen, wenn Sie einmal nachts wach liegen.
Wie erstelle ich einen bühnenreifen Vortrag?
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Ein paar Worte danach
Der Schauspieler Oliver Masucci wird nach einem Trick gefragt, um schwierige Auftrittssituationen zu meistern. Seine Antwort: »Es kommt auf die Haltung an. In einer Inszenierung musste ich ›O sole mio‹ singen. Meine Musiklehrerin in der Schule hatte mir eingeredet, dass ich unmusikalisch sei, also war ich bei der Premiere wahnsinnig aufgeregt. In der ersten Reihe hörte ich eine Frau sagen: ›O mein Gott, singt der schlecht!‹ Alle guckten betreten. Kein Applaus. Jetzt hatte ich aber tags darauf die nächste Vorstellung. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.« »Und?«, fragt der Interviewer. »Ich habe mit vollem Selbstbewusstsein schlecht gesungen und ins Publikum gegrinst. So dachten alle, ich würde absichtlich so singen. Mein Gesang war so beschissen wie vorher, aber es gab einen Riesenapplaus. Du musst also aus deinen Defiziten etwas machen, du musst sie in etwas anderes verwandeln« (Sturm, 2021, S. 36).
Die Defizite annehmen und humorvoll zu verwandeln ist eine Möglichkeit, mit der Auftrittsangst umzugehen. Sich selbst nicht zu entschuldigen, weil man ständig daran denkt, was die anderen denken könnten, ist eine zweite. Bei einem Doktorandenkolloquium in Tübingen sollte ich aus meinem Promotionsvorhaben vortragen. Ich sprach vorher kurz mit der wissenschaftlichen Assistentin von Professor Eilert Herms, Kirsten Huxel, und erzählte ihr von meiner Angst, dass meine Ergebnisse den Anforderungen nicht genügten. Sie sagte nur kurz und trocken: »Hör auf, dich zu entschuldigen und zu relativieren!« Dieser Satz ging mir lange durch den Kopf und ich bin dankbar für diesen harschen und hilfreichen Rat. Was besagt er? Wir machen Ein paar Worte danach
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uns kleiner, als wir sind, weil wir uns vor Kritik schützen wollen. Den Menschen machen seine sozialen Fähigkeiten aus, aber sie können auch zur Bürde werden, wenn immer überlegt wird, wie wir auf andere wirken. Was könnten die anderen über uns denken? Es gibt einen alten Alkoholikerwitz: »Alkohol macht gleichgültig!« Antwort: »Mir doch egal!« Ein bisschen von diesem »Mir doch egal!« kann helfen, uns als Vortragende nicht zu ernst zu nehmen. Vor allem aber sollten wir uns nicht kleiner machen, als wir sind. Daher lautet der letzte Rat dieses Buches mit großem Dank an meine Schwester im Geist, Pfarrerin Prof. Dr. Kirsten Huxel: »Hör auf, dich zu entschuldigen und zu relativieren!« Bühne frei! Bühne erobert! Applaus genießen!
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Ein paar Worte danach
Literatur
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