Beweiswürdigung und Beweismaß: Rationalität und Intuition 9783161537592, 9783161536427

Die gerichtliche Tatsachenfeststellung ist in ihrer praktischen Bedeutung kaum zu überschätzen, ihre gesetzliche Regelun

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German Pages 697 [699] Year 2015

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Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
1. Motivation und Ziel
2. Aufbau der Arbeit und Überblick über den Gedankengang
Erster Teil: Grundlagen
I. Begriffliches
1. Beweiswürdigung
2. Beweismaß
3. Hauptbeweis, Gegenbeweis und Beweis des Gegenteils
4. Haupttatsachen, Indizien, Hilfstatsachen und Beweisthema
5. Beweismittel und Beweiskraft
II. Ziel der Beweiswürdigung
1. Der Wahrheitsbegriff der Beweiswürdigung
a) Korrespondenztheorien
b) Kohärenztheorien
c) Konsensustheorien
d) Eigene Ansicht, gleichzeitig ein Bekenntnis zum kritischen Realismus
2. Objektive Wahrscheinlichkeit als Beweisziel?
3. Überzeugung als Beweisziel?
4. Formelle Wahrheit als Beweisziel?
5. Eigene Ansicht
6. Zusammenfassung
III. Historische Entwicklung von der Legaltheorie zur freien Beweiswürdigung
1. Entwicklung bis zur Aufklärung
2. Aufklärung
a) Das Menschenbild der Aufklärung
b) Das Richterbild der Aufklärung
c) Die Einführung der freien Beweiswürdigung in Frankreich: conviction intime
d) Die Einführung der freien Beweiswürdigung in Deutschland: von der conviction intime zur conviction raisonée
e) Die Einführung der freien Beweiswürdigung in der Schweiz
3. Heute herrschende Lehre und Rechtsprechung zur freien Beweiswürdigung
a) Deutschland
b) Schweiz
4. Zusammenfassung
IV. Zusammenfassung des ersten Teils
Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung
I. Was beinhalten die Denkgesetze?
II. Deduktive und induktive Logik
III. Wahrscheinlichkeit
1. Axiome der Wahrscheinlichkeit
a) Normierung
b) Sicherheit
c) Additivität
d) Bedingte Wahrscheinlichkeit
e) Abhängigkeit, Unabhängigkeit und bedingte Unabhängigkeit
2. Wahrscheinlichkeitsbegriffe
a) Alltags- oder Erfahrungswahrscheinlichkeit
b) Klassischer Wahrscheinlichkeitsbegriff
c) Frequentistischer Wahrscheinlichkeitsbegriff
d) Propensity-Theorien der Wahrscheinlichkeit
e) Subjektiver Wahrscheinlichkeitsbegriff
f) Logischer Wahrscheinlichkeitsbegriff
3. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff in der juristischen Literatur zur Beweiswürdigung
4. Eigene Ansicht
5. Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie als Logik der Überzeugungsbildung
6. Zusammenfassung
7. Bayes’ Regel: Der Schluss von der (beobachteten) Wirkung auf die (unbeobachtete) Ursache
8. Bayes’ Regel – ein Modell sequentiellen Lernens
9. Jeffreys Regel
10. Beweiskraft als Likelihood-Quotient
a) Beweiskraft mehrerer unabhängiger Indizien
b) Beweiskraft mehrerer abhängiger Indizien
c) Beweiswert nach Schreiber
11. Beweiswert nach dem schwedischen Beweiswertmodell
a) Beweiswertmodell versus Überzeugungsmodell
b) Die fehlende Berücksichtigung der Anfangswahrscheinlichkeit des Beweisthemas durch die Beweiswertmethode führt zu falschen Resultaten
12. Zusammenfassung
IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung
1. Wie Bayes’ Regel den Anscheinsbeweis erklärt
a) Der Anscheinsbeweis
aa) Beweislasttheorie
bb) Beweismaßtheorie
cc) Materiellrechtliche Theorie
dd) Beweiswürdigungstheorie
b) Wie Bayes’ Regel den Anscheinsbeweis erklärt
c) Anscheinsbeweis in der Schweiz
d) Fazit
2. Rationale Überzeugungsbildung in komplexen Fällen
3. Bayes’ Netze
a) Herkunft und erste Anwendungen
b) Kausale Netze als Vorstufen von Bayes’ Netzen
aa) Ein einfaches Beispiel
bb) Verbreitung von Information in kausalen Netzen
cc) Arten von Verbindungen in kausalen Netzen
(1) Serielle Verbindung
(2) Divergierende Verbindung
(3) Konvergierende Verbindung
c) Von kausalen Netzen zu Bayes’ Netzen
aa) Direkte Abhängigkeit statt kausaler Einfluss
bb) Verbot von Rückkopplungsschleifen
cc) Bayes’ Netze: Definition und Eigenschaften
dd) Wahrscheinlichkeitsverteilung: Definition und Notation
ee) Bedingte Unabhängigkeit in Bayes’ Netzen
d) Exaktes Schließen in Bayes’ Netzen anhand eines einfachen Beispiels
e) Erstellen eines Bayes’ Netzes
aa) Hypothesenvariablen, verdeckte Variablen und Informationsvariablen
bb) Einfügen der Pfade zwischen den Variablen
cc) Parametrisierung des Netzes
dd) Abfragen des Netzes
f) Redundante Beweismittel
g) Fehlende Beweismittel
h) Ein einfaches Beispiel: Modellierung des Alibi-Beweises
i) Ein einfaches Beispiel mit realistischen Wahrscheinlichkeiten: HIV-Infektion nach kontaminierter Blutspende
j) Ein komplexeres Beispiel zum Abschluss: Bayes’ Netz des »Hans H. Falles«
k) Substanziiertes Bestreiten – wann ist eine Bestreitung überzeugend?
aa) Substanziierungslast, insbesondere des Beweisgegners
bb) Überzeugend bestreiten
l) Sensitivitätsanalyse
4. Zusammenfassung
V. Zusammenfassung des zweiten Teils
Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung
I. Einleitung
1. Was ist Intuition?
2. Ist Intuition gut oder schlecht?
II. Assoziative Intuition
1. Assoziatives Lernen
2. »Gutartige« und »bösartige« Lernumgebungen
a) Wie gut ist die Lernumgebung von Richtern für das Erlernen von intuitiver Beweiswürdigung?
3. Zusammenfassung
III. Konstruktive Intuition
1. Narrative Kohärenz
a) Bennet/Feldman
b) Die »Anchored Narratives Theorie« von Wagenaar/van Koppen/Crombag
c) Pennington/Hastie
d) Zusammenfassung
2. Kognitive Kohärenz
a) Kohärenz als Parallel Constraint Satisfaction
b) Konnektionistische Netze und Parallel Constraint Satisfaction
c) Empirische Voraussagen von PCS-Modellen der Beweiswürdigung
aa) Die Kohärenzverschiebungen finden während des Entscheidungsfindungsprozesses statt, nicht erst nachträglich
bb) Die Informationsverzerrung erfasst auch logisch betrachtet unabhängige Aussagen
cc) Kohärenzverschiebungen geschehen unbewusst
dd) Der Zustand der Kohärenz ist selbstbewahrend
ee) Auch bei unklarem Sachverhalt entsteht durch den Prozess der Kohärenzbildung ein subjektives Gefühl der Sicherheit, richtig entschieden zu haben
d) Implikationen deskriptiver Theorien kognitiver Kohärenz für die Befangenheit des vorbefassten Richters
e) Strategien zur Vermeidung von Kohärenzverschiebungen
3. Zusammenfassung
IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?
1. Neil MacCormicks narrative Kohärenz
2. Ronald J. Allens relative Plausibilitätstheorie
3. Thagards Theorie erklärender Kohärenz
4. Amalia Amayas aretaische Kohärenztheorie
5. Bex’ hybride Theorie
6. Bernard S. Jacksons semiotische Erzähltheorie
7. Eigene Ansicht
Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung
I. Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie liefert Rationalität, keine Objektivität
II. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Statistik
1. Relative Häufigkeit als Quelle subjektiver Überzeugung
2. Das Problem der epistemisch richtigen Referenzklasse
a) Konvergenz zur Rettung?
b) Dann halt 50 Prozent?
3. Die Wahl der richtigen Referenzklasse
4. Zusammenfassung
III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz
1. Erfahrungssätze als Quellen subjektiver Überzeugungen
a) Die Lehre von den Erfahrungssätzen
b) Abgrenzung der Erfahrungssätze von benachbarten Erscheinungen
aa) Offenkundige (notorische) Tatsachen
bb) Normtatsachen
cc) Tatsächliche (natürliche) Vermutungen
c) Quellen von Erfahrungssätzen
aa) Wissenschaftliche Theorien
bb) Empirische (statistische) Daten
cc) Eigene oder fremde Erfahrung
dd) Allgemeine Lebenserfahrung, Alltagstheorien oder kulturelles Wissen
d) Schließen mit Erfahrungssätzen
e) Der Inhalt von Erfahrungssätzen: Aussagen zur Likelihood oder zur a-posteriori-Wahrscheinlichkeit?
f) Die Beweiskraft von Erfahrungssätzen
aa) Die Beweiskraft von Erfahrungssätzen zur Wahrscheinlichkeit Pr(Hypothese|Indizien)
bb) Die Beweiskraft von Erfahrungssätzen zur Likelihood Pr(Indizien|Hypothese)
g) Zusammenfassung
2. Rechtliche Behandlung der Erfahrungssätze, insbesondere ihre Kontrolle durch Rechtsmittelinstanzen mit beschränkter Kognition
a) Deutschland
aa) Behauptungsbedürftigkeit von Erfahrungssätzen
bb) Beweisbedürftigkeit von Erfahrungssätzen
cc) Überprüfung von Erfahrungssätzen durch das Revisionsgericht
(1) Notwendigkeit einer Abgrenzung der überprüfbaren von den nicht überprüfbaren Erfahrungssätzen
(2) Beschränkung der Überprüfung auf zwingende Erfahrungssätze?
(3) Beschränkung der Überprüfung auf Erfahrungssätze mit gesteigerter Beweiskraft (»allgemeine« Erfahrungssätze)
(4) Weitere Beschränkung nach der Quelle des Erfahrungssatzes
(5) Keine Überprüfung des Beweiswerts von Erfahrungssätzen?
(6) Dogmatische Grundlage der revisionsgerichtlichen Überprüfung
b) Schweiz
aa) Behauptungsbedürftigkeit?
bb) Beweisbedürftigkeit?
cc) Überprüfung durch das Bundesgericht
(1) Vor dem In-Kraft-Treten der schweizerischen Zivilprozessordnung
(2) Unter der schweizerischen Zivilprozessordnung
(3) Der »Normcharakter« der Erfahrungssätze als Abgrenzungskriterium?
(4) Dogmatische Grundlage der bundesgerichtlichen Überprüfung des Verstoßes gegen Erfahrungssätze mit gesteigerter Beweiskraft
IV. Zusammenfassung des vierten Teils
Fünfter Teil: Beweismaß
I. Unterschiedliches Beweismaß im Straf- und Zivilprozessrecht in den Ländern des Common Law Rechtskreises
II. Entscheidungstheoretische Rechtfertigung des unterschiedlichen Beweismaßes für Zivil- und Strafsachen
1. Grundbegriffe der Entscheidungstheorie
2. Minimierung der erwarteten Fehlerkosten als Entscheidungsprinzip
3. Welche Kosten sind maßgeblich?
4. Die Erklärung des unterschiedlichen zivil- und strafrechtlichen Beweismaßes im Common Law durch die normative Entscheidungstheorie
5. Zusammenfassung
III. Regelbeweismaß im Zivilverfahren nach herrschender Lehre und Praxis in Deutschland und der Schweiz
1. Deutschland
a) Regelbeweismaß
b) Kritik an den hohen Anforderungen an die richterliche Überzeugung
c) Zahlreiche Ausnahmen vom Regelbeweismaß
2. Schweiz
a) Regelbeweismaß
b) Kritik an den hohen Anforderungen des Regelbeweismaßes
c) Zahlreiche Ausnahmen zum Regelbeweismaß
d) Exkurs: Das Regelbeweismaß im schweizerischen Sozialversicherungsrecht
3. Zusammenfassung
IV. Eigene Ansicht
1. Das Regelbeweismaß in Zivilsachen ist die überwiegende Überzeugung
2. Der Bezugspunkt der überwiegenden Überzeugung
a) Die Lösung des Konjunktionsparadoxes nach Cohen
b) Die Lösung des Konjunktionsparadoxes nach Allen
c) Löst das Konjunktionsparadox den Streit um das richtige Beweismaß in Zivilsachen?
V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung
1. Berücksichtigung der Fehlerkosten über die Beweislastverteilung?
2. Argumente für eine unterschiedliche Gewichtung der Kosten eines Fehlers 1. und 2. Art
a) Bewahrung des Status quo ante
b) Verlustaversion
c) Reputationsschaden
3. Andere Argumente gegen die Lehre von der überwiegenden Überzeugung
a) Ziel der Wahrheitsfeststellung
b) Notwendigkeit der Quantifizierung des Beweisergebnisses
c) Leichtigkeit des Beschaffens von Beweismitteln
d) Steigende Anzahl Prozesse
e) Bevorzugung des Klägers
f) Erlahmung des Aufklärungseifers
g) Konsequente Fortführung führt zur Schadensteilung
h) Legitimität des Justizsystems
VI. Lässt sich die Lehre von der überwiegenden Überzeugung mit dem geltenden Recht vereinbaren?
1. Wortlaut von § 286 ZPO-DE und Art. 157 ZPO-CH
2. Vereinbarkeit mit dem materiellen Recht
3. Beweislastregeln
4. Gesetzliche Beweismaßsenkungen, insbesondere Glaubhaftmachung
a) Die historische Kontroverse um den Begriff der Glaubhaftmachung
b) Lehre und Rechtsprechung zur Glaubhaftmachung in Deutschland
c) Lehre und Rechtsprechung zur Glaubhaftmachung in der Schweiz
d) Eigene Ansicht
aa) Glaubhaftmachung als Anleitung zur Bestimmung der Entscheidungsgrenze nach den Fehlerkosten im konkreten Fall
bb) Entscheidungsgrenze bei der Glaubhaftmachung des Verfügungsanspruchs bei vorsorglichen Maßnahmen
cc) Entscheidungsgrenze bei der Glaubhaftmachung von Ablehnungs- respektive Ausstandsgründen
dd) Entscheidungsgrenze bei der Glaubhaftmachung des schutzwürdigen Interesses bei vorsorglicher Beweisabnahme
ee) Zusammenfassung der eigenen Ansicht zum Beweismaß der Glaubhaftmachung
VII. Das tatsächliche Regelbeweismaß in Zivilsachen
1. Forschungsfragen
2. Studie
a) Teilnehmer
b) Methode
aa) Sachverhalt und Ablauf der Befragung
bb) Messung der Verlustaversion
cc) Messung der Entscheidungsgrenze
c) Ergebnisse
d) Diskussion
3. Zusammenfassung
VIII. Zusammenfassung des fünften Teils
Sechster Teil: Thesenartige Zusammenfassung
Anhang
I. Dutch Book Argumente für Additivität und Konditionalisierung
II. Carnaps induktive Logik an einem einfachen Beispiel erläutert
III. Fagans Nomogramm
IV. Bedingte Wahrscheinlichkeitstabellen für das Bayes’ Netz des »Hans H. Falles«
V. Resultate Experiment »Hans H.«
VI. Input für die ECHO Simulation des Hans H. Falles
VII. Fragebogen der Umfrage zu den Fehlerkosten in Zivilsachen
VIII. Sachverhalt der Umfrage zum Beweismaß
Literaturverzeichnis
Sach- und Personenverzeichnis
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Beweiswürdigung und Beweismaß: Rationalität und Intuition
 9783161537592, 9783161536427

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JUS P RIVAT U M Beiträge zum Privatrecht Band 189

Mark Schweizer

Beweiswürdigung und Beweismaß Rationalität und Intuition

Mohr Siebeck

Mark Schweizer, geboren 1973; Studium der Rechtswissenschaften in Zürich und Ann Arbor, Michigan (LL.M. 2002); Zulassung als Anwalt in Zürich 2001; 2005 Promotion; 2008 Ernennung zum Ersatzrichter am Bezirksgericht Horgen, Zürich; 2010–2013 Senior Research Fellow am Max Planck Institut für Gemeinschaftsgüter, Bonn; 2010 Wahl zum nebenamtlichen Richter am schweizerischen Bundespatentgericht, St. Gallen; 2014 Ernennung zum Privatdozenten an der Universität St. Gallen.

Publiziert mit Unterstützung des SNF zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. e-ISBN PDF 978-3-16-153759-2 ISBN 978-3-16-153642-7 ISSN 0940-9610 (Jus Privatum) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von le-tex in Leipzig gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort Diese Arbeit wurde von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität St. Gallen im Herbstsemester 2013 als Habilitationsschrift angenommen. Sie ist während meiner Zeit als Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds am Max Planck Institut für Gemeinschaftsgüter in Bonn zwischen 2010 und 2013 entstanden. Das Manuskript wurde im Sommer 2013 abgeschlossen. Vor der Drucklegung im Herbst 2014 wurden die Hinweise auf Kommentare und Lehrbücher aktualisiert. Weitere Literatur wurde nur berücksichtigt, soweit sie bei einer einfachen Suche nach den Suchbegriffen »Beweiswürdigung« und »Beweismaß« in den wichtigsten Datenbanken auffindbar war. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Christoph Engel für die herzliche Aufnahme ins Bonner Institut und die vielen intellektuellen Anregungen, die ich während meiner dortigen Zeit erfuhr. Die überaus anregende und angenehme Arbeitsatmosphäre, die ich am Institut genießen durfte, sind nicht zuletzt sein Verdienst. Eine Arbeit wie die vorliegende ist undenkbar ohne engen Kontakt zu Wissenschaftlern anderer Fachgebiete. Das Max Planck Institut für Gemeinschaftsgüter ermöglicht den fruchtbaren Austausch zwischen Juristen, Ökonomen und Psychologen, ohne den diese Arbeit nicht hätte geschrieben werden können. Dafür gebührt dem Institut als Institution mein herzlicher Dank. Prof. Dr. Andreas Glöckner, Dr. Susann Fiedler und Dr. Marc Jekel von der Nachwuchsforschungsgruppe »intuitive experts« danke ich herzlichst für die großzügige Hilfestellung bei der Planung der Experimente und der Auswertung der Daten. Ich durfte viel von Euch lernen, die Fehler bleiben die meinen. Dank gebührt auch Christina Bern, Sabrina van Detten und Julia Pagel für die tatkräftige Hilfe bei der Beschaffung der Literatur. Den Herren Prof. Dr. Thomas Geiser, Prof. Dr. Vito Roberto und em. Prof. Dr. Helmut Rüßmann danke ich für die überaus zügige Erstellung der Habilitationsgutachten. Dank gebührt auch Prof. Dr. Ulrich Haas, Prof. Dr. Paul Oberhammer und Prof. Dr. Andreas Thier, die das Projekt, das mit der Publikation dieses Buches seinen Abschluss gefunden hat, schon in seiner frühesten Phase unterstützt haben. Dem Schweizerischen Nationalfonds danke ich für die großzügige finanzielle Unterstützung des Forschungsprojekts und für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Gewidmet ist diese Arbeit Laurence Andrée Uttinger. Zürich, im Dezember 2014

Mark Schweizer

Inhaltsübersicht Erster Teil: Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung . . . . . . . . .

83

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung . . . . . . . . . . 253 Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung . . . . . . . . 349 Fünfter Teil: Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Sechster Teil: Thesenartige Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . 599 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Sach- und Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Motivation und Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufbau der Arbeit und Überblick über den Gedankengang . . .

1 1 3

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Erster Teil: Grundlagen I.

II.

III.

Begriffliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Hauptbeweis, Gegenbeweis und Beweis des Gegenteils . . . . 4. Haupttatsachen, Indizien, Hilfstatsachen und Beweisthema . . 5. Beweismittel und Beweiskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziel der Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Wahrheitsbegriff der Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . a) Korrespondenztheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kohärenztheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konsensustheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eigene Ansicht, gleichzeitig ein Bekenntnis zum kritischen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Objektive Wahrscheinlichkeit als Beweisziel? . . . . . . . . . . 3. Überzeugung als Beweisziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Formelle Wahrheit als Beweisziel? . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Entwicklung von der Legaltheorie zur freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklung bis zur Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Menschenbild der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . b) Das Richterbild der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Einführung der freien Beweiswürdigung in Frankreich: conviction intime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

13 13 14 16 17 21 21 22 23 26 28

. . . . . .

29 33 37 41 45 47

. . . . .

47 47 51 51 52

.

55

X

Inhaltsverzeichnis

IV.

d) Die Einführung der freien Beweiswürdigung in Deutschland: von der conviction intime zur conviction raisonée . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Einführung der freien Beweiswürdigung in der Schweiz 3. Heute herrschende Lehre und Rechtsprechung zur freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des ersten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75 75 77 78 79

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung . . . . . . . .

83

I. II. III.

Was beinhalten die Denkgesetze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deduktive und induktive Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Axiome der Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Additivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bedingte Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Abhängigkeit, Unabhängigkeit und bedingte Unabhängigkeit 2. Wahrscheinlichkeitsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Alltags- oder Erfahrungswahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . b) Klassischer Wahrscheinlichkeitsbegriff . . . . . . . . . . . . . c) Frequentistischer Wahrscheinlichkeitsbegriff . . . . . . . . . d) Propensity-Theorien der Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . e) Subjektiver Wahrscheinlichkeitsbegriff . . . . . . . . . . . . . f) Logischer Wahrscheinlichkeitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff in der juristischen Literatur zur Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie als Logik der Überzeugungsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Bayes’ Regel: Der Schluss von der (beobachteten) Wirkung auf die (unbeobachtete) Ursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Bayes’ Regel – ein Modell sequentiellen Lernens . . . . . . . . . 9. Jeffreys Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Beweiskraft als Likelihood-Quotient . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beweiskraft mehrerer unabhängiger Indizien . . . . . . . . . b) Beweiskraft mehrerer abhängiger Indizien . . . . . . . . . . .

57 65

83 84 89 89 90 90 91 91 93 95 97 99 100 103 104 111 113 124 125 131 132 139 140 143 149 149

IV.

Inhaltsverzeichnis

XI

c) Beweiswert nach Schreiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Beweiswert nach dem schwedischen Beweiswertmodell . . . . . a) Beweiswertmodell versus Überzeugungsmodell . . . . . . . . b) Die fehlende Berücksichtigung der Anfangswahrscheinlichkeit des Beweisthemas durch die Beweiswertmethode führt zu falschen Resultaten . . . . . . . 12. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wie Bayes’ Regel den Anscheinsbeweis erklärt . . . . . . . . . . a) Der Anscheinsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beweislasttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beweismaßtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Materiellrechtliche Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Beweiswürdigungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wie Bayes’ Regel den Anscheinsbeweis erklärt . . . . . . . . c) Anscheinsbeweis in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rationale Überzeugungsbildung in komplexen Fällen . . . . . . 3. Bayes’ Netze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Herkunft und erste Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . b) Kausale Netze als Vorstufen von Bayes’ Netzen . . . . . . . aa) Ein einfaches Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verbreitung von Information in kausalen Netzen . . . . cc) Arten von Verbindungen in kausalen Netzen . . . . . . (1) Serielle Verbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Divergierende Verbindung . . . . . . . . . . . . . . . (3) Konvergierende Verbindung . . . . . . . . . . . . . . c) Von kausalen Netzen zu Bayes’ Netzen . . . . . . . . . . . . aa) Direkte Abhängigkeit statt kausaler Einfluss . . . . . . . bb) Verbot von Rückkopplungsschleifen . . . . . . . . . . . cc) Bayes’ Netze: Definition und Eigenschaften . . . . . . . dd) Wahrscheinlichkeitsverteilung: Definition und Notation ee) Bedingte Unabhängigkeit in Bayes’ Netzen . . . . . . . d) Exaktes Schließen in Bayes’ Netzen anhand eines einfachen Beispiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Erstellen eines Bayes’ Netzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Hypothesenvariablen, verdeckte Variablen und Informationsvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einfügen der Pfade zwischen den Variablen . . . . . . . cc) Parametrisierung des Netzes . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Abfragen des Netzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151 155 162

165 167 168 171 171 175 175 176 177 177 182 185 186 190 190 192 192 194 195 195 196 197 198 198 200 200 202 205 208 212 212 215 217 219

XII

Inhaltsverzeichnis

f) g) h) i)

V.

Redundante Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehlende Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein einfaches Beispiel: Modellierung des Alibi-Beweises . . Ein einfaches Beispiel mit realistischen Wahrscheinlichkeiten: HIV-Infektion nach kontaminierter Blutspende . . . . . . . . . . . . . . . j) Ein komplexeres Beispiel zum Abschluss: Bayes’ Netz des »Hans H. Falles« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Substanziiertes Bestreiten – wann ist eine Bestreitung überzeugend? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Substanziierungslast, insbesondere des Beweisgegners bb) Überzeugend bestreiten . . . . . . . . . . . . . . . . . l) Sensitivitätsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des zweiten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 221 . 223 . 225

. 227 . 231 . 236 237 . 240 . 244 . 249 . 250

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung . . . . . . . . . 253 I.

II.

III.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Was ist Intuition? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ist Intuition gut oder schlecht? . . . . . . . . . . . . . . Assoziative Intuition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Assoziatives Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Gutartige« und »bösartige« Lernumgebungen . . . . . a) Wie gut ist die Lernumgebung von Richtern für das Erlernen von intuitiver Beweiswürdigung? . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstruktive Intuition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Narrative Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bennet/Feldman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die »Anchored Narratives Theorie« von Wagenaar/van Koppen/Crombag . . . . . . . . . . . c) Pennington/Hastie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kognitive Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kohärenz als Parallel Constraint Satisfaction . . . . b) Konnektionistische Netze und Parallel Constraint Satisfaction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Empirische Voraussagen von PCS-Modellen der Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

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253 255 260 262 262 266

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

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267 271 272 273 273

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

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275 280 284 285 289

. . . . . 291 . . . . . 295

XIII

Inhaltsverzeichnis

IV.

aa) Die Kohärenzverschiebungen finden während des Entscheidungsfindungsprozesses statt, nicht erst nachträglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Informationsverzerrung erfasst auch logisch betrachtet unabhängige Aussagen . . . . . . . . . . . . cc) Kohärenzverschiebungen geschehen unbewusst . . . . dd) Der Zustand der Kohärenz ist selbstbewahrend . . . . ee) Auch bei unklarem Sachverhalt entsteht durch den Prozess der Kohärenzbildung ein subjektives Gefühl der Sicherheit, richtig entschieden zu haben . . . . . . d) Implikationen deskriptiver Theorien kognitiver Kohärenz für die Befangenheit des vorbefassten Richters . . . . . . . e) Strategien zur Vermeidung von Kohärenzverschiebungen . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung? . . . . . 1. Neil MacCormicks narrative Kohärenz . . . . . . . . . . . . . 2. Ronald J. Allens relative Plausibilitätstheorie . . . . . . . . . . 3. Thagards Theorie erklärender Kohärenz . . . . . . . . . . . . . 4. Amalia Amayas aretaische Kohärenztheorie . . . . . . . . . . . 5. Bex’ hybride Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Bernard S. Jacksons semiotische Erzähltheorie . . . . . . . . . 7. Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 296 . 300 . 302 . 302

. 305 . . . . . . . . . . .

308 310 318 319 320 321 323 332 333 342 343

Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung . . . . . . . 349 I. II.

III.

Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie liefert Rationalität, keine Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Statistik . . 1. Relative Häufigkeit als Quelle subjektiver Überzeugung . . . 2. Das Problem der epistemisch richtigen Referenzklasse . . . . a) Konvergenz zur Rettung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dann halt 50 Prozent? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Wahl der richtigen Referenzklasse . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz 1. Erfahrungssätze als Quellen subjektiver Überzeugungen . . a) Die Lehre von den Erfahrungssätzen . . . . . . . . . . . . b) Abgrenzung der Erfahrungssätze von benachbarten Erscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Offenkundige (notorische) Tatsachen . . . . . . . . . bb) Normtatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Tatsächliche (natürliche) Vermutungen . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

349 351 351 354 356 358 363 367 368 368 368

. . . .

. . . .

371 371 372 375

XIV

Inhaltsverzeichnis

c) Quellen von Erfahrungssätzen . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wissenschaftliche Theorien . . . . . . . . . . . . . . . bb) Empirische (statistische) Daten . . . . . . . . . . . . . cc) Eigene oder fremde Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . dd) Allgemeine Lebenserfahrung, Alltagstheorien oder kulturelles Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schließen mit Erfahrungssätzen . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Inhalt von Erfahrungssätzen: Aussagen zur Likelihood oder zur a-posteriori-Wahrscheinlichkeit? . . . . . . . . . . f) Die Beweiskraft von Erfahrungssätzen . . . . . . . . . . . . aa) Die Beweiskraft von Erfahrungssätzen zur Wahrscheinlichkeit Pr(Hypothese|Indizien) . . . . . . bb) Die Beweiskraft von Erfahrungssätzen zur Likelihood Pr(Indizien|Hypothese) . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtliche Behandlung der Erfahrungssätze, insbesondere ihre Kontrolle durch Rechtsmittelinstanzen mit beschränkter Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Behauptungsbedürftigkeit von Erfahrungssätzen . . . bb) Beweisbedürftigkeit von Erfahrungssätzen . . . . . . . cc) Überprüfung von Erfahrungssätzen durch das Revisionsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Notwendigkeit einer Abgrenzung der überprüfbaren von den nicht überprüfbaren Erfahrungssätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Beschränkung der Überprüfung auf zwingende Erfahrungssätze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Beschränkung der Überprüfung auf Erfahrungssätze mit gesteigerter Beweiskraft (»allgemeine« Erfahrungssätze) . . . . . . . . . . . (4) Weitere Beschränkung nach der Quelle des Erfahrungssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Keine Überprüfung des Beweiswerts von Erfahrungssätzen? . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Dogmatische Grundlage der revisionsgerichtlichen Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Behauptungsbedürftigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beweisbedürftigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Überprüfung durch das Bundesgericht . . . . . . . . .

. . . .

378 378 380 380

. 381 . 385 . 388 . 391 . 391 . 393 . 397

. . . .

398 398 398 400

. 402

. 403 . 403

. 405 . 407 . 409 . . . . .

410 411 411 411 412

XV

Inhaltsverzeichnis

IV.

(1) Vor dem In-Kraft-Treten der schweizerischen Zivilprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unter der schweizerischen Zivilprozessordnung . (3) Der »Normcharakter« der Erfahrungssätze als Abgrenzungskriterium? . . . . . . . . . . . . . . (4) Dogmatische Grundlage der bundesgerichtlichen Überprüfung des Verstoßes gegen Erfahrungssätze mit gesteigerter Beweiskraft . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des vierten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 412 . 415 . 418

. 421 . 422

Fünfter Teil: Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 I. II.

III.

IV.

Unterschiedliches Beweismaß im Straf- und Zivilprozessrecht in den Ländern des Common Law Rechtskreises . . . . . . . . . . Entscheidungstheoretische Rechtfertigung des unterschiedlichen Beweismaßes für Zivil- und Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundbegriffe der Entscheidungstheorie . . . . . . . . . . . . . 2. Minimierung der erwarteten Fehlerkosten als Entscheidungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Welche Kosten sind maßgeblich? . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Erklärung des unterschiedlichen zivil- und strafrechtlichen Beweismaßes im Common Law durch die normative Entscheidungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regelbeweismaß im Zivilverfahren nach herrschender Lehre und Praxis in Deutschland und der Schweiz . . . . . . . . . . . . . 1. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regelbeweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik an den hohen Anforderungen an die richterliche Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zahlreiche Ausnahmen vom Regelbeweismaß . . . . . . . . 2. Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regelbeweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik an den hohen Anforderungen des Regelbeweismaßes c) Zahlreiche Ausnahmen zum Regelbeweismaß . . . . . . . . d) Exkurs: Das Regelbeweismaß im schweizerischen Sozialversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Regelbeweismaß in Zivilsachen ist die überwiegende Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 425 . 429 . 429 . 434 . 440

. 443 . 452 . 453 . 453 . 453 . . . . . .

456 463 469 469 473 474

. 478 . 482 . 482 . 482

XVI

V.

VI.

Inhaltsverzeichnis

2. Der Bezugspunkt der überwiegenden Überzeugung . . . . . . a) Die Lösung des Konjunktionsparadoxes nach Cohen . . . b) Die Lösung des Konjunktionsparadoxes nach Allen . . . . c) Löst das Konjunktionsparadox den Streit um das richtige Beweismaß in Zivilsachen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Berücksichtigung der Fehlerkosten über die Beweislastverteilung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Argumente für eine unterschiedliche Gewichtung der Kosten eines Fehlers 1. und 2. Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bewahrung des Status quo ante . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verlustaversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Reputationsschaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Andere Argumente gegen die Lehre von der überwiegenden Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ziel der Wahrheitsfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Notwendigkeit der Quantifizierung des Beweisergebnisses c) Leichtigkeit des Beschaffens von Beweismitteln . . . . . . . d) Steigende Anzahl Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Bevorzugung des Klägers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Erlahmung des Aufklärungseifers . . . . . . . . . . . . . . . g) Konsequente Fortführung führt zur Schadensteilung . . . . h) Legitimität des Justizsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . Lässt sich die Lehre von der überwiegenden Überzeugung mit dem geltenden Recht vereinbaren? . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wortlaut von § 286 ZPO-DE und Art. 157 ZPO-CH . . . . . 2. Vereinbarkeit mit dem materiellen Recht . . . . . . . . . . . . . 3. Beweislastregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gesetzliche Beweismaßsenkungen, insbesondere Glaubhaftmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die historische Kontroverse um den Begriff der Glaubhaftmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Lehre und Rechtsprechung zur Glaubhaftmachung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Lehre und Rechtsprechung zur Glaubhaftmachung in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Glaubhaftmachung als Anleitung zur Bestimmung der Entscheidungsgrenze nach den Fehlerkosten im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 490 . 493 . 495 . 496 . 505 . 505 . . . .

508 508 511 515

. . . . . . . . .

518 518 520 522 524 526 528 529 534

. . . .

540 541 544 545

. 550 . 551 . 554 . 558 . 565

. 565

XVII

Inhaltsverzeichnis

bb) Entscheidungsgrenze bei der Glaubhaftmachung des Verfügungsanspruchs bei vorsorglichen Maßnahmen cc) Entscheidungsgrenze bei der Glaubhaftmachung von Ablehnungs- respektive Ausstandsgründen . . . dd) Entscheidungsgrenze bei der Glaubhaftmachung des schutzwürdigen Interesses bei vorsorglicher Beweisabnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Zusammenfassung der eigenen Ansicht zum Beweismaß der Glaubhaftmachung . . . . . . . . . . VII. Das tatsächliche Regelbeweismaß in Zivilsachen . . . . . . . . . 1. Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und Ablauf der Befragung . . . . . . . . bb) Messung der Verlustaversion . . . . . . . . . . . . . . cc) Messung der Entscheidungsgrenze . . . . . . . . . . c) Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Zusammenfassung des fünften Teils . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 567 . . 570

. . 571 . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

573 574 575 576 576 578 578 579 582 584 591 594 595

Sechster Teil: Thesenartige Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . 599 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 I. II. III. IV.

Dutch Book Argumente für Additivität und Konditionalisierung Carnaps induktive Logik an einem einfachen Beispiel erläutert . Fagans Nomogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedingte Wahrscheinlichkeitstabellen für das Bayes’ Netz des »Hans H. Falles« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Resultate Experiment »Hans H.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Input für die ECHO Simulation des Hans H. Falles . . . . . . . VII. Fragebogen der Umfrage zu den Fehlerkosten in Zivilsachen . . VIII. Sachverhalt der Umfrage zum Beweismaß . . . . . . . . . . . . .

. . 607 . . 611 . . 614 . . . . .

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615 616 617 620 621

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Sach- und Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673

Abkürzungsverzeichnis Das folgende Abkürzungsverzeichnis umfasst nur Abkürzungen, die in der Schweiz üblich sind und dem deutschen Juristen unbekannt sein dürften. Für die in der deutschen Rechtssprache üblichen Abkürzungen wird auf Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 7. Aufl. Berlin 2013, und für die in der Alltagssprache gebräuchlichen Abkürzungen auf Duden, Die deutsche Rechtschreibung, 26. Aufl. Mannheim 2013, verwiesen. Die Titel nicht-juristischer Zeitschriften und nicht-deutschsprachiger juristischer Zeitschriften werden bewusst nicht abgekürzt. aBV AJP BBl BGE BGer BJM BK BL BPatGer BSK BV ER GR HGer KGer KuKo-ZPO LU OGer OR SHK SJZ SMI SZZP ZBJV ZGB ZH ZK ZPO-CH ZPO-DE ZSR NF ZZZ

(alte) Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 (Schweiz) Allgemeine Juristische Praxis Bundesblatt (Schweiz) Bundesgerichtsentscheidung (Schweiz) Bundesgericht (Schweiz) Basler Juristische Mitteilungen Berner Kommentar Basel-Landschaft Bundespatentgericht (Schweiz) Basler Kommentar Bundesverfassung vom 18. April 1999 (Schweiz) Einzelrichter (Einzelgericht) Graubünden Handelsgericht Kantonsgericht Kurzkommentar der schweizerischen Zivilprozessordnung Luzern Obergericht Obligationenrecht (Schweiz) Stämpflis Handkommentar (Schweiz) Schweizerische Juristen-Zeitung Schweizerische Mitteilungen zum Immaterialgüterrecht Schweizerische Zeitschrift für Zivilprozessrecht Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins Zivilgesetzbuch (Schweiz) Zürich Zürcher Kommentar Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 Deutsche Zivilprozessordnung vom 5. Dezember 2005 Zeitschrift für Schweizerisches Recht (Neue Fassung) Schweizerische Zeitschrift für Zivilprozess- und Zwangsvollstreckungsrecht

Le doute n’est pas un état bien agréable, mais l’assurance est un état ridicule.* Voltaire, Brief an Friedrich den Großen vom 28. November 1770

Einleitung 1. Motivation und Ziel Die Bedeutung der Sachverhaltsrekonstruktion für die Rechtsanwendung braucht kaum besonders betont werden.1 Jeder Rechtsanwendung muss die Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts vorangehen.2 Im Zivilprozess sind die tatsächlichen Grundlagen dabei nach der Erfahrung eines ehemaligen Richters am Oberlandesgericht Oldenburg »nahezu in jedem Rechtsstreit«3 umstritten. Eine ältere empirische Untersuchung kommt zum gleichen Resultat, berichtet sie doch, dass in 80% der Zivilprozesse Probleme der richtigen Tatsachenfeststellung entscheidungserheblich seien.4 Gemäß einer neueren Statistik für den Kanton Zürich ergeht in immerhin rund 50% aller zivilrechtlichen Verfahren ein Sachurteil erst nach durchgeführtem Beweisverfahren.5 Tatsachenfeststellung ist nicht nur richterliches Alltagsgeschäft, sie ist auch außerordentlich schwierig. »Facti interpretatio plerumque etiam prudentissimos fallat.«6 Schellhammer geht so weit, zu sagen, dass »es oft schwieriger ist, den Sachverhalt festzustellen, als die passende Rechtsnorm zu finden und anzuwenden.«7 Der Richter muss trotz ungewisser Beweismittel – Zeugen können irren, Urkunden falsch und Indizien widersprüchlich sein – entscheiden, ob er eine Tatsachenbehauptung für wahr erachtet. Gewissheit ist unerreichbar, »gerichtliche Entscheidungen [müssen] unter Unsicherheit des Existierens faktischer Umstände getroffen werden.«8 Das schafft Unbehagen, denn der Mensch strebt nach Sicherheit.9 »Zweifel ist kein angenehmer Zustand, aber Sicherheit ist ein absurder Zustand.« Zahlreiche Nachweise für Autoren, welche die Bedeutung der Tatsachenfeststellung betonen, bei Deppenkemper, Beweiswürdigung, 13. 2 Tatsächlich beeinflussen sich Sachverhaltsrekonstruktion und Normverständnis, Hartwieg, Sachverhaltsarbeit als Steuerungsinstrument, 83 ff., dazu hinten, S. 300 ff. 3 Meyke, NJW 2000, 2230–2235, 2230. 4 Bender/Schumacher, Erfolgsbarrieren vor Gericht, 137. 5 Higi, ZZZ 2006, 459–495, 479. 6 Digesta Iustiniani, Liber XXII, 6, 2; frei übersetzt »Bei der Würdigung von Tatsachen irren sich viele und auch die Klügsten.« 7 Schellhammer, Zivilprozess, Rz. 550. 8 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 22. 9 Kahneman/Tversky, Econometrica 1979, 263–292, 266 ; Tversky/Kahneman, Science 1981, 453–458, 455, »certainty effect«. * 1

2

Einleitung

Der Bedeutung und Schwierigkeit der Tatsachenfeststellung vor Gericht steht eine gewisse Vernachlässigung des Themas in der deutschsprachigen juristischen Ausbildung und Literatur gegenüber.10 Zwar gibt es eine beinahe uferlose Literatur zu dogmatischen Fragen der Beweiswürdigung, aber zum Vorgang der richterlichen Überzeugungsbildung gibt es wenig Arbeiten, die über die Wiederholung von Gemeinplätzen wie der Bindung an Denkgesetze und Erfahrungssätze hinausgehen.11 Das mag darauf zurückzuführen sein, dass die freie Beweiswürdigung »häufig das begriffliche Alibi [liefert], um die Diskussion über die Techniken der Beweiswürdigung zu beenden, statt sie – wie es erforderlich gewesen wäre – auf neuer Basis und mit noch engagierterem kritischem Bewusstsein wieder zu eröffnen.«12 Das Desinteresse der Rechtslehre an der Beweiswürdigung als Denkvorgang aber ist ein unnötiger Preis für die Errungenschaft der freien Beweiswürdigung.13 Bereits Endemann, der wohl wichtigste Vorkämpfer für das Prinzip der freien Beweiswürdigung im deutschen Zivilprozessrecht, wies darauf hin, dass »es [sich von selbst] versteht, dass die Art und Weise der Überzeugungsgewinnung und Bildung den Gegenstand wissenschaftlicher Darstellung und systematischer Erörterung gewähren kann, die eben nur keine fachwissenschaftlich-juristische im strengen Sinne mehr sein wird.«14 »Gefragt ist nicht die juristische Subsumtion, gefragt sind Naturwissenschaft und Logik, Psychologie und Lebenserfahrung.«15 Diese Arbeit versucht deshalb, sich der Beweiswürdigung interdisziplinär zu nähern. Dieser Ansatz wird in der amerikanischen Rechtslehre seit den 1970-er Jahren, in England seit den 1990-er Jahren, unter dem von Lempert geprägten Stichwort der »New Evidence Scholarship« vertreten.16 Ich bin überzeugt, dass die »interdisziplinäre Wende«17 auch dem kontinentaleuropäischen Beweisrecht bevorsteht, und dass sich zahlreiche Probleme der Beweiswürdigung, auch dogmatischer Natur, nicht ohne den Blick über das eigene Fachgebiet hinaus lösen lassen.18 Ziel dieser Arbeit ist einerseits, eine normative Beweistheorie zu entwickeln und zu zeigen, wie sich der Richter rational eine Überzeugung zur Wahrheit 10

Schneider, NJW 1986, 971–972, 971; Schilken, Zivilprozessrecht, Rz. 392. Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, ist sicherlich die bekannteste Ausnahme. 12 Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 8 f. 13 Peters, in: Lejman et al. (Hrsg.), Festskrift Karl Olivecrona, 532–551, 541. 14 Endemann, AcP 1858, 92–129, 96. Ebenso Peters, in: Lejman et al. (Hrsg.), Festskrift Karl Olivecrona, 532–551, 541: »Für die geistige Beherrschung dieses gesetzesfreien Raumes bedarf es freilich mehr als bloß rechtlicher Anwendung und Ableitung.« 15 Schellhammer, Zivilprozess, Rz. 550. 16 Lempert, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 61–111, 61; Jackson, Oxford Journal of Legal Studies 1996, 309–328, 316; Park/Saks, Boston College Law Review 2006, 949–1031; Twining, in: Dawid/Twining/Vasilaki (Hrsg.), Evidence, inference and enquiry, 73–118, 92 ff. 17 Park/Saks, Boston College Law Review 2006, 949–1031, 949. 18 Ebenso Fill, De calculatione iustitiae iudicatorum, 12. 11

Einleitung

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strittiger Tatsachenbehauptungen bilden kann. Andererseits soll beschrieben werden, wie die Entscheidungsfindung tatsächlich erfolgt, denn unbestrittenermaßen ist Überzeugungsbildung kein rein rationaler Vorgang. Schließlich soll eine Antwort auf die seit langem umstrittene Frage des richtigen Beweismaßes in Zivilsachen gegeben werden. Das Verständnis der rationalen Überzeugungsbildung verlangt einen Blick in die Wahrscheinlichkeitstheorie, verstanden als Logik der Überzeugungsbildung. Die intuitive Überzeugungsbildung ist Domäne der deskriptiven (psychologischen) Entscheidungstheorie, und das Beweismaß wird mit den Methoden der normativen Entscheidungstheorie analysiert. Dabei soll aber die genuin juristische Natur der Beweiswürdigung nicht aus den Augen verloren werden. Interdisziplinarität ist nicht »l’art pour l’art«, sondern dient dem Zweck, das Recht weiter zu entwickeln. 2. Aufbau der Arbeit und Überblick über den Gedankengang Im ersten Teil zu den Grundlagen werden vorab einige für jede Beweistheorie wichtige Begriffe definiert. Dabei werden im Wesentlichen in Lehre und Rechtsprechung bewährte Umschreibungen verwendet und nur klargestellt, für welche Deutung sich der Schreibende entschieden hat, wenn es unterschiedliche Auffassungen gibt. Beweiswürdigung wird verstanden als der Vorgang der richterlichen Überzeugungsbildung zur Wahrheit von Tatsachenbehauptungen. Eine für die weitere Arbeit wichtige Weichenstellung wird bei der Definition des Beweismaßes vorgenommen. Dieses wird definiert als der Grad persönlicher Überzeugung von der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung, der erreicht werden muss, ehe ein Richter die Behauptung als wahr erachten darf. Abgelehnt wird demnach die ebenfalls vertretene Meinung, das Beweismaß bestimme, wovon der Richter überzeugt sein müsse. Denn Bezugspunkt der richterlichen Überzeugung kann nur die (materielle) Wahrheit sein. Bevor das Beweisziel definiert werden kann, ist in gebotener Kürze eine Explikation des Wahrheitsbegriffs notwendig. Es zeigt sich, dass der für die Tatsachenfeststellung vor Gericht maßgebliche Wahrheitsbegriff derjenige der Korrespondenztheorie ist, der besagt, dass eine Aussage wahr ist, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die Entscheidung für den Korrespondenzbegriff der Wahrheit wird bei der Beurteilung des normativen Status von Kohärenztheorien der Beweiswürdigung am Ende des dritten Teils der Arbeit eine wichtige Rolle spielen. Die Lehre von der formellen Wahrheit wird erläutert und es wird gezeigt, weshalb sie nach Abschaffung der gesetzlichen Beweistheorie überflüssig geworden ist. Ziel der Tatsachenfeststellung vor Gericht ist die (materielle) Wahrheit der Tatsachenbehauptungen, die das Gericht dem Urteil zugrunde legt. Dieses Ziel kann nicht immer erreicht werden, aber das ist kein Grund, es nicht als ideales Ziel, das Voraussetzung für die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit ist, anzustreben.

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Im historischen Überblick zur Geschichte der freien Beweiswürdigung im 3. Kapitel des ersten Teils liegt das Hauptaugenmerk auf der Einführung der freien Beweiswürdigung in Deutschland und der Schweiz, während die ältere Geschichte der freien Beweiswürdigung nur gestreift wird. Freiheit der Beweiswürdigung bedeutet, dass der Richter von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht an gesetzliche Regeln zur Bestimmung der Beweiskraft von Beweismitteln gebunden ist. Tatsachenfeststellung bleibt aber eine Sache der Vernunft, nicht des Gefühls. Die französische Lehre von der conviction intime, der inneren Überzeugung, die in Frankreich in der Folge der Revolution von 1789 zusammen mit den Geschworenengerichten eingeführt wurde, stieß in Deutschland auf Widerstand. Erst nachdem sie sich zur Lehre von der conviction raisonée, der vernünftigen Überzeugung, gewandelt hatte, wurde sie akzeptiert und die bis dahin zum Schutz vor richterlicher Willkür als notwendig erachteten gesetzlichen Beweisregeln abgeschafft. Seit Savigny (1846) wird die Sicherung vor Willkür in der Beweiswürdigung darin gesehen, dass die richterliche Überzeugungsbildung nicht gegen die allgemeinen Denkgesetze und die Erfahrungssätze verstoßen darf.19 Die Überlegungen, die den Richter bewogen haben, eine Tatsachenbehauptung als wahr oder falsch zu akzeptieren, müssen nachvollziehbar sein und offen gelegt werden. Die den Abschluss des ersten Teils bildende Darstellung der herrschenden Lehre und Rechtsprechung zur freien Beweiswürdigung in Deutschland und der Schweiz zeigt, dass sich an dieser Auffassung bis heute im Wesentlichen nichts geändert hat. Der zweite, umfangreichste, Teil der Arbeit ist der Explikation der Denkgesetze der Beweiswürdigung gewidmet. Traditionell werden unter den Denkgesetzen die Schlussregeln der klassischen (aristotelischen) Logik verstanden. Diese Regeln erlauben wahrheitserhaltendes Schließen; d. h. unter der Voraussetzung, dass die Prämissen wahr sind, ist die auf einem gültigen Schluss beruhende Folgerung notwendigerweise ebenfalls wahr. Deduktive Argumente vermögen den Gehalt der Prämissen explizit zu machen, aber sie können Wissen nicht erweitern. Letzteres können nur Argumente der induktiven Logik, die dafür nicht zwingend wahr sind. Die deduktive Logik muss im Rahmen der Beweiswürdigung beachtet werden, aber die Erkenntnisse, die aus ihr folgen, sind gering, da die Schwierigkeit bei der Tatsachenfeststellung nicht darin besteht, aus wahren Prämissen notwendigerweise wahre Folgerungen zu ziehen, sondern aus unsicheren Prämissen plausible Folgerungen abzuleiten. Die Regeln der Wahrscheinlichkeitstheorie können als Regeln einer induktiven Logik verstanden werden, die solche probabilistische Schlüsse ermöglicht. Die Einführung der Grundregeln der Wahrscheinlichkeit und die Definition der bedingten Wahrscheinlichkeit, die im weiteren Verlauf eine zentrale Rolle spielen wird, führt über zu den Deutungen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs, zu 19

Savigny, GA 1858, 469–491, 485.

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denen die klassische, frequentistische, subjektive und logische Deutung gehören. Die Verwendung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in der deutschen juristischen Literatur zur Beweiswürdigung wird in chronologischer Übersicht beginnend mit Kegels einflussreichem Aufsatz zum Individualanscheinsbeweis von 1967 bis zu Geipels Dissertation zur »Objektivierung der Beweiswürdigung« von 2008 dargestellt.20 Die dadurch geschaffenen Grundlagen erlauben die Begründung der These, dass die richterliche Überzeugung von der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung nichts anderes als eine epistemische Wahrscheinlichkeit ist, die ein Wissensdefizit ausdrückt. Persönliche Überzeugungen, dies wird im 4. Kapitel des zweiten Teils gezeigt, sollten den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie genügen, weil das Subjekt sonst mit Fug als irrational bezeichnet werden kann. Richterliche Überzeugungen sind subjektive Wahrscheinlichkeiten: Die Regeln der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie sind die Regeln der Logik der (richterlichen) Überzeugungsbildung. »La théorie des probabilités n’est, au fond, que le bon sens réduit au calcul;«21 dies der Schluss der Argumentation bis hierher. Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie ermöglicht insbesondere einen probabilistischen Schluss von einer beobachteten Wirkung auf die wahrscheinliche Ursache. Dieser Schluss ist zentral für die Beweiswürdigung, denn Beweismittel sind nichts anderes als die der unmittelbaren Sinneswahrnehmung des Richters zugänglichen Folgen von nicht direkt durch den Richter beobachtbaren Ursachen. Von der Aussage des Zeugen, er habe den Sachverhalt »X« wahrgenommen, ist der Schluss darauf, dass sich der Sachverhalt »X« wie berichtet abgespielt hat, nur zulässig, wenn das der Fall sein von X die Ursache für die Aussage des Zeugen ist, und nicht beispielsweise eine Sinnestäuschung. Den probabilistischen Schluss von der beobachteten Wirkung auf die unbeobachtete Ursache – »la probabilité des causes par les évènements«22 – ermöglicht Bayes’ Regel. Im 4. Kapitel des zweiten Teils wird daher die Herleitung und Anwendung von Bayes’ Regel im Detail gezeigt. Aus Bayes’ Regel folgt die Definition der Beweiskraft als Likelihood-Quotient, die allen weiteren Überlegungen zugrunde liegt. Eine alternative Erklärung des Beweiswerts durch die schwedische Beweiswertmethode (Ekelöf-Halldén-Edman-Modell23 ) wird geprüft und mit eingehender Begründung verworfen. Das 5. Kapitel des zweiten Teils beginnt mit einer Übersicht zur Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung. Es zeigt sich insbesondere,

20 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344; Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung. 21 Laplace, Essai philosophique sur les Probabilités, 95. 22 Laplace, in: L’académie des sciences (Hrsg.), Pierre Simon Laplace – Œuvres complètes, 27–65, 27 ff. 23 Levi, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 27–43, 27; Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 47.

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dass das »schillernde«24 Institut des Anscheinsbeweises eine gelebte Anwendung von Bayes’ Regel ist. Der eigentliche Wert einer im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie kohärenten Überzeugungsbildung zeigt sich aber erst in komplexen Fällen mit zahlreichen unsicheren und widersprüchlichen Beweismitteln. Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie erlaubt die Überprüfung, ob die der Überzeugungsbildung zugrunde liegenden Annahmen widerspruchsfrei zusammenpassen und welch rationaler Überzeugungsgrad für die Wahrheit der interessierenden Hypothese durch die Beweislage vermittelt wird. Kohärenz im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie kann in solch komplexen Fällen nicht ohne Hilfsmittel erreicht werden; sie übersteigt die Kapazität des menschlichen Gehirns bei weitem. Bayes’ Netze sind ein Hilfsmittel, das die formale Modellierung selbst komplexester Sachverhalte auf eine einleuchtende, auch dem mathematischen Laien zugängliche, Weise erlaubt. Allerdings sind die Grundlagen, die dem Anwender von Bayes’ Netzen letztlich verborgen bleiben, technisch einigermaßen anspruchsvoll, weshalb der juristische Leser die Einführung in die Bayes’ Netze möglicherweise als schwere Kost empfinden wird. Die Vorteile der Bayes’ Netze, welche die Kohärenz der Teilüberzeugungen im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie garantieren, bekannte Trugschlüsse der Beweiswürdigung vermeiden helfen, die Beschränkungen des Arbeitsgedächtnisses in komplexen Fällen überwinden, und so flexibel sind, dass sie einfach dem sich ändernden Wissen angepasst werden können, rechtfertigen die intellektuelle Investition aber. Die formale Modellierung zeigt, auf wie vielen Annahmen, die ohne erhärtete empirische Basis getroffen werden, jede Beweiswürdigung beruht. Weil sie dazu zwingt, versteckte Annahmen offen zu legen, macht sie die Überzeugungsbildung transparent und erlaubt erst einen rationalen Diskurs über ihre Grundlagen. Nach der Einführung in die technischen Grundlagen und die Erstellung von Bayes’ Netzen wird die durch Bayes’ Netze unterstützte Überzeugungsbildung an vier, zunehmend komplexeren, Beispielen konkret dargestellt. Das letzte und komplexeste Beispiel, der so genannte »Hans H./Jason Wells-Fall« wird im dritten Teil zur Psychologie der Überzeugungsbildung wieder verwendet werden, um aufzuzeigen, inwiefern eine holistische, intuitive und eine zergliedernde, rationale Beweiswürdigung zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Den Abschluss des zweiten Teils bildet die Sensitivitätsanalyse, die erlaubt, Aussagen dazu zu treffen, welche Annahmen die Überzeugung zur Wahrheit der interessierenden Tatsachenbehauptung in welchem Ausmaß beeinflussen. Dieses Wissen ermöglicht es insbesondere, eine informierte Entscheidung darüber zu treffen, ob es sich lohnt, Ressourcen in die Gewinnung weiterer Information zu investieren. 24 Rabel, RheinZ 1923, 428–442, 442; Peters, MDR 1949, 66–70, 67; Rommé, Anscheinsbeweis, 1; Engels, Anscheinsbeweis, 2.

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Es ist unbestreitbar, dass Überzeugungsbildung deskriptiv nicht den Regeln der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie folgt. Beweiswürdigung beruht »einerseits auf intellektuellen Denkoperationen und andererseits auf irrationalen, gefühlsmäßigen Vorgängen.«25 »Intuition und Gefühl«26 spielen eine wichtige Rolle. Der dritte Teil der Arbeit widmet sich daher der Psychologie der Überzeugungsbildung. Im ersten Kapitel des vierten Teils wird Intuition definiert als ein automatischer, schneller, anstrengungsloser und weitgehend unbewusster Prozess der Informationsverarbeitung der in einem Gefühl resultiert, das ein Urteil oder eine Entscheidung beeinflussen kann. Anschließend wird gezeigt, dass die heftig umstrittene Frage, ob intuitive Entscheidungen gut oder schlecht sind, so nicht beantwortet werden kann, da es auf die der Intuition zugrundeliegenden kognitiven Prozesse ankommt, ob die Intuition in einer bestimmten Situation zu einem guten oder schlechten Urteil führt. Einer in der Psychologie vorgeschlagenen Unterscheidung der Intuition in assoziative und konstruktive Intuition folgend, wird gezeigt, dass sich Richter in einer für die Entwicklung von guten Intuitionen bei der Beweiswürdigung ungünstigen Lernumgebung befinden, da sie kein relevantes Feedback erhalten. Dies heißt nicht, dass Richter keine Intuitionen haben, oder dass diese generell schlecht sein müssen, aber es bedeutet, dass Richter wahrscheinlich die gleichen Intuitionen wie andere Menschen haben. Während assoziative Intuition auf der automatischen und oft unbewussten Wiedererkennung von erlernten Mustern beruht, ist konstruktive Intuition ein Prozess der Kohärenzbildung. Während der Entscheidungsfindung werden in einem unbewussten, automatischen Prozess die Hinweisreize und vorbestehende Erwartungen miteinander abgeglichen und in Übereinstimmung gebracht, so dass ein kohärentes Gesamtbild entsteht. »Geschichten-Modelle« der Beweiswürdigung, oder Theorien narrativer Kohärenz, postulieren, dass Mittel zur Schaffung von Kohärenz bei der Beweiswürdigung die Erzählung ist. Der Richter versucht, die vorliegenden Beweismittel vor dem Hintergrund seiner Lebenserfahrung zu einer stimmigen Geschichte zusammenzufügen. Gelingt ihm dies, ist er überzeugt, dass die Geschichte wahr ist. Gefährlich ist, dass im Verlaufe der Überzeugungsbildung nicht nur die Geschichte den Beweismitteln, sondern auch die Interpretation der Beweismittel der Geschichte angepasst wird. Parallel Constraint Satisfaction (PCS) Modelle der Überzeugungsbildung sind eine moderne, formalisierte Weiterentwicklung älterer Theorien kognitiver Kohärenz, zu denen die Geschichten-Modelle der Beweiswürdigung gehören. Ein »constraint« (Restriktion) ist ein Verhältnis zweier Aussagen, das positiv ist, wenn die Aussagen zusammenpassen, und negativ, wenn sie nicht zusammenpassen. Das Problem der Kohärenzmaximierung besteht nach den PCS-Modellen darin, 25 Guldener, Beweiswürdigung und Beweislast, 6; Bühler, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 72–92, 89. 26 Meier/Sogo, Zivilprozessrecht, 286.

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eine Aufteilung der Aussagen in »akzeptiert« und »verworfen« zu finden, die gleichzeitig möglichst viele Restriktionen erfüllt, wobei eine positive Restriktion erfüllt ist, wenn die Aussagen in der gleichen Teilmenge sind, und eine negative Restriktion, wenn sie in unterschiedlichen Teilmengen sind. Zur Lösung von Parallel Constraint Satisfaction Problemen werden bevorzugt konnektionistische Netze verwendet. Anders als viele Kohärenztheorien sind PCS-Modelle nicht von einer Vagheit geplagt, die alles und nichts zu erklären vermag. Die formale Modellierung des Kohärenzbildungsprozesses führt zu empirisch überprüfbaren Voraussagen, die sich in vielen Fällen bewahrheitet haben. Insbesondere sagen PCS-Modelle der Überzeugungsbildung voraus, dass sich die Bewertung von Indizien während des Prozesses der Entscheidungsfindung in Richtung der später getroffenen Entscheidung verändert, die Bewertung von logisch betrachtet unabhängigen Indizien in der gleichen Richtung beeinflusst wird, dieser Prozess unbewusst abläuft, es schwierig ist, einen einmal eingesetzten Kohärenzbildungsprozess durch neue Evidenz in eine andere Richtung zu lenken und auch bei einem anfänglich ambivalenten Sachverhalt, der verschiedene Interpretationen zulässt, die Überzeugung, die richtige Interpretation gefunden zu haben, nach der Entscheidung sehr hoch ist. Dieses psychologische Verständnis des Kohärenzbildungsprozesses erlaubt es, den normativen Status von Theorien narrativer und erklärender Kohärenz für die Beweiswürdigung zu beurteilen. Sowohl Geschichten-Modelle der Beweiswürdigung wie auch die Theorie erklärender Kohärenz sind als Formen des Schlusses auf die beste Erklärung als normative Modelle der Beweiswürdigung propagiert worden. Am Beispiel des Hans H. Falles wird gezeigt, wie dieser Fall gemäß diesen Theorien – soweit sie spezifiziert genug sind, um eine vernünftige Aussage zu erlauben – beurteilt würde. Es zeigt sich insbesondere, dass unter der Theorie erklärender Kohärenz eine geringfügige Änderung des Inputs zu völlig anderen Schlüssen führt. Es kann mehrere annährend gleich kohärente mentale Repräsentationen eines Sachverhalts geben. Theorien erklärender Kohärenz bringen das epistemische Defizit, das einem unklaren Sachverhalt und einer ambivalenten Beweislage innewohnt, zum Verschwinden. Unter anderem deshalb sind sie als normative Theorien der Beweiswürdigung abzulehnen. Während die Kohärenz im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie geeignet ist, das epistemische Defizit ambivalenter Sachverhalte zu bewahren, was experimentell gezeigt wird, kann die Einhaltung der Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie allein nicht garantieren, dass die Überzeugungen mit der Wirklichkeit korrespondieren. Ähnlich wie die deduktive Logik, die keine Aussage zur Wahrheit der Prämissen macht, sondern nur zur Gültigkeit des Schlusses, macht die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie nur Aussagen dazu, welche Überzeugungen widerspruchsfrei zusammenpassen. Eine erkenntnistheoretische Methode muss aber eine Aussage dazu machen, woher die ursprünglichen Überzeugungen stammen dürfen.

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In der Jurisprudenz ist es die Lehre von den Erfahrungssätzen, die den Inhalt der Überzeugungen bestimmt, die der Richter gerechtfertigterweise haben darf. Der vierte Teil der Arbeit widmet sich daher der Explikation der Lehre von den Erfahrungssätzen. Weil die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie in ihrer Reinform keine Vorschriften zu den zulässigen Quellen der Überzeugungen macht, wird sie meist, häufig implizit, durch das »Frequency Principle«27 oder »Principle of Direct Probability«28 ergänzt. Dieses besagt vereinfacht, dass die persönliche Überzeugung dafür, dass ein zufällig ausgewähltes Individuum, das einer Referenzklasse angehört, eine bestimmte Eigenschaft aufweist, der relativen Häufigkeit dieser Eigenschaft in der Referenzklasse entsprechen muss. Mit der Ergänzung durch das Frequency Principle handelt sich die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie das Referenzklassenproblem des frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs ein. Dieses Problem plagt jeden, auch informellen, Schluss von einer Generalisierung auf den Einzelfall, weshalb ein pragmatischer Lösungsansatz für dieses theoretisch unlösbare Problem beschrieben wird. Im weiteren Verlauf des vierten Teils wird argumentiert, dass die Lehre von den Erfahrungssätzen in der juristischen Beweiswürdigung die Rolle des Frequency Principle übernimmt. Gemäß der Lehre von Stein erlauben Erfahrungssätze den Schluss von einer allgemeinen, durch Induktion gewonnene, Regel auf den Einzelfall.29 Sie erfüllen den gleichen Zweck, den die relativen Häufigkeiten gemäß dem Frequency Principle übernehmen. Erfahrungssätze werden daher als Aussagen zur relativen Häufigkeit eines Merkmals in einer Referenzklasse verstanden. Damit lassen sich namentlich die Randbedingungen eines gültigen Schlusses vom Erfahrungssatz auf den Einzelfall aufzeigen und Aussagen zum Beweiswert von Erfahrungssätzen machen, die über die bisherigen Erkenntnisse hinausgehen. Das konzeptuelle Verständnis von Erfahrungssätzen als Aussagen zur relativen Häufigkeit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Erfahrungssätze nicht nur auf statistische Daten stützen können. Als Quellen von Erfahrungssätzen kommen neben wissenschaftlichen Theorien auch eigene und fremde Erfahrung und »Alltagswissen«30 in Frage, d. h. Wissen, das von der Gesellschaft als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Da von Erfahrungssätzen, die sich nur auf Alltagswissen stützen, eine erhöhte Gefahr ausgeht, rechtfertigt es sich, sie im Rechtsmittelverfahren einer erhöhten Kontrolle zu unterziehen. Diese Auffassung vermag die höchstrichterliche deutsche Rechtsprechung zur Revisibilität des Verstoßes gegen Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung trotz der grundsätzlichen Bindung des Revisionsgerichts an die Tatsachenfeststellung der 27

Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 137. Hájek, Synthese 2007, 563–585, 578. 29 Stein, Privates Wissen, 14 ff. 30 Zum Begriff Lenz, in: Endruweit/Trommsdorff (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie in 3 Bänden, Eintrag »Alltagswissen«. 28

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Berufungsinstanz besser zu erklären und zu rechtfertigen als bisherige Theorien. In der Schweiz gewinnt unter der schweizerischen Zivilprozessordnung die Abgrenzung der vom Bundesgericht frei überprüfbaren Erfahrungssätze von den nicht überprüfbaren Erfahrungssätzen eine ganz neue praktische Bedeutung, da die Beweiswürdigung jetzt erstmals bundesrechtlich geregelt ist. Zwar ist das Bundesgericht wie das Revisionsgericht in Deutschland grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz gebunden, aber die Anwendung von Bundesrecht wird vom Bundesgericht frei geprüft. Eine Beweiswürdigung, welche die von Art. 157 ZPO-CH gesteckten Grenzen überschreitet, ist eine Verletzung von Bundesrecht. Welchen Normgehalt Art. 157 ZPO-CH aufweist, ist daher von entscheidender Bedeutung für die Überprüfung der Beweiswürdigung kantonaler Instanzen durch das Bundesgericht. Der letzte Teil der Arbeit widmet sich der Frage des richtigen Regelbeweismaßes im Zivilverfahren. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass das Common Law zwei verschiedene Beweismaße für Straf- und Zivilsachen kennt, wobei das zivilprozessuale Beweismaß bereits erfüllt ist, wenn die anspruchsbegründenden Tatsachenbehauptungen nach der Überzeugung des Tatsachenfeststellers »eher wahr als falsch« sind. Entscheidungstheoretisch lässt sich der Unterschied durch unterschiedliche Fehlerkosten erklären; während die Verurteilung eines Unschuldigen generell als ein schwererer Fehler als der Freispruch eines Schuldigen betrachtet wird, ist gemäß der US-amerikanischen Lehre nicht ersichtlich, weshalb die Abweisung einer begründeten Klage weniger falsch sein soll als die Gutheißung einer unbegründeten Klage. Die kontinentaleuropäischen Rechtssysteme kennen traditionellerweise dagegen nur ein Beweismaß, das für Zivilund Strafsachen (gemäß Gesetz) identisch ist. Die in Deutschland in den 1970-er Jahren unternommenen Versuche, die »überwiegende Wahrscheinlichkeit« als Regelbeweismaß in Zivilsachen einzuführen, sind auf heftige Ablehnung gestoßen. Im weiteren Verlauf des letzten Teils wird der Versuch unternommen, die »Lehre von der überwiegenden Überzeugung«, die anders als das »Überwiegensprinzip« auf die subjektive Überzeugung des Richters abstellt, aber einen geringeren Grad der Überzeugung genügen lässt, zu begründen und gegen Einwände zu verteidigen. Anders als bei bisherigen Versuchen wird gezeigt, welche Kosten eines Fehlurteils normativ zu berücksichtigen sind. Die normativ relevanten Kosten ergeben sich nach hier vertretener Auffassung direkt aus den Zwecken des Zivilprozesses. Auf die individuelle Risikotragfähigkeit der Parteien kommt es hingegen nicht an. Die Lehre von der überwiegenden Überzeugung ist schlicht das Beweismaß, das die Zwecke des Zivilprozesses am besten verwirklicht. Macht man deutlich, worauf sich die richterliche Überzeugung beziehen muss, wird zudem klar, dass die Unterschiede zwischen der herrschenden Lehre und der Lehre von der überwiegenden Überzeugung weniger groß sind als gemeinhin angenommen. Wo mehrere unabhängige Tatbestandselemente gegeben sein müssen, müssen die einzelnen Elemente auch nach der Lehre der überwiegenden

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Überzeugung mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit vorliegen, die 50% deutlich übersteigt, soll nicht die Wahrscheinlichkeit des gemeinsamen Vorliegens aller Tatbestandsmerkmale unter 50% sinken. Umgekehrt zeigt sich, dass die herrschende Lehre, die auf der vollen Überzeugung beharrt, in Kauf nimmt, dass die Gesamtheit aller anspruchsbegründenden Merkmale mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von unter 50% vorliegt, wenn zahlreiche unabhängige Merkmale gegeben sein müssen. Es wird gezeigt, dass zahlreiche Einwände gegen die Lehre von der überwiegenden Überzeugung auf der moralischen Intuition beruhen, dass eine ungerechtfertigte Veränderung des Status quo ante Klageeinreichung schwerer wiegt als eine ungerechtfertigterweise unterlassene Änderung des Status quo ante. Diese moralische Intuition vermag das Beweismaß der vollen Überzeugung aber nicht zu rechtfertigen. Das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung lässt sich entgegen einer verbreiteten Ansicht auch mit dem geltenden deutschen und schweizerischen Recht vereinbaren. Die Kosten eines Fehlurteils werden nicht bereits bei der Beweislastverteilung berücksichtigt, und die Lehre von der überwiegenden Überzeugung macht die Beweislastregeln auch nicht überflüssig, denn Grenzfälle wird es immer geben. Dass diese weniger häufig sind, gereicht ihr in Anbetracht der Komplexität und Unwägbarkeiten der Beweislastverteilung nicht zum Nachteil. Richtig ist, dass die Konzeption des Regelbeweismaßes als überwiegende Überzeugung dazu führen muss, dass die Glaubhaftmachung bereits bei einer Überzeugung von unter 50% gegeben sein kann. Es wird gezeigt, dass die Glaubhaftmachung am besten als Anleitung zur Entscheidung unter Abwägung der Fehlerkosten im konkreten Fall, also anders als das Regelbeweismaß als flexibles Beweismaß, verstanden werden sollte. Dies entspricht gelebtem Recht, einzig das zugrundeliegende Konzept wurde bislang nicht ausdrücklich formuliert. Es kann dazu führen, dass bei gegebenen Umständen ein Sachverhalt glaubhaft ist, auch wenn der Richter zu weniger als 50% davon überzeugt ist, dass er sich wie behauptet abgespielt hat. Schließlich wird der Versuch unternommen, zu messen, wo die Entscheidungsgrenze in Zivilsachen denn tatsächlich liegt, ungeachtet aller theoretischen Diskussionen. Die empirische Bestimmung des tatsächlich gelebten Regelbeweismaßes mittels einer Umfrage, an der 160 Richter und Gerichtschreiber der Kantone Bern und Zürich teilgenommen haben, zeigt, dass das angeblich geltende hohe Beweismaß der vollen Überzeugung tatsächlich nicht angewendet wird. Bereits bei einem Überzeugungsgrad von 63% heißt die Hälfte der Gerichtsangehörigen eine auf einen Darlehensvertrag gestützte Leistungsklage gut, obwohl das normativ gebotene Regelbeweismaß im Mittel mit 90% identifiziert wird. Je höher die individuelle Verlustaversion, desto geringer ist dabei die Wahrscheinlichkeit, dass eine Leistungsklage bei gegebenen Überzeugungsgrad gutheißen wird, was die Vermutung stützt, dass die Verlustaversion dazu beiträgt, dass ein Beweismaß der überwiegenden Überzeugung als zu tief empfunden wird.

Erster Teil

Grundlagen I. Begriffliches 1. Beweiswürdigung Unter Beweiswürdigung wird traditionell die Bewertung der Beweismittel verstanden, d. h. die Prüfung, ob die Beweismittel geeignet sind, die richterliche Überzeugung von der Wahrheit der strittigen Tatsachenbehauptung zu begründen.1 Diese »Beweiswürdigung im engeren Sinne« wird manchmal unterschieden von der »Beweiswürdigung im weiteren Sinne«,2 die sich nicht nur auf die Beweismittel bezieht, sondern auch auf die unstreitigen Tatsachenbehauptungen und das Verhalten der Parteien im Prozess, die zweifellos ebenfalls Grundlage der richterlichen Überzeugung bilden.3 Hier wird Beweiswürdigung in diesem weiten Sinn verstanden als der Vorgang der richterlichen Überzeugungsbildung zur Wahrheit von Tatsachenbehauptungen;4 unter Beweiswürdigung »ist die Summe aller Denkakte zu verstehen, die zu dieser Überzeugung führen.«5 Die Überzeugungsbildung wird nicht nur durch die Beweismittel, sondern auch durch die unbestrittenen Tatsachenbehauptungen und das Verhalten der Parteien im Prozess bestimmt, denn diese können Indizien für die Plausibilität bestrittener Behauptungen sein und dürfen nicht außer Acht gelassen werden.6 Jeder beweismäßige Schluss von einem Beweismittel oder einem Indiz auf das Probandum beruht zudem auf einer Generalisierung, die sich meist auf die »allgemeine Lebenserfahrung« stützen wird (hinten, S. 368 ff.).

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Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, § 49 Rz. 16. Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321–344, 324 m. w. H. 3 Balzer, Beweisaufnahme und Beweiswürdigung im Zivilprozess, Rz. 318; Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, § 49 Rz. 18; für die Schweiz Guldener, Zivilprozessrecht, 322; ZK-ZPOHasenböhler, Art. 157 N 10. 4 In diesem Sinne auch MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 7. 5 Kuchinke, Grenzen der Nachprüfbarkeit tatrichterlicher Würdigung, 175. 6 Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 80–133, Rz. 3; Schilken, Zivilprozessrecht, Rz. 392; MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 8; für die Schweiz Groner, Beweisrecht, 106. 2

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Erster Teil: Grundlagen

2. Beweismaß Der Begriff »Beweismaß« findet sich weder in Deutschland noch in der Schweiz im Gesetz. Die Lehre hat ihn erst vor (relativ) kurzer Zeit »entdeckt«; die erste Verwendung findet sich ersichtlich 1964 bei Döhring.7 Der BGH verwendet ihn zivilprozessual erstmals 1987.8 In der Schweiz taucht der Begriff in den in der amtlichen Sammlung publizierten bundesgerichtlichen Urteilen 1989 zum ersten Mal auf.9 In der Literatur setzt sich Meier im gleichen Jahr vertieft mit ihm auseinander.10 Der Begriff wird mit zwei gänzlich verschiedenen Bedeutungen verwendet, die durch die oft anzutreffende Formulierung, das Beweismaß bestimme, wann der Beweis gelungen sei,11 nicht klar unterschieden werden. Nach einem ersten Verständnis von Beweismaß gibt dieses an, wovon der Richter überzeugt sein muss. Das Beweismaß bestimmt nach dieser Auffassung also den Bezugspunkt der Überzeugung.12 Hier dreht sich der Streit insbesondere darum, ob Bezugspunkt richterlicher Überzeugung die (formelle oder materielle) Wahrheit oder eine objektive Wahrscheinlichkeit ist (hinten, S. 33 ff.). Nach einer zweiten Auffassung bestimmt das Beweismaß den Grad oder die Intensität der persönlichen Überzeugung, die der Richter haben muss, ehe er eine bestrittene Tatsachenbehauptung (genauer: den anspruchsbegründenden Sachverhalt, hinten, S. 490 ff.) für wahr erachten darf.13 Ob dies in Deutschland der in der Literatur vorherrschende Sprachgebrauch ist,14 bleibe dahingestellt, auf jeden Fall handelt es sich dabei in der Schweiz um das herrschende Verständnis von Beweismaß.15 Hier wird darüber gestritten, welche Intensität die persönliche Überzeugung von der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung haben 7

Döhring, Erforschung des Sachverhalts, 445. BGH NJW 1987, 1482, 1484. 9 BGE 115 II 440 E. 6a. 10 Meier, BJM 1989, 57–78. 11 Z. B. Rommé, Anscheinsbeweis, 57; Koussoulis, in: Gottwald/Prütting (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Schwab, 277–288, 279. 12 Walter, Freie Beweiswürdigung, 5; Maassen, Beweismaßprobleme, 24; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 9; Prütting, Beweislast, 59; unklar Scherzberg, ZZP 2004, 163–185, 178; Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 67; Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 17. 13 Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 250; Rommé, Anscheinsbeweis, 63; Stickelbrock, Richterliches Ermessen im Zivilprozess, 356; Bender/Nack/ Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rz. 548; Dammann, Materielles Recht und Beweisrecht, 27; Jäckel, Beweisrecht der ZPO, Rz. 719; Paulus, Zivilprozessrecht, Rz. 431; Schilken, Zivilprozessrecht, Rz. 478; Saenger-ZPO-Saenger, § 284 N 15; a. M. Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 20. 14 So Dammann, Materielles Recht und Beweisrecht, 27. 15 Das Bundesgericht spricht vom »gebotenen Überzeugungsgrad« (BGE 130 III 113 E. 3.4); aus der Lehre Leuenberger, in: Hangartner (Hrsg.), Das st. gallische Zivilprozessgesetz, 105–152, 149; Staehelin/Sutter-Somm/Staehelin, Zivilprozessrecht (beide Basel), § 14 Rz. 91; Hohl, Procédure civile – Introduction, Rz. 1057 (»degree de certitude«); Staehelin/Staehelin/ Grolimund, Zivilprozessrecht, § 18 Rz. 30; Kaufmann, Beweisführung und Beweiswürdigung, 185 f.; Walter, Haftpflichtprozess 2009, 47–68, 52 f.; Leuenberger/Uffer-Tobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Rz. 9.159; SHK-ZPO-Passadelis, Art. 157 N 7; KuKo-ZPO-Schmid, Vor 8

I. Begriffliches

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muss, ehe der Richter sie als wahr akzeptieren darf – genügt es, wenn der Richter die Tatsachenbehauptung eher für wahr als für falsch hält,16 oder bedarf es eines »für das praktische Leben brauchbaren Grades der Gewissheit«, also ein deutliches Übergewicht zugunsten der Wahrheit aller rechtsbegründenden Tatsachenbehauptungen, ehe der Richter die Klage gutheißen darf? Verwirrend ist die Gleichsetzung von Überzeugungsgrad und »Beweisgrad«.17 Die Unterscheidung von »Beweisgrad« und »Überzeugungsgrad« mag als Spiel um Worte erscheinen, ist es aber nicht: Beweistheorien, die auf den Beweisgrad abstellen, versuchen die Frage zu beantworten, welchen Grad der Stützung eine Tatsachenbehauptung unter gegebenen Bedingungen erfährt. Eine Theorie der Überzeugungsbildung versucht die Frage zu beantworten, mit welchem Grad der Überzeugung eine Tatsachenbehauptung unter gegebenen Bedingungen von einem vernünftigen Urteiler für wahr gehalten werden darf. Das ist nicht dasselbe, und es gibt keinen logischen Weg vom Beweisgrad zum Überzeugungsgrad. Das deutsche und schweizerische Recht stellen auf die Überzeugung des Richters ab und bedürfen deshalb eines Überzeugungsmodells, nicht eines Beweiswertmodells (hinten, S. 162 ff.) In diesem Buch wird Beweismaß im Sinne des Grades oder der Intensität der richterlichen Überzeugung, dass eine Tatsachenbehauptung wahr ist, die vorhanden sein muss, ehe der Richter sie seinem Urteil zugrunde legen darf, verstanden. Das Beweismaß legt demnach die Schwelle fest, bei deren Überschreitung für die beweisbelastete Partei entschieden werden darf. Damit ist noch nichts darüber gesagt, wo diese Schwelle liegt, d. h. welche Intensität die Überzeugung aufweisen muss, ehe der Richter eine Tatsachenbehauptung für wahr erachten darf. Dies ist Gegenstand des fünften Teils dieses Buches. Dort wird auch die im deutschsprachigen Schrifttum meist übergangene Frage angesprochen, ob sich die richterliche Überzeugung auf die Wahrheit jeder einzelnen Tatsachenbehauptung oder auf die Wahrheit aller anspruchsbegründender Tatsachenbehauptungen beziehen muss – letzteres ist ein viel strikteres Kriterium. Die Ablehnung, das Beweismaß dahingehend zu verstehen, dass es den Bezugspunkt richterlicher Überzeugung bestimmt, liegt darin begründet, dass es eine objektive, vom Subjekt unabhängige Wahrscheinlichkeit eines Einzelfalls nicht gibt (S. 100 ff.), und der Versuch, die »objektive Wahrscheinlichkeit« zum Bezugspunkt richterlicher Überzeugung zu machen, daher zum Scheitern verurteilt ist. Eine Relativierung des Wahrheitsbegriffs wird aus noch zu erläuternden Gründen abgelehnt (S. 29 ff.). Da absolute Gewissheit, dass eine Tatsachenbehauptung Art. 150–193 N 12; Berti, Einführung in die ZPO, 128; Sutter-Somm, Zivilprozessrecht, Rz. 897; a. M. Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.74 ff. 16 Dies lassen z. B. Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 255 oder Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 210 f. genügen. 17 Z. B. Koussoulis, in: Gottwald/Prütting (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Schwab, 277–288, 278 f.; Hohl, in: Schwander/Stoffel (Hrsg.), Beiträge zum schweizerischen und internationalen Zivilprozeßrecht, 125–159, 126, 131.

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Erster Teil: Grundlagen

(materiell) wahr ist, nicht zur Voraussetzung dafür gemacht werden kann, dass eine Tatsachenbehauptung für wahr erachtet wird, ohne die Rechtsprechung bei in tatsächlicher Hinsicht strittigen Fällen weitgehend zum Erliegen zu bringen, muss es die Überzeugung sein, die relativiert wird.18 3. Hauptbeweis, Gegenbeweis und Beweis des Gegenteils Der Hauptbeweis ist der Beweis der beweisbelasteten Partei für die Wahrheit der Tatsachenbehauptungen, für die sie die Beweislast trägt.19 Er ist erbracht, »wenn der Beweisführer dem Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit der behaupteten Tatsache verschafft hat.«20 Betrachtet man Überzeugung, wie hier, als graduell, so muss der Hauptbeweis eine Intensität der Überzeugung begründen, die über der Beweismaßgrenze liegt. Demgegenüber steht der Gegenbeweis der nicht beweisbelasteten Partei zu und bezweckt, beim Richter Zweifel an der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung zu wecken.21 Er dient mit anderen Worten dazu, die Intensität der richterlichen Überzeugung unterhalb der Beweismaßgrenze zu halten, oder, wenn die Überzeugung aufgrund des Hauptbeweises diese Grenze erreicht oder überschritten hat, sie wieder unter die Beweismaßgrenze zu senken. Gelingt der Gegenbeweis, ist folglich gegen die beweisbelastete Partei zu entscheiden.22 Vom Gegenbeweis zu unterscheiden ist der Beweis des Gegenteils, der nur im Zusammenhang mit gesetzlichen Vermutungen eine Rolle spielt. Er steht der Partei zu, zu deren Lasten sich eine gesetzliche Vermutung auswirkt, und bezweckt den Beweis, dass die vom Gesetz vermutete Folge nicht eingetreten ist, obwohl die Vermutungsbasis gegeben ist.23 Der Beweis des Gegenteils ist erst erbracht, wenn die volle richterliche Überzeugung vorliegt, dass die Vermutungsfolge einer gesetzlichen Vermutung trotz Vorliegen der Vermutungsbasis nicht der Fall ist. Es wird daher auch gesagt, dass der Beweis des Gegenteils ein Hauptbeweis sei.24 Dies ist zweifellos richtig, wenn damit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass die Intensität der richterlichen Überzeugung, dass die gesetzliche Vermutung im konkreten Fall falsch ist, für das Gelingen des Beweises des Gegenteils gleich hoch sein muss wie die Intensität der richterlichen Überzeugung, dass die bestrittene Tatsachenbehauptung wahr ist, für das Gelingen des Hauptbeweises. 18 A. M. Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 20; Koussoulis, in: Gottwald/Prütting (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Schwab, 277–288, 283; Brinkmann, Beweismaß, 63; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.76, die die Meinung vertreten, dass Überzeugung keine Grade haben könne. 19 Statt aller MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 20. 20 Laumen, NJW 2002, 3739–3746, 3740. 21 Statt aller Schilken, Zivilprozessrecht, Rz. 482; für die Schweiz BGE 130 III 321 E. 3.4. 22 Laumen, NJW 2002, 3739–3746, 3741. 23 Statt aller Schilken, Zivilprozessrecht, Rz. 482; für die Schweiz BGE 120 II 393 E. 4. 24 MüKo-ZPO-Prütting, § 292 N 23; für die Schweiz BGE 120 II 393 E. 4.

I. Begriffliches

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4. Haupttatsachen, Indizien, Hilfstatsachen und Beweisthema In der Literatur wird vereinzelt missverständlich gesagt, ein Tatbestand werde bewiesen, oder z. B. »das Verschulden« müsse bewiesen werden.25 Ein Tatbestand, oder ein Tatbestandmerkmal wie Verschulden, ist aber nie Beweisthema – zu beweisen sind die konkreten Tatsachenbehauptungen, die anschließend unter einen Tatbestand subsumiert werden.26 Die Subsumtion gehört nicht zum Beweis. Korrekterweise müsste man auch immer von »Tatsachenbehauptungen« sprechen, die zu beweisen sind, denn nur diese können wahr oder falsch sein (Tatsachen können der Fall sein oder nicht), und nur Aussagen können unter andere Aussagen (Tatbestände) subsumiert werden. Es ist jedoch üblich, von »Tatsachen« zu sprechen, und erleichtert die Lesbarkeit, weshalb auch hier öfter verkürzend von »Tatsachen« gesprochen wird, wenn Tatsachenbehauptungen gemeint sind. Haupttatsachen sind Tatsachen, die sich unter ein Tatbestandsmerkmal subsumieren lassen.27 Sie werden auch als Beweisthema bezeichnet,28 während nach wohl herrschender Auffassung alle Tatsachenbehauptungen, die vom Beweisantrag umfasst werden (auch die Hilfstatsachenbehauptungen), Beweisthema bilden.29 Indizien, Indizientatsachen oder Hilfstatsachen sind Tatsachen, die selbst nicht unter ein Tatbestandsmerkmal subsumiert werden können, die aber einen Schluss darauf erlauben, ob die Haupttatsachenbehauptung wahr ist.30 Nach einer anderen Auffassung wird zwischen Indizien und Hilfstatsachen unterschieden: Hilfstatsachen sind nur solche Tatsachen, welche die Beweiskraft oder Zulässigkeit eines Beweismittels oder Indizes betreffen.31 Abbildung 1 zeigt den Unterschied. Zu beweisen ist, ob eine Sendung am Tag X, typischerweise der letzte Tag einer 25 Z. B. Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 247; Kofmel Ehrenzeller, Das Recht auf Beweis, 17; Grunsky/Jacoby, Zivilprozessrecht, Rz. 519 (»zu beweisendes Tatbestandsmerkmal«); Musielak-ZPO-Huber, § 371, § 371 N 7. 26 Schilken, Zivilprozessrecht, Rz. 476. 27 Schellhammer, Zivilprozess, Rz. 513; Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, § 49 Rz. 8; Groner, Beweisrecht, 2. Falsch ist das Beispiel von Groner, die Postquittung stelle eine Haupttatsache für die rechtzeitige Eingabe einer Rechtsschrift dar. »Postquittung« lässt sich nicht unter den Tatbestand »fristwahrende Eingabe« subsumieren, sie ist aber ein beweiskräftiges Indiz für die fristgerechte Eingabe. 28 Schellhammer, Zivilprozess, Rz. 513; Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 11; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 120. 29 Saenger-ZPO-Saenger, § 284 N 8; Thomas/Putzo-ZPO-Reichold, Vorbem. § 284 N 11. 30 Schellhammer, Zivilprozess Rz. 513; Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, § 49 Rz. 8; Stein/ Jonas-ZPO-Leipold, § 284 N 19; Leuenberger/Uffer-Tobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Rz. 9.150; Groner, Beweisrecht, 2. Präziser Nack, Kriminalistik 1995, 466–470, 466: Ein Indiz erhöht oder verringert die Wahrscheinlichkeit, dass die Haupttatsache vorliegt. Weil diese Begriffsbestimmung die Klärung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs voraussetzt, wird sie hier nicht verwendet. 31 Guldener, Zivilprozessrecht, 319; Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 344; Nack, MDR 1986, 366–371, 367; MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 24; Schilken, Zivilprozessrecht, Rz. 483; Brönnimann, in: Güngerich (Hrsg.), BK-ZPO, N 7.

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Erster Teil: Grundlagen

Abbildung 1: Haupttatsache, Indiz und Hilfstatsache. Die Richtung der Pfeile zeigt den kausalen Einfluss.

gesetzlichen Frist, der Post übergeben wurde, was gemäß schweizerischer Zivilprozessordnung zur Fristwahrung genügt (Art. 143 Abs. 1 ZPO-CH; in Deutschland hingegen muss die Eingabe binnen der Frist in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Gerichts gelangen). Die tatsächliche Übergabe der Sendung an die Post hat einen kausalen Einfluss darauf, ob ein Zeuge bestätigt, dass die Sendung rechtzeitig übergeben wurde. Die Zeugenaussage ist deshalb ein Indiz für die fristgerechte Übergabe. Die Tatsache, dass der fragliche Zeuge Arbeitnehmer der beweisbelasteten Partei ist, hat ebenfalls einen kausalen Einfluss darauf, dass er die Übergabe bestätigt, und zwar unabhängig davon, ob die Übergabe tatsächlich fristgerecht war, denn man darf annehmen, dass ein Arbeitnehmer eher als ein unabhängiger Zeuge bereit sein wird, zu Gunsten seines Arbeitgebers eine Falschaussage zu machen. Die Tatsache eines bestehenden Arbeitsverhältnisses zwischen dem Zeugen und der beweisbelasteten Partei beeinflusst daher die Beweiskraft des Beweismittels »Zeugenaussage« und ist eine Hilfstatsache. Die Unterscheidung von Hilfstatsachen und Indizien trägt jedoch nichts zur Beweistheorie bei.32 Hilfstatsachen sind »im Grunde auch wieder nichts anderes [. . . ] als Indizien, die auf andere Indizien [. . . ] schließen lassen.«33 Der Klarheit halber wird hier in der Regel der Begriff »Indiz« verwendet, der einheitlich verstanden wird. Der Beweis von Haupttatsachen wird unmittelbarer oder direkter Beweis genannt.34 Entsprechend wird der Beweis, der auf den Nachweis von Indizien 32 Nack, MDR 1986, 366–371, 367; a. M. Kadane/Schum, Probabilistic analysis of the Sacco and Vanzetti evidence, 270 f.; Klami/Gräns/Sorvettula, Law and truth, 134 f. 33 Engisch, Logische Studien, 71. 34 MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 24.

I. Begriffliches

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zielt, mittelbarer, indirekter oder Indizienbeweis genannt.35 Aus den Indizien soll dann auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen der Haupttatsache(n) geschlossen werden; »Hauptstück des Indizienbeweises ist also nicht die eigentliche Indiztatsache, sondern der daran anknüpfende Denkprozess, kraft dessen auf das Gegebensein der weiteren Tatsache geschlossen wird«.36 Die Regeln des Schließens von Indizien auf Haupttatsachen werden im zweiten Teil dieses Buches über die Denkgesetze der Beweiswürdigung expliziert. Nach richtiger Auffassung ist fast jeder Beweis ein mittelbarer Beweis; nur dort, wo der Richter die Haupttatsache durch eigene Beobachtung (Augenschein) feststellen kann, liegt ausnahmsweise ein direkter Beweis vor.37 Bestätigt hingegen ein Zeuge, die Haupttatsache liege vor, so handelt es sich entgegen der h. M. um einen mittelbaren Beweis, denn die Zeugenaussage ist nur ein Indiz für das Vorliegen der Haupttatsache.38 Die h. M. geht auf die historische Unterscheidung zwischen natürlichem (direkten) und künstlichem (indirektem oder »circumstantiellen«) Beweis zurück. Der natürliche Beweis wird begründet durch Beweismittel, die auf sinnlicher Wahrnehmung beruhen.39 Allerdings wird dazu auch das Zeugnis gezählt, es wird also nicht unterschieden zwischen der eigenen sinnlichen Wahrnehmung des Richters und der sinnlichen Wahrnehmung Dritter.40 Beide begründen den natürlichen Beweis, soweit sie sich auf die Haupttatsache beziehen. Der tiefere Grund dürfte darin liegen, dass es möglich ist, die Glaubwürdigkeit verschiedener Zeugen nach äußeren Merkmalen (Geschlecht, Stand, Beziehung zu den Parteien etc.) gesetzlich zu regeln, es jedoch ein hoffnungsloses Unterfangen ist, sämtliche denkbaren Indizien nach ihrem Beweiswert zu katalogisieren. Wenn man will, kann man vom »mittelbaren Beweis« oder »Indizienbeweis im weiteren Sinn« – der wie gesagt jeden Beweis außer den durch die direkte Wahrnehmung der Haupttatsache durch den Richter umfasst – den »Indizienbeweis im eigentlichen oder engeren Sinn« abgrenzen, der sich dadurch auszeichnet, dass die Haupttatsache durch niemanden, weder den Richter noch Zeugen, wahrgenommen wurde und sich aus anderen Quellen als der Wahrnehmung erschließen muss.41 Nach dieser Terminologie läge ein mittelbarer Beweis vor, wenn der Zeuge aussagt, er habe den Angeklagten beim Diebstahl beobachtet, hingegen ein Indizienbeweis im 35

Statt aller MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 24. BGH NJW 1970, 946, 950; NJW 1993, 935, 938. 37 Siegrist, Beweisrecht des Zivilprozesses, 203 f.; Engisch, Logische Studien, 81; Nack, MDR 1986, 366–371, 367; Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, 99; Nack, Kriminalistik 1995, 466–470, 466; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rz. 578; Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 328 f. 38 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 134, 140, 403; Bohne, Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung, 9; Engisch, Logische Studien, 71; Nack, MDR 1986, 366–371, 367; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rz. 582; Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 328; für das amerikanische Recht Stein, Foundations of evidence law, 35. 39 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 140. 40 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 402. 41 Engisch, Logische Studien, 71 f. 36

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Erster Teil: Grundlagen

eigentlichen Sinn, wenn ein Zeuge bestätigt, er habe gesehen, wie der Angeklagte den Raum verließ, in dem sich vorher die (angeblich) gestohlene Sache befand, und unmittelbar nachher festgestellt habe, dass die Sache fehlte. Nach herrschender Lehre dürfen nur Indizien berücksichtig werden, die voll bewiesen sind, die also (gemäß richterlicher Überzeugung) mit Sicherheit feststehen.42 Dies ist falsch und entspricht auch nicht der Praxis.43 Die Tatsache, dass sich Herr H. eilig vom Tatort entfernt hat, ist ein Indiz dafür, dass er der Täter ist – ein Indiz nur, denn es mag auch andere Gründe als seine Täterschaft geben, die sein eiliges Entfernen vom Tatort erklären. Sicher wird das Indiz »eilig vom Tatort entfernen« in aller Regel aber nicht feststehen, denn es ist als historische Tatsache der unmittelbaren Beobachtung durch den Richter entzogen. Der Beweis für das Entfernen des Herrn H. vom Tatort wird beispielsweise über eine Zeugenaussage geführt, und diese sind notorisch unzuverlässig.44 Trotzdem wird der Richter aufgrund der Zeugenaussage dem Indiz »eilig vom Tatort entfernen« eine gewisse Plausibilität zuweisen und es bei seiner Überzeugungsbildung berücksichtigen. Richtig ist, dass die dem Indizienbeweis zugrundeliegende Schlusskette irgendwo ein Ende in einer sicher feststehenden Tatsache finden muss.45 Bei einer solchen kann es sich nur um eine Tatsache handeln, die der unmittelbaren richterlichen Beobachtung zugänglich ist, denn nur solche Tatsachen kann der Richter – nach hier vertretener Auffassung – sicher feststellen.46 Im obigen Beispiel wäre das sicher feststehende Indiz die Aussage des Zeugen (sicher ist, was der Zeuge gesagt hat. Nicht sicher ist, ob seine Aussage wahr ist). Daraus wird ein Schluss auf das Vorliegen des zweiten Indizes »eilig vom Tatort entfernen« gezogen, und aus diesem ein Schluss auf die Täterschaft von Herrn H. Richtig an der herrschenden Lehre ist daher, dass es immer ein »Ausgangsindiz« geben muss, das sicher feststeht und bei dem der Schlussvorgang seinen Anfang nimmt und von dem aus »ein Brückenkopf ins Ungewisse«47 vorangetrieben wird.48 Hingegen müssen »Zwischenindizien« nicht mit Sicherheit feststehen.49 42 Pohle, MDR 1949, 386–389, 387; Rosenberg, Beweislast, 194; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 43; Hansen, JUS 1992, 327–330, 328; Schellhammer, Zivilprozess, Rz. 514, 516; zahlreiche weitere Nachweise bei Nack, MDR 1986, 366–371, 370 und Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 185. 43 Nack, MDR 1986, 366–371, 370. 44 Obwohl gerne betont wird, dass das Zeugnis ein unzuverlässiges Beweismittel ist (z. B. BGH NJW 2006, 3416, 3418), wird dem Zeugen in der Praxis in den allermeisten Fällen geglaubt; so weisen Bender/Schumacher, Erfolgsbarrieren vor Gericht, 137, nach, dass von 1’400 Zeugenaussagen in 1’335 Fällen (> 95%) dem Zeugen geglaubt wurde, was Reinecke, MDR 1986, 630–637, 630, zur Aussage veranlasste, es gebe eine ungeschriebene Regel, dem Zeugen zu glauben. 45 Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 186. 46 Ähnlich Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 273, die »mangels besserer Alternativen« von der Eigenbeobachtung als relativ sicherster Ausgangslage ausgehen. 47 Ostermeyer, MDR 1962, 975–978, 978. 48 Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 186 f. 49 Nack, MDR 1986, 366–371, 370.

II. Ziel der Beweiswürdigung

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5. Beweismittel und Beweiskraft Beweismittel sind »die Träger der Anschauung oder Überlieferung, durch die sich der Richter Informationen über die Wahrheit der zu beweisenden tatsächlichen Behauptungen verschafft.«50 Beweismittel sind der unmittelbaren richterlichen Beobachtung zugänglich und bilden die Basis für den Schlussvorgang, der der Beweiswürdigung zugrunde liegt (in Ausnahmefällen kann eine Haupttatsache durch Augenschein der unmittelbaren richterlichen Beobachtung zugänglich gemacht werden, so dass ein Schließen nicht mehr notwendig ist). Sie sind »nur die Träger und Produzenten der Indizien«51 . (Materielle) Beweiskraft oder Beweiswert ist die Fähigkeit eines Beweismittels oder Indizes, die Überzeugung des Richters im konkreten Einzelfall zu beeinflussen.52 Ein anderes Verständnis von Beweiswert haben die Vertreter der schwedischen Beweiswertmethode, die unter Beweiswert die Stärke der kausalen Beziehung zwischen einer Tatsachenbehauptung und einem Indiz verstehen, die von den sog. Hilfsfakten bestimmt wird (»Beweismechanismus«);53 die schwedische Beweiswertmethode wird hinten, S. 155 ff., vertieft dargestellt.

II. Ziel der Beweiswürdigung Bereits zum Ziel der Beweiswürdigung bestehen fundamental unterschiedliche Auffassungen: Nach der einen Auffassung ist Beweisziel die »Wahrheit« zumindest als »Richtwert, den zu erreichen das Streben des Richters sein muss«54 , wobei viele diese Wahrheit in dem Sinne qualifizieren, dass es sich nur um eine relative, »prozessuale« Wahrheit handeln müsse.55 Nach einer zweiten Auffassung ist Ziel die Feststellung eines näher zu bestimmenden »Grades der Wahrscheinlichkeit«56 und nach einer dritten Auffassung Herstellung der »persönlichen Gewissheit des Richters«57 . 50

Saenger-ZPO-Saenger, § 284 N 3. Engisch, Logische Studien, 66. 52 Rosenberg/Gottwald/Schwab, Zivilprozessrecht, § 112 Rz. 27; Saenger-ZPO-Saenger, § 284 N 15; Grün, in: Tilch/Arloth (Hrsg.), Deutsches Rechts-Lexikon. 53 Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 47; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 124; Freeling/Sahlin, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 58–74, 59; Sahlin/Rabinowicz, in: Smets/Gabbay (Hrsg.), Handbook of defeasible reasoning, 247–265, 248 f. 54 »Wahrheitsüberzeugungstheorie«, z. B. vertreten durch Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 38; Walter, Freie Beweiswürdigung, 152. 55 Z. B. Musielak, Grundlagen der Beweislast, 118; Rommé, Anscheinsbeweis, 87; siehe hinten, S. 41 ff. 56 »Wahrscheinlichkeitsüberzeugungstheorie«, vertreten z. B. durch Musielak, Grundlagen der Beweislast, 115 ff.; Huber, Beweismaß, 116 f. 57 Scherzberg, ZZP 2004, 163–185, 178, m. w. H. 51

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Erster Teil: Grundlagen

Vorab ist zu klären, welcher Wahrheitsbegriff der juristischen Beweiswürdigung zu Grunde liegt. Viele Autoren verzichten angesichts der Schwierigkeiten darauf, diese »an sich vorrangige«58 Frage, die »so alt wie die Menschheit ist«59 , aufzuwerfen und thematisieren den Wahrheitsbegriff der Beweiswürdigung nicht. Tatsächlich besteht die Gefahr, einen »belachenswerten Anblick«60 zu bieten, wenn man sich fragt, was Wahrheit ist. Die Bedeutung des Wahrheitsbegriffs und die lange Tradition der philosophischen Beschäftigung mit ihm führen dazu, dass selbst in einem Sammelband von 500 Seiten nicht alle Ansichten dargestellt werden können.61 Noch viel weniger wird man dem komplexen Thema vorab in einer juristischen Arbeit zur Beweiswürdigung gerecht werden können. Dennoch glaube ich, dass man ohne Definition dessen, was Wahrheit – für die Zwecke der Beweiswürdigung – ist, nicht auskommt, weil der Wahrheitsbegriff (mit)bestimmt, welche Methoden des Erkenntnisgewinns man als zielführend – d. h. zur Wahrheitserkenntnis führend – betrachtet. Jede Theorie der Sachverhaltsfeststellung benötigt einen Wahrheitsbegriff.62 Nachdem der Wahrheitsbegriff, mit dem im Folgenden gearbeitet werden soll, definiert ist, wird untersucht, ob »überwiegende Wahrscheinlichkeit« oder »persönliche Gewissheit« Beweisziele sein können. Dass sie in der Beweiswürdigung eine wichtige Rolle spielen, ist unbestritten, aber die Frage ist, ob sie als Ziele der Beweiswürdigung taugen. 1. Der Wahrheitsbegriff der Beweiswürdigung Wahr kann nur eine Aussage, d. h. eine Tatsachenbehauptung sein, nicht aber eine Tatsache. Falsch sind daher die in der Literatur anzutreffenden Formulierungen »Wahrheit einer Tatsache« oder »Feststellung, ob eine Tatsache für wahr zu erachten sei«.63 Ein Riss in einer Wand existiert oder existiert nicht, er kann nicht wahr oder falsch sein. Wahr oder falsch kann hingegen die Aussage »Es existiert ein Riss in einer Wand« sein. Träger von Wahrheitswerten sind ausschließlich Tatsachenbehauptungen oder Aussagen.64 Eine Norm kann nach hier vertretener Auffassung nie wahr sein – sie kann richtig sein, aber nicht wahr.65 Unglücklich ist deshalb Art. 153 Abs. 2 ZPO-CH formuliert, der von der Richtigkeit einer 58

Hohlweck, JUS 2001, 584–589, 585. Schröder, Eid, 11. 60 Kant, in: Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden, Bd. 3, 102. 61 Skirbekk, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 8–34, 10. 62 Schulz, in: Küper (Hrsg.), Carl Joseph Anton Mittermaier, 139–148, 141. 63 Engisch, Logische Studien, 39; zahlreiche Nachweise für solche Verwendungen bei Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 14 FN 12. 64 Janich, Was ist Wahrheit?, 23; Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 14; Zoglauer, Einführung in die formale Logik, 21 f.; differenzierend Dummett, in: Blackburn/Simmons (Hrsg.), Truth, 264–281. 65 Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, 4 f.; Walter, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Der Haftpflichtprozess, 15–36, 17; Zoglauer, Einführung in die formale Logik, 22; a. M. Rödig, Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 252 ff.; Poscher, ARSP 2003, 200–215, 214; Neumann, 59

II. Ziel der Beweiswürdigung

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Tatsache spricht. Hingegen ist die Behauptung, eine Rechtsordnung enthalte eine Norm bestimmten Inhalts, z. B. »Gemäß deutschem Recht ist die Würde des Menschen unantastbar«, eine Tatsachenbehauptung, die wahr sein kann. Diese Unterscheidung wird auch von der schweizerischen und deutschen Rechtsordnung so getroffen: Während der Inhalt des Rechts nie bewiesen werden muss, ist der Inhalt ausländischen Rechts grundsätzlich Gegenstand des Beweises (Art. 150 Abs. 2 ZPO-CH; § 293 ZPO-DE). Wenn im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung von Wahrheit die Rede ist, kann daher immer nur die Wahrheit von Tatsachenbehauptungen, nicht aber von Tatsachen, gemeint sein. § 286 Abs. 1 ZPO-DE ist hier erfreulich klar: Das Gericht hat zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei (Hervorhebung durch den Verfasser). Die praktische Bedeutung der Unterscheidung von Tatsachen und Tatsachenbehauptungen darf allerdings nicht überschätzt werden.66 Viel interessanter sind die Fragen: Was bedeutet es, dass eine Tatsachenbehauptung wahr ist (Wahrheitsdefinition)? Wie stellt man fest, ob eine Tatsachenbehauptung wahr ist (Wahrheitskriterium)?67 a) Korrespondenztheorien Korrespondenztheorien – besser würde man hier wie bei den anderen »Theorien« der Wahrheit von »Auffassungen« oder »Konzepten« sprechen – sehen das Wesen der Wahrheit in einer Beziehung zwischen einer Aussage und der Wirklichkeit. Die Korrespondenztheorie, zumal in ihrer Form als Abbildtheorie, entspricht am ehesten dem umgangssprachlichen Verständnis von »Wahrheit«. Als klassische Formulierung der Korrespondenztheorie der Wahrheit gilt die folgende Passage aus dem Buch »Gamma« aus Aristoteles’ Metaphysik: »Von etwas, das ist, zu sagen, dass es nicht ist, oder von etwas, das nicht ist, dass es ist, ist falsch, während von etwas, das ist, zu sagen, dass es ist, oder von etwas, das nicht ist, dass es nicht ist, ist wahr«.68 Aristoteles’ Formulierung kommt ohne expliziten Bezug auf die »Wirklichkeit« oder »Tatsachen« aus und ist eine formale Definition ähnlich wie die »Äquivalenz der Form (T)« gemäß Alfred Tarskis semantischer Wahrheitstheorie.69 Dem intuitiven Verständnis von »Wahrheit« am ehesten entspricht die von Aristoteles inspirierte Formulierung von Thomas von Aquin von der Wahrheit als »adaequatio rei et intellectus«70 , der »Übereinstimmung von der Sache und der Erkenntnis«. In einer modernen Formulierung ausgedrückt: Wahrheit im Recht, 9 f.; differenzierend Gizbert-Studnicki, in: MacCormick/Panou/Lombardi Vallauri (Hrsg.), Geltungs- und Erkenntnisbedingungen, 153–161, 153 ff. 66 Blomeyer, Zivilprozessrecht, 351. 67 Zur Unterscheidung von Wahrheitsdefinition und Wahrheitskriterium siehe Rescher, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 337–390, 337 f. 68 Aristoteles, Metaphysik 1011 b 26. 69 Davidson, in: Blackburn/Simmons (Hrsg.), Truth, 308–322, 313. 70 Thomas von Aquin, Summa theologiae, quaestio 21, articulus 2.

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Erster Teil: Grundlagen

Die Wahrheit einer Aussage besteht in ihrer Übereinstimmung (Korrespondenz) mit der Wirklichkeit.71 Die Aussage, dass eine Tatsachenbehauptung wahr ist, wenn die behauptete Tatsache der Fall ist, ist natürlich eine Plattitüde. Die Theorie muss auch erklären können, was eine Tatsache ist und worin die Korrespondenz zwischen Tatsache und Aussage besteht.72 Hier beginnen die Schwierigkeiten. Abbildtheorien der Wahrheit setzen eine Wirklichkeit voraus, die der Existenz nach von uns und unserem Bewusstsein unabhängig ist und zumindest teilweise unserem Erkennen zugänglich ist (Realismus).73 Der Glaube, dass es eine außerhalb des Subjekts existierende Realität gibt, lässt sich letztlich nicht begründen.74 Ob man deshalb gleich »praktisch alle Formen von Realismus« als »säkularisierte Formen religiösen Schöpfungsglaubens«75 bezeichnen muss, bleibe dahingestellt.76 Ein Jurist, der sich mit der Tatsachenfeststellung durch Gerichte beschäftigt, muss auf jeden Fall an eine Realität außerhalb des eigenen Verstandes glauben. Ohne die Annahme einer geteilten, wahrnehmbaren Welt ist jede Diskussion über die Feststellung von Tatsachen durch Richter sinnlos.77 Zugegebenermaßen kann man darin ein konstruktives Element sehen – die Gemeinschaft der Juristen postuliert die Existenz einer wahrnehmbaren Außenwelt und schreitet von dort weiter.78 Mit der Existenz einer Wirklichkeit außerhalb des Bewusstseins ist aber das Problem ihrer Wahrnehmung nicht gelöst. Man kann Realist sein und dennoch davon ausgehen, dass es eine »unverzerrte« Wahrnehmung der Realität nicht gibt.79 Wir nehmen die Realität durch unsere Sinnesorgane wahr, und diese liefern kein Bild der Welt, wie sie »an und für sich« ist, sondern heben Einzelnes hervor und unterdrücken anderes. Ein Bild der Welt entsteht erst im Zusammenspiel von Sinnesorganen und Gehirn und ist immer eine Interpretation der Wirklichkeit, kein Abbild.80 Ob ein physischer Gegenstand als ein Exemplar einer Kategorie wahrgenommen wird, hängt weiter vom Vorverständnis des ver71

Tarski, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 140–188, 143. Wright, in: Blackburn/Simmons (Hrsg.), Truth, 203–238, 204. 73 Kritisch Wright, in: Blackburn/Simmons (Hrsg.), Truth, 203–238, 223 f. 74 Franzen, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.), Realismus und Antirealismus, 20–65, 39 f. 75 Janich, Was ist Wahrheit?, 38. 76 Auch überzeugte Atheisten wie z. B. Bertrand Russell glauben an eine Realität außerhalb des Bewusstseins Russell, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 63–72, 64. 77 Döhring, Erforschung des Sachverhalts, 6; Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 4, Fn. 19; Damaska, Hastings Law Journal 1998, 289–306, 289; Gössel, Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit, 18; Twining, in: Twining (Hrsg.), Rethinking evidence, 99–164, 105; Pardo, Law and Philosophy 2005, 321–392, 339. 78 Den Hinweis verdanke ich Christoph Engel. 79 Glasersfeld, in: Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit, 16–38, 36 f. 80 Delbrück, Wahrheit und Wirklichkeit, 138; Förster, in: Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit, 39–61, 40 ff.; Roth, in: Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, 229–255, 232 ff.; AK-ZPO-Rüßmann, vor § 373 N 22; Strauch, JZ 2000, 1020–1029, 1024 f.; Frith, Making up the mind, 17 ff. 72

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wendeten Begriffs ab. Ob ein »Riss in einer Wand« vorliegt – oder ein »Spalt in einem Raumteiler« – hängt davon ab, was man unter einem »Riss« und einer »Wand« versteht. Wird dieses Vorverständnis (allgemein, oder von Mitgliedern einer sozialen Gruppe) geteilt, kann man auch sagen, dass es einer Konvention entspricht.81 Es ist daher denkbar, dass Menschen, die ein unterschiedliches Vorverständnis haben, bei Beobachtung des gleichen physischen Gegenstandes zu unterschiedlichen Auffassungen darüber gelangen, ob eine sich auf diesen Gegenstand beziehende Aussage wahr ist (oder ob sie sich überhaupt auf diesen Gegenstand bezieht). Führt man den Gedanken konsequent zu Ende, landet man beim radikalen Konstruktivismus: Wirklichkeit wird (durch den Beobachter und die Gesellschaft) konstruiert, nicht erlebt.82 Konsequenterweise wird Wahrheit dieser Ansicht nach auch nicht ermittelt, sondern hergestellt.83 Die Idee, dass die Wirklichkeit ein (soziales) Konstrukt ist, leuchtet ein, wo es um komplexe Sachverhalte oder abstrakte Konzepte geht. Intuitiv weniger überzeugend ist sie, wo es um die Wahrnehmung ganz konkreter, genau umschriebener Tatsachen geht. Lässt sich die Wahrheit einer konkreten Tatsachenbehauptung wie »An der Westfassade des Hauses Musterstrasse 123, 5678 Beispielstadt, befindet sich zwischen 30 cm und 50 cm über Boden ein horizontaler Riss, der über die ganze Länge der Fassade verläuft und eine maximale Breite von 2 cm aufweist« wirklich nicht durch Beobachtung überprüfen, in dem Sinne, dass jeder Beobachter, der der verwendeten Sprache mächtig ist und dessen Sinnesorgane nicht schwer fehlerhaft sind,84 nach einem Augenschein zum gleichen Ergebnis bezüglich der Wahrheit der Aussage gelangen wird? Oder anders ausgedrückt: Ist es wirklich so unmöglich, zumindest gewisse Aussagen durch einen Vergleich mit der Wirklichkeit zu verifizieren? Philosophen unterschiedlicher Couleur haben aufbauend auf dieser Intuition versucht, Korrespondenztheorien der Wahrheit zu begründen. Während hier nicht Platz ist, auf die Einzelheiten einzugehen, besteht der Grundgedanke darin, dass es spezifische empirische Aussagen gibt – »Protokollsätze«85 , »Basisaussagen«86 oder »Beobachtungsätze«87 – die der unmittelbaren Nachprüfung offen stehen und die daher die Wahrheit einer Aussage, die sich auf sie bezieht, ohne weiteres begründen. Solche Aussagen sind Ausdruck reiner unmittelbarer Erfah81

Ayer, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 276–299, 295. Förster, in: Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit, 39–61, 60; Frith, Making up the mind, 17, 40, und öfter. 83 Paulus, in: Seebode (Hrsg.), Festschrift für Günter Spendel, 687–718, 697; Grasnick, in: Wolter/Potz (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 55–75, 69; Grasnick, in: Simon/Stegmaier (Hrsg.), Fremde Vernunft, 194–237, 210. 84 Der also in der Terminologie von Kamlah/Lorenzen, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 483–495, 485, »normalsinnig« ist. 85 Carnap, Erkenntnis 1931, 432–465, 442. 86 Ayer, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 276–299, 284. 87 van Quine, Word and Object, 41. 82

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Erster Teil: Grundlagen

rung, die keinerlei Verarbeitung der Erfahrung oder Schlüsse aus dieser enthalten, sie sind also (angeblich) »theoriefrei«.88 Die Annahme, dass es Aussagen gibt, deren Wahrheit durch empirische Beobachtung verifiziert werden kann, ist Grundlage der Naturwissenschaften. Aus philosophischer Sicht steht dem Konzept der »Protokollsätze« (o. ä.) jedoch ein fundamentaler Einwand entgegen, der nicht von der unverzerrten Wahrnehmung der Realität durch den Beobachter abhängt. Man kann akzeptieren, dass es einen Sachverhalt gibt, der eine Aussage wahr macht, und der etwas ganz und gar anderes ist als die wahre Aussage über ihn.89 Aber zu dieser Außenwelt hat der Mensch keinen Zugang. Zugang hat er nur zu seinen Sinneswahrnehmungen. Wenn ein Mensch einen Riss in der Wand wahrnimmt, bildet sich in seinem Geist weder ein Riss noch eine Wand. Es bildet sich – idealerweise – die Vorstellung eines Risses in der Wand. Diese Vorstellung wird verglichen mit der Aussage, dass sich in der Wand ein Riss befinde. Wird eine Übereinstimmung festgestellt, wird die Wahrheit der Aussage bejaht. Ein unmittelbarer Vergleich einer Vorstellung mit einer Aussage ist aber nicht möglich – um verglichen werden zu können, muss die Vorstellung in Sprache gefasst werden. Für den Vergleich mit der Aussage »es ist ein Riss in der Wand« muss die Vorstellung des Risses in der Wand daher genauso sprachlich ausgedrückt werden wie die Aussage. Es wird immer eine Aussage mit einer anderen Aussage verglichen, wir befinden uns in einem »Zirkel der Sprache«.90 Eine Korrespondenztheorie kann demnach wohl eine formale Definition von Wahrheit liefern – z. B. in der Form von Tarskis semantischer Wahrheitstheorie, gemäß der die Aussage »Schnee ist weiß« genau dann wahr ist, wenn Schnee weiß ist91 – aber kein praktikables Kriterium, um festzustellen, ob eine Aussage wahr ist.92 b) Kohärenztheorien Die Überzeugung, dass sich dieser »Zirkel der Sprache« nicht durchbrechen lässt, dass die Behauptung, Aussagen ließen sich mit Tatsachen vergleichen, letzten Endes immer darauf hinausläuft, dass Aussagen mit Aussagen verglichen werden, führt zu einem Kohärenzbegriff der Wahrheit.93 Nach der Kohärenzbedingung 88

Carrier, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Zur Kritik an der angeblichen Theoriefreiheit von Protokollsätzen Neurath, Erkenntnis 1932, 204– 214, 210 f.; Popper, Logik der Forschung, 61 f. 89 Austin, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 226–244, 231; Strawson, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 246–275, 252 Fn. 4. 90 Rödig, Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 155; Austin, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 226–244, 231 f.; Strawson, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 246–275, 252; Janich, Was ist Wahrheit?, 33 f.; Habermas (Hrsg.), Wahrheit und Rechtfertigung, 287. 91 Tarski, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 140–188, 143. 92 Rescher, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 337–390, 345. 93 Ayer, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 276–299, 290; Habermas (Hrsg.), Wahrheit und Rechtfertigung, 287. Es gibt nicht nur eine Kohärenztheorie der Wahrheit, es handelt sich

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ist »A genau dann wahr, wenn sich A konsistent begrifflich und logisch zusammenhängend in ein konsistentes, begrifflich und logisch zusammenhängendes und außerdem umfassendes System umgangssprachlicher und wissenschaftssprachlicher Aussagen einbetten lässt«.94 Kohärenztheorien verzichten also darauf, eine Aussage mit etwas Außersprachlichem zu vergleichen und versuchen, die Wahrheit einer Aussage durch ihre Übereinstimmung mit anderen Aussagen eines Systems zu verifizieren. Ein bekannter Vertreter einer Form der Kohärenztheorie ist Otto Neurath, der eine Kohärenzbedingung der Wahrheit in Auseinandersetzung mit Rudolf Carnaps »Protokollsätzen« entwickelte und Carnap überzeugte, sich der kohärenztheoretischen Auffassung von Wahrheit anzuschließen.95 Wird die Kohärenzbedingung als Wahrheitsdefinition verstanden, besteht das Problem der Kohärenztheorie darin, dass es immer mehrere sich gegenseitig ausschließende intern konsistente Systeme geben wird.96 Eine Aussage lässt sich unter Umständen widerspruchsfrei in eine Menge von konsistenten Aussagen einfügen, nicht aber in eine andere Menge von konsistenten Aussagen. Da beide Mengen von Aussagen nur konsistente Aussagen enthalten, muss man, ohne Rückzug auf ein anderes Wahrheitskriterium, davon ausgehen, dass beide Mengen nur wahre Aussagen enthalten. Da sich die Aussage, deren Wahrheitswert geprüft werden soll, in eines der System einfügen lässt, aber nicht in das andere, muss sie gleichzeitig wahr und falsch sein.97 Eine andere Ansicht versteht Kohärenz nicht als notwendigen Aspekt des Wesens der Wahrheit, sondern als einen »im allgemeinen funktionierenden Wahrheitstest«98 . So bestreitet Rescher nicht, dass »Wahrheiten mit Tatsachen korrespondieren müssen«99 , weist aber darauf hin, dass Kohärenz ein wichtiges Kriterium sein kann, um wahre von falschen Aussagen zu scheiden. Dabei wird zugestanden, dass Kohärenz kein logisch garantierendes Kriterium für Wahrheit ist, aber argumentiert, dass es ein Kriterium ist, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Aussage wahr ist, erhöht.100 Kohärenz garantiert keine Wahrheit, aber berechtigt die Behauptung, dass eine Aussage wahr sei. So verstanden leistet Kohärenz einen wertvollen Beitrag, Wahrheit zwar nicht zu definieren, aber zu erkennen. vielmehr um eine Gruppe von Theorien, für einen Überblick siehe Rescher, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 337–390, 361 ff. 94 Lorenz, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Eintrag zu Wahrheitstheorien. 95 Neurath, Erkenntnis 1932, 204–214; Carnap, Erkenntnis 1932, 215–228. 96 Russell, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 63–72, 65; Ayer, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 276–299, 292; Rescher, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 337–390, 367; Wright, in: Blackburn/Simmons (Hrsg.), Truth, 203–238, 220. 97 Wright, in: Blackburn/Simmons (Hrsg.), Truth, 203–238, 220. 98 Rescher, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 337–390, 369 f. 99 Rescher, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 337–390, 367. 100 Rescher, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 337–390, 370.

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Erster Teil: Grundlagen

c) Konsensustheorien Konsensustheorien der Wahrheit werden, in unterschiedlichen Ausprägungen, von Habermas, Kamlah/Lorenzen und Apel und vertreten.101 Nach der Konsensustheorie102 »darf ich dann und nur dann einem Gegenstand ein Prädikat zusprechen, wenn auch jeder andere, der in ein Gespräch mit mir eintreten könnte, demselben Gegenstand das gleiche Prädikat zusprechen würde. Ich nehme, um wahre von falschen Aussagen zu unterscheiden, auf die Beurteilungen anderer Bezug – und zwar auf das Urteil aller anderen, mit denen ich je ein Gespräch aufnehmen könnte [. . . ]. Die Bedingung für die Wahrheit von Aussagen ist die potentielle Zustimmung aller anderen.«

Die Konsensustheorie muss in der Lage sein, einen »echten« Konsensus von einem »falschen« Konsensus zu unterscheiden. Um einen echten Konsensus zu erzielen, wird verlangt, dass die Diskursteilnehmer, die sachkundig und vernünftig sind, eine »Minimalethik«103 einhalten. Sie dürfen, in den Worten von Kamlah/ Lorenzen, »nicht böswillig« sein, d. h. nicht die Absicht haben, den Diskursteilnehmern zu schaden.104 Zwischen den Diskutierenden muss ferner das Prinzip der Redegleichheit (»effektive Gleichheit der Chancen bei der Wahrnehmung von Dialogrollen«105 ) sowie das Prinzip der Handlungsfreiheit gewahrt werden, d. h. die Zustimmung des Redenden ist nicht vorgeschützt, erschlichen oder erzwungen.106 »Vernünftig« ist ein Diskursteilnehmer, »der dem Mitmenschen als seinem Gesprächspartner und den besprochenen Gegenständen aufgeschlossen ist, der ferner sein Reden nicht durch bloße Emotionen und nicht durch bloße Traditionen oder Moden, sondern durch Gründe bestimmen lässt.«107 Der Diskurs, der die beste Versicherung für wahrhaftige Erkenntnisse bietet, wird oft als »herrschaftsfreier« Diskurs bezeichnet. Dass der gerichtliche Prozess, zumal der Strafprozess, keinen herrschaftsfreien Diskurs erlaubt, durfte lange Zeit als communis opinio bezeichnet werden.108 1978 trat Robert Alexy dieser Ansicht entgegen und vertrat die These, dass der juristische Diskurs echten

101 Kamlah/Lorenzen, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 483–495; Apel, in: Apel/ Bubner (Hrsg.), Dialog als Methode, 1–40; Habermas, in: Habermas (Hrsg.), Theorie des kommunikativen Handelns, 127–183. 102 Habermas, in: Luhmann/Habermas (Hrsg.), Was leistet die Systemforschung?, 101–141, 124. 103 Apel, in: Apel/Bubner (Hrsg.), Dialog als Methode, 1–40, 10. 104 Kamlah/Lorenzen, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 483–495, 484 f. 105 Habermas, in: Luhmann/Habermas (Hrsg.), Was leistet die Systemforschung?, 101–141, 137. 106 Schmidt, JUS 1973, 204–207, 206. 107 Kamlah/Lorenzen, in: Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien, 483–495, 495. 108 Kaufmann, in: Kielwein/Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Dogmatik und Praxis des Strafverfahrens, 15–24, 21, unter Hinweis auf Habermas, in: Luhmann/Habermas (Hrsg.), Was leistet die Systemforschung?, 142–290, 200 f.

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Diskurscharakter habe.109 Obwohl sich Habermas dieser Meinung anschloss,110 hat sie sich zu Recht nicht durchgesetzt.111 Die Argumentation der von einem Prozess unmittelbar Betroffenen dient sowohl im Straf- wie im Zivilverfahren in aller Regel dem Ziel, einen für sie günstigen Ausgang des Verfahrens zu erzielen, und nicht der kooperativen Wahrheitssuche.112 Natürlich nehmen Parteien und Richter in Anspruch, dass ihre Aussagen vernünftig und wahr seien, aber dennoch handeln sie strategisch. Lässt man den Anspruch, vernünftig und »nicht böswillig« zu handeln, als Qualifikation für den Unterschied zwischen Diskurs und strategischem Handeln genügen, dann »verwischt sich der Unterschied zwischen Diskurs und strategischem Handeln bis zur Unkenntlichkeit«113 . d) Eigene Ansicht, gleichzeitig ein Bekenntnis zum kritischen Realismus Der vorangehende, notwendigerweise radikal kurze und vereinfachende Überblick über verschiedene Konzepte von Wahrheit hat gezeigt, dass jeder Wahrheitsbegriff seine Vor- und Nachteile hat. Ein möglicher Schluss aus der philosophischen Diskussion des 20. Jahrhunderts zum Wahrheitsbegriff ist, dass es »den« Begriff der Wahrheit nicht gibt, sondern verschiedene Konzepte der Wahrheit, die nebeneinander bestehen können und je ihren Anwendungsbereich und ihre Berechtigung haben.114 So kann die Korrespondenztheorie nicht begründen, warum die Aussage »2 + 2 = 4« wahr ist; es gibt nichts in der »Wirklichkeit«, das dieser Aussage entspricht und mit dem die Aussage, auf welche Art auch immer, verglichen werden könnte.115 Die Kohärenztheorie hingegen könnte die sinnvolle Antwort geben, dass die Aussage wahr ist, weil sie sich widerspruchsfrei in das auf den Dedekind-Peano Axiomen beruhende System der natürlichen Zahlen einfügen lässt.116 In ähnlicher Weise kann Kohärenz die Behauptung rechtfertigen, dass eine Auslegung des Gesetzes richtig ist, wenn sich (nur) diese Auslegung widerspruchsfrei in das Gefüge der übrigen, als richtig anerkannten, Prinzipien des Rechtssystems einfügt. Die Kohärenz der Rechtsordnung ist ein weithin anerkanntes Ideal.117 Bekanntester, aber bei weitem nicht einziger,118 Vertreter einer »Kohärenztheorie des Rechts« ist wohl Richard Dworkin, der 109

Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 261 ff. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 61 f. 111 Kaufmann, in: Kielwein/Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Dogmatik und Praxis des Strafverfahrens, 15–24, 21 ff. m. w. H. 112 Habermas, in: Luhmann/Habermas (Hrsg.), Was leistet die Systemforschung?, 142–290, 200 f.; Neumann, Wahrheit im Recht, 84. 113 Neumann, Wahrheit im Recht, 85. 114 Wright, in: Blackburn/Simmons (Hrsg.), Truth, 203–238, 225. 115 Lynch, in: Lynch (Hrsg.), The nature of truth, 9–15, 12. 116 Wright, in: Blackburn/Simmons (Hrsg.), Truth, 203–238, 225. 117 Alexy, in: Behrends/Diesselhorst/Dreier (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 95–107, 95; Sunstein et al., Stanford Law Review 2002, 1153–1216, 1154. 118 Siehe Bracker, Kohärenz und juristische Interpretation, 79 ff. 110

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Erster Teil: Grundlagen

das interpretatorische Ideal der »Integrität« postuliert. Integrität verlangt, dass Rechtsnormen, soweit dies möglich ist, ein kohärentes System basierend auf den Prinzipien der Gerechtigkeit und Fairness bilden.119 Bei der Entscheidung schwieriger Fälle soll der Richter versuchen, eine konstruktive Interpretation des Rechts zu finden, die sich bestmöglich in eine kohärente Menge von Aussagen über die Rechte und Pflichten der Rechtssubjekte einfügt.120 Eine Kritik an Dworkins Theorie der »Integrität« steht mir nicht zu.121 Entscheidend ist, dass sich rechtliche Kohärenztheorien damit befassen, den Inhalt von Rechtsnormen zu rechtfertigen, und dies ist nicht die Aufgabe, die der Wahrheitsbegriff der Tatsachenfeststellung erfüllen muss. Die Tatsachenbehauptungen, auf denen das Urteil basiert, sollten mit der externen Realität übereinstimmen. Der Inhalt von Rechtsnormen wird hingegen nicht durch »external hard facts« bestimmt.122 Auch die Konsensustheorie der Wahrheit kann helfen, die Richtigkeit von Normen zu begründen.123 Wenn wir hingegen beim Versuch des Einparkens in eine zu enge Parklücke scheitern, dann an den dort abgestellten Fahrzeugen und nicht daran, dass alle sachkundigen, normalsinnigen und vernünftigen Diskursteilnehmer der Aussage zustimmen würden, dass die Parklücke zu eng war.124 Selbst Habermas räumt ein, dass sich »ein noch so sorgfältig herbeigeführter Konsens« über eine noch so gut begründete Tatsachenbehauptung im Lichte neuer Beweismittel als falsch herausstellen könne, da die Wahrheit einer Tatsachenbehauptung das Bestehen eines Sachverhalts in der objektiven Welt bedeute.125 Für Zwecke der richterlichen Tatsachenfeststellung ist die Korrespondenztheorie überzeugend und vollkommen ausreichend.126 Der Richter muss nicht die

119 Dworkin, Law’s empire, 219, 225, 243. Raz, Boston University Law Review 1992, 273–314, 315 ff., bezweifelt, dass Kohärenz für Dworkin tatsächlich ein zentrales Kriterium der »integrity of law« ist. 120 Dworkin, Law’s empire, 255. 121 Problematisch für Kohärenztheorien des Rechts ist die Heterogenität juristischer Argumentationsstandards, die es erlaubt, mehrere Deutungsmöglichkeiten widerspruchsfrei in das System bestehender Normen einzufügen, Neumann, Wahrheit im Recht, 31 f. Kritisch auch Marmor, Law and Philosophy 1991, 383–412; Raz, Boston University Law Review 1992, 273–314, 282 ff., insb. 297 ff. 122 Dworkin, Law’s empire, 257. 123 Damaska, Hastings Law Journal 1998, 289–306, 294 f.; Neumann, Wahrheit im Recht, 25 ff. 124 Beispiel von Neumann, Wahrheit im Recht, 16. Kritisch auch Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 7 f. 125 Habermas (Hrsg.), Wahrheit und Rechtfertigung, 296 f. 126 Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, 6; Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, X; Schwab, in: Holzhammer/Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451–462, 457; Damaska, Hastings Law Journal 1998, 289–306, 289; Stamp, Wahrheit im Strafverfahren, 49; Gössel, Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit, 13 f.; Hohlweck, JUS 2001, 584–589, 585; Neumann, Wahrheit im Recht, 14; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 45; Deppenkemper, Beweiswürdigung, 399 f.; Brinkmann, Beweismaß, 6; Pardo, Law

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Wahrheit menschlicher Gedankenkonstrukte feststellen, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben. Der Einwand von Brinkmann, der Richter müsse auch »soziale Tatsachen« beurteilen, die »ihre Faktizität nur aus einer gesellschaftlichen Übereinkunft beziehen«127 , überzeugt nicht. Die Frage, an welchem Wochentag eine Handlung stattgefunden hat (um ein Beispiel von Brinkmann zu verwenden), ist genauso sehr (oder wenig) eine Frage nach der objektiven Realität wie die Frage, ob an der Musterstrasse 123 eine Wand steht. Natürlich beruhen Zeitangaben auf einer sozialen Konvention. Aber das bedeutet nicht, dass Zeit nicht außerhalb menschlichen Bewusstseins existiert. Zwischen der auf sozialer Konvention beruhenden Bezeichnung der Eigenschaften der außerhalb des Subjekts existierenden Welt und der Existenz dieser Eigenschaften ist zu unterscheiden – »that which we call a rose by any other name would smell as sweet«128 . Gegenstand des Beweises sind konkrete (substanziierte) Behauptungen, die sich auf Tatsachen der realen physischen Welt beziehen, zu denen nach hier vertretener Auffassung auch menschliche Verhaltensweisen und Bewusstseinszustände gehören.129 Nach hier vertretener Auffassung sind fremdpsychische Vorgänge Teil der realen Welt, auch wenn sie für Dritte nicht direkt wahrnehmbar sind.130 Kohärenz ist ein Indiz dafür, dass eine Sachdarstellung wahr ist.131 Kohärenz ist aber immer nur ein (nicht einziges) Wahrheitskriterium und nicht Definition der Wahrheit. Eine in sich widerspruchsfreie, kohärente Darstellung, die nicht mit den Fakten übereinstimmt, bleibt falsch. Die Wahrheit einer Aussage ergibt sich aus ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Natürliche Folge eines korrespondenztheoretischen Verständnisses des Wahrheitsbegriffs im Zivilverfahren ist ein Bekenntnis zum (kritischen) Realismus,132 der im Alltagsleben wie in den Naturwissenschaften am weitesten verbreiteten

and Philosophy 2005, 321–392, 331 FN 25; Taruffo, in: Cappelletti/David (Hrsg.), International Encyclopedia of Comparative Law, 1–87, 11; Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 262; a. M. Kargl, Handlung und Ordnung im Strafrecht, 341 ff.; Grasnick, in: Wolter/Potz (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 55–75, 74; Grasnick, in: Simon/Stegmaier (Hrsg.), Fremde Vernunft, 194–237, 207 f.; Brinkmann, Beweismaß, 8 (sic! Brinkmann sagt auf S. 6 seiner Arbeit, er verwende den Korrespondenzbegriff der Wahrheit, um dann auf S. 8 zu begründen, weshalb »im Zivilprozessrecht Wahrheit jedenfalls im Prozess eine aus mehreren Gründen subjektiv determinierte Kategorie ist.«). 127 Brinkmann, Beweismaß, 7. 128 Shakespeare, in: Wells/Taylor (Hrsg.), William Shakespeare: The complete works, 369–400, 369. 129 Ebenso Engisch, Logische Studien, 41; Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 7. Gegenstand des Beweises bilden auch die so genannten Erfahrungssätze; ihr Beweis bietet besondere Probleme, siehe hinten, S. 400 ff. 130 Ebenso Engisch, Logische Studien, 41, 54 f. 131 Taruffo, in: Cappelletti/David (Hrsg.), International Encyclopedia of Comparative Law, 1–87, 11. 132 Engisch, Logische Studien, 58; Damaska, Hastings Law Journal 1998, 289–306, 295; Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 261 FN 205.

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Erster Teil: Grundlagen

erkenntnistheoretischen Position.133 Die realistische Gesamteinstellung, die auch von fast allen anglo-amerikanischen Beweisrechtlern geteilt wird,134 lässt sich vereinfacht in die folgenden drei Teilbehauptungen gliedern:135 1. 2. 3.

Es gibt eine Wirklichkeit, die der Existenz nach von uns und unserem Bewusstsein unabhängig ist. Die Wirklichkeit weist Beschaffenheiten und Strukturen auf, die von unserem Bewusstsein unabhängig sind. Nennenswerte Teile der Wirklichkeitsstrukturen sind unserem Erkennen zugänglich und werden in unserem Wissen erfasst.

Zu Bemerkungen Anlass gibt allenfalls die dritte Teilbehauptung. Sie impliziert, dass Strukturen der Makrowelt, die unmittelbar beobachtbar sind, für den Richter erkennbar sind.136 Die eigene Wahrnehmung lässt sich nicht weiter begründen – der Richter kann nur feststellen, dass er anlässlich des Augenscheins einen Riss in der Wand gesehen hat. Verifizierung durch unmittelbare Beobachtung lässt sich nicht intersubjektiv diskutieren.137 Wer bestreitet, dass ein Richter eine der Beobachtung zugängliche Tatsachenbehauptung durch unmittelbare Sinneswahrnehmung verifizieren kann,138 muss verlangen, dass der Richter sein »für wahr erachten« dieser Tatsachenbehauptung begründet. Worin eine solche Begründung liegen könnte, ist schwer ersichtlich. Das Wahrheitskriterium der Kohärenz hilft hier kaum weiter. Dass die Überprüfung durch unmittelbare richterliche Sinneswahrnehmung keine besonderen Probleme bereitet,139 scheint der allgemeinen Auffassung der Prozessbeteiligten zu entsprechen: Gewöhnlich streiten die Parteien nicht über Tatsachen, die der direkten richterlichen Beobachtung zugänglich sind – strittig ist nicht, dass sich in der Wand ein Riss befindet, sondern was ihn verursacht hat; nicht, dass der Zeuge gesagt hat, er habe den Beklagten zum Zeitpunkt A am Ort B gesehen, sondern ob daraus geschlossen werden kann, dass sich der Beklagte zu diesem Zeitpunkt tatsächlich an diesem Ort befunden hat. Schwierigkeiten bereiten die Schlüsse aus feststehenden Tatsachen auf die

133 Roth, in: Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, 229–255, 231 (zur Verbreitung der Position des kritischen Realismus; Roth selber ist ein Vertreter des Konstruktivismus). 134 Twining, in: Twining (Hrsg.), Rethinking evidence, 35–98, 78. 135 Franzen, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.), Realismus und Antirealismus, 20–65, 23. 136 Auch dies ist eine Position, die von fast allen anglo-amerikanischen Beweisrechtlern geteilt wird, Twining, in: Twining (Hrsg.), Rethinking evidence, 99–164, 110; ebenso Koch/ Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 273, welche die »Bestätigung durch Eigenbeobachtung« als sicherste Ausgangslage bezeichnen. 137 Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, X. 138 So Siegrist, Beweisrecht des Zivilprozesses, 20 f.; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.105. 139 Engisch, Logische Studien, 62.

II. Ziel der Beweiswürdigung

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Existenz der unmittelbaren Beobachtung entzogener Tatsachen.140 Die Struktur solcher Schlüsse ist insbesondere Gegenstand des zweiten Teils dieses Buches. Wenn in der Folge von »Wahrheit« die Rede ist, wird damit also die Übereinstimmung einer Aussage mit den Tatsachen verstanden. Diese Wahrheit ist absolut, sie hat keine Grade.141 Eine weitere Qualifizierung als absolute,142 reale,143 materielle144 oder objektive145 Wahrheit ist überflüssig.146 Um die Unterscheidung zu den in der juristischen Literatur verwendeten Begriffen der »prozessualen« oder »formellen« Wahrheit zu erlauben, wird hier dennoch gelegentlich der überkommene Begriff der »materiellen Wahrheit« verwendet. 2. Objektive Wahrscheinlichkeit als Beweisziel? Ausgangspunkt folgender Überlegungen ist die allgemein geteilte Erkenntnis, dass absolute Gewissheit der Wahrheit der rechtserheblichen Tatsachenbehauptungen nicht zur erforderlichen Voraussetzung eines Urteils gemacht werden kann, weil es diese absolute Gewissheit nicht geben kann.147 Wenn der Gesetzgeber verlangt, dass das Gericht »nach freier Überzeugung zu entscheiden [hat], ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei« (§ 286 Abs. 1 ZPO-DE) respektive sich »seine Überzeugung [. . . ] nach freier Würdigung der Beweise [bildet]« (Art. 157 ZPO-CH), dann kann er nicht gemeint haben, dass das Gericht nur entscheiden darf, wenn absolute Gewissheit besteht, dass die anspruchsbegründenden Tatsachenbehauptungen wahr sind. Diese Erkenntnis ist in Rechtsprechung und Lehre unbestritten.148 Strittig sind die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Klar ist, dass mindestens eine der beiden Anforderungen – »absolute Gewissheit« oder »materielle Wahrheit« – weichen muss. Umstritten ist, ob man Abstriche an der Wahrheit oder an der Überzeugung des Richters, dass die behaupteten Tatsachen wahr sind, machen soll. Beides wurde vorgeschlagen, aber wie sich zeigen wird, ist nur der Weg, vom Verständnis der Überzeugung als absoluter Gewissheit abzuweichen, gangbar. Der eine Lösungsansatz besteht wie erwähnt darin, vom Erfordernis absoluter Gewissheit abzuweichen und geringere Anforderungen an den Grad der Gewissheit zu stellen, die der Richter haben muss, ehe er eine bestrittenen Tatsachenbehauptung seinem Urteil zugrunde legen darf. Für die Umschreibung der verlangten Intensität der Überzeugung des Richters unterhalb absoluter 140 141 142 143 144 145 146 147 148

Engisch, Logische Studien, 66. Statt aller Neumann, Wahrheit im Recht, 10. Musielak, Grundlagen der Beweislast, 114. Endemann, Beweislehre des Civilprocesses, 641. BGH NJW 2005, 1583, 1585; Botschaft ZPO, BBl 2006, 7245. Musielak, Grundlagen der Beweislast, 114. Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 15; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.111. Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 74. Statt aller BGH NJW 1951, 83.

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Erster Teil: Grundlagen

Gewissheit149 finden sich in Lehre und Rechtsprechung Formulierungen wie »für das praktische Leben brauchbarer Grad der Gewissheit«150 , »90–95%ige Überzeugung«151 , oder »Schwellenwert der Überzeugung von 90%«152 . Diesen Lösungsansatz vertritt insbesondere die berühmte Anastasia-Entscheidung des BGH von 1970, die immer noch Leiturteil zum Beweismaß im deutschen Zivilprozess ist.153 In dem durch dieses Urteil abgeschlossenen Verfahren machte die Klägerin geltend, das einzige überlebende Kind von Zar Nikolaus II. zu sein und verlangte von der Beklagten Herausgabe eines Teils des Nachlassvermögens. Landgericht und Oberlandesgericht wiesen die Klage ab, weil die Erbenstellung nicht rechtsgenügend bewiesen worden sei. Mit ihrer Revision rügte die Klägerin, die Untergerichte hätten überspannte Anforderungen an das Beweismaß gestellt. Der BGH wies die Revision ab. Nach einleitenden Ausführungen dazu, dass eine »unumstößliche Gewissheit« ob eine Tatsachenbehauptung wahr sei, nicht verlangt werden könne, aber sich der Richter auch nicht mit einer »bloßen Wahrscheinlichkeit« begnügen dürfe, sondern von der Wahrheit der Tatsachenbehauptung überzeugt sein müsse, stellt der BGH fest:154 »Diese persönliche Gewissheit ist für die Entscheidung notwendig, und allein der Tatrichter hat [. . . ] die Entscheidung zu treffen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen kann. Eine von allen Zweifeln freie Überzeugung setzt das Gesetz dabei nicht voraus [. . . ]. Der Richter darf und muss sich aber in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Das wird allerdings vielfach ungenau so ausgedrückt, dass das Gericht sich mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit begnügen dürfe; das ist falsch, falls damit von der Erlangung einer eigenen Überzeugung des Richters von der Wahrheit abgesehen werden sollte [. . . ].«

Der Bundesgerichtshof senkt also die Anforderungen an die »persönliche Gewissheit«; diese braucht keine unumstößliche zu sein, sondern es genügt »ein für das praktische Leben brauchbarer Grad der Gewissheit«.155 Hingegen wird aus149 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 21, stellt den Begriff der Gewissheit dem der Überzeugung gegenüber; d. h. für ihn ist Gewissheit nicht der maximal mögliche Grad der Überzeugung, sondern Gewissheit drückt aus, dass jedermann die Tatsachenbehauptung für wahr hält; dies in Anlehnung an Kant, Kritik der reinen Vernunft. Im üblichen juristischen Sprachgebrauch scheint mir die Bedeutung von »Gewissheit« als »maximale Überzeugung« aber vorherrschend. 150 BGH NJW 1970, 946, 948. 151 Paulus, Zivilprozessrecht, Rz. 431. 152 Dike-ZPO-Leu, Art. 157 N 52; ebenso Leuenberger/Uffer-Tobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Rz. 9.160. 153 BGHZ 53, 245 = BGH NJW 1970, 946; MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 32. 154 BGH NJW 1970, 946, 948. 155 Leipold, Beweismaß und Beweislast, 9, kritisiert, dass der BGH einerseits nach wie vor die »persönliche Gewissheit« des Richters verlangt, gleichzeitig aber zulässt, dass der Richter nicht frei von Zweifeln ist. Kritisch auch Rommé, Anscheinsbeweis, 62 f.

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II. Ziel der Beweiswürdigung

Tabelle 1: Unterschiedliche Anforderungen an die Überzeugung.

Richter hält es für

gewiss, praktisch gewiss, überwiegend wahrscheinlich, glaubhaft,

dass die Tatsachenbehauptung

wahr ist.

drücklich abgelehnt, die Wahrscheinlichkeit – selbst die »an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit« – zum Bezugspunkt der Überzeugung zu machen. Der BGH hat sich demnach dafür entschieden, an der Wahrheit als Beweisziel festzuhalten, aber den Grad der Gewissheit dafür, dass die Tatsachenbehauptung wahr ist, von »absolut sicher« auf »für das praktische Leben sicher« zu senken. Eine andere, auf den ersten Blick ebenso einleuchtende, Lösung ist, auf das Erfordernis der Wahrheit zu verzichten und stattdessen nur einen (mehr oder weniger ausgeprägten) Grad der Wahrscheinlichkeit der Wahrheit der Tatsachenbehauptung zu verlangen.156 Beispielhaft dazu Maassen: »Die Überzeugung kann sich demnach auch [sc. statt auf die Wahrheit] auf das Vorliegen eines bestimmten Grades von Wahrscheinlichkeit beziehen, der durch ein objektives Beweismaß objektiv und genau beschrieben ist.«157 Bereits die klassische Formulierung des Reichsgerichts zum Begriff der »Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit der Thatsache«158 nach § 259 CPO (später § 286 Abs. 1 ZPO-DE) geht diesen Weg: Weil eine sichere Erkenntnis ausgeschlossen ist, »[. . . ] gilt im praktischen Leben der hohe Grad von Wahrscheinlichkeit, welcher bei möglichst erschöpfender und gewissenhafter Anwendung der vorhandenen Mittel der Erkenntnis entsteht, als Wahrheit, und das Bewusstsein des Erkennenden von dem Vorliegen einer so ermittelten hohen Wahrscheinlichkeit, als die Überzeugung von der Wahrheit«.159 Statt auf die Wahrheit bezieht sich die Überzeugung demnach auf einen Grad von Wahrscheinlichkeit.160 Der Begriff der Wahrscheinlichkeit wird vom Reichsgericht dabei im objektiven Sinne verstanden, als eine Eigenschaft der beobachtbaren Welt, die (entsprechende Bemühungen vorausgesetzt) für jedermann gleich erkennbar ist.161 Offen gelassen werden soll hier die aufgrund der Unschärfe des Begriffs nicht beantwortbare Frage, ob das Reichsgericht in

156 So Maassen, Beweismaßprobleme, 24; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 116 f.; Huber, Beweismaß, 116 f. Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 20, vertritt die Meinung, dass Überzeugung keine Grade haben kann, beharrt aber darauf, dass Bezugspunkt der Überzeugung die (absolute) Wahrheit sei, a. a. O., 38, 121 f. 157 Maassen, Beweismaßprobleme, 24. 158 RGZ 15, 338, aus dem Leitsatz. 159 RGZ 15, 339 (Hervorhebung durch den Verfasser). 160 Musielak, Grundlagen der Beweislast, 116, 118. 161 Rommé, Anscheinsbeweis, 51 f.

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Erster Teil: Grundlagen

Tabelle 2: Unterschiedliche Anforderungen an den Bezugspunkt der Überzeugung.

Der Richter

ist überzeugt,

dass die Tatsachenbehauptung

wahr ist. höchstwahrscheinlich ist. überwiegend wahrscheinlich ist. wahrscheinlich ist.

dem Urteil eine objektive oder subjektive Beweismaßtheorie vertritt; das Urteil wurde zur Stützung beider Auffassungen herangezogen.162 Der Verzicht auf die Wahrheit als Ziel der Beweiswürdigung wurde in Deutschland in den 1970-er Jahren von verschiedenen Autoren vertreten.163 Wenn man will, kann man bei dieser Lösung auf die richterliche Überzeugung ganz verzichten und darauf abstellen, ob eine Tatsachenbehauptung »objektiv« – d. h. für jedermann gleichermaßen – »wahrscheinlich« ist.164 Diese Theorien werden zusammenfassend als »objektive« Theorien der Beweiswürdigung bezeichnet,165 wobei mit dieser Bezeichnung nicht viel gewonnen ist. Oft ist man sich nicht einig, welcher »Schule« ein Autor zuzuordnen ist.166 Die Konfusion liegt auch darin begründet, dass verschiedene Autoren unterschiedliche Kriterien zur Abgrenzung von objektiven und subjektiven Theorien verwenden. So stellt Maassen darauf ab, ob das Beweismaß »objektiv definiert« ist,167 Greger sieht die Abgrenzung darin, ob nur die richterliche Überzeugung gefordert wird (subjektive Theorien) oder die Überzeugung einen Bezugspunkt haben muss (objektive Theorien),168 während für Leipold und Rechberger jede Beweistheorie, die das Beweismaß in Prozentsätzen ausdrückt, »objektiv« ist.169 Herrschend ist wohl die Bezeichnung derjenigen Theorien, welche die richterliche Überzeugung zum zentralen Kriterium dafür machen, ob ein Beweis gelungen ist, als subjektive Theorien, während alle Theorien, die den Beweis nicht von der richterlichen Überzeugung

162 Vergleiche nur Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 69, mit Maassen, Beweismaßprobleme, 33. 163 Musielak, Grundlagen der Beweislast, 115 ff.; Musielak, in: Lüderitz/Schröder (Hrsg.), Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, 451–471, 461; Maassen, Beweismaßprobleme, 24 f.; Huber, Beweismaß, 116 f. 164 Bolding, in: Kuchinke/Esser (Hrsg.), Freiheit und Bindung des Zivilrichters in der Sachaufklärung, 57–64, 58 f. 165 Maassen, Beweismaßprobleme, 32; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 11; Rommé, Anscheinsbeweis, 64. 166 Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 69 f. mit Hinweisen. 167 Maassen, Beweismaßprobleme, 32. 168 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 11. 169 Leipold, Beweismaß und Beweislast, 11; Rechberger, in: Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 471–490, 484.

II. Ziel der Beweiswürdigung

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abhängig machen wollen, als »objektiv« bezeichnet werden.170 Zusätzliche Unterteilungen in »objektivierende subjektive Beweismaßtheorien«171 scheinen mir in Anbetracht der Unschärfe der Begriffe wenig hilfreich. In Reinform werden in Deutschland und der Schweiz weder die objektive noch die subjektive Theorie vertreten (gleich nachstehend). In der Rechtsprechung finden sich auch Formulierungen, die darauf hindeuten, dass man sowohl die Anforderungen an die richterliche Überzeugung von absoluter Gewissheit auf einen »für das praktische Leben brauchbaren Grad« senkt als auch beim Bezugspunkt der Überzeugung die Wahrheit durch eine »an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit« ersetzt.172 Solche Mischformen sind denkbar, aber leiden wie alle Theorien, die auf eine objektive Wahrscheinlichkeit des Einzelfalls abstellen, darunter, dass eine objektive Wahrscheinlichkeit des Einzelfalls nicht nur nicht erkennbar, sondern denkgesetzlich nicht vorstellbar ist: Es gibt keine objektive Wahrscheinlichkeit eines historischen Sachverhalts der Makrowelt.173 Die vom Kläger in einem Abstammungsprozess vorgetragene Tatsachenbehauptung »Der Beklagte ist der Vater des Klägers« ist entweder wahr oder falsch. Der Beklagte kann objektiv – »in Wirklichkeit« – nicht »zu 90%« der Vater sein. Die Wahrscheinlichkeit kann sich aber auf das Wissen des Urteilenden beziehen: dieser ist sich unter Umständen nicht absolut sicher, dass der Beklagte der Vater ist, sondern nur »zu 90% sicher«. Nur so verstanden ergibt der Begriff der Wahrscheinlichkeit bezogen auf einen Einzelfall Sinn. Diese Auffassung ist näher zu begründen, wozu eine Explikation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs notwendig ist (S. 95–125). 3. Überzeugung als Beweisziel? Es wird gesagt, Ziel des Beweises sei die Überzeugung des Richters von der Wahrheit einer tatsächlichen Behauptung; nicht dagegen »die objektive (absolute) Wahrheit, weil ein solches Ziel niemals erreichbar wäre.«174 Nach der hier vertretenen Auffassung ist dies insofern missverständlich, als die Überzeugung des Richters nicht Ziel des Beweises ist, sondern das Mittel, das der Gesetzgeber zur Erreichung des idealen Beweisziels – der Feststellung der Wahrheit – statt gesetzlicher Beweisregeln gewählt hat. Über die Jahrhunderte wurden verschiedene Modelle der gerichtlichen Tatsachenfeststellung entwickelt, die sicherstellen sollten, dass einerseits die Wahrheit 170 So im Wesentlichen Schwab, in: Holzhammer/Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451–462, 465; Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 41 ff.; Laumen, in: Baumgärtel/ Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 80–133, Rz. 15 ff. 171 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 91. 172 Nachweise für solche Mischformen bei Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 70 f. 173 Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 147 f. 174 MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 1; dies ist h. L., Scherzberg, ZZP 2004, 163–185, 178, m. w. H.; für die Schweiz Berti, Einführung in die ZPO, 122.

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Erster Teil: Grundlagen

erkannt und andererseits die Parteien vor richterlicher Willkür geschützt werden.175 Diese Ziele können in einem Spannungsverhältnis stehen. In Abbildung 2 sind die wichtigsten Modelle dargestellt, wobei von links nach rechts die Freiheit des Richters zu und der Schutz vor Willkür abnimmt.176 Die Bezeichnungen der Modelle wurden übernommen von Feuerbach (negative Beweistheorie),177 Walter (Drittkontrollmodell) und Prütting (alle übrigen).178 Die Verwendung in der Literatur ist uneinheitlich.

Abbildung 2: Beweiswürdigungsmodelle.

Nach der legalen Beweistheorie, die in den Spielarten der positiven und negativen Beweistheorie ausgebildet ist, wird die Beweiskraft der Beweismittel durch Gesetz festgelegt. Nach der positiven Beweistheorie ist es Aufgabe des Richters, festzustellen, ob die gesetzlich vorgeschriebenen Beweismittel – z. B. zwei Zeugen, die das gleiche bestätigen – vorliegen. Hingegen kommt es auf seine persönliche Überzeugung, ob sich der Sachverhalt tatsächlich so abgespielt hat wie behauptet, nicht an.179 Der Richter spricht nicht »seine eigne besondere Überzeugung, sondern die allgemeine im Voraus erklärte Überzeugung des Gesetzgebers in ihrer Anwendung auf die gegebenen Umstände aus«.180 Dieses Modell der Sachverhaltsfeststellung bietet maximalen Schutz vor richterlicher Willkür, denn der Entscheidungsspielraum des Richters ist gering. Es ist Ausdruck des Misstrauens gegenüber dem Richter und seiner Macht.181 175 Nicht weiter eingegangen wird auf die (aus heutiger Sicht) sog. irrationalen Beweismethoden, bei denen durch Gottesurteil entschieden wurde, welche Partei recht hatte, siehe dazu Walter, Freie Beweiswürdigung, 43 ff.; Deppenkemper, Beweiswürdigung, 120 f. 176 Für eine Einteilung nach anderen Kriterien siehe Fill, De calculatione iustitiae iudicatorum, 400. 177 Feuerbach, Betrachtungen über das Geschworenengericht, 132 f. 178 Walter, Freie Beweiswürdigung, 136 ff.; Prütting, Beweislast, 63. 179 Küper, Richteridee, 139 f. 180 Feuerbach, Betrachtungen über das Geschworenengericht, 24 (Hervorhebung durch Sperrung im Original). 181 Endemann, AcP 1858, 92–129, 118.

II. Ziel der Beweiswürdigung

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Andererseits wurde erkannt, dass die gesetzliche Beweiswertbestimmung zu Urteilen führen kann, die oft mit dem, was verständige Menschen für wahr erachten, wenig zu tun haben. Eine strafprozessuale Weiterentwicklung der legalen Beweistheorie zur negativen Beweistheorie ergänzt die gesetzliche Beweiswertbestimmung daher mit dem Element der persönlichen richterlichen Überzeugung.182 Für eine Verurteilung ist nach wie vor notwendig, dass die Beweismittel den gesetzlich vorgeschriebenen Wert erreichen. Der Richter ist aber nicht verpflichtet, zu verurteilen, wenn er nicht auch persönlich von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist.183 Die legale Beweiswertbestimmung schützt den Angeklagten vor richterlicher Willkür; das Element der persönlichen Überzeugung andererseits soll verhindern, dass Urteile getroffen werden (müssen), die mit der Wirklichkeit in einem allzu offensichtlichen Widerspruch stehen.184 Drittkontrollmodelle werden für das Zivilprozessrecht durch Kuchinke und Heescher, und, soweit er sich überhaupt zur Beweiswürdigung äußert, von Rosenberg vertreten.185 Nach Heescher gilt:186 »Der Richter darf und muss Tatsachen dann feststellen, wenn jeder andere verständige lebenserfahrene Richter die Tatsachen als bewiesen ansähe. Dies führt zu einer fiktiven Beweiswürdigung. [. . . ] Der Richter muss [. . . ] bei der Tatsachenfeststellung möglichst weit von seiner eigenen persönlichen Einstellung absehen und versuchen festzustellen, wie jeder andere verständige Richter den Sachverhalt beurteilt hätte.«

Drittkontrollmodelle wollen die Parteien vor willkürlicher Beweiswürdigung schützen, indem sie die persönliche Überzeugung des Richters ersetzen durch die (fiktive) Überzeugung einer vernünftigen Durchschnittsperson (respektive eines vernünftigen »Durchschnittsrichters«). Das Problem ist, dass die Formel vom vernünftigen Dritten eine Leerformel bleibt, so lange keine Regeln aufgestellt werden, an die der vernünftige Dritte gebunden ist.187 Heescher benutzt die Formel, um den Richter an die Denkgesetze und Erfahrungssätze zu binden, was seiner Ansicht nach nicht gelingen kann, wenn es ausschließlich auf die persönliche Gewissheit ankäme – überzeugt könne man auch bei Missachtung der Denkgesetze sein.188 Die herrschende Lehre und Rechtsprechung hat allerdings die absolute Freiheit des Richters bei der Tatsachenfeststellung schon lange eingeschränkt, ohne auf das Erfordernis der persönlichen Überzeugung zu 182

Küper, Richteridee, 140. Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 83. 184 Walter, Freie Beweiswürdigung, 65; Deppenkemper, Beweiswürdigung, 197. 185 Rosenberg, Beweislast, 181; Kuchinke, in: Kuchinke/Esser (Hrsg.), Freiheit und Bindung des Zivilrichters in der Sachaufklärung, 15–46, 39 f.; Heescher, Freie Überzeugung, 65. Im Strafprozessrecht sind Drittkontrollmodelle weit verbreitet, Nachweise bei Walter, Freie Beweiswürdigung, 137. 186 Heescher, Freie Überzeugung, 65. 187 Walter, Freie Beweiswürdigung, 167; Prütting, Beweislast, 65. 188 Heescher, Freie Überzeugung, 88 f., 115 ff. 183

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Erster Teil: Grundlagen

verzichten:189 Sie verlangt, dass diese Überzeugung ohne Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze gebildet wird.190 Überzeugt kann man in der Tat auch sein, wenn man die Denkgesetze nicht beachtet, aber diese Überzeugung genügt den gesetzlichen Anforderungen an die Überzeugungsbildung eben nicht. Nach der in Deutschland und der Schweiz herrschenden »gemischt subjektiv-objektiven Theorie«191 bildet sich der Richter ohne Bindung an gesetzliche Regeln eine persönliche Überzeugung zur Wahrheit von Tatsachenbehauptungen. Er darf bei der Überzeugungsbildung aber, wie eben erwähnt, nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen. Auch ist ihm der Grad des Beweismaßes durch das Gesetz generell-abstrakt vorgegeben.192 Mit dieser Form der freien Beweiswürdigung wird eine Balance zwischen der Freiheit des Richters und dem Schutz vor Willkür gefunden. Die persönliche Überzeugung soll sicherstellen, dass das Urteil der (materiellen) Wahrheit entspricht,193 die Bindung an Denkund Erfahrungsgesetze dient einerseits ebenfalls diesem Ziel, ermöglicht andererseits aber auch eine zweitinstanzliche Kontrolle der Beweiswürdigung und bietet daher einen gewissen Schutz vor richterlicher Willkür. Nach der rein subjektiven Theorie entscheidet der Richter ausschließlich aufgrund seiner persönlichen Überzeugung. Die subjektive Theorie in Reinform würde dazu führen, dass sich eine Kontrolle der Beweiswürdigung durch eine übergeordnete Instanz darauf beschränken müsste, den erstinstanzlichen Richter zu fragen, ob er wirklich überzeugt war.194 Bejaht er diese Frage, wäre die Beweiswürdigung richtig vollzogen worden, denn das Vorliegen des Evidenzgefühls ist das einzige Kriterium, das an die Beweiswürdigung angelegt wird. Dieser »platte Subjektivismus«195 wurde im deutschen Sprachraum noch von niemandem vertreten.196 Die freie Beweiswürdigung wurde eingeführt, weil erkannt wurde, dass die Bindung an gesetzliche Beweisregeln die Erkenntnis der Wahrheit erschwert.197 »Freie Beweiswürdigung bedeutet [. . . ] das Nichtgebundensein an gesetzliche 189

Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 116. Statt aller MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 10; für die Schweiz Groner, Beweisrecht, 106. 191 Bezeichnung gemäß Prütting, Beweislast, 63. 192 Prütting, Beweislast, 63; Scherzberg, ZZP 2004, 163–185, 178; a. M. Rommé, Anscheinsbeweis, 134 ff. (Rommé vertritt ein variables oder relatives Beweismaß). Für die Schweiz KuKoZPO-Schmid, Vor Art. 150–193 N 15. 193 Heescher, Freie Überzeugung, 59; Walter, Freie Beweiswürdigung, 164. 194 Jarcke, Neues Archiv des Criminalrechts 1826, 97–144, 100; Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 124 f. 195 Walter, Freie Beweiswürdigung, 151. 196 Walter, Freie Beweiswürdigung, 151; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 308; Prütting, Beweislast, 64; Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 41; Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 279 f.; Fill, De calculatione iustitiae iudicatorum, 400; siehe aber die Hinweise bei Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 54 ff., auf italienische Vertreter eines »platten Subjektivismus«. 197 Sacken, in: Schriftführer-Amt der ständigen Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des Vierten Deutschen Juristentages, 116–132, 123; Döhring, Erforschung des Sachverhalts, 473; Heescher, Freie Überzeugung, 59. 190

II. Ziel der Beweiswürdigung

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Beweisregeln, um der Wahrheit selbst, die hier nur eindeutig sein kann, am nächsten zu kommen.«198 Walter schreibt, »der Kampf um die materielle Wahrheit erfolgte unter dem Schlachtruf der freien Überzeugung«199 . Wenn daher heute gesagt wird, die richterliche Überzeugung sei Ziel der Beweiswürdigung, so wird Ziel und Mittel verwechselt: Ziel der Beweiswürdigung ist Erkenntnis der Wahrheit, Mittel dazu ist die freie (jedoch an Denkgesetze und Erfahrungssätze gebundene) Überzeugungsbildung. 4. Formelle Wahrheit als Beweisziel? In der Literatur findet sich oft die Feststellung, es sei nicht Aufgabe des Richters, die »historische«200 oder »naturwissenschaftliche«201 Wahrheit zu ermitteln, sondern Ziel der Beweiswürdigung sei nur die formelle,202 juristische203 , normative,204 prozessuale,205 philosophische,206 relative,207 soziale,208 subjektive209 oder subjektivistische210 Wahrheit. All diesen Wahrheitsbegriffen ist gemeinsam, dass sie im Gegensatz zur »absoluten« Wahrheit graduell sind.211 Damit erlauben sie die Behauptung, der Richter habe aufgrund der prozessualen Wahrheit entschieden, obwohl jedermann klar ist, dass das Zivilverfahren ungeeignet ist, die Wahrheit mit Sicherheit zu erkennen.212 Das Urteil beruht auf einer nur formellen Wahrheit, aber immerhin auf einer Wahrheit.213 Auch hier wird, aus der Erkenntnis heraus, dass die (materielle) Wahrheit nicht in jedem Fall ermittelt werden kann, der Bezugspunkt der Überzeugung geändert, und zwar von der absoluten (materiellen) Wahrheit zu einer relativen (formellen) Wahrheit.

198

Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, 6. Walter, Freie Beweiswürdigung, 164. 200 Rommé, Anscheinsbeweis, 87. 201 MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 1. 202 Craushaar, Zivilprozess, 100. 203 Jolidon, ZBJV 1973, 177–203, 199. 204 Ileri, in: Schweizerische Gesellschaft für Haftpflicht- und Versicherungsrecht (Hrsg.), Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen, 273–288, 273. 205 Rödig, Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 158 ff.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 118; Rommé, Anscheinsbeweis, 87. 206 Stahlmann, in: Breunung/Pieper/Stahlmann (Hrsg.), Sachverständige im Zivilprozeß, 73–123, 97. 207 Rommé, Anscheinsbeweis, 73. 208 Stahlmann, in: Breunung/Pieper/Stahlmann (Hrsg.), Sachverständige im Zivilprozeß, 73–123, 91. 209 Brinkmann, Beweismaß, 6. 210 Boden, Archiv für die gesamte Psychologie 1914, 1–26, 21. 211 Besonders deutlich Boden, Archiv für die gesamte Psychologie 1914, 1–26, 21, 26; Jolidon, ZBJV 1973, 177–203, 199 f.; Rommé, Anscheinsbeweis, 72 f. 212 Brinkmann, Beweismaß, 8. 213 Rommé, Anscheinsbeweis, 73. 199

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Erster Teil: Grundlagen

Tabelle 3: Bezugspunkte der Überzeugung nach dem verwendeten Wahrheitsbegriff.

Der Richter

ist überzeugt,

dass die Tatsachenbehauptung

absolut (materiell) wahr ist. relativ (formell) wahr ist.

Die Unterscheidung zwischen »förmlicher« und »würklicher« Wahrheit geht zurück auf Justus Möser.214 Da auch im 18. Jahrhundert schon unverkennbar war, dass die gesetzliche Beweistheorie den Richter oft zwang, seinem Urteil Tatsachen zu Grunde zu legen, die nach der Überzeugung eines vernünftigen Beobachters kaum der Fall sein konnten, musste gerechtfertigt werden, warum das Recht dennoch auf diese Tatsachen abstellen durfte. Möser vergleicht den Richter mit einer Bischofskonferenz, die für die Gläubigen ebenfalls eine förmliche Wahrheit feststelle: Wer der betreffenden Kirche angehöre, für den sei die Meinung der Bischöfe die Wahrheit, auf seine eigene Überzeugung komme es nicht an.215 Ohne diese förmliche Wahrheit würden die Parteien nimmer aufhören zu zanken. Menschen, und daher auch Richter, könnten irren; entscheidend könne daher nicht die (kaum zu erkennende) materielle Wahrheit sein, sondern der Sigel der Förmlichkeit, der durch die Erfüllung der gesetzlichen Beweisvorschriften erreicht werde.216 Nur die Förmlichkeit der legalen Beweistheorie garantiere den Rechtsfrieden und schütze vor richterlicher Willkür. Zwar sei es bedauerlich, dass förmliche und würkliche Wahrheit nicht immer übereinstimmten, aber dieser Nachteil sei auf jeden Fall geringer zu schätzen als der Nachteil, der entstehen würde, wenn jeder Richter einfach das als wahr erachten dürfe, was seiner Meinung entspreche.217 Viele der anfangs des 19. Jahrhunderts erschienen Lehrbücher und Kommentare übernahmen Mösers Lehre von der förmlichen Wahrheit.218 Unter Druck geriet die Lehre von der formellen Wahrheit, als auch die gesetzliche Beweistheorie zunehmend kritisiert wurde. Endemann, einer der führenden Kämpfer für die freie Beweiswürdigung im deutschen Zivilprozess, kritisierte, dass man so tue, als ob es zwei Wahrheiten gebe.219 Aus der Verhandlungsmaxime, so die Befürworter der freien Beweiswürdigung, folge nicht, dass die Parteien

214 Möser, in: Möser/Möser Voigt (Hrsg.), Patriotische Phantasien, Bd. IV (1780), 113–117, 113 ff.; den Hinweis verdanke ich Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 17. 215 Möser, in: Möser/Möser Voigt (Hrsg.), Patriotische Phantasien, Bd. IV (1780), 113–117, 114. 216 Möser, in: Möser/Möser Voigt (Hrsg.), Patriotische Phantasien, Bd. IV (1780), 113–117, 115. 217 Möser, in: Möser/Möser Voigt (Hrsg.), Patriotische Phantasien, Bd. IV (1780), 113–117, 116. 218 Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 19 ff. 219 Endemann, AcP 1858, 92–129, 112.

II. Ziel der Beweiswürdigung

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dort, wo sie den Richter um die Ermittlung der Wahrheit von Tatsachenbehauptungen bitten, auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit verzichteten – nur deren Feststellung könne Grundlage für ein gerechtes Urteil bilden, und zur Erlangung eines solchen hätten sich die Parteien ja an das Gericht gewandt.220 In der Tat verliert die Theorie der formellen Wahrheit mit der Einführung der freien Beweiswürdigung ihre Daseinsberechtigung.221 Freie Beweiswürdigung soll gerade das Ermitteln der (materiellen) Wahrheit ermöglichen. Das heißt nicht, dass sich der Richter nicht – ohne Verschulden, rein aufgrund der grundsätzlich und besonders im Zivilprozess beschränkten Erkenntnisfähigkeit – irren kann. Aber nicht jeder Irrtum ist eine formelle Wahrheit.222 Ehrlicher ist es, zuzugeben, dass es Urteile gibt, die auf Sachverhaltsrekonstruktionen beruhen, die schlicht falsch sind.223 Der Kunstgriff, die falschen Tatsachenbehauptungen qua richterlichem Urteil zur »juristischen Wahrheit« zu erheben, hilft nicht weiter.224 Selbstverständlich ist die Ermittlung der Wahrheit nicht einziges Ziel des Beweisverfahrens, und Zielkonflikte können dazu führen, dass die Wahrheit nicht erkannt wird. »Wahrheitsfindung als Ziel des Prozesses heißt eben nicht Wahrheitsfindung um jeden Preis.«225 Konfligierende Ziele finden sich inner- wie außerhalb der Verfahrensordnung. Die baldige Konfliktlösung binnen nützlicher Zeit und zu vernünftigen Kosten ist ebenso Ziel des Prozesses wie Feststellung der materiellen Wahrheit (hinten, S. 482 ff.). Die Achtung der Privat- und Geheimsphäre von Parteien und Dritten verbietet die Erforschung gewisser Sachverhalte, und die der Menschenwürde die Ausschöpfung aller Erkenntnismittel.226 Dadurch wird aber nicht der Wahrheitsbegriff funktionalisiert, die 220 Sacken, in: Schriftführer-Amt der ständigen Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des Vierten Deutschen Juristentages, 116–132, 123; Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 142, mit zahlreichen Nachweisen. 221 Gaul, AcP 1968, 27–62, 49; Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 77 f. 222 So aber Pagenstecher, Zur Lehre von der materiellen Rechtskraft, 305; Binder, Prozeß und Recht, 208, 307, 333; Paulus, in: Seebode (Hrsg.), Festschrift für Günter Spendel, 687–718, 703. Zur Kritik Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage, 188; Gaul, AcP 1968, 27–62, 55. 223 Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses, 37. Nach Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 28, stellt es keinen Mangel dar, wenn die Wahrheit nicht erkannt wird, sondern dies sei geradezu (durch Beweisverwertungsverbote u. a.) gewollt. Nobili wendet sich gegen das Ziel der Wahrheitserkenntnis, weil dieses dazu führe, dass dem Richter eine absolute Freiheit und uneingeschränkte Macht zugesprochen werde, die im Widerspruch zu einem liberalen Staatsverständnis stehe, Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 33 ff. 224 So bereits Künssberg, Diagnose der deutschen Processnoth, 9; Endemann, AcP 1858, 92– 129, 112; Hasler, Feststellung des Tatbestandes im Zivilprozess, 20. Taruffo, in: Cappelletti/David (Hrsg.), International Encyclopedia of Comparative Law, 1–87, 8, nennt die Unterscheidung von juristischer und nicht-juristischer Wahrheit »devoid of any rational foundation«. 225 Gaul, AcP 1968, 27–62, 50; Gaul, in: Yildirim (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen, 68–96, 89. 226 Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 15 f.; Gaul, in: Yildirim (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen, 68–96, 89; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.106; Taruffo, in: Cappelletti/David (Hrsg.), International Encyclopedia of Comparative Law, 1–87, 8.

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Erster Teil: Grundlagen

Rechtsordnung schränkt lediglich die Erkenntnismöglichkeiten ein.227 Um es mit Henckel zu sagen:228 »Beweisverbote können die volle Aufklärung des Geschehenen verhindern. Aber auch daraus lässt sich nicht ableiten, dass der Prozess auf die Konstruktion eines fingierten Sachverhaltes abziele. Vielmehr ergibt sich aus diesen Beweisverboten nur, dass der Tendenz zur wahrheitsgetreuen Rekonstruktion des Geschehens schutzwürdige Interessen der Parteien oder Dritter entgegenstehen können und der Gesetzgeber um der Achtung dieser Interessen willen die Wahrheitstendenz zurücktreten lassen muss. Das bedeutet nicht, dass er grundsätzlich nicht die Aufklärung des wahren Sachverhalts wolle, sondern nur, dass er einzelne Hindernisse der Wahrheitsermittlung hinnehmen muss, obwohl er an sich die wirklichkeitsgetreue Rekonstruktion des Geschehens anstrebt.«

Nach rechtsstaatlichem Verständnis des Verfahrensrechts soll durch das Urteil der private Konflikt zwischen den Parteien nicht auf beliebige Weise beendet werden, sondern auf eine möglichst gerechte Weise.229 Und gerecht kann nur ein Urteil sein, das auf der (materiellen) Wahrheit beruht.230 Die Botschaft zur am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen schweizerischen Zivilprozessordnung fasst dies kurz und prägnant wie folgt zusammen:231 »Soll ein Prozess effizient sein, ist ein Mittelweg zu finden zwischen den Grundanliegen einer schnellen, einfachen und kostengünstigen Erledigung einerseits und einer gerechten – sprich: richtigen (weil auf der materiellen Wahrheit beruhenden) – Entscheidung andererseits.«

Auch ist es natürlich richtig, dass der Richter aufgrund der Dispositionsmaxime gehalten ist, zugestandene Tatsachenbehauptungen als wahr zu erachten, selbst wenn er persönlich von ihrer Wahrheit nicht überzeugt ist,232 wobei dieser Grundsatz in der Schweiz durch Art. 153 Abs. 2 ZPO-CH, gemäß dem das Gericht auch im Rahmen der Dispositionsmaxime zu einer nicht streitigen Tatsachenbehauptung Beweise erheben kann, wenn an ihrer Wahrheit »erhebliche Zweifel« bestehen, stark eingeschränkt ist.233 Der Verzicht, eine Tatsachenbehauptung zu bestreiten und dadurch als wahr gelten zu lassen, ist Ausdruck der

227 Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, 53; Zeuner, in: Nakamura (Hrsg.), Festschrift für Kostas E. Beys dem Rechtsdenker in Attischer Dialektik, 1787–1809, 1790; für das Strafprozessrecht Albrecht, NStZ 1983, 486–493, 487. A. M. Rödig, Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 160 ff. 228 Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, 53. 229 Habscheid, Zivilprozessrecht, Rz. 475. 230 BGH NJW 2005, 1583, 1585; Endemann, Beweislehre des Civilprocesses, 3; Gaul, AcP 1968, 27–62, 49; Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses, 35; Blomeyer, Zivilprozessrecht, 111; Schöpflin, Beweiserhebung von Amts wegen, 40 f.; Taruffo, in: Cappelletti/David (Hrsg.), International Encyclopedia of Comparative Law, 1–87, 7. 231 Botschaft ZPO, BBl 2006, 7245. 232 Huber, Beweismaß, 92; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.106. 233 In Deutschland ist das Gericht an das Zugeständnis offenkundig falscher Tatsachenbehauptungen nicht gebunden, BGH NJW 1979, 2089.

II. Ziel der Beweiswürdigung

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Privatautonomie der Parteien.234 Die Partei entbindet den Richter aus freien Stücken davon, sich eine Überzeugung von der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung zu bilden. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass das Beweisziel dort, wo die Behauptung bestritten wird, nicht die Erkenntnis der (materiellen) Wahrheit ist.235 Wahrheit ist unbedingt, aber ihre Erkenntnis ist bedingt. Begriffe wie »formelle«, »prozessuale« oder »juristische« Wahrheit beschreiben daher das notwendigerweise unvollkommene Ergebnis der Beweiswürdigung – das, was dem Urteil zugrunde liegt – aber nicht ihr Ziel.236 5. Eigene Ansicht Objektive Wahrscheinlichkeit kann kein Ziel der Beweiswürdigung sein, weil es eine objektive Wahrscheinlichkeit des Einzelfalles nicht gibt. Eine Tatsache ist, oder sie ist nicht, sie ist nicht »wahrscheinlich« – unsicher ist nicht die Tatsache, sondern unser Wissen über sie. Die richterliche Überzeugung(sbildung) ist nach der hier vertretenen Auffassung nicht Ziel der Beweiswürdigung, sondern Mittel der Wahrheitserkenntnis. Ziel der richterlichen Beweiswürdigung ist »eine wirklichkeitsgerechte Sachverhaltsrekonstruktion«237 ; eine Sachverhaltsbeschreibung im Urteil, die das Prädikat »wahr« verdient, weil sie im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit mit der äußeren Wirklichkeit übereinstimmt. In diesem Sinne ist Wahrheit der Sachverhaltsbeschreibung ideales Ziel der Beweiswürdigung.238 Es kann in der Praxis nicht immer erreicht werden. Deswegen sollte es aber nicht zugunsten einer relativierten, juristischen »Wahrheit« aufgegeben werden.239 Erst die Einsicht, dass ein Urteil falsch sein kann, ermöglicht, die rationalen Konsequenzen daraus zu ziehen, die Inhalt des fünften Teils dieses Buchs sind. Dass die Feststellung der Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie als ideales Ziel der zivilprozessualen Beweiswürdigung angesehen wird, zeigt sich 234 Gaul, AcP 1968, 27–62, 51; ihm folgend Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses, 35; Gaul, in: Yildirim (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen, 68–96, 91. 235 BVerfGer, BvR 1750/12 vom 12. Dezember 2012, Rz. 12; Sacken, in: Schriftführer-Amt der ständigen Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des Vierten Deutschen Juristentages, 116–132, 123; Gaul, AcP 1968, 27–62, 51; Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses, 35; Zeuner, in: Nakamura (Hrsg.), Festschrift für Kostas E. Beys dem Rechtsdenker in Attischer Dialektik, 1787–1809, 1789; a. M. Kroll, Beweiswürdigung im Civilprozess, 27 f.; Huber, Beweismaß, 92. 236 Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 16. 237 AK-ZPO-Rüßmann, § 286 N 14. 238 Jolidon, ZBJV 1973, 177–203, 199; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 38, 118; Walter, Freie Beweiswürdigung, 164; Kaufmann, Freie Beweiswürdigung, 11 f.; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 22; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.109; Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 87; a. M. Huber, Beweismaß, 92; Rommé, Anscheinsbeweis, 73; Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil, 53 ff. 239 Gaul, AcP 1968, 27–62, 49; Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses, 34 ff.

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Erster Teil: Grundlagen

besonders deutlich bei einem Blick in die Literatur und Rechtsprechung zur in Deutschland gesetzlich nicht explizit geregelten Frage, ob und unter welchen Umständen widerrechtlich erlangte Beweismittel im Zivilprozess verwertet werden dürfen. Nach einer Extremposition sind auch widerrechtlich erlangte oder geschaffene Beweismittel immer verwertbar, weil die Verwertung dazu dient, den »wirklichen, d. h. den wahren Tatbestand zu ermitteln und dadurch das gerechte, das materiell richtige, Urteil zu fällen«240 . »Ziel des Prozessrechts ist, der Wahrheit und Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen«241 , und dieses Ziel wird durch die volle Verwertung gefördert. Nach einer anderen Auffassung ist jede Verwertung widerrechtlich erlangter oder geschaffener Beweismittel verboten.242 Nach der vermittelnden Position der herrschenden Lehre und Rechtsprechung ergibt sich, dass rechtswidrig – insbesondere durch einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen, z. B. durch widerrechtliche Tonaufnahmen – geschaffene oder erlangte Beweismittel im Zivilprozess nicht schlechthin unverwertbar sind.243 Über die Frage der Verwertbarkeit ist in derartigen Fällen auf Grund einer Interessen- und Güterabwägung im Einzelfall zu entscheiden.244 Dabei ist generell von Bedeutung, »dass jedes Beweisverbot die im Rahmen der ZPO grundsätzlich eröffneten Möglichkeiten der Wahrheitserforschung und damit die Durchsetzung der Gerechtigkeit und die Gewährleistung einer funktionstüchtigen Zivilrechtspflege beeinträchtigt.«245 Andererseits genießt die Wahrheitsfindung im Zivilprozess keinen absoluten Vorrang, sondern ist gegen den Schutzzweck der verletzten Norm abzuwägen.246 Insbesondere wenn die bei der Beweisbeschaffung verletzte Norm Grundrechtsqualität hat, ist die Rechtsprechung geneigt, die Unverwertbarkeit des erlangten Beweismittels anzunehmen.247 Aus der Anerkennung, dass die Durchsetzung der Gerechtigkeit (auch) auf den Möglichkeiten der Wahrheitserforschung beruht, ergibt sich aber, dass Ziel der Beweiswürdigung die (materielle) Wahrheit ist und nicht eine irgendwie geartete graduelle Annäherung an die Wahrheit, die dann als »formelle Wahrheit« bezeichnet werden kann – denn wenn letzteres der Fall wäre, gäbe es keinen Interessenkonflikt zwischen dem Verbot der Verwertung widerrechtlich erlangter Beweismittel und der Durchsetzung der Gerechtigkeit. In der Schweiz ist die Güterabwägung bei der Zulassung rechtswidrig beschaffter Beweismittel gesetzlich vorgeschrieben; Art. 152 Abs. 2 ZPO-CH bestimmt, dass rechtswidrig beschaffte Beweismittel nur berücksichtigt werden, wenn das 240

Werner, NJW 1988, 993–1002, 1002. Werner, NJW 1988, 993–1002, 1002. 242 Paulus, Zivilprozessrecht, Rz. 379. 243 Kasuistik bei Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 7. 244 BGH NJW 2003, 1123, 1124, unter Hinweis auf BVerfG, NJW 2002, 3619, 3624; BGH NJW 1994, 2289, 2292, und NJW 1991, 1180. 245 BGH NJW 2003, 1123, 1125. 246 BGH NJW 2003, 1123, 1125. 247 Dauster/Braun, NJW 2000, 313–319, 316 f. 241

III. Historische Entwicklung von der Legaltheorie zur freien Beweiswürdigung

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Interesse an der Wahrheitsfindung überwiegt. Ähnlich wie in Deutschland ist das Schutzinteresse des Rechtsguts, das bei der Beweismittelbeschaffung verletzt wurde, abzuwägen gegen das Interesse an der Wahrheitsfindung.248 Mit der Wahrheit im Sinne dieser Bestimmung kann nur die »materielle« Wahrheit gemeint sein, denn das Ziel der Ermittlung einer bloß formellen Wahrheit würde durch die Nichtberücksichtigung rechtswidrig beschaffter Beweismittel nicht beeinträchtigt.249 6. Zusammenfassung Ziel der Beweiswürdigung ist die Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie und die freie, aber an Denkgesetze und Erfahrungssätze gebundene Überzeugungsbildung ist das Mittel, das der Gesetzgeber statt formaler Beweisregeln gewählt hat, um dieses Ziel näherungsweise zu erreichen. Das Beweismaß bestimmt den Grad der persönlichen Überzeugung, der vorliegen muss, ehe ein Richter eine bestrittene Tatsachenbehauptung seinem Urteil zugrunde legen darf. Weil die menschliche Erkenntnisfähigkeit beschränkt ist und Zielkonflikte verhindern, dass in einem Zivilprozess alle Erkenntnisquellen ausgeschöpft werden können, ist Beweisergebnis die prozessuale oder juristische Wahrheit, die von der materiellen Wahrheit verschieden sein kann.250

III. Historische Entwicklung von der Legaltheorie zur freien Beweiswürdigung 1. Entwicklung bis zur Aufklärung Die Geschichte der gerichtlichen Beweiswürdigung wird von Walter als »Sinuskurve«, als ein auf und ab zwischen freier und gebundener Beweiswürdigung, beschrieben.251 Hier ist nicht der Platz, diese Geschichte im Detail nachzuzeichnen.252 Vertieft wird nur der Durchbruch der freien Beweiswürdigung in ihrer heutigen Form im 19. Jahrhundert dargestellt, da dies die eigentliche Geburtsstunde der heute noch geltenden Bestimmungen zur freien Beweiswürdigung in Deutschland und der Schweiz ist. Da Zivil- und Strafverfahren lange Zeit nicht getrennt wurden und die Diskussion um die Einführung der freien Beweiswürdigung im Strafprozessrecht entbrannte und für das Zivilverfahren bloß 248 Botschaft zur ZPO, BBl 2006, 7312; Rüedi, Materiell rechtswidrig beschaffte Beweismittel, Rz. 313, 321. 249 Die schweizerische Lehre setzt sich mit dem Wahrheitsbegriff von Art. 152 ZPO-CH bisher nicht auseinander. 250 Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 13 ff. 251 Walter, Freie Beweiswürdigung, 84; ihm folgend Nonn, Beweiswürdigung, 31. 252 Siehe dazu aus der neueren Literatur Deppenkemper, Beweiswürdigung.

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Erster Teil: Grundlagen

nachvollzogen wurde, ist eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Strafprozesses und insbesondere der strafprozessualen Literatur des 19. Jahrhunderts notwendig. Für die römische Frühzeit ist umstritten und aufgrund der spärlichen Quellenlage wohl auch nicht abschließend zu beurteilen, ob der Richter an gewisse Regeln zur Beurteilung der Beweismittel gebunden war.253 Für die Zeit der XII-Tafelgesetze steht fest, dass es verbindliche feste Beweisregeln gab.254 Diese wurden jedoch bald überwunden, und für den klassischen römischen Prozess galt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung.255 In der kaiserlichen Zeit wurde versucht, den Richter an gewisse allgemeine Beweisregeln zu binden; die berühmt-berüchtigte Regel »ein Zeuge ist kein Zeuge« geht auf Kaiser Konstantin zurück.256 Im Wesentlichen blieb die Beweiswürdigung aber frei.257 Der italienisch-kanonische Prozess, der aus germanischen, romanischen und kanonischen Elementen bestand und sich über die Rezeption258 auch in Deutschland durchsetzte,259 verfügte über eine hochentwickelte legale Beweistheorie. Als Grundlage dienten die Beweisregeln des römischen Rechts der kaiserlichen Konstitutionen, die aber nicht mehr als Richtlinien des gesunden Menschenverstandes interpretiert, sondern im Bestreben, die Richtermacht auf dem Gebiet der Tatsachenfeststellung möglichst einzuschränken, als verbindliche Beweisnormen verstanden wurden.260 Ausgehend davon, dass nur die übereinstimmenden Aussagen zweier (vollgültiger) Zeugen den vollen Beweis (»plena probatio«) erbringen können, wurde geschlossen, dass ein Zeuge den halben Beweis (»semiplena probatio«) erbringe. Der halbe Beweis konnte durch andere Beweismittel, zu denen insbesondere die Vermutungen (praesumtiones) zählten, zu einem vollen Beweis aufgefüllt werden.261 Dazu mussten alle möglichen Indizien gesetzlich erfasst und mit einem Beweiswert versehen werden.262 Auch zur Glaubwürdigkeit von Zeugen – dem Älteren ist mehr zu glauben als dem Jüngeren, dem Adligen mehr als dem Nichtadligen, dem Mann mehr als der Frau usw. – wurden detaillierte Regelungen aufgestellt.263 Vor allem im mittelalterlichen Italien erfuhr diese Lehre einen immer raffinierteren und subtileren Ausbau, der schließlich dazu führte, dass sie mehr Verwirrung als Erkenntnis stiftete.264 253

Deppenkemper, Beweiswürdigung, 44 f. m. w. H. Walter, Freie Beweiswürdigung, 11 f. 255 Wenger, Institutionen des römischen Zivilprozessrechts, 186; Kaser/Hackl, Das römische Zivilprozessrecht, 118; Deppenkemper, Beweiswürdigung, 47. 256 Glaser, Lehre vom Beweis im Strafprozess, 106; Simon, Justinianischer Zivilprozess, 249 f. 257 Endemann, Beweislehre des Civilprocesses, 628; Deppenkemper, Beweiswürdigung, 90. 258 Zur Rezeption allgemein Wieacker, Privatrechtsgeschichte, 124 ff. 259 Walter, Freie Beweiswürdigung, 23. 260 Küper, Richteridee, 127. 261 Walter, Freie Beweiswürdigung, 34. 262 Beispiele für Präsumtionen bei Burckhard, Die civilistischen Präsumtionen, 14 f., 31 f. 263 Walter, Freie Beweiswürdigung, 38. 264 Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 90. 254

III. Historische Entwicklung von der Legaltheorie zur freien Beweiswürdigung

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Das frühmittelalterliche Strafverfahren war ebenso wie der Zivilprozess Sache der Parteien.265 Erst im Zuge der Gottes- und Landfriedensbewegung266 setzte sich die Auffassung durch, dass Straftaten nicht nur die Interessen der unmittelbar betroffenen Parteien, sondern der Allgemeinheit berühren, und diese daher ein eigenes Interesse an der Bestrafung des Täters hat.267 Die Ermittlung der (materiellen) Wahrheit gewann an Bedeutung und führte zur Ausbildung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses, der geprägt ist von der Einheit von untersuchender und urteilender Instanz und fehlender Öffentlichkeit.268 Da die alten formalen Beweismittel (Reinigungseid, Leumundszeugen, Gottesurteil) zur Ermittlung der materiellen Wahrheit wenig geeignet schienen, gewannen die rationalen Beweismittel des Zeugnisses, Augenscheins und v. a. des Geständnisses – der »regina probationum« – an Bedeutung.269 Die rationalen Beweismittel entbehrten anfänglich einer klaren Regelung; insofern darf man im Zusammenhang mit dem frühmittelalterlichen Inquisitionsprozess von einer freien Beweiswürdigung sprechen.270 Insbesondere fehlte es an klaren Regeln zur Stärke des Verdachts, der notwendig war, um die Folter anzuwenden, die im Zuge der Ketzerverfolgung zunehmend häufig eingesetzt wurde, um den ultimativen Beweis, das Geständnis, zu erzwingen.271 Dies führte dazu, dass der Einsatz der Folter als reine Zweckmäßigkeitsfrage erschien und »einfach drauf los gefoltert«272 wurde. Diesen von polizeilicher Willkür beherrschten Inquisitionsprozess versuchte die auf der bambergischen Halsgerichtsordnung von Johann Freiherr von Schwarzenberg beruhende Constitutio Criminalis Carolina von 1532 (»CCC« oder »Carolina«),273 die über Jahrhunderte den deutschen Strafprozess bestimmen sollte, in ein rechtmäßiges Verfahren zu lenken.274 Nach italienischem Vorbild übernahm die Carolina die Unterscheidung zwischen den beweismäßigen Voraussetzungen für die Anwendung der Folter und den beweismäßigen Grundlagen für eine Verurteilung.275 Eine Verurteilung konnte, wie Art. 22 CCC ausdrücklich bestimmte, nicht auf Indizien gestützt werden. Anzeichen und Vermutungen konnten lediglich zur Anwendung der »peinlichen Frage« führen; wurde diese ohne solche Anzeichen angewendet, durfte eine Verurteilung gestützt auf ein durch Folter erzwungenes Geständnis nicht erfolgen (Art. 20 CCC). Schwarzenberg versuchte, dem Richter die Verdachtsgründe, die zur Anwendung der 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275

Walter, Freie Beweiswürdigung, 40 f. Dazu Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte bis 1250, 196 ff. und 312 f. Walter, Freie Beweiswürdigung, 52. Walter, Freie Beweiswürdigung, 54. Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 89 f. Küper, Richteridee, 125 f. Küper, Richteridee, 126. Walter, Freie Beweiswürdigung, 55 f. Zur Entstehungsgeschichte der Carolina Deppenkemper, Beweiswürdigung, 143 ff. Walter, Freie Beweiswürdigung, 56. Küper, Richteridee, 128.

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Erster Teil: Grundlagen

Folter berechtigen, exemplifikativ vor Augen zu führen, ihm Richtlinien zu dieser schwierigen Frage der Beweiswürdigung zu geben.276 So mussten die »genugsamen anzeygungen«, die nach Art. 22 CCC zur Anwendung der Folter berechtigten, grundsätzlich durch zwei gute Zeugen bestätigt worden sein (Art. 23 CCC); belastete nur ein Zeuge den Angeklagten, so sollte nur dann gefoltert werden, wenn der Zeuge das Vorliegen der Haupttatsache und nicht eines bloßen belastenden Indizes bestätigte (Art. 23 i. V. m. 30 CCC).277 Die übrigen Indizien klassifizierte die Carolina anhand ihrer Beweiskraft und erläuterte durch Beispiele ihre Bedeutung.278 Jedoch wollte Schwarzenberg, anders als das italienisch-kanonische Prozessrecht, kein starres Beweissystem schaffen, das den Richter bindet, sondern ihn bloß leiten.279 Dieses Anliegen Schwarzenbergs geriet aber bald in Vergessenheit. Unter dem Einfluss der kanonistischen Beweistheorie setzte sich die Auffassung durch, dass die Beweisregeln des gemeinen Rechts den Richter absolut binden.280 Wo zwei »klassische«281 Zeugen die Straftat aus eigener Wahrnehmung bezeugten, musste der Richter auch gegen seine innere Überzeugung verurteilen.282 Die richterliche Überzeugungsbildung wurde zu »einem Akt schematischer Rechtsanwendung«283 ; die Beweiswürdigung zu einem Rechnungsexempel,284 eine »mathematische Gedankenoperation lediglich formallogisch-technischen Charakters«285 . Die berechtigte Kritik an der gesetzlichen Beweistheorie darf allerdings nicht davon ablenken, dass in der legalen Beweistheorie auch »ein wohlbeabsichtiger Schutz gegenüber dem subjektiven Belieben des Richters«286 zu sehen ist.287 Richterliche Freiheit und richterliche Willkür liegen nahe beisammen. Der sogenannte gemeine Prozess auf der Grundlage der Carolina und zu ihrer Ausführung erlassener Partikulargesetze galt in Deutschland bis Mitte des 19. Jahrhunderts,288 allerdings seit der Abschaffung der Folter nach 1740 mit einigen 276

Küper, Richteridee, 128. Weitere Beispiele bei Fill, De calculatione iustitiae iudicatorum, 200. 278 Küper, Richteridee, 129. Beispiele bei Deppenkemper, Beweiswürdigung, 155. 279 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 15; Küper, Richteridee, 130, mit zahlreichen Nachweisen. 280 Küper, Richteridee, 131; Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 85 f. 281 Zu den Anforderungen an klassische Zeugen Deppenkemper, Beweiswürdigung, 160 f. 282 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 16 f.; Hinweise auf Quellen bei Küper, Richteridee, 131. 283 Küper, Richteridee, 131. 284 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 17. 285 Küper, Richteridee, 131. 286 Blomeyer, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, 1–54, 13. 287 Sacken, in: Schriftführer-Amt der ständigen Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des Vierten Deutschen Juristentages, 116–132, 124; Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 87. 288 Nachweise bei Zachariae, Handbuch des deutschen Strafprocesses, Bd. 1, 5 ff. 277

III. Historische Entwicklung von der Legaltheorie zur freien Beweiswürdigung

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gewichtigen Änderungen.289 Die Abschaffung der Folter, und der damit verbundene Rückgang an Geständnissen, führte zusammen mit der Anforderung, dass sich eine Verurteilung entweder auf ein Geständnis oder auf zwei klassische Zeugen, die zur Hauptsache aussagen und über eigene Wahrnehmungen berichten, stützen muss, dazu, dass es außerordentlich schwierig wurde, überhaupt noch jemanden zu verurteilen.290 Abhilfe schuf die außerordentliche oder Verdachtsstrafe, einer gegenüber der auf den Vollbeweis gestützten Strafe minderen Strafe,291 zu deren Verhängung aber bloße Indizien genügten.292 Dass die Unterscheidung von ordentlicher und außerordentlicher Strafe zur Rettung der gesetzlichen Beweistheorie nur eine Krücke ist, ist auch den zeitgenössischen Juristen nicht entgangen.293 Im Zivilprozess war die Geltung der gesetzlichen Beweistheorie bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Selbstverständlichkeit.294 Zwar erkannte man durchaus, dass die legale Beweistheorie ungeeignet war, die (materielle) Wahrheit zu finden, rechtfertigte aber mit Rechtssicherheits- und Rechtsfriedensargumenten, dass die durch die legale Beweistheorie auffindbare formelle juristische Wahrheit für die Zwecke des Zivilprozesses genügend, ja überlegen, sei.295 2. Aufklärung a) Das Menschenbild der Aufklärung Aufklärung ist nach der berühmten Definition von Kant bekanntlich der »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«, aus dem »Unvermögen, sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen.«296 Statt in Überlieferung und Autorität sollte Erkenntnis in der Benutzung des eigenen Verstandes gefunden werden. »Vernunft ist die natürliche Eigenschaft, die Gott dem Menschen gegeben hat, um die Wahrheit zu erkennen.«297 Das menschliche Denken wird als rational-vernünftig verstanden, geeignet, »die dunklen Mächte des Irrationalen«298 zu überwinden. In den »gemeinen Ver289 Friedrich der Große schuf für Preussen die Folter vier Tage nach seinem Amtsantritt mit Kabinettsorder vom 3. Juni 1740 ab; andere deutsche Länder folgten mit einiger Verzögerung. 290 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 20; Walter, Freie Beweiswürdigung, 61; Fill, De calculatione iustitiae iudicatorum, 220. 291 Nach § 407 der Preussischen Criminalordnung vom 11. Dezember 1812 durfte die außerordentliche Strafe nicht in der Hinrichtung oder »lebenswieriger Gefangenschaft« bestehen. 292 Feuerbach, Betrachtungen über das Geschworenengericht, 43 f. 293 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 494 ff. 294 Walter, Freie Beweiswürdigung, 76, mit Nachweisen. 295 Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 18 ff.; Walter, Freie Beweiswürdigung, 77. 296 Kant, Berlinische Monatsschrift 1784, 481–494, 481. 297 Diderot/d’Alembert (Hrsg.), Encyclopédie, Eintrag »raison« (Übersetzung aus dem Französischen durch den Verfasser). 298 Küper, Richteridee, 36 f.

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Erster Teil: Grundlagen

stand« (sensus communis, bon sens, heute »gesunder Menschenverstand«), den von (Ver-)bildung ungetrübten menschlichen Verstand, musste die Aufklärung notwendigerweise großes Vertrauen setzen, weil er Grundlage der Wahrheitserkenntnis sein sollte:299 »Das Urteil eines vernünftigen Menschen hat in manchen Fällen mehr Gewicht als das Urteil von 20 gebildeten Menschen.«300 Obwohl sie auf einem inneren Empfinden beruht, hat die auf den Verstand gegründete Wahrheitserkenntnis im aufklärerischen Sinne wenig Irrationales im modernen Wortsinn an sich.301 b) Das Richterbild der Aufklärung Das Vertrauen darin, dass die Vernunft den Menschen befähigt, das Wahre und Richtige zu erkennen, müsste eigentlich dazu führen, dass dem Richter erlaubt wird, sich über den als unvernünftig erkannten Sinn des Gesetzes hinwegzusetzen. Ein solches Richterbild wurde in der deutschen Frühaufklärung insbesondere von Carl Friedrich Hommel (1722–1781) vertreten.302 Es diente dem mehr oder weniger offen erklärten Ziel, zwischenzeitlich als barbarisch empfundene Rechtsauffassungen durch richterliche Rechtsschöpfung, die ihre Autorität aus der Vernunft bezog, aus der Welt zu schaffen. »Den Richtern darf [. . . ] die Freiheit, von völlig unhaltbaren Rechtsauffassungen aus früheren Zeiten Abstand zu nehmen, nicht genommen werden; sie sollen sogar – wenn nicht offen, dann versteckt – nach Art des Prätors verfahren, um ungerechte Ergebnisse zu verhindern.«303 Der Richter wird damit »zum Schrittmacher einer vernünftigeren Gesetzgebung«304 . Hommels Standpunkt wurde von einem großen Teil der zeitgenössischen Strafrechtler geteilt.305 Die Idee eines rechtsschöpferisch tätigen Richters, der sich gestützt nur auf die eigene Vernunft über positives Gesetzesrecht hinwegsetzen kann, verliert aus Sicht der Aufklärer natürlich dann an Attraktivität, wenn das positive Gesetz den Idealen der Aufklärung entspricht. Die Forderung nach einer auf den Grundsätzen des Vernunftrechts aufgebauten systematischen Kodifikation des Rechts war ein zentrales Anliegen der Aufklärung.306 War das Vernunftrecht erst einmal positiv kodifiziert, musste der Richter daran gebunden werden. Das mit der Aufklärung primär in Verbindung gebrachte Richterbild ist denn auch nicht das 299

Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 106. Diderot/d’Alembert (Hrsg.), Encyclopédie, Eintrag »sensé« (Übersetzung aus dem Französischen durch den Verfasser). 301 Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 106. 302 Küper, Richteridee, 40 f. 303 Hommel, Rhapsodia quaestionum in foro quotidie obvenientum neque tamen legibus decisarum, observatio 439, zitiert nach der deutschen Übersetzung von Küper, Richteridee, 40 f. 304 Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 224. 305 Küper, Richteridee, 41. 306 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, 322 ff.; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte seit 1650, 66 f. 300

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des rechtsschöpfend tätigen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen bedienenden Menschen, sondern das von Montesquieu (1698–1755) geprägte Bild vom Richter als »la bouche qui prononce les paroles de la loi«,307 als Sprachrohr des Gesetzes, der das Gesetz nur anwendet, es aber nicht ändern darf. Nach Montesquieus Konzeption der Gewaltenteilung musste jede rechtsschöpfende Tätigkeit des Richters als Eingriff in die der Legislative vorbehaltene Sphäre der Rechtsetzung erscheinen und daher unterbunden werden;308 die strenge Bindung des Richters an das Gesetz wird als notwendig erachtet, um dem Missbrauch judikativer Macht entgegenzuwirken.309 Diese Auffassung steht in einem offensichtlichen Widerspruch zum Grundsatz der freien Beweiswürdigung.310 Der neben Montesquieu bedeutendste Rechtsdenker der französisch-italienischen Aufklärungsbewegung, Cesare Beccaria (1738–1794), vertrat ein sehr ähnliches Richterbild.311 Noch klarer als bei Montesquieu findet sich bei Beccaria der Gedanke, dass der Richterspruch eine logisch-schematische Folgerung aus der Norm sei.312 Aus der Gewaltenteilung folgt für Beccaria, dass der Richter die Gesetze nicht interpretieren darf, denn diese Befugnis steht nur dem Gesetzgeber zu.313 Auch soll der Richter nicht nach dem »Geist der Gesetze« suchen, denn dies führt zu einer rechtsungleichen, von der Laune und Verstandeskraft des Richters abhängigen Gesetzesanwendung:314 »Jeder Mensch hat seine eigene Anschauungsweise, und diese wechselt mit den verschiedenen Zeiten. Der Geist der Gesetze wäre also das Ergebnis der guten oder schlechten Logik des Richters und würde von seiner leichten oder schweren Verdauung abhängen: er wäre abhängig von der Heftigkeit seiner Leidenschaften, von der Schwäche des Angeklagten, von den Beziehungen des Richters zu dem Verletzten und von allen den unscheinbaren Nebenumständen, die einem jeden Ding in dem unsteten Sinn des Menschen ein anderes Aussehen geben.«

Auch dies spricht natürlich gegen eine freie Beweiswürdigung, denn diese wäre – nach Beccarias Ansicht – wohl ebenso von der Verdauung und anderen unscheinbaren Nebenumständen abhängig wie die Suche nach dem Geist des Gesetzes. Bei Gaetano Filangieri (1752–1788), dem dritten bedeutenden Vertreter der französisch-italienischen Aufklärung, war das Richterbild Montesquieus bereits Selbstverständlichkeit.315 Der Gesetzgeber müsse, so Filangieri, unendlich ins 307 Montesquieu, De l’esprit des lois, Buch XI, Kapitel VI (Seitenzahl unterschiedlich je nach Ausgabe; der Text ist online erhältlich unter www.voltaire-integral.com/Esprit_des_Lois/L11. htm{#}L11_06, besucht am 18. Juli 2011). 308 Küper, Richteridee, 46. 309 Brodocz, Die Macht der Judikative, 32. 310 Walter, Freie Beweiswürdigung, 65. 311 Küper, Richteridee, 50, mit zahlreichen Hinweisen. 312 Küper, Richteridee, 51. 313 Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, 71. 314 Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, 73. 315 Küper, Richteridee, 55.

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Erster Teil: Grundlagen

Kleine gehende Bestimmungen erlassen, um die Macht der Richter nicht willkürlich zu machen.316 »Als getreue Bewahrer des Gesetzes« sollten Richter »blos das Organ deselben seyn«317 . Filangieri hatte, wenig überraschend, kaum Sympathien für die freie Beweiswürdigung. Wollte man die subjektive Überzeugung des Richters zum Beweismaß erheben, »blos seine moralische Gewissheit zur Bestimmung der Wahrheit einer Thatsache hinreichen« lassen, so wäre »eine uneingeschränkte straflose Willkühr über Leben, Ehre und Freyheit des Bürgers«318 die Folge. Andererseits anerkannte Filangieri den Gewissenskonflikt, in dem sich ein Richter befindet, wenn er einen seiner eigenen Überzeugung nach unschuldigen Angeklagten aufgrund der gesetzlichen Beweistheorie verurteilen muss, und entwickelte die später von Feuerbach319 so bezeichnete negative Beweistheorie.320 Gemäß dieser vorne bereits kurz dargestellten Beweistheorie darf der Richter nur verurteilen, wenn die gesetzlich geregelte Beweiskraft der vorliegenden Beweismittel dies zulässt, muss dies aber nicht tun, wenn er Gründe hat, dennoch zu zweifeln.321 Die deutsche Strafrechtswissenschaft stand dem Richterbild Montesquieus, Beccarias und Filangieris zuerst ambivalent gegenüber. Wo eine lückenlose, auf Vernunft beruhende Gesetzgebung, wie z. B. das preußische Allgemeine Landrecht von 1794, vorhanden war, anerkannte man auch (die vom Gesetzgeber geforderte) absolute Bindung an das Gesetz. Wo aber noch bisheriges gemeines Recht herrschte, wollte man auf den Richter, der sich Kraft seiner Vernunft über »unsinniges« Recht hinwegsetzen konnte, nicht verzichten.322 Dem französisch-italienischen Richterbild zum Durchbruch in Deutschland verhalf Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach, der eine unbedingte Bindung an das Gesetz nicht um seiner selbst willen, sondern im Interesse seiner rechtspolitischen Ordnungsfunktion, verlangte.323 Der Richter sollte »der individualitätslos-anonyme, unpersönliche Vollstrecker des Gesetzes [sein], an der Rechtsfindung lediglich mit seinem Intellekt, nicht aber mit seinen übrigen Persönlichkeitskräften, mit Wille, Gefühl, und Gewissen beteiligt und dessen innere Einstellung zu Recht und Gesetz vollends gleichgültig [ist].«324

316

Filangieri, System der Gesetzgebung, Band III, 377. Filangieri, System der Gesetzgebung, Band III, 381. 318 Filangieri, System der Gesetzgebung, Band III, 328 f. 319 Feuerbach, Betrachtungen über das Geschworenengericht, 132. 320 Küper, Richteridee, 140. In Deutschland wurde die negative Beweistheorie vonMittermaier, Geschwornengericht, 401 ff., 409, vertreten, später aber verworfen, Nachweise bei Schulz, in: Küper (Hrsg.), Carl Joseph Anton Mittermaier, 139–148, 140. 321 Filangieri, System der Gesetzgebung, Band III, 231 f. 322 Küper, Richteridee, 71, unter Hinweis auf Geib, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, Bd. I: Geschichte, 328, 329. 323 Küper, Richteridee, 76. 324 Küper, Richteridee, 82 f. 317

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c) Die Einführung der freien Beweiswürdigung in Frankreich: conviction intime Das neue Verständnis individueller natürlicher Rechte, das während der Aufklärung zum Durchbruch gelangte, verlangte nach einem Schutz derselben vor der Staatsgewalt. Der überkommene Inquisitionsprozess hingegen schien einzig darauf ausgerichtet, Schuldige zu finden: »L’ordonnance criminelle, en plusieurs points, semble n’avoir été dirigée qu’à la perte des accusés.«325 Dies führte zu den aufklärerischen Forderungen nach Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Strafverfahrens, dem Recht auf Verteidigung und der Abschaffung der Folter.326 Die gesetzliche Beweistheorie, bei der aus acht Achtelbeweisen, die »nichts als das Echo eines unbegründeten Gerüchts sind«327 , ein zur Verurteilung genügender voller Beweis entsteht, wurde z. B. durch Voltaire kritisiert. Voltaire zweifelte allerdings, dass die freie Beweiswürdigung die Lösung des Problems sein konnte. Zwar sei die gesetzliche Beweistheorie Ursache zahlreicher Fehlurteile, weshalb man versucht sein könnte, ihre gänzliche Abschaffung zu fordern und den Richter nur auf sein Gewissen und den gesunden Menschenverstand (»bon sens«) zu verpflichten. Aber niemand würde behaupten wollen, dass diese unfehlbar seien.328 Wollte man dem Richter die Freiheit der Tatsachenentscheidung einräumen, so stellte sich unmittelbar die Frage, wie die damit geschaffene Macht kontrolliert werden konnte. Wenn man, wie Montesquieu, der Überzeugung ist, »que tout homme qui a du pouvoir est porté à en abuser; il va jusqu’à ce qu’il trouve des limite«329 , dann müssen dieser Macht Schranken gesetzt werden.330 Diese Schranken sah Montesquieu beim Richter in der strikten Gesetzesbindung, der seiner Persönlichkeit beraubt zu einem »être inanimé«331 wird, das ohne eigenes Gewissen den Befehl des Gesetzgebers umsetzt. Diese Auffassung, die, wie oben gezeigt wurde, von den aufklärerischen Rechtsdenkern allgemein geteilt wurde, steht in einem unmittelbaren Widerspruch zur Idee, den Richter bei der Tatsachenfeststellung nur seinem Gewissen zu verpflichten. Sie würde eigentlich viel besser mit der gesetzlichen Beweistheorie in Einklang stehen.332 Die (zumindest teilweise) Auflösung des Widerspruchs ist in der aufklärerischen Forderung nach einer den englischen Geschworenengerichten nachempfundenen »jury of peers« und dem Vertrauen der Aufklärer in den »gesunden Menschenverstand« zu sehen.333 Die politische Forderung nach Einführung der 325

Voltaire, Commentaire sur le livre des délits et des peines, XXII, erster Absatz. Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 100. 327 Voltaire, Commentaire sur le livre des délits et des peines, XXII, letzter Absatz. 328 Voltaire, Prix de la justice, 97. 329 Montesquieu, De l’esprit des lois, Buch XI, Kapitel IV. 330 Diese Auffassung wurde von den meisten Aufklärern geteilt, Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 101. 331 Montesquieu, De l’esprit des lois, Buch XI, Kapitel VI. 332 Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 104. 333 Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 106 ff. 326

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Geschworenengerichte siegte gegen die logisch-juristischen Bedenken.334 In der verfassungsgebenden Versammlung wurde zwischen Dezember 1790 und Januar 1791 eine intensive Debatte über das mündliche Verfahren und die innere Überzeugungsbildung geführt, zu deren Exponenten insbesondere Adrien Duport und Maximilien Robespierre gehörten.335 Robespierre kritisierte das rein mündliche Beweisverfahren und die freie Überzeugungsbildung und trat für eine Form der negativen Beweistheorie ein:336 »Alles der Überzeugung des Richters zu überlassen, heißt Willkür und Tyrannei zu schaffen. [. . . ] Das Gesetz hat Regeln für die Überprüfung und Zulassung von Beweisen aufgestellt – Regeln ohne deren Beachtung die Richter nicht verurteilen dürfen, wie auch immer ihre Überzeugung beschaffen sein mag. [. . . ] Es gilt festzuhalten, dass sie berechenbar sind, und das Mittel, ihre Einhaltung zu überwachen, ist die Schriftlichkeit. Es gilt, das Vertrauen, das die gesetzlichen Beweise genießen, mit jenem zur verbinden, das die innere Überzeugungsbildung verdient. [. . . ] Der Angeklagte darf nur verurteilt werden, wenn gesetzliche Beweisregeln dies stützen; [jedoch sind die Richter frei], wenn diese Regeln [ihrer] inneren Überzeugung widersprechen.«

Demgegenüber verteidigte Duport das unmittelbare und mündliche Beweisverfahren vor Geschworenen, die nicht an gesetzliche Beweisregeln gebunden waren, ebenso heftig:337 »Alles sieht anders aus, wenn man Geschworene hat. Diese gewählten Bürger wirken ohne eigene Interessen mit; sie hören und sehen den Angeklagten unter dem Eindruck der Zeugenaussagen. Gemeinsam beobachten sie gleichzeitig die Gesamtheit und die Einzelheiten des Prozesses. Die Gesellschaft hegt keinerlei Misstrauen gegen sie; sie gestattet ihnen, eigene persönliche Kenntnisse heranzuziehen und mit größtmöglicher Aufrichtigkeit und am sicheren Leitfaden der gesunden Vernunft zu urteilen. Es gibt eine Einheit und Übereinstimmung ihrer Fähigkeiten: Sie sollen nicht – wie die Berufsrichter – sich gleichsam verdoppeln; sie sollen nach dem urteilen, was sie sehen und nicht nach dem, was sie sehen müssen; sie sollen ihrem eigenen Gewissen gehorchen und nicht falsche und absurde Wahrscheinlichkeitsregeln befolgen.«

Letztlich war der Wunsch nach der Beurteilung der Tatfrage durch Geschworene größer als der Wunsch nach Schutz vor Willkür durch Bindung an gesetzliche Beweisregeln. Beides war nicht zu haben – von Laien konnte nicht verlangt werden, dass sie sich an gesetzliche Beweisregeln hielten. Einführung der freien Beweiswürdigung und Einführung der Geschworenengerichte sind untrennbar verknüpft.338 Das Dekret über das Strafverfahren vom 16./29. September 1791 334

Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 108; Fill, De calculatione iustitiae iudicatorum, 239. Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 125. 336 Maximilien Robespierre, Wortmeldung vom 4. Januar 1791, in: Moniteur Universel vom 5. Januar 1791; zitiert in der deutschen Übersetzung bei Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 127. 337 Adrien Duport, Wortmeldung vom 4. Januar 1791, in: Moniteur Universel vom 5. Januar 1791; zitiert in der deutschen Übersetzung bei Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 129. 338 Küper, Richteridee, 174 f.; Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 74 ff.; Deppenkemper, Beweiswürdigung, 199 f. 335

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machte die Vorstellungen der Aufklärer zum fairen Verfahren zum Gesetz; es sah eine klare Trennung von Untersuchungsverfahren und Hauptverhandlung, akkusatorisch geprägter Untersuchung und innerer Überzeugungsbildung der Geschworenen auf der Grundlage von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit vor.339 Das Décret en forme d’instruction pour la procedure criminelle vom 29. September/21. Oktober 1791 enthielt eine Art Erläuterung des Dekrets über das Strafverfahren. In den Anweisungen, die an die Geschworenen zu richten waren, ehe sich diese zur Beratung zurückzogen, findet sich die berühmte Formulierung der »conviction intime«, der inneren Überzeugung: »La loi ne demande pas compte des moyens par lesquels se sont formés une conviction ; elle ne leur préscrit point des règles auxquelles ils doivent attacher particulièrement le plénitude et la suffisance d’une preuve ; elle leur demande de s’interroger eux-mêmes dans le silence et le recueillement et de chercher, dans la sincérité de leur conscience, quelle impression ont faite sur leur raison les preuves rapportées contre l’accusé et les moyens de sa défense. La loi ne leur dit point : » vous tiendrez pour vrai tout fait attesté par tel nombre de témoins, ou vous ne regarderez pas comme suffisamment établie toute preuve qui ne sera pas formée de tant de témoins ou de tant d’indices « ; elle ne leur fait que cette seule question qui renferme toute la mesure de leur devoir : avez-vous une intime conviction ? «

Einige der Errungenschaften des Dekrets vom 16./29. September 1791 wurden in der Folge wieder aufgegeben.340 Die conviction intime und die Geschworenen wurden jedoch auch im Code d’instruction criminelle von 1808 beibehalten (Art. 342 des Code d’instruction übernimmt praktisch wörtlich die oben wiedergegebene Formulierung des Décret d’instruction von 1791). Verglichen mit der Rechtslage unter dem ancien régime hatten sich die Standpunkte gerade umgekehrt: An die Stelle eines Richters, der bei der Verhängung von Strafen größte Freiheiten besaß, aber bei der Beweiswürdigung gebunden war, trat ein Richter, der im Hinblick auf den Straftatbestand und die Rechtsfolge an das Gesetz gebunden war, aber bei der Überzeugungsbildung betreffend der tatsächlichen Grundlage des Urteils gänzlich frei war.341 d) Die Einführung der freien Beweiswürdigung in Deutschland: von der conviction intime zur conviction raisonée Bereits 1760 forderte der sächsische Jurist Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717–1771), dass der Richter nur kraft seiner vollkommenen Überzeugung, dass ein Verbrechen tatsächlich geschehen sei, urteilen solle.342 Diese Überzeugung ist subjektiv in dem Sinne, dass viele Menschen überzeugt sein können, dass ein Verbrechen stattgefunden hat, ohne dass der Richter überzeugt ist.343 Die von 339 340 341 342 343

Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 122. Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 135 ff. Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 105. Justi, in: Justi (Hrsg.), Historische und juristische Schriften, 350–369, 350 ff. Justi, in: Justi (Hrsg.), Historische und juristische Schriften, 350–369, 354.

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Erster Teil: Grundlagen

von Justi vertretene »volle Anerkennung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung des gewissenhaften Richters«344 kollidierte jedoch frontal mit dem aufklärerischen Verständnis des Richters als »Subsumtionsmaschine« und konnte sich nicht durchsetzen.345 Der Streit um die freie Beweiswürdigung in Deutschland brach ernsthaft mit der Auseinandersetzung mit dem napoleonischen Code d’instruction criminelle von 1808 aus.346 Eine überwiegende Mehrheit der deutschen Juristen, so Feuerbach,347 Mittermaier und von Globig,348 lehnten die französische Lehre der conviction intime ab, da diese auf einem bloßen Wahrheitsinstinkt349 , einem Gesamteindruck, beruhe und nicht auf einer rationalen Tätigkeit. Die freie Beweiswürdigung führe dazu, dass die Geschworenen nach einer »orakelhaften moralischen Überzeugung«350 urteilten. Für Mittermaier bedeutete das französische System, »dass die Geschworenen nur dem Totaleindrucke und einem dunklen Gefühle von Wahrheit einer Thatsache, wobei der Geschworene sich keine Rechenschaft gibt und zu geben braucht, folgen sollen.«351 Polemischer noch Feuerbach, der meinte:352 »Die Geschworenen mit ihrem Instinkt erscheinen hier nicht anders, denn ein Methodistenoder Quakerverein, der in dumpfer Gedankenlosigkeit auf den Lichtstrahl der natürlichen Offenbarung harrt, so wie die letzten auf eine Erleuchtung von oben.«

Mittermaier verwies auf das englische Beweisrecht, das mit seinen Ausschlussregeln (exclusionary rules) im Gegensatz zur »unbestimmten und unklaren«353 Lehre der conviction intime geeignet sei, den Entscheid der Geschworenen zu leiten.354 Soweit man die Jury ablehne und die Tatsachenfeststellung beim Berufsrichter belasse, bedürfe es, wie Bauer,355 Feuerbach,356 Mittermaier357 und Zachariae358 betonten, ohnehin der Sicherung durch eine gesetzliche Beweistheorie. Die Grundlage für eine vermittelnde Antwort auf die durch Köstlin aufgeworfene Frage, »Soll das Urtheil in Strafsachen blos das Resultat einer logischen Operation sein oder soll es die innerste Gewissensüberzeugung zu seinem letz344

Hall, Die Lehre vom corpus delicti, 93. Küper, Richteridee, 133 f. 346 Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 147 f. 347 Feuerbach, Betrachtungen über das Geschworenengericht, 121 f. 348 Globig, Theorie der Wahrscheinlichkeit, Einführung, VIII, Teil II, 293. Weitere Nachweise bei Glaser, Lehre vom Beweis im Strafprozess, 17, Fn. 19. 349 Mittermaier, Geschwornengericht, 367. 350 Glaser, Lehre vom Beweis im Strafprozess, 17, mit Nachweisen auf die Kritiker der freien Beweiswürdigung. 351 Mittermaier, Geschwornengericht, 27. 352 Feuerbach, Betrachtungen über das Geschworenengericht, 119 f. 353 Mittermaier, Geschwornengericht, 367. 354 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 110 ff. 355 Bauer, Abhandlungen aus dem Strafrecht und dem Strafprocesse, 32. 356 Feuerbach, Über die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren Frankreichs, 418 f. 357 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 118 ff. 358 Zachariae, Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, 197, 307. 345

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ten Fundament haben?«359 zeigte Carl Ernst Jarcke (1801–1852) mit seiner viel beachteten Lehre vom unvollständigen Beweis auf.360 In Übereinstimmung mit Kant definiert Jarcke Wahrheit als »die Übereinstimmung der Überzeugung des urtheilenden Subjects mit dem erkannten Objecte.«361 Damit grenzt sich Jarcke einerseits gegen eine von der damals herrschenden Lehre vertretenen Meinung ab, gemäß der die Wahrheit in der Sache selbst liege und unabhängig vom Richter durch Subsumtion unter die gesetzlichen Beweisregeln erkannt werden könne.362 Andererseits wird damit die radikal-subjektive These zurückgewiesen, dass die Wahrheit allein in der Überzeugung des Subjekts liege, denn »sonst wäre, wo eine Überzeugung vorhanden ist, auch immer die Wahrheit zu finden.«363 Irrtum aber ist auch dann möglich, wenn Überzeugung vorliegt; die Kernfrage des Beweisrechts ist demnach: »Welche Garantie hat der Mensch für die Richtigkeit seines Urtheils, oder dafür, dass sein Fürwahrhalten mit der Wahrheit übereinstimme?«364 Nach Jarcke kann die einzige Garantie für die Übereinstimmung von Überzeugung und Sache in den Gründen liegen, die zur Überzeugung geführt haben; »sie kann namentlich nicht in der Überzeugung selbst liegen, sonst hätte der Mensch bei sich und bei anderen nur zu untersuchen, ob er oder der Andere überzeugt sei.«365 Die Gründe für die menschliche Erkenntnis von Tatsachen liegen in der eigenen sinnlichen Wahrnehmung und dem Schluss von bekannten Tatsachen auf unbekannte. »Das Prüfen und Abwägen dieser Gründe aber ist ein Geschäft der Reflexion und folglich des Verstandes.«366 Damit löste sich der unüberbrückbar scheinende Unterschied zwischen der Überzeugungsbildung durch Geschworene und rechtsgelehrte Berufsrichter auf; die Gewissheit beruhte weder hier noch dort auf instinktartigem Wahrheitsgefühl oder unreflektierter Totalanschauung,367 sondern war das Ergebnis einer auf Gründen beruhenden Reflexion:368 »Wollen die Geschwornen sich eine Überzeugung bilden, und eine Garantie für die Richtigkeit ihrer Überzeugung haben, so stehen sie hierin wieder dem deutschen Richter ganz gleich. Sie müssen sich der Gründe ihrer Erkenntnis bewusst werden, diese einzeln prüfen und prüfen, ob dieselben in ihrer Gesamtheit zu einem Urtheil hinreichen. Dies alles ist ein Geschäft der Reflexion, demnach können die Geschwornen also die Gewissheit, dass ihr Urtheil richtig sey, nur durch Reflexion gewinnen.«

359 360 361 362 363 364 365 366 367 368

Köstlin, Deutsche Vierteljahresschrift 1846, 315–330, 322. Küper, Richteridee, 222; Walter, Freie Beweiswürdigung, 72. Jarcke, Neues Archiv des Criminalrechts 1826, 97–144, 98. Nachweise bei Jarcke, Neues Archiv des Criminalrechts 1826, 97–144, 98. Jarcke, Neues Archiv des Criminalrechts 1826, 97–144, 99. Jarcke, Neues Archiv des Criminalrechts 1826, 97–144, 99. Jarcke, Neues Archiv des Criminalrechts 1826, 97–144, 100. Jarcke, Neues Archiv des Criminalrechts 1826, 97–144, 101. Küper, Richteridee, 223. Jarcke, Neues Archiv des Criminalrechts 1826, 97–144, 102 f.

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Die Auffassung von Jarcke fand in den 1830-er Jahren immer mehr Anhänger und wurde insbesondere von Mittermaier übernommen.369 Zu jeder Abwägung der Beweise, so Mittermaier, gehöre neben Kenntnis der Lebensverhältnisse »auch eine Fülle von Erfahrungen über die Gefahren gewisser scheinbar gewichtiger Beweise,370 ein logischer Geist, welcher die Thatsachen zergliedert und richtige Schlüsse zieht.«371 Unter dem Einfluss Mittermaiers setzte sich allmählich die Ansicht durch, dass auch die Entscheidung der Jury ein rationaler Denkvorgang sein muss und nur deshalb den gesetzlichen Beweisregeln nicht untersteht, weil die erforderlichen Rechtskenntnisse bei den Geschworenen nicht vorausgesetzt werden können.372 Eine »Beweistheorie« gibt es auch ohne positive gesetzliche Regelung, denn die »unwandelbaren logischen Gesetze«373 der Erkenntnis gelten kraft ihrer inneren Überzeugungskraft, nicht kraft gesetzlicher Autorität.374 Damit hatte die Schwurgerichtsidee ihren irrationalistischen Einschlag verloren und die geistigen Grundlagen waren geschaffen, die freie Beweiswürdigung auch dem Berufsrichter zu gestatten.375 In den 1840-er Jahren forderten immer mehr Juristen, und 1842 auch die Hamburger Senatskommission für die Reform des Strafverfahrens, die Einführung der freien Beweiswürdigung.376 Der freien Beweiswürdigung in Deutschland endgültig zum Durchbruch verhalf der preußische Justizminister Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) mit seiner 1846 anonym erschienenen Denkschrift »Die Prinzipienfragen in Beziehung auf eine neue Strafprozessordnung«.377 Savigny lehnte sowohl Geschworenengerichte wie die gesetzliche Beweistheorie ab, da die Überzeugungsbildung von so vielen einzelnen Faktoren abhänge, dass es unmöglich sei, allgemeine Gesetze darüber aufzustellen.378 Andererseits folge aus der Abschaffung der gesetzlichen Beweisregeln nicht, dass der Richter gänzlich frei sei, sich seine Überzeugung auf irrationaler Basis zu bilden:379 »Daraus, dass die Beweisregeln nicht ein- für allemal gesetzlich festgestellt werden, folgt noch nicht, dass die Richter überhaupt von der Verpflichtung entbunden werden, nach Gründen und Regeln zu urteilen und hiervon Rechenschaft zu geben. Im Gegentheil können und müssen die Richter nach Aufhören der gesetzlichen Beweistheorie im Wesentlichen durchaus in ihrer bisherigen Stellung verbleiben; sie werden daher nach wie vor ihr 369

Küper, Richteridee, 224; Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 69 f. Die Fußnote im Original verweist auf die Gefahr des Beweises durch Zeugnis von Mitangeklagten. 371 Mittermaier, Geschwornengericht, 367. 372 Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, 89, mit zahlreichen Nachweisen. 373 Jarcke, Neues Archiv des Criminalrechts 1826, 97–144, 107. 374 Jarcke, Neues Archiv des Criminalrechts 1826, 97–144, 107 f. 375 Küper, Richteridee, 225; Nobili, Freie Überzeugungsbildung, 158 f. 376 Schwinge, Kampf um die Schwurgerichte, 90; Küper, Richteridee, 235, mit zahlreichen Nachweisen. 377 Später auszugsweise veröffentlicht in Savigny, GA 1858, 469–491. 378 Savigny, GA 1858, 469–491, 486. 379 Savigny, GA 1858, 469–491, 484. 370

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Urtheil nach Beweisgründen bilden, von letzteren in der Ausfertigung des Erkenntnisses Rechenschaft geben und die Prüfung derselben durch den Appellationsrichter erwarten müssen. Der Unterschied zwischen Richtern mit und ohne Beweistheorie besteht lediglich und allein darin, dass in letzterem Falle dem Richter selbst die Auffindung und Anwendung der Beweisregeln, welche die allgemeinen Denkgesetze, Erfahrungen und Menschenkenntnisse an die Hand geben, überlassen wird [. . . ].«

Für Savigny bestand die Sicherung vor richterlicher Willkür bei der Tatsachenfeststellung in einem System der freien Beweiswürdigung in der nachvollziehbaren schriftlichen Begründung des Urteils und der Kontrolle durch Rechtsmittelinstanzen, die bei Verstößen gegen »die allgemeinen Denkgesetze, Erfahrungen und Menschenkenntnisse« bei der Beweiswürdigung einschreiten konnten.380 Das Verständnis der freien Beweiswürdigung hatte sich von der »conviction intime«, dem instinktmäßigen Gesamteindruck, zu einer »conviction raisonée«, einer auf rationalen Gründen beruhenden vernünftigen Überzeugung, gewandelt.381 Der Anspruch auf Rationalität sollte mit der freien Beweiswürdigung nicht abgeschafft werden.382 Bezeichnenderweise wurde in Deutschland die freie Beweiswürdigung mit der Verordnung für das Kammergericht und das Kriminalgericht zu Berlin vom 17. Juli 1846 ohne Verbindung zu Geschworenengerichten eingeführt – das Band zwischen der Tatsachenfeststellung durch Geschworene und freier Beweiswürdigung war durch das gewandelte Verständnis zerrissen. Wenn sich auch in der Folge der (gescheiterten) revolutionären Bewegung von 1848 in den meisten deutschen Ländern die freie Beweiswürdigung zusammen mit den Geschworenengerichten durchsetzte,383 so konnte die freie Beweiswürdigung als conviction raisonée dennoch die Abschaffung der Geschworenengerichte 1924 überdauern. Im Zivilprozessrecht wurde die freie Beweiswürdigung mit einer Verzögerung von rund drei Jahrzenten gegenüber dem Strafprozessrecht eingeführt. Zwar wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts allgemein versucht, die zahlreichen überkommenen Regeln zur Würdigung von Zeugenaussagen zu beseitigen und dem Richter größere Freiheit bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen einzuräumen.384 Auch der »arithmetische Beweis« mit seinen Halb- und Viertelbeweisen war weitgehend überwunden, und der Richter war im Wesentlichen frei bei der Würdigung des Indizienbeweises.385 Beweisregeln hielten sich für den Urkundenbeweis und auch die Regel, dass zwei übereinstimmende Zeugenaussagen den vollen Beweis erbringen, wurde beibehalten.386 380 381 382 383 384 385 386

Savigny, GA 1858, 469–491, 485. Käßer, Wahrheitserforschung im Strafprozeß, 40. Sommer, in: Hanack et al. (Hrsg.), Festschrift für Peter Rieß, 585–610, 597. Nachweise bei Deppenkemper, Beweiswürdigung, 211 f. Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 47 ff. Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 42 f. Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 53 ff., 66 ff.

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Erster Teil: Grundlagen

Als Grundsatz wurde die freie Beweiswürdigung im Zivilprozess einstweilen nicht anerkannt. Das Beharren auf der legalen Beweistheorie für das Zivilverfahren ist erstaunlich, weil die Notwendigkeit des Schutzes des Individuums vor staatlicher Willkür, mit der die Notwendigkeit bindender Beweisregeln gerechtfertigt wurde, im Zivilprozess weniger ausgeprägt erscheint. So wunderte Endemann sich, dass man das »manchen so gefährlich dünkende Experiment« der freien Beweiswürdigung zuerst im Strafprozess eingeführt hatte, »wo um viel werthere Güter gestritten wird [sc. als im Zivilprozess]«387 . Erklären lässt es sich mit der historischen Verbindung von Geschworenengericht und freier Beweiswürdigung; da die »Civil-Jury« in Deutschland überwiegend abgelehnt wurde,388 sah man keine Notwendigkeit für die freie Beweiswürdigung im Zivilverfahren.389 Die Einführung der freien Beweiswürdigung als Prinzip wurde für den Zivilprozess erstmals ausdrücklich 1845 durch den Stadtgerichtsdirektor König gefordert.390 Die Argumentation war im Kern die gleiche wie im Strafprozessrecht.391 Die These Königs stieß auf heftige Kritik durch Oberlandesgerichtsassessor Wolff.392 Auch er bediente sich der aus der strafrechtlichen Diskussion wohlbekannten Argumente; namentlich, dass die Einführung der freien Beweiswürdigung der Willkür Tür und Tor öffnen würde.393 Dies wiederum wurde von König unter Hinweis darauf, dass der Richter auch bei der freien Beweiswürdigung an die allgemeinen Denkgesetze gebunden sei, bestritten.394 Die Bindung des Zivilrichters an gesetzliche Beweisregeln wurde immer problematischer, als im Strafverfahren nach 1848 in zahlreichen deutschen Staaten die freie Beweiswürdigung eingeführt wurde.395 Es bestand die Gefahr, dass in Zivilund Strafverfahren trotz gleichen Sachverhalts allein aufgrund unterschiedlicher Beweisregeln andere Resultate erzielt würden.396 Gravierender noch war der Eindruck, dass der Gesetzgeber selbst nicht wüsste, was denn nun Wahrheit sei – die formelle gemäß der gesetzlichen Beweistheorie ermittelte, oder diejenige, die der Richter in freier Überzeugungsbildung erkennt.397 Busch forderte 387

Endemann, AcP 1858, 92–129, 108. Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 90 f. 389 Walter, Freie Beweiswürdigung, 81. Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 79 f., sieht die Verzögerung darin begründet, dass sich die Reformbestrebungen im Zivilprozess zuerst gegen die Schriftlichkeit und Heimlichkeit des überkommenen Zivilprozesses richteten. 390 König, Juristische Wochenschrift für die preußischen Staaten 1845, 213–220, 229–239; Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 86. 391 Eine Zusammenfassung findet sich bei Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 85 f. 392 Wolff, Juristische Wochenschrift für die preußischen Staaten 1845, 553–563. 393 Wolff, Juristische Wochenschrift für die preußischen Staaten 1845, 553–563, 554. 394 König, Juristische Wochenschrift für die preußischen Staaten 1845, 665–670, 669. 395 Nachweise bei Glaser, Lehre vom Beweis im Strafprozess, 23 ff. 396 Busch, AcP 1854, 63–92, 79 f.; Bernans, in: Schriftführer-Amt der ständigen Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des Dritten Deutschen Juristentages, 128–131, 129. 397 Busch, AcP 1854, 63–92, 83 f. 388

III. Historische Entwicklung von der Legaltheorie zur freien Beweiswürdigung

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aufgrund dieser Überlegungen die Einführung einer, allerdings beschränkten, freien Beweiswürdigung im Zivilverfahren (er wollte in erster Linie die Regeln betreffend die Verdachts- und Verwerflichkeitsgründe bei Zeugen abschaffen).398 Die traditionelle Zivilrechtsdoktrin stand dem Prinzip der freien Beweiswürdigung in den Jahren 1848–1860 weiterhin ablehnend gegenüber, wenn auch die Beweisregeln zunehmend durchlöchert wurden.399 Die weitere Diskussion maßgeblich beeinflussen sollte Wilhelm Endemann mit einem 1858 erschienenen Aufsatz und vor allem mit seiner 1860 erschienenen »Beweislehre des Civilprozesses«.400 Anders als der Titel vermuten ließe, handelte es sich bei diesem 600-seitigen Buch nicht um eine Gesamtdarstellung der Beweislehre, sondern um ein eigentliches Plädoyer für die Einführung der freien Beweiswürdigung im Zivilprozess.401 Endemann befürwortete die Abschaffung sämtlicher Beweisregeln, auch derjenigen zum Urkundenbeweis;402 ein Schritt, den die Lehre vor ihm nicht gegangen war.403 Die Argumentation Endemanns folgt derjenigen im Strafprozessrecht, auf das Endemann auch ausdrücklich Bezug nimmt.404 Freie Beweiswürdigung bedeute nicht, dass der Richter »aus einem dunklen Wahrheitsgefühl«405 urteile, sondern die richterliche Überzeugungsbildung sei ein bewusster Vorgang, über deren Gründe der Richter schriftlich Rechenschaft abzulegen habe, »zur Nachrechnung der logischen Operation vor der Öffentlichkeit.«406 Freie Beweiswürdigung führe nicht zu »einem bloßen Meinen, einem seiner Gründen unbewussten Fürwahrhalten«407 , sondern »[d]ie Überzeugung soll das Ergebnis einer reinen und gründlichen Verstandesoperation darstellen.«408 »[E]s versteht sich von selbst, dass die Art und Weise der Überzeugungsgewinnung und Bildung den Gegenstand wissenschaftlicher Darstellung und systematischer Erörterung gewähren kann, die eben nur keine fachwissenschaftlich-juristische im strengen Sinne mehr sein wird.«409 Formale Regeln böten nur scheinbaren Schutz gegen richterliche Willkür, ließen sie doch dem Richter bei der Anwendung so breiten Spielraum, dass sich letztlich das vom Richter gewollte Ergebnis immer als Resultat der gesetzlichen Beweisregeln ausgeben ließe.410 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410

Busch, AcP 1854, 63–92, 76 f. Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 116 f. mit Nachweisen. Endemann, AcP 1858, 92–129; Endemann, Beweislehre des Civilprocesses. Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 126. Endemann, AcP 1858, 92–129, 94. Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 127. Endemann, AcP 1858, 92–129, 97, 108 u. ö. Endemann, AcP 1858, 92–129, 95. Endemann, AcP 1858, 92–129, 96. Endemann, Beweislehre des Civilprocesses, 634. Endemann, Beweislehre des Civilprocesses, 634 f. Endemann, AcP 1858, 92–129, 96. Endemann, AcP 1858, 92–129, 114 f.; Endemann, Beweislehre des Civilprocesses, 641.

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Erster Teil: Grundlagen

Rhetorisch geschickt stellt Endemann die freie Beweiswürdigung als ein Prinzip römischen Rechts, die gesetzliche Beweislehre hingegen als Ergebnis mittelalterlich-kanonischer Scholastik dar, die dem deutschen Volke immer fremd geblieben sei.411 Den zeitgenössischen, von einer liberalen Grundstimmung und Vertrauen in die Kraft der menschlichen Vernunft geprägten Juristen musste alles, was nach Scholastik roch, zwangsläufig als rückständig erscheinen.412 Die Arbeiten und Stellungnahmen von Endemann sollten die Debatte um die freie Beweiswürdigung, die auf drei aufeinanderfolgenden Deutschen Juristentagen (1861–1863) geführt wurde, maßgeblich prägen.413 Auf dem 4. Deutschen Juristentag 1863 fand sich schließlich eine Mehrheit für den Antrag, die freie Beweiswürdigung im Zivilprozess einzuführen.414 Gegenüber der ursprünglich von Endemann geforderten Abschaffung aller Beweisregeln unterschied sich der mehrheitsfähige Antrag allerdings dadurch, dass er weiterhin Beweisregeln zur Beweiskraft öffentlicher (nicht aber privater) Urkunden befürwortete. Die Bindung des Richters an die Beweiskraft öffentlicher Urkunden wurde von der überwiegenden Mehrheit deutscher Juristen als ein Erfordernis des Rechtsverkehrs betrachtet, dessen Abschaffung eine unerträgliche Rechtsunsicherheit zur Folge hätte.415 Auch in der Gesetzgebung war der freien Beweiswürdigung im Zivilprozess der endgültige Durchbruch gelungen. Sämtliche deutschen Staaten, die zwischen 1860 und 1870 Zivilprozessordnungen erließen, führten die freie Beweiswürdigung (mit Bindung an die Beweiskraft öffentlicher Urkunden) ein.416 Der preußische Justizminister Leonhardt legte 1871 den ersten »Entwurf einer Deutschen Civilprozessordnung mit Begründung« vor, dessen § 235 den Grundsatz der freien Beweiswürdigung stipulierte und unverändert als § 249 in den Entwurf der Reichs-Civilprozessordnung von 1871 übernommen wurde. § 249 des Entwurfs wurde inhaltlich unverändert als § 259 der Reichs-CPO am 21. Dezember 1876 vom Reichstag beschlossen.417 Die Motive führen dazu aus, der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung habe sich im Zivilverfahren in den letzten Jahren in der partikularen Gesetzgebung dermaßen entschieden durchgesetzt, dass die Reichs-CPO nicht auf die Einführung der freien Beweiswürdigung 411

Endemann, AcP 1858, 92–129, 98 ff.; Endemann, Beweislehre des Civilprocesses, 628 ff. Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 130. Beispielhaft Sacken, in: Schriftführer-Amt der ständigen Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des Vierten Deutschen Juristentages, 116–132, 122. 413 Eine Darstellung der Debatten auf dem 2.–4. Juristentag findet sich bei Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 134 ff. 414 Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 136; Walter, Freie Beweiswürdigung, 83. 415 Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 147. Beispielhaft Sacken, in: Schriftführer-Amt der ständigen Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des Vierten Deutschen Juristentages, 116–132, 129. 416 Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 155. 417 Walter, Freie Beweiswürdigung, 83 f. 412

III. Historische Entwicklung von der Legaltheorie zur freien Beweiswürdigung

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verzichten könne, ohne sich dem Vorwurf des Rückschritts auszusetzen.418 Der Schutz vor willkürlicher Beweiswürdigung wurde einerseits in der Bildung, Integrität und unabhängigen Stellung des Richters und andererseits in der schriftlichen Urteilsbegründung gesehen: »Um eine sorgfältige Abwägung der Gründe, welche für die Überzeugung des Richters leitend sind, zu sichern, ist angeordnet, dass in dem Urtheil diese Gründe anzugeben seien.«419 Beweisregeln sah der Entwurf aus »Rücksicht auf die Sicherheit des Verkehrs«420 für die Würdigung von Urkunden vor. Lediglich sprachlich bereinigt gilt § 259 Reichs-CPO heute als § 286 ZPO-DE: § 286 Freie Beweiswürdigung (1) Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. (2) An gesetzliche Beweisregeln ist das Gericht nur in den durch dieses Gesetz bezeichneten Fällen gebunden.

e) Die Einführung der freien Beweiswürdigung in der Schweiz Die Darstellung der Rechtsentwicklung in der Schweiz wird kompliziert durch den Umstand, dass Zivilprozessrecht bis zum In-Kraft-Treten der schweizerischen Zivilprozessordnung am 1. Januar 2011 (weitgehend) kantonales Recht war.421 Die Bundesverfassung vom 12. September 1848 enthielt keine Befugnis des Bundes, auf dem Gebiete des Zivil- und Zivilprozessrechts gesetzgeberisch tätig zu werden.422 Unter dem Eindruck der Rechtsvereinheitlichung in Deutschland und Italien und der Befürchtung, dass die Rechtszersplitterung das wirtschaftliche Fortkommen der Schweiz behindern würde, wurde nach intensiver Diskussion 1872 Volk und Ständen ein Verfassungsentwurf vorgelegt, der den Bund zur Gesetzgebung auf dem Gebiet des Zivil- und Zivilprozessrechts ermächtigt hätte.423 Dieser Entwurf wurde jedoch in der Volksabstimmung knapp nach Stimmen und deutlich nach Ständen abgelehnt.424 In der Folge wurde dem Bund mit der totalrevidierten Bundesverfassung von 1874 Gesetzgebungskompetenzen in wesentlichen Bereichen des Zivilrechts (Recht der Handlungsfähigkeit, 418

Hahn (Hrsg.), Materialien zur Civilprozessordnung, 275. Hahn (Hrsg.), Materialien zur Civilprozessordnung, 275. 420 Hahn (Hrsg.), Materialien zur Civilprozessordnung, 276. 421 Geschriebenes und ungeschriebenes Bundesrecht griff in Teilbereichen in kantonales Zivilprozessrecht ein, siehe dazu Edelmann, Zur Bedeutung des Bundesrechts im Zivilprozessrecht, 30 ff. 422 Sutter-Somm, Rechtseinheit, 3. 423 Sutter-Somm, Rechtseinheit, 4 ff., zeichnet die Diskussion im Vorfeld des Entwurfs von 1872 detailliert nach. 424 Sutter-Somm, Rechtseinheit, 39. 419

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Erster Teil: Grundlagen

Schuld-, Handels- und Wechselrecht) und in den verfahrensrechtlichen Gebieten des Zwangsvollstreckungs- und Konkursrechts eingeräumt, jedoch nicht auf dem Gebiet des Zivilprozessrechts.425 Die Gesetzgebungsbefugnis auf den übrigen Gebieten des materiellen Zivilrechts erhielt der Bund mit Verfassungsänderung von 1898.426 Es sollte mehr als 100 Jahre dauern, bis der Bund mit In-Kraft-Treten des revidierten Art. 122 Abs. 1 BV am 1. Januar 2007 das Recht erhielt, auch das Zivilprozessrecht einheitlich zu regeln.427 Am 1. Januar 2011 trat schließlich die schweizerische Zivilprozessordnung in Kraft (die Regelung der Gerichtsorganisation bleibt jedoch auch weiterhin den Kantonen vorbehalten, wobei sich aus der ZPO-CH zahlreiche Vorgaben ergeben). Die starke Fragmentierung der schweizerischen Prozessrechtslandschaft bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts macht eine Gesamtdarstellung schwierig.428 Nicht ganz zu Unrecht wurde auch der wissenschaftliche Erkenntniswert eines solchen Unterfangens bezweifelt.429 Hier können nur die groben Linien nachgezeichnet werden. Für die Zeit vor 1800 wird berichtet, dass das Zivilprozessrecht in den schweizerischen Kantonen zu weiten Teilen gänzlich ungeregelt und es dem Ermessen des Richters überlassen war, wie er den (mündlichen) Prozess führen wollte.430 Wenn auch die vielzitierte Aussage des Verfassers des Entwurfs der luzernischen Zivilprozessordnung von 1851, Casimir Pfyffer, es sei unter der alten Verfassung ohne alle Regel und Ordnung prozessiert worden,431 sicherlich übertrieben war,432 so kann man doch davon ausgehen, dass wegen der Lückenhaftigkeit der gesetzlichen Ordnungen die gesetzliche Beweistheorie nicht oder nur sehr eingeschränkt Anwendung fand. Erst mit den Kodifikationen des 19. Jahrhunderts wurde versucht, das Zivilprozessrecht umfassend zu regeln. Dabei wurden ausländische Einflüsse mit althergebrachten Traditionen vermischt, wobei mal mehr Wert auf das ausländische Vorbild, mal mehr auf die eigenen Traditionen, gelegt wurde.433 Wie bei den zivilrechtlichen Kodifikationen lässt sich eine Welle der Kodifikationen von West

425

Sutter-Somm, Rechtseinheit, 40, 45. Sutter-Somm, Rechtseinheit, 54. 427 Die Kompetenz, Zivil- und Strafprozessrecht zu regeln, wurde dem Bund im Rahmen der Justizreform gewährt, die von Volk und Ständen am 12. März 2000 angenommen wurde. 428 Gschwend/Good/Winniger, in: Pérez Juan/Czeguhn (Hrsg.), Reflexiones sobre la justicia en Europa durante la primera mitad del siglo XIX, 49–71, 49. 429 Schurter, Grundzüge des materiellen Beweisrechts, 8. 430 Heusler, Zivilprozess der Schweiz, 33 f. Ähnlich Orelli, in: Berlepsch (Hrsg.), Schweizerkunde, 806–818, 810. 431 Zitiert nach Heusler, Zivilprozess der Schweiz, 33. 432 Nachweise für ältere Prozessgesetzgebungen finden sich bei Heusler, Zivilprozess der Schweiz, 34 ff. 433 Heusler, Zivilprozess der Schweiz, 38; Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 1. Teilband, 5 ff. 426

III. Historische Entwicklung von der Legaltheorie zur freien Beweiswürdigung

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nach Ost erkennen.434 Gemeinhin werden drei grobe Gruppen von Kodifikationen unterschieden: Die durch den französischen Code de procédure civil von 1806 beeinflussten Kodifikationen der Westschweiz (Genf, Waadt, Neuenburg, Tessin, Freiburg), die gemeinrechtlich beeinflussten Gesetze von Bern, Luzern, Solothurn, Aargau, Thurgau, St. Gallen, Graubünden und Basel-Land, und die mehr oder weniger eigenständigen Gesetzgebungen von Zürich, Basel-Stadt, Schaffhausen, Uri, Schwyz, Glarus und beider Appenzell.435 Was die Beweiswürdigung betrifft, so gibt die nachstehend abgebildete Tabelle nach Schurter, welche eine Momentaufnahme der kantonalen Zivilprozessordnungen, wie sie 1890 in Kraft waren, zeigt, einen Eindruck von der Regelung der Beweiswürdigung in den einzelnen kantonalen Zivilprozessordnungen.436 Die Tabelle zeigt, dass die vor 1863 – als der Deutsche Juristentag nach dreijähriger Debatte die Einführung der freien Beweiswürdigung im Zivilprozess empfahl – erlassenen Prozessordnungen mehrheitlich der gesetzlichen Beweistheorie verpflichtet waren, wobei die gemeinrechtliche Doktrin nicht tel-quel übernommen wurde – so genügte in Uri, Schwyz, Obwalden, Glarus und Zug bereits ein klassischer Zeuge zum vollen Beweis437 – aber eben dem Grundsatz nach, nämlich indem die Erfüllung der gesetzlichen Beweisregeln, nicht die richterliche Überzeugung, für die Erbringung des Beweises maßgeblich war. In der mittleren, mit »eingeschränkte freie Beweiswürdigung« bezeichneten, Spalte finden sich Prozessordnungen, die zwar den Grundsatz der freien Beweiswürdigung stipulierten, diesen aber durch Vorschriften zur Beweiskraft von sowohl privaten wie öffentlichen Urkunden und des Eides einschränkten.438 Diese Gesetze waren primär durch das französische Recht beeinflusst. In der letzten Spalte schließlich finden sich Prozessordnungen, die im Wesentlichen dem modernen Prinzip der freien Beweiswürdigung verpflichtet waren. Wenig überraschend handelt es sich hier um die neueren Kodifikationen, wobei das zürcherische Gesetz von 1866 eine Vorreiterrolle einnahm. Daraus, dass noch um 1890 in vielen schweizerischen Kantonen die gesetzliche Beweistheorie galt, darf nicht geschlossen werden, dass diese auch wissenschaftlich unumstritten war. Im Gegenteil war man, »[w]o noch die Legaltheorie herrscht, [. . . ] von der Haltlosigkeit derselben überzeugt.«439 Im Übrigen scheint 434

Gschwend/Good/Winniger, in: Pérez Juan/Czeguhn (Hrsg.), Reflexiones sobre la justicia en Europa durante la primera mitad del siglo XIX, 49–71, 51. 435 Die Einteilung geht zurück auf Orelli, in: Berlepsch (Hrsg.), Schweizerkunde, 806–818, 809 f., und wird übernommen von Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 1. Teilband, 14. Kritisch zur Sinnhaftigkeit einer Gruppierung in Anbetracht der zahlreichen Unterschiede zwischen den einzelnen Prozessordnungen Sutter-Somm, Rechtseinheit, 146 f. 436 Schurter, Grundzüge des materiellen Beweisrechts, 434. Die Einteilung wurde von Schurter übernommen, jedoch wurde die Tabelle anders gestaltet (Einträge chronologisch) und vereinfacht, um die Übersichtlichkeit zu erhöhen. 437 Schurter, Grundzüge des materiellen Beweisrechts, 436. 438 Schurter, Grundzüge des materiellen Beweisrechts, 431. 439 Schurter, Grundzüge des materiellen Beweisrechts, 436.

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Erster Teil: Grundlagen

Tabelle 4: Freie Beweiswürdigung in der Schweiz um 1890 (nach Schurter, 1890). Gesetzliche Beweistheorie

Eingeschränkte freie Beweiswürdigung440

Freie Beweiswürdigung

Genf (1819) Solothurn (1839) Tessin (1843) Schwyz (1848) Freiburg (1849) St. Gallen (1850) Aargau (1851) Luzern (1851) Uri (1852) Wallis (1856) Glarus (1860) Zug (1863)

Deutscher Juristentag spricht sich für ------------------------------------------------------------------Zürich (1866) die freie Beweiswürdigung aus (1863) Obwalden (1867) Basel-Land (1867) Thurgau (1867) Waadt (1867) Schaffhausen (1867) Graubünden (1871) Appenzell-IR (1873) Basel-Stadt (1875) Neuenburg (1879) Appenzell-AR (1880) Bern (1883)

es eine wesentliche Diskrepanz zwischen geschriebenem und gelebtem Recht gegeben zu haben. So berichtet Schurter, das tessinische Obergericht habe auf die Frage, welches Beweissystem das Tessiner Recht vorsehe, geantwortet, es gelte die unbeschränkte freie Beweiswürdigung, obwohl die tessinische Zivilprozessordnung eindeutig eine formale Beweistheorie aufstelle.441 In Schaffhausen sei wohl der Reinigungseid gesetzlich vorgesehen, aber außer in Vaterschaftsprozessen käme er beinahe gar nie zur Anwendung.442 Dieses Auseinanderklaffen von 440 441 442

Beweiskraft aller Urkunden (auch privater) und des Eides gesetzlich geregelt. Schurter, Grundzüge des materiellen Beweisrechts, 435. Schurter, Grundzüge des materiellen Beweisrechts, 435.

III. Historische Entwicklung von der Legaltheorie zur freien Beweiswürdigung

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geschriebenem Recht und gelebtem Recht im Umgang mit gesetzlichen Beweisregeln ist bis in die neuste Zeit typisch. So sah die basel-städtische ZPO bis zum In-Kraft-Treten der schweizerischen Zivilprozessordnung 2011 das Handgelübde und den Reinigungseid vor (§ 139 ZPO-BS). Jedoch hielt Haberthür bereits 1964 fest, dass der Eid in der Praxis sehr selten geworden sei.443 Auf jeden Fall setze er voraus, dass unabhängig vom Eid »etwelcher Beweis« erbracht worden sei, was als »starke Wahrscheinlichkeitsgründe« für die behauptete Tatsache verstanden wurde.444 Man darf davon ausgehen, dass heute der Beweis unter diesen Umständen als erbracht betrachtet würde. Der Eid dient hier nur dazu, die bereits vorliegende Überzeugung des Richters zu rechtfertigen. 1992 stellen Staehelin/Sutter fest, dass Eid und Handgelübde in Basel außer Gebrauch seien und keine Bedeutung mehr hätten.445 Dennoch blieb die Bestimmung bis zum In-Kraft-Treten der schweizerischen Zivilprozessordnung am 1. Januar 2011 geltendes Recht. Betrachtet man die Tabelle 4, so fallen die Prozessordnungen von Genf und Zürich auf, die weit früher als andere Prozessordnungen den Grundsatz der eingeschränkt, respektive vollständig, freien Beweiswürdigung eingeführt haben. Das Genfer Loi sur la procédure civil vom 29. September 1819 war sowohl die früheste Kodifikation einer Prozessordnung in der Schweiz als auch die einzige, die über die Grenzen der Schweiz hinaus wahrgenommen wurde (in Deutschland, vermittelt durch Mittermaiers rechtsvergleichende Arbeiten, war das Genfer Gesetz eine Inspirationsquelle für die Hannoversche Zivilprozessordnung von 1850).446 Ihr Bekenntnis zur eingeschränkten freien Beweiswürdigung erklärt sich durch den Einfluss des französischen Rechts (Genf war von 1798 bis 1813 als Départment du Léman Teil Frankreichs).447 Der französische Code de procédure civil von 1806 gilt aber, anders als der Code Napoléon, nicht als gesetzgeberisches Meisterwerk;448 er beruht weitgehend auf einem Edikt von 1667 von Louis XIV. Nachdem Genf wieder unabhängig war, wurde in der Reform des Zivilprozessrechts daher eine vordringliche Aufgabe gesehen.449 Der französische Code de procédure civil von 1806 erwähnt den Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht expressis verbis; die Würdigung von Zeugenaussagen war jedoch, wie bereits unter dem Edikt von 1667, frei.450 Allerdings 443

Haberthür, Praxis zur Basler Zivilprozessordnung, Bd. 1, 605. Haberthür, Praxis zur Basler Zivilprozessordnung, Bd. 1, 605. 445 Staehelin/Sutter-Somm/Staehelin, Zivilprozessrecht (beide Basel), § 14 Rz. 79. 446 Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 1. Teilband, 47. 447 Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 1. Teilband, 31 ff. 448 Endres, Die französische Prozessrechtslehre, 9, mit zahlreichen Nachweisen. 449 Schaub/Odier/Mallet (Hrsg.), Loi sur la procédure civile du Canton de Genève, 3; Gschwend/Good/Winniger, in: Pérez Juan/Czeguhn (Hrsg.), Reflexiones sobre la justicia en Europa durante la primera mitad del siglo XIX, 49–71, 51. 450 van Caenegem, in: Cappelletti/David (Hrsg.), International Encyclopedia of Comparative Law, 1–114, 89. 444

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Erster Teil: Grundlagen

musste unter dem Edikt von 1667 der Beweis für Forderungen über 100 Livres grundsätzlich durch Urkunden geführt werden, was den Anwendungsbereich des Zeugenbeweises stark einschränkte.451 Der Code Napoléon übernahm diese Einschränkung und setzte die Grenze bei 150 Francs fest, was noch weniger als 100 Livres waren.452 Die napoleonische Gesetzgebung schränkte den Zeugenbeweis daher noch stärker ein. Primäres Beweismittel war die Urkunde, und deren Würdigung war, auch bezüglich privater Urkunden, gesetzlich geregelt (§§ 193–251 Code proc. civ.). Das Verfahren nach dem Code de procédure civile von 1806 wurde wegen seiner übertriebenen Förmlichkeit, Kompliziertheit und den daraus resultierenden hohen Kosten und langen Prozessdauer kritisiert.453 Die Hauptbemühungen der Reformer waren folglich auf Vereinfachung und Straffung des Verfahrens gerichtet.454 Was das Beweisverfahren anbelangt, so teilte der Verfasser der Genfer ZPO von 1819, Bellot, die Bedenken gegen den Zeugenbeweis. Er wies aber auch darauf hin, dass der weitgehende Ausschluss des Zeugenbeweises auch Nachteile mit sich bringe, weil manche berechtigte Forderung am Beweiserfordernis scheitere.455 Seine Hauptbemühungen waren darauf gerichtet, den Zeugenbeweis zuverlässiger zu machen. Unter der französischen Regelung wurden Zeugen im Geheimen, unter Abwesenheit auch der Parteien, durch den »juge commissaire« befragt. Das Gesamtgericht wie auch die Parteien nahmen nur das vom juge commissaire verfasste Protokoll zur Kenntnis und konnten sich weder einen eigenen Eindruck vom Zeugen verschaffen noch Ergänzungsfragen stellen.456 Die Genfer ZPO von 1819 brach radikal mit dieser Tradition. Zeugen wurden nun öffentlich vor dem Gesamtgericht befragt und die Parteien hatten die Möglichkeit, Anschlussfragen zu stellen.457 Diese Reformen hatten das ausdrückliche Ziel, dem Richter die Bildung einer Überzeugung zur Beweiskraft der Zeugenaussage aufgrund seines persönlichen Eindrucks zu ermöglichen.458 Allerdings darf man nicht vergessen, dass der Zeugenbeweis weiterhin durch das materielle Recht stark eingeschränkt war. Es galt im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Genfer ZPO von 1819 weiterhin der Code civile, der den Zeugenbeweis für Forderungen über Fr. 150 grundsätzlich ausschloss.459 So wurden in Zivilsachen zwischen 1829 und 1835 nur in 8% der Fälle Zeugen befragt, und 50% dieser

451 452 453 454 455 456 457 458 459

Schaub/Odier/Mallet (Hrsg.), Loi sur la procédure civile du Canton de Genève, 173. Schaub/Odier/Mallet (Hrsg.), Loi sur la procédure civile du Canton de Genève, 173 f. Schaub/Odier/Mallet (Hrsg.), Loi sur la procédure civile du Canton de Genève, 11 f. Schaub/Odier/Mallet (Hrsg.), Loi sur la procédure civile du Canton de Genève, 13. Schaub/Odier/Mallet (Hrsg.), Loi sur la procédure civile du Canton de Genève, 174. Schaub/Odier/Mallet (Hrsg.), Loi sur la procédure civile du Canton de Genève, 177 ff. Schaub/Odier/Mallet (Hrsg.), Loi sur la procédure civile du Canton de Genève, 182 f. Schaub/Odier/Mallet (Hrsg.), Loi sur la procédure civile du Canton de Genève, 183. Schaub/Odier/Mallet (Hrsg.), Loi sur la procédure civile du Canton de Genève, 175.

III. Historische Entwicklung von der Legaltheorie zur freien Beweiswürdigung

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Zeugenbefragungen fanden in Familien-, Standes- und Besitzesschutzverfahren statt, wo die Beschränkung des Zeugenbeweises nicht galt.460 Wichtigstes Beweismittel blieb daher die Urkunde. Das Genfer Gesetz von 1819 straffte die französischen Regelungen zum Urkundenbeweis, regelte ihn aber immer noch in 27 Paragraphen (§§ 231–257).461 Die Vorschriften zur Beweiskraft von Privaturkunden waren von den beiden Grundsätzen geprägt, dass eine vom Beweisführer ausgestellte Urkunde keinen Beweis zu dessen Gunsten erbringen kann, und seinem logischen Gegenstück, dass eine vom Beweisgegner ausgestellte Urkunde vollen Beweis gegen ihn erbringt.462 Das Wichtigste aber waren die gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen von der Regel scriptura pro scribente non probat:463 Bestimmte Urkunden, so insbesondere ordnungsgemäß geführte Handelsbücher redlicher Kaufleute, konnten Beweis auch für ihren Aussteller erbringen (die Regel, dass Handelsbücher auch für ihren Aussteller Beweis erbringen, stammt aus dem italienisch-kanonischen Prozess und galt bis Mitte des 19. Jahrhunderts allgemein auch in Deutschland).464 In Anbetracht der zentralen Bedeutung des Urkundenbeweises im französischen und Genfer Zivilprozess und der detaillierten Regelung der materiellen Beweiskraft von Urkunden sowohl im französischen Code de procédure civil von 1806 wie auch in der Genfer Zivilprozessordnung von 1819 darf man feststellen, dass der freien Beweiswürdigung ein kleiner Anwendungsbereich verblieb. Es handelt sich bei diesen Formen der freien Beweiswürdigung eben um eingeschränkte freie Beweiswürdigung, und die Einschränkungen waren wesentlich. Im Zürcher Zivilprozess galt gemäß der Darstellung von Friedrich Ludwig Keller (1799–1860), dem ersten Präsidenten des Zürcher Obergerichts, bereits in den 1830-er Jahren der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, allerdings eingeschränkt durch Regeln zum Zeugenbeweis (die von Keller kritisiert wurden).465 Beeinflusst von Savignys Rechtsquellenlehre sah Keller die Quelle des Rechts in den Bräuchen und Übungen des Zürcher Volkes und hatte keine Bedenken, sich über gelehrtes (gemeinrechtliches oder französisches) Recht hinwegzusetzen.466 Zwar kenne auch das Zürcher Recht Regeln, welche Beweisgründe geeignet seien, die richterliche Überzeugung von der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung zu begründen, aber diese seien nicht zwingend, sondern nur »Anweisungen zur

460

Schaub/Odier/Mallet (Hrsg.), Loi sur la procédure civile du Canton de Genève, 185 f. Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 1. Teilband, 31. 462 Schurter, Grundzüge des materiellen Beweisrechts, 203. 463 Schurter, Grundzüge des materiellen Beweisrechts, 208. Frei übersetzt: Das Geschriebene beweist nicht für den, der es geschrieben hat. 464 Schurter, Grundzüge des materiellen Beweisrechts, 208 ff.; Patermann, Entwicklung der freien Beweiswürdigung, 68 f. 465 Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 1. Teilband, 158 f. 466 Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 1. Teilband, 138 ff. 461

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Erster Teil: Grundlagen

Entwicklung der allgemeinen Idee«467 . Keller vertritt eine Art Drittkontrollmodell:468 »Ehe der Richter aus Überzeugung eine Tatsache als wahr annehmen kann, muss er Beweisgründe haben und hierin liegt es, dass die Überzeugung des Rechtes nicht etwas rein Subjektives sein kann und auf dem bloßen inneren Gefühl des Richters beruhen kann. Der rechtliche Beweisgrund muss etwas Objektives sein, etwas außer dem Richter Liegendes, etwas nicht nur für ihn, sondern für jeden Wahrnehmbares sein. Auf der anderen Seite ist es grundfalsch, wenn man an einen rechtlichen Beweis die Forderung stellt, die allenfalls bei einem mathematischen Beweis an der Stelle wäre, dass also ein Beweis nur dann genügend wäre, wenn eine Tatsache physisch wahr oder notwendig sei. Der rechtliche Beweis ist vielmehr hergestellt, wenn solche Beweisgründe vorliegen, welche einen gewöhnlichen Mann, der die Verhältnisse des Lebens kennt, vermögen können, von der Wahrheit einer Tatsache überzeugt zu sein.«

Weil das Zürcher Recht die gemeinrechtliche Lehre vom arithmetischen Beweis nicht kenne, bedürfe es auch nicht des Eides und der gesetzlichen Vermutungen, um den unvollständigen Beweis zu vervollständigen.469 Zum Zeugenbeweis meint Keller, dass gerade bei einer Mehrzahl von Zeugenaussagen seine Lehre Anwendung finde; man müsse sich fragen, »ob ein umsichtiger denkender Mensch durch diese Aussagen den Gesamteindruck erhalte, dass die fragliche Sache gewiss sei und Zweifel zu entfernen. Bestimmte Regeln lassen sich hierüber nicht aufstellen, sie würden nur zu Missgriffen führen.«470 Keller trat 1837 nach einer politischen Niederlage von seinem Amt als Obergerichtspräsident zurück und verließ 1844 die Schweiz endgültig, als er einem Ruf nach Halle folgte.471 Seine Lehre, in der französisches Gedankengut deutlich erkennbar ist (»Gesamteindruck«),472 bereitete aber den Boden für die Einführung der freien Beweiswürdigung in der zürcherischen Kodifikation von 1866 (§ 69 ZPO-ZH von 1866).473 Das Zürcher Gesetz verzichtete auch weitgehend, aber nicht vollständig, auf gesetzliche Verwertungsverbote. So waren als Zeugen nur die nächsten Verwandten des Beweisführers ausgeschlossen, und selbst diese konnten nach Ermessen des Gerichts berichtsweise einvernommen werden (§ 157 467 Keller, zitiert nach Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 1. Teilband, 159. Kellers Gedanken sind nur in Form von Kollegienheften seiner Studenten überliefert (Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 1. Teilband, 131), die von Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 1. Teilband ausgiebig zitiert werden. 468 Keller, zitiert nach Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 1. Teilband, 159. 469 Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 1. Teilband, 160. 470 Keller, zitiert nach Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 1. Teilband, 162. 471 Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 2. Teilband, 5. 472 Keller hatte auf Reisen die französische und englische Rechtspflege kennengelernt und bezeichnete Franzosen und Engländer als »die beiden edelsten Völker unserer Zeit«, Schurter/ Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 1. Teilband, 143. 473 Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 2. Teilband, 24.

III. Historische Entwicklung von der Legaltheorie zur freien Beweiswürdigung

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ZPO-ZH von 1866).474 Der Beweiseid war einzig im Vaterschaftsverfahren noch erhalten (§§ 350–356 ZPO-ZH von 1866).475 Die Kodifikation von 1866 blieb infolge der politischen Neugestaltung des Kantons nur wenige Jahre in Kraft; die Neufassung von 1874, die wesentliche Teile übernahm, galt aber 40 Jahre größtenteils unverändert.476 Die Zürcher Prozessordnung hatte Vorbildwirkung für andere (Ost)Schweizer Kantone.477 Ohne die Entwicklung im Detail nachzuzeichnen kann man sagen, dass sich die freie Beweiswürdigung, verstanden als Würdigungsfreiheit, im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, sicherlich auch beeinflusst von der deutschen Entwicklung, in allen schweizerischen Kantonen durchsetzte. Das heißt nicht, dass sich nicht weiterhin Vorschriften fanden, die aus heutiger Sicht als unnötige Bevormundung des Richters erscheinen; so bestimmte die bernische ZPO vom 3. Juni 1883, dass bei Urkunden, die durch Ausstreichungen, Radierungen u. ä. sichtbar verändert wurden, der ursprüngliche Gehalt gelte, sofern dieser ermittelt werden könne, andernfalls verliere die Urkunde jede Beweiskraft (§ 206 ZPO-BE von 1883).478 Auch enthielten zahlreiche kantonale Zivilprozessordnungen, und zwar bis in die neuste Zeit, weiterhin mehr oder weniger weitreichende Verwertungsverbote.479 Die Frage, ob und in welchem Umfang sich solche Verwertungsverbote mit Bundesrecht vereinbaren ließen, beschäftigte die Schweizer Prozessrechtswissenschaft bis Ende des 20. Jahrhunderts.480 Der Bund selber schrieb die freie Beweiswürdigung in Teilgebieten des Zivilrechts vor; erstmals im Bundesgesetz über die Haftpflicht der Eisenbahn- und Dampfschifffahrts-Unternehmungen bei Tötungen und Verletzungen vom 1. Juli 1875 (Art. 11).481 Später wurde die freie Beweiswürdigung von Bundesrechts wegen in weiteren haftpflichtrechtlichen Erlassen eingeführt482 und im 20. Jahrhundert in wesentlichen Bereichen des Familien- und Schuldrechts (so für den Scheidungsprozess [Art. 139 Abs. 1 ZGB], den Kinderunterhaltsprozess [Art. 280 Abs. 2 ZGB], Mietsachen [Art. 301 OR] und Arbeitsstreitigkeiten bis Fr. 20’000 [Art. 343 OR]).483 Wo Bundesrecht die freie Beweiswürdigung nicht ausdrücklich vorschrieb, blieb sie aber eine Domäne kantonalen Rechts: Nach der Rechtspre474

Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 2. Teilband, 33. Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 2. Teilband, 41 f. 476 Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. II, 2. Teilband, 45. 477 Sutter-Somm, Rechtseinheit, 146 f.; mit der Ausnahme von Graubünden und Glarus, deren Zivilprozessordnungen als eigenständig gelten und nicht zur »Zürcher Gruppe« gezählt werden. 478 Heusler, Zivilprozess der Schweiz, 131. 479 Nachweise bei Kofmel Ehrenzeller, Das Recht auf Beweis, 155 ff. 480 Zum Meinungsstand Edelmann, Zur Bedeutung des Bundesrechts im Zivilprozessrecht, 174 ff.; Kofmel Ehrenzeller, Das Recht auf Beweis, 3 ff.; Kofmel Ehrenzeller, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 139–166, 146. 481 Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. I, 507. 482 Nachweise bei Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, Bd. I, 511 ff. 483 Alle diese Bestimmungen wurden mit In-Kraft-Treten der schweizerischen Zivilprozessordnung am 1. Januar 2011 aufgehoben. 475

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Erster Teil: Grundlagen

chung folgte aus der Beweislastnorm von Art. 8 ZGB kein Recht auf freie Beweiswürdigung; diese war ebenso wie die Regelung der Zulässigkeit von Beweismitteln (Verwertungsverbote) Sache kantonalen Rechts.484 Wo das Bundesrecht die freie Beweiswürdigung vorschrieb, war das Abstellen auf formelle Beweismittel wie Eid oder Handgelübde, die von Gesetzes wegen vollen Beweis erbrachten und eine Würdigung gerade ausschlossen, jedoch unzulässig.485 Anders als das Bundesgericht leitete die moderne Lehre aus dem bundesrechtlichen »Recht auf Beweis«486 einen Anspruch auf den »einmalige[n] Gebrauch sämtlicher rationaler Beweismitteltypen«487 ab, der entgegenstehende kantonale Beweisverwertungsverbote derogierte.488 Die Kontroverse ist zwischenzeitlich nur noch von rechtshistorischem Interesse, denn mit der schweizerischen Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 wurde der Grundsatz der freien Beweiswürdigung für alle Rechtsgebiete des Zivilrechts durch Bundesrecht festgeschrieben und die zulässigen Beweismittel im Gesetz abschließend aufgezählt.489 Art. 157 ZPO-CH bestimmt in aller Kürze, dass sich das Gericht seine Überzeugung nach freier Würdigung der Beweise bildet. Verstanden wird die freie Beweiswürdigung als »der prinzipielle Verzicht auf feste Beweisregeln«490 . Die Botschaft zum Entwurf der schweizerischen ZPO hält dazu fest, dass es sich dabei um ein »Kernprinzip des modernen Prozessrechts« handle und die Bundeszivilprozessordnung ebenso wie die kantonalen Zivilprozessordnungen auf diesem Grundsatz beruhten.491 Anlass zu Diskussionen gab die Bestimmung weder in der wissenschaftlichen Literatur noch in der parlamentarischen Beratung. Der Grundsatz der Würdigungsfreiheit ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts gänzlich unbestritten. Seltsamerweise versteht die Botschaft den Art. 166 des Entwurfs (Art. 169 ZPO-CH), der bestimmt, dass Personen, die nicht Partei sind, über Tatsachen Zeugnis ablegen können, die sie unmittelbar wahrgenommen haben, als eine 484 BGE 109 II 26 E. 3b; 107 II 426 E. 3b; 106 III 49, 51; 102 II 170 E. 3. Nachweise für die Lehre bei Bühler, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 72–92, 74. 485 BGE 85 II 170 E. 4. 486 Dogmatisch wurde das »Recht auf Beweis« teils aus dem verfassungsrechtlichen Gehörsanspruch (Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 4 aBV), Art. 6 EMRK oder der Beweislastnorm von Art. 8 ZGB hergeleitet; siehe dazu Kofmel Ehrenzeller, Das Recht auf Beweis, 23 ff.; Kofmel Ehrenzeller, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 139–166, 146. 487 Kofmel Ehrenzeller, Das Recht auf Beweis, 237 f. 488 Habscheid, SJZ 1984, 381–386, 381 ff.; Edelmann, Zur Bedeutung des Bundesrechts im Zivilprozessrecht, 184 f.; Habscheid, Zivilprozessrecht, Rz. 662; Kofmel Ehrenzeller, Das Recht auf Beweis, 236 ff.; Bühler, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 72–92, 75. 489 Die schweizerische ZPO kennt einen Numerus Clausus der zulässigen Beweismittel; die Verwertungsfreiheit ist insofern eingeschränkt (statt aller: Dike-ZPO-Müller, Art. 168 N 1). Aufgrund der weiten Umschreibung der zulässigen Beweismittel ist die Beschränkung auf die gesetzlich vorgesehenen Beweismittel aber von geringer praktischer Bedeutung, Gasser/Rickli, ZPO Kurzkommentar, Art. 168 N 1; KuKo-ZPO-Schmid, Art. 157 N 6. 490 Botschaft zur ZPO, BBl 2006, 7314. 491 Botschaft zur ZPO, BBl 2006, 7314.

III. Historische Entwicklung von der Legaltheorie zur freien Beweiswürdigung

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Beweisregel zum Ausschluss des Zeugenbeweises vom Hörensagen.492 Dies lässt sich der erwähnten Bestimmung aber nicht entnehmen, denn natürlich berichtet ein Zeuge, der rapportiert, was ein Dritter ihm über einen Sachverhalt erzählt hat, auch über eigene Wahrnehmungen – über seine Wahrnehmung des Berichts des Dritten. »Hearsay-evidence« prinzipiell auszuschließen, ist kontinentaleuropäischem Zivilprozessrecht gänzlich fremd.493 Die Lehre folgt dieser Interpretation von Art. 169 ZPO-CH durch die Botschaft denn auch nicht.494 3. Heute herrschende Lehre und Rechtsprechung zur freien Beweiswürdigung a) Deutschland Freie Beweiswürdigung bedeutet, dass der Richter (mit wenigen Ausnahmen) nicht an gesetzliche Regeln zur Beweiskraft von Beweismitteln gebunden ist.495 »[E]s gibt keine Norm dafür, welche Überzeugung der Richter bei einem bestimmten objektiven Beweisergebnis haben müsse oder dürfe oder nicht haben dürfe. Nur auf die denkgesetzlich unmögliche Grundlage darf das Gericht seine Überzeugung nicht stützen.«496 Insbesondere steht es dem Richter frei, welchen Beweiswert er Indizien zumisst.497 Die wenigen gesetzlichen Regeln zur Beweiskraft betreffen v. a. die öffentlichen Urkunden (§ 415–418 ZPO-DE).498 Unzulässig ist die Bindung an nicht im positiven Recht verankerte Beweisregeln, wie die »Beifahrerrechtsprechung«, gemäß der Aussagen von Mitinsassen der an einem Unfall beteiligten Fahrzeuge grundsätzlich kein Glaube zu schenken ist.499 »Frei« heißt jedoch nicht schlechthin »frei jeder Überprüfbarkeit«500 . Mit Überzeugung ist »nicht jedes subjektive, willkürliche Belieben gemeint.«501 Die Beweiswürdigung muss alle Umstände vollständig berücksichtigen und darf nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen.502 Gegen Denkgesetze verstößt es z. B., wenn Indizien eine Aussage beigemessen wird, die sie nicht haben können,503 oder wenn die Beweiskraft eines Indizes verkannt wird, weil 492

Botschaft zur ZPO, BBl 2006, 7314 f. Die Regel ist auch im amerikanischen Zivilprozessrecht auf dem Rückzug, Allen, Minnesota Law Review 1992, 797–812. 494 Staehelin/Staehelin/Grolimund, Zivilprozessrecht, § 18 Rz. 36; KuKo-ZPO-Schmid, Art. 169 N 4; a. M. SHK-ZPO-Passadelis, Art. 157 N 17; Gasser/Rickli, ZPO Kurzkommentar, Art. 169 N 3. 495 Statt aller MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 13. 496 BGH NJW 1951, 325. 497 BGH NJW 1991, 1894. 498 Hinweise auf weitere gesetzliche Beweisregeln bei MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 24 f. 499 BGH, NJW 1988, 566; Prütting/Gehrlein-ZPO-Laumen, § 286 N 17. 500 Heescher, Freie Überzeugung, 59. 501 Kollhosser, ZZP 1983, 270–278, 271. 502 BGH NJW 2014, 71, 72, st. Rsp. 503 BGH NJW 1993, 935, 938. 493

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Erster Teil: Grundlagen

es sich zwanglos mit den Vorbringen beider Parteien vereinbaren lässt.504 Werden mehrere Indizien vorgetragen, so muss das Gericht in einer Gesamtschau würdigen, ob es die beweisbedürftige Tatsachenbehauptung aus der Gesamtheit und dem Zusammenwirken der einzelnen Indizien für wahr erachtet.505 Eine Beweiswürdigung, die wesentliche tatsächliche Behauptungen schlicht ignoriert, ist rechtsfehlerhaft.506 Es steht dem Tatrichter zwar frei, welchen Beweiswert er den Indizien einzeln und in der Gesamtschau für seine Überzeugungsbildung beimisst und welche Schlüsse er daraus zieht. Aber er muss bei der Würdigung alle Einzelumstände beachten, denen im Zusammenhang mit dem übrigen Sachverhalt indizielle Bedeutung zukommt.507 Der Tatrichter ist gehalten, die wesentlichen Grundlagen für seine Überzeugungsbildung nachvollziehbar darzulegen (§ 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO-DE).508 Während der Richter »zwar nicht auf jedes Beweismittel einzugehen und jede Erwägung darzustellen« braucht,509 muss die Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Vorbringen in den Urteilsgründen »umfassend und widerspruchsfrei« sein.510 Inhaltsleere Floskeln und formelhafte Wendungen genügen den Anforderungen an die Begründungspflicht nicht.511 Während man sich einig ist, dass eine Beweiswürdigung, die gegen die Denkgesetze (zum Inhalt dieser Gesetze gleich nachstehend) verstößt, rechtsfehlerhaft ist, bestehen Differenzen in der dogmatischen Begründung der Revisibilität eines Verstoßes gegen die Denkgesetze. Eine ältere Meinung betrachtet die Denkgesetze als ungeschriebene Normen materiellen Rechts und einen Verstoß gegen ein Denkgesetz entsprechend als Verstoß gegen materielles Recht.512 Nach der heute wohl herrschenden Meinung sind Denkgesetze keine Rechtsnormen, sondern Hilfsmittel bei der Auslegung des Gesetzes, respektive der Feststellung des Sachverhalts; ihre Verletzung führt mittelbar zu einer unrichtigen Anwendung des Gesetzes.513 Durch eine Beweiswürdigung, die gegen Denkgesetze verstößt, wird § 286 Abs. 1 ZPO-DE unrichtig angewandt und daher verletzt. Die Kontroverse ist von geringer praktischer Bedeutung, da man sich im Resultat, nämlich der revisionsrechtlichen Kontrolle der Beweiswürdigung auf Verstöße gegen die 504

BGH NJW 1991, 1894, 1895. BGH, GRUR 2004, 936, 937. 506 BGH NJW 1993, 935, 937; BGH NJW 1998, 2969, 2971. 507 BGH GRUR 2004, 936, 937. 508 BGH NJW 1991, 1894, 1895. 509 BGH NJW 1998, 2969, 2971. 510 BGH NJW 1987, 1557, 1558. 511 BGH NJW 1998, 2969, 2971. 512 Heinsheimer, Freiheit der richterlichen Überzeugung, 133 ff.; Holzheid, Gesetzesverletzung als Grundlage der Revision, 40; Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 176 ff.; vgl. aber 159, 198. Weitere Nachweise für die ältere Lehre bei Sellke, Revisibilität der Denkgesetze, 18 f. 513 Sellke, Revisibilität der Denkgesetze, 28 f.; Klug, in: Hefermehl/Nipperdey (Hrsg.), Festschrift für Philipp Möhring, 363–384, 365 f.; MüKo-ZPO-Wenzel, § 546 N 5. Nachweise für die ältere Lehre bei Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 195 Fn. 37. 505

III. Historische Entwicklung von der Legaltheorie zur freien Beweiswürdigung

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Denkgesetze, einig ist. Weit interessanter scheint die Frage, was die Denkgesetze beinhalten (S. 83 ff.). Schlagwortartig zusammengefasst muss die Beweiswürdigung gemäß h. L. und Rechtsprechung den folgenden Anforderungen genügen: der Richter darf, außer in den wenigen gesetzlich vorgesehenen Ausnahmefällen, keinem Beweismittel einen zum Voraus bestimmten Beweiswert zumessen;514 ii) der Richter darf bei der Beweiswürdigung nicht gegen Denkgesetze, Erfahrungssätze und Naturgesetze verstoßen;515 iii) der Richter muss sich mit dem Prozessstoff umfassend auseinandersetzen, er darf insbesondere widersprüchliche Vorbringen und Beweismittel nicht einfach ignorieren;516 und iv) der Richter muss die wesentlichen Erwägungen, die zu seiner Überzeugung geführt haben, nachvollziehbar wiedergeben.517 i)

b) Schweiz Die Stellungnahmen in der Schweizer Literatur und Rechtsprechung zu den inhaltlichen Anforderungen an die Beweiswürdigung sind meist sehr kurz gehalten.518 Dies mag damit zusammenhängen, dass historisch das Hauptanliegen der Doktrin war, überkommene kantonalrechtliche Beweisverwertungsverbote zu beseitigen; das Augenmerk also der Verwertungs- und nicht der Würdigungsfreiheit galt. In Bezug auf die Würdigungsfreiheit wird meist gesagt, frei bedeute, dass die Bewertung der Beweismittel frei von schablonenhaften Regeln erfolge.519 Im Nachsatz wird angefügt, dass frei aber nicht willkürlich heiße, vielmehr müsse der Richter bei der Beweiswürdigung nach pflichtgemäßem Ermessen vorgehen.520 Der Richter müsse »nach seiner gesamten Sach- und Menschenkenntnis sowie Lebenserfahrung eine gewissenhafte Schlussfolgerung ziehen«;521 die Beweis514

Statt aller MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 13. Statt aller Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 10. 516 BGH NJW 1998, 2969, 2971, st. Rsp. 517 Statt aller MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 22. 518 Vertiefte Auseinandersetzungen bieten einzig Guldener, Beweiswürdigung und Beweislast, 5 ff. und Bühler, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 72–92. 519 Statt aller ZK-ZPO-Hasenböhler, Art. 157 N 8. 520 ZK-ZPO-Hasenböhler, Art. 157 N 11; BSK-ZPO-Guyan, Art. 157 N 3, unter Hinweis auf Guldener, Zivilprozessrecht, 321; SHK-ZPO-Passadelis, Art. 157 N 9; Groner, Beweisrecht, 105; Brönnimann, in: Güngerich (Hrsg.), BK-ZPO, N 5; aus der Lehre zum kantonalen Recht Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, § 148 N 3; Leuch et al., Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, Art. 219 N 2a. Versteht man Ermessen als Wahlfreiheit auf der Rechtsfolgenseite, ist es falsch, im Zusammenhang mit der freien Beweiswürdigung von Ermessen zu sprechen, Stickelbrock, Richterliches Ermessen im Zivilprozess, 365. 521 ZK-ZPO-Hasenböhler, Art. 157 N 11. Die Formulierung von der »gewissenhaften Schlussfolgerung« geht auf Guldener, Zivilprozessrecht, 322, zurück. 515

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Erster Teil: Grundlagen

würdigung müsse sich auf sachliche Gründe stützen (das Bundesgericht spricht von »objektiven Gesichtspunkten«).522 Die Bewertung des Beweisergebnisses insgesamt habe in »objektiv nachvollziehbarer, begründbarer Weise«523 zu erfolgen. Guldener, offensichtlich beeinflusst von der deutschen Lehre, fordert die Berücksichtigung der Denkgesetze und des gesicherten Erfahrungswissens.524 Das Gericht überschreite die Grenzen der freien Beweiswürdigung, wenn es unvernünftige Erwägungen treffe.525 Leuenberger/Uffer-Tobler verlangen, dass das Gericht die Beweismittel »aufgrund von Denk- und Naturgesetzen sowie von Erfahrungswissen zu werten und zu gewichten«526 hat. Groner verlangt explizit die Berücksichtigung der Logik, der wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Erfahrungssätze.527 Auch Rüedi betont, das Gericht müsse sich an die Gesetze der Logik halten.528 Die Beweismittel, das Verhalten der Parteien im Prozess und zugestandene Tatsachenbehauptungen sind einer Gesamtwürdigung zu unterziehen.529 Es ist willkürlich, widersprüchliche Beweismittel einfach zu ignorieren.530 Schließlich muss der Richter die Beweiswürdigung nachvollziehbar begründen (wo eine Begründung nach ZPO-CH überhaupt verlangt wird, siehe Art. 239 ZPO-CH), so dass eine Überprüfung durch die Rechtsmittelinstanz möglich ist.531 4. Zusammenfassung Die freie Beweiswürdigung wurde in Frankreich im Zuge der französischen Revolution im Zusammenhang mit der Einführung der Geschworenengerichte eingeführt. Das politische Ziel, nicht mehr staatlich besoldete Richter über Schuld oder Unschuld des (insbesondere auch politischer Delikte) Angeklagten entscheiden zu lassen, triumphierte über die Bedenken, dass damit der Willkür Tür und Tor geöffnet werde. Der aufklärerische Glaube an die Fähigkeiten der unverbildeten Vernunft förderte das Vertrauen, dass Laien auch ohne Anleitung durch eine gesetzliche Beweistheorie fähig sein würden, die Wahrheit zu erkennen. 522

BGE 130 III 321 E. 3.2, st. Rsp.; Kaufmann, Freie Beweiswürdigung, 28. Brönnimann, in: Güngerich (Hrsg.), BK-ZPO, N 5. 524 Guldener, Beweiswürdigung und Beweislast, 5; Guldener, Zivilprozessrecht, 322; ihm folgend BSK-ZPO-Guyan, Art. 157 N 3. 525 Guldener, Zivilprozessrecht, 322. 526 Leuenberger/Uffer-Tobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Rz. 9.145. 527 Groner, Beweisrecht, 106. 528 Gehri/Kramer-ZPO-Rüedi, Art. 157 N 3. 529 Guldener, Beweiswürdigung und Beweislast, 5 f.; Bühler, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 72–92, 87 f.; Bühler, Jusletter 21. Juni 2010, Rz. 74; SHK-ZPO-Passadelis, Art. 157 N 11; Groner, Beweisrecht, 106. 530 BGE 101 Ia 550 E. 4d. 531 Bühler, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 72–92, 89; ZK-ZPOHasenböhler, Art. 157 N 11; Groner, Beweisrecht, 105. 523

IV. Zusammenfassung des ersten Teils

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In Deutschland stand man der freien Beweiswürdigung anfänglich skeptisch gegenüber. Wo Geschworenengerichte eingeführt wurden, wurde sie als unabdingbar akzeptiert, da man von juristischen Laien nicht verlangen konnte, dass sie ihre Entscheidungen gemäß den Regeln der gesetzlichen Beweistheorie fällten. Wo jedoch Richter die Tatsachenfeststellung vornahmen – und damit insbesondere im Zivilprozess, wo die Einführung der »Civil-Jury« überwiegend abgelehnt wurde – wurden gesetzliche Regeln der Beweiswürdigung als unverzichtbar zum Schutz vor richterlicher Willkür betrachtet. Erst ein gewandeltes Verständnis der freien Beweiswürdigung führte zu ihrer Akzeptanz auch dort, wo keine Geschworenen über die Tatfrage urteilten. Nach dem deutschen Verständnis der freien Beweiswürdigung bedeutet frei zwar frei von gesetzlichen Regeln, aber nicht frei von Logik und allgemein geteiltem Erfahrungswissen. Freie Beweiswürdigung wurde als eine Sache der Vernunft, nicht des Gefühls, rekonzeptualisiert. Entsprechend ist der Richter gehalten, über die Gründe, die seine Überzeugung, dass eine Tatsachenbehauptung wahr oder falsch ist, leiten, schriftlich Rechenschaft abzulegen, und den Berufungsgerichten wird zugestanden, die Schlüssigkeit der tatrichterlichen Beweiswürdigung zu überprüfen. Ausgedrückt wird die Bindung der richterlichen Überzeugung an die Rationalität heute durch die Formel, dass die Beweiswürdigung nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen darf. Die Geschichte der freien Beweiswürdigung in der Schweiz nachzuzeichnen ist aufgrund der bis Anfang 2011 herrschenden Rechtszersplitterung in 26 kantonale Zivilprozessrechtsordnungen schwierig. Deutsche und französische Vorbilder übten einen starken Einfluss auf die Einführung der freien Beweiswürdigung in den meisten Schweizer Kantonen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts aus. Zahlreiche kantonale Zivilprozessordnungen sahen jedoch weiterhin Verbote der Verwertung bestimmter Beweismittel vor. Der Frage der Vereinbarkeit kantonaler Verwertungsverbote mit Bundesrecht widmete sich ein Großteil der schweizerischen Lehre zur Beweiswürdigung im 20. Jahrhundert, während der Würdigungsfreiheit vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Eigenständige Auseinandersetzungen mit den Grenzen der Würdigungsfreiheit sind daher selten, der Einfluss insbesondere der deutschen Lehre bleibt deutlich erkennbar.

IV. Zusammenfassung des ersten Teils Beweiswürdigung ist der Vorgang der richterlichen Überzeugungsbildung zur Wahrheit von Tatsachenbehauptungen. Ziel der Beweiswürdigung ist, dass die vom Gericht dem Urteil zugrunde gelegten Tatsachenbehauptungen mit der Wirklichkeit korrespondieren. Ziel ist mit anderen Worten die Wahrheit der Sachverhaltsrekonstruktion im Sinne der Korrespondenztheorie. In der juristi-

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Erster Teil: Grundlagen

schen Literatur wird diese Wahrheit oft als »materielle« Wahrheit bezeichnet; eine Qualifikation ist aber eigentlich überflüssig, da es nur eine Wahrheit geben kann. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung ist Ziel der Beweiswürdigung nicht eine formelle, relative oder prozessuale Wahrheit. Der formelle Wahrheitsbegriff hat mit der Abschaffung der gesetzlichen Beweistheorie seine Daseinsberechtigung verloren. Die freie Beweiswürdigung wurde eingeführt, um zu ermöglichen, dass die der Rechtsanwendung zugrunde liegenden Tatsachenbehauptungen mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Sie ist das Mittel zur Feststellung der (materiellen) Wahrheit. Selbstverständlich ist die Feststellung der Wahrheit nicht einziges Ziel des Prozesses. Das Ziel der Wahrheitsfindung steht in einem Spannungsverhältnis zu anderen Zielen der Rechtsordnung inner- und außerhalb des Zivilprozessrechts. Über die grundsätzliche Beschränktheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit hinaus tragen diese Zielkonflikte dazu bei, dass die Wahrheit in einem gerichtlichen Verfahren nicht immer erkannt werden kann. Das sollte aber nicht dazu verleiten, die (schlichte) Wahrheit als Ziel der Beweiswürdigung zugunsten einer relativen, juristischen, Wahrheit aufzugeben. Tatsachenbehauptungen, die falsch sind, für juristisch »wahr« zu erklären, löst das Problem, die Wahrheit zu erkennen, nicht. Folge der beschränkten Erkenntnismittel ist, dass es unumstößliche Gewissheit, dass der Sachverhalt so der Fall ist, wie behauptet wird, nicht geben kann. Die Rechtsordnung muss sich mit einem Grad der Gewissheit abfinden, der unterhalb absoluter Sicherheit liegt. Üblicherweise wird dieser Grad mit »als für das praktische Leben brauchbar« umschrieben. Die abstrakte Festlegung dieses Grades der Gewissheit ist das Beweismaß. Das Beweismaß bestimmt demnach den Grad persönlicher Überzeugung von der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung, die ein Richter haben muss, ehe er sie für die Zwecke des Verfahrens als wahr erachten darf. Abzulehnen ist die Auffassung, das Beweismaß bestimme den Bezugspunkt der richterlichen Überzeugung. Bezugspunkt kann nur die (schlichte) Wahrheit sein. Eine objektive, für alle Beobachter gleiche, Wahrscheinlichkeit eines Einzelfalls gibt es nicht; die objektive Wahrscheinlichkeit ist eine Aussage zur relativen Häufigkeit auf lange Sicht (S. 95 ff.). Da der formelle Wahrheitsbegriff ebenfalls abzulehnen ist, bleibt als Bezugspunkt der Überzeugung nur die (schlichte) Wahrheit. In seiner Überzeugungsbildung ist der Richter frei, was bedeutet, dass er – abgesehen von wenigen Ausnahmen, insbesondere zur Beweiskraft öffentlicher Urkunden – nicht an gesetzliche Regeln zur Beweiskraft von Beweismitteln gebunden ist. Die Freiheit der Überzeugungsbildung ist aber nicht absolut. Beweiswürdigung ist in Deutschland und der Schweiz eine Sache der Vernunft, nicht des Gefühls. Die französische Lehre von der conviction intime, der inneren Überzeugung, wurde von den deutschen Juristen des 19. Jahrhunderts abgelehnt. Erst als sie sich zur Lehre der conviction raisonée, der vernünftigen Überzeugung, gewandelt hatte, wurden die gesetzlichen Beweisregeln, die als Schutz vor rich-

IV. Zusammenfassung des ersten Teils

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terlicher Willkür lange Zeit als unabdingbar erachtet wurden, abgeschafft. Ihren Ausdruck findet die Bindung der Überzeugungsbildung an die Vernunft in der auf Savigny (1846) zurückgehenden Formulierung, die Beweiswürdigung dürfe nicht gegen die allgemeinen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen.532 Der Explikation der Denkgesetze der richterlichen Überzeugungsbildung ist der zweite Teil dieses Buches gewidmet.

532

Savigny, GA 1858, 469–491, 484.

Zweiter Teil

Die Denkgesetze der Beweiswürdigung I. Was beinhalten die Denkgesetze? Während es unbestritten ist, dass die Beweiswürdigung ein vernünftiger, rationaler Denkvorgang sein sollte, der nicht gegen Denkgesetze verstoßen darf, besteht eine gewisse Unklarheit bezüglich des Inhalts dieser Denkgesetze. Meist wird einfach festgestellt, es handle sich um »die Gesetze der Logik«.1 Als gesichert darf man bezeichnen, dass die Denkgesetze alles umfassen, »was die formale Logik an allgemein anerkannten und bewährten Regeln für die Bildung von Begriffen, Urteilen, Schlüssen usw. darbietet, also die ganze formale, reine und angewandte Logik.«2 Unter der »formalen Logik« wird traditionell die klassische (aristotelische) Logik verstanden.3 Bei den Schlussregeln werden insbesondere die bekannten Schlussregeln aus der klassischen Syllogismus-Lehre erwähnt.4 Allgemein anerkannt ist, dass der Satz vom ausgeschlossenen Dritten gilt – d. h. die Behauptung, »A« und »nicht A« seien gleichzeitig wahr, stellt einen Verstoß gegen die Denkgesetze dar.5 Da bei der Sachverhaltserstellung in aller Regel mit unsicheren Prämissen gearbeitet werden muss, die nur mögliche Schlüsse (»Vermutungsschlüsse«) erlauben, wird gesagt, ein Verstoß gegen Denkgesetze könne nur vorliegen, wenn ein bloß möglicher Schluss als zwingend dargestellt werde.6 Eine noch skeptischere Ansicht besagt, weil sich im Bereich tatsächlicher Feststellung nicht mit »axiomatischer Logik« arbeiten lasse, sei das Schließen bei der Beweiswürdigung kein logischer, sondern ein »zusammengesetzter, nicht in allen Teilen bewusster psychologischer Vorgang.«7 Demgegenüber vertritt eine Mindermeinung die Ansicht, dass es sehr wohl Regeln auch des bloß möglichen Schließens gebe, und sich diese insbesondere auf den Indizienbeweis anwen1

Z. B. Grave/Mühle, MDR 1975, 274–279, 275; Klug, Juristische Logik, 155. Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 193, und Sellke, Revisibilität der Denkgesetze, 7, beide unter Hinweis auf Bierling, Juristische Prinzipienlehre, 82. 3 Sellke, Revisibilität der Denkgesetze, 6; Klug, in: Hefermehl/Nipperdey (Hrsg.), Festschrift für Philipp Möhring, 363–384, 367. 4 Klug, in: Hefermehl/Nipperdey (Hrsg.), Festschrift für Philipp Möhring, 363–384, 375. 5 Sellke, Revisibilität der Denkgesetze, 10, mit zahlreichen Hinweisen; BGH NJW 2005, 1716, 1717. 6 Klug, in: Hefermehl/Nipperdey (Hrsg.), Festschrift für Philipp Möhring, 363–384, 377. 7 Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, Rz. 895 f. 2

84

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

den ließen.8 Im Folgenden wird erläutert, weshalb die Regeln der deduktiven Logik bei Tatsachenfeststellungen vor Gericht tatsächlich eine eher »bescheidene Rolle«9 spielen. Die Beweiswürdigung verlangt nach einer Theorie bloß möglichen, induktiven, Schließens. Die Grundzüge einer solchen Theorie werden anschließend dargestellt, ehe am Schluss des zweiten Teils gezeigt wird, wie sich mit dieser Theorie auch komplexe Sachverhalte rational-logisch erfassen lassen.

II. Deduktive und induktive Logik Die Logik beschäftigt sich mit der Analyse von Argumenten. Sie ist »der Prüfstein für Argumentationen«10 . Sie stellt Regeln zur Verfügung, die erlauben, gute von schlechten Argumenten zu unterscheiden.11 Ein Argument ist eine Menge von Aussagen, die in Beziehung stehen, wobei eine Aussage (die Konklusion oder Folgerung) durch andere Aussagen gestützt werden soll.12 Die Aussagen, die Gründe zur Stützung der Konklusion angeben, werden als Prämissen oder Vordersätze bezeichnet. Eine Aussage ist ein Satz, der wahr oder falsch sein kann.13 In der klassischen (zweiwertigen) Logik muss eine Aussage entweder wahr oder falsch sein, es ist nicht zulässig, ihr beispielsweise den Wahrheitswert »möglich« zuzuordnen, und sie kann auch nicht gleichzeitig wahr und falsch sein, d. h. es gilt der Satz vom ausgeschlossenen Dritten.14 Die Logik vermag Argumente daraufhin zu überprüfen, ob das Argument die Konklusion stützt; sie kann angeben, ob eine Schlussregel richtig oder falsch ist. Die Logik vermag aber keine Aussage zur Wahrheit der Prämissen zu machen.15 Die Wahrheit der Prämissen zu erkennen ist ein Problem der Erkenntnistheorie.16 Ein Argument ist deduktiv gültig, wenn seine Konklusion immer (zwingend, notwendigerweise) wahr ist, wenn die Prämissen des Arguments wahr sind.17 Die Deduktion ist wahrheitserhaltend.18 Ob ein Argument deduktiv gültig ist, lässt sich sagen, ohne dass man weiß, ob seine Prämissen wahr sind.19 Umgekehrt lässt sich daraus, dass ein Argument ungültig ist, nicht schließen, dass die Konklusion 8 Rüßmann, RuP 1982, 62–69, 66 ff.; Nack, MDR 1986, 366–371, 368 ff.; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rz. 668 ff. 9 Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, Rz. 896. 10 Spies, Einführung in die Logik, ix. 11 Salmon, Logik, 7. 12 Salmon, Logik, 10. 13 Zoglauer, Einführung in die formale Logik, 21. 14 Zoglauer, Einführung in die formale Logik, 26 f. 15 Salmon, Logik, 12. 16 Schneider/Schnapp, Logik für Juristen, 13. 17 Kutschera/Breitkopf, Einführung in die moderne Logik, 10; Salmon, Logik, 41 ff.; Zoglauer, Einführung in die formale Logik, 59 f. 18 Zoglauer, Einführung in die formale Logik, 60. 19 Salmon, Logik, 15; Zoglauer, Einführung in die formale Logik, 59.

II. Deduktive und induktive Logik

85

falsch ist.20 Sagen kann man nur, dass sie nicht auf einem gültigen Schluss beruht und daher durch dieses Argument nicht begründet wird. Die wohl wichtigste Schlussregel der klassischen Aussagenlogik ist der Modus ponendo ponens, auch Abtrennungsregel genannt:21 Wenn es regnet, ist die Straße nass. Es regnet.

p→q p.

(Prämisse) (Prämisse)

Also ist die Straße nass.

q.

(Konklusion)

Die erste Prämisse (»wenn . . . , dann . . . «) ist eine materiale Implikation oder Konditionalaussage. Sie hat nicht dieselbe Bedeutung wie das umgangssprachliche »wenn. . . , dann . . . «; dies soll hier aber nicht vertieft werden.22 Sie kann z. B. einen allgemeinen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang beschreiben: Jede Ursache U hat eine bestimmte Wirkung W zur Folge (wenn U, dann W).23 Der erste Teil einer Konditionalaussage wird Antezedens, der zweite Teil Konsequens genannt.24 Es lässt sich zeigen, dass die Schlussregel des Modus ponens zu einem gültigen Argument führt; d. h. sind die Prämissen wahr, ist auch die Konklusion zwingend wahr.25 Das Problem ist, dass man bei der Beweiswürdigung meist nicht mit Prämissen arbeiten kann, deren Wahrheitswert bekannt ist. Als Beispiel soll ein 1991 vom VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs entschiedener Fall dienen.26 Rechtlich relevant und strittig war die Frage, ob die Klägerin im Zeitpunkt der Kollision des von ihrem Sohn gelenkten Automobils mit einem anderen Fahrzeug nicht angeschnallt war, denn die Ersatzansprüche einer Kraftfahrzeuginsassin, die gegen die Anschnallpflicht verstößt, können nach § 254 Abs. 1 BGB gekürzt werden, wenn sie, hätte sie sich angeschnallt, nicht oder nicht in dem Maße verletzt worden wäre, wie es tatsächlich geschehen ist.27 Der BGH hält einleitend fest, dass es ständiger Rechtsprechung entspreche, dass »mittels eines Anscheinsbeweises nicht nur von einem feststehenden Verhalten auf den Zusammenhang mit einem eingetretenen Erfolg, sondern auch umgekehrt von einem eingetretenen Erfolg auf ein bestimmtes Verhalten als Ursache geschlossen werden kann.«28 Eingetretener

20

Salmon, Logik, 27. Tarski, Mathematische Logik, 58 f.; Spies, Einführung in die Logik, 45; Schneider/Schnapp, Logik für Juristen, 128. 22 Siehe dazu Kutschera/Breitkopf, Einführung in die moderne Logik, 30 ff.; Salmon, Logik, 80 ff.; Zoglauer, Einführung in die formale Logik, 41 f. 23 Zoglauer, Einführung in die formale Logik, 61. 24 Salmon, Logik, 49. 25 Beweis mittels Wahrheitstafel z. B. bei Salmon, Logik, 81 f.; Zoglauer, Einführung in die formale Logik, 48. 26 BGH NJW 1991, 230. 27 BGH NJW 1980, 2125. 28 BGH NJW 1991, 230, 231, unter Hinweis auf BGH NJW 1956, 1638. 21

86

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Erfolg war hier die Verletzung der Klägerin, namentlich eine Luxationsfraktur am Hüftgelenk. Zwei Sachverständige sagten aus, das Verletzungsmuster der Klägerin sei typisch für ein Unterlassen des Anschnallens. Alternative Ursache könne ein Gurtversagen sein, wobei nach Aussage eines dritten Sachverständigen der Gurtmechanismus nur »in seltenen Fällen« versage.29 Das folgende Argument ist deduktiv gültig, wobei die weitere Prämisse, dass es zu einer Frontalkollision mit ausreichend hoher Geschwindigkeit gekommen ist, stillschweigend vorausgesetzt wird: Wenn die Fahrzeuginsassin nicht angeschnallt ist, erleidet sie eine Luxationsfraktur am Hüftgelenk. Die Fahrzeuginsassin war nicht angeschnallt. Also erleidet sie eine Luxationsfraktur am Hüftgelenk. Es bringt uns allerdings keinen Schritt weiter, denn ob die Insassin nicht angeschnallt war, wissen wir nicht; dass sie eine Luxationsfraktur erlitten hat, steht hingegen fest. Man wäre versucht, folgendes Argument zu machen: Wenn die Fahrzeuginsassin nicht angeschnallt ist, erleidet sie eine Luxationsfraktur am Hüftgelenk. Die Insassin erlitt eine Luxationsfraktur am Hüftgelenk. Also war die Insassin nicht angeschnallt. Dieses Argument ist allerdings ungültig, es handelt sich um den klassischen Fehlschluss der Bejahung des Konsequens (fallacia consequentis).30 Immer, wenn eine Wirkung auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden kann, ist es unzulässig, die Implikationsbeziehung U→W umzukehren.31 Der Modus ponens schließt nur in eine Richtung.32 Man kann das Antezedens ergänzen, so dass der behauptete Ursache-Wirkungs-Zusammenhang immer gilt, indem man alle denkbaren Ursachen in das Antezedens aufnimmt.33 Wenn man, der Einfachheit halber, davon ausgeht, dass nur die zwei vom Sachverständigen in Betracht gezogenen Ursachen für die Luxationsfraktur in Frage kommen (eine sicherlich falsche Annahme), dann könnte man folgendes Argument formulieren: 29

BGH NJW 1991, 230, 231. Klug, in: Hefermehl/Nipperdey (Hrsg.), Festschrift für Philipp Möhring, 363–384, 374; Salmon, Logik, 57 f. Rund zwei Drittel aller Erwachsenen machen diesen Fehlschluss, Braine et al., in: Gilhooly et al. (Hrsg.), Lines of Thinking, 165–180, 169. 31 Engisch, Logische Studien, 73 f. unter Hinweis auf Lotze, Logik, Buch II, Kap. 9, § 278. 32 Zoglauer, Einführung in die formale Logik, 61. 33 Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 571. Jedes induktive Argument kann durch Hinzufügen einer geeigneten Prämisse zu einem deduktiven Argument gemacht werden; Salmon, Scientific Inference, 9 f. 30

II. Deduktive und induktive Logik

87

(Nur dann) wenn die Fahrzeuginsassin nicht angeschnallt ist oder der Gurtmechanismus versagt, erleidet sie eine Luxationsfraktur am Hüftgelenk. Die Insassin erlitt eine Luxationsfraktur am Hüftgelenk. Also war die Insassin nicht angeschnallt oder der Gurtmechanismus versagte. Dieses Argument ist gültig, bringt uns aber auch nicht weiter. Es zeigt sich hier die informationserhaltende Natur deduktiven Schließens:34 es lässt sich aus den Prämissen nur das mit zwingender Notwendigkeit ableiten, was bereits in ihnen enthalten ist. Bei der Beweiswürdigung in strittigen Fällen ist aber die zu beweisende Tatsachenbehauptung in aller Regel nicht in den Prämissen enthalten. Die Beweiswürdigung benötigt eine Theorie des informationserweiternden Schließens:35 eine Logik induktiven Schließens.36 Während ein deduktives Argument dazu dient, den Gehalt der Prämissen explizit zu machen, hat das induktive Argument die Aufgabe, Wissen zu erweitern.37 Für die Beweiswürdigung von größter Bedeutung ist insbesondere eine Logik, die erlaubt, von der oft beobachtbaren Wirkung (hier: Luxationsfraktur) auf die oft unbeobachtbare wahrscheinliche Ursache (hier: nicht angeschnallt sein) zu schließen.38 Indizien sind nach dieser Betrachtung die durch Beweismittel der unmittelbaren Beobachtung des Richters zugänglich gemachten (möglichen) Folgen eines rechtlich relevanten Verhaltens. Der Schluss von der Folge auf die Ursache ist allerdings nur unter Berücksichtigung der anfänglichen Überzeugung dafür, dass die Ursache vorliegt (hier: die Insassin nicht angeschnallt war), möglich. Beachtet man diese nicht, liegt ein mit der fallacia consequentis eng verwandter Fehlschluss vor (hinten, S. 253 f.). Anders als ein deduktiver Schluss ist ein induktiver Schluss nicht notwendigerweise wahr. Es ist ein Charakteristikum aller induktiven Argumente, dass sie ausgehend von wahren Prämissen zu falschen Konklusionen führen können.39 Die induktive Logik kann aber aufzeigen, welche Überzeugungen zum Wahrheitswert von Behauptungen nicht gleichzeitig zutreffen können, ohne dass elementare Grundregeln verletzt werden (diese werden gleich nachstehend, S. 89 ff., erläutert).40 Hierin unterscheidet sich die induktive Logik nicht wesent34 Zu dieser de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 591; Salmon, Logik, 33; Schneider/Schnapp, Logik für Juristen, 13, 109; Zoglauer, Einführung in die formale Logik, 59. 35 Roberts/Aitken, The Logic of Forensic Proof: Inferential Reasoning in Criminal Evidence and Forensic Science, 42. 36 So bereits Hasler, Feststellung des Tatbestandes im Zivilprozess, 35 f. 37 Salmon, Logik, 35; Roberts/Aitken, The Logic of Forensic Proof: Inferential Reasoning in Criminal Evidence and Forensic Science, 42. 38 Engisch, Logische Studien, 67 ff.; Thagard, Applied Artificial Intelligence 2004, 231–249, 231. 39 Salmon, Logik, 169. 40 Ramsey, in: Braithwaite (Hrsg.), The Foundations of Mathematics, 156–198, 189.

88

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Tabelle 5: Wichtigste Unterschiede zwischen deduktiven und induktiven Argumenten (nach Salmon, 1997).

Deduktive Argumente

Induktive Argumente

1. Wenn alle Prämissen wahr sind, muss die Konklusion wahr sein. 2. Der Informations- oder Tatsachengehalt der Konklusion war schon vollständig, wenigstens implizit, in den Prämissen enthalten.

1. Wenn alle Prämissen wahr sind, ist es wahrscheinlich, aber nicht notwendig, dass die Konklusion wahr ist. 2. Die Konklusion enthält Informationen, die nicht einmal implizit in den Prämissen vorhanden sind.

lich von der deduktiven Logik: Wenn ich glaube, dass alle Menschen sterblich sind und dass Sokrates ein Mensch ist, kann ich nicht gleichzeitig glauben, dass Sokrates unsterblich ist. Die Regeln der deduktiven Logik zeigen auf, dass eine der drei Annahmen falsch sein muss. Die Logik alleine kann aber nicht sagen, welche.41 Gleich viel – oder vielleicht auch: gleich wenig – leisten die Regeln der induktiven Logik für Überzeugungsgrade. Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, verstanden als induktive Logik, vermag zu begründen, welchen Überzeugungsgrad bezüglich der Wahrheit einer Hypothese ich logischerweise haben müsste, wenn meine Annahmen (= Teilüberzeugungen) zutreffen würden;42 sie lässt eine Aussage darüber zu, ob eine Menge von Teilüberzeugungen kohärent ist.43 Wie die deduktive Logik ist sie nicht in der Lage, eine Aussage über die Wahrheit, oder in diesem Falle die Plausibilität, der Prämissen (Teilüberzeugungen) zu machen.44 Diese wird als gegeben erachtet, aus der gegebenen Plausibilität der Prämissen lässt sich aber ein begründeter Grad der Überzeugung für die Wahrheit der Konklusion (Hypothese) herleiten.45 Induktive und deduktive Logik schließen sich nicht aus, im Gegenteil: Die Regeln deduktiver Logik bilden die Grundlage der

41

Salmon, Scientific Inference, 79 f. Ramsey, in: Braithwaite (Hrsg.), The Foundations of Mathematics, 156–198, 189; Howson, Synthese 2012, 475–492, 490. 43 Ramsey, in: Braithwaite (Hrsg.), The Foundations of Mathematics, 156–198, 191; Salmon, Scientific Inference, 80; de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 595 ff.; Jaynes, Probability theory, XII f.; Howson, in: Galavotti (Hrsg.), Observation and Experiment, 301–320, 309 f.; Howson, Synthese 2012, 475–492. 44 Ramsey, in: Braithwaite (Hrsg.), The Foundations of Mathematics, 156–198, 189. 45 Aitken/Taroni, Statistics and the evaluation of evidence, 154, unter Hinweis auf de Finetti, Bollettina della Unione Matematica Italiana 1930, 258–261, 259; ebenso Taroni et al., Bayesian networks, 29. 42

III. Wahrscheinlichkeit

89

Wahrscheinlichkeitstheorie.46 Im Grenzfall, wenn das Subjekt sicher ist, dass die Konklusion wahr ist, führen die Regeln der Wahrscheinlichkeitstheorie zum gleichen Resultat wie die Regeln der deduktiven Logik.47 In dieser Arbeit wird argumentiert, dass die richterlichen Überzeugungen zur Wahrheit von Tatsachenbehauptungen im Zivilprozess den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen müssen. Wahrscheinlichkeit ist nichts anderes als ein Überzeugungsgrad, was für Juristen überraschend sein mag. Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne hängt vom Wissen des Subjekts ab (deshalb »subjektive« Wahrscheinlichkeit) und ist nichts Objektives, der Außenwelt Zugehöriges. Dass dies die einzig sinnvolle Deutung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs bezogen auf den Einzelfall ist, ist näher zu begründen, wozu die verschiedenen Deutungen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs zu erläutern sind (S. 95 ff.). Anschließend kann untersucht werden, in welchem Sinn der Wahrscheinlichkeitsbegriff in der juristischen Literatur bisher gebraucht wurde, wobei sich zeigen wird, dass die Verwendung durchaus nicht einheitlich ist (S. 113 ff.). Schließlich ist zu begründen, weshalb richterliche Überzeugungen den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen müssen (S. 125 ff.). Weil eine Explikation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs nur sinnvoll ist, wenn die Grundregeln der Wahrscheinlichkeitstheorie, denen jeder Wahrscheinlichkeitsbegriff gehorchen muss,48 eingeführt sind, werden vorab die Grundregeln (Axiome) und die daraus unmittelbar abgeleiteten elementaren Regeln der Wahrscheinlichkeitstheorie vorgestellt und erst dann die unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsbegriffe erläutert. Die Definitionen der bedingten Wahrscheinlichkeit, Unabhängigkeit und bedingten Unabhängigkeit mögen auf den ersten Blick überflüssig erscheinen. Sie spielen aber eine wichtige Rolle für das Verständnis der weiter hinten dargestellten Bayes’ Netze (S. 187 ff.). Bayes’ Netze stellen auch in komplexen Fällen sicher, dass die zahlreichen Teilüberzeugungen, die vom Richter gleichzeitig gehalten werden müssen, kohärent im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie sind, und ermöglichen so eine Rationalitätskontrolle der Beweiswürdigung.

III. Wahrscheinlichkeit 1. Axiome der Wahrscheinlichkeit Die folgenden Regeln sind informelle Formen der Axiome der elementaren Wahrscheinlichkeitstheorie. Zur Notation ist anzumerken, dass »Pr(A)« bedeutet 46

Jaynes, Probability theory, 6 ff. Jaynes, Probability theory, 31. 48 Salmon, Scientific Inference, 63 f.; Eagle, Erkenntnis 2004, 371–416, 384; Galavotti, Philosophical introduction to probability, 39. 47

90

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

»Wahrscheinlichkeit von A«. »¬A« heißt »A ist nicht wahr«, »A & B« = »A und B sind gleichzeitig wahr« und »A∨B« = »entweder A ist wahr oder B ist wahr oder beide sind wahr«. A∨B wird also, wie in der deduktiven Logik,49 im einschließenden Sinn verstanden (Juristen würden für diesen Fall oft »und/oder« verwenden). Die nachstehenden Grundregeln setzen folgende unproblematische Annahmen voraus:50 i.

Die Regeln treffen auf Mengen von Aussagen (oder Ereignissen) mit einer endlichen Anzahl von Elementen zu. ii. Wenn A und B Aussagen (oder Ereignisse) sind, dann sind A∨B, A & B und ¬A ebenfalls Aussagen (oder Ereignisse). iii. Die Regeln der deduktiven Logik (oder der Mengenlehre) sind anwendbar. iv. Wenn A und B logisch äquivalent sind, dann gilt Pr(A) = Pr(B). a) Normierung Die Wahrscheinlichkeit einer Aussage oder eines Ereignisses (»Pr(A)«) liegt zwischen 0 und 1.51 0 ≤ Pr (A) ≤ 1

(1)

Umgangssprachlich spricht man oft von Prozentzahlen (»ein Wahrscheinlichkeitsgrad von 75%«).52 Dies ist im Resultat dasselbe wie die Normierung auf Werte zwischen 0 und 1; entscheidend ist, dass es keine Wahrscheinlichkeit von mehr als 100% geben kann und keine negative Wahrscheinlichkeit – ob man die Werte auf einer Skala von 0 bis 1, 0 bis 100 oder 0 bis 1’000 normiert, spielt keine Rolle. Die Verwendung einer Skala von 0 bis 1 bietet einzig rechnerische Vorteile. b) Sicherheit Ein Ereignis, das sicher eintritt (sicher eingetreten ist) hat eine Wahrscheinlichkeit von 1. Eine logisch sichere Aussage (eine Tautologie) hat eine Wahrscheinlichkeit von 1. Oder, umgangssprachlich ausgedrückt, »Ich bin 100% sicher, dass alle Juristen Juristen sind«. 49

Hurley, Introduction to logic, 300; Zoglauer, Einführung in die formale Logik, 38. Es gibt zahllose Darstellungen der (vereinfachten) Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie und der wichtigsten Theoreme, siehe nur Bauer, Wahrscheinlichkeitstheorie, 1 ff.; Howson/ Urbach, Scientific reasoning, 13 ff.; Lindley, Understanding uncertainty, 59 ff.; die Darstellung hier folgt derjenigen von Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 58 ff., die ich besonders klar finde; einleuchtend (mit zahlreichen Venn-Diagrammen) auch die Darstellung bei Winkler, Bayesian inference and decision, 6 ff. 51 Der Ausdruck »Normierung« kommt daher, dass man die Skalierung eines Messwerts auf einer Skala von 0 bis 1 als Normierung bezeichnet, Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 58. 52 Z. B. BGer, Urteil 9C_717/2009 vom 20. Oktober 2009, E. 3.3. 50

III. Wahrscheinlichkeit

91

c) Additivität Wenn zwei Aussagen oder Ereignisse sich gegenseitig ausschließen (disjunkt oder inkompatibel sind), dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass das eine oder andere eintritt (oder wahr ist) die Summe der Wahrscheinlichkeit der Ereignisse (oder Aussagen): Pr (A ∨ B) = Pr (A) + Pr (B) .

(2.1)

Mit Hilfe eines Venn-Digramms lässt sich diese Regel wie folgt darstellen:

Abbildung 3: Venn-Diagramm zweier Mengen A und B ohne gemeinsame Teilmenge.

Die Wahrscheinlichkeit, dass A oder B eintritt, entspricht den Mengen A und B. Wenn A und B sich nicht gegenseitig ausschließen (logisch kompatibel sind), gilt Pr (A ∨ B) = Pr (A) + Pr (B) – Pr (A & B)

(2.2)

Mit Hilfe eines Venn-Digramms lässt sich diese Regel wie folgt darstellen:

Abbildung 4: Venn-Diagramm zweier Mengen A und B mit einer gemeinsamen Teilmenge (grauer Bereich).

Da der Bereich, in dem sich die Mengen A und B überschneiden, d. h. die Teilmenge A & B (in Abbildung 4 grau), bei der Addition von A und B zwei Mal gezählt wird, muss er einmal subtrahiert werden. d) Bedingte Wahrscheinlichkeit Die einzigen Axiome sind Normierung, Sicherheit und Additivität. Was folgt, ist die Definition der bedingten Wahrscheinlichkeit. Eine Aussage wie »die Wahrscheinlichkeit, dass die Münze beim nächsten Wurf auf Kopf landet, ist 0,5« hat

92

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

normalerweise die unausgesprochene Voraussetzung, dass die Münze fair ist, d. h. nur auf einer Seite Kopf trägt.53 Die Aussage »unter der Voraussetzung von B ist die Wahrscheinlichkeit von A gleich p«, oder »bei gegebenem B ist die Wahrscheinlichkeit von A gleich p« lässt sich durch folgende Notation ausdrücken 

Pr A|B = p Der senkrechte Strich (|) heißt »unter der Voraussetzung von . . . « oder »bei  gegebenem . . . «.54 Dabei heißt Pr A|B = p nicht, dass die Wahrscheinlichkeit von A unter der Voraussetzung von B immer p ist, sondern nur dann, wenn alles außer B irrelevant ist für A.55 Im Beispiel mit der Münze könnte es beispielsweise sein, dass die Münze zwar fair ist, der Werfende aber eine spezielle Technik des Werfens beherrscht, die dazu führt, dass die Münze in mehr als 50% der Fälle auf Kopf landet. In diesem Fall wäre die Wahrscheinlichkeit, dass die Münze auf Kopf landet, auch unter der Voraussetzung, dass es sich um eine faire Münze handelt, nicht 0,5. Die bedingte Wahrscheinlichkeit von A unter der Voraussetzung von B ergibt sich aus der gemeinsamen Wahrscheinlichkeit von A & B gemäß folgender Formel: 

Pr A|B =

Pr (A & B) Pr (B)

(3)

A&B

B

Abbildung 5: Venn Diagramm zur Veranschaulichung der bedingten Wahrscheinlichkeit Pr(A|B). 53 Eine Münze, die nicht auf beiden Seiten das gleiche Symbol zeigt, ist immer fair in dem Sinne, dass die relative Häufigkeit eines der beiden Symbole auf lange Sicht annähernd 0,5 beträgt. Es ist nicht möglich, eine Münze durch einseitiges Gewichten unfair zu machen, Gelman/Nolan, American Statistician 2002, 308–311. 54 Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 48. Nicht aber »Die Wahrscheinlichkeit von A wenn B«, siehe Lewis, Philosophical Review 1976, 297–315. Steht A für ein Ereignis, ist es gegeben, wenn es eingetreten ist; steht A für eine Aussage, ist A gegeben, wenn die Aussage wahr ist. 55 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 4.

III. Wahrscheinlichkeit

93

Am einleuchtendsten kann man dies wiederum mit einem Venn-Diagramm erklären. Man kann sich vorstellen, dass die beiden Kreise in Abbildung 5 Zielscheiben sind. Ein Pfeil wurde auf die Scheiben geworfen. Man weiß, dass der Pfeil in der Scheibe B steckt (formaler ausgedrückt: die Menge der möglichen Ereignisse reduziert sich auf die in Menge B enthaltenen Ereignisse). Die Frage ist nun, wie wahrscheinlich es ist, dass der Pfeil in der Scheibe A steckt, gegeben, dass er in Scheibe B ist. Unter der Annahme, dass der Pfeil sich mit gleicher Wahrscheinlichkeit irgendwo in der Scheibe B befindet,56 bestimmt sich die Wahrscheinlichkeit, dass der Pfeil sich an einem bestimmten Ort in B befindet, nach der Fläche dieses Orts. Man muss daher den Anteil der Fläche von A, die sich innerhalb von B befindet, durch die gesamte Fläche von B (hellgrau) teilen, um zu bestimmen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Pfeil sich in A befindet, gegeben, dass er sich in B befindet. Die Fläche von A, die sich in B befindet, ist die gemeinsame Teilmenge von A und B, die dunkelgrau hinterlegte Fläche in Abbildung 5. Anders gesagt: man muss A & B durch B teilen, oder eben die Gleichung 3 verwenden. Abbildung 5 macht auch klar, dass Pr(A|B) nicht gleich Pr(B|A) sein muss: Pr(B|A) ergibt sich aus der Division von Pr(A & B) durch A. Wie ein Blick auf Abbildung 5 zeigt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Pfeil in B steckt, gegeben, dass er sich in A befindet, sehr groß. Die Wahrscheinlichkeit, dass er in A steckt, gegeben, dass er in B steckt, ist viel geringer, denn A & B ist nur ein geringer Anteil von B, aber ein großer Anteil von A. Die Bedeutung von Gleichung 3, die trivial erscheint, ist in etwas erweiterter Form als »Bayes’ Theorem« bekannt und Gegenstand einer jahrzehntealten Kontroverse in der juristischen Literatur. Die erweiterte Form wird nach der Explikation der Wahrscheinlichkeitsbegriffe mit einer alternativen Methode (Baumdiagramm) vertieft dargestellt (S. 132 ff.). e) Abhängigkeit, Unabhängigkeit und bedingte Unabhängigkeit Schließlich sollen noch die Begriffe Unabhängigkeit und Abhängigkeit definiert werden. Zwei Ereignisse (oder Aussagen) sind voneinander unabhängig, wenn das Eintreten des einen Ereignisses (die Wahrheit der einen Aussage) die Wahrscheinlichkeit des Eintretens des anderen Ereignisses (die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit der anderen Aussage) nicht beeinflusst. Anders ausgedrückt: aus der Kenntnis des Ausgangs des einen Ereignisses lassen sich keinerlei Schlüsse auf den Ausgang des anderen Ereignisses (der Wahrheit der anderen Aussage)

56 Diese Annahme, die sich hier auf das Indifferenzprinzip stützt, ist nicht unproblematisch, weil es plausibel ist, das ein guter Schütze vermehrt das Zentrum der Scheibe trifft. Das Beispiel hier soll nur dem Verständnis dienen.

94

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

ziehen.57 Formal kann man dies wie folgt ausdrücken:58 

Pr A|B = Pr (A)

(4)

Wenn A unabhängig von B ist, ist B auch unabhängig von A:59 

Pr (A & B) Pr A|B Pr (B) Pr (A) Pr (B) Pr B|A = = = = Pr (B) Pr (A) Pr (A) Pr (A) 

Umgekehrt lässt sich Abhängigkeit, oder Relevanz, definieren als60 

Pr A|B 6= Pr (A) .

(5)

Mit anderen Worten: ein Ereignis B (oder eine Aussage B) ist dann relevant für die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Ereignisses A (oder der Wahrheit einer Aussage A), wenn sich bei Vorliegen des Ereignisses B die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses A ändert (nicht notwendigerweise erhöht – auch vermindert). Zwei Ereignisse (Aussagen) A und B sind bedingt unabhängig gegeben C, wenn nach Eintritt von C (bei Kenntnis des Wahrheitswerts von C) die Wahrscheinlichkeit von A die Wahrscheinlichkeit von B nicht beeinflusst (was gleichzeitig bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit von B die Wahrscheinlichkeit von A nicht beeinflusst). Das heißt, wenn A und B bedingt unabhängig sind gegeben C, gilt 





Pr A & B|C = Pr A|C Pr B|C .

(6)

Wenn der Zustand von C bekannt ist, kann die gemeinsame Wahrscheinlichkeit Pr(A & B) unter der Voraussetzung von C bestimmt werden durch die Multiplikation der Wahrscheinlichkeit von A unter der Voraussetzung von C mit der Wahrscheinlichkeit von B unter der Voraussetzung von C, wie bei der Produktregel für unabhängige Ereignisse (Aussagen). Intuitiv kann man sich C als gemeinsame Ursache vorstellen, die das Eintreten (den Wahrheitswert) sowohl von A wie von B bestimmt. So sprechen Juristen meist davon, dass zwei Zeugen unabhängig seien, wenn sie keine Gelegenheit hatten, zu kommunizieren. Aber genau betrachtet sind Zeugen, die sich nicht absprechen konnten, bedingt unabhängig: Die Aussagen der Zeugen hängen hoffentlich beide von Sachverhalt C ab, zu dem die Zeugen befragt werden. Kennt man diesen Sachverhalt, kann man aus der Aussage des Zeugen A nichts 57 Dies ist einigermaßen vereinfacht; siehe Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 25 f.; Taroni et al., Bayesian networks, 3; Smith, Bayesian decision analysis, 201. 58 Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 60. 59 Erläuterung der Gleichung: Der erste Schritt folgt aus der Definition der bedingten Wahrscheinlichkeit. Der zweite Schritt wendet die Produktregel (S. 135) auf den Zähler des Bruches an. Im dritten Schritt wird Pr(A|B) durch Pr(A) ersetzt, was hier zulässig ist, weil wir ja davon ausgehen, dass A unabhängig von B ist. 60 Taroni et al., Bayesian networks, 4.

III. Wahrscheinlichkeit

95

auf die Wahrscheinlichkeit, dass der Zeuge B die gleiche Aussage machen wird, schließen, denn diese hängt ausschließlich von seiner Wahrnehmung von C und seinem Erinnerungsvermögen ab. Kennt man den Sachverhalt C nicht, erhöht hingegen die Aussage des Zeugen A die Erwartung, dass der Zeuge B die gleiche Aussage machen wird. 2. Wahrscheinlichkeitsbegriffe Die vorstehende Einführung in die Grundregeln der Wahrscheinlichkeitsmathematik wurde bewusst vorgenommen, ehe der Wahrscheinlichkeitsbegriff interpretiert wurde. Die dargestellten Regeln gelten nämlich für alle Wahrscheinlichkeitsbegriffe gleichermaßen.61 Nun sollen die inhaltlichen Deutungen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs dargestellt werden. Wir verwenden den Begriff der Wahrscheinlichkeit täglich und haben eine intuitive Vorstellung seiner Bedeutung. Die philosophische Explikation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs aber ist alles andere als trivial, füllt ganze Bibliotheken, und über die »richtige« Bedeutung wird erbittert gestritten – einer der berühmtesten Wahrscheinlichkeitstheoretiker behauptet gar, dass es Wahrscheinlichkeit in Wirklichkeit gar nicht gebe.62 Neben dem klassischen Wahrscheinlichkeitsbegriff (zurückgehend auf Pierre Simon Laplace) wird gemeinhin unterschieden zwischen dem frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff (Häufigkeitstheorie, in ihrer klarsten Form postuliert von Richard von Mises), Propensity-Theorien der Wahrscheinlichkeit (Karl Popper, David Lewis), subjektiver Wahrscheinlichkeit (Frank P. Ramsey, Bruno de Finetti) und logischer Wahrscheinlichkeitstheorie (John Maynard Keynes, Rudolf Carnap). Wie meist bei solchen Kategorisierungen sind die Grenzen zwischen den einzelnen Kategorien nicht messerscharf zu ziehen, und die einzelnen Kategorien lassen sich in weitere Unterkategorien unterteilen – die subjektive Wahrscheinlichkeit nach einem (nicht ganz ernst gemeinten) Vorschlag von Irving J. Good in 46’656 Varianten.63 Fundamental sind die beiden Kategorien »objektive« und »subjektive« Wahrscheinlichkeit, in die sich alle Interpretationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs einordnen lassen – Hacking spricht davon, dass die Wahrscheinlichkeit »janusköpfig« sei.64 Salopp gesagt stellt sich die Frage, ob Wahrscheinlichkeiten »in

61 Salmon, Scientific Inference, 63 f.; Eagle, Erkenntnis 2004, 371–416, 384; Galavotti, Philosophical introduction to probability, 39. Nach Shafer, Archive for History of Exact Sciences 1978, 309–370, 314, trifft dies nicht zu: epistemische Wahrscheinlichkeiten müssen seiner Auffassung nach nicht additiv sein. 62 Bruno de Finetti hat die Aussage »Probability does not exist« seinem berühmten (in der englischen Übersetzung 1974 in zwei Bänden erschienenem) Werk »Theory of Probability« vorangestellt. 63 Good, in: Good (Hrsg.), Good thinking, 20–21. 64 Hacking, The emergence of probability, 12.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung Wahrscheinlichkeit

ontische W.

epistemische W.

Alltagsw.

klassische W.

subjektive W.

logische W.

frequentistische W.

W. als Propensity

Abbildung 6: Verschiedene Deutungen der Wahrscheinlichkeit.

unserem Kopf« oder ob sie »draußen in der Welt« existieren.65 »Subjektiv« hat in diesem Zusammenhang also keineswegs die Bedeutung von »willkürlich, beliebig«,66 sondern »auf die epistemische Situation des Beobachters«, und somit auf das Erkenntnissubjekt, bezogen, während objektive Wahrscheinlichkeit die dem Beobachter gegenüberstehende Wirklichkeit, und somit das Erkenntnisobjekt, betrifft. Einem Vorschlag von Rosenthal folgend wird die objektive Wahrscheinlichkeit, die ausschließlich vom Zustand der Außenwelt abhängt, hier als »ontisch« und die Wahrscheinlichkeit, die vom Wissen abhängt, als »epistemische Wahrscheinlichkeit« bezeichnet.67 Manche Aussagen lassen sich eindeutig der einen oder anderen Kategorie zuordnen, andere Aussagen sind zweideutig.68 Wenn ich auf dem Menu eines spanischen Speiselokals lese, dass »albóndigas« im Angebot sind und denke »wahrscheinlich sind das die eingelegten Artischockenherzen«, dann drückt dies zweifellos eine epistemische Wahrscheinlichkeit aus: »Albóndigas« sind entweder Artischockenherzen, oder es sind keine Artischockenherzen, es gibt keine objektive Unbestimmtheit. Die Unsicherheit, und daher die Verwendung des Begriffs »wahrscheinlich«, ist Ausdruck eines epistemischen Defizits – ich weiß schlicht 65

Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 9. Jeffrey, Subjective probability, 79; Lindley, Understanding uncertainty, 37; Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 9. Wegen der in der Wissenschaft pejorativen Konnotation von »subjektiv« wurde vorgeschlagen, statt von »subjektiver« von »bedingter« oder »kontextueller« Wahrscheinlichkeit zu sprechen, Christen, Bayesian Analysis 2006, 421–422, 421. Jeffrey, Subjective probability, 79, schlägt »judgmental probability« (wertende Wahrscheinlichkeit) vor; siehe auch bereits Carnap, in: Carnap/Jeffrey (Hrsg.), Studies in inductive logic and probability, 7–156, 13 f. 67 Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 9. Ho, A legal theory of evidence and proof, 111 f., zieht den Begriff »physikalische Wahrscheinlichkeit« für die objektive Wahrscheinlichkeit vor. 68 Das mag auch daran liegen, dass Wahrscheinlichkeit eben zwei Aspekte, einen ontischen und einen epistemischen, hat, und sich diese Aspekte ergänzen, nicht ausschließen, siehe Lewis, in: Jeffrey (Hrsg.), Studies in inductive logic and probability. Vol. 2, 263–293, 263; Hitchcock, in: Smelser/Baltes (Hrsg.), International encyclopedia of the social & behavioral sciences, 12’089–12’095, 12’090. Jedoch ist es nicht möglich, den ontischen und epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriff auf einen »gemeinsamen Kern« zu reduzieren, wie dies Huber, Beweismaß, 113, Engels, Anscheinsbeweis, 34, Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 52; Laumen, in: Baumgärtel/ Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 80–133, Rz. 30 oder Musielak, Juristische Arbeitsblätter 2010, 561–566, 564, tun. 66

III. Wahrscheinlichkeit

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nicht sicher, was »albóndigas« auf Spanisch heißt.69 Wahrscheinlichkeit, so verstanden, drückt einen Überzeugungsgrad (degree of belief ) aus. Andererseits ist die Aussage »Die Wahrscheinlichkeit, dass bei der zufälligen Ziehung einer Zahl aus 45 Zahlen von 1 bis 45 zuerst die 12 gezogen wird, ist 1/45« vermutungsweise eine Aussage über die objektive Wahrscheinlichkeit im Sinne der Häufigkeitstheorie, nämlich, dass sich bei einer wiederholten zufälligen Ziehung einer Zahl aus 45 Zahlen zwischen 1 und 45 der Anteil der Zahl 12 auf einen Fünfundvierzigstel einpendelt. Gerade letzteres Beispiel zeigt aber, dass nicht jede Aussage eindeutig einer Wahrscheinlichkeitsauffassung zugeordnet werden kann:70 Die Aussage könnte auch dahingehend verstanden werden, dass der Sprechende subjektiv erwartet, dass die Zwölf mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Fünfundvierzigstel gezogen wird; dann wäre sie Ausdruck einer vernünftigen Erwartung (reasonable expectation) und daher eine epistemische Wahrscheinlichkeit. Im Folgenden sollen die eingangs erwähnten verschiedenen Interpretationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs kurz erläutert werden, soweit dies für das Verständnis des vorgebrachten Arguments notwendig ist. Dabei gilt das Hauptaugenmerk der Häufigkeitstheorie und der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie, da diese die beiden praktisch wichtigsten Wahrscheinlichkeitsbegriffe sind. Nicht weiter eingegangen wird auf die axiomatische Definition der Wahrscheinlichkeit nach Andrej Nikolaevich Kolmogorov.71 Diese bildet Grundlage für die Mathematik der Wahrscheinlichkeit, ist aber rein formal und liefert keine Interpretation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs.72 Vielmehr ist es so, dass jede Interpretation der Wahrscheinlichkeit nur dann eine solche ist, wenn der durch sie explizierte Begriff der Wahrscheinlichkeit den Axiomen der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie genügt.73 Die mathematisch exakte Axiomatisierung ist hochgradig technisch; für die Zwecke dieses Buches genügen die vorne eingeführten vereinfachten Grundregeln. a) Alltags- oder Erfahrungswahrscheinlichkeit Wahrscheinlichkeit ist kein rein wissenschaftliches Konzept, sondern ist ein Begriff, der im Alltag verwendet wird. Der Alltagsbegriff der Wahrscheinlichkeit wird in der philosophischen Literatur meist vernachlässigt.74 Eine typische Verwendung des Begriffs »wahrscheinlich« im Alltag ist beispielsweise die Aus69

Albóndiga (f) heißt Fleischbällchen auf Spanisch. Das epistemische Defizit war groß. Vgl. Suppes, Erkenntnis 1983, 397–403, 397 f. 71 Kolmogorov, Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung; eine verständliche Darstellung bietet Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 7 ff. 72 Kolmogorov, Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung, 1. 73 Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie, 109, 129; Eagle, Erkenntnis 2004, 371–416, 384; Galavotti, Philosophical introduction to probability, 39. 74 Siehe aber Lucas, The concept of probability, 1–9; Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 15 ff.; Toulmin, Uses of argument, 44 ff. 70

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

sage, beim Anblick des zerrissenen Vorhangs, »wahrscheinlich hat die Katze sich ausgetobt und den Vorhang zerrissen«. Über diesen informellen, alltäglichen Wahrscheinlichkeitsbegriff lassen sich gewisse Aussagen treffen: Erstens ist er eindeutig epistemischer Natur. Die Verwendung des Begriffs wahrscheinlich in dem oben genannten Beispiel verweist auf ein Wissensdefizit des Sprechenden und nicht auf eine in der Wirklichkeit liegende objektive Unbestimmtheit.75 Entweder wurde der Vorhang durch die Katze zerrissen, oder durch eine andere Ursache. Der historische Sachverhalt kann nicht objektiv unbestimmt sein. Zweitens wird »wahrscheinlich« meist nicht verwendet, um rein private Informationsdefizite auszudrücken. Dafür verwendet man Ausdrücke wie »ich glaube, dass . . . « oder »ich bin mir nicht sicher, ob . . . «. Die Verwendung des Ausdrucks »wahrscheinlich« deutet eher darauf hin, dass »man« aufgrund der vorliegenden Informationen mehr oder weniger stark damit rechnen muss, dass sich ein Sachverhalt in einer bestimmten Weise verwirklicht hat, oder verwirklichen wird.76 Wahrscheinlichkeitsaussagen stehen stets im Kontext einer bestimmten Informationssituation, aber diese ist nicht bloß diejenige des Sprechenden, sondern einer größeren Gruppe. »Jeder« der die vorliegenden Indizien zur Kenntnis nimmt – die Wohnungstüre war verschlossen, außer der Katze war niemand zuhause, und beim Verlassen der Wohnung war der Vorhang noch unbeschädigt – muss vernünftigerweise zum Schluss kommen, dass es wahrscheinlich ist, dass die Katze den Vorhang zerrissen hat. Die oft verwendete unpersönliche Ausdrucksweise »es ist wahrscheinlich, dass . . . « drückt diesen Anspruch aus.77 Der Alltagsbegriff der Wahrscheinlichkeit ist demnach dem Personalismus zuzuordnen, er drückt einen Überzeugungsgrad aus, aber einen (in Anbetracht der vorliegenden, notwendigerweise unvollständigen, Informationen) vernünftigen Überzeugungsgrad.78 Drittens weist der Begriff der Wahrscheinlichkeit, wie er im Alltag verwendet wird, Abstufungen auf. Etwas ist »ziemlich wahrscheinlich«, »sehr wahrscheinlich« oder »höchstwahrscheinlich«; auf dieselbe Art lässt sich »unwahrscheinlich« qualifizieren. Diese Abstufungen drücken verschiedene Überzeugungsgrade aus, wenn auch nicht sehr präzise. Immerhin erhält man eine Ordinalskala:79 »Sehr wahrscheinlich« ist weniger als »höchstwahrscheinlich«; wie viel weniger, lässt sich mit dem Alltagsbegriff der Wahrscheinlichkeit nicht mehr quantifizieren.

75 76

Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 16. Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 16; siehe auch Toulmin, Uses of argument,

59.

77 78 79

Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 16. Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 16. Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 16.

III. Wahrscheinlichkeit

99

b) Klassischer Wahrscheinlichkeitsbegriff Pierre Simon Laplace (1749–1827) vertrat ein entschieden deterministisches Weltbild: Der Lauf der Welt wird durch die Newtonsche Gesetze bestimmt, jede Wirkung hat mindestens eine Ursache.80 Für ein allwissendes Wesen ist daher nichts unbestimmt; es kennt den exakten Zustand der Welt und die Zukunft ergibt sich aus der Anwendung der (deterministischen) Naturgesetze.81 Wahrscheinlichkeit kann für Laplace daher nur epistemischer Natur sein.82 Er definiert Wahrscheinlichkeit als das Verhältnis der günstigen Fälle zu allen möglichen Fällen, wobei dies voraussetzt, dass alle Fälle »gleichmöglich« sind.83 Bezogen auf die Wahrscheinlichkeit, dass eine faire Münze84 bei einem Wurf auf Kopf fällt, besagt dies: Es gibt zwei mögliche Fälle (Kopf oder Zahl) und einen günstigen Fall (Kopf), entsprechend ist die Wahrscheinlichkeit für Kopf ½. Laplace rechtfertigt die Annahme, dass alle Fälle gleichmöglich sind, mit dem »Prinzip vom unzureichenden Grund« (nach Keynes auch »Indifferenzprinzip«85 genannt): Wenn es keinen Grund gibt, den einen oder anderen Fall für möglicher zu halten, ist davon auszugehen, dass alle Fälle gleichmöglich sind.86 Nicht zu übersehen ist, dass »gleichmöglich« letztlich nichts anders als »gleich wahrscheinlich« heißt, womit die Definition, weil zirkulär, unbrauchbar ist.87 Für epistemische Wahrscheinlichkeiten besitzt das Indifferenzprinzip eine gewisse Plausibilität.88 Die Probleme des klassischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs sind aber mannigfaltig. Erstens ist es oft nicht möglich, alle möglichen Fälle a-priori zu definieren.89 Zweitens ist es oft willkürlich, wie man die Symmetrie, und somit die gleichmöglichen Fälle, definiert. Angenommen, man weiß, dass die Fahrt von A nach B zwischen ein und zwei Stunden dauert, A und B 100 km entfernt voneinander sind, und nichts Weiteres. Das Prinzip vom unzureichenden Grund besagt, dass unter den Umständen die Wahrscheinlichkeit, dass das Auto nach einer bis eineinhalb Stunden in B eingetroffen ist, gleich groß ist wie die Wahrscheinlichkeit, dass das Auto nach eineinhalb bis zwei Stunden in B eingetroffen ist. Das gleiche Problem lässt sich aber auch anders formulieren: Die Durchschnittsgeschwindigkeit des Autos auf der Strecke von A nach B beträgt 80

Galavotti, Philosophical introduction to probability, 58. Laplace, Essai philosophique sur les Probabilités, 2. 82 Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie, 65; Fill, De calculatione iustitiae iudicatorum, 128. 83 Laplace, Essai philosophique sur les Probabilités, 4. 84 Genau genommen muss nicht nur die Münze, sondern die gesamte experimentelle Anordnung (der Münzenwurf) fair sein, so dass die Ereignisse »Kopf« und »Zahl« in der Tat gleichmöglich sind. 85 Keynes, A Treatise On Probability, 41 ff. 86 Laplace, Essai philosophique sur les Probabilités, 4. 87 Reichenbach, Wahrscheinlichkeitslehre, 339 f.; Salmon, Scientific Inference, 65. 88 Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 85. 89 Nagel, Theory of Probability, 48. 81

100

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

offensichtlich zwischen 50 km/h und 100 km/h. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit zwischen 50 km/h und 75 km/h liegt, ist daher gleich groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass sie zwischen 75 km/h und 100 km/h liegt. Nur widerspricht dies dem ersten Resultat, denn bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 75 km/h müsste das Auto bereits nach einer Stunde und 20 Minuten in B angekommen sein, und es ist daher wahrscheinlicher, dass die Fahrt weniger als eineinhalb Stunden dauert, als dass sie länger als eineinhalb Stunden dauert.90 c) Frequentistischer Wahrscheinlichkeitsbegriff Es ist nicht zu übersehen, dass die Laplace’sche Annahme der »Gleichmöglichkeit« in einem gewissen Sinne eine petitio principii ist: Oft wird man sich gerade darüber streiten, ob alle Möglichkeiten gleich wahrscheinlich sind. Konkret: ist die »faire« Münze tatsächlich fair, oder ist sie verfälscht und fällt sie häufiger auf die eine als auf die andere Seite?91 Eine naheliegende Möglichkeit, dies herauszufinden, ist, die Münze wiederholt zu werfen und zu zählen, wie oft sie auf Kopf fällt. Vielleicht stellt man fest, dass die Münze in den ersten zehn Würfen vier Mal auf Kopf gefallen ist, in den ersten hundert Würfen 53 Mal, und den ersten Tausend Würfen 490 Mal. Je höher die Anzahl Würfe, desto mehr scheint sich der Anteil der Würfe, bei denen die Münze auf Kopf fällt, 0,5 anzunähern. Die Vermutung liegt nahe, dass bei einer unendlich häufigen Wiederholung des Experimentes der Anteil von »Kopf« unendlich nahe an 0,5 herankommt, oder anders gesagt, 0,5 der Grenzwert von nx nt ist, wobei nt die Gesamtzahl der Ereignisse (hier: Münzenwürfe) und nx die Gesamtzahl der günstigen Ereignisse (hier: Münze fällt auf Kopf) ist. Die Häufigkeitstheorie, oder frequentistische Wahrscheinlichkeitstheorie, definiert entsprechend die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses als den Grenzwert seiner relativen Häufigkeit bei (theoretisch) unendlich vielen Wiederholungen,92 Pr (x) = lim

nt →∞

nx nt

(7)

Dagegen lässt sich einwenden, dass man ein Experiment nie unendlich oft wiederholen kann, und die Annahme, dass die relative Häufigkeit bei unendlich 90

Das Beispiel stammt, mit kleinen Änderungen, aus Salmon, Scientific Inference, 66 f. Empirisch ist es wie erwähnt ausgeschlossen, dass eine Münze, selbst wenn sie ungleich beschwert wird, nicht gleich häufig auf jede ihrer zwei Seiten fällt, Gelman/Nolan, American Statistician 2002, 308–311. 92 Man kann diese Version der Häufigkeitstheorie als »unendliche« oder »hypothetische« Häufigkeitstheorie bezeichnen und ihr eine »endliche« oder »tatsächliche« Häufigkeitstheorie gegenüberstellen, die Wahrscheinlichkeit einfach als relative Häufigkeit bei endlich vielen Wiederholungen definiert, Hájek, Erkenntnis 1996, 209–227, 71, und Hájek, Erkenntnis 2009, 211–235, 212 f. Jedoch sind Wahrscheinlichkeiten nie einfach tatsächliche relative Häufigkeiten, Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 54. 91

III. Wahrscheinlichkeit

101

häufiger Wiederholung des Experiments zum Grenzwert konvergiere, eben nur eine Annahme ist.93 In die gleiche Richtung geht das Argument, dass es durchaus nicht sicher ist, dass die relative Häufigkeit bei unendlich häufiger Wiederholung zu nnxt konvergiert: Die Münzenwürfe sind per definitionem unabhängig voneinander; d. h. der Ausgang des vorangehenden Wurfs hat keinen Einfluss auf den Ausgang des folgenden Wurfs. Eine Folge von Kopf-Kopf-Kopf-KopfKopf ist daher vielleicht unwahrscheinlich, aber sicher nicht ausgeschlossen. Theoretisch denkbar wäre auch eine unendlich lange Folge von Kopf – extremst unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Der Grenzwert von nnxt könnte daher auch 1 sein.94 Damit besagt die Definition der Wahrscheinlichkeit gemäß der Häufigkeitstheorie nur, dass eine faire Münze auf lange Sicht höchstwahrscheinlich gleich häufig auf Kopf wie auf Zahl fällt; d. h. der zu explizierende Begriff der Wahrscheinlichkeit kommt in der Definition vor.95 In der Philosophie ist der frequentistische Wahrscheinlichkeitsbegriff unter anderem deshalb in Misskredit geraten.96 In der Statistik und den empirischen Naturwissenschaften ist der frequentistische Wahrscheinlichkeitsbegriff, manchmal auch als »statistische Wahrscheinlichkeit« bezeichnet, nach wie vor herrschend.97 Er geht auf John Venn zurück, als seine Hauptvertreter gelten Richard von Mises und Hans Reichenbach.98 Der frequentistische Wahrscheinlichkeitsbegriff ist ein ontischer Wahrscheinlichkeitsbegriff; er trifft eine Aussage über die Wirklichkeit, nicht das Wissen oder den Überzeugungsgrad des Beobachters. Die frequentistische Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses ist für alle Beobachter dieselbe. Dies ist der große Vorteil der frequentistischen Interpretation und der Grund, warum sie in den empirischen Naturwissenschaften nach wie vor herrschend ist. Der große, und für unsere Zwecke entscheidende, Nachteil der frequentistischen Interpretation ist, dass sie keine Aussage über die Wahrscheinlichkeit eines Einzelfalls zulässt.99 »Im Zivilprozess kommt es aber immer auf den Einzelfall an.«100 93

Hájek, Erkenntnis 2009, 211–235, 214 f. Hájek, Erkenntnis 2009, 211–235, 220 f. 95 Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie, 222, spricht davon, dass »praktische Sicherheit mit logischer Notwendigkeit« verwechselt wird. 96 Eagle, Erkenntnis 2004, 371–416, 374; Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 46; Hájek, Erkenntnis 1996, 209–227, zählt nicht weniger als 15 Argumente gegen die Häufigkeitstheorie auf und stellt fest »the demise of frequentism is familiar« (Hájek, a. a. O., 69); nach Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie, 112, ist der Versuch, statistische Wahrscheinlichkeit auf den Begriff der relativen Häufigkeit zurückzuführen, unhaltbar. 97 Hájek, Synthese 2007, 563–585, 563; Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 46. 98 Galavotti, Philosophical introduction to probability, 74 ff. 99 Mises, Wahrscheinlichkeit, Statistik und Wahrheit, 22; Hájek, Erkenntnis 1996, 209–227, 221. Reichenbach, The theory of probability, 376 f., spricht von einer »fiktiven Bedeutung« der Wahrscheinlichkeit des Einzelfalls. 100 Schwab, in: Holzhammer/Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451– 462, 454. 94

102

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Dies soll an einem klassischen Beispiel erläutert werden. Die Aussage »Ein 50-jähriger Mann, der seit mindestens zehn Jahren raucht, wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,01 in den nächsten zehn Jahren an Krebs erkranken« ist eine Aussage zur statistischen Wahrscheinlichkeit: In einem Kollektiv von 50-jährigen Rauchern wird einer von Hundert in den nächsten zehn Jahren an Krebs erkranken. Herr X. ist ein 50-jähriger Raucher, aber er treibt viel Sport und ernährt sich vegetarisch. Das Kollektiv der sportlichen Vegetarier hat eine geringere statistische Wahrscheinlichkeit, in den nächsten zehn Jahren an Krebs zu erkranken als dasjenige der Raucher. Herr X. gehört offenbar in beide Referenzklassen.101 Aber dann gibt es auch zwei verschiedene Wahrscheinlichkeiten dafür, dass er in den nächsten zehn Jahren an Krebs erkrankt. Welches ist nun die maßgebliche? Wenn wir nur Daten zum Kollektiv der sportlichen Vegetarier oder der Raucher haben, aber keine Daten zum Kollektiv der sportlichen vegetarischen Raucher, müssen wir uns entscheiden, die Krebshäufigkeit welcher Referenzklasse wir als für Herrn X. maßgeblich erachten; wo er »besser reinpasst«. Man kann dies auch als das Problem der epistemisch richtigen Referenzklasse bezeichnen;102 es ist durchaus nicht trivial und wird weiter hinten, S. 354 ff., vertieft behandelt. Hier geht es aber um eine andere Frage, nämlich um diejenige, in welche Referenzklasse Herr X. in Wirklichkeit, unabhängig von unserem Wissen, gehört. Diese Klasse wird durch alle Eigenschaften bestimmt, die einerseits auf Herrn X. zutreffen und andererseits relevant sind für die Entstehung von Krebs; d. h. die Entstehung von Krebs wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen. Wenn wir aber alle Eigenschaften, die irgendeinen Einfluss auf die Entstehung von Krebs haben, berücksichtigen, werden alle Instanzen der dadurch definierten Klasse entweder an Krebs erkranken oder nicht an Krebs erkranken, wenn die Entstehung von Krebs nicht ein genuin indeterministischer Vorgang ist. Ist Krebs durch gewisse Faktoren determiniert, und kennen wir alle wesentlichen Faktoren, dann muss auch das Resultat bestimmt sein. Nur im Falle einer genuinen Indeterminiertheit der der jeweiligen Phänomene sind die häufigkeitstheoretischen Einzelfall-Wahrscheinlichkeiten von 0 und 1 verschieden. Nur dann führt nämlich die Berücksichtigung aller relevanten Faktoren nicht dazu, dass alle Fälle in der entsprechenden Referenzklasse die gleichen Eigenschaften aufweisen.103

101 Und in unendlich viele weitere Referenzklassen; das Problem der Referenzklasse ist so alt wie die Häufigkeitstheorie, siehe Venn, The logic of chance, 194; der Ausdruck »Referenzklasse« geht zurück auf Reichenbach, The theory of probability, 374. 102 Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 60. 103 Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 61.

III. Wahrscheinlichkeit

103

d) Propensity-Theorien der Wahrscheinlichkeit In einer deterministischen Welt gibt es demnach keine objektive Wahrscheinlichkeit eines Einzelfalls.104 Wahrscheinlichkeit im Einzelfall ist in einer deterministischen Welt immer epistemisch, sie drückt das mangelnde Wissen über alle Ursachen aus, die den Einzelfall bestimmen. Mit der Entdeckung (Erfindung?) der Quantenmechanik hat die Determiniertheit der Welt jedoch ein Ende: Zumindest in gewissen Interpretationen der Quantenmechanik (Kopenhagener Deutung) gibt es im subatomaren Bereich genuin indeterministische Prozesse.105 Prozesse, deren Ausgang nicht deshalb nur als wahrscheinlich bezeichnet werden kann, weil wir die genauen Parameter des Ist-Zustands nicht kennen (können), sondern die selbst bei angenommener Allwissenheit des Beobachters probabilistisch bleiben. Nach der Interpretation der Wellenfunktion durch Max Born bestimmt |ψ|2 die Wahrscheinlichkeitsdichte für den Aufenthalt eines Partikels (z. B. Elektron) an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit.106 Aus (dieser) Sicht der Quantenmechanik gibt es keine Größe, die den Erfolg eines Zusammenpralls eines Elektrons mit einem Atom kausal festlegt und im Einzelfall bestimmt;107 der Vorgang ist genuin indeterminiert. Damit sind Wahrscheinlichkeiten Teil der Natur.108 Propensity-Deutungen der Wahrscheinlichkeit versuchen nun, der objektiven Wahrscheinlichkeit eines Einzelfalls eine philosophische Explikation zu geben.109 Sie sind untrennbar mit genuin indeterministischen Vorgängen verknüpft.110 Ein historischer Sachverhalt der Makrowelt, wie er von einem Gericht bei der Beweiswürdigung zu erstellen ist, ist jedoch nie genuin unbestimmt, nur das Wissen des Gerichts über ihn ist unvollständig. Propensity-Theorien der objektiven Einzelfallwahrscheinlichkeit, die genuin indeterminierte Prozesse voraussetzen, sind auf die Beweiswürdigung nicht anwendbar. Entsprechend wird darauf verzichtet, die Propensity-Deutung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs näher darzustellen.

104 Giere, in: Suppes/Athanase/Moisil (Hrsg.), Studies in Logic and the Foundations of Mathematics, 467–483, 481. 105 Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 41, weist darauf hin, dass die Interpretation der Quantentheorie ein immer noch offenes Problem ist und es auch nicht ausgeschlossen ist, dass noch verborgene Parameter gefunden werden, die die derzeit als indeterministisch verstandene Prozesse determinieren. 106 Born, Zeitschrift für Physik 1926, 863–867; Cartwright, in: Krüger/Gigerenzer/Morgan (Hrsg.), The Probabilistic Revolution, 409–416, 411. 107 Born, Zeitschrift für Physik 1926, 863–867, 866. 108 Cartwright, in: Krüger/Gigerenzer/Morgan (Hrsg.), The Probabilistic Revolution, 409– 416, 415. 109 Kyburg/Teng, Uncertain inference, 79. 110 Giere, in: Suppes/Athanase/Moisil (Hrsg.), Studies in Logic and the Foundations of Mathematics, 467–483, 475; Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 112, 127, 150, 153, 227.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

e) Subjektiver Wahrscheinlichkeitsbegriff Für die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie ist Wahrscheinlichkeit ein Maß der persönlichen Überzeugung, dass ein Ereignis eintritt oder eine Aussage wahr ist. Wahrscheinlichkeit wird als »Überzeugungsgrad« (degree of belief; auch »Glaubwürdigkeitsvorstellung«111 ) verstanden und existiert nur im Geiste des Betrachters. Wahrscheinlichkeitstheorie wird verstanden als die Logik der Überzeugungsgrade:112 Welche Teilüberzeugungen kann ein Subjekt gleichzeitig haben, ohne dass man das gleichzeitige Halten dieser Überzeugungen als irrational bezeichnen darf? Gemäß in der induktiven Logik üblicher Terminologie werden solche Überzeugungen, die »nicht zusammenpassen«, als inkohärent bezeichnet.113 Pioniere der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie sind Frank P. Ramsey und Bruno de Finetti, zu ihrer Verbreitung haben die Arbeiten von Leonard Savage maßgeblich beigetragen. Für Subjektivisten drückt Wahrscheinlichkeit also ein Mangel an sicherem Wissen aus; woher die Unsicherheit stammt – aus der genuinen Indeterminiertheit eines Prozesses oder dem unvollständigen Wissen des Beobachters – spielt keine Rolle.114 Es gibt daher in der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie nur bedingte Wahrscheinlichkeiten; es ist nur sinnvoll, von einer »Wahrscheinlichkeit bei gegebenem Wissen« zu sprechen.115 Daraus folgt unmittelbar die zweite zentrale Frage der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie: Wie soll das Subjekt seine Überzeugung anpassen, wenn sich sein Wissen ändert? Ehe wir uns dem Argument zuwenden, weshalb Überzeugungsgrade den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen sollen, soll dem Einwand begegnet werden, dass sich ein Überzeugungsgrad nicht auf einer numerischen Skala von 0 bis 1 (oder 0 bis 100) ausdrücken lässt.116 Kann ich wirklich sagen, dass meine subjektive Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Käuferin eines Grundstücks in Italien dem Verkäufer einen Teil des Kaufpreises schwarz (d. h. bar, ohne Quittung und ohne Meldung an die Steuerbehörden) bezahlt hat, 0,57 beträgt? 111

Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 90. Ramsey, in: Braithwaite (Hrsg.), The Foundations of Mathematics, 156–198, 157, 191; de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 89, 585 ff.; Good, in: Good (Hrsg.), Good thinking, 3–14, 5; Salmon, Scientific Inference, 80; Jaynes, Probability theory, XII f.; Howson, in: Galavotti (Hrsg.), Observation and Experiment, 301–320, 309 f.; Howson, Synthese 2012, 475–492, 485 ff. 113 de Finetti, Annales de l’Institut Henri Poincaré 1937, 1–68, 7; Ramsey, in: Braithwaite (Hrsg.), The Foundations of Mathematics, 156–198, 182, spricht von »inkonsistent«. 114 de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 270 f. 115 de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 167 f.; Lindley, Understanding uncertainty, 43. Einige Autoren bezeichnen a-priori Wahrscheinlichkeiten dennoch als »unbedingte Wahrscheinlichkeiten«, z. B. Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 577, aber dies sollte in der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie vermieden werden. 116 Z. B. Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 36; Meier, BJM 1989, 57–78, 61; Schumacher, in: Aargauischer Juristenverein (Hrsg.), Festschrift für Dr. Kurt Eichenberger, 157–210, 195; Ileri, in: Schweizerische Gesellschaft für Haftpflicht- und Versicherungsrecht (Hrsg.), Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen, 273–288, 280. 112

III. Wahrscheinlichkeit

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Das folgende Argument soll zeigen, dass es einen solchen exakten Wert geben muss, wenn er auch schwierig zu bestimmen sein kann.117 Dabei sei vorausgeschickt, dass es für die Begründung der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie ausreicht, dass das Subjekt sagen kann, ob es von der Wahrheit einer Aussage mehr, weniger oder gleich stark überzeugt ist wie von der Wahrheit einer anderen Aussage.118 Der Beweis, dass die persönlichen Überzeugungen den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen müssen, um als rational bezeichnet werden zu können, ist allerdings erheblich schwieriger zu verstehen, wenn nur die Ordinalität der Überzeugungsgrade vorausgesetzt wird.119 Angenommen, eine Urne enthält 100 Kugeln, von denen eine zufällig gezogen wird. 30 der Kugeln sind rot, die restlichen 70 blau, und abgesehen von der Farbe, die vor dem Ziehen der Kugel nicht sichtbar ist, sind die Kugeln nicht zu unterscheiden. In einer zweiten Urne sind ebenfalls 100 Kugeln, von denen nur 5 rot und die restlichen 95 blau sind. Die meisten Menschen würden der Aussage zustimmen, dass meine Überzeugung – oder mein Glaube daran –, dass beim zufälligen Ziehen aus der ersten Urne eine rote Kugel gezogen wird, größer sein sollte, als meine Überzeugung, dass beim zufälligen Ziehen aus der zweiten Urne eine rote Kugel gezogen wird. Die meisten Menschen würden auch der Aussage zustimmen, dass der Überzeugungsgrad, oder eben die subjektive Wahrscheinlichkeit, für das Ziehen einer roten Kugel aus der ersten Urne 0,3 beträgt, wenn er sich denn auf einer numerischen Skala soll ausdrücken lassen (»Principle of Direct Probability« oder »Frequency Principle«, siehe hinten, S. 351 f.). Für das Ziehen einer roten Kugel aus der zweiten Urne hingegen beträgt die subjektive Wahrscheinlichkeit nur 0,05. Umgekehrt darf ich sicher sein, dass aus einer Urne, in der sich ausschließlich rote Kugeln befinden, eine rote Kugel gezogen wird. Meine subjektive Wahrscheinlichkeit für das Ziehen einer roten Kugel aus einer solchen Urne ist daher 1. Was auch immer der Anteil an roten Kugeln ist, er entspricht meiner subjektiven Wahrscheinlichkeit für das zufällige Ziehen einer roten Kugel. Urnen mit einem unterschiedlichen Anteil an roten Kugeln können als Vergleichsmaßstab für die subjektive Wahrscheinlichkeit dienen, so wie ein Maßstab als Vergleichsstandard für die Messung von Längen dient.120 Wenn meine subjektive Wahrscheinlichkeit für die Wahrheit der Aussage »die Käuferin hat Schwarzgeld gezahlt« mit meiner subjektiven Wahrscheinlichkeit, dass aus einer Urne, die ausschließlich rote Kugeln enthält, eine rote Kugel gezogen wird, verglichen wird, so wird die subjektive Wahrscheinlichkeit für die Wahrheit der 117 Weitere Methoden der Metrisierung von subjektiven Wahrscheinlichkeiten finden sich bei Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 422 ff. 118 Jeffrey, Probability and the art of judgment, 48; de Finetti, Annales de l’Institut Henri Poincaré 1937, 1–68, 4 f. 119 de Finetti, Annales de l’Institut Henri Poincaré 1937, 1–68, 6. 120 de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 248 f.; Lindley, Understanding uncertainty, 35.

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Aussage geringer sein. Ich bin nicht sicher, ob tatsächlich Schwarzgeld bezahlt wurde, aber ich bin sicher, dass aus einer Urne mit ausschließlich roten Kugeln eine rote Kugel gezogen wird. Andererseits wird meine subjektive Wahrscheinlichkeit für die Wahrheit der Aussage betreffend Schwarzgeld höher sein als die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass aus einer Urne, die keine roten Kugeln enthält, eine rote Kugel gezogen wird. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass die Aussage betreffend Schwarzgeld wahr ist. Man kann sich nun vorstellen, dass bei der zweiten Urne stetig eine blaue Kugel durch eine rote Kugel ersetzt wird. Irgendwann ist ein Anteil roter Kugeln erreicht, der genau meiner Überzeugung entspricht, dass Schwarzgeld bezahlt wurde, denn diese Überzeugung muss irgendwo zwischen einem Anteil an roten Kugeln von 0 und 1 liegen. Ist dieser Anteil an roten Kugeln erreicht, sollte ein rationales Subjekt bei der Wahl zwischen zwei Spielen, wobei es beim ersten Spiel Fr. 1 gewinnt, wenn Schwarzgeld bezahlt wurde und beim zweiten Spiel Fr. 1, wenn eine rote Kugel aus der Urne gezogen wird, indifferent sein. Unter der vernünftigen Voraussetzung, dass meine Überzeugung, dass eine rote Kugel gezogen wird, bei unterschiedlichem Anteil roter Kugeln unterschiedlich hoch ist, muss meine Überzeugung dafür, dass Schwarzgeld bezahlt wurde, eindeutig sein.121 Das vorangehende Gedankenexperiment zeigt, dass es theoretisch einen auf einer numerischen Skala ausdrückbaren Überzeugungsgrad für die Wahrheit einer beliebigen Aussage geben muss. Das heißt aber noch lange nicht, dass man diesen Wert praktisch bestimmen kann: Der Einwand, dass es praktisch unmöglich ist, dem Glauben an die Wahrheit einer Aussage über einen Lebenssachverhalt, der nicht aus der Domäne von Glücksspielen und Urnen mit farbigen Kugeln stammt, einen numerischen Wert mit einer Genauigkeit von zwei Dezimalstellen zuzuordnen, ist einleuchtend. Man kann vielleicht sagen, dass die subjektive Wahrscheinlichkeit dafür, dass Schwarzgeld bezahlt wurde, größer als 0,4 aber kleiner als 0,7 sei, aber eine genauere Angabe ist nicht möglich. Der Verzicht darauf, eine exakte subjektive Wahrscheinlichkeit für die Wahrheit einer Aussage zu verlangen und stattdessen ein bloßes Intervall zu akzeptieren, löst das Problem aber nur scheinbar.122 Wie kann derjenige, der sagt, er könne sich nicht auf eine subjektive Wahrscheinlichkeit von 0,x festlegen, sagen, dass die Wahrscheinlichkeit sicher zwischen 0,4 und 0,7 liegen muss? Könnte sie nicht ebenso gut zwischen 0,39 und 0,7 liegen? Wer sagt, dass er es für absolut ausgeschlossen hält, dass die Wahrscheinlichkeit weniger als 0,4 ist, wird auch zugestehen müssen, dass die Wahrscheinlichkeit eher bei 0,41 als bei 0,4 liegt. Und bei der oberen Bandbreite eher bei 0,69 als bei 0,7, wenn die Wahrscheinlichkeit unter keinen Umständen über 0,7 liegen kann. So nähern sich die beiden Endpunkte des Intervalls an, um sich bei dem einzelnen Wert – der nicht in der arithmetischen Mitte 121 122

Lindley, Understanding uncertainty, 35. Kyburg, International Journal of Approximate Reasoning 1988, 195–209, 200 f.

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zu liegen braucht – zu treffen, der die bestmögliche Punkt-Schätzung für die Wahrheit der Aussage ist. Es kann sehr schwierig sein, diese Schätzung zu treffen, aber es muss eine bestmögliche Schätzung geben.123 Der erste Schritt des Arguments, dass subjektive Wahrscheinlichkeiten den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen sollen, liegt darin zu zeigen, dass die persönliche Überzeugung in die Wahrheit einer Aussage sich als Wettquote (betting rate) ausdrücken lässt.124 Dass ein Zusammenhang zwischen Wetten und persönlicher Überzeugung besteht, leuchtet intuitiv ein.125 Angenommen, jemand bietet Ihnen eine Wette an, bei der Sie Fr. 10 gewinnen, wenn es morgen an Ihrem Aufenthaltsort um 12 Uhr mittags mehr als 20° Celsius warm ist, oder eine Wette, bei der Sie Fr. 10 gewinnen, wenn es unter 20° Celsius warm ist. Wenn Sie eine der Wetten bevorzugen, sind sie offenbar überzeugt davon, dass die entsprechende Aussage wahrscheinlicher ist als ihre Verneinung.126 Wenn Sie indifferent sind zwischen den Wetten, halten Sie die Aussage und ihre Negation offenbar für gleich wahrscheinlich. Wenn Sie sich weigern zu wetten, weil Sie nicht um Geld spielen, ist das Ihr gutes Recht. Für die so genannten »Dutch Book« Argumente (gleich nachstehend) wird angenommen, dass das Subjekt gezwungen ist, die Wetten – zu von ihm bestimmten Quoten – einzugehen.127 Die Wettquote ist definiert als der Anteil am Einsatz aller Mitspieler (»Topf«), den der Wettende erhält. Wenn ein Subjekt S Fr. 1 darauf wetten, dass es morgen regnet, und dessen Wettpartner Fr. 3, dass es nicht regnet, dann beträgt die Wettquote von S ¼. Die Wettquote, die ein Subjekt als fair erachtet, d. h. bei der es ihm oder ihr egal ist, welche Seite der Wette sie oder er einnimmt, entspricht dem Glaubensgrad oder Überzeugungsgrad des Subjekts für die Wahrheit der entsprechenden Behauptung.128 Es bedeutet nicht, dass jedermann zu jeder Zeit für jede Aussage eine faire Wettquote nennen können muss, aber wenn er eine nennt, dann entspricht sie seiner subjektiven Wahrscheinlichkeit.129 Ein Subjekt, das in dem Beispiel also den Einsatz von Fr. 1 bei einem möglichen Gewinn von (brutto) Fr. 4 (= netto Fr. 3) als fair erachtet, geht von einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von 25% aus, dass es morgen regnet. Aber warum sollen die persönlichen Überzeugungen, die sich als faire Wettquoten ausdrücken lassen, den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen? Warum sollte man nicht Überzeugungen haben dürfen, die gegen die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie verstoßen? Hier kommt das so genannte »Dutch 123

Lindley, Understanding uncertainty, 36. de Finetti, Annales de l’Institut Henri Poincaré 1937, 1–68, 6. 125 Bereits Kant, in: Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden, Bd. 3, 690, weist darauf hin, dass sich der Grad des »pragmatischen Glaubens« an eine Aussage in der Summe ausdrücken lässt, die jemand auf die Wahrheit der Aussage zu wetten bereit ist. 126 Savage, The foundations of statistics, 28. 127 Mellor, The matter of chance, 37. 128 de Finetti, Annales de l’Institut Henri Poincaré 1937, 1–68, 6. 129 Christensen, Putting logic in its place, 116. 124

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Book Argument« ins Spiel.130 Es beweist, dass sich ein Subjekt, das gleichzeitig Teilüberzeugungen hält, die gegen die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie verstoßen – z. B. »die Wahrscheinlichkeit, dass Herr H. das Geld aus dem Tresor genommen hat, ist 60%« und »die Wahrscheinlichkeit, dass Herr H. das Geld nicht aus dem Tresor genommen hat, ist 50%« – Wetten zu im oben genannten Sinne fairen Quoten akzeptiert, die ihm einen sicheren Verlust einbringen.131 Der Verlust tritt also unabhängig vom Ausgang der Wette ein – egal, ob sich herausstellt, dass Herr H., sonst jemand, oder niemand das Geld genommen hat. Das Subjekt kann nur verlieren. Das kann man mit Fug als irrational bezeichnen.132 Einzig die Beachtung der Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie durch die persönlichen Überzeugungen vermag zu verhindern, dass das Subjekt Opfer eines »Dutch Book«, einer Kombination von Wetten, die dem Subjekt einen sicheren Verlust beschert, wird.133 Die Mathematik hinter den Dutch Book Argumenten ist relativ einfach zu verstehen; wer Interesse hat, findet das Dutch Book Argument für die Additivität im Anhang I (die Dutch Book Argumente für Normierung und Sicherheit sind trivial134 ). Mit synchronen135 Dutch Book Argumenten lässt sich zeigen, dass die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie ein Rationalitätserfordernis für gleichzeitig gehaltene Teilüberzeugungen sind. Der eigentliche Kernpunkt für die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie ist aber, wie sich der Grad der Überzeugung ändern muss, wenn sich das Wissen des Subjekts ändert. Gemäß den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie muss dies gemäß Bayes’ Regel erfolgen, damit die Teilüberzeugungen kohärent bleiben (hinten, S. 132 ff.). Im Anhang I wird ein synchrones Dutch Book Argument für Bayes’ Regel, oder Konditionalisierung, gezeigt (erstmals bewiesen durch de Finetti136 ). Um zu zeigen, dass ein rationales Subjekt seine Überzeugungen gemäß Bayes’ Regel ändern muss, wenn es neue Informationen erhält, ist zusätzlich ein Dutch Book Argument für dynamische Konditionalisie-

130 Der Ausdruck »Dutch Book« hat sich in der Literatur als technischer Begriff etabliert; seine etymologische Herkunft bleibt letztlich ungeklärt, Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 169; Hájek, in: Anand (Hrsg.), The handbook of rational and social choice, 171–195, 174. 131 de Finetti, Annales de l’Institut Henri Poincaré 1937, 1–68, 7. 132 Hájek, in: Anand (Hrsg.), The handbook of rational and social choice, 171–195, 175. Die so verstandene Rationalität ist eine ideale, die von Menschen tatsächlich nicht erreicht werden kann. 133 So genanntes »inverse Dutch Book Theorem«, unabhängig bewiesen durch Kemeny, Journal of Symbolic Logic 1955, 263–273 und Lehman, Journal of Symbolic Logic 1955, 251– 262. 134 Siehe Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 165 f. und Hájek, in: Anand (Hrsg.), The handbook of rational and social choice, 171–195, 176. 135 D. h. alle Wetten werden gleichzeitig abgeschlossen. 136 de Finetti, Annales de l’Institut Henri Poincaré 1937, 1–68, 14.

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rung notwendig.137 Ein solches hat erstmals Teller publiziert.138 Gemäß diesem Argument ist Konditionalisierung das einzige Prinzip, gemäß dem ein Subjekt seine Überzeugung für die Wahrheit einer Aussage A bei Bekanntwerden einer Aussage B ändern kann, und dem Buchmacher mitteilen kann, ohne dass das Subjekt Opfer eines Dutch Books wird. M. a. W. kennt der Buchmacher nicht nur die Wettquoten des Subjekts auf A & B, A und B, sondern auch den Algorithmus, gemäß dem das Subjekt seine Wettquote auf A ändern wird, wenn es erfährt, ob B wahr oder falsch ist.139 Die einzige Regel für die Anpassung seiner Wettquote auf A unter der Voraussetzung von B, die das Subjekt unter diesen Bedingungen nicht einem sicheren Verlust aussetzt, ist die Konditionalisierung.140 Dutch Book Argumente können unter verschiedenen Gesichtspunkten kritisiert werden.141 Den Glauben an die Wahrheit einer Aussage durch eine Wettquote auszudrücken, ist vor allem wegen der unterschiedlichen Risikoneigung verschiedener Menschen problematisch,142 weshalb weiter hinten ein »idealisiertes« Dutch Book Argument eingeführt wird (S. 125 ff.). Festzuhalten ist, dass der wirtschaftliche Nachteil, den ein Subjekt erleidet, wenn er einem Buchmacher begegnet, der ihm ein Dutch Book anbietet, nicht ernsthaft der Grund dafür sein kann, die fehlende Einhaltung der Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie als irrational zu bezeichnen. Der Buchmacher, der solche Wetten anbietet, existiert nicht.143 Ein rationales Subjekt würde schlicht nie eine Kombination von Wetten akzeptieren, die ihm einen sicheren Verlust beschert – unabhängig von den Regeln, denen seine Überzeugungsgrade verpflichtet sind.144 Eine andere und meines Erachtens überzeugende Lesart von Dutch Book Argumenten ist, in den Worten von Hájek, dass sie die Inkohärenz dramatisieren, die jemand zeigt, der unterschiedliche Überzeugungen für die Wahrheit zweier logisch äquivalenter Aussagen hat, je nachdem, wie diese beschrieben werden.145

137 Hacking, Philosophy of Science 1967, 311–325, 315 f.; Kyburg, Journal of Philosophical Logic 1978, 157–180, 176 f. 138 Teller, Synthese 1973, 218–258, 222 ff., wobei er es David Lewis zuschreibt. 139 Für die mathematischen Details sei auf Teller, Synthese 1973, 218–258, 222 ff., verwiesen. 140 Das umgekehrte diachrone Dutch Book Theorem, das besagt, dass ein Subjekt, das irgendeine andere Regel als die Konditionalisierung als Regel für die Verarbeitung neuer Information mitteilt und verwendet, Opfer eines Dutch Books werden kann, wird von Skyrms, Philosophy of Science 1987, 1–20 bewiesen. 141 Maher, Philosophy of Science 1997, 291–305. 142 Ramsey, in: Braithwaite (Hrsg.), The Foundations of Mathematics, 156–198, 170. 143 Christensen, Journal of Philosophy 1996, 450–479, 451. 144 Brilmayer/Kornhauser, University of Chicago Law Review 1978, 116–153, 142; Kyburg, Journal of Philosophical Logic 1978, 157–180, 161; für eine Antwort auf Brilmayer/Kornhauser, University of Chicago Law Review 1978, 116–153 siehe Kaye, University of Chicago Law Review 1979, 34–56, insb. 45. 145 Hájek, in: Anand (Hrsg.), The handbook of rational and social choice, 171–195, 182; siehe auch Christensen, Journal of Philosophy 1996, 450–479, 452; Armendt, Philosophical Topics 1993, 1–20, 4.

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Andere Kritiker greifen die den Dutch Book Argumenten zugrundeliegende Annahme an, dass der Wert der Kombination mehrerer Wetten der Summe der Werte der einzelnen Wetten entspricht, aus der sich das Book zusammensetzt.146 Dies muss nicht der Fall sein, wenn die Wetten sich gegenseitig beeinflussen, z. B. wenn das Eingehen einer Wette auf A den Ausgang der Wette auf B beeinflusst.147 Festzustellen ist, dass eine überwiegende Mehrheit der Wahrscheinlichkeitsphilosophen (synchrone) Dutch Book Argumente der einen oder anderen Form für valide halten.148 Wer sich mit Dutch Book Argumenten partout nicht anfreunden kann, der sei darauf verwiesen, dass sie nicht die einzige Rechtfertigung dafür sind, dass persönliche Überzeugungsgrade, um als rational bezeichnet werden zu können, den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen müssen.149 Viele Wege führen nach Rom.150 Die axiomatische Begründung nach Richard T. Cox zeigt ausgehend von ganz wenigen fundamentalen Annahmen, dass subjektive wie objektive Wahrscheinlichkeiten den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen müssen.151 Der Beweis nach Cox hat den Vorteil, dass er weniger (angreifbare) Annahmen benötigt als der Beweis durch faire Wettquoten. Der Nachteil ist, dass der Beweis alles andere als trivial ist.152 Das zum Verständnis benötigte Wissen an formaler Logik und Mathematik dürfte Juristen in der Regel fehlen. Die entscheidungstheoretische Rechtfertigung, dass subjektive Wahrscheinlichkeiten den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen müssen, geht von den Präferenzen des Subjekts aus, die gewissen Axiomen, namentlich der Vollständigkeit,153 Transitivität154 und Unabhängigkeit155 unterliegen. Wenn das Subjekt bei der Wahl zwischen zwei Spielen (gambles), welche die gleichen positi146

Schick, Journal of Philosophy 1986, 112–119. Siehe Hájek, in: Anand (Hrsg.), The handbook of rational and social choice, 171–195, 180, für ein konkretes Beispiel. 148 Nachweise bei Hájek, Philosophical Perspectives 2005, 139–151, 139. 149 Maher, Betting on theories, 182 ff. 150 Howson/Urbach, in: Wright/Ayton (Hrsg.), Subjective probability, 39–52, 43; Lindley, Understanding uncertainty, 16. 151 Cox, The algebra of probable inference. 152 Howson/Urbach, Scientific reasoning, 87. 153 Vollständigkeit: ein Subjekt kann alle Zustände der Welt paarweise vergleichen und jeweils angeben, welchen es präferiert oder ob es indifferent ist. 154 Transitivität: Zieht ein Subjekt Zustand a dem Zustand b vor und diesen wiederum Zustand c, so muss es auch a c vorziehen. 155 Unabhängigkeit: hat das Subjekt die Wahl zwischen Zustand a, Zustand b und Zustand c, und zieht es a b vor und b c, so muss es bei der Wahl zwischen zwei Spielen, wobei beim ersten Spiel mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit entweder Zustand a oder c eintritt und beim zweiten Spiel mit der gleichen Wahrscheinlichkeit entweder Zustand b oder c, das erste Spiel vorziehen. Die Wahl ist unabhängig von c. Savage, The foundations of statistics, 21, nennt dies das »sure thing principle«, weil man sagen kann, dass die Wahl des ersten Spiels sicher ist, egal, ob c eintritt oder nicht. 147

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ven Konsequenzen haben, eines vorzieht, so misst er den positiven Konsequenzen dieses Spiels offenbar eine größere Wahrscheinlichkeit bei. Es lässt sich zeigen, dass die persönlichen Überzeugungen des Subjekts zu den Gewinnaussichten den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen müssen, ansonsten das Subjekt die Axiome der Präferenzen verletzt.156 Die Herleitung der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie durch Savage aus den Axiomen der Präferenzen gilt als besonders elegant157 und ist insbesondere in den Wirtschaftswissenschaften die herrschende Begründung, weshalb persönliche Überzeugungen den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen müssen.158 f) Logischer Wahrscheinlichkeitsbegriff Logische Interpretationen der Wahrscheinlichkeit betrachten wie subjektive Interpretationen die bedingte Wahrscheinlichkeit als Primitivum.159 Während bei der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie die Wahrscheinlichkeit vom Wissen des Subjekts über die Welt abhängt, hängt bei der logischen Wahrscheinlichkeit die Wahrscheinlichkeit vom Wissen über die Welt an und für sich ab. Es gibt demnach eine einzige vernünftige Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Aussage, da das Wissen an und für sich für jedermann erkennbar ist – dies grenzt die logische Position von der subjektiven ab, gemäß der jedermann einer Aussage eine unterschiedliche Wahrscheinlichkeit zuordnen kann, solange seine Überzeugungen kohärent sind.160 Die logische Position hat den praktischen Nachteil, dass das Wissen so genau beschrieben werden muss, dass es keine Zweifel über seinen Inhalt geben kann. Hauptvertreter des logischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs sind John Maynard Keynes und Rudolf Carnap.161 Nach der logischen Konzeption der Wahrscheinlichkeit gibt es für jede Aussage A und widerspruchsfreie Menge M von Aussagen einen eindeutigen Grad an Bestätigung, den A durch M erfährt, und demzufolge auch einen einzigen vernünftigen Überzeugungsgrad für A, wenn M die Menge der bekannten Information ist.162 Während Keynes Raum für Intuition und persönliches Urteil lässt und einer strikt formalen Behandlung des Themas misstraut,163 entwickelt Carnap eine formale Logik der Wahrscheinlichkeit. Er unterscheidet zwischen zwei Begriffen der Wahrscheinlichkeit: Probability1 verstanden als »Bestätigungs156 Savage, The foundations of statistics, 7 ff.; siehe bereits Ramsey, in: Braithwaite (Hrsg.), The Foundations of Mathematics, 156–198. 157 Kreps, Notes on the theory of choice, 120, nennt sie die »crowning glory of choice theory«. 158 Howson/Urbach, Scientific reasoning, 57. 159 Keynes, A Treatise On Probability, 3 f.; Carnap, Logical foundations of probability, 31. 160 Keynes, A Treatise On Probability, 4; Carnap, Logical foundations of probability, 43. 161 Wie immer ist die Reduktion der intellektuellen Geschichte einer Strömung auf zwei Hauptvertreter eine Vereinfachung, siehe Galavotti, Philosophical introduction to probability, 135 ff. für einen historischen Überblick. 162 Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 28. 163 Galavotti, Philosophical introduction to probability, 147, 151.

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grad« und probability2 verstanden als »relative Häufigkeiten auf lange Sicht«.164 Eine Aussage über die probability2 ist empirisch und basiert auf Beobachtung, während eine Aussage zur probability1 allein aufgrund logischen Schließens gemacht werden kann. Die probability1 , oder logische Wahrscheinlichkeit, ist analytisch.165 Carnap widmet sich dem Verständnis der logischen Wahrscheinlichkeit in der Überzeugung, dass Wahrscheinlichkeit, verstanden als relative Häufigkeit auf lange Sicht, bereits zufriedenstellend erklärt wurde.166 Carnap entwickelt eine induktive Logik als axiomatisches System in einer Prädikatenlogik der ersten Stufe mit Identität,167 die Anwendung findet auf den Bestätigungsgrad von Aussagen. Je komplexer die abzubildende Welt, desto komplexer die zu ihrer Beschreibung notwendige Sprache, da die Sprache in der Lage sein muss, jeden möglichen Zustand der Welt vollständig zu beschreiben. Das Problem ist, das dies selbst bei einfachsten Sachverhalten sehr schnell sehr kompliziert wird, wie das Beispiel in Anhang II anschaulich zeigt. Einen Lebenssachverhalt, der auch nur annähernd die Komplexität eines Lebenssachverhalts erreicht, der in einem typischen Zivilverfahren von einem Gericht beurteilt werden muss, in einer formalen logischen Sprache so zu beschreiben, dass die Struktur des Sachverhalts vollständig erfasst ist, ist schlicht unmöglich. Dies ist auch der Grund, warum die logische Wahrscheinlichkeit in der angewandten Wissenschaft nie Fuß gefasst hat.168 Die logische Wahrscheinlichkeit mag für die Beweiswürdigung geeignet erscheinen, erlaubt sie doch anzugeben, wie sehr eine Aussage durch die vorliegende Evidenz bestätigt wird, wobei dieser Bestätigungsgrad nicht vom Wissen des Subjekts abhängt, sondern sich logisch aus der Beschreibung der Welt ergibt.169 Die Unmöglichkeit der formalen Erfassung komplexer Lebenssachverhalte in einer logischen Sprache verhindert jedoch jede praktische Anwendung der logischen Wahrscheinlichkeitstheorie. Ein weiterer Einwand gegen die logische Wahrscheinlichkeit ist theoretischer Natur: Die Annahme, dass alle Zustandsbeschreibungen einer Welt gleich wahrscheinlich sind (die für die logische Wahrscheinlichkeit gemacht werden muss,

164

Carnap, Logical foundations of probability, 25 (Erstauflage 1950). Galavotti, Philosophical introduction to probability, 166. 166 Galavotti, Philosophical introduction to probability, 167. 167 In einer Prädikatenlogik erster Stufe binden die Quantoren die Leerstellen der Prädikate; man kann damit Aussagen der Art »Alle ___ sind rot.« treffen. »Alle« ist der Quantor, der sich auf die Leerstelle des Prädikats »___ sind rot.« bezieht. Hingegen kann man keine Existenzaussagen über Prädikate der Art »Für jedes Prädikat gilt: es trifft auf ___ zu.« treffen. Wird die Prädikatenlogik erster Stufe um Mittel zur Behandlung der Identität (nicht unterscheidbarer Aussagen) ergänzt, spricht man von einer Prädikatenlogik erster Stufe mit Identität. Allgemein siehe Ertel, Grundkurs künstliche Intelligenz, 37 ff. 168 Galavotti, Philosophical introduction to probability, 178; Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 184. 169 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 55; Kaye, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 1–20, 4; Hoyer, ZStW 1993, 523–556, 546 f. 165

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siehe Anhang II), beruht letztlich auf dem Symmetrieprinzip.170 Häufig lässt sich aber ein Problem auf unterschiedliche Weise beschreiben, ohne dass es einen zwingenden Grund gäbe, der einen oder anderen Beschreibung den Vorzug zu geben (Bertrand’sche Paradoxe, vorne, S. 100). Abhängig von der Beschreibung des Problems resultieren unterschiedliche a-priori-Wahrscheinlichkeiten,171 folglich kann es keine einzige richtige logische Wahrscheinlichkeit für eine Aussage geben. 3. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff in der juristischen Literatur zur Beweiswürdigung In der juristischen Literatur zur Beweiswürdigung wird der Wahrscheinlichkeitsbegriff meist unreflektiert verwendet.172 Bourmistrov-Jüttner stellt fest, dass »die [sc. juristischen] Autoren meistens von vagen und sogar naiven Vorstellungen vom Wahrscheinlichkeitsbegriff ausgehen, ihn häufig missdeuten oder ihn für eine Trivialität halten.«173 Ohne Klarheit zur Struktur und Bedeutung des Wahrscheinlichkeitsbegriffes ist es aber unmöglich, die Relevanz der Wahrscheinlichkeitstheorie für die Beweiswürdigung zu beurteilen.174 Wo der Wahrscheinlichkeitsbegriff unreflektiert verwendet wird, erfüllt er zwei grundsätzlich verschiedene Funktionen: Die einen Autoren bezeichnen mit »wahrscheinlich« einen Grad der Überzeugung, der unterhalb von Sicherheit liegt.175 Andere Autoren verwenden »wahrscheinlich« als eine Beschreibung der Wirklichkeit, in Abgrenzung zur subjektiven Überzeugung des Richters; d. h. es wird betont, die subjektive Überzeugung des Richters genüge nicht, sondern es bedürfe auch einer »objektiven Wahrscheinlichkeit«, dass sich der Sachverhalt wie behauptet zugetragen habe, damit der Richter einen Sachverhalt als erstellt erachten dürfe.176 Kegels 1967 erschienener Aufsatz »Individualanscheinsbeweis und die Verteilung der Beweislast nach überwiegender Wahrscheinlichkeit« hatte einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die Beweismaßdiskussion in den 1970-er und 1980-er Jahren. Unter dem Einfluss der schwedischen Beweislehre plädiert Kegel dafür, generell das Beweismaß im Zivilprozess auf »überwiegende Wahrschein170

Rosenthal, Wahrscheinlichkeiten als Tendenzen, 28. Siehe Howson, British Journal for the Philosophy of Science 1975, 143–149, 145 f. für ein (technisches) Beispiel. 172 Fill, De calculatione iustitiae iudicatorum, 12. 173 Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, XII. 174 Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 5. 175 Z. B. Schilken, Zivilprozessrecht, Rz. 478 (Gleichsetzung von »geringerem Grad der Überzeugung« mit »einfacher Wahrscheinlichkeit«); BSK-ZPO-Sprecher, Art. 261 N 52; aus der Rechtsprechung BGE 120 II 393 E. 4c; 128 III 271 E. 2b/aa. 176 Typisch z. B. Heescher, Freie Überzeugung, 65, oder Musielak, Grundlagen der Beweislast, 113, die die Wahrscheinlichkeit der »inneren Überzeugung« oder dem »Evidenzgefühl« gegenüberstellen. 171

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lichkeit« zu senken (siehe hinten, S. 456 ff.).177 Den von ihm verwendeten Wahrscheinlichkeitsbegriff expliziert Kegel allerdings wie alle deutschen juristischen Autoren vor ihm nicht. Einerseits finden sich Formulierungen, die auf einen subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff hinweisen: so, wenn Kegel schreibt, »typisch« sei nicht gleich »häufig«, sondern bedeute »wahrscheinlich«,178 was darauf hindeutet, dass er annimmt, dass es eine Wahrscheinlichkeit des Einzelfalls gibt, die nur eine epistemische Wahrscheinlichkeit sein kann. Formulierungen wie »wenn wir schon nicht sicher oder fast sicher sein können, geben wir immer noch besser dem recht, der wahrscheinlich recht hat, als dem, der wahrscheinlich unrecht hat«,179 deuten ebenfalls auf einen epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriff hin. Andererseits verweist Kegel darauf, dass die Statistik lehre, wie man die Wahrscheinlichkeit bestimme,180 was auf einen frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff hindeutet.181 Während Kegels Wahrscheinlichkeitsverständnis unklar bleibt, äußert sich Weitnauer (1968) ersichtlich als erster in der deutschsprachigen juristischen Literatur explizit zur Bedeutung des Begriffs Wahrscheinlichkeit. Er lehnt den subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff ab und plädiert für einen objektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff im Sinne der Häufigkeitstheorie.182 Subjektive Wahrscheinlichkeiten haben für Weitnauer nur dann einen »rationalen Sinn«, wenn sie mit der relativen Häufigkeit auf lange Sicht korrespondieren.183 Weitnauer beschäftigt sich im Kern damit, unter welchen Umständen relative Häufigkeiten als Grundlage für die richterliche Überzeugung dienen können. Entsprechend beschäftigt er sich vornehmend mit dem Problem der richtigen Referenzklasse (siehe dazu hinten, S. 363 ff.).184 Das Problem, den frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff auf den Einzelfall anzuwenden, sieht Weitnauer durchaus. »Sicher ist, dass man nicht behaupten kann, dass in dem angeführten Fall der Mann mit 99,9% Wahrscheinlichkeit nicht der Vater sei; er ist entweder der Vater oder er ist es nicht.«185 Allerdings wechselt er dann plötzlich zu einem subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff, wenn er schreibt, »[wir] halten die erste Hypothese für

177 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 343. 178 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 333. 179 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 344. 180 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 338. 181 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 102, ist der Auffassung, dass Kegel einen objektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff vertritt. 182 Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, 3–20, 4. 183 Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, 3–20, 4. 184 Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, 3–20, 10 ff., insb. 14. 185 Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, 3–20, 20.

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richtig, weil für sie eine Plausibilität von 99,9% spricht«.186 Einen Plausibilitätsgrad kann einer Hypothese aber nur die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie zuordnen;187 die Hypothese (der Mann ist nicht der Vater) ist entweder wahr oder falsch, wie Weitnauer selbst zur recht bemerkt. Maassen (1975) plädiert ebenfalls für den frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff;188 geht aber ebenso selbstverständlich davon aus, dass der Richter im Einzelfall sich eine Überzeugung bilden kann, die der relativen Häufigkeit des Einzelfalls in einer gedachten Menge ähnlicher historischer Fälle entspricht.189 Für Maassen ist es eine unausgesprochene Selbstverständlichkeit, dass die relative Häufigkeit, mit der ein Ereignis in vergleichbaren Fällen in der Vergangenheit auftrat (selbst wenn diese ähnlichen Fälle nur der Imagination des Richters entspringen), die Überzeugung des Richters bestimmen muss, dass das Ereignis auch im zu beurteilenden Einzelfall vorliegt.190 Maassen geht es im Kern darum, das Maß der Wahrscheinlichkeit, das vorhanden sein muss, ehe ein Richter einen Sachverhalt als bewiesen erachten darf, quantitativ zu definieren.191 Wie groß dieses Quantum ist, begründet er entscheidungstheoretisch unter Berücksichtigung der Kosten eines Fehlurteils.192 Maassens entscheidungstheoretisches Modell beruht auf Kaplans Modell;193 jenes ist eine Anwendung der subjective expected utility Theorie (SEU) nach Savage.194 Maassens entscheidungstheoretischer Ansatz, das Beweismaß zu quantifizieren, kann ohne subjektive Wahrscheinlichkeit gar nicht funktionieren; die von ihm verwendete Entscheidungstheorie setzt den subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff voraus. Musielak (1975) vertritt einen objektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff im Sinne der Häufigkeitstheorie, denn nur dieser erlaube es, die Wahrscheinlichkeit in objektiv bestimmbare Grade einzuteilen.195 In einer Fußnote auf der gleichen Seite meint er aber unter Hinweis auf Savage,196 auch die Subjektivisten verstün186

Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, 3–20, 20. Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 55, versteht die Aussage von Weitnauer als Bestätigungsgrad im Sinne der logischen Wahrscheinlichkeitstheorie. Klar ist, dass Weitnauer mit dieser Aussage den Boden der Häufigkeitstheorie verlassen hat. 188 Maassen, Beweismaßprobleme, 6. 189 Maassen, Beweismaßprobleme, 6 f. 190 Maassen, Beweismaßprobleme, 6 f. 191 Maassen, Beweismaßprobleme, 25 f. 192 Maassen, Beweismaßprobleme, 5 ff.; zur Kritik an Maassens entscheidungstheoretischem Modell siehe Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 258 f. 193 Kaplan, Stanford Law Review 1968, 1065–1092; Maassen zitiert diese Inspiration allerdings nicht. Die Arbeit von Kaplan wird aber im Literaturverzeichnis aufgeführt und Maassen hat in den USA ein Master-Studium absolviert, so dass davon ausgegangen werden kann, dass er Kaplans Arbeit kannte. Auch Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 224, geht davon aus, dass Maassen das Modell Kaplans anwendet. 194 Kaplan, Stanford Law Review 1968, 1065–1092, 1065 f. 195 Musielak, Grundlagen der Beweislast, 112. 196 Savage, The foundations of statistics, 67 f. An der zitierten Stelle weist Savage allerdings nur darauf hin, dass bei aus Zufallsexperimenten gewonnen Daten die meisten Menschen von 187

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den »die Wahrscheinlichkeit keinesfalls als eine rein persönliche Aussage ohne objektive Grundlage.«197 Musielak erhofft sich vom Wahrscheinlichkeitsbegriff eine Objektivierung der Beweiswürdigung;198 für ihn kann »die Beweiswürdigung – rein objektiv gesehen – immer nur ein richtiges Resultat haben.«199 Diese Arbeit kann der Wahrscheinlichkeitsbegriff aber gerade nicht leisten; Wahrscheinlichkeitstheorie kann die Rationalität oder Logik der Beweiswürdigung gewährleisten, aber nicht ihre Objektivität.200 Greger (1978) lehnt den subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff als rein psychologisches Phänomen ab und den Wahrscheinlichkeitsbegriff der Häufigkeitstheorie, weil er keine Aussage über den Einzelfall zulasse.201 Für Greger kommt daher nur der »logische Wahrscheinlichkeitsbegriff« in Frage; dieser erlaube unter Berücksichtigung des Erfahrungswissens einen objektiven Grad der Bestätigung einer Hypothese bezüglich eines Einzelereignisses festzustellen, der von der »Individualität eines Beurteilers völlig unabhängig ist«202 . Greger übersieht aber, dass dies nur dann möglich ist, wenn das gesamte Wissen in einer formalen logischen Sprache beschrieben werden kann, und dies ist gerade bei der juristischen Beweiswürdigung unmöglich.203 Ebenfalls unzutreffend ist es, subjektive Wahrscheinlichkeiten als ein rein psychologisches Phänomen zu deuten – dass Überzeugungsgrade den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen müssen, ist ein normativer Anspruch. Die Theorie der fairen Wetten, oder Dutch Books, dient dazu, diesen Anspruch zu begründen. Evers (1979) lehnt den frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff ab, weil er keine Aussagen über Einzelfälle zulasse.204 Er stellt den subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff ins Zentrum, den er aber eigentümlich definiert: Die subjektive Wahrscheinlichkeit umschreibe »den Grad, mit dem eine bestimmte Person an das Eintreffen eines bestimmten Ereignisses glaubt, wobei das Maß der Wahrscheinlichkeit letztlich von der Verlässlichkeit und Allgemeingültigkeit von Erfahrungsdaten abhängt.«205 Abgesehen davon, dass man im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung besser von der »Wahrheit einer Aussage« als vom »Eintreffen eines Ereignisses« spricht, ist der erste Teil der Definition richtig. Aber der Zusatz, dass sich das Maß der Wahrscheinlichkeit aus der Allgemeingültigkeit der gleichen Wahrscheinlichkeit ausgehen und unterschiedliche anfängliche Überzeugungen durch einen »sufficiently large body of evidence« angenähert werden (Konvergenz; siehe hinten, S. 356 ff.). 197 Musielak, Grundlagen der Beweislast, 112 FN 337. 198 Wie Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 67, bemerkt, ist dies eine verbreitete und verständliche Tendenz juristischer Autoren, die aber leider in die Irre führt. 199 Musielak, Grundlagen der Beweislast, 118. 200 Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 68. 201 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 39 f., 49, 53. 202 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 55 f. 203 Kritisch auch Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 65. 204 Evers, Begriff und Bedeutung der Wahrscheinlichkeit, 51, 66. 205 Evers, Begriff und Bedeutung der Wahrscheinlichkeit, 58.

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von Erfahrungsdaten ergebe, trifft für den subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff gerade nicht zu. Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie sagt nichts darüber aus, welche Überzeugungen ein Subjekt halten soll, sie besagt nur, dass das gleichzeitige Halten gewisser Überzeugungsgrade irrational ist, wenn es den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie widerspricht. Evers beruft sich für seine Definition auf Stegmüller,206 dieser äußert sich an der zitierten Stelle aber nur zur Konvergenz subjektiver a-priori-Wahrscheinlichkeiten in Anbetracht der Beobachtung gleicher relativer Häufigkeiten durch mehrere Subjekte.207 Konvergenz-Theoreme können das Problem subjektiver a-priori-Wahrscheinlichkeiten für die juristische Beweiswürdigung nicht lösen (dazu hinten, S. 356 ff.). Evers benutzt seine Definition der subjektiven Wahrscheinlichkeit als Sprungbrett, um zu untersuchen, welche Beweismittel geeignet seien, einen »objektivierbaren Grad von Wahrscheinlichkeit« zu erzeugen.208 Beim Indizienbeweis scheitert dieser Versuch: Weil es beim Indizienbeweis »an der Verlässlichkeit und Allgemeingültigkeit einer bestimmten Erfahrung« fehle, könne von der »Messbarkeit des durch den Indizienbeweis erreichten Grades von Wahrscheinlichkeit« nicht gesprochen werden.209 Auch Evers erhofft sich aus dem Wahrscheinlichkeitsbegriff eine Objektivierung der Beweiswürdigung und verkennt, dass die (subjektive) Wahrscheinlichkeitstheorie gerade als Logik des induktiven Schließens beim Indizienbeweis ihren wertvollsten Beitrag zur Beweiswürdigung leistet. Gottwald (1979) lehnt den subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff ab, weil »das Grundproblem der Beweiswürdigung ist, wie man zu sinnvollen empirischen Annahmen gelangt«210 , und der subjektive Wahrscheinlichkeitsbegriff darüber gerade keine Aussage machen könne. Den objektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff lehnt er ab, weil man den im Prozess zu beurteilenden Einzelfall »nicht einfach für statistische Zwecke hypothetisch vervielfältigen kann.«211 Letztlich plädiert er dafür, dass der Richter sein Urteil »pragmatisch-rational (intersubjektiv nachvollziehbar)«212 bilden müsse, und einen »induktiven Grad der Bestätigung einer konkreten Tatsachenbehauptung« angibt, der freilich unter keinen Umständen numerisch bestimmt werden soll, weil dadurch die Gefahr bestehe, diesen nur qualitativ zu bestimmenden Bestätigungsgrad mit der (objektiven) Häufigkeitswahrscheinlichkeit gleichzusetzen.213 Welchen Wahrscheinlichkeitsbegriff sich Gottwald zu Eigen macht, bleibt letztlich nebulös; denn »Bestätigungsgrad« ist ein Terminus der logischen Wahrscheinlichkeitstheorie, die aber – wie Gottwald 206 207 208 209 210 211 212 213

Evers, Begriff und Bedeutung der Wahrscheinlichkeit, 56. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie, 231. Evers, Begriff und Bedeutung der Wahrscheinlichkeit, 89. Evers, Begriff und Bedeutung der Wahrscheinlichkeit, 148. Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 193. Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 193, siehe auch 195. Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 200. Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 204.

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selbst zu Recht bemerkt – »nicht darauf angelegt [ist], pragmatische Probleme lösen zu helfen.«214 Motsch (1983) befasst sich vornehmlich mit dem Grad der Wahrscheinlichkeit, der gegeben sein muss, ehe eine zivilrechtliche Klage (konkret die Vaterschaftsklage) gutgeheißen werden kann. Motsch vertritt den Wahrscheinlichkeitsbegriff der Häufigkeitstheorie.215 Auf die subjektive Theorie geht er bewusst nicht näher ein.216 Motsch geht aber davon aus, dass sich die frequentistische Wahrscheinlichkeitstheorie dennoch für vom Gericht zu entscheidende Einzelfälle fruchtbar machen lässt, indem der Einzelfall einem Kollektiv gleichartiger Fälle zugeordnet wird und die relative Häufigkeit des Einzelfalls in diesem (gedachten) Kollektiv als Wahrscheinlichkeit des Einzelfalls betrachtet wird.217 Entsprechend plädiert Motsch für die Anwendung von Bayes’ Regel als »analytischer Denkmethode«218 und der Berücksichtigung der Anfangswahrscheinlichkeit.219 Motsch verwendet für seine Rechtfertigung des Beweismaßes der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« dasselbe entscheidungstheoretische Modell wie Maassen,220 das wie erwähnt subjektive Wahrscheinlichkeiten voraussetzt, was Motsch allerdings wie Maassen nicht zu bemerken scheint. Huber (1983) versucht, einen »gemeinsamen Kern« objektiver, subjektiver und logischer Wahrscheinlichkeit herauszuarbeiten. Dieser bestehe darin, dass »aufgrund eines objektiv gesicherten Basismaterials, das die Feststellung über die Häufigkeit einer bestimmten Erscheinung innerhalb eines Kollektivs gestattet, [. . . ] ein Schluss auf die Richtigkeit einer Hypothese über die Häufigkeit dieser Erscheinung im konkret zu beurteilenden Fall gezogen [wird.]«221 Das Problem ist, dass es eine »Häufigkeit dieser Erscheinung im konkret zu beurteilenden Fall« nicht geben kann. Der konkret zu beurteilende Fall ist ein Einzelfall, und es gibt keine Häufigkeit eines Einzelfalls. Die Wahrscheinlichkeit des Einzelfalls kann nur eine subjektive sein. Huber geht jedoch von einer objektiven, unabhängig vom Beobachter existierenden, Wahrscheinlichkeit aus, denn er will die Wahrscheinlichkeit zum Bezugspunkt der Überzeugung machen.222 Objektive und subjektive Wahrscheinlichkeit sind etwas grundsätzlich Verschiedenes, es ist nicht möglich, sie auf einen »gemeinsamen Kern« zu reduzieren. Das heißt nicht, dass nicht sowohl der frequentistische wie der subjektive Wahrscheinlichkeits214

Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 192. Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 140. 216 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 143. 217 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 144. 218 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 161. 219 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 238 f. 220 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 85, worauf Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 224, hinweist. 221 Huber, Beweismaß, 113, unter Hinweis auf Musielak, in: Lüderitz/Schröder (Hrsg.), Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, 451–471, 458. 222 Huber, Beweismaß, 116 f. 215

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begriff ihre Daseinsberechtigung und ihr Anwendungsgebiet haben, aber eben verschiedene, abzugrenzende Anwendungsgebiete.223 Nell (1983) vertritt als erster in der deutschsprachigen juristischen Literatur einen konsequent subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff, den er in Abgrenzung zur epistemischen Alltagswahrscheinlichkeit, die nicht den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie unterliegt, »normativ-subjektiv« nennt.224 Er weist darauf hin, dass Wahrscheinlichkeit als Maß, nicht als Gegenstand, der Überzeugung verstanden werden sollte.225 »Gewissheit« ist nach dieser Auffassung ein »Grenzfall subjektiver Wahrscheinlichkeit«226 , eine Wahrscheinlichkeit von Eins, und nichts von der Wahrscheinlichkeit qualitativ Verschiedenes.227 Wie Nell völlig zu Recht bemerkt, ist mit einem Bekenntnis zum Verständnis von Überzeugung als subjektiver Wahrscheinlichkeit noch nichts darüber ausgesagt, welches Maß an Überzeugung verlangt werden soll, ehe ein Richter eine bestrittene Tatsachenbehauptung seinem Urteil zugrunde legen darf.228 Bourmistrov-Jüttner (1987), in einer an einer philosophischen Fakultät eingereichten Dissertation, vertritt ebenfalls konsequent den subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff. Für sie drücken die »präzisierten juristischen Wahrscheinlichkeitsurteile nichts anderes aus als die rationale Überzeugung des Richters vom (oder den rationalen Glauben des Richters an das) Bestehen bestimmter Sachverhalte aufgrund der zur Verfügung stehenden Informationen und Erfahrungen.«229 Der Wert der Wahrscheinlichkeitstheorie wird darin gesehen, dass sie Schlussregeln bietet, die eine »rationale und kontrollierbare Informationsverarbeitung« durch »konsistente Verknüpfung subjektiver Annahmen mit anderen Annahmen« ermöglichen.230 Diese Auffassung, die im Wesentlichen der hier vertretenen entspricht, wird gegen zahlreiche theoretische Einwände verteidigt.231 Weber (1997) lehnt den frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff ab, weil er keine Aussage über den Einzelfall zulässt und weist darauf hin, dass der häufig erfolgende Schritt von der relativen Häufigkeit im Kollektiv auf die Wahrscheinlichkeit im Einzelfall methodisch unzulässig sei.232 Er bemerkt, dass Vertreter der Häufigkeitstheorie bei der Besprechung realer Fälle oft in Kategorien übergehen, 223 Carnap, Logical foundations of probability, 25; Lewis, in: Jeffrey (Hrsg.), Studies in inductive logic and probability. Vol. 2, 263–293, 263; Hitchcock, in: Smelser/Baltes (Hrsg.), International encyclopedia of the social & behavioral sciences, 12’089–12’095, 12’090; Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 141. 224 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 47. 225 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 105 f. 226 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 93. 227 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 95. 228 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 95. 229 Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 61. 230 Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 232. 231 Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 128 ff. 232 Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 34 f.

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die in den Bereich subjektiver Wahrscheinlichkeiten fallen.233 Für die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie hat er viel Sympathie, die Quantifizierung subjektiver Einschätzungen erlaube die Berechnung von Ergebnissen, welche »immerhin den Vorzug [haben], in sich methodisch stimmig und folgerichtig zustande gekommen zu sein.«234 Weber sieht aber wie Gottwald die Gefahr, dass die so exakt berechneten Ergebnisse für objektive Wahrscheinlichkeiten gehalten würden, weshalb er die Anwendung der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie in dem Sinne, dass Überzeugungsgrade quantifiziert und mathematischer Berechnung zugänglich gemacht werden, ablehnt, weil sie zu Missverständnissen führen könne.235 Gräns (2002) ist eine Vertreterin der schwedischen Beweiswertmethode. Unter Beweiswerten versteht sie »Ausdrücke über einen rational begründeten Überzeugungs- bzw. Glaubensgrad der Subjekte [. . . ], die teilweise auch auf der Anwendung der Modelle der Wahrscheinlichkeitsrechnung basieren müssen«.236 Das deutet auf einen subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff hin, der aber eine wichtige Einschränkung erfährt, weil Gräns – wie Vertreter der schwedischen Beweiswertmethode generell – das Axiom der Additivität ablehnt.237 Die Beweiswertmethode weist zweifellos eine Nähe zur subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie auf, lässt sich aber nicht ohne Zwang in diese integrieren.238 Sie steht in einem gewissen Sinne außerhalb der traditionellen Wahrscheinlichkeitstheorie und wird daher besser gesondert behandelt (hinten, S. 155 ff.). Brinkmann (2005) verwirft den frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff mit dem bekannten Argument, dass er keine Aussage über den in einem Gerichtsverfahren regelmäßig zu beurteilenden Einzelfall erlaube.239 Den subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff lehnt er mit dem Argument ab, dass Überzeugung keine Grade haben könne.240 Brinkmann geht von der grundsätzlichen Überlegung aus, dass es möglich sein muss, zwischen der richterlichen Überzeugung und ihrer Rechtfertigung zu unterscheiden.241 Fruchtbar sei daher nur der induktive Wahrscheinlichkeitsbegriff, verstanden als Grad der Rechtfertigung, der »das (subjektive) Gewicht der Rechtfertigungsgründe für die (induktiv gewonnene) Überzeugung«242 angibt. Brinkmann übernimmt hier die »Baconian probabilities« von Cohen, ohne sich allerdings mit deren Eigenschaften – sie gehorchen 233 Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 37, unter Hinweis auf Musielak, Grundlagen der Beweislast, 112 f.; Evers, Begriff und Bedeutung der Wahrscheinlichkeit, 34, 106 (»völlig unklar«); Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 109 f., 199, 206 (»eigentümlich«); Prütting, Beweislast, 91. 234 Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 37. 235 Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 37 f., 153. 236 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 159 f. 237 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 144. 238 Shafer, International Journal of Intelligent Systems 1986, 155–179, 168 ff., insb. 172. 239 Brinkmann, Beweismaß, 24. 240 Brinkmann, Beweismaß, 63. 241 Brinkmann, Beweismaß, 64 f. 242 Brinkmann, Beweismaß, 24.

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nicht den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie und sind daher nach überwiegender Ansicht keine »Wahrscheinlichkeiten«243 – auseinanderzusetzen. Der große Vorzug des induktiven Wahrscheinlichkeitsbegriffs liege darin, »dass er ermöglicht, einerseits das Element der richterlichen Überzeugung als Fixpunkt aufrecht zu erhalten [. . . ], und zugleich die kognitive, ontologische und normative Verschiedenheit der zu beurteilenden Behauptungen nicht zu missachten, indem das Maß der erforderlichen Richtigkeitsgewähr nicht abstrakt festgelegt wird, sondern im Einzelfall vom Richter gefunden werden muss.«244 Richtigkeitsgewähr ist der »mindestens erforderliche Gesamtbeweiswert.«245 Wie der Gesamtbeweiswert bestimmt werden soll, lässt Brinkmann allerdings offen, da er mathematische Konzeptionen der Beweiswürdigung ablehnt.246 Den so gewonnenen Begriff der induktiven Wahrscheinlichkeit verwendet er, um zu begründen, dass sowohl in Deutschland wie in den Ländern des Common Law Rechtskreises der Beweis erbracht sei, wenn der Tatsachenfeststeller davon überzeugt ist – was eine dichotome Entscheidung ist –, dass eine Tatsachenbehauptung wahr ist, und »diese Überzeugung in angemessener Weise durch die vorgelegten Beweise gestützt wird.«247 Das Beweismaß in Zivilsachen in den Ländern des Common Law und des zivilistischen Rechtskreises unterscheide sich daher nicht (tut es aber doch, siehe hinten, S. 425 ff.).248 Weshalb sich Brinkmann, der mathematische Konzeptionen der Beweiswürdigung ablehnt, zur Begründung seiner These auf das hochgradig umstrittene Konzept der »Baconian probablities« von Cohen abstützt, das sich auch in der wissenschaftlichen Diskussion unter Juristen des Common Law nicht durchgesetzt hat,249 bleibt letztlich unklar. Geipel (2008) beginnt seine Arbeit mit einer fulminanten und polemisch vorgetragenen Kritik an der durch deutsche Gerichte (v. a. in Strafsachen) praktizierten Beweiswürdigung, die für ihn der Überprüfung durch die Berufungsgerichte entzogen und nicht prognostizierbar ist.250 Die »Entartung und Willkür der freien Beweiswürdigung« werde »früher oder später wieder zu einer legalen Beweistheorie führen.«251 Die Lösung liegt für Geipel darin, eine »subjektive Überzeugung vom Vorliegen einer Wahrscheinlichkeit (Wahrscheinlichkeitsüberzeugungstheorie)« zu fordern.252 Geipel lehnt den frequentistischen Wahrschein243 Cohen, The probable and the provable, 219 ff.; Schum, Michigan Law Review 1979, 446– 483, 455 ff. 244 Brinkmann, Beweismaß, 63. 245 Brinkmann, Beweismaß, 63. 246 Brinkmann, Beweismaß, 63 f. 247 Brinkmann, Beweismaß, 65 f. 248 Brinkmann, Beweismaß, 66 f. 249 Schum, Michigan Law Review 1979, 446–483; Williams, Criminal Law Review 1979, 297– 308; Kaye, Arizona State Law Journal 1981, 635–645; Schoeman, Philosophy of Science 1987, 76–91; Kaye, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 129–145. 250 Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 48 f. 251 Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 61. 252 Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 124.

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lichkeitsbegriff ab, weil er keine Aussage über den Einzelfall erlaube und den »subjektiv-mathematischen«, weil es auf die bloße persönliche Überzeugung des Richters nicht ankommen könne und die Begründung mittels hypothetischer Wetten unbefriedigend sei.253 Den logischen Wahrscheinlichkeitsbegriff lehnt Geipel ab, weil dieser ausschließlich ein relativer, bedingter sei, da die logische Wahrscheinlichkeit je nach vorliegenden Informationen eine andere sein könne.254 Geipel propagiert einen »kombinierten Wahrscheinlichkeitsbegriff«, nach dem ein Sachverhalt wahrscheinlich ist, »wenn die relevanten Fachkreise per den Denkgesetzen entsprechenden Schlussfolgerungen und Erfahrungssätzen aus den vorliegenden Tatsachen davon ausgehen, dass dieser Sachverhalt in 100 gedachten Fällen, mit allen typischen Besonderheiten dieses Falles, mindestens 51 mal mit der Wirklichkeit übereinstimmt«.255 Dieser Wert kann sich ändern, wenn sich die bekannten Tatsachen ändern. Es ist offensichtlich, dass bei der Definition von Geipel vieles durcheinandergeworfen wird. So wird der Grad der Wahrscheinlichkeit (»51 von 100 Fällen«) mit dem Begriff vermischt und epistemische Wahrscheinlichkeit (die sich ändert, wenn sich die Informationslage ändert) mit frequentistischer Wahrscheinlichkeit. Andererseits plädiert Geipel unter Berufung auf Gräns dafür, dass die Logik der Wahrscheinlichkeitsrechnung die Beweiswürdigung bestimmen soll256 und verlangt eine numerisch bestimmte Angabe der Anfangswahrscheinlichkeit der Hypothese und der Likelihood-Quotienten aller berücksichtigten Indizien, wobei die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit durch Bayes’ Regel errechnet werden soll.257 Wie dies ohne subjektive Wahrscheinlichkeiten funktionieren soll, bleibt unklar. In der schweizerischen juristischen Literatur sind explizite Stellungnahmen zum maßgeblichen Wahrscheinlichkeitsbegriff äußerst rar; es überwiegt eine unreflektierte Verwendung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs. Einzig Berger-Steiner und in neuster Zeit Vuille haben sich explizit zum Wahrscheinlichkeitsbegriff geäußert. Berger-Steiner (2008) lehnt die in der Schweiz überwiegend vertretene Auffassung ab, nach der sich die verschiedenen Beweismaße (Regelbeweismaß, überwiegende Wahrscheinlichkeit und Glaubhaftmachung) durch den verlangten Überzeugungsgrad abgrenzen lassen,258 weil es nach ihrer Auffassung nur eine 253

Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 124 f. Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 125. 255 Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 126. 256 Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 145. 257 Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 218. 258 BGE 130 III 113 E. 3.4; Leuenberger, in: Hangartner (Hrsg.), Das st. gallische Zivilprozessgesetz, 105–152, 149; Staehelin/Sutter-Somm/Staehelin, Zivilprozessrecht (beide Basel), § 14 Rz. 91; Hohl, Procédure civile – Introduction, Rz. 1057 (»degree de certitude«); Staehelin/Staehelin/Grolimund, Zivilprozessrecht, § 18 Rz. 30; Kaufmann, Beweisführung und Beweiswürdigung, 185 f.; Walter, Haftpflichtprozess 2009, 47–68, 52 f.; Leuenberger/UfferTobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Rz. 9.159; SHK-ZPO-Passadelis, Art. 157 N 7; 254

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Überzeugung gibt, die man nicht quantifizieren oder in Grade einteilen kann: überzeugt ist man, oder man ist es nicht.259 Empirisch ist dies sicher unzutreffend – meine Überzeugung, dass es am 1. Juni 1680 in Zürich geschneit hat ist eine andere als die, dass es am 1. Dezember 1680 in Zürich geschneit hat. Dennoch könnte der Gesetzgeber »Überzeugung« natürlich in dem von BergerSteiner postulierten Sinn verwenden, aber dieses Auslegungsergebnis wäre näher zu begründen. Weil Überzeugung keine Grade habe, müsse die Abgrenzung über den Bezugspunkt der Überzeugung erfolgen, die »ein abstraktes Maß – verstanden als die im Prozess erreichbare Annäherung an die Wahrheit« sei.260 Ziel des Beweisverfahrens sei die Wahrheitsfindung,261 Wahrheit sei eine absolute Größe ohne Abstufungen, jedoch bleibe die Erkenntnis der Wahrheit dem Menschen oft verschlossen.262 Eine Ausrichtung »der Beweisführung an einer wie auch immer gearteten Wahrscheinlichkeit kommt aber nicht in Frage.«263 Berger-Steiner lehnt denn auch sowohl die frequentistische wie die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie als Explikation des juristischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs ab.264 Das »abstrakte Maß der Annäherung an die Wahrheit« lasse sich aber zur Veranschaulichung als eine Erlebniswahrscheinlichkeit in Prozenten ausdrücken; so verlangt Berger-Steiner für das Regelbeweismaß eine »Annäherung an die Wahrheit [. . . ] mit einem numerischen Wahrscheinlichkeitswert von 90%.«265 Die Erlebniswahrscheinlichkeit »beruht auf Lebenserfahrung und beschreibt jene Wahrscheinlichkeit, die im prozessualen Alltag regelmäßig zum Tragen kommt. Die damit ausgedrückte Erwartung lässt sich weder objektiv ermitteln noch exakt belegen.«266 Der Ausdruck »Erwartung« und auch die Aussage, der Begriff der Erlebniswahrscheinlichkeit decke sich mit dem Begriff des rationalen Glaubens des Richters an das Bestehen bestimmter Sachverhalte,267 deuten darauf hin, dass es sich bei dem Begriff der Erlebniswahrscheinlichkeit um einen epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriff handelt, der sich aber nicht in numerischen Werten ausdrücken lässt268 – ein Wahrscheinlichkeitsbegriff, der dem entspricht, was hier als »Alltagswahrscheinlichkeit« bezeichnet wird. Das KuKo-ZPO-Schmid, Vor Art. 150–193 N 12; Berti, Einführung in die ZPO, 128; Sutter-Somm, Zivilprozessrecht, Rz. 897; a. M. Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.74 ff. 259 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.76, unter Hinweis auf Koussoulis, in: Gottwald/Prütting (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Schwab, 277–288, 283. 260 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.75. 261 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.101. 262 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.104. 263 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.108. 264 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.56 und 6.114. Bei der subjektiven Theorie scheint sich Berger-Steiner v. a. an der Zuordnung von numerischen Werten zu Überzeugungsgraden zu stören; a. a. O., Rz. 6.112. 265 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.81. 266 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.66, unter Hinweis auf Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 186 ff. 267 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.111. 268 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.112.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Problem ist, dass Berger-Steiner ausdrücklich ablehnt, dass es verschiedene Grade der Überzeugung gebe, und es einen epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriff ohne unterschiedliche Überzeugungs-, Glaubens- oder Gewissheitsgrade nicht geben kann. Auch scheint es widersprüchlich, zu betonen, Überzeugungsgrade ließen sich nicht in Prozenten ausdrücken, um dann den »Grad der Annäherung an die Wahrheit« in Prozenten auszudrücken. Der »Grad der Annäherung an die Wahrheit« kann nichts anderes sein als die subjektive Überzeugung des Urteilenden, dass die Tatsachenbehauptungen wahr sind. Bei genauer Betrachtung vertritt Berger-Steiner demnach trotz explizit anderer Stellungnahme einen epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriff. Vuille (2011), in einer Dissertation zur Würdigung von DNA-Gutachten durch Strafrichter, bemerkt, auf die Kontroverse um den richtigen Wahrscheinlichkeitsbegriff müsse nicht vertieft eingegangen werden. Im Strafprozess, wo es nicht um häufig wiederholte gleichartige Vorgänge gehe, sondern um die Beurteilung eines Einzelfalls, beschreibe der Begriff Wahrscheinlichkeit offensichtlich den Glauben des Urteilenden daran, dass die rechtlich relevante Tatsache existiere.269 Sie spricht sich also für einen epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriff aus; die weiteren Ausführungen zeigen, dass es sich um den subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff handelt (Vuille betrachtet Bayes’ Regel als normative Regel). 4. Eigene Ansicht Als sich die juristische Literatur in den 1970-er Jahren dem Wahrscheinlichkeitsbegriff zuwandte und verlangte, der Richter müsse einen Sachverhalt seinem Urteil zugrunde legen, wenn für dessen Vorliegen eine (hohe oder überwiegende) Wahrscheinlichkeit spreche, hatte man sich erhofft, dadurch die Beweiswürdigung zu objektivieren und das nur der Introspektion zugängliche innere Gefühl des Überzeugtseins des Richters als Maßstab der Beweiswürdigung zurückzudrängen.270 Exemplarisch dazu die Formulierung durch Schellhammer: »§ 286 II [ZPO-DE] verlangt zweierlei: objektiv eine hohe Wahrscheinlichkeit und subjektiv die Überzeugung des Gerichts. Wahrscheinlichkeit ohne Überzeugung genügt nicht, Überzeugung ohne Wahrscheinlichkeit ist sachfremd und reine Willkür.«271 Eine vertiefte Beschäftigung mit dem Wahrscheinlichkeitsbegriff 269

Vuille, Ce que la justice fait dire à l’ADN, 136. Typisch z. B. Maassen, Beweismaßprobleme, 6; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 112; Kollhosser, ZZP 1983, 270–278, 271; weitere Nachweise bei Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 101 ff. Bereits Blomeyer, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, 1–54, 15 f., stellt »volle Überzeugung« und »Maßstäbe der Wahrscheinlichkeit« gegenüber. 271 Schellhammer, Zivilprozess, Rz. 552; ebenso Seibl, Beweislast bei Kollisionsnormen, 10 f.: »der hohe Grad von Wahrscheinlichkeit [soll] ein objektiviertes Korrektiv für die subjektiv zu treffende Überzeugung [sic] darstellen«. Ähnliche Formulierungen finden sich für die Schweiz bei Siegrist, Beweisrecht des Zivilprozesses, 193. 270

III. Wahrscheinlichkeit

125

zeigt, dass es eine objektive – für jeden Beobachter gleiche – Wahrscheinlichkeit eines Einzelereignisses der Makrowelt nicht geben kann. Die »objektive Wahrscheinlichkeit« kann die ihr von einem Teil der Lehre zugedachte Aufgabe als Bezugspunkt der richterlichen Überzeugung nicht wahrnehmen, weil Wahrscheinlichkeit keine Eigenschaft der beobachtbaren Welt ist, sondern des Wissens des Beobachters über die Welt. Die Ablehnung, die »Wahrscheinlichkeitsüberzeugungstheorien«272 , die statt Wahrheit die Wahrscheinlichkeit als Bezugspunkt der Überzeugung verwenden, erfahren haben, ist daher richtig, allerdings nicht aus den von den Kritikern genannten Gründen.273 Das heißt aber nicht, dass die Wahrscheinlichkeit in der Beweiswürdigung keinen Platz hat. Vielmehr ist es die Überzeugung selbst, die eine epistemische Wahrscheinlichkeit ist. Wahrscheinlichkeit ist somit Maß, nicht Gegenstand, der Überzeugung.274 Wer sagt, »Tatsachenbehauptung A ist wahrscheinlich wahr«, drückt aus, dass ihm sicheres Wissen über die Wahrheit der Tatsachenbehauptung fehlt. Die Formulierungen »ich glaube, dass Tatsachenbehauptung A wahr ist«, »ich bin überzeugt, dass Tatsachenbehauptung A wahr ist«, oder »ich erachte die Tatsachenbehauptung A für wahr« (um die Sprache von § 286 Abs. 1 ZPO-DE zu verwenden) drücken nichts anderes aus: den Mangel an sicherem Wissen. Gewissheit ist so verstanden nur der höchste Grad subjektiver Wahrscheinlichkeit, die »volle« oder »sichere« Überzeugung, der numerisch ein Wert von 1 (oder 100%) zugeordnet wird; etwas quantitativ, aber nicht qualitativ anderes als Wahrscheinlichkeit.275 Die richterliche Überzeugung lässt sich demnach als epistemische Wahrscheinlichkeit verstehen. Sie ist Ausdruck des mangelnden sicheren Wissens über die Wahrheit bestrittener Tatsachenbehauptungen. Da Wissen in unterschiedlichem Ausmaß fehlen kann, kann auch die Überzeugung, dass eine Tatsachenbehauptung wahr ist, unterschiedlich stark sein. Überzeugung ist daher nicht dichotom – »entweder ist man überzeugt, oder man ist nicht überzeugt«276 – sondern graduell: man ist mehr oder weniger überzeugt, weil man mehr oder weniger weiß. 5. Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie als Logik der Überzeugungsbildung Die richterliche Überzeugung zur Wahrheit von Tatsachenbehauptungen ist also eine epistemische, vom Wissen des Subjekts abhängige, Wahrscheinlichkeit. Damit ist sie eine Alltagswahrscheinlichkeit im vorne besprochenen Sinn (S. 97 f.). 272

Der Begriff stammt von Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 92. Zu diesen Gründen Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 101 ff.; Walter, Freie Beweiswürdigung, 173 ff.; Schwab, in: Holzhammer/Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451–462, 457 ff.; Rechberger, in: Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 471–490, 472; Brinkmann, Beweismaß, 24 f. 274 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 105 ff. 275 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 95. 276 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.76. 273

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Der Richter erachtet eine Tatsachenbehauptung als wahr, wenn er in einem näher zu bestimmenden Grad davon überzeugt ist, dass sie wahr ist. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass die richterlichen Überzeugungen den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie (Sicherheit, Normierung und Additivität) gehorchen müssen. Es ist in einem zweiten Schritt zu begründen, warum ein Richter nicht beispielsweise der Überzeugung sein kann, dass der Riss in der Wand mit einer Wahrscheinlichkeit von 60% durch die unsorgfältige Arbeit des Unternehmers verursacht wurde und mit einer Wahrscheinlichkeit von 70% durch die Zuweisung eines ungeeigneten Baugrunds durch den Besteller. In seiner kürzesten Fassung ist der Grund dafür, dass die Überzeugungen des Richters den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen müssen, weil eine Verletzung der Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie durch persönliche Überzeugungen ein Verstoß gegen elementare Anforderungen an die Rationalität der Überzeugungsbildung ist, und die Beweiswürdigung zwar frei ist, aber eben nicht irrational sein darf. Nach der Logik des Dutch Book Arguments müssen die Überzeugungen des Richters den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen, weil er sich sonst der Gefahr eines sicheren Verlusts bei Wetten zu von ihm als fair erachteten Wettquoten aussetzt (vorne, S. 107 ff.). Dagegen kann man einwenden, dass Richter nicht wetten. Dieser Einwand ist allerdings nicht besonders überzeugend. Bei den Wetten handelt es sich um Gedankenexperimente, mittels derer sich aufzeigen lässt, welche – von den meisten Menschen als irrational empfundene – Konsequenzen es hat, wenn die persönlichen Überzeugungen nicht den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen. Es geht nicht darum, dass die Beachtung der Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie eine pragmatische Möglichkeit ist, die Verluste zu vermeiden, die ein raffinierter Buchmacher einem sonst zufügen könnte, sondern darum, zu zeigen, dass Überzeugungen, die nicht den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen, inkohärent sind. Das folgende Argument, von Christensen »depragmatized Dutch Book Argument« genannt,277 lenkt den Blick auf diese Konsequenz von Dutch Books: Es ist intuitiv einleuchtend, dass ein Subjekt, das eine Tatsachenbehauptung mit einem Überzeugungsgrad von 0,75 für wahr hält, eine Wette auf den Wahrheitsgehalt der Behauptung für fair hält, bei dem sein Anteil am Gesamteinsatz 75% in dem Fall, dass sich die Behauptung als wahr bestätigt, beträgt; d. h. es ist ihm egal, welche Seite der Wette er einnehmen muss. Wer Mühe hat zu akzeptieren, dass die angegebene Quote fair ist, möge sich überlegen, welche Wettquote (bei gegebenem Überzeugungsgrad) fairer wäre – es kann offensichtlich keine geben, die Quote, bei der der Überzeugungsgrad dem Anteil am Gesamteinsatz entspricht, ist die fairste denkbare Quote. Der Überzeugungsgrad rechtfertigt die Wette als fair.278 Drückt man die Wettquote in Geld aus, so gibt es dennoch Gründe, die es 277 278

Christensen, Putting logic in its place, 116 ff. Christensen, Putting logic in its place, 116.

III. Wahrscheinlichkeit

127

rational erscheinen lassen können, eine gemäß Glaubensgrad faire Wette nicht zu akzeptieren: der abnehmende Grenznutzen von Geld oder nicht-monetärer Nutzen.279 Es sei daher ein einfaches Subjekt angenommen, das Geld einen positiven und linear zu- und abnehmenden Nutzen zumisst, so dass der zweite Franken gleich viel wert ist wie der zweihundertste, und das ausschließlich aus Geld Nutzen zieht. Die Überzeugungsgrade dieses einfachen Subjekts rechtfertigen Wetten um Geld als fair, bei denen die Wettquote dem in Chancen ausgedrückten Glaubensgrad entspricht.280 Es wird nicht verlangt, dass das Subjekt tatsächlich wettet, entscheidend ist, dass es eine solche Wette als fair betrachten müsste. Eine Kombination von Wetten, die das einfache Subjekt logisch zwingend verlieren muss, darf man als irrational bezeichnen:281 Da das einfache Subjekt per definitionem nur aus Geld Nutzen zieht, ist es aus seiner Sicht irrational, eine Kombination von Wetten einzugehen, die ihm einen sicheren Geldverlust einbringt. Da man bei einem einfachen Subjekt, das aus Geld linearen Nutzen zieht, ausschließen kann, dass der Gewinn (oder Verlust) aus einer Wette den Nutzen, den das Subjekt aus einer anderen Wette zieht, beeinflusst,282 gilt auch der Satz, dass eine Kombination von Kombinationen von Wetten, von denen mindestens eine irrational im vorgenannten Sinne ist, ebenfalls irrational ist. Christensen nennt dies »belief defectiveness«, wobei der Mangel darin liegt, dass die Überzeugungen nicht widerspruchsfrei zusammenpassen.283 Der mathematische Teil der Argumentation folgt aus dem Dutch Book Theorem (Anhang I): Wenn die Überzeugungsgrade des einfachen Subjekts die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie verletzen, gibt es eine Kombination von Wetten zu Wettquoten, die den Überzeugungsgraden entsprechen, aber dem einfachen Subjekt zwingend einen Verlust bescheren. Daher: Wenn die Überzeugungsgrade eines einfachen Subjekts die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie verletzen, sind sie irrational.284 Nicht weil ein einfaches Subjekt tatsächlich einen Verlust erleiden würde durch einen cleveren Buchmacher, und nicht weil die Präferenzen des Subjekts inkonsistent sind, sondern weil das einfache Subjekt, dessen Überzeugungen nicht den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen, Wetten als fair rechtfertigen würde, die ihm einen sicheren Verlust einbringen, darf man verlangen, dass seine Überzeugungsgrade den Axiomen folgen. 279 Schick, Journal of Philosophy 1986, 112–119, 113 ff., kritisiert die stillschweigende Annahme linearen Nutzens von Geld, das den traditionellen Dutch Book Argumenten zugrundeliegt. 280 Christensen, Putting logic in its place, 117. 281 Christensen, Putting logic in its place, 118, verwendet den Ausdruck »rationally defective« statt »irrational«. 282 Sog. »value interference effects«, Christensen, Putting logic in its place, 119. 283 Christensen, Putting logic in its place, 120. 284 Christensen, Putting logic in its place, 121. Aus dem umgekehrten Dutch Book Theorem folgt, dass sie nur rational sind, wenn sie den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen.

128

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Das normative Dutch Book Argument ist beschränkt auf einfache Subjekte. Solche Subjekte existieren zweifellos nicht, und man kann sich fragen, was damit gewonnen ist, zu zeigen, dass die Überzeugungen einfacher Subjekte den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen sollten. Die Antwort lautet, dass die Nutzenfunktion einfacher Subjekte besonders simpel ist, aber die Logik des normativen Dutch Book Arguments nicht von dieser Besonderheit abhängt.285 Die rationalen Präferenzen für Wetten hängen sowohl von der Nutzenfunktion des Subjekts wie von der mentalen Repräsentation der Welt (der Überzeugungen) des Subjekts ab. In dem voranstehenden Gedankenexperiment wurde gezeigt, wie eine Menge von Überzeugungen die Präferenzen für Wetten eines (hypothetischen) einfachen Subjekts bestimmen würde. Der einfache Kontext erlaubt es, den Zusammenhang zwischen den Überzeugungen und der Evaluation der Wetten zu sehen: Bei gegebener linearer Nutzenfunktion rechtfertigen die Überzeugungen nur bestimmte Wetten als fair. Wenn die Überzeugungen des Subjekts inkohärent sind, rechtfertigen sie Wetten, die dem Subjekt einen sicheren Verlust des einzigen Guts zufügen, dem es einen Nutzen beimisst. Aufgrund der einfachen Nutzenfunktion des Subjekts kann der Grund für das Problem bei der Kombination von Wetten nicht in der Beeinflussung des Nutzens einer Wette durch den Ausgang einer anderen Wette sein. Das Problem liegt vielmehr darin, dass es keinen Zustand der Welt geben kann, der dazu führt, dass die Kombination der Wetten dem Subjekt keinen Verlust beschert. Man darf daher den Schluss ziehen, dass etwas nicht stimmt mit der mentalen Repräsentation der Welt (den Überzeugungen), welche die Wetten als fair rechtfertigte.286 Damit ist auch einem Einwand von Cohen gegen die Rechtfertigung der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie durch Dutch Book Argumente der Boden entzogen. Cohen argumentiert, bei der gerichtlichen Tatsachenfeststellung könne der Urteilende keine Wette über die Wahrheit einer bestrittenen Tatsachenbehauptung eingehen, weil der Ausgang der Wette nie bestimmt werden könne:287 Der Urteilende berücksichtigt (hoffentlich) sämtliche verfügbaren Beweismittel, die für oder gegen die Hypothese sprechen. Ob die Hypothese tatsächlich wahr ist, lässt sich ohne Zeitmaschine nie mit Sicherheit bestimmen. Niemand kann daher sagen, ob er die Wette gewonnen hätte. Nach dem »Depragmatized Dutch Book« ist aber nicht entscheidend, dass die Wette eingelöst werden kann und das Subjekt daher einen Verlust erleidet; entscheidend, ist dass es, wenn seine Überzeugungen nicht den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen, Wetten als fair sanktionieren würde, die offensichtlich irrational sind, weil sie ihm – egal wie der Zustand der Welt tatsächlich ist – einen sicheren Verlust des einzigen Guts, aus dem es einen Nutzen zieht, einbringen würden. 285 286 287

Christensen, Putting logic in its place, 122. Christensen, Putting logic in its place, 122. Cohen, The probable and the provable, 90; ähnlich Schulz, Beweistheorie, 310.

III. Wahrscheinlichkeit

129

Das »Depragmatized Dutch Book« Argument bietet eine auch intuitiv einleuchtende Begründung dafür, warum Überzeugungsgrade den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen müssen, aber es ist nicht unangreifbar. Wer sich mit der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie partout nicht anfreunden will, wird Annahmen finden, die kritisiert werden können.288 Meines Erachtens ist das Argument, dass die Überzeugungen eines Richters den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen müssen, jedoch deshalb besonders stark, weil der Richter über seine Überzeugungen Rechenschaft ablegen muss, d. h. er muss nachvollziehbar begründen, wie er zur Überzeugung gelangt, dass eine Tatsachenbehauptung wahr oder falsch ist. Dazu muss er zahlreiche Annahmen treffen, die sich als Überzeugungsgrade zur Wahrheit weiterer Tatsachenbehauptungen (Indizien, Hilfstatsachen) ausdrücken lassen (siehe hinten, S. 231 ff., für ein konkretes Beispiel) Es ist kaum denkbar, dass er Überzeugungsgrade offenlegen kann, die inkohärent im dargestellten Sinn sind, ohne dass man die Inkohärenz als Defekt der Begründung seiner Überzeugung begreift. Herrschende Lehre und Rechtsprechung haben immer, auch im Rahmen der »freien« Beweiswürdigung, verlangt, dass der Richter an die Denkgesetze (Logik) gebunden ist (vorne, S. 57 ff.). Die Überzeugung des Richters ist eine »conviction raisonée«, keine von jeglichen Regeln freie »conviction intime«.289 Sie darf daher nicht gegen die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie verstoßen. Nachdem in einem ersten Schritt (S. 124 f.) dargelegt wurde, dass Überzeugung mit epistemischer Wahrscheinlichkeit gleichgesetzt werden kann und Überzeugung ein gradueller Begriff ist, und in einem zweiten Schritt, dass die Überzeugungen, die ein Subjekt gleichzeitig hält, nur dann kohärent (widerspruchsfrei, rational) sind, wenn sie den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie nicht widersprechen (S. 126 ff.), ist in einem dritten Schritt zu begründen, warum die Überzeugungen in numerischen Werten ausgedrückt werden sollen. Dabei ist zu betonen, dass dieser Grund ein pragmatischer, kein logischer ist: Das vorstehend Gesagte behält seine Gültigkeit, wenn man den Schritt zu einer numerischen Repräsentation der Überzeugungsgrade nicht machen will.290 Die numerische Repräsentation ermöglicht aber erst die Überprüfung, ob die Überzeugungsgrade eines Subjekts den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen, denn nur sie hat die nötige Präzision, die Inkohärenzen aufzudecken, die durch das gleichzeitige Halten bestimmter Überzeugungen entstehen. Angenommen, Sie sehen sich vor die Aufgabe gestellt, die Grundfläche einer Wohnung zu schätzen, haben aber kein Metermaß zur Hand. Es sind (min-

288

Maher, Philosophy of Science 1997, 291–305; Christensen, Putting logic in its place, 142. Deppenkemper, Beweiswürdigung, 208 f., 421, mit zahlreichen Hinweisen. 290 Ekelöf, Scandinavian studies in law 1964, 45–66, 54: »the existence of a degree of probability is obviously independent of the question whether it can be expressed in figures or not«. 289

130

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

destens) zwei Möglichkeiten denkbar, zu einer Schätzung der Gesamtfläche zu kommen:291 a)

Sie besichtigen alle Zimmer und geben dann eine Gesamtschätzung der Grundfläche gemäß Ihrem durch die Besichtigung gewonnen Gefühl von der Größe der Wohnung ab; oder b) Sie besichtigen alle Zimmer und schätzen (bei rechteckigen Zimmern) jeweils die Länge und Breite des Zimmers in Metern. Sie wissen, dass sich die Fläche eines Rechtecks aus der Multiplikation seiner Länge mit seiner Breite ergibt. Sie wissen auch, dass die Gesamtfläche der Wohnung nicht kleiner sein kann als die Summe der Flächen aller Zimmer. Sie berechnen daher die Fläche jedes Zimmers aufgrund seiner geschätzten Wandlängen und summieren die so erhaltenen Einzelflächen zur Gesamtfläche. Ich behaupte, dass die Schätzung bei der Methode b) genauer ausfallen wird. Nicht exakt, aber exakter als bei Methode a). Die Schätzung wird auch bei der Methode b) nicht für jeden Schätzenden gleich ausfallen, weil kein Metermaß vorhanden ist; oder übertragen auf die Beweiswürdigung, keine Möglichkeit, die subjektiven Wahrscheinlichkeiten exakt zu bestimmen. Der eine Schätzende wird tatsächliche 1,20 m für einen Meter halten, die andere 80 cm. Aber es gibt Regeln – der Geometrie in einem Fall, der Wahrscheinlichkeitstheorie im anderen Fall – wie die Schätzungen zu kombinieren sind. Die Schätzung der Größe von Wohn- und Schlafzimmer führt unter Beachtung der Bedingung, dass die Addition der Flächen aller Zimmer nicht größer als die Gesamtfläche der Wohnung sein darf, vielleicht dazu, dass das Bad eine Fläche von 0,5 m2 haben müsste – eine Folgerung, die dazu führen sollte, die Schätzungen der Größe von Wohn- und Schlafzimmer zu hinterfragen.292 In ebensolcher Weise kann die Überprüfung der Einhaltung der Kohärenz-Bedingungen der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie dazu führen, dass die Abwegigkeit einer Überzeugung erkannt wird.293 Insofern ist der Einwand, die subjektiven Wahrscheinlichkeiten ließen sich nicht exakt (»objektiv«) bestimmen,294 zwar richtig, geht aber am Ziel vorbei: Die Zuweisung numerischer Werte ermöglicht die Anwendung der Regeln der Wahrscheinlichkeitstheorie, und aus diesen erhofft man sich eine rationalere Beweiswürdigung, nicht aus der numerischen Schätzung per se.295 So, wie das Wissen, 291

Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 158 f., macht ein ähnliches Beispiel. Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 159. 293 de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 230; Pearl, Probabilistic Reasoning, 21. 294 BGH NJW 1989, 3162; Walter, Freie Beweiswürdigung, 178; Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 196, FN 74; Musielak, ZZP 1986, 217–223, 221; Cohen, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 113–128, 123; Schwab, in: Holzhammer/Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451–462, 454; Müller, in: Kühne et al. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Rosinski zum 70. Geburtstag am 11. Juli 2002, 219–238, 230 f.; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.112. 295 Rüßmann, RuP 1982, 62–69, 68; Pearl, Probabilistic Reasoning, 21. 292

III. Wahrscheinlichkeit

131

dass die Gesamtfläche der Wohnung nicht kleiner sein kann als die Summe der Fläche der einzelnen Zimmer, verhindert, dass man zu einer unlogischen Gesamtschätzung kommt, so verhindert z. B. die Regel, dass die Wahrscheinlichkeit von A oder B nicht kleiner sein kann als die Wahrscheinlichkeit von A, dass unlogische Schlüsse bei der Beweiswürdigung gezogen werden. Notabene: unlogisch bedeutet nicht zwingend falsch. Es gilt hier dasselbe wie bei der deduktiven Logik: ein ungültiges Argument der deduktiven Logik kann eine wahre Konklusion haben.296 Es kann sein, dass die nach der Methode der Gesamtwürdigung vorgenommene Schätzung genauer ist als die nach der Methode b) vorgenommene Schätzung. So lange kein Metermaß gefunden wird, wird man nie mit Sicherheit sagen können, welche Schätzung genauer ist. Aber eine rationale, nachvollziehbare Begründung der Schätzung ist nur nach der Methode b) möglich. 6. Zusammenfassung Die Regeln der Kombination von Flächen werden durch die Geometrie geliefert, die Regeln der Kombination von Überzeugungen durch die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie: Sie ist die Logik der Überzeugungsbildung.297 In den Worten eines der Begründer der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie:298 »La théorie des probabilités n’est, au fond, que le bon sens réduit au calcul; elle fait apprécier avec exactitude ce que les esprits justes sentent par une sorte d’instinct, sans qu’ils puissent souvent s’en rendre compte.«

Oder in denen eines einflussreichen Verfechters des subjektiven Zugangs:299 »Our theme is simply: Probability Theory as Extended Logic. The ›new‹ perception amounts to the recognition that the mathematical rules of probability theory are not merely rules for calculating frequencies of ›random variables‹; they are also the unique consistent rules for conducting inference (i.e. plausible reasoning) of any kind.«

Da der Richter bei der Beweiswürdigung plausible Schlüsse aus unsicheren Prämissen ziehen muss, sind die Denkgesetze für die Überzeugungsbildung bei der Sachverhaltserstellung die Regeln der Wahrscheinlichkeitstheorie.300 Um einem Missverständnis vorzubeugen sei betont, dass der Jurist sich nicht abschließend für die subjektive oder frequentistische Wahrscheinlichkeit ent296

Salmon, Logik, 27. Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 23; Christensen, Putting logic in its place, 15. De Finetti bezeichnet sie als die »Logik des Ungewissen« (in Abgrenzung zur deduktiven Logik, der »Logik des Gewissen«), de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 89. 298 Laplace, Essai philosophique sur les Probabilités, 95. 299 Jaynes, Probability theory, XII f. 300 Rüßmann, RuP 1982, 62–69, 62 ff.; Nack, NJW 1983, 1035–1037, 1036 f.; Nack, MDR 1986, 366–371, 371; Robertson/Vignaux, Oxford Journal of Legal Studies 1993, 457–478, 478; Roberts/Aitken, The Logic of Forensic Proof: Inferential Reasoning in Criminal Evidence and Forensic Science, 103. 297

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

scheiden muss. Beide Wahrscheinlichkeiten haben ihren Platz,301 auch bei der Beweiswürdigung: Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie liefert die Logik, wie Überzeugungen widerspruchsfrei zu kombinieren sind, objektive Wahrscheinlichkeiten (im Sinne der Häufigkeitstheorie) können die Grundlage der Überzeugungen liefern, wenn entsprechende statistische Daten vorhanden sind (hinten, S. 351 ff.). Im Folgenden sollen die zwei wichtigsten Regeln des Schließens der induktiven Logik oder subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie, Bayes’ Regel und Jeffreys Regel, dargestellt werden. Dabei wird versucht, die Darstellung so einfach wie möglich zu halten. Leser, die mit Bayes’ Regel vertraut sind, können direkt zum Abschnitt »Beweiskraft als Likelihood-Quotient« (S. 143) springen. 7. Bayes’ Regel: Der Schluss von der (beobachteten) Wirkung auf die (unbeobachtete) Ursache Wie bereits einleitend erwähnt, ist es praktisch von größter Bedeutung, von der Wahrscheinlichkeit, mit der eine Ursache eine Folge bewirkt, rückschließen zu können auf die Wahrscheinlichkeit, mit der eine beobachtete Wirkung auf eine (nicht beobachtete) Ursache zurückzuführen ist.302 Bayes’ Regel303 ist die Schlussregel, die diesen Schluss erlaubt.304 Laplace, der Bayes’ Regel unabhängig von Thomas Bayes entdeckte und in seine moderne mathematische Form brachte,305 spricht deshalb auch von der »probabilité des causes par les évènements«.306 Ein anderer geläufiger Ausdruck, bevor sich der Ausdruck »Bayes’sches Schließen« (Bayesian inference) im 20. Jahrhundert durchsetzte, war »inverse probability«.307 Da der Schluss von der beobachteten Wirkung auf die unbeobachtbare Ursache von zentraler Bedeutung in zahlreichen Gebieten ist, ist Bayes’ Regel eine

301 Carnap, Logical foundations of probability, 25, nennt den Streit zwischen »Subjektivisten« und »Frequentisten« eine »futile controversy«, weil eben beide Konzepte der Wahrscheinlichkeit ihren Anwendungsbereich haben. Ähnlich Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 141, der für einen »ecletic approach« eintritt, der je nach Problemstellung den einen oder anderen Wahrscheinlichkeitsbegriff verwendet. 302 Laplace, in: L’académie des sciences (Hrsg.), Pierre Simon Laplace – Œuvres complètes, 27–65, 28; Engisch, Logische Studien, 67 f., 73. 303 »Bayes’ Regel« ist die Bezeichnung, die sich durchgesetzt hat, siehe Fienberg, Bayesian Analysis 2006, 1–40. Stigler, American Statistician 1983, 290–296 weist darauf hin, dass Reverend Thomas Bayes die nach ihm benannte Regel möglicherweise gar nicht als erster entdeckt hat, er ist allerdings in einer Minderheit; McGrayne, The theory that would not die, 9. 304 Jaynes, Probability theory, 31. 305 McGrayne, The theory that would not die, 30 ff.; Fill, De calculatione iustitiae iudicatorum, 51 ff. 306 Laplace, in: L’académie des sciences (Hrsg.), Pierre Simon Laplace – Œuvres complètes, 27–65, 27 ff. 307 Der Ausdruck »inverse probability« wurde erstmals durch Augustus de Morgan in den 1830-er Jahren verwendet, Dale, A history of inverse probability, 4.

III. Wahrscheinlichkeit

133

Grundregel der Epistemologie, die in verschiedensten Gebieten Anwendung findet.308 Mathematisch folgt Bayes’ Theorem unmittelbar aus der Definition der bedingten Wahrscheinlichkeit. Für Vertreter der Ansicht, dass mathematische Wahrscheinlichkeiten als Überzeugungsgrade verstanden werden sollen (»Bayesianer«), ist Bayes’ Theorem aber mehr: Es ist eine normative Regel, wie man seine Überzeugung im Lichte neuer Information ändern sollte.309 Deshalb wird hier im Folgenden von »Bayes’ Regel« und nicht »Bayes’ Theorem« gesprochen, wenn es um die normative Schlussregel und nicht die bloße mathematische Formel geht. Während Bayes’ Theorem für Statistiker und Mathematiker eine Trivialität ist,310 haben viele Menschen intuitiv Mühe, das Theorem zu verstehen, das vom 9th Circuit Court als »complicated formula«311 bezeichnet wird. Nach der Erfahrung von Fenton und Neil ist es völlig hoffnungslos, den meisten Menschen – inklusive hochintelligenter Anwälte und Ärzten – unter Zuhilfenahme von Bayes’ Regel zu erklären, weshalb gewisse intuitiv einleuchtende Schlussfolgerungen schlicht falsch sind.312 Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, glaube aber, dass die Herleitung der Formel aus den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie nicht genügt, ein juristisches Publikum zu überzeugen. Deshalb wird hier versucht, Bayes’ Theorem aus einem Anwendungsfall sozusagen »rückwärts« herzuleiten, um ein tieferes Verständnis für die Logik der Formel zu schaffen.313 Angenommen, Sie gehen eine Woche in die Ferien und bitten Ihren nicht sehr zuverlässigen Freund F, während Ihrer Abwesenheit Ihre serbelnde Zimmerpflanze zu gießen. Ohne Wasser wird Ihre Pflanze mit einer Wahrscheinlichkeit von 90% sterben. Selbst wenn sie gegossen wird, besteht ein Risiko von 20%, dass die Pflanze stirbt. Ihre Überzeugung, dass Ihr nicht sehr zuverlässiger Freund vergisst, die Pflanze zu gießen, beträgt 30%.314 a)

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit (Überzeugung), dass Ihre Pflanze die Woche überlebt? b) Wenn Ihr Freund vergisst, die Pflanze zu gießen, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit (Überzeugung), dass sie gestorben ist, wenn Sie zurückkommen? c) Wenn die Pflanze nach Ihrer Rückkehr gestorben ist, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit (Überzeugung), dass Ihr Freund vergessen hat, sie zu gießen? 308 Das populärwissenschaftliche Buch McGrayne, The theory that would not die, gibt einen einfach verständlichen Überblick über die Anwendungen von Bayes’ Regel. 309 Good, Probability and the weighing of evidence, 61; de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 600 f.; Martin, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 169–175, 174; Pearl, Causality, 5. 310 Good, Probability and the weighing of evidence, 8. 311 Brown vs. Farwell, 2008 U.S. App. LEXIS 15393, Rz. 7 312 Fenton/Neil, Australian Journal of Legal Philosohpy 2011, 114–151, 128. 313 Eine gut verständliche Erklärung findet sich auch bei Baron, Thinking and deciding, 121 ff. 314 Das Beispiel stammt von Steven Strogatz, Chances Are, in der New York Times vom 25. April 2010 (Online-Ausgabe).

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

M. a. W.: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass das unterlassene Gießen die Ursache für das Verwelken ist? Die Annahme, dass Ihr Freund die Pflanze gegossen hat, soll als Hypothese H bezeichnet werden. Entsprechend ist die Hypothese, dass die Pflanze nicht gegossen wurde ¬H. Das Absterben der Pflanze sei I, das Überleben der Pflanze entsprechend ¬I. Formal lassen sich die drei Fragen daher wie folgt formulieren: a) Pr(¬I) b) Pr(I|¬H) c) Pr(¬H|I) Es gibt vier mögliche Kombinationen der beiden Ereignisse: Pr(H & ¬I): der Freund gießt die Pflanze, und sie lebt; Pr(¬H & ¬I): er gießt sie nicht, und sie lebt; Pr(H & I): er gießt sie, und sie stirbt; Pr(¬H & I): er gießt sie nicht, und sie stirbt. Zusammengezählt muss die Wahrscheinlichkeit aller Kombinationen der Ereignisse 1 ergeben, denn eine der Kombinationen muss zutreffen (sie sind erschöpfend) und sie schließen sich gegenseitig aus (sie sind inkompatibel). Graphisch lässt sich dies in einem Baumdiagramm darstellen (Abbildung 7).

Abbildung 7: Baumdiagramm des »Pflanzen-Problems« im Zeitpunkt vor Kenntnis des Schicksals der Pflanze.

III. Wahrscheinlichkeit

135

Um die Wahrscheinlichkeit zu errechnen, dass die Pflanze die Woche überlebt, muss man die Wahrscheinlichkeit, dass sie überlebt, wenn sie gegossen wird, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie überlebt, wenn sie nicht gegossen wird, addieren (Satz von der totalen Wahrscheinlichkeit), Pr (¬I) = Pr (H & ¬I) + Pr (¬H & ¬I) .

(8)

Die Wahrscheinlichkeit von Pr(H & ¬I) ergibt sich, wie aus dem Diagramm ersichtlich ist, wenn man dem Pfad zu Pr(H & ¬I) folgt, aus 

Pr (H & ¬I) = Pr (H) Pr ¬I|H

(9.1)

und entsprechend die Wahrscheinlichkeit von Pr(¬H & ¬I) aus dem Pfad, der zu Pr(¬H & ¬I) führt, 

Pr (¬H & ¬I) = Pr (¬H) Pr ¬I|¬H

(9.2)

Die eben angewandte Regel zur Berechnung der gemeinsamen Wahrscheinlichkeit von H und I wird Produktregel genannt und ist von dermaßen großer Bedeutung, dass sie auch als »fundamentale Regel« der Wahrscheinlichkeitstheorie bezeichnet wird.315 Den meisten Juristen wird die Produktregel für zwei unabhängige Aussagen bekannt sein, Pr (A & B) = Pr (A) Pr (B) . Die Form der Produktregel gemäß Gleichung (9.1) ist die Produktregel für abhängige Aussagen; sie folgt unmittelbar aus der Definition der bedingten Wahrscheinlichkeit (vorne, S. 91). Sie besagt, dass sich die Wahrscheinlichkeit, dass zwei voneinander abhängige Aussagen A und B gleichzeitig wahr sind, aus dem Produkt der bedingten Wahrscheinlichkeit von A mal der Wahrscheinlichkeit von B ergibt, oder eben 

Pr (A & B) = Pr A|B Pr (B)

(10)

Ersetzt man Pr(H & ¬I) und Pr(¬H & ¬I) in Gleichung (8) durch den rechten Teil der Gleichungen (9.1) und (9.2), erhält man 



Pr (¬I) = Pr ¬I|H Pr (H) + Pr ¬I|¬H Pr (¬H) Pr (¬I) = 0,8 · 0,7 + 0,1 · 0,3 = 0,59 Die Erwartung, dass die Pflanze die Woche überlebt, beträgt daher 59%. Die Frage b) ist ebenfalls leicht zu beantworten: Wenn der unzuverlässige Freund vergisst, die Pflanze zu gießen, stirbt sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 90%. Diese Wahrscheinlichkeit ist bereits in der Fragestellung enthalten. 315

Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 5.

136

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Interessant ist vor allem die Antwort auf Frage c): Wenn die Pflanze gestorben ist, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht gegossen wurde? Hier muss aus der beobachteten Wirkung (Pflanze tot) auf die mutmaßliche Ursache (Pflanze nicht gegossen) geschlossen werden. Wie aus dem Baumdiagramm ersichtlich, kann die Pflanze sterben, obwohl sie gegossen wurde (mit einer Wahrscheinlichkeit von 14%) und natürlich unter der Voraussetzung, dass sie nicht gegossen wurde (mit einer Wahrscheinlichkeit von 27%). Wenn Sie dem Freund nicht Unrecht tun wollen, müssen Sie berücksichtigen, dass die Pflanze – die, wie sie festgestellt haben, gestorben ist – auch gestorben sein kann, obwohl sie gegossen wurde. Sie müssen also die Wahrscheinlichkeit, dass die Pflanze wegen der Vergesslichkeit Ihres Freundes gestorben ist (0,27) teilen durch Wahrscheinlichkeit, dass die Pflanze überhaupt stirbt (0,27 + 0,14); folglich 0,27/0,41 = 0,66. Die rationale Überzeugung, dass Ihr Freund die Pflanze nicht gegossen hat, wenn Sie bei Ihrer Rückkehr aus den Ferien feststellen, dass die Pflanze gestorben ist, beträgt unter den getroffenen Annahmen daher 66%. Dies ist ein erheblicher Unterschied zu Ihrer ursprünglichen Annahme einer Wahrscheinlichkeit von 30%, dass Ihr Freund die Pflanze nicht gießen wird. Es ist aber nicht dasselbe wie die Gewissheit von 90%, dass die Pflanze stirbt, wenn sie nicht gegossen wird!316 Um auf die Wahrscheinlichkeit von Pr(H|I) zu gelangen, wurde die Wahrscheinlichkeit Pr(H & I) durch die Wahrscheinlichkeit Pr(I) geteilt. Aus der Produktregel folgt Pr(H & I) = Pr(I|H)Pr(H). Bayes’ Regel lautet daher 



Pr H|I =

Pr (I & H) Pr I|H Pr (H) = . Pr (I) Pr (I)

(11)

Vorne wurde gesagt, dass sich die Wahrscheinlichkeit von ¬I aus der Addition von Pr(H & ¬I) und Pr(¬H & ¬I) ergibt, was als das Gesetz der totalen Wahrscheinlichkeit bezeichnet wurde. Auch dieses Gesetz ist einfach zu verstehen: Die totale Wahrscheinlichkeit, dass eine Aussage A wahr ist, ist gleich der Wahrscheinlichkeit, dass sie und eine beliebige andere Aussage B beide wahr sind, plus der Wahrscheinlichkeit, dass A wahr ist, aber B nicht. Etwas formaler ausgedrückt eben (dies entspricht Gleichung 8) Pr (A) = Pr (A & B) + Pr (A & ¬B) .

(12)

Durch Anwendung der Produktregel lässt sich Gleichung (12) wie folgt umformen 



Pr (A) = Pr (B) Pr A|B + Pr (¬B) Pr A|¬B . 316 Die Verwechslung der beiden Wahrscheinlichkeiten Pr(H|I) und Pr(I|H) wird als »confusion of the inverse« oder »fallacy oft he transposed conditional« bezeichnet, Koehler, Behavioral and Brain Sciences 1996, 1–53, 9; Villejoubert/Mandel, Memory & Cognition 2002, 171–178; Stanovich, Decision making and rationality, 73.

137

III. Wahrscheinlichkeit

Die praktische Relevanz dieser Regel kommt daher, dass es oft einfacher ist, einem Ereignis eine Wahrscheinlichkeit zuzuordnen, wenn die Wahrscheinlichkeit in einem Kontext steht. Lindley nennt die Regel daher die »Erweiterung der Konversation«.317 Ersetzt man nun Pr(I) gemäß dem Satz der totalen Wahrscheinlichkeit durch Pr(I & H) + Pr(I & ¬H) und wendet die Produktregel an, lautet Bayes’ Regel für zwei sich gegenseitig ausschließende Aussagen, von denen eine wahr sein muss 



Pr H|I =

Pr I|H Pr (H) Pr (I & H)   . = Pr (I & H) + Pr (I & ¬H) Pr I|H Pr (H) + Pr I|¬H Pr (¬H)

Der Satz von der totalen Wahrscheinlichkeit lässt sich verallgemeinern für eine Menge von sich gegenseitig ausschließenden und erschöpfenden Aussagen Bi , i = 1, 2, . . . , n. Die Wahrscheinlichkeit Pr(A) aus Pr(A & Bi ), i = 1, 2, . . . , n ergibt sich dann aus der Summation Pr (A) =

X i

Pr (A & Bi ) .

Das mathematische Symbol i (»Sigma«) bedeutet, dass man die gemeinsame Wahrscheinlichkeit Pr(A & Bi ) für jedes Bi , beginnend bei B1 , berechnet, wobei die Indexvariable i sich immer um 1 erhöht. Für eine beliebige Anzahl von sich gegenseitig ausschließenden Aussagen Hj , von denen eine wahr sein muss, lautet Bayes’ Regel daher P



Pr I|Hi Pr (Hi )  Pr Hi |I = Pn . i=1 Pr I|Hi Pr (Hi ) 

Eine weitere Möglichkeit, Bayes’ Regel zu verstehen, ist die Folgende, die vielleicht auf den ersten Blick unnötig kompliziert erscheint, aber das spätere Verständnis von Jeffreys Regel erleichtert.318 Nach Ihrer Rückkehr aus den Ferien wissen Sie mit Sicherheit, ob Ihre Pflanze gestorben ist oder überlebt hat. Wenn die Pflanze gestorben ist, reduzieren sich die möglichen wahren Aussagen daher auf die beiden Aussagen »die Pflanze ist gestorben und sie wurde gegossen« und »die Pflanze ist gestorben und sie wurde nicht gegossen«. Die anderen beiden Möglichkeiten sind ausgeschlossen, ihre Wahrscheinlichkeit hat sich daher – nach Kenntnis des Schicksals der Pflanze – auf 0 reduziert. Die Wahrscheinlichkeiten im ersten Zeitpunkt talt (vor Kenntnis des Schicksals der Pflanze) werden in Abbildung 7 mit Pralt bezeichnet, die Wahrscheinlichkeiten im zweiten Zeitpunkt tneu , nach Kenntnis des Schicksals der Pflanze, in Abbildung 8 als Prneu . Am Verhältnis der Wahrscheinlichkeiten der beiden Aussagen »die Pflanze ist gestorben und sie wurde gegossen« und »die Pflanze ist gestorben und sie 317 318

Christensen, Putting logic in its place, 39. Die Darstellung folgt Taroni et al., Bayesian networks, 7 ff.

138

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Abbildung 8: Baumdiagramm des Pflanzen-Problems nach sicherer Kenntnis des Schicksals der Pflanze.

wurde nicht gegossen« hat sich dadurch, dass im zweiten Zeitpunkt bekannt ist, dass die Pflanze gestorben ist, nichts geändert. Dies beruht auf der so genannten Annahme der Invarianz:319 Durch die neue Beobachtung, dass die Pflanze gestorben ist, ändert sich nichts an meiner Überzeugung, dass die Pflanze mit einer Wahrscheinlichkeit von 20% stirbt, wenn sie gegossen wird, und mit einer Wahrscheinlichkeit von 90%, wenn sie nicht gegossen wird. Addiert müssen die Wahrscheinlichkeiten der beiden Aussagen 1 ergeben, denn eine der beiden Aussagen muss wahr sein. Man muss die beiden Wahrscheinlichkeiten Pralt daher mit einem konstanten Faktor multiplizieren, um zu den Wahrscheinlichkeiten Prneu zu gelangen; dieser konstante Faktor ist 1/Pralt (I):320 Prneu (H & I) = Pralt (H & I)

1 Pr (H & I) = alt Pralt (I) Pralt (I)

Prneu (¬H & I) = Pralt (¬H & I)

319

Pr (¬H & I) 1 = alt . Pralt (I) Pralt (I)

(13.1) (13.2)

Jeffrey, Subjective probability, 56. Weil 1/Pralt (I) dafür sorgt, dass sich die Wahrscheinlichkeiten der sich gegenseitig ausschließenden erschöpfenden Aussagen nach Berücksichtigung des Indizes zu 1 summieren, wird er auch als Normalisierungskonstante bezeichnet, Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 586. 320

139

III. Wahrscheinlichkeit

Die Addition der beiden Wahrscheinlichkeiten Prneu (H & I) und Prneu (¬H & I) aus Gleichungen (13.1, 13.2) ergibt in der Tat 1:321 Pralt (H & I) Pralt (¬H & I) + Pralt (I) Pralt (I) 1 = (Pralt (H & I) + Pralt (¬H & I)) Pralt (I) 1 = Pr (I) Pralt (I) alt Pr (I) = alt =1. Pralt (I)

Prneu (H & I) + Prneu (¬H & I) =

Aus dem Satz der totalen Wahrscheinlichkeit folgt, dass Prneu (H) = Prneu (H & I) + Prneu (H & ¬I). Weil im Zeitpunkt tneu bekannt ist, dass die Pflanze gestorben ist und daher Prneu (H & ¬I) = 0, gilt Prneu (H) = Prneu (H & I). Setzt man dieses Resultat in Gleichung (13.1) ein, erhält man Prneu (H) =

Pralt (H & I) . Pralt (I)

(13.3)

Resultat (13.3) zeigt, dass die Anpassung eines Überzeugungsgrades im Lichte neuer Information durch Konditionalisierung, respektive Bayes’ Regel, der symmetrischen Umverteilung der Wahrscheinlichkeiten auf die noch möglichen Zustände unter Beibehaltung des Verhältnisses der Wahrscheinlichkeiten dieser Zustände ist. Weil sich das Wissen nur dahingehend geändert hat, dass man weiß, ob Indiz I zutrifft oder nicht, gibt es keinen Grund, die Wahrscheinlichkeiten der möglichen Zustände auf eine Art und Weise zu ändern, die den einen oder anderen Zustand bevorzugen würde.322 8. Bayes’ Regel – ein Modell sequentiellen Lernens Bayes’ Regel ist deshalb so wichtig für die persönliche (subjektive) Wahrscheinlichkeitstheorie, weil sie ein Modell sequentiellen Lernens ist.323 Ausgehend von einer Anfangswahrscheinlichkeit einer Tatsachenbehauptung kann die Wahrscheinlichkeit, dass die Tatsachenbehauptung zutrifft, im Lichte neuer Information angepasst werden. Die resultierende a-posteriori-Wahrscheinlichkeit kann wiederum als a-priori-Wahrscheinlichkeit genommen werden und im Lichte weiterer Information unter erneuter Anwendung von Bayes’ Regel angepasst werden.324 Anders ausgedrückt: Bayes’ Regel erlaubt es, den Beweiswert mehrerer Beweismittel rational zu kombinieren und zu einem Überzeugungsgrad für 321 Der dritte Umformungsschritt ergibt sich daraus, dass gemäß dem Satz von der totalen Wahrscheinlichkeit Pralt (I) = Pralt (H & I) + Pralt (¬H & I). 322 Taroni et al., Bayesian networks, 9. 323 Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 176. 324 Pearl, Probabilistic Reasoning, 37.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

die interessierende Tatsachenbehauptung unter Berücksichtigung aller Beweismittel zu gelangen. Angenommen, Sie haben nach Ihrer Rückkehr aus den Ferien festgestellt, dass Ihre Pflanze gestorben ist, und vermuten daher mit einem rationalen Überzeugungsgrad von 66%, dass Ihr Freund vergessen hat, die Pflanze zu gießen. Sie konfrontieren Ihren vergesslichen Freund mit dem Vorwurf, er habe Ihre Pflanze nicht gegossen, worauf dessen Lebenspartnerin beteuert, sie sei absolut sicher, dass er die Pflanze gegossen habe (diese Tatsachenbehauptung wird im Folgenden als S bezeichnet). Sie neigen dazu, ihr zu glauben, andererseits wäre es auch möglich, dass sie lügt, um ihren Freund zu schützen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Lebenspartnerin sagt, ihr Freund habe die Pflanze gegossen, wenn dieser die Pflanze tatsächlich gegossen hat, ist 100%; also Pr(S|H) = 1. Andererseits nehmen Sie an, dass die Freundin mit einer Wahrscheinlichkeit von 20% lügt, also Pr(S|¬H) = 0,2. Wenn Sie von der Anfangswahrscheinlichkeit der Hypothese Pr(¬H) = 0,66 ausgehen und wiederum Bayes’ Regel anwenden, kommen Sie auf eine revidierte rationale Überzeugung dafür, dass Ihr Freund die Pflanze nicht gegossen hat, von 28%.325 Ihre rationale Überzeugung, dass Ihr Freund die Pflanze nicht gegossen hat, sinkt also wieder – was auch intuitiv einleuchtet. Bayes’ Regel ist kommutativ, d. h. es spielt keine Rolle, ob Sie zuerst erfahren, dass die Freundin sagt, die Pflanze sei gegossen worden und erst nachher feststellen, dass die Pflanze gestorben ist, oder ob sie zuerst feststellen, dass die Pflanze gestorben ist, und dann hören, sie sei gegossen worden. Im ersteren Fall verringert sich die Anfangswahrscheinlichkeit Pr(¬H) = 0,3 auf Pr(¬H) = 0,08 um sich dann auf Pr(¬H) = 0,28 zu erhöhen, im zweiten Fall erhöht sie sich wie erwähnt zuerst auf Pr(¬H) = 0,66 um sich dann auf Pr(¬H) = 0,28 zu reduzieren. Die Reihenfolge, in der die Beweismittel verarbeitet werden, sollte daher nach Bayes’ Regel keine Rolle spielen.326 9. Jeffreys Regel Bayes’ Regel genügt noch nicht, um Lernen aus Erfahrung vollständig zu modellieren. Bayes’ Regel erlaubt das Lernen aus sicherem neuem Wissen – z. B., dass die Pflanze gestorben ist. Lernen aus unsicherer (probabilistischer) Information ist mit Bayes’ Regel nicht möglich.327 Um beim Beispiel mit der Pflanze zu bleiben: Angenommen, Sie erfahren nicht sicher, dass die Pflanze gestorben ist, sondern nur, dass sie wahrscheinlich gestorben ist – zum Beispiel, weil Sie nicht 325 Wer keine Lust hat, die Berechnungen selber durchzuführen, kann einen der zahlreichen »Bayes Rechner« im Internet verwenden, z. B. http://psych.fullerton.edu/mbirnbaum/bayes/ BayesCalc.htm oder http://statpages.org/bayes.html (beide besucht am 10. Dezember 2014). 326 Hingegen zeigen empirische Studien, dass die Reihenfolge der Beweismittel auf die tatsächliche Überzeugungsbildung einen Einfluss haben kann, hinten, S. 375. 327 Jeffrey, The logic of decision, 166 ff.

III. Wahrscheinlichkeit

141

selbst in Ihrer Wohnung waren und die Pflanze gesehen haben, sondern jemanden fragen, der in der Wohnung war. Diese Person hat nicht speziell auf die Pflanze geachtet und kann Ihnen nur sagen, dass sie glaubt, dass die Pflanze verwelkt war. Ihre persönliche Überzeugung, dass die Pflanze tatsächlich gestorben ist, sei nach Erhalt dieser Information 75%. Die neue Wahrscheinlichkeit der Hypothese H kann nicht Pr(H|I) sein, wenn Sie nicht sicher wissen, dass das Indiz I gegeben ist. Die Addition der vier Wahrscheinlichkeiten Prneu (H & I), Prneu (H & ¬I), Prneu (¬H & I) und Prneu (¬H & I) muss weiterhin 1 ergeben, denn eines der Szenarien muss eingetreten sein, und die Szenarien schließen sich gegenseitig aus. Die Wahrscheinlichkeiten der Szenarien müssen daher so umverteilt werden, dass sie sich nach wie vor zu 1 summieren. Für diese Umverteilung gibt es natürlich zahllose Möglichkeiten. Aber in Anbetracht dessen, dass sich ausschließlich die Wahrscheinlichkeit von I geändert hat, und diese Information das Verhältnis der Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen Szenarien nicht beeinflusst, ist die neutralste Möglichkeit der Anpassung diejenige, die das Verhältnis der Wahrscheinlichkeiten unverändert lässt. Eine vernünftige Antwort wäre daher, dass das Verhältnis der neuen und alten Wahrscheinlichkeiten jedes Szenarios dem Verhältnis der neuen und alten Wahrscheinlichkeit von I entsprechen sollte, also Prneu (H & I) Prneu (I) = . Pralt (H & I) Pralt (I)

Abbildung 9: Baumdiagramm des Pflanzen-Problems nach probabilistischer Information zum Schicksal der Pflanze.

142

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Die Wahrscheinlichkeiten jedes Szenarios – jedes Astes des Wahrscheinlichkeitsbaumes gemäß Abbildung 9 – lassen sich daher berechnen durch Prneu (H & I) = Pralt (H & I)

Prneu (I) . Pralt (I)

Konkret ergibt sich für Prneu (H & I) ein Wert von 0,26.328 Wie ein Vergleich von Abbildung 8 mit Abbildung 9 zeigt, hat sich am Verhältnis der Wahrscheinlichkeiten nichts geändert, wenn man die Wahrscheinlichkeiten aller Pfade des Baumes entsprechend aufaddiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Pflanze gegossen wurde, ergibt sich gemäß dem Satz der totalen Wahrscheinlichkeit aus der Addition der Wahrscheinlichkeit, dass sie gegossen wurde und gestorben ist und dass sie gegossen wurde und überlebt hat, also Prneu (H) = Pralt (H & I)

Prneu (I) Prneu (¬I) + Pralt (H & ¬I) . Pralt (I) Pralt (¬I)

(14)

Konkret Prneu (H) = 0,14 ×

0,76 0,24 + 0,56 × = 0,5 . 0,41 0,59

Mit anderen Worten sollte sich Ihre Überzeugung, dass Ihr Freund die Pflanze gegossen hat, nachdem Sie überzeugt sind, dass die Pflanze mit einer Wahrscheinlichkeit von 75% gestorben ist, auf 50% (gerundet) senken. Dies ist weniger als die ursprüngliche Annahme einer Wahrscheinlichkeit von 70%, dass die Pflanze gegossen wird, aber mehr als die Wahrscheinlichkeit von 34% für das Gießen, von der Sie ausgehen können, wenn Sie mit Sicherheit wissen, dass die Pflanze gestorben ist. Dies leuchtet auch intuitiv ein, weil das Indiz eben nicht sicher gegeben ist und sich die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit daher auch weniger stark ändern sollte als bei sicherer Kenntnis des Indizes. Für den Fall, dass das Indiz mit Sicherheit bekannt ist, also Prneu (I) = 1, vereinfacht sich Gleichung (14) zu Bayes’ Theorem: Prneu (H) = Pralt (H & I) = Pralt (H & I) =

1 0 + Pralt (H & ¬I) Pralt (I) Pralt (¬I) 1 Pralt (I)

Pralt (H & I) . Pralt (I)

328 Der Wert von Pr (H & I) ergibt sich aus Abbildung 7 auf S. 134. Die Wahrscheinlichkeit alt von Prneu (I) ist gemäß Abbildung 9 0,5 + 0,26 = 0,76.

III. Wahrscheinlichkeit

143

Gleichung (14), auch bekannt als Jeffreys Regel (oder »Jeffrey Konditionalisierung«329 ), ist demnach eine generalisierte Form von Bayes’ Regel, die zeigt, wie man seine Überzeugungen im Lichte unsicherer Information anpassen sollte (Jeffrey selber nennt sie »probability kinematics«).330 Wie für die Konditionalisierung lässt sich für die Jeffrey Konditionalisierung ein diachrones Dutch Book Argument nachweisen; d. h. das Subjekt, das eine andere Regel der Änderung seines Überzeugungsgrads im Lichte probabilistischer Information bekannt gibt als die Jeffrey Regel, setzt sich einer Kombination von Wetten aus, die ihm einen sicheren Verlust bescheren.331 Meist wird Jeffreys Regel in der folgenden Form geschrieben, die sich durch algebraische Umformung von Gleichung (14) ergibt:332 



Prneu (H) = Pralt H|I Prneu (I) + Pralt H|¬I Prneu (¬I) . Jeffreys Regel lässt sich für eine beliebige Anzahl von Indizien Ii generalisieren, in diesem Fall lautet sie, unter der Voraussetzung, dass Prneu (H|Ii ) = Pralt (H|Ii ) (Annahme der Invarianz) für alle H und i Prneu (H) =

n X



Pralt H|Ii Prneu (Ii ) .

(15)

i=1

Jeffreys Regel bildet zusammen mit Bayes’ Regel den logischen Kern der Bayes’ Netze, die weiter hinten vorgestellt werden. 10. Beweiskraft als Likelihood-Quotient Die Wahrscheinlichkeit Pr(I|H) wird als »Likelihood« bezeichnet.333 Dies ist eine einigermaßen unglückliche Bezeichnung,334 denn Likelihood bedeutet auf Englisch nichts anderes als Wahrscheinlichkeit, aber eine Likelihood im Bayes’schen Sinne ist eben nicht eine beliebige Wahrscheinlichkeit, sondern spezifisch Pr(I|H): die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass ein Indiz vorliegt bei gegebener Hypothese. Auf Deutsch kann man die Verwirrung vermeiden, indem man Likelihood nicht übersetzt.335 329

Z. B. Fraassen, Erkenntnis 1986, 17–24. Jeffrey, The logic of decision, 164, 171. 331 Armendt, Philosophy of Science 1980, 583–588; Skyrms, Philosophy of Science 1987, 1–20. 332 Jeffrey, The logic of decision, 169; Jeffrey, Subjective probability, 58. Die Umformung ergibt sich durch Anwendung der Multiplikationsregel, die erlaubt Pralt (H & I)/Pralt (I) zu schreiben als Pralt (H|I) und entsprechend Pralt (H & ¬I)/Pralt ( ¬I) als Pralt (H|¬I). 333 Lindley, Understanding uncertainty, 87. Die Bezeichnung geht auf den Statistiker R.A. Fisher (1890–1961) zurück, Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 174. 334 Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 174. 335 So verzichtet Rüßmann, RuP 1982, 62–69, 65 ff., z. B. auf eine Übersetzung. Bei de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 176, wird Likelihood als »Mutmasslichkeit« übersetzt, dies hat sich aber nicht durchgesetzt. 330

144

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Der Likelihood-Quotient336 

Pr I|H  Pr I|¬H gibt an, wie stark ein Indiz eine Hypothese H stützt, und damit, wie eine anfängliche Überzeugung für die Wahrheit von H gemäß Bayes’ Regel im Lichte neuer Erkenntnisse anzupassen ist;337 er wird gelegentlich auch als »Bayes Faktor« bezeichnet.338 Am einfachsten ist dies aus Bayes’ Regel in ihrer Chancen-Form ersichtlich. Um zur Bayes’ Regel in Chancen-Form zu gelangen geht man von Bayes’ Regel aus 

Pr I|H Pr (H) Pr H|I = . Pr (I) 

Natürlich gilt auch 



Pr I|¬H Pr (¬H) Pr (I)





Pr ¬H|I = und folglich

Pr H|I Pr I|H Pr (H)  =  . Pr ¬H|I Pr I|¬H Pr (¬H) Oder in Worten ausgedrückt a-posteriori Chance = Likelihood-Quotient (LQ) · a-priori Chance. Angenommen, man möchte wissen, ob eine rote Kugel aus Urne A oder Urne B gezogen wurde. Wenn beide Urnen 70 rote und 30 blaue Kugeln enthalten, ist das Indiz, dass eine rote Kugel gezogen wurde, wertlos: Die Likelihood, eine rote Kugel zu ziehen, ist unter beiden Hypothesen (A = »rote Kugel wurde aus Urne A gezogen« und B = »rote Kugel wurde aus Urne B gezogen«) gleich groß. Der Likelihood-Quotient ist entsprechend 1, und an der anfänglichen Überzeugung, dass die Kugel aus Urne A stammt, ändert sich nichts. Nur wenn das Verhältnis der Likelihoods von 1 verschieden ist, ist das Indiz diagnostisch. Wenn Urne A 90 rote und zehn blaue Kugeln enthält und Urne B 70 rote und 30 blaue Kugeln, dann ist die Likelihood, dass eine rote Kugel gezogen wurde, unter A 90% und unter B 70%. Der Likelihood-Quotient ist 0,9/0,7 ≈ 1,28; das Indiz »rote Kugel« ist (schwach) diagnostisch für A; d. h. die 336

Rüßmann, RuP 1982, 62–69, 65, spricht von »Likelihood-Verhältnis«. Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 181. 338 Kass/Raftery, Journal of the American Statistical Association 1995, 773–795, 776; Howson/ Urbach, Scientific reasoning, 97. 337

III. Wahrscheinlichkeit

145

Überzeugung, dass A wahr ist, wird gestärkt.339 Wie stark diagnostisch ein Indiz ist, hängt davon ab, wie stark der Likelihood-Quotient von 1 abweicht. Eine informelle Umschreibung dieses Verständnisses von Beweiswert findet sich in einem Urteil des VI. Zivilsenats vom 21. Januar 1991: Gemäß dem BGH verkennt der Tatrichter die Beweiskraft eines Indizes, wenn er einem Indiz, das »sich zwanglos mit dem gegensätzlichen Vortrag beider Parteien vereinbaren [lässt]«340 Indizwirkung zuerkennt. Oder anders ausgedrückt: Ein Indiz, das unter der Hypothese des Klägers und unter der Hypothese des Beklagten gleich wahrscheinlich ist, hat keine Beweiskraft (i. c. vom BGH als »Indizwirkung« bezeichnet). Je überraschender das Vorliegen eines Indizes ist, wenn die Hypothese falsch, desto mehr stärkt es den Glauben an die Hypothese, wenn sein Vorliegen beobachtet wird.341 Jeffrey nennt eine weitere Form dieser Regel »Poppers Regel«: Je unwahrscheinlicher eine Voraussage gemäß einer Theorie ist, desto stärker wird die Theorie bestätigt, wenn sich die Voraussage als zutreffend herausstellt; daraus folgt, dass man beim Versuch, eine Theorie zu falsifizieren, zuerst ihre unwahrscheinlichen Voraussagen testen sollte.342 Angenommen, in der Urne B würden sich nur 5 rote Kugeln befinden. Die Wahrscheinlichkeit, eine rote Kugel zu ziehen, wenn die Kugel nicht aus Urne A gezogen wurde, wäre dann gering – es wäre ungewöhnlich, eine rote Kugel aus Urne B zu ziehen. Der LikelihoodQuotient für das Ziehen einer roten Kugel ist dann 

Pr rote Kugel|Urne A 0,9  = = 18 . 0,05 Pr rote Kugel|Urne B Dies bedeutet, dass sich die rationale Überzeugung dafür, dass die Kugel aus der Urne A gezogen wurde, von anfänglich 0,5 auf rund 0,95 erhöhen muss,343 wenn eine rote Kugel gezogen wird. Dass sich die anfängliche Überzeugung umso stärker ändern muss, je stärker der Likelihood-Quotient von 1 verschieden ist, leuchtet intuitiv ein und erklärt, warum das Einfügen eines fiktiven Hotels einem Autor eines Reiseführers erlaubt, überzeugend nachzuweisen, dass seine Arbeit kopiert wurde, wenn sich das fiktive Hotel in einem anderen Reiseführer findet: dass sich der gleiche erfundene Hotelname dort findet, wenn der zweite Autor nicht kopiert hat, wäre sehr überraschend, so dass der Nachweis eines gleichen fiktiven Hotels eine hohe Beweiskraft hat.344 339 Bei einem Likelihood-Quotienten von 1,28 erhöht sich die Anfangswahrscheinlichkeit von 0,5, dass die rote Kugel aus Urne A stammt, auf 0,56. 340 BGH NJW 1991, 1834, 1835. 341 Cox, The algebra of probable inference, 91 f.; Salmon, Scientific Inference, 118; Howson/ Urbach, Scientific reasoning, 97 f. 342 Jeffrey, Probability and the art of judgment, 58. 343 Die a-posteriori Chance ist 18:1, um zur Wahrscheinlichkeit zu gelangen, muss man die Chance durch (Chance +1) teilen, also 18/19 = 0,947. 344 Weitere Beispiele bei Howson/Urbach, Scientific reasoning, 98.

146

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Der Likelihood-Quotient gibt mit anderen Worten den Beweiswert (die Beweiskraft) eines Indizes an, verstanden als Maß, wie stark die Berücksichtigung des Indizes die Überzeugungsbildung beeinflussen sollte.345 In der statistischen Literatur wird stattdessen häufig der Logarithmus des Likelihood-Quotienten als »weight of evidence« bezeichnet.346 Ein Likelihood-Quotient von 100 zugunsten von H (d. h. das Indiz ist unter der Hypothese H hundert Mal wahrscheinlicher als unter der Annahme, dass H nicht zutrifft) entspricht einer »weight of evidence« zugunsten von H1 von 2.347 Der Vorteil, statt mit LikelihoodQuotienten mit dem Logarithmus des Likelihood-Quotienten zu rechnen, liegt unter anderem darin, dass man, statt zu multiplizieren, addieren kann, um die Beweiskraft mehrerer unabhängiger Indizien zu berechnen.348 Der Nachteil für mathematisch weniger gebildete Menschen ist, dass damit eine weitere Funktion eingeführt wird, die erst verstanden werden muss. Ich verzichte deshalb darauf, die »weight of evidence« im statistischen Sinne zu berechnen und verwende den Likelihood-Quotienten für die Beweiskraft eines Indizes. Intuitiv vergisst man oft, dass für die Beweiskraft eines Indizes nicht nur entscheidend ist, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass das Indiz vorliegt, wenn die Hypothese zutrifft, sondern auch, wie groß sie ist, wenn die Hypothese nicht zutrifft.349 Auch wenn man weiß, dass in der Urne A 90 rote Kugeln sind,350 darf man nicht einfach annehmen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Kugel aus Urne A stammt, sehr hoch ist: es könnte sein, dass in Urne B anteilsmäßig noch mehr rote Kugeln sind. Ohne zu wissen, wie oft das Indiz auch vorliegt, wenn die Hypothese nicht zutrifft, kann man über die Beweiskraft des Indizes schlicht nichts sagen.351 Die Likelihood Pr(I|H) alleine ist bloß pseudo-diagnostisch.352 Die gleiche Überlegung zeigt, dass auch ein Indiz, dass bei gegebener Hypo345

Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021–1057, 1025; Rüßmann, RuP 1982, 62–69, 65 f.; Schum/Martin, Law & Society Review 1982, 105–151, 108; Nack, MDR 1986, 366–371, 368; Nack, Kriminalistik 1995, 466–470, 467; Anderson/Schum/Twining, Analysis of evidence, 252; Howson/Urbach, Scientific reasoning, 97 f.; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rz. 600; Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 181. Fitelson, Studies in Bayesian Confirmation Theory bietet eine umfassende, wenn auch nicht einfach verständliche, Verteidigung des (Log-)Likelihood-Quotienten als quantitatives Maß des Beweiswerts gegen andere Beweiswert-Maße, mit zahlreichen weiterführenden Hinweisen. 346 Good, in: Good (Hrsg.), Good thinking, 129–148, 132, m. w. H. 347 Der Logarithmus von y zur Basis x gibt an, wie oft man x mit sich selbst multiplizieren muss, um auf y zu gelangen. Wo die Basis nicht speziell angegeben wird, ist sie 10. Log(100) ist daher 2. Man kann auch sagen, dass der Logarithmus die Umkehrung der Potenz ist, denn 102 = 100. 348 Good, in: Good (Hrsg.), Good thinking, 129–148, 132. 349 Siehe Fischhoff/Beyth-Marom, Psych. Rev. 1983, 239–260, 247 f., für Hinweise auf Studien, welche die Vernachlässigung von Pr(I|¬H) belegen. 350 Es wird im Folgenden immer angenommen, dass die Gesamtzahl der Kugeln in jeder Urne 100 ist, ohne dies – zur besseren Lesbarkeit – jedes Mal explizit zu schreiben. 351 Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rz. 592. 352 St. Evans/Over, Rationality and reasoning, 38 f.; Dawes, Everyday irrationality, 85.

III. Wahrscheinlichkeit

147

these selten vorliegt, diagnostisch sein kann, wenn es noch seltener ist, wenn die Hypothese nicht zutrifft.353 Wenn in Urne A nur fünf rote Kugeln sind, ist das Ziehen einer roten Kugel dennoch ein Hinweis darauf, dass die Kugel aus Urne A stammt, wenn in Urne B nur eine rote Kugel ist. Likelihood-Überlegungen zeigen auch, dass die Beweiskraft eines Indizes immer kontextabhängig ist, und es sinnlos ist, abstrakte Regeln zur Beweiskraft einzelner Beweismittel aufzustellen, wie dies die legale Beweistheorie getan hat. Angenommen, man findet den Zeigefingerabdruck von X auf einem Messer, das in der Brust einer Leiche steckt. Die Leiche befindet sich in einer Privatwohnung. Wenn X bestreitet, jemals in dieser Wohnung gewesen zu sein, ist der Zeigefingerabdruck auf der Tatwaffe ein ziemlich belastendes Indiz gegen ihn, denn wie sollte der Abdruck dorthin gelangen unter der Annahme, dass X nicht der Täter ist? Ganz anders die Beweiskraft des genau gleichen Zeigefingerabdrucks, wenn X in der Wohnung, in der die Leiche gefunden wurde, gelebt hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich seine Fingerabdrücke auf einem Messer in dieser Wohnung finden, ist jetzt auch unter der Annahme, dass er nicht der Täter ist, hoch. Das Indiz hat unter diesen Umständen nur eine geringe oder gar keine Beweiskraft. Verfehlt ist daher die Kritik, der Einsatz von Bayes’ Regel bei der Beweiswürdigung stelle einen Rückfall in die Zeiten des arithmetischen Beweises dar.354 Im Gegenteil, die Überlegungen, die angestellt werden müssen, um den Likelihood-Quotienten abschätzen zu können, zeigen gerade die Relativität der Beweiskraft. In der Literatur werden verschiedene »Übersetzungen« des Likelihood-Quotienten in Worte vorgeschlagen, die aber nicht übereinstimmen.355 In der Tabelle 6 werden die Vorschläge von Jeffreys, Evett et al. und Bender/Nack gegenübergestellt. In den letzten drei Spalten wird angegeben, welche Endwahrscheinlichkeit bei gegebener Anfangswahrscheinlichkeit und gegebenem Likelihood-Quotienten resultiert (Lesebeispiel: bei einer Anfangswahrscheinlichkeit von 10% und einem Likelihood-Quotienten von 3 resultiert eine Endwahrscheinlichkeit von 25%). Die Tabelle 6 zeigt exemplarisch das Problem bei der Übersetzung numerischer Werte in Worte: Verschiedene Menschen haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was die numerischen Werte bedeuten. Auch besteht das Risiko, dass die Fokussierung auf die abstrakte Beweiskraft des Indizes das verbirgt, was gemäß Bayes’ Regel gerade entscheidend ist: dass es sowohl auf die Anfangswahrscheinlichkeit der Hypothese wie die Beweiskraft des Indizes ankommt.356 Besser ist es daher, Hilfsmittel zu verwenden, die diesen Zusammenhang klar machen. Ben353

Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021–1057, 1026. So aber Nagel, in: Nagel/Bajons (Hrsg.), Beweis, 95–129, 110. 355 Neben den hier aufgeführten ist auch Nordgaard et al., Law, Probability & Risk 2012, 1–24, zu erwähnen, deren Werte aber nicht in die Tabelle passen. 356 Nack, MDR 1986, 366–371, 369 f. 354

kaum erwähnenswert beachtlich stark sehr stark bestimmend –

3 4–9 10–25 50–100 1’000 und höher 10’000 und höher

gering belastend stark sehr stark außerordentlich stark –

Bender/Nackb beschränkt beschränkt mäßig mäßig stark sehr stark

Evett et al.c 3% 4%–8% 9%–20% 33%–50% >90% >99%

25% 30%–50% 52%–73% 85%–92% >99% >99,9%

75% 80%–90% 90%–96% 98%–99% >99,9% >99,9%

A-posteriori-Wahrscheinlichkeit bei Anfangswahrscheinlichkeit 1% 10% 50%

Jeffreys, Theory of probability, 432. Jeffreys verwendet im Original die Ausdrücke »substantial«, »strong« und »decisive«, die ich mit beachtlich, stark und bestimmend übersetzt habe. b Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. 1, Rz. 429. In der neusten Auflage des Werkes, Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, fehlt diese verbale Skala, was man dahingehend deuten kann, dass sich die Autoren von ihr distanzieren. c Evett et al., Science & Justice 2000, 233–239, 236. Evett et al. verwenden im Original die Ausdrücke »limited«, »moderate« und »strong«, die ich mit beschränkt, mäßig und stark übersetzt habe.

a

Jeffreysa

Likelihood-Quotient

Beweiskraft in Worten nach

Tabelle 6: Likelihood-Quotienten auf verbalen Skalen.

148 Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

149

III. Wahrscheinlichkeit

der et al. schlagen eine Tabelle vor, aus der die sich aus Anfangswahrscheinlichkeit und Beweiskraft ergebende Endwahrscheinlichkeit abgelesen werden kann.357 In der Medizin wird ein graphisches Hilfsmittel, Fagans Nomogramm, verwendet, das den Zusammenhang zwischen Anfangswahrscheinlichkeit, LikelihoodQuotient und Endwahrscheinlichkeit ohne Rechnerei offenbar macht.358 Eine Abbildung findet sich in Anhang III. Fagans Nomogramm ist nicht nur einfach zu bedienen, und entkräftet damit den Einwand, Bayes’ Regel sei zu kompliziert in der Anwendung,359 sondern hat zudem den Vorteil, dass eine exakte Bestimmung der Endwahrscheinlichkeit damit nicht möglich ist und bewahrt so vor falscher Exaktheit, wo diese (in Anbetracht der meist geschätzten Anfangswahrscheinlichkeiten und Likelihood-Quotienten) nicht gerechtfertigt ist. a) Beweiskraft mehrerer unabhängiger Indizien Die Beweiskraft mehrerer (zumindest bedingt) unabhängiger (wichtig!) Indizien I1 und I2 ergibt sich aus der Multiplikation ihrer Likelihood-Quotienten.360 Für zwei unabhängige Indizien I1 und I2 gilt entsprechend 







Pr H|I1 & I2 Pr I1 |H Pr I2 |H Pr I1 & I2 |H Pr (H) Pr (H)  =    = Pr ¬H|I1 & I2 Pr I1 & I2 |¬H Pr (¬H) Pr I1 |¬H Pr I2 |¬H Pr (¬H) Oder in Worten ausgedrückt a-posteriori Chance = Likelihood-Quotient (LQ) · Likelihood-Quotient (LQ) · a-priori Chance Um beim Urnen-Beispiel zu bleiben: der Likelihood-Quotient dafür, dass zwei Mal hintereinander eine rote Kugel gezogen wird, wenn die Kugel nach dem ersten Zug zurückgelegt wird, beträgt 1,28 · 1,28 = 1,65. Entsprechend ist die anfängliche Überzeugung, dass die rote Kugel aus Urne A stammt, stärker anzupassen.361 b) Beweiskraft mehrerer abhängiger Indizien Eine wichtige Einschränkung der simplen sequentiellen Anwendung von Bayes’ Regel auf mehrere Indizien ist, dass sie nur zulässig ist, wenn die Indizien unabhängig sind.362 Sind sie es nicht – d. h., beeinflusst das Vorliegen von Indiz I1 357

Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rz. 703. Fagan, N. Engl. J. Med 1975, 257–257. Nance, Virginia Law Review 2001, 1551–1618, 1612, schlägt die Verwendung einer Tabelle vor, die letztlich dasselbe aussagt wie Fagans Nomogramm. 359 So Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.113. 360 Taroni et al., Bayesian networks, 218. 361 Bei einem Likelihood-Quotienten von 1,65 erhöht sich die Anfangswahrscheinlichkeit von 0,5, dass die rote Kugel aus Urne A stammt, auf 0,62. 362 Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021–1057, 1042. 358

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

das Vorliegen von Indiz I2 – ist es nicht zulässig, die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit nach Berücksichtigung des Indizes I1 als Anfangswahrscheinlichkeit bei der anschließenden Berücksichtigung von Indiz I2 zu nehmen. Intuitiv wird das Problem verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass man einen Teil der Beweiskraft von Indiz I2 bereits bei der Würdigung von Indiz I1 berücksichtigt hat, wenn Indiz I2 von Indiz I1 abhängig ist.363 Um beim Beispiel mit der Pflanze zu bleiben: Die Lebenspartnerin Ihres Freundes versichert, wie erwähnt, dass Ihr Freund die Pflanze gegossen habe, und Sie nehmen an, dass es fünf Mal wahrscheinlicher ist, dass sie die Wahrheit sagt, als dass sie lügt. Wenn die Freundin beim nächsten Treffen nochmals versichert, dass ihr Freund die Pflanze gegossen hat, und Sie wiederum annehmen, dass es fünf Mal wahrscheinlicher ist, dass sie die Wahrheit sagt, als dass sie lügt, würde sich Ihr Verdacht, dass Ihr unzuverlässiger Freund die Pflanze nicht gegossen hat, gemäß Bayes’ Regel auf 0,07 reduzieren, obwohl die Pflanze verwelkt ist. Das scheint unrealistisch und ist es auch: Die Aussage der Zeugin beim zweiten Treffen hängt offensichtlich von ihrer Aussage beim ersten Treffen ab. Man darf die beiden Aussagen nicht als unabhängige Indizien bewerten. Die einfachste Möglichkeit, die gemeinsame Beweiskraft untereinander abhängiger Indizien zu bewerten, ist sie zu einem einzigen Indiz mit einer einzigen bedingten Wahrscheinlichkeit zusammenzufassen;364 also die Anfangswahrscheinlichkeit gemäß dem Likelihood-Quotienten 

Pr I1 & I2 |H  Pr I1 & I2 |¬H anzupassen (also das Indiz »die Zeugin sagt beim ersten und beim zweiten Treffen, ihr Freund habe die Pflanze gegossen« zu betrachten, statt die beiden Aussagen einzeln zu berücksichtigen). Ein anderer Zugang ist, sich zu überlegen, dass gemäß Bayes’ Regel gilt365 



Pr H|I1 & I2 =

 Pr I2 |H & I1  Pr H|I1 . Pr I2 |I1

2 |H & I1 ) Wenn Pr(IPr(I nahe 1 ist, ändert sich durch die Berücksichtigung von I1 und I2 2 |I1 ) statt nur von Indiz I1 kaum mehr etwas an der Wahrscheinlichkeit von Pr(H|I1 ). Dies liegt daran, dass I2 über I1 hinaus nur wenig zusätzliche Information liefert.366 Im obigen Beispiel entspricht Pr(I2 |H & I1 ) der Wahrscheinlichkeit, dass

363

Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021–1057, 1042. Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021–1057, 1044; Nack, MDR 1986, 366–371, 369; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rz. 634. 365 Dies ergibt sich aus der Umformung von Pr(H|I & I ) = Pr(H)Pr(I & I |H)/Pr(I & I ) 1 2 1 1 2 2 durch die Produktregel; für die Details siehe Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021–1057, 1045, Fn. 59. 366 Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021–1057, 1045. 364

III. Wahrscheinlichkeit

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die Lebenspartnerin beim zweiten Treffen sagt, ihr Freund habe die Pflanze gegossen, unter der Voraussetzung, dass sie dies bereits beim ersten Treffen gesagt hat und ihr Freund die Pflanze tatsächlich gegossen hat. Man darf annehmen, dass Pr(I2 |H & I1 ) ≈ 1. Die Wahrscheinlichkeit von Pr(I2 |I1 ) wird aber nicht wesentlich geringer sein (weil die Freundin kaum ihrer ersten Aussage wider2 |H & I1 ) sprechen wird), weshalb der Quotient Pr(IPr(I relativ nahe bei 1 liegen wird. 2 |I1 ) Die Bestätigung der Aussage beim zweiten Treffen führt deshalb zu einer etwas größeren subjektiven Wahrscheinlichkeit der Hypothese H, aber eben nur zu einer geringfügig größeren, was auch unserer Intuition entspricht. c) Beweiswert nach Schreiber Schreiber, in Theorie des Beweiswerts, sagt nichts anderes, ohne sich explizit auf Bayes’ Regel zu beziehen und nur für den Spezialfall, dass Pr(I|H) = Pr(¬I|¬H) und Pr(H) = Pr(¬H). Die von Schreiber für den kombinierten Beweiswert zweier hinreichend bestätigender Beweismittel verwendete Formel lautet:367 b =

b1 b2 . b1 b2 + (1 – b1 )(1 – b2 )

Schreiber definiert bi als Wahrscheinlichkeit, dass die Aussage (eines Zeugeni ) wahr ist, genauer als das Verhältnis der »Anzahl der wahren Aussagen zu der Anzahl der wahren und falschen Aussagen«368 . Angenommen, ein Zeuge wird dazu befragt, ob Hypothese H wahr sei. Er kann nur mit »Ja« oder »Nein« antworten. Wenn H tatsächlich wahr ist, antwortet er in 70 von 100 Fällen mit »Ja«, seine Zuverlässigkeit gemäß Schreiber beträgt demnach 0,7. Es sei I = »Zeugei sagt, dass H wahr ist«. Es gilt daher b = Pr(I|H) = 0,7. Wenn der gleiche Zeuge gefragt wird, ob H wahr sei, wenn H tatsächlich falsch ist, wird er wiederum in 70 von 100 Fällen die korrekte Antwort geben, in diesem Fall »Nein«. Entsprechend gilt b = Pr(I|H) = Pr(¬I|¬H) = 0,7. Es gilt Pr(I|¬H) = 1 – Pr(¬I|¬H), denn unter der Voraussetzung, dass H nicht wahr ist, muss der Zeuge entweder »Ja« oder »Nein« sagen, entsprechend muss sich die Wahrscheinlichkeit, dass er eine der beiden Antworten gibt, auf 1 summieren. Man kann daher (1 – b) in Schreibers Formel ersetzen durch Pr(I|¬H). Entsprechend lautet Schreibers Formel für zwei Zeugen I1 und I2 



Pr I1 |H Pr I2 |H    . b= Pr I1 |H Pr I2 |H + Pr I1 |¬H Pr I2 |¬H

367 Schreiber, Theorie des Beweiswertes, 33. Diese Formel lehnt sich stark an eine von George Boole 1857 publizierte Formel zur Kombination des Beweiswerts von Zeugenaussagen an, Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 108, FN 1. 368 Schreiber, Theorie des Beweiswertes, 20, 26.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Dies entspricht Bayes’ Theorem wenn Pr(H) = Pr(¬H). Schreibers Formel zur Berechnung des Gesamtbeweiswerts mehrerer unabhängiger Zeugenaussagen ist daher ein Spezialfall von Bayes’ Theorem. Die einschränkenden Annahmen, die getroffen werden müssen, damit Schreibers Regel zutrifft, machen sie jedoch in der Praxis kaum anwendbar.369 Schreibers Formel gilt nur unter der Annahme, dass Pr(I|H) = Pr(¬I|¬H).370 Diese Annahme muss durchaus nicht zutreffen. Angenommen, der Zeuge ist ein Freund des Angeklagten, seine Aussage I sei »Ich habe den Angeklagten am Tatort gesehen« und Hypothese H »Der Angeklagte war am Tatort«. Wenn der Angeklagte wirklich nicht am Tatort war, wird der Zeuge – der dem Angeklagten freundschaftlich verbunden ist – wahrheitsgemäß sagen, dass er den Angeklagten nicht am Tatort gesehen hat, also Pr(¬I|¬H) = 1. Wenn der Angeklagte am Tatort war, kann es aber durchaus sein, dass der Zeuge dennoch sagt, dass er den Angeklagten nicht am Tatort gesehen hat, sei es, weil er ihn tatsächlich nicht gesehen hat, oder weil er zugunsten des Angeklagten lügt, ergo Pr(I|H) < 1. Die Annahme, die Schreibers Formel zugrunde liegt, würde also in diesem durchaus realistischen Beispiel nicht zutreffen. Allgemein formuliert trifft die Annahme immer dann nicht zu, wenn es andere Ursachen für das Nichtvorliegen des Indizes als das Nicht-Zutreffen der Hypothese gibt. Die Kritik an Schreibers Formel durch Bourmistrov-Jüttner und Geipel ist insofern gerechtfertigt.371 Schreibers Formel mag für den Spezialfall des Zeugen zutreffen, der wahrheitsgetreu über seine Beobachtung berichtet, jedoch ist Schreibers Behauptung, dass sie »ganz allgemein für jedes Beweismittel«372 gilt, nicht richtig. Schreibers Formel vernachlässigt weiter die a-priori-Wahrscheinlichkeit der Hypothese, respektive gilt nur für den Spezialfall, dass Pr(H) = 0,5 ist.373 Das macht Schreibers Formel unbrauchbar zur Berechnung der a-posteriori-Wahrscheinlichkeit einer Hypothese, wenn die a-priori-Wahrscheinlichkeit nicht zufälligerweise 0,5 ist. Es schließt hingegen nicht aus, dass man die Formel zur Berechnung des Gesamtbeweiswerts zweier Indizien verwendet, wenn die oben genannte Annahme von Pr(I|¬H) = 1 – Pr(¬I|¬H) zutrifft. Es bleibt jedoch unklar, wie Schreiber die Formel genau verstanden haben will.374 Einerseits betont er, sie diene der Berechnung des Gesamtbeweiswerts mehrerer Beweismittel, dann wieder schließt er aus der Formel auf die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit der Hypothese.375 Schreiber selbst scheint sich der Tatsache, dass man die 369

Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 311. Dies scheint Fill, De calculatione iustitiae iudicatorum, 315 f., zu übersehen. 371 Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 109 ff.; Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 216. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 311, sehen für Schreibers Formel »einen ungeheuer schmalen Anwendungsbereich«. 372 Schreiber, Theorie des Beweiswertes, 30. 373 Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 109. 374 Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 106. 375 Vgl. Schreiber, Theorie des Beweiswertes, 25, vs. 30. 370

III. Wahrscheinlichkeit

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a-posteriori-Wahrscheinlichkeit einer Hypothese nur unter der Berücksichtigung ihrer a-priori-Wahrscheinlichkeit beurteilen kann, nicht bewusst gewesen zu sein, wie folgendes von ihm stammendes Beispiel zeigt:376 »A besitzt ein goldenes Zigarettenetui der Art, die gerade in Mode ist. Auf einer Gesellschaft kommt es ihm abhanden. Bei der Nachforschung nach dem Täter wird ein solches bei B gefunden. B behauptet, sich auch ein solches in einem Kaufhaus gekauft zu haben. Da im Kaufhaus keine Rechnung ausgestellt wurde und die Kunden nicht persönlich bekannt sind, lässt sich ein Nachweis selten führen. Es sei unstreitig, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich auf dieser Gesellschaft zwei Besitzer mit einem solchen Etui finden, gleich 1% sei [Pr(I|¬H) = 0,01]. Dann wäre bei Fehlen weiterer Beweismittel die Wahrscheinlichkeit der Behauptung des A, B habe sein Etui gestohlen, 99% [Pr(H|I) = 0,99].«

Das ist natürlich falsch. Schreiber setzt unausgesprochen Pr(H|I) = 1 – Pr(I|¬H), oder konkret, Pr(schuldig|Etui) = 1 – Pr(Etui|unschuldig). Dies ist aber nur zulässig, wenn Pr(H) = Pr(¬H).377 Angenommen, es befinden sich 200 Personen auf der Gesellschaft. Unter der Annahme, dass das Etui tatsächlich auf der Gesellschaft abhandengekommen ist,378 und vor der Berücksichtigung weiterer Indizien, beträgt die Chance, dass eine bestimmte Person, die anwesend ist, der Täter ist, gemäß dem Indifferenzprinzip 1/199: Es gibt 200 mögliche Täter, einer ist der tatsächliche Täter, und es gibt keinen zureichenden Grund, einen der Anwesenden eher als Täter zu betrachten als einen anderen. Gemäß Schreiber beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass eine unschuldige Person ein solches Etui besitzt, 0,01 (»Wahrscheinlichkeit, dass sich auf dieser Gesellschaft zwei Besitzer mit einem solchen Etui finden, gleich 1%«). Die Wahrscheinlichkeit, dass der Dieb im Besitze eines solchen Etuis ist, sei 1 (d. h. es wird angenommen, dass es dem Dieb nicht gelingt, das Etui rechtzeitig verschwinden zu lassen).379 Der Likelihood-Quotient für das Indiz »ist im Besitze eines gleichen Etuis« beträgt entsprechend 1/0,01 = 100. Die a-posteriori Chance, dass die betreffende Person der Täter ist, beträgt daher a-posteriori Chance = 376

1 1 · = 0,5 0,01 199

Schreiber, Theorie des Beweiswertes, 15 (eckige Klammern durch den Verfasser eingefügt). Es handelt sich um einen typischen Fall der »prosecutor’s fallacy«, siehe dazu Thompson/ Schumann, Law and Human Behavior 1987, 167–187, 171; Stewart, Spektrum der Wissenschaft Juli 1997, 8. 378 Dies ist eine starke Annahme. Das Nachdenken über die richtige Anfangswahrscheinlichkeit führt sofort zur Überlegung, dass diese offensichtlich davon abhängt, ob das Etui auf der 1 Gesellschaft abhandengekommen ist. Nur dann ist eine Wahrscheinlichkeit von Anzahl Anwesende vernünftig. Wurde das Etui schon vorher gestohlen, oder hat das angebliche Opfer es zu Hause vergessen, so ist die Anfangswahrscheinlichkeit viel geringer. Denken gemäß Bayes’ Regel stützt unsere Intuition, die in einem solchen Fall wohl wäre, zu fragen, »Sind Sie sicher, dass Ihnen das Etui hier abhandengekommen ist? Haben Sie es nicht vielleicht zu Hause liegen gelassen?«. 379 Dies ist die für Schreiber günstigste Annahme; eine geringere Likelihood würde die a-posteriori Chance noch weiter sinken lassen. 377

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

oder in Wahrscheinlichkeit ausgedrückt 33%.380 Die Intuition, dass man nur gestützt auf den Fund eines gleichartigen Etuis den Besitzer des Etuis nicht wegen Diebstahls verurteilen sollte, ist also richtig. Schreiber verwendet das Beispiel allerdings dazu, um zu zeigen, dass die Einführung eines Beweismaßes von weniger als Gewissheit zu absurden Ergebnissen führen würde. Dazu ist es aber gerade nicht geeignet, denn eine rationale Überzeugungsbildung zeigt gerade, dass unsere Intuition, dass hier eine Verurteilung fehl am Platz ist, richtig ist.381 Schreibers Aufsatz führt auch aus einem anderen Grund auf den Holzweg:382 Schreiber scheint davon auszugehen, dass es Voraussetzung für die sinnvolle Anwendung seiner Formel ist, dass die Glaubwürdigkeit der zu würdigenden Zeugenaussagen »intersubjektiv nachprüfbar« ist.383 Die intersubjektive Nachprüfbarkeit liegt für ihn darin, dass sich die Wahrheit einer Zeugenaussage durch Augenschein überprüfen lasse, und die Umstände, unter denen sich die Zeugenaussagen in den mittels Augenschein überprüfbaren Fällen als wahr oder falsch erwiesen hätten, auch auf andere Fälle übertragbar seien.384 Dieser Gedanke ist nicht völlig falsch: Die empirische Forschung zur Lügendetektion beruht weitgehend darauf, dass der Versuchsleiter weiß, ob die Versuchspersonen lügen, und er das Verhalten in diesen Fällen mit dem Verhalten vergleichen kann, das diese zeigen, wenn sie nicht lügen.385 Allerdings wird diese Forschung nie dazu führen, dass sich verschiedene Experten bei der Beurteilung einer Zeugenaussage völlig einig darüber sind, wie groß die (subjektive) Wahrscheinlichkeit ist, dass der Zeuge in diesem spezifischen Einzelfall die Wahrheit sagt. Insofern ist die Kritik, dass sich die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen nicht einheitlich durch einen numerischen Wert ausdrücken lasse, richtig.386 Sie geht aber am Kern vorbei: Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie verlangt gerade nicht, dass sich alle Beobachter einig sind, wie glaubwürdig der Zeuge ist. Sie kümmert sich in ihrer Reinform nicht darum, woher die Teilüberzeugungen kommen, sondern nur, 380 Um von der Chance von 0,5 auf die Wahrscheinlichkeit zu gelangen, muss man wiederum die Chance durch (1 + Chance) dividieren; oder 0,5/1,5 = 0,33. 381 Schreiber, Theorie des Beweiswertes, 15. 382 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 102 f. 383 Schreiber, Theorie des Beweiswertes, 18 f. 384 Schreiber, Theorie des Beweiswertes, 19. Dass solche Fälle selten sind, worauf Arens, ZZP 1975, 1–48, 32, hinweist, ist offensichtlich. 385 Exemplarisch Vrij et al., Law and Human Behavior 2008, 253–265, 256: Die Hälfte der Versuchspersonen wurden gebeten, £ 10 aus einem Portemonnaie zu entwenden und dies dann abzustreiten. Die andere Hälfte der Versuchspersonen hat tatsächlich nichts entwendet. Alle Versuchspersonen müssen dann versuchen, Dritte zu überzeugen, dass sie die Wahrheit sagen. Die Aussagen werden auf Video aufgezeichnet und ausgewertet. 386 Arens, ZZP 1975, 1–48, 32; Bruns, ZZP 1978, 64–71, 70; Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 196, FN 74; Walter, Freie Beweiswürdigung, 175; Huber, Beweismaß, 109; Cohen, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 113–128, 123; Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 141 f.

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dass sie kohärent sind. Ihre Logik bleibt gültig unabhängig von der Wahrheit der Prämissen. Der deduktive Schluss von »Alle Menschen sind blond« und »Anna ist ein Mensch« auf »Also ist Anna blond« ist gültig, aber die Aussage »Anna ist blond« dennoch nicht zwingend wahr, weil die Prämisse, dass alle Menschen blond sind, falsch ist. Keinem Juristen würde es in den Sinn kommen, die deduktive Logik abzulehnen, nur weil sich nachweisen lässt, dass ein gemäß ihr gültiger Schluss nicht wahr ist. Die Logik kann sich nur zur Gültigkeit des Schlusses, nicht zur Wahrheit der Prämissen äußern. Nichts anderes gilt bei der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie, nur dass diese, für ihre praktische Anwendung, voraussetzt, dass Teilüberzeugungen numerisch erfasst werden. Für die axiomatische Herleitung der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie genügt es hingegen, wenn das Subjekt seine Überzeugungen auf einer ordinalen Skala einordnen kann, d. h. sagen kann, ob es eine Behauptung mehr, gleich viel oder weniger als eine andere Behauptung glaubt.387 Dass dies bei Zeugenaussagen möglich ist, bestreiten auch Bruns und Walter nicht.388 Wer subjektive Ansätze einer numerischen Fixierung des Beweiswerts von Zeugenaussagen ohne Begründung abtut,389 verschließt sich einer wichtigen Erkenntnisquelle: »Wer dem zustimmt [sc. dass sich Überzeugungsgrade ordinal ordnen lassen] und dennoch Likelihood-Erwägungen zur Kontrolle seiner Überzeugungsbildung mit dem genannten Einwand [sc. die Berechnung exakter subjektiver Wahrscheinlichkeiten sei Unsinn] ablehnt, gibt lediglich zu erkennen, dass ihm das Erlernen nichttrivialer Denkgesetze zu viel ist.«390 Nur weil das Verständnis mathematischer Formeln für Juristen (den Schreibenden eingeschlossen) zeitraubend und schwierig ist, bedeutet das nicht, dass aus ihnen kein Erkenntnisgewinn folgen kann. 11. Beweiswert nach dem schwedischen Beweiswertmodell Eine Diskussion des Beweiswerts wäre unvollständig ohne Berücksichtigung des schwedischen Beweiswertmodells, das auf Per Ekelöf zurückgeht und von Halldén und Edman weiterentwickelt und formalisiert wurde (das Modell wird daher auch als »Ekelöf-Halldén-Edman« Modell bezeichnet).391 In Deutschland wurde 387

Savage, The foundations of statistics, 30 ff. Bruns, ZZP 1978, 64–71, 66; Walter, Freie Beweiswürdigung, 178. 389 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.57, insb. FN 614 zu Rüßmann, in: Habscheid/Schwab (Hrsg.), Festschrift für Heinrich Nagel, 329–351. 390 Rüßmann, RuP 1982, 62–69, 68. 391 Ekelöf, ZZP 1962, 289–301; Ekelöf, Scandinavian studies in law 1964, 45–66; Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363; Edman, in: Hansson (Hrsg.), Modality and Morality, 180–188; Halldén hat (zur Beweiswertmethode) nur auf Schwedisch publiziert, Halldén, Tidskrift for Rettsvitenskap 1973, 55–64. Eine Zusammenfassung von Halldén, Tidskrift for Rettsvitenskap 1973, 55–64 auf Englisch findet sich bei Hansson, in: Gärdenfors/ Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 75–97, 76 ff. Der Ausdruck »Ekelöf-Halldén388

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es insbesondere über den schwedisch sprechenden deutschen Zivilrechtslehrer Rudolf Bruns und seinen Gedankenaustausch mit dem in Uppsala lehrenden Per Ekelöf ,392 der auch auf Deutsch publizierte, rezipiert. Allerdings konzentrierte sich die Diskussion vorwiegend auf die Frage des Beweismaßes (»Överviktsprincip«, oder Überwiegensprinzip).393 Die Aussagen der Beweiswertmethode zur Beweiswürdigung, namentlich der Kombination von Indizien, wurden mit den übrigen »mathematischen Berechnungen« zusammengefasst und abgetan.394 Zentrale Begriffe des Beweiswertmodells sind Beweisthema (factum probandum) und Beweisfakten (factum probans).395 Beweisthema ist die zu beweisende Tatsachenbehauptung.396 Beweisfakten sind beobachtbare Tatsachen, die relevant für das Beweisthema sind.397 Nach der hier verwendeten Terminologie handelt es sich um Beweismittel (Ekelöf lehnt den Begriff Beweismittel für Beweisfaktum ab, weil er unter »Beweismittel« nur die gerichtliche Anordnung versteht, mit der sich ein Gericht Kenntnis von Indizien verschafft; z. B. die Zeugeneinvernahme, nicht aber den Inhalt der Zeugenaussage).398 Indizien haben unter dem Beweiswertmodell nur dann einen Beweiswert (evidentiary value), wenn eine kausale Beziehung zwischen Tatsachenbehauptung und Indiz besteht.399 Diese Beziehung wird als Beweismechanismus bezeichnet.400 Edman hat die Analogie mit einem Messinstrument geprägt:401 Ein Indiz zeigt an, ob eine Tatsachenbehauptung wahr ist. Es ist eine Art »Messinstrument« für das Beweisthema. Ein Messinstrument kann verborgene Fehler aufweisen, Edman Theorie« wird z. B. durch Levi, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 27–43, 27, oder Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 47, verwendet. 392 Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 343. 393 Bruns, Zivilprozeßrecht, 285 f.; Musielak, in: Lüderitz/Schröder (Hrsg.), Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, 451–471; zur Kritik Walter, Freie Beweiswürdigung, 173 ff. 394 Walter, Freie Beweiswürdigung, 178 f. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit Ekelöf s Formeln zur Berechnung des Beweiswerts mehrerer Indizien findet sich in der deutschsprachigen Literatur ersichtlich nur bei Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 312 ff., und Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 87 ff. 395 Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 344; Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 11; Goldsmith, Acta Psychologica 1980, 211–221, 231; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 119. 396 Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 11; Goldsmith, Acta Psychologica 1980, 211–221, 211; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 120. 397 Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 12; Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 47. 398 Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 344. 399 Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 47; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 124; Freeling/Sahlin, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 58–74, 59. 400 Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 47; Klami/ Gräns/Sorvettula, Law and truth, 46; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 124; Freeling/Sahlin, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 58–74, 59; Sahlin/ Rabinowicz, in: Smets/Gabbay (Hrsg.), Handbook of defeasible reasoning, 247–265, 248 f. 401 Edman, in: Hansson (Hrsg.), Modality and Morality, 180–188, 181 f.

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die dazu führen, dass das Instrument einen falschen Messwert anzeigt. Ebenso kann ein Indiz, obwohl die Tatsachenbehauptung wahr ist, anzeigen, dass sie falsch ist, d. h. der Beweismechanismus funktioniert nicht. Man kann dem Indiz nur in dem Ausmaß einen Beweiswert zumessen, in dem man annimmt, dass der Beweismechanismus richtig funktioniert, d. h. das Messinstrument »Indiz« den richtigen Wert (wahr oder falsch) der Tatsachenbehauptung angibt.402 Wenn ein Zeuge eine bestrittene Tatsachenbehauptung bestätigt, so kann dies darauf zurückzuführen sein, dass er die entsprechende Tatsache selbst wahrgenommen hat und wahrheitsgetreu schildert (die Wahrnehmung verursacht die Aussage; der Beweismechanismus funktioniert). Es kann aber auch sein, dass er nicht das wahrgenommen hat, was er glaubt, wahrgenommen zu haben (er täuscht sich ohne Absicht) oder dass er lügt. In diesem Fall funktioniert der Beweismechanismus nicht; das »Messinstrument« zeigt falsch an.403 Der Beweiswert des Zeugen hängt vom Vertrauen darin ab, dass der Beweismechanismus so funktioniert, wie er funktionieren sollte. Dieses Vertrauen wiederum hängt von dem ab, was Ekelöf als »Hilfsfakten« bezeichnet: Tatsachen, die nach der allgemeinen Lebenserfahrung etwas darüber aussagen, ob der Beweismechanismus zuverlässig funktioniert.404 Im Falle des Zeugnisses sind beispielsweise das Verhalten des Zeugen und die Stimmigkeit seiner Aussage Hilfsfakten dafür, dass der Beweismechanismus funktioniert, d. h. die Aussage des Zeugen mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Der fundamentale Unterschied der Beweiswertmethode zur subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie – von Vertretern der Beweiswertmethode als »theme probability model«405 oder »Thema-Methode«406 bezeichnet – liegt darin, dass die Beweiswertmethode keine Aussage zur Wahrscheinlichkeit des Beweisthemas bei gegebenen Indizien macht, sondern zur Wahrscheinlichkeit, dass der Beweismechanismus funktioniert;407 oder anders ausgedrückt, keine Aussage dazu, ob die Tatsachenbehauptung wahr ist, sondern zu welchem Grad sie durch die vorliegenden Indizien bewiesen wird.408 Während es Aufgabe des Statistikers (sic) 402 Freeling/Sahlin, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 58–74, 59; Sahlin/Rabinowicz, in: Smets/Gabbay (Hrsg.), Handbook of defeasible reasoning, 247–265, 249 f. 403 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 126. 404 Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 11; Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 344. 405 Goldsmith, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 104–113, 105. 406 Klami/Gräns/Sorvettula, Law and truth, 124; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 147. 407 Levi, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 27–43, 40; Sahlin/ Rabinowicz, in: Smets/Gabbay (Hrsg.), Handbook of defeasible reasoning, 247–265, 249. 408 Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 47; Goldsmith, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 104–113, 106; Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 358: »der Beweiswert ist immer ein Grad der Bewährung, der Bestätigung«. Ekelöf s Formulierungen sind aber nicht immer

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sei, herauszufinden, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass das Beweisthema wahr ist, sei es Aufgabe des Gerichts, festzustellen, in welchem Ausmaß die Tatsachenbehauptungen bewiesen sind.409 Der Richter müsse sein Urteil aufgrund der vorliegenden Beweisfakten rechtfertigen können, d. h. sagen, zu welchem Grad die dem Urteil zugrundeliegenden Sachverhaltsannahmen durch Beweismittel gestützt werden.410 Diesen Grad der Stützung einer Behauptung durch die Beweismittel liefere ihm die Beweiswertmethode, nicht aber die »ThemaMethode«. Daraus folgt der zweite wichtige Unterschied zwischen der Beweiswertmethode und der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie: Vertreter der Beweiswertmethode lehnen das Axiom der Additivität ab.411 Während eine Tatsachenbehauptung nur wahr oder falsch sein kann, und daher, wenn sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 70% wahr ist, logisch zwingend mit einer Wahrscheinlichkeit von 30% falsch sein muss, kann die gleiche Tatsachenbehauptung erwiesenermaßen wahr oder erwiesenermaßen falsch sein, oder es ist schlicht unbewiesen, ob sie wahr oder falsch ist.412 Dass die vorliegenden Indizien das Beweisthema nicht beweisen, bedeutet nicht, dass es nicht der Fall ist, es bedeutet nur, dass es nicht bewiesen ist.413 Der Beweis für eine Tatsachenbehauptung ist nicht gleichzeitig der Beweis für ihre Negation. Ich kann es aufgrund der vorliegenden Beweismittel für 30% erwiesen erachten, dass der Beklagte das Geld aus dem Tresor genommen hat, und zu 20%, dass er es nicht aus dem Tresor genommen hat. Dazwischen liegt eine »Grauzone«414 des nicht Bewiesenen von 50%. Diese Aufteilung des Beweises in »bewiesen«, »Gegenteil bewiesen« und »unbewiesen« erinnert stark an die herrschende Lehre in der Schweiz und in Deutschland, welche die richterliche Überzeugung aufteilt in »volle Überzeugung für die Wahrheit der Behauptung«, »volle Überzeugung für die Falschheit der Behauptung« und »non liquet«, d. h. weder eine Überzeugung für noch gegen die Wahrheit der tatsächlichen Behauptung.415 Sie ist aber konzeptuell grundsätzlich ganz klar, manchmal scheint er dennoch eine Aussage zur Wahrscheinlichkeit des Beweisthemas treffen zu wollen, Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 90 f.; z. B. Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 19, wo er plötzlich davon spricht »the probability of the theme at issue will be reduced by the proof to the contrary«, wo es doch um den Beweiswert der Beweismittel geht. 409 Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 50. 410 Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 50, unter Hinweis auf Halldén, Tidskrift for Rettsvitenskap 1973, 55–64, 57. 411 Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 13 f.; Goldsmith, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 104–113, 112; Klami/Gräns/ Sorvettula, Law and truth, 101 ff.; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 144 ff. 412 Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 349 f.; Goldsmith, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 104–113, 112. 413 Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 50. 414 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 145. 415 Wie Motsch, in: Klug et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig, 334–348, 25 f., zeigt, geht diese Dreiteilung auf das gemeine Recht zurück; sie hat sich aber v. a. aufgrund der Arbeit

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verschieden: In der herrschenden deutschen und schweizerischen Lehre und Rechtsprechung resultiert die »Grauzone« daraus, dass die richterliche Überzeugung, ehe er für die beweisbelastete Partei entscheiden muss, einen Schwellwert überschreiten muss, der deutlich über 50% liegt (hinten, S. 545 f.). Die richterliche Überzeugung kann unter diesem Schwellwert liegen, ohne dass er deshalb gleich überzeugt ist, dass das Gegenteil wahr ist. Nimmt man, beispielsweise, eine Schwelle von 90% an, und der Richter ist zu 70% überzeugt, dass die Tatsachenbehauptung wahr ist, so muss er die Tatsachenbehauptung nach herrschender Lehre für falsch erachten, da die Beweismaßgrenze nicht erreicht wurde. Nach den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie muss seine Überzeugung, dass die Behauptung falsch ist, in dem Beispiel 30% betragen, was aber die Schwelle von 90% ebenfalls nicht erreicht, so dass er sie auch nicht als falsch erachten soll. Wie groß die Grauzone ist, hängt in diesem Modell daher davon ab, wo die Entscheidungsgrenze festgesetzt wird (hinten, S. 143 f.). Auf den Beweiswert im Sinne des Beweiswertmodells kommt es jedoch nicht an, das deutsche und schweizerische Modell der Beweiswürdigung ist ein Überzeugungsmodell (S. 162 ff.). Damit kommen wir zum letzten wesentlichen Unterschied der Beweiswertmethode und der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie: Während Bayes’ Regel verlangt, dass eine Anfangswahrscheinlichkeit für die Tatsachenbehauptung angegeben wird, kommt die Beweiswertmethode ohne Anfangswahrscheinlichkeiten aus, weil sie keine Aussage zur Wahrscheinlichkeit der Tatsachenbehauptung, sondern des Grades ihrer Bestätigung durch die vorliegenden Indizien macht, und diese Aussage lässt sich ohne Berücksichtigung der Anfangswahrscheinlichkeit machen.416 Der Verzicht auf eine Anfangswahrscheinlichkeit für die Hypothese ist gleichzeitig der große Vorteil und die große Schwäche des Beweiswertmodells.417 Vorteil ist, dass man keine Anfangswahrscheinlichkeiten bestimmen muss, wenn man keine vernünftigen Anhaltspunkte dafür hat, wie hoch diese sein könnte. Nach der Beweiswertmethode ist die Bestätigung der Hypothese vor Abnahme irgendwelcher Beweismittel immer gleich Null.418 Nachteil ist, dass man ohne Anfangswahrscheinlichkeit keine Aussage zur subjektiven Wahrscheinlichkeit der zu beweisenden Tatsachenbehauptung machen kann.419 Genau dies verlangt aber das deutsche und schweizerische Recht (hinten, S. 162 ff.).

von Rosenberg durchgesetzt und ist heute ganz herrschend, statt aller MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 93; für die Schweiz Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 2.57. 416 Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 358; Sahlin/ Rabinowicz, in: Smets/Gabbay (Hrsg.), Handbook of defeasible reasoning, 247–265, 258 f. 417 Shafer, International Journal of Intelligent Systems 1986, 155–179, 165 f. (allgemein zu Vor- und Nachteilen von Modellen, die auf Anfangswahrscheinlichkeiten verzichten). 418 Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 358; Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 14; Goldsmith, in: Gärdenfors/ Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 104–113, 109. 419 Statt aller Poincaré, Science et Hypothése, Kap. XI, V.

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Der Nutzen der Beweiswertmethode liegt vor allem darin, dass sie dem Richter Regeln liefert, wie die Beweiswerte mehrerer Indizien zu kombinieren sind. Angenommen, die zu beweisende Tatsachenbehauptung sei die Behauptung »Der Riss in der Wand wurde durch den Unternehmer verursacht«. Indiz sei die Aussage eines Zeugen, der aussagt, der Unternehmer habe dem Beton zu viel Zuschlagstoffe zugesetzt, um an Zement zu sparen. Der Richter misst der Aussage einen Beweiswert von 60% bei, weil der Zeuge ein ehemaliger Arbeitnehmer des Unternehmers ist, dem gekündigt wurde und der unter Umständen Rachegelüste hat, die ihn zu einer Falschaussage zulasten des Unternehmers bewegen könnten (die Kündigung ist ein Hilfsfaktum zur Bestimmung des Beweiswerts). Nach dem Beweiswertmodell steigt die Stützung der Tatsachenbehauptung nach Berücksichtigung der Zeugenaussage von 0 auf 60%. Weiter sei angenommen, ein zweiter Zeuge bestätige unabhängig vom ersten Zeugen, dass der Unternehmer gepfuscht habe. Der Richter nimmt für den zweiten Zeugen eine Wahrscheinlichkeit von 80% an, dass der Beweismechanismus funktioniert (d. h. die Aussage des Zeugen wahr ist). Ekelöf liefert eine Formel zur Bestimmung des Beweiswerts mehrerer bestätigender Indizien (concurring evidence), die einer erstmals von George Hooper (1699) entwickelten Formel für die Kombination von Zeugenaussagen entspricht,420 aber von Ekelöf unabhängig wiederentdeckt wurde.421 Die Formel lautet (wobei Be für Beweiswert und Bi für Beweismittel steht)422 Be (B1 ∨ B2 ) = Be (B1 ) + Be (B2 ) · (1 – Be (B1 )) . Die Formel entspricht der Formel für die Addition der Wahrscheinlichkeiten zweier inkompatibler (bedingt) unabhängiger Aussagen. Sie gilt nur für den kombinierten Beweiswert von unabhängigen Beweismechanismen, d. h. Beweismechanismen, die sich in ihrer Funktion nicht gegenseitig beeinflussen.423 Ekelöf leitete die Formel aus folgender Überlegung ab: In hundert gleichartigen Fällen würde der Beweismechanismus »erster Zeuge« in 60 Fällen korrekt anzeigen, dass die Tatsachenbehauptung wahr ist. In den übrigen 40 Fällen würde der Beweismechanismus »zweiter Zeuge« in 32 Fällen korrekt anzeigen, dass die Tatsachenbehauptung wahr ist.424 Wenn beide Zeugen sagen, dass die Tatsachenbehauptung wahr ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens einer 420

Shafer, International Journal of Intelligent Systems 1986, 155–179, 167 f. Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 20. 422 Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 18; Goldsmith, Acta Psychologica 1980, 211–221, 215; Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 89. 423 Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 18; Sahlin/ Rabinowicz, in: Smets/Gabbay (Hrsg.), Handbook of defeasible reasoning, 247–265, 254. 424 Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 18. Ob dies Ekelöf zu einem Vertreter des frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs macht, wie Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 91, und Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 158, meinen, bleibe dahingestellt. 421

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der Beweismechanismen richtig funktioniert, demnach 60 + 32 = 92; oder eben 0,6 + 0,8 · (1 – 0,6) = 0,92. Intuitiv unterschätzen die meisten Menschen den Gesamtbeweiswert zweier unabhängiger bestätigender Indizien und geben einen Bestätigungsgrad von 0,7 an (das arithmetische Mittel von 0,6 und 0,8).425 Um das Beispiel gemäß subjektiver Wahrscheinlichkeitstheorie zu lösen, muss man eine Annahme dazu treffen, wie wahrscheinlich die Aussagen der Zeugen sind, gegeben, dass der Unternehmer nicht gepfuscht hat. Ein Beweiswert von 60% gemäß der Beweiswertmethode entspricht einer bedingten Wahrscheinlichkeit von Pr(Z1 |H) = 0,6, d. h. hat der Unternehmer gepfuscht, wird der erste Zeuge dies mit einer Wahrscheinlichkeit von 60% bestätigen. Doch was ist die Wahrscheinlichkeit, dass der erste Zeuge sagt, der Unternehmer habe gepfuscht, wenn der Unternehmer nicht gepfuscht hat? Man ist versucht zu sagen »40%« – aber gemäß subjektiver Wahrscheinlichkeitstheorie ist dies eben nicht notwendigerweise wahr (S. 151 f.). Im Beweiswertmodell jedoch gilt, dass das Funktionieren des Beweismechanismus unabhängig ist vom Beweisthema.426 Man darf daher Pr(Z1 |H) = Pr(¬Z1 |¬H) setzen und folglich Pr(Z1 |¬H) = 1 – Pr(¬Z1 |¬H). Weiter muss man für die Anwendung von Bayes’ Regel von einer Anfangswahrscheinlichkeit größer 0 ausgehen. Unter Annahme einer »neutralen« Anfangswahrscheinlichkeit von 50% beträgt Wahrscheinlichkeit, dass der Unternehmer gepfuscht hat, nach Berücksichtigung der beiden Zeugenaussagen 86%. Um auf eine a-posteriori-Wahrscheinlichkeit von 92% zu gelangen, muss man von einer Anfangswahrscheinlichkeit zugunsten der Hypothese von 66% ausgehen. Neben einer Formel für die Berechnung des Beweiswerts einer Indizienkette (die der Produktregel für unabhängige Wahrscheinlichkeiten entspricht)427 liefert Ekelöf auch eine Formel für die Berechnung des Beweiswerts widersprechender Indizien (contradicting evidence). Diese lautet428 Be (B1 & B2 ) = Be (B1 ) – Be (B1 ) Be (B2 ) wobei B1 und B2 sich gegenseitig ausschließende unabhängige Beweismechanismen sind (d. h. es können nicht beide wahr sein, oder »korrekt funktionieren«) und B1 das Beweisthema beweist und B2 es widerlegt. Ekelöf argumentiert, dass der Beweisgrad des Beweisthemas durch den Beweis des Gegenteils reduziert werde. Er muss allerdings selbst zugeben, dass die vorstehende Gleichung

425 Bar-Hillel, Acta Psychologica 1980, 211–233, 227; Sahlin, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 98–103, 101. 426 Sahlin/Rabinowicz, in: Smets/Gabbay (Hrsg.), Handbook of defeasible reasoning, 247–265, 251. 427 Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 17. 428 Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 19; Goldsmith, Acta Psychologica 1980, 211–221, 215.

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nicht schlüssig herzuleiten ist.429 Stening plädiert für die folgende angepasste Version:430 Be (B1 & B2 ) =

Be (B1 ) – Be (B1 ) Be (B2 ) . 1 – Be (B1 ) Be (B2 )

Angenommen, im obigen Beispiel würde der erste Zeuge aussagen, dass der Unternehmer gepfuscht hat, und der zweite Zeuge, dass der Unternehmer nicht gepfuscht hat. Der Gesamtbeweiswert der beiden Beweismittel betrüge demnach gemäß der ursprünglichen Formel von Ekelöf 0,6 – (0,6 · 0,8) = 0,12; nach der angepassten Formel von Stening (0,6 – (0,6 · 0,8))/(1 – (0,6 · 0,8)) = 0,23. Nach Bayes’ Regel, wiederum ausgehend von einer »neutralen« Anfangswahrscheinlichkeit von 50%, würde nach Berücksichtigung der widersprechenden Zeugenaussagen eine Wahrscheinlichkeit für die Wahrheit der Behauptung »der Unternehmer hat gepfuscht« von 27% resultieren. a) Beweiswertmodell versus Überzeugungsmodell Die Beweiswertmethode ist als Beweiswürdigungsmodell für den deutschen und schweizerischen Zivilprozess nicht anwendbar, weil es entgegen der Auffassung der Vertreter der Beweiswertmethode sehr wohl Aufgabe des Richters ist, sich eine Überzeugung von der Wahrheit strittiger rechtserheblicher Tatsachenbehauptungen zu bilden. Hier besteht ein entscheidender, bislang weitgehend übersehener, Unterschied zwischen dem schwedischen und dem schweizerischen und deutschen Recht.431 Die gesetzliche Grundlage der freien Beweiswürdigung (»free evaluation of evidence«432 ) für das schwedische Recht findet sich im »Rättegångsbalken« (ausgesprochen als »Rättegongsbalk«) von 1942,433 der Prozessordnung, die sowohl für Zivil- wie Strafverfahren gilt.434 In der deutschen Übersetzung lautet die einschlägige Bestimmung im Kapitel 35, § 1 Rättegångsbalken:435 »Das Gericht hat nach gewissenhafter Prüfung von allem, was sich ergeben hat, darüber zu entscheiden, was in dem Verfahren bewiesen worden ist.« 429

Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 19 f. Stening, Bevisvärde, zitiert nach Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 22. Dies ist auch die Version, die bei Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 154, und Sahlin/Rabinowicz, in: Smets/Gabbay (Hrsg.), Handbook of defeasible reasoning, 247–265, 253, wiedergegeben ist. Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 23, und Sahlin, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 98–103, 99, liefern nochmals andere Versionen. 431 Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 351, erkennt den Unterschied zwar, hält ihn aber für »gleichgültig«. 432 Ekelöf, Scandinavian studies in law 1964, 45–66. 433 Gesetz vom 17. Juli 1942, Svenks författningssamling 1942 Nr. 740, in Kraft seit 1. Januar 1948. 434 Simson, ZSR NF 1944, 122–185, 122. 435 Übersetzung gemäß Huber, Beweismaß, 24. 430

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Die historische Bedeutung dieser Bestimmung liegt in der Überwindung der legalen Beweistheorie, die durch die »gewissenhafte Prüfung«, ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln, ersetzt wurde.436 Man kontrastiere diese Bestimmung mit § 286 ZPO-DE Abs. 1 Satz 1, der lautet: »Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei.«

und der einschlägigen Bestimmung der schweizerischen Zivilprozessordnung (Art. 157): »Das Gericht bildet sich seine Überzeugung nach freier Würdigung der Beweise.«

Sowohl nach deutschem wie nach schweizerischem Recht ist die Überzeugung des Richters maßgebend. Das deutsche Recht ist noch klarer als das schweizerische Recht, weil es angibt, wovon der Richter überzeugt sein muss: von der Wahrheit der tatsächlichen Behauptung – in der Terminologie des schwedischen Beweiswertmodells vom Beweisthema.437 Anders das schwedische Recht, wo der Begriff der Überzeugung gerade fehlt.438 Das schwedische Recht verlangt vom Richter nicht, sich eine persönliche Überzeugung zur Wahrheit strittiger Tatsachenbehauptungen zu bilden.439 Nach dem schwedischen Recht ist zu prüfen, was bewiesen ist. Eine Verurteilung, oder eine Gutheißung der Klage – der Rättegångsbalken gilt wie gesagt für Zivil- wie Strafverfahren – darf erfolgen, wenn der Beweis eine bestimmte Stärke erreicht. Die Beweiswertmethode erlaubt dem Richter, auf eine transparente Weise die Beweisstärke der vorliegenden Beweismittel zu berechnen und seinen Entscheid zu rechtfertigen.440 Eine hohe subjektive Wahrscheinlichkeit (Überzeugung) allein, dass das Beweisthema vorliegt, genügt nach dem schwedischen Verständnis nicht zur Gutheißung der Klage.441 Im Strafprozess übernimmt die Beweiswertmethode eine Art Sicherungsfunktion zugunsten des Angeklagten: Der Richter darf einen Angeklagten nicht nur aufgrund seiner persönlichen Überzeugung von dessen Schuld verurteilen, sondern muss sein Urteil auf die vorliegenden Beweismittel stützen können.442 Die Beweiswertmethode im Strafprozess ist so betrachtet eine Art »negativer Beweistheorie« (zum Begriff vorne, S. 37 f.). Im Zivilprozessrecht hingegen, wo es keine 436

Simson, ZSR NF 1944, 122–185, 128. Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 351. 438 Bolding, in: Kuchinke/Esser (Hrsg.), Freiheit und Bindung des Zivilrichters in der Sachaufklärung, 57–64, 58. 439 Bolding, in: Kuchinke/Esser (Hrsg.), Freiheit und Bindung des Zivilrichters in der Sachaufklärung, 57–64, 58. 440 Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 50. 441 Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 50. 442 Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 50 f.; Goldsmith, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 104–113, 108 ff., insb. 110. 437

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Unschuldsvermutung gibt und wo a priori nicht ersichtlich ist, wieso der Beklagte größeren Schutz vor einem Fehlurteil verdient als der Kläger (dazu ausführlich hinten, S. 443 ff.), erachten auch Vertreter des schwedischen Beweiswertmodells die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie als die normativ richtige Theorie der Beweiswürdigung: »In such cases [sc. civil cases] it seems that the Bayesian way of estimating probabilities may be superior to the theory of evidentiary value, from a normative point of view.«443 Weil die Beweiswertmethode nichts zum rationalen Überzeugungsgrad, sondern zu der Beweisbarkeit einer Behauptung sagt, kann sie das Axiom der Additivität ablehnen. Überzeugungen aber müssen dem Axiom der Additivität gehorchen. Wenn ich zu 70% überzeugt bin, dass es morgen regnet, muss ich als rationaler Mensch zu 30% überzeugt sein, dass es morgen nicht regnet. Ein Tertium gibt es nicht, eine der beiden Aussagen muss wahr sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass es regnet oder nicht regnet ist daher 100%, und wenn meine Überzeugung 70% ist, dass es morgen regnet, muss ich logisch zwingend zu 30% davon überzeugt sein, dass es morgen nicht regnet. Dasselbe gilt auch für rechtlich relevante Tatsachenbehauptungen: diese sind entweder wahr oder nicht wahr. Entsprechend kann ich sie auch nur für wahr oder nicht wahr halten. Davon geht auch § 286 Abs. 1 ZPO-DE aus.444 Die Prozessordnungen Deutschlands und der Schweiz haben, anders als das schwedische Prozessrecht, die richterliche Überzeugung von der Wahrheit der Tatsachenbehauptung zum Mittel gemacht, mittels dem das Ziel der Übereinstimmung der für wahr erachteten Tatsachenbehauptungen mit der Wirklichkeit erreicht werden soll. Ein Beweiswürdigungsmodell für den deutschen und schweizerischen Zivilprozess muss demnach ein Modell der Überzeugungsbildung sein. Dies zeigt sich ganz deutlich, wenn man den Fokus darauf legt »was hinten rauskommt«: Beweismaß ist nach ganz überwiegender Lehre und Rechtsprechung ein Überzeugungsgrad.445 Die Beweiswertmethode kann aber nur zur Beweisbarkeit einer Behauptung überhaupt eine Aussage machen, nicht zur Wahrscheinlichkeit, dass die Behauptung wahr ist.446 Welchen 443

Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 51. Motsch, in: Klug et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig, 334–348, 34 f. 445 Rommé, Anscheinsbeweis, 63; Stickelbrock, Richterliches Ermessen im Zivilprozess, 356 (»abstraktes Maß an Überzeugung«); Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rz. 548; Dammann, Materielles Recht und Beweisrecht, 27; Jäckel, Beweisrecht der ZPO, Rz. 719; Paulus, Zivilprozessrecht, Rz. 431; Schilken, Zivilprozessrecht, Rz. 478; Saenger-ZPOSaenger, § 284 N 15; für die Schweiz Leuenberger, in: Hangartner (Hrsg.), Das st. gallische Zivilprozessgesetz, 105–152, 149; Staehelin/Sutter-Somm/Staehelin, Zivilprozessrecht (beide Basel), § 14 Rz. 91; Hohl, Procédure civile – Introduction, Rz. 1057 (»degree de certitude«); Staehelin/Staehelin/Grolimund, Zivilprozessrecht, § 18 Rz. 30; Kaufmann, Beweisführung und Beweiswürdigung, 185 f.; Walter, Haftpflichtprozess 2009, 47–68, 52 f.; Leuenberger/UfferTobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Rz. 9.159; SHK-ZPO-Passadelis, Art. 157 N 7; KuKo-ZPO-Schmid, Vor Art. 150–193 N 12; Berti, Einführung in die ZPO, 128; a. M. BergerSteiner, Beweismass, Rz. 5.74 ff. 446 Shafer, International Journal of Intelligent Systems 1986, 155–179, 169; Pearl, Probabilistic Reasoning, 423; Pearl, International Journal of Approximate Reasoning 1990, 363–389, 367, 444

III. Wahrscheinlichkeit

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Überzeugungsgrad ein rationales Subjekt haben müsste, bestimmt die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie (vorne, S. 104 ff.). b) Die fehlende Berücksichtigung der Anfangswahrscheinlichkeit des Beweisthemas durch die Beweiswertmethode führt zu falschen Resultaten Nicht rechtfertigen lässt sich nach der hier vertretenen Auffassung auch die Meinung der Vertreter der Beweiswertmethode, eine Anfangswahrscheinlichkeit, die keine »kausale« oder »kognitive« Beziehung zum Beweisthema habe, sei unbeachtlich.447 Am einfachsten lässt sich dies an einem in der Literatur vieldiskutierten Beispiel, dem so genannten »Taxi-Problem«, zeigen. Der Sachverhalt des Taxi-Problems lautet:448 Zwei Taxigesellschaften »Grün« und »Blau« sind in einer Stadt tätig. 15% der Taxis in der Stadt sind grün, 85% blau. Eines Nachts kommt es zu einem Unfall mit Fahrerflucht. Das fliehende Auto war ein Taxi. Ein Zeuge sagt aus, es habe sich um ein grünes Taxi gehandelt. Das Gericht lässt den Zeugen auf seine Fähigkeit untersuchen, grüne und blaue Taxis unter nächtlichen Sichtbedingungen zu unterscheiden. Das Untersuchungsergebnis ist: In 80% der Fälle identifiziert der Zeuge die Farbe zutreffend, in 20% der Fälle irrt er sich.

Die meisten Menschen geben eine Wahrscheinlichkeit von 80% an, dass es sich um ein grünes Taxi gehandelt habe, das den Unfall verursacht hat.449 Dies ist nach der Beweiswertmethode der Beweiswert der Zeugenaussage, und folglich der Grad an Beweisbarkeit der Behauptung »ein grünes Taxi hat den Unfall verursacht«. Die auf die Basisrate von 15% grünen Taxis gestützte anfängliche Überzeugung von 15%, dass ein grünes Taxi den Unfall verursacht hat (zu den Bedingungen, unter denen dieser Schluss zulässig ist, hinten, S. 351 f.), hat für die Beweiswertmethode keine Bedeutung.450 Die Beweiswertmethode rechtfertigt damit ein Entscheidungsverhalten, das empirisch beobachtet werden kann. Tatsächlich ist es so, dass Menschen die Anfangswahrscheinlichkeit verstärkt beachten, wenn sie eine kausale Beziehung zum Beweisthema zu haben scheint. zur Dempster-Shafer Beweistheorie (Shafer, A mathematical theory of evidence); diese ist mit der skandinavischen Beweiswertmethode eng verwandt,Sahlin/Rabinowicz, in: Smets/Gabbay (Hrsg.), Handbook of defeasible reasoning, 247–265, 261 ff. 447 Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 358; Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 47; Sahlin/Rabinowicz, in: Smets/Gabbay (Hrsg.), Handbook of defeasible reasoning, 247–265, 258 f.; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 149: kritisch aber Klami/Gräns/Sorvettula, Law and truth, 156 ff. Auch Cohens »Baconian probability« setzt eine kausale Verknüpfung von Indiz und Beweismittel voraus, Cohen, Criminal Law Review 1980, 91–107, 98, und muss deswegen kritisiert werden. Wie hier Rüßmann, in: Alexy et al. (Hrsg.), Elemente einer juristischen Begründungslehre, 415–430, 422 f. 448 Lyon/Slovic, Acta Psychologica 1976, 287–298, 290; Bar-Hillel, Acta Psychologica 1980, 211–233, 211 f. 449 Lyon/Slovic, Acta Psychologica 1976, 287–298, 290; Bar-Hillel, Acta Psychologica 1980, 211–233, 220. 450 Gärdenfors, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 44–57, 47.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Wenn das obige Beispiel dahingehend geändert wird, dass gesagt wird, »Obwohl die beiden Taxi-Gesellschaften ungefähr gleich viele Taxis unterhalten, werden 15% der Unfälle in der Stadt durch grüne Taxis verursacht und 85% durch blaue Taxis«, dann steigt die Beachtung der Anfangswahrscheinlichkeit, die nun eine kausale Beziehung zum Unfall zu haben scheint (allerdings immer noch nicht in dem Maß, das gemäß Wahrscheinlichkeitstheorie geboten wäre).451 Nach der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie hingegen muss die anfängliche Überzeugung berücksichtigt werden. So lange man keine weiteren Angaben zur Unfallhäufigkeit der verschiedenen Taxis zur besagten Zeit und Ort hat, ist es eine vernünftige Annahme, davon auszugehen, dass beide Taxigesellschaften gleich häufig (pro Fahrzeug) in Unfälle verwickelt sind (hinten, S. 363 ff.). Daher spricht, bevor irgendwelche weiteren Informationen berücksichtigt wurden, einiges für eine anfängliche Überzeugung von nur 15%, dass ein grünes Taxis den Unfall verursacht hat. Da der Beweismechanismus »Zeuge« 80% der grünen Taxis, aber auch 20% der viel häufigeren blauen Taxis, als »grün« identifiziert, entspricht die Wahrscheinlichkeit, dass das fliehende Taxi grün war, dem Anteil der korrekt als grün identifizierten Taxis an allen als grün identifizierten Taxis, der 41% beträgt.452 Man kann das Beispiel einen Schritt weiterdenken, damit noch klarer wird, weshalb die Anfangswahrscheinlichkeit nicht unberücksichtigt bleiben darf: Angenommen, der Zeuge berichtet, ein pinkes Taxi habe den Unfall verursacht. Weder in der Stadt noch – nach bestem, aber nicht unfehlbarem, Wissen des Richters – im ganzen Land gibt es pinke Taxis. Nach dem Beweiswertmodell wäre es dennoch zu 80% bewiesen, dass ein pinkes Taxi den Unfall verursacht hat, denn die Anfangswahrscheinlichkeit ist nicht zu berücksichtigen und der Zeuge kann, so die Annahme, die Farben der Taxis mit einer Wahrscheinlichkeit von 80% richtig identifizieren. Dieses Resultat stört offenbar auch Ekelöf. Er schlägt daher vor, die Plausibilität des vom Zeugen Berichteten bei der Beurteilung des Beweiswerts der Zeugenaussage zu berücksichtigen:453 »Suppose that a witness relates an incident, which, according to the experience of the judge, is extremely rare, if it has even ever occurred. In this case the witness is more likely to have lied or made a mistake than when he relates a common incident. Because of this, the judge attributes less evidentiary value to the testimony, than if the witness had said something ordinary.«

Deskriptiv erscheint dies eine durchaus gelungene Beschreibung dessen, was Gerichte tun, wenn sie mit einer extrem unwahrscheinlichen Zeugenaussage 451 Tversky/Kahneman, in: Kahneman/Slovic/Tversky (Hrsg.), Judgment under uncertainty, 153–160, 157. 452 Das ist natürlich eine Anwendung von Bayes’ Regel. Für eine abweichende normative Lösung nach dem Signalentdeckungsmodell siehe Birnbaum, American Journal of Psychology 1983, 85–94. 453 Ekelöf, in: Gärdenfors/Hansson/Halldén (Hrsg.), Evidentiary value, 9–26, 20.

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III. Wahrscheinlichkeit

konfrontiert sind: Die Glaubwürdigkeit des Zeugen als gering einstufen und der Aussage keine Beachtung schenken.454 Allerdings scheint es methodisch wenig konsequent, die Anfangswahrscheinlichkeit über diesen Weg wieder in das Urteil einfließen zu lassen, wenn sie doch nach der Beweiswertmethode keine Rolle spielen sollte.455 Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie bietet hier den methodisch saubereren Ansatz. Dem Zeugen wird nicht die Glaubwürdigkeit per se abgesprochen, aber es wird eben berücksichtigt, dass das, was er erzählt, a priori unplausibel ist. Auch nach Berücksichtigung der Zeugenaussage, die eine Zuverlässigkeit von 80% hat, muss der Richter daher nicht überzeugt davon sein, dass ein pinkes Taxi den Unfall verursacht hat, wenn er weiß, dass es mit an Sicherheit grenzender (subjektiver) Wahrscheinlichkeit keine pinken Taxis gibt. Gemäß der deutschen Rechtsprechung verstößt die Nichtberücksichtigung der Anfangswahrscheinlichkeit – vom BGH als »innere Wahrscheinlichkeit des Vortrags« bezeichnet – denn auch gegen § 286 ZPO-DE.456 12. Zusammenfassung Bayes’ Regel lehrt, wie man von einer beobachteten Wirkung auf deren unbeobachtete Ursache schließen kann. Der Zusammenhang ergibt sich aus der einfachen Formel 



Pr Ursache|Wirkung =



Pr Wirkung|Ursache Pr Ursache  . Pr Wirkung

Bayes’ Regel ist von elementarer Bedeutung für die Beweiswürdigung. Sie zeigt, wie eine anfängliche Überzeugung im Lichte neuer Information anzupassen ist. Da man Bayes’ Regel wiederholt mit neuen Informationen anwenden kann, indem man die a-posteriori-Überzeugung der letzten Iteration als anfängliche Überzeugung der nächsten Anwendung nimmt, erlaubt sie sequentielles Lernen. Bayes’ Regel zeigt, dass die Beweiskraft eines Indizes immer aus dem Verhältnis der Likelihood, dass das Indiz vorliegt, wenn die Tatsachenbehauptung (vermu-

454 Z. B. OLG Hamm, NZV 1997, 40, 41 (in Anbetracht dessen, dass »feindliches Grün« bei modernen Ampeln aus technischen Gründen fast ausgeschlossen ist, findet das Gericht zahlreiche Widersprüche in den Aussagen der Zeugen, die »feindliches Grün« gesehen haben wollen). 455 Sahlin/Rabinowicz, in: Smets/Gabbay (Hrsg.), Handbook of defeasible reasoning, 247–265, 251, gehen methodisch korrekt von der Annahme aus, dass das Beweisthema das Funktionieren des Beweismechanismus nicht beeinflussen kann; anders Klami/Gräns/Sorvettula, Law and truth, 165 f. 456 BGH NJW 1995, 966, 967. Ihm, in: Hummel/Gerchow (Hrsg.), Biomathematischer Beweis der Vaterschaft, 53–68, 56, und Rüßmann, in: Habscheid/Schwab (Hrsg.), Festschrift für Heinrich Nagel, 329–351, 436, weisen ebenfalls darauf hin, dass die Forderung nach der »Würdigung aller Umstände« die Berücksichtigung auch der a-priori Wahrscheinlichkeit verlangt.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

tete Ursache) wahr ist, und der Likelihood, dass das Indiz vorliegt, wenn die Tatsachenbehauptung nicht wahr ist, folgt. M. a. W. 

Pr Indiz|Hypothese  Beweiskraft = Pr Indiz|¬Hypothese Eine persönliche Überzeugung zur Wahrheit einer Tatsachenbehauptung nach Berücksichtigung der für und wider die Tatsachenbehauptung sprechenden Indizien kann man sich nur bilden, wenn man sowohl die anfängliche Überzeugung für die Wahrheit der Tatsachenbehauptung wie auch die Beweiskraft der neuen Indizien berücksichtigt. Dabei ist es entgegen einer manchmal geäußerten Auffassung kein Nachteil von Bayes’ Regel, dass sie die Angabe einer Anfangsüberzeugung zwingend erfordert. Vielmehr würde der Verzicht auf eine anfängliche Überzeugung – oder das arbiträre Festlegen dieser subjektiven Wahrscheinlichkeit auf 50% – dazu führen, dass man auf das ganze Wissen des Subjekts, das dieses vor der Berücksichtigung der konkreten Indizien hat, verzichtet. Ohne Berücksichtigung der Anfangswahrscheinlichkeit seiner Behauptung müsste die Aussage eines Zeugen, der behauptet, er habe ein Ufo auf dem St. Petersplatz landen sehen, zur gleichen Überzeugung für die Wahrheit der Aussage führen wie die Aussage des gleichen Zeugen, er habe den Papst auf dem St. Petersplatz gesehen. Bayes’ Regel lehrt, dass es sowohl auf die anfängliche Überzeugung wie auf die Beweismittel ankommt. Die schwedische Beweiswertmethode, die ohne Anfangswahrscheinlichkeit auskommt, kann wohl die gemeinsame Beweiskraft mehrerer Indizien – z. B. mehrerer Zeugen – angeben, aber ohne Berücksichtigung der anfänglichen Überzeugung ist eine Aussage zur a-posteriori-Wahrscheinlichkeit einer Tatsachenbehauptung nicht möglich. Bayes’ Regel erlaubt, auf einer axiomatischen Theorie basierende Aussagen zu den wichtigsten Aspekten der Beweiswürdigung, nämlich der richterlichen Überzeugungsbildung und der Beweiskraft von Indizien, zu machen. Sie ist Kern einer wissenschaftlichen Beweistheorie. Der Richter soll im Prozess nicht mit Zahlen rechnen, aber Bayes’ Regel zeigt, welche Begründung einer Beweiswürdigung schlüssig ist.457

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung Die Diskussion darüber, ob Bayes’ Regel einen Platz in der juristischen Beweiswürdigung hat, wird in den USA seit den 1970-er Jahren so intensiv geführt, dass die Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern schon als 457

Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rz. 670.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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»40-jähriger Krieg« bezeichnet wurde.458 Dabei wird auf beiden Seiten wenig zimperlich gekämpft; so vergleicht Dawid die rechtswissenschaftliche Analyse der Beweiswürdigung »ähnlich der der Wissenschaft vor Galileo, in Ehrfurcht erstarrt vor Aristoteles’ Autorität und abgeneigt, die Notwendigkeit zuzugestehen, von alten Denkweisen abzurücken.«459 Cohen hingegen meint, die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie erlaube wohl, Mutmaßungen in ein mathematisches Gewand zu kleiden, aber nicht, gute von schlechten Mutmaßungen zu unterscheiden.460 In Deutschland ist die Forderung, die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie für die juristische Beweiswürdigung fruchtbar zu machen, ebenfalls bereits mehrfach gestellt worden; erstmals wohl durch Bender/Nack,461 später auch durch Koch/Rüssmann,462 Nell463 und zuletzt durch Geipel.464 Die theoretisch tiefste Auseinandersetzung mit dem Thema bietet nicht zufälligerweise eine Dissertation, die an einer philosophischen Fakultät eingereicht und von der juristischen Literatur weitgehend ignoriert wurde (Eleonora Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie und rationale Entscheidungstheorie in Anwendung auf die Rechtspraxis, Diss. München 1987). In der Schweiz vertreten in neuster Zeit Vuille und Mühlemann ebenfalls einen Bayesianischen Ansatz.465 Abgelehnt wird Bayes’ Regel von Vertretern der schwedischen Beweiswertmethode wie Ekelöf und Gräns.466 Für die herrschende Lehre gilt der 25 Jahre alte Befund von Bourmistrov-Jüttner immer noch, dass sich die Diskussion in erster Linie auf die Begrifflichkeit beschränkt und eine Auseinandersetzung mit den technischen Aspekten der Beweiswürdigung mittels subjektiver Wahrscheinlichkeitstheorie oder anderer formaler Modelle kaum stattfindet.467 Soweit die Lehre zur »mathematischen« Beweiswürdigung Stellung nimmt, stößt sie sich meist an der Zuweisung numerischer Werte zu Beweismitteln, insbesondere Zeugenaussagen (siehe dazu die Ausführungen vorne, S. 154), und spricht von der »im Ope458 Park et al., International Commentary on Evidence 2010, 1–38, 1. Auslöser des Streits war Finkelstein/Fairley, Harvard Law Review 1970, 489–517, und die Antwort durch Tribe, Harvard Law Review 1971, 1329–1393. Der Sammelband Tillers (Hrsg.), Probability and inference bietet einen Überblick über den Diskussionsstand 1988, für eine gute Zusammenfassung der Debatte bis heute siehe Tillers, Law, Probability & Risk 2011, 167–173. 459 Dawid, Proceedings of the British Academy 2002, 71–90, 71 (Übersetzung durch den Verfasser). 460 Cohen, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 113–128, 126. Das Problem, wann ein Überzeugungsgrad gerechtfertigt ist, wird hinten, S. 351 ff., erörtert. 461 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. 1, Rz. 400 ff. 462 Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 318 ff.; siehe auch Rüßmann, RuP 1982, 62–69, 66 f. 463 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 50 ff., insb. 53. 464 Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 192 ff. 465 Vuille, Ce que la justice fait dire à l’ADN, 148 ff.; Vuille, Strassenverkehr 2011, 34–39, 34 ff.; Mühlemann, Jusletter 24. Februar 2014, 1–10. 466 Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 358; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 160. 467 Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 80.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

rieren mit Wahrscheinlichkeiten liegende[n] Spiegelfechterei«468 , die zu einer »Scheingenauigkeit«469 führe. In der Rechtsprechung hat es der BGH in einem Urteil vom 28. März 1989 abgelehnt, zu verlangen, dass Gerichte ihre Überlegungen zum Indizienbeweis mittels einer Berechnung nach Bayes’ Regel offenlegen.470 Der BGH anerkennt, dass der Tatrichter die unangefochtenen logischen und mathematischen Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht verletzen darf, hält aber fest, dass bei fehlender empirischer Datengrundlage für die a-priori-Wahrscheinlichkeit die Anwendung von Bayes’ Regel zu keinem Erkenntnisgewinn führe, sondern zu einer manipulierbaren Scheingewissheit.471 Dies ist eine Auffassung, die auch in einem neueren Urteil vom Court of Appeal of England and Wales vertreten wird.472 Ähnlich wie der BGH akzeptiert der Court of Appeal die Anwendung von Bayes’ Regel, wo »harte« statistische Daten vorhanden sind, namentlich bei DNA-Gutachten, nicht aber bei »weichen« Daten, deren Bewertung vom Ermessen des Sachverständigen abhängt (i. c. ging es um einen am Tatort gefundenen Schuhabdruck, und um den Beweiswert des Schuhabdrucks zu bewerten, musste der Experte Annahmen über die Häufigkeit des Sohlenmusters und der Schuhgröße machen, die nach Ansicht des Gerichts nicht zuverlässig genug waren).473 Der Einwand hat eine lange Tradition in der Literatur und wurde bereits in Tribes klassischer Antwort auf erste Versuche, die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie für die Beweiswürdigung fruchtbar zu machen, vorgebracht.474 Im folgenden Abschnitt zeige ich, dass sich das »schillernde«475 Rechtsinstitut des Anscheinsbeweises (nach älterer Terminologie »prima facie« Beweis476 ), das 468

Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.56. Musielak, in: Lüderitz/Schröder (Hrsg.), Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, 451–471, 468. Der gleiche Autor merkt zwei Seiten weiter hinten im Zusammenhang mit der Besprechung des People vs. Collins Falles (68 Cal. 2d 319 [1968]) an, die numerischen Angaben zu den Beweiswerten der Indizien hätten in dem Fall immerhin erlaubt, den Fehlschluss zu erkennen: »Wären die dargestellten Mängel der gerichtlichen Entscheidung in einer allgemein gehaltenen Umschreibung subjektiver Überzeugung von der Schuld der Angeklagten untergegangen, wären die Chancen ungleich geringer gewesen, die Fehler festzustellen und ihre Korrektur zu erreichen«. 470 BGH NJW 1989, 3161. Anmerkungen zum Urteil durch Rüßmann, ZZP 1990, 62–67 (weitgehend zustimmend) und Rommé, NZV 1989, 469–470 (kritisch). 471 BGH NJW 1989, 3161, 3162. Wo empirische Daten vorhanden sind, wendet der BGH Bayes’ Regel aber an, siehe BGH NJW 2006, 3416, 3419. Ebenso Hagenloch, DRIZ 1990, 392– 396 (Wahrscheinlichkeitsrechnung geboten, wo relative Häufigkeiten vorliegen, sonst nicht); Steinke, in: Schlüchter (Hrsg.), Kriminalistik und Strafrecht, 385–406, 393. 472 R vs. T, (2010) EWCA Crim 2429, inbs. Rz. 58, 80, 90, 103, 108. Das Urteil hat eine Flut von (überwiegend aber nicht ausschließlich) kritischen Besprechungen ausgelöst, siehe Hamer, Law, Probability & Risk 2012, 331–345, mit zahlreichen Hinweisen. 473 R vs. T, (2010) EWCA Crim 2429, Rz. 79 ff. 474 Tribe, Harvard Law Review 1971, 1329–1393, 1359. 475 Rabel, RheinZ 1923, 428–442, 442; Peters, MDR 1949, 66–70, 67; Rommé, Anscheinsbeweis, 1; Engels, Anscheinsbeweis, 2. 476 Rabel, RheinZ 1923, 428–442; Wassermeyer, Prima Facie Beweis. 469

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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»zu den ungeklärten und schwierigsten Fragen des gesamten Beweisrechts«477 gehört, überzeugend als eine intuitive, nicht numerische, Anwendung von Bayes’ Regel erklären lässt. Die Logik von Bayes’ Regel entspricht gelebtem Recht. 1. Wie Bayes’ Regel den Anscheinsbeweis erklärt Bayes’ Regel besagt in ihrem Kern und von der mathematischen Formel befreit, dass man zu einem Grad der Überzeugung, ob eine Behauptung wahr ist, nur kommen kann, wenn man sowohl die anfängliche Überzeugung für die Wahrheit der Behauptung als auch die neuen Beweismittel, die für oder gegen die Behauptung sprechen, berücksichtigt. Die anfängliche Wahrscheinlichkeit der Sachdarstellung einer Partei bei der Beweiswürdigung nicht zu berücksichtigen, verstößt gegen das Gebot der Gesamtwürdigung aller Umstände. Je unwahrscheinlicher eine Tatsachenbehauptung anfänglich ist, desto stärker (überzeugender) müssen die für sie sprechenden Beweismittel sein, bis ein bestimmter Überzeugungsgrad erreicht wird. Ist dieser Überzeugungsgrad bereits anfänglich erreicht, kann man auf die Abnahme für die Wahrheit der Behauptung sprechender Beweismittel verzichten. Andererseits sollte man auch dann Beweismittel, die gegen die Wahrheit der Behauptung sprechen, berücksichtigen, denn sie können – wenn sie stark genug sind – dazu führen, dass die Überzeugung für die Wahrheit der Behauptung unter den maßgeblichen Grenzwert sinkt. a) Der Anscheinsbeweis Das Institut des Anscheinsbeweises hat seinen Ursprung in Schiffskollisionsfällen;478 im Laufe der Zeit verfestigte sich die Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis und fand einen immer breiteren Anwendungsbereich.479 Die Gerichte sahen sich mit dem Problem konfrontiert, dass bei Schiffsunfällen oft kaum verlässliche Beweismittel existierten, die es erlaubt hätten, den Sachverhalt zu rekonstruieren. Eine Gefährdungshaftung war nicht normiert,480 so dass der Geschädigte ein Verschulden nachweisen musste, dessen Beweis ihm oft misslang, obwohl der »gesunde Menschenverstand« sagt, dass Schiffe meist nicht ohne Verschulden mindestens einer der Schiffsführer kollidieren. Die Rechtsprechung entwickelte daher den Grundsatz, dass der Beweis des Verschuldens (später ausgedehnt auf die haftungsbegründende Kausalität) erbracht ist, wenn ein »typischer Geschehensablauf« vorliegt, »das heißt in Fällen, in denen 477

Prütting, Beweislast, 94. Wassermeyer, Prima Facie Beweis, 15; Hainmüller, Anscheinsbeweis, 1. 479 Stück, JUS 1996, 153–158, 153. Kasuistik bei Greger, VersR 1980, 1091–1104, 1092 ff.; Musielak, in: Canaris et al. (Hrsg.), 50. Jahre Bundesgerichtshof – Festgabe aus der Wissenschaft, 193–225, 200 f. und in den Kommentaren zu § 286 DE-ZPO. Heute wird das Institut als »gewohnheitsrechtlich anerkannt« bezeichnet, Saenger-ZPO-Saenger, § 286 N 38. Abgelehnt wird das Institut des Anscheinsbeweises von Walter, Freie Beweiswürdigung, 214 f. 480 Stück, JUS 1996, 153–158, 153. 478

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

ein bestimmter Sachverhalt feststeht, der nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablauf als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolgs hinweist.«481 Die Anwendung des Anscheinsbeweises setzt mithin eine Tatsachengrundlage (»ein feststehender Sachverhalt«) und einen Erfahrungssatz (»nach der allgemeinen Lebenserfahrung«) voraus. Die Tatsachengrundlage (als »Anscheinsbasis« bezeichnet) ist von der beweisbelasteten Partei voll zu beweisen;482 allerdings ist sie in der Praxis meist unbestritten, denn es handelt sich immer um der unmittelbaren Wahrnehmung zugängliche Tatsachen – der Nachweis, dass die Schiffe kollidiert sind oder der Kläger beim Biss in ein Hackfleischröllchen einen Zahn verloren hat, ist einfach zu führen. Schwierig ist der Beweis der nicht der unmittelbaren Wahrnehmung zugänglichen Ursache – ein Verhalten des Schiffsführers oder des Restaurantbesitzers, das als Verschulden zu qualifizieren ist. Der Erfahrungssatz, der dem Anscheinsbeweis zugrunde liegt, muss eine gewisse Belastbarkeit aufweisen.483 Nicht verlangt wird, dass »die Ursächlichkeit einer bestimmten Tatsache für einen bestimmten Erfolg bei allen Sachverhalten dieser Fallgruppe notwendig immer vorhanden ist«484 , hingegen muss die behauptete Ursache den festgestellten Sachverhalt so häufig bewirken, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Ursache auch im konkreten Fall vorliegt, sehr groß ist;485 eine »gewisse Wahrscheinlichkeit«, die für das Vorliegen der zu beweisenden Tatsache spricht, genügt nicht.486 Der Anscheinsbeweis wird »durch feststehende (erwiesene oder unstreitige) Tatsachen entkräftet, nach welchen die Möglichkeit eines anderen als des typischen Geschehensablaufs ernsthaft in Betracht kommt.«487 Nicht verlangt wird der Nachweis, dass ein anderer Geschehensablauf wahrscheinlicher ist.488 Der Anscheinsbeweis wird mithin bereits durch den Gegenbeweis, nicht erst durch den Beweis des Gegenteils, entkräftet.489 Die Lehre hat versucht, Erfahrungssätze nach ihrer Tragfähigkeit zu kategorisieren. So schlägt Hainmüller eine Unterteilung in Lebensgesetze, Erfahrungs481

BGH NJW 2006, 2262; BGH NJW 2010, 1072 f.; ständige Rechtsprechung. BGHZ 7, 198, 200 f.; Saenger-ZPO-Saenger, § 286 N 40; Wieczorek/Schütze-ZPO-Ahrens, § 286 N 47. 483 BGH NJW 2006, 300, 301; ständige Rsp. 484 BGH NJW 2006, 2262; nach der Terminologie von Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 285, würde es sich um einen deterministischen Erfahrungssatz handeln. 485 BGH NJW 2006, 2262; BGH NJW 2010, 1073. In der Terminologie von Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 287, ein statistischer Erfahrungssatz. 486 BGH NJW 2006, 300, 301; ständige Rsp. 487 BGH, Urteil vom 16. März 2010, VI ZR 64/09, Rz. 17, ständige Rsp. Zahlreiche Nachweise bei Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 49 f. 488 Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 286 N 139. 489 Statt aller Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 286 N 138. 482

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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grundsätze, Erfahrungssätze und Vorurteile vor.490 Ein Lebensgesetz beschreibt einen ausnahmslos immer geltenden Zusammenhang, der sich aus einem Naturoder Denkgesetz ergibt.491 Der dem Alibi zugrunde liegende Satz, dass niemand gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten sein kann, wäre ein Lebensgesetz in diesem Sinne.492 Ein Erfahrungsgrundsatz gilt nicht immer, aber mit »höchster Wahrscheinlichkeit«, die sich aber auf die Lebenserfahrung stützen kann und nicht mit empirischen statistischen Daten belegt werden muss.493 So ist das Einstürzen einer Zimmerdecke wenige Wochen nach ihrer Erstellung mit höchster Wahrscheinlichkeit auf eine fahrlässige Pflichtwidrigkeit des Unternehmers zurückzuführen.494 Es ist klar, dass der Anscheinsbeweis ein Lebensgesetz im erläuterten Sinn nicht voraussetzt, sondern dass ein Erfahrungsgrundsatz genügt.495 Ein (einfacher) Erfahrungssatz begründet eine »gewisse Wahrscheinlichkeit« dafür, dass sich ein Kausalverlauf in einer bestimmten Weise abgespielt hat.496 Er vermag aber für sich alleine die volle Überzeugung nicht zu begründen und genügt daher nicht für den Anscheinsbeweis. Er kann aber genügen, um das reduzierte Beweismaß, das praxisgemäß für den Nachweis der Kausalität gilt,497 zu erfüllen.498 Ein reines Vorurteil erlaubt keinen Schluss und ist unverwertbar.499 Als Beispiele für Urteile, die sich (gemäß Ansicht des jeweiligen Kommentators) auf reine Vorurteile stützen, werden die Sätze genannt, dass Studenten erfahrungsgemäß nach Abschluss eines Auswärtsstudiums wieder in den elterlichen Haushalt zurückkehrten,500 dass eine Braut zum Zeitpunkt des Verlöbnisses noch

490 Hainmüller, Anscheinsbeweis, 26 ff.; ihm folgend Prütting, Beweislast, 106 ff.; Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 237. 491 Hainmüller, Anscheinsbeweis, 27. 492 Prütting, Beweislast, 106. 493 Hainmüller, Anscheinsbeweis, 29; Prütting, Beweislast, 106; a. M. Walter, ZZP 1977, 270–284, 280. 494 Prütting, Beweislast, 108, unter Hinweis auf BGH, VersR 1958, 107. 495 Siehe nur die bereits zitierte Formulierung von BGH NJW 2006, 2262; Prütting, Beweislast, 106. 496 Prütting, Beweislast, 108. 497 Dass für den Nachweis der Kausalität ein reduziertes Beweismaß gilt, darf als herrschende Lehre bezeichnet werden, siehe nur Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 181; Prütting, Beweislast, 109; MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 47; und die Zusammenfassung bei Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 64 f., auch wenn Ausmaß und Begründung der Reduktion unterschiedlich sind. In der Schweiz ist höchstrichterlich anerkannt, dass der Nachweis der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« für den Beweis der Kausalität genügt, BGE 128 III 271 E. 2b m. w. H.; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 3.106–3.108; KuKo-ZPO-Schmid, Vor Art. 150– 193 N 14. Mehr dazu hinten, S. 456 ff. 498 Prütting, Beweislast, 108. 499 Prütting, Beweislast, 109. 500 OVG Münster als Vorinstanz zur BVerwGE 38, 23 f.

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unberührt sei501 oder dass ein im Münchener Stadtverkehr erfahrener Taxifahrer nicht gegen ein stehendes Kraftfahrzeug fahre.502 Die Rechtsprechung ist dieser Einteilung jedoch nie gefolgt.503 Tatsächlich ist fraglich, was die begriffliche Unterteilung in der Praxis an Erkenntnisgewinn bringt.504 Die begriffliche Unterteilung in Erfahrungsgrundsatz und (einfachen) Erfahrungssatz macht die sich dem Richter im konkreten Einzelfall stellende Aufgabe, zu entscheiden, ob der Erfahrungssatz ausreichend ist, die volle Überzeugung zu begründen, nicht leichter. Schwierig ist es, die Tragfähigkeit eines Erfahrungssatzes zu beurteilen, ist diese gegeben, ist die Benennung trivial. Die Abgrenzung des Anscheinsbeweises vom gewöhnlichen Indizienbeweis wird nach einem Teil der Lehre darin gesehen, dass beim Anscheinsbeweis ein einziger Erfahrungssatz geeignet sein muss, die richterliche Überzeugung zu begründen.505 Ein anderer Teil der Lehre schließt nicht aus, dass auch beim Anscheinsbeweis mehrere Erfahrungssätze zur Anwendung kommen.506 Das Abgrenzungskriterium des »einzigen Erfahrungssatzes« ist, worauf Risthaus zu Recht hinweist, zur Unterscheidung von Anscheins- und gewöhnlichem Indizienbeweis nicht geeignet, weil es von der beliebig wählbaren Umschreibung des Erfahrungswissens abhängt, ob ein oder mehrere Erfahrungssätze vorliegen.507 Umstritten ist bis in die neuste Zeit die Dogmatik des Anscheinsbeweises geblieben, insbesondere die Abgrenzung zum gewöhnlichen Indizienbeweis. Diese ist deshalb wichtig, weil der Anscheinsbeweis der Prüfung durch das Revisionsgericht unterliegt,508 nicht aber die Überprüfung des gewöhnlichen Indizienbeweises.509 Es werden die Ansichten vertreten, dass der Anscheinsbeweis a) die Beweislastverteilung abändere; b) das Beweismaß senke; c) Ausfluss mate501 OLG Bamberg FamRZ 1967, 334 f. Nachweise bei Wieczorek/Schütze-ZPO-Ahrens, § 286 N 79; MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 62. 502 AG München vom 27. Juni 1979, mitgeteilt von Greger, VersR 1980, 1091–1104, 1099, FN 218. 503 Prütting, Beweislast, 102. Dieser Befund gilt auch heute noch, wie eine Suche in der Urteilsdatenbank des BGH zeigt: der Begriff »Erfahrungsgrundsatz« findet sich in der Rechtsprechung des BGH gar nicht; der Begriff »Erfahrungsgesetz« wird regelmäßig in der Formel verwendet, dass sich die Beweiswürdigung nur auf Vollständigkeit und den Verstoß gegen »Denk- und Erfahrungsgesetze« überprüfen lasse, BGH, Urteil vom 8. Februar 2011, II ZR 243/09, Rz. 23, st. Rsp. Suche in der juris.bundesgerichtshof.de Datenbank durchgeführt am 22. Mai 2011. 504 Wassermeyer, Prima Facie Beweis, 60; Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321–344, 323; Wieczorek/Schütze-ZPO-Ahrens, § 286 N 74; Risthaus, Erfahrungssätze, Rz. 817 ff. 505 Henke, JR 1961, 48–52, 49; Hainmüller, Anscheinsbeweis, 179 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 130; Prütting, Beweislast, 108. 506 Rommé, Anscheinsbeweis, 175; Rosenberg/Gottwald/Schwab, Zivilprozessrecht, § 112 Rz. 18. 507 Risthaus, Erfahrungssätze, Rz. 680. 508 BGH NJW 1987, 2876, 2877; ständige Rsp.; Nachw. bei Wieczorek/Schütze-ZPO-Ahrens, § 286 N 65. 509 Musielak-ZPO-Ball, § 546 N 9, unter Hinweis auf BGH NJW 1994, 586, 588; NJW 1997, 2757, 2759; a. M. Musielak/Stadler, JUS 1980, 739–742, 739. In der Tat ist es so, dass der BGH in

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riellen Rechts; oder d) Teil der Beweiswürdigung sei. Diese Ansichten werden nachstehend kurz vorgestellt. aa) Beweislasttheorie Nach einer älteren Lehrmeinung, die heute als überwunden bezeichnet werden darf, ist der Anscheinsbeweis Teil der Beweislast und führt zu einer Verschiebung der objektiven Beweislast.510 Nach dieser Auffassung liegt beim Anscheinsbeweis ein non-liquet in dem Sinne vor, dass sich der tatsächliche Geschehensablauf zumindest nicht zur vollen Überzeugung des Richters erstellen lässt, und es hat diejenige Partei die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen, für deren Tatsachenbehauptung die geringere Wahrscheinlichkeit spricht.511 Die Beweislasttheorie wurde überzeugend kritisiert.512 Der Anscheinsbeweis dient gerade zur Vermeidung einer non-liquet Situation, indem er dem Richter erlaubt, gestützt auf eine Anscheinsbasis und einen Erfahrungssatz hinreichender Tragfähigkeit zur (vollen) Überzeugung zu gelangen, dass sich der Sachverhalt so wie vom Kläger behauptet abgespielt hat. Ein non-liquet gibt es dann nicht, und eine Anwendung der Regeln der objektiven Beweislast ist überflüssig.513 bb) Beweismaßtheorie Nach der »im Vordringen begriffenen«514 Beweismaßtheorie führt der Anscheinsbeweis zu einer Senkung des Regelbeweismaßes,515 und der Anscheinsbeweis grenzt sich durch dieses niedrigere Beweismaß vom normalen Indizienbeweis ab.516 Dieser These steht die Betonung des BGH gegenüber, dass der Anscheinsder Praxis auch die Tragfähigkeit »gewöhnlicher« Indizienbeweis überprüft, z. B. BGH NJW 1993, 935, 938. 510 Wassermeyer, Prima Facie Beweis, 2 ff.; Diederichsen, ZZP 1968, 45–69, 68 f.; auch der BGH sprach in älteren Urteilen gelegentlich von Beweislast, BGHZ 11, 227, 231, »Lues«; BGH VersR 1957, 252. 511 Wassermeyer, Prima Facie Beweis, 35. 512 Blomeyer, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, 1–54, 22 ff.; Prütting, Beweislast, 97 ff. 513 Höfer, Prima-Facie Beweis, 58; Hainmüller, Anscheinsbeweis, 77; Greger, VersR 1980, 1091–1104, 1099; Prütting, Beweislast, 98; Engels, Anscheinsbeweis, 62. 514 Engels, Anscheinsbeweis, 72. 515 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 333 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 120 ff.; Walter, Freie Beweiswürdigung, 156, 183 f.; Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 259; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 98; Engels, Anscheinsbeweis, 127, 155, 206, 212 f.; Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 24; Saenger-ZPO-Saenger, § 286 N 39. Rommé, Anscheinsbeweis, 134 ff., vertritt die Meinung, dass es kein generell-abstraktes Beweismaß gibt, sondern dieses immer dem konkreten Einzelfall angepasst wird; entsprechend vertritt er auch die Meinung, dass der Anscheinsbeweis das Beweismaß nicht generell, sondern nur einzelfallbezogen senkt. Unklar Maassen, Beweismaßprobleme, 64, der von »Beweislastherabsetzung« spricht. 516 Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 286 N 133; Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 25.

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beweis die volle richterliche Überzeugung begründe.517 Auch ist es schwierig zu rechtfertigen, weshalb das Beweismaß gerade beim Anscheinsbeweis gesenkt werden soll, nicht aber in anderen Situationen, in denen sich der Kläger ebenfalls Beweisschwierigkeiten ausgesetzt sieht.518 Richtig ist sicher, dass gerade der Anscheinsbeweis zeigt, dass die Anforderungen an die (volle) richterliche Überzeugung in der Praxis geringer sind als gemeinhin angenommen. Ein Fehler ist es, anzunehmen, dass sie beim Anscheinsbeweis geringer sind als beim sonstigen Indizienbeweis (hinten, S. 574 ff.). cc) Materiellrechtliche Theorie Nach den materiellrechtlichen Theorien lässt sich der Anscheinsbeweis überzeugend nur auf der Grundlage materiellen Rechts begründen:519 Nur dem materiellen Recht stehe es – im Gegensatz zum Verfahrensrecht – frei, eine Haftung auch für wahrscheinliche Kausalität oder für wahrscheinliches Verschulden zu normieren.520 Der Anscheinsbeweis verschiebe in gewissen, von Beweisschwierigkeiten gekennzeichneten, Situationen das Haftungsrisiko auf den wahrscheinlichen Schädiger; eine derartige Risikozuweisung könne nur das materielle Recht vornehmen.521 An der materiellrechtlichen Theorie, insbesondere in der Spielart von Greger, wird kritisiert, dass sie zu einer Spaltung der Normtatbestände in dem Sinne führen würde, dass je nachdem, ob die Anwendungsvoraussetzungen für den Anscheinsbeweis gegeben sind, sich die Haftung auf den Tatbestand der »kausalen Verursachung« stützt oder eben auf den (richterrechtlich geschaffenen) Tatbestand der »wahrscheinlichen kausalen Verursachung«.522 Die Ausgestaltung der materiellen Norm hinge also von der Beweislage ab, was in der Tat eigenartig erscheint.523 Schlecht erklären lässt sich auch, wieso der mit dem Indizienbeweis eng verwandte Anscheinsbeweis seine Grundlage im materiellen Recht haben sollte, während der Indizienbeweis unstreitig Teil der freien Beweiswürdigung ist.524

517 BGH NJW 1982, 2668; BGH NJW 1998, 79, 81; Nachweise für die ältere Rechtsprechung bei Musielak, Grundlagen der Beweislast, 106, FN 303. 518 Prütting, Beweislast, 101; Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 286 N 135 f.; Wieczorek/SchützeZPO-Ahrens, § 286 N 58. 519 Pawlowski, Prima-facie-Beweis, 46; Diederichsen, ZZP 1968, 45–69, 217 ff.; Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 208 ff.; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 177 ff.; Greger, VersR 1980, 1091–1104, 1102 f. 520 Greger, VersR 1980, 1091–1104, 1102. 521 Pawlowski, Prima-facie-Beweis, 46, 51, 57; Diederichsen, ZZP 1968, 45–69, 218; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 179 f.; Greger, VersR 1980, 1091–1104, 1103. 522 Prütting, Beweislast, 99; ihm folgend Engels, Anscheinsbeweis, 66. 523 Prütting, Beweislast, 100. 524 Prütting, Beweislast, 100; Engels, Anscheinsbeweis, 67.

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dd) Beweiswürdigungstheorie Nach der herrschenden Lehre525 und Rechtsprechung526 ist der Anscheinsbeweis Teil der (freien)527 Beweiswürdigung. Wie beim gewöhnlichen Indizienbeweis benutzt der Richter seine Lebenserfahrung, um aus feststehenden Tatsachen auf nicht beobachtete Tatsachen zu schließen. Der Unterschied zum gewöhnlichen Indizienbeweis wird darin gesehen, dass der Anscheinsbeweis i) einen »typischen Geschehensablauf« voraussetzt;528 ii) sich auf einen einzigen Erfahrungssatz stützt, der deshalb eine besondere Qualität aufweisen muss529 und iii) sich auf eine »Irgendwie« Feststellung beschränkt.530 Mit einer »Irgendwie« Feststellung ist gemeint, dass der Richter allgemein zur Überzeugung kommt, dass beispielsweise ein Verschulden des Beklagten zum Schaden geführt hat, ohne das Verhalten im Einzelnen konkret umschreiben zu können.531 b) Wie Bayes’ Regel den Anscheinsbeweis erklärt Die Figur des Anscheinsbeweises lässt sich vor dem Hintergrund von Bayes’ Regel wie folgt erklären: Der auf die Anscheinsbasis gestützte Erfahrungssatz begründet eine anfängliche Überzeugung dafür, dass die Tatsachenbehauptungen der beweisbelasteten Partei wahr sind. Erreicht diese subjektive Anfangswahrscheinlichkeit die Schwelle, die das Beweismaß für den Grad der richterlichen Überzeugung festlegt,532 dann erübrigt sich die Abnahme weiterer Beweismittel zur Stützung der klägerischen Tatsachenbehauptungen. Im Verzicht auf die Durchführung eines Beweisverfahrens liegen die praktische Bedeutung und der

525

Kollhosser, AcP 1965, 46–82, 46; Hainmüller, Anscheinsbeweis 33 ff.; Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 202; Prütting, Beweislast, 110 f.; zahlreiche weitere Nachweise bei Engels, Anscheinsbeweis, 67 FN 266 und Stück, JUS 1996, 153–158, 154 FN 16. 526 Ständige Rsp., erstmals BGH NJW 1951, 360. 527 Diederichsen, VersR 1966, 211–222, 217, weist darauf hin, dass der BGH den Anscheinsbeweis zwar der Beweiswürdigung zurechne, aber nicht ausdrücklich der freien Beweiswürdigung. 528 BGH NJW 2010, 1072; BGH NJW 2006, 2262, 2267; BGHZ 160, 308, 313 = NJW 2004, 3623; ständige Rsp. 529 Henke, JR 1961, 48–52, 49; Hainmüller, Anscheinsbeweis, 179 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 130; Prütting, Beweislast, 108; a. M. Rommé, Anscheinsbeweis, 175; Rosenberg/ Gottwald/Schwab, Zivilprozessrecht, § 112 Rz. 18. 530 Hainmüller, Anscheinsbeweis, 230 ff.; Prütting, Beweislast, 107; Rosenberg/Gottwald/ Schwab, Zivilprozessrecht, § 112 Rz. 17; a. M. Rommé, Anscheinsbeweis, 122 f. 531 BGH NJW 2010, 1072, 1073: »Der Anscheinsbeweis unterscheidet sich von Feststellungen nach allgemeinen Beweisregeln gerade dadurch, dass der konkrete Geschehensablauf nicht festgestellt zu werden braucht, weil von einem typischen Hergang ausgegangen werden kann [. . . ]«; Prütting, Beweislast, 107; Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 286 N 132. 532 Ob man diese Schwelle hoch (»ein für das praktische Leben brauchbarer Grad der Gewissheit«, BGHZ 53, 245) oder tief (»überwiegende [subjektive] Wahrscheinlichkeit«, z. B. Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 92) festsetzt, spielt keine Rolle.

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Grund für die Beliebtheit des Anscheinsbeweises.533 Letztlich versucht die Dogmatik nur, eine etablierte Praxis der Gerichte zu rechtfertigen. Hingegen ist es immer geboten, Beweismittel abzunehmen, die gegen die Wahrheit des klägerischen Sachvortrags sprechen, denn es kann sein, dass die richterliche Überzeugung nach Berücksichtigung dieser Beweismittel unter das festgesetzte Maß sinkt. Nicht notwendig ist es, dass ein alternativer Kausalverlauf wahrscheinlicher ist als der vom Kläger behauptete. Es genügt, wenn die vom Beweisgegner vorgetragenen und nachgewiesenen Tatsachen die Überzeugung für den »typischen Geschehensablauf« unter die Beweismaßgrenze drücken. Dies erklärt, warum der Anscheinsbeweis durch den Gegenbeweis entkräftet wird und kein Beweis des Gegenteils verlangt ist. Ist die Anfangswahrscheinlichkeit für den vom Kläger vorgetragenen Sachverhalt sehr hoch, müssen allerdings auch die Indizien, die gegen den Sachverhalt sprechen, hohe Beweiskraft haben, damit die durch den Anschein begründete Überzeugung unter das festgesetzte Beweismaß sinkt. Die Rechtsprechung verlangt den Nachweis einer »konkreten und ernsthaften Möglichkeit« eines anderen Geschehensablaufs.534 Bayes’ Regel lehrt, dass die Beweiskraft der gegen den klägerischen Sachvortrag vorgebrachten Indizien umso höher sein muss, je plausibler der Sachvortrag prima facie ist. Der Unterschied von Anscheinsbeweis und gewöhnlichem Indizienbeweis liegt folglich darin, dass beim Anscheinsbeweis bereits die aufgrund der Anscheinsbasis gewonnene anfängliche Überzeugung die Beweismaßgrenze erreicht, während beim gewöhnlichen Indizienbeweis die subjektive Anfangswahrscheinlichkeit nicht ausreicht, sondern erst die Abnahme weiterer Beweismittel die richterliche Überzeugung über die festgesetzte Schwelle hebt. Zwei Beispiele mögen dies erhellen. Dem »Hackfleischröllchen-Fall« lag folgender Sachverhalt zugrunde:535 Der Kläger verzehrte in Begleitung seiner Ehefrau einen Grillteller, der aus verschiedenen Fleischstücken, zwei Hackfleischröllchen (Cevapcici) sowie Reis und Gemüse bestand. Dabei brach ein Zahn des Klägers ab. Der Kläger führt dies darauf zurück, dass sich in einem der Hackfleischröllchen ein harter Fremdkörper – etwa ein kleiner Stein – befunden habe, wofür er die Restaurantbetreiberin verantwortlich macht. Die Ehefrau konnte keine Angaben zum Fremdkörper machen, da dieser nicht mehr auffindbar war; der Kläger geht davon aus, dass er ihn verschluckt hatte. Rechtlich gingen Berufungs- wie Revisionsinstanz davon aus, dass dem Kläger kein Ersatzanspruch zusteht, wenn der Zahn durch einen Biss auf ein Kno533 Die praktische Bedeutung betonend Kollhosser, AcP 1965, 46–82, 46; Hainmüller, Anscheinsbeweis, 88; Greger, VersR 1980, 1091–1104, 1091; MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 48; Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 23. 534 MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 65; Wieczorek/Schütze-ZPO-Ahrens, § 286 N 82 ff.; beide mit zahlreichen Nachweisen. 535 BGH NJW 2006, 2262.

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chenstückchen abgebrochen ist, da beim Verzehr eines Grilltellers grundsätzlich mit festeren Knorpelteilchen oder Knochenabsplitterungen gerechnet werden müsse. Eine Pflichtverletzung des Wirtes oder seines Personals wird durch einen Knochensplitter im Hackfleisch nicht begründet. Der Kläger berief sich auf den Anscheinsbeweis, gemäß dem es wahrscheinlich sei, dass ein Steinchen im Hackfleisch das Abbrechen des Zahnes verursacht habe. Sowohl die Vorinstanz wie der BGH lehnten es ab, von einem typischen Geschehensablauf auszugehen, und wiesen die Klage ab. Zur Bejahung des Anscheinsbeweises kam der BGH dagegen im ersten höchstrichterlich entschiedenen Fall zur Haftung für HIV-Infektion durch infizierte Blutkonserven.536 Die Ehefrau des Klägers hatte am 14. Februar 1984 eine nachweislich kontaminierte Blutkonserve erhalten. Den Nachweis, dass sie vor dem 14. Februar 1984 nicht HIV-positiv war, konnte sie nicht erbringen. Berufungs- und Revisionsgericht gingen jedoch in Anbetracht dessen, dass weder der Kläger noch seine Ehefrau einer Risikogruppe angehörten und auch nicht »durch die Art ihrer Lebensführung einer gesteigerten Infektionsgefahr ausgesetzt waren«, davon aus, dass der Anscheinsbeweis dafür erbracht war, dass die Ehefrau sich durch die Blutkonserve mit HIV infiziert hatte und anschließend ihren Mann angesteckt hatte.537 Der Einwand der Beklagten, hier ginge es um »[sich] der Typisierung entziehende individuelle Verhaltensweisen«, die einem Anscheinsbeweis nicht zugänglich seien, wurde mit dem Argument abgewiesen, es gehe nicht um die Beurteilung des individuellen Lebenswandels, sondern der »Möglichkeiten einer Übertragung des HIV auf Personen, die unstreitig keiner Risikogruppe angehört haben, denen aber HIV-verseuchtes Blut transfundiert worden ist.«538 Die beiden Fälle unterscheiden sich in der Plausibilität des klägerischen Sachvortrags: Im Hackfleischröllchen-Fall ist es ohne weiteres denkbar, dass der Zahn durch einen Biss auf ein Knochenstückchen abgebrochen ist. Die Darstellung des Klägers, ein Fremdkörper im Fleisch sei verantwortlich, ist nicht besonders glaubhaft, da sich erfahrungsgemäß keine Steine in Hackfleisch befinden. Hingegen weist das Berufungsgericht darauf hin, dass der Beweis »für die behauptete Ursache des Zahnabbruchs [. . . ] allenfalls dann gegeben [wäre], wenn der Kläger den behaupteten Fremdkörper hätte vorlegen können.«539 Anders im HIV-Fall. Hier steht fest, dass der Kläger (respektive seine Ehefrau) eine kontaminierte Blutspende erhalten hatte. Wer eine kontaminierte Blutspende erhält, wird mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 90% mit HIV-infiziert. Völlig 536

BGH NJW 1991, 1948; mit Anmerkung Deutsch, NJW 1991, 1937–1938. BGH NJW 1991, 1948, 1949. 538 BGH NJW 1991, 1948, 1949. 539 BGH NJW 2006, 2262. Das Berufungsgericht spricht davon, dass der »Anscheinsbeweis« in diesem Fall erbracht wäre; nach richtiger Auffassung handelte es sich in diesem Fall eher um einen gewöhnlichen Indizienbeweis. 537

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ausschließen lässt sich demnach nicht, dass eine kontaminierte Blutspende nicht zur Infektion führt, aber es ist zumindest sehr plausibel, dass die kontaminierte Blutkonserve Ursache der HIV-Infektion ist. Können andere Übertragungswege wie Spritzentausch oder Geschlechtsverkehr mit einer infizierten Person ausgeschlossen werden, ist die Annahme zulässig, dass die Blutspende die Ursache der HIV-Infektion ist (unter Berücksichtigung der empirischen Anfangswahrscheinlichkeiten ist die Analyse des HIV-Falls komplexer, siehe hinten, S. 227 f., bestätigt aber die Beurteilung durch den BGH).540 Hingegen entfällt die Anscheinsbasis, und damit der Anscheinsbeweis, wenn nicht feststeht, dass die verabreichte Blutkonserve verseucht war (auch dies wird durch die detaillierte Analyse weiter hinten bestätigt).541 Der für den Anscheinsbeweis vorausgesetzte »typische« Geschehensablauf lässt sich daher verstehen als »plausibler« Geschehensablauf, und zwar ein unter den Umständen derart plausibler Geschehensablauf, dass die Beweismaßgrenze der vollen Überzeugung erreicht wird. Entscheidend ist, dass sich für Dritte nachvollziehbar begründen lässt, warum die Sachverhaltsdarstellung des Klägers gestützt auf die feststehenden Tatsachen und die Lebenserfahrung des Richters bereits ohne Abnahme weiterer Beweismittel die Überzeugung begründet, dass die behauptete Ursache die tatsächliche Ursache des beobachteten Erfolgs ist. Dies erklärt, warum die Rechtsprechung, trotz gegenteiliger Beteuerungen,542 den Anscheinsbeweis auch in Fällen anwendet, die »selbst bei extensivster Auslegung dieses Begriffs«543 nicht mehr als »typische« Geschehensabläufe bezeichnet werden können, oder, wie ein anderer Kommentator sich ausdrückt, »in der Rechtspraxis [. . . ] die theoretische Voraussetzung der Falltypik längst zur Leerformel geworden [ist.]«544 In der Tat kann nicht das Kriterium der »Typizität« das Abgrenzungskriterium sein – wie Foerste zu Recht bemerkt, lässt sich »fast jedes individuelle Geschehen generalisierend beschreiben«545 – sondern die Abgrenzung des Anscheinsbeweises vom gewöhnlichen Indizienbeweis liegt darin, dass beim Anscheinsbeweis bereits die anfängliche Plausibilität der klägerischen Sachdarstellung die richterliche Überzeugung zu begründen vermag, während beim gewöhnlichen Indizienbeweis die angebotenen Beweismittel berücksichtigt wer540

Deutsch, NJW 1991, 1937–1938, 1937, zählt den fehlenden Nachweis anderer Ansteckungsmöglichkeiten zum gescheiterten Gegenbeweis; d. h. er würde als Anscheinsbasis die Verabreichung einer kontaminierten Blutkonserve genügen lassen. Die genauere Analyse des HIV-Falls mit realistischen a-priori Wahrscheinlichkeiten (S. 227 ff.) zeigt, dass dies falsch ist. 541 Dies war der Sachverhalt, der OLG Düsseldorf NJW 1996, 1599, 1600, zugrunde lag. Das Gericht kam zum Schluss, dass der Nachweis, dass die Infektion auf die Blutspende zurückzuführen war, nicht erbracht wurde. 542 BGHZ 100, 31, 33 = NJW 1987, 2876, BGHZ 160, 308, 313 = NJW 2004, 3623; NJW 2006, 2262, 2263 m. w. H. 543 Greger, VersR 1980, 1091–1104, 1099, mit Nachw. der Rsp. 544 Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 260. 545 Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 23.

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den müssen.546 Wenn die Rechtsprechung davon spricht, dass die behauptete Ursache – wie im Hackfleischröllchen-Fall – nicht »typisch« sei, wird damit letztlich nur ausgedrückt, dass die behauptete Ursache, so lange keine weiteren Indizien für sie vorliegen, nicht ausreichend plausibel ist, um die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Statt von der »Typizität« des Geschehensablaufs würde man daher besser von seiner Plausibilität sprechen.547 Sieht man den Unterschied von Anscheinsbeweis und gewöhnlichem Indizienbeweis in der Plausibilität, nicht Typizität, des klägerischen Sachvortrages, dann lässt sich die Weigerung der Rechtsprechung, den Anscheinsbeweis für die grobe Fahrlässigkeit548 und bei individuellen Willensentschlüssen549 zuzulassen, kaum rechtfertigen. Die Rechtsprechung begründet dies damit, dass es sich dabei um singuläre Vorgänge handeln würde, die einer Typisierung nicht zugänglich seien.550 Die Lehre steht dieser Rechtsprechung seit langer Zeit kritisch gegenüber.551 In der Tat muss der Richter immer den singulären Einzelfall beurteilen, nicht nur bei individuellen Willensentschlüssen.552 Auch bei Willensentschlüssen lässt sich gestützt auf die Lebenserfahrung von bestimmten Vorkommnissen auf bestimmte Motivationen schließen.553 Wer sich einen Bolzenschussapparat auf die Stirn setzt und abdrückt, handelt in der Regel mit Selbsttötungsabsicht.554 Ein grundsätzlicher Unterschied zu anderen Fällen, in denen der Richter entscheiden muss, ob sich eine der unmittelbaren Wahrnehmung nicht zugängliche Tatsa546 Kritisch zur Typizität als Abgrenzungskriterium bereits Wassermeyer, Prima Facie Beweis, 38 f.; Ekelöf, ZZP 1962, 289–301, 300; Kollhosser, AcP 1965, 46–82, 53; Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321–344, 328; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 130 f.; Engels, Anscheinsbeweis, 193; a. M. Leipold, Beweismaß und Beweislast, 14; Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 232 ff. 547 Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 23, deutet ebenfalls die Gleichstellung von typisch und plausibel an. Ähnlich wie hier auch Meyke, NJW 2000, 2230–2235, 2231, der den Verzicht auf Abnahme von Beweismitteln beim Anscheinsbeweis mit der Plausibilität des Sachvortrages begründet. Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321–344, 333, setzt typisch mit »wahrscheinlich« gleich, was richtig ist, wenn man darunter »subjektiv wahrscheinlich« versteht. Wegen der Mehrdeutigkeit des Begriffs »wahrscheinlich« ziehe ich den Ausdruck »plausibel« vor. 548 BGH VersR 1972, 171; zahlreiche Nachw. bei Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 286, 142, FN 333; Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 30. 549 BGH NJW 1988, 2040, 2041; NJW 2008, 76, 77; zahlreiche Nachweise bei Stein/JonasZPO-Leipold, § 286 N 174; Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 30; 550 BGH NJW 1987, 1944 f.: kein Anscheinsbeweis für Selbsttötungsabsicht. 551 Schneider, MDR 1971, 535–538, 537, m. Nachw. auf die ältere Literatur; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 130 f.; Walter, ZZP 1977, 270–284, 278; Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 263, 265; Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 259; MusielakZPO-Foerste, § 286 N 30; a. M. Wassermeyer, Prima Facie Beweis, 15 ff.; Henke, JR 1961, 48–52, 49; Leipold, Beweismaß und Beweislast, 15 f.; Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 286 N 136. 552 Schwab, in: Holzhammer/Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451– 462, 454. 553 Schneider, MDR 1971, 535–538, 537; Wieczorek/Schütze-ZPO-Ahrens, § 286 N 108. 554 BGH VersR 1955, 99 (Anscheinsbeweis für Suizid für zulässig gehalten); anders BGH NJW 1987, 1944.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

che verwirklicht hat, ist nicht ersichtlich. Entscheidend ist, ob der Sachvortrag des Klägers nach allgemeiner Lebenserfahrung so plausibel ist, dass er die volle Überzeugung des Richters zu begründen vermag.555 Das Abstellen auf die Anfangswahrscheinlichkeit beim Anscheinsbeweis erklärt auch, warum Vertreter der schwedischen Beweiswertmethode, welche die Relevanz der Anfangswahrscheinlichkeit mangels einer »kausalen Beziehung« zum Beweisthema leugnen,556 dem Anscheinsbeweis ablehnend gegenüberstehen.557 Ohne Berücksichtigung der subjektiven Anfangswahrscheinlichkeit kann es keinen Anscheinsbeweis geben. c) Anscheinsbeweis in der Schweiz Wenn der Anscheinsbeweis letztlich nur Ausdruck der unumstößlichen Logik ist, dass die Anfangswahrscheinlichkeit für einen Tatsachenvortrag einen Grad erreichen kann, der erlaubt, die klägerischen Tatsachenbehauptungen auch ohne Abnahme weiterer Beweismittel für wahr zu erachten, erstaunt es, dass in der Schweiz, die ein zum deutschen vergleichbares Beweisrecht kennt, das Institut des Anscheinsbeweises unbekannt ist.558 Zwar erwähnt das Bundesgericht den Begriff »Anscheinsbeweis« in acht Urteilen,559 aber die Verwendung erfolgt unsystematisch560 und nicht im Sinne der deutschen Doktrin: In erster Linie versteht das Bundesgericht unter »Anscheinsbeweis« eine Senkung des Beweismaßes auf bloße Glaubhaftmachung,561 respektive überwiegende Wahrscheinlichkeit;562 selten eine widerlegbare tatsächliche Vermutung.563 Die Lehre ist ähnlich gespalten und versteht Anscheinsbeweis einerseits als Beweismaßreduktion auf Glaub-

555 Ähnlich MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 79, der den Anscheinsbeweis bei Willensentschlüssen nicht generell ausschliesst. 556 Nachweise in FN 447. 557 Ekelöf, ZZP 1962, 289–301, 289; Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 351. 558 Schmid, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 11–34, 25; Fellmann, HAVE 2006, 231–237, 234; Walter, in: Fuhrer/Chappuis (Hrsg.), Droit de la responsabilité civile et des assurances, 447–457, 448; nach Prütting, Beweislast, 102, kennen auch Frankreich, Holland und Schweden das Institut nicht. Meier, BJM 1989, 57–78, 64 ff., verwendet Anscheinsbeweis und natürliche Vermutung synonym. 559 BGE 116 II 357 E. 4; 118 II 235 E. 3c; BGer, Urteil 5C.146/2000 vom 15. Februar 2001, E. 4b; 5C.109/2001 vom 10. Juli 2001, E. 2a; 4C.424/2004 vom 15. März 2005, E. 3.2.2.1; 5C.170/2006 vom 17. Oktober 2006, E. 5.2; 5D.179/2009 vom 5. Februar 2010, E. 3.3; 4A.220/2010 vom 11. Oktober 2010, E. 8.2.3, unter Hinweis auf Oftinger/Stark, Haftpflichtrecht, § 27 Rz. 143–145. 560 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.158, spricht von »Sammelbecken«. 561 BGer, Urteil 5C.146/2000 vom 15. Februar 2001, E. 4b. 562 BGer, Urteil 5C.170/2006 vom 17. Oktober 2006, E. 5.2. 563 BGer, Urteil 4C.424/2004 vom 15. März 2005, E. 3.2.2.1.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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haftmachung,564 andererseits als tatsächliche Vermutung.565 Walter übernimmt weitgehend die herrschende deutsche Lehre zum Anscheinsbeweis.566 Die Autoren des Vorentwurfs zum Haftpflichtgesetz verstehen unter Anscheinsbeweis eine »einleuchtende Wahrscheinlichkeit«.567 Dass Plausibilität der klägerischen Tatsachenbehauptungen und Stärke der Beweismittel, die notwendig sind, um die volle richterliche Überzeugung zu begründen, in einem Wechselspiel stehen, ist aber auch in der Schweiz anerkannt.568 So stellt Guldener fest: »Je unwahrscheinlicher die Tatsachenbehauptung einer Partei ist, desto höhere Anforderungen darf das Gericht an den Beweis der Tatsache stellen.«569 Auf diese Literaturstelle weist auch das Bundesgericht zustimmend hin und hält fest, dass es kein variables Beweismaß in dem Sinne gebe, dass »an den Beweis einer Tatsache umso höhere Anforderungen zu stellen sind, je weniger wahrscheinlich die Behauptung ist.«570 Dies entspricht Bayes’ Regel: Nicht das Beweismaß, verstanden als a-posteriori-Wahrscheinlichkeit, die für eine positive Entscheidungen notwendig ist, ändert sich bei unplausiblen Tatsachenbehauptungen, sondern die Beweiskraft der Indizien, die notwendig sind, um das (feststehende) Beweismaß zu erreichen, muss höher sein. Auch nach Kummer kann der Richter »für Unwahrscheinliches [. . . ] entsprechend härteren Beweis fordern.«571 Umgekehrt gilt, »[j]e wahrscheinlicher ein Sachverhaltsvortrag erscheint, desto eher darf angenommen werden, dass er zutrifft.«572 Beim Nachweis der Verkehrsdurchsetzung einer Marke im Sinne von Art. 2 lit. a Markenschutzgesetz (SR 232.11) sieht das Bundesgericht eine Abhängigkeit zwischen der Banalität des Zeichens und der Beweiskraft der Beweismittel, die vorgelegt werden müssen, damit die Verkehrsdurchsetzung bewiesen – oder im Eintragungsverfahren glaubhaft gemacht573 – ist. Verkehrsdurchsetzung bedeutet, dass ein Zeichen von einem erheblichen Teil des maßgeblichen Publikums als Hinweis auf die Produkte eines bestimmten Unternehmens verstanden wird.574 564 Schlauri, Elektronische Signaturen, Rz. 610; Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel des ZGB, Art. 8 ff. ZGB, FN 22. 565 Meier, BJM 1989, 57–78, 64 ff.; Kofmel Ehrenzeller, ZBJV 2001, 813–844, 824 f.; Fellmann, HAVE 2006, 231–237, 234; Dike-ZPO-Leu, Art. 154 N 125. 566 Walter, in: Fuhrer/Chappuis (Hrsg.), Droit de la responsabilité civile et des assurances, 447–457, 450 ff. 567 Art. 56d Abs. 2 OR gemäß VE Haftpflichtgesetz; die Totalrevision des Haftpflichtrechts wurde vom Bundesrat am 21. Januar 2009 gestoppt; www.ejpd.admin.ch/content/ejpd/de/home/ dokumentation/mi/2009/2009-01-21.html (besucht am 1. Dezember 2012). 568 BGE 130 III 321 E. 3.3. 569 Guldener, Zivilprozessrecht, 322; ihm folgend Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, § 148 N 8; Groner, Beweisrecht, 105 f. 570 BGE 130 III 321 E. 3.3. 571 Kummer, Grundriss des Zivilprozessrechts, 136; ihm folgend Leuch et al., Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, Art. 219 N 2b. 572 Kaufmann, AJP 2003, 1199–1208, 1206. 573 BGE 130 III 328 E. 3.2 m. w. H. 574 BGE 128 III 441 E. 1.2 m. w. H.

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Die Durchsetzung eines Zeichens im Verkehr kann aus Tatsachen abgeleitet werden, die erfahrungsgemäß einen Rückschluss auf die Wahrnehmung des Zeichens durch das Publikum erlauben;575 was nichts anderes heißt, als dass (selbstverständlich) auch die Verkehrsdurchsetzung dem Indizienbeweis offen steht. Gemäß Bundesgericht ist es richtig, dass an den Nachweis der Glaubhaftmachung der Verkehrsdurchsetzung umso höhere Anforderungen gestellt werden, je banaler das Zeichen ist;576 denn damit werde der Tatsache Rechnung getragen, dass »das Publikum die erforderliche Assoziation zwischen Zeichen und Produkt auch bei langjährigem Gebrauch desto weniger machen wird, je weniger sich das Zeichen als solches in der Erinnerung einprägt.«577 Diese Überlegungen ordnet das Bundesgericht der freien Beweiswürdigung zu.578 In der Tat lassen sie sich zwanglos als eine intuitive Anwendung von Bayes’ Regel verstehen: Je anfänglich unwahrscheinlicher es ist, dass ein Zeichen sich im Verkehr durchgesetzt hat, desto stärker müssen die für die Verkehrsdurchsetzung sprechenden Indizien sein, damit der Richter trotz der anfänglichen Unwahrscheinlichkeit der klägerischen Tatsachenbehauptung, die Marke habe sich im Verkehr durchgesetzt, davon überzeugt ist, dass sie in der Tat durchgesetzt ist.579 Hingegen ändert sich am Grad der Verkehrsdurchsetzung genauso wenig wie am Beweismaß (hinten, S. 522 f.).580 Man kann sich als bildliches Modell das Überspringen einer Hürde vorstellen: Die Höhe der Hürde wird vom Beweismaß bestimmt. Überwindet die beweisbelastete Partei die Hürde, hat sie den Beweis erbracht. Die Anfangswahrscheinlichkeit ist so gesehen das Podest, auf dem die beweisbelastete Partei steht. Ist die Anfangswahrscheinlichkeit sehr gering, muss die beweisbelastete Partei sehr hoch springen (sehr beweiskräftige Beweismittel vorlegen) um die Hürde zu überwinden (den Beweis zu erbringen). Ist die Anfangswahrscheinlichkeit sehr groß, steht die beweisbelastete Partei auf einem hohen Podest, und sie muss nur noch die geringe Höhendifferenz vom Podest zur Hürde überwinden, entsprechend genügen Beweismittel mit geringerer Beweiskraft, um die richterliche Überzeugung zu begründen. Der Beweis ist aber nicht leichter, weil die Hürde tiefer (das Beweismaß geringer) wäre, sondern weil das Podest höher (die Anfangswahrscheinlichkeit größer) ist. 575

BGE 130 III 328 E. 3.1 m. w. H. BGE 130 III 328 E. 3.4; 131 III 121 E. 7.4. 577 BGE 130 III 328 E. 3.4. 578 BGE 130 III 328 E. 3.4.; ebenso 130 III 321 E. 3.3 für den Beweis des Versicherungsfalles. 579 Daraus folgt, dass die umgekehrte Überlegung ebenfalls zutrifft, nämlich dass für eine Marke, die nur ganz knapp die Hürde der originären Kennzeichnungskraft nicht schafft, der Nachweis der Verkehrsdurchsetzung bereits mit relativ schwachen Beweismitteln geführt werden kann. Das Institut für Geistiges Eigentum (IGE; Schweizerisches Markenamt) weigert sich allerdings bislang, dies anzuerkennen. 580 A. M. Leuenberger, ZBJV 2003, 637–677, 654, der für Behauptungen, die nach der Lebenserfahrung unwahrscheinlich sind, das Beweismaß »etwas höher« legen will als bei wahrscheinlich erscheinenden Behauptungen. 576

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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d) Fazit Bayes’ Regel lehrt, dass man bei jeder Beweiswürdigung seine anfängliche Überzeugung, dass eine Tatsachenbehauptung wahr ist, mit der Beweiskraft der konkreten Indizien kombinieren muss, um zu einer Überzeugung zu gelangen, ob sich der Sachverhalt wie behauptet verwirklicht hat. Dabei stehen der Grad der anfänglichen Überzeugung und die Stärke der Beweismittel in einem Wechselspiel in dem Sinne, dass die Beweismittel umso beweiskräftiger sein müssen, je geringer die anfängliche Überzeugung ist, um den gleichen Grad der Überzeugung für die Wahrheit der zu beweisenden Tatsachenbehauptung zu begründen. Umgekehrt gilt natürlich auch, dass bereits wenig beweiskräftige konkrete Beweismittel, oder gar keine, genügen, damit eine bereits anfänglich sehr plausible Behauptung zur vollen Überzeugung bewiesen ist. Die Rechtsprechung hat diesen Zusammenhang seit langem erkannt, wie die Figur des Anscheinsbeweises zeigt. Der Anscheinsbeweis stellt den Grenzfall dar, bei dem bereits die Plausibilität der klägerischen Sachdarstellung aufgrund der Anscheinsbasis so hoch ist, dass ohne Abnahme weiterer Beweismittel die volle Überzeugung des Richters gegeben ist. Eine Beweismaßsenkung ist mit dem Anscheinsbeweis daher, entgegen einer weit verbreiteten Lehrmeinung, aber im Einklang mit der Rechtsprechung, nicht verbunden. In Deutschland genießt der Anscheinsbeweis eine Sonderstellung, weil er revisibel ist;581 dies entgegen dem Grundsatz, dass die Revisionsinstanz die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht überprüfen darf (§ 559 Abs. 2 ZPO-DE). Die Gefahr, die davon ausgeht, dass man einzig aufgrund von in der Regel auf Alltagswissen basierenden Plausibilitätsüberlegungen einen Sachvortrag als bewiesen erachtet, darf nicht unterschätzt werden (siehe hinten, S. 381 ff.). Es bedarf einer einzigen Instanz, die darüber entscheidet, welche Lebenssachverhalte so plausibel sind, dass sie ohne Abnahme weiterer Beweise die volle Überzeugung für ihre Wahrheit zu begründen. Nur so lässt sich sicherstellen, dass gleiche Sachverhalte gleich behandelt werden. In der »Herbeiführung einer gleichmäßigen Rechtsanwendung bei gleicher Sachverhaltsgestaltung«582 liegt die wesentliche prozessuale Funktion dieses Instituts. Da dem Beklagten der Gegenbeweis offensteht, dass der klägerische Sachvortrag, obwohl typisch – oder eben plausibel – im konkreten Fall nicht die volle Überzeugung für seine Wahrheit zu begründen vermag, weil spezifische Indizien gegen seine Wahrheit sprechen, ist gleichzeitig sichergestellt, dass die Umstände des Einzelfalles berücksichtigt werden.

581

Wieczorek/Schütze-ZPO-Ahrens, § 286 N 50. Wieczorek/Schütze-ZPO-Ahrens, § 286 N 67; ähnlich Kollhosser, ZZP 1983, 270–278, 277: »das bequeme Mittel, um die Beweiswürdigung für gleichliegende Fälle vereinheitlichen zu können«. 582

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

2. Rationale Überzeugungsbildung in komplexen Fällen In der Lehre wird überwiegend die Auffassung vertreten, Bayes’ Regel sei, wenn überhaupt, auf einfache Schulbuchbeispiele anwendbar, aber die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie sei in keiner Weise geeignet, der Komplexität von Sachverhalten gerecht zu werden, wie sie tatsächlich durch Gerichte beurteilt werden müssen. Exemplarisch dazu die Stimmen von Walter:583 »Allein schon diese Unterschiede in den Ergebnissen [sc. der Beweiswertberechnung nach Ekelöf und derjenigen nach Schreiber] weisen darauf hin, dass eine mathematische Berechnung des Gesamtbeweiswerts mehrerer Beweismittel (von der Unmöglichkeit der Bewertung einer Zeugenaussage ganz zu schweigen) nicht möglich ist. Zu komplex ist das Ineinandergreifen mehrerer Beweismittel, die ihrerseits wieder über eine unterschiedliche Gewichtigkeit verfügen, zu unwägbar die Wirklichkeit, als dass sie sich in logische Formeln überführen ließe.«

Bruns:584 »Ein solch komplexes Geschehen [sc. die Beweiswürdigung] kann nur bewältigt werden durch Ekelöfs »Intuition«, in der wir nach allen vorangegangenen Klarstellungen wiederzufinden glauben, was dem Gesetzgeber der deutschen Civilprozessordnung von 1877 im Sinn lag: die am Einzelfall mit allen seinen Windungen und Untiefen erschaute Überzeugung des Richters.«

Habscheid:585 »So ist vorgeschlagen worden, die richterliche Überzeugung mathematisch zu erfassen. Die Praxis hat sich hiervon unbeeindruckt gezeigt, wohl auch deshalb, weil die richterliche Überzeugungsbildung ein psychologischer Vorgang ist, den man nicht in Formeln fassen kann, ohne ihm Gewalt anzutun.«

und Berger-Steiner:586 »Selbst wenn man von dieser Schwierigkeit [sc. der fehlenden empirischen Grundlage für die Anfangswahrscheinlichkeit] absehen wollte, fehlt zudem der Nachweis, dass das Bayes-Theorem die im Zivilprozess häufig vielschichtigen Lebenssachverhalte, die von zahlreichen und schwerlich einzeln aufzuschlüsselnden Aspekten beeinflusst sind, praktisch überhaupt zu bewältigen in der Lage ist.«

Die gegen die Anwendung von Bayes’ Regel vorgebrachte Kritik richtet sich also nicht in erster Linie gegen die Logik von Bayes’ Regel,587 kritisiert wird vielmehr die Praktikabilität der Anwendung in der Praxis, und zwar unter zwei Gesichtspunkten: 1.

die Anwendung von Bayes’ Regel führe zu keiner Verbesserung der intuitiven Beweiswürdigung, wo es an empirischen (»statistischen«) Wahrscheinlichkeiten fehle; 583 584 585 586 587

Walter, Freie Beweiswürdigung, 179. Bruns, ZZP 1978, 64–71, 71. Habscheid, in: Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 105–119, 111. Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.112. Diese wird vom BGH als »unangefochten« bezeichnet, BGH NJW 1989, 3162.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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Bayes’ Regel sei nicht geeignet, die Komplexität von Sachverhalten abzubilden, wie sie in der Praxis zu beurteilen seien.

2.

Das erste Argument kann nur empirisch beantwortet werden. Es ist zu prüfen, ob die ungestützte Intuition tatsächlich der Anwendung von Bayes’ Regel überlegen ist. Dieser Frage wird im dritten Teil dieser Arbeit nachgegangen. Das zweite Argument ist richtig. Vertretern der Auffassung, dass die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie ein Modell rationaler Beweiswürdigung sei – dass die »Denkgesetze«, die der Richter beachten muss, sich auf die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie zurückführen lassen – ist es bisher nicht gelungen, zu zeigen, wie die Theorie außerhalb von Lehrbuch-Beispielen angewandt werden kann. Seit den 1980-er Jahren wurde jedoch mit Bayes’ Netzen, die auf der Logik der Wahrscheinlichkeitstheorie beruhen, ein Mittel geschaffen, das geeignet ist, auch komplexe Sachverhalte abzubilden und sicherzustellen, dass die Überzeugungsbildung nicht gegen die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie verstößt. Da inzwischen zahlreiche Programme zur Modellierung und Berechnung von Bayes’ Netzen mit grafischer Benutzeroberfläche zur Verfügung stehen, z. T. sogar gratis, kann die Methode auch von Nicht-Mathematikern angewandt werden. Der Vorteil der Verwendung von Bayes’ Netzen ist insbesondere auch, dass sie einen intuitiven Zugang zur Formalisierung von Überlegungen zur Beweiswürdigung bieten, den die mathematischen Formeln alleine für die meisten Juristen nicht bieten können. Bayes’ Netze vermögen nicht nur den Einwand zu entkräften, die Anwendung der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie sei auf einfache Lehrbuchbeispiele beschränkt, die mit der Komplexität von Sachverhalten, die in Wirklichkeit von Gerichten zu beurteilen sind, nicht zu vergleichen seien. Ein Hauptvorteil von Bayes’ Netzen ist, dass sie die Kohärenz der Teilüberzeugungen im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie garantieren.588 Eine durch ein Bayes’ Netz dargestellte Menge von gleichzeitig gehaltenen Überzeugungen kann nie »fehlerhaft«589 in dem Sinne sein, dass sie den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie widerspricht.590 Intuitiv sind solche Fehler selbst bei wenigen Überzeugungen kaum zu erkennen,591 und noch viel weniger bei zahlreichen gleichzeitig gehaltenen Überzeugungen. Wer verlangt, dass die Überzeugungsbildung die Denkgesetze nicht verletzen darf, und die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie als Logik der Überzeugungsbildung versteht, sieht in Bayes’ Netzen daher ein Hilfsmittel, die geforderte Kohärenz auch praktisch zu erreichen. Die Kohärenz ist dabei nicht allein deshalb nützlich, weil ein inkohärentes Subjekt Kombinationen von Wetten als fair rechtfertigen würde, die ihm einen 588 589 590 591

Charniak, AI Magazine 1991, 50–61, 55. »Defective« gemäß Christensen, Putting logic in its place, 118 ff. Russell/Norvig, Artificial intelligence, 515. Charniak, AI Magazine 1991, 50–61, 55.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

sicheren Verlust einbringen. Die Kohärenz-Bedingungen der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie ermöglichen es vielmehr, zu erkennen, dass ein Überzeugungsgrad abwegig sein muss, weil er nicht zu anderen, als (eher) richtig akzeptierten, Überzeugungsgraden passt. Um es mit Bruno de Finetti, einem der Väter der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie, zu sagen:592 »Die wenigen Bemerkungen, die in Bezug auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung noch hinzuzufügen sind, bestehen in der Betonung dessen, dass die Kohärenz-Bedingungen, ohne die Freiheit bei der Bewertung irgendeiner Wahrscheinlichkeit an sich irgendwie einzuschränken, in der Praxis die Möglichkeit »abwegiger« Bewertungen stark begrenzen. Genauer: eine isolierte abwegige Bewertung ergibt sich als unmöglich (sowie ein Lügner, um eine Lüge aufrechtzuerhalten, eine ganze Reihe von Lügen aufbauen muss, oder wie bei einer Planung bei Veränderung von Daten der ganze Plan zu ändern ist). Es ist leicht zu sagen: »Für mich ist die Wahrscheinlichkeit von E doppelt so groß wie die anderen mehr oder weniger annehmen«. Aber, wenn Du das behauptest, kann ich Dich fragen: »Aber, wie bewertest Du die Wahrscheinlichkeiten von A, B, C, . . . ?« Und nach Erhalt Deiner Antwort: »Also ist für Dich die Wahrscheinlichkeit von H so klein, 1/10 von dem, was allgemein angenommen wird?« usw. Wenn Du Dich in Deiner Kohärenz immer sicher fühlst, wirst Du eine vollständige kohärente Meinung haben, die die anderen wohl als »abwegig« bezeichnen können (mit demselben Recht, mit dem Du die allgemeine Meinung als abwegig bezeichnen kannst), die sie sonst jedoch nicht tadeln können. Öfter jedoch wirst Du bemerken, dass die anfängliche abwegige Bewertung Dich nicht nur zu den anderen, sondern auch zu Dir selbst in Gegensatz bringt, sobald Du das Problem in seiner Gänze und Vollständigkeit mit allen Verknüpfungen betrachtest.«

Das praktische Problem ist, dass dieses Vorgehen nur dann nützlich ist, wenn das Problem »in seiner Gänze und Vollständigkeit mit allen Verknüpfungen« erfasst wird, oder, um beim Bild des Lügengebäudes von de Finetti zu bleiben, wenn das Lügengebäude eine ausreichende Komplexität erreicht, so dass seine inneren Widersprüche erkennbar werden. Bayes’ Netze erlauben, »Gebäude« mit ausreichender Komplexität beherrschbar zu machen. Bei ihrer Analyse des Sacco und Vinzetti Falles haben Kadane und Schum beispielsweise 395 einzelne Beweismittel berücksichtigt.593 Zwar ist es auch mit Bayes’ Netzen unmöglich, ein Modell zu erstellen, das die gesamten Überzeugungen eines Subjekts vollständig erfasst. Ein solches Modell ist aber nicht nur praktisch nicht zu erreichen, es wäre auch so wenig nützlich wie die berühmte Landkarte im Maßstab 1:1 aus der Geschichte von Jose Luis Borges,594 die ein exaktes Abbild des Abzubildenden ist. Bayes’ Netze ermöglichen durch die grafische Darstellung der direkten Abhängigkeiten zwischen Tatsachenbehauptungen eine formale Modellierung zumindest der wesentlichen die Überzeugungsbildung beeinflussenden Elemente, und damit die Überprüfung, ob einzelne Teilüberzeugungen »abwegig« sind. Der Einwand, dass eine genaue Messung des Beweiswerts der einzelnen Beweismittel 592 593 594

de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 230 f. Kadane/Schum, Probabilistic analysis of the Sacco and Vanzetti evidence, 88. Borges, in: Borges (Hrsg.), Borges und ich, 121.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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unmöglich ist, ist zwar richtig, aber der Schluss, dass deshalb keine Kontrolle der richterlichen Beweiswürdigung möglich sei, nicht:595 Überprüft werden kann die innere Kohärenz der richterlichen Teilüberzeugungen im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie, die eine elementare Anforderung an die Rationalität der Überzeugungsbildung ist. Bayes’ Netze ermöglichen diese Kontrolle auch dem mathematischen Laien und entkräften den (berechtigten) Einwand, dass eine Formalisierung aller Überlegungen zum Indizienbeweis diesen überfordern würde.596 Ein weiterer Vorteil von Bayes’ Netzen ist ihre Flexibilität, die es erlaubt, ein Modell einfach zu ergänzen und umzubauen, um dem sich ändernden Wissensstand Rechnung zu tragen.597 Das Wissen über einen juristisch relevanten Sachverhalt ändert sich im Laufe des Verfahrens, wenn neue Informationen hinzukommen, aber auch, wenn sich das Verständnis bekannter Indizien ändert, weil sich neue Zusammenhänge erschließen. Bayes’ Netze können auch von Laien so einfach ergänzt und geändert werden, dass sie ohne übermäßigen Aufwand dem zunehmenden Wissen angepasst werden können. Die formale Modellierung zwingt zu Transparenz und ermöglicht damit erst eine intersubjektive Kommunikation: Die versteckten Annahmen über die anfängliche Überzeugung für die Wahrheit der Tatsachenbehauptung, die Abhängigkeit der Indizien untereinander und deren Beweiskraft müssen in einem Bayes’ Netz offen gelegt werden.598 Das ist schwierig und erzwingt klare Stellungnahmen in Fällen, in denen man sich solchen Stellungnahmen vielleicht lieber entziehen möchte. Erst dadurch wird intersubjektive Kommunikation über implizites Wissen aber möglich: Über was man schweigt, kann man nicht reden. Bayes’ Netze sind eine Sprache zur Darstellung des Wissens über die Welt, die durch ihre klare Semantik und intuitiv verständliche Darstellung intersubjektive Kommunikation ermöglicht.599 Die erzwungene Quantifizierung aller Teilüberzeugungen wirkt zudem der Gefahr entgegen, dass einfach quantifizierbare Beweismittel – wie der Beweiswert eines DNA-Gutachtens – schwer quantifizierbare Beweismittel – die die Aussage eines Alibi-Zeugen – verdrängen.600 Bayes’ Netze können die Grenzen der Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns verschieben: Die ungestützte Intuition führt zu typischen Fehlern, die 595

So aber Musielak, ZZP 1986, 217–223, 221. Dieser Einwand wird z. B. von Müller, in: Kühne et al. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Rosinski zum 70. Geburtstag am 11. Juli 2002, 219–238, 234 f., gemacht. 597 Smith, Bayesian decision analysis, 205. 598 Zugegebenermaßen müssen auch einige Annahmen getroffen werden, die durch die formale Modellierung erzwungen werden, z. B. die Wahrscheinlichkeit des gemeinsamen Auftretens von Indizien, die realistischerweise unmöglich gemeinsam vorkommen, Fenton/Neil, Australian Journal of Legal Philosohpy 2011, 114–151, 136. 599 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 43; Smith, Bayesian decision analysis, 204 f. 600 Tribe, Harvard Law Review 1971, 1329–1393, 1366, hat diese Bedenken erstmals geäußert. Empirische Befunde stützen die Befürchtung allerdings nicht, Nance/Morris, Journal of Legal Studies 2005, 395–444. 596

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

im vierten Teil dieses Buches dargestellt werden (insbesondere S. 254 f.). Die Modellierung probabilistischer Zusammenhänge mittels Bayes’ Netzen ist ein Hilfsmittel, diese Denkfehler zu vermeiden.601 Zudem erlauben es Bayes’ Netze, die Beschränkungen, die sich durch die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ergeben, zu umgehen. Das Arbeitsgedächtnis ist der Flaschenhals bei der Konstruktion einer mentalen Repräsentation der Welt.602 Die meisten Menschen sind nicht in der Lage, mehr als vier Informationseinheiten gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis zu behalten.603 Bei der Beweiswürdigung in Fällen, in denen mehr als vier Indizien berücksichtigt werden müssen, können daher nur die Abhängigkeiten zwischen vier Indizien gleichzeitig beachtet werden; die Ergebnisse der Teilanalysen müssen dann zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden. Bayes’ Netze sind daher von besonderem Vorteil, wenn zahlreiche sich gegenseitig beeinflussende Indizien beachtet werden müssen. Sie erlauben es, die inhärente Beschränkung unseres Arbeitsgedächtnisses zu überwinden und alle Abhängigkeiten gleichzeitig zu beachten.604 3. Bayes’ Netze a) Herkunft und erste Anwendungen Bayes’ Netze, manchmal auch »belief nets« (Überzeugungsnetze) genannt, stammen ursprünglich aus der Forschung zur künstlichen Intelligenz.605 Ende der 1970-er Jahre wurde erkannt, dass eine Theorie des Schließens aus unsicheren Informationen mit den Mitteln der klassischen Logik nicht begründet werden konnte.606 Die Lösung des Problems wurde in zwei Richtungen gesucht: Einerseits wurde eine neue Klasse mehrwertiger symbolischer Logiken entwickelt (neudeutsch: »fuzzy logic«), andererseits wurde versucht, die Wahrscheinlichkeitstheorie für das Schließen aus unsicheren Prämissen fruchtbar zu machen.607 Als bahnbrechend für die Theorie und Praxis der Bayes’ Netze gilt die Arbeit von Judea Pearl, insbesondere sein 1988 erschienenes Buch »Probabilistic Reasoning in Intelligent Systems: Networks of Plausible Inference«, und die Arbeit von Lauritzen und Spiegelhalter, die einen effizienten Algorithmus der Verbrei601

Fenton/Neil, Australian Journal of Legal Philosohpy 2011, 114–151, 128 ff.; Roberts/ Aitken, The Logic of Forensic Proof: Inferential Reasoning in Criminal Evidence and Forensic Science, 126; Mühlemann, Jusletter 24. Februar 2014, 1–10, Rz. 46. 602 Schünemann, in: Lampe (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsanthropologie, 68–84, 76; Lagnado, in: Dawid/Twining/Vasilaki (Hrsg.), Evidence, inference and enquiry, 183–223, 200 f. 603 Cowan, Behavioral and Brain Sciences 2001, 87–114. 604 Lagnado, in: Dawid/Twining/Vasilaki (Hrsg.), Evidence, inference and enquiry, 183–223, 201. 605 Der Ausdruck »Bayesian network« geht zurück auf Pearl (Hrsg.), Bayesian networks; für weitere gebräuchliche Ausdrücke siehe Darwiche, Bayesian Networks, 71. 606 Darwiche, Bayesian Networks, 2 ff. 607 Darwiche, Bayesian Networks, XI.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

191

tung (propagation) von Information in kausalen Netzen entwickelten.608 In den 1990-er Jahren wurde außerordentlich viel zu Bayes’ Netzen geforscht, und die Literatur explodierte förmlich. Als Standardwerk zur Einführung hat sich wohl Jensen/Nielsen, »Bayesian Networks and Decision Graphs«, etabliert (2. Auflage New York 2007). Erste praktische Anwendung fanden Bayes’ Netze in der medizinischen Diagnose.609 In den forensischen Wissenschaften wird die Verwendung von Bayes’ Netzen zur Evaluierung von Hypothesen zur Ursache von Spurenbildern schon seit längerer Zeit vorgeschlagen.610 Robertson und Vignaux empfehlen 1991 die Verwendung von Bayes’ Netzen zur Analyse der Beweislage im Untersuchungsstadium.611 Zur Modellierung der juristischen Beweiswürdigung außerhalb der forensischen Naturwissenschaften (insbesondere auch mit Bezug auf Zeugenaussagen) hat, so weit ersichtlich, erstmals Ward Edwards ein Bayes’ Netz verwendet, als er 1991 den in der amerikanischen Literatur ausgiebig diskutierten People vs. Collins Fall modellierte (und zum Schluss kam, dass der Freispruch in zweiter Instanz wahrscheinlich zu Unrecht erfolgte).612 Weitere berühmte Fälle, die mit Hilfe von Bayes’ Netzen analysiert wurden, sind der Sacco und Vanzetti Fall,613 der Omar Raddad Fall614 und der O. J. Simpson Fall.615 Es ist sicherlich kein Zufall, dass alle diese Analysen strafrechtliche Fälle betrafen; diese erregen in aller Regel ein weit größeres Medieninteresse, und die Konsequenzen eines Fehlurteils für den Angeklagten sind gravierender als in einem Zivilverfahren. Das heißt jedoch nicht, dass die gleiche Logik nicht auf die Beweiswürdigung in zivilrechtlichen Fällen angewendet werden kann. In neuerer Zeit propagieren 608 Siehe Gillies, in: Stadler (Hrsg.), Induction and deduction in the sciences, 199–216, 205, m. w. H.; Taroni et al., Bayesian networks, 66 f. m. w. H. 609 Andersen/Olesen/Jensen, in: Sridharan (Hrsg.), Proceedings of the Eleventh International Joint Conference on Artificial Intelligence, 1080–1085; Heckerman 1991 #194}. 610 Aitken/Gammerman, Journal of the Forensic Science Society 1989, 303–316; Übersicht bei Taroni/Biedermann, in: Pourret/Naïm/Marcot (Hrsg.), Bayesian networks, 113–126, 115 f. 611 Robertson/Vignaux, Michigan Law Review 1992, 1442–1464, 1458 ff. 612 Edwards, Cardozo Law Review 1991, 1025–1074. 613 Kadane/Schum, Probabilistic analysis of the Sacco and Vanzetti evidence. Ferdinando Sacco und Bartomoleo Vanzetti waren zwei italienische Anarchisten, die 1927 in Massachusetts wegen Raubmords zu Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Der Gouverneur von Massachusetts rehabilitierte die Hingerichteten 1977. 614 Levitt/Blackmond Laskey, Cardozo Law Review 2000, 1691–1732. Der marokkanische Gärtner Omar Raddad wurde 1994 in Nizza wegen Mordes an einer seiner Kundinnen, einer 65-jährigen Witwe, zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Der französische Präsident erließ ihm später einen großen Teil der Strafe, und Raddad wurde 1998 aus dem Gefängnis entlassen. 615 Thagard, Cognition & Emotion 2003, 361–383. Dem ehemaligen American-FootballSpieler Orenthal James Simpson wurde vorgeworfen, seine Frau Nicole Brown Simpson und deren Bekannten Ronald Goldmann mit einem Messer erstochen zu haben. Er wurde vom strafrechtlichen Vorwurf des Mordes freigesprochen, aber in einem separaten Verfahren zivilrechtlich für den gleichen Vorfall zu einer Schadenersatzzahlung von USD 33,5 Mio. an den Vater von Ronald Goldmann verurteilt.

192

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

verschiedene Autoren den Einsatz von Bayes’ Netzen zur Analyse juristischer Sachverhalte; so vor allem Aitken/Taroni und Fenton/Neil.616 Mittlerweile gibt es zahlreiche frei erhältliche und kommerzielle Computerprogramme, die verschiedene Algorithmen zur Berechnung von Bayes’ Netzen, meist kombiniert mit einer benutzerfreundlichen grafischen Oberfläche, implementieren.617 Für diese Arbeit wurde das Programm SamIam (Sensitivity Analysis, Modeling, Inference And More) in der Version 3.0 verwendet, das durch die Arbeitsgruppe von Adnan Darwiche an der UCLA entwickelt wurde. Der Vorteil von SamIam ist, dass es gratis ist, durch die Entstehung im akademischen Kontext gut dokumentiert ist (einerseits durch das Buch »Modeling and Reasoning with Bayesian Networks« von Darwiche, andererseits durch eine Serie von Aufsätzen) und als eines von wenigen frei erhältlichen Programme spezielle Formen der Sensitivitätsanalyse ermöglicht (S. 244 f.). Das soll aber nicht heißen, dass es besser als andere Programme ist; wer selber mit Bayes’ Netzen arbeiten will, kann selbstverständlich auch andere Programme verwenden. b) Kausale Netze als Vorstufen von Bayes’ Netzen Ein kausales Netz stellt die kausalen Einflüsse von Aussagen auf andere Aussagen dar, ohne dass diese Einflüsse quantifiziert würden. Es ermöglicht die intuitive Erfassung von Zusammenhängen zwischen den Aussagen. Nach einem verbreiteten Verständnis von Bayes’ Netzen als einer Form von kausalen Netzen sind kausale Netze eine Vorstufe von Bayes’ Netzen. aa) Ein einfaches Beispiel Als einfacher Sachverhalt, der mittels eines kausalen Netzes grafisch dargestellt werden soll, dient das Beispiel von Schreiber mit dem angeblich auf einer Gesellschaft abhanden gekommenen Etui, wobei ein Etui gleicher Art bei einem Gast gefunden wird (Sachverhalt auf S. 153).618 Die Gedanken, die sich jemand macht, der mit der Frage konfrontiert ist, ob der Gast, bei dem ein gleichartiges Etui gefunden wurde, dieses gestohlen hat, könnten etwa so aussehen: 616 Taroni et al., Bayesian networks; Fenton/Neil, Australian Journal of Legal Philosohpy 2011, 114–151; Fenton/Neil/Lagnado, Cognitive Science 2013, 61–102; siehe auch Huygen, Use of Bayesian Belief Networks in legal reasoning; Hepler/Dawid/Leucari, Law, Probability & Risk 2007, 275–293; Dawid/Schum/Hepler, in: Dawid/Twining/Vasilaki (Hrsg.), Evidence, inference and enquiry, 119–150; Lagnado, in: Dawid/Twining/Vasilaki (Hrsg.), Evidence, inference and enquiry, 183–223; Juchli/Biedermann/Taroni, Law, Probability & Risk 2012, 51–84; Fill, De calculatione iustitiae iudicatorum, 336 ff.; Mühlemann, Jusletter 24. Februar 2014, 1–10. 617 Bekannte kommerzielle Programme sind Hugin Expert (Hugin Expert A/S, Dänemark), Agenarisk (Agena Ltd., Großbritannien), BayesLab (Bayesia SAS, Frankreich) und Netica (Norsys Software Corp., Kanada). Weit verbreitete frei erhältliche Programme sind GeNIe & SMILE (School of Information Sciences, Universität Pittsburgh) und Microsoft MSBNx. Hugin Expert ist gratis erhältlich in einer Version mit reduziertem Funktionsumfang. 618 Schreiber, Theorie des Beweiswertes, 15.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

X stahl das Etui

193

X hat das Etui gekauft

Das Etui ist bei X

Zeuge bestätigt Vorbesitz

Abbildung 10: Kausales Netz für vereinfachtes Etui-Szenario.

»Bei Gast X wurde ein Etui gleicher Art gefunden. Das ist schon überraschend, schließlich hat nicht jeder so ein Etui. Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand zufällig ein gleiches Etui auf sich trägt? Andererseits, es könnte sein, dass Gast X sich das Etui gekauft hat, das würde erklären, warum er es bei sich trägt. Wenn sich X das Etui gekauft hat, müsste es dafür eigentlich Beweise geben – einen Kaufbeleg oder jemanden, der bezeugen kann, dass X dieses Etui schon vor dem heutigen Abend besessen hat.«

Eine Möglichkeit, diese Gedanken über einen unsicheren Sachverhalt zu strukturieren, ist eine grafische Darstellung der kausalen Beziehungen zwischen den Aussagen.619 Um die Sache nicht zu kompliziert zu machen, beginnen wir mit einem reduzierten Modell. Es seien »X stahl das Etui«, »Das Etui ist bei X«, »X hat das Etui gekauft« und »Zeugen bestätigt Vorbesitz« Variablen mit den möglichen Zuständen {wahr, falsch}. »X stahl das Etui« und »X hat das Etui gekauft« sind beides Gründe dafür, dass X ein Etui auf sich trägt. »X hat das Etui gekauft« bewirkt, dass es (möglicherweise) Zeugen gibt, die X schon vor dem fraglichen Abend im Besitz eines gleichartigen Etuis gesehen haben. Diese kausalen Beziehungen lassen sich grafisch wie in Abbildung 10 darstellen, wobei die kausalen Beziehungen mit Pfeilen dargestellt werden, die von der Ursache zur Wirkung gerichtet sind. Man kann weiter die Richtung angeben, in der die Ursachen wirken. D. h. wenn X ein Dieb ist, steigt die Überzeugung, dass das Etui bei ihm gefunden wird. Ebenso steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Etui bei X ist, wenn er sich eines gekauft hat. Der Einfluss aller Ursachen ist also positiv, was durch ein »+« Zeichen an den Pfeilen, die von den Ursachen zu den Wirkungen führen, dargestellt werden kann (Abbildung 11). X stahl das Etui

+

X hat das Etui gekauft

+ Das Etui ist bei X

+ Zeuge bestätigt Vorbesitz

Abbildung 11: Kausales Netz für das Etui-Szenario mit »+« für die Richtung des Einflusses. 619

Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 24.

194

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Mit Hilfe des Graphen in Abbildung 11 lassen sich gewisse Überlegungen anstellen. Offensichtlich steigt die Gewissheit, dass ein Etui bei X gefunden wird, wenn man weiß, dass er sich eines gekauft hat. Der Sachverhalt ist aber anders: bekannt ist, dass ein Etui bei X gefunden wurde. Die möglichen Ursachen dafür werden daher wahrscheinlicher; das »+« an den Pfeilen wirkt in beide Richtungen. Gibt es einen Zeugen, der bestätigt, dass X schon vor dem fraglichen Abend im Besitz eines gleichartigen Etuis war, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass X das Etui gekauft hat. Die Überlegungen, die mit einem grafischen Modell wie dem eben vorgestellten gemacht werden können, sind qualitativer Natur und können dazu dienen, die Schlüssigkeit der Überzeugungsbildung auf Plausibilitätsniveau zu überprüfen. Soll ein Computer mit einem solchen Modell etwas anfangen können, muss es erstens formalisiert und zweitens quantifiziert (parametrisiert) werden. bb) Verbreitung von Information in kausalen Netzen Ein kausales Netz besteht aus einer Menge von Variablen und einer Menge von gerichteten Pfaden zwischen den Variablen (Knoten). Mathematisch wird eine solche Struktur als gerichteter Graph bezeichnet.620 Um die Beziehungen zwischen den Variablen (Knoten) zu bezeichnen, verwendet man die Ausdrücke der Verwandtschaftsbeziehungen: Wenn ein Pfad von einem Knoten A zu einem Knoten B führt, nennt man den Knoten A »Elternknoten von B« und Knoten B »Kindknoten von A«. Alle Knoten, zu denen ein gerichteter Pfad von A aus führt, auch über weitere Knoten, sind Nachkommen von A. Alle Knoten, die auf Pfaden liegen, die zu einem Knoten führen, sind Vorfahren dieses Knotens.621 Die Variablen in einem kausalen Netz können für Aussagen oder eine Ergebnismenge stehen; im letzteren Fall werden sie meist als Zufallsvariablen bezeichnet.622 Eine Variable kann eine beliebige Anzahl von Zuständen aufweisen, die z. B. für die Temperatur eines Körpers {kalt, warm, heiß}, die Anzahl einschlägiger Vorstrafen des Angeklagten {0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, > 6} oder den Wahrheitsgehalt einer Aussage {wahr, falsch} stehen können.623 Grundsätzlich können Variablen auch kontinuierlich sein, d. h. eine unendliche Anzahl von Zuständen aufweisen, aber für die hier betrachteten Netze wird vorausgesetzt, dass die Variablen diskret sind, d. h. eine endliche Zahl von Zuständen aufweisen.624

620

Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 26. Pearl, Causality, 13. 622 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 33; Pearl, Causality, 8, bezeichnet sie grundsätzlich als Zufallsvariablen. 623 Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 575. 624 Es lassen sich auch mit kontinuierlichen Variablen Bayes’ Netze berechnen, Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 93 ff.; aber dies ist mathematisch komplexer und hier nicht notwendig. 621

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

195

cc) Arten von Verbindungen in kausalen Netzen Es gibt in einem kausalen Netz drei elementare Arten von Verbindungen zwischen Variablen (Knoten): seriell, divergierend und konvergierend; diese sind in Abbildung 12 dargestellt. Wie Information in einem kausalen Netz verbreitet (propagiert) wird, hängt von der Art der Verbindung ab.

A

A

B

a)

C

B b)

C

B

C

A c)

Abbildung 12: Serielle, divergierende und konvergierende Verbindungen in einem kausalen Netz.

(1) Serielle Verbindung Abbildung 12a) zeigt eine serielle Verbindung von A, B und C. A beeinflusst B, und B beeinflusst wiederum C. Umgekehrt wird Information über den Zustand von C die Gewissheit für A via B beeinflussen. Ist der Zustand von B bekannt, fließt aber keine Information mehr von A nach B und umgekehrt; der Pfad ist blockiert.625 Ist der Zustand einer Variablen bekannt, nennt man die Variable instanziiert (instantiated).626 Information wird demnach durch eine serielle Verbindung übertragen, außer, der Zustand der Variable auf dem Pfad (hier: B) sei bekannt. Ein Beispiel mag verdeutlichen, was gemeint ist: Abbildung 13 zeigt ein kausales Modell für den Zusammenhang zwischen den Variablen Regen {kein, wenig, mittel, stark}, Wasserstand {tief, mittel, hoch} und Hochwasser {wahr, falsch}. Wenn ich den Wasserstand nicht kenne, wird das Wissen, dass Hochwasser herrscht, mir etwas über den vermuteten Wasserstand sagen, und die Höhe des Wasserstands ist ein Indiz für Stärke des vorangehenden Regens. Dasselbe gilt in umgekehrter Richtung; d. h. wenn ich weiß, wie stark es geregnet hat, beeinflusst dies meine Erwartung, wie hoch der Wasserstand ist und dies wiederum die subjektive Wahrscheinlichkeit für Hochwasser. Wenn ich jedoch den Wasserstand kenne, ändert die zusätzliche Information, dass Hochwasser herrscht, meine

625 626

Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 26. Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 26.

196

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Wasserstand

Regen

Hochwasser

Abbildung 13: Beispiel einer seriellen Verbindung in einem kausalen Netz.

Überzeugung dafür, dass es stark geregnet hat, nicht. Regen und Hochwasser sind bedingt unabhängig, gegeben Wasserstand. (2) Divergierende Verbindung Abbildung 12 b) zeigt eine divergierende Verbindung in einem kausalen Netz. Information kann zwischen den Kindern von A verbreitet werden, solange der Zustand von A nicht bekannt ist. Information kann demnach durch eine divergierende Verbindung übertragen werden, außer, die verbindende Variable sei instanziiert.627 Abbildung 14 zeigt ein kausales Netz für den Zusammenhang zwischen der Variable Straße nass {wahr, falsch}und den Variablen Regen und Wasserstand. Wenn ich weiß, dass die Straße nass ist, sagt mir das etwas über die Wahrscheinlichkeit, dass es geregnet hat, und dies wiederum beeinflusst meine Überzeugung, dass der Wasserstand hoch ist. Wenn ich aber weiß, wie stark es geregnet hat, also der Zustand der Variable Regen bekannt ist, ändert das Wissen darum, dass die Straße nass ist, nichts mehr an meiner Überzeugung dafür, wie hoch der Wasserstand ist. Dieser wird durch den Regen bestimmt, nicht durch die Nässe der Straße; anders ausgedrückt, Nässe der Straße und Wasserstand sind bedingt unabhängig bei gegebenem Regen.

Regen

Straße nass

Hochwasser

Abbildung 14: Beispiel einer divergierenden Verbindung in einem kausalen Netz.

627

Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 27.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

197

(3) Konvergierende Verbindung Abbildung 12 c) zeigt eine konvergierende Verbindung von A, B und C. Die Verbreitung von Information über eine konvergierende Verbindung in einem kausalen Netz ist nicht ganz so einfach zu verstehen wie diejenige über die serielle oder divergierende Verbindung. Wenn nichts über den Zustand von A bekannt ist außer dem, was aus dem Wissen über die Zustände seiner Eltern B und C geschlossen werden kann, dann sind die Eltern unabhängig. Meine Überzeugung dafür, dass ein Wasserrohrbruch vorliegt, hängt nicht davon ab, dass es regnet; die Ereignisse sind unabhängig, obwohl sie beide eine nasse Straße bewirken. Anders ausgedrückt: Das Wissen um eine mögliche Ursache für eine Wirkung sagt uns nichts über die anderen möglichen Ursachen, wenn die Folge nicht bekannt ist.628 Ist jedoch die Folge bekannt, dann lehrt uns Information über eine mögliche Ursache etwas über die Wahrscheinlichkeit der anderen möglichen Ursachen. Abbildung 15 zeigt links ein Beispiel eines kausalen Netzes mit einer konvergierenden Verbindung und der zusätzlichen Variable Wasserrohrbruch {wahr, falsch}. Es sei bekannt, dass die Straße nass ist; d. h. die Variable »Straße nass« ist instanziiert mit »wahr«. Die Straße kann nass sein wegen des Regens oder wegen des Rohrbruchs. Wenn ich weiß, dass es geregnet hat, sinkt meine Überzeugung dafür, dass die Nässe auf einen Wasserrohrbruch zurückzuführen ist, da der Regen die Nässe bereits hinreichend erklärt. Die alternative Erklärung durch den Wasserrohrbruch ist sozusagen überflüssig. Jetzt wird also Information betreffend einer Elternvariable an die anderen Eltern weitergegeben. Die konkurrierende Ursache wird weniger wahrscheinlich; dieser Effekt wird explaining away (einer Ursache) genannt und seine Modellierung durch kausale Netze ist einer der großen Vorteile der Verwendung solcher Modelle.629 Information

Wasserrohrbruch

Regen

Straße nass

Wasserrohrbruch

Regen

Straße nass

Abrollgeräusch

Abbildung 15: Beispiele für konvergierende Verbindung in einem kausalen Netz.

628

Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 28. Pearl, Probabilistic Reasoning, 49 f.; Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 28; Lagnado, in: Dawid/Twining/Vasilaki (Hrsg.), Evidence, inference and enquiry, 183–223, 191 f. 629

198

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

wird also über eine konvergierende Verbindung verbreitet, wenn die verbindende Variable (hier: A) instanziiert ist. Dies ist aber nicht der einzige Fall, in dem über eine konvergierende Verbindung in einem kausalen Netz Information verbreitet wird. Wenn ich mit Sicherheit weiß, in welchem Zustand sich die Variable »Straße nass« befindet, die Variable also instanziiert ist, so spricht man auch davon, dass man hard evidence betreffend der Variable hat.630 Es kann aber auch sein, dass sich meine Überzeugung dafür, dass sich die Variable in einem bestimmten Zustand befindet, ändert, ohne dass ich mit Sicherheit weiß, in welchem Zustand sich die Variable befindet. Man spricht in diesem Zusammenhang von soft evidence betreffend der Variable.631 Im rechten Beispiel in Abbildung 15 stelle ich, noch im Bett liegend, fest, dass die Abrollgeräusche der vorbeifahrenden Autos »nass« klingen; d. h. so, wie sie gewöhnlicherweise bei nasser Straße klingen. Dies ist Indiz dafür, dass die Straße tatsächlich nass ist, aber es macht es nicht sicher, dass die Straße nass ist. Die hard evidence betreffend die Abrollgeräusche ist soft evidence betreffend der Nässe der Straße. Auch in diesem Fall ändert sich aber meine Überzeugung dafür, dass ein Wasserrohrbruch die nasse Straße verursacht hat, wenn ich erfahre, dass es geregnet hat. Die Wahrscheinlichkeit für einen Wasserrohrbruch wird sich weniger stark verringern als bei sicherer Kenntnis des Zustands der Variable Straße, aber sie muss sich verringern, verglichen mit der Überzeugung für einen Wasserrohrbruch, ehe bekannt wurde, dass es regnet. Der Schluss ist, dass über eine konvergierende Verbindung nur dann Information verbreitet wird, wenn entweder die verbindende Variable oder eine ihrer Nachkommen instanziiert wurde.632 c) Von kausalen Netzen zu Bayes’ Netzen aa) Direkte Abhängigkeit statt kausaler Einfluss In Bayes’ Netzen werden statt kausaler Einflüsse mathematisch betrachtet die direkten Abhängigkeiten zwischen den Knoten durch gerichtete Kanten eingezeichnet. D. h. überall dort, wo eine direkte Abhängigkeit zwischen zwei Variablen besteht, sind diese durch eine gerichtete Kante zu verbinden. Ein großer Vorteil von Bayes’ Netzen ist jedoch, dass man sich diese gerichteten Kanten als direkte kausale Einflüsse der Variable auf die andere(n) Variable(n) vorstellen

630

Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 29; Darwiche, Bayesian Networks, 39. Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 29; Darwiche, Bayesian Networks, 39. 632 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 29; Darwiche, Bayesian Networks, 65; Taroni et al., Bayesian networks, 41. 631

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

199

kann.633 Diese Ansicht ist nicht unumstritten geblieben,634 was mit der nach wie vor ungeklärten Natur des Begriffes der Kausalität zusammenhängt.635 Manche Autoren weisen zudem darauf hin, dass man sich unnötig einschränkt, wenn man verlangt, dass die Pfade für kausale Einflüsse stehen müssen.636 Es ist denkbar, dass man eine direkte Abhängigkeit von A und B feststellt (A für B relevant ist), ohne dass man den Kausalmechanismus bezeichnen kann, der diese Abhängigkeit bewirkt, und man daher davor zurückschreckt, zu behaupten, A verursache B.637 Unter diesen Umständen ist es zulässig und sogar notwendig, in einem Bayes’ Netz einen Pfeil von A nach B einzuzeichnen. Man kann es so formulieren: Wenn A und B in einer kausalen Beziehung stehen, ist immer ein Pfeil einzuzeichnen, denn es ist nicht denkbar, dass eine kausale Beziehung besteht und die Variablen unabhängig sind. Jedoch sind zwei Variablen nicht notwendigerweise unabhängig, nur weil man den kausalen Mechanismus (noch) nicht kennt, der sie verbindet.638 Wenn man daher eine direkte Abhängigkeit zweier Variablen annimmt, darf und muss man einen Pfeil einzeichnen, unabhängig davon, ob man eine kausale Beziehung vermutet. Schließlich ist natürlich auch denkbar, dass eine direkte Abhängigkeit zweier Variablen besteht, man diese aber nicht erkennt und daher keine Kante einzeichnet. In diesem Fall reflektiert das Modell zwar unser Wissen, aber nicht die Welt. Das Risiko, ein fehlerhaftes Modell zu bilden, besteht beim Modellieren immer. Das Verständnis der Pfeile in einem Bayes’ Netz als direkte kausale Einflüsse ermöglicht das Modellieren von Expertenwissen mit Bayes’ Netzen, das fast unmöglich ist, wenn man sich die gerichteten Kanten nicht als kausale Einflüsse vorstellt.639 Der Mensch denkt in Kausalbeziehungen, nicht in probabilistischen

633

43 ff.

Pearl, Probabilistic Reasoning, 51 f.; Pearl, Causality, 21; Neapolitan, Bayesian Networks,

634 Cartwright, Hunting causes and using them, 63 ff. Johnson-Laird, How we reason, 311 ff., 319, weist darauf hin, dass ein probabilistisches Verständnis von Kausalität nicht zwischen Ursachen und ermöglichenden Bedingungen (enabling conditions) unterscheiden kann 635 Siehe dazu Stegmüller, Erklärung, Begründung, Kausalität, 501 ff.; Schum, Evidential Foundations, 143 ff.; Pearl, in: Corfield/Williamson (Hrsg.), Foundations of Bayesianism, 19– 36, 27 ff.; aus juristischer Sicht Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 66 ff. und Röckrath, Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Haftung, 47 ff. mit zahlreichen Hinweisen. 636 Schum, Evidential Foundations, 178; Roberts/Aitken, The Logic of Forensic Proof: Inferential Reasoning in Criminal Evidence and Forensic Science, 113; vgl. bereits Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 284, die betonen, dass Erfahrungssätze keine Ursachenzusammenhänge behaupten müssen. 637 Schum, Evidential Foundations, 179; Taroni et al., Bayesian networks, 46; Roberts/Aitken, The Logic of Forensic Proof: Inferential Reasoning in Criminal Evidence and Forensic Science, 113. 638 Nadkarni/Shenoy, Decision Support Systems 2004, 259–281, 269. 639 Pearl, Probabilistic Reasoning, 52, 123 f.; Neapolitan, Bayesian Networks, 43 ff.; Nadkarni/ Shenoy, Decision Support Systems 2004, 259–281, 266; Darwiche, Bayesian Networks, 9; Fenton/ Neil/Lagnado, Cognitive Science 2013, 61–102, 63.

200

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Abhängigkeiten;640 das gilt auch für Richter: »[D]der Richter sucht primär kausale Erklärungen [. . . ]«641 . Bayes’ Netze ermöglichen, dieses intuitive Verständnis von Zusammenhängen zu formalisieren. Die Stärke des Einflusses einer Variable auf eine andere Variable lässt sich in Bayes’ Netzen quantifizieren.642 Es sei A ein Elter von B. Unter Verwendung von Konzepten aus der Wahrscheinlichkeitstheorie könnte man annehmen, dass Pr(B|A) die Stärke des Einflusses angibt. Falls jedoch C ebenfalls ein Elter von B ist, dann lässt sich aus den beiden bedingten Wahrscheinlichkeiten Pr(B|A) und Pr(B|C) nicht ableiten, wie die Einflüsse von A und C auf B zusammenspielen. Sie können sich gegenseitig verstärken oder abschwächen, so dass man auch die bedingte Wahrscheinlichkeit Pr(B|A & C) angeben muss.643 Daraus folgt, dass sich die bedingten Wahrscheinlichkeiten, die für einen Knoten angegeben werden müssen, exponentiell zur Anzahl seiner Eltern erhöhen. bb) Verbot von Rückkopplungsschleifen Weiter ist denkbar, dass die zu modellierende Struktur eine kausale Rückkoppelung enthält.644 Kausale Rückkoppelungen führen zu einer Schleife, die durch die Algorithmen zur Verbreitung von Information in Bayes’ Netzen nicht zu bewältigen ist.645 Es wird deshalb verlangt, dass Bayes’ Netze keine Zyklen enthalten (siehe linken Graphen in Abbildung 16 für einen gerichteten Graph mit einem unzulässigen Zyklus). Es ist aber nicht verboten, dass mehrere Pfade zu einem Knoten führen (siehe rechten Graphen in Abbildung 16, wo zwei Pfade von B zu D führen). Der technische Begriff für einen gerichteten Graphen ohne Zyklen ist azyklischer gerichteter Graph (directed acyclic graph oder DAG).646 cc) Bayes’ Netze: Definition und Eigenschaften Ein Bayes’ Netz ist ein azyklischer gerichteter Graph bestehend aus einer Menge von Variablen, die durch Knoten dargestellt werden, und einer Menge von gerichteten Kanten zwischen den Knoten, die direkte Abhängigkeiten zwischen den 640 Tversky/Kahneman, in: Kahneman/Slovic/Tversky (Hrsg.), Judgment under uncertainty, 117–128, 118; Pearl, Probabilistic Reasoning, 125; Fenton/Neil/Lagnado, Cognitive Science 2013, 61–102, 63 f. 641 Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 195, der allerdings die Auffassung vertritt, statistische und kausale Erklärungen schlössen sich aus. 642 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 32. 643 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 33. 644 Beispiel: die Klimaerwärmung führt zur Schneeschmelze; die Schneeschmelze führt dazu, dass die Erdoberfläche dunkler wird; die dunklere Erdoberfläche absorbiert mehr Licht (AlbedoEffekt); die höhere Lichtabsorption führt zur stärkeren Erwärmung der Erdoberfläche; die stärkere Erwärmung der Erdoberfläche beeinflusst die Klimaerwärmung. 645 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 33. 646 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 33.

201

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

A

A

B

B

C

F

C

D

E

F

D

E

Abbildung 16: Gerichteter Graph mit Zyklus (links) und azyklischer Graph (rechts).

durch sie verbundenen Variablen darstellen.647 Jede Variable A mit den Eltern B1 , . . . , Bn , ist mit einer bedingten Wahrscheinlichkeitstabelle (conditional probability table, CPT) Pr(A| B1 , . . . , Bn ) verbunden, wobei die bedingten Wahrscheinlichkeiten Pr(A| B1 , . . . , Bn ) die Stärke des kausalen Einflusses von B1 , . . . , Bn auf A ausdrücken.648 Die Zustände einer Variablen in einem Bayes’ Netz müssen sich gegenseitig ausschließen und erschöpfend sein. Ersteres bedeutet, dass die Variable (zu gegebener Zeit) nur in einem Zustand sein kann; letzteres, dass sie in einem der Zustände sein muss (wenn man auch nicht notwendigerweise weiß, in welchem).649 Dies klingt komplizierter, als es ist: Wenn X eine Variable ist, die für die Aussage »X ist der Vater von Y« steht, und die Zustände {wahr, falsch} annehmen kann, dann sind alle Bedingungen erfüllt: die Zustände schließen sich aus (X kann nicht gleichzeitig der Vater und nicht der Vater von Y sein) und er muss entweder der Vater oder nicht der Vater sein. Variablen werden mit lateinischen Großbuchstaben bezeichnet, ihre Zustände mit Kleinbuchstaben. Oft wird der korrespondierende Kleinbuchstaben verwendet, was es ermöglicht, Pr(X = xi ) abgekürzt zu notieren als Pr(xi ). Ein Bayes’ Netz ist dann eine korrekte Abbildung der Welt, wenn alle Variablen B1 , . . . Bn , die einen direkten Einfluss auf die Variable A haben, mit dieser durch eine gerichtete Kante (einen Pfeil) verbunden sind. D. h., es müssen alle direkten Abhängigkeiten grafisch erfasst werden. Gelingt dies, lässt sich die vollständige gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung (gleich nachstehend) in einer kompakten Form darstellen (S. 205 ff.). 647 648 649

Pearl, Probabilistic Reasoning, 117. Pearl, Probabilistic Reasoning, 117. Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 7, 26.

202

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

dd) Wahrscheinlichkeitsverteilung: Definition und Notation Angenommen, die Variable B könne die zwei Zustände {b1 , b2 } annehmen, und zwar mit einer Wahrscheinlichkeit von 30% den Zustand b1 und mit einer Wahrscheinlichkeit von 70% den Zustand b2 . Um die Werte der Wahrscheinlichkeiten für alle möglichen Zustände von B anzugeben, sind zwei Gleichungen nötig: 

Pr B = b1 = 0,3 

Pr B = b2 = 0,7 Dies lässt sich verkürzt schreiben als P (B) = (0,3; 0,7) was als die Wahrscheinlichkeitsverteilung von B bezeichnet wird.650 Die Wahrscheinlichkeitsverteilung einer Variablen definiert die Wahrscheinlichkeit für jeden möglichen Zustand der Variable. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung über eine einzige Variable muss als Summe 1 ergeben (denn ihre Zustände schließen sich gegenseitig aus und sind erschöpfend).651 Die vollständige gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung zweier Variablen ist die Menge aller Kombinationen der Zustände der beiden Variablen. Wenn A die Zustände {a1 , a2 , . . . , an } annehmen kann und B die Zustände {b1 , b2 , . . . , bm }, dann lässt sich die gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung P(A, B) durch eine Tabelle mit n · m Einträgen definieren. Die gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung für eine beliebige Menge von Variablen summiert sich immer zu 1.652 Der Grenzfall P(an , bm ) enthält keine Variablen mehr (alle Zustände sind bekannt) und lässt sich daher auch schreiben als Pr(an & bm ) – er definiert nur einen einzigen Wert. Die bedingte Wahrscheinlichkeitsverteilung P(A|B) enthält entsprechend n · m bedingte Wahrscheinlichkeiten Pr(A = ai |B = bj ).653 Die Produktregel (S. 135) lässt sich in der P-Notation schreiben als 

P (A, B) = P A|B P (B) und die bedingte Wahrscheinlichkeitsverteilung P(A|B) folglich als 

P A|B =

P (A, B) . P (B)

Aus der wiederholten Anwendung der Produktregel folgt die Kettenregel, gemäß sich der die gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung einer beliebigen Anzahl 650 Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 577. Von dort wurde auch die »P« Notation übernommen. 651 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 8. 652 Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 582. 653 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 8.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

203

von Variablen definieren lässt: 

P (A, B, C) = P C|A, B P (A, B) 



= P C|A, B P B|A P (A) Der Beweis für die Kettenregel ergibt sich aus der Definition der bedingten Wahrscheinlichkeit (Gleichung 3 auf S. 92) gemäß der P(C|A, B) = P(A,B,C) P(A,B) und P(B|A) = P(A,B) P(A) und daher P (A, B, C) =

P (A, B, C) P (A, B) P (A) P (A, B) P (A)

= P (A, B, C) d. h. der Zähler jedes Bruchs kürzt den Nenner des vorangehenden Bruchs weg. Allgemeiner ausgedrückt gilt, für eine Anzahl n von Variablen X654 

P (X1 , . . . , Xn ) = P Xn | X1 , . . . , Xn–1 P (X1 , . . . , Xn–1 ) 







= P Xn |X1 , . . . , Xn–1 P Xn–1 |X1 , . . . , Xn–2 P (X1 , . . . , Xn–2 ) = P Xn |X1 , . . . , Xn–1 P Xn–1 |X1 , . . . , Xn–2 P (X1 , . . . , Xn–2 )  × · · · × P X2 |X1 P (X1 )

=

n Y



P Xi |X1 , . . . , Xi–1 .

(16)

i=1

Das mathematische Symbol

n Q i=1

steht dabei für »das Produkt aller Xi , wobei mit

X1 begonnen wird und i bei jedem Schritt um 1 erhöht wird, bis Xn erreicht ist«. Tabelle 7 definiert die gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung von A und B. In der äußersten rechten Spalte ist die Randwahrscheinlichkeit (auch Marginalwahrscheinlichkeit oder marginale Wahrscheinlichkeit, marginal probability) für A angegeben. Sie ergibt sich aus der Anwendung des Satzes von der totalen Wahrscheinlichkeit (S. 136), d. h. es sind die Wahrscheinlichkeiten für A unter jedem Zustand von B zu addieren, z. B. 



Pr (a1 ) = Pr a1 & b1 + Pr a1 & b2 = 0,05 + 0,25 = 0,3 Tabelle 7: Gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung P(A, B) mit Randwahrscheinlichkeit für A.

a1 a2 654

b1

b2

Marginal

0,05 0,2

0,25 0,5

0,3 0,7

Ertel, Grundkurs künstliche Intelligenz, 134.

204

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Diesen Prozess nennt man Marginalisierung oder Aussummierung einer Variablen – weil die Variablen außer A aussummiert werden. Die allgemeine Form der Marginalisierung in der P-Notation lautet655 P (A) =

X

P (A, B) .

B

Wobei B bedeutet, dass man die Summe über allen möglichen Zuständen der Variable B bildet.656 Marginalisierung ist wichtig, denn man kann die Randwahrscheinlichkeit für A berechnen, ohne den Zustand von B zu kennen. Muss man A aus einer gemeinsamen Wahrscheinlichkeitsverteilung mit mehreren Variablen aussummieren, wiederholt man den Vorgang einfach, P

P (A) =

XX B

P (A, B, C)

C

Die bedingte Wahrscheinlichkeit P(A|B), respektive Bayes’ Theorem, lässt sich daher auch schreiben als 

 P B|A P (A) P (A, B) P A|B = P = P A P (A, B) A P (A, B)

und unter der Bedingung einer weiteren Variable C als 



P (A, B, C) P B|A, C P A|C P A|B, C = = P . P (B, C) A P (A, B, C) 

(17)

Angenommen, man möchte die bedingte Wahrscheinlichkeitsverteilung P(B|A) mit den Zahlen gemäß Tabelle 7 berechnen. Dazu muss man die gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung P(A, B) teilen durch die Randwahrscheinlichkeit von A. So lässt sich die bedingte Wahrscheinlichkeitsverteilung von A bei beobachtetem Zustand einer beliebigen Anzahl von Variablen berechnen. Das Problem ist, dass man dazu immer die gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung aller Variablen speichern muss, und der dazu notwendige Speicherplatz wächst exponentiell Tabelle 8: Bedingte Wahrscheinlichkeitsverteilung P(B|A).

 P (A, B) P A|B = P = A P (A, B) 655 656

a1 a2

b1

b2

0,05 0,3 0,2 0,7

0,25 0,3 0,5 0,7

Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 587. Russell/Norvig, Artificial intelligence, 492.

=

b1

b2

a1

0,17

0,83

a2

0,29

0,71

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

205

mit der Anzahl Variablen:657 Die komplette Wahrscheinlichkeitsverteilung von n zweiwertigen Variablen wird durch 2n – 1 gemeinsame Wahrscheinlichkeiten definiert.658 Im obigen Beispiel waren nur vier Einträge notwendig, um die gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung vollständig zu definieren. Weil die Anzahl der notwendigen Einträge exponentiell zunimmt, hätte eine Tabelle der gemeinsamen Wahrscheinlichkeitsverteilung für 40 zweiwertige Variablen jedoch bereits mehr als eine Billion Einträge.659 Die Modellierung komplexerer Sachverhalte mit zahlreichen Variablen kann daher auch durch leistungsfähigste Computer nicht mehr bewältigt werden,660 wenn es nicht gelingt, die gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung kompakter darzustellen.661 Genau dazu sind Bayes’ Netze in der Lage: Die Definition aller gemeinsamen Wahrscheinlichkeiten sämtlicher Zustände aller Variablen ist nur dann notwendig, wenn jede Variable von jeder anderen Variable abhängig ist. Dies ist aber oft nicht der Fall, und der menschliche Experte weiß, welche Variablen bedingt unabhängig von anderen Variablen sind. Dieses Expertenwissen über bedingte Unabhängigkeiten lässt sich durch ein Bayes’ Netz erfassen und strukturieren; die grafische Darstellung hat den Vorteil, dass sie intuitiv einleuchtend ist.662 Ein Bayes’ Netz ist eine kompakte Darstellung der bedingten Unabhängigkeiten zwischen einer Menge von Variablen.663 Die vollständige gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung für den auf S. 231 f. vorgestellten »Hans H. Fall« würde 214 – 1 = 16’383 Parameter benötigen. Das Netz des »Hans H. Falles« benötigt dagegen nur 26 Parameter. ee) Bedingte Unabhängigkeit in Bayes’ Netzen Ein Bayes’ Netz ist dann eine korrekte Repräsentation der Welt, wenn alle Variablen X1 , . . . , Xn–1 , die einen direkten Einfluss auf eine Variable Xn haben, deren Eltern sind. Trifft dies zu, und kennt man den Zustand der Eltern einer Variable Xn in einem Bayes’ Netz, so ist die Variable Xn unabhängig von ihren anderen Vorfahren. Mathematisch lässt sich dies, unter der Annahme, dass

657

Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 35. Charniak, AI Magazine 1991, 50–61, 52. Das – 1 kommt daher, dass der letzte Eintrag in der Tabelle der vollständigen gemeinsamen Wahrscheinlichkeitsverteilung nicht spezifiziert werden muss, sondern sich daraus ergibt, dass sich alle Einträge zu 1 summieren müssen. 659 1’099’511’627’776, um genau zu sein. 660 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 35; Taroni et al., Bayesian networks, 52. 661 Kritiker der Anwendung von Bayes’ Regel in der Beweiswürdigung weisen zu Recht darauf hin, dass es für Menschen gänzlich unmöglich ist, alle diese gemeinsamen Wahrscheinlichkeiten zu spezifizieren, Callen, Indiana Law Journal 1982, 1–44, 11 ff. 662 Darwiche, Bayesian Networks, 53. 663 Ertel, Grundkurs künstliche Intelligenz, 162 f. 658

206

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

keine Variable einen Nachfolger mit kleinerer Nummer hat,664 wie folgt ausdrücken:665 



P Xn |X1 , . . . , Xn–1 = P Xn |Eltern (Xn ) . Anders ausgedrückt: Wenn man den Zustand der Eltern einer Variable kennt, dann gewinnt man aus dem Wissen über den Zustand anderer Vorfahren der Variable keine weitere Information über die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Variable, sie ist von den nicht-elterlichen Vorfahren sozusagen »abgeschnitten« (nicht aber von ihren Nachkommen). Aus den Regeln der Verbreitung von Information über serielle, konvergierende und divergierende Verbindungen in einem kausalen Netz folgt folgender, etwas allgemeinerer Satz über die bedingten Unabhängigkeiten in einem Bayes’ Netz:666 Eine Variable in einem Bayes’ Netz ist bedingt unabhängig von allen ihren NichtNachkommen, gegeben ihre Eltern. Anders gewendet: Ist der Zustand der Eltern einer Variable X in einem Bayes’ Netz bekannt, so kann die Information über den Zustand von X meine Überzeugung für den Zustand jeder anderen Variable im Netz, außer den Nachkommen von X, nicht beeinflussen. Sind die Zustände der Elternvariablen von D (Variablen C und E) in dem Beispiel gemäß Abbildung 17 gegeben, so sind alle Nichtnachkommen (alle weißen Kreise) unabhängig von D. Information über den Zustand von A, E, F, G, H, I, L, und M vermag daher die Überzeugung, in welchem Zustand sich D befindet, nicht zu beeinflussen, und der Zustand von D beeinflusst die Wahrscheinlichkeit dieser Nichtnachkommen ebenfalls nicht. Hingegen wird die Wahrscheinlichkeit der Nachkommen K, J, N und O (hellgraue Kreise) durch D beeinflusst, und der Zustand der Nachkommen K, J, N und O beeinflusst D. Mit Hilfe der Regeln über die Verbreitung von Information in kausalen Netzen lässt sich dies zeigen: a)

Von A, E, F und G fließt keine Information zu D, weil sie über eine serielle Verbindung mit D verbunden sind und die verbindenden Variablen C und E instanziiert sind, so dass keine Information fließt.

664 So genannte topologische Sortierung, Charniak, AI Magazine 1991, 50–61, 55. In einem azyklischen Graph ist eine topologische Sortierung immer möglich, Ertel, Grundkurs künstliche Intelligenz, 170. 665 Ertel, Grundkurs künstliche Intelligenz, 170; Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 610. Für den Beweis Charniak, AI Magazine 1991, 50–61, 55 f.; Neapolitan, Bayesian Networks, 34 f.; Jensen/Nielsen, Bayesian networks 37 f. 666 Ertel, Grundkurs künstliche Intelligenz, 171; Neapolitan, Bayesian Networks, 37 f. Taroni et al., Bayesian networks, 51. Der Beweis der bedingten Unabhängigkeiten in einem Bayes’ Netz beruht auf dem Konzept der d-Separierung (d-separation), das nicht leicht verständlich ist, Ertel, Grundkurs künstliche Intelligenz, 172; Charniak, AI Magazine 1991, 50–61, 54; Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 613; weshalb hier, Ertel und Russell/Norvig folgend, darauf verzichtet wird, den Begriff einzuführen (die »Regeln über Informationsverbreitung in kausalen Netzen« sind eine informelle Darstellung der d-Separierung).

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

207

A F

G

B E

C L

D

M

H

J

K

N

I

O

Abbildung 17: Beispiel für die bedingte Unabhängigkeit in einem Bayes’ Netz.

b) Von H und I fließt keine Information zu D, weil H und I durch eine divergierende Verbindung mit D verbunden ist, und die verbindende Variable E instanziiert ist. c) L und M sind durch eine konvergierende Verbindung mit D verbunden. Über eine konvergierende Verbindung fließt nur Information, wenn entweder die verbindende Variable oder eine ihrer Nachkommen instanziiert wurde. Dies ist hier nicht der Fall, denn weder sind die verbindenden Variablen K und N instanziiert, noch der Nachkomme O von K. Die Kettenregel lässt sich daher für ein Bayes’ Netz stark vereinfachen:667 P (X1 , . . . , Xn ) =

n Y i=1



P Xi |X1 , . . . , Xi–1 =

n Y

P Xi |Eltern (Xi )



(18)

i=1

D. h. jeder Eintrag in der Tabelle der vollständigen gemeinsamen Wahrscheinlichkeitsverteilung aller Variablen in einem Bayes’ Netz lässt sich durch das Produkt der bedingten Wahrscheinlichkeitstabellen aller Variablen berechnen.668 Die vollständige gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung muss daher nicht mehr in einer Tabelle spezifiziert werden, sondern wird durch Formel (18) und die Struktur des Netzes eindeutig definiert.669 667 668 669

Ertel, Grundkurs künstliche Intelligenz, 171; Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 36. Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 36; Taroni et al., Bayesian networks, 52. Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 36.

208

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

d) Exaktes Schließen in Bayes’ Netzen anhand eines einfachen Beispiels Im Folgenden soll am Beispiel des »Etui« Falls von Schreiber gezeigt werden,670 wie in einem Bayes’ Netz exakt geschlossen werden kann. Dazu muss das Modell parametrisiert werden. Es stehe die Variable D für die Aussage »Diebstahl durch X«, E für »Etui bei X gefunden«, K für »Kauf des Etuis durch X«, und Z für »Zeuge hat X in Besitz des Etui gesehen«, wobei diese Variablen jeweils die Zustände {wahr, falsch} annehmen können und die Zustände mit dw , df usw. notiert werden. Es sei P(D) = (0,005; 0,995) und P(K) = (0,01; 0,99).671 Die bedingten Wahrscheinlichkeitsverteilungen P(Z|K) und P(E|D, K) ergeben sich aus Tabelle 9a, b,672 die Struktur des Netzes aus Abbildung 18. Aus der Kettenregel für Bayes’ Netze (Gleichung 18) folgt, dass sich die vollständige gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung P(D, K, Z, E) berechnen lässt aus 





P D, K, Z, E = P (D) P (K) P Z|K P E|D, K . Das Resultat für P(D, K, Z, ew ) findet sich in Tabelle 10. Ein Beispiel: der Wert in der linken oberen Zelle errechnet sich aus der vorstehenden Gleichung und den Tabelle 9a, b: Bedingte Wahrscheinlichkeitsverteilungen P(Z|K) und P(E|D, K).

dw zw zf

kw

kf

0,8 0,2

0,05 0,95

ew ef

df

kw

kf

kw

kf

1 0

0,9 0,1

1 0

0 1

[K]auf durch X

[D]iebstahl durch X

[E]tui bei X

[Z]euge für Vorbesitz

Abbildung 18: Bayes’ Netz für den »Etui« Fall. 670

Schreiber, Theorie des Beweiswertes, 15. P(K) gemäß den Annahmen von Schreiber, Theorie des Beweiswertes, 15. P(D) unter der Annahme, dass das Etui tatsächlich auf der Gesellschaft gestohlen wurde, 200 Gäste auf der Gesellschaft waren und a-priori die Wahrscheinlichkeit für jeden Gast, der Dieb zu sein, gleich hoch ist (Indifferenzprinzip). 672 Es wurde berücksichtigt, dass ein Zeuge den Vorbesitz von X bestätigen könnte, obwohl X gar kein Etui besessen hat, entsprechend Pr(zw |kf ) = 0,05. 671

209

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

Tabelle 10: Vollständige gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung P(D, K, Z, ew ).

kw dw df

kf

Marginal

zw

zf

zw

zf

4 · 10–5 0,00796

1 · 10–5 0,00199

0,00022275 0

0,00423225 0

0,004505 0,00995

Werten für Pr(dw ), Pr(kw ) und den Werten für die bedingten Wahrscheinlichkeiten aus Tabelle 9a, b wie folgt: 





Pr dw Pr kw Pr zw |kw Pr ew |dw & kw



= 0,005 · 0,01 · 0,8 · 1 = 0,00004 = 4 · 10–5 Man möchte nun wissen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass X ein Dieb ist, wenn das Etui bei ihm gefunden wird, also P(D|ew ). Aus Bayes’ Regel folgt P D|ew



P (D, ew ) = = P (ew )

 P P K PZ P D, K, Z, ew D

(19.1)

P (D, ew )

Durch aussummieren (marginalisieren) von K und Z aus Tabelle 10 erhält man P (D, ew ) = (0,004505; 0,00995) und durch aussummieren von D aus P(D, ew ) Pr (ew ) = 0,004505 + 0,00995 = 0,014455 . Die Division aus Gleichung (19.1) ergibt entsprechend (auf zwei Stellen nach dem Komma gerundet) 

P D|ew =



0,004505 0,00995 ; 0,014455 0,014455



= (0,31; 0,69) .

Anders gesagt, die Überzeugung, dass X der Dieb des Etuis ist, steigt auf 31%, wenn ein gleichartiges Etui bei ihm gefunden wird. Jetzt erfährt man, dass X keinen Zeugen nennen kann, der bestätigen könnte, dass er ein solches Etui schon vor der Party besessen hat, und möchte entsprechend P(D|zf , ew ) berechnen: P (D, zf , ew ) K P (D, K, zf , ew ) = P . P (zf , ew ) D P (D, zf , ew ) P



P D|zf , ew =

(19.2)

Durch aussummieren von K aus Tabelle 10 erhält man 



P (D, zf , ew ) = 1 · 10–5 + 0,00423225; 0,00199 + 0 = (0,00424225; 0,00199)

210

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

und durch aussummieren von D aus P(D, zf , ew ) Pr (zf & ew ) = 0,00424225 + 0,00199 = 0,00623225 . Durch Einsetzen dieser Zahlen in Gleichung (19.2) erhält man (wiederum gerundet) 

P D|zf , ew =



0,00424225 0,00199 ; 0,00623225 0,00623225



= (0,68; 0,32) .

Die Überzeugung, dass X das Etui gestohlen hat, ist nach Berücksichtigung dessen, dass es keinen Zeugen für den Vorbesitz gibt, auf 68% gestiegen. Hier spielt wieder der explaining away Effekt seine Rolle: Es gibt zwei mögliche Ursachen dafür, dass ein gleichartiges Etui bei X gefunden wurde. Da die eine, der Kauf, in Anbetracht der fehlenden Zeugen unwahrscheinlicher geworden ist, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die andere Ursache, der Diebstahl, den Besitz des Etuis erklärt. Andererseits ist P(D|zw , ew ) = (0,03; 0,97), d. h. gibt es einen Zeugen für den Vorbesitz, sinkt die Überzeugung, dass X ein Dieb ist, auf 3%. Für die vorangehende Berechnung wurde die vollständige gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung rekonstruiert. Die Vorteile, welche die kompakte Repräsentation durch die Faktorisierung der bedingten Wahrscheinlichkeitsverteilungen bietet, werden so natürlich nicht genutzt. In der Praxis verwendet man daher in einem ersten Schritt Algorithmen zur Variableneliminierung, die dazu führen, dass man immer nur diejenigen Teile der vollständigen gemeinsamen Wahrscheinlichkeitsverteilung berechnen muss, die gerade gebraucht werden.673 Exaktes Schließen in Bayes’ Netzen ist bei komplexeren Netzen auch mit Variableneliminierung nicht mehr mit dem oben verwendeten simplen Algorithmus möglich. In der Tat ist es schwierig, effiziente Algorithmen zum exakten Schließen in Bayes’ Netzen zu entwickeln, und der entsprechende Durchbruch gelang erst Ende der 1980-er Jahre mit Arbeiten von Pearl674 und Lauritzen/Spiegelhalter675 (in gewissen Arten von Bayes’ Netzen ist exaktes Schließen aus theoretischen Gründen nicht möglich;676 für solche Netze gibt es jedoch Algorithmen zur näherungsweisen Lösung677 ). 673 Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 622 ff.; Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 41 f.; Darwiche, Bayesian Networks, 126 ff. 674 Pearl, Artificial Intelligence 1986, 241–288. 675 Lauritzen/Spiegelhalter, Journal of the Royal Statistical Society. Series B (Statistical Methodology) 1988, 157–224. Hinweise auf weitere grundlegende Arbeiten bei Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 649; Taroni et al., Bayesian networks, 66. 676 In mehrfach verbundenen Netzen (mehr als ein Pfad führt zu einem Knoten) ist die exakte Lösung »NP-hart«, d. h. in polynomieller Zeit nicht mehr zu lösen, Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 625; für den Beweis Cooper, Artificial Intelligence 1990, 393–405; für eine Erklärung des Begriffs NP-hart, Immerman, Computability and Complexity, http://plato.stanford.edu/ archives/fall2008/entries/computability. 677 Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 627 ff.; Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 145 ff.; Darwiche, Bayesian Networks, 340 ff.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

211

Wasserrohrbruch

Regen

Information fließt gemäss Jeffreys Regel

Information fließt gemäss Jeffreys Regel

Straße nass Information fließt gemäss Bayes’ Regel

Abrollgeräusch

Abbildung 19: Informationsfluss in Bayes’ Netzen.

Für den Anwender ist es jedoch nicht notwendig, die Algorithmen, die zur Berechnung in der Praxis verwendet werden, zu verstehen. Der Jurist soll ja keine Computerprogramme schreiben, die Bayes’ Netze kompilieren können. Entscheidend ist, dass die Semantik von Bayes’ Netzen verstanden wird, die oben erläutert wurde, und die dem Schließen in Bayes’ Netzen zugrundeliegende Logik. Diese ergibt sich vollständig aus Bayes’ respektive Jeffreys Regel: Von Variablen, deren Zustand bekannt ist, fließt die Information gemäß Bayes’ Regel zu den Eltern dieser Variablen. Sind die Eltern selber Nachkommen weiterer Variablen, fließt die Information gemäß Jeffreys Regel weiter »nach oben«, entgegen der Richtung der gerichteten Kanten (siehe Abbildung 19). In einfachen Fällen lässt sich »mit Papier und Bleistift« zeigen, wie das Schließen in Bayes’ Netzen funktioniert. Die Algorithmen für das Schließen in komplexeren Netzen sind durch Experten verifiziert und in zahlreichen ComputerProgrammen implementiert, so dass man testen kann, ob verschiedene Implementierungen zum gleichen Resultat gelangen.678 Fenton/Neil vergleichen dies mit einem Taschenrechner.679 Der Benutzer eines Taschenrechners muss kein Experte für logische Gatter und Floating Point Arithmetik sein,680 um zu akzeptieren, 678 Mit SamIam 3.0 lassen sich z. B. Netze öffnen, bearbeiten und berechnen, die mit der Software HUGIN erstellt wurden. 679 Fenton/Neil, Australian Journal of Legal Philosohpy 2011, 114–151, 131. Ähnlich Roberts/ Aitken, The Logic of Forensic Proof: Inferential Reasoning in Criminal Evidence and Forensic Science, 104, die davon sprechen, dass nicht jeder Autofahrer ein Automechaniker sein müsse, um die Vorteile eines Autos zu nutzen. 680 Logische Gatter sind die Grundstrukturen integrierter Schaltungen; auf der Floating Point Arithmetik beruht die Implementierung des Rechnens mit reellen Zahlen in Computern.

212

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

dass der Taschenrechner das richtige Ergebnis einer Division großer Zahlen liefert, die mit Papier und Bleistift nicht mehr (in vernünftiger Zeit) überprüft werden kann. Die Tatsachen, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft die zugrundeliegenden Algorithmen akzeptiert hat, verschiedene Taschenrechner das gleiche Resultat liefern und der Taschenrechner bei einfachen Rechnungen das überprüfbar richtige Resultat liefert, genügen für die praktische Anwendung. e) Erstellen eines Bayes’ Netzes Das Erstellen eines Bayes’ Netz umfasst drei Schritte: Erstens sind die Variablen und ihre möglichen Zustände zu definieren; zweitens sind die Variablen durch Pfade gemäß dem Einfluss, den sie aufeinander haben, zu verbinden; und drittens sind die bedingten Wahrscheinlichkeitsverteilungen für alle Variablen zu definieren.681 Der letzte Schritt ist in der Regel der schwierigste und zeitaufwendigste.682 aa) Hypothesenvariablen, verdeckte Variablen und Informationsvariablen Man beginnt mit den Variablen, deren Zustände man nicht direkt beobachten kann, die aber von Interesse sind. Diese Variablen werden als »Hypothesenvariablen« bezeichnet.683 In dem Pflanzen-Beispiel (S. 133) wäre dies die Variable »Hat der Freund die Pflanze gegossen?«, in Abbildung 20 und den folgenden Abbildungen fett umrandet. Man fügt Variablen hinzu, deren Zustand man beobachten kann. Variablen, deren Zustände beobachtbar sind, werden hier als Informationsvariablen bezeichnet.684 Im Pflanzen-Beispiel wären dies z. B. die Variablen »Pflanze ist gestorben« und »Zeugin sagt, dass Pflanze gegossen wurde« (in Abbildung 20 und den folgenden Abbildungen gestrichelt umrandet). Der Zustand von Informationsvariablen lässt sich durch geeignete Beweismittel der unmittelbaren Beobachtung des Richters zuführen: Man kann einen Augenschein nehmen, um den Zustand der Pflanze festzustellen, und eine Zeugeneinvernahme machen, um festzustellen, was die Zeugin sagt. Als verdeckte Variablen bezeichnet man Variablen, deren Zustände man, wie diejenigen der Hypothesenvariablen, nicht direkt beobachten kann, von denen man aber annimmt, dass sie Teil der kausalen Kette sind, welche die Hypothesenvariable mit der Informationsvariable verbindet.685 Im Pflanzen-Beispiel hängt die Wahrscheinlichkeit, dass die Zeugin sagt, dass die Pflanze gegossen wurde, 681

Darwiche, Bayesian Networks, 84 f.; Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 51 f., 60. Schum, Evidential Foundations, 182; Darwiche, Bayesian Networks, 76. 683 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 51; Darwiche, Bayesian Networks, 84 nennt sie »query variables«. 684 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 52; nach Darwiche, Bayesian Networks, 77, »evidence variables«; Ertel, Grundkurs künstliche Intelligenz, 172, nennt sie »Diagnosevariablen«. 685 Ertel, Grundkurs künstliche Intelligenz, 172, verwendet den Ausdruck »verdeckte Variable«, während Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 56, sie »mediating variable« und Darwiche, Bayesian Networks, 84, »intermediate variable« nennt. 682

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

Pflanze gegossen?

213

Hypothesenvariable

Pflanze ist gestorben.

Zeugin hat gesehen, dass Pflanze gegossen wurde.

Informationavariablen

Zeugin sagt, dass Pflanze gegossen wurde.

verdeckte Variable

Abbildung 20: Arten von Variablen in einem Bayes’ Netz.

davon ab, ob sie dies tatsächlich gesehen hat. Dies kann man nicht wissen, entsprechend ist es eine verdeckte Variable. In juristischer Terminologie kann man die verdeckten Variablen als »Zwischenindizien« bezeichnen, die anders als die Informationsvariablen, die Indizien sind, die der direkten Beobachtung des Richters zugänglich gemacht werden können, nicht der unmittelbaren Beobachtung zugänglich sind, aber wie diese von der vermuteten Ursache (Hypothesenvariable) bewirkt werden können. In Abbildung 20 und den folgenden Abbildungen sind Knoten, die verdeckte Variablen repräsentieren, durch einen ausgezogenen einfachen Strich umrandet. Mathematisch betrachtet beeinflusst der Verzicht auf verdeckte Variablen, die nur ein einziges Kind haben, die Genauigkeit des Modells nicht.686 Im vorliegenden Beispiel kann man all die Gründe, die dazu führen, dass die Zeugin fälschlicherweise sagen könnte, die Pflanze sei gegossen worden, in einer einzigen Likelihood zusammenfassen.687 Der Vorteil des probabilistischen Verständnisses von kausalen Beziehungen ist, dass man nicht jede mögliche Ursache (hier: für die Falschaussage) spezifizieren muss, sondern den möglichen Ursachen zusammenfassend eine Wahrscheinlichkeit zuordnen kann.688 Andererseits sollte man verdeckte Variablen, die mehr als ein Kind haben, einführen, da der Verzicht auf die verdeckte Variable in diesem Fall einen Verlust an Genauigkeit des Modells zur Folge hat.689 Die Verwendung von verdeckten Variablen beim Aufbau von Bayes’ Netzen hat aber den wesentlichen Vorteil, dass das Nachdenken über verdeckte Variablen 686

Darwiche, Bayesian Networks, 91. Für die generelle Formel Darwiche, Bayesian Networks, 91. 688 Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 571. 689 Darwiche, Bayesian Networks, 91; siehe dazu auch die Ausführungen zu bestätigend redundanten Beweismitteln, S. 221 f. 687

214

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

zu einem besseren Verständnis des zu modellierenden Problems führt und damit zu einer genaueren Modellierung.690 So weist Schum auf die Gefahr hin, bei einer Analyse eines Sachverhalts die Wahrscheinlichkeit der Zeugenaussage »der Angeschuldigte floh vom Tatort« gleichzusetzen mit der der Wahrscheinlichkeit, dass der Angeschuldigte vom Tatort geflohen ist, oder allgemeiner ausgedrückt, die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens des Beweismittels mit der Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu beweisenden Tatsache.691 Verdeckte Variablen zeigen bestehende Quellen von Unsicherheit auf, die bei einer holistischen Gesamtwürdigung leicht übersehen werden können.692

Unparteilichkeit

Fähigkeit

Wahrhaftigkeit

Zuverlässigkeit des Zeugen

X ist wahr

Zeuge sagt, dass X wahr ist.

Abbildung 21: Verdeckte Variablen als Quellen von Unsicherheit.

Fenton et al. schlagen vor, eine begrenzte Anzahl von wiederkehrenden kausalen Strukturen zu verwenden, die sie als »Idiome« bezeichnen und die typische Argumente, die bei der Beweiswürdigung immer wieder vorkommen, in einem Bayes’ Netz abbilden.693 Insbesondere schlagen sie vor, die Überlegungen zur Zuverlässigkeit von Beweismitteln in einem eigenen Knoten abzubilden (siehe Abbildung 21). Je zuverlässiger das Beweismittel, desto mehr entspricht sein Zustand dem Zustand der interessierenden Hypothesenvariable.694 Wäre das Zeugnis ein absolut zuverlässiges Beweismittel, so wäre X immer dann der Fall, wenn ein Zeuge sagt, dass X der Fall ist. Dies trifft offensichtlich nicht zu; selbst der zuverlässigste Zeuge ist nicht 100% zuverlässig. Aber es gibt unterschiedlich zuverlässige Zeugen, der Knoten für »Zuverlässigkeit« ist daher nicht notwendigerweise zweiwertig, sondern kann mehrere Werte annehmen, z. B. {sehr zuverlässig, zuverlässig, wenig zuverlässig, unzuverlässig}. Ob ein Zeuge zuver690

Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 56. Schum, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 205–212, 208; Kadane/Schum, Probabilistic analysis of the Sacco and Vanzetti evidence, 41. 692 Kadane/Schum, Probabilistic analysis of the Sacco and Vanzetti evidence, 168. 693 Fenton/Neil/Lagnado, Cognitive Science 2013, 61–102, 70 ff.; ebenso bereits Hepler/ Dawid/Leucari, Law, Probability & Risk 2007, 275–293, 287 ff. 694 Fenton/Neil/Lagnado, Cognitive Science 2013, 61–102, 75. 691

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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lässig ist, bestimmt sich nach seiner Unparteilichkeit (hat er einen Grund, eine Falschaussage zu machen?), seiner Fähigkeit (war er überhaupt in einer Position, das Geschehen wahrzunehmen und sind seine Sinne und Erinnerungsvermögen normal?) und seiner Wahrhaftigkeit (glaubt er, dass er das wahrgenommen hat, was er berichtet?).695 Zu den einzelnen Variablen, die die Zuverlässigkeit eines Beweismittels (mit)bestimmen, mag es im konkreten Fall Beweismittel geben, wie die Aussage eines weiteren Zeugen, der bestätigt, dass der Augenzeuge eine Brille benötigt, die er im Zeitpunkt, zu dem er eine Aussage macht, nicht getragen hat. Fast alle probabilistische Schlüsse von Hypothesenvariablen auf Informationsvariablen lassen sich durch das Einfügen von verdeckten Variablen weiter aufgliedern. Je stärker man die Variablen aufgliedert, desto stärker wird die Integration des Wissens durch das Netz übernommen und die kognitive Belastung durch die integrative Gesamtschau verringert. Umgekehrt steigt die kognitive Belastung, weil mehr einzelne Annahmen getroffen und gerechtfertigt werden müssen, für die es oft keine empirische Basis gibt.696 Die Frage ist, wie weit man die Aufgliederung treiben soll, und wann der Punkt gekommen ist, ab dem eine weitere Aufgliederung keinen Erkenntnisgewinn mehr verspricht. Eine generelle Antwort auf diese Frage ist kaum zu geben. Wo in Zivilfällen die Verhandlungsmaxime gilt, wird die Feinheit der Aufgliederung nach hier vertretener Auffassung durch das Vorbringen der Parteien bestimmt. Eine verdeckte Variable muss eingefügt werden, wenn eine strittige Behauptung zum Zustand der verdeckten Variable vorliegt. Den Knoten zur Unparteilichkeit des Zeugen sollte man also beispielsweise immer dann einfügen, wenn mindestens eine Partei behauptet, der Zeuge sei parteiisch, und die andere Partei dies bestreitet. Wo die Untersuchungsmaxime gilt, sei es in Straf- oder Zivilverfahren, ist die Frage der angemessenen Feinheit der Aufgliederung schwieriger zu beantworten. Hier muss der Tatsachenfeststeller sich mittels Gedankenexperimenten überlegen, welche Annahmen das Vorhandensein oder Fehlen von Beweismitteln erklären könnten, und diejenigen aufnehmen, die seines Erachtens einen wesentlichen Einfluss haben könnten. Die Verwendung von »Idiomen« im Sinne von Fenton et al. ist dabei nützlich, da sie bewusst machen, von welchen Einflussfaktoren die Beweiskraft jedes Beweismittels grundsätzlich abhängt. bb) Einfügen der Pfade zwischen den Variablen Im nächsten Schritt müssen die Variablen durch Pfade verbunden werden; dabei hilft, wie bereits erwähnt, sich die Pfade als kausale Einflüsse der Elternvariablen auf ihre Kinder vorzustellen.697 Dadurch wird in der Regel sichergestellt, dass 695

Fenton/Neil/Lagnado, Cognitive Science 2013, 61–102, 77. Kadane/Schum, Probabilistic analysis of the Sacco and Vanzetti evidence, 127 f. 697 Darwiche, Bayesian Networks, 9; Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 72; Ertel, Grundkurs künstliche Intelligenz, 172. 696

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

der resultierende gerichtete Graph die bedingten Abhängigkeiten korrekt abbildet, ohne dass zusätzliche (intuitiv schwer erkennbare) Pfade eingefügt werden müssen, die nicht auf (vermuteten) kausalen Beziehungen beruhen, aber eine Korrelation zweier Variablen abbilden.698 Die angenommenen kausalen Beziehungen zwischen den Variablen beruhen bei typischen juristischen Sachverhalten auf Generalisierungen, die sich auf verschiedene Quellen, vor allem auch auf die »allgemeine Lebenserfahrung«, stützen können (zu den Quellen von Generalisierungen hinten, S. 378 ff.). So wird man »in der Regel« davon ausgehen können, dass Zimmerpflanzen, die regelmäßig gegossen werden, nicht verwelken, so dass ein (kausaler) Zusammenhang zwischen dem Verwelken und Gießen besteht. Hingegen wird niemand behaupten, dass die Aussage der Zeugin, sie habe gesehen, dass die Pflanze gegossen wurde, einen Einfluss auf das Verwelken hat; entsprechend führt kein direkter Pfad von der Variable »Zeugenaussage« zur Variable »Pflanze ist gestorben«. In komplexeren Fällen sind die direkten Abhängigkeiten aber nicht immer so eindeutig erkennbar. Im weiter hinter als Beispiel dienenden Fall des Angestellten, der angeblich Geld aus dem Tresor seines Arbeitgebers entwendet hat, mag man sich fragen, ob die Tatsache, dass der Angestellte (angeblich) Geld von seiner Schwägerin erhalten hat, einen direkten Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit der Entwendung hat (weil ihm dann ein Motiv fehlt), oder nur einen indirekten, weil es die Rückzahlung eines Bankkredits einen Tag nach der angeblichen Entwendung erklärt (so die Struktur gemäß Abbildung 30 auf S. 233). Hüten sollte man sich vor der allzu leichtfertig getroffenen Behauptung, dass alles alles beeinflusst.699 Modelliert werden sollten die wesentlichen Einflüsse, sonst verliert das Modell seine analytische Schärfe. Wesentliche von unwesentlichen Einflüssen zu unterscheiden ist allerdings eine Kunst, keine Wissenschaft. Vernünftige Menschen können zu unterschiedlichen Auffassungen darüber gelangen, welche Pfade welche Knoten in einem Bayes’ Netz eines juristischen Sachverhalts verbinden sollten.700 Ein wesentlicher Vorteil von Bayes’ Netzen ist daher wie bereits erwähnt ihre Flexibilität: Es ist ohne großen Aufwand möglich, verschiedene Strukturen, die auf verschiedenen Annahmen über die direkten Abhängigkeiten zwischen den Variablen beruhen, zu testen und zu prüfen, inwiefern sich das Resultat ändert (ein Beispiel dafür findet sich hinten, S. 313). Ändert sich die Vorstellung von der Welt, sei es, weil man beim Nachdenken über den Sachverhalt zu einem neuen Modell gelangt oder weil neue Indizien gefunden werden, lässt sich das Netz einfach ergänzen. In Abbildung 22 wird das ursprüngliche Modell des Pflanzen Beispiels (links) ergänzt um das neue Indiz, dass die Zeugin ein zweites Mal bestätigt, dass ihr 698 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 72 f.; Ertel, Grundkurs künstliche Intelligenz, 170; siehe auch das Beispiel bei Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 611 f. 699 Kadane/Schum, Probabilistic analysis of the Sacco and Vanzetti evidence, 149. 700 Kadane/Schum, Probabilistic analysis of the Sacco and Vanzetti evidence, 149.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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Abbildung 22: Einfaches (links) und erweitertes (rechts) Netz des Pflanzen-Beispiels.

Freund die Pflanze gegossen habe (rechte Abbildung). Die Wahrscheinlichkeit, dass sie dies tut, hängt sowohl davon ab, ob die Pflanze tatsächlich gegossen wurde als auch davon, was die Zeugin bei der ersten Aussage gesagt hat (vorne, S. 149 f.). Entsprechend sind zwei Pfade zur Variable »Zeugin bestätigt, dass gegossen« einzuzeichnen. cc) Parametrisierung des Netzes Der in der Regel schwierigste und zeitraubendste Schritt erfolgt zuletzt: Für jede Variable im Netz muss die bedingte Wahrscheinlichkeitsverteilung in Form einer bedingten Wahrscheinlichkeitstabelle angegeben werden. Für Variablen ohne Eltern ist die unbedingte Wahrscheinlichkeitsverteilung anzugeben, wobei »unbedingt« hier nur heißt, dass die Variable nicht durch andere Variablen im Netz bedingt ist. Die a-priori Überzeugung reflektiert aber das Wissen des Modellierenden über die Zustände der Hypothesenvariablen, ehe eine Variable des Netzes instanziiert wurde. Insofern ist die a-priori Überzeugung bedingt durch das gesamte Wissen des Modellierenden (oder des Experten, der vom Modellierenden befragt wird). Auf die Beweiswürdigung bezogen kann man sagen, die a-priori Überzeugung widerspiegle das gesamte Wissen des Richters über die Welt, ehe die Beweise abgenommen werden. Der Zwang, eine a-priori Überzeugung angeben zu müssen, ist daher kein Nachteil des Bayes’schen Ansatzes, der aus einer mathematischen Notwendigkeit geboren ist, sondern der Verzicht auf a-priori Überzeugungen würde bedeuten, dass man auf das gesamte Wissen verzichtet, das in der anfänglichen Überzeugung steckt.701 Woher die Likelihoods stammen, die in den bedingten Wahrscheinlichkeitstabellen definiert werden, spielt aus Sicht der Modellierung keine Rolle. Sie können auf wissenschaftlichen Theorien, empirischen Erhebungen (»statistische Daten«) oder subjektiven Schätzungen beruhen.702 Bayes’ Netze ermöglichen insbesondere die Integration von auf naturwissenschaftlichen Gutachten und subjektiven 701 702

Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 34. Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 60.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Schätzungen beruhenden subjektiven Wahrscheinlichkeiten.703 Woher die Likelihoods stammen, ist natürlich entscheidend dafür, ob Dritte die Schlüsse, die aus der Modellierung gezogen werden, überzeugend finden, aber das ist eine andere Frage. Im Falle der Beweiswürdigung werden die Likelihoods aus allen möglichen Quellen stammen: wissenschaftlichen Theorien wie z. B. bei DNA-Gutachten in Vaterschaftsprozessen, statistischen Erhebungen bei demoskopischen Umfragen in kennzeichenrechtlichen Verfahren und subjektiven Schätzungen in den allermeisten Fällen. Im juristischen Kontext wird der Richter oft nur eine subjektive Schätzung abgeben können, und in größeren Netzen sind zahlreiche Schätzungen notwendig, die sich oft auf nichts anderes als ein Bauchgefühl abstützen können.704 Die berechtigte Frage ist, ob die Angabe der bedingten Wahrscheinlichkeiten überhaupt einen Vorteil bietet, wenn sie einfach »aus der Luft gegriffen« werden. Eine empirische Studie von Schum und Martin zeigt, dass größere Einigkeit in der Beurteilung eines Sachverhalts besteht, wenn die Versuchspersonen gebeten werden, die Likelihoods einzelner Zeugenaussagen zu bewerten, statt eine

Abbildung 23: Erweitertes Bayes’ Netz des Pflanzen-Beispiels mit bedingten Wahrscheinlichkeitstabellen (CPTs). 703 Von Müller, in: Kühne et al. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Rosinski zum 70. Geburtstag am 11. Juli 2002, 219–238, 221, als »hohe, möglicherweise unüberwindbare Hürde« der Beweiswürdigung bezeichnet. 704 Thagard, Cognition & Emotion 2003, 361–383, 370.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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Gesamtwürdigung des Beweisergebnisses vorzunehmen.705 Menschen scheinen sich über die bedingten Wahrscheinlichkeiten, selbst wenn diese sich nicht auf empirische Daten stützen können, eher einig zu werden als über die korrekte Kombination der bedingten Wahrscheinlichkeiten zu einer einzigen Überzeugung. Ein weiterer wichtiger Vorteil von Bayes’ Netzen ist, dass sie die Unsicherheit, die in ambivalenter Evidenz steckt, bewahren, und so vor allzu großer Sicherheit im Urteil schützen (hinten, S. 313 ff.). Die bedingten Wahrscheinlichkeitstabellen für die Variablen im Netz für das Pflanzen-Beispiel können Abbildung 23 entnommen werden.706 Die Werte für alle Variablen außer »Zeugin bestätigt« entsprechen den bereits gemachten Annahmen. Die bedingte Wahrscheinlichkeit Pr(Zeugin bestätigt = wahr|Pflanze gegossen = falsch & Zeugin sagt = wahr) = 0,9 drückt die Überzeugung aus, dass die Zeugin, die beim ersten Mal (wahrheitswidrig) gesagt hat, die Pflanze sei gegossen worden, dies wahrscheinlich bei der zweiten Aussage bestätigen wird. dd) Abfragen des Netzes Nachdem alle bedingten Wahrscheinlichkeitstabellen definiert wurden, kann das Netz kompiliert werden.707 Die in der Abbildung 24 eingeblendeten Moni-

Abbildung 24: Kompiliertes Netz des Pflanzen-Beispiels mit a-priori Randwahrscheinlichkeiten. 705

Schum/Martin, Law & Society Review 1982, 105–151, 134 ff., 136. Die Abbildung, wie auch die folgenden, ist ein Screenshot der grafischen Benutzeroberfläche des Programms SamIam. 707 Taroni et al., Bayesian networks, 64. Die Kompilierung ist rechenintensiv, während anschließende Abfragen wenig Rechenkapazität benötigen, Haenni et al., Probabilistic logics and probabilistic networks, 92. 706

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

tore zeigen nun die a-priori Randwahrscheinlichkeiten für jeden Zustand jeder Variable (d. h. die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Variable im entsprechenden Zustand befindet, ehe eine der Variablen instanziiert wurde, oder juristisch ausgedrückt: ehe die Beweismittel abgenommen wurden).708 Das Netz ist nun bereit für Abfragen. Eine Abfrage erfolgt, indem die Variablen instanziiert werden, deren Zustand man beobachtet hat. Angenommen, man erfährt, dass die Pflanze gestorben ist. Die Überzeugung, dass die Pflanze gegossen wurde, sinkt auf 34% (Abbildung 25 links), was die Berechnung mit Papier und Bleistift von vorne, S. 135 f., bestätigt. Erfährt man nun, dass die Lebenspartnerin des Freundes gesagt hat, die Pflanze sei gegossen wurden, so steigt die Überzeugung wieder auf 71% (Abbildung 25 rechts; alle Werte gerundet). Die Randwahrscheinlichkeiten für »Zeugin bestätigt« zeigen, dass die Erwartung sehr groß ist, dass die Zeugin bei der zweiten Aussage die erste Aussage bestätigen wird. Tut sie das tatsächlich, d. h. instanziiert man die Variable auf »Zeugin bestätigt = wahr«, so steigt die Überzeugung, dass die Pflanze gegossen wurde, nur geringfügig von 71% auf 73%. Das Netz gibt die Intuition, dass die Bestätigung der ersten Aussage durch die Zeugin die Überzeugungsbildung nicht maßgeblich beeinflussen kann, richtig wieder. Widerruft die Zeugin ihre Aussage jedoch, d. h. sagt sie beim zweiten Mal etwas anders als beim ersten Mal, dann hat dies einen sehr starken Einfluss auf die Überzeugungsbildung. Dies lässt sich generalisieren: Informationsvariablen (Beweismittel), deren beobachteter Zustand überraschend ist, d. h. stark verschieden vom erwarteten

Abbildung 25: Pflanzen-Netz nach Instanziierung der Variable »Pflanze gestorben«. 708

Darwiche, Bayesian Networks, 78 f.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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Abbildung 26: Pflanzen-Netz nach Instanziierung der Variablen »Pflanze gestorben« und »Zeugin sagt, dass gegossen«.

Zustand, haben einen starken Einfluss auf die Überzeugungsbildung. Dies ist natürlich eine direkte Folge davon, dass der Likelihood-Quotient das Ausmaß der Änderung der anfänglichen Überzeugung bestimmt und der LikelihoodQuotient umso größer ist, je unerwarteter das beobachtete Indiz ist (vorne, S. 143). f) Redundante Beweismittel Lempert wies erstmals darauf hin, dass bei holistischer Gesamtbetrachtung der Beweismittel die Gefahr besteht, dass redundante Beweismittel doppelt gewichtet werden.709 Schum/Martin konnten später empirisch zeigen, dass Lemperts Befürchtung gerechtfertigt war.710 Bayes’ Netze erlauben eine intuitive Abbildung redundanter Strukturen, die einfacher verständlich ist als die direkte mathematische Modellierung.711 Lempert erläutert Redundanz von Beweismitteln an einem einfachen Beispiel (diese Art der Redundanz wird von Schum/Martin später als »bestätigende Redundanz« bezeichnet):712 Angenommen, auf einer Tatwaffe findet sich ein Abdruck eines Zeigefingers eines Verdächtigen. Dies macht es offensichtlich erheblich wahrscheinlicher, dass der Verdächtige die Waffe benutzt hat. Sagen 709

Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021–1057, 1050. Schum/Martin, Law & Society Review 1982, 105–151, 140 ff. 711 Siehe dazu den Appendix von Schum/Martin, Law & Society Review 1982, 105–151, 145 ff. 712 »Corroboratively redundant evidence« im Original, Schum/Martin, Law & Society Review 1982, 105–151, 112. 710

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

wir, es ist 100 Mal wahrscheinlicher, dass man den Zeigefingerabdruck eines Schuldigen auf der Tatwaffe findet als den Zeigefingerabdruck eines Unschuldigen. Wenn man jetzt auch noch einen Daumenabdruck des Verdächtigen auf der Waffe findet, dann darf man offensichtlich nicht nochmals mit dem Faktor 100 multiplizieren. Die Tatsache, dass man einen Fingerabdruck gefunden hat, macht es sehr wahrscheinlich, einen zweiten zu finden, denn beide Abdrücke haben mutmaßlich die gleiche Ursache, nämlich dass der Verdächtige die Waffe in der Hand hatte. Bestätigend redundante Beweismittel sind also solche, welche die Wahrheit einer Tatsachenbehauptung stützen, deren Wahrheit bereits (fast) sicher erstellt ist.713 Problematisch ist ihre Berücksichtigung dann, wenn durch sie nur ein Indiz erstellt wird, das (wie fast alle Indizien) nur einen probabilistischen Schluss auf die Haupttatsache erlaubt. Denn dieser Schluss wird nicht wesentlich wahrscheinlicher dadurch, dass das Indiz noch wahrscheinlicher wird, sondern hängt in erster Linie von der Stärke der Abhängigkeit zwischen Indiz und Haupttatsache ab – i. c. davon, dass derjenige, der die Waffe berührt hat, diese auch benutzt hat. In einem Bayes’ Netz lassen sich bestätigend redundante Beweismittel durch die Struktur gemäß Abbildung 27 links abbilden. Eine Ursache B (z. B. das Halten der Waffe) hat zwei Folgen C und D (z. B. den Abdruck eines Zeigefingers und Daumens auf der Waffe). Die Tatsache B wiederum lässt einen probabilistischen Rückschluss auf Tatsache A (der Verdächtige benutzte die Waffe) zu. Eine weitere Struktur redundanter Beweismittel, die ebenfalls zu einer Übergewichtung der Beweiskraft führen kann, wird von Schum/Martin als »kumulativ redundante Beweismittel« bezeichnet.714 Hier stützt ein Indiz C eine Tatsachenbehauptung A. Wenn A wahr ist, macht A eine weitere Behauptung B sehr wahrscheinlich. Die Tatsachenbehauptung B wiederum macht Tatsachenbehauptung D wahrscheinlich. Beispielsweise bestätigt ein Zeuge C, dass er den Verdächtigen

Abbildung 27: Struktur bestätigend redundanter Beweismittel (links) und kumulativ redundanter Beweismittel (rechts). 713 714

Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021–1057, 1045. Schum/Martin, Law & Society Review 1982, 105–151, 113.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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kurz nach dem Tatzeitpunkt aus dem Zimmer, in dem die Tat verübt wurde, eilen sah. Ein anderer Zeuge D bestätigt, dass er den Verdächtigen zwei Minuten später aus dem Haus, in dem die Tat verübt wurde, eilen sah. Die Tatsache, dass jemand aus einem Zimmer eilt, macht es offensichtlich erheblich wahrscheinlicher, dass er kurz darauf auch aus dem Haus eilt. Genau betrachtet stützen die beiden Zeugenaussagen auch hier nur die gleiche Behauptung; nämlich dass sich der Verdächtige kurz nach der Tat vom Tatort entfernt hat. Auch hier besteht aber die Gefahr, dass die beiden Aussagen doppelt berücksichtigt werden, weil die Abhängigkeitsstruktur intuitiv verkannt wird.715 Die Struktur kumulativ redundanter Beweismittel ist in Abbildung 27 rechts dargestellt.716 Die Modellierung mittels eines Bayes’ Netzes verhindert die Übergewichtung bestätigend oder kumulativ redundanter Beweismittel. g) Fehlende Beweismittel Fehlende Beweismittel haben dann einen Beweiswert für die zu untersuchende Hypothese – d. h. sie können die Überzeugung für die Wahrheit der Hypothese beeinflussen – wenn man erwartet, dass die Beweismittel vorhanden sind, wenn die Hypothese zutrifft, und fehlen, wenn sie nicht zutrifft.717 Bei fehlenden Beweismitteln gilt, dass ihr Einfluss auf die Plausibilität der Hypothese umso größer ist, je überraschender ihr Fehlen ist. Wo man hingegen keine Beweismittel erwartet, kann man aus deren Fehlen auch keine Schlüsse ziehen. Das schweizerische Bundesgericht erkennt diesen Zusammenhang in seiner Rechtsprechung zur Herabsetzung des Beweismaßes bei Beweisnot richtig. Es nimmt in Fällen der Beweisnot eine Herabsetzung des Regelbeweismaßes der vollen Überzeugung auf die überwiegende Wahrscheinlichkeit an (richtigerweise beschlagen diese Überlegungen die Beweiswürdigung, nicht das Beweismaß, hinten, S. 522 ff.). Die Rechtsdurchsetzung soll nicht an Beweisschwierigkeiten scheitern, die typischerweise bei bestimmten Sachverhalten auftreten.718 Eine Beweisnot liegt aber nicht bereits dann vor, wenn der beweisbelasteten Partei für eine Tatsache, die ihrer Natur nach ohne weiteres dem unmittelbaren Beweis zugänglich wäre, die Beweismittel fehlen.719 Anders ausgedrückt: Wo man nicht erwartet, dass Beweismittel vorhanden sind (wo sie typischerweise fehlen), kann man aus dem Fehlen der Beweismittel nicht schließen, dass die behauptete Tatsache nicht der Fall ist. Das Fehlen des Beweises ist in diesem Fall tatsächlich nicht der Beweis des Fehlens. Die Rechtsprechung geht beispielsweise beim vom Versiche715

Schum/Martin, Law & Society Review 1982, 105–151, 142. Schum, Law, Probability & Risk 2009, 197–231, 229. 717 Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021–1057, 1047; Kaye, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 129–145, 133; Schum, Evidential Foundations, 357 f. 718 BGE 130 III 321 E. 3.2; BGE 128 III 271 E. 2b; beide m. w. H. (Hervorhebung durch den Verfasser). 719 BGE 130 III 321 E. 3.2. Kursiv durch den Verfasser. 716

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

rungsnehmer zu beweisenden Eintritt des Versicherungsfalles bei Diebstahlversicherungen davon aus, dass sich der Versicherungsnehmer in einer Beweisnot befindet, denn für einen Diebstahl hat man in der Regel keinen unmittelbaren Beweis.720 Unter den Umständen zu verlangen, dass der Versicherungsnehmer z. B. einen Zeugen für den Diebstahl benennt, würde die Rechtsdurchsetzung in vielen Fällen verhindern. Kann der Versicherungsnehmer aber bei einer Glasschadenversicherung nicht nachweisen, dass das Glas zerbrochen ist, so liegt der Schluss nahe, dass es tatsächlich nicht kaputt ist, denn ein Augenschein ist hier einfach möglich, und falls das Glas repariert werden muss, ist es einfach, vor der Reparatur durch Fotos und Zeugen Beweismittel für den Glasbruch zu sichern. Der Glasschaden ist seiner Natur nach ohne weiteres dem unmittelbaren Beweis zugänglich, und das Fehlen erwarteter Beweismittel begründet keine Beweisnot, sondern den Schluss, dass die behauptete Tatsache nicht der Fall ist. Schlüsse aus fehlenden Beweismitteln sind alltäglich, und jedes brauchbare Modell richterlicher Überzeugungsbildung muss in der Lage sein, Schlüsse aus fehlender erwarteter Evidenz zu modellieren.721 In Bayes’ Netzen führt man für erwartete Beweismittel genau gleich wie für vorhandene Beweismittel Informationsvariablen ein. Der Likelihood-Quotient für den Knoten ergibt sich wie bei vorhandenen Beweismitteln aus der Beantwortung der Fragen »wie wahrscheinlich ist es, dass das Beweismittel vorhanden ist, wenn die Hypothese zutrifft?« und »wie wahrscheinlich ist es, dass das Beweismittel vorhanden ist, wenn die Hypothese nicht zutrifft?«. Erklärt der Beklagte einen plötzlichen Geldzufluss damit, dass ihm jemand ein Darlehen zurückbezahlt habe, so würde man erwarten, dass der Darlehensnehmer als Zeuge angeboten wird. Unterbleibt die Nennung des Darlehensnehmers als Zeugen ohne jede Erklärung – z. B. dass der Darlehensnehmer im Ausland weilt, verstorben ist oder aus anderen Gründen nicht aussagen kann – dann weckt dies berechtigte Zweifel, dass die beklagtische Behauptung wahr ist. Gegen die Einführung von Informationsvariablen für fehlende Beweismittel kann man einwenden, dass Annahmen dazu, welche Beweismittel vorhanden sein sollten, weitgehend spekulativ sind. Das ist richtig. Tatsache ist aber, dass Richter bei der Beweiswürdigung solche Überlegungen ständig anstellen. Entscheidend ist, dass man nachvollziehbar begründet, weshalb man erwartet, dass ein Beweismittel vorhanden ist, das im konkreten Fall fehlt.

720 BGer, Urteile 5C.47/2002 vom 17. April 2002, E. 2b und 5C.99/2002 vom 12. Juni 2002, E. 2.1; ebenso in Deutschland, Kollhosser, NJW 1997, 969–973, 969 ff., und Schweden, Schwedischer Höchster Gerichtshof in Nytt Jurisdikt Arkiv, Avdelning I, 1984, 501, zitiert bei Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 253. 721 Kaye, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 129–145, 133.

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h) Ein einfaches Beispiel: Modellierung des Alibi-Beweises Der Alibi-Beweis beruht auf dem sicheren Erfahrungssatz, dass niemand gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten sein kann, und der Annahme, dass es sehr viel wahrscheinlicher ist, dass jemand der Täter ist, der zur Tatzeit am Tatort war, als dass jemand der Täter ist, der nicht zur Tatzeit am Tatort war. Letztere Annahme ist probabilistisch: Jemand kann am Tatort sein, aber dennoch unschuldig, und (zumindest theoretisch) kann jemand die Tat begehen, ohne am Tatort anwesend zu sein.722 Im einfachsten Fall kann man den Alibi-Beweis wie in Abbildung 28a) dargestellt modellieren:723 dass eine Person X der Täter ist, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass X am Tatort ist. Die Anwesenheit am Tatort wiederum verringert die Wahrscheinlichkeit, dass X ein Alibi hat, wobei A hier für die Aussage »X war zur Tatzeit an einem anderen Ort als am Tatort« eines Zeugen steht. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand angibt, dass X zum Tatzeitpunkt nicht am Tatort war, hängt aber nicht nur davon ab, ob X zum Tatzeitpunkt tatsächlich nicht am Tatort war, sondern auch davon, ob die Person, welche die Aussage macht, sich irrt oder gar lügt. Letzteres, die Überzeugung, dass jemand lügt, hängt wiederum davon ab, ob diese Person ein Interesse daran hat, X vor einer Strafverfolgung zu bewahren. Je stärker dieses Interesse, desto geringer die Beweiskraft der Alibi-Aussage. Ob ein unbeteiligter Dritter oder die Mutter des Angeschuldigten bestätigt, dass der Angeschuldigte zum Tatzeitpunkt nicht am Tatort war, spielt offensichtlich eine Rolle. Das Motiv zu Lügen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass eine Alibi-Aussage gemacht wird, selbst wenn X am Tatort war, und

Abbildung 28: Modellierung des Alibi Beweises. 722 Z. B. durch einen Tatmittler oder eine ferngesteuerte Vorrichtung. Eher unwahrscheinlich, aber deswegen ist das Indiz »Anwesenheit am Tatort« auch belastend. 723 Die Modellierung ist inspiriert durch Lagnado, in: Dawid/Twining/Vasilaki (Hrsg.), Evidence, inference and enquiry, 183–223, 192 ff. Die Unterschiede ergeben sich daraus, dass Lagnado einen kausalen Einfluss von der Anwesenheit am Tatort auf die Täterschaft sieht, während ich die Täterschaft als kausal für die Anwesenheit am Tatort betrachte. Hier liegt ein Fall vor, bei dem eine direkte Abhängigkeit zweifellos gegeben ist, man aber über die kausale Richtung mit guten Gründen unterschiedliche Auffassungen vertreten kann.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

verringert damit die Beweiskraft des Indizes, was grafisch in Abbildung 28b) dargestellt ist. Bei den Modellen gemäß Abbildung 28a) und b) ist H bedingt unabhängig von A gegeben I. D. h. wenn ich mit Sicherheit weiß, dass der Täter am Tatort war – z. B. durch eine klare, eindeutige Videoaufnahme – dann ändert sich an meiner Überzeugung nichts mehr, wenn ein Zeuge behauptet, X sei nicht am Tatort gewesen. Ich gehe dann einfach davon aus, dass sich der Zeuge irrt, formal Pr(hw |iw ) = Pr (hw |iw & aw ). Dies ist die Regel, dass in einem Bayes’ Netz über eine serielle Verbindung keine Information verbreitet wird, wenn der verbindende Knoten instanziiert ist. Diese Annahme ist jedoch nicht immer gerechtfertigt. Wenn es der Angeschuldigte X selbst ist, der behauptet, er sei zum Tatzeitpunkt nicht am Tatort gewesen, sind H und A nicht mehr bedingt unabhängig. Sein Motiv zu lügen hängt davon ab, ob er der Täter ist oder nicht, wobei die Annahme gerechtfertigt scheint, dass jemand eher geneigt ist, zu lügen, wenn er der Täter ist, als wenn er nicht der Täter ist. Notabene, auch dies ist eine probabilistische Annahme: Auch wenn er unschuldig ist, kann X ein Interesse daran haben, zu bestreiten, am Tatort gewesen zu sein, z. B. weil er eine Affäre zu verbergen hat oder eine andere Straftat begangen hat. Aber dennoch ist es plausibel, dass er eher lügen wird, wenn er der Täter ist, als wenn er nicht der Täter ist.724 Wenn ich nun erfahre, dass X behauptet, er sei nicht am Tatort gewesen, obwohl ich unumstößliche Beweise dafür habe, dass X am Tatort war, dann weiß ich, dass X lügt. Dies wiederum erhöht meine Überzeugung dafür, dass X der Täter ist. Grafisch ist dies in Abbildung 28c) dargestellt: H und A sind nicht mehr bedingt unabhängig gegeben I, weil eine weitere Verbindung zwischen H und A über L gegeben ist. Meine Überzeugung dafür, dass X der Täter ist, gegeben dass er am Tatort war und dass er lügt, ist höher als meine Überzeugung, dass X der Täter ist, gegeben dass er am Tatort war; formal Pr(hw |iw & aw ) > Pr(hw |iw ). Ein interessantes Resultat der Modellierung des Alibi-Beweises durch einen Zeugen ist, dass die bedingte Unabhängigkeit von H und A nur dann fehlt, wenn die Auskunftsperson weiß, ob H wahr ist.725 Kann die Person, welche das Alibi behauptet, nicht wissen, ob H wahr ist, kann aus dem Wissen, dass sie gelogen hat, auch kein Rückschluss darauf gezogen werden, dass H zutrifft. Behauptet beispielsweise die Mutter des Angeschuldigten, er sei zum Tatzeitpunkt zu Hause gewesen, und stellt sich heraus, dass der Angeschuldigte zu dem Zeitpunkt tatsächlich am Tatort war, so belastet ihn die falsche Aussage der Mutter nicht zusätzlich – anders, wie gesagt, wenn er selbst die falsche Aussage gemacht hat. Menschen erkennen dies intuitiv richtig. Wenig überraschend 724

Lagnado, in: Dawid/Twining/Vasilaki (Hrsg.), Evidence, inference and enquiry, 183–223,

193.

725

194.

Lagnado, in: Dawid/Twining/Vasilaki (Hrsg.), Evidence, inference and enquiry, 183–223,

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wird ein durch einen unabhängigen Zeugen bestätigtes Alibi als entlastender als ein Alibi betrachtet, dass auf der Aussage des Angeschuldigten oder seiner Mutter beruht.726 Interessant ist aber, was geschieht, wenn sich die Aussagen des Dritten, der Mutter oder des Angeschuldigten im Nachhinein als falsch herausstellen, weil eine Videoaufnahme den Angeschuldigten am Tatort zeigt: Die Überzeugung, dass er schuldig ist, steigt nur in dem Fall, dass er selbst die falsche Aussage gemacht hat, über das Niveau, das bei Vorliegen nur der Videoaufnahme, ohne Alibi, erreicht wird.727 Menschen scheinen also die bedingten (Un-)Abhängigkeiten in diesem Fall richtig zu erkennen. i) Ein einfaches Beispiel mit realistischen Wahrscheinlichkeiten: HIV-Infektion nach kontaminierter Blutspende Mit Urteil vom 30. April 1991 entschied der BGH den ersten in einer Reihe von Fällen zur Haftung von Gesundheitsdienstleistern bei der Ansteckung von Blutempfängern durch das HIV-Virus.728 Die materiellrechtlichen Fragen der Haftungsgrundlage sollen hier nicht thematisiert werden. Klar ist, dass der Kläger beweisen muss, dass er sich die HIV-Infektion durch die vom Dienstleister verabreichte kontaminierte Blutspende, und nicht auf anderem Weg, zugezogen hat. Als hauptsächliche Übertragungswege für HIV kommen ungeschützter Geschlechtsverkehr mit einer infizierten Person, Spritzentausch unter Drogenabhängigen, und Verabreichung einer verseuchten Blutkonserve in Frage.729 Weitere Ursachen – z. B. Kontakt mit offenen Wunden einer infizierten Person – sind nicht ausgeschlossen, aber sehr selten. Das Risiko, sich durch ungeschützten Geschlechtsverkehr mit HIV anzustecken, war in den 1980-er Jahren vor allem für Homosexuelle hoch, da sich die Krankheit unter ihnen am schnellsten verbreitete, während sie in der Gesamtbevölkerung noch sehr selten vorkam.730 Der BGH hatte im konkreten Fall den Anscheinsbeweis dafür, dass eine kontaminierte Blutspende die Ursache für die HIV-Infektion des Klägers (genau genommen seiner Ehefrau, die ihn dann angesteckt hatte) war, auf der Basis, dass die Blutspende nachweislich verseucht war und der Kläger keiner Risikogruppe angehörte, für erbracht erachtet.731 Im Folgenden soll anhand eines einfachen Bayes’ Netz und öffentlich zugänglicher Daten untersucht werden, ob der Schluss des Bundesgerichtshofs gerechtfertigt war. 726

Lagnado, in: Dawid/Twining/Vasilaki (Hrsg.), Evidence, inference and enquiry, 183–223,

212.

727

Lagnado, in: Dawid/Twining/Vasilaki (Hrsg.), Evidence, inference and enquiry, 183–223,

213.

728

BGH NJW 1991, 1948. Heute ist in Deutschland und der Schweiz die Gefahr, durch eine Blutkonserve angesteckt zu werden, verschwindend gering, www.gib-aids-keine-chance.de/themen/uebertragung/index. php (besucht am 25. Mai 2011). 730 McKenna, Beating back the devil, 109. 731 BGH NJW 1991, 1948, 1949. 729

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Dass der Kläger HIV-positiv ist, steht fest. Unbekannt ist die Ursache. Wenn man überhaupt nichts über die Person des Klägers weiß, ist es vernünftig, von der a-priori-Wahrscheinlichkeit der verschiedenen Ursachen für alle HIVInfektionen in der Gesamtbevölkerung auszugehen. Mitte der 1980-er Jahre war homosexueller Geschlechtsverkehr für rund 65% der Infektionen verantwortlich, intravenöser Drogenkonsum (Spritzentausch) für rund 32%, die Verabreichung einer kontaminierten Blutspende für ca. 1,6% und »andere Ursachen« für ca. 1,4%.732 Wenn die einzige Information, die man über eine Person hat, ist, dass sie HIV-positiv ist, ist es daher am wahrscheinlichsten, dass sie sich durch ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem infizierten Mann angesteckt hat.733 Die Anfangswahrscheinlichkeit spricht also nicht für den klägerischen Sachvortrag, dass er durch eine kontaminierte Blutspende angesteckt wurde. Das in Abbildung 29 dargestellte Bayes’ Netz zeigt die vermuteten bedingten Unabhängigkeiten zwischen Ursache für die Infektion und den Indizien »Verabreichung einer kontaminierten Blutspende«, »Homosexualität des Klägers« und »(harte) Drogenabhängigkeit des Klägers«. Auf den ersten Blick scheint es absurd zu sagen, dass HIV die Drogenabhängigkeit des Klägers verursache. Aber die kausalen Einflüsse sind immer von der Hypothese auf die Indizien gerichtet. Die Hypothese, dass Spritzentausch die Ursache für die HIV-Infektion ist, bewirkt, dass es wahrscheinlicher ist, dass man beobachtet, dass der Kläger drogenab-

Abbildung 29: Bayes’ Netz für den HIV-Fall mit bedingten Wahrscheinlichkeitstabellen. 732 Zahlen gemäß Chin/Sato/Mann, Bulletin of the World Health Organisation 1990, 1–11, 3. Es handelt sich um grobe Schätzungen, weil sich insbesondere die Kategorien »homosexueller Geschlechtsverkehr« und »Spritzentausch« nicht klar trennen lassen, weil eine infizierte Person in beide Risikogruppen fallen kann. 733 Wer sich als HIV-positiv outete, musste daher damit rechnen, als schwul betrachtet zu werden, wie dies dem amerikanischen Basketballspieler Earvin »Magic« Johnson geschah, der 1991 bekannt gab, dass er HIV-positiv ist, Bird/Johnson/MacMullan, When the game was ours, 237 ff.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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hängig ist, wenn man weiß, dass er HIV-positiv ist. Die Drogenabhängigkeit selbst ist genau genommen eine verdeckte Variable, die wiederum bewirkt, dass Beweismittel vorliegen, welche die Drogenabhängigkeit des Klägers bestätigen (Zeugenaussagen, Krankengeschichte, Vorstrafen). Der Einfachheit halber wurde hier in einem ersten Schritt angenommen, dass immer dann, wenn Homosexualität, Drogenabhängigkeit oder eine kontaminierte Spende vorliegt, dies auch nachgewiesen werden kann. Die erheblichen Komplikationen, die entstehen, wenn man diese vereinfachende Annahme aufgibt, werden am Ende beleuchtet. Die Wahrscheinlichkeit, durch die Verabreichung einer (einzigen) kontaminierten Blutspende mit HIV infiziert zu werden, beträgt rund 90%.734 Sie steigt natürlich stark an, wenn mehrere kontaminierte Blutproben verabreicht wurden – und dies ist wichtig für das Modell – aber gemäß Sachverhalt wurde nur eine kontaminierte Blutprobe verabreicht.735 Daraus ergeben sich die bedingten Wahrscheinlichkeiten für den Knoten »kontaminierte Blutspende«: Es kann mit einer Wahrscheinlichkeit von jeweils 10% sein, dass der Kläger zwar den Nachweis erbringt, dass die Blutspende verseucht war, aber seine HIV-Infektion dennoch auf eine andere Ursache zurückzuführen ist. Andererseits sei angenommen, dass der Kläger immer nachweisen kann, dass er eine kontaminierte Blutspende erhalten hat, wenn diese tatsächlich die Ursache für die Infektion ist (d. h. es wird ausgeschlossen, dass die Blutspende zwar die Ursache ist, dem Kläger aber der Nachweis für die Kontamination der Spende nicht gelingt). Für die bedingten Wahrscheinlichkeiten des Knotens »Homosexualität« sei angenommen, dass der Nachweis gelingt, dass der Kläger homosexuell ist, wenn er sich durch gleichgeschlechtlichen Sex mit HIV infiziert hat. Andererseits kann es natürlich sein, dass der Kläger homosexuell ist, sich aber auf einem anderen Weg angesteckt hat – nichts verhindert, dass sich ein homosexueller Mann über eine Blutspende mit HIV infiziert. Für das Modell muss man daher den Anteil homosexueller Männer unter Blutspendeempfängern und Drogenabhängigen kennen. Da diese Zahlen (meines Wissens) nicht bekannt sind, ist es vernünftig, von den Zahlen für die Gesamtbevölkerung auszugehen, da es a priori nicht einleuchtend ist, wieso Schwule mehr oder weniger Blutspenden als die Durchschnittsbevölkerung erhalten sollten, respektive mehr oder weniger oft drogenabhängig sein sollten. Der Anteil Homosexueller an der Gesamtbevölkerung ist (auch aus gesellschaftspolitischen Gründen) äußerst umstritten; seriöse Studien kommen auf einen Anteil von Männern, die Geschlechtsverkehr mit Männern haben, an der männlichen Bevölkerung von rund 3%.736

734

Donegan et al., Annals of Internal Medicine 1990, 733–739. BGH NJW 1991, 1948. 736 Gates, How many people are lesbian, gay, bisexual, and transgender? http://wiwp.law.ucla. edu/wp-content/uploads/Gates-How-Many-People-LGBT-Apr-2011.pdf; Zahlen für die USA 2011. Der Anteil hängt unter anderem stark von der Fragestellung ab. Der Anteil Menschen, 735

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Für den letzten Knoten wird angenommen, dass der Nachweis immer gelingt, dass der Kläger drogenabhängig ist, wenn eine versuchte Spritze die HIVInfektion verursacht hat. Auch hier ist natürlich denkbar, dass sich jemand, der harte Drogen intravenös konsumiert, dennoch durch eine Blutspende mit HIV infiziert hat, weshalb der Anteil der Drogenkonsumenten an den Blutspendeempfängern geschätzt werden muss. Auch hier weiche ich auf die Zahlen für die Gesamtbevölkerung aus, die für Deutschland von einer Prävalenz von 1,6–3,4 Personen, die Opioide risikobehaftet (d. h. intravenös) konsumieren, auf 1’000 Personen ausgeht.737 Die bedingten Wahrscheinlichkeitstabellen für den HIV-Fall ergeben sich unter diesen Annahmen aus Abbildung 29. Nachdem das Netz kompiliert wurde, kann es abgefragt werden. Wenn feststeht, dass der Kläger eine kontaminierte Blutprobe erhalten hat, steigt die Überzeugung, dass diese die Ursache für die HIV-Infektion ist, auf 14%. Das ist überraschend wenig – man ist geneigt, anzunehmen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Infektion auf die Bluttransfusion zurückzuführen ist, höher sein müsste, wenn bekannt ist, dass die Blutspende kontaminiert war. So bemerkt Deutsch in seiner Besprechung des Urteils, dass er die Tatsache, dass der Kläger nicht zu den gefährdeten Personengruppen gehört, nicht zur Anscheinsbasis, sondern zum Gegenbeweis zählen würde, was darauf schließen lässt, dass er den Anscheinsbeweis bereits durch den Nachweis des Erhalts einer kontaminierten Blutprobe für gelungen erachtet.738 Die geringe Anfangswahrscheinlichkeit für den Übertragungsweg »Bluttransfusion« führt jedoch dazu, dass selbst wenn bekannt ist, dass die Blutspende verseucht war, die Überzeugung dafür, dass sie im konkreten Fall die Ursache für die Infektion ist, nicht sehr hoch ist. Da man im konkreten Fall jedoch weiß, dass »der Kläger und seine Ehefrau weder zu den HIV-gefährdeten Risikogruppen gehörten noch durch die Art ihrer Lebensführung einer gesteigerten Infektionsgefahr ausgesetzt waren«739 , können die Variablen »Homosexualität« und »Drogenabhängigkeit« mit »falsch« instanziiert werden, womit eine Überzeugung von 92% resultiert, dass die Blutspende in der Tat die Ursache für die HIV-Infektion des Klägers ist. Diese Überzeugung beruht aber, wie anfangs angedeutet, auf der vereinfachenden Annahme, dass immer dann, wenn der Kläger schwul oder drogenabhängig ist, dies auch nachgewiesen werden kann. Diese Annahme ist kaum zu rechtfertigen. Während es plausibel ist, dass es keine Beweise für die Drogenabhängigkeit oder Homosexualität des Klägers gibt, wenn er nicht drogenabhängig oder die ihre Homosexualität gelebt haben, mag in den 1980-Jahren wegen des konservativeren gesellschaftlichen Klimas geringer gewesen sein. 737 Pfeiffer-Gerschel et al., Bericht 2010 des nationalen REITOX-Knotenpunktes an die EBDD, 84, Zahlen für 2009. Ob diese Zahlen Mitte der 1980-er Jahre ähnlich waren, bleibe dahingestellt. 738 Deutsch, NJW 1991, 1937–1938, 1937. 739 BGH NJW 1991, 1948, 1949. Genau genommen kann man dies nicht mit Sicherheit wissen – man kann nur wissen, dass es keine Anzeichen dafür gibt.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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homosexuell ist – es widerspricht jeder Erfahrung, dass ihn jemand im Rahmen eines Haftungsprozesses gegen ein Spital fälschlicherweise der Homosexualität oder Drogenabhängigkeit bezichtigen würde – ist es durchaus nicht sicher, dass entsprechende Beweismittel vorhanden wären, wenn der Kläger einer entsprechenden Risikogruppe angehört. Gerade bei verheirateten Männern wie dem Kläger spielt sich gleichgeschlechtlicher Sex vermutlich im Geheimen ab. Das Spital hat kaum Möglichkeiten, dem Kläger nachzuweisen, dass er ungeschützten Geschlechtsverkehrt mit Männern hatte. Es wird praktisch nur dann ans Licht kommen, wenn der Kläger es von sich aus zugibt, was er in einem Zivilprozess gegen das Spital kaum tun wird, da es seine Chancen auf den Prozessgewinn erheblich verringert. Bei der Drogenabhängigkeit, zumindest einer so schweren, dass es zum Spritzentausch kommt, ist es wahrscheinlicher, dass es öffentlich wahrnehmbare Indizien für die Zugehörigkeit zur Risikogruppe gibt (längere Arbeitslosigkeit, Vorstrafen, Krankengeschichte). Dennoch ist es auch hier nicht sicher, dass die Drogenabhängigkeit des Klägers im Zivilprozess nachzuweisen wäre. In einem zweiten Schritt habe ich diese Unsicherheiten über die Zugehörigkeit des Klägers zu einer Risikogruppe daher ebenfalls berücksichtigt, wobei ich von den bedingten Wahrscheinlichkeiten, dass Beweismittel vorhanden sind, wenn Homosexualität, Drogenabhängigkeit respektive kontaminierte Blutspende wahr sind, von 90%, 95% und 100% ausgegangen bin. Instanziiert man die entsprechenden Variablen »Beweismittel« (vgl. Abbildung 29) mit »falsch«, so resultiert eine Überzeugung, dass die kontaminierte Blutspende die Ursache für die HIV-Infektion ist, von nur noch 62% (und 26% für ungeschützten Geschlechtsverkehr). Geht man von entsprechenden bedingten Wahrscheinlichkeiten von 80%, 90% und 100% aus, so resultiert eine Überzeugung, dass die kontaminierte Blutspende die Ursache für die HIV-Infektion ist, von noch 47%, während ungeschützter Geschlechtsverkehr zu 39% die Ursache ist. Der Grund dafür ist, dass die Anfangswahrscheinlichkeit der Hypothese, dass ungeschützter Geschlechtsverkehr mit einer infizierten Person die Ursache für die Infektion ist, am höchsten ist, und die Überzeugung, dass sich die Zugehörigkeit zur Risikogruppe »hat Sex mit Männern« im Prozess beweisen lässt, gleichzeitig am geringsten ist. Das Beispiel zeigt sehr anschaulich, dass man eine Tatsachenbehauptung (»gehört zu keiner Risikogruppe«) und die Beweise für die Tatsachenbehauptung nicht gleichsetzen darf. j) Ein komplexeres Beispiel zum Abschluss: Bayes’ Netz des »Hans H. Falles« Abschließend soll ein komplexerer Fall, der »Hans H. Fall«, durch ein Bayes’ Netz modelliert werden. Der Sachverhalt verleitet eher zu einer straf- als zivilrechtlichen Interpretation, obwohl letztere natürlich nicht ausgeschlossen ist. Der Grund, genau diesen Fall zu modellieren, liegt darin, dass er (respektive

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

seine amerikanische Vorlage) als Stimulus-Material für zahlreiche psychologische Studien zur Beweiswürdigung gedient hat.740 Er erlaubt es daher, das Resultat eines rationalen Zugangs zur Beweiswürdigung mit demjenigen eines intuitiven Zugangs zu vergleichen. Der Hans H. Fall enthält zudem redundante Beweismittel und Beweismittel, die fehlen, obwohl ihr Vorhandensein erwartet würde. Deshalb ist er geeignet, die Modellierung redundanter und fehlender erwarteter Beweismittel darzustellen. Der Sachverhalt für den Hans H. Fall lautet zusammengefasst wie folgt: Hans H. ist ein 34 Jahre alter verheirateter Vater von zwei Kindern, der für eine große Baufirma im Innendienst als Bauleiter arbeitet, nachdem er wegen eines Rückenleidens nicht mehr auf dem Bau arbeiten kann. Im Buchhaltungsbüro der Firma befindet sich ein Safe, in dem sich neben Bargeld auch geheime Dokumente befinden. Insgesamt haben 8 Personen Zugang zum Safe, darunter Hans H. Eines Morgens stellt die Buchhalterin fest, dass Bargeld im Wert von EUR 5’200 fehlt. Der Safe ist mit einem Zeitmechanismus ausgestattet, der zeigt, dass der Safe zuletzt am vorangegangenen Abend um 19:14 Uhr geöffnet wurde. Die Baufirma beauftragt einen Ermittler, der folgende Informationen zusammenträgt: Eine Videokamera, die am Eingang des Bürogebäudes installiert ist, zeigt ein Auto, das an dem betreffenden Abend um 19:17 Uhr zügig aus einer Parklücke vor dem Gebäude fuhr. Allerdings war das Bild unscharf und der Ermittler konnte das Nummernschild nicht erkennen. Das Video zeigt ein weißes Auto der Marke »XY«. Hans H. fährt ein weißes Auto der Marke »XY« und es wurde gesehen, dass er mit diesem Auto an dem betreffenden Tag zur Arbeit gefahren ist. Nach Aussage des Ermittlers sind 0,1% der Autos in der betreffenden Gegend weiße Autos der Marke »XY«. Der Ermittler fand heraus, dass Hans einen Tag nachdem das Geld verschwand einen Kredit von EUR 4’870 an seine Bank zurückgezahlt hatte. Die Schulden waren in den letzten drei Monaten entstanden und die Bank hatte bereits gedroht, rechtliche Schritte einzuleiten. Hans sagt aus, dass er den Kredit aufgenommen habe, um seiner Schwägerin zu helfen, die einen Blumenladen betreibe. Die Schwägerin habe ihm das Geld in bar zurückgegeben und er habe damit den Bankkredit zurückgezahlt. Hans erklärt, dass er den Geldtransfer nicht mit Belegen nachweisen könne, da im Blumen-Handel auch größere finanzielle Transaktionen gelegentlich mit Bargeld abgewickelt würden. Silvia, eine Managerin der Baufirma, sagt aus, dass sie Hans um 20 Uhr am betreffenden Abend gesehen habe, als sie beide ihre Kinder von einer Schul-Veranstaltung abholten. Dabei habe Hans einen Anzug getragen, den er nicht auf Arbeit getragen habe. Silvia sagt aus, dass man um die betreffende Uhrzeit 40–45 Minuten benötige, um vom Büro zur Schule zu gelangen, die am anderen Ende der Stadt liege. Ein Techniker, der zur Reparatur eines Kopierers gerufen worden war, sagt aus, dass er um etwa 19:15 Uhr eine Person gesehen habe, die aus dem Buchhaltungsbüro geeilt sei. Bei einer Befragung durch den Ermittler am Tag nach dem Vorfall identifizierte der Techniker Hans als diese Person. Auf die Frage, wie sicher er sich dabei sei, antwortete der Techniker, 740 Glöckner/Engel, Journal of Empirical Legal Studies 2013, 230–252; Engel/Glöckner, Journal of Behavioral Decision Making 2013, 272–284; das amerikanische Vorbild ist als »Jason Wells« Fall bekannt und geht zurück auf Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837.

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dass er »zu mindestens 95%« sicher sei. Er erklärt, dass er Hans schon ein- oder zweimal im Büro gesehen habe. Hans sagt aus, dass er in den letzten 16 Jahren nicht straffällig geworden sei. Im Alter von 18 Jahren wurde er verhaftet, als er versuchte in eine Wohnung einzubrechen. Er wurde dafür verurteilt und ist seitdem nie wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Einige Monate vor dem Vorfall wurde Hans von seinem Chef vorgeworfen, nicht erstattungsfähige Spesen abgerechnet zu haben. Gemäß Hans werden solche Spesen durch viele Bauleiter üblicherweise abgerechnet. Der Chef verweigert dennoch die Erstattung der Spesenkosten und machte klar, dass eine versprochene Beförderung von Hans aufgrund des Vorfalls nicht erfolgen werde. Hans fühlte sich tief gekränkt und ungerecht behandelt. Er sagt, die Kränkung habe ihn motiviert, besonders hart zu arbeiten, um zu beweisen, dass er die Beförderung verdiente. In den folgenden Wochen wurde er häufig verspätet im Büro gesehen.

Eine mögliche Struktur des Netzes für den Hans H. Fall findet sich in Abbildung 30. Alle Variablen können die Zustände {wahr, falsch} annehmen. Das Netz hat zwei Wurzel-Knoten (Variablen ohne Eltern), »H. nicht befördert« und »H. erhält Geld von seiner Schwägerin zurück.« »Hans nimmt Geld« ist hingegen in dieser Modellierung des Falles kein Wurzel-Knoten. Es wird angenommen, dass die unterlassene Beförderung entweder zur Frustration von Hans oder zu seiner besonderen Motivierung führt. Beides beeinflusst, allerdings in entgegengesetzter Richtung, die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Variablen »Hans erscheint zu spät zur Arbeit« und »Hans nimmt Geld« im Zustand »wahr« befinden.

Abbildung 30: Struktur des Netzes für den Hans H. Fall.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Zu Bemerkungen Anlass gibt die Modellierung der Beweismittel »Video des weißen Autos« und »Aussage Zeuge Techniker«. Der Techniker bestätigt, dass Hans H. um 19.15 Uhr aus dem Buchhaltungsbüro geeilt ist; die Videoaufnahme belegt, dass ein weißes Auto derselben Art, wie Hans H. eines besitzt, um 19.17 Uhr vor dem Bürogebäude wegfuhr. Beide Beweismittel stützen daher im Wesentlichen dieselbe Aussage, nämlich dass Hans H. kurz nach dem Diebstahl aus dem Büro, respektive Gebäude, geeilt ist. Die beiden Beweismittel sind daher redundant im Sinne von Lempert.741 Genau betrachtet liegt eine kumulative Redundanz im Sinne von Schum/Martin vor, weil zwar zwei verschiedene Tatsachen belegt werden (aus dem Buchhaltungsbüro eilen und vor dem Gebäude wegfahren), diese jedoch hoch korrelieren. Auffällig ist, dass Hans keine Zeugen produziert, die belegen könnten, dass er das Geld von seiner Schwägerin erhalten hat. Es wäre naheliegend, zumindest die Schwägerin selbst als Zeugin für die Rückzahlung anzurufen; die Schwägerin als Zeugin ist ein erwartetes Beweismittel, wenn die Rückzahlung tatsächlich erfolgte. Im Netz für den Hans H. Fall wird das erwartete Beweismittel – die Nennung der Schwägerin als Zeugin für Rückzahlung des Geldes an Hans – wie die vorhandenen Beweismittel durch eine Informationsvariable dargestellt. Die restlichen vermuteten direkten Einflüsse können Abbildung 30 entnommen werden. Aus Abbildung 31 können die bedingten Wahrscheinlichkeiten entnommen werden, die ich für plausibel halte. Da es sich um subjektive Schätzungen handelt, lohnt es nicht, allzu viele Worte über die einzelnen Werte zu verlieren. Es wurde angenommen, dass eine a-piori Wahrscheinlichkeit, dass Hans H. den Diebstahl begangen hat, von 1 zu 7, oder 12,5%, besteht, weil Hans H. einer von acht Leuten ist, die Zugang zum Safe haben. Weiter wurde angenommen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Hans einen Diebstahl begeht, um 50% auf 18,75% steigt, wenn er durch den Vorfall mit seinem Chef frustriert ist und auf Rache sinnt, und umgekehrt um 50% auf 6,25% sinkt, wenn er besonders motiviert ist und seinen Wert für die Firma beweisen will. Letzteres ist allerdings in Anbetracht dessen, dass er regelmäßig zu spät zur Arbeit erschienen ist, unwahrscheinlich. Das Netz erfasst diese Intuition korrekt, indem es die Wahrscheinlichkeit für die Entnahme des Geldes durch Hans von 12,5% auf 15,2% erhöht, wenn die Variable »H. erscheint zu spät zur Arbeit« mit »wahr« instanziiert wird. Unter der Annahme dieser bedingten Wahrscheinlichkeiten resultiert nach Instanziierung der Variablen, deren Zustände gemäß Sachverhaltsschilderung bekannt sind, eine subjektive Wahrscheinlichkeit von 64%, dass das Geld von Hans aus dem Tresor entwendet wurde. Berücksichtigt man, dass Hans es unterlässt, die Schwägerin als Zeugin zu nennen, so steigt die Überzeugung für seine 741 Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021–1057, 1043 ff.; Schum/Martin, Law & Society Review 1982, 105–151, 112 f.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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Abbildung 31: Bedingte Wahrscheinlichkeitstabellen für das Hans H. Netz.

Täterschaft auf 74%. Dies deshalb, weil die Annahme gerechtfertigt erscheint, dass Hans die Schwägerin deshalb nicht als Zeugin nennt, weil er weiß, dass sie die Darlehensrückzahlung nicht bestätigen wird. Anders gesagt, die nicht erfolgte Darlehensrückzahlung macht die unterlassene Nennung der Schwägerin als Zeugin wahrscheinlicher, und die unterlassene Nennung der Zeugin ist ein Indiz dafür, dass die Darlehensrückzahlung nicht erfolgt ist. Diese Überlegung lässt sich generalisieren. Wenn eine Partei es unterlässt, in ihrem Einflussbereich liegende Beweismittel zu nennen, die eine von ihr aufgestellte Behauptung stützen können, ist der Schluss naheliegend, dass die Partei weiß, dass das Beweismittel gegen sie spricht. Im amerikanischen Zivilprozessrecht liegt es unter diesen Umständen im Ermessen des Richters, die Geschworenen zu instruieren, dass das fehlende Beweismittel gegen die Partei spricht, die seine Nennung unterlassen hat.742 Anders wäre der Fall zu beurteilen, wenn es andere Gründe gibt, warum die Partei das Beweismittel nicht nennt, z. B. weil die Zeugin aus außerhalb von Hans’ Einflussbereich liegenden Umständen nicht gerufen werden kann (z. B. weil sie verstorben, schwer krank oder auslandsabwesend ist). In diesem Fall wäre es nicht gerechtfertigt, aus der unterlassenen Anrufung der Zeugin einen mutmaßlichen Schluss auf den Inhalt ihrer Aussage zu ziehen. So auch das US-amerikanische Recht: »the two criteria that must be 742 Harris vs. United States, 602 A.2d 154, 160 (D.C. 1992); McPherson-Corder vs. Chinkhota, 835 A.2d 1081 (D.C. 2003).

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present before the jury may be invited to infer that the testimony of an absent witness would have been adverse to a party are (1) that the witness is peculiarly within the power of the party to produce, and (2) that the witness’ testimony is likely to elucidate the transaction in issue.«743 Die Partei ist in der Lage, den Zeugen zu rufen, wenn »[it] had the physical ability to locate and produce the witness and there was such a relationship, in legal status or on the facts as claimed by the party as to make it natural to expect the party to have called the witness.«744 Im Falle der Schwägerin wusste Hans, wo sich die Zeugin befindet, und er ist auch in einer rechtlichen Beziehung zur Zeugin, die es erwarten lassen würde, dass er die Zeugin ruft. Ob es im Hans H. Fall andere einleuchtende Gründe für die unterlassene Nennung der Schwägerin als Zeugin gibt, bleibt offen. Das Zeugnisverweigerungsrecht der Schwägerin (§ 383 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO-DE; Art. 158 Ziff. 1 ZPO-CH) ist hingegen kein überzeugender Grund, die Schwägerin nicht als Zeugin zu rufen. Die Verwandtschaft kann hingegen bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugin eine Rolle spielen. Stark belastend für Hans ist die (aufgrund der Beweismittel »Zeuge Techniker« und »Videoaufnahme« höchstwahrscheinlich wahre) Aussage, dass Hans kurz nach der Entnahme des Geldes aus dem Buchhaltungsbüro, respektive Gebäude, geeilt ist. Dieses Indiz ist deshalb so belastend, weil Hans es unterlässt, eine alternative Erklärung für seinen überhasteten Abgang anzubieten. Im Folgenden wird gezeigt, welchen Einfluss eine alternative Erklärung auf die Überzeugung hat, dass Hans das Geld aus dem Tresor genommen hat. Es wird also gezeigt, was eine Bestreitung überzeugend macht. k) Substanziiertes Bestreiten – wann ist eine Bestreitung überzeugend? Sowohl die beweisbelastete Partei wie auch der Beweisgegner – im Folgenden der Einfachheit halber als Kläger und Beklagte bezeichnet, obwohl die Beweislast natürlich nicht durch die prozessualen Rollen bestimmt wird – müssen nach ständiger Rechtsprechung ihre Behauptungen substanziiert vortragen. Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern die Substanziierungslast dem Gericht die Wahrheitsfindung erleichtert. Vorab werden kurz die herrschende Lehre und die wichtigsten Leitentscheide zur Substanziierungslast insbesondere der nicht beweisbelasteten Partei dargestellt. Die Anforderungen, die an die Substanziierung im Einzelnen gestellt werden, sind jedoch nicht das primäre Thema, in erster Linie geht es darum zu zeigen, worin sich eine überzeugende von einer nicht überzeugenden Bestreitung unterscheidet.

743 744

Dent v. United States, 404 A.2d 165, 169 f. (D.C. 1979). Thomas v. United States, 447 A.2d 52, 57 (D.C. 1982).

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aa) Substanziierungslast, insbesondere des Beweisgegners Die beweisbelastete Partei ist gehalten, alle Tatsachenbehauptungen aufzustellen, die, wenn sie wahr wären, ihr einen Anspruch gewähren würden.745 Diese Last, als Darlegungs-746 oder (abstrakte) Behauptungslast bezeichnet, folgt aus dem zivilprozessualen Beibringungsgrundsatz.747 Erfüllt der Kläger diese Last nicht, ist die Klage nicht schlüssig und bereits deshalb abzuweisen.748 Darüber hinaus trifft den Kläger aber auch die Last, seine Behauptungen substanziiert vorzutragen, was gemeinhin als Substanziierungslast bezeichnet wird (Prütting bevorzugt »konkrete Behauptungslast«749 ). »Substanziieren« bezeichnet im juristischen Sprachgebrauch die Zergliederung einer allgemeinen Behauptung in mehrere Teilbehauptungen.750 Die Anforderungen an den Detaillierungsgrad des klägerischen Sachvortrags dürfen dabei nach der Rechtsprechung nicht überspannt werden.751 Erst wenn der klägerische Vortrag durch erhebliche Einwendungen des Beklagten unklar wird, ist der Kläger gehalten, seine Darstellung nachzubessern und zu konkretisieren;752 ansonsten muss er nur die Tatsachen vortragen, die für die Rechtsfolgen relevant sind.753 Praktiker weisen demgegenüber darauf hin, dass die Substanziierungslast auch eine Plausibilitätskontrolle des klägerischen Vortrags schon vor der Beweisaufnahme erlaube, und daher dazu beitrage, unnötige Beweisverfahren zu vermeiden.754 Die Plausibilität einer Darstellung kann umso besser beurteilt werden, je konkreter die Darstellung ist, weshalb diese Auffassung tendenziell zu höheren Anforderungen an die Substanziierung

745 BGH NJW 1991, 2707, 2709; BGH NJW-RR 1998, 1409; BGH NJW-RR 2003, 69, 70; für die Schweiz BGer, Urteil 4A_210/2009 vom 7. April 2010, E. 3.2, unter Hinweis auf Brönnimann, Behauptungs- und Substanzierungslast, 57. 746 Seutemann, MDR 1997, 615–620, 616, zieht den Ausdruck »Anfangsdarlegungslast« vor. 747 Saenger-ZPO-Saenger, § 286 N 84; Fellmann, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Haftpflichtprozess 2011, 13–36, 14. 748 Saenger-ZPO-Saenger, § 286 N 85; a. M. Schilken, Zivilprozessrecht, Rz. 208, gemäß dem genügt, dass sich der vorgetragene Sachverhalt von anderen unterscheiden lässt, selbst wenn er nicht schlüssig ist (Individualisierungstheorie). 749 Prütting, Beweislast, 44; MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 136. 750 Brönnimann, Behauptungs- und Substanzierungslast, 23 f.; der Sprachgebrauch ist aber nicht immer eindeutig, siehe Brönnimann, a. a. O. 751 BGH NJW 1984, 2888, 2889; BGH NJW 1991, 2707, 2709; BGH NJW 1992, 1967, 1968; BGH NJW-RR 1993, 189, 190; für die Schweiz BGE 136 III 322 E. 3.4.2; Brönnimann, Behauptungs- und Substanzierungslast, 148. Kantonale Gerichte haben teilweise weitreichende Anforderungen an die Substanziierung gestellt, siehe die Kasuistik zur Zürcher Praxis bei Burkhalter Kaimakliotis, AJP 2007, 1263–1268, 1265 f. 752 BGH NJW 1991, 2707, 2709; Seutemann, MDR 1997, 615–620, 618; für die Schweiz BGE 127 III 365 E. 2b; BGer, Urteil 4A_152/2009 vom 29. Juni 2009, E. 2.1; Brönnimann, Behauptungs- und Substanzierungslast, 149. 753 BGH NJW 1995, 323, 324; BGH NJW 2001, 1500, 1502; für die Schweiz BGer, Urteil 4A.144/2009 vom 6. Oktober 2009, E. 3.2. 754 Stürner, Aufklärungspflicht, 112 ff., 123 ff.; Meyke, NJW 2000, 2230–2235, 2231.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

führt. Die Rechtsprechung anerkennt die »Plausibilitätskontrollfunktion« der Substanziierung bislang allerdings nicht.755 Eine Substanziierungslast trifft aber auch den Beweisgegner. Bekanntlich bedürfen unbestrittene Tatsachenbehauptungen keines Beweises (§ 138 Abs. 3 ZPO-DE; Art. 150 Abs. 1 ZPO-CH, beachte aber Art. 153 Abs. 2 ZPO-CH). Pauschales Bestreiten genügt jedoch nicht, um die Rechtsfolge der fehlenden Bestreitung abzuwenden.756 Der Beweisgegner muss sich vielmehr dazu äußern, welche der einzelnen Tatsachenbehauptungen der beweisbelasteten Partei er bestreitet.757 Nach einer Lehrmeinung in Deutschland bedeutet substanziiert bestreiten eine Gegendarstellung geben, was den Beweisgegner auch zu aktiver Informationssuche verpflichtet.758 Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geht nicht so weit, verlangt aber immerhin, dass der Beweisgegner mit »positiven Angaben« bestreitet, wenn er dazu in der Lage ist (d. h. sich der Sachverhalt in seiner Wahrnehmungssphäre abgespielt hat, vgl. § 138 Abs. 4 ZPO-DE).759 Diese Rechtsprechung steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu einer Bemerkung des II. Zivilsenats, gemäß der der Bestreitende von Rechtes wegen nicht gehalten sei, Gründe für seine Bestreitungen anzugeben.760 Die Instanzgerichte in Deutschland verlangten vom Beklagten, der am maßgebenden Geschehen handelnd oder wahrnehmend beteiligt war, ein substanziiertes Bestreiten.761 Nach schweizerischer Auffassung hingegen genügt es, wenn ersichtlich ist, welche Tatsachenbehauptungen bestritten sind. Die Last der konkreten Bestreitung dient nur dazu, der beweisbelasteten Partei (und dem Gericht) die Identifizierung jener Behauptungen zu erlauben, die eines Beweises bedürfen.762 Der Beweisgeg755 BGH NJW 1984, 2888, 2889; krit. dazu Stürner, JZ 1985, 185–186; NJW-RR 1993, 189; BGH NJW 2001, 1500, 1502. 756 Statt aller Eschelbach/Geipel, ZAP Fach 13 2010, 1681–1688, 1681; für die Schweiz BGE 117 II 113 E. 2; BGer, Urteil 5P.403/2001 vom 19. April 2002, E. 3.3.2; Urteil 4C.172/2001 vom 8. August 2001, E. 4a; ZK-ZPO-Leuenberger, Art. 222 N 20; Fellmann, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Haftpflichtprozess 2011, 13–36, 30. 757 Wieczorek/Schütze-ZPO-Borck, § 138 N 24; Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 138 N 35; MüKo-ZPO-Wagner, § 138 N 19; für die Schweiz BGE 115 II 1 E. 4; BGer, Urteil 5A_710/2009 vom 22. Februar 2010, E. 2.3.1; KuKo-ZPO-Schmid, Art. 150 N 5. 758 Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 187; MüKo-ZPO-Wagner, § 138 N 20. De lege ferenda für eine umfassende prozessuale Auskunftspflicht Gottwald, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 61. Deutschen Juristentages, 1–109, 15 ff.; Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 188 f.; Beckhaus, Bewältigung von Informationsdefiziten, 357 ff. 759 BGH NJW-RR 1986, 60; BGH NJW 2010, 1357, 1358; dazu umfassend Eschelbach/Geipel, ZAP Fach 13 2010, 1681–1688, 1686 f. 760 BGH NJW 1999, 579, 580. 761 Balzer, Beweisaufnahme und Beweiswürdigung im Zivilprozess, Rz. 9. 762 BGer, Urteil 4C.188/1999 vom 4. April 2000, E. 2b; Urteil 5A_710/2009 vom 22. Februar 2010, E. 2.3.1 unter Hinweis auf Hohl, Procédure civile – Introduction, Rz. 802; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 2.39; Vogel et al., Grundriss des Zivilprozessrechts, § 45 Rz. 55.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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ner ist nicht verpflichtet, eine eigene Version des Sachverhaltes vorzutragen.763 Nicht verlangt werden darf nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung auch, dass der Beweisgegner begründet, weshalb er eine Tatsachenbehauptung nicht für wahr erachtet, da dies zu einer Beweislastumkehr führe.764 Das Bundesgericht ging in einem neueren (nicht in der amtlichen Sammlung publizierten) Urteil gar so weit, zu sagen, dass bloß globales oder pauschales Bestreiten oder Bestreiten mit Nichtwissen genüge, »wenn der behauptungsbelasteten Partei ein effizientes Beweisverfahren offen steht«.765 Unter der schweizerischen Zivilprozessordnung ist es aber von dieser Rechtsprechung abgerückt. Art. 222 Abs. 2 ZPO-CH verlangt, dass der Beklagte darzulegen hat, welche Tatsachenbehauptungen im Einzelnen anerkannt oder bestritten wurden. Ein pauschaler Bestreitungsvermerk genügt nicht.766 Unstreitig ist in Deutschland, dass den Beweisgegner eine als »sekundäre Behauptungslast« bezeichnete erhöhte Substanziierungslast trifft, wenn die beweisbelastete Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufes steht und keine nähere Kenntnis der maßgebenden Tatsachen besitzt und sich auch nicht verschaffen kann, während der Beweisgegner sie hat und ihm nähere Angaben zumutbar sind.767 Erfüllt die Gegenpartei die Anforderungen an die sekundäre Behauptungslast durch Substanziierung nicht, begnügt sie sich vielmehr mit einfachem Bestreiten der pauschalen Behauptungen des Klägers, so greift die Geständnisfiktion des § 138 Abs. 3 ZPO-DE ein.768 Gerechtfertigt wird die sekundäre Behauptungslast mit dem Informationsgefälle zwischen (angeblichem) Gläubiger und Schuldner.769 Die sekundäre Behauptungslast greift insbesondere dort, wo das materielle Recht das Nichtvorliegen von Tatsachen zur Anspruchsvoraussetzung erhebt oder sonst nach den Gegebenheiten im konkreten Rechtsstreit das Nichtvorliegen eines Umstandes bewiesen werden muss. In diesen Fällen kann vom Beweisgegner im Rahmen des Zumutbaren das substanziierte Bestreiten des Nichtvorliegens unter Darlegung der für das Vorliegen sprechenden Tatsachen und Umstände verlangt werden.770 Die Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts kommt, ohne den Begriff der »sekundären Behauptungslast« zu verwenden und ohne ausdrück763

Fellmann, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Haftpflichtprozess 2011, 13–36, 31. BGE 117 II 113 E.2; ZK-ZPO-Leuenberger, Art. 222 N 22; Fellmann, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Haftpflichtprozess 2011, 13–36, 31. 765 BGer, Urteil 5P.391/2006 vom 18. Dezember 2006, E. 3.2. 766 BGer, Urteil 4A_197/2012 vom 30. Juli 2012 E. 4.5; aus der Literatur statt aller ZK-ZPOLeuenberger, Art. 222 N 20. 767 BGH NJW 1990, 3151; BGH NJW 1999, 579, 580; Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/ Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 21–80, Rz. 61 f.; Eschelbach/Geipel, ZAP Fach 13 2010, 1681–1688, 1685; Wieczorek/Schütze-ZPO-Borck, § 138 N 26; MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 103; MüKo-ZPO-Wagner, § 138 N 21; Musielak-ZPO-Stadler, § 138 N 10. 768 BGH NJW 1986, 3193, 3194. 769 Meyke, NJW 2000, 2230–2235, 2232, unter Hinweis auf Hök, MDR 1995, 773, 773. 770 BGH NJW 1999, 579, 580. 764

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

lichen Bezug auf die deutsche Rechtsprechung, zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann sich der Beweisgegner ausnahmsweise nicht mit einfachem Bestreiten begnügen, wenn sich die beweisbelastete Partei in einer Situation der Beweisnot befindet und der Beweisgegner näher an den zu beweisenden Tatsachen ist.771 Gemäß Bundesgericht fließt diese Obliegenheit aus dem Prinzip von Treu und Glauben (Art. 2 ZGB) und bewirkt keine Beweislastumkehr; vielmehr ist die Weigerung des Beweisgegners, substanziiert zu bestreiten, im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen.772 Insbesondere wo die beweisbelastete Partei das Nichtvorliegen einer Tatsache beweisen muss, folgt aus Treu und Glauben die Last des Beweisgegners, am Beweisverfahren mitzuwirken, indem er Beweismittel zum Beweis des Vorliegens der angeblich fehlenden Tatsache anbietet.773 bb) Überzeugend bestreiten Wie der Beklagte überhaupt bestreiten kann, hängt davon ab, ob die beweisbelastete Partei den Beweis der Haupttatsachenbehauptung direkt oder indirekt erbringen will. Beim direkten Beweis – d. h. nach hier verwendeter Terminologie durch Beweismittel, welche die Haupttatsache der unmittelbaren Sinneswahrnehmung des Richters zugänglich machen – kann der Beweisgegner nur bestreiten, dass die Tatsache der Fall ist. Dies kann er explizit tun, indem er ausdrücklich sagt, dass die behauptete Tatsache nicht der Fall ist, oder implizit, indem er behauptet, dass eine andere Tatsache der Fall ist, die notwendigerweise die vom Kläger behauptete Tatsache ausschließt.774 Anders, wenn die beweisbelastete Partei den Beweis indirekt, über Indizien, führen will. Auch hier muss der Beklagte das Vorliegen der Haupttatsache bestreiten, wenn er ein Beweisverfahren durchgeführt haben will. Er kann sich aber zusätzlich zu den Indizien äußern, und Indizien können, anders als Haupttatsachen, auf zwei Arten bestritten werden: i) es kann bestritten werden, dass das Indiz überhaupt vorliegt; ii) es kann bestritten werden, dass das Indiz (in dem behaupteten Umfang) geeignet ist, die Haupttatsachenbehauptung zu stützen, m. a. W. kann der Beklagte die Beweiskraft des Indizes bestreiten. Unterlässt er ersteres, wird das Indiz als gegeben erachtet (vorbehältlich Art. 153 Abs. 2 ZPO-CH). Interessant im vorliegenden Zusammenhang sind v. a. Bestreitungen der letzteren Art, weil sie direkt den Schlussvorgang beim Indizienbeweis 771 BGE 115 II 1 E. 4; BGer, Urteil 4P.196/2005 vom 10. Februar 2006, E. 5.2 unter Hinweis auf Hohl, Procédure civile – Introduction, Rz. 804; Urteil 4A.3/2011 vom 28. Februar 2011, E. 4; Dolge, in: Dolge (Hrsg.), Substantiieren und Beweisen, 17–36, 24. 772 BGer, Urteil 4P.196/2005 vom 10. Februar 2006, E. 5.2. 773 BGE 119 II 305 E. 1b; BGer, Urteil 4C.64/2003 vom 18. Juli 2003, E. 4; Hohl, Procédure civile – Introduction, Rz. 805. 774 ZK-ZPO-Leuenberger, Art. 222 N 22; Fellmann, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Haftpflichtprozess 2011, 13–36, 31.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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betreffen. Sie sind auch praktisch relevant, da sich der Kläger oft auf Indizien stützen wird, die leicht der Wahrnehmung des Richters zuzuführen sind, so dass die direkte Bestreitung des Vorliegens des Indizes nicht erfolgversprechend ist (ein konkretes Beispiel folgt gleich). Die Beweiskraft eines Indizes wird bestritten, indem geltend gemacht wird, das Indiz könne auch der Fall sein, wenn die zu beweisende Hypothese falsch ist. Nach der Logik der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie muss der Beweisgegner versuchen, den für die Wahrheit der klägerischen Hypothese sprechenden Likelihood-Quotienten des Indizes zu verringern.775 Je mehr empirisch überprüfbare Behauptungen seine Gegendarstellung aufstellt, die nicht von der Hypothese des Klägers vorausgesagt werden (jedoch nicht notwendigerweise inkompatibel sind mit ihr) und je überraschender diese sind, wenn die Gegendarstellung nicht zutrifft, desto überzeugender ist die Bestreitung, wenn sich die Behauptungen als wahr erweisen. Diese abstrakten Grundsätze können am Hans H. Fall exemplifiziert werden. Gemäß Sachverhalt wird als belastendes Indiz gegen Hans vorgebracht, dass er am Tag, nachdem das Geld verschwunden war, einen Kleinkredit zurückbezahlt hat. Ohne es ausdrücklich zu sagen wird suggeriert, dass er das Darlehen nicht an dem Tag zurückbezahlt hätte, wenn er nicht am Tag zuvor das Geld aus dem Tresor genommen hätte. Die Darlehensrückzahlung am Tag nach der Entnahme des Geldes ist ein belastendes Indiz, weil sie wahrscheinlicher erscheint, wenn Hans das Geld aus dem Tresor entnommen hat, als wenn er es nicht aus dem Tresor entnommen hat. Hans könnte bestreiten, dass er überhaupt den Kredit zurückbezahlt hat. In einem Zivilverfahren müsste dann im Beweisverfahren abgeklärt werden, ob der Kredit tatsächlich zurückbezahlt wurde. Dieser Beweis wäre mittels Urkundenedition durch die Bank einfach zu erbringen. Vielleicht deshalb bestreitet Hans nicht das Vorliegen des Indizes, sondern er bestreitet den Schluss, der daraus gezogen werden kann: Hans liefert eine Erklärung, warum er das Darlehen zurückbezahlt hat, obwohl er das Geld nicht entwendet hat. Die Erklärung von Hans, wenn sie zutrifft, bewirkt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Kredit am Tag nach dem Diebstahl zurückbezahlt wird, auch dann hoch ist, wenn Hans nicht der Dieb ist. Anders gesagt verringert sich der für die Hypothese des Klägers sprechende Likelihood-Quotient des Indizes. Hans behauptet, er habe den Bankkredit zurückbezahlt, weil ihm seine Schwägerin, der er das Geld geliehen hatte, die Summe in bar rückerstattet habe. Die Bestreitung enthält damit (mindestens) zwei empirisch überprüfbare Behauptungen, die nicht von der klägerischen Theorie vorausgesagt werden: i) dass Hans seiner Schwägerin vor drei Monaten EUR 4’870 geliehen hat und ii) dass die 775 Theoretisch ist es denkbar, dass der Beweisgegner Behauptungen vorbringt, die den Likelihood-Quotienten nicht nur verringern, sondern sogar umkehren (d. h. das Indiz spricht jetzt gegen die Hypothese). Praktisch dürften solche Fälle äußerst selten sein.

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Schwägerin ihm das Geld kürzlich bar zurückbezahlt hat. Diese Behauptungen sind nicht notwendigerweise inkompatibel mit der Hypothese des Diebstahls durch Hans – auch wenn seine Schwägerin ihm das Darlehen zurückbezahlt hat, könnte Hans dennoch das Geld aus dem Tresor genommen haben. Selbst wenn sich die Behauptungen als wahr herausstellen würden, erlauben sie daher keinen sicheren Schluss darauf, dass Hans nicht der Dieb ist. Sie verringern aber die Beweiskraft des Indizes »Darlehensrückzahlung«, das für die Schuld von Hans spricht. Die beiden Behauptungen sind weiter einfach empirisch zu überprüfen. Die Schwägerin kann als Zeugin einvernommen werden. In einem Strafverfahren von Amtes wegen, in einem Zivilverfahren, wenn Hans sie als Zeugin für seine Behauptungen anruft. Tatsächlich sinkt, unter den dem Modell zugrundeliegenden Annahmen (Abbildung 31, S. 235), die Überzeugung für die Schuld von Hans von 64% auf 47%, wenn die Schwägerin die Rückzahlung des Darlehens bestätigen würde (es wird berücksichtigt, dass die Schwägerin zugunsten von Hans lügen könnte, indem eine Wahrscheinlichkeit von 10% angenommen wird, dass sie trotz nicht erfolgter Rückzahlung die Rückzahlung bestätigt). Einer der Vorteile von Bayes’ Netzen ist wie bereits mehrfach erwähnt ihre Flexibilität, die vielen formalen Modellen fehlt. Ein Bayes’ Netz lässt sich daher einfach anpassen, wenn der Beweisgegner neue Bestreitungen vorbringt. Im Hans H. Fall hat einen starken Einfluss auf die Schuld von Hans, dass er es unterlässt, die Beweiskraft des Indizes »eilt um 19.15 Uhr aus dem Buchhaltungsbüro« zu bestreiten. Dabei könnten durchaus Gründe für das Verlassen des Büros gegeben sein, die nicht in der Entnahme des Geldes aus dem Tresor liegen. Angenommen, Hans behauptet, er habe am Bauprojekt für Kunde X gearbeitet, als er gemerkt habe, dass es kurz nach 19 Uhr war und er sich beeilen musste, rechtzeitig um 20 Uhr an der Schulveranstaltung seiner Kinder zu sein. Deshalb habe er die Pläne gegen 19.15 Uhr wieder in den Tresor gelegt, wo sie aufbewahrt würden. Diese Darstellung enthält mindestens eine empirisch überprüfbare Behauptung, nämlich dass die Pläne im Tresor aufbewahrt werden. Diese Behauptung ist aber auch dann nicht überraschend, wenn Hans an besagtem Abend nicht an den Plänen gearbeitet hat, und deshalb wenig beweiskräftig für seine Behauptung. Weiter sei angenommen, dass die Anfangswahrscheinlichkeit für die Behauptung von Hans, er habe am Projekt gearbeitet, gering sei (10%). Wenn entweder die Behauptung »Diebstahl« oder »Arbeit am Projekt« wahr ist, wird Hans mit Sicherheit zur fraglichen Zeit aus dem Büro eilen; wenn keine wahr ist, mit Sicherheit nicht (gäbe es einen weiteren Grund für seine Anwesenheit im Büro, hätte Hans ihn genannt). Unter diesen Annahmen beeinflusst die Bestreitung die Überzeugung dafür, dass die klägerische Hypothese zutrifft, einstweilen nicht. Die Bestreitung ist nicht überzeugend. Die Bestreitung ist deshalb nicht überzeugend, weil ihre Anfangswahrscheinlichkeit gering ist und sie keine empirisch überprüfbaren Tatsachenbehauptungen

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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Abbildung 32: Ausschnitt aus dem Bayes’ Netz für den Hans H. Fall mit substanziierter Bestreitung (neue Knoten links außen, fett und grau).

enthält, deren Wahrheit überraschend wäre, wenn die Bestreitung nicht zuträfe. Angenommen, Hans behauptet weiter, er habe dem Kunden X kurz nach 19 Uhr am fraglichen Abend eine E-Mail geschickt und sich entschuldigt, dass sich die Arbeit am Projekt verzögere. Diese empirisch einfach überprüfbare Behauptung ist überraschend, wenn Hans nicht tatsächlich am Projekt gearbeitet hat – natürlich kann er dem Kunden dennoch eine E-Mail dieses Inhalts geschickt haben, aber es ist eben sehr viel unwahrscheinlicher. Für die Modellierung sei angenommen, dass es zehn Mal wahrscheinlicher ist, dass Hans eine E-Mail schickt, wenn er am Projekt gearbeitet hat, als wenn er nicht am Projekt gearbeitet hat. Wenn sich nun herausstellt, dass tatsächlich eine entsprechende E-Mail kurz nach 19 Uhr an Kunde X verschickt wurde, sinkt die Überzeugung, dass Hans der Dieb ist, von 64% auf 34% (respektive von 74% auf 45%, wenn man die fehlende Nennung der Schwägerin als Zeugin gegen Hans wertet). Weiterhin ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass Hans den Diebstahl begangen hat – es könnte ja sein, dass er einfach die Gelegenheit nutzte, als er ohnehin den Tresor öffnen musste. Immerhin ist die Sache mit der Rückzahlung des Bankkredits noch immer unklar. Das Modell reflektiert diese Möglichkeit, indem die Wahrscheinlichkeit für die Wahrheit der Behauptung, dass Hans H. der Dieb war, zwar geringer wird, aber immer noch 34% beträgt. Bestätigt nun auch noch die Schwägerin, dass sie Hans das Geld zurückbezahlt hat, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass er das Geld genommen hat, gemäß dem Modell auf 21%. Die formale Modellierung zeigt, dass die informellen Betrachtungen zur Überzeugungskraft einer Bestreitung der Beweiskraft eines Indizes zutreffen. Eine Bestreitung der Beweiskraft ist wirkungsvoll, wenn es gelingt, den für die gegne-

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

rische Hypothese sprechenden Likelihood-Quotienten des Indizes zu verringern, indem eine Erklärung für das Vorliegen des Indizes selbst dann, wenn die Hypothese nicht zutrifft, geliefert wird. Diese Erklärung ist dann überzeugend, wenn sie zu empirisch überprüfbaren Tatsachenbehauptungen führt, die unter der gegnerischen Hypothese unwahrscheinlich sind, und sich diese Tatsachenbehauptungen als wahr herausstellen. l) Sensitivitätsanalyse Ist das Modell erst einmal strukturiert und parametrisiert, kann man sehr einfach überprüfen, welchen Einfluss verschiedene Annahmen zu den einzelnen Likelihood-Quotienten auf die Überzeugung, dass Hans den Diebstahl begangen hat, haben. Die systematische Variierung von Parametern, um zu prüfen, wie das Modell reagiert, nennt man Sensitivitätsanalyse.776 Lange Zeit glaubte man, dass Bayes’ Netze robust auch gegenüber starken Veränderungen der Wahrscheinlichkeiten seien, die dem Netzwerk zugrunde liegen, d. h. große Änderungen in der Parametrisierung führten nur zu kleinen Änderungen der Wahrscheinlichkeit der Hypothese (meist der Diagnose einer Krankheit, da die ersten praktischen Anwendungen von Bayes’ Netzen der medizinischen Diagnose dienten).777 Heute weiß man, dass dies in dieser Absolutheit nicht gilt. Entscheidend ist nicht die absolute Veränderung eines Parameters, definiert als |p – q|,778 wobei p der derzeitige Wert des Parameters ist und q der neue Wert, sondern die relative Veränderung des Logarithmus der Chancen, q p 779 definiert als | ln 1–q – ln 1–p |. Eine Änderung der Wahrscheinlichkeit von 0,4 auf 0,2 entspricht einer relativen Änderung des Logarithmus der Chancen von 0,98; die gleiche absolute Reduktion von 0,21 auf 0,01 entspricht einer relativen Veränderung des Logarithmus der Chancen von 3,27. Gleiche absolute Änderungen der Wahrscheinlichkeit bewirken also eine größere relative Änderung des Logarithmus der Chancen, wenn sie nahe der Extremwerte 0 oder 1 erfolgen. Es lässt sich mathematisch zeigen, dass die größtmögliche Änderung des Logarithmus der Chancen der Informationsvariablen nicht größer sein kann als die Änderung des Logarithmus der Chancen eines beliebigen Parameters.780 Daraus 776

Der Ausdruck »Sensitivitäts-Analyse« wird hier im Sinne von Edwards, Cardozo Law Review 1991, 1025–1074, 1074; Kadane/Schum, Probabilistic analysis of the Sacco and Vanzetti evidence, 175 ff. und Smith, Bayesian decision analysis, 23, gebraucht. Der Gebrauch in der modernen Literatur zu Bayes’ Netzen ist spezifischer und nicht einheitlich, siehe Darwiche, Bayesian Networks, 89 f., versus Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 99 f. 777 Pradhan et al., Artificial Intelligence 1996, 363–397; Onisko/Druzdzel, in: European Conference on Artificial Intelligence in Medicine (Hrsg.), Workshop Probabilistic Models in Biomedicine, 1–14, und die dort zitierten Autoren. 778 Die beiden Striche bedeuten, dass man nur den absoluten Betrag nimmt, d. h. die Differenz zu Null unter Missachtung des Vorzeichens. 779 Darwiche, Bayesian Networks, 276. 780 Darwiche, Bayesian Networks, 275 f.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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folgt, dass Änderungen der Wahrscheinlichkeiten eines Parameters im mittleren Wahrscheinlichkeitsbereich einen geringen Einfluss auf die Hypothesenvariable haben, kleine absolute Änderungen im Extrembereich (also nahe 0 oder 1) jedoch einen starken Einfluss haben können.781 Intuitiv kann man dies damit erklären, dass für die Beweiskraft eines Indizes – und somit für den Einfluss des Indizes auf die Überzeugungsbildung – nicht die absolute Differenz der Likelihoods, sondern der Likelihood-Quotient maßgeblich ist, und dieser wird durch Änderungen im Extrembereich eines Likelihoods stärker beeinflusst. Andererseits gilt auch, dass eine extreme Hypothesenvariable robuster gegenüber Änderungen der Parametrisierung des Netzes ist (d. h. kleinere absolute Änderungen zeigt) als eine Hypothesenvariable im mittleren Wahrscheinlichkeitsbereich.782 Der schlechteste Fall für die Robustheit der Abfrage gegenüber Änderungen der Parametrisierung sind Netze, bei denen die interessierende Variable im mittleren Wahrscheinlichkeitsbereich liegt, während die Informationsvariablen extrem parametrisiert sind.783 Ersteres dürfte bei Bayes’ Netzen zur Modellierung juristischer Sachverhalte oft der Fall sein, da man bei umstrittenen Fällen meist keinen Extremwert der Hypothesenvariable erreichen wird; letzteres (extreme Parameter) muss bei juristischen Netzen nicht unbedingt vorliegen. Die Software SamIam ermöglicht eine spezielle Form der Sensitivitätsanalyse der Art, dass man den gewünschten Wahrscheinlichkeitsbereich der Hypothesenvariable definiert und dann erfährt, welche Parameter des Netzes in welchem Ausmaß geändert werden müssen, damit dieser Wert bei gegebener Instanziierung erreicht werden kann.784 In seiner einfachsten Form gibt diese Analyse eine Antwort auf die Frage, welcher einzelne Parameter wie stark geändert werden müsste, um das gewünschte Resultat zu erreichen; in einer komplexeren Form wird die Änderung mehrerer Parameter in der gleichen bedingten Wahrscheinlichkeitstabelle vorgeschlagen. Beispielsweise kann man so herausfinden, welche Annahmen man mindestens treffen muss, damit die Hypothesenvariable »Diebstahl durch H.« ≥ 0,9 ist. Instanziiert man alle Informationsvariablen außer der »Zeugin für Rückzahlung« im ursprünglichen Bayes’ Netz für den Hans H. Fall (ohne die Bestreitung), so erhält man die in Tabelle 11 gezeigten Antworten. Die Antworten sind in verschiedener Hinsicht aufschlussreich. Erstens zeigt sich, welche Parameter unter gar keinen Umständen dazu führen können, dass die Wahrscheinlichkeit für »Diebstahl durch H.« auf über 90% steigt. So kann z. B. kein Wert für die Wahrscheinlichkeit, dass Hans einen Beleg für die Rückzahlung des Darlehens an seine Schwägerin erhalten würde, alleine dazu führen, dass 781

Darwiche, Bayesian Networks, 273. Darwiche, Bayesian Networks, 273 f. 783 Darwiche, Bayesian Networks, 274. 784 Der verwendete Algorithmus basiert auf Chan/Darwiche, Journal of Artificial Intelligence Research 2002, 265–287, und Chan/Darwiche, International Journal of Approximate Reasoning 2005, 149–174. 782

derzeitiger Wert 0,1875

0,2

0,125

0,125

0,9

Variable

Pr(Diebstahl durch H = wahr | H. ist frustriert = wahr & H. ist motiviert = falsch)

Pr(H. eilt aus Büro = wahr | Diebstahl durch H. = falsch)

Pr(Diebstahl durch H = wahr | H. ist frustriert = wahr & H. ist motiviert = wahr)

Pr(Diebstahl durch H = wahr | H. ist frustriert = falsch & H. ist motiviert = falsch)

Pr(Kredit zurück bezahlt = wahr | Diebstahl durch H. = falsch, H. erhält Geld von S. zurück = wahr)

Tabelle 11: Sensitivitätsanalyse für das Bayes’ Netz des Hans H. Falls.

≤ 0,015

≥ 0,59

≥ 0,59

≤ 0,031

≥ 0,45

≥ 0,88

≥ 0,47

≥ 0,47

≥ 0,169

≥ 0,26

vorgeschlagener absolute Wert Änderung

≥ 6,39

≥ 2,33

≥ 2,33

≥ 2,05

≥ 1,26

Änderung Logarithmus der Chancen

246 Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

247

die Wahrscheinlichkeit, dass er der Dieb ist, auf über 90% steigt. Notabene gilt dies, wenn alle anderen Parameter unverändert bleiben und nur die bedingte Wahrscheinlichkeit für den Beleg geändert wird. Andererseits zeigt sich, dass die Hypothesenvariable sensitiv auf die bedingte Wahrscheinlichkeit reagiert, dass Hans aus dem Büro eilt, obwohl er den Diebstahl nicht begangen hat. Das ist intuitiv einleuchtend, denn es kann dafür gute Gründe geben, die Hans bisher nicht genannt hat (vorne, S. 240 f.). Schließlich kann der menschliche Experte entscheiden, welche der vorgeschlagenen Änderungen vernünftig sind. So ist die Annahme einer Wahrscheinlichkeit von weniger als 1,5%, dass Hans den Bankkredit zurückbezahlt, wenn er das Geld dazu von seiner Schwägerin erhalten hat, eher unrealistisch. Insofern ist der Schluss zulässig, dass die Änderung dieses Parameters alleine, ohne Änderung auch anderer Parameter, nicht dazu führen kann, dass die Überzeugung, dass Hans das Geld aus dem Tresor genommen hat, auf über 90% steigt. Schließlich reagiert das Modell auch sensitiv auf Änderungen der Anfangswahrscheinlichkeit. Ob es allerdings realistisch ist, dass Hans, selbst wenn er frustriert ist, mit einer Wahrscheinlichkeit von über 45% einen Diebstahl begeht, wovon man ausgehen müsste, um ohne weitere Änderungen auf eine Wahrscheinlichkeit von mindestens 90% zu gelangen, dass Hans das Geld aus dem Tresor genommen hat, will ich nicht beurteilen. Durch die Änderung einzelner Parameter kann man überprüfen, welchen Einfluss bestimmte Annahmen auf die Überzeugungsbildung haben. Beispielsweise sagt Hans, im Blumenhandel würden auch größere Geldgeschäfte »gelegentlich« ohne Quittung erfolgen. Bei der Parametrisierung habe ich dies so interpretiert, dass bei einem Viertel der Auszahlungen größerer Beträge kein Beleg ausgestellt wird. Darüber, ob dies die richtige Übersetzung von »gelegentlich« in einen numerischen Wert ist, lässt sich endlos streiten. Die Baufirma wird vielleicht sagen, dass »gelegentlich« nur 10% der Fälle sind. Nimmt man diesen Wert und setzt ihn in die bedingte Wahrscheinlichkeitstabelle der Variable »Beleg« ein, so erhöht sich die Überzeugung, dass Hans den Diebstahl begangen hat, von 64% auf 70%, wenn alle anderen Parameter konstant gehalten werden (respektive auf 75%, wenn man die unterlassene Anrufung der Schwägerin als Zeugin gegen Hans würdigt). Die Sensitivitätsanalyse erlaubt es, herauszufinden, welche Annahmen den größten Einfluss auf die Zustände der Hypothesenvariable(n) haben. Basierend darauf kann man entscheiden, ob es sich lohnt, weitere Ressourcen einzusetzen, um eine empirisch besser fundierte Annahme zu den Likelihoods treffen zu können. Verwendet man ausschließlich für Hans günstige Annahmen, so sinkt die Überzeugung, dass er den Diebstahl begangen hat, gemäß dem Modell auf 44% (52%, wenn man den Knoten »Nennt S. als Zeugin« mit »falsch« instanziiert); umgekehrt steigt die Überzeugung, dass er schuldig ist, auf 95% (98% mit »Nennt S. als Zeugin« = falsch), wenn man überall für ihn ungünstige Annahmen trifft

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Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

(die verwendeten Werte finden sich im Anhang, S. 615). Man kann sich fragen, was die formale Modellierung bringt, wenn das Resultat offensichtlich stark von den getroffenen Annahmen abhängt und diese weitgehend ohne empirische Basis getroffen werden. Die Antwort ist, dass man ohne solche Annahmen schlicht keine Entscheidung treffen kann.785 Wer sagt, man könne eine Überzeugung dazu, wie wahrscheinlich es ist, dass Hans aus dem Büro eilt, obwohl er das Geld nicht entwendet hat, oder eine Überzeugung, wie wahrscheinlich es ist, dass Silvia sagt, sie habe Hans am Schulanlass gesehen, obwohl er gar nicht da war, nicht in einem numerischen Wert ausdrücken, muss sich konsequenterweise eines Urteils enthalten. Menschen sind aber offenbar bereit, über ambivalente Sachverhalte wie den Sachverhalt des Hans H. Falls zu urteilen. Der Sachverhalt wurde vier Richtern an der Strafkammer des Landgerichts Oldenburg vorgelegt; drei von ihnen hätten Hans H. (unter dem »beyond reasonable doubt« Standard) verurteilt.786 Um zu ihrer Überzeugung zu gelangen, dass Hans schuldig ist, mussten sie zahlreiche Annahmen treffen. Die Modellierung bringt diese impliziten Annahmen nur ans Licht und ermöglicht erst einen rationalen Diskurs über sie:787 »The fact that, in this kind of example, such estimates are very largely guesswork based on almost no evidence does not undermine the mathematical theory; rather it brings to light the largely speculative and unreliable nature of such judgments. What the mathematicist suggests is that a rational reconstruction of probability judgments about unique past events necessarily involves reliance on such estimates, however speculative and unreliable they may be. Typically such estimates are implicit; the process of making them explicit may serve to indicate both how well or ill-founded a particular judgment may be and what kind of information would be helpful in making the estimates, and hence the judgments, more reliable.«

Es muss unterschieden werden zwischen der Logik der Überzeugungsbildung, die unabhängig davon gilt, worauf die einzelnen Überzeugungen beruhen, und den legitimen Quellen für persönliche Überzeugungen bei der juristischen Beweiswürdigung. Welche Schlussfolgerungen aus vorhandenen Überzeugungen zu ziehen sind, und wie ich zu den vorhandenen Überzeugungen gekommen bin, sind zwei klar zu trennende Fragen. Bei der gerichtlichen Beweiswürdigung wird man nicht nur verlangen, dass die Überzeugungsbildung logisch ist, sondern auch, dass die Überzeugungen eine Basis in der Wirklichkeit haben. Wie dies erreicht werden kann, ist Thema des vierten Teils dieses Buchs.

785 Twining, in: Twining (Hrsg.), Rethinking evidence, 99–164, 129; Fenton/Neil/Lagnado, Cognitive Science 2013, 61–102, 65. 786 Engel/Glöckner, Journal of Behavioral Decision Making 2013, 272–284, 280. 787 Twining, in: Twining (Hrsg.), Rethinking evidence, 99–164, 129.

IV. Die Anwendung von Bayes’ Regel in der juristischen Beweiswürdigung

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4. Zusammenfassung Bayes’ Netze machen sich die bedingten Unabhängigkeiten zwischen Variablen zu Nutze, um die gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung aller Variablen durch einen gerichteten Graphen und die mit den Knoten des Graphen verbundenen bedingten Wahrscheinlichkeitstabellen zu repräsentieren. Dadurch wird die zur Darstellung der gemeinsamen Wahrscheinlichkeitsverteilung benötigte Datenmenge radikal reduziert und es wird möglich, komplexe Modelle selbst mit hunderten von Variablen rechnerisch zu bewältigen. Das Wissen über die bedingten Abhängigkeiten zwischen den Variablen stammt dabei vom menschlichen Experten.788 Entscheidender Vorteil von Bayes’ Netzen ist, dass sich die Pfeile zwischen den Knoten des Netzes als kausale Einflüsse der Elternknoten auf den oder die Kindknoten verstehen lassen. Dadurch kann auch ein Experte, der keine statistische Ausbildung hat, sein Wissen über die Welt intuitiv mittels eines Bayes’ Netzes erfassen. Dieses Wissen besteht in verallgemeinernden Annahmen über Kausalzusammenhänge, in der deutschen juristischen Literatur meist als Erfahrungssätze bezeichnet. Bei juristischen Sachverhalten beeinhaltet das Einfügen der Pfade daher ein subjektives Element, es ist eine Kunst, keine Wissenschaft. Die Modellierung selbst einfacher juristischer Sachverhalte macht bewusst, wie zahlreich die Annahmen sind, die getroffen werden müssen, damit man sich eine Überzeugung von der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung bilden kann. Damit wird ein rationaler Diskurs über Beweiswürdigung erst möglich. Bayes’ Netze zeigen, wie komplex Beweiswürdigung ist, und weshalb oft keine Einigkeit darin besteht, ob die zu beweisende Behauptung wahr ist. Wo man sich nicht einig ist, wie die Beweiskraft eines Indizes zu beurteilen ist, kann auch ein Bayes’ Netz keine Einigkeit erzielen. Es kann fehlendes Wissen nicht ersetzen. Es kann aber transparent machen, welches Wissen relevant ist, und welche Annahmen den größten Einfluss auf die Überzeugungsbildung haben. Dadurch ermöglichen Bayes’ Netze insbesondere eine informierte Entscheidung darüber, wo es sich lohnt, in die Gewinnung von Wissen Ressourcen zu investieren. Bayes’ Netze ersetzen den menschlichen Experten nicht. Sie dienen als Expertensysteme,789 zur Unterstützung des menschlichen Entscheidungsträgers. Das Strohmann-Argument, man wolle den menschlichen Richter durch einen Computer ersetzen, greift nicht. Ihr Nutzen ist dort am größten, wo zahlreiche Abhängigkeiten zwischen mehr Indizien, als im Arbeitsgedächtnis behalten werden können, vorliegen. Wichtiger noch als der praktische Einsatz am Gericht scheint mir aber der Nutzen der Bayes’ Netze für die Entwicklung einer auf wissenschaftlicher Grundlage beruhenden Beweistheorie. Sie erlauben es, grundsätzliche 788 Es ist möglich, die Netzstruktur durch Algorithmen aus statistischen Daten zu lernen, Darwiche, Bayesian Networks, 439 ff., aber für unsere Zwecke ist dies irrelevant. 789 Jensen/Nielsen, Bayesian networks, 45.

250

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Überlegungen zum Beweis zu formalisieren und kritisch zu hinterfragen. Sie erlauben insbesondere ein für Nicht-Mathematiker intuitiveres Verständnis der Konsequenzen, die aus dem Postulat folgen, dass eine rationale Überzeugungsbildung die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie nicht verletzen darf.

V. Zusammenfassung des zweiten Teils Gemäß dem epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriff drückt Wahrscheinlichkeit das mangelnde sichere Wissen des Sprechenden über den Wahrheitswert einer Aussage aus. Wahrscheinlichkeit ist so betrachtet nichts anderes als eine persönliche Überzeugung zur Wahrheit einer Aussage. Der epistemische Wahrscheinlichkeitsbegriff lässt eine Aussage zur Wahrscheinlichkeit eines Einzelfalls der Makrowelt zu, was der wichtigste ontische Wahrscheinlichkeitsbegriff, die frequentistische Wahrscheinlichkeit, nicht erlaubt. Nach dem frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff ist Wahrscheinlichkeit der Grenzwert der relativen Häufigkeit eines Ereignisses in einer Klasse. Von einer Wahrscheinlichkeit des Einzelfalls zu sprechen ist nach dieser Konzeption sinnlos. Vorteil des frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs ist, dass die so verstandene Wahrscheinlichkeit eine Eigenschaft der Außenwelt ist, und sich verschiedene Beobachter, so sie normalsinnig und verständig sind, über die frequentistische Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses einig sind. Epistemische Wahrscheinlichkeit hingegen ist immer bedingt durch das Wissen des Subjekts und ändert sich in Abhängigkeit von diesem Wissen. Die Beweiswürdigung verlangt vom Richter, sich eine Überzeugung zur Wahrheit von Tatsachenbehauptungen zu bilden. Diese Tatsachenbehauptungen beziehen sich in aller Regel auf einen historischen Einzelfall. Oft fehlt dem Richter sicheres Wissen über den Wahrheitswert der rechtlich relevanten Tatsachenbehauptungen. Sein Mangel an sicherem Wissen drückt sich dadurch aus, dass er eine Tatsache bloß für wahrscheinlich hält. Richterliche Überzeugung lässt sich demnach als epistemische Wahrscheinlichkeit verstehen. Hingegen ist es sinnlos, von der objektiven Wahrscheinlichkeit zu sprechen, dass der Sachverhalt sich so zugetragen hat, wie von der beweisbelasteten Partei behauptet. Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie verlangt, dass die persönlichen Überzeugungen zur Wahrheit von Tatsachenbehauptungen den Grundregeln der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen. Das heißt, wer sicher ist, dass eine Tatsachenbehauptung wahr ist, ist zu 100% überzeugt (Sicherheit); man kann keine Überzeugung von unter null oder über 100% haben (Normierung), und wer überzeugt ist, dass eine von zwei sich gegenseitig ausschließenden Aussagen mit einer Wahrscheinlichkeit von q wahr ist, und die andere der beiden Aussagen mit einer Wahrscheinlichkeit von r, muss der Überzeugung sein, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine der beiden Aussagen wahr ist, gleich q + r ist (Addi-

V. Zusammenfassung des zweiten Teils

251

tivität). Wer diese Grundregeln nicht einhält, setzt sich der Gefahr eines Dutch Books aus: Er würde Kombinationen von Wetten zu von ihm als fair erachteten Wett-Quoten akzeptieren, die ihm einen sicheren Verlust einbringen, unabhängig davon, wie der Zustand der Welt ist. Der Verlust von Geld an einen imaginären Buchhalter ist dabei nicht der Hauptgrund, dies als irrational zu bezeichnen. Entscheidend ist, dass ein Subjekt, dessen Teilüberzeugungen nicht den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen, Wetten als fair rechtfertigen würde, die ihm einen sicheren Verlust einbringen (»depragmatized Dutch Book Argument«). Da die subjektive Wahrscheinlichkeit immer bedingt durch das Wissen des Subjekts ist, ist die Regel, wie das Subjekt seinen Überzeugungsgrad im Lichte neuer Information anpassen soll, für die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie von größter Bedeutung. Bayes’ Theorem, das sich unmittelbar aus den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie ergibt, liefert für Vertreter der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie das normative Modell, wie man seine Überzeugungen anzupassen hat. Weil Bayes’ Theorem für die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie nicht nur ein mathematisches Theorem, sondern eine normative Regel ist, spricht man besser von Bayes’ Regel. Vertreter der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie werden wegen der zentralen Bedeutung von Bayes’ Regel auch als »Bayesianer« bezeichnet. Als Lehre, wie eine gerechtfertigterweise gebildete Überzeugung von einer ungerechtfertigterweise gebildeten Überzeugung unterschieden werden kann, ist die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie eine Form der (induktiven) Logik. Da der Richter nach deutscher und schweizerischer Auffassung in seiner Überzeugungsbildung nicht völlig frei, sondern an die Denkgesetze gebunden ist, müssen seine Überzeugungen den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen. Bayes’ Regel besagt, dass anfängliche Überzeugung und Beweiskraft der neuen Beweismittel in einer Wechselwirkung stehen. Um einen bestimmten rationalen Überzeugungsgrad (a-posteriori-Wahrscheinlichkeit) zu erreichen, muss die Beweiskraft eines Beweismittels umso höher sein, je weniger wahrscheinlich die Tatsachenbehauptung anfänglich ist. Dies wird mit der Formulierung »[j]e unwahrscheinlicher die Tatsachenbehauptung einer Partei ist, desto höhere Anforderungen darf das Gericht an den Beweis der Tatsache stellen«790 erfasst. Die deutsche Praxis zum Anscheinsbeweis reflektiert dies ebenfalls. Die vom Bundesgerichtshof gegen Stimmen in der Lehre verteidigte Auffassung, dass der Anscheinsbeweis keine Absenkung des Beweismaßes beinhalte, ist richtig, wenn man den Anscheinsbeweis so versteht, dass ein dem Anscheinsbeweis zugrunde liegender Geschehensablauf eine so hohe anfängliche Wahrscheinlichkeit (»Typizität«) aufweisen muss, dass der vom Beweismaß geforderte Überzeugungsgrad bereits ohne die Abnahme von Beweismitteln erreicht wird.

790

Guldener, Zivilprozessrecht, 322.

252

Zweiter Teil: Die Denkgesetze der Beweiswürdigung

Der Schluss von der Wirkung auf die Ursache – die »inverse probability« – ist zentral für die Beweiswürdigung, denn außer bei unmittelbarer Sinneswahrnehmung der zu beweisenden Tatsache durch den Richter ist der Richter darauf angewiesen, aus den beobachtbaren Folgen auf die unbeobachtbare Ursache zu schließen. Ein Beweismittel ist so verstanden die beobachtbare Folge einer meist unbeobachtbaren Ursache. Bayes’ Regel erlaubt den probabilistischen Schluss von der beobachteten Wirkung auf ihre unbeobachtete Ursache. Die Beweiskraft eines Beweismittels ergibt sich aus dem Likelihood-Quotienten: Der bedingten Wahrscheinlichkeit, dass das Beweismittel vorliegt, unter der Voraussetzung, dass die Tatsachenbehauptung wahr ist, geteilt durch die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass das Beweismittel vorliegt, unter der Voraussetzung, dass die Tatsachenbehauptung falsch ist. Eine verbreitete Kritik am Einsatz von Bayes’ Regel im Rahmen der juristischen Beweiswürdigung ist, dass sich damit komplexe Sachverhalte, wie sie von Gerichten zu beurteilen sind, nicht erfassen ließen. Dieser Kritik kann durch den Einsatz von Bayes’ Netzen begegnet werden. Bayes’ Netze ermöglichen, auch in komplexen Sachverhalten sicherzustellen, dass die Überzeugungsbildung kohärent und rational erfolgt. Ihre einfache Semantik – die Pfeile zwischen den Knoten eines Bayes’ Netzes können als kausale Einflüsse verstanden werden – ermöglicht es auch dem mathematischen Laien, sein Wissen über die Welt in einer kohärenten Weise zu erfassen. Durch die Implementierung in Computerprogrammen mit grafischer Benutzeroberfläche können sie einfach geändert und dem wachsenden Wissen angepasst werden. Formale Modelle wie Bayes’ Netze zwingen dazu, implizite Annahmen explizit zu machen. Dadurch fördern sie die Transparenz der Überzeugungsbildung und ermöglichen erst den inter-subjektiven Dialog. Durch systematische Manipulation der Annahmen kann untersucht werden, welche Teilüberzeugungen einen maßgeblichen Einfluss auf die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit der interessierenden Hypothese haben (Sensitivitätsanalyse). Dies ermöglicht eine rationale Entscheidung darüber, wo sich der Einsatz weiterer Ressourcen zur Gewinnung besseren Wissens lohnt. Aus wissenschaftlicher Sicht sind Bayes’ Netze interessant, weil sie erlauben, Intuitionen über die Beweiswürdigung auf ihre Rechtfertigung durch ein axiomatisches Modell zu überprüfen. Sie ermöglichen, eine Beweistheorie auf wissenschaftlicher Grundlage zu entwickeln.

Dritter Teil

Psychologie der Überzeugungsbildung I. Einleitung Es ist klar, dass Menschen – und Richter sind auch nur Menschen – nicht in der Lage sind, Kohärenz ihrer Teilüberzeugungen im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie tatsächlich zu erreichen. Nur »hypothetische Geister mit viel Zeit hätten Teilüberzeugungen, die den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchten.«1 Niemand behauptet (mehr), dass die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie eine adäquate Beschreibung menschlicher Entscheidungsprozesse sei. Gerade bei der Beweiswürdigung spielen offensichtlich nicht nur rationale, bewusste, regelbasierte Denkprozesse eine Rolle.2 »[D]er Erlebnisvorgang der Überzeugungsbildung [überschreitet] die kognitive Sphäre weit«3 . Nicht zufällig betont die Rechtswissenschaft die »irrationalen«4 , »gefühlsmäßigen«5 Aspekte der Überzeugungsbildung; die »Intuition«6 des Richters. Es wird gesagt, ein solch komplexes Geschehen wie die Beweiswürdigung könne nur durch Intuition bewältigt werden;7 Beweiswürdigung sei ein »hochgradig intuitiver Prozess«8 und beruhe »auf Vernunft und Intuition«9 , auf der »Verknüpfung von Denken und Fühlen, von Deliberation und Intuition«10 . Dabei wird von den einen die »innere Stimme des Betrachters«11 als ein wichtiges Kontrollmittel gesehen und ihre positiven Wirkungen hervorgehoben, denn »[d]urch dieses Zusammenwirken von objektiven und subjektiven Momenten bei der Meinungsbildung wird die Erfassung der Wirklichkeit besser garantiert, als wenn man sich allein auf die rein verstandesmäßige Auswertung von Zeugenaussagen, 1 Kaye, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 177–183, 178 (Übersetzung aus dem Englischen durch den Verfasser). 2 Engel, Vermont Law Review 2009, 435–467, 437. 3 Bohne, Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung, 52. 4 Heescher, Freie Überzeugung, 60. 5 Döhring, Erforschung des Sachverhalts, 462. 6 Meier/Sogo, Zivilprozessrecht, 286. 7 Bruns, ZZP 1978, 64–71, 71. 8 Brinkmann, Beweismaß, 2. 9 Scherzberg, ZZP 2004, 163–185, 184. 10 Scherzberg, ZZP 2004, 163–185, 185. 11 Döhring, Erforschung des Sachverhalts, 463.

254

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

Urkundenmaterial und Indizien verlassen wollte.«12 Andere Autoren betonen hingegen, dass das »Evidenzgefühl«13 , von Bohne beschrieben als ein Gefühl der »Harmonie beim Zusammenfallen einer Mannigfaltigkeit von Reizen«14 , keine Garantie für die Richtigkeit des Urteils sei,15 die Analyse gar behindern könne16 und »Richter und Schöffen unkritisch gegen sich selbst«17 mache.18 Dass unsere Intuition uns in bestimmten Fällen in die Irre führen kann, ist unbestreitbar. Für die Beweiswürdigung besonders relevant ist die Verwechslung der bedingten Wahrscheinlichkeiten Pr(I|H) und Pr(H|I) (»fallacy of the transposed conditional«19 oder »inverse fallacy«20 ), die eng verwandt ist mit dem in der deduktiven Logik häufig begangenen Fehler der Bejahung des Konsequens (»fallacia consequentis«, vorne, S. 84 f.).21 Im juristischen Kontext wird der Fehlschluss auch als »prosecutors’ fallacy« (»Trugschluss des Anklägers«) bezeichnet.22 Der Trugschluss liegt darin, aus der Tatsache, dass ein Indiz nur sehr selten vorliegt, wenn die Hypothese nicht zutrifft (der Angeklagte unschuldig ist), zu schließen, dass der Angeklagte bei Vorliegen des Indizes mit hoher Wahrscheinlichkeit schuldig ist. So kann man nicht daraus, dass sich die Ventile an den Reifen eines Autos, das in den Verkehr eingefügt wurde, mit einer geringen Wahrscheinlichkeit von weniger als 1% in einer bestimmten Stellung befinden, schließen, dass das Auto mit einer Wahrscheinlichkeit von 99% nicht in den Verkehr eingefügt wurde, wenn sich die Ventile in dieser Stellung befinden.23 Der Schluss von Pr(I|H) auf Pr(H|I) muss nach Bayes’ Regel, und damit unter Berücksichtigung der Anfangswahrscheinlichkeit, erfolgen (vorne, S. 132 ff.), was die meisten Menschen intuitiv verkennen. Empirisch lässt sich zeigen, dass auch gebildete Menschen,24 darunter Richter und forensische Gutachter,25 die bedingten Wahrscheinlichkeiten verwechseln. Ebenfalls sind zahlreiche publi12

Döhring, Erforschung des Sachverhalts, 464. Zum Begriff Weimar, Psychologische Strukturen, 82 f. 14 Bohne, Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung, 72. 15 Bohne, Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung, 73. 16 Ekelöf, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 343–363, 356. 17 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 25. 18 Kritisch zur Rolle der Intuition auch Klami/Gräns/Sorvettula, Law and truth, 37. 19 Diaconis/Freedman, Behavioral and Brain Sciences 1981, 333–334, 333. 20 Koehler, Behavioral and Brain Sciences 1996, 1–53, 10; Villejoubert/Mandel, Memory & Cognition 2002, 171–178. 21 Braine et al., in: Gilhooly et al. (Hrsg.), Lines of Thinking, 165–180, 169 ff. 22 Thompson/Schumann, Law and Human Behavior 1987, 167–187; Vuille, Strassenverkehr 2011, 34–39. 23 OGer ZH, Forumpoenale 3/2009, 166; zutreffend die Kritik von Vuille/Taroni, forumpoenale 2009, 365–368. Wenig zielführend ist hingegen die Anmerkung von Albrecht, forumpoenale 3/2009, 166 f., der die Quantifizierung kritisiert. Der beschriebene Denkfehler hängt nicht davon ab, ob man die Likelihood in einer Zahl ausdrückt. Der Ausdruck in einer Zahl macht ihn erst erkennbar. 24 Eddy, in: Kahneman/Slovic/Tversky (Hrsg.), Judgment under uncertainty, 249–267, 249 ff. 25 Guthrie/Rachlinski/Wistrich, Cornell Law Review 2007, 1–44, 23; Vuille, Ce que la justice fait dire à l’ADN, 381 ff.; Keijser/Elffers, Psychology, Crime & Law 2012, 191–207, 200. 13

I. Einleitung

255

zierte Urteile aus verschiedenen Ländern bekannt, in denen nachweislich die »inverse fallacy« begangen wurde.26 Häufig werden aus naturwissenschaftlichen Sachverständigengutachten (insbesondere DNA-Gutachten) falsche Schlüsse gezogen, aber die Quantifizierung subjektiver Wahrscheinlichkeiten in naturwissenschaftlichen Gutachten macht nur ein Problem offensichtlich, das auch sonst besteht.27 Auch wenn uns unsere Intuition manchmal in die Irre führen kann, so lässt sich die Flut an Informationen, die bei der Beweiswürdigung zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden müssen, ohne Intuition gar nicht bewältigen. Die unbewusste, parallele Verarbeitung von Informationen kann Informationsmengen bewältigen, durch die der analytische Verstand überfordert ist.28 Offensichtlich spielt beim Denken beides, Vernunft und Intuition, eine Rolle – ein Gedanke, der sich bis auf Aristoteles zurückverfolgen lässt und sich auch in einem der Urtexte der modernen Psychologie, William James’ »Principles of Psychology«, findet.29 Heute versuchen so genannte »Zwei-Prozess-Theorien« (dual process theories) des Denkens, das Zusammenspiel zwischen bewussten, langsamen, regelbasierten Denkprozessen (»Vernunft«) und automatischen, schnellen, unbewussten Prozessen (»Intuition«) zu erfassen.30 Im Folgenden liegt das Augenmerk auf der Intuition und den ihr zugrundeliegenden psychologischen Prozessen. Dazu ist vorab der Begriff der »Intuition« zu definieren. 1. Was ist Intuition? Intuition stammt von lat. in und tueri, innen betrachten,31 was sich als »Innenschau« übersetzen lässt. Der Versuch, diese »Innenschau« begrifflich näher zu fassen, hat zu einer verwirrenden Vielfalt von Begriffsbestimmungen geführt – es gibt beinahe so viele Umschreibungen von »Intuition«, wie es Leute gibt, die den Begriff definieren.32 Ich konzentriere mich hier auf die Verwendung in der neueren psychologischen Literatur, unter Vernachlässigung insbesondere psychoanalytischer Konstrukte der Intuition. 26 Für Deutschland die Vorinstanz in BGH NJW 1992, 2976; für der Schweiz siehe die Nachweise bei Vuille, Ce que la justice fait dire à l’ADN, 303 ff.; für England siehe Dawid, Proceedings of the British Academy 2002, 71–90, 81 f.; Foreman et al., International Statistical Review 2003, 473–495, 475 f.; für die USA Browne, Labor Lawyer 1998, 437–455, 447. 27 Fenton/Neil, Australian Journal of Legal Philosohpy 2011, 114–151, 127. 28 Glöckner/Betsch, Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 2008, 1055–1075, 1072. 29 Sloman, Psych. Bull. 1996, 3–22, 3; Hammond, Beyond rationality, 123 f.; James, The Principles of Psychology, 325 ff. 30 St. Evans, Annual Review of Psychology 2008, 255–278, 256. 31 Harper, Online Etymology Dictionary http://www.etymonline.com/, Stichwort »intuition« (zuletzt besucht am 10. November 2014). 32 Dane/Pratt, Academy of Management Review Archive 2007, 33–54, 35, zitieren unterschiedliche Definitionen von 17 Autoren.

256

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

Eine Möglichkeit, Intuition zu definieren, ist zu sagen, was Intuition nicht ist. Nach dieser »negativen« Definition ist Intuition ein Vorgang der Informationsverarbeitung, der eine Antwort, Lösung oder Idee ohne Verwendung eines bewussten, logisch vertretbaren, schrittweisen Prozesses hervorbringt.33 Intuition ist demnach das, was sich nicht erklären oder vermitteln lässt, das auf die Frage nach dem »warum« keine Antwort liefern kann;34 sie ist »wehrlos gegenüber der Forderung nach einer Erklärung«35 . Vor dem Hintergrund dessen, dass der Richter gesetzlich verpflichtet ist, zu begründen, warum er eine Tatsachenbehauptung für wahr erachtet (§ 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO-DE; grundsätzlich ebenso ZPO-CH, beachte aber Art. 239 Abs. 1 ZPO-CH), ist die Betonung der Rolle der Intuition bei der Beweiswürdigung durch Teile der Lehre zumindest überraschend, wenn Intuition gerade der nicht erklärbare Anteil der Urteilsbildung ist. Positive Umschreibungen der Intuition finden sich in der psychologischen Literatur zahlreiche.36 Nach Hogarth ist das Wesentliche an der Intuition, oder einer intuitiven Antwort, dass sie scheinbar ohne Anstrengung, und typischerweise unbewusst, gefunden wird. Eine intuitive Antwort benötigt wenig oder kein bewusstes Überlegen.37 Gigerenzer verwendet »die Begriffe Bauchgefühl, Intuition oder Ahnung austauschbar, um ein Urteil zu bezeichnen, (i) das rasch im Bewusstsein auftaucht, (ii) dessen tiefere Gründe uns nicht ganz bewusst sind und (iii) das stark genug ist, um danach handeln zu können.«38 Nach Sadler-Smith ist Intuition ein unwillkürliches, kaum artikulierbares, affektgesteuertes Urteil, dem Lernen und Erfahrung zugrunde liegen, und das rasch, durch holistische Assoziation und ohne abwägendes (deliberatives) oder bewusstes rationales Denken, gefällt wird.39 Für Klein ist Intuition, wie wir unsere Erfahrung in Urteile und Entscheidungen übersetzen. Es ist die Fähigkeit, Entscheidungen durch das Erkennen von Situationsmustern (patterns) und der passenden Handlungsmuster (action scripts) zu fällen. Wenn erfahrene Entscheidungsträger ein Muster erkennen, ist die Entscheidung für sie in der Regel offensichtlich.40 Nach Betsch ist Intuition eine Art des Denkens. Der Input für diesen Denkprozess wird in erster Linie durch im Langzeitgedächtnis gespeichertes Erfahrungswissen geliefert, das durch assoziatives Lernen erworben wurde. Der Input wird automatisch und unbewusst verarbeitet. Output des Prozesses ist ein Gefühl, das als Basis 33

Hammond, Human judgment and social policy, 60. Hammond, Beyond rationality, 145. 35 Hammond, Beyond rationality, 54 (Übersetzung aus dem Englischen durch den Verfasser). 36 Siehe Glöckner/Witteman, in: Glöckner/Witteman (Hrsg.), Foundations for tracing intuition, 1–23, 2 f. für einen Überblick. 37 Hogarth, Educating intuition, 14. 38 Gigerenzer, Bauchentscheidungen, 25. 39 Sadler-Smith, Inside intuition, 31. 40 Klein, Intuition at work, 13. 34

I. Einleitung

257

für Urteile und Entscheidungen dienen kann.41 Zahlreiche Autoren betonen, dass Intuition eine holistische Erfahrung ist, im Gegensatz zur das Problem zergliedernden Analyse.42 Eine allgemeingültige Definition der Intuition gibt es also nicht, aber einen Kern gemeinsamer Eigenschaften, die der Intuition zugeschrieben werden, lässt sich erkennen. Dieser Kern besagt in etwa, dass Intuition (i) ein automatischer, schneller, anstrengungsloser und weitgehend unbewusster Prozess der Informationsverarbeitung ist und (ii) in einem Gefühl resultiert, das ein Urteil oder eine Entscheidung beeinflussen kann. Die Intuition in diesem Sinne lässt sich abgrenzen vom verwandten Phänomen der Einsicht. Einsicht ist die »plötzlich und unerwartet im Bewusstsein auftauchende Lösung eines ungelöst gebliebenen Problems.«43 Einsicht unterscheidet sich von Intuition dadurch, dass die Lösung plötzlich im Bewusstsein auftritt und mit der Erkenntnis einhergeht, dass die richtige Lösung gefunden wurde.44 Intuition hingegen muss nicht zum Bewusstsein führen, die richtige Lösung gefunden zu haben – man kann intuitiv eine Entscheidung treffen, ohne sicher zu sein, dass es die richtige ist. Intuition muss auch nicht plötzlich, wie eine Eingebung, auftauchen.45 Gerade bei der richterlichen Überzeugungsbildung, darauf hat schon Bohne hingewiesen, gibt es meist keine plötzliche Erkenntnis, dass ein bestimmtes Urteil richtig ist. Die Zweifel werden vielmehr schrittweise zurückgedrängt, und das Lösungsgefühl stellt sich allmählich ein.46 Sicherheit, dass die richtige Lösung gefunden wurde, wird es häufig auch nicht geben – der Richter muss sich vielmehr trotz weiterhin bestehender Unsicherheit für einen Sachverhalt entscheiden. Abgrenzen lässt sich Intuition auch vom Instinkt.47 Instinkt ist eine angeborene Verhaltensweise, die nicht erlernt zu werden braucht, und daher als festes Muster bei allen Mitgliedern einer Spezies vorkommt.48 Intuition hingegen ist lernbar. Ein geübter Schachspieler hat eine Intuition, ein nicht artikulierbares Gefühl, ob ein Zug für ihn vorteilhaft ist.49 Einem Nicht-Schachspieler fehlt diese Intuition. Dieses Verständnis der Intuition als lernbar schließt nicht aus, dass der Intuition – wie dem menschlichen Denken allgemein – angeborene Prozesse zugrunde liegen, 41 Betsch, in: Plessner/Betsch/Betsch (Hrsg.), Intuition in judgment and decision making, 3–22, 4. 42 Hogarth, Psych. Inquiry 2010, 338–353, 339; neben Sadler-Smith, Inside intuition, 31, siehe auch die bei Dane/Pratt, Academy of Management Review Archive 2007, 33–54, 37, zitierten Autoren. 43 Betsch/Funke/Plessner, Entscheiden, Urteilen und Problemlösen, 162. 44 Hogarth, Psych. Inquiry 2010, 338–353, 339. 45 Hogarth, Educating intuition, 10. 46 Bohne, Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung, 54 f. 47 Hogarth, Psych. Inquiry 2010, 338–353, 339. 48 Myers, Psychologie, 513. 49 Simon, Academy of Management Executive 1987, 57–64, 59.

258

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

die durch die Evolution geformt wurden.50 Entscheidend ist, dass die Anwendung und Ausprägung dieser Prozesse auch durch die Lernumgebung geformt wird, und insofern nicht angeboren ist. Nicht notwendig ist, dass Intuition die Entscheidung oder das Urteil tatsächlich bestimmt. Es ist auch denkbar, dass die Intuition zwar eine Lösung nahelegt, aber die »Vernunft« korrigierend eingreift und verhindert, dass nach der (reinen) Intuition entschieden wird. In der Beurteilung, wie Intuition und Ratio zusammenspielen, unterscheiden sich insbesondere die verschiedenen Zwei-ProzessTheorien des Denkens, die in der kognitiven Psychologie vorgeschlagen werden. Nach parallel-kompetitiven Theorien werden Intuition (basierend auf implizitem Wissen) und Vernunft (basierend auf explizitem Wissen) gleichzeitig aktiviert und versuchen, das Verhalten zu steuern.51 Nach den interventionistischen Theorien liefert die Intuition immer einen »Lösungsvorschlag«, der je nach Entscheidungssituation sofort umgesetzt oder vorab vom analytischen System geprüft und unter Umständen verworfen wird.52 Schließlich lässt die vorstehende Umschreibung der Intuition offen, welche kognitiven Prozesse der Intuition zugrunde liegen. Auch hierzu wird in der psychologischen Literatur eine Vielzahl von Theorien angeboten. Glöckner/ Wittemann schlagen eine Kategorisierung der Intuition in vier Arten vor, basierend auf den treibenden kognitiven Prozessen, nämlich assoziativer Intuition, abgleichender Intuition, akkumulierender Intuition und konstruktiver Intuition.53 Es wird nicht behauptet, dass diese Arten der Intuition scharf getrennt sind, sondern dass jede Kategorie das Augenmerk auf einen bestimmten Prozess richtet und diesem eine zentrale Bedeutung einräumt.54 Für die vorliegenden Zwecke genügt eine vereinfachte Unterteilung in die zwei Kategorien assoziative und konstruktive Intuition, wie sie in Tabelle 12 gezeigt ist. Nicht zum Kern der Intuition zählt Glöckner die schnellen und einfachen Urteilsheuristiken (fast and frugal heuristics, S. 260), die für Gigerenzer die Quelle

50 Hogarth, Educating intuition, 74; siehe Cosmides/Tooby, Cognition 1994, 41–77; Gigerenzer/Todd/ABC Research Group (Hrsg.), Simple heuristics that make us smart, 30; Todd, in: Gigerenzer/Selten (Hrsg.), Bounded rationality, 51–70, 51 ff., für ein Verständnis von Intuition, das zu einem großen Teil auf durch evolutionäre Adaption entstandenen, und daher angeborenen, Prozessen beruht. 51 St. Evans, Annual Review of Psychology 2008, 255–278, 271; Beispiele für solche Theorien sind Sloman, Psych. Bull. 1996, 3–22; Smith/DeCoster, Personality and Social Psychology Review 2000, 108–131. 52 St. Evans, Annual Review of Psychology 2008, 255–278, 271; Beispiele für solche Theorien sind Hogarth, Educating intuition, 203 f.; Kahneman/Frederick, in: Gilovich/Griffin/Kahneman (Hrsg.), Heuristics and biases, 49–81; Evans, Psychonomic Bulletin & Review 2006, 378–395; Guthrie/Rachlinski/Wistrich, Cornell Law Review 2007, 1–44, 29 ff.; Glöckner/Betsch, Judgment and Decision Making 2008, 215–228. 53 Glöckner/Witteman, Thinking & Reasoning 2009, 1–25, 7 f. 54 Glöckner/Witteman, Thinking & Reasoning 2009, 1–25, 8.

I. Einleitung

259

Tabelle 12: Arten von Intuition (vereinfacht nach Glöckner/Witteman, 2010).

Kategorie

Beschreibung

Assoziative Intuition: einfaches Lernen und Abrufen

Lernen: bestärkendes und assoziatives Lernen (klassische Konditionierung, instrumentelle Konditionierung); soziales Lernen; implizite Aufzeichnung von Häufigkeiten und Werten. Abrufen: Intuition als bloßes Gefühl von Zu- oder Abneigung; Intuition als affektive Erregung; Intuition als Aktivierung von vormals erfolgreichen Verhaltensweisen. Quelle der Information: Gedächtnisspuren und/oder aktuell wahrgenommene Hinweisreize. Integration: Aktivierung von ähnlicher Information; automatische Konstruktion von kohärenten mentalen Repräsentationen; Akzentuierung von Hinweisreizen (Kohärenz-Verschiebung); nur das Resultat oder die gesamte automatisch konstruierte Interpretation des Problems wird bewusst.

Konstruktive Intuition: Konstruktion von mentalen Repräsentationen

von Bauchgefühlen sind.55 Nach hier vertretener Auffassung ist Intuition ein Oberbegriff, der nicht von vorneherein gewisse Denkprozesse (wie Heuristiken) ausschließt. Die Kategorisierung von Glöckner/Witteman ist jedoch nützlich, um die beinahe unübersehbare Vielfalt von psychologischen Theorien zur Intuition zu strukturieren, und wird hier in ihrer vereinfachten Form zur Gliederung verwendet. Wenn hier meist von »Urteilen und Entscheiden« die Rede ist, dies als Klammerbemerkung, dann ist dies nicht ein bloßer Pleonasmus. Während die Begriffe »Urteil« und »Entscheidung« in der juristischen Sprache meist austauschbar sind (»Das Gericht hat geurteilt, dass . . . « / »Das Gericht hat entschieden, dass . . . «) haben sie in der kognitiven Psychologie eine genau definierte, unterschiedliche Bedeutung:56 Bei einem Urteil wird einem Urteilsobjekt ein Wert auf einer Urteilsdimension zugeordnet und zum Ausdruck gebracht (z. B. »Die vom Beklagten gelieferten Werkstücke sind von mittlerer Qualität.«). Bei einer Entscheidung hingegen wird zwischen mindestens zwei Optionen eine Wahl getroffen (z. B.: »Die Klage ist gutzuheißen./Die Klage ist abzuweisen.«). Urteile können eine Grundlage für Entscheidungen sein. Nur Entscheidungen jedoch

55 Glöckner, in: Plessner/Betsch/Betsch (Hrsg.), Intuition in judgment and decision making, 309–325, 310 ff., versus Gigerenzer, Bauchentscheidungen, 56 f. 56 Betsch/Funke/Plessner, Entscheiden, Urteilen und Problemlösen, 12.

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

haben Konsequenzen, die bei der Wahl der Option zu berücksichtigen sind.57 Die psychologische Forschung zum Urteilen und Entscheiden wird in dem Forschungsgebiet des »Judgment and Decision Making« zusammengefasst. 2. Ist Intuition gut oder schlecht? Die Meinungen, ob Intuition gut oder schlecht, nützlich oder schädlich, ist, gehen weit auseinander. Einstein soll Intuition als »das einzig Wertvolle« bezeichnet haben, nach Dürrenmatt hingegen ist Intuition »die Fähigkeit gewisser Leute, eine Lage in Sekundenschnelle falsch zu beurteilen.«58 In der populärwissenschaftlichen Literatur finden sich zahlreiche Ratgeber, welche die Vorteile der Intuition in höchsten Tönen loben, mit Titeln wie »Intuition – die geheimnisvolle Kraft: So nehmen Sie Ihre innere Stimme wahr und verwirklichen Ihre Träume«59 , »Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft: Die Kraft der Intuition«60 oder »Intuition: Die Weisheit der Gefühle«61 . Andere sind nicht minder skeptisch – »Kopflos: Wie unser Bauchgefühl uns in die Irre führt – und was wir dagegen tun können«62 . Eine ähnliche Trennung wie in der populärwissenschaftlichen Literatur findet sich auch in der wissenschaftlichen psychologischen Literatur. Unter dem Eindruck der »heuristics and biases« Forschungsrichtung, die von Daniel Kahneman und Amos Tversky begründet wurde, herrschte in den 1970-er und 1980-er Jahren ein eher skeptisches Bild menschlicher Intuition vor.63 Es wurde postuliert, dass Menschen Urteilsheuristiken, d. h. Faustregeln, die ein komplexes Urteil vereinfachen, verwenden, und diese oft zu systematischen Urteilsverzerrungen (biases) führen. Zwar betonten Kahneman und Tversky wiederholt, dass Urteilsheuristiken durchaus nützlich seien und unter geeigneten Bedingungen zu guten Entscheidungen führen könnten,64 aber ein Großteil der Arbeiten des »heuristics and biases« Ansatzes konzentrierte sich darauf, Menschen immer weitere Fehler – d. h. Abweichungen von einem normativen Ideal, meist der subjektiven Wahrscheinlichkeits- und der Erwartungsnutzentheorie – nachzuweisen.65 Es war vielleicht unausweichlich, dass die skeptische Sicht intuitiver 57

Betsch/Funke/Plessner, Entscheiden, Urteilen und Problemlösen, 13. Zuschreibung der Zitate an Einstein durch Kickul/Gundry, in: Sinclair (Hrsg.), Handbook of intuition research, 88–96, 94; an Dürrenmatt durch Scholze-Stubenrecht/Steinhauer (Hrsg.), Duden – Zitate und Aussprüche, Stichwort »Intuition«. 59 Tepperwein, Intuition – die geheimnisvolle Kraft. 60 Kast, Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft. 61 Traufetter, Intuition. 62 Brafman/Brafman, Kopflos. 63 Hogarth, Psych. Inquiry 2010, 338–353, 340; für einen Überblick der wichtigsten Arbeiten des »heuristics and biases« Ansatzes siehe Gilovich/Griffin/Kahneman (Hrsg.), Heuristics and biases. 64 Gilovich/Griffin, in: Gilovich/Griffin/Kahneman (Hrsg.), Heuristics and biases, 1–18, 3 f. 65 Stanovich, Decision making and rationality, 93 f. 58

I. Einleitung

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Denkprozesse irgendwann auf Widerstand stoßen würde, und in den 1990-er Jahren setzte eine Gegenbewegung ein, welche die Vorteile menschlicher Intuition betonte. So wurde darauf hingewiesen, dass Urteilsheuristiken möglicherweise zu Abweichungen von einem eng definierten normativen Ideal führen, aber in der (entwicklungsgeschichtlich) natürlichen Umwelt des Menschen adaptive Verhaltensweisen darstellen, welche analytischem, regelbasiertem Denken überlegen sind.66 Es wurde nun hervorgehoben, dass schnelle und einfache Heuristiken wie »take the best« (beachte nur den beweiskräftigsten Hinweisreiz) komplexer Informationsverarbeitung – z. B. mittels Bayes’ Netzen – ebenbürtig oder nur marginal unterlegen seien.67 Dieses Forschungsprogramm, das vor allem mit Gerd Gigerenzer und seiner Forschungsgruppe am Max Planck Institut für Bildungsforschung in Berlin in Verbindung gebracht wird, fand seinen Niederschlag in dem populärwissenschaftlichen Buch »Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition«, das die Vorteile intuitiver Entscheidungsstrategien hervorhebt.68 Eine Forschungsgruppe um den niederländischen Psychologen Ap Dijksterhuis behauptet gar, unbewusstes Denken sei bewusstem Denken bei komplexen Problemen überlegen.69 Die innerhalb der kognitiven Psychologie äußerst kontroverse »unconscious thought theory« wurde unter anderem durch den Bestseller »Blink!« von Malcolm Gladwell einem größeren Publikum bekannt und hat zwischenzeitlich zu einem eigenen populärwissenschaftlichen Buch namens »Das kluge Unbewusste: Denken mit Gefühl und Intuition«70 geführt. Egal, ob man Intuition als das Resultat von durch evolutionäre Prozesse geformter einfacher kognitiver Faustregeln oder als das Resultat der Anwendung von (implizitem) Erfahrungswissen versteht, liegt eine dem Juristen vertraute Antwort auf die Frage, ob Intuition gut oder schlecht ist, nahe: Es kommt darauf an. Und zwar kommt es nach der ersten Auffassung darauf an, ob die Umgebung, in der die Urteilsheuristik angewendet wird, ähnliche Eigenschaften aufweist wie die evolutionsgeschichtliche Umgebung, in der die Urteilsheuristik angeblich geformt wurde, und der sie deshalb angepasst ist. Ist Intuition hingegen im weitesten Sinne eine Anwendung von Erfahrungswissen, dann kommt es 66 Lopes, Theory & Psychology 1991, 65–82; Cosmides/Tooby, Cognition 1994, 41–77; Gigerenzer/Todd/ABC Research Group (Hrsg.), Simple heuristics that make us smart; Todd, American Behavioral Scientist 2000, 940–956. 67 Gigerenzer/Czerlinski/Martignon, in: Gilovich/Griffin/Kahneman (Hrsg.), Heuristics and biases, 559–581. 68 Gigerenzer, Bauchentscheidungen. 69 Dijksterhuis/Nordgren, Perspectives on Psychological Science 2006, 95–109; kritisch zur »Unconscious Thought Theory« González-Vallejo et al., Review of General Psychology 2008, 282–296; Acker, Judgment and Decision Making 2008, 292–303; Newell et al., Quarterly Journal of Experimental Psychology 2009, 707–732; Nieuwenstein/van Rijn, Judgment and Decision Making 2012, 779–798; verteidigend Bargh, Social Cognition 2011, 629–647; Strick et al., Social Cognition 2011, 738–762. 70 Gladwell, Blink!; Dijksterhuis, Das kluge Unbewusste.

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

entscheidend auf die Lernumgebung an, in der das Erfahrungswissen erworben wurde: Ist die Lernumgebung geeignet, »gute« Intuitionen zu erlernen, oder führt sie dazu, dass falsche Intuitionen nicht erkannt oder gar verstärkt werden? Nachfolgend soll daher untersucht werden, ob die Lernumgebung, in der sich deutsche und schweizerische Richter befinden, geeignet ist, »gute« Intuitionen für die Tatsachenfeststellung zu erwerben.

II. Assoziative Intuition Als »assoziative Intuition« wird eine Intuition bezeichnet, die auf Erfahrungswissen beruht, das häufig nicht artikulierbar ist.71 Der Feuerwehrmann, der plötzlich ein ungutes Gefühl bekommt und sich aus einem brennenden Haus zurückzieht, verlässt sich auf diese Form der Intuition. Er erkennt aufgrund seiner Erfahrung, dass »etwas nicht stimmt«, obwohl er möglicherweise nicht artikulieren kann, was. Intuition ist nach dieser Sicht lernbar.72 Daher müssen vorab, in den absoluten Grundzügen, einige elementare Formen des Lernens dargestellt werden. Wichtig und für die nachfolgenden Ausführungen zentral ist vor allem die Erkenntnis, dass man einen Zusammenhang zwischen zwei Merkmalen – beispielsweise einem Beweisanzeichen und der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung – nur dann aus Erfahrung lernen kann, wenn vier Häufigkeiten beobachtet werden können: das gemeinsame Auftreten von Hinweis und Folge, das gemeinsame Auftreten von fehlendem Hinweise und Folge, das gemeinsame Auftreten von Hinweis und fehlender Folge und das gemeinsame Auftreten von fehlendem Hinweis und fehlender Folge. Kann nur ein Teil dieser Häufigkeiten beobachtet werden, oder ist die Wahrnehmung der Häufigkeiten systematisch verzerrt, ohne dass die Verzerrung bewusst korrigiert würde, kommt es zu Fehlurteilen. 1. Assoziatives Lernen Eine elementare Form assoziativen Lernen ist die auch außerhalb der Psychologie bekannte klassische Konditionierung nach Pavlov.73 In einer Lernphase wird eine Assoziation zwischen einem Hinweisreiz (z. B. die berühmte Glocke) und einer Reaktion (z. B. Sabbern des Hundes) geschaffen, indem der Hinweisreiz an einen Stimulus (z. B. Essensgabe) gekoppelt wird. Entscheidend für die klassische Konditionierung ist die Kontingenz zwischen Hinweisreiz und Reaktion: Die bedingte Reaktion wird nur dann ausgebildet, wenn der Hinweisreiz (bedingte 71 Betsch et al., Personality and Social Psychology Review 2001, 242–253; Morewedge/ Kahneman, Trends in Cognitive Sciences 2010, 435–440. 72 Phillips/Klein/Sieck, in: Koehler/Harvey (Hrsg.), Blackwell Handbook of Judgment and Decision Making, 297–315, 306. 73 Pavlov, Conditioned reflexes.

II. Assoziative Intuition

263

Reiz) mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit den unbedingten Reiz vorhersagt.74 Zur Löschung, oder Extinktion, der Assoziation von Hinweisreiz und unbedingtem Reiz kommt es bei der klassischen Konditionierung, wenn nach der Lernphase wiederholt der Hinweisreiz ohne den unbedingten Reiz dargeboten wird.75 Das Erkennen und Lernen von Zusammenhängen zwischen Ereignissen ist eine der grundlegendsten kognitiven Funktionen und ein zentrales Merkmal adaptiver Intelligenz.76 Assoziatives Lernen setzt voraus, dass Menschen Häufigkeiten automatisch, d. h. ohne viel kognitive Ressourcen darauf zu verwenden, so speichern, wie die Häufigkeiten in der Umwelt tatsächlich dargeboten werden und in der Lage sind, einen einmal erfahrenen Reiz wiederzuerkennen. Zahlreiche Studien belegen, dass Menschen in einer geeigneten Lernumgebung dazu tatsächlich in der Lage sind.77 Auch die Fähigkeit, Stimuli wiederzuerkennen, ist sehr gut ausgeprägt.78 Häufigkeitsurteile können jedoch beeinflusst werden durch den verzerrten Abruf der gelernten Häufigkeiten, sei es durch eine bewusste Suche im Gedächtnis oder den Abruf einer (normativ falschen) Häufigkeit.79 Im einfachsten Fall des Zusammenhanges zwischen zwei dichotomen Merkmalen müssen vier Häufigkeiten beobachtet werden, um einen validen Schluss auf den Zusammenhang zwischen den Merkmalen ziehen zu können (siehe Tabelle 13a):80 Die Häufigkeit, mit die positive Ausprägung von Merkmal A mit der positiven Ausprägung von Merkmal B auftritt (Zelle a), die Häufigkeit, mit der die positive Ausprägung von Merkmal A mit der negativen Ausprägung von Merkmal B auftritt (Zelle b), die Häufigkeit, mit der die negative Ausprägung von Merkmal A mit der positiven Ausprägung von Merkmal B auftritt (Zelle c) und schließlich die Häufigkeit, mit der die negative Ausprägung von Merkmal A mit der negativen Ausprägung von Merkmal B auftritt (Zelle d in Tabelle 13a). Tabelle 13a, b zeigt die notwendigen Frequenzen zuerst abstrakt am Beispiel des Zusammenhangs zwischen einem Signal (Prädiktor) und einem Merkmal (Folge). Das Verhältnis a/(a+b) ist die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass das Merkmal bei gegebenem Signal vorliegt, also z. B., wie wahrscheinlich es ist, dass eine Person, die über 190 cm groß ist, ein Mann ist (hier: a/(a+b) = 74

Rescorla, Psych. Rev. 1967, 71–80. Edelmann, Lernpsychologie, 38. 76 Betsch/Funke/Plessner, Entscheiden, Urteilen und Problemlösen, 37. 77 Hasher/Zacks, American Psychologist 1984, 1372–1388; Sedlmeier/Betsch/Renkewitz, in: Sedlmeier/Betsch (Hrsg.), Frequency processing and cognition, 1–17, 5; Zacks/Hasher, in: Sedlmeier/Betsch (Hrsg.), Frequency processing and cognition, 21–36, 22 ff.; a. M. Barbey/Sloman, Behavioral and Brain Sciences 2007, 241–297, 249, die Menschen diese Fähigkeit absprechen. 78 Goldstein/Gigerenzer, Psych. Rev. 2002, 75–90, 76 f. 79 Fiedler, in: Sedlmeier/Betsch (Hrsg.), Frequency processing and cognition, 67–88, 69 ff.; Schwarz/Wänke, in: Sedlmeier/Betsch (Hrsg.), Frequency processing and cognition, 89–108, 91 ff., 99 ff. 80 Einhorn/Hogarth, Psych. Rev. 1978, 395–416, 397. 75

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

Tabelle 13a, b: 2 × 2-Kontingenztafeln.

Signal + Signal –

Merkmal +

Merkmal –

a c

b d

> 190 cm ≤ 190 cm

Mann

Frau

63 937

1 999

63/(63+1) = 0,984);81 das Verhältnis c/(c+d) die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass das Merkmal bei fehlendem Signal vorliegt (hier: c/(c+d) = 937/(937+999) = 0,48). Als Maß für die Abhängigkeit des Merkmals vom Signal wird meist der so genannte ∆-(Delta-)Koeffizient aus der Differenz a/(a+b) – c/(c+d) berechnet.82 Der ∆-Koeffizient für das Beispiel gemäß Tabelle 13b beträgt entsprechend 0,984 – 0,48 ≈ 0,5. Bei einem ∆-Koeffizienten von 0 hat das Signal keinerlei prädiktiven Wert (d. h. es ist gleich wahrscheinlich, dass die Folge auftritt, wenn das Signal vorliegt wie wenn das Signal fehlt), bei einem ∆-Koeffizienten von 1 ist das Signal perfekt prädiktiv, d. h. die Folge tritt immer auf, wenn das Signal vorliegt, und nie, wenn das Signal nicht vorliegt. Wichtig ist, dass der ∆-Koeffizient nur richtig erkannt werden kann, wenn Informationen über alle Häufigkeiten a, b, c und d vorliegen.83 Wer diesem Buch bis hierher gefolgt ist, für den ist das natürlich keine Überraschung mehr. Um die Beweiskraft eines Indizes zu berechnen, muss man eben immer das Verhältnis der bedingten Wahrscheinlichkeiten kennen, und dazu muss man beide bedingten Wahrscheinlichkeiten kennen, was voraussetzt, dass man Informationen zu den Häufigkeiten in allen vier Zellen der 2 × 2-Kontingenztafel hat. Intuitiv wird dies aber oft verkannt, wie zahlreiche experimentelle Befunde und folgendes Beispiel aus der Praxis zeigen:84 Am 20. September 2004 wurde in einer Luzerner Gemeinde ein Primarschullehrer verhaftet, dem man schweren Kindsmissbrauch vorwarf. Der Angeschuldigte bestritt die ihm zur Last gelegten Taten von Anfang an. Im Juli 2005 wurde von der Strafverfolgungsbehörde ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben, das im Februar 2006 erstattet wurde. Der Gutachter hielt fest, das Bestreiten

81 Der Anteil Männer über 190 cm an der volljährigen deutschen Gesamtbevölkerung ist rund 6,3%, derjenige der Frauen über 190 cm unter 0,01%, gemäß Sozio-oekonomischem Panel (SOEP), erhoben durch DIW Berlin, TNS Infratest Sozialforschung, 1. Halbjahr 2006, veröffentlicht durch statista.org. 82 Fiedler, Psych. Rev. 2000, 659–676, 661; Betsch/Funke/Plessner, Entscheiden, Urteilen und Problemlösen, 37. 83 Einhorn/Hogarth, Psych. Rev. 1978, 395–416, 397; Dawes, Everyday irrationality, 59 f. 84 Für experimentelle Demonstrationen des Fehlers siehe Doherty et al., Acta Psychologica 1979, 111–121; Beyth-Marom/Fischhoff, Journal of Personality and Social Psychology 1983, 1185–1195. Beispiele aus amerikanischen Strafprozessen bei Dawes, Everyday irrationality, 168 f.; weitere Beispiele aus anderen Bereichen bei Hastie/Dawes, Rational choice in an uncertain world, 112 f.

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II. Assoziative Intuition

Tabelle 14: Kontingenztafel Geständnis × Kindsmissbrauch.

Gesteht Kindsmissbrauch Gesteht Kindsmissbrauch nicht

hat Kinder missbraucht

hat keine Kinder missbraucht

selten häufig

sehr selten sehr häufig

jeder Schuld sei geradewegs typisch für eine verdrängte pädophile Neigung, die einer Therapie bedürfe.85 Was ist passiert? Der Gutachter hat aus seiner Erfahrung gelernt, dass viele Pädophile, die tatsächlich schuldig sind, keine Einsicht in ihre Schuld zeigen. Es ist anzunehmen, dass er in seiner Berufstätigkeit in erster Linie mit schuldigen Tätern zu tun hat.86 Mit anderen Worten, seine Erfahrung beschränkt sich auf die erste Spalte der Tabelle 14. Ein fehlendes Geständnis ist »typisch« für Kinderschänder, es ist assoziiert mit Kindsmissbrauch. Das Problem ist natürlich, wie eine einfache Kontrollüberlegung zeigt, dass es mit Sicherheit noch viel seltener vorkommt, dass jemand einen Kindsmissbrauch gesteht, der tatsächlich unschuldig ist (zumindest in einem Rechtsstaat, der keine Folter kennt). Das Bestreiten der vorgeworfenen Tat muss daher ein entlastendes Indiz sein – möglicherweise nicht stark entlastend, wenn tatsächlich auch die meisten Schuldigen nicht gestehen und der Likelihood-Quotient daher nur unwesentlich von 1 abweicht, aber nichtsdestotrotz entlastend. Es als belastendes Indiz zu werten ist auf jeden Fall falsch. Der angebliche luzernische Kinderschänder wurde am 25. März 2009 in erster Instanz von allen Vorwürfen freigesprochen, ist aber durch die psychische Belastung der Strafuntersuchung invalid geworden.87 Der Experte hat sein Urteil, dass Leugnen des Missbrauchs typisch für Pädophile ist, nur auf die erste Spalte von Kontingenztafel abgestellt, auf die sich seine Erfahrung beschränkt. In der Sprache von Bayes’ Regel hat er nur die Likelihood Pr(I|H) beachtet, nicht aber auch die Likelihood Pr(I|¬H). In der psychologischen Literatur wird dieser Fehler als »pseudodiagnostisches Denken« oder »Pseudodiagnostizität« bezeichnet, denn Pr(I|H) ist nur scheinbar diagnostisch, wirklich diagnostisch ist nur der Likelihood-Quotient.88 Von der klassischen Konditionierung unterschieden wird eine weitere Form assoziativen Lernens, die so genannte instrumentelle oder operante Konditionierung. Bei der klassischen Konditionierung folgt einem Hinweisreiz eine Folge, wobei der Hinweisreiz als Signal für die Folge dient (d. h. häufiger vorkommt, 85

Baur, Weltwoche 30. April 2009, 34–36, 35. Dies gilt für die meisten Experten für Kindsmissbrauch, worauf Dawes, Everyday irrationality, 169, hinweist. 87 Baur, Weltwoche 30. April 2009, 34–36, 36. 88 Doherty et al., Acta Psychologica 1979, 111–121, 117; Dawes, Everyday irrationality, 82, 85. 86

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

wenn die Reaktion folgt, als wenn sie nicht folgt). Bei der instrumentellen oder operanten Konditionierung wird ein Verhalten verstärkt oder abgeschwächt, weil das Subjekt lernt, dass sein Verhalten angenehme oder unangenehme Folgen hat.89 Der Aufbau eines Verhaltens erfolgt durch Darbietung einer angenehmen oder Entzug einer unangenehmen Konsequenz eines Verhaltens (positive und negative Verstärkung). Der Abbau erfolgt durch Darbietung einer unangenehmen Konsequenz oder Entzug einer angenehmen Konsequenz (positive oder negative Bestrafung), wobei sich die beiden Formen der Bestrafung nur theoretisch klar unterscheiden lassen.90 Instrumentelles Lernen kann zu gewohnheitsmäßigem Verhalten führen, das motiviert und zielgerichtet ist, aber weitgehend unbewusst erfolgt.91 Neben diesen beiden Grundformen assoziativen Lernens gibt es natürlich auch komplexere Formen des Lernens, die nicht nur assoziativ sind, so das kognitive und sozial-kognitive Lernen (Imitation) und das rezeptive Lernen (Instruktion).92 Sowohl assoziatives Lernen durch Erfahrung wie auch intentionales Lernen kann zu implizitem Wissen führen,93 das unbewusst bleibt und nicht verbalisiert werden kann und eine Basis für Intuitionen bilden kann.94 2. »Gutartige« und »bösartige« Lernumgebungen Betrachtet man Intuition als ein Resultat von Erfahrungswissen,95 so lenkt sich der Blick automatisch auf die Lernumgebung, in der die Erfahrung erworben wurde: Offensichtlich kann irreführende Erfahrung zu fehlerhaften Intuitionen führen. Hogarth, der diese Idee popularisiert hat, unterscheidet zwischen gutartigen (»kind«) und bösartigen (»wicked«) Lernumgebungen. Gutartige Lernumgebungen führen zu guten Intuitionen, bösartige Lernumgebungen zu schlechten Intuitionen.96 Gutartige Lernumgebungen zeichnen sich dadurch aus, dass der Entscheidende eine zeitnahe, relevante Rückmeldung über die Konsequenzen seiner Entscheidung (Feedback) erhält.97 Eine Rückmeldung ist relevant, wenn sie erlaubt, eindeutig zwischen positiven und negativen Konsequenzen der Entscheidung zu unterscheiden. Die Höflichkeit gebietet, dass man sich für Geschenke bedankt, 89

Thorndike, Psych. Rev.: Monograph Supplements 1898, 1–109; Skinner, The behavior of organisms. 90 Edelmann, Lernpsychologie, 69. 91 Edelmann, Lernpsychologie, 75. 92 Edelmann, Lernpsychologie, 117 ff., 191 f.; Winkel/Petermann/Petermann, Lernpsychologie, 157 ff., 189 ff. 93 Winkel/Petermann/Petermann, Lernpsychologie, 210. 94 Hogarth, Educating intuition, 90; Hogarth, Psych. Inquiry 2010, 338–353, 343. 95 Hogarth, Educating intuition, 90. 96 Hogarth, Educating intuition, 89. 97 Hogarth, Educating intuition, 87; Kahneman/Klein, American Psychologist 2009, 515–526, 522.

II. Assoziative Intuition

267

auch wenn man sich nicht darüber freut. Der Schenkende kann daher aus der Rückmeldung – »Vielen Dank, ich habe mich so gefreut über Dein Geschenk« – nicht darauf schließen, dass sich der Beschenkte tatsächlich freut. Die Rückmeldung ist nicht diagnostisch. Das kann dazu führen, dass an einer falschen Entscheidungsstrategie festgehalten wird.98 Anders gesagt: Die Großmutter wird immer wieder Socken schenken, die der Beschenkte nicht schätzt. Es kann sein, dass ein Teil der Rückmeldungen diagnostisch ist, ein anderer Teil nicht. Die Rückmeldung des Beschenkten »Danke, aber Käse mag ich echt nicht« ist informativ – der Schenker kann daraus schließen, dass sich der Beschenkte wirklich nicht freut. Die negative Rückmeldung ist relevant, die positive nicht. Eine Rückmeldung kann schließlich gänzlich unterbleiben oder zeitlich stark verzögert erfolgen. Ein Personalleiter, der einen Bewerber als ungeeignet abgewiesen hat, wird kaum erfahren, dass der Bewerber anschließend auf einer ähnlichen Stelle ausgezeichnete Arbeit verrichtete. Er kann daher auch nicht lernen, dass Bewerber mit diesen Eigenschaften gut geeignet wären für die zu besetzende Stelle. Zusammengefasst entwickeln sich korrekte Intuitionen in einer Lernumgebung, die relevante Rückmeldungen bietet, und falsche Intuitionen in einer Lernumgebung, die kein, ambivalentes oder gar irreführendes Feedback zur Verfügung stellt.99 a) Wie gut ist die Lernumgebung von Richtern für das Erlernen von intuitiver Beweiswürdigung? Schachspieler, Meteorologen, Testpiloten und Viehbeschauer sind anerkanntermaßen kompetente Urteiler und Entscheider.100 Ihre Lernumgebung zeichnet sich dadurch aus, dass sie zeitnahes und relevantes Feedback erhalten. Wie aber steht es um die Lernumgebung von Richtern, was ihre Entscheidungen über die Wahrheit oder Falschheit von rechtlich relevanten Tatsachenbehauptungen anbelangt? Wie oft erhalten sie Feedback, ob ihre Entscheidung richtig war, wie zeitnah ist das Feedback, und vor allem, wie relevant ist das Feedback? Ein Feedback erhält ein Richter eines unterinstanzlichen Gerichts, wenn sein Urteil angefochten wird und eine übergeordnete Instanz das Urteil überprüft. Der Anteil an Urteilen, die angefochten werden, lässt sich der amtlichen Statistik in Deutschland nicht direkt entnehmen, aber einen ungefähren Schluss lassen die veröffentlichten Zahlen zu. Stellt man die Anzahl der Urteile, die von Amtsund Landgerichten in erster Instanz in Zivilsachen (ohne Familienrecht) gefällt wurden, der Anzahl Berufungen gegenüber, die von Land- und Oberlandesge98 Einhorn/Hogarth, Psych. Rev. 1978, 395–416, 400 ff.; Dawes, Behavioral Sciences & the Law 1989, 457–467, 465 ff.; Hogarth, Educating intuition, 88. 99 Hogarth, Educating intuition, 89; Phillips/Klein/Sieck, in: Koehler/Harvey (Hrsg.), Blackwell Handbook of Judgment and Decision Making, 297–315, 306. 100 Shanteau, Organizational Behavior and Human Decision Processes 1992, 252–266, 258.

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

richten 2012 entschieden wurden (d. h. ohne Berufungen, die durch Rückzug oder Vergleich erledigt wurden), dann ergibt sich, dass ein Amtsrichter in rund einem Zehntel der Fälle, in denen er ein Verfahren durch streitiges Urteil erledigt, ein Feedback durch das ihm übergeordnete Gericht erhält, und ein Richter am Landgericht in rund einem Viertel der Fälle.101 Natürlich wurden die Berufungen gegen Urteile, die 2012 gefällt wurden, nicht 2012 entschieden, und daher lässt sich die Berufungsquote aus diesen Zahlen nur ungefähr errechnen, aber da die Zahl der durch streitiges Urteil erledigten Verfahren zwischen 2011 und 2012 rückläufig war, wird die Berufungsquote nach dieser Methode sogar eher überschätzt.102 Eine ähnliche Schätzung für die Schweiz fällt schwer, weil jeder der 26 Kantone eigene Statistiken veröffentlicht, die nicht miteinander vergleichbar sind. Als Beispiel wird deshalb der Kanton Zürich als bevölkerungsreichster Kanton der Schweiz herausgegriffen. Gemäß dem Rechenschaftsbericht 2011 des Obergerichts Zürich wurden 2011 im Kanton Zürich insgesamt 775 Urteile in Zivilsachen (ohne Ehe- und Personenstandssachen) durch Miet- und Arbeitsgerichte, Einzelrichter im ordentlichen und vereinfachten Verfahren und Kollegialgerichte am Bezirksgericht gefällt.103 Gegen Urteile in gewöhnlichen Zivilverfahren (wiederum ohne Ehe- und Personenstandssachen) wurden 167 Berufungen beim Obergericht eingelegt.104 Von den Berufungen in gewöhnlichen Zivilsachen werden rund zwei Drittel durch materielles Urteil (davon rund 67% Abweisung, 20% Gutheißung und 13% Rückweisung an die Vorinstanz) erledigt.105 Der Tatrichter erhält also in rund 14% der Fälle ein Feedback zu seiner Arbeit. Nicht aus der amtlichen Statistik ersichtlich ist, wie häufig mit der Berufung nur die Rechtsanwendung, nur die Tatsachenfeststellung oder beides angegriffen 101

Die Berufungsquote beträgt für amtsgerichtliche Urteile ungefähr 19%, für Urteile des Landgerichts in erster Instanz rund 54%. Von den Berufungen werden vom Landgericht als Berufungsinstanz rund 45% in einer Form erledigt, die dem vorinstanzlichen Gericht Feedback über die Qualität seines Urteils gibt; an den durch Oberlandesgerichte als Berufungsinstanz entschiedenen Verfahren beträgt dieser Anteil rund 40%. Alle Angaben beruhend auf Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.1 – 2012. Erhältlich unter www.destatis.de Startseite > Publikationen > Fachveröffentlichungen > Rechtspflege (besucht am 5. März 2014). 102 Die Amtsgerichte als erste Instanz erledigten durch streitiges Urteil 2011 resp. 2012 300’712 resp. 287’962 Verfahren, die Landgerichte als erste Instanz 91’511 resp. 91’594. Die erstinstanzlichen Verfahren vor Amtsgericht waren also rückläufig, die vor Landgericht nahezu konstant. 103 Alle Zahlen gemäß Rechenschaftsbericht 2012 des Obergerichts des Kantons Zürich, erhältlich unter www.gerichte-zh.ch > Organisation > Obergericht > Rechenschaftsbericht (besucht am 5. März 2014). Die ganz überwiegende Zahl von Urteilen – rund 4’000 – wird in Ehesachen gefällt. 104 Rechenschaftsbericht 2012 des Obergerichts des Kantons Zürich, 154. 105 Rechenschaftsbericht 2012 des Obergerichts des Kantons Zürich, 156. Genaue Zahlen sind nicht erhältlich, da die in 2011 eingegangenen Berufungen natürlich nicht 2011 erledigt werden, und die Erledigungszahlen von 2011 Berufungen aus den Vorjahren betreffen. Drastische Verschiebungen in der Erledigungsart sind aber nicht zu erwarten.

II. Assoziative Intuition

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wurde. Daher lässt sich nicht sagen, wie häufig die Richter Feedback zur Tatsachenfeststellung erhalten. Sagen lässt sich nur, dass dies in weniger als einem Zehntel (für Amtsrichter) respektive einem Viertel (für Richter am Landgericht respektive an einem zürcherischen Bezirksgericht) der Entscheidungen der Fall ist. Eine andere Frage ist, ob das Feedback auch relevant ist. Natürlich ist es relevant in dem Sinne, dass der Richter erfährt, ob er nach Ansicht der übergeordneten Instanz die Beweiswürdigung fehlerfrei vorgenommen hat. Aber wenn Ziel der Beweiswürdigung die Übereinstimmung der dem Urteil zugrundeliegenden Tatsachenbehauptungen mit der Wirklichkeit ist, dann ist das Feedback nur dann relevant, wenn das übergeordnete Gericht eher als das erstinstanzliche Gericht in der Lage ist, die Wahrheit von Tatsachenbehauptungen zu erkennen. Es muss zumindest häufiger in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit entscheiden als das erstinstanzliche Gericht. Überzeugende Gründe, dies anzunehmen, fehlen.106 Weder haben zweitinstanzliche Richter mehr relevante Erfahrung bei der Tatsachenfeststellung, noch eine besondere Ausbildung in diesem Bereich, noch zusätzliche Mittel zur Wahrheitserkenntnis, die dem erstinstanzlichen Richter fehlen. Es besteht zudem Grund zur Annahme, dass das zweitinstanzliche Urteil durch das erstinstanzliche Urteil beeinflusst wird, d. h. die kohärente Schilderung des Sachverhalts im tatrichterlichen Urteil führt dazu, dass es dem Berufungsrichter schwer fällt, sich von einer anderen, ebenfalls kohärenten, Sicht der Dinge zu überzeugen (siehe hinten, S. 302 f.). Dadurch besteht die Gefahr, dass die tatrichterliche Beweiswürdigung zu oft als richtig akzeptiert wird (d. h. öfter, als wenn das Berufungsgericht die Tatsachenwürdigung ohne Kenntnis des erstinstanzlichen Urteils vorgenommen hätte). Das Feedback, das unterinstanzliche Richter zu ihrer Tatsachenfeststellung erhalten, erlaubt es ihnen daher möglicherweise, eine gute Intuition dafür zu entwickeln, wie sie Beweise würdigen müssen, damit die Rechtsmittelinstanz die Beweiswürdigung als richtig akzeptiert, aber nicht, wie sie Beweise würdigen müssen, damit die für wahr erachteten Tatsachenbehauptungen mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Das ist deshalb besonders gefährlich, weil wiederholtes Entscheiden, selbst ohne relevantes Feedback, dazu führt, dass die Überzeugung, richtig entschieden zu haben, steigt, obwohl es dafür keine rationale Basis gibt (»illusion of validity«).107 Die »illusion of validity« führt zur Voraussage, dass erfahrenere Tatrichter überzeugter sind, richtig entschieden zu haben, ohne dass dies tatsächlich der Fall ist. Anekdotische Evidenz stützt die These. So schreibt Gerhard Schlichting, Richter am Oberlandesgericht Celle, »Ausbildung und Berufser106 Wagner, in: Bork/Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Verfahrensrechts, 156–193, 177. 107 Einhorn/Hogarth, Psych. Rev. 1978, 395–416, 400 ff.; Dawes, Behavioral Sciences & the Law 1989, 457–467, 465 ff.; Hogarth, Educating intuition, 88.

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

fahrung fördern nach meinen Beobachtungen nicht die selbstkritische Distanz des Richters, insbesondere nicht gegenüber Eindrücken, die er mit dem Gefühl gewonnen hat, sondern eher ein Festhalten am einmal als richtig Erkannten, auch wenn Bedenken auftauchen.«108 Die Behauptung wird weiter indirekt gestützt durch Resultate von Dickert et al., die deutsche Schöffen baten, vorauszusagen, ob der BGH ein Verhalten, das zu Sach- oder Personenschaden geführt hatte, als vorsätzlich qualifizieren würde. Schöffen mit mehr Erfahrung waren sich sicherer, das Urteil des BGH richtig vorausgesagt zu haben, obwohl sie tatsächlich nicht häufiger richtig lagen als weniger erfahrene Schöffen.109 Da diese Ergebnisse Schöffen betreffen und sich nur auf die rechtliche Würdigung eines Sachverhalts beziehen, sind sie bloß, aber immerhin, ein Indiz für die Richtigkeit der These, dass erfahrenere Richter stärker davon überzeugt sind, bei der Tatsachenfeststellung richtig zu liegen. Zusammenfassend gesagt ist die Lernumgebung des Tatrichters für die Beweiswürdigung in der Terminologie von Hogarth »bösartig«. Eine Rückmeldung ist selten, zeitlich stark verzögert und ambivalent. Es gibt daher kaum Gründe anzunehmen, dass Richter besonders gute Intuitionen bei der Beweiswürdigung entwickeln, wenn »gut« eine Intuition ist, die dazu führt, dass die als wahr erachteten Tatsachenbehauptungen mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Natürlich ist die richterliche Tätigkeit nicht die einzige Quelle für Intuitionen zur Tatsachenfeststellung. Der Richter könnte entsprechende Intuitionen auch durch seine Ausbildung erwerben. Das würde bedingen, dass er während seiner Ausbildung relevantes Feedback zur Tatsachenfeststellung erhält (z. B. könnten angehende Richter an Übungsfällen geschult werden, bei denen die festzustellende Tatsache aufgrund von nicht in den Übungsunterlagen befindlichen Fakten feststeht [Geständnis, DNA-Test], und so ein Feedback erhalten, ob ihre Einschätzung des Sachverhalts korrekt war). Entsprechende Ausbildungen für Richter werden im deutschsprachigen Raum meines Wissens aber nicht angeboten, und im juristischen Studium fristet die Tatsachenfeststellung ein Mauerblümchendasein.110 Dass Richter aufgrund ihrer Ausbildung besonders gute intuitive Beweiswürdiger sind, ist daher ausgeschlossen.111 Das heißt nicht, dass ihre juristische Ausbildung und Berufserfahrung Richter nicht zu Experten macht, die verglichen mit Laien andere Informationsverarbeitungsstrategien verwenden. So reagieren juristisch gebildete Personen weniger emotional auf die Fakten eines (Straf)falles. Juristen sind auch besser als Laien in der Lage, zwischen rechtlich relevanten und rechtlich irrelevanten Fakten zu 108

Schlichting, NJW 1989, 1343–1344, 1343. Dickert et al., Applied Cognitive Psychology 2011, 223–233. 110 Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 5 (zur Situation in Deutschland); Vuille, Ce que la justice fait dire à l’ADN, 442 (zur Situation in der Schweiz). 111 Spellmann, Pennsylvania Law Review – PENNumbra 2007, 1–9, 7, macht ein ähnliches Argument für amerikanische Richter. 109

II. Assoziative Intuition

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unterscheiden und lassen sich durch letztere weniger beeinflussen.112 Aber das bedeutet nicht, dass sich gute Intuitionen bei der Tatsachenfeststellung bilden, weil es eben dort an relevanten Rückmeldungen fehlt, während Juristen während ihrer Ausbildung und ihrer Berufstätigkeit ständig relevante Rückmeldungen dazu erhalten, ob ihre rechtliche Beurteilung eines Sachverhaltes mit derjenigen durch das (übergeordnete) Gericht übereinstimmt. Natürlich muss ein Richter nicht nur in seiner Funktion als Richter darüber entscheiden, ob er eine Tatsachenbehauptung für wahr erachtet. Dies ist eine Handlung, die jeder Mensch täglich vornimmt. Der Richter wird daher, wie jeder Mensch, gewisse Intuitionen dafür entwickeln, ob eine Behauptung wahr oder falsch ist. Aber diese Intuitionen unterscheiden sich, wenn das oben Gesagte zutrifft, nicht systematisch von denen anderer Menschen. Deshalb ist es insbesondere zulässig, Forschungsresultate, die nicht an Richtern gewonnen wurden, auf richterliche Intuitionen bei der Beweiswürdigung zu übertragen.113 3. Zusammenfassung Intuition ist lernbar. Sie beruht auf dem impliziten, nicht artikulierbaren Wissen über Zusammenhänge, das durch assoziatives oder intentionales Lernen erworben wurde. Assoziatives Lernen ist aber nur in einer Lernumgebung möglich, die aussagekräftige, zutreffende, und möglichst zeitnahe Rückmeldungen über die Konsequenzen einer Entscheidung zur Verfügung stellt. Richter erhalten bei ihrer Entscheidung über die Wahrheit von Tatsachenbehauptungen keine relevanten Rückmeldungen in dem Sinne, dass sie erfahren, ob ihre Beurteilung mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Sie können eventuell lernen, ihre Entscheidungen intuitiv so zu begründen, dass sie von einer Rechtsmittelinstanz akzeptiert werden. Es gibt daher keinen Grund, anzunehmen, dass erfahrene Richter valide Intuitionen für die Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit entwickelt haben. Die »illusion of validity« legt nahe, dass sie dem falschen Eindruck erliegen können, dass dies der Fall sei. Wenn vom »sicheren Instinkt des erfahrenen Tatrichters«114 gesprochen wird, ist zumindest Skepsis angebracht. Dass Tatrichter keine besondere Intuition für Tatsachenfeststellung entwickeln, bedeutet nicht, dass Intuition bei der Tatsachenfeststellung keine Rolle spielt. Es bedeutet, dass Richter sich auf die gleichen Intuitionen verlassen wie andere Menschen, denn falsche von wahren Behauptungen scheiden können muss jedes Mitglied einer sozialen Gemeinschaft, nicht nur der Richter in Ausübung seiner amtlichen Tätigkeit. Es bedeutet aber, dass die Annahme zulässig ist, dass Richter ähnliche Intuitionen haben wie andere Menschen, und dass diese Intuitionen auch ähnlich gut oder schlecht sind. 112 113 114

Dickert et al., Applied Cognitive Psychology 2011, 223–233. Vuille, Ce que la justice fait dire à l’ADN, 285. Ostermeyer, MDR 1962, 975–978, 975.

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

III. Konstruktive Intuition Während assoziative Intuition auf der automatischen und oft unbewussten Wiedererkennung von erlernten Mustern oder »patterns« in der Umwelt beruht, ist konstruktive Intuition ein Prozess der Kohärenzbildung. Während der Entscheidungsfindung werden in einem unbewussten, automatischen Prozess die Hinweisreize – Daten, Beweismittel, Indizien – und vorbestehende Erwartungen – mentale Modelle, Lebenserfahrung, Vorurteile – miteinander abgeglichen und in Übereinstimmung gebracht, so dass ein kohärentes Gesamtbild entsteht. Dies geschieht bereits im Rahmen der basalen Prozesse der Wahrnehmung,115 aber auch bei den höheren kognitiven Prozessen der Urteilsbildung und Entscheidungsfindung.116 Entscheidend ist, dass nicht nur das bestehende mentale Modell der Welt den neuen Daten angepasst wird, sondern auch die Daten an das vorbestehende mentale Modell; neue Informationen und vorbestehende mentale Repräsentationen beeinflussen sich gegenseitig. Eine moderne Form von Kohärenzmodellen der Urteils- und Entscheidungsfindung – die Grundideen gehen auf die Gestaltpsychologie der 1920-er Jahre zurück – wird als deskriptives psychologisches Modell der juristischen Beweiswürdigung postuliert.117 Vorläufer dieses Modells, das hinten, S. 289 ff., detailliert vorgestellt wird, sind »GeschichtenModelle« der Beweiswürdigung, oder Theorien narrativer Kohärenz.118 Sie wurden in den 1980-er Jahren in den USA von Psychologen als deskriptive Modelle entwickelt und teilweise als normative Modelle der Beweiswürdigung von der Jurisprudenz rezipiert (S. 319 ff.) und werden hier beginnend mit wenig spezifizierten Varianten und fortschreitend zu immer präziseren Modellen vorgestellt. Die Frage des normativen Status von Kohärenz-Modellen der Beweiswürdigung wird erörtert, nachdem deren empirische Voraussagen zur Überzeugungsbildung vorgestellt wurden, denn diese sind zentral für ihren normativen Status (S. 319 ff.).

115 Stadler/Fabian, Zeitschrift für experimentelle Psychologie 1995, 132–151, 135; Frith, Making up the mind, 125 f.; Gilbert/Sigman, Neuron 2007, 677–696, 677 f. 116 Read/Marcus-Newhall, Journal of Personality and Social Psychology 1993, 429–447; Kunda/Thagard, Psych. Rev. 1996, 284–308; Shultz/Lepper, Psych. Rev. 1996, 219–240; Read/ Miller (Hrsg.), Connectionist models of social reasoning and social behavior; Glöckner, Automatische Prozesse bei Entscheidungen; van Overwalle, Social connectionism; Freeman/Ambady, Psych. Rev. 2011, 247–279. 117 Holyoak/Simon, Journal of Experimental Psychology: General 1999, 3–31; Simon/Snow/ Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837; Simon, University of Chicago Law Review 2004, 511–586; Glöckner/Engel, Journal of Empirical Legal Studies 2013, 230–252; Engel/Glöckner, Journal of Behavioral Decision Making 2013, 272–284. 118 Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 816; Thagard, Applied Artificial Intelligence 2004, 231–249, 243; Engel/Glöckner, Journal of Behavioral Decision Making 2013, 272–284, 1.

III. Konstruktive Intuition

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1. Narrative Kohärenz Geschichten-Modelle der Beweiswürdigung postulieren, dass Mittel zur Schaffung von Kohärenz bei der Beweiswürdigung die Erzählung ist. Der Richter versucht, die vorliegenden Beweismittel vor dem Hintergrund seiner Lebenserfahrung zu einer stimmigen Geschichte zusammenzufügen. Gelingt ihm dies, ist er überzeugt, dass die Geschichte wahr ist. Gelingt ihm dies nicht, weil sich einzelne Beweismittel partout nicht stimmig in die Geschichte einfügen lassen, oder gibt es eine andere Geschichte, welche die Beweismittel besser zu erklären vermag, dann glaubt er die Geschichte nicht. Erfahrenen Prozessanwälten ist dies schon lange bewusst. So schreibt Hafter:119 »Das beste Mittel, um das Gericht zu überzeugen, ist die Präsentation einer glaubwürdigen, nachvollziehbaren und sachlich und psychologisch widerspruchsfreien Geschichte.«

Gefährlich ist, dass im Verlaufe der Überzeugungsbildung nicht nur die Geschichte den Beweismitteln, sondern auch die Interpretation der Beweismittel der Geschichte angepasst wird, in dem Sinne, dass die Beweiskraft von Indizien, die nicht zur Geschichte passen, abgewertet wird, oder solche Indizien gar gänzlich unterschlagen werden. a) Bennet/Feldman Bennet und Feldman waren die ersten, die eine Theorie narrativer Kohärenz spezifisch für Strafprozesse entwickelten. Ihre These ist, dass die Geschworenen in amerikanischen Strafprozessen die Beweismittel, die in den Prozess eingeführt werden, in der Form von Geschichten strukturieren, um den Sachverhalt zu verstehen, über ihn zu reden, und am Verfahren teilzunehmen.120 Geschichten sind eine Strategie, die kognitive Belastung durch die Beweiswürdigung zu reduzieren und mit dem Überfluss an Informationen (»information overload«)

Abbildung 33: Interpretation der Beweismittel und Konstruktion der Geschichte beeinflussen sich gegenseitig.

119 120

Hafter, Strategie und Technik des Zivilprozesses, Rz. 1053. Bennett/Feldman, Reconstructing reality, 4.

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

umzugehen.121 Sie erlauben, soziale Handlungen in einen Kontext zu stellen, der es erst ermöglicht, ihnen eine Bedeutung zu geben.122 Da im Strafprozess meist die Interpretation menschlicher Handlungen, namentlich die Intention des Handelnden, umstritten ist, sind Geschichten für die Konstruktion des Sachverhaltes zentral.123 Geschichten ermöglichen nach Bennett/Feldman drei interpretative Handlungen. Erstens erlauben sie es, eine zentrale Handlung zu identifizieren, um die es in der Geschichte geht.124 Zweitens erlauben sie es, Schlüsse aus den Beziehungen zwischen den Elementen der Geschichte, die auf die zentrale Handlung einwirken, zu ziehen, und drittens kann das Netz dieser Beziehungen auf interne Konsistenz und Vollständigkeit geprüft werden.125 Die Schlüsse werden basierend auf Erfahrungswissen, Logik, aber auch ästhetischen Erwägungen gezogen; über letztere fließen vor allem auch Vorurteile und Stereotypen in die Beurteilung ein.126 Erfahrungswissen ist unter anderem in der Form von Skripten (nach Schank und Abelson) gespeichert, die dem Urteilenden erlauben, zu erkennen, ob gewisse Elemente, die zu erwarten wären, fehlen und die Geschichte unvollständig ist.127 Die Vollständigkeit und Kohärenz einer Geschichte wird daran gemessen, ob sie die fünf Elemente sozialer Handlungen nach Burke aufweist (Szene, Handlung, handelnde Person, Mittel [agency] und Zweck). Die Geschichten, die von den Prozessbeteiligten konstruiert werden, sind »capsule versions of reality«:128 »In the process of taking incidents from one social context and placing them in another, the actor selects data, specifies the historical frame, redefines situational factors, and suggests missing observations. In short, he or she can re-present an episode in a version that conforms with his or her perspective both during and after the incident.«

Das bedeutet nicht, dass die Prozessbeteiligten völlig frei sind bei der Konstruktion ihrer Geschichten. Bennett und Feldman bestreiten nicht, dass es eine Realität außerhalb des menschlichen Geistes gibt, und dass es Sinneswahrnehmungen dieser Realität gibt, die von allen (normalsinnigen) Menschen geteilt werden.129 Aber es ist möglich, dass eine stimmige, aber dürftig belegte, Geschichte einer gut dokumentierten, aber schlecht strukturierten, Geschichte vorgezogen wird.130

121

Bennett/Feldman, Reconstructing reality, 66. Bennett/Feldman, Reconstructing reality, 7. 123 Bennett/Feldman, Reconstructing reality, 9. 124 Bennett/Feldman, Reconstructing reality, 79, beschreiben näher, wie die Identifikation der zentralen Handlung erfolgt. 125 Bennett/Feldman, Reconstructing reality, 41. 126 Bennett/Feldman, Reconstructing reality, 60. 127 Bennett/Feldman, Reconstructing reality, 53. 128 Bennett/Feldman, Reconstructing reality, 65. 129 Dafür werden sie von Jackson, Law, fact and narrative coherence, 73 ff., kritisiert. 130 Bennett/Feldman, Reconstructing reality, 67 f. 122

III. Konstruktive Intuition

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In einem Experiment gehen Bennett und Feldman der Frage nach, welche Geschichten für wahr gehalten werden. Dabei zeigt sich, dass die Übereinstimmung der Geschichte mit der Wirklichkeit kaum einen Einfluss darauf hat, dass sie als wahr erachtet wird.131 Es ist die Struktur der Geschichte, nicht ihre Korrespondenz mit der Wirklichkeit, die ihre Glaubhaftigkeit bestimmt. Eine Geschichte wird nicht geglaubt, wenn die Verbindungen zwischen ihren Elementen nicht klar sind (Bennet und Feldman nennen dies »structural ambiguity«).132 Methodisch ist die Arbeit von Bennett und Feldman interessant, weil sie einen ethnographischen Ansatz mit einem Labor-Experiment verknüpft. Die Autoren haben in einem ersten Schritt rund 60 Strafprozesse in Seattle, Washington, beobachtet und mit den Akteuren Quasi-Interviews geführt.133 Dies führte zur Erkenntnis, dass es Geschichten sind, welche die Beweiswürdigung in Strafsachen wesentlich strukturieren und bestimmen. Experimentell wurden anschließend die Faktoren untersucht, welche die Überzeugungskraft einer Geschichte bestimmen.134 b) Die »Anchored Narratives Theorie« von Wagenaar/van Koppen/Crombag Wagenaar, van Koppen und Crombag entwickeln mit ihrer Theorie der »verankerten Geschichten« eine in erster Linie deskriptive Theorie richterlicher Beweiswürdigung, die aber in einem Schlusskapitel zu einer präskriptiven Theorie erweitert wird, indem Regeln aufgestellt werden, die es erlauben sollen, die von der »Anchored Narratives Theorie« (ANT) vorausgesagten Fehler zu vermeiden.135 Die ANT wird an einem Korpus von 35 niederländischen Strafurteilen entwickelt, ist aber nach Wagenaar et al. eine universale Theorie der Beweiswürdigung, die ihrer Meinung nach nicht auf das niederländische (Straf-)rechtssystem beschränkt ist, weil Tatrichter überall Menschen seien, die sich nach den gleichen psychologischen Gesetzen ein Urteil bildeten.136 Nach der zentralen These der ANT besteht Beweiswürdigung aus zwei Schritten: Zuerst bildet sich der Richter ein Urteil zur Plausibilität der (vom Ankläger vorgetragenen) Geschichte, dann prüft er, ob diese Erzählung durch die vorliegenden Beweismittel in allgemein als wahr akzeptierten Sätzen der Lebenserfahrung verankert werden kann.137 Zwei Kriterien sind demnach entscheidend dafür, ob eine Geschichte überzeugend ist: die »Güte« der Geschichte und das Ausmaß, in dem sie durch auf Generalisierungen gestützte Schlüsse von den Beweismitteln auf die Elemente der Geschichte gestützt wird. Entscheidend ist, dass es aus131 132 133 134 135 136 137

Bennett/Feldman, Reconstructing reality, 83 f. Bennett/Feldman, Reconstructing reality, 85 ff. Bennett/Feldman, Reconstructing reality, 11. Bennett/Feldman, Reconstructing reality, 69 f. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 18 f. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 231. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 10.

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

reicht, dass die Geschichte durch Beweismittel gestützt wird – nicht durch die Beweismittel, womit Wagenaar et al. ausdrücken wollen, dass die Auswahl der Beweismittel und Indizien, die der Richter der Beweiswürdigung zugrunde legt, bereits von der Plausibilität der Geschichte beeinflusst wird.138 Für die Qualitäten, die eine Geschichte zu einer »guten« Geschichte machen, stützen sich Wagenaar et al. auf Bennett und Feldman. Gute Geschichten zeichnen sich demnach durch einen zentralen Handlungsstrang aus, der alle Elemente der Geschichte verbindet. Nichts bleibt unerklärt oder inkongruent, die Geschichte enthält keine fehlenden oder widersprüchlichen Elemente. Neben einer zentralen Handlung kann eine Geschichte untergeordnete Geschichten enthalten, die spezifische Tatsachen erklären.139 Eine Unter-Geschichte kann beispielsweise das unterstellte Motiv erklären. Der Rahmen der Geschichte liefert eine Erklärung dafür, warum sich die zentrale Handlung so abgespielt hat wie geschildert.140 Damit ein Gericht eine Geschichte als wahr akzeptiert, genügt es aber nicht, dass die Geschichte stimmig ist. Es ist auch notwendig, dass die Geschichte durch die Beweismittel in der Wirklichkeit verankert ist. Beweismittel an und für sich beweisen dabei nichts, sie gewinnen ihre Beweiskraft erst, wenn der Richter bestimmte Generalisierungen als zutreffend erachtet. So beweist eine Zeugenaussauge erst etwas, wenn der Richter glaubt, dass Zeugen in den meisten Fällen die Wahrheit sagen und es daher wahrscheinlich ist, dass der Zeuge, dessen Aussage konkret zu beurteilen ist, ebenfalls die Wahrheit gesagt hat.141 Ein Beweismittel ist sicher verankert, wenn sich die Generalisierung, aus der sich seine Beweiskraft ergibt, von keiner Partei mehr vernünftig bestreiten lässt. Solche Generalisierungen sind meist »common-sense facts of life«142 . Sie bestimmen, was normalerweise gilt, können aber im Einzelfall widerlegt werden, wenn gezeigt werden kann, dass der Einzelfall nicht der allgemeinen Regel entspricht.143 Die Verwandtschaft dieser »common-sense facts of life« mit den Erfahrungssätzen der deutschen Lehre braucht nicht besonders betont zu werden. In der Praxis werden nur die wenigsten Regeln der Lebenserfahrung, die der Beweiswürdigung zugrunde liegen, artikuliert; sie liegen den Schlüssen des Gerichts oft unausgesprochen zugrunde.144 Das ist gefährlich, weil so versteckt bleiben kann, dass eine Annahme offensichtlich unzutreffend ist. Nach Wagenaar et al. liegt der Hauptgrund dafür, dass Geschichten in falschen oder gar absurden Erfahrungssätzen verankert werden nicht darin, dass die Gerichte diese Erfah138 139 140 141 142 143 144

Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 33. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 39. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 35 f. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 38. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 38. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 38. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 41.

III. Konstruktive Intuition

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Abbildung 34: Verankerung in immer spezifischeren Erfahrungssätzen.

rungssätze tatsächlich glaubten, wenn sie ausgesprochen würden. Die Richter seien sich der Annahmen, die ihrer Beweiswürdigung zugrunde liegen, nur oft gar nicht bewusst.145 Wird ein Erfahrungssatz nicht als ausreichend sicher akzeptiert, muss er auf weitere Erfahrungssätze zurückgeführt werden, die als ausreichend sicher akzeptiert sind. Je tiefer man in die verschachtelten Unter-Geschichten vordringt, desto spezifischer wird der Erfahrungssatz. Das Urteil des Richters, dass der Zeuge im konkreten Fall nicht lügt, kann beispielsweise in den in Abbildung 34 wiedergegeben immer spezifischeren Erfahrungssätzen verankert werden. Klar ist, dass die Regression auf immer spezifischere Erfahrungssätze irgendwo ein Ende haben muss; nach Wagenaar et al. dann, wenn die Wahrheit der Regel der Lebenserfahrung vernünftigerweise nicht mehr angezweifelt werden kann.146 Nicht notwendig ist es hingegen, dass alle Beweismittel durch die Geschichte erklärt werden. Die Verankerung dient der Verifikation, nicht der Falsifikation, der Geschichte. Falsifizierende Beweismittel werden unterdrückt.147 Wenn ein Beweismittel nicht zur Geschichte passt, wird entweder die Geschichte verworfen oder angepasst, oder dem Beweismittel eine neue Bedeutung gegeben. Die zweite Option wird gewählt, wenn die Geschichte gut ist und das Beweismittel ambivalent genug, um der Geschichte angepasst zu werden. Eine der wichtigsten Voraussagen der Anchored-Narratives-Theorie ist daher, dass unter diesen Umständen die Tatsachen nicht die Geschichte ändern, sondern die Geschichte die (Interpretation der) Tatsachen.148 Wie beim Schneiden eines Films werden die 145 146 147 148

Wagenaar, in: Davies et al. (Hrsg.), Psychology, law, and criminal justice, 267–285, 279. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 40. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 40. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 45.

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

Szenen (Beweismittel) so zusammengefügt, dass die Geschichte stimmig erzählt wird.149 Erst wenn ein Beweismittel sich unmöglich mit der Geschichte der Anklage vereinbaren lässt, wird diese Geschichte verworfen oder angepasst.150 Wagenaar et al. zeigen an zahlreichen holländischen Urteilen, wie Gerichte ihres Erachtens nach Beweismittel ignoriert haben, die nicht zur Geschichte der Strafverfolgungsbehörde passten.151 Dies liegt auch daran, dass die Komplexität der Beweiswürdigung in tatsächlichen Fällen so groß ist, dass das Gericht unmöglich alle Aspekte der Geschichte umfassend würdigen kann und daher gezwungenermaßen eine Auswahl treffen muss.152 Ein sehr überzeugender, gut verankerter Aspekt der Geschichte kann dazu führen, dass schlecht oder gar nicht verankerte Teile der Geschichte dennoch als wahr akzeptiert werden; es findet eine Kompensation der Verankerung der einzelnen Unter-Geschichten auch dort statt, wo sie logisch nicht gerechtfertigt ist.153 Um zu verhindern, dass das Gericht die von der Anklage präsentierte Geschichte als wahr akzeptiert, hat die Verteidigung gemäß der Anchored-Narratives-Theorie drei Möglichkeiten: i) zu zeigen, dass (ein Teil der) Geschichte der Anklage unmöglich wahr sein kann; ii) zu zeigen, dass (ein Teil der) Geschichte nicht durch Beweismittel gestützt wird und/oder dass die Erfahrungssätze, welche die Beweismittel verankern, nicht sicher oder i. c. nicht anwendbar sind; oder iii) eine alternative Geschichte präsentieren, welche ebenso gut verankert ist wie die von der Anklage präsentierte Geschichte.154 Präskriptiv gelangen Wagenaar, van Koppen und Crombag zu zehn Regeln, die bei der Beweiswürdigung zu beachten seien, um Fehlurteile zu vermeiden. Die fünf wichtigsten Regeln sind kurz zusammengefasst:155 Die Anklage darf keine beliebige Vielzahl von möglichen Geschichten erzählen, die alle die vorliegenden Indizien mit der Schuld des Angeklagten erklären, sondern muss sich auf eine oder wenige ausformulierte Geschichten beschränken, da eine Verteidigung sonst unmöglich ist. Die wesentlichen Elemente der Geschichte müssen durch Beweismittel in Regeln der Lebenserfahrung verankert werden, und die Verankerungen für die verschiedenen Elemente sollten unabhängig sein. Alle Erfahrungssätze, die der Verankerung wesentlicher Elemente der Geschichte dienen, sollten explizit formuliert werden, weil nur dadurch sichergestellt werden kann, dass sich das Gericht nicht auf erkennbar falsche Erfahrungssätze stützt.156 Eine Geschichte

149 150 151 152 153 154 155 156

Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 225. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 219. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 52 ff., 58, 211 ff. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 58. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 75. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 197 ff. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 231 ff. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 240.

III. Konstruktive Intuition

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darf nicht als wahr akzeptiert werden, so lange es eine alternative Geschichte gibt, welche die Beweismittel ebenso gut oder besser erklärt.157 Methodisch ist die Arbeit von Wagenaar et al. interessant, aber nicht unangreifbar. Sie stützen sich auf eine Auswahl von 35 »zweifelhaften« Fällen aus den Niederlanden, d. h. Fällen, in denen entweder erst- und zweitinstanzliche Gerichte zu unterschiedlichen Entscheidungen in der Schuldfrage kamen, oder in denen der Verteidiger selbst nach der Verurteilung seines Mandanten persönlich fest davon überzeugt blieb, dass sein Mandant unschuldig ist.158 Wagenaar et al. kommen zum Schluss, dass die »zweifelhaften« Fälle rund 12% der gesamten Strafurteile ausmachen. Das Problem mit dieser Methode ist nicht in erster Linie, dass diese Fälle natürlich nicht repräsentativ für alle entschiedenen Straffälle sind, unter denen zahlreiche Fälle sind, bei denen es keinen vernünftigen Zweifel an der Schuld des Verurteilten gibt, und bei denen die Beweiswürdigung keine Schwierigkeiten bereitet. Eine Auswahl, die sich auf die schwierigen Fälle konzentriert, ist unabdingbar, wenn man Anomalien der Entscheidungsfindung untersuchen will. Solange man sich bewusst ist, dass die Stichprobe nicht repräsentativ ist, ist dies kein Problem.159 Problematisch an der Methode von Wagenaar et al. ist vielmehr, dass es die Autoren selbst sind, die die ausgewählten Urteile daraufhin untersuchen, ob die von ihrer Theorie vorausgesagten Fehler gemacht werden. Dadurch besteht natürlich die Gefahr, dass die Autoren genau den Fehler machen, den sie den Richtern vorwerfen, nämlich die Beweismittel (Urteile) im Sinne ihrer Geschichte (Theorie) zu interpretieren. Da die Urteile teilweise nicht veröffentlicht sind, sondern den Autoren von Strafverteidigern zur Verfügung gestellt wurden, ist es für Außenstehende unmöglich zu beurteilen, ob die Zusammenfassungen der Urteile durch Wagenaar et al. unverzerrt sind. Philosophisch stehen Wagenaar, van Koppen und Crombag in der Tradition des kritischen Realismus. Sie stellen nicht in Frage, dass es eine Realität außerhalb des Subjekts gibt, und dass die Wahrheit einer Tatsachenbehauptung in ihrer Übereinstimmung mit dieser Realität liegt. Ihre Kritik an Urteilen, die sich auf Geschichten ohne ausreichende Verankerung in Fakten stützen, ist nur vor dem Hintergrund einer Korrespondenztheorie der Wahrheit verständlich. Die Narration konstruiert nicht die Wirklichkeit, sondern ein Abbild der Wirklichkeit, das daraufhin untersucht werden kann, ob es mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Gemäß Wagenaar et al., gibt es psychologische Prozesse, die die Erkenntnis dieser Realität im Rahmen eines Gerichtsverfahrens verhindern können. Diese Sicht unterscheidet sich von einer soziologischen Sicht der Narration im Gerichtsverfahren, die davon ausgeht, dass es »Fakten an und für sich«, an denen eine Geschichte überprüft werden kann, nicht gibt, und es ausschließ157

Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 242. Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 11. 159 Wagenaar/van Koppen/Crombag, Anchored narratives, 11 ff. sind sich dessen natürlich bewusst. 158

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

lich auf die innere Kohärenz und den sozial plausiblen Inhalt der Geschichte ankommt.160 Nach dieser Sicht gibt es keinen Boden der Wirklichkeit, sondern »narratives all the way down«161 . Das Erzählen von Geschichten ist nach dieser Sicht ein diskursiver Prozess der Etablierung von Wirklichkeit und der Aushandlung von Realität.162 Entsprechend wirft Löschper Wagenaar et al. Naivität vor, wenn sie »glauben, dass Richter im Strafverfahren unter allen Erzählungen den festen Boden der Realität oder Wahrheit erreichen können.«163 Nach der soziologischen Theorie der Narration beinhaltet diese gerade den Verzicht auf die Unterscheidung von »wahr« und »falsch«; an die Stelle nach der Frage nach der Wahrheit tritt die Frage, wann eine Geschichte darstellerischen und interpretativen Konventionen genügt.164 Die experimentelle Psychologie könne hierzu keine Erkenntnisse liefern, weil sie von einem kognitivistischen, individualistischen Menschenbild ausgehe.165 Die vorliegende Arbeit geht von einer Korrespondenztheorie der Wahrheit aus (vorne, S. 29 f.). Geschichten- respektive Kohärenz-Modelle der Beweiswürdigung werden als deskriptive Modelle der Kognition und nicht als soziale Konstruktion der Wirklichkeit verstanden. Die Frage, ob sie zu einem falschen Abbild der Wirklichkeit führen können, ist nach dieser Sicht legitim und zentral. Zur Klärung dieser Frage kann insbesondere die experimentelle Psychologie beitragen. c) Pennington/Hastie Hastie und Pennington entwickeln eine deskriptive psychologische Theorie der Beweiswürdigung durch Geschworene, deren Voraussagen sie anschließend experimentellen Tests unterziehen.166 Das Modell wurde vor dem Hintergrund des amerikanischen Geschworenenprozesses für Strafverfahren entwickelt, weshalb es nicht direkt auf einen Zivilprozess deutscher oder schweizerischer Prägung übertragbar ist. Namentlich weiß der deutsche und schweizerische Richter aufgrund seiner juristischen Ausbildung bereits vor dem Beweisverfahren, welche Tatbestandselemente bewiesen werden müssen, damit die Verurteilung gemäß dem Antrag der Staatsanwaltschaft erfolgen kann, während die Geschworenen erst nach dem Ende der Beweisabnahme, mit der Jury-Instruktion, erfahren, welche Tatbestandselemente für einen Schuldspruch bewiesen werden müssen. Die Aussagen des Modells von Pennington/Hastie zur Subsumption des Sach160 Scheppele, Michigan Law Review 1989, 2073–2098, 2082 f.; Löschper, Psychologische Theorie richterlichen Urteilens, 298. 161 Scheppele, in: Sarbin/Kitsuse (Hrsg.), Constructing the social, 84–100, 93. 162 Löschper, Psychologische Theorie richterlichen Urteilens, 277. 163 Löschper, Psychologische Theorie richterlichen Urteilens, 299, ebenso 330 f. 164 Löschper, Psychologische Theorie richterlichen Urteilens, 77. 165 Löschper, Psychologische Theorie richterlichen Urteilens, 331. 166 Pennington/Hastie, in: Hastie (Hrsg.), Inside the Juror, 192–224, 192.

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III. Konstruktive Intuition

verhalts unter den Tatbestand werden daher nicht näher beleuchtet, da sie kaum relevant sind. Die grundsätzliche Idee, nämlich dass Tatsachenfeststeller Beweise würdigen, in dem sie in einem aktiven Denkprozess eine Geschichte konstruieren, welche die vorhandenen Beweismittel erklärt, erscheint jedoch auch für die Beweiswürdigung durch juristisch geschulte Tatrichter plausibel. Das Geschichten-Modell von Pennington und Hastie geht davon aus, dass Geschworene versuchen, sich eine überzeugende Geschichte zusammenzureimen. Je besser dies gelingt, desto stärker ist die Überzeugung, dass die Geschichte wahr ist. Die Geschichte wird konstruiert aus den vorliegenden Beweismitteln, dem persönlichen Erfahrungswissen und einer geteilten Erwartung bezüglich der Struktur einer Geschichte. Die Konstruktion der Geschichte führt zu einer oder mehreren Interpretationen der Beweismittel in einer narrativen Form. Eine dieser Geschichten wird als die beste Erklärung der Beweismittel akzeptiert. Welche Geschichte als die beste angesehen wird, hängt davon ab, welche Geschichte die breiteste Deckung und höchste Kohärenz hat.167 Wichtig ist, dass die Konstruktion der Geschichte das Urteil bestimmt, und nicht bloß rechtfertigt – d. h. die Geschichte wird während der Urteilsbildung konstruiert, und nicht erst nachträglich zur Begründung des bereits getroffenen Urteils.168 Geschichten sind Sequenzen von Ereignissen, die durch kausale Einflüsse verbunden sind.169 Sie werden in der Form von Episoden strukturiert, wobei eine Episode aus einem auslösenden Ereignis, einem resultierenden psychologischen Zustand (vermittelt durch eine »psychologische Kausalität«) und daraus abgeleiteten Zielen, die zu Handlungen führen, welche Konsequenzen haben, besteht. In Abbildung 35 ist oben das abstrakte Episodenschema und unten ein konkretes Beispiel mit Ereignissen aus dem Hans H. Fall dargestellt. Eine Geschichte besteht in der Regel aus mehreren Episoden, die ineinander verschachtelt sind.170 So könnte das auslösende Ereignis im obigen Beispiel wiederum in eine Episode aufgeschlüsselt werden, in der die Abrechnung nicht erstattungsfähiger Spesen zum Zweifel des Vorgesetzten an der Zuverlässigkeit von Hans und dadurch zur auslösende Ereignisse

psychologische Zustände

verweigerte Beförderung

Kränkung, Rachelust

Ziele

Arbeitgeber schädigen

Handlungen

GeldAausATresor entwenden

Konsequenzen

GeldAfehlt

Abbildung 35: Vereinfachtes Episodenschema nach Pennington/Hastie, 1986, und konkretes Beispiel. 167 168 169 170

Pennington/Hastie, in: Hastie (Hrsg.), Inside the Juror, 192–224, 194. Pennington/Hastie, in: Hastie (Hrsg.), Inside the Juror, 192–224, 201. Pennington/Hastie, in: Hastie (Hrsg.), Inside the Juror, 192–224, 196. Pennington/Hastie, in: Hastie (Hrsg.), Inside the Juror, 192–224, 197.

282

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

verweigerten Beförderung führt. Die Ebene, auf der sich eine Episode befindet, erlaubt eine Bewertung, wie wichtig ein Beweismittel ist. Ein Beweismittel, das ein Element einer Episode höherer Ebene stützt, ist wichtiger als ein Beweismittel für ein Element einer untergeordneten Episode.171 Eine wichtige Voraussage des Modells von Pennington und Hastie ist, dass der Urteilende Elemente des Episodenschemas, die fehlen, gestützt auf sein Erfahrungswissen ergänzt.172 So gibt es im Hans H. Fall keine Beweismittel, die die Aussage direkt stützen würden, dass Hans seinen Arbeitgeber schädigen wollte, aber das fehlende Ziel ergibt sich aus einer natürlichen Ergänzung des Episodenschemas und dem Erfahrungswissen über die menschliche Natur. Der Grad der Überzeugung für die Wahrheit einer Geschichte wird durch die Deckung, Kohärenz und Einzigartigkeit der Geschichte bestimmt. Eine Geschichte weist eine hohe Deckung (coverage) auf, wenn sie das Vorhandensein vieler, idealerweise aller, der vorliegenden Beweismittel erklären kann. Kann eine Geschichte das Vorhandensein eines Beweismittels nicht erklären, so sinkt der Überzeugungsgrad, dass die Geschichte wahr ist. Die Kohärenz einer Geschichte besteht aus drei Elementen: ihrer Konsistenz, Plausibilität und Vollständigkeit. Konsistent ist eine Geschichte, wenn sie keine inneren Widersprüche enthält, d. h. wenn sie keinen Tatsachenbehauptungen widerspricht, die als wahr erachtet werden, und kein Teil der Geschichte einem anderen Teil widerspricht. Eine Geschichte ist plausibel, wenn sie mit dem Erfahrungswissen des Urteilers darüber, was »typischerweise geschieht«, übereinstimmt (die Analogie zum Anscheinsbeweis, dem ein »typischer Geschehensablauf« zugrunde liegen muss, drängt sich auf). Vollständig ist eine Geschichte, wenn sie alle Elemente des Episodenschemas aufweist. Fehlende Beweismittel für ein wesentliches Element der Geschichte, das nicht aus Erfahrungswissen abgeleitet werden kann, senken den Überzeugungsgrad für die Wahrheit der Geschichte. Einzigartig ist eine Geschichte schließlich, wenn es keine andere Geschichte gibt, die das Vorliegen der Beweismittel ebenfalls kohärent erklären kann.173 Das Episodenschema wurde erarbeitet gestützt auf Interviews (»think aloud protocols«), aus denen die Elemente und Struktur der mentalen Repräsentation der Beweismittel, welche die Versuchspersonen durch Betrachtung eines realistischen Films über einen Strafprozess erfahren hatten, destilliert wurden.174 Die Geschichten, die von Versuchspersonen erzählt wurden, die zum Schluss kamen, dass der Angeklagte schuldig ist, unterschieden sich dabei wesentlichen von den Geschichten, die die Versuchspersonen erzählten, die den Angeklagten freigesprochen hätten. Dies lässt darauf schließen, dass die Struktur der Geschichte 171 172 173 174

Pennington/Hastie, in: Hastie (Hrsg.), Inside the Juror, 192–224, 198. Pennington/Hastie, in: Hastie (Hrsg.), Inside the Juror, 192–224, 198. Pennington/Hastie, in: Hastie (Hrsg.), Inside the Juror, 192–224, 198 f. Pennington/Hastie, Journal of Personality and Social Psychology 1986, 242–258, 246 ff.

III. Konstruktive Intuition

283

Tabelle 15: Eigenschaften einer überzeugenden Geschichte nach Pennington/Hastie, 1993.

Deckung: Die Geschichte erklärt die Existenz vieler (aller) der vorhandenen Beweismittel. Kohärenz: –––––––––––––––––→

Konsistenz: Die Geschichte ist in sich widerspruchsfrei und widerspricht nicht Tatsachenbehauptungen, die für wahr erachtet werden. Plausibilität: Die Geschichte stimmt überein mit dem Erfahrungswissen des Urteilenden. Vollständigkeit: Alle Elemente des Episodenschemas werden entweder durch Beweismittel gestützt oder können aus Erfahrungswissen abgeleitet werden.

Einzigartigkeit: Die Geschichte ist einzigartig, wenn sie die einzige Geschichte ist, die (hohe) Kohärenz aufweist. einen wesentlichen Einfluss auf die Bewertung der Beweismittel hat.175 Nur etwas mehr als die Hälfte der Ereignisse, die von den Versuchspersonen genannt wurden, waren ausdrücklich in den Zeugenaussagen enthalten, was belegt, dass die Versuchspersonen fehlende Elemente der Geschichte auch dann ergänzen, wenn keine Beweismittel vorliegen.176 Versuchspersonen glaubten, sich an Aussagen zu »erinnern«, die kohärent sind mit der von ihnen akzeptierten Geschichte, die aber so nie gemacht wurden.177 Schließlich können Pennington und Hastie zeigen, dass die Reihenfolge, in der die Beweismittel dargeboten werden, einen wesentlichen Einfluss auf die Würdigung der Beweise hat: Werden die Beweise in der Reihenfolge dargeboten, in der die von ihnen belegten Ereignisse in der Geschichte vorkommen, werden sie als beweiskräftiger bewertet, als wenn sie in einer anderen Reihenfolge darge175

Pennington/Hastie, Journal of Personality and Social Psychology 1986, 242–258, 250 f. Pennington/Hastie, Journal of Personality and Social Psychology 1986, 242–258, 249. 177 Pennington/Hastie, Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 1988, 521–533, 526 ff. 176

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

boten werden. Dies deshalb, weil die Konstruktion einer kohärenten Geschichte einfacher ist, wenn die Beweismittel in der »Geschichten-Reihenfolge« wahrgenommen werden.178 Die Befunde aus dem gleichen Experiment belegen auch, dass die Überzeugungskraft einer Geschichte auch davon abhängt, ob es eine andere kohärente Geschichte gibt, welche die Beweismittel ebenfalls erklärt. So wird die Überzeugungskraft der Geschichte des Anklägers höher bewertet, wenn die Beweismittel der Verteidigung nicht in der Geschichten-Reihenfolge dargeboten werden, weil es dann schwieriger ist, eine andere kohärente Geschichte zu konstruieren, die alle Beweismittel erklärt.179 Die Implikation für den praktizierenden Anwalt ist klar: Der Beklagte sollte sich nicht darauf beschränken, die Geschichte des Klägers zu bestreiten, sondern ihr eine eigene, hoffentlich ebenso kohärente, Geschichte entgegensetzen. Das Modell von Pennington und Hastie komplementiert das Modell von Wagenaar et al. in methodischer und inhaltlicher Sicht. Methodisch kommen Pennington und Hastie gestützt auf experimentelle Laborbefunde zu ähnlichen Resultaten wie Wagenaar et al. gestützt auf die Untersuchung von Strafurteilen. Dies stützt das Vertrauen in die Validität des gemeinsamen Kerns der Modelle. Inhaltlich macht das Modell von Pennington und Hastie genauere Voraussagen dazu, was eine Geschichte überzeugend macht. Interessant ist, dass Wagenaar et al. vorwiegend betonen, dass Beweismittel, die gegen eine vorläufig akzeptierte Geschichte sprechen, ignoriert oder abgewertet werden, während Pennington und Hastie betonen, dass fehlende Elemente, die eine Geschichte natürlich ergänzen, auch in Abwesenheit von sie stützenden Beweismitteln supponiert werden. Beides ist darauf zurückzuführen, dass nicht nur die Geschichte den Beweismitteln, sondern auch die Beweismittel der Geschichte angepasst werden. d) Zusammenfassung Geschichten-Modelle der Beweiswürdigung postulieren, dass der Urteilende die Informationen zu einem rechtlich relevanten Sachverhalt in der Form einer Geschichte strukturiert, um ihnen einen Sinn zu geben, und überhaupt erst erlaubt, aus ihr Schlüsse zu ziehen, Lücken zu entdecken und Wahrheit der Information zu beurteilen. Dies ist beim Umgang mit Tatsachenbehauptungen unumgänglich und natürlich, führt aber dazu, dass in einem wechselseitigen Prozess nicht nur die Geschichte den Beweismitteln, sondern auch die Interpretation der Beweismittel der Geschichte angepasst wird. Dies kann dazu führen, dass falsifizierende Hinweise abgewertet, übersehen oder nicht gesucht werden, während bestätigende Indizien übergewichtet und fehlende bestätigende Infor178 Pennington/Hastie, Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 1988, 521–533, 529. 179 Pennington/Hastie, Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 1988, 521–533, 530.

III. Konstruktive Intuition

285

mationen mental ergänzt werden. Es kann zur Folge haben, dass alternative Geschichten, welche die vorliegenden Informationen besser oder ebenso gut wie die bevorzugte Geschichte erklären, übersehen werden. 2. Kognitive Kohärenz Theorien der kognitiven Kohärenz180 liegt die Grundannahme zugrunde, dass der menschliche Verstand inkohärente mentale Repräsentationen meidet und an ihrer Stelle kohärente Repräsentationen konstruiert.181 Theorien kognitiver Kohärenz waren in den 1940er bis 1960er Jahren populär, die wohl bekanntesten sind die kognitive Dissonanz-Theorie von Festinger und die Balance-Theorie von Heider.182 Die Theorie der kognitiven Dissonanz besagt, dass Widersprüche zwischen inneren Einstellungen und Verhalten zu einem Zustand kognitiver Dissonanz führen, der dadurch wieder in einen Zustand der Konsonanz oder Harmonie überführt wird, indem die widersprüchlichen Einstellungen angepasst werden.183 Theorien kognitiver Kohärenz wie die Dissonanztheorie sind stark beeinflusst durch die Gestaltpsychologie. Zentrale Einsicht der Gestaltpsychologie ist, dass es Zusammenhänge gibt, »bei denen nicht, was im Ganzen geschieht, sich daraus herleitet, wie die einzelnen Stücke sind und sich zusammensetzen, sondern umgekehrt, wo – im prägnanten Fall – sich das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt von inneren Strukturgesetzen dieses seines Ganzen.«184 Theorien kognitiver Kohärenz teilen die gestaltpsychologische Einsicht, dass menschliche Kognition wesentlich bestimmt wird durch die gegenseitige Beeinflussung kognitiver Elemente und diese Beeinflussung am Besten im Rahmen einer strukturellen Dynamik verstanden wird.185 Die strukturelle Dynamik wird von vier grundlegenden Prinzipien beherrscht: Erstens wird ein kognitiver Zustand – eine Wahrnehmung, Erkenntnis, Urteil, Einstellung, Entscheidung oder Handlung – holistisch und nicht atomistisch bestimmt.186 Dissonanz ist 180 Die Theorien werden gemeinhin als Theorien der kognitiven Konsistenz bezeichnet, z. B. Simon/Holyoak, Personality and Social Psychology Review 2002, 283–294. Der Begriff Konsistenz sollte aber für die logische Widerspruchsfreiheit eines Systems vorbehalten sein; »cognitive consistency« umfasst mehr als bloß logische Widerspruchsfreiheit – eben Kohärenz, und Konsistenz ist nur ein Teilaspekt der Kohärenz (nach MacCormick, Rhetoric and the rule of law, 190, kann gar ein inkonsistentes System kohärent sein; nach hier vertretener Auffassung hingegen ist Konsistenz eine notwendige Bedingung für Kohärenz). 181 Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 816. 182 Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 814 (m. w. H.); Festinger, A theory of cognitive dissonance; Heider, The psychology of interpersonal relations. 183 Festinger/Carlsmith, Journal of Abnormal and Social Psychology 1959, 203–210, 205 f. 184 Wertheimer, Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache 1925, 39–60, 44 f. 185 Simon/Holyoak, Personality and Social Psychology Review 2002, 283–294, 283. 186 Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 815.

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

nicht etwas, das für sich allein betrachtet existiert, es ist eine Beschreibung des Verhältnisses zwischen kognitiven Elementen.187 Kognition kann daher nicht verstanden werden durch die alleinige Betrachtung der kognitiven Elemente, sondern die Interaktionen zwischen den Elementen sind wichtig und bestimmen die Kognition. Zweitens ist die Struktur der Kognition dynamisch. Die Beziehungen zwischen den kognitiven Elementen verursachen Kräfte, welche die Elemente anziehen oder abstoßen können. Diese Kräfte geben der Struktur ihre Stabilität und erlauben gleichzeitig Änderung.188 Drittens stabilisieren die dynamischen Kräfte die mentalen Repräsentationen in Zuständen der »Prägnanz«189 , »guten Figur«190 , »Konsonanz« oder des »Equilibriums«191 . In diesen stabilen Zuständen haben alle Elemente eines Systems den gleichen »dynamischen Charakter«, d. h. alle sind positiv oder negativ, und Elemente mit unterschiedlichem dynamischem Charakter sind getrennt.192 Im stabilen Zustand halten die Kräfte das System zusammen, während das unbalancierte, unharmonische oder inkohärente System von den Kräften in einen stabilen Zustand der Balance, Harmonie oder Kohärenz gezogen wird. Kognitive Kohärenz ist demnach ein homöostatisches (selbstregulierendes) System.193 Viertens, und das ist im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung von besonderem Interesse, bewirken die Veränderungen in der Struktur der mentalen Repräsentation Anpassungen, oder »Rekonstruktionen«194 , der kognitiven Elemente. Als Beispiel mag ein klassisches Experiment von Asch dienen, das zeigt, wie sich die Bedeutung eines Wortes im Kontext ändert. Wird das Zitat »I hold that a little rebellion, now and then, is a good thing, and as necessary in the political world as storms are in the physical world« Thomas Jefferson zugeschrieben, wird »Rebellion« im Wesentlichen als »ziviler Ungehorsam« verstanden. Wird jedoch das gleiche Zitat Vladimir Lenin zugeschrieben, wird »Rebellion« als »blutiger Aufstand« verstanden.195 Was sich ändert ist nicht die Beurteilung des Objekts, sondern das Objekt der Beurteilung.196 Kohärenz, Balance, Kon-

187

Festinger, A theory of cognitive dissonance, 279. Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 815. 189 Wertheimer, Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 1923, 301–350, 345. 190 Heider, in: Jones (Hrsg.), Nebraska Symposium on Motivation, 145–172, 160. 191 Rosenberg/Abelson, in: Rosenberg et al. (Hrsg.), Attitude organization and change, 112– 163, 113. 192 Heider, Journal of Psychology 1946, 107–112, 107. 193 Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 815. 194 Rosenberg/Abelson, in: Rosenberg et al. (Hrsg.), Attitude organization and change, 112– 163, 152 ff. 195 Asch, Social psychology, 423. Das Zitat stammt von Jefferson, und die Ironie ist, dass »Rebellion« im historischen Kontext des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges durchaus blutiger Aufstand bedeutete. 196 Asch, Journal of Social Psychology 1940, 433–465, 455. 188

III. Konstruktive Intuition

287

sonanz oder Harmonie wird erreicht, indem dissonante, inkohärente Elemente umgedeutet, abgewertet oder ignoriert werden.197 Seit den 1960-er Jahren bis Anfang der 1990-er Jahre wandte sich das Forschungsinteresse weitgehend von Theorien kognitiver Kohärenz ab.198 Ein Grund dafür war, dass die Prinzipien der Gestaltpsychologie wie die holistische Informationsverarbeitung, gegenseitige Beeinflussung von kognitiven Elementen, und »Kraftfeldern«, die in ihrer Interaktion die Kognition bestimmen, nicht in formalen Modellen zu fassen waren und für viele als metaphysische und mystische Ideen erschienen, die nicht mit experimentellen Methoden zu erforschen sind.199 Wenn Putnam schreibt »Coherence is not something we have an algorithm for, but something that we ultimately judge by ›seat of the pants‹ feel«200 , dann mag das damals (1981) zugetroffen haben, beschreibt aber genau das Problem, das Theorien der kognitiven Kohärenz als wissenschaftliche Theorien hatten: ihnen fehlte ein Algorithmus. Dies änderte sich Mitte der 1980-er Jahre mit der bahnbrechenden Arbeit von Rumelhart und McClelland zur Modellierung von Parallel Constraint Satisfaction (PCS) Problemen mit konnektionistischen Netzen (die für den Juristen notwendigerweise fremden Begriffe werden gleich nachstehend näher erläutert).201 Vorerst zur Modellierung von kognitiven Prozessen niederer Ordnung wie der Wahrnehmung und Wiedererkennung eingesetzt,202 werden konnektionistische Netze seit den 1990-er Jahren zunehmend in der Sozialpsychologie und der Entscheidungspsychologie auch zur Modellierung von Prozessen höherer Ordnung verwendet.203 Parallel Constraint Satisfaction ist ein formal definierter, durch Computer implementierbarer Prozess, der die gestaltpsychologischen Prinzipien, die den Theorien kognitiver Kohärenz im Kern zugrunde liegen, abzubilden im Stande ist.204 Parallel Constraint Satisfaction ist der Algorithmus, der der kogni-

197 Haisch, in: Lösel (Hrsg.), Kriminalpsychologie, 163–172, 169; Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 815. 198 Read/Vanman/Miller, Personality and Social Psychology Review 1997, 26–53, 27; Simon/ Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 815. 199 Read/Vanman/Miller, Personality and Social Psychology Review 1997, 26–53, 27. 200 Putnam, Reason, truth, and history, 132 f. 201 Rumelhart/McClelland (Hrsg.), Parallel Distributed Processing, Vol. 1. 202 McClelland/Rumelhart, Psych. Rev. 1981, 375–407; Seidenberg/McClelland, Psych. Rev. 1989, 523–568. 203 Read/Marcus-Newhall, Journal of Personality and Social Psychology 1993, 429–447; Kunda/Thagard, Psych. Rev. 1996, 284–308; Shultz/Lepper, Psych. Rev. 1996, 219–240; Read/ Miller (Hrsg.), Connectionist models of social reasoning and social behavior; Glöckner, Automatische Prozesse bei Entscheidungen; van Overwalle, Social connectionism; Freeman/Ambady, Psych. Rev. 2011, 247–279. 204 Read/Miller, in: Abelson/Schank/Langer (Hrsg.), Beliefs, reasoning, and decision making, 209–236, 211. Siehe dort, 225 ff., für die Modellierung des vorne dargestellten klassischen Experiments von Festinger/Carlsmith durch ein konnektionistisches Netz.

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

tiven Kohärenz vorher gefehlt hatte.205 Er macht das Bauchgefühl der Kohärenz fassbar. Relevant im vorliegenden Zusammenhang ist, dass PCS-Modelle von verschiedenen Autoren, namentlich Thagard,206 Simon und Holyoak,207 und Glöckner/ Engel,208 als (deskriptive) Modelle der Beweiswürdigung vorgeschlagen werden. Dabei werden die Gemeinsamkeiten des PCS-Modells der Beweiswürdigung zum Geschichten-Modell der Beweiswürdigung, namentlich in seiner Ausprägung durch Pennington/Hastie, betont.209 Wie beim Geschichten-Modell wird die Interpretation von Beweismitteln geändert, um eine kohärente mentale Repräsentation zu erreichen. Während diese beim Geschichten-Modell als stimmige Geschichte erscheint, liegt die kohärente mentale Repräsentation bei PCS-Modellen in der optimalen gleichzeitigen Erfüllung der Restriktionen zwischen den Elementen eines Systems. Beiden Theorien gemeinsam ist, dass die beweismäßige Bedeutung eines Indizes nicht in Isolation, »atomistisch«, sondern nur im Rahmen einer Gesamtschau, »holistisch«, beurteilt werden kann.210 Dies steht im Einklang mit der Lehre und Rechtsprechung zur Beweiswürdigung, die betont, Beweiswürdigung bestehe in einer ganzheitlichen Betrachtung, einer Gesamtwürdigung, des Beweisergebnisses, das zumindest in einer »haltbaren Deutung« resultieren müsse.211 So schreibt Döhring:212 »Beim Gesamtüberblick werden die Stücke nicht einfach mechanisch zusammengefügt. Vielmehr bestätigt sich bei dieser Gelegenheit die alte Wahrheit, dass das Ganze mehr ist als die Summe der Teile. Es entsteht bei der Betrachtung im Zusammenhang auf Grund eines schöpferischen Denkvorgangs etwas Neues.«

Wie dieses Neue entsteht, beschreiben Parallel Constraint Satisfaction Theorien der kognitiven Kohärenz präziser als alle bisherigen Theorien. 205

Thagard/Verbeurgt, Cognitive Science 1998, 1–24, 2 ff. Thagard, Behavioral and Brain Sciences 1989, 435–467, 449 ff.; Thagard, Applied Artificial Intelligence 2004, 231–249. 207 Holyoak/Simon, Journal of Experimental Psychology: General 1999, 3–31; Simon/Snow/ Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837; Simon, University of Chicago Law Review 2004, 511–586. 208 Glöckner/Engel, Journal of Empirical Legal Studies 2013, 230–252; Engel/Glöckner, Journal of Behavioral Decision Making 2013, 272–284. 209 Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 816; Thagard, Applied Artificial Intelligence 2004, 231–249, 243; Engel/Glöckner, Journal of Behavioral Decision Making 2013, 272–284, 1. 210 Zu den Begriffen »atomistisch« und »holistisch« im Rahmen der Beweiswürdigung Twining, in: Twining (Hrsg.), Rethinking evidence, 286–331, 309 f. 211 Döhring, Erforschung des Sachverhalts, 431; Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 10; Bühler, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 72–92, 87; Dike-ZPO-Leu, Art. 157 N 38; aus der Rechtsprechung BGH NJW 1994, 2289, 2291; BGE 130 III 321 E. 3.4. 212 Döhring, Erforschung des Sachverhalts, 430. Auf S. 429 spricht Döhring davon, dass sich bei der abschließenden Bewertung alle Beweismittel »zu einem einheitlichen Ganzen« zusammenfügen. 206

III. Konstruktive Intuition

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a) Kohärenz als Parallel Constraint Satisfaction In so genannten Parallel Constraint Satisfaction (PCS) Modellen wird Kohärenz als die möglichst gute gleichzeitige (parallel) Erfüllung (satisfaction) von Restriktionen (constraints) zwischen Elementen verstanden. Elemente können Einstellungen, Sinneseindrücke, Ziele, Handlungen, Konzepte oder allgemein ausgedrückt beliebige Aussagen sein. Die Aussagen können zusammenpassen (kohärent sein) oder nicht zusammenpassen (inkohärent sein). Wenn zwei Aussagen kohärent sind, besteht eine positive Restriktion zwischen ihnen, wenn sie inkohärent sind, eine negative Restriktion.213 Die Stärke der Restriktion wird durch ihr Gewicht ausgedrückt; d. h. je (in)kohärenter zwei Aussagen, desto höher ist das Gewicht der sie verbindenden (negativen) positiven Restriktion. Die Menge der Aussagen soll in zwei Teilmengen der akzeptierten und der verworfenen Aussagen aufgeteilt werden. Eine positive Restriktion zwischen zwei Aussagen wird erfüllt, wenn beide Aussagen in der gleichen Teilmenge sind; eine negative, wenn die Aussagen in verschiedenen Teilmengen sind. Der Kohärenzbildungsprozess besteht darin, eine Aufteilung der Menge der Aussagen zu finden, welche die meisten Restriktionen, respektive die Restriktionen mit dem höchsten Gesamtgewicht, erfüllt.214 Dabei ist es nicht immer möglich, alle Restriktionen zu erfüllen;215 der Prozess der Kohärenzmaximierung ist ein Optimierungsproblem. Formal lässt sich das Problem der Kohärenzoptimierung wie folgt formulieren: Es sei E eine endliche Menge von Elementen {ei } und C eine Menge von Restriktionen auf E, verstanden als Menge {(ei , ej )} von Paaren von Elementen aus E. C ist unterteilt in C+, den positiven Restriktionen in E, und C-, den negativen Restriktionen in E. Jede Restriktion ist mit einer Zahl w verbunden, die das Gewicht (Stärke) der Restriktion anzeigt. Das Kohärenz-Problem liegt darin, die Menge E in zwei Teilmengen A [akzeptiert] und V [verworfen] aufzuteilen, so dass die Einhaltung der folgenden Kohärenz-Bedingungen optimiert wird: 1. 2.

Wenn (ei , ej ) in C+ ist, dann ist ei in A nur dann wenn ej in A ist. Wenn (ei , ej ) in C- ist, dann ist ei in A nur dann wenn ej in V ist.

Es sei W die Summe der Gewichte der erfüllten Restriktionen. Die optimale Lösung des Kohärenz-Problems besteht darin, die Menge E auf die Teilmengen A und V aufzuteilen, so dass W maximal ist.216 Ein Beispiel mag das Verständnis erleichtern. Im Hans H. Fall muss die Menge der Aussagen {»Silvia sagt die Wahrheit«, »Hans war um 20 Uhr am Schulanlass«, »Abends braucht man mindestens 45 min vom Büro zu Schule«, »Hans hat um 19.14 Uhr das Geld aus dem Tresor genommen«, »Der Techniker sagt 213

Thagard/Verbeurgt, Cognitive Science 1998, 1–24, 3. Thagard/Verbeurgt, Cognitive Science 1998, 1–24, 2 f. 215 Die Restriktionen werden deshalb auch als »weiche« Restriktionen (soft constraints) bezeichnet, Pospeschill, Konnektionismus und Kognition, 139. 216 Thagard/Verbeurgt, Cognitive Science 1998, 1–24, 3. 214

290

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

Tabelle 16: Positive und negative Restriktionen zwischen Aussagen.

Silvia wahr Silvia wahr Hans Schule Weg > 45 min T. wahr Hans Büro Hans Dieb

+ + -

Hans Schule

> 45 min

T. wahr

Hans Büro

Hans Dieb

+

+ ·

-

+

+ +

· -

-

+ +

+

die Wahrheit«, »Hans eilte um 19.15 Uhr aus dem Buchhaltungsbüro«} in die zwei Teilmengen wahrer und falscher Aussagen aufgeteilt werden. Einige dieser Aussagen sind kohärent, sie passen zusammen, andere nicht. »Silvia sagt die Wahrheit« ist z. B. kohärent mit »Hans war um 20 Uhr am Schulanlass«, letztere Aussage aber ist inkohärent mit der Aussage »Hans hat um 19.14 Uhr das Geld aus dem Tresor genommen«. Die positiven (+) und negativen (-) Restriktionen zwischen den Aussagen lassen sich am übersichtlichsten in einer Matrix darstellen (Tabelle 16). Besteht zwischen zwei Aussagen keine Restriktion, so wird dies durch einen Punkt (·) angezeigt. Man könnte in einem ersten Schritt einfach alle Aussagen der Teilmenge »wahr« zuordnen. Dann wären alle positiven Restriktionen erfüllt. Geht man vorläufig davon aus, dass alle Restriktionen das gleiche Gewicht haben, dann resultiert ein Gesamtgewicht der erfüllten Restriktionen von 10. Es ist aber offensichtlich, dass dies nicht die optimale Lösung ist. Teilt man die Aussagen »Hans hat um 19.14 Uhr das Geld aus dem Tresor genommen«, »Der Techniker sagt die Wahrheit« und »Hans eilte um 19.15 Uhr aus dem Buchhaltungsbüro« der Teilmenge falsch zu und belässt die übrigen Aussagen in der Teilmenge wahr, so sind 13 Restriktionen erfüllt. Diese Lösung ist also »kohärenter« im vorstehend definierten Sinn. Es gibt aber eine noch bessere Lösung: Erklärt man die eben als falsch deklarierten Aussagen für wahr und die Aussagen »Silvia sagt die Wahrheit«, »Hans war um 20 Uhr am Schulanlass« und »Abends braucht man mindestens 45 min vom Büro zu Schule« für falsch, dann sind sogar 15 Restriktionen erfüllt. Es ist aber nicht sicher, dass dies auch die optimale Lösung ist. Um diese zu finden, müsste man alle möglichen Aufteilungen der Aussagen in »wahr« und »falsch« durchgehen und jeweils die Anzahl der erfüllten Restriktionen zählen, respektive ihr Gesamtgewicht berechnen, und die Lösung mit dem höchsten Gesamtgewicht wählen. Vielleicht würde man dann auch feststellen, dass es nicht eine »beste« Lösung gibt, sondern mehrere optimale Lösungen mit dem gleichen Gesamtgewicht der erfüllten Restriktionen. Das Problem, die Kohärenzoptimierung auf diese Weise zu lösen, ist aber vor allem, dass der Algorithmus nicht

III. Konstruktive Intuition

291

skalierbar ist: bei n Aussagen gibt es 2n Möglichkeiten, die Aussagen in zwei Teilmengen aufzuteilen. Bei sechs Aussagen also 64 Möglichkeiten; da die Möglichkeiten exponentiell zur Anzahl der Aussagen zunehmen, wären es bereits bei 20 Aussagen mehr als eine Million Möglichkeiten.217 Um Parallel Constraint Satisfaction Probleme in der Praxis zu lösen, bedarf es daher effizienterer Algorithmen als die erschöpfende Suche. Mehrere solche Algorithmen zur näherungsweisen Lösung des Parallel Constraint Satisfaction Problems sind bekannt.218 Im Folgenden wird die Lösung von PCS-Problemen durch konnektionistische Netze näher dargestellt, da es sich dabei um den in der Praxis am häufigsten verwendeten Algorithmus handelt, der zudem für die Entscheidungspsychologie die zwei wichtigen Vorteile aufweist, dass er neurobiologisch plausibel ist und sich aus der Modellierung von Entscheidungsprozessen mit konnektionistischen Netzen empirisch überprüfbare Voraussagen ableiten lassen. b) Konnektionistische Netze und Parallel Constraint Satisfaction Ein konnektionistisches Netzwerk zur Lösung von Parallel Constraint Satisfaction Problemen besteht aus Knoten und Verbindungen zwischen den Knoten. Die Knoten stehen für beliebige Aussagen. Sie weisen ein »Energieniveau«, eine Aktivation, auf, die meist anfänglich 0 ist und zwischen –1 und 1 begrenzt wird.219 Die Verbindungen repräsentieren die Restriktionen zwischen den Aussagen. Positive Restriktionen werden durch exzitatorische (reizende) Verbindungen simuliert, negative Restriktionen durch inhibitorische (hemmende) Verbindungen. Sind zwei Knoten durch eine inhibitorische Verbindung verknüpft, führt die Aktivation eines Knotens zur Minderung der Aktivation des anderen Knotens; sind sie durch eine exzitatorische Verbindung verknüpft, führt die Aktivation des einen Knotens zu einer Verstärkung der Aktivation des anderen Knotens.220 Abbildung 36 zeigt die positiven und negativen Restriktionen zwischen den Aussagen, die in Tabelle 16 als Matrix dargestellt wurden, in der Form eines konnektionistischen Netzes. Exzitatorische Verbindungen sind durch ausgezogene Linien, inhibitorische Verbindungen durch gestrichelte Linien dargestellt. Der Prozess der Kohärenzoptimierung kann als parallele Ausbreitung von Aktivation im konnektionistischen Netzwerk modelliert werden. Ein Knoten wird aktiviert – z. B. durch einen Sinneseindruck – und gibt seine Aktivation an Knoten weiter, mit denen er durch exzitatorische Verbindungen verknüpft ist, respektive hemmt die Aktivation von Knoten, mit denen er durch inhibitorische 217 Es wurde bewiesen, dass das Problem der Parallel Constraint Satisfaction NP-hart ist, d. h. in polynomieller Zeit nicht (exakt) zu lösen, Thagard/Verbeurgt, Cognitive Science 1998, 1–24, 17 f. 218 Thagard/Verbeurgt, Cognitive Science 1998, 1–24, 9 ff.; Thagard, Coherence in Thought and Action, 26 ff. 219 Thagard/Verbeurgt, Cognitive Science 1998, 1–24, 9. 220 Read/Vanman/Miller, Personality and Social Psychology Review 1997, 26–53, 28.

292

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

Man braucht mind. 40 min zur Schule.

Hans eilte nach 19.14 Uhr aus dem Büro.

.

Hans nahm das Geld aus dem Tresor.

Silvia sagt die Wahrheit.

Techniker sagt die Wahrheit.

Hans war rechtzeitig am Schulanlass.

Abbildung 36: Konnektionistisches Netz des Hans H. Falles (Ausschnitt).

Verbindungen verknüpft ist. Sehr wichtiges Merkmal konnektionistischer Netzwerke ist die Wechselseitigkeit der Aktivierung:221 Die Verbindungen zwischen den Knoten sind bidirektional; ein Knoten aktiviert gleichzeitig einen anderen Knoten und wird von diesem aktiviert. Knoten ai sendet beispielsweise Aktivation an Knoten aj und erhält gleichzeitig Aktivation von Knoten aj und möglicherweise weiteren Knoten. Unmittelbar nachdem ai Aktivation weitergeleitet hat, wird seine Aktivation daher wahrscheinlich verändert sein. Bei der nächsten Iteration der Berechnung (Zyklus) wird diese neue Aktivation weitergegeben; die Aktivation der Knoten im Netzwerk ändert sich mit jeder Iteration. Dabei gleicht sich die Aktivation der exzitatorisch verbundenen Knoten immer mehr an, ebenso wie die Aktivation der inhibitorisch verbundenen Knoten, wodurch sich zwei Gruppen, die positiv und negativ aktivierten Knoten, bilden, welche die Aufteilung der Aussagen in zwei Teilmengen erlauben, wenn sich das Netz stabilisiert hat. Zahlreiche Arbeiten zeigen, dass die Aktivation jedes Knotens sich asymptotisch einem Wert nähert und sich die gesamte Aktivation im Netz nach einigen hundert Zyklen nicht oder kaum mehr ändert.222 Die Lösung entspricht einem lokalen Minimum der im System enthaltenen Widersprüchlichkeit (Energie) und somit einem Zustand optimaler – durchaus nicht perfekter – Kohärenz.223 In der Entscheidungspsychologie wird die Anzahl Zyklen, die das Netz benötigt, ehe es sich stabilisiert, als Basis für die Voraussage verwendet, wie lange es dauert, bis man eine Entscheidung getroffen hat.224 Der Unterschied in der Aktivation

221

Holyoak/Simon, Journal of Experimental Psychology: General 1999, 3–31, 3. Read/Vanman/Miller, Personality and Social Psychology Review 1997, 26–53, 29; Thagard/Verbeurgt, Cognitive Science 1998, 1–24, 11. 223 Read/Vanman/Miller, Personality and Social Psychology Review 1997, 26–53, 30. 224 Glöckner, Automatische Prozesse bei Entscheidungen, 87; Glöckner/Betsch/Schindler, Journal of Behavioral Decision Making 2010, 439–462, 444. 222

293

III. Konstruktive Intuition

Abbildung 37: Graph einer typischen nichtlinearen, sigmoiden Funktion.

der verworfenen und aktivierten Knoten kann als Maß für die Überzeugung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, betrachtet werden.225 Die Aktivation eines Knotens ist eine nichtlineare Funktion der Summe der eingehenden Aktivationen, wobei die Funktion eine sigmoide (S-förmige oder »Schwanenhals«) Form hat und meist mit der folgenden Gleichung beschrieben wird:226 (

ai (t + 1) = ai (t) · (1 – d) +

falls inputi (t) ≥ 0 falls inputi (t) < 0

inputi (t) · (max – ai (t)) inputi (t) · (ai (t) – min)

wobei i die Nummer des Knotens ist, t die aktuelle Anzahl der Neuberechnungen (Iterationen oder Zyklen) und ai (t) entsprechend die Aktivation des i-ten Knotens zum Zeitpunkt (im Zyklus) t. Der Parameter d ist ein konstanter Zerfalls-Parameter, der die Aktivation reduziert. In konnektionistischen Netzen, die Kohärenz von Erklärungen für Hypothesen modellieren, kann man d als einen Ausdruck für die Skepsis des Modells betrachten: Je höher d ist, desto mehr eingehende Aktivation braucht es, damit eine Hypothese eine stabile positive Aktivation aufweist.227 Min und max sind arbiträr gewählte untere und obere Grenzen für die Aktivation eines Knotens, typischerweise werden sie mit 1 und –1 belegt. Inputi (t) schließlich ist die eingehende Aktivation für einen Knoten i zum Zeitpunkt t und ergibt sich aus der Summe der Aktivation der mit dem

225 Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 821; Simon, University of Chicago Law Review 2004, 511–586, 532; Ostermann, Streben nach Konsistenz im Entscheidungsprozess, 123 f. 226 Rumelhart/Hinton/McClelland, in: Rumelhart/McClelland (Hrsg.), Parallel Distributed Processing, Vol. 1, 45–76, 71 f.; Thagard, Behavioral and Brain Sciences 1989, 435–467, 466; Read/Miller, in: Read/Miller (Hrsg.), Connectionist models of social reasoning and social behavior, 27–68, 33; Glöckner, Automatische Prozesse bei Entscheidungen, 79. 227 Thagard, Behavioral and Brain Sciences 1989, 435–467, 443.

294

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

Knoten i verbundenen Knoten, gewichtet durch die jeweilige Verbindung der Knoten mit dem Knoten i: inputi (t) =

X

wij · aj (t).

j=1→n

Wobei wij das Gewicht (Stärke) der Verbindung zwischen den Knoten i und j ist und aj (t) die Aktivation des Knotens j zum Zeitpunkt t. Das ECHO Programm von Thagard, das hinten näher vorgestellt wird, verwendet als Standard-Werte für exzitatorische Verbindungen w = 0,05 und für inhibitorische Verbindungen w = – 0,2.228 Der absolute Wert des Verhältnisses zwischen dem Gewicht für inhibitorische und exzitatorische Verbindungen kann in erklärenden konnektionistischen Netzen als die Toleranz des Systems aufgefasst werden: Ist die Toleranz hoch, lässt das System widersprüchliche Hypothesen nebeneinander stehen (d. h. lässt zu, dass inkohärente Aussagen positiv aktiviert bleiben), ist der Wert gering, unterdrücken die »Gewinner« die Aktivation der »Verlierer«.229 Der Faktor ai (t) – min, respektive max – ai (t), mit dem die Summe der eingehenden Aktivation multipliziert wird, sorgt dafür, dass der Einfluss der eingehenden Aktivation abnimmt, wenn das Aktivationsniveau eines Knotens sich der unteren oder oberen Grenze nähert und bewirkt die typische sigmoide Form der Funktion. Eine Folge dieser nichtlinearen Form ist, dass der Einfluss der von einem Knoten auf einen anderen Knoten weitergeleiteten Aktivation stark davon abhängt, welche weitere Aktivation der Knoten sonst noch erhält. Ist die übrige eingehende Aktivation schwach, hat eine starke Aktivation einen großen Einfluss, weil sich die Funktion in ihrem steil ansteigenden Bereich befindet. Die gleich starke Aktivation beeinflusst das Aktivationsniveaus des Knotens jedoch nur geringfügig, wenn er bereits durch andere eingehende Aktivation stark aktiviert wird, weil sich die Funktion dann im flachen Bereich nahe den Grenzwerten befindet.230 Ein Grund für die Popularität konnektionistischer Modelle kognitiver Prozesse ist sicher ihre neurologische Plausibilität.231 Man kann sich die Knoten des Netzes als Gruppen von Neuronen vorstellen – niemand behauptet, dass die Knoten einzelne Neuronen darstellen232 – und die Verbindungen zwischen ihnen als die Dendriten der Neuronen. Während sich einzelne Neuronen nicht gegenseitig 228

Thagard, Behavioral and Brain Sciences 1989, 435–467, 439. Thagard, Behavioral and Brain Sciences 1989, 435–467, 443. 230 Read/Vanman/Miller, Personality and Social Psychology Review 1997, 26–53, 29. 231 Smolensky, in: Nadel et al. (Hrsg.), Neural connections, mental computation, 49–67, 53; Freeman/Ambady, Psych. Rev. 2011, 247–279, 250; kritisch aber Read/Vanman/Miller, Personality and Social Psychology Review 1997, 26–53, 28. 232 Die Großhirnrinde (Kortex), verantwortlich für die höheren kognitiven Prozesse, umfasst rund 17 Milliarden Neuronen (das gesamte menschliche Gehirn rund 86 Milliarden, wobei sich der überwiegende Teil im Kleinhirn [Cerebellum] befindet), Lent et al., European Journal of Neuroscience 2012, 1–9. 229

III. Konstruktive Intuition

295

erregen können – die die Neuronen verbindenden Synapsen sind informationelle Einbahnstraßen – ist dies bei Gruppen von Neuronen möglich. Die biologische Struktur des Gehirns als Netz von verbundenen Neuronen spiegelt sich in der Struktur konnektionistischer Netze. Die Analogie sollte nicht zu weit getrieben werden – echte Neuronen zeigen verstärkte Erregung durch häufigeres Feuern, während der Erregungszustand von Knoten in einem konnektionistischen Netz durch ihre Aktivation ausgedrückt wird.233 Immerhin ist die Architektur konnektionistischer Modelle der Biologie des Gehirns sehr viel näher als diejenige symbolischer Modelle.234 c) Empirische Voraussagen von PCS-Modellen der Beweiswürdigung Aus durch konnektionistische Netze implementierten PCS-Modellen der Beweiswürdigung ergeben sich verschiedene empirische Voraussagen, die sich experimentell überprüfen lassen. So wird vorausgesagt, dass im Verlaufe der parallelen Ausbreitung der Aktivation die Elemente, die zusammenpassen, eine immer stärkere Aktivation erhalten, die sich asymptotisch dem maximal möglichen Aktivationsniveau nähert, während umgekehrt die Elemente, die nicht zu den zunehmend aktivierten Elementen passen, immer stärker de-aktiviert werden, bis sich zwei in ihrem Aktivationsniveau deutlich unterschiedliche Teilmengen von Elementen herausgebildet haben. Hat sich das Netz stabilisiert, ist es sehr schwierig, es aus der stabilen Lage wieder wegzubewegen, weil der Einfluss weiterer Aktivation gering ist, wenn ein Knoten bereits nahe dem maximalen Niveau aktiviert ist. Daraus ergeben sich die folgenden Voraussagen: a)

Die Bewertung von Indizien verändert sich während des Prozesses der Entscheidungsfindung in Richtung der später getroffenen Entscheidung (so genannte »coherence shifts«); b) die Bewertung von logisch betrachtet unabhängigen Indizien wird in der gleichen Richtung beeinflusst; c) die Kohärenzverschiebungen geschehen unbewusst; d) hat sich das Netz in einem bestimmten Zustand stabilisiert, ist es schwierig, es aus diesem stabilen Zustand wieder wegzubewegen; e) auch bei einem anfänglich ambivalenten Sachverhalt, der verschiedene Interpretationen zulässt, ist die Überzeugung, die richtige Interpretation gefunden zu haben, nach der Entscheidung sehr hoch.

233 234

Read/Vanman/Miller, Personality and Social Psychology Review 1997, 26–53, 28. Smolensky, in: Nadel et al. (Hrsg.), Neural connections, mental computation, 49–67, 53.

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

aa) Die Kohärenzverschiebungen finden während des Entscheidungsfindungsprozesses statt, nicht erst nachträglich Eine zentrale Aussage von PCS-Modellen der Kohärenzoptimierung ist, dass sich die Interpretation der für die Entscheidung wesentlichen Aussagen während des Entscheidungsfindungsprozesses verändert und die Entscheidung kausal beeinflusst, und nicht erst post hoc, zur Rechtfertigung einer bereits getroffenen Entscheidung.235 Zahlreiche Studien weisen solche »Kohärenzverschiebungen«, bevor die Entscheidung gefällt wird, nach.236 Eine Serie von Studien verschiedener Autoren weist insbesondere nach, dass sie im Rahmen juristischer Beweiswürdigung auftreten.237 In einem typischen Experiment haben Simon und Kollegen den Versuchspersonen die Indizien, die später für die Beweiswürdigung relevant waren, in einem gänzlich anderen Kontext vorgelegt. Beispielsweise lautete eine Vignette:238 Wendy arbeitet als Programmiererin für eine große Versicherungsgesellschaft. Eines Abends sah sie einen Mann aus dem Buchhaltungsbüro eilen, der einen Blumenstrauß auf den Tisch von Jessica Myers gelegt hatte, einer der Buchhalterinnen. Jessica ist sehr scheu. Am nächsten Tag war Jessica sehr verwirrt und erklärte, dass sich an den Blumen keine Nachricht befunden habe. Als sie erfuhr, dass Wendy den Mann gesehen hatte, bat sie Wendy, sich in dem sich im gleichen Gebäude befindlichen Reisebüro umzuschauen, da sie vermutete, ihr Verehrer könnte dort arbeiten. Wendy tat dies und teilte Jessica mit, sie denke, sie habe den Mann dort gesehen, er heiße Dale Brown. Auf die Frage, wie sicher sie sich sei, meinte sie, sie sei sehr sicher. Sie habe ihn bereits vorher ein oder zwei Mal gesehen.

Anschließend wurden die Versuchspersonen gebeten, auf einer Skala von +5 bis –5 anzugeben, wie sehr sie der Aussage zustimmen (widersprechen), dass Wendys Identifikation es wahrscheinlich macht, dass Dale Brown die Blumen auf den Tisch gelegt hat. Der Leser erkennt natürlich, dass es sich dabei um eine strukturell analoge Aussage zur Aussage des Zeugen »Techniker« im Hans H. Fall handelt. Insgesamt wurden den Versuchspersonen zwölf Aussagen vorge-

235

Holyoak/Simon, Journal of Experimental Psychology: General 1999, 3–31, 4. Haisch, in: Lösel (Hrsg.), Kriminalpsychologie, 163–172, 169; Brownstein/Read/Simon, Personality and Social Psychology Bulletin 2004, 891–904; Simon/Krawczyk/Holyoak, Psych. Science 2004, 331–336; Russo et al., Journal of Experimental Psychology: General 2008, 456–470; DeKay/Patiño-Echeverri/Fischbeck, Organizational Behavior and Human Decision Processes 2009, 79–92; Glöckner/Betsch/Schindler, Journal of Behavioral Decision Making 2010, 439–462. 237 Holyoak/Simon, Journal of Experimental Psychology: General 1999, 3–31; Carlson/Russo, Journal of Experimental Psychology: Applied 2001, 91–103; Hope/Memon/McGeorge, Journal of Experimental Psychology: Applied 2004, 111–119; Lundberg, European Journal of Operational Research 2004, 417–432; Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837; Glöckner/Engel, Preprints of the MPI for Research on Collective Goods 2008; Engel/ Glöckner, Journal of Behavioral Decision Making 2013, 272–284. 238 Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 818 (Übersetzung aus dem Englischen durch den Verfasser). 236

III. Konstruktive Intuition

297

Abbildung 38: Typische Kohärenzverschiebungen (aus Simon/Snow/Read, 2004).

legt, sechs, die im späteren Sachverhalt als belastende Indizien gewertet werden können und sechs, die als entlastende Indizien gewertet werden können. Die Resultate zeigen, dass sich die Beurteilung der Indizien in Richtung der getroffenen Entscheidung bewegt, d. h., Personen, die Hans verurteilen, stimmen nach der Entscheidung den Aussagen mehr zu, die für seine Schuld sprechen, und denjenigen weniger, die für seine Unschuld sprechen, während Personen, die Hans freisprechen, genau das umgekehrte Bild zeigen (siehe Abbildung 38).239 Ähnliche Verschiebungen lassen sich auch für die beweismäßigen Generalisierungen beobachten, die der Interpretation der Indizien zugrunde liegen (z. B. nimmt die Zustimmung zur Aussage »Jemand, der eine andere Person nur ein bis zwei Mal vorher gesehen hat, ist in der Lage, diese Person zweifelsfrei zu identifizieren« unter den verurteilenden Versuchspersonen zu).240 Dies ist insofern überraschend, als man erwarten würde, dass solche auf Lebenserfahrung oder kulturellem Wissen beruhenden Verallgemeinerungen sich weniger schnell verändern.241 In einem weiteren Schritt gilt es zu zeigen, dass die Kohärenzverschiebungen die Entscheidung bestimmen, und nicht erst nach bereits gefällter Entscheidung der Rechtfertigung der Entscheidung dienen. Eine Reihe von Experimenten geht dieser Frage direkt nach. Typischerweise werden die Versuchspersonen dabei gebeten, einstweilen noch keine Entscheidung zu treffen, weil noch ein wichtiges Beweismittel ausstehe, aber unverbindlich anzugeben, in welche Richtung (Verurteilung oder Freispruch) sie vorläufig tendieren. Dabei zeigt sich, dass die Interpretation der Beweismittel bereits im Sinne der vorläufigen Tendenz erfolgt und sich die Kohärenzverschiebungen nach der endgültigen Entscheidung

239 240 241

Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 819. Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 820. Simon, University of Chicago Law Review 2004, 511–586, 536 f.

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

Abbildung 39: Kohärenzverschiebungen während der Entscheidungsfindung (aus Simon/Snow/Read, 2004).

noch verstärken.242 Interessant sind auch die Bewertungen der Indizien durch die Minderheit der Versuchspersonen, deren endgültige Entscheidung sich von ihrer vorläufig geäußerten Urteilstendenz unterscheidet (z. B., weil das ausstehende Beweismittel ihrer vorläufigen Neigung widerspricht). Hier zeigt sich, dass die Kohärenzverschiebung erst in Richtung der vorläufigen Urteilstendenz geht (diejenigen, die vorerst zu Freispruch tendieren, werten belastende Indizien also ab) und dann in Richtung der endgültigen Entscheidung (diejenigen, die von der Tendenz zu Freispruch zur Verurteilung wechseln, werten die belastenden Aussagen wieder auf).243 Einen indirekten Nachweis, dass die Kohärenzverschiebungen bereits während des Entscheidungsfindungsprozesses stattfinden, liefert der Befund, dass die Beurteilung eines Sachverhalts von der Rolle abhängt, die der Entscheider während der ersten Lektüre des Sachverhalts einnimmt. Den Versuchspersonen wurde vor der Lektüre des Sachverhalts gesagt, dass sie als Gerichtschreiber den Richter bei der Begründung des bereits gefällten Urteils unterstützen sollten, das Hans verurteilt respektive freispricht. Es zeigt sich, dass bereits der Glaube, ein freisprechendes, respektive verurteilendes, Urteil begründen zu müssen, zu Kohärenzverschiebungen in die erwartete Richtung führt, noch bevor die Versuchspersonen selbst eine Entscheidung gefällt hatten. Wurden sie anschließend gefragt, wie sie selber entschieden hätten, verurteilten 61% der Versuchspersonen, die glaubten, ein verurteilendes Urteil begründen zu müssen, Hans; von den Versuchspersonen, die glaubten, ein freisprechendes Urteil begründen zu müssen, hingegen nur knapp 40%.244 242 Holyoak/Simon, Journal of Experimental Psychology: General 1999, 3–31, 6 f.; Simon et al., Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 2001, 1250–1260, 1253; Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 825. 243 Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 825; 244 Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 827.

III. Konstruktive Intuition

299

Dass Kohärenzverschiebungen bereits durch die Rolle des Urteilenden induziert werden können, ist gerade im juristischen Kontext wichtig. Die bloße Information, dass man die Rolle eines Staatsanwaltes respektive Richters übernehme, bewirkt, dass sich die Beurteilung der Indizien durch die Versuchspersonen, die den Fall aus der Sicht eines Staatsanwaltes beurteilen, in Richtung Verurteilung verschieben. Werden die Versuchspersonen anschließend gebeten, anzugeben, wie ein Gericht den Fall entscheiden würde, wobei die Versuchspersonen einen Geldpreis (C 100) gewinnen können, wenn sie die Entscheidung richtig voraussagen und es daher in ihrem eigenen Interesse ist, eine von ihrer Rolle unabhängige Einschätzung abzugeben, so zeigt sich, dass die Versuchspersonen, welche die Rolle des Staatsanwaltes übernommen haben, signifikant häufiger glauben, dass das Gericht Hans verurteilen wird, als die Versuchspersonen, die den Fall in der Rolle des Richters beurteilten.245 Dieser Effekt ist nicht darauf zurückzuführen, dass die Versuchspersonen verstärkt Indizien suchen, die Hans belasten, sondern auf die in Richtung Schuld verschobene Interpretation der Indizien.246 Da die Versuchspersonen jedes Interesse hatten, das Urteil richtig vorauszusagen, kann auch ausgeschlossen werden, dass die verzerrte Informationswahrnehmung motiviert war. Offenbar waren die Versuchspersonen unfähig, für die Kohärenzverschiebung zu korrigieren, die durch die Rollenerwartung ausgelöst wurde. Dies vermag zu erklären, weshalb Anwälte die Erfolgsaussichten der von ihr vertretenen Partei systematisch überschätzen, selbst wenn es rational wäre, diese korrekt einzuschätzen (ein Anwalt muss sich natürlich nach außen hin von der von ihm vertretenen Sache überzeugt zeigen, aber er sollte dennoch in der Lage sein, die Prozesschancen realistisch zu beurteilen).247 Folge dieser Überschätzung der eigenen Position ist unter anderem, dass effiziente außergerichtliche Konfliktlösungen nicht oft genug gewählt werden – wenn beide Parteivertreter überzeugt sind, dass sie den Prozess gewinnen werden, wird es nicht zu einem vorprozessualen Vergleich kommen.248 Die Informationsverzerrung findet also, wie von PCS-Modellen vorausgesagt, tatsächlich bereits während der Entscheidungsfindung statt.249 Dies unterscheidet PCS-Modelle der kognitiven Kohärenz insbesondere von Festingers Disso-

245

Engel/Glöckner, Journal of Behavioral Decision Making 2013, 272–284, 276. Engel/Glöckner, Journal of Behavioral Decision Making 2013, 272–284, 5 f. 247 Goodman-Delahunty et al., Psychology, Public Policy, and Law 2010, 133–157 zeigen, dass (amerikanische) Anwälte die Prozesschancen der von ihnen vertretenen Partei systematisch überschätzen, wobei Frauen etwas besser kalibriert sind als Männer (a. a. O., S. 142). 248 Babcock/Loewenstein, Journal of Economic Perspectives 1997, 109–126, 113, zeigen experimentell, dass die unterschiedliche Einschätzung der Erfolgsaussichten tatsächlich zum Scheitern der Vergleichsverhandlungen führt. 249 Für einen Überblick über zahlreiche auch ältere Studien, die diesen Schluss unterstützen, siehe Brownstein, Psych. Bull. 2003, 545–568. 246

300

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

nanztheorie, die besagt, dass die Einstellungen erst nach gefällter Entscheidung angepasst werden.250 bb) Die Informationsverzerrung erfasst auch logisch betrachtet unabhängige Aussagen Eine weitere Voraussage von PCS-Modellen der Kohärenzoptimierung ist, dass die Interpretation von Aussagen, die rational betrachtet nichts miteinander zu tun haben, in die gleiche (zur nachfolgenden Entscheidung passenden) Richtung verschoben wird. Empirische Studien zeigen, dass genau diese »Ausbreitung« der Kohärenzverschiebung auf unabhängige Aussagen stattfindet. In einem Experiment von Holyoak und Simon wurden die Versuchspersonen gebeten, zu entscheiden, ob ein Investor, der in eine Software-Entwicklungs-Gesellschaft investiert hatte, schadenersatzpflichtig ist, weil er in einem Internet-Forum eine herabsetzende Nachricht über die Gesellschaft veröffentlicht hat (»Quest« Fall). Strittig waren neben Tatfragen – hatte der Investor in guten Treuen beabsichtigt, andere Investoren zu warnen, oder wollte er den Aktienkurs der Gesellschaft aus eigennützigen Motiven manipulieren? – auch rechtliche Fragen, namentlich, ob die Meinungsfreiheit im Internet stärker reguliert werden sollte und ob ein Internet-Forum eher einer Zeitung oder dem Telefonnetz entspreche (letzteres führte gemäß den Instruktionen dazu, dass der Investor für seine Äußerung nicht belangt werden konnte). Es zeigt sich, erstens, dass die vor der Entscheidung nicht miteinander korrelierenden Zustimmungswerte für verschiedene für die Entscheidung wesentliche Aussagen nach der Entscheidung signifikant miteinander korrelieren, was bedeutet, dass sich die Zustimmungswerte global in die gleiche Richtung bewegt haben.251 Es zeigt sich zweitens, dass die Manipulation eines Indizes Einfluss auf logisch betrachtet gänzlich unabhängige Fragen hat. Den Versuchspersonen wurden zwei Versionen des Sachverhaltes vorgelegt; gemäß der einen Version war es wahrscheinlich, dass der Investor uneigennützig, gemäß der anderen Version, dass er aus Gier gehandelt hatte. Dies hat natürlich einen Einfluss auf die Beurteilung seines Motivs und die Wahrscheinlichkeit, gegen den Investor zu entscheiden. Aber es sollte rational betrachtet nichts mit der Frage zu tun haben, ob die Meinungsfreiheit im Internet stärker reguliert werden sollte und ob ein InternetForum mit einer Zeitung vergleichbar ist. Es zeigt sich aber, dass die Bewertung des Motivs des Investors als (un)eigennützig dazu führt, dass die Versuchsperso250

Festinger, Conflict, decision and dissonance, 153. Holyoak/Simon, Journal of Experimental Psychology: General 1999, 3–31, 8 f. Lundberg, European Journal of Operational Research 2004, 417–432, 425 f., berichtet, dass die gemäß einer Faktor-Analyse relevanten Einflüsse auf die Entscheidung im Verlaufe des Entscheidungsfindungsprozesses abnehmen, was zeigt, dass die mentale Repräsentation des Sachverhaltes zunehmend einfacher wird, wie von PCS-Modellen vorhergesagt. 251

III. Konstruktive Intuition

301

nen das Internet (geringer) stärker regulieren wollen, und ein Internet-Forum eher mit einer Zeitung (dem Telefon) gleichstellen.252 Der Wunsch nach einer Verurteilung des eigennützigen Investors führt zu einer Interpretation der Norm, die diese Verurteilung zulässt. Diese Tendenz, Normen im Sinne des erwünschten Resultats zu interpretieren, haben Juristen schon lange beobachtet. 1932 schreibt Bendix253 »[. . . ] dass der Berufsrichter die Fähigkeit ausgebildet hat und fortgesetzt ausübt, von den Tatsachen zu den Rechtssätzen und von diesen wieder zu jenen überzuspringen, d. h. wenn den gewollten Ergebnissen vermeintlich klare Rechtssätze entgegenstehen, so wird er sein Heil auf dem Gebiete der Tatsachen suchen und einen Tatbestand, wenn es nicht anders möglich ist, fingieren, der mit jenen Rechtssätzen im Einklang steht. Und umgekehrt, wenn die Tatsachen als solche kein Ausweichen ermöglichen und das gewollte Ergebnis in Frage zu stellen scheinen, dann sucht der erfahrene Berufsrichter sein Heil in den Rechtssätzen, bis er eine Auslegung gefunden hat, die ihm den Frieden mit den Tatsachen ermöglicht.«

Der Unterschied zwischen der Schilderung von Bendix und dem hier vorgestellten PCS-Modell der Beweiswürdigung ist, dass Bendix von einer motivierten Anpassung der Rechtsnormen an die Tatsachen ausgeht, um das »gewollte Ergebnis« zu erreichen. Dem Richter wird Absicht unterstellt, was bei PCS-Modellen der Kohärenzoptimierung gerade nicht der Fall ist: Die Kohärenzverschiebungen erfolgen automatisch und unbewusst, der Sachverhalt wird nicht aus niederen Beweggründen »zurechtgebogen«. Der Richter handelt nicht moralisch verwerflich, er kann nicht anders, als zu versuchen, eine kohärente mentale Repräsentation von Norm und Sachverhalt zu konstruieren, um die Komplexität der Entscheidungssituation zu bewältigen. Der durch PCS-Modelle beschriebene Prozess der Kohärenzoptimierung erinnert an Theodor Viehwegs Beschreibung der »Interpretation des schlichten Sachverhalts« als »wechselseitige Annäherung zwischen Sachverhalt und Rechtsordnung«254 . »Von einem vorläufigen Verständnis des Rechtszusammenhangs herkommend bildet sich das Verständnis des Sachverhaltes und wirkt von hier aus nun wiederum auf das Verständnis des Rechtes zurück, [. . . .]«255 Auch Berkemann berichtet von der »typischen Interdependenz zwischen Tatsachenfeststellung und Rechtssatzermittlung«256 und Scheuerle von der »wechselseitigen Durchdringung zwischen den Akten der Tatsachenfeststellung und denen der rechtlichen Qualifizierung«257 . Nicht fehlen darf an dieser Stelle natürlich auch der Hinweis auf das vielzitierte »Hin- und Herwandern des Blickes zwischen 252

Holyoak/Simon, Journal of Experimental Psychology: General 1999, 3–31, 12 ff. Bendix, Zur Psychologie der Urteilstätigkeit, 144. 254 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 90. 255 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 90; siehe auch Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 51, 73. 256 Berkemann, in: Jakob/Rehbinder (Hrsg.), Beiträge zur Rechtspsychologie, 135–143, 138 (ursprünglich erschienen in JZ 1971, 537–540). 257 Scheuerle, Rechtsanwendung, 23. 253

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

Sachverhalt und Rechtsnorm«258 von Karl Engisch. Diese bidirektionale Beeinflussung von Sachverhalt und Rechtsnorm sagen auch durch konnektionistische Netze implementierte PCS-Modelle voraus. cc) Kohärenzverschiebungen geschehen unbewusst Konnektionistische PCS-Modelle postulieren, dass die Kohärenzverschiebungen ein Resultat eines weitgehend automatischen, unbewussten, »intuitiven« Prozesses sind. Der Mensch schafft ständig Kohärenz, anders kann er seine Wahrnehmungen gar nicht sinnvoll einordnen, er ist sich dessen aber nicht bewusst. Ein Entscheider merkt nicht, dass sich seine mentale Repräsentation der Aufgabe während des Entscheidungsfindungsprozesses in Richtung der getroffenen Entscheidung verändert hat. Die getroffene Entscheidung wird daher als durch die »Fakten an und für sich« gerechtfertigt betrachtet, nicht durch den Prozess der Interpretation der Fakten. Dies stützt den Entscheidenden in dem Gefühl, seine Entscheidung rational aufgrund objektiver Gesichtspunkte getroffen zu haben.259 Experimentell lässt sich diese Voraussage prüfen, indem die Versuchspersonen gebeten werden, sich an die mentale Repräsentation des Sachverhalts vor dem Entscheidungsfindungsprozess zu erinnern. Es zeigt sich, dass sie sich falsch erinnern: Die Erinnerung ist in Richtung der derzeitigen, kohärenten, mentalen Repräsentation verzerrt.260 Es fehlt das Bewusstsein, dass sich die eigene Beurteilung der Fakten geändert hat. Eng verwandt damit ist eine Form des Rückschaufehlers: Im Nachhinein glaubt man, das tatsächlich eingetreten Ereignis schon immer vorausgesehen zu haben (so erinnert man sich falsch an die eigenen Voraussagen zu den Wahlresultaten einer politischen Wahl, wenn die Ergebnisse zwischenzeitlich bekannt wurden).261 Modelle der kognitiven Kohärenzbildung vermögen durch Kenntnis des Ausgangs induzierte spezifische Erinnerungsfehler vorauszusagen,262 was die gestaltpsychologische These stützt, dass Kohärenzbildung eine allgemeine, keine domänenspezifische, Eigenschaft menschlichen Denkens ist. dd) Der Zustand der Kohärenz ist selbstbewahrend Hat sich ein konnektionistisches Netz erst einmal stabilisiert, hat es die Tendenz, in diesem Zustand zu verharren. Es braucht sehr starke eingehende Aktiva258

Engisch, Logische Studien, 15. Simon, University of Chicago Law Review 2004, 511–586, 545. 260 Holyoak/Simon, Journal of Experimental Psychology: General 1999, 3–31, 11, 18. 261 Blank/Fischer/Erdfelder, Memory 2003, 491–504. Carli, Personality and Social Psychology Bulletin 1999, 966–979 zeigt, dass die gleiche Geschichte unterschiedlich erinnert wird, je nachdem, wie sie ausging (nämlich kohärent mit dem Ende, wenn dieses bekannt ist). 262 Ash, Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 2009, 916– 933. 259

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tion, um es nochmals zu bewegen; grundsätzlich passt sich die Aktivation neu hinzukommender Elemente dem bestehenden Aktivationsniveau an, und nicht umgekehrt. Anders gesagt wird nicht die (kohärente) mentale Repräsentation der neuen Information angepasst, sondern die neue Information der mentalen Repräsentation, und erst, wenn die neue Information gar nicht mehr mit der mentalen Repräsentation vereinbar ist, wird letztere geändert. Auch dies ist ein Phänomen, das Juristen nicht unbekannt ist:263 »Die nach einer Entschlussphase dem Richter zugänglichen weiteren Informationen werden deshalb in aller Regel zur Bestätigung der gefundenen Entscheidung verwandt. Es entsteht die typische Haltung des Richters, an seiner Auffassung festzuhalten – unter Umständen sogar durch Auswechseln der bereits erreichten normativen Begründung des gefundenen Ergebnisses.«

Dass ambivalente Information als die eigene vorbestehende Meinung bestätigend aufgefasst wird, ist experimentell belegt. So sind sowohl Befürworter wie Gegner der Todesstrafe überzeugter, dass ihre Auffassung die richtige ist, nachdem sie mehrere Studien zu den Wirkungen der Todesstrafe gelesen haben, obwohl gleich viele Studien die Wirkungen der Todesstrafe positiv respektive negativ beurteilen. Mehr Information führt also zu einer stärkeren Polarisierung, und nicht etwa zur Konvergenz der Meinungen, weil Information, welche die eigene Position stützt, stärker gewichtet wird als Information, die der eigenen Position widerspricht.264 Ebenfalls bekannt aus der sozialpsychologischen Literatur ist die »belief perseverance«, das Festhalten an einer (selbst durch sehr beweiskräftige Beweismittel) diskreditierten Auffassung.265 Auch dies ist Juristen hinlänglich bekannt:266 »Auch die besten Gründe der Kritik und anderer Gerichte mit entgegengesetzter Ansicht vermögen häufig genug eine bestimmte Rechtsprechung, die sich einmal in einem Gerichtskörper festgesetzt hat, nicht zu ändern, wenn nicht die bei dieser Rechtsprechung maßgebend beteiligten Richter wechseln.«

Bei dem beschriebenen Phänomen des Festhaltens an einer (weitgehend) diskreditierten Meinung handelt es sich jedoch das Festhalten an einer gegenüber Dritten geäußerten Meinung. Es ist anzunehmen, dass die Motivation hier eine wichtige Rolle spielt – man will von einer einmal geäußerten Meinung nicht abweichen, weil damit ein (empfundener) Reputationsverlust verbunden ist. Konnektionistische Modelle der Kohärenzbildung hingegen gehen wie erwähnt davon aus, dass Kohärenzverschiebungen die Entscheidungsbildung begleiten und nicht motiviert sind. Dies würde bedeuten, dass später im Entscheidungsprozess berücksich263 Berkemann, in: Jakob/Rehbinder (Hrsg.), Beiträge zur Rechtspsychologie, 135–143, 141; siehe auch Haisch, in: Lösel (Hrsg.), Kriminalpsychologie, 163–172, 169. 264 Lord/Ross/Lepper, Journal of Personality and Social Psychology 1979, 2098–2109; Koehler, Organizational Behavior and Human Decision Processes 1993, 28–55. 265 Nisbett/Ross, Human inference, 175 ff.; Haisch, in: Lösel (Hrsg.), Kriminalpsychologie, 163–172, 169. 266 Bendix, Zur Psychologie der Urteilstätigkeit, 101.

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

tigte Beweismittel im Sinne der vorläufigen Entscheidungsneigung interpretiert werden, selbst wenn man sich noch nicht definitiv auf eine Wahl festgelegt hat. Hassemer und Bandilla berichten von genau diesem Phänomen. Wenn die Versuchspersonen (34 Rechtsreferendare mit abgeschlossener strafrechtlicher Station) nach Kenntnisnahme aller übrigen Beweismittel überraschend mit einem Entlastungszeugen konfrontiert werden, führt dies nicht etwa dazu, dass sie den Angeklagten häufiger freisprechen als die Kontrollgruppe, die nichts von einem Entlastungszeugen erfährt. Vielmehr zeigt sich »das Ergebnis, dass die Mitglieder der Experimentalgruppe die für sie überraschende entlastende Aussage nicht nur abwerten, sondern sie geradezu zu einer Aufwertung der von dem Überraschungszeugen in Frage gestellten Aussage des Hauptbelastungszeugen umfunktionalisieren.«267 Auch Befunde von Simon stützen die Voraussage von PCS-Modellen der Kohärenzbildung, dass ein einmal in Gang gesetzter Prozess der Kohärenzbildung schwer zu korrigieren ist. Selbst wenn sie Informationen erhalten, die der vorläufigen Neigung eindeutig widersprechen, ändert nur eine Minderheit der Versuchspersonen die vorläufige Neigung.268 Interessanterweise ist die Überzeugung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, bei denjenigen, die ihre anfängliche Meinung geändert haben nicht geringer als bei denjenigen, die bei ihrer ursprünglichen Meinung blieben.269 Schünemann berichtet von einer Untersuchung mit deutschen Richtern und Staatsanwälten, gemäß der die Entscheidung über den Eröffnungsbeschluss gemäß § 203 StPO-DE270 die Beweiswürdigung im Hauptverfahren in dem Sinne beeinflusst, dass ambivalente Informationen in der Hauptverhandlung im Sinne der vorläufigen Beurteilung der Beweislage im Eröffnungsbeschluss interpretiert werden.271 Schünemann erklärt dieses Resultat dissonanztheoretisch,272 da aber das Gericht an die Beurteilung im Eröffnungsbeschluss nicht gebunden ist, ist der Eröffnungsbeschluss vergleichbar mit der vorläufigen Beurteilung in den Experimenten von Simon. Weitere Stützung erhält das Modell durch Studien, die zeigen, dass bei sequentieller Präsentation der Informationen später präsentierte Informationen so bewer267 Bandilla/Hassemer, Strafverteidiger 1989, 551–554, 552. Bandilla/Hassemer erklären den Effekt dissonanztheoretisch. 268 Simon, University of Chicago Law Review 2004, 511–586, 539; ebenso Tsai/Klayman/ Hastie, Organizational Behavior and Human Decision Processes 2008, 97–105, 103. 269 Simon, University of Chicago Law Review 2004, 511–586, 540. 270 § 203 DE-StPO lautet im Zeitpunkt der Untersuchung wie heute: »Das Gericht beschließt die Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint.« 271 Schünemann, in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.), Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, 1109–1151, 1140; ebenso Bandilla/Hassemer, Strafverteidiger 1989, 551–554, 553. 272 Schünemann, in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.), Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, 1109–1151, 1116 ff.; Schünemann, in: Lampe (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsanthropologie, 68–84, 81; ebenso Bandilla/Hassemer, Strafverteidiger 1989, 551–554, 553.

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tet werden, dass sie kohärent sind mit den zuerst präsentierten Informationen.273 Dass die Reihenfolge, in der die Beweismittel präsentiert werden, einen Einfluss auf die Entscheidung hat, widerspricht normativen Modellen der Beweiswürdigung, namentlich Bayes’ Regel, wird aber häufig beobachtet.274 Die zu starke Wirkung der zuerst präsentierten Beweismittel auf die Entscheidung wird als »primacy effect« bezeichnet.275 Andere Studien finden einen »recency effect«, d. h. eine Übergewichtung der zuletzt gehörten Beweismittel,276 schreiben diesen aber einem Gedächtniseffekt zu (d. h. die zuletzt gehörte Information wird übergewichtet, weil sich die Versuchspersonen an die erste Information nicht oder weniger gut erinnern).277 Das konnektionistische Modell der Kohärenzbildung ist schließlich auch konsistent mit dem durch zahlreiche Studien belegten Befund, dass das erste Angebot oder der erste Antrag einen stärkeren Einfluss auf den Ausgang der Verhandlung oder des Gerichtsverfahrens haben als das zweite Angebot oder der zweite Antrag.278 ee) Auch bei unklarem Sachverhalt entsteht durch den Prozess der Kohärenzbildung ein subjektives Gefühl der Sicherheit, richtig entschieden zu haben Der Sachverhalt des »Hans H.« (respektive »Jason Wells«) Falles und andere Sachverhalte, die in der psychologischen Forschung zu PCS-Modellen der Beweiswürdigung verwendet werden, zeichnen sich dadurch aus, dass sie ambivalent in dem Sinne sind, dass vernünftige Menschen zu unterschiedlichen Auffassungen dazu gelangen können, ob für den Kläger oder den Beklagten zu entscheiden ist. Es gibt Indizien, die für, und solche, die gegen Hans sprechen; man kann die Sache so oder anders sehen, der Fall ist nicht klar. Dies zeigt sich darin, dass – je nach Version des Sachverhaltes, des Beweismaßes und der zugewiesenen Rolle – zwischen 20% und 60% der Versuchspersonen die Klage gegen Hans (Jason) gutheißen und die restlichen Versuchspersonen sie abweisen.279 Es besteht also tatsächlich keine Einigkeit in der Beurteilung. 273 Russo/Carlson/Meloy, Psych. Science 2006, 899–904; Bond et al., Organizational Behavior and Human Decision Processes 2007, 240–254; DeKay/Stone/Sorenson, Psychonomic Bulletin & Review 2012, 349–356. 274 Nisbett/Ross, Human inference, 172 ff.; Pennington, Journal of Applied Social Psychology 1982, 318–333; Bond et al., Organizational Behavior and Human Decision Processes 2007, 240–254, 241. 275 Lawson, Kentucky Law Journal 1968, 523–555, 525. 276 Furnham, Journal of General Psychology 1986, 351–357; Costabile/Klein, Basic and Applied Social Psychology 2005, 47–58; Enescu, Jusletter 25. Oktober 2010. 277 Costabile/Klein, Basic and Applied Social Psychology 2005, 47–58, 56. 278 Whyte/Sebenius, Organizational Behavior and Human Decision Processes 1997, 74–85; Galinsky/Mussweiler, Journal of Personality and Social Psychology 2001, 657–669; Englich/ Mussweiler/Strack, Law and Human Behavior 2005, 705–722. 279 Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 819 ff.; Glöckner/Engel, Preprints of the MPI for Research on Collective Goods 2008, 14; Engel/ Glöckner, Journal of Behavioral Decision Making 2013, 272–284, 5; im »Quest« Fall von Simon

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PCS-Modelle der Beweiswürdigung sagen voraus, dass auch Sachverhalte, die anfänglich ambivalent sind, nach der Phase der Kohärenzbildung als eindeutig und klar beurteilt werden, weil widersprechende Indizien systematisch ab- und entscheidungskonforme Indizien aufgewertet werden, was in einem subjektiven Gefühl der Sicherheit resultiert, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Die experimentellen Befunde zeigen, dass die Verteilung der Überzeugung in die Richtigkeit der eigenen Entscheidung in der Tat bimodal ist: Sowohl diejenigen, die die Klage gutgeheißen haben, als auch diejenigen, die sie abgewiesen haben, sind sich sehr sicher, korrekt entschieden zu haben. So sind sich 75% der Versuchspersonen im »Quest« Fall sicher oder annährend sicher, richtig entschieden zu haben, und nur 5% sind wenig oder annährend wenig überzeugt.280 Ähnliche Resultate zeigen sich für den Hans H./Jason Wells Fall: Auf einer Skala von 0 bis 10, welche die Sicherheit ausdrückt, richtig entschieden zu haben, wählen weniger als 15% der Versuchspersonen Werte unter 5.281 Eine deutsche Studie von Schmid et al. kommt ausgehend von einem ganz anderen theoretischen Fundament (der Systemtheorie Luhmans) zu empirischen Befunden, die die Hypothese übersteigerter Sicherheit in ein einmal getroffenes Urteil weiter stützen. Schmid et al. legten rund 50 an Amtsgerichten in Hessen tätigen Richtern die Akten eines komplexen hypothetischen Arzthaftungsfalls vor.282 Obwohl der Sachverhalt objektiv betrachtet mehrere rechtliche Beurteilungen zuließ, was sich darin manifestierte, dass verschiedene Richter zu unterschiedlichen Beurteilungen gelangten und zwei Drittel der Richter angaben, dass sich der Fall nach dem Lesen der Schriftsätze völlig offen darstelle,283 waren die Richter nach getroffener Entscheidung zutiefst davon überzeugt, dass ihre Beurteilung die einzig richtige sei.284 Darauf hingewiesen, dass andere Richter zu anderen Schlüssen gelangt waren, wurden diese anderen Lösungen als »absurd«, »Quatsch«, »abwegig«, »weltfremd – das sind die, die sich die Hose mit der Beißzange anziehen« »glatte Fehlentscheidung – bei so etwas werde ich giftig« oder »seltsam« bezeichnet.285 Im Strafrecht sind aus den USA zahlreiche Fälle bekannt, in denen sich im Nachhinein herausgestellt hat, dass Angeklagte, die nach Ansicht auch des Beruentscheiden sich rund 50% der Versuchspersonen für die Gutheißung der Klage, Holyoak/ Simon, Journal of Experimental Psychology: General 1999, 3–31, 6. 280 Holyoak/Simon, Journal of Experimental Psychology: General 1999, 3–31, 6. 281 Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 819. Ähnlich Kuhn/Weinstock/Flaton, Psych. Science 1994, 289–296, 293. 282 Drosdeck, in: Schmid/Drosdeck/Koch (Hrsg.), Rechtsfall, 5–30, 20. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse findet sich in Schmid, in: Holzwarth et al. (Hrsg.), Die Unabhängigkeit des Richters, 95–111. 283 Schmid, in: Schmid/Drosdeck/Koch (Hrsg.), Rechtsfall, 57–124, 100; Schmid, in: Schmid/ Drosdeck/Koch (Hrsg.), Rechtsfall, 159–190, 174. 284 Schmid, in: Schmid/Drosdeck/Koch (Hrsg.), Rechtsfall, 57–124, 105. 285 Drosdeck, in: Schmid/Drosdeck/Koch (Hrsg.), Rechtsfall, 5–30, 24.

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fungsgerichts »guilty beyond reasonable doubt« waren, unschuldig sind.286 Aus Studien mit Ärzten ist bekannt, dass die subjektive Sicherheit des behandelnden Arztes, die richtige Diagnose getroffen zu haben, und die tatsächliche Häufigkeit richtiger Diagnosen weit auseinanderklaffen: So sind gemäß einer Studie von Podbregar und Kollegen 40% der medizinischen Diagnosen, die mit »völliger Sicherheit« getroffen wurden, gemäß Autopsie falsch.287 Diese Befunde lehren, dass dem »Evidenzgefühl, dessen Intensität, besonders bei verwickelten Problemprozessen, als Maßstab für die Annäherung an die gesuchte Lösung oder erstrebte Gewissheit angesehen wird«288 , nicht zu trauen ist. Zwar ist es richtig, »dass die Gewissheit zunimmt mit wachsender Detaillierung der Begründung, die allmählich die Einsicht in die Beziehungszusammenhänge entschleiert, die Zusammenschau der für ein Ereignis als kausal empfundenen Vorgänge oder Zustände ermöglicht«289 , aber nichts garantiert, dass diese Gewissheit auch tatsächlich ein Hinweis darauf ist, dass die mentale Repräsentation des Sacherhalts dem Zustand der Welt entspricht. Simon findet weiter einen Zusammenhang zwischen der Stärke der Kohärenzverschiebung und der Überzeugung, richtig entschieden zu haben, in dem Sinne, dass größere Unterschiede in der Beurteilung der Indizien vor und nach der Beweiswürdigung mit einer höheren Überzeugung korreliert.290 Dies lässt den Verdacht aufkommen, dass ein unterschiedliches Beweismaß nicht den gewünschten Effekt haben könnte: Ein höheres Beweismaß – z. B. »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« statt »überwiegende Wahrscheinlichkeit« – bewirkt möglicherweise nur eine stärkere Kohärenzverschiebung, nicht aber eine geringere Verurteilungsquote bei gleicher Beweislage.291 In ihrer starken Form lautet die Hypothese, dass das Beweismaß gar keinen Einfluss auf die Verurteilungsrate hat, in ihrer schwachen Form, dass der Einfluss geringer ist, als normativ erwünscht. Experimentelle Befunde bestätigen diesen Verdacht aber nicht. Unter dem »beyond reasonable doubt« Standard wird, wie normativ erwünscht, signifikant weniger häufig für den Kläger entschieden als unter dem »preponderance of the evidence« Standard.292 Hingegen stellen Glöckner und Engel fest, dass beim strikten Beweismaß bei den Personen, die für den Kläger entscheiden, stärkere Kohärenzverschiebungen stattfinden. Der Effekt wird aber durch ein normativ 286

Garrett, Convicting the innocent, 200 ff. Podbregar et al., Intensive Care Medicine 2001, 1750–1755, 1752. Siehe auch Landefeld et al., N. Engl. J. Med 1988, 1249–1254, gemäß denen es keinen Zusammenhang gibt zwischen dem Ergebnis der Autopsie und der subjektiven Sicherheit des behandelnden Arztes, die richtige Diagnose getroffen zu haben. 288 Bohne, Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung, 62. 289 Bohne, Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung, 57. 290 Simon/Snow/Read, Journal of Personality and Social Psychology 2004, 814–837, 821; Russo et al., Journal of Experimental Psychology: General 2008, 456–470, 457. 291 Glöckner/Engel, Preprints of the MPI for Research on Collective Goods 2008, 5 f. 292 Glöckner/Engel, Preprints of the MPI for Research on Collective Goods 2008, 12. 287

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erwünschtes Verhalten bewirkt; die Personen, die unter dem »beyond reasonable doubt« Standard für Hans entscheiden, werten nämlich die belastenden Indizien weniger stark ab als unter dem »preponderance of the evidence« Standard. Das kann man so interpretieren, dass sie unter dem strikten Standard freisprechen, obwohl sie die belastenden Beweismittel für stark halten, aber nicht für ausreichend stark.293 Sie sprechen aus Mangel an Beweisen, nicht aus Mangel an Überzeugung, frei. d) Implikationen deskriptiver Theorien kognitiver Kohärenz für die Befangenheit des vorbefassten Richters Eine Implikation von PCS-Modellen der Beweiswürdigung ist, dass dort, wo der Richter sich vorerst eine vorläufige Meinung bildet und sich anschließend unvoreingenommen aufgrund einer umfassenderen, gründlicheren, Beweiswürdigung ein endgültiges Urteil bilden sollte, das zweite Urteil durch die aufgrund der vorläufigen Beurteilung verursachten Kohärenzverschiebungen beeinflusst ist. Besonders problematisch ist dies, wenn das vorläufige Urteil auf der Kenntnis nur einer Seite der Geschichte erfolgt. Ein Beispiel ist der Eröffnungsbeschluss nach § 203 StPO-DE, in dem sich die gleichen Richter zum hinreichenden Tatverdacht äußern, die anschließend im Hauptverfahren über den Angeklagten urteilen.294 Im Zivilprozess stellt sich das gleiche Problem bei superprovisorischen (gemäß deutscher Terminologie: einstweiligen) Verfügungen, die auf Begehren einer Partei ohne Anhörung der anderen Partei erlassen werden. Auch hier begründet die Mitwirkung an der superprovisorischen (einstweiligen) Verfügung keinen Ablehnungsgrund für das anschließende Maßnahme- und Hauptverfahren.295 Auch die Vorbefassung im Rahmen eines Verfügungsverfahrens ist vor dem Hintergrund der kognitiven Kohärenztheorie problematisch. Weder in Deutschland noch in der Schweiz begründet die Teilnahme eines Richters an einem vorsorglichen Maßnahmeverfahren einen Anschein der Befangenheit für das anschließende Hauptverfahren.296 Das Bundesgericht begründet dies damit, dass das Maßnahmeverfahren anderen Zielen – der vorläufigen Sicherung eines Anspruchs –

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Glöckner/Engel, Preprints of the MPI for Research on Collective Goods 2008, 21. Die Beteiligung eines erkennenden Richters an der Eröffnung des Hauptverfahrens begründet grundsätzlich nicht die Ablehnung, BVerfG NJW 1971, 1029; Dissent der Verfassungsrichter Dr. Leibholz, Dr. Geiger und Dr. Rinck, NJW 1971, 1032; kritisch Wohlers, in: Heinrich (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, 1313–1327, 1323 f. Anders in der Schweiz für die Kantone, die das System der Anklagezulassung kannten: die Befassung mit der Entscheidung über die Anklagezulassung begründete einen Ablehnungsgrund, BGE 114 Ia 72 E. 5. 295 Für Deutschland statt aller MüKo-ZPO-Gehrlein, § 42 N 15; für die Schweiz Art. 47 Abs. 2 lit. d ZPO-CH. 296 Für Deutschland statt allerMüKo-ZPO-Gehrlein, § 42 N 15; für die Schweiz Art. 47 Abs. 2 lit. d ZPO-CH. 294

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als das Hauptverfahren diene.297 In der deutschen Lehre wird betont, das Gesetz setze »in diesen Fällen [sc. der prozessimmanenten Vorbefassung] als selbstverständlich voraus, dass der Richter bei der jeweils erneuten Behandlung der Sache unbefangen seine frühere Meinung überprüft und sich von ihr, wenn nötig, löst.«298 Schließlich besteht gemäß Rechtsprechung und Lehre kein Anschein der Befangenheit wegen Vorbefassung, wenn ein kassatorisches Rechtsmittel gutgeheißen und die Sache zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.299 In all diesen Fällen kann eine Besorgnis der Befangenheit nach der herrschenden Lehre nur erfolgreich geltend gemacht werden, »wenn zusätzliche konkrete Umstände vorliegen, aus denen sich etwa ergibt, dass der Richter nicht bereit ist, seine früher geäußerte Meinung kritisch, auch selbstkritisch, zu überprüfen.«300 Der Hinweis darauf, dass das Maßnahmeverfahren anderen Zielen – der vorläufigen Sicherung eines Anspruchs – als das Hauptverfahren dient, ist nicht überzeugend. Entscheidend ist, dass der Richter im Rahmen des Verfügungsverfahrens eine vorläufige Sachverhaltsrekonstruktion vornehmen muss, und dies die gleiche Sachverhaltsrekonstruktion ist, die auch für den Ausgang des Hauptverfahrens relevant ist. Vor dem Hintergrund der psychologischen Forschung erscheint es unwahrscheinlich, dass ein Richter, der sich im Maßnahmeverfahren bereits ein vorläufiges Urteil gebildet hat, im Hauptverfahren unvoreingenommen urteilen kann. Die Annahme, dass der Richter unbefangen seine frühere Meinung prüft und sich wenn nötig von ihr löst, ist vor dem Hintergrund der psychologischen Forschung unhaltbar.301 Das Problem ist nicht, dass der Richter nicht unbefangen sein will – er kann es schlicht nicht mehr sein, weil die Kohärenzverschiebungen unbewusst erfolgt sind und ihm einen unverstellten Blick auf den Sachverhalt verunmöglichen. Der Vorwurf der Befangenheit wegen Vorbefassung umfasst somit nicht den Vorwurf mangelnder moralischer Integrität des Richters.302 Da nur solche Zweifel, die nicht bloß auf einem Bauchgefühl einer Partei beruhen, einen Anschein der Befangenheit zu begründen vermögen,303 kann 297 BGE 131 I 113 E. 3.6 unter Hinweis auf das unveröffentlichte Urteil 4C.514/1996 vom 15. Dezember 1997. 298 MüKo-ZPO-Gehrlein, § 42 N 15. Kritisch Roth, Die Öffentliche Verwaltung 1998, 916– 920, 918 f. 299 Für Deutschland BVerwG NJW 1975, 1241; für die Schweiz Art. 47 Abs. 1 lit. b ZPO-CH e contrario. 300 MüKo-ZPO-Gehrlein, § 42 N 14. Nach Taubner, Der befangene Zivilrichter, 58, lässt sich die deutsche Rechtsprechung dahingehend zusammenfassen, dass bei Vorbefassung in der Rolle als staatlicher Richter Befangenheit grundsätzlich nur bei Vorliegen weiterer Anzeichen gegeben ist. 301 Ebenso Roth, Die Öffentliche Verwaltung 1998, 916–920, 919. 302 Roth, Die Öffentliche Verwaltung 1998, 916–920, 918 f. 303 Statt aller für Deutschland Thomas/Putzo-ZPO-Hüßtege, § 42 N 9; für die Schweiz BGE 131 I 24 E. 1.1.

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eine Ablehnung nur erfolgreich sein, wenn die Zweifel an der richterlichen Unbefangenheit vernünftig begründet werden können. Genau dies erlaubt die psychologische Forschung zur Kohärenzmaximierung während des Entscheidungsfindungsprozesses.304 Der (häufig unausgesprochene) Grund hinter der Gesetzgebung und Rechtsprechung, die eine Ablehnung aufgrund von Vorbefassung nur sehr eingeschränkt zulassen, ist sicherlich die Prozessökonomie. Wenn sich auch bei verfahrenstypischer und daher häufig vorkommender Vorbefassung ein neuer Richter in die Sache einarbeiten muss, ist dies zeit- und kostenaufwendig und kann zu Verzögerungen führen. Diese Verzögerungen werden von den Parteien des konkreten Streites getragen, aber auch von allen anderen Nutzern des Gerichtssystems, die ebenfalls mit längeren Prozessen rechnen müssen, wenn durch die Einarbeitung neuer Richter in die Akten eines Verfahrens Kapazitäten gebunden werden. Vernünftige Menschen können sicherlich unterschiedliche Auffassungen vertreten, ob der Vorteil der größeren Unvoreingenommenheit diesen Nachteil aufwiegen kann. Wenn dies aber der wirkliche Grund für die hier kritisierte Praxis ist, wäre es methodenehrlicher, dies auch offen auszusprechen und zu sagen, dass man einen Grad an fehlender Unvoreingenommenheit des Richters für den Vorteil der schnelleren Prozesserledigung in Kauf nimmt. Man kann die (empirisch nachweislich falsche) Behauptung, ein vorbefasster Richter sei dennoch in der Lage, unparteiisch zu urteilen und sich von seiner vorgefassten Meinung zu lösen, die zur Rechtfertigung der Praxis vorgebracht wird, durchaus als Resultat eines Kohärenzoptimierungsprozesses betrachten. Das Ziel der Verfahrenserledigung in nützlicher Zeit und das Ziel der Beurteilung durch einen unvoreingenommenen Richter stehen in Fällen der Vorbefassung im Rahmen eines Maßnahmeverfahren oder bei Zurückweisung der Sache durch eine Rechtsmittelinstanz an die Tatinstanz in einem Konflikt. Diesen Zielkonflikt kann man auflösen, indem man die Möglichkeit, dass die Vorbefassung zu einer Voreingenommenheit führt, leugnet. Ehrlicher wäre es, zuzugeben, dass man beide Ziele nicht gleichzeitig erreichen kann, und offen eine Güterabwägung vorzunehmen. e) Strategien zur Vermeidung von Kohärenzverschiebungen Betrachtet man die Abwertung von widersprechenden Beweismitteln, Aufwertung von bestätigenden Beweismitteln, und Ergänzung von fehlenden Beweismitteln während der Entscheidungsfindung als nachteilig, weil sie in einer zu starken Überzeugung resultieren, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, und zum Festhalten an einer durch weitere Beweismittel diskreditierten Hypothese führen können, dann stellt sich die Frage, wie Kohärenzverschiebungen 304 Ähnlich Wohlers, in: Heinrich (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, 1313–1327, 1317, zur Befangenheit des am Eröffungsbeschluss beteiligten Strafrichters.

III. Konstruktive Intuition

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vermieden werden können. Aus der Forschung zu den »kognitiven Täuschungen« des »heuristics and biases« Programms von Kahneman und Tversky weiß man, dass die Ermahnung, unvoreingenommen zu sein und sorgfältig nachzudenken, nicht zu einer Verbesserung der Entscheidungsqualität führt.305 Gewisse Erfolge zeigt die Strategie, den Urteilenden aufzugeben, sich vorzustellen, dass die Gegenteilige zu der von ihnen vorläufig bevorzugten Hypothese zutrifft306 oder Argumente aufzuzählen, welche die eigene Position schwächen.307 Gemäß Simon reduziert sich das Ausmaß der Kohärenzverschiebungen auf rund die Hälfte, wenn die Versuchspersonen aufgefordert wurden, sich ernsthaft vorzustellen, dass die Gegenpartei Recht hat.308 Überraschenderweise zeigt sich jedoch keine Reduktion in der subjektiven Sicherheit im Urteil,309 was zu erwarten gewesen wäre und durch Kuhn et al. auch festgestellt wurde, wobei die Versuchspersonen bei Kuhn et al., die sich weniger sicher in ihrem Urteil waren, die Gegenargumente spontan generiert hatten.310 Da die Bewertung von Beweismitteln nach ihrem Likelihood-Quotienten den Entscheider dazu zwingt, sich zu überlegen, wie wahrscheinlich das Vorliegen des Indizes wäre, wenn die Hypothese nicht zutrifft, liegt die Vermutung nahe, dass die Modellierung eines Sachverhalts mit einem Bayes’ Netz und die Parametrisierung des Netzes geeignet sind, die Kohärenzverschiebungen, die bei der holistischen Beweiswürdigung auftreten, zu vermeiden. Um diese Hypothese zu testen, habe ich eine Studie durchgeführt, bei der die gleichen Versuchspersonen den Sachverhalt des Hans H. Falles zuerst holistisch beurteilten, d. h. einfach gefragt wurden, wie wahrscheinlich es ihrer Auffassung nach sei, dass Hans das Geld aus dem Tresor genommen hat. Anschließend mussten sie den Beweiswert der einzelnen Beweismittel gemäß ihren Likelihood-Quotienten bewerten. Basierend darauf wurde mittels eines Bayes’ Netzes des Hans H. Falles die normativ gebotene a-posteriori-Wahrscheinlichkeit errechnet, d. h. die a-posterioriWahrscheinlichkeit, die sich ergibt, wenn die Teilüberzeugungen des Subjekts die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie nicht verletzen.311 Es wurden 120 Studierende, überwiegend der Erziehungswissenschaften und Psychologie, in das Hermann Ebbinghaus Labor an der Universität Erfurt eingeladen, wo sie einen computergestützten Fragebogen ausfüllten. Die Versuchs305

Simon, University of Chicago Law Review 2004, 511–586, 543, mit Hinweisen. Slovic/Fischhoff, Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance 1977, 544–551; Lord/Lepper/Preston, Journal of Personality and Social Psychology 1984, 1231– 1243; Mussweiler/Strack/Pfeiffer-Gerschel, Personality and Social Psychology Bulletin 2000, 1142–1150. 307 Babcock/Loewenstein/Issacharoff, Law & Social Inquiry 1997, 913–925. 308 Simon, University of Chicago Law Review 2004, 511–586, 544. 309 Simon, University of Chicago Law Review 2004, 511–586, 544. 310 Kuhn/Weinstock/Flaton, Psych. Science 1994, 289–296, 293. 311 Die Resultate der Studie wurden in englischer Sprache veröffentlicht in Schweizer, Law, Probability & Risk 2014, 65–89. 306

312

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

personen brauchten zwischen einer halben und einer Stunde für die vollständige Beantwortung aller Fragen und wurden mit C 6 entschädigt. Sechs Versuchspersonen konnten den Fragebogen wegen eines Computerfehlers nicht vollständig beantworten, weitere 16 wurden von der Analyse ausgeschlossen, weil sie Werte angaben, die eine Abfrage des Netzes unmöglich machten (dazu mehr hinten, S. 314 f.), so dass sich alle Analysen auf 98 Versuchspersonen beziehen. Die Versuchspersonen waren zwischen 19 und 47 Jahre alt (Median 24, Standardabweichung 4), 72% waren Frauen. Die Versuchspersonen erhielten die Instruktion, dass sie sich eine subjektive Wahrscheinlichkeit von x% als die Wahrscheinlichkeit vorstellen konnten, bei einem Griff in eine Urne, in der sich 100 Kugeln befinden, darunter x rote Kugeln, eine rote Kugeln zu ziehen. Es wurde das Konzept der bedingten Wahrscheinlichkeit erläutert und betont, dass sich Likelihoods nicht auf 1 summieren müssen (was ein verbreiteter Irrtum ist). Alle Angaben zu subjektiven Wahrscheinlichkeiten wurden durch Eingabe einer Prozentzahl zwischen 0% und 100% in ein Textfeld gemacht, was natürlicher ist als die Normierung zwischen 0 und 1, die in der Mathematik üblich ist. Die Versuchspersonen lasen dann das Szenario des Hans H. Falles (wie auf S. 231 f. wiedergegeben). Anschließend wurden sie gefragt, ob sie Hans für schuldig hielten, dann, wie wahrscheinlich es sei, dass er das Geld aus dem Tresor genommen habe (»holistische Wahrscheinlichkeit«). Die Versuchspersonen beantworteten dann die Fragen, die eine Parametrisierung des Hans H. Netzes in der Form gemäß Abbildung 40 erlauben. Zuerst gaben sie die Anfangswahrscheinlichkeit an, dass Hans das Geld genommen hat, gegeben, dass er einer von acht Personen ist, die Zugang zum Tresor haben (»objektive a-priori-Wahrscheinlichkeit«), dann, dass er das Geld genommen hat, gegeben, dass er Zugang zum Tresor hat, seine Beförderung verweigert wurde und er eine lange zurückliegende Vorstrafe hat (»subjektive a-priori-Wahrscheinlichkeit«). Die Versuchspersonen mussten ebenfalls eine Anfangswahrscheinlichkeit dafür angeben, dass Hans das Geld von seiner Schwägerin erhalten hatte, da dies ein weiterer Wurzelknoten des Netzes gemäß Abbildung 40 ist. Der Likelihood-Quotient für jedes Beweismittel (in Abbildung 40 mit gestrichelter Linie eingezeichnet) und für jede verdeckte Variable (in Abbildung 40 mit ausgezogener Linie eingezeichnet) wurde durch Fragen der Art »Wie wahrscheinlich ist es, dass der Techniker sagt, er habe Hans aus dem Büro eilen gesehen, gegeben, dass Hans aus dem Büro geeilt ist?« und »Wie wahrscheinlich ist es, dass der Techniker sagt, er habe Hans aus dem Büro eilen gesehen, gegeben, dass Hans nicht aus dem Büro geeilt ist?« ermittelt. Die Versuchspersonen bestimmten insgesamt elf Likelihood-Quotienten, was die Berechnung zweier Versionen des Netzes erlaubt (gleich nachstehend). Abschließend wurden die Versuchspersonen nochmals gefragt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, dass Hans das Geld aus dem Tresor genommen habe (»holistische Wahrscheinlichkeit nachher«).

313

III. Konstruktive Intuition

Abbildung 40: Struktur des Hans H. Netzes für die Berechnungen im Experiment.

Die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit der Schuld wurde für jede Versuchsperson basierend auf ihren eigenen Angaben und der Struktur des Netzes gemäß Abbildung 40 berechnet. Die grau eingezeichneten Knoten »verweigerte Beförderung« und »Vorstrafe« beeinflussen die Anfangswahrscheinlichkeit von H. Sie werden für die Berechnung des Netzes nicht benötigt, da ihr Zustand bekannt ist, und sind nur der Vollständigkeit halber eingezeichnet. Gegeben die Struktur des Netzes in Abbildung 40, kann die vollständige gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung des Netzes wie folgt faktorisiert werden: 

Pr H, E, B, G, A, T, V, S, Q, F, K 











= Pr (H) Pr (E) Pr B|H Pr G|B Pr A|G Pr T|B Pr V|G Pr S|A Pr Q|E



  · Pr F|E Pr K|H, E

Die Zustände der Informationsvariablen T, V, S und K sind als »wahr« und die Zustände der Informationsvariablen Q und F als »falsch« bekannt. Die interessierende bedingte Wahrscheinlichkeit ist daher Pr hw |E, B, G, A, tw , vw , sw , qf , ff , kw 



 





Pr hw Pr (E) Pr B|hw Pr G|B Pr A|G Pr tw |B      ·Pr vw |G Pr sw |A Pr qf |E Pr ff |E Pr kw |hw , E  P P P P P = H E B G A Pr tw , vw , sw , qf , ff , kw Alle Berechnungen wurden mit der Software SamIam 3.0 ausgeführt. Insgesamt wurden vier a-posteriori-Wahrscheinlichkeiten für jede Versuchsperson berechnet. Die erste mit der Struktur des Netzes, gemäß der die Variable A direkt abhängig ist von G, und mit allen Informationsvariablen instanziiert (»berechnete posteriori 1«), die zweite mit der gleichen Struktur, aber ohne dass die Variable F

314

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

(fehlende Zeugin) instanziiert wurde (»berechnete posteriori 2«). Für die dritte und vierte a-posteriori-Wahrscheinlichkeit wurde eine alternative Struktur des Netzes verwendet, gemäß der die Variable A (im Anzug am Schulanlass) direkt von der Entnahme des Geldes aus dem Tresor (H) abhängig ist (in Abbildung 40 mit Á eingezeichnet). Dies ist zwar falsch, weil die Wahrscheinlichkeit, dass Hans rechtzeitig am Schulanlass ist, nicht direkt vom Diebstahl abhängt (er ist mit den Taschen voller Geld nicht schneller oder langsamer im Abendverkehr), aber es ist eine intuitive Lesart des Sachverhalts. Für die alternative Struktur des Netzes wird daher Pr(A|G) ersetzt durch Pr(A|H), alles andere bleibt gleich. Wiederum werden zwei a-posteriori-Wahrscheinlichkeiten berechnet, eine mit Instanziierung der Variable F (»alternative berechnete posteriori 1«) und eine ohne (»alternative berechnete posteriori 2«). Von den 114 Versuchspersonen, die alle Fragen beantworteten, gaben wie bereits erwähnt 16 Werte an, die eine Abfrage des Netzes unmöglich machten. Dies passiert, wenn die Subjekte Wahrscheinlichkeiten angeben, die mit den bekannten Beweismitteln inkonsistent sind. Beispielsweise gab eine Versuchsperson an, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Hans rechtzeitig am Schulanlass sei, egal, ob er das Bürogebäude um 19.17 Uhr verlassen hat oder nicht, 0% sei. Gleichzeitig gab sie an, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Silvia aussagen würde, dass sie Hans am Schulanlass gesehen hat, obwohl Hans dort nicht (um die Zeit) war, ebenfalls 0% ist (d. h. Silvia kann sich nicht täuschen). Aber unter diesen Annahmen ist es unmöglich, dass Silvia sagt, sie habe Hans am Schulanlass gesehen, aber wir wissen, dass sie dies sagt. Eine Abfrage des Netzes ist daher mit diesen Werten nicht möglich. Von den 16 Versuchspersonen, die von der weiteren Analyse ausgeschlossen wurden, hätten elf (69%) Hans verurteilt (gegenüber 62% von den nicht ausgeschlossenen Versuchspersonen). Die durchschnittliche holistische a-posteriori-Wahrscheinlichkeit für die Schuld von Hans dieser elf Personen ist mit 80,2% nicht signifikant verschieden von der durchschnittlichen holistischen Schuldwahrscheinlichkeit von 80,4% der nicht ausgeschlossenen Versuchspersonen. Die durchschnittliche holistische a-posteriori-Wahrscheinlichkeit für die Schuld von Hans der fünf ausgeschlossenen Versuchspersonen, die Hans freigesprochen hätten, liegt mit 23,1% tiefer als die durchschnittliche holistische a-posteriori-Wahrscheinlichkeit von 45% der nicht ausgeschlossenen Freisprechenden. Der Einschluss der 16 ausgeschlossenen Versuchspersonen in die Analyse hätte die beobachteten Kohärenzverschiebungen daher nur noch stärker gemacht; zu den berechneten a-posteriori-Wahrscheinlichkeiten lässt sich naturgemäß nichts sagen. 61 (62%) Versuchspersonen hätten Hans wegen der Entnahme des Geldes verurteilt (»Verurteiler«) und 37 hätten ihn freigesprochen (»Freisprecher«). In Tabelle 17 werden die Mittelwerte und Standardabweichungen (in Klammern) für die verschiedenen a priori und a-posteriori-Wahrscheinlichkeiten berichtet. Die a-priori-Wahrscheinlichkeiten von Freisprechern und Verurteilern unterscheiden

III. Konstruktive Intuition

315

sich nicht signifikant. Die holistischen a-posteriori-Wahrscheinlichkeiten unterscheiden sich signifikant, und zwar auch die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit, die nach Beantwortung der Fragen zu den Anfangswahrscheinlichkeiten und Likelihoods angegeben wurde. Die berechneten a-posteriori-Wahrscheinlichkeiten sind für die erste Variante des Netzes nicht signifikant verschieden, für die zweite Variante verringert sich der Unterschied gegenüber dem Unterschied zwischen den holistischen a-posteriori-Wahrscheinlichkeiten zwar, bleibt aber signifikant. Die Berücksichtigung, dass Hans es unterlässt, seine Schwägerin als Zeugin zu rufen, hat einen signifikanten und erheblichen Einfluss auf die Schuldwahrscheinlichkeit, die sich dadurch um ca. 20 Prozentpunkte erhöht.312 Dies ist unabhängig vom Urteil (Freispruch oder Verurteilung). Abbildung 41 zeigt die Resultate aus Tabelle 17 in grafischer Form (die Fehlerbalken zeigen das 95%-Konfidenzintervall an). Wie man sieht, unterscheiden sich die Anfangswahrscheinlichkeiten kaum, die holistischen a-posterioriWahrscheinlichkeiten aber massiv. Der große Unterschied in den a-posterioriWahrscheinlichkeiten für die Schuld von Hans zwischen denen, die Hans verurteilen und denjenigen, die ihn freisprechen, verschwindet weitgehend, wenn man die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit mittels des Bayes’ Netzes berechnet. Die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit derjenigen, die verurteilen, verringert sich, während sich die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit derjenigen, die freisprechen, bei Berücksichtigung, dass Hans seine Schwägerin nicht als Zeugin ruft, erhöht, und bei Nicht-Berücksichtigung der fehlenden Zeugin nicht verändert. Ohne Berücksichtigung der fehlenden Zeugin verringert sich die Schuldwahrscheinlichkeit, aber der Unterschied bleibt im Wesentlichen gleich. Das Verschwinden des Unterschieds zwischen den a-posteriori-Wahrscheinlichkeiten der Verurteiler und Freisprecher ist darauf zurückzuführen, dass beide Gruppen die Anfangswahrscheinlichkeiten und Beweismittel weitgehend gleich beurteilen. Die entsprechenden Resultate für die bedingten Wahrscheinlichkeiten, aus denen sich die Likelihood-Quotienten berechnen, finden sich in Anhang V, weil die Tabelle sehr groß ist. Entscheidend ist, dass es bis auf eine einzige Ausnahme keinen Unterschied gibt, der auf einem üblichen Signifikanzniveau von p < 0,05 signifikant wäre; würde man für das wiederholte Testen korrigieren (z. B. durch eine Bonferroni-Korrektur), wäre keiner der Unterschiede in der Tabelle im Anhang V signifikant (die Unterschiede im Mittelwert der holistischen Wahrscheinlichkeiten in Tabelle 17 bleiben hingegen hochgradig signifikant auch bei einer Anpassung des α-Levels). Der Sachverhalt des Hans H. Falles ist offensichtlich ambivalent. Verschiedene Menschen können zu unterschiedlichen Auffassungen dazu gelangen, ob Hans schuldig zu sprechen wäre, was sich darin zeigt, dass 62% der Versuchspersonen 312 In einer linearen Regression mit der berechneten a posteriori Wahrscheinlichkeit als abhängiger Variable hat die Dummy Variable für die Instanziierung von F einen signifikanten Effekt, b = 19.98, z(98) = 6.92, p < 0,001.

+

p < 0.1 (zweiseitiger t-Test)

p < 0.001;

***

24,2 (18,4) 20,6 (18,3) 22,9 (16,7) 3,6

12,8 (2,5) 12,6 (2,4) 12,8 (2,5) 0,2

Subjektive a priori W.

Verurteiler Freisprecher Durchschnitt Differenz

Objektive a priori W. 80,4 (20,6) 45,0 (27,0) 67,0 (28,8) 35,4***

Holistische Wahrsch. 75,7 (19,6) 45,1 (26,6) 64,2 (26,8) 30,4***

Holistische W. nachher 69,0 (36,3) 62,8 (36,8) 66,7 (36,4) 6,2

berechnete posteriori 1 50,5 (33,3) 40,5 (29,7) 46,7 (32,2) 10,0+

berechnete posteriori 2 67,9 (37,1) 59,7 (37,2) 64,8 (37,2) 8,2

Alt. berechnete post. 1

46,7 (33,9) 34,5 (28,8) 42,1 (32,4) 12,2+

Alt. berechnete post. 2

Tabelle 17: Mittelwerte (Standardabweichung) der a priori und a-posteriori-Wahrscheinlichkeiten für Verurteiler und Freisprecher. Die Resultate sind robust gegenüber der Verwendung eines nicht parametrischen Tests (Wilcoxon Rangsummentest).

316 Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

III. Konstruktive Intuition

317

Abbildung 41: Grafische Darstellung der Resultate gemäß Tabelle 17 (Fehlerbalken zeigen 95%-Konfidenzintervall).

Hans freisprechen und 38% ihn verurteilen. Die Überzeugung derjenigen, die Hans verurteilen, dafür, dass er schuldig ist, ist rund doppelt so hoch wie derjenigen, die ihn freisprechen. Es scheint, dass Freisprecher und Verurteiler den Fall ganz unterschiedlich beurteilen; sie konstruieren unterschiedliche mentale Repräsentationen des Falles. Diese unterschiedliche Beurteilung findet sich jedoch nicht, wenn man die Versuchspersonen zwingt, die Beweiskraft der einzelnen Beweismittel und die Anfangswahrscheinlichkeiten separat zu bewerten und die Integration durch ein Bayes’ Netz erfolgt, das eine Inkohärenz der Teilüberzeugungen – im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie – verhindert. Die Unsicherheit, ob Hans das Geld aus dem Tresor genommen hat, die dem Sachverhalt inhärent ist, bleibt erhalten, was sich darin zeigt, dass die Überzeugung, dass Hans schuldig ist, für beide Gruppen bei rund 65% liegt, wenn man die fehlende Zeugin berücksichtigt, und bei rund 50%, wenn man das Fehlen der Zeugin nicht berücksichtigt. Für eine Verurteilung in einem Straffall würde das sicherlich nicht genügen. Wie bereits erwähnt hätten jedoch drei von vier Richtern am Landgericht Oldenburg Hans aufgrund des Sachverhalts nach dem »beyond reasonable doubt« Standard verurteilt.313 Die Studie zeigt daher einen 313

Engel/Glöckner, Journal of Behavioral Decision Making 2013, 272–284, 280.

318

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

konkreten Vorteil der Beweiswürdigung mittels eines Bayes’ Netzes in einem Fall, in dem es an »objektiven«, frequentistischen, Wahrscheinlichkeiten fehlt. Die Bewertung der einzelnen Beweismittel und ihre Integration in einer Weise, die den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorcht, verhindert, dass die Überzeugung für die Richtigkeit der gewählten Option unangemessen hoch wird. Ist es gerechtfertigt, das Fehlen der Zeugin »Schwägerin« hier gegen Hans zu werten? In einem Zivilverfahren ja, wenn Hans nicht begründet, weshalb er die Zeugin nicht rufen kann. In einem Strafverfahren jedoch nicht, wenn es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Anklage die Zeugin nicht rufen konnte. Glaubt der Staatsanwalt nicht, dass Hans das Geld von seiner Schwägerin erhalten hat, wäre es ein Leichtes für ihn, die Schwägerin als Zeugin einzuvernehmen. Unterlässt er dies, darf man das nicht gegen Hans werten. Zur Verteidigung der Versuchspersonen ist zu sagen, dass sie nur gefragt wurden, wie wahrscheinlich es sei, dass Hans seine Schwägerin als Zeugin rufe, gegeben dass er das Geld (nicht) von ihr erhalten hat. Anzumerken ist, dass die Mittelwerte der bedingten Wahrscheinlichkeiten und der berechneten a-posteriori-Wahrscheinlichkeiten hier insofern irreführend sind, als es sehr große inter-individuelle Unterschiede gab, was sich in den hohen Standardabweichungen der berichteten Werte zeigt. Viele Versuchspersonen gaben Likelihoods von 100% an, die z. B. die Überzeugung ausdrücken, dass es unmöglich sei, dass die Zeugin Silvia sagt, sie habe Hans um 20 Uhr am Schulanlass gesehen, wenn er nicht tatsächlich zu der Zeit da war. Diese extremen Werte für die bedingten Wahrscheinlichkeiten führen zu extremen Ausprägungen der berechneten a-posteriori-Wahrscheinlichkeiten (vorne, S. 245 f.). Damit Bayes’ Netze praktisch nützlich sind, müsste es gelingen, eine größere Übereinstimmung in der Beurteilung der Likelihoods zu erreichen. Ein Ansatzpunkt wäre, die Versuchspersonen nicht nur eine Punktschätzung der subjektiven Wahrscheinlichkeiten machen zu lassen, sondern eine minimal, maximale und eine beste Schätzung (eine Technik, die unter der Bezeichnung »dialectical bootstrapping« bekannt ist und zu genaueren Schätzungen führt).314 3. Zusammenfassung Deskriptive Theorien kognitiver Kohärenz beschreiben den Vorgang der Beweiswürdigung als einen iterativen Prozess der Kohärenzbildung, in dessen Verlauf aus einer ambivalenten, widersprüchlichen Masse von Beweismitteln ein kohärentes Gesamtbild entsteht, indem Indizien, welche die nachfolgende Entscheidung stützen, auf-, und widersprüchliche Indizien abgewertet werden. Das Resultat ist, dass ein unklarer Sachverhalt zunehmend klarer erscheint und der Urteilende am Schluss des Überzeugungsbildungsvorgangs überzeugt ist, die richtige Entschei314

Zum »dialactectical bootstrapping« siehe Herzog/Hertwig, Psych. Science 2009, 231–237.

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

319

dung getroffen zu haben. Dieser Vorgang geschieht weitgehend unbewusst, so dass dem Urteiler nach abgeschlossenem Kohärenzbildungsprozess das Bewusstsein dafür fehlt, dass andere vernünftige Menschen zu einem gegenteiligen Schluss kommen können, weil die Beweislage alles andere als eindeutig ist. Haben die während des Entscheidungsfindungsprozesses ablaufenden Kohärenzverschiebungen erst einmal ein gewisses Ausmaß erreicht, sind sie schwerlich rückgängig zu machen; d. h. neue Beweismittel werden so interpretiert, dass sie zur sich abzeichnenden kohärenten Darstellung passen, und nur außerordentlich starke Beweismittel führen dazu, dass einem neuen Gesamtbild der Vorzug gegeben wird. Eine atomistische Beweiswürdigung in dem Sinne, dass die Anfangswahrscheinlichkeit für die Hypothese und die Beweiskraft der einzelnen Beweismittel gemäß ihrem Likelihood-Quotienten beurteilt werden und die Gesamtüberzeugung durch Integration der Teilüberzeugungen nach Bayes’ Regel erfolgt, führt dazu, dass diese Kohärenzverschiebungen weitgehend vermieden werden. Die dem Sachverhalt innewohnende Ambivalenz bleibt erhalten, was sich in einem moderaten Überzeugungsgrad für die Wahrheit der Hypothese niederschlägt. Das falsche Gefühl der Sicherheit, dass durch die Prozesse der konstruktiven Intuition entstehen kann, wird dadurch vermieden.

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung? Kohärenz wird in der Rechtswissenschaft seit langem als normativer Standard zur Rechtfertigung von Normen propagiert. Eine Norm, die kohärent ist mit anderen als richtig anerkannten Normen und Wertvorstellungen, darf als richtig anerkannt werden. Von den zahlreichen Kohärenztheorien der Normrechtfertigung seien nur Alexys und Peczeniks »weigh and balance« Theorie,315 Dworkins »law as integrity«,316 MacCormicks normative Kohärenz,317 Rawls »wide reflective equilibrium«318 und aus neuerer Zeit Brackers »systematische Interpretation«319 erwähnt. Neben diesen Theorien der Normrechtfertigung mittels Kohärenz, die nicht zum Thema dieser Arbeit gehören, hat eine beachtliche Zahl von Autoren normative Kohärenztheorien der Beweiswürdigung aufgestellt, namentlich Mac315 Alexy/Peczenik, Ratio Juris 1990, 130–147; Alexy, in: Behrends/Diesselhorst/Dreier (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 95–107; Peczenik, Ratio Juris 1994, 146–176; Peczenik, On law and reason, 131 ff., 278 ff. 316 Dworkin, Law’s empire, 245, u. öfter. 317 MacCormick, in: Krawietz/Schelsky/Winkler (Hrsg.), Theorie der Normen, 37–53; MacCormick, Rhetoric and the rule of law, 189 ff. 318 Rawls, A theory of justice, 21; Rawls, Political liberalism, 8, 95 ff., u. öfter. 319 Bracker, Kohärenz und juristische Interpretation, 166 ff.

320

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

Cormick mit seiner narrativen Kohärenztheorie,320 Allen mit seiner relativen Plausibilitätstheorie,321 Thagard mit seiner Theorie erklärender Kohärenz,322 Amaya mit ihrer aretaischen (tugendethischen) Kohärenztheorie,323 Bex mit seiner hybriden Theorie, die Elemente narrativer Kohärenztheorien enthält,324 und Jackson mit seiner semiotischen Erzähltheorie.325 Diese Theorien werden nachstehend in chronologischer Reihenfolge ihrer Entstehung erläutert, mit der Ausnahme von Jacksons Theorie, wie wegen ihres speziellen Status am Schluss erörtert wird. Anschließend wird der normative Status kognitiver Kohärenztheorien der Beweiswürdigung vor dem Hintergrund des bisher Erarbeiteten, insbesondere der psychologischen Theorien kognitiver Kohärenz, beleuchtet. 1. Neil MacCormicks narrative Kohärenz MacCormick unterscheidet zwischen normativer und narrativer Kohärenz; erstere dient der Rechtfertigung von Normen, letztere der Rechtfertigung von Tatsachenfeststellungen.326 MacCormick bleibt einer Korrespondenztheorie der Wahrheit verhaftet. Einfache Beobachtungssätze wie »Die Katze ist auf der Matte« ließen sich durch Sinneswahrnehmung verifizieren.327 Kohärenz ist demnach keine Wahrheitsdefinition, sondern ein Wahrheitskriterium. Das Problem sei, dass in Gerichtsverfahren fast immer in der Vergangenheit liegende Tatsachen festgestellt werden müssten, die der direkten Beobachtung des Richters entzogen seien. Die richterliche Sinneswahrnehmung kann die Feststellung solcher Tatsachen nicht rechtfertigen, dies übernimmt die Kohärenz als Wahrheitskriterium.328 Über die Vergangenheit wird in der Form von Geschichten berichtet, die notwendigerweise auf einer Auswahl der – aus Sicht des Erzählers – wesentlichen Fakten beruhen.329 Die Kohärenz einer Geschichte beurteilt sich nach ihrer Übereinstimmung mit den Prinzipien des Primats von Beobachtungen, universeller Kausalität und rationaler Motivation. MacCormick geht von einem Primat der Beobachtungen in dem Sinne aus, dass Beobachtungen zwar falsch sein können, es aber ohne spezifische Gründe unvernünftig ist, anzunehmen, dass sie gar 320 MacCormick, Legal reasoning and legal theory, 89 ff.; MacCormick, in: Jahr et al. (Hrsg.), Vestigia iuris, 119–126; MacCormick, Rhetoric and the rule of law, 214 ff. 321 Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444; Allen, Northwestern University Law Review 1994, 604–640; Allen, International Journal of Evidence and Proof 1997, 254–275. 322 Thagard, Applied Artificial Intelligence 2004, 231–249, 232. 323 Amaya, Artificial Intelligence and Law 2007, 429–447; Amaya, Episteme 2008, 306–319. 324 Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 90. 325 Jackson, Law, fact and narrative coherence; Jackson, International Journal for the Semiotics of Law 1988, 225–246. 326 MacCormick, Rhetoric and the rule of law, 189, 229 ff. 327 »The cat is on the mat« ist seit mindestens 100 Jahren ein Standardbeispiel der analytischen Sprachphilosophie für eine deklarative Aussage. 328 MacCormick, in: Jahr et al. (Hrsg.), Vestigia iuris, 119–126, 120 ff. 329 MacCormick, Rhetoric and the rule of law, 220 f.

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

321

keinen Zugang zur Realität ermöglichen.330 Das Prinzip universeller Kausalität besagt, dass jedes Ereignis eine Ursache hat, und die Ursache der Folge zeitlich vorausgeht. Das Prinzip rationaler Motivation besagt, dass menschliche Entscheidungen, beruhend auf vernünftigen Gründen, eine Ursache für Ereignisse sein können; in diesem Fall braucht keine Ursache für die Motivation genannt zu werden, es genügt, die vernünftigen Gründe anzuführen.331 Eine Menge von Tatsachenbehauptungen ist kohärent, wenn sie keine unerklärten Widersprüche enthält und die Gesamtheit der Aussagen durch die Prinzipen der universellen Kausalität oder rationalen Motivation verknüpft ist.332 Narrative Kohärenz ist »[. . . ] a test as to the truth or probable truth of propositions about unperceived things and events. The test is of the explicability of the tested proposition within the same scheme of explanation as explains propositions considered true on the basis of perception. The relative probability of one or other of two mutually inconsistent propositions relating to the same unperceived event [. . . ] depends on the number of other events which have to be supposed to have occurred to allow of coherence.«333

Die Verankerung in der Realität erfolgt durch die Übereinstimmung der von der Geschichte aufgestellten Behauptungen mit Beobachtungen. Dies unterscheidet Geschichten, deren Wahrheit gerechtfertigt ist, von fiktiven Geschichten, die ebenfalls narrativ kohärent sein können.334 Die Gefahr, dass eine stimmige Geschichte eine wahre Geschichte schlägt, sieht MacCormick zwar, sieht jedoch keine Alternative zu einer narrativen Rekonstruktion der Vergangenheit im Rahmen eines Gerichtsverfahrens.335 2. Ronald J. Allens relative Plausibilitätstheorie Allens »relative Plausibilitätstheorie« hat als Ausgangspunkt die Kritik an einer Bayesianischen Konzeption der Beweiswürdigung, die Allen wegen des Konjunktionsparadoxes für unhaltbar hält (hinten, S. 495 f.).336 Er hält es für ausgeschlossen, dass im Rahmen eines Gerichtsverfahrens der Wahrheit von Tatsachenbehauptungen kardinale Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden können,337 und plädiert statt dessen dafür, dass die Geschworenen die relative Plausibilität der 330

MacCormick, Rhetoric and the rule of law, 222. MacCormick, Rhetoric and the rule of law, 222: »If an event is explicable in terms of a rational decision to bring it about, there is no need to explain that decision in terms of causes rather than in terms of reasons«. 332 MacCormick, Rhetoric and the rule of law, 226 f. 333 MacCormick, Rhetoric and the rule of law, 226. 334 MacCormick, Rhetoric and the rule of law, 227. 335 MacCormick, Rhetoric and the rule of law, 227. 336 Allen, Boston University Law Review 1986, 401–437, 405 f.; Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 374 f.; Allen, Northwestern University Law Review 1994, 604–640, 605 f. 337 Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 376 f., geht von einem frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff aus, den er als für Gerichtsverfahren ungeeignet kritisiert, weil Daten zur relativen Häufigkeit meist nicht vorhanden seien. Später, S. 380, insb. Fn. 27, kritisiert er den 331

322

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

vom Kläger und Beklagten präsentierten Geschichten beurteilen und für diejenige Partei entscheiden, welche die plausiblere Geschichte präsentiert (respektive in Strafsachen, dass der Staat zeigt, dass es keine andere plausible Erklärung für die Fakten gibt als die Schuld des Angeklagten).338 Entscheidend ist nicht der Beweis von Fakten, die unter einzelne Tatbestandsmerkmale subsumiert werden können, sondern welche Geschichte insgesamt plausibler erscheint:339 »But the battle is fought at the level of competing visions, not at the level of individual fact, and factual details are put to the service of establishing that the organizing vision is more likely than those offered in opposition.«

Allens Theorie ist demnach betont holistisch.340 Eine Geschichte muss als Ganzes akzeptiert oder verworfen werden.341 Damit die Darstellungen von Kläger und Beklagtem verglichen werden können, müssen sie in gleichem Ausmaß substanziiert sein.342 In welchem Maße die beiden Darstellungen substanziiert werden, bestimmen die Parteien. Weil es keinen offensichtlichen Maßstab für den notwendigen Abstraktionsgrad gibt,343 ist eine Geschichte das, worüber die Parteien streiten.344 Allen verweist auf die Forschungen von Pennington und Hastie, die belegten, dass diese Art der holistischen Beweiswürdigung dem menschlichen Denken entspreche.345 Die relative Plausibilitäts-Theorie habe den Vorteil, dass sie von den Geschworenen keine für sie unnatürliche Denkweise – wie Bayes’ Regel – verlange, und die resultierende Vereinfachung der Entscheidungsfindung habe wahrscheinlich eine Verbesserung der Qualität der Entscheidungen zur Folge.346 »Gut« ist eine Entscheidung, wenn sie mit der Realität übereinstimmt; Allen bestreitet nicht, dass Geschichten unterschiedlich gut mit der außerhalb des Subjekts existierenden Realität übereinstimmen können.347 Was eine gute Geschichte,

subjektivistischen Ansatz, weil die mittels Bayes’ Regel zu verarbeitenden Daten entweder auf relativen Häufigkeiten basierten oder aber schlicht erfunden (»made up«) seien. 338 Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 381 f. Für das deutsche Strafprozessrecht vertritt Freund, Normative Probleme, 23 f., ein ähnliches »Alternativenausschlussmodell«; die Kriterien, nach denen eine Alternative formuliert und geprüft wird, bleiben auch bei ihm vage. 339 Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 390. 340 Allen, Northwestern University Law Review 1994, 604–640, 604 f. 341 Allen, Northwestern University Law Review 1994, 604–640, 609. 342 Allen, Boston University Law Review 1986, 401–437, 426 ff. 343 Allen, Boston University Law Review 1986, 401–437, 428: »the proposal made here is coherent so long as the parties are required to be fairly specific, although I cannot say what »fairly« means with any specificity«; Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 409 f.; Friedman, Cardozo Law Review 1992, 79–102, 93. 344 Allen, Northwestern University Law Review 1994, 604–640, 611: »a story is whatever the parties choose to litigate«. 345 Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 401 ff. 346 Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 410, 413. 347 Allen, Northwestern University Law Review 1994, 604–640, 628.

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

323

oder eine gute Erklärung, sei, werde aber am besten intuitiv erkannt.348 Allen bleibt außerordentlich vage in der Umschreibung dessen, das die Geschworenen berechtigt, eine Geschichte der anderen vorzuziehen. Er verweist zwar wie erwähnt auf die Studien von Pennington und Hastie, aber diese werden (korrekterweise) als eine Beschreibung menschlichen Verhaltens, nicht als normative Theorie, dargestellt. Weiter wird auf die psychologische Theorie der Schemata verwiesen, aber auch dieser Verweis bleibt deskriptiv.349 Dennoch ist die relative Plausibilitäts-Theorie offenbar als normative Theorie gedacht.350 3. Thagards Theorie erklärender Kohärenz Thagards Theorie erklärender Kohärenz ist ein PCS-Modell abduktiven Schließens, das durch das Computerprogramm ECHO (Explanatory Coherence by Harmany [sic] Optimization»351 ) mit einem konnektionistischen Algorithmus implementiert wird. Die Theorie wird von Thagard nicht nur als deskriptive, sondern explizit auch als normative Theorie der Beweiswürdigung beschrieben.352 Sie ist eine Theorie der »inference to the best explanation«, des Schlusses auf die beste Erklärung. Neben Thagard postulieren auch Pardo und Allen, dass Beweiswürdigung normativ ein Prozess des Schlusses auf die beste Erklärung ist, sie führen aber nicht näher aus, wie dieser Schluss erfolgen soll.353 Diese Vagheit sei Teil der Wirklichkeit und kein Defekt der Theorie des Schlusses auf die beste Erklärung.354 Thagard zeigt aber, dass auch eine Theorie des Schlusses auf die beste Erklärung formalisiert werden kann. Was eine Erklärung ist, ist in der Philosophie hochgradig umstritten.355 Für Thagard ist Erklärung immer ein Verhältnis zwischen zwei Aussagen; eine einzelne Aussage lasse sich nicht als »Erklärung« bezeichnen.356 Eine Aussage A (Hypothese) ist nach Thagard Teil der Erklärung für eine andere Aussage B (Beweismittel), wenn die Objekte und ihre Eigenschaften, die durch die Aussage 348 Allen, Northwestern University Law Review 1994, 604–640, 628: »the conditions of a good explanation are well known even if only intuitively«. 349 Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 403 ff. 350 Allen, Boston University Law Review 1986, 401–437, 426 ff.; Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 406 ff.; vgl. aber Allen, Northwestern University Law Review 1994, 604–640, 630 (die deskriptive Natur der Theorie betonend). 351 Thagard, Behavioral and Brain Sciences 1989, 435–467, 443. »Harmany« ist ein Tribut an den Philosophen Gilbert Harman, der den Ausdruck »inference to the best explanation« prägte, Harman, Philosophical Review 1965, 88–95. 352 Thagard, Behavioral and Brain Sciences 1989, 435–467, 449 ff.; Thagard, Applied Artificial Intelligence 2004, 231–249. 353 Pardo/Allen, Law and Philosophy 2008, 223–268, 225 ff.; ähnlich Kunz, ZStW 2009, 572–606, 586 ff. 354 Pardo/Allen, Law and Philosophy 2008, 223–268, 261. 355 Für eine Übersicht siehe Lehrer, Theory of knowledge, 106 ff. 356 Thagard, Behavioral and Brain Sciences 1989, 435–467, 436.

324

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

A beschrieben werden, Teil des kausalen Prozesses sind, der die Eigenschaften der Objekte bewirkt, die durch die Aussage B beschrieben werden. Nicht notwendig für eine Erklärung ist, dass alle Zwischenschritte des kausalen Prozesses verstanden werden.357 So ist die Aussage »Hans wollte sich rächen« eine Erklärung für »Hans nahm das Geld aus dem Tresor«, da man sich die Rachelust als (psychologische) Ursache für die Entnahme des Geldes vorstellen kann (sie muss nicht die einzige Ursache sein). Das durch eine Erklärung begründete Verhältnis zwischen zwei Aussagen ist asymmetrisch (»Hans nahm das Geld aus dem Tresor« ist keine Erklärung für »Hans wollte sich rächen«), aber erklärende Kohärenz ist symmetrisch. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zu bedingten Wahrscheinlichkeiten. Thagard rechtfertigt dies mit einem Hinweis auf Quine und Ullian, die argumentieren, dass es eine gegenseitige Verstärkung zwischen einer Erklärung und dem durch sie Erklärten gebe. Eine als wahr angenommene Aussage gewinne an Glaubhaftigkeit, wenn man sich etwas vorstellen könne, das sie erkläre, aber umgekehrt gelte auch: eine Erklärung gewinne an Glaubhaftigkeit wenn sie etwas erkläre, von dem wir annähmen, dass es wahr sei.358 Deskriptiv ist dies eine zutreffende Beschreibung menschlichen Denkens; die »inverse fallacy« zum normativen Standard zu erheben, scheint jedoch problematisch. Die Theorie erklärender Kohärenz beruht auf folgenden sieben Prinzipien:359 1.

2.

3. 4. 5. 6.

Symmetrie: Erklärende Kohärenz ist ein symmetrisches Verhältnis, d. h. zwei durch eine Erklärung verbundene Aussagen p und q passen in gleichem Maß zusammen. Erklärung: (i) Eine Hypothese ist kohärent mit dem, was sie erklärt (erklärt werden kann eine andere Hypothese oder Beobachtungen); (ii) Hypothesen, die gemeinsam eine weitere Aussage erklären, sind kohärent; (iii) je mehr Hypothesen benötigt werden, um etwas zu erklären, desto geringer die Kohärenz. Analogie: Ähnliche Hypothesen, die ähnliche Beobachtungen erklären, sind kohärent. Priorität der Beobachtung: Aussagen, die Beobachtungen beschreiben, genießen a priori eine gewisse Glaubhaftigkeit. Widerspruch: Widersprüchliche Aussagen sind inkohärent. Wettbewerb: Wenn p und q beide eine Aussage erklären, und p und q nicht durch ein erklärendes Verhältnis verbunden sind, dann sind p und q inkohärent (p und q sind durch ein erklärendes Verhältnis verbunden, wenn eine Aussage die andere erklärt oder sie gemeinsam etwas erklären).

357

Thagard, Applied Artificial Intelligence 2004, 231–249, 237. Quine/Ullian, The web of belief, 79. 359 Thagard, Behavioral and Brain Sciences 1989, 435–467, 436 ff., für die formelle Form; Thagard, Coherence in Thought and Action, 43, für die hier wiedergegebene informelle Form. 358

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

325

Akzeptanz: Die Akzeptanz einer Aussage in einem System von Aussagen hängt von ihrer Kohärenz mit den übrigen Aussagen des Systems ab.

7.

Neben den Prinzipien Symmetrie und Erklärung, die bereits erläutert wurden, bedürfen die Prinzipien Priorität der Beobachtung und Wettbewerb näherer Erläuterung. Das Prinzip der Priorität der Beobachtung ergibt sich aus dem Bekenntnis Thagards zum kritischen Realismus.360 Die Theorie erklärender Kohärenz geht nicht von einer Kohärenztheorie der Wahrheit aus, sondern basiert auf der Korrespondenztheorie.361 Kohärenz ist nach Thagard keine Wahrheitsdefinition, sondern ein Wahrheitskriterium. Auf Sinneseindrücken beruhende Beobachtungen genießen einen speziellen Status, weil sie der beste Zugang zur außerhalb des Geistes existierenden Welt sind, den wir haben. Dass Menschen nicht bewusst steuern können, was sie wahrnehmen und dass verschiedene Menschen in der gleichen Situation über die gleichen Wahrnehmungen berichten, lässt annehmen, dass es eine außerhalb des menschlichen Geistes existierende Welt gibt und unsere Wahrnehmung dieser Welt nicht völlig unzuverlässig ist.362 Weil Thagards Theorie erklärender Kohärenz den aus Sinneswahrnehmung beruhenden Aussagen einen speziellen, fast fundamentalen, Status einräumt, verlässt sie den Boden der »reinen Lehre« der epistemischen Kohärenz, die einen Rückgriff auf fundamentale Aussagen gerade ausschließt.363 Ich behaupte aber, dass sie gerade deshalb für den Juristen besonders wertvoll ist, denn der Sinneswahrnehmung des Tatrichters bei der Beweiswürdigung jeden speziellen Status abzusprechen, überzeugt niemandem. Auf Sinneswahrnehmung (des Urteilenden) beruhende Aussagen (wie »Der Zeuge A sagt X«) werden in der Theorie erklärender Kohärenz daher a priori akzeptiert. Sinneswahrnehmungen sind aber natürlich nicht unfehlbar, weshalb auch eine auf einer Sinneswahrnehmung beruhende Aussage letztlich verworfen werden kann, wenn sie inkohärent mit zahlreichen anderen Aussagen ist.364 Im ECHO Programm wird die Priorität der Beobachtung durch einen speziellen Knoten implementiert, der mit allen Aussagen verknüpft ist, die Beobachtungen beschreiben, und eine Aktivation von 1 aufweist. Dadurch genießen alle Beobachtungen eine erhöhte originäre Akzeptanz, können aber dennoch verworfen werden, wenn sie stark inkohärent mit den übrigen Aussagen des Systems sind.365 Durch das Prinzip Wettbewerb implementiert die Theorie erklärender Kohärenz ein Phänomen, das in Bayes’ Netzen als »explaining away« Effekt bekannt ist (vorne, S. 197): Je wahrscheinlicher eine Ursache für eine Folge ist, desto unwahrscheinlicher wird eine andere, bedingt unabhängige, Ursache für die glei360 361 362 363 364 365

Thagard, Coherence in Thought and Action, 87 ff. Thagard, Coherence in Thought and Action, 78 f. Thagard, Coherence in Thought and Action, 88. Lehrer, Theory of knowledge, 120. Thagard, Behavioral and Brain Sciences 1989, 435–467, 442. Thagard, Behavioral and Brain Sciences 1989, 435–467, 439.

326

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

che Folge. »Bedingt unabhängig« heißt in Thagards Theorie »nicht durch ein erklärendes Verhältnis verbunden«. Das ECHO Programm fügt die inhibitorischen Verbindungen zwischen in Wettbewerb stehenden Aussagen automatisch ein. Das Programm ECHO implementiert die Theorie erklärender Kohärenz in einem konnektionistischen Netz, wobei die Aktivation der Knoten mit dem oben beschriebenen Algorithmus iterativ angepasst wird, bis das Netz einen stabilen Zustand erreicht hat. Aussagen, die kohärent sind, werden durch eine exzitatorische Verbindung verbunden; Aussagen, die inkohärent sind, durch eine inhibitorische Verbindung.366 Damit ECHO ein konnektionistisches Netz bilden kann, müssen ihm als Input Behauptungen, Beobachtungen, Erklärungen und Widersprüche übergeben werden. Im Hans H. Fall sind die Behauptungen beispielsweise (proposition ‘Geld-fehlt »EUR 5200 fehlen im Tresor.«) (proposition ‘Hans-Dieb »Hans hat das Geld aus dem Tresor genommen.«) (proposition ‘Aussage-Ermittler »Hans hat Bankschulden, die er am Tag nach dem Diebstahl getilgt hat.«) (proposition ‘Rueckzahlung »Hans hat am Tag nach dem Diebstahl seine Schulden zurückbezahlt.«) (proposition ‘Geld-Schwaegerin »Hans hat das Darlehen mit dem Geld seiner Schwägerin zurückbezahlt.«)

Davon werden in einem zweiten Schritt diejenigen Behauptungen, die auf unmittelbarer Sinneswahrnehmung des Urteilenden, im Zivilprozess also des Tatrichters (und nicht etwa des Zeugen), beruhen, zu Beobachtungen (data) erklärt. Neben den Behauptungen, die auf unmittelbarer Beobachtung beruhen, genießen im Zivilprozess auch die unbestrittenen Behauptungen einen besonderen Status, d. h. sie werden grundsätzlich (aber nicht ausnahmslos) als wahr erachtet. Daher erkläre ich auch sie zu Beobachtungen im Sinne der Theorie erklärender Kohärenz, also (data ‘(Geld-fehlt Aussage-Ermittler)).

Die Behauptung, Hans habe das Geld aus dem Tresor genommen, erklärt das Fehlen des Geldes. Die Behauptung, Hans habe seine Schulden getilgt, erklärt die diesbezügliche Aussage des Ermittlers. Der Kläger erklärt die Rückzahlung des Bankkredites durch Hans einen Tag nach dem Verschwinden der EUR 5’200 aus dem Tresor dadurch, dass Hans den Kredit mit dem entwendeten Geld zurückbe366 Thagard, Behavioral and Brain Sciences 1989, 435–467, 439. Eine Version von ECHO in der Programmiersprache LISP ist auf der Website von Paul Thagard erhältlich, cogsci.uwaterloo.ca/CoherenceCode/COHERE/COHERE.instructions.html (besucht am 5. April 2012). Für die nachfolgenden Simulationen habe ich Common-LISP durch LispWorks Personal Edition 6.0.1 auf einem Windows 7 64-bit System implementiert; LispWorks Personal Edition ist für private Zwecke frei erhältlich unter www.lispworks.com (besucht am 5. April 2012).

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

327

zahlt hat; Hans behauptet, er habe den Bankkredit mit dem Geld zurückbezahlt, das ihm seine Schwägerin zurückerstattet hat. Die Erklärungen lauten also: (explain (explain (explain (explain

‘(Hans-Dieb) ‘Geld-fehlt) ‘(Rueckzahlung) ‘Aussage-Ermittler) ‘(Hans-Dieb) ‘Rueckzahlung) ‘(Geld-Schwaegerin) ‘Rueckzahlung)

Schließlich muss ECHO mitgeteilt werden, zwischen welchen Behauptungen Widersprüche bestehen. Von den obigen Behauptungen sind keine logisch widersprüchlich – es ist nicht ausgeschlossen, dass Hans das Geld aus dem Tresor entwendet und dennoch den Bankkredit mit dem Geld seiner Schwägerin zurückbezahlt hat. Die Behauptungen »Hans hat das Geld aus dem Tresor genommen« und »Hans hat das Darlehen mit dem Geld seiner Schwägerin zurückbezahlt« sind aber inkohärent durch das Prinzip Wettbewerb, weil sie die gleiche Behauptung (die Rückzahlung der Schulden einen Tag nach dem Diebstahl) erklären, ohne dass zwischen ihnen eine erklärende Verbindung besteht. Diese Inkohärenz wird von ECHO jedoch wie erwähnt automatisch erkannt und braucht nicht explizit als Input eingegeben werden. Logisch widersprüchlich sind beispielsweise die Behauptungen »Hans hat das Geld aus dem Tresor genommen« und »Jemand anders hat das Geld aus dem Tresor genommen«. Solche Widersprüche sind mittels (contradict ‘Hans-Dieb ‘jemand-anders-Dieb)

an ECHO zu übergeben. In Anhang VI sind ist der Input für die ECHO Simulation des Hans H. Falles vollständig wiedergegeben. Abbildung 42 zeigt das konnektionistische Netz für den Hans H. Fall, basierend auf dem Input gemäß Anhang VI, wobei die auf dem Prinzip Wettbewerb beruhenden inhibitorischen Verbindungen der Übersichtlichkeit halber nicht eingezeichnet sind. Beweismittel und unbestrittene Behauptungen sind fett hervorgehoben. In einem ersten Durchgang stabilisiert sich das Netz nach 228 Zyklen. Es akzeptiert, dass Hans das Geld entnommen hat, dass es möglich ist, in weniger als 45 Minuten vom Büro zur Schule zu gelangen, Hans aus dem Büro geflüchtet ist, das Video das Auto von Hans zeigt und Hans auf Rache gesonnen hat. Interessanterweise akzeptiert ECHO auch die Hypothese, dass eine Vorstrafe vor 16 Jahren ohne zwischenzeitlichen Rückfall nicht dazu führt, dass jemand eher ein Dieb ist, was einleuchtet, aber in Anbetracht dessen, dass Hans gemäß ECHO der Dieb ist, überrascht. Wenig überraschend ist, dass ECHO die inkompatiblen Behauptungen verwirft, dass der Weg zur Schule unmöglich unter 45 Minuten zu schaffen ist, Hans motiviert ist, das Video ein anderes weißes Auto zeigt, der Techniker sich getäuscht und Hans das Geld von seiner Schwägerin erhalten hat. 79,3% der Restriktionen sind erfüllt; 80,4%, wenn man das Gewicht der Restriktionen berücksichtigt. Die asymptotische Aktivation des Knotens »Hans-

Abbildung 42: Konnektionistisches Netz des Hans H. Falles.

328 Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

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Dieb« beträgt 0,823, diejenige für den Knoten »jemand-anders-Dieb« – 0,608 (Differenz = 1,431). Nun ist diese Rekonstruktion aber nicht ganz fair für Hans. Zwar erklärt sich das fehlende Geld dadurch, dass Hans es genommen hat. Aber dass jemand anders das Geld genommen hat, ist a priori eine viel bessere Erklärung dafür, dass das Geld fehlt, denn es gibt insgesamt sieben weitere Personen, die Zugang zu Tresor haben. Daher wurde in einer zweiten Simulation berücksichtigt, dass die »Anfangswahrscheinlichkeit« – wenn dieses Wort in einem konnektionistischen Netz überhaupt einen Sinn hat – gegen die Erklärung spricht, dass Hans das Geld genommen hat. Dazu wurde das Gewicht der positiven Restriktion zwischen »Das Geld fehlt« und »Hans hat das Geld genommen« auf einen Siebtel des Gewichts der Restriktion zwischen »Das Geld fehlt« und »jemand anders hat das Geld genommen« gesetzt. Das Netz stabilisiert sich jetzt nach 307 Zyklen und verwirft die Hypothese, dass Hans der Dieb ist.367 Ebenfalls verworfen werden die Hypothesen, dass Hans aus dem Büro geeilt ist, das Video das Auto von Hans zeigt und der Weg zur Schule in weniger als 45 Minuten zu schaffen ist. ECHO akzeptiert nun, dass Hans das Geld von der Schwägerin erhalten hat, im Blumenhandel größere Beträge ohne Belege die Hand wechseln und der Techniker sich geirrt hat. Wiederum sind 79,3% der Restriktionen erfüllt (aber 82,1% des Gewichts der Restriktionen). Betrachtet man letzteres als einen Maßstab für die Kohärenz, so ist diese Lösung geringfügig kohärenter als die erste Lösung.368 Die asymptotische Aktivation des Knotens »Hans-Dieb« beträgt jetzt –0,789, diejenige für den Knoten »jemand-anders-Dieb« 0,713 (Differenz = 1,502). Obwohl die Lösung beinahe das genaue Gegenteil der ersten Lösung ist, ist ihre Kohärenz vergleichbar, und die Differenz in der Aktivation der konkurrierenden Hypothesen ist beinahe identisch. Dies ist ein zentraler Punkt von PCS-Modellen der Kohärenzbildung: Es kann verschiedene vergleichbar kohärente Lösungen geben, und die Sicherheit, die richtige Lösung gefunden zu haben, unterscheidet sich in diesen Fällen nicht wesentlich. Die Analogie zu den Kippfiguren, zu deren bekanntesten der Necker-Würfel gehört,369 drängt sich auf: Man kann beim Necker-Würfel in Abbildung 43 entweder die durch die Ecken ABCD definierte Fläche als Stirnfläche des Würfels sehen, oder die durch die Ecken

367 Thagard, Behavioral and Brain Sciences 1989, 435–467, 440, berichtet, dass kein Netz mehr als 210 Zyklen brauchte, bis es sich stabilisierte. Der Hans H. Fall scheint also wirklich schwierig zu sein. . . 368 Kohärenz zu messen ist schwierig, es gibt kein anerkanntes Kriterium, Thagard, Coherence in Thought and Action, 37 ff., weshalb die Aussage mit Vorsicht zu genießen ist. 369 Necker, London and Edinburgh Philosophical Magazine 1832, 329–337; hier in der Version nach Bradley/Petry, American Journal of Psychology 1977, 253–262, 254, abgebildet. Ein weiteres bekanntes Beispiel ist Rubins Vase, Rubin, Visuell wahrgenommene Figuren, Anhang, Abbildung 3.

330

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

Abbildung 43: „Subjektiver“ Necker-Würfel (nach Bradley/Petry, 1977).

EFGH definierte Fläche, aber nicht beide gleichzeitig. Man kann auch nicht sagen, dass die Interpretation des Necker-Würfels mit der Seite ABCD als Stirnseite kohärenter ist als die Interpretation mit der Seite EFGH als Stirnseite. Das Beispiel zeigt weiter, wie eine geringfügige Änderung des Inputs in einem konnektionistischen Netz zu einem völlig anderen Gesamtbild führen kann: die Gesamtwürdigung »kippt« in ein anderes Bild um. Der Punkt, an dem das Gesamtbild »kippt« liegt im vorliegenden Modell bei einem Gewicht der Restriktion zwischen »Geld fehlt« und »Hans Dieb«, die maximal 32% des Gewichts der Restriktion zwischen »Geld fehlt« und »jemand anders Dieb« hat. Nach der Theorie erklärender Kohärenz ist Hans bei gegebener Beweislage also als schuldig zu betrachten, wenn er nur einer von drei Personen ist, die Zugang zum Tresor haben, aber als unschuldig, wenn er einer von vier oder mehr Personen mit Zugang ist. Eine weitere wichtige Voraussage von konnektionistischen Modellen ist, dass der an einer Stelle geänderte Input Auswirkungen auf die Akzeptanz von Aussagen haben kann, die mit dem geänderten Input logisch betrachtet in keiner Beziehung stehen: Die Anzahl Personen, die Zugang zum Tresor haben, hat offensichtlich nichts zu tun mit der Frage, ob es möglich ist, im Abendverkehr in unter 45 Minuten vom Büro zur Schule zu gelangen. Dennoch führt die Erhöhung der Anzahl Personen mit Zugang zum Tresor – operationalisiert durch das Verhältnis der Gewichte der beiden positiven Restriktionen zwischen »Geld fehlt« und »Hans hat das Geld genommen« respektive »jemand anders hat das Geld genommen« – dazu, dass die Aussage, dass es möglich ist, in weniger als 45 Minuten zur Schule zu gelangen, plötzlich verworfen wird. Die höhere Anzahl Iterationen, die das Netz bei der zweiten Simulation benötigt, bis es sich stabilisiert hat, kann man als Hinweis darauf sehen, dass

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

331

die Kohärenz schwieriger zu erreichen ist und die Überlegungsdauer länger wäre.370 Was geschieht, wenn man berücksichtigt, dass Hans seine Schwägerin nicht als Zeugin nennt? Die klägerische Erklärung für die unterlassene Nennung der Schwägerin als Zeugin ist, dass sie der Behauptung von Hans, er habe das Geld von ihr erhalten, widersprechen würde. Folgender zusätzlicher Input ist daher an ECHO zu übergeben, wobei »Zeugin-fehlt« zu einer Beobachtung gemacht wird: (proposition ‘Zeugin-fehlt »Hans nennt seine Schwägerin nicht als Zeugin.«) (proposition ‘Aussage-Schwaegerin »Hans hat von seiner Schwägerin kein Geld erhalten.«) (explain ‘(Aussage-Schwaegerin) ‘Zeugin-fehlt) (contradict ‘Geld-Schwaegerin ‘Aussage-Schwaegerin) (data ‘Zeugin-fehlt »Hans nennt seine Schwägerin nicht als Zeugin.«)

ECHO verwirft nun die Hypothese, dass Hans das Geld von seiner Schwägerin erhalten hat, hält Hans aber nach wie vor für unschuldig. Die optimale Kohärenz wird erreicht, indem die Hypothese, dass Hans seine Bankschulden zurückbezahlt hat, ebenfalls verworfen wird (man kann dies so sehen: Wenn Hans weder der Dieb ist noch das Geld von der Schwägerin erhalten hat, kann er auch seine Schulden nicht zurückbezahlt haben). Das erscheint dem menschlichen Experten seltsam, denn Hans bestreitet gar nicht, dass er seine Schulden getilgt hat. Die Behauptung, dass Hans das Geld von seiner Schwägerin erhalten hat und dass er das Geld aus dem Tresor genommen hat, widersprechen sich zwar via das Prinzip Wettbewerb, daher führt die geringere Aktivation von »Geld-Schwägerin« zu einer stärkeren Aktivation von »Hans-Dieb«, aber das genügt offenbar nicht.371 Will man den unbestrittenen Aussagen ein besonderes Gewicht geben, kann man die positiven Restriktionen zwischen den Beweismitteln und unbestrittenen Aussagen (hier: dass Hans Bankschulden hatte, diese am Tag nach dem Diebstahl getilgt hat, er nicht befördert wurde und wiederholt verspätet zur Arbeit erschienen ist) erhöhen. Verdoppelt man das Gewicht der positiven Restriktionen zwischen der Aussage des Chefs von Hans und des Ermittlers zu den voranstehenden Behauptungen, stabilisiert sich das Netz nach 179 Zyklen und akzeptiert weiterhin, dass Hans unschuldig ist, akzeptiert aber auch, dass er seine Bankschulden zurückbezahlt hat.372 ECHO scheint die fehlende Zeugin also nicht 370 Glöckner, Automatische Prozesse bei Entscheidungen, 87; Glöckner/Betsch/Schindler, Journal of Behavioral Decision Making 2010, 439–462, 444. 371 Bei dieser Lösung sind 78,7% der Restriktionen und 82,4% des Gewichts der Restriktionen erfüllt, sie ist also ähnlich kohärent wie die Simulation ohne Berücksichtigung der fehlenden Zeugin. Die Differenz in der Aktivation von »Hans-Dieb« und »jemand-anders-Dieb« beträgt 1,486, ist also etwas geringer. 372 Hier sind 79,7% der Restriktionen erfüllt und 80,9% des Gewichts der Restriktionen. Die Differenz in der Aktivation der konkurrierenden Hypothesen beträgt 1,44.

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Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

sehr stark gegen Hans zu werten. Allerdings »kippt« das Netz jetzt bereits, wenn die positive Restriktion zwischen »Geld fehlt« und »Hans Dieb« ein Fünftel der positiven Restriktion zwischen »Geld fehlt« und »jemand anders ist ein Dieb« (gegenüber einem Drittel ohne Berücksichtigung, dass Hans die Schwägerin nicht als Zeugin nennt). 4. Amalia Amayas aretaische Kohärenztheorie Amaya entwirft eine tugendethische Kohärenztheorie der Beweiswürdigung; am ehesten vergleichbar mit den in der deutschen Literatur vorgeschlagenen Drittkontrollmodellen (vorne, S. 39 f.). Sie geht explizit von einem (Parallel) Constraint Satisfaction Modell der Kohärenz aus, wobei sie Thagards Theorie erklärender Kohärenz erwähnt.373 Kohärenztheorien der Rechtfertigung beweismäßiger Schlüsse hätten den Vorteil, dass sie eine hohe psychologische Plausibilität besäßen.374 Es bestehe aber die Gefahr, dass der Urteilende zugunsten der Kohärenz die äußeren Fakten außer Acht ließe; ausgehend von einer falschen Vorstellung könne man alle seine Überzeugungen kohärent mit dieser Vorstellung machen, ohne dass das resultierende kohärente Glaubenssystem als gerechtfertigt bezeichnet werden könne. Astrologie, beispielsweise, sei ein Glaubenssystem, das zwar eine hohe innere Kohärenz aufweise, aber auf einem fragwürdigen epistemischen Verhalten gründe und deshalb intuitiv nicht gerechtfertigt scheine. Vergleichbar sei der Fall eines Geschworenen, der absolut sicher sei, dass ein Polizist nie etwas Gesetzeswidriges tun würde und deshalb alle Beweismittel, die das Gegenteil nahelegen, missachtet.375 Kohärenz alleine genügt daher nicht als Rechtfertigung für die Akzeptanz einer Tatsachenbehauptung, es bedarf einer zusätzlichen Kontrolle. Diese liegt gemäß Amaya darin, dass die akzeptierten Tatsachenbehauptungen nicht nur kohärent sein müssten, sondern auch ein epistemisch verantwortungsvoll handelnder Dritter zum gleichen Urteil kommen müsste.376 Amaya prüft, und verwirft, ob dem Urteilenden epistemische Pflichten aufzuerlegen sind. Die primäre Pflicht würde darin bestehen, nur diejenigen Tatsachenbehauptungen zu glauben, die zulänglich von Beweismitteln gestützt werden (die Zirkularität dieser Pflicht ist nicht zu übersehen, soll aber nicht weiter kritisiert werden, weil Amaya diesen Ansatz, wenn auch aus anderen Gründen,

373 Amaya, Episteme 2008, 306–319, 307; siehe auch Amaya, Artificial Intelligence and Law 2007, 429–447, 442 ff. (die Vorzüge der Theorie erklärender Kohärenz für das Rechtsdenken erläuternd). 374 Amaya, Episteme 2008, 306–319, 307; unter Hinweis auf Pennington/Hastie, Cardozo Law Review 1991, 519–558; Simon, University of Chicago Law Review 2004, 511–586. 375 Amaya, Episteme 2008, 306–319, 309. 376 Amaya, Episteme 2008, 306–319, 310 f.

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

333

ohnehin verwirft).377 Eine solche Pflicht sei aber ungenügend, weil selbst eine strikte Befolgung der epistemischen Pflicht ohne die bestmögliche Anstrengung, die Wahrheit zu ergründen, nicht epistemisch verantwortungsvoll sei. Einer deontischen Konzeption der epistemischen Verantwortung sei daher eine aretaische Konzeption vorzuziehen: der Urteilende müsse sich epistemisch tugendhaft verhalten.378 Die Tugenden eines epistemisch verantwortungsvoll handelnden Urteilers sind Unvoreingenommenheit, umfassend die Offenheit für die Ideen anderer, den Mangel an persönlichen Vorurteilen (biases), und einen lebendigen Sinn für die eigene Fehlbarkeit. Weiter gehören dazu intellektuelle Nüchternheit, d. h. das Zurückhalten des Urteils, bis die Sache gründlich durchdacht wurde, und schließlich intellektueller Mut, was bedeutet, auch langehegte Überzeugungen nötigenfalls aufzugeben und die Kritik anderer nicht zu scheuen.379 Eine kohärente Menge von Tatsachenbehauptungen, die von einem epistemisch tugendhaft handelnden Subjekt akzeptiert wird, ist gerechtfertigt. Auch Amaya bleibt einem Korrespondenzbegriff der Wahrheit verhaftet, da die Bedenken, dass eine kohärente mentale Repräsentation nicht gerechtfertigt ist, ansonsten nicht verständlich sind. 5. Bex’ hybride Theorie Bex kombiniert die »anchored narrative theory« mit einer formalisierten Logik anfechtbarer Argumente zu einer normativen Theorie der Beweiswürdigung.380 Die Argumente dienen dazu, die Beweismittel mit den durch die Geschichte aufgestellten Behauptungen zu verknüpfen. Die Logik anfechtbarer Argumente (defeasible arguments) erlaubt es, die Tragfähigkeit dieser Argumente zu prüfen.381 Die Theorie führt eine grafische Notation ein, die durch die von John Henry Wigmore382 entwickelte grafische Darstellung für die Sachverhaltsanalyse inspiriert ist (ein Ausschnitt eines »Wigmore Charts« findet sich in Abbildung 44).383 Die von Bex entwickelte Theorie soll erlauben, die Beweismittel 377 Amaya, Episteme 2008, 306–319, 311: »The primary epistemic obligation of fact-finders is then to believe all and only those propositions which are adequately supported by the evidence at trial«. 378 Amaya, Episteme 2008, 306–319, 312. 379 Amaya, Episteme 2008, 306–319, 312. 380 Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 83 ff. Ein Vorläufer findet sich in Bex/ Prakken/Verheij, in: van Engers (Hrsg.), Legal knowledge and information systems, 11–20, eine Zusammenfassung in Bex/Walton, Law, Probability & Risk 2012, 113–133, 114 ff. 381 Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 85. 382 Wigmore, Illinois Law Review 1913, 77–103. Die Wigmore Charts wurden wiederentdeckt durch Anderson/Schum/Twining, Analysis of evidence, 123 ff., die eine vereinfachte Notation entwickeln, da Wigmores ursprüngliche Charts eine beinahe unüberschaubare Zahl von Symbolen verwenden, siehe Wigmore, Illinois Law Review 1913, 77–103, 85 ff. Das abgebildete Beispiel findet sich bei Wigmore auf S. 93. 383 Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 39.

334

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

Abbildung 44: Ausschnitt aus einem Wigmore-Chart (aus Wigmore, 1913).

sinnvoll zu strukturieren und die Annahmen, namentlich die Generalisierungen, die jeder Beweiswürdigung zugrunde liegen, transparent zu machen. Eine Geschichte ist in dem Modell von Bex eine kausale Abfolge von Behauptungen, die durch kausale Verknüpfungen zu einem Netz verbunden sind. Die kausalen Verknüpfungen basieren auf kausalen Generalisierungen.384 Die angenommene kausale Generalisierung kann insbesondere psychologischer oder motivationaler Art sein, d. h. einen psychischen Zustand mit einem Zustand der Welt verknüpfen (z. B. »Wer sich rächen will, fügt einem anderen Schaden zu.«).385 Geschichten, die menschliche Handlungen erklären, entsprechen idealerweise dem Episodenschema von Pennington/Hastie.386 Abbildung 45 zeigt das kausale Netz der Geschichte, wie sie der Kläger im Hans H. Fall wohl präsentieren würde. Behauptungen werden in Rechtecken dargestellt, kausale Generalisierungen in Rechtecken mit abgerundeten Ecken. Die in der Geschichte aufgestellten Tatsachenbehauptungen werden durch anfechtbare Argumente mit den vorhandenen Beweismitteln verknüpft. Diesen Argumenten liegen beweismäßige Generalisierungen (evidential generalizations) zugrunde (z. B. »Rauch ist meist ein Anzeichen für Feuer«). Diese Generalisie-

384 385 386

Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 61 ff. Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 61. Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 64.

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

Weroübergangenowurde, sinntoaufoRache.

WeroausodemoBürooeilt, fährtokurzodanachovorodemoGebäudeoweg.

EinoDieboentfernt sichoüberhastetovomoTatort.

H.owurdeobei Beförderung übergangen.

H.oeiltoausoBuchhaltungsbüro. H.onimmtonach 19.14oUhroGeld ausodemoTresor.

335

H.ofährtoumo19.17oUhr mitoweissemoAutooweg.

Geldofehlt imoTresor. H.obezahlt Bankschulden zurück.

H.ohatoBankschulden. WeroSchuldenohat, brauchtodringendoGeld.

WeroSchuldenohatoundoGeldostiehlt, zahltoseineoSchuldenozurück.

Abbildung 45: Klägerische Geschichte zum Hans H. Fall in der grafischen Notation von Bex 2011.

rungen dienen als Rechtfertigungen (warrants im Sinne von Toulmin387 ) für das Argument. Anfechtbare Argumente können durch neue Informationen (Gegenargumente) widerlegt werden, so dass der auf sie gestützte Schluss nicht mehr länger gerechtfertigt ist; anders als bei deduktiven Argumenten ist die Konklusion nicht notwendigerweise wahr, wenn die Prämissen wahr sind. So lange aber keine Gründe genannt werden, warum die beweismäßige Generalisierung nicht gilt oder im Einzelfall nicht anwendbar ist, wird angenommen, dass sie zutrifft.388 Beweismäßige Generalisierungen können auf drei Arten angegriffen werden:389 1. 2. 3.

Es kann bestritten werden, dass einen Erfahrungssatz gibt, der die Generalisierung stützt (Angriff 1); Es kann bestritten werden, dass die Generalisierung zutrifft (Angriff 2); Es kann bestritten werden, dass die Generalisierung im Einzelfall anwendbar ist, weil ein Ausnahmefall vorliegt (Angriff 3).

Verknüpfungen, die auf beweismäßigen Generalisierungen beruhen, werden durch einen durchgezogenen Pfeil eingezeichnet; ein Angriff auf eine Generalisierung durch eine durchgezogene Linie, die in einem Kreis endet. Abbildung 46 zeigt die möglichen Angriffe auf eine Generalisierung. Beweismittel sind grau hinterlegt; sie können nicht direkt angegriffen werden – dass der Zeuge gesagt hat, er habe X gesehen, lässt sich nicht bestreiten, wohl aber der daraus gezogene Schluss.390 Generalisierungen können auf zwei Arten verfeinert werden: Erstens durch Aufgliederung, indem ein Argument, das auf einem Schritt und einer bestimmten 387

Toulmin, Uses of argument, 91 ff. Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 107. 389 Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 51; Bex/Walton, Law, Probability & Risk 2012, 113–133, 115 f. 390 Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 73. 388

336

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung DerIErfahrungssatz,IdassIZeugenIdie WahrheitIsagen,ItrifftInichtIzuI(AngriffI2)

XIwarIamIOrtIYI(Schluss)

DerIErfahrungssatz,IdassIZeugen dieIWahrheitIsagen,IistIinIdiesem FallInichtIanwendbarI(AngriffI3)

ZeugenIsagenIdieIWahrheit

EsIgibtIeinenIErfahrungssatzIdesIInhalts, dassIZeugenIdieIWahrheitIsagen ZeugeIsagt,IerIhabe XIamIOrtIYIgesehen (Prämisse)

EsIgibtIkeinenIErfahrungssatzIdesIInhalts, dassIZeugenIdieIWahrheitIsagenI(AngriffI1)

Abbildung 46: Mögliche Angriffe einer Generalisierung (nach Bex, 2011).

Generalisierung beruht, in eine Kette von Argumenten mit spezifischeren Generalisierungen aufgeteilt wird (vgl. Abbildung 47). Zweitens, indem die verborgenen Annahmen, die einer Generalisierung zugrunde liegen, explizit gemacht werden.391 Der Generalisierung, dass Zeugen die Wahrheit sagen, liegen mindestens die Annahmen zugrunde, dass der Zeuge eine gute Beobachtungsposition, keinen Sehfehler und kein Interesse am Ausgang der Streitsache hat (vgl. vorne, S. 214). Die Offenlegung der versteckten Annahmen zeigt, unter welchen Umständen eine beweismäßige Generalisierung nicht anwendbar ist, und welche Beweismittel vorhanden sein müssten, damit die Generalisierung greift. Die Generalisierung, dass Zeugen die Wahrheit sagen, geht beispielsweise von der unausgesprochenen Annahme aus, dass der Zeuge das von ihm bezeugte Ereignis überhaupt X ist wahr X Wenn ein Zeuge X wahrgenommen hat, ist X wahr.

Wenn ein Zeuge X sagt, ist X wahr

Zeuge sagt X

Zeuge hat X wahrgenommen Wenn ein Zeuge glaubt, X wahrgenommen zu haben, hat er X wahrgenommen Wenn ein Zeuge sagt, X wahrgenommen zu haben, glaubt er, X wahrgenommen zu haben

Zeuge glaubt, X wahr genommen zu haben

Zeuge sagt X

Abbildung 47: Aufgliederung eines Arguments in seine Einzelschritte. 391

Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 52.

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

337

sehen konnte. Stand ein Lastwagen zwischen ihm und dem Kollisionsort, so ist die Annahme, dass er den Hergang der Kollision richtig geschildert hat, nicht mehr gerechtfertigt. Die Offenlegung der versteckten Annahme zeigt daher, dass Beweismittel, die stützen (oder widerlegen), dass der Zeuge freie Sicht auf das Geschehen hatte, relevant für das Argument sind. Wichtigste Argumentationsform in Bex’ Modell ist der »anfechtbare Modus Ponens«. Der anfechtbare Modus Ponens erlaubt einen anfechtbaren Schluss vom Konsequens und einer Generalisierung auf den Antezedenten; etwas, was die materiale Implikation der deduktiven Logik gerade nicht erlaubt. Ein anfechtbares Modus Ponens Argument kann geschwächt (undercut) werden, indem gezeigt wird, dass die Generalisierung, die ihm zugrunde liegt, entweder generell nicht gilt oder im spezifischen Fall nicht anwendbar ist, weil ein Ausnahmefall vorliegt.392 Wie jedes Argument kann dem Argument auch widersprochen werden durch ein Argument, das als Konklusion die Negation des Schlusses des Argumentes hat.393 Der beweismäßige Schluss von der Prämisse »Rauch« auf die Konklusion »Feuer«, der auf der Generalisierung »Wo Rauch ist, ist auch Feuer« beruht, kann beispielsweise geschwächt werden durch den Hinweis, dass in der Generalisierung »Wo Rauch ist, ist auch Feuer« die implizite Annahme enthalten ist, dass der Rauch nicht durch eine Rauchmaschine erzeugt wurde, und durch die (idealerweise durch Beweismittel gestützte) Behauptung, dass der Rauch sich auf der Tanzfläche eines Nachtclubs befand. Dem Argument kann auch widersprochen werden durch das Argument »Der Zeuge Z hat gesagt, da ist kein Feuer, also ist da kein Feuer«, das auf der Generalisierung beruht, dass Zeugen meist die Wahrheit sagen. Lässt ein anfechtbares Argument einen Schluss von einem Beweismittel auf eine in der Geschichte enthaltene Behauptung zu, so stützt es die Geschichte. Umgekehrt wird der Geschichte widersprochen, wenn ein Argument den Schluss zulässt, dass eine Behauptung der Geschichte nicht zutrifft. Eine Geschichte wird geschwächt, wenn sie Behauptungen enthält, auf die nicht durch auf Beweismittel gestützte Argumente geschlossen werden kann. In Bex’ Modell verfeinern zwei oder mehr »Spieler« die Geschichte und die Argumente, welche die Geschichte stützen, in einem gemeinsamen Dialog immer weiter, indem sie die eigenen Erklärungen verbessern oder die Erklärungen des Gegners schwächen; dabei kommt es zur Aufgliederung der Generalisierungen, welche die Argumente stützen, und zur Aufdeckung der versteckten Annahmen, die ihnen zugrunde liegen.394 In jedem Zeitpunkt der Verfeinerung der Argumentation gibt es einen vorläufigen Gewinner, dessen Erklärung für die vorliegenden Beweismittel besser ist 392 393 394

Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 106 f. Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 116. Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 141 ff.

338

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung X

Wenn ein Zeuge X sagt, ist X wahr

Zeuge sagt X

Zeuge hat kein Interesse

X Wenn ein Zeuge X sagt, und wenn er eine gute Beobachtungsposition hatte und er keinen Sehfehler hatte und er kein Interesse am Ausgang der Streitsache hat, dann ist X wahr.

? Zeuge hat keinen Sehfehler

Zeuge sagt X

Zeuge hatte gute Position

?

?

Abbildung 48: Verfeinerung eines Arguments (oben) durch Aufdecken der versteckten Annahmen einer Generalisierung (unten).

als jede konkurrierende Erklärung.395 Damit der vorläufige Gewinner bestimmt werden kann, gibt es hierarchische Regeln, wie zwei Geschichten verglichen und beurteilt werden können. Grundsätzlich ist eine Geschichte Gi besser als eine Geschichte Gj , wenn mehr der von ihr aufgestellten Behauptungen durch auf Beweismittel gestützte Argumente gestützt werden und weniger oder gleich viele der von ihr erklärten Behauptungen durch Beweismittel widersprochen werden als der von Gj aufgestellten Behauptungen (dies entspricht in etwa der Abdeckung von Pennington/Hastie). Sind die Geschichten unter diesem Aspekt gleichwertig – und nur dann – kommt es darauf an, welche Geschichte plausibler ist. Durch diese Abfolge der Kriterien – zuerst beweismäßige Abstützung, dann erst Plausibilität – soll verhindert werden, dass eine stimmige Geschichte eine wahre Geschichte schlägt. Sind die Geschichten auch gleich plausibel, dann gewinnt die, die weniger Behauptungen enthält, für die es keine Beweismittel gibt. In einem letzten Schritt wird geprüft, welche von zwei nach allen vorangehenden

395

Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 150.

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

339

Kriterien gleichwertigen Geschichten einem Episodenschema entspricht und somit vollständiger ist.396 Die Plausibilität, Konsistenz und Vollständigkeit einer Geschichte bilden zusammen ihre Kohärenz. Die Kohärenz einer Geschichte kann unabhängig von den Beweismitteln bewertet werden.397 Plausibel ist eine Geschichte nach Bex, wenn die kausalen Generalisierungen, auf denen sie beruht, mit der allgemeinen Lebenserfahrung übereinstimmen.398 Konsistent ist eine Geschichte, wie bei Pennington/Hastie, wenn sie keine widersprüchlichen Behauptungen enthält. Es genügt, wenn eine Geschichte eine einzige logisch widersprüchliche Behauptung enthält, um sie als Erklärung zu disqualifizieren.399 Vollständig ist eine Geschichte, wenn sie alle Elemente eines Episodenschemas enthält.400 Abbildung 49 zeigt ein Modell des Hans H. Falles in der grafischen Notation gemäß Bex, wie es nach einigen Runden des »Dialog-Spiels« aussehen könnte. Der Kläger erzählt die Geschichte, dass Hans wegen der verweigerten Beförderung und seiner Bankschulden ein Motiv hat, das Geld aus dem Tresor zu nehmen, was dazu führt, dass das Geld fehlt, Hans um die Zeit des Diebstahls herum aus dem Büro eilend gesehen wird, und Hans seine Bankschulden zurückzahlen kann. Die Geschichte entspricht dem Episodenschema für menschliche Handlungen. Die Geschichte erklärt die durch Beweismittel gestützten Behauptungen, dass Hans Bankschulden hat, bei der Beförderung übergangen wurde, das Geld im Tresor fehlt, Hans vom Zeugen gesehen wurde, das Video ein Autos des Typs zeigt, wie Hans eines fährt, und Hans seine Bankschulden zurückzahlen konnte. Die Aussage der Zeugin Silvia widerspricht der Geschichte, denn wenn Hans um 20 Uhr am Schulanlass war und es zutrifft, dass man um die Zeit rund 45 Minuten vom Büro zur Schule braucht, dann ist es unmöglich, dass Hans nach 19.14 Uhr das Geld aus dem Tresor genommen hat, dass der Techniker ihn aus dem Büro eilen gesehen hat und dass das Video sein Auto zeigt. Die Generalisierung, dass es unmöglich ist, die Strecke unter 45 min zurückzulegen, ist deshalb absolut zentral für die Überzeugungskraft der klägerischen Geschichte. Der Kläger könnte sie angreifen, indem er zeigt, dass es möglich ist, die Zeit zu unterbieten; z. B., indem er eine Testfahrt macht. Die Geschichte weist die beweismäßige Lücke auf, dass es kein auf Beweismittel gestütztes Argument dafür gibt, dass Hans das Geld aus dem Tresor genommen hat. Die Geschichte ist konsistent, und sie ist einigermaßen plausibel, da die kausalen Generalisierungen, dass jemand, der Schulden hat, und jemand, der bei der Beförderung übergangen wurde und sich ungerecht behandelt fühlt, eher einen Diebstahl begehen wird, mit dem kulturellen Wissen übereinstimmen. Ebenso plausibel erscheint es, dass 396 397 398 399 400

Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 147 ff. Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 90. Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 91. Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 92. Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 93 f.

Aussage ErmittlerX

HXohatoBank" schuldenX

HXowurdeobei Beförderung übergangenX

AussageoChefM HansX

Aussage ErmittlerX

HXobezahlt Bankschulden zurückX

Geldofehlt imoTresorX

HXoeiltoausoBuch" haltungsbüroX HXofährtoumoj?XjyoUhr mitoweissemoAutoowegX

Aussage ErmittlerX

WeisseoAutosodieses TypsosindosehroseltenX

UnbestritteneoAussagen sindowahrX

Aussage BuchhalterinX

WennoeinoweissesoAutooderoMarkeoAXYAovon einemoBürogebäudeowegfährtMogehörtoesodemjenigenM deromitoeinemosolchenoAutoozuroArbeitokamMowennoin deroGegendonurovMjEoderoAutososolcheoAutososindX

?

HansokamomitoweissemoAuto deroMarkeoAXYAozuroArbeitX

Abbildung 49: Modell des Hans H. Falles nach der hybriden Theorie von Bex.

UnbestritteneoAussagen sindowahrX

WeroübergangenowurdeM willosichobeweisenX

Videoaufnahme weissesoAuto umoj?XjyoUhrX

EinoAugenzeugeM derodieoidentifizierte Persononuroflüchtig kenntMoirrtosichX

Aussage ZeugeoTechnikerX

AugenzeugenosagenodieoWahrheitMoselbstowennosie dieoidentifizierteoPersononurokurzogesehenohabenX

HXonimmtonach j?Xj2oUhroGeld ausoTresorX

Weroübergangen wurdeMowillosichorächenX

DieoStreckeokannoauch untero2vominogeschafft werdenX

ManobrauchtoumodieoZeitomehr also2SominMoumosichoumzuziehen undovomoBüroozuroSchuleozuogelangenX

HXowaroumo0voUhr imoAnzugoanoSchul" anlassX

UnbestritteneoAussagen sindowahrX

AussageoZeugin SilviaX

Testfahrtozur gleichenoTageszeitX

340 Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

341

ein Dieb, der Schulden hat, das gestohlene Geld zur Rückzahlung seiner Schulden verwendet. Die Geschichte von Hans lautet, dass er nach der verweigerten Beförderung seinem Arbeitgeber beweisen wollte, dass er ein guter und beförderungswürdiger Arbeitnehmer ist, und deshalb besonders hart arbeitete. Das Geld hat eine der anderen sieben Personen, die Zugang zum Tresor haben, genommen. Die Schulden habe er mit dem Geld getilgt, das ihm seine Schwägerin zurückgegeben hatte. Die Videoaufnahme zeige zufällig ein weißes Auto des Typs XY, die zwar selten sind, aber nicht einzigartig. Hans’ Geschichte erklärt die durch Beweismittel gestützten Behauptungen, dass das Geld im Tresor fehlt, die Videoaufnahme ein weißes Auto zeigt, Hans seine Bankschulden getilgt hat und Hans rechtzeitig am Schulanlass war. Weiter greift Hans die Generalisierung an, dass Augenzeugen die Wahrheit sagen, indem er geltend macht, diese allgemeine Regel gelte nicht, wenn der Augenzeuge die identifizierte Person nur wenige Male gesehen habe. Die Geschichte von Hans führt zur Erwartung, dass Hans irgendein Beweismittel – sei es eine Quittung oder eine Zeugin – für die Behauptung, er habe das Geld von seiner Schwägerin erhalten, produziert, was bekanntlich nicht geschehen ist. In Bex’ Theorie gereicht das Hans aber nicht zum Nachteil, denn er ist nicht an Behauptungen gebunden, die der Gegenspieler durch voraussagende Überlegungen macht.401 Der fehlende Beleg für den Erhalt des Geldes von der Schwägerin wird also nicht als beweismäßiger Widerspruch, sondern nur als beweismäßige Lücke, gewertet. Meines Erachtens ist dies ein schweres Defizit von Bex’ Theorie. Interne Widersprüche enthält die Geschichte von Hans keine, sie ist konsistent. Die Annahme, dass die verweigerte Beförderung zu einer gesteigerten Arbeitsleistung führt, beruht m. E. auf einer wenig plausiblen Generalisierung. Anders als die klägerische Geschichte entspricht die Geschichte von Hans nicht dem Episodenschema, sie ist unvollständig. Welche Geschichte »gewinnt« nun? Die klägerische Geschichte erklärt sechs durch Beweismittel gestützte Behauptungen, die beklagtische Geschichte vier (drei nach anderer Zählung – die verweigerte Beförderung wird nicht im eigentlichen Sinne »erklärt«). Die klägerische Geschichte enthält aber auch drei Behauptungen, denen durch ein Beweismittel (Silvias Aussage) widersprochen wird. Hans Geschichte enthält keine Erklärungen für Behauptungen, denen durch Beweismittel widersprochen wird. Die klägerische Geschichte weist eine ungestützte Behauptung auf (die Entnahme des Geldes aus dem Tresor durch Hans). Hans’ Geschichte stellt zwei Behauptungen auf, für die es keine Beweismittel gibt – dass jemand anders das Geld aus dem Tresor genommen hat und dass seine Schwägerin ihm das Geld gegeben hat, mit dem er die Bankschulden getilgt hat. Das Kriterium der Abdeckung lässt hier also keine eindeutige Entscheidung

401

Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 159 f.

342

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

zu.402 Das Kriterium der Kohärenz spricht für die klägerische Geschichte: Beide Geschichten sind konsistent, aber die klägerische Geschichte ist (wohl) plausibler und sie ist, im Gegensatz zur beklagtischen Geschichte, vollständig. Die klägerische Geschichte ist daher wohl besser, wobei zu beachten ist, was Bex auch betont, dass die hierarchischen Regeln zur Bestimmung des Gewinners in komplexen Fällen nur heuristischen Wert haben.403 6. Bernard S. Jacksons semiotische Erzähltheorie Jackson verwirft die Korrespondenztheorie der Wahrheit mit dem bekannten Argument, dass letztlich immer nur ein Vergleich zwischen sprachlichen Aussagen erfolgen könne.404 Ob eine Zeugenaussage der Wirklichkeit entspreche, sei nicht festzustellen. Der Zeuge könne nur den nicht überprüfbaren Anspruch erheben, dass sich seine Aussage auf die Realität beziehe; was wirklich geschehen sei, lasse sich aber nicht feststellen.405 Die Korrespondenz einer Menge von Tatsachenbehauptungen mit der Wirklichkeit könne daher nie festgestellt werden, sondern nur, ob der Behauptende uns davon überzeuge, die Voraussetzungen zu erfüllen, eine wahre Aussage zu machen: »If we cannot judge whether the semantic content of stories (»factual« or »fictional«) is true, we can at least judge who we think is telling the truth, in the sense of most adequately persuading us that s/he is fulfilling the sincerity conditions of the act of making a truth claim.«406 Jacksons Theorie sucht den traditionellen juristischen Syllogismus zu ersetzen durch einen Vorgang, der auf dem Gedanken beruht, dass sowohl Obersatz (Norm) als auch Untersatz (Sachverhalt) eine narrative Struktur haben. Die Subsumtion eines Sachverhalts unter eine Norm beruht nicht auf (deduktiver) Logik, sondern auf dem Vergleich der von Ober- und Untersatz erzählten »Geschichten«, es ist ein Vorgang der Kohärenzbildung, des »pattern-matching«.407 Subsumtion ist entsprechend keine dichotome Entscheidung, sondern ein graduelles Urteil über die Ähnlichkeit von Obersatz und Untersatz.408 Hier konzentriere ich mich ausschließlich auf die Konstruktion des Untersatzes, des Sachverhaltes, gemäß Jacksons Theorie. Eine Geschichte ist nach Jackson eine Menge von Aussagen mit einer Struktur, die drei Elemente umfasst: zeitliche Abfolge, Handlung (oder Zweck) und Verständlichkeit (oder Erfahrung).409 Zeitliche Abfolge bedeutet, dass ein Ereignis 402 403 404 405 406 407 408 409

Vgl. Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 149. Bex, Arguments, stories and criminal evidence, 149. Jackson, Law, fact and narrative coherence, 37 ff. Jackson, Law, fact and narrative coherence, 41. Jackson, Law, fact and narrative coherence, 2 (kursiv im Original). Jackson, Law, fact and narrative coherence, 58. Jackson, Law, fact and narrative coherence, 58. Jackson, Law, fact and narrative coherence, 155.

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

343

dem anderen folgt, ohne dass man notwendigerweise eine kausale Verknüpfung annehmen muss. In einer Geschichte wird weiter angenommen, dass Menschen zweckgerichtet handeln.410 Die Verständlichkeit einer Geschichte ergibt durch die soziale Erfahrung, die erlaubt, zu beurteilen, ob eine Sequenz von Ereignissen sinnvoll ist.411 Die Glaubhaftigkeit einer Geschichte wird bestimmt durch ihre interne und externe Kohärenz. Intern kohärent ist eine Geschichte, wenn sie keine logischen Widersprüche enthält, also im klassischen Sinne konsistent ist.412 Extern kohärent ist eine Geschichte, wenn sie ähnlich ist zu Geschichten, die zum »stock of knowledge« des Urteilenden gehören.413 Die Ähnlichkeit zweier Geschichten hängt dabei nicht nur von der Schnittmenge gemeinsamer Elemente ab, sondern auch von der Bedeutung der übereinstimmenden Elemente, und diese ist der narrativen Struktur nicht inhärent, sondern ergibt sich aus dem sozialen und psychologischen Kontext des Deuters.414 Was die Beschreibung des Vorgangs der Konstruktion einer Geschichte (eines Sachverhalts) anbelangt, bleibt Jacksons Theorie hinter der Theorie von Bennett/Feldmann oder Pennington/Hastie zurück. Dass sich die Glaubhaftigkeit einer Geschichte durch einen Vergleich mit dem in der Form von Geschichten gespeicherten Alltagswissens des Urteilenden ergibt, ist trivial. Interessant ist, wie dieser Vergleich vorgenommen wird, und dazu vermag Jackson keine über Allgemeinplätze hinausgehenden Aussagen zu machen. 7. Eigene Ansicht Die Kohärenztheorien von Allen, Amaya, MacCormick und Thagard versuchen alle das fundamentale Problem der Beweiswürdigung zu lösen, das darin besteht, dass sich der entscheidungsrelevante Sachverhalt in aller Regel der unmittelbaren Beobachtung des Richters entzieht. Die eigene Sinneswahrnehmung, die als Erkenntnisquelle ebenso wenig grundsätzlich in Frage gestellt wird wie die Existenz einer Realität außerhalb des Subjekts, kann deshalb nur Erkenntnisse über sekundäre Quellen – Beweismittel – liefern, aus denen der Sachverhalt rekonstruiert werden muss. Beweiswürdigung ist primär ein Schlussvorgang. Normative Kohärenztheorien postulieren, dass der Schluss gerechtfertigt ist, wenn die (Re-)Konstruktion des Sachverhalts und vorläufig als wahr akzeptierte Aussagen, die sich auf unmittelbare Beobachtung oder Erfahrungswissen stützen, kohärent sind. Eine in diesem Sinne kohärente Sachverhaltsrekonstruktion darf als wahr akzeptiert werden; Kohärenz – im jeweils definierten Sinne – ist das Wahr410 411 412 413 414

Jackson, Law, fact and narrative coherence, 155. Jackson, International Journal for the Semiotics of Law 1988, 225–246, 244 f. Jackson, Law, fact and narrative coherence, 58. Jackson, Law, fact and narrative coherence, 59. Jackson, Law, fact and narrative coherence, 170.

344

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

heitskriterium, wenn es um Behauptungen geht, die der eigenen Beobachtung des Subjekts entzogen sind. Alle Kohärenztheorien, die den Wahrheitsbegriff der Korrespondenz nicht aufgeben, sehen sich dabei mit dem Problem konfrontiert, wie die Kohärenzkriterien beschaffen sein müssen, so dass man gerechtfertigterweise sagen kann, dass das, was kohärent ist, auch mit der Wirklichkeit korrespondiert. Nicht mit diesem Problem konfrontiert sind Kohärenztheorien, die den Boden der Korrespondenztheorie verlassen und Wirklichkeit nicht als etwas außerhalb des Subjekts existierendes begreifen, sondern als narrative Konstruktion. Von den vorne dargestellten Kohärenztheorien gehört einzig Jacksons semiotische Erzähltheorie in diese Kategorie, weshalb sie vorweg behandelt wird. Für Jackson scheint ein kohärente Geschichte nicht nur wahr, sie ist wahr. Es gilt »narratives all the way down«. Die völlige Verneinung der Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt einer Tatsachenbehauptung an der Realität zu messen, widerspricht der rationalistischen, dem kritischen Realismus verpflichteten, juristischen Tradition der Beweiswürdigung. Wer sich der Möglichkeit verweigert, dass eine plausible, stimmige, gute, kohärente Geschichte falsch sein kann, »löst« das Problem der Beweiswürdigung, indem er ihr fundamentales Problem – wie kann der Richter mangels eigener Beobachtung die Wirklichkeit erkennen? – abschafft. Das ist besonders offensichtlich bei Jackson, der davon ausgeht, dass die Plausibilität einer Geschichte durch den Vergleich mit dem, ebenfalls in narrativer Form gespeicherten, kulturellen Wissen des Urteilenden festgestellt wird. Das mag, wie gesagt, eine ausgezeichnete Beschreibung dessen sein, was tatsächlich geschieht. Aber es erklärt nicht nur, weshalb Geschichten als wahr akzeptiert werden, die gut zu den Vorurteilen des Urteilenden passen, sondern rechtfertigt dies auch. Man kann eine stimmige Geschichte in Jacksons Theorie nicht mit dem Hinweis darauf kritisieren, dass sie offensichtlich nicht mit der Wirklichkeit übereinstimme, weil die Korrespondenz mit der Realität irrelevant ist. Jacksons Theorie wird zudem von der Schwammigkeit der Beschreibung geplagt, wie die Kohärenz einer Geschichte zu messen ist. Diese bestimmt sich gemäß Jackson nach ihrem Grad der Ähnlichkeit mit einer anderen Geschichte415 – aber wie dieser Grad der Ähnlichkeit zu bestimmen ist, bleibt unklar.416 Praktikable Kriterien für das Urteil, welche Geschichte einer anderen Geschichte vorzuziehen ist, sind nicht erkennbar. Die anderen Kohärenztheorien stellen sich dem Problem, sicherzustellen, dass eine kohärente Geschichte auch wahr im Sinne der Korrespondenztheorie ist, auf unterschiedliche Weise. Amaya möchte durch eine Tugendethik des Urteilenden verhindern, dass er in sich stimmige, aber mit der Außenwelt nicht übereinstimmende, Tatsachenbehauptungen als wahr akzeptiert. Ihre Theorie leidet jedoch an mangelnder Justiziabilität. Eine für die Jurisprudenz brauchbare Theorie 415 416

Jackson, Law, fact and narrative coherence, 58 f. Bracker, Kohärenz und juristische Interpretation, 145 f.

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

345

der Beweiswürdigung muss Dritten ermöglichen, die Schlussfolgerungen des Entscheiders zu kritisieren. Philosophisch mag es angehen, von einem Tatsachenfeststeller epistemische Tugenden wie intellektuelle Neugier und intellektuellen Mut zu verlangen. Aber wie soll man in der Praxis prüfen, ob ein Tatrichter epistemisch tugendhaft gehandelt hat und seine kohärenten Tatsachenfeststellungen daher gerechtfertigt sind? Man kann ihn nur i) direkt fragen; oder ii) aus seinem Verhalten auf seine Tugendhaftigkeit schließen. Das Problem mit der Möglichkeit i) liegt auf der Hand – nichts garantiert, dass die Auskunft des Befragten auch der Wahrheit entspricht. Zudem legt das fehlende Bewusstsein für den Prozess der Kohärenzverschiebung (vorne, S. 302 f.) nahe, dass der Entscheider selbst dann überzeugt ist, nur die Fakten »an und für sich« berücksichtigt zu haben, wenn sein Verständnis dieser Fakten im Laufe des Entscheidungsfindungsprozesses eine erhebliche Veränderung erlebt hat. Das Problem an Möglichkeit ii) ist, dass sie zirkulär ist: Hält ein Dritter die Tatsachenfeststellungen für inkohärent, dann kann er daraus unter Umständen auf die fehlende epistemische Tugendhaftigkeit des Urteilenden schließen. Nur: darauf kommt es dann nicht mehr an, denn Kohärenz und epistemische Tugendhaftigkeit sind nach Amaya kumulative Voraussetzungen für die Rechtfertigung einer Tatsachenfeststellung. Fehlt die Kohärenz, sind die Tatsachenfeststellungen bereits deshalb nicht gerechtfertigt. Sind die Feststellungen aber kohärent, kann der Dritte aus den Tatsachenfeststellungen keinen Rückschluss auf die unzureichende epistemische Tugendhaftigkeit des Urteilenden ziehen und muss die Tatsachenfeststellungen als gerechtfertigt akzeptieren. Die epistemische Tugendhaftigkeit bringt daher, was die Überprüfbarkeit der Tatsachenfeststellung durch Dritte anbelangt, nichts, was über die Kohärenz hinausginge, und Amaya selber anerkennt, dass Kohärenz alleine nicht genügt.417 Der normative Anspruch von Allens relativer Plausibilitätstheorie scheitert daran, dass Allan ihn auf die Behauptung stützt, dass eine holistische Beweiswürdigung zu besseren – sprich eher mit der Wirklichkeit korrespondierenden – Sachverhaltsrekonstruktionen führe als eine atomistische Beweiswürdigung, die den Geschworenen fremd sei. Weil eine holistische Beweiswürdigung dem Alltagsdenken eher entspreche als eine atomistische, sei sie für die Geschworenen natürlicher, einfacher und daher auch weniger fehleranfällig. Daher würden wahrscheinlich auch weniger Fehler gemacht.418 Das Problem ist, dass diese Behauptung nicht durch empirische Befunde belegt wird. Pennington und Hastie, auf die sich Allen bezieht, haben nie behauptet, ihr Geschichten-Modell führe zu mehr richtigen Urteilen als alternative Beweiswürdigungsmodelle. Das GeschichtenModell ist strikt deskriptiv, es beschreibt nur, welche Prozesse der Überzeugungsbildung von Geschworenen zugrunde liegen, ohne zu ihrem normativen Gehalt 417

Amaya, Episteme 2008, 306–319, 309. Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 410, 413. Ähnlich auch Amaya, Episteme 2008, 306–319, 307. 418

346

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

Stellung zu nehmen. Eine Kernaussage der psychologischen Geschichten- und Kohärenztheorien ist, dass eine gute (kohärente) Geschichte oft einer wahren Geschichte vorgezogen wird. Wer einem korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff verpflichtet ist, muss darin eine Gefahr sehen.419 Allen zeigt nicht auf, wie dieser Gefahr zu begegnen ist. MacCormick und Thagard versuchen beide, die Wahrscheinlichkeit der Korrespondenz einer kohärenten Sachverhaltsrekonstruktion mit der Wirklichkeit dadurch zu erhöhen, dass Tatsachenbehauptungen, die sich auf unmittelbare Beobachtung stützen, ein besonderer Status eingeräumt wird.420 Da MacCormicks Kohärenzkriterien einigermaßen vage bleiben – ein Problem, das viele Kohärenztheorien plagt421 – konzentriere ich mich hier auf Thagards Theorie erklärender Kohärenz, die wohl die am besten spezifizierte normative Kohärenztheorie ist, wobei Thagards Theorie philosophisch betrachtet wegen des besonderen Status, den sie auf Beobachtung gestützten Aussagen gewährt, keine Kohärenztheorie in Reinform ist. Problematisch an Thagards Theorie erklärender Kohärenz als normativer Theorie ist das »Kippen« von einer kohärenten Form in eine andere, ebenso kohärente Form, aufgrund geringfügiger Änderungen des Inputs, ohne dass man begründen könnte, weshalb eine Lösung des Kohärenzmaximierungsproblems der anderen vorzuziehen wäre (vorne, S. 330 f.). Das führt dazu, dass der gleiche Sachverhalt sehr unterschiedlich, aber immer gleich kohärent, wahrgenommen wird, so dass beispielsweise sowohl diejenigen, die Hans für unschuldig halten wie auch diejenigen, die ihn für schuldig halten, überzeugt sind, dass sie richtig entschieden haben. Das »Kippen« der Interpretation von einer kohärenten in eine andere kohärente Wahrnehmung des Sachverhalts führt dazu, dass zahlreiche Aussagen, die in der einen Interpretation verworfen wurden, in der anderen Interpretation als wahr akzeptiert werden. Dies muss nicht falsch sein – in Wirklichkeit ist es so, dass wenn der Techniker Hans tatsächlich aus dem Büro eilen gesehen hat, das Video auch das Auto von Hans zeigt, während dann, wenn sich der Zeuge geirrt hat, das Video auch nicht Hans’ Auto zeigt. Der Punkt ist, dass wir nicht wissen, ob Hans aus dem Büro geeilt ist. Während eine im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie kohärente Überzeugungsbildung das epistemische Defizit erkennbar macht, verbergen es kognitive Kohärenztheorien. Sie schaffen scheinbar sicheres Wissen auch dort, wo es sicheres Wissen nicht gibt.

419 Menashe/Shamash, International Commentary on Evidence 2005, Article 3, 18 f.; Griffin, Georgetown Law Journal 2012, 281–335, 302 ff.; Roberts/Aitken, The Logic of Forensic Proof: Inferential Reasoning in Criminal Evidence and Forensic Science, 26. 420 Thagard, Coherence in Thought and Action, 43 f.; MacCormick, Rhetoric and the rule of law, 227. 421 Thagard, Coherence in Thought and Action, 69 f.

IV. Kohärenz als normativer Standard der Beweiswürdigung?

347

Eine Bewertung der Beweiswerte der einzelnen Beweismittel und die Integration der Teilüberzeugungen gemäß Bayes’ Regel, die die Einhaltung der Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie garantiert, macht die Unsicherheit in der Beurteilung transparent, die bei unsicherer Beweislage nun einmal besteht und durch mentale Prozesse nicht aus der Welt geschafft werden kann. Wenn man die Überzeugung des Richters zum Beweismaß macht – wie das deutsche und schweizerische Recht – ist es von entscheidender Bedeutung, dass diese Überzeugung in unklaren Fällen nicht gleich hoch ist wie in klaren Fällen. Genau diese Gefahr besteht aber bei der Theorie erklärender Kohärenz, die deshalb als normative Theorie abzulehnen ist. Die hybride Theorie von Bex ist wertvoll, weil sie das Augenmerk auf die zahlreichen Generalisierungen lenkt, die jeder Beweiswürdigung implizit zugrunde liegen, und diese transparent macht. Sie ermöglicht mit dem Instrument der anfechtbaren Logik einen rationalen Diskurs über die Begründetheit der Argumente, die die Beweiswürdigung stützen. Wesentliche Defizite der Theorie sind, (i) dass probabilistische Information in dichotomen Kategorien abgebildet wird; (ii) dass sie nicht erlaubt, zu berücksichtigen, ob eine Geschichte zu Voraussagen führt, die nicht durch begründete Argumente gestützt werden oder denen gar durch begründete Argumente widersprochen wird, und (iii) dass sie einen fairen Vergleich nur zwischen zwei im gleichen Ausmaß ausgearbeiteten Geschichten erlaubt. Das Problem, probabilistische Information nur dichotom abbilden zu können, zeigt sich exemplarisch an der Aussage des Ermittlers im Hans H. Fall, dass 0,1% aller Autos weiße Autos der Marke XY seien. Dies stützt natürlich das Argument, dass das Video das Auto von Hans zeigt. Aber ausgeschlossen ist es nicht, dass das Video ein anderes Auto zeigt. Genau diese Unsicherheit kann eine auf einer Argumentations-Logik aufbauende Theorie nicht abbilden. Sie »tut so«, als sei es sicher, dass das Video das Auto von Hans zeigt. Die objektiv bestehende Unsicherheit muss aber in einer normativen Theorie zugunsten von Hans berücksichtigt werden. Man kann objektiv bestehende Quellen von Unsicherheit, auch wenn sie gering sein mögen, nicht einfach ignorieren, denn genau dadurch bringt man ein tatsächlich bestehendes epistemisches Defizit scheinbar zum Verschwinden. Zum Punkt (ii) ist anzumerken, dass die Modellierung des Einflusses fehlender erwarteter Beweismittel auf die Überzeugungsbildung für jede Beweistheorie wesentlich ist, da entsprechende Überlegungen in der Praxis eine wichtige Rolle spielen und spielen dürfen (vorne, S. 223 f.). Eine frühere Version von Bex’ Theorie war dazu auch in der Lage;422 dass die ausgearbeitete Theorie dies nicht

422 Bex/Prakken/Verheij, in: van Engers (Hrsg.), Legal knowledge and information systems, 11–20, 19.

348

Dritter Teil: Psychologie der Überzeugungsbildung

mehr kann, scheint ein bedauerliches Resultat der Formalisierung des »DialogSpiels« zu sein. Bex’ Theorie zwingt den Beklagten schließlich dazu, der Geschichte des Klägers eine eigene, ebenso ausgearbeitete, Geschichte gegenüberzustellen. Dies ist ein generelles Problem normativer Theorien (narrativer) Kohärenz der Beweiswürdigung – weil sie nur den ordinalen Vergleich zweier Geschichten erlauben, ist dieser Vergleich nur dann fair, wenn beide Sachverhaltsschilderungen im gleichen Maße ausgearbeitet sind. Der Beklagte ist also gezwungen, der vom Kläger vorgebrachten Geschichte einen eigenen »equally well specified case«423 gegenüberzustellen. Dies ist besonders augenfällig bei Allens und Bex’ Theorie, aber auch in Thagards Theorie erklärender Kohärenz gewinnt letztlich meist die besser ausgearbeitete Theorie. Mit anderen Worten wäre der Beklagte in einem Zivilverfahren, oder der Angeklagte in einem Strafverfahren, gezwungen, der (an-)klägerischen Geschichte eine ausgearbeitete eigene Geschichte entgegenzusetzen, wenn er eine Chance haben will, den Prozess zu gewinnen. Dazu ist er aber in einem Zivilverfahren nicht verpflichtet (vorne, S. 237 f.) und noch viel weniger in einem Strafverfahren, wo die Aussageverweigerung des Angeklagten nie gegen ihn gewertet werden darf.424 Der Beklagte kann sich darauf beschränken, die einzelnen Behauptungen des Klägers einfach zu bestreiten, respektive, im Strafverfahren, gar vollständig zu schweigen. Raten kann man ihm dazu vor dem Hintergrund der psychologischen Forschung zur Beweiswürdigung sicherlich nicht, aber eine normative Theorie, die sanktioniert, dass ein Beklagter, der sich auf einfaches Bestreiten beschränkt, praktisch immer verliert, ist mit dem geltenden Recht nicht zu vereinbaren. Zusammenfassend gesagt sind narrative und kognitive Kohärenztheorien ausgezeichnete Beschreibungen der psychologischen Prozesse, die bei der Beweiswürdigung stattfinden. Die empirischen Befunde aus Quellenstudium (Wagenaar et al.), ethnographischer Beobachtung (Bennett und Feldman) und Laborexperimenten (Simon und viele andere) sind überwältigend. Aber als normativer Standard der Beweiswürdigung sind sie abzulehnen, weil kognitive Kohärenz auch dort entstehen kann, wo große epistemische Defizite bestehen.

423 424

Allen, Boston University Law Review 1986, 401–437, 426. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rz. 907 ff., mit zahlreichen Hinweisen.

Vierter Teil

Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung I. Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie liefert Rationalität, keine Objektivität Bayes’ Netze, die eine im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie kohärente Überzeugungsbildung erzwingen, vermögen Quellen von Unsicherheit bei der Sachverhaltsrekonstruktion aufzuzeigen und ermöglichen einen rationalen Diskurs über die Annahmen, die der Überzeugungsbildung zugrunde liegen. Aber natürlich können auch kohärente Teilüberzeugungen falsch in dem Sinne sein, dass sie nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Kohärente Überzeugungen im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie können nicht garantieren, dass ein Urteil mit der Wirklichkeit übereinstimmt.1 Die Hoffnung, dass »Wahrscheinlichkeit« zu einer Objektivierung der Beweiswürdigung führt, ist trügerisch.2 Das Einhalten der Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie alleine garantiert nur – aber immerhin! – eine Binnenrationalität.3 Eine Beweistheorie muss auch in der Lage sein, aus mehreren kohärenten Überzeugungssystemen dasjenige zu wählen, das mutmaßlich besser mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Nehmen wir den französischen Richter Henry Boguet (1550–1619), Autor des über einen Zeitraum von 20 Jahren in zwölf Auflagen erschienenen »Discours exécrable des Sorciers« (Erstauflage 1602), einem Buch über Hexenprozesse. Boguet ging davon aus, dass es zu seiner Lebzeit in Frankreich rund 30’000 Hexen gab;4 bei einer Bevölkerung von rund 20 Millionen.5 Die Wahrscheinlichkeit, dass eine zufällig ausgewählte Frau in Frankreich eine Hexe ist, ist demnach 0,0015 (30’000/20’000’000). Boguet nahm an, dass Hexen, wenn sie dem Teufel abschwören, drei Mal auf den Boden spucken, was bedeutet, dass sie den Bund 1 Salmon, Scientific Inference, 81 f.; Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 68; Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 151 ff.; Hájek, Synthese 2007, 563–585, 576 f. 2 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 101. 3 Schulz, Beweistheorie, 296. 4 Henry Boguet, Discours exécrable des Sorciers, Rouen 1602, Widmung; zitiert nach Damaska, Hastings Law Journal 1998, 289–306, 298 Fn. 19 (die Erstauflage ist schwer erhältlich und spätere Auflagen scheinen diese Zahl nicht mehr explizit zu nennen). 5 Price, A concise history of France, 24.

350

Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

mit dem Teufel entgegen ihrer Worte nicht brechen.6 Wie viele andere Hexenjäger glaubte er, dass Hexen an einem »Hexenmal« zu erkennen seien, das nicht schmerzempfindlich ist und nicht blutet, wenn es mit einer Nadel gestochen wird.7 Wenn Henry Boguet überzeugt ist, dass es zehn Mal wahrscheinlicher ist, dass eine Hexe drei Mal beim Abschwören auf den Boden spuckt als eine Nicht-Hexe, und dass es hundert Mal wahrscheinlicher ist, dass eine Hexe ein Hexenmal aufweist, als eine Nicht-Hexe, dann kommt er bei einer anfänglichen Überzeugung von 0,0015 und der Annahme, dass die beiden Erkennungszeichen bei NichtHexen unabhängig sind, zu einer a posteriori Überzeugung von 60%, dass es sich bei einer zufällig ausgewählten Frau, die beide Merkmale zeigt, um eine Hexe handelt – genug, um zur Folter zu schreiten. Die Überzeugungen von Boguet in dem Beispiel sind kohärent und daher rational im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie, obwohl sich alles in uns sträubt, diese Überzeugungen als rational zu bezeichnen. Wäre die interne Kohärenz der Überzeugungen der einzige Maßstab, an dem sich Beweiswürdigung messen lassen müsste, müssten sie als richtig akzeptiert werden.8 Aber es fehlt offensichtlich an etwas anderem: an der Verankerung in der Wirklichkeit. Während sich die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie als solche nicht damit befasst, woher die Überzeugungen kommen, die mit ihrer Hilfe widerspruchsfrei kombiniert werden können, muss eine erkenntnistheoretische Methode eine Aussage dazu machen, woher die durch das Subjekt zu kombinierenden Überzeugungen legitimerweise stammen dürfen. Dies gilt für die Wissenschaftstheorie wie für die juristische Beweiswürdigung. »Denkgesetze sagen nur, wie geschlossen werden kann, nicht womit.«9 Eine offensichtliche Quelle persönlicher Überzeugungen ist Erfahrung.10 Erfahrung ist eng verwandt mit Häufigkeit, denn Erfahrung ist nichts anderes als die wiederholte Wahrnehmung von Objekten oder Ereignissen.11 Postuliert wird, dass die Überzeugung, dass eine Aussage wahr ist, vor der Berücksichtigung weiterer Information der relativen Häufigkeit entsprechen soll, mit der Aussagen gleicher Art in der Vergangenheit wahr gewesen sind (»Frequency Principle«12 oder »Principle of Direct Probability«13 ). Das Problem ist, dass man definieren muss, was Aussagen »gleicher Art« sind: In Bezug auf welche Eigenschaften müssen sich die Aussagen gleichen, damit man behaupten kann, 6

Boguet, Discours exécrable des Sorciers, 234. Boguet, Discours exécrable des Sorciers, 241. 8 Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 379, und Cohen, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 113–128, 126, kritisieren mit diesem Argument die Anwendung der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie im Rahmen der gerichtlichen Beweiswürdigung. 9 Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 356. 10 Salmon, Scientific Inference, 128. 11 Sedlmeier, in: Betsch/Haberstroh (Hrsg.), The routines of decision making, 83–99, 84 f. 12 Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 137. 13 Hájek, Synthese 2007, 563–585, 578. 7

II. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Statistik

351

die relative Häufigkeit der Wahrheit dieser Art von Aussagen sei relevant für die Überzeugung, dass die konkret zu beurteilende einzelne Aussage wahr ist (Problem der richtigen Referenzklasse)? Jeder Schluss von der Erfahrung auf eine nicht in der Menge der Erfahrung enthaltene Aussage steht weiter unter der Annahme der Gleichförmigkeit der Natur: Er ist nur zulässig unter der Annahme, dass die nicht beobachteten Fälle den beobachteten Fällen gleichen, aber diese Annahme lässt sich letztlich nicht begründen, es bleibt bei einem Postulat.14 Während der letztere Einwand von großer theoretischer Bedeutung ist, spielt er praktisch in der Beweiswürdigung vor Gericht eine geringe Rolle (hinten, S. 385). Das Referenzklassenproblem hingegen ist nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch von größter Bedeutung (hinten, S. 354 ff.). Bei der juristischen Beweiswürdigung übernehmen nach h. L. und Rechtsprechung die Erfahrungssätze die Aufgabe, die völlige Freiheit subjektiver Überzeugungen einzuschränken: Der Richter ist frei in seiner Überzeugung, aber er darf nicht gegen Erfahrungssätze verstoßen.15 Die hier vertretene und im Folgenden zu begründende These ist, dass die Lehre von den Erfahrungssätzen eng verwandt ist mit dem »Frequency Principle«, und dass sich daher aus dem Verständnis der Struktur und der Probleme bei der Anwendung des »Frequency Principle« Erkenntnisse für die Lehre von den Erfahrungssätzen, insbesondere zu den Rahmenbedingungen eines gültigen Schlusses von einem Erfahrungssatz auf den Einzelfall, gewinnen lassen. Zuerst werden folglich die Gründe für und die Probleme bei der Anwendung des »Frequency Principle« dargestellt, um die dabei gewonnenen Erkenntnisse anschließend auf die Lehre der Erfahrungssätze anzuwenden.

II. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Statistik 1. Relative Häufigkeit als Quelle subjektiver Überzeugung Es erscheint intuitiv plausibel, subjektive Wahrscheinlichkeiten auf relative Häufigkeiten abzustützen. Wenn man die Häufigkeit kennt, mit der eine gewisse Eigenschaft in einer Population vorkommt, scheint es naheliegend, dass die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelnes, zufällig ausgewähltes Mitglied dieser Population diese Eigenschaft aufweist, der relativen Häufigkeit der Eigenschaft in der Population entspricht.16 Wenn ich nur weiß, dass 200 von 1’000 Besuchern der Zentralbibliothek Zürich Studierende der Rechtswissenschaften sind, und keine weiteren Informationen zum Einzelfall besitze, ist es vernünftig, 14 15 16

Darauf wies Hume, Enquiries Concerning the Human Understanding, 37 f., als erster hin. Statt aller Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 10. Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 137.

352

Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

von einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von 20% auszugehen, dass der nächste Besucher, der durch die Türe tritt, Jura studiert. In der juristischen Literatur wird es denn auch als Selbstverständlichkeit postuliert, dass aus einem Erfahrungssatz, dass eine beobachtbare Tatsache A in 9 von 10 Fällen eine bestimmte Folge B nach sich zieht, geschlossen werden könne, dass beim Nachweis von A mit einer Wahrscheinlichkeit von 90% B ebenfalls vorliege.17 Der Schluss von der relativen Häufigkeit einer Eigenschaft in einem Kollektiv auf die persönliche Überzeugung, dass ein beliebiges Mitglied des entsprechenden Kollektivs diese Eigenschaft aufweist, wird von Taroni et al. als »Bayes’scher statistischer Syllogismus« bezeichnet.18 Etwas formaler lässt er sich wie folgt ausdrücken: 1. 2. 3.

Die relative Häufigkeit der Eigenschaft Q in der Klasse R ist γ [Gamma]. ai ist ein Mitglied der Klasse R (i = 1, 2, . . . , n). Die Wahrscheinlichkeit, dass ai die Eigenschaft Q aufweist, ist für mich gleich groß wie für jedes andere Mitglied der Klasse R.

Also ist meine persönliche Überzeugung, dass ai die Eigenschaft Q aufweist, γ. Ein konkretes Beispiel wäre die relative Häufigkeit eines DNA-Profils bei Kaukasiern. Wenn ich über den Beklagten nichts anderes weiß, als dass er Kaukasier ist, entspricht meine persönliche Überzeugung, dass er ein bestimmtes DNA-Profil besitzt, der relativen Häufigkeit dieses Profils unter Kaukasiern. Damit die Randbedingungen klar werden, unter denen diese Gleichsetzung von persönlicher Überzeugung und relativer Häufigkeit zulässig ist, folgt jetzt die mathematische Herleitung des »Bayes’schen statistischen Syllogismus«. Wer darauf verzichten will, kann gleich zum Abschnitt 2 auf S. 354 springen. Es sei X eine diskrete Variable, welche die Zustände x mit den Wahrscheinlichkeiten Pr(X = x) annehmen kann. Auch wenn man den Zustand von X nicht kennt, kann man einen repräsentativen Wert für X berechnen, der als Erwartung (expectation) oder erwarteter Wert (expected value) bezeichnet wird und gegeben ist durch19 E (X) =

X

xPr (X = x) .

(20.1)

x 17 Siegrist, Beweisrecht des Zivilprozesses, 201; Maassen, Beweismaßprobleme, 61; Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 265; Risthaus, Erfahrungssätze, Rz. 754; Beutel, Wahrnehmungsbezogene Erfahrungssätze, 62. A. M. Schulz, Beweistheorie, 302, der einen logisch zwingenden Schluss von der relativen Häufigkeit auf die Wahrscheinlichkeit des Einzelfalls kategorisch ausschliesst. 18 Taroni et al., Bayesian networks, 21. Allgemein zum statistischen Syllogismus Salmon, Logik, 176 ff. 19 Der Beweis geht auf de Finetti, Annales de l’Institut Henri Poincaré 1937, 1–68, 18 f. zurück; de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 251, nennt das Theorem eine »Banalität«. Jeffrey, Probability and the art of judgment, 60 f. führt den Beweis näher aus. Die Darstellung hier folgt in Aufbau und Notation Taroni et al., Bayesian networks, 22.

II. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Statistik

353

Beispielsweise könne X die Zustände {0; 100; 100’000} mit den Wahrscheinlichkeiten {0,9; 0,099; 0,001} annehmen (man kann sich beispielsweise vorstellen, bei X handle es sich um ein Los einer Tombola und die Zustände stünden für den Gewinn in Franken). Der erwartete Wert E(X) ist folglich 0,9 · 0 + 0,099 · 100 + 0,001 · 100’000 = 109,9. Xi sei eine Variable, welche die Zustände {1; 0} annehmen kann. Ai sei die Aussage »Das Individuum ai hat die Eigenschaft Q«, wobei ai zur Klasse R, bestehend aus n Individuen, gehört. Xi nimmt den Zustand 1 an, wenn die Aussage Ai wahr ist, sonst den Zustand 0. Aus Gleichung (20.1) folgt, dass der erwartete Wert für die Variable Xi die Wahrscheinlichkeit ist, dass die Aussage Ai wahr ist: E (Xi ) = Pr (Xi = 1) · 1 + Pr (Xi = 0) · 0 = Pr (Xi = 1) .

(20.2)

Da der erwartete Wert additiv ist,20 ist die Summe der Wahrscheinlichkeiten der Aussagen Ai gleich dem erwarteten Wert der Summe der Variable Xi :21 Pr (Xi = 1) + · · · + Pr (Xn = 1) = E (Xi ) + · · · + E (Xn ) = E (Xi + · · · + Xn )

(20.3) (20.4)

Der entscheidende Schritt ist hier die Umformung der rechten Seite der Gleichung (20.3) zu (20.4). In (20.4) addiert man jedes Mal 1, wenn die Aussage »Das Individuum ai hat die Eigenschaft Q« wahr ist, denn definitionsgemäß nimmt die Variable Xi dann den Wert 1 an. Folglich ist die erwartete Summe E(Xi +. . . + Xn ) gleich der Anzahl der Individuen in der Klasse R, welche die Eigenschaft Q aufweisen, d. h. die Häufigkeit von Q in R. Indem man jede Seite der Gleichung (20.4) durch die Anzahl der Individuen n in Klasse R teilt, ergibt sich, dass die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit gleich der erwarteten relativen Häufigkeit ist:22 Pr (Xi = 1) + · · · + Pr (Xn = 1) =E n



Xi + · · · + X n n



(20.5)

Angenommen, die Wahrscheinlichkeit Pr(Xi = 1) ist die persönliche Überzeugung dafür, dass Variable Xi wahr ist. Weiter sei angenommen, man kenne die relative Häufigkeit γ: dann lässt sich die rechte Seite der Gleichung (20.5) durch γ 20

Für eine intuitive Begründung der Additivität des erwarteten Werts siehe Jeffrey, Subjective probability, 70. 21 Taroni et al., Bayesian networks, 22; Jeffrey, Probability and the art of judgment, 60.   22

Wegen der Linearität von E ist

E(Xi ) =E n

Xi n

, siehe Taroni et al., Bayesian networks,

22. Jeffrey, Probability and the art of judgment, 61, nennt Gleichung (43) das »finite relative frequency theorem«.

354

Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

ersetzen, und, wenn man nicht weiß, welche nγ aus R die Eigenschaft Q haben, und man glaubt, dass alle die gleiche Wahrscheinlichkeit haben, die Eigenschaft Q aufzuweisen,23 dann gilt Pr (X1 = 1) = γ,



i = 1, . . . , n .

(20.6)

Dieser Schluss von der relativen Häufigkeit auf die subjektive Wahrscheinlichkeit im Einzelfall ist nur dann zulässig, wenn die relative Häufigkeit konstant ist24 und man, wie bereits erwähnt, glaubt, dass alle Mitglieder der Klasse R die gleiche Wahrscheinlichkeit für Q haben. Letzteres lässt sich auch so formulieren: man weiß nichts anderes über ein Individuum, als dass es zur Klasse R gehört.25 Weiß man hingegen, dass Individuum ai zu einer Unterklasse S von R gehört, wobei die Mitglieder der Unterklasse S für Q relevante Eigenschaften haben, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ai die Eigenschaft Q aufweist, nicht gleich der relativen Häufigkeit von Q in der allgemeinen Klasse R. Damit das Argument weiterhin gültig ist, muss R durch S ersetzt werden und die relative Häufigkeit γ durch die relative Häufigkeit γ0 für Q in S.26 Damit sind wir mitten in der Diskussion um die richtige Referenzklasse. 2. Das Problem der epistemisch richtigen Referenzklasse Am Taxi-Beispiel lässt sich das Problem der richtigen Referenzklasse anschaulich zeigen. Bei der ersten Diskussion des Taxi-Beispiels vorne auf S. 165 wurde stillschweigend davon ausgegangen, dass, wenn 85% der in einer Stadt zugelassenen Taxis blau sind, die Wahrscheinlichkeit, dass ein blaues Taxi den Unfall verursacht hat, ebenfalls 85% ist. Diese Annahme kann man natürlich angreifen, wobei alle diese Angriffe auf zusätzlichen Informationen beruhen. Vielleicht sind zwar 85% der Taxis in der Stadt blau, aber historisch betrachtet wurden nur 60% der Unfälle durch blaue Taxis verursacht.27 Dann wäre es wohl naheliegender, von einer Anfangswahrscheinlichkeit von 60% auszugehen. Oder es sind zwar 85% der Taxis in der Stadt blau, aber nachts, als der Unfall stattfand, sind 70% der Taxis, die unterwegs sind, grün. Oder es lässt sich nachweisen, dass in dem Stadtteil, in dem der Unfall stattgefunden hat, 80% der Taxis grün sind. Je nachdem, welche Referenzklasse man nimmt, kann man eine Anfangswahrscheinlichkeit von 85%, 60%, 30% oder 20% für die Unfallverursachung durch ein blaues Taxi rechtfertigen. Einen logisch zwingenden Grund, einer Referenzklasse den Vorzug

23 24 25 26 27

Diese Annahme ist eng verwandt mit der Annahme der Gleichförmigkeit der Natur. Jeffrey, Probability and the art of judgment, 62. Hacking, Introduction to probability and inductive logic, 137. Taroni et al., Bayesian networks, 23. Cohen, Behavioral and Brain Sciences 1981, 359–370, 365.

II. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Statistik

355

zu geben, gibt es nicht.28 Das Problem der Wahl der richtigen Referenzklasse wird als eines der schwierigsten Probleme induktiven Schließens betrachtet.29 Kritiker formaler Modelle der Beweiswürdigung haben das Problem der richtigen Referenzklasse daher zum Anlass genommen, den Nutzen jeder formalen Modellierung zu bezweifeln.30 Allen/Pardos auf dem Problem der Referenzklasse basierender Angriff auf mathematische Modelle der Beweiswürdigung ist im Kern nichts anderes als eine Kritik des frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs.31 Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie ist gegen diese Kritik grundsätzlich immun – so lange sie nicht durch das »Frequency Principle« ergänzt wird, wodurch sie erst epistemisch wertvoll wird, sich aber auch das Problem der richtigen Referenzklasse einhandelt.32 Man muss sich im Klaren darüber sein, dass formale Modelle der Beweiswürdigung das Problem der richtigen Referenzklasse nur bewusst machen, weil sie verlangen, dass man persönliche Überzeugungen mit einem numerischen Wert versieht.33 Das Problem stellt sich aber implizit bei jeder Verallgemeinerung,34 und ohne Verallgemeinerungen ist Beweiswürdigung nicht denkbar.35 Wenn die Zeugin Silvia im Hans H. Fall die Aussage macht, dass »man um die betreffende Uhrzeit 40–45 Minuten benötigt, um vom Büro zur Schule zu gelangen«, dann bezieht sich diese Aussage nicht unmittelbar auf Hans H. – die Zeugin sagt nicht, dass sie beobachtet habe, dass Hans 40–45 Minuten für die Fahrt gebraucht hätte. Ihre Aussage ist dahingehend zu verstehen, dass man (wer? Silvia? eine Rennfahrerin? ein Ortsunkundiger?) üblicherweise 40–45 Minuten für die Fahrt vom Büro zur Schule braucht. M. a. W. macht Silvia eine Aussage zur Klasse der Fahrten vom Büro zur Schule zwischen 19 Uhr und 20 Uhr in der betreffenden Stadt. Inwiefern ist der Schluss gerechtfertigt, dass Hans an dem besagten Abend 40–45 Minuten benötigt hat, um zur Schule zu gelangen? Wäre nicht die Klasse der Fahrten, die zu gegebener Uhrzeit am gleichen Wochentag 28 Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 196; Koehler/Shaviro, Cornell Law Review 1990, 247–279, 260; Allen/Pardo, Journal of Legal Studies 2007, 107–140, 112. 29 McGrew, in: Kyburg/Thalos (Hrsg.), Probability is the very guide of life, 33–60, 34. 30 Allen/Pardo, Journal of Legal Studies 2007, 107–140, 113 ff. 31 Besonders deutlich ist dies in Allen/Pardo, Journal of Legal Studies 2007, 107–140, 112, wo das Problem unendlicher vieler potentieller Referenzklassen erörtert wird, und auf S. 121, wo gesagt wird, dass die einzig richtige Referenzklasse diejenige sei, in welcher das Ereignis mit einer Wahrscheinlichkeit von 0 oder 1 auftrete. 32 Colyvan/Regan/Ferson, Journal of Political Philosophy 2001, 168–181, 175; Hájek, Synthese 2007, 563–585, 579. 33 Nance, International Journal of Evidence and Proof 2007, 259–273, 271. 34 Roberts, International Journal of Evidence and Proof 2007, 243–254, 245; Redmayne, Legal Theory 2008, 281–309, 288. 35 Schum, Evidential Foundations, 81 f., 109 f.; Anderson/Schum/Twining, Analysis of evidence, 100 ff.; Allen/Pardo, Journal of Legal Studies 2007, 107–140, 133; Redmayne, Legal Theory 2008, 281–309, 286 ff.; Anderson, in: Dawid/Twining/Vasilaki (Hrsg.), Evidence, inference and enquiry, 225–244, 227.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

wie die Fahrt von Hans stattgefunden haben, relevanter? Wenn im Zeitpunkt der Fahrt von Hans Sommerferien waren, wäre nicht die Klasse der Fahrten zu gegebener Zeit in den Sommerferien maßgeblich? Der Schluss von der Aussage, dass man (typischerweise, normalerweise, gewöhnlich, meist, im Allgemeinen) 40–45 Minuten für die Fahrt braucht, darauf, dass auch Hans 40–45 Minuten brauchte, ist ein Schluss von einer Generalisierung auf den Einzelfall, und bei einem solchen Schluss stellt sich immer das Referenzklassenproblem. Meist zieht man solche Schlüsse von allgemeinen Aussagen auf den Einzelfall intuitiv, ohne sich der Probleme bewusst zu sein.36 Wer daher angesichts der Schwierigkeit des Referenzklassenproblems formale Modelle der Beweiswürdigung verwirft und andere Ansätze, die ohne explizite Bezugnahme auf Referenzklassen auskommen, wie den Schluss auf die beste Erklärung, vorzieht,37 verbirgt das Problem, ohne es irrelevant zu machen. Ehe auf Ansätze zur Lösung des Referenzklassenproblems eingegangen wird, werden vorab zwei scheinbare Lösungen vorgestellt, die zumindest für die juristische Beweiswürdigung nicht überzeugend sind. Der erste Ansatz der »Konvergenz-Theoreme« löst das Problem, in dem er sagt, dass es irrelevant ist. Der zweite Ansatz sieht die Lösung im Prinzip vom unzureichenden Grund (Indifferenzprinzip). Sein Defizit ist, dass es fast immer einen zureichenden Grund gibt.38 a) Konvergenz zur Rettung? Dem Einwand, dass vollständig freie anfängliche Überzeugungen dazu führen, dass verschiedene Menschen zu verschiedenen a posteriori Überzeugungen bezüglich der Wahrheit einer Hypothese gelangen können, obwohl die Hypothese in Wirklichkeit nur entweder wahr oder falsch sein kann, lässt sich entgegnen, dass sich die anfänglich unterschiedlichen Überzeugungen immer mehr angleichen, wenn alle Subjekte die gleichen Daten beobachten und ihre anfängliche Überzeugung gemäß Bayes’ Regel anpassen. Mathematisch lässt sich beweisen, dass dies tatsächlich der Fall ist.39 Angenommen, zwei Subjekte haben unterschiedliche anfängliche Überzeugungen dazu, ob eine von einem Dritten geworfene Münze fair ist oder auf beiden Seiten Kopf zeigt. Abbildung 50 zeigt, wie die anfänglichen Überzeugungen von 50% und 5%, dass die Münze auf beiden Seiten Kopf trägt, nach der Beobachtung von zehn Würfen, die alle auf

36

Anderson/Schum/Twining, Analysis of evidence, 101. Allen/Pardo, Journal of Legal Studies 2007, 107–140, 136 f.; Kunz, ZStW 2009, 572–606, 587 ff. 38 Biedermann/Taroni/Garbolino, Forensic Science International 2007, 85–93, 88 f. 39 Savage, The foundations of statistics, 46 ff.; Blackwell/Dubins, Annals of Mathematical Statistics 1962, 882–886. 37

II. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Statistik

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Abbildung 50: Konvergenz zweier a-priori Wahrscheinlichkeiten bei Berücksichtigung gleicher Daten.

Kopf landen, praktisch zur Gewissheit konvergieren, dass die Münze auf beiden Seiten Kopf zeigt.40 »Convergence to certainty« oder »merger of opinions«, wie das Phänomen genannt wird, wurde erstmals durch Savage bewiesen.41 Savage geht von der Annahme aus, dass sich die Subjekte über die Beurteilung der Beweiskraft (Likelihood-Quotienten) der Evidenz einig sind.42 Spätere, mathematisch sehr anspruchsvolle, Beweise verzichten auf diese angreifbare Annahme.43 Allerdings lassen die Konvergenz-Theoreme keine Aussage darüber zu, wie lange es dauert, bis die unterschiedlichen anfänglichen Überzeugungen zur Gewissheit konvergieren, und sie können nicht beweisen, dass die unterschiedlichen anfänglichen Überzeugungen zu etwas anderem als Gewissheit konvergieren.44 Während Konvergenz-Theoreme in der Wissenschaftstheorie eine wichtige Rolle spielen,45 helfen sie bei der juristischen Beweiswürdigung in der Praxis kaum weiter. Konvergenz-Theoreme können nur zeigen, dass anfängliche Über40 Nach zehn Würfen betragen die a-posteriori Wahrscheinlichkeiten für die Hypothese, dass die Münze nur Kopf zeigt, 0,982 resp. 0,999 – unter der Annahme, dass die Subjekte sich über die Bewertung der Beweiskraft der Evidenz einig sind. 41 Savage, The foundations of statistics, 46 ff. 42 Earman, Bayes or bust?, 143. Der Beweis nach Blackwell/Dubins, Annals of Mathematical Statistics 1962, 882–886 lässt die Annahme genügen, dass sich die Subjekte über die Richtung, in welche die Likelihood-Quotienten zeigen (für oder gegen die Hypothese), einig sind, aber nicht notwendigerweise über die Stärke der Evidenz. 43 Doob, Stochastic processes, 319; Gaifman/Snir, Journal of Symbolic Logic 1982, 495–548; Schervish/Seidenfeld, Journal of Statistical Planning and Inference 1990, 401–414. Übersicht bei Earman, Bayes or bust?, 141 ff. 44 Earman, Bayes or bust?, 148. 45 Salmon, Scientific Inference, 122; Earman/Salmon, in: Salmon (Hrsg.), Introduction to the philosophy of science, 42–103, 84.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

zeugungen, wenn verschiedene Subjekte ausreichend starke Evidenz beobachten, zur Sicherheit (0 oder 1) konvergieren. Das setzt aber natürlich stark beweiskräftige Beweismittel voraus. In einem Gerichtsverfahren muss sich der Richter aufgrund der vorhandenen, beschränkt beweiskräftigen, Beweismittel eine Überzeugung bilden. Selbst wenn sich alle Beteiligten über die Beurteilung der Beweiskraft der Beweismittel einig wären, reicht die Beweiskraft meist nicht aus, stark unterschiedliche anfängliche Überzeugungen konvergieren zu lassen. Im obigen Beispiel ist es rund 1’000 Mal wahrscheinlicher, dass eine Münze, die nur Kopf zeigt, zehn Mal in Folge auf Kopf fällt, als eine faire Münze.46 Gemäß den sprachlichen Umschreibungen der Beweiskraft auf S. 148 ist der Beweis dafür, dass die Münze auf beiden Seiten Kopf zeigt, »bestimmend« oder »außerordentlich stark«. In Zivilprozessen wird man meist keine Beweismittel dieser Stärke haben (mit Ausnahme von DNA-Gutachten in Vaterschaftsprozessen). Bei geringerer Beweiskraft der Beweismittel wird keine Sicherheit erreicht, der Richter muss sich trotz weiterhin bestehender Unsicherheit entscheiden. Die anfängliche Überzeugung für die Wahrheit einer Tatsachenbehauptung bleibt im Zivilprozess auch nach Berücksichtigung aller konkreten Beweismittel relevant, auch wenn sich die relativen Unterschiede der Überzeugungen der verschiedenen Akteure (hoffentlich) verringert haben. b) Dann halt 50 Prozent? Ein weiterer scheinbarer Ausweg aus dem Problem, die »richtige« Anfangswahrscheinlichkeit nicht zu kennen, ist gemäß dem Prinzip vom unzureichenden 1 Grund von einer Anfangswahrscheinlichkeit von Anzahl Hypothesen auszugehen; bei zwei Hypothesen – »der Kläger sagt die Wahrheit« und »der Kläger sagt nicht die Wahrheit« – also von 50% für jede Hypothese.47 Dies wird für Zivilsachen allgemein z. B. von Anne Martin oder Richard Posner und für Vaterschaftsprozesse vom Bundesgerichtshof vorgeschlagen.48 Eine Anfangswahrscheinlichkeit von 50%, oder ein neutraler Likelihood-Quotient von 1, ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn man tatsächlich gar nichts weiß. Lässt man, wie bei der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie, subjektive Überzeugungen genügen, ist dies sehr selten der Fall.49 46 Die Wahrscheinlichkeit, dass eine faire Münze zehn Mal in Folge auf Kopf fällt, ist 0,510 . Entsprechend ist der Likelihood-Quotient der Information zugunsten der Hypothese, dass die Münze auf beiden Seiten Kopf trägt, 110 = 10 024. 47

0,5

Das gleiche Problem stellt sich bei den Likelihood-Quotienten; mangels jeglichen Wissens zur Beweiskraft eines Beweismittels fehlt dem Beweismittel jegliche Beweiskraft, weshalb der Likelihood-Quotient 1 anzunehmen ist. 48 Martin, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 169–175, 171; Posner, Stanford Law Review 1999, 1477–1546, 1514; BGH NJW 2006, 3416, 3419. 49 Savage, The foundations of statistics, 65 f.; Kaye, University of Chicago Law Review 1979, 34–56, 44 f.; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 55.

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Eine komplette Unwissenheit über die Wahrscheinlichkeit der zu beweisenden Tatsachenbehauptung kann beim Gutachter vorliegen,50 aber kaum je beim Richter. Von einer Anfangswahrscheinlichkeit von 50% – oder einem LikelihoodQuotienten von 1 für alle Beweismittel – auszugehen, hieße, auf sämtliches Wissen des Richters, das sich aus seiner Kenntnis der Umstände des Falles und seiner Lebenserfahrung ergibt, zu verzichten. »Even in the face of virtual ignorance, there is no reason for an observer to adopt a general rule of setting prior odds of 1:1 for a proposition. Such a rule would be arbitrary and wrongheaded, putting out of mind all useful information with which the observer addresses a new problem.«51 Es verstößt auch gegen die Vorgabe, bei der Beweiswürdigung eine Gesamtwürdigung aller Umstände vorzunehmen.52 Der BGH verlangt, dass die »innere Wahrscheinlichkeit«, d. h. die Anfangswahrscheinlichkeit, des Sachvortrages der beweisbelasteten Partei berücksichtigt wird.53 In Zivilsachen generell von einer Anfangswahrscheinlichkeit von 50% zugunsten des klägerischen Sachvortrags auszugehen, ist daher unhaltbar. Es lässt sich entgegen Motsch auch nicht mit einem Hinweis auf das Beweismaß, das von ihm in Zivilsachen bei 50% subjektiver Wahrscheinlichkeit liegend gesehen wird, »normativ« begründen.54 Das Beweismaß bestimmt die minimale a posteriori Überzeugung, die erreicht werden muss, ehe eine Tatsachenbehauptung als wahr erachtet werden darf, und hat mit der anfänglichen Überzeugung nichts zu tun. In der deutschen Literatur wurde die Frage, ob und wann es gerechtfertigt ist, von einer »neutralen« a-priori-Wahrscheinlichkeit von 50% auszugehen, im Zusammenhang mit der Bestimmung der Vaterschaftswahrscheinlichkeit nach Essen-Möller diskutiert. Essen-Möllers Formel erlaubt es, beobachtete serologische und anthropologische Ähnlichkeiten zwischen Kind und Putativvater in eine Wahrscheinlichkeit umzurechnen, dass der Putativvater der tatsächliche Vater des Kindes ist.55 Letzteres, die Wahrscheinlichkeit, dass der Putativvater der wirkliche Vater ist, ist die bedingte Wahrscheinlichkeit Pr(Vater|Ähnlichkeit), während die Beobachtungen, die in die Formel einfließen, bedingte Wahrscheinlichkeiten der Form Pr(Ähnlichkeit|Vater) und Pr(Ähnlichkeit|¬Vater) sind. Für den Leser, der diesem Buch bis hierher gefolgt ist, wenig überraschend sein dürfte die Erkenntnis, dass Essen-Möllers Formel ein Spezialfall von Bayes’ Theorem ist.56 Denn es ist Bayes’ Regel, die es erlaubt, subjektive Wahrscheinlichkei50 Bär, in: Donatsch/Schmid (Hrsg.), Strafrecht und Öffentlichkeit, 41–51, 43. Kritisch zur Rechtfertigung der 50% Anfangswahrscheinlichkeit selbst beim Gutachter Biedermann/Taroni/ Garbolino, Forensic Science International 2007, 85–93, 88 f. 51 Friedman, Stanford Law Review 2000, 873–887, 876. 52 Ihm, in: Hummel/Gerchow (Hrsg.), Biomathematischer Beweis der Vaterschaft, 53–68, 56. 53 BGH NJW 1995, 966, 967. 54 Motsch, in: Rüßmann (Hrsg.), Festschrift für Gerhard Käfer, 241–271, 264 f. 55 Essen-Möller, Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft Wien 1938, 9–53. 56 Ihm, in: Hummel (Hrsg.), Die medizinischen Vaterschaftsbegutachtung, 128–145, 132, 137; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 321 f.

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ten (anthropologische Ähnlichkeiten) und relative Häufigkeiten (serologische Ähnlichkeiten) zu kombinieren. Allerdings geht Essen-Möllers Formel implizit davon aus, dass die Vaterschaft und Nichtvaterschaft des Putativvaters a-priori gleich wahrscheinlich sind.57 Darüber, ob diese Annahme gerechtfertigt ist und wie sie zu kommunizieren ist, so dass keine Missverständnisse entstehen, ist ein heftiger Streit entbrannt,58 dessen Bedeutung nicht nur für Vaterschaftsprozesse aber den meisten Juristen entgangen sein dürfte, weil es um ein scheinbar »mathematisches« Problem geht.59 Essen-Möller rechtfertigt die a-priori-Wahrscheinlichkeit von 50% damit, dass sie unvoreingenommen sei.60 Dass die Berücksichtigung eines realistischen a-prioris essentiell für eine korrekte Entscheidung ist, ist er sich durchaus bewusst; dass die Bezeichnung des W-Werts als »Vaterschaftswahrscheinlichkeit« nicht richtig ist, wenn die Anfangswahrscheinlichkeit nicht berücksichtigt wird, merkt er ebenfalls an.61 Für ihn spielt es aber keine Rolle, ob der Gutachter oder der Richter sich zur a-priori-Wahrscheinlichkeit äußert;62 eine Auffassung, die heute auch von Gutachtern, die Essen-Möllers Formel positiv gegenüberstehen, nicht mehr vertreten wird, da nur der Richter in der Position ist, eine einzelfallbezogene anfängliche Überzeugung anzugeben.63 Das Problem war, dass sich die meisten Richter dessen nicht bewusst waren und den aus der Essen-Möller Formel resultierenden W-Wert als die Wahrscheinlichkeit, dass der Beklagte im konkreten Fall der Vater ist, betrachteten – und nicht als die Wahrscheinlichkeit,

57

Essen-Möllers Formel lautet, wobei W = Vaterschaftswahrscheinlichkeit und X = Wahrscheinlichkeit der beobachteten Ähnlichkeiten bei Vaterschaft und Y = Wahrscheinlichkeit X 1 . Anders ausder beobachteten Ähnlichkeiten bei nicht-Vaterschaft, W = X+Y = Y 1+ X

gedrückt Pr(X) = Pr(X|W) und Pr(Y) = Pr(X|¬W). Nach Bayes’ Regel gilt Pr (W|X) = Pr(X|W)Pr(W) . Wenn Pr(W) = Pr(¬W) können Pr(W) und Pr(¬W) aus Pr(X|W)Pr(W)+Pr(X|¬W)Pr(¬W)

der vorstehenden Formel gekürzt werden, und es resultiert Essen-Möllers Formel. Siehe Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 321; Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 160. 58 Vgl. Spielmann/Seidl, NJW 1978, 2333–2334, 2333; Scholl, NJW 1979, 1913–1919, 1916 ff.; Spielmann/Seidl, NJW 1980, 1322–1323 (kritisch zum W-Wert) mit Hummel, Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt 1979, 281–290; Hummel, NJW 1980, 1320–1322; Hummel, Kriminalistik 1982, 87–92 (den W-Wert und ein a-priori von 0,5 verteidigend). 59 Ausnahmen sind Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 320 ff.; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 54 ff. 60 Essen-Möller/Quensel, Deutsche Zeitschrift für gerichtliche Medizin 1939, 70–96, 74. 61 Essen-Möller/Quensel, Deutsche Zeitschrift für gerichtliche Medizin 1939, 70–96, 74. 62 Essen-Möller/Quensel, Deutsche Zeitschrift für gerichtliche Medizin 1939, 70–96, 75. Wohl deshalb, weil sich die Anfangswahrscheinlichkeit für ihn zwingend aus 1/Anzahl Hypothesen ergibt (eine Annahme, die auch Reverend Bayes vertreten hat, aber von modernen Bayesianern abgelehnt wird). 63 Ihm, in: Hummel/Gerchow (Hrsg.), Biomathematischer Beweis der Vaterschaft, 53–68, 56; Hummel, Kriminalistik 1982, 87–92, 91; Nack, Kriminalistik 1999, 32–39, 35 (generell zur Würdigung kriminaltechnischer Gutachten).

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dass er unter der Annahme, dass die anfängliche Überzeugung, dass er der Vater ist, 50% beträgt, der Kindsvater ist.64 Hummel hat die vom Gutachter angenommene a-priori-Wahrscheinlichkeit von 50% für die Vaterschaft des Putativvaters auch verteidigt mit dem Argument, es sei statistisch erwiesen, dass mehr als 50% der von der Mutter in Einmannfällen als Väter bezeichneten Männer tatsächlich die Väter seien.65 Hummel et al. berechnen ein »statistisch-realistisches« A-priori von 0,88 für Dänemark, 0,74 für Schweden, 0,65 für Berlin, 0,73 für die Schweiz und 0,58 für Österreich.66 Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mutter den richtigen Mann als Vater bezeichnet, steigt dabei mit der Zeit und von Süden nach Norden.67 Der Schluss ist, dass das in die Vaterschaftswahrscheinlichkeit nach Essen-Möller einfließende A-priori von 0,5 sich zugunsten des Putativvaters auswirke, die Schätzung der Vaterschaftswahrscheinlichkeit also zu konservativ sei.68 Das Problem mit dieser Argumentation ist, dass die von Hummel et al. berechnete »realistische« Anfangswahrscheinlichkeit eine »statistisch-realistische a-priori-Wahrscheinlichkeit«69 ist. Sie ist eine Aussage über die relative Häufigkeit, mit der Frauen der betreffenden Referenzklasse (z. B. die 207 Frauen, die in der Schweiz 1975– 76 einen einzigen Mann als mutmaßlichen Kindsvater angegeben haben)70 den richtigen Vater angegeben haben. Diese relative Häufigkeit muss nicht mit der subjektiven Anfangswahrscheinlichkeit im Einzelfall übereinstimmen, denn die Referenzklasse ist nicht homogen: Es gibt hier keinen Grund, anzunehmen, dass die Wahrscheinlichkeit des Einzelfalls der relativen Häufigkeit in der Klasse entspricht. Der Richter kann aufgrund seiner Kenntnisse des Falles zur Überzeugung gelangen, dass die Anfangswahrscheinlichkeit höher oder tiefer ist.71 64

Scholl, JZ 1992, 122–131, 125; aus der schweizerischen Judikatur z. B. BGE 98 II 262 E. 3. Hummel/Kundinger/Carl, in: Hummel/Gerchow (Hrsg.), Biomathematischer Beweis der Vaterschaft, 81–87. 66 Hummel/Kundinger/Carl, in: Hummel/Gerchow (Hrsg.), Biomathematischer Beweis der Vaterschaft, 81–87, 85. 67 Hummel/Kundinger/Carl, in: Hummel/Gerchow (Hrsg.), Biomathematischer Beweis der Vaterschaft, 81–87, 86. Der Grund dürfte darin liegen, dass die Wahrscheinlichkeit, den richtigen Vater in Einmannfällen zu bezeichnen, steigt, wenn die Hemmschwelle sinkt, Mehrverkehr zuzugeben. Wo eine Mutter aus gesellschaftlichen Gründen (Stigma) nicht zugeben will, dass sie Mehrverkehr hatte, wird sie einen tatsächlichen Mehrmannfall als Einmannfall ausgeben, und dann ist die Irrtumswahrscheinlichkeit natürlich höher als in einem wirklichen Einmannfall. 68 Hummel/Kundinger/Carl, in: Hummel/Gerchow (Hrsg.), Biomathematischer Beweis der Vaterschaft, 81–87, 81. 69 Hummel, Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt 1980, 620–630, 624 (Hervorhebung durch den Verfasser). 70 Hummel/Kundinger/Carl, in: Hummel/Gerchow (Hrsg.), Biomathematischer Beweis der Vaterschaft, 81–87, 83. Genauer gesagt, handelt es sich um 207 Fälle, in denen die Frauen 1975–76 einen einzigen Mann als Vater angegeben haben und ein biostatistisches Gutachten über die Abstammung angefertigt wurde; vermutungshalber also Fälle, in denen der mutmaßliche Vater die Vaterschaft bestritten und im Gerichtsverfahren auf einem Gutachten bestanden hat. 71 Hummel, Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt 1980, 620–630, 626. 65

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Diese Aufgabe kann ihm kein Gutachter abnehmen, denn der Gutachter kennt die Umstände des Einzelfalles nicht.72 Kritiker der Vaterschaftswahrscheinlichkeit nach Essen-Möller haben deshalb verlangt, dass der Gutachter statt einer »Vaterschaftswahrscheinlichkeit« – die er nicht kennen kann, weil er keine Aussage zur a-priori-Wahrscheinlichkeit treffen kann – den Likelihood-Quotienten der biostatistischen Befunde angibt.73 Es ist dann Sache des Richters, aus dem Likelihood-Quotienten und seiner, aufgrund seiner Kenntnisse der Umstände des Einzelfalles geschätzten, persönlichen anfänglichen Überzeugung für die Wahrheit der Behauptung, dass der Beklagte der Vater sei, eine a-posteriori-Überzeugung für die Wahrheit dieser Behauptung zu errechnen. Dieses Vorgehen legt allerdings die Subjektivität der anfänglichen Überzeugung schonungslos offen, und weil Gerichte es vorziehen, dass Gutachter ihnen eine (scheinbar) objektive Wahrscheinlichkeit für die Wahrheit der klägerischen Tatsachenbehauptung liefern, konnte sich die Angabe der Vaterschaftswahrscheinlichkeit bis heute halten.74 Um einem Missverständnis vorzubeugen, sei klargestellt, dass nicht behauptet wird, dass die meist stillschweigende Annahme einer Anfangswahrscheinlichkeit von 50% in Vaterschaftsprozessen zu zahlreichen Fehlurteilen führe. Der Likelihood-Quotient einer modernen DNA-Analyse ist derart hoch – d. h. die Wahrscheinlichkeit, dass alle (in der Regel mindestens zwölf auf mindestens zehn verschiedenen Chromosomen)75 untersuchten Loci identisch sind, obwohl die untersuchten Proben nicht vom Vater und Kind stammen, derart gering – 72 Wagenaar, Law and Human Behavior 1988, 499–510, 502; Taroni et al., Bayesian networks, 29; Biedermann/Taroni/Garbolino, Forensic Science International 2007, 85–93, 92. 73 Der vorgeschlagene »Paternity-Index« ist der Kehrwert des in den W-Wert nach EssenY , weil dies den Vorteil hat, dass der PaternityMöller einfließenden Likelihood-Quotienten X Index umso größer ist, je stärker die Befunde für die Vaterschaft des Putativvaters sprechen; Gürtler, Acta medicinae legalis et socialis (Liege) 1956, 83–93; Schulte-Mönting/Walter, Bundesgesundheitsblatt 1972, 257–259; Martin/Sachs/Weise, Zeitschrift für Rechtsmedizin 1982, 31–37. Bereits Essen-Möller/Quensel, Deutsche Zeitschrift für gerichtliche Medizin 1939, 70–96, 75, wiesen darauf hin, dass die bloße Angabe des Likelihood-Quotienten das Gutachten »formal unangreifbar« macht. Dasselbe Problem stellt sich bei allen Gutachten forensischer Wissenschaftler, insbesondere auch bei DNA-Gutachten, weshalb zahlreiche Autoren vorschlagen, dass Gerichtsgutachter generell nur Likelihood-Quotienten angeben sollten; Ellman/Kaye, NYU Law Review 1979, 1131–1162, 1149 ff.; Wagenaar, Law and Human Behavior 1988, 499–510; Nack, Kriminalistik 1995, 466–470, 469; Taroni/Mangin, SJZ 1998, 505–511; Taroni/Mangin/Bär, ZSTR/RSP 1999, 439–445, 442; Evett et al., Science & Justice 2000, 233–239; Kaye/Koehler, Law and Human Behavior 2003, 645–659, 656. Allerdings scheinen viele Richter Mühe mit dem Verständnis solcher Gutachten zu haben, Keijser/Elffers, Psychology, Crime & Law 2012, 191–207. 74 Die Richtlinien für die Erstattung von Abstammungsgutachten der Bundesärztekammer von März 2002 (FamRZ 2002, 1159–1161), Ziff. 2.6.2, schreiben im Falle des Nichtausschlusses die Nennung des W-Werts unter Angabe der a-priori Wahrscheinlichkeit sowie der individuellen Ausschlusswahrscheinlichkeit A vor. 75 Richtlinien für die Erstattung von Abstammungsgutachten der Bundesärztekammer von März 2002 (FamRZ 2002, 1159–1161), Ziff. 2.4.2.1.

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dass eine realistische Anfangswahrscheinlichkeit in Abstammungssachen keinen maßgeblichen Einfluss mehr auf die a-posteriori-Überzeugung für die Vaterschaft hat.76 Die hohe Beweiskraft des modernen, lege artis durchgeführten DNA-Gutachtens führt zur oben beschriebenen Konvergenz auch stark unterschiedlicher anfänglicher Überzeugungen. 3. Die Wahl der richtigen Referenzklasse Postuliert man, dass relative Häufigkeiten persönliche Überzeugungen determinieren sollen, führt kein Weg daran vorbei, anzugeben, relativ zu was die Häufigkeiten festgestellt wurden. Reichenbach schlägt vor, die engste Klasse, für die verlässliche Statistiken vorhanden sind, zu verwenden.77 Salmon hingegen meint, dass der Einzelfall der weitesten homogenen Klasse zugeordnet werden soll, der er angehört.78 Homogen ist eine Klasse, wenn ihre Mitglieder keine Eigenschaften haben, die statistisch relevant sind für die relative Häufigkeit des interessierenden Attributs.79 Salmon erläutert am Beispiel des Wurfs einer fairen Münze, dass alle Würfe in die gleiche Referenzklasse gehören – die relative Häufigkeit von Kopf ist unabhängig davon, ob man nur die geraden oder ungeraden Würfe, die Würfe am Montag oder die am Dienstag berücksichtigt. Das Problem ist, dass man dies nicht wissen kann, ehe man die entsprechenden Daten erhoben hat. Es folgt aus dem Postulat, dass die Münze fair ist, dass die relative Häufigkeit von Kopf nicht von äußeren Faktoren abhängt. Wann ist eine Klasse in Wirklichkeit schon homogen? Salmon ist sich des Problems bewusst, dass es nicht immer möglich ist, eine homogene Klasse zu finden, in die sich der Einzelfall einordnen lässt, weil man vermutet, dass die Klasse inhomogen ist, aber nicht weiß, welche Eigenschaften eine relevante Teilung der Klasse erlauben. Salmon nennt solche Klassen epistemisch homogen.80 Sie werden, aus pragmatischen Gründen, als homogen behandelt, bis man mehr weiß und sinnvolle Unterklassen bilden kann. Eine weitere Art von homogenen Klassen bezeichnet Salmon als praktisch homogen.81 Hier ist es aus praktischen Gründen – Zeit und/oder Kosten – nicht möglich, weitere Informationen über vermutlich relevante Eigenschaften zu beschaffen. 76

Viel wichtiger ist die Wahrscheinlichkeit eines falsch positiven Befundes durch einen Laborfehler, Thompson/Taroni/Aitken, Journal of Forensic Sciences 2003, 47–54. 77 Reichenbach, The theory of probability, 374 (»the narrowest class for which reliable statistics can be compiled«). Ähnlich auch Musielak, Grundlagen der Beweislast, 93; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 305 f. 78 Salmon, Scientific Inference, 91 (»the broadest homogenous reference class of which it is a member«). 79 Salmon, Scientific Inference, 91. 80 Salmon, Scientific Inference, 92. Auch de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 256, geht davon aus, dass »für denjenigen, der nicht fähig ist, bezeichnende Merkmale festzustellen, jede Menge von Fällen automatisch gleichförmig erscheint«. 81 Salmon, Scientific Inference, 92.

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Beim Münzwurf ist es z. B. denkbar, dass Kenntnisse über Wurfhöhe, Drehgeschwindigkeit und ursprünglicher Ausrichtung der Münze relevant sind für den Ausgang des Wurfes und mithin eine bessere Voraussage des Ausgangs erlauben würden. Es ist aber praktisch unmöglich, sich die entsprechenden Kenntnisse zu verschaffen, und entsprechend nach Salmon gerechtfertigt, die Klasse der Münzwürfe als praktisch homogen zu bezeichnen, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht ist. Die Vorschläge von Reichenbach und Salmon können zu unterschiedlichen Resultaten führen. Als Beispiel sollen die Abstimmungsresultate vom 28. November 2010 über die eidgenössische Volksinitiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer (»Ausschaffungsinitiative«) dienen.82 52,9% der Abstimmenden stimmten der Initiative schweizweit zu.83 Im Kanton Zürich stimmten 50,8% der Stimmenden für die Initiative84 und in der Stadt Zürich 35,5%.85 Im Kreis 6 der Stadt Zürich stimmten 26,8% mit »Ja«.86 Von den Sympathisanten und Sympathisantinnen der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP), die an der Abstimmung teilnahmen, stimmten 51% für die Initiative.87 Soll man die persönliche Überzeugung dafür angeben, dass eine zufällig ausgewählte Person, über die nichts weiter bekannt ist, als dass sie an der Abstimmung teilgenommen hat, mit »Ja« gestimmt hat, so ist es vernünftig, von einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von 52,9% (entsprechend dem gesamtschweizerischen Ergebnis) auszugehen. Erfährt man nun aber, dass die Person im Zürcher Stadtkreis 6 wohnt, scheint es naheliegender, von einer Wahrscheinlichkeit von 26,8% auszugehen. Hierin würden Salmon und Reichenbach wohl übereinstimmen. Die Klasse der Stimmenden im Kreis 6 ist enger als die Klasse der gesamtschweizerisch Stimmenden, egal, ob man »enger« als »weniger Mitglieder umfassend« 82 Die Initiative verlangte die Ausweisung von sich rechtmäßig in der Schweiz aufhaltenden ausländischen Staatsbürgern, die rechtskräftig wegen eines schweren Delikts gegen Leib und Leben, Sozialhilfemissbrauch, Drogenhandel oder Einbruchdiebstahl verurteilt wurden. Der genaue Wortlaut findet sich auf www.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis357t.html (besucht am 25. August 2011). 83 Amtliches Endresultat, erhältlich unter www.admin.ch/ch/d/pore/va/20101128/det552. html (besucht am 25. August 2011). 84 Amtliches Endresultat, erhältlich unter www.wahlen.zh.ch/abstimmungen/2010_11_28/ resultate/index.php (besucht am 25. November 2011). 85 Amtliches Endresultat, erhältlich unter www.wahlen.zh.ch/abstimmungen/2010_11_28/ resultate/bezirke.php (besucht am 25. August 2011). 86 Amtliches Endresultat, erhältlich unter www.wahlen.zh.ch/abstimmungen/2010_11_28/ resultate/gemeinden.php (besucht am 25. August 2011). 87 Milic/Vatter, VOX-Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 28. November 2010 http://www.kommunikation.unibe.ch/unibe/rektorat/kommunikation/content/e2328/ e6188/filesobject10338/VOX104_Bericht_definitiv.pdf, i. Als Sympathisanten der FDP gelten Personen, die auf die Frage »Welche heute im National- oder Ständerat vertretene Partei entspricht in den Zielen und Forderungen am ehesten ihren eigenen Ansichten und Wünschen?« mit »FDP« antworteten und bei der anschließenden Frage »Fühlen sie sich dieser Partei stark verbunden, ziemlich verbunden, oder sind sie ein Sympathisant/eine Sympathisantin?« eine der drei Möglichkeiten gewählt haben.

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versteht oder als »durch mehr Eigenschaften definiert«.88 Die Klasse ist aber auch die weiteste epistemisch homogene Klasse im Sinne von Salmon: Da man nun weiß, dass die Klasse »alle Stimmenden der Schweiz« nicht homogen ist – die Zahlen für den Kreis 6 zeigen, dass diese Annahme nicht zutreffen kann – man aber nichts weiter über die Aufteilung der Stimmenden innerhalb des Kreises 6 weiß, ist die Klasse der »im Kreis 6 Stimmenden« epistemisch homogen. Komplizierter wird es, wenn man weiß, dass die Person im Kreis 6 wohnt und FDP-Sympathisant ist.89 Idealerweise hätte man Daten zur relativen Häufigkeit, mit der im Kreis 6 wohnende FDP-Wähler für die Initiative gestimmt haben. Hat man diese nicht, so muss man wählen zwischen der Klasse der im Kreis 6 wohnenden Abstimmenden und der Klasse der abstimmenden FDP-Sympathisanten. Keine Klasse ist offensichtlich enger als die andere: im Kreis 6 wohnen zwar weniger Abstimmende, als in der ganzen Schweiz FDP-Sympathisanten an der Abstimmung teilgenommen haben.90 Definiert man »engste Klasse« aber über die Anzahl der Eigenschaften, welche die Klasse definieren, dann sind beide Klassen gleich »eng«: Beide Klassen sind durch zwei Eigenschaften definiert; durch »hat an Abstimmung teilgenommen« und »wohnt im Kreis 6« im ersten Fall und durch »hat an Abstimmung teilgenommen« und »ist FDP-Sympathisant« im zweiten Fall. Beide Klassen sind auch praktisch homogen im Sinne von Salmon, da man heute (Jahre nach der Abstimmung) keine Daten mehr zum Stimmverhalten erheben kann und daher mit den bereits erhobenen Daten arbeiten muss. Versteht man »broadest homogenous class« als größte (gemäß Anzahl ihrer Mitglieder) epistemisch homogene Klasse, würde Salmons Kriterium dazu führen, dass man die Klasse der FDP-Sympathisanten wählt. Die entscheidende Annahme, die getroffen werden muss, damit gemäß dem Bayes’schen statistischen Syllogismus der Schluss von der relativen Häufigkeit 88 Hájek, Synthese 2007, 563–585, 568 f., weist darauf hin, dass »narrowest class« in beidem Sinne verstanden werden kann. Die Lektüre von Reichenbach, The theory of probability, 375 f., legt nahe, dass Reichenbach »enger« im Sinne von »mehr relevante Merkmale umfassend« verstanden hat. So auch Fetzer, in: Kyburg/Thalos (Hrsg.), Probability is the very guide of life, 3–32, 9. 89 Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 303 ff., behandeln dieses Problem unter dem Stichwort »Mehrdeutigkeitsproblem«. 90 Dies ist eine Vermutung, die sich aber – durchaus mit Bezug auf Referenzklassen – begründen lässt. Im Zürcher Kreis 6 leben rund 30’000 Menschen, davon sind rund 80% im stimmrechtsfähigen Alter, und wiederum rund 80% davon sind stimmberechtigt (d. h. Schweizer). Die Stimmbeteiligung betrug bei der fraglichen Abstimmung im Kanton Zürich 56%. Entsprechend kann man von der plausiblen Annahme ausgehen, dass im Kreis 6 0,8 · 0,8 · 0,56 · 30’000 ≈ 10’000 Menschen abgestimmt haben. Der Wähleranteil der FDP bei den Nationalratswahlen 2007 betrug rund 16%. Bei der Abstimmung über die Ausschaffungsinitiative wurden 2’690’799 Stimmzettel eingelegt. Es ist vernünftig, anzunehmen, dass rund 16% davon, oder 430’000, von FDP-Sympathisanten eingelegt wurden. Über die genauen Zahlen kann man sich streiten, darüber, dass die Klasse »abstimmende FDP-Sympathisanten« mehr Mitglieder als die Klasse »abstimmende Bewohner des Kreises 6« hat, nicht. Alle Zahlen vom Bundesamt für Statistik, Bundeskanzlei resp. Präsidialdepartment der Stadt Zürich.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

eines Merkmals in einer Referenzklasse auf die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass das Merkmal bei einem einzelnen Mitglied der Klasse vorliegt, zulässig ist, ist, dass sich die Wahrscheinlichkeit von Mitglied zu Mitglied nicht unterscheidet (vorne, S. 354). Wissen kann man das aufgrund der statistischen Daten nicht. Aber Wissen über die Welt und kausale Zusammenhänge erlaubt zumindest eine begründete Annahme, welche Klasse homogener ist. Beim vorliegenden Beispiel geht es darum, das Verhalten einer Person bei einer politischen Handlung vorauszusagen. Dieses wird stärker bestimmt durch die politische Einstellung als durch den Wohnort.91 Es ist daher eine vernünftige Annahme, dass die Klasse der FDP-Sympathisanten in Bezug auf ihr Abstimmungsverhalten homogener ist als die Klasse der im Zürcher Kreis 6 lebenden Stimmbürger. Es ist daher begründbar, hier die persönliche Überzeugung, dass eine im Kreis 6 wohnhafte Person, die FDP-Sympathisant ist, für die Ausschaffungsinitiative gestimmt hat, auf die Klasse der FDP-Sympathisanten und nicht auf die Klasse der Abstimmenden im Kreis 6 zu stützen. Eine vernünftige Faustregel92 – und mehr ist es nicht, denn zwingend logisch ist der Schluss nie, wenn die Annahme der Homogenität der Klasse nicht mit Sicherheit zutrifft – zur Wahl der epistemisch richtigen Referenzklasse ist daher, von der Klasse auszugehen, die in den meisten Merkmalen mit dem interessierenden Einzelfall übereinstimmt, und, wenn es mehrere Klassen gibt, die in der gleichen Anzahl Merkmalen übereinstimmen, diejenige zu wählen, die basierend auf dem gesamten Wissen vermutungsweise homogener ist. Dies vermählt sozusagen den Ansatz von Reichenbach, die engste Klasse zu wählen, mit dem Gedanken von Salmon, die homogenste Klasse zu wählen. Letztlich führt aber nichts an der Erkenntnis vorbei, dass jede Wahl einer Referenzklasse »eine umsichtige und nicht mechanische Ableitung der Bewertung [erfordert], wobei den Klassifikationen Rechnung zu tragen ist, die rational mit dem Phänomen in Verbindung stehen.«93 Auf ähnliche Weise lässt sich auch das viel diskutierte Problems des schwedischen Lourdes-Pilgers pragmatisch lösen.94 Man weiß nur, dass eine Person Schwede ist und nach Lourdes gepilgert ist. 90% aller Lourdes-Pilger sind katholisch, 90% aller Schweden sind nicht katholisch. Ist die Person nun katholisch oder nicht? Offensichtlich gehört sie in beide Referenzklassen, und es gibt keinen logisch zwingenden Grund, die relative Häufigkeit des Merkmals »katholisch« in der einen oder anderen Klasse als maßgeblich zu erachten. Idealerweise wüsste man, wie viele der schwedischen Lourdes-Pilger Katholiken sind, aber diese 91 Zumindest, wenn der politische Entscheid nicht einen bestimmten Ort stärker als andere betrifft, wie dies z. B. bei einer Abstimmung über den Ort eines Endlagers für Atommüll der Fall ist. 92 Salmon, Scientific Inference, 93, weist darauf hin, dass Regeln zur Wahl der angemessenen Referenzklasse nicht mehr zur eigentlichen Wahrscheinlichkeitstheorie gehören, sondern »practical rules« sind, welche die Anwendung der Theorie erst ermöglichen. 93 de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 255. 94 Z. B. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 294.

II. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Statistik

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Information fehlt. Aufgrund unserer Lebenserfahrung wissen wir aber, dass Leute nach Lourdes pilgern, weil sie katholisch sind, nicht weil sie schwedisch sind. Es besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen der Pilgerfahrt und dem Glauben, nicht aber zwischen der Pilgerfahrt und der Staatsangehörigkeit. Daher ist es vernünftig – wenn auch wie gesagt nicht logisch zwingend – anzunehmen, dass der schwedische Lourdes-Pilger mit großer Wahrscheinlichkeit katholisch ist, wie die meisten anderen Lourdes-Pilger.95 Die Kritik, dass die Wahl der Referenzklasse immer ein Ermessensentscheid bleibe,96 ist nichts anderes als das Argument, dass es eine vom Beobachter unabhängige Wahrscheinlichkeit eines Einzelfalls nicht gibt. Dies ist zweifellos richtig, aber nichtsdestotrotz gibt es persönliche Überzeugungen, die intersubjektiv nachvollziehbar sind, und die Wahl einer geeigneten Referenzklasse mittels offen gelegter Regel ermöglicht den Diskurs darüber, ob die persönliche Überzeugung im Einzelfall gerechtfertigt ist.97 4. Zusammenfassung Die relative Häufigkeit, mit der ein Merkmal in einer Referenzklasse vorkommt, bestimmt die Überzeugung, dass ein zufällig ausgewähltes Individuum, das der Referenzklasse angehört, dieses Merkmal aufweist. Die Gültigkeit dieses Schlusses, des »Bayes’schen statistischen Syllogismus«, hängt aber von der (starken) Annahme ab, dass die Referenzklasse in Bezug auf das interessierende Merkmal homogen ist. Tatsächlich ist sie dies oft nicht, oder die Homogenität lässt sich nicht feststellen. Weiß man nichts über die tatsächliche Homogenität der Referenzklasse, geht man aber für die Zwecke des Schließens von ihrer Homogenität aus, spricht man auch von epistemischer Homogenität. Lässt sich das Wissen über die tatsächliche Homogenität nicht oder nur unter wirtschaftlich unzumutbaren Kosten erlangen, spricht man von praktischer Homogenität. Schlüsse auf den Einzelfall auf bloß epistemisch oder praktisch homogene Referenzklassen abzustellen, ist gerechtfertigt, weil die Alternative, der vollständige Verzicht auf den Bezug auf die Referenzklasse, einem Verzicht auf die beste verfügbare Information gleichkommt. Eine weitere schwierige Frage ist, welche Klasse die maßgebliche Referenzklasse ist. Grundsätzlich lässt sich jeder Einzelfall in eine unendliche Vielzahl von Referenzklassen einteilen. Praktisch stellt sich das Problem, dass zur relativen Häufigkeit des interessierenden Merkmals in vielen Referenzklassen keine Informationen verfügbar sind. Eine theoretisch einzig richtige Lösung des Problems gibt es nicht. Deswegen formale Modelle der Beweiswürdigung abzulehnen, 95 A. M. AK-ZPO-Rüßmann, § 286 N 9, der dafür plädiert, sich in diesem Fall eines Urteils zu enthalten. 96 Allen/Pardo, Journal of Legal Studies 2007, 107–140, 115. 97 Nance, International Journal of Evidence and Proof 2007, 259–273, 262 f.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

überzeugt dennoch nicht, weil auch die informelle Beweiswürdigung immer auf Generalisierungen beruht, die nichts anderes als die Einordnung des Einzelfalls in eine allgemeine Klasse sind. Das Referenzklassenproblem wird durch die informelle Beweiswürdigung nicht vermieden, sondern bloß verborgen. Ein pragmatischer Ansatz ist, von der engsten Referenzklasse – d. h. der Referenzklasse, deren Mitglieder die meisten Eigenschaften mit dem zu beurteilenden Individuum teilen – auszugehen, die groß genug ist, um eine statistisch zuverlässige relative Häufigkeit des interessierenden Merkmals angeben zu können.

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz 1. Erfahrungssätze als Quellen subjektiver Überzeugungen a) Die Lehre von den Erfahrungssätzen Die Lehre von den Erfahrungssätzen geht auf Friedrich Stein zurück (»Das private Wissen des Richters«, 1893). Stein suchte nach einem Weg, den bei der Subsumtion von Sachverhalt unter den Tatbestand angewandten juristischen Syllogismus auch auf die Tatsachenfeststellung anzuwenden. Die dabei zu verwendenden »thatsächlichen Obersätze« hätte er am liebsten einfach als »Obersätze« bezeichnet, aber wegen der dabei zu befürchtenden Verwechslung mit den juristischen Obersätzen (d. h. den gesetzlichen Tatbeständen) schlug er als Bezeichnungen »Regeln des Lebens« oder »Erfahrungssätze« vor. Schließlich entschied er sich für letzteren Begriff, weil »Regeln des Lebens« schlecht auf wissenschaftliche Gesetze passe, die ebenfalls zu den »thatsächlichen Obersätzen« gehörten.98 Ein Erfahrungssatz ist weder eine Aussage zu einer Einzeltatsache, noch eine Aussage zu einer Menge von Tatsachen. Erfahrungssätze werden immer durch einen Induktionsschluss begründet.99 Erst wenn man aus den beobachteten Tatsachen eine Regel ableitet, welche die Erwartung rechtfertigt, dass nicht beobachtete Fälle sich gleich wie die beobachteten verhalten, liegt ein Erfahrungssatz vor.100 Ob die Regel richtig ist, hängt nicht von der Anzahl beobachteter Fälle ab, sondern von der Erwartung, dass sich zukünftige (oder vergangene, nicht beobachtete) Fälle gleich wie die beobachteten Fälle verhalten.101 Ein Erfahrungssatz kann daher auch nie durch die bloße Wahrnehmung der Beobachtungsfälle bewiesen werden.102 Weil derjenige, der den Erfahrungssatz bekundet, nicht Zeuge der dem Erfahrungssatz zugrundeliegenden Einzelfälle zu sein braucht, ist es nach Stein auch irrelevant, ob er die Beobachtungsfälle aus eigener Wahrnehmung 98

Stein, Privates Wissen, 14 f. Stein, Privates Wissen, 23. 100 Stein, Privates Wissen, 20. 101 Stein, Privates Wissen, 21. 102 Stein, Privates Wissen, 18. 99

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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kennt oder nicht.103 Diese Abgrenzung zum Wissen eines Zeugen über den Einzelfall erlaubt es Stein, zu begründen, weshalb der Richter sein privates Wissen über Erfahrungssätze in den Prozess einbringen darf, nicht aber sein privates Wissen über ein rechtlich relevantes Einzelereignis (außer, es würde sich bei diesem um eine notorische Tatsache handeln).104 Die Auffassung, dass der Richter sein Erfahrungswissen im Prozess verwerten darf, ist heute unbestritten.105 Ein Erfahrungssatz ist also eine Generalisierung oder abstrakte Regel, die durch Induktion gewonnen wird und begriffsnotwendig über den Einzelfall hinaus Gültigkeit beansprucht. Ein Erfahrungssatz in diesem Sinne wäre beispielsweise die Aussage »Alle Menschen sind sterblich«. Bereits Stein wies darauf hin, dass solche Generalisierungen bei der Beweiswürdigung oft implizit gemacht werden, da ohne Einordnung in eine generelle Klasse keine Aussage über den Einzelfall möglich ist.106 Tatsachenfeststellung ohne Erfahrungssätze ist nur durch unmittelbare Beobachtung denkbar.107 Der Obersatz wird allerdings nur in den seltensten Fällen ausdrücklich formuliert. Stein macht das Beispiel eines Zeugen, der wegen seiner Verwandtschaft mit der beweisbelasteten Partei als unglaubwürdig eingestuft wird. Dieser Behauptung liegt die Generalisierung zu Grunde, dass Verwandte nicht wahrheitsgetreu aussagen, sondern bereit sind, zu Gunsten ihrer Verwandten falsch auszusagen.108 Sobald sich die Feststellung der Haupttatsache nicht auf eigene Wahrnehmung des Richters stützt, muss sich der Richter mit Indizien begnügen (vorne, S. 17 f.), und deren Beweiskraft kann nur durch Verallgemeinerung erschlossen werden. Die dem Erfahrungssatz zugrunde liegende Regel braucht nicht auf alle Einzelfälle zuzutreffen, auf welche die Regel anwendbar ist. Auch unsichere Erfahrungssätze sind zulässig, sie unterscheiden sich von den sicheren Erfahrungssätzen nur quantitativ, nicht qualitativ. Die Sicherheit oder Unsicherheit des Erfahrungssatzes ist einzig beim Beweiswert des Erfahrungssatzes zu berücksichtigen.109 Die moderne Lehre folgt auch hier Stein, spricht aber statt von sicheren und unsicheren von deterministischen und statistischen Erfahrungssätzen (deterministische Erfahrungssätze werden auch als Erfahrungsgesetze110 oder zwingende 103

Stein, Privates Wissen, 21. Stein, Privates Wissen, 27 f. 105 BGH NJW 1991, 2824, 2825; NJW 2004, 1163, 1164; Wieczorek/Schütze-ZPO-Ahrens, § 286 N 23; Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 286 N 26. 106 Stein, Privates Wissen, 12. 107 Engisch, Logische Studien, 66, 81; Rommé, Anscheinsbeweis, 12; ähnlich Wassermeyer, Prima Facie Beweis, 60; Hainmüller, Anscheinsbeweis, 66; Kegel, in: Biedenkopf/Coing/ Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321–344, 328; in der Schweiz Kummer, Grundriss des Zivilprozessrechts, 122; Schumacher, in: Aargauischer Juristenverein (Hrsg.), Festschrift für Dr. Kurt Eichenberger, 157–210, 193; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 2.16. 108 Stein, Privates Wissen, 13. 109 Stein, Privates Wissen, 28 f. 110 MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 57. 104

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

Erfahrungssätze111 bezeichnet).112 Ein unsicherer Erfahrungssatz im Stein’schen Sinne wäre beispielsweise die Aussage »Am 1. Januar 2010 waren 65,7% aller in Deutschland zugelassener Kraftfahrzeuge mit Marken deutscher Hersteller gekennzeichnet.«113 Unsicher ist dabei nicht der prozentuale Anteil – der lässt sich in diesem Fall recht genau bestimmen – sondern der aus dem Erfahrungssatz folgende Schluss, dass ein zufällig ausgewähltes, am 1. Januar 2010 zugelassenes, Kraftfahrzeug eine deutsche Marke trägt. Was das Frequency Principle für die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, ist die Lehre von den Erfahrungssätzen für die richterlichen Überzeugungen: Die Erfahrung bindet die richterlichen Überzeugungen an die Wirklichkeit und schränkt die völlige Freiheit seiner Überzeugungen ein. Der Richter darf bei der Beweiswürdigung daher Erfahrungssätze nicht außer Acht lassen; und zwar nicht nur sichere (deterministische oder zwingende) Erfahrungssätze, sondern auch einfache (statistische) Erfahrungssätze.114 Ein wichtiger Unterschied betrifft die zulässigen Quellen von Erfahrungssätzen. In der juristischen Literatur findet sich die Aussage, (statistische) Erfahrungssätze seien nichts anderes als Wahrscheinlichkeitsaussagen.115 Gemeint sind damit Aussagen über relative Häufigkeiten im Sinne der frequentistischen Wahrscheinlichkeitstheorie.116 Dieses Bild ist tatsächlich unverzichtbar, um die Logik des Schließens aus einem Erfahrungssatz, und damit insbesondere die Annahmen, die diesem Schluss zugrunde liegen, zu verstehen (hinten, S. 385 f.). Aber es darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Erfahrungssätze oft auf Quellen stützen (müssen), die keine Aussage zur relativen Häufigkeit im statistischen Sinne erlauben. Nicht immer hat man wie im obigen Beispiel eine amtliche Statistik zu Hand. Die Anwendung von Erfahrungssätzen auf Fälle zu beschränken, in denen empirische statistische Daten vorhanden sind, würde die Beweiswürdigung im Einzelfall praktisch verunmöglichen.117 Sich den zu beurteilenden Fall als 111

Musielak-ZPO-Foerste, § 284 N 4. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 285 ff.; ihnen folgend Rommé, Anscheinsbeweis, 15 ff. 113 http://www.kfz.net/news/neuzulassungen/ (besucht am 15. November 2011). 114 Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 284 N 16, § 286 N 7; MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 45; § 286 N 66; Beutel, Wahrnehmungsbezogene Erfahrungssätze, 127; Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 10; für die Schweiz ZK-ZPO-Hasenböhler, Art. 157 N 11, unter Hinweis auf Guldener, Zivilprozessrecht, 321 f.; SHK-ZPO-Passadelis, Art. 157 N 9. 115 Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, 3–20, 13 ff.; Maassen, Beweismaßprobleme, 61; Prütting, Beweislast, 102, unter Hinweis auf Weitnauer, Beitrag zum 46. Deutschen Juristentag, Bd. II E S. 70 ff.; Risthaus, Erfahrungssätze, Rz. 765; Beutel, Wahrnehmungsbezogene Erfahrungssätze, 58. 116 Besonders deutlich Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, 3–20, 14, »ein Kollektiv mit bestimmter relativer Häufigkeit«; Maassen, Beweismaßprobleme, 61; Risthaus, Erfahrungssätze, Rz. 753 ff. (»Kollektiv«). 117 BGH NJW 2004, 3623, 3624, weist ausdrücklich darauf hin, dass es »keiner empirischer Befunde« bedarf, um den Anscheinsbeweis anzuwenden. 112

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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Mitglied eines Kollektivs gleichartiger Fälle vorzustellen,118 ist sehr hilfreich, um die Qualität des Schlusses aus dem Erfahrungssatz auf den Einzelfall abzuschätzen,119 aber die Vorstellung alleine macht keine statistische Häufigkeit. Quellen von Erfahrungssätzen sind nicht nur empirische relative Häufigkeiten, obwohl dies gerne behauptet wird.120 b) Abgrenzung der Erfahrungssätze von benachbarten Erscheinungen aa) Offenkundige (notorische) Tatsachen Offenkundige oder notorische Tatsachen sind Tatsachen, die gerichts- oder allgemeinkundig sind und deshalb keines Beweises bedürfen (§ 291 ZPO-DE, Art. 151 ZPO-CH). Wann eine Tatsache allgemein bekannt genug ist, um keines Beweises zu bedürfen, ist eine notorisch schwierige Frage – bereits Stein wies darauf hin, dass sie der Frage gleiche, ab welcher Anzahl eine Menge von Pferdehaaren als Schweif bezeichnet werden könne.121 Die wohl überzeugendste Interpretation der Bestimmungen zu den offenkundigen Tatsachen sieht diese als durch die Prozessökonomie gerechtfertigte Mittel, auf förmliche Beweiserhebungen, deren Resultat im Voraus bekannt ist, zu verzichten, und bestimmt die Offenkundigkeit ausgehend von der Rechtsfolge.122 Ob auf ein förmliches Beweisverfahren verzichtet wird, weil der Richter die relevante Tatsache bereits kennt oder er sich die Kenntnis leicht aus einer »allgemein zugänglichen und verlässlichen Quelle«123 verschaffen kann, spielt keine Rolle.124 Auch die Quelle der außerprozessualen Kenntnisse des Richters ist nach dieser Auffassung grundsätzlich irrelevant;125 einzig was der Richter als Zufallszeuge wahrgenommen hat, darf er nicht im Prozess verwerten, weil die Stellung als Zeuge und Richter unvereinbar ist (§ 41 Ziff. 5 ZPO-DE; Art. 47 Abs. 1 lit. b ZPO-CH).126 Der Beweisgegner wird dadurch geschützt, dass ihm der Gegenbeweis auf jeden Fall offensteht: »Eine offenkundige Tatsache ist nicht anders zu behandeln als eine Tatsache, für die bereits ein Beweis erbracht ist und die daher keines (weiteren) Beweises bedarf; in dem einen wie in dem anderen Fall kann die Überzeugung, die sich 118

So Weitnauer, Karlsruher Forum 1966, 3–20, 14 f. Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 250 f., spricht von einer »Prüfroutine« oder »hypothetischer Testfrage«. 120 So behauptet z. B. Metz, NJW 2008, 2806–2812, 2807, die Erfahrungssätze im Strassenverkehrsrecht beruhten auf einer »Vielzahl gleichartiger Fälle, in denen das Verschulden konkret festgestellt wurde«. Da hält jedoch näherer Betrachtung nicht stand, siehe hinten, S. 393 ff. 121 Stein, Privates Wissen, 26. In der Philosophie ist dieses Problem als »Sorites-Paradox« (von »soros« = Haufen) bekannt. Skeptisch gegenüber Versuchen, das Notorische zu definieren auch Walter, Freie Beweiswürdigung, 272. 122 Walter, Freie Beweiswürdigung, 273 ff., 276; Saenger-ZPO-Saenger, § 291 N 1. 123 MüKo-ZPO-Prütting, § 291 N 5. 124 Walter, Freie Beweiswürdigung, 274. 125 Walter, Freie Beweiswürdigung, 276. 126 Walter, Freie Beweiswürdigung, 280 f. 119

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

auf Grund der bisherigen Beweisaufnahme bzw. auf Grund der (vermeintlichen) Offenkundigkeit gebildet hat, durch einen Gegenbeweis erschüttert werden.«127 Wo das Gericht eine Tatsache als offenkundig annimmt, die nach Ansicht des Beweisgegners nicht der Fall ist, kann der Beweisgegner die Beweisaufnahme daher durch den Gegenbeweis erzwingen. Umstritten ist in Deutschland wie in der Schweiz, ob offenkundige Tatsachen von einer Partei behauptet werden müssen oder ob das Gericht sie auch ohne entsprechende Parteibehauptung berücksichtigen darf.128 Nach hier vertretener Auffassung müssen offenkundige Tatsachen behauptet werden, wenn sie Haupttatsachen sind, die unter einen Tatbestand subsumiert werden können, welcher der beweisbelasteten Partei einen Anspruch gewährt. Behauptet die beweisbelastete Partei nicht alle Tatsachen, die bei angenommener Wahrheit der Behauptung zur Gutheißung der Klage führen würden, ist die Klage nicht schlüssig.129 Daran ändert auch nichts, dass eine Tatsache offenkundig ist. Dient eine offenkundige Tatsache hingegen nur dem Schluss auf eine Haupttatsache, ist sie also bloßes Indiz, so braucht sie nicht behauptet werden, denn der Richter darf allgemein bekanntes Wissen bei der Beweiswürdigung auch ohne entsprechende Parteibehauptung berücksichtigen. Letztlich ist die Frage von geringer praktischer Bedeutung,130 unter anderem, weil der Richter die Parteien auf erkennbar fehlende Tatsachenbehauptungen aufmerksam machen muss (§ 139 Abs. 2 ZPO-DE; Art. 56 ZPO-CH). Die Abgrenzung der offenkundigen Tatsachen von den Erfahrungssätzen ist einfach: Notorische Tatsachen sind historische Einzelereignisse, keine durch Induktion gewonnene Regeln, die für gleichartige Fälle Gültigkeit beanspruchen.131 bb) Normtatsachen Normtatsachen sind Tatsachen, die der Richter kennen muss, um juristische Obersätze zu bilden oder um unbestimmte Rechtsbegriffe oder Blankettnormen (z. B. »üblicher Lohn« nach Art. 322 Abs. 1 OR, »im Verkehr erforderliche Sorgfalt« nach § 276 Abs. 2 BGB, Verkehrssitte nach §§ 157, 242 BGB) erst 127 BGH NJW 2004, 1163, 1164; MüKo-ZPO-Prütting, § 291 N 7; Musielak-ZPO-Huber, § 291 N 3; a. M. Pantle, MDR 1993, 1166; Zöller-ZPO-Greger, § 291 N 4. 128 MüKo-ZPO-Prütting, § 291 N 13; Musielak-ZPO-Huber, § 291 N 4 und Saenger-ZPOSaenger, § 291 N 10 verneinen die Behauptungsbedürftigkeit; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 55 und Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 291 N 10, bejahen sie; für die Schweiz KuKo-ZPOSchmid, Art. 151 N 2; BGE 112 II 172 E. I.2c (»Was allbekannt ist oder schon nach der allgemeinen Lebenserfahrung einleuchtet, braucht übrigens weder behauptet noch bewiesen zu werden [. . . ]«). 129 MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 134. 130 Musielak-ZPO-Huber, § 291 N 4. 131 Stein, Privates Wissen, 26.

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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steuerungsfähig zu machen.132 Die Unterscheidung von Rechtsfortbildungstatsachen und »gewöhnlichen« Tatsachen geht auf Seiter zurück, der die Rechtsfortbildungstatsachen – von Prütting als »Normtatsachen«133 bezeichnet – den Subsumtionstatsachen gegenüberstellte: Subsumtionstatsachen sind Tatsachen, die der Richter unter eine bestehende Rechtsnorm subsumiert. Normtatsachen hingegen sind Bestandteil der Gewinnung einer neuen Rechtsnorm durch richterliche Rechtsfortbildung.134 Diese Unterscheidung hat weitgehend Anerkennung gefunden.135 Wie Erfahrungssätze beanspruchen Normtatsachen über den Einzelfall hinaus Geltung und beruhen auf Induktion; d. h. gestützt auf die Beobachtung gleichartiger Fälle oder auf eine supponierte Gesetzmäßigkeit wird eine Regel gebildet, die Gültigkeit für gleichartige Einzelfälle beansprucht. Manche Autoren (Konzen) unterscheiden daher nicht zwischen Normtatsachen und Erfahrungssätzen;136 andere (Schmidt) betrachten Normtatsachen als eine Untergruppe der Erfahrungssätze.137 Stein selbst bezeichnet sowohl Erfahrungssätze als auch Normtatsachen als Erfahrungssätze;138 unterscheidet aber bei den Rechtsfolgen, insbesondere der Revisibilität, zwischen Erfahrungssätzen, die dem Schluss auf eine Einzeltatsache dienen (nicht revisibel), und Erfahrungssätzen, die der Konkretisierung eines Tatbestandes dienen – also Normtatsachen gemäß moderner Terminologie – die revisibel seien.139 Normtatsachen und Erfahrungssätze lassen sich nach ihrem Zweck unterscheiden: Erfahrungssätze dienen dem Schluss auf eine Einzeltatsache (Subsumtionstatsache im Sinne von Seiter); Normtatsachen der Bildung des Tatbestandes.140 Ein bei Konzen erwähntes Beispiel mag den Unterschied, der mittlerweile subtil sein kann, deutlich machen. Das Bundesarbeitsgericht nimmt an, dass ein kranker Arbeitnehmer, der sich zu Hause aufhält, seinen Wohnungsbriefkasten nur einmal täglich, zur üblichen Zeit der Postzustellung, leert, und nicht am späten 132

Musielak-ZPO-Foerste, § 284 N 3. Prütting, in: Hirsch (Hrsg.), Festschrift zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 305– 324, 318. 134 Seiter, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 573–593, 574. 135 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 350, m. w. H. Krit. Rüßmann, KRITV 1991, 402–415, 415. 136 Konzen, in: Schilken/Becker-Eberhard/Gerhardt (Hrsg.), Festschrift für Hans Friedhelm Gaul, 335–356, 341 ff., insb. 343.; ebenso Rosenberg/Gottwald/Schwab, Zivilprozessrecht, § 111 N 11. 137 Schmidt, KRITV 2005, 177–194, 182. 138 Stein, Privates Wissen, 40 f. Ihm folgend Konzen, in: Schilken/Becker-Eberhard/Gerhardt (Hrsg.), Festschrift für Hans Friedhelm Gaul, 335–356, 335 ff. 139 Stein, Privates Wissen, 106 ff., insb. 109, 120. 140 So bereits Hainmüller, Anscheinsbeweis, 23 (ohne Verwendung des Ausdrucks »Normtatsache«); ebenso Seiter, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 573–593, 580. Krit. Konzen, in: Schilken/Becker-Eberhard/Gerhardt (Hrsg.), Festschrift für Hans Friedhelm Gaul, 335–356, 339. 133

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

Nachmittag nochmals.141 Daraus schließt es, dass ein um 16.30 Uhr in den Wohnungsbriefkasten eingeworfenes Kündigungsschreiben erst am folgenden Tag im Sinne von § 130 Abs. 1 BGB zugegangen ist. Würde Zugang die tatsächliche Kenntnisnahme der Willenserklärung voraussetzen, läge ein typischer Schluss von einem Erfahrungssatz auf den Einzelfall vor: Weil die meisten kranken Arbeitnehmer den Briefkasten nicht am späten Nachmittag leeren, ist die Annahme, dass der Kläger das Kündigungsschreiben erst am den Einwurf folgenden Tag tatsächlich zur Kenntnis genommen hat, mit hoher subjektiver Wahrscheinlichkeit korrekt. Nun setzt Zugang nach ganz herrschender Lehre und Rechtsprechung aber keine tatsächliche Kenntnisnahme voraus: Eine empfangsbedürftige schriftliche Willenserklärung ist vielmehr zugegangen, wenn sie derart in den Machtbereich des Empfängers gelangt, dass bei Annahme gewöhnlicher Verhältnisse zu erwarten ist, dass er von ihr Kenntnis nimmt.142 Das Bundesarbeitsgericht konkretisiert also das Tatbestandsmerkmal »gewöhnliche Verhältnisse«, indem es ausführt, dass nicht zu erwarten ist, dass ein um 16.30 Uhr in den Wohnungsbriefkasten eines erkrankten Arbeitnehmers eingeworfener Brief vor dem nächsten Tag zu Kenntnis genommen wird. Wann die Klägerin im konkreten Einzelfall tatsächlich Kenntnis von dem Schreiben erlangt hat, ist schlicht irrelevant. Bei der vom Bundesarbeitsgericht getroffenen Annahme über das Verhalten kranker Arbeitnehmer handelt es sich demnach um eine Normtatsache. Anders, wenn ein Gericht aufgrund der Kollision eines Linksabbiegers mit einem überholenden Fahrzeug darauf schließt, dass der Linksabbieger die doppelte Rückschau unterlassen hat. Die Rechtsprechung hat die Pflicht nach § 9 Abs. 1 DE-StVO, vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr zu achten, dahingehend konkretisiert, dass eine doppelte Rückschau, über den Rückspiegel und über die Schulter, verlangt wird. An diesem konkretisierten Tatbestand ändert der Erfahrungssatz, dass in den meisten Fällen einer Kollision der doppelte Rückblick unterlassen wurde, nichts. Hier geht es einzig um den Schluss aus einer Generalisierung auf den konkreten Einzelfall, und es liegt ein Erfahrungssatz, keine Normtatsache vor. Eine andere Frage ist, ob die prinzipielle Unterscheidbarkeit von Erfahrungssatz und Normtatsache zu einer unterschiedlichen prozessualen Behandlung führen muss, oder ob die Gemeinsamkeiten von Erfahrungssätzen und Normtatsachen nahelegen, sie auch gleich zu behandeln.143 Die Frage soll hier nicht vertieft werden.

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BAG NJW 1984, 1651. MüKo-BGB-Einsele, § 130 N 16. 143 In diesem Sinne Konzen, in: Schilken/Becker-Eberhard/Gerhardt (Hrsg.), Festschrift für Hans Friedhelm Gaul, 335–356, 343 ff.; Oestmann, JZ 2003, 285–290, 285 ff. 142

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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cc) Tatsächliche (natürliche) Vermutungen Tatsächliche Vermutungen spielen in der Rechtsprechung eine kaum zu überschätzende Rolle. Gemäß der Datenbank Beck-Online finden sich allein in Urteilen des Bundesgerichtshofs von 2002–2012 486 Treffer für die exakte Phrase »tatsächliche Vermutung«;144 in der Schweiz in den Urteilen des Bundesgerichts für den gleichen Zeitraum 189.145 Die Rechtsnatur der »tatsächlichen Vermutung« (in der Schweiz auch »natürliche Vermutung«) war jedoch lange Zeit unklar.146 Einig ist man sich, dass die tatsächlichen von den gesetzlichen Vermutungen zu unterscheiden sind, da sie eben anders als letztere keine gesetzliche Grundlage haben.147 Die begriffliche Nähe zu den gesetzlichen Vermutungen legt nahe, dass sie ähnlich wie gesetzliche Vermutungen eine Umkehr der Beweislast zur Folge haben sollen; in diesem Sinne werden tatsächliche Vermutungen von der deutschen Rechtsprechung teilweise auch eingesetzt.148 Andererseits betont der BGH, dass tatsächliche Vermutungen im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt werden müssen, ohne dass es zur Beweislastumkehr komme.149 Dies entspricht auch der ganz überwiegenden neueren Lehre in Deutschland und der Schweiz.150 Eine Definition des Begriffs ist damit aber noch nicht gegeben. Nach richtiger Auffassung bezeichnet »tatsächliche Vermutung« den aus einem Erfahrungssatz gezogenen Schluss, der mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit wahr ist, die über der Beweismaßgrenze liegt (d. h. die »volle Überzeugung« begründet, die natürlich durch den Gegenbeweis erschüttert werden kann).151 144

Suche durchgeführt am 15. Februar 2013. Gesucht wurde nach den exakten Phrasen »tatsächliche Vermutung«, »natürliche Vermutung« und »présomption naturelle« auf www.bger.ch -> Rechtsprechung. Suche durchgeführt am 15. Februar 2013. 146 Prütting, Beweislast, 53 ff. 147 MüKo-ZPO-Prütting, § 292 N 7; a. M. einzig Bruns, Zivilprozessrecht, 255. 148 BGH NJW 1980, 1680, 1681 (Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit der Vertragsurkunde; kritisch dazu Zöller-ZPO-Greger, Vor § 284 N 33a); sowie bei den so genannten »GEMA-Vermutungen«, BGH NJW 1986, 1247, 1249; BGH NJW 1986, 1249, 1250; BGH GRUR 1988, 373, 374; kritisch zur Beweislastumkehr durch GEMA-Vermutungen Allner, GEMA-Vermutung, 88 ff. 149 BGH NJW 1993, 3259; NJW 2010, 3292, 3294; NJW 2010, 363, 364; NJW 2011, 598. 150 Dubischar, JUS 1971, 385–394, 388; Prütting, Beweislast, 54 f.; Baumgärtel, in: Gottwald/ Prütting (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Schwab, 43–51, 47, 51; Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 376; Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 292 N 7; Wieczorek/Schütze-ZPO-Assmann, § 292 N 13; MüKo-ZPO-Prütting, § 292 N 28; Zöller-ZPO-Greger, Vor § 284 N 33; Musielak-ZPOHuber, § 291 N 1; a. M. Hirtz, MDR 1988, 182–186, 182. Für die Schweiz BGE 117 II 256 E. 2b (ständige Rsp.); Walter, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Der Haftpflichtprozess, 15–36, 34; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 2.31 Fn. 102; a. M. Huguenin-Dumittan, Behauptungslast, Substantiierungspflicht und Beweislast, 152. 151 So BGH NJW 1951, 839, 840; Dänzer, Die tatsächliche Vermutung, 1; ihm folgend Wieczorek/Schütze-ZPO-Assmann, § 292 N 13; ohne ausdrückliche Beschränkung auf den wahrscheinlich wahren Schluss: Dubischar, JUS 1971, 385–394, 388; Baumgärtel, in: Gottwald/ Prütting (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Schwab, 43–51, 47; Musielak, Juristische Arbeitsblätter 2010, 561–566, 562; kritisch Prütting, Beweislast, 57; anders BGH NJW 2009, 1591, 1592, wo 145

376

Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

Dass der BGH den Begriff der tatsächlichen Vermutung in diesem Sinne verwendet, ergibt sich besonders deutlich aus einem Urteil des IV. Zivilsenats vom 7. Mai 1951: »Erfahrungssätze des Lebens sind hinsichtlich ihres Beweiswertes von verschiedener Stärke. Ihre Beweiskraft kann in besonderen Fällen so stark sein, dass der Erfahrungssatz allein geeignet ist, eine tatsächliche Vermutung für ein bestimmtes Geschehen zu begründen.«152 Dieses Verständnis erklärt auch, weshalb der BGH im Zusammenhang mit der tatsächlichen Vermutung von einem »Anwendungsfall des Anscheinsbeweises«153 spricht: In der Tat begründet ein Erfahrungssatz, der die volle richterliche Überzeugung für das Vorliegen des maßgeblichen Merkmals im Einzelfall bewirkt, sowohl eine tatsächliche Vermutung als auch den Anscheinsbeweis.154 Der Schluss aus einem Erfahrungssatz – verstanden als relative Häufigkeit einer Eigenschaft in einer Referenzklasse – auf die subjektive Wahrscheinlichkeit des Vorliegens dieser Eigenschaft im Einzelfall ist, (epistemische) Homogenität der Referenzklasse vorausgesetzt, zwingend (vorne, S. 351 ff.). Zu sagen, dass ein sicherer Erfahrungssatz bestehe oder dass eine natürliche Vermutung bestehe, ist daher nur unterschiedlicher Ausdruck des gleichen Sachverhalts:155 So spricht der BGH von der »natürlichen Vermutung«, dass ein geeichtes Messgerät den tatsächlichen Verbrauch richtig wiedergebe.156 Stattdessen hätte das Gericht auch den Erfahrungssatz aufstellen können, dass geeichte Messgeräte in den allermeisten Fällen (hohe relative Häufigkeit) den tatsächlichen Gebrauch richtig wiedergeben, so dass im konkreten Fall die Annahme, dass das Messgerät den der Erfahrungssatz als »tatsächliche Schlussfolgerung« bezeichnet wird; für die Schweiz Nonn, Beweiswürdigung, 60; Hohl, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 128–138, 134; im Ergebnis (trotz vorgängiger Kritik an Nonn in Fn. 53) auch Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 2.29 ff., die je nach Sicherheit des Erfahrungssatzes, auf den sich die natürliche Vermutung stützt, zwischen »einfachen natürlichen Vermutungen« und »qualifizierten natürlichen Vermutungen« unterscheidet, allerdings zugeben muss, dass diese Abgrenzung »diffus« ist, a. a. O., Rz. 2.36; a. M. Staehelin/Staehelin/Grolimund, Zivilprozessrecht, § 18 Rz. 11, die natürliche Vermutung als einen auf die Lebenserfahrung gestützten Schluss aus den Gesamtumständen des Einzelfalles definieren; ihnen folgend BSK-ZPO-Guyan, Art. 151 N 4; ähnlich auch Leuenberger/Uffer-Tobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Rz. 9.152, die jeden Schluss aus Indizien, der die volle richterliche Überzeugung begründet, als natürliche Vermutung bezeichnen; wiederum anders Huguenin-Dumittan, Behauptungslast, Substantiierungspflicht und Beweislast, 152, und Hohl, in: Schwander/Stoffel (Hrsg.), Beiträge zum schweizerischen und internationalen Zivilprozeßrecht, 125–159, 153, die tatsächliche Vermutung und Erfahrungssatz gleichsetzen. 152 BGH NJW 1951, 839, 840; ähnlich auch BGH NJW 2010, 363, Rz. 15. 153 BGH NJW 1993, 3259. Die Gleichstellung findet sich auch in der Rechtsprechung der Sozialgerichte und des BAG, Walter, Freie Beweiswürdigung, 212. 154 Walter, Freie Beweiswürdigung, 211 f. Die ältere Lehre hat tatsächliche Vermutung und Anscheinsbeweis denn auch synonym verwendet, zahlreiche Nachweise bei Hainmüller, Anscheinsbeweis, 77, Fn. 460. Kritisch Prütting, Beweislast, 57. 155 So, wie das arithmetische Mittel der subjektiven Wahrscheinlichkeit (natürliche Vermutung) gleich der Erwartung der Häufigkeit (Erfahrungssatz) sein muss, de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 251 f. 156 BGH NJW 2010, 363.

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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Tabelle 18: Erfahrungssätze mit gesteigerter Beweiskraft führen zu einer natürlichen Vermutung.

Erfahrungssatz

Natürliche Vermutung

Die allermeisten geeichten Messgeräte zeigen den tatsächlichen Verbrauch an.

Es besteht die natürliche Vermutung, dass im vorliegenden Fall das geeichte Messgerät den tatsächlichen Verbrauch anzeigt.a Es besteht die natürliche Vermutung, dass im vorliegenden Fall die Urkunde, die keine Spuren einer Manipulation zeigt, echt ist.b Es besteht die natürliche Vermutung, dass im vorliegenden Fall die von der Post bescheinigte Zustellung an eine berechtigte Person tatsächlich erfolgt ist.c

Die allermeisten Urkunden, die keine erkennbaren Spuren einer Manipulation zeigen, sind echt. In den allermeisten Fällen, in denen die Post die Zustellung einer eingeschriebenen Sendung an eine berechtigte Person bescheinigt, hat tatsächlich eine Übergabe an eine berechtigte Person stattgefunden. a b c

BGH NJW 2010, 363. BGE 132 III 140 E. 4.1.2 (heute Art. 178 ZPO-CH). BGer, Urteil 5A_728/2010 vom 17. Januar 2011, E. 2.2.3.

Verbrauch richtig anzeigt, höchstwahrscheinlich (subjektive W.) wahr ist.157 Ähnlich das Schweizer Bundesgericht, das eine von der Vorinstanz angenommene natürliche Vermutung, dass eine Infektion der Gelenkhöhle nach intraartikulärer Injektion eines Medikaments auf eine Verletzung ärztlicher Sorgfaltspflichten zurückzuführen ist, im Ergebnis bestätigt.158 Zum gleichen Ergebnis hätte das Bundesgericht auch unter der Annahme eines Erfahrungssatzes des Inhaltes, dass in den allermeisten Fällen einer Infektion nach intraartikulärer Injektion der Arzt seine Sorgfaltspflichten verletzt hat, gelangen können.159 In der Praxis werden die den Schlüssen zugrundeliegenden Erfahrungssätze häufig nicht explizit ange157 In dem in BGH NJW 2010, 363, zu beurteilenden Sachverhalt war das Messgerät nicht (mehr) geeicht, so dass die natürliche Vermutung gerade keine Anwendung fand. 158 BGE 120 II 248. Das Bundesgericht betont zwar, es könne die natürliche Vermutung nur überprüfen, wenn sie sich ausschließlich auf allgemeine Lebenserfahrung stütze, was i. c. nicht der Fall sei, stellt dann aber in einer Eventualbegründung fest, die natürliche Vermutung der Vorinstanz wäre selbst gestützt auf die allgemeine Lebenserfahrung begründet (E. 2c). 159 Erlaubt sei die erneute Anmerkung, dass das Gericht die Anfangswahrscheinlichkeit für die Hypothese, dass der Arzt sorgfaltswidrig gehandelt hat, hätte berücksichtigen müssen. Daraus, dass das Risiko einer Infektion hoch ist, wenn der Arzt nicht sauber arbeitet, und gering, wenn er sauber arbeitet (im Urteil wird angedeutet, dass das nicht auszuschließende Restrisiko einer Infektion selbst bei sorgfältigem Arbeiten 1:10’000 ist), folgt nicht automatisch, dass die eigentlich interessierende a-posteriori Wahrscheinlichkeit Pr(¬sauber|Infektion) hoch ist.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

geben.160 Dies ändert aber nichts daran, dass jeder natürlichen Vermutung ein Erfahrungssatz zugrunde liegt.161 Hingegen ist es ungenau zu sagen, dass natürliche Vermutungen Schlüsse aus der Lebenserfahrung sind:162 Lebenserfahrung ist nur eine Quelle von Erfahrungssätzen (dazu gleich nachstehend), und nicht nur Erfahrungssätze, die sich auf Lebenserfahrung stützen, können eine natürliche Vermutung begründen. Aus der Gleichsetzung von natürlicher Vermutung und sicherem Erfahrungssatz folgt, dass ihre rechtliche Behandlung nicht unterschiedlich sein kann. Natürliche Vermutungen bewirken daher wie Erfahrungssätze keine Beweislastumkehr.163 Sie müssen aber, wie Erfahrungssätze, im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt werden.164 c) Quellen von Erfahrungssätzen Erfahrungssätze können sich auf ganz unterschiedliche Erkenntnisquellen stützen. Im Folgenden werden die wichtigsten Quellen in absteigender Reihenfolge ihrer Zuverlässigkeit kurz beleuchtet. Dies soll vor allem vor dem Fehlschluss bewahren, eine Generalisierung nur deshalb als zutreffend zu betrachten, weil sie als Erfahrungssatz bezeichnet wird. Entscheidend ist nicht die Bezeichnung, sondern worauf sich die Generalisierung stützt. aa) Wissenschaftliche Theorien Wissenschaftliche Theorien sind wie Erfahrungssätze durch Induktion gewonnene Regeln, die über die beobachteten Fälle hinaus Gültigkeit beanspruchen. Sie fallen unter den Begriff des Erfahrungssatzes, wie er hier verwendet wird. Was wissenschaftliche Theorien von anderen Theorien unterscheidet, ist gar nicht so einfach zu umschreiben. Nach einer verbreiteten Auffassung muss eine wissenschaftliche Theorie Gesetzmäßigkeiten postulieren, die bei gegebenen Ausgangsbedingungen deterministische oder statistische Vorhersagen erlauben, die sich empirisch (durch Beobachtung) prüfen lassen.165 Bestätigen sich die Vor160

Stein, Privates Wissen, 12 f. Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 2.34 Fn. 115. 162 So Dubischar, JUS 1971, 385–394, 388; Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 292 N 7; Staehelin/ Staehelin/Grolimund, Zivilprozessrecht, § 18 Rz. 57. 163 Dies entspricht der neueren Lehre, Dubischar, JUS 1971, 385–394, 388; Prütting, Beweislast, 54 f.; Baumgärtel, in: Gottwald/Prütting (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Schwab, 43– 51, 47, 51; Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 376; Wieczorek/Schütze-ZPO-Assmann, § 292 N 13; Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 292 N 7; MüKo-ZPO-Prütting, § 292 N 28; Musielak-ZPOHuber, § 291 N 1; Zöller-ZPO-Greger, Vor § 284 N 33; a. M. Hirtz, MDR 1988, 182–186, 182. Für die Schweiz BGE 117 II 256 E. 2b (ständige Rsp.); Walter, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Der Haftpflichtprozess, 15–36, 34; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 2.31 Fn. 102. 164 BGH NJW 2010, 363, 364; Musielak, Juristische Arbeitsblätter 2010, 561–566, 566; Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 25. 165 Falsifizierbarkeit nach Popper, Logik der Forschung, 14 f. 161

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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hersagen der Theorie, bewährt sich die Theorie. Je zahlreichere, präzisere und überraschendere Vorhersagen eine Theorie macht, desto überzeugender ist die Theorie, wenn sich die Vorhersagen bestätigen.166 Eine einfachere Theorie ist in der Regel einer komplexeren Theorie vorzuziehen, die keine besseren Vorhersagen erlaubt.167 Eine sehr einfache Theorie, die während sehr langer Zeit nicht falsifiziert werden konnte – die sich bewährt hat – ist mit höchster Wahrscheinlichkeit wahr. Solchen wissenschaftlichen Theorien – z. B. Newtons Gesetzen der Mechanik – kommt für juristische Zwecke der Status eines zwingenden Erfahrungssatzes oder eines Lebensgesetzes nach der Terminologie von Hainmüller zu.168 Sie dürfen und müssen für Zwecke der Beweiswürdigung als sicher und ausnahmslos geltend vorausgesetzt werden, obwohl eine wissenschaftliche Theorie nie »bewiesen« in dem Sinne ist, dass ihre Wahrheit mit Sicherheit feststeht.169 Nicht alle naturwissenschaftlichen Theorien sind jedoch so bewährt, dass sie vom Richter als sicher betrachtet werden dürfen – wenn eine Theorie noch relativ neu und umstritten ist, darf der Richter sie seinem Urteil nicht ungeprüft zu Grunde legen. Er muss sich, in der Regel mit Hilfe von Sachverständigen, eine persönliche Überzeugung dazu bilden, ob die Theorie zutrifft. Bewährte, zum Allgemeinwissen gehörende wissenschaftliche Theorien darf er hingegen ohne Beizug eines Sachverständigen als gesichert erachten und der Beweiswürdigung zu Grunde legen. Bewährte wissenschaftliche Theorien liegen der Beweiswürdigung häufig unausgesprochen zu Grunde. So stützte der BGH seine Schlussfolgerung, dass die Kollision zweier Schleppkähne auf dem Dortmund-Ems-Kanal auf das Verschulden eines der Schiffsführer zurückzuführen sei, auf die »Lebenserfahrung«.170 Um eigene Erfahrung der Richter dürfte es sich freilich kaum gehandelt haben – die wenigsten deutschen Richter dürften eigene Erfahrung als Schiffsführer eines Schleppkahns gemacht haben. Vielmehr lag der Schlussfolgerung unausgesprochen das Trägheitsgesetz, auch als erstes Newtonsches Gesetz bekannt, zu Grunde: Ein Körper verbleibt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung, so lange keine Kraft auf ihn einwirkt.171 Da der hinterste der beiden vom Beklagten gezogenen Kähne plötzlich scharf ausscherte, musste eine Kraft auf ihn eingewirkt haben. Eine solche Kraft kann durch Anströmen des Wassers an das Ruder entstehen. Der Beklagte behauptete, die Kraft sei durch eine durch eine Untiefe bewirkte Strömung verursacht worden; er konnte allerdings nicht nachweisen, dass der Unfall tatsächlich im Bereich der 166

46.

Earman/Salmon, in: Salmon (Hrsg.), Introduction to the philosophy of science, 42–103,

167 Earman/Salmon, in: Salmon (Hrsg.), Introduction to the philosophy of science, 42–103, 49; wobei schwierig zu definieren ist, was »Einfachheit« genau ist. 168 Hainmüller, Anscheinsbeweis, 27; Prütting, Beweislast, 106. 169 Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 326 ff. 170 BGH NJW 1952, 1137. 171 Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, 13.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

Untiefe stattgefunden hatte.172 Der BGH nahm unter den Umständen an, dass die (vom Schiffsführer kontrollierte) Ruderstellung zum Ausscheren des Kahnes und in der Folge zur Kollision führte. Statt von Lebenserfahrung würde man hier vielleicht besser von einem auf das Trägheitsgesetz gestützten Schluss auf die beste Erklärung sprechen. Der Nachvollziehbarkeit der Begründung dienlich wäre es, wenn Gerichte ausdrücklich angeben würden, auf welche naturwissenschaftlichen Theorien sie sich stützen, statt allgemein von der »Lebenserfahrung« zu sprechen. bb) Empirische (statistische) Daten Wo statistische Daten zur relativen Häufigkeit eines Merkmals in einer Klasse vorhanden sind, wird der Richter sie beachten müssen, wenn es nicht Gründe gibt, an der Zuverlässigkeit der Daten zu zweifeln.173 Wo von der beweisbelasteten Partei angeboten wird, empirische Daten zu erheben, darf der Richter seine eigene Auffassung nicht an Stelle der empirischen Daten setzen, respektive die Abnahme des angebotenen Beweismittels nicht mit Verweis auf das eigene Wissen verweigern.174 Natürlich sind empirische Daten nicht alle gleich zuverlässig – je nach Umfang der Stichprobe,175 Transparenz der Methodologie und Vertrauenswürdigkeit der Quelle werden die Daten unterschiedlich zuverlässig sein, was bei einer auf diese Daten gestützten Schlussfolgerung zu berücksichtigen ist. cc) Eigene oder fremde Erfahrung Häufig werden keine statistischen Daten für die relevante Referenzklasse vorhanden sein. Dies hindert den Richter aber nicht daran, basierend auf eigener oder fremder Erfahrung einen Erfahrungssatz zu bilden.176 Eigene Erfahrung könnte sich der Richter theoretisch über Beweismittel im Prozess verschaffen; praktisch wird dies regelmäßig am Aufwand scheitern.177 Der Richter darf aber auch die 172

BGH NJW 1952, 1137. Wieczorek/Schütze-ZPO-Ahrens, § 286 N 72. 174 BGH NJW-RR 1990, 1376; anders BGH NJW 2004, 1163, 1164, wonach der Richter nur dann empirische Daten (demoskopisches Gutachten) erheben muss, wenn ihm die eigene Sachkunde fehlt. M. E. ist dies deshalb falsch, weil man erst nach Erhebung der empirischen Daten wissen kann, ob die Annahmen des Richters zutreffend waren. Wenn man die Abnahme von Beweismitteln dazu unter Hinweis auf die Sachkunde des Richters verweigert, wird man nie erfahren, ob die Annahmen des Richters zutrafen. Auf die Abnahme von Beweismitteln kann allerdings dann verzichtet werden, wenn keine Tat- sondern eine Rechtsfrage zu beurteilen ist. Eine überzeugende Lesart von BGH NJW 2004, 1163, ist, dass der BGH die Irreführungsgefahr im Wettbewerbsrecht in seiner neueren Rechtsprechung gar nicht mehr als Tat, sondern als Rechtsfrage betrachtet, so Omsels, GRUR 2005, 548–558, 558. 175 Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 341 ff. 176 Hainmüller, Anscheinsbeweis, 29; Prütting, Beweislast, 106; a. M. Walter, ZZP 1977, 270–284, 280 (für Erfahrungssätze, die genügend gesichert sind, um einen Anscheinsbeweis zu begründen; für »einfache« Erfahrungssätze lässt auch Walter bloße Erfahrung genügen). 177 Stein, Privates Wissen, 52 ff. 173

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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Erfahrung verwerten, die er außeramtlich, z. B. als Teilnehmer am Straßenverkehr, macht.178 Problematisch an der Verwertung eigener Erfahrung ist, dass diese auf einer verzerrten Stichprobe beruht – die Erfahrungen eines einzelnen Menschen sind nie repräsentativ,179 was zu falschen Schlüssen führen kann.180 Neuere Erfahrungen werden zudem übergewichtet, da sie leichter in Erinnerung gerufen werden können (»availability heuristic«).181 Mit der »Lebenserfahrung« in der Form höchstpersönlicher Erlebnisse wird daher ein stark subjektives Element in die Beweiswürdigung eingebracht,182 während sie gemäß der Rechtsprechung gerade eine Schranke der richterlichen Freiheit in der Beweiswürdigung sein soll. Die Bezeichnung »Lebenserfahrung« darf zudem nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit meist nicht tatsächliche historische Erfahrung des Richters oder Dritter gemeint ist, sondern von den Mitgliedern der Gesellschaft als gegeben anerkanntes »Wissen«, dem unter Umständen jede empirische Basis fehlt (gleich nachstehend). Soweit die Erfahrung des Richters, die Basis für den Erfahrungssatz bildet, den Bereich der allgemeinen Lebenserfahrung überschreitet, muss er den Parteien Gelegenheit geben, zum Erfahrungssatz Stellung zu nehmen.183 Er ist dann auch gehalten, die Quelle seiner Sachkunde darzutun.184 Wo der Richter keine eigene relevante Erfahrung (Sachkunde) hat, kann er basierend auf fremder Erfahrung einen Erfahrungssatz bilden. Das Erfahrungswissen Dritter, das den Bereich allgemeiner Lebenserfahrung überschreitet, wird in der Regel durch ein Sachverständigengutachten in den Prozess eingebracht.185 Zur Einholung eines solchen ist der Richter nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, wenn ihm die Sachkunde fehlt.186 Der Sachverständige wird häufig die relevanten Erfahrungen ebenfalls nicht selber gemacht haben, sondern sich auf die ihm bekannten Überlieferungen seines Fachgebiets stützen.187 dd) Allgemeine Lebenserfahrung, Alltagstheorien oder kulturelles Wissen Oft beruhen Erfahrungssätze weder auf naturwissenschaftlichen Theorien, noch auf beobachteten relativen Häufigkeiten, noch auf persönlicher oder fremder nicht quantifizierter Erfahrung, sondern auf dem, was im deutschen juristischen 178 BGH NJW 2004, 1163; MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 44; Wieczorek/Schütze-ZPOAhrens, § 286 N 23; Musielak-ZPO-Foerste, § 284 N 4. 179 Anderson/Schum/Twining, Analysis of evidence, 271; Risthaus, Erfahrungssätze, Rz. 727 f.; Beutel, Wahrnehmungsbezogene Erfahrungssätze, 64. 180 Fiedler, Psych. Rev. 2000, 659–676, 660 ff. 181 Tversky/Kahneman, Cognitive Psychology 1973, 207–232. 182 Sommer, in: Hanack et al. (Hrsg.), Festschrift für Peter Rieß, 585–610, 586. 183 MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 46, unter Hinweis auf BGHZ 66, 69. 184 BGH NJW 1970, 419; NJW 2000, 1946, 1947. 185 Stein, Privates Wissen, 54. 186 Statt aller BGH NJW 2000, 1946, 1947; Wieczorek/Schütze-ZPO-Ahrens, § 286 N 18. 187 Stein, Privates Wissen, 53.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

Schrifttum mit dem aus der Soziologie entlehnten Begriff »Alltagstheorie«,188 von Titzmann als »kulturelles Wissen«189 , von Huguenin-Dumittan als »stereotype Vorstellung«190 oder von Anderson et al. als »society’s stock of knowledge«191 bezeichnet wird. Das »kulturelle Wissen« wird nach Titzmann gebildet durch »die Gesamtmenge der Propositionen, die die Mitglieder einer Gesellschaft für wahr halten, bzw. die eine historische Anzahl von Texten der Kultur als wahr setzt.«192 Der Begriff der Alltagstheorie stammt aus der Soziologie und bezeichnet »ein Wissen, das handlungsleitend ist, indessen nicht nach wissenschaftlichen Kriterien überprüft ist.«193 Verbreiteter ist der Ausdruck »Alltagswissen«, der bezeichnet, was »jedermann« weiß, d. h. »jene Kenntnisse, Vorstellungen, Erfahrungen und Maximen, die Gesellschaftsmitglieder in der Alltagswelt [. . . ] als selbstverständlich, als fraglos und als wechselseitig verfügbar auffassen.«194 Argumentativ wird Alltagswissen verwendet, um fehlendes Faktenwissen ausdrücklich oder stillschweigend durch den Verweis auf vermeintliche allgemeine (Lebens-)erfahrung zu ersetzen. Ob die angenommenen Generalisierungen tatsächlich zutreffen oder nur ein – möglicherweise gruppenspezifisches – Vorurteil bedienen, ist für die Überzeugungskraft der Begründung irrelevant, so lange das vorgebliche Wissen nur allgemein als wahr erachtet wird.195 Im Rahmen der juristischen Methode dienen Alltagstheorien dazu, das Gericht zu entlasten, indem sie erlauben, auf zeit- und kostenaufwendige empirische Forschungen zu verzichten, aber die Beweiswürdigung durch Rückbindung an allgemein akzeptierte Überzeugungen – Alltagswissen – dennoch zu legitimieren.196 Je deutlicher die Alltagstheorien die allgemein-gesellschaftliche Sichtweise reflektieren, desto höher ist ihre Akzeptanz.197 Kulturelles Wissen, oder der »gesellschaftliche Grundstock an Wissen«, ist offensichtlich kontextabhängig und ändert sich mit Zeit und Ort. So konnte Stein 1893 schreiben, dass es durchaus geläufig sei, bei der Beurteilung einer Zeugenaussage in Betracht zu ziehen, dass »eine Frau sich leichter täuschen lässt als ein mitten im praktischen Leben stehender Mann«198 oder das Reichsgericht 1920, dass der Verlobte die Braut nicht geheiratet hätte, wenn er von ihrem vorehelichen Geschlechtsverkehr mit anderen Männern Kenntnis gehabt hätte.199 188

Bürkle, Richterliche Alltagstheorien; Maser, Richterliche Alltagstheorien. Titzmann, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 1989, 47–61, 48. 190 Huguenin-Dumittan, Behauptungslast, Substantiierungspflicht und Beweislast, 149. 191 Anderson/Schum/Twining, Analysis of evidence, 269. 192 Titzmann, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 1989, 47–61, 48. 193 Lautmann, in: Fuchs-Heinritz et al. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie. 194 Lenz, in: Endruweit/Trommsdorff (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie in 3 Bänden, Eintrag »Alltagswissen«. 195 Ogorek, in: Ogorek (Hrsg.), Aufklärung über Justiz, 413–438, 419. 196 Ogorek, in: Ogorek (Hrsg.), Aufklärung über Justiz, 413–438, 435 f. 197 Ogorek, in: Ogorek (Hrsg.), Aufklärung über Justiz, 413–438, 436. 198 Stein, Privates Wissen, 32 f. 199 RG, WarnRspr 1920, 88. 189

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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Aussagen, denen man heute in Deutschland oder der Schweiz nicht mehr zustimmen würde – die aber in den Stammesgesellschaften Waziristans im Grenzgebiet von Afghanistan und Pakistan auch heute noch zum kulturellen Wissen zählen. Wer davon ausgeht, dass die gerichtliche Tatsachenfeststellung der Konstruktion einer sozial definierten Realität dient,200 kann gegen die Verwendung sozial akzeptierter Überzeugungen zur Konstruktion dieser Realität nichts einwenden. So schlägt Sommer vor, den Richter an »konsensfähige« oder »allgemein akzeptierte« Erfahrungssätze zu binden.201 Wer wie der Autor die Auffassung vertritt, dass die Tatsachenfeststellung durch das Gericht zum idealen Ziel hat, dass der vom Gericht dem Urteil zugrunde gelegte Sachverhalt mit der Wirklichkeit übereinstimmt, den muss bei Erfahrungssätzen, die sich nur auf Alltagswissen stützen, Unbehagen beschleichen. Zwar mag man den einen Erfahrungssätzen ohne Zögern zustimmen – z. B. der Generalisierung des OLG Hamm, dass es durchaus nicht untypisch für partnerschaftliche Beziehungen sei, dass es dabei zu Irritationen komme202 – während andere zu ungläubigem Kopfschütteln führen,203 aber eine praktikable Abgrenzung von für die Wahrheitsfindung brauchbaren Alltagstheorien zu unbrauchbaren Alltagstheorien wird dadurch nie gelingen. Denn eine Alltagstheorie, die mir einleuchtet, ist einfach eine Alltagstheorie, die meinen persönlichen Vorurteilen entspricht. Das Kriterium der »allgemeinen Akzeptanz« hilft nicht weiter, wenn man das Ziel der gerichtlichen Sachverhaltsermittlung nicht in der Konstruktion einer sozial definierten Realität sieht, sondern in der Übereinstimmung der dem Urteil zugrundeliegenden Tatsachenbehauptungen mit der Wirklichkeit. Diese Einsicht könnte zur idealistischen Forderung führen, dass Gerichte auf die Verwendung von nur auf Alltagstheorien gestützten Erfahrungssätzen verzichten und der Beweiswürdigung nur Erfahrungssätze zugrunde legen, die auf (eigenem oder fremdem, wissenschaftlich oder unwissenschaftlich erhobenem) Faktenwissen beruhen. Praktikabel ist diese Forderung allerdings kaum. Es ist schlicht unvermeidbar, dass der Richter bei der Beweiswürdigung auf Alltagswissen zurückgreift.204 Urteilen ist ohne Vorurteil nicht möglich; zu komplex ist unsere Umwelt, um ohne Schemata und Kategorien verständlich zu sein. Es ist daher zu kurz gegriffen, Richter für ihre Verwendung von Alltagstheorien zu ridikülisieren, wie dies zu Beginn der 1970-er Jahre in der rechtssoziologischen

200 Löschper, Psychologische Theorie richterlichen Urteilens, 68 ff., 342 ff.; Ogorek, in: Ogorek (Hrsg.), Aufklärung über Justiz, 413–438, 436. 201 Sommer, in: Hanack et al. (Hrsg.), Festschrift für Peter Rieß, 585–610, 605. 202 OLG Hamm, FamRZ 1990, 634. 203 Zahlreiche Beispiele bei Ogorek, in: Ogorek (Hrsg.), Aufklärung über Justiz, 413–438, 413 ff. 204 Anderson/Schum/Twining, Analysis of evidence, 272; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rz. 605; Ogorek, in: Ogorek (Hrsg.), Aufklärung über Justiz, 413–438, 435.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

Literatur teilweise gemacht wurde.205 In vollem Bewusstsein, dass sie falsch sein können, wird man nicht umhin kommen, Alltagstheorien bei der Bildung von Erfahrungssätzen zu benutzen. Statt eines idealistischen, aber impraktikablen, Verbots solcher Erfahrungssätze sind pragmatische Vorsichtsmaßnahmen geboten: Erstens sollten solche Erfahrungsätze verstärkt offengelegt, und zweitens verstärkt kontrolliert werden. Gerade weil auf Alltagswissen beruhende Erfahrungssätze mit erhöhter Wahrscheinlichkeit falsch sein können, sollten sie explizit gemacht werden. Statt einfach festzustellen, dass der Zeuge nicht glaubwürdig ist, sollte der Richter explizit festhalten, dass er der Überzeugung ist, dass Unsicherheit ein Zeichen dafür ist, dass jemand nicht die Wahrheit sagt, und der Zeuge bei der Einvernahme unsicher wirkte.206 Die Sicherheit, mit der ein Zeuge eine Aussage macht, wird von vielen Menschen als Anzeichen dafür gesehen, dass die Aussage korrekt ist.207 Psychologische Forschung zeigt, dass zwischen der Sicherheit eines Zeugen und der Fehlerfreiheit seiner Aussage so gut wie kein Zusammenhang besteht.208 Erst wenn man Rechenschaft darüber ablegt, auf welchen Alltagstheorien ein Urteil beruht, können die Annahmen kritisch untersucht werden. Auf Alltagswissen gestützte Erfahrungssätze bestätigen die bereits vorne (S. 371) gemachte Aussage, dass man Erfahrungssätze zwar als Aussagen zur relativen Häufigkeit eines Merkmals in einem Kollektiv konzeptualisieren kann, dies aber nicht dazu führen darf, dass man vergisst, kritisch zu untersuchen, wie die relativen Häufigkeiten ermittelt wurden. Als Denkmodell ist die Vorstellung von Erfahrungssätzen als Aussagen zur relativen Häufigkeiten in einem Kollektiv dennoch nützlich, weil es die Annahmen aufzeigt, die dem Schluss aus einem Erfahrungssatz auf den Einzelfall zugrunde liegen (gleich nachstehend). Von Erfahrungssätzen, die sich nur auf kulturelles Wissen stützen können, geht eine besondere Gefahr für die Sachverhaltsrekonstruktion aus, wenn man als Ziel der Beweiswürdigung nicht die soziale Konstruktion der Wirklichkeit, sondern die Übereinstimmung der Rekonstruktion mit der Außenwelt betrachtet. Wegen dieser Gefahr rechtfertigt es sich, auf Alltagswissen beruhende Erfahrungssätze 205

Schünemann, in: Lampe (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsanthropologie, 68–84, 74. Sicheres Auftreten gilt gemäß einer richterlichen Alltagstheorie als Signal einer wahren Aussage, unsicheres als Signal für eine falsche Aussage, Bürkle, Richterliche Alltagstheorien, 33 f. 207 Whitley/Greenberg, Journal of Applied Social Psychology 1986, 387–409; Cutler/Penrod/ Dexter, Law and Human Behavior 1990, 185–191; Brewer/Burke, Law and Human Behavior 2002, 353–364; Sporer, in: Engel/Strack (Hrsg.), Psychology of judicial decision making, 111–150, 124. 208 Deffenbacher, Law and Human Behavior 1980, 243–259; Penrod/Cutler, Psychology, Public Policy, and Law 1995, 817–845; Shaw/McClure, Law and Human Behavior 1996, 629– 653; Tetterton/Warren, Criminal Justice and Behavior 2005, 433–451; Sporer, in: Engel/Strack (Hrsg.), Psychology of judicial decision making, 111–150, 124; siehe aber Youngs/Kebbell, Journal of Investigative Psychology and Offender Profiling 2009, 11–23; Holmes/Weaver, Applied Psychology in Criminal Justice 2010, 47–61. 206

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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im Rechtsmittelverfahren verstärkt zu überprüfen. Die spezielle Behandlung, die auf allgemeine Lebenserfahrung gestützte Erfahrungssätze revisionsrechtlich erfahren, lässt sich dadurch erklären und rechtfertigen (hinten, S. 402 ff.). d) Schließen mit Erfahrungssätzen Dem Schluss vom Erfahrungssatz auf den Einzelfall liegt ein klassischer Syllogismus zugrunde, wie dies von Stein ja auch beabsichtigt wurde. Im einfachsten Fall eines sicheren (deterministischen oder zwingenden) Erfahrungssatzes ist der Schluss denkbar einfach und hat die Form Alle Mitglieder der Klasse R haben Eigenschaft Q. X ist ein Mitglied der Klasse R. Also hat X die Eigenschaft Q. Aus »Alle Menschen sind sterblich« und »Sokrates ist ein Mensch« folgt, dass Sokrates sterblich ist. Weil der Erfahrungssatz »Alle Menschen sind sterblich« wie jeder Erfahrungssatz auf Induktion beruht, ist der Schluss aus einem sicheren Erfahrungssatz nur unter der Annahme der Gleichförmigkeit der Natur zulässig – d. h., nur, wenn alle Menschen auch in Zukunft sterben werden, wie sie dies in der Vergangenheit getan haben, ist der Schluss sicher. Dies ist allerdings eine Annahme, die sich nicht begründen lässt, worauf David Hume als erster hinwies.209 Hume hat aber auch darauf hingewiesen, dass sich der Glaube an diese Gleichförmigkeit, oder vielleicht besser Gesetzmäßigkeit, der Natur zwar rational nicht begründen lässt, aber unverzichtbar ist für die menschliche Existenz.210 Denn alles Handeln wäre unmöglich, wenn man überhaupt nicht drauf zählen könnte, dass das, was uns eine durchgängige Erfahrung in der Vergangenheit gelehrt hat, auch in Zukunft gilt. Der philosophische Einwand gegen den Induktionsschluss braucht uns als Juristen nicht zu beunruhigen, weil bei der Feststellung von Tatsachen vor Gericht unstreitig keine absolute Gewissheit verlangt werden darf, sondern eine »an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit« genügt. Zwingende Erfahrungssätze, die mit an Sicherheit grenzender (subjektiver) Wahrscheinlichkeit zutreffen, gibt es zweifellos – der Satz, dass alle Menschen sterblich sind, gehört sicherlich dazu.211 Solche Sätze dürfen, Induktionsproblem hin oder her, benutzt werden, ja sie müssen bei der Tatsachenfeststellung durch den Richter beachtet werden.

209 Hume, Enquiries Concerning the Human Understanding, 37 f. Weiterführend zum Induktionsproblem bei der Bildung von Erfahrungssätzen Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 326 ff. 210 Hume, Enquiries Concerning the Human Understanding, 55. 211 Ekelöf, Scandinavian studies in law 1964, 45–66, 51; Sommer, in: Hanack et al. (Hrsg.), Festschrift für Peter Rieß, 585–610, 605.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

Beim Schließen aus einem unsicheren (statistischen) Erfahrungssatz wird der vorne, S. 351 ff., erläuterte Bayes’sche statistische Syllogismus angewandt.212 Der Erfahrungssatz wird dabei als Aussage zur relativen Häufigkeit einer Eigenschaft in einem Kollektiv verstanden. Wenn die Prämissen des Bayes’schen statistischen Syllogismus zutreffen, ist der Schluss von der relativen Häufigkeit in der Referenzklasse auf den persönlichen Überzeugungsgrad, dass das Merkmal im Einzelfall vorliegt, zwingend. Das bedeutet, dass dort, wo die relative Häufigkeit über der Entscheidungsschwelle liegt, das entsprechende Merkmal als gegeben zu erachten ist. Ein Verstoß gegen die Freiheit der Beweiswürdigung ist darin nicht zu sehen.213 Die Beweiswürdigung ist eben nur im Rahmen der Denkgesetze und Erfahrungssätze frei, und der Bayes’sche statistische Syllogismus ist ein Denkgesetz. Zweifel, die ein Richter bei einem Schluss aus einem Erfahrungssatz mit einer relativen Häufigkeit von 0,99 auf den Einzelfall hat, sind unbeachtlich. Er ist unter den Umständen nicht mehr frei, zu zweifeln, weil die Freiheit der Beweiswürdigung nicht absolut ist.214 Fehl geht auch der Einwand, aus der statistischen Häufigkeit ließe sich nichts zur Wahrscheinlichkeit des Einzelfalles ableiten.215 Wenn die Prämissen des Bayes’schen statistischen Syllogismus zutreffen, ist der Schluss von der relativen Häufigkeit in der Referenzklasse auf die Wahrscheinlichkeit des Einzelfalls nicht nur zulässig, sondern sogar zwingend. Entscheidend ist, dass die Prämissen zutreffen müssen, damit der Schluss wahr ist. Angreifen lässt sich die aus dem Bayes’schen statistischen Syllogismus folgende Konklusion wie jede aus einem logischen Argument folgende Konklusion, wenn eine der Prämissen nicht zutrifft. Versteht man die Kritik am Schluss von der statistischen Häufigkeit auf die Wahrscheinlichkeit des Einzelfalls als Kritik daran, dass die Prämissen des Schlusses unkritisch als wahr unterstellt werden, obwohl sie im konkreten Fall nicht zutreffen, ist die Kritik sicher berechtigt. Aber das macht die Schlussform nicht ungültig. Die drei Prämissen des Bayes’schen statistischen Syllogismus sind wie erwähnt (S. 352) 1. 2. 3.

Die relative Häufigkeit der Eigenschaft Q in der Klasse R ist γ (= Erfahrungssatz). ai ist ein Mitglied der Klasse R (= der konkrete Fall ist ein Mitglied der Referenzklasse). Die Wahrscheinlichkeit, dass ai die Eigenschaft Q aufweist, ist für mich gleich groß wie für jedes andere Mitglied der Klasse R (= die Referenzklasse ist – zumindest epistemisch – homogen).

212 Ähnlich Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 288 f., allerdings ohne die Homogenität der Referenzklasse explizit als Prämisse zu nennen; ihnen folgend Rommé, Anscheinsbeweis, 16 f. 213 A. M. Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 104 f.; Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 325. 214 A. M. Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 104 f.; Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 325. 215 So Schulz, Beweistheorie, 295 ff., 303; Müller, in: Kühne et al. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Rosinski zum 70. Geburtstag am 11. Juli 2002, 219–238, 236.

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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Ob die erste Prämisse, der statistische Erfahrungssatz, zutrifft, hängt wesentlich davon ab, worauf er sich stützt. Offensichtlich spielt es eine Rolle, ob er sich auf zehn oder zehntausend Beobachtungen stützen kann, oder ob er gar ganz ohne empirische Basis unter Bezug auf eine Alltagstheorie aufgestellt wird. Trifft die angenommene relative Häufigkeit in Wirklichkeit nicht zu, ist der Schluss auf die subjektive Wahrscheinlichkeit des Einzelfalls nicht gerechtfertigt. Ob der Erfahrungssatz zutrifft, ist eine empirische Frage, die sich mit theoretischen Überlegungen nicht beantworten lässt. Dass die zweite Prämisse, dass X ein Mitglied der Klasse R ist, zutreffen muss, damit der Schluss gültig ist, ist ebenfalls selbstverständlich. So berief sich der Kläger in dem vom Oberlandesgericht Düsseldorf mit Urteil vom 7. März 1996 entschiedenen Fall auf den angeblichen höchstrichterlichen Erfahrungssatz, dass jemand, der HIV-positiv ist, eine Blutkonserve erhalten hat und weder homosexuell noch drogenabhängig ist, vermutungsweise durch die Blutkonserve angesteckt wurde.216 Das Oberlandesgericht wies darauf hin, dass der vom BGH abgesegnete Erfahrungssatz nur Anwendung findet, wenn nachgewiesen ist, dass die verabreichte Blutkonserve HIV-kontaminiert ist.217 Dies war beim Kläger gerade nicht der Fall. Der zu beurteilende Einzelfall war daher kein Mitglied der durch den Erfahrungssatz gebildeten Klasse, und der Anscheinsbeweis misslungen. Die in der Praxis am schwierigsten zu rechtfertigende Prämisse ist die dritte Annahme, dass die Klasse homogen ist. Bei den in der juristischen Praxis relevanten Erfahrungssätzen, die meist nicht kontrollierte Experimente wie eine Serie von Münzenwürfen betreffen, lässt sich die Annahme, dass die Referenzklasse (epistemisch) homogen ist, häufig kaum rechtfertigen. Insofern haben Kritiker Recht, die sagen, es könne bei einem Schluss aus einem statistischen Erfahrungssatz wegen des Mehrdeutigkeitsproblems immer Zweifel geben.218 Die Zweifel beziehen sich aber nicht auf den Schluss, der gültig ist, sondern auf die Prämisse, die dem Schluss zugrunde liegt. So stellt die deutsche Rechtsprechung den Erfahrungssatz auf, »dass einem Kraftfahrer, der mit dem von ihm geführten Kraftfahrzeug von einer geraden und übersichtlichen Fahrbahn abkommt, ein bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt vermeidbarer Fahrfehler zur Last fällt.«219 Dieser Erfahrungssatz ist aber nicht anwendbar, wenn der beklagte Autofahrer kurz vor dem Abkommen von der Fahrbahn bei Gegenverkehr von einem anderen PKW überholt und der Überholvorgang nur knapp vor dem verunfallten Fahrzeug abgeschlossen wurde.220 Der BGH spricht davon, dass es in diesem Fall an der »Typizität« des Geschehensablaufs fehle. Damit wird letztlich ausgedrückt, dass der Fall in eine Unterklasse der Klasse »alle auf gerader und übersichtlicher 216 217 218 219 220

BGH NJW 1996, 1599, 1600. BGH NJW 1996, 1599, 1600. Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 399 f. BGH NJW 1996, 1828, m. w. H. BGH NJW 1996, 1828.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

Strecke von der Fahrbahn abgekommene Fahrer« fällt, für die nicht die gleiche Wahrscheinlichkeit gilt, dass das Abkommen auf ein Verschulden des Fahrzeugführers zurückzuführen ist. Die Prämisse der Homogenität der Referenzklasse trifft also nicht zu, weshalb der Schluss von der relativen Häufigkeit in der Klasse auf die subjektive Wahrscheinlichkeit des Einzelfalles ausgeschlossen ist. Die Rechtsprechung hat zwei Ansätze entwickelt, um dem Problem der inhomogenen Referenzklasse beizukommen. Einerseits wird verlangt, dass alle bekannten Umstände des Einzelfalles berücksichtigt werden.221 Das kann man als Aufforderung verstehen, die Referenzklasse zu bilden, welche die meisten gemeinsamen Merkmale mit dem Einzelfall aufweist, die also die engste im Sinne von Reichenbach ist. Lässt sich für diese Klasse die Behauptung nicht mehr halten, dass ein großer Teil ihrer Mitglieder die umstrittene Eigenschaft haben, so kann der Beweis mittels des Erfahrungssatzes nicht geführt werden. Weiter steht dem Beweisgegner dort, wo der Beweis im Wesentlichen auf einem (explizit formulierten) Erfahrungssatz beruht, der Gegenbeweis offen, dass es im zu beurteilenden Fall an der Typizität des Geschehensablaufs fehle.222 Dies lässt sich zwanglos als Nachweis verstehen, dass die Referenzklasse nicht homogen ist und der zu beurteilende Einzelfall in eine Unterklasse fällt, für welche die Wahrscheinlichkeit des zu beweisenden Geschehensablaufs eine andere ist. Der Schluss von der Zugehörigkeit zur Referenzklasse auf die subjektive Wahrscheinlichkeit des Einzelfalles ist dann nicht mehr gerechtfertigt. e) Der Inhalt von Erfahrungssätzen: Aussagen zur Likelihood oder zur a-posteriori-Wahrscheinlichkeit? Bayes’ Regel legt eine in Lehre und Rechtsprechung bisher nicht gemachte Unterscheidung der Erfahrungssätze nach ihrem Inhalt nahe, in dem Sinne, dass man sich immer fragen muss, ob ein Erfahrungssatz eine Aussage zur a-posterioriWahrscheinlichkeit der zu beweisenden Tatsachenbehauptung erlaubt oder nur zur bedingten Wahrscheinlichkeit, dass ein Indiz vorliegt unter der Voraussetzung, dass die Tatsachenbehauptung wahr ist – also zur Likelihood in der Terminologie von Bayes’ Regel. Ist der Erfahrungssatz, dass bei einer Kollision mit einem überholenden Fahrzeug beim Rechtsabbiegen höchstwahrscheinlich der Schulterblick unterlassen wurde, zu verstehen als eine Aussage i)

zur Wahrscheinlichkeit, dass der Schulterblick unterlassen wurde bei gegebener Kollision; oder ii) zur Wahrscheinlichkeit, dass eine Kollision erfolgt bei gegebener Unterlassung des Schulterblicks? 221

BGH NJW 2001, 1140, 1141. BGH NJW 1987, 2876, 2877; ständige Rsp. Musielak/Stadler, JUS 1980, 739–742, 739, sprechen vom »Nachweis einer Ausnahmesituation«. 222

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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Ersteres, Pr(Schulterblick|Kollision), ist das, was den Richter letztlich interessiert, denn die strittige und entscheidende Frage ist, ob der unterlassene Schulterblick Ursache der Kollision ist, oder ob die Kollision eine andere Ursache hat. Pr(Kollision|Schulterblick) ist die Likelihood, die zur Bestimmung der Beweiskraft des Indizes, dass ein Unfall stattgefunden hat, für die Wahrscheinlichkeit, dass der Schulterblick erfolgt ist, herangezogen werden muss. Die beiden bedingten Wahrscheinlichkeiten werden oft verwechselt, sind aber nicht gleichzusetzen (vorne, S. 254 f.). Die Rechtsprechung geht unausgesprochen davon aus, dass sich Erfahrungssätze – namentlich beim Anscheinsbeweis, denn dort werden sie explizit formuliert – auf die Wahrscheinlichkeit Pr(Ursache|Folge) beziehen, oder anders gesagt, auf die Wahrscheinlichkeit, dass die zu beweisende Tatsache die Ursache der beobachteten Folge ist. Dies schließe ich daraus, dass sich in den Urteilen keine Erwägungen zur Anfangswahrscheinlichkeit finden, die notwendig wären, um von der Wahrscheinlichkeit Pr(Folge|Ursache) zur interessierenden a-posterioriÜberzeugung zu gelangen.223 Es ist aber alles andere als klar, ob die angenommenen Erfahrungssätze tatsächlich eine Aussage zu dieser Wahrscheinlichkeit zulassen, oder ob ihnen eine Verwechslung der bedingten Wahrscheinlichkeiten (»fallacy of the transposed conditional«224 ) zugrunde liegt. Überall dort, wo Erfahrungssätze zum Schluss von einer beobachteten Folge auf eine unbeobachtete Ursache verwendet werden,225 muss sorgfältig geprüft werden, zu welcher bedingten Wahrscheinlichkeit der Erfahrungssatz tatsächlich eine Aussage machen kann. Erfahrungssätze, die auf empirischen Daten beruhen, werden oft zur Likelihood Pr(Folge|Ursache) sein, weil man das Indiz bei (nicht) gegebener Ursache beobachten kann, die Frage, ob die Ursache gegeben ist, wenn die Folge beobachtet wird, aber nicht der Sinneswahrnehmung zugänglich ist. So können empirische Daten über die Häufigkeit von Serotypen bei nicht-verwandten Kaukasiern erhoben werden. Aufgrund dieser Daten weiß man, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass das Indiz (gleicher Serotyp) vorliegt, wenn jemand nicht mit einer anderen Person verwandt ist. Wenn man auch weiß, wie groß diese Wahrscheinlichkeit ist, wenn die Person mit einer anderen Person verwandt ist, kann man den Likelihood-Quotienten, und damit die Beweiskraft, errechnen, die das Indiz »gleicher Serotyp« für die Verwandtschaft hat. Man kann ohne Berücksichtigung der Anfangswahrscheinlichkeit aber nie eine Aussage zur Wahrscheinlichkeit machen, dass die Person mit dem gleichen Serotypen mit der

223 Ausnahmen sind BGH NJW 1989, 3161, und BGH NJW 2006, 3416, die sich explizit mit Bayes’ Regel befassen. 224 Hastie/Dawes, Rational choice in an uncertain world, 121; Stanovich, Decision making and rationality, 73. 225 Dies ist auch beim Anscheinsbeweis zulässig, BGH NJW 1991, 230, 231.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

anderen Person tatsächlich verwandt ist, d. h. dass die Ursache der beobachteten Übereinstimmung die Verwandtschaft der Personen (und nicht Zufall) ist. Aber auch bei zahlreichen auf Alltagstheorien basierenden Erfahrungssätzen liegen den Erfahrungssätzen bei genauer Betrachtung Überlegungen zu Grunde, die nur etwas zu den Likelihoods Pr(Folge|Ursache) und Pr(Folge|¬Ursache) sagen können. Dies gilt genauso für den »klassischen« Erfahrungssatz zum Verschulden des Schiffsführers von Schleppkähnen226 , wie für Erfahrungssätze zu Brandursachen227 und für die zahlreichen Erfahrungssätze im Straßenverkehrsrecht.228 Im Straßenverkehrsrecht spielen Erfahrungssätze eine große Rolle, weil die Unfallursache meist nicht direkt nachgewiesen werden kann. So kann der mit einem Linksabbieger kollidierte Überholende kaum je konkret beweisen, dass der Linksabbieger seiner Pflicht zur doppelten Rückschau (über den Rückspiegel und über die Schulter) nicht nachgekommen ist.229 Weil jedoch »ein Geschehen vorliegt, das so abgelaufen ist wie eine Vielzahl gleichartiger Fälle, in denen ein Verschulden eingeräumt oder konkret festgestellt wurde, wird angenommen, dass auch in diesem Fall ein Verschulden vorliegt.«230 Man könnte also den Erfahrungssatz annehmen »Wenn ein Linksabbieger unmittelbar vor einem überholenden Fahrzeug links abbiegt, hat er mit höchster Wahrscheinlichkeit die zweite Rückschau unterlassen.«231 Dies wäre ein Erfahrungssatz zur a-posterioriWahrscheinlichkeit Pr(Ursache|Folge), der einen direkten Schluss darauf erlauben würde, ob im Einzelfall eine ausreichend hohe Überzeugung vorliegt, dass der abbiegende Fahrzeuglenker die doppelte Rückschau unterlassen hat. Aber kann man tatsächlich einen Erfahrungssatz dieses Inhalts aufstellen? Als Quelle des Erfahrungssatzes kommen empirische Daten in Frage, also zahlreiche beobachtete Fälle, in denen der Linksabbieger zugegeben hat, dass er die zweite Rückschau unterlassen hat. Aber hat das Gericht Zugriff auf entsprechende Daten? Eigene Erfahrung wird das Gericht mit solchen Fällen kaum haben, denn wenn die Schuld zugegeben wurde, wird der Fall in der Regel nicht vor Gericht verhandelt. Beruht der Erfahrungssatz tatsächlich auf einer »Vielzahl gleichartiger Fälle, in denen das Verschulden konkret festgestellt wurde«232 ? Das ist nicht auszuschließen, aber ebenfalls unwahrscheinlich: Der Anscheinsbeweis ist im Straßenverkehrsrecht gerade deshalb so wichtig, weil der konkrete Nachweis des Verschuldens selten möglich ist. Es dürften dem Richter meist nicht eine 226

BGH NJW 1952, 1137. BGH NJW 2010, 1072. 228 Zu diesen Metz, NJW 2008, 2806–2812, 2807 ff. 229 Metz, NJW 2008, 2806–2812, 2807. 230 Metz, NJW 2008, 2806–2812, 2807. 231 Der Erfahrungssatz gilt nicht ohne Rücksicht auf die konkreten Umstände (Inhomogenität der Referenzklasse!), siehe z. B. OLG Hamm, NZV 2007, 77, aber das soll jetzt nicht Thema sein. 232 Metz, NJW 2008, 2806–2812, 2807. 227

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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»Vielzahl gleichartiger Fälle« bekannt sein, in denen das Verschulden – z. B. durch Zeugenaussagen – konkret nachgewiesen wurde (zumal auch ein »konkreter« Nachweis hier immer ein mittelbarer Beweis bleiben muss, weil sich die unterlassene doppelte Rückschau der direkten Beobachtung durch den Richter entzieht und höchstens durch Zeugen oder Videoaufnahmen bewiesen werden könnte). Vielmehr scheint der Erfahrungssatz auf dem Alltagswissen zu beruhen, dass der Unfall kaum stattgefunden hätte, wenn der abbiegende Autofahrer den doppelten Seitenblick korrekt vollzogen hätte, weil er dann (höchstwahrscheinlich) das überholende Fahrzeug gesehen hätte und (höchstwahrscheinlich) nicht abgebogen wäre. Anders gesagt, die Wahrscheinlichkeit Pr(Unfall|Rückschau) ist gering, weil alternative Ursachen für den Unfall schwer vorstellbar sind. Andererseits ist die Wahrscheinlichkeit Pr(Unfall|¬Rückschau) hoch – natürlich führt nicht jeder unterlassene Seitenblick beim Linksabbiegen zu einem Unfall, aber dann, wenn sich im Moment des Abbiegens von hinten ein überholendes Auto nähert. Dass sich im konkreten Fall ein Auto genähert hat, weiß man (sonst wäre es nicht zur Kollision gekommen). Was den Richter eigentlich interessiert, ist aber nicht die Likelihood Pr(Unfall| ¬Rückschau), zu der man aufgrund von den genannten Plausibilitätsüberlegungen eine Aussage treffen kann, sondern die a-posteriori-Überzeugung Pr(¬Rückschau|Unfall), d. h. wie wahrscheinlich ist es, dass die Rückschau unterlassen wurde, wenn es zum Unfall kam? Es wäre ein Fehlschluss, allein daraus, dass ein Unfall bei gegebener doppelter Rückschau selten ist, zu schließen, dass im zu beurteilenden Fall die Rückschau unterlassen wurde. Um von den Likelihoods Pr(Unfall|Rückschau) und Pr(Unfall|¬Rückschau) zur interessierenden a-posteriori-Überzeugung zu gelangen, bedarf es der Anwendung von Bayes’ Regel, und damit einer Annahme zur Anfangswahrscheinlichkeit. Zusammengefasst gesagt, muss man sich immer überlegen, ob die angenommenen Erfahrungssätze sich auf die Wahrscheinlichkeit der Ursache bei beobachteter Folge beziehen, oder auf die Likelihood der Folge bei gegebener Ursache. f) Die Beweiskraft von Erfahrungssätzen aa) Die Beweiskraft von Erfahrungssätzen zur Wahrscheinlichkeit Pr(Hypothese|Indizien) Die Beweiskraft eines Erfahrungssatzes hängt erstens von der (fingierten) relativen Häufigkeit ab, mit der das relevante Merkmal in der Referenzklasse vorliegt. Darauf hat, ohne expliziten Bezug auf relative Häufigkeiten, bereits Stein hingewiesen.233 Das deutsche Schrifttum hat sich denn auch intensiv mit der Frage 233 Stein, Privates Wissen, 28 (sichere und unsichere Erfahrungssätze unterscheiden sich nur im Beweiswert); Rommé, Anscheinsbeweis, 145, spricht explizit davon, dass die Beweiskraft des Erfahrungssatzes von der »Wahrscheinlichkeitsquote« abhängt, mit der der Erfahrungssatz den Zusammenhang zweier Merkmale behauptet.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

befasst, wann ein Erfahrungssatz »gesichert« genug ist, um Grundlage für den Anscheinsbeweis zu bilden (d. h. die volle richterliche Überzeugung zu begründen).234 »Gesichert« wird dabei, das geht aus der Lektüre der entsprechenden Literaturstellen hervor, als hohe relative Häufigkeit verstanden, mit der das Merkmal in der Referenzklasse vorliegt.235 Der beweiskräftigste Erfahrungssatz ist der zwingende oder deterministische, bei dem ausnahmslos alle Mitglieder der Referenzklasse das Merkmal aufweisen. Statistische oder unsichere Erfahrungssätze haben eine hohe Beweiskraft, wenn die allermeisten Mitglieder der Referenzklasse die interessierende Eigenschaft aufweisen (z. B. »Die allermeisten 2010 in Deutschland verkauften Neuwagen verfügen über ein Anti-Blockier-System (ABS)«236 ). Die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Mitglied der Referenzklasse die relevante Eigenschaft aufweist, ist aber offensichtlich nicht das einzige, das den Beweiswert des Erfahrungssatzes beeinflusst. Entscheidend ist auch, wie sicher es ist, dass diese Wahrscheinlichkeit vorliegt. Es muss unterschieden werden zwischen der Beweiskraft, die der Erfahrungssatz hat, wenn er zutrifft, und der Wahrscheinlichkeit, dass er zutrifft.237 Man könnte ersteres die »Unsicherheit des Erfahrungssatzes« und letzteres die »Unsicherheit über den Erfahrungssatz« nennen. Dies sind zwei konzeptuell verschiedene Größen, die in der deutschsprachigen juristischen Literatur meist nicht unterschieden werden.238 Der Erfahrungssatz »Alle Autofahrer, die einem anderen Fahrzeug hinten auffahren, handeln schuldhaft«, würde den sicheren Schluss erlauben, dass ein Autofahrer, der einem anderen aufgefahren ist, schuldhaft gehandelt hat. Er trifft aber offensichtlich nicht zu.239 Der Erfahrungssatz »Manche Autofahrer, die einem anderen Fahrzeug hinten auffahren, handeln schuldhaft« wird von niemandem bezweifelt, aber er erlaubt nicht einen Schluss auf den Einzelfall, der den notwendigen richterlichen Überzeugungsgrad begründet. Der Erfahrungssatz »95% der Autofahrer, die einem anderen Fahrzeug hinten auffahren, handeln schuldhaft«, genügt hingegen, wenn 234 Hainmüller, Anscheinsbeweis, 27 ff.; Walter, ZZP 1977, 270–284, 279 ff.; Prütting, Beweislast, 106 ff. 235 Hainmüller, Anscheinsbeweis, 28, verlangt z. B., dass das Merkmal »in aller Regel« vorliegt; Walter, ZZP 1977, 270–284, 282, eine »sehr hohe Wahrscheinlichkeit«; Prütting, Beweislast, 106, »meist«. 236 99% aller Neuwagen werden mit ABS ausgeliefert, siehe www.n-tv.de/auto/ABS-undRadio-muessen-sein-article3072801.html (besucht am 26. September 2011). 237 Anderson/Schum/Twining, Analysis of evidence, 264. 238 Wie hier Kuchinke, Grenzen der Nachprüfbarkeit tatrichterlicher Würdigung, 182, der zwischen dem »Grad der Sicherheit, mit der das Bestehen eines Satzes bestimmten Inhalts anerkannt werden kann« und dem »Grad der Sicherheit, mit der sich auf seiner Grundlage Sachverhalte beurteilen lassen«, unterscheidet; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 283, 287, 326; Risthaus, Erfahrungssätze, Rz. 781. 239 Die Rechtsprechung zu den Erfahrungssätzen beim Auffahrunfall ist beinahe uferlos; keiner der von der Rechtsprechung angenommenen Erfahrungssätze ist so simpel wie die hier verwendeten, der nur als Beispiele dienen sollen. Für einen Überblick über die neuere Rechtsprechung siehe Metz, NJW 2008, 2806–2812, 2808 ff. und BGH NJW 2011, 685.

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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keine Anzeichen vorliegen, dass er im Einzelfall nicht anwendbar ist, eine richterliche Überzeugung von mehr als 90% zu rechtfertigen, dass der Auffahrende schuldhaft gehandelt hat. Ob er zutrifft, darüber lässt sich aber trefflich streiten. Bei der Beurteilung der Beweiskraft eines Erfahrungssatzes sind daher beide Wahrscheinlichkeiten, die Überzeugung, dass der Erfahrungssatz richtig ist, und die implizit behauptete relative Häufigkeit des Merkmal in der Referenzklasse, zu berücksichtigen. Meist werden diese beiden Wahrscheinlichkeiten unabhängig sein – denn die erstere hängt von meinem Wissen über den Erfahrungssatz, also dessen Quelle, ab, die letztere von der relativen Häufigkeit der relevanten Eigenschaft in der Referenzklasse; und beides hat wenig miteinander zu tun. In der Regel wird es daher zulässig sein, die Wahrscheinlichkeiten durch die Produktregel zu kombinieren. Wenn ich mir zu 80% sicher bin, dass 90% aller Autofahrer, die einem anderen Autofahrer hinten auffahren, schuldhaft gehandelt haben, dann kann ich mir (nur) zu 72% sicher sein, dass ein Auffahrunfall auf ein Verschulden des Auffahrenden zurückzuführen ist. Häufig wird es einfacher sein, nur mit Erfahrungssätzen zu arbeiten, von deren Korrektheit der Richter überzeugt ist. Eine größere Sicherheit kann erreicht werden, wenn man von einer geringeren (angenommenen) relativen Häufigkeit ausgeht. Während sich der Richter vielleicht nur zu 80% sicher ist, dass 90% aller Auffahrunfälle auf Verschulden des Auffahrenden zurückzuführen sind, ist er sich möglicherweise zu 100% sicher, dass 75% aller Auffahrunfälle durch den hinten Fahrenden verursacht werden. Es ist anzunehmen, dass diese intuitive Reduktion der Beweiskraft des Erfahrungssatzes, bis man sich des Inhalts des Satzes sicher ist, der Beobachtung zu Grunde liegt, dass Lehre und Rechtsprechung die Unsicherheit über den Erfahrungssatz meist nicht thematisieren. bb) Die Beweiskraft von Erfahrungssätzen zur Likelihood Pr(Indizien|Hypothese) Die Beweiskraft eines Erfahrungssatzes des Inhaltes Pr(Indizien|Hypothese) hängt nicht vom absoluten Wert dieser Wahrscheinlichkeit ab, sondern vom Verhältnis dieser Wahrscheinlichkeit zur Likelihood Pr(Indizien|¬Hypothese). Es ist immer der Likelihood-Quotient maßgebend (vorne, S. 143 ff.). Ein (halbwegs) aktuelles Beispiel mag dies nochmals veranschaulichen. Der BGH nimmt in seiner neusten Rechtsprechung den Erfahrungssatz an, dass jemand, von dessen Bankkonto kurz nach Verlust der EC-Karte mit der ECKarte und der zugehörigen Geheimzahl Geld abgehoben wurde, die Geheimzahl zusammen mit der EC-Karte aufbewahrt hat, wenn keine Möglichkeit bestand, die Geheimzahl beim Bargeldbezug auszuspähen.240 240 BGH NJW 2004, 3623; bestätigt durch BGH, Beschluss vom 6. Juli 2010 – XI ZR 224/09. Die Klägerin hatte geltend gemacht, sie hätte die EC-Karte an dem Tag, an dem sie gestohlen wurde, nicht gebraucht, so dass ein Ausspähen der Geheimzahl ausgeschlossen wurde.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

Als Ursache für die korrekte Eingabe der Geheimzahl beim ersten Versuch kommen vier Möglichkeiten in Betracht: i) die Geheimzahl wurde zusammen mit der Karte aufbewahrt; ii) die Geheimzahl wurde bei ihrer Eingabe in ein Terminal ausgespäht; iii) die Verschlüsselung der auf der Karte gespeicherten Geheimzahl wurde geknackt; und iv) der Dieb hat die Geheimzahl beim ersten Versuch richtig erraten. Gemäß Sachverhalt wurde die Möglichkeit des Ausspähens ausgeschlossen, weil die Besitzerin der Karte diese an dem Tag, als sie gestohlen wurde, nicht eingesetzt hatte. Dass die mit einem 128-bit Schlüssel verschlüsselte Geheimzahl geknackt wurde, schloss der BGH unter Bezug auf Sachverständigengutachten aus.241 Es verbleiben also die beiden möglichen Ursachen, dass die Geheimzahl zusammen mit der EC-Karte aufbewahrt wurde oder dass der Dieb die Geheimzahl richtig geraten hat. Bei einer vierstelligen Geheimzahl gibt es 10’000 Variationen des Codes. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Geheimzahl beim ersten Versuch richtig eingegeben wird, beträgt daher 1:9’999 oder 0,1‰. Ohne es ausdrücklich auszusprechen, scheint dem Urteil des BGH die Überlegung zu Grunde zu liegen, dass folglich eine Wahrscheinlichkeit von 1 – 0,1‰ = 99,999% dafür spricht, dass die Klägerin die Geheimzahl zusammen mit der EC-Karte aufbewahrt hat. Die Wahrscheinlichkeit von 0,0001 (= 0,1‰) ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Geheimzahl richtig eingegeben wird, obwohl sie nicht zusammen mit der EC-Karte aufbewahrt wurde, also Pr(richtige Zahl|nicht gemeinsam aufbewahrt). Relevant ist aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Geheimzahl mit der Karte aufbewahrt wurde, wenn die richtige Zahl kurz nachher eingegeben wurde, also Pr(gemeinsam aufbewahrt|richtige Zahl). Zu dieser Wahrscheinlichkeit kann man nur unter Berücksichtigung der Anfangswahrscheinlichkeit gelangen, dass die Klägerin die Geheimzahl zusammen mit ihrer EC-Karte aufbewahrt hat. Das Indiz »richtige Eingabe ohne Fehlversuch« hat eine sehr hohe Beweiskraft, weil man davon ausgehen kann, dass es bei gemeinsamer Aufbewahrung von Karte und Geheimzahl mit Sicherheit vorliegt, also Pr(richtige Zahl| gemeinsam aufbewahrt) = 1, und bei nicht gemeinsamer Aufbewahrung eben sehr selten, Pr(richtige Zahl| nicht gemeinsam aufbewahrt) = 0,0001. Der Likelihood-Quotient zugunsten der Hypothese, dass die Klägerin die Geheimzahl zusammen mit der EC-Karte aufbewahrt hat, ist daher 10’000, was gemäß den vorne, S. 148, dargestellten verbalen Umschreibungen »sehr stark«, »außerordentlich stark« oder gar »bestimmend« ist. Dennoch kann die Überzeugung ohne eine Annahme zur Anfangswahrscheinlichkeit, dass die Geheimzahl zusammen mit der EC-Karte aufbewahrt wurde, nicht rational gebildet werden. Abbildung 51 zeigt grafisch den Zusammenhang zwischen Anfangswahrscheinlichkeit und a-posteriori-Überzeugung bei einem Likelihood-Quotienten des 241

BGH NJW 2004, 3623, 3624.

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

395

1 0.9

a-posteriori Wahrscheinlichkeit

0.8 0.7 0.6 0.5 0.4 0.3 0.2 0.1 0

0.00001 0.0001 0.001 0.01 0.1 a-priori Wahrscheinlichkeit

0.5

Abbildung 51: A-posteriori-Wahrscheinlichkeit bei einem Likelihood-Quotienten von 10’000 zugunsten der Hypothese.

Indizes von 10’000 zugunsten der Hypothese. Wenn die Anfangswahrscheinlichkeit, dass jemand seine Geheimzahl zusammen mit der EC-Karte aufbewahrt, 0,1% beträgt – zu diesem Schluss könnte man gelangen, wenn 1 von 1’000 zufällig ausgewählten Personen die Geheimzahl mit der Karte gemeinsam aufbewahrt – dann beträgt die a-posteriori-Überzeugung, dass die Geheimzahl gemeinsam mit der EC-Karte aufbewahrt wurde, rund 90%, wenn die Zahl ohne Fehlversuch richtig eingegeben wurde. Bewahrt 1 von 100 Personen die Geheimzahl zusammen mit der Karte auf, dann beträgt die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit bei gleichem Likelihood-Quotienten knapp über 99%. Wie viele Menschen bewahren ihre Geheimzahl gemeinsam mit ihrer EC-Karte auf? Dies ist eine empirische Frage. Die Antwort darauf ist so schwierig nicht zu eruieren. Anfang Februar 2012 habe ich einer nach Geschlecht und Alter für die deutsche Bevölkerung repräsentativen Stichprobe von 507 Internet-Nutzern in einer Online-Befragung unter anderem die Frage gestellt »Bewahren Sie jetzt gerade, in diesem Moment, die Geheimzahl (PIN) für Ihre EC-Karte zusammen mit Ihrer EC-Karte in Ihrer Brieftasche oder Ihrer Handtasche auf?«242 29 von 242 Die Frage zur Geheimzahl war eine von mehreren Fragen, die den Studienteilnehmern gestellt wurden. Das Panel wurde durch die Toluna Germany GmbH, Frankfurt, zusammengestellt, und die Umfrage fand vom 2. – 6. Februar 2012 statt.

396

Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

479 Befragten, die angaben, eine EC-Karte zu besitzen, beantworteten die Frage mit »Ja«.243 Das entspricht einem Anteil von 6%, das 95%-Konfidenzintervall beträgt 3,9%–8,1%. Selbst bei einer angenommenen Anfangswahrscheinlichkeit von 3,9%, also am untersten Rand dessen, was aufgrund der statistischen Daten zu erwarten ist – und ohne Berücksichtigung, dass manch Befragter wohl nicht zugibt, die Geheimzahl zusammen mit seiner EC-Karte aufzubewahren – genügt der Likelihood-Quotient des Indizes von 10’000 zugunsten der Hypothese, damit die a-posteriori-Überzeugung weit über 99% beträgt. Natürlich kann die Klägerin einwenden, dass sie nicht der Durchschnitt ist. Sie kann z. B. geltend machen, dass sie eine Frau ist, und in erster Linie Männer die Geheimzahl zusammen mit der Karte aufbewahrten. Die Daten stützen diese Behauptung allerdings nicht: 15 von 235 befragten Männern (6,4%) und 14 von 244 (5,7%) der befragten Frauen beantworteten die Frage mit »Ja«. Der geringe Unterschied ist mit großer Wahrscheinlichkeit auf Zufall zurückzuführen; d. h. bei einer erneuten Befragung würde sich der Unterschied kaum replizieren lassen.244 Die Klägerin könnte weiter einwenden, dass vor allem ältere Menschen die Geheimzahl aufschreiben würden, da ihr Gedächtnis nachlässt, sie selber aber jung sei. Die Daten stützen diese Behauptung aber ebenfalls nicht – das Alter hat keinen signifikanten Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, EC-Karte und PIN gemeinsam aufzubewahren.245 Letztlich kann die Klägerin immer geltend machen, dass der Richter den Einzelfall beurteilen muss, und dass die entscheidende Frage sei, ob sie die PIN gemeinsam mit der EC-Karte aufbewahrt hat. Aber genau dies weiß der Richter nicht. Er muss von den besten verfügbaren Informationen ausgehen, und diese legen eine Anfangswahrscheinlichkeit von mindestens 3,9% dafür nahe, dass die Geheimzahl gemeinsam mit der Karte aufbewahrt wurde. Zusammen mit dem sehr beweiskräftigen Indiz, dass die Geheimzahl beim ersten Versuch korrekt eingegeben wurde, führt dies dazu, dass man sich fast sicher sein kann, dass die Klägerin die Geheimzahl nicht sorgfältig aufbewahrt hat. Absolute Sicherheit besteht nie – dass die Klägerin tatsächlich kein Verschulden trifft und der Dieb einfach ein glückliches Händchen hatte, lässt sich nicht ausschließen; es liegt in der Natur induktiven Schließens, dass der gegenteilige Schluss nie mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Aber das Urteil ist im Ergebnis richtig, denn absolute Gewissheit wird nicht verlangt. Die Begründung des Urteils aber ist nicht schlüssig, weil die Anfangswahrscheinlichkeit nicht berücksichtigt wurde.

243

19 von 498 Befragten (= 3,8%) gaben an, keine EC-Karte zu besitzen. χ²(2 N = 479) = 1,54, p = 0,463. 245 In einer logistischen Regression mit Alter als unabhängiger Variable und der DummyVariable »gemeinsame Aufbewahrung« als abhängiger Variable ist der Einfluss von Alter nicht statistisch signifikant. 244

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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g) Zusammenfassung Ein Erfahrungssatz ist eine Generalisierung oder Regel, die durch Induktion gewonnen wird und über den Einzelfall hinaus Gültigkeit für alle gleichartigen Fälle beansprucht. Ohne Generalisierungen ist Tatsachenfeststellung nur durch unmittelbare Beobachtung möglich, weshalb Erfahrungssätze für die Beweiswürdigung unverzichtbar sind. Häufig werden sie aber nicht ausdrücklich formuliert. Erfahrungssätze sind nichts anderes als Aussagen über die relative Häufigkeit, mit der die Mitglieder einer Referenzklasse eine bestimmte Eigenschaft aufweisen. Das Referenzklassenproblem betrifft daher auch die Lehre von den Erfahrungssätzen – der Schluss vom Erfahrungssatz auf den Einzelfall setzt voraus, dass der Einzelfall ein Mitglied der Referenzklasse ist und die Referenzklasse bezüglich der interessierenden Eigenschaft homogen ist. Das Abstellen auf die relative Häufigkeit eines Merkmals in einer Referenzklasse für den Schluss auf die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass dieses Merkmal im Einzelfall vorliegt, ist zwingend, wenn die Referenzklasse homogen ist. In der Wirklichkeit ist dies nie der Fall. Es ist jedoch denkbar, dass eine Referenzklasse epistemisch homogen ist, d. h. dass man nichts über sie weiß, dass die Bildung weiterer Unterklassen ermöglichen würde. Diese Information über die relative Häufigkeit in einer epistemisch homogenen Referenzklasse für den Schluss auf die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass das interessierende Merkmal im Einzelfall vorliegt, zu nutzen, ist vernünftig, wenn es bessere Informationen nicht gibt. Jeder Einzelfall gehört in Wirklichkeit in eine Vielzahl von Klassen, dies ist ein klassischer Einwand gegen den frequentistischen (objektiven) Wahrscheinlichkeitsbegriff. Dennoch ist man bei der praktischen Problemlösung gezwungen, sich für eine Klasse zu entscheiden. Eine sinnvolle Faustregel ist, sich für die Klasse zu entscheiden, die in den meisten Merkmalen mit dem interessierenden Einzelfall übereinstimmt, und, wenn es mehrere Klasse gibt, die in der gleichen Anzahl Merkmalen übereinstimmen, diejenige zu wählen, die basierend auf dem gesamten Wissen vermutungsweise homogener ist. Letztlich führt aber nichts an der Erkenntnis vorbei, dass die Wahl einer Referenzklasse »eine umsichtige und nicht mechanische Ableitung der Bewertung [erfordert], wobei den Klassifikationen Rechnung zu tragen ist, die rational mit dem Phänomen in Verbindung stehen.«246 Erfahrungssätze können dazu dienen, direkt auf die Wahrscheinlichkeit zu schließen, dass die strittige Tatsachenbehauptung unter der Voraussetzung des Indizes oder der Indizien zutrifft. Häufig erlauben sie aber nur eine Aussage dazu, ob das Indiz unter der Annahme, dass die Tatsachenbehauptung zutrifft, wahrscheinlicher ist als unter der Annahme, dass die Tatsachenbehauptung nicht zutrifft. Solche Erfahrungssätze zum Likelihood-Quotienten erlauben einen Schluss auf die Wahrscheinlichkeit, dass die Tatsachenbehauptung bei gegebenem 246

de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 255.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

Indiz vorliegt, also Pr(Hypothese|Indiz), aus logischen Gründen nur unter der Annahme einer Anfangswahrscheinlichkeit. Die Beweiskraft eines Erfahrungssatzes ergibt sich aus der relativen Häufigkeit, mit der das interessierende Merkmal in der Referenzklasse vorkommt, und der Wahrscheinlichkeit, dass der Erfahrungssatz zutrifft. Dies sind zwei konzeptuell verschiedene Größen, die weitgehend unabhängig sind. Das Verständnis von Erfahrungssätzen als Aussagen über relative Häufigkeiten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bei den im gerichtlichen Alltag verwendeten Erfahrungssätzen häufig an beobachteten relativen Häufigkeiten fehlt. Dies lässt sich nicht vermeiden, da die Rechtsprechung zum Erliegen käme, wenn der Richter, gleich einem empirisch forschenden Wissenschaftler, für alles Daten erheben müsste. Als Quellen von Erfahrungssätzen sind daher auch die eigene und fremde Erfahrung sowie Alltagswissen anerkannt. Alltagswissen, d. h. »jene Kenntnisse, Vorstellungen, Erfahrungen und Maximen, die Gesellschaftsmitglieder in der Alltagswelt [. . . ] als selbstverständlich, als fraglos und als wechselseitig verfügbar auffassen«247 , kann aber trügerisch sein. Die Unterscheidung zwischen wahrem – mit der Wirklichkeit korrespondierendem – und falschem, auf gesellschaftlichen Vorurteilen, beruhendem Alltagswissen ist ohne empirische Daten kaum möglich. Letztere werden aber in der Regel fehlen, weil Alltagswissen dann bemüht wird, wenn verlässlichere Quellen nicht vorhanden sind. Die Risiken, die von den auf Alltagswissen gestützten Erfahrungssätzen ausgehen, rechtfertigen es aber, diese einer vertieften Prüfung im Rechtsmittelverfahren zu unterziehen. Diese Auffassung, welche die Rechtsprechung zur Revisibilität der Erfahrungssätze sowohl zu erklären als auch zu rechtfertigen vermag, wird im nächsten Abschnitt näher begründet. 2. Rechtliche Behandlung der Erfahrungssätze, insbesondere ihre Kontrolle durch Rechtsmittelinstanzen mit beschränkter Kognition a) Deutschland aa) Behauptungsbedürftigkeit von Erfahrungssätzen Nach einhelliger Lehre und Rechtsprechung müssen Erfahrungssätze nicht behauptet werden und sind nicht geständnisfähig.248 Dies entbindet die beweisbelastete Partei aber nicht davon, alle konkreten Tatsachenbehauptungen aufzustellen, die wahr sein müssen, damit ihre Klage gutgeheißen werden kann; unterlässt sie dies, ist die Klage nicht schlüssig.249 247 Lenz, in: Endruweit/Trommsdorff (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie in 3 Bänden, Eintrag »Alltagswissen«. 248 MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 44; Musielak-ZPO-Foerste, § 284 N 4; Saenger-ZPOSaenger, § 284 N 14; Beutel, Wahrnehmungsbezogene Erfahrungssätze, 166 ff. 249 BGH NJW 2010, 363, 364.

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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Zur Begründung für die fehlende Behauptungsbedürftigkeit wird die Nähe der Erfahrungssätze zu den Rechtsnormen betont; sie würden »nicht wie Tatsachenbehauptungen im Rahmen der Subsumtion als Untersätze eines Syllogismus Verwendung finden, sondern ähnlich den Rechtsnormen als Obersätze.«250 Nun ist es zwar richtig, dass Erfahrungssätze als Obersätze in einem Syllogismus Verwendung finden, aber daraus lässt sich nicht auf die Normqualität der Erfahrungssätze schließen. Nicht jeder Obersatz ist eine Norm.251 Eine Norm trägt als Minimum den Anspruch ihrer Geltung in sich. Normen verpflichten den Normadressaten zu einem Verhalten; sie fordern als »präskriptive Aussagen«252 , dass etwas sein soll. Nur weil die Aussage »Alle Menschen sind sterblich« als Obersatz in einem Syllogismus dienen kann, wird sie nicht zu etwas Gesolltem. Erfahrungssätze bleiben Beschreibungen der Wirklichkeit, respektive der ihr vermutungsweise zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten.253 Obwohl keine Einzeltatsachen, sondern durch Induktion gewonnene Generalisierungen, bleiben sie dennoch dem Tatsächlichen verhaftet.254 Anders als Normen können sie wahr oder falsch sein, wenn auch der Beweis, dass ein statistischer Erfahrungssatz wahr ist, schwierig zu führen ist.255 Die Begründung, warum Erfahrungssätze nicht behauptet werden müssen, kann sich daher nicht aus ihrer Ähnlichkeit zu den Rechtsnormen ergeben. Vielmehr müssen Erfahrungssätze nicht behauptet werden, weil und soweit angenommen werden darf, dass der Richter sie als gebildetes Mitglied der Gesellschaft bereits kennt. Die Parteien müssen dem Gericht im Rahmen der Verhandlungsmaxime die konkreten Tatsachen liefern, die zur Entscheidung des Streites notwendig sind. Sie müssen und können aber nicht für die Allgemeinbildung des Richters verantwortlich sein. Aufgrund der Ubiquität der Erfahrungssätze256 – wie bereits bemerkt wurde, ist eine Beweiswürdigung ohne Erfahrungssätze nur bei eigener Sinneswahrnehmung der Haupttatsache durch den Richter überhaupt denkbar257 – ist es auch praktisch unmöglich, dass die Parteien alle – häufig in der Urteilsbegründung unausgesprochenen – Erfahrungssätze ausdrücklich behaupten. Daraus folgt e contrario, dass Erfahrungssätze dann behauptet werden müssen, wenn nicht erwartet werden kann, dass der Richter sie kennt. Denn was der Richter nicht weiß, kann er offensichtlich dem Urteil nicht zugrunde legen. So wird 250

MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 44. Kritisch zur »Obersatztheorie« bereits Hainmüller, Anscheinsbeweis, 65 f. 252 Zippelius, Methodenlehre, 2. 253 Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz, 171. 254 Risthaus, Erfahrungssätze, Rz. 830, 834; Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 358; a. M. Beutel, Wahrnehmungsbezogene Erfahrungssätze, 193. 255 Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 332 ff. 256 Zur Ubiquität der Erfahrungssätze bei der Beweiswürdigung Kummer, Grundriss des Zivilprozessrechts, 122; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 2.16. 257 Engisch, Logische Studien, 66, 81; Rommé, Anscheinsbeweis, 12. 251

400

Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

derjenige, der den Beweis dafür, dass sein Unfallgegner nicht angeschnallt war, führen will, indem er argumentiert, das Verletzungsmuster des Unfallgegners sei »typisch« für einen nicht angeschnallten Fahrzeugführer,258 behaupten müssen, dass es ein typisches Verletzungsmuster nicht angeschnallter Autoinsassen gebe, denn dieses Wissen kann man nicht als allgemein bekannt voraussetzten. bb) Beweisbedürftigkeit von Erfahrungssätzen Obwohl keine Einzeltatsachen, sind Erfahrungssätze Beweisgegenstand.259 Wo der Richter den Erfahrungssatz kennt, kann allerdings auf ein förmliches Beweisverfahren verzichtet werden.260 Die Lehre begründet dies mit einer analogen Anwendung von § 293 ZPO-DE (Beweis von Gewohnheitsrecht nur insoweit notwendig, als dem Gericht unbekannt).261 Nach hier vertretener Auffassung liegt eine analoge Anwendung von § 291 ZPO-DE (Beweis offenkundiger Tatsachen nicht notwendig) trotz ausdrücklicher Ablehnung durch den BGH näher. Der BGH wendet § 291 ZPO-DE nicht auf Erfahrungssätze an, weil § 291 nur auf Tatsachen Anwendung finde.262 Verzichte der Richter auf die Einholung eines Gutachtens zu einem Erfahrungssatz, so nicht deshalb, weil der Erfahrungssatz offenkundig wäre und deshalb keines Beweises bedürfe, sondern weil er davon ausgehe, selbst das erforderliche Erfahrungswissen zu besitzen.263 Während Erfahrungssätze keine Einzeltatsachen sind, sind sie auch kein Gewohnheitsrecht. Sie stehen, wie eben ausgeführt, den Tatsachen näher als den Rechtsnormen. Der Verweis auf die analoge Anwendung von § 293 ZPO-DE überzeugt daher nicht. Hingegen trifft die Rechtfertigung für die Sonderbehandlung der offenkundigen Tatsachen, nämlich, »dass es nicht auf eine individuelle Wahrnehmung und die Unsicherheiten ankommt, die im Rahmen menschlicher Beobachtung und Wiedergabe entstehen können«264 , auch auf Erfahrungssätze zu. Entscheidend ist, dass der Richter, wenn er sagt »es gibt eine allgemeine Regel des Inhalts . . . «, nicht wie ein Zeuge einem Wahrnehmungs- oder Erinnerungsfehler unterliegen kann (irren kann er sich natürlich dennoch). Auch sind Erfahrungssätze, wie offenkundige Tatsachen, potentiell einer unbestimmten Vielzahl von Personen bekannt. Daher ist es gerechtfertigt, dass der Richter 258

Dies der Sachverhalt gemäß BGH NJW 1991, 230. MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 44; Musielak-ZPO-Foerste, § 284 N 4. 260 MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 44; Saenger-ZPO-Saenger, § 284 N 14. 261 MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 44. 262 BGH NJW 2004, 1163, 1164, unter Hinweis auf MüKo-ZPO-Prütting, § 291 N 3; Musielak-ZPO-Huber, § 291 N 1. Anders im Strafprozessrecht, wo Erfahrungssätze, »die Bestandteil desjenigen Wissens [sind], das verständige und erfahrene Menschen in der Regel besitzen oder sich unschwer verschaffen können«, als offenkundig im Sinne von § 244 Abs. 3 DE-StPO betrachtet werden, KK-StPO-Fischer, § 244 N 135; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rz. 22. 263 BGH NJW 2004, 1163, 1164. 264 MüKo-ZPO-Prütting, § 291 N 5. 259

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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Erfahrungssätze, die ohne besondere Sachkunde festgestellt werden können, wie offenkundige Tatsachen ohne Beweis dem Urteil zugrunde legen darf, wobei dem Beweisgegner auf jeden Fall der Gegenbeweis zusteht.265 Letztlich ist die unterschiedliche dogmatische Begründung praktisch irrelevant, da die Folge, nämlich dass der Richter zu ihm bekannten Erfahrungssätzen keine Beweise erheben muss, dieselbe ist. Fehlt dem Richter die notwendige Sachkunde, muss ein Sachverständigengutachten eingeholt werden.266 Der Beweis durch Zeugen ist hingegen ausgeschlossen.267 Zu weit geht der BGH, wenn er auch den Beweis durch sachverständige Zeugen ausschließt.268 Wenn ein Chemiker aufgrund eigener Experimente eine Aussage zur Wahrscheinlichkeit macht, dass die Mischung zweier Stoffe zu einer Explosion führt, ist er sachverständiger Zeuge. Weshalb seine Aussage zum Beweis der allgemeinen Regel, dass die Mischung der besagten Stoffe explodiert, weniger geeignet sein soll als die Aussage eines Chemikers, der keine eigenen Versuche durchgeführt hat (und folglich bloß Sachverständiger ist), leuchtet nicht ein. Hat das Gericht einen Erfahrungssatz angenommen, obwohl es selbst nicht hinreichend sachkundig ist, oder hat es eine mögliche, aber keineswegs selbstverständliche eigene Sachkunde nicht dargelegt, handelt es sich um eine Verletzung von § 286 ZPO-DE, die im Revisionsverfahren als Verfahrensfehler gerügt werden kann.269 Nicht einzusehen ist, wieso Erfahrungssätze, wo sie denn bewiesen werden müssen, durch Freibeweis (ohne Bindung an den numerus clausus der Beweismittel) bewiesen werden sollen.270 Der Freibeweis mag allenfalls angemessen sein für Normtatsachen, wo das Gericht sozusagen die Rolle des Gesetzgebers übernimmt und auch dessen Möglichkeiten zur Sachverhaltsabklärung erhalten sollte (strittig).271 Für Erfahrungssätze, die dazu dienen, dem Richter eine Überzeugung von der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung zu verschaffen, ist nicht

265 Der Anscheinsbeweis – dem ja ein qualifizierter Erfahrungssatz zugrunde liegt – kann durch Gegenbeweis umgestossen werden, statt aller Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 286 N 138. A fortiori müssen Erfahrungssätze, die nicht genügend sicher sind, um den Anscheinsbeweis zu begründen, dem Gegenbeweis offenstehen. 266 BGH NJW 2000, 1946, 1947; 2004, 1163, 1164; Wieczorek/Schütze-ZPO-Ahrens, § 286 N 18. 267 BGH NJW 2007, 2122, 2124. 268 BGH NJW 2007, 2122, 2124. 269 BGH NJW 2000, 1946, 1947; NJW 2004, 1163, 1164. 270 MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 36; Musielak-ZPO-Foerste, § 284 N 4; für Freibeweis aber Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 284 N 17; Baumbach/Hartmann-ZPO, Einf. § 284 N 9; SaengerZPO-Saenger, § 284 N 14; Beutel, Wahrnehmungsbezogene Erfahrungssätze, 177. 271 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 414 ff.; Konzen, in: Schilken/Becker-Eberhard/Gerhardt (Hrsg.), Festschrift für Hans Friedhelm Gaul, 335–356, 353.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

einzusehen, weshalb der Strengbeweis nicht gelten soll; es handelt sich um eine ganz gewöhnliche Tatsachenfeststellung. cc) Überprüfung von Erfahrungssätzen durch das Revisionsgericht Gemäß § 545 Abs. 1 ZPO-DE kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das Recht verletzt ist, was gemäß § 546 ZPO-DE der Fall ist, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet wurde. Die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz sind für das Revisionsgericht verbindlich, es sei denn, dass in Bezug auf die Feststellung ein zulässiger und begründeter Revisionsangriff erhoben ist (§ 559 Abs. 2 ZPO-DE). Ein begründeter Revisionsangriff liegt insbesondere vor, wenn die Tatsachenfeststellung auf einem Verfahrensfehler beruht.272 Zur Bestimmung der Kognition des Revisionsgerichts müssen daher Tat- und Rechtsfragen abgegrenzt werden, und obwohl die Literatur zur Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage Bibliotheken füllt, ist eine überzeugende Trennung bisher nicht gelungen.273 Im vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist, dass es gemäß ständiger Rechtsprechung einen Revisionsgrund darstellt, wenn der Tatrichter einen Erfahrungssatz verletzt oder seinen Inhalt verkennt.274 Die Verletzung von Erfahrungssätzen wird als Verletzung materiellen Rechts betrachtet und auch ohne Verfahrensrüge geprüft.275 In der Literatur werden die Verletzung eines Erfahrungssatzes und die Verkennung seines Inhalts teilweise als separate Revisionsgründe erwähnt;276 der Unterschied bleibt aber letztlich unklar. Ob der Tatrichter einen Erfahrungssatz anwendet, der auf den Einzelfall nicht anwendbar ist, einen Erfahrungssatz nicht anwendet, der anwendbar wäre, oder einen Erfahrungssatz falschen Inhalts anwendet, kann keinen Unterschied machen. Nicht überprüfbar sind Erfahrungssätze, die sich auf spezielle Sachkunde stützen, die durch Sachverständige in den Prozess eingebracht wurde. Das Revisionsgericht könnte sich hier eine eigene Meinung nur durch die Würdigung der bei den Akten liegenden Fachgutachten bilden, was, so der BGH, nicht seine Aufgabe sei.277

272

Statt aller Musielak-ZPO-Ball, § 559 N 22. Walter, Freie Beweiswürdigung, 317. 274 BGH NJW 1964, 915, 916; NJW 1983, 2877; NJW 1988, 566, 567; NJW 2010, 3372, 3374. 275 BGH NJW-RR 1990, 455; Wieczorek/Schütze-ZPO-Ahrens, § 402 N 76; a. M. Risthaus, Erfahrungssätze, Rz. 962 (Verstoß gegen § 286 Abs. 2 DE-ZPO); wohl auch Rosenberg/ Gottwald/Schwab, Zivilprozessrecht, § 142 Rz. 12. 276 Saenger-ZPO-Saenger, § 284 N 14. 277 BGH NJW 1973, 1411, 1412. Im Ergebnis gleich, aber mit anderer Begründung BGH, Beschluss vom 8. Oktober 1970 – IX ZB 372/68 = BeckRS 1970, 31208131 (medizinische Erfahrungssätze können in der Revision nicht überprüft werden, da sie keine Rechtsnormen sind; dies gilt aber für alle Erfahrungssätze). 273

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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(1) Notwendigkeit einer Abgrenzung der überprüfbaren von den nicht überprüfbaren Erfahrungssätzen Dass Erfahrungssätze generell der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterstehen, führt zu einer weitgehenden Aushöhlung der Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz. Erfahrungssätze sind, wie gezeigt, unabdingbarer Bestandteil jeder Beweiswürdigung, die sich nicht auf der unmittelbaren Sinneswahrnehmung des Richters zugängliche Tatsachen beschränkt. Eine revisionsgerichtliche Überprüfung jeglicher Erfahrungssätze widerspricht daher der gesetzgeberischen Intention, die Überprüfung der Tatsachenfeststellung durch das Revisionsgericht einzuschränken. Eine Abgrenzung von überprüfbaren und nicht überprüfbaren Erfahrungssätzen ist daher notwendig, wenn auch außerordentlich schwierig. Die außerordentliche Schwierigkeit einer Abgrenzung der überprüfbaren von den nicht überprüfbaren Erfahrungssätzen hat zu einer Lehrmeinung geführt, dass sich eine Abgrenzung nicht treffen lasse und das Revisionsgericht befugt sei, eine Richtigkeitskontrolle der Beweiswürdigung vorzunehmen. Diese von Walter vertretene Auffassung geht davon aus, dass die Beweiswürdigung nur »frei« in dem Sinne ist, dass keine gesetzlichen Würdigungsregeln gelten.278 Andere Richter dürfen hingegen in die Beweiswürdigung eingreifen. Wo eine Rechtsmittelinstanz erkennt, dass eine Beweiswürdigung falsch ist, darf sie die Beweiswürdigung zur Förderung des Zieles der freien Beweiswürdigung, der Feststellung der Wahrheit, korrigieren.279 Der Berufung auf die Verletzung eines Erfahrungssatzes bedürfe es dazu nicht; die Figur des Erfahrungssatzes sei schlicht überflüssig.280 Die Schwierigkeit, diese Auffassung mit dem Wortlaut von § 559 Abs. 2 ZPO-DE zu vereinbaren, liegt auf der Hand. Will man den Gesetzeswortlaut nicht weitgehend missachten, kommt man um eine Abgrenzung nicht herum. Eine andere, heute ebenfalls nicht mehr vertretene, extreme Auffassung ist diejenige des Begründers der Lehre von den Erfahrungssätzen, Friedrich Stein, der die Verletzung von Erfahrungssätzen für unanfechtbar, weil zum Kernbereich der Beweiswürdigung gehörend, hielt.281 (2) Beschränkung der Überprüfung auf zwingende Erfahrungssätze? Ein Vorschlag zur Abgrenzung der überprüfbaren von den nicht überprüfbaren Erfahrungssätzen ist, dass nur Verstöße gegen einen zwingenden (deterministischen) Erfahrungssatz (ein Erfahrungsgesetz) revisibel sind.282 Vorteil dieser 278

Walter, Freie Beweiswürdigung, 318. Walter, Freie Beweiswürdigung, 321. 280 Walter, Freie Beweiswürdigung, 327 f. 281 Stein, Privates Wissen, 110 ff. 282 Kuchinke, Grenzen der Nachprüfbarkeit tatrichterlicher Würdigung, 181 f.; Hainmüller, Anscheinsbeweis, 60 ff.; Zöller-ZPO-Greger, § 286 N 13. Dies steht allerdings im Widerspruch 279

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

Abgrenzung ist, dass die Unterscheidung von zwingenden und nicht zwingenden Erfahrungssätzen einfach ist – der Nachweis eines einzigen Gegenbeispiels zeigt, dass der Erfahrungssatz nicht zwingend ist.283 In seiner älteren Rechtsprechung hat der BGH die revisionsgerichtliche Überprüfung der Erfahrungssätze ausdrücklich auf solche Erfahrungssätze beschränkt, die die Qualität von Naturgesetzen haben, so dass ihre Geltung im Einzelfall nicht ernsthaft angezweifelt werden könne.284 Gemäß einer Entscheidung aus dem Jahr 1973 ist die Überprüfung der Erfahrungssätze auf solche beschränkt, die »allgemein anerkannt« sind. Die Gleichsetzung von »allgemein« mit »ausnahmslos gültig« erhellt aus der Formulierung, es gebe keinen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, das die Aussagen unfallbeteiligter Kraftfahrzeuginsassen stets (also immer) von einem »Solidarisierungseffekt« beeinflusst und deshalb grundsätzlich unbrauchbar seien.285 Dass die Aussagen von unfallbeteiligten Mitfahrern manchmal von einem Solidarisierungseffekt beeinflusst sind, wird nicht in Frage gestellt, aber der Erfahrungssatz kann keine ausnahmslose Geltung beanspruchen, er ist nicht zwingend. Erfahrungssätze, die keine Ausnahme zulassen, spielen bei der Beweiswürdigung allerdings eine geringe Rolle. Bei der Beurteilung sozialer Handlungen, um die es oft geht, lassen sich ausnahmslos gültige Gesetze kaum je aufstellen. Eine Gefahr für die Wahrheitsfindung geht auch von falschen nicht ausnahmslos gültigen Erfahrungssätzen aus. Die Beschränkung der Überprüfung auf zwingende Erfahrungssätze entspricht denn auch nicht der neueren Rechtsprechung, wie insbesondere die Revisibilität des Anscheinsbeweises zeigt. Der Anscheinsbeweis muss nicht auf einem zwingenden Erfahrungssatz beruhen286 und dennoch prüft das Revisionsgericht, ob die Voraussetzungen des Anscheinsbeweises gegeben sind.287 Hier unterscheidet sich die zivilprozessuale von der strafprozessualen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Für das Strafprozessrecht hat der 2. Strafsenat Erfahrungssätze definiert als »aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung oder wissenschaftlicher Erkenntnisse gewonnener Regeln, die keine Ausnahme zulassen.«288 Diese Aussage ist ein klares Bekenntnis, nur die Verletzung zwingender Erfahrungssätze in der Revision zu überprüfen. Vor dem Hintergrund der strafrechtlichen Rechtsprechung, gemäß der eine tatrichterliche Schlussfolgerung

zur Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis, den Greger deshalb dem materiellen Recht zuordnen möchte, Zöller-ZPO-Greger, Vor § 284 N 29a. 283 Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 330. 284 BGH NJW 1954, 550, 551. 285 BGH NJW 1988, 566, 567 (kursiv durch den Verfasser). Ebenso Musielak-ZPO-Foerste, § 284 N 4. 286 BGH NJW 2006, 2262; MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 59. 287 BGH NJW 1987, 2876, 2877; Wieczorek/Schütze-ZPO-Ahrens, § 286 N 65. 288 BGH, Beschluss vom 8. September 1999 – 2 StR 369/99, StV 2000, 69.

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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nicht zu beanstanden ist, wenn sie bloß möglich ist,289 ist diese Auffassung nur konsequent, denn bei einem Schluss aus einem unsicheren Erfahrungssatz bleibt der gegenteilige Schluss immer möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Da im Strafprozessrecht der Anscheinsbeweis nicht anerkannt ist,290 steht diese Rechtsprechung anders als eine Beschränkung auf die Überprüfung zwingender Erfahrungssätze im Zivilprozessrecht nicht im Widerspruch zur Revisibilität des Anscheinsbeweises. (3) Beschränkung der Überprüfung auf Erfahrungssätze mit gesteigerter Beweiskraft (»allgemeine« Erfahrungssätze) Sozusagen eine abgeschwächte Form der Beschränkung der Revisibilität auf zwingende Erfahrungssätze ist die Beschränkung auf Erfahrungssätze mit gesteigerter Beweiskraft, häufig als »allgemeine« Erfahrungssätze bezeichnet, wobei diese Bezeichnung leider zweideutig ist (gleich nachstehend). Diese Beschränkung entspricht der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wie eine Durchsicht der einschlägigen Urteile zeigt, auch wenn sie keinen Niederschlag in der formelhaft verwendeten Umschreibung findet, die Beweiswürdigung dürfe nicht gegen die Denkgesetze und Erfahrungssätze (ohne Einschränkung) verstoßen. Das Revisionsgericht prüft im Ergebnis das Urteil der Vorinstanz auf einen Verstoß gegen einen Erfahrungssatz nur dann, wenn geltend gemacht wird, dass der Erfahrungssatz wenn nicht ausnahmslos, so doch fast immer zutreffe.291 Es handelt sich also um solche Erfahrungssätze, die eine natürliche Vermutung zu begründen vermögen (vorne, S. 375). Stimmen in der Lehre haben schon lange gefordert, dass nur Erfahrungssätze gesteigerter Beweiskraft revisibel sein sollten.292 Die neuere Kommentarliteratur ist in dem Punkt nicht völlig klar. Einige Kommentatoren wiederholen die 289

BGH, Urteil vom 6. September 2005 – 5 StR 284/05, BeckRS 2005, 10845. BGH, Urteil vom 7. November 2006 - 1 StR 307/06, NStZ-RR 2007, 86, 87. Für die Anerkennung des Anscheinsbeweis auch im Strafrecht neustens Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 436 ff. 291 BGH NJW-RR 2002, 515, 516 (kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass ein gewerblicher Vermieter bei bislang harmonischem Mietverhältnis allein wegen des rückständigen Mietzinses für den laufenden Monat keinen Austausch der Schlösser vornehmen lässt, weil nicht ausgeschlossen ist, dass er dies zur Sicherung seines Vermieterpfandrechts an den eingebrachten Sachen tut); NJW 2004, 3623, 3624 (kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass eine Person, der bei einem Straßenfest das Portemonnaie mit der darin befindlichen ec-Karte entwendet wird, diesen Diebstahl in grob fahrlässiger Weise ermöglicht hat); NJW-RR 2005, 2005, 1183, 1184 (kein Erfahrungssatz, dass die Anschaffung und Haltung von drei Hunden von Bewohnern eines Reiterhofs erfolgt, um die Sicherheit der Pferde sicherzustellen); NJW 2006, 300, 301 (kein gesicherter Erfahrungssatz, dass Nachnahmesendungen nur nach Bezahlung ausgehändigt werden); NJW-RR 2009, 244, 246 (kein Erfahrungssatz, dass bei bestimmter Blutalkoholkonzentration regelmäßig ein Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit vorliegt); NJW 2011, 685, 686 (Erfahrungssatz, dass Auffahrunfall auf Autobahn durch den Auffahrenden verschuldet wurde, gilt nicht unter allen Umständen; kursiv jeweils durch den Verfasser). 292 Hainmüller, Anscheinsbeweis, 60 ff. 290

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Formel des Bundesgerichtshofs, dass die Beweiswürdigung nicht gegen Erfahrungssätze verstoßen dürfe, ohne ausdrücklich dazu Stellung zu nehmen, welche Art von Erfahrungssätzen gemeint ist.293 Ball, Foerste, Hartman und Laumen sprechen von »allgemeinen« Erfahrungssätzen, ohne den Begriff zu definieren.294 Nach Prütting stellt es einen unmittelbaren Verstoß gegen § 286 ZPO-DE (und folglich eine revisible Rechtsverletzung) dar, wenn der Tatrichter gegen Erfahrungsgrundsätze verstößt295 – und als Erfahrungsgrundsatz definiert Prütting als einen Erfahrungssatz, der geeignet ist, die volle richterliche Überzeugung zu begründen.296 Gottwald spricht von »allgemein anerkannten Erfahrungssätzen«, respektive, im Stichwortverzeichnis, von Erfahrungsgrundsätzen, die verbindlich sein sollten;297 für ihn sind also wie für Prütting nur Erfahrungssätze mit gesteigerter Beweiskraft revisibel. Ein Grund für die Unklarheit der Lehre liegt in der Ambivalenz des Ausdrucks »allgemein«. »Allgemein« kann in Zusammenhang mit einem Erfahrungssatz verstanden werden als »allgemeingültig«, im Gegensatz zu »selten zutreffend«. Ein allgememein gültiger Erfahrungssatz wäre demnach einer, der eine hohe relative Häufigkeit des relevanten Merkmals in der Referenzklasse behauptet und folglich eine hohe subjektive Wahrscheinlichkeit begründet, dass das Merkmal im Einzelfall vorliegt. Eine andere Bedeutung von »allgemein« ist »allgemeinkundig«, im Gegensatz zu einem Erfahrungssatz, der nur Fachkreisen bekannt ist. Über die Beweiskraft des Erfahrungssatzes ist damit nichts gesagt. In welcher Bedeutung der Ausdruck »allgemeiner Erfahrungssatz« in Urteilen und Literatur gebraucht wird, ist häufig unklar. Nach hier vertretener Auffassung rechtfertigt sich die Beschränkung der Revisibilität von Erfahrungssätzen auf solche mit gesteigerter Beweiskraft, weil von ihnen eine besondere Gefahr ausgeht. Ein Erfahrungssatz mit gesteigerter Beweiskraft ist definiert als ein Erfahrungssatz, der ohne weitere Indizien (die Anscheinsbasis muss natürlich gegeben sein) den Schluss auf eine subjektive Wahrscheinlichkeit des Einzelfalls zulässt, welche die Beweismaßgrenze übersteigt und dem Richter erlaubt, die Tatsachenbehauptung für wahr zu erachten. Die besondere Gefahr liegt darin begründet, dass hier die Annahme eines falschen Erfahrungssatzes alleine, ohne weitere belastende Indizien, zu einer falschen Tatsachenfest293 Prütting/Gehrlein-ZPO-Ackermann, § 546 N 8; Saenger-ZPO-Saenger, § 284 N 14; MüKoZPO-Wenzel, § 546 N 15; Schellhammer, Zivilprozess, Rz. 1083. 294 Musielak-ZPO-Ball, § 546 N 11; Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 68; Baumbach/ Hartmann-ZPO, § 546 N 11; Prütting/Gehrlein-ZPO-Laumen, § 286 N 10, 19. 295 MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 66. Ähnlich Prütting, Beweislast, 111, gemäß dem der Richter an das »anerkannte Erfahrungswissen seiner Zeit« gebunden und verpflichtet ist, einen Erfahrungsgrundsatz zu berücksichtigen, woraus geschlossen wird, dass eine Beweiswürdigung, die Erfahrungssätze außer Acht lässt, gegen § 286 Abs. 1 DE-ZPO verstößt (kursiv durch den Verfasser). 296 MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 58 f. 297 Rosenberg/Gottwald/Schwab, Zivilprozessrecht, § 142 N 12.

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stellung führt. Diese besondere Gefahr rechtfertigt eine verstärkte Überprüfung im Rechtsmittelzug. Nicht verwechselt werden darf die Beschränkung der revisionsgerichtlichen Überprüfung auf Erfahrungssätze mit gesteigerter Beweiskraft mit der Bindung des Richters an alle Erfahrungssätze, auch solcher mit geringerer Beweiskraft. Erfahrungssätze bestimmen die tatrichterliche Überzeugung unabhängig davon, wie hoch die vom Erfahrungssatz angenommene relative Häufigkeit des maßgeblichen Merkmals ist. Aber die Revision muss auf die Verletzung qualifizierter Erfahrungssätze beschränkt bleiben, weil ohne diese Beschränkung unter dem Stichwort der Überprüfung auf den Verstoß gegen Erfahrungssätze die gesamte Beweiswürdigung einer revisionsgerichtlichen Kontrolle unterzogen würde, was mit dem Gesetzeswortlaut nicht zu vereinbaren ist. Daraus darf aber nicht geschlossen werden, dass der Tatrichter nur an gewisse Erfahrungssätze gebunden ist; die Einschränkung betrifft nur die Kognition des Revisionsgerichts (respektive des Bundesgerichts in der Schweiz), nicht aber die Bindung an die Erfahrungssätze an und für sich. (4) Weitere Beschränkung nach der Quelle des Erfahrungssatzes Die Behauptung, dass von Erfahrungssätzen, die ohne weitere Indizien die volle richterliche Überzeugung zu begründen vermögen, eine besondere Gefahr ausgeht, steht unter dem Vorbehalt, dass sich solche Erfahrungssätze nicht auf eine gesicherte empirische Grundlage stützen können. Nur dort, wo eine erhöhte Gefahr besteht, dass der Erfahrungssatz falsch ist – also eine »Unsicherheit über den Erfahrungssatz« besteht (S. 391) – besteht eine besonders große Gefahr, dass der aus dem Erfahrungssatz gezogene Schluss falsch ist. Die Unsicherheit über den Erfahrungssatz ist besonders groß bei Erfahrungssätzen, denen eine gesicherte empirische Basis fehlt, oder anders gesagt bei Erfahrungssätzen, die sich ausschließlich auf die »allgemeine Lebenserfahrung« oder Alltagswissen stützen. Erfahrungssätze, die auf richterlichen Alltagstheorien oder »kulturellem Wissen« beruhen, bringen eine nicht zu unterschätzende Fehlerquelle in den Vorgang der Beweiswürdigung ein. Anders als wissenschaftliche Theorien, die präzise formuliert und an empirischen Daten überprüft werden, beruhen auf Alltagstheorien basierende Erfahrungssätze oft auf vagen Plausibilitätsüberlegungen – einleuchtend vielleicht, aber vieles, was der gesunde Menschenverstand einmal für selbstverständlich gehalten hat, hat die Wissenschaft zwischenzeitlich als Aberglaube entlarvt. Eine Alltagstheorie ist, polemisch ausgedrückt, nur ein Vorurteil, das von den meisten Mitgliedern einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit geteilt wird. Deshalb glaube ich auch nicht, dass die Unterscheidung von Erfahrungssätzen und Vorurteilen, die von Hainmüller und Prütting propagiert wird,298 von praktischem Nutzen ist, so lange keine Kriterien genannt 298

Hainmüller, Anscheinsbeweis, 26 ff.; Prütting, Beweislast, 106 f.

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werden, die es erlauben, ein Vorurteil zuverlässig von der viel beschworenen »Lebenserfahrung« zu scheiden. Da man auf Alltagstheorien mangels Alternativen nicht vollständig verzichten kann, sollte man den auf Alltagstheorien basierenden Erfahrungssätzen wenigstens besondere Skepsis entgegenbringen. Ein Ausdruck dieser Skepsis ist, ihre Überprüfung durch das Revisionsgericht zuzulassen. Dieses ist zwar nicht Kraft seiner übergeordneten Stellung im Instanzenzug fähiger als der Tatrichter, die Wahrheit zu erkennen,299 aber die Wahrscheinlichkeit, dass alle Instanzen dem gleichen Irrtum unterliegen, ist hoffentlich geringer. Diese Begründung der revisionsgerichtlichen Kontrolle allgemeiner Erfahrungssätze vermag zu erklären, weshalb das Revisionsgericht Erfahrungssätze, die auf besonderer Fachkunde beruhen und durch Sachverständige in den Prozess eingebracht wurden, nicht überprüft.300 Solche Erfahrungssätze wurden – so die Annahme – durch die wissenschaftliche Gemeinschaft des entsprechenden Fachgebiets einer Prüfung unterzogen. Das heißt nicht, dass auf wissenschaftlichen Theorien beruhende Erfahrungssätze nicht falsch sein können. Aber die Annahme, dass das Revisionsgericht besser als der Fachmann fähig ist, diesen Irrtum zu erkennen, ist wenig plausibel. Durch die revisionsgerichtliche Kontrolle solcher Erfahrungssätze ist daher nichts gewonnen. Eine Analyse der Erfahrungssätze, die der BGH in seiner neueren Rechtsprechung geprüft hat, zeigt, dass es sich dabei ausnahmslos um solche handelte, die sich auf nicht weiter begründetes Alltagswissen stützen.301 Die hier vorgetragene These vermag daher die bestehende höchstrichterliche Rechtsprechung zu erklären. Nicht zu übersehen ist, dass es auch einen pragmatischen Grund gibt, weshalb sich das Revisionsgericht auf die Überprüfung von auf allgemeiner Lebenserfahrung beruhenden Erfahrungssätzen beschränkt: Es ist dazu ohne Durchführung eines Beweisverfahrens befähigt. Soweit die Beweiswürdigung auf der unmittelbaren Wahrnehmung des Tatrichters beruht, kann das Revisionsgericht mangels eigener Wahrnehmung nicht erkennen, ob die Beweiswürdigung fehlerhaft war.302 Soweit ein Erfahrungssatz auf besonderer Sachkunde beruht, kann sich das Revisionsgericht mangels eigener Sachkunde auf dem betreffenden Gebiet der Wissenschaft oder Technik auch keine eigene Meinung zur Wahrheit des Erfahrungssatzes bilden. Soweit der Tatrichter seine Schlüsse jedoch mit »Lebenserfahrung«, »Commonsense«, oder »gesundem Menschenverstand« begründet, 299 Wagner, in: Bork/Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Verfahrensrechts, 156–193, 177. 300 BGH NJW 1973, 1411, 1412. 301 Siehe die Nachweise in Fn. 291. 302 Auf dieses Problem, das auch das Berufungsgericht betrifft, wies bereits Sacken, in: Schriftführer-Amt der ständigen Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des Vierten Deutschen Juristentages, 116–132, 125 f., hin.

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ist der Revisionsrichter so gut wie jeder andere gebildete Mensch in der Lage, die Plausibilität der getroffenen Annahmen zu überprüfen. (5) Keine Überprüfung des Beweiswerts von Erfahrungssätzen? Nicht überprüfbar soll der Beweiswert sein, den der Tatrichter einem Erfahrungssatz zuerkennt.303 Den Inhalt eines Erfahrungssatzes zu prüfen, ohne gleichzeitig seinen Beweiswert zu prüfen, ist aber denkgesetzlich unmöglich. Erfahrungssätze sind Regeln, die Geltung, aber eben nicht ausnahmslose Geltung, für die von ihnen erfassten Einzelfälle beanspruchen. Ihr Beweiswert hängt unmittelbar davon ab, wie häufig sie zutreffen (vorne, S. 391 f.). Wenn der BGH schreibt, einen Erfahrungssatz des Inhalts »Die Aussagen unfallbeteiligter Kraftfahrzeuginsassen sind stets von einem ›Solidarisierungseffekt‹ beeinflusst« gebe es nicht,304 dann äußert er sich zum Beweiswert dieses Erfahrungssatzes. Denn dass es einen Erfahrungssatz des Inhaltes »Die Aussagen unfallbeteiligter Kraftfahrzeuginsassen sind manchmal von einem ›Solidarisierungseffekt‹ beeinflusst« gibt, dürfte unstreitig sein. Die Meinungsverschiedenheit zwischen Berufungs- und Revisionsgericht bezieht sich auf den Anteil der unfallbeteiligten Kraftfahrzeuginsassen, deren Aussagen von einem »Solidarisierungseffekt« unterliegen, und betrifft folglich den Beweiswert des Erfahrungssatzes.305 Inhalt und Beweiswert eines Erfahrungssatzes lassen sich nicht trennen. Wenn das Revisionsgericht einen Erfahrungssatz verwirft, dann verwirft es ihn meist deshalb, weil er ohne weitere Indizien nicht geeignet ist, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Anders gesagt: weil der Erfahrungssatz nicht beweiskräftig genug ist. Es ist daher falsch, zu sagen, dass der Beweiswert eines Erfahrungssatzes nicht überprüfbar sei, im Gegenteil, es ist gerade der Beweiswert, über den Uneinigkeit besteht. Wenn der BGH festhält, es gebe »keinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass Zeugen, die einer Prozesspartei nahestehen und/oder am Abschluss des dem Prozess zugrundeliegenden Vertrages beteiligt waren, von vornherein als parteiisch und unzuverlässig zu gelten haben und ihre Aussagen grundsätzlich unbrauchbar sind«306 , so stellt es fest, dass nicht alle 303 BGH NJW 1973, 1411, 1412; MüKo-ZPO-Prütting, § 284 N 47; Saenger-ZPO-Saenger, § 284 N 14; Beutel, Wahrnehmungsbezogene Erfahrungssätze, 197 f.; einschränkend Rosenberg/Gottwald/Schwab, Zivilprozessrecht, § 111 N 12: nur die Beurteilung des Beweiswerts von Erfahrungssätzen, die auf besonderer Sachkunde beruhen, kann nicht überprüft werden. Für Laumen ist der Beweiswert (»Wahrscheinlichkeitsgrad«) eines Erfahrungssatzes nur, aber immerhin, im Rahmen der Revisibilität des Anscheinsbeweises überprüfbar, Prütting/GehrleinZPO-Laumen, § 286 N 30. 304 BGH NJW 1988, 566, 567. 305 Ebenso BGH NJW-RR 1993, 653, wo der BGH den von der Vorinstanz angenommenen Erfahrungssatz des Inhalts »Personen, die einen offenen Kamin einbauen, wissen, dass es dazu einer Genehmigung bedarf« verwirft. Manche Personen, die einen offenen Kamin einbauen, wissen sicherlich von der Genehmigungspflicht. 306 BGH NJW 1995, 955, 956.

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Personen, die ein Interesse am Prozessausgang haben, völlig unglaubwürdig sind. Aber sicherlich ist es zulässig und vernünftig, einem Zeugen, der einer Prozesspartei nahesteht, weniger zu glauben als einem unparteiischen Zeugen.307 Der BGH äußert sich demnach im Ergebnis zur Beweiskraft des Erfahrungssatzes, dass Zeugen, die ein Interesse am Prozessausgang haben, nicht zu glauben ist. (6) Dogmatische Grundlage der revisionsgerichtlichen Überprüfung Offen bleibt noch die dogmatische Grundlage der revisionsgerichtlichen Prüfung der Beweiswürdigung auf Verletzung von auf allgemeiner Lebenserfahrung beruhenden Erfahrungssätzen mit gesteigerter Beweiskraft. Weil sich die Kognition des Revisionsgerichts grundsätzlich auf Rechtsverletzungen beschränkt, wird die Notwendigkeit gesehen, den Erfahrungssätzen Rechtsnormqualität zuzusprechen, weil anders ihre revisionsgerichtliche Überprüfung nicht zu rechtfertigen sei.308 Die ältere Rechtsprechung309 und Lehre310 hat die revisionsgerichtliche Überprüfung der Erfahrungssätze denn auch mit deren Rechtsnormqualität begründet. Diese Auffassung kann aber – trotz der unglücklichen Formulierung des V. Zivilsenats in einem Urteil vom 15. Januar 1993311 – inzwischen sowohl in der Judikatur als auch in der Literatur als überwunden gelten. In der Lehre wurde die »Rechtsnormtheorie« ersichtlich letztmals von Hainmüller mit eingehender Begründung verteidigt.312 Die neuere Lehre lehnt sie fast einhellig ab.313 In der Tat sind Konstruktionen, nach denen Erfahrungssätze als Rechtsnormen zu qualifizieren sind, »gekünstelt und unnötig«314 . Eine dogmatisch saubere Begründung der Revisibilität eines Verstoßes gegen Erfahrungssätze bei der Beweiswürdigung liegt darin, eine richterrechtliche Fortbildung von § 286 Abs. 1 ZPO-DE anzunehmen: Die Beweiswürdigung ist frei, darf aber – so die richterrechtliche Ergänzung von § 286 – nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen. Die unrichtige oder die unterlassene Anwendung oder die Anwendung eines Erfahrungssatzes falschen Inhalts ist daher eine unmittelbare

307 Reinecke, MDR 1986, 630–637, 630; Foerste, NJW 2001, 321–326, 323 ff.; Prütting/ Gehrlein-ZPO-Laumen, § 286 N 18. 308 Beutel, Wahrnehmungsbezogene Erfahrungssätze, 193. 309 RGZ 99, 70, 71. 310 Nachweise für diese bei Hainmüller, Anscheinsbeweis, 48; Kuchinke, Grenzen der Nachprüfbarkeit tatrichterlicher Würdigung, 188. 311 BGH NJW-RR 1993, 653. 312 Hainmüller, Anscheinsbeweis, 59 ff. Entgegen des Hinweises von MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 66, lehnt Kollhosser, AcP 1965, 46–82, 54, die Rechtsnormtheorie ausdrücklich ab. 313 Prütting, Beweislast, 111; MüKo-ZPO-Ball, § 545 N 3; MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 66; MüKo-ZPO-Krüger, § 545 N 3; Baumbach/Hartmann-ZPO, Einf. § 284 N 22, anders aber § 546 N 12; Beutel, Wahrnehmungsbezogene Erfahrungssätze, 197. Unklar Prütting/Gehrlein-ZPOAckermann, § 546 N 8. 314 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 18.

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Verletzung von § 286 Abs. 1 ZPO-DE.315 Den Kunstgriff, Erfahrungssätze als revisionsrechtliche Rechtsnormen zu bezeichnen, braucht es nicht, wenn man § 286 als die verletzte Norm betrachtet. Konsequenz dieser Auffassung ist, dass die Verletzung von Erfahrungssätzen nur auf Verfahrensrüge hin zu überprüfen ist.316 b) Schweiz aa) Behauptungsbedürftigkeit? Die Figur des Erfahrungssatzes hat in der schweizerischen Lehre trotz ihrer großen Bedeutung für die Beweiswürdigung bisher wenig Beachtung gefunden.317 Entsprechend bleibt vieles ungeklärt. Behauptet werden muss der Inhalt von Erfahrungssätzen gemäß der einhelligen Lehre nicht.318 bb) Beweisbedürftigkeit? Gemäß der gesetzlichen Vorschrift von Art. 151 ZPO-CH bedürfen »offenkundige und gerichtsnotorische Tatsachen und allgemein anerkannte Erfahrungssätze« keines Beweises. E contrario kann man schließen, dass nicht allgemein anerkannte Erfahrungssätze eines Beweises bedürfen. Die allgemein anerkannten sind daher von den übrigen Erfahrungssätzen abzugrenzen. Brönnimann, Guyan, Passadelis, Schmid und Trezzini stellen auf den Normcharakter des Erfahrungssatzes im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ab (dazu gleich nachstehend),319 dies ist für die Beweisbedürftigkeit m. E. aber trotz den missverständlichen Ausführungen in der Botschaft,320 die von vielen Kommentatoren unkritisch übernommen werden, nicht ausschlaggebend. 315 Blomeyer, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, 1–54, 47; Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz, 171 f.; Prütting, Beweislast, 111; Rosenberg/Gottwald/Schwab, Zivilprozessrecht, § 142 N 12; Schellhammer, Zivilprozess, Rz. 1083; Beutel, Wahrnehmungsbezogene Erfahrungssätze, 197; Saenger-ZPO-Kayser, § 546 N 13; Prütting/Gehrlein-ZPO-Laumen, § 286 N 30. 316 Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz, 171 f., der allerdings bei »klar erkennbaren« Verstößen gegen Erfahrungssätze eine Prüfung von Amtes wegen für zulässig erachtet; Risthaus, Erfahrungssätze, Rz. 962. 317 Schumacher, in: Aargauischer Juristenverein (Hrsg.), Festschrift für Dr. Kurt Eichenberger, 157–210, 197; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 2.15. 318 Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, § 54 N 3; Leuch et al., Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, Art. 218 N 1a; Staehelin/Staehelin/ Grolimund, Zivilprozessrecht, § 18 N 11; SHK-ZPO-Passadelis, Art. 151 N 151; Dike-ZPO-Leu, Art. 151 N 17. 319 Brönnimann, in: Güngerich (Hrsg.), BK-ZPO, N 7; BSK-ZPO-Guyan, Art. 151 N 4; SHK-ZPO-Passadelis, Art. 151 N 6; KuKo-ZPO-Schmid, Art. 151 N 8; TK-ZPO-Trezzini, Art. 151, 632. Guyan weist darauf hin, dass dieser Normcharakter, ehe er vom Bundesgericht festgestellt wurde, kaum erkennbar ist. 320 Botschaft ZPO, BBl 2006 7312.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

Nach Rüedi und Leu sind Erkenntnisse, die auf allgemeiner Lebenserfahrung oder allgemein bekannten wissenschaftlichen Erfahrungssätzen beruhen, nicht beweisbedürftig, wohl aber Erfahrungssätze, die besonderer Sachkunde bedürfen.321 Der Auffassung von Leu und Rüedi ist zuzustimmen. Für die Beweisbedürftigkeit eines Erfahrungssatzes kommt es nicht auf seinen Normcharakter an, weil allgemein anerkannte Erfahrungssätze nicht deshalb nicht bewiesen werden müssen, weil sie Rechtssätze sind,322 sondern weil sie – wie die offenkundigen Tatsachen – jedermann bekannt sind oder ohne Beweisverfahren aus verlässlichen, öffentlich zugänglichen Quellen leicht erkennbar sind. »Allgemein anerkannt« im Sinne von Art. 151 ZPO-CH sollte daher verstanden werden im Sinne von »allgemein bekannt«. Für diese Auffassung spricht die Erwähnung der allgemein anerkannten Erfahrungssätze im Zusammenhang mit den offenkundigen Tatsachen. Sie entspricht auch überkommener Lehre und Rechtsprechung.323 Der Normcharakter spielt nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung eine Rolle bei der Frage, ob Erfahrungssätze im Rahmen einer Beschwerde durch das Bundesgericht frei überprüft werden können; dies ist von der Frage der Beweisbedürftigkeit zu trennen. Nicht maßgeblich für die Beweisbedürftigkeit ist jedoch, ob es sich um einen auf Wissenschaft oder auf »allgemeiner Lebenserfahrung« beruhenden Erfahrungssatz handelt. Zwar werden Erfahrungssätze der Wissenschaft oft nicht allgemein bekannt sein, aber dies ist nicht zwingend. Die Menge der Erfahrungssätze der Wissenschaft und die Menge der allgemein bekannten Erfahrungssätze weisen eine Schnittmenge auf. Der Erfahrungssatz, dass ein Körper ohne Krafteinwirkung im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung verharrt,324 ist gleichzeitig ein wissenschaftlicher wie ein allgemein bekannter Erfahrungssatz. cc) Überprüfung durch das Bundesgericht (1) Vor dem In-Kraft-Treten der schweizerischen Zivilprozessordnung Gemäß dem zwischenzeitlich aufgehobenen Art. 63 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) war das Bundesgericht an die tatsächlichen Feststellungen des kantonalen Gerichts gebunden, es sei denn, diese seien durch Verletzung bundesrechtlicher Beweisvorschriften zustande gekom321 Gehri/Kramer-ZPO-Rüedi, Art. 151 N 8 N 10; Dike-ZPO-Leu, Art. 151 N 21, beide unter Hinweis auf Kummer, Grundriss des Zivilprozessrechts, 122. Widersprüchlich Dike-ZPO-Leu, Art. 151 N 19. 322 So aber KuKo-ZPO-Schmid, Art. 151 N 9; Dike-ZPO-Leu, Art. 151 N 19. 323 Kummer, Grundriss des Zivilprozessrechts, 122; Spühler, SJZ 1997, 392–394, 393, unter Hinweis auf ein nicht veröffentlichtes bundesgerichtliches Urteil vom 17. Oktober 1991. 324 Erstes newtonsches Gesetz, Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, 13.

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men oder beruhten auf einem offensichtlichen (aus den Akten ersichtlichen) Versehen. Art. 43 Abs. 1 des gleichen Gesetzes, der die zulässigen Rügen bei der Berufung abschließend aufzählte, bestimmte, dass mittels Berufung nur die Verletzung von Bundesrecht, einschließlich der vom Bund abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge, gerügt werden konnte (nicht aber die Verletzung verfassungsmäßiger Rechte, für die das Rechtsmittel der staatsrechtlichen Beschwerde vorgesehen war). Um jeden Zweifel auszuschließen, hielt Art. 43 Abs. 3 OG ausdrücklich fest, dass Bundesrecht durch die Feststellung tatsächlicher Verhältnisse nicht verletzt wird. Wichtig im vorliegenden Zusammenhang ist, dass das Bundesgericht die Beweiswürdigung bis zum In-Kraft-Treten der schweizerischen Zivilprozessordnung als eine Domäne kantonalen Rechts betrachtete.325 Eine »falsche« Beweiswürdigung war also immer nur eine Verletzung kantonalen Rechts. Erst wenn die Beweiswürdigung geradezu willkürlich war, lag eine Verletzung der Bundesverfassung (Art. 9 BV resp. Art. 4 aBV) vor, die wie erwähnt nicht mit Berufung, sondern nur mit subsidiärer staatsrechtlicher Beschwerde gerügt werden konnte (Art. 84 Abs. 1 lit. a, Art. 88 OG). Die Hürde, die genommen werden musste, ehe das Bundesgericht die Beweiswürdigung eines kantonalen Gerichts als verfassungswidrig beurteilte, war hoch; das Bundesgericht ließ den kantonalen Behörden große Freiheit bei der Beweiswürdigung.326 Willkürlich ist Beweiswürdigung erst, wenn »die Beweiswürdigung offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, auf einem offenkundigen Versehen beruht oder in stoßender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft.«327 Willkür kann in der Außerachtlassung wesentlicher Sachverhaltselemente begründet sein,328 in offenkundiger Aktenwidrigkeit329 oder beim Abstellen auf eines von zwei sich widersprechenden Parteigutachten ohne Einholung eines Gerichtsgutachtens, wenn dem Gericht die Sachkunde fehlt, den Sachverhalt selbst zu beurteilen.330 Die Erfolgsaussichten einer auf die Rüge der willkürlichen Beweiswürdigung gestützten staatsrechtlichen Beschwerde war gering.331 Umso erstaunlicher war es, dass das Bundesgericht gemäß seiner älteren Rechtsprechung Erfahrungssätze generell auch im Rahmen der Berufung frei prüfte.332 Es verwarf zwar die Auffassung, dass Erfahrungssätze Rechtssätze seien, da 325 BGE 109 II 26 E. 3b; 107 II 426 E. 3b; 106 III 49, 51; 102 II 170 E. 3. Nachweise für die Lehre bei Bühler, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 72–92, 74. 326 Rouiller, in: Thürer/Aubert/Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 677–690, 679; dies gilt auch unter dem BGG, Hohl, Procédure civile, 519. 327 BGE 124 I 211 E. 4a mit zahlreichen Hinweisen. 328 BGE 126 I 111 E. 3e; 112 Ia 371 E. 3. 329 BGE 118 Ia 30 E. 1b. 330 BGE 132 III 88 E. 3.5. 331 Rouiller, in: Thürer/Aubert/Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 677–690, 679, unter Hinweis auf nicht veröffentlichtes Urteil vom 10. April 2000, E. 4d/cc. 332 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 2.18.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

sie keine Befehle enthielten, aber stellte gleichzeitig fest, dass sie »auch nicht schlechthin den gewöhnlichen Tatsachen gleichgestellt werden [können], da sie sich im Gegensatz zu diesen nicht auf den Tatbestand des zu beurteilenden Falles beschränken, sondern eine über diesen hinausreichende allgemeine Bedeutung besitzen.«333 Sie seien deshalb mit den Rechtssätzen verwandt und stünden zwischen Rechtssatz und Tatsache. Da die die Erfahrungssätze die Funktion von Normen für die rechtliche Beurteilung der im Prozess festgestellten Tatsachen hätten, also sogleich den Rechtssätzen eine Entscheidungsquelle darstellten, seien sie berufungsrechtlich den Rechtssätzen gleichzustellen.334 Dies wurde auch mit dem Hinweis auf die Einheitlichkeit der Rechtsprechung begründet: Es könne nicht sein, dass je nach Anwendung des gleichen Erfahrungssatzes das Bundesgericht mal in dem einen, mal in dem anderen Sinne gebunden sei. Das Bundesgericht sei demnach »zur Überprüfung des Inhalts von Erfahrungssätzen befugt, soweit es sich dabei um Erkenntnisse handelt, die durch allgemeine Lebenserfahrung vermittelt werden und nicht etwa um ausgesprochene Fachfragen, zu deren Entscheidung spezielle Fachkenntnisse erforderlich sind.«335 Das Bundesgericht übernahm also die Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Überprüfung der Erfahrungssätze in der Revision, auf die es auch ausdrücklich verwies. Mit dem Wortlaut von Art. 43 Abs. 3 OG ließ sich diese Rechtsprechung allerdings nur schwer vereinbaren. In seiner späteren Rechtsprechung schränkte das Bundesgericht seine Überprüfung der Erfahrungssätze denn auch ein. Zu dieser neueren Praxis wird in BGE 117 II 256 E. 2b ausgeführt, Erfahrungssätze seien in der Berufung nicht schlechthin als Normen zu behandeln; diese Funktion komme einem Erfahrungssatz »bloß zu, wenn das in ihm enthaltene hypothetische Urteil, welches aus den in andern Fällen gemachten Erfahrungen gewonnen wird, in gleich gelagerten Fällen allgemeine Geltung für die Zukunft beansprucht [. . . ], wenn der Erfahrungssatz einen solchen Abstraktionsgrad erreicht hat, dass er normativen Charakter trägt [. . . ].«336 Wo sich der Tatrichter hingegen bloß auf die allgemeine Lebenserfahrung stütze, um aus den bewiesenen Indizien auf einen unbeobachteten Sachverhalt zu schließen, liege unüberprüfbare Beweiswürdigung vor. Dass diese auf allgemeiner Lebenserfahrung beruhe, führe nicht dazu, dass die gesetzliche Kognitionsbeschränkung in der Berufung entfalle.337 Trotz dieser Einschränkung fand sich allerdings auch in neueren Urteilen die Bemerkung, dass Schlussfolgerungen, die »ausschließlich auf allgemeiner Lebens333

BGE 69 II 202 E. 5. BGE 69 II 202 E. 5, unter Hinweis auf RGZ 91, 71. 335 BGE 69 II 202 E. 5. 336 BGE 117 II 256 E. 2b; ebenso BGE 120 II 97 E. 2b; aus der Lehre Spühler, SJZ 1997, 392–394, 392; Walter, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Der Haftpflichtprozess, 15–36, 34, der von »Normhypothese« spricht. 337 BGE 117 II 256 E. 2b. 334

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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erfahrung beruhen«338 , in der Berufung frei überprüft werden können. Diese Rechtsprechung ist alles andere als klar und widerspruchsfrei.339 (2) Unter der schweizerischen Zivilprozessordnung Das OG wurde am 1. Januar 2007 durch das Bundesgesetz über das Bundesgericht (BGG, SR 173.110) ersetzt, gemäß dessen Art. 105 Abs. 1 das Bundesgericht seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde legt, den die Vorinstanz festgestellt hat. Nach Art. 97 Abs. 1 BGG kann die unrichtige Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz vor dem Bundesgericht als Beschwerdeinstanz nur gerügt werden kann, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Ar. 95 BGG beruht. Art. 95 BGG hält fest, dass die Kognition des Bundesgerichts auf die Verletzung von Bundesrecht und kantonalen verfassungsmäßigen Rechten beschränkt ist, aber nicht die Verletzung kantonalen Rechts ohne Verfassungsrang umfasst.340 Die Wendung »offensichtlich unrichtig« bedeutet dabei gemäß der bundesgerichtlichen Rechtsprechung »willkürlich«.341 Die Rüge der offensichtlich unrichtigen Feststellung des Sachverhalts prüft das Bundesgericht gemäß Art. 106 Abs. 2 BGG nur insoweit, als sie in der Beschwerde explizit vorgebracht und substanziiert begründet worden ist.342 Überdies muss die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG). Damit hatte sich unter der Geltung des BGG gegenüber dem OG in der Sache nichts geändert. Geändert hatte sich nur die Form des Rechtsmittels: Während unter dem OG die willkürliche Beweiswürdigung mittels staatsrechtlicher Beschwerde geltend gemacht werden musste und Verletzungen von Bundesrecht ohne Verfassungsrang mit Berufung, kann unter dem BGG auch die Verletzung von Verfassungsrecht im Rahmen der Beschwerde in Zivilsachen gerügt werden (Prinzip der Einheitsbeschwerde). Auch unter dem BGG prüfte das Bundesgericht die Beweiswürdigung kantonaler Instanzen nur auf Verletzung verfassungsmäßiger Rechte, d. h. auf Willkür, und räumte den kantonalen Instanzen weiterhin große Freiheiten bei der Beweiswürdigung ein.343 Mit dem In-Kraft-Treten der schweizerischen Zivilprozessordnung am 1. Januar 2011 ist jedoch ein fundamentaler Wandel eingetreten: Die Beweiswürdigung ist jetzt durch Bundesrecht geregelt (Art. 157 ZPO-CH). Da gemäß Art. 97 Abs. 1 BGG die unrichtige Feststellung des Sachverhalts gerügt werden kann, wenn sie auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG 338

BGE 130 III 182 E. 5.2.2; 126 III 10 E. 2b und Regeste. Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 2.19. 340 Eine hier nicht relevante Ausnahme gilt für die Verletzung kantonaler Bestimmungen über die politischen Stimmrechte, Art. 95 lit. d BGG. 341 BGE 133 II 249 E. 1.2.2; 137 III 226 E. 4.2. 342 BGer, Urteil 6B_289/2008 vom 17. Juli 2008, E. 1.2. 343 Hohl, Procédure civile, 519, mit zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung. 339

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

beruht, kann eine Beweiswürdigung, die gegen Art. 157 ZPO-CH verstößt, als Verletzung von Bundesrecht gerügt werden. Die Situation entspricht also im Wesentlichen der Situation in Deutschland vor dem Revisionsgericht. Wie das Revisionsgericht in Deutschland ist das Bundesgericht im Rahmen der Einheitsbeschwerde an die Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz gebunden, außer, die Tatsachenfeststellung sei rechtsfehlerhaft erfolgt.344 Für das Bundesgericht stellt sich daher mit bisher nicht dagewesener Dringlichkeit die Frage, wie »frei« die Beweiswürdigung im Sinne von Art. 157 ZPO-CH ist, denn die Einhaltung von Art. 157 ZPO-CH durch die Vorinstanz ist frei, nicht beschränkt auf Willkürkognition, zu prüfen. Die Frage, ob die Beweiswürdigung gemäß Art. 157 ZPO-CH völlig frei ist, in dem Sinne, dass auch ein Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze keine Verletzung von Art. 157 ZPO-CH darstellt, oder nur innerhalb der durch die Denkgesetze und Erfahrungssätze gesteckten Grenzen frei ist, bekommt daher eine ganz neue Bedeutung. Die völlige Freiheit der Beweiswürdigung, die nur in der Willkür eine Grenze findet, wäre jener »platte Subjektivismus«345 , den im deutschsprachigen Raum niemand vertritt.346 Die Bindung an die Denkgesetze und Erfahrungssätze entspricht nicht nur der hier vertretenen Auffassung, sondern wird auch von der ganz überwiegenden Lehre vertreten, die bei der Kommentierung von Art. 157 ZPO-CH anmerkt, das Gericht müsse sich an die Denkgesetze und das gesicherte Erfahrungswissen halten;347 es dürfe bei der Beweiswürdigung nicht beliebig oder willkürlich vorgehen, sondern sei zu gewissenhafter Schlussfolgerung gestützt auf Sach- und Menschenkenntnis sowie Lebenserfahrung verpflichtet.348 Passadelis verlangt die Berücksichtigung der Grundsätze der allgemeinen Lebenserfahrung,349 Guyan die der Gesetze der Logik350 und Schmid und Brönnimann sprechen von »pflichtgemäßem Ermessen«351 , das das Gericht bei der Beweis-

344 Die Prüfungsbefugnis des Berufungsgerichts in Deutschland geht hingegen auch nach der ZPO-Reform von 2002 weiter, da das Berufungsgericht an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz nur gebunden ist, soweit nicht »konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen«, § 529 Abs. 1 Ziff. 1 DE-ZPO. Der BGH bezeichnet das Berufungsgericht denn auch unter der Geltung des neuen § 529 »als zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz« (BGH NJW 2005, 1583, 1584), was das Bundesgericht nicht ist. 345 Walter, Freie Beweiswürdigung, 151. 346 Walter, Freie Beweiswürdigung, 151; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 308; Prütting, Beweislast, 64; Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 41; Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 279 f.; Fill, De calculatione iustitiae iudicatorum, 400. 347 BSK-ZPO-Guyan, Art. 157 N 3. 348 ZK-ZPO-Hasenböhler, Art. 157 N 11, unter anderem unter Hinweis auf Guldener, Zivilprozessrecht, 321 f., der ausdrücklich von Erfahrungssätzen spricht. 349 SHK-ZPO-Passadelis, Art. 157 N 9. 350 BSK-ZPO-Guyan, Art. 157 N 3. 351 BK-ZPO-Brönnimann, Art. 157 N 5; KuKo-ZPO-Schmid, Art. 157 N 3. Beide verlangen, dass die Beweiswürdigung nachvollziebar und begründet sein muss.

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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würdigung ausüben müsse.352 Wenn auch den Äußerungen in der Lehre eine gewisse Unbestimmtheit nicht abgesprochen werden kann, so ist doch klar, dass ein völlig subjektiver, an keine Regeln gebundener, Zugang zur Beweiswürdigung von niemandem vertreten wird.353 Nach hier vertretener Auffassung ist die Beweiswürdigung frei in dem Sinne, dass es keine gesetzlichen Regeln zur Bestimmung der Beweiskraft von Beweismitteln gibt, aber die richterliche Überzeugungsbildung darf nicht gegen die Denkgesetze verstoßen, zu denen neben der deduktiven Logik auch die Regeln der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie im Sinne einer Logik der Überzeugungsbildung gehören, und die Überzeugungen werden unter gegebenen Voraussetzungen bestimmt durch Erfahrungssätze, verstanden als Aussagen zur relativen Häufigkeit eines Merkmals in einer Referenzklasse. Die Missachtung eines Erfahrungssatzes verstößt daher gegen Art. 157 ZPO-CH, und folglich gegen Bundesrecht, und kann vom Bundesgericht auf Beschwerde hin frei überprüft werden. Das Bundesgericht hat allerdings klar gemacht, dass es auch unter der schweizerischen Zivilprozessordnung an seiner alten Rechtsprechung festhält, gemäß der es in die Beweiswürdigung der Tatsacheninstanz nur dann eingreift, wenn diese willkürlich, d. h. »offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht.«354 Diese Rechtsprechung wurde aber begründet, als die Beweiswürdigung durch kantonales Recht geregelt war. Und die Verletzung von kantonalem Recht ist nur dann (auch) eine Verletzung von Bundesrecht, wenn seine Anwendung das bundesverfassungsrechtliche Willkürverbot verletzt. Dazu bedarf es einer qualifiziert falschen Rechtsanwendung, die nicht nur in der Begründung, sondern auch im Ergebnis unhaltbar ist.355 Die Einhaltung der sich aus Art. 157 ZPO-CH ergebenden Anforderungen an die Beweiswürdigung hat das Bundesgericht jedoch, da es sich um eine bundesrechtliche Vorschrift handelt, frei zu überprüfen. Damit stellt sich in der Schweiz im Rahmen der Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht ähnlich wie in Deutschland für die Revision das Problem, die Erfahrungssätze nach solchen zu unterscheiden, deren Verletzung zugleich eine Rechtsverletzung darstellt, und solchen, deren Verletzung mit beschränkter Kognition nicht überprüfbar ist. Nicht jeder Verstoß gegen einen Erfahrungs352 Der Begriff »Ermessen« sollte der richterlichen Freiheit in der Wahl einer Rechtsfolge vorbehalten bleiben und im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung vermieden werden, Stickelbrock, Richterliches Ermessen im Zivilprozess, 353 ff. 353 So ausdrücklich BSK-ZPO-Guyan, Art. 157 N 3 (»objektive Kriterien«); Gehri/KramerZPO-Rüedi, Art. 157 N 3 (es genügt nicht, wenn sich das Gericht bloß für überzeugt erklärt); KuKo-ZPO-Schmid, Art. 157 N 3 (»rein subjektives Empfinden« genügt nicht). 354 BGer, Urteil 5A_250/2012 vom 18. Mai 2012, E. 7.4.2; bestätigt in Urteil 5A_127/2013 vom 1. Juli 2013, E. 3.2. Dies ist inzwischen ständige Rechtsprechung geworden, siehe z. B. Urteil 4A_592/2013 vom 4. März 2014, E. 2.1. 355 BGE 136 I 316 E. 2.2.2.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

satz kann mit Beschwerde ans Bundesgericht gerügt werden, weil ansonsten die gesetzlich vorgesehene Bindung des Bundesgerichts an die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 BGG) weitgehend illusorisch würde. Das Bundesgericht hat für diese Abgrenzung unter dem alten Recht die Lehre von den »Erfahrungssätzen mit Normcharakter« entwickelt, die nachstehend kritisch beleuchtet wird. (3) Der »Normcharakter« der Erfahrungssätze als Abgrenzungskriterium? Das Bundesgericht grenzt in seiner Rechtsprechung die nicht frei überprüfbaren »gewöhnlichen« Erfahrungssätze von den »Erfahrungssätze mit normativem Charakter« ab, die auf Beschwerde hin frei überprüft werden.356 Die »Erfahrungssätze mit normativem Charakter« zeichnen sich durch folgende Eigenschaften aus: i)

sie beanspruchen in gleich gelagerten Fällen allgemeine Geltung für die Zukunft; ii) ihren (hohen?) Abstraktionsgrad. Spühler fügt, soweit ersichtlich als einziger in der Lehre, hinzu, dass nur, wenn einem Erfahrungssatz »absolute Bedeutung beigemessen wird«, seine Anwendung frei überprüfbar sei.357 Das deutet darauf hin, dass er, ähnlich wie ein Teil der deutschen Lehre,358 nur zwingende Erfahrungssätze oder »Erfahrungsgesetze« für frei überprüfbar hält. Diese Auffassung wird durch die Rechtsprechung des Bundesgerichts allerdings nicht reflektiert; das Bundesgericht hat, wie auch die bei Spühler erwähnten Beispiele zeigen, wiederholt statistische Erfahrungssätze frei überprüft. Beispielsweise ist der Erfahrungssatz, dass ungenügende Sicherungsmaßnahmen einen Unfall der Art, zu deren Vermeidung die Maßnahmen gedacht gewesen wären, bewirken,359 eindeutig statistischer Natur. Nicht immer, wenn ein Unfall vorliegt, ist dieser auf die ungenügenden Sicherungsmaßnahmen zurückzuführen; es ist durchaus denkbar, dass der gleiche Unfall auch bei pflichtgemäßem Verhalten des Schädigers eingetreten wäre – aber es ist eben unwahrscheinlich. Der Grundgedanke der Lehre von den Erfahrungssätzen ist, dass sich der zu beurteilende Einzelfall in eine Klasse gleichartige Fälle einordnen lässt und sich basierend darauf eine Aussage über den Einzelfall machen lässt. Daher beansprucht jeder Erfahrungssatz begriffsnotwendig Anspruch auf Geltung in gleich gelagerten Fällen. Dies gilt grundsätzlich auch für zukünftige Fälle, es sei denn, die Umstände hätten sich geändert, was gerade bei Erfahrungssätzen zu 356

BGE 117 II 256 E. 2b; 120 II 97 E. 2b. Spühler, SJZ 1997, 392–394, 394. 358 Kuchinke, Grenzen der Nachprüfbarkeit tatrichterlicher Würdigung, 181 f.; Hainmüller, Anscheinsbeweis, 60 ff.; Zöller-ZPO-Greger, § 286 N 13. 359 Spühler, SJZ 1997, 392–394, 393. 357

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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sozialem Verhalten der Fall sein kann (vorne, S. 381). Darin kann aber kaum das Abgrenzungskriterium zwischen frei überprüfbaren Erfahrungssätzen und nicht frei überprüfbarer »Beweiswürdigung aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung« liegen. Das Bundesgericht verlangt jedoch nicht nur, dass der Erfahrungssatz für gleich gelagerte Fälle in Zukunft Geltung beansprucht, sondern auch, dass er »allgemeine Geltung« beansprucht. Das kann man ohne Zwang in dem Sinne verstehen, dass der Erfahrungssatz allgemein zutreffend sein muss. Damit würde das Bundesgericht, wie auch der BGH, die Überprüfung von Erfahrungssätzen auf solche mit gesteigerter Beweiskraft beschränken, auch wenn dies nicht ausdrücklich gesagt wird. Gesteigerte Beweiskraft bedeutet auch hier nicht »ausnahmslose Geltung beanspruchend«, sondern nur, dass der Erfahrungssatz eine so hohe relative Häufigkeit des relevanten Merkmals in der Referenzklasse behauptet, dass der Erfahrungssatz allein die richterliche Überzeugung begründen kann, dass das Merkmal im Einzelfall vorliegt. Als weiteres Abgrenzungskriterium nennt das Bundesgericht den »Abstraktionsgrad« des Erfahrungssatzes. »Abstraktion« bezeichnete ursprünglich die Operation, vermittels derer man in der Erkenntnis zu den Abstrakta genannten Gattungen der von den Prädikatoren (Allgemeinnamen wie »Tisch«, »Stuhl«, im Gegensatz zu Eigennamen wie »Hans«) benannten Gegenständen gelangt.360 Allgemeiner bezeichnet Abstraktion (lat. abstrahere, fortziehen, abziehen) den Denkvorgang, bei dem von den als unwesentlich erachteten Merkmalen eines Gegenstandes abgesehen und gleichzeitig die als wesentlich scheinenden Merkmale hervorgehoben und gesondert betrachtet werden.361 Ein Begriff soll durch das Weglassen von Einzelheiten auf etwas Allgemeineres oder Einfacheres übergeführt werden. Wenn das Bundesgericht im Zusammenhang mit Erfahrungssätzen von »Abstraktionsgrad« spricht, so dürfte damit gemeint sein, dass ein Erfahrungssatz einen umso höheren Abstraktionsgrad besitzt, je weniger Eigenschaften er als Geltungsvoraussetzungen nennt. Allgemeiner formuliert ist ein abstrakter Erfahrungssatz einer, bei der die Referenzklasse durch wenige Merkmale definiert ist. Der Erfahrungssatz, dass unter den Bedingungen B1 , B2 , B3 die Folge F1 eintritt, hätte in diesem Sinne einen höheren Abstraktionsgrad als der Erfahrungssatz, dass unter den Bedingungen B1 , B2 , B3 , B4 die Folge F1 eintritt.362 Das Kriterium leuchtet im Grenzfall ein, in dem das Gericht unter Berücksichtigung aller Merkmale des konkreten Falles zu einem bestimmten Schluss kommt. Dieser 360 Schneider, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Eintrag »Abstraktion«. 361 Schneider, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Eintrag »Abstraktion«. 362 Dabei wird immer vorausgesetzt, dass es sich um Bedingungen handelt, die wesentlich sind.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

»Erfahrungssatz« ist so konkret wie nur denkbar, es wurde nichts abstrahiert. Es ist auch unwahrscheinlich, dass sich der genau gleiche Fall erneut abspielen wird, weshalb man dem Erfahrungssatz eine tatsächliche Bedeutung über den Einzelfall hinaus absprechen kann. In einem solchen Fall erscheint es gekünstelt, überhaupt von der Anwendung eines Erfahrungssatzes zu sprechen, sondern das Gericht nimmt schlicht eine Gesamtwürdigung aller Umstände vor, was Kern der (nicht überprüfbaren) Beweiswürdigung ist. Mit diesem Argument ist aber noch nicht dargetan, dass das Kriterium des »Abstraktionsgrades« tauglich ist, die praktisch relevanten Erfahrungssätze, die nicht alle Merkmale des konkreten Einzelfalles berücksichtigen, voneinander abzugrenzen. Zwei Probleme springen ins Auge: Erstens kann es arbiträr sein, wie viele Merkmale ein Erfahrungssatz enthält. Dies ist immer auch eine Frage sprachlicher Konvention. Besteht der Erfahrungssatz, dass ein Automobilist nicht ohne eigenes Verschulden auf einer geraden, trockenen und gut beleuchteten Strecke von der Fahrbahn abkommt, aus vier Merkmalen (Automobilist, gerade Strecke, trockene Strecke, beleuchtete Strecke) oder aus fünf Merkmalen (Automobilist, gerade Strecke, trockene Strecke, beleuchtete Strecke, Fahrbahn)? Man kann das Merkmal »Fahrbahn« als implizit im Begriff »Strecke« enthalten betrachten, oder als separate Eigenschaft der Strecke (in Abgrenzung z. B. zu »Feldweg«, der zwar eine Strecke ist, den man gemeinhin aber nicht als »Fahrbahn« bezeichnen würde). Durch die Unterteilung von Merkmalen in weitere Untermerkmale kann der Abstraktionsgrad des Erfahrungssatzes beinahe beliebig manipuliert werden. Meiner Meinung nach ist dies allerdings nicht der entscheidende Einwand gegen das Kriterium. Oft wird es möglich sein, sich darauf zu einigen, welche Merkmale wesentlich sind, und daraus ergibt sich, welche Merkmale explizit genannt werden müssen (so erscheint plausibel, dass die Beschaffenheit der Fahrbahnoberfläche die Wahrscheinlichkeit, ohne Verschulden von der Strecke abzukommen, beeinflusst, kaum jedoch – bei im Übrigen gleichen Eigenschaften – ob es sich um eine Haupt- oder Nebenstraße handelt). Entscheidend ist der Einwand, dass das Kriterium keine prinzipielle Abgrenzung erlaubt, sondern ein bloß graduelles Kriterium ist: Wann ist ein Erfahrungssatz so konkret, dass er vom Bundesgericht nicht mehr überprüft werden kann, respektive wann so abstrakt, dass er überprüft werden darf? Liegt die Grenze bei fünf Geltungsvoraussetzungen oder bei sieben? Eine sinnvolle, auf allgemeingültigen Erwägungen beruhende Antwort auf diese Frage scheint kaum denkbar. Das vom Bundesgericht verwendete Abgrenzungskriterium des »Abstraktionsgrades« erscheint daher nicht praktikabel. Jedoch ist das Kriterium der »allgemeinen Geltung«, verstanden als Erfahrungssatz, der eine tatsächliche Vermutung zu begründen vermag, tauglich, weil aus der Urteilsbegründung der Tatinstanz ersichtlich ist, ob der Tatrichter allein aufgrund eines Erfahrungssatzes eine Tatsachenbehauptung für wahr erachtet hat, und ihm daher gesteigerte Beweiskraft zumisst.

III. Woher kommen Überzeugungen: eine Antwort der Jurisprudenz

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Weiter muss nach hier vertretener Auffassung aus den bereits vorne, S. 407 f., dargelegten Gründen ein auf Beschwerde hin überprüfbarer Erfahrungssatz sich auf Alltagswissen oder »allgemeine Lebenserfahrung« stützen. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung geht ebenfalls davon aus, dass sich ein überprüfbarer Erfahrungssatz auf allgemeine Lebenserfahrung, und nicht spezielle Sachkunde, stützen muss.363 Schumacher, der soweit ersichtlich als einziger in der schweizerischen Lehre dieses Abgrenzungskriterium explizit prüft und verwirft, weist darauf hin, dass die Abgrenzung von Alltagsverstand (sein Ausdruck) und Fachwissen nicht immer klar sei.364 Auch sei es widersprüchlich, dass ein auf Alltagsverstand beruhender Erfahrungssatz, der durch einen Gutachter im Rahmen seines Gutachtens angewendet wurde, nicht überprüfbar sei, der gleiche Erfahrungssatz, der durch den Richter angewendet würde, aber frei überprüft werden könnte.365 Der Einwand, dass die Grenze zwischen allgemeiner Lebenserfahrung und spezieller Sachkunde nicht immer eindeutig ist, ist sicherlich richtig. Die Abgrenzung ist aber m. E. in der Praxis deshalb durchführbar, weil es nicht um eine generell-abstrakte Definition geht,366 sondern darum, ob sich der Tatrichter zutraut, den Erfahrungssatz ohne Beizug eines Experten, eigener Erfahrung oder statistischer Daten (z. B. aus öffentlichen Quellen) zu formulieren. Tut er dies, so stützt sich der Erfahrungssatz offensichtlich auf Alltagswissen oder allgemeine Lebenserfahrung. Der Einwand, dass die Anwendung eines auf Alltagswissen beruhenden Erfahrungssatzes durch einen Gutachter nicht überprüft wird, ist beachtlich, dürfte in der Praxis aber eine geringe Rolle spielen. Sachverständigengutachten werden meist – dies ist ein Erfahrungssatz – dort eingeholt, wo mehr als Alltagswissen notwendig ist, um eine vernünftige Aussage zu treffen. (4) Dogmatische Grundlage der bundesgerichtlichen Überprüfung des Verstoßes gegen Erfahrungssätze mit gesteigerter Beweiskraft Das Bundesgericht hat in seiner älteren Rechtsprechung Erfahrungssätze Rechtssätzen gleichgesetzt, sie also berufungsrechtlich wie Rechtsnormen behandelt, da die Erfahrungssätze »die Funktion von Normen für die rechtliche Beurteilung der im Prozess festgestellten Tatsachen«367 hätten. Sie würden »gleich den Rechtssätzen eine Entscheidungsquelle darstellen.«368 Im Resultat behandelte 363 BGE 69 II 202 E. 5; siehe auch BGE 117 II 256 E. 2b (»Schlüsse aus allgemeiner Lebenserfahrung«). 364 Schumacher, in: Aargauischer Juristenverein (Hrsg.), Festschrift für Dr. Kurt Eichenberger, 157–210, 197. 365 Schumacher, in: Aargauischer Juristenverein (Hrsg.), Festschrift für Dr. Kurt Eichenberger, 157–210, 197. 366 Eine solche kann über die Figur eines fiktiven »Normalmenschen« mit durchschnittlichem Allgemeinwissen versucht werden, Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 380. 367 BGE 69 II 202 E. 5, unter Hinweis auf RGZ 91, 71. 368 BGE 69 II 202 E. 5.

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Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

das Bundesgericht Erfahrungssätze als Normen des Bundesrechts, denn nur so ließ sich, solange die Beweiswürdigung Domäne kantonalen Rechts war, ihre Überprüfung in der bundesrechtlichen Berufung rechtfertigen. Unter der schweizerischen Zivilprozessordnung ist der Kunstgriff, Erfahrungssätze als eigenständige (Rechts-)Normen zu betrachten, nicht mehr notwendig. Mit dem In-Kraft-Treten der schweizerischen ZPO ist die freie Beweiswürdigung zu einem Institut des Bundesrechts geworden. Da die Anwendung von Bundesrecht vom Bundesgericht frei, und nicht nur auf Willkür, überprüft wird (Art. 95 lit. a BGG), führt dies dazu, dass eine Beweiswürdigung, welche die von Art. 157 ZPO-CH gesteckten Grenzen überschreitet – und zu den Grenzen gehört die Beachtung der Denkgesetze und Erfahrungssätze – eine Verletzung von Bundesrecht ist, die trotz der grundsätzlichen Bindung des Bundesgerichts an die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 BGG) gerügt werden kann. Meines Erachtens muss dies dazu führen, dass das Bundesgericht seine »Willkürkognition« in der Beweiswürdigung aufgeben muss, denn diese ergibt sich aus der kantonalrechtlichen Natur der Beweiswürdigung, die entfallen ist (vorne, S. 415 ff.). Ein rechtsvergleichender Blick nach Deutschland zeigt, dass sich der BGH als Revisionsgericht trotz Bindung an die Tatsachenfeststellung durch das Berufungsgericht (§ 559 Abs. 2 ZPO-DE) traditionell viel stärker in Belange der Beweiswürdigung einmischt als das Bundesgericht.369 Ein Grund dürfte darin liegen, dass die Norm zur freien Beweiswürdigung in Deutschland schon immer zum frei überprüfbaren Recht gehört hat; die Unterscheidung von frei überprüfbarem und nur mit Willkürkognition überprüfbarem Recht ist dem deutschen Zivilprozessrecht fremd.

IV. Zusammenfassung des vierten Teils Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie liefert die Denkgesetze der rationalen Überzeugungsbildung. Sie sagt aber in ihrer Reinform nichts zu den Inhalten der Überzeugungen. Jeder darf glauben, was er will, aber er darf gewisse Teilüberzeugungen nicht gleichzeitig halten, ohne sich dem Vorwurf der Irrationalität auszusetzen. Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie wird daher meist durch das »Frequency Principle« oder »Principle of Direct Probability« ergänzt: Wo ein bestimmtes Merkmal in einer homogenen Referenzklasse mit einer bestimmten relativen Häufigkeit vorkommt, muss die persönliche Überzeugung, dass ein zufällig ausgewähltes Mitglied dieser Referenzklasse das Merkmal aufweist, einer 369 Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 68; Zöller-ZPO-Greger, § 286 N 24; Saenger-ZPOSaenger, § 286 N 37, mit kritischen Bemerkungen zu den als zu weitgehend empfundenen Eingriffen in die freie Beweiswürdigung durch das Revisionsgericht.

IV. Zusammenfassung des vierten Teils

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relativen Häufigkeit entsprechen. Die völlige Freiheit, beliebige Überzeugungen zu haben, wird dadurch eingeschränkt. Das »Frequency Principle« lenkt den Blick auf zwei Probleme. Erstens ist die Annahme, dass die Referenzklasse homogen ist, eine starke Annahme, die in Wirklichkeit nie erfüllt ist. Rechtfertigen lässt sich aber, von der Homogenität der Referenzklasse auszugehen, solange man nicht weiß, welche Eigenschaften eine weitere Unterteilung der Klasse in Unterklassen mit unterschiedlichen relativen Häufigkeiten des interessierenden Merkmals erlauben. Die Referenzklasse ist dann nicht tatsächlich homogen, aber epistemisch homogen.370 Mit der Ergänzung durch das »Frequency Principle« handelt sich die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie auch das Referenzklassenproblem des frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs ein. Das Referenzklassenproblem, eines der schwierigsten Probleme induktiven Schließens, wird durch formale Modelle der Beweiswürdigung aber nur offen gelegt. Es plagt jeden Schluss von einer Generalisierung auf den Einzelfall, und ohne solche Schlüsse ist Beweiswürdigung nicht denkbar. Eine theoretisch einzig richtige Lösung der Bestimmung der Referenzklasse gibt es nicht. Eine vernünftige Faustregel zur Wahl der epistemisch richtigen Referenzklasse ist, von der engsten Referenzklasse – d. h. der Referenzklasse, deren Mitglieder die meisten Eigenschaften mit dem zu beurteilenden Individuum teilen – auszugehen, die groß genug ist, um eine statistisch zuverlässige relative Häufigkeit des interessierenden Merkmals angeben zu können. Gibt es mehrere solche Klassen, ist diejenige zu wählen, die basierend auf dem gesamten Wissen vermutungsweise homogener ist. Die Wahl der Referenzklasse bleibt immer eine wertende Entscheidung, die sorgfältiges Abwägen erfordert.371 Was das »Frequency Principle« für den Statistiker ist, ist die Bindung an die Erfahrungssätze für den Richter. Die Erfahrungssätze übernehmen die Aufgabe der relativen Häufigkeit, die richterlichen Überzeugungen an eine empirische Basis zu binden. Weil in einem Gerichtsverfahren zahlreiche empirische Annahmen getroffen werden müssen, zu denen keine statistischen Daten vorliegen, können Quellen von Erfahrungssätzen auch die eigene Erfahrung des Richters, die Erfahrung Dritter – in den Prozess einzubringen über Sachverständigengutachten – oder Alltagswissen sein. Erfahrungssätze, die nur auf Alltagswissen beruhen, können oft falsch sein. Wo ihnen eine gesteigerte Beweiskraft zugemessen wird, die genügt, eine Tatsachenbehauptung ohne weitere konkrete Anhaltspunkte für wahr zu erachten, geht von ihnen eine besondere Gefahr für die Korrespondenz der Sachverhaltsrekonstruktion mit der Wirklichkeit aus. Es rechtfertigt sich daher, sie im Rechtsmittelverfahren einer vertieften Prüfung zu unterziehen. Die-

370 371

Salmon, Scientific Inference, 92. de Finetti, Wahrscheinlichkeitstheorie, 255; Salmon, Scientific Inference, 93.

424

Vierter Teil: Erfahrungssätze in der Beweiswürdigung

ser Ansatz vermag die Rechtsprechung zur Revisibilität der Erfahrungssätze, wie sie tatsächlich gelebt wird, sowohl zu erklären als auch zu rechtfertigen.

Fünfter Teil

Beweismaß I. Unterschiedliches Beweismaß im Straf- und Zivilprozessrecht in den Ländern des Common Law Rechtskreises Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Beobachtung, dass Länder des Common Law Rechtskreises, allen voran die USA und England, zwei verschiedene Beweismaße (»standards of proof« oder »standards of persuasion«1 ) in Zivil- und Strafsachen kennen.2 Es ist dies einer der fundamentalsten Unterschiede zwischen dem Common Law und dem kontinentaleuropäischen Civil Law.3 Während im Strafrecht in den USA und England das Beweismaß des »proof beyond reasonable doubt« gilt, gilt im Zivilrecht der tiefere Standard der »preponderance of the evidence«, in England als »balance of probabilities« bezeichnet.4 In den USA besteht zudem für gewisse, für den Beklagten besonders nachteilige, Zivilsachen der Standard der »clear and convincing evidence«,5 während es in England umstritten ist, ob es neben »proof beyond reasonable doubt« und der »balance of probabilities« ein drittes, dazwischenliegendes, Beweismaß gibt.6 1 Wright, in: Koziol/Steininger (Hrsg.), Tort and Insurance Law, 79–105, 80. Davon zu unterscheiden ist der »burden of proof«, der ungefähr der Beweislast entspricht, Kokott, Burden of proof, 9. 2 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 56 ff., bietet einen geschichtlichen Überblick zur Entwicklung des englischen Rechts zum Beweismaß in Zivil- und Strafsachen. Einige »mixed jurisdictions«, wie Israel, Quebec (Kanada), Schottland und Südafrika treffen diese Unterscheidung auch, Brinkmann, Beweismaß, 28; Zamir/Ritov, Journal of Legal Studies 2012, 165–207, 173 f. 3 Paulus, in: Schilken/Becker-Eberhard/Gerhardt (Hrsg.), Festschrift für Hans Friedhelm Gaul, 747–760, 750; Kokott, Burden of proof, 18; Clermont/Sherwin, American Journal of Comparative Law 2002, 243–276, 262 ff.; Engel, Vermont Law Review 2009, 435–467, 435; Motsch, in: Rüßmann (Hrsg.), Festschrift für Gerhard Käfer, 241–271, 242; a. M. Gottwald, in: Gottwald/Jayme/Schwab (Hrsg.), Festschrift für Dieter Henrich, 165–176, 175; Brinkmann, Beweismaß, 3. 4 Z. B. Addington v. Texas, 441 U.S. 418 (1979), 422, 423; für England In Re H & Others (minors) UKHL 16, AC 563 (1995), Rz. 76; Wright, in: Koziol/Steininger (Hrsg.), Tort and Insurance Law, 79–105, 80. Ho, A legal theory of evidence and proof, 215 ff., plädiert für ein einziges, variables, Beweismaß, das in Zivil- wie Strafsachen Anwendung findet, scheint damit aber alleine. 5 Addington v. Texas, 441 U.S. 418 (1979), 423. 6 Anderson/Schum/Twining, Analysis of evidence, 243; McBride, Law, Probability & Risk 2009, 323–351, 325 ff.

426

Fünfter Teil: Beweismaß

Der Standard der »preponderance of the evidence« wird in den USA in den Federal Jury Practice and Instructions wie folgt umschrieben:7 »To ‘establish by a preponderance of the evidence’ means to prove that something is more likely so than not so. In other words, a preponderance of the evidence in the case means such evidence as, when considered and compared with that opposed to it, has more convincing force, and produces in your minds belief that what is sought to be proved is more likely true than not true. This rule does not, of course, require proof to an absolute certainty, since proof to an absolute certainty is seldom possible in any case.«

Für das englische Recht gilt eine Umschreibung durch Lord Denning in Miller vs. Minister of Pensions als die klarste Formulierung des zivilrechtlichen Beweismaßes:8 »That degree is well settled. It must carry a reasonable degree of probability, but not so high as is required in a criminal case. If the evidence is such that the tribunal can say ‘we think it more probable than not’ then the burden is discharged, but if the probabilities are equal it is not.«

Im Common Law genügt in Zivilsachen demnach bereits der geringste Grad des Übergewichts der Überzeugung zugunsten des Klägers, um für diesen zu entscheiden.9 Anders gesagt: es reicht, wenn der klägerische Sachvortrag wahrscheinlicher wahr als falsch ist.10 Dagegen ist für einen Schuldspruch in einem strafrechtlichen Verfahren notwendig, dass die Geschworenen keine vernünftigen Zweifel haben, dass der vom Staat behauptete Sachverhalt der Fall ist:11 »Proof beyond a reasonable doubt is proof that leaves you firmly convinced that the defendant is guilty. It is not required that the government prove guilt beyond all possible doubt. A reasonable doubt is a doubt based upon reason and common sense and is not 7

O’Malley/Grenig/Lee (Hrsg.), Federal jury practice and instructions, § 166.51. Redmayne, Modern Law Review 1999, 167–195, 168; das Zitat ist aus Miller v. Minister of Pensions 3 All ER 372 (1947), 373 f. 9 Redmayne, Modern Law Review 1999, 167–195, 172; für das US-amerikanische Recht Livanovitch v. Livanovitch, 131 A. 799, 800 (Vt. 1926) (»If [. . . ] you are more inclined to believe from the evidence that he did so deliver the bonds to the defendant, even though your belief is only the slightest degree greater than that he did not, your verdict should be for the plaintiff« (die Geschworeneninstruktionen zitierend); Pennsylvania Suggested Standard Civil Jury Instructions, 3. Aufl. 2005, § 1.42. 10 Illinois Supreme Court Committee on Pattern Jury Instructions in Civil Cases (Hrsg.), Illinois; Pattern Jury Instructions: Civil, § 21.01 (»more probably true than not true«), erhältlich unter www.state.il.us/court/CircuitCourt/CivilJuryInstructions/21.00.pdf (zuletzt besucht am 1. August 2012); Sand et al. (Hrsg.), Modern Federal Jury Instructions – Civil Volumes, Bd. 4, § 73.01, Instruktion 73–2 (»by a preponderance of the evidence« heißt »more likely true than not true«). 11 Geschworeneninstruktion gemäß Ninth Circuit Model Criminal Jury Instructions, Ausgabe 2003, § 3.5 – Reasonable Doubt – Defined. Sheppard, Notre Dame Law Review 2003, 1165–1250 zeigt die geschichtliche Entwicklung von »moral certainty« zu »reasonable doubt« zu »articulate doubt«, wobei gemäß ihm das heutige Beweismaß in Strafsachen besser durch letzteren Begriff charakterisiert wird als durch »reasonable doubt«. 8

I. Unterschiedliches Beweismaß in Straf- und Zivilprozess

427

based purely on speculation. It may arise from a careful and impartial consideration of all the evidence, or from lack of evidence. If after a careful and impartial consideration of all the evidence, you are not convinced beyond a reasonable doubt that the defendant is guilty, it is your duty to find the defendant not guilty. On the other hand, if after a careful and impartial consideration of all the evidence, you are convinced beyond a reasonable doubt that the defendant is guilty, it is your duty to find the defendant guilty.«

In der traditionellen Diskussion in der englischen Literatur zum Beweismaß wird betont, dass das Beweismaß im Zivilprozessrecht objektiv umschrieben werde (»Überwiegen der Beweismittel«, »Gleichgewicht der Wahrscheinlichkeiten«), während es im Strafprozessrecht subjektiv, als Zustand des Geistes des Geschworenen, definiert werde (»fest überzeugt, dass der Angeklagte schuldig ist«).12 Dies ist aber nicht der entscheidende Unterschied, denn wie ein Blick auf die Geschworeneninstruktion für den »preponderance of the evidence« Standard zeigt, kommt es auch dort auf den Glauben, oder eben Überzeugungsgrad, an, den die Beweismittel beim Geschworenen bewirken (»produces in your minds belief that what is sought to be proved is more likely true than not true«).13 Der entscheidende Unterschied ist vielmehr, dass der Grad der Überzeugung, der vorhanden sein muss, in Strafsachen viel höher ist als in Zivilsachen, wo bereits der geringste Grad des Übergewichts zugunsten der beweisbelasteten Partei genügt, um für diese zu entscheiden. Die entscheidungstheoretische Begründung für diesen Unterschied ist so einfach, einleuchtend und schwer zu widerlegen,14 dass Juristen des Common Law Rechtskreises »rudely wonder how civilians can be so wrong«15 , weil Zivilisten diesen Unterschied zwischen zivil- und strafrechtlichem Beweismaß – zumindest nach dem Wortlaut des Gesetzes – nicht machen.16 Im Folgenden wird daher zuerst die entscheidungstheoretische Begründung für das unterschiedliche Beweismaß in Zivil- und Strafsachen im Common Law dargestellt, ehe auf die Beweismaßdiskussion in der Schweiz und in Deutschland eingegangen und untersucht wird, mit welchen Argumenten in diesen Ländern verteidigt wird, dass es für die Gutheißung einer zivilrechtlichen Klage nicht genügt, dass der Richter, sei es zu einem noch so geringen Grad, eher glaubt, dass die das Klagefundament bildenden Tatsachenbehauptungen wahr sind, als dass sie falsch sind. Diese Debatte wurde in Deutschland vor allem zwischen ungefähr 1975 – dem Erscheinungsjahr der Dissertation von Maassen17 – und 1985 heftig 12

Anderson/Schum/Twining, Analysis of evidence, 242. McBaine, California Law Review 1944, 242–268. 14 Kaye, Cornell Law Review 1987, 4–77, 55. 15 Clermont/Sherwin, American Journal of Comparative Law 2002, 243–276, 244; Kritik durch Taruffo, American Journal of Comparative Law 2003, 659–677. 16 Die klassische entscheidungstheoretische Begründung des Beweismaßes ist in neuster Zeit unter Kritik geraten durch ökonomische Modelle, die auf das durch die Entscheidungsgrenze beeinflusste ex ante Verhalten der Rechtsunterworfenen abstellen, Demougin/Fluet, European Economic Review 2006, 963–976; Fluet, International Review of Law and Economics 2010, 1–9; Kaplow, Yale Law Journal 2012, 738–859, 756 ff. Siehe dazu hinten, S. 487 f. 17 Maassen, Beweismaßprobleme. 13

428

Fünfter Teil: Beweismaß

geführt.18 Seit Anfang der 1990-Jahre ist es eher ruhig geworden um das Thema. Die Vertreter der traditionellen Auffassung, dass das Regelbeweismaß im Zivilrecht die volle Überzeugung von der Wahrheit ist, haben sich durchgesetzt,19 so dass Prütting 2010 feststellen kann, »dass solche extremen Auffassungen [sc. von einem Regelbeweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit] zu keinem Zeitpunkt in der deutschen Rechtswissenschaft Fuß fassen konnten und in keinem Kommentar zur ZPO mehr Erwähnung finden.«20 Hier wird also eine Diskussion neu eröffnet, die (in Deutschland) seit einem Vierteljahrhundert abgeschlossen ist (während sie in der Schweiz nie geführt wurde). Die heftige Kritik von Clermont/Sherwin am kontinentaleuropäischen Beweismaß der »vollen Überzeugung« und die nicht minder polemisch vorgetragene Antwort von Taruffo haben in neuster Zeit jedoch zu einem erneuerten Interesse auch deutscher Juristen an Beweismaßfragen geführt.21 In der Schweiz erschien mit Berger-Steiners Arbeit 2008 erstmals eine Monographie zum Beweismaß im Zivilrecht und hat die Beweismaßdiskussion »aus ihrem länger dauernden Dornröschenschlaf«22 erweckt. Meines Erachtens haben die Vertreter eines Beweismaßes der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« in der ersten Auflage der Debatte ihre Auffassung nicht mit den bestmöglichen Argumenten vertreten, und Aspekte, die zeigen, dass die Auffassungen der beiden unversöhnlichen Lager weniger weit auseinander liegen, als beide Seiten meinen, wurden bisher übersehen. Die Zeit scheint also reif, die Debatte neu anzustoßen. Wenn die Auseinandersetzung in Deutschland in den 1980-er Jahren und der Meinungsaustausch von Clermont/Sherwin und Taruffo typisch sind, dürfen wir uns auf einen verbalen Schlagabtausch freuen, in dem mehr mit dem Zweihänder als mit dem Florett gekämpft wird.

18

Prütting, ZZP 2010, 135–145, 142. Siehe aber Wagner, in: Bork/Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Verfahrensrechts, 156–193, 172 f., der für das Überwiegensprinzip eintritt. 20 Prütting, ZZP 2010, 135–145, 142. Erwähnung finden sie natürlich schon – gerade auch durch Prütting im Münchner Kommentar zur ZPO (dort § 286 N 35) – aber nur als abzulehnende Irrmeinung. 21 Clermont/Sherwin, American Journal of Comparative Law 2002, 243–276; Taruffo, American Journal of Comparative Law 2003, 659–677; Engel, Vermont Law Review 2009, 435–467; Motsch, in: Rüßmann (Hrsg.), Festschrift für Gerhard Käfer, 241–271; Clermont, Vanderbilt Law Review 2009, 469–488; aus Perspektive des französischen und luxemburgischen Rechts Kinsch, in: Institut Grand-Ducal (Hrsg.), Actes de la Section des Sciences Morales et Politiques, 65–103. 22 Pribnov, HAVE 2009, 158–162, 158. 19

II. Entscheidungstheoretische Rechtfertigung

429

II. Entscheidungstheoretische Rechtfertigung des unterschiedlichen Beweismaßes für Zivil- und Strafsachen 1. Grundbegriffe der Entscheidungstheorie Als Entscheidung wird in der Entscheidungstheorie eine Wahl zwischen mindestens zwei Handlungsalternativen bezeichnet.23 Während die deskriptive Entscheidungstheorie beschreiben und erklären will, wie Menschen tatsächlich entscheiden, kümmert sich die normative Entscheidungstheorie nicht darum, wie Menschen in Wirklichkeit Entscheidungen treffen, sondern will zeigen, wie Entscheidungen rational getroffen werden sollten.24 Da im Folgenden versucht wird, das Beweismaß in Zivilsachen rational zu begründen, stützt sich die Argumentation auf die normative Entscheidungstheorie. Jede Handlung (act) im Sinne der Entscheidungstheorie hat Konsequenzen, die auch als Ergebnisse (outcomes) bezeichnet werden.25 Ein Entscheidungsproblem wird durch die Frage charakterisiert, welche Handlung aus einer Menge mehrerer zulässiger, sich gegenseitig ausschließender,26 Handlungsalternativen gewählt werden soll. »Nichts tun«, d. h. den Status quo beibehalten, wird dabei ebenfalls als Handlungsalternative verstanden.27 Einen Rat, welche Handlungsalternative zu wählen ist, kann die normative Entscheidungstheorie nur geben, wenn Zielvorstellungen vorhanden sind, mit deren Hilfe die Konsequenzen der Handlungsalternativen nach ihrer Wünschbarkeit beurteilt werden können.28 Daraus folgt, dass die Handlungsalternativen, damit ein Entscheidungsproblem vorliegt, sich darin unterscheiden müssen, dass mit mindestens einer der Alternativen das Ziel mehr oder weniger gut erreicht wird als mit mindestens einer anderen Alternative. Ansonsten liegt zwar eine Wahlsituation, aber kein Entscheidungsproblem, vor.29 Welches Ergebnis bei der Wahl einer bestimmten Alternative erzielt wird, hängt auch von Größen ab, die der Entscheider nicht beeinflussen kann. Diese entscheidungsrelevanten Daten werden als Umweltzustände oder Zustände (states) bezeichnet,30 wobei sich die Zustände in einem formalen Entscheidungsproblem gegenseitig ausschließen, d. h. die Zustände müssen so gegeneinander abgegrenzt 23

Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 3. Peterson, Decision Theory, 3; Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 3 f. 25 Peterson, Decision Theory, 28. 26 Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 22. 27 Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 5. Nur mögliche Alternativen werden berücksichtigt; d. h. die Beibehaltung des Status quo ist nur eine Alternative, wenn sie möglich ist. 28 Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 61 f.; Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 5. 29 Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 5. 30 Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 20 f.; Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 32. 24

430

Fünfter Teil: Beweismaß

werden, dass immer nur einer der Zustände eintreten kann.31 Bei der Entscheidung darüber, ob eine Tatsachenbehauptung als wahr zu erachten ist, ist diese Voraussetzung gegeben – die Tatsache ist der Fall oder sie ist nicht der Fall, die Behauptung kann nicht gleichzeitig wahr und falsch sein. Die Zustände dürfen in der formalen Entscheidungstheorie wie erwähnt nicht vom Entscheider beeinflussbar sein, und damit insbesondere nicht durch die Handlung (Wahl der Alternative) bewirkt werden,32 d. h. ein Zustand tritt nie deshalb ein, weil der Entscheider eine bestimmte Entscheidung getroffen hat. Bezogen auf die Tatsachenfeststellung in einem gerichtlichen Urteil bedeutet dies, dass eine Tatsache nie deshalb der Fall ist, weil der Richter sich entschieden hat, sie für wahr zu erachten. In der neueren Lehre dürfte dies unbestritten sein. Es ist jedoch interessant zu sehen, dass die Lehre der materiellrechtlichen Natur der Rechtskraft gegen genau diese Maxime der Entscheidungstheorie verstoßen hat. Nach dieser Lehre, deren prominentester Vertreter Pagenstecher war und die sich unter dem Schlagwort »iudex ius facit« zusammenfassen lässt,33 wird durch ein rechtskräftiges Urteil unmittelbar Recht geschaffen.34 Ein Widerspruch zwischen materieller Rechtslage und Urteil kann es per definitionem nicht geben, weshalb einzig diese Lehre nach Auffassung ihrer Verfechter die Bindungswirkung rechtskräftiger Urteile überzeugend begründet.35 Heute ist die prozessrechtliche Begründung der materiellen Rechtskraft absolut herrschend,36 und es ist anerkannt, dass ein Urteil (außer ein Gestaltungsurteil) die materielle Rechtslage nicht abändern kann,37 und noch viel weniger eine Tatsachenbehauptung, die mangels Übereinstimmung mit der Wirklichkeit nicht als wahr bezeichnet werden darf, wahr machen kann. Kennt der Entscheider die Zustände mit Sicherheit, trifft er eine Entscheidung unter Sicherheit. Bei einer Entscheidung unter Unsicherheit hält der Entscheider mindestens zwei Zustände für möglich, von denen genau einer eintreten wird (oder eingetreten ist, aber dem Entscheider [noch] nicht bekannt ist).38 31 Baron, Thinking and deciding, 240; Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 32. 32 Peterson, Decision Theory, 20. 33 Gaul, in: Jakobs et al. (Hrsg.), Festschrift für Werner Flume, 443–525, 494. 34 Eine ältere, weniger extreme Variante der materiellrechtlichen Rechtskraftlehre wird von Savigny und Windscheid vertreten, Gaul, in: Jakobs et al. (Hrsg.), Festschrift für Werner Flume, 443–525, 453 ff. Gaul, in: Gesellschaft Junger Zivilrechtswissenschaftler (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht, 9–31 ist eine Zusammenfassung des Beitrages von 1978. 35 Pagenstecher, Zur Lehre von der materiellen Rechtskraft, 302. 36 Gaul, in: Jakobs et al. (Hrsg.), Festschrift für Werner Flume, 443–525, 512 ff., 524; Gaul, in: Gesellschaft Junger Zivilrechtswissenschaftler (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht, 9–31, 25 f.; MüKo-ZPO-Gottwald, § 322 N 7; Musielak-ZPO-Musielak, § 322 N 4; a. M. in neuster Zeit Braun, in: Bernreuther et al. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Spellenberg, 69–81, 70 ff. Für die Schweiz Habscheid, Zivilprozessrecht, Rz. 475; KuKo-ZPO-Oberhammer, Art. 236 N 30 f. 37 Musielak-ZPO-Musielak, § 322 N 4. 38 Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 33.

II. Entscheidungstheoretische Rechtfertigung

431

Es werden gemeinhin drei Arten von Unsicherheit unterschieden, die völlige Unwissenheit (complete ignorance, auch als Ungewissheit oder »Unsicherheit im engeren Sinne«39 bezeichnet), die Unsicherheit (uncertainty) und das Risiko (risk). Bei einer Entscheidung unter völliger Unwissenheit hat der Entscheider keine Information über die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Zustand vorliegt, er kann lediglich angeben, dass es möglich ist, dass der Zustand eintritt oder eingetreten ist.40 Die Unterscheidung zwischen Risiko und Unsicherheit geht auf Knight zurück.41 Bei einer Entscheidung unter Risiko lässt sich dem Zustand eine objektive, für jedermann gleiche, Eintretenswahrscheinlichkeit zuordnen. Bei einer Entscheidung unter Unsicherheit hat der Entscheider Informationen, die ihm erlauben, dem Eintreten des Zustands eine subjektive Wahrscheinlichkeit zuzuordnen, die Wahrscheinlichkeit lässt sich aber nicht objektiv messen.42 Man kann auch sagen, dass der Entscheider im letzten Fall unter teilweiser, im Gegensatz zu völliger, Unwissenheit entscheidet.43 Die Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit ist wichtig für die Axiomatisierung der formalen Entscheidungstheorie. Die klassische Erwartungsnutzentheorie von von Neumann und Morgenstern beruht auf dem Konzept von Lotterien mit objektiven Wahrscheinlichkeiten.44 Erst Savage erweiterte die Erwartungsnutzentheorie auf subjektive Wahrscheinlichkeiten (»gambles« statt »lotteries«);45 die Entscheidungstheorie mit subjektiver Wahrscheinlichkeit wird gemeinhin als »Bayes’sche Entscheidungstheorie« bezeichnet.46 Die meisten praktisch interessanten Entscheidungsprobleme sind Probleme der Entscheidung unter Unsicherheit nicht Risiko – in den seltensten Fällen kann man den relevanten Zuständen objektive Wahrscheinlichkeiten zuordnen.47 Der Apparat der formalen Entscheidungstheorie lässt sich aber, wie Savage gezeigt hat, genauso gut auf Entscheidungsprobleme mit subjektiven Wahrscheinlichkeiten anwenden. Es genügt für die entscheidungstheoretische Analyse, wenn der Entscheider den Zuständen subjektive Wahrscheinlichkeiten zuordnen kann; es wird nicht vorausgesetzt, dass sich alle Entscheider über die den Zuständen zuzu39 40

Meyer, Entscheidungstheorie, 35. Peterson, Decision Theory, 40; Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie,

33.

41

Knight, Risk, Uncertainty, and Profit, 19 ff. Knight, Risk, Uncertainty, and Profit, 20. 43 Binmore, Rational decisions, 154. 44 Neumann/Morgenstern, Theory of games and economic behavior, 17 ff. Eine verständliche Einführung findet sich in Peterson, Decision Theory, 94 ff.; etwas technischer Binmore, Rational decisions, 39 ff. 45 Savage, The foundations of statistics, 56 ff. (Erstauflage 1954). 46 Die Bezeichnung »Bayesian decision theory« geht zurück auf den Statistiker Ronald Fisher, der sie abschätzig meinte, Binmore, Rational decisions, 95. 47 Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 91. 42

432

Fünfter Teil: Beweismaß

ordnenden Wahrscheinlichkeiten einig sind.48 In vielen modernen Lehrbüchern zur Entscheidungstheorie wird daher nicht zwischen Risiko und Knight’scher Unsicherheit unterschieden, sondern es werden alle Entscheidungen, bei denen die Zustände nicht sicher sind, der Entscheider aber Informationen zu ihrer Eintretenswahrscheinlichkeit hat, als Entscheidungen unter Risiko behandelt, während Entscheidungen unter völliger Unwissenheit als Entscheidungen unter Unsicherheit (im engeren Sinne) bezeichnet werden.49 Das gerichtliche Urteil in einem Zivil- oder Strafprozess stellt sich aus Sicht der Entscheidungstheorie als ein Entscheidungsproblem dar. Der Richter wählt zwischen mindestens zwei Alternativen: Er kann die Klage gutheißen (den Angeklagten schuldig sprechen) oder die Klage abweisen (den Angeklagten freisprechen). Tatsächlich hat er natürlich mehr als nur zwei Handlungsalternativen – er kann auf die Klage nicht eintreten (die Anklageschrift zurückweisen) oder die Klage teilweise gutheißen (den Angeklagten teilweise schuldig sprechen), den Fall an ein anderes zuständiges Gericht überweisen, oder, aber dies nur im Strafprozessrecht, seine Entscheidung zurückstellen, bis er weitere Abklärungen zum Sachverhalt getroffen hat. Aber es sind immer mindestens zwei Wahlmöglichkeiten gegeben. Wichtig ist, dass der Zivilrichter eine Alternative nicht hat, die der Strafrichter hat (§ 244 Abs. 2 StPO-DE; Art. 6 Abs. 1 StPO-CH): Er kann das Urteil nicht aufschieben, um weitere Sachverhaltsabklärungen zu treffen, d. h. er kann nicht warten, bis er weitere Informationen über den Zustand der Welt hat. Er muss sich, wenn nicht ausnahmsweise die Untersuchungsmaxime gilt, aufgrund der von den Parteien beigebrachten Beweismittel entscheiden. Für diese Lösung sprechen weder zwingende Gründe der Logik noch der Gerechtigkeit – sie dient dem Zweck, den Streit der Parteien um des Rechtsfriedens willens endgültig zu beenden.50 Andere Lösungen, wie eine Aussetzung des Verfahrens bis zur Beseitigung jedes epistemischen Defizits oder eine Abweisung der Klage ohne materielle Rechtskraftwirkung, sind denkbar und wurden in anderen Rechtsordnungen auch verwirklicht.51 Sie entsprechen aber nicht dem geltenden deutschen und schweizerischen Recht. Die Entscheidung des Richters hat weiter Folgen – der Beklagte wird zur Zahlung verpflichtet oder nicht, eine Sache ist herauszugeben oder nicht, eine Standesänderung erfolgt oder nicht, oder, im Strafrecht, der Angeklagte muss eine Geldbuße bezahlen oder nicht oder eine Freiheitsstrafe antreten oder nicht. Weiter sind Zielvorstellungen vorhanden, die es erlauben, die Wünschbarkeit der Ergebnisse der verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten miteinander zu 48

Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 91 f. Meyer, Entscheidungstheorie, 47 f.; Winkler, Bayesian inference and decision, 199; Peterson, Decision Theory, 7; Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 23; Laux/Gillenkirch/ Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 33, 109. 50 Engisch, Einführung in das juristische Denken, 58 f., 60. 51 Musielak, Grundlagen der Beweislast, 19 f. 49

II. Entscheidungstheoretische Rechtfertigung

433

vergleichen. Wohl niemand würde behaupten, dass die Gutheißung einer Klage, obwohl der Kläger tatsächlich keinen Anspruch hat, genauso wünschbar ist wie die Gutheißung einer Klage, wenn der Kläger einen Anspruch hat. Die unterschiedliche Bewertung des Ergebnisses der Alternativen zeigt, dass mit der Wahl Ziele verfolgt werden, wobei einstweilen offen gelassen werden kann, worin diese bestehen (dazu hinten, S. 482 ff.). Schließlich hängen die Ergebnisse der Wahl von (mindestens) einem Umweltzustand ab, der vom Entscheider nicht beeinflusst werden kann. Bei diesem Zustand handelt es sich um den Sachverhalt, wie er sich in der außerhalb des Geistes des Entscheiders befindlichen Welt tatsächlich abgespielt hat. Der Zustand der Welt kann so sein, dass die Gutheißung der Klage (die Verurteilung des Angeklagten) gemäß den anwendbaren Rechtsnormen gerechtfertigt ist, oder so, dass die Gutheißung (Verurteilung) nicht gerechtfertigt ist. Da der Richter in den meisten Fällen den tatsächlichen Zustand der Welt nicht kennt, entscheidet er unter Unsicherheit.52 Dabei handelt es sich um eine Entscheidung unter Risiko, nicht unter völliger Unwissenheit. Zwar lässt sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Sachverhalt so abgespielt hat, wie vom Kläger behauptet, nicht objektiv bestimmen, aber es genügt, dass der Entscheider mehr sagen kann, als dass ein Zustand möglich ist. Dies ist bei der gerichtlichen Entscheidung, eine Tatsachenbehauptung für wahr zu erachten oder nicht, zweifellos der Fall. Würde man dies anders sehen und davon ausgehen, dass die gerichtliche Entscheidung über die Wahrheit von rechtlich relevanten Tatsachenbehauptungen eine Entscheidung unter völliger Unwissenheit ist, bräuchte man kein Beweisverfahren und keine Beweiswürdigung. Das Beweisverfahren dient dazu, dem Richter unmittelbare Kenntnis von den durch die Beweismittel vermittelten Informationen zu verschaffen, die es ihm, gestützt auf generalisierende Annahmen, erlauben, sich eine Überzeugung zur Wahrheit der rechtserheblichen Tatsachenbehauptung zu bilden. Diese richterliche Überzeugung kann in unterschiedlichem Ausmaß vorliegen. Die richterliche Entscheidung über die Gutheißung einer Klage (oder die Verurteilung eines Angeklagten), die davon abhängt, ob ein bestrittener Sachverhalt wahr ist, ist demnach entscheidungstheoretisch betrachtet eine Entscheidung unter Risiko, und sie kann mit den Mitteln analysiert werden, die zur Analyse von Entscheidungen unter Risiko entwickelt wurden.53

52 Es kann natürlich Fälle geben, in denen der Zustand der Welt (der Sachverhalt) unstrittig ist und sich die Parteien nur über den Inhalt des darauf anzuwenden Rechts streiten. Dann liegt eine Entscheidung unter Sicherheit vor, die hier nicht weiter analysiert wird. 53 Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 240 f.; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 141 f.

434

Fünfter Teil: Beweismaß

2. Minimierung der erwarteten Fehlerkosten als Entscheidungsprinzip Eine Entscheidungsregel legt fest, wie aus einer Menge von Alternativen diejenige Alternative ausgewählt wird, welche die verfolgten Ziele am besten verwirklicht.54 Eine Entscheidungsregel besteht aus einer Präferenzfunktion, die den Handlungsalternativen Präferenzwerte zuordnet, und einem Optimierungskriterium, das zum Ausdruck bringt, welche Ausprägung für den Präferenzwert angestrebt wird. Die Präferenzfunktion erfordert sowohl eine Bewertung der einzelnen Ergebnisse der Alternative als auch, wenn eine Entscheidung unter Unsicherheit getroffen wird, die Berücksichtigung der Unsicherheit. Bei einer sicheren Wahl hingegen beschränkt sich das Bewertungsproblem auf die Bewertung des Ergebnisses, d. h. es muss mittels einer Nutzen- respektive Kostenfunktion dem Ergebnis ein Nutzen respektive Kosten zugeordnet werden.55 Der einer Alternative entsprechende Präferenzwert kann als Grad der Zielerreichung interpretiert werden, der bei der Wahl der Alternative erwartungsgemäß realisiert wird.56 Soll der Präferenzwert maximiert wird, spricht man von Nutzen, soll er minimiert werden, von Kosten. Entsprechend ist das Optimierungskriterium fast immer entweder die Nutzenmaximierung oder die Kostenminimierung (auch Risikominimierung genannt).57 Die Analyse eines einfachen Beispiels dient der Veranschaulichung. Angenommen, die Polizei erhält einen Anruf, im Geschwister-Scholl-Gymnasium in Musterstadt befinde sich eine Bombe, die in einer Stunde explodieren werde. Es ist Freitagmittag an einem schönen Sommertag. Die Polizei muss die Entscheidung treffen, die Schule zu evakuieren oder auf eine Evakuation zu verzichten. Soll die Polizei evakuieren, obwohl der Polizist, der den Anruf entgegennimmt, von einer eher geringen Wahrscheinlichkeit dafür ausgeht, dass sich tatsächlich eine Bombe in der Schule befindet? Tabelle 19 zeigt, dass sich das Problem als Entscheidungsproblem unter Risiko formalisieren lässt. Die Polizei muss zwischen zwei Handlungen (evakuieren oder nicht evakuieren) entscheiden, deren Ergebnisse (Unterrichtsausfall, Tote und Verletzte, und ungestörter Unterricht) von zwei sich gegenseitig ausschließenden Tabelle 19: Ergebnismatrix für das Entscheidungsproblem „Evakuation“.

keine Evakuation Evakuation 54

keine Bombe

Bombe

ungestörter Unterricht Unterrichtsausfall

Tote und Verletzte Unterrichtsausfall

Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 33. Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 35. 56 Baron, Thinking and deciding, 234; Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 33 f. 57 Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 34. 55

II. Entscheidungstheoretische Rechtfertigung

435

Zuständen der Welt abhängen (Bombe, keine Bombe), die vom Entscheider nicht beeinflusst werden können, deren Eintreten nicht sicher ist und deren Eintretenswahrscheinlichkeit nicht objektiv gemessen werden kann, zu der sich der Entscheider aber eine Überzeugung bilden muss. Im Folgenden werden die beiden möglichen, sich gegenseitig ausschließenden Zustände der Welt als w1 und w2 und ihre a-priori-Wahrscheinlichkeiten als Pr(w1 ) und Pr(w2 ) bezeichnet. Ein offensichtliches Kriterium für die Güte einer Entscheidung ist die Wahrscheinlichkeit, mit der sie falsch ist. Wenn der Entscheider nichts anderes weiß als die a-priori-Wahrscheinlichkeiten der möglichen Zustände der Welt, minimiert er die Wahrscheinlichkeit, einen Fehler zu machen, wenn er sich für den Zustand der Welt entscheidet, der a-priori wahrscheinlicher ist, also (

Entscheide

w1 w2

falls Pr (w1 ) > Pr (w2 ) sonst.

Die Wahrscheinlichkeit, mit dieser Entscheidungsregel einen Fehler zu machen, ist 

Pr Fehler = min {Pr (w1 ) , Pr (w2 )} oder in Worten ausgedrückt, die geringere der beiden a-priori-Wahrscheinlichkeiten Pr(w1 ) und Pr(w2 ). Häufig wird der Entscheider neben einer a-priori-Wahrscheinlichkeit auch die Beweislage x in Betracht ziehen, die mit den bedingten Wahrscheinlichkeiten Pr(x|w1 ) und Pr(x|w2 ) vorliegt. Mit Hilfe von Bayes’ Regel kann er dann die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit der Zustände w1 und w2 berechnen. Die geringste Fehlerwahrscheinlichkeit ergibt sich dann aus der Entscheidungsregel, sich für den Zustand zu entscheiden, der nach Berücksichtigung der Indizien die größte a-posteriori-Wahrscheinlichkeit hat: (

Entscheide

w1 w2





falls Pr w1 |x > Pr w2 |x sonst.

Weil der Entscheider sich für den Zustand mit der größten a-posteriori-Wahrscheinlichkeit entscheidet, wird diese Entscheidungsregel auch Maximum A-posteriori Probability (MAP) genannt.58 Die Wahrscheinlichkeit, mit dieser Entscheidungsregel einen Fehler zu machen, ist 





Pr Fehler|x = min Pr w1 |x , Pr w2 |x



oder in Worten ausgedrückt, die geringere der beiden a-posteriori-Wahrscheinlichkeiten Pr(w1 |x) und Pr(w2 |x). Die MAP-Entscheidungsregel garantiert die 58

Kaye, Cornell Law Review 1987, 4–77, 70.

436

Fünfter Teil: Beweismaß

Tabelle 20: Mögliche Fehler beim Hypothesentesten.

Wahrer Sachverhalt ist H0 Wahrer Sachverhalt ist H1 Entscheidung für H0 Entscheidung für H1

Korrekt Fehler 1. Art

Fehler 2. Art Korrekt

geringstmögliche Fehlerwahrscheinlichkeit, d. h. es kann keine andere Entscheidungsregel geben, die zu einer geringeren Fehlerwahrscheinlichkeit führt.59 Die Fehlerwahrscheinlichkeit ist aber natürlich nicht das einzige, das die Güte einer Entscheidung bestimmt. Wenn die Polizei im Beispiel mit der Bombendrohung nach der MAP-Regel entscheidet, macht sie zwar am wenigsten Fehler. Aber die Folgen des Fehlers, nicht zu evakuieren, obwohl eine Bombe vorhanden ist, sind offenbar viel schlimmer als die Folgen des Fehlers, zu evakuieren, obwohl keine Bombe vorhanden ist. Die beiden Arten von Fehlern werden oft mit aus dem statistischen Hypothesentesten stammenden Bezeichnungen benannt. Akzeptiert man eine Hypothese als wahr, obwohl sie tatsächlich falsch ist, spricht man von einem Fehler 1. Art, α-Fehler oder Falsch-positiv-Entscheidung. Wird eine Hypothese als falsch verworfen, die tatsächlich wahr ist, liegt ein Fehler 2. Art, β-Fehler oder eine Falsch-negativ-Entscheidung vor.60 »Fehler« bezieht sich hier immer darauf, dass der als wahr angenommene und der tatsächliche Sachverhalt nicht übereinstimmen, ein »Fehler« in diesem Sinne liegt auch vor, wenn dem Entscheider kein Vorwurf gemacht werden kann, er also verfahrensrechtlich alles richtig gemacht hat. Wenn die Kosten der Fehler verschiedener Art unterschiedlich sind, wird man daher nicht die Anzahl der Fehler minimieren wollen, sondern ihre erwarteten Kosten. Es sei {w1 , . . . , wc } eine endliche Menge C von möglichen Zuständen und {a1 , . . . , aa } eine endliche Menge A von möglichen Handlungen. L(ai |wj ) seien die in einer reellen Zahl ausgedrückten Kosten für die Wahl der Handlung ai wenn der Zustand der Welt wj ist. Angenommen, die Beweislage sei x, und gewählt worden sei Handlung ai . Wenn der tatsächliche Zustand der Welt wj ist, entstehen die Kosten L(aai |wj ). Das bedingte Risiko bei der Wahl von Handlung ai bei Beobachtung von x ist daher 

R ai |x =

c X









L ai |wj Pr wj |x

(21)

j=i

oder in Worten ausgedrückt, man multipliziert die Wahrscheinlichkeit des Eintretens jedes möglichen Zustandes w bei gegebener Beweislage x mit den Kosten 59 60

Kaye, Cornell Law Review 1987, 4–77, 72. Biemann, in: Albers et al. (Hrsg.), Methodik der empirischen Forschung, 205–220, 207.

437

II. Entscheidungstheoretische Rechtfertigung

Tabelle 21: Entscheidungsmatrix.

a1 a2

Pr(w1 |x)

Pr(w2 |x)

Erwartete Kosten

L11 L21

L12 L22

Pr(w1 |x) · L11 + Pr(w2 |x) · L12 Pr(w1 |x) · L21 + Pr(w2 |x) · L22

des Ergebnisses der Wahl von ai bei Eintreten dieses Zustandes w. Das auch als »Bayes decision rule« bekannte Entscheidungsprinzip lautet nun, diejenige Alternative mit dem geringsten bedingten Risiko zu wählen.61 Bei einer Wahl zwischen genau zwei Alternativen a1 und a2 sollte sich der Entscheider unter Berücksichtigung der Beweislage x gemäß folgendem Entscheidungsprinzip verhalten. (

Entscheide

a1 a2



falls R a1 |x < R a2 |x sonst.



(22)

Zur Vereinfachung der Notation wird in Tabelle 21 und im Folgenden L(ai |wj ) als Lij geschrieben. Aus Tabelle 21 lässt sich ablesen, dass 











R a1 |x = Pr w1 |x L11 + Pr w2 |x L12 R a2 |x = Pr w1 |x L21 + Pr w2 |x L22 Folglich sollte sich der Entscheider gemäß Regel (22) für a1 entscheiden, wenn 







Pr w1 |x L21 + Pr w2 |x L22 > Pr w1 |x L11 + Pr w2 |x L12 .

(23.1)

Durch Umformen entsteht 

Pr w1 |x (L – L22 )  > 12 . (L21 – L11 ) Pr w2 |x Da Pr(w2 |x) = 1 – Pr(w1 |x) gilt62 

Pr w1 |x >

1 (L12 – L22 )  . = (L21 – L11 ) + (L12 – L22 ) 1 + L21 –L11 L12 –L22

(23.2)

Wenn w1 = Bombe vorhanden und w2 = keine Bombe vorhanden, und a1 = Evakuation und a2 = keine Evakuation, dann sollte sich der rationale Entscheider dann für die Evakuation entscheiden, wenn die Wahrscheinlichkeit, die er dem Vorhandensein einer Bombe unter Würdigung aller Umstände zumisst, den 61

Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 247. Cullison, University of Toledo Law Review 1969, 538–598, 564 ff.; DeKay, Law & Social Inquiry 1996, 95–132, 111. 62

438

Fünfter Teil: Beweismaß

rechten Teil der Ungleichung (23.2) übersteigt.63 Dies bleibt solange ein bloßes Entscheidungsprinzip und keine Entscheidungsregel, als die Kostenfunktion L nicht festgelegt ist.64 Die Kostenfunktion ist grundsätzlich unbegrenzt, aber nicht negativ.65 Meist geht man jedoch so vor, dass man dem möglichen Ergebnis mit den höchsten Kosten den Wert 1 zumisst, dem Ergebnis mit den geringsten Kosten den Wert 0,66 und allen übrigen Ergebnissen Werte, die im Verhältnis zu den Endpunkten der Skala stehen, wobei es zulässig ist, dass mehreren Ergebnissen der gleiche Präferenzwert zugemessen wird (insbesondere kann es auch mehrere »beste« und »schlechteste« Ergebnisse geben, die dann alle mit 0 oder 1 bewertet werden).67 Für das Beispiel der Bombendrohung kann man sich vorstellen, dass eine Evakuation, unabhängig davon, ob eine Bombe vorhanden ist oder nicht, Kosten verursacht, weil die Schüler Unterricht verpassen und der Einsatz der Polizei Geld kostet. Erfolgt keine Evakuation und ist keine Bombe vorhanden, so entstehen keine Kosten. Erfolgt hingegen keine Evakuation und ist eine Bombe vorhanden, sind die Kosten sehr groß – zahlreiche Menschen sterben oder werden verletzt. Setzt man L11 = L12 = 0,001, L22 = 0, und L21 = 1, so resultiert aus Ungleichung (23.2) eine Entscheidungsgrenze von Pr(w1 |x) > 0,001; d. h. die Polizei sollte sich bereits dann für die Evakuation entscheiden, wenn sie nur zu mehr als 0,1% überzeugt ist, dass tatsächlich eine Bombe vorhanden ist. Das entspricht sowohl unserer Intuition als auch dem tatsächlich beobachteten Verhalten: Auch der Polizei ist bekannt, dass die meisten telefonischen Bombendrohungen, die Schulhäuser betreffen, schlechte Scherze von Schülern sind. Wegen der mit einer unterlassenen Evakuation verbundenen Fehlerkosten ist es dennoch rational, das Schulhaus zu evakuieren. Das Risiko möchte man einfach nicht eingehen. Ignoriert man die Kosten einer richtigen Entscheidung und konzentriert sich ausschließlich auf die Kosten der möglichen Fehlentscheidungen, so bestimmt das Verhältnis der Fehlerkosten die Entscheidungsschwelle. Für den Fall der Ent63 Dies ist eine Formalisierung der »Kompensationsformel« des polizeilichen Gefahrenabwehrrechts, gemäß der die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und die Höhe dieses Schadens abzuwägen sind, Leisner, Die Öffentliche Verwaltung 2002, 326–334, 327, mit Hinweisen. Leisner, a. a. O., S. 329, tritt dafür ein, nur den drohenden Schaden zu berücksichtigen, da man die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts meist nicht abschätzen könne, weil es häufig an statistischen Daten fehle. Dies beruht auf dem Irrtum, Wahrscheinlichkeit ausschließlich als relative Häufigkeit auf lange Sicht zu verstehen, vorne, S. 95 ff. 64 Zur Unterscheidung von Entscheidungsprinzip und Entscheidungsregel Laux/Gillenkirch/ Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 111. 65 Robert, The Bayesian Choice, 60. 66 Press, Subjective and objective Bayesian statistics, 264 f. 67 Siehe Berger, Statistical decision theory, 48 f., zur Konstruktion einer kohärenten Nutzenfunktion.

II. Entscheidungstheoretische Rechtfertigung

439

scheidung zwischen zwei möglichen Alternativen vereinfacht sich Ungleichung (23.2) zu 

Pr w1 |x >

L12 1  . = L21 + L12 1 + L21 L12

(24)

Mit dieser Ungleichung hat Kaplan in seinem klassischen Aufsatz von 1968 die unterschiedlichen Beweismaße im Zivil- und Strafprozessrecht des Common Law entscheidungstheoretisch erklärt.68 Während man in der statistischen Entscheidungstheorie meist mit einer Kostenfunktion arbeitet, wird bei der Anwendung der Entscheidungstheorie in der Ökonomie fast ausschließlich mit einer Nutzenfunktion gearbeitet.69 In der rechtswissenschaftlichen Literatur zum Beweismaß finden sich beide Ansätze – Kaplan,70 Cullison,71 Maassen,72 Lempert,73 Bender,74 Kaye,75 Nell76 , Motsch77 , Gräns78 und Zamir/Ritov79 verwenden eine Kostenfunktion, während Tribe80 , Nagel et al.81 , Bourmistrov-Jüttner82 , Hoyer83 , Redmayne84 und Lillquist85 den Nutzen der verschiedenen möglichen Ergebnisse abwägen. Ich werde im Folgenden eine Kostenfunktion verwenden, aber die Unterscheidung ist genau genommen irrelevant: Kosten ist nichts anderes als negativer Nutzen, und Kosten und Nutzen daher austauschbar.86 Ob man den erwarteten Nutzen einer Entscheidung maximiert oder ihre erwarteten Kosten minimiert, macht keinen Unterschied. Etwas anderes ist es, nur die Kosten der falschen Entscheidungen zu beachten, nicht aber die Kosten der korrekten Entscheidungen: Wie das Evakuations-Beispiel zeigt, kann auch eine korrekte Entscheidung Kosten (hier: Unterrichtsausfall) verursachen. 68

Kaplan, Stanford Law Review 1968, 1065–1092, 1072. DeGroot, Optimal statistical decisions, 122; Berger, Statistical decision theory, 2, mit dem Hinweis, dass Statistiker Pessimisten zu sein scheinen, weil sie sich vor allem mit den Folgen eines Irrtums beschäftigen. 70 Kaplan, Stanford Law Review 1968, 1065–1092, 1071 f. 71 Cullison, University of Toledo Law Review 1969, 538–598, 565. 72 Maassen, Beweismaßprobleme, 7 f. 73 Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021–1057, 1032. 74 Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 247 ff. 75 Kaye, Law & Social Inquiry 1982, 487–516, 496; Kaye, International Journal of Evidence and Proof 2000, 260–267, 260; Kaye, Law, Probability & Risk 2002, 3–8, 6. 76 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 210. 77 Motsch, in: Klug et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig, 334–348, 335 f.; Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 82 f. 78 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 238 f. 79 Zamir/Ritov, Journal of Legal Studies 2012, 165–207, 172. 80 Tribe, Harvard Law Review 1971, 1329–1393, 1379 f. 81 Nagel/Lamm/Neef, in: Sales (Hrsg.), The trial process, 353–386, 355 f. 82 Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 291 ff. 83 Hoyer, ZStW 1993, 523–556, 541. 84 Redmayne, Modern Law Review 1999, 167–195, 169 f. 85 Lillquist, U.C. Davis Law Review 2002, 85–197, 131 ff. 86 DeGroot, Optimal statistical decisions, 122; Robert, The Bayesian Choice, 60. 69

440

Fünfter Teil: Beweismaß

3. Welche Kosten sind maßgeblich? Im Beispiel der Entscheidung der Polizei, die Schule zu evakuieren, sind es die sozialen Kosten der möglichen Ergebnisse, die für die Rechtfertigung der Entscheidung maßgeblich sind. Aus normativer Sicht ist es irrelevant, welche persönlichen Kosten (oft als Bedauern bezeichnet87 ) der Polizist, der den Anruf entgegennimmt, dem Ergebnis zuordnet, dass die Schule nicht evakuiert wurde, obwohl eine Bombe vorhanden war. Häufig werden sich die persönlichen Kosten mit den gesellschaftlichen decken – es ist anzunehmen, dass der Polizist über eine unterlassene Evakuation trotz vorhandener Bombe größeres Bedauern empfindet als über eine Evakuation, obwohl keine Bombe vorhanden war. Aber sollte der Polizist Kinder hassen und sich über ihren Tod freuen, würde dies nichts daran ändern, dass die gesellschaftlichen Kosten eines Fehlers 2. Art in diesem Beispiel größer sind als die des Fehlers 1. Art und man daher normativ dazu raten muss, bereits bei geringer Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein einer Bombe zu evakuieren. In der juristischen Diskussion um das Beweismaß wird die Entscheidungstheorie wie im Evakuations-Beispiel dazu verwendet, eine Entscheidung dadurch zu rechtfertigen, dass die Entscheidung den erwarteten Nutzen maximiert (die erwarteten Kosten minimiert).88 Auf den persönlichen Nutzen des Richters kommt es nicht an. Dass dem Entscheider dazu der Nutzen der einzelnen Ergebnisse von außen vorgeschrieben werden muss, hat auch einen technischen Grund: Die moderne axiomatische Entscheidungstheorie kann ohne Vorgabe der Nutzenwerte »von außen« nicht als Anleitung dienen, wie eine gute Entscheidung zu treffen ist. Die moderne Entscheidungstheorie geht von der Wahl des Individuums zwischen zwei oder mehr Alternativen aus und schließt daraus, dass das Individuum die gewählte Alternative der (den) anderen Alternative(n) vorzieht. Durch die Wahl werden die Präferenzen offengelegt (»Revealed Preference Theory«).89 Es wird postuliert, dass ein rationaler Entscheider Präferenzen hat, die gewissen Axiomen gehorchen, insbesondere der Vollständigkeit (der Entscheider ist in der Lage, beim Vergleich zweier beliebiger Alternativen zu sagen, ob er eine vorzieht oder beide gleich wertschätzt), Transitivität (wenn der Entscheider a gegenüber b bevorzugt und b gegenüber c, dann muss er auch a gegenüber c bevorzugen) und der Unabhängigkeit (irrelevante Alternativen dürfen keinen Einfluss auf die Entscheidung haben; wenn der Entscheider a gegenüber b vorzieht, muss er auch a und c gegenüber b und c vorziehen).90 Mittels eines Repräsentationstheorems 87 Kaplan, Stanford Law Review 1968, 1065–1092, 1078; Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021–1057, 1032. 88 Sämtliche in Fn. 70 ff. genannten Autoren verwenden die Entscheidungstheorie normativ in diesem Sinne, auch wenn sie zu unterschiedlichen Schlüssen gelangen. 89 Binmore, Rational decisions, 7 ff.; Peterson, Decision Theory, 14 f. 90 Neumann/Morgenstern, Theory of games and economic behavior, 24 ff.; Savage, The foundations of statistics, 17 ff.; Meyer, Entscheidungstheorie, 62 ff.; Robert, The Bayesian Choice,

II. Entscheidungstheoretische Rechtfertigung

441

lässt sich zeigen, dass es eine Nutzenfunktion geben muss, die der Entscheider maximiert, wenn er nicht gegen die Axiome verstößt.91 Die axiomatische Begründung der Erwartungsnutzentheorie begründet die Rationalität der Maximierung des Erwartungsnutzens also insbesondere nicht damit, dass auf lange Sicht (bei zahlreichen Entscheidungen) der durchschnittliche Nutzen maximiert oder die durchschnittlichen Kosten minimiert werden.92 Falsch ist daher die Behauptung, der fundamentale Unterschied zwischen dem »preponderance of the evidence« Standard des Common Law und der »vollen Überzeugung« des kontinentaleuropäischen Rechts bestehe darin, dass das englische und amerikanische Recht nicht auf den Einzelfall, sondern auf das Aggregat der Fälle abstelle.93 Unzulässig ist es nach der Revealed Preference Theorie, zu sagen, der Entscheider wähle die Alternative a aus der Menge der Alternativen {a, b}, weil er ihr den höheren erwarteten Nutzen zumesse. Im Gegenteil: Weil der Entscheider die Alternative a wählt, darf man sagen, dass er a gegenüber b präferiert, und ihr einen größeren Nutzen zuordnet.94 Als Anleitung für eine »gute« Entscheidung ist die formale axiomatische Entscheidungstheorie daher unbrauchbar – sie kann dem Entscheider keinen Ratschlag geben, wie er entscheiden soll, vielmehr setzt die axiomatische Entscheidungstheorie voraus, dass der Entscheider eine vollständige Präferenzordnung aller Alternativen hat und somit bereits weiß, welche Alternative er bevorzugt.95 Das heißt nicht, dass die so verstandene Entscheidungstheorie nicht nützlich sein kann,96 aber als normative Anleitung, wie man entscheiden sollte, ist sie so nicht brauchbar. Anders, wenn dem Entscheider der Nutzen (oder die Kosten) der Konsequenzen seiner Entscheidung von außen vorgegeben sind, d. h. ihm autoritativ vorgeschrieben wird, welchen Nutzen er welchen Ergebnissen beimessen soll. Die Entscheidungstheorie erlaubt dann eine normative Aussage dazu, welche Entscheidung den vorgegebenen Nutzen maximiert, respektive die vorgegebenen Kosten minimiert. Damit stellt sich aber, anders als bei der Revealed Preference Theorie, die den normativen Status der Präferenzen des Individuums nicht hinterfragt, sondern als gegeben hinnimmt, die Frage, wie die dem Entscheider von außen vorgegebenen Kosten zu rechtfertigen sind. Nur wenn die Kosten, respektive der Nutzen, der einem Ergebnis zugeordnet wird, gerechtfertigt wer54 ff.; Baron, Thinking and deciding, 245 ff.; Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 250 ff. 91 Savage, The foundations of statistics, 75 ff.; Maher, Betting on theories, 9 ff.; 182 ff.; Winkler, Bayesian inference and decision, 236; Robert, The Bayesian Choice, 56 ff.; Peterson, Decision Theory, 73 ff.; Binmore, Rational decisions, 14 ff.; Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 125 ff. 92 Baron, Thinking and deciding, 244 f.; Peterson, Decision Theory, 72 f. 93 So aber Kinsch, in: Institut Grand-Ducal (Hrsg.), Actes de la Section des Sciences Morales et Politiques, 65–103, 83. 94 Binmore, Rational decisions, 19; Peterson, Decision Theory, 16. 95 Resnik, Choices, 99 f.; Peterson, Decision Theory, 26 ff. 96 Resnik, Choices, 99.

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Fünfter Teil: Beweismaß

den können, ist auch die Norm, den Nutzen zu maximieren, gerechtfertigt.97 Zur Beantwortung der Frage, welcher Nutzen zu berücksichtigen ist, kann die ökonomische Theorie wenig bis nichts beitragen.98 Eine denkbare Rechtfertigung für eine Entscheidung ist, dass sie den sozialen Nutzen maximiert, der als Funktion des individuellen Nutzens der einzelnen Gesellschaftsmitglieder verstanden wird. Abgesehen davon, dass die alles andere als einfach zu beantwortende Vorfrage zu beantworten ist, wer Mitglied der Gesellschaft ist, deren Nutzen zu maximieren ist – wer, bildlich gesprochen »stimmberechtigt« ist – hat Arrow den Nachweis geführt, dass eine Aggregation einer sozialen Präferenzordnung aus den individuellen Präferenzordnungen ihrer Mitglieder nicht widerspruchsfrei möglich ist, wenn man einen kardinalen Nutzenvergleich zwischen Individuen ausschließt.99 Aber, dies die hier vertretene These, es ist für die fruchtbare Anwendung der Entscheidungstheorie für die Bestimmung des Beweismaßes in Zivilsachen nicht der soziale Nutzen, verstanden als Funktion des individuellen Nutzens aller Gesellschaftsmitglieder, zu maximieren. Vielmehr ist der juristische Nutzen zu maximieren, was dann der Fall ist, wenn die Ziele des materiellen Rechts bestmöglich verwirklicht werden.100 Ein auf Kaplan zurückgehendes Beispiel veranschaulicht den Unterschied. Das Bedauern von weißen Geschworenen, einen unschuldigen schwarzen Angeklagten verurteilt zu haben, mag in den Südstaaten der USA in den 1960-er Jahren relativ gering gewesen sein; andererseits das Bedauern, einen schuldigen Schwarzen freizusprechen, relativ groß. Dieses relative Gewicht der Fehlerkosten kann – so Kaplan – erklären, warum in den Südstaaten Schwarze bei einer Beweislage verurteilt wurden, die einem Beobachter, der diese Präferenzordnung nicht teilt, ungenügend erscheinen muss.101 Aber aus der Tatsache, dass einige Mitglieder der Gesellschaft – vielleicht sogar zahlreiche, oder in einer Gebietskörperschaft die überwiegende Mehrheit – solche Präferenzen hat, darf man nicht folgern, dass es normativ gerechtfertigt ist, dass die weißen Geschworenen einen schwarzen Angeklagten bei gleicher Überzeugung für die Schuld eher verurteilen als einen weißen Angeklagten. Sie minimieren damit wohl ihr persönliches antizipiertes Bedauern. Die Rechtsordnung – in den USA, Deutschland und der Schweiz – bestimmt aber, dass eine Präferenz für eine Diskriminierung basierend auf gewis97

Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 152. Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 152; Lempert, Virginia Law Review 2001, 1619–1712, 1663 ff. 99 Arrow, Journal of Political Economy 1950, 328–346. 100 Wie hier Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 151 f.; Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 306 ff. (für das Strafprozessrecht); teilweise abweichend Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 236 ff. (zu beachten sind die Zwecke der materiellen Normen wie auch die »sozioökonomische Risikotragfähigkeit der Parteien«); unklar Maassen, Beweismaßprobleme, 7 (»individueller und sozialer Schaden«); Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 252; Motsch, in: Klug et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig, 334–348, 335 f.; Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 83 f. 101 Kaplan, Stanford Law Review 1968, 1065–1092, 1075. 98

II. Entscheidungstheoretische Rechtfertigung

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sen persönlichen Merkmalen, zu denen die Rasse (besser: Hautfarbe) gehört, bei hoheitlichen Handlungen nicht zu beachten ist.102 Der Staat ist gehalten, diese Merkmale bei staatlichem Handeln – zu dem zweifelsohne das Urteil in einem Verfahren vor staatlichen Gerichten gehört – nicht zu beachten (14. Zusatzartikel der US-Const.; Art. 3 GG; Art. 8 BV). Maßgeblich für die Bestimmung der Entscheidungsgrenze in Zivilsachen ist daher der juristische Nutzen, wie er seinen Niederschlag in den Wertvorstellungen gefunden hat, die in der gesamten Rechtsordnung verkörpert sind. Das antizipierte Bedauern des Richters mag als deskriptives Modell empirische Beobachtungen erklären, kann aber die Entscheidungsgrenze nicht normativ rechtfertigen.103 4. Die Erklärung des unterschiedlichen zivil- und strafrechtlichen Beweismaßes im Common Law durch die normative Entscheidungstheorie Eine formale entscheidungstheoretische Analyse des Beweismaßes wurde erstmals durch Kaplan in einem vielzitierten Aufsatz von 1968 durchgeführt.104 Unabhängig von ihm ist Cullison zu ähnlichen Resultaten gekommen, wird aber seltener zitiert, weil sein Aufsatz erst ein Jahr nach Kaplans Arbeit erschienen ist.105 Kaplan konzentriert sich auf die Kosten des Freispruchs eines Schuldigen (Fehler 2. Art) und der Verurteilung eines Unschuldigen (Fehler 1. Art). Da die Kosten eines Fehlers 1. Art in Strafsachen sehr viel höher seien als die Kosten eines Fehlers 2. Art, resultiere die typische hohe Entscheidungsgrenze des »beyond reasonable doubt« Beweismaßes in Strafsachen.106 Anders in Zivilsachen: Da man nicht sagen könne, dass die zu Unrecht erfolgte Abweisung einer auf einen tatsächlich gegebenen Anspruch gestützten Klage (Fehler 2. Art) schwerer wiege als die zu Unrecht erfolgte Gutheißung einer Klage, obwohl der Anspruch tatsächlich nicht gegeben war (Fehler 1. Art), müsse die Entscheidungsgrenze in Zivilsachen bei ≥ 50% liegen; d. h. sobald die Überzeugung, dass der Anspruch gegeben ist, geringfügig größer ist, als die Überzeugung, dass er nicht gegeben ist, ist die Klage gutzuheißen.107 Nach dieser Auffassung, die vom 102 Antidiskriminierungsgesetze, wie das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 und der US-amerikanische Civil Rights Act von 1964, Title VII (42 U.S.C. § 2000e Ziff. 2) erweitern das Diskriminierungsverbot auf bestimmte private Handlungen, insbesondere beim Abschluss von Arbeitsverträgen (die Schweiz kennt demgegenüber kein allgemeines Diskriminierungsverbot, nur die sexuelle Diskriminierung ist auch Privaten gemäß dem Bundesgesetz vom 24. März 1995 über die Gleichstellung von Frau und Mann umfassend verboten). 103 Lempert, Michigan Law Review 1977, 1021–1057, 1032; Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 306. 104 Kaplan, Stanford Law Review 1968, 1065–1092, 1071 ff. 105 Cullison, University of Toledo Law Review 1969, 538–598, 564 ff. 106 Kaplan, Stanford Law Review 1968, 1065–1092, 1073. Ebenso Cullison, University of Toledo Law Review 1969, 538–598, 566. 107 Kaplan, Stanford Law Review 1968, 1065–1092, 1072.

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Fünfter Teil: Beweismaß

U.S. Supreme Court geteilt wird, »reflektiert die Wahl eines Beweismaßes für ein bestimmtes Rechtsgebiet die grundsätzliche Beurteilung der vergleichsweisen sozialen Kosten von fehlerhaften Tatsachenfeststellungen.«108 Die Auffassung, dass es ein schwererer Fehler ist, einen Unschuldigen zu verurteilen, als einen Schuldigen freizusprechen, ist in der abendländischen Kultur tief verwurzelt. Sie wird von liberalen wie konservativen amerikanischen Richtern geteilt.109 Im angloamerikanischen Schrifttum wird meist ein Ausspruch des englischen Richters Blackstone zitiert, gemäß dem es »besser ist, dass zehn Schuldige entkommen, als dass ein Unschuldiger bestraft wird.«110 Die Idee ist aber viel älter und findet sich bereits in der Bibel111 , bei (Pseudo-)Aristoteles112 und im römischen Recht113 . Wenig Übereinstimmung besteht bezüglich des relativen Gewichts der Fehler – Quotienten von 1 : 5, 1 : 10, 1 : 20, 1 : 100 und 1 : 1’000 sind alle genannt worden.114 Hoyer unternimmt den interessanten, wenn auch m. E. nicht überzeugenden, Versuch, die relativen Kosten der Fehler aus dem positiven Recht herzuleiten, indem er das gesetzliche Strafmaß für Begehungsund Unterlassungsdelikte vergleicht. Da die Strafdrohung für das gegen das gleiche Rechtsgut (Leben) gerichtete Begehungsdelikt (Mord nach § 211 DE-StGB) rund 22,5 Mal höher sei als die Strafdrohung für die Begehung durch Unterlassung (unterlassene Hilfeleistung nach § 323c DE-StGB), ergebe sich, dass das Strafrecht eine Beeinträchtigung eines Rechtsguts (jetzt: Freiheit) durch aktives Handeln (Verurteilung eines Unschuldigen) rund 22,5 Mal höher gewichte als die Beeinträchtigung eines Rechtsguts (jetzt: Schutz von Leib und Leben) durch Unterlassung (Freispruch eines Schuldigen). Daraus resultiere eine Entscheidungsgrenze von ≈ 96%.115 Die Unsicherheit über die relativen Kosten der beiden Fehler in Strafsachen ist Ausdruck der Schwierigkeit, einen Konsens über die gesellschaftlichen Kosten eines Fehlurteils zu erzielen.116 Weder Kaplan noch Cullison haben denn auch versucht, eine numerische Entscheidungsgrenze herzuleiten. Beide betonen, dass sich die Fehlerkosten je nach zu beurteilendem Einzelfall unterscheiden können 108 In re Winship, 397 U.S. 358 (1970), 378 f. (Übersetzung aus dem Englischen durch den Verfasser). 109 In re Winship, 397 U.S. 358 (1970), 372 (Richter Harlan, zustimmend); Posner, Economic Analysis of Law, 827. 110 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, 358 (Übersetzung aus dem Englischen durch den Verfasser). 111 1 Mose 18:23–32. 112 Volokh, University of Pennsylvania Law Review 1997, 173–216, 180. Die Textstelle findet sich in den Problemata, deren Zuschreibung an Aristoteles umstritten ist. 113 Deppenkemper, Beweiswürdigung, 183. 114 Volokh, University of Pennsylvania Law Review 1997, 173–216, 175 f.; Laudan, Truth, error, and criminal law, 63. 115 Hoyer, ZStW 1993, 523–556, 539 ff. 116 Lempert, Virginia Law Review 2001, 1619–1712, 1663 ff.; Engel, Vermont Law Review 2009, 435–467, 447.

II. Entscheidungstheoretische Rechtfertigung

445

und plädieren damit für ein relatives Beweismaß in Strafsachen.117 So sind die gesellschaftlichen Kosten, einen der Veruntreuung Schuldigen freizusprechen, nach einem Beispiel von Kaplan geringer als die gesellschaftlichen Kosten, einen Kinderschänder freizusprechen, weil die Gefahr bestehe, dass der freigesprochene Schuldige erneut die gleiche Straftat begehe, und deren soziale Kosten bei einem Kinderschänder höher lägen als bei einem Veruntreuer.118 Anders argumentiert der BGH in einem Urteil vom 2. Juli 1980, gemäß dem die Anforderungen, die an den Ausschluss nicht strafbarer Verhaltensweisen des Angeklagten zu stellen sind, umso höher sind, je schwerer der Schuldvorwurf wiegt.119 M. a. W. liegt die Beweismaßgrenze bei schweren Straftaten höher; der Kinderschänder müsste also bei gleicher Beweislage eher freigesprochen werden als der veruntreuende Buchhalter. Die amerikanische Rechtsprechung hat ein relatives Beweismaß in Strafsachen immer abgelehnt und steht, wie die deutsche und schweizerische Rechtsprechung, auf dem Standpunkt, dass das Beweismaß generell-abstrakt festgelegt wird.120 Kaplans entscheidungstheoretische Analyse des Beweismaßes in Strafsachen wurde kritisiert, weil sich Kaplan auf die Fehlerkosten beschränkt und nicht den für die Festlegung der Entscheidungsgrenze ebenfalls wesentlichen gesellschaftlichen Nutzen einer richtigen Verurteilung und eines richtigen Freispruchs berücksichtigt.121 Letzteres setzt voraus, dass man sich über die Ziele, die mit der Verurteilung erreicht werden sollen, einig ist, und damit über die (zutiefst umstrittenen) Zwecke des Strafe. Gibt es keine Einigung über den gesellschaftlichen Nutzen von Fehlurteilen und richtigen Urteilen, so kann auch die formale Entscheidungstheorie nichts dazu beitragen, ein bestimmtes Beweismaß zu rechtfertigen. In der Literatur wurden als Nutzen korrekter Verurteilungen, korrekter Freisprüche, falscher Verurteilungen und falscher Freisprüche unter anderem die in der Tabelle 22 angegeben Werte postuliert.122 117 Kaplan, Stanford Law Review 1968, 1065–1092, 1073 f.; Cullison, University of Toledo Law Review 1969, 538–598, 567. Noch einen Schritt weiter geht Ho, A legal theory of evidence and proof, 215 ff., der für ein variables Beweismaß plädiert, das in Zivil- wie Strafsachen gilt. 118 Kaplan, Stanford Law Review 1968, 1065–1092, 1074. Nach Keijser/van Koppen, Legal and Criminological Psychology 2007, 189–205, 192, rechtfertigt dies entscheidungstheoretisch ein tieferes Beweismaß bei schwereren Delikten. M. E. übersehen Keijser/Koppen die Kosten, einen Unschuldigen zu verurteilen, die ebenfalls mit der Schwere des Delikts steigen, weil mit einem schwereren Delikt i. d. R. eine höhere Strafe verbunden ist. 119 BGH JR 1980, 304, 305, mit Anmerkung Peters; ebenso Geipel, Objektivierung der Beweiswürdigung, 132 f. 120 Santosky vs. Kramer, 455 U.S. 745 (1982), 757; mit dissenting opinion von Rehnquist. 121 Tribe, Harvard Law Review 1971, 1329–1393, 1078 ff.; Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 253 ff.; DeKay, Law & Social Inquiry 1996, 95–132, 116 f.; Lillquist, U.C. Davis Law Review 2002, 85–197, 108 ff. 122 Wie aus Tabelle 22 ersichtlich, sind sich die Autoren zwar einig, dass die Verurteilung eines Unschuldigen das schlechteste mögliche Ergebnis ist, aber ansonsten besteht nicht einmal in der Rangordnung der Ergebnisse Einigkeit – Tribe und Lillquist betrachten die Verurteilung

446

Fünfter Teil: Beweismaß

Tabelle 22: Nutzenwerte für die Ergebnisse eines Strafverfahrens.

Autor

Tribea Milanichb Nagelc BourmistrovJüttnerd Lillquiste

korrekte Verurteilung

falsche Verurteilung

korrekter Freispruch

falscher Freispruch

resultierendes Beweismaß

1 0,9 0,55 1

0 0 0 0

0,67 1 1 1

0,5 0,1 0,45 0

57% 55% 91% 50%

1

0

0,91

0,82

83%

a

Tribe, Harvard Law Review 1971, 1329–1393, 1379 f. Milanich, Law and Human Behavior 1981, 87–96, 91. c Nagel/Lamm/Neef, in: Sales (Hrsg.), The trial process, 353–386, 355 f. Nagel et al. geben Nutzenwerte von 10, –100, 100 und –10 an. Um die Vergleichbarkeit zu verbessern, wurden diese Werte durch eine positive lineare Transformation auf eine Skala von 0 bis 1 normiert. Eine solche Transformation lässt die Präferenzordnung unbeeinflusst, Binmore, Rational decisions, 16. d Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 346, 348. e Lillquist, U.C. Davis Law Review 2002, 85–197, 109. Lillquist gibt Nutzenwerte von 1, –10, 0, –1 an, die durch eine lineare Transformation auf eine Skala von 0 bis 1 normiert wurden. Anzumerken ist, dass Lillquist nicht sagt, dass seine Nutzenwerte die einzig richtigen seien, sein Punkt ist gerade, dass es keine einzig richtigen Nutzenwerte geben kann, a. a. O., 131 ff. b

Ordnet man den möglichen Ergebnissen die von Tribe, Milanich oder Bourmistrov-Jüttner postulierten Nutzenwerte zu, resultiert eine Entscheidungsgrenze von nur wenig über 50%, was weit von dem entfernt ist, was man gemeinhin unter dem »beyond reasonable doubt« Standard versteht.123 Tatsächlich zeigt sich, dass die Berechnung der Entscheidungsgrenze aus den Nutzenwerten der Ergebnisse zu einer recht tiefen Entscheidungsgrenze führt, wenn man statt der Entscheidungsgrenze nach dem Nutzen der einzelnen möglichen Ergebnisse eines Strafverfahrens fragt und die Entscheidungsgrenze daraus errechnet. Die so bestimmte Entscheidungsgrenze liegt im Bereich von 50%–60%,124 also weit unter dem, was gemeinhin als normativ angemessen betrachtet wird. Während die entscheidungstheoretische Rechtfertigung des strafrechtlichen »beyond reasonable doubt« Standards wegen des fehlenden Konsenses über Nuteines Schuldigen als bestes Ergebnis, Milanich und Nagel den Freispruch eines Unschuldigen, Bourmistrov-Jüttner ist indifferent zwischen den beiden Ergebnissen. 123 Connolly, Law and Human Behavior 1987, 101–112, 104. 124 Connolly, Law and Human Behavior 1987, 101–112, 110; Hastie, in: Hastie (Hrsg.), Inside the Juror, 84–115, 105, Tabelle 4.3; Dhami, Journal of Experimental Psychology: Applied 2008, 353–363, 358.

II. Entscheidungstheoretische Rechtfertigung

447

zen und Kosten der möglichen Ergebnisse der Entscheidung über Schuld oder Unschuld umstritten ist, ist die entscheidungstheoretische Rechtfertigung des zivilrechtlichen »preponderance of the evidence« Standards als eine subjektive Wahrscheinlichkeit, die 50% gerade übersteigt, in der amerikanischen und englischen Literatur viel weniger kontrovers.125 Dies liegt daran, dass weitgehende Einigkeit darin besteht, dass die Kosten einer falschen Abweisung und einer falschen Gutheißung einer Klage ebenso identisch sein müssen wie der Nutzen einer richtigen Gutheißung und einer richtigen Abweisung.126 Das bedeutet nicht, dass die entscheidungstheoretische Analyse nicht deskriptiv dazu verwendet werden kann, zu erklären, weshalb (nach einer allgemein geteilten Auffassung) Klagen von bedürftigen Klägern gegen vermögende Beklagte (mit »deep pockets«) eher gutgeheißen werden. Weil die Geschworenen hier die Kosten des Fehlers, die Klage des bedürftigen Klägers fälschlicherweise abzuweisen, höher gewichten als die Kosten des Fehlers, die Klage fälschlicherweise gutzuheißen (weil der Beklagte den Verlust verschmerzen kann), senken sie die Beweismaßgrenze.127 Die Intuition, dass die Fehlerkosten einer fälschlichen Gutheißung oder Abweisung einer auf einen zivilrechtlichen Anspruch gestützten Klage gleich hoch sind, ist auch unter schweizerischen Richterinnen und Richtern weit verbreitet. Anlässlich einer von der Weiterbildungskommission des Obergerichts des Kantons Bern am 23. August 2012 durchgeführten Weiterbildungsveranstaltung zur Prozessleitung im Zivilrecht, an der Richter, Vorsitzende der Schlichtungsbehörden und Gerichtsschreiber teilgenommen haben, habe ich die Teilnehmenden gebeten, ein Gedankenexperiment durchzuführen.128 Ein anonymer Spender habe ihnen Fr. 100’000 unter der Auflage zur Verfügung gestellt, dass sie das Geld ausschließlich dazu einsetzen, dass jeder der vier möglichen Ausgänge des folgenden Verfahrens verhindert wird: Eine natürliche Person hat beim zuständigen Gericht gegen eine andere natürliche Person eine Forderungsklage über Fr. 100’000 eingereicht. Beide Parteien verfügen über ein ähnlich großes Vermögen und Einkommen. Strittig ist einzig die Tatfrage, ob die klagende Partei

125 Hamer, University of New England Law Journal 2004, 71–107, 73, 83, bezeichnet diese Ansicht als »now conventional«. 126 Ball, Vanderbilt Law Review 1960, 807–830, 817; Kaye, Cornell Law Review 1987, 4–77, 72; Lee, Brigham Young University Law Review 1997, 1–34, 25; Posner, Stanford Law Review 1999, 1477–1546, 1504; Redmayne, Modern Law Review 1999, 167–195, 171; Clermont/Sherwin, American Journal of Comparative Law 2002, 243–276, 268; Hamer, University of New England Law Journal 2004, 71–107, 81; Stein, Foundations of evidence law, 148; Zamir/Ritov, Journal of Legal Studies 2012, 165–207, 189; a. M. Tyree, Jurimetrics 1982, 89–100, 93 f., der argumentiert, dass »community standards« die Kosten unterschiedlich gewichten können. 127 Cullison, University of Toledo Law Review 1969, 538–598, 570. Maassen, Beweismaßprobleme, 160 f., und Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 244, erachten dies als normativ gerechtfertigt. Siehe die Kritik daran hinten, S. 488. 128 Inspiriert durch Laudan/Saunders, International Commentary on Evidence 2009, 1–36, 23.

448

Fünfter Teil: Beweismaß

der beklagten Partei ein Darlehen über Fr. 100’000 gewährt hat. Es ist unbestritten, dass das Darlehen, falls es gewährt wurde, trotz Fälligkeit nicht zurückbezahlt worden ist.

Die vier möglichen Ausgänge des Verfahrens sind a)

Die klagende Partei hat der beklagten Partei ein Darlehen über Fr. 100’000 gewährt, und die beklagte Partei wird zur Zahlung von Fr. 100’000 verurteilt (richtig positiv);129 b) Die klagende Partei hat der beklagten Partei kein Darlehen über Fr. 100’000 gewährt, aber die beklagte Partei wird zur Zahlung von Fr. 100’000 verurteilt (Fehler 1. Art); c) Die klagende Partei hat der beklagten Partei kein Darlehen über Fr. 100’000 gewährt, und die beklagte Partei wird nicht zur Zahlung von Fr. 100’000 verurteilt (richtig negativ); d) Die klagende Partei hat der beklagten Partei Darlehen über Fr. 100’000 gewährt, aber die beklagte Partei wird nicht zur Zahlung von Fr. 100’000 verurteilt (Fehler 2. Art). Die Teilnehmenden wurden instruiert, dass sie das gesamte Geld für den genannten Zweck einsetzen müssten, aber nicht mehr als das gespendete Geld (der verwendete Fragebogen, der in Form eines A4-Blatts an die Teilnehmenden abgegeben wurde, befindet sich in Anhang VII). Insgesamt 49 Versuchspersonen (alle Anwesenden) füllten den Fragebogen je einzeln aus, wozu sie ungefähr 10 Minuten benötigten. Zwei Versuchspersonen werden von der weiteren Analyse ausgeschlossen, weil sie mehr als die gespendeten Fr. 100’000 investiert hatten, so dass sich alle folgenden Angaben und Analysen auf N = 47 beziehen. Knapp die Hälfte der Befragten waren Richterinnen oder Richter (20 = 43%), 10 Vorsitzende von Schlichtungsbehörden (die den obligatorischen Schlichtungsversuch nach Art. 197 ff. ZPO-CH durchführen) und 17 (36%) Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber. Frauen bildeten mit 57% eine Mehrheit aller Befragten, waren aber untervertreten bei den befragten Richtern (7 = 35%). Die Versuchspersonen waren zwischen 29 und 61 Jahre alt, mit einem Durchschnittsalter von 40, wobei das Durchschnittsalter der Richter (47 Jahre) erwartungsgemäß höher war als das der Vorsitzenden der Schlichtungsbehörden (38 Jahre) und der Gerichtsschreiber (32 Jahre).130 Die Umfrageteilnehmer haben zwischen einem und 35 Jahren am Gericht gearbeitet (durchschnittlich 7,3 Jahre; die Richter durchschnittlich 12 Jahre, die Gerichtsschreiber 4 Jahre). Eine Mehrheit ist schwergewichtig im Zivilrecht (ohne Familienrecht) tätig. Die Versuchspersonen haben über 3 bis 5’000 zivilrechtliche Klagen außerhalb des Familienrechts (mit)entschieden, durchschnittlich über 278 Klagen (Median = 40, die Verteilung ist stark verzerrt durch

129 130

Der kursive Text in Klammern war nicht Teil des Fragebogens. Neun Versuchspersonen haben die Frage nach dem Alter nicht beantwortet.

II. Entscheidungstheoretische Rechtfertigung

449

wenige sehr erfahrene Richter).131 13 der Befragten hatten einige Wochen zuvor bereits an der Online-Umfrage zum Beweismaß teilgenommen, deren Ergebnisse hinten vorgestellt werden (S. 576 ff.). Die Frage zielt darauf ab, die relativen Kosten der möglichen Ausgänge empirisch zu messen: Man sollte in die Verhinderung jenes Ausgangs am meisten investieren, der die höchsten Kosten verursacht. Durch die Deckelung der investierbaren Summe auf Fr. 100’000 braucht die äußerst schwierige Frage nach den absoluten Kosten der möglichen Ausgänge nicht beantwortet zu werden, die nach Ungleichung (23.2) auch nicht maßgeblich ist, weil es allein auf das relative Gewicht der Kosten ankommt.132 Die Resultate zeigen, dass eine ganz überwiegende Mehrheit der Befragten (34 = 72%) die Kosten einer irrtümlichen Gutheißung (Fehler 1. Art) und einer irrtümlichen Abweisung (Fehler 2. Art) der Klage gleich hoch bewerten, während sie den korrekten Entscheidungen a) und c) keine Kosten zumessen. D. h. diese Versuchspersonen haben je Fr. 50’000 in die Verhinderung der Ergebnisse b) und d) investiert, und nichts in die Verhinderung der Ausgänge a) und c). Dies entspricht der in der Literatur überwiegend vertretenen Auffassung, dass die Fehlerkosten einer fälschlichen Gutheißung und einer fälschlichen Abweisung der Klage in Zivilsachen identisch sind und korrekte Urteile keine Kosten verursachen. Nimmt man die Durchschnittswerte (arithmetisches Mittel) der investierten Summen (siehe Tabelle 23) und errechnet daraus die Entscheidungsgrenze mit Hilfe der Gleichung (23.2), dann erhält man eine Entscheidungsgrenze von (aufgerundet) 51% – d. h. ein rationaler Entscheider sollte sich für die Gutheißung der Klage entscheiden, wenn er es für mehr als 51% wahrscheinlich hält, dass das Darlehen gewährt wurde.133 Dies steht in deutlichem Kontrast zum vom deutschen und schweizerischen Recht für die Gutheißung der Klage in diesem Fall geforderten Überzeugungsgrad. Dass das Darlehen gewährt wurde, muss derjenige Tabelle 23: Durchschnittliche Fehlerkosten (in Klammern der Median).

Gutheißung der Klage Abweisung der Klage

Darlehen wurde gewährt

Darlehen wurde nicht gewährt

Fr. 2’979 (Fr. 0) Fr. 46’276 (Fr. 50’000)

Fr. 47’766 (Fr. 50’000) Fr. 2’979 (Fr. 0)

131 16 Versuchspersonen haben die Frage nach der Anzahl (mit)entschiedener Prozesse nicht beantwortet. 132 Laudan/Saunders, International Commentary on Evidence 2009, 1–36, 24. 133 Diese Berechnung beruht auf der (starken) Annahme, dass die Investition jedes Frankens mehr in die Verhinderung eines Ausgangs in gleichem Maße geeignet ist, den Ausgang zu verhindern. In Anbetracht der Ergebnisse, die zeigen, dass in die Verhinderung der beiden richtigen und der beiden falschen Entscheidungen (fast) gleich viel investiert wurde, ist die Annahme jedoch irrelevant.

450

Fünfter Teil: Beweismaß

beweisen, der die Rückzahlung fordert, und das Beweismaß dafür ist das Regelbeweismaß in Zivilsachen. Beweiserleichterungen sind für diesen Beweis nicht vorgesehen.134 Insbesondere die deutsche Lehre – weniger die schweizerische – zögert, das Regelbeweismaß in einem numerischen Wahrscheinlichkeitsgrad auszudrücken, aber es dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass es, wenn es denn in einem numerischen Wert ausgedrückt werden kann, über 90% betragen muss (hinten, S. 453 f.). In den von den Gerichtsmitgliedern angenommenen Fehlerkosten findet sich das Werturteil über die relativen Fehlerkosten, das dieser hohe verlangte Überzeugungsgrad ausdrückt, nicht. Drei Versuchspersonen haben je Fr. 25’000 in die Verhinderung jeden möglichen Ausgangs investiert; dies war die zweithäufigste Antwort. Eine der Befragten hat mir in einer Pause erläutert, weshalb sie diese Aufteilung gewählt hat: Weil sie als Vorsitzende der Schlichtungsbehörde unparteiisch sein müsse, dürfe sie keinen bestimmten Ausgang des Verfahrens bevorzugen, deshalb habe sie überall die gleiche Summe investiert. Nun ist es zwar so, dass Mitglieder richterlicher Behörden unparteiisch sein müssen. Aber ein Interesse daran, ein korrektes Urteil zu fällen, darf auch ein Richter haben – er darf nur kein Interesse daran haben, eine Partei aus anderen Gründen als dem, dass sie sich im Recht befindet, zu bevorzugen. Würde Unparteilichkeit verlangen, dass dem Richter der Ausgang des Verfahrens in dem Sinne egal sein muss, dass er ein Fehlurteil genauso schätzen muss wie ein korrektes Urteil, dann müsste er den Ausgang des Verfahrens durch Würfeln bestimmen. Aber das Rechtssystem erwartet natürlich, dass ein Richter sich bemüht, ein korrektes Urteil zu fällen. Aus der Unparteilichkeit des Richters kann daher nicht gefolgert werden, dass er in die Verhinderung jedes der vier möglichen Ausgänge gleich viel investieren müsste. Die restlichen Versuchspersonen (10 = 21%) haben die Kosten eines Fehler 1. und 2. Art unterschiedlich gewichtet. Sieben dieser Versuchspersonen investierten mehr in die Verhinderung eines Fehlers 1. Art (falsche Gutheißung) als in die Verhinderung eines Fehlers 2. Art, während drei Versuchspersonen mehr in die Verhinderung eines Fehlers 2. Art (falsche Abweisung) investierten. Die aus Ungleichung (23.2) resultierenden Entscheidungsgrenzen basierend auf den Fehlerkosten der sieben Versuchspersonen, die einen Fehler 1. Art höher gewichten als einen Fehler 2. Art, liegen mit einer einzigen Ausnahme unter 63%. Nur eine einzige Versuchsperson gewichtet die Fehlerkosten so, dass eine Entscheidungsgrenze resultiert, die mit 87,5% in der Nähe dessen liegt, was für das Regelbeweismaß in Zivilsachen postuliert wird. Ich möchte die Bedeutung dieser kleinen Umfrage nicht überbewerten. Ich halte die Frage nach dem richtigen Regelbeweismaß in Zivilsachen für eine normative Frage, die nicht mit empirischen Methoden beantwortet werden kann. Die Umfrage zeigt nicht mehr und nicht weniger, als dass die Intuition, dass die 134

Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 253.

II. Entscheidungstheoretische Rechtfertigung

451

Fehlerkosten einer fälschlichen Gutheißung und Abweisung einer zivilrechtlichen Klage gleich hoch sind, auch unter Mitgliedern von Gerichtsbehörden mit erheblicher praktischer Erfahrung in der Entscheidung von Zivilstreitigkeiten weit verbreitet ist. Sie zeigt auch den Trugschluss, aus der direkten Frage nach dem Wahrscheinlichkeitsgrad, der dem Regelbeweismaß entspricht, abzuleiten, dass dieser Wahrscheinlichkeitsgrad 90% betragen müsse.135 Warum man bei exakt gleicher Wahrscheinlichkeit, also bei 50 : 50, für den Beklagten entscheidet und die Klage abweist, lässt sich bei Annahme gleicher Fehlerkosten für Fehler 1. und 2. Art und fehlender Kosten einer korrekten Entscheidung entscheidungstheoretisch nicht begründen. Ein möglicher Ansatz ist, die Kosten der Vollstreckung eines die Klage gutheißenden (Leistungs-)Urteils zu berücksichtigen, was zu einer Entscheidungsgrenze von leicht über 50% führt.136 Ein zweiter Ansatz besteht darin, in diesem Fall exakten Gleichgewichts nach der objektiven Beweislast zu entscheiden.137 Ein dritter Ansatz ist, sich hier einfach dezisionistisch für eine Lösung zu entscheiden, da die Auswirkungen ohnehin vernachlässigbar sind – wir sprechen hier vom Unterschied zwischen 50% und 50,01%, der aufgrund der Unschärfe der in der Praxis erreichbaren Genauigkeit ohnehin nicht messbar ist.138 Ein oft anzutreffendes Missverständnis ist der Glaube, dass die Entscheidungsgrenze von 50% dazu führt, dass man sich auf lange Sicht gleich häufig zu Gunsten und zu Lasten von beweisbelasteter und nicht beweisbelasteter Partei irrt.139 Es scheint auf den ersten Blick verlockend, dies anzunehmen, und wird in der Literatur auch gelegentlich behauptet.140 Aber während die Entscheidungsgrenze der überwiegenden Wahrscheinlichkeit notwendigerweise die erwarteten Kosten der Fehler minimiert, lässt sich nicht sagen, dass man notwendigerweise gleich häufig einen Fehler 1. wie 2. Art machen wird, denn die Anzahl der Fehler 1. und 2. Art hängt auch von der Basisrate der begründeten Klagen ab. Folgende Überlegung mag dies veranschaulichen:141 Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die größer als Null ist, dass eine Klage gutgeheißen wird, weil das Gericht einen Sachverhalt als wahr erachtet, der nicht der Wirklichkeit entspricht, Pr(a1 |w2 ) > 0. Es besteht ebenfalls eine Wahrscheinlichkeit größer als Null, dass eine Klage abgewiesen wird, obwohl der Sachverhalt tatsächlich so lag, dass die Klage gemäß 135

So aber Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.13, 6.68 f. Posner, Economic Analysis of Law, 647. 137 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 337; Maassen, Beweismaßprobleme, 10; Redmayne, Modern Law Review 1999, 167–195, 172. 138 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 83. Motsch entscheidet bei exakt 50% für die beweisbelastete Partei; heftige Kritik bei Prütting, Beweislast, 68 f. 139 Kaye, Law, Probability & Risk 2002, 3–8, 5 f. 140 Hinweise bei Kaye, Law, Probability & Risk 2002, 3–8, 3. 141 Connolly, Law and Human Behavior 1987, 101–112, 104 f.; DeKay, Law & Social Inquiry 1996, 95–132, 118 ff.; siehe auch Hamer, University of New England Law Journal 2004, 71–107, 87 ff. 136

452

Fünfter Teil: Beweismaß

materiellem Recht hätte gutgeheißen werden müssen, Pr(a2 |w1 ) > 0. Unter den eingereichten Klagen befindet sich eine Anzahl solcher, bei denen der Sachverhalt den geltend gemachten Anspruch begründet, Nw1 , und eine Anzahl solcher, bei denen der Sachverhalt keinen Anspruch begründet, Nw2 . Die Anzahl der fälschlicherweise zu Gunsten der beweisbelasteten Partei entschiedenen Fälle ergibt sich aus Nw2 · Pr(a1 |w2 ), und die Anzahl der fälschlicherweise zu Lasten der beweisbelasteten Partei entschiedenen Fälle aus Nw1 · Pr(a2 |w1 ). Auch wenn Pr(a2 |w1 ) und Pr(a1 |w2 ) gleich groß sind – also die Wahrscheinlichkeit eines Fehlers 1. und 2. Art gleich groß ist – muss die Anzahl der Fehler 1. und 2. Art nicht gleich groß sein, denn diese hängt auch von Nw1 respektive Nw2 ab. Wenn gleich viele begründete wie unbegründete Klagen eingereicht werden, ist auch die Anzahl der beiden Fehlerarten gleich. Wenn aber z. B. 80% der eingereichten Klagen begründet sind, und die Fehlerwahrscheinlichkeiten Pr(a2 |w1 ) und Pr(a1 |w2 ) gleich groß sind, werden vier Mal mehr Fehler zu Lasten des Klägers – unter der vereinfachenden Annahme, dass er beweisbelastet ist – gemacht als zu Lasten des Beklagten. Da das Verhältnis der begründeten und unbegründeten Klagen unbekannt und nicht notwendigerweise 1 ist, lässt sich auch keine Aussage zum Verhältnis der Anzahl Fehler der verschiedenen Arten machen. Aus dem gleichen Grund dürfen die Blackstone-Ratio, und ähnliche Aussagen wie z. B. die Sentenz Friedrichs des Großen »II vaudrait mieux pardonner à vingt coupables que de sacrifier un innocent«142 , nicht wörtlich als Aussagen zum erwünschten Verhältnis der Anzahl Fehler verstanden werden, sondern müssen als Aussagen zum Verhältnis der Schwere der Fehler interpretiert werden.143 5. Zusammenfassung Die formale Entscheidungstheorie zeigt, dass bei einer Entscheidung unter Unsicherheit neben der Überzeugung – die, weil es eben eine Entscheidung unter Unsicherheit ist, keine absolute Gewissheit ist – dass ein Zustand der Welt vorliegt (oder vorliegen wird), auch die Folgen der Entscheidung zu berücksichtigen sind, die vom Zustand der Welt abhängen. Es ist rational, diejenige Entscheidung zu treffen, die den erwarteten Nutzen maximiert (die erwarteten Kosten minimiert). D. h., wenn zwei Zustände der Welt nach der Überzeugung des Entscheiders gleich wahrscheinlich sind, sollte er die Entscheidung treffen, deren Ergebnis einen höheren Nutzen (tiefere Kosten) hat. Sind andererseits der Nutzen (die Kosten) der Ergebnisse seiner Entscheidung identisch, sollte er sich für den Zustand der Welt entscheiden, den er für wahrscheinlicher hält. Das Verhältnis der Nutzenwerte (Fehlerkosten) der verschiedenen möglichen Ergebnisse seiner 142 Friedrich II., Histoire de l’Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres de Berlin 1751, 375–400, 395. 143 DeKay, Law & Social Inquiry 1996, 95–132, 128 ff.; Laudan, Truth, error, and criminal law, 74.

III. Regelbeweismaß im Zivilverfahren

453

Entscheidung bestimmt die Entscheidungsgrenze, wenn der Nutzen (die Kosten) der verschiedenen möglichen Ergebnisse nicht identisch sind. Die Entscheidungstheorie bietet eine elegante Erklärung für das Beweismaß der »preponderance of the evidence«, das in den Ländern des Common Law Rechtskreises (grundsätzlich) in Zivilsachen gilt. Weil es nach überwiegender Meinung keinen Grund gibt, die Kosten, die Klage zu Unrecht abzuweisen, geringer zu gewichten als die Kosten, die Klage zu Unrecht gutzuheißen, minimiert eine Entscheidungsgrenze von > 50% die erwarteten Fehlerkosten. Weniger eindeutig ist die Beurteilung des »beyond reasonable doubt« Standards in Strafsachen, was am fehlenden Konsens über die Kosten, respektive dem Nutzen, der möglichen Ergebnisse liegt. Die Anwendung der Entscheidungstheorie setzt voraus, dass man die Kosten oder den Nutzen aller möglichen Ergebnisse einer Entscheidung auf einer Skala von reellen Zahlen abbilden kann. Dies ist nach hier vertretener Auffassung möglich, weil das Gegenteil zu behaupten bedeutet, dass keine Entscheidung getroffen werden kann. Die Rechtsordnung geht aber davon aus, dass eine Entscheidung, und damit eine Abwägung der Entscheidungsfolgen, möglich ist, da ansonsten keine Urteile ohne absolute Gewissheit über die Faktenlage gefällt werden könnten, und Literatur und Rechtsprechung sind sich einig, dass absolute Gewissheit keine Voraussetzung für ein Urteil ist. Die zu beachtenden Kosten ergeben sich aus den Werten, deren Beachtung die Rechtsordnung sanktioniert. Unbeachtlich sind daher nicht nur die individuellen Kosten und Nutzen des Entscheiders, sondern insbesondere Kosten oder Nutzen, der einzelnen Gesellschaftsmitgliedern aus verpönten Motiven zuwächst. Die maßgeblichen Kosten oder Nutzen werden hier als »juristische Kosten« oder »juristischer Nutzen« bezeichnet. Die Bedeutung der Einschränkung der beachtlichen Kosten aus normativen Gründen wird bei der Erörterung des eigenen Standpunktes weiter hinten, S. 482 ff., klar.

III. Regelbeweismaß im Zivilverfahren nach herrschender Lehre und Praxis in Deutschland und der Schweiz 1. Deutschland a) Regelbeweismaß Für das Regelbeweismaß, das zum »Vollbeweis«144 führt, ist im deutschen Zivilprozess nach wie vor das »Anastasia« Urteil des Bundesgerichtshofs von 1970 maßgebend, das die Anforderungen an den Grad der richterlichen Überzeugung als »mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit« 144

Z. B. MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 35.

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Fünfter Teil: Beweismaß

umschreibt, der »den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.«145 Nicht verlangt wird eine »absolute oder unumstößliche Gewissheit«;146 der Tatrichter darf »keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und deshalb nicht darauf abstellen, ob jeder Zweifel und jede Möglichkeit des Gegenteils ausgeschlossen ist.«147 Dass der BGH von einem Überzeugungsgrad ausgeht, und nicht von einem dichotomen Begriff der Überzeugung, wie vereinzelt vertreten wird,148 geht somit bereits aus der Formulierung vom »Grad der Gewissheit« unmissverständlich hervor (bereits vorne, S. 33 f.). Im Folgenden wird dieses Regelbeweismaß als das der »vollen Überzeugung« bezeichnet, ohne dass damit gemeint ist, dass mehr als der »für das praktische Leben brauchbare Grad der Gewissheit« verlangt wird. Da sich die deutsche Lehre beharrlich Versuchen widersetzt, das Beweismaß zu quantifizieren,149 finden sich nur selten Aussagen dazu, was der verlangte Grad der Überzeugung auf einer Skala von 0% bis 100% ausgedrückt bedeutet. Paulus meint, in Zahlen ausgedrückt entspreche der verlangte Überzeugungsgrad »in etwa einer 90–95%igen Überzeugung.«150 Greger spricht sich indirekt für eine Grenze von 95% aus, wenn er ausführt, 100%ige »Wahrscheinlichkeit«, d. h. absolute Sicherheit, könne im Prozess nie erzielt werden, weshalb bei Anwendung der Lehre der Schadensteilung nach Wahrscheinlichkeit selbst bei voller richterlicher Überzeugung ein Abschlag von 5% von der Forderungssumme gewährt werden müsste.151 Kadner Graziano schreibt, dass in Deutschland bei einer Verursachungswahrscheinlichkeit von 90% nicht gehaftet werde, scheint also von einem Beweismaß von über 90% auszugehen.152 Bender nennt eine subjektive Wahrscheinlichkeit von 99,8%, die der vollen Überzeugung von der Wahrheit entspreche.153 Fasching, in seinem Lehrbuch zum österreichischen Zivilprozessrecht, geht davon aus, dass das Regelbeweismaß erreicht ist, »wenn nur wenige Promille zur Hundertprozentgrenze fehlen«154 . Das Regelbeweismaß des deutschen Zivilprozessrechts verlangt also eine subjektive Wahrscheinlichkeit – einen Überzeugungsgrad – der deutlich über 50% liegt, und, soweit er sich überhaupt in einem Prozentgrad ausdrücken lässt, wohl 95% übersteigen muss. 145

BGH NJW 1970, 946, 948. BGH NJW 1998, 2969, 2971. 147 BGH NJW 1998, 2969, 2971. 148 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 20; Koussoulis, in: Gottwald/Prütting (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Schwab, 277–288, 283; Brinkmann, Beweismaß, 63; für die Schweiz Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.76. 149 Exemplarisch Walter, ZZP 1977, 270–284, 282 (»bloße Willkür«); Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 204. 150 Paulus, Zivilprozessrecht, Rz. 431. 151 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 110. 152 Kadner Graziano, ZEuP 2011, 171–200, 189. 153 Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 258; ihm folgend Fuchs, Beweismaß im Arzthaftungsprozess, 80. 154 Fasching, Lehrbuch des österreichischen Zivilprozessrechts, Rz. 815. 146

III. Regelbeweismaß im Zivilverfahren

455

Eindeutig scheint mir, dass das Regelbeweismaß im deutschen Zivilprozessrecht, entgegen der von einigen Autoren vertretenen Meinung, dass das zivilprozessuale155 Beweismaß des Common Law und des deutschen Zivilprozessrechts nicht zu unterscheiden seien,156 nach herrschender Lehre und Rechtsprechung deutlich mehr verlangt, als dass der Überzeugungsgrad 50% »by the slightest degree«157 übersteigt. Dies zeigt sich gerade auch in der heftigen Ablehnung, die das »Überwiegensprinzip« – also ein Regelbeweismaß von > 50% – durch die herrschende Lehre erfahren hat.158 Abgelehnt wird von der herrschenden Lehre auch die Theorie vom »relativen«159 Beweismaß, nach der das Beweismaß nach den Umständen des konkreten Einzelfalles durch den Richter bestimmt wird.160 Nach der überwiegenden Lehre wird das Beweismaß durch das Gesetz generell-abstrakt festgelegt und ist in allen Fällen, auf die es Anwendung findet, gleich hoch.161 Das bedeutet nicht, dass das Beweismaß nicht nach Fallgruppen abgestuft werden kann, solange diese generell-abstrakt umschrieben werden können.162 Die herrschende Lehre befür-

155 Ob das Beweismaß dem materiellen Recht oder dem Verfahrensrecht zugehörig ist, ist umstritten, vergleiche nur Coester-Waltjen, Internationales Beweisrecht, Rz. 362 ff., Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 67, Paulus, in: Schilken/Becker-Eberhard/Gerhardt (Hrsg.), Festschrift für Hans Friedhelm Gaul, 747–760, 759 f. und Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 4.16 ff., die es dem materiellen Recht zuordnen, mit Prütting, Beweislast, 66, Habscheid, in: Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 105–119, 119 und Gottwald/Nagel, Internationales Zivilprozessrecht, § 9 Rz. 51, die für Prozessrecht plädieren, und Koussoulis, in: Gottwald/Prütting (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Schwab, 277–288, 278, der für eine »gemischtrechtliche, d. h. materielle wie prozessuale Natur« eintritt. Für Qualifikation als Verfahrensrecht LG Saarbrücken, NJW-RR 2012, 885, 886, mit zahlreichen Hinweisen auf Rsp. und Lehre. Ich möchte dazu nicht abschließend Stellung beziehen, aber die Verwendung des mit dieser Fußnote versehenen Adjektivs ist nicht zufällig. 156 Gottwald, in: Gottwald/Jayme/Schwab (Hrsg.), Festschrift für Dieter Henrich, 165– 176, 175; Brinkmann, Beweismaß, 3 ff.; Gottwald/Nagel, Internationales Zivilprozessrecht, § 9 Rz. 51. 157 Livanovitch v. Livanovitch, 131 A. 799, 800 (Vt. 1926). 158 Exemplarisch Prütting, ZZP 2010, 135–145, 142. 159 MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 35. 160 Für ein relatives Beweismaß aber Musielak, in: Lüderitz/Schröder (Hrsg.), Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, 451–471, 470; Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 200 ff.; Gottwald, in: Gottwald/Jayme/Schwab (Hrsg.), Festschrift für Dieter Henrich, 165–176, 165 ff.; Rommé, Anscheinsbeweis, 88 ff.; Brinkmann, Beweismaß, 61 f.; im Ergebnis auch Maassen, Beweismaßprobleme, 160 f.; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 212 f. (dazu hinten, S. 488). 161 Musielak/Stadler, JUS 1980, 739–742, Rz. 149; Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 250 f.; Huber, Beweismaß, 82; Kollhosser, ZZP 1983, 270–278, 276 f.; Schwab, in: Holzhammer/Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451– 462, 462; Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 68; Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 80–133, Rz. 57; MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 35. 162 Walter, Freie Beweiswürdigung, 158; Prütting, Beweislast, 87 ff.; Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 69; a. M. Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 123 ff., 196 (für ein einheitliches Beweismaß ohne Abstufungen).

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Fünfter Teil: Beweismaß

wortet ein reduziertes Beweismaß für bestimmte Fallgruppen, namentlich für den Kausalitätsbeweis (hinten S. 463 ff.). b) Kritik an den hohen Anforderungen an die richterliche Überzeugung Die Kritik an den hohen Anforderungen, die von der herrschenden Lehre und Rechtsprechung an den Grad der richterlichen Überzeugung gestellt werden (so denn keine der zahlreichen Ausnahmen greift), ist beinahe so alt wie die Einführung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung im Zivilprozess in Deutschland. So schreibt Josef Kohler 1904, die Beweislastregeln sollten mit Einführung der freien Beweiswürdigung ihre Bedeutung verlieren, denn wenn der Richter »die eine Behauptung wahrscheinlicher findet als die andere [. . . ] so kann es sich nur darum handeln, dass er durch einen richterlichen Eid die Wahrscheinlichkeit zur Überzeugung ergänzt.«163 Peters meint in einem Aufsatz von 1949, es sei besser, »dass die Partei gewinnt, die wahrscheinlich im Recht ist, als die Partei, die wahrscheinlich im Unrecht ist.«164 Wirklich Fahrt aufgenommen hat die Diskussion um das richtige Beweismaß aber zweifellos mit Kegels Aufsatz zum »Individualanscheinsbeweis und der Verteilung der Beweislast nach überwiegender Wahrscheinlichkeit« von 1967. Kegel vertritt die These, dass jeder Beweis, der nicht auf unmittelbarer Sinneswahrnehmung des Richters beruht, ein »Anscheinsbeweis« sei, weil ein solcher Beweis immer mit Erfahrungssätzen geführt werden müsse, und jeder auf Erfahrungssätzen beruhender Beweis sei ein Anscheinsbeweis.165 Da beim Anscheinsbeweis das Beweismaß der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« gelte – nach heutiger Rechtsprechung gilt beim Anscheinsbeweis allerdings das Regelbeweismaß (vorne, S. 177) – gelte dieses Beweismaß auch in den Fällen, bei denen nach überkommener Ansicht der Vollbeweis zu erbringen sei.166 Die objektive Beweislast sei entscheidungserheblich nur in den seltenen Fällen, in denen nach der Beweisaufnahme eine exakte Pattsituation bestehe, bei der beide Sachvorträge gleich wahrscheinlich seien.167 Die Entscheidung nach überwiegender Wahrscheinlichkeit sei die »bestmögliche Lösung«168 . Da man absolute Sicherheit nicht erreichen könne, sei es 163 Kohler, in: Holtzendorff/Kohler (Hrsg.), Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 114, zitiert nach Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 30. 164 Peters, MDR 1949, 66–70, 68. 165 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 328. 166 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 334. 167 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 335 ff. Es ist bei Kegel nicht immer klar, ob er das Beweismaß auf überwiegende Wahrscheinlichkeit reduzieren will oder die Beweislast nach der Anfangswahrscheinlichkeit auferlegen, Prütting, Beweislast, 192. 168 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 335.

III. Regelbeweismaß im Zivilverfahren

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»immer noch gerechter, nach dem Wahrscheinlichen zu entscheiden als nach dem Unwahrscheinlichen.«169 Die Beweisführungslast – Kegel unterscheidet nicht klar zwischen subjektiver und objektiver Beweislast – treffe jedoch immer denjenigen, der die a priori unwahrscheinlichere Behauptung aufstelle.170 Was bei Kegel fehlt, ist eine entscheidungstheoretische Rechtfertigung des Beweismaßes der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit«. Auch bei Musielak, der ebenfalls für ein Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit eintritt, allerdings nicht generell, sondern nur dort, wo »triftige Gründe bestehen«171 , findet sich keine entscheidungstheoretische Analyse. Eine solche findet sich ersichtlich erstmals bei Maassen (1975), der Kaplans Modell rezipiert.172 Obwohl Maassens Arbeit ihrem Titel nach auf Beweismaßprobleme im Schadenersatzprozess beschränkt ist, scheinen seine Ausführungen zum optimalen Beweismaß allgemeinen Geltungsanspruch zu haben.173 Maassen beachtet, wie Kaplan, nur die »tatsächlichen Kosten der fehlerhaften Feststellung einer Tatsache« und die »tatsächlichen Kosten einer fehlerhaften Nichtfeststellung einer Tatsache«174 . Zur Höhe dieser Kosten wird nur festgestellt, dass die Kostengleichheit im Zivilprozess regelmäßig gegeben sei, während im Strafprozess die Interessen des Angeklagten viel höher zu bewerten seien als das Interesse der Gesellschaft an Strafe, Spezial- und Generalprävention.175 Maassen berücksichtigt also sowohl individuelle als auch soziale Kosten.176 Für den Schadenersatzprozess leitet er aus den gleich hohen Kosten fehlerhafter Feststellungen wie Nichtfeststellungen der Haftung ein Beweismaß von 50% für Fahrlässigkeit und Kausalzusammenhang ab.177 Abweichungen davon könne es geben, wenn eine Partei sehr viel besser in der Lage sei als die andere Partei, die Kosten einer falschen Entscheidung zu tragen, wie dies z. B. der Fall sein könne, wenn eine Partei den Schaden auf zahlreiche Schadensträger umlegen könne, sprich versichert ist.178 Einen explizit entscheidungstheoretischen Ansatz vertritt auch Motsch (1978, 1983), der die Entscheidungsgrenze aus der »minimalen Schadenserwartung« ableitet.179 Motsch beachtet alle vier möglichen Ergebnisse der Entscheidung, 169 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 335. 170 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 325 f. 171 Musielak, in: Lüderitz/Schröder (Hrsg.), Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, 451–471, 471. 172 Maassen, Beweismaßprobleme, 5 ff. 173 Maassen, Beweismaßprobleme, 3. 174 Maassen, Beweismaßprobleme, 8. 175 Maassen, Beweismaßprobleme, 9. 176 Maassen, Beweismaßprobleme, 16. 177 Maassen, Beweismaßprobleme, 155. 178 Maassen, Beweismaßprobleme, 160. 179 Motsch, in: Klug et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig, 334–348, 335 ff.; Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 83 ff.

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Fünfter Teil: Beweismaß

setzt aber die »Schädlichkeit« der korrekten Abweisung und korrekten Gutheißung gleich Null.180 Die Entscheidungsgrenze ergibt sich demnach aus dem relativen Gewicht der Fehlerkosten; die Formel von Motsch, auch wenn er eine abweichende Notation verwendet, entspricht der Gleichung (24). Nach Motsch war es der französische Aufklärer und Philosoph Marquis de Condorcet, der diese Formel erstmals herleitete.181 Zur Quantifizierung der Fehlerkosten führt Motsch aus, diese seien kaum solide zu schätzen. Es ließen sich höchstens Tendenzaussagen machen, die Bezifferung der Entscheidungsgrenze daher »eine unsolide Zahlenspielerei«182 . Immerhin sei in Zivilsachen, »wenn die Rechtsordnung nicht ausnahmsweise eine Seite besonders gegen Irrtum schützt und aus diesem Grund dem Gegner eine besondere materielle Beweislast aufbürdet, ein zweifelhaft gebliebenes Tatsachenelement stets dann ’als wahr zu erachten’, wenn letztlich mehr für als gegen sein Zutreffen spricht (Entscheidung nach der Wahrscheinlichkeit = Überwiegensprinzip).«183 Da »die Entscheidungsgrenze der von der Rechtsordnung vorgegebene Maßstab [ist], an welchem der konkrete Fall zu messen ist, ohne dass dieser den Maßstab beeinflusst«184 , dürfe die Entscheidungsgrenze »nicht mit Rücksicht auf die individuellen Folgen eines möglichen Irrtums im konkreten Fall« bestimmt werden, sondern »die Entscheidungsgrenze [sei] an den typischen Folgen in vergleichbaren Fällen auszurichten.«185 Motsch scheint also sowohl soziale wie individuelle Kosten zu berücksichtigen, letztere aber in einer »typisierten« Betrachtungsweise, die nicht auf die Eigenschaften der betroffenen Individuen, sondern des Falles abstellt. In Abstammungssachen plädiert Motsch für eine Entscheidungsgrenze von 50%, da es schwer falle, die Nachteile einer falschen Entscheidung für das Kind oder den Vater als schwerwiegender zu bezeichnen.186 Nell (1983) spricht sich generell für eine entscheidungstheoretische Rechtfertigung von Abwägungsentscheidungen im Recht aus, seine Arbeit ist also nicht auf das Beweismaß im Zivilprozess beschränkt, umfasst dieses aber. Nell legt dar, weshalb bei Entscheidungen unter Unsicherheit nur das Prinzip der Maximierung des Erwartungsnutzens rational ist.187 Die Eindimensionalität des Nutzenbegriffs sei eine unausweichliche Folge des Entscheidungszwanges, denn Entscheiden sei nur 180

Motsch, in: Klug et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig, 334–348, 336; In Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 84 f., lässt er diesen Schritt aus und konzentriert sich unmittelbar auf die Irrtumsfolgen. 181 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 109 ff. Condorcet ist heute vor allem für seine theoretischen Erkenntnisse zur sozialen Wahl (Abstimmung) bekannt, Rowley, in: Rowley/ Schneider (Hrsg.), The encyclopedia of public choice, 201–213, 202 f. 182 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 86. 183 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 86 (Hervorhebung im Original). 184 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 87. 185 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 87 (Hervorhebung im Original). 186 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 244 ff. 187 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 136.

III. Regelbeweismaß im Zivilverfahren

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dort möglich, wo Vergleichen möglich sei. Wer die Unvergleichbarkeit von Zielen behaupte, behaupte die Unentscheidbarkeit des Konflikts, die Rechtsordnung aber müsse in der Lage sein, Konflikte entscheiden, weshalb sie notwendigerweise davon ausgehen müsse, dass die mit der Entscheidung des Konflikts verfolgten Ziele vergleichbar seien.188 Der zu berücksichtigende Nutzen sei der soziale Nutzen, aber nur insoweit, als seine Berücksichtigung normativ zu begründen sei.189 Bei der Bestimmung des Beweismaßes im Zivilprozess ginge es um die Verteilung des Fehlerrisikos.190 Nehme man an, »dass es im Zivilprozess um gleichgewichtige Rechtsgüter auf beiden Seiten geht«, so führe die entscheidungstheoretische Analyse dazu, dass es »die vernünftigste Lösung sein müsste, jede Seite mit dem gleichen Fehlerrisiko zu belasten, als Beweismaß also die überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen zu lassen.«191 Nell qualifiziert diese Aussage dahingehend, dass es nur in Forderungsprozessen, in denen ausschließlich um Geld gestritten wird, ohne weiteres einleuchtend sei, vom Gleichgewicht der auf dem Spiel stehenden Interessen auszugehen, nicht aber in Verfahren, in denen es nicht um eine Geldforderung gehe, wie bei Gestaltungs- oder Unterlassungsklagen. Dort könne die Abwägung durchaus zu einem anderen Beweismaß als der überwiegenden Wahrscheinlichkeit führen.192 Nell fordert auch, dass die Leichtigkeit oder Schwierigkeit, mit der eine Partei ein Beweismittel für eine von ihr zu beweisende Tatsachenbehauptung vorlegen kann, bei der Festlegung des Beweismaßes berücksichtigt wird.193 Im Ergebnis plädiert Nell daher für ein variables (relatives) Beweismaß, das sich an den Fehlerkosten im Einzelfall orientiert und zudem die Beweisschwierigkeiten einer Partei berücksichtigt. Lässt man Bourmistrov-Jüttner (1987) unberücksichtigt, die sich nur zum Beweismaß in Strafsachen äußert,194 dann findet sich in der deutschsprachigen juristischen Literatur erst mit der 2002 auf Deutsch erschienenen Arbeit von Gräns, die 1995 als Dissertation an der Universität Uppsala eingereicht wurde und Ergebnisse des schwedisch-finnischen Forschungsprojekts »Wahrheit und Recht« unter der Leitung von Hannu Tapani Klami enthält,195 eine explizit entscheidungstheoretische Rechtfertigung des zivilprozessualen Beweismaßes. Gräns berücksichtigt nur die Fehlerkosten, von ihr als Disutilitäten bezeichnet, der falschen Entscheidungen.196 Interessant ist die Arbeit von Gräns, weil sie

188

Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 147 ff. Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 151 ff. 190 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 210. 191 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 211. 192 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 213. 193 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 213 f., unter Hinweis auf Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 256 ff. 194 Bourmistrov-Jüttner, Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie, 283 ff. 195 Klami/Gräns/Sorvettula, Law and truth. 196 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 238. 189

460

Fünfter Teil: Beweismaß

versucht, darzulegen, welche Faktoren die Kosten einer falschen Entscheidung beeinflussen. Es sind dies nach Gräns:197 1. 2.

3. 4.

Die allgemeine, auf dem erfahrungsgemäßen Wissen basierende Wahrscheinlichkeit der relevanten Tatsachen. Die Ursachen für und die Möglichkeiten der Parteien, den Beweis schon vorher sicherzustellen und ihn in dem Verfahren zu präsentieren: die Beweismöglichkeiten der Parteien. Die Zwecke und Ziele der materiellen Rechtsnormen: Normzwecke. Soziale und ökonomische Möglichkeiten der Parteien, die Konsequenzen eines eventuell materiell fehlerhaften Urteils zu tragen: die sozioökonomische Risikotragfähigkeit.

Der erste Punkt, die allgemeine Wahrscheinlichkeit einer Tatsachenbehauptung, würde man im Rahmen der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie als Anfangswahrscheinlichkeit bezeichnen.198 Um zu verstehen, weshalb sie bei der Festlegung des Beweismaßes – also der Entscheidungsgrenze – eine Rolle spielen soll, muss man sich vergegenwärtigen, dass Gräns eine Vertreterin der skandinavischen Beweiswertmethode ist. Diese kann bekanntlich nur eine Aussage zum Grad der Beweisbarkeit einer Tatsachenbehauptung machen, nicht zur subjektiven Überzeugung, dass die Behauptung wahr ist (vorne, S. 162 f.). Die Anfangswahrscheinlichkeit ist nach der Beweiswertmethode irrelevant; vor Berücksichtigung der Beweismittel ist eine Behauptung immer »unbewiesen« und hat einen Beweisbarkeitsgrad von 0. Über den Umweg, das Beweismaß in den Fällen zu senken, in denen eine Behauptung bereits vor Berücksichtigung konkreter Beweismittel als wahrscheinlich wahr erscheint,199 wird die Anfangswahrscheinlichkeit nach dem Modell von Gräns dennoch berücksichtigt. Nach richtiger Auffassung gehört die Berücksichtigung der Anfangswahrscheinlichkeit hingegen zur Beweiswürdigung, sie beeinflusst nicht die Entscheidungsgrenze. Ebenfalls zur Beweiswürdigung gehört der zweite Punkt, die Leichtigkeit oder Schwierigkeit, mit der Beweismittel erhältlich gemacht werden können, der in ähnlicher Form auch von Bender und Nell vorgebracht wird.200 Dies wird hinten, S. 482 ff., bei der Darstellung des eigenen Standpunkts näher begründet. Der Normzweck bestimmt nach Gräns das Gewicht des gewünschten Steuerungseffekts der Norm, die je nach Rechtsgebiet variiert.201 Der handlungsdiri197 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 235 ff. (Hervorhebungen im Original). Die Darstellung von Gräns entspricht im Wesentlichen Klami/Gräns/Sorvettula, Law and truth, 206 ff. 198 Dies geht hervor aus der Umschreibung in Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 239, und Klami/Gräns/Sorvettula, Law and truth, 206. 199 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 239 f. 200 Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 256 ff.; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 213 f. 201 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 242 f.

III. Regelbeweismaß im Zivilverfahren

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gierende Zweck einer materiellrechtlichen Norm wird in der Regel nur durch ein materiell richtiges Urteil erreicht.202 Jedoch, dies scheint das Argument von Gräns zu sein, kann es Fälle geben, in denen die fälschliche Gutheißung einer Klage eher (oder weniger) geeignet ist, das verhaltenslenkende Ziel der materiellen Norm zu erreichen als die fälschliche Abweisung einer Klage.203 In diesen Fällen kann der Zweck der materiellen Norm zu einem von 50% verschiedenen Beweismaß führen. Unter dem Stichwort der »sozioökonomischen Risikotragfähigkeit« wird berücksichtigt, welche Partei finanziell oder sozial besser in der Lage ist, die Konsequenzen eines Fehlurteils zu tragen. Dabei soll die konkrete soziale und ökonomische Situation der Parteien beachtet werden, und zwar besonders in Rechtsgebieten, in denen bereits das materielle Recht von einer besonderen Schutzbedürftigkeit einer Partei ausgeht, wie im Arbeits- oder Versicherungsrecht.204 Gräns plädiert daher im Ergebnis ebenfalls für ein variables Beweismaß, denn die konkrete finanzielle Lage der Parteien unterscheidet sich von Fall zu Fall.205 Gräns präsentiert schließlich noch eine auf Saaty zurückgehend Methode zur Gewichtung der einzelnen Argumente im Einzelfall, die darauf beruht, die Argumente paarweise zu vergleichen und jeweils anzugeben, ob ein Argument stärker, viel stärker, schwächer, viel schwächer oder gleich stark wie das andere Argument ist. Daraus lässt sich eine Gewichtung der Argumente ableiten.206 Wagner (2009) weist darauf hin, dass aus rechtsökonomischer Sicht zu beachten sei, dass durch Gerichtsentscheidungen Anreize für die Rechtsunterworfenen geschaffen würden, sich rechtskonform zu verhalten, da rationale Parteien die voraussichtliche gerichtliche Beurteilung ihrer Handlungen ex ante berücksichtigten und sich unter Abwägung von Kosten und Nutzen für oder gegen eine Handlung entscheiden würden.207 Der Anreiz für rechtskonformes Verhalten ist dann am Größten, wenn die Parteien antizipieren, dass rechtskonformes Verhalten nicht zu einer Verurteilung führt (also keine falsch positiven Urteile gefällt werden) und nicht rechtskonformes Verhalten zu einer Verurteilung führt. Ein falsch negatives Urteil, d. h. keine Verurteilung einer Partei, die sich nicht rechtskonform verhalten hat, verringert den Anreiz, sich rechtskonform zu verhalten, ebenso sehr wie ein falsch positives Urteil, denn durch falsch negative Urteile werden die 202

Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 84 ff. Dies lese ich aus Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 85 f. zusammen mit 242 f. heraus. 204 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 244 ff. 205 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 244, siehe auch S. 87 (in Zivilfällen hat man »im Allgemeinen eine eher offene Stellung gegenüber dem Beweismaß«). 206 Klami/Gräns/Sorvettula, Law and truth, 218 ff.; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 247 ff. 207 Wagner, in: Bork/Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Verfahrensrechts, 156–193, 172. 203

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Fünfter Teil: Beweismaß

erwarteten Kosten einer nicht rechtskonformen Handlung gesenkt, was sie relativ zur rechtskonformen Handlung attraktiver erscheinen lässt, während durch ein falsch positives Urteil die erwarteten Kosten einer rechtskonformen Handlung erhöht werden, was die nicht rechtskonforme Handlung ebenfalls attraktiver erscheinen lässt.208 Wagner zieht daraus die Konsequenz, dass das Justizsystem so ausgestaltet werden muss, dass ein möglichst hoher Grad der Präzision bei der Anwendung des materiellen Rechts resultiert. »Die Zivilgerichte dürfen gerade nicht mit einer einseitig ausgestalteten Regel nach der Art des »in dubio pro reo« arbeiten, um Zweifelsfälle einer definitiven Lösung zuzuführen.«209 Vielmehr bedürfe es des Strebens nach Präzision in beide Richtungen – was man nur als Postulat, Fehler 1. und 2. Art in gleichem Maße zu vermeiden, verstehen kann. Wagner tritt demnach für das Überwiegensprinzip ein. Die herrschende Lehre und Rechtsprechung haben sich von der entscheidungstheoretischen Argumentation, im Zivilprozess generell für die Partei zu entscheiden, deren Sachvortrag nach der richterlichen Überzeugung eher wahr ist, nicht beeindrucken lassen und bestehen auf der »vollen« Überzeugung, die mehr ist als ein bloßes Überwiegen.210 Die im Schrifttum gegen das Überwiegensprinzip vorgebrachten Argumente werden im Anschluss an die Darstellung des eigenen Standpunktes erläutert, da sie sich auch gegen diesen richten (S. 505 ff.) Vorab müssen noch die beiden Fragen beantwortet werden i) wann das Regelbeweismaß überhaupt Anwendung findet und ii) ob sich die Praxis, selbst dort, wo das Regelbeweismaß theoretisch gilt, überhaupt daran hält oder einen (viel) geringeren Überzeugungsgrad genügen lässt.211 Zur ersten Frage sind die zahlreichen Ausnahmen darzustellen, die von der Praxis – es handelt sich um eine Entwicklung, die weitgehend von der Rechtsprechung ausging und von der Lehre nur mehr oder weniger widerstrebend nachvollzogen wurde – entwickelt wurden, um den Beweisschwierigkeiten der beweisbelasteten Partei Rechnung zu tragen (nicht hierher gehören die Ausnahmen, die das Gesetz für bestimmte Verfahrensarten, namentlich das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, oder einzelne Fragen, wie z. B. der Glaubhaftmachung von Ausstandsgründen gegen Gerichtspersonen, angeordnet hat. Diese werden weiter hinten, S. 550 ff., erörtert). Die zweite Frage ist eine Frage, die nur empirisch beantwortet werden kann. Ich habe einen entsprechenden Versuch unternommen, von dem auf S. 574 ff. berichtet wird.

208 Wagner, in: Bork/Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Verfahrensrechts, 156–193, 172 f. 209 Wagner, in: Bork/Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Verfahrensrechts, 156–193, 173. 210 Prütting, ZZP 2010, 135–145, 142. 211 Diese Vermutung äußert Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 247.

III. Regelbeweismaß im Zivilverfahren

463

c) Zahlreiche Ausnahmen vom Regelbeweismaß Die Rechtsprechung hat so viele Ausnahmen vom Regelbeweismaß der »vollen Überzeugung« entwickelt, dass, so Bender, »von der Theorie des Einheitsbeweismaßes (der Überzeugung von der Wahrheit) schon heute in der Praxis des Zivilprozesses kaum mehr etwas übriggeblieben [ist.]«212 Die Ausnahmen und Gegenausnahmen sind zwischenzeitlich so zahlreich geworden, insbesondere beim Kausalitätsbeweis, dass Kommentatoren von einem »Wildwuchs«213 , einer »chaotischen Zersplitterung des deutschen Beweisrechts«214 und einem »bunten Flickwerk«215 sprechen. Für bestimmte Tatbestandsmerkmale findet sich eine Beweismaßreduktion bereits im Gesetz. So bestimmt § 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO-DE, dass dann, wenn streitig, ist »ob ein Schaden entstanden sei und wie hoch sich der Schaden oder ein zu ersetzendes Interesse belaufe«, das Gericht hierüber »unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung« entscheide. Dass sich daraus eine Reduktion des Regelbeweismaßes ergibt, mag dem schweizerischen Juristen erst einmal nicht recht einleuchten – bestimmt das deutsche Recht hier doch nichts anderes, als dass das Gericht sich seine Überzeugung frei bildet, was die schweizerische ZPO in ihrem Art. 157 als allgemeine Regel festhält, ohne dass daraus abgeleitet würde, dass im Zivilprozess ein anderes Beweismaß als die »volle Überzeugung« gälte (hinten, S. 469 f.). Die entsprechende Absicht des Gesetzgebers, das Beweismaß zu senken, ergibt sich jedoch aus den Materialien zur deutschen ZPO;216 die Formulierung von § 287 ZPO-DE gilt als gesetzestechnisch missglückt.217 Nach ständiger Rechtsprechung muss der Tatrichter zwar auch im Anwendungsbereich von § 287 ZPO-DE von der Tatsachenbehauptung überzeugt sein, aber es werden geringere Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt. »[E]s genügt, je nach Lage des Einzelfalls, eine höhere oder deutlich höhere Wahrscheinlichkeit. Bei der Feststellung von Kausalbeziehungen ist der Tatrichter nach § 287 ZPO insofern freier gestellt, als er in einem der jeweiligen Sachlage angemessenen Umfang andere, weniger wahrscheinliche Verlaufsmöglichkeiten nicht mit der sonst erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausschließen muss.«218 In anderen Urteilen spricht der BGH davon, dass zum Nachweis der haftungsausfüllenden Kausalität nach § 287 Abs. 1 ZPO-DE schon die »überwiegende Wahrscheinlichkeit« genüge.219

212 213 214 215 216 217 218 219

Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 259. Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 259. Maassen, Beweismaßprobleme, 127. Maassen, Beweismaßprobleme, 126. Hahn (Hrsg.), Materialien zur Civilprozessordnung, 267 f. Lepa, NZV 1992, 129–136, 132. BGH NJW 2004, 777; NJW 2003, 1116. BGH NJW 2008, 1381; NJW 1998, 3417; NJW 1992, 3298; NJW 1987, 705.

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Fünfter Teil: Beweismaß

Die herrschende Lehre und Rechtsprechung beschränken den Anwendungsbereich von § 287 Abs. 1 ZPO-DE auf den Beweis der Schadenshöhe und der haftungsausfüllenden Kausalität, während die haftungsbegründende Kausalität nach § 286 ZPO-DE zu beweisen ist.220 Die Abgrenzung von haftungsausfüllender und haftungsbegründender Kausalität ist aber alles andere als klar.221 Zur haftungsbegründenden Kausalität gehört der Nachweis, dass das (nach § 286 bewiesene) Ereignis den Geschädigten tatsächlich betroffen hat.222 Zur haftungsausfüllenden Kausalität gehört, »ob überhaupt ein Schaden eingetreten ist, welchen Umfang er hat und ob er auf dem verpflichtenden Verhalten beruht.«223 Allerdings gehört der Kausalzusammenhang zwischen haftungsbegründendem Verhalten und Primärverletzung nach der Rechtsprechung nicht zur haftungsausfüllenden Kausalität, obwohl man geneigt ist, dies der Frage, ob der Schaden auf dem verpflichtenden Verhalten beruht, zuzuordnen. So muss der Kläger, der geltend macht, sein »Morbus Sudeck« (anhaltende, starke regionale Schmerzen, für die sich keine klare körperliche Ursache finden lässt) sei die Folge eines von ihm erlittenen Verkehrsunfalls, den Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Krankheit nach § 286 ZPO-DE beweisen und kommt nicht in den Vorteil der nach § 287 Abs. 1 ZPO-DE herabgesetzten Anforderungen an die richterliche Überzeugung.224 Dies gilt aber nur für den auf das deliktische Verhalten zurückzuführenden Primärschaden; Sekundarschäden sind nur »mit ausreichender Wahrscheinlichkeit« nachzuweisen.225 So muss der Kläger zur vollen Überzeugung des Gerichts beweisen, dass sein Halswirbelsäule-Schleudertrauma auf den erlittenen Verkehrsunfall zurückzuführen ist, aber nur mit »ausreichender Wahrscheinlichkeit«, dass ein später entstandener Tinnitus (Ohrenklingeln) auf das Schleudertrauma zurückgeht.226 Wie schwierig und unklar die Abgrenzung ist, zeigt ein Fall, der vom gleichen Senat, der das oben erwähnte »Morbus Sudeck« Urteil gefällt hatte, weniger als vier Jahre später entschieden wurde. Hier machte der Kläger geltend, sein Morbus Sudeck sei auf einen ärztlichen Behandlungsfehler zurückzuführen. Der Arzt hatte, das war zur vollen Überzeugung des Tatgerichts erstellt, einen Bruch des linken Zeigefingers des Klägers als bloße Prellung diagnostiziert, obwohl das Röntgenbild einen Bruch hätte erkennen lassen (Diagnosefehler). Jedoch wiesen die Vorinstanzen die Klage weitgehend ab, weil der Nachweis, dass der Morbus 220 BGH NJW 2004, 777; NJW 2003, 116; NJW 1998, 3417; NJW 1987, 705; Fuchs, Beweismaß im Arzthaftungsprozess, 90. 221 Arens, ZZP 1975, 1–48, 27; Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 78 ff.; Lepa, NZV 1992, 129–136, 133 f.; MüKo-ZPO-Prütting, § 287 N 9. 222 MüKo-ZPO-Prütting, § 287 N 10. 223 Musielak-ZPO-Foerste, § 287 N 3. 224 BGH NJW 2004, 777, 778, mit Anmerkung Foerste, LMK 2004, 41–42. 225 BGH NJW 1998, 3417, 3418; Fuchs, Beweismaß im Arzthaftungsprozess, 93; kritisch Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 73 ff. 226 OLG München, NJW 2011, 396, 397.

III. Regelbeweismaß im Zivilverfahren

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Sudeck auf die Fehldiagnose zurückzuführen sei, nicht erbracht worden sei. Der BGH korrigierte:227 Der Primärschaden, d. h. die durch den Behandlungsfehler im Sinne haftungsbegründender Kausalität hervorgerufene Körperverletzung, sei die durch die unterbliebene Ruhigstellung und damit unsachgemäße Behandlung der Fraktur eingetretene gesundheitliche Befindlichkeit. Welche weiteren Schäden sich hieraus entwickelt haben, sei eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität. Da der Morbus Sudeck nicht durch den Unfall (der zur nicht diagnostizierten Fraktur geführt hatte), sondern durch die ärztliche Fehlbehandlung und die damit hervorgerufene Gesundheitsbeeinträchtigung eingetreten sei, behaupte der Kläger einen Sekundär-/Folgeschaden, der nach § 287 ZPO-DE zu beweisen sei.228 Dies scheint wenig überzeugend – der Kläger macht ja nicht geltend, der Arzt habe ihm den Finger gebrochen und dadurch einen Primärschaden verursacht, aus dem sich der Morbus Sudeck als Sekundärschaden entwickelt habe, sondern dass der Morbus Sudeck auf den Diagnosefehler zurückzuführen sei. Dann ist er aber als unmittelbare Folge der ärztlichen Unterlassung, also als Primärschaden, zu qualifizieren und die Kausalität zwischen Diagnosefehler und körperlicher Schädigung wäre nach der Rechtsprechung zur vollen Überzeugung des Richters nachzuweisen. Aufgrund der Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen haftungsbegründender und haftungsausfüllender Kausalität, die sich aufgrund der Unschärfe der verwendeten Begriffe wohl nie ganz ausräumen lassen wird, genießen Stimmen in der Lehre Sympathie, die auf die Abgrenzung verzichten und den Beweis des Kausalzusammenhangs zwischen schädigendem Verhalten und Schaden insgesamt § 287 Abs. 1 ZPO-DE zuordnen wollen.229 Eine unbefangene Lektüre von § 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO-DE, der besagt, dass in vermögensrechtlichen Streitigkeiten die Fragen, »ob ein Schaden entstanden sei und wie hoch sich der Schaden oder ein zu ersetzendes Interesse belaufe« nach freier Überzeugung zu entscheiden sei, legt es zumindest nahe, dass auch die Frage, ob überhaupt ein Schaden entstanden sei – also der Kausalzusammenhang zwischen haftungsbegründendem Verhalten und Primärschaden – nach § 287 zu beurteilen ist, was von der Rechtsprechung gerade abgelehnt wird. Aus rechtsvergleichender Sicht ist die Beobachtung interessant, dass die schweizerische Rechtsprechung ausgehend von einem abweichenden Gesetzeswortlaut gerade zu der Lösung gekommen ist, dass das Beweismaß für den Kausalzusammenhang grundsätzlich die »überwiegende Wahrscheinlichkeit« ist. Eine zu § 287 ZPO-DE analoge Bestimmung fehlt im schweizerischen Recht. Art. 42 Abs. 1 OR bestimmt, dass derjenige, der einen Schaden erlitten hat, ihn zu beweisen hat, und sieht nach seinem Abs. 2 eine Erleichterung vor nur für die Höhe von 227

BGH NJW 2008, 1381. BGH NJW 2008, 1381, 1382 f. 229 Maassen, Beweismaßprobleme, 91 ff.; Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 78 ff.; a. M. MüKo-ZPO-Prütting, § 287 N 9. 228

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Fünfter Teil: Beweismaß

nicht ziffernmäßig nachweisbaren Schäden, die »mit Rücksicht auf den gewöhnlichen Lauf der Dinge« nach pflichtgemäßen richterlichem Ermessen geschätzt werden kann. Auch ohne positivrechtliche Grundlage ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung aber die hypothetische und natürliche Kausalität ohne Unterscheidung nach Primär- und Sekundärschaden nur mit »überwiegender Wahrscheinlichkeit« zu beweisen.230 Während die haftungsbegründende Kausalität nach der Rechtsprechung grundsätzlich voll zu beweisen ist, kann dieser Beweis durch einen Anscheinsbeweis geführt werden (zum Anscheinsbeweis vorne, S. 171 ff.).231 Darin sieht ein großer Teil der Lehre eine Beweismaßsenkung für den Kausalitätsbeweis.232 Schließlich finden sich zahlreiche gesetzliche Einzelbestimmungen, die das Beweismaß für bestimmte Kausalitätsnachweise senken, so z. B. § 252 Satz 2 BGB für den Nachweis des entgangenen Gewinns.233 Prütting erachtet es daher als gerechtfertigt, »aus einer sinngerechten Auslegung des Merkmals Kausalität verknüpft mit der Analogie zu einer Reihe ausdrücklicher gesetzlicher Vorschriften für den Nachweis der Kausalität nur die überwiegende Wahrscheinlichkeit zu verlangen.«234 Ebenfalls dem Anscheinsbeweis zugänglich ist der Beweis der Fahrlässigkeit; so wird insbesondere aus der objektiv vorliegenden Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht oder einer Schutznorm auf die Fahrlässigkeit geschlossen.235 Die grobe Fahrlässigkeit hingegen lässt sich nach der Rechtsprechung nicht durch einen Anscheinsbeweis nachweisen.236 Ist aber einem Arzt ein grober Behandlungsfehler nachgewiesen, dann führt dies zur Umkehr der Beweislast für die Kausalität des Behandlungsfehlers für die Primärschädigung des Patienten.237 Dafür reicht aus, dass der grobe Behandlungsfehler geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; »nahe legen oder wahrscheinlich machen muss

230 BGE 132 III 715 E. 3; 115 II 440 E. 6; das BGer verwendet teilweise »überwiegende Wahrscheinlichkeit« und teilweise »hohe Wahrscheinlichkeit«, ohne dass ein Unterschied in der Sache erkennbar wäre, Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 3.106 ff. 231 Umfangreiche Kasuistik bei Engels, Anscheinsbeweis, 79 ff.; Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 27. 232 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 333 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 120 ff.; Walter, Freie Beweiswürdigung, 156, 183 f.; Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 259; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 98; Engels, Anscheinsbeweis, 127, 155, 206, 212 f.; Musielak, in: Canaris et al. (Hrsg.), 50. Jahre Bundesgerichtshof – Festgabe aus der Wissenschaft, 193–225, 203; Stein/ Jonas-ZPO-Leipold, § 286 N 133; Musielak-ZPO-Foerste, § 286 N 24; Saenger-ZPO-Saenger, § 286 N 39. Anders die Rechtsprechung, BGH NJW 1998, 79, 81, die betont, dass der Anscheinsbeweis die volle Überzeugung des Richters begründe. 233 Weitere Hinweise bei MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 47. 234 MüKo-ZPO-Prütting, § 286 N 47. 235 BGH NJW 1986, 2757, 2758. 236 Stein/Jonas-ZPO-Leipold, § 286 N 142 mit zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung. 237 Diese Rechtsprechung wurde durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (Patienterechtegesetz) 2013 kodifiziert, § 630h Abs. 5 BGB.

III. Regelbeweismaß im Zivilverfahren

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der Fehler den Schaden hingegen nicht.«238 Für den Sekundärschaden gilt die Beweislastumkehr aber nur, »wenn der Sekundärschaden eine typische Folge der Primärverletzung ist.«239 Die Rechtsprechung hat weitere Beweiserleichterungen für den Geschädigten entwickelt. So tritt eine »Beweiserleichterung bis zur Beweislastumkehr«240 ein, wenn der Arzt seiner Dokumentationspflicht nur unzureichend nachgekommen ist und dem Patienten daher der Beweis eines Behandlungsfehlers erschwert ist; in diesem Fällen obliegt es im Ergebnis dem Arzt, nachzuweisen, dass er nicht fahrlässig gehandelt hat.241 Diese für den Arzthaftungsprozess entwickelte Rechtsprechung wurde in der Folge ausgeweitet auf die Dokumentationspflicht der Ordnungsbehörde bezüglich des Zustands einer Wohnung vor Einweisung eines Obdachlosen,242 bei Verletzung der so genannten Befundsicherungspflicht im Rahmen der Haftung für Produktfehler243 und ganz allgemein für Fälle der Beweisvereitelung.244 Nach richtiger Ansicht beschlagen diese Beweiserleichterungen nicht die (objektive) Beweislast, sondern das Beweismaß.245 Eine weitere Gruppe von Beweiserleichterungen für den Geschädigten hat die Rechtsprechung für die versicherten Entwendungen entwickelt. Typisch für sie ist, dass die Entwendung sich im Verborgenen abspielt und meist keine Tatzeugen vorhanden sind. Die polizeiliche Aufklärungsquote bei Bagatelldiebstählen tendiert gegen Null, dem Geschädigten fehlen daher in der Regel jegliche Beweismittel. Nach allgemeinen Regeln trägt der Versicherungsnehmer die (volle) Beweislast für den Versicherungsfall. Bliebe es dabei, könnten zahlreiche berechtigte Ansprüche mangels Beweis nicht durchgesetzt werden.246 Der BGH hat deshalb Beweiserleichterungen für den Beweis einer Entwendung entwickelt.247 Erste Beweiserleichterung ist, dass für den Nachweis der Entwendung nur eine »hinreichende« Wahrscheinlichkeit sprechen muss, die weniger als eine »überwiegende« Wahrscheinlichkeit ist und unter 50% liegen kann.248 Beim einfachen Diebstahl genügt es, wenn feststeht, dass der versicherte Gegenstand vor dem behaupteten 238

BGH NJW 2004, 2011, 2013. BGH NJW 2008, 1381, 1383; NJW 2005, 427. 240 Kritisch zum Begriff Laumen, NJW 2002, 3739–3746. 241 BGH NJW 1978, 2337; NJW 1972, 1520; durch BGH NJW 1986, 2365 ausgeweitet auf die unterlassene Dokumentation von Pflegemassnahmen. Heute geregelt in § 630h Abs. 3 BGB. 242 BGH NJW 1996, 315, 317. 243 BGH NJW 1988, 2611, 2613 (der bekannte berstende Mineralwasserflaschen-Fall; dem Hersteller wurde zum Verhängnis, dass er die Prüfung der Flaschen nicht dokumentiert hatte). 244 BGH NJW 1998, 79, 81; differenzierend Musielak, in: Canaris et al. (Hrsg.), 50. Jahre Bundesgerichtshof – Festgabe aus der Wissenschaft, 193–225, 218 ff. 245 Laumen, NJW 2002, 3739–3746, 3743. Dem Gesetzgeber steht es jedoch frei, die objektive Beweislast abweichend zu verteilen, was er wie erwähnt mit dem Patientenrechtegesetz 2013 getan hat. 246 Kollhosser, NJW 1997, 969–973, 969. 247 BGH NJW 1995, 2169. 248 BGH NJW-RR 1993, 797, 798. 239

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Diebstahl an einem bestimmten Ort vorhanden war und nach dem behaupteten Diebstahl dort nicht mehr vorgefunden wurde.249 Dem Versicherungsunternehmen obliegt es, im Rahmen des ihm offenstehenden Gegenbeweises (nicht Beweis des Gegenteils), Indizien darzulegen, die den Schluss stützen, dass die Entwendung nicht stattgefunden hat, wobei dafür eine »erhebliche Wahrscheinlichkeit« sprechen muss, die größer ist als die vom Versicherungsnehmer zu beweisende »hinreichende Wahrscheinlichkeit« einer versicherten Entwendung.250 Kann der Versicherungsnehmer weder das »äußere Bild« einer Entwendung noch den Ausschluss nicht versicherter Begehungsmöglichkeiten durch Beweismittel beweisen, so greift nach der Rechtsprechung eine subsidiäre Beweiserleichterung, nach der eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine versicherte Entwendung allein aus den schlüssigen Behauptungen des Versicherungsnehmers abgeleitet werden kann, wenn der Versicherungsnehmer hinreichend glaubwürdig erscheint.251 Erst wenn der Tatrichter aufgrund unstreitig feststehender oder voll bewiesener Tatsachen »ernsthafte« oder »schwerwiegende« Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Versicherungsnehmers hat, kann er von der »Redlichkeitsvermutung« zu Gunsten des Versicherungsnehmers abweichen.252 Solche Zweifel können sich beispielsweise bei einem behaupteten Diebstahl von Autoteilen daraus ergeben, dass das Spurenbild einen fachgerechten Ausbau von zwei Vordersitzen aus einem in einer engen Einzelgarage abgestellten Auto zeigt, deren Entnahme durch die wegen der Platzverhältnisse nur spaltbreit zu öffnenden Türen unmöglich ist.253 Wie ersichtlich ist, arbeitet die Praxis rechtstechnisch mit verschiedenen Methoden, um der nach allgemeiner Regel beweisbelasteten Partei den ihr obliegenden Beweis zu erleichtern: einerseits mit Beweislastumkehr (z. B. bei unterlassener Befundsicherung im Produkte- und Arzthaftpflichtrecht), tatsächlichen Vermutungen (»Redlichkeitsvermutung« im Versicherungsvertragsrecht; Anscheinsbeweis der Schadensverursachung bei Schutznormverletzungen im Haftpflichtrecht) und schließlich mit eigentlichen Beweismaßsenkungen vornehmlich beim Kausalitätsbeweis. Während die rechtstechnische Umsetzung unterschiedlich ist, beruhen alle diese Beweiserleichterungen auf dem gleichen Gedanken: auf der Erkenntnis, dass das strikte Beharren auf dem Regelbeweismaß der vollen Überzeugung in zahlreichen Fällen dazu führen würde, dass ein von der Rechtsordnung gewährtes subjektives Recht nicht durchgesetzt werden kann.

249

BGH NJW 1995, 2169. BGH NJW-RR 1995, 1174. 251 Kollhosser, NJW 1997, 969–973, 971 f. 252 BGH NJW 1996, 1348, 1349. Kritisch zur »Glaubwürdigkeitsvermutung« Kollhosser, NJW 1997, 969–973, 972. Zweifel an der Redlichkeit sind begründet, wenn der Versicherungsnehmer nachweislich mehrere für die Aufklärung des Schadenfalls relevante Falschangaben gemacht hat, OLG Hamm BeckRS 2009, 21356. 253 OLG Hamm BeckRS 2012, 07608. 250

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2. Schweiz a) Regelbeweismaß In der schweizerischen rechtswissenschaftlichen Literatur hat das Beweismaß zumindest bis zum Erscheinen der Dissertation von Berger-Steiner 2008 »ein stiefmütterliches Dasein gefristet.«254 1989 hatte Meier dem Beweismaß im Zivilprozess einen eigenen Aufsatz gewidmet, zwei Jahre danach Hohl, danach erschienen bis zur Dissertation von Berger-Steiner nur noch je ein Aufsatz von Bühler und Kaufmann, die sich näher mit dem Beweismaß befassten.255 Die Anforderungen an das Beweismaß werden in der Schweiz daher noch stärker als in Deutschland durch die Rechtsprechung, und hier vor allem durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung, die das Beweismaß schon vor dem In-Kraft-Treten der schweizerischen Zivilprozessordnung als Institut des (materiellen) Bundesrechts betrachtete,256 geprägt. Meier vertritt die Auffassung, dass das Beweismaß, obwohl nirgendwo positivrechtlich geregelt, eine Frage des Bundesrechts sei, weil es in Anbetracht eines einheitlichen Privatrechts nicht vorstellbar sei, dass jeder Kanton sein eigenes Beweismaß bestimmen könne.257 Offen lässt Meier, ob sich das Beweismaß aus Art. 8 ZGB oder aus ungeschriebenem Bundesrecht ergibt; das Bundesgericht lässt diese Frage ebenfalls unbeantwortet, wobei neuere Urteile dazu neigen, das Beweismaß Art. 8 ZGB zuzuordnen.258 Dass das Beweismaß durch Bundesrecht geregelt ist, durfte man trotz der unsicheren dogmatischen Grundlage schon vor dem In-Kraft-Treten der schweizerischen Zivilprozessordnung zum gesicherten Meinungsstand zählen,259 nachdem nun auch das Zivilprozessrecht bundesrechtlich geregelt ist, hat ein Streit darüber, woraus sich die bundesrechtliche Natur des Beweismaßes ergibt, jeden praktischen Wert verloren. Weiterhin von praktischer Relevanz in internationalen Konflikten ist die Frage, ob das Beweismaß ein Institut des materiellen Rechts oder des Prozessrechts ist, dies soll hier aber nicht vertieft werden.260 Nach Meier ist ein Beweis dann erbracht, wenn an der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung keine Zweifel mehr bestehen, die nicht mit überzeugenden 254

Bühler, Jusletter 21. Juni 2010, Rz. 1. Meier, BJM 1989, 57–78; Hohl, in: Schwander/Stoffel (Hrsg.), Beiträge zum schweizerischen und internationalen Zivilprozessrecht, 125–159; Hohl, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 128–138; Kaufmann, AJP 2003, 1199–1208; Bühler, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Der Haftpflichtprozess, 37–78; Berger-Steiner, Beweismass; Bühler, Jusletter 21. Juni 2010. 256 BGE 118 II 235 E. 3c., st. Rsp. 257 Meier, BJM 1989, 57–78, 77. 258 BGE 118 II 235 E. 3c; 128 III 271 E. 2b.aa; Urteil 5A_827/2009 vom 27. Mai 2010 = BGE 136 III 401, nicht veröffentlichte E. 4.5; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 4.02 f. 259 Hohl, in: Schwander/Stoffel (Hrsg.), Beiträge zum schweizerischen und internationalen Zivilprozessrecht, 125–159, 146 ff.; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 4.01. 260 Siehe die Quellen in Fn. 155. 255

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Argumenten als unerheblich eingestuft werden können; in Prozenten ließe sich dies nicht ausdrücken.261 Eine Beweismaßsenkung bei Beweisschwierigkeiten ist nach Meier ausgeschlossen, jedoch biete auch das Regelbeweismaß Spielraum, diese Fälle zu lösen (Meier will Beweisschwierigkeiten bei der Beweislastverteilung berücksichtigen, die Beweislast treffe grundsätzlich die Partei mit den besseren Beweismöglichkeiten).262 Eine rechtspolitisch motivierte Beweismaßreduzierung ist nach Meier im Versicherungsrecht beim Nachweis des Eintritts des versicherten Ereignisses gerechtfertigt.263 Hingegen rechtfertigten die Schwierigkeiten des Nachweises des natürlichen Kausalzusammenhangs keine generelle Absenkung des Regelbeweismaßes, denn jeder Beweis sei mit Unsicherheiten verbunden. Nur dort, wo die Beweisschwierigkeiten auf das Verhalten der nicht beweisbelasteten Partei zurückzuführen seien, sei rechtspolitisch eine Absenkung des Beweismaßes gerechtfertigt.264 Nach Hohl beruht der Beweis auf der subjektiven Überzeugung des Richters, die sich kaum quantifizieren lasse.265 Das Beweismaß ergebe sich aus Art. 8 ZGB, dem sich jedoch keine präzisen Angaben entnehmen ließen.266 Nach Hohl gibt es zwei Überzeugungsgrade (degrés de conviction), die Gewissheit (la certitude) und die hohe Wahrscheinlichkeit (la haute vraisemblance). Eine weitere Unterteilung des Beweismaßes sei verwirrend und überflüssig.267 Gewissheit liege vor, wenn der Richter keine ernsthaften Zweifel an der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung habe, wobei leichte Zweifel unvermeidlich seien. Es genüge, wenn es zwar andere Möglichkeiten gäbe, diese aber keine bestimmende Rolle spielten und vernünftigerweise nicht zu beachten seien (»ne semblent pas avoir joué de rôle déterminant, n’entrent pas raisonnablement en considération«).268 Das gegenüber der Gewissheit herabgesetzte Beweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit finde immer dann Anwendung, wenn ein Beweis naturgemäß schwierig zu führen sei, was der Fall sei, wenn er nur durch Indizien geführt werden könne.269 Zu Ende gedacht bedeutet dies, dass jede Tatsache, die nicht der unmittelbaren Sinneswahr261

Meier, BJM 1989, 57–78, 61. Meier, ZSR NF 1987, 705–742, 727 f.; Meier, BJM 1989, 57–78, 68 f. 263 Meier, BJM 1989, 57–78, 70. 264 Meier, BJM 1989, 57–78, 73 f. 265 Hohl, in: Schwander/Stoffel (Hrsg.), Beiträge zum schweizerischen und internationalen Zivilprozessrecht, 125–159, 129; Hohl, La réalisation du droit et les procédures rapides, Rz. 388; Hohl, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 128–138, 136. 266 Hohl, in: Schwander/Stoffel (Hrsg.), Beiträge zum schweizerischen und internationalen Zivilprozessrecht, 125–159, 148. 267 Hohl, La réalisation du droit et les procédures rapides, Rz. 429 ff.; Hohl, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 128–138, 136. 268 Hohl, in: Schwander/Stoffel (Hrsg.), Beiträge zum schweizerischen und internationalen Zivilprozessrecht, 125–159, 150; Hohl, La réalisation du droit et les procédures rapides, Rz. 458. Dass Hohl das Beweismaß auf die einzelne Behauptung bezieht, ergibt sich aus Hohl, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 128–138, 128. 269 Hohl, in: Schwander/Stoffel (Hrsg.), Beiträge zum schweizerischen und internationalen Zivilprozessrecht, 125–159, 151; Hohl, La réalisation du droit et les procédures rapides, Rz. 422 f. 262

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nehmung des Richters zugänglich ist, »nur« mit einer hohen Wahrscheinlichkeit vorliegen muss, denn praktisch jeder Beweis ist ein Indizienbeweis.270 Die Auffassung von Hohl entspricht in der Begründung und im Ergebnis im Wesentlichen der von Kegel in seinem Aufsatz zum Individualanscheinsbeweis vertretenen Meinung. Berger-Steiner beklagt die verwirrende Vielfalt von Formulierungen zur Umschreibung des Beweismaßes, die das Bundesgericht verwendet.271 Es gebe im Zivilrecht nur drei Beweisgrade, nämlich das Regelbeweismaß, die überwiegende Wahrscheinlichkeit (vraisemblance préponderante) und die Glaubhaftmachung (simple vraisemblance).272 Bezugspunkt der richterlichen Überzeugung sei immer die Wahrheit, und Überzeugung ein dichotomer Begriff, der keine Grade kenne.273 Bezugspunkt der Überzeugung sei »ein abstraktes Maß – verstanden als die im Prozess erreichbare Annäherung an die Wahrheit«274 . Die beim »Regelbeweismaß der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit« »mindestens erforderliche Annäherung an die Wahrheit kann zum Zwecke der Veranschaulichung mit einem numerischen Wahrscheinlichkeitswert von 90% beziffert werden.«275 Der »Beweisgrad der hohen Wahrscheinlichkeit« liege in einer Annäherung an die Wahrheit von 75%, während das Beweismaß der einfachen Wahrscheinlichkeit bzw. der Glaubhaftmachung bei 51% liege.276 Aus den Definitionen von Berger-Steiner ergibt sich, dass sich dieser Näherungswert auf die Gesamtheit der rechtserheblichen Tatsachenbehauptungen bezieht. Wann der »Beweisgrad der hohen Wahrscheinlichkeit« statt dem »Regelbeweismaß der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit« Anwendung findet, sagt BergerSteiner nicht. Ich verstehe sie dahingehend, dass dieses mittlere Beweismaß dort Anwendung finden soll, wo die Rechtsprechung die von ihr als missverständlich kritisierte Formulierung des Beweismaßes der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« verwendet, d. h. es handelt sich um eine terminologische Bereinigung der bestehenden Rechtsprechung, nicht um eine Neuentdeckung eines Beweismaßes.277 Nach dem Bundesgericht gilt ein Beweis nach dem Regelbeweismaß des »strikten Beweises« als erbracht, »wenn das Gericht nach objektiven Gesichtspunkten von der Richtigkeit einer Sachbehauptung überzeugt ist. Absolute Gewissheit 270

Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rz. 578. Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 3.93 ff.; ebenso Summermatter/Jacober, HAVE 2012, 136–149, 142 f. 272 Ebenso Hohl, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 128–138, 136; Bühler, Jusletter 21. Juni 2010, Rz. 5; Walter, Haftpflichtprozess 2009, 47–68, 53; Summermatter/Jacober, HAVE 2012, 136–149, 141. In BGE 130 III 321 E. 3.3 scheint sich das Bundesgericht dieser Auffassung anzuschließen. 273 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.76, 5.137. 274 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.75. 275 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.81. 276 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.123, 6.155. 277 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.118 f. 271

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Fünfter Teil: Beweismaß

kann dabei nicht verlangt werden. Es genügt, wenn das Gericht am Vorliegen der behaupteten Tatsache keine ernsthaften Zweifel mehr hat oder allenfalls verbleibende Zweifel als leicht erscheinen.«278 Diese Formulierung entspricht im Wesentlichen derjenigen von Hohl. Davon abgegrenzt wird das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (la vraisemblance prépondérante, la verosimiglianza preponderante), das insbesondere bei Beweisschwierigkeiten zur Anwendung kommt (gleich nachstehend). Während sich die deutsche Lehre mit numerischen Umschreibungen des vom Regelbeweismaß verlangten Überzeugungsgrad schwer tut, ist es im schweizerischen Schrifttum seit einigen Jahren beliebt geworden, das Beweismaß zumindest zur Illustration mit einer Prozentangabe zu versehen. Das ist insofern überraschend, als sich in der gesamten schweizerischen Literatur keine Rezeption der entscheidungstheoretischen Rechtfertigung des Beweismaßes findet.279 Der Vorteil einer Bezifferung des Beweismaßes wird darin gesehen, dass sich damit die Entscheidungsgrenze präziser fassen lasse als mit vagen verbalen Umschreibungen, die von verschiedenen Richtern unterschiedlich verstanden würden.280 Für das Regelbeweismaß wird dabei mindestens eine 90% übersteigende Wahrscheinlichkeit verlangt.281 Summermatter/Jacober gehen von 95% aus.282 Dem wird das Beweismaß der Glaubhaftmachung gegenübergestellt, das mit einem Überzeugungsgrad von > 50% erfüllt sei;283 nach Summermatter/Jacober bereits ab einem Wahrscheinlichkeitsgrad von 25%.284 Klar ist auch in der Schweiz, dass das Regelbeweismaß einen Überzeugungsgrad verlangt, der 50% weit übersteigt. Das Bundesgericht hat das Regelbeweismaß in Zivilsachen nie mit einem numerischen Wahrscheinlichkeitsgrad versehen. Zwar wird aus BGE 96 II 314 E. 6d herausgelesen, dass der Abstammungsbeweis bei einer Wahrscheinlichkeit von über 99,8% für die Vaterschaft des Beklagten geführt sei, was manchmal auch als generelle Umschreibung des Regelbeweismaßes verstanden wird (in BGE 97 II 278

BGE 130 III 321 E. 3.2, zuletzt bestätigt in Urteil 5A_769/2011 vom 2. März 2012, E. 3.3. Meier, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 217 ff., kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie die normative Entscheidungstheorie, ohne sich explizit auf diese zu berufen; siehe hinten, S. 558 f. 280 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.24; Summermatter/Jacober, HAVE 2012, 136–149, 139; krit. Pribnov, HAVE 2009, 158–162, 159; Ileri, in: Schweizerische Gesellschaft für Haftpflichtund Versicherungsrecht (Hrsg.), Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen, 273–288, 280; Berger/ Nogler, recht 2012, 168–175, 173. 281 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.81; ihr folgend Walter, Haftpflichtprozess 2009, 47– 68, 53; Bühler, Jusletter 21. Juni 2010, Rz. 9; KuKo-ZPO-Schmid, Vor Art. 150–193 N 13; Dike-ZPO-Leu, Art. 157 N 52. 282 Summermatter/Jacober, HAVE 2012, 136–149, 142. 283 Beck, in: Murer (Hrsg.), Nicht objektivierbare Gesundheitsbeeinträchtigungen, 227–252, 244; Amstutz/Keller/Reinert, Mitteilungen des Seminars für Schweizerisches Baurecht 2005, 114–121, 117; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.148; Walter, Haftpflichtprozess 2009, 47–68, 54; Bühler, Jusletter 21. Juni 2010, Rz. 17; KuKo-ZPO-Schmid, Vor Art. 150–193 N 13. 284 Summermatter/Jacober, HAVE 2012, 136–149, 142. 279

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193 E. 5 senkt das Bundesgericht diese Wahrscheinlichkeit übrigens auf 97%).285 Nun ist es so, dass einem serologischen oder DNA-Gutachten tatsächlich relative Häufigkeiten zugrunde liegen, welche die subjektive Wahrscheinlichkeit des Einzelfalles bei gegebenen Voraussetzungen bestimmen müssen (vorne, S. 351 f.).286 Insofern könnte man geneigt sein, die Aussage, dass eine gutachterlich bestimmte Vaterschaftswahrscheinlichkeit von über 97% dazu führt, dass die Vaterschaft ohne Abnahme weiterer Beweismittel als erstellt betrachtet werden darf, eine Aussage zum Beweismaß, verstanden als Überzeugungsgrad, ist. Das Problem ist, dass die BGE 96 II 314 und 97 II 193 zugrunde liegenden »Vaterschaftswahrscheinlichkeiten« auf der Essen-Möller Formel beruhen, die bekanntlich eine Annahme der Anfangswahrscheinlichkeit voraussetzt, die im Einzelfall nicht zutreffen muss (vorne, S. 358 ff.). Die Annahme zur Anfangswahrscheinlichkeit, die der Gutachter in BGE 97 II 193 getroffen hat, ist dabei, dass »in einem Kollektiv von als Väter bezichtigten [. . . ] Männern auf 100 wirkliche Väter 10 Nichtväter kommen«287 , oder anders gesagt, eine Anfangswahrscheinlichkeit von 91% (100/110). Nur unter dieser Annahme kann der Gutachter die Aussage zur a-posteriori-Wahrscheinlichkeit treffen. Nimmt man die Angaben des Gutachters und geht von einer Anfangswahrscheinlichkeit von 20% aus, dann resultiert aus dem gleichen Essen-Möller Wert von 97% eine a-posteriori-Wahrscheinlichkeit für die Vaterschaft von 63%.288 Die Aussagen des Bundesgerichts können daher nicht als Aussagen zur für die Beweismaßgrenze einzig maßgeblichen subjektiven a-posteriori-Wahrscheinlichkeit verstanden werden. b) Kritik an den hohen Anforderungen des Regelbeweismaßes Kritik an einem zu hohen Regelbeweismaß ist in der Schweiz kaum vorgebracht worden. Dies liegt sicherlich einerseits daran, dass die entscheidungstheoretische Begründung für ein Regelbeweismaß der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« im schweizerischen Schrifttum nicht rezipiert wurde, andererseits wohl auch daran, dass die bundesgerichtliche Praxis weitgehendere Ausnahmen vom Regel285 Hohl, in: Schwander/Stoffel (Hrsg.), Beiträge zum schweizerischen und internationalen Zivilprozessrecht, 125–159, 150; OG Zürich, Urteil vom 19. August 2008, in Forumpoenale 3/2009, 165, 166; a. M. Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.20. 286 Dass ein DNA-Gutachten deshalb besonders überzeugend sei, weil es auf einem individuellen Befund beruhe, ist hingegen nicht nachvollziehbar, Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.67. Die Beweiskraft einer Übereinstimmung der DNA beruht relativen Häufigkeiten, die durch populationsgenetische Studien erhoben wurden. 287 BGE 97 II 193 E. 5. 288 Die Annahmen des Gutachters lassen sich aus BGE 97 II 193 E. 5 wie folgt rekonstruieren: Pr(H) = 0,91, Pr(¬H) = 0,09; Pr(EM>97%|H) = 0,124, Pr(EM>97%|¬H) = 0,0178. Dies sind die einzigen Werte, welche die Aussage, dass sich unter den Nichtvätern 0,16% mit einem Essen-Möller Wert von über 97% (EM>97%) finden, stützt, denn Pr(¬H) · Pr(EM>97%|¬H) = Pr(¬H&EM>97%) = 0,09 · 0,0178 = 0,0016. Die Rolle, welche die Anfangswahrscheinlichkeit spielt, übersieht das Bundesgericht in BGE 98 II 262 E. 3, wenn es sagt, dass Mehrverkehr der Mutter bei einem Essen-Möller Wert von über 97% nicht maßgeblich sei.

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beweismaß als die deutsche Rechtsprechung zulässt. Wenn das Beweismaß generell bei Beweisschwierigkeiten auf »überwiegende Wahrscheinlichkeit« reduziert wird, und Beweisschwierigkeiten bereits angenommen werden, wenn der Beweis einer Tatsache naturgemäß nur durch Indizien geführt werden kann, dann ist das Beweismaß in allen praktisch wichtigen Fällen bereits erheblich herabgesetzt – wenn auch nicht auf 50%, denn das Bundesgericht versteht unter dem Beweismaß der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« nicht eine Wahrscheinlichkeit, die schlicht größer ist als die Gegenwahrscheinlichkeit, sondern eine Wahrscheinlichkeit, die 50% deutlich überschreitet und vielleicht besser mit dem Begriff der »hohen« Wahrscheinlichkeit bezeichnet würde (gleich nachstehend). c) Zahlreiche Ausnahmen zum Regelbeweismaß Die bundesgerichtliche Rechtsprechung geht im Zivilrecht generell von einem auf die »überwiegende Wahrscheinlichkeit« herabgesetzten Beweismaß für den Beweis der natürlichen und hypothetischen Kausalität aus.289 Ein Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärschäden, wie sie die deutsche Lehre und Rechtsprechung treffen, wird in der Schweiz aber nicht gemacht; d. h. auch der Primärschaden kann mit dem reduzierten Beweismaß der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« bewiesen werden. Gesetzlich vorgesehen ist zudem eine Beweiserleichterung für nicht ziffernmäßig nachweisbare Schäden, die gestützt auf Art. 42 Abs. 2 OR geschätzt werden dürfen; diese Beweiserleichterung bezieht sich nach der Rechtsprechung sowohl auf das Vorhandensein als auch auf die Höhe des Schadens.290 Die Anforderungen an den Nachweis des nicht ziffernmäßig bestimmbaren Schadens werden vom Bundesgericht denkbar vage umschrieben, nach einer seit 100 Jahren verwendeten Formulierung muss sich das Vorhandensein des Schadens im behaupteten Umfang »mit einer gewissen Überzeugungskraft aufdrängen«291 . Diese Formulierung wird auch in neueren Urteilen nicht aufgegeben,292 obwohl seit BGE 122 III 219 auch gilt, dass die Zusprechung von Schadenersatz voraussetzt, »dass der Eintritt des geltend gemachten Schadens nicht bloß im Bereich des Möglichen liegt, sondern als annähernd sicher erscheint.«293 Auch in der Schweiz hat die Rechtsprechung für den naturgemäß schwierig zu führenden Nachweis des Eintritts des Versicherungsfalls bei Entwendeversicherungen Beweiserleichterungen entwickelt.294 Die Herabsetzung des Beweismaßes wird damit gerechtfertigt, dass die Rechtsdurchsetzung nicht an Beweis289 BGE 132 III 715 E. 3.2; 128 III 271 E. 2b/aa; 121 III 358 E. 5; 107 II 269 E. 1b; Juvet, in: Fuhrer/Chappuis (Hrsg.), Droit de la responsabilité civile et des assurances, 205–217, 208 ff. 290 BGE 133 III 153 E. 3.3; 132 III 379 E. 3.1. 291 BGE 132 III 379 E. 3.1; 122 III 219 E. 3a; 98 II 34 E. 2; 40 II 357 E. 4. 292 BGE 132 III 379 E. 3.1. 293 BGE 122 III 219 E. 3a. 294 BGE 130 III 321 E. 3.3.

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schwierigkeiten scheitern dürfe, die typischerweise bei bestimmten Sachverhalten aufträten.295 Das Bundesgericht geht jedoch weiter als die deutsche Rechtsprechung und verallgemeinert die Herabsetzung des Beweismaßes im Anschluss an Hohl auf alle Fälle, in denen eine »Beweisnot« vorliege.296 Eine »Beweisnot« liegt nach der Umschreibung des Bundesgerichts vor, »wenn ein strikter Beweis nach der Natur der Sache nicht möglich oder nicht zumutbar ist, insbesondere wenn die von der beweisbelasteten Partei behaupteten Tatsachen nur mittelbar durch Indizien bewiesen werden können. Eine Beweisnot liegt aber nicht schon darin begründet, dass eine Tatsache, die ihrer Natur nach ohne weiteres dem unmittelbaren Beweis zugänglich wäre, nicht bewiesen werden kann, weil der beweisbelasteten Partei die Beweismittel fehlen. Bloße Beweisschwierigkeiten im konkreten Einzelfall können nicht zu einer Beweiserleichterung führen.«297 Entscheidend ist, darauf wurde schon vorne, S. 223 f., hingewiesen, dass nicht zu erwarten ist, dass Beweismittel vorhanden sind. Eine Beweisnot in diesem Sinne liegt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung beispielsweise beim Beweis der Urteilsunfähigkeit einer verstorbenen Person vor.298 Wo man nach der Lebenserfahrung hingegen davon ausgehen darf, dass Beweismittel vorhanden sind, diese aber im konkreten Fall fehlen, ist das Fehlen der Beweismittel ein Hinweis darauf, dass sich der Sachverhalt nicht wie behauptet abgespielt hat. Das in den Fällen der »Beweisnot« anwendbare Beweismaß ist dasjenige der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit«.299 Dem Beweisgegner steht der Gegenbeweis offen, der erbracht ist, wenn es dem Beweisgegner gelingt, an der Darstellung der beweisbelasteten Partei »erhebliche Zweifel zu wecken«300 . Dies kann bei Entwendeversicherungen, bei denen es maßgeblich auf die Parteibehauptung des Klägers, die versicherte Sache sei entwendet worden, ankommt, bereits dadurch gelingen, dass die Glaubwürdigkeit der beweisbelasteten Partei in Zweifel gezogen wird, indem die Versicherungsgesellschaft nachweist, dass offenkundige Widersprüche und Ungereimtheiten zwischen den ersten Aussagen gegenüber den Ermittlungsbehörden und der späteren Sachdarstellung im gerichtlichen Verfahren bestehen.301 Wo das Beweismaß der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« Anwendung findet, »gilt ein Beweis als erbracht, wenn für die Richtigkeit der Sachbehauptung nach objektiven Gesichtspunkten derart gewichtige Gründe sprechen, dass andere denkbare Möglichkeiten vernünftigerweise nicht maßgeblich in Betracht 295

BGE 130 III 321 E. 3.2; 128 III 271 E. 2b/aa. BGE 130 III 321 E. 3.2 unter Hinweis auf Hohl, in: Schwander/Stoffel (Hrsg.), Beiträge zum schweizerischen und internationalen Zivilprozessrecht, 125–159, 151 f. 297 BGE 130 III 321 E. 3.2. 298 BGer, Urteil 5C.32/2004 vom 6. Oktober 2004, E. 3.2, mit Anmerkung Lorandi, ZZZ 2005, 297–298. 299 BGE 130 III 321 E. 3.2, 3.3. 300 BGE 130 III 321 E. 3.4, 3.5. 301 BGE 130 III 321 E. 5. 296

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fallen.«302 An anderer Stelle im gleichen Urteil spricht das Bundesgericht davon, dass sich »der Richter mit derjenigen Gewissheit zufrieden zu geben [hat], die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der Lebenserfahrung verlangt werden kann.«303 Letztere Formulierung scheint auf ein relatives Beweismaß hinzudeuten, dass sich aus den Beweisschwierigkeiten des konkreten Falles ergibt;304 ein relatives – das Bundesgericht spricht von »variablem« – Beweismaß lehnt das Bundesgericht mit der herrschenden Lehre aber ausdrücklich ab.305 Der Ausdruck der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« ist deshalb missverständlich, weil das Bundesgericht unter diesem Beweismaß mehr versteht als ein bloßes (noch so geringes) Übergewicht der Überzeugung zu Gunsten einer Seite.306 Dies wird klargestellt durch die Abgrenzung zur Glaubhaftmachung. Glaubhaft gemacht ist eine Tatsache schon dann, wenn für deren Vorhandensein gewisse Elemente sprechen, selbst wenn das Gericht noch mit der Möglichkeit rechnet, dass sie sich nicht verwirklicht haben könnte.307 »Demgegenüber sind die Anforderungen beim Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit höher: Die Möglichkeit, dass es sich auch anders verhalten könnte, schließt die überwiegende Wahrscheinlichkeit zwar nicht aus, darf aber für die betreffende Tatsache weder eine maßgebende Rolle spielen noch vernünftigerweise in Betracht fallen.«308 Dass 51% für eine »überwiegende Wahrscheinlichkeit« im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht genügen, ergibt sich aus einem Urteil vom 23. September 2008, in dem das Bundesgericht entschieden hatte, dass das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege der Klägerin aussichtslos sei, weil die ihr attestierte Arbeitsunfähigkeit gemäß medizinischem Sachverständigem lediglich mit einer Wahrscheinlichkeit von 51% auf den erlittenen Verkehrsunfall zurückzuführen war, und damit »nicht mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit«309 . In der Lehre wird das »Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit« mit einem Wahrscheinlichkeitsgrad von 75% illustriert.310 Besser würde man daher statt vom Beweismaß der überwiegenden

302

BGE 132 III 715 E. 3.1; 130 III 321 E. 3.3. BGE 132 III 715 E. 3.2.1. 304 Gemäß Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.90 f., bezieht sich diese Aussage nur auf die adäquate Kausalität, die eine Rechts-, keine Tatfrage ist. 305 BGE 130 III 321 E. 3.3 unter Hinweis auf Urteil 5C.99/2002 vom 12. Juni 2002, E. 2.4. 306 Amstutz/Keller/Reinert, Mitteilungen des Seminars für Schweizerisches Baurecht 2005, 114–121, 117; Kindscher, Schweizerische Ärztezeitung 2009, 1847–1849, 1847. 307 BGE 120 II 393 E. 4c; 104 Ia 408 E. 4; 88 I 11 E. 5a. 308 BGE 130 III 321 E. 3.3. 309 BGer, Urteil 4A_397/2008 vom 23. September 2008, E. 4.1. 310 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.123; Walter, Haftpflichtprozess 2009, 47–68, 54; KuKoZPO-Schmid, Vor Art. 150–193 N 13; Bühler, Jusletter 21. Juni 2010, Rz. 13; Dike-ZPO-Leu, Art. 157 N 62; Summermatter/Jacober, HAVE 2012, 136–149, 144; krit. Ileri, in: Schweizerische Gesellschaft für Haftpflicht- und Versicherungsrecht (Hrsg.), Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen, 273–288, 287; Berger/Nogler, recht 2012, 168–175, 173. 303

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Wahrscheinlichkeit von dem der »hohen« Wahrscheinlichkeit sprechen.311 Da das Bundesgericht sich in einem neueren Urteil für eine einheitliche Terminologie unter Verwendung des Begriffs der überwiegenden Wahrscheinlichkeit entschieden hat,312 wird es wohl vorläufig dabei bleiben. Der deutsche Leser muss sich einfach bewusst sein, dass »überwiegende Wahrscheinlichkeit«, wie der Begriff in der schweizerischen Rechtsprechung und weiten Teilen der Literatur verwendet wird, nicht dasselbe wie in Deutschland meint. Wie der deutsche BGH arbeitet auch das Bundesgericht nicht nur mit einer Herabsetzung der Anforderungen an den richterlichen Überzeugungsgrad, um den Beweisschwierigkeiten einer Partei Rechnung zu tragen, sondern auch mit tatsächlichen Vermutungen und Beweislastumkehrungen. So geht der Unterhaltsanspruch einer geschiedenen Partei gegenüber dem Ex-Gatten unter, wenn sie in einem so stabilen Konkubinat lebt, dass Beistand und Unterstützung vom Konkubinatspartner im gleichen Maß wie von einem Ehepartner erwartet werden können. Dies zu beweisen ist allerdings beinahe unmöglich und würde auch eine rechtspolitisch unerwünschte Einmischung des Staates in die Intimsphäre der betroffenen Bürger voraussetzen, weshalb das Bundesgericht eine tatsächliche Vermutung aufgestellt hat, dass ein Konkubinat, das bei Einleitung der Klage betreffend Abänderung des Scheidungsurteils schon mindestens fünf Jahre dauert, eheähnliche Wirkungen hat.313 Der Kläger muss nur die Vermutungsbasis, d. h. das seit mindestens fünf Jahren bestehende »Konkubinat im engeren Sinne«314 , zur vollen Überzeugung des Richters beweisen. Die tatsächliche Vermutung bewirkt nach dem Bundesgericht hier eine Beweislastumkehr, was wohl im Ergebnis zutreffend, dogmatisch aber unsauber ist (vorne, S. 375 ff.).315 Eine Umkehr der Beweislast nimmt das Bundesgericht auch an, wo der Beweisgegner der beweisbelasteten Partei den Beweis durch Verletzung einer Dokumentationspflicht vereitelt. Praktisch wichtig wurde diese Rechtsprechung bislang vor allem im Zusammenhang mit dem Nachweis geleisteter Überstunden durch den Arbeitnehmer, wenn den Arbeitgeber gemäß anwendbarem Gesamtarbeitsvertrag eine spezifische Dokumentationspflicht für Überstunden trifft und er dieser nicht nachkam (die Verletzung der »allgemein gehaltenen« Dokumentationspflicht nach Art. 73 Abs. 1 lit. c der Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz genügt gemäß Bundesgericht nicht).316 Ob die Verletzung der Dokumentationspflicht durch 311 Hohl, in: Schwander/Stoffel (Hrsg.), Beiträge zum schweizerischen und internationalen Zivilprozessrecht, 125–159, 154 f.; Leuenberger, ZBJV 2003, 637–677, 653; Beck, in: Murer (Hrsg.), Nicht objektivierbare Gesundheitsbeeinträchtigungen, 227–252, 243; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.120. 312 BGE 130 III 321 E. 3.3. 313 BGE 109 II 188 E. 2. 314 Zu den zu beweisenden Elementen BGE 118 II 235 E. 3. 315 Kritisch Meier, BJM 1989, 57–78, 75 f., der davon spricht, dass das Bundesgericht hier ohne gesetzliche Grundlage eine gesetzliche Vermutung geschaffen habe. 316 BGer, Urteil 4C.307/2006 vom 26. März 2007, E. 3.1.

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den behandelnden Arzt zu einer Beweislastumkehr führt, hat das Bundesgericht bislang ausdrücklich offen gelassen.317 Jedoch ist nicht zu beanstanden, wenn der beweisbelasteten Partei bei Verletzung der Dokumentationspflicht durch den Arzt »eine weitergehende, das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit reduzierende Beweiserleichterung«318 gewährt wird. Eine Beweislastumkehr für den Kausalzusammenhang zwischen Behandlungsfehler und körperlicher Beeinträchtigung bei grober Sorgfaltspflichtverletzung des behandelnden Arztes wird in der Schweiz anders als in Deutschland abgelehnt.319 Im Ergebnis zeigt sich in der Schweiz ein ähnliches Bild wie in Deutschland: dort, wo ein Beharren auf dem Regelbeweismaß der vollen Überzeugung dazu führen würde, dass viele Ansprüche nicht durchgesetzt werden könnten, werden der beweisbelasteten Partei Beweiserleichterungen gewährt. Für Landolt sind solche Beweiserleichterungen im Arzthaftungsprozess gar verfassungsrechtlich geboten.320 Rechtstechnisch wird dabei auch in der Schweiz mit Beweismaßsenkungen, tatsächlichen Vermutungen und Beweislastumkehr gearbeitet. Wenn man mit dem ganz breiten Pinsel malen will – und notwendigerweise in Kauf nimmt, die feinen Verästelungen der Doktrin und Praxis zu verwischen – kann man sagen, dass in Deutschland Beweismaßsenkungen im Sinne eines reduzierten richterlichen Überzeugungsgrades zurückhaltender gewährt werden als in der Schweiz, aber andererseits häufiger mit Beweislastumkehr gearbeitet wird. Im Resultat unterscheiden sich die Rechtsordnungen in Bezug auf das Beweismaß in Zivilsachen trotz dogmatischer Unterschiede und Feinheiten nicht grundlegend. d) Exkurs: Das Regelbeweismaß im schweizerischen Sozialversicherungsrecht Das eidgenössische Versicherungsgericht hat im Sozialversicherungsrecht in einer auf die Mitte der 1960-er Jahre zurückgehenden Praxis, die heute von den sozialversicherungsrechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts in Luzern weitergepflegt wird, ein vom Regelbeweismaß des Zivilprozessrechts abweichendes Regelbeweismaß geschaffen. Gemäß dieser Praxis ist das Regelbeweismaß im Sozialversicherungsrecht das Beweismaß der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit«.321 Die sozialversicherungsrechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts verstehen unter »überwiegender Wahrscheinlichkeit« zudem etwas anderes als die zivilrechtlichen Abteilungen, nämlich in der Tat ein »Übergewicht der Wahrscheinlichkeit« im Sinne des Überwiegensprinzips. 317

BGer, Urteil 4A_48/2010 vom 9. Juli 2010, E. 7.5.2. BGer, Urteil 4A_48/2010 vom 9. Juli 2010, E. 7.5.2. 319 Landolt, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Haftpflichtprozess 2011, 81–120, 111. 320 Landolt, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Haftpflichtprozess 2011, 81–120, 85 f., unter Berufung auf BVerfG NJW 1979, 1925 f. 321 BGE 138 V 218 E. 6; 126 V 353 E. 5b; 112 V 30 E. 1a; 105 V 225 E. 3a unter Hinweis auf unveröffentlichte Urteile vom 15. April 1964 i. S. Burgunder, vom 4. Mai 1965 i. S. Zurkirch und vom 30. April 1966 i. S. Augsburger. 318

III. Regelbeweismaß im Zivilverfahren

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Dies erhellt aus der Formulierung, welche die sozialversicherungsrechtlichen Abteilungen zur Umschreibung des Regelbeweismaßes der überwiegenden Wahrscheinlichkeit verwenden, und der Abgrenzung zur »stark überwiegenden Verursachung« im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Unfallversicherungsgesetz (UVG, SR 832.20).322 Das Regelbeweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit im Sozialversicherungsrecht ist erfüllt, wenn der Richter jener Sachverhaltsdarstellung (Gesamtheit der Tatsachenbehauptungen) folgt, die er von allen möglichen Geschehensabläufen als die wahrscheinlichste – »bei zwei möglichen Sachverhaltsvarianten: die wahrscheinlichere«323 – würdigt und zudem angenommen werden darf, dass weitere Beweismaßnahmen an diesem Ergebnis nichts mehr ändern (im Sozialversicherungsrecht gilt die Untersuchungsmaxime, Art. 43 Abs. 1, 61 lit. c ATSG).324 Die bloße Möglichkeit eines bestimmten Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen jedoch nicht.325 Eine »hohe« Wahrscheinlichkeit von 75% wird nicht verlangt, wie das Bundesgericht unmissverständlich klarstellt.326 Das tiefere Regelbeweismaß wird damit gerechtfertigt, dass Durchführungsorgane wie auch Sozialversicherungsrichter überfordert wären, »wenn sie im Rahmen der Massenverwaltung die für die Leistungsverhältnisse erheblichen Tatsachen in zivil- oder strafprozessualer Weise zum vollen Beweis erstellen müssten.«327 Zu einem Rauschen im Blätterwald hat eine Bemerkung des eidgenössischen Versicherungsgerichts in einem Urteil vom 19. Oktober 2001 geführt, gemäß dem bei mehr als zwei möglichen Ursachen die wahrscheinlichste Ursache nicht notwendigerweise mit mehr als 50% Wahrscheinlichkeit vorliegen müsse, und es zulässig sei, sich für die wahrscheinlichste Ursache zu entscheiden, selbst wenn deren Wahrscheinlichkeit unter 50% liege.328 Dies wird teilweise begrüßt,329 teilweise vehement abgelehnt.330 Die Logik befiehlt, dass es bei mehreren möglichen Ursachen in der Tat möglich ist, dass keine mehr als 50% wahrscheinlich ist. Dass dies »schon von einfachsten statistischen Überlegungen her gesehen« nicht denkbar ist, weil »eine Möglichkeit

322

Summermatter/Jacober, HAVE 2012, 136–149, 146 f. BGer, Urteil 9C_717/2009 vom 20. Oktober 2009, E. 3.3. 324 BGer, Urteil 9C_717/2009 vom 20. Oktober 2009, E. 3.3. 325 BGE 138 V 218 E. 6. 326 BGer, Urteil 9C_717/2009 vom 20. Oktober 2009, E. 3.3; Kieser, in: Riemer-Kafka (Hrsg.), Beweisfragen im sozialversicherungsrechtlichen Verfahren, 71–94, 88. 327 BGE 119 V 7 E. 3c/bb. 328 BGer, Urteil U 50/01 vom 19. Oktober 2001, E. 2b. Die I. zivilrechtliche Abteilung sieht darin keine Umschreibung des Beweismaßes, Urteil 4A_397/2008 vom 23. September 2008, E. 4.3. 329 Husmann/Kaufmann, Schweizerische Ärztezeitung 2009, 264–268, 266; Kieser, in: RiemerKafka (Hrsg.), Beweisfragen im sozialversicherungsrechtlichen Verfahren, 71–94, 89. 330 Steinegger, Schweizerische Ärztezeitung 2009, 1502, 1502; Summermatter/Jacober, HAVE 2012, 136–149, 147. 323

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Fünfter Teil: Beweismaß

[. . . ] nicht zur Wahrscheinlichkeit mutieren [kann]«331 , ist Unsinn. Es ist denkbar, dass von drei Möglichkeiten zwei je zu 33% wahrscheinlich sind und die dritte zu 34%, und dann ist letzere die wahrscheinlichste Möglichkeit. Aber wann ist es auch zulässig, sich für diese Ursache zu entscheiden, obwohl sie weniger als 51% wahrscheinlich ist? Die Antwort der Entscheidungstheorie lautet: Wenn es sicher ist, dass alle möglichen Ursachen bedacht wurden. Dann ist die Ursache mit der höchsten Wahrscheinlichkeit, egal wie gering diese ist, per definitionem unter allen Ursachen diejenige mit der höchsten Wahrscheinlichkeit, und sich für sie zu entscheiden, minimiert die Wahrscheinlichkeit, einen Fehler zu machen.332 Anders, wenn man sich nicht sicher ist, ob man alle Ursachen bedacht hat: dann ist nur die Ursache, die mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% vorliegt, mit Sicherheit wahrscheinlicher als alle anderen Ursachen – denn wenn eine Ursache zu mehr als 50% wahrscheinlich ist, kann es keine andere Ursache geben, die wahrscheinlicher ist. Bei unklaren Krankheitsbildern wie Kopfschmerzen und Gleichgewichtsstörungen, die zahlreiche Ursachen haben können, die man nicht alle kennt, ist es daher rational, eine Ursache – z. B. ein HWS-Schleudertrauma nach einem Verkehrsunfall – nur dann als überwiegend wahrscheinlich zu erachten, wenn sie zu mehr als 50% wahrscheinlich ist. Sind die beobachteten Symptome andererseits eindeutig nur auf die bedachten Möglichkeiten rückführbar, ist es rational, sich für die wahrscheinlichste der in Frage kommenden Möglichkeiten zu entscheiden, auch wenn diese weniger als 50% wahrscheinlich ist. Dem kontroversen Urteil des eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 19. Oktober 2001 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beschwerdeführer litt an einer Degeneration des Kleinhirns. Strittig war, ob die Ursache der Degeneration auf einen Zeckenbiss, Stürze beim Skifahren oder eine Krankheit zurückzuführen war. Relevant ist diese Frage, weil Zeckenbiss und Stürze beim Skifahren als Unfälle im Sinne von Art. 6 UVG gelten und eine Leistungspflicht des Unfallversicherers auslösen. Nach den Erwägungen des eidgenössischen Versicherungsgerichts waren nur die drei genannten Möglichkeiten denkbar.333 Grundsätzlich ist es daher hier gemäß der normativen Entscheidungstheorie rational, sich für die wahrscheinlichste Ursache zu entscheiden, auch wenn deren Wahrscheinlichkeit unter 50% liegt. Allerdings liegt der Fall insofern speziell, als zwei der drei möglichen Ursachen zur Leistungspflicht des Unfallversicherers führen, nämlich die Stürze beim Skifahren und der Zeckenbiss. Relevant ist daher einzig, ob die Wahrscheinlichkeit, dass ein Sturz oder ein Zeckenbiss die Symptome verursacht hat, größer als die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung ist. 331

Steinegger, Schweizerische Ärztezeitung 2009, 1502, 1502. Wer einen mathematischen Beweis für diese eher trivialen Überlegungen braucht, sei auf Kaye, Law & Social Inquiry 1982, 487–516, 503 ff., verwiesen. 333 BGer, Urteil U 50/01 vom 19. Oktober 2001, E. 2a. 332

III. Regelbeweismaß im Zivilverfahren

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I. c. schloss das Versicherungsgericht die Möglichkeit, dass die Stürze die Degeneration verursacht hatten, aus, so dass es sich im Ergebnis nur zwischen zwei möglichen Ursachen entscheiden musste.334 Die Erwägungen in E. 2b blieben daher obiter dictum. Man kann den Sachverhalt aber einfach ergänzen, um zu einem Fall zu gelangen, in dem es in der Tat richtig ist, sich für die wahrscheinlichste Ursache zu entscheiden, selbst wenn deren Wahrscheinlichkeit unter 50% liegt: Angenommen, der Beschwerdeführer wäre von einem identifizierten Dritten beim Skifahren zum Sturz gebracht worden. Wäre der Sturz Ursache seiner Beschwerden, müsste der Dritte, respektive falls vorhanden dessen Haftpflichtversicherer, den Schaden nach Art. 41 Abs. 1 OR ersetzen. Jede Ursache führt nun zur Haftung einer anderen Person. Es ist vernünftig, sich für die Haftung derjenigen Person zu entscheiden, die den Schaden am wahrscheinlichsten verursacht hat. Wer mit diesem Ergebnis Mühe hat, weil es zur Haftung einer Person führen kann, obwohl diese nur mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von 34% den Schaden verursacht hat, beantworte die Frage, welche andere Lösung denn vernünftig wäre. Wenn niemand haftet, muss die (obligatorische) Krankenversicherung zahlen, und weshalb dies richtiger sein soll, als den wahrscheinlichsten Verursacher zahlen zu lassen, ist nicht einleuchtend. Kieser schlägt für Sachverhalte, bei denen zwischen mehr als zwei Varianten entschieden werden muss, ein zweistufiges Vorgehen vor. In einem ersten Schritt wird der wahrscheinlichste Sachverhalt ausgewählt, dessen Wahrscheinlichkeit auch unter 50% liegen kann.335 In einem zweiten Schritt wird der als wahrscheinlichste beurteilte Sachverhalt daraufhin untersucht, »ob der entsprechenden Überzeugung allenfalls fassbar gemachte konkrete Einwände entgegenstehen, welche bei dieser zweiten Phase klar ausschliessen, dass die zunächste als am wahrscheinlichsten erkannte Variante abgestellt wird.«336 Gegen ein solches Vorgehen spricht dann nichts, wenn man in dem Fall, dass die Prüfung auf zweiter Stufe ergeben hat, dass die vorerst als wahrscheinlichste Variante weniger wahrscheinlich als zuerst gedacht ist, auf die erste Stufe zurückkehrt und nun diejenige Variante, die jetzt die wahrscheinlichste ist, näher prüft. Denn wenn man alle denkbaren Varianten in der ersten Stufe geprüft hat, muss die Zuschreibung einer geringeren Wahrscheinlichkeit zu einer Variante denknotendig dazu führen, dass eine oder mehrere der anderen Varianten wahrscheinlicher geworden sind.

334

BGer, Urteil U 50/01 vom 19. Oktober 2001, E. 2c. Kieser, in: Riemer-Kafka (Hrsg.), Beweisfragen im sozialversicherungsrechtlichen Verfahren, 71–94, 89. 336 Kieser, in: Riemer-Kafka (Hrsg.), Beweisfragen im sozialversicherungsrechtlichen Verfahren, 71–94, 89. 335

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Fünfter Teil: Beweismaß

3. Zusammenfassung Sowohl in der Schweiz wie in Deutschland gilt in Zivilsachen grundsätzlich das Regelbeweismaß der »vollen Überzeugung«, das erreicht ist, wenn der Richter mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad der Gewissheit vom Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen überzeugt ist. Soweit sich dieser Überzeugungsgrad in einem numerischen Wert ausdrücken lässt, muss er 90% übersteigen. Lehre und Rechtsprechung verschließen sich nicht vor der Erkenntnis, dass durch dieses hohe Regelbeweismaß die Rechtsdurchsetzung in zahlreichen Fällen praktisch verunmöglicht würde, und sehen deshalb für bestimmte Fallkonstellationen, in denen der notwendige Grad der Gewissheit typischerweise kaum erreicht werden kann, Beweiserleichterungen vor. Diese können in Beweismaßsenkungen bestehen – so beim Kausalitätsbeweis oder beim Beweis des Versicherungsfalls bei Entwendeversicherungen –, in einer Beweislastumkehr, wie zum Beispiel bei der Verletzung von Dokumentationspflichten durch den angeblichen Schuldner, oder in tatsächlichen Vermutungen wie z. B. der Vermutung, dass eine Schutznormverletzung kausal für den nachgewiesenen Schaden ist.

IV. Eigene Ansicht 1. Das Regelbeweismaß in Zivilsachen ist die überwiegende Überzeugung Nutzen ist entscheidungstheoretisch als Grad der Zielerreichung definiert, der bei der Wahl der Alternative erwartungsgemäß realisiert wird.337 Entsprechend kann man Kosten als Grad, in dem das Ziel bei der Wahl der Alternative erwartungsgemäß verfehlt wird, definieren. Um den Nutzen oder die Kosten eines gerichtlichen Urteils in der Sache, d. h. einer in materielle Rechtskraft erwachsenden Entscheidung, beurteilen zu können, muss man sich daher Klarheit darüber verschaffen, welche Ziele mit dem Sachurteil in einem Zivilverfahren verfolgt werden. Dazu ist Zweck, oder besser gesagt, die Zwecke, des Zivilverfahrens zu untersuchen.338 Seit der Überwindung des römisch-rechtlichen Aktionendenkens, die wissenschaftlich besiegelt wurde durch Bernhard Windscheid, wird im modernen Recht zivilistischer Prägung zwischen Anspruch und Klage unterschieden. Nach der berühmten Formulierung von Windscheid ist »das Recht das Prius, die Klage das Spätere, das Recht das Erzeugende, die Klage das Erzeugte.«339 Der Versuch 337 Baron, Thinking and deciding, 234; Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 33 f. 338 Einen aktuellen Überblick zum Meinungsstand bietet Althammer, Streitgegenstand und Interesse, 238 ff.; für die ältere Lehre Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, 48 ff. 339 Windscheid, Actio, 3.

IV. Eigene Ansicht

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von Julius Binder, in einer Kehrtwendung dem Rechtsschutz wieder das Primat zuzusprechen und »die Klage zum Prius« zu machen, blieb erfolglos.340 Die Trennung von Anspruch und Klage ist grundlegend für das moderne Rechtsdenken. Nach dem Trennungsdenken entsteht ein Anspruch unabhängig von seiner prozessualen Durchsetzung, wenn die vom materiellen Recht für die Entstehung des Rechts als maßgeblich bestimmten Tatsachen vorliegen. Die Aufgabe des Prozesses ist nicht mehr eine die Rechtslage konstituierende, sondern wird als eine auf ihre Verwirklichung zielende angesehen.341 Das Individuum, dessen subjektives Recht von Dritten nicht anerkannt wird, darf den Staat anrufen und dessen Hilfe bei der Durchsetzung des Rechts erbitten.342 Der primäre Zweck des Zivilprozesses ist folglich die Durchsetzung des materiellen Rechts. Diese Sicht auf das Prozessrecht als dem materiellen Recht dienend ist unter dem Trennungsdenken unausweichlich.343 Entsprechend ist die Auffassung, dass primärer Zweck des Zivilprozesses die Durchsetzung des materiellen Privatrechts im Interesse der Parteien ist, heute ganz herrschend sowohl in Deutschland344 wie in der Schweiz345 . Ein langwährender Streit besteht in der Frage, ob der Prozesszweck in der Bewährung des objektiven Rechts oder dem Schutz subjektiver Rechte zu sehen ist. Während die einen die Bewährung der objektiven Rechtsordnung als den überragenden Zweck des Zivilprozesses betrachten,346 betonen andere, dass der Schutz subjektiver Rechte einziger Zweck des Prozesses sei.347 Der Unterschied verliert seine Schärfe, wenn man richtigerweise unter dem Schutz subjektiver Rechte »nicht nur die Durchsetzung des Klägerrechts, sondern auch den Schutz des Beklagten vor unberechtigter Inanspruchnahme begreift.«348 Für die hier interessierende Frage nach dem Grad der Zielerreichung durch ein Urteil, dessen 340

Binder, Prozeß und Recht, 12, 333. Zöllner, AcP 1990, 471–495, 476; Rosenberg/Gottwald/Schwab, Zivilprozessrecht, § 151 Rz. 5 f.; MüKo-ZPO-Gottwald, § 322 N 7; Musielak-ZPO-Musielak, § 322 N 4. 342 Windscheid, Actio, 3. 343 Zöllner, AcP 1990, 471–495, 746, gleichzeitig die strikte Trennung kritisierend, a. a. O., 477 ff. 344 BGHZ 10, 350, 359; BGH NJW 1962, 1820; Baur, in: Universität Tübingen (Hrsg.), Summum ius summa iniuria, 97–116, 103; Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 215; Gaul, in: Yildirim (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen, 68– 96, 79; Jacobs, Der Gegenstand des Feststellungsverfahrens, 184 ff.; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, 250. 345 BGE 116 II 215 E. 3; Meier, in: Schlosser (Hrsg.), Materielles Recht und Prozessrecht, 1–112, 30; Botschaft ZPO, BBl 2006 7221, 7230; Vogel et al., Grundriss des Zivilprozessrechts, § 1 Rz. 1; Berti, Einführung in die ZPO, Rz. 27. 346 Wach, Handbuch des deutschen Civilprozessrechts, 3 ff.; Boor, Die Auflockerung des Zivilprozesses, 1 f., 35; Schönke, AcP 1949, 216–234, 216; Sauer, Prozessrechtslehre, 7. 347 Baur, in: Universität Tübingen (Hrsg.), Summum ius summa iniuria, 97–116, 103; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 3 f.; Jacobs, Der Gegenstand des Feststellungsverfahrens, 184 f.; Rosenberg/Gottwald/Schwab, Zivilprozessrecht, § 1 Rz. 9; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, 242, 250; vermittelnd Thiere, Wahrung überindividueller Interessen, 367 ff. 348 Gaul, in: Yildirim (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen, 68–96, 79. 341

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Fünfter Teil: Beweismaß

Sachverhaltsrekonstruktion nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, kann man mit Gaul rhetorisch fragen, wie zwischen Verwirklichung des objektiven Rechts und der Durchsetzung subjektiver Rechte ein Widerspruch bestehen sollte.349 Im erfolgreichen Individualrechtsschutz liegt immer auch eine Bewährung des objektiven Rechts, der Zweck des Prozesses, das materielle Recht zu verwirklichen, ist daher immer ein »sowohl-als-auch«.350 Ob sich für andere Fragen, z. B. der nach dem Rechtsschutzinteresse, unterschiedliche Folgerungen aus dem Verständnis des Prozesszwecks als Bewährung des objektiven Rechts ergeben, möchte ich ausdrücklich offen lassen.351 Sieht man den Zweck des Zivilprozesses in der Verwirklichung des materiellen Rechts, dann wird dieses Ziel vollumfänglich erreicht, wenn ein tatsächlich bestehendes subjektives Recht geschützt wird und ein tatsächlich nicht bestehendes subjektives Recht nicht geschützt wird, denn nach richtiger Auffassung umfasst der Schutz subjektiver Rechte auch den Schutz des Beklagten vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme.352 Gleichzeitig bewährt sich durch ein richtiges Urteil, egal ob damit der Anspruch verneint oder bejaht wird, die objektive Rechtsordnung,353 weshalb der Streit darüber, ob die Durchsetzung subjektiver Rechte oder die Bewährung des objektiven Rechts Prozessziel ist, für das Beweismaß ohne Belang ist. Aus Sicht des Prozesszwecks der Rechtsdurchsetzung entstehen durch ein korrektes Urteil keine Kosten, da das Ziel nicht, auch nicht teilweise, verfehlt wird. Wird durch ein Sachurteil jedoch ein Anspruch geschützt, der tatsächlich nicht bestand, weil die dem Urteil zugrundeliegende Sachverhaltsrekonstruktion nicht der Wirklichkeit entspricht, so wird das Ziel der Durchsetzung materiellrechtlicher Ansprüche ebenso verfehlt wie wenn ein tatsächlich nicht bestehender Anspruch durchgesetzt wird. In beiden Fällen trägt das Urteil nichts dazu bei, das Prozessziel zu erreichen. Das Ziel, egal ob es in der Verwirklichung subjektiver Rechte oder der Bewährung der objektiven Rechtsordnung gesehen wird, wird in beiden Fällen vollumfänglich verfehlt. Es ist nicht ersichtlich, wie unter dem Gesichtspunkt der Zielerreichung ein Fehler 1. Art (Schutz eines nicht bestehenden Anspruchs) schwerer wiegen sollte als ein Fehler 2. Art (kein Schutz eines bestehenden Anspruchs). Nun ist es offensichtlich so, dass der Prozess seinen Zweck, dem materiellen Recht zum Durchbruch zu verhelfen, nicht immer erfüllt, und der Gesetzgeber bewusst Normen geschaffen hat, die dem Zweck der materiellen Rechtsver349

Gaul, AcP 1968, 27–62, 47. Baur, in: Universität Tübingen (Hrsg.), Summum ius summa iniuria, 97–116, 103; Pawlowski, ZZP 1967, 345–391, 347; Gaul, AcP 1968, 27–62, 46 f.; Jauernig, JUS 1971, 329–334, 332; Rödig, Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 43 f., 47; Thiere, Wahrung überindividueller Interessen, 367 ff.; MüKo-ZPO-Rauscher, Einl. N 8 f.; Sutter-Somm, Zivilprozessrecht, Rz. 1 ff. 351 Siehe dazu Althammer, Streitgegenstand und Interesse, 243 f. 352 Gaul, in: Yildirim (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen, 68–96, 79. 353 Schilken, in: Meller-Hannich (Hrsg.), Kollektiver Rechtsschutz im Zivilprozess, 21–52, 24. 350

IV. Eigene Ansicht

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wirklichung entgegenstehen.354 Präklusionsfristen, prozessuale Lasten wie die Behauptungs-, Bestreitungs- und Substanziierungslast oder der Bestandesschutz auch fehlerhafter materiell rechtskräftiger Urteile führen dazu, dass eine Partei ihr (tatsächlich bestehendes) subjektives Recht endgültig nicht durchsetzen kann, weil sie einen Kostenvorschuss nicht bezahlt, erhebliche Tatsachenbehauptungen oder Beweismittel nicht oder verspätet vorgetragen oder gegnerische Behauptungen nicht bestritten hat. Normen, die zum endgültigen Prozessverlust trotz bestehendem Anspruch führen, stehen im Widerspruch zum Zweck der Verwirklichung des materiellen Rechts. Es ist deshalb weithin anerkannt, dass der Prozess neben der Verwirklichung des materiellen Rechts auch einen Rechtsfriedenszweck oder eine Konfliktlösungsfunktion hat (besser: Konfliktbeendigungsfunktion, denn ob der Konflikt einvernehmlich oder hoheitlich beendet wurde, spielt keine Rolle).355 Umstritten ist, ob der Rechtsfrieden ein selbständiger Zweck des Prozesses oder eine Folgewirkung der definitiven Durchsetzung des subjektiven Rechts ist.356 Das Ziel der Konfliktbeendigung verlangt nach einem Verfahren, das den Konflikt der Parteien möglichst schnell, kostengünstig und endgültig löst. Dies steht in einem offensichtlichen Widerspruch mit dem Ziel der materiellen Rechtsverwirklichung.357 Die Rechtsverwirklichung verlangt eine wirklichkeitsgetreue Sachverhaltsrekonstruktion, was für eine umfassende Zulassung aller Angriffsund Verteidigungsmittel ungeachtet der dadurch bewirkten Kosten und Verzögerungen spricht. Das Ziel der Konfliktlösung andererseits wird auch durch ein inhaltlich falsches Urteil, das materielle (innere) Rechtskraft genießt, erreicht.358 Da sich beide Ziele nicht gleichzeitig optimal verwirklichen lassen, musste der Gesetzgeber eine Güterabwägung treffen und einen Kompromiss finden, der weder das eine noch das andere Ziel vollständig aufgibt.359 Für die hier einzig interessierende Frage der Zielerreichung durch ein materiell rechtskräftiges Sachurteil, das auf einem falschen Sachverhalt beruht, ist festzuhalten, dass das Konfliktlösungsziel sowohl durch ein Urteil, das einen tatsächlich bestehenden Anspruch fälschlicherweise nicht schützt, als auch durch ein Urteil, das einen tatsächlich nicht bestehenden Anspruch fälschlicherweise schützt, im 354

Statt aller Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, 58. Statt aller Althammer, Streitgegenstand und Interesse, 243 ff. Rosenberg/Gottwald/Schwab, Zivilprozessrecht, § 1 Rz. 11, unterscheiden zwischen hoheitlicher Beendigung des Konflikts (Rechtsfrieden) und einvernehmlicher Konfliktlösung. 356 Für selbständig Schönke, AcP 1949, 216–234, 216; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, 245 f.; dagegen Gaul, AcP 1968, 27–62, 59; Gaul, in: Yildirim (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen, 68–96, 84; Schilken, in: Meller-Hannich (Hrsg.), Kollektiver Rechtsschutz im Zivilprozess, 21–52, 28 f.; Rosenberg/Gottwald/Schwab, Zivilprozessrecht, § 1 Rz. 10. 357 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, 246. 358 Schönke, AcP 1949, 216–234, 216, leitet aus der Möglichkeit sachlich unrichtiger materiell rechtskräftiger Urteile gar das Prozessziel des Rechtsfriedens ab; kritisch Gaul, AcP 1968, 27–62, 57 ff.; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, 244. 359 So für die Schweiz ausdrücklich Botschaft ZPO, BBl 2006, 7245. 355

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Fünfter Teil: Beweismaß

gleichen Maße erreicht wird. In beiden Fällen wird der Konflikt, vorbehältlich der Wiederaufnahme (Revision nach schweizerischer Terminologie), endgültig beendet. Da das Ziel der Konfliktlösung weder durch einen Fehler 1. Art (Schutz eines nicht bestehenden Anspruchs) noch durch einen Fehler 2. Art (kein Schutz eines bestehenden Anspruchs) verfehlt wird, entstehen durch keine der beiden Fehlurteile Kosten. Der Nutzen eines Fehlurteils ist aus Sicht des Rechtsfriedens zudem gleich groß wie der Nutzen eines materiell richtigen Urteils – aus Sicht des Rechtsfriedens reicht jeglicher verbindliche Richterspruch aus.360 Der erhebliche Aufwand, der betrieben wird, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass ein Urteil gefällt wird, das auf wahren Tatsachenbehauptungen beruht, zeigt, dass das Rechtssystem den Nutzen eines materiell richtigen Urteils höher gewichtet als den Nutzen eines Fehlurteils. Wäre es anders, könnte der Konflikt rein dezisionistisch entschieden werden. Letzterer Gedanke zeigt, dass die Behauptung, Rechtsfrieden sei das einzige Ziel des Urteils, falsch ist.361 Als Prozesszwecke werden weiter die Legitimation durch Verfahren362 und die Rechtsfortbildung363 genannt. Legitimation durch Verfahren und die Fortbildung des Rechts sind Wirkungen, die der Prozess tatsächlich erzeugt. Daraus kann man aber nicht folgern, dass sie gesollte Zwecke des Prozesses sind.364 Sie sind Nebenfolgen der Hauptzwecke des Zivilverfahrens, der Durchsetzung des materiellen Rechts und der Konfliktlösung. Für die Bestimmung der normativjuristischen Kosten und Nutzens eines endgültigen Sachurteils im Zivilverfahren sind sie nicht maßgeblich. Zusammenfassend ergibt sich daher, dass Prozesszwecke des Zivilverfahrens die Verwirklichung des materiellen Rechts und des Rechtsfriedens, verstanden als die endgültige Beendigung des Konflikts zwischen privaten Parteien, sind. Das Ziel des Rechtsfriedens wird durch ein Urteil, das einen nicht gegebenen Anspruch schützt, im gleichem Maße verwirklicht wie durch ein Urteil, das einen gegebenen Anspruch nicht schützt, während der Zweck der Rechtsverwirklichung bei beiden Arten von Fehlurteilen im gleichen Umfang verfehlt wird. Daraus folgt, dass die Kosten, verstanden als Grad der Zielverfehlung, einer fälschlichen Gutheißung einer Klage gleich hoch sind wie die Kosten einer fälschlichen Abweisung einer Klage. Das Beweismaß, das die Kosten, oder den Grad der Zielverfehlung, minimiert, ist daher das Beweismaß der überwiegenden Überzeugung. Der Richter hat seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde zu legen, den er eher für wahr hält. Eine Abweichung von diesem Regelbeweismaß der 360

Schilken, in: Meller-Hannich (Hrsg.), Kollektiver Rechtsschutz im Zivilprozess, 21–52, 28. So aber Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil, 62 ff. 362 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 11 ff., 55 ff. 363 Pawlowski, ZZP 1967, 345–391, 363 ff. 364 Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, 53; Rödig, Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 41 ff.; Gaul, in: Gerhardt et al. (Hrsg.), Festschrift für Wolfram Henckel, 235–271, 239; Gaul, in: Yildirim (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen, 68–96, 72 f. 361

IV. Eigene Ansicht

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überwiegenden Überzeugung ist in Verfahren, die auf ein materiell rechtskräftiges Sachurteil gerichtet sind, nur gerechtfertigt, wo das materielle Rechts selbst mit einer offenen Norm eine Zielgröße vorgibt, die der Richter durch das Urteil zu optimieren hat (hinten, S. 489). Die hier vertretene Auffassung hat zwei wesentliche Konsequenzen: Erstens wird der modernen rechtsökonomischen Analyse des Beweismaßes als Mittel zur Erreichung des Effizienzziels nicht gefolgt.365 Zweitens wird die Berücksichtigung der individuellen Fähigkeit der Parteien, ein Fehlurteil zu verkraften (»sozioökonomische Risikotragfähigkeit«366 ), abgelehnt. Beide Konsequenzen sind näher zu begründen. Die Ökonomik geht davon aus, dass der Mensch in rationaler Weise seinen eigenen Nutzen maximiert, d. h. bei gegebenen Restriktionen diejenige Alternative wählt, die seine (stabilen) Präferenzen optimal verwirklicht.367 Oder, um das Programm der Ökonomik auf den allerkürzesten Nenner zu bringen: Anreize steuern menschliches Verhalten in vorhersehbarer (»systematischer«368 ) Weise (»incentives matter«369 ). Rechtsnormen werden dahingehend analysiert, ob die durch sie geschaffenen Anreize (Restriktionen) unter Annahme rationalen Verhaltens der Rechtsunterworfenen dazu führen, dass das Ziel der Rechtsordnung erreicht wird,370 wobei Ziel der Rechtsordnung, dies das wohl umstrittenste Postulat der Ökonomik, die Effizienz oder soziale Wohlfahrt ist.371 Das Beweismaß ist zwar eine Entscheidungsregel, die sich an den Richter wendet, hat aber darüber hinaus Auswirkungen auf alle Rechtsunterworfenen. Aus Sicht der Ökonomik ist das Beweismaß optimal, wenn die durch die Höhe des Beweismaßes geschaffenen Anreize dazu führen, dass das Effizienz- oder Wohlfahrtsziel erreicht wird.372 Abgestellt wird nach dieser Sicht also nicht darauf, ob das Beweismaß dem Prozessziel dient, sondern ob es dem übergeordneten Effizienzziel dient. Die Analyse des Beweismaßes unter diesem Blickwinkel führt nach derzeitigem Forschungsstand dazu, dass das optimale Beweismaß von Faktoren abhängt, die sich empirisch nicht oder kaum messen lassen, weshalb sich keine konkreten Anforderungen an das Beweismaß im Sinne einer Quantifizierung 365 Z. B. Demougin/Fluet, European Economic Review 2006, 963–976; Fluet, International Review of Law and Economics 2010, 1–9; Kaplow, Yale Law Journal 2012, 738–859, 756 ff. 366 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 243 f. 367 Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, 3 f.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 58 ff.; Kirchgässner, Homo oeconomicus, 12 f.; Towfigh, in: Towfigh/Petersen (Hrsg.), Ökonomische Methoden im Recht, 23–34, 24 f. 368 Kirchgässner, Homo oeconomicus, 17 f. 369 Gwartney/Stroup/Sobel, Economics, 10. 370 Z. B. Becker, Journal of Political Economy 1968, 169, ein Klassiker der Rechtsökonomie. 371 Dazu Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 169 ff.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 31 ff.; Towfigh, in: Towfigh/Petersen (Hrsg.), Ökonomische Methoden im Recht, 23–34, 31 f. 372 Wagner, in: Bork/Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Verfahrensrechts, 156–193, 172 f.

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Fünfter Teil: Beweismaß

der Entscheidungsgrenze aufstellen lassen.373 Der hier vertretene Ansatz ist kein rechtsökonomischer in dem Sinne, dass das Beweismaß als Mittel zur Erreichung eines Effizienz- oder Wohlfahrtsziels gesehen wird. Es wird vielmehr angenommen, dass dem materiellen Recht, das dem Individuum ein subjektives Recht gewährt, Wertentscheidungen zugrunde liegen, die im Rahmen des Prozesses zu respektieren sind. Ein optimaler Zivilprozess ist ein Prozess, der den im materiellen Recht verkörperten Wertvorstellungen bestmöglich Beachtung verschafft. Ob es aus wohlfahrtsökomischen Überlegungen geboten ist, gewisse materielle Rechtsnormen einfacher oder schwerer durchsetzbar zu machen, bleibt bei dieser Betrachtung unbeachtlich. Die Steuerung menschlichen Verhaltens außerhalb des Verfahrens ist Aufgabe des materiellen Rechts. Aus dieser Konzeption folgt auch, dass die sozio-ökonomische Risikotragfähigkeit der konkreten Parteien nicht relevant für die Bestimmung des Beweismaßes ist. Die Ansicht einiger Vertreter des Überwiegensprinzips, dass die individuelle Schadenstragungsfähigkeit berücksichtigt werden müsse, hat dem Überwiegensprinzip viel berechtigte Kritik eingetragen.374 In der Tat leuchtet es nicht ein, dass jemand, der eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen hat, bereits bei geringerer Überzeugung des Richters für die Verwirklichung der anspruchsbegründenden Tatsachen haften soll, weil ihn eine zu Unrecht bejahte Haftung weniger hart trifft als eine nicht versicherte natürliche Person.375 Innerhalb des hier vertretenen Ansatzes ergibt sich dies daraus, dass dem materiellen Recht keine Anhaltspunkte zu entnehmen sind, die darauf schließen lassen würden, dass der Gesetzgeber für Klagen gegen Personen mit hoher sozio-ökonomischer Risikotragfähigkeit ein geringeres Beweismaß vorgesehen hat. Personen mit typischerweise geringer sozio-ökonomischer Risikotragfähigkeit wie Verbraucher haben besondere subjektive Rechte wie z. B. ein zeitlich befristetes Widerrufsrecht bei Verträgen mit Unternehmern (§ 361a BGB) oder eine zwingende Mindestdauer der Gewährleistungsfrist beim Kauf von Verbrauchsgütern von gewerblichen Anbietern (§ 475 BGB; Art. 210 Abs. 4 OR). Dem Gesetzgeber ist auch bewusst, dass sozial schwächere Personen für die Durchsetzung ihrer Rechte eines besonderen Schutzes bedürfen, weshalb für Verbraucher und Arbeitnehmer verschiedene Verfahrenswohltaten wie Klägergerichtsstände376 und Befreiung von den Verfahrenskosten unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit377 vorgesehen sind. Aber der 373

Kaplow, Yale Law Journal 2012, 738–859, 762 ff., 771. Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 109; Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 255 f.; Prütting, Beweislast, 78; AK-ZPO-Rüßmann, § 286 N 19. 375 So aber Maassen, Beweismaßprobleme, 160 f. und Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 244. 376 Übersicht für Deutschland bei Kleinknecht, Die verbraucherschützenden Gerichtsstände, 5 ff.; für die Schweiz Art. 32, 34 ZPO-CH. 377 So in der Schweiz generell für arbeitsrechtliche Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von Fr. 30’000, Art. 114 lit. c ZPO-CH. In Deutschland sind Verfahren vor Arbeitsgericht nicht generell kostenfrei, aber die Gerichtsgebühr ist ein Drittel geringer als vor Zivilgericht (VV 374

IV. Eigene Ansicht

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Gesetzgeber hat in Kenntnis der besonderen Schutzbedürftigkeit bestimmter Personengruppen nicht vorgesehen, ihnen die Durchsetzung ihrer Rechte durch eine Senkung des Beweismaßes zu erleichtern. Vom Prozessziel der Verwirklichung des materiellen Rechts wird nicht durch eine Änderung des Beweismaßes zugunsten anderer Ziele, wie des Sozialschutzes, abgewichen. Jenes Ziel aber wird durch das Beweismaß der überwiegenden Überzeugung am besten erreicht. Eine Abweichung vom Beweismaß der überwiegenden Überzeugung in Verfahren, die auf ein materiell rechtskräftiges Sachurteil abzielen, ergibt sich dort, wo das materielle Recht selbst die Optimierung einer Zielgröße anstrebt. Dies ist beispielsweise beim Kindeswohl im Kindes- und Familienrecht der Fall. So gilt gemäß § 1697a BGB das »Kindeswohlprinzip«:»Soweit nichts anderes bestimmt ist, trifft das Gericht in Verfahren über die in diesem Titel [sc. elterliche Sorge] geregelten Angelegenheiten diejenige Entscheidung, die unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie der berechtigten Interessen der Beteiligten dem Wohl des Kindes am besten entspricht.« In der Schweiz gibt es keine entsprechende Grundsatznorm, aber der Schutz des Kindeswohls als Leitprinzip des Kindesrechts ist unbestritten.378 Wo der Richter nicht sicher sein kann, welche Entscheidung das Kindeswohl maximiert, wird er daher sowohl das Ausmaß der möglichen Gefährdung als auch die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Gefährdung berücksichtigen müssen. Dies kann dazu führen, einem Elternteil die elterliche Sorge zu entziehen, wenn die potentielle Gefährdung sehr schwer ist, obwohl es überwiegend wahrscheinlich ist, dass sie sich bei Zuteilung (oder Belassung) der elterlichen Sorge bei diesem Elternteil nicht verwirklichen wird. Zusammenfassend ergibt sich daher ein Regelbeweismaß in Zivilsachen, das ich als überwiegende Überzeugung bezeichnen möchte. Durch Vermeidung des Ausdrucks »überwiegende Wahrscheinlichkeit« wird insbesondere klargestellt, dass es sich dabei nicht um ein »objektives« Beweismaß im Sinne der in den 1970-er Jahren in Deutschland vorgeschlagenen Konzeption des Überwiegensprinzips handelt. Maßgeblich bleibt die subjektive, aber rational gebildete, Überzeugung des Richters. Dieses Regelbeweismaß lässt sich mit der folgenden Formel umschreiben: Der Richter erachtet die anspruchsbegründenden Tatsachenbehauptungen für wahr, wenn er überzeugt ist, dass sie eher wahr als falsch sind.

Sind mehrere Tatsachenbehauptungen strittig, kann es nach diesem Beweismaß durchaus notwendig sein, dass jede einzelne Behauptung zur vollen Überzeugung des Gerichts – verstanden als ein Überzeugungsgrad von über 90% – wahr ist, damit die Überzeugung, dass alle Tatsachenbehauptungen wahr sind, 50% übersteigt. Die Formulierung bezieht sich bewusst auf »die anspruchsbegründenden 8210 Gerichtskostengesetz), die Vorschusslast für die Gerichtskosten entfällt (§ 11 Gerichtskostengesetz) und eine Parteientschädigung wird in erster Instanz nicht zugesprochen (§ 12a Arbeitsgerichtsgesetz). 378 BGer, Urteil 5A_716/2010 vom 23. Februar 2011, E. 4.

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Fünfter Teil: Beweismaß

Tatsachenbehauptungen«, also die Gesamtheit aller Tatsachenbehauptungen, die zur Entstehung des geltend gemachten Anspruchs wahr sein müssen (und für die der Ansprecher die Beweislast trägt). Warum dies von entscheidender Bedeutung ist, und weshalb dieser Bezug erhebliche Auswirkungen auf die Schwierigkeit oder Leichtigkeit hat, den Richter zu überzeugen, wird gleich nachstehend gezeigt. 2. Der Bezugspunkt der überwiegenden Überzeugung Wie erwähnt ist nach der herrschenden Auffassung in England und den USA das Beweismaß der »preponderance of the evidence« erfüllt, wenn der Tatsachenfeststeller mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% überzeugt ist, dass die Tatsachenbehauptung wahr ist. Gleichzeitig bezieht sich das Beweismaß nach überwiegender Auffassung auf die einzelnen Tatbestandselemente, d. h., die beweisbelastete Partei muss beweisen, dass jedes Tatbestandsmerkmal – genauer gesagt, jede Tatsachenbehauptung, die sich unter das entsprechende Tatbestandsmerkmal subsumieren lässt – mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vorliegt.379 Bei Anspruchsnormen, die mehrere Tatbestandsmerkmale umfassen, führt dies aber, darauf hat Cohen als erster und Allen am häufigsten hingewiesen,380 zu einem Paradox. Unter der Annahme, dass das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale unabhängig ist, ergibt sich die Wahrscheinlichkeit, dass alle Tatbestandsmerkmale gleichzeitig vorliegen, gemäß der Produkteregel aus der Multiplikation der einzelnen Wahrscheinlichkeiten. Wenn eine Anspruchsnorm beispielsweise vier unabhängige Tatbestandsmerkmale aufweist – z. B. die außervertragliche Verschuldenshaftung Widerrechtlichkeit, Verschulden, Schaden und Kausalzusammenhang – und der Tatsachenfeststeller eine subjektive a-posteriori-Wahrscheinlichkeit von 70% für das Vorliegen jedes einzelnen Tatbestandsmerkmals hat, so muss seine Überzeugung, dass alle Tatbestandsmerkmale gemeinsam vorliegen, 0,74 = 0,24 betragen, damit seine Teilüberzeugungen kohärent im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie sind. Es ist also bedeutend wahrscheinlicher, dass nicht alle Tatbestandsmerkmale vorliegen, als dass sie vorliegen. Dennoch wäre die Klage, weil jedes einzelne Element mit einer Wahrscheinlichkeit von über 50% vorliegt, nach 379 Cohen, The probable and the provable, 58; Allen, Boston University Law Review 1986, 401–437, 405; Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 373; Allen/Leiter, Virginia Law Review 2001, 1491–1550, 1504; a. M. Nance, Boston University Law Review 1986, 947–953, 949 ff.; Levmore, Michigan Law Review 2001, 723–756, 725; Nance, Virginia Law Review 2001, 1551–1618, 1571 f. (»standard form jury instructions are usually ambiguous, if not hopelessly confused, on the point«); Clermont/Sherwin, American Journal of Comparative Law 2002, 243–276, 253 Fn. 49 (»lawyers muddle through with their heads in the sand«). 380 Cohen, The probable and the provable, 58 ff.; Allen, Boston University Law Review 1986, 401–437, 405 f.; Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 374 f.; Allen, Northwestern University Law Review 1994, 604–640, 605 f.

IV. Eigene Ansicht

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dem »preponderance of the evidence« oder »balance of probabilities« Standard gutzuheißen. Es besteht ein offensichtlicher Widerspruch zwischen dem Recht und der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie. Nach Ansicht von Cohen und Allen ist dieser Widerspruch – bekannt als »Konjunktionsparadox« – so schwerwiegend, dass man die Interpretation des Beweismaßes als subjektive a-posterioriWahrscheinlichkeit des Tatsachenfeststellers aufgeben muss und stattdessen eine neue Wahrscheinlichkeitstheorie braucht (Cohen) oder Beweiswürdigung als holistischen Prozess des Vergleichs von Geschichten (Allen) verstehen muss. Aus Sicht des Praktikers mag man einwenden, dass in vielen Fällen nur das Vorliegen eines Tatbestandsmerkmals tatsächlich strittig ist. Auch die zerstrittensten Parteien gestehen meist die Wahrheit gewisser gegnerischer Tatsachenbehauptungen zu381 – typischerweise die, die ohnehin kaum erfolgreich bestritten werden können, weil ihr Nachweis leicht fällt. Ob sich das Beweismaß auf die Wahrheit der einzelnen bestrittenen Behauptung oder auf die Wahrheit des gesamten Sachvortrages bezieht, spielt dann keine Rolle. Aber dieser Einwand ist rein praktischer Natur – ausgeschlossen ist es nicht, dass mehrere Tatbestandsmerkmale umstritten sind, und dann greift das Konjunktionsparadox. Mit guten Gründen angreifen kann man auch die Annahme, dass die Tatbestandsmerkmale unabhängig sind. Sie wird meist nicht zutreffen.382 So beruht der Anscheinsbeweis der Fahrlässigkeit bei Verletzung eines Schutzgesetzes im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB gerade darauf, dass aus dem Nachweis des einen Tatbestandsmerkmals (Verletzung eines Schutzgesetzes) auf das Vorliegen eines anderen Tatbestandsmerkmales (Verschulden) geschlossen wird, weil die Verletzung eines Schutzgesetzes »typischerweise« verschuldet erfolgt – anders gesagt, »Verletzung eines Schutzgesetzes« und »Verschulden« korrelieren hoch, sie sind gerade nicht unabhängig. Die realistische Annahme, dass Tatbestandsmerkmale meist abhängig sein werden, entschärft das Problem zwar, löst es aber nicht: Wenn man davon ausgeht, dass jedes Tatbestandsmerkmal mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von 50,01% vorliegt, tritt nur dann kein Konjunktionsparadox auf, wenn die Tatbestandsmerkmale perfekt korrelieren. Das ist nun aber ebenfalls eine unhaltbare Annahme: Die Verletzung eines Schutzgesetzes ist nur meist auf ein Verschulden zurückzuführen, der Beweisgegner kann den Anscheinsbeweis erschüttern (Gegenbeweis), indem er die »ernsthafte Möglichkeit« eines unverschuldeten Verstoßes nachweist (vorne, S. 171 f.). Würden die Tatbestandselemente tatsächlich perfekt korrelieren, wäre es zudem überflüssig, sie separat nachzuweisen – wenn eines der Elemente nach der Überzeugung des Tatsachenfeststellers vorliegt, müssen auch alle anderen vorliegen.383 Auch sind ohne weiteres Beispiele denkbar, 381

Hafter, Strategie und Technik des Zivilprozesses, Rz. 931. Darauf hat bereits Cohen, The probable and the provable, 61, hingewiesen. 383 Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 375; Levmore, Michigan Law Review 2001, 723–756, 727 f. 382

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Fünfter Teil: Beweismaß

bei denen die Unabhängigkeit der einzelnen Tatbestandsmerkmale zumindest plausibel ist. So muss der Patentinhaber, um eine Patentverletzung nachzuweisen, beweisen, dass die angegriffene Ausführungsform sämtliche Merkmale des Patentanspruchs erfüllt, ohne dass man mit guten Gründen sagen könnte, dass das Vorliegen dieser Merkmale korreliert. Wenig überzeugend ist das Argument, dass die Instruktion an die Geschworenen, dass jedes einzelne Tatbestandsmerkmal mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% vorliegen muss, um für die beweisbelastete Partei zu entscheiden, im Ergebnis zu mehr korrekten Urteilen führt als die Instruktion, dass die Gesamtwahrscheinlichkeit über 50% liegen muss.384 Lempert argumentiert, dass die Fehler menschlicher Informationsverarbeitung und der Mangel an vollständiger Information dazu führen können, dass das geltende Recht zu mehr korrekten Urteilen führt als eine (aus Sicht der rationalen Entscheidungstheorie richtige) Formulierung des Beweismaßes bezogen auf die Gesamtheit der anspruchsbegründenden Tatsachen.385 Das Problem an diesem Argument ist, dass es ein psychologisch-empirisches Argument ist, das nur überzeugen kann, wenn es durch empirische Daten gestützt wird, und solche berichtet Lempert nicht. Ebenfalls nicht zum Ziel führt die technisch anspruchsvolle Analyse von Dawid, die auf einer Umformulierung des Konjunktionsparadoxes beruht.386 Dawid weist darauf hin, dass es nach der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie unsinnig ist, von der Stützung einer Aussage durch ein Beweismittel von x% zu sprechen; beispielsweise, dass die Behauptung A durch die Aussage des Zeugen Z zu 70% bewiesen sei.387 Nach der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie ist der Beweiswert eines Beweismittels immer dessen Likelihood-Quotient, und die a posteriori Überzeugung, dass die Behauptung wahr ist, ergibt sich aus Anfangswahrscheinlichkeit der Behauptung und Likelihood-Quotient der Beweismittel. Die Aussage, dass ein Zeuge die Behauptung A mit einer Wahrscheinlichkeit von 70% stützt, lasse sich am ehesten in dem Sinne verstehen, dass der Zeuge mit einer Wahrscheinlichkeit von 70% »a« sagt, wenn A wahr ist, und mit einer Wahrscheinlichkeit von 30% »¬a«, weil Pr(¬a|A) = 1 – Pr(a|A) = 0,3.388 Der Likelihood-Quotient der Zeugenaussage beträgt demnach 0,7/0,3 = 2,33. Eine a-posteriori-Wahrscheinlichkeit von 70% für A ergibt sich aus diesem LikelihoodQuotienten nur unter der Annahme einer Anfangswahrscheinlichkeit von 50% für A. Wenn man davon spricht, dass das Vorliegen zweier unabhängiger Behauptungen A und B durch zwei bedingt unabhängige Zeugen Za und Zb zu einem 384

Lempert, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 61–111, 70. Lempert, in: Tillers (Hrsg.), Probability and inference, 61–111, 70. 386 Dawid, Journal of the Royal Statistical Society. Series D (The Statistician) 1987, 91–97. 387 Cohen, The probable and the provable, 60, verwendet eine solche Formulierung, nicht aber bei der ursprünglichen Formulierung des Paradoxes auf S. 59. 388 Dawid, Journal of the Royal Statistical Society. Series D (The Statistician) 1987, 91–97, 93. 385

IV. Eigene Ansicht

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Grad von je 70% nachgewiesen wurde,389 dann geht man implizit von einer Anfangswahrscheinlichkeit, dass jede einzelne Behauptung zutrifft, von 50% aus, und folglich von einer Wahrscheinlichkeit, dass beide Behauptungen zutreffen, von 0,5 · 0,5 = 0,25. Diese Wahrscheinlichkeit steigt durch die Beachtung der Zeugenaussagen auf 49%, überschreitet aber die Beweismaßgrenze von 50% nicht. Dies ist nicht paradox – die Zeugenaussagen erhöhen die Überzeugung, dass beide Elemente vorliegen, aber nicht im notwendigen Ausmaß. Schon bei einer Anfangswahrscheinlichkeit von 30% für Pr(A&B) wird die Beweismaßgrenze überschritten.390 Das Problem von Dawids Analyse ist, dass sie nicht zutrifft, wenn man unter »Wahrscheinlichkeit von A« nicht die Unterstützung versteht, die Behauptung A durch einen Zeugen erhält, sondern die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit von A nach Berücksichtigung aller Beweismittel. Dies scheint mir die natürliche Lesart von Cohen zu sein, und so wird das Konjunktionsparadox in der Literatur auch verstanden. a) Die Lösung des Konjunktionsparadoxes nach Cohen Cohen bringen das Konjunktionsparadox, und weitere von ihm identifizierte Abweichungen von den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie durch die Praxis der Tatsachenfeststellung vor Gericht dazu, die Anwendbarkeit der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie (von ihm als »Pascalian probability« bezeichnet) als normatives Modell der Beweiswürdigung zu verwerfen und stattdessen ein eigene »induktive« Wahrscheinlichkeitstheorie zu entwickeln, der andere Axiome zugrunde liegen (»Baconian probabilities«).391 Nach dieser Theorie drücken Wahrscheinlichkeiten die Beweisbarkeit einer Behauptung aus (Parallelen zur schwedischen Beweiswertmethode sind unübersehbar).392 Die mathematischen Eigenschaften der »induktiven« Wahrscheinlichkeiten von Cohen unterscheiden sich grundsätzlich von denen der »normalen« Wahrscheinlichkeiten.393 Im vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist, dass die Bestätigung, die eine Behauptung durch mehrere unabhängige Behauptungen erhält, nach Cohens Theorie immer mindestens so groß ist wie die geringste Bestätigung, die sie durch eine der Behauptungen erhält (Cohens induktive Wahrscheinlichkeiten erlauben nur eine ordinale Rangordnung). D. h. wenn alle unabhängigen Tatbestandsmerkmale bewiesen sind, ist auch die Anspruchsnorm bewiesen. Ist andererseits nur eine einzige nicht bewiesen, ist auch die Gesamtheit der Behauptungen zum 389 Die Zeugenaussagen sind natürlich abhängig vom Zustand von A und B. Aber sie seien unabhängig gegeben A und B, d. h. die Zeugen kennen die Aussage des jeweils anderen Zeugen nicht (vorne, S. 94 f.). 390 Dawid, Journal of the Royal Statistical Society. Series D (The Statistician) 1987, 91–97, 95. 391 Cohen, The probable and the provable, 116 ff. 392 Cohen, The probable and the provable, 13 ff., 121 ff. 393 Cohen, The probable and the provable, 219 ff.; Schum, Michigan Law Review 1979, 446– 483, 455 ff.

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Fünfter Teil: Beweismaß

gleichen Thema nicht bewiesen.394 Dies, so Cohen, entspreche dem juristischen Beweismaß: Die beweisbelastete Partei obsiegt, wenn sie jedes Tatbestandselement beweist, sie unterliegt, wenn sie auch nur eines nicht beweisen kann. Cohen gelingt m. E. der überzeugende Nachweis, dass die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie nicht auf Überzeugungen anwendbar sind, nicht. Sie mögen für die Beweisbarkeit einer Behauptung nicht anwendbar sein (vorne, S. 162 ff.). Aber daraus lässt sich nicht ableiten, dass die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie kein normatives Modell der Überzeugungsbildung ist. Und nur darauf kommt es nach dem geltenden Recht an: auf die Überzeugung des Richters (vorne, S. 162 f.). Man sollte nicht wegen der beobachteten Abweichungen der juristischen Praxis den normativen Status der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie als Modell der Überzeugungsbildung in Zweifel ziehen. Es lässt sich nun einmal nicht bestreiten, dass die Wahrscheinlichkeit, dass mehrere unabhängige Elemente gleichzeitig vorliegen, geringer ist als die Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelnes von ihnen vorliegt. Wenn das Recht das ignoriert, ist das nicht ein Fehler der Wahrscheinlichkeitstheorie, sondern das Recht müsste geändert werden.395 Cohens induktive Wahrscheinlichkeiten beschreiben zweifellos sowohl gut, wie Menschen über induktive Probleme nachdenken, als auch wie das (englische) Rechtssystem den Beweis von Tatsachen vor Gericht regelt. Aber darf man daraus, dass ein formales System empirische Beobachtungen gut beschreibt, auf seinen normativen Status schließen? Cohen bejaht diese Frage.396 Für ihn ist der Widerspruch der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie mit der menschlichen Intuition, die sich letztlich auch im Rechtssystem spiegelt, Anlass, den normativen Status der Wahrscheinlichkeitstheorie – zumindest soweit sie auf den gerichtlichen Beweis angewendet wird397 – in Zweifel zu ziehen. Aber man kann ein axiomatisches System nur angreifen, indem man seine Axiome angreift, denn alles andere ergibt sich aus ihnen. Die Behauptung, dass die Axiome einer Theorie (induktive Wahrscheinlichkeitstheorie) intuitiver seien als die einer anderen (subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie), ist kaum argumentativ zu begründen. Der Vorteil der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie als axiomatisches System ist, dass ihre Axiome wenig zahlreich sind und neben ihrer intuitiven Überzeugungskraft auch vom Nachweis profitieren, dass derjenige, dessen Teilüberzeugungen den Axiomen nicht gehorchen, Opfer eines »Dutch Books« werden kann und mit Fug als irrational bezeichnet werden darf (vorne, S. 125 ff.). Cohens »Baconian probabilities« genießen keine Rechtfertigung durch andere Argumente als dem, dass Menschen sich tatsächlich (in den 394

Cohen, The probable and the provable, 266 f. Schoeman, Philosophy of Science 1987, 76–91, 82. 396 Cohen, Behavioral and Brain Sciences 1981, 317–331, 318 ff.; ablehnend Kahneman, Behavioral and Brain Sciences 1981, 339–340. 397 Cohen, The probable and the provable, 13 ff. 395

IV. Eigene Ansicht

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meisten Fällen) so verhalten, wie das die induktive Wahrscheinlichkeitstheorie beschreibt. Sie mögen wohl das Konjunktionsparadox lösen, aber um den Preis der Aufgabe eines wohlfundierten axiomatischen Systems, das in zahlreichen anderen Fällen – und in weiten Bereichen der Wissenschaft – zu vernünftigen Resultaten gelangt. b) Die Lösung des Konjunktionsparadoxes nach Allen Allen löst das Konjunktionsparadox, indem er Beweiswürdigung als holistischen Prozess des Vergleichs zweier Geschichten beschreibt, gemäß dem die beweisbelastete Partei den Beweis erbracht hat, wenn ihre Geschichte, gesamthaft betrachtet, in den Augen der Tatsachenfeststeller eher wahr ist als die gegnerische Geschichte.398 Ich habe bereits dargelegt, weshalb ich das zwar für eine gute Beschreibung des kognitiven Prozesses der Beweiswürdigung halte, aber nicht für ein überzeugendes normatives Modell der Beweiswürdigung (vorne, S. 343 ff.). Es kommt hinzu, dass Allens Modell das Konjunktionsparadox, das Anlass zu seiner Entwicklung war, gar nicht lösen kann. Wenn das geltende USamerikanische Recht, gemäß Allen,399 verlangt, dass die beweisbelastete Partei nachweist, dass jedes einzelne Tatbestandselement »eher wahr als falsch« ist, dann kann daraus das Paradox resultieren, dass die Wahrscheinlichkeit, dass alle Elemente wahr sind, geringer ist als die Entscheidungsgrenze, obwohl jedes einzelne Element mit einer über der Entscheidungsgrenze liegenden Wahrscheinlichkeit vorliegt. Das Paradox entsteht aber nur dann, wenn das Recht den Nachweis jedes einzelnen Tatbestandsmerkmals verlangt – wenn das Recht stattdessen auf die Wahrscheinlichkeit, dass alle Tatbestandselemente vorliegen, abstellen würde, entstünde aus dem Verständnis des Beweismaßes als subjektiver Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% für das Vorliegen des Beweisthemas kein Paradox. Entscheidend ist, worauf sich die Überzeugung bezieht: Auf die einzelnen Tatbestandselemente, oder auf das gleichzeitige Vorliegen aller anspruchsbegründenden Tatbestandselemente? Allens Theorie der »relativen Plausibilität« zweier Geschichten ist betont holistisch: Es kommt gemäß ihr gerade nicht darauf an, dass jedes Element der vorgetragenen Geschichte plausibler ist als das entsprechende Element der gegnerischen Geschichte (respektive, wenn die gegnerische Geschichte zu dem Punkt keinen eigenständigen Vortrag macht, eher wahr als falsch ist). Entscheidend ist, ob die Geschichte insgesamt, als Ganzes betrachtet, plausibler ist als die

398 Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 381 f., 390; Allen, Northwestern University Law Review 1994, 604–640, 604 f. 399 Allen, Boston University Law Review 1986, 401–437, 405; Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 373; Allen/Leiter, Virginia Law Review 2001, 1491–1550, 1504.

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Geschichte des Gegners.400 Wenn das aber so ist, dann entspricht die »relative Plausibilitätstheorie« nicht dem geltenden Recht in den USA. Ist hingegen das, was mit einer subjektiven a-posteriori-Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% nachgewiesen werden muss, die Geschichte insgesamt, oder das Vorliegen aller anspruchsbegründender Tatsachen, dann entsteht auch bei Anwendung der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie kein Paradox. Allen hat sich in ein Dilemma argumentiert: Wenn seine Darstellung der geltenden Rechtslage richtig ist, entspricht seine Theorie nicht der Rechtslage, was genau der Vorwurf ist, den er der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie macht. Ist seine Darstellung der geltenden Rechtslage falsch, und kommt es tatsächlich auf Wahrscheinlichkeit des Vorliegens aller Tatbestandselemente an, dann ist seine Theorie – zumindest zur Erklärung des Konjunktionsparadoxes – überflüssig, denn die auf der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie basierende rationale Entscheidungstheorie bietet eine elegante und überzeugende Erklärung für die Entscheidungsgrenze der subjektiven Wahrscheinlichkeit von ≥ 50%. c) Löst das Konjunktionsparadox den Streit um das richtige Beweismaß in Zivilsachen? Das Konjunktionsparadox zeigt, dass eine überwiegende subjektive a-posterioriWahrscheinlichkeit für die Wahrheit aller anspruchsbegründender Tatbestandsmerkmale ein viel strikterer Standard ist als eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für jedes einzelne Tatbestandsmerkmal.401 In der deutschen Literatur scheint einzig Borck dieses Problem im Zusammenhang mit der Glaubhaftmachung des Verfügungsanspruchs im Verfahren des vorsorglichen Rechtsschutzes erkannt zu haben.402 Wenn sich die »überwiegende Wahrscheinlichkeit« auf die Gesamtheit der anspruchsbegründenden Tatsachen bezieht, das Regelbeweismaß der vollen Überzeugung aber auf die einzelnen Tatbestandsmerkmale oder gar Tatsachenbehauptungen, dann ist der Unterschied zwischen den verschiedenen Auffassungen viel geringer, als die heftige Kritik am Überwiegensprinzip erahnen ließe. Vorab ist daher zu klären, ob sich gemäß den Befürwortern des Überwiegensprinzips die richterliche Überzeugung auf die Gesamtheit der anspruchsbegründenden Tatsachen bezieht, während die Kritiker auf die einzelnen Tatsachenbehauptungen abstellen. Anschließend wird erläutert, inwiefern dies den Unterschied zwischen den beiden Auffassungen vom richtigen Beweismaß verringert und welche Unterschiede dennoch bestehen bleiben. Kegel, als Befürworter des Beweismaßes der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit«, scheint auf die einzelne Tatsachenbehauptung abzustellen: »jeder muss 400 Allen, Cardozo Law Review 1991, 373–444, 390; Allen, Northwestern University Law Review 1994, 604–640, 604 f., 609. 401 Dawid, Journal of the Royal Statistical Society. Series D (The Statistician) 1987, 91–97, 92. 402 Borck, WRP 1978, 776–778, 779.

IV. Eigene Ansicht

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die Tatsachen beweisen, die ihm günstig [. . . ] sind [. . . ].«403 An anderer Stelle findet sich aber wiederum die Aussage, der Individualanscheinsbeweis beruhe »auf überwiegender Wahrscheinlichkeit, die sich aus den typischen oder besonderen Umständen des Falles ergibt.«404 Die überwiegende Wahrscheinlichkeit scheint sich also aus den Umständen des Falles als Ganzem zu beurteilen. Bei den von Kegel gewählten Beispielen fällt auf, dass bei ihnen immer nur eine einzige Tatsachenbehauptung strittig ist,405 und es deshalb keine Rolle spielt, ob sich die notwendige Überzeugung auf den gesamten Sachverhalt oder die einzelnen Behauptungen bezieht. Maassen spricht zwar von den »tatsächlichen Kosten der fehlerhaften Feststellung einer Tatsache«406 und scheint demnach auf die einzelne Behauptung abzustellen. Aber Kosten verursacht nicht die fehlerhafte Feststellung einer Tatsache, sondern die fälschliche Gutheißung oder Abweisung der Klage.407 Wird fälschlicherweise eine Tatsache als wahr erachtet, bleibt dies folgenlos, wenn die Klage mangels Nachweises anderer wesentlicher Tatsachen abgewiesen wird. Es entstehen dann durch die fehlerhafte Feststellung der Tatsache auch keine Kosten. Eine entscheidungstheoretische Analyse unter Berücksichtigung der Fehlerkosten führt immer dazu, dass man auf die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens aller anspruchsbegründender Tatsachen abstellen muss. Im besonderen Teil seiner Arbeit führt Maassen aus, das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit gelte für den Beweis der Fahrlässigkeit und der Kausalität (im Haftpflichtrecht),408 er stellt also eindeutig auf die einzelnen Tatbestandselemente, nicht die Wahrscheinlichkeit des gesamten Sachvortrags, ab. Das dadurch entstehende Konjunktionsparadox – wenn sowohl Fahrlässigkeit wie Kausalität nur mit einer subjektiven a-posteriori-Wahrscheinlichkeit von 50% feststehen, beträgt die Überzeugung, dass beide gegeben sind, bei angenommener Unabhängigkeit der Elemente, nur 25% – scheint ihm zu entgehen. Motsch stellt auf die »Gesamtwahrscheinlichkeit ›w‹ (d. h. die in einem einzigen Wahrscheinlichkeitswert zusammengefasste Gesamtinformation über den konkreten Fall)«409 ab. Da er die Entscheidungsgrenze der »überwiegenden Wahr403 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 336, siehe auch S. 326 f. 404 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 343 (Hervorhebung durch den Verfasser). 405 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 327, 329 ff.: Wurde die Radmutter vom Garagisten nicht angezogen? Ist die Lueskrankheit der Klägerin auf die ihrem Mann verabreichte verseuchte Blutspende zurückzuführen? Ist der Nichtschwimmer ertrunken, oder starb er im Wasser an einer Ursache, an der er auch an Land gestorben wäre? 406 Maassen, Beweismaßprobleme, 8 und öfter. 407 Davon geht auch Maassen, Beweismaßprobleme, 9, 155, aus. 408 Maassen, Beweismaßprobleme, 155 f. 409 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 83.

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Fünfter Teil: Beweismaß

scheinlichkeit« aus der »Schädlichkeit etwaiger Fehlentscheidungen«410 ableitet, bleibt ihm auch gar keine andere Wahl, als auf die Wahrscheinlichkeit, dass alle anspruchsbegründenden Tatsachen der Fall sind, abzustellen. Nell leitet das Beweismaß der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« aus den Kosten einer falschen Entscheidung ab,411 was bedeutet, dass er auf die Wahrscheinlichkeit abstellen muss, dass alle anspruchsbegründenden Tatsachen vorliegen. Zweifel daran lässt allenfalls eine Formulierung aufkommen, gemäß der es ein Missverständnis wäre, »das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit so zu verstehen, als müsse die Behauptung einer Seite schon dann als richtig angesehen werden, wenn diese irgendein Indiz – wie schwach es auch sein mag – herbeigebracht hat und die andere Partei dem nichts entgegengesetzt hat.«412 Hier scheint Nell das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit auf einzelne Behauptungen anzuwenden. Bei Gräns fehlt eine ausdrückliche Stellungnahme dazu, ob sich das Beweismaß auf die einzelne Tatsachenbehauptung oder auf das Vorliegen aller anspruchsbegründender Tatsachen bezieht. Da Gräns die Entscheidungsgrenze aus den Folgen materiell fehlerhafter Urteile ableitet, verstanden als Urteile, die auf falschen Tatsachenbehauptungen beruhen,413 ist zu folgern, dass es ihr auf die Wahrscheinlichkeit, dass alle anspruchsbegründenden Tatsachen vorliegen, ankommt. Dagegen scheint die Bemerkung zu sprechen, dass Beweisthema eine Tatsachenbehauptung sei.414 Diese Bemerkung wird aber im Zusammenhang mit der Exposition der schwedischen Beweiswertmethode gemacht und schließt nicht aus, dass sich der Tatsachenfeststeller eine Überzeugung zur Wahrscheinlichkeit der Gesamtheit aller relevanten Tatsachenbehauptungen bildet. An anderer Stelle spricht Gräns denn auch davon, dass die objektive Beweislast bestimme, dass diejenige Partei unterliege, die den Beweis »für den vorgebrachten Tatbestand«415 nicht erbringe. Auch dies deutet darauf hin, dass sich die Überzeugung auf das Vorliegen aller Tatsachen, die Voraussetzungen der Rechtsfolge sind, beziehen muss. Zusammenfassend ergibt sich, dass die Autoren, die im deutschen Schrifttum für ein Beweismaß der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« eintreten, sich oft nicht klar dazu äußern, worauf sich die richterliche Überzeugung bezieht – auf die Wahrheit jeder einzelnen Tatsachenbehauptung oder auf die Wahrheit aller Tatsachenbehauptungen, die wahr sein müssen, um den Anspruch zu begründen. 410 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 85, siehe auch 244 f. (spezifisch für den Abstammungsbeweis). 411 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 210 ff. 412 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 212, als Kritik an Schreiber, Theorie des Beweiswertes, 14. Nell weist darauf hin, dass neben den Beweismitteln immer auch die Anfangswahrscheinlichkeit zu berücksichtigen ist, und ein schwaches Beweismittel nicht genügt, eine unwahrscheinliche Behauptung zu beweisen. 413 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 103 ff. 414 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 120. 415 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 234.

IV. Eigene Ansicht

499

Maassen scheint auf die einzelnen Tatsachen, oder zumindest Tatbestandselemente, abzustellen. Nell und Gräns lassen klare Stellungnahmen vermissen, während Motsch eindeutig auf die Gesamtwahrscheinlichkeit abstellt. Festzuhalten ist, dass jede entscheidungstheoretische Rechtfertigung der Entscheidungsgrenze durch die Minimierung der erwarteten Kosten einer fehlerhaften Entscheidung notwendigerweise auf die Wahrscheinlichkeit, dass alle anspruchsbegründenden Tatsachen der Fall sind, abstellen muss, denn diese bestimmt die Wahrscheinlichkeit, einen Fehler zu machen. Bei den Kritikern des Überwiegensprinzips zeigt sich ein ähnlich durchwachsenes Bild, wobei eine Mehrheit der herrschenden Lehre und Praxis folgt, die das Beweismaß auf das einzelne Tatbestandsmerkmal bezieht. So bezieht Schreiber, der meint, die Zulassung des Wahrscheinlichkeitsbeweises nach Kegel führe zu einer Ausweitung der Anspruchsgrundlagen, die Wahrscheinlichkeit eindeutig auf die einzelnen Tatbestandsmerkmale.416 Auch Greger, der das Überwiegensprinzip ablehnt und ein alleiniges und allgemeines Beweismaß (bei ihm: Beweiskriterium) von der Überzeugung von der Wahrheit fordert, von dem auch bei Beweisschwierigkeiten nicht abgewichen werden dürfe,417 stellt auf das einzelne Tatbestandsmerkmal ab. Dies kann man aus der Formulierung, dass das Beweiskriterium beim Beweis eines Tatbestandsmerkmals die richterliche Überzeugung von der Wahrheit sei, ableiten.418 Walter, für den die Lehre vom allgemeinen Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit »in ihrem Ausgangspunkt, in ihrer Durchführung und mit ihren Auswirkungen nicht akzeptabel«419 ist, bezieht das Beweismaß der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« offensichtlich auf die einzelnen Tatbestandsmerkmale, schreibt er doch »man würde in diesem Fall [sc. unter dem Überwiegensprinzip] festlegen, dass eine bestimme Wahrscheinlichkeit ausreichen würde, um jedes Tatbestandsmerkmal zu beweisen.«420 Bei der von Walter verteidigten »Überzeugung von der Wahrheit«421 als Regelbeweismaß findet sich keine derart klare Äußerung zum Bezugspunkt der Überzeugung, aber es ist nicht anzunehmen, dass Walter dort die Überzeugung auf etwas anderes als beim von ihm kritisierten Überwiegensprinzip beziehen möchte. Prütting lehnt die Lehre von der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« als generellem Beweismaß im Zivilprozess vor allem mit dem (guten) Argument ab, dass zahlreiche gesetzliche Vorschriften eine Beweismaßreduzierung vorsähen und daher überflüssig wären, wenn das allgemeine Beweismaß bereits bei »eher wahr 416 Schreiber, Theorie des Beweiswertes, 13 (»[. . . ], dass eine bestimmte Wahrscheinlichkeit genügen würde, um jedes Merkmal zu beweisen.«). 417 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 123 ff., 196. 418 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 148 (Hervorhebung durch den Verfasser); siehe auch Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 110, Ziff. 3. 419 Walter, Freie Beweiswürdigung, 188. 420 Walter, Freie Beweiswürdigung, 181. 421 Walter, Freie Beweiswürdigung, 153 und öfter.

500

Fünfter Teil: Beweismaß

als falsch« liegen würde.422 Für ihn »darf und soll [der Richter] eine Behauptung für wahr erachten, auch wenn gegen sie noch theoretische oder ganz entfernte Zweifel denkbar sind, er darf sich aber nicht damit begnügen, dass nur ein wenig mehr für als gegen diese Behauptung spricht.«423 Prütting bezieht das Beweismaß demnach auf die einzelnen Behauptungen. Schwab, der die Lehre von der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« ebenfalls ablehnt (allerdings vor allem, weil er Wahrscheinlichkeit im frequentistischen Sinn versteht und darauf hinweist, dass es im Zivilprozess um den Einzelfall gehe),424 geht davon aus, dass der Beweis nur erbracht ist, »wenn der Richter von der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung überzeugt ist.«425 An anderer Stelle spricht er davon, dass dann, wenn »ein Tatbestandsmerkmal« nicht voll bewiesen werden kann, aufgrund der (objektiven) Beweislast zu entscheiden sei;426 gleich im nächsten Absatz aber: »Kann der Kläger nämlich die Voraussetzungen der rechtsbegründenden Normen nicht voll (d. h. zur Überzeugung des Gerichts vom Bestehen dieser Voraussetzungen) beweisen, so wird seine Klage zu Recht abgewiesen, [. . . ]«.427 Weiter merkt er an, dass es auf die Überzeugung des Richters ankomme, weil »alle Stufen unterhalb der Überzeugung, wie Verdacht oder Vermutung oder Glauben, [. . . ] die Feststellung des Sachverhalts durch den Richter nicht mit der nötigen Sicherheit gewährleisten würden.«428 Es bleibt unklar, ob sich der geforderte Überzeugungsgrad der »vollen Überzeugung« auf eine Tatsachenbehauptung, ein Tatbestandsmerkmal, das Vorliegen aller Voraussetzungen der anspruchsbegründenden Norm oder den Sachverhalt bezieht. Habscheid, für den das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nicht »ohne an die Wurzeln des Rechtsstaats zu rühren«429 eingeführt werden kann, geht davon aus, »dass man von der Partei, die ein subjektives Recht geltend macht, den vollen Nachweis ihres Rechts verlangen muss und dass es gerecht ist, ihr den Prozesserfolg infolge der Beweislast zu versagen, wenn dieser Nachweis zur Überzeugung des Richters nicht gelingt.«430 Er geht also ersichtlich davon

422

Prütting, Beweislast, 79 ff. Prütting, Beweislast, 86 (Hervorhebung durch den Verfasser). 424 Schwab, in: Holzhammer/Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451– 462, 454. 425 Schwab, in: Holzhammer/Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451– 462, 462. 426 Schwab, in: Holzhammer/Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451– 462, 455. 427 Schwab, in: Holzhammer/Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451– 462, 455 (Hervorhebung durch den Verfasser). 428 Schwab, in: Holzhammer/Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451– 462, 457 (Hervorhebung durch den Verfasser). 429 Habscheid, in: Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 105–119, 118. 430 Habscheid, in: Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 105–119, 119 (Hervorhebung im Original). 423

IV. Eigene Ansicht

501

aus, dass sich die Überzeugung des Richters darauf bezieht, ob alle Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Für Berger-Steiner, die das Überwiegensprinzip ablehnt, ist das Regelbeweismaß erfüllt, wenn der Richter »von der Wahrheit der rechtserheblichen Tatsachenbehauptungen überzeugt ist.«431 Sie bezieht sich also ersichtlich auf alle rechtserheblichen Tatsachenbehauptungen, jedoch ohne dass der Bezugspunkt problematisiert würde. Für Schilken, für den die bloß überwiegende Wahrscheinlichkeit eine »zu große Unsicherheit in die richterliche Sachverhaltsfeststellung und damit die Richtigkeit der Entscheidungsfindung bringen«432 würde, bezieht sich die »volle richterliche Überzeugung« auf die Wahrheit der tatsächlichen Behauptung, die Gegenstand des Beweises ist,433 also ersichtlich auf die einzelne Behauptung. Diese notwendigerweise unvollständige Übersicht der kritischen Stimmen zum Regelbeweismaß der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit« zeigt, dass auch bei den Kritikern des Überwiegensprinzips nicht immer eindeutig ist, worauf sich die Überzeugung bezieht. Eine Mehrheit – Schreiber, Greger, Walter, Prütting und Schilken – geht davon aus, dass sich die Überzeugung auf die einzelnen Tatbestandsmerkmale beziehen muss, nur eine Minderheit (Habscheid und Berger-Steiner) beziehen sich eindeutig auf den gesamten anspruchsbegründenden Sachverhalt. Der Gesetzeswortlaut ist, zumindest in Deutschland, in diesem Punkt eindeutig: Gemäß § 286 Abs. 1 ZPO-DE entscheidet das Gericht nach freier Überzeugung, »ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei«, d. h. die Überzeugung bezieht sich auf die einzelne Behauptung. In der Schweiz lässt sich aus dem Wortlaut von Art. 157 ZPO-CH nichts ablesen, da nur festgehalten wird, dass sich das Gericht seine Überzeugung »nach freier Würdigung der Beweise« bildet, und nicht, worauf sich die Überzeugung bezieht. Andererseits kennt das schweizerische Recht anders als das deutsche Recht mit Art. 8 ZGB eine allgemeine Beweislastnorm, die bestimmt, dass derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache beweisen muss, der aus ihr Rechte ableitet. Das wiederum scheint auf den ersten Blick darauf hinzudeuten, dass man die einzelne Tatsache(nbehauptung) beweisen muss. Aber Rechte ergeben sich nicht aus Tatsachen – subjektive Rechte ergeben sich aus dem objektiven Recht.434 Liegen alle Tatsachen vor, die nach dem objektiven Recht Voraussetzungen dafür sind, dass ein subjektives Recht entsteht, ist das subjektive Recht entstanden. Aus der Beweislastverteilung ergibt sich nichts anderes: Nach der herrschenden (modifizierten) »Normentheorie« der Beweislastverteilung ergibt sich die objektive Beweislast aus der Qualifikation der 431 432 433 434

Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.81. Schilken, Zivilprozessrecht, Rz. 489. Schilken, Zivilprozessrecht, Rz. 478. Rosenberg, Beweislast, 108.

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Fünfter Teil: Beweismaß

materiellrechtlichen Norm als rechtsbegründend, rechtsvernichtend und rechtshindernd/rechtshemmend.435 Unpräzise ist es hingegen, von rechtsbegründenden, rechtsvernichtenden oder rechtshindernden Tatsachen zu sprechen.436 Derjenige, der ein Recht geltend macht, hat nach der Normentheorie alle Tatsachen zu beweisen, die gemäß der angerufenen Norm sein subjektives Recht begründen, während derjenige, der sich auf eine rechtsvernichtende Norm beruft, alle Tatsachen zu beweisen hat, die gemäß der angerufenen rechtsvernichtenden Norm das entstandene subjektive Recht zum Untergang bringen. Immerhin führt die Beweislastverteilung nach der Normentheorie dazu, dass der Kläger nicht alle Tatsachenbehauptungen, die gemäß dem objektiven Recht wahr sein müssen respektive nicht wahr sein dürfen, damit sein subjektives Recht entsteht, beweisen muss, sondern eben nur diejenigen, die gemäß der rechtsbegründenden Norm wahr respektive falsch sein müssen, während es dem Anspruchsgegner obliegt, die Tatsachenbehauptungen zu beweisen, die sich unter eine rechtsvernichtende oder rechtshindernde Norm subsumieren lassen. Wie Rosenberg ausführt, bedeutet dies eine erhebliche Erleichterung für den Anspruchsinhaber, dem ansonsten die Durchsetzung seiner Rechte oft unmöglich wäre.437 Damit bezieht sich die richterliche Überzeugung nach der herrschenden Lehre auf das Vorliegen der einzelnen Tatbestandsmerkmale (genauer gesagt auf die Wahrheit der konkreten Tatsachenbehauptungen, die sich unter das einzelne Tatbestandsmerkmal subsumieren lassen). Dies entspricht auch der in Deutschland gelehrten Relationstechnik,438 gemäß der zu prüfen ist, ob jedes einzelne anspruchsbegründende Tatbestandsmerkmal gegeben ist, wozu das Tatbestandsmerkmal in einzelne subsumierbare Tatsachenbehauptungen zu entfalten und für jede einzelne Tatsachenbehauptung festzustellen ist, ob sie beweisbedürftig ist und falls ja, ob sie bewiesen oder offengeblieben ist.439 Die unterschiedlichen Auffassungen der herrschenden Lehre und der Vertreter eines entscheidungstheoretisch begründeten Regelbeweismaßes der überwiegenden Wahrscheinlichkeit lassen sich daher weitgehend dadurch erklären, dass die beiden Seiten stillschweigend von etwas anderem ausgehen. Während die Mehrheit der Vertreter eines generellen Beweismaßes der überwiegenden Überzeugung die richterliche Überzeugung darauf beziehen, dass alle anspruchsbegründenden Tatsachen der Fall sind, bezieht sich die Überzeugung gemäß der Praxis und herrschenden Lehre auf die einzelnen rechtserheblichen Tatsachenbehauptungen. 435 Statt aller Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 155 ff.; für die Schweiz Guldener, Zivilprozessrecht, 325 f. 436 Rosenberg, Beweislast, 108. 437 Rosenberg, Beweislast, 91 f. 438 Zum Begriff Hartwieg, Sachverhaltsarbeit als Steuerungsinstrument, 57 f. 439 Generell zum Vorgehen Olivet, Juristische Arbeitstechnik in der Zivilstation, Rz. 182 ff., insb. 265; Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, Rz. 131 ff.

503

IV. Eigene Ansicht

gemeinsame Wahrscheinlichkeit

Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie zeigt, dass die auf alle anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale bezogene Entscheidungsgrenze viel schwerer zu erreichen ist, wenn man davon ausgeht, dass die einzelnen Tatsachenbehauptungen unabhängig sind oder zumindest nicht perfekt korrelieren. Bezieht sich der Überzeugungsgrad von 80% – der als Regelbeweismaß von Bühler für das schweizerische und von Rechberger für das österreichische Recht genannt wurde440 – auf die einzelnen Tatsachenbehauptungen, dann sinkt die Überzeugung, dass alle Behauptungen wahr sind, bereits bei vier unabhängigen Behauptungen auf unter 50% (siehe Abbildung 52). Bei einem Überzeugungsgrad von 90% – wie er von Berger-Steiner und anderen für die Schweiz vertreten wird441 – sinkt die Gesamtwahrscheinlichkeit für das Vorliegen mehrerer unabhängiger Tatsachenbehauptungen nach sieben Merkmalen unter die 50% Grenze; bei 95% braucht es 14 unabhängige Elemente (siehe Abbildung 52). Bei einem Überzeugungsgrad von 90% liegt bei vier unabhängigen Elementen noch eine Gesamtwahrscheinlichkeit von 0,94 ≈ 0,66 vor. Diese Rechenbeispiele zeigen, dass die Gesamtwahrscheinlichkeit des Vorliegens aller anspruchsbegründenden Tatbestandselemente schnell sinkt, selbst wenn man einen hohen Überzeugungsgrad für das Vorliegen jedes einzelnen Tatbestandsmerkmals verlangt. Anders gesagt: Bezogen auf die Gesamtwahrscheinlichkeit des Vorliegens aller Tatbestandsmerk100%

95% subj. W. pro Merkmal 90% subj. W. pro Merkmal 80% subj. W. pro Merkmal

50%

0%

1

2

3

4

5

6

7

8

9 10 11 12 13 14

Anzahl unabhängige Merkmale

Abbildung 52: Wahrscheinlichkeit für das gemeinsame Vorliegen mehrerer unabhängiger Elemente bei unterschiedlichem Beweismaß für das Vorliegen jedes einzelnen Elements. 440 Rechberger, in: Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 471–490, 487; Bühler, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Der Haftpflichtprozess, 37–78, 40; Bühler, Jusletter 21. Juni 2010, Rz. 9, hat diese Ansicht unter dem Eindruck von Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.69, zu Gunsten von 90% aufgegeben. 441 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.69; ihr folgend Walter, Haftpflichtprozess 2009, 47–68, 53; Bühler, Jusletter 21. Juni 2010, Rz. 9; KuKo-ZPO-Schmid, Vor Art. 150–193 N 13.

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Fünfter Teil: Beweismaß

male verlangt die herrschende Lehre häufig gar nicht viel mehr als die Lehre von der überwiegenden Überzeugung. Und sie verkennt, dass die Gesamtwahrscheinlichkeit selbst bei einer hohen Wahrscheinlichkeit jedes einzelnen Merkmals unter die 50%-Grenze sinken kann. Die Logik der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie diktiert weiter, dass die Gesamtwahrscheinlichkeit des Vorliegens aller unabhängigen Elemente nicht höher sein kann als die Wahrscheinlichkeit, dass eines der Elemente vorliegt. Bildhaft gesprochen ist die Kette nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Wer daher – wie die herrschende Lehre – vertritt, dass gewisse Tatbestandselemente, wie z. B. der Kausalzusammenhang zwischen schädigender Handlung und (Sekundär-)Schaden, nur mit »überwiegender Wahrscheinlichkeit« nachzuweisen sind, der vertritt im Ergebnis, dass in allen Fällen, in denen Kausalität ein Tatbestandsmerkmal ist, die beweisbelastete Partei den ihr obliegenden Nachweis, dass alle anspruchsbegründenden Merkmale vorliegen, erfüllt, wenn die richterliche Überzeugung 50% übersteigt. Das Beharren darauf, dass alle anderen Merkmale zur »vollen Überzeugung« des Richters nachzuweisen sind, ändert daran nichts. Es verhindert nur, dass die Gesamtwahrscheinlichkeit auf unter 50% sinkt, und ist deshalb auch nach der Lehre von der überwiegenden Überzeugung geboten. Auch darin zeigt sich, dass die unversöhnlichen Standpunkte weniger unversöhnlich als gemeinhin angenommen sind. Bedeutet dies, dass der Streit um das richtige Beweismaß in Zivilsachen nur ein Streit um Worte ist? Nein, das bedeutet es nun auch wieder nicht. Es gibt Konstellationen, in denen der Unterschied zwischen einem Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung und der vollen Überzeugung, verstanden als subjektive Überzeugungsgrade des Tatsachenfeststellers von über 50% respektive über 90%, zu unterschiedlichen Resultaten führt. Am deutlichsten wird dies in Fällen, in denen nur eine einzige rechtlich relevante Tatsachenbehauptung strittig ist, sei es, weil die übrigen Behauptungen zweifellos bewiesen wurden oder außer Streit stehen. Nach der Lehre von der überwiegenden Überzeugung ist die Klage gutzuheißen, wenn diese einzige strittige relevante Tatsachenbehauptung nach der Überzeugung des Richters eher wahr als falsch ist. Nach der Lehre vom Regelbeweismaß der vollen Überzeugung ist die Klage nur dann gutzuheißen, wenn der Richter dem Vorliegen der Tatsache eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 90% zumisst. Generell gesprochen zeigt sich der Unterschied zwischen den Auffassungen überall dort, wo nur wenige Behauptungen umstritten sind. Das Konjunktionsparadox macht die Diskussion um das richtige Beweismaß in Zivilsachen also nicht überflüssig, zeigt aber, wie wichtig es ist, dass man sich einig ist, worauf sich das richterliche Überzeugung bezieht: Auf die Wahrheit aller rechtsbegründender Tatsachenbehauptungen oder auf die Wahrheit der einzelnen rechtsbegründenden Tatsachenbehauptungen.

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

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V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung Interessanterweise attackieren die wenigsten Kritiker des Regelbeweismaßes der überwiegenden Überzeugung die zentrale Annahme der entscheidungstheoretischen Begründung, nämlich dass die Kosten einer fälschlichen Nicht-Durchsetzung eines gegebenen zivilrechtlichen Anspruchs ebenso hoch sind wie die Kosten einer fälschlichen Durchsetzung eines nicht gegebenen Anspruchs. Soweit ersichtlich, argumentieren einzig Greger und Prütting explizit, dass die Kosten eines Fehlers 1. Art höher seien als die Kosten eines Fehlers 2. Art und das hohe Regelbeweismaß in Zivilsachen (auch) deshalb gerechtfertigt sei. Die meisten Argumente, die gegen das Überwiegensprinzip vorgebracht werden, beziehen sich nicht auf das relative Gewicht der Fehlerkosten (hinten, S. 518 ff.). Vorab ist aber dem Einwand zu begegnen, die Fehlerkosten würden über die Beweislastverteilung bereits berücksichtigt, weshalb es nicht angehe, sie bei der Bestimmung des Beweismaßes (erneut) zu berücksichtigen. 1. Berücksichtigung der Fehlerkosten über die Beweislastverteilung? Verschiedene Autoren argumentieren, die Fehlerkosten würden bereits bei der Beweislastverteilung berücksichtigt, und daher gehe es nicht an, sie bei der Festlegung der Entscheidungsgrenze (nochmals) zu berücksichtigen.442 Der Gesetzgeber habe »bereits bei der Ausgestaltung der Normen als rechtsbegründend, rechtsvernichtend, rechtshemmend usw. abgewogen, wem es eher zuzumuten ist, das Risiko des Unterliegens wegen Nichterweislichkeit des Sachverhalts zu tragen.«443 In der (außerordentlich komplexen444 ) Lehre zur Beweislastverteilung wurde jedes nur denkbare sachliche Prinzip als Rechtfertigung für die Verteilung der (objektiven) Beweislast vorgeschlagen und kritisiert.445 So wurde vorgeschlagen, die Beweislast nach – von bestimmten sachlichen Kriterien geleitetem, aber grundsätzlich freiem – richterlichen Ermessen zu verteilen,446 nach der Anfangs442 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 107; Meier, ZSR NF 1987, 705–742, 724 f.; Schwab, in: Holzhammer/Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451–462, 455; Fuchs, Beweismaß im Arzthaftungsprozess, 81; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.129; wohl auch Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 80–133, Rz. 67; ähnlich bereits Rosenberg, Beweislast, 91 f.; BK-ZGB-Kummer, Art. 8 N 28. 443 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 107. 444 Nach Musielak, ZZP 1986, 217–223, 223, ist die Beweislastdogmatik so komplex geworden, dass sie selbst für Prozessualisten kaum mehr überblickbar ist. 445 Übersichten bei Spiro, Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungsund Fatalfristen, 880 ff.; Prütting, Beweislast, 179 ff.; Meier, ZSR NF 1987, 705–742, 724 ff.; Ahrens, in: Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2008: Beweislast, 7–53, 29 ff. 446 Gautschi, Beweislast und Beweiswürdigung, 10 ff., 18 ff.; ähnlich Huguenin-Dumittan, Behauptungslast, Substantiierungspflicht und Beweislast, 125 ff., 137 ff., 199 ff.

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Fünfter Teil: Beweismaß

wahrscheinlichkeit der behaupteten Tatsache(n),447 dem Gefahrenbereich,448 der Angreiferstellung,449 der Beweismöglichkeiten,450 der Effizienz im Sinne der Minimierung der Verfahrenskosten451 oder dem Verkehrsschutz.452 Einzig Kummer begründet die Beweislastverteilung explizit mit dem Gedanken, die Beweislast demjenigen zu auferlegen, der die Folgen eines Fehlurteils besser verkraften kann (»für den ein Fehlurteil weniger unbillig ist«), wobei er nicht auf den konkreten Fall abstellen will, sondern darauf, »wie bei Sachlagen dieser Struktur generell das Beweisrisiko liegen soll«453 . Reinecke führt den Gedanken von Kummer weiter und postuliert, dass die Beweislast so zu verteilen sei, dass die Anzahl der Fehlurteile minimiert werde, was im Ergebnis darauf hinausläuft, die Beweislast demjenigen zu auferlegen, dessen Sachvortrag a priori weniger wahrscheinlich ist.454 Heute darf als anerkannt geltend, dass es nicht gelingen kann, aus diesen Prinzipien die Verteilung der Beweislast selbständig zu begründen.455 Sie sind als rechtspolitische Ziele zu verstehen, die mit der gesetzgeberischen Verteilung des Beweismaßes erreicht werden sollen.456 Jedoch: »Welcher Sachgrund eine konkrete gesetzgeberische Beweisregel trägt, wird häufig nicht eindeutig auszumachen sein.«457 Nach der heute in Deutschland ganz herrschenden (modifizierten) Normentheorie – auch als »Satzbaulehre«458 bezeichnet – ist zu untersuchen, was nach der sprachlichen Fassung der materiellen Norm Regel (rechtsbegründend) und Ausnahme (rechtshindernd) ist.459 Tatsachen, die sich unter rechtsbegründende, rechtshindernde und rechtsvernichtende Tatbestandsmerkmale subsumieren las447 Kasparek, Beweislast, 73; Peters, MDR 1949, 66–70, 66; Kegel, in: Biedenkopf/Coing/ Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321–344, 335; Wahrendorf, Beweislast im Haftungsrecht, 74 ff., 81 ff., 86 ff., 105, 107, 112. 448 Prölss, Beweiserleichterungen, 65 ff. 449 Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, 48 ff.; Prütting, Beweislast, 263 f. 450 Meier, ZSR NF 1987, 705–742, 736 ff.; Ahrens, in: Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2008: Beweislast, 7–53, 31. 451 Friedl, Beweislastverteilung, 74 ff.; krit. Prütting, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 135–158, Rz. 41. Nicht zu verwechseln ist Friedls Auffassung mit der Lehre von Kummer, die auf die Minimierung der Fehlerkosten zielt. 452 Reinecke, Beweislastverteilung, 68 f.; Prütting, Beweislast, 261; Ahrens, in: Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2008: Beweislast, 7–53, 37. 453 BK-ZGB-Kummer, Art. 8 N 28, 115 ff., 124; ihm folgend Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, 49, 132; Reinecke, Beweislastverteilung, 53; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.129. 454 Reinecke, Beweislastverteilung, 55 ff.; krit. Prütting, Beweislast, 199 ff. 455 Prütting, Beweislast, 264; Ahrens, in: Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2008: Beweislast, 7–53, 29 f.; Prütting, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 135– 158, Rz. 42. 456 Ahrens, in: Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2008: Beweislast, 7–53, 29 f. 457 Ahrens, in: Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2008: Beweislast, 7–53, 29. 458 Rosenberg/Gottwald/Schwab, Zivilprozessrecht, § 102 Rz. 8. 459 Prütting, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 135–158, Rz. 48.

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

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sen, sind von jeweils der Partei zu beweisen, die aus dem Merkmal etwas zu ihren Gunsten ableiten will.460 So klar der Grundsatz ist, so schwierig ist seine Anwendung im Einzelfall, weil eine klare Abgrenzung von rechtsbegründenden und rechtshindernden Tatbestandsmerkmalen bis heute nicht gelungen ist.461 Da die Beweislastverteilung nach der Normentheorie vom Satzbau der materiellen Anspruchsnorm bestimmt wird, können Formulierungen, die »auf einer sprachlichen Laune des Gesetzgebers«462 beruhen, zu einer Beweislastverteilung führen, die als unbefriedigend empfunden wird. Trotz Bekenntnis zur Normentheorie fühlt sich daher weder herrschende Lehre noch Rechtsprechung strikt an die sprachliche Formulierung des Gesetzes gebunden.463 Vielmehr ist das materielle Recht »in verschiedene Schichten wertend auf[zu]teilen«464 , und aus dieser »wertenden Zergliederung des Tatbestandes«465 die Beweislastverteilung abzuleiten. Wie überall, wo Wertungsentscheidungen getroffen werden, lässt sich die Entscheidung im Einzelfall kaum voraussehen. Dass diese Wertungsentscheidungen generell so getroffen werden, dass die Beweislast derjenigen Partei auferlegt wird, die ein Fehlurteil zu ihren Lasten besser verkraften kann, kann man entgegen Kummer nicht behaupten. So muss sowohl nach deutschem wie nach schweizerischem Recht derjenige, der behauptet, eine gesetzliche Form sei beachtet worden, den Beweis dafür erbringen, und nicht etwa derjenige, der behauptet, das Rechtsgeschäft sei mangels Beachtung der gesetzlichen Form nichtig.466 Diese Regelung lässt sich sicher damit rechtfertigen, dass derjenige, der aus einem formbedürftigen Rechtsgeschäft Rechte ableiten will, dafür besorgt sein soll, dass die Formvorschriften eingehalten werden, und die Nachteile tragen soll, wenn er dies nicht getan hat. Aber dass derjenige, der aus einem formbedürftigen Geschäft berechtigt wird, generell ein Fehlurteil eher verkraften kann als derjenige, der aus dem Geschäft verpflichtet wird, scheint mir kaum zu begründen, zumal bei synallagmatischen Verträgen beide Parteien berechtigt und verpflichtet werden, und die Beweislast daher davon abhängt, wer nicht erfüllt. So bedürfen Kaufverträge über Grundstücke bekanntlich der öffentlichen (notariellen) Beurkundung (§ 311b Abs. 1 BGB; Art. 216 Abs. 1 OR). Klagt der Käufer gestützt auf den Kaufvertrag auf Übertragung des Eigentums am Grundstück Zug-um-Zug gegen Bezahlung des 460 Statt aller Ahrens, in: Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2008: Beweislast, 7–53, 16 f.; für die Schweiz Groner, Beweisrecht, 80 f.; a. M. Meier, ZSR NF 1987, 705–742, 711. 461 Rosenberg, Beweislast, 122 ff.; Guldener, Beweiswürdigung und Beweislast, 33 f.; Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, 53 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 275; Ahrens, in: Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2008: Beweislast, 7–53, 21. 462 Ahrens, in: Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2008: Beweislast, 7–53, 23. 463 Ahrens, in: Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2008: Beweislast, 7–53, 24; für die Schweiz BK-ZGB-Kummer, Art. 8 N 166. 464 Prütting, Beweislast, 285. 465 Ahrens, in: Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2008: Beweislast, 7–53, 21. 466 MüKo-BGB-Einsele, § 125 N 35; für die Schweiz BSK-OR-Schwenzer, Art. 11 N 11.

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Fünfter Teil: Beweismaß

Kaufpreises, trägt er die Beweislast für die Einhaltung der gesetzlichen Form. Klagt der Verkäufer gestützt auf den gleichen Vertrag auf Zahlung des Kaufpreises Zug-um-Zug gegen Übertragung des Eigentums am Grundstück, trägt er die Beweislast für die Einhaltung der gesetzlichen Form. Die Kosten eines Fehlers 1. und 2. Art ändern sich doch nicht in Abhängigkeit davon, wer den Vertrag nicht erfüllt hat! Zusammenfassend ergibt sich, dass sich die Beweislastverteilung gemäß der herrschende Lehre aus dem Satzbau der anspruchsbegründenden Norm ergibt. Sachliche Prinzipien der Beweislastverteilung können als gesetzgeberische Motive die Beweislastverteilung im Einzelfall rechtspolitisch erklären, aber nicht eigenständig begründen. Es gibt zahlreiche rechtspolitische Gründe für die Beweislastverteilung, so dass man nicht sagen kann, die Beweislastverteilung erfolge grundsätzlich so, dass diejenige Partei, die ein Fehlurteil zu ihren Lasten besser verkraften kann, die (objektive) Beweislast trage. 2. Argumente für eine unterschiedliche Gewichtung der Kosten eines Fehlers 1. und 2. Art a) Bewahrung des Status quo ante Die meisten Argumente, die für die höheren Kosten eines Fehlers 1. Art genannt werden, beruhen darauf, dass die Bewahrung des Status quo ante – also des Zustands der Welt vor Einreichung der Klage – ein Wert an und für sich sei, der bei der Bewertung der Kosten eines Fehlurteils zu berücksichtigen sei. Im Kern lautet das Argument, dass eine auf falschen Tatsachenbehauptungen beruhende Veränderung des Status quo ante (also i. d. R. die Gutheißung der Klage) schwerer wiege als eine auf falschen Tatsachenbehauptungen beruhende Bewahrung des Status quo ante.467 Ich halte diese Argumentation zwar für psychologisch einleuchtend (hinten, S. 537 f.), aber normativ nicht überzeugend. Normativ nicht überzeugend ist sie deshalb, weil nicht überzeugend zu begründen ist, weshalb der Status quo ante Klageeinreichung derjenige ist, der bewahrt werden soll, und nicht der Status quo ante Schädigung, oder allgemeiner ausgedrückt, quo ante Verwirklichung der unter die anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale subsumierbaren Tatsachen.468 Um die Argumentation von vorne, S. 482 ff., aufzugreifen: Die Rechtsordnung hat durch die Zuweisung von subjektiven Rech-

467 BK-ZGB-Kummer, Art. 8 N 28; Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, 48; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 108 f.; Prütting, Beweislast, 78 f.; Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 80–133, 65; kritisch Meier, ZSR NF 1987, 705–742, 740. 468 Redmayne, Modern Law Review 1999, 167–195, 174 (»The objection that disturbing the status quo carries extra disutility ignores the fact that if the plaintiff deserves to win, the status quo has already been disturbed.«).

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

509

ten, deren Durchsetzung eine Änderung des Zustands der Welt bewirkt, bereits entschieden, dass sie diese Änderung als wünschenswert erachtet. Greger argumentiert, dass im Haftpflichtrecht der Geschädigte deshalb die objektive Beweislast – und damit die Folgen der Beweislosigkeit, wenn das hohe Regelbeweismaß der vollen Überzeugung nicht erreicht wird – trage, weil »die Belastung eines Beklagten mit einer Haftung für nicht von ihm begangenes Unrecht erheblich schwerer wiegt als die Vereitelung der Schadloshaltung eines Geschädigten.«469 Durch die fehlerhafte Abweisung der Klage verwirkliche sich für den Geschädigten nur die allgemeine Sachgefahr (casum sentit dominus), während die fälschliche Bejahung der Haftung die Risikosphäre des Dritten ausweiten würde.470 Man kann aber, wenn es nach der richterlichen Überzeugung wahrscheinlicher ist, dass der Dritte den Schaden gemäß materiellem Recht tragen muss, als dass er ihn nicht tragen muss, nicht argumentieren, dass die allgemeine Regel, wo es an einer Haftungsgrundlage fehlt, casum sentit dominus ist. Der Punkt ist, dass eine Überwälzung der Haftung auf den Dritten nach bestem richterlichen Wissen, das sich aus Verhandlung und Beweisergebnis ergibt, wahrscheinlich geboten ist. Prütting leitet aus dem zivilprozessualen Grundgedanken des Verbots der Selbsthilfe ab, dass »zunächst immer der status quo besonderen Schutz erfährt und der jeweilige Angreifer das größere Risiko tragen soll und muss.«471 Wie Rechberger bemerkt, ist der besondere Schutz des Status quo eine Folge des Selbsthilfeverbots, nicht seine Ursache.472 Wer den Schutz des Status quo mit dem Selbsthilfeverbot rechtfertigt, muss das Selbsthilfeverbot rechtfertigen. Dieses Grundprinzip zivilisierter Rechtsordnungen dient der Verhinderung der Eskalation privater Streitigkeiten, die nicht nur die Parteien, sondern auch unbeteiligte Dritten schädigen können, weshalb ein gesellschaftliches Interesse am Verbot der Selbsthilfe besteht. Dem Rechtshilfeverbot steht als Pendant der Justiz(gewährungs)anspruch gegenüber, d. h. das Verbot der Selbsthilfe durch den Staat ist nur insoweit und so lange gerechtfertigt, als er den Bürgern die Möglichkeit bietet, ihre privaten Streitigkeiten in einem justizförmigen Verfahren auszutragen.473 Der Justizgewährungsanspruch gebietet eine Gestaltung des Verfahrens, das die Herbeiführung einer mit dem materiellen Recht übereinstim-

469

Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 108. Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 108. 471 Prütting, Beweislast, 78. Das (grundsätzliche) Verbot der Selbsthilfe ergibt sich m. E. nicht in erster Linie aus dem Zivilprozessrecht, sondern ist Kern der gesamten (deutschen und schweizerischen) Rechtsordnung. 472 Rechberger, in: Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 471–490, 489. 473 Rechberger, in: Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 471–490, 489; Rosenberg/Gottwald/Schwab, Zivilprozessrecht, § 1 Rz. 7; MüKo-ZPO-Rauscher, Einl. N 16; Musielak-ZPO-Musielak, Einl. N 6. 470

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Fünfter Teil: Beweismaß

menden, also sachlich richtigen, Entscheidung gewährleistet.474 Ein Urteil stimmt eher mit dem materiellen Recht überein, wenn ihm der Sachverhalt zugrunde liegt, den der Richter eher für wahr erachtet. Das Selbsthilfeverbot führt daher über seine Rechtfertigung durch den Justizgewährungsanspruch nicht zu einem besonderen Schutz des Status quo an und für sich, qua seiner Eigenschaft als Status quo. Der mit dem Selbsthilfeverbot verbundene Justizgewährungsanspruch gebietet im Gegenteil, dem Urteil den wahrscheinlich richtigen Sachverhalt zugrunde zu legen und damit dem materiellen Recht wahrscheinlich zum Durchbruch zu verhelfen. Damit ist auch klar, dass damit nicht etwa dem in der Lehre immer wieder vertretenen Rechtsschutzanspruch, d. h. einem Anspruch auf ein objektiv richtiges Urteil, das Wort geredet wird.475 Die Parteien haben keinen Anspruch darauf, dass ein Urteil mit Sicherheit richtig ist, aber wenn man den Justizgewährungsanspruch mit dem Bundesverfassungsgericht so weit fasst, dass auch ein Anspruch auf eine Gestaltung des Verfahrens besteht, die zu einem richtigen Urteil führt, dann ist die natürliche Folge, sich für den Sachverhalt zu entscheiden, der nach der richterlichen Überzeugung eher wahr ist. Das Argument, dass der Status quo einen besonderen Schutz genießt, ist intuitiv einleuchtend, weil Menschen in Wahlsituationen unter Unsicherheit in der Tat die Entscheidung, die am Status quo nichts ändert, bevorzugen.476 Dabei spielt es keine Rolle, dass der Status quo durch Zufall bestimmt wurde.477 Es genügt sogar, einen Zustand einfach als den Status quo zu bezeichnen, damit er bevorzugt wird.478 Werden die Fehlerkosten durch die gesellschaftlichen Kosten, verstanden als Aggregation aller individueller Kosten, bestimmt, so führt die Berücksichtigung des »Status quo Bias« somit tatsächlich zu einer Entscheidungsgrenze, die über 50% liegt. Normativ ist die Berücksichtigung des Status quo Bias, respektive der Verlustaversion, die damit eng zusammenhängt, aber nicht gerechtfertigt, wie im folgenden Abschnitt argumentiert wird.

474 BVerfGer 69, 126, 140 = NJW 1985, 1149, 1150; MüKo-ZPO-Rauscher, Einl. N 17; Musielak-ZPO-Musielak, Einl. N 8. 475 Ursprünglich wurde die Lehre vom Rechtsanspruch von Wach, Handbuch des deutschen Civilprozessrechts, 19 ff., begründet, in neuster Zeit in Deutschland vertreten durch Detterbeck, AcP 1992, 325–340, 333 ff., und in der Schweiz durch Berti, SZZP 2005, 67–77, 73 ff. Die herrschende Lehre und das Bundesverfassungsgericht haben die Lehre vom Rechtsschutzanspruch immer abgelehnt, Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, 54 f., mit umfassenden Nachweisen. 476 Samuelson/Zeckhauser, Journal of Risk and Uncertainty 1988, 7–59; Korobkin/Ulen, California Law Review 2000, 1051–1144, 1007 ff.; Kay et al., Journal of Personality and Social Psychology 2009, 421–434; Moshinsky/Bar-Hillel, Social Cognition 2010, 191–204. 477 Samuelson/Zeckhauser, Journal of Risk and Uncertainty 1988, 7–59, 14. 478 Moshinsky/Bar-Hillel, Social Cognition 2010, 191–204.

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

511

b) Verlustaversion Baumgärtel führt an, die Auffassung von Maassen, dass das Überwiegensprinzip die Kosten einer fehlerhaften Sachverhaltsfeststellung minimiere, verkenne, »dass das Urteil auch beim Nachweis der überwiegenden Wahrscheinlichkeit den Gegner, wenn das Urteil unrichtig ist, hart trifft.«479 Damit ist aber natürlich noch nicht gesagt, dass das Urteil die nicht beweisbelastete Partei härter trifft als die beweisbelastete Partei. Tatsächlich ist es aber so, dass dies psychologisch meist zutrifft – nämlich immer dann, wenn die beweisbelastete Partei durch das die Klage gutheißende Urteil gegenüber dem Status quo ante etwas gewinnt, während der Beweisgegner etwas verliert. Das muss zwar nicht immer so sein,480 aber in der überwiegenden Zahl zivilrechtlicher Klagen ist es in der Tat so, dass eine Gutheißung der Klage bedeutet, dass dem Kläger etwas zugesprochen wird, während dem Beklagten etwas weggenommen oder verboten wird. Gemäß orthodoxer ökonomischer Theorie vergleichen ökonomische Akteure Vermögenszustände, d. h. sie vergleichen beispielsweise den Vermögenszustand, den sie vor einem die Klage gutheißenden Urteil haben mit dem Vermögenszustand, den sie nach dem Urteil haben. Da Vermögenszustände verglichen werden, sollte der Weg, wie man zu diesem Vermögenszustand gelangt ist, ob – verglichen mit dem Status quo – durch einen Vermögenszuwachs (Gewinn) oder eine Vermögensverminderung (Verlust) keine Rolle spielen.481 Empirische Studien aber zeigen, dass Menschen nominell gleich hohen Gewinnen und Verlusten unterschiedlich großen Nutzen und Kosten beimessen. Menschen evaluieren Gewinne und Verluste als Veränderungen ausgehend von einem Status quo, sie vergleichen keine Endzustände ihres Vermögens.482 Dabei gilt, dass die meisten Menschen den Ärger über einen Verlust als größer empfinden als die Freude über einen Gewinn gleicher Höhe; »[l]osses loom larger than gains.«483 Die meisten Menschen empfinden ein Spiel, bei dem sie beim Wurf einer fairen Münze, die auf Kopf landet, Fr. x gewinnen und Fr. x verlieren, wenn sie auf Zahl landet, als unattraktiv, wobei die Wette mit steigendem Einsatz als immer unattraktiver erscheint.484 Bei gleicher Chance für einen Gewinn oder Verlust muss der

479

Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 74. Rosenberg, Beweislast, 97; Clermont/Sherwin, American Journal of Comparative Law 2002, 243–276, 268. Nicht z. B. bei (positiven oder negativen) Feststellungsklagen. Bei Gestaltungsklagen lässt sich meist auch nicht sagen, wer verglichen mit dem Status quo ante als »Gewinner« oder »Verlierer« dasteht. 481 Kahneman/Tversky, Econometrica 1979, 263–292, 263 f. 482 Kahneman/Tversky, Econometrica 1979, 263–292, 268 f. 483 Kahneman/Tversky, Econometrica 1979, 263–292, 279. 484 Kahneman/Tversky, Econometrica 1979, 263–292, 279. Abnehmender Grenznutzen von Geld kann eine unterschiedliche Evaluation von gleich hohen Gewinnen und Verlusten nicht erklären, Rabin, in: Kahneman/Tversky (Hrsg.), Choices, Values, and Frames, 202–208. 480

512

Fünfter Teil: Beweismaß

Gewinn rund doppelt so hoch sein wie der Verlust, damit eine Mehrheit der Menschen das Spiel akzeptiert.485 Die »Prospect Theory« von Kahneman und Tversky ist ein deskriptives Modell menschlichen Entscheidungsverhaltens unter Risiko, das davon ausgeht, dass Menschen Änderungen ihres Vermögens ausgehend von einem Referenzpunkt bewerten.486 Kahneman und Tversky haben die Verlustaversion ursprünglich widerstrebend in ihre deskriptive Theorie aufgenommen, da sie keine elegante Annahme ist. Es sollte jedoch die Verlustaversion sein, welche die breiteste Anwendung außerhalb des Anwendungsbereiches der formalisierten Prospect Theory finden sollte.487 Der Ökonom Richard Thaler zeigte, dass Verlustaversion auch bei risikoloser Wahl auftritt.488 Verlustaversion kann den so genannten »Besitztumseffekt« erklären: Menschen verlangen mehr Geld, um den Besitz eines Gutes aufzugeben, als sie bereit sind, für den Erwerb des Gutes auszugeben.489 Durch eine Reihe sorgfältiger Experimente können alternative Erklärungen für die unterschiedliche Evaluierung wie Transaktionskosten oder strategisches Verhalten ausgeschlossen werden.490 Das Verhältnis von Gewinn zu Verlust, das ein Spiel mit einer gleich hohen Chance gerade akzeptabel macht, liegt zwischen 2 und 2,5 (Median bei 2,25) für riskante wie risikolose Entscheidungen.491 Das bedeutet, dass die meisten Menschen durch einen Verlust ungefähr die doppelten Kosten (Disutilität) erfahren als Nutzen (Utilität) durch einen Gewinn gleicher Höhe. Verlustaversion, die auch außerhalb des Labors nachgewiesen wurde,492 kann zahlreiche Normen des positiven Rechts erklären, so die vielen Bestimmungen, die dem Besitzenden einen Rechtsvorteil verschaffen (»beati possidentes«), die aus Sicht der orthodoxen ökonomischen Theorie »irrational« sind.493 Verlustaversion kann auch das empirisch beobachtete Verhalten von Streitparteien in Zivilprozessen erklären.494 Ein Zivilprozess bietet einen natürlichen Rahmen (frame), seinen Ausgang je nach Perspektive der Partei als Gewinn oder Verlust 485

Tversky/Kahneman, Journal of Risk and Uncertainty 1992, 297–323, 58. Kahneman/Tversky, Econometrica 1979, 263–292; Tversky/Kahneman, Journal of Risk and Uncertainty 1992, 297–323. 487 Kahneman/Tversky (Hrsg.), Choices, Values, and Frames, xiii. 488 Thaler, Journal of Economic Behavior and Organization 1980, 39–60, 43 ff.; Kahneman/ Knetsch/Thaler, Journal of Economic Perspectives 1991, 193–206, 201 ff. 489 Thaler, Journal of Economic Behavior and Organization 1980, 39–60, 44 f. 490 Kahneman/Knetsch/Thaler, Journal of Political Economy 1990, 1325–1348, 1328 ff. 491 Tversky/Kahneman, Quarterly Journal of Economics 1991, 1039–1061, 154; Tversky/ Kahneman, Journal of Risk and Uncertainty 1992, 297–323, 59. 492 Camerer, in: Kahneman/Tversky (Hrsg.), Choices, Values, and Frames, 288–300, 290 ff.; DellaVigna, NBER Working Paper 2007, 5 ff. 493 Cohen/Knetsch, Osgoode Hall Law Review 1992, 737–770, 752 ff.; Guthrie, Northwestern University Law Review 2003, 1115–1164, 1127 ff.; Zamir, Vanderbilt Law Review 2012, 829–894, 843 ff. 494 Guthrie, Northwestern University Law Review 2003, 1115–1164, 1120 ff. 486

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

513

zu betrachten. Sowohl Laborexperimente als auch empirische Daten aus amerikanischen Zivilprozessen belegen, dass Menschen den Ausgang von Zivilprozessen tatsächlich je nach ihrer Rolle als Kläger oder Beklagte als Gewinn oder Verlust empfinden; d. h. sie verhalten sich, wie die Prospect Theory voraussagt, und nicht gemäß orthodoxer ökonomischer Theorie.495 Weil Kläger die Gutheißung der Klage als Gewinn empfinden, ist die irrtümliche Abweisung der Klage aus Sicht des Klägers ein entgangener Gewinn (für den Beklagten ändert sich am Status quo ante nichts), der ihn nur rund halb so stark ärgert wie den Beklagten den ihm aus seiner Perspektive zugefügten Verlust, der durch die irrtümliche Gutheißung der Klage entsteht. Wenn die Entscheidungsgrenze in Zivilsachen nicht nur »the total expected number of dollars coming from the wrong pockets«496 minimieren soll, sondern die gesellschaftlichen Kosten, verstanden als Aggregation der individuellen Kosten aller Rechtssubjekte, dann muss das Beweismaß deutlich über 50% liegen, um der unterschiedlichen Gewichtung von Gewinnen und Verlusten Rechnung zu tragen.497 Nimmt man ein Verhältnis der Kosten eines falsch negativen Urteils zu einem falsch positiven Urteil von 2,25 an (den Median der empirisch gemessenen Quotienten) und setzt die Kosten eines korrekten Urteils gleich Null, dann resultiert aus Ungleichung (24) eine Entscheidungsgrenze von 69%. Das ist zwar immer noch tiefer als das von der herrschenden Lehre und Rechtsprechung in Deutschland und der Schweiz geforderte Regelbeweismaß, aber erheblich höher als die 50%, die vom »preponderance of the evidence« Standard der Common Law Länder verlangt wird.498 Während die Verlustaversion die Intuition erklärt, die Entscheidungsgrenze bei deutlich über 50% anzusetzen, bietet sie keine normative Grundlage dafür. Das Problem ist nicht einmal in erster Linie, dass der Referenzpunkt – der Status quo ante – manipulierbar ist.499 Das grundlegende Problem ist, dass es nicht überzeugend zu begründen ist, warum der Status quo ante Klageeinreichung der maßgebliche Status quo sein sollte.500 Abbildung 53 dient dazu, diese Überlegung zu illustrieren. Im Zeitpunkt t1 erfährt der Kläger (gepunktete Linie) eine Vermögensverminderung, die nicht notwendigerweise unfreiwillig ist, sondern auch freiwillige Vermögensverminderungen (beispielsweise die Auszahlung eines 495 Korobkin/Guthrie, Michigan Law Review 1994, 107–192, 133 ff.; Babcock et al., International Review of Law and Economics 1995, 289–303, 296 f.; Rachlinski, Southern California Law Review 1996, 113–185, 155 ff.; Gilliland/Dunn, Judgment and Decision Making 2008, 512–527, 517 ff.; Zamir/Ritov, Journal of Legal Studies 2010, 245–288, 269 f. 496 Kaye, Law & Social Inquiry 1982, 487–516, 497. 497 Zamir, Vanderbilt Law Review 2012, 829–894, 887 f.; Zamir/Ritov, Journal of Legal Studies 2012, 165–207, 172. 498 Zamir/Ritov, Journal of Legal Studies 2012, 165–207, 172. 499 Korobkin/Guthrie, Michigan Law Review 1994, 107–192, 120 ff.; Zamir/Ritov, Journal of Legal Studies 2010, 245–288, 262 ff., 269 (zur Manipulierbarkeit des Referenzpunktes). 500 Redmayne, Modern Law Review 1999, 167–195, 174.

514

Fünfter Teil: Beweismaß

t1

t2

t1

t2

t1

t2

Abbildung 53: Utilitätsniveau von Kläger (gepunktete Linie) und Beklagtem (ausgezogene Linie) bei korrektem, falsch negativem und falsch positivem Urteil.

Darlehens) umfasst. Der Kläger erfährt dies als Verlust, der Beklagte als Gewinn von nominell gleicher Höhe, den er jedoch – wenn wir Verlustaversion ernst nehmen – als nur rund halb so erfreulich empfindet wie der Kläger seinen Verlust. Die Linien in Abbildung 53 zeigt das resultierende Utilitätsniveau von Kläger (gepunktete Linie) und Beklagtem (ausgezogene Linie). Im Zeitpunkt t2 ergeht das Urteil. Im ersten Fall (links in Abbildung 53) ergeht ein korrektes Urteil. Der Beklagte muss die gleiche Summe zurückzahlen, die er im Zeitpunkt t1 erhalten hat, erfährt dies aber ausgehend vom jetzigen Status quo als Verlust, während der Kläger dies als Gewinn erfährt, so dass beide Parteien wieder auf dem gleichen Utilitätsniveau sind (wenn auch auf einem tieferen, und dies ohne Berücksichtigung der Prozesskosten).501 In der mittleren Grafik in Abbildung 53 ist der Fall eines falsch negativen Urteils dargestellt; d. h. der Kläger hat im Zeitpunkt t1 einen Verlust erlitten und der Beklagte einen Gewinn, aber die Klage wird abgewiesen und am Status quo im Zeitpunkt t2 ändert sich nichts. Die rechte Grafik in Abbildung 53 schließlich zeigt den Fall eines falsch positiven Urteils: Der Kläger hat im Zeitpunkt t1 keine Vermögensverminderung erfahren, der Beklagte keinen Gewinn, aber im Zeitpunkt t2 erhält der Kläger einen Gewinn, während der Beklagte einen Verlust erleidet. Der entscheidende Punkt ist, dass die Utilitäts-Differenzen im Zeitpunkt t2 in beiden Fällen eines Fehlurteils gleich hoch sind. Zwar kann man sagen, dass im zweiten Fall das Gericht dem Beklagten einen Verlust zugefügt hat, während es im ersten Fall bloß passiv geblieben ist (dazu hinten, S. 537). Aber dass die Nicht-Kompensation einer tatsächlichen Vermögensverminderung weniger Kosten verursachen soll als die Kompensation einer nicht erfolgten Vermögensverminderung lässt sich bei gesamtheitlicher Betrachtung der Interessenlage nicht begründen.502

501 Geht man davon aus, dass der Beklagte aus der Vermögensverminderung des Klägers keinen korrespondierenden Vermögenszuwachs erzielt hat, liegt das Utilitätsniveau des Beklagten jetzt tiefer. An der auf der Differenz der Utilitäten basierenden Analyse ändert sich nichts. 502 Im Ergebnis ähnlich Meier, ZSR NF 1987, 705–742, 740.

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

515

c) Reputationsschaden Posner deutet an, dass der Reputationsverlust, der durch ein Urteil verursacht wird, das eine absichtliche Täuschung (civil fraud) durch den Beklagten feststellt, das höhere Beweismaß der »clear and convincing evidence« rechtfertigen kann, das in den USA in solchen Fällen statt des zivilprozessualen Regelbeweismaßes der »preponderance of the evidence« gilt.503 Da der Reputationsverlust einseitig den Beklagten bei fälschlicher Gutheißung der Klage trifft – eine fälschliche Abweisung der Klage hat keinen Reputationsverlust für den Kläger zur Folge – führt er zu unterschiedlichen Kosten der Fehler 1. und 2. Art und damit zu einem von 50% abweichenden Beweismaß. Dieser Gedanke lässt sich generalisieren, denn es gilt wohl allgemein, dass die Abweisung einer Klage keinen Reputationsverlust für den Kläger mit sich bringt (es sei denn, das Gericht stelle ausnahmsweise fest, die Klage sei böswillig eingereicht worden). Wird die Klage hingegen gutheißen, ist damit das Urteil verbunden, dass sich der Beklagte im Widerspruch zur objektiven Rechtsordnung befunden hat. Er hat, im weitesten Sinne, ein Unrecht begangen, denn hätte er sich rechtskonform verhalten, wäre für die Durchsetzung des dem Kläger zustehenden Anspruchs kein gerichtliches Verfahren notwendig gewesen. Das »Unrechtmäßige« des beklagtischen Verhaltens ergibt sich nicht bereits aus der Entstehung des Anspruchs – nicht jeder Anspruch beruht auf einem widerrechtlichen Verhalten. Aber ich würde die Auffassung verteidigen, dass die Nichterfüllung einer fälligen Forderung zwar nicht widerrechtlich im technischen Sinne, aber eben im weitesten Sinne unrechtmäßig ist; ein Verhalten, das im Widerspruch zu dem steht, das von der objektiven Rechtsordnung gefordert wird. Soweit ersichtlich, wurde dieses Argument für ein 50% übersteigendes Regelbeweismaß in Zivilsachen bisher in der deutschsprachigen Literatur jedoch noch nie vorgebracht. Eine Umfrage unter Gerichtsangehörigen der Kantone Bern und Zürich zeigt, dass die Einschätzung, dass eine fälschliche Gutheißung einer Forderungsklage eher zu einem Reputationsschaden führt als eine fälschliche Abweisung, von ihnen geteilt wird (genauere Angaben zur Zusammensetzung der Stichprobe und Durchführung der Umfrage finden sich hinten, S. 576 ff.). Die Hälfte der Befragten wurde gefragt, ob der Beklagte einen Schaden an seinem Ruf erleide, wenn eine zivilrechtliche Forderungsklage auf Geldleistung zu Unrecht gutheißen wird, während die andere Hälfte gefragt wurde, ob der Kläger einen Schaden an seinem Ruf erleide, wenn eine zivilrechtliche Forderungsklage zu Unrecht abgewiesen wird. Die Aufteilung auf die beiden Gruppen erfolgte zufällig. Diejenigen, die die Frage bejahten, wurden anschließend gefragt, wie groß dieser Reputationsschaden auf einer Skala von 1 bis 100 sei, wobei die Wahl durch Verschieben eines Reglers auf einem horizontalen Balken erfolgte (siehe Anhang VIII für ein Bei503

Posner, Journal of Legal Studies 1973, 399–458, 415.

516

Fünfter Teil: Beweismaß

Tabelle 24: Rufschädigung nach falscher Gutheißung respektive Abweisung einer Forderungsklage (Gerichtsangehörige).

Falsche Gutheißung (N = 84) Falsche Abweisung (N = 83)

Rufschaden

Ausmaß (Std.abw.)

Entschädigung in Fr. (Std.abw.)

38 (45%)

37,6 (19,7)

2’400 (4’046)

18 (22%)

40,8 (23,7)

1’281 (2’419)

spiel). Schließlich wurden die Studienteilnehmer, die einen Reputationsschaden bejahten, gefragt, wie hoch (in Franken) ihrer Meinung nach eine angemessene Entschädigung für die erlittene Rufschädigung sein müsste. Die Resultate werden in Tabelle 24 dargestellt. Es bejahen signifikant mehr Gerichtsangehörige eine Rufschädigung bei falscher Gutheißung (45%) als bei falscher Abweisung (22%).504 Diejenigen, die eine Rufschädigung bejahen, bewerten deren Schwere in beiden Bedingungen allerdings nicht unterschiedlich. Die durchschnittliche angemessene Entschädigung für den Reputationsschaden, der durch eine falsche Gutheißung entsteht, ist zwar rund doppelt so hoch wie die durchschnittliche angemessene Entschädigung für den Reputationsschaden, der durch eine falsche Abweisung entsteht, aber der Unterschied ist nicht statistisch signifikant (d. h. er würde bei einer Wiederholung der Umfrage wahrscheinlich nicht mehr beobachtet). Nun kann man einwenden, dass die Ansicht der Gerichtsangehörigen nicht maßgebend ist – maßgebend ist, ob in der Bevölkerung der Verlust eines Zivilprozesses als rufschädigend empfunden wird. Ich habe deshalb die gleichen Fragen im Januar 2012 einer nach Alter und Geschlecht repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung gestellt (nähere Angaben zur Umfrage ebenfalls hinten, S. 576 ff.). Einziger Unterschied war die Währung für die angemessene Entschädigung, die in Euro statt Franken ausgedrückt werden sollte. Die Ergebnisse sind in Tabelle 25 dargestellt. Die Werte entsprechen qualitativ den Ergebnissen für die Gerichtsangehörigen: Signifikant mehr Befragte bejahen eine Rufschädigung bei falscher Gutheißung als bei falscher Abweisung.505 Diejenigen, die eine Rufschädigung bejahen, bewerten deren Ausmaß in beiden Bedingungen gleich hoch, wobei die Stichprobe aus der Bevölkerung die Rufschädigung in beiden Bedingungen signifikant höher einschätzt als die Gerichtsangehörigen.506 Auch hier ist die durchschnittliche angemessene Entschädigung für einen Fehler 1. Art deskriptiv rund doppelt 504 505 506

χ2 (2 N = 167) = 7,156, p < 0,01. χ2 (2 N = 507) = 25,44, p < 0,001. t (215) = 7,93, p < 0,001 für die Gutheißung; t (149) = 4,88, p < 0,001 für die Abweisung.

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

517

Tabelle 25: Rufschädigung nach falscher Gutheißung respektive Abweisung einer Forderungsklage (Bevölkerung).

Falsche Gutheißung (N = 246) Falsche Abweisung (N = 261)

Rufschaden

Ausmaß (Std.abw.)

Entschädigung in C (Std.abw.)

179 (73%)

66,1 (20,2)

28’461 (113’289)

133 (51%)

65,9 (20,0)

14’438 (29’005)

so hoch wie für einen Fehler 2. Art, aber der Unterschied ist wiederum nicht signifikant.507 Die von der Bevölkerungs-Stichprobe als angemessen betrachtete Entschädigung ist deskriptiv höher als die der Gerichtsangehörigen, aber der Unterschied ist nicht signifikant, d. h. würde bei einer Wiederholung der Umfrage wahrscheinlich nicht mehr beobachtet. In beiden Gruppen sind die Standardabweichungen riesig, was darauf hindeutet, dass es die Befragten schwierig finden, einen abstrakten Rufschaden in Geld aufzuwiegen. Ob die unterschiedlichen Folgen für den Ruf der unterliegenden Partei ein Regelbeweismaß von über 90% rechtfertigen können, wie es der deutschen und schweizerischen Praxis entspricht, muss allerdings bezweifelt werden. Da diejenigen, die eine Rufschädigung bejahen, deren Folgen als identisch betrachten, unabhängig davon, ob sie auf einen Fehler 1. Art oder einen Fehler 2. Art zurückzuführen ist, kann man vereinfachend den Anteil der Personen, die einen Rufschaden bejahen, als Fehlerkosten betrachten. Ein Reputationsschaden kann natürlich auch durch eine korrekte Gutheißung einer Forderungsklage entstehen, weil damit eben das Urteil verbunden ist, dass der Beklagte seine Schulden nicht bezahlt hat. Aber normativ ist es gerechtfertigt, diese Kosten nicht zu berücksichtigen, weil es der Schuldner in der Hand gehabt hätte, den Reputationsschaden durch rechtskonformes Verhalten zu vermeiden. Dasselbe gilt für den Reputationsschaden, der dem Kläger durch die Abweisung einer unbegründeten Klage entsteht; auch er hätte es in der Hand gehabt, den Schaden zu vermeiden. Beachtet man daher nur die Rufschädigung durch Fehlurteile und nimmt man die entsprechenden Werte für die Gerichtsangehörigen (0,45/0,22) und setzt diese in Gleichung (24) ein, so erhält man ein Beweismaß von 67%; mit den Werten der deutschen Bevölkerung von 59%. Beides ist weit entfernt von den über 90%, die gemäß Praxis für das Regelbeweismaß in Zivilsachen verlangt werden. Natürlich ist diese Rechnung cum grano salis zu nehmen. Einerseits, weil die angenommenen Werte nicht den tatsächlichen Werten entsprechen müssen – es handelt sich um die Werte einer Stichprobe, bei Befragung einer anderen Stichprobe würde zwischen den zwei Bedingungen zwar mit größter Wahrscheinlich507

t (300) = 1,347, p > 0,1.

518

Fünfter Teil: Beweismaß

keit erneut ein Unterschied in der gleichen Richtung gefunden (dies sagt uns der Signifikanz-Test), aber der Unterschied wird nicht exakt gleich groß sein, und die berechnete Beweismaßgrenze daher auch nicht. Andererseits ist es fraglich, ob der durchschnittliche Reputationsschaden maßgebend sein kann. Wenn man den Reputationsschaden berücksichtigen wollte, müsste man wohl auf den durch die konkreten Parteien im konkreten Fall zu befürchtenden Reputationsschaden abstellen, denn unterschiedliche Parteien können durch einen Prozessverlust sehr unterschiedlich in ihrem Ruf betroffen werden (für einen prominenten Politiker ist eine zu Unrecht erfolgte Verurteilung zur Zahlung einer Geldleistung sehr schädlich, für einen unbekannten Lohnempfänger viel weniger). Die Berücksichtigung des individuellen Reputationsschadens hätte die Konsequenz, dass das Beweismaß für die Gutheißung einer Klage gegen eine Person, die auf ihren guten Ruf angewiesen ist, höher wäre als das für die Gutheißung einer Klage gegen eine Person, die nicht auf ihren Ruf angewiesen ist. Diese Konsequenz ist ein weiterer Grund, weshalb die Fehlerkosten wie hier vertreten normativ, ohne Berücksichtigung der Konsequenzen für die konkreten Parteien, bestimmt werden müssen (vorne, S. 482 ff.). Zusammenfassend ergibt sich, dass der durch ein Fehlurteil erlittene Reputationsschaden das Regelbeweismaß der vollen Überzeugung nicht zu rechtfertigen vermag. Zwar wird eine Rufschädigung häufiger bei einer falschen Gutheißung einer Forderungsklage als einer falschen Abweisung bejaht. Aber der Unterschied vermag kein Beweismaß zu rechtfertigen, das 90% übersteigt. Die Berücksichtigung des individuellen Reputationsschadens im konkreten Einzelfall hätte die unerwünschte Konsequenz, die Durchsetzung berechtigter Ansprüche gegen Personen, die von ihrem guten Ruf leben, zu erschweren. 3. Andere Argumente gegen die Lehre von der überwiegenden Überzeugung a) Ziel der Wahrheitsfeststellung Gegen das Überwiegensprinzip wird vorgebracht, ideales Ziel eines in Bezug auf Tatfragen strittigen Zivilverfahrens sei die Übereinstimmung des festgestellten Sachverhalts mit der Wirklichkeit, oder anders gesagt, die materielle Wahrheit. Die Feststellung, ein Sachverhalt sei wahrscheinlich, genüge diesem Ziel nicht.508 Dass ideales Ziel der Sachverhaltsermittlung »eine wirklichkeitsgerechte Sachverhaltsrekonstruktion«509 , oder eben die materielle Wahrheit, ist, wird auch in dieser Arbeit vertreten (vorne, S. 45 ff.). Dieses Ziel steht entgegen der Auffassung von Walter nicht im Widerspruch zur Lehre von der überwiegenden Überzeugung. Diese besagt nichts anderes, als dass sich der Richter für den Sachverhalt entscheiden soll, der nach seiner aus der gesamten Verhandlung und dem 508 509

Walter, Freie Beweiswürdigung, 161 f.; ähnlich Schilken, Zivilprozessrecht, Rz. 478. AK-ZPO-Rüßmann, § 286 N 14.

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

519

Beweisergebnis geschöpften Überzeugung eher wahr ist, und sichert damit die größtmögliche Wahrscheinlichkeit, dass das Urteil mit der materiellen Wahrheit übereinstimmt (vorne, S. 434 ff.). Die praktische Auswirkung des hohen Beweismaßes der vollen Überzeugung ist nicht, dass dem Urteil ein wahrer Sachverhalt zugrunde liegen wird, sondern dass die Partei, die nicht die Beweislast trägt, einen gewaltigen Vorteil hat.510 Das hohe Beweismaß führt dazu, dass vermehrt nicht nach dem wirklichen, sondern nach einem fingierten Sachverhalt entschieden wird.511 Nun ist es sicherlich so, dass die Lehre von der überwiegenden Überzeugung es dem Richter, und den Parteien, bewusst macht, dass Sicherheit nicht erreicht werden kann und ein Irrtum immer möglich ist. Dies mag mit den moralischen Gefühlen des Richters und der Parteien konfligieren, nicht bewusst die Möglichkeit eines Fehlurteils in Kauf nehmen zu wollen,512 oder anders ausgedrückt, ein »eventualvorsätzliches« Fehlurteil wird als unzulässig erachtet, bewusste Fahrlässigkeit513 hingegen akzeptiert. Man will keinen Fehler machen, aber man lebt damit, dass es unvermeidbare Fehler gibt.514 Das Problem mit dieser Argumentation ist, dass sie unberücksichtigt lässt, dass es nicht nur einen Fehler darstellt, eine Tatsachenbehauptung fälschlicherweise für wahr zu erachten, sondern auch einen Fehler, sie fälschlicherweise für falsch zu erachten (oder aufgrund einer Beweislastentscheidung so zu behandeln, als ob sie falsch wäre). »Nur wer bedürftig ist, soll Sozialhilfe bekommen; nur wer ein Darlehen tatsächlich hingegeben hat, soll es zurückverlangen dürfen; nur wer als Autofahrer geeignet ist, einen Führerschein bekommen usw.«515 schreibt Walter. Das ist zweifellos richtig – aber ein hohes Beweismaß führt dazu, dass viele Darlehensgeber, die tatsächlich ein Darlehen gewährt haben, es nicht zurückfordern können; dass viele tatsächlich Bedürftige keine Hilfe erhalten, und das steht mit dem materiellen Recht genauso im Widerspruch, wie einem NichtDarlehensgeber einen Rückzahlungsanspruch zu gewähren oder einem NichtBedürftigem Anspruch auf Sozialhilfe. Durch das Regelbeweismaß der vollen Überzeugung werden die Fehler nur einseitig verteilt – vermieden werden Fehler 1. Art unter Inkaufnahme einer höheren Wahrscheinlichkeit von Fehlern 2. Art.

510

Clermont/Sherwin, American Journal of Comparative Law 2002, 243–276, 271. Musielak, Grundlagen der Beweislast, 291. 512 Tribe, Harvard Law Review 1971, 1329–1393, 1372 f.; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 113. 513 Dass ein Irrtum auch beim Beweismaß der vollen Überzeugung möglich ist, ist unbestritten, statt aller Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 112 f. 514 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 113; Ho, A legal theory of evidence and proof, 185 (für das Strafrechtprozessrecht). 515 Walter, Freie Beweiswürdigung, 183. 511

520

Fünfter Teil: Beweismaß

b) Notwendigkeit der Quantifizierung des Beweisergebnisses Gegen das Überwiegensprinzip wird eingewendet, dass seine Anwendung in der Praxis daran scheitere, dass eine Quantifizierung des Beweisergebnisses unmöglich sei.516 Auch wird eingewendet, dass der Sprung von 49%-iger Überzeugung auf 51%-ige Überzeugung gering sei und nicht über Sieg oder Niederlage entscheiden dürfe.517 Gewiss habe auch der Übergang vom Zweifel an der Wahrheit zur Überzeugung von der Wahrheit irgendwo eine Scheidelinie. Doch diese sei nur gedanklich vorstellbar und werde in der Praxis nicht empfunden, während die Grenze zwischen 49%-iger und 51%-iger Wahrscheinlichkeit »geradezu das Essentiale dieser Lehre [sc. des Überwiegensprinzips] darstellt und bei ihrer Anwendung bewusst gemacht werden muss.«518 Die beiden Argumente sind zu unterscheiden. Das erste kann widerlegt werden mit dem Hinweis, dass die Lehre von der überwiegenden Überzeugung nur verlangt, dass der Richter sagen kann, ob er einen Sachvortrag eher für wahr oder falsch erachtet, was keine Quantifizierung der Beweiswürdigung verlangt. Das zweite Argument wird widerlegt durch den Nachweis, dass es schwierig zu entscheidende Grenzfälle immer geben wird, egal, wo man die Entscheidungsgrenze zieht.519 Die Lehre von der überwiegenden Überzeugung setzt eine Quantifizierung des Beweisergebnisses ebenso wenig voraus wie die herrschende Lehre vom »für das praktische Leben brauchbaren Grad der Gewissheit«. Es muss unterschieden werden zwischen der theoretischen Rechtfertigung des Beweismaßes durch die Entscheidungstheorie und seiner Anwendung in der Praxis. Während die theoretische Rechtfertigung des Beweismaßes durch die normative Entscheidungstheorie in der Tat verlangt, dass man die Kosten der verschiedenen möglichen Ergebnisse als reelle Zahlen ausdrückt und daraus einen quantifizierten Grad subjektiver Wahrscheinlichkeit als Entscheidungsgrenze ableitet, folgt daraus nicht, dass die gesamte Beweiswürdigung quantifiziert werden muss.520 Dies zeigt ein Blick in die US-amerikanische Lehre, wo seit Jahrzehnten darüber gestritten wird, ob das Beweismaß der »preponderance of the evidence« oder des »beyond reasonable doubt« durch einen Wahrscheinlichkeitsgrad ausgedrückt werden soll.521 516

Arens, ZZP 1975, 1–48, 32; Walter, Freie Beweiswürdigung, 175 f., 189; Leipold, Beweismaß und Beweislast, 11; Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 76; Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/ Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 80–133, Rz. 65. 517 Arens, ZZP 1975, 1–48, 32; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 111; Fuchs, Beweismaß im Arzthaftungsprozess, 83. 518 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 111. 519 Kaufmann, AJP 2003, 1199–1208, 1205. 520 Tillers/Gottfried, Law, Probability & Risk 2007, 135–157, 142. 521 Befürwortend Kagehiro/Stanton, Law and Human Behavior 1985, 159–178, 175 f.; Kagehiro, Psych. Science 1990, 194–200, 197 f.; Saunders, Bepress Legal Series 2005; Tillers/Gottfried, Law, Probability & Risk 2007, 135–157, 143 f.; Weinstein/Dewsbury, Law, Probability & Risk 2007, 167–173; ablehnend Stoffelmayr/Diamond, Psychology, Public Policy, and Law 2000, 769–

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

521

Abbildung 54: Intensität der richterlichen Überzeugung, dass eine Tatsachenbehauptung wahr ist.

Die US-amerikanische Rechtsprechung steht einer Quantifizierung trotz des dort geltenden Beweismaßes der »preponderance of the evidence« ablehnend gegenüber.522 Bereits das zeigt, dass die Lehre von der überwiegenden Überzeugung nicht notwendigerweise ein quantifiziertes Beweisergebnis voraussetzt. Es genügt, dass es möglich ist zu sagen, ob ein Sachvortrag eher wahr oder eher falsch oder mit gleicher Wahrscheinlichkeit wahr oder falsch ist. Dass dies möglich ist, bestreitet auch Walter nicht.523 Weder eine numerische Beschreibung des Beweismaßes noch eine Quantifizierung des Beweisergebnisses sind nötig.524 Das zweite Gegenargument, dass es beim Überwiegensprinzip vom geringen Sprung von 50% auf 51% subjektiver Wahrscheinlichkeit abhänge, ob für oder gegen die beweisbelastete Partei zu entscheiden ist, sticht nicht, weil es eine Scheidelinie, und Fälle, die nahe der Scheidelinie liegen, immer gibt, egal, wo die Linie gezogen wird. Nach der idealtypischen Vorstellung der herrschenden Lehre von der »vollen Überzeugung« lässt sich die aus der gesamten Verhandlung und der Beweiserhebungen geschöpfte richterliche Überzeugung unterteilen in »überzeugt, dass falsch« (schwarz in Abbildung 54), »überzeugt, dass wahr« (weiß in Abbildung 54) und »nicht überzeugt« (grau in Abbildung 54). Ebenso idealtypisch lässt sich die richterliche Überzeugung bei der überwiegenden Überzeugung unterteilen in »eher wahr« oder »eher falsch«. Realistischerweise ist die richterliche Überzeugung jedoch ein Kontinuum, in Abbildung 54 ausgedrückt durch die beiden Balken, die einen kontinuierlichen 787, 778 ff.; Lillquist, U.C. Davis Law Review 2002, 85–197; Franklin, Law, Probability & Risk 2007, 159–165; ablehnend müssen einer Quantifizierung auch alle Autoren gegenüberstehen, die Beweiswürdigung als holistischen Vergleich von Geschichten verstehen, Pardo/Allen, Law and Philosophy 2008, 223–268, 240 f.; Bex/Walton, Law, Probability & Risk 2012, 113–133. 522 Nachweise bei Tillers/Gottfried, Law, Probability & Risk 2007, 135–157, 135 f. 523 Walter, Freie Beweiswürdigung, 180. 524 So auch Motsch, in: Klug et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig, 334–348, 33, für das Überwiegensprinzip.

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Fünfter Teil: Beweismaß

Helligkeitsverlauf von schwarz bis weiß zeigen. Irgendwo muss man die Grenze ziehen – nach der herrschenden Lehre nahe bei weiß, nach dem Überwiegensprinzip in der Mitte der Grauzone. Die psychologische Forschung zeigt, dass man dazu neigt, den Unterschied zwischen wahr und falsch, oder schwarz und weiß, durch die die Entscheidungsfindung begleitenden Kohärenzverschiebungsprozesse zu überschätzen (vorne, S. 305 f.). Tatsächlich wird es sowohl bei der Lehre von der vollen Überzeugung wie bei der Lehre von der überwiegenden Überzeugung Fälle geben – nicht dieselben – bei denen es sehr schwierig ist, zu sagen, auf welcher Seite der imaginären, in Abbildung 54 zur Verdeutlichung eingezeichneten, Linie die eigene Überzeugung fällt. Ist der in Abbildung 54 mit a) bezeichnete Grauton links oder rechts der vertikalen Linie, die den untersten Balken schneidet, einzuordnen? Ist der in der Abbildung 54 mit b) bezeichnete Grauton links oder rechts der vertikalen Linie, die den zweitobersten Balken schneidet, einzuordnen?525 Diese Grenzfälle sind schwierig zu entscheiden. Es ist kein Alleinstellungsmerkmal der Lehre von der überwiegenden Überzeugung, dass solche Grenzfälle in der Praxis immer vorkommen werden. c) Leichtigkeit des Beschaffens von Beweismitteln Es entspricht ständiger Rechtsprechung in der Schweiz und in Deutschland, bei Beweisschwierigkeiten aufgrund der Überlegung, »dass die Rechtsdurchsetzung nicht an Beweisschwierigkeiten scheitern darf, die typischerweise bei bestimmten Sachverhalten auftreten«526 , das Beweismaß zu senken.527 Dies wird auch in der Lehre vertreten.528 Umgekehrt wird auch argumentiert, dass bei Sachverhalten, die besonders leicht zu beweisen seien, ein höheres Beweismaß verlangt werden müsse, respektive kein Anlass für eine Beweismaßsenkung bestehe.529 So meint Bender, die Fehlerkosten könnten das Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung, das für das Vorliegen einer gegenseitig übereinstimmenden Willenserklärung verlangt wird, nicht rechtfertigen. Aber dem aus dem Vertrag Berechtigten wäre es ein leichtes, die Willenserklärungen schriftlich festzuhalten, 525 Beide Grautöne entsprechen exakt dem Grauton unter der senkrechten Linie; auf Papier mag dies allerdings anders aussehen. 526 BGE 130 III 321 E. 3.2. 527 Z. B. BGH NJW 1995, 2169. 528 Prütting, Beweislast, 92; für die Schweiz Leuch et al., Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, Art. 219 N 2b; Hohl, in: Schwander/Stoffel (Hrsg.), Beiträge zum schweizerischen und internationalen Zivilprozessrecht, 125–159, 149; Hohl, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 128–138, 137; Leuenberger, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 108–126, 120; Kaufmann, AJP 2003, 1199–1208, 1206 f.; kritisch Meier, BJM 1989, 57–78, 70, der aber Beweisschwierigkeiten im Rahmen des Spielraums, den das Regelbeweismaß gewährt, berücksichtigen will; a. M. Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.48. 529 Guldener, Beweiswürdigung und Beweislast, 7; Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 256 ff.; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, 213 f.; Klami/Gräns/ Sorvettula, Law and truth, 215 f.; Einmahl, NJW 2001, 469–475, 474 f.; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 240 ff.; Kaufmann, AJP 2003, 1199–1208, 1207.

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

523

um den vollen Beweis zu ermöglichen, weshalb es sich rechtfertige, hier die volle Überzeugung zu verlangen – ähnlich für die vom Beklagten bestrittene Rückzahlung eines Darlehens, für die er sich einfach eine Quittung hätte geben lassen können.530 Nach richtiger Auffassung ändert die Schwierigkeit oder Leichtigkeit, mit der Beweismittel üblicherweise verfügbar sind respektive durch die Parteien verfügbar gemacht werden können, nichts am Beweismaß, sondern sind ausschließlich bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Die herrschende Lehre ist nur deshalb gezwungen, für Fälle, in denen der »direkte« (zur Kritik an diesem Begriff vorne, S. 17 f.) Beweis naturgemäß nicht möglich ist, Beweismaßreduzierungen zuzulassen, weil das Beharren auf dem Regelbeweismaß dort ersichtlich dazu führen würde, dass das materielle Recht in zahlreichen Fällen nicht durchgesetzt werden könnte. Wer davon ausgeht, dass der Richter in Zivilsachen generell für die Partei entscheiden soll, deren Sachvortrag er eher für wahr hält, braucht keine Beweismaßreduktion für Fälle mit schwieriger Beweislage. Er braucht aber auch keine Erhöhung des Beweismaßes für Fälle mit einfach verfügbaren Beweismitteln zu postulieren. Die Entscheidungsgrenze wird ausschließlich durch die Fehlerkosten bestimmt, nicht durch die Beweislage, und die Leichtigkeit, mit der eine Partei sich Beweismittel für ihre Sachbehauptungen beschaffen kann, hat keinen Einfluss auf die Fehlerkosten.531 Die Beweislage führt einzig dazu, dass die subjektive richterliche Überzeugung die vom Beweismaß gesetzte Grenze erreicht oder nicht. Aber, mag man einwenden, wird es dem Kläger so nicht zu einfach gemacht, tatsächlich nicht bestehende Ansprüche durchzusetzen? Wird damit dem Missbrauch der Gerichte Tür und Tor geöffnet? Nein – nicht, wenn man das Fehlen von Beweismitteln, deren Vorhandensein zu erwarten ist, bei der Beweiswürdigung berücksichtigt. Nehmen wir an, der Kläger aus dem Fall von S. 448, der die Rückzahlung eines angeblich an den Beklagten ausbezahlten Darlehens verlangt, könne weder einen schriftlichen Vertrag, noch eine Quittung, noch einen Bankkontoauszug vorlegen, der die Gewährung des Darlehens an den Beklagten belegen würde. Er hat aber einen Zeugen, ein Geschäftspartner von ihm, der bestätigt, er sei bei der Übergabe des Geldes anwesend gewesen. Das Gericht zweifelt an der Glaubwürdigkeit dieses Zeugen wegen dessen finanziellen und freundschaftlichen Verbindungen zum Kläger, stuft es aber dennoch als zu mehr als 50% wahrscheinlich ein, dass der Zeuge – immerhin unter Strafdrohung des falschen Zeugnisses – die Wahrheit sagt. Der Beklagte kann keinen Zeugen anbieten, der bestätigen würde, dass das Geld nicht übergeben wurde. 530 Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 253; ebenso Einmahl, NJW 2001, 469–475, 474 f.; Kaufmann, AJP 2003, 1199–1208, 1207. 531 A. M. Klami/Gräns/Sorvettula, Law and truth, 215 f.; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 240 f.

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Fünfter Teil: Beweismaß

Verliert der Beklagte den Prozess unter dem Beweismaß der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit«? Nein, denn das Fehlen jeglicher schriftlicher Belege für die Darlehensgewährung ist, wenn es dafür nicht eine gute Erklärung gibt (wie z. B. eine lange Übung unter den Parteien) ein Indiz gegen die Wahrheit des klägerischen Sachvortrags. Man kann dies entweder bei der Anfangswahrscheinlichkeit oder bei der Berechnung des Likelihood-Quotienten berücksichtigen. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass es in den allermeisten Fällen, in denen ein Darlehen dieser Höhe (Fr. 100’000 ≈ C 80’000) gewährt wird, schriftliche Belege dafür gibt. Eine Darlehensgewährung ohne Beleg ist daher anfänglich äußerst unwahrscheinlich. Die Anfangswahrscheinlichkeit des klägerischen Sachvortrags ist gering, und auch ein Zeuge, selbst wenn dieser eher die Wahrheit sagt als lügt, genügt nicht, um auf eine a posteriori Überzeugung von mehr als 50% zu gelangen. Das Fehlen eines Zeugen auf Seiten des Beklagten wirkt sich hingegen nicht gegen diesen aus, denn dass es Zeugen dafür gibt, dass kein Geld ausbezahlt wurde, ist nicht zu erwarten. Alternativ geht man von einer Anfangswahrscheinlichkeit des klägerischen Sachvortrags von 50% aus (warum dies abzulehnen ist, vorne, S. 358 f.) und berücksichtigt das Fehlen schriftlicher Belege als Indiz: Bei Gewährung eines Darlehens in dieser Höhe wird in der Regel ein schriftlicher Beleg vorliegen, bei Nicht-Gewährung in der Regel nicht. Geht man davon aus, dass in der überwiegenden Mehrheit aller Fälle, in denen Darlehen über Fr. 100’000 gewährt werden, schriftliche Belege vorliegen, aber nur in den seltensten Fällen, in denen kein Darlehen gewährt wurde, dann führt die Berücksichtigung des Fehlens eines Belegs dazu, dass die Wahrscheinlichkeit der Darlehensgewährung auf deutlich unter 50% sinkt. Die Berücksichtigung eines wenig glaubwürdigen Zeugen lässt sie nicht wieder auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit steigen. Diese Überlegungen zeigen, dass die ausschließliche Berücksichtigung der erwarteten Verfügbarkeit der Beweismittel auf der Ebene der Beweiswürdigung, nicht des Beweismaßes, zu vernünftigen Ergebnissen und nicht zu einer übermäßigen Bevorteilung der beweisbelasteten Partei führt. d) Steigende Anzahl Prozesse Gegen die Einführung des Überwiegensprinzips wird eingewendet, dass es zu einer steigenden Anzahl Prozesse führen würde.532 Abgesehen davon, dass nicht unmittelbar ersichtlich ist, was daran schlecht sein soll, wenn die steigende Anzahl von Verfahren zu einer besseren Durchsetzung des materiellen Rechts führt,533 führt die Lehre von der überwiegenden Überzeugung unter plausiblen Annahmen 532 Prütting, Beweislast, 79; Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 80–133, Rz. 64. 533 Welches Ausmaß gerichtlicher Streiterledigung optimal ist, ist eine alles andere als einfache Frage, siehe nur Shavell, International Review of Law and Economics 1999, 99–115.

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

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zum Verhalten der Rechtsunterworfenen nicht zu einem Anstieg der vor Gericht ausgetragenen Streitigkeiten. Warum vernünftige Parteien überhaupt einen Prozess führen, ist auf den ersten Blick ein Rätsel. Ein Gerichtsverfahren verursacht immer ungedeckte private Kosten – auch unter dem europäischen System der Kostentragung durch die unterliegende Partei – die eine außergerichtliche Streitbeilegung als im eigenen Interesse jeder Partei liegend erscheinen lässt. Unter der Annahme rationalen Verhaltens risikoneutraler Parteien erklärt die ökonomische Theorie die Tatsache, dass es dennoch zu Prozessen kommt, damit, dass die Parteien ihre Aussichten, zu gewinnen, unterschiedlich einschätzen.534 Die divergierenden Erwartungen der Parteien führen dazu, dass es keine außergerichtliche Einigung gibt, weil jede Partei glaubt, sie würde obsiegen. Daraus folgt, dass Prozesse von vernünftigen Parteien in den Fällen geführt werden, in denen die Einschätzung der Gewinnaussichten schwierig ist und daher mit erhöhter Wahrscheinlichkeit divergierende Erwartungen bestehen (»close cases«).535 Da beide Parteien das Recht kennen, berücksichtigen sie bei der Beurteilung ihrer Erfolgsaussichten das geltende Beweismaß. Ob das Beweismaß hoch oder niedrig ist, spielt keine Rolle, da die klaren Fälle außergerichtlich beigelegt werden, weil keine vernünftige Partei ein Interesse daran hat, einen Prozess zu führen, den sie mit großer Wahrscheinlichkeit verlieren wird.536 Andere Modelle berücksichtigen, dass die Parteien unterschiedliche (d. h. private) Informationen zur Wahrscheinlichkeit ihres Obsiegens haben, die sich zum Beispiel aus ihrem privilegierten Zugang zu Beweismitteln ergeben.537 Eine außergerichtliche Einigung misslingt, wenn eine Partei private Informationen besitzt und sie der Gegenpartei nicht glaubwürdig kommunizieren kann.538 Verfahren, die der Offenlegung von privaten Informationen vor dem Urteilsstadium dienen, wie insbesondere das US-amerikanische »discovery« Verfahren, können nach diesen Modellen dazu beitragen, dass es eher zu einer Einigung kommt.539 Auch aus diesen Modellen ergibt sich jedoch nicht, dass ein tieferes Beweismaß

534 Gould, Journal of Legal Studies 1973, 279–300, 285 f.; Shavell, Journal of Legal Studies 1982, 55–81, 58 ff. 535 Priest/Klein, Journal of Legal Studies 1984, 1–55, 14. Psychologische Prozesse tragen zu den unterschiedlichen Erwartungen natürlich bei, Loftus/Wagenaar, Jurimetrics 1988; Babcock/ Loewenstein, Journal of Economic Perspectives 1997, 109–126; Goodman-Delahunty et al., Psychology, Public Policy, and Law 2010, 133–157. 536 Priest/Klein, Journal of Legal Studies 1984, 1–55, 17 f. Dies gilt unter der Einschränkung, dass für beide Parteien gleich viel auf dem Spiel steht, a. a. O., 25 f. 537 Bebchuk, RAND Journal of Economics 1984, 404–415; Shavell, RAND Journal of Economics 1989, 183–195. 538 Bebchuk, RAND Journal of Economics 1984, 404–415, 406 ff.; Shavell, RAND Journal of Economics 1989, 183–195, 189 ff. 539 Bebchuk, RAND Journal of Economics 1984, 404–415, 413; Shavell, RAND Journal of Economics 1989, 183–195, 194.

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Fünfter Teil: Beweismaß

zu einer geringeren Wahrscheinlichkeit, dass sich die Parteien außergerichtlich vergleichen, und folglich zu mehr Gerichtsverfahren, führen würde.540 Ein tieferes Beweismaß führt also nicht zu mehr Prozessen, dies gilt auch dann, wenn man die mutmaßlichen Auswirkungen eines tieferen Beweismaßes auf das Verhalten der Parteien außerhalb des Prozesses berücksichtigt.541 Richtig ist natürlich, dass ein tieferes Beweismaß dazu führt, dass die Haftung in Fällen bejaht wird, die unter einem höheren Beweismaß abgewiesen würden, weil die Beweislage nicht ausreicht, die volle richterliche Überzeugung zu begründen.542 Dies führt dazu, dass der potenziell Haftpflichtige, respektive dessen Versicherung, unter einem Beweismaß der überwiegenden Überzeugung häufiger zur Zahlung von Schadenersatz bereit sein werden, um einen Prozess zu vermeiden. Daher führt die Lehre von der überwiegenden Überzeugung tatsächlich zu steigenden Versicherungsprämien.543 Aber das ist nichts Negatives, denn dadurch werden nur externe Kosten internalisiert. Weshalb sollte der Geschädigte den Schaden tragen, wenn es überwiegend wahrscheinlich ist, dass der angeblich Haftpflichtige gemäß materiellem Recht zum Ersatz des Schadens verpflichtet ist? Die unter dem Beweismaß der vollen Überzeugung tieferen Versicherungsprämien reflektieren bloß, dass die Geschädigten einen Teil der Schäden tragen, die eigentlich von den Schädigern übernommen werden sollten. e) Bevorzugung des Klägers Gegen das Überwiegensprinzip wird weiter eingewandt, es führe zu einer ungerechtfertigten Bevorzugung der beweisbelasteten Partei (i. d. R. des Klägers). Am ausführlichsten begründen Bender und Fuchs dieses Argument.544 So schreibt Fuchs: »[D]er Kläger kann sich den Beklagten aussuchen. Er kann von mehreren möglichen Klagegegner denjenigen wählen, gegen den er meint, am ehesten einen Beweis erbringen zu können. Auch hat der Kläger – von den Verjährungsvorschriften abgesehen – beliebig lange Zeit, seine Klage vorzubereiten. Er kann also ausgiebig nach Beweismitteln suchen. Der Beklagte hingegen ist durch die prozessualen Fristen und die Präklusionswirkung zeitlich unter Druck. Prozessuale Chancengleichheit kann demnach nur bei Anlegung eines höheren Beweismaßes als dem der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erreicht werden.«545 In weniger ausführlich begründeter Form finden sich ähnliche Argumente bei Prütting 540

Marion, European Association of Labour Economists Conference 2012, 1–20, 16 f. Marion, European Association of Labour Economists Conference 2012, 1–20. 542 Bruns, Zivilprozeßrecht, 280; Walter, Freie Beweiswürdigung, 182. Engel, Vermont Law Review 2009, 435–467, 461 ff., zeigt, dass unterschiedliche Beweismaße tatsächlich zu unterschiedlichen Gutheißungsquoten führen. 543 Walter, Freie Beweiswürdigung, 181. 544 Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 257; Fuchs, Beweismaß im Arzthaftungsprozess, 82. 545 Fuchs, Beweismaß im Arzthaftungsprozess, 82. 541

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

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(»leicht erzielbarer Prozesssieg«546 ) und Laumen (»der Angreifer wäre bevorteilt«547 ). Ich halte die Prämisse, dass sich der aus einem subjektiven Recht Berechtigte den Beklagten unter mehreren möglichen Beklagten aussuchen kann, für wenig plausibel. Kann sich der geschädigte Patient den haftpflichtigen Arzt, das unterhaltsberechtigte Kind den mutmaßlichen Vater, der Darlehensgläubiger den Darlehensnehmer, der Patentinhaber den Patentverletzer wirklich beliebig aussuchen? Wird er nicht dort, wo er überhaupt eine Wahl hat – unter den möglichen Vätern oder den potentiellen Patentverletzern – in seinem eigenen Interesse denjenigen wählen, der am wahrscheinlichsten der tatsächliche Schuldner ist? Selbst wenn er nicht denjenigen wählt, der wahrscheinlich tatsächlich der Schuldner ist, sondern denjenigen, gegen den er die besten Beweismittel in den Händen hat: Würden ihn nicht höhere Anforderungen an die richterliche Überzeugung noch mehr dazu verleiten, denjenigen potentiellen Beklagten zu wählen, gegen den die besten Beweismittel vorliegen? Das Beweismaß ändert nichts am vernünftigen Verhalten jeder Partei, einen Prozess gegen diejenige Gegenpartei anzustreben, gegen die sie sich die größten Erfolgsaussichten ausrechnet. Zutreffend ist, dass der Kläger mehr Zeit hat, die Klage vorzubereiten, als der Beklagte, darauf zu antworten. Allerdings darf die Benachteiligung des Beklagten nicht überschätzt werden. Der Beklagte kann in der Schweiz bis zum Abschluss des zweiten Schriftenwechsels, oder wenn auf einen solchen verzichtet wird (Art. 225 ZPO-CH), noch zu Beginn der Hauptverhandlung ohne Einschränkungen neue Behauptungen und neue Beweismittel einbringen (Art. 229 Abs. 2 ZPO-CH). In Deutschland sind die Verteidigungsmittel bis zur mündlichen Verhandlung vorzubringen (§ 282 Abs. 1 ZPO-DE). In beiden Ländern verstreichen daher mindestens mehrere Monate zwischen der Zustellung der Klageschrift und dem letzten Zeitpunkt, neue Vorbringen in das Verfahren einzubringen. Es ist schwer vorstellbar, dass es nicht möglich ist, binnen dieser Frist die relevanten Beweismittel zu beschaffen; wo dies ohne Verschulden der Partei nicht möglich war, besteht zudem die Möglichkeit, die neuen Vorbringen noch bis zur Urteilsfällung einzubringen (Novenrecht nach Art. 229 Abs. 1 ZPO-CH; in Deutschland nach Schluss der mündlichen Verhandlung nur sehr eingeschränkt zulässig,548 aber immerhin, wenn eine Partei eine Urkunde findet, die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt hätte, §§ 296a, 156, 580 Ziff. 7 lit. b ZPO-DE). Denk546

Prütting, Beweislast, 79. Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 80–133, Rz. 64. 548 Die strengere deutsche Regelung hängt damit zusammen, dass der Gesetzgeber hier auf die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme verweist, und diese sind in Deutschland, um die materielle Rechtskraft nicht zu gefährden, sehr restriktiv, siehe Gaul, in: Gerhardt et al. (Hrsg.), Festschrift für Wolfram Henckel, 235–271, 259; Germelmann, Rechtskraft, 84. Der schweizerische Gesetzgeber lässt die Wiederaufnahme (Revision) großzügiger zu, insbesondere gestützt auf beliebige »neue« Beweismittel, Art. 328 ZPO-CH. 547

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Fünfter Teil: Beweismaß

bar ist, dass Sachverständigengutachten nicht innerhalb dieser Frist erhältlich gemacht werden können; diese werden aber in beiden Ländern primär (in der Schweiz ausschließlich549 ) durch das Gericht eingeholt, so dass die zeitliche Befristung nicht greift. Dem Gedanken, dass ein Beweismaß der überwiegenden Überzeugung den Kläger ungerechtfertigt bevorzugt, scheint das Empfinden zugrunde zu liegen, dass das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit leicht zu erfüllen ist. Das ist es aber durchaus nicht: Unter plausiblen Annahmen ist die Behauptung, die mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% wahr ist, die wahrscheinlichste aller denkbaren relevanten Tatsachenbehauptungen. Um dies zu begründen, muss man nur annehmen, dass die Gegenpartei den Behauptungen der beweisbelasteten Partei diejenigen Behauptungen entgegensetzt, die nach ihrer eigenen Einschätzung die besten Gegenargumente sind, d. h. am besten geeignet sind, die Wahrheit der klägerischen Behauptungen in Zweifel zu ziehen. Sind die klägerischen Behauptungen nach der Überzeugung des Richters trotz der vorgebrachten Gegenargumente mit überwiegender Wahrscheinlichkeit wahr, folgt daraus, dass es keine mit den Behauptungen inkompatible Behauptungen gibt, die mit mehr als 50% Wahrscheinlichkeit wahr sind, oder anders gesagt, die für wahr erachteten Behauptungen sind unter allen relevanten Behauptungen diejenigen, die mit der größten Wahrscheinlichkeit wahr sind. Natürlich ist diese Annahme nur zulässig, wenn sich der Beklagte gut verteidigt. Aber auch unter dem Regelbeweismaß der vollen Überzeugung kann der Richter zu einer falschen Überzeugung kommen, wenn es der Beklagte versäumt, die besten Argumente für seinen Standpunkt vorzubringen. f) Erlahmung des Aufklärungseifers Interessanterweise werden auch »entscheidungspsychologische«550 Gründe genannt, die gegen das Überwiegensprinzip sprechen würden. Meier schreibt: »Ein Richter, der nur nach Wahrscheinlichkeiten fragt, wird das Beweisergebnis weniger eingehend prüfen als ein Richter, der sich von der Verwirklichung einer Tatsache als überzeugt erklären muss.«551 Locus classicus für diese Auffassung ist Döhring, der meint: »Das Wahrscheinlichkeitsdenken lässt ganz allgemein den Aufklärungseifer erlahmen und übt dadurch einen ungünstigen Einfluss auf die Wahrheitsforschung aus.«552 Ob ein Beweismaß der überwiegenden Überzeugung den Aufklärungseifer erlahmen lässt, ist eine empirische Behauptung zum menschlichen Verhalten, die wie jede empirische Behauptung mit empirischen Daten gestützt werden muss, 549 550 551 552

BGE 132 III 83 E. 3.4. Meier, BJM 1989, 57–78, 73. Meier, BJM 1989, 57–78, 73. Ähnlich Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 114 f. Döhring, Erforschung des Sachverhalts, 447.

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

529

wenn sie überzeugend sein soll. Weder Döhring noch Meier nennen irgendwelche Quellen für ihre Behauptung, das »Wahrscheinlichkeitsdenken« – der Begriff ist missverständlich, denn subjektive Wahrscheinlichkeit ist bekanntlich nur ein Überzeugungsgrad (vorne, S. 104 ff.) – führe dazu, dass der Richter die Beweismittel weniger eingehend prüfe. Mit ebenso guten Gründen könnte man anführen, dass es gerade Likelihood-Betrachtungen (vorne, S. 143 ff.) sind, die dazu beitragen, die Beweismittel besonders kritisch zu hinterfragen. Solange es keine empirischen Befunde zum erlahmenden Aufklärungseifer gibt, überzeugt das Argument jedenfalls nicht. Anzufügen ist, dass jedermann der Behauptung, das Beweismaß der überwiegenden Überzeugung führe zu einem erlahmenden Aufklärungseifer, mit größter Skepsis begegnet, der schon einmal erlebt hat, mit welchem Aufwand und Gründlichkeit Sachaufklärung im englischen und USamerikanischen Zivilprozess betrieben wird, wo bekanntlich das Beweismaß der »balance of probabilities« gilt. g) Konsequente Fortführung führt zur Schadensteilung Gegen das Überwiegensprinzip wird vorgebracht, ein konsequentes Zu-EndeDenken des Überwiegensprinzips führe zur Gewährung eines teilweisen Schadenersatzes in der Höhe der subjektiven Wahrscheinlichkeit der Schadensverursachung durch den Beklagten (Schadensteilung), die mit dem geltenden Recht nicht vereinbar sei.553 Dieses Argument ist deshalb besonders interessant, weil die Schadensteilung nach Wahrscheinlichkeit der Verursachung zwar schon wiederholt vorgeschlagen worden ist554 – de lege ferenda in der Schweiz von der Studienkommission zur Reform des Haftpflichtrechts555 – aber nicht in erster Linie von den Vertretern des Überwiegensprinzips.556 Kegel meint zwar, dass die Möglichkeit der Schadensteilung in bestimmten Situationen vielleicht die bessere Lösung sei, räumt aber ein, dass sie mit dem geltenden Recht nicht zu vereinbaren ist.557 Einzig Maassen tritt de lege lata für eine Schadensteilung nach Wahrscheinlichkeit der Verursachung ein, die er gestützt auf § 287 ZPO-DE zulassen will.558 Überwiegend wird die Lehre von der Schadensteilung nach 553 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 109; Prütting, Beweislast, 79; Bruske, Beweiswürdigung und Beweislast bei Aufklärungspflichtverletzungen im Bankrecht, 36; Fuchs, Beweismaß im Arzthaftungsprozess, 82. 554 Nachweise für die deutsche Lehre bei Maassen, Beweismaßprobleme, 165 und Magnus, in: Gil’ad et al. (Hrsg.), Proportional liability, 153–169, 166; für die Schweiz Müller, La perte d’une chance, Rz. 240 ff. 555 Art. 56d Abs. 2 OR gemäß VE Haftpflichtgesetz; die Totalrevision des Haftpflichtrechts wurde vom Bundesrat am 21. Januar 2009 gestoppt; www.ejpd.admin.ch/content/ejpd/de/home/ dokumentation/mi/2009/2009-01-21.html (besucht am 1. Dezember 2012). 556 Das räumt Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 110, auch ein. 557 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 337 f. 558 Maassen, Beweismaßprobleme, 169 f.

530

Fünfter Teil: Beweismaß

Wahrscheinlichkeit für mit dem geltenden deutschen und schweizerischen Recht unvereinbar gehalten.559 Abzugrenzen ist die hier untersuchte Schadensteilung nach Wahrscheinlichkeit der Verursachung des Schadens von der Haftung für verlorene Chancen, bei der es sicher ist, dass die vertrags- oder rechtswidrige Handlung des Schädigers zu einem Verlust einer Chance geführt hat.560 Bei Letzterem ist nicht die Verursachung, sondern die Schadenshöhe unsicher. Man kann für die beiden Konstellationen, die nicht immer sauber unterschieden werden, durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.561 Tatsächlich ist es keineswegs so, dass die »konsequente Fortführung des Gedankens«562 , dass das Beweismaß durch die Minimierung der erwarteten Fehlerkosten bestimmt wird, zur Schadensteilung führen muss. Der kanadische Supreme Court lehnt die französische Lehre der Schadensteilung nach Wahrscheinlichkeit der Verursachung bei der Arzthaftung sogar mit dem ausdrücklichen Hinweis darauf ab, dass diese Lehre in einem System, dass das Regelbeweismaß der »balance of probabilities« kenne, nicht benötigt werde.563 Die nachfolgenden Überlegungen beschränken sich notwendigerweise auf Schadenersatzansprüche (ungeachtet ihrer Grundlage in Vertrags- oder Deliktsrecht), da eine Ergebnisteilung bei nicht teilbarer Leistung von vorneherein ausgeschlossen ist (Schadenersatz wird hingegen de facto fast immer in Form einer teilbaren Geldleistung gefordert, obwohl das deutsche Recht im Prinzip die Naturalrestitution vorsieht, § 249 Abs. 1 BGB). Sie zeigen, dass es die Lehre von der überwiegenden Überzeugung, nicht die Schadensteilung nach subjektiver Wahrscheinlichkeit der Verursachung ist, die die Fehlerkosten minimiert.564 Die Wahrscheinlichkeit kann hier immer nur subjektiv sein, da es um den Einzelfall geht – daran ändert nichts, dass die Grundlage für die subjektive Wahrscheinlichkeit in statistischen Daten zu finden sein kann (vorne, S. 351 f.). Als Beispiel zur Illustration – die Überlegungen sind allgemeiner Art – kann man sich vorstellen, dass der Kläger geltend macht, er habe aufgrund des bestimmungsgemäßen Gebrauchs eines von der Beklagten in Verkehr gesetzten Leder-

559 Müller-Stoy, Schadensersatz für verlorene Chancen, 153 ff.; Fleischer, JZ 1999, 766–775, 772; Taupitz/Jones, in: Ratajczak (Hrsg.), Waffen-Gleichheit, 67–83, 80 ff.; für die Schweiz BGE 133 III 462 E. 4.2 ff.; im Ergebnis allerdings bejahend OGer ZH, ZR 88 (1989) Nr. 66, 209 ff. = SJZ 1989, 119 f.; dazu Müller, La perte d’une chance, Rz. 247. 560 Müller, La perte d’une chance, Rz. 329 ff. 561 Fleischer, JZ 1999, 766–775, 772 f.; Müller, La perte d’une chance, Rz. 338 ff.; a. M. Grechenig/Stremitzer, RabelsZ 2009, 336–371, 366. 562 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 110. 563 Lafferière vs. Lawson, 1 S.C.R. (1991), 541, 602. Die Lehre und Rechtsprechung zur »perte d’une chance« in Belgien und Frankreich wird in dem Urteil äußerst sorgfältig aufgearbeitet. 564 Die folgende Darstellung geht auf Kaye, Law & Social Inquiry 1982, 487–516, 497 ff., zurück. Wie hier ausgeführt beschränkt sie sich auf den Fall, in dem sich ein Kläger und ein Beklagte gegenübersteht; für die Erweiterung auf den Fall von mehreren Beklagten siehe Kaye, a. a. O., 503 ff.

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

531

sprays ein Lungenödem erlitten.565 Die Höhe des finanziellen Schadens S in Franken oder Euro ist nicht umstritten. Umstritten ist, ob die gesundheitliche Beeinträchtigung des Klägers auf den Gebrauch des Ledersprays zurückzuführen ist, da die gleichen Symptome auch andere Ursachen haben können. Nach Durchführung eines umfangreichen Beweisverfahrens, umfassend mehrere medizinische Gutachten der größten Koryphäen, und unter Berücksichtigung aller im konkreten Fall relevanten Umstände, wie der körperlichen Verfassung des Klägers vor dem Gebrauch des Ledersprays, der Intensität und Dauer des Gebrauchs, und des Kontakts des Klägers mit anderen Substanzen, die nachweislich die gleichen Symptome auslösen können, kommt das Gericht zum Schluss, die a-posteriori subjektive Wahrscheinlichkeit für die Verursachung der gesundheitlichen Beeinträchtigung des Klägers durch den Lederspray betrage 70%. Es stehe w1 für den Zustand der Welt, in dem der Lederspray die Ursache des Lungenödems ist, und w2 für den Zustand der Welt, in dem das Lungenödem eine andere, nicht dem Beklagten zurechenbare, Ursache hat. Es stehe x für die Beweislage; entsprechend ist Pr(w1 |x) die subjektive bedingte Wahrscheinlichkeit der Verursachung durch den Beklagten, gegeben die Beweislage; im Beispiel also Pr(w1 |x) = 0,7. Pr(w2 |x) sei die bedingte a-posteriori-Wahrscheinlichkeit einer anderen Ursache. Es sei angenommen, dass Pr(w2 |x) = 1 – Pr(w1 |x), dass der Schaden S für Kläger und Beklagte den gleichen Wert hat und dass eine korrekte Entscheidung keine Kosten verursacht. Das Gericht habe drei Entscheidungsmöglichkeiten a1 : Der Kläger wird zur vollen Erstattung des finanziellen Schadens S verpflichtet (vollumfängliche Gutheißung der Klage); a2 : Der Kläger wird nicht zur Erstattung verpflichtet, d. h. der Beklagte trägt den vollen Schaden S selbst (vollumfängliche Abweisung der Klage); a3 : Der Kläger wird zur teilweisen Erstattung des finanziellen Schadens S in der Höhe von Pr(w1 |x)S verpflichtet, d. h. der Beklagte trägt Pr(w2 |x)S des Schadens selbst (Schadensteilung). Die Alternative a3 ist die Schadensteilung nach Wahrscheinlichkeit der Verursachung oder die Zusprechung des Erwartungswerts der Klage an den Kläger. Die erwarteten Kosten R (Risiko) bei der Wahl von a1 sind (siehe Gleichung 21) 





R a1 |x = Pr w2 |x S + Pr w1 |x · 0 = (1 – Pr (w1 )) S Mit den Zahlen des konkreten Beispiels ausgedrückt: Den Kläger zur vollen Erstattung des Schadens S zu verpflichten, verursacht erwartete Fehlerkosten von 0,3 · S, denn mit der Wahrscheinlichkeit 1 – Pr (w1 |x) ist das Urteil materiell falsch, weil der Kläger die gesundheitliche Beeinträchtigung (und daher den 565 Der Sachverhalt erinnert an BGH NJW 1990, 2560; jenes Urteil ist von grundlegender Bedeutung für den strafrechtlichen Kausalitätsbegriff. Dazu äußere ich mich hier nicht.

532

Fünfter Teil: Beweismaß

daraus unstrittig resultierenden finanziellen Schaden) nicht verursacht hat. Die erwarteten Kosten R bei der Wahl von a2 sind entsprechend 







R a2 |x = Pr w1 |x S + Pr w2 |x · 0 = Pr w1 |x S So weit, so bekannt. Will man das Risiko der Entscheidung minimieren, muss man sich für die Alternative mit den geringeren erwarteten Kosten (Risiko) entscheiden, bei der Wahl zwischen zwei Alternativen mit den gleichen Fehlerkosten also für die Wahrscheinlichere (vorne, S. 435 f.). Die erwarteten Kosten der Alternative a3 sind 













R a3 |x = Pr w1 |x Pr w2 |x S + Pr w2 |x Pr w1 |x S = 2 · Pr w1 |x Pr w2 |x S 

= 2 · Pr w1 |x

1 – Pr w1 |x



S

Warum? Bei der Schadensteilung nach Wahrscheinlichkeit der Verursachung wird in jedem Fall ein Fehler gemacht:566 Der Zustand der Welt ist entweder so, dass der Beklagte den Schaden verursacht hat und daher der Kläger, gemäß materiellem Recht, Anspruch auf vollen Ersatz hat, oder so, dass der Kläger gemäß materiellem Recht keinen Anspruch auf Ersatz hat, da der Beklagte den Schaden nicht verursacht hat. Mit Wahrscheinlichkeit Pr(w1 |x) werden Kosten in der Höhe von Pr(w2 |x)S verursacht, da dem Beklagten Pr(w2 |x)S nicht zugesprochen wird, obwohl er mit einer Wahrscheinlichkeit von Pr(w1 |x) Anspruch darauf hätte. Ebenso werden mit einer Wahrscheinlichkeit von Pr(w2 |x) Kosten in der Höhe von Pr(w1 |x)S verursacht, da dem Beklagten Schadenersatz in der Höhe von Pr(w1 |x)S zugesprochen wird, der ihm mit einer Wahrscheinlichkeit von Pr(w2 |x) nicht zusteht. Abbildung 55 zeigt, wie sich die erwarteten Kosten verhalten, wenn die Wahrscheinlichkeit Pr(w1 |x) kontinuierlich von 0 auf 1 erhöht wird. Die erwarteten Kosten R(a1 |x) sinken linear mit dem Anstieg von Pr(w1 |x). D. h., ist die Wahrscheinlichkeit der Verursachung durch den Kläger gleich Null, sind die erwarteten Fehlerkosten maximal, wenn er dennoch zur Erstattung verpflichtet wird, andererseits entstehen keine Fehlerkosten, wenn es 100% sicher ist, dass der Kläger der Schadensverursacher ist und er den tatsächlich entstandenen Schaden ersetzen muss. Umgekehrt steigen die erwarteten Fehlerkosten bei der Wahl von a2 in linearer Abhängigkeit von Pr(w1 |x). Bei der Wahl von a3 steigen die Fehlerkosten in Abhängigkeit von Pr(w1 |x) zuerst in einer Kurve an, ehe sie nach Überschreiten von Pr(w1 |x) = 0,5 in einer Kurve wieder sinken. Welche Entscheidung minimiert nun die erwarteten Fehlerkosten? Wie Abbildung 55 zeigt, gilt für das Intervall von 0 < Pr(w1 |x) < 0,5, dass R(a2 |x) < R(a3 |x) < R(a1 |x). D. h., so lange Pr(w1 |x) < 0,5 sollte die Klage vollumfänglich abgewiesen werden (Entscheidung a2 ). Für das Intervall 0,5 < Pr(w1 |x) < 1 gilt R(a1 |x) 566

Kaye, Law & Social Inquiry 1982, 487–516, 501.

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung S

R(a2|x)

R(a1|x) erwartete Fehlerkosten

533

0,5·S

R(a3|x)

0

0,5

Wahrscheinlichkeit Pr(w1|x)

1

Abbildung 55: Erwartete Fehlerkosten als Funktion der Wahrscheinlichkeit der Schadensverursachung.

< R(a3|x) < R(a2 |x). D. h., wenn die Wahrscheinlichkeit der Schadensverursachung durch den Kläger mehr als 50% beträgt, sollte die Klage vollumfänglich gutgeheißen werden (Entscheidung a1 ). Die Schadensteilung nach Wahrscheinlichkeit der Verursachung, Entscheidung a3 , ist unter dem Gesichtspunkt der Minimierung der erwarteten Fehlerkosten nie optimal. Die Behauptung, die Lehre von der überwiegenden Überzeugung führe in konsequenter Fortführung zur Schadensteilung nach Wahrscheinlichkeit der Verursachung, ist daher widerlegt. Vielmehr zeigt sich, dass die Lehre von der überwiegenden Überzeugung unter dem Gesichtspunkt der Minimierung der erwarteten Fehlerkosten – und dies ist ihre primäre Rechtfertigung – der Schadensteilung überlegen ist. Was insofern nicht überraschend ist, als die Entscheidung gemäß der maximalen a-posteriori-Wahrscheinlichkeit bei identischen Fehlerkosten immer die optimale Entscheidungsstrategie ist.567 Zu anderen Ergebnissen gelangt man nur, wenn man – was hier abgelehnt wird (vorne, S. 487 f.) – die Anreize auf die Rechtsunterworfenen berücksichtigt, die von verschiedenen Beweismaßen ausgehen.568 Anzufügen ist, dass die Schadensteilung nach Wahrscheinlichkeit unter dem Gesichtspunkt der Minimierung der erwarteten Fehlerkosten nicht optimal ist, aber zu einer gleichmäßigen Verteilung der Fehlerkosten unter den Parteien führen kann.569 Nach dem Überwiegensprinzip wird in den wenigsten Fällen eine Fehlentscheidung getroffen, aber wenn ein Fehler gemacht wird, verursacht der 567 568 569

Kaye, Law & Social Inquiry 1982, 487–516, 499. Shavell, Journal of Law & Economics 1985, 587–610. Kaye, Law & Social Inquiry 1982, 487–516, 500 ff.

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Fünfter Teil: Beweismaß

Fehler hohe Kosten (weil die gesamte Schadensumme entweder zugesprochen oder verweigert wird). Nach der Schadensteilung wird immer ein Fehler gemacht, aber die Kosten zu Lasten jeder Streitpartei sind geringer als die Kosten eines Fehlers unter dem Überwiegensprinzip. Gesichtspunkte der Einzelfallgerechtigkeit mögen dafür sprechen, höhere erwartete Gesamtkosten in Kauf zu nehmen, um die Fehlerkosten gleichmäßiger zu verteilen.570 Die Schadensteilung nach Wahrscheinlichkeit der Verursachung wurde deshalb auch schon als »salomonische Lösung« bezeichnet.571 Dies ist aber kaum der Gedanke, den Kritiker des Überwiegensprinzips meinen, wenn sie behaupten, die konsequente Fortführung des Prinzips führe zur Schadensteilung nach Wahrscheinlichkeit. h) Legitimität des Justizsystems Clermont und Sherwin, nach einer Diskussion möglicher Zwecke des Regelbeweismaßes der vollen Überzeugung in Zivilsachen, kommen zum Schluss, dass der einzig denkbare Zweck eines Beweismaßes der vollen Überzeugung in Zivilsachen sei, die Legitimität der Justiz und ihrer Urteile in den Augen der Öffentlichkeit zu gewährleisten.572 Das Beharren darauf, dass nur Behauptungen als wahr akzeptiert würden, die nach der vollen Überzeugung des Richters wahr seien, führe dazu, dass die unangenehme Tatsache verdrängt würde, dass der Richter unter Unsicherheit entscheiden müsse und Fehler unvermeidbar seien:573 »The standard of intime conviction insinuates to the parties and to the public that judges will not treat facts as true on less than certain evidence. This rhetoric sounds good, and shows a seriousness of purpose. When the court renders judgment, the standard in turn implies that the evidence must have been certain. This implication is appealing but nonetheless false.«

Verschiedene Äußerungen in der schweizerischen und deutschen Literatur lassen erkennen, dass ein hohes Regelbeweismaß tatsächlich als eine Rechtfertigung für justizielle Entscheidungen betrachtet wird. So könne eine bloße Wahrscheinlichkeit eines Sachverhalts seine Feststellung nicht rechtfertigen,574 und eine Haftung für Wahrscheinlichkeit verstoße gegen das Gerechtigkeitsgefühl.575 Rechberger betont, wer die Gerichte in Anspruch nehme, habe nachzuweisen, dass sein Rechtsschutz gerechtfertigt sei, und daher mindestens eine hohe Wahrscheinlichkeit der anspruchsbegründenden Tatsachen darzulegen.576 Ganz ähnlich Hohl, 570 Müller, La perte d’une chance, Rz. 272 ff.; Kadner Graziano, ZEuP 2011, 171–200, 187 f. mit zahlreichen Nachweisen. 571 Nachweise bei Fleischer, JZ 1999, 766–775, 772; ähnlich auch Müller, La perte d’une chance, Rz. 601; Kadner Graziano, ZEuP 2011, 171–200, 198. 572 Clermont/Sherwin, American Journal of Comparative Law 2002, 243–276, 269 ff. 573 Clermont/Sherwin, American Journal of Comparative Law 2002, 243–276, 271 f. 574 Walter, Freie Beweiswürdigung, 163; Hohl, in: Schwander/Stoffel (Hrsg.), Beiträge zum schweizerischen und internationalen Zivilprozessrecht, 125–159, 155. 575 Kraatz, Einfluss der Erfahrung, 85. 576 Rechberger, in: Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 471–490, 489.

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

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für die ein hoher Grad der Wahrscheinlichkeit vorliegen muss, »pour être acceptable sur les plans moral et éthique et légitimer la coercition judiciaire.«577 Für Berger-Steiner hängt die »Akzeptanz der Rechtsprechung« von einem hohen Beweismaß ab.578 Auch Kotsoglou meint, dass die Akzeptanz von Urteilen bei einem tiefen Beweismaß gering sei, weil das Vertrauen, dass das Urteil auf wahren Tatsachenbehauptungen beruhe, sehr klein sei.579 Andere Autoren werden deutlicher. Für Habscheid rührt die Einführung des Überwiegensprinzips »an die Wurzeln des Rechtsstaates«580 . Für Walter steht gar die Einstellung der Bevölkerung zum Recht auf dem Spiel:581 »Eine Demontage des ›Überzeugungserfordernisses‹ würde also weithin zu einer Korrumpierung der Rechtsmoral in der Bevölkerung führen – wenn schon eine überwiegende Wahrscheinlichkeit genügt, um ›einen Prozess zu gewinnen‹! Man muss [. . . ] will man die Übereinstimmung eines Volkes mit seiner Justiz, den ›Konsens‹ nicht verlieren, auf gewachsene und verankerte Traditionen Rücksicht nehmen.«

In einer Wendung, die einer gewissen Komik nicht entbehrt, betont er allerdings gleich anschließend, man müsse »in manchen (Ausnahme-!)Fällen dieses überkommene Beweismaß reduzieren«, wolle man nicht »durch Festhalten an der Wahrheitsüberzeugung die Bevölkerung in ihrem Glauben an das Recht irre machen.«582 Offensichtlich kann man mit der Rechtsmoral der Bevölkerung sowohl ein hohes wie ein reduziertes Beweismaß rechtfertigen. Vielleicht mit ein Grund dafür, dass die Rechtsmoral der Bevölkerung im juristischen Diskurs nicht als schlagkräftiges Argument gilt. »Gerechtigkeitsgefühl«, »Wurzeln des Rechtsstaats«, »Korrumpierung der Rechtsmoral« – eine generelle Beweismaßsenkung stößt auf geradezu viszerale Ablehnung. Ein Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung scheint tatsächlich an der Legitimität des Justizsystems zu kratzen. Aber weshalb wird die Durchsetzung eines nicht bestehenden Anspruchs als die Legitimität des Justizsystems in Zweifel ziehend empfunden, während die Legitimität des gleichen Systems offenbar nicht darunter leidet, bestehende Ansprüche nicht zu schützen? Das Legitimitäts-Argument hat einen großen Haken: Wenn die Legitimität eines Justizsystems unter anderem davon abhängt, möglichst wenig Urteile zu fällen, deren Sachverhaltsrekonstruktionen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen, warum stellen nur Fehler 1. Art die Legitimität des Systems in Frage? Anders gefragt, warum stößt ein staatlicher Eingriff, der möglicherweise falsch ist, auf so große Ablehnung, während ein zu Unrecht unterbliebener Eingriff viel weniger 577 Hohl, in: Schwander/Stoffel (Hrsg.), Beiträge zum schweizerischen und internationalen Zivilprozessrecht, 125–159, 155. 578 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.131. 579 Kotsoglou, Law, Probability & Risk 2013, 275–298, 286. 580 Habscheid, in: Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 105–119, 118. 581 Walter, Freie Beweiswürdigung, 182. 582 Walter, Freie Beweiswürdigung, 182.

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Fünfter Teil: Beweismaß

Ablehnung erfährt? Warum will man unter allen Umständen verhindern, dass ein Nicht-Geschädigter Schadenersatz erhält, nimmt aber einigermaßen gleichgültig in Kauf, dass ein anspruchsberechtigter Geschädigter keinen Ersatz zugesprochen erhält? Der Unterschied ist psychologisch durch den »omission bias« (etwa »Neigung zur Unterlassung«, auch »Unterlassungseffekt«) und den mit ihm eng verbundenen »status quo bias« (etwa: »Neigung zur Beibehaltung des aktuellen Standes«) erklärbar. Als »omission bias« wird bezeichnet, dass man sich selbst für die (negativen) Folgen seiner aktiven Handlungen mehr verantwortlich fühlt als für die Folgen einer bewussten Unterlassung, und entsprechend größeres Bedauern empfindet, wenn eine Handlung statt einer Unterlassung negative Konsequenzen hat.583 Dazu korrespondiert, dass Handlungen Dritter, die negative Folgen zeitigen, als moralisch vorwerfbarer gewertet werden als bewusste Unterlassungen, die die gleichen Folgen haben.584 Die Unterscheidung ist möglicherweise auf eine »moralische Übergeneralisierung« zurückzuführen:585 Handlungen erfolgen in der Regel absichtlich und ihre vorhersehbaren Folgen sind gewollt, während Unterlassungen oft unbewusst erfolgen und ihre Folgen daher auch nicht gewollt sein können. Wo eine Unterlassung bewusst erfolgt, vermag dies die beobachtete geringere moralische Vorwerfbarkeit aus Sicht einer konsequentialistischen Ethik jedoch nicht zu rechtfertigen.586 Die meisten Menschen scheinen eine häufig nützliche Regel – gehandelt wird vorsätzlich, unterlassen (höchstens) fahrlässig – auf Fälle anzuwenden, auf die sie nicht anwendbar ist.587 Gerichtsangehörige bedauern eine fälschliche Gutheißung einer Klage mehr als eine fälschliche Abweisung, was sich einem »omission bias« entspricht, wenn man die Gutheißung einer Klage als aktive Handlung versteht. 156 Gerichtsangehörige (76 Richter und 80 Gerichtsschreiber), die an der hinten, S. 576 ff., näher vorgestellten Studie teilgenommen haben, entschieden über die Gutheißung oder Abweisung einer Forderungsklage. Anschließend wurde ihnen gesagt, dass unumstößliche Beweismittel leider zeigten, dass ihre Entscheidung falsch gewesen sei, und sie wurden gebeten, ihr Bedauern über ihr Fehlurteil auf einer Skala von 1 bis 100 auszudrücken. Das durchschnittliche Bedauern derjenigen, die die Klage fälschlicherweise gutgeheißen hatten (N = 65), war mit 55,2 signifikant 583 Kahneman/Tversky, in: Kahneman/Slovic/Tversky (Hrsg.), Judgment under uncertainty, 201–208, 205 f.; Ritov/Baron, Journal of Behavioral Decision Making 1990, 263–277, 274; Gilovich/Medvec, Psych. Rev. 1995, 379–395, 380; Prentice/Koehler, Cornell Law Review 2002, 583–650, 610. 584 Spranca/Minsk/Baron, Journal of Experimental Social Psychology 1991, 76–105, 82; Prentice/Koehler, Cornell Law Review 2002, 583–650, 593. 585 Kordes-de Vaal, Acta Psychologica 1996, 161–172, 165; Sunstein, Behavioral and Brain Sciences 2005, 531–541, 540. 586 Sunstein, Minnesota Law Review 2004, 1556–1597, 1582; Birnbacher, Tun und Unterlassen, 127, siehe aber 209. 587 Kordes-de Vaal, Acta Psychologica 1996, 161–172, 165.

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

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höher als das Bedauern derjenigen, die die Klage fälschlicherweise abgewiesen hatten (N = 91) mit 39,4.588 Dies deutet darauf hin, dass Richter die Gutheißung einer Klage als aktive Handlung empfinden, die Abweisung der Klage aber als Unterlassung, obwohl natürlich beides Handlungen sind. Das Bedauern, das Richter empfinden, wenn sie einen Fehler 1. Art (falsche Gutheißung) machen, ist offenbar größer als das Bedauern, dass sie empfinden, wenn sie einen Fehler 2. Art machen (falsche Abweisung). Um das erwartete Bedauern zu minimieren, muss die Entscheidungsgrenze daher mehr als 50% subjektive Wahrscheinlichkeit betragen (liegt aber immer noch weiter unter den angeblichen 99,8%, die von der herrschenden Lehre verlangt werden, hinten, S. 579 ff.). Verwandt mit dem »omission bias« ist die Bevorzugung des Status quo, des bestehenden Zustandes, aus keinem anderen Grund als dass es der bestehende Zustand ist.589 D. h. ceteris paribus wird eine Entscheidung bevorzugt, die den bestehenden Zustand bewahrt. Eine Entscheidung, die den Status quo fälschlicherweise verwirft, wird mehr bedauert, als eine Entscheidung, die ihn fälschlicherweise bestätigt.590 Änderungen des Status quo bedürfen entsprechend einer besseren Rechtfertigung als die Beibehaltung des Status quo.591 Umgekehrt erscheint die Beibehaltung des Status quo gerechtfertigt. Ein besonders bitteres Beispiel für Letzteres liefern Crandall et al. mit dem Nachweis, dass die Folter von Gefangenen größere Unterstützung genießt, wenn sie als langjährige Praxis statt als neu eingeführt beschrieben wird.592 Zwar ist es richtig, dass es nicht immer die beweisbelastete Partei ist, die den Status quo verändert haben will.593 In der ganz überwiegenden Zahl der Fälle wird es aber so sein, dass der Kläger möchte, dass sich am Status quo ante Klageeinreichung durch die gerichtliche Entscheidung etwas ändert, sonst hätte er kaum die Kosten auf sich genommen, eine Klage einzureichen. Dieser Status quo ante Klageeinreichung wird psychologisch als Referenzpunkt, als Status quo, gesehen.594 Der Kläger muss daher erst einmal den Reflex überwinden, den Status quo ante Klageeinreichung als besonders privilegiert zu betrachten – Stimmen in der Lehre rechtfertigen damit teilweise ausdrücklich das hohe Regelbeweismaß, das den Kläger benachteiligt (vorne, S. 508 ff.). 588

t (154) = 3,17, p < 0,01. Samuelson/Zeckhauser, Journal of Risk and Uncertainty 1988, 7–59, 8 ff.; Kahneman/ Knetsch/Thaler, Journal of Economic Perspectives 1991, 193–206, 197 ff.; Schweitzer, Organizational Behavior and Human Decision Processes 1994, 457–476, 470; Prentice/Koehler, Cornell Law Review 2002, 583–650, 597; Eidelman/Crandall, in: Jost/Kay/Thorisdottir (Hrsg.), Social and psychological bases of ideology and system justification, 85–106, 85 ff. 590 Nicolle et al., Journal of Neuroscience 2011, 3320–3327, 3322 f. 591 Connolly/Zeelenberg, Current Directions in Psychological Science 2002, 212–216, 213. 592 Crandall et al., Social Influence 2009, 1–10. 593 Clermont/Sherwin, American Journal of Comparative Law 2002, 243–276, 268. 594 Korobkin/Guthrie, Michigan Law Review 1994, 107–192, 133 ff.; Babcock et al., International Review of Law and Economics 1995, 289–303, 296 f.; Rachlinski, Southern California Law Review 1996, 113–185, 155 ff.; Zamir/Ritov, Journal of Legal Studies 2010, 245–288, 269 f. 589

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Fünfter Teil: Beweismaß

Psychologisch betrachtet wirken also starke Kräfte darauf hin, das Beweismaß auf mehr als die »balance of probabilities« zu erhöhen. Normativ lässt sich dies aber nicht rechtfertigen. Wie vorne, S. 511 ff., dargelegt wurde, lässt sich nicht überzeugend begründen, weshalb der Status quo ante Klageeinreichung und nicht der Status quo ante (angeblich) auszugleichender Vermögensverminderung (allgemeiner gesagt: Eintritt der anspruchsbegründenden Tatsachen) der maßgebliche Status quo sein soll, der bewahrt werden soll. Das psychologische Empfinden allein ist keine ausreichende normative Basis für ein Regelbeweismaß der vollen Überzeugung. Ob die Lehre von der überwiegenden Überzeugung dazu führt, dass die Bevölkerung das Vertrauen in die (Zivil-)justiz verliert, lässt sich nur empirisch beantworten. Clermont und Sherwin konzedieren, dass das Bestreben, die Legitimität des Justizsystems durch den Schutz des Status quo zu erhöhen, durchaus erfolgreich sei, denn die Zufriedenheit der französischen Bevölkerung mit ihrer Justiz sei hoch.595 Das ist aber natürlich nur die Hälfte des Bildes – die Frage ist, ob ein System, das ein Beweismaß der »preponderance of the evidence« oder »balance of probabilities« kennt, von den Rechtsunterworfenen als weniger legitim wahrgenommen wird, ob, in den Worten von Walter, das tiefere Regelbeweismaß dazu führt, dass »die Übereinstimmung eines Volkes mit seiner Justiz«596 verloren geht. Die World Values Survey und die European Values Study sind internationale Wertestudien, die seit 30 Jahren die Wertvorstellungen der Bevölkerungen zahlreicher Länder auf allen Kontinenten erheben.597 Die sechste Welle der Befragungen der World Values Survey wurde 2010 bis 2012 erhoben, die vierte Welle der European Values Study 2008 (letzte verfügbare Daten). Eine Frage der beiden Erhebungen erkundigt sich nach dem Vertrauen, das die Befragten verschiedenen Institutionen entgegenbringen. Dabei werden Institutionen wie Armee, Polizei, Gerichte, öffentliche Verwaltung, Kirche, Presse, politische Parteien oder Gewerkschaften aufgezählt und der Befragte gibt an, ob er in die genannte Institution »sehr viel«, »ziemlich viel«, »eher wenig« oder »gar kein« Vertrauen hat (für die European Values Study wird statt nach dem Vertrauen in die Gerichte nach dem Vetrauen in das Justizsystem gefragt).598 Relevant für die vorliegende Arbeit ist insbesondere die Frage nach dem Vertrauen in die Gerichte. Zum Vergleich 595

Clermont/Sherwin, American Journal of Comparative Law 2002, 243–276, 272. Walter, Freie Beweiswürdigung, 182. 597 Informationen zur Trägerschaft und Durchführung der World Values Survey sind erhältlich unter www.worldvaluessurvey.org und zu derjenigen der European Value Survey unter www. europeanvaluesstudy.eu (beide zuletzt besucht am 1. Juni 2012). 598 Siehe EVS, European Values Study 2008: Integrated Dataset (EVS 2008) http://www.gesis. org/unser-angebot/daten-analysieren/umfragedaten/european-values-study/data-access/, Frage v218 und World Values Survey Association, World Values Survey Wave 6 2010–2014 Official Aggregate v.20140429 http://www.worldvaluessurvey.org/WVSDocumentationWV6.jsp, v114. Der Unterschied in der Fragestellung hat keinen Einfluss auf die hier interessierenden Resultate, 596

V. Argumente gegen das Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung

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Abbildung 56: Vertrauen in die Justiz, Polizei und Verwaltung in der Schweiz, Deutschland, Großbritannien und den USA (aus World Values Survey, 6. Welle 2010–2014, und European Values Study, 4. Welle 2008).

werden die Antworten auf die Fragen nach dem Vertrauen in die öffentliche Verwaltung und Polizei als justiznahe Institutionen ebenfalls berichtet. Die Balken in Abbildung 56 zeigen, wie groß der Anteil der Befragten ist, die »sehr viel« oder »ziemlich viel« Vertrauen in Gerichte, Polizei oder öffentliche Verwaltung haben. Befragt wurden bevölkerungsrepräsentative Stichproben von N = 2’032 für Deutschland, in Großbritannien (ohne Nordirland) von N = 1’549, in der Schweiz von N = 1’271 und in den USA von N = 2’232. Die schweizerische Bevölkerung hat das höchste Vertrauen sowohl in ihre Justiz (74,6% positiv) als auch in ihre Polizei (82,0%) und öffentliche Verwaltung (72,6% positiv). Entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob ein Beweismaß der überwiegenden Überzeugung das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz zerstört, ist jedoch der Vergleich der beiden Länder, die ein Regelbeweismaß der vollen Überzeugung auch im Zivilprozess kennen (Schweiz und Deutschland) mit den beiden Ländern, die im Zivilprozess ein Beweismaß der überwiegenden Überzeugung kennen, das erfüllt ist, wenn der Tatsachenfeststeller eine Tatsachenbehauptung »by the slightest degree«599 mehr für wahr als falsch hält (Großbritannien und USA). Hier zeigt sich kein systematischer Vorteil zugunsten der Länder mit einem hohen Regelbeweismaß in Zivilsachen. Das Vertrauen in die Justiz ist in den USA (53,8%) gar geringfügig größer als in Deutschland (52,9%), während es in Großbritannien leicht geringer ist (51,0%). Das größere Vertrauen der schweizerischen Bevölkerung ist kaum auf das hohe Regelbeweismaß der vollen Überzeugung zurückzuführen, da ansonsten auch das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in seine Justiz höher sein müsste, sondern wie ein Vergleich mit den Ergebnissen der fünften Welle der World Values Survey zeigt, die auch die Schweiz, Deutschland und Großbritannien umfasste und das materiell gleiche Bild zeigt. 599 Livanovitch v. Livanovitch, 131 A. 799, 800 (Vt. 1926).

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Fünfter Teil: Beweismaß

scheint dem generell höheren Vertrauen der schweizerischen Bevölkerung in ihre staatlichen Institutionen geschuldet. Sicherlich ist der Einwand berechtigt, dass das Ansehen der Justiz in der Öffentlichkeit in erster Linie von der Strafjustiz, und dort wahrscheinlich durch die Berichterstattung in den Medien, geprägt ist. Daten aus Befragungen, die zwischen dem Vertrauen in die Zivil- und Strafjustiz unterscheiden, sind jedoch nicht erhältlich. Die verfügbaren Daten stützen die Behauptung, das Beweismaß der überwiegenden Überzeugung würde das Vertrauen in die Justiz unterhöhlen, jedenfalls nicht. Wer die Behauptung weiterhin verteidigen will, ist gehalten, die empirischen Daten zur Stützung zu präsentieren.

VI. Lässt sich die Lehre von der überwiegenden Überzeugung mit dem geltenden Recht vereinbaren? Das Überwiegensprinzip wird allgemein als unvereinbar mit dem geltenden deutschen und schweizerischen Recht betrachtet.600 Nicht verwechselt werden darf die Frage, ob das Überwiegensprinzip in dem Sinne, wie es hier verstanden wird, d. h. als überwiegende Überzeugung – und damit nach wie vor als »subjektiv« – mit dem geltenden Recht vereinbar ist, mit der in der Literatur ebenfalls diskutierten Frage, ob »objektive« Beweismaßtheorien, die das Beweismaß an den Grad objektiver Wahrscheinlichkeit des Sachverhalts knüpfen wollen, mit dem Gesetz vereinbar sind. Dass solche objektive Theorien bereits deshalb zum Scheitern verurteilt sind, weil es keine objektive, außerhalb des Beobachters existierende Wahrscheinlichkeit eines Einzelfalls gibt, wurde bereits hinlänglich begründet (vorne, S. 33 ff.). Maassen, der für eine objektive Beweismaßtheorie eintritt, konzediert, dass diese mit dem geltenden Recht unvereinbar ist und plädiert für eine Rechtsfortbildung praeter legem.601 Dies scheitert daran, dass eine Rechtsfortbildung praeter legem eine Gesetzeslücke voraussetzt, die hier nicht vorliegt.602 Aber dieses Argument lässt sich nicht gegen eine subjektive Interpretation des Überwiegensprinzips vorbringen – diese geht wie die herrschende Lehre davon aus, dass das Beweismaß den Grad richterlicher Überzeugung bestimmt, der erreicht werden muss, ehe ein Richter eine Tatsachenbehauptung (respektive 600 Für Deutschland Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 109 ff.; Walter, Freie Beweiswürdigung, 181; Prütting, Beweislast, 79 ff.; Leipold, Beweismaß und Beweislast, 8; Schwab, in: Holzhammer/Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451–462, 454; Habscheid, in: Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 105–119, 118; Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 140; Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 80–133, Rz. 66; Fuchs, Beweismaß im Arzthaftungsprozess, 82 f.; Prütting, ZZP 2010, 135–145, 142; für die Schweiz Hohl, La réalisation du droit et les procédures rapides, Rz. 378 ff.; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.129; Walter, Haftpflichtprozess 2009, 47–68, 56. 601 Maassen, Beweismaßprobleme, 55. 602 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 106 ff.; Prütting, Beweislast, 79.

VI. Überwiegende Überzeugung und geltendes Recht

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einen anspruchsbegründenden Sachverhalt) für wahr erachten darf.603 Uneinig ist man sich nur über die Intensität der Überzeugung, die vorliegen muss. Dieses Verständnis des Überwiegensprinzips lässt sich mit Gesetzeswortlaut und Systematik vereinbaren – nicht mit der herrschenden Interpretation des Gesetzes, aber das Gesetz steht einer abweichenden Interpretation nicht entgegen, wie im Folgenden begründet wird. Dabei sind die Argumente, die gegen die Vereinbarkeit der Lehre der überwiegenden Überzeugung mit dem geltenden Recht vorgebracht werden, grob so geordnet, dass die besten Argumente, deren Widerlegung eines höheren Argumentationsaufwands bedarf, am Schluss berücksichtigt werden. 1. Wortlaut von § 286 ZPO-DE und Art. 157 ZPO-CH Es wird vorgebracht, dass bereits der Wortlaut des Gesetzes, insbesondere § 286 Abs. 1 ZPO-DE, dem Überwiegensprinzip entgegenstehen würde, denn das Gesetz würde die volle richterliche Überzeugung verlangen.604 Überzeugung sei synonym mit persönlicher Gewissheit,605 oder verlange zumindest eine hohe subjektive Wahrscheinlichkeit.606 Nun ist es aber so, dass weder § 286 ZPO-DE noch Art. 157 ZPO-CH die volle Überzeugung verlangen. Von »voll« steht in beiden Vorschriften nichts. In § 286 Abs. 1 ZPO-DE steht nur, dass der Richter »nach freier Überzeugung entscheiden« soll, ob er eine Tatsachenbehauptung für wahr erachtet, während die entsprechende Bestimmung in der Schweiz nur festhält, dass sich das Gericht »seine Überzeugung nach freier Würdigung der Beweise« bildet. Über den Grad der Überzeugung, der verlangt wird, lässt sich dem Gesetzeswortlaut nichts entnehmen. Es trifft sicherlich zu, dass man umgangssprachlich unter »Überzeugung« mehr versteht als etwas bloß für eher wahr als falsch erachten.607 Wenn ich sage, dass ich überzeugt bin, dass es morgen regnet, dann halte ich es nicht nur für wahrscheinlicher, dass es regnen wird, als dass es nicht regnen wird, sondern ich drücke aus, dass ich (subjektiv) keine Zweifel habe, dass es regnen wird (obwohl es objektiv natürlich möglich ist, dass es nicht regnen wird). Dieses umgangssprachliche Verständnis von »Überzeugung« wirkt wie ein »Tabu« gegen

603 A. M. Prütting, Beweislast, 79, der für jede Form des Überwiegensprinzips eine (i. c. unzulässige) Rechtsfortbildung praeter legem vorauszusetzen scheint. 604 Prütting, Beweislast, 79; Leipold, Beweismaß und Beweislast, 8; Laumen, in: Baumgärtel/ Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 80–133, Rz. 66. Walter, Freie Beweiswürdigung, 159 ff., auf den Prütting a. a. O. verweist, äußert sich nur dazu, dass Bezugspunkt der Überzeugung die Wahrheit, nicht die Wahrscheinlichkeit sein müsse. Dazu vorne, S. 33 ff. 605 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 20. 606 Huber, Beweismaß, 122; Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 154; a. M. Gottwald, in: Gottwald/Jayme/Schwab (Hrsg.), Festschrift für Dieter Henrich, 165–176, 175. 607 Rommé, Anscheinsbeweis, 77.

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Fünfter Teil: Beweismaß

jede generelle Senkung des Beweismaßes.608 Es liegt auch den Lehrmeinungen zugrunde, die betonen, überzeugt sei man oder sei man nicht, man könne nicht in einem minderen Grade überzeugt sein.609 Von diesem umgangssprachlichen Verständnis von »Überzeugung« hat sich die Rechtsprechung aber schon lange verabschiedet. Sie betont seit jeher, dass absolute Gewissheit nicht verlangt werden könne, sondern nur ein »für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit«610 ; es genügt, wenn das Gericht »keine ernsthaften Zweifel mehr hat oder allenfalls verbleibende Zweifel als leicht erscheinen.«611 Auch in der Literatur wird betont, dass »Überzeugung« im Sinne von § 286 ZPO-DE nicht subjektive Gewissheit bedeute.612 Das entspricht aber nicht mehr dem umgangssprachlichen Verständnis von »überzeugt sein«. Wenn ich auch »nur leichte Zweifel« habe, dass es morgen nicht regnen wird, werde ich nicht sagen, ich sei überzeugt, es werde regnen. Ich würde vielleicht sagen, ich sei ziemlich sicher, oder fast sicher, oder es würde »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« regnen. Anders gesagt: das umgangssprachliche Verständnis von »Überzeugung« kann die Auslegung des Begriffs »Überzeugung« im Sinne von § 286 Abs. 1 ZPO-DE und Art. 157 ZPO-CH nicht bestimmen. »Überzeugung« wird in den genannten Bestimmungen in einem spezifisch juristischen Sinn gebraucht, und das juristische Verständnis drückt einen Überzeugungsgrad aus, der unterhalb der absoluten (subjektiven) Gewissheit liegt, die umgangssprachlich mit »Überzeugung« verbunden wird. Dass »Überzeugung« im Rahmen der Beweiswürdigung einen geringeren Überzeugungsgrad ausdrückt als in der Alltagssprache, zeigt sich auch, wenn man juristische Laien bittet, die für einen Schuldspruch in Strafsachen notwendige subjektive Wahrscheinlichkeit anzugeben und diese mit der gemäß dem BGH notwendigen Überzeugung für einen Schuldspruch in Strafsachen vergleicht. Gemäß § 261 StPO-DE entscheidet das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung; diese Umschreibung der freien Beweiswürdigung unterscheidet sich nicht wesentlich von der zivilprozessualen. Die ständige Rechtsprechung des BGH umschreibt das Beweismaß in Strafsachen wie folgt:613 »Voraussetzung für die Überzeugung des Tatrichters von einem bestimmten Sachverhalt [ist] nicht eine absolute, das Gegenteil oder andere Möglichkeiten denknotwendig aus608 Musielak, in: Lüderitz/Schröder (Hrsg.), Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, 451–471, 467. 609 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 20; Koussoulis, in: Gottwald/Prütting (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Schwab, 277–288, 283; Brinkmann, Beweismaß, 63; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.76. 610 BGH NJW 1970, 946, 948. 611 BGE 130 III 321 E. 3.2. 612 Arens, ZZP 1975, 1–48, 30 f.; Musielak, ZZP 1986, 217–223, 118 f.; Rommé, Anscheinsbeweis, 71. 613 BGH, Beschluss vom 19. Juni 2008 – 1 StR 217/08, st. Rsp.

VI. Überwiegende Überzeugung und geltendes Recht

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schließende Gewissheit. Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt. Der Tatrichter ist also nicht gehindert, an sich mögliche, wenn auch nicht zwingende Folgerungen aus bestimmten Tatsachen zu ziehen, wenn diese tragfähig sind.«

Wenn man juristische Laien – 115 Studierende der Psychologie oder Pädagogik an der Universität Erfurt, Durchschnittsalter 24 Jahre, 72% Frauen (aus der vorne, S. 310 ff., detailliert vorgestellten Studie) – fragt, wie hoch die subjektive Wahrscheinlichkeit der Schuld des Angeklagten sein müsse, um eine strafrechtliche Verurteilung zu rechtfertigen, liegt der Durchschnitt der Antworten bei 94,1%. Fragt man die gleichen Versuchspersonen, welchen Grad subjektiver Wahrscheinlichkeit der BGH gemäß obiger Formulierung verlange, liegt der Durchschnitt der Antworten bei 74,4%, signifikant tiefer als der Grad subjektiver Wahrscheinlichkeit, den sie ungestützt, oder »spontan«, angeben.614 Dies ist ein Indiz dafür, dass der Überzeugungsgrad, der gemäß Rechtsprechung für einen Schuldspruch notwendig ist, tatsächlich deutlich unter dem Laienverständnis von »überzeugt sein« liegt. Das umgangssprachliche Verständnis von »Überzeugung« als »persönlicher Gewissheit« vermag also einer Auslegung von § 286 Abs. 1 ZPO-DE, respektive Art. 157 ZPO-CH, die unter der verlangten Überzeugung einen minderen Überzeugungsgrad versteht, nicht entgegenzustehen. Die herrschende Lehre und vor allem die Rechtsprechung unterscheiden sich vom Überwiegensprinzip nur graduell, nicht prinzipiell: Auch die herrschende Lehre und Rechtsprechung gehen von einem Überzeugungsgrad unterhalb absoluter Gewissheit aus. Das Überwiegensprinzip senkt diesen Grad bloß weiter auf »eher wahr als falsch«. Der Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen steht der Lehre von der überwiegenden Überzeugung nicht entgegen, wenn man sich, wie dies bereits gemacht wird, von einem alltagssprachlichen Verständnis von Überzeugung löst und diesen Begriff graduell versteht. Dieser Auffassung steht auch nicht entgegen, dass im Strafprozessrecht der gleiche Begriff der Überzeugung (vgl. § 261 StPO-DE, Art. 10 Abs. 2 StPO-CH) einen höheren Überzeugungsgrad ausdrückt. Es ist seit langem anerkannt, dass an den Beweis in Strafsachen höhere Anforderungen zu stellen sind als in Zivilsachen. So schrieb Döhring vor über 50 Jahren: »In Strafsachen ist, weil es sich dort um schwerwiegende Entscheidungen handelt, die Leben, Freiheit und Ehre betreffen, für den Schuldbeweis eine besonders hohe Sicherheitsstufe erforderlich. [. . . ] Im Zivilprozess und in den anderen Verfahrensarten bewirkt die Tatsache, dass die gerichtliche Entscheidung dort im allgemeinen nicht von ebenso einschneidender Bedeutung sind wie in Strafsachen, dass für die zur Verurteilung des Beklagten nötigen Nachweise nicht den in Strafsachen maßgebenden höchsten Sicherheits-

614

t (113) = 11,77, p < 0,001.

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Fünfter Teil: Beweismaß

grad zu haben brauchen.«615 Für Rechberger ist es »nicht zu bezweifeln, dass im Strafprozessrecht gegenüber dem Zivilprozess ein erhöhtes Beweismaß anzuwenden ist [. . . ].«616 Weder Döhring noch Rechberger sind Vertreter des Überwiegensprinzips, denen man in dieser Sache fehlende Unparteilichkeit vorwerfen könnte. Dass im Strafprozessrecht höhere Anforderungen an das Beweismaß gestellt werden, entspricht gelebtem Recht, die rationale Entscheidungstheorie liefert nur die theoretische Begründung, warum dies richtig ist. 2. Vereinbarkeit mit dem materiellen Recht Gegen das Überwiegensprinzip wird vorgebracht, eine Klagegutheißung aufgrund bloßer Wahrscheinlichkeit des Sachverhalts verstoße gegen das materielle Recht, weil der Gesetzgeber – beispielsweise – eine Haftung nicht an die wahrscheinliche widerrechtliche Schädigung geknüpft habe, sondern an die tatsächlich eingetretene Schädigung.617 Dass eine Haftung unter der Geltung des Überwiegensprinzips bejaht würde, die unter dem Beweismaß der vollen Überzeugung abgelehnt wurde, bedeutet nicht, dass die materiellrechtliche Anspruchsgrundlage geändert wurde. Sie ist eine – durchaus beabsichtigte – Folge der Beweismaßsenkung, welche die Rechtsdurchsetzung erleichtert. Auszugehen ist von der heute absolut herrschenden Auffassung, dass das materielle Recht Rechtsfolgen daran knüpft, ob die anspruchsbegründenden Tatsachen der Fall sind oder nicht, und nicht an die richterliche Überzeugung vom Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen.618 Die Behauptung, eine Klagegutheißung aufgrund der bloßen Wahrscheinlichkeit der anspruchsbegründenden Tatsachen bedeute eine Änderung der materiellrechtlichen Anspruchsnorm, kann nur auf einem objektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff beruhen, denn nur diese Wahrscheinlichkeit ist eine Eigenschaft der außerhalb des Subjekts existierenden Realität, die vom materiellen Recht als maßgebend für den Eintritt von Rechtsfolgen erachtet wird. Greger, der dieses Argument am ausführlichsten begründet, bringt es denn auch als Kritik an »objektiven« Beweismaßlehren an.619 Versteht man Wahrscheinlichkeit subjektiv, als Überzeugungsgrad, wird unmittelbar klar, dass die Änderung des für eine Gutheißung der Klage notwendigen Überzeugungsgrades nichts an der 615

Döhring, Erforschung des Sachverhalts, 459 (Hervorhebung im Original). Rechberger, in: Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 471–490, 482 (Hervorhebung im Original). 617 Schreiber, Theorie des Beweiswertes, 13; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 111 f.; Walter, Freie Beweiswürdigung, 181; Prütting, Beweislast, 78 f. Schwab, in: Holzhammer/ Bohm/Jelinek (Hrsg.), Festschrift für Hans W. Fasching, 451–462, 454; Fuchs, Beweismaß im Arzthaftungsprozess, 83; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.125. 618 Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, 23 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 18; Reinecke, Beweislastverteilung, 26. 619 Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 112. 616

VI. Überwiegende Überzeugung und geltendes Recht

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materiellen Anspruchsgrundlage ändert. Das Beweismaß beschlägt den für die Feststellung einer Tatsache notwendigen richterlichen Überzeugungsgrad, und damit die Durchsetzung subjektiver Rechte vor Gericht, nicht deren Entstehung, die einzig von der tatsächlichen Existenz der anspruchsbegründenden Tatsachen abhängt. Die Senkung des Regelbeweismaßes auf einen geringeren Grad richterlicher Überzeugung ändert nichts am materiellen Recht. 3. Beweislastregeln Gegen das Überwiegensprinzip wird vorgebracht, es verstoße gegen das Gesetz, weil es das non liquet abschaffe und daher die gesetzlich vorgesehenen Beweislastregeln überflüssig mache.620 Auf dieses Argument gibt es zahlreiche Entgegnungen. Man kann, wie Motsch, betonen, dass sich aus dem Gesetz nicht ergibt, dass es eine Zone der Unentschiedenheit (»Grauzone«621 ) geben muss, sondern dass es sich dabei um eine auf das gemeine Recht zurückgehende Lehre handelt, die von der modernen Rechtslehre wiederentdeckt und »als quasi axiomatische Vorgabe«622 die Grundlage der Beweislastlehre bildet.623 Mein Ansatz ist ein anderer: Auch das Überwiegensprinzip braucht Beweislastregeln.624 Es braucht auf jeden Fall Regeln der subjektiven Beweislast (Beweisführungslast), d. h. Regeln darüber, wer die Beweismittel vorlegen muss, denn die Lehre von der überwiegenden Überzeugung ändert nichts an der Verhandlungsmaxime, und da es unter der Verhandlungsmaxime nicht die Aufgabe des Richters ist, die Beweismittel zu beschaffen, muss geregelt werden, welche Partei die Beweismittel vorlegen muss. Dieses Verständnis der Beweislast als Beweisführungslast ist historisch betrachtet das ältere und war im Zeitpunkt der Vorarbeiten zum BGB, aus dem sich gemäß herrschender Lehre die Beweislastregeln ergeben, die einzig bekannte Form der Beweislast. Die Lehre von der überwiegenden Überzeugung braucht aber auch Regeln über die objektive Beweislast für die Fälle, in denen sich beim besten Willen nicht sagen lässt, welcher Sachvortrag eher wahr ist. Die Lehre von der überwiegenden Überzeugung führt sicher dazu, dass es weniger solche Fälle gibt als unter dem Regelbeweismaß der vollen Überzeugung,625 aber das ist gerade ein Vorteil dieser Lehre: Beweislastentscheidungen sind oft unbefriedigend, und die Verteilung der Beweislast häufig umstritten. Als subjektive Beweislast (Beweisführungslast) wird die den Parteien auferlegte Last bezeichnet, bei Meidung des Prozessverlusts durch eigene Tätigkeit 620 Prütting, Beweislast, 85; Leipold, Beweismaß und Beweislast, 8; Fuchs, Beweismaß im Arzthaftungsprozess, 82; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.132; Grunsky/Jacoby, Zivilprozessrecht, Rz. 549. 621 Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile, 145. 622 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 34. 623 Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 25 ff. 624 A. M. Kaufmann, AJP 2003, 1199–1208, 1202. 625 Statt aller Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 5.126.

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Fünfter Teil: Beweismaß

den Beweis einer strittigen Tatsachenbehauptung zu führen.626 Die subjektive Beweislast ist das Mittel des Gesetzgebers, in dem von der Verhandlungsmaxime beherrschten Zivilprozess dem Richter die Beschaffung der Beweismittel abzunehmen.627 Von der so verstandenen »abstrakten« subjektiven Beweislast, die von Anfang an feststeht und sich während des Verfahrens nicht ändert, wird in der neueren deutschen Lehre, zurückgehend vor allem auf Prütting, die »konkrete« subjektive Beweislast unterschieden, die die Frage betrifft, wer in einer bestimmten Prozesssituation, in der sich das Gericht bereits eine vorläufige Meinung gebildet hat, einen Beweis antreten muss, um den Prozess (noch) zu gewinnen.628 Die konkrete Beweisführungslast hängt also vom Stand der Beweiswürdigung ab und kann während des Verfahrens zwischen den Parteien »hin und her pendeln«629 . Ob mit der konkreten Beweisführungslast mehr beschrieben wird, als dass es im wohl verstandenen Eigeninteresse jeder Partei liegt, das Gericht von ihrem Standpunkt zu überzeugen, bleibe dahingestellt. Die objektive Beweislast (Feststellungslast) bestimmt, wie zu entscheiden ist, wenn der Beweis misslungen ist, wenn sich also beim Richter keine Überzeugung einstellt, dass die strittige Tatsachenbehauptung wahr oder falsch ist, sondern er sich dazu kein Urteil zutraut (»non liquet«).630 Die objektive Beweislast dient der Überwindung des non liquet, sie ist eine an den Richter gerichtete Entscheidungsnorm631 – deshalb auch keine Last im technischen Sinn632 – und sagt ihm, für welche Partei er in den Fällen, in denen er nicht von der Wahrheit oder Falschheit einer Tatsachenbehauptung überzeugt ist, zu entscheiden hat.633 Während es eine subjektive Beweislast nur in Verfahren mit Verhandlungsmaxime gibt, muss es auch in Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz eine Regelung der Folgen der Beweislosigkeit geben, denn auch dort kann es sein, dass sich der Richter keine Überzeugung bilden kann.634 Die Unterscheidung von objektiver und subjektiver Beweislast geht auf die Prozessrechtslehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurück. Bis dahin hatte man Beweislast wie im römisch-kanonischen Recht fast durchwegs im Sinne der Beweisführungslast verstanden.635 Julius Glaser ist 1883 der erste, der zwischen objektiver (von ihm als »materiell« bezeichnet) und subjektiver (»for626

Rosenberg, Beweislast, 16. Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 16. 628 Prütting, Beweislast, 7 f.; Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 21 f. 629 Musielak, Grundlagen der Beweislast, 49. 630 Statt aller Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 9. 631 Zum Begriff Musielak, Grundlagen der Beweislast, 23. 632 Prütting, Beweislast, 34. Als alternative Begriffe wurden Streitrisiko (Bruns, Zivilprozessrecht, 248) »Feststellungsrisiko« oder »Unklarheitenrisiko« (Prütting, a. a. O.) vorgeschlagen. 633 Statt aller Baumgärtel, Beweislastpraxis, Rz. 10. 634 Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 21–80, Rz. 89. Eine abweichende ältere Meinung kann als überwunden gelten. 635 Musielak, Grundlagen der Beweislast, 267 f., 281. 627

VI. Überwiegende Überzeugung und geltendes Recht

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meller«) Beweislast unterscheidet.636 Der von ihm zudem eingeführte Begriff der »faktischen«637 Beweislast hat sich nicht durchsetzen können,638 findet aber ein Echo in der »konkreten« Beweisführungslast nach Prütting. Heute ist die Unterscheidung von objektiver und subjektiver Beweislast absolut herrschend.639 Entscheidend ist, dass während der Vorbereitungsarbeiten zum Bürgerlichen Gesetzbuch – der Gesetzgeber der Reichs-CPO hatte die Beweislastregeln als Regeln des materiellen Rechts betrachtet und bewusst nicht in der Verfahrensordnung geregelt640 – zwischen etwa 1874 und 1896641 ein Verständnis der Beweislast als Beweisführungslast vorherrschte. Die uns heute so geläufige Unterscheidung von objektiver und subjektiver Beweislast war den meisten Juristen zur Entstehungszeit des BGB gänzlich unbekannt – die Dissertation »Die Beweislast auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Zivilprozessordnung« von Rosenberg erschien in erster Auflage 1900, zeitgleich mit dem In-Kraft-Treten des BGB und nur wenige Jahre vor dem In-Kraft-Treten des schweizerischen Zivilgesetzbuches (1907) und Obligationenrechts (1911). Soweit der Gesetzgeber des BGB die Beweislast überhaupt geregelt hat – die Grundsatzregeln zur Beweislast im ersten Entwurf wurden als überflüssig, selbstverständlich oder aber bedenklich in der zweiten Lesung gestrichen642 – kann er sich nur zur Beweisführungslast geäußert haben. Man kann nicht gleichzeitig die »Entdeckung« der objektiven Beweislast durch Rosenberg als »bahnbrechende Erkenntnis«643 (neben der Verankerung der so verstandenen Beweislast im Satzbau der anspruchsbegründenden Norm) feiern und kritisieren, das Überwiegensprinzip mache die objektive Beweislast überflüssig und sei daher nicht mit dem Gesetz vereinbar.644 Die Lehre von der überwiegenden Überzeugung macht auch die objektive Beweislast nicht überflüssig. Es bedarf einer Entscheidungsregel für den Fall, dass ein Richter eine Tatsachenbehauptung für gleich wahrscheinlich wahr wie falsch hält.645 Hier befürwortet eine Mehrheit der Vertreter des Überwiegensprin-

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Glaser, Lehre vom Beweis im Strafprozess, 85 ff. Glaser, Lehre vom Beweis im Strafprozess, 102. 638 Musielak, Grundlagen der Beweislast, 280. 639 Musielak, Grundlagen der Beweislast, 280. Soweit ersichtlich ist Maassen, Beweismaßprobleme, 12 f., der einzige Autor der neueren Zeit, der die Notwendigkeit einer Unterscheidung von objektiver und subjektiver Beweislast leugnet und auf den Begriff der objektiven Beweislast verzichten will. 640 Hahn (Hrsg.), Materialien zur Civilprozessordnung, II/1, 270 ff. 641 1874 wurde die 1. Kommission zum Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs einberufen, 1896 der dritte Entwurf dem Reichstag zugeleitet, Jakobs/Schubert, Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 40 ff. 642 Musielak, Grundlagen der Beweislast, 277 f. 643 Prütting, ZZP 2010, 135–145, 140. 644 Prütting, Beweislast, 85. 645 Prütting, Beweislast, 68 f.; Huber, Beweismaß, 125. 637

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Fünfter Teil: Beweismaß

zips eine Entscheidung zu Lasten der Partei, die die objektive Beweislast trifft.646 Die praktische Bedeutung dieses Falls scheint auf den ersten Blick gering – wann ist eine Tatsache schon mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von genau 50% wahr? – wird aber relevant, wenn man den Boden der reinen Theorie verlässt und sich die praktische Anwendung des Grundsatzes, dass der Richter für die beweisbelastete Partei zu entscheiden hat, wenn er die Gesamtheit derer Tatsachenbehauptungen für eher wahr als falsch hält, vor Augen hält. Wie vorne, S. 521 f., dargelegt, wird es auch unter der Lehre der überwiegenden Überzeugung Fälle geben, bei denen ein Richter einfach nicht sagen kann, ob er eine Behauptung für überwiegend wahr oder falsch hält. In diesem Fällen wird er nach der objektiven Beweislast entscheiden müssen. Sicherlich trifft es zu, dass die Beweislastverteilung unter der Lehre von der überwiegenden Überzeugung etwas von der zentralen Bedeutung für den Prozessausgang verliert, den sie unter dem Regelbeweismaß der vollen Überzeugung hat.647 Der großen Bedeutung der Beweislastverteilung nach der herrschenden Lehre steht eine gewisse Beliebigkeit der Auferlegung im Einzelfall gegenüber. Daran hat auch die (modifizierte) Normentheorie nichts geändert. Weil die Abgrenzung von rechtsbegründenden und rechtshindernden Tatbestandsmerkmalen für das materielle Recht keine Bedeutung hat, liefert das materielle Recht letztlich keine Hilfestellung bei der Abgrenzung.648 So ordnen sowohl § 105 Abs. 1 BGB als auch § 125 Satz 1 BGB die Nichtigkeit einer Willenserklärung bzw. eines Rechtsgeschäfts an, im ersten Fall wegen Geschäftsunfähigkeit, im zweiten Fall mangels Beachtung der gesetzlich vorgeschriebenen Form. Dennoch ist die Beweislast gemäß Rosenberg unterschiedlich verteilt; im ersten Fall ist die Geschäftsunfähigkeit zu beweisen, im zweiten Fall die Beachtung und nicht der Mangel der gesetzlichen Form.649 Die Schwierigkeit der Beweislastverteilung zeigt sich auch am dogmatischen Aufwand, der zu ihrer Bewältigung betrieben wird. Das deutsche Standardwerk zur Beweislast, das »Handbuch der Beweislast« von Baumgärtel/Laumen/Prütting, umfasst in seiner derzeit aktuellen Auflage (2010) in neun Bänden rund 5’600 Seiten (inklusive dem Grundlagenteil von 480 Seiten). Selbst in alltäglichen Fällen besteht keine Einigkeit. Eine Kontroverse besteht beispielsweise zur Frage, wer die Beweislast für den Einwand der Schenkung trägt, wenn der Beklagte dem auf Darlehen, Leihe oder Verwahrungsvertrag gestützten Rückforderungsanspruch entgegenhält, die Sache sei schenkungshal646 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 337; Maassen, Beweismaßprobleme, 10; Redmayne, Modern Law Review 1999, 167–195, 172; a. M. Motsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 83. 647 Dazu Stölzel, Schulung für die zivilistische Praxis, XXXI; abschwächend Rosenberg, Beweislast, 61. 648 Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, 41 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 295; Ahrens, in: Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2008: Beweislast, 7–53, 21. 649 Rosenberg, Beweislast, 253.

VI. Überwiegende Überzeugung und geltendes Recht

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ber übereignet worden.650 In der Schweiz ist man sich noch nicht einmal für das Alltagsgeschäft des Stückkaufs einig, ob nach Annahme der Kaufsache durch den Käufer der Käufer die Beweislast für das Vorliegen eines Mangels am Kaufgegenstand im Zeitpunkt des Gefahrübergangs oder der Verkäufer die Beweislast für die Mangelfreiheit trägt.651 Die (modifizierte) Normentheorie mag das Beste sein, das wir haben.652 Diese Arbeit, die sich primär mit Beweiswürdigung und Beweismaß beschäftigt, ist nicht der Ort, sich vertieft mit der Dogmatik der Beweislastverteilung auseinanderzusetzen. Dass die Lehre von der überwiegenden Überzeugung der Beweislastverteilung viel von ihrer Schärfe nimmt,653 kann ihr in Anbetracht der Komplexität und der Unwägbarkeiten bei der Verteilung der Beweislast aber nicht zum Nachteil gereichen. Wenn das Ziel der Beweiswürdigung die Wahrheitsfindung ist, verfehlen Beweislastentscheidungen den Zweck der Beweiswürdigung.654 Nicht nur Vertreter des Überwiegensprinzips halten Beweislastentscheidungen daher generell für unbefriedigend.655 Dass Beweislastentscheidungen unter dem Überwiegensprinzip seltener sind als beim Regelbeweismaß der vollen Überzeugung, wird von Vertretern des ersteren daher zu Recht als Vorteil betrachtet.656 Eugen Huber, der Verfasser des Vorentwurfs zum schweizerischen Zivilgesetzbuch, der unter Schweizer Juristen angesehen ist wie kaum ein zweiter Zivilist, hat in den Erläuterungen zum Vorentwurf des ZGB in aller Deutlichkeit festgehalten, dass eine Entscheidung nach überwiegender Überzeugung einer Fiktion der Wahrheit nach Beweislastregeln vorzuziehen ist:657 »Da haben wir die Folge, dass mit dem Verharren des Richters bei den Grundsätzen der Beweislast aus Mangel an Beweis unter Umständen ein Resultat herbeigeführt würde, das aller billigen Beurteilung Hohn spricht. Und es ist nicht Willkür, sondern die Spur eines vollkommeneren Rechtes, wenn alsdann nicht nach den Folgen der Beweislast, sondern nach demjenigen, was nach aller Wahrscheinlichkeit dem Verhältnis in Wirklichkeit zugrunde liegt, das Urteil ausgefällt wird.«

650 Für Deutschland Wacke, ZZP 2001, 77–96, 79 f.; für die Schweiz Meier, ZSR NF 1987, 705–742, 738 ff. 651 Walter, in: Koller (Hrsg.), Leistungsstörungen, 62–99, 87, m. w. H. 652 Die Kritik an ihr ist nie verstummt, siehe nur den kurzen Überblick bei Seibl, Beweislast bei Kollisionsnormen, 117 ff.; für die Schweiz Meier, ZSR NF 1987, 705–742, 719 f. 653 So AK-ZPO-Rüßmann, vor § 284 N 21, zum Überwiegensprinzip. 654 Arens, in: Dieckmann et al. (Hrsg.), Festschrift für Wolfram Müller-Freienfels, 13–29, 13. 655 Huber, Erläuterungen zum Vorentwurf, 28 f.; Kasparek, Beweislast, 68 ff.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 20, 291; Arens, in: Dieckmann et al. (Hrsg.), Festschrift für Wolfram Müller-Freienfels, 13–29, 13; Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 183; a. M. Prütting, Beweislast, 86; Leipold, Beweismaß und Beweislast, 8. 656 Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker (Hrsg.), Festgabe für Heinrich Kronstein, 321– 344, 335; Motsch, in: Klug et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig, 334–348, 339; wohl auch AK-ZPO-Rüßmann, § 286 N 18. 657 Huber, Erläuterungen zum Vorentwurf, 28 f.; zustimmend Walter, Haftpflichtprozess 2009, 47–68, 55; kritisch BK-ZGB-Kummer, Art. 8 N 26 ff.; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 3.71 ff.

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Fünfter Teil: Beweismaß

4. Gesetzliche Beweismaßsenkungen, insbesondere Glaubhaftmachung Gegen das Überwiegensprinzip wird vorgebracht, es widerspreche offensichtlich dem Willen des Gesetzgebers, das Regelbeweismaß als eine subjektive Wahrscheinlichkeit von 50% (»eher wahr als falsch«) zu verstehen, denn das Gesetz sehe an zahlreichen Stellen, vor allem durch die Verwendung des Ausdrucks »glaubhaft machen«, Beweismaßsenkungen vor.658 Das Beweismaß der Glaubhaftmachung wird nach der weitaus herrschenden Meinung als »überwiegende Wahrscheinlichkeit« verstanden,659 was bedeutet, dass es erfüllt ist, wenn »etwas mehr für das Vorliegen der Tatsache spricht als gegen sie.«660 Wenn das Regelbeweismaß erfüllt ist, wenn die Tatsachenbehauptung nach der Überzeugung des Richters eher wahr als falsch ist, dann wären die zahlreichen Normen, die eine Beweismaßsenkung auf Glaubhaftmachung vorsehen, »funktionslos«661 ; das Gesetz müsste sich »Sinnlosigkeit«662 vorwerfen lassen.663 Das Argument wäre in der Tat bestechend, wenn unter der Lehre der überwiegenden Überzeugung Regelbeweismaß und Glaubhaftmachung dasselbe bedeuten würden. Aus der Lehre von der überwiegenden Überzeugung folgt aber nicht, dass Glaubhaftmachung und Regelbeweismaß dasselbe sind. Wenn man mit der ganz herrschenden Lehre davon ausgeht, dass Glaubhaftmachung gegenüber dem Regelbeweismaß ein »minus« ist und das Regelbeweismaß die Entscheidungsgrenze bei einem Überzeugungsgrad von 50% festlegt, dann folgt, dass Glaubhaftmachung weniger als eine subjektive Wahrscheinlichkeit von 50% sein kann. Dieses Gegenargument überrascht, wird doch gemeinhin festgehalten, der Richter könne auch bei der Glaubhaftmachung »die behauptete Tatsache nur zu Grunde legen, wenn er ihr Bestehen für wahrscheinlicher hält als das Gegenteil; sonst ist die Behauptung schon begrifflich nicht »glaubhaft« (gemacht).«664 Kann es tatsächlich sein, dass eine Tatsache glaubhaft gemacht ist, wenn der Richter glaubt, dass sie eher nicht der Fall ist, als dass sie der Fall ist? Nach hier vertretener Auffassung ist dies möglich, und die rationale Entscheidungstheorie vermag zu begründen, unter welchen Umständen der Glaubhaftmachung diese Bedeutung einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von unter 50% 658 Walter, Freie Beweiswürdigung, 174; Prütting, Beweislast, 79; Weber, Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 140; Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.98; Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/ Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 80–133, Rz. 66. 659 Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 39, mit zahlreichen Nachweisen; MüKo-ZPO-Prütting, § 294 N 24; für die Schweiz Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.125 ff. 660 MüKo-ZPO-Prütting, § 294 N 24 (Hervorhebung im Original); für die Schweiz BergerSteiner, Beweismass, Rz. 6.155. 661 Prütting, Beweislast, 79; ihm folgend Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 80–133, Rz. 66. 662 Walter, Freie Beweiswürdigung, 174. 663 Ähnlich Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.98, zum Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit im Sozialversicherungsrecht. 664 Musielak-ZPO-Huber, § 294 N 3.

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zukommen kann. Dieses Argument bedarf einer eingehenden Begründung, und zwar in zweierlei Hinsicht: Einerseits ist entscheidungstheoretisch zu begründen, weshalb Glaubhaftmachung eine Wahrscheinlichkeit von weniger als 50% bedeuten kann. Da der Begriff der Glaubhaftmachung in zahlreichen Bestimmungen inner- wie außerhalb des Zivilprozessrechts verwendet wird – allein die deutsche ZPO bestimmt in 53 Fällen, dass die Glaubhaftmachung einer Tatsachenbehauptung genügt, die schweizerische ZPO in zehn Fällen, dazu kommen zahllose Vorschriften in weiteren Gesetzen665 – wird die Argumentation an einigen praktisch wichtigen Fällen der Glaubhaftmachung entwickelt. Sie lässt sich auf andere Fälle übertragen, die nicht explizit ausgeführt werden. Andererseits ist zu begründen, weshalb diese Auffassung mit dem geltenden Recht vereinbar ist. Hierzu ist ein kurzer Blick in die historische Entwicklung des Begriffs der Glaubhaftmachung und in die aktuelle Lehre und Rechtsprechung notwendig. Nicht weiter eingehen werde ich auf die vor allem in der Schweiz nach wie vor bestehende Kontroverse, ob im Rahmen des vorsorglichen Rechtsschutzes die rechtlichen Grundlagen des geltend gemachten Verfügungsanspruchs eingehend oder nur oberflächlich zu prüfen, d. h. nur glaubhaft zu machen, sind.666 Nach der überwiegenden Lehre ist die rechtliche Grundlage des geltend gemachten Anspruchs auch im Rahmen des vorsorglichen Rechtsschutzes umfassend zu prüfen (ausländisches Recht hingegen ist wie eine Tatsache zu behandeln).667 Anders aber die bundesgerichtliche Rechtsprechung, die eine summarische rechtliche Prüfung genügen lässt.668 Da es im vorliegenden Zusammenhang um die Glaubhaftmachung als Beweismaß geht, beziehen sich die folgenden Ausführungen notwendigerweise nur auf die Glaubhaftmachung von Tatsachen. a) Die historische Kontroverse um den Begriff der Glaubhaftmachung Den Materialien zum Entwurf der deutschen Zivilprozessordnung lässt sich entnehmen, dass bewusst darauf verzichtet wurde, den Begriff der Glaubhaftmachung näher zu definieren. Die Begründung des Entwurfs nimmt nur sehr knapp zu § 256, der im Wesentlichen dem heutigen § 294 ZPO-DE zur Glaubhaftma-

665 Überblick bei Prütting, Beweislast, 80 ff.; Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 9 ff. 666 So Hohl, Procédure civile, Rz. 1565; ZK-ZPO-Huber, Art. 261 N 25; Zürcher, Einzelrichter, 86, meint, eine Abgrenzung von summarischer und eingehender rechtlicher Prüfung sei praktisch nicht möglich; zum älteren Meinungsstand Meier, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 146. In Deutschland darf die Frage als geklärt gelten – glaubhaft gemacht werden können nur Tatsachen, Walker, Einstweiliger Rechtsschutz, Rz. 322; Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 49 ff. 667 Berti, ZSR NF 1997, 173–250, 221 ff.; Kofmel Ehrenzeller, Vorläufiger Rechtsschutz, 37; BSK-ZPO-Sprecher, Art. 261 N 84 m. w. H.; a. M. Hohl, La réalisation du droit et les procédures rapides, Rz. 459, 462. 668 BGE 131 III 473 E. 2.3; 120 II 397 E. 4c.; 108 II 72 E. 2a.

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chung entspricht,669 Stellung: »Im Anschlusse an das gemeine Prozessrecht haben die neueren Prozessgesetze [. . . ] und neuere Prozessgesetzentwürfe [. . . ] vielfach eine Bescheinigung für genügend erklärt. Der Entwurf ist diesen Vorgängern gefolgt; er fordert in zahlreichen Fällen, namentlich in Fällen, in denen durch die beantragte Entscheidung den Rechten des Gegners nicht definitiv präjudiziert wird, statt eines Beweises die Glaubhaftmachung der zur Begründung des Antrags dienenden thatsächlichen Behauptungen [. . . ]. Ebenso hat der Entwurf es für entbehrlich und überdies für bedenklich erachtet, eine Definition des Begriffs der Glaubhaftmachung [. . . ] aufzunehmen.«670 Der Begriff der Glaubhaftmachung ist also an den überkommenen Begriff der »Bescheinigung« angelehnt, aber es wird bewusst darauf verzichtet, den Begriff näher zu umschreiben. Wie Inge Scherer herausgearbeitet hat, ist dies darauf zurückzuführen, dass um den Begriff der Bescheinigung eine Kontroverse bestand, die zu entscheiden der Gesetzgeber Rechtsprechung und Lehre überlassen wollte.671 Weiter verweist die Begründung des Entwurfs darauf, dass die Glaubhaftmachung »namentlich in Fällen« – man kann sogar weiter gehen und sagen: ausschließlich – dann vorgesehen wird, wenn die Entscheidung, die auf den bloß glaubhaft gemachten Tatsachen beruht, die Rechte des Gegners nicht endgültig präjudiziert oder anders gesagt: Wenn die Kosten einer Fehlentscheidung geringer sind als in den Fällen, in denen mit der Entscheidung endgültig über materielle Rechte und Pflichten entschieden wird. Die »Bescheinigung« war ein summarischer Beweis, der angewendet wurde, wenn ein förmliches Beweisverfahren wegen Dringlichkeit nicht durchgeführt werden konnte oder ein nicht präjudizierender Entscheid gefällt werden musste, der die Zeit und Kosten eines förmlichen Beweisverfahrens nicht rechtfertigte.672 Was den Inhalt des Begriffs der Bescheinigung anbelangte, so bestand eine Kontroverse: Die herrschende Meinung, insbesondere Georg Wilhelm Wetzell, verstand »Bescheinigung« als einen »bloßen Wahrscheinlichkeitsbeweis«, dem der förmliche Beweis gegenübergestellt wurde, der »juristische Gewissheit« verschaffen sollte.673 In dieses Lager gehört wohl auch Brauer, der zwar – abweichend von der h. M. – betont, dass jeder Beweis, und folglich auch der Vollbeweis, nur einen Grad der Wahrscheinlichkeit für die Wahrheit der Behauptung vermitteln könne, aber der Grad der Wahrscheinlichkeit bei der Bescheinigung »ein weit geringerer« sei als beim Vollbeweis.674 Als Rechtfertigung für den »geringeren Grad der Wahrscheinlichkeit«, der bei der Bescheinigung genügt, wird die nicht 669 Neben einer rein sprachlichen Bereinigung ist nur der Verweis auf die Eideszuschiebung, die abgeschafft wurde, entfallen, Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 29. 670 Hahn (Hrsg.), Materialien zur Civilprozessordnung, II/ 1, 281. 671 Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 31 ff.; siehe auch Leipold, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 66 ff. 672 Brauer, AcP 1842, 322–361, 325; Wetzell, System des ordentlichen Civilprocesses, 302 ff. 673 Endemann, Beweislehre des Civilprocesses, 61 f.; Renaud, Lehrbuch des Gemeinen deutschen Civilprocessrechts, 265 f.; Wetzell, System des ordentlichen Civilprocesses, 303 f. 674 Brauer, AcP 1842, 322–361, 329 f.

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präjudizierende Wirkung der Entscheidungen, die auf einer bloßen Bescheinigung beruhen, angeführt:675 »In all diesen Fällen [sc. in denen die Bescheinigung zulässig ist] wird eine definitive Entscheidung des zwischen den Parteien schwebenden materiellen Streitverhältnisses zunächst nicht bezweckt, und darum durch die Gewährung der gestellten Bitte selbst unter Voraussetzung einer Täuschung ein bleibender Nachteil für den Gegner nicht begründet. Wenn daher die italienische Doctrin hierin mit Recht den Grund für die Zulassung eines geringeren Grades von Gewissheit fand, so war es vollkommen angemessen, dass sie über die im R[ömischen] R[echt] vorkommenden Anwendungen hinaus die summarische Cognition überall da für genügend erklärte, wo durch die erbetene Entscheidung den Rechten des Imploranten nicht definitiv präjudiciert werde.«

Was die Stärke der Überzeugung von der Wahrheit anbelangt, so wurde diese meist mit der Formel umschrieben, dass »sie den Grad erreicht haben müsse, nach welchem man in gewöhnlichen Angelegenheiten des Lebens sich zu entscheiden pflege«676 . Dieser Grad wurde als erreicht betrachtet, wenn mehr für als gegen die Wahrheit der Behauptung spricht.677 Eine Mindermeinung innerhalb der damaligen h. M. spricht sich für ein variables Beweismaß der Bescheinigung aus, das von den Folgen der Entscheidung abhängig gemacht wird, allerdings nach unten durch die »überwiegende Wahrscheinlichkeit« begrenzt ist:678 »Die Gründe für die Annahme der Wahrheit eines bestrittenen oder zweifelhaften Thatsachenverhältnisses, welche als Bescheinigungsgründe gelten sollen, müssen nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit von der Erheblichkeit seyn, dass sie nach sorgfältiger Erwägung der Umstände des Falles die Gründe für die Annahme des Gegentheils überwiegen. Hierbei müssen aber auch die mehr oder minder wichtigen Folgen des Führwahrhaltens, also der darauf gebauten Verfügung, sorgfältig abgewogen und hiernach der richterlichen Überzeugung eine mehr oder minder strenge Prüfung vorausgehen.«

Im Kontrast zur herrschenden Meinung steht die Auffassung Brieglebs, für den sich die Bescheinigung vom Vollbeweis nur durch die Einseitigkeit des Vortrags unterscheidet, nicht aber durch eine »Abschwächung oder Unvollkommenheit der Beweisgründe«679 . Der historische Meinungsstreit wurde vom Gesetzgeber der deutschen Zivilprozessordnung von 1879 nicht im Sinne der einen oder anderen Auffassung entschieden, sondern bewusst zur Entscheidung durch Rechtsprechung und Literatur offen gelassen.680 Auch heute gibt es für den Bereich des Zivilverfahrensrechts und des Zivilrechts keine Legaldefinition der Glaubhaftmachung. Zwar hat der deutsche Gesetzgeber der Nachkriegszeit in verschiedenen 675 Wetzell, System des ordentlichen Civilprocesses, 303 f.; siehe auch Endemann, Beweislehre des Civilprocesses, 61 f.; Renaud, Lehrbuch des Gemeinen deutschen Civilprocessrechts, 266. 676 Brauer, AcP 1842, 322–361, 331; Wetzell, System des ordentlichen Civilprocesses, 305. 677 Puchta, Zeitschrift für Civilrecht und Prozess 1828, 293–307, 304; Brauer, AcP 1842, 322–361, 331. 678 Puchta, Zeitschrift für Civilrecht und Prozess 1828, 293–307, 304; kritisch Brauer, AcP 1842, 322–361, 331 f. 679 Briegleb, Einleitung in die Theorie der summarischen Processe, 376. 680 Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 36.

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Erlassen den Begriff der Glaubhaftmachung definiert,681 so insbesondere in § 23 Abs. 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz), gemäß dem eine Tatsache als glaubhaft anzusehen ist, »wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist.« Diese Legaldefinitionen können jedoch nicht über das jeweilige Gesetz hinausgehend Geltung beanspruchen.682 b) Lehre und Rechtsprechung zur Glaubhaftmachung in Deutschland Die deutsche rechtswissenschaftliche Literatur hat sich mit dem Thema der Glaubhaftmachung bis zur 1996 erschienen Arbeit von Inge Scherer nicht vertieft auseinandergesetzt.683 Die Dissertation von Barella von 1914 enthält kaum Gedanken, die über die Wiedergabe des Gesetzeswortlauts und der Entstehungsgeschichte hinausgehen. Die heute vertretenen Meinungen entsprechen weitgehend den Meinungen, die schon vor In-Kraft-Treten der ZPO zur Bescheinigung vertreten wurden. Die weitaus herrschende Lehre sieht in der Glaubhaftmachung einen geringeren Grad richterlicher Überzeugung, der als »überwiegende Wahrscheinlichkeit« bezeichnet wird und unter dem verstanden wird, dass mehr für als gegen die Wahrheit der Behauptung spricht.684 Eine ebenfalls breit vertretene Auffassung spricht sich für ein flexibles Beweismaß der Glaubhaftmachung aus: Das Beweismaß der Glaubhaftmachung lasse sich nicht generalisierend umschreiben, sondern sei nur im konkreten Fall unter Berücksichtigung der Art der Gefährdung der Rechtsposition des Antragsstellers und der Abwägung der Nachteile bestimmbar.685 Unterhalb die 50% Schwelle darf die Überzeugung dabei allerdings nicht sinken.686 Weiter geht Rüßmann im Alternativkommentar zur ZPO: Die Entscheidungsgrenze soll bei der Glaubhaftmachung wie beim Vollbeweis davon abhängen, ob »eher der einen oder anderen Seite die Belastung mit einer Fehlentscheidung zugemutet werden kann. Beim einstweiligen Rechtsschutz wird dabei die Schwere des Eingriffs ebenso eine Rolle spielen wie die Vorläufigkeit und Revidierbarkeit der ins Auge gefassten Maßnahme.«687 681

Übersicht bei Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 37. Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 38. 683 Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 39. 684 Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 39 f., m. w. H.; MüKo-ZPO-Prütting, § 294 N 24; Musielak-ZPO-Huber, § 294 N 3. 685 Borck, WRP 1978, 776–778, 777; MüKo-ZPO-Drescher, § 920 N 16; Zöller-ZPO-Greger, § 294 N 6; Schuschke/Walker, Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz-Schuschke, § 935 N 9; Zöller-ZPO-Vollkommer, § 935 N 8. 686 Borck, WRP 1978, 776–778, 777; MüKo-ZPO-Drescher, § 920 N 16; Zöller-ZPO-Greger, § 294 N 6; Schuschke/Walker, Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz-Schuschke, § 935 N 9. 687 AK-ZPO-Rüßmann, § 294 N 3. 682

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Leipold vertritt eine Unterscheidung des Begriffs der Glaubhaftmachung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nach »vorausprüfender« und »offener« Eilentscheidung. Bei der vorausprüfenden Eilentscheidung wird der Erlass der Verfügung davon abhängig gemacht, wer in der Hauptsache voraussichtlich Recht bekommen wird.688 Hier ist eine umfassende Rechtsprüfung notwendig und die Tatsachen müssen wie im Hauptsacheverfahren zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen.689 Anders bei der offenen Eilverfügung, die nicht von der voraussichtlichen Begründetheit des Hauptsacheanspruchs abhängt, sondern eine Zwischenlösung trifft, bis über die Hauptsache entschieden werden kann.690 Der Erlass einer Eilverfügung hängt hier von einer Abwägung der Nachteile von Antragsteller und Antragsgegner bei Erlass, bzw. Verweigerung, einer einstweiligen Verfügung ab.691 Es genügt, wenn der Bestand des behaupteten Rechts in materiellrechtlicher und tatsächlicher Hinsicht aufgrund einer überschlägigen Prüfung als »jedenfalls möglich« erscheint.692 Gottwald deutet Glaubhaftmachung »als volle Überzeugungsbildung anhand eines präsenten (oder sonst begrenzten) Beweismaterials«693 ; er scheint mit der Auffassung, dass Glaubhaftmachung sich bezüglich des notwendigen Überzeugungsgrades generell nicht von der Überzeugung gemäß § 286 ZPO-DE unterscheidet, in der neueren Lehre allerdings alleine zu stehen. Der Stellungnahme darf keine übermäßige Bedeutung beigemessen werden, beschäftig sich Gottwald an der besagten Stelle doch mit der Abgrenzung von § 286 und § 287 ZPO-DE und erwähnt die Glaubhaftmachung nur gerade in einem Satz. Scherer stellt maßgeblich auf die Folgen der gerichtlichen Entscheidung ab: Wo diese den Hauptanspruch de facto präjudiziert, vor allem in wettbewerbsrechtlichen Verfügungsverfahren, wo aufgrund des sich schnell wandelnden Wettbewerbs durch eine einstweilige (Unterlassungs-)Verfügung der Anspruch des Gesuchstellers de facto befriedigt wird, sind an die Glaubhaftmachung der Tatsachenbehauptungen die gleich hohen Anforderungen zu stellen wie an die richterliche Überzeugung im ordentlichen Verfahren.694 Dass im Verfahren des vorsorglichen Rechtsschutzes de iure nie endgültige Entscheidungen getroffen werden, ist unbestritten, ändert aber an der Argumentation nichts.695 In den übrigen Fällen, wo keine de facto endgültige Entscheidung über das streitige

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Leipold, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 52. Leipold, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 96 ff. 690 Leipold, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 53. 691 Leipold, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 54. 692 Leipold, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 94 f. 693 Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 217, unter Hinweis auf Leipold, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 66, 98. 694 Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 85 ff. 695 Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 86 ff. 689

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Fünfter Teil: Beweismaß

subjektive Recht getroffen wird, genügt hingegen eine einfache überwiegende Wahrscheinlichkeit.696 In der Rechtsprechung befasst sich ein Urteil des Reichsgerichts vom 30. März 1883 soweit ersichtlich erstmals mit dem Begriff der Glaubhaftmachung, und zwar im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes.697 Die Gesuchstellerin verlangte Befriedigung ihres fortlaufenden Gehaltsanspruchs auf dem Wege des einstweiligen Rechtsschutzes. Das Reichsgericht prüfte und bejahte die Frage, ob durch eine einstweilige Verfügung eine Leistung mit Befriedigungscharakter angeordnet werden könne, und führte aus: »Nach Befinden wäre auch zu prüfen, ob die Klägerin einige Aussicht hat, mit ihren Gehaltsansprüchen durchzudringen und ob einerseits die Aussicht darauf so sicher, andererseits die ihr drohende Gefahr von der Art ist, dass dem Beklagten zugemutet werden darf, der Klägerin Geldbeträge zu zahlen, deren etwaige Wiedererstattung er von der mittellosen Empfängerin voraussichtlich nie erlangen würde.«698 Zur Klärung dieser Aussichten wurde das Verfahren an die Vorinstanz zurückverwiesen. Die Formulierung »einige Aussichten« ist zweifellos sehr vage,699 interessanter scheint mir, dass das Reichsgericht hier offensichtlich die Kosten einer fehlerhaften Entscheidung berücksichtigt – nämlich die dem Antragsgegner entstehenden Kosten, sollte die einstweilige Verfügung ihn zu Unrecht zur vorläufigen Zahlung des Gehalts verpflichten und er seinen Rückforderungsanspruch nicht durchsetzen können. In der Nachkriegszeit verwendet das Landesarbeitsgericht Tübingen, Außenkammer Mannheim, in einem Urteil vom 19. April 1961 erstmals einen Vorläufer der heute gängigen Formel von der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit«.700 Auch hier ging es um die Anordnung der Leistung fortlaufender Bezüge im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Das Gericht führt zu § 920 Abs. 2 ZPO-DE (»Anspruch und Arrestgrund sind glaubhaft zu machen«) aus: »Glaubhaftmachung bedeutet aber weder Offensichtlichkeit noch an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit, sondern überwiegende Wahrscheinlichkeit. Es kommt also darauf an, ob eine größere Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass die fristlose Kündigung sich als unbegründet erweisen wird.«701 Erheblich geringere Anforderungen stellt das Landgericht Köln, ebenfalls in einem Verfügungsverfahren betreffend fortlaufender Bezüge, in einem Urteil vom 22. September 1961. Es genüge für den Erlass einer Verfügung, welche die Fortzahlung des Gehalts anordnet, wenn »die ausgesprochene Kündigung nicht erkennbar rechtswirksam ist«702 . Zweifel an der Rechtswirksamkeit der Kündigung reichen aus, um die 696 697 698 699 700 701 702

Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 81 ff. RGZ 9, 334 ff. RGZ 9, 334, 336 f. Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 20. Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 22. LAG Tübingen, AK Mannheim, NJW 1961, 2178, 2179 (Verweisungen weggelassen). LG Köln, MDR 1962, 415, 416.

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Zahlung fortlaufender Bezüge anzuordnen, oder anders ausgedrückt, der Verfügungsanspruch (»schutzbedürftige Berechtigung«703 ) darf nur nicht offensichtlich unbegründet sein. Begründet werden diese geringen Anforderungen mit der eingetretenen Notlage des Arbeitnehmers.704 Auch hier wird also mit den Kosten einer fehlerhaften Entscheidung argumentiert: Den fortlaufenden Bezug fälschlicherweise zu verweigern würde den Arbeitnehmer viel härter treffen (Notlage) als den Arbeitgeber die fälschlicherweise gewährte Anordnung des fortlaufenden Bezugs treffen würde (mögliche Uneinbringlichkeit der Rückzahlungsforderung). Auch das OLG Bamberg nimmt in einem auf die Fortzahlung des Gehalts gerichteten einstweiligen Verfügungsverfahren eine Abwägung der Fehlerkosten vor, kommt aber zu einem zum LG Köln gegenteiligen Schluss: »Das Verfahren der einstweiligen Verfügung dient hier der summarischen Entscheidung streitiger Ansprüche und muss eine seltene Ausnahme bleiben. In diesen Fällen vorweggenommener Befriedigung darf die einstweilige Verfügung nur mit größter Vorsicht und unter strengster Beachtung ihrer Voraussetzungen, insbesondere nur zur Beseitigung einer dringenden Notlage, erlassen werden. [. . . ] Im Hinblick auf die Schwierigkeit oder gar Unmöglichkeit, zu Unrecht gezahlte Beträge gemäß § 945 ZPO zurückzuerhalten, sind bei den sogenannten Leistungsverfügungen an die Glaubhaftmachung von Verfügungsgrund und Verfügungsanspruch strenge Anforderungen zu stellen.«705 Die gleichen Überlegungen zur voraussichtlichen Uneinbringlichkeit des zu Unrecht bezahlten vorläufigen Kindesunterhalts des angeblichen Kindsvaters begründen nach dem LG Karlsruhe, an die Glaubhaftmachung des Verfügungsanspruchs eher hohe Anforderungen zu stellen (»hohe Wahrscheinlichkeit« der Vaterschaft).706 Auffällig ist, dass in all diesen Urteilen Überlegungen zur Minimierung der erwarteten Fehlerkosten das Beweismaß der Glaubhaftmachung bestimmen. Der BGH prägt in einem Beschluss vom 5. Mai 1976 die bis heute in ständiger Rechtsprechung verwendete Formel von der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit«, die ihre Vorläuferinnen in den erwähnten Entscheidungen des LAG Tübingen und des OLG Bamberg hat.707 Hier ging es aber nicht um die einstweilige Anordnung fortlaufender Bezüge, sondern um die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach verpasster Frist (wie in der großen Mehrheit aller Entscheidungen des BGH zur Glaubhaftmachung). Der BGH führt aus: »Das Gesetz verlangt [. . . ] keinen vollen Beweis der Wiedereinsetzungsgründe, sondern lediglich ihre Glaubhaftmachung, d. h. also keine an Sicherheit grenzende, sondern nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit.«708 Eine Tatsache ist über703 704 705 706 707 708

Berti, ZSR NF 1997, 173–250, 199. LG Köln, MDR 1962, 415, 416. OLG Bamberg, OLGZ 71, 438, 439 (Verweisungen weggelassen). LG Karlsruhe, FamRZ 1969, 41, 42. Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 26. BGH, Beschluss vom 5. Mai 1976 – IV ZB 49/75 = BeckRS 1976 30396402.

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wiegend wahrscheinlich, »wenn bei der erforderlichen umfassenden Würdigung der Umstände des jeweiligen Falls mehr für das Vorliegen der in Rede stehenden Behauptung spricht als dagegen.«709 Diese »Formel« wird seither in gefestigter und ständiger Rechtsprechung verwendet,710 und zwar nicht nur im einstweiligen Rechtsschutzverfahren und bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, sondern beispielsweise auch für die Glaubhaftmachung von Ablehnungsgründen711 oder der Versagungsgründe für die Restschuldbefreiung nach § 290 Insolvenzordnung712 . Interessant ist, dass die Formel von der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit«, die von den Instanzgerichten im Zusammenhang mit Befriedigungsverfügungen entwickelt wurde, vom BGH für die Glaubhaftmachung der Wiedereinsetzungsgründe übernommen und von dort auf weitere Fälle ausgedehnt wird, in denen das Gesetz »glaubhaft machen« verlangt. Dabei hat die Lehre schon früh betont, dass bei der auf Erfüllung eines Geldanspruchs gerichteten vorsorglichen Verfügungen strengere Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anspruchs zu stellen sind und dies insbesondere mit der Intensität des Eingriffs in die Rechtssphäre des Antragsgegners begründet.713 Diese Abstufung des Grades der Glaubhaftmachung nach den Kosten einer fehlerhaften Entscheidung scheint beim »Transfer« des Begriffs der Glaubhaftmachung auf gänzlich andere Anwendungsbereiche verloren gegangen zu sein. c) Lehre und Rechtsprechung zur Glaubhaftmachung in der Schweiz Die schweizerische Lehre gibt zum großen Teil die bundesgerichtliche Formel zum Beweismaß der Glaubhaftmachung, die auf Guldener714 zurückgeht, ohne kritische Würdigung wieder.715 Nach der bundesgerichtlichen Umschreibung braucht der Richter nicht von der Richtigkeit der aufgestellten tatsächlichen Behauptungen überzeugt zu werden, sondern es genügt, »ihm auf Grund objektiver Anhaltspunkte den Eindruck einer gewissen Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein der in Frage kommenden Tatsachen zu vermitteln, ohne dass er dabei den Vorbehalt preisgeben müsste, dass die Verhältnisse sich auch anders gestalten könnten.«716 In neueren Urteilen werden die »objektiven« Anhaltspunkte und die »gewisse« Wahrscheinlichkeit nicht mehr ausdrücklich erwähnt, und gesagt, eine Tatsache sei glaubhaft gemacht, »wenn für deren Vorhandensein 709

BGH, NJW-RR 2011, 136, unter Hinweis auf BGH, NJW 2003, 3558. Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 27. 711 BGH NJW-RR 2011, 136; NJW-RR 2007, 776, 777. 712 BGH, NJW 2003, 3558. 713 Baur, Studien zum einstweiligen Rechtsschutz, 90 f. m. w. H. 714 Guldener, Zivilprozessrecht, 323 Fn. 27. 715 Leuenberger, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 108–126, 108; BergerSteiner, Beweismass, Rz. 6.126 ff., beide mit zahlreichen Hinweisen; Willi, sic! 2011, 215–221, 216. 716 BGE 88 I 11 E. 5a. 710

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gewisse Elemente sprechen, selbst wenn das Gericht noch mit der Möglichkeit rechnet, dass sie sich nicht verwirklicht haben könnte.«717 Abgegrenzt wird das Beweismaß der Glaubhaftmachung (la simple vraisemblance, la semplice verosimiglianza) vom Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (la vraisemblance prépondérante, la verosimiglianza preponderante), das für den Eintritt des Schadenfalls bei Versicherungsverträgen und für den Nachweis der natürlichen und hypothetischen Kausalität Anwendung findet und mehr ist als die einfache Glaubhaftmachung (vorne, S. 474 f.).718 Unklar bleibt, ob die Formulierung des Bundesgerichts verlangt, dass es wahrscheinlicher ist, dass die glaubhaft gemachte Tatsache der Fall ist als dass sie nicht der Fall ist. Nach dem Wortlaut – »gewisse« Wahrscheinlichkeit respektive »gewisse Elemente« – wird eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% nicht verlangt.719 Dem stehen Formulierungen verschiedener Autoren gegenüber, die zu verlangen scheinen, dass die Tatsachenbehauptung eher wahr als falsch sein muss.720 Während Leuenberger diese Formulierungen dahingehend interpretiert, dass sie »kaum eine Änderung im Grad des Glaubhaftmachens« bezweckten,721 verwendet Berger-Steiner sie zur Stützung ihrer Auffassung, dass die absolute untere Grenze der Glaubhaftmachung eine (subjektive) Wahrscheinlichkeit von 50% sei.722 Weitere Unterstützung findet diese Auffassung in einem neueren Bundesgerichtsentscheid, in dem gesagt wird, die Fälschung einer Unterschrift sei glaubhaft gemacht, wenn sie wahrscheinlicher sei als die Echtheit der Unterschrift.723 Eine Kontroverse besteht in der schweizerischen Literatur hinsichtlich der Frage, ob die Glaubhaftmachung ein variables Beweismaß ist oder eine einheitliche, in allen Fällen anzuwendende, Entscheidungsgrenze festlegt. In der älteren Lehre finden sich vor allem im Zusammenhang mit der Glaubhaftmachung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Stimmen, die die Glaubhaftmachung ähnlich wie die deutsche Lehre von der Intensität des Eingriffs in die Rechtsposition der Gegenpartei durch die beantragte Maßnahme abhängig machen.724 717

BGE 130 III 321 E. 3.3; zuletzt bestätigt in BGE 138 III 232 E. 4.1.1. BGE 130 III 321 E. 3.3. 719 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.132. 720 Zürcher, Einzelrichter, 68; Vogel et al., Grundriss des Zivilprozessrechts, § 42 Rz. 33; David, Der Rechtsschutz im Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Rz. 654; Sutter-Somm, Zivilprozessrecht, Rz. 908; SHK-ZPO-Treis, Art. 261 N 15; Jaeger et al., Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Art. 82 N 28.; aus der kantonalen Rechtsprechung OGer BL, BJM 2005, 87; OGer LU, LGVE 1990 I, 59 f.; KGer GR, SJZ 1974, 228; a. M. Summermatter/ Jacober, HAVE 2012, 136–149, 142 (25% genügen); Kaufmann, AJP 2003, 1199–1208, 1201 (»wesentlich über 50%«). 721 Leuenberger, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 108–126, 109. 722 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.139; ihr folgend Bühler, Jusletter 21. Juni 2010, Rz. 16. 723 BGE 132 III 140 E. 4.1.2. 724 von Büren, Kommentar zum Wettbewerbsgesetz, 205; Brandenberg, Das summarische Verfahren in der zugerischen Zivilprozessordnung, 73; Hasenböhler, BJM 1976, 1–62, 20. 718

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In neuerer Zeit vertritt Leuenberger mit ausführlicher Begründung die Auffassung, der Grad der »gewissen« Wahrscheinlichkeit ergebe sich aus dem Zweck und den Wertungen der Bestimmungen, welche die Glaubhaftmachung vorschreiben. Der gesetzgeberische Zweck, der mit dem Glaubhaftmachen verfolgt werde, sei unterschiedlich, damit könne »auch der Grad der Wahrscheinlichkeit im konkreten Anwendungsfall variieren.«725 Zu geringeren Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit führe: i) die Entscheidung in einem Verfahren mit Beschränkung der Beweismittel (vgl. Art. 254 Abs. 2 lit. a ZPO-CH); ii) die Schwierigkeit der Beweisführung; oder iii) die Entscheidung auf einseitigen Antrag (»superprovisorisch« nach schweizerischer Terminologie, »einstweilig« nach deutscher Terminologie).726 Für ein variables Beweismaß der Glaubhaftmachung im Verfahren des vorsorglichen Rechtsschutzes, das vom Inhalt der beantragten Maßnahme – Sicherungs-, Regelungs- oder Leistungsmaßnahme – abhängt, treten auch Bohnet, Hohl und Hasenböhler ein.727 Berger-Steiner stellt sich der Auffassung eines variablen Beweismaßes der Glaubhaftmachung resolut entgegen. Ausgehend von ihrer Prämisse, dass Glaubhaftmachung bedeutet, dass ein Sachverhalt eher wahr als falsch ist, schließt sie, einen flexiblen Grad der Glaubhaftmachung könne es nicht geben.728 Zwar seien die Formulierungen des Bundesgerichts vage, aber mit ihnen sei nicht beabsichtigt, die Glaubhaftmachung je nach den konkreten Umständen des Einzelfalles zu bestimmen.729 »Die Voraussehbarkeit der Rechtsanwendung, die Beachtung der Rechtsgleichheit, die Nachprüfbarkeit sachrichterlicher Entscheidfindung« geböten, das Beweismaß generell-abstrakt zu bestimmen.730 Die von Leuenberger angeführten Argumente für ein variables Beweismaß der Glaubhaftmachung beschlügen die Beweiswürdigung, nicht das Beweismaß.731 Eine eigene Auffassung vertritt Meier, der sowohl die Wahrscheinlichkeit des Obsiegens im Hauptverfahren (Hauptsacheprognose) als auch die Verteilung der Nachteile unter den Parteien berücksichtigen will (Nachteilsprognose). Was er unter »Nachteilsprognose« genau versteht, wird leider nicht vollends klar. Offensichtlich benutzt er den Begriff abweichend von der üblichen Verwendung; üblicherweise wird unter »Nachteilsprognose« in der Schweiz die Gefahr eines nicht leicht wiedergutzumachenden Nachteils verstanden, die dem Gesuchsteller

725

Leuenberger, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 108–126, 119. Leuenberger, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 108–126, 119 f. 727 RK-CPC-Bohnet, Art. 261 N 18; Hasenböhler, Anwaltsrevue 2014, 259–267, 262; Hohl, Procédure civile, Rz. 1847; anders noch Hohl, La réalisation du droit et les procédures rapides, Rz. 457. 728 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.142. 729 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.144 f. 730 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.46; darauf wird in Rz. 6.142 verwiesen. 731 Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.145. 726

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droht, wenn keine vorsorgliche Maßnahme angeordnet wird, also das, was gemäß der deutschen Terminologie als Verfügungsgrund bezeichnet wird.732 Gemäß den Ausführungen auf S. 217 seiner Arbeit berücksichtigt Meier bei der Nachteilsprognose sowohl die Nachteile, die dem Gesuchsteller durch eine fälschlicherweise nicht angeordnete Maßnahme entstehen, als auch die Nachteile, die dem Gesuchsgegner durch eine fälschlicherweise angeordnete Maßnahme entstehen.733 Es handelt sich also um die Kosten der Fehler 1. und 2. Art, ohne dass diese Begriffe verwendet würden. Diese Kosten normiert er auf einer Skala von 0 bis 100 in dem Sinne, dass die gesamten Fehlerkosten sich immer auf 100 summieren müssen, ohne dass begründet würde, weshalb dies der Fall sein muss (entscheidungstheoretisch müssen sich die Kosten beider Fehler nicht zu 1 summieren; sinnvoll ist es, die Kosten jeder Entscheidung zwischen 0 und 1 zu normieren).734 Meier nimmt unausgesprochen an, dass die Wahl mit den geringsten erwarteten Kosten optimal ist, und zeigt, dass diese Wahl nur unter Berücksichtigung sowohl der Fehlerkosten als auch der Wahrscheinlichkeit des Obsiegens in der Hauptsache getroffen werden kann, was er als »dualistisches Modell« bezeichnet.735 Er kommt somit zum gleichen Schluss wie die normative Entscheidungstheorie, ohne explizit auf diese Bezug zu nehmen. Das ist eine beachtliche Leistung, die in der schweizerischen Lehre wohl hauptsächlich wegen der Quantifizierung der Fehlerkosten und der komplexen Darstellung mit mehreren Tabellen auf ein geringes Echo gestoßen ist. Leider entstehen bei den näheren Ausführungen zur Nachteilsprognose Ungereimtheiten. Meier führt aus, es seien die zu erwartenden Nachteile der Parteien beim Erlass einer bestimmten Maßnahme zu bewerten, aber differenziert nicht mehr, ob die Maßnahme zu Recht oder zu Unrecht angeordnet wird.736 Dies zeigt sich auch bei den konkreten Beispielen. So sei bei der Prüfung, ob eine auf Unterlassung einer (angeblich) persönlichkeitsverletzenden Meinungsäußerung gerichtete vorsorgliche Maßnahme angeordnet werden soll, zu berücksichtigen, dass der Gesuchsteller ohne Anordnung der Maßnahme in seiner Persönlichkeit verletzt zu werden droht, während das Interesse der Meinungsäußerungsfreiheit beim Gesuchsgegner im Vordergrund stehe. Es sei mindestens von einer gravierenderen Gefährdung des Klägers im Sinne einer 60/40 Aufteilung, vielfach sogar von 80/20, auszugehen, da der Schutz der Persönlichkeit eines der zentralsten Anliegen der Rechtsordnung sei.737 Aber man kann diese Nachteile doch nicht ohne Unterscheidung danach, ob der Verfügungsanspruch besteht oder nicht, beurteilen: Wenn die Persönlichkeitsverletzung nicht widerrechtlich ist, weil ein 732 733 734 735 736 737

Statt aller KuKo-ZPO-Kofmel Ehrenzeller, Art. 261 N 7 f. Meier, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 217. Meier, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 217, 222. Meier, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 224. Meier, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 230. Meier, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 233 f.

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Fünfter Teil: Beweismaß

überwiegendes privates oder öffentliches Interesse sie rechtfertigt (vgl. Art. 28 Abs. 2 ZGB), dann überwiegt das Interesse an der freien Meinungsäußerung eindeutig. Man kann nicht sagen, dass unabhängig vom Bestehen des subjektiven Rechts des Gesuchstellers die Schädigung des Gesuchstellers bei angeblichen Persönlichkeitsverletzungen immer überwiegt. Die Abweisung einer vorsorglichen Maßnahme, die auf Unterlassung einer rechtmäßigen Persönlichkeitsverletzung gerichtet ist, gefährdet keine schützenswerten Interessen des Gesuchstellers. Schließlich besteht in der schweizerischen Literatur eine ungelöste Kontroverse zur Frage, ob im Verfahren des vorsorglichen Rechtsschutzes neben dem Verfügungsanspruch, dem Verfügungsgrund und der Dringlichkeit (die fälschlicherweise als eigenständige Voraussetzung betrachtet wird) eine Verhältnismäßigkeitsprüfung Voraussetzung für den Erlass einer vorsorglichen Maßnahme ist. Unproblematisch und selbstverständlich ist dabei eine Verhältnismäßigkeitsprüfung in dem Sinne, dass die angeordnete Maßnahme geeignet sein muss, den geltend gemachten Nachteil abzuwenden, und nicht weiter gehen darf, als zur Abwendung des Nachteils unbedingt erforderlich ist.738 Ein Teil der Lehre plädiert allerdings für eine weitergehende Verhältnismäßigkeitsprüfung (Verhältnismäßigkeit »im engeren Sinn«). Auch wenn Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund glaubhaft gemacht sind, soll zusätzlich geprüft werden, ob die beantragte vorsorgliche Maßnahme nicht unverhältnismäßig schwer in die Rechtssphäre des Gegners eingreift.739 Kategorisch gegen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinn bei nicht superprovisorischen (einstweiligen) vorsorglichen Maßnahmen äußert sich Stauber. Er führt an, dass Art. 261 ZPO dem Richter kein Entschließungsermessen einräume und ein solches auch durch eine historische Auslegung nicht gefunden werden könne. Aus Art. 266 ZPO-CH, der eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Anordnung vorsorglicher Maßnahmen gegen periodisch erscheinende Medien vorsieht, sei e contrario zu schließen, dass bei vorsorglichen Maßnahmen gegen andere Gesuchsgegner keine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolge.740 Ob die Gegenseite durch ein Urteil in der Hauptsache schwer betroffen werde, spiele keine Rolle. Daher sei nicht einsichtig, weshalb dieses Kriterium für vorsorgliche Maßnahmen bezüglich des gleichen Anspruchs maßgeblich sein solle.741

738 ZK-ZPO-Huber, Art. 261 N 23; BSK-ZPO-Sprecher, Art. 262 N 48; Dike-ZPO-Zürcher, Art. 261 N 10. 739 Brunner, SMI 1989, 9–25, 18; Staehelin/Staehelin/Grolimund, Zivilprozessrecht, § 22 N 12; Vogel et al., Grundriss des Zivilprozessrechts, § 52 Rz. 293; a. M. Alder, Der einstweilige Rechtsschutz im Immaterialgüterrecht, 108, 133 ff.; Zürcher, Einzelrichter, 246 f.; David, Der Rechtsschutz im Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Rz. 628; wohl auch BSK-ZPOSprecher, Art. 261, N 33. 740 Stauber, sic! 2010, 602–610, 604. 741 Stauber, sic! 2010, 602–610, 604.

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Das Bundesgericht hat in seiner älteren Rechtsprechung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne ausdrücklich abgelehnt.742 In neueren Urteilen bejaht es sie.743 Der neuste Leitentscheid des Bundesgerichts in der Frage zeigt, dass das Bundesgericht im Ergebnis nichts anderes macht, als die Anforderungen an die Glaubhaftmachung von Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund nach den Fehlerkosten der Entscheidung zu bestimmen. Das Bundesgericht unterscheidet nämlich die Anforderungen an die Glaubhaftmachung nach dem Inhalt der beantragten Maßnahme (Verfügung). Die vorsorglichen Maßnahmen werden gemeinhin in Sicherungs-, Regelungs- und Leistungsmaßnahmen unterteilt,744 wobei die Abgrenzung nicht immer eindeutig ist.745 Sicherungsmaßnahmen sind darauf ausgerichtet, den bestehenden Zustand aufrechtzuerhalten, um die künftige Durchsetzung eines subjektiven Rechts zu ermöglichen. Sie führen nicht eo ipso zur (vorläufigen) Befriedigung des Hauptanspruchs.746 Ein typisches Beispiel für eine Sicherungsmaßnahme ist ein Verfügungsverbot über Sachen oder Rechte. Regelungsmaßnahmen ordnen das Verhalten der Parteien eines Dauerrechtsverhältnisses bis zur endgültigen Entscheidung. Neben der Sicherung des mit der Auflösungs- oder Abänderungsklage angestrebten Erfolgs bezwecken sie die Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens.747 Typisches Beispiel einer Regelungsmaßnahme ist die Festsetzung der Unterhaltsbeiträge für die Dauer des Scheidungsverfahrens. Leistungsmaßnahmen (Befriedigungsverfügungen) schließlich dienen der vorläufigen Befriedigung eines materiellrechtlichen Anspruchs. Häufig werden Unterlassungspflichten (vertragliche Konkurrenzverbote oder aus Immaterialgüterrechten fließende Abwehransprüche) vorläufig durchgesetzt, aber vorläufige Leistungsmaßnahmen können auch positive Leistungen (Handlungen) umfassen;748 die Leistung einer Geldzahlung allerdings nur in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen (Art. 262 lit. e ZPO-CH).749 Die Abgrenzung von Regelungs- und Leistungsmaßnahmen ist oft schwierig, da beide die vorläufige Befriedigung des Gesuchstellers bewirken.750 Sie hat in der Schweiz allerdings auch keine praktische Bedeutung.751 Insbesondere lassen sich Regelungs- und Leistungsmaßnahmen nicht nach der Schwere des Eingriffs in die Rechtssphäre 742

BGE 106 II 66 E. 5b; 94 I 8 E. 5 (für auf Patentrecht gestützte vorsorgliche Maßnahmen). BGE 131 III 473 E. 2.2; 130 II 149 E. 2.3; 127 II 132 E. 3, 4d; 108 II 228 E. 2c. 744 A. M. Berti, ZSR NF 1997, 173–250, 180 f. 745 Kofmel Ehrenzeller, Vorläufiger Rechtsschutz, 25. 746 Zur Unterscheidung der vorsorglichen Maßnahmen statt aller Kofmel Ehrenzeller, Vorläufiger Rechtsschutz, 26 f., 279 ff. 747 Kofmel Ehrenzeller, Vorläufiger Rechtsschutz, 29. 748 BGE 125 III 451 E. 3b (vorsorgliche Verpflichtung zur Lieferung von Waren). 749 In den übrigen Fällen dient der Arrest nach Art. 217 ff. Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz (SchKG) der Sicherung von Geldforderungen. 750 Berti, ZSR NF 1997, 173–250, 180, will auf die Kategorie der Leistungsmaßnahmen verzichten und sie den Regelungsmaßnahmen zuschlagen. 751 In Deutschland ist die Unterscheidung im Gesetz angelegt, vgl. §§ 935, 940 DE-ZPO. 743

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des Gesuchsgegners abgrenzen; beide können zu gleich schweren Belastungen des Gesuchsgegners führen.752 Das Bundesgericht führt nun aus: »Dans les trois cas [sc. von Leistungs-, Sicherungs- und Regelungsmaßnahme], le juge doit procéder à la mise en balance des intérêts contradictoires, c’est-à-dire à l’appréciation des désavantages respectifs pour le requérant et pour l’intimé, selon que la mesure requise est ordonnée ou refusée. Le classement d’une mesure dans l’une ou l’autre de ces catégories est parfois très difficile, mais n’est pas dénué d’effet pratique, dans la mesure où il peut avoir une incidence sur le degré de preuve requis.«753 Insbesondere dort, wo die vorläufige Maßnahme de facto zur endgültigen Befriedigung des Hauptanspruchs führt – z. B. weil ein zeitlich befristetes Konkurrenzverbot bis zum Abschluss des ordentlichen Verfahrens abgelaufen sein wird – ist das Beweismaß erhöht.754 Nichts anderes vertritt Schlosser, der schreibt, wenn die Voraussetzungen der vorsorglichen Maßnahme bei sorgfältiger Prüfung (»l’examen rigoureux«) gegeben seien, sei die Maßnahme auch dann zu erlassen, wenn sie den Gesuchsgegner schwer treffe.755 Diese Rechtsprechung wird durch zwei neuere Urteile aus dem Jahr 2012 bestätigt. Wo eine vorläufige Leistungsmaßnahme (»une mesure d’exécution anticipée provisoire«) angeordnet wird, die de facto zu einer endgültigen Befriedigung des Anspruchs führt, weil sie nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, ist die vorsorgliche Maßnahme nur unter restriktiven Voraussetzungen zu gewähren: »Ces exigences portent aussi bien sur l’existence des faits pertinents que sur l’ensemble des conditions d’octroi des mesures en cause, en particulier sur l’appréciation de l’issue du litige sur le fond et des inconvénients respectifs pour le requérant et pour le requis, selon que la mesure soit ordonnée ou refusée.«756 Ebenso sind an die Glaubhaftmachung einer Persönlichkeitsverletzung durch periodisch erscheinende Medien besonders hohe Anforderungen zu stellen, weil den Medien in einer demokratischen Gesellschaft eine besondere Rolle bei der Meinungsbildung zukommt. Eine »gewöhnliche« Glaubhaftmachung genüge daher nicht, vielmehr müsse der Gesuchsteller die widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung mit einer »Quasi-Sicherheit« (»une quasi-certitude«) nachweisen, damit die vorsorgliche Maßnahme gewährt werden könne.757

752

Kofmel Ehrenzeller, Vorläufiger Rechtsschutz, 284 f. BGE 131 III 473 E. 2.2 (Verweisungen weggelassen; Hervorhebung durch den Verfasser). 754 BGE 131 III 473 E. 2.3. 755 Schlosser, sic! 2005, 339–361, 352. Schlosser lässt sich daher entgegen Stauber, sic! 2010, 602–610, 603 Fn. 21, nicht dem Lager der uneingeschränkten »Verhältnismäßigkeitsprüfer« zuordnen. 756 BGE 138 III 378 E. 6.4 (Hervorhebung durch den Verfasser). I. c. wurde als vorläufige Maßnahme der Abbau eines schadhaften Dachs angeordnet. 757 BGer, Urteil 5A_641/2011 E. 7.1. vom 23. Februar 2012, unter Hinweis auf Urteil 5A_706/2010 vom 20. Juni 2011, E. 4.2.1. 753

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So wie das Bundesgericht die Anforderungen an die Glaubhaftmachung im Falle von Leistungsmaßnahmen mit de facto endgültiger Befriedigungswirkung erhöht, so senkt es sie, wenn die beantragte Maßnahme keine endgültige Wirkung hat und nur einen (relativ) geringfügigen Eingriff in die Rechtssphäre des Gesuchsgegners bewirkt. An die Glaubhaftmachung der Voraussetzungen für die vorläufige Bauhandwerkerpfandrechtseintragung gemäß Art. 961 Abs. 3 ZGB sind entsprechend weniger strenge Anforderungen zu stellen, »als es diesem Beweismaß, das auch für vorsorgliche Maßnahmen gilt (Art. 261 Abs. 1 ZPO), sonst entspricht.«758 Aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ergibt sich daher eindeutig, dass der Ausdruck »glaubhaft machen« in Art. 961 Abs. 3 ZGB und Art. 261 Abs. 1 ZPO-CH eine unterschiedliche Bedeutung hat, und sich die Anforderungen an die Glaubhaftmachung bei Art. 261 Abs. 1 ZPO-CH nach der Art der beantragen Maßnahme – Sicherungs- oder Leistungsmaßnahme (zu denen auch die Regelungsmaßnahmen zu zählen sind) unterscheiden. Das Bundesgericht vertritt demnach ein flexibles Beweismaß der Glaubhaftmachung. Auf eine gesonderte Prüfung der »Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne« bei vorsorglichen Maßnahmen kann man verzichten, wenn man das relative Gewicht der Fehlerkosten bei der Festlegung der Entscheidungsgrenze berücksichtigt. d) Eigene Ansicht aa) Glaubhaftmachung als Anleitung zur Bestimmung der Entscheidungsgrenze nach den Fehlerkosten im konkreten Fall Sowohl die deutsche Lehre – Baur,759 Drescher,760 Greger,761 Schuschke,762 Scherer763 , Vollkommer764 und im Ergebnis auch Leipold765 – wie auch die instanzgerichtliche Rechtsprechung in Deutschland766 und die bundesgerichtliche Rechtsprechung in der Schweiz unterscheiden beim Beweismaß der Glaubhaftmachung von Verfügungsanspruch im Verfahren des vorsorglichen Rechtsschutzes zwischen Verfügungen (Maßnahmen), die de facto die endgültige Befriedigung des Hauptanspruchs bewirken, und solchen, die das ordentliche Verfahren nicht präjudizieren. Das schweizerische Bundesgericht senkt ferner den verlangten Grad der Glaubhaftmachung, wenn der vorläufig verfügte Eingriff in die Rechtssphäre 758

BGE 137 III 563 E. 3.3; BGer, Urteil 5A_777/2009 vom 1. Februar 2010, E. 4. Baur, Studien zum einstweiligen Rechtsschutz, 34, 90 f. 760 MüKo-ZPO-Drescher, § 920 N 16. 761 Zöller-ZPO-Greger, § 294 N 6. 762 Schuschke/Walker, Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz-Schuschke, § 935 N 9. 763 Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 81 ff. 764 Zöller-ZPO-Vollkommer, § 935 N 8. 765 Leipold, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes, 96 ff. (auf anderer dogmatischer Grundlage). 766 OLG Bamberg, OLGZ 71, 438, 439; LG Karlsruhe, FamRZ 1969, 41, 42. 759

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Fünfter Teil: Beweismaß

des Gesuchsgegners relativ gering ist, wie dies bei der vorläufigen Eintragung eines Grundpfandrechts zur Sicherung einer angeblichen Forderung des Bauhandwerkers der Fall ist. Was fehlt, ist die Artikulation des dieser Lehre und Praxis zugrundeliegenden Prinzips. Gelingt es, dieses Prinzip zu artikulieren, lässt sich das Beweismaß der Glaubhaftmachung generell für die zahlreichen Fälle umschreiben, in denen der Gesetzgeber statuiert, dass eine Tatsache (nur) glaubhaft sein muss, damit eine Rechtsfolge eintritt. Das dem Beweismaß der Glaubhaftmachung zugrundeliegende allgemeine Prinzip ist, dass die Entscheidungsgrenze, verstanden als subjektive Wahrscheinlichkeit (Überzeugungsgrad) der Wahrheit der relevanten Tatsachenbehauptungen, von den relativen Kosten einer fälschlichen Anordnung (Fehler 1. Art) und einer fälschlichen Unterlassung der Anordnung (Fehler 2. Art) der beantragten Maßnahme abhängt. Anders als beim Regelbeweismaß, wo in der gesetzgeberischen Entscheidung, bei Vorliegen bestimmter Tatsachen ein subjektives Recht zu gewähren, bereits eine Entscheidung über die relativen Kosten eines Fehlurteils zu sehen ist (vorne, S. 482 ff.), können sich die Kosten eines Fehlers 1. und 2. Art bei der Glaubhaftmachung unterscheiden. Grunsky drückt dies für die Glaubhaftmachung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes wie folgt aus: »Drohen dem Antragsgegner bei Erlass der einstweiligen Verfügung Nachteile, die weit über die hinausgehen, die für den Antragsteller bei Abweisung des Verfügungsanspruchs entstehen, kann es geboten sein, die Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Verfügungsanspruchs zu verschärfen. Je gravierender der Eingriff ist, umso wahrscheinlicher muss es sein, dass er zu Recht erfolgt, d. h. dass der Antragsteller in der Hauptsache obsiegt.«767 Was fehlt, ist die Betonung, dass es um die Nachteile gehen muss, die der Antragsgegner erleidet, wenn die vorsorgliche Maßnahme zu Unrecht angeordnet wurde: Denn dass die Durchsetzung eines subjektiven Rechts den in Anspruch genommenen unter Umständen schwer trifft, ist eine im Zivilrecht nicht zu hörende Einrede.768 Wo das objektive Recht ein subjektives Recht gewährt, hat der Berechtigte einen Anspruch auf dessen Durchsetzung unbesehen der Unannehmlichkeiten, die dies dem Schuldner verursacht (Grenze bildet einzig der Rechtsmissbrauch). Da die Fälle, in denen das Gesetz die Glaubhaftmachung anordnet, zu zahlreich und zu vielfältig sind, als dass sie hier alle abgehandelt werden könnten, soll das Prinzip an drei praktisch wichtigen Fällen der Glaubhaftmachung demonstriert werden, und zwar an der Glaubhaftmachung i) des Verfügungsanspruchs bei Sicherungs- und Leistungsmaßnahmen im Verfahren des vorsorglichen Rechtsschutzes; ii) von Ablehnungs- respektive Ausstandsgründen gegen Gerichtspersonen (§§ 42, 44 ZPO-DE; Art. 49 ZPO-CH); und iii) des schutzwürdigen Interesses für die vorsorgliche Beweisführung (Art. 158 ZPO-CH). 767 768

Stein/Jonas-ZPO-Grunsky, § 935 N 9 (Hervorhebung durch den Verfasser). Stauber, sic! 2010, 602–610, 604.

VI. Überwiegende Überzeugung und geltendes Recht

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bb) Entscheidungsgrenze bei der Glaubhaftmachung des Verfügungsanspruchs bei vorsorglichen Maßnahmen Sicherungsmaßnahmen sind wie erwähnt darauf gerichtet, einen bestehenden Zustand aufrecht zu erhalten, um zu verhindern, dass die künftige Durchsetzung eines subjektiven Rechts unmöglich oder zumindest stark erschwert wird. Hat der Gläubiger beispielweise einen obligatorischen Anspruch auf Übertragung des Eigentums an einer Sache gegen den Schuldner, so ist die Realerfüllung dieses Anspruchs unmöglich, wenn sich der Schuldner der Sache entledigt hat. Dem Gläubiger mag zwar Schadenersatz zustehen, aber dieser Anspruch ist oft schwierig zu bemessen und möglicherweise wegen mangelnder Zahlungsfähigkeit des Schuldners nicht einbringlich. Im Zeitpunkt, in dem über die Anordnung der Sicherungsmaßnahme entschieden werden muss, steht nicht mit Sicherheit fest, ob das subjektive Recht, zum Schutze dessen Durchsetzung die Maßnahme beantragt wurde, besteht. Es ist möglich, dass a) die Maßnahme angeordnet wird, aber das subjektive Recht nicht besteht; b) die Maßnahme nicht angeordnet wird, und das subjektive Recht nicht besteht; c) die Maßnahme angeordnet wird und das subjektive Recht besteht; oder d) die Maßnahme nicht angeordnet wird und das subjektive Recht besteht. Wird die Sicherungsmaßnahme zu Recht angeordnet, d. h. ergibt sich, dass der Hauptanspruch besteht (Ergebnis c), so kann sich der Schuldner nicht beklagen – im Gegenteil, wenn überhaupt, hat der Gläubiger Grund zu klagen, denn sein Anspruch hätte schon früher befriedigt werden sollen. Wird keine Sicherungsmaßnahme angeordnet und ergibt sich, dass der Hauptanspruch nicht besteht (Ergebnis b), kann sich niemand beschweren. Wird die Sicherungsmaßnahme angeordnet und stellt sich später heraus, dass der Hauptanspruch nicht besteht (Ergebnis a), wurde zu Unrecht in die Rechtsphäre des angeblichen Schuldners eingegriffen. Ihm stehen Schadenersatzansprüche wegen ungerechtfertigter vorsorglicher Maßnahmen zu (§ 945 ZPO-DE, Art. 264 Abs. 2 ZPO-CH), die aber schwer bemess- und durchsetzbar sind. Die Fehlentscheidung hat also sicherlich Kosten verursacht, aber es ist zu berücksichtigen, dass der Eingriff in die Rechtssphäre des Gesuchsgegners nur vorübergehend erfolgt und meist eine geringe Intensität aufweist. Eine gerichtliche Anordnung, den bestehenden Zustand aufrecht zu erhalten – beispielsweise die Sache nicht zu veräußern – betrifft den angeblichen Schuldner so lange kaum, als er gar nicht beabsichtigt, den bestehenden Zustand zu verändern.769 Selbst wenn er die Absicht hat, den bestehenden Zustand zu verändern, wird ihm dieses Recht nur temporär, bis zum Abschluss des ordentlichen Verfahrens, entzogen. Wie schwer der Eingriff ist, hängt vom Umfang der Sicherungsmaßnahme und der Dauer des Hauptverfahrens ab. Der Eingriff wiegt aber geringer als die den 769 Er mag eine ideelle Einschränkung seiner persönlichen Freiheit empfinden, selbst wenn er gar keine Absicht hatte, den Zustand zu verändern.

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Fünfter Teil: Beweismaß

Gläubiger treffende, zeitlich unbegrenzte, Unmöglichkeit, sein Recht durchzusetzen, wenn die Sicherungsmaßnahme nicht angeordnet wird und der Gegner über die Sache verfügt. Wird die Sicherungsmaßnahme nicht angeordnet und stellt sich später heraus, dass das subjektive Recht gegeben war (Ergebnis d), hängen die Kosten der Fehlentscheidung davon ab, ob der Schuldner zwischenzeitlich den bestehenden Zustand so verändert hat, dass eine Befriedigung des Anspruchs nicht mehr möglich ist. Deshalb muss derjenige, der eine Sicherungsmaßnahme beantragt, auch glaubhaft machen, dass ohne die Maßnahme die Besorgnis besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung seines Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Verfügungsgrund oder »Maßnahmeinteresse«770 ).771 Ignoriert man die Kosten einer korrekten Entscheidung, so wird die Entscheidungsgrenze daher bestimmt durch die erwarteten Kosten eines zu Unrecht erfolgten Eingriffs in die Rechtssphäre des Gesuchsgegners und die erwarteten Kosten eines zu Unrecht nicht erfolgten Eingriffs in die Rechtssphäre des Gesuchsgegners, wobei letztere entscheidend davon abhängen, ob der Gesuchsgegner den bestehenden Zustand so verändern wird, dass die Verwirklichung des materiellen Rechts vereitelt oder erschwert wird. Dabei gilt: Je geringer die Kosten einer fälschlichen Anordnung der Maßnahme und je größer die Wahrscheinlichkeit, dass der Hauptanspruch später nicht mehr durchgesetzt werden kann, desto geringer muss die Wahrscheinlichkeit sein, dass der Verfügungsanspruch besteht, damit die Maßnahme gerechtfertigt ist. Umgekehrt gilt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Verfügungsanspruch besteht, umso größer sein muss, je höher die Kosten einer fälschlichen Anordnung der Maßnahme und je geringer die Wahrscheinlichkeit, dass die spätere Durchsetzung des Hauptanspruchs unmöglich ist. Eine Leistungsmaßnahme (zu denen ich auch die Regelungsmaßnahmen zähle) greift immer stärker in die Rechtssphäre des angeblichen Schuldners ein als eine Sicherungsmaßnahme,772 wobei dieser Eingriff am stärksten ist, wenn die vorsorgliche Maßnahme de facto endgültige Wirkung hat.773 Wenn man, wie vorne S. 482 ff. dargelegt, davon ausgeht, dass die fehlerhafte Durchsetzung oder Nicht-Durchsetzung eines subjektiven Rechts die gleichen Kosten verursacht, dann muss die Entscheidungsgrenze bei vorsorglichen Maßnahmen mit de facto endgültiger Wirkung bei 50% subjektiver Wahrscheinlichkeit, dass der Verfügungsanspruch gegeben ist, liegen (unter der Annahme, dass der Verfügungsgrund 770

Berti, ZSR NF 1997, 173–250, 190. Statt aller MüKo-ZPO-Drescher, § 935 N 15; für die Schweiz KuKo-ZPO-Kofmel Ehrenzeller, Art. 261 N 8 f. 772 Kofmel Ehrenzeller, Vorläufiger Rechtsschutz, 284 f. 773 Siehe Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 87 f., zu den Fallgruppen von Leistungsmassnahmen mit endgültiger Befriedigungswirkung. 771

VI. Überwiegende Überzeugung und geltendes Recht

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vorliegt). Das Beweismaß unterscheidet sich hier also, was den Verfügungsanspruch angeht, nicht vom Regelbeweismaß. Dies ist auch die Auffassung von Scherer, nur dass sie, der herrschenden Lehre und Rechtsprechung folgend, von einem Regelbeweismaß der vollen Überzeugung ausgeht.774 Die schweizerischen Lehrmeinungen von David und Zürcher, die postulieren, dass Glaubhaftmachen immer mindestens eine »überwiegende Wahrscheinlichkeit« bedeute,775 lassen sich vor dem Hintergrund erklären, dass beide Autoren sich mit der Glaubhaftmachung im Zusammenhang mit auf Immaterialgüterrechte gestützten vorläufigen Verboten befassen, die häufig endgültigen Befriedigungscharakter haben. Anders bei Sicherungsmaßnahmen: Weil der Eingriff in die Rechtssphäre des angeblichen Schuldners viel geringer ist, insbesondere weil er nur temporär erfolgt, sind die Kosten einer zu Unrecht angeordneten Sicherungsmaßnahme geringer als die Kosten einer zu Unrecht nicht angeordneten Sicherungsmaßnahme, wenn die zwischenzeitlich erfolgte Veränderung des bestehenden Zustands die Durchsetzung des materiellen Rechts vereitelt. Wenn die Gefahr einer Veränderung des bestehenden Zustands groß ist, kann daher bereits eine Wahrscheinlichkeit des Verfügungsanspruchs von weniger als 50% die Anordnung einer Sicherungsmaßnahme in dem Sinne rechtfertigen, dass dadurch die erwarteten Fehlerkosten minimiert werden.776 So hat der Einzelrichter am Handelsgericht Zürich in einem Verfahren, in dem eine Handelsregistersperre zur Sicherung eines Anspruchs auf Feststellung der Nichtigkeit einer bedingten Kapitalerhöhung verlangt wurde, festgehalten, mit der Registersperre werde nur der status quo ante gesichert. An das Glaubhaftmachen könne daher ein eher tiefer Maßstab angelegt werden, »mehr als eine gewisse Plausibilität« könne nicht verlangt werden.777 Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Glaubhaftmachung der Voraussetzungen für die vorsorgliche Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts reflektiert dies. Die vorsorgliche Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts ist eine vorsorgliche Maßnahme im Sinne von Art. 261 ff. ZPO-CH.778 Formal betrachtet handelt es sich um eine Leistungsmaßnahme, denn mit der vorläufigen Eintragung wird der Hauptanspruch, die Eintragung eines Pfandrechts zur Sicherung der Werklohnforderung, befriedigt. In ihrer Wirkung nach ist die vorläufige Eintragung eines Pfandrechts aber eine typische Sicherungsmaßnahme – das Pfandrecht dient zur Sicherung der zugrundeliegenden Forderung, die durch die vorläufige Eintragung des Pfandrechts nicht befriedigt wird. Der eigentliche 774

Scherer, Das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung, 92. Zürcher, Einzelrichter, 68; David, Der Rechtsschutz im Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Rz. 654. 776 Kaufmann, AJP 2003, 1199–1208, 1202 Fn. 31 (was aber seiner in Fn. 23 geäußerten Auffassung widerspricht, dass glaubhaft machen wesentlich mehr als 50% verlange). 777 ER am HGer ZH, Urteil HE 120205-O vom 26. Juli 2012, E. 7. 778 BGE 137 III 563 E. 3.3. 775

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Fünfter Teil: Beweismaß

Streitgegenstand, der Bestand der Forderung aus Werkvertrag, wird nicht präjudiziert. Der Eingriff in die Rechtssphäre des angeblichen Schuldners ist gering. Zwar ist die vorsorgliche Eintragung eines Pfandrechts nicht folgenlos, weil sie die weitere Belehnung des Grundstücks erschweren oder gar verunmöglichen kann (Art. 840 Abs. 1 ZGB), aber sie ist geringer zu gewichten als die de facto endgültige Verweigerung der Pfandsicherung.779 Entsprechend kann bereits eine Wahrscheinlichkeit von weniger als 50%, dass die Voraussetzungen des Pfandrechts gegeben sind, zu denen der Bestand der zu sichernden Forderung gehört (Art. 839 Abs. 3 ZGB), genügen, die vorläufige Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts im Sinne der Minimierung der Fehlerkosten zu rechtfertigen. Die Entscheidungsgrenze für die vorläufige Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts ist daher in der Tat, wie das Bundesgericht betont,780 eine andere als für eine vorsorgliche Leistungsmaßnahme, die nicht bloß der Sicherung des Hauptanspruchs dient. cc) Entscheidungsgrenze bei der Glaubhaftmachung von Ablehnungsrespektive Ausstandsgründen Sowohl die deutsche wie die schweizerische Zivilprozessordnung verlangen, dass die Gründe, die einen Richter befangen erscheinen lassen, im Ablehnungsgesuch glaubhaft zu machen sind (§ 44 Abs. 2 ZPO-DE; Art. 49 Abs. 1 ZPO-CH; wobei die schweizerische ZPO auf die Unterscheidung von Ausstands- und Ablehnungsgründen verzichtet). Die Folgen eines zu Unrecht abgewiesenen Ablehnungsgesuchs (Ausstandsgesuchs) sind schwerwiegend. Wird der Fehler nicht entdeckt, wird der betroffenen Partei der verfassungsrechtliche (Art. 30 Abs. 1 BV; Art. 97 Abs. 1 GG) und menschenrechtliche (Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 14 Ziff. 1 UNO-Pakt II) Anspruch auf ein unparteiisches Gericht endgültig verwehrt. Wird der Fehler erst nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens entdeckt, muss das gesamte Verfahren wiederholt werden (Art. 51 Abs. 3 i. V. m. 328 ZPO-CH; § 579 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO-DE). Die Folgen eines zu Unrecht gutgeheißenen Ablehnungsgesuches sind ebenfalls nicht trivial, da dadurch regelmäßig das Verfahren verzögert wird. Sie sind aber geringer zu gewichten als die Folgen eines Fehlers 2. Art. Deshalb kann es für die Glaubhaftmachung von Ablehnungsgründen genügen, dass diese mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit (Überzeugungsgrad) von deutlich weniger als 50% vorliegen. Die Rechtsprechung des BGH, die für die Glaubhaftmachung von Befangenheitsgründen deren »überwiegende Wahrscheinlichkeit« verlangt,781 ist daher abzulehnen. Sie ist 779 Ein ordentliches Verfahren auf Eintragung des Pfandrechts wird »kaum je« (BGE 137 III 563 E. 3.3, man kann auch sagen: nie) binnen der Viermonatsfrist von Art. 839 Abs. 2 ZGB abgeschlossen sein, weshalb die Verweigerung der vorläufigen Eintragung das ordentliche Verfahren de facto präjudiziert. 780 BGE 137 III 563 E. 3.3. 781 BGH, NJW-RR 2007, 776, 777; NJW-RR 2011, 136.

VI. Überwiegende Überzeugung und geltendes Recht

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darauf zurückzuführen, dass der Bundesgerichtshof die im Rahmen von vorsorglichen Leistungsverfügungen entwickelte Formel von der überwiegenden Wahrscheinlichkeit auf die Glaubhaftmachung im Sinne von § 44 Abs. 2 ZPO-DE übertragen hat (vorne, S. 558). dd) Entscheidungsgrenze bei der Glaubhaftmachung des schutzwürdigen Interesses bei vorsorglicher Beweisabnahme Die schweizerische Zivilprozessordnung sieht vor, dass Beweismittel vorsorglich – d. h. vor Durchführung des ordentlichen Beweisverfahrens, sei es während hängigem Hauptverfahren oder bereits vor Rechtshängigkeit des Hauptverfahrens – abgenommen werden können, wenn der Gesuchsteller »eine Gefährdung der Beweismittel oder ein schutzwürdiges Interesse« an der vorsorglichen Beweisabnahme glaubhaft macht (Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO-CH). Mit der Ergänzung der Voraussetzungen durch die Alternative »schutzwürdiges Interesse« wurde der traditionelle Boden der vorsorglichen Beweisabnahme als Sicherungsmaßnahme zur Abnahme von Beweismitteln, die später nicht mehr oder nur noch erschwert abgenommen werden können (das berühmte einstürzende Dach oder der sterbende Zeuge) verlassen und ein Mittel geschaffen, die Prozessaussichten abzuklären.782 Das Bundesgericht musste in einem der ersten Urteile zur neuen Zivilprozessordnung klären, was unter dem Begriff des »schutzwürdigen Interesses« im Sinne von Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO-CH zu verstehen ist. In der Literatur wurde vertreten, es genüge, zu behaupten, die Prozessaussichten eines Prozesses gegen den Gesuchsgegner abklären zu wollen. Hingegen könne nicht verlangt werden, dass das Bestehen eines Hauptanspruchs, der mit den vorsorglich abzunehmenden Beweismitteln bewiesen werden soll, glaubhaft gemacht werden müsse. Dadurch würde der Zweck der vorsorglichen Beweisführung unterlaufen, denn sei der Hauptanspruch glaubhaft, habe man günstige Prozessaussichten und benötige keine weiteren Beweise, um seine Prozesschancen zu beurteilen.783 Eine andere Lehrmeinung vertrat, dass das schutzwürdige Interesse voraussetze, dass die Existenz eines materiellrechtlichen Hauptanspruchs glaubhaft gemacht sei, wobei die Tatsachen, die mittels des vorsorglich abzunehmenden Beweismittels zu beweisen sind, nur substanziiert behauptet werden müssten, da ansonsten der Zweck der vorsorglichen Beweisführung, die Abklärung der Prozessaussichten zu ermöglichen, unterlaufen würde.784 Diese Auffassung wurde in erster Linie

782

Botschaft zur ZPO, BBl 2006 7221 ff., 7315. Livschitz/Schmid, AJP 2011, 739–746, 742 f. 784 Schweizer, ZZZ 2010, 1–33, 7 f.; Meier/Sogo, Zivilprozessrecht, 311; Dike-ZPO-Zürcher, Art. 158 N 15. 783

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Fünfter Teil: Beweismaß

damit begründet, dass ein schutzwürdiges Interesse an einer Beweisabnahme nicht unabhängig von einem Hauptanspruch bestehen könne.785 Das Bundesgericht entschied, dass das schutzwürdige Interesse an einer vorprozessualen vorsorglichen Beweisabnahme voraussetzt, dass der Gesuchsteller einen Hauptanspruch und die Tauglichkeit der abzunehmenden Beweismittel zum Beweis der Tatsachengrundlage für den Hauptanspruch glaubhaft macht, nicht aber die Existenz der Tatsachen, die mit dem abzunehmenden Beweismittel gerade bewiesen werden sollen, die nur substanziiert behauptet werden müssen.786 Offen geblieben ist, mit welchem Grad der subjektiven Wahrscheinlichkeit der Hauptanspruch gegeben sein muss, damit die vorsorgliche Beweisabnahme gewährt werden kann. In der Lehre wird betont, die vorsorgliche Beweisabnahme sei nur zu verweigern, wenn der Hauptanspruch »offensichtlich« nicht gegeben sei.787 Bloße Behauptungen genügen nach der Praxis allerdings nicht.788 Die Abwägung der Fehlerkosten kann auch hier aufzeigen, ob die Anforderungen gleich hoch wie bei vorsorglichen Leistungsmaßnahmen oder geringer, und damit auch unter 50% subjektiver Wahrscheinlichkeit für den Bestand des Hauptanspruchs, sind. Wie das Handelsgericht Bern ausführt, »ist nur sehr schwer eine Konstellation vorstellbar, in welcher einem Gesuchsgegner aus einer sich im Nachhinein als ungerechtfertigt herausstellenden vorsorglichen Beweisführung [. . . ] ein Schaden erwächst.«789 Auch ist die Belastung durch eine vorsorgliche Beweisabnahme gering, und schützenswerte Interessen der Gesuchsgegnerin, namentlich an der Geheimhaltung von Geschäftsgeheimnissen, sind durch entsprechende Maßnahmen zu wahren (Art. 156 ZPO-CH). Wird die vorsorgliche Beweisabnahme hingegen zu Unrecht nicht angeordnet, wird dem Gesuchsteller das Recht auf die vorsorgliche Beweisabnahme in aller Regel endgültig verweigert (da die Entscheidung nicht materiell rechtskräftig wird, kann er es de iure mit einem neuen Gesuch versuchen). Die Minimierung der erwarteten Fehlerkosten gebietet daher, bereits bei einer geringen subjektiven Wahrscheinlichkeit, dass der Hauptanspruch gegeben ist, die vorsorgliche Beweisabnahme zu gewähren. Die entspricht auch der holländischen Praxis, die den Zugang zu für Beweiszwecke beschlagnahmten Dokumenten selbst dann gewährt, wenn an der Begründetheit des Hauptanspruchs »ernsthafte Zweifel« bestehen – unter ausdrücklichem Hinweis auf die gegenüber einem vorsorglicher Verbot weniger einschneidenden

785 Schweizer, ZZZ 2010, 1–33, 7; Killias/Kramer/Rohner, in: Lorandi/Staehelin (Hrsg.), Innovatives Recht, 933–948, 940, m. w. H. 786 BGE 138 III 76 E. 2.4.2. Zustimmend Reetz, Baurecht 2012, 80–82, 82; grundsätzlich auch Schweizer, sic! 2012, 334–335, 334 f. (kritisch nur zur Qualifikation der vorsorglichen Beweisführung als vorsorgliche Maßnahme im Sinne von Art. 98 BGG). 787 Schweizer, ZZZ 2010, 1–33, 8; Killias/Kramer/Rohner, in: Lorandi/Staehelin (Hrsg.), Innovatives Recht, 933–948, 942. 788 BPatGer, Urteil S2012_006 vom 27. April 2012, E. 7. 789 HGer Bern, Entscheid HG 11 13 vom 5. Mai 2011, E. 2d.

VI. Überwiegende Überzeugung und geltendes Recht

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Konsequenzen der Gesuchsgewährung.790 Die schweizerischen Lehrmeinungen, die betonen, die vorsorgliche Beweisabnahme dürfe nur in offensichtlich unbegründeten Fällen verweigert werden, reflektieren dies. Die Auffassung von Livschitz/Schmid, bei Glaubhaftigkeit des Hauptanspruchs seien die Prozesschancen immer gut, lässt sich durch das Verständnis der Glaubhaftmachung als einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% durch diese Autoren erklären.791 ee) Zusammenfassung der eigenen Ansicht zum Beweismaß der Glaubhaftmachung Zusammenfassend ergibt die vertiefte Untersuchung des Beweismaßes der Glaubhaftmachung, dass die Berücksichtigung der Fehlerkosten zur Bestimmung der Entscheidungsgrenze (Beweismaß) in Zivilsachen gelebtem Recht entspricht, wenn das Prinzip auch nicht immer ausdrücklich erwähnt wird.792 Gesetzliche Beweismaßsenkungen, wie sie insbesondere durch den Begriff »glaubhaft machen« angeordnet werden, können zu einer Entscheidungsgrenze von unter 50% subjektiver Wahrscheinlichkeit führen. Dies ist durch die Minimierung der erwarteten Fehlerkosten gerechtfertigt, wenn die Kosten eines Fehlers 2. Art (fälschliche Nicht-Anordnung der Maßnahme) höher sind als die Kosten eines Fehlers 1. Art (fälschliche Anordnung der Maßnahme). Diese Überlegungen stützen die Stimmen in der Lehre, die Glaubhaftmachung als ein flexibles Beweismaß verstehen,793 und zeigen, dass Glaubhaftmachung bei einer Leistungsmaßnahme mehr verlangt als bei einer Sicherungsmaßnahme oder bei der Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit. Diese Auffassung lässt sich insbesondere deshalb mit dem geltenden Recht vereinbaren, weil der Gesetzgeber es bewusst unterlassen hat, den Begriff der Glaubhaftmachung angesichts der historischen Kontroverse um seinen Inhalt zu definieren.794 Thesenartig lassen sich die Ergebnisse wie folgt zusammenfassen:

790 Bezirksgericht für die östlichen Niederlande (Arnhem), Urteil 234794/KG ZA 12533 vom 1. Februar 2013, Rz. 4.28 f. (englische Übersetzung des Urteils erhältlich unter www.eplawpatentblog.com/2013/February/20130201%20District%20Court%20East%20% 20Netherlands%20%28KG%2012-1189%29%20Astellas%20v%20Synthon%20EN.pdf (zuletzt besucht am 1. Dezember 2013). 791 Livschitz/Schmid, AJP 2011, 739–746, 942. Ob Erfolgsaussichten von 50%, im Hauptverfahren zu obsiegen, »günstig« sind, bleibe dahingestellt. 792 Wie hier bereits AK-ZPO-Rüßmann, § 294 N 3; Stein/Jonas-ZPO-Grunsky, § 935 N 9; ähnlich MüKo-ZPO-Drescher, § 920 N 16; Zöller-ZPO-Greger, § 294 N 6. 793 Borck, WRP 1978, 776–778, 777; MüKo-ZPO-Drescher, § 920 N 16; Zöller-ZPO-Greger, § 294 N 6; Schuschke/Walker, Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz-Schuschke, § 935 N 9; Zöller-ZPO-Vollkommer, § 935 N 8; für die Schweiz Leuenberger, in: Leuenberger (Hrsg.), Der Beweis im Zivilprozess, 108–126, 119 f. 794 Für Deutschland siehe vorne, S. 551 ff.; für die Schweiz fehlt in der schweizerischen Zivilprozessordnung ebenfalls eine Definition der Glaubhaftmachung und in der Botschaft finden sich keine Erläuterungen zu seinem Inhalt.

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2.

3.

Fünfter Teil: Beweismaß

Das Beweismaß der Glaubhaftmachung ist anders als das Regelbeweismaß ein flexibles Beweismaß, das von den relativen Kosten einer fehlerhaften Gewährung (Fehler 1. Art) oder Verweigerung (Fehler 2. Art) des Antrags (auf Anordnung einer vorsorglichen Maßnahme/einstweiligen Verfügung, Ausstand einer Gerichtsperson, vorsorgliche Beweisführung, u. a.) abhängt. Statt als fixe Entscheidungsgrenze sollte »Glaubhaftmachung« besser als Programm zur Bestimmung der Entscheidungsgrenze durch Fehlerkostengewichtung verstanden werden. Wo eine vorsorgliche Maßnahme (Verfügung) de facto zur endgültigen Befriedigung des Verfügungsanspruchs führt, entspricht die Entscheidungsgrenze der Glaubhaftmachung dem Regelbeweismaß, d. h. die Maßnahme ist anzuordnen, wenn die Gesamtheit der anspruchsbegründenden Tatsachenbehauptungen eher wahr als falsch ist. Wo die Kosten eines Fehlers 2. Art die Kosten eines Fehlers 1. Art übersteigen, kann eine Tatsache glaubhaft sein, die mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von weniger als 50% der Fall ist. Dies ist beispielsweise bei der Glaubhaftmachung von Ausstandsgründen (Ablehnungsgründen) und des schutzwürdigen Interesses an einer vorsorglichen Beweisabnahme der Fall. Die Auffassung, glaubhaft gemacht sei eine Tatsache immer erst, wenn der Richter sie eher für wahr als für falsch hält, ist abzulehnen.795

Aus der dritten These folgt, dass sich gesetzliche Beweismaßsenkungen zwanglos mit einem Regelbeweismaß der überwiegenden Überzeugung vereinbaren lassen. Sie senken das Beweismaß wie vom Gesetzgeber beabsichtigt – und zwar bei gegebenen Voraussetzungen unter die 50%, die vom Regelbeweismaß verlangt werden.

VII. Das tatsächliche Regelbeweismaß in Zivilsachen Es wurde immer wieder angezweifelt, dass das hohe Regelbeweismaß in Zivilsachen in der gerichtlichen Praxis tatsächlich angewendet wird.796 So meint Rechberger, wenn das Beweismaß der vollen Überzeugung tatsächlich gelebt würde, gäbe es fast nur Beweislastentscheidungen.797 Einmahl berichtet von einer Umfrage unter elf Richtern, die ergebe, dass sechs von ihnen bei gleicher Beweislage eine zivilrechtliche Forderungsklage eher gutheißen würden als eine strafrechtliche Verurteilung wegen Mordes, weil eine Fehlentscheidung im Zivil795 So aber BGH, NJW-RR 2011, 136; MüKo-ZPO-Drescher, § 920 N 16; für die Schweiz Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.139; Bühler, Jusletter 21. Juni 2010, Rz. 16. 796 Einmahl, NJW 2001, 469–475, 474 f.; Clermont/Sherwin, American Journal of Comparative Law 2002, 243–276, 261 m. w. H. 797 Rechberger, in: Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 471–490, 490.

VII. Das tatsächliche Regelbeweismaß in Zivilsachen

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recht eher in Kauf zu nehmen sei.798 Davon zu unterscheiden ist das Argument, das Regelbeweismaß spiele in der Praxis eine viel geringere Rolle als gemeinhin angenommen, weil die Rechtsprechung zahlreiche Ausnahmen zum Regelbeweismaß der vollen Überzeugung entwickelt habe und es in der Praxis gerade in den Fällen, in denen die Sachverhaltsrekonstruktion zentral ist, häufig nicht angewendet werde.799 Gegen letzteres kann eingewendet werden, dass Ausnahmen die Regel bestätigen – gerade die speziell zu rechtfertigenden Beweismaßsenkungen für bestimmte Fallgruppen zeigen, dass das Beweismaß generell hoch ist.800 Ob deutsche und schweizerische Richter auch in Fällen, in denen gemäß herrschender Lehre und Praxis das Regelbeweismaß der vollen Überzeugung Anwendung findet, tatsächlich eine tiefere Entscheidungsgrenze anwenden, ist eine empirische Frage, die bislang nicht untersucht wurde.801 Im Folgenden wird der Versuch unternommen, diese Frage erstmals mit empirischen Methoden zu erforschen. 1. Forschungsfragen Die erste Forschungsfrage ist ganz einfach: Wo liegt die tatsächliche Entscheidungsgrenze in Zivilsachen? Eine Anschlussfrage ist, ob sich diese von der Entscheidungsgrenze von juristischen Laien, die den gleichen Fall beurteilen, unterscheidet. Eine weitere Forschungsfrage ist, ob die Entscheidungsgrenze von der individuellen Verlustaversion beeinflusst wird. Wie vorne, S. 511 ff., erläutert, empfinden Menschen einen nominell gleich hohen Verlust rund doppelt so stark wie einen Gewinn, wobei der Median des empirisch beobachteten Verhältnisses bei etwa 2,25 liegt.802 Ebenfalls bekannt ist, dass Menschen den Status quo ante Klageeinreichung als Referenzpunkt verwenden, von dem aus zwischen Gewinn und Verlust unterschieden wird.803 Normativ ist es zwar nicht gerechtfertigt, diese Unterscheidung zu treffen (vorne, S. 513 ff.). Aber es ist natürlich möglich, dass sie deskriptiv eine Rolle spielt. Wird eine falsche Zufügung eines Verlustes (falsche Gutheißung einer Leistungsklage) rund 2,25 Mal höher gewichtet als die unterlassene Gewährung eines Gewinns (falsche Abweisung einer Leistungs-

798

Einmahl, NJW 2001, 469–475, 474. Bender, in: Grunsky et al. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 247–271, 259 ff.; Taruffo, American Journal of Comparative Law 2003, 659–677, 668. 800 Walter, Freie Beweiswürdigung, 184. 801 Clermont/Sherwin, American Journal of Comparative Law 2002, 243–276, 262. 802 Tversky/Kahneman, Journal of Risk and Uncertainty 1992, 297–323, 59. 803 Korobkin/Guthrie, Michigan Law Review 1994, 107–192, 133 ff.; Babcock et al., International Review of Law and Economics 1995, 289–303, 296 f.; Rachlinski, Southern California Law Review 1996, 113–185, 155 ff.; Gilliland/Dunn, Judgment and Decision Making 2008, 512–527, 517 ff.; Zamir/Ritov, Journal of Legal Studies 2010, 245–288, 269 f. 799

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Fünfter Teil: Beweismaß

klage), dann sollte die Entscheidungsgrenze bei rund 70% liegen – immer noch tiefer als die über 90%, die die herrschende Lehre und Praxis verlangen, aber erheblich über den 50%, die gemäß hier vertretener Auffassung normativ geboten sind. Ritov und Zamir haben die Vermutung, dass Verlustaversion die Entscheidungsgrenze beeinflusst, untersucht, indem sie ihren Versuchspersonen (israelischen Rechtsstudenten) den gleichen Sachverhalt einmal als Leistungsklage und einmal als Feststellungsklage zur Beurteilung vorlegten (einmal befand sich der Kläger im Besitz des Streitgegenstands und verlangte die gerichtliche Feststellung, dass er die Sache behalten darf, einmal verlangte der Kläger die Herausgabe der Sache vom Beklagten). Wenn Verlustaversion eine Rolle spielt, sollte die Entscheidungsgrenze bei der Leistungsklage höher sein als bei der Feststellungsklage, wo die Gutheißung der Klage keine Änderung des Status quo bewirkt. Zamir und Ritov konnten jedoch keinen Unterschied in der Entscheidungsgrenze zwischen den Szenarien feststellen.804 In dieser Studie wird der Einfluss der Verlustaversion auf die Entscheidungsgrenze untersucht, indem die inter-individuelle Varianz der Verlustaversion ausgenutzt wird. Während Menschen im Durchschnitt verlustavers sind, bestehen große individuelle Unterschiede im Ausmaß der Verlustaversion.805 Indem die individuelle Verlustaversion der Versuchspersonen gemessen wird, kann untersucht werden, ob diese individuelle Verlustaversion einen Einfluss auf die Entscheidungsgrenze hat. Dabei ist zu vermuten, dass bei einer Leistungsklage, deren Gutheißung zu einer Änderung des Status quo führt, eine steigende Verlustaversion zu einer steigenden Entscheidungsgrenze führt, während bei einer (negativen) Feststellungsklage, die keine Änderung des Status quo bewirkt, kein Einfluss vorhanden sein sollte. 2. Studie a) Teilnehmer Die nach Alter (Durchschnitt 41 Jahre, Standardabweichung 12,6 Jahre) und Geschlecht (49,7% Männer) für die volljährige deutsche Bevölkerung repräsentative Stichprobe wurde durch einen kommerziellen Umfrageanbieter (Toluna Germany GmbH, Frankfurt) rekrutiert und für die Teilnahme an der Umfrage mit Kreditpunkten entschädigt, die gegen Sachwerte eingetauscht werden können. Die Umfrage fand zwischen dem 2. und dem 6. Februar 2012 statt und wurde online durchgeführt. 247 Versuchspersonen beantworteten den Fragebogen vollständig. In der Stichprobe befanden sich 131 Angestellte (53%), 11 leitende 804 805

Zamir/Ritov, Journal of Legal Studies 2012, 165–207, 177 ff. Gächter/Johnson/Herrmann, CeDEX discussion paper series 2010, 4.

VII. Das tatsächliche Regelbeweismaß in Zivilsachen

577

Angestellte (4%), 19 selbständig Erwerbende (8%), 26 Schüler oder Studenten (11%) und 60 »sonstige« (24%). Die Umfrage unter den Gerichtsangehörigen wurde im Sommer 2012 durchgeführt. Alle Richterinnen und Richter und alle Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiberinnen der Kantone Bern und Zürich erhielten mit einer durch das jeweilige Obergericht verschickten Email einen Link, der zum Online-Fragebogen führte (Dank gebührt Myriam Grütter, Gerichtspräsidentin des Regionalgerichts Bern-Mittelland und Nora Lichti Aschwanden, Richterin am Obergericht Zürich, die die Erhebung tatkräftig unterstützt haben). Insgesamt haben 186 Gerichtsangehörige (88 Richter und 98 Gerichtsschreiber) den Sachverhalt gelesen und die Kontrollfragen zum Verständnis beantwortet. 26 (14%) beantworteten die Kontrollfragen falsch und wurden von der weiteren Teilnahme ausgeschlossen. Unter den ausgeschlossenen Gerichtsangehörigen finden sich gleich viele Männer wie Frauen und gleich viele Richter wie Gerichtsschreiber. Das Durchschnittsalter der ausgeschlossenen Richter beträgt 51 Jahre (Median 50 Jahre), das der ausgeschlossenen Gerichtsschreiber 35 Jahre (Median 32,5 Jahre) und unterscheidet sich nicht signifikant vom Durchschnittsalter der nicht ausgeschlossenen Richter (48 Jahre, Median 48 Jahre) und Gerichtsschreiber (32 Jahre, Median 30 Jahre). Von den 160 Gerichtsangehörigen, die alle Kontrollfragen richtig und den Fragebogen vollständig beantwortet haben, sind 76 als Richter und 84 als Gerichtsschreiber tätig. Weitere deskriptive Statistiken zur Stichprobe finden sich in Tabelle 26. Eine Mehrheit der Richter ist überwiegend als Einzelrichter tätig, während eine Minderheit der Gerichtsschreiber mehrheitlich bei Einzelrichterentscheidungen mitwirkt. Eine Mehrheit sowohl der Richter wie der Gerichtsschreiber arbeitet vorwiegend im Zivilrecht, die restlichen vorwiegend im Strafrecht und ein kleiner Teil der Gerichtsschreiber vorwiegend im Schuldbetreibungs- und Konkursrecht.

Tabelle 26: Deskriptive Statistik der Stichprobe der Gerichtsangehörigen.

Richter (N = 76) Gerichtsschreiber (N = 84) Total

Männer (Anteil)

Alter (Std.abw.)

Tätigkeit am Gericht in Jahren (Std.abw.)

Einzelgericht

Zivilrecht

47 (62%) 40 (48%)

48,7 (8,3) 32,7 (7,3)

18,7 (8,9)

46 (60%) 35 (42%)

45 (59%) 44 (52%)

87 (54%)

40,2 (11,2)

11,6 (10,8)

81 (51%)

89 (56%)

4,8 (5,9)

578

Fünfter Teil: Beweismaß

Es gibt insgesamt rund 343 Richter und 476 Gerichtsschreiber in den Kantonen Bern und Zürich.806 Es haben daher rund 22% aller Richter und rund 18% aller Gerichtsschreiber an der Umfrage teilgenommen. 66% der Richter sind männlich, während nur 40% der Gerichtsschreiber männlich sind.807 Wie aus Tabelle 26 ersichtlich, ist die Verteilung der Geschlechter in der Population in der Stichprobe reflektiert, was darauf hindeutet, dass die Stichprobe einigermaßen repräsentativ ist. b) Methode aa) Sachverhalt und Ablauf der Befragung Für die Umfrage wurde ein von Zamir und Ritov entwickelter Sachverhalt verwendet, gemäß dem Herr Arnold angeblich Herrn Graf ein Darlehen über Fr. 20’000 (respektive C 20’000 in der deutschen Umfrage) gewährt hat, das dieser nicht zurückbezahlt habe.808 Herr Arnold hat weder einen schriftlichen Vertrag noch eine Quittung für die Transaktion. Herr Arnold und Herr Graf sind seit langer Zeit befreundet, und Herr Graf steckte in einem finanziellen Engpass. Er bestreitet nicht, Herrn Arnold um ein Darlehen gebeten zu haben, aber er habe das Geld schließlich aus anderer Quelle erhalten, die er aus steuerlichen Gründen nicht nennen könne. Die Ehefrau von Herrn Arnold bestätigt, dass ihr Mann ihr gesagt habe, er werde Herrn Graf ein Darlehen gewähren. Eine Zeugin sagt aus, Herr Graf habe ihr gesagt, er habe das Geld von Herrn Arnold erhalten. Der vollständige Sachverhalt findet sich in Anhang VIII. Nach einigen Fragen zu Alter, Geschlecht und beruflicher Position (bei der Bevölkerungs-Stichprobe) respektive Geschlecht, Alter, Rolle (Richter oder Gerichtsschreiber), Berufserfahrung und Tätigkeitsgebiet (Gerichtsangehörige) lasen die Versuchspersonen eine von zwei Sachverhaltsversionen und beantworteten drei Kontrollfragen, die prüften, ob sie den Sachverhalt gelesen und verstanden hatten. Die Sachverhalte unterschieden sich dabei ausschließlich durch die Art der Klage. In der Bedingung »Leistungsklage« ist Herr Arnold der Kläger und verlangt, dass der Beklagte zur Zahlung von Fr. ( C) 20’000 verurteilt werde, während in der Bedingung »negative Feststellungsklage« Herr Graf der Kläger ist und verlangt, dass gerichtlich festgestellt werde, dass er dem Beklagten keine Fr. ( C) 20’000 schulde. Die anschließenden Kontrollfragen waren auch darauf ausgerichtet, zu testen, ob den Versuchspersonen bewusst war, was der Kläger 806 Daten für den Kanton Zürich basierend auf dem Rechenschaftsbericht des Obergerichts des Kantons Zürich 2011, erhältlich unter www.gerichte-zh.ch/organisation/obergericht/ rechenschaftsbericht.html (zuletzt besucht am 10. März 2013). Daten für den Kanton Bern von der Personalabteilung des Obergerichts des Kantons Bern, Frau Sonja Hartmann (persönliche Kommunikation). 807 Basierend auf einer Kategorisierung gemäß Vornamen. 808 Zamir/Ritov, Journal of Legal Studies 2012, 165–207, 200 f.

VII. Das tatsächliche Regelbeweismaß in Zivilsachen

579

begehrte. Versuchspersonen, die die Kontrollfragen nicht richtig beantworteten, wurden von der weiteren Teilnahme an der Studie ausgeschlossen. Nachdem sie den Sachverhalt gelesen hatten, wurden die Versuchspersonen gefragt, wie überzeugt sie seien, dass der Sachverhaltsvortrag des Klägers wahr ist, wobei der Überzeugungsgrad mittels eines Schiebereglers ausgedrückt werden konnte (siehe Anhang VIII). Anschließend wurden sie gefragt, ob sie die Klage gutheißen würden. Die Reihenfolge dieser beiden Fragen wurde variiert, um für einen Reihenfolgeneffekt kontrollieren zu können.809 Anschließend wurde den Versuchspersonen gesagt, dass neue und unumstößliche Beweismittel zeigten, dass ihre Entscheidung (egal, ob sie die Klage gutgeheißen oder abgewiesen hatten) falsch war, und sie wurden gebeten, das Ausmaß ihres Bedauerns über ihr Fehlurteil wiederum auf einem Schieberegler auf einer Skala von 0 bis 100 auszudrücken (die Ergebnisse wurden vorne, S. 536 f. berichtet und werden im Folgenden nicht mehr erwähnt). Unabhängig davon, ob sie die Klage gutgeheißen oder abgewiesen hatten, wurden die Versuchspersonen dann entweder gefragt, ob die fälschliche Gutheißung oder die fälschliche Abweisung einer Klage auf Geldzahlung für den Beklagten respektive den Kläger einen Reputationsschaden zur Folge habe, und wenn sie dies bejahten, wie groß dieser Schaden auf einer Skala von 0 bis 100 ausgedrückt sei, und wie hoch eine angemessene Genugtuung für den Schaden sein müsste (auch diese Resultate wurden bereits vorne, S. 515 f., berichtet und werden im Folgenden nicht mehr erwähnt). Schließlich beantworteten die Versuchspersonen sechs Fragen zur Messung ihrer persönlichen Verlustaversion (gleich nachstehend) und die Kurzversion der von Cialdini et al.810 entwickelten Skala zur Präferenz für Konsistenz. Die Versuchspersonen der Bevölkerungs-Stichprobe wurden abschließend gefragt, ob sie durch ihren Beruf oder ihre Ausbildung einen besonderen Bezug zum Recht hätten oder ob sie bereits einmal (wenn ja, in welcher Rolle) in einem Zivilverfahren Partei waren. Die Gerichtsangehörigen wurden gebeten, die bundesgerichtliche Umschreibung des Regelbeweismaßes in Zivilsachen unter drei zur Verfügung stehenden Formulierungen zu identifizieren (die anderen beiden Formulierungen waren die Umschreibungen des Beweismaßes der überwiegenden (= hohen) Wahrscheinlichkeit und der Glaubhaftmachung). bb) Messung der Verlustaversion Die Verlustaversion wurde durch eine einfache Wahl zwischen sechs Lotterien gemessen.811 Den Versuchspersonen wurde eine Liste mit den in Tabelle 27 809 Von Simon/Mahan, Law & Society Review 1971, 319–330, 322, ist bekannt, dass solche Reihenfolgeneffekte auftreten können; siehe aber Dane, Law and Human Behavior 1985, 141– 158, 149 f. (keine Reihenfolgeneffekte findend). 810 Cialdini/Trost/Newsom, Journal of Personality and Social Psychology 1995, 318–328, 320. 811 Gächter/Johnson/Herrmann, CeDEX discussion paper series 2010, 8.

580

Fünfter Teil: Beweismaß

aufgeführten Lotterien gezeigt und sie wurden gefragt, welche Lotterie(n) sie akzeptierten und welche sie ablehnten. Obwohl diese Aufgabe auf den ersten Blick die Risikobereitschaft bei Entscheidung unter Unsicherheit misst, ist Risikoaversion in Anbetracht der geringen Beträge, um die es geht, keine plausible Erklärung für das beobachtete Verhalten.812 Die überzeugende Erklärung, warum Menschen eine Lotterie wie z. B. die zweite in der obigen Liste ablehnen, die einen positiven Erwartungswert (C 1,50) hat, ist, dass sie einen Verlust von C 3 höher gewichten als einen Gewinn von C 6.813 Die Anwendung der kumulativen Prospect Theorie (CPT) von Kahneman und Tversky erlaubt es, die implizite Verlustaversion aus der Wahl der obigen Lotterien zu bestimmen. Einem Entscheider ist es gleichgültig, ob er eine Lotterie akzeptiert oder ablehnt, wenn w+ (0,5)v(G) = w– (0,5) λrisk v(L), wobei w+ und w– für die Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktionen der CPT stehen, G und L für den Gewinn respektive Verlust in einer Lotterie, v(G) und v(L) für den Nutzen der Ergebnisse G und L und λrisk für den Koeffizienten der Verlustaversion bei Tabelle 27: Lotterie-Wahl-Aufgabe.

Bitte geben Sie für jeden der Würfe an, ob Sie spielen (akzeptieren) möchten oder nicht spielen (ablehnen) möchten. Akzeptieren

Ablehnen

Wenn die Münze auf Kopf fällt, verlieren Sie C 2, wenn die Münze auf Zahl fällt, gewinnen Sie C 6.



Wenn die Münze auf Kopf fällt, verlieren Sie C 3, wenn die Münze auf Zahl fällt, gewinnen Sie C 6.



Wenn die Münze auf Kopf fällt, verlieren Sie C 4, wenn die Münze auf Zahl fällt, gewinnen Sie C 6.



Wenn die Münze auf Kopf fällt, verlieren Sie C 5, wenn die Münze auf Zahl fällt, gewinnen Sie C 6.



Wenn die Münze auf Kopf fällt, verlieren Sie C 6, wenn die Münze auf Zahl fällt, gewinnen Sie C 6.



Wenn die Münze auf Kopf fällt, verlieren Sie C 7, wenn die Münze auf Zahl fällt, gewinnen Sie C 6.



812

Rabin, Econometrica 2000, 1281–1292. Rabin, Econometrica 2000, 1281–1292, 1288; Köbberling/Wakker, Journal of Economic Theory 2005, 119–131, 124; Fehr/Goette, American Economic Review 2007, 298–317, 313; Gächter/Johnson/Herrmann, CeDEX discussion paper series 2010, 8. 813

VII. Das tatsächliche Regelbeweismaß in Zivilsachen

581

Wahl unter Unsicherheit. Wenn man annimmt, dass die Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktionen für Gewinne und Verluste gleich sind,814 d. h. w+ = w– , bestimmt das Verhältnis von v(G)/v(L) = λrisk die Verlustaversion, die durch die Akzeptanz oder Ablehnung der Lotterie impliziert wird. Bei den geringen Beträgen, um die es hier geht, darf man annehmen, dass v(x) linear ist, d. h. v(x) = x.815 Die Verlustaversion wird dann durch die einfache Gleichung λrisk = G/L gemessen.816 D. h., eine Versuchsperson, die gar keine der Lotterien akzeptiert, hat eine Verlustaversion von > 3, eine Versuchsperson, die die erste Wette akzeptiert und alle anderen ablehnt, eine von 3, eine Versuchsperson, die die ersten beiden Wetten ablehnt und alle anderen Wetten akzeptiert, von 2, etc.817 Wer alle Wetten akzeptiert, hat eine Verlustaffektion in der Höhe von ≤ 0,87. Grundsätzlich sollte man die Versuchspersonen bei der Wahl zwischen Lotterien wie hier immer incentivieren: Zumindest eine der Lotterien sollte zufällig ausgewählt und »gespielt« werden, d. h. bestimmt werden, ob die Versuchspersonen gewonnen oder verloren hätte, wobei ein Gewinn oder Verlust tatsächliche finanzielle Konsequenzen hat.818 Da hier eine Studie mit Richtern durchgeführt wird, war dies nicht möglich. Ich kann die teilnehmenden Richter nicht verpflichten, mir Fr. 2 (in der Schweiz wurden die Lotterien statt mit Euro mit Franken gespielt) zu bezahlen, wenn sie verlieren, und es ist administrativ enorm aufwendig, die Gewinne auszubezahlen, wenn die Teilnehmer nicht in einem Labor sitzen. Verschiedene Studien haben untersucht, ob echte versus hypothetische Auszahlungen unterschiedliche Verhaltensweisen bewirken. Während Holt und Laury für hohe hypothetische Gewinne Unterschiede zu hohen echten Gewinnen finden,819 haben andere Autoren keine systematischen Unterschiede feststellen können.820 Wieder andere Studien finden einen Unterschied für hypothetische Gewinne, nicht aber für hypothetische Verluste.821 Es ist nicht zu bestreiten, dass anreizkonforme Experimente vorzuziehen sind. Im vorliegenden Fall hat man jedoch realistischerweise die Wahl, die Studie anreizkonform mit Studierenden oder hypothetisch mit Richtern durchzuführen. Da wir eine weitere Studie mit Studierenden so sehr brauchen wie Grippe in den Ferien, ist die Durchführung der Studie mit hypothetischen Gewinnen und Verlusten, dafür aber mit Richterinnen und Richtern, das kleinere Übel. 814

Prelec, Econometrica 1998, 497–527, 503. Köbberling/Wakker, Journal of Economic Theory 2005, 119–131, 125; Fehr-Duda/ Gennaro/Schubert, Theory and Decision 2006, 283–313, 297 f.; Gächter/Johnson/Herrmann, CeDEX discussion paper series 2010, 9. 816 Gächter/Johnson/Herrmann, CeDEX discussion paper series 2010, 9. 817 Siehe Tabelle 1 in Gächter/Johnson/Herrmann, CeDEX discussion paper series 2010, 14, für die restlichen Werte. 818 Harrison/Rutström, in: Cox/Harrison (Hrsg.), Risk aversion in experiments, 41–196, 154. 819 Holt/Laury, American Economic Review 2002, 1644–1655. 820 Beattie/Loomes, Journal of Risk and Uncertainty 1997, 155–168; anders für Risikoaversion Camerer/Hogarth, Journal of Risk and Uncertainty 1999, 7–42, 23. 821 Etchart-Vincent/l’Haridon, Journal of Risk and Uncertainty 2011, 61–83. 815

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Fünfter Teil: Beweismaß

cc) Messung der Entscheidungsgrenze Es werden direkte und indirekte Methoden zur Messung der Entscheidungsgrenze (Beweismaß) unterschieden.822 Die einfachste (»direkte«) Methode ist, den Entscheider zu fragen, wie sicher er sich sein muss, ausgedrückt als subjektiver Wahrscheinlichkeitsgrad (d. h. auf einer normierten Skala, in der Regel von 0 bis 100), ehe er eine Klage gutheißt (respektive einen Angeklagten verurteilt). Damit kann man beispielsweise messen, ob unterschiedliche Formulierungen der Geschworeneninstruktionen tatsächlich zu einem quantifizierbaren Unterschied in der Entscheidungsgrenze führen.823 Diese Methode eignet sich jedoch nicht zur Anwendung bei Richtern, denen das theoretisch verlangte Beweismaß bekannt ist. Bei ihnen erfährt man mittels der direkten Methode nur, wie sie das Regelbeweismaß ausgedrückt als Wahrscheinlichkeitsgrad verstehen, aber nicht, ob sie sich tatsächlich gemäß dem so verstandenen Beweismaß verhalten. So behaupten 87% der von Kunz und Haas befragten deutschen, österreichischen und schweizerischen Strafrichter, nur zu verurteilen, wenn die Schuld des Angeklagten zu mindestens 99% feststehe.824 In Anbetracht der psychologischen Forschung darf man das getrost als Selbsttäuschung bezeichnen. Um die Frage zu beantworten, wie sich Richter tatsächlich verhalten, ist die direkte Methode nicht geeignet. Von der direkten Methode werden zwei Formen indirekter Methoden unterschieden, die entscheidungstheoretische Methode und die Rangordnungsmethode.825 Bei der entscheidungstheoretischen Methode wird, wie in der vorne, S. 448 f. vorgestellten Umfrage, nach dem Nutzen respektive den Kosten, die mit den möglichen Ergebnissen der Wahl verbunden sind, gefragt, und die empirisch erhobenen (Mittel)werte in die entscheidungstheoretische Formel zur Bestimmung der Entscheidungsgrenze (Ungleichung 23.2) eingesetzt.826 Damit erhält man die Entscheidungsgrenze, welche die Versuchspersonen anwenden sollten, um die von ihnen subjektiv geschätzten erwarteten Kosten der Entscheidung zu minimieren (respektive den Nutzen zu maximieren). Auch dies zielt an der vorliegenden Forschungsfrage vorbei, die ja nicht darauf abzielt herauszufinden, welches Beweismaß die Richter anwenden sollten, sondern beantworten will, welches Beweismaß sie tatsächlich anwenden. Die Rangordnungsmethode, die auf Simon (1970) zurück geht, wird in einem Zwischen-Gruppen-Design verwendet:827 Die Versuchspersonen werden zufällig 822 Dane, Law and Human Behavior 1985, 141–158, 143 f.; Hastie, in: Hastie (Hrsg.), Inside the Juror, 84–115, 101. 823 Z. B. Kerr et al., Journal of Personality and Social Psychology 1976, 282–294. 824 Kunz/Haas, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2012, 158–183, 180. 825 Dane, Law and Human Behavior 1985, 141–158, 143 f.; Hastie, in: Hastie (Hrsg.), Inside the Juror, 84–115, 103 f. 826 Z. B. Nagel/Lamm/Neef, in: Sales (Hrsg.), The trial process, 353–386. 827 Simon, Journal of Applied Behavioral Science 1970, 203–209.

583

VII. Das tatsächliche Regelbeweismaß in Zivilsachen

Tabelle 28: Fiktives Beispiel für die Rangordnungs-Methode.

Verurteilung

ja

ja

ja

ja

ja

ja

nein nein nein

Überzeugungsgrad Rang

77 1

76 2

76 3

75 4

75 5

71 6

70 7

69 8

66 9

auf zwei gleich große Gruppen aufgeteilt, wobei die eine Gruppe gefragt wird, ob sie den Angeklagten verurteilen würde und die zweite Gruppe, wie sicher sie sich sei, dass der Angeklagte die ihm vorgeworfene Tat begangen hat. Die Antworten der zweiten Gruppe werden der Größe nach absteigend angeordnet und dann wird von oben nach unten abgezählt, bis der Rang erreicht ist, welcher der Anzahl Verurteilungen in der anderen Gruppe entspricht. Tabelle 28 zeigt ein fiktives Beispiel, bei dem die Entscheidungsgrenze, nach der Rangordnungsmethode gemessen, zwischen 71 (bei Abzählen von oben) und 70 (bei Abzählen von unten) liegt. Die Rangordnungsmethode verwendet den ausgedrückten Überzeugungsgrad als Prädiktor für die Verurteilung: Da die Versuchspersonen zufällig auf die Gruppen verteilt wurden und sich daher nicht systematisch unterscheiden, darf man annehmen, dass eine Versuchsperson, deren Überzeugungsgrad über dem Rang liegt, der dem Anteil Verurteilungen in der anderen Gruppe entspricht (im Beispiel Rang 6), ebenfalls verurteilt hätte.828 Will man nun voraussagen, ob eine Versuchsperson mit einem Überzeugungsgrad von x – beispielsweise 75 – die Klage gutheißen wird, so ist die beste Vermutung, dass sie die Klage gutheißen wird, wenn der Überzeugungsgrad über dem Umschlagpunkt liegt (in dem Beispiel gemäß Tabelle 28 also über 71). Der Vorteil der RangordnungsMethode ist, dass sie auch bei Versuchspersonen angewendet werden kann, die das theoretisch verlangte Beweismaß kennen, denn sie werden nicht direkt nach dem für eine Verurteilung notwendigen Überzeugungsgrad gefragt, sondern nur entweder nach ihrem Überzeugungsgrad oder ob sie verurteilen würden. Die Rangordnungs-Methode sagt die tatsächlichen Entscheidungen besser voraus als die direkte Abfrage.829 Nachteil des Zwischen-Gruppen-Designs ist, dass man nur die Hälfte der Beobachtungen erhält, die man erhalten würde, wenn man jede Versuchsperson sowohl nach ihrem Überzeugungsgrad als auch nach ihrer Entscheidung fragen würde. Fragt man die Versuchspersonen sowohl nach Überzeugungsgrad wie nach Entscheidung kann jedoch die Reihenfolge der Fragen (zuerst Entscheidung, dann Überzeugungsgrad oder umgekehrt) einen Einfluss auf die Verurteilungsrate haben (Versuchspersonen, die zuerst nach dem Überzeugungsgrad gefragt werden, verurteilen weniger häufig).830 Will man ein Inner-Gruppen-Design 828 829 830

Simon, Journal of Applied Behavioral Science 1970, 203–209, 206. Dane, Law and Human Behavior 1985, 141–158, 150 f. Simon/Mahan, Law & Society Review 1971, 319–330, 322.

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Fünfter Teil: Beweismaß

verwenden, muss man daher die Reihenfolge der Fragen variieren, um prüfen zu können, ob ein Reihenfolgeneffekt vorhanden ist. Für die hier berichtete Umfrage wurde ein Inner-Gruppen-Design verwendet, um nicht zu viel statistische Aussagekraft zu verlieren,831 und die Reihenfolge der Fragen wurde variiert, um testen zu können, ob ein Reihenfolgeeffekt auftritt. Die Entscheidungsgrenze wurde mittels einer logistischen Regressionsanalyse mit der Klagegutheißung als dichotomer abhängiger Variable ermittelt, d. h. das Modell sagt voraus, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Richter bei gegebenem Überzeugungsgrad die Klage gutheißen wird. Der Überzeugungsgrad, bei dem der Richter die Klage mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% gutheißt, entspricht konzeptionell dem Mittelwert der beiden Werte, zwischen denen gemäß der Rangordnungsmethode der Wechsel von Abweisung auf Gutheißung erfolgt.832 c) Ergebnisse 160 Gerichtsangehörige und 247 Mitglieder der allgemeinen Bevölkerung, die den gleichen Sachverhalt wie die Gerichtsangehörigen beurteilten, haben die Studie beendet. Ausgeschlossen von allen folgenden Analysen wurden die Versuchspersonen, die die Klage guthießen, obwohl sie zu weniger als 50% überzeugt waren, dass der anspruchsbegründende Sachverhalt der Fall ist, und alle Versuchspersonen, welche die Klage abwiesen, obwohl sie angaben, zu 100% von der Wahrheit der anspruchsbegründenden Tatsachenbehauptungen überzeugt zu sein. Es waren dies 20 in der Bevölkerungs-Stichprobe und vier der Gerichtsangehörigen, so dass sich die folgenden Analysen auf N = 383 beziehen (227 Bevölkerung, 76 Richter und 80 Gerichtsschreiber), wo nicht explizit etwas anderes gesagt wird. Tabelle 29 berichtet die deskriptive Statistik der Ergebnisse. Die ersten vier Spalten berichten die Ergebnisse für die Leistungsklage, unterschieden nach Gutheißung und Abweisung, während die letzten vier Spalten die gleichen Ergebnisse für die negative Feststellungsklage berichten (auf die Unterscheidung nach der Reihenfolge der Fragen wird verzichtet, weil die Reihenfolge keinen signifikanten Einfluss auf die Ergebnisse hatte). Wenig überraschend ist der durchschnittliche Überzeugungsgrad derjenigen, die die Klage gutgeheißen haben, in beiden Bedingungen und für beide Gruppen höher als der durchschnittliche Überzeugungsgrad derjenigen, die die Klage abgewiesen haben. Es weisen mehr Gerichtsangehörige (71%) als Mitglieder der allgemeinen Bevölkerung (58%) die Leistungsklage gut, während es sich bei der negativen Feststellungsklage gerade umgekehrt verhält (4% der Gerichtsangehörigen heißen die Feststellungsklage gut gegenüber 13% der Bevölkerung).833 Die sehr geringe Anzahl von Gerichts831 Zu den Nachteilen von Zwischen-Gruppen-Designs bei der statistischen Auswertung siehe Wright/Strubler/Vallano, Legal and Criminological Psychology 2011, 90–125, 98 f. 832 Wright/Strubler/Vallano, Legal and Criminological Psychology 2011, 90–125, 96 ff. 833 X2 (3 N = 383) = 21,3; p < 0,001.

Gerichtsangehörige Bevölkerung

84,1 (9,8)

79,8 (14,0)

93 (58%)

Ø Überzeug. (Std.abw.)

68 (42%)

25 (29%)

Anzahl (Anteil)

49,2 (23,4)

55,1 (19,0)

Ø Überzeug. (Std.abw.)

Abweisung

Leistungsklage

62 (71%)

Anzahl (Anteil)

Gutheißung

13 (20%)

3 (4%)

Anzahl (Anteil)

63,5 (16,6)

81,5 (15,6)

Ø Überzeug. (Std.abw.)

53 (80%)

66 (96%)

Anzahl (Anteil)

36,8 (26,0)

27,8 (23,1)

Ø Überzeug. (Std.abw.)

Abweisung

Feststellungsklage Gutheißung

Tabelle 29: Deskriptive Statistik der Ergebnisse der Studie zum Beweismaß in Zivilsachen.

VII. Das tatsächliche Regelbeweismaß in Zivilsachen

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586

Fünfter Teil: Beweismaß

angehörigen, die die negative Feststellungsklage gutheißt, führt dazu, dass die statistische Aussagekraft der folgenden Analysen beschränkt ist, weil eine Zelle nur sehr wenige (3) Werte enthält. Betrachtet man den durchschnittlichen Überzeugungsgrad ohne Unterscheidung nach Gutheißung und Abweisung der Klage, so wird dem Kläger der Leistungsklage (dem angeblichen Gläubiger) mit einem Überzeugungsgrad von 76,5 (Gerichtsangehörige) respektive 66,9 (Bevölkerung) geglaubt, und dem Kläger der negativen Feststellungsklage (dem angeblichen Schuldner) zu 27,8 (Gerichtsangehörige) respektive 41,1 (Bevölkerung). Gemäß der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie müssten sich die beiden subjektiven Wahrscheinlichkeiten zu 1 summieren, da entweder die Darstellung des Gläubigers oder die des Schuldners zutrifft. Sowohl für die Bevölkerung (108) wie auch für die Gerichtsangehörigen (104,3) liegt die Summe von Wahrscheinlichkeit und Gegenwahrscheinlichkeit geringfügig über 100. Um den Einfluss von Überzeugungsgrad, Klageart, Reihenfolge der Fragen und Gerichtsangehörigkeit auf die Wahrscheinlichkeit, die Klage gutzuheißen, zu quantifizieren, wurde eine multiple logistische Regression zur Schätzung der Regressionsgewichte der folgenden Regressionsgleichung (= Modell 1) gerechnet 

Pr Gutheißungi  = β0 + β2 U + β1 G + β3 R + β4 K. ln Pr 1 – Gutheißungi

(25)

U ist die auf einer Skala von 1 bis 100 ausgedrückte Überzeugung, dass der anspruchsbegründende Sachverhalt wahr ist (respektive bei der negativen FestTabelle 30: Aufgrund der Daten der Beweismaß-Studie geschätzte Regressionsgewichte.

U[eberzeugung] G[ericht] R[eihenfolge] K[lageart] M[ann] A[lter] V[erlustaversion] V[erlust] x K[lage] Intercept

Modell 1

Modell 2

***

***

383

383

337

0,470

0,490

0,561

0,081 (0,009) 0,085 (0,009) 0,087*** (0,010) –0,291 (0,320) –0,358 (0,330) –0,463 (0,353) 0,044 (0,300) 0,045 (0,308) 0,001 (0,333) 1,290*** (0,386) 1,295*** (0,386) 1,193** (0,414) 0,368 (0,315) 0,425 (0,347) –0,040** (0,013) –0,042** (0,015) 0,007 (0,157) –0,796* (0,359) –6,295*** (0,699) –5,039*** (0,798) –4,225*** (0,836)

Beobachtungen 2

Pseudo R ***

Modell 3

p < 0,001, ** p < 0,01, * p < 0,05

VII. Das tatsächliche Regelbeweismaß in Zivilsachen

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stellungsklage, falsch ist). G ist eine Dummy-Variable für Gerichtsangehörigkeit (1 = gehört einem Gericht an), R eine Dummy-Variable für die Reihenfolge der Fragen (1 = Entscheidung vor Überzeugungsgrad) und K eine Dummy-Variable für die Art der Klage (1 = Leistungsklage). Die Resultate sind in Tabelle 30 wiedergegeben (Standardfehler in Klammern). Wenig überraschend steigt die Wahrscheinlichkeit (genau genommen, der Logarithmus naturalis der OddsRatio, aber das entspricht einer Steigerung der Wahrscheinlichkeit), dass die Klage gutgeheißen wird, mit steigender Überzeugung, dass der anspruchsbegründende Sachverhalt der Fall ist (respektive bei der negativen Feststellungsklage nicht der Fall ist). Keinen signifikanten Einfluss haben die Gerichtsangehörigkeit und die Reihenfolge der Fragen. Wie aufgrund der deskriptiven Statistik zu erwarten war, hat die Klageart einen signifikanten Einfluss; die Leistungsklage wird viel eher gutgeheißen als die negative Feststellungsklage. Abbildung 57 zeigt den Zusammenhang zwischen Überzeugungsgrad und Wahrscheinlichkeit der Klagegutheißung gemäß Modell 1 grafisch. Dazu wurde für die schwarze Linie die Funktion von Überzeugungsgrad U auf Wahrscheinlichkeit der Gutheißung der Leistungsklage und für die graue Linie die Funktion

Abbildung 57: Einfluss des Überzeugungsgrades auf Wahrscheinlichkeit der Gutheißung für Leistungs- und negative Feststellungsklage.

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Fünfter Teil: Beweismaß

von U auf Wahrscheinlichkeit der Gutheißung der negativen Feststellungsklage geplottet, d. h. der Wert der Variable U wird kontinuierlich von 0 auf 100 erhöht und das Ergebnis auf der y-Achse der Abbildung 57 abgetragen. Die Konfidenzintervalle (grau schraffierte Bereiche) wurden mittels Bootstrapping geschätzt.834 Aus Abbildung 57 ist unmittelbar ersichtlich, dass die Unsicherheit bei der Schätzung der Entscheidungsgrenze für die negative Feststellungsklage viel größer ist als bei der Leistungsklage. Das ist auf den bereits erwähnten Umstand zurückzuführen, dass nur wenige Versuchspersonen die negative Feststellungsklage gutgeheißen haben. Bei einem Überzeugungsgrad von 62,9% (95%-Konfidenzintervall 59,4 bis 66,5) beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass die Leistungsklage gutgeheißen wird, 50%. Für die Gutheißung der negativen Feststellungsklage muss der der Überzeugungsgrad, dass der anspruchsbegründende Sachverhalt nicht besteht, aber 86,2% (95%-Konfidenzintervall 71,6 bis 100) betragen, damit die Klage mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% gutgeheißen wird. In einem nächsten Schritt wird das Modell 1 um die demographischen Parameter Alter und Geschlecht ergänzt, d. h. Gleichung (25) wird um eine weitere Dummy-Variable M (1 = männlich) und eine kontinuierliche Variable A für Alter ergänzt (Modell 2). Es zeigt sich, dass das Geschlecht keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit der Gutheißung hat, jedoch ein höheres Alter die Wahrscheinlichkeit, die Klage gutzuheißen, reduziert, oder anders ausgedrückt, ein älterer Entscheider braucht einen höheren Überzeugungsgrad, ehe er die Klage gutheißt. Dieser Effekt geht für beide Bedingungen (Leistungsklage und negative Feststellungsklage) in die gleiche Richtung; in Abbildung 58 ist er für die Leistungsklage grafisch dargestellt. Das letzte Modell ergänzt Modell 2 um die Verlustaversion und die Interaktion von Verlustaversion und Klageart (Modell 3). Es wird angenommen, dass nicht monotone Nutzenfunktionen inkohärent sind, d. h. es ist widersprüchlich, eine Wette mit einem höheren Erwartungswert abzulehnen und eine andere Wette mit einem tieferen Erwartungswert anzunehmen (z. B. die zweite Wette in der Liste auf S. 580 abzulehnen und gleichzeitig die vierte Wette zu akzeptieren). Dennoch wird empirisch beobachtet, dass rund 10% der Versuchspersonen dieses Verhalten zeigen, und zwar auch bei Lotterien, bei denen tatsächlich um Geld gespielt wird.835 Für die Schätzung der Regressionsgewichte des Modell 3 wurden alle Versuchspersonen, die eine nicht monotone Nutzenfunktion zeigten, aus dem Datensatz entfernt, es handelt sich um fünf (3%) bei den Gerichtsangehörigen und 41 (18%) bei der Bevölkerungs-Stichprobe. Die durchschnittliche Verlustaversion für die Bevölkerungs-Stichprobe beträgt 2,27 (Median = 2, Standardab834 Gemäß Wright/Strubler/Vallano, Legal and Criminological Psychology 2011, 90–125, 96 f. (bias corrected and accelerated intervals). 835 Holt/Laury, American Economic Review 2002, 1644–1655, 1648; Gächter/Johnson/ Herrmann, CeDEX discussion paper series 2010, 13.

VII. Das tatsächliche Regelbeweismaß in Zivilsachen

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Abbildung 58: Einfluss des Überzeugungsgrades auf Wahrscheinlichkeit der Gutheißung der Leistungsklage bei gegebenem Alter (30, 40, 50 Jahre).

weichung = 1,14), wenn man die Verlustaversion derjenigen Versuchspersonen, die alle Lotterien ablehnen, mit 4 kodiert, und 2,08 (Median = 2, Standardabweichung 1,05) für die Gerichtsangehörigen. Das Geschlecht hat keinen signifikanten Einfluss; die Verlustaversion steigt mit dem Alter.836 Wie aus Tabelle 30 ersichtlich ist, ist die Interaktion von Klageart und Verlustaversion signifikant, d. h. bei steigender Verlustaversion sinkt die Wahrscheinlichkeit, die Leistungsklage gutzuheißen. Abbildung 59 zeigt grafisch den Einfluss der Verlustaversion auf die Wahrscheinlichkeit der Gutheißung einer Leistungsklage durch einen männlichen, 40 Jahre alten Gerichtsangehörigen, der zuerst über die Klage entscheidet und dann seinen Überzeugungsgrad angibt. Dazu werden drei Werte für den Überzeugungsgrad U eingesetzt werden: 55, was dem Durchschnitt entspricht (ausgezogene Linie), 23, was eine Standardabweichung unterhalb des Durchschnitts ist (gepunktete Linie) und 87, eine Standardabweichung oberhalb des Durchschnitts (gestrichelte Linie).

836

r(335) = 0,26, p < 0,001.

590

Fünfter Teil: Beweismaß

Abbildung 59: Einfluss der Verlustaversion auf Wahrscheinlichkeit der Gutheißung der Leistungsklage bei gegebenem Überzeugungsgrad (23%, 55%, 87%).

Die geschätzte Wahrscheinlichkeit, dass die Klage gutheißen wird, beträgt bei einem Überzeugungsgrad von 55% bei fehlender Verlustaversion rund 47%, aber nur 25%, wenn die Verlustaversion 4 beträgt. Bei der negativen Feststellungsklage hingegen geht der Effekt in die entgegengesetzte Richtung (siehe Abbildung 60). Je höher die Verlustaversion, desto eher wird die Klage gutgeheißen, wenn alle anderen Parameter des Modells konstant gehalten werden. Schließlich haben 114 (73%) der 156 Gerichtsangehörigen die korrekte Umschreibung des Regelbeweismaßes in Zivilsachen identifiziert. 40 (25,5%) identifizierten fälschlicherweise die Umschreibung des Beweismaßes der überwiegenden (= hohen) Wahrscheinlichkeit, das für den Beweis der Kausalität Anwendung findet, als das Regelbeweismaß. Nur zwei hielten die Umschreibung der Glaubhaftmachung für das Regelbeweismaß. Es gibt diesbezüglich keine signifikanten Unterschiede zwischen Richtern und Gerichtsschreibern oder Männern und Frauen. Die durchschnittliche subjektive Wahrscheinlichkeit, die gemäß den Gerichtsangehörigen vom Regelbeweismaß verlangt wird, beträgt 89,1 (Median = 91; Standardabweichung 9,7). Diese Resultate stimmen im Wesentlichen überein mit den Ergebnissen von Berger-Steiner für eine Stichprobe von 44

VII. Das tatsächliche Regelbeweismaß in Zivilsachen

591

Abbildung 60: Einfluss der Verlustaversion auf Wahrscheinlichkeit der Gutheißung der negativen Feststellungsklage bei gegebenem Überzeugungsgrad (23%, 55%, 87%).

Berner Richtern.837 Es gibt auch hier keine signifikanten Unterschiede zwischen Richtern und Gerichtsschreibern oder Männern und Frauen oder zwischen denjenigen, die die Klage gutheißen haben und denjenigen, die die Klage abgewiesen haben (d. h. es ist nicht so, dass diejenigen, die die Klage abweisen, ein höheres Beweismaß verlangen). Bemerkenswert ist, dass nur 23 (35%) der 65 Gerichtsangehörigen, die die Klage gutgeheißen haben, einen Überzeugungsgrad für die Wahrheit der anspruchsbegründenden Tatsachenbehauptungen von über 89,1 (der gemessenen theoretisch verlangten Entscheidungsgrenze) haben, und nur ein einziger der Befragten war sich zu 100% sicher, dass der Kläger recht hatte – obwohl 19 (12%) meinten, dass der vom Regelbeweismaß für eine Gutheißung der Klage verlangte Überzeugungsgrad 100% sei. d) Diskussion Die Ergebnisse zeigen, dass es keinen signifikanten Unterschied in der Entscheidungsgrenze zwischen Gerichtsangehörigen und der allgemeinen (deutschen) Bevölkerung gibt. Insbesondere ist es nicht so, dass die Gerichtsangehörigen, denen bekannt sein muss, dass das auf den Fall zweifellos anwendbare Regel837

Berger-Steiner, Beweismass, Rz. 6.12.

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Fünfter Teil: Beweismaß

beweismaß in Zivilsachen eine sehr hohe Gewissheit verlangt (und die diese Gewissheit auch mit 89,1% identifizieren), eine höhere Entscheidungsgrenze haben als die allgemeine Bevölkerung. Für die Leistungsklage liegt die Grenze, bei der die Wahrscheinlichkeit der Gutheißung der Klage 50% beträgt, bei rund 63%, mit steigendem Alter etwas höher. Dies entspricht der von Zamir und Ritov mit der Rangordnungs-Methode gemessenen Entscheidungsgrenze von rund 70% bei israelischen Prozessanwälten.838 Dies ist interessant, weil das Beweismaß in Zivilsachen in Israel, das in diesem Punkt dem englischen Recht entspricht, bei einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von 50% liegt.839 Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass es eine »natürliche« Entscheidungsgrenze gibt, die weitgehend unbeeinflusst ist von dem vom jeweiligen Rechtssystem theoretisch verlangten Beweismaß. Überraschend ist, dass die Entscheidungsgrenze für die Gutheißung der negativen Feststellungsklage höher liegt als bei der Leistungsklage. Die Rechtskraftwirkung einer negativen Feststellungslage ist die, dass die Gutheißung der Klage – d. h. die Feststellung, dass das Recht nicht besteht – eine spätere Geltendmachung des gleichen Anspruchs ausschließt, und die Abweisung der Klage verbindlich feststellt, dass der Anspruch besteht.840 D. h. »ein Urteil, das eine negative Feststellungsklage aus sachlichen Gründen abweist, [hat] dieselbe Rechtskraftwirkung wie ein Urteil, das das Gegenteil dessen, was mit der negativen Feststellungsklage begehrt wird, positiv feststellt.«841 Umstritten ist die Rechtskraftwirkung eines Urteils, das eine negative Feststellungsklage wegen Beweislosigkeit abweist (non liquet). Die deutsche Rechtsprechung und die wohl herrschende Lehre in der Schweiz sprechen auch einem solchen Urteil die Wirkung zu, dass es die Existenz der Forderung verbindlich feststellt.842 Diejenigen, die die Leistungsklage abgewiesen haben, müssten demnach die negative Feststellungsklage gutheißen, denn die Wirkungen und Voraussetzungen sind dieselben (die Parteirollen ändern nichts an der Beweislastverteilung,843 d. h. auch bei der negativen Feststellungsklage muss der angebliche Gläubiger – Herr Arnold – beweisen, dass ein Darlehensvertrag zwischen ihm und Herrn Graf besteht, das Darlehen ausbezahlt wurde und zur Rückzahlung fällig ist). Da die Befragten zufällig auf die Bedingungen »Leistungsklage« und »Feststellungsklage« verteilt wurden, müsste 838

Zamir/Ritov, Journal of Legal Studies 2012, 165–207, 177. Zamir/Ritov, Journal of Legal Studies 2012, 165–207, 173 f. 840 Für Deutschland BGH 1995, 1757 (st. Rsp.); für die Schweiz BGE 123 III 414 E. 5, anders noch 105 II 229 E. 1b. 841 BGH NJW 1995, 1757; für die Schweiz KuKo-ZPO-Oberhammer, Art. 88 N 30. 842 BGH NJW 1983, 2032; differenzierend MüKo-ZPO-Becker-Ebhard, § 256 N 71; für die Schweiz BGE 120 II 20 E. 3a; Guldener, Zivilprozessrecht, 361, 364; Habscheid, Zivilprozessrecht, Rz. 286; KuKo-ZPO-Oberhammer, Art. 88 N 31; a. M. Walter, ZBJV 1987, 553–565, 559 f. 843 Für Deutschland MüKo-ZPO-Becker-Ebhard, § 256 N 68; für die Schweiz KuKo-ZPOOberhammer, Art. 88 N 29. 839

VII. Das tatsächliche Regelbeweismaß in Zivilsachen

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der Anteil derjenigen, die die Leistungsklage abweisen, dem Anteil entsprechen, der die negative Feststellungsklage gutheißt. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass die Quote derjenigen, die die negative Feststellungsklage gutheißen, viel geringer ist, als die Quote derjenigen, die die Leistungsklage gutheißen, und dies auf die höhere Entscheidungsgrenze zurückzuführen ist. Was die Gerichtsangehörigen anbelangt, so könnte eine spekulative Erklärung darin liegen, dass die schweizerische Lehre und Praxis an das Feststellungsinteresse bei der negativen Feststellungsklage besonders hohe Anforderungen stellt.844 Da der Sachverhalt keine Ausführungen dazu macht, ob ein Feststellungsinteresse gegeben ist, weisen die Gerichtsangehörigen die Klage möglicherweise mangels Feststellungsinteresse ab. Das Fehlen des Feststellungsinteresses müsste natürlich zu einem Nichteintretensentscheid führen (das Feststellungsinteresse ist Prozessvoraussetzung)845 , aber diese Option stand nicht zur Verfügung. Allerdings vermag dies nicht zu erklären, weshalb auch juristische Laien die Entscheidungsgrenze für die negative Feststellungsklage höher ansetzen, denn ihnen dürften diese Anforderungen an das Feststellungsinteressen nicht bekannt sein. Die durchschnittliche Verlustaversion entspricht den Werten, die aus anderen Studien bekannt sind. Der Einfluss der individuellen Verlustaversion geht in die erwartete Richtung. Bei höherer individueller Verlustaversion sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass die Leistungsklage gutheißen wird. Dies leuchtet ein, weil die fälschliche Gutheißung einer Leistungsklage ausgehend vom Status quo ante Klageeinreichung – der psychologisch betrachtet maßgebliche Referenzpunkt – die Zufügung eines Verlustes ist, während die fälschliche Abweisung die Nicht-Zusprechung eines Gewinns ist. Die Minimierung des erwarteten persönlichen Bedauerns verlangt daher eine mit steigender Verlustaversion höhere Entscheidungsgrenze. Umgekehrt bedeutet die Abweisung der negativen Feststellungsklage, dass – zumindest nach h. L. und Rechtsprechung – die Existenz des Anspruchs festgestellt wird. Da das negative Feststellungsurteil selbst kein Vollstreckungstitel ist, bewirkt es zwar keine unmittelbare Änderung des Status quo, aber von der Feststellung der Existenz des Anspruchs zu seiner Durchsetzung ist es ein kleiner Schritt. Die Daten stützen daher die Vermutung, dass die Verlustaversion dazu führt, dass ein Beweismaß, gemäß dem eine zivilrechtliche Klage gutzuheißen ist, wenn der anspruchsbegründende Sachverhalt »im geringsten Grad« eher wahr als falsch ist, intuitiv als zu tief empfunden wird. Normativ lässt sich die Berücksichtigung der Verlustaversion jedoch nicht rechtfertigen, da nicht überzeugend begründet werden kann, weshalb der Status quo ante Klageeinreichung normativ maßgeblich sein soll (vorne, S. 513 ff.). Die Zunahme der Verlustaversion mit steigendem Alter entspricht den Ergebnissen von Gächter et al.846 Nicht erwartet wurde, dass die Wahrscheinlichkeit 844 845 846

BGE 131 III 319 E. 3.5; 120 II 20 E. 3a; krit. KuKo-ZPO-Oberhammer, Art. 88 N 26. Statt aller KuKo-ZPO-Oberhammer, Art. 88 N 9. Gächter/Johnson/Herrmann, CeDEX discussion paper series 2010, 17.

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Fünfter Teil: Beweismaß

der Gutheißung der Klage mit steigendem Alter abnimmt, und zwar auch dann, wenn man für die mit dem Alter steigende Verlustaversion kontrolliert. Bekannt ist, dass mit steigendem Alter des Entscheiders die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung wegen eines Verbrechens steigt,847 aber diese Entscheidung ist nicht vergleichbar mit der Entscheidung über eine zivilrechtliche Forderungsklage. Eine überzeugende kausale Erklärung fehlt sowohl für die Zunahme der Verurteilungswahrscheinlichkeit mit dem Alter in Strafsachen wie für die Abnahme der Gutheißungswahrscheinlichkeit mit dem Alter in Zivilsachen. 3. Zusammenfassung Die Ergebnisse der Studie stützen die Vermutung, dass die tatsächliche Entscheidungsgrenze in Zivilsachen deutlich unter den »über 90%« subjektiver Wahrscheinlichkeit liegt, die von der herrschenden Lehre verlangt werden. Werden die Gerichtsangehörigen direkt nach dem Regelbeweismaß in Zivilsachen gefragt, so liegt der Durchschnitt der Antworten mit 89,1% zwar nahe bei den theoretisch verlangten »über 90%«. Es zeigt sich aber, dass bereits bei einem Überzeugungsgrad von 63% die Wahrscheinlichkeit, dass die Leistungsklage gutgeheißen wird, 50% beträgt. Für die Gutheißung der negativen Feststellungsklage muss der der Überzeugungsgrad, dass der anspruchsbegründende Sachverhalt nicht besteht, aber signifikant höher sein, ohne dass eine überzeugende Erklärung für den beobachteten Unterschied vorliegt. Zu beachten ist, dass sich der gemessene Überzeugungsgrad auf die Überzeugung bezieht, dass der gesamte anspruchsbegründende Sachverhalt wahr ist. Das schließt nicht aus, dass die Überzeugung, dass einzelne Tatbestandsmerkmale wahr sind, erheblich höher ist. Eine höhere individuelle Verlustaversion des Entscheiders (d. h. das Ausmaß, in dem er einen nominell gleich hohen Verlust stärker gewichtet als einen Gewinn), führt dazu, dass er die Leistungsklage weniger schnell gutheißt, d. h. einen höheren Überzeugungsgrad für die Gutheißung braucht, während sie auf die Gutheißung der negativen Feststellungsklage den entgegengesetzten Einfluss hat. Dies stützt die Hypothese, dass die Entscheidungsgrenze vom Bestreben, das persönliche erwartete Bedauern zu minimieren, (mit)bestimmt wird, und daher mit steigender Verlustaversion steigt. Normativ ist dies aber nicht zu rechtfertigen. Da die mit einer vergleichbaren Methode in Israel, das in Zivilsachen das englische Beweismaß der »balance of probabilities« kennt, gemessene Entscheidungsgrenze bei vergleichbaren 70% liegt, liegt der Schluss nahe, dass der theoretische Unterschied im zivilprozessualen Beweismaß zwischen den Ländern des Common Law und Ländern zivilistischer Tradition in der praktischen Anwendung weitgehend verschwindet. Darauf deutet auch hin, dass die Umschreibung des Beweismaßes gemäß Prinzip 21.2 der vom American 847

Anwar/Bayer/Hjalmarsson, NBER Working Paper 2012.

VIII. Zusammenfassung des fünften Teils

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Law Institute (ALI) und UNIDROIT (Institut international pour l’unification du droit privé) gemeinsam verabschiedeten »Prinzipien des transnationalen Zivilverfahrensrechts«848 , die auf transnationale Streitigkeiten in Handels- und anderen Zivilsachen Anwendung finden sollen, im deutschsprachigen Raum auf keinen großen Widerspruch gestoßen ist. Prinzip 21.2 der ALI/UNIDROIT Prinzipien des transnationalen Rechts lautet in der französischen Fassung »Les faits sont prouvés si le tribunal est raisonnablement convaincu de leur véracité«, was man übersetzen kann als »Die Tatsachen sind bewiesen, wenn das Gericht vernünftigerweise von ihrer Richtigkeit überzeugt ist.« Im offiziellen Kommentar zu Prinzip 21.2 wird ausgeführt, dass dieser Standard im Wesentlichen demjenigen entspreche, der in den meisten Rechtssystemen gelte. Der in den USA und einigen anderen Ländern verwendete Standard der »preponderance of the evidence« habe funktional die gleiche Bedeutung.849 Vor dem Hintergrund der theoretischen Differenzen ist das eine mutige Aussage. In Anbetracht der empirisch gemessenen Entscheidungsgrenze mag sie tatsächlich zutreffen.

VIII. Zusammenfassung des fünften Teils Anders als das Civil Law kontinentaleuropäischer Prägung kennt das Common Law zwei unterschiedliche Beweismaße für Zivil- und Strafrecht. Während im Strafrecht der Angeklagte für eine Verurteilung »über jeden vernünftigen Zweifel hinaus« schuldig sein muss, genügt im Zivilrecht, dass die klagebegründenden Tatsachenbehauptungen gemäß der Überzeugung des Tatsachenfeststellers eher wahr als falsch sind, sei es auch in einem noch so geringen Grad. Die normative Entscheidungstheorie erklärt diesen Unterschied mit den unterschiedlichen Kosten eines Fehlurteils in Zivil- und Strafsachen: Während die Verurteilung eines Unschuldigen als viel schwererer Fehler betrachtet wird als der Freispruch eines Schuldigen, ist es im Zivilrecht nicht klar, weshalb die Gutheißung einer Klage trotz fehlenden Anspruchs ein schwererer Fehler ist als die Abweisung einer Klage bei gegebenem Anspruch. In Deutschland wurde in den 1970-er Jahren, beeinflusst von der amerikanischen und skandinavischen Lehre, ebenfalls postuliert, dass das Beweismaß in Zivilsachen generell die »überwiegende Wahrscheinlichkeit« sein soll. Diese 848 »Principes ALI/UNIDROIT de procédure civile« transnationale in der Fassung vom April 2004, erhältlich unter www.unidroit.org ->Instruments UNIDROIT -> Principes (zuletzt besucht am 15. Januar 2013). 849 Wörtlich: »Le degré contenu dans l’expression »raisonnablement convaincu« est en substance celui qui est retenu dans la plupart des systèmes juridiques. Aux Etats-Unis et dans certains autres pays, le standard retenu est celui de »preponderance of the evidence« (de la probabilité prépondérante) qui fonctionnellement a le même sens.«

596

Fünfter Teil: Beweismaß

Lehrmeinungen konnten sich aber nie durchsetzen. Zum Teil mag dies damit zusammenhängen, dass sie objektive Beweismaßtheorien, gemäß denen Bezugspunkt richterlicher Überzeugung nicht die Wahrheit, sondern ein Grad objektiver Wahrscheinlichkeit ist, mit der Frage des Beweismaßes vermischten. Zum anderen wurde nie klar begründet, welche Kosten eines Fehlurteils zu berücksichtigen sind und welche nicht; insbesondere die Auffassung, dass es auf die persönliche Risikotragfähigkeit der konkreten Parteien ankomme, hat (zu Recht) zu großem Befremden geführt. Nach hier vertretener Auffassung können und müssen die Kosten eines Fehlurteils durch die Ziele des Verfahrens bestimmt werden. Sieht man die Ziele des Zivilprozesses in der Durchsetzung des materiellen Rechts und der Beendigung von Konflikten zwischen privaten Parteien, folgt unmittelbar, dass diese Ziele am besten erreicht werden, wenn das Beweismaß die überwiegende Überzeugung ist, dass die anspruchsbegründenden Tatsachenbehauptungen wahr sind. Das Ziel der materiellen Rechtsverwirklichung wird durch ein Urteil, das einen Anspruch nicht schützt, der tatsächlich gegeben ist, ebenso verfehlt wie durch ein Urteil, das einen Anspruch durchsetzt, der tatsächlich nicht gegeben ist. Das Konfliktbeendigungsziel anderseits wird durch korrekte wie falsche Urteile im gleichen Maße erreicht. Die Fehlerkosten sind daher identisch, und die Entscheidungsgrenze muss bei einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von gerade über 50% liegen, oder eben bei einer »überwiegenden Überzeugung«. Auf die persönliche Situation der Parteien kommt es nicht an. Diese Auffassung macht weder die Beweislastregeln überflüssig – Fälle, die nach richterlicher Überzeugung beim besten Willen nicht zu entscheiden sind, wird es auch unter der Lehre der überwiegenden Überzeugung geben – noch ist sie mit dem Wortlaut von § 286 ZPO-DE respektive Art. 157 ZPO-CH unvereinbar. Das Beharren der herrschenden Lehre und Rechtsprechung auf einem höheren Regelbeweismaß lässt sich psychologisch durch Verlustaversion und Status quo Bias erklären. Die Intuition ist aber keine ausreichende normative Basis für ein Regelbeweismaß der vollen Überzeugung. Der Unterschied zwischen der Lehre von der überwiegenden Überzeugung und der herrschenden Lehre von der vollen Überzeugung ist weniger groß als gemeinhin angenommen, wenn man sich bewusst macht, worauf sich die Überzeugung bezieht. Für die entscheidungstheoretische Rechtfertigung des Beweismaßes ist einzig maßgeblich, ob die Gesamtheit der anspruchsbegründenden Tatsachen eher wahr als falsch ist. Die herrschende Lehre stellt hingegen auf die einzelnen Tatbestandsmerkmale ab. Wo mehrere unabhängige Tatbestandsmerkmale gegeben sein müssen, ist ersteres viel schwieriger zu erreichen. Besonders deutlich wird dies bei den vorsorglichen Verfügungen, bei denen gemäß herrschender Lehre sowohl Verfügungsanspruch als auch Verfügungsgrund mit mindestens überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein müssen. Daraus folgt aber unmittelbar, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sowohl Verfügungsan-

VIII. Zusammenfassung des fünften Teils

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spruch als auch Verfügungsgrund vorliegen, im Grenzfall nur 25% beträgt! Auch nach der Lehre der überwiegenden Überzeugung ist es daher bei mehreren unabhängigen Tatbestandsmerkmalen absolut notwendig, dass einzelne Merkmale mit erheblich mehr als 50%-iger subjektiver Wahrscheinlichkeit vorliegen, da ansonsten die Gesamtwahrscheinlichkeit schnell unter 50% sinkt. Zu unterschiedlichen Resultaten gelangen die beiden Theorien vor allem dort, wo nur wenige oder nur eine einzige rechtlich relevante Tatsachenbehauptung umstritten sind. Wenn bereits das Regelbeweismaß bei der überwiegenden Überzeugung liegt, muss das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung noch tiefer liegen, wenn die gesetzgeberische Absicht, mit der Glaubhaftmachung die Durchsetzung des Anspruchs zu erleichtern, nicht ignoriert werden soll. Eine entscheidungstheoretische Analyse des Beweismaßes der Glaubhaftmachung zeigt, dass dieses in vielen Fällen tatsächlich unter der 50% Grenze subjektiver Wahrscheinlichkeit liegt, nämlich dann, wenn die Kosten eines Fehlers 2. Art höher sind als die Kosten eines Fehlers 1. Art. Dies ist beispielsweise bei vorsorglichen Sicherungs-, nicht aber bei vorsorglichen Befriedigungsverfügungen der Fall. Richtigerweise sollte man daher die Glaubhaftmachung als flexibles Beweismaß verstehen, das anders als das Regelbeweismaß von den Fehlerkosten im Einzelfall abhängt. Die empirische Bestimmung des tatsächlich gelebten Regelbeweismaßes zeigt, dass das angeblich geltende hohe Beweismaß der vollen Überzeugung tatsächlich nicht angewendet wird. Fragt man Richter und Gerichtsschreiber direkt, wie hoch die subjektive Wahrscheinlichkeit der anspruchsbegründenden Tatsachenbehauptungen gemäß dem Regelbeweismaß der vollen Überzeugung sein müsse, so erhält man die Antwort, dass die Grenze bei etwa 90% liege. Fragt man sie nach den Fehlerkosten von korrekten und falsch negativen und falsch positiven Urteilen, so liegt die aus den Fehlerkosten abgeleitete Entscheidungsgrenze bei 50%. Benutzt man die ausgedrückte Überzeugung als Prädiktor für die Gutheißung der Klage, so heißen bereits bei einem Überzeugungsgrad von 63% die Hälfte der Gerichtsangehörigen die Klage gut, wobei sich der von ihnen verlangte Überzeugungsgrad nicht von dem der allgemeinen deutschen Bevölkerung unterscheidet. Je höher die individuelle Verlustaversion, desto geringer ist dabei die Wahrscheinlichkeit, dass eine Leistungsklage bei gegebenen Überzeugungsgrad gutgeheißen wird, was die Vermutung stützt, dass die Verlustaversion dazu beiträgt, dass ein Beweismaß der überwiegenden Überzeugung als zu tief empfunden wird.

Sechster Teil

Thesenartige Zusammenfassung 1. Da absolute Gewissheit, dass die rechtlich relevanten Tatsachenbehauptungen wahr sind, für ein Urteil nicht verlangt werden kann, muss man entweder auf die Voraussetzung der Wahrheit oder der absoluten Gewissheit verzichten. Versuche, auf die Wahrheit als Bezugspunkt richterlicher Überzeugung zu verzichten, dürfen als gescheitert bezeichnet werden. Die objektive Wahrscheinlichkeit kann kein Bezugspunkt sein, weil es eine objektive, für alle Beobachter gleiche, Wahrscheinlichkeit eines Einzelfalls nicht geben kann. Die Wahrheit durch eine formelle Wahrheit zu ersetzen, überzeugt nicht, wurde die freie Beweiswürdigung doch eingeführt, um besser zu ermöglichen, dass die dem Urteil zugrunde liegende Sachverhaltsrekonstruktion mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die freie Beweiswürdigung ist das Mittel zur Feststellung der (materiellen) Wahrheit. Ziel der Beweiswürdigung ist daher die Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie und die freie, aber an Denkgesetze und Erfahrungssätze gebundene Überzeugungsbildung ist das Mittel, das der Gesetzgeber statt formaler Beweisregeln gewählt hat, um dieses Ziel näherungsweise zu erreichen. Das Beweismaß bestimmt den Grad der persönlichen Überzeugung, der vorliegen muss, ehe ein Richter eine bestrittene Sachverhaltsrekonstruktion als wahr erachten darf. Abzulehnen ist die Auffassung, das Beweismaß bestimme den Bezugspunkt der richterlichen Überzeugung. Bezugspunkt kann nur die (schlichte) Wahrheit sein. 2. Die freie Beweiswürdigung (»conviction intime«) wurde in Frankreich im Zuge der französischen Revolution im Zusammenhang mit der Einführung der Geschworenengerichte eingeführt. In Deutschland stand man der freien Beweiswürdigung anfänglich skeptisch gegenüber. Erst ein gewandeltes Verständnis der freien Beweiswürdigung als »conviction raisonée« führte zu ihrer Akzeptanz auch dort, wo keine Geschworenen über die Tatfrage urteilten. Nach dem deutschen Verständnis der freien Beweiswürdigung bedeutet frei zwar frei von gesetzlichen Regeln, aber nicht irrational. Ausgedrückt wird die Bindung der richterlichen Überzeugung an die Rationalität heute durch die Formel, dass die Beweiswürdigung nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen darf. 3. Was den Inhalt der Denkgesetze anbelangt, so darf als unstrittig gelten, dass die Gesetze der klassischen (aristotelischen) Logik nicht verletzt werden dürfen. Die Überzeugungsbildung gehorcht aber normativ weiteren Gesetzen, nämlich den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie (Normierung, Sicherheit und Addi-

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Sechster Teil: Thesenartige Zusammenfassung

tivität). Das heißt, wer sicher ist, dass eine Tatsachenbehauptung wahr ist, ist zu 100% überzeugt (Sicherheit); man kann keine Überzeugung von unter null oder über 100% haben (Normierung), und wer zu einem Grad von q überzeugt ist, dass eine von zwei sich gegenseitig ausschließenden Aussagen wahr ist, und zu einem Grad r, dass die andere der beiden Aussagen wahr ist, muss einen Überzeugungsgrad von q + r haben, dass eine der beiden Aussagen wahr ist (Additivität). Wer diese Grundregeln nicht einhält, setzt sich der Gefahr aus, Kombinationen von Wetten zu von ihm als fair erachteten Wett-Quoten zu akzeptieren, die ihm einen sicheren Verlust einbringen, unabhängig davon, wie der Zustand der Welt ist. Der Verlust von Geld an einen imaginären Buchhalter ist dabei nicht der Hauptgrund, dies als irrational zu bezeichnen. Entscheidend ist, dass ein Subjekt, dessen Teilüberzeugungen die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie verletzen, Wetten als fair rechtfertigen würde, die ihm einen sicheren Verlust einbringen. 4. Die Einhaltung der Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie durch die subjektiven Überzeugungen des Subjekts bedeutet, dass das Subjekt seine Überzeugungen im Lichte neuer Information gemäß Bayes’ Regel (respektive Jeffreys Regel bei probabilistischer Information) anpassen muss. Bayes’ Regel ist ein normatives Modell der Überzeugungsbildung, das unmittelbar aus dem Postulat folgt, dass persönliche Überzeugungen die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie nicht verletzen dürfen. Die rationale a posteriori Überzeugung ergibt sich sowohl aus der anfänglichen Überzeugung für die Wahrheit einer Tatsachenbehauptung wie aus dem Likelihood-Quotienten der Beweismittel. Likelihood-Quotient ist das Verhältnis der bedingten Wahrscheinlichkeit des Beweismittels, gegeben, dass die Tatsachenbehauptung wahr ist, geteilt durch die Wahrscheinlichkeit des Beweismittels, gegeben, dass die Tatsachenbehauptung falsch ist, und ist ein Maß für die Beweiskraft. Um einen bestimmten rationalen Überzeugungsgrad (a-posterioriWahrscheinlichkeit) zu erreichen, muss die Beweiskraft eines Beweismittels umso höher sein, je weniger wahrscheinlich die Tatsachenbehauptung anfänglich ist. Die deutsche Praxis zum Anscheinsbeweis reflektiert dies. Die schwedische Beweiswertmethode, die ein anderes Verständnis von Beweiswert hat, ist kein Modell der Überzeugungsbildung, sondern der Beweisbarkeit. 5. Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie macht in ihrer Reinform keine Vorschriften dazu, wie das Subjekt zu seinen Teilüberzeugungen gelangt, sie besagt nur, dass das Subjekt gewisse Überzeugungen nicht gleichzeitig halten darf, ohne inkohärent zu sein. Der Wert der Kohärenz im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie wird eigentlich erst in komplexen Fällen offenbar. Dort erlaubt sie zu prüfen, ob die Teilüberzeugungen des Subjekts dazu führen, dass es, bei Vermeidung von Inkohärenz, gewisse andere Teilüberzeugungen halten muss, die erkennbar falsch sind. Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie erlaubt so eine Kontrolle, ob das Überzeugungssystem in sich stimmig ist. 6. In komplexen Fällen ist diese Kontrolle der inneren Kohärenz ohne Hilfsmittel nicht möglich. Ein solches Hilfsmittel sind Bayes’ Netze, welche die

Sechster Teil: Thesenartige Zusammenfassung

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Modellierung der direkten Abhängigkeiten zwischen Variablen durch eine grafische Notation erlauben und die Kohärenz der durch das Netz modellierten Teilüberzeugungen im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie erzwingen. Ihre einfache Semantik ermöglicht es auch dem mathematischen Laien, sein Wissen über die Welt in einer kohärenten Weise zu erfassen. Durch die Implementierung in Computerprogrammen mit grafischer Benutzeroberfläche können sie einfach geändert und dem wachsenden Wissen angepasst werden. Bayes’ Netze erlauben zu testen, wie sich verschiedene Teilüberzeugungen auf die subjektive Wahrscheinlichkeit der interessierenden Hypothese(n) auswirken. Ohne dass dem Entscheider die Teilüberzeugungen von außen vorgegeben würden, erlauben sie, offensichtlich unsinnige Annahmen zu erkennen. 7. Die Konstruktion eines Bayes’ Netzes zwingt zum Nachdenken über die Quellen von Unsicherheit, die in einer Menge von Beweismitteln stecken und vermögen diese aufzudecken. Sie zwingen dazu, implizite Annahmen explizit zu machen. Dadurch fördern sie die Transparenz der Beweiswürdigung und ermöglichen erst den inter-subjektiven Dialog. Wer sagt, dass er die für die Parametrisierung eines Bayes’ Netzes notwendigen (bedingten) Wahrscheinlichkeiten unmöglich beziffern kann, sagt im Grunde genommen, dass er seine Überzeugungsbildung nicht offen legen kann. Dazu ist er als Richter in der Schweiz und in Deutschland aber gehalten. 8. Der atomistischen, zergliedernden Betrachtungsweise, die durch ein Bayes’ Netz erst ermöglicht wird, kann die holistische Gesamtschau, die »intuitive« Überzeugungsbildung, gegenübergestellt werden. Assoziative Intuition beruht auf implizitem Wissen und ist lernbar. Gute assoziative Intuitionen setzen eine Lernumgebung voraus, die aussagekräftige, zutreffende, und möglichst zeitnahe Rückmeldungen über die Konsequenzen einer Entscheidung zur Verfügung stellt. Richter erhalten bei ihrer Entscheidung über die Wahrheit von Tatsachenbehauptungen keine relevanten Rückmeldungen in dem Sinne, dass sie erfahren, ob ihre Sachverhaltsrekonstruktion mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Die Annahme, dass Richter sich auf die gleichen Intuitionen verlassen wie andere Menschen, wenn sie falsche von wahren Behauptungen zu scheiden versuchen, ist daher zulässig. 9. Theorien der konstruktiven Intuition gehen davon aus, dass der Mensch automatisch, unbewusst und sehr schnell versucht, eine kohärente mentale Repräsentation der Welt zu schaffen. In einem iterativen Prozess der Kohärenzbildung wird aus einer ambivalenten, widersprüchlichen Menge von Beweismitteln ein kohärentes Gesamtbild geschaffen, indem Indizien, welche die nachfolgende Entscheidung stützen, auf-, und widersprüchliche Indizien abgewertet werden (so genannte Kohärenzverschiebungen). Das Resultat ist, dass ein unklarer Sachverhalt zunehmend klarer erscheint und der Urteilende am Schluss des Überzeugungsbildungsvorgangs überzeugt ist, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

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Sechster Teil: Thesenartige Zusammenfassung

10. Eine atomistische Beweiswürdigung in dem Sinne, dass die Anfangswahrscheinlichkeit für die Hypothese und die Beweiskraft der einzelnen Beweismittel gemäß ihren Likelihood-Quotienten beurteilt werden und die Gesamtüberzeugung durch Integration der Teilüberzeugungen nach Bayes’ Regel erfolgt, führt dazu, dass diese Kohärenzverschiebungen weitgehend vermieden werden. Die dem Sachverhalt innewohnende Ambivalenz bleibt erhalten, was sich in einem moderaten Überzeugungsgrad für die Wahrheit der Hypothese niederschlägt. Das falsche Gefühl der Sicherheit, dass durch die Prozesse der konstruktiven Intuition entstehen kann, wird dadurch vermieden. 11. Normative Kohärenztheorien der Tatsachenfeststellung vor Gericht sind unter anderem aus diesem Grund abzulehnen. Normative Kohärenztheorien postulieren, dass der Schluss auf die Wahrheit der Sachverhaltsrekonstruktion gerechtfertigt ist, wenn die (Re-)Konstruktion des Sachverhalts und vorläufig als wahr akzeptierte Aussagen, die sich auf unmittelbare Beobachtung oder Erfahrungswissen stützen können, kohärent sind. Der gleiche Sachverhalt kann sehr unterschiedlich, aber immer gleich kohärent, wahrgenommen werden. Während eine im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie kohärente Überzeugungsbildung das vorhandene epistemische Defizit deutlich macht, verbergen es kognitive Kohärenztheorien. 12. Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie liefert die Denkgesetze der rationalen Überzeugungsbildung. Sie sagt aber in ihrer Reinform nichts zu den Inhalten der Überzeugungen. Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie wird daher meist durch das »Frequency Principle« oder »Principle of Direct Probability« ergänzt: Wo ein bestimmtes Merkmal in einer homogenen Referenzklasse mit einer bestimmten relativen Häufigkeit vorkommt, muss die persönliche Überzeugung, dass ein zufällig ausgewähltes Mitglied dieser Referenzklasse das Merkmal aufweist, seiner relativen Häufigkeit entsprechen. Die völlige Freiheit, beliebige Überzeugungen zu halten, wird dadurch eingeschränkt. 13. Die Gültigkeit dieses Schlusses, des »Bayes’schen statistischen Syllogismus«, hängt aber von der (starken) Annahme ab, dass die Referenzklasse in Bezug auf das interessierende Merkmal homogen ist. Tatsächlich trifft dies oft nicht zu. Gleichzeitig weiß man oft nichts über die tatsächliche Verteilung des Merkmals und geht für die Zwecke des Schließens von der Homogenität der Referenzklasse aus. Dies ist gerechtfertigt, weil die Alternative, der vollständige Verzicht auf den Bezug auf die Referenzklasse, einem Verzicht auf die beste verfügbare Information gleichkommt. 14. Mit der Ergänzung durch das »Frequency Principle« handelt sich die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie auch das Referenzklassenproblem des frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs ein. Grundsätzlich lässt sich jeder Einzelfall in eine unendliche Vielzahl von Referenzklassen einteilen. Praktisch stellt sich das Problem, dass zur relativen Häufigkeit des interessierenden Merkmals in vielen Referenzklassen keine Informationen verfügbar sind. Eine theoretisch

Sechster Teil: Thesenartige Zusammenfassung

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einzig richtige Lösung des Problems gibt es nicht. Deswegen formale Modelle der Beweiswürdigung abzulehnen, überzeugt dennoch nicht. Das Referenzklassenproblem, eines der schwierigsten Probleme induktiven Schließens, wird durch formale Modelle nur offen gelegt. Es plagt jeden Schluss von einer Generalisierung auf den Einzelfall, und ohne solche Schlüsse ist Beweiswürdigung nicht denkbar. 15. Was das »Frequency Principle« für den Statistiker ist, ist die Bindung an die Erfahrungssätze für den Richter. Die Erfahrungssätze übernehmen die Aufgabe der relativen Häufigkeit, die richterlichen Überzeugungen an eine empirische Basis zu binden. Weil in einem Gerichtsverfahren zahlreiche empirische Annahmen getroffen werden müssen, zu denen keine statistischen Daten vorliegen, können Quellen von Erfahrungssätzen auch die eigene Erfahrung des Richters, die Erfahrung Dritter oder Alltagswissen sein. 16. Erfahrungssätze, die nur auf Alltagswissen beruhen, können öfter falsch sein. Wo ihnen eine gesteigerte Beweiskraft zugemessen wird, die genügt, eine Tatsachenbehauptung ohne weitere konkrete Anhaltspunkte für wahr zu erachten, geht von ihnen eine besondere Gefahr für die Korrespondenz der Sachverhaltsrekonstruktion mit der Wirklichkeit aus. Es rechtfertigt sich daher, sie im Rechtsmittelverfahren einer vertieften Prüfung zu unterziehen. Dieser Ansatz vermag die Rechtsprechung zur Revisibilität der Erfahrungssätze, wie sie tatsächlich gelebt wird, sowohl zu erklären als auch zu rechtfertigen. 17. In der Schweiz gewinnt unter der schweizerischen Zivilprozessordnung die Abgrenzung der vom Bundesgericht frei überprüfbaren Erfahrungssätze von den nicht überprüfbaren Erfahrungssätzen eine ganz neue praktische Bedeutung. Die Beweiswürdigung ist jetzt erstmals bundesrechtlich geregelt. Das Bundesgericht ist wie das Revisionsgericht in Deutschland grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz gebunden, aber die Anwendung von Bundesrecht wird vom Bundesgericht frei geprüft. Eine Beweiswürdigung, welche die von Art. 157 ZPO-CH gesteckten Grenzen überschreitet, ist eine Verletzung von Bundesrecht. Die Beweiswürdigung ist nicht erst dann rechtswidrig, wenn sie willkürlich ist, wie das Bundesgericht vertreten hat, als die Beweiswürdigung zur Domäne des kantonalen Rechts gehörte, dessen Verletzung es nicht überprüfen konnte, solange nicht auch eine Verletzung verfassungsmäßiger Rechte des Bundes vorlag, zu denen das Willkürverbot gehört. 18. Die formale Entscheidungstheorie zeigt, dass bei einer Entscheidung unter Unsicherheit neben der Überzeugung, dass ein Zustand der Welt vorliegt, auch die Folgen der Entscheidung zu berücksichtigen sind, die vom Zustand der Welt abhängen. Es ist rational, diejenige Entscheidung zu treffen, welche die erwarteten Kosten minimiert. Das Verhältnis der Fehlerkosten der verschiedenen möglichen Ergebnisse einer Entscheidung bestimmt die Entscheidungsgrenze. Die normative Entscheidungstheorie bietet eine elegante Erklärung für das Beweismaß der »preponderance of the evidence«, das in den Ländern des Common Law Rechts-

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Sechster Teil: Thesenartige Zusammenfassung

kreises in Zivilsachen gilt. Weil es nach überwiegender Meinung keinen Grund gibt, die Kosten, eine zivilrechtliche Klage zu Unrecht abzuweisen, geringer zu gewichten als die Kosten, die Klage zu Unrecht gutzuheißen, minimiert eine Entscheidungsgrenze von gerade über 50% die erwarteten Fehlerkosten. 19. Anders als in den Ländern des Common Law Rechtskreises gilt sowohl in der Schweiz wie in Deutschland in Zivilsachen grundsätzlich das Regelbeweismaß der »vollen Überzeugung«, das erreicht ist, wenn der Richter mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad der Gewissheit vom Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen überzeugt ist. Soweit sich dieser Überzeugungsgrad in einem numerischen Wert ausdrücken lässt, muss er 90% übersteigen. 20. Die Kosten eines Fehlurteils können und müssen durch die Ziele des Verfahrens bestimmt werden. Sieht man die Ziele des Zivilprozesses in der Durchsetzung des materiellen Rechts und der Beendigung von Konflikten zwischen privaten Parteien, folgt unmittelbar, dass diese Ziele am besten erreicht werden, wenn das Beweismaß die überwiegende Überzeugung ist, dass die anspruchsbegründenden Tatsachenbehauptungen wahr sind. Das Ziel der materiellen Rechtsverwirklichung wird durch ein Urteil, das einen Anspruch nicht schützt, der tatsächlich gegeben ist, ebenso verfehlt wie durch ein Urteil, das einen Anspruch durchsetzt, der tatsächlich nicht gegeben ist. Das Konfliktbeendigungsziel anderseits wird durch korrekte wie falsche Urteile im gleichen Umfang verwirklicht. Die Fehlerkosten sind daher identisch, und die Entscheidungsgrenze muss bei einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von gerade über 50% liegen, oder eben bei einer überwiegenden Überzeugung. Auf die persönliche Situation der Parteien kommt es nicht an. 21. Diese Auffassung macht weder die Beweislastregeln überflüssig – Fälle, die nach richterlicher Überzeugung beim besten Willen nicht zu entscheiden sind, wird es auch unter der Lehre der überwiegenden Überzeugung geben – noch ist sie mit dem Wortlaut von § 286 ZPO-DE respektive Art. 157 ZPO-CH unvereinbar. Das Beharren der herrschenden Lehre und Rechtsprechung auf einem höheren Regelbeweismaß lässt sich psychologisch durch Verlustaversion und Status quo Bias erklären. Die Intuition ist aber keine ausreichende normative Basis für ein Regelbeweismaß der vollen Überzeugung. 22. Der Unterschied zwischen der Lehre von der überwiegenden Überzeugung und der herrschenden Lehre von der vollen Überzeugung ist weniger groß als gemeinhin angenommen, wenn man sich bewusst macht, worauf sich die Überzeugung bezieht. Für die entscheidungstheoretische Rechtfertigung des Beweismaßes ist einzig maßgeblich, ob die Gesamtheit der anspruchsbegründenden Tatsachen eher wahr als falsch ist. Die herrschende Lehre stellt auf die einzelnen Tatbestandsmerkmale ab. Wo mehrere unabhängige Tatbestandsmerkmale gegeben sein müssen, ist ersteres viel schwieriger zu erreichen. Auch nach der Lehre der überwiegenden Überzeugung ist es bei mehreren unabhängigen Tatbestandsmerkmalen notwendig, dass einzelne Merkmale mit erheblich mehr

Sechster Teil: Thesenartige Zusammenfassung

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als 50%-iger subjektiver Wahrscheinlichkeit vorliegen, ansonsten die Gesamtwahrscheinlichkeit schnell unter 50% sinkt. 23. Wenn bereits das Regelbeweismaß bei der überwiegenden Überzeugung liegt, muss das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung noch tiefer liegen, wenn die gesetzgeberische Absicht, mit der Glaubhaftmachung die Durchsetzung des Anspruchs zu erleichtern, nicht ignoriert werden soll. Eine entscheidungstheoretische Analyse des Beweismaßes der Glaubhaftmachung zeigt, dass dieses in vielen Fällen tatsächlich unter der 50% Grenze subjektiver Wahrscheinlichkeit liegt, nämlich dann, wenn die Kosten eines Fehlers 2. Art höher sind als die Kosten eines Fehlers 1. Art. Dies ist beispielsweise bei vorsorglichen Sicherungs-, nicht aber bei vorsorglichen Befriedigungsverfügungen der Fall. Richtigerweise sollte man daher die Glaubhaftmachung als flexibles Beweismaß, das anders als das Regelbeweismaß von den Fehlerkosten im Einzelfall abhängt, verstehen. Diese Auffassung lässt sich insbesondere deshalb mit dem geltenden Recht vereinbaren, weil der Gesetzgeber es bewusst unterlassen hat, den Begriff der Glaubhaftmachung angesichts der historischen Kontroverse um seinen Inhalt zu definieren. 24. Die empirische Bestimmung des tatsächlich gelebten Regelbeweismaßes zeigt, dass das angeblich geltende hohe Beweismaß der vollen Überzeugung tatsächlich nicht angewendet wird. Fragt man Richter und Gerichtsschreiber direkt, wie hoch die subjektive Wahrscheinlichkeit der anspruchsbegründenden Tatsachenbehauptungen gemäß dem Regelbeweismaß der vollen Überzeugung sein müsse, so erhält man die Antwort, dass die Grenze bei etwa 90% liege. Fragt man sie nach den Fehlerkosten von korrekten und falsch negativen und falsch positiven Urteilen, so liegt die aus den Fehlerkosten abgeleitete Entscheidungsgrenze bei 50%. Benutzt man die ausgedrückte Überzeugung als Prädiktor für die Gutheißung der Klage, so heißen bereits bei einem Überzeugungsgrad von 63% die Hälfte der Gerichtsangehörigen die Klage gut, wobei sich der von ihnen verlangte Überzeugungsgrad nicht von dem der allgemeinen deutschen Bevölkerung unterscheidet und nahe bei der mit einer vergleichbaren Methode in Israel, das in Zivilsachen das englische Beweismaß der »balance of probabilities« kennt, gemessenen Entscheidungsgrenze von 70% liegt. Je höher die individuelle Verlustaversion, desto geringer ist dabei die Wahrscheinlichkeit, dass eine Leistungsklage bei gegebenen Überzeugungsgrad gutgeheißen wird, was die Vermutung stützt, dass die Verlustaversion dazu beiträgt, dass ein Beweismaß der überwiegenden Überzeugung als zu tief empfunden wird.

Anhang

I. Dutch Book Argumente für Additivität und Konditionalisierung Die Mathematik der Dutch Book Argumente ist relativ einfach. Die durch die Wette zu erzielenden Gewinne und Verluste lassen sich am Übersichtlichsten in einer Auszahlungsmatrix (payoff matrix) darstellen. Es sei der Gesamteinsatz T (für »Topf«) und die Wettquote p. Das Subjekt S setzt Fr. pT auf A (z. B. »0,25 · Fr. 4 darauf, dass es morgen regnet«, oder anders ausgedrückt, Fr. 1 auf Regen). Der Mitspieler setzt Fr. T(1-p) auf Regen (z. B. »Fr. 4 · (1–0,25) darauf, dass es morgen nicht regnet«, oder anders ausgedrückt, Fr. 3 auf kein Regen). Die Auszahlungsmatrix für diese Wette ergibt sich aus Tabelle 31, wobei die linke Spalte die möglichen Ausgänge auflistet (A = die Aussage ist wahr, ¬A = die Aussage ist falsch). In eckigen Klammern sind, zum besseren Verständnis, die Werte in Franken gemäß dem obigen Beispiel eingefügt. Nehmen Sie weiter an, das Subjekt S sei gezwungen, seinem Wettpartner die Wahl zwischen zwei Wetten A und ¬A anzubieten: Bei Wette (A) gewinnt S (1 – p)Fr. 10, wenn A wahr ist, und bei Wette (¬A) gewinnt S pFr. 10, wenn A nicht wahr ist. Je stärker die S vorliegenden Informationen für A sprechen, desto größer sollte der Anteil am Gesamteinsatz sein, den S zu übernehmen bereit ist. Je weniger das Subjekt S A für wahr hält, desto größer muss der Anteil seines Wettgegners am Gesamteinsatz sein, damit es die Wette akzeptiert. Da S nicht weiß, welche Wette sein Mitspieler wählen wird, muss S die Wettquote p so wählen, dass es ihm egal ist, ob der Wettpartner Wette A oder Wette ¬A wählt. Die faire Wettquote auf A entspricht daher der inversen fairen Wettquote auf ¬A. Diese faire Wettquote entspricht dem Überzeugungsgrad von S für die Wahrheit von A. Tabelle 31: Auszahlungsmatrix für einfache Wette.

A ¬A

Auszahlung für Wette auf A

Auszahlung für Wette gegen A

Fr. (1 – p)T Fr. –pT

Fr. – (1 – p)T Fr. pT

[Fr. 3] [–Fr. 1]

[–Fr. 3] [Fr. 1]

608

Anhang

Im Folgenden wird mittels eines Dutch Book Arguments gezeigt, weshalb die persönlichen Überzeugungen dem Axiom der Additivität gehorchen müssen. Gemäß der Additivität muss die Wahrscheinlichkeit zweier inkompatibler Aussagen A und B gleich der Wahrscheinlichkeit von A oder B sein, d. h. Pr(A∨B) = Pr(A) + Pr(B). Entsprechend muss die Wettquote auf A∨B gleich der Wettquote auf A und der Wettquote auf B sein. Ein Subjekt S bietet folgende Wettquoten an: Für A: p. Für B: q. Für A∨B: r. Ein Buchmacher bietet folgende drei Wetten zu den vom Subjekt S angebotenen Wettquoten an (immer verstanden als Anteil am Gesamteinsatz T; T wird der Lesbarkeit halber im Folgenden weggelassen): Wette (i):

Einsatz von Fr. p auf A mit einem Gewinn von Fr. (1 – p) wenn A wahr ist. Das Subjekt verliert Fr. p, wenn A falsch ist. Wette (ii): Einsatz von Fr. q auf B mit einem Gewinn von Fr. (1 – q) wenn B wahr ist. Das Subjekt verliert Fr. q, wenn B falsch ist. Wette (iii): Einsatz von Fr. (1 – r) gegen A∨B, um Fr. r zu gewinnen, wenn A∨B falsch ist, d. h. wenn weder A noch B zutrifft. Das Subjekt verliert Fr. (1 – r), wenn eine der beiden Aussagen wahr ist.1 Die Auszahlungsmatrix für das Subjekt S ergibt sich aus Tabelle 32 (unter Weglassung des Währungssymbols). Angenommen, die vom Subjekt S angebotenen Wettquoten verletzen die Additivität, weil r < p + q, dann erfährt Subjekt S einen Verlust unabhängig davon, ob A, B oder weder A noch B sich als wahr herausstellen. Ist umgekehrt r > p + q, so verlangt der Buchmacher von Subjekt S einen Einsatz von 1 – p gegen A, 1 – q gegen B und r auf A∨ B, und sein sicherer Gewinn ist wiederum r – (p + q). Nur wenn die Wettquoten additiv sind, ist kein Dutch Book möglich. Tabelle 32: Auszahlungsmatrix für Additivität.

A&¬B ¬A&B ¬A&¬B

Auszahlung der Wette (i)

Auszahlung der Wette (ii)

Auszahlung der Wette (iii)

Gewinn insgesamt*

1–p –p –p

–q 1–q –q

– (1 – r) – (1 – r) r

r–p–q r–p–q r–p–q

* Hinweis

für Juristen: – (1 – r) = – 1 + r; zwei Mal Minus ergibt Plus. Entsprechend ist das Total der Auszahlungen bei der ersten Wette 1 – p – q – 1 + r, oder eben r – p – q. 1

Beide können nicht gleichzeitig wahr sein, da die Aussagen inkompatibel sind.

I. Dutch Book Argumente für Additivität und Konditionalisierung

609

Ein synchrones Dutch Book Argument für Konditionalisierung wurde erstmals bewiesen durch de Finetti.2 Im Folgenden wird das Argument in einer für mathematische Laien möglichst einfachen Weise gezeigt. Es sei W das derzeitige Wissen des Subjekts, die subjektive Wahrscheinlichkeit für A daher Pralt (A|W). Wenn das Wissen W um die neue Information B erweitert wird, wird Pralt (A|W) zu Prneu (A|W). Prneu (A|W) entspricht Pralt (A|W&B), denn das (alte) Wissen sich um B erweitert. Aus den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie folgt (siehe S. 138 f. für eine Herleitung) 





Prneu A|W = Pralt A|W & B =

Pralt A & B|W . Pralt (W & B)

Im Folgenden wird, wie bei den meisten dieser Darstellungen, der Übersichtlichkeit halber W nicht geschrieben. Entsprechend ist zu zeigen, dass Pralt (A|B)= Pralt (A&B)/Pralt (B). D. h. die Wettquote auf A, unter der Voraussetzung von B, muss gleich der Wettquote auf A&B geteilt durch die Wettquote auf B sein. Dazu sind als erster Schritt bedingte Wetten notwendig. Eine Wette auf A unter der Bedingung von B wird abgesagt, wenn B falsch ist, d. h. niemand gewinnt oder verliert etwas, die Einsätze werden zurückerstattet. Ein Subjekt S bietet folgende Wettquoten an: Auf A&B: q. Auf B: r > 0. Auf A|B: p. Der Buchmacher bietet die folgenden drei Wetten zu den vom Subjekt angebotenen Wettquoten an: Wette (i):

Einsatz von Fr. qr auf A&B [für einen Gewinn von Fr. (1 – q)r]. Der Topf ist Fr. r. Wette (ii): Einsatz von Fr. (1 – r)q gegen B [für einen Gewinn von Fr. rq]. Der Topf ist Fr. q. Wette (iii): Einsatz von Fr. (1 – p)r gegen A|B [für einen Gewinn von Fr. pr]. Der Topf ist Fr. r, wie bei Wette (i). Die Auszahlungsmatrix für das Subjekt sieht wie folgt aus:

2

de Finetti, Annales de l’Institut Henri Poincaré 1937, 1–68, 14.

610

Anhang

Tabelle 33: Auszahlungsmatrix für Konditionalisierung.

A&B ¬A&B ¬B

Auszahlung der Wette (i)

Auszahlung der Wette (ii)

Auszahlung der Wette (iii)

Gewinn insgesamt

(1 – q)r – qr – qr

– (1 – r)q – (1 – r)q qr

– (1 – p)r pr 0

pr – q pr – q 0

Falls p < q/r erleidet das Subjekt einen sicheren Verlust. Ist p > q/r, dann bietet der Buchmacher dem Subjekt S die Gegenseite der gleichen Wetten an (d. h. Wette (i) gegen A&B usw.), so dass die Auszahlungen in der obigen Tabelle seine Auszahlungen sind, und er macht einen sicheren Gewinn. Die einzigen Wettquoten, die dem Subjekte keinen sicheren Verlust einträgt, sind p = q/r, oder eben die Wettquote auf A&B geteilt durch die Wettquote auf B.

II. Carnaps induktive Logik an einem einfachen Beispiel erläutert

611

II. Carnaps induktive Logik an einem einfachen Beispiel erläutert Die Carnap’sche induktive Logik soll anhand eines Beispiels einer extrem einfachen Sprache, die eine extrem einfache Welt beschreibt, erläutert werden.3 Die Sprache verfügt über die drei Begriffe »a«, »b« und »c«, die für Individuen stehen, und ein beschreibendes Prädikat »F«, das eine Eigenschaft beschreibt, welche die Individuen aufweisen oder nicht. Die Sprache verfügt weiter über die üblichen logischen Operatoren für Konjunktion »&«, Disjunktion »∨« und Negation »¬«. Die durch diese Sprache vollständig beschreibbare Welt kann zum Beispiel aus drei Kugeln bestehen, die entweder rot sind oder nicht. »Fa« besagt, dass Kugel a rot ist, »¬Fa«, dass Kugel a nicht rot ist, usw. Es gibt acht mögliche Zustände dieser Welt, die sich durch die Sprache vollständig beschreiben lassen. Beispielsweise ist die Beschreibung des Zustands der Welt, in dem alle Kugeln rot sind, die Konjunktion der einfachen Aussagen Fa, Fb und Fc. Entsprechend sind folgende Zustandsbeschreibungen (state descriptions) möglich: 1. Fa & Fb & Fc 2. ¬Fa & Fb & Fc 3. Fa & ¬Fb & Fc 4. Fa & Fb & ¬Fc

5. ¬Fa & ¬Fb & Fc 6. ¬Fa & Fb & ¬Fc 7. Fa & ¬Fb & ¬Fc 8. ¬Fa & ¬Fb & ¬Fc

Jede Aussage, die sich in dieser Sprache ausdrücken lässt, lässt sich durch Zustandsbeschreibungen definieren. Beispielsweise ist die Aussage »wenigstens ein Individuum hat die Eigenschaft F« die Disjunktion der Zustandsbeschreibungen 1–7, die Aussage »Individuum a hat die Eigenschaft F« die Disjunktion der Zustandsbeschreibungen 1, 3, 4 und 7. Jede Aussage kann als Hypothese dienen, und jede weitere Aussage als Evidenz. Beispielsweise sei die Hypothese die Aussage, dass alle Kugeln rot sind, und die Evidenz, dass Kugel a rot ist. Gefragt ist nach der Bestätigung, welche die Aussage, dass alle drei Kugeln rot sind, erfährt, wenn man weiß, dass die Kugel a rot ist. Man ist versucht, den Bestätigungsgrad, den die Aussage »alle Kugeln sind rot« durch die Aussage »Kugel a ist rot« erfährt, zu definieren als das Verhältnis der Zustandsbeschreibungen, in denen die Hypothese zutrifft (1), zu den Zustandsbeschreibungen, in denen die Evidenz zutrifft (1, 3, 4, 7). Entsprechend wäre in diesem Fall der Bestätigungsgrad der Hypothese, oder eben ihre Wahrscheinlichkeit, gegeben dass die Kugel a rot ist, 1/4. Jeder Zustandsbeschreibung wird das gleiche Gewicht zugeschrieben, was man als Anwendung des Indifferenzprinzips auf die möglichen Zustände der Welt verstehen kann.4

3 4

Das Beispiel stammt aus Salmon, Scientific Inference, 70 ff. Salmon, Scientific Inference, 71.

612

Anhang

Carnap definiert die Bestätigungsfunktion (confirmation function) c in der üblichen Weise als Konditionalisierung, wobei m+ das Gewicht (measure) bezeichnet, das der Hypothese (h), respektive der Evidenz (e), zukommt:5 

c e|h =

m+ (e & h) . m+ (e)

Er zeigt nun, dass die intuitiv plausible Annahme, jeder Zustandsbeschreibung das gleiche Gewicht zuzuschreiben, dazu führt, dass ein Lernen aus Erfahrung nicht möglich ist.6 Angenommen, die Hypothese sei die Aussage »Fc«, dass die Kugel c rot ist. Dies trifft in vier Zustandsbeschreibungen zu (1, 2, 3, 5) und in den vier anderen Zustandsbeschreibungen nicht. Die Wahrscheinlichkeit für Fc, bevor irgendwelche weitere Information berücksichtigt wurde, ist demnach ½, wenn jeder Zustandsbeschreibung das gleiche Gewicht zugemessen wird. Wenn jetzt festgestellt wird, dass die Kugel a rot ist (e), so trifft dies in den vier Zustandsbeschreibungen 1, 3, 4 und 7 zu, während die Hypothese und die Evidenz zusammen (e&h) in den zwei Zustandsbeschreibungen 1 und 3 zutreffen. Das Verhältnis von m+ (e&h) zu m+ (e) bleibt demnach ½. Dies ist eine Folge der Annahme der Unabhängigkeit, die der Gleichwahrscheinlichkeit der Zustandsbeschreibungen zugrunde liegt.7 Wenn eine Aussage – z. B. eben, dass die Kugel c rot ist – unabhängig ist von einer anderen Aussage – z. B., dass die Kugel a rot ist – ist sie auch irrelevant für die Bestätigung dieser Aussage. Wenn man weiß, dass eine faire Münze – bei welcher der Ausgang eines Wurfes definitionsgemäß keinen Einfluss auf den Ausgang des nächsten Wurfs hat – beim ersten Wurf auf Kopf gefallen ist, ändert dies nichts an der Wahrscheinlichkeit, dass sie beim dritten Wurf auf Kopf fällt. Damit eine Aussage eine andere Aussage bestätigen kann, muss eine Relevanzbeziehung zwischen den Aussagen bestehen. Diese schafft Carnap durch eine andere Methode der Gewichtung der Zustandsbeschreibungen, die er m* nennt.8 Carnap weist darauf hin, dass die einzigen relevanten Unterschiede zwischen Individuen solche sind, die eine Eigenschaft der Individuen betreffen, nicht nur die Bezeichnung der Individuen.9 Die Zustandsbeschreibungen 2, 3 und 4 sind identisch in dem Sinne, dass ein Individuum die Eigenschaft F nicht aufweist, während zwei Individuen die Eigenschaft F aufweisen. Diese Zustandsbeschreibungen unterscheiden sich nur durch die Bezeichnung der Individuen, die die Eigenschaft F aufweisen, respektive nicht aufweisen. Carnap bezeichnet Zustandsbeschreibungen, die bis auf die Bezeichnungen der Individuen identisch sind, als isomorph; sie weisen die gleiche Struktur auf.10 Er schlägt vor, alle iso5

Carnap, Logical foundations of probability, 295. Carnap, Logical foundations of probability, 565. 7 Galavotti, Philosophical introduction to probability, 173. 8 Carnap, Logical foundations of probability, 563 f. 9 Salmon, Scientific Inference, 72. 10 Carnap, Logical foundations of probability, 109. 6

II. Carnaps induktive Logik an einem einfachen Beispiel erläutert

613

morphen Zustandsbeschreibungen zu Klassen zusammenzufassen; dies ist die Strukturbeschreibung (structure description) der Welt.11 Im obigen Beispiel weisen die Zustandsbeschreibungen 2, 3 und 4 alle die gleiche Strukturbeschreibung auf, nämlich (∃2x)Fx & (∃1x)¬Fx (der Existenzquantor ∃ kann gelesen werden als »es gibt mindestens«). Jeder Strukturbeschreibung wird gleiches Gewicht zugemessen, und jeder Zustandsbeschreibung den gleichen Anteil am Gewicht der Strukturbeschreibung, der sie angehört. Die einfache Welt der drei Kugeln, die entweder rot sind oder nicht, kann demgemäß wie folgt beschrieben werden: Zustandsbeschreibung 1. Fa & Fb & Fc

Ge- Strukturwicht beschreibung 1/4 } (x)Fx

Ge- Struktur in Worten wicht 1/4 Alle Kugeln sind rot.

2. ¬Fa & Fb & Fc 3. Fa & ¬Fb & Fc 4. Fa & Fb & ¬Fc

1/12  1/12 (∃2x)Fx & (∃1x)¬Fx 1/4  1/12

5. ¬Fa & ¬Fb & Fc 6. ¬Fa & Fb & ¬Fc 7. Fa & ¬Fb & ¬Fc

1/12  1/12 (∃1x)Fx & (∃2x)¬Fx 1/4  1/12



Zwei Kugeln sind rot.



8. ¬Fa & ¬Fb & ¬Fc 1/4 } (x) ¬Fx

1/4

Eine Kugel ist rot. Keine Kugel ist rot.

Gewichtet man Hypothese und Evidenz nun gemäß der Methode m*, liegt eine Relevanzbeziehung zwischen den Aussagen vor. Hypothese sei wiederum die Aussage Fc. Diese hat auch gemäß der Methode m* eine a-priori-Wahrscheinlichkeit von ½: Fc trifft zu in Zustandsbeschreibung 1 (Gewicht 1/4) und Zustandsbeschreibungen 3, 4 und 7, Gewicht je 1/12. Evidenz Fa tritt in den Zustandsbeschreibungen 1, 3, 4 und 7 auf, deren addiertes Gewicht ½ beträgt. Fa tritt zusammen mit Fc in Zustandsbeschreibungen 1 und 3 auf, deren addiertes Gewicht 1/4 + 1/12 = 1/3 ist. Die Bestätigungsfunktion m*(Fa&Fc)/m*(Fa) liefert eine Wahrscheinlichkeit für Fc, nachdem Fa bekannt ist, von 2/3. Die Information, oder Evidenz, Fa stützt demnach die Hypothese Fc. Beobachtet man umgekehrt, dass ¬Fa, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit der Hypothese Fc auf 1/3.12 Die Evidenz ist relevant für die Hypothese, Lernen aus Erfahrung ist mit der Gewichtungsmethode m* möglich. Anzumerken ist, dass Carnap in seinem späteren Werk die Verteidigung von c* als einziger Bestätigungsfunktion aufgegeben hat;13 nach eigenen Aussagen hat er sich von der logischen Interpretation weg und hin zur subjektiven Interpretation bewegt;14 d. h. von einer objektiven zu einer normativen Interpretation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs. 11

Carnap, Logical foundations of probability, 114 ff. ¬Fa tritt zusammen mit Fc in den Zustandsbeschreibungen 2 und 5 auf, die ein addiertes Gewicht von 1/6 haben. (1/6)/(1/2)=1/3. 13 Jeffrey, in: Carnap/Jeffrey (Hrsg.), Studies in inductive logic and probability, 1–2, 1. 14 Carnap, in: Carnap/Jeffrey (Hrsg.), Studies in inductive logic and probability, 7–156, 112; siehe aber Galavotti, Philosophical introduction to probability, 175 f. 12

614

Anhang

III. Fagans Nomogramm Um bei gegebener Anfangswahrscheinlichkeit und Likelihood-Quotient die Endwahrscheinlichkeit ablesen zu können, ist eine gerade Linie durch die entsprechenden Punkte auf der Skala zu ziehen (im eingezeichneten Beispiel eine Anfangswahrscheinlichkeit von 1% und ein Likelihood-Quotient von 100, resultierend in einer Endwahrscheinlichkeit von etwas über 50%).

IV. Bedingte Wahrscheinlichkeitstabellen für das Bayes’ Netz des »Hans H. Falles« 615

IV. Bedingte Wahrscheinlichkeitstabellen für das Bayes’ Netz des »Hans H. Falles«

Abbildung 61: Ausschließlich für Hans H. günstige Likelihoods.

Abbildung 62: Ausschließlich für Hans H. ungünstige Likelihoods.

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Anhang

V. Resultate Experiment »Hans H.« Tabelle 34: Durchschnittliche bedingte Wahrscheinlichkeiten (Standardabweichung) (zweiseitiger t-Test; die Resultate sind robust gegenüber der Verwendung eines Wilcoxon Rangsummentests).

Verurteiler Freisprecher Differenz

Verurteiler Freisprecher Differenz

Verurteiler Freisprecher Differenz

Pr(bw |hw ) Pr(bw |hf ) Pr(tw |ow ) Pr(tw |of )

Pr(gw |ow ) Pr(gw |of ) Pr(vw |gw ) Pr(vw |gf )

74.7 (25.5) 63.7 (28.2) 11.0**

78.6 (22.1) 77.1 (22.9) 1.5

41.8 (28.8) 40.5 (28.4) 1.3

89.3 (15.7) 85.5 (19.8) 3.8

23.6 (25.5) 33.2 (29.6) 9.6+

29.7 (26.4) 36.6 (28.3) 6.9

87.4 (24.7) 90.6 (16.9) 3.2

22.8 (32.8) 34.5 (39.4) 11.7

Pr(aw |gw ) Pr(aw |gf ) Pr(sw |aw ) Pr(sw |af )

Pr(qw |ew ) Pr(qw |ef ) Pr(fw |ew ) Pr(fw |ef )

53.9 (29.6) 47.6 (28,3) 6.3

35.8 (31.0) 34.5 (28.9) 1.3

61.7 (31.8) 65.9 (28.3) 4.2

93.4 (14.7) 87.2 (20.1) 6.3

19.2 (26.2) 27.1 (26.9) 7.9+

7.4 (15.2) 9.4 (17.4) 2.0

90.6 (19.4) 86.6 (22.9) 4.0

35.0 (29.6) 35.1 (29.1) 0.1

Pr(aw |hw )

Pr(aw |hf )

Pr(kw |hw , ew )

Pr(kw |hf , ew )

Pr(kw |hw , ef )

Pr(kw |hf , ef )

53.1 (29.6) 45.9 (27.4) 7.2

76.9 (24.3) 75.4 (24.5) 1.5

62.5 (35.8) 67.8 (36.5) 5.3

66.1 (30.4) 74.6 (27.1) 8.5

63.6 (25.9) 64.1 (31.1) 0.5

14.4 (25.8) 18.6 (29.0) 4.2

** p < 0,05; + p < 0,1

VI. Input für die ECHO Simulation des Hans H. Falles

617

VI. Input für die ECHO Simulation des Hans H. Falles Input für die Simulation des Hans H. Falles mit dem Programm ECHO von Paul Thagard; die fett hervorgehobenen Behauptungen und Erklärungen wurden bei der Simulation des Sachverhaltes unter Berücksichtigung, dass Hans seine Schwägerin nicht als Zeugin nennt, zusätzlich eingefügt. ;Beweismittel und unbestrittene Tatsachenbehauptungen: (proposition ‘Geld-fehlt »EUR 5200 fehlen im Tresor.«) (proposition ‘Aussage-Techniker »Hans eilte um 19.15 Uhr aus dem Buero.«) (proposition ‘Aussage-Silvia »Hans war um 20 Uhr am Schulanlass und trug einen Anzug, den er tagsueber nicht getragen hatte. Man braucht ca. 45 min vom Buero zur Schule.«) (proposition ‘Aussage-Chef »Hans wurde nicht befoerdert und erscheint verspaetet zur Arbeit.«) (proposition ‘Vorstrafe »Hans wurde mit 18 wegen Einbruchversuch verurteilt.«) (proposition ‘Video »Videoaufnahme zeigt ein weißes Auto der Marke XY, das um 19.17 Uhr wegfaehrt.«) (proposition ‘Aussage-Ermittler »Hans hat Bankschulden, die er am Tag nach dem Diebstahl getilgt hat.«) (proposition ‘Ermittler-sagt-Auto-selten »Nur 0,1% der Autos sind weiße Autos der Marke XY.«) (proposition ‘Beleg-fehlt »Hans hat keinen Beleg für Erhalt des Geldes durch seine Schwaegerin.«) (proposition ‘Zeugin-fehlt »Hans nennt seine Schwaegerin nicht als Zeugin.«)

;klaegerische Hypothesen: (proposition ‘Hans-Dieb »Hans hat das Geld aus dem Tresor genommen.«) (proposition ‘Hans-Rache »Hans war gekraenkt und wollte sich raechen.«) (proposition ‘Vorstrafe-Dieb »Wer vorbestraft ist, ist eher ein Dieb.«) (proposition ‘Hans-Flucht »Hans eilt nach dem Diebstahl aus dem Buero und dem Gebaeude.«) (proposition ‘Video-Auto-Hans »Das Video zeigt das Auto von Hans.«) (proposition ‘Weg-Schule-moeglich »Es ist moeglich, in weniger als 45 min vom Buero zur Schule zu gelangen.«) (proposition ‘Rueckzahlung »Hans hat am Tag nach dem Diebstahl seine Schulden zurückbezahlt.«) (proposition ‘Bankschulden »Hans hatte Bankschulden.«) (proposition ‘Hans-nicht-befoerdert »Hans wurde nicht befoerdert.«) (proposition ‘Hans-spaet »Hans erscheint verspaetet zur Arbeit.«) (proposition ‘Beleg »Für die Rückzahlung eines Darlehens wird ein Beleg ausgestellt.«) (proposition ‘Aussage-Schwaegerin »Hans hat von seiner Schwaegerin kein Geld erhalten.«)

618

Anhang

;beklagtische Hypothesen: (proposition ‘jemand-anders-Dieb »Jemand anderes, der Zugang zum Tresor hatte, hat das Geld genommen.«) (proposition ‘Geld-Schwaegerin »Hans hat das Darlehen mit dem Geld seiner Schwaegerin zurueckbezahlt.«) (proposition ‘Blumenhandel »Im Blumenhandel werden oft keine Belege ausgestellt.«) (proposition ‘Weg-Schule-unmoeglich »Es ist nicht moeglich, in weniger als 45 min vom Buero zur Schule zu gelangen.«) (proposition ‘Hans-motiviert »Hans war besonders motiviert.«) (proposition ‘kein-Rueckfall »Wer sich waehrend 16 Jahren nichts zuschulden lassen kommt, ist nicht eher ein Dieb.«) (proposition ‘Techniker-falsch »Der Techniker hat sich geirrt.«) (proposition ‘Video-anderes-Auto »Das Video zeigt nicht das Auto von Hans.«) ;klaegerische Erklaerungen: (explain ‘(Bankschulden Rueckzahlung) ‘Aussage-Ermittler) (explain ‘(Hans-nicht-befoerdert Hans-spaet) ‘Aussage-Chef) (explain ‘(Hans-Dieb) ‘Geld-fehlt 0.15) ;0.15 als Gewicht für 2. Simulation (explain ‘(Hans-Dieb) ‘Hans-Flucht) (explain ‘(Hans-Dieb) ‘Rueckzahlung) (explain ‘(Hans-Rache) ‘Hans-Dieb) (explain ‘(Bankschulden) ‘Hans-Dieb) (explain ‘(Vorstrafe-Dieb) ‘Hans-Dieb) (explain ‘(Hans-Flucht) ‘Aussage-Techniker) (explain ‘(Hans-Flucht) ‘Video-Auto-Hans) (explain ‘(Video-Auto-Hans) ‘Video) (explain ‘(Hans-nicht-befoerdert) ‘Hans-Rache) (explain ‘(Hans-Rache) ‘Hans-spaet) (explain ‘(Weg-Schule-moeglich) ‘Hans-Dieb) (explain ‘(Weg-Schule-moeglich) ‘Hans-Flucht) (explain ‘(Weg-Schule-moeglich) ‘Video-Auto-Hans) (explain ‘(Vorstrafe) ‘Vorstrafe-Dieb) (explain ‘(Geld-Schwaegerin) ‘Beleg) (explain ‘(Aussage-Schwaegerin) ‘Zeugin-fehlt) ;beklagtische Erklaerungen: (explain ‘(jemand-anders-Dieb) ‘Geld-fehlt) (explain ‘(Hans-nicht-befoerdert) ‘Hans-motiviert) (explain ‘(Hans-motiviert) ‘jemand-anders-Dieb) (explain ‘(Geld-Schwaegerin) ‘Rueckzahlung) (explain ‘(Blumenhandel) ‘Beleg-fehlt) (explain ‘(Techniker-falsch) ‘Aussage-Techniker) (explain ‘(Video-anderes-Auto) ‘Video) (explain ‘(Vorstrafe) ‘kein-Rueckfall) (explain ‘(kein-Rueckfall) ‘jemand-anders-Dieb) (explain ‘(Weg-Schule-unmoeglich) ‘Aussage-Silvia)

VI. Input für die ECHO Simulation des Hans H. Falles

619

;Widersprueche: (contradict ‘Hans-Dieb ‘jemand-anders-Dieb) (contradict ‘Hans-Dieb ‘Weg-Schule-unmoeglich) (contradict ‘Hans-Flucht ‘Weg-Schule-unmoeglich) (contradict ‘Video-Auto-Hans ‘Weg-Schule-unmoeglich) (contradict ‘Hans-Rache ‘Hans-motiviert) (contradict ‘Video-Auto-Hans ‘Video-anderes-Auto) (contradict ‘Vorstrafe-Dieb ‘kein-Rueckfall) (contradict ‘Beleg ‘Beleg-fehlt) (contradict ‘Geld-Schwaegerin ‘Aussage-Schwaegerin) (data ‘(Geld-fehlt Beleg-fehlt Aussage-Techniker Aussage-Silvia Aussage-Chef Aussage-Ermittler Vorstrafe Video Ermittler-sagt-Auto-selten Zeugin-fehlt))

Mit dem ersten Input akzeptierte Aussagen: GELD-FEHLT AUSSAGE-TECHNIKER AUSSAGE-SILVIA AUSSAGE-CHEF VORSTRAFE VIDEO AUSSAGE-ERMITTLER ERMITTLER-SAGT-AUTO-SELTEN BELEG-FEHLT HANS-DIEB HANS-RACHE HANS-FLUCHT VIDEO-AUTO-HANS WEG-SCHULE-MOEGLICH RUECKZAHLUNG BANKSCHULDEN HANS-NICHT-BEFOERDERT HANS-SPAET BLUMENHANDEL KEIN-RUECKFALL

Mit dem ersten Input verworfene Aussagen: VORSTRAFE-DIEB BELEG JEMAND-ANDERS-DIEB GELD-SCHWAEGERIN WEG-SCHULE-UNMOEGLICH HANS-MOTIVIERT TECHNIKER-FALSCH VIDEO-ANDERES-AUTO

620

Anhang

VII. Fragebogen der Umfrage zu den Fehlerkosten in Zivilsachen Ein anonymer Spender schenkt Ihnen Fr. 100’000 unter der einzigen Auflage, dass Sie das Geld ausschließlich für den folgenden Zweck verwenden: Eine natürliche Person hat beim zuständigen Gericht gegen eine andere natürliche Person eine Forderungsklage über Fr. 100’000 eingereicht. Beide Parteien verfügen über ein ähnlich großes Vermögen und Einkommen. Strittig ist einzig die Tatfrage, ob die klagende Partei der beklagten Partei ein Darlehen über Fr. 100’000 gewährt hat. Es ist unbestritten, dass das Darlehen, falls es gewährt wurde, trotz Fälligkeit nicht zurückbezahlt worden ist.

Sie können mit den gespendeten Fr. 100’000 nun dazu beitragen, dass jeder der vier möglichen Ausgänge des Verfahrens, die unten unter a) – d) aufgelistet sind, verhindert wird. Gehen Sie davon aus, dass jeder Ausgang endgültig ist und auch keine Revision möglich ist. Bitte geben Sie an – in dem Sie den entsprechenden Betrag auf die Linie schreiben – wie viel von dem Geld Sie zur Verhinderung welchen Ausgangs investieren möchten. Sie müssen das ganze Geld investieren, aber dürfen nicht mehr als die Fr. 100’000 investieren. Wenn Ihnen die Verhinderung eines Ausgangs nichts wert ist, investieren Sie nichts in die Verhinderung dieses Ausgangs. Wenn Ihnen die Verhinderung mehrerer Ausgänge gleich viel wert ist, investieren Sie gleich viel in die Verhinderung dieser Ausgänge. Lesen Sie zuerst alle möglichen Ausgänge a) – d) durch, ehe Sie Ihr Geld investieren.

Die klagende Partei hat der beklagten Partei ein Darlehen über Fr. 100’000 gewährt, und die beklagte Partei wird zur Zahlung von Fr. 100’000 verurteilt: Fr. __________________________ zur Verhinderung. b) Die klagende Partei hat der beklagten Partei kein Darlehen über Fr. 100’000 gewährt, aber die beklagte Partei wird zur Zahlung von Fr. 100’000 verurteilt: Fr. __________________________ zur Verhinderung. c) Die klagende Partei hat der beklagten Partei kein Darlehen über Fr. 100’000 gewährt, und die beklagte Partei wird nicht zur Zahlung von Fr. 100’000 verurteilt: Fr. __________________________ zur Verhinderung. d) Die klagende Partei hat der beklagten Partei Darlehen über Fr. 100’000 gewährt, aber die beklagte Partei wird nicht zur Zahlung von Fr. 100’000 verurteilt: Fr. __________________________ zur Verhinderung. a)

Anmerkungen (waren nicht Teil des Fragebogens): Die Reihenfolge der möglichen Ausgänge a)-d) wurde variiert, um Reihenfolgeneffekte auszuschließen. Auf der Rückseite des Blattes wurden die Versuchspersonen um Angaben zu Geschlecht, Alter und Berufserfahrung gebeten. In der Schweiz wird unter »Revision« das verstanden, was in Deutschland als Wiederaufnahme im Sinne von §§ 578 ff. ZPO-DE bezeichnet wird. Fr. 100’000 entsprachen im Zeitpunkt der Befragung rund C 80’000.

VIII. Sachverhalt der Umfrage zum Beweismaß

621

VIII. Sachverhalt der Umfrage zum Beweismaß Stellen Sie sich vor, dass Sie als Richterin oder Richter über den folgenden Sachverhalt zu entscheiden haben. Herr Arnold, der Kläger, hat Herrn Graf, den Beklagten, auf Zahlung von C 20’000 verklagt. [Variante Feststellungsklage: Herr Graf, der Kläger, will gerichtlich festgestellt haben, dass er Herrn Arnold, dem Beklagten, kein Geld schuldet.] Herr Arnold behauptet, er habe Herrn Graf C 20’000 geliehen, und dieser habe sie nicht zurückbezahlt. Herr Graf bestreitet, dass er das Darlehen erhalten hat. Unbestritten ist, dass sich Herr Arnold und Herr Graf seit vielen Jahren kennen, seit sie gemeinsam das Gymnasium besucht haben, und eine langjährige geschäftliche Beziehung pflegen. Herr Arnold ist Wirtschaftsanwalt, Herr Graf selbständiger Unternehmer. Gemäß der Schilderung von Herrn Arnold bat ihn Herr Graf um ein Darlehen von C 30’000 für einige Monate, weil er in finanzielle Schwierigkeiten geraten sei. Herr Arnold erklärte sich bereit, C 20’000 zu leihen, und da Herr Arnold und Herr Graf freundschaftlich verbunden waren, wurde auf einen schriftlichen Kreditvertrag verzichtet. Gemäß Aussage von Herrn Arnold übergab er Herrn Graf die C 20’000 in bar, ohne Quittung, am 1. Dezember 2010 (rund ein Jahr vor Einreichung der Klage). Ein Bankauszug des Bankkontos von Herrn Graf zeigt eine Bareinzahlung von C 20’000 am 1. Dezember 2010. Herr Graf sagt aus, er habe Herrn Arnold tatsächlich um ein Darlehen gebeten, und Herr Arnold habe ihm anfänglich auch C 20’000 leihen wollen, habe sich dann aber anders entschieden und ihm kein Geld geliehen. Er, Herr Graf, habe von anderer Seite ein Darlehen aufnehmen können, um seine finanziellen Schwierigkeiten zu überbrücken. Er wolle aber nicht sagen, von wem. Eine von Herrn Arnold gerufene Zeugin bestätigt, Herr Graf habe ihr am 2. Dezember 2010 gesagt, er habe ein Darlehen in der Höhe von C 20’000 von Herrn Arnold erhalten. Herr Graf meint dazu, er könne sich an eine solches Gespräch mit der Zeugin nicht erinnern. Die Ehefrau von Herrn Arnold sagt als Zeugin aus, ihr Mann habe ihr Ende November 2010 gesagt, er beabsichtige, Herr Graf ein Darlehen über C 20’000 zu gewähren, und zwar aus steuerlichen Gründen in der Form von Bargeld, ohne Quittung. Herr Graf meint, es sei ausgeschlossen, dass Herr Arnold, ein Wirtschaftsanwalt, ihm einen derart großen Geldbetrag ohne schriftlichen Vertrag und ohne Quittung geben würde.

622

Anhang

Fragen: Wenn Sie als Richter über die Klage entscheiden müssten, wie würden Sie entscheiden? Ich würde für Herrn Arnold entscheiden und Herrn Graf verpflichten, EUR 20’000 an Herrn Arnold zu bezahlen. b) Ich würde für Herrn Graf entscheiden und die Klage abweisen. a)

[Variante Feststellungsklage: a)

Ich würde für Herrn Graf entscheiden und gerichtlich feststellen, dass Herr Graf Herrn Arnold keine EUR 20’000 schuldet. b) Ich würde für Herrn Arnold entscheiden und die Klage abweisen.] Wie überzeugt sind Sie, dass Herr Arnolds [Herr Grafs] Darstellung des Sachverhaltes richtig ist? Bitte geben Sie den Grad Ihrer Überzeugung, dass Herr Arnolds [Herr Grafs] Darstellung richtig ist, auf der untenstehenden Skala an. Herr Arnolds [Herr Grafs] Darstellung ist sicher falsch.

Herr Arnolds [Herr Grafs] Darstellung ist sicher richtig.

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Sach- und Personenverzeichnis Ablehnung siehe Ausstand Abstammungsbeweis 472, 498 Abstammungsprozess 37 Abtrennungsregel 85 Additivität 91, 108, 120, 126, 158, 164, 251, 353, 600, 607 f. Alltagstheorie 382 ff., 387, 407 Alltagswissen 9, 185, 382 ff., 391, 398, 407 f., 421, 423, 603 Anastasia-Entscheidung 34 Anchored Narratives Theorie 275 Anfangswahrscheinlichkeit 139, 147, 159, 165, 177, 182, 184, 228, 242, 312, 358, 361, 394, 460, 524, 614 Anscheinsbeweis 172, 174 ff., 178 ff., 182, 185, 227, 230, 282, 456, 466 Apel, Karl-Otto 28 a-priori-Wahrscheinlichkeit siehe Anfangswahrscheinlichkeit Argument – deduktives 87 – induktives 87 Aristoteles 23 Arrow, Kenneth 442 Aufklärung 51 Augenschein 19, 21, 25, 154, 212, 224 Ausgangsindiz 20 Ausstand 570 Baconian probabilities 120, 493 f. Basisaussagen siehe Protokollsätze Bauchgefühl 218, 256, 260, 288, 309 Baumdiagramm 134 Bayes decision rule 437 Bayes Faktor 144 Bayes’ Netz 187, 189, 199, 206, 216, 242, 311, 600 Bayes’ Regel 118, 132, 137, 139, 168, 178, 184, 600 Bayes’ Theorem 133

Bayes, Thomas 132 Bayesianer 133, 251 Beccaria, Cesare 53 Beibringungsgrundsatz 237 Bejahung des Konsequens 86, 254 belief nets siehe Bayes’ Netz belief perseverance 303 Bendix, Ludwig 301 Beobachtungsätze siehe Protokollsätze Besitztumseffekt 512 Bestätigungsgrad 112, 115, 117, 161, 611 Beweis – Alibi- 225 – arithmetischer 61 – direkter 18 – indirekter 19 – natürlicher 19 – Recht auf 74 – unmittelbarer 224 – Verwertungsverbote 72 ff., 79 Beweis des Gegenteils 16 Beweis, mittelbarer siehe Beweis Beweisabnahme, vorsorgliche 571 f., 574 Beweisbarkeit 164 Beweiserleichterung 450, 467 f., 474 f., 478, 482 Beweisfakten 156 Beweisführung, vorsorgliche siehe Beweisabnahme, vorsorgliche Beweisgrad 15, 161, 471 Beweiskraft 21, 241, 391, 393 Beweislast – Normentheorie 501 f., 506 f., 548 f. – objektive 546 f. – subjektive 545 – Verteilung der 11, 174, 470, 501 f., 505– 508, 548 f., 592 Beweislastumkehr 239 f., 375, 378, 467 f., 477 f., 482

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Sach- und Personenverzeichnis

Beweismaß 14 f., 121, 178, 307, 427, 454, 457, 487, 504, 591 – balance of probabilities 425, 491, 529 f., 538, 594, 605 – beyond reasonable doubt 248, 307 f., 317, 425, 443, 446, 453, 520 – flexibles 11, 183, 461, 553 f., 559 f., 565, 573 f., 597, 605 – preponderance of the evidence 307 f., 425 ff., 441, 447, 453, 490 f., 513, 515, 520 f., 538, 595, 603 – relatives 455, 476 Beweismaßgrenze 16, 159, 178, 180, 375, 406, 445, 447, 473, 493, 518 Beweismaßsenkung 468, 478, 482, 522, 544, 550, 573 ff. Beweismechanismus 21, 156 f., 160 f., 166 f. Beweismittel 21, 212, 223, 341, 523, 571, 600 – erwartetes 234 – fehlende 223, 282 – rationale 49 – redundante 221 f., 232 – widerrechtlich erlangte 46 Beweisnot 223, 240, 475 Beweisregel 48, 60 Beweisschwierigkeiten 176, 223, 459, 462, 470, 472, 474–477, 499, 522 Beweistheorie – gesetzliche 3, 50 f., 54 f., 60, 62, 67, 79 f. – kanonistische 50 – legale 38, 42, 48, 51, 147 – negative 38, 163 Beweisverbot 44, 46 Beweiswert 75, 151 Beweiswertmethode 21, 600 Beweiswertmethode, schwedische 5, 21, 120, 156, 158, 161, 163, 165, 168 f., 182, 493, 498 Beweiswürdigung – atomistische 319, 345, 602 – formale Modelle der 355 f., 367, 603 – freie 65, 68, 73, 76 – gemischt subjektiv-objektive Theorie der 40 – Geschichten-Modell der 281, 284, 288, 345 – im engeren Sinne 13

– – – – –

im weiteren Sinne 13 Modell der 162, 164 objektive Theorien der 36 PCS-Modelle der 295, 305, 308 Revisibilität der 9, 76, 373, 398, 404 ff., 410, 424, 603 – subjektive Theorie der 40, 416 – Wahrheitsbegriff der 22 – Ziel der 21, 36 f., 41, 45 ff., 79 f., 269, 384, 549, 599 Blackstone, William 444 Carnap, Rudolf 27, 95, 111, 612 Common Law 10, 121, 425 ff., 439, 441, 443, 453, 455, 513, 594 f., 603 f. conviction – intime 4, 55, 57 f., 61, 80, 129, 599 – raisonée 4, 57, 61, 80, 129, 599 Cox, Richard T. 110 Defizit, epistemisches 8, 96, 346, 432, 602 Denkfehler 190 Denkgesetze 83, 131, 187, 386, 599 Diskurs 28 Dispositionsmaxime 44 Dissonanz, kognitive 285, 300 DNA-Gutachten 124, 170, 218, 255, 358, 362, 473 Drittkontrollmodell 38 f., 72 Duport, Adrien 56 Dutch Book Argument 108 f., 126, 128, 143, 251, 609 Dworkin, Richard 29 EC-Karte 393 Effizienzziel 487 Eid 69 Einsicht 257 Ekelöf, Per 155 f., 160 Ekelöf-Halldén-Edman-Modell 5 Endemann, Wilhelm 42, 62 ff. Engisch, Karl 302 Entscheidungsgrenze 11, 159, 427, 438, 443–446, 449 ff., 453, 457 f., 460, 472, 488, 495–499, 503, 505, 510, 513, 520, 523, 537, 550, 554, 559, 565–568, 570 f., 573–576, 582 ff., 591–594, 596, 603 f. – tatsächliche 575 f., 588, 591–595, 597, 605

Sach- und Personenverzeichnis

Entscheidungsproblem 429, 432, 434 Entscheidungsregel 434 f., 438, 487, 547 Entscheidungstheorie – deskriptive 429 – normative 429, 431 f., 439–442, 445, 452 f., 492, 496, 544, 550, 603 Erfahrungsgrundsatz 173 f., 406 Erfahrungssatz – allgemeiner 405 f. – deterministischer 369 – mit normativem Charakter 418 – Quelle von 9, 370 f., 378, 398, 423, 603 – statistischer 369 Erwartungsnutzentheorie 260, 431, 441 evidentiary value siehe Beweiswert Evidenzgefühl 113, 254, 307 explaining away 197, 210, 325 Fagans Nomogramm 149 fallacia consequentis siehe Bejahung des Konsequens fallacy of the transposed conditional 254, 389 Falschaussage 18, 160, 213, 215 Fehler 1. Art 436, 443, 448 ff., 484, 486, 516 f., 519, 535, 537, 566, 574 Fehler 2. Art 436, 443, 448 ff., 484, 486, 517, 537, 566, 574 Fehlerkosten 10 f., 434, 438, 442, 444 f., 447, 449–453, 458 f., 497, 505 f., 510, 517 f., 522 f., 530–533, 557, 561, 563, 565, 569 f., 572 f., 596 f., 603 ff., 620 Feuerbach, Paul Johann Anselm Ritter von 38, 54, 58 Filangieri, Gaetano 53 Finetti, Bruno de 95, 104, 188 Folter 49 ff., 55, 265, 350, 537 Frequency Principle 9, 105, 350 f., 355, 370, 422 f., 602 f. Generalisierung 216, 275 f., 297, 334 f., 337, 339, 347, 368 f., 382, 397, 399 – beweismäßige 334 – kausale 334 Gerechtigkeitsgefühl 534 f. Gesamteindruck 58, 61, 72 Gesamtschau 76, 215, 288, 601 Geschichten-Modell 7 f., 272 f. Geschworenengericht 55 f., 60 f., 78 f., 599

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Gestaltpsychologie 272, 285, 287 Gewissheit – absolute 15, 33, 385, 396, 452 f., 542, 599 – für das praktische Leben brauchbarer Grad der 15, 34, 177 – unumstößliche 34, 80, 454 Glaubhaftmachung 472, 550, 554, 557– 560, 565 f., 573 f., 605 Good, Irving J. 95 Guldener, Max 78 Habermas, Jürgen 28 f. Hacking, Ian 95 Häufigkeit, relative 115, 352, 367 Häufigkeitstheorie 97, 116, 118 Hauptbeweis 16 Haupttatsache 17 ff., 240, 372 Hilfsfakten 21, 157 Hilfstatsache 17 f., 129 Hommel, Carl Friedrich 52 Hörensagen 75 Huber, Eugen 549 Hume, David 385 Hypothesenvariablen 212, 215, 217 illusion of validity 269, 271 Indifferenzprinzip 93, 99, 153, 208, 356 Indiz 17, 19 f., 87, 150, 157, 240 – Beweiskraft eines 146 Indizienbeweis 19 f., 83, 117, 170, 174– 181, 184, 189, 240, 471 Indizienkette 161 inference to the best explanation 323 Information, probabilistische 347 Informationsvariable 212, 234 Inkohärenz 109, 129, 317, 327, 600 Inquisitionsprozess 49 Instinkt 58, 257, 271 Integrität 30 Intuition 253, 255 f., 258, 260 – assoziative 7, 262, 272 – konstruktive 7, 258, 272 – moralische 11 inverse fallacy 254, 324 inverse probability 132, 252 Jarcke, Carl Ernst 59 Jeffreys Regel 137, 143, 211, 600 Jury siehe Geschworenengericht

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Sach- und Personenverzeichnis

Justi, Johann Heinrich Gottlob von 57 Justizsystem, Legitimität des 534 f., 538 Kahneman, Daniel 260 Kaiser Konstantin 48 Kant, Immanuel 51 Kaplan, John 439, 442 Kausalität 199 – haftungsausfüllende 463 ff. – haftungsbegründende 171, 464, 466 Kausalitätsbeweis 456, 463, 466, 468, 482 Kegel, Gerhard 113 Keller, Friedrich Ludwig 71 Kettenregel 202 f., 207 f. Keynes, John Maynard 95, 111 Kindsmissbrauch 264 f. Knight, Frank 431 Kohärenz 187, 282, 329, 600 – erklärende 324, 346 – kognitive 285, 287 f., 299 – narrative 7, 272 f., 320 Kohärenzbildung 7, 272, 302–306, 318, 329, 342, 601 Kohärenzbildungsprozess 8, 289, 319 Kohärenztheorie 27 – kognitive 346 – normative 343, 602 – tugendethische 332 Kohärenzverschiebung 295–299, 301 ff., 307–311, 314, 319, 601 f. Kolmogorov, Andrej Nikolaevich 97 Konditionalisierung siehe Bayes’ Regel Konditionierung siehe Bayes’ Regel Konjunktionsparadox 491, 493, 495 Konsensustheorie 28 Konstruktivismus 25, 32 Korrespondenztheorie 23 Kosten, juristische 453 Laplace, Pierre Simon 95, 99, 132 Lebenserfahrung, allgemeine 13, 216, 278, 377, 381, 385, 407, 414, 421 Lebensgesetz 173 Leistungsmaßnahme 563, 568 Lernumgebung 266 Likelihood 143, 146, 213, 389 Likelihood-Quotient 144 f., 147, 221, 224, 312, 614 – neutraler 358

Logik – deduktive 4, 8, 84, 88, 131, 155 – formale 83 – induktive 4, 84, 87 f., 104, 112, 132, 611 Lügengebäude 188 MAP-Regel 436 Maßnahme, vorsorgliche 561 f., 564, 566, 568 f., 574 Menschenverstand, gesunder 52, 55 Mises, Richard von 95, 101 Mittermaier, Carl Joseph Anton 58, 60, 69 Modellierung, formale 6, 8, 188 f., 243, 248 Modus ponendo ponens siehe Abtrennungsregel modus ponens, defeasible 337 Montesquieu, Charles-Louis Secondat Baron Brède et de 53, 55 Möser, Justus 42 Netz, kausales 192, 194, 196 Netz, konnektionistisches 8, 287, 291, 295, 302 New Evidence Scholarship 2 non liquet 158, 545 f., 592 Norm 22 Normierung 90 f., 108, 126, 250, 312, 599 Normtatsache 372 ff., 401 Nutzen, juristischer 453 omission bias 536 f. Överviktsprincip siehe Überwiegensprinzip Parallel Constraint Satisfaction 7, 287 ff., 291 Pearl, Judea 190, 210 Personalismus 98 Plausibilität 13, 20, 88, 99, 115, 166, 179 ff., 183, 185, 223, 237, 275, 282 f., 294, 321, 332, 338 f., 344, 409, 569 Plausibilitätstheorie, relative 321, 345, 496 Popper, Karl 95, 145 praesumtiones 48 Principle of Direct Probability 9, 105, 350, 422, 602 Prinzip vom unzureichenden Grund siehe Indifferenzprinzip Privatautonomie 45

Sach- und Personenverzeichnis

probatio – plena 48 – semiplena 48 Produktregel 94, 135 ff., 150, 161, 202, 393 prosecutors’ fallacy 254 Prospect Theory 512 f. Protokollsätze 25 f. Prozess – gemeiner 50 – italienisch-kanonischer 48 – römischer 48 Prozesszweck 483 Ramsey, Frank P. 95, 104 Randwahrscheinlichkeit 203 f., 219 f. Rationalität 126 Rättegångsbalken 162 Realismus, kritischer 24, 31, 279 Rechtsfrieden 42, 485 f. Redundanz 221, 234 Referenzklasse 102, 354, 363, 368 Referenzklassenproblem 9, 351, 356, 368, 397, 423, 602 Referenzpunkt 537 Regelbeweismaß 11, 123, 453, 463, 469, 471 ff., 478, 489, 517, 569, 574, 604 Regelungsmaßnahme 563, 568 Reichenbach, Hans 101 Relationstechnik 502 Revisibilität 185, 402 Risiko 431 Risiko, bedingtes 436 Risikotragfähigkeit 10, 442, 460 f., 487 f., 596 Robespierre, Maximilien 56 Sachverhaltsfeststellung, Theorie der 22 Sachverhaltsrekonstruktion 1, 45, 79, 309, 343, 346, 349, 384, 423, 484 f., 518, 575, 599, 601 ff. Savage, Leonard J. 104, 111, 115, 357, 431 Savigny, Friedrich Carl von 4, 60 f., 81, 430 Schadensteilung 454, 529–533 Schwarzenberg, Johann Freiherr von 49 Sekundärschaden 465 ff., 474 Selbsthilfeverbot 509 Sensitivitätsanalyse 6, 192, 244–247, 252

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Sicherungsmaßnahme 563, 567 Sinneswahrnehmung 26, 274, 325 soft evidence 198 Status quo Bias 510, 596, 604 Stein, Friedrich 9, 368–371, 373, 382, 385, 391, 403 Substanziierungslast 236–239, 485 Syllogismus, statistischer 352, 365, 367, 386, 602 Tarski, Alfred 23 Tatsache, notorische 371 Tatsachenbehauptung 23 Taxi-Problem 165 Thema-Methode 157 Theorie, wissenschaftliche 287, 378 f., 407 Thomas von Aquin 23 Totalanschauung 59 Tversky, Amos 260 Typizität 180 f., 251, 387 f. Überwiegensprinzip 10, 156, 428, 455, 458, 462, 488, 496, 499, 505, 511, 520 ff., 528 f., 533, 540 f., 543 ff., 549 f. Überzeugung – Bezugspunkt der 14 f., 35 ff., 41, 80, 118, 123, 125, 471, 499, 541, 596, 599 – innere siehe conviction:intime – Intensität der 14, 33 – Lehre von der überwiegenden 10 f., 504, 518–522, 526, 530, 533, 540, 543, 547–550, 596, 604 – rationale 136, 140, 164 – überwiegende 11, 482, 486 f., 489 f., 504 f., 521, 528 f., 535, 539 ff., 550, 574, 596 f., 604 f. – volle 11, 175, 180, 185, 223, 428, 441, 463 ff., 477 f., 482, 489, 496, 500, 504, 509, 518 f., 528, 534, 538 f., 544 f., 548 f., 555, 569, 574 f., 596 f., 604 f. Überzeugungsbildung 2–8, 13, 20, 40 f., 47, 56 f., 59 f., 62 f., 79 f., 125 f., 131, 146, 154 f., 164, 168, 186 ff., 194, 220, 224, 245, 247–253, 257, 272 f., 345 ff., 349, 417, 422, 463, 494, 555, 599–602 – Psychologie der 6 f., 253 – Theorie der 15 – Vorgang der richterlichen 13 Überzeugungsgrad 127, 129, 165, 449, 454

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Sach- und Personenverzeichnis

Überzeugungsnetz siehe Bayes’ Netz Unabhängigkeit, bedingte 196 UNIDROIT, Prinzipien des transnationalen Zivilverfahrensrechts 595 Unsicherheit 431 Urteilsheuristik 258, 260 f. Variable, verdeckte 212 f., 215, 229, 312 Verhandlungsmaxime 42, 215, 399, 545 f. Verlustaversion 11, 510–513, 575 f., 579 f., 588 ff., 593 f., 596 f., 604 f. Vermutung – gesetzliche 16, 72, 375, 477 – tatsächliche 375 Vermutungsfolge 16 Vollbeweis 51, 453, 456, 552 ff. Voltaire 1, 55 Vorbefassung 308 ff. Vorverständnis 24 f. Wahrheit – Abbildtheorien der 24 – absolute 33 – formelle 33, 41 f. – förmliche 42 – juristische 47 – materielle 33, 44, 47 – prozessuale 41 Wahrheitsbegriff 22, 29 Wahrheitsfindung 43 Wahrheitskriterium 23, 27, 31 f., 320, 325, 344 Wahrheitstheorien – Kohärenztheorie 26 – Konsensustheorie 28 – Korrespondenztheorie 3, 26, 29 f., 45, 47, 79, 279 f., 320, 325, 342, 344, 599 Wahrheitswert 22, 84 Wahrscheinlichkeit – Alltags- 97, 123 – a-posteriori- 139, 313, 388

– bedingte 91, 135, 200 – bedingte Unabhängigkeit 94 – epistemische 96, 122, 125 – induktive 493 f. – innere 167, 359 – logische 111 f., 122 – objektive 37, 45, 96, 544 – ontische 96, 101 – Propensity-Theorie der 103 – Satz von der totalen 135 – subjektive 105, 107, 110 – Unabhängigkeit 93 Wahrscheinlichkeitsbegriff 95, 113 – epistemischer 123 – frequentistischer 100, 114 f., 119 – klassischer 99 – logischer 116 – objektiver 117 – subjektiver 114–117, 119 f., 124 Wahrscheinlichkeitstabelle 207, 217 ff., 228, 230, 235, 245, 249, 615 Wahrscheinlichkeitstheorie – Axiome der 89, 104, 107, 110, 126, 600 – subjektive 104, 115, 166, 251, 253, 350, 492, 504, 600 Wahrscheinlichkeitsüberzeugungstheorie 21, 121 Wahrscheinlichkeitsverteilung 201–210, 217, 249, 313 Wende, interdisziplinäre 2 Wettquote, faire 107, 126 Wigmore, John Henry 333 Windscheid, Bernhard 482 Würdigungsfreiheit 73 f., 77, 79 XII-Tafelgesetze 48 Zeugenaussage 154, 214 Zeugenbeweis 70 ff. Zeugnis 19 Zwischenindiz 20, 213