Besonderes Verwaltungsrecht: Mit Onlinezugang zur Jura-Kartei-Datenbank (Print-Ausgabe) [15. neu bearb. Aufl.] 9783110321425, 9783110273632

Neuauflage Studienbuch Numerous changes in the law as well as new legal precedents have made this newly revised editio

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Table of contents :
Vorwort
Autoren- und Inhaltsübersicht
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung. Besonderes Verwaltungsrecht und Allgemeines Verwaltungsrecht: Zusammenwirken und Lerneffekte
I. Praktische Aufgaben der Orientierung und Entlastung
II. Speziell für das Studium: Veranschaulichung, Wiederholung, Vertiefung
III. Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung
Erstes Kapitel. Kommunalrecht
I. Grundlagen
1. Gesetzliche Grundlagen
a) Kommunalrecht ieS
b) Rechtsgrundlagen kommunaler Tätigkeit
2. Grundbegriffe: Gemeinde, Einwohner, Bürger
a) Gemeinde
b) Einwohner und Bürger
c) Rechte und Pflichten der Einwohner und Bürger
3. Die Idee bürgerschaftlicher Selbstverwaltung
4. Entwicklung der Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland
a) Territorialreformen
b) Die Bedeutung des Rechts der Europäischen Union
5. Aktuelle Herausforderungen
a) Bevölkerungsdynamik
b) Kommunale Finanzen
c) Veränderte Kommunikationsstrukturen
II. Die Verfassungsgarantie des Art 28 II GG
1. Vorbemerkung: Die verfassungsrechtliche Stellung der Gemeinden
a) Gemeinden: Ein besonderer Teil des Staates
b) Die demokratische Verfassungsstruktur in der Gemeinde, Art 28 I 2 GG
c) Die Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung
aa) Adressaten der Selbstverwaltungsgarantie
bb) „Institutionelle Garantie“ und subjektive Rechtsstellung
2. Garantie der kommunalen Ebene, Art 28 I 2, II GG
3. Schutz der individuellen Gemeinde in ihrem Bestand
4. Schutz der eigenverantwortlichen Wahrnehmung kommunaler Aufgaben
a) Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft
b) Zuweisung durch den Gesetzgeber
aa) Verpflichtung auf eine kommunalspezifische Aufgabenausstattung
bb) Abweichung von der Regelzuweisung
cc) Überörtliche Angelegenheiten, Gemengelagen, Wanderungsprozesse
dd) Art 28 II GG als Schranke kommunalen Handelns?
c) Eigenverantwortlichkeit
d) Insbesondere: So genannte Gemeindehoheiten
e) Der Gesetzesvorbehalt und seine Grenzen
aa) Die Kernbereichsgarantie
bb) Gemeindespezifisches materielles Aufgabenverteilungsprinzip
cc) Zugriff auf die Eigenverantwortlichkeit: Hinreichender Spielraum
dd) Zuweisung zusätzlicher Aufgaben
5. Die Selbstverwaltungsgarantie als subjektives Recht
a) Kommunale Verfassungsbeschwerde
b) Die Bedeutung der Selbstverwaltungsgarantie für das einfache Recht
III. Weitere Gewährleistungen gemeindlicher Selbstverwaltung und kommunaler Rechtspositionen
1. Gewährleistungen auf europäischer Ebene
a) Unionsrechtliche Gewährleistung der Selbstverwaltung
b) Die Berufung auf Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten
2. Gewährleistungen im Grundgesetz
a) Partielle Finanzgarantien
b) Grundrechte
aa) Bereiche öffentlicher Aufgabenerfüllung
bb) Bereiche fiskalisch-erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit
3. Selbstverwaltungsgarantien der Landesverfassungen
IV. Die Gemeinden im Gefüge öffentlicher Aufgabenerfüllung – Aufgabensystematik, Staatsaufsicht und Aufgabenträger
1. Kommunale Aufgabensystematik
a) Aufgabenkategorien und Staatseinfluss
aa) Überblick
bb) Dualistisches und monistisches Modell
cc) Eigener Wirkungskreis/Freie und pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben
dd) Auftragsangelegenheiten/Pflichtaufgaben nach Weisung
b) Das systematische Verständnis des Staatseinflusses bei den „Staatsaufgaben“/Pflichtaufgaben nach Weisung
aa) Die Perspektive des Art 28 II GG
bb) Differenzierungen
cc) Ergebnis
dd) Verfahrens- und prozessrechtliche Konsequenzen
2. Rechtsaufsicht
a) Aufsichtsmittel
b) Rahmenbedingungen und Rechtsschutz
3. Fachaufsicht
a) Wesen und Regelungen
b) Rechtsschutz gegen fachaufsichtliche Maßnahmen
4. Mittel präventiver Aufsicht
a) Zweck und Typik
b) Spezielle Genehmigungsvorbehalte
aa) Rechtliche Unbedenklichkeitserklärung
bb) Staatliche Mitentscheidung, Kondominium
5. Formen der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung im gemeindlichen Raum
a) Staatliche Behörden
b) Weitere Modi der Aufgabenwahrnehmung
c) Privatisierung
6. Aufgabenbestand und Gemeindestatus: kreisfreie und kreisangehörige Gemeinden
a) Das Bild der Einheitsgemeinde
b) Kreisangehörige Gemeinden
c) Kreisfreie Städte
d) Privilegierte kreisangehörige Gemeinden
V. Gemeindeverfassungsrecht
1. Kommunalwahlen
a) Grundsätze
b) Rechtsschutz bei Kommunalwahlen
2. Überblick: Die Gemeindeorgane
3. Der Gemeinderat
a) Zusammensetzung und Mitgliederstatus
aa) Rechts- und Pflichtenstatus
bb) Insbesondere Befangenheitsvorschriften
b) Interne Organisation und Verfahren des Rates
aa) Ratsvorsitzender
bb) Ratsgeschäftsordnung
cc) Ratssitzungen
dd) Ratsausschüsse
ee) Fraktionen
c) Aufgaben des Gemeinderates
aa) Systematik
bb) Vorbehaltsaufgaben des Rates (Überblick)
4. Der Bürgermeister
a) Status
b) Aufgaben
aa) Ratszuarbeitung, Ratsvorsitz
bb) Einspruchsrecht
cc) Geschäfte der laufenden Verwaltung
dd) Übertragene Angelegenheiten
ee) Dringlichkeitsentscheidungen
ff) Außenwirksame Entscheidungen: Verwaltungschef, rechtsgeschäftliche Vertretung, Beteiligungsrechte
5. Besonderheiten kollegialer Leitungsgremien
6. Kommunalverfassungsstreit
a) Grundfragen und Entwicklung
b) Einzelheiten
7. Formen plebiszitärer Beteiligung
a) Schlichte Mitwirkungsmöglichkeiten
b) Mitentscheidungsmöglichkeiten
8. Gemeindeinterne Gliederungen: Bezirke, Ortschaften
VI. Die Gemeindeverwaltung
1. Grundlagen
2. Die allgemeine Gemeindeverwaltung
3. Wirtschaftliche Unternehmen in öffentlich-rechtlicher Rechtsform
a) Überblick
b) Eigenbetrieb, Kommunalunternehmen
4. Privatrechtliche Organisationsformen als Teil des kommunalen Organisationsrechts
a) Rechtsformen
b) Erhalt der Gemeinwohlbindungen – „Einwirkungspflicht“
5. Vertragliche Verwaltungsstrukturen in der Kommune
VII. Kommunalspezifische Handlungsformen: Rechtsetzung der Gemeinden und kommunale Verträge
1. Gemeindliche Satzungen
a) Regelungstypus
b) Ermächtigungsgrundlage für kommunale Satzungen und Gesetzesvorbehalt
c) Formelle Vorgaben
aa) Satzungsgebungsverfahren
bb) Verfahrensfehler
d) Materielle Anforderungen an Satzungen, insbes Vorrang des Gesetzes
e) Rechtsschutz gegen Satzungen
2. Weitere gemeindliche Rechtsetzungsakte
a) Rechtsverordnungen
b) Inneradministrative Rechtssätze
3. Kommunale Verträge
a) Wirksames Zustandekommen
aa) Allgemein
bb) Insbesondere: Vergaberecht
b) Grenzen der Wirksamkeit
VIII. Die Leistungen der Gemeinden für ihre Einwohner
1. Das Recht kommunaler Leistungserbringung
a) Grundfragen
b) Modi kommunaler Leistungserbringung
2. Insbesondere: Öffentliche Einrichtungen
a) Begriff
b) Widmung
c) Nutzungsrechte
d) Benutzungsverhältnis
aa) Bei öffentlich-rechtlicher Organisationsform
bb) Bei privatrechtlicher Organisationsform
cc) Benutzungsbedingungen
e) Rechtsformen und Zugang
3. Einrichtungen mit Anschluss- und Benutzungszwang
a) Tatbestand
b) Grundrechtsfragen
aa) Anschlusspflichtige
bb) Anbieter gleichartiger Leistungen
IX. Die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden
1. Grundlagen
a) Kommunale Wirtschaft zwischen Daseinsvorsorge und Gewinnerzielung
b) Schutzzweck des kommunalen Wirtschaftsrechts
c) Systematische Überlegungen
2. Kommunalrechtliche Schranken gemeindlicher Wirtschaftstätigkeit
a) Anwendbarkeit
b) Kommunalrechtliche Schrankentrias
aa) Öffentlicher Zweck
bb) Leistungsfähigkeitsbezug
cc) Sog Subsidiarität
dd) Insbesondere: Territorialitätsprinzip
c) Durchsetzung der kommunalrechtlichen Schranken
aa) Subjektiv-öffentliche Rechte
bb) Durchsetzung über Wettbewerbsrecht (UWG, Vergaberecht)
d) Das Recht nichtwirtschaftlicher Unternehmen
3. Allgemeines Wirtschaftsrecht
4. Unionsrechtlicher Rahmen
a) Der allgemeine Rahmen
b) Bereichsspezifische Vorgaben
X. Finanzen und Haushalt
1. Das Gemeindefinanzsystem
a) Überblick über die Einnahmen
b) Steuereinnahmen
c) Gebühren und Beiträge, privatrechtliche Entgelte
d) Finanzzuweisungen, insbes der kommunale Finanzausgleich
e) Kredite und Entschuldung
f) Reformbedarf
2. Kommunales Abgabenrecht
a) Steuern
b) Gebühren und Beiträge, privatrechtliche Entgelte
3. Haushaltsrecht
a) Neues Steuerungsmodell und kommunales Haushaltsrecht
b) Haushaltssatzung, Haushaltsplan
c) Haushaltsvollzug
XI. Das Recht der Landkreise (Kreise)
1. Grundgesetzliche Rechtsstellung
a) Garantie der Kreisebene
b) Garantie der Selbstverwaltung
2. Aufgaben der Kreise
a) Kreisaufgaben und staatliche Steuerung
b) Aufgabenverteilung zwischen Kreis und kreisangehörigen Gemeinden
aa) Übergemeindliche Aufgaben
bb) Ergänzende Aufgaben
cc) Ausgleichende Aufgaben
dd) Kompetenz-Kompetenz
3. Organe des Kreises
a) Kreistag
b) Landrat
c) Kreisausschuss
4. Staatliche Verwaltung im Kreis
XII. Sonstige Gemeindeverbände, Zweckverbände, interkommunale Zusammenarbeit
1. Gesamtgemeinden
2. Höhere Gemeindeverbände
3. Interkommunale Zusammenarbeit, Zweckverbände
a) Formen interkommunaler Zusammenarbeit
b) Insbesondere Zweckverbandsbildungen
Zweites Kapitel. Polizei- und Ordnungsrecht
I. Grundlagen des Polizei- und Ordnungsrechts
1. Begriff und Gegenstand des Polizei- und Ordnungsrechts
a) Polizeibegriff als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen
aa) Wandlungen des Polizeibegriffs
bb) Heutige Polizeibegriffe
b) Inhalt und Umfang des Gefahrenabwehrrechts
aa) Abgrenzung zur Strafverfolgung
bb) Einbeziehung vorbeugender Bekämpfung von Straftaten
c) Fazit
2. Gefahrenabwehr als staatliche Aufgabe
a) Gewährleistung der Inneren Sicherheit als Staatsaufgabe
b) Gefahrenabwehr durch Private
aa) Erscheinungsformen des privaten Sicherheitsgewerbes
bb) Rechtliche Grundlagen
cc) Privatisierung der Gefahrenabwehr
c) Fazit
3. Rechtsstaatliche Anforderungen an die Gefahrenabwehr
a) Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes
b) Rechtliche Bindungen für Gefahrenabwehrmaßnahmen
4. Polizei- und Ordnungsrecht im Bundesstaat
a) Gesetzgebung
b) Verwaltung
aa) Grundsatz: Verwaltungszuständigkeit der Länder
bb) Ausnahme: Verwaltungskompetenzen des Bundes
5. Europäisierung und Internationalisierung der Gefahrenabwehr
a) Europarechtliche Vorgaben
aa) Grundlegung: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
bb) Ausprägungen Polizeilicher Zusammenarbeit
cc) Institutionalisierung der Polizeilichen Zusammenarbeit
dd) Operative Polizeiliche Zusammenarbeit
b) Internationalisierung der Gefahrenabwehr
6. Allgemeine Polizei- und Ordnungsverwaltung
II. Materielles Polizei- und Ordnungsrecht
1. Die Generalklausel
a) Die Generalklausel als Eingriffsermächtigung
aa) Spezialermächtigungen und Subsidiarität der Generalklausel
bb) Anwendungsbereich der Generalklausel
cc) Struktur und Bedeutung der Generalklausel
b) Schutzgüter der Generalklausel
aa) Öffentliche Sicherheit
bb) Öffentliche Ordnung
c) Gefahrenlage
aa) Störung
bb) Prognose
cc) Anscheinsgefahr
dd) Gefahrverdacht
ee) Qualifizierte Gefahrbegriffe
d) Befugnis zur Gefahrenabwehr (Opportunitätsprinzip)
aa) Ermessen der Gefahrenabwehrbehörden
bb) Ermessensgrenzen
cc) Ermessensreduzierung
dd) Anspruch auf Einschreiten
2. Polizei- und ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit
a) Polizei- und Ordnungspflicht als Zurechnungsproblem
b) Funktion und Bedeutung der Verantwortlichkeit
c) Rechtssubjekte der Polizei- und Ordnungspflicht
d) Verhaltensverantwortlichkeit
aa) Gefahrverursachung
bb) Verhaltensverantwortlichkeit durch Unterlassen
cc) Verhaltensverantwortlichkeit des Zweckveranlassers
dd) Zusatzverantwortlichkeit
e) Zustandsverantwortlichkeit
aa) Legitimität der Zustandsverantwortlichkeit
bb) Entstehung der Zustandsverantwortlichkeit
cc) Grenzen der Zustandsverantwortlichkeit
dd) Zustandsverantwortliche Rechtssubjekte
ee) Ordnungspflicht im Insolvenzverfahren
ff) Latente Gefahr
gg) Anscheinsgefahr und Gefahrverdacht
f) Rechtsnachfolge in die Polizei- und Ordnungspflicht
aa) Problemstellung
bb) Abstrakte Polizei- und Ordnungspflicht
cc) Konkretisierte Polizei- und Ordnungspflicht
dd) Fazit
g) Störermehrheit: Auswahlermessen bei mehreren Verantwortlichen
aa) Effektivität der Gefahrenabwehr als Ermessensdirektive
bb) Kostentragung bei Störermehrheit
cc) Gesamtschuldnerausgleich bei mehreren Verantwortlichen
3. Polizeilicher und ordnungsbehördlicher Notstand
a) Notstandspflicht im Gefahrenabwehrrecht
b) Voraussetzungen für Notstandsmaßnahmen
aa) Qualifizierte Gefahrenlage
bb) Aussichtslosigkeit der Gefahrenabwehr durch Verantwortlichen
cc) Unmöglichkeit behördlicher Gefahrenabwehr
dd) Beachtung der Opfergrenze
c) Rechtsfolgen der Notstandspflicht
d) Umfang und Dauer von Notstandsmaßnahmen
e) Folgenbeseitigung und Ersatzansprüche
aa) Folgenbeseitigung bei Notstandsmaßnahmen
bb) Entschädigung des Nichtverantwortlichen
4. Standardmaßnahmen
a) Begriff und Bedeutung
b) Klassische Standardmaßnahmen
aa) Befragung und Auskunftsverlangen
bb) Identitätsfeststellung
cc) Erkennungsdienstliche Maßnahmen
dd) Vorladung und Vorführung
ee) Platzverweisung, Aufenthaltsverbot, Wohnungsverweisung
ff) Ingewahrsamnahme
gg) Durchsuchung von Personen und Sachen
hh) Durchsuchung und Betreten von Wohnungen
ii) Sicherstellung und Beschlagnahme
c) Informationserhebung
aa) Allgemeine Grundsätze
bb) Rechtsgrundlagen
cc) Besondere Mittel der Informationserhebung
dd) Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen
d) Informationsverarbeitung
aa) Allgemeine Grundsätze
bb) Ermittlungsverfahren und Gefahrenabwehr
cc) Informationsabgleich
dd) Informationsübermittlung
ee) Rechte der betroffenen Person
5. Sondergesetzliche Eingriffsbefugnisse
a) Vorrang von Spezialregelungen
b) Beispiel: Gefahrenabwehr im Versammlungswesen
III. Formelles Polizei- und Ordnungsrecht
1. Zuständigkeitsordnung
2. Handlungsformen zur Gefahrenabwehr
a) Einzelfallmaßnahmen
aa) Verwaltungsakt
bb) Verwaltungsrealakt
b) Gefahrenabwehrverordnungen
aa) Funktion und Bedeutung von Gefahrenabwehrverordnungen
bb) Voraussetzungen für Gefahrenabwehrverordnungen
cc) Determinanten für den Verordnungserlass
dd) Durchsetzung der Verordnung
c) Zwangsweise Durchsetzung von Gefahrenabwehrmaßnahmen
aa) Zwangsmittel
bb) Verwaltungszwang im gestreckten Verfahren
cc) Unmittelbare Ausführung und Sofortvollzug
IV. Kostenersatz und Entschädigung im Polizei- und Ordnungsrecht
1. Kostenersatzansprüche der Verwaltung
a) Vorbehalt des Gesetzes
b) Kostenersatz für Gefahrenabwehrmaßnahmen
c) Kostentragung bei Anscheinsgefahr und Gefahrverdacht
2. Ersatzansprüche des Bürgers
a) Entschädigungsanspruch des Nichtstörers
aa) Voraussetzungen des Schadensausgleichs
bb) Rechtsfolge des Anspruchs
b) Schadensausgleich bei rechtswidrigen Maßnahmen
c) Ersatzansprüche bei Anscheinsgefahr und Gefahrverdacht
Drittes Kapitel. Öffentliches Wirtschaftsrecht
I. Grundlagen des Öffentlichen Wirtschaftsrechts
1. Herausbildung und Gegenstand des Öffentlichen Wirtschaftsrechts
2. Historische Grundlagen
a) Merkantilismus
b) Liberalismus
c) Sozialstaat und Soziale Marktwirtschaft
d) Europäisierung und Internationalisierung – Kapitalismus II
3. Marktwirtschaft und Wettbewerb, Planwirtschaft und Sozialisierung
II. Verfassungsrechtliche Grundlagen
1. Wirtschaftsverfassung
a) Begriff der Wirtschaftsverfassung
b) Streit um die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes
c) Der soziale Rechtsstaat
2. Gesetzgebung und Regierung im Öffentlichen Wirtschaftsrecht
a) Bundesstaatliche Kompetenzverteilung und Öffentliches Wirtschaftsrecht
b) Rechtsstaatliche Anforderungen
aa) Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
bb) Einzelfragen der Gesetzgebung
3. Grundrechtsschutz wirtschaftlicher Tätigkeit
a) Allgemeines
aa) Grundrechtsberechtigung
bb) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
cc) Grundsatz des Vertrauensschutzes
b) Allgemeiner Gleichheitssatz
c) Allgemeine Wirtschafts- und Unternehmensfreiheit
d) Koalitionsfreiheit
e) Berufsfreiheit
aa) Schutzbereich
bb) Schranken
cc) Eingriffsermächtigungen
dd) Schutzpflicht
f) Eigentumsgarantie
aa) Struktur
bb) Schutzbereich
cc) Schranken
III. Unionsrechtliche Grundlagen
1. Allgemeines
2. Die europäische Rechtsordnung als wechselseitige Auffang- und Kooperationsordnung
3. Grundzüge des Unionsrechts, allgemeine Rechtsgrundsätze
a) Grundrechte
aa) Anwendungsbereich
bb) Wirtschaftsgrundrechte
cc) Sonstige Grundrechte
b) Rechtsangleichung
c) Staatshaftung
4. Binnenmarkt und Grundfreiheiten
a) Grundfreiheiten
b) Unionales Wettbewerbsrecht
IV. Wirtschafts- und Währungspolitik
1. Begriffe
2. Wirtschaftspolitik
a) Konjunkturpolitik und Globalsteuerung
aa) Ökonomische Konzeption
bb) Bindungswirkung
cc) Instrumentarium
dd) Bewertung
b) Fiskalpolitik
aa) Unionsrechtliche Grundlagen
bb) Innerstaatliche Regelungen
cc) Völkerrechtliche Ergänzungen
c) Außenhandelspolitik
d) Wirtschaftsstatistik
3. Währungsunion und Währungspolitik
a) Eintrittsvoraussetzungen
b) Organisation und Aufgaben des ESZB
c) Ausrichtung des ESZB auf die Preisstabilität
d) Die Währungsunion in der Krise – Von der Stabilitäts- zur Stabilisierungsunion
V. Wirtschaftsverwaltung
1. Organisation
a) Unionale Wirtschaftsverwaltung
b) Staatliche Wirtschaftsverwaltung in Bund und Ländern
aa) Bundesverwaltung
bb) Landesverwaltung
c) Selbstverwaltung der Wirtschaft
aa) Allgemeines
bb) Selbstverwaltungsträger
cc) Europäisierung des Kammerrechts
d) Koalitionen und Wirtschaftsverbände
2. Verwaltungszwecke und Steuerungskonzepte im Öffentlichen Wirtschaftsrecht
a) Überwachung
aa) Funktion und Zielsetzung
bb) Referenzgebiete
cc) Beteiligung Privater an der Überwachung
b) Regulierung
aa) Einordnung der Regulierungsverwaltung
bb) Referenzgebiete
c) Wirtschaftslenkung
aa) Marktordnungen
bb) Punktuelle Interventionen
3. Rechts- und Handlungsformen der Verwaltung im Öffentlichen Wirtschaftsrecht
a) Öffentlich-rechtliche Bindung und Formenwahlfreiheit der Verwaltung
b) Überwachung, Regulierung und Wirtschaftslenkung durch Verwaltungsakt
aa) Überwachungsrechtliche Verwaltungsakte
bb) Wirtschaftslenkende Verwaltungsakte
cc) Nebenbestimmungen
dd) Privatrechtsgestaltende Verwaltungsakte
c) Vorhaben- und Unternehmergenehmigungen mit planungsrechtlichem Einschlag
aa) Allgemeines
bb) Atomanlagen
cc) Flughäfen und Flugplätze
VI. Beihilfenrecht
1. Allgemeines
2. Staatliche Beihilfen
a) Begriffe
b) Beihilfen und Vorbehalt des Gesetzes
c) Verwaltungsrechtliche Ausgestaltung des Zuwendungsrechtsverhältnisses
d) Unionsrechtliche Anforderungen
3. Unionsbeihilfen
a) Indirekter Vollzug
b) Direkter Vollzug
VII. Öffentliches Wettbewerbsrecht
1. Unternehmerische Betätigung der Öffentlichen Hand
a) Grundlagen öffentlicher Unternehmenstätigkeit
aa) Formen
bb) Kommunale Wirtschaftstätigkeit
b) Landesbanken und Sparkassen
c) Grundrechte und Haushaltsrecht
aa) Eingriff durch Konkurrenz
bb) Haushaltsrecht
d) Gesellschaftsrecht und Wettbewerbsrecht
aa) Gesellschaftsrecht
bb) Wettbewerbsrecht
e) Unionsrechtliche Bindungen
2. Vergaberecht
a) Aufträge oberhalb der Schwellenwerte
aa) Allgemeines
bb) Vergabefremde Kriterien
b) Aufträge unterhalb der Schwellenwerte
c) Dienstleistungskonzessionen
VIII. Gewerberecht
1. Gewerbefreiheit
a) Begriff des Gewerbes
aa) Gewerbsmäßigkeit
bb) Gewerbsfähigkeit
b) Kompetenzrechtliche Dimension von § 1 GewO
2. Grundlagen gewerberechtlicher Überwachungsmaßnahmen
a) Formales Instrumentarium
aa) Anzeigepflichtige Gewerbe
bb) Genehmigungspflichtige Gewerbe
b) Materielle Maßstäbe: Sachkunde, Zuverlässigkeit
aa) Subjektive Anforderungen
bb) Objektive Anforderungen
c) Weitere Anforderungen
3. Einzelne gewerberechtliche Erlaubnisse
a) Stehendes Gewerbe, Reisegewerbe, Marktverkehr
aa) Stehendes Gewerbe
bb) Reisegewerbe
cc) Marktverkehr
b) Handwerk
aa) Anwendungsbereich
bb) Eintragung in die Handwerksrolle und Überwachung
cc) Berufsausbildung
c) Gaststättengewerbe
d) Beförderungsgewerbe
aa) Personenbeförderungsrecht
bb) Güterkraftverkehr
IX. Regulierungsverwaltung
1. Energiewirtschaftsrecht
2. Eisenbahnen, Post und Telekommunikation
a) Eisenbahnen
b) Post und Telekommunikation
aa) Post
bb) Telekommunikation
Viertes Kapitel. Baurecht
I. Einführung
1. Aufgaben, Begriff und Gegenstände des Baurechts
a) Privates Baurecht
b) Öffentliches Baurecht
aa) Raumordnungsrecht
bb) Städtebaurecht
cc) Bauordnungsrecht
dd) Verhältnis des Städtebaurechts zum Bauordnungsrecht
2. Die verfassungsrechtliche Vorordnung des Baurechts
a) Die bundesstaatliche Kompetenzverteilung für das öffentliche Baurecht
aa) Gesetzgebungszuständigkeiten
bb) Rechtsquellen
cc) Verwaltungszuständigkeiten
b) Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden
c) Grundrechte
aa) Baurecht und Baufreiheit
bb) Leistungsrechtliche Aspekte
II. Raumordnungsrecht
1. Aufgaben, Leitvorstellungen und Prinzipien der Raumordnung
2. Zielsetzung der Raumordnungsplanung und Typen planerischer Aussagen
a) Zielsetzung der Raumordnungsplanung
b) Typen planerischer Aussagen
3. Raumordnungsgrundsätze des Bundes
a) Inhalt der Raumordnungsgrundsätze des Bundes
b) Verwirklichung der Raumordnungsgrundsätze des Bundes
4. Raumordnungsplanung
a) Allgemeine Vorgaben
b) Raumordnungsplanung der Länder
aa) Besondere bundesrechtliche Vorgaben
bb) Landesrechtliche Regelungen
cc) Landesweite Raumordnungsplanung
dd) Regionalplanung
c) Raumordnungsplanung des Bundes
d) Verwirklichung der Raumordnungsplanung
5. Sonstige Instrumente der Raumordnung
a) Untersagung raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen
b) Raumordnungsverfahren
6. Rechtsschutzfragen des Raumordnungsrechts
a) Rechtsschutzkonstellationen
b) Rechtsschutz gegen Raumordnungspläne
III. Städtebaurecht
1. Typen der Bauleitplanung
a) Flächennutzungsplan
aa) Inhalt
bb) Rechtswirkungen
b) Bebauungsplan
aa) Inhalt
bb) Rechtswirkungen
cc) Vorhabenbezogener Bebauungsplan gem § 12 BauGB
2. Aufstellung der Bauleitpläne
a) Planungspflicht
b) Anpassungs- und Entwicklungspflichten
c) Abwägungsgebot und Planungsmaßstäbe
aa) Bauleitplanung und Struktur der Planungsnormen
bb) Rechtsbindung
cc) Kontrollmaßstäbe
d) Aufstellungsverfahren
e) Fehlerfolgen
f) Außerkrafttreten
3. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit von Vorhaben
a) Allgemeines
b) Zulässigkeit von Vorhaben im Geltungsbereich eines qualifizierten oder vorhabenbezogenen Bebauungsplans
aa) § 30 I BauGB bzw § 30 II BauGB
bb) Ausnahmen und Befreiungen
c) Zulässigkeit von Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile (§ 34 BauGB)
d) Zulässigkeit von Vorhaben im Außenbereich
e) Zulässigkeit von Vorhaben aufgrund besonderen Grundrechtsschutzes?
f) Ausnahmen
4. Instrumente und Maßnahmen zur Verwirklichung und Sicherung der Bauleitplanung
a) Veränderungssperre und Zurückstellung von Baugesuchen
b) Grundstücksteilung
c) Gemeindliche Vorkaufsrechte
d) Umlegung und vereinfachte Umlegung
e) Erschließung
f) Enteignung
aa) Gegenstand
bb) Zulässigkeit
cc) Entschädigung
dd) Verfahren
ee) Rechtsweg
g) Städtebauliche Verträge
5. Besonderes Städtebaurecht
a) Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen
b) Stadtumbau
c) Soziale Stadt
d) Private Initiativen
e) Erhaltungssatzung und städtebauliche Gebote
6. Planschadensrecht
IV. Bauordnungsrecht
1. Funktionen des Bauordnungsrechts
a) Gefahrenabwehr
b) Ästhetische Anforderungen
c) Soziale Standards
d) Ökologische Standards
2. Die baurechtliche Verantwortlichkeit
3. Bauaufsichtsbehörden
4. Zulassung von Vorhaben
a) Genehmigungsbedürftige Vorhaben
aa) Genehmigungsarten
bb) Anspruch auf Genehmigung
cc) Abweichungen bzw Ausnahme und Befreiung
dd) Nebenbestimmungen
ee) Regelungsgehalt
ff) Verfahren
gg) Wirksamkeit, Geltungsdauer
b) Nicht-genehmigungsbedürftige Vorhaben
5. Bauüberwachung und (Wieder-)Herstellung baurechtmäßiger Zustände
a) Bauüberwachung
b) (Wieder-)Herstellung baurechtmäßiger Zustände
aa) Ermächtigungsgrundlagen
bb) Bestandsschutz rechtmäßig errichteter baulicher Anlagen
cc) Vorgehen gegen rechtswidrig errichtete bauliche Anlagen
V. Rechtsschutzfragen des Städtebau- und Bauordnungsrechts
1. Gerichtlicher Rechtsschutz gegen städtebauliche Pläne
a) Prinzipale Normenkontrolle
b) Individualrechtsschutzverfahren
2. Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung
a) Verpflichtungsklage
b) Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen
3. Drittschutz (Nachbarschutz)
a) Begriff des „Nachbarn“
b) Einfachgesetzlicher Drittschutz
c) Unvermittelter grundrechtlicher Drittschutz
d) Verfahrensfragen
Fünftes Kapitel. Umweltschutzrecht
I. Entstehung und Entwicklung des Umweltschutzrechts
II. Umweltschutzrecht als Rechtsgebiet
1. Umweltrecht als zielzentriertes Rechtsgebiet
2. Umweltrecht als Mehrebenensystem
a) Bedeutung der Ebenen
aa) Die völkerrechtliche Ebene
bb) Besondere Bedeutung der europäischen Ebene
cc) Relativer Bedeutungsverlust der nationalen Ebene
b) Kompetenzverteilung zwischen den Ebenen
aa) Rechtsetzung
bb) Verwaltung
III. Prinzipien des Umweltrechts
1. Bedeutung der Prinzipien
2. Verursacherprinzip
3. Schutz-, Vorbeuge- und Vorsorgeprinzip
a) Ziele und Ansätze
b) Vorgaben und Abgrenzungen in Unions- und nationalem Recht
c) Vorsorge als Legitimation und Auftrag einer Umweltgesetzgebung
d) Umsetzung und Ausgestaltung im Verwaltungsrecht
4. Nachhaltigkeitsprinzip
5. Integrationsprinzip
6. Weitere Prinzipien
IV. Instrumente und Charakteristika des Umweltrechts
1. Instrumentelle Perspektive im Umweltrecht
2. Hoheitliche Regulierung
a) Normkonkretisierung durch untergesetzliche und private Regelsetzung
b) Differenzierte Eröffnungskontrollen, insbesondere Genehmigung
c) Hohe Bedeutung und umfangreiche Ausgestaltung der Verfahren
aa) Charakteristische Bausteine
bb) Zentraler Verfahrenskomplex: Umweltverträglichkeitsprüfung
cc) Informale Verfahrenselemente
d) Koordination der Einzelmaßnahmen durch staatliche Planung
e) Räumliche Pflichtenregime durch Schutzgebiete
f) Überwachung
aa) Staatliche Überwachung und Eigenüberwachung
bb) Repressive Maßnahmen bei Verstößen
3. Regulierte Selbstregulierung
a) Nutzung von Organisation
aa) Organisationsvorgaben, insbesondere Betriebsbeauftragte
bb) Umwelt-Audit
b) Ausgestaltung des ökonomischen Marktes
aa) Folgenzurechnung durch „Haftung“ (UmwHG; USchadG; Fonds)
bb) Abgaben
cc) Finanzielle Förderung
dd) Nutzung staatlicher Nachfragemacht
ee) Schaffung von Markttransparenz: Umweltkennzeichen, Informationshandeln
c) Einrichtung eines ökonomischen Marktes
aa) Zertifikate
bb) Private Entsorgungsstrukturen
d) Effektivierung politischer Öffentlichkeit: Umweltinformationen
e) Schatten des Rechts: Selbstverpflichtungen der Wirtschaft
4. Instrumentenmix als Strategie
5. Rechtsschutz
a) Grundkonstellationen
b) Allgemeiner Rahmen des Rechtsschutzes
c) Klageart
d) Subjektive Rechte und Klagebefugnis
aa) Schutz und Vorsorge
bb) Abgeschichtete Entscheidungen
e) Klagemöglichkeiten von Umweltverbänden
f) Verfahrensrechte
g) Kontrolldichte
V. Das Recht des Naturschutzes und der Landschaftspflege
1. Allgemeines
2. Landschaftsplanung
3. Eingriffe in Natur und Landschaft
a) Allgemeiner Bestandsschutz
b) Besonderer Biotopschutz
4. Schutzgebiete
5. Artenschutz
VI. Bodenschutzrecht
1. Allgemeines
2. Grundsätze und Pflichten des Bodenschutzes
3. Ergänzende Vorschriften für Altlasten
4. Wertausgleich
VII. Wasserrecht
1. Allgemeines
2. Die allgemeine wasserwirtschaftsrechtliche Benutzungsordnung
a) Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Grundsätze
b) Die Rechtsinstitute der Erlaubnis und der Bewilligung
c) Erlaubnis- oder bewilligungspflichtige Benutzungen
d) Die allgemeinen Voraussetzungen der Erteilung einer Erlaubnis oder Bewilligung
e) Nebenbestimmungen, nachträgliche Beschränkungen und Widerruf einer Erlaubnis oder Bewilligung
f) Gewässeraufsicht und repressives Einschreiten der Wasserbehörden
3. Maßnahmen- und Bewirtschaftungspläne
4. Die Festsetzung von Wasserschutzgebieten
5. Unterhaltung und Ausbau oberirdischer Gewässer
VIII. Immissionsschutzrecht
1. Allgemeines
2. Genehmigungsbedürftige Anlagen
a) Kreis der genehmigungsbedürftigen Anlagen
b) Genehmigungsvoraussetzungen
aa) Betreiberpflichten
bb) Weitere immissionsschutzrechtliche Genehmigungsvoraussetzungen
cc) Außer-immissionsschutzrechtliche Genehmigungsvoraussetzungen
c) Genehmigungsverfahren
d) Inhalt und Wirkung der Anlagengenehmigung
e) Vorbescheid und Teilgenehmigung
f) Nachträgliche Anordnungen
g) Untersagung, Stilllegung und Beseitigung von Anlagen, Widerruf der Anlagengenehmigung
h) Anlagenbezogene Überwachung
3. Nicht genehmigungsbedürftige Anlagen
4. Der produktbezogene Immissionsschutz
5. Der verkehrsbezogene Immissionsschutz
a) Grundlagen des Immissionsschutzes bei Straßen, Schienenwegen und Flughäfen
b) Sonderregelung des Fluglärmschutzgesetzes
6. Der allgemeine handlungsbezogene Immissionsschutz
7. Der gebietsbezogene Immissionsschutz
8. Treibhausgasemissionshandel
a) Allgemeines
b) TEHG 2011, Zuteilung von Berechtigungen
IX. Atom- und Strahlenschutzrecht
1. Allgemeines
2. Die atomrechtliche Anlagengenehmigung
a) Grundlagen und Entwicklung
b) Genehmigungsvoraussetzungen
c) Versagungsermessen
d) Änderungsgenehmigung
e) Genehmigungsverfahren
3. Radioaktive Reststoffe und Abfälle
4. Atomrechtliche Haftung
X. Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht
1. Allgemeines
2. Abfallbegriff
3. Grundsätze und Handlungspflichten im Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht
4. Produktverantwortung
5. Abfallwirtschaftspläne
6. Abfallentsorgungsanlagen
7. Überwachung
Sechstes Kapitel. Das Recht des öffentlichen Dienstes
I. Gegenstand und Begriff
1. Zum systematischen Standort des Rechtsgebiets
2. Öffentlicher und privater Dienst
3. Gesichtspunkte der Abgrenzung
a) Dauer und Eingliederung
b) Abgrenzung nach dem Dienstherrn
c) Ausgrenzung des Rechts der Richter, Berufssoldaten und der kirchlichen Bediensteten
d) Dienstrecht als Straf- und Haftungsrecht
e) Kollektives Dienstrecht
II. Zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Dienstes
1. Zur geschichtlichen Entwicklung
2. Reformfragen
III. Die Rechtsetzungsebenen im Recht des öffentlichen Dienstes und ihre Regelungsfelder
1. Völkerrecht und europäisches Recht
2. Verfassungsrecht
a) Institutionelle Verbürgung des Berufsbeamtentums
aa) Der Funktionsvorbehalt für Beamte
bb) Der verfassungsrechtliche Regelungsauftrag für das Beamtenrecht
b) Ämterzugang und Grundrechtsschutz im Dienstverhältnis
c) Bundesstaatliche Aspekte
3. Das einschlägige Gesetzesrecht im Überblick
IV. Das Beamtenrecht
1. Beamtenbegriffe
a) Staatsrechtlicher, haftungsrechtlicher und strafrechtlicher Beamtenbegriff
b) Kategorien des staatsrechtlichen Beamtenbegriffs
aa) Bundesbeamte, Landesbeamte, Gemeindebeamte
bb) Berufsbeamte auf Lebenszeit und auf Zeit
cc) Beamte auf Probe und auf Widerruf
dd) Laufbahnbeamte
ee) Ehrenbeamte
ff) Politische Beamte
2. Die Begründung, Veränderung und Beendigung des Beamtenverhältnisses
a) Die Ernennung zum Beamten
aa) Anwendungsfeld, Zuständigkeit, Form
bb) Objektive und subjektive Ernennungsvoraussetzungen
cc) Leistungsprinzip, Ernennungsanspruch, Konkurrenz
dd) Die Nichtigkeit der Ernennung
ee) Die Rücknahme der Ernennung
ff) Rechtsfolgen mangelhafter Ernennungen im Innen- und Außenverhältnis
b) Beförderung, Versetzung, Umsetzung und Abordnung
aa) Die Beförderung
bb) Die Versetzung
cc) Die Umsetzung
dd) Die Abordnung
c) Ruhestand, Entlassung und Entfernung aus dem Dienst
aa) Endgültiger und einstweiliger Ruhestand
bb) Die Entlassung
cc) Beendigung des Dienstverhältnisses infolge strafgerichtlicher Verurteilung
dd) Die Entfernung aus dem Dienst
3. Pflichten und Rechte im Beamtenverhältnis
a) Die Pflichten des Beamten
aa) Dienstpflicht, Gehorsamspflicht, Residenzpflicht
bb) Nebentätigkeit des Beamten
cc) Neutralität und Unparteilichkeit im Amt
dd) Amtsverschwiegenheit
ee) Die politische Treuepflicht
b) Dienstvergehen
c) Haftung
d) Die Beamtenrechte
aa) Spezielle Fürsorgeverpflichtungen
bb) Die allgemeine Fürsorgepflicht
cc) Dienstbezüge und deren Rückforderung
dd) Personalakten
e) Die Bedeutung einzelner Grundrechte für die Rechtsstellung des Beamten
4. Rechtsbehelfe im Beamtenverhältnis
a) Außergerichtliche Rechtsbehelfe
b) Gerichtliche Rechtsbehelfe
Siebentes Kapitel. Straßen- und Wegerecht
I. Grundlagen des öffentlichen Straßenrechts
1. Begriffliche Vorklärungen
a) Straßenrecht
b) Straßenverkehrsrecht
2. Das Verhältnis von Straßen- und Straßenverkehrsrecht
a) Der „Vorbehalt“ des Straßenrechts
b) Der „Vorrang“ des Straßenverkehrsrechts
c) Anordnungen nach § 45 StVO
3. Strukturmerkmale des Gesetzesvollzuges
a) Verfassungsrechtliche Vorgaben
b) Straßenbau- und Straßenaufsichtsbehörden
c) Straßenverkehrsämter
4. Sachenrechtliche Grundprinzipien des öffentlichen Straßenrechts
a) Öffentlicher Sachstatus der Straße
b) Die dualistische Vorstellung vom modifizierten Privateigentum
c) Das Prinzip der förmlichen Widmung
d) Formalisierungsprinzip
II. Planung und Bau öffentlicher Straßen
1. Vorbereitende Stufen der Straßenplanung
a) Ausbau- und Bedarfsplanung
b) Raumordnungsverfahren
c) Bestimmung der Planung und Linienführung
2. Die straßenrechtliche Planfeststellung
a) Grundstrukturen des Verfahrensablaufs
b) Rechtsnatur der Planungsentscheidung
c) Rechtswirkungen des Planfeststellungsbeschlusses
d) Schutzauflagen gem § 74 II 2 VwVfG
e) Entbehrlichkeit der Planfeststellung
3. Rechtsschutzfragen
4. Der tatsächliche Bau öffentlicher Straßen
III. Begründung, Veränderung und Beendigung des öffentlichen Sonderstatus
1. Die Widmung
a) Rechtsnatur
b) Formelle und materielle Voraussetzungen
c) Inhalt der Widmungsverfügung
d) Rechtswirkungen
e) Rechtsschutz
2. Die tatsächliche Indienststellung der Straße
3. Veränderungen des Nutzungsumfangs
a) Widmungserweiterung
b) Teileinziehung
c) Einziehung durch Entwidmung
d) Umstufung
4. Straßenrechtliche Statusakte im Dienste der Verkehrsberuhigung
IV. Straßenbaulast und Straßenverkehrssicherungspflicht
1. Die Straßenbaulast
2. Die Straßenverkehrssicherungspflicht
V. Das Regime straßenrechtlicher Nutzungsformen
1. Der Gemeingebrauch
a) Inhalt und Bedeutung
b) Schranken
c) Die Rechtsstellung des Straßenbenutzers
2. Die Sondernutzung
a) Begriff und Arten
b) Sondernutzungserlaubnisse nach öffentlichem Recht
c) Bürgerlich-rechtliche Sondernutzungen
3. Sonderformen der „kommunikativen“ Straßennutzung
4. Die Rechtsstellung des Straßenanliegers
a) Das Anliegerrecht
b) Der Anliegergebrauch
VI. Das Nachbarrecht öffentlicher Straßen
1. Die Aufrechterhaltung der Straßenfunktion
2. Der Schutz der Straßennachbarn
Schlagwortverzeichnis
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Besonderes Verwaltungsrecht: Mit Onlinezugang zur Jura-Kartei-Datenbank (Print-Ausgabe) [15. neu bearb. Aufl.]
 9783110321425, 9783110273632

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I

Friedrich Schoch (Hrsg.) Besonderes Verwaltungsrecht De Gruyter Studium

II

III

Besonderes Verwaltungsrecht Mit Onlinezugang zur Jura-Kartei-Datenbank

Herausgegeben von Friedrich Schoch Bearbeitet von Thomas von Danwitz Martin Eifert Peter M. Huber Walter Krebs Philip Kunig Hans Christian Röhl Eberhard Schmidt-Aßmann Friedrich Schoch 15. Auflage

IV

Das Lehrbuch wurde begründet und von der 1. bis zur 8. Auflage herausgegeben von Ingo von Münch. Von der 9. bis zur 13. Auflage wurde das Lehrbuch herausgegeben von Eberhard Schmidt-Aßmann. Die 14. Auflage wurde gemeinsam von Eberhard Schmidt-Aßmann und Friedrich Schoch herausgegeben.

ISBN 978-3-11-027363-2 e-ISBN 978-3-11-032142-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Datenkonvertierung/Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort

V

Vorwort zur 15. Auflage Vorwort Vorwort

Das Besondere Verwaltungsrecht spielt im akademischen Unterricht sowie in der behördlichen und gerichtlichen Praxis eine erhebliche Rolle. Verwaltung und Verwaltungsrecht nehmen gleichsam konkrete Gestalt an: Kommunales Handeln für Einwohner und Bürger, polizeiliche Gefahrenabwehr, Überwachung von Handel und Gewerbe, Aufstellung von Bauleitplänen und Erlass von Baugenehmigungen, Schutz und Verbesserung der Luft- und Wasserqualität, Einstellung und Verwendung von Beamten, Straßenbau und Straßennutzung liefern anschauliche Beispiele für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben mit den Mitteln des Rechts. Zugleich steht das Besondere Verwaltungsrecht in einer engen Wechselbeziehung mit dem Allgemeinen Verwaltungsrecht, vielfach auch mit dem Verfassungsrecht und dem Europarecht. Die Vernetzung der Rechtsgebiete macht die öffentlich-rechtliche Systembildung notwendig und gestaltet sie anspruchsvoll. Vor diesem Hintergrund ist die seit dem Erscheinen der 1. Auflage 1969 verfolgte Zielsetzung des Buches unverändert geblieben: Den Studierenden wird ein systematisch ausgerichtetes und gut lesbares Lehrbuch zu den wichtigsten Gebieten des Besonderen Verwaltungsrechts an die Hand gegeben; anderen Nutzern – insbesondere Verwaltungsbeamten, Richtern und Rechtsanwälten – wird ein Werk zur Verfügung gestellt, das Orientierung, Übersicht und Impulsgebung zu einem komplexen und vielschichtigen Rechtsstoff bietet. Eberhard Schmidt-Aßmann, der dieses Buch seit der 9. Auflage 1992 herausgegeben bzw. mitherausgegeben hat, hat gebeten, ihn von den Pflichten eines Herausgebers von dieser neuen Auflage an zu entlasten; als Autor der Einleitung ist er dem Werk nach wie vor durch aktive Teilhabe verbunden. Für die mit Umsicht und Engagement betriebene langjährige Herausgeberschaft sprechen Autoren und Verlag ihren tief empfundenen Dank aus. Alleiniger Herausgeber ist nunmehr Friedrich Schoch. Veränderungen hat es seit der Vorauflage auch im Kreis der Autoren gegeben. Das Kapitel zum Kommunalrecht wird jetzt von Hans Christian Röhl allein verantwortet. Das Kapitel zum Umweltschutzrecht hat Martin Eifert von Rüdiger Breuer übernommen und weitgehend neu geschrieben. Für die engagierte Teilnahme an den Vorauflagen gebührt den ausgeschiedenen Autoren großer Dank. Auch in der vorliegenden 15. Auflage versteht sich dieses Lehrbuch als Ergänzung des in derselben Lehrbuchreihe von Hans-Uwe Erichsen und Dirk Ehlers herausgegebenen Lehrbuchs „Allgemeines Verwaltungsrecht“. Die Zusammenhänge zwischen beiden Werken sind vielfältig und werden durch Verweise in den Fußnoten immer wieder dokumentiert. Fortgeführt wird auch die Verzahnung der Beiträge dieses Buches mit der JURA-Kartei (JK); der reiche Fundus der durch die Pfeiltechnik („o“) markierten „verkarteten“ Gerichtsentscheidungen kann erschlossen werden und zum vertieften Studium der Rechtsprobleme aus der Perspektive der Rechtsprechung anregen. Herr wiss. Ass. Bastian Baumann hat die herausgeberischen Arbeiten wesentlich unterstützt. Ihm zur Seite standen insbesondere Constanze Horn, Alexander Pätzmann, Charlotte Rosenkranz, Daniel Vollrath und Philipp Zündorf, ferner Christine Mattes, Conrad Neumann und Thomas Neumann sowie Julius Städele. Allen Mitarbeitern des Freiburger Lehrstuhls für Staatsund Verwaltungsrecht sei für die verlässliche Arbeit gedankt. Für Anregungen, Hinweise und Kritik sind die Autoren und der Herausgeber dankbar. Im Dezember 2012 Thomas von Danwitz, Martin Eifert, Peter Michael Huber, Walter Krebs, Philip Kunig, Hans Christian Röhl, Eberhard Schmidt-Aßmann, Friedrich Schoch

VI

Vorwort

Autoren- und Inhaltsübersicht

Autoren- und Inhaltsübersicht Autoren- und Inhaltsübersicht Autoren- und Inhaltsübersicht

Dr. Eberhard Schmidt-Aßmann Professor an der Universität Heidelberg Einleitung ____ 1 Dr. Hans Christian Röhl Professor an der Universität Konstanz Kommunalrecht ____ 9 Dr. Friedrich Schoch Professor an der Universität Freiburg Polizei- und Ordnungsrecht ____ 125 Dr. Peter M. Huber Richter des Bundesverfassungsgerichts, Professor an der Universität München Öffentliches Wirtschaftsrecht ____ 309 Dr. Walter Krebs Professor an der Freien Universität Berlin Baurecht ____ 433 Dr. Martin Eifert Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Umweltschutzrecht ____ 547 Dr. Philip Kunig Professor an der Freien Universität Berlin Das Recht des öffentlichen Dienstes ____ 661 Dr. Thomas von Danwitz Richter am Europäischen Gerichtshof, Professor an der Universität zu Köln Straßen und Wegerecht ____ 739 Schlagwortverzeichnis ____ 787

VII

VIII

Autoren- und Inhaltsübersicht

Inhaltsübersicht

Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht

Vorwort ____ V Autoren- und Inhaltsübersicht ____ VII Abkürzungsverzeichnis ____ XXXI

Einleitung Besonderes Verwaltungsrecht und Allgemeines Verwaltungsrecht: Zusammenwirken und Lerneffekte I.

Praktische Aufgaben der Orientierung und Entlastung ____ 1

II.

Speziell für das Studium: Veranschaulichung, Wiederholung, Vertiefung ____ 2

III. Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung ____ 5

Erstes Kapitel Kommunalrecht I.

II.

Grundlagen ____ 12 1. Gesetzliche Grundlagen ____ 13 a) Kommunalrecht ieS ____ 13 b) Rechtsgrundlagen kommunaler Tätigkeit ____ 13 2. Grundbegriffe: Gemeinde, Einwohner, Bürger ____ 14 a) Gemeinde ____ 14 b) Einwohner und Bürger ____ 14 c) Rechte und Pflichten der Einwohner und Bürger ____ 15 3. Die Idee bürgerschaftlicher Selbstverwaltung ____ 15 4. Entwicklung der Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland ____ 16 a) Territorialreformen ____ 16 b) Die Bedeutung des Rechts der Europäischen Union ____ 17 5. Aktuelle Herausforderungen ____ 18 a) Bevölkerungsdynamik ____ 18 b) Kommunale Finanzen ____ 19 c) Veränderte Kommunikationsstrukturen ____ 19 Die Verfassungsgarantie des Art 28 II GG ____ 20 1. Vorbemerkung: Die verfassungsrechtliche Stellung der Gemeinden ____ 20 a) Gemeinden: Ein besonderer Teil des Staates ____ 20 b) Die demokratische Verfassungsstruktur in der Gemeinde, Art 28 I 2 GG ____ 21 c) Die Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung ____ 21 aa) Adressaten der Selbstverwaltungsgarantie ____ 22 bb) „Institutionelle Garantie“ und subjektive Rechtsstellung ____ 22 2. Garantie der kommunalen Ebene, Art 28 I 2, II GG ____ 23 3. Schutz der individuellen Gemeinde in ihrem Bestand ____ 23

IX

X

Inhaltsübersicht

4.

5.

Schutz der eigenverantwortlichen Wahrnehmung kommunaler Aufgaben ____ 24 a) Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ____ 25 b) Zuweisung durch den Gesetzgeber ____ 25 aa) Verpflichtung auf eine kommunalspezifische Aufgabenausstattung ____ 26 bb) Abweichung von der Regelzuweisung ____ 26 cc) Überörtliche Angelegenheiten, Gemengelagen, Wanderungsprozesse ____ 27 dd) Art 28 II GG als Schranke kommunalen Handelns? ____ 28 c) Eigenverantwortlichkeit ____ 29 d) Insbesondere: So genannte Gemeindehoheiten ____ 30 e) Der Gesetzesvorbehalt und seine Grenzen ____ 32 aa) Die Kernbereichsgarantie ____ 32 bb) Gemeindespezifisches materielles Aufgabenverteilungsprinzip ____ 33 cc) Zugriff auf die Eigenverantwortlichkeit: Hinreichender Spielraum ____ 33 dd) Zuweisung zusätzlicher Aufgaben ____ 33 Die Selbstverwaltungsgarantie als subjektives Recht ____ 34 a) Kommunale Verfassungsbeschwerde ____ 34 b) Die Bedeutung der Selbstverwaltungsgarantie für das einfache Recht ____ 34

III.

Weitere Gewährleistungen gemeindlicher Selbstverwaltung und kommunaler Rechtspositionen ____ 36 1. Gewährleistungen auf europäischer Ebene ____ 36 a) Unionsrechtliche Gewährleistung der Selbstverwaltung ____ 36 b) Die Berufung auf Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten ____ 37 2. Gewährleistungen im Grundgesetz ____ 37 a) Partielle Finanzgarantien ____ 37 b) Grundrechte ____ 38 aa) Bereiche öffentlicher Aufgabenerfüllung ____ 38 bb) Bereiche fiskalisch-erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit ____ 39 3. Selbstverwaltungsgarantien der Landesverfassungen ____ 39

IV.

Die Gemeinden im Gefüge öffentlicher Aufgabenerfüllung – Aufgabensystematik, Staatsaufsicht und Aufgabenträger ____ 40 1. Kommunale Aufgabensystematik ____ 41 a) Aufgabenkategorien und Staatseinfluss ____ 41 aa) Überblick ____ 41 bb) Dualistisches und monistisches Modell ____ 41 cc) Eigener Wirkungskreis/Freie und pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben ____ 41 dd) Auftragsangelegenheiten/Pflichtaufgaben nach Weisung ____ 42 b) Das systematische Verständnis des Staatseinflusses bei den „Staatsaufgaben“/Pflichtaufgaben nach Weisung ____ 42 aa) Die Perspektive des Art 28 II GG ____ 43 bb) Differenzierungen ____ 44 cc) Ergebnis ____ 44 dd) Verfahrens- und prozessrechtliche Konsequenzen ____ 44 2. Rechtsaufsicht ____ 45 a) Aufsichtsmittel ____ 45 b) Rahmenbedingungen und Rechtsschutz ____ 46

Inhaltsübersicht

3.

4.

5.

6.

V.

Fachaufsicht ____ 47 a) Wesen und Regelungen ____ 47 b) Rechtsschutz gegen fachaufsichtliche Maßnahmen ____ 48 Mittel präventiver Aufsicht ____ 49 a) Zweck und Typik ____ 49 b) Spezielle Genehmigungsvorbehalte ____ 49 aa) Rechtliche Unbedenklichkeitserklärung ____ 50 bb) Staatliche Mitentscheidung, Kondominium ____ 50 Formen der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung im gemeindlichen Raum ____ 51 a) Staatliche Behörden ____ 51 b) Weitere Modi der Aufgabenwahrnehmung ____ 51 c) Privatisierung ____ 52 Aufgabenbestand und Gemeindestatus: kreisfreie und kreisangehörige Gemeinden ____ 52 a) Das Bild der Einheitsgemeinde ____ 53 b) Kreisangehörige Gemeinden ____ 53 c) Kreisfreie Städte ____ 53 d) Privilegierte kreisangehörige Gemeinden ____ 53

Gemeindeverfassungsrecht ____ 54 1. Kommunalwahlen ____ 54 a) Grundsätze ____ 54 b) Rechtsschutz bei Kommunalwahlen ____ 55 2. Überblick: Die Gemeindeorgane ____ 56 3. Der Gemeinderat ____ 57 a) Zusammensetzung und Mitgliederstatus ____ 57 aa) Rechts- und Pflichtenstatus ____ 58 bb) Insbesondere Befangenheitsvorschriften ____ 58 b) Interne Organisation und Verfahren des Rates ____ 59 aa) Ratsvorsitzender ____ 60 bb) Ratsgeschäftsordnung ____ 60 cc) Ratssitzungen ____ 60 dd) Ratsausschüsse ____ 61 ee) Fraktionen ____ 62 c) Aufgaben des Gemeinderates ____ 62 aa) Systematik ____ 62 bb) Vorbehaltsaufgaben des Rates (Überblick) ____ 63 4. Der Bürgermeister ____ 63 a) Status ____ 64 b) Aufgaben ____ 64 aa) Ratszuarbeitung, Ratsvorsitz ____ 64 bb) Einspruchsrecht ____ 64 cc) Geschäfte der laufenden Verwaltung ____ 65 dd) Übertragene Angelegenheiten ____ 65 ee) Dringlichkeitsentscheidungen ____ 66 ff) Außenwirksame Entscheidungen: Verwaltungschef, rechtsgeschäftliche Vertretung, Beteiligungsrechte ____ 66 5. Besonderheiten kollegialer Leitungsgremien ____ 66 6. Kommunalverfassungsstreit ____ 67 a) Grundfragen und Entwicklung ____ 67

XI

XII

Inhaltsübersicht

7.

8. VI.

b) Einzelheiten ____ 68 Formen plebiszitärer Beteiligung ____ 69 a) Schlichte Mitwirkungsmöglichkeiten ____ 69 b) Mitentscheidungsmöglichkeiten ____ 70 Gemeindeinterne Gliederungen: Bezirke, Ortschaften ____ 71

Die Gemeindeverwaltung ____ 73 1. Grundlagen ____ 73 2. Die allgemeine Gemeindeverwaltung ____ 73 3. Wirtschaftliche Unternehmen in öffentlich-rechtlicher Rechtsform ____ 74 a) Überblick ____ 74 b) Eigenbetrieb, Kommunalunternehmen ____ 74 4. Privatrechtliche Organisationsformen als Teil des kommunalen Organisationsrechts ____ 75 a) Rechtsformen ____ 75 b) Erhalt der Gemeinwohlbindungen – „Einwirkungspflicht“ ____ 76 5. Vertragliche Verwaltungsstrukturen in der Kommune ____ 77

VII. Kommunalspezifische Handlungsformen: Rechtsetzung der Gemeinden und kommunale Verträge ____ 78 1. Gemeindliche Satzungen ____ 79 a) Regelungstypus ____ 79 b) Ermächtigungsgrundlage für kommunale Satzungen und Gesetzesvorbehalt ____ 79 c) Formelle Vorgaben ____ 81 aa) Satzungsgebungsverfahren ____ 81 bb) Verfahrensfehler ____ 81 d) Materielle Anforderungen an Satzungen, insbes Vorrang des Gesetzes ____ 82 e) Rechtsschutz gegen Satzungen ____ 83 2. Weitere gemeindliche Rechtsetzungsakte ____ 83 a) Rechtsverordnungen ____ 84 b) Inneradministrative Rechtssätze ____ 84 3. Kommunale Verträge ____ 84 a) Wirksames Zustandekommen ____ 84 aa) Allgemein ____ 84 bb) Insbesondere: Vergaberecht ____ 85 b) Grenzen der Wirksamkeit ____ 86 VIII. Die Leistungen der Gemeinden für ihre Einwohner ____ 87 1. Das Recht kommunaler Leistungserbringung ____ 87 a) Grundfragen ____ 87 b) Modi kommunaler Leistungserbringung ____ 88 2. Insbesondere: Öffentliche Einrichtungen ____ 88 a) Begriff ____ 88 b) Widmung ____ 89 c) Nutzungsrechte ____ 90 d) Benutzungsverhältnis ____ 91 aa) Bei öffentlich-rechtlicher Organisationsform ____ 91 bb) Bei privatrechtlicher Organisationsform ____ 92 cc) Benutzungsbedingungen ____ 92 e) Rechtsformen und Zugang ____ 93

Inhaltsübersicht

3.

IX.

X.

XI.

Einrichtungen mit Anschluss- und Benutzungszwang ____ 94 a) Tatbestand ____ 94 b) Grundrechtsfragen ____ 95 aa) Anschlusspflichtige ____ 95 bb) Anbieter gleichartiger Leistungen ____ 95

Die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden ____ 96 1. Grundlagen ____ 96 a) Kommunale Wirtschaft zwischen Daseinsvorsorge und Gewinnerzielung ____ 96 b) Schutzzweck des kommunalen Wirtschaftsrechts ____ 97 c) Systematische Überlegungen ____ 98 2. Kommunalrechtliche Schranken gemeindlicher Wirtschaftstätigkeit ____ 98 a) Anwendbarkeit ____ 98 b) Kommunalrechtliche Schrankentrias ____ 99 aa) Öffentlicher Zweck ____ 99 bb) Leistungsfähigkeitsbezug ____ 100 cc) Sog Subsidiarität ____ 100 dd) Insbesondere: Territorialitätsprinzip ____ 101 c) Durchsetzung der kommunalrechtlichen Schranken ____ 101 aa) Subjektiv-öffentliche Rechte ____ 101 bb) Durchsetzung über Wettbewerbsrecht (UWG, Vergaberecht) ____ 102 d) Das Recht nichtwirtschaftlicher Unternehmen ____ 102 3. Allgemeines Wirtschaftsrecht ____ 103 4. Unionsrechtlicher Rahmen ____ 103 a) Der allgemeine Rahmen ____ 104 b) Bereichsspezifische Vorgaben ____ 105 Finanzen und Haushalt ____ 106 1. Das Gemeindefinanzsystem ____ 106 a) Überblick über die Einnahmen ____ 106 b) Steuereinnahmen ____ 107 c) Gebühren und Beiträge, privatrechtliche Entgelte ____ 107 d) Finanzzuweisungen, insbes der kommunale Finanzausgleich ____ 108 e) Kredite und Entschuldung ____ 109 f) Reformbedarf ____ 110 2. Kommunales Abgabenrecht ____ 110 a) Steuern ____ 110 b) Gebühren und Beiträge, privatrechtliche Entgelte ____ 111 3. Haushaltsrecht ____ 112 a) Neues Steuerungsmodell und kommunales Haushaltsrecht ____ 112 b) Haushaltssatzung, Haushaltsplan ____ 113 c) Haushaltsvollzug ____ 114 Das Recht der Landkreise (Kreise) ____ 115 1. Grundgesetzliche Rechtsstellung ____ 115 a) Garantie der Kreisebene ____ 115 b) Garantie der Selbstverwaltung ____ 116 2. Aufgaben der Kreise ____ 116 a) Kreisaufgaben und staatliche Steuerung ____ 116 b) Aufgabenverteilung zwischen Kreis und kreisangehörigen Gemeinden ____ 117

XIII

XIV

Inhaltsübersicht

3.

4.

aa) Übergemeindliche Aufgaben ____ 117 bb) Ergänzende Aufgaben ____ 117 cc) Ausgleichende Aufgaben ____ 117 dd) Kompetenz-Kompetenz ____ 118 Organe des Kreises ____ 118 a) Kreistag ____ 118 b) Landrat ____ 119 c) Kreisausschuss ____ 119 Staatliche Verwaltung im Kreis ____ 119

XII. Sonstige Gemeindeverbände, Zweckverbände, interkommunale Zusammenarbeit ____ 120 1. Gesamtgemeinden ____ 121 2. Höhere Gemeindeverbände ____ 123 3. Interkommunale Zusammenarbeit, Zweckverbände ____ 123 a) Formen interkommunaler Zusammenarbeit ____ 123 b) Insbesondere Zweckverbandsbildungen ____ 124

Zweites Kapitel Polizei- und Ordnungsrecht I.

Grundlagen des Polizei- und Ordnungsrechts ____ 128 1. Begriff und Gegenstand des Polizei- und Ordnungsrechts ____ 128 a) Polizeibegriff als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen ____ 129 aa) Wandlungen des Polizeibegriffs ____ 129 bb) Heutige Polizeibegriffe ____ 130 b) Inhalt und Umfang des Gefahrenabwehrrechts ____ 131 aa) Abgrenzung zur Strafverfolgung ____ 131 bb) Einbeziehung vorbeugender Bekämpfung von Straftaten ____ 133 c) Fazit ____ 138 2. Gefahrenabwehr als staatliche Aufgabe ____ 138 a) Gewährleistung der Inneren Sicherheit als Staatsaufgabe ____ 138 b) Gefahrenabwehr durch Private ____ 139 aa) Erscheinungsformen des privaten Sicherheitsgewerbes ____ 140 bb) Rechtliche Grundlagen ____ 141 cc) Privatisierung der Gefahrenabwehr ____ 144 c) Fazit ____ 145 3. Rechtsstaatliche Anforderungen an die Gefahrenabwehr ____ 145 a) Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes ____ 145 b) Rechtliche Bindungen für Gefahrenabwehrmaßnahmen ____ 146 4. Polizei- und Ordnungsrecht im Bundesstaat ____ 147 a) Gesetzgebung ____ 147 b) Verwaltung ____ 148 aa) Grundsatz: Verwaltungszuständigkeit der Länder ____ 148 bb) Ausnahme: Verwaltungskompetenzen des Bundes ____ 148 5. Europäisierung und Internationalisierung der Gefahrenabwehr ____ 159 a) Europarechtliche Vorgaben ____ 159 aa) Grundlegung: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ____ 160 bb) Ausprägungen Polizeilicher Zusammenarbeit ____ 160

Inhaltsübersicht

6. II.

cc) Institutionalisierung der Polizeilichen Zusammenarbeit ____ 162 dd) Operative Polizeiliche Zusammenarbeit ____ 164 b) Internationalisierung der Gefahrenabwehr ____ 165 Allgemeine Polizei- und Ordnungsverwaltung ____ 166

Materielles Polizei- und Ordnungsrecht ____ 168 1. Die Generalklausel ____ 168 a) Die Generalklausel als Eingriffsermächtigung ____ 168 aa) Spezialermächtigungen und Subsidiarität der Generalklausel ____ 168 bb) Anwendungsbereich der Generalklausel ____ 173 cc) Struktur und Bedeutung der Generalklausel ____ 175 b) Schutzgüter der Generalklausel ____ 176 aa) Öffentliche Sicherheit ____ 176 bb) Öffentliche Ordnung ____ 183 c) Gefahrenlage ____ 186 aa) Störung ____ 187 bb) Prognose ____ 187 cc) Anscheinsgefahr ____ 189 dd) Gefahrverdacht ____ 190 ee) Qualifizierte Gefahrbegriffe ____ 192 d) Befugnis zur Gefahrenabwehr (Opportunitätsprinzip) ____ 193 aa) Ermessen der Gefahrenabwehrbehörden ____ 193 bb) Ermessensgrenzen ____ 194 cc) Ermessensreduzierung ____ 200 dd) Anspruch auf Einschreiten ____ 201 2. Polizei- und ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit ____ 202 a) Polizei- und Ordnungspflicht als Zurechnungsproblem ____ 202 b) Funktion und Bedeutung der Verantwortlichkeit ____ 203 c) Rechtssubjekte der Polizei- und Ordnungspflicht ____ 205 d) Verhaltensverantwortlichkeit ____ 206 aa) Gefahrverursachung ____ 207 bb) Verhaltensverantwortlichkeit durch Unterlassen ____ 209 cc) Verhaltensverantwortlichkeit des Zweckveranlassers ____ 211 dd) Zusatzverantwortlichkeit ____ 213 e) Zustandsverantwortlichkeit ____ 213 aa) Legitimität der Zustandsverantwortlichkeit ____ 214 bb) Entstehung der Zustandsverantwortlichkeit ____ 214 cc) Grenzen der Zustandsverantwortlichkeit ____ 215 dd) Zustandsverantwortliche Rechtssubjekte ____ 217 ee) Ordnungspflicht im Insolvenzverfahren ____ 219 ff) Latente Gefahr ____ 221 gg) Anscheinsgefahr und Gefahrverdacht ____ 221 f) Rechtsnachfolge in die Polizei- und Ordnungspflicht ____ 222 aa) Problemstellung ____ 222 bb) Abstrakte Polizei- und Ordnungspflicht ____ 223 cc) Konkretisierte Polizei- und Ordnungspflicht ____ 224 dd) Fazit ____ 226 g) Störermehrheit: Auswahlermessen bei mehreren Verantwortlichen ____ 226 aa) Effektivität der Gefahrenabwehr als Ermessensdirektive ____ 227

XV

XVI

Inhaltsübersicht

3.

4.

5.

III.

bb) Kostentragung bei Störermehrheit ____ 229 cc) Gesamtschuldnerausgleich bei mehreren Verantwortlichen ____ 230 Polizeilicher und ordnungsbehördlicher Notstand ____ 230 a) Notstandspflicht im Gefahrenabwehrrecht ____ 230 b) Voraussetzungen für Notstandsmaßnahmen ____ 232 aa) Qualifizierte Gefahrenlage ____ 233 bb) Aussichtslosigkeit der Gefahrenabwehr durch Verantwortlichen ____ 233 cc) Unmöglichkeit behördlicher Gefahrenabwehr ____ 235 dd) Beachtung der Opfergrenze ____ 236 c) Rechtsfolgen der Notstandspflicht ____ 237 d) Umfang und Dauer von Notstandsmaßnahmen ____ 237 e) Folgenbeseitigung und Ersatzansprüche ____ 238 aa) Folgenbeseitigung bei Notstandsmaßnahmen ____ 238 bb) Entschädigung des Nichtverantwortlichen ____ 239 Standardmaßnahmen ____ 239 a) Begriff und Bedeutung ____ 239 b) Klassische Standardmaßnahmen ____ 240 aa) Befragung und Auskunftsverlangen ____ 241 bb) Identitätsfeststellung ____ 241 cc) Erkennungsdienstliche Maßnahmen ____ 244 dd) Vorladung und Vorführung ____ 245 ee) Platzverweisung, Aufenthaltsverbot, Wohnungsverweisung ____ 246 ff) Ingewahrsamnahme ____ 253 gg) Durchsuchung von Personen und Sachen ____ 260 hh) Durchsuchung und Betreten von Wohnungen ____ 261 ii) Sicherstellung und Beschlagnahme ____ 264 c) Informationserhebung ____ 269 aa) Allgemeine Grundsätze ____ 269 bb) Rechtsgrundlagen ____ 271 cc) Besondere Mittel der Informationserhebung ____ 272 dd) Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen ____ 273 d) Informationsverarbeitung ____ 275 aa) Allgemeine Grundsätze ____ 275 bb) Ermittlungsverfahren und Gefahrenabwehr ____ 275 cc) Informationsabgleich ____ 276 dd) Informationsübermittlung ____ 277 ee) Rechte der betroffenen Person ____ 279 Sondergesetzliche Eingriffsbefugnisse ____ 280 a) Vorrang von Spezialregelungen ____ 280 b) Beispiel: Gefahrenabwehr im Versammlungswesen ____ 281

Formelles Polizei- und Ordnungsrecht ____ 283 1. Zuständigkeitsordnung ____ 283 2. Handlungsformen zur Gefahrenabwehr ____ 284 a) Einzelfallmaßnahmen ____ 284 aa) Verwaltungsakt ____ 285 bb) Verwaltungsrealakt ____ 285 b) Gefahrenabwehrverordnungen ____ 286 aa) Funktion und Bedeutung von Gefahrenabwehrverordnungen ____ 286 bb) Voraussetzungen für Gefahrenabwehrverordnungen ____ 287

Inhaltsübersicht

c)

IV.

cc) Determinanten für den Verordnungserlass ____ 290 dd) Durchsetzung der Verordnung ____ 291 Zwangsweise Durchsetzung von Gefahrenabwehrmaßnahmen ____ 291 aa) Zwangsmittel ____ 292 bb) Verwaltungszwang im gestreckten Verfahren ____ 294 cc) Unmittelbare Ausführung und Sofortvollzug ____ 297

Kostenersatz und Entschädigung im Polizei- und Ordnungsrecht ____ 300 1. Kostenersatzansprüche der Verwaltung ____ 300 a) Vorbehalt des Gesetzes ____ 300 b) Kostenersatz für Gefahrenabwehrmaßnahmen ____ 301 c) Kostentragung bei Anscheinsgefahr und Gefahrverdacht ____ 304 2. Ersatzansprüche des Bürgers ____ 304 a) Entschädigungsanspruch des Nichtstörers ____ 304 aa) Voraussetzungen des Schadensausgleichs ____ 305 bb) Rechtsfolge des Anspruchs ____ 306 b) Schadensausgleich bei rechtswidrigen Maßnahmen ____ 307 c) Ersatzansprüche bei Anscheinsgefahr und Gefahrverdacht ____ 308

Drittes Kapitel Öffentliches Wirtschaftsrecht I.

II.

Grundlagen des Öffentlichen Wirtschaftsrechts ____ 314 1. Herausbildung und Gegenstand des Öffentlichen Wirtschaftsrechts ____ 314 2. Historische Grundlagen ____ 315 a) Merkantilismus ____ 316 b) Liberalismus ____ 316 c) Sozialstaat und Soziale Marktwirtschaft ____ 317 d) Europäisierung und Internationalisierung – Kapitalismus II ____ 318 3. Marktwirtschaft und Wettbewerb, Planwirtschaft und Sozialisierung ____ 319 Verfassungsrechtliche Grundlagen ____ 320 1. Wirtschaftsverfassung ____ 320 a) Begriff der Wirtschaftsverfassung ____ 320 b) Streit um die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes ____ 320 c) Der soziale Rechtsstaat ____ 322 2. Gesetzgebung und Regierung im Öffentlichen Wirtschaftsrecht ____ 324 a) Bundesstaatliche Kompetenzverteilung und Öffentliches Wirtschaftsrecht ____ 324 b) Rechtsstaatliche Anforderungen ____ 325 aa) Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ____ 325 bb) Einzelfragen der Gesetzgebung ____ 325 3. Grundrechtsschutz wirtschaftlicher Tätigkeit ____ 327 a) Allgemeines ____ 327 aa) Grundrechtsberechtigung ____ 328 bb) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ____ 328 cc) Grundsatz des Vertrauensschutzes ____ 329 b) Allgemeiner Gleichheitssatz ____ 329 c) Allgemeine Wirtschafts- und Unternehmensfreiheit ____ 331

XVII

XVIII

Inhaltsübersicht

d) e)

f)

III.

IV.

V.

Koalitionsfreiheit ____ 332 Berufsfreiheit ____ 333 aa) Schutzbereich ____ 333 bb) Schranken ____ 335 cc) Eingriffsermächtigungen ____ 337 dd) Schutzpflicht ____ 338 Eigentumsgarantie ____ 338 aa) Struktur ____ 338 bb) Schutzbereich ____ 339 cc) Schranken ____ 341

Unionsrechtliche Grundlagen ____ 343 1. Allgemeines ____ 343 2. Die europäische Rechtsordnung als wechselseitige Auffang- und Kooperationsordnung ____ 344 3. Grundzüge des Unionsrechts, allgemeine Rechtsgrundsätze ____ 346 a) Grundrechte ____ 346 aa) Anwendungsbereich ____ 346 bb) Wirtschaftsgrundrechte ____ 347 cc) Sonstige Grundrechte ____ 348 b) Rechtsangleichung ____ 349 c) Staatshaftung ____ 349 4. Binnenmarkt und Grundfreiheiten ____ 350 a) Grundfreiheiten ____ 350 b) Unionales Wettbewerbsrecht ____ 351 Wirtschafts- und Währungspolitik ____ 352 1. Begriffe ____ 352 2. Wirtschaftspolitik ____ 355 a) Konjunkturpolitik und Globalsteuerung ____ 355 aa) Ökonomische Konzeption ____ 355 bb) Bindungswirkung ____ 355 cc) Instrumentarium ____ 356 dd) Bewertung ____ 356 b) Fiskalpolitik ____ 357 aa) Unionsrechtliche Grundlagen ____ 357 bb) Innerstaatliche Regelungen ____ 358 cc) Völkerrechtliche Ergänzungen ____ 359 c) Außenhandelspolitik ____ 359 d) Wirtschaftsstatistik ____ 360 3. Währungsunion und Währungspolitik ____ 360 a) Eintrittsvoraussetzungen ____ 361 b) Organisation und Aufgaben des ESZB ____ 362 c) Ausrichtung des ESZB auf die Preisstabilität ____ 363 d) Die Währungsunion in der Krise – Von der Stabilitäts- zur Stabilisierungsunion ____ 364 Wirtschaftsverwaltung ____ 365 1. Organisation ____ 365 a) Unionale Wirtschaftsverwaltung ____ 365

Inhaltsübersicht

Staatliche Wirtschaftsverwaltung in Bund und Ländern ____ 366 aa) Bundesverwaltung ____ 366 bb) Landesverwaltung ____ 368 c) Selbstverwaltung der Wirtschaft ____ 369 aa) Allgemeines ____ 369 bb) Selbstverwaltungsträger ____ 370 cc) Europäisierung des Kammerrechts ____ 372 d) Koalitionen und Wirtschaftsverbände ____ 374 Verwaltungszwecke und Steuerungskonzepte im Öffentlichen Wirtschaftsrecht ____ 375 a) Überwachung ____ 375 aa) Funktion und Zielsetzung ____ 375 bb) Referenzgebiete ____ 376 cc) Beteiligung Privater an der Überwachung ____ 377 b) Regulierung ____ 378 aa) Einordnung der Regulierungsverwaltung ____ 379 bb) Referenzgebiete ____ 380 c) Wirtschaftslenkung ____ 380 aa) Marktordnungen ____ 381 bb) Punktuelle Interventionen ____ 382 Rechts- und Handlungsformen der Verwaltung im Öffentlichen Wirtschaftsrecht ____ 382 a) Öffentlich-rechtliche Bindung und Formenwahlfreiheit der Verwaltung ____ 382 b) Überwachung, Regulierung und Wirtschaftslenkung durch Verwaltungsakt ____ 384 aa) Überwachungsrechtliche Verwaltungsakte ____ 384 bb) Wirtschaftslenkende Verwaltungsakte ____ 385 cc) Nebenbestimmungen ____ 386 dd) Privatrechtsgestaltende Verwaltungsakte ____ 386 c) Vorhaben- und Unternehmergenehmigungen mit planungsrechtlichem Einschlag ____ 386 aa) Allgemeines ____ 386 bb) Atomanlagen ____ 389 cc) Flughäfen und Flugplätze ____ 390 b)

2.

3.

VI.

XIX

Beihilfenrecht ____ 393 1. Allgemeines ____ 393 2. Staatliche Beihilfen ____ 395 a) Begriffe ____ 395 b) Beihilfen und Vorbehalt des Gesetzes ____ 396 c) Verwaltungsrechtliche Ausgestaltung des Zuwendungsrechtsverhältnisses ____ 397 d) Unionsrechtliche Anforderungen ____ 398 3. Unionsbeihilfen ____ 400 a) Indirekter Vollzug ____ 400 b) Direkter Vollzug ____ 401

VII. Öffentliches Wettbewerbsrecht ____ 401 1. Unternehmerische Betätigung der Öffentlichen Hand ____ 402 a) Grundlagen öffentlicher Unternehmenstätigkeit ____ 402 aa) Formen ____ 402 bb) Kommunale Wirtschaftstätigkeit ____ 403 b) Landesbanken und Sparkassen ____ 404

XX

Inhaltsübersicht

Grundrechte und Haushaltsrecht ____ 405 aa) Eingriff durch Konkurrenz ____ 405 bb) Haushaltsrecht ____ 406 d) Gesellschaftsrecht und Wettbewerbsrecht ____ 406 aa) Gesellschaftsrecht ____ 406 bb) Wettbewerbsrecht ____ 407 e) Unionsrechtliche Bindungen ____ 407 Vergaberecht ____ 408 a) Aufträge oberhalb der Schwellenwerte ____ 409 aa) Allgemeines ____ 409 bb) Vergabefremde Kriterien ____ 410 b) Aufträge unterhalb der Schwellenwerte ____ 411 c) Dienstleistungskonzessionen ____ 411 c)

2.

VIII. Gewerberecht ____ 412 1. Gewerbefreiheit ____ 412 a) Begriff des Gewerbes ____ 412 aa) Gewerbsmäßigkeit ____ 413 bb) Gewerbsfähigkeit ____ 413 b) Kompetenzrechtliche Dimension von § 1 GewO ____ 415 2. Grundlagen gewerberechtlicher Überwachungsmaßnahmen ____ 416 a) Formales Instrumentarium ____ 416 aa) Anzeigepflichtige Gewerbe ____ 416 bb) Genehmigungspflichtige Gewerbe ____ 416 b) Materielle Maßstäbe: Sachkunde, Zuverlässigkeit ____ 417 aa) Subjektive Anforderungen ____ 417 bb) Objektive Anforderungen ____ 420 c) Weitere Anforderungen ____ 420 3. Einzelne gewerberechtliche Erlaubnisse ____ 420 a) Stehendes Gewerbe, Reisegewerbe, Marktverkehr ____ 420 aa) Stehendes Gewerbe ____ 420 bb) Reisegewerbe ____ 420 cc) Marktverkehr ____ 421 b) Handwerk ____ 421 aa) Anwendungsbereich ____ 422 bb) Eintragung in die Handwerksrolle und Überwachung ____ 423 cc) Berufsausbildung ____ 424 c) Gaststättengewerbe ____ 425 d) Beförderungsgewerbe ____ 426 aa) Personenbeförderungsrecht ____ 426 bb) Güterkraftverkehr ____ 428 IX.

Regulierungsverwaltung ____ 428 1. Energiewirtschaftsrecht ____ 428 2. Eisenbahnen, Post und Telekommunikation ____ 430 a) Eisenbahnen ____ 430 b) Post und Telekommunikation ____ 431 aa) Post ____ 432 bb) Telekommunikation ____ 432

Inhaltsübersicht

Viertes Kapitel Baurecht I.

II.

III.

Einführung ____ 435 1. Aufgaben, Begriff und Gegenstände des Baurechts ____ 435 a) Privates Baurecht ____ 436 b) Öffentliches Baurecht ____ 436 aa) Raumordnungsrecht ____ 436 bb) Städtebaurecht ____ 437 cc) Bauordnungsrecht ____ 437 dd) Verhältnis des Städtebaurechts zum Bauordnungsrecht ____ 437 2. Die verfassungsrechtliche Vorordnung des Baurechts ____ 438 a) Die bundesstaatliche Kompetenzverteilung für das öffentliche Baurecht ____ 438 aa) Gesetzgebungszuständigkeiten ____ 438 bb) Rechtsquellen ____ 439 cc) Verwaltungszuständigkeiten ____ 441 b) Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden ____ 441 c) Grundrechte ____ 447 aa) Baurecht und Baufreiheit ____ 447 bb) Leistungsrechtliche Aspekte ____ 449 Raumordnungsrecht ____ 451 1. Aufgaben, Leitvorstellungen und Prinzipien der Raumordnung ____ 452 2. Zielsetzung der Raumordnungsplanung und Typen planerischer Aussagen ____ 452 a) Zielsetzung der Raumordnungsplanung ____ 452 b) Typen planerischer Aussagen ____ 453 3. Raumordnungsgrundsätze des Bundes ____ 455 a) Inhalt der Raumordnungsgrundsätze des Bundes ____ 455 b) Verwirklichung der Raumordnungsgrundsätze des Bundes ____ 456 4. Raumordnungsplanung ____ 456 a) Allgemeine Vorgaben ____ 456 b) Raumordnungsplanung der Länder ____ 457 aa) Besondere bundesrechtliche Vorgaben ____ 457 bb) Landesrechtliche Regelungen ____ 459 cc) Landesweite Raumordnungsplanung ____ 460 dd) Regionalplanung ____ 462 c) Raumordnungsplanung des Bundes ____ 463 d) Verwirklichung der Raumordnungsplanung ____ 464 5. Sonstige Instrumente der Raumordnung ____ 465 a) Untersagung raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen ____ 465 b) Raumordnungsverfahren ____ 466 6. Rechtsschutzfragen des Raumordnungsrechts ____ 467 a) Rechtsschutzkonstellationen ____ 467 b) Rechtsschutz gegen Raumordnungspläne ____ 467 Städtebaurecht ____ 469 1. Typen der Bauleitplanung ____ 469 a) Flächennutzungsplan ____ 470 aa) Inhalt ____ 470 bb) Rechtswirkungen ____ 471

XXI

XXII

Inhaltsübersicht

Bebauungsplan ____ 472 aa) Inhalt ____ 472 bb) Rechtswirkungen ____ 474 cc) Vorhabenbezogener Bebauungsplan gem § 12 BauGB ____ 475 Aufstellung der Bauleitpläne ____ 476 a) Planungspflicht ____ 476 b) Anpassungs- und Entwicklungspflichten ____ 478 c) Abwägungsgebot und Planungsmaßstäbe ____ 479 aa) Bauleitplanung und Struktur der Planungsnormen ____ 479 bb) Rechtsbindung ____ 481 cc) Kontrollmaßstäbe ____ 484 d) Aufstellungsverfahren ____ 485 e) Fehlerfolgen ____ 489 f) Außerkrafttreten ____ 491 Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit von Vorhaben ____ 492 a) Allgemeines ____ 492 b) Zulässigkeit von Vorhaben im Geltungsbereich eines qualifizierten oder vorhabenbezogenen Bebauungsplans ____ 494 aa) § 30 I BauGB bzw § 30 II BauGB ____ 494 bb) Ausnahmen und Befreiungen ____ 494 c) Zulässigkeit von Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile (§ 34 BauGB) ____ 495 d) Zulässigkeit von Vorhaben im Außenbereich ____ 496 e) Zulässigkeit von Vorhaben aufgrund besonderen Grundrechtsschutzes? ____ 499 f) Ausnahmen ____ 501 Instrumente und Maßnahmen zur Verwirklichung und Sicherung der Bauleitplanung ____ 502 a) Veränderungssperre und Zurückstellung von Baugesuchen ____ 502 b) Grundstücksteilung ____ 503 c) Gemeindliche Vorkaufsrechte ____ 504 d) Umlegung und vereinfachte Umlegung ____ 505 e) Erschließung ____ 506 f) Enteignung ____ 507 aa) Gegenstand ____ 508 bb) Zulässigkeit ____ 508 cc) Entschädigung ____ 509 dd) Verfahren ____ 509 ee) Rechtsweg ____ 510 g) Städtebauliche Verträge ____ 510 Besonderes Städtebaurecht ____ 511 a) Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen ____ 512 b) Stadtumbau ____ 513 c) Soziale Stadt ____ 513 d) Private Initiativen ____ 513 e) Erhaltungssatzung und städtebauliche Gebote ____ 514 Planschadensrecht ____ 514 b)

2.

3.

4.

5.

6. IV.

Bauordnungsrecht ____ 516 1. Funktionen des Bauordnungsrechts ____ 516

Inhaltsübersicht

2. 3. 4.

5.

V.

a) Gefahrenabwehr ____ 517 b) Ästhetische Anforderungen ____ 519 c) Soziale Standards ____ 521 d) Ökologische Standards ____ 521 Die baurechtliche Verantwortlichkeit ____ 522 Bauaufsichtsbehörden ____ 522 Zulassung von Vorhaben ____ 523 a) Genehmigungsbedürftige Vorhaben ____ 523 aa) Genehmigungsarten ____ 523 bb) Anspruch auf Genehmigung ____ 524 cc) Abweichungen bzw Ausnahme und Befreiung ____ 524 dd) Nebenbestimmungen ____ 525 ee) Regelungsgehalt ____ 525 ff) Verfahren ____ 526 gg) Wirksamkeit, Geltungsdauer ____ 529 b) Nicht-genehmigungsbedürftige Vorhaben ____ 529 Bauüberwachung und (Wieder-)Herstellung baurechtmäßiger Zustände ____ 530 a) Bauüberwachung ____ 530 b) (Wieder-)Herstellung baurechtmäßiger Zustände ____ 531 aa) Ermächtigungsgrundlagen ____ 531 bb) Bestandsschutz rechtmäßig errichteter baulicher Anlagen ____ 532 cc) Vorgehen gegen rechtswidrig errichtete bauliche Anlagen ____ 533

Rechtsschutzfragen des Städtebau- und Bauordnungsrechts ____ 535 1. Gerichtlicher Rechtsschutz gegen städtebauliche Pläne ____ 535 a) Prinzipale Normenkontrolle ____ 535 b) Individualrechtsschutzverfahren ____ 536 2. Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung ____ 537 a) Verpflichtungsklage ____ 537 b) Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen ____ 538 3. Drittschutz (Nachbarschutz) ____ 539 a) Begriff des „Nachbarn“ ____ 539 b) Einfachgesetzlicher Drittschutz ____ 540 c) Unvermittelter grundrechtlicher Drittschutz ____ 542 d) Verfahrensfragen ____ 543

Fünftes Kapitel Umweltschutzrecht I. II.

Entstehung und Entwicklung des Umweltschutzrechts ____ 551 Umweltschutzrecht als Rechtsgebiet ____ 553 1. Umweltrecht als zielzentriertes Rechtsgebiet ____ 553 2. Umweltrecht als Mehrebenensystem ____ 554 a) Bedeutung der Ebenen ____ 554 aa) Die völkerrechtliche Ebene ____ 554 bb) Besondere Bedeutung der europäischen Ebene ____ 556 cc) Relativer Bedeutungsverlust der nationalen Ebene ____ 557 b) Kompetenzverteilung zwischen den Ebenen ____ 558

XXIII

XXIV

Inhaltsübersicht

aa) Rechtsetzung ____ 558 bb) Verwaltung ____ 560 III.

IV.

Prinzipien des Umweltrechts ____ 561 1. Bedeutung der Prinzipien ____ 562 2. Verursacherprinzip ____ 563 3. Schutz-, Vorbeuge- und Vorsorgeprinzip ____ 564 a) Ziele und Ansätze ____ 564 b) Vorgaben und Abgrenzungen in Unions- und nationalem Recht ____ 565 c) Vorsorge als Legitimation und Auftrag einer Umweltgesetzgebung ____ 566 d) Umsetzung und Ausgestaltung im Verwaltungsrecht ____ 568 4. Nachhaltigkeitsprinzip ____ 569 5. Integrationsprinzip ____ 570 6. Weitere Prinzipien ____ 571 Instrumente und Charakteristika des Umweltrechts ____ 571 1. Instrumentelle Perspektive im Umweltrecht ____ 571 2. Hoheitliche Regulierung ____ 573 a) Normkonkretisierung durch untergesetzliche und private Regelsetzung ____ 573 b) Differenzierte Eröffnungskontrollen, insbesondere Genehmigung ____ 574 c) Hohe Bedeutung und umfangreiche Ausgestaltung der Verfahren ____ 577 aa) Charakteristische Bausteine ____ 577 bb) Zentraler Verfahrenskomplex: Umweltverträglichkeitsprüfung ____ 578 cc) Informale Verfahrenselemente ____ 580 d) Koordination der Einzelmaßnahmen durch staatliche Planung ____ 580 e) Räumliche Pflichtenregime durch Schutzgebiete ____ 581 f) Überwachung ____ 581 aa) Staatliche Überwachung und Eigenüberwachung ____ 581 bb) Repressive Maßnahmen bei Verstößen ____ 582 3. Regulierte Selbstregulierung ____ 583 a) Nutzung von Organisation ____ 583 aa) Organisationsvorgaben, insbesondere Betriebsbeauftragte ____ 583 bb) Umwelt-Audit ____ 584 b) Ausgestaltung des ökonomischen Marktes ____ 586 aa) Folgenzurechnung durch „Haftung“ (UmwHG; USchadG; Fonds) ____ 586 bb) Abgaben ____ 588 cc) Finanzielle Förderung ____ 589 dd) Nutzung staatlicher Nachfragemacht ____ 590 ee) Schaffung von Markttransparenz: Umweltkennzeichen, Informationshandeln ____ 591 c) Einrichtung eines ökonomischen Marktes ____ 591 aa) Zertifikate ____ 591 bb) Private Entsorgungsstrukturen ____ 593 d) Effektivierung politischer Öffentlichkeit: Umweltinformationen ____ 594 e) Schatten des Rechts: Selbstverpflichtungen der Wirtschaft ____ 596 4. Instrumentenmix als Strategie ____ 597 5. Rechtsschutz ____ 598 a) Grundkonstellationen ____ 598 b) Allgemeiner Rahmen des Rechtsschutzes ____ 598

Inhaltsübersicht

c) d)

e) f) g) V.

VI.

XXV

Klageart ____ 599 Subjektive Rechte und Klagebefugnis ____ 599 aa) Schutz und Vorsorge ____ 599 bb) Abgeschichtete Entscheidungen ____ 600 Klagemöglichkeiten von Umweltverbänden ____ 601 Verfahrensrechte ____ 602 Kontrolldichte ____ 603

Das Recht des Naturschutzes und der Landschaftspflege ____ 604 1. Allgemeines ____ 604 2. Landschaftsplanung ____ 606 3. Eingriffe in Natur und Landschaft ____ 606 a) Allgemeiner Bestandsschutz ____ 606 b) Besonderer Biotopschutz ____ 608 4. Schutzgebiete ____ 608 5. Artenschutz ____ 609 Bodenschutzrecht ____ 609 1. Allgemeines ____ 609 2. Grundsätze und Pflichten des Bodenschutzes ____ 610 3. Ergänzende Vorschriften für Altlasten ____ 612 4. Wertausgleich ____ 613

VII. Wasserrecht ____ 613 1. Allgemeines ____ 613 2. Die allgemeine wasserwirtschaftsrechtliche Benutzungsordnung ____ 614 a) Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Grundsätze ____ 614 b) Die Rechtsinstitute der Erlaubnis und der Bewilligung ____ 615 c) Erlaubnis- oder bewilligungspflichtige Benutzungen ____ 616 d) Die allgemeinen Voraussetzungen der Erteilung einer Erlaubnis oder Bewilligung ____ 618 e) Nebenbestimmungen, nachträgliche Beschränkungen und Widerruf einer Erlaubnis oder Bewilligung ____ 619 f) Gewässeraufsicht und repressives Einschreiten der Wasserbehörden ____ 620 3. Maßnahmen- und Bewirtschaftungspläne ____ 621 4. Die Festsetzung von Wasserschutzgebieten ____ 621 5. Unterhaltung und Ausbau oberirdischer Gewässer ____ 622 VIII. Immissionsschutzrecht ____ 623 1. Allgemeines ____ 623 2. Genehmigungsbedürftige Anlagen ____ 624 a) Kreis der genehmigungsbedürftigen Anlagen ____ 625 b) Genehmigungsvoraussetzungen ____ 625 aa) Betreiberpflichten ____ 625 bb) Weitere immissionsschutzrechtliche Genehmigungsvoraussetzungen ____ 630 cc) Außer-immissionsschutzrechtliche Genehmigungsvoraussetzungen ____ 631 c) Genehmigungsverfahren ____ 631 d) Inhalt und Wirkung der Anlagengenehmigung ____ 632 e) Vorbescheid und Teilgenehmigung ____ 634 f) Nachträgliche Anordnungen ____ 634

XXVI

Inhaltsübersicht

g)

3. 4. 5.

6. 7. 8.

IX.

X.

Untersagung, Stilllegung und Beseitigung von Anlagen, Widerruf der Anlagengenehmigung ____ 636 h) Anlagenbezogene Überwachung ____ 636 Nicht genehmigungsbedürftige Anlagen ____ 637 Der produktbezogene Immissionsschutz ____ 638 Der verkehrsbezogene Immissionsschutz ____ 639 a) Grundlagen des Immissionsschutzes bei Straßen, Schienenwegen und Flughäfen ____ 639 b) Sonderregelung des Fluglärmschutzgesetzes ____ 639 Der allgemeine handlungsbezogene Immissionsschutz ____ 640 Der gebietsbezogene Immissionsschutz ____ 640 Treibhausgasemissionshandel ____ 642 a) Allgemeines ____ 642 b) TEHG 2011, Zuteilung von Berechtigungen ____ 643

Atom- und Strahlenschutzrecht ____ 644 1. Allgemeines ____ 644 2. Die atomrechtliche Anlagengenehmigung ____ 645 a) Grundlagen und Entwicklung ____ 645 b) Genehmigungsvoraussetzungen ____ 646 c) Versagungsermessen ____ 648 d) Änderungsgenehmigung ____ 649 e) Genehmigungsverfahren ____ 649 3. Radioaktive Reststoffe und Abfälle ____ 649 4. Atomrechtliche Haftung ____ 651 Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht ____ 652 1. Allgemeines ____ 652 2. Abfallbegriff ____ 654 3. Grundsätze und Handlungspflichten im Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht ____ 655 4. Produktverantwortung ____ 658 5. Abfallwirtschaftspläne ____ 659 6. Abfallentsorgungsanlagen ____ 659 7. Überwachung ____ 660

Sechstes Kapitel Das Recht des öffentlichen Dienstes I.

Gegenstand und Begriff ____ 663 1. Zum systematischen Standort des Rechtsgebiets ____ 663 2. Öffentlicher und privater Dienst ____ 664 3. Gesichtspunkte der Abgrenzung ____ 665 a) Dauer und Eingliederung ____ 665 b) Abgrenzung nach dem Dienstherrn ____ 666 c) Ausgrenzung des Rechts der Richter, Berufssoldaten und der kirchlichen Bediensteten ____ 667 d) Dienstrecht als Straf- und Haftungsrecht ____ 667 e) Kollektives Dienstrecht ____ 667

Inhaltsübersicht

II.

III.

IV.

XXVII

Zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Dienstes ____ 669 1. Zur geschichtlichen Entwicklung ____ 669 2. Reformfragen ____ 672 Die Rechtsetzungsebenen im Recht des öffentlichen Dienstes und ihre Regelungsfelder ____ 675 1. Völkerrecht und europäisches Recht ____ 675 2. Verfassungsrecht ____ 677 a) Institutionelle Verbürgung des Berufsbeamtentums ____ 677 aa) Der Funktionsvorbehalt für Beamte ____ 677 bb) Der verfassungsrechtliche Regelungsauftrag für das Beamtenrecht ____ 679 b) Ämterzugang und Grundrechtsschutz im Dienstverhältnis ____ 683 c) Bundesstaatliche Aspekte ____ 684 3. Das einschlägige Gesetzesrecht im Überblick ____ 685 Das Beamtenrecht ____ 686 1. Beamtenbegriffe ____ 686 a) Staatsrechtlicher, haftungsrechtlicher und strafrechtlicher Beamtenbegriff ____ 687 b) Kategorien des staatsrechtlichen Beamtenbegriffs ____ 688 aa) Bundesbeamte, Landesbeamte, Gemeindebeamte ____ 688 bb) Berufsbeamte auf Lebenszeit und auf Zeit ____ 688 cc) Beamte auf Probe und auf Widerruf ____ 689 dd) Laufbahnbeamte ____ 689 ee) Ehrenbeamte ____ 690 ff) Politische Beamte ____ 690 2. Die Begründung, Veränderung und Beendigung des Beamtenverhältnisses ____ 691 a) Die Ernennung zum Beamten ____ 691 aa) Anwendungsfeld, Zuständigkeit, Form ____ 691 bb) Objektive und subjektive Ernennungsvoraussetzungen ____ 693 cc) Leistungsprinzip, Ernennungsanspruch, Konkurrenz ____ 697 dd) Die Nichtigkeit der Ernennung ____ 703 ee) Die Rücknahme der Ernennung ____ 704 ff) Rechtsfolgen mangelhafter Ernennungen im Innen- und Außenverhältnis ____ 705 b) Beförderung, Versetzung, Umsetzung und Abordnung ____ 707 aa) Die Beförderung ____ 708 bb) Die Versetzung ____ 709 cc) Die Umsetzung ____ 709 dd) Die Abordnung ____ 710 c) Ruhestand, Entlassung und Entfernung aus dem Dienst ____ 710 aa) Endgültiger und einstweiliger Ruhestand ____ 710 bb) Die Entlassung ____ 712 cc) Beendigung des Dienstverhältnisses infolge strafgerichtlicher Verurteilung ____ 714 dd) Die Entfernung aus dem Dienst ____ 714 3. Pflichten und Rechte im Beamtenverhältnis ____ 714 a) Die Pflichten des Beamten ____ 715 aa) Dienstpflicht, Gehorsamspflicht, Residenzpflicht ____ 715

XXVIII

4.

Inhaltsübersicht

bb) Nebentätigkeit des Beamten ____ 717 cc) Neutralität und Unparteilichkeit im Amt ____ 718 dd) Amtsverschwiegenheit ____ 719 ee) Die politische Treuepflicht ____ 720 b) Dienstvergehen ____ 720 c) Haftung ____ 723 d) Die Beamtenrechte ____ 724 aa) Spezielle Fürsorgeverpflichtungen ____ 724 bb) Die allgemeine Fürsorgepflicht ____ 725 cc) Dienstbezüge und deren Rückforderung ____ 727 dd) Personalakten ____ 730 e) Die Bedeutung einzelner Grundrechte für die Rechtsstellung des Beamten ____ 732 Rechtsbehelfe im Beamtenverhältnis ____ 735 a) Außergerichtliche Rechtsbehelfe ____ 735 b) Gerichtliche Rechtsbehelfe ____ 736

Siebentes Kapitel Straßen- und Wegerecht I.

II.

Grundlagen des öffentlichen Straßenrechts ____ 740 1. Begriffliche Vorklärungen ____ 741 a) Straßenrecht ____ 741 b) Straßenverkehrsrecht ____ 741 2. Das Verhältnis von Straßen- und Straßenverkehrsrecht ____ 741 a) Der „Vorbehalt“ des Straßenrechts ____ 742 b) Der „Vorrang“ des Straßenverkehrsrechts ____ 742 c) Anordnungen nach § 45 StVO ____ 743 3. Strukturmerkmale des Gesetzesvollzuges ____ 745 a) Verfassungsrechtliche Vorgaben ____ 745 b) Straßenbau- und Straßenaufsichtsbehörden ____ 747 c) Straßenverkehrsämter ____ 748 4. Sachenrechtliche Grundprinzipien des öffentlichen Straßenrechts ____ 748 a) Öffentlicher Sachstatus der Straße ____ 748 b) Die dualistische Vorstellung vom modifizierten Privateigentum ____ 749 c) Das Prinzip der förmlichen Widmung ____ 750 d) Formalisierungsprinzip ____ 750 Planung und Bau öffentlicher Straßen ____ 751 1. Vorbereitende Stufen der Straßenplanung ____ 751 a) Ausbau- und Bedarfsplanung ____ 751 b) Raumordnungsverfahren ____ 752 c) Bestimmung der Planung und Linienführung ____ 753 2. Die straßenrechtliche Planfeststellung ____ 753 a) Grundstrukturen des Verfahrensablaufs ____ 754 b) Rechtsnatur der Planungsentscheidung ____ 756 c) Rechtswirkungen des Planfeststellungsbeschlusses ____ 758 d) Schutzauflagen gem § 74 II 2 VwVfG ____ 759 e) Entbehrlichkeit der Planfeststellung ____ 760

Inhaltsübersicht

3. 4. III.

IV.

V.

VI.

Rechtsschutzfragen ____ 762 Der tatsächliche Bau öffentlicher Straßen ____ 764

Begründung, Veränderung und Beendigung des öffentlichen Sonderstatus ____ 764 1. Die Widmung ____ 765 a) Rechtsnatur ____ 765 b) Formelle und materielle Voraussetzungen ____ 766 c) Inhalt der Widmungsverfügung ____ 766 d) Rechtswirkungen ____ 767 e) Rechtsschutz ____ 768 2. Die tatsächliche Indienststellung der Straße ____ 769 3. Veränderungen des Nutzungsumfangs ____ 769 a) Widmungserweiterung ____ 769 b) Teileinziehung ____ 769 c) Einziehung durch Entwidmung ____ 770 d) Umstufung ____ 771 4. Straßenrechtliche Statusakte im Dienste der Verkehrsberuhigung ____ 771 Straßenbaulast und Straßenverkehrssicherungspflicht ____ 772 1. Die Straßenbaulast ____ 772 2. Die Straßenverkehrssicherungspflicht ____ 773 Das Regime straßenrechtlicher Nutzungsformen ____ 774 1. Der Gemeingebrauch ____ 775 a) Inhalt und Bedeutung ____ 775 b) Schranken ____ 776 c) Die Rechtsstellung des Straßenbenutzers ____ 776 2. Die Sondernutzung ____ 777 a) Begriff und Arten ____ 777 b) Sondernutzungserlaubnisse nach öffentlichem Recht ____ 778 c) Bürgerlich-rechtliche Sondernutzungen ____ 779 3. Sonderformen der „kommunikativen“ Straßennutzung ____ 781 4. Die Rechtsstellung des Straßenanliegers ____ 781 a) Das Anliegerrecht ____ 782 b) Der Anliegergebrauch ____ 783 Das Nachbarrecht öffentlicher Straßen ____ 784 1. Die Aufrechterhaltung der Straßenfunktion ____ 784 2. Der Schutz der Straßennachbarn ____ 784

Schlagwortverzeichnis ____ 787

XXIX

XXX

Inhaltsübersicht

Abkürzungsverzeichnis

XXXI

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis A a aA aaO AbfAblV AbfallR AbfG AbfKlärV AbfKoBiV AbfRRL AbfVerbrG AbfVerbrVO abgedr ABl abl Abs Abschn abw AbwAG abwM AbwV Achterberg/ Püttner/ Würtenberger, BesVwR AcP aE AEG AEUV aF AFBG AfK AfP AG AGB AGBauGB AGLMBG AgrarR AGVwGO AK-GG AktG allg/allgem AllgVwR ALR Alt aM AMG amtl Begr AmtsG AmtsO

Ausschuss auch anderer Auffassung am angegebenen Ort Abfallablagerungsverordnung Zeitschrift für das Recht der Abfallwirtschaft Abfallgesetz/Abfallbeseitigungsgesetz Klärschlammverordnung Abfallwirtschaftskonzept- u. bilanzverordnung Abfallrahmenrichtlinie Abfallverbringungsgesetz Abfallverbringungsverordnung abgedruckt Amtsblatt ablehnend Absatz Abschnitt abweichend Abwasserabgabengesetz abweichende Meinung Abwasserverordnung N. Achterberg, G. Püttner, Th. Würtenberger (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 1 u 2, 2. Aufl 2000

Archiv für die civilistische Praxis am Ende Allgemeines Eisenbahngesetz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz Archiv für Kommunalwissenschaften Archiv für Presserecht Ausführungsgesetz, Amtsgericht, Aktiengesellschaft Allgemeine Geschäftsbedingungen Ausführungsgesetz zum Baugesetzbuch Gesetz zur Ausführung des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes Agrarrecht, Zeitschrift für das gesamte Recht der Landwirtschaft, der Agrarmärkte und des ländlichen Raums Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H.-P. Schneider, E. Stein (Hrsg), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Lsbl) Aktiengesetz allgemein Allgemeines Verwaltungsrecht Preußisches Allgemeines Landrecht Alternative anderer Meinung Arzneimittelgesetz amtliche Begründung Amtsgericht Amtsordnung

XXXII

Änd ÄndG ÄndGAbwAG ÄndRL ÄndV Anm AO AOK AöR ApoG ArbplSchG ArbRGgwart

Abkürzungsverzeichnis

ARSP Art AS ASOG AsylVfG AT AtAnlV ATDG AtG, AtomG AtVfV AufenthG Auff aufgeh Aufl AuR ausdr ausf/ausführl AuslG AVB AVwV/AVV AWG Az

Änderung Änderungsgesetz Gesetz zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes Änderungsrichtlinie Änderungsverordnung Anmerkung Abgabenordnung Allgemeine Ortskrankenkasse Archiv des öffentlichen Rechts Apothekengesetz Arbeitsplatzschutzgesetz Das Arbeitsrecht der Gegenwart (Jahrbuch für das gesamte Arbeitsrecht und die Arbeitsgerichtsbarkeit) Arbeit und Recht Archiv für Post und Telekommunikation Archiv des Völkerrechts argumentum Arbeitsgemeinschaft der für das Bau-, Wohnungs- und Siedlungswesen zuständigen Minister der Länder Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Amtliche Sammlung Allgemeines Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin Asylverfahrensgesetz Allgemeiner Teil Atomanlagen-Verordnung Antiterrordateigesetz Atomgesetz Atomrechtliche Verfahrensverordnung Aufenthaltsgesetz Auffassung aufgehoben Auflage s ArbuR ausdrücklich ausführlich Ausländergesetz Allgemeine Versorgungsbedingungen allgemeine Verwaltungsvorschrift/Verordnung über das Europäische Abfallverzeichnis Außenwirtschaftsgesetz Aktenzeichen

Badura, StaatsR bad-württ BAFA BaFin BAG BAGE BALM BAnz BAT BattG BattVO BauGB BauGBMaßnG

P. Badura, Staatsrecht, 5. Aufl 2012 baden-württembergisch Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung Bundesanzeiger Bundesangestelltentarifvertrag Batteriegesetz Batterieverordnung Baugesetzbuch Maßnahmengesetz zum Baugesetzbuch

ArbuR ArchivPT/ArchPT ArchVR arg ARGEBAU

Abkürzungsverzeichnis

BauNVO BauO, BO BauOrdR BauR BauROG BauZVO Bay bay, bayer BayGLKrWG BayKomR BayObLG BayRS BayVBl BayVerfGH BayVerfGHE BayVGH BayVGHE BB BBahnG BBankG BBauG BBergG BBesG Bbg bbg BBG BbgAGVwGO BbgVerfG BBodSchG BBodSchV Bd/Bde BDG BDH BDHE BDiszG BDO BDSG BeamtVG Bearb BeckOK BeckRS Begr/begr Beil bejah Bek, Bekanntm Benda/Maihofer/ Vogel, HVerfR BenzinbleiG ber BergG bes BestüVAbfV BesVwR

XXXIII

Baunutzungsverordnung Bauordnung Bauordnungsrecht Baurecht Gesetz zur Änderung des Baugesetzbuchs und zur Neuregelung des Rechts der Raumordnung Bauplanungs- und Zulassungsverordnung Bayern bayerisch Bayerisches Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz Bayerisches Kommunalrecht Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerische Rechtssammlung Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verfassungsgerichtshof Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs Betriebs-Berater Bundesbahngesetz Bundesbankgesetz Bundesbaugesetz Bundesberggesetz Bundesbesoldungsgesetz Brandenburg brandenburgisch Bundesbeamtengesetz Brandenburgisches Ausführungsgesetz zur Verwaltungsgerichtsordnung Brandenburgisches Verfassungsgericht Bundesbodenschutzgesetz Bundes-Bodenschutz- und Altlastenverordnung Band/Bände Bundesdisziplinargesetz Bundesdisziplinarhof Entscheidungen des Bundesdisziplinarhofs Bundesdisziplinargericht Bundesdisziplinarordnung Bundesdatenschutzgesetz Beamtenversorgungsgesetz Bearbeiter Beck’scher Online-Kommentar Beck-Rechtsprechung Begründung/begründet Beilage bejahend Bekanntmachung E. Benda, W. Maihofer, H.-J. Vogel (Hrsg), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl 1994 Gesetz zur Verminderung von Lufverunreinigungen durch Bleiverbindungen in Ottokraftstoffen für Kraftfahrzeugmotore berichtigt Berggesetz besonders Verordnung zur Bestimmung von überwachungsbedürftigen Abfällen zur Verwertung Besonderes Verwaltungsrecht

XXXIV

bestät betr BEVVG BezG BezReg BFH BFHE BFStrG BfV BG bga-Berichte BGB BGBl BGH BGHR BGHSt BGHZ Bgm BGS BGSG BHO Bibl BImSchG BImSchR BImSchV BinSchAufgG BIP BJagdG BK BKA BKAG BLE BLJ Bln bln BLV BM BMF BMI BMT-G II BMU BNatSchG BND BNDG BNetzA BNotO BO BodSchG Bonner Kommentar, GG BPersVG BPolG BR-Drs

Abkürzungsverzeichnis

bestätigend betreffend Gesetz über die Eisenbahnverkehrsverwaltung des Bundes Bezirksgericht Bezirksregierung Bundesfinanzhof Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bundesfernstraßengesetz Bundesamt für Verfassungsschutz Beamtengesetz Berichte des Bundesgesundheitsamts Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof BGH-Rechtsprechung Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bürgermeister Bundesgrenzschutz Bundesgrenzschutzgesetz Bundeshaushaltsordnung Bibliothek Bundes-Immissionsschutzgesetz Bundes-Immissionsschutzrecht Bundes-Immissionsschutzverordnung Gesetz über die Aufgaben des Bundes auf dem Gebiet der Binnenschifffahrt (Binnenschifffahrtsaufgabengesetz) Bruttoinlandsprodukt Bundesjagdgesetz R. Dolzer, K. Vogel, K. Graßhof (Hrsg), Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Lsbl Bundeskriminalamt Gesetz über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung Bucerius Law Journal Berlin berlinisch Bundeslaufbahnverordnung s Bgm Bundesministerium der Finanzen Bundesminister(ium) des Innern Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Bundesnaturschutzgesetz Bundesnachrichtendienst Gesetz über den Bundesnachrichtendienst Bundesnetzagentur Bundesnotarordnung s BauO Bodenschutzgesetz s BK Bundespersonalvertretungsgesetz Bundespolizeigesetz Drucksachen des Deutschen Bundesrates

Abkürzungsverzeichnis

BRAO BRat BReg BROG BRRG BRS BSchG, BSchVG Bsp/Bspl bsplsw Bspr BStatG BStBl BT BT(ag) BT-Drs BtMG Buchst BVerfG BVerfG-K BVerfGE BVerfGG BVerfSchG

XXXV

BVertriebenenG BVerwG BVerwGE BW BWaldG BWGZ BWV BWVP/BWVPr BzBlG bzgl bzw

Bundesrechtsanwaltsordnung Bundesrat Bundesregierung Bundesraumordnungsgesetz Beamtenrechtsrahmengesetz Baurechtssammlung Gesetz über den gewerblichen Binnenschiffsverkehr Beispiel(e) beispielsweise Besprechung Bundesstatistikgesetz Bundessteuerblatt Besonderer Teil Bundestag Drucksachen des Deutschen Bundestages Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz) Buchstabe Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgericht, Kammerentscheidung Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bundesverfassungsschutzgesetz) Bundesvertriebenengesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Baden-Württemberg Bundeswaldgesetz Baden-Württembergische Gemeindezeitung Bundeswehrverwaltung Baden-Württembergische Verwaltungspraxis s BenzinbleiG bezüglich beziehungsweise

ca Callies/Ruffert, EUV/AEUV CCS ChemG ChemVerbotsV cic CITES CLP-Verordnung CMLR CR CuR

circa C. Callies/M. Ruffert (Hrsg), EUV/AEUV: Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta, 4. Aufl 2011 Carbon Dioxide Capture and Storage Chemikaliengesetz Chemie-Verbotsverordnung culpa in contrahendo Washingtoner Artenschutzabkommen Regulation on Classification, Labelling and Packaging of Substances and Mixtures Common Market Law Revue Computer und Recht Contracting und Recht

d DAR Darst dass DB DDR

durch Deutsches Autorecht Darstellungen dasselbe Der Betrieb Deutsche Demokratische Republik

XXXVI

DDT Def DEHSt dens DepV ders DfK dgg DGO dh dies diff Diff DIN Diss DJT DM DöD Dok DÖV Dreier, GG

Abkürzungsverzeichnis

DRiG Drittbearb DRiZ DSD DStJG dt/dtsch Dt Dem Rep DtKomR DtZ DuD DüngeMG DV DVBl DVGW DVP DWiR/DZWiR

Dichloridiphenyltrichloräthan Definition Deutsche Emissionshandelsstelle denselben Deponieverordnung derselbe Deutsche Zeitschrift für Kommunalwissenschaften dagegen Deutsche Gemeindeordnung das heißt dieselben differenzierend Differenzierungen Deutsches Institut für Normung eV Dissertation Deutscher Juristentag Deutsche Mark Der öffentliche Dienst Dokument(e) Die öffentliche Verwaltung H. Dreier (Hrsg), Grundgesetz, Kommentar, Bd 1, 2. Aufl 2004; Bd 2, 2. Aufl 2006; Bd 3, 2. Aufl 2008 Deutsches Richtergesetz Drittbearbeitung Deutsche Richterzeitung Duales System Deutschland Jahrbuch der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft deutsch s DDR Deutsches Kommunalrecht Deutsch-Deutsche Rechtszeitschrift Datenschutz und Datensicherheit Düngemittelgesetz Die Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Deutscher Verein des Gas- und Wasserfaches eV Deutsche Verwaltungspraxis Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht

E EAG EAG Bau EAGV ebd/ebda EBG ed(s) EdF EEA EEG EEG EEWärmeG EfbV EFSF EG EGBGB

Entwurf Europäische Atomgemeinschaft Europarechtsanpassungsgesetz Bau Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft ebenda Erschließungsbeitraggesetz editor(s) Electricité de France Einheitliche Europäische Akte Enteignungsgesetz Erneuerbare-Energien-Gesetz Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz Entsorgungsfachbetriebeverordnung Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch

Abkürzungsverzeichnis

EGGVG EGMR EGStGB EGV/EG-V ehem EHG Ehlers/Fehling/ Pünder, BesVwR Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im ÖR EIB Einf einschl einschr EinV einz EL EMRK EMAS endg EneuOG Entsch entspr Entw EnWG EP Erg ErgBd Erichsen/Ehlers, AllgVwR ErstattungsG ESM ESVGH ESZB ET etc EU EUDUR EuG EuGH EUGRCh EuGRZ EuR EURATOM europ europarechtl EurUP EUV EuZW eV EV, EinV EvakVO evtl EWG

XXXVII

Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ehemalig Einzelhandelsgesetz D. Ehlers, M. Fehling, H. Pünder (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 1, 3. Aufl 2012; Bd 3, 3. Aufl 2013 D. Ehlers, F. Schoch (Hrsg), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009 Europäische Investitionsbank Einführung einschließlich einschränkend s EV einzelnen Ergänzungslieferung Europäische Menschenrechtskonvention Environmental Management and Audit Scheme endgültig Eisenbahnneuordnungsgesetz Entscheidung entsprechend Entwurf Energiewirtschaftsgesetz Europäisches Parlament Ergebnis Ergänzungsband H.-U. Erichsen, D. Ehlers (Hrsg), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl 2010 Gesetz über das Verfahren für die Erstattung von Fehlbeständen an öffentlichem Vermögen Europäischer Stabilisierungsmechanismus Entscheidungssammlung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg Europäisches System der Zentralbanken Energiewirtschaftliche Tagesfragen und so weiter/et cetera Europäische Union Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht Gericht der Europäischen Union Europäischer Gerichtshof Charta der Grundrechte der Europäischen Union Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Europäische Atomgemeinschaft europäisch europarechtlich Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht eingetragener Verein Einigungsvertrag Verordnung über die Evakuierung von Rollstuhlbenutzern eventuell Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

XXXVIII

Abkürzungsverzeichnis

EWGV EWS EWiR EWR EzA EZB

EWG-Vertrag = Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht Entscheidungen für Wirtschaftsrecht Europäischer Wirtschaftsraum Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht Europäische Zentralbank

f FAG FamFG

die nächste folgende Seite/Randnummer; für Finanzausgleichsgesetz/Fernmeldeanlagengesetz Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit Frankfurter Allgemeine Zeitung Folgenbeseitigungsanspruch Fahrerlaubnisverordnung Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen die nächsten folgenden Seiten/Randnummern Fauna-Flora-Habitat Festgabe/Finanzgericht Gesetz über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit Finanzarchiv Finanzwirtschaft Fleischhygienegesetz Flurbereinigungsgesetz Fußnote E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd 1, 10. Aufl 1973

FAZ FBA FeV FEVG ff FFH FG FGG FinArch FiWi FlHG FlurbG Fn Forsthoff, VwR/ VerwR FPR Frenz, HBEUR FS FStrG FStrPrivFinG FVG G/Ges GA GastG/GaststG GATT GBl GDatPol geänd GefAbwG GefahrstoffV GFG gem Gem GemH GemHVO GemKVO GemO GenTG ges/gesetzl GeschO Gesellsch GesEntw GESTA

Familie Partnerschaft Recht W. Frenz, Handbuch Europarecht, 2004 ff. Festschrift s BFStrG Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz Gesetz über die Finanzverwaltung Gesetz Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Gaststättengesetz General Agreement on Tariffs and Trade Gesetzblatt Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei geändert Gesetz über die Gefahrenabwehr Gefahrstoffverordnung Gemeindefinanzierungsgesetz gemäß Gemeinde Der Gemeindehaushalt Gemeindehaushaltsverordnung Gemeindekassenverordnung Gemeindeordnung Gentechnikgesetz gesetzlich Geschäftsordnung Gesellschaft Gesetzentwurf Stand der Gesetzgebung des Bundes (Datenbank)

Abkürzungsverzeichnis

GewAbfV GewArch GewO GewSchG GewStG GG gg ggf, ggfls GGK GK GK-BImSchG GKÖD GleichbG GLKrWG GlüÄndSt GlüStV GmbH GmbHG GmbHR GMBl GO GoA GPSG GrCh/GR-Charta grds GRe GrStG GRUR GS GSG GSiG GüKG GV GV NW GVBl, GVOBl GVG GVwR

XXXIX

GWB GWG GewStG

Gewerbeabfallverordnung Gewerbearchiv Gewerbeordnung Gewaltschutzgesetz (des Bundes) Gewerbesteuergesetz Grundgesetz gegen gegebenenfalls Grundgesetz-Kommentar Gemeinschaftskommentar Gemeinschaftskommentar zum Bundesimmissionsschutzgesetz Gesamtkommentar öffentliches Dienstrecht Gleichberechtigungsgesetz s BayGLKrWG Glücksspieländerungsstaatsvertrag Glücksspielstaatsvertrag Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau Gemeinsames Ministerialblatt Gemeindeordnung, Geschäftsordnung Geschäftsführung ohne Auftrag Gesetz über technische Arbeitsmittel und Verbraucherprodukte Grundrechte-Charta grundsätzlich s Grundrechte Grundsteuergesetz Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gesetzessammlung/Gedächtnisschrift Gerätesicherheitsgesetz Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Güterkraftverkehrsgesetz Gemeinsame Verfügung (mehrerer Ministerien) Gesetz- und Verordnungsblatt des Landes Nordrhein-Westfalen Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg), Grundlagen des Verwaltungsrechts, GVwR I (2. Aufl 2012), GVwR II (2. Aufl 2012), GVwR III (2009) Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Gemeindewahlgesetz Gewerbesteuergesetz

H Halbbd HandwO Hans HansOLG hauptamtl Hb Hbg HBG HBKomU Hdb HdlStatG HDSW

Heft Halbband Handwerksordnung Hanseatisch Hanseatisches Oberlandesgericht hauptamtlich Handbuch Hamburg, hamburgisch Hessisches Beamtengesetz W. Hoppe/B. Stüer (Hrsg), Handbuch Kommunale Unternehmen, 2. Aufl 2007 Handbuch Handelsstatistikgesetz Handwörterbuch der Sozialwissenschaften

XL

Abkürzungsverzeichnis

Hdwb HeilprG Herv Hess, hess Hesse, VerfR HessStGH HessVerf HessVGH HFR HG HGB HGR HGrG HHG Hinw hL hM HO HRG Hrsg, hrsg HS/Hs/Halbs HSOG HStR P. M. Huber, AllgVwR Hufen, VerwPrR HVerfR HWaG HwO Hws HwVG HZ

Handwörterbuch Heilpraktikergesetz Hervorhebung Hessen, hessisch K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl 1995 Hessischer Staatsgerichtshof Hessische Landesverfassung Hessischer Verwaltungsgerichtshof Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung Hochschulgesetz Handelsgesetzbuch s Merten/Papier Haushaltsgrundsätzegesetz Haushaltsgesetz Hinweis herrschende Lehre herrschende Meinung Haushaltsordnung Hochschulrahmengesetz Herausgeber, herausgegeben Halbsatz Hessisches Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung s Isensee/Kirchhof, HStR Peter M. Huber, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl 1997

i Erg/iE idF idR idS iE/i Einz ieL IEL ieS IFG IfSG

im Ergebnis in der Fassung in der Regel in diesem Sinne im Einzelnen in erster Linie Industrial Engineering Letters im engeren Sinne Informationsfreiheitsgesetz Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz) Industrie- und Handelskammer Gesetz über die Industrie- und Handelskammern International Legal Materials International Labour Organization Implementation and Enforcement of Environmental Law inklusive insbesondere insgesamt Insolvenzordnung Gesetz zur Erleichterung von Investitionen und der Ausweisung und Bereitstellung von Wohnbauland

IHK IHKG ILM ILO IMPEL inkl insbes/insb insges InsO InvWoBaulG

F. Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 8. Aufl 2011 s Benda/Maihofer/Vogel, HVerfR Hamburgisches Wassergesetz Handwerksordnung Hinweis Gesetz über eine Rentenversicherung der Handwerker Historische Zeitschrift

Abkürzungsverzeichnis

InvZulG inzw IPE IR iS v/d iSd iSe Isensee/Kirchhof, HStR

Investitionszulagengesetz inzwischen Ius Publicum Europaeum Infrastrukturrecht im Sinne von/des im Sinne des im Sinne eines Isensee, P. Kirchhof (Hrsg), Handbuch des Staatsrechts

IUR iV mit/iVm IVU/IVV iwS iZw

Bd I Historische Grundlagen 3. Aufl 2003 Bd II Verfassungsstaat 3. Aufl 2004 Bd III Demokratie – Bundesorgane 3. Aufl 2005 Bd IV Aufgaben des Staates 3. Aufl 2006 Bd V Rechtsquellen, Organisation, Finanzen 3. Aufl 2007 Bd VI Bundesstaat 3. Aufl 2008 Bd VII Freiheitsrechte 3. Aufl 2009 Bd VIII Grundrechte: Wirtschaft, Verfahren, Gleichheit 3. Aufl 2010 Bd IX Allgemeine Grundrechtslehren 3. Aufl 2011 Bd X Deutschland in der Staatengemeinschaft 3. Aufl 2012 Informationsdienst Umweltrecht in Verbindung mit Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung im weiteren Sinne im Zweifel

J JA JAO/JAPO Jarass/Pieroth, GG Jb JbDBP JbUTR JEEPL jew Jh(dt) JhbSächsOVG JK JöR JR jur JURA Juris JuS JUTR JZ

Jahre Juristische Arbeitsblätter Juristenausbildungs- und Prüfungsordnung H. D. Jarass/B. Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 12. Aufl 2012 Jahrbuch Jahrbuch der Deutschen Bundespost Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts Journal for European Environmental & Planning Law jeweils Jahrhundert Jahrbuch des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts Jura-Kartei Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Rundschau juristisch Juristische Ausbildung Juristisches Informationssystem Juristische Schulung Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts Juristenzeitung

K K&R KAG Kap Kennz KfW Kfz KG KGG

Kammer Kommunikation & Recht Kommunalabgabengesetz Kapitel Kennziffer Kreditanstalt für Wiederaufbau Kraftfahrzeug Kommanditgesellschaft/Kammergericht Gesetz über kommunale Gemeinschaftsarbeit

XLI

XLII

Abkürzungsverzeichnis

KGSt-Bericht KHGG NW KJHG KKW Knack/Henneke VwVfG KOM KOM SEK KomE KommJur KommunalPraxisBY KommWahlG/ KomWG KommZG KomR Kopp/Schenke VwGO Kopp/Ramsauer VwVfG KorrespAbw krit KritV KrO KrWG KStZ KSVG KUG KV KWG KWahlG KWK LAbfG LadSchlG LandesVf lat LBG LBO, LBauO LDSG lfd LFGB LG LG NW LHO LissVt lit Lit LKHG LKrO LKRZ LKV LMedienG LNatSchG LOG Losebl

Bericht der kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung Krankenhausgestaltungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen Kinder- und Jugendhilfegesetz/SGB VIII Kernkraftwerk H. J. Knack/H.-G. Henneke (Hrsg), Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 9. Aufl 2010 Kommissionsdokument Dokument des Generalsekretariats der EU-Kommission Kommissionsentwurf Kommunaljurist KommunalPraxis Bayern Kommunalwahlgesetz Gesetz über kommunale Zusammenarbeit Kommunalrecht F. O. Kopp (Begr), W.-R. Schenke (Bearb), Verwaltungsgerichtsordnung, 18. Aufl 2012 F. O. Kopp (Begr), U. Ramsauer (Bearb), Verwaltungsverfahrensgesetz, 13. Aufl 2012 Korrespondenz Abwasser kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Kreisordnung Kreislaufwirtschaftsgesetz Kommunale Steuer-Zeitschrift Kommunalselbstverwaltungsgesetz (Saarland), Künstlersozialversicherungsgesetz Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie Kommunalverfassung Gesetz über das Kreditwesen, Kommunalwahlgesetz Kommunalwahlgesetz Kraft-Wärme-Kopplung Landesabfallgesetz Ladenschlussgesetz Landesverfassung lateinisch Landesbeamtengesetz Landesbauordnung Landesdatenschutzgesetz laufend Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch Landgericht/Landschaftsgesetz (NW) Landschaftsgesetz NW Landeshaushaltsordnung Vertrag von Lissabon littera/Buchstabe Literatur Landeskrankenhausgesetz Landkreisordnung Zeitschrift für Landes- und Kommunalrecht Hessen Rheinland-Pfalz Saarland Landes- und Kommunalverwaltung Landesmediengesetz Landesnaturschutzgesetz Nordrhein-westfälisches Gesetz über die Organisation der Landesverwaltung Loseblattsammlung

Abkürzungsverzeichnis

XLIII

LPflG LPlG LPlVertrag LPresseG LQRL LROP LS LSA Lsbl LSchlG LStrG LStVG lt LT LT-Drs LuftSiG LuftVG LuftVZO LV(erf) LVerfG LVG, LVwG LVwVG LWG

Landschaftspflegesetz Landesplanungsgesetz Landesplanungsvertrag Landes-Pressegesetz Richtlinie 2008/50/EG über Luftqualität und saubere Luft in Europa (Luftqualitätsrichtlinie) Landesraumordnungsplan Leitsatz Sachsen-Anhalt Loseblattsammlung Ladenschlussgesetz Landesstraßengesetz Landesstraf- und Verordnungsgesetz (Bayern) laut Landtag Landtags-Drucksache(n) Luftsicherheitsgesetz Luftverkehrsgesetz Luftverkehrs-Zulassungs-Ordnung Landesverfassung Landesverfassungsgericht Landesverwaltungsgesetz Landesverwaltungsvollstreckungsgesetz Landeswassergesetz

m m Anm m krit Anm m zust Anm MAD MADG v Mangoldt/Klein/ Starck, GG Maunz/Dürig, GG Maurer, AllgVwR maW MBG MBO MBPlG MDR MDStV MEPolG Merten/Papier,

mit mit Anmerkung mit kritischer Anmerkung mit zustimmender Anmerkung Militärischer Abschirmdienst Gesetz über den Militärischen Abschirmdienst H. v. Mangoldt, F. Klein, Chr. Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd 1, 6. Aufl 2010; Bd 2, 6. Aufl 2010; Bd 3, 6. Aufl 2010 Th. Maunz, G. Dürig, ua, Grundgesetz, Kommentar, 7 Bde, Lsbl H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl 2011 mit anderen Worten Mitbestimmungsgesetz Musterbauordnung Magnetschwebebahnplanungsgesetz Monatsschrift für deutsches Recht Mediendienste-Staatsvertrag Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd 1 (Entwicklung und Grundlagen), 2004; Bd 2 (Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren I), 2006; Bd 3 (Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren II), 2009; Bd 4 (Grundrechte in Deutschland: Einzelgrundrechte 1), 2011 Ministerium für Staatssicherheit Ministerium Million(en) Mitteilungen des Bayerischen Notarvereins, der Notarkasse und der Landesnotarkammer Bayern Mitteilungen des nordrhein-westfälischen Städte- und Gemeindebundes Mitwirkung MultiMedia und Recht mit Nachweisen

HdbGR/HGR

MfS Min Mio MittBayNot MittNWStGB Mitw MMR mN

XLIV

Abkürzungsverzeichnis

MOG Mrd MünchKomm v. Münch/Kunig, GG MV mwN

Gesetz zur Durchführung der Gemeinsamen Marktorganisationen und der Direktzahlungen Milliarde(n) Münchener Kommentar I. v. Münch (Begr), P. Kunig (Hrsg), Grundgesetz-Kommentar, Bd 1, 6. Aufl 2012; Bd 2, 6. Aufl 2012 Mecklenburg-Vorpommern mit weiteren Nachweisen

nachgew Nachw NachwV NAP NatSchG NBG NC Nds nds NdsVBl nF/NF NJ NJOZ NJW NJW-CoR NJW-RR NordÖR NPD Nr/Nrn NRW NStZ NStZ-RR NuR NVwZ NVwZ-RR NVZ NW nw NWVBl NWVerfGH NZA NZBau NZG NZI NZV

nachgewiesen Nachweise Verordnung über Verwertungs- und Beseitigungsnachweise Nationaler Allokationsplan Naturschutzgesetz Niedersächsisches Beamtengesetz numerus clausus Niedersachsen niedersächsisch Niedersächsische Verwaltungsblätter neue Fassung, neue Folge Neue Justiz Neue Juristische Onlinezeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Computerreport der Neuen Juristischen Wochenschrift Rechtsprechungs-Report Zivilrecht der Neuen Juristischen Wochenschrift Zeitschrift für öffentliches Recht in Norddeutschland Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nummer(n) s NW Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtsprechungs-Report der Neuen Zeitschrift für Strafrecht Natur und Recht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Rechtsprechungs-Report der Neuen Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht Nordrhein-Westfalen nordrhein-westfälisch Nordrhein-westfälische Verwaltungsblätter Nordrhein-westfälischer Verfassungsgerichtshof Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Baurecht und Vergaberecht Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Neue Zeitschrift für das Recht der Insolvenz und Sanierung Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht

o O OBG OECD öffentl OHG OLG ÖPNV ÖPV-VO

oben Ordnung Ordnungsbehördengesetz Organization for Economic Cooperation and Development öffentlich Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Öffentlicher Personennahverkehr Verordnung (EG) des europäischen Parlaments und des Rates über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße 1370/2007

Abkürzungsverzeichnis

Oppermann/ Classen/ Nettesheim, EuropaR ör ÖR ORDO OrdR ÖstVfGH OVG OVGE OWiG PAG ParlStG PartG pass PassG PAuswG PBefG PersR PersV PflSchG PKGrG PlanzV Pl-Pr POG Pol u OrdR PolG PolR PolVO POR PostG PrALR priv ProdSG ProstG Prot PrOVG PrOVGE PrPVG PTNeuOG PÜ PVS R RabelsZ RdA RdE RdKomFin RdL RdWW REACh

XLV

Th. Oppermann, C.D. Classen, M. Nettesheim, Europarecht, 5. Aufl 2011

öffentlich-rechtlich Öffentliches Recht Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Ordnungsrecht Österreichischer Verfassungsgerichtshof Oberverwaltungsgericht Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Polizeiaufgabengesetz Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre Parteiengesetz passim Passgesetz Gesetz über Personalausweise Personenbeförderungsgesetz Der Personalrat Die Personalvertretung Pflanzenschutzgesetz Kontrollgremiumgesetz (G über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes) Planzeichenverordnung Plenarprotokolle Polizeiorganisationsgesetz Polizei- und Ordnungsrecht Polizeigesetz Polizeirecht Polizeiverordnung Polizei- und Ordnungsrecht Gesetz über das Postwesen s ALR privat Produktsicherheitsgesetz Prostitutionsgesetz Protokoll Preußisches Oberverwaltungsgericht Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts Preußisches Polizeiverwaltungsgesetz Postneuordnungsgesetz Pariser Übereinkommen Politische Vierteljahresschrift Recht Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, begründet von Rabel Recht der Arbeit Recht der Energiewirtschaft Recht der kommunalen Finanzen Recht der Landwirtschaft Recht der Wasserwirtschaft Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe

XLVI

Abkürzungsverzeichnis

RealStG NW rechtl Redeker/ v. Oertzen, VwGO Reg RegBkPlG Bbg RegE/RegEntw RegTP Rez RG RGBl RGZ Ri/RiL RiA RL Rn ROG ROV RP RPkomUnt Rs Rspr Rsprübers RStV RTW RuP RuStAG RVerwBl RVO S s sa Sachs Sachs, GG SächsOVG SächsVBl SächsVerf SächsVerfGH SAE Sart SBG SchKG Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee Schoch/Schneider/ Bier, VwGO Schr SchrVfS Schulze/Zuleeg/ Kadelbach, Europarecht SDÜ SED

Realsteuergesetz des Landes Nordrhein-Westfalen rechtlich K. Redeker, H.-J. v. Oertzen, VwGO, Kommentar, 15. Aufl 2010 Regierung Gesetz zur Einführung der Regionalplanung und der Braunkohlen- und Sanierungsplanung im Land Brandenburg Regierungsentwurf Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post Rezension Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen siehe RL Das Recht im Amt Richtlinie Randnummer Raumordnungsgesetz Raumordnungsverordnung Rheinland-Pfalz Rechtspraxis der kommunalen Unternehmen Rechtssache Rechtsprechung Rechtsprechungsübersicht Rundfunkstaatsvertrag Recht, Technik, Wirtschaft Recht und Politik Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz Reichsverwaltungsblatt Reichsversicherungsordnung Seite, Satz siehe siehe auch Sachsen M. Sachs (Hrsg), Grundgesetz, 6. Aufl 2011 Sächsisches Oberverwaltungsgericht Sächsische Verwaltungsblätter Sächsische Landesverfassung Sächsischer Verfassungsgerichtshof Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen Sartorius Sächsisches Beamtengesetz Schwangerschaftskonfliktgesetz E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl 2004 F. Schoch, J.-P. Schneider, W. Bier (Hrsg), Verwaltungsgerichtsordnung, 2 Bde, Lsbl Schriften Schriften des Vereins für Sozialpolitik R. Schulze/M. Zuleeg/S. Kadelbach (Hrsg), Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2. Aufl 2010 Schengener Durchführungsübereinkommen Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

Abkürzungsverzeichnis

SED-UnBerG SEK SGb SGB SH SIS SL Slg so Sodan/Ziekow, VwGO SOG sog SoldG SRU st Rsp/st Rspr StA StaatsL StabG StädteT StAnz StBauFG std Steiner, BesVwR Stern, StR StGB StGH StGHG StPO str StR StReg StrEG Streinz, EuropaR Streinz (Hrsg), EUV/AEUV StrG StrlSchV/ StrlSchVO, StrSchV StrVG StrWG StT StUG StuGR StuVerwR/StuVwR StVG StVO StVZO StWG StWiss su subj

XLVII

SED-Unrechtsbereinigungsgesetz Arbeitsdokumente der Kommissionsdienststellen/Sondereinsatzkommando Die Sozialgerichtsbarkeit Sozialgesetzbuch Schleswig-Holstein Schengener Informationssystem Saarland Sammlung siehe oben H. Sodan/J. Ziekow (Hrsg), Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Aufl 2010 Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung/Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sogenannte(r) Soldatengesetz Rat von Sachverständigen für Umweltfragen ständige Rechtsprechung Staatsanwalt(schaft) Staatslehre Stabilitätsgesetz Der Städtetag Staatsanzeiger Städtebauförderungsgesetz ständig U. Steiner (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Aufl 2006 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd 1, 2. Aufl 1984; Bd 2, 1980; Bd 3/1, 1988; Bd 3/2, 1994; Bd 4/1, 2006; Bd 4/2, 2011; Bd 5, 2000 Strafgesetzbuch Staatsgerichtshof Staatsgerichtshofsgesetz Strafprozessordnung strittig Staatsrecht Staatsregierung Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen R. Streinz, Europarecht, 9. Aufl 2012 R. Streinz (Hrsg), EUV/AEUV: Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 2. Aufl 2012 Straßengesetz Strahlenschutzverordnung

Strahlenschutzvorsorgegesetz Straßen- und Wegegesetz Der Städtetag Stasi-Unterlagengesetz Städte- und Gemeinderat Staats- und Verwaltungsrecht Straßenverkehrsgesetz Straßenverkehrsordnung Straßenverkehrs-Zulassungsordnung Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft Staatswissenschaften siehe unten subjektiv

XLVIII

Abkürzungsverzeichnis

SUP SV

Strategische Umweltprüfung Sondervotum

TA TDG TEHG Terhechte, VwR der EU TgV Thür ThürKHG ThürKO ThürOVG ThürVBl ThürVerf ThürVerfGH ThürVGRspr TierNebG TierSG TK TKG TKMR TMG TranspRLG TVG Tz

Technische Anleitung Teledienstegesetz Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz J. P. Terhechte (Hrsg), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011

u ü ua UAG uam UBA überw Überbl UGB UGB-KomE ugk UIG ÜK üM umfass umstr UmweltHG UmwG UmwR UmwRG UN UNO Unt unzul unzutr UPR

Transportgenehmigungsverordnung Thüringen/Thüringer Thüringer Krankenhausgesetz Thüringer Kommunalordnung Thüringer Oberverwaltungsgericht Thüringer Verwaltungsblätter Thüringische Landesverfassung Thüringer Verfassungsgerichtshof Rechtsprechung der Thüringer Verwaltungsgerichte Tierische Nebenprodukte-Beseitigungsgesetz Tierseuchengesetz Telekommunikation Telekommunikationsgesetz Zeitschrift für Telekommunikations- und Medienrecht Telemediengesetz Transparenzrichtliniengesetz Tarifvertragsgesetz Textziffer und/unten über unter anderen(m), und andere Umweltauditgesetz und anderes mehr Umweltbundesamt überwiegend(e) Überblick Umweltgesetzbuch BMU (Hrsg), Umweltgesetzbuch, Entwurf der Unabhängigen Sachverständigenkommission zum Umweltgesetzbuch, 1998 umgekehrt Umweltinformationsgesetz Übereinkommen überwiegende Meinung umfassend umstritten Umwelthaftungsgesetz Umwandlungsgesetz Umweltrecht Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz United Nations, Vereinte Nationen United Nations Organization Unternehmen unzulässig unzutreffend Umwelt- und Planungsrecht

Abkürzungsverzeichnis

Urt USchadG UStatG UTR uU UVP UVPG UWG UZwG UZwGBw

v VA va VAwS VBlBW VDE VDI VEnergR Verb verb Rs Verf VerfG VerfGerichtsbkt VerfGH VerfGHG VerfSchG VergabeVO Verh VerkBl VerkPBG VerkMitt VerpackV VersG Verw VerwArch VerwWiss VerwPrR VerwR VerwRspr VfGHG VG VGH VGHG vgl (a) VgRÄG VGS VgV vH VIG VIZ VkBl

XLIX

Urteil Umweltschadensgesetz Umweltstatistikgesetz Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts unter Umständen Umweltverträglichkeitsprüfung Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr und verbündeter Streitkräfte sowie zivile Wachpersonen von/vom Verwaltungsakt vor allem Verordnung über Anlagen zum Umgang mit wassergefährdenden Stoffen Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg Verband deutscher Elektrotechniker eV Verein deutscher Ingenieure eV Veröffentlichungen des Instituts für Energierecht Verbindung verbundene Rechtssachen Verfassung Verfassungsgericht Verfassungsgerichtsbarkeit Verfassungsgerichtshof Verfassungsgerichtshofsgesetz Verfassungsschutzgesetz Vergabeverordnung Verhandlungen Verkehrsblatt Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz Verkehrsrechtliche Mitteilungen Verpackungsverordnung Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) Verwaltung Verwaltungsarchiv Verwaltungswissenschaften Verwaltungsprozessrecht Verwaltungsrecht Verwaltungsrechtsprechung in Deutschland Verfassungsgerichtshofgesetz Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof Gesetz über den Verfassungsgerichtshof vergleiche (auch) Vergaberechtsänderungsgesetz Verordnung über die Genehmigungspflicht für die Einleitung von Abwasser mit gefährlichen Stoffen in öffentlichen Abwasseranlagen Vergabeverordnung von Hundert Verbraucherinformationsgesetz Zeitschrift für Vermögens- und Immobilienrecht Verkehrsblatt, Amtsblatt des Bundesministers für Verkehr

L

Abkürzungsverzeichnis

V-Leute VO VOB VOF VOL Voraufl Vorb/Vorbem vorges vorl VR VRG VRS VVDStRL VVE Vw VW VwGerichtsbkt VwGO VwR VwV VwVfG(e) VwVG VwVwS VwVZG WaffG Wahl, Herausforderungen und Antworten WaStrG weit WertV WG WHG WiGBl WiR wiss WissR wistra WiV/WiVerw WM wN Wolff/Bachof, VwR I Wolff/Bachof, VwR II Wolff/Bachof, VwR III Wolff/Bachof/ Stober, VwR I Wolff/Bachof/ Stober, VwR II Wolff/Bachof/ Stober, VwR III

Vertrauensleute, Verbindungsleute Verordnung Verdingungsordnung für Bauleistungen Vergabeordnung für freiberufliche Leistungen Verdingungsordnung für Leistungen Vorauflage Vorbemerkung vorgesehen vorläufig Verwaltungsrundschau Verwaltungsstruktur-Reformgesetz Verkehrsrechts-Sammlung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Vertrag über eine Verfassung für Europa Verwaltung Volkswagen Verwaltungsgerichtsbarkeit Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsrecht Verwaltungsvorschrift(en) Verwaltungsverfahrensgesetz(e) Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz Allgemeine Verwaltungsvorschriften über die nähere Bestimmung wassergefährdender Stoffe und ihre Einstufung entsprechend ihrer Gefährlichkeit Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz Waffengesetz R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006 Wasserstraßengesetz weitere Wertermittlungsverordnung Wassergesetz, Wegegesetz Wasserhaushaltsgesetz Wirtschaftsgesetzblatt Wirtschaftsrecht wissenschaftlich Wissenschaftsrecht, Wissenschaftsverwaltung, Wissenschaftsförderung Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht Wirtschaft und Verwaltung, Vierteljahresbeilage zum Gewerbearchiv Wertpapier-Mitteilungen weitere Nachweise H.-J. Wolff, O. Bachof, Verwaltungsrecht, Bd 1, 9. Aufl 1974 H.-J. Wolff, O. Bachof, Verwaltungsrecht, Bd 2, 4. Aufl 1976 H.-J. Wolff, O. Bachof, Verwaltungsrecht, Bd 3, 4. Aufl 1978 H.-J. Wolff, O. Bachof, R. Stober, Verwaltungsrecht, Bd 1, 12. Aufl 2007 H.-J. Wolff, O. Bachof, R. Stober, Verwaltungsrecht, Bd 2, 6. Aufl 2000 H.-J. Wolff, O. Bachof, R. Stober, Verwaltungsrecht, Bd 3, 5. Aufl 2004

Abkürzungsverzeichnis

Wolff/Bachof/ Stober/Kluth, VwR II WPfG/WPflG WRP WRRL WRV WTO WUR WuW WVG

H.-J. Wolff, O. Bachof, R. Stober, W. Kluth, Verwaltungsrecht, Bd 2, 7. Aufl 2010

Wehrpflichtgesetz Wettbewerb in Recht und Praxis Wasserrahmenrichtlinie Weimarer Reichsverfassung World Trade Organization/Welthandelsorganisation Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrecht, Wirtschaft und Recht Wirtschaft und Wettbewerb Wasserverbandsgesetz

z z Zt ZaöRV ZAU zB ZBR ZDG ZfA ZfB ZfBR ZfPR ZfU ZfW ZG ZGR ZHR ZIP zit ZK ZKF ZLR ZLW ZMR ZögU ZParl ZPO ZRP zT ZTR Ztschr ZuG zugest zul ZUR zurückh zust zutr ZVI zw

zu, zum zur Zeit Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für angewandte Umweltforschung zum Beispiel Zeitschrift für Beamtenrecht Zivildienstgesetz Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Bergrecht Zeitschrift für deutsches und internationales Baurecht Zeitschrift für Personalvertretungsrecht Zeitschrift für Umweltpolitik Zeitschrift für Wasserrecht Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für Handelsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht zitiert Zollkodex Zeitschrift für Kommunalfinanzen Zeitschrift für das gesamte Luftrecht Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht Zeitschrift für Miet- und Raumrecht Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen Zeitschrift für Parlamentsfragen Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik zum Teil Zeitschrift für Tarifrecht Zeitschrift Zuteilungsgesetz zugestimmt zuletzt Zeitschrift für Umweltrecht zurückhaltend zustimmend zutreffend Zeitschrift für Verbraucherinsolvenzrecht zwischen

LI

LII

Abkürzungsverzeichnis

I. Praktische Aufgaben der Orientierung und Entlastung – Einleitung

1

Einleitung Einleitung – Besonderes Verwaltungsrecht und Allgemeines Verwaltungsrecht

Eberhard Schmidt-Aßmann

Besonderes Verwaltungsrecht und Allgemeines Verwaltungsrecht: Zusammenwirken und Lerneffekte I. Praktische Aufgaben der Orientierung und Entlastung – Einleitung Schmidt-Aßmann

I. II.

Gliederung Praktische Aufgaben der Orientierung und Entlastung ____ 4 Speziell für das Studium: Veranschaulichung, Wiederholung, Vertiefung ____ 6

III.

Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung ____ 12

Anerkannter Systematik entspricht es, den Gesamtbereich des Verwaltungsrechts in das All- 1 gemeine Verwaltungsrecht und das Besondere Verwaltungsrecht zu gliedern:1 Das Besondere Verwaltungsrecht beschäftigt sich mit den einzelnen Verwaltungsaufgaben, z.B. solchen der Gefahrenabwehr, des Umweltschutzes, der Wirtschaftsaufsicht und Wirtschaftsförderung, der kommunalen Leistungsverwaltung und anderem mehr. Viele dieser Gebiete sind durch eigene Gesetze detailliert geregelt: die Polizeigesetze, das Baugesetzbuch, die Gewerbeordnung, die Naturschutzgesetze und das Telekommunikationsgesetz, um nur einige zu nennen. Es geht um Fachgesetze, die den jeweiligen Verwaltungszweck in den Mittelpunkt rücken und die erforderlichen Ermächtigungsnormen, Zuständigkeits- und Verfahrensregeln schaffen, mit deren Hilfe die Verwaltung die jeweiligen gesetzlichen Ziele erreichen soll. Insofern lässt sich das Besondere Verwaltungsrecht als „Summe aller Fachverwaltungsrechte“ (Burgi) bezeichnen. Das Allgemeine Verwaltungsrecht hat einen anderen Zuschnitt: Es beschäftigt sich mit 2 denjenigen Rechtsprinzipien und Rechtsinstituten, die fachgebietsübergreifend gelten. Hierher zählen die grundlegenden Organisations- und Handlungsformen, die Verfahrensgrundsätze, Ermessensregeln und die Vorschriften über die Staatshaftung. Einen zentralen Bestandteil des Allgemeinen Verwaltungsrechts bilden die konstitutionellen Grundlagen der Zweiten Gewalt, insbesondere die wichtigen Anforderungen des Demokratie- und des Rechtsstaatsprinzips, die Regeln über die Grundrechts- und die Gesetzesgebundenheit, die Legitimationsbedürftigkeit (Art. 20 II GG) und die Regeln zur Kontrollzugänglichkeit (Art. 19 IV GG) des Verwaltungshandelns.2 Zieht das Besondere Verwaltungsrecht seinen Stoff aus den konkreten Regelungsaufträgen 3 des jeweiligen Fachrechts, so ist das Allgemeine Verwaltungsrecht eher das Ergebnis rechtswissenschaftlicher Abstraktion. Wird im Besonderen Verwaltungsrecht strategisch gedacht, so geht es im Allgemeinen Verwaltungsrecht um dauerhaftere Orientierungen, um eine Ordnungsidee.3

I. Praktische Aufgaben der Orientierung und Entlastung Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht stehen freilich nicht unverbunden nebeneinan- 4 der, sondern sind vielfältig aufeinander bezogen. Zur Lösung verwaltungsrechtlicher Fälle müs-

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1 Vgl nur Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR § 3 Rn 7 ff; Maurer AllgVwR § 3 Rn 2 ff; ausf Burgi in: GVwR I § 18 Rn 96 ff; krit gegenüber dieser Einteilung Wolff/Bachof/Stober/Kluth VwR I § 21 Rn 5 ff. 2 Dazu nur Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR § 6. 3 Vgl Schmidt-Preuß FS Maurer, 2001, 777; Kersten/Lenski DV 42 (2009), 501.

Schmidt-Aßmann

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Einleitung – Besonderes Verwaltungsrecht und Allgemeines Verwaltungsrecht

sen regelmäßig Erkenntnisse beider herangezogen werden. Die Vorschriften des einschlägigen Fachrechts und die Regeln des Allgemeinen Verwaltungsrechts wirken bei der Rechtsanwendung ineinander. Die Ausbildung eines auf die Fachverwaltungsrechte bezogenen, aber über diese hinausgreifenden Allgemeinen Verwaltungsrechts hat seinen guten praktischen Sinn:4 Die Fachgesetzgebung wird davon entlastet, jeweils erneut Bestimmungen über Punkte zu treffen, die sich „vor die Klammer“ ziehen ließen und schon allgemein normiert sind. Die Vorschriften über die Rücknahme und den Widerruf von Baugenehmigungen, früher in den Landesbauordnungen enthalten, konnten entfallen, als die (allgemeinen) Verwaltungsverfahrensgesetze für die Aufhebung von Verwaltungsakten eine umgreifende Regelung geschaffen hatten. Die Gesetzesanwendung wiederum kann sich an den Speicherleistungen orientieren, die ein allgemeiner Teil mit seinen Begriffsdefinitionen, Rechtsformen und Prinzipienaussagen bereithält, ohne zu Schematismus gezwungen zu werden.5 Entlastung und Orientierung heißen die praktischen Gründe, die zu der auch im Zivilrecht, im Strafrecht und in zahlreichen ausländischen Rechtssystemen anzutreffenden Unterscheidung zwischen einem allgemeinen Teil und einem besonderen Teil geführt haben.6 5 Für das Verwaltungsrecht erscheint die Ausrichtung an und das Arbeiten mit dieser Differenzierung sogar besonders wichtig. Zum einen erleichtert das Verständnis der allgemeinen Rechtsinstitute es, sich in der kaum überschaubaren Vielfalt der bundes- und landesrechtlichen Fachgesetze zurecht zu finden. Ein am Allgemeinen Verwaltungsrecht geschulter Blick wird auch in abgelegenen Fachgesetzen immer wieder Regelungselemente finden, die ihm aus dem Allgemeinen Verwaltungsrecht vertraut sind und ihm die Zusammenhänge des Fachgesetzes zu verstehen erleichtern. Eine zweite Überlegung kommt hinzu: Sie folgt aus der „systemprägenden Bedeutung“ des Verfassungsrechts, die in den konstitutionellen Teilen des Allgemeinen Verwaltungsrechts ausgearbeitet worden ist. 7 Das Verfassungsrecht bildet so den notwendigen Verständnishintergrund vieler Fragen, die sich bei der Lösung verwaltungsrechtlicher Fälle stellen. Die Frage etwa, welche Vorschriften eines Fachgesetzes Ermächtigungsgrundlage sind, wird in ihrer Bedeutung erst richtig einsichtig, wenn sie vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalte, der Lehre von der Notwendigkeit des Gesetzes, gestellt wird. II. Speziell für das Studium: Veranschaulichung, Wiederholung, Vertiefung – Einleitung

II. Speziell für das Studium: Veranschaulichung, Wiederholung, Vertiefung 6 Dass das Allgemeine und das Besondere Verwaltungsrecht eng aufeinander bezogen sind, in manchem sogar als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet werden können, ist gerade für das akademische Studium eine hilfreiche Erkenntnis. In den meisten Studienplänen folgen die Vorlesungen zum Besonderen Verwaltungsrecht im Semesterrhythmus derjenigen zum Allgemeinen Verwaltungsrecht nach. Natürlich werden Polizeirecht, Baurecht und Straßenrecht schon im Allgemeinen Verwaltungsrecht gelegentlich in Fallbeispielen herangezogen. Aber eine grundlegende Auseinandersetzung mit den einschlägigen Fachgesetzen, ihren Aufgabennormen, Ermächtigungsgrundlagen und Verfahrensregeln, ist den Lehrveranstaltungen zum Besonderen Verwaltungsrecht vorbehalten. Erst das Studium einzelner Fachverwaltungsrechte macht das anschaulich, was in den abstrakten Begriffen und allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Verwal-

_____ 4 Zu einigen freilich auch nicht zu übersehenden problematischen Seiten allgemeiner Teile vgl Medicus Allgemeiner Teil des BGB, 10. Aufl 2010, § 5 Rn 32 ff. 5 Anschaulich dazu BVerfGE 116, 24, 51 ff und abw Votum 60 ff: § 48 VwVfG als Ermächtigungsgrundlage für die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung. 6 Ausf Groß DV 1999, Beiheft 2, 57. 7 Zu dieser Bedeutung vgl Schmidt-Aßmann Ordnungsidee 1. Kap Rn 17 ff.

Schmidt-Aßmann

II. Speziell für das Studium: Veranschaulichung, Wiederholung, Vertiefung – Einleitung

3

tungsrechts steckt. Umgekehrt ist nicht alles, was den Studierenden bei ihrer Beschäftigung mit dem Besonderen Verwaltungsrecht begegnet, ganz unbekannt und neu, weil sich die Fachgesetzgebung auf die Existenz allgemeiner Lehren längst eingerichtet hat, sie zur eigenen Entlastung nutzt und überhaupt von einer Verwobenheit allgemeiner und besonderer Regelungselemente ausgeht. Das Studium des Besonderen Verwaltungsrechts lässt sich so auf ganz natürliche Weise zur Wiederholung und Vertiefung der Lehren des Allgemeinen Verwaltungsrechts nutzen. Umgekehrt können sich Einzelheiten des Fachrechts besser einprägen, wenn man sie zu den allgemeinen Lehren in Beziehung setzt, d.h. sie als Bestätigung, als Modifikation oder als Sonderentwicklung zu verstehen sucht. Ein Lehrbuch zum Besonderen Verwaltungsrecht sollte nicht durchgearbeitet werden, ohne ein Lehrbuch zum Allgemeinen Verwaltungsrecht daneben liegen zu haben! Dazu einige Beispiele: (1) Eine für die Verwaltungspraxis und das Verwaltungsrecht zentral wichtige Handlungs- 7 form ist der Verwaltungsakt. Verwaltungsakte spielen in der Ordnungs- wie in der Leistungsverwaltung, im Abgabenwesen, bei Aufsichtsmaßnahmen und im Regulierungsrecht eine wichtige Rolle.8 Die Bezeichnungen variieren gebietsspezifisch (Verfügung, Genehmigung, Zulassung, Gestattung, Planfeststellungsbeschluss). Von der Funktion her gedacht, aber handelt es sich bei ihnen um ein gebietsübergreifendes Institut. Die Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder und die Lehrbücher zum Allgemeinen Verwaltungsrecht räumen daher zutreffend den Begriffsmerkmalen, den Formerfordernissen, der Bestandskraft sowie der Rücknahme und dem Widerruf des Verwaltungsakts breiten Raum ein.9 Die dabei in allgemeiner Form behandelten Abgrenzungs- und Zuordnungsprobleme kehren in konkreter Gestalt in den Gebieten des Besonderen Verwaltungsrechts wieder: – Inwieweit sind Maßnahmen der Staatsaufsicht über die Kommunalkörperschaften (Gemeinden, Landkreise) Verwaltungsakte? Es geht allgemeinverwaltungsrechtlich um das Begriffsmerkmal der „Außenwirkung“ (§ 35 VwVfG) und kommunalrechtlich um die Doppelstellung der Gemeinden und Landkreise als eigenständige Rechtsträger gegenüber dem Staat, aber auch als beauftragte Instanzen des Staates.10 Strukturell ähnliche Probleme der Grenzziehung zwischen Außenverhältnis und Innenverhältnis lassen sich am Beispiel beamtenrechtlicher Maßnahmen (Versetzung, Umsetzung, Weisung) studieren.11 – Die Abgrenzung des Verwaltungsakts gegenüber Verwaltungsrealakten und informalem Verwaltungshandeln, die unter anderem mit dem Begriffsmerkmal der „Regelung“ (§ 35 VwVfG) zu tun hat,12 lässt sich am Handlungsarsenal des Polizeirechts und des Umweltrechts studieren.13 – Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten (allgemein in §§ 48–50 VwVfG geregelt) werden am Beispiel der immissionsschutzrechtlichen Anlagengenehmigung anschaulich, für die teilweise auf die allgemeinen Vorschriften verwiesen wird, teilweise zusätzliche Möglichkeiten einer Einschränkung ihrer Bestandskraft geschaffen worden sind.14 Ein zweiter Referenzbereich für diese Thematik ist das zum öffentlichen Wirtschaftsrecht zählende Subventions- oder Beihilferecht. An ihm lässt sich zugleich zeigen, wieweit das EU-Recht in die Anwendung einzelner Vorschriften des Allgemeinen Verwaltungsrechts hineinreicht.15 Die

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8 Bumke in: GVwR II § 35 Rn 73 ff; Röben VerwArch 99 (2008) 46. 9 Vgl nur Detterbeck AllgVwR § 10; Ruffert in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR §§ 21–27; Maurer AllgVwR §§ 9–12; Wolff/Bachof/Stober/Kluth VwR I §§ 45–52. 10 Dazu o Röhl 1. Kap Rn 60 ff, 78; Ruffert in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR § 21 Rn 49. 11 Vgl o Kunig 6. Kap Rn 116 ff; Ruffert in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR § 21 Rn 46 f; Detterbeck AllgVwR § 10 Rn 486 ff. 12 Maurer AllgVwR § 15; Detterbeck AllgVwR § 15 Rn 885 ff; Ruffert in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR § 21 Rn 24 ff; Hermes in: GVwR II § 39 Rn 9 ff. 13 o Schoch 2. Kap Rn 366; o Eifert 5. Kap Rn 74 ff. 14 o Eifert 5. Kap Rn 283 f. 15 Detterbeck AllgVwR § 10 Rn 749 ff; Ruffert in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR § 24 Rn 32; Maurer AllgVwR § 11 Rn 38 a–d.

Schmidt-Aßmann

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Einleitung – Besonderes Verwaltungsrecht und Allgemeines Verwaltungsrecht

Modifikationen des § 48 II und IV VwVfG werden erst verständlich, wenn man das EUBeihilferecht insgesamt in den Blick nimmt.16 8

(2) Auch die im Allgemeinen Verwaltungsrecht dargestellten weiteren Handlungsformen der öffentlichen Verwaltung werden durch die Regelungen in den einzelnen Fachverwaltungsgesetzen vielfach konkretisiert. Das gilt zum einen für das Recht der Verwaltungsverträge,17 für die die Kommunalverträge,18 die städtebaulichen Verträge19 und das Vergaberecht20 Beispiele bilden. An diesen lässt sich die Grenzziehung zwischen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Verwaltungsverträgen nachzeichnen und die unterschiedlichen Möglichkeiten des Vertragsrechtsschutzes studieren. (3) Wieder in anderer Weise sind das Allgemeine Verwaltungsrecht und das Besondere Ver9 waltungsrecht bei den normativen Handlungsformen der Rechtsverordnung und der Satzung miteinander verzahnt. Hier geht es zunächst einmal um das richtige Verständnis der gesetzlichen Vorbehaltslehre als Teil der verfassungsrechtlichen Grundlagen des Verwaltungsrechts.21 Rechtsverordnungen bedürfen auf jeden Fall einer gesetzlichen Grundlage, die noch dazu gewisse Bestimmtheitsanforderungen erfüllen muss,22 während Satzungen als Ausdruck der eigenständigen demokratischen Legitimation von Selbstverwaltungsträgern freier gestellt sind.23 Wie aber sehen hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlagen für Rechtsverordnungen aus, und welche gesetzlichen Grundlagen sind für eingreifende Satzungen unbeschadet ihrer größeren Selbständigkeit verfassungsrechtlich gefordert? Auf diese Fragen lassen sich am Beispiel der Gefahrenabwehrverordnungen im Polizeirecht,24 an den Satzungsregelungen des Kommunalrechts25 und speziell am Beispiel des Bebauungsplans26 Antworten entwickeln, die die abstrakten Aussagen des Allgemeinen Verwaltungsrechts konkretisieren. (4) Die Spannung zwischen Gesetzesgebundenheit und Verwaltungsermessen durch10 zieht das Allgemeine und das Besondere Verwaltungsrecht wie ein roter Faden. Die wichtigsten Anknüpfungspunkte für das Verwaltungsermessen im Allgemeinen Verwaltungsrecht sind für die administrative Handlungsperspektive § 40 VwVfG und für die gerichtliche Kontrollperspektive § 114 VwGO. Aus beiden Normen ist vor allem die Lehre von den Ermessensfehlern (Ermessensüberschreitung, Ermessensfehlgebrauch, Ermessensausfall) zu entwickeln, die zu den Standardthemen des Allgemeinen Verwaltungsrechts gehört.27 Was aber das Ermessen in seinem Kern ausmacht und welche Ziele die Verwaltung bei der Ausübung ihres Ermessens legitimerweise verfolgen darf, darüber sagen die allgemeinen Vorschriften nichts. § 40 VwVfG verweist hier gleich zweimal ausdrücklich auf die Bestimmungen der Fachgesetze, die dort normierten Ermessensermächtigungen und die darin umschlossenen Ziel- und Grenzbestimmungen. Die Grundstruktur des Ermessens ist in den allgemeinen Lehren fixiert, welche Abwägungskriterien

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16 Dazu o Huber 3. Kap Rn 247 ff. 17 Zum die öffentlich-rechtlichen und die privatrechtlichen Verträge der Verwaltung umgreifenden Begriff des „Verwaltungsvertrages“ vgl Gurlit in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR § 30; ausf Bauer in: GVwR II § 36 Rn 70 ff. 18 o Röhl 1. Kap Rn 146 ff. 19 o Krebs 4. Kap Rn 174 ff. 20 o Huber 3. Kap Rn 277 ff. 21 Dazu Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR § 2 Rn 38 ff; ausf Ossenbühl in: HStR V §§ 101, 103, 105; Reimer in: GVwR I § 9 Rn 23 ff und 73 ff. 22 Dazu Möstl in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR § 20 Rn 2 ff. 23 Möstl in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR § 20 Rn 11 ff. 24 o Schoch 2. Kap Rn 373 ff. 25 o Röhl 1. Kap Rn 134 f. 26 o Krebs 4. Kap Rn 83 ff. 27 Vgl Detterbeck AllgVwR § 8 Rn 324; Maurer AllgVwR § 7 Rn 19 ff. Mit systematisch überzeugenderem Neuansatz, der Beurteilungsermächtigung und Rechtsfolgenermessen in einen einheitlichen Bezugsrahmen stellt, Jestaedt in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR § 11 (zur „traditionellen Trias der Ermessensfehler“ dort Rn 61 ff).

Schmidt-Aßmann

III. Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung – Einleitung

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aber im Einzelfall zu berücksichtigen sind, lässt sich nur nach gründlicher Analyse der einschlägigen fachgesetzlichen Ermessensnormen sagen.28 Die Ermessenslehre des Polizeirechts mit ihren differenzierten Regeln zur Auswahl der Verantwortlichen und der in Betracht kommenden Mittel macht das anschaulich.29 Ähnliches gilt, wenn im Umweltrecht angesichts komplexer Bewertungen und Abwägungen nach administrativen Gestaltungsermächtigungen30 oder im Straßenrecht nach den zulässigen Kriterien für die Versagung einer beantragten Sondernutzungserlaubnis gefragt wird.31 Schließlich bildet das Planungsermessen ein Beispiel dafür, wie die ganze neuere Ermessenslehre nicht richtig erfasst werden kann, wenn man nicht die Entwicklung der baurechtlichen Abwägungsdogmatik einbezieht.32 (5) Die gegenseitige Bezogenheit von Allgemeinem und Besonderem Verwaltungsrecht sei 11 hier schließlich noch am Beispiel des Staatshaftungsrechts aufgezeigt: Für die schuldhaften Amtspflichtverletzungen finden sich kaum Sonderregelungen; hier beherrscht der allgemeine Tatbestand des Art. 34 GG iVm. § 839 BGB als Anspruchsgrundlage das Feld, der freilich, z.B. in der Frage der Drittbezogenheit der Amtspflicht, auf das Besondere Verwaltungsrecht angewiesen bleibt. Bei den anderen Anspruchsgrundlagen, z.B. dem Rechtsinstitut des enteignungsgleichen Eingriffs oder der Plangewährleistung, sieht sich das allgemeine verwaltungsrechtliche Anspruchstableau noch erheblich mehr auf Ergänzungen durch fachgesetzliche Regelungen angewiesen, z.B. solche des Polizeirechts, des Naturschutzrechts und des Bauplanungsrechts.33 Wie sich das Institut der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmungen entwickelt hat und welche Rechtsgrundlagen heute zu fordern sind, lässt sich am besten in der Auseinandersetzung mit den Entschädigungsvorschriften des Wasserrechts erarbeiten.34 III. Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung – Einleitung

III. Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung Die Beziehungen zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen Verwaltungsrecht gehen 12 über die aufgezeigten praktischen Punkte aber noch hinaus. Sie bilden zugleich ein spezifisches theoretisch-systematisches Verhältnis. In ihm kommt dem Allgemeinen Verwaltungsrecht die Funktion zu, das Konzept von Verwaltung, das Verwaltungsmodell, auszudrücken, das einer Rechtsordnung zugrunde liegt:35 die auf Dauer angelegten, gleichwohl nicht gänzlich unwandelbaren Aussagen zur Stellung der Exekutive zu den anderen Staatsfunktionen, zu ihren Aufträgen und Handlungsmaßstäben, ihren Einbindungen in europäische und internationale Entscheidungszusammenhänge, ihrer Verantwortung gegenüber Gesellschaft und Bürgern, ihrem Verhältnis zu individuellen Freiheits- und Leistungserwartungen.36 Das Besondere Verwaltungsrecht verkörpert demgegenüber die konkreten Entscheidungen der Politik, die in den einzelnen Fachgebieten oft recht unterschiedlichen, keineswegs stimmigen Linien folgen, weil sich Sonderinteressen durchgesetzt haben. Die Ausrichtung am Allgemeinen Verwaltungsrecht kann hier dazu beitragen, Sonderentwicklungen ein Stück weit einzufangen und die Rechtspraxis auf

_____ 28 Dazu auch Schmidt-Aßmann Ordnungsidee 4. Kap Rn 46 ff. 29 o Schoch 2. Kap Rn 152 ff und 225 ff. 30 o Eifert 5. Kap Rn 82. 31 o v. Danwitz 7. Kap Rn 63. 32 Dazu Jestaedt in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR § 11 Rn 18, 27; o Krebs 4. Kap Rn 98 ff. 33 Anschaulich Grzeszick in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR § 46; aus dem Besonderen Verwaltungsrecht o Schoch 2. Kap Rn 408 ff; o Krebs 4. Kap Rn 187 ff. 34 Grzeszick in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR § 45 Rn 42 ff; o Eifert 5. Kap Rn 242. 35 So auch Schmidt-Preuß (Fn 3) 778 f. Ähnlich zur Funktion des Allgemeinen Teils des StGB Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl 2006, § 1 Rn 15. 36 Vgl dazu Hoffmann-Riem in: GVwR I § 10 und Masing dort § 7; Pitschas in: GVwR II § 42; Scherzberg in: Trute/ Groß/Röhl/Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, 837 ff.

Schmidt-Aßmann

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Einleitung – Besonderes Verwaltungsrecht und Allgemeines Verwaltungsrecht

Konsistenz und Rationalität zu verpflichten.37 Umgekehrt bedarf das Allgemeine Verwaltungsrecht aber immer wieder der Rückorientierung seiner abstrakten Lehren an den gegenwärtigen Problemlagen. 13 Die in der verwaltungsrechtlichen Systematik angelegte Wechselbezüglichkeit zwischen Allgemeinem Teil und besonderen Teilen stellt zugleich die notwendige Anpassungsfähigkeit der allgemeinen Rechtsinstitute und Lehrsätze an neue Entwicklungen sicher. „Seinen Anspruch auf Strukturierung und Systembildung müsste das Allgemeine Verwaltungsrecht bald aufgeben, wenn es nicht in der Lage wäre, sich neuen Fragestellungen und Problemlagen zu öffnen“.38 Es geht darum, die Reformfähigkeit des Verwaltungsrechts insgesamt zu sichern.39 Das Besondere Verwaltungsrecht zeigt dazu in seinen Vorschriften Lösungsmuster für bestimmte Interessenkonstellationen auf. Vollzugsmängel in einem bestimmten Bereich indizieren Konflikte, die es zu analysieren und mit Mitteln zu lösen gilt, die sich schon in anderen Gebieten bewährt haben. Seine Gebiete sind ein Fundus verfügbarer Lösungen und ein Spiegel bestehender Regelungsbedürfnisse. Verwaltungsrechtliche Systembildung erfolgt immer deduktiv und induktiv zugleich.40 Ablauf und Struktur dieses Prozesses lassen sich am Beispiel umweltrechtlicher Fragestellungen und ihrer Einwirkung auf die Systembildung gut verfolgen.41 Ungleichzeitigkeiten in den verstreuten Gebieten des Fachrechts werden in gewissem Maße ausgeglichen, wenn sie in einen allgemeinen Rahmen eingestellt werden.42 14 Diese Überlegungen führen zu einem für das Allgemeine Verwaltungsrecht zentralen Punkt, der richtigen Auswahl seiner Referenzgebiete. Mit diesem Begriff sollen diejenigen Gebiete des Besonderen Verwaltungsrechts bezeichnet werden, die das Fallmaterial und die Beispiele für die Aussagen des allgemeinen Rechts abgeben.43 Die Bedeutung ihrer Auswahl liegt auf der Hand: Ein Teil der allgemeinen Lehren ist induktiv aus einem Vergleich gebietsspezifischer Regelungsmuster gewonnen. Auch diejenigen Teile, die deduktiven Ursprungs sind, werden fortlaufend an Beispielen aus einzelnen Verwaltungsbereichen erläutert und erprobt. Die Referenzgebiete bringen jene Ausrichtung auf Verwaltungsaufgaben und Verwaltungszwecke in das Allgemeine Verwaltungsrecht, die gegenüber einem Denken in allgemeinen Begriffen wiederholt angemahnt worden ist.44 Das Allgemeine Verwaltungsrecht ist folglich keineswegs so abstrakt und aufgabenarm, wie gelegentlich kritisiert wird. Die Frage ist nur, ob es die richtigen, d.h. die heute repräsentativen und wichtigen Aufgaben sind, die sich über die Referenzgebiete in den allgemeinen Lehren zur Geltung bringen. Die Vorstellungswelt des Allgemeinen Verwaltungsrechts hat sich vorrangig am Anschau15 ungsmaterial des Polizei-, Kommunal-, Bau- und Beamtenrechts entwickelt. Dieses sind auch heute unbestreitbar wichtige Gebiete: Das Polizeirecht bildet den Grundtyp des Sicherheitsrechts, dessen Bedeutung angesichts des elementaren staatlichen Auftrags zur Gefahrenabwehr und Sicherheitsgewährleistung offen zutage liegt; hier geht es um „Grundbedingungen für die

_____ 37 Vgl Schmidt-Preuß (Fn 3) 778: Chancen für Rationalitätsgewinn und Richtigkeitsgewähr. Im Blick auf die europäische Rechtsentwicklung Kahl DV 2010, Beiheft 10, 39 (43 ff). 38 Schmidt-Preuß (Fn 3) 782. 39 Ausführlich Groß DV 1999, Beiheft 2, 57 (70 ff); (mit unterschiedlicher Akzentsetzung) Voßkuhle GVwR I § 1 Rn 9 ff; Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR § 3 Rn 100 f; Wolff/Bachof/Stober/Kluth VwR I § 2 Rn 5 ff; R. Schmidt VerwArch 91 (2000) 149; R. Schröder Verwaltungsrechtsdogmatik im Wandel, 2007, 169 ff; Appel und Eifert in: VVDStRL Bd 67 (2008) 226 ff und 286 ff; Kersten/Lenski DV 42 (2009), 501. 40 Ähnlich Brohm Strukturen der Wirtschaftsverwaltung, 36 ff; Möllers VerwArch 93 (2002) 22, 46 ff, 55 f. 41 Grundlegend Hoffmann-Riem AöR 115 (1990) 400 ff; P.M. Huber AöR 114 (1989) 252 ff; Jaeckel Gefahrenabwehrrecht und Risikodogmatik, 2010. 42 Dazu Schulze-Fielitz DV 27 (1994) 227. 43 Voßkuhle in: GVwR I § 1 Rn 43 ff. Am Beispiel des Verwaltungsverfahrensrechts F. Wollenschläger Verteilungsverfahren, 2010. 44 Badura Verwaltungsrecht im liberalen und sozialen Rechtsstaat, 1966.

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III. Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung – Einleitung

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individuelle Freiheitsentfaltung und die Aufrechterhaltung sozialer Wohlfahrt“.45 Im Kommunalrecht verbinden sich das Organisationsrecht der Selbstverwaltung und das Recht der Daseinsvorsorge zum Standardrecht demokratisch eigenständig legitimierter, ortsnaher Verwaltung.46 Das Baurecht stellt ein Rechtsgebiet dar, das die Wandlungen der Verwaltungsaufgaben von der punktuellen Intervention zur planerischen Gestaltung gut erkennen lässt.47 Trotzdem kann man nicht davon ausgehen, dass die bisherigen Referenzgebiete die großen 16 Verwaltungsaufgaben unserer Zeit, um deren systematische Erfassung es im Allgemeinen Verwaltungsrecht gehen muss, erschöpfend zur Darstellung bringen. In diesem Sinne wichtige Bereiche sind heute die Verantwortung des Staates für die Wirtschaft, für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und für die soziale Sicherheit. Umweltverwaltungsrecht und öffentliches Wirtschaftsrecht sind zudem Gebiete, in denen die Europäisierung weit fortgeschritten ist; ihre Regelungsmuster in die verwaltungsrechtliche Systembildung einzubeziehen heißt folglich, die Rezeption des EU-Rechts zu verstärken.48 Die Vielfalt neuer Organisations- und Handlungsformen in diesen Referenzgebieten belegt, wie sehr auch von den allgemeinen Lehren Anpassung und Fortentwicklung verlangt werden. Neben den vertrauten Gebieten der Ordnungs- und Leistungsverwaltung hat sich bereichsspezifisch ein Recht der Gewährleistungsverwaltung, ein Recht verstärkter Kooperation zwischen Verwaltung, Individuen, Unternehmen und Verbänden entwickelt, das in das Allgemeine Verwaltungsrecht integriert und durch dieses rationalisiert werden muss.49

_____

45 o Schoch 2. Kap Rn 2; ausf Möstl Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, bes 37 ff; Stoll Sicherheit als Aufgabe von Staat und Gesellschaft, 15 ff; Wißmann Generalklauseln, 2008, 187 ff; Schöndorf-Haubold, Europäisches Sicherheitsverwaltungsrecht, 2010. 46 Vgl nur Oebbecke und Burgi VVDStRL Bd 62 (2003) 366 ff und 405 ff. 47 Schmidt-Aßmann Grundfragen des Städtebaurechts, 1972, bes 63 ff; Wahl Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, 1978, Bd 1, 21 ff und 114 ff. 48 Dazu o Huber 3. Kap. Rn 78 ff und Eifert 5. Kap Rn 18 ff. Umfassende Darstellung jetzt bei Terhechte Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011. 49 Grundlegend Voßkuhle VVDStRL Bd 62 (2003), 266 ff; Schulze-Fielitz in: GVwR I § 12 Rn 51 ff; Burgi dort § 18 Rn 79 f; Schoch NVwZ 2008, 241; ausf Franzius Gewährleistung im Recht, 2008. Zur „regulierten Selbstregulierung“ o Eifert 5. Kap Rn 112 ff.

Schmidt-Aßmann

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Einleitung – Besonderes Verwaltungsrecht und Allgemeines Verwaltungsrecht

Schmidt-Aßmann

Kommunalrecht – 1. Kapitel

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Erstes Kapitel 1. Kapitel – Kommunalrecht Kommunalrecht – 1. Kapitel Röhl

Hans Christian Röhl

Kommunalrecht*

I.

II.

Gliederung Grundlagen ____ 1 1. Gesetzliche Grundlagen ____ 2 a) Kommunalrecht ieS ____ 2 b) Rechtsgrundlagen kommunaler Tätigkeit ____ 3 2. Grundbegriffe: Gemeinde, Einwohner, Bürger ____ 4 a) Gemeinde ____ 4 b) Einwohner und Bürger ____ 5 c) Rechte und Pflichten der Einwohner und Bürger ____ 6 3. Die Idee bürgerschaftlicher Selbstverwaltung ____ 7 4. Entwicklung der Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland ____ 9 a) Territorialreformen ____ 9 b) Die Bedeutung des Rechts der Europäischen Union ____ 11 5. Aktuelle Herausforderungen ____ 13 a) Bevölkerungsdynamik ____ 13 b) Kommunale Finanzen ____ 14 c) Veränderte Kommunikationsstrukturen ____ 15 Die Verfassungsgarantie des Art 28 II GG ____ 16 1. Vorbemerkung: Die verfassungsrechtliche Stellung der Gemeinden ____ 16 a) Gemeinden: Ein besonderer Teil des Staates ____ 16 b) Die demokratische Verfassungsstruktur in der Gemeinde, Art 28 I 2 GG ____ 17 c) Die Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung ____ 19 aa) Adressaten der Selbstverwaltungsgarantie ____ 20 bb) „Institutionelle Garantie“ und subjektive Rechtsstellung ____ 21 2. Garantie der kommunalen Ebene, Art 28 I 2, II GG ____ 22 3. Schutz der individuellen Gemeinde in ihrem Bestand ____ 24 4. Schutz der eigenverantwortlichen Wahrnehmung kommunaler Aufgaben ____ 26

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a)

III.

Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ____ 27 b) Zuweisung durch den Gesetzgeber ____ 28 aa) Verpflichtung auf eine kommunalspezifische Aufgabenausstattung ____ 29 bb) Abweichung von der Regelzuweisung ____ 30 cc) Überörtliche Angelegenheiten, Gemengelagen, Wanderungsprozesse ____ 31 dd) Art 28 II GG als Schranke kommunalen Handelns? ____ 32 c) Eigenverantwortlichkeit ____ 35 d) Insbesondere: So genannte Gemeindehoheiten ____ 36 e) Der Gesetzesvorbehalt und seine Grenzen ____ 42 aa) Die Kernbereichsgarantie ____ 43 bb) Gemeindespezifisches materielles Aufgabenverteilungsprinzip ____ 44 cc) Zugriff auf die Eigenverantwortlichkeit: Hinreichender Spielraum ____ 45 dd) Zuweisung zusätzlicher Aufgaben ____ 46 5. Die Selbstverwaltungsgarantie als subjektives Recht ____ 47 a) Kommunale Verfassungsbeschwerde ____ 47 b) Die Bedeutung der Selbstverwaltungsgarantie für das einfache Recht ____ 48 Weitere Gewährleistungen gemeindlicher Selbstverwaltung und kommunaler Rechtspositionen ____ 51 1. Gewährleistungen auf europäischer Ebene ____ 51 a) Unionsrechtliche Gewährleistung der Selbstverwaltung ____ 51 b) Die Berufung auf Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten ____ 52 2. Gewährleistungen im Grundgesetz ____ 53 a) Partielle Finanzgarantien ____ 53 b) Grundrechte ____ 55 aa) Bereiche öffentlicher Aufgabenerfüllung ____ 56

* Der Beitrag stellt eine behutsame Weiterentwicklung der Lehrdarstellung von Eberhard Schmidt-Aßmann dar. Für die Überlassung dieser Aufgabe sage ich Dank. Die Neubearbeitung hat Herr ass. iur Daniel Sigg nachhaltig unterstützt. Die Verantworung für Fehler und Auslassungen liegt bei mir.

Röhl

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IV.

Röhl

1. Kapitel – Kommunalrecht

bb) Bereiche fiskalisch-erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit ____ 57 3. Selbstverwaltungsgarantien der Landesverfassungen ____ 58 Die Gemeinden im Gefüge öffentlicher Aufgabenerfüllung – Aufgabensystematik, Staatsaufsicht und Aufgabenträger ____ 59 1. Kommunale Aufgabensystematik ____ 60 a) Aufgabenkategorien und Staatseinfluss ____ 60 aa) Überblick ____ 60 bb) Dualistisches und monistisches Modell ____ 61 cc) Eigener Wirkungskreis/Freie und pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben ____ 62 dd) Auftragsangelegenheiten/Pflichtaufgaben nach Weisung ____ 63 b) Das systematische Verständnis des Staatseinflusses bei den „Staatsaufgaben“/Pflichtaufgaben nach Weisung ____ 64 aa) Die Perspektive des Art 28 II GG ____ 64 bb) Differenzierungen ____ 65 cc) Ergebnis ____ 66 dd) Verfahrens- und prozessrechtliche Konsequenzen ____ 67 2. Rechtsaufsicht ____ 68 a) Aufsichtsmittel ____ 69 b) Rahmenbedingungen und Rechtsschutz ____ 70 3. Fachaufsicht ____ 71 a) Wesen und Regelungen ____ 71 b) Rechtsschutz gegen fachaufsichtliche Maßnahmen ____ 72 4. Mittel präventiver Aufsicht ____ 73 a) Zweck und Typik ____ 73 b) Spezielle Genehmigungsvorbehalte ____ 74 aa) Rechtliche Unbedenklichkeitserklärung ____ 75 bb) Staatliche Mitentscheidung, Kondominium ____ 76 5. Formen der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung im gemeindlichen Raum ____ 77 a) Staatliche Behörden ____ 78 b) Weitere Modi der Aufgabenwahrnehmung ____ 79 c) Privatisierung ____ 80 6. Aufgabenbestand und Gemeindestatus: kreisfreie und kreisangehörige Gemeinden ____ 81 a) Das Bild der Einheitsgemeinde ____ 82 b) Kreisangehörige Gemeinden ____ 82 c) Kreisfreie Städte ____ 83 d) Privilegierte kreisangehörige Gemeinden ____ 84

V.

VI.

Gemeindeverfassungsrecht ____ 85 1. Kommunalwahlen ____ 85 a) Grundsätze ____ 85 b) Rechtsschutz bei Kommunalwahlen ____ 86 2. Überblick: Die Gemeindeorgane ____ 87 3. Der Gemeinderat ____ 90 a) Zusammensetzung und Mitgliederstatus ____ 90 aa) Rechts- und Pflichtenstatus ____ 92 bb) Insbesondere Befangenheitsvorschriften ____ 93 b) Interne Organisation und Verfahren des Rates ____ 94 aa) Ratsvorsitzender ____ 94 bb) Ratsgeschäftsordnung ____ 95 cc) Ratssitzungen ____ 96 dd) Ratsausschüsse ____ 97 ee) Fraktionen ____ 98 c) Aufgaben des Gemeinderates ____ 99 aa) Systematik ____ 100 bb) Vorbehaltsaufgaben des Rates (Überblick) ____ 101 4. Der Bürgermeister ____ 102 a) Status ____ 102 b) Aufgaben ____ 103 aa) Ratszuarbeitung, Ratsvorsitz ____ 103 bb) Einspruchsrecht ____ 104 cc) Geschäfte der laufenden Verwaltung ____ 105 dd) Übertragene Angelegenheiten ____ 106 ee) Dringlichkeitsentscheidungen ____ 107 ff) Außenwirksame Entscheidungen: Verwaltungschef, rechtsgeschäftliche Vertretung, Beteiligungsrechte ____ 108 5. Besonderheiten kollegialer Leitungsgremien ____ 109 6. Kommunalverfassungsstreit ____ 113 a) Grundfragen und Entwicklung ____ 114 b) Einzelheiten ____ 115 7. Formen plebiszitärer Beteiligung ____ 117 a) Schlichte Mitwirkungsmöglichkeiten ____ 118 b) Mitentscheidungsmöglichkeiten ____ 119 8. Gemeindeinterne Gliederungen: Bezirke, Ortschaften ____ 122 Die Gemeindeverwaltung ____ 123 1. Grundlagen ____ 123 2. Die allgemeine Gemeindeverwaltung ____ 124 3. Wirtschaftliche Unternehmen in öffentlichrechtlicher Rechtsform ____ 125 a) Überblick ____ 125 b) Eigenbetrieb, Kommunalunternehmen ____ 126

Kommunalrecht – 1. Kapitel

4. Privatrechtliche Organisationsformen als Teil des kommunalen Organisationsrechts ____ 127 a) Rechtsformen ____ 128 b) Erhalt der Gemeinwohlbindungen – „Einwirkungspflicht“ ____ 129 5. Vertragliche Verwaltungsstrukturen in der Kommune ____ 130 VII. Kommunalspezifische Handlungsformen: Rechtsetzung der Gemeinden und kommunale Verträge ____ 132 1. Gemeindliche Satzungen ____ 133 a) Regelungstypus ____ 133 b) Ermächtigungsgrundlage für kommunale Satzungen und Gesetzesvorbehalt ____ 134 c) Formelle Vorgaben ____ 136 aa) Satzungsgebungsverfahren ____ 137 bb) Verfahrensfehler ____ 138 d) Materielle Anforderungen an Satzungen, insbes Vorrang des Gesetzes ____ 140 e) Rechtsschutz gegen Satzungen ____ 141 2. Weitere gemeindliche Rechtsetzungsakte ____ 144 a) Rechtsverordnungen ____ 144 b) Inneradministrative Rechtssätze ____ 145 3. Kommunale Verträge ____ 146 a) Wirksames Zustandekommen ____ 147 aa) Allgemein ____ 147 bb) Insbesondere: Vergaberecht ____ 148 b) Grenzen der Wirksamkeit ____ 149 VIII. Die Leistungen der Gemeinden für ihre Einwohner ____ 150 1. Das Recht kommunaler Leistungserbringung ____ 150 a) Grundfragen ____ 150 b) Modi kommunaler Leistungserbringung ____ 153 2. Insbesondere: Öffentliche Einrichtungen ____ 155 a) Begriff ____ 155 b) Widmung ____ 158 c) Nutzungsrechte ____ 159 d) Benutzungsverhältnis ____ 161 aa) Bei öffentlich-rechtlicher Organisationsform ____ 162 bb) Bei privatrechtlicher Organisationsform ____ 162 cc) Benutzungsbedingungen ____ 163 e) Rechtsformen und Zugang ____ 164 3. Einrichtungen mit Anschluss- und Benutzungszwang ____ 166 a) Tatbestand ____ 166 b) Grundrechtsfragen ____ 168 aa) Anschlusspflichtige ____ 168 bb) Anbieter gleichartiger Leistungen ____ 169

IX.

X.

XI.

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Die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden ____ 170 1. Grundlagen ____ 170 a) Kommunale Wirtschaft zwischen Daseinsvorsorge und Gewinnerzielung ____ 171 b) Schutzzweck des kommunalen Wirtschaftsrechts ____ 172 c) Systematische Überlegungen ____ 173 2. Kommunalrechtliche Schranken gemeindlicher Wirtschaftstätigkeit ____ 174 a) Anwendbarkeit ____ 174 b) Kommunalrechtliche Schrankentrias ____ 175 aa) Öffentlicher Zweck ____ 175 bb) Leistungsfähigkeitsbezug ____ 176 cc) Sog Subsidiarität ____ 177 dd) Insbesondere: Territorialitätsprinzip ____ 178 c) Durchsetzung der kommunalrechtlichen Schranken ____ 179 aa) Subjektiv-öffentliche Rechte ____ 179 bb) Durchsetzung über Wettbewerbsrecht (UWG, Vergaberecht) ____ 180 d) Das Recht nichtwirtschaftlicher Unternehmen ____ 181 3. Allgemeines Wirtschaftsrecht ____ 182 4. Unionsrechtlicher Rahmen ____ 183 a) Der allgemeine Rahmen ____ 184 b) Bereichsspezifische Vorgaben ____ 186 Finanzen und Haushalt ____ 187 1. Das Gemeindefinanzsystem ____ 188 a) Überblick über die Einnahmen ____ 188 b) Steuereinnahmen ____ 189 c) Gebühren und Beiträge, privatrechtliche Entgelte ____ 191 d) Finanzzuweisungen, insbes der kommunale Finanzausgleich ____ 192 e) Kredite und Entschuldung ____ 195 f) Reformbedarf ____ 196 2. Kommunales Abgabenrecht ____ 197 a) Steuern ____ 198 b) Gebühren und Beiträge, privatrechtliche Entgelte ____ 200 3. Haushaltsrecht ____ 202 a) Neues Steuerungsmodell und kommunales Haushaltsrecht ____ 203 b) Haushaltssatzung, Haushaltsplan ____ 204 c) Haushaltsvollzug ____ 207 Das Recht der Landkreise (Kreise) ____ 208 1. Grundgesetzliche Rechtsstellung ____ 209 a) Garantie der Kreisebene ____ 210 b) Garantie der Selbstverwaltung ____ 211 2. Aufgaben der Kreise ____ 212 a) Kreisaufgaben und staatliche Steuerung ____ 213

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1. Kapitel – Kommunalrecht

b)

Aufgabenverteilung zwischen Kreis und kreisangehörigen Gemeinden ____ 214 aa) Übergemeindliche Aufgaben ____ 215 bb) Ergänzende Aufgaben ____ 216 cc) Ausgleichende Aufgaben ____ 217 dd) Kompetenz-Kompetenz ____ 218 3. Organe des Kreises ____ 219 a) Kreistag ____ 220 b) Landrat ____ 221 c) Kreisausschuss ____ 222 4. Staatliche Verwaltung im Kreis ____ 223

XII. Sonstige Gemeindeverbände, Zweckverbände, interkommunale Zusammenarbeit ____ 224 1. Gesamtgemeinden ____ 227 2. Höhere Gemeindeverbände ____ 229 3. Interkommunale Zusammenarbeit, Zweckverbände ____ 230 a) Formen interkommunaler Zusammenarbeit ____ 231 b) Insbesondere Zweckverbandsbildungen ____ 232

Literatur: M. Burgi Selbstverwaltung angesichts von Europäisierung und Ökonomisierung, VVDStRL 62 (2003) 405 ff. M. Burgi Kommunalrecht, 3. Aufl 2010 (zit Burgi KomR). A. Dittmann Kommunalverbandsrecht, in: Achterberg/ Püttner/Würtenberger (Hrsg), BesVwR II, 2. Aufl 2000, 105 ff. D. Ehlers Empfiehlt es sich, das Recht der öffentlichen Unternehmen im Spannungsverhältnis von öffentlichem Auftrag und Wettbewerb national und gemeinschaftsrechtlich neu zu regeln?, Gutachten E zum 64. DJT, 2002 (zit Ehlers Gutachten). H.-U. Erichsen Kommunalrecht des Landes Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl 1997 (zit Erichsen KomR NW). A. Gern Deutsches Kommunalrecht, 3. Aufl 2003 (zit Gern DtKomR). M.-E. Geis Kommunalrecht, 2. Aufl 2011 (zit Geis KomR). J. Hellermann Örtliche Daseinsvorsorge und gemeindliche Selbstverwaltung, 2000 (zit Hellermann Daseinsvorsorge). R. Hendler Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984 (zit Hendler Selbstverwaltung). H.-G. Henneke, Bundesstaat und Kommunale Selbstverwaltung nach den Föderalismusreformen, 2009. ders. Die Kommunen in der Finanzverfassung des Bundes und der Länder, 5. Aufl 2012 (zit Henneke Finanzverfassung). H.-G. Henneke (Hrsg), Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und Europäischer Union, 2001 (zit Henneke Verantwortungsteilung). H.-G. Henneke (Hrsg), Kommunale Perspektiven im zusammenwachsenden Europa, 2003. H.-G. Henneke/H. Pünder/C. Waldhoff (Hrsg), Recht der Kommunalfinanzen, 2006 (zit RdKomFin). H.-G. Henneke/H. Strobl/D. Diemert (Hrsg), Recht der kommunalen Haushaltswirtschaft, 2008 (zit RdkHW). W. Hoppe/M. Uechtritz (Hrsg), Handbuch kommunale Unternehmen, 2. Aufl 2007 (zit Bearbeiter HBKomU). W. Kahl Die Staatsaufsicht, 2000 (zit Kahl Staatsaufsicht). W. Kluth Grundlagen des Rechts der kommunalen Selbstverwaltung, in: Wolff/Bachof/Stober/Kluth, VwR II, 7. Aufl 2010, §§ 96–98. Th. Mann/ G. Püttner (Hrsg) Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd 1, 3. Aufl 2007; Bd 2, 3. Aufl 2011 (zit Bearbeiter HkWP). H. Meyer Kommunalrecht, in: H. Meyer/M. Stolleis (Hrsg), Staats- und Verwaltungsrecht für Hessen, 5. Aufl 2000, 169 ff (zit H. Meyer in: Meyer/Stolleis StuVwR Hess). H. Müthling Die Geschichte der deutschen Selbstverwaltung, 1966. A. v. Mutius Kommunalrecht, 2006(zit v Mutius KomR). J. Oebbecke Selbstverwaltung angesichts von Europäisierung und Ökonomisierung, VVDStRL 62 (2003) 366ff. J.-Ch. Pielow Grundstrukturen öffentlicher Versorgung, 2001 (zit Pielow Grundstrukturen). H. Preuss Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, 1906 (Nachdruck 1965). T. I. Schmidt Kommunalrecht, 2011 (zit Schmidt KomR). T. I. Schmidt Kommunale Zusammenarbeit, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg), BesVwR I, 3. Aufl 2013, § 65. E. Schmidt-Aßmann Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl 2004. E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997. E. Schmidt-Jortzig Kommunalrecht, 1982 (zit Schmidt-Jortzig KomR). F. Schoch Verfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Finanzautonomie, 1997 (zit Schoch Finanzautonomie). M. Schröder Kommunalverfassungsrecht, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger (Hrsg), BesVwR II, 2. Aufl 2000, 1 ff. O. Seewald Kommunalrecht, in: U. Steiner (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Aufl 2006, 1 ff. J. Suerbaum Kommunale und sonstige öffentliche Unternehmen, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg), BesVwR I, 3. Aufl 2012, 338 ff. P. J. Tettinger/W. Erbguth/Th. Mann Besonderes Verwaltungsrecht, 11. Aufl 2012, 3 ff (zit Tettinger/Erbguth/Mann BesVerwR). K. Vogelgesang/U. Lübking/I. Ulbrich Kommunale Selbstverwaltung, 3. Aufl 2005. K. Waechter Kommunalrecht, 3. Aufl 1997 (zit Waechter KomR). W. Weber Staats- und Selbstverwaltung in der Gegenwart, 2. Aufl 1967. G. Wurzel/A. Schraml/R. Becker (Hrsg), Rechtspraxis der kommunalen Unternehmen, 2. Aufl. 2010 (zit RPkomUnt).

I. Grundlagen – 1. Kapitel

I. Grundlagen 1 Als Kommunalrecht bezeichnet man die Summe derjenigen Rechtssätze, die sich auf Rechtsstellung, Organisation, Aufgaben, Handlungsformen und Finanzen der Kommunalkörper-

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I. Grundlagen – 1. Kapitel

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schaften beziehen.1 Zu den Kommunalkörperschaften zählen die Gemeinden, die Landkreise, die Kommunalverbände und Sonderverbände sowie die kommunalen Zweckverbände. Das Gemeinderecht ist ein Teil des Kommunalrechts – der wichtigste Teil, weil die Gemeinden die Basis des körperschaftlich gegliederten kommunalen Verwaltungsgefüges sind. Zudem enthalten die anderen Teile des Kommunalrechts oft Verweisungen auf die Regelungen des Gemeinderechts. Daher steht das Gemeinderecht im Zentrum auch dieses Beitrages (Gliederungspunkte II–X), während das Recht der Landkreise und der sonstigen Gemeindeverbände nur knapp dargestellt wird (XI, XII).

1. Gesetzliche Grundlagen a) Kommunalrecht ieS Weder für das Kommunalrecht als Ganzes noch für das Gemeinderecht existiert eine geschlos- 2 sene systematische Kodifikation. Wohl aber besteht in jedem Flächenstaat2 der Bundesrepublik eine Gruppe von Gesetzen, die die Hauptmaterien des Kommunalrechts abdecken. Hierzu zählen die Gemeinde- und Landkreisordnungen3 und die Zweckverbandsgesetze. Kommunalabgabengesetze und Vorschriften über das kommunale Eigenbetriebs-, Kassen- und Haushaltswesen ergänzen diesen engeren Kreis kommunalrechtlicher Gesetze. Kommunalrecht ist also in seinem Kern Landesrecht.

b) Rechtsgrundlagen kommunaler Tätigkeit Die Rechtsgrundlagen für die kommunale Verwaltungstätigkeit (Verwaltungsagenden) fin- 3 den sich in Bundesgesetzen4 oder Landesgesetzen,5 die einzelne Materien des Verwaltungsrechts regeln (Fachgesetze), denn Gemeinden und Kreise sind zentrale Verwaltungsträger:6 Im Bereich des Baurechts gehört zu den gemeindlichen Aufgaben die Bauleitplanung (§ 1 III, § 2 I BauGB); größere Gemeinden oder die Landkreise sind auch Baugenehmigungsbehörde. Polizeiliche bzw ordnungsbehördliche Aufgaben nehmen die Gemeinden idR als Ortspolizeibehörde wahr. Die

_____ 1 Ähnlich Burgi KomR, Rn 10; systematische Zusammenstellung der Rechtsquellen bei Mann/Elvers HkWP I, § 10. 2 Die Stadtstaaten Berlin und Hamburg unterscheiden nicht zwischen staatlicher und gemeindlicher Aufgabenträgerschaft. Zum organisatorischen Aufbau und der Binnengliederung Hamburgs Bull in: Hoffmann-Riem/Koch, Hamburgisches Staats- und Verwaltungsrecht, 3. Aufl 2006, 89; ders HkWP I, § 26b. Zu Berlin Hurnik HkWP I, § 26a; Musil/Kirchner Das Recht der Berliner Verwaltung – unter Berücksichtigung kommunalrechtlicher Bezüge, 3. Aufl 2012. Bremen kennt zwar eine eigene kommunale Ebene; in der nachfolgenden Darstellung bleibt jedoch auch dieses Land wie die beiden anderen Stadtstaaten außer Ansatz; zu Bremen Göbel HkWP I, § 26c. 3 BW: GemeindeO (GemO BW), LandkreisO (LKrO BW); Bay: GemeindeO (GO Bay), LandkreisO (LKrO Bay); Bbg: Kommunalverfassung (BbgKVerf); Hess: GemeindeO (HessGO), LandkreisO (HessKO); MV: Kommunalverfassung (KV MV); Nds: KommunalverfassungsG (NdsKomVG); NW: GemeindeO (GO NW), KreisO (KrO NW); RP: GemeindeO (GemO RP), LandkreisO (LKO RP); SL: KommunalselbstverwaltungsG (KSVG SL); Sachs: GemeindeO (SächsGemO), LandkreisO (SächsLKrO); LSA: GemeindeO (GO LSA), LandkreisO (LKO LSA); SH: GemeindeO (GO SH), KreisO (KrO SH); Thür: Gemeinde- und LandkreisO (ThürKO). 4 Allerdings kann seit der Föderalismusreform eine Aufgabenzuweisung durch Bundesgesetz nicht mehr erfolgen, Art 84 I 7 u Art 85 I 2 GG (vgl a Rn 54). Sie hatte schon bisher aus Kompetenzgründen der Ausnahmefall zu bleiben: BVerfGE 22, 180, 210; E 77, 288, 299 o JK GG Art 72/2; vgl a 106, 62, 145 f; bestehende Zuweisungen gelten aber fort, Art 125a I GG (im Einz Schoch DVBl 2007, 261). 5 Die daraus resultierende Rechtszersplitterung bereitet dem Studium ebenso wie jeder vereinheitlichenden Darstellung des Kommunalrechts erhebliche Schwierigkeiten. Die nachfolgenden Ausführungen wollen mit dem Text der jeweiligen Gemeindeordnung in der Hand gelesen werden. Zum Vergleich der Gemeindeordnungen SchmidtEichstaedt/Stade/Borchmann Die Gemeindeordnungen und die Kreisordnungen in der Bundesrepublik Deutschland (Lsbl), mit Einführungen. 6 Zur Baugenehmigungsbehörde o Krebs 4. Kap Rn 208; zur Ortspolizeibehörde o Schoch 2. Kap Rn 363 f; zu Gemeindestraßen Æ von Danwitz 7. Kap Rn 11.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

Gemeinden errichten und unterhalten die Gemeindestraßen. Sie sind je nach Größe und Leistungsfähigkeit Schulträger, betreiben Kindergärten, Krankenhäuser sowie Pflegeheime, auch ansonsten sind sie in vielfältiger Weise in die Erbringung von Sozialleistungen eingebunden. Grundlagen für das kommunale Markt- und Jahrmarktswesen finden sich in der Gewerbeordnung; die Ver- und Entsorgung (Energie, Wasser, Abwasser, Abfall, Personennahverkehr) gehören seit langem zum traditionellen Bestand kommunaler Aufgaben.

2. Grundbegriffe: Gemeinde, Einwohner, Bürger a) Gemeinde 4 Die Gemeinden werden von den Gemeindeordnungen als Gebietskörperschaften errichtet. Eine Gemeinde ist daher eine Körperschaft (des öffentlichen Rechts), also eine mitgliedschaftlich verfasste Organisation, die unabhängig ist vom Wechsel ihrer Mitglieder.7 Als Gebietskörperschaft beruht ihr Verhältnis als Verband zu ihren Verbandsmitgliedern nicht wie bei anderen Körperschaften auf punktuellen Zuordnungskriterien, sondern wird kraft Gesetzes umfassend durch den Wohnsitz begründet:8 Mitglieder sind alle Personen, die den Wohnsitz in ihrem Gebiet haben und wahlberechtigt sind (= Bürger, u Rn 5). Insofern gilt: quidquid est in territorio, etiam est de territorio. Den Gemeinden kommt für ihr Gebiet die Gebietshoheit zu, dh ihre örtliche Zuständigkeit erstreckt sich auf alle Personen und Sachen, die sich in ihrem Bereich aufhalten, ihren Sitz dort haben bzw dort belegen sind. Als Gebietskörperschaften sind die Gemeinden rechtsfähig, dh, ihnen ist rechtstechnisch allgemein die Fähigkeit verliehen, Träger von Pflichten und Rechten zu sein.9 Die Rechtsfähigkeit schafft „Bewegungsfähigkeit“ im Rechtsverkehr und ist gleichzeitig rechtstechnisch der Garant einer Selbständigkeit gegenüber dem Staat.

b) Einwohner und Bürger 5 Die Gemeindeordnungen unterscheiden zwischen Einwohnern und Bürgern.10 Einwohner ist, wer in der Gemeinde einen Wohnsitz hat; es muss nicht sein einziger Wohnsitz sein. Überhaupt kommt es auf die polizeilich-melderechtlichen Voraussetzungen nicht an. Entscheidend ist der tatsächliche Aufenthalt, der allerdings von einer gewissen räumlich-gegenständlichen Stabilität sein muss. Auch Ausländer und Staatenlose sind Einwohner derjenigen Gemeinde, in der sie leben. Bürger sind Einwohner mit aktivem Kommunalwahlrecht, also Deutsche iSd Art 116 GG und Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union. Das Kommunalwahlrecht für EU-Ausländer beruht auf Art 20 II 1 u 2 b), 22 I AEUV iVm der Richtlinie 94/80/EG11 und wird auch in Art 40 EUGRCh gewährleistet. Die Voraussetzungen im deutschen Recht schaffen Art 28 I 3 GG, die entsprechenden Regelungen in den Landesverfassungen und das Kommunalwahlrecht der Bundesländer.12 Im Übrigen soll Ausländern das Wahlrecht zu gemeindlichen Entscheidungsgremien von Verfassungs wegen nicht eingeräumt werden können, weil die noch

_____ 7 Wolff/Bachof VwR II, § 71 III b) 1; § 84 II a) 1. 8 BVerfGE 52, 95, 117 f o JK GG Art 28 II/4; str ist, inwieweit die Universalität (u Rn 29) zum Begriff der Gebietskörperschaft gehört. Die überwiegende Meinung geht dahin, zumindest die subsidiäre Universalität des Wirkungskreises für ein konstituierendes Merkmal der Gebietskörperschaft zu halten, während andere (Nachw BVerfGE 52, 95, 118 o JK GG Art 28 II/4) es genügen lassen, wenn die Summe der Einzelzuständigkeiten zur effektiven Universalität neigt. 9 Wolff/Bachof VwR II, § 84 III d) 1 (Gebietskörperschaft); § 72 III b) 1 (Gebietshoheit); § 73 III c) 1 (Rechtsfähigkeit). 10 §§ 10, 12 GemO BW; Art 15 GO Bay; § 11 BbgKVerf; § 8 HessGO; § 13 KV MV; § 21 KV Nds; § 21 GO NW; § 13 GemO RP; § 18 KSVG SL; §§ 10, 15 SächsGemO; § 20 GO LSA; § 6 GO SH; § 10 ThürKO. Ausführlich Mann HkWP I, § 17. 11 ABl EG 1994 Nr L 368/38; weiterführend Schönberger Unionsbürger, 2005, 433 ff. 12 Bsp für die LandesVf: Art 72 I 2 Verf BW; Art 50 I 2 Verf RP. Einzelheiten zum Kommunalwahlrecht bei Schrapper DVBl 1995, 1167; Pieroth/Schmülling DVBl 1998, 365; Kaufmann ZG 1998, 25.

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hM davon ausgeht, der Begriff des Volkes in Art 28 I 2 GG könne nur ebenso wie in Art 20 II GG als Staatsvolk interpretiert werden.13 Weiter setzt das Wahlrecht voraus, dass der Berechtigte das 18. (in einigen Ländern das 16.) Lebensjahr vollendet hat und seit einiger Zeit – die Länderregelungen variieren zwischen drei und sechs Monaten – in der Gemeinde wohnt.

c) Rechte und Pflichten der Einwohner und Bürger Während die Einwohner die wesentlichen Adressaten der kommunalen Verwaltungsleistungen 6 sind (u Rn 159), haben die Gemeindebürger darüber hinaus das Recht auf politische Mitwirkung (u Rn 85 ff, 117 ff). Selbstverwaltung soll den Bürgern „eine wirksame Teilnahme an den Angelegenheiten des Gemeinwesens ermöglichen“.14 Diesen Rechten der Einwohner und Bürger korrespondieren Pflichten: So ist in politischer Hinsicht die Stellung als Bürger mit der Verpflichtung zur ehrenamtlichen Mitwirkung in der Gemeinde verbunden. In den Kreis dieser Tätigkeiten fallen sowohl kurzfristige Verwaltungshilfen, zB als Wahlhelfer, als auch dauerhafte Mitwirkungsformen, zB als Schöffe oder als sachverständiger Bürger in Ausschüssen des Gemeinderates.15 In administrativer Hinsicht stellen die Gemeindeordnungen die Verbindung von Lastentragung und Leistungsanspruch deutlich heraus. So heißt es in § 10 II der bad-württ Gemeindeordnung: „Die Einwohner sind im Rahmen des geltenden Rechts berechtigt, die öffentlichen Einrichtungen der Gemeinden nach gleichen Grundsätzen zu benutzen. Sie sind verpflichtet, die Gemeindelasten zu tragen“. Die Lastentragung wird heute ausgeformt vor allem durch das Abgabenrecht (Rn 197 ff). In einigen Ländern gibt es daneben noch die Möglichkeit, die Einwohner durch Satzung zu Naturaldiensten (sog Hand- und Spanndiensten) zu verpflichten.16

3. Die Idee bürgerschaftlicher Selbstverwaltung a) Die Idee bürgerschaftlicher Selbstverwaltung in der Gemeinde kann sich in Deutschland 7 auf eine lange, durchaus wechselhafte Tradition berufen: Das Wort Gemeinde bezieht sich ursprünglich auf ein bestimmtes Gebiet, die Allmende, eine Gemarkung, an der eine Gruppe von Personen gemeinsame Rechte und Pflichten besaß. Von diesem Realvermögen übertrug sich die Bezeichnung auf die in einem als Einheit verstandenen Gebiet ansässigen Rechtsgenossen, deren Ordnung aus der Notwendigkeit zur Erledigung gemeinsamer Pflichten erwuchs. Seit dem 12. Jahrhundert entwickelte sich ein kommunales Gemeinwesen besonderer Art, die Stadt.17 Hier siedelten sich neben den Handeltreibenden auch Handwerker an, die ihre Wohnstätte, häufig im Schutz einer Burg gelegen, gegen Angriffe von außen befestigten. Die Bürgerschaft gliederte sich in Gilden und Zünfte nach verschiedenen Erwerbszweigen. Diese Verbände führten häufig einen heftigen Streit um die politische Leitung des Gemeinwesens mit der Folge, dass soziale Schichtungen innerhalb der Städte mannigfache Differenzierungen schufen, so dass vielerorts nur Patrizier ratsfähig waren und eine hegemoniale Stellung erlangten. So wich das genossenschaftliche Prinzip, das einst wichtige Impulse zur Entwicklung dieser Gemeinden gegeben hatte, der

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13 BVerfGE 83, 37, 53; Nierhaus in: Sachs, GG, Art 28 Rn 24; zum Diskussionsstand mwN Dreier in: ders, GG II, Art 28 Rn 70 ff. 14 BVerfGE 79, 127, 150 o JK GG Art 28 II/17. 15 Vgl Wacker Sachkundige Bürger und Einwohner in gemeindlichen Ausschüssen, 2000. Dem ehrenamtlich Tätigen obliegen Verschwiegenheitspflichten, und er hat die Befangenheitsvorschriften zu beachten, ebenso wie die Mitglieder des Gemeinderats, die ja auch ehrenamtlich tätig sind (Rn 91). Er ist Amtsträger im haftungsrechtlichen Sinne (Art 34 GG iVm § 839 BGB), regelmäßig aber nicht Ehrenbeamter im Sinne des Beamtenrechts. 16 Gern DtKomR, Rn 555 mwN; zur Zulässigkeit BVerwGE 2, 313; Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art 12 Rn 500. 17 Scholler KomR, 1 ff; Laufs Rechtsentwicklungen in Deutschland, 6.Aufl 2006, 33 ff, jeweils mwN. Zu den einzelnen Abschnitten der historischen Entwicklung vgl HkWP I, §§ 4–8.

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Herrschaft einflussreicher Familien, die nun innerhalb der Stadt als Obrigkeit auftraten. Ein wesentliches Kriterium der Stadt war seit dem 13. Jahrhundert ihre Autonomie zur Rechtsetzung. Von größeren Orten wie Nürnberg, Lübeck oder Magdeburg übernahmen Tochterstädte bis weit in die östlichen Staaten Europas ihre Verfassung, so dass „Stadtrechtsfamilien“ entstanden, die in der Entwicklung des Rechts in Europa keine geringe Rolle spielen.18 b) Mit der Entwicklung des absolutistisch regierten Territorialstaates erstarrte fast überall in 8 Deutschland das kommunale Leben. Städte und Dörfer bildeten nicht viel mehr als obrigkeitliche Verwaltungsbezirke. Neu belebt und auf neue Rechtsgrundlagen gestellt wurde die Idee einer gemeindlichen Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Hier waren es zunächst die SteinHardenbergschen Reformen, die auf dieses Gedankengut zurückgriffen.19 Ihren klarsten Ausdruck fanden diese Überlegungen in der preußischen Städteordnung vom 19. November 1808, die ihren Zweck dahingehend umreißt, „den Städten eine selbständigere und bessere Verfassung zu geben, in der Bürgergemeinde einen festen Vereinigungspunkt gesetzlich zu bilden, ihnen eine tätige Einwirkung auf die Verwaltung des Gemeinwesens beizulegen und durch diese Teilnahme Gemeinsinn zu erregen und zu erhalten“. Zunächst eher als staatsorganisatorisches Prinzip gedacht, geriet die Selbstverwaltungsidee im weiteren Verlauf der Entwicklung stärker unter die vom süddeutschen Konstitutionalismus gespeisten Vorstellungen eines vorstaatlichen Status der Gemeinden.20 § 184 der Paulskirchenverfassung von 1849 und Art 127 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 führten die Selbstverwaltung der Gemeinden unter den Grundrechten auf. Die kommunalrechtliche Praxis dagegen blieb stets stärker der staatsorganisatorischen Deutung der gemeindlichen Selbstverwaltung verhaftet. Dem Nationalsozialismus hingegen war die Idee der Selbstverwaltung fremd. Dementsprechend wurde zunächst in Preußen, 1935 durch die Deutsche Gemeindeordnung im gesamten Reich die Gemeindeverwaltung im Sinne des Führerprinzips verfasst. Bürgermeister und Gemeinderäte, letztere zudem auf eine neue Beratungsfunktion begrenzt, werden nicht mehr gewählt, sondern ernannt, die Aufsicht zudem systematisch ausgebaut.21 In Abgrenzung hiervon nimmt Art 28 II GG den Selbstverwaltungsgedanken wieder auf und stellt die Selbstverwaltung in den Dienst einer gegliederten, freiheitswahrenden Demokratie (Rn 17 ff).

4. Entwicklung der Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland a) Territorialreformen 9 Der heutige Gebietszuschnitt und Bevölkerungsstand der Kommunalkörperschaften in den „alten“ Ländern der Bundesrepublik geht im Wesentlichen auf die Territorialreform zwischen 1967 und 1978 zurück. Vor der Reform gab es in der Bundesrepublik ca. 24000 Gemeinden; davon hatten 10760 weniger als 500 Einwohner. Die Gebietsreform, die durch umfangreiche verwaltungswissenschaftliche Gutachten vorbereitet worden war, hatte sich eine Stärkung der Verwaltungskraft und die Lösung des Stadt-Umland-Problems („Einheit von Planungs- und Verwaltungsraum“) zum Ziel gesetzt.21a Mittel zur Erreichung dieses Zieles waren vor allem die Eingemeindung und der Gemeindezusammenschluss – teils auf freiwilliger Grundlage, teils durch Hoheitsakt verordnet. Die Zahl der Gemeinden ging dadurch bundesweit auf ein Drittel (8505) zurück. Länderweise fiel die Reduktion allerdings recht unterschiedlich aus: Während

_____ 18 Wieacker Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl 1967, 189 ff. 19 Dazu E.R. Huber Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 Bd 1, 2. Aufl 1967, 102 ff u 172 ff; ferner Burg VerwArch 86 (1995) 495; Cancik Staat 43 (2004) 298; Henneke/Ritgen DVBl 2007, 1253. Zur Entwicklung in Preußen Thiel DV 35 (2002) 25. 20 Hendler Selbstverwaltung, 19 ff; v Unruh HkWP I, § 4 Rn 6 ff. 21 Pünder Die deutschen Gemeinden, 1948, 19 ff; Matzerath HkWP I, § 7 Rn 12 ff. 21a Vgl Thieme HkWP I, § 9 Rn 64 ff.

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Nordrhein-Westfalen zu radikalen Eingemeindungen griff, verminderten Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein die Zahl ihrer Gemeinden nur geringfügig und versuchten im Übrigen, durch die Bildung zusätzlicher Gemeindeverbände (Verbandsgemeinden, Ämter) das Neuordnungsziel zu erreichen. In der gleichen Zeit ging die Zahl der kreisfreien Städte von 139 auf 92, die der Landkreise von 425 auf 237 zurück. Gebietszuschnitt und Bevölkerungszahlen der Gemeinden und Kreise in den „neuen“ Bun- 10 desländern knüpften zunächst an die bisherigen Verhältnisse an. Sie waren wesentlich kleiner dimensioniert als in den alten Bundesländern: Von den insgesamt 7563 Gemeinden hatten nahezu die Hälfte unter 500 und nur 15 über 100000 Einwohner. Mittlerweile haben alle neuen Länder kommunale Gebietsreformen durchgeführt.22 Die Reformen arbeiten mit unterschiedlichen Lösungsmodellen, teils mit der Einführung der Ämterverfassung (vgl Rn 227 f), teils mit Eingemeindungen, die sich alle an den Vorgaben des Art 28 II GG messen lassen müssen (vgl Rn 24). Heute bestehen in ganz Deutschland 11185 kreisangehörige Gemeinden in 295 Landkreisen neben 103 kreisfreien Städten und den drei Stadtstaaten.

b) Die Bedeutung des Rechts der Europäischen Union So wie das Recht der Europäischen Union alle Bereiche des Verwaltungsrechts betrifft,23 er- 11 fasst es auch die wichtigsten Verwaltungsträger in der Fläche, die Kommunen. Die kommunale Rechtsanwendung hat danach den Vorrang des Unionsrechts zu beachten. Die exakte Rechtsanwendung, zu der die Kommunen nach Art 20 III GG verpflichtet sind, ist dadurch diffiziler geworden; das gilt zumal angesichts der unmittelbaren Wirkung der Richtlinien und der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung.24 Allgemein hat sich die kommunale Ebene an das System unverfälschten Wettbewerbs anzugleichen, 25 das im AEUV insbesondere in den Grundfreiheiten, dem Wettbewerbsrecht (Art 101 ff) und dem Beihilferecht (Art 107 ff) Ausdruck gefunden hat. Das Prinzip der NichtDiskriminierung (Art 18 AEUV, Grundfreiheiten) stellt die Kommunen, denen naturgemäß die lokale Perspektive näher liegt, ebenfalls vor besondere Herausforderungen.26 Als markante Einwirkungsfelder des Unionsrechts lassen sich nennen: Das Kommunal- 12 wahlrecht ist um das Wahlrecht der Unionsbürger erweitert worden (Art 22 AEUV, dazu Rn 5, 17). Die Leistungserbringung der Gemeinden und ihre wirtschaftliche Betätigung müssen sich in das Wettbewerbssystem der Verträge einfügen, das zwar „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ anerkennt (Art 14, Art 106 II AEUV), aber keine kommunalen Strukturen garantiert (u Rn 183). Ein besonders streitiges Thema war hier lange Zeit das kommunale Sparkassenwesen.27 Aber auch ansonsten sind der Kommune bei der finanziellen Unterstützung ihrer Unternehmen durch das Beihilferecht (Art 107 ff AEUV) die Hände gebunden (u Rn 184), wie überhaupt eine

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22 Überblick bei Stüer/Landgraf LKV 1998, 209; Schmahl DVBl 2003, 1300; Ruge LKV 2010, 460. 23 Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR, § 5; Schmidt-Aßmann in: GVwR I, § 5 Rn 29 ff; v Danwitz Europäisches Verwaltungsrecht; Terhechte, VwR der EU; ausf speziell zur Situation des Kommunalrechts Ruffert HkWP I, § 38 Rn 21 ff. 24 Zum Vorrang Ehlers Jura 2011, 187. Zu RL-Wirkungen EuGH Slg 1989, 1839 Rn 28 ff – Costanzo (unmittelbare Wirkung); Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR, § 5 Rn 14 ff; Ruffert in: GVwR I, § 17 Rn 135 ff; Herrmann/Michel JuS 2009, 1065. 25 Früher in Art 3 EGV, jetzt in Prot Nr 27 zum LissVt als Teil des Binnenmarkts definiert (Schröder in Streinz, EUV/AEUV, Art 26 AEUV Rn 24) und in Art 119 I AEUV aufgenommen. Ob die Herausnahme aus Art 3 EUV eine Relativierung dieses Prinzips bedeutet, ist nicht klar, dafür Knauff EuR 2010, 725, 740 f. 26 Dazu Kingreen in Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13; Roeßing Einheimischenprivilegierungen. Zum Gebührenrecht u Rn 200. 27 Dazu Oebbecke VerwArch 93 (2002) 278. Vgl hierzu die Verständigung zwischen EU-Kommission und Bundesregierung vom 17. Juni 2001 über die Haftungsgrundlagen öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute („Brüsseler Verständigung“).

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Wirtschaftsförderung durch Beihilfen nur im Rahmen dieser Vorschriften zulässig ist. Daneben werden im kommunalen Bereich vor allem die Vergabe öffentlicher Aufträge und die Umweltpolitik durch Vorgaben des Unionsrechts beeinflusst.28 Insgesamt werden manche kommunalen Verwaltungsbereiche durch ihre Bindung an unionsrechtliche Vorgaben für lokal tätige Entscheidungsträger weniger steuerbar. Jenseits dieser praktischen Schwierigkeiten fürchtet manche Gemeinde, durch das Unionsrecht und die Entscheidungsstrukturen der Europäischen Union in den Sog einer Zentralisierung geraten zu sein, der wenig Rücksicht auf die gewachsenen deutschen Kommunalstrukturen und ihre spezifischen Absicherungen nimmt. Auf der anderen Seite sollten die Chancen, die die Europäisierung des Rechts-, Wirtschafts- und Soziallebens bietet, von Städten und Gemeinden positiv als Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten erfasst und genutzt werden, um die Idee einer Selbstverwaltung im europäischen Zeitalter auszubilden und sie in die Diskussion um „Europäisches Regieren“ einzubringen.29 Vielleicht wird es dann weniger auf die Frage ankommen (müssen), wie kommunale Handlungsspielräume auch auf europäischer Ebene rechtlich gesichert werden können (Rn 51).

5. Aktuelle Herausforderungen 13 Als breit und umfassend tätige Verwaltungsträger sind die Kommunalkörperschaften eingebunden in den Wandlungsprozess, dem die gesamte öffentliche Verwaltung heute in starkem Maße unterliegt, den sie zu ihrem Teil aber auch mitgestaltet. Die aktuellen Herausforderungen heißen „Bevölkerungsdynamik“ (a), „Kommunale Finanzen“ (b) und „Veränderte Kommunikationsstrukturen“ (c).

a) Bevölkerungsdynamik Die Alterung und der Rückgang der Bevölkerung infolge niedriger Geburtenraten und innerstaatlicher Wanderungsbewegungen vor allem jüngerer Einwohner wie die internationale Migration stellen die Kommunen bereits jetzt vor enorme Herausforderungen.30 Das Kommunalrecht wird die Auswirkungen dieser Entwicklungen zu spüren bekommen, weil sie das überkommene Bild kommunaler Verwaltung manchenorts in Frage stellen: Die Verschiebung der Altersstruktur führt zu einer veränderten Nachfrage nach kommunaler Infrastruktur; anstatt in den Ausbau von Schulen und Kindertagesstätten zu investieren, werden sich die Aufgaben auf soziale Einrichtungen wie Alters- und Pflegeheime verlagern. Vorhandene öffentliche Leistungsangebote (Stadtwerke, ÖPNV) werden wegen der abnehmenden Nutzerzahl schwieriger zu finanzieren; bisher privat bereitgestellte Angebote wie Einkaufsmöglichkeiten werden eingestellt, so dass sich das Angebot der Kommunen in der Daseinsvorsorge wandeln muss und das vor dem Hintergrund zurückgehender Steuereinnahmen. Die Frage, welche Aufgaben in welchem Umfang von den Kommunen angeboten werden müssen, gewinnt neue Brisanz.31 Eine höhere Zahl an

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28 Ruffert HkWP I, § 38; speziell zur Beihilfeaufsicht o Huber 3. Kap Rn 247 ff; Rüdiger Kommunale Bürgschaften und vergleichbare Sicherungsinstrumente, 2011; zum Umweltrecht o Eifert 5. Kap 18 ff; zum öffentl. Dienstrecht o Kunig 6. Kap Rn 31. 29 Ruffert HkWP I, § 38 Rn 42 f; Henneke (Hrsg), Kommunen und Europa, 1999; J. Ipsen/Rengeling (Hrsg), Gemeinden und Kreise in einem vereinten Europa, 1999; Frhr v Süßkind-Schwendi Good Governance als Absicherung kommunaler Handlungsspielräume, 2011. Zum Kommunalrecht des Auslands Martini Gemeinden in Europa, 1992; Dittmar Kommunalverwaltung in England, 2007. 30 Brosius-Gersdorf VerwArch 98 (2007), 317 mN; Bauer/dies FS Siedentopf, 385; Bednarz Demographischer Wandel; J J Hesse Handlungs- und zukunftsfähige Kommunalstrukturen, 2011. 31 Dabei geht es nicht um Lappalien wie einen Weihnachtsmarkt, sondern etwa um Wasserver- und entsorgung, Versorgung mit Kranken- und Pflegeleistungen, Unterhaltung von Straßen etc.

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Einwohnern ohne deutsche Staatsangehörigkeit (oder EU-Bürgerschaft) erfordert besondere Angebote zur Integration und verschiebt das Verhältnis zwischen demokratisch Repräsentierten und von kommunalen Entscheidungen Betroffenen. Formen kommunaler Zusammenarbeit, (Groß-)Kreise und Regionen werden als Handlungsebene an Bedeutung gewinnen. Auswirkungen auf die Bedingungen und Möglichkeiten kommunaler Demokratie liegen nahe.

b) Kommunale Finanzen Eines der drängendsten Probleme kommunaler Politik ist die Lage der kommunalen Finanzen. 14 In nach Bundesländern und Regionen unterschiedlichem Ausmaß sind die kommunalen Haushalte seit Jahren unterfinanziert, besonders dramatisch in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Übertragung zusätzlicher Aufgaben ohne zusätzliche Finanzierung, insbesondere im Sozialbereich;32 Erhöhung der gesetzlichen Standards, aber auch kommunales Fehlverhalten und ein intransparentes Haushaltsrecht haben dazu beigetragen. Weil das Haushaltsrecht den Kommunen eine Finanzierung der Defizite aus laufenden Ausgaben über reguläre Kredite nicht erlaubt, haben die Kommunen einen hohen Bestand an sog Kassenkrediten angehäuft, die im Grunde nur als kurzfristige Liquiditätshilfe bei Schwankungen zwischen Einnahmeeingang und Ausgabeausgang gedacht waren (u Rn 195). Das zeigt die Dramatik der Situation. Die Bundesländer, deren Aufgabe es wäre, die Kommunen mit einer hinreichenden Finanzausstattung zu versehen (u Rn 58, 192 f), werden in den kommenden Jahren wegen der Finanzkrise, aber auch wegen der in die Verfassungen eingeführten „Schuldenbremse“ in Schwierigkeiten kommen, dieser Verantwortung zu genügen.33 In der Konsequenz stehen viele Kommunen unter besonderer staatlicher Aufsicht und müssen Haushaltssicherungskonzepte vorlegen; das kann ihre Autonomie nachhaltig beschränken. Die Möglichkeit einer Insolvenz der Kommunen, die gesetzlich bislang häufig ausgeschlossen ist, wird ernsthaft diskutiert;34 die ohnehin hochverschuldeten Länder müssen einen „Rettungsschirm“ für die Kommunen aufspannen (u Rn 195).

c) Veränderte Kommunikationsstrukturen Auch die Kommunen werden von dem prägenden Trend der vergangenen Jahre, den medial 15 veränderten Kommunikationsstrukturen erfasst. Das gilt zunächst für die Gestaltung kommunaler Politik, die sich den durch die neuen Medien ermöglichten Formen politischer Partizipation und Kommunikation gegenübersieht. Hierdurch werden nicht nur die überkommenen Formen der Bürgerbeteiligung in Frage gestellt, sondern die politischen Prozesse auf kommunaler Ebene insgesamt verändert. Die erhöhten Vernetzungsmöglichkeiten zwischen Bürger und Verwaltung wie zwischen den Verwaltungseinheiten untereinander erlauben eine Bündelung und Ortsunabhängigkeit der Verwaltungstätigkeit,35 zB durch gemeinsame Service-Center. Dieser Trend in Richtung einer Entörtlichung durch Kommunikation wird unterstützt durch die

_____ 32 Gegenmaßnahmen zB im Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen (KoFKstG) v 6.12.2011, BGBl I 2563. 33 Schuldenbremse in: Art 109 III GG; zB Art 141 I LV Hess; Art 117 LV RP, dazu Henneke GemH 2010, 241 u 265. Zu den Konsequenzen VerfGH RP DVBl 2012, 432; Henneke DÖV 2008, 857; ders DVBl 2012, 440; Groh LKV 2010, 1. 34 Zu Haushaltssicherungskonzepten Diemert, Haushaltssicherungskonzept, 2006; Knirsch VR 2010, 40. Zur Insolvenz(un)fähigkeit der Gemeinde § 12 I Nr 2 InsO iVm Landesrecht. Z Ganzen Engelsing Zahlungsunfähigkeit von Kommunen und anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, 1999; Lehmann Die Konkursfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts, 1999; Albers NdsVBl 2005, 57; Faber RdKomFin, § 35; Duve DÖV 2009, 574; Paulus u Bull NordÖR 2010, 338 u 343; ausf Niederste Frielinghaus Die kommunale Insolvenz als Sanierungsansatz, 2007 u Hornfischer Die Insolvenzfähigkeit von Kommunen, 2010. Man wird auf der anderen Seite erwägen müssen, dass sich die Anerkennung der Insolvenzfähigkeit in höheren Risikoprämien für kommunale Kredite niederschlagen wird. 35 Vgl Ladeur in GVwR II, § 21 Rn 105 f; Schliesky NordÖR 2012, 57.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

EU-Dienstleistungsrichtlinie mit ihrer Forderung nach einer „einheitlichen Stelle“ (vgl §§ 71a ff VwVfG).36 Ortsnähe als Rechtfertigung verliert möglicherweise an Gewicht.

Spezialliteratur: Bednarz Demographischer Wandel und kommunale Selbstverwaltung, 2010; Bauer/BrosiusGersdorf Die demografische Krise, FS Siedentopf, 2008, 385; Brosius-Gersdorf Demografischer Wandel und Daseinsvorsorge, VerwArch 98 (2007), 317; Burgi Selbstverwaltung angesichts von Europäisierung und Ökonomisierung, VVDStRL 62 (2003) 405; Bull Kommunale Selbstverwaltung heute – Idee, Ideologie und Wirklichkeit, DVBl 2008, 1; Th Groß Hat das kommunale Ehrenamt Zukunft?, in: FS H Treiber, 447; Ellwein Perspektiven der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland, AfK 36 (1997) 1; Hobe/Biehl/Schroeter Europarechtliche Einflüsse auf das Recht der deutschen kommunalen Selbstverwaltung, 2004; Henneke Kommunale Aufgaben und Strukturen im europäisierten Bundesstaat, DVBl 2012, 257; ders (Hrsg) Kommunale Verantwortung für Gesundheit und Pflege, 2012; Hornfischer Die Insolvenzfähigkeit von Kommunen, 2010; Martini Gemeinden in Europa, 1992; Oebbecke Selbstverwaltung angesichts von Europäisierung und Ökonomisierung, VVDStRL 62 (2003) 366; Roeßing, Einheimischenprivilegierungen und EG-Recht, 2008; Schliesky Ausländerintegration als kommunale Aufgabe ZAR 2005, 106; ders Der rechtliche und verwaltungswissenschaftliche Rahmen für Gebiets-, Funktional- und Verwaltungsstrukturreformen, NordÖR 2012, 57; Schmidt-Eichstaedt, Kommunale Selbstverwaltung in der Europäischen Union, KommJur 2009, 249; v Zimmermann-Wienhues Kommunale Selbstverwaltung in einer Europäischen Union, 1997.

1. Kapitel – Kommunalrecht II. Die Verfassungsgarantie des Art 28 II GG – 1. Kapitel

II. Die Verfassungsgarantie des Art 28 II GG 1. Vorbemerkung: Die verfassungsrechtliche Stellung der Gemeinden a) Gemeinden: Ein besonderer Teil des Staates 16 Gemeinden sind nach heutigem Verständnis Teil des Staates. Sie üben Staatsgewalt aus, die gem Art 20 II 1 iVm Art 28 I GG demokratisch legitimiert werden muss37 und gem Art 1 III GG an die Grundrechte gebunden ist (u Rn 55 f). Als Verwaltungsträger sind die Gemeinden der vollziehenden Gewalt iSv Art 20 III GG zuzuordnen. Im dualistischen Einteilungsschema der Bundesstaatlichkeit (Bund/Länder) gehören sie zum Organisationsbereich der Länder.38 Hier bilden sie das Zentrum jenes Verwaltungsteilbereichs, den man „Selbstverwaltung“ nennt und der „Staatsverwaltung“ (iS staatsunmittelbaren, behördlichen Verwaltungsvollzuges) gegenüberstellt.39 Gleichwohl ist mit dieser Zuordnung die besondere Stellung der Gemeinden im Staat nur unvollständig beschrieben. Nicht nur in der Politik werden die Kommunen gern als „dritte Säule“ oder „dritte Ebene“ bezeichnet. Auch das Grundgesetz nimmt von ihnen mehrfach neben Bund und Ländern Notiz und macht ihr Verhältnis zu diesen etablierten Gewalten zum Gegenstand genauerer Regelungen. Es ist geradezu das Lebensgesetz der gemeindlichen Verwaltung, dass sie sich immer in einer Doppelrolle befindet:40 Teil organisierter Staatlichkeit zwar, aber eben doch nicht in jenem engeren Sinne hierarchisch aufgebauter Entscheidungszüge, sondern als dezentralisiert-partizipative Verwaltung mit einem eigenen System demokratischer Legitimation, das der Bürgernähe, Überschaubarkeit, Flexibilität und Spontanität verbunden sein soll.

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36 Schmehl in: Böhm/Schmehl, Verfassung – Verwaltung – Umwelt, 2010, 123; Schliesky in: Schimanke (Hrsg), Verwaltung und Raum, 2010, 49 ff; ferner Eifert Electronic Government, 2006, 224 ff. 37 BVerfGE 83, 37, 53 ff u E 107, 1, 11 f. 38 Diese Zuordnung wird besonders in Art 84 I 7 GG deutlich. Nach dieser Vorschrift darf der Bundesgesetzgeber den Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen. Ein „Durchgriff“ des Bundes auf die Kommunen ist unzulässig. Zu Art 84 I 7 GG u Rn 54. Auch die organisatorische Verklammerung mit Einheiten der Bundesverwaltung (Mischverwaltung) ist ohne speziellen verfassungsrechtlichen Titel unzulässig u Rn 78. 39 Zur Aufteilung in unmittelbare und mittelbare Staatsverwaltung und allgemein zur Selbstverwaltung Burgi in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 8 Rn 10 ff. Zur kommunalen Selbstverwaltung Dieckmann FG BVerwG, 2003, 815; zur funktionalen Selbstverwaltung BVerfGE 107, 59, 86 ff o JK GG Art 20 II/3; Jestaedt JuS 2004, 649; Trute in: GVwR I, § 6 Rn 82 ff; Groß in: GVwR I, § 13 Rn 66 ff. 40 Ebenso Schoch Jura 2001, 121, 124; Katz/Ritgen DVBl 2008, 1525, 1535 f.

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II. Die Verfassungsgarantie des Art 28 II GG – 1. Kapitel

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b) Die demokratische Verfassungsstruktur in der Gemeinde, Art 28 I 2 GG Das Grundgesetz hat sich für eine auf Selbstverwaltungskörperschaften aufgebaute „gegliederte 17 Demokratie“41 entschieden: Art 28 I 2 GG sieht für die beiden wichtigsten Typen von Kommunalkörperschaften (Landkreise und Gemeinden) genauso wie in Bund und Ländern eine aus unmittelbaren Wahlen hervorgegangene Vertretung vor, die auf kommunaler Ebene allerdings durch die Unionsbürger gewählt wird, Art 28 I 2, 3 GG.42 Damit nimmt das Grundgesetz die Selbstverwaltungsidee zwar auf (o Rn 7), überführt sie jedoch in eine demokratische Verfassungsstruktur, die in ihrer Eigenständigkeit wiederum von der zentralstaatlich-hierarchischen Organisation der Bundes- und Landesverwaltung deutlich abgesetzt ist. 43 Dieses ist die kommunalrechtliche Ausprägung der für das gesamte Verwaltungsrecht zentral bedeutsamen Lehre von der demokratischen Legitimation der öffentlichen Verwaltung.44 Die damit angeordnete Verpflichtung auf eine demokratische Verfassungsstruktur kon- 18 stituiert die verfassungsrechtliche Stellung der Gemeinden. Sie muss zur Auslegung der „Selbstverwaltungsgarantie“ (Art 28 II GG) herangezogen und durchgängig bei der Interpretation des Kommunalrechts zugrunde gelegt werden: 45 Das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Elementen demokratischer Legitimation (Wahl des Gemeinderates und des Bürgermeisters, Bürgerentscheid), deren ureigenes Anwendungsfeld gerade die Kommune darstellt, muss mit Blick auf die besondere verfassungsrechtliche Dignität der bürgerschaftlichen Repräsentation austariert werden (u Rn 89). Verfügen Gemeinde und Kreis verfassungsrechtlich abgesichert über originäre Mechanismen demokratischer Legitimation, können die Lehren vom Gesetzesvorbehalt und Bestimmtheitsgebot, soweit sie im demokratischen Prinzip wurzeln, kommunalspezifisch angepasst werden (u Rn 134). Im kommunalen Organisationsrecht verlangt die Vorgabe einer demokratischen Verfassungsstruktur eine hinreichende Einhegung von Verselbständigungen. Das ist insbesondere, aber nicht ausschließlich, ein Thema der privatrechtlich verfassten Trabanten der Kommunalverwaltung (u Rn 123 ff). Dass gerade Gemeinde und Kreis von der Verfassung als Ort demokratischer Repräsentation angesprochen sind, mahnt schließlich zur Zurückhaltung bei der Einführung weiterer Repräsentationsmechanismen oberhalb (Amt, Region) oder unterhalb (Ortschaft) dieser Ebenen.46

c) Die Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung Das Verhältnis der Gemeinden zu den anderen staatlichen Instanzen wird vor allem durch jenen 19 Normenkomplex bestimmt, den man etwas verkürzend die Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung nennt. Die wichtigste Bestimmung dieses Gefüges ist Art 28 II 1 GG. Danach muss den Gemeinden das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Diese Garantie wird von einigen Komplementärbestimmungen des Grundgesetzes umlagert (Rn 53 ff) und durch das Landesverfassungsrecht teils wiederholt, teils ergänzt (Rn 58).

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41 v Unruh DVBl 1975, 1, 2; BVerfGE 52, 95, 111 f o JK GG Art 28 II/4, vgl a E 91, 228, 244 o JK GG Art 28 II/22. 42 Zu den systematischen Konsequenzen Schönberger Unionsbürger, 2005, 452 ff. 43 Trute in: GVwR I, § 6 Rn 79 ff; Schmidt-Aßmann Ordnungsidee, Kap 2 Tz 88 ff; zurückhaltend Schoch FG Schlebusch, 11, 17 f. 44 Dazu Schmidt-Aßmann Ordnungsidee, Kap 2 Tz 80 ff; Trute in: GVwR I, § 6, insbes Rn 79 f; allgemein Dreier Jura 1997, 249; Voßkuhle/Kaiser JuS 2009, 803. 45 Zu Art 28 II GG idS grundlegend BVerfGE 79, 127, 149 f o JK GG Art 28 II/17 u 83, 37, 54 f; Schoch VerwArch 81 (1990) 18; W Schmidt FS Faber, 17, 34. Ferner Hendler Selbstverwaltung, 302 ff; v Unruh DÖV 1986, 217; v Arnim AöR 113 (1988) 1; Schmidt-Aßmann FS Sendler, 121; Maurer DVBl 1995, 1037. Zum einfachen Recht zB Ehlers HkWP I § 21 Rn 3 mN. 46 Hier muss allerdings der Gehalt der jeweiligen Landesverfassung mit in den Blick genommen werden.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

20 aa) Adressaten der Selbstverwaltungsgarantie: Als Bestandteil des Art 28 GG enthält diese Vorschrift zunächst eine Vorgabe für die Länder, einen bestimmten Mindeststandard vorzusehen, dem diese durch ihre Verfassungen nachgekommen sind (u Rn 58). In dieser Eigenschaft als vom Bund gem Art 28 III GG durchzusetzende „Normativbestimmung“ erschöpft sich die Bedeutung der Vorschrift jedoch nicht, vielmehr bildet Art 28 II 1 GG unmittelbar geltendes Verfassungsrecht.47 Er bindet als solches Gesetzgeber, Verwaltung und Judikative sowohl im Bund als auch in den Bundesländern. Auch „benachbarte“ Hoheitsträger (Landkreise, Nachbargemeinden) haben die Vorschrift zu respektieren.48 Gegen Verkürzungen kommunaler Selbstverwaltung durch Normen des Unionsrechts bietet Art 28 II GG hingegen praktisch keinen Schutz, da das Unionsrecht gegenüber allem mitgliedstaatlichen Recht einen prinzipiellen Anwendungsvorrang genießt; auch Art 23 I und 79 III GG lassen sich insoweit nicht aktivieren.49 Umso bedeutsamer ist die Frage, ob das Unionsrecht selbst eine Garantie kommunaler Selbstverwaltung kennt (u Rn 51). Keine Wirkung entfaltet Art 28 II GG im Verhältnis der Gemeinde zu privaten Dritten.50 Die Tatsache, dass eine Materie zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft gehört, ergibt folglich noch kein eigenständiges Eingriffsmandat der Gemeinde in Rechtspositionen Privater. Hier hat sich die Gemeinde an das zu halten, was für die öffentliche Verwaltung allgemein zu beachten ist (Grundrechte, Gesetzesvorbehaltslehre). Wohl aber hat der Gesetzgeber Art 28 II GG zu beachten, falls er eine bislang kommunale Aufgabe privater Konkurrenz öffnet.51 Ein Privatisierungsverbot folgt daraus selbstverständlich nicht. 21 bb) „Institutionelle Garantie“ und subjektive Rechtsstellung: Art 28 II 1 GG garantiert den Gemeinden ein „Recht“. Dass damit einem Rechtssubjekt innerhalb des staatlichen Gefüges, das durch den Gesetzgeber erst geschaffen ist, eine subjektive Rechtsposition gewährt wird, fügt sich in die von den Grundrechten gewohnte, am Freiheit/Eingriffs-Schema orientierte Dogmatik nicht ganz einfach ein. Zudem geht es in der Regel um die Abwehr von organisationsbezogenen Maßnahmen, zu deren Beurteilung das von den Grundrechten gewohnte Verhältnismäßigkeitsprinzip nur wenig beitragen kann. Diese Beobachtungen zusammenfassend wird die Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung auch heute noch als „institutionelle Garantie“ bezeichnet und so schon konzeptionell von grundrechtlichen Verbürgungen abgesetzt.52 Unmittelbar dogmatische Konsequenzen ergeben sich daraus allerdings nicht. Die objektive Verpflichtung der einzelnen staatlichen Instanzen aus Art 28 II 1 GG stellt zugleich eine subjektive Rechtsposition der Gemeinden dar. Das folgt bereits aus dem Normtext, der Gemeinden ein „Recht“ einräumt. Die im Jahre 1969 auch in das Grundgesetz eingefügte Kommunalverfassungsbeschwerde (u Rn 47) und der von Beginn an durch die Landesverfassungen gewährte Rechtsschutz belegen dies zusätzlich.

_____ 47 „Durchgriffsnorm“, Nierhaus in: Sachs, GG, Art 28 Rn 2 ff u 33; Dreier in: ders, GG, Art 28 Rn 53 u 92. Das ergibt sich nicht zuletzt aus dem Prüfungsmaßstab der Kommunalverfassungsbeschwerde, Art 93 I Nr 4b GG, dazu u Rn 47. 48 BVerwGE 67, 321 o JK GG Art 28 II/9; wirksam zB im interkommunalen Abstimmungsgebot des § 2 II 1 BauGB, dazu BVerwGE 117, 25 (31 ff); Zierau DVBl 2009, 693; z Rechtsschutz ausf Schenke VerwArch 98 (2007) 448 u 561. 49 So auch Stern FS Friauf, 75, 80 ff; Tettinger/Schwarz in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art 28 Rn 147 ff; Löwer in: v Münch/Kunig, GG I, Art 28 Rn 108 ff; im Ergebnis a Schoch in: Henneke, Kommunen und Europa, 1999, 11; diff Papier DVBl 2003, 686, 691. 50 HM. Nachw bei Löwer in: v Münch/Kunig, GG I, Art 28 Rn 44; Tettinger HkWP I, § 11 Rn 11; aM Hellermann Daseinsvorsorge, 138 ff. 51 Schoch FG Schlebusch, 11, 25; Burgi KomR, § 6 Rn 11; aA Löwer in: v Münch/Kunig, GG I, Art 28 Rn 44 aE. 52 So die hM; Stern BK Art 28 Rn 65; Tettinger/Schwarz in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art 28 Rn 130; Nierhaus in: Sachs, GG, Art 28 Rn 34 u 40; Dreier in: ders, GG II, Art 28 Rn 87; zu Gegenauffassungen Schmidt-Aßmann FS BVerfG II, 803, 807 f. Ausf Kritik bei W Schmidt FS Faber, 17.

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II. Die Verfassungsgarantie des Art 28 II GG – 1. Kapitel

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Dies vorausgeschickt, lassen sich innerhalb des Art 28 II 1 GG drei „Garantieebenen“ trennen, die sich auf unterschiedliche Zugriffsweisen des Gesetzgebers beziehen: Die Garantie der kommunalen Ebene (u 2), der Schutz der einzelnen Gemeinde in ihrem Bestand (u 3) und der Schutz der eigenverantwortlichen Wahrnehmung kommunaler Aufgaben (u 4). Diese Garantien können mit der Kommunalverfassungsbeschwerde verteidigt werden (u 5 a). Für den verwaltungsrechtlichen Alltag, also den Zugriff anderer staatlicher Instanzen folgen aus Art 28 II GG subjektive Rechte der Kommunen in Verwaltungsverfahren und vor Gericht (u 5 b).53

2. Garantie der kommunalen Ebene, Art 28 I 2, II GG Gewährleistet wird als erstes, dass es überhaupt Gemeinden als Elemente des Verwaltungsauf- 22 baus geben muss. Diese idR als „Rechtssubjektsgarantie“ bezeichnete Garantie bezieht sich auf einen bestimmten Typus, nicht auf eine beliebig zugeschnittene Verwaltungseinheit: Eine Gemeinde in dem von der Verfassung vorausgesetzten Sinne ist „ein auf personaler Mitgliedschaft zu einem bestimmten abgegrenzten Gebiet […] beruhender Verband, der die Eigenschaft einer (rechtsfähigen) Körperschaft des öffentlichen Rechts besitzt“.54 Zum verfassungsrechtlich garantierten Typus der Gemeinde gehören daher neben der demokratischen Verfassungsstruktur (Art 28 I 2 GG, o Rn 16) Rechtsfähigkeit und Gebietshoheit (o Rn 4) sowie eine gewisse Überschaubarkeit des gemeindlichen Raumes, die von einer „raumgemeinschaftlichen Einheit“55 (Werner Weber) sprechen lässt.56 Diese Garantie gilt nicht der einzelnen Gemeinde in ihrem überkommenen Bestande, son- 23 dern grundsätzlich nur der kommunalen Ebene als solcher: Dem Staat ist es durch Art 28 II 1 GG nicht verwehrt, eine Gemeinde aufzulösen und sie mit einer anderen Gemeinde zusammenzuführen. Verwehrt ist es ihm aber, die gemeindliche Verwaltungsebene ganz oder überwiegend zu beseitigen oder an die Stelle der Gemeinden des beschriebenen Typs unselbständige Verwaltungseinheiten zu setzen. Vor einer Beseitigung durch Verfassungsänderung ist die kommunale Ebene hingegen nicht gefeit, Art 79 III GG zählt Art 28 GG nicht auf; auch als Element des dort garantierten Demokratieprinzips ist die kommunale Ebene trotz Art 28 I 2 GG nicht geschützt. Im Hinblick auf Maßnahmen der EU wird man immerhin erwägen können, ob nicht die Existenz der kommunalen Ebene zu den Bestandteilen der mitgliedstaatlichen Identität zählt, auf die Art 4 II 1 EUV verweist (s u Rn 51).

3. Schutz der individuellen Gemeinde in ihrem Bestand Allerdings ist auch die einzelne Gemeinde nicht schutzlos. Neben der eben beschriebenen Garan- 24 tie der kommunalen Ebene enthält Art 28 II 1 GG eine beschränkt individuelle Garantie des einzelnen Rechtssubjekts Gemeinde. Es war diese beschränkt individuelle Bestandsgarantie, die in der kommunalen Gebietsreform (Territorialreform, o Rn 9 f) vor den Verfassungsgerichten vielfach bemüht worden ist und in einigen Fällen zur Nichtigkeit einer Neugliederungsmaß-

_____ 53 So Stern StR I, § 12 II 4b. Zum folgenden Löwer in: v Münch/Kunig, GG I, Art 28 Rn 35 ff; Dreier in: ders, GG II, Art 28 Rn 90 ff; Nierhaus in: Sachs, GG, Art 28 Rn 41 ff; Schoch Jura 2001, 121; Magen JuS 2006, 404. Zur verfassungsgerichtlichen Judikatur Schmidt-Aßmann FS BVerfG II, 803; ders FG Schlebusch, 11, 59. 54 Stern in: BK, Art 28 Rn 80; im Einz Schoch FG Schlebusch, 11, 22. 55 Weber Selbstverwaltung in der Landesplanung, 1956, 8. 56 Schmidt-Jortzig DÖV 1989, 142, 146.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

nahme geführt hat.57 Gegen ihren Willen58 darf die einzelne Gemeinde nämlich nicht beliebig, sondern nur nach vorheriger Anhörung und nur aus Gründen öffentlichen Wohles aufgelöst oder in ihrem Gebietszuschnitt geändert werden. Gleiches gilt für die Beseitigung ihrer physischen Existenz.59 Ob die Neugliederungsmaßnahme den „Gründen des öffentliches Wohles“ entspricht, kann verfassungsgerichtlich in drei Schritten überprüft werden: Die Neugliederungsmaßnahme muss erstens ein verfassungsmäßiges Ziel verfolgen. Dieses Ziel muss zweitens in Grundsätzen und Leitlinien konkretisiert werden, anhand derer die konkrete Neugliederungsmaßnahme drittens daraufhin kontrolliert werden kann, ob sie deutlich außer Verhältnis zu diesen Zielen steht oder von willkürlichen Gesichtspunkten oder Differenzierungen beeinflusst ist.60 25 Zu dieser beschränkten Garantie der individuellen Gemeinde rechnet auch der Schutz des Gemeindenamens61 als eines Statuselements, das der Individualisierung und der bürgerschaftlichen Integration dient. Der Name ist vielfach historisch überkommen. Zusätze („Bad“, „Markt“) gehören zwar nicht direkt dazu, genießen aber, wenn sie rechtens geführt werden, den gleichen Rechtsschutz. Die Gemeindeordnungen enthalten darüber Einzelregelungen. Der rechtens geführte Name ist dann gegen Beeinträchtigungen nicht nur im Zivilrechtsverkehr gem § 12 BGB, sondern auch im Rechtsverkehr mit anderen Hoheitsträgern geschützt.62

4. Schutz der eigenverantwortlichen Wahrnehmung kommunaler Aufgaben 26 Die dritte Garantieebene des Art 28 II 1 GG ist die Gewährleistung der eigenverantwortlichen Regelung des gemeindlichen Aufgabenbereichs (herkömmlich: „Rechtsinstitutionsgarantie“). Die meisten im kommunalrechtlichen Schrifttum behandelten Probleme liegen auf dieser Ebene: Der Entzug einer bisher gemeindlichen Aufgabe und ihre Übertragung auf einen anderen Verwaltungsträger, die Einführung eines staatlichen Weisungsrechts, die Anordnung einer qualifizierten Fachplanung oder die gesetzliche Zuweisung neuer Aufgaben, insbes ohne Ausgleich der finanziellen Folgelasten – sie alle stellen immer wieder die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit dieser Garantieebene.63 Ihre Interpretation wird durch ein verhältnismäßig dichtes Gestrüpp unterschiedlicher Begrifflichkeiten erschwert. Man erleichtert sich den Umgang mit dieser Vorschrift, wenn man zugrunde legt, dass Art 28 II 1 GG den Gemeinden nicht unmittelbar bestimmte Aufgaben garantiert.64 Vielmehr verpflichtet die Norm den Gesetzgeber, die Gemeinden auf eine spezifische Weise mit Aufgaben auszustatten: Diese Aufgaben müssen sich auf die „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ beziehen (a). Aus diesem Bestand weist erst der einfache Gesetzgeber den

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57 BVerfGE 50, 195, 202 o JK GG Art 28 II/2; E 86, 90, 107 ff o JK GG Art 28 II/20; E 107, 1, 24. Die umfangreiche Rspr der LVerfGe soll hier aus Platzgründen nicht i Einz nachgewiesen werden. 58 Art 28 II 1 GG schützt allerdings die Gemeinden nicht gegen sich selbst. Das Recht auf Selbstauflösung durch Eintritt in eine andere Gemeinde ist länderweise verschieden geregelt, zB für BW anerkannt in Art 74 II LV, für Bbg in Art 98 II LV und für Sachs in Art 88 II LV. 59 Zum Braunkohletagebau: SächsVerfGH LKV 2006, 169, 169. 60 SächsVerfGH NVwZ 2009, 39, 41 ff; Tettinger/Erbgut/Mann BesVwR, § 2 Rn 50. 61 BVerfGE 59, 216, 225 ff o JK GG Art 28 II/7; BGH NJW-RR 2002, 1401 u NJW 2007, 682 o JK BGB § 12/6 (DomainName); Vollmer BWGZ 2009, 234. 62 BVerwGE 44, 351, 355 u DÖV 1980, 97 o JK GO BW § 5/1. 63 Schoch Jura 2001, 121, 127 ff; Schröder in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II, § 16 Rn 11 ff. ZB das durch § 68 TKG begründete Hindernis, gemeindliche Wegerechte für Telekommunikationszwecke zu vermarkten (BVerfG [K] NVwZ 1999, 520 o JK GG Art 28 II/24), die Begründung von Pflichtaufgaben im ÖPNV (LVerfG LSA NVwZ-RR 1999, 96 f) oder die Einführung des regulierten Netzzugangs nach §§ 20 ff EnWG. 64 So hingegen die wohl überw Auff, zB Ehlers in ders/Krebs, Grundfragen des Verwaltungsrechts und des Kommunalrechts, 2000, 59, 72; Schoch FG Schlebusch, 11, 19; Burgi KomR, § 6 Rn 26. Die hier vertretene Interpretation folgt den und verdeutlicht die Begriffsverwendungen im Rastede-Urteil, BVerfGE 79, 127 ff; wie in der Voraufl (dort insbes Rn 18). Zu den Landesverfassungen gleich Fn 70; zu den Aufgabenvorschriften der GemO u Rn 60 ff.

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II. Die Verfassungsgarantie des Art 28 II GG – 1. Kapitel

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Kommunen die Aufgaben zu bzw entzieht sie ihnen (b). Für diese Ausgestaltung unterliegt der Gesetzgeber besonderen Vorgaben: Er muss die Aufgaben den Gemeinden zur eigenverantwortlichen Regelung überlassen (c + d); als Ergebnis muss den Kommunen ein Kernbereich an Aufgaben und Eigenverantwortlichkeit verbleiben; bei der Zuweisung muss der Gesetzgeber ein kommunalspezifisches Aufgabenverteilungsprinzip beachten (e).

a) Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft Darunter sind solche Verwaltungsmaterien zu verstehen, „die in der örtlichen Gemeinschaft wur- 27 zeln oder auf die örtliche Gemeinschaft einen spezifischen Bezug haben“.65 Auf die Verwaltungskraft der Gemeinde soll es hierbei nicht ankommen.66 Das Bundesverfassungsgericht betont vielmehr die Ausrichtung auf das bürgerschaftliche Engagement: Gemeint sind Angelegenheiten, die „den Gemeindeeinwohnern gerade als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und -wohnen der Menschen in der (politischen) Gemeinde betreffen“. Dafür kommt es darauf an, ob eine Angelegenheit in gemeindlicher Trägerschaft eine sachangemessene, für die spezifischen Interessen der Einwohner förderliche und auch für den Bestand anderer Gemeindeaufgaben notwendige Erfüllung finden kann.67 Für diese Beurteilung spielt auch das überkommene Bild der Selbstverwaltung als geronnene Erfahrung ihrer Leitungsfähigkeit eine bedeutende Rolle. Häufig ist es allerdings schwer, eine bestimmte Verwaltungsmaterie nach der genannten Definition den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft oder aber einer höherstufigen Verwaltungseinheit eindeutig zuzuweisen. Das liegt zum einen daran, dass der angemessene Wirkungskreis vom Zuschnitt der Gemeinden, ihrer Einwohnerzahl, flächenmäßigen Ausdehnung und Struktur abhängig ist. Was die Leistungsfähigkeit der kleinen Gemeinde bei weitem übersteigt, ist gewissermaßen natürliches Betätigungsfeld der größeren. Das liegt zum anderen aber auch daran, dass sich eine Angelegenheit nur hinsichtlich bestimmter Teilaspekte als örtliche erweisen kann, wohingegen sie im Übrigen keinen relevanten örtlichen Charakter (mehr) hat.68 In diesen beiden Fällen kann sich der Gesetzgeber der Qualifizierungsaufgabe annehmen; tut er es, so darf er eine verfassungsrechtlich nur begrenzt überprüfbare Typisierungs- und Einschätzungsermächtigung nutzen.69

b) Zuweisung durch den Gesetzgeber Die auf diese Weise festgestellten „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ bilden die ver- 28 fassungskräftig garantierte Grundlage für die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers: Seine Entscheidung ist es, vermittels derer eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft zu einer kommunalen Aufgabe wird; entweder, weil er der Gemeinde diese Aufgabe unmittelbar zuweist, oder weil er die Gemeinde mit einem Aufgabenfindungsrecht ausgestattet hat (und von Verfassungs wegen ausstatten musste, u Rn 29), mittels dessen die Gemeinde aus einer Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft eine kommunale Aufgabe machen kann. Art 28 II 1 GG garantiert keine kommunalen Aufgaben, sondern verpflichtet den Gesetzgeber, die Kommunen auf spezifische Weise mit Aufgaben auszustatten.70

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65 BVerfGE 79, 127, 151 o JK GG Art 28 II/17 u E 110, 370, 400, unter Bezugnahme auf BVerfGE 8, 122, 134; E 50, 195, 201 o JK GG Art 28 II/2; 52, 95, 120 o JK GG Art 28 II/4. 66 BVerfGE 79, 127, 152 o JK GG Art 28 II/17; E 110, 370, 400; BVerwG NVwZ 1998, 63. 67 BVerfGE 91, 228, 236 f o JK GG Art 28 II/22; E 110, 370, 401. Zitat aus BVerfGE 79, 127, 151 f. 68 BVerfGE 79, 127, 156 ff: Abfallsammlung auf der einen, -verwertung auf der anderen Seite; Energieverteilung auf der einen, -erzeugung auf der anderen Seite. 69 BVerfGE 79, 127, 153 f o JK GG Art 28 II/17; E 110, 370, 401. 70 BVerfGE 110, 370, 400: Der Aufgabenkreis wird durch die Vorgaben des Gesetzgebers bestimmt. Diese Deutung ist in der Sache mit den Selbstverwaltungsgarantien der Landesverfassungen kompatibel. Allerdings sind dort die

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1. Kapitel – Kommunalrecht

29 aa) Verpflichtung auf eine kommunalspezifische Aufgabenausstattung: Diese Verpflichtung zur kommunalspezifischen Aufgabenausstattung umfasst die sog Universalität („alle Angelegenheiten“): Handelt es sich um eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft und liegt keine anderweitige Zuweisung vor, so muss die Gemeinde wegen Art 28 II 1 GG regelungsbefugt sein; dh sie muss diese Angelegenheit zu einer kommunalen Aufgabe machen können (Bsp u Rn 62). Die Gemeinde ist hinsichtlich der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft grundsätzlich allzuständig. Das Recht der Aufgabenfindung gilt auch für den Zugriff auf neue Sachaufgaben (Recht der Spontanität), soweit es sich um eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft handelt. Das ist eine Abweichung von dem für Verwaltungseinheiten ansonsten allgemein geltenden Grundsatz, dass diese erst aufgrund konkreter gesetzlicher Zuweisung tätig werden dürfen.71 Über die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft hinaus muss der Gesetzgeber das Aufgabenfindungsrecht dementsprechend nicht reichen lassen (su Rn 32). Kommunale Aufgaben sind grundsätzlich als Selbstverwaltungsaufgaben zu verfassen. Nur durch diese Befugnis zur eigenverantwortlichen Gestaltung erhält die Verpflichtung auf ein eigenes Legitimationssystem in Art 28 I 2 GG seinen Sinn. Ist eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft durch die Gemeinde als Aufgabe übernommen oder ihr durch den Gesetzgeber als pflichtige Aufgabe zugewiesen (Bsp: Bauleitplanung, § 2 I BauGB), wird die Materie daher grundsätzlich zu einer Selbstverwaltungsaufgabe. Vor Beeinträchtigungen durch andere Hoheitsträger schützt die Gemeinde dann Art 28 II GG (u Rn 48 f). 30 bb) Abweichung von der Regelzuweisung: Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft stehen der Gemeinde allerdings nur „grundsätzlich“ als eigene Aufgaben und auch nur „grundsätzlich“ als Selbstverwaltungsaufgaben zu. Der Gesetzgeber kann: – für eine solche Angelegenheit im Rahmen seines Regelungsvorbehalts die Zuständigkeit eines anderen (staatlichen oder höherstufigen kommunalen) Verwaltungsträgers begründen („Hochzonung“), oder – eine solche Angelegenheit durch Einführung eines staatlichen Weisungsrechts der eigenverantwortlichen Wahrnehmung entziehen und damit den Charakter als Selbstverwaltungsaufgabe beseitigen – die Einordnung als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft berührt das nicht. In beiden Fällen unterliegt der Gesetzgeber besonderen Rechtfertigungsanforderungen (u Rn 42 ff). So zählt die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Gemeinde unzweifelhaft zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft. In allen Ländern ist ihre Erledigung aber der demokratischen Selbstbestimmung durch die Gemeindevertretung entzogen, indem die Gemeinde als Polizei- bzw Ordnungsbehörde staatlicher Aufsicht unterstellt und der Bürgermeister im Regelfall für allein zuständig erklärt wurde (zu den Rechtstechniken i Einz u Rn 63). Diese staatliche Ingerenz lässt sich durch das hohe Interesse an einem landesweit einheitlich garantierten und nicht vom Ermessen der Selbstverwaltung abhängigen Schutz der Individualrechtsrechtsgüter bzw der Durchsetzung der gesamten Rechtsordnung rechtferti-

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Begrifflichkeiten durchaus unterschiedlich: Zum einen scheint es für Landesverfassungen, die mit einer dualistischen Begrifflichkeit (dazu s u Rn 61 ff) operieren (Bay, Bbg, Hess, MV, RP, SL, LSA, SH) auf den ersten Blick einen festen Bestand „kommunaler Aufgaben“ bzw „eigener Angelegenheiten“ auf der einen und „staatlicher Aufgaben“ auf der anderen Seite zu geben. Keine dieser Landesverfassungen verbietet jedoch dem Gesetzgeber, kommunale „Aufgaben“ oder „Angelegenheiten“ einem anderen Träger zuzuweisen (zB Art 97 II BbgVerf), oder aber sie zu einer „staatlichen Aufgabe“ in der Hand der Kommune zu machen und dementsprechend staatliche Weisungen vorzusehen. Zum anderen bezeichnen manche Landesverfassungen einen möglichen Handlungsgegenstand als „Aufgabe“, der durch die Übernahme durch die Gemeinde zu ihrer „Angelegenheit“ wird (Art 137 I, III HessVerf; Art 49 I, IV LV RP), verwenden die Begriffe also gerade umgekehrt wie hier vorgeschlagen. 71 BVerfGE 79, 127, 147.

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II. Die Verfassungsgarantie des Art 28 II GG – 1. Kapitel

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gen. Jenseits dieser geregelten Materie beginnt das gemeindliche Zugriffsrecht, das sich etwa in Aktivitäten kommunaler Kriminalprävention zeigt. cc) Überörtliche Angelegenheiten, Gemengelagen, Wanderungsprozesse: Ist eine Angele- 31 genheit hingegen keine der örtlichen Gemeinschaft (zB Asylbewerberunterbringung, 72 Passwesen) so fällt sie aus dem die Gemeinde berechtigenden Schutzgehalt des Art 28 II 1 GG heraus. Der Staat kann sie einem anderen Verwaltungsträger zuweisen, ohne dafür besonderen Rechtfertigungslasten genügen zu müssen; er kann sie aber auch den Gemeinden übertragen. Neben diesen Fällen stehen Sachverhalte, an denen die örtliche und die überörtliche Gemeinschaft gleichermaßen interessiert und beteiligt sind („Gemengelagen“). Beispiele finden sich in der Raumplanung: Die kommunale Raumplanungshoheit umfasst die Befugnis, für das eigene Gebiet die wesentlichen Festlegungen der Bodennutzung zu treffen, ihre Ausdrucksformen sind der Bebauungsplan (§ 9 BauGB) und der gesamtgemeindliche Flächennutzungsplan (§ 5 BauGB).73 Die Raumplanungshoheit selber dürfte zu den Kernmaterien aus dem Bestand der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zählen,74 so dass eine völlige Aberkennung durch den Gesetzgeber wohl ausgeschlossen ist. Die gemeindliche Planung kann jedoch auch überörtliche Interessen berühren. Der Ausgleich erfolgt durch die gesetzliche Fixierung eines öffentlichen Raumplanungssystems, mit dem der Gesetzgeber zugleich die gemeindliche Raumplanungshoheit verdeutlicht, konkretisiert und abgrenzt. Dementsprechend steht die Raumplanungshoheit der Anordnung einer Bindung der Gemeinde an Raumordnungsziele, die die Regionalplanung festlegt, nicht prinzipiell entgegen.75 Die Standorte und Trassen regional bedeutsamer Verkehrs- und Versorgungsanlagen treffen immer zugleich das Gebiet einer einzelnen Gemeinde. Die raumrelevante Planung solcher Einrichtungen ist sowohl Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft wie auch überörtliche Angelegenheit.76 Das erlaubt es dem Gesetzgeber, die Aufgabe der Planung einem überörtlichen Träger zuzuweisen, womit er zugleich Art 28 II 1 GG ausgestaltet. Er muss dann aber wegen der Eigenschaft als „auch“ örtliche Angelegenheit zur Kompensation ein Mitwirkungsrecht an diesen höherstufigen Planungen vorsehen. Was Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft ist, steht nicht in allen Gebieten von vornherein fest; die Zuordnung kann in der historischen Entwicklung schwanken („Wanderungsprozesse“). So wurde die Versorgung mit leitungsgebundenen Energien (Strom, Gas) ursprünglich als Kommunalaufgabe verstanden, ging dann mit zunehmender technischer Zentralisierung vielfach auf regionale und überregionale Versorgungsunternehmen über und wurde im Zusammenhang mit Fernwärme und Klimaschutz unter dem Stichwort „örtliche Versorgungskonzepte“

_____ 72 BayVGH BayVBl 1989, 370; BVerwG DVBl 1990, 1066. 73 Einzeldarstellung o Krebs 4. Kap Rn 74 ff; Stüer NVwZ 2004, 814. 74 BVerfGE 56, 298, 310 ff o JK Art 28 II/5 u E 76, 107, 118 o JK BVerfGG § 91/1; BVerwGE 81, 95, 106 u 111; E 90, 329, 335 f; E 100, 388, 392; E 118, 181, 187; E 119, 25 o JK BauGB § 1 III/1; NdsOVG NVwZ-RR 2007, 121 f; Brohm FS Blümel, 79; mwN Oebbecke FS Hoppe, 239. 75 BVerwGE 118, 181, 184. Zur Bindungswirkung der Welterbekonvention und der Entscheidungen des Welterbekomitees für die gemeindliche Planung („Dresdner Waldschlösschenbrücke“) SächsOVG DÖV 2007, 564; Fastenrath DÖV 2006, 1017; Hönes DÖV 2007, 141; Lorenzmaier BayVBl 2011, 485. 76 Dieses Abgrenzungsdilemma und der dahinter vermutete Substanzverlust kommunaler Selbstverwaltung hat zuweilen Autoren veranlasst, eine Neukonzeption der Selbstverwaltungsgarantie jenseits des Verfassungstextes zu suchen und den Inhalt der Selbstverwaltungsgarantie weitgehend auf ein Recht zur Mitwirkung an höherstufigen Entscheidungsprozessen zu reduzieren (Roters Kommunale Mitwirkung an höherstufigen Entscheidungsprozessen, 1975) bzw auf eine besondere Form demokratisch legimierter Verwaltungserfüllung zu begrenzen ( Burmeister Neukonzeption, 1 ff, 113). Damit würde jedoch der Schutzgehalt des Art 28 II GG entleert, in der Sache die Vielfalt tatsächlich wahrgenommener kommunaler Aufgaben und Gestaltungsmöglichkeiten unterschätzt; Darstellung und Kritik bei Stern StR I, § 12 III 1; Brohm DVBl 1984, 293; ders DÖV 1989, 429; Schmidt-Jortzig DÖV 1989, 142.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

wieder als Angelegenheit örtlicher Politik entdeckt.77 Aus der Ablösung eines staatlichen Monopols können sich, wie das Telekommunikationswesen zeigt, neue Versorgungsstrukturen entwickeln, zu denen auch kommunale Aktivitäten beitragen können.78 32 dd) Art 28 II GG als Schranke kommunalen Handelns? Art 28 II GG gewährt den Gemeinden „ein Recht“. Daraus folgt hingegen keine Pflicht, Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft auch wahrzunehmen. Die Vorschrift wäre falsch verstanden, wollte man ihr ein Privatisierungsverbot entnehmen.79 Derartige Handlungspflichten können sich nur aus gesetzlicher Anordnung ergeben, in besonderen Ausnahmefällen mag man andere Verfassungsnormen (Grundrechte, Sozialstaatsprinzip) aktivieren können. Mitunter wird Art 28 II GG auch als Schranke kommunalen Handelns in inhaltlicher Hinsicht eingestuft. Das verkürzt jedoch die zutreffende Herleitung: Für kommunales Handeln ist wie für jedes Verwaltungshandeln eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung erforderlich. Dieses Gebot ergibt sich aus dem Rechtsstaats- wie dem Demokratieprinzip. Von diesem Gebot konkreter Kompetenzzuweisung macht Art 28 II 1 GG eine Ausnahme, indem die Vorschrift dem Gesetzgeber vorgibt, den Gemeinden ein Aufgabenfindungsrecht einzuräumen (o Rn 29). Dessen Reichweite ist allerdings auf die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft begrenzt, weil nur hierfür die besondere demokratische Legitimation über Art 28 I 2 GG besteht. Gemeinden können daher Materien, die eindeutig nicht Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft sind, ohne eine ausdrückliche Zuweisung durch den Gesetzgeber nicht zum Gegenstand ihrer Aktivitäten machen. Nur insofern zeigt Art 28 II GG also die Grenzen kommunaler Tätigkeit auf, als der Begriff der „Aufgabe“, in die die Gemeindeordnungen die Gemeinden einweisen, im Lichte dieser Vorschrift interpretiert werden muss. Man kann das als kommunalrechtliche ultra-vires-Lehre bezeichnen.80 Zu solchen überörtlichen Angelegenheiten gehören zB die Außenpolitik, die Verteidi33 gungspolitik oder Maßnahmen der Globalsteuerung. Es handelt sich nicht um Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, weil es an einem spezifischen Bezug zur einzelnen Gemeinde fehlt. Die Gemeinde und ihre Organe haben kein uneingeschränktes allgemeinpolitisches Mandat. Wohl aber kann eine einzelne Frage aus einem solchen Politikbereich ausnahmsweise in den Garantiebereich des Art 28 II 1 GG hineinragen, zB wenn eine Gemeinde in Durchführung eines verteidigungspolitischen Konzepts als Standort für besondere militärische Einrichtungen vorgesehen wird.81 In diesen Fällen steht der betreffenden Gemeinde mindestens eine sog Befassungskompetenz zu. Für Städtepartnerschaften und für den Jugendaustausch haben sich reale Leistungskompetenzen entwickelt.82 Für die grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit finden sich im

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77 Zunächst Krabbe Kommunalpolitik und Industrialisierung, 1985, 49 ff; dann Schmidt-Aßmann FS Fabricius, 1989, 251 ff; Löwer Energieversorgung, 213 ff; ders DVBl 1991, 132; Ossenbühl DÖV 1992, 1; jetzt Longo Neue örtliche Energieversorgung, 2010. 78 Pünder DVBl 1997, 1353; Trute VVDStRL 57 (1998) 216, 226 f; Schoch AfP 1998, 253; Stephan Die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden auf dem privatisierten Telekommunikationsmarkt, 2009. Über die Zulässigkeit kommunaler Aktivitäten im Verhältnis zu Privaten ist damit natürlich nichts ausgesagt. 79 So aber BVerwG NVwZ 2009, 1305, 1307; völlig zu Recht krit zB Schoch DVBl 2009, 1533; Kahl/Weißenberger LKRZ 2010, 81; positiver Katz NVwZ 2010, 405; zur Privatisierung u Rn 80. 80 I Erg ebenso Nierhaus in: Sachs, GG, Art 28 Rn 35; Tettinger/Schwarz in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art 28 Rn 173; ders HkWP I, § 11 Rn 10. 81 BVerfGE 79, 127, 147; BVerwGE 87, 228, 232 f o JK GG Art 28 II/19: aus „örtlich radizierten“ Gründen ein Anlass zur Befassung, der auch eine „antizipatorische“ Äußerung gestattet; NVwZ 1991, 684; ferner (teilw enger) VGH BW NVwZ 1984, 659, 661 f o JK GG Art 28 II 1/13; BayVGH NVwZ-RR 1990, 211. Noch wesentlich weiter iS eines umfassenden Äußerungsrechts v Komorowski Staat 37 (1998) 122. 82 Städtepartnerschaften: BVerwG NVwZ 1989, 469 u E 87, 237 o JK Art 28 II/19. Großangelegte Projekte der Entwicklungszusammenarbeit mit Staaten der Dritten Welt sind dagegen nicht von der Selbstverwaltungsgarantie gedeckt. Einzelheiten bei Schmidt-Jortzig DÖV 1989, 142; Heberlein DÖV 1990, 374 u DÖV 1991, 916; Meßerschmidt DV 23 (1990) 425; ausführl u mit der Tendenz, auch die Entwicklungszusammenarbeit in Art 28 II GG einzubeziehen v Schwanenflügel Entwicklungszusammenarbeit, 1993; ders DVBl 1996, 491.

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II. Die Verfassungsgarantie des Art 28 II GG – 1. Kapitel

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Zweckverbandsrecht mehr und mehr sogar feste Rechtsgrundlagen, die den von Art 24 Ia GG eröffneten Rahmen zu einer die Staatsgrenzen überschreitenden Kooperation ausfüllen.83 Überörtliche Angelegenheit hingegen ist die Tätigkeit außerhalb des Gemeindegebiets, wohin insbesondere kommunale Unternehmen gerne expandieren möchten. Auch in dieser Hinsicht ist das Aufgabenfindungsrecht territorial begrenzt, Gemeindegrenzen überschreitende Aktivitäten sind nur mit gesetzgeberischer Zulassung möglich (zB § 102 VII GemO BW); das durch Art 28 II GG geschützte Selbstverwaltungsrecht der Kommune, auf deren Territorium gehandelt werden soll, ist zu beachten (s u Rn 178). Anders liegt es wiederum dort, wo, wie etwa mitunter im Umwelt- oder Gesundheitsschutz, 34 die Kommune sich zwar auf eine eigene Kompetenz stützen kann (zB Steuerfestsetzung, Auftragsvergabe, Überlassung einer öffentlichen Einrichtung, Vermietung gemeindlichen Eigentums zu Werbezwecken, Subvention), sie diese aber zu Gestaltungen benutzen möchte, die andernorts bereits eine Regelung gefunden haben.84 Das ist keine Frage einer Begrenzung kommunaler Tätigkeit durch Art 28 II GG, vielmehr ist darauf abzustellen, ob sich die bundes- oder landesgesetzliche Regelung abschließende Eigenschaft zumisst oder Spielräume für kommunale Politik offen lässt.85 Bei der Materie handelt es sich also um eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft, ihre konkrete Gestaltung durch die Kommune übersteigt aber uU den Rahmen des Gesetzes; die kommunale Regelung kollidiert allenfalls indirekt mit der Landes bzw Bundeskompetenz.

c) Eigenverantwortlichkeit Selbstverwaltung besteht darin, dass die eigenen Angelegenheiten „in eigener Verantwortung“ 35 geregelt werden können. Eigenverantwortlichkeit heißt Freiheit von Zweckmäßigkeitsvorgaben anderer Hoheitsträger, insbesondere des Staates, und Fähigkeit zu Entscheidungen nach eigenen politischen Vorstellungen. Darin liegt der Gestaltungsspielraum der Gemeinden, ohne den die Verpflichtung zu einem eigenen, auf eine direkt gewählte Volksvertretung gestützten Legitimationssystem (Art 28 I 2 GG) sinnlos wäre. Die Eigenverantwortlichkeit bezieht sich grundsätzlich auf das Ob, Wann und Wie der Aufgabenwahrnehmung; sie drückt sich in einem Ermessen im weitesten Sinne aus. Nicht entbindet die Eigenverantwortlichkeit dagegen von der Beachtung der Gesetze und des Rechts. Das folgt schon aus der Gesetzesbindung der Exekutive (Art 20 III GG), der alles gemeindliche Handeln verpflichtet ist. Dem korrespondiert die als Rechtmäßigkeitskontrolle wirksame Aufsicht des Staates über die Gemeinden (Rn 68 ff). So selbstverständlich das ist, so liegen hier doch Gefahren für die gemeindliche Gestaltungsfreiheit; denn der Staat hat es weitgehend in der Hand, seine Zweckmäßigkeitsvorstellungen in Gesetzesform zu gießen und die Gemeinden dann auf den Gesetzesvollzug festzulegen. Soll Art 28 II GG durch eine zu weit getriebene Verrechtlichung nicht ausgehöhlt werden, so muss eine kommunalspezifische Fassung des Bestimmtheitsgebotes verlangt werden86 (u Rn 134).

_____ 83 Dazu Geiger FS 100 J SächsOVG, 2002, 434; Röper VerwArch 95 (2004) 301, 314 ff. 84 ZB BVerwGE 84, 236 o JK VwVfG § 56/1 (vorbeugender Immissionsschutz): Vereinbarung höherer Immissionsstandards als im BImSchG vorgesehen als Gegenleistung für kommunale Subvention; VGH BW NVwZ 1993, 903 u VBlBW 1994, 17: Kündigung eines kommunalen Werbenutzungsvertrags, um die bundesgesetzlich geregelte Tabak- bzw Alkoholwerbung einzuschränken; BVerfGE 98, 106, 118 (kommunale Verpackungssteuer); E 98, 265, 298 ff; BVerwGE 110, 248 u BVerfG-K NVwZ 2001, 1264 (erhöhte Besteuerung von Gewaltspielautomaten) zu Kommunalsteuern noch unten Rn 199. 85 Burgi KomR, § 6 Rn 17 f; Zweifelnd auch Schoch FG Schlebusch, 11, 36. Großzügig i.S. einer Zubilligung kommunaler „Alleingänge“ Burgi VerwArch 90 (1999), 70. Zum Umweltrecht Schmidt-Aßmann NVwZ 1987, 265; vgl LübbeWolff/Wegener Umweltschutz durch kommunales Satzungsrecht, 2002; Bomhard Immissionsschutz durch gemeindliches Verwaltungshandeln, 1996. 86 Janssen Grenzen, 1990, 128 ff; Henneke ZG 1994, 212, 242 f; Burgi VerwArch 90 (1999) 70, 95 f.

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d) Insbesondere: So genannte Gemeindehoheiten 36 Die meisten der als „Gemeindehoheiten“ eingeführten Begriffe 87 verdeutlichen die eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung durch die Gemeinde, während die „Gebietshoheit“ die (territoriale) Zuständigkeit der Gebietskörperschaft Gemeinde bezeichnet (o Rn 4) und andere Hoheiten, zB die „Raumplanungshoheit“ eingeführte kommunale Aufgaben beschreiben (o Rn 31). Genauer betrachtet handelt es sich nicht um isolierte oder ausschließliche Gemeindekompetenzen und schon gar nicht um eindeutige Fixierungen von Wesensgehaltselementen. Die Begriffe bündeln vielmehr eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten, ohne für sie alle eine isolierte eigenverantwortliche kommunale Entscheidungsbefugnis verfassungsfest zu postulieren. Die Rechtsnatur dieser „Hoheiten“ lässt sich durch zwei allgemeine Aussagen umschreiben: Jede dieser Hoheiten ist in ihrem Grundgedanken (nicht in allen Einzelausprägungen) für die Selbstverwaltungsgarantie unverzichtbar; denn sie beziehen sich auf elementare Handlungssektoren (insbes Organisation, Personal, Finanzen). Keine dieser Hoheiten besteht aber ohne gesetzliche Rahmenvorgaben und staatliche Einschränkungen. So bezeichnen sie eher einen eingespielten, sich freilich auch ständig wandelnden Dogmenbestand, der das von der herrschenden Anschauung für Rechtens erachtete Zusammenspiel von Staat und Gemeinde wiedergibt. 37 – Konzepthoheit: Die im Unterschied zur Aufgabe „Raumplanungshoheit“ auch als „allgemeine Planungshoheit“ bezeichnete Befugnis meint die Berechtigung, die eigenen Angelegenheiten nicht nur von Fall zu Fall zu erledigen, sondern aufgrund von Analyse und Prognose erkennbarer Entwicklungen ein Konzept zu erarbeiten, das den einzelnen Verwaltungsvorgängen Rahmen und Ziel weist.88 Solches planerische Handeln stellt keine zusätzliche Sachaufgabe dar, sondern eine Methode der Aufgabenerledigung, daher folgt diese Konzepthoheit grundsätzlich der Sachkompetenz. Die Gemeinden besitzen also, sofern nichts anderes bestimmt ist, für ihre Angelegenheiten auch die Konzepthoheit. Ergebnisse ihrer planerischen Tätigkeit sind Organisations- oder Infrastrukturpläne (zB Kindergärten-, Altersheim-, Sportstättenbedarfspläne), aber auch fachübergreifende Leitbilder und strategische Ziele. Über die Bindungskraft solcher Pläne gegenüber anderen Hoheitsträgern oder privaten Dritten ist damit noch nichts gesagt. Für die Planung der wichtigen Ressourcen Raum und Finanzen gelten Besonderheiten (vgl Raumplanungshoheit, Finanzhoheit). 38 – Personalhoheit kann man in einem weiten Sinne als Befugnis definieren, sowohl über die allgemeinen Fragen des eigenen Personalwesens (Stellenplanung, Einstellungs- und Beförderungsvoraussetzungen, Besoldungs- und Vergütungsmaßstäbe) als auch über die konkreten Maßnahmen der Personaleinstellung, der Beförderung und des Personaleinsatzes nach eigenem Ermessen zu entscheiden.89 Zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft wird traditionell nur ein Ausschnitt aus diesem Kreis personalrelevanter Maßnahmen gerechnet. Er betrifft im Wesentlichen Einzelentscheidungen, also vor allem Fragen der Personalplanung sowie die Befugnis, das Personal auszuwählen, anzustellen, zu befördern und zu entlassen. Die allgemeinen Entscheidungen, zB des Laufbahn- und Besoldungswesens, werden seit langem staatlich getroffen.90 39 – Organisationshoheit: Sie ist die Befugnis, den Aufbau und das Zusammenspiel der eigenen Beschluss- und Vollzugsorgane, gemeindeinterner räumlicher Untergliederungen,

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87 Dazu Löwer in: v Münch/Kunig, GG I, Art 28 Rn 69, 73 ff; Tettinger/Schwarz in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art 28 Rn 179 ff; Schoch Jura 2001, 121, 131 ff; ders FG Schlebusch, 11, 44 ff. 88 Zu Plänen allg vgl Köck in GVwR II, § 37; Möstl in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 19 Rn 11; zur verfassungsrechtlichen Bedeutung Dreier in: ders, GG Art 28 Rn 140. 89 BVerfGE 91, 228, 245 o JK GG Art 28 II/22; Gern DtKomR, Rn 175; Wolff VerwArch 2009, 280. Zur Personalhoheit des Dienstherrn allg o Kunig 6. Kap Rn 71 ff. 90 Schon BVerwGE 18, 135; OVG LSA v. 28.10.09 – 4 L 209/07. Zur Überleitung von Beamten: SächsOVG SächsVBl 2010, 288 u OVGE NW 53, 240.

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II. Die Verfassungsgarantie des Art 28 II GG – 1. Kapitel





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gemeindeeigener Einrichtungen und Betriebe sowie deren Geschäftsgang zu regeln.91 Die Gemeinden haben hier traditionell einen breiten Entfaltungsspielraum, den sie zB mit ihrer Hauptsatzung, ihren Anstaltsordnungen und ihren Organisations- und Geschäftsverteilungsplänen ausfüllen. Gesetzliche Grenzen bringen vor allem das Kommunalverfassungsrecht (Rn 87 ff)92 und das Gemeindewirtschaftsrecht (Rn 170 ff). Rechtsetzungshoheit: Art 28 II 1 GG verlangt, die Gemeinde zu eigenverantwortlicher 40 Regelung ihrer Angelegenheiten zu ermächtigen. Eine Festlegung der Gemeinden auf bestimmte Formen hoheitlichen Handelns ist damit nicht gemeint. Regelung heißt jede zulässige Art von Aufgabenerledigung; sie mag sich in den Formen des öffentlichen oder des privaten Rechts, direkt oder indirekt durch Einschaltung Dritter, planerisch, spontan oder routinemäßig vollziehen. Oft wird sich eine effektive Regelung nicht ohne eigene rechtssatzmäßige Absicherung vollziehen lassen. Art 28 II 1 GG legt die Rechtsordnung deshalb darauf fest, den Gemeinden mindestens ein Rechtsinstitut zur allgemeinen Regelung (Breitensteuerung) ihrer Angelegenheiten verfügbar zu halten. Daher gehört auch die gemeindliche Rechtsetzungshoheit zum Garantiebereich; in allen Flächenländern hat der Gesetzgeber den Gemeinden das Rechtsinstitut der Satzung an die Hand gegeben (Rn 133 ff). Finanzhoheit: Wie Art 28 II 3 GG klarstellt, umfasst die Gewährleistung der Selbstver- 41 waltung auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung; hierzu gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle. Drei Elemente sind auseinanderzuhalten:93 Zunächst geht es um eine aufgabenadäquate, finanzverfassungsrechtlich abgesicherte Finanzausstattung der Kommunen. Autonomieschützend wirkt hierbei eine Ertragshoheit (u Rn 53). Ob Art 28 II GG eine finanzielle Mindestausstattung verlangt, hat das Bundesverfassungsgericht zwar bisher offen gelassen;94 richtigerweise ist sie zu bejahen95 (vgl zu weiteren Finanzgarantien Rn 53 und 58). In diesem Zusammenhang schützt Art 28 II GG auch vor der Zuweisung kostenintensiver Aufgaben durch Gesetz (speziellere Gewährleistung durch Art 84 I 7 u 85 I 2 GG und landesverfassungsrechtliche Garantien, u Rn 54, 58). Zweitens müssen diese Einnahmen jedenfalls zu Teilen auch eigenverantwortlich gestaltet werden können (zB Festsetzung von Hebesätzen, Art 28 II 3 GG; Gebührengestaltung). Schließlich umfasst Finanzautonomie auch die Gestaltung der Ausgabenwirtschaft (Gemeindehaushalt). Insgesamt garantiert die Finanzhoheit den Gemeinden also auf der Grundlage einer aufgabenadäquaten Finanzausstattung die Befugnis zu einer eigenverantwortlichen Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft im Rahmen eines gesetzlich geordneten Haushaltswesens,96 selbst wenn es seit jeher in diesem Sektor zahlreiche staatliche Eingriffsbefugnisse gibt.

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91 Dazu BVerfGE 91, 228, 238 o JK GG Art 28 II/22; allg Schmidt-Jortzig Kommunale Organisationshoheit, 1979, 26 ff; Schliesky DV 38 (2005), 339. 92 Einschließlich der Vorschriften über die Verpflichtung zur Bestellung von Gleichstellungsbeauftragten, dazu BVerfGE 91, 228 o JK GG Art 28 II/22; VerfGH NW NVwZ 2002, 1502; Böhm NVwZ 1999, 721; krit Schaffarzik DÖV 1996, 152; Frenz VerwArch 86 (1995) 378; vgl a NdsStGH DÖV 1996, 657; dazu Niebaum DÖV 1996, 900. 93 Pünder/Waldhoff RdKomFin, § 1 Rn 7 f; weiterführend Waldhoff DStJG 35 (2012), 11, 20 ff. 94 BVerfGE 26, 172, 181; E 71, 25, 36 f; E 83, 363, 386; BVerfGK 10, 365. 95 BVerwGE 106, 280, 287; VerfG MV NVwZ-RR 2012, 377, 378 f; Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art 28 Rn 84b; K.-A. Schwarz, Finanzverfassung und kommunale Selbstverwaltung, 1996, 28 ff; Volkmann DÖV 2001, 497; Schoch Jura 2001, 121, 133; Nierhaus LKV 2005, 1; Henneke DÖV 2008, 857. 96 BVerfGE 125, 141, 159; VerfGH NW DÖV 2004, 662; ganz hM; zu den Grenzen des Hebesatzrechts BVerwGE 138, 89 (Bspr Selmer JuS 2011, 763).

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e) Der Gesetzesvorbehalt und seine Grenzen 42 Gewährleistet ist die Selbstverwaltung „im Rahmen der Gesetze“. Der Vorbehalt bezieht sich auf beide Garantieelemente (Aufgabenausstattung und Eigenverantwortlichkeit).97 Er ist ein Vorbehalt, der den Gesetzgeber zur Ausformung des Garantiegehalts, zur Fixierung immanenter Grenzen, aber auch zu Eingriffen in die verfassungsrechtlichen Garantiebereiche ermächtigt.98 Die Einrichtung der gemeindlichen Selbstverwaltung bedarf „der gesetzlichen Ausgestaltung und Formung“.99 Das hat sich auch schon oben (Rn 25) bei der Bestimmung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft gezeigt. Gesetze iSd Art 28 II 1 GG sind neben Landes- und Bundesgesetzen auch Rechtsverordnungen100 und Satzungen anderer Hoheitsträger, zB eines Landkreises oder eines Regionalverbandes. Verwaltungsvorschriften geben dagegen für sich keinen Bindungsrahmen; sie können insbesondere ein kommunales Ermessen in Selbstverwaltungsangelegenheiten nicht dirigieren. Der Gesetzesvorbehalt kann zur Achillesferse der Garantie werden, wenn man ihm nicht seinerseits Grenzen setzt. Die dogmatischen Schwierigkeiten mit solchen Grenzen sind aus der in manchen Strukturen ähnlichen Problematik grundrechtlicher Gesetzesvorbehalte bekannt. Literatur und Rechtsprechung hatten früher daher durchgängig die aus der Grundrechtsdogmatik bekannten Schranken einer Respektierung des Kernbereichs und des Verhältnismäßigkeitsprinzips herangezogen.101 In der Rastede-Entscheidung geht das Bundesverfassungsgericht jedoch von einer solchen „Parallelisierung“ grundrechtlicher und organisatorisch-institutioneller Gewährleistungsgehalte ein Stück weit ab. Danach ist neben der Kernbereichsgarantie (aa) ein aus dem Sinnzusammenhang des Art 28 II GG zu erschließendes gemeindefreundliches Aufgabenverteilungsprinzip beachtlich (bb).102 Für die Eigenverantwortlichkeit gilt die Forderung, den Kommunen einen „hinreichenden Spielraum“ zu belassen (cc). 43 aa) Die Kernbereichsgarantie (Wesensgehaltsgarantie) schützt „das Essentiale einer Einrichtung, das man aus einer Institution nicht entfernen kann, ohne deren Struktur und Typus zu verändern“.103 Um diesen Kern zu bestimmen, wird wiederum auf die historische Entwicklung, aber auch auf das aktuelle Erscheinungsbild der Selbstverwaltung abgestellt.104 Eine exakte Abgrenzung fällt gleichwohl oft schwer, wenn es darum geht, ob eine einzelne Handlungsmöglichkeit oder gar nur eine spezifische Form ihrer Wahrnehmung zum Wesensgehalt gehört. So lässt sich zwar allgemein feststellen, dass die Bebauungsplanung nicht nur überhaupt eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft ist, sondern sogar zum Kern des kommunalen Aufgabenbestandes zählt (o Rn 29). Ob das aber auch für alle 27 Festsetzungsarten gilt, aus denen sich nach

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97 BVerfGE 56, 298, 312 o JK GG Art 28 II/5; 79, 127, 146 o JK GG Art 28 II/17; 107, 1, 12; Schoch Jura 2001, 121, 125. 98 Ganz hM: BVerfGE 56, 298, 312 o JK GG Art 28 II/5; E 79, 127, 143 o JK GG Art 28 II/17; Ehlers DVBl 2000, 1301, 1306 f; aA Schmidt-Jortzig KomR, Rn 486; auch Burmeister Neukonzeption, 27 ff, 84 ff. 99 BVerfGE 79, 127, 143 o JK GG Art 28 II/17; Schmidt-Aßmann FS BVerfG II, 2001, 803, 817 f. 100 BVerfGE 26, 228, 237; E 56, 298, 309 o JK GG Art 28 II/5; Tettinger/Schwarz in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art 28 Rn 186. 101 BVerfGE 56, 298, 312 fo JK GG Art 28 II/5; J. Ipsen ZG 1994, 194. 102 BVerfGE 79, 127, 146, 149 o JK GG Art 28 II/17; BVerfGE 107, 1, 12 f; E 119, 331, 363 o JK GG Art 28 II/30; Frenz DV 28 (1995) 33, 47 ff; Schmidt-Aßmann FS BVerfG Bd 2, 803, 819; Burgi KomR, § 6 Rn 40. Weiterhin eine Verhältnismäßigkeitsprüfung befürwortend mwN Kahl Staatsaufsicht, 448 ff; Ehlers DVBl 2000, 1301, 1306 u Nierhaus in: Sachs, GG, Art 28 Rn 72 f; vgl a Schoch Jura 2001, 121, 126 f; ders FG Schlebusch, 11, 29; neuerdings wieder BVerfGE 125, 141, 167 ff o JK GG Art 28 II/34; diff u weiterführend Waechter AöR 2010, 327. Für die Selbstverwaltungsgarantie der jew Landesverfassung (u Rn 58) ebenfalls zB NdsStGH NVwZ 1997, 58 u NdsVBl 2008, 37; BbgVerfGH LKV 1997, 449; VerfGH NW NVwZ 2002, 1502 u NVwZ 2003, 202. 103 Stern, StR I, § 12 III 4d, 416; vgl auch Kühne in: FS Faber, 2007, 35. 104 Std Rspr BVerfGE 38, 258, 278 f; E 76, 107, 118 o JK BVerfGG § 91/1; E 79, 127, 146 o JK GG Art 28 II/17; E 91, 228, 238 o JK GG Art 28 II/22.

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II. Die Verfassungsgarantie des Art 28 II GG – 1. Kapitel

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§ 9 I BauGB der Bebauungsplan zusammensetzt, ist damit noch nicht gesagt. Nicht gesagt ist damit auch, inwieweit die Bebauungsplanung in einzelnen Bezügen nicht doch durch staatliche Vorgaben dirigiert werden kann. Ein gegenständlich festumrissener Aufgabenkatalog ist der Kernbereich nicht.105 Nur in seltenen Fällen besonders krasser oder rabiater Eingriffe des Gesetzgebers wird der Wesensgehalt daher als absolute Sperre wirksam werden. Für die Finanzausstattung wird vertreten, der Kernbereich sei dann verletzt, wenn die verfügbaren Mittel vollständig für die pflichtigen Aufgaben aufgewendet werden müssten und daher freiwillige Aufgaben nicht mehr finanziert werden könnten.106 bb) Gemeindespezifisches materielles Aufgabenverteilungsprinzip: Es setzt dem Gesetz- 44 geber insofern Schranken, als er Angelegenheiten mit örtlich relevantem Charakter, die RegelAusnahme-Systematik des Art 28 II 1 GG respektierend, den Gemeinden nur aus Gründen des Gemeininteresses entziehen und einem anderen Träger nur zuweisen bzw in staatliche Fachaufsicht übernehmen darf, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht sicherzustellen wäre.107 Allgemeine Wirtschaftlichkeitsüberlegungen reichen dazu nicht. Die die gesetzliche Entscheidung tragenden Gründe müssen das für die Gemeinden streitende Aufgabenverteilungsprinzip überwiegen. Diese Schranke für den Zugriff des Gesetzgebers auf Aufgaben im Garantiebereich des Art 28 II 1 GG ist also in der Art eines „Wechselwirkungs-Konzepts“ zu entfalten, das dem Gesetzgeber eine erhebliche Darlegungslast aufbürdet, wenn er von der Regelzuweisung der Verfassung abweichen will. Auf der anderen Seite gilt: „Die Gemeinden sind Teil der staatlichen Verwaltungsgliederung und dem Gemeinwohl verpflichtet. Unbedingten Vorrang vor den Interessen des Gesamtstaates kann das Interesse an einer möglichst weit gehenden Betroffenenpartizipation nicht beanspruchen.“108 Das Bundesverfassungsgericht überprüft die gesetzgeberische Entscheidung im Streitfall nicht nur auf ihre Willkürfreiheit, sondern auch auf ihre Vertretbarkeit. cc) Zugriff auf die Eigenverantwortlichkeit: Hinreichender Spielraum. Auch bei staatlichen 45 Vorgaben für die Eigenverantwortlichkeit hat das Gericht nicht auf den Verhältnismäßigkeitsmaßstab zurückgegriffen; es prüft vielmehr „im Vorfeld des Kernbereichs“, ob den Gemeinden ein „hinreichender organisatorischer Spielraum bei der Wahrnehmung der je einzelnen Aufgabenbereiche offengehalten“ wird.109 dd) Zuweisung zusätzlicher Aufgaben: Selbst die Zuweisung neuer Aufgaben an die Kom- 46 munen kann einen Eingriff in die Selbstverwaltungsgarantie darstellen.110 Allerdings ergibt sich hier eine Beeinträchtigung der Eigenverantwortlichkeit nur mittelbar: Zum einen deswegen, weil die Erledigung zusätzlicher Aufgaben die Ressourcen der Kommune in einem Maße in Anspruch nehmen kann, dass die eigenverantwortliche Wahrnehmung von Selbstverwaltungsaufgaben nicht mehr möglich ist;111 häufig wird hierdurch die speziellere Garantie der hinreichenden

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105 BVerfGE 79, 127, 146 o JK GG Art 28 II/17; dazu Burgi KomR, § 6 Rn 36 ff. 106 Schoch FG Schlebusch, 11, 27 f; Dreier in: Dreier GG, Art 28 Rn 156; Hornfischer Insolvenzfähigkeit von Kommunen, 2010, 53 ff mN. 107 BVerfGE 79, 127, 154 o JK GG Art 28 II/17; E 107, 1, 14; E 110, 370, 401; Schmidt-Aßmann FS Sendler, 121, 135 ff. Zum umgekehrten Fall gesetzlicher Aufgabenzuweisung gleich Rn 46. 108 BVerfGE 110, 370, 401. 109 BVerfGE 91, 228, 239, 241 o JK GG Art 28 II/22; zum zwangsweisen Zusammenschluss zu einer Verwaltungsgemeinschaft BVerfGE 107, 1, 20 f. 110 Schoch FG Schlebusch, 11, 40 f; ders Jura 2001, 121, 129; Burgi KomR, § 6 Rn 29 f; Henkel, Die Kommunalisierung von Staatsaufgaben, 2010; Kremer VerwArch 2011, 242, 256 ff. 111 BVerfGE 119, 331 (353 ff) o JK GG Art 28 II/30; VerfGH RP NVwZ 2001, 912 o JK GG Art 28 II/26; Henneke Finanzverfassung, 334 ff mN.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

Finanzausstattung betroffen sein. Darüber hinaus mag die Situation eintreten, dass der schiere Umfang der staatlichen bzw Weisungsaufgaben in einem solchen Maße zunimmt, dass der Unterschied der Kommune zu einer bloß dezentralen Verwaltungseinheit zu verschwimmen droht.

5. Die Selbstverwaltungsgarantie als subjektives Recht a) Kommunale Verfassungsbeschwerde 47 Art 28 II 1 GG belässt es für die Gemeinden nicht beim objektiven Konstitutionsprinzip, sondern gewährt eine subjektive Rechtsstellung (herkömmlich: „subjektive Rechtsstellungsgarantie“). Die einzelne Gemeinde kann vom Garantieverpflichteten die Einhaltung der Gewährleistung verlangen. Verfassungsrechtlich ausdrücklich verbürgt ist der Rechtsschutz durch die kommunale Verfassungsbeschwerde (Art 93 I Nr 4b GG, § 91 BVerfGG).112 Parteifähig sind Gemeinden und Gemeindeverbände. Gesetze iS der Vorschriften über die Kommunalverfassungsbeschwerde und damit Beschwerdegegenstand sind auch Rechtssätze unterhalb des förmlichen Gesetzes.113 Das Institut dient der Verteidigung speziell der Rechte aus Art 28 II GG gegen den Gesetzgeber.114 Ein Verstoß gegen andere Verfassungsbestimmungen führt im Rahmen der Kommunalverfassungsbeschwerde nur insoweit zur Beschwerdebefugnis – und dementsprechend auch zur Begründetheit –, als solche Bestimmungen die Selbstverwaltungsgarantie konkretisieren und damit in den Gewährleistungsumfang des Art 28 II GG hineinwirken.115 Bei der Verletzung durch ein Landesgesetz ist die Subsidiaritätsklausel zugunsten der Landesverfassungsgerichte zu beachten (Rn 58).116 Ggf ist vorher der Rechtsweg gem. § 47 VwGO zu beschreiten,117 die Beschwerdefrist beträgt ein Jahr.

b) Die Bedeutung der Selbstverwaltungsgarantie für das einfache Recht 48 Die kommunalen Selbstverwaltungsaufgaben sind das Ergebnis gesetzgeberischer Ausgestaltung in Ausfüllung des Art 28 II GG (o Rn 28). Daher stehen die Kommunen bei ihrer Aufgabenerfüllung unter dem Schutz der Selbstverwaltungsgarantie. So haben sie einen Anspruch auf Gerichtsschutz, der unmittelbar aus der materiellen Garantienorm des Art 28 II GG folgt. Ob sich die Gemeinden außerdem auf Art 19 IV GG stützen können, ist streitig.118 Die Frage kann jedoch dahingestellt bleiben; jedenfalls auf der Ebene des derzeit geltenden einfachgesetzlichen Prozessrechts werden die aus Art 28 II GG folgenden subjektiven Rechte der Gemeinden mit den subjektiven Rechten der Bürger gleich behandelt (§§ 40, 42 II VwGO).119 Aus Art 28 II GG kann für die Gemeinden ein verfassungsunmittelbares Mitwirkungsrecht 49 an staatlichen Planungen folgen.120 Teilweise handelt es sich bei diesen Planungen um originäre örtliche Angelegenheiten, die durch Gesetz ausnahmsweise einem anderen Verwaltungsträger

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112 Mückl in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im ÖR, § 14; Tettinger HkWP I, § 11 Rn 60 ff; Maurer FS Starck, 335; Starke, JuS 2008, 319; Guckelberger Jura 2008, 819; Stüer DVBl 2012, 751. 113 BVerfGE 71, 25, 34; E 76, 107, 114; E 107, 1, 15. 114 Stern, StR I, § 12 II 8a; zum Prüfungsmaßstab der kommunalen Verfassungsbeschwerde Pestalozza FS v Unruh, 1057, 1060 ff. 115 BVerfGE 91, 228, 242; E 119, 331, 357 o JK GG Art 28 II/30; E 125, 141, 158. Hierzu wird man die Neuregelungen der Art 84 I 7 u Art 85 I 2 GG zählen müssen, BVerfGE 119, 331, 359. Allerdings können die Kommunen sich im Rahmen einer Individualverfassungsbeschwerde auf die Justizgrundrechte (u Rn 55) berufen. 116 Das BVerfG ist insoweit großzügig und akzeptiert etwa Kommunalverfassungsbeschwerden gegen LandesRechtsverordnungen, wenn das Landesverfassungsrecht eine Beschwerdemöglichkeit nur gegen Parlamentsgesetze vorsieht wie zB in BW (StGH BW JZ 1977, 642), Mückl in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im ÖR, § 14 Rn 44 ff. 117 BVerfGE 76, 107, 114 f o JK BVerfGG § 91/1 118 Nachw bei Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, GG, Art 19 IV Rn 43; Löwer in: v Münch/Kunig, GG I, Art 28 Rn 45. 119 Wahl/Schütz in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 42 II Rn 105 f. 120 Schmidt-Aßmann AöR 101 (1976) 520; vgl a Kilian/Müllers VerwArch 89 (1998) 25, 67.

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II. Die Verfassungsgarantie des Art 28 II GG – 1. Kapitel

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zur Entscheidung übertragen worden sind; hier folgt das gemeindliche Mitwirkungsrecht aus dem Gedanken der Kompensation.121 Teilweise handelt es sich aber auch um Planungen von überörtlicher Substanz, die jedoch wegen erheblicher Auswirkungen auf die einzelne Gemeinde zu einem Mitwirkungsrecht – regelmäßig in der Form des Anhörungsrechts – führen.122 Zugleich können aus der Planungshoheit Abwehransprüche gegen Planungsmaßnahmen resultieren, wenn ein geplantes Vorhaben eine hinreichend bestimmte Planung nachhaltig stört, wesentliche Teile des Gemeindegebiets einer durchsetzbaren Planung entzieht oder kommunale Einrichtungen erheblich beeinträchtigt.123 Mitwirkungsrechte der Gemeinden oder ihrer Spitzenverbände an der Bundes- oder Landesgesetzgebung lassen sich aus der Selbstverwaltungsgarantie hingegen nicht zwingend ableiten, sind jedoch teilw ausdrücklich in den Landesverfassungen verbürgt und auf Bundesebene nunmehr vorgesehen.124 Im Rahmen des Art 28 II 1 GG wird auch der Grundsatz des gemeindefreundlichen Ver- 50 haltens125 diskutiert. Es handelt sich um eine allgemeine Rücksichtnahmepflicht anderer Hoheitsträger auf gemeindliche Belange. Bei der weit reichenden gesetzlichen Durchnormierung der gemeindlichen Rechtsstellung ist dieser Grundsatz auf wenige Fälle der Lückenfüllung beschränkt. Keinesfalls unterbindet er „harte“ Entscheidungen, die nach dem Gesetz gegenüber den Gemeinden getroffen werden müssen. Zu vermeiden sind nur unnötige Belastungen und Nebenfolgen. Bei der generalklauselartigen Unbestimmtheit dieses Grundsatzes verschwimmen die Grenzen zwischen Rechts- und Stilfragen; im Umgang mit ihm ist daher Vorsicht geboten.

Spezialliteratur: Beyerlin Rechtsprobleme der lokalen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, 1988; Burgi Selbstverwaltung angesichts von Europäisierung und Ökonomisierung, VVDStRL 62 (2003) 405; Bull Kommunale Selbstverwaltung heute – Idee, Ideologie und Wirklichkeit, DVBl 2008, 1; Ehlers Die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, DVBl 2000, 1301; Ellwein Perspektiven der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland, AfK 36 (1997) 1; Geiger Verfassungsrechtliche Aspekte grenznachbarschaftlicher internationaler Zusammenarbeit von Kommunen, FS zum 100jährigen Bestehen des SächsOVG, 2002, 434; Groß Selbstverwaltung angesichts von Europäisierung und Ökonomisierung, DVBl 2002, 1182; Heberlein Kommunale Außenpolitik als Rechtsproblem, 1989; Henneke Kommunale Eigenverantwortung bei zunehmender Normdichte, ZG 1994, 212; Janssen Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, 1990; Jestaedt Selbstverwaltung als „Verbundbegriff“, DV 35 (2002) 293; Katz/Ritgen Bedeutung und Gewicht der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie, DVBl 2008, 1525; Kronisch Aufgabenverlagerung und gemeindliche Aufgabengarantie, 1993; Langer Gemeindliches Selbstverwaltungsrecht und überörtliche Raumplanung, VerwArch 80 (1989) 352; Magen Die Garantie kommunaler Selbstverwaltung, JuS 2006, 404; Mückl Finanzverfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Selbstverwaltung, 1998; ders Kommunale Verfassungsbeschwerde, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im öffentlichen Recht, § 14; Oebbecke Die verfassungsrechtlich gewährleistete Planungshoheit der Gemeinde, FS Hoppe, 2000, 239; ders Selbstverwaltung angesichts von Europäisierung und Ökonomisierung, VVDStRL 62 (2003) 366; Roeßing, Einheimischenprivilegierungen und EG-Recht, 2008; W Schmidt Die „institutionelle Garantie“ der kommunalen Selbstverwaltung und das Grundgesetz, FS Faber, 2007, 17; Schmidt-Aßmann Kommunale Selbstverwaltung „nach Rastede“, FS Sendler, 1991, 121; ders Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, FS BVerfG Bd 2, 2001, 803; Schoch Der verfassungsrecht-

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121 Blümel VVDStRL 36 (1977) 171, 245 ff; o Huber 3. Kap Rn 217. 122 BVerwGE 51, 6, 13 f; std Rspr; 112, 274; aber a 119, 245, 251; vgl Steinberg/Wickel/Müller Fachplanung, 4. Aufl 2012, § 2 Rn 71 ff, 129. 123 BVerwGE 81, 95; E 84, 209; E 100, 388; NVwZ-RR 1999, 554, 555; o v Danwitz 7. Kap Rn 39; Steinberg ua Fachplanung aaO, § 3 Rn 107 ff; Einzelh zB bei Schrödter, FS Faber, 163. 124 Art 71 IV LV BW, Art 83 VII BayVerf, Art 97 IV BbgVerf, Art 57 VI NdsVerf; Art 124 LV SL, Art 84 II SächsVerf, Art 91 IV ThürVerf. Dazu ThürVerfGH ThürVBl 2005, 11; ausf Henneke HkWP I, § 35. Auf Bundesebene ist eine zwingende Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände durch die Ministerien und seit 2012 auch im Bundestag vorgesehen, § 69 V, § 70 IV GOBT, § 47 I, V GGO. Zur Einrichtung eines Kommunalen Rates in RP (1995) vgl Jutzi ZG 1996, 126; Kremser DÖV 1997, 586. 125 Macher Der Grundsatz des gemeindefreundlichen Verhaltens, 1971.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

liche Schutz der kommunalen Selbstverwaltung, Jura 2001, 121; ders Stand der Dogmatik, FG Schlebusch, 2006, 11; Schoch/Wieland Kommunale Aufgabenträgerschaft nach dem Grundsicherungsgesetz, 2003; dies Aufgabenzuständigkeit und Finanzierungsverantwortung verbesserter Kinderbetreuung, 2004; v Schwanenflügel Entwicklungszusammenarbeit als Aufgabe der Gemeinden und Kreise, 1993; v Unruh Demokratie und kommunale Selbstverwaltung, DÖV 1986, 217; ders Kommunale Selbstverwaltung – ein verpflichtendes Recht, BayVBl 1996, 225; Waechter Verfassungsrechtlicher Schutz der gemeindlichen Selbstverwaltung gegen Eingriffe durch Gesetz, AöR 2010, 327; Wenger in: Bergmann/Kenntner, Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 2002, Kap. 22; Widera Zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung gemeindlicher Planungshoheit, 1985.

III. Weitere Gewährleistungen gemeindlicher Selbstverwaltung und kommunaler Rechtspositionen 1. Kapitel – Kommunalrecht III. Weitere Gewährleistungen gemeindlicher Selbstverwaltung – 1. Kapitel

1. Gewährleistungen auf europäischer Ebene a) Unionsrechtliche Gewährleistung der Selbstverwaltung 51 Die Europäische Union und ihr Recht haben die Rahmenbedingungen kommunalen Handelns nachhaltig verändert (s Rn 11 f, 152 u 183 ff). Das hat die Frage nach einer Absicherung der kommunalen Selbstverwaltung gegenüber der EU aufgeworfen. Allerdings fehlte bislang eine ausdrückliche Gewährleistung in den Verträgen.126 Nunmehr verpflichtet Art 4 II 1 EUV die Union zur Achtung der lokalen Selbstverwaltung als Ausdruck der jeweiligen nationalen Identität. Die Präambel der EUGRCh nimmt diese Formulierung wieder auf. Damit ist die bisherige Kommunalblindheit der Union zwar überwunden. Abgesichert ist zunächst allerdings nur ein eng begrenzter Kernbereich, die Existenz der kommunalen Ebene als solche, zudem nur über den Mitgliedstaat als Träger der jeweiligen Identität.127 Zusammen mit dem Subsidiaritätsgrundsatz, der in Art 5 III 1 EUV auch auf die regionale und lokale Ebene bezogen ist, ergibt sich daraus immerhin die Verpflichtung, kommunalrelevante Regelungen einer besonderen Rechtfertigung zu unterwerfen.128 Die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips kann der Ausschuss der Regionen (s gleich) gerichtlich geltend machen.129 Ein eigenes privilegiertes Klagerecht vor dem EuGH (Art 263 I – III AEUV) haben die Kommunen hingegen nicht, sie können daher nur bei individueller Betroffenheit, idR durch einen Einzelakt, die Nichtigkeitsklage gem Art 263 IV AEUV anstrengen. Weiteren Schutz ihrer Selbstverwaltungsrechte müssen die Kommunen vor allem auf dem Wege einer Beteiligung an der nationalen wie europäischen Vorbereitung der unionalen Rechtsetzung suchen.130 Dass ihre Beteiligung im Vorfeld europäischer Entscheidungen naheliegt, ergibt sich zB aus dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie in Art 10 EUV, welcher die Organe der EU ua zu einem „offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden“ verpflichtet, Art 11 II EUV. Im Ausschuss der Regionen (Art 300, 305 ff

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126 In der Literatur wurde versucht, eine solche Garantie durch Interpretation aus anderen europarechtlichen Rechtsvorschriften zu gewinnen, wie dem Demokratieprinzip, der bürgernahen Verwaltung, dem Subsidiaritätsprinzip oder aus einem allgemeinen Rechtsgrundsatz kommunaler Selbstverwaltung. Zuleeg FS v Unruh, 91, 93 – Demokratie; Faber DVBl 1991, 1126, 1133 – Subsidiaritätsprinzip; Martini Gemeinden in Europa, 1992, 143 ff – Allg Rechtsgrundsatz; Martini/Müller BayVBl 1993, 161; Rengeling ZG 1994, 277; v Zimmermann-Wienhues Selbstverwaltung, 239 ff; Hobe/Biehl/Schroeter DÖV 2003, 803, 805 ff. 127 Tettinger HkWP § 11 Rn 74 m Fn 153. 128 Die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung (abgedr in NVwZ 1988, 1111), die ihren Ursprung nicht in der EU, sondern im Europarat hat, und die mittlerweile alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifiziert haben, könnte uU zusätzlich dazu herangezogen werden, aus dem Subsidiaritätsgrundsatz unionsweit einen einheitlichen Schutzstandard zugunsten der Kommunen zu entwickeln; Rengeling in: Hoppe/Schink, Kommunale Selbstverwaltung und europäische Integration, 1990, 25, 40 mwN; vgl a Stern FS Friauf, 75, 90. Ausf Schaffarzik Handbuch der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, 2002, 604 ff; ders HkWP I, § 14 Rn 10 ff. 129 Art 8 II des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. 130 Zum Vorschlag der Normierung einer entsprechenden Beteiligung in Art 23 GG Hobe/Biehl/Schroeter DÖV 2003, 803, 811 f; Henneke HkWP I, § 35 Rn 35 ff. Zur Beteiligung o Rn 49.

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III. Weitere Gewährleistungen gemeindlicher Selbstverwaltung – 1. Kapitel

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AEUV), der ein explizit normiertes Beteiligungsrecht hat, sind die deutschen Kommunen allerdings nur marginal vertreten.131

b) Die Berufung auf Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten Ebenso wenig wie auf die deutschen Grundrechte (u Rn 55 ff) können sich die Gemeinden auf die 52 unterschiedlichen Europäischen Freiheitsgarantien berufen. Das gilt zunächst für die Gewährleistungen der EMRK: Zwar können auch jur Personen Berechtigte der Konventionsrechte sein (vgl Art 1 1. ZP). Wie Art 34 EMRK zeigt, der die Beschwerdebefugnis nur „nichtstaatlichen Organisationen“ eröffnet, ist der Staat jedoch Verpflichteter, nicht Berechtigter der Konventionsrechte, und damit ebenfalls die Gemeinden als Teil des Staates, auch wenn sie privatrechtlich handeln.132 Für die Grundrechte der Europäischen Union (Art 6 III EUV; EUGRCh) gilt Vergleichbares. Insbesondere kann die in Art 16 EUGRCh gewährleistete Freiheit der unternehmerischen Betätigung von Kommunen und kommunalen Unternehmen nicht gegen unionale oder mitgliedstaatliche Maßnahmen in Anschlag gebracht werden.133 Für die Grundfreiheiten ist hingegen zu differenzieren: Bei diesen steht nicht die Gewährleistung der Freiheitsbetätigung des Einzelnen im Mittelpunkt, sondern die Abwehr von Beschränkungen des freien Marktes durch die Mitgliedstaaten. Daher können etwa öffentliche Unternehmen die Grundfreiheiten geltend machen, wenn sie sich Marktzutrittsschranken in einem anderen Mitgliedstaat ausgesetzt sehen.134 Gegenüber dem eigenen Staat, der die Bedingungen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit erst festlegt, gilt dies jedoch nicht.135

2. Gewährleistungen im Grundgesetz a) Partielle Finanzgarantien Unter den Bestimmungen des Grundgesetzes, die die Stellung der Gemeinden im Staat weiter 53 absichern, haben die finanzverfassungsrechtlichen Vorschriften einen wichtigen Rang. Hierher gehört zunächst die Ertragshoheit für bestimmte Steuerarten, dh der verfassungsrechtlich abgesicherte Anspruch auf bestimmte Einnahmequellen, nicht lediglich ein Anspruch auf Beteiligung oder Zuweisung von Einnahmen. Solche Ertragshoheit besteht für die Grund- und die Gewerbesteuer (Art 106 VI 1 1. HS GG). Hier ist den Gemeinden zugleich garantiert, die Hebesätze selbst – innerhalb eines durch den Gesetzgeber vorgegebenen Rahmens136 – festlegen zu können (Art 106 VI 2, Art 28 II 3 GG). Garantiert ist den Gemeinden weiterhin die Ertragshoheit für die örtlichen Verbrauchs- und Aufwandsteuern (Art 106 VI 1 2. HS GG). Finanziell wichtiger ist allerdings die Beteiligung an dem Aufkommen der Einkommensteuer (Art 106 V GG) und Umsatzsteuer (Art 106 Va GG) sowie die Aussicht auf einen Prozentsatz am Länderanteil des Aufkommens der Gemeinschaftssteuern (Art 106 VII GG). Diese Vorschriften ergänzen die in Art 28 II 3 GG normierte kommunale Finanzhoheit (Rn 33), indem sie ihr Teile ihres realen Substrats liefern (Rn 188 ff). Ein bestimmter Steuersatz ist dadurch so wenig garantiert wie die einzelnen Steuerarten in ihrem bisherigen Zuschnitt. Der Bestand etwa der Gewerbesteuer ist nicht verfassungskräftig abgesichert – auch nicht in der Zusammensicht der Art 106 VI und Art 28 II 3 GG („wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle“); ein eventueller Wegfall der Gewerbesteuer müsste aber

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131 § 14 II EUZBLG: Drei von zZt 24 deutschen und insgesamt zZt 344 Vertretern. 132 EGMR NVwZ 2011, 479, 480 mN; Ehlers in ders, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn 34 f; Schweizer in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 138 Rn 56. 133 Ruffert in Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 16.3 Rn 26; ders in: Calliess/ders, EUV/AEUV, EUGRCh Art 16 Rn 3. 134 EuGH Slg 2005, I-4933, Tz 32 – KOM/Italien; Streinz in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 152 Rn 45. 135 Ehlers Gutachten 64. DJT, E 42 f; Wolff DÖV 2011, 721, 727 mN. 136 BVerfGE 125, 141, 162 ff.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

durch eine andere wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle mit Hebesatzrecht kompensiert werden.137 Vor der Zuweisung kostenintensiver Aufgaben ohne finanzielle Kompensation schützen 54 die Kommunen nunmehr Art 84 I 7 u 85 I 2 GG, wonach den Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben durch den Bund nicht übertragen werden dürfen.138 Das Bundesgesetz kann die Aufgabe also nur den Ländern zuweisen; geben diese die Aufgabe an die Kommunen weiter, müssen sie wegen der landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsgarantien einen finanziellen Ausgleich schaffen (u Rn 58), wie auch im Falle einer eigenständigen landesrechtlichen Aufgabenübertragung.

b) Grundrechte 55 Im Wesentlichen geklärt ist, dass sich Gemeinden neben ihren speziellen Gewährleistungen grundsätzlich nicht auf Grundrechte berufen können.139 Systematisch gehört dieses Problem nicht in den Rahmen des Art 28 II GG, sondern in den des Art 19 III GG, demzufolge die Grundrechte auch für inländische juristische Personen gelten, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Allgemein anerkannt ist eine Berufung auf die Justizgrundrechte der Art 101, 103 GG.140 Das Willkürverbot des Art 3 I GG ist Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips und gilt daher auch für Beziehungen innerhalb des hoheitlichen Staatsaufbaus; die Gemeinden sollen sich darauf aber im Rahmen der Kommunalverfassungsbeschwerde (Art 93 I Nr 4b GG) nicht berufen können.141 Im Übrigen aber muss angesichts der festen Position der Gemeinden als universelle Verwaltungsträger die grundrechtliche Hauptsicherungslinie zwischen verwaltender Kommune und verwaltetem Bürger und nicht zwischen verwaltender Kommune und verwaltendem Staat verlaufen. 56 aa) Bereiche öffentlicher Aufgabenerfüllung: Soweit die Gemeinden öffentliche Aufgaben (Selbstverwaltungs- oder Fremdaufgaben) – in öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Form – wahrnehmen, versagte ihnen die herrschende Ansicht schon bisher die Grundrechtsfähigkeit. In diesem Bereich ist weder eine „grundrechtstypische“ eigene Gefährdungslage der Gemeinden gegeben, noch ist ihr Handeln dem Lebensbereich ihrer Bürger so unmittelbar zugeordnet, dass ihnen daraus in der Art eines „Durchgriffs“ grundrechtliche Substanz zuwachsen kann.142 Ebenso wenig grundrechtsberechtigt sind gemeindeeigene Unternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit (Eigengesellschaften), zB ein als AG betriebenes Wasserversorgungsunternehmen, und

_____ 137 BVerfGE 125, 141, 160 f; BVerwGE 138, 89 (Tz 18); Schwarz in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art 106 Rn 127. 138 Dazu Henneke in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf GG, Art 84 Rn 24 ff; Kirchhof in: Maunz/Dürig, GG, Art 84 Rn 152 ff; Schoch DVBl 2007, 261; Knitter Das Aufgabenübertragungsverbot des Art 84 I 7 GG, 2008; Ritgen LKV 2011, 481. Art 84 I 7 GG erfaßt auch Selbstverwaltungsaufgaben (zB Bauleitplanung), die ebenfalls durch den Gesetzgeber übertragen werden (o Rn 28), wie hier Meßmann DÖV 2010, 726; Kallerhoff DVBl 2011, 6, 8; tlw aA zB Ingold DÖV 2010, 134 u 732. Zur Fortgeltung von Bundesrecht s a Art 125a I GG. Der wichtigste Fall nach der alten Rechtslage waren Regelungen des Sozialrechts, die zu einer hohen finanziellen Belastung, vor allem der Kreise und kreisfreien Städte führten, vgl § 4 I GSiG, § 6 Nr 2 SGB II; hierzu Schoch/Wieland Kommunale Aufgabenträgerschaft nach dem Grundsicherungsgesetz, 2003; BayVGH NVwZ 2004, 1382, 1383 (i Erg abl); zurückh Remmert VerwArch 94 (2003) 459, 469 ff. 139 Nachw bei Stern, StR III/1, § 71 III 4, VII 6; Bethge Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art 19 III GG, 1985, 25 ff; Schoch Jura 2001, 201; ausf Nachw Schnapp HGR II § 52. 140 BVerfGE 61, 82, 104 o JK GG Art 19 III/3; E 75, 192, 200 o JK GG Art 19 III/6. Dann aber im Rahmen einer Individualverfassungsbeschwerde, nicht mit der Kommunalverfassungsbeschwerde, vgl Rn 47. 141 BVerfG-KNVwZ 2005, 82 u NVwZ 2007, 1420 f; anders für das Landesverfassungsrecht VerfGH NW DÖV 2004, 662;VerfGH RP DVBl 2007, 1176 o JK Art 77 II/1. 142 BVerfGE 45, 63, 78 f; ebenso für die als Anstalten des öffentlichen Rechts organisierten Sparkassen, deren Träger die kommunalen Gebietskörperschaften sind BVerfGE 75, 192, 195 ff o JK GG Art 19 III/6.

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III. Weitere Gewährleistungen gemeindlicher Selbstverwaltung – 1. Kapitel

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Unternehmen, an denen die Gemeinde zusammen mit Privaten beteiligt ist, soweit sie von der Gemeinde beherrscht werden (gemischt-wirtschaftliches Unternehmen).143 bb) Bereiche fiskalisch-erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit: Für diese Bereiche wurde in der 57 Literatur früher ein Grundrechtsschutz, zB der Art 12 und 14 GG, für möglich gehalten. Dem ist das Bundesverfassungsgericht jedoch im Sasbach-Beschluss entgegengetreten:144 Die Rechtsordnung billige den Gemeinden zwar die Möglichkeit zu, privatrechtliches Eigentum innezuhaben, das besage jedoch nicht, dass dieses auch grundrechtsgeschützt sein müsse; vielmehr fehle es auch hier an einer „grundrechtstypischen Gefährdungslage“. Dem ist zuzustimmen.145 „Die Gemeinden sind Teil der öffentlichen Gewalt, auch soweit sie als Fiskus über Eigentum an Grundstücken verfügen“. Nicht ausgeschlossen ist damit allerdings, dass sich Gemeinden auf grundrechtskonkretisierende Normen des einfachen Rechts berufen können.146

3. Selbstverwaltungsgarantien der Landesverfassungen Keine gesonderte Behandlung erfahren hier die Selbstverwaltungsgarantien der Landesver- 58 fassungen.147 Die meisten von ihnen sind zwar „gesprächiger“ als Art 28 II 1 GG;148 doch ist durch die breite Entfaltung, die die Garantie der Bundesverfassung in Rechtsprechung und Lehre erfahren hat, eine weitgehende Standardisierung erfolgt. (Den Bearbeiter eines juristischen Falles, in dem eine Landesverfassungsgarantie einschlägig ist, entbindet das freilich nicht von der exakten Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Verfassungstext!) Eigenständige Garantieerweiterungen finden sich vor allem für die Finanzhoheit.149 Hierzu wird mittlerweile in allen Landesverfassungen das Konnexitätsprinzip als striktes Prinzip verbürgt, indem der Gesetzgeber verpflichtet wird, zugleich mit der Übertragung einer kostenverursachenden Aufgabe auf die Kommunen Bestimmungen über die Deckung der Kosten zu treffen.150 Einige Landesverfassungen beschränken den Anwendungsbereich des Konnexitätsprinzips auf die Übertragung staatlicher Aufgaben (Art 91 III ThürLV; Art 120 I 1 LV SL). Die Mehrheit der Landesverfassungen stellt allerdings auf die Zuweisung von öffentlichen Aufgaben ab oder schließt auch die pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben mit ein. Weil der Bund, den keine derartige Verpflichtung trifft, wegen Art 84 I 7 u 85 I 2 GG (o Rn 54) den Kommunen keine Aufgaben mehr zuweisen kann, sind diese nunmehr umfassend vor Aufgabenzuweisungen ohne Kompensation geschützt.151 Zu den

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143 BVerfGE 45, 63, 79 f (Wasserversorgung); z gemischt-wirtschaftlichen Unt BVerfGE 128, 229 (Tz 49 ff) o JK GG Art 1 III/8; vorher schon BVerfG-K NJW 1990, 1783 o JK GG Art 19 III/7. Krit zB Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR, § 3 Rn 93; Schmidt-Aßmann FS Niederländer, 1991, 383; ausf Selmer HGR II, § 53. 144 BVerfGE 61, 82, 105 f o JK GG Art 19 III/3; vgl a E 98, 17, 47; BVerfG-K NVwZ 2002, 1366; BVerwG NVwZ 2001, 1160, 1161. 145 Ebenso Ronellenfitsch JuS 1983, 589, 594; Papier in: Maunz/Dürig, GG, Art 14 Rn 204 ff; krit Mögele NJW 1983, 805. Für die BayLV die Grundrechtsfähigkeit der Gemeinden in std Rspr bejahend BayVerfGHE 29, 105, 118 ff; 37, 101, 105 ff o JK GG Art 19 III/4; BayVBl 1993, 177, 180; aber a NVwZ-RR 2001, 489; Bambey NVwZ 1985, 248 ff; Bethge NVwZ 1985, 402; Englisch Die verfassungsrechtliche Gewährleistung kommunalen Eigentums, 1994. 146 BVerwGE 87, 332, 391 f; E 90, 96, 101 f; E 97, 143, 151 f; E 101, 47, 49. Zitat in BVerwGE 100, 388, 392. 147 Art 69, 71–76 LV BW; Art 10–12 u 83 BayVerf; Art 97–100 BbgVerf; Art 137 u 138 HessVerf; Art 69, 72–74 LV MV; Art 57, 58 NdsVerf; Art 78, 79 LV NW; Art 49, 50 LV RP; Art 117–124 LV SL; Art 82, 84–90 SächsVerf; Art 86–89 LV LSA; Art 46–49 LV SH; Art 91–95 ThürVerf. Zu Einzelpunkten J. Ipsen HkWP I, § 24; Burgi KomR, § 7 Rn 19 ff. 148 Art 83 I LV Bay beschreibt den gemeindlichen Wirkungskreis durch eine Auflistung; mehr als behutsam verwendbares Argumentationsmaterial wird damit jedoch nicht geboten, denn weder ist die Aufzählung erschöpfend gemeint, noch könnte sich eine landesrechtliche Konkretisierung gegenüber abweichendem Bundesrecht durchsetzen. 149 Materialreich dazu Nierhaus in: Sachs, GG, Art 28 Rn 70a, 70b; Henneke Finanzverfassung, 224 ff. 150 ZB Art 83 III BayVerf; Art 137 VI HessVerf; Art 78 III LV NW. 151 Das gilt auch für den Fall, dass der Bund seine direkte Aufgabenzuweisung aufhebt und der Landesgesetzgeber sie erneuert, ohne in der Sache etwas zu ändern, VerfGH NW NVwZ-RR 2011, 41, dazu Huber/Wollenschläger VerwArch 2009, 305; Henneke DVBl 2011, 125; Engelken DÖV 2011, 745.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

Konnexitätsregelungen haben die Landesverfassungsgerichte in den letzten Jahren eine intensive, die besonderen Belastungen der Kommunen mehr und mehr in Rechnung stellende Rechtsprechung entfaltet.152 Die Garantien der Landesverfassungen und des Grundgesetzes bestehen nebeneinander: Landesgesetzgebung und Landesexekutive haben beide Garantien zu beachten, während der Bund nur an Art 28 II 1 GG gebunden ist. Dem Bund ist in Art 28 III GG zudem zu gewährleisten aufgegeben, dass die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des Art 28 II GG entspricht. Ein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch der Gemeinden oder einzelner Bürger auf ein bestimmtes Handeln des Bundes folgt daraus nicht.153 Besonderes Gewicht erlangen die Landesgarantien wegen der Subsidiaritätsklausel des Art 93 I Nr 4b GG durch eigenständige kommunale Rechtsschutzgarantien vor den Landesverfassungsgerichten.154 1. Kapitel – Kommunalrecht IV. Die Gemeinden im Gefüge öffentlicher Aufgabenerfüllung – 1. Kapitel

IV. Die Gemeinden im Gefüge öffentlicher Aufgabenerfüllung – Aufgabensystematik, Staatsaufsicht und Aufgabenträger 59 Nach dem Leitbild vieler Gemeindeordnungen verwalten die Gemeinden in ihrem Gebiet „alle öffentlichen Aufgaben allein und unter eigener Verantwortung, soweit die Gesetze nichts anderes bestimmen.“155 Ausgehend von diesem Grundsatz sehen die Gemeindeordnungen unterschiedliche Formen staatlichen Einflusses vor; teilweise sind Aufgaben auch anderen Aufgabenträgern übertragen: – Die Aufgaben der Gemeinden werden durch die Gemeindeordnungen (idR drei) unterschiedlichen Aufgabenkategorien zugewiesen, die unterschiedlich weitgehend staatliche Mitsprache erlauben (Rn 60 ff). – Diese staatliche Mitsprache wird durch Gesetze ausgeübt sowie mindestens als Rechtsaufsicht (Überprüfung der Rechtmäßigkeit gemeindlichen Handelns). Auf besonderer rechtlicher Grundlage steigert sich dieser Einfluss zur Fachaufsicht (inhaltliche Lenkung gemeindlichen Handelns) (Rn 68 ff u 71 ff). – Aufgaben von überörtlichem Charakter oder solche, an deren Erfüllung ein besonderes staatliches Interesse besteht, können auch anderen Aufgabenträgern zugeordnet sein. Das sind für kreisangehörige Gemeinden vor allem die Landkreise. Daneben erfüllen staatliche Behörden, sonstige Verwaltungsträger und Private öffentliche Aufgaben im gemeindlichen Raum (Rn 77 ff). – Größeren Gemeinden werden idR alle oder einige der Aufgaben zugewiesen, die ansonsten der Landkreis zu erfüllen hat: Das geschieht, indem diesen Gemeinden ein bestimmter Status zugewiesen wird, zB „kreisfreie Stadt“ oder „große Kreisstadt“/„große kreisangehörige Gemeinde“ (Rn 81 ff).

_____ 152 Ausf Darstellung bei Henneke Finanzverfassung, 264 ff. Zum Konnexitätsprinzip auf Bundes- und Landesebene Mückl RdKomFin, § 3; ferner Engelken NVwZ 2010, 618. 153 Ebenso Isensee HStR VI, 2008, § 126 Rn 133 Fn 363; iErg auch Löwer in: v Münch/Kunig, GG II, Art 28 Rn 102 f; anders Stern, StR I, § 12 II 6 u § 19 III 6 a). 154 Art 76 LV BW; Art 100 BbgVerf; Art 53 Nr 8 LV MV; Art 54 Nr 5 NdsVerf; Art 123 LV SL; Art 90 SächsVerf; Art 75 Nr 7 LV LSA; Art 80 I Nr 2 ThürVerf. In Bayern können die Gemeinden Verfassungsbeschwerde gem Art 66, 120 BayVerf und (gegen Rechtsnormen) Popularklage gem Art 55 VfGHG erheben. Ferner § 52 VGHG NW; VerfGH NW NVwZRR 2001, 74. Vgl dazu J. Ipsen NdsVBl 1994, 9; zur Subsidiaritätsklausel BVerfG-K NVwZ 1994, 58; BVerfGE 107, 1, 9. Zur Gebietsreform s Rn 9 f. 155 § 2 I GemO BW; ähnlich: Art 6 I GO Bay; § 2 S 1 HessGO; § 2 II NdsKomVG; § 2 I GO NW; § 1 II GemO RP; § 2 I GO SH; § 2 I SächsGemO; § 2 I GO LSA. Hingegen beschränken die Aussage auf alle Aufgaben der „örtlichen Gemeinschaft”: § 2 I BbgKVerf; § 2 I KV MV; § 1 KSVG SL u § 1 III ThürKO.

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1. Kommunale Aufgabensystematik a) Aufgabenkategorien und Staatseinfluss aa) Überblick: Zu einer kommunalen Aufgabe wird eine Angelegenheit dadurch, dass die Ge- 60 meinde sie entweder gestützt auf ihr Aufgabenfindungsrecht aufgrund eigenen Entschlusses (o Rn 29) oder aufgrund staatlicher Vorgabe erledigen muss. Die Vielfalt der kommunalen Aufgaben ist in tatsächlicher Hinsicht unüberschaubar (o Rn 3). In rechtlicher Hinsicht werden die Aufgaben vor allem danach unterschieden, wie groß der staatliche Einfluss ist. Die einheitliche Darstellung von Aufgaben und Aufsicht muss berücksichtigen, dass sich die Bundesländer zweier verschiedener Rechtstechniken bedienen, um intensiveren staatlichen Einfluss auf die kommunale Aufgabenerfüllung zu beschreiben, nämlich des „dualistischen“ oder des „monistischen“ Modells. Unabhängig davon, welchem dieser Modelle eine Gemeindeordnung folgt, kennt sie (idR) drei Aufgabenkategorien: In der ersten Kategorie entscheidet die Kommune frei, ob sie eine Aufgabe übernehmen möchte und wie sie sie erfüllt (Bsp: Theater). In der zweiten Kategorie ist der Kommune die Aufgabe durch Gesetz zugewiesen, die inhaltliche Gestaltung bleibt allerdings ihr überlassen (Bsp: Bauleitplanung). In der dritten Kategorie schließlich ist die Kommune ebenfalls zur Aufgabenerfüllung gesetzlich verpflichtet, zusätzlich behält sich der Staat aber eine inhaltliche Mitsprache vor (Bsp: Kommune als Ortspolizeibehörde/ Ordnungsbehörde). bb) Dualistisches und monistisches Modell: Das dualistische Modell (in Bayern, Mecklen- 61 burg-Vorpommern, Niedersachen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt u Thüringen156) trennt Selbstverwaltungsaufgaben (zB Bauleitplanung) und Staatsaufgaben (zB polizeiliche bzw ordnungsbehördliche Aufgaben) nach ihrer Substanz. Für die Gemeinden bilden die Selbstverwaltungsaufgaben den „eigenen Wirkungskreis“, während Staatsaufgaben auf sie nur im Wege gesetzlicher Übertragung überkommen – idR als Auftragsangelegenheiten. Wegen dieser Eigenschaft als staatliche Aufgaben sind in den Gemeindeordnungen intensivere staatliche Einflussrechte vorgesehen.157 Das monistische Gliederungsschema (in Baden-Württemberg, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Schleswig-Holstein), das auf den sog Weinheimer Entwurf158 zurückgeht, möchte von einem einheitlichen Begriff der öffentlichen Aufgaben ausgehen, statt zwischen staatlichen und gemeindeeigenen Aufgaben zu trennen. Die Erfüllung aller dieser Aufgaben soll im Gemeindegebiet grundsätzlich allein und in eigener Verantwortung den Gemeinden obliegen, sofern die Gesetze nichts anderes bestimmen.159 Auch dieses monistische Modell kennt Aufgaben, bei denen, wie im Falle der polizeilichen bzw ordnungsbehördlichen Aufgaben ein erhöhter staatlicher Einfluss gemäß einem gesetzlich besonders festgelegten staatlichen Weisungsrecht vorgesehen ist: „Weisungsaufgaben“. cc) Eigener Wirkungskreis/Freie und pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben: Die ersten 62 beiden Kategorien gemeindlicher Aufgaben bilden die eigentlichen Selbstverwaltungsaufgaben der Gemeinden (im dualistischen Modell: eigener Wirkungskreis; im monistischen Modell: Selbstverwaltungsaufgaben). Hierzu zählen alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft,160 sofern solche nicht ausnahmsweise durch Gesetz besonderem Staatseinfluss unterstellt (s Rn 63)

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156 Vgl die Einordnung bei Geis KomR, § 3 Rn 4 f; Gern DtKomR, Rn 227 ff. 157 Art 7 f GO Bay; §§ 2 f KV MV; §§ 4 ff NdsKomVG; § 2 GemO RP; §§ 5 f KSVG SL; §§ 4 f GO LSA; §§ 2 f ThürKO. 158 Entw einer GO für die Länder der Bundesrepublik Deutschland, erarbeitet von den Landesinnenministern u den kommunalen Spitzenverbänden 1948 in Weinheim; dazu allg Mann/Elvers HkWP § 10 Rn 23 ff. 159 § 2 I GemO BW; § 2 I BbgKVerf; § 2 HessGO; § 2 GO NW; § 2 I SächsGemO; § 2 I GO SH; instruktiv OVG NW NWVBl 2004, 109 (Durchführung des Asylbewerberleistungsgesetzes). Zu BW Schenk VBlBW 2003, 461, insbes 464 f; zu Hess noch Kremer VerwArch 102 (2011), 242, 260 ff und u Fn 168. 160 Nicht abschließende Kataloge zB in § 2 II KV MV, auch in Art 83 I BayVerf, § 2 II BbgKVerf u § 2 II ThürKO.

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oder vollständig einem anderen Träger überwiesen sind. Die Aufgabenzuweisung an die Gemeinde wird bereits durch Art 28 II 1 GG gefordert; der Aufgabenkreis kann sich aber erweitern, insofern durch einfache Gesetze den Gemeinden auch solche Aufgaben zugewiesen werden können, die an sich nicht eindeutig Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft sind oder bei denen eine örtlich-überörtliche Gemengelage vorliegt (Rn 31). Einmal zugewiesen macht dieser gesamte Bereich den festen eigenen Aufgabenkreis der Gemeinden aus, der nur durch Gesetz geändert werden kann. Innerhalb dieses Bereichs unterscheiden die Gemeindeordnungen regelmäßig zwischen freien Selbstverwaltungsaufgaben (zB Bau von Sportstätten, Museen), bei denen die Gemeinden allein entscheiden können, ob sie diese Aufgabe überhaupt in Angriff nehmen und wie sie sie durchführen wollen, und pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben, bei denen das „Ob“ der Aufgabenwahrnehmung gesetzlich festgelegt ist (zB Bauleitplanung, Feuerwehr, zT Schulbau). Staat und Gemeinden stehen sich hier im Außenrechtsverhältnis gegenüber, dessen typische Schutzinstrumente (Gesetzesvorbehalt, Verfahren, Gerichtsschutz) den Gemeinden zugute kommen. Rechte aus dem eigenen Wirkungskreis sind Rechte iSv § 42 II VwGO. Dem Staat fehlt die Befugnis zu Zweckmäßigkeitsweisungen. 63 dd) Auftragsangelegenheiten/Pflichtaufgaben nach Weisung: In der dritten Aufgabenkategorie (dualistisch: „Auftragsangelegenheiten“; monistisch: „Pflichtaufgaben nach Weisung“) ist auch das Wie der Aufgabenerfüllung der gemeindlichen Selbstverwaltung entzogen und staatlichem Einfluss geöffnet. Hierzu zählen etwa die schon genannten ordnungsbehördlichen/polizeilichen Aufgaben der Gemeinden161 und die vor allem größeren Gemeinden obliegende Tätigkeit als untere Verwaltungsbehörde. In diesen Fällen wird die Erledigung einer Angelegenheit der Aufsicht des Staates, insbesondere durch ein Weisungsrecht, unterstellt, unabhängig davon, ob sie eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft ist oder nicht. Dem Dualismus folgende Gemeindeordnungen erreichen dieses Ziel, indem die von den Gemeinden zu erledigende Aufgabe als in der Substanz staatlich verstanden wird.162 Die Gemeinde ist mit der Erledigung lediglich „beauftragt“. Aufgabensubstanz und Aufgabenwahrnehmung fallen in dieser Perspektive auseinander. Weisungsbefugnisse sind in dualistisch denkenden Gemeindeordnungen für solche Aufgaben schon in der Gemeindeordnung selbst vorgesehen, idR als unbegrenzte staatliche Weisungsrechte. In Ländern mit monistisch konstruierenden Gemeindeordnungen wird hingegen das Weisungsrecht für die Erledigung jeder Aufgabe speziell durch Gesetz eingeführt. Das Weisungsrecht wird in der Gesetzespraxis für das einzelne Aufgabengebiet teils als beschränktes, teils als unbeschränktes eingeräumt.163

b) Das systematische Verständnis des Staatseinflusses bei den „Staatsaufgaben“/Pflichtaufgaben nach Weisung 64 Dass das monistische Modell auch die „Pflichtaufgaben nach Weisung“ als kommunale Aufgaben einordnet, hat der überkommenen Lehre größere Schwierigkeiten bereitet, soweit sie jede kommunale Aufgabe mit einer durch Art 28 II GG geschützten Selbstverwaltungsaufgabe gleichsetzt. Daher bestand über die zutreffende Zuordnung der Weisungsaufgaben seit langem Streit,164 während im dualistischen Modell das Problem des Staatseinflusses durch die Qualifikation als Staatsaufgabe geklärt scheint.

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161 o Schoch 2. Kap Rn 93, 364. 162 BVerwGE 19, 121, 123; vgl a BVerwG NVwZ 1983, 610; aM BayVGH BayVBl 2002, 336 o JK GG Art 28 II 1/27. 163 Beschränkt zB in § 9 II OBG NW; unbeschränkt zB in § 65 PolG BW; § 21 III LVG BW. 164 Sind sie die alten Auftragsangelegenheiten unter „neuem Etikett“, sind sie den Auftragsangelegenheiten wenigstens insoweit verwandt, dass man beide unter dem Oberbegriff der „Fremdverwaltung“ (Wolff/Bachof, VwR II,

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aa) Die Perspektive des Art 28 II GG: Beide Sichtweisen lassen sich vor dem Hintergrund des oben (Rn 28 ff) vorgestellten Verständnisses des Art 28 II GG zurechtrücken; im Ergebnis kommt es maßgeblich auf die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber an. Aus der Perspektive des Art 28 II GG ist die Lage dort unproblematisch, wo die Gemeinden eindeutig überörtliche Angelegenheiten als Aufgabe zugewiesen erhalten (zB Passwesen). Hier ist Art 28 II GG hinsichtlich der Aufgabe nicht einschlägig und wird es durch ihre Zuweisung an die Gemeinde auch nicht.165 Schwieriger verhält es sich dort, wo der Staat eine zumindest auch örtliche Angelegenheit der Gemeinde nicht zur Erledigung im Modus Selbstverwaltung überlassen will, weil an ihrer Erfüllung ein hohes gesamtstaatliches Interesse besteht. Das Musterbeispiel bilden die kommunalen Aufgaben als Ortspolizei-/Ordnungsbehörde oder als Bauaufsicht. Der Sache nach handelt es sich hier zumindest auch um Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft.166 – Das dualistische Modell entzieht sie durch Gesetz der Selbstverwaltung, indem es sie als „Staatsaufgaben“ qualifiziert167 Die Gemeindeordnungen knüpfen dann an diese Qualifikation das Weisungsrecht und (idR) die Organzuständigkeit des Bürgermeisters an. Mit Weisungsrecht und Organzuständigkeit des monokratischen Organs lässt der Gesetzgeber für die Ausfüllung eventueller Spielräume durch die Gremien der Selbstverwaltung keinen Raum mehr. – Im monistischen System fehlt der Umweg über die Einstufung als „Staatsaufgabe“. Aufsichtsbefugnisse werden daher nicht allgemein durch die GemO vorgesehen, sondern konkret bei jeder Sachaufgabe normiert. Zudem weisen die Gemeindeordnungen die Durchführung solcher Aufgaben idR dem Hauptverwaltungsbeamten zu; eine Mitsprache durch die kommunale Vertretungskörperschaft ist nicht vorgesehen. Damit lässt auch hier der Gesetzgeber für die Auffüllung eventueller Spielräume durch die Gremien der Selbstverwaltung keinen Raum mehr. In allen diesen Fällen hat der Gesetzgeber der Gemeinde die Angelegenheit nicht zur Selbstverwaltung überlassen. Diese gesetzgeberische Entscheidung muss vor Art 28 II GG gerechtfertigt werden. Nach der Herausnahme aus der Selbstverwaltung steht die Ausübung der Aufgabe selbst dann aber nicht mehr unter dem Schutz des Art 28 II GG. Die Unterschiede zwischen beiden Modellen erweisen sich damit in der Sache als gering.168 Auch im dualistischen Modell braucht es eine ausdrückliche gesetzliche Anordnung für staatliche Weisungen.169 Für die Aufgaben, die sich als entzogene Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft darstellen, folgt das aus Art 28 II GG; für die überörtlichen Aufgaben dürfte das Rechtsstaatsprinzip, das Verantwortungsklarheit erfordert, die gleiche Konsequenz bedingen.

_____ § 86 X) im Wesentlichen gleichbehandeln kann, sind sie im Gegenteil echte Selbstverwaltungsaufgaben oder aber ein Mischgebilde mit je gesondert zu ermittelnden Konsequenzen? Zum Streitstand Maurer, AllgVwR, § 23 Rn 16; Gern DtKomR, Rn 227 ff, insbes 239; Schmidt KomR, Rn 236; Dehmel Wirkungskreis, 1970, 91 ff; Vietmaier DVBl 1992, 413; Brüning/Vogelgesang Kommunalaufsicht, 2. Aufl 2009, Rn 124 f. 165 Die Landesverfassung kann uU weiter reichen, zB Art 71 II LV BW; 78 II LV NW; 84 I SächsVerf. Dazu Wolf/Bachof/Stober/Kluth VwR II, § 96 Rn 98 f. 166 Ein Beleg in Art 83 I BayVerf, der die „örtliche Polizei“ gerade zum eigenen Wirkungskreis zählt; zur Historie zB Kahl Staatsaufsicht, 73 f m Fn 58; Falk Kommunale Aufgaben, 134; Hühner Kommunalfinanzen, Kommunalunternehmen und Kommunalpolitik im Deutschen Kaiserreich, 1998, 38. 167 Diese Begriffsverwendung gibt allerdings schnell zur Verwirrung Anlass: Der Aufgabenträger ist ja nach wie vor die Kommune, nur die Substanz wird als „staatlich“ verstanden. 168 Was sich zB daran zeigt, dass in manchen Verfassungen „monistisch“ konstruierender Länder die Garantie in der Verfassung „dualistisch“ formuliert ist, zB Art 137 IV HessVerf, 75 II LV BW; 97 III BbgVerf. Symptomatisch auch Hess, wo der Gesetzgeber in der Sache folgenlos ein Mischsystem installieren kann, Kremer VerwArch 102 (2011), 242, 260 ff. In der Tendenz ebenso Geis KomR § 3 Rn 6 f. 169 Dort ist sie als allgemeine vorgesehen zB in § 6 II NdsKomVG. Vgl Kahl Staatsaufsicht, 501 ff.

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65 bb) Differenzierungen: Eigene Selbstverwaltungssubstanz kann den Gemeinden im Rahmen dieser dritten Aufgabenkategorie allerdings dort zuwachsen, wo der Gesetzgeber das Weisungsrecht als begrenztes einführt. So sehen manche Gemeindeordnungen zwei Formen staatlicher Zugriffsrechte vor: Normale Weisungsaufgaben, die idR auf allgemeine Weisungen beschränkt sein sollen und die Mitsprache des Gemeinderates vorsehen und „Auftragsangelegenheiten“, zB Ordnungsbehördliche Aufgaben, die erstens nur der Bürgermeister wahrnimmt und die zweitens auch die Möglichkeit zu Einzelweisungen beinhalten. In anderen Gemeindeordnungen ist das Weisungsrecht von vornherein als begrenztes eingeführt und der Spielraum in der Gemeinde dem Gemeinderat zur Ausfüllung übertragen. Eben wegen dieser Spielräume lässt sich uU erklären, dass in Nordrhein-Westfalen Weisungsangelegenheiten als Selbstverwaltungsangelegenheiten eingestuft werden (u Rn 67). In Bayern hingegen, einem dualistisch argumentierenden Land, können Gemeinden Aufgaben auch zur selbständigen Erledigung übertragen werden – mit der Folge, dass sie ebenso eigenverantwortlich wahrgenommen werden, wie solche aus dem eigenen Wirkungskreis (Art 8 III BayGO). 66 cc) Ergebnis: Im Ergebnis können für Auftragsangelegenheiten wie Weisungsaufgaben die dogmatischen Konsequenzen nur nach genauerer Analyse der Gesetzeslage gefunden werden. Dabei mögen zunächst zwei Aussagen hilfreich sein, selbst wenn sie nur Faustregeln sind: – Keine Selbstverwaltungsaufgaben liegen vor, wenn das Gesetz den Staatsbehörden ein unbeschränktes Weisungsrecht zuerkennt und die Aufgabenwahrnehmung dem Bürgermeister anvertraut. Das gleiche gilt für die (wegen Art 84 I 7 GG abnehmenden) Fälle von Ländervollzug im Auftrage des Bundes nach Art 85 GG170 oder für solche des Art 84 V GG. – In Bereichen dagegen, in denen das Weisungsrecht beschränkt ist und dem Gemeinderat ein Spielraum zur eigenen Ausfüllung zusteht, kommt der Gemeinde auch ein eigenes Recht zu, diesen Spielraum zu nutzen; in diesen Fälle stehen die Weisungsaufgaben den Selbstverwaltungsangelegenheiten näher. 67 dd) Verfahrens- und prozessrechtliche Konsequenzen: Von diesen Faustregeln unabhängig werden die Auftragsangelegenheiten/Weisungsaufgaben in der Spezialfrage der zuständigen Widerspruchsbehörde (§ 73 I VwGO) einheitlich behandelt. Den Widerspruchsbescheid erlässt grundsätzlich nicht die Gemeinde, sondern die nächsthöhere Behörde, 171 allerdings können die Länder abweichende Regelungen treffen.172 Ebenfalls unabhängig von den genannten Faustregeln können Weisungen grundsätzlich nicht auf die Handlungsformen des Außenrechts (Verwaltungsakt, Rechtsverordnung) festgelegt werden. Schon der Begriff „Weisung“ steht dem entgegen. Vor allem aber passen die Institute der Verwaltungsverfahrensgesetze (Anhörungs-, Beratungs-, Begründungszwang) und des Prozessrechts (aufschiebende Wirkung, Widerspruchsverfahren, Bestandskraft), die mit der Qualifikation als Verwaltungsakt automatisch ins Spiel kämen, für das Verhältnis der Gemeinde zum Staat in Weisungsmaterien nicht.173 Daran ist auch für die Fälle festzuhalten, in denen eine Weisung gleichzeitig in Materien der Selbstverwaltung übergreift; wie es etwa der Fall sein kann, wenn die Organisations-, Planungs- oder Finanzhoheit der Gemeinde betroffen ist. Die Frage, inwieweit Gemeinden gegen staatliche Weisungen um Gerichtsschutz nachsuchen können, ist damit noch nicht negativ entschieden, denn die Rechtswegeröffnung hängt nicht davon ab, dass die angegriffene Maßnahme als Verwaltungsakt eingestuft wird.

_____ 170 Zur Sonderstellung der durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Auftragsverwaltung vgl die „Transmissionsklauseln“ § 129 III GemO BW, § 16 I LOG NW. 171 Ausdr zB § 8 III BbgAGVwGO; Dolde/Porsch in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 73 Rn 14. 172 § 73 I 3 VwGO; Dolde/Porsch in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 73 Rn 8a u 14. 173 AM OVG NW NVwZ-RR 1995, 502; Schoch FG Schlebusch, 11, 33.

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2. Rechtsaufsicht An den soeben dargestellten Kategorien der von den Gemeinden wahrgenommenen Aufgaben 68 orientiert sich das Aufsichtssystem.174 Die Rechtsaufsicht („Kommunalaufsicht“, „allgemeine Aufsicht“) ist die Standardaufsicht des Staates über die Tätigkeit der Gemeinden.175 Sie folgt aus dem parlamentarischen System und aus der Gesetzesbindung der Verwaltung und gehört notwendig zum Körperschaftsstatus der Gemeinde. Rechtsaufsicht heißt Überprüfung der Rechtmäßigkeit; selbstverständlich auch am Maßstab des Unionsrechts. Wo Maßstäbe des Rechts fehlen, mangelt der Rechtsaufsicht der Kontrollmaßstab. Der dogmatischen Vorstellung nach hat die Aufsichtsbehörde die gleichen rechtsmethodischen Schritte zu vollziehen, wie wir sie sonst bei der gerichtlichen Rechtskontrolle kennen: Es erfolgt eine vollständige Rechtsanwendungskontrolle; gemeindliches Ermessen wird dagegen nur auf Ermessensfehler nach Maßgabe der §§ 40 VwVfG, 114 VwGO kontrolliert.176 Bei den Selbstverwaltungsaufgaben ist der Staat grundsätzlich auf diese Art der Aufsicht beschränkt. Systematisch lassen sich eine repressive, dh nachträglich einsetzende, und eine präventive, dh vor Vollendung eines gemeindlichen Rechtsaktes eingreifende Rechtsaufsicht unterscheiden. Die Gemeindeordnungen regeln unter der Überschrift „Aufsicht“ zusammenhängend nur die repressive Rechtsaufsicht,177 während sich präventive Aufsichtsvorgänge verstreut vor allem in den einzelnen Vorschriften finden, die bestimmte gemeindliche Handlungen staatlicher Genehmigung unterstellen. Demgemäß wird auch in diesem Beitrag verfahren (zu Genehmigungen Rn 74 f). Den normalen Instanzenzug der Rechtsaufsichtsbehörden stellen die Behörden der allgemeinen inneren Verwaltung dar:178 das Innenministerium – ggf das Regierungspräsidium oder vergleichbare Mittelinstanzen, wenn vorhanden – und, sofern es um kreisangehörige Gemeinden geht, das Landratsamt als untere staatliche Verwaltungsbehörde.

a) Aufsichtsmittel Aufsichtsvorgänge vollziehen sich in der Praxis vielfach durch informelle Kontakte zwischen 69 Gemeinde und Aufsichtsbehörde (Beratung, Anregung, Korrekturvorschlag). Die Aufsicht soll den Gemeinden helfen und möglichst ohne Konfrontation erfolgen. Wenn das aber nicht zum Erfolg führt, muss das Recht auch zwangsweise gegen die Gemeinde durchgesetzt werden können. Für diese Eingriffsfälle halten die Gemeindeordnungen ein Instrumentarium bereit, das von einfachen Informationsrechten bis zu „schweren Geschützen“ (zB Ersatzvornahme, Staatsbeauftragter) reicht. In Einzelheiten weichen die Gemeindeordnungen voneinander ab; zu den üblichen Mitteln gehören:179 – Informationsrecht: Soweit es zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist, kann sich die Rechtsaufsichtsbehörde über einzelne Angelegenheiten unterrichten. Verlangt werden können die Vorlage von Akten, die Erstellung von Berichten, die Einsichtnahme in Bücher. Eine generelle Vorlagepflicht, zB für alle Ratsbeschlüsse, kann daraus jedoch nicht abgeleitet werden.

_____ 174 Dazu Maurer, AllgVwR, § 23 Rn 12 ff; Zur Multifunktionalität der Kommunalaufsicht Oebbecke DÖV 2001, 406. 175 BVerfGE 6, 104, 118; E 78, 331, 341 o JK GG Art 28 II/16: „Die Kommunalaufsicht ist das verfassungsrechtlich gebotene Korrelat der Selbstverwaltung“, m ausf Nachw Kahl Staatsaufsicht, 498 f. 176 Dazu allg Jestaedt in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 11 Rn 55 ff; Gerhardt in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 114 Rn 13 ff; zum Aufsichtsmaßstab bei gemeindlicher Wirtschaftstätigkeit: Brüning DÖV 2010, 553, 555 ff; zu Auswirkungen des „neuen Steuerungsmodell“ auf Aufsicht u Beaufsichtigte Shirvani DVBl 2009, 29. 177 §§ 118 ff GemO BW; Art 108 ff GO Bay; §§ 108 ff BbgKVerf; §§ 135 ff HessGO; §§ 78 ff KV MV; §§ 170 ff NdsKomVG; §§ 119 ff GO NW; §§ 117 ff GemO RP; §§ 127 ff KSVG SL; §§ 111 ff SächsGemO; §§ 133 ff GO LSA; §§ 120 ff GO SH; §§ 116 ff ThürKO. Zur Rechtsaufsicht Schoch Jura 2006, 188, 190 ff. 178 Einzeldarstellung bei Gern DtKomR, Rn 808 f. Zu den besonderen Aufsichtszügen im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitssuchende (§§ 47 f SGB II) ausf Nachw bei Henneke DÖV 2012, 165. 179 Schoch Jura 2006, 188, 192 ff; Pfeiffer ThürVBl 2007, 201.

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Beanstandungsrecht: Rechtswidrige Handlungen (Beschlüsse, Anordnungen) kann die Aufsichtsbehörde beanstanden und ihre Korrektur durch die Gemeinde verlangen, sofern die Gemeinde mit einer solchen Korrektur nicht erneut gegen das Gesetz verstoßen müsste,180 indem sie zB zu einer rechtlich nicht möglichen Rücknahme eines Verwaltungsakts (§ 48 VwVfG) angehalten wird. Die in einigen Gemeindeordnungen vorgesehene „aufschiebende Wirkung“ der Beanstandung181 gilt nicht für die Außenwirksamkeit des betreffenden Aktes; sie enthält aber ein Vollzugsverbot an die Gemeinde. Die beanstandeten Handlungen der Gemeinde können solche öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Art sein, sich also zB auch als Abschluss eines privaten Einstellungsvertrages darstellen. Anordnungsrecht: Erfüllt die Gemeinde die ihr nach Gesetz und Recht obliegenden Pflichten nicht, so kann die Aufsichtsbehörde anordnen, dass die Gemeinde die notwendigen Maßnahmen innerhalb einer angemessenen Frist nachholt.182 Das Anordnungsrecht ist das auf gemeindliches Unterlassen bezogene Korrelat zur Beanstandung, die auf rechtswidriges Tun reagiert. Ersatzvornahme: Kommt die Gemeinde einem der vorstehend genannten Verlangen der Aufsichtsbehörde innerhalb einer bestimmten Frist nicht nach, so ist die Aufsicht befugt, die notwendigen Maßnahmen an Stelle und auf Kosten der Gemeinde selbst durchzuführen. Hier wird die Aufsicht uU auch gegenüber Dritten tätig. Im Vorgang der Ersatzvornahme liegt also regelmäßig ein Doppelakt: Ein Verwaltungsakt gegenüber der Gemeinde, der die Ausübung des Aufsichtsmittels zum Regelungsgegenstand hat, und ein zweiter Akt, dessen Rechtsnatur sich aus seinem Regelungsumfeld heraus bestimmt und der folglich zB Realakt, Akt der Normsetzung, aber auch eine privatrechtliche Willenserklärung sein kann.183 weitere Aufsichtsmittel: Länderweise unterschiedlich eingeführt sind darüber hinaus weitere Aufsichtsmittel für schwere Fälle, zB die Bestellung eines Staatsbeauftragten,184 die Auflösung des Gemeinderates,185 die vorzeitige Beendigung der Amtszeit des Bürgermeisters186 oder ein Selbsteintrittsrecht der höheren Aufsichtsbehörde.

b) Rahmenbedingungen und Rechtsschutz 70 Die eingreifenden Aufsichtsmittel unterliegen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Zuweilen ist ausdrücklich vorgesehen, dass zunächst das gemeindeinterne Kontrollsystem einzuschalten ist.187 Mit Ausnahme des Informationsrechts setzen alle Aufsichtsmaßnahmen rechtswidriges Gemeindehandeln voraus. Die Rechtswidrigkeit folgt primär aus Rechtssätzen des öffentlichen

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180 Erichsen DVBl 1985, 943, 945; Mögele BayVBl 1985, 519; OVG NW NVwZ 1987, 155 o JK GO NW § 108 I 2/1. 181 § 121 I 3 GemO BW; § 113 I 3 BbgKVerf; § 81 I 2 KV MV; § 171 I 2 NdsKomVG; § 122 II 3 GO NW; § 121 S 3 GemO RP; § 130 S 2 KSVG SL; § 114 I 3 SächsGemO; § 136 I 3 GO LSA; § 123 I 3 GO SH. 182 In allen GOen. Es darf nicht kumulativ zum Beanstandungsrecht angewendet werden (OVG NW NVwZ-RR 1992, 449). Vgl zum zulässigen Inhalt einer Anordnung zum Erlass einer Haushaltssatzung VG Dessau LKV 2003, 293; zum Anwendungsbereich VG Gelsenkirchen DVBl 2007, 1510. 183 Ausf dazu Schnapp Die Ersatzvornahme in der Kommunalaufsicht, 1972; insbes z Rechtsschutz Shirvani BayVBl 2009, 137; OVG NW NVwZ 1989, 987 o JK GO NW § 109 II/2 u NVwZ-RR 1990, 23 (Auflösung einer Schule) o JK GO NW § 109 II/1. Zum Erlass einer Satzung im Wege der Ersatzvornahme BVerwG NVwZ-RR 1992, 611 o JK GO NW § 109/1; 1993, 513 o JK VwGO § 47/19. Zur Durchsetzung einer Planungspflicht aus § 1 III BauGB vgl BVerwGE 119, 25, 43 ff o JK BauGB § 1 III/1. 184 § 124 GemO BW; Art 114 GO Bay; § 117 BbgKVerf; § 141 HessGO; § 83 KV MV; § 175 NdsKomVG; § 124 GO NW; § 124 GemO RP; § 134 KSVG SL; § 117 SächsGemO; § 139 GO LSA; § 127 GO SH; § 122 I ThürKO. Buck Der Beauftragte als Mittel der Kommunalaufsicht, 2009. 185 Art 114 III GO Bay; § 141a II HessGO; § 84 KV MV; § 70 II NdsKomVG; § 125 GO NW; § 125 GemO RP; § 53 II KSVG SL; § 44 GO SH; § 122 II ThürKO. 186 § 128 GemO BW; § 118 SächsGemO; § 144 GO LSA. 187 § 122 I GO NW; dazu OVG NW DVBl 1985, 172, 173 o JK GO NW §§ 42, 35/1.

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Rechts unter Einschluss des Unionsrechts. Verstöße gegen privatrechtliche Vorschriften reichen jedenfalls dann nicht aus, wenn sie nur den Interessen des Privatrechtsverkehrs dienen.188 Eine zum Einschreiten berechtigende Rechtsverletzung liegt auch dann vor, wenn sich eine Gemeinde mit Materien beschäftigt, die wegen ihres überörtlichen Charakters nicht in ihren Kompetenzbereich fallen (Rn 32 f). Auch bei Vorliegen des Aufsichtsfalles ist die Aufsichtsbehörde, sofern nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, nicht zum Einschreiten verpflichtet, sondern kann nach Ermessen entscheiden (Opportunitätsprinzip).189 Klare Fälle einer Ermessensschrumpfung dürften selten sein, sind aber nicht ganz auszuschließen. In keinem Falle haben private Dritte einen Rechtsanspruch auf aufsichtsbehördliches Einschreiten, denn Aufsichtsvorschriften sind nicht einmal beiläufig ihren Interessen zu dienen bestimmt.190 Adressat der genannten Aufsichtsmaßnahmen ist die Gemeinde als solche,191 die in ihrem Körperschaftsstatus dem Staat (Aufsichtsbehörde) im Außenverhältnis entgegentritt. Regelnde Maßnahmen der Aufsichtsbehörde haben daher unstreitig die Qualität eines Verwaltungsaktes. Für ihren Erlass sind, soweit das Kommunalrecht keine gleichlautenden oder entgegenstehenden Vorschriften enthält, ergänzend die Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder einschlägig. Der Gerichtsschutz der Gemeinden richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften.192 Soweit die Gemeindeordnungen darauf verweisen, kommt ihnen angesichts der §§ 40 I 1, 42 II VwGO nur deklaratorische Bedeutung zu. Aufsichtsvorgänge können zudem zu Haftungsfällen führen, in denen sich die Gemeinden mit Amtshaftungsansprüchen gegen die Aufsichtsinstanzen wenden. Auch Gemeinden können Dritte iSd § 839 BGB sein.193

3. Fachaufsicht a) Wesen und Regelungen Als Fachaufsicht (NW u Bbg: „Sonderaufsicht“)194 bezeichnet man die besondere Aufsicht in 71 Angelegenheiten des übertragenen Wirkungskreises bzw der Weisungsaufgaben. Die meisten Gemeindeordnungen enthalten hierüber nur marginale Vorschriften und verweisen im Übrigen auf die einschlägigen Fachgesetze. Das Wesen der Fachaufsicht liegt in der ihr zugeordneten Weisungsbefugnis. Diese Befugnis ist im dualistischen Aufgabenmodell innerhalb des übertragenen Aufgabenkreises grundsätzlich unbegrenzt, während sie im monistischen Modell für das einzelne Aufgabengebiet gesetzlich besonders verliehen sein muss. Weisungen erstrecken sich auf die Handhabung des gemeindlichen Ermessens und sind selbst vorrangig von Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit bestimmt. Damit bekommt die Aufsicht eine ganz andere Funktion: Repressive Kontrolle und präventive Steuerung fließen hier zusammen. Eine immanente Grenze aller Weisungsrechte liegt darin, dass sie Sachentscheidungen steuern sollen. Wie die Gemeinde die organisatorischen und personellen Voraussetzungen dafür schafft, muss ihr dagegen selbst überlassen bleiben. Fachaufsicht ist nicht Dienstaufsicht. Die Weisungsrechte werden von den

_____ 188 OVG NW DVBl 1963, 862; vgl auch VG Gelsenkirchen DVBl 2007, 1507; gegen diese Subsidiaritätsregel Hassel DVBl 1985, 697. 189 Str; wie hier Schoch Jura 2006, 188, 195; ausf mwN Voßkuhle DV 29 (1996) 511; vgl a Wehr BayVBl 2001, 705; NdsOVG NdsVBl 2007, 308 o JK GG Art 28 II 1/29 „intendiertes Ermessen“. 190 HM; Geis KomR, § 24, Rn 38; Viegener Drittschutz, 2007, 145 ff u 150 ff; allg Kopp/Schenke VwGO, § 42, Rn 87; a BVerwG DÖV 1972, 723 (LS); OVG RP DÖV 1986, 152. 191 Und nicht ihre „privatrechtlichen Trabanten“, Brüning DÖV 2010, 553 mN. 192 Dazu Schoch Jura 2006, 188, 195. 193 Dazu v Komorowski VerwArch 93 (2002) 62; Brinktrine Verw 43 (2010), 273. Sehr weitgehend allerdings BGHZ 153, 198 o JK GG Art 34/25: Schutzpflichten auch bei Erteilung einer Genehmigung, die die Gemeinde selbst beantragt hat; hierzu Meyer NVwZ 2003, 818; sa Pegatzky NVwZ 2005, 61; Pielow/Finger Jura 2005, 351. 194 Dazu Kahl Staatsaufsicht, 555 ff; Benedens LKV 2000, 89. Systematisch zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen der Fachaufsicht Groß DVBl 2002, 793; Schoch Jura 2006, 358.

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zuständigen Fachbehörden ausgeübt, die mit den Behörden der Kommunalaufsicht häufig, aber keinesfalls durchgängig identisch sind. Außer zur Ausübung des Weisungsrechts sind die Fachaufsichtsbehörden zu Eingriffen in den gemeindlichen Bereich nicht berechtigt,195 wenn ihnen nicht spezialgesetzlich weitergehende Befugnisse, zB ein Selbsteintrittsrecht (etwa § 44 I 2 StVO) oder eine Ersetzungsbefugnis (vgl § 36 II 3 BauGB) eingeräumt sind.196 Kommt eine Gemeinde ansonsten einer Weisung nicht nach, so ist allein die Rechtsaufsicht berechtigt, darauf mit ihren allgemeinen Aufsichtsmitteln zu reagieren; die Fachaufsichtsbehörden haben sich an sie zu wenden.

b) Rechtsschutz gegen fachaufsichtliche Maßnahmen 72 Dieses Problem wird heute eher in den Begründungsschritten als im Ergebnis kontrovers behandelt.197 Dabei sollte zwischen der generellen Zulässigkeit einer gemeindlichen Klage, der richtigen Rechtsschutzform und der im Rahmen der Klagebefugnis und der Begründetheit zu behandelnden Frage nach den verletzten gemeindeeigenen Rechten unterschieden werden: – Unbestreitbar ist den Gemeinden der Rechtsweg auch gegen fachaufsichtliche Maßnahmen nicht generell versperrt. Solche Maßnahmen sind keine gerichtsfreien Hoheitsakte, sondern Vorgänge, über die nach Maßgabe des öffentlichen Rechts zu entscheiden ist (§ 40 I 1 VwGO). – Davon unabhängig besteht der Streit um die Rechtsnatur fachaufsichtlicher Weisungen. Er hat Bedeutung für die Bestimmung der statthaften Klageart: Stuft man Weisungen als Verwaltungsakte ein, ist um Rechtsschutz mit der Anfechtungsklage nachzusuchen. Sieht man das anders, weil Weisungen im Regelfall nicht auf Außenwirkung gerichtet sind198 und manche verwaltungsverfahrensrechtlichen Konsequenzen (o Rn 67 aE) dagegen sprechen, so bleibt der Gemeinde immer noch die allgemeine Leistungsklage.199 – Die für allgemeine Leistungs- wie für Anfechtungsklagen gleichermaßen entscheidende Frage ist die nach den verletzten subjektiven Rechten.200 Sind solche nachweisbar, so kann der Rechtsschutz nicht scheitern. Auf der Basis des monistischen Aufgabenmodells lassen sich solche gemeindeeigenen Rechte leichter ausmachen, weil hier alles, was außerhalb des gesetzlichen Weisungstatbestandes liegt, dem gemeindlichen Rechtskreis anwächst. Hält sich die Weisung nicht im Rahmen dieses Tatbestandes, so trifft sie sozusagen von selbst auf gemeindliche Rechte. Aber auch bei den Auftragsangelegenheiten des dualistischen Mo-

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195 Ausdr § 129 II GemO BW; Art 116 I 3 GO Bay; § 145 S 2 HessGO; § 127 GO NW; § 127 I GemO RP; § 137 KSVG SL; § 123 II SächsGemO; § 145 II GO LSA; § 129 GO SH; § 120 II ThürKO. § 121 BbgKVerf u § 87 KV MV sehen dagegen weitergehende Eingriffsbefugnisse, zB ein Selbsteintrittsrecht, vor. Z Selbsteintrittsrecht Klaes Selbsteintritt und kommunale Selbstverwaltung, 2009. 196 Zu § 36 BauGB allg o Krebs 4. Kap Rn 20, 129. S va a BVerwGE 121, 33; E 122, 13 u Schöndorf-Haubold Jura 2007, 707 (Einvernehmen bei mit Baugenehmigungsbehörde identischer Gemeinde). 197 Dazu Scholz Rechtsschutz der Gemeinden, 2002; Schoch Jura 2006, 358, 362 ff; Rennert JuS 2008, 119, 120. 198 So a Ruffert in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 21 Rn 49; HessVGH NVwZ-RR 1990, 4; Gern DtKomR, Rn 837; im Grundsatz wohl a BVerwG DVBl 1995, 744 o JK VwVfG § 35 I/18 (Ausrichtung am materiellen Recht); aM SchmidtJortzig JuS 1979, 488, 491; Kahl Jura 2001, 505, 512; Schoch Jura 2006, 358, 363; VGH BW DVBl 1994, 348 m Anm Steiner. Anfechtungsklage hat die Gemeinde ausnahmsweise dann zu erheben, wenn sie sich gegen Entscheidungen der Aufsichtsbehörde wendet, die diese als Widerspruchsbehörde (§ 73 I Nr 1 VwGO) in einem von einem Dritten gegen eine gemeindliche Entscheidung angestrengten Widerspruchsverfahren getroffen hat. Der Widerspruchsbescheid erhält seinen Charakter als Verwaltungsakt aus seiner Außenwirksamkeit gegenüber dem Dritten und behält ihn auch der Gemeinde gegenüber. Vgl BVerwG NVwZ 1982, 310 f o JK GG Art 28 II/6; allerdings ist dann die Klagebefugnis genau zu prüfen, BVerwGE 95, 333, 335; E 116, 273, 274 f; VGH BW NVwZ-RR 2006, 416. 199 Setzt die Rechtsaufsicht eine Weisung der Fachaufsicht gegenüber der Gemeinde mit ihren Zwangsmitteln (vgl Rn 69) durch, so ist dagegen die Anfechtungsklage statthaft (Pietzcker in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 42 Abs 1 Rn 57). 200 BVerwG NJW 1978, 1820 o JK VwVfG § 35 S 1/1; BVerwG NVwZ 1983, 610 f.

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dells ist die Betroffenheit gemeindeeigener Rechte nicht auszuschließen: Das Weisungsrecht darf, selbst wenn die Sachaufgabe staatliche Angelegenheit ist, nicht in den gemeindlichen Organisations- oder Finanzbereich eingreifen oder Planungen der Gemeinde in Selbstverwaltungsbereichen beeinträchtigen.201 Inwieweit eine Betroffenheit eigener Rechte nach der Konstellation des Einzelfalls immerhin möglich ist, inwieweit sie wirklich vorliegt und rechtsverletzend wirkt, ist dann eine Frage der Aufteilung des Prozessstoffes auf die im Rahmen der Zulässigkeit zu prüfende Klagebefugnis und die letztendlich entscheidende Begründetheit. Hält sich die fachaufsichtliche Maßnahme im Rahmen der ihr durch das Recht gezogenen Grenzen, so mag sie so unzweckmäßig sein, wie sie will – ein gemeindliches Rechtsmittel kann dann keinen Erfolg haben. Gleiches gilt wegen der umfassenden Verantwortung der Fachaufsicht idR dann, wenn Gemeinde und Aufsichtsbehörde über die richtige Auslegung der materiellen Vorschriften des jeweiligen Fachgesetzes streiten.202

4. Mittel präventiver Aufsicht a) Zweck und Typik Die Aufsicht ist nicht notwendig darauf beschränkt, nachträglich korrigierend tätig zu werden. 73 Oft ist es für alle Beteiligten besser, die Aufsichtsinteressen werden erfüllt, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Auch die informellen Mittel der Beratung und Besprechung lassen sich besser vorab einsetzen. Freilich birgt gerade die präventive Aufsicht auch die Gefahr, dass sie über eine Mitgestaltung zur Besserwisserei ausartet, weil hier die notwendige Distanz zwischen Aufsichtsbehörde und Gemeinde leichter verloren gehen kann. Folglich muss das präventive Aufsichtswesen besonders sorgfältig gesetzlich geordnet sein. Aufsichtsmittel, die der Gemeinde verbindlich etwas vorschreiben wollen, bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Fehlt es daran, so können die Staatsbehörden nicht tätig werden. Im Übrigen haben sich solche Mittel auf Vorgänge zu beschränken, in denen sich ein besonderes „Gefährdungs-“ oder ein spezielles „Mitsprachepotential“ angesammelt hat. Zu den Instrumenten der präventiven Aufsicht gehören als mildere Mittel Anzeige- oder Vorlagepflichten;203 sie sind Rechtstechniken, die der Aufsichtsbehörde die Kontrolle erleichtern sollen. Vor allem aber sind gesetzliche Genehmigungsvorbehalte Mittel präventiver Aufsicht.

b) Spezielle Genehmigungsvorbehalte Sie finden sich als Erfordernisse aufsichtsbehördlicher Genehmigung, Zustimmung oder Bestäti- 74 gung, zB bei Gebietsänderungen und im gemeindlichen Wirtschaftsrecht, eingeschränkt auch beim Satzungsrecht (Rn 137) und in Fachgesetzen, zB gegenüber der gemeindlichen Bauleitplanung (§§ 6, 10 BauGB).204 Nicht einheitlich zu beantworten ist die Frage, inwieweit die Aufsichtsbehörde auf die reine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt ist oder ihrer Genehmigungsentscheidung auch Zweckmäßigkeitserwägungen zugrunde legen darf. Nach überwiegender Ansicht müssen mehrere Typen von Genehmigungsvorbehalten unterschieden werden:205

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201 BVerwGE 95, 333, 337; E 116, 273, 274 f; DVBl 1995, 744. 202 VG Köln DVBl 1985, 180 ff; Maurer, AllgVwR, § 23 Rn 23. Zur strukturell vergleichbaren Problematik der Aufsicht des Bundes über die Länder in Bundesauftragsangelegenheiten nach Art 85 GG vgl BVerfGE 81, 310, 338 f; E 84, 25, 31 ff o JK GG Art 85 III/1; E 104, 249, 264 ff. 203 Systematisch Keller Genehmigung, 1976, 50 ff; Humpert Genehmigungsvorbehalte, 1990, 8 ff; ders DVBl 1990, 804. 204 Ausf Auflistung bei Humpert Genehmigungsvorbehalte, 1990, 16 ff. Zu den §§ 6, 10 BauGB o Krebs 4. Kap Rn 17 f, 119. 205 Dazu Wolff/Bachof/Stober/Kluth VwR II, § 96 Rn 138 ff; Humpert Genehmigungsvorbehalte, 1990, 63 ff; Schoch Jura 2006, 188, 190 f.

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75 aa) Rechtliche Unbedenklichkeitserklärung: Der Normaltatbestand gestattet allein eine Rechtskontrolle. Die Genehmigung ist hier rechtliche Unbedenklichkeitserklärung. Solche Vorschriften finden sich dort, wo der gemeindliche Rechtsakt mit besonderen rechtlichen Risiken behaftet ist oder weit reichende rechtliche Folgen hat. Wenn keine zusätzlichen Genehmigungsmaßstäbe genannt sind oder aus dem Kontext zwingend erschlossen werden können, ist allein eine Rechtskontrolle als das die Gemeinden am wenigsten belastende Mittel zulässig. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn der Rechtsakt nicht gegen berücksichtigungsfähige Rechtsvorschriften verstößt. Die Gemeinde hat auf die Genehmigung einen Rechtsanspruch, den sie mit der verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsklage verfolgen kann. 76 bb) Staatliche Mitentscheidung, Kondominium: Daneben kennt das Gemeinderecht aber auch solche Genehmigungstatbestände, die den Staat zu einer mehr oder weniger umfassenden Zweckmäßigkeitskontrolle ermächtigen wollen. So unterliegt zB die Veräußerung (historisch) wertvoller Gegenstände des Gemeindevermögens einer Genehmigung, bei der es nicht allein um die Rechtmäßigkeit geht, sondern deren Sinn gerade darin liegt, gemeindliches Vermögen vor gemeindlicher Unbedachtsamkeit in Schutz zu nehmen.206 Ähnliches gilt für Genehmigungen gemeindlicher Kreditaufnahmen oder gegenüber der Eingehung von Bürgschaften und für einige andere haushaltsrechtliche Entscheidungen.207 Art 28 II 1 GG verbietet solche Tatbestände nicht schlechthin, denn auch die hier betroffene Eigenverantwortlichkeit steht unter einem Gesetzesvorbehalt (Rn 42).208 Größere Probleme werfen – freilich nur für landesgesetzliche Genehmigungsvorbehalte – diejenigen Selbstverwaltungsgarantien der Landesverfassungen auf, die die Staatsaufsicht außerhalb der Weisungsaufgaben ausdrücklich auf die Rechtmäßigkeitsprüfung beschränken.209 Teilweise hat man versucht, diese Verfassungsbestimmungen nur auf die repressive Aufsicht zu beziehen und die präventiven Aufsichtsvorgänge ganz aus dem Garantiebereich auszuklammern.210 Angängig ist das freilich nur bei Materien, die wegen eines eindeutigen staatlichen Mitgestaltungsinteresses ohnehin in den Grenzbereichen des örtlichen Wirkungskreises liegen und die man als Angelegenheiten eines staatlich-gemeindlichen Kondominiums bezeichnen kann: 211 gemeindliche Gebietsänderungen, Zweckverbandsbildungen, Wappen- und Siegelführung. Bei den meisten Genehmigungstatbeständen des Kommunalwirtschaftsrechts dagegen geht es ganz vorrangig um örtliche Belange, um einen Schutz der Gemeinde vor sich selbst. Eine exakte Regelung enthalten hier Art 75 I 2 LV BW und Art 89 II SächsVerf, die die Genehmigungsmaßstäbe weiter fassen. Will man auch in den anderen Bundesländern die notwendige und eingespielte Präventivkontrolle weiterhin für zulässig ansehen, so bleibt nur der Weg, den Genehmigungsmaßstab auf einen freilich weit zu interpretierenden Rechtsbegriff der „Wirtschaftlichkeit“ zurückzuführen und den Genehmigungsvorbehalt so als eine (weite) Rechtmäßigkeitskontrolle zu deuten.212

_____ 206 Dazu Weiß Erwerb, Veräußerung und Verwaltung, 1991, 127 ff; Schrapper Selbstverwaltungsgarantie und Genehmigungsrecht, 1992, 120 ff. Zur Aufhebbarkeit erteilter Genehmigungen vgl Zacharias NVwZ 2002, 1306. 207 Ausf Hill Gutachten zum 58. DJT, 1990, 34 ff. 208 AA Kahl Staatsaufsicht, 557 ff mN. 209 ZB Art 137 III 2 HessVerf; Art 78 IV 1 LV NW; Art 94 ThürVerf. 210 Keller Genehmigung, 1976, 66 ff mwN. 211 Von lat „con-dominium“, gemeinsame Herrschaft; OVG NW NVwZ 1988, 1156 o JK GO NW § 64 II 3/1 u 1990, 689. Allg zum Kondominium W. Weber Staats- und Selbstverwaltung, 1967, 127 ff; Humpert Genehmigungsvorbehalte, 1990, 162 f; Wolff/Bachof/Stober/Kluth, VwR II, § 96 Rn 139; krit Schmidt KomR, § 7, Rn 243 ff. 212 Ebenso Schoch NVwZ 1990, 801, 805 f; Schrapper Selbstverwaltungsgarantie und Genehmigungsrecht, 1992, 115 ff; BayVerfGH NVwZ 1989, 551 f.

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5. Formen der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung im gemeindlichen Raum Das unter 1 (Rn 59 ff) behandelte Spektrum öffentlicher Aufgaben und Aufgabenträgerschaft 77 erschöpft die Erscheinungsformen öffentlicher Verwaltung im gemeindlichen Raum nicht vollständig. Neben der übergemeindlichen kommunalen Aufgabenerfüllung durch Landkreise, höherstufige kommunale Zusammenschlüsse und in sonstiger kommunaler Zusammenarbeit (Abschn XI u XII) finden sich im Gemeindebezirk zum einen staatliche Behörden (a). Öffentliche Aufgaben können zum anderen auch gemeinsam mit Privaten oder sogar alleine durch diese wahrgenommen werden (b).

a) Staatliche Behörden Sonderbehörden: Einige Aufgaben nimmt der Staat „vor Ort“ durch eigene Sonderbehörden 78 wahr. Traditionell sind dies die Tätigkeiten der Finanz-, Arbeits- oder Wehrverwaltung.213 Das Landesrecht kennt weitere Fälle, zB Schulämter, Eichämter, Flurbereinigungsbehörden. Für sie zeichnet sich in jüngster Zeit allerdings eine „Kommunalisierungstendenz“ ab.214 Organleihe: Eine Sonderform staatlicher Verwaltung begründen ferner diejenigen Gesetze, die ein einzelnes Gemeindeorgan ohne Rückbindung an seine originäre kommunale Trägerkörperschaft mit einer staatlichen Aufgabe betrauen. In diesen Fällen der Organleihe215 wird das betreffende Organ der staatlichen Verwaltung inkorporiert und unterliegt als solches allen Aufsichtsrechten des staatlichen Instanzenzuges. Bei gemeindlichen Organen sind solche Fälle selten, der Standardfall dagegen findet sich auf der Landkreisebene (Rn 223). Mischverwaltung: Eine Form verfassungsrechtlich ausnahmsweise zulässiger Mischverwaltung zwischen Bund und Kommunen findet sich in den Gemeinsamen Einrichtungen für Arbeitssuchende (§ 44b SGB II – „Jobcenter“). Sie wurden auf der Grundlage von Art 91e GG errichtet, nachdem das Bundesverfassungsgericht klargestellt hatte, dass Mischzuständigkeiten im Regelfall dem Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung widersprechen und daher eine eigene verfassungsrechtliche Grundlage benötigen.216

b) Weitere Modi der Aufgabenwahrnehmung Die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch staatliche bzw kommunale Träger stellt nur 79 einen möglichen Modus dar.217 Daneben erfüllen die Kommunen ihre Aufgaben vielfältig in Kooperation mit Privaten; öffentliche Aufgaben auf kommunaler Ebene können durch Private auch eigenständig erbracht werden, wenn ein Regulierungsregime die Aufgabenerfüllung gewährleistet: Kooperation mit Privaten: Der Regelfall der Zusammenarbeit zwischen Kommune und Privaten ist die Einbindung Privater in die gemeinsame Aufgabenerfüllung durch finanzielle Leistungen (Subventionen, entgeltliche Verträge, vgl u Rn 131), die Eröffnung von Verdienstmöglichkeiten (zB Überlassung gemeindlicher Infrastruktur – „Konzession“) oder in gemischtwirtschaftlichen Gesellschaften (u Rn 128 ff). Die Beleihung, also die Übertragung öffentlich-

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213 Finanzamt (§ 2 I Nr 4, § 17 FVG), Hauptzollamt (§ 1 Nr 4, § 12 FVG); Bundesagentur für Arbeit (§ 367 SGB II); Kreiswehrersatzamt (§§ 14, 57 WPflG). 214 So hat BW 2004 zahlreiche Sonderbehörden in die Kommunalverwaltung eingegliedert; VerwaltungsstrukturReformG (VRG) v 1.7.2004, GBl 469, dazu Munding VBlBW 2004, 448; Trumpp FG Schlebusch, 2006, 209. In Nds das Verwaltungsmodernisierungsgesetz, Nds GVBl 2004, 394, dazu Hesse NdsVBl 2007, 145. In Hess die drei Gesetze zur Verwaltungsstrukturreform (GVBl 2002, 342; 2004, 506; 2005, 674), dazu Kremer VerwArch 102 (2011), 242. 215 Dazu Wolff/Bachof/Stober/Kluth VerwR II, § 97 Rn 30; Erichsen KomR NW, 98: „Institutionsleihe“. Nach der Abschaffung der Organleihe in Hess, jetzt zB noch § 9 IV OBG NW, vgl Kremer VerwArch 2011, 242, 252 f. 216 BVerfGE 119, 331, 367; Schnapp Jura 2008, 241; Meyer NVwZ 2008, 275; sa Henneke DÖV 2012, 165. 217 Darstellung bei Schulze-Fielitz GVwR I, § 12.

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rechtlicher Befugnisse, ist dagegen selten. Hierzu bedürfte es einer gesetzlichen Ermächtigung, die idR fehlt, insbes kann eine gemeindliche Satzung sie nicht bieten (vorges in § 85 VI GemO RP). Regulierung: Ohne direkte kommunale Lenkung schließlich werden öffentliche Aufgaben auf regulierten Märkten durch Private im Wettbewerb erbracht (Telekommunikation, Post, Energie, Verkehr, vgl u Rn 152). Das Regulierungsrecht stellt sicher, dass die Grundversorgung der Bevölkerung, die Dauerhaftigkeit und Qualität der Leistung sowie der Kundenschutz gewährleistet ist.218 Kommunale Unternehmen können sich ggf als Marktteilnehmer betätigen.

c) Privatisierung 80 Eher verwirrend als hilfreich ist in diesen Zusammenhängen der allgemein eingeführte Begriff der Privatisierung.219 Das liegt zum einen daran, dass hierunter unterschiedliche Phänomene zusammengefasst sind, die unterschiedliche Rechtsfragen nach sich ziehen: Unter Privatisierung wird zum einen die sog formelle oder Organisationsprivatisierung verstanden, dabei geht es um die Verwendung privater Rechtsformen (u Rn 127 ff). Die materielle oder Aufgabenprivatisierung bezeichnet hingegen die Aufgabenbeendigung.220 Zu einer Privatisierung im Wortsinne führt die Beendigung einer Aufgabe allerdings nur dann, wenn sich ein Privater der nunmehr freigewordenen Angelegenheit annimmt. Unter Vermögensprivatisierung wird die Veräußerung staatlichen oder kommunalen Eigentums verstanden. Mit der funktionalen Privatisierung schließlich sollen Vorgänge bezeichnet werden, bei denen Private in die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch funktionale Teilbeiträge, etwa als Verwaltungshelfer einbezogen sind.221 Der Begriff „Privatisierung“ suggeriert zum anderen eine Bewegung weg von der Kommune hin zu einer Öffnung zum privaten Bereich, die der Realität nicht entsprechen muss: So mag die Kommune eine neue Aufgabe von vornherein in privater Organisationsform erfüllen wollen. Dass eine Aufgabe früher einmal in kommunaler Hand erfüllt wurde, bedeutet nicht per se, dass ein besonderer Ingerenzbedarf gegenüber dem Privaten besteht, der sie nunmehr erbringt. Nur aus der Sachmaterie als solcher kann sich ergeben, ob ein besonderes öffentliches Interesse besteht, dessen Einhaltung weiterhin gewährleistet werden muss, ob also ein Gewährleistungsverwaltungsrecht einschlägig ist.222

6. Aufgabenbestand und Gemeindestatus: kreisfreie und kreisangehörige Gemeinden 81 Das Verwaltungsrecht kann die Augen nicht davor verschließen, dass in der Realität der Gebietszuschnitt, die Raumsituation, die Bevölkerungszahlen und die Leistungskraft der Gemeinden erheblich voneinander abweichen und zu Differenzierungen auch des Rechtsstatus veranlassen. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen kreisangehörigen und kreisfreien Gemeinden,223 die sich an der unterschiedlichen Größe und Verwaltungskraft orientiert und daraus Konsequenzen für die Zuständigkeiten zieht. Vor allem bei der gesetzlichen Zuweisung von Auftragsangelegenheiten/Weisungsaufgaben wird auf diese Unterscheidung oft Bezug genommen.

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218 Dazu Eifert GVwR I, § 19 Rn 110 ff; Einzeldarstellungen bei Fehling/Ruffert Regulierungsrecht, 2010. 219 Dazu Voßkuhle GVwR I, § 1 Rn 58 ff mN; Schoch DVBl 1994, 962; Burgi HStR IV, § 75 Rn 6. 220 Ob sie zulässig ist, ist zunächst eine Frage des einfachen Rechts. Aus verfassungsrechtlichen Vorgaben kann sich nur in außergewöhnlichen Fällen eine Pflicht zur Aufgabenwahrnehmung ergeben; Burgi HStR IV, § 75 Rn 16 f; Schoch Jura 2008, 672; Kahl/Weißenberger LKRZ 2010, 81; Art 28 II GG gibt hierfür allerdings nichts her, o Rn 32. 221 Begriff eingeführt von Burgi Funktionale Privatisierung, 1999. Grenzen ergeben sich ua aus dem Demokratieprinzip (vgl u Rn 131), Art 33 IV u Art 87 ff GG; z Ganzen Schoch Jura 2008, 672, 679 ff. 222 Voßkuhle GVwR I, § 1 Rn 61; Franzius Gewährleistung im Recht, 2009. 223 Daneben gibt es Sonderformen; zB „stadtverbandsangehörige“ Gem (§ 4 II KSVG SL).

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a) Das Bild der Einheitsgemeinde Gemeinsam gehen alle Gemeindeordnungen vom Bild der Einheitsgemeinde aus. Die Einheits- 82 gemeinde, so wie sie Gewährleistungsträger des Art 28 II 1 GG ist – ohne Rücksicht auf ihre Größe, Verwaltungskraft, Versorgungsfunktion –, ist das Bezugsobjekt, an das das Gemeinderecht seine Regelungen standardmäßig knüpft.224 Sie ist nach außen mit ihrem Körperschaftsstatus die Einheit, die ihre Bürger umschließt und in einem rechtstechnischen Sinne ihren Organen und Untergliederungen Rückhalt und Zuordnung gibt. Weder interne Untergliederungen (Ortschaften, Gemeindebezirke; Rn 122) noch Zusammenschlüsse von Gemeinden zu neuen Verwaltungsträgern (Verwaltungsgemeinschaften, Samtgemeinden; Rn 227) sind in diesem Rechtssinne Gemeinden.

b) Kreisangehörige Gemeinden Die allermeisten Gemeinden der Bundesrepublik sind kreisangehörig. Ohne ihre rechtliche Selbständigkeit anzutasten, besteht „oberhalb“ – nicht eigentlich über ihnen – ein Gemeindeverband (Landkreis, Kreis), um diejenigen Aufgaben zu erfüllen, die ihre Leistungsfähigkeit übersteigen (Rn 208 ff).

c) Kreisfreie Städte Kreisfreie Städte (Stadtkreise) sind diejenigen größeren Städte, denen der Status der Kreisfrei- 83 heit besonders zuerkannt ist. Länderweise variieren die Schwellenwerte, an denen man sich bei dieser Entscheidung ausrichtet, nicht unerheblich. Insgesamt gibt es über 100 kreisfreie Städte. Sie sind Gemeinden nach dem Bild der Einheitsgemeinde; insofern ist der (in BW verwendete) Begriff des „Stadtkreises“ irreführend. Wegen ihrer größeren Leistungsfähigkeit nehmen diese Städte schon ganz selbstverständlich mehr (Selbstverwaltungs-)Aufgaben wahr als die meisten kreisangehörigen Gemeinden. Außerdem sind ihnen diejenigen Aufgaben übertragen, die im Landkreis von den Kreisorganen erfüllt werden, unter anderem die Aufgaben der unteren Verwaltungsbehörden. Was im Landkreis von unterschiedlichen Verwaltungseinheiten (kreisangehörigen Gemeinden, Landkreisen, Landratsamt als unterer staatlicher Verwaltungsbehörde) geleistet wird, erfüllen die kreisfreien Städte „in einer Person“.

d) Privilegierte kreisangehörige Gemeinden Die kreisangehörigen Gemeinden haben unter sich wiederum stark voneinander abweichende 84 Einwohnergrößen und Erscheinungsformen: Kreisangehörig sind die Kleingemeinden mit nicht mehr als 500 Einwohnern; kreisangehörig kann aber auch eine Gemeinde mit 100000 Einwohnern und vollkommen städtischem Gepräge sein. Um diesen Unterschieden Rechnung zu tragen, stellen die Gemeindeordnungen der meisten Flächenländer eine – Niedersachsen und NordrheinWestfalen zwei, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein keine – besondere Kategorie einer größeren kreisangehörigen Gemeinde zur Verfügung.225Die Erlangung dieses besonderen Status setzt das Erreichen eines länderweise (zwischen 17500 und 60000) variierenden Einwohnergrenzwertes226

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224 Dieser für alle GOen geltende Satz ist klar ausgedrückt in § 1 I 3 BbgKVerf: Gemeinden im Sinne dieses Gesetzes sind die kreisangehörigen Städte und Gemeinden sowie die kreisfreien Städte. Zu Diff vgl Hlépas AfK 29 (1990) 70 ff; detailliertes Zahlenmaterial bei Henneke Der Landkreis 2011, 674. 225 „Große Kreisstadt“ (BW, Bay, Sachs); „Große kreisangehörige Gemeinde“ (Bbg, MV, NW, Rh-Pf, Thür); Mittelstadt (Saarl); „selbständige Gemeinde“/„Große selbständige Stadt“ (Nds); in NW noch: „mittlere kreisangehörige Gemeinde“. 226 § 3 II 1 GemO BW (20.000); Art 5a IV GO Bay (30.000); § 1 III BbgKVerf (35.000); § 4a HessGO (50.000); § 7 II KV MV (gesetzl aufgezählt); § 14 NdsKomVG (20.000/30.000); § 4 GO NW (20.000/60.000); § 6 GemO RP (25.000); § 4 III KSVG SL (30.000); § 3 II SächsGemO (17.500); § 6 IV ThürKO (Einzelfallentscheidung).

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und – außer in Hessen – einen besonderen staatlichen Akt der Statusverleihung voraus. Gemeinden mit privilegiertem Status erfüllen in den meisten Ländern neben ihren Aufgaben als kreisangehörige Gemeinden im übertragenen Wirkungskreis auch einen Teil derjenigen Aufgaben, die sonst nur von den kreisfreien Städten, im Landkreis normalerweise von den Kreisverwaltungsorganen als unterer staatlicher Verwaltungsbehörde wahrgenommen werden. Außerdem können für privilegierte kreisangehörige Gemeinden Abweichungen im normalen Instanzenzug der Rechtsaufsicht bestehen.

Spezialliteratur: Brüning Zur Reanimation der Staatsaufsicht über die Kommunalwirtschaft, DÖV 2010, 553; ders/ Vogelgesang Die Kommunalaufsicht, 2. Aufl 2009; Dehmel Übertragener Wirkungskreis, Auftragsangelegenheiten und Pflichtaufgaben nach Weisung, 1970; Falk Die kommunalen Aufgaben unter dem Grundgesetz, 2006; Franz Die Staatsaufsicht über die Kommunen, JuS 2004, 937; Groß Was bedeutet „Fachaufsicht“?, DVBl 2002, 793; Humpert Genehmigungsvorbehalte im Kommunalverfassungsrecht, 1990; Kahl Die Staatsaufsicht, 2000; Keller Die staatliche Genehmigung von Rechtsakten der Selbstverwaltungsträger, 1976; Knemeyer Staatsaufsicht über Kommunen, JuS 2000, 521; v Komorowski Amtshaftungsansprüche von Gemeinden gegen andere Verwaltungsträger, VerwArch 93 (2002) 62; Kremer Kommunalisierung als Element der Verwaltungsreform VerwArch 102 (2011) 242; Lange Orientierungsverluste im Kommunalrecht: Wer verantwortet was?, DÖV 2007, 820; Oebbecke Kommunalaufsicht – nur Rechtsaufsicht oder mehr?, DÖV 2001, 406; Oldiges Die Gemeinde im übertragenen Wirkungskreis, GS Burmeister, 2005, 269; K. Stein Privatisierung kommunaler Aufgaben – Ansatzpunkte und Umfang verwaltungsgerichtlicher Kontrolle, DVBl 2010, 563; Schenk Grundlegende Strukturen der Verwaltungsorganisation, -aufgaben und -zuständigkeiten in Baden-Württemberg, VBlBW 2003, 461 u 2006, 228; Schmidt-Jortzig Rechtsschutz der Gemeinden gegenüber fachaufsichtlichen Weisungen bei der Fremdverwaltung, JuS 1979, 488; Schoch Die staatliche Rechtsaufsicht über Kommunen, Jura 2006, 188; ders Die staatliche Fachaufsicht über Kommunen, Jura 2006, 358; Scholz Der Rechtsschutz der Gemeinden gegen fachaufsichtliche Weisungen, 2002; Schrapper Kommunale Selbstverwaltungsgarantie und staatliches Genehmigungsrecht, 1992; Schröder Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, JuS 1986, 371; Shirvani Neues Steuerungsmodell und Kommunalaufsicht, DÖV 2009, 29; Viegener Drittschutz staats-, wirtschafts- und gemeinschaftsaufsichtsrechtlicher Bestimmungen, 2007; Vietmeier Die staatlichen Aufgaben der Kommunen und ihrer Organe, 1992; Weiß Erwerb, Veräußerung und Verwaltung von Vermögensgegenständen, 1991.

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V. Gemeindeverfassungsrecht 1. Kommunalwahlen a) Grundsätze 85 Die Kommunalwahlen sind der Ausgangspunkt der demokratischen Verfassungsstruktur, die der Gesetzgeber nach Art 28 I 2 GG für die kommunale Ebene vorsehen muss (o Rn 17 f). Kommunalwahlen sind vor allem die Wahlen zu den kommunalen Vertretungskörperschaften. Sie sind nach den auch für Bundes- und Landtagswahlen verpflichtenden Grundsätzen der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl vorzunehmen (Art 28 I 2 GG), die durch die Landesverfassungen zum Teil wiederholt und ergänzt werden und in den Kommunalwahlgesetzen ihre rechtstechnische Ausformung gefunden haben.227 Im weiteren Sinne zählen zu den Kommunalwahlen auch die direkt von den Bürgern vorgenommene Wahl des Bürgermeisters und die direkten Wahlen zu Ortschaftsräten.

_____ 227 Dazu Dreier in: ders, GG, Art 28 Rn 70 ff; Tettinger in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art 28 Rn 95 ff; ausf (mit Nachw der Rechtsgrundlagen) H. Meyer HkWP I, § 28; Saftig Kommunalwahlrecht 1990. Zum Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit BVerfGE 99, 69 (steuerliche Behandlung von Wählervereinigungen); BVerwG NVwZ 1997, 291; 2001, 928; BayVGH NVwZ-RR 2004, 440; HessStGH NVwZ 1996, 161 m krit Bspr Kleindiek NVwZ 1996, 131; Oebbecke DV 31 (1998), 219; zur verfassungsprozessualen Durchsetzbarkeit BVerfGE 99, 1. Zur Freiheit der Wahl BVerwGE 118, 101, 106 ff (Wahrheitspflicht im Wahlkampf).

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Im Wahlrecht der kommunalen Vertretungskörperschaften herrscht das System der Verhältniswahl vor. Eine landesgesetzliche Anordnung bestimmter Unterschriftenquoren ist von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bisher als zulässig angesehen worden.228 Die Flächenländer kennen bei Kommunalwahlen inzwischen keine 5%-Sperrklausel mehr.229 Den Besonderheiten der lokalen Politik mit ihrer stärkeren Personenbezogenheit und der Existenz sog Rathausparteien versuchen die Kommunalwahlgesetze durch mancherlei Einschübe personalisierender Wahlelemente gerecht zu werden. Insbesondere das System der „starren Liste“, bei der die Wähler an das personelle Angebot der vorschlagenden Parteien oder Wählergruppen strikt gebunden sind, wird zu modifizieren gesucht. So hat der Wähler in einigen Ländern mehrere Stimmen, die er, statt sie auf die Kandidaten einer Liste zu verteilen, auch auf einen Listenkandidaten zusammenziehen (kumulieren) oder auf Kandidaten verschiedener Listen verteilen kann (panaschieren).230

b) Rechtsschutz bei Kommunalwahlen Nicht nur wegen des komplizierten Wahlsystems sind Kommunalwahlen reich an Rechtsstreitig- 86 keiten. Zu den Streitigkeiten im Umfeld der Wahlen gehören die Auseinandersetzungen um die Nutzung gemeindlicher Einrichtungen (Plakatwände, Stadthallen) für die Wahlwerbung. Soweit es hierbei um die gleichmäßige Zulassung zur Nutzung öffentlicher Einrichtungen geht, vollziehen sich diese gerichtlichen Verfahren in den normalen Klagearten des Verwaltungsprozessrechts. Materiell ist eine gesteigerte Neutralitätspflicht der Gemeinde in Wahlkampfzeiten zu beachten.231 Der eigentliche Rechtsschutz im Wahlrecht betrifft dagegen vor allem einerseits die unmittelbaren Wahlvorbereitungsentscheidungen, also Fragen der Eintragung in das Wählerverzeichnis, der Erteilung des Wahlscheines und der Zulassung der Wahlvorschläge und andererseits Wahlprüfungs- und Wahlanfechtungsfragen. Die verfassungsrechtliche Problematik eines angemessenen Rechtsschutzes (Art 19 IV GG) gegenüber diesen Entscheidungen ist aus dem Bundestags- und Landtagswahlrecht bekannt. Die Kommunalwahlgesetze der Länder haben auf sehr unterschiedliche Weise versucht, diesem Interessenwiderspruch zwischen subjektivem Individualrechtsschutz auf der einen Seite sowie der Wahl als einem zeitgebundenen Kollektivvorgang und dem Bestandsschutz des gewählten Organs auf der anderen Seite gerecht zu werden.232 Teilweise werden nach vorgeschalteten internen Kontrollverfahren (Einspruch, Beschwerde) schon bei den genannten Wahlvorbereitungsentscheidungen auch die Verwaltungsgerichte eingeschaltet;233 andere Länder behandeln die internen Kontrollverfahren dagegen als

_____ 228 BVerfGE 6, 121, 130; E 12, 10, 27; BayVerfGH BayVBl 1995, 624 u 1996, 333; LVerfG LSA DÖV 2001, 556; OVG Weimar LKV 2001, 317; J Lege Unterschriftenquoren zwischen Parteienstaat und Selbstverwaltung, 1996. Zur Beglaubigung der Unterstützungsunterschriften durch möglicherweise „befangenen“ Bürgermeister BVerwG NVwZ 2003, 619; zur Einbringung von Wahlvorschlägen durch Parteien SächsVerfGH SächsVBl 2012, 216. 229 In Bremen gibt es bei der Wahl zur Stadtbürgerschaft noch eine 5%-Sperrklausel, diese Wahl hängt aber eng mit der zur Bremischen Bürgerschaft, dem Landesparlament zusammen. Dazu ausf Ehlers FS Schmidt-Jortzig, 153. Wo es solche Klauseln gab, bestanden zuletzt erhebliche Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit BVerfGE 120, 82 (Tz 119 ff für S-H); für Thür ThürVerfGH NVwZ-RR 2009, 1; davor bereits VerfGH NW DVBl 1999, 1271; LVerfG MV LKV 2001, 270; dazu Krajewski, DÖV 2008, 345. 230 Dazu H. Meyer HkWP I § 20 Rn 80 ff; Saftig Kommunalwahlrecht, 330. 231 Dazu BVerwGE 104, 323 o JK GG Art 5 I 1/26; VerfGH RP NVwZ 2002, 78; zurückhaltender für das einzelne Ratsmitglied VGH BW NVwZ-RR 1998, 126. Zur Wahlwerbung im Amtsblatt OVG RP DÖV 2001, 830; BVerwG NVwZ 2001, 928. 232 BVerwGE 118, 101; OVG NW DVBl 2012, 588 u BVerwG DVBl 2012, 916. Zum Wahlrecht auf Bundesebene BVerfGE 103, 111, 134 f. 233 ZB § 6 III KWG BW; Art 12 III BayGLKrWG; § 13 II KWG RP für Wählerverzeichnis; für Wahlvorschläge § 8 IV KWG BW.

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exklusiv und verweisen auf die Wahlprüfung,234 die jeder Wahlberechtigte ex post einleiten kann. Zur Ungültigkeit der Wahl führt ein Wahlprüfungsverfahren in allen Ländern nur dann, wenn ein Wahlfehler festgestellt wird und dieser möglicherweise Einfluss auf die Sitzverteilung hat.235 Nicht alle Landesregelungen dürften, sofern sie den Individualrechtsschutz in Wahlangelegenheiten rigoros einschränken oder hinausschieben, mit Art 19 IV GG vereinbar sein.236

2. Überblick: Die Gemeindeorgane 87 Das Recht des internen Gemeindeaufbaus (Gemeindeverfassungsrecht ieS) beschäftigt sich mit den Arten und dem Zusammenwirken der Gemeindeorgane. Alle Gemeindeordnungen kennen wenigstens zwei Hauptorgane, den Gemeinderat als zentrales Beschlussorgan und ein Hauptverwaltungsorgan, das in den meisten Ländern monokratisch (Bürgermeister), in Hessen kollegial (Gemeindevorstand) verfasst ist.237 Status und gegenseitige Zuordnung dieser Organe waren früher länderweise recht unterschiedlich geregelt. Die Geschichte des Kommunalrechts überliefert zur Kennzeichnung dieser Unterschiede die Begriffe Bürgermeister-, Magistrats- und Ratsverfassung.238 In jüngerer Zeit haben sich die Kommunalverfassungen der Bundesländer deutlich angenähert, so dass diese Bezeichnungen kaum noch Erklärungswert besitzen. 88 Alle Gemeindeordnungen folgen – mit Modifikationen in Hessen – derselben ausgeprägt dualistischen Struktur:239 In ihr steht dem direkt vom Volk gewählten Gemeinderat (Art 28 I 2 GG) ein ebenso durch direkte Wahl (Urwahl) legitimierter Bürgermeister gegenüber. Stark vereinfacht lässt sich sagen: Der Rat repräsentiert das politische, der Bürgermeister das administrative Teilsystem der Gemeinde. In den Details sind Rechtsstellung und Zusammenspiel der Hauptorgane freilich länderweise nach wie vor unterschiedlich ausgestaltet.240 So werden die Fragen nach einer Abwahl des Bürgermeisters während seiner Amtsperiode, nach seiner Stellung im Gemeinderat und nach dem Bestand seiner festen Kompetenzen („Vorbehaltsaufgaben“) von den Gemeindeordnungen unterschiedlich beantwortet. Alle Strukturüberlegungen ersetzen jedoch nicht die exakte Orientierung an den Vorschriften des jeweiligen Landesrechts, die uU neben Gemeinderat und Bürgermeister noch ein weiteres Organ (Brandenburg: Hauptausschuss, Niedersachsen: Verwaltungsausschuss 241 ) kennen oder noch einmal zwischen hauptamtlichen und ehrenamtlichen Bürgermeistern (in kleinen Gemeinden, zB Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein) differenzieren. Erst die präzise Analyse ermöglicht Aussagen über das Gefüge der Machtverteilung zwischen den Hauptorganen, von dem eine

_____ 234 § 46 II NdsKWG; § 11 V KWG NW für Wählerverzeichnis; zur einstweiligen Anordnung OVG NW NWVBl 2011, 269. 235 Zur Ergebnisrelevanz von Wahlfehlern a BVerwGE 118, 101, 105; SächsVerfGH NVwZ-RR 1998, 124, HessVGH NVwZ-RR 2004, 58. 236 H. Meyer HkWP I, § 20 Rn 133; Saftig Kommunalwahlrecht, 1990, 220; Ehlers in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 40 Rn 177; aA OVG NW NWVBl 2011, 269, zurückhaltend a BVerfG-K v 10.11.2010 – Az 2 BvR 1946/10 u v 8.8.2012 – Az 2 BvR 1672/12. Zur Klagebefugnis BVerwG NVwZ 2012, 969. 237 Gern DtKomR, Rn 313 ff. Zu Hess s Rn 109. Zur Schaffung weiterer Organe BayVGH BayVBl 2004, 494 (Volksfestbeirat). Zu den Stadtstaaten vgl die Beiträge in HkWP I, §§ 26a–c. 238 Überblick bei Maurer AllgVwR, § 23 Rn 9; Schröder in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II, § 16 Rn 65. 239 Knemeyer JuS 1998, 193: „duale Rat-Bürgermeister-Verfassung“. Einen vom Rat, dh indirekt gewählten Bürgermeister gibt es noch in ehrenamtlich verwalteten Gemeinden SH (§ 52 I GO SH) bzw in den Mitgliedsgem v Samtgemeinden in Nds (§ 105 I 1 I KomVG). 240 Dazu ausf J. Ipsen HkWP I, § 24 sowie die Schaubilder bei Waechter KomR, Rn 268; instr zu den Konsequenzen der Unterschiede Banner DfK 2006/II, 57; Holtkamp DÖV 2008, 94; zu unterschiedlichen Konzepten der politischen Willensbildung Bogumil DV 43 (2010), 151; Überblick auch bei Mehde DVBl 2010, 465. 241 §§ 49 ff BbgKVerf; §§ 74 ff NdsKomVG.

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Gemeindeordnung rechtlich ausgehen will. Erst sie befähigt dann auch zur systematischen Interpretation, die aus dem Gesamtzusammenhang dieser Regeln Erkenntnisse zu gewinnen versucht. Eine Kommunalverfassung, die den besonderen Aufgaben einer das bürgerschaftliche 89 Engagement weckenden Selbstverwaltung den Rahmen gibt, verlangt „institutionelle Arrangements“, die sich aus einer Vielzahl von Elementen im richtigen Mischungsverhältnis zusammensetzen.242 Dabei kommt dem Rat, der als einziges Organ der Gemeinde verfassungsrechtlich gefordert wird (Art 28 I 2 GG) eine besondere Bedeutung zu. Auch soweit die Landesgesetze dem Bürgermeister eine eigene direkte demokratische Legitimation verschaffen,243 bleibt es der Rat, der die demokratische Repräsentation des Gemeindevolks sicherstellt.

3. Der Gemeinderat a) Zusammensetzung und Mitgliederstatus Der Gemeinderat244 ist die gewählte Repräsentation der Bürgerschaft; gleichwohl ist er kein 90 Parlament,245 sondern, wie die Gemeinde insgesamt, Teil der Exekutive. Begriffe und Regeln des Parlamentsrechts lassen sich nur im Ausnahmefalle auf ihn übertragen.246 Soweit er als „Vertretungskörperschaft“ bezeichnet wird, liegt dem ein erweiterter Körperschaftsbegriff zugrunde. Jedenfalls ist damit dem Rat keine Rechtsfähigkeit zuerkannt. Letztere besitzt allein die Gemeinde, deren Organ er ist. Das schließt nicht aus, dass der Gemeinderat intern im Verhältnis zu anderen Gemeindeorganen Träger von organschaftlichen Rechten ist und diese gerichtlich durchsetzen kann (Rn 113 ff). Mitglieder des Gemeinderates sind die aus unmittelbaren Wahlen (Art 28 I 2 GG) hervor- 91 gegangenen Gemeindevertreter. Die Mitgliederzahl richtet sich nach der Einwohnergröße. Zu den solchermaßen gewählten Mitgliedern tritt in einigen Ländern der Bürgermeister (vgl Rn 94).247 Die Mitglieder haben ein kommunalrechtliches Mandat eigener Prägung, das die meisten Gemeindeordnungen mit dem Rechts– und Pflichtenstatus ehrenamtlich Tätiger bezeichnen.248 Jedenfalls sind sie Inhaber eines öffentlichen Amtes – auch im haftungsrechtlichen Sinne (Art 34 GG iVm § 839 BGB)249 –, nicht jedoch (Ehren-)Beamte.250 Die Institute der parlamen-

_____ 242 Dazu auch Burgi KomR, § 10 Rn 6 ff; v Arnim FS 50 Jahre HS f Verw Speyer, 297; vgl a v Kodolitsch AfK 39 (2000) 159. 243 Das war der Trend im Rahmen der Kommunalverfassungsreformen Ende der 90er Jahre, vgl J. Ipsen HkWP I, § 24 Rn 20 ff; kritische Bilanz bei v Arnim DÖV 2002, 585; zur Fortsetzung des Trends in neuerer Zeit Mehde DVBl 2010, 465, 466 f. 244 Die Bezeichnung der Gemeindevertretung ist in den verschiedenen Bundesländern nicht einheitlich: „Gemeinderat“ in BW, Bay, RP, SL, Sachs, LSA u Thür; „Rat“ in NW und Nds; „Gemeindevertretung“ in Bbg, Hess, MV, SH; „Stadtverordnetenversammlung“ in Bremerhaven, den Städten in Bbg u Hess; MV u SH: „Stadtvertretung“; Bay, RP, Sachs, LSA, Thür: „Stadtrat“; vgl allg Ehlers Jura 1988, 337. In manchen GOen werden die Mitglieder der Gemeindevertretung selbst als „Gemeinderat“ bezeichnet, zB § 25 I GemO BW. 245 BVerfGE 65, 283, 289 o JK BBauG § 12/2; E 78, 344, 348; NVwZ 2008, 407, 411 (Tz 122); BVerwGE 97, 223, 225; aM Ott Parlamentscharakter; „zumindest“ für Hess H. Meyer in: Meyer/Stolleis StuVwR Hess, 196 f; früher auch BVerfGE 21, 54, 62 f, im Vergleich zum Parlament v Ungern-Sternberg Jura 2007, 256 u Schmidt KomR, Rn 383 ff, insb Rn 400. 246 Schröder Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, 37 ff; Erichsen KomRNW 97; eher für eine Übertragbarkeit BayVerfGH NVwZ 1985, 823; Bick Ratsfraktion, 32 ff; Dolderer DÖV 2009, 146. 247 BW; Bay; Bbg; Nds; NW; RP; Sachs; LSA; Thür; nur Vorsitz: SL. 248 Zu Einzelheiten Ehlers HkWP I, § 21 Rn 12 ff u 18 ff. 249 Std Rspr BGHZ 106, 323, 330; BGH NJW 1994, 253 (254 – in BGHZ 123, 363 nicht abgedr). Zur Haftung der Gemeinde für rechtswidrige Ratsbeschlüsse Mader BayVBl 1999, 168. Amtsträger nach § 11 Nr 2 StGB sind Gemeinderäte hingegen nicht, BGHSt 51, 44 Rn 22 ff o JK StGB § 331/11; BGH NStZ 2007, 36 Rn 9. 250 „Berufsmäßige Gemeinderatsmitglieder“ gem Art 40, 41 I 1 GO Bay werden zu Beamten auf Zeit ernannt; sie haben eine Doppelstellung.

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tarischen Immunität und Indemnität sind dem kommunalrechtlichen Mandat fremd. 251 Die Ratsmitglieder entscheiden im Rahmen der Gesetze nach ihrer freien, nur durch das öffentliche Wohl bestimmten Überzeugung; an Verpflichtungen und Aufträge, durch die diese Freiheit beschränkt wird, sind sie nicht gebunden.252 Inkompatibilitätsvorschriften, zB gegen die gleichzeitige Mitgliedschaft Verheirateter im Gemeinderat,253 sollen dieses Ziel unabhängiger Amtsführung unterstützen.254 92 aa) Rechts- und Pflichtenstatus: Im Einzelnen wird der Status des Ratsmitglieds durch ein Netz von Regelungen bestimmt, in dem dem Hauptrecht auf Mandatsausübung und einigen Annexrechten (Aufwandsentschädigung, Fürsorge bei Dienstunfall) eine Anzahl von Pflichten gegenübersteht. Mit ihnen versuchen die Gemeindeordnungen das für die Selbstverwaltung erwünschte, aber auch prekäre Element eines Entscheidens in geringer Distanz zum Sachvorgang rechtsstaatlich auszubalancieren. Hierher gehören ein Verschwiegenheitsgebot255 und gewisse Neutralitätspflichten. So darf ein Ratsmitglied regelmäßig Ansprüche und Interessen eines anderen gegen die Gemeinde nicht geltend machen, soweit er nicht als gesetzlicher Vertreter handelt („kommunales Vertretungsverbot“).256 93 bb) Insbesondere Befangenheitsvorschriften: Im kommunalen Alltag besonders bedeutsam sind die Vorschriften der Gemeindeordnungen über den Ausschluss befangener Ratsmitglieder.257 Sie haben einen ähnlichen Aufbau wie § 20 VwVfG, betreffen aber andere Vorgänge und Adressaten. Kommunalrechtliche Mitwirkungsverbote bestehen bei Angelegenheiten, die dem Ratsmitglied selbst, seinen Familienangehörigen oder sonstigen natürlichen oder juristischen Personen, zu denen eine spezielle Bindung besteht, einen unmittelbaren258 Vorteil oder Nachteil bringen können.259 Dafür kommt es darauf an, ob der Ratsherr bzw die ihm nahe stehende Person an dem Ergebnis der Entscheidung ein „individuelles Sonderinteresse“ hat260 und der Eintritt des Vor- oder Nachteils hinreichend wahrscheinlich261 ist. Das ist bei einer Einzelmaßnahme, die sich auf ein Ratsmitglied bezieht, zB einem Bauvorhaben oder einem Rechtsgeschäft, der Fall; bei gemeindlicher Rechtsetzung liegt eine Befangenheit in der Regel fern. Allerdings ist für den Erlass eines Bebauungsplans der im Planbereich Eigentum besitzende Ratsherr wegen Be-

_____ 251 Ausnahme in Bay: Art 51 II GO (nur für Abstimmungsverhalten). 252 So ausdr zB § 32 III GemO BW, § 43 I GO NW; § 35 III SächsGemO; vgl a BVerwGE 90, 104 ff. Zur verantwortungsbewussten Amtswahrnehmung in der Öffentlichkeit VGH BW NVwZ-RR 2001, 262 o JK GG Art 5 I/29. 253 Vgl a BVerfGE 93, 373, 377 f o JK GG Art 28 I 2/23; dazu Engelken DÖV 1996, 853. 254 BVerwGE 117, 11, 15 ff o JK GG Art 137/4; BbgVerfGH NVwZ 1996, 590 o JK GG Art 137/3 u DÖV 1998, 1055; LVerfG LSA NVwZ-RR 1995, 457 sowie 1999, 462. 255 OLG Frankfurt NVwZ 1982, 215; VG Minden NVwZ 1983, 495; BayVGH BayVBl 2004, 402. 256 § 17 III GemO BW; § 23 I BbgKVerf; § 26 HessGO; § 26 KV MV; § 42 I NdsKomVG; § 43 II iVm § 32 I 2 GO NW; § 21 I 2 GemO RP; § 19 III SächsGemO;, eingeschränkt § 26 II KSVG SL; § 30 III GO LSA; § 23 GO SH. Dazu BVerfGE 41, 231, 241 ff; E 52, 42, 53 ff; E 56, 99, 107 ff – Bürogemeinschaft; E 61, 68, 72 ff – Sozietät – o JK GO NW § 24/2; BVerfG-K NJW 1988, 694 o JK GG Art 72, 74 Nr 1/1; BVerwG NJW 1988, 1994; BVerwG DÖV 1990, 255 – Richteramt; OVG BlnBbg v 12.5.2011 – Az 9 L 11.11; Schoch Vertretungsverbot, 11, 27 ff; ders JuS 1989, 531. 257 § 18 GemO BW; Art 49 GO Bay; § 31 II iVm § 22 BbgKVerf; § 25 HessGO; §24 KV MV; § 41 NdsKomVG; § 43 II iVm § 31 GO NW; § 22 GemO RP; § 27 KSVG SL; § 20 SächsGemO; § 31 GO LSA; § 22 GO SH; § 38 ThürKO. Dazu Röhl, Jura 2006, 725; Ehlers HkWP I, § 21 Rn 22 ff. Allgemein Fehling, Verwaltung zwischen Unparteilichkeit und Gestaltungsaufgabe, 2001. 258 § 31 I 1 GO LSA: „besonderen“. Krebs VerwArch 71 (1980) 181; v Arnim JA 1986, 1. In Nds, NW und Thür haben die Gesetzgeber eine enge gesetzliche Definition dieses Begriffs vorgenommen. 259 Zusätzlich schließen alle GOen (ausg Nds) auch dasjenige Ratsmitglied aus, das in anderer als öffentlicher Eigenschaft in der Sache bereits ein Gutachten abgegeben hat oder sonst tätig geworden ist („sachliche Befangenheit“), dazu Röhl Jura 2006, 725, 731; VGH BW VBlBW 1989, 458. 260 VGH BW NVwZ-RR 1993, 504 u 1997, 183; Borchmann NVwZ 1982, 17; v Arnim JA 1986, 1, 3 mwN. 261 Nds, NW und Thür fordern direkte Kausalität.

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fangenheit ausgeschlossen262 (nicht Nds263), nicht jedoch der Bauunternehmer, der bei der Ausweisung eines neuen Baugebiets mit Aufträgen rechnet. Das Mitwirkungsverbot gilt ferner nicht bei Vorteilen oder Nachteilen, die nur darauf beruhen, dass jemand einer Berufs- oder Bevölkerungsgruppe angehört, deren gemeinsame Interessen berührt werden:264 Der hundebesitzende Ratsherr darf beim Erlass der Hundesteuersatzung gleichwohl mitwirken. Das Verbot erstreckt sich auf Abstimmungen, aber auch auf die Entscheidungsvorbereitung.265 Es zwingt dazu, die Beratung zu verlassen;266 bei öffentlicher Sitzung ist regelmäßig ein Verweilen im Zuhörerraum zulässig.267 Die Mitwirkung eines an sich ausgeschlossenen Ratsmitglieds macht je nach Gemeindeordnung den Beschluss entweder ohne Rücksicht auf das Stimmenverhältnis rechtswidrig („abstrakte Kausalität“)268 oder nur dann, wenn der Verstoß für das Abstimmungsergebnis entscheidend war („konkrete Kausalität“).269 Ist ein materiell mitwirkungsbefugtes Mitglied vom Gemeinderat fälschlich ausgeschlossen worden,270 wird man auf die konkrete Kausalität abstellen müssen,271 wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist.272 Bezieht sich der Verstoß gegen das Mitwirkungsverbot auf eine Satzung, kann er über die allgemeine Heilungsvorschrift für Satzungen unbeachtlich werden, wenn er nicht gerügt wurde (Rn 139).273 Für andere Fälle enthalten die Befangenheitsvorschriften häufig eigene Heilungsregelungen (nicht: Bayern, Nordrhein-Westfalen).

b) interne Organisation und Verfahren des Rates Der Gemeinderat ist ein Kollegialgremium, für dessen ordnungsgemäße Entscheidungsfindung 94 die Gemeindeordnungen zahlreiche Organisations- und Verfahrensregelungen treffen.274

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262 VGH BW ESVGH 14, 162, 165 f; VBlBW 2006, 390 o JK GO BW § 18/2; OVG NW NJW 1979, 2632 (2633) o JK GO NW § 23/1; OVG RP NVwZ 1986, 1048 o JK GemO RP § 22/3; bzgl Pächter: OVG Koblenz, DVBl 2011, 696, m Anm Waldhoff, JuS 2011, 1143. Krit Schmitt Glaeser, BWVBl 1968, 161 u 180. Bei Flächennutzungsplänen tritt ein Befangenheitsausschluss nur für besonders hervorgehobene Grundstücke ein, OVG NW NJW 1979, 2632. Vgl ferner BVerwGE 79, 200, 203; OVG RP NVwZ 1989, 674, NVwZ-RR 2000, 103; HessVGH NVwZ-RR 1989, 609; DÖV 2004, 41; VGH BW NVwZ-RR 1993, 97; NVwZ-RR 1998, 63 u 325. 263 In Nds gilt für den Normerlass kein Mitwirkungsverbot, sondern nur ein Transparenzgebot, § 41 III Nr 1 iVm IV 3 KomVG. 264 § 18 III 1 GemO BW; § 22 III Nr 1 BbgKVerf; § 25 I 2 HessGO; § 24 II Nr 1 KV MV; § 41 I 2 NdsKomVG; § 31 III Nr 1 GO NW; § 22 II 2. HS GemO RP; § 27 III Nr 1 KSVG SL; § 20 II Nr 2 SächsGemO; § 31 I 2 GO LSA; § 22 III Nr 1 GO SH; § 38 I 2 ThürKO. Hierzu SächsOVG v 4.6.2008 – Az 5 B 65/06, Tz 95 ff (Abwasserbeitragssatzung). 265 OVG Nds NVwZ 1982, 200; VGH BW NVwZ 1987, 1103 f. Den anderen Mitgliedern des Gemeinderates steht kein im Kommunalverfassungsstreit durchsetzbares Recht auf Ausschluss befangener Ratsmitglieder zu, OVG NW NVwZ-RR 1998, 525 u StuGR 2007, 38. 266 Ausdr zB § 22 IV 1 BbgKVerf; § 18 V GemO BW; § 25 IV 2 HessGO; § 41 V 1 NdsKomVG; § 31 IV 1 GO NW; § 20 IV SächsGemO; § 31 V GO LSA; § 38 I 4 ThürKO; dazu VGH BW NVwZ-RR 1995, 154. 267 § 22 IV 2 BbgKVerf; § 41 V 2 NdsKomVG; § 31 IV 1 GO NW; § 20 IV 2 SächsGemO; § 31 V 2 GO LSA; OVG RP NVwZ 1982, 204 o JK GemO RP § 22/1. Nicht zB gem § 22 IV GO SH. 268 Ausdr § 18 VI 1 GemO BW; § 25 VI 1 HessGO; § 24 IV KV MV; § 22 VI GemO RP; § 27 VI 1 KSVG SL; § 20 V 1 SächsGemO; § 31 VI GO LSA. Einschr für die Abfolge mehrerer Beschlüsse BVerwGE 79, 200; OVG RP NVwZ 1989, 674. 269 49 IV GO Bay, § 22 VI 1 BbgKVerf, § 41 VI 1 NdsKomVG u § 31 VI GO NW, § 22 V Nr 1 GO SH, § 38 IV 1 ThürKO, dazu OVG NW DVBl 1992, 448 o JK VwVfG § 35 S 2/8. 270 Dazu Müller-Franken BayVBl 2001, 136, Freiwilliges Fernbleiben ist hingegen unschädlich. 271 Str; aM Ehlers HkWP I, § 21 Rn 40; BayVGH nF 29, 37; Müller-Franken, BayVBl 2001, 136 (138 f). 272 Anderes bestimmt in § 18 VI 1 GemO BW; dazu VGH BW DÖV 1987, 448; zB a in § 24 IV 1 KV MV; § 22 VI 1 GemO RP u § 20 V SächsGemO. 273 Hill DVBl 1983, 1; Ausnahme: Art 49 IV GO Bay. 274 Zu Informationsrechten einzelner Ratsmitglieder, zB Protokolleinsicht, vgl OVG RP NVwZ 1988, 87; HessVGH DÖV 2001, 256; BayVGH BayVBl 2001, 666; VGH BW VBlBW 1989, 96 u NVwZ-RR 1990, 369, aber a NVwZ 2002, 229; speziell zum Minderheitenschutz Scholtis Minderheitenschutz in kommunalen Vertretungskörperschaften, 1986. Diff zum Akteneinsichtsrecht HessVGH NVwZ 2003, 1525, dazu Schütz NVwZ 2003, 1469.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

aa) Ratsvorsitzender: 275 Die für die Entscheidungsfindung im Kollegialorgan Gemeinderat wichtige Position des Ratsvorsitzenden vertrauen eine Reihe von Gemeindeordnungen kraft Amtes dem Bürgermeister an. In anderen Ländern wählt der Gemeinderat aus seiner Mitte einen eigenen Vorsitzenden.276 Der Vorsitzende beruft die Sitzungen des Gemeinderates ein. Er leitet die Verhandlung und hat für den ordnungsgemäßen Ablauf der Sitzung Sorge zu tragen. Im Regelfalle wird sich das durch die normalen Handlungen (Aufruf der Tagesordnungspunkte, Worterteilung, Führen einer Rednerliste) bewirken lassen. Die Gemeindeordnungen ermächtigen den Vorsitzenden jedoch auch, notfalls Ordnungsmaßnahmen (zB Wortentzug, Sitzungsausschluss) gegen störende Ratsmitglieder zu treffen,277 schwerere Ordnungsmaßnahmen sind in einigen Ländern nur auf Grund eines Gemeinderatsbeschlusses zulässig.278 Außerdem übt der Vorsitzende gegenüber externen Störern das Hausrecht aus; die entsprechenden Vorschriften der Gemeindeordnungen279 begründen ein spezielles öffentlich-rechtliches Hausrecht, das für die Sitzung anderen Hausrechten vorgeht.280 95 bb) Ratsgeschäftsordnung: Allgemeine Fragen des Verhandlungsganges und der Ratsorganisation (Sitzungstage, Sitz- und Stimmordnung) werden üblicherweise in einer Geschäftsordnung niedergelegt, die jeder Rat sich zu geben ermächtigt ist. Die Geschäftsordnung ist keine gemeindliche Satzung, sondern ein besonderer inneradministrativer Rechtssatz, der nur die Ratsmitglieder bindet281 und folglich über diesen Kreis hinaus förmlich nicht weiter bekannt gemacht sein muss. Anderen Gemeindeorganen oder Dritten kann die Geschäftsordnung keine neuen Pflichten auferlegen. Ob Geschäftsordnungsverstöße die Unwirksamkeit der betreffenden Entscheidung nach sich ziehen, ist streitig.282 Wird die Entscheidung im Außenrechtsverhältnis vollzogen, so wirkt sich ein Geschäftsordnungsverstoß jedoch nicht auf die Rechtmäßigkeit der vollziehenden Maßnahme aus.283 Geschäftsordnungen können regelmäßig mit einfacher Mehrheit abgeändert werden. Soll bestimmten geschäftsordnungsmäßigen Regeln erhöhte Beständigkeit beigelegt werden, so müssen sie förmlich als Satzung erlassen werden. 96 cc) Ratssitzungen: Das Forum für die Meinungsbildung und Entscheidungen des Gemeinderats soll unbeschadet aller vorbereitenden Ausschusstätigkeit die Ratssitzung sein, die regelmäßig öffentlich stattzufinden hat.284 Eine ordnungsgemäße Entscheidungsfindung setzt voraus,

_____ 275 Einzeldarstellung bei Gern DtKomR, Rn 354 ff; Ehlers HkWP I, § 21 Rn 48 ff. 276 Dies kann, wie zB in LSA, wiederum der Bürgermeister sein, wenn er kraft Amtes Sitz und Stimme im Gemeinderat inne hat. 277 Gern DtKomR, Rn 476 ff; OVG RP NVwZ 1988, 80; HessVGH DÖV 1990, 622. Hierzu gehört auch die Verhängung eines Rauchverbotes (OVG NW DVBl 1983, 53 o JK GO NW § 36 I/1 u 1991, 498 o JK GO NW § 36 I/2); Sitzungsausschluss wegen grober Ungebühr (VGH BW NVwZ-RR 1993, 505, VG Stade VR 2004, 71). 278 ZB § 36 III 2 GemO BW; Art 53 I 3 GO Bay; § 55 II 3 GO LSA. 279 § 36 I 2 GemO BW; Art 53 I 1 GO Bay; § 37 I BbgKVerf; § 58 IV 1 HessGO; § 29 I 5 KV MV; § 63 I NdsKomVG; § 51 I GO NW; § 36 II GemO RP; § 43 I KSVG SL; § 38 I 2 SächsGemO; § 55 I 2 GO LSA; § 37 S 2 GO SH; § 41 S 1 ThürKO. Speziell zur Abwehr von Tonbandaufnahmen in Ratssitzungen BVerwGE 85, 283 o JK GO Nds § 44 I/1. 280 So a Erichsen KomR NW, 109 f; vgl aber a OVG NW NVwZ-RR 1991, 35. Allg zum Hausrecht in der öffentlichen Verwaltung Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR, § 3 Rn 61; Papier, ebenda, § 39 Rn 48 ff; Maurer, AllgVwR, § 3 Rn 34; Stelkens Jura 2010, 363. 281 Diff Gern DtKomR, Rn 441. Zur Normenkontrolle gem § 47 I Nr 2 VwGO vgl BVerwG NVwZ 1988, 1119; VGH BW NVwZ-RR 2003, 56 o JK GO BW § 36/2. In Bay kann die GeschäftsO auch Regelungen im Verhältnis zw Rat und Bärgermeister enthalten, vgl Art 37 II 1 GO. Zu den Grenzen der Regelungsbefugnis OVG NW NVwZ-RR 1996, 222; OVG RP NVwZ-RR 1997, 310. 282 Zum Streitstand Ehlers HkWP I, § 21 Rn 47; OVG NW NVwZ-RR 1997, 184 o JK GO NW § 47 II/1; SächsOVG SächsVBl 2004, 244. 283 Ehlers HkWP I, § 21 Rn 47. 284 Dazu Gern DtKomR, Rn 465 ff u Rabeling NVwZ 2010, 411. Die Öffentlichkeit ist gewahrt, wenn der Zutritt jedermann ohne Ansehen der Person möglich ist; allgemeine Beschränkungen aus Kapazitätsgründen des Sitzungs-

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dass die Sitzung vorschriftsgemäß einberufen worden ist.285 Die dazu erforderliche Tagesordnung muss die Verhandlungsgegenstände so exakt nennen, dass die Ratsmitglieder wissen, was auf sie zukommt.286 Sie ist außerdem öffentlich bekannt zu machen. Die Festlegung der Tagesordnung fällt grundsätzlich in die Kompetenz des Ratsvorsitzenden; die Ratsmitglieder können die Aufnahme eines Gegenstandes beantragen.287 Eine Ergänzung der Tagesordnung in der Sitzung ist nach den einschlägigen Vorschriften nur unter einschränkenden Voraussetzungen zulässig. Ladungsmängel sind wesentliche Verfahrensmängel. Die Durchführung der Sitzung verlangt die Anwesenheit des für die Beschlussfähigkeit erforderlichen Mitgliederquorums.288 In der Sitzung sind die Verhandlungsgegenstände zu beraten und ggf einer Entscheidung zuzuführen. Die wichtigsten Entscheidungsformen sind die auf Verfahrens- oder Sachfragen bezogenen Abstimmungen, die im Regelfall öffentlich durch Handaufheben erfolgen und bei denen die Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheidet, 289 und Personalauswahlentscheidungen in der Form von Wahlen, für die die Gemeindeordnungen teilw diffizile Detailregelungen enthalten.290 dd) Ratsausschüsse: 291 Die Organisationskompetenz des Rates erstreckt sich darauf, Aus- 97 schüsse zu bilden.292 In einigen Fällen, zB für Haushaltsfragen, ist die Bildung in manchen Ländern gesetzlich vorgeschrieben (Pflichtausschüsse).293 Die Ausschüsse sind Unterorgane des Rates.294 Sie sollen grundsätzlich das Parteienspektrum des Rates widerspiegeln.295 Oft ist außerdem die Zuziehung sachkundiger Bürger oder Einwohner zulässig.296 Die primäre Aufgabe der Ausschüsse ist die vorherige Beratung und weitere Aufklärung einer Angelegenheit, über die später der Gemeinderat beschließen soll (beratende A). Daneben hat der Rat aber auch das Recht, Ausschüsse mit ratsvertretender Beschlusskompetenz einzusetzen (beschließende A); ausgenommen sind Vorbehaltsaufgaben des Rates oder anderer Gemeindeorgane (Rn 101).297

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raumes sind zulässig. Verstöße gegen das Öffentlichkeitsgebot stellen schwere Verfahrensfehler dar, die idR zur Nichtigkeit der solchermaßen gefassten Beschlüsse führen; Heermann Gemeinderatsbeschluß, 252 f; VGH BW NVwZ-RR 2001, 462. Zur Entscheidung im schriftlichen Verfahren Anderheiden VBlBW 2005, 470. 285 Einzelheiten dazu bei Gern DtKomR, Rn 445 ff. 286 VGH BW NVwZ-RR 1989, 91 u 1990, 369. 287 Vgl BVerwG NVwZ-RR 1993, 210. Inwieweit ein solcher Antrag wegen der Unzuständigkeit des Rates vom Ratsvorsitzenden abgelehnt werden darf, ist länderweise unterschiedlich geregelt; Schoch DÖV 1986, 132; BayVGH NVwZ 1988, 83 ff; VGH BW NVwZ-RR 1992, 204; OVG NW NVwZ 1984, 325 o JK GG Art 28 II 1/11. Zur Änderung des Initiativrechts durch die GeschO OVG NW NVwZ-RR 2004, 674 o JK VwGO § 42 II/27. 288 § 37 II GemO BW; Art 47 II GO Bay; § 38 BbgKVerf; § 53 HessGO; § 30 KV MV; § 65 NdsKomVG; § 49 GO NW; § 39 GemO RP; § 44 KSVG SL; § 39 II-IV SächsGemO; § 53 GO LSA; § 38 GO SH; § 36 ThürKO. 289 Zu Einzelheiten Gern DtKomR, Rn 494 ff. 290 Ehlers HkWP I, § 21 Rn. 91; VGH BW NVwZ-RR 1993, 657; OVG NW DÖV 1993, 1099. 291 Allg Gern DtKomR, Rn 408 ff. Zum Stimmrecht des ratsangehörigen Bürgermeisters können auch für einzelne Angelegenheiten differenzierende Regelungen getroffen sein, zB § 40 II 4–6 GO NW, dazu OVG NW NVwZ-RR 2004, 202. 292 Vgl. Ehlers HkWP I, § 21 Rn 62 ff. 293 ZB § 62 I 2 HessGO; § 35 I 1 KV MV; § 57 II 1 GO NW; § 48 I 2 KSVG SL; § 45a I 1 GO SH; § 26 I 3 ThürKO. 294 Nicht alle gemeindlichen Ausschüsse sind jedoch Ratsausschüsse; nicht zB der Umlegungsausschuss nach § 46 BauGB, der Gutachterausschuss nach § 192 BauGB; nur eingeschränkt der Jugendhilfeausschuss (vgl BVerwGE 97, 223 [227 f]), dieser steht als Teil des Jugendamtes und damit der Verwaltung der Gebietskörperschaft dem Rat gegenüber (vgl BVerwG v 18.6.2004, Az 8 B 41/04; OVG NW NWVBl 2004, 433). Zu besonderen Haupt- bzw Verwaltungsausschüssen in MV u Nds s Rn 81. 295 Art 33 I 2 GO Bay; § 71 II NdsKomVG; § 48 II KSVG SL; § 42 II SächsGemO; § 46 I GO SH; § 27 I 3 ThürKO. BVerwG DÖV 1978, 415 u NVwZ-RR 1993, 209; BVerwGE 90, 104, 109; E 119, 305, 307 ff o JK GG Art 20 II/4; Goerlich/Schmidt LKV 2005, 7. 296 § 41 I 3 GemO BW; § 43 IV BbgKVerf; § 71 VII NdsKomVG; § 58 III GO NW; § 44 I 2 GemO RP; § 49 III KSVG SL (keine Mitgliedschaft im Ausschuss); § 44 II SächsGemO; § 48 II GO LSA; § 46 III GO SH. 297 Keine Ausschüsse sind Beiräte, zB Ausländerbeiräte. Sie können mit beratenden und anregenden Aufgaben betraut werden, nicht aber verbindliche Entscheidungen für die Gemeinde treffen, BayVGH BayVBl 2012, 303, 303 f.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

Über die dem Rat verbleibenden Einflussmöglichkeiten auf Ausschussbeschlüsse, zB durch ein Rückholrecht, treffen die Gemeindeordnungen unterschiedliche Regelungen.298 Im Übrigen steht es schon aus Gründen demokratischer Legitimation der Gemeinde oder dem Gemeinderat nicht frei, Gremien beliebiger Zusammensetzung zu bilden und ihnen Entscheidungsaufgaben zuzuweisen.299 98 ee) Fraktionen sind ein weiteres wichtiges Element der Willensbildung im Rat.300 Hierfür sind sie in vielen Gemeindeordnungen ausdrücklich verankert.301 Grundlage der Ausgestaltung ihrer Rechtsstellung im Einzelnen ist die Geschäftsordnung des Gemeinderates. Die Zulässigkeit der Fraktionsbildung wird aus der internen Organisationsgewalt des Gemeinderates abgeleitet. Fraktionen sind folglich öffentlich-rechtlich organisiert; gerichtliche Streitigkeiten um ihre Rechtsstellung wie auch um die Mitgliedschaft in der Fraktion sind im Kommunalverfassungsstreit auszutragen (u Rn 113 ff).302 Aus dieser Rechtsnatur ergibt sich ebenfalls eine Zweckbindung staatlicher Zuwendungen an die Fraktionen, die nur zur Unterstützung der Ratsarbeit eingesetzt werden dürfen.303

c) Aufgaben des Gemeinderates 99 Entsprechend seiner zentralen Stellung hat der Rat die wichtigsten Führungs- und Kontrollaufgaben in der Gemeinde.304 Die Führungsaufgaben werden in Planungen, Rechtsetzungsakten und wichtigen Einzelentscheidungen einschließlich bestimmter Personalentscheidungen erfüllt. Für die Kontrollaufgaben gegenüber der Gemeindeverwaltung stellt das Kommunalrecht eine Reihe von Informations- und Auskunftsrechten zur Verfügung, denen entsprechende Berichts- und Rechnungslegungspflichten der Gemeindeverwaltung korrespondieren;305 ein förmliches Enquêterecht, wie es parlamentarische Gremien besitzen, existiert dagegen nicht. 100 aa) Systematik: Zur Orientierung bietet sich eine Dreiteilung an: – Vorbehaltsaufgaben des Rates: Diese in allen Gemeindeordnungen anzutreffende Gruppe umfasst eine Reihe wichtiger Aufgaben, die der Rat, von Dringlichkeitsfällen abgesehen,

_____ Zu § 27 GO NW vgl Erichsen, KomR NW 84 f. Zum Kommunalwahlrecht Rn 85. Zur Klagebefugnis Herbert DÖV 1994, 108. 298 ZB § 39 III 5 GemO BW; § 50 I 5 HessGO; § 44 III GemO RP; § 41 III 5 SächsGemO; § 45 II GO LSA; § 27 I 8 GO SH. 299 Vgl BayVGH NVwZ 1999, 1122. 300 Zu ihrer Rolle BVerwGE 90, 104; U. Bick Die Ratsfraktion, 1989; Hub Meyer Kommunales Parteien- und Fraktionenrecht, 1990; Ehlers HkWP I, § 21 Rn 47; Suerbaum HkWP I, § 22. 301 § 32 BbgKVerf (dazu VerfG Bbg LKV 2011, 411); § 36a HessGO; § 23 V KV MV; § 39b NdsKomVG; § 56 GO NW; § 30a GemO RP; § 35a SächsGemO; § 43 GO LSA; § 32a GO SH; § 25 ThürKO. Zur Festlegung von Fraktionsmindeststärken BayVGH NVwZ-RR 2000, 811; VGH BW NVwZ-RR 2003, 56 o JK GO BW § 36/2. 302 OVG NW NJW 1989, 1105; NVwZ 1993, 399; NVwZ-RR 2003, 376; HessVGH NVwZ 1992, 506; Erdmann DÖV 1988, 907; Schmidt-Jortzig/Hansen NVwZ 1994, 116; Lange JuS 1994, 116; Ziekow NWVBl 1998, 297. AM (privatrechtlicher Zusammenschluss) BayVGH NJW 1988, 2754 o JK VwGO § 40 I/19. Die Rechte der Fraktionen enden mit Ablauf der Wahlperiode, OVG Nds NdsVBl 2002, 135; SächsOVG SächsVBl 2005, 123; OVG RP AS 38, 297. Zu Besonderheiten in Hess H. Meyer in: Meyer/Stolleis StuVwR Hess, 206 ff. Zum Fraktionsausschluss HessVGH NVwZ 1999, 1369; Borchmann VR 2002, 11. 303 OVG NW NVwZ-RR 1993, 263 u DVBl 1993, 212; Bick Die Ratsfraktion, 98 ff; die Zuwendungen müssen gem Art 3 I GG auf die Fraktionen verteilt werden, BVerwG KommJur 2012, 374. Zur Unterstützung von Ratsgruppen ohne Fraktionsstatus OVG NW NVwZ-RR 2003, 59. 304 § 24 GemO BW; Art 30 GO Bay; § 28 BbgKVerf; § 50 HessGO; § 22 KV MV; § 58 NdsKomVG; §§ 41, 55 GO NW; § 32 GemO RP; § 34 KSVG SL; § 28 SächsGemO; § 44 GO LSA; § 27 GO SH; § 22 III ThürKO. 305 Darstellung bei Knirsch Information und Geheimhaltung im Kommunalrecht, 1987; Ehlers DVBl 1990, 1, 7; a Zilkens/Elschner DVBl 2002, 163; Petri NVwZ 2005, 399; Eiermann NVwZ 2005, 45; VGH BW DÖV 1992, 838; OVG NW NVwZ 1999, 1252.

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selbst entscheiden muss. Das Gesetz verbietet es, solche Entscheidungen zu delegieren; zulässig und üblich ist auch hier allerdings die Delegation der Entscheidungsvorbereitung. variabler Aufgabenkreis: In diese Gruppe fallen alle Aufgaben, die der Rat zwar nicht notwendig entscheiden muss, die er aber entscheiden kann. Die Regelungstechniken der Gemeindeordnungen sind hier unterschiedlich: Teilweise fallen diese Aufgaben originär zunächst dem Rat zu, der sie allgemein oder im Einzelfall delegieren kann. Teilweise wird für Aufgaben dieser Art aber auch eine Zuständigkeitsvermutung zugunsten eines anderen Organs gesetzlich begründet; der Gemeinderat ist dann jedoch ermächtigt, die Sache an sich zu ziehen. Vorbehaltsbereich anderer Organe: Hierher zählen alle diejenigen Aufgaben, die die Gesetze einem anderen Organ, vor allem dem Bürgermeister, zur eigenständigen und alleinigen Wahrnehmung übertragen. Auf diese Aufgaben kann der Rat weder Zugriff nehmen noch sonst verbindlich in sie hineinregieren. In der Frage, wie stark dieser Bereich ausgeprägt ist, variieren die Gemeindeordnungen: Die meisten Länder geben dem Bürgermeister eine betont eigenständige Stellung; vor allem die Zuständigkeiten des Bürgermeisters für die Geschäfte der laufenden Verwaltung, für Dringlichkeitsentscheidungen und sein gemeindeinternes Einspruchsrecht gehören hierher. Auch die anderen Gemeindeverfassungen kennen zwar solche Vorbehaltsaufgaben, weisen sie aber zT einem dritten Organ zu (s Rn 110 ff).

bb) Vorbehaltsaufgaben des Rates (Überblick): Zu den nicht delegierbaren Vorbehaltsauf- 101 gaben gehört der harte Kern der Führungsaufgaben. Die Gemeindeordnungen legen ihn durchgängig in langen Aufgabenkatalogen fest.306 Bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen finden sich darin übereinstimmend ua folgende Materien: – Erlass, Änderung und Aufhebung von Satzungen und anderem Ortsrecht, – Besetzung der Ausschüsse des Rates, – Regelung der allgemeinen Rechtsverhältnisse der Gemeindebediensteten, – Beschlussfassung über den Gemeindehaushalt, – Beschlussfassung über Errichtung, Erweiterung oder Auflösung wirtschaftlicher Unternehmen der Gemeinde. Weiter zählen die meisten Gemeindeordnungen hierher: die Festlegung allgemeiner Richtlinien, nach denen die Verwaltung geführt werden soll; die Entscheidung über die Unterhaltung öffentlicher Einrichtungen und die Entgelte und Tarife; ferner Gebietsänderungen und wichtige Ehrungen. Im Übrigen wird das Zusammenspiel zwischen dem Gemeinderat und den anderen Organen auch hier nicht allein durch Rechtsregeln repräsentiert. Natürlich gibt es allenthalben auch über die Kompetenzgrenzen hinweg informelle und formelle Kontakte zwischen den gemeindlichen Entscheidungsträgern: Eine rigide Trennung wäre ganz unangemessen. Initiative, Vorbereitung, Entscheidung und Vollzug sollen vielfältig miteinander verwoben sein. Bei den Vorbehaltsaufgaben ist nur die Entscheidungskompetenz besonders festgeschrieben.

4. Der Bürgermeister Das zweite Hauptorgan der Gemeinde ist der Bürgermeister307 als monokratisch organisierte 102 Instanz (zu kollegialen Formen Rn 109).

_____ 306 § 39 II GemO BW; Art 32 II GO Bay; § 28 II BbgKVerf; § 51 HessGO; § 22 III KV MV; § 58 II NdsKomVG; § 41 I GO NW; § 32 II GemO RP; § 35 KSVG SL; § 41 II SächsGemO; § 44 III GO LSA; § 28 GO SH; § 26 II ThürKO; Ehlers HkWP I, § 21 Rn 115. 307 Zumeist führt er den Titel „Bürgermeister“ („Erster Bürgermeister“ in Bayern), in kreisfreien Städten und teilweise in privilegierten kreisangehörigen Gem „Oberbürgermeister“.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

a) Status Bürgermeister sind Wahlbeamte. Ihre Wahl erfolgt heute in allen Bundesländern direkt durch die Bürger,308 meist unabhängig von den Wahlen zum Gemeinderat und mit anderer Amtsdauer, in wenigen Ländern zeitgleich mit den Wahlen zum Gemeinderat.309 Letztere Alternative soll einen stärkeren politischen Gleichklang zwischen beiden Organen bewirken.310 Der Gewählte wird nach Maßgabe des Beamtenrechts zum Beamten auf Zeit ernannt. Er ist im Regelfall hauptamtlich tätig; für kleinere Gemeinden kennen die Gemeindeordnungen den ehrenamtlich tätigen Bürgermeister im Status eines Ehrenbeamten. Sofern nicht besondere Vorschriften für kommunale Wahlbeamte bestehen (zB Art 34 V GO Bay), gilt das allgemeine Beamtenrecht. Eine Besonderheit des Kommunalrechts ist die Abwahlmöglichkeit. Sie existiert heute mit Ausnahme von Baden-Württemberg und Bayern in allen Ländern. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit war umstritten, im Ergebnis ist sie aber anzuerkennen.311 Besondere Verfahrensregeln, zB hohe Quoren für die Antragstellung (Gemeinderat) und für die Abwahlentscheidung, sollen gewährleisten, dass dieses Institut nicht zur kleinen Münze des kommunalpolitischen Alltags wird.

b) Aufgaben 103 Vorbehaltlich genauen Studiums des jeweiligen Landesrechts lassen sich die folgenden Grundzüge erkennen: aa) Ratszuarbeitung, Ratsvorsitz: Zu den Standardaufgaben gehört es, die Beschlüsse des Rates und der Ausschüsse verwaltungsmäßig vorzubereiten und unter der Kontrolle des Rates auszuführen. Sofern zu letzterem außenwirksame Rechtshandlungen notwendig sind, ist das (Außen-)Vertretungsrecht (Rn 108) der Transmissionsriemen, um dieselben vorzunehmen. Im Übrigen dürfen Vorbereitungs- und Ausführungsaufgaben nicht als bloß technische Hilfsfunktionen unterbewertet werden. Schon die verwaltungsmäßige Vorbereitung der Ratsbeschlüsse – die meinungsbildende Vorbereitung sollen vor allem die Ratsausschüsse leisten – gibt dem Bürgermeister im kommunalen Verfassungsleben Gewicht. Wesentlich erhöht ist dieses Gewicht natürlich dort, wo er zugleich Ratsvorsitzender ist (Rn 94). 104 bb) Einspruchsrecht: Zum eigenen Aufgabenkreis des Bürgermeisters in diesem Zusammenhang gehören gewisse Rügerechte gegenüber Beschlüssen des Gemeinderats und der Ausschüsse. Diese Institute dienen der innergemeindlichen Kontrolle und der Ausbalancierung des politischen Gewichts. – Alle Gemeindeordnungen weisen dem Bürgermeister die Aufgabe (Befugnis und Pflicht) zu, Beschlüsse des Rates, die seiner Ansicht nach das Recht verletzen, – regelmäßig mit auf-

_____ 308 § 45 GemO BW; Art 17 GO Bay; §§ 53 II BbgKVerf; § 39 HessGO; § 37 I KV MV; § 80 I NdsKomVG, § 65 GO NW; § 53 GemO RP; § 56 KSVG SL; § 48 SächsGemO; § 58 GO LSA; §§ 57, 61 GO SH; § 28 III ThürKO. Zu Ausnahmen o Fn 239. 309 Vgl Mehde DVBl 2010, 465, 467. In Bay werden Rat und Bürgermeister auf sechs Jahre gewählt, dennoch kann es zu unterschiedlichen Wahlterminen kommen: § 42 GLKrWG. Die Wahlperiode des ehrenamtlichen BM in Bbg stimmt mit der des Rates überein, § 73 KWahlG. Die Amtszeit der ehrenamtlichen Bürgermeister in SH endet mit der des Gemeinderats, von dem sie auch gewählt werden, § 52 II GO. 310 Vgl Ipsen HkWP I, § 24 Rn 23. 311 Ebenso Schröder in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II, § 16 Rn 84; krit Erichsen KomR NW, 122 f; positiver aufgrund Empirie Böhme DÖV 2012, 55.

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schiebender Wirkung – zu rügen.312 Der Gemeinderat befasst sich dann erneut mit der Angelegenheit. Bleibt er bei seinem Beschluss, so ist die Rechtsaufsichtsbehörde in die Sache einzuschalten. Neben diesem auf Rechtsgründe gestützten Rügerecht kennen einige Gemeindeordnungen die Befugnis, Ratsbeschlüssen, die das Wohl der Gemeinde gefährden, zu widersprechen. Eine Widerspruchspflicht besteht nicht. Beharrt der Gemeinderat auf seiner Entscheidung, so hat es dabei sein Bewenden.

cc) Geschäfte der laufenden Verwaltung: In diesem Geschäftskreis des kommunalen Alltags 105 ist der Bürgermeister nicht nur ausführendes Organ (Rn 108), sondern nimmt – sei es selbst, sei es durch seine Vertreter im Amt oder nachgeordnete Gemeindebedienstete – die Willensbildung vor. Der Begriff der Geschäfte der laufenden Verwaltung liegt nicht ein für allemal fest. Nach einem Definitionsversuch der Rechtsprechung fallen darunter „Geschäfte, die in mehr oder weniger regelmäßiger Wiederkehr vorkommen und zugleich nach Größe, Umfang, Verwaltungstätigkeit und Finanzkraft der beteiligten Gemeinde von sachlich weniger erheblicher Bedeutung sind“.313 Diese Faktoren (Häufigkeit, Bedeutung) werden ihrerseits durch Gemeindegröße, Üblichkeit und Leistungsfähigkeit bestimmt. Die Rechtsbeständigkeit dieses Aufgabenkreises ist länderweise unterschiedlich geregelt: – Die meisten Gemeindeordnungen314 rechnen die Geschäfte der laufenden Verwaltung zum festen gesetzlichen Aufgabenkreis des Bürgermeisters, den andere Organe nicht verkürzen dürfen. Erst wenn eine Angelegenheit der laufenden Verwaltung, zB durch das Aufsehen, das sie erregt, sozusagen den begrifflichen Rahmen laufender Geschäfte sprengt, kann der Gemeinderat sie an sich ziehen. – In den anderen Ländern kommt dem Bürgermeister ein solcher fester Aufgabenkreis nicht zu: Die Erledigung der Geschäfte der laufenden Verwaltung kann sich der Rat (bzw der Verwaltungs- bzw Hauptausschuss) im Einzelfall vorbehalten.315 Das Gleiche gilt für NW, wo diese Geschäfte nur als dem Bürgermeister vom Rat übertragen „gelten“, so dass der Rat sich eine andere Regelung allgemein oder für den Einzelfall vorbehalten kann.316 dd) Übertragene Angelegenheiten: In dieser Gruppe finden sich sehr unterschiedliche Aufga- 106 ben. – Teilweise handelt es sich um Aufgaben, die dem Bürgermeister vom Gemeinderat übertragen worden sind. Eine solche Übertragung ist – außer bei den Vorbehaltsaufgaben (Rn 101) – zulässig. Zulässig ist auch der Rückruf; allerdings muss er in der gleichen Form wie die Übertragung vorgenommen werden. – Teilweise handelt es sich um gesetzlich übertragene Angelegenheiten. Solche Übertragungen finden sich vor allem bei Weisungs– und Auftragsangelegenheiten (Rn 63 ff), bei denen mit der Übertragung der Aufgabe an die Gemeinde zugleich die innergemeindliche Zuständigkeit des Bürgermeisters gesetzlich vorgeschrieben wird.317 Das begründet einen festen

_____ 312 § 43 II GemO BW; Art 59 II GO Bay; § 55 BbgKVerf; § 63 HessGO; § 33 KV MV; § 88 I NdsKomVG; § 54 II GO NW; § 42 I GemO RP; § 60 I KSVG SL; § 52 II SächsGemO; § 62 III GO LSA; § 43 I GO SH; § 44 ThürKO. Dazu Binne Die interkommunale Widerspruchs- und Beanstandungspflicht, 1991. 313 BGH DVBl 1979, 514; BGHZ 92, 164, 173 f; a NJW-RR 1991, 223; dazu Leisner-Egensperger, VerwArch 2009, 161. 314 § 44 II GemO BW; § 54 I Nr 5 BbgKVerf (nur der hauptamtliche Bgm) § 38 III 2 KV MV (hauptamtl Bgm); § 47 I 2 Nr 3 GemO RP; § 59 III KSVG SL; § 53 II 1 SächsGemO; § 63 I GO LSA; § 55 I bzw § 65 I GO SH (hauptamtl Bgm); § 29 II Nr 1 ThürKO; vgl zu Art 37 I GO Bay BayVGH NVwZ-RR 2007, 405. 315 §§ 85 I Nr 7, 76 II NdsKomVG. 316 § 41 III GO NW; dazu Erichsen KomR NW, 116, 127; Sensburg Der kommunale Verwaltungskontrakt, 2004, 161 f. 317 Davon zu trennen sind die auf Gemeindeebene freilich nicht häufig anzutreffenden Fälle der Organleihe (s o Rn 78).

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Vorbehaltsbereich des Letzteren. Der Gemeinderat kann in diesen Kreis grundsätzlich nicht hineinregieren, es sei denn, das Gesetz räumt ihm gewisse Mitwirkungsbefugnisse ein oder gestattet den unmittelbaren Zugriff. 107 ee) Dringlichkeitsentscheidungen: Fast alle Gemeindeordnungen betrauen den Bürgermeister ferner mit Eilentscheidungen. In der Definition des Eilfalles und in dem einzuhaltenden Entscheidungsverfahren weichen die Landesgesetze allerdings erheblich voneinander ab.318 108 ff) Außenwirksame Entscheidungen: Verwaltungschef, rechtsgeschäftliche Vertretung, Beteiligungsrechte. Die Umsetzung der gemeindlichen Willensbildung ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – im Verhältnis zum Gemeinderat dem Bürgermeister anvertraut: Er ist Leiter des gemeindlichen Verwaltungsapparates (u Rn 124), er vertritt die Gemeinde nach außen (u Rn 147) und nimmt die gemeindlichen Interessen in den Aufsichtsräten, Gesellschafterversammlungen und ähnlichen Gremien von Unternehmen oder Verbänden, an denen die Gemeinde beteiligt ist, wahr (vgl Rn 128 f). Diese Befugnisse verleihen dem Bürgermeister beträchtliche Gestaltungsmöglichkeiten schon durch den besonderen Informationsvorsprung, den er sich durch diese Tätigkeiten erwirbt.

5. Besonderheiten kollegialer Leitungsgremien 109 a) Die hessische Gemeindeordnung sieht in der Tradition der Magistratsverfassung eine kollegiale Organisation des zweiten Gemeindeorgans vor. Dieser Gemeindevorstand besteht aus dem (direkt gewählten) Bürgermeister und den Beigeordneten (Stadträten), die vom Gemeinderat gewählt werden.319 Die Beigeordneten sind je nach Größe der Gemeinde gem besonderer Vorschriften in der Gemeindeordnung und der Hauptsatzung ehrenamtlich oder hauptamtlich tätig. Mitglieder des Gemeindevorstandes dürfen nicht zugleich Mitglieder des Gemeinderates sein. Die Aufgaben des kollegialen Gemeindevorstandes sind zu erheblichen Teilen die des Bürgermeisters in den anderen Bundesländern (§ 66 GO): So finden sich als typische Aufgaben auch hier ua die Vorbereitung und Ausführung der Beschlüsse der Gemeindevertretung, die Wahrnehmung der vom Rat delegierten Aufgaben, die Aufstellung des Haushaltsplanes und das Widerspruchsrecht. Die Gemeinde wird nach außen vom Gemeindevorstand vertreten. Der Bürgermeister nimmt im und gegenüber dem Kollegialgremium eine herausgehobene Stellung ein (§ 70 I GO), die seit 2000 noch weiter gestärkt worden ist:320 Er verteilt die Geschäfte, beruft das Kollegium ein, leitet die Verhandlungen, bereitet die Beschlüsse vor und führt sie aus. Bei Abstimmungen hat er das Recht des Stichentscheids. Anstelle des Gemeindevorstandes kommt ihm ein Eilentscheidungsrecht zu (§ 70 III GO). Gegen Beschlüsse des Gemeindevorstands steht ihm ein Widerspruchsrecht zu (§ 74 GO). In alleiniger Verantwortung nehmen die Bürgermeister die Aufgaben der Orts- und Kreisordnungsbehörden wahr (§ 4 II GO). b) In Rheinland-Pfalz existiert in Städten mit zwei oder mehr hauptamtlichen Beigeordneten 110 ebenfalls ein aus allen Beigeordneten und dem Bürgermeister gebildetes kollegiales Leitungsgremium, der Stadtvorstand. Der Bürgermeister bedarf zur Aufstellung der Ratstagesordnung und zu Eilentscheidungen der Zustimmung dieses Gremiums (§ 58 GO).

_____ 318 § 43 IV GemO BW; Art 37 III GO Bay; § 61 KSVG SL; § 52 III SächsGemO; § 62 IV GO LSA; §§ 50 III, 55 IV, 65 IV GO SH; § 30 ThürKO. In Bbg (§ 58 KVerf) im Einvernehmen mit dem Ratsvorsitzenden; in RP (§ 48 GO) im Benehmen mit den Beigeordneten; in MV (§§ 35 II 4 iVm 38 IV 2 bzw 39 III 3 KV) und NW (§ 60 I GemO) ist zunächst der Hauptausschuss eilzuständig; in Nds der Verwaltungsausschuss (§ 89 KomVG). 319 H. Meyer in: Meyer/Stolleis StuVwR Hess, 218 ff; Birkenfeld-Pfeiffer Kommunalrecht, Rn 541 ff; Kremer, VerwArch 102 (2011), 242, 262 ff; krit Lange DÖV 2007, 820, 824 f. 320 Schmidt-De Caluwe NVwZ 2001, 270.

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c) Kollegial organisiert, nicht aber als Magistrat einzustufen ist der Verwaltungsausschuss 111 in Niedersachsen (§§ 74–79 NdsKomVG, z Bezeichn vgl § 7 NdsKomVG). Er ist ein aus dem Bürgermeister, den Beigeordneten und ggf weiteren Ratsmitgliedern bestehendes Leitungsorgan. Der Verwaltungsausschuss bereitet die Beschlüsse des Rates vor, hat ein Einspruchsrecht gegen Ratsbeschlüsse, die das Wohl der Gemeinde gefährden, und beschließt über diejenigen Angelegenheiten, die nicht anderen Organen vorbehalten sind. Gegenüber dem Bürgermeister sind die Zuständigkeiten nach Maßgabe der §§ 76 II, 85 I NdsKomVG abgegrenzt. d) Zur Koordination der Ausschussarbeiten und zur eigenständigen Beschlussfassung über 112 eine Reihe „zwischen“ Rat und Bürgermeister liegender Materien existiert in Brandenburg ein Hauptausschuss. Er besteht aus Mitgliedern des Gemeinderates und dem Bürgermeister (§§ 49 f KVerf).321

6. Kommunalverfassungsstreit Im Geflecht der Kompetenzzuweisungen sind Reibereien zwischen den gemeindlichen Organen, 113 Teilorganen oder Organteilen nicht zu vermeiden. Der gerichtlichen Entscheidung solcher interoder intraorganschaftlicher Streitigkeiten dient das sog Kommunalverfassungsstreitverfahren. Diese Verfahren sind gerichtliche Auseinandersetzungen zwischen mehreren Organen oder innerhalb eines Kollegialorgans einer kommunalen Gebietskörperschaft (Gemeinde, Kreis) über die Rechtmäßigkeit des organschaftlichen Funktionsablaufs.322

a) Grundfragen und Entwicklung Die dogmatischen Schwierigkeiten, die die Ausbildung dieses Instituts im Richterrecht begleitet 114 haben, erklären sich vor allem historisch. Dem älteren Verwaltungsrecht, das sein Augenmerk fast ausschließlich auf die Außenrechtsbeziehungen richtete, mussten Rechtsbeziehungen innerhalb einer juristischen Person, hier also innerhalb der Gemeinde als rechtsfähiger Verbandspersönlichkeit, fremd bleiben. Inzwischen ist anerkannt, dass sich auch innerhalb einer juristischen Person öffentlichen Rechts die Beziehungen zwischen ihren Organen, Organwaltern und sonstigen Funktionsträgern nach Maßgabe des Rechts abwickeln (objektive Komponente). Diesen kompetenzrechtlich begründeten Rechtsstellungen ist dann eine dem klassischen subjektiven Recht vergleichbare gerichtliche Wehrfähigkeit zuzuerkennen, wenn sie nicht nur im Interesse des Gesamtorganismus, sondern zur Konstituierung von „Kontrastorganen“323 zum Zwecke inneradministrativer Gewaltenbalancierung zugewiesen sind (subjektive Komponente). Diese subjektive Komponente fehlt den Kompetenzen der einzelnen Behörden und Amtswalter im staatsunmittelbar-hierarchischen Organisationsbereich regelmäßig, „Insichprozesse“ sind bei diesen daher unzulässig; der Rechtsstellung der am kommunalen Willensbildungsprozess beteiligten Organe und Organteile ist sie dagegen häufig – nicht immer – eigen. Man kann von subjektiven Rechten iwS sprechen, die zwar nicht den Schutz des Art 19 IV GG genießen,324 wohl aber der im einfachen Verwaltungsprozessrecht erforderlichen Klagebefugnis genügen.325 Der subjek-

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321 Auch einige andere Länder (MV, NW) sehen gesetzlich einen Hauptausschuss vor, allerdings mit geringeren Kompetenzen; vgl Gern DtKomR, Rn 413. 322 Schoch JuS 1987, 783; Franz Jura 2005, 156; Rennert JuS 2008, 119; Schoch Jura 2008, 628; ders in Ehlers/ Schoch, Rechtsschutz im ÖR, § 28; Ehlers in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 40 Rn 129 ff; Bethge HkWP I, § 28. 323 Kisker Insichprozeß und Einheit der Verwaltung, 1965, 37. 324 Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, GG, Art 19 IV Rn 44; Wahl in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorb § 42 Abs 2 Rn 118 ff: „Rechtspositionen des organschaftlichen Rechtskreises“ als „apersonale Kompetenzen“; Schoch in Ehlers/ders, Rechtsschutz im ÖR, § 28 Rn 15. 325 HM, Wahl/Schütz aaO § 42 Abs 2 Rn 97 ff; Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn 59, 78 f mwN; Schlette Jura 2004, 90, 97 f; a BVerwG NVwZ 1985, 112; SächsOVG DVBl 1997, 1287.

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tiv-rechtliche Gehalt einer innergemeindlich-organschaftlichen Rechtsstellung ist im Einzelfall aus der Funktion und dem Schutzzweck der Kompetenznorm zu ermitteln. Standardfälle des Kommunalverfassungsstreits sind heute gerichtliche Auseinandersetzungen, zB zwischen dem Gemeinderat und dem Bürgermeister über den Umfang von Informationspflichten oder die Aufstellung der Tagesordnung, zwischen dem Gemeinderat und einem wegen Befangenheit ausgeschlossenen Ratsmitglied, zwischen dem Ratsvorsitzenden und einem Ratsmitglied über ein Rauchverbot oder Ordnungsmaßnahmen, oder zwischen dem Gemeinderat und einer Ratsfraktion über geschäftsordnungsmäßige Rechte.326

b) Einzelheiten 115 Der Einbau dieses Verfahrens in die einzelnen Normen und Institute des Verwaltungsprozessrechts dürfte mittlerweile im Wesentlichen geklärt sein:327 Kommunalverfassungsstreitverfahren sind öffentlich-rechtliche Streitigkeiten iSd § 40 I 1 VwGO, der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten ist also eröffnet. Dass es sich trotz der missverständlichen Bezeichnung um Streitigkeiten „nichtverfassungsrechtlicher Art“ handelt, und dass mit der kommunalen Verfassungsbeschwerde (Rn 47) keinerlei Verbindung besteht, bedarf eigentlich keiner Erwähnung mehr. Kläger und Beklagter im Kommunalverfassungsstreit sind nicht die das einzelne Organ bildenden Personen in ihrer natürlichen Rechtsstellung, sondern die Organe in ihrer organschaftlichen Stellung. Ihre Beteiligtenfähigkeit ergibt sich folglich nicht aus § 61 Nr 1 VwGO, sondern aus einer analogen Anwendung des § 61 Nr 2 VwGO;328 Klagegegner bzw passiv legitimiert ist daher das beklagte Organ bzw Organteil, nicht jedoch die Gemeinde.329 Hinsichtlich der Klageart besteht Einigkeit, dass das Verfahren in die normalen Klagetypen der VwGO einzupassen ist.330 Der Hinweis auf eine Klage sui generis ist bloß noch historische Reminiszenz.331 Die auf den Verwaltungsakt bezogenen Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen scheiden allerdings – auch in analoger Anwendung – aus; denn die streitenden Gemeindeorgane stehen sich nicht im Außenrechtsverhältnis gegenüber. Wohl aber eignen sich die allgemeine Leistungsklage auf Vornahme oder Rückgängigmachung bestimmter Organhandlungen und die Feststellungsklage, ggf auch die Normenkontrolle gem § 47 I Nr 2 VwGO.332 Mit diesen Klagearten können Rechtspositionen aus organschaftlichen Kompetenznormen verfolgt werden, nicht nur solche des Außenrechtskreises. Daneben ist die Konstruktion einer „allgemeinen Gestaltungsklage“ nicht angängig.333 Für den vorläufigen Rechtsschutz

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326 Insbesondere BVerwG NVwZ-RR 1994, 352 (Kompetenzverkürzung durch anderes Organ); BVerwGE 97, 223 (Ausschuss und Gemeinderat); OVG NW DVBl 1983, 53 o JK GO NW § 36 I/1 u 1991, 498 o JK GO NW § 36 I/2 (Rauchverbot); VGH BW NVwZ 1984, 659 o JK GG Art 28 II 1/13 u NVwZ-RR 1990, 369 (Tagesordnung); OVG RP NVwZ 1985, 283 f (Antrag auf Sitzungsausschluss anderer) o JK GemO RP § 22/2; HessVGH NVwZ 1986, 328 ff (Tagesordnung); VGH BW DÖV 1992, 838 (Informationsrecht) u VBlBW 2000, 321 (Ortschaftsrat gegen Gemeinderat). Außerhalb des Gemeinderates verbleiben dem Ratsmitglied hingegen seine subjektiven Rechte des Außenrechtskreises, instruktiv VGH BW NVwZ-RR 2001, 262; präzisierend Schoch in Ehlers/ders, Rechtsschutz im ÖR, § 28 Rn 26. 327 Einzelheiten bei Schoch in Ehlers/ders, Rechtsschutz im ÖR, § 28 Rn 33 ff. 328 Ausf Schoch in Ehlers/ders, Rechtsschutz im ÖR, § 28 Rn 44 ff, mit dem zutreffenden Hinweis, dass dann im Grunde ein Großteil der Fragen um das Vorliegen eines subj Rechts bereits unter diesem Punkt abgehandelt werden müsste, aaO Rn 51. Zur Kostentragungspflicht VGH BW NVwZ 1985, 284; OVG NW NVwZ-RR 1993, 263. 329 OVG NW NVwZ 1990, 188 u NVwZ-RR 2009, 819; Schoch in Ehlers/ders, Rechtsschutz im ÖR, § 28 Rn 117 ff; aA BayVGH NVwZ 1985, 845 u BayVBl 1995, 661, 662; VGH BW NVwZ-RR 2001, 262. 330 Schoch in Ehlers/ders, Rechtsschutz im ÖR, § 28 Rn 67 ff. 331 Vor allem die OVG Lüneburg und NW gingen zunächst davon aus, der Kommunalverfassungsstreit passe in keine der üblichen verwaltungsprozessualen Klageformen und sei folglich als Klage eigener Art zu verstehen, zB OVG NW OVGE 28, 208, 210 f mwN. 332 VGH BW NVwZ-RR 2003, 56; HessVGH NVwZ 2007, 107. 333 Str wie hier: Pietzcker in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorb § 42 Abs 1 Rn 18 ff; Schoch in Ehlers/ders, Rechtsschutz im ÖR, § 28 Rn 86 f; anders Hufen VerwPrR, § 21 Rn 14; Stumpf BayVBl 2000, 103.

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steht entsprechend diesen Klagearten die einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO zur Verfügung. Die für die Klagebefugnis (analog § 42 II VwGO) bzw das berechtigte Feststellungsinteresse 116 (§ 43 I VwGO) und die Begründetheit der Klage gleichermaßen zentrale Aufgabe bleibt es, den subjektiv-rechtlichen Schutzumfang der einschlägigen Normen der Gemeindeordnungen, der Hauptsatzungen oder der Geschäftsordnungen richtig zu bestimmen.334 Entscheidend ist, dass die Verletzung einer gerade dem Kläger zustehenden „wehrfähigen Innenrechtsposition“ im Spiel ist.335 Dabei kommt es allein auf den organisationsrechtlich-funktionalen Bezug, nicht auf Rechte der das Organ bildenden natürlichen Personen an.336 Ein zur Ratssitzung nicht geladenes Ratsmitglied kann den in der betreffenden Sitzung gefassten Beschluss über eine Steuersatzung im Kommunalverfassungsstreit angreifen, weil die Beschlussfassung sein Mitwirkungsrecht verletzt, nicht aber weil es sich durch einen Steuertatbestand als Steuerzahler in seinen Rechten verletzt glaubt. Auch auf Art 5 I 1 GG kann er sich in seiner Funktion als Gemeinderat nicht berufen; wohl aber auf seine organschaftliche Rechtsstellung, wenn er wegen einer Äußerung im Gemeinderat von der Mitwirkung ausgeschlossen wird. Erst recht ist der Kommunalverfassungsstreit kein Instrument einer allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle der von Gemeindeorganen gefassten Beschlüsse.337 Hat sich der Streitgegenstand wie häufig erledigt, wird man das Feststellungsinteresse zusätzlich begründen müssen, vor allem mit einer Wiederholungsgefahr oder einem Rehabilitierungsinteresse.338

7. Formen plebiszitärer Beteiligung Seit mehr als zwanzig Jahren zählen plebiszitäre Beteiligungsformen zum festen Bestandteil 117 aller kommunalen Verfassungssysteme.339 Systematisch kann zwischen der schlichten Mitwirkung (a) und der Mitentscheidung (b) unterschieden werden.340

a) Schlichte Mitwirkungsmöglichkeiten Hierher zählen vor allem die Informationsveranstaltungen und Anhörungen, die der Gemeinde- 118 verwaltung zur Pflicht gemacht sind. Schon das überkommene Gemeinderecht kennt zB die Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Tagesordnung der Ratssitzungen und die gefassten Ratsbeschlüsse. Eine Fortsetzung finden diese Ansätze in den „Fragestunden“ und „Anhörungen“, die der Gemeinderat veranstalten kann.341 Weiterem Informationsaustausch zwischen Verwaltung und Bürgerschaft dienen die heute in allen Gemeindeordnungen vorgesehenen Bürgerversammlungen (Einwohnerversammlungen), die die Gemeinden in gewissen Zeitabständen – größere Gemeinden bezirksweise – als amtliche Veranstaltungen durchführen sollen. In einigen Ländern kann die Einberufung von einem bestimmten Einwohnerquorum verlangt und

_____ 334 Ausführlich Ehlers NVwZ 1990, 105, 110; Wahl/Schütz in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 42 Abs 2 Rn 97 ff. 335 Sehr deutlich OVG NW NVwZ 1983, 485 o JK GO NW § 36 I/1 u NVwZ-RR 1991, 260 (Rauchverbot) o JK GO NW § 36 I/2 sowie 2002, 135 (Sitzungsöffentlichkeit) o JK GO NW § 48 II/1 u NVwZ-RR 2007, 627; a VGH BW NVwZ 1993, 396 u NVwZ-RR 1994, 229; Müller NVwZ 1994, 120. 336 BVerwG NVwZ 1988, 837 o JK GemO RP § 36 II/1; dazu Geis BayVBl 1992, 41. 337 Bethge HkWP I, § 28 Rn 59 ff; OVG RP NVwZ 1985, 283 o JK GemO RP § 22/2; VGH BW NVwZ-RR 1992, 373 o JK GO BW § 35 I/1; SächsOVG NVwZ-RR 1997, 665 o JK VwGO § 61 Nr 2/4; OVG NW NVwZ-RR 1998, 325. 338 Schoch in Ehlers/ders, Rechtsschutz im ÖR, § 28 Rn 113 ff. 339 Zur Entwicklung Neumann HkWP I, § 18 Rn 11 ff; Ipsen HkWP I, § 24 Rn 300; Muckel NVwZ 1997, 223; Hager VerwArch 84 (1993), 97. 340 v Mutius Gutachten zum 53. DJT, 212 ff, 224 ff; Hill Die politisch-demokratische Funktion der kommunalen Selbstverwaltung nach der Reform, 1987, 131 ff mwN. 341 ZB § 33 IV GemO BW; § 13 BbgKVerf; § 17 KV MV; § 48 I 3 GO NW; § 16a GemO RP; § 16c GO SH.

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gegebenenfalls gerichtlich erzwungen werden.342 In diesen Ländern müssen sich die gemeindlichen Entscheidungsorgane auch innerhalb einer Frist mit den Vorschlägen der Bürgerversammlung förmlich befassen.

b) Mitentscheidungsmöglichkeiten 119 Als deutlichsten Ausdruck unmittelbarer Demokratie kennen die Gemeindeordnungen den Bürgerentscheid, bei dem die Bürger eine Angelegenheit anstelle des Gemeinderates entscheiden.343 Ein solcher Bürgerentscheid kommt zustande aufgrund eines Antrags einer bestimmten Anzahl von Bürgern (Bürgerbegehren) oder aufgrund einer Entscheidung des Gemeinderates.344 Die Verfassungsmäßigkeit des Instituts ist früher mit Hinweis auf die Repräsentativfunktion des Gemeinderates bezweifelt worden,345 im Ergebnis ist gegen den Bürgerentscheid schon deswegen nichts einzuwenden, weil die lokale Ebene Formen unmittelbarer Demokratie aus der Natur des Selbstverwaltungsgedankens heraus eher zugänglich ist als die höheren Ebenen.346 Durch bestimmte Mindestquoren – etwa 25% der Stimmberechtigten – muss jedoch sichergestellt sein, dass die getroffenen Entscheidungen über eine hinreichend breite demokratische Legitimation verfügen.347 Um Bürgerbegehren und Bürgerentscheid ranken sich eine Zahl von Rechtsfragen:348 So 120 muss das Begehren formgerecht, insbesondere auch hinreichend bestimmt abgefasst sein, einen Deckungsvorschlag hinsichtlich entstehender Kosten349 enthalten und von dem erforderlichen Quorum der Gemeindebürger unterzeichnet werden.350 Die zu entscheidende Angelegenheit muss zu den kommunalen Aufgaben und hier zur Zuständigkeit des Gemeinderates gehören. Weisungsaufgaben, Organisations- und Haushaltsfragen sowie rechtlich gebundene Entscheidungen unterliegen nach Maßgabe des jeweiligen Landesrechts oft nicht dem Bürgerentscheid (Negativliste).351 Häufig ist die Entscheidung über Bauleitpläne ausgeschlossen;352 auch wo das

_____ 342 ZB § 20a II GemO BW; Art 18 II GO Bay; § 22 II SächsGemO. 343 § 21 GemO BW; Art 18a GO Bay; § 15 BbgKVerf; § 8b HessGO; § 20 KV MV; § 32 f NdsKomVG; § 26 GO NW; § 17a GemO RP; § 21a KSVG SL; § 24 SächsGemO; § 26 GO LSA; § 16g GO SH; § 17 ThürKO. Umfassende Nachw bei Neumann HkWP I, § 18 Rn 51 ff. Der quorenabhängige Einwohner- bzw Bürgerantrag, der den Gemeinderat verpflichtet, die im Antrag bezeichnete Angelegenheit binnen einer bestimmten Frist zu behandeln, hat keine Bedeutung erlangt, Ipsen HkWP I, § 24 Rn 301. 344 Zu Bestand, Entwicklungsmöglichkeiten und Verfassungsgrenzen dieses Instituts vgl Knemeyer Bürgerbeteiligung und Kommunalpolitik; Henneke ZG 1996, 1; Schliesky ZG 1999, 91; Huber AöR 126 (2001), 165; aus politikwissenschaftlicher Sicht Gabriel/Walter-Rogg DfK 2006, 99; Neumann Sachunmittelbare Demokratie, 2006. 345 Dazu v Mutius 213 mwN; restriktiv, den Einbau plebiszitärer Elemente nicht ausschließend Schmitt Glaeser DÖV 1998, 824. 346 Streinz DV 16 (1983) 293, 299 f; Schmidt-Aßmann AöR 116 (1991), 329, 380 f; Paus/Schmidt JA 2012, 48. 347 Vgl Engelken DÖV 2000, 881, 887 ff mwN; Knemeyer DVBl 1998, 113. Weitergehende Einschränkungen bei Huber AöR 126 (2001) 165, 188 f, aus dem Gedanken eines auch für die kommunale Ebene geltenden Vorrangs der repräsentativen Demokratie. 348 Dazu v Danwitz DVBl 1996, 134; Ossenbühl FS Rommel, 247; Ritgen Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, 1997; ders KommJur 2007, 288; Geitmann VBlBW 1998, 441 u 2007, 321; Neumann HkWP I, § 18 Rn 53 f; G. Meyer KommJur 2008, 8. 349 Dazu HessVGH NVwZ-RR 2000, 451, 453 fu LKRZ 2009, 334; BbgOVG LKV 2003, 87; OVG NW NVwZ-RR 2003, 584 u. 2004, 519; NdsOVG NVwZ-RR 2004, 62; NdsOVG NdsVBl 2005, 52; zu Einzelfragen Wefelmeier u MüllerFranken FS Frotscher, 2007, 657 u 705. 350 Nachw zu diesem Begehrensquorum bei Neumann HkWP I, § 18 Rn 58 f. 351 Rsprübers Oebbecke DV 37 (2004) 105; Ritgen NWVBl 2003, 87; Kautz BayVBl 2005, 193. 352 ZB § 21 II Nr 6 GemO BW; § 15 III Nr 10 BbgKVerf; § 8b Nr 5a HessGO; § 32 II 2 Nr 6 NdsKomVG; § 26 V Nr 5 GO NW; zur Reichweite des Ausschlusses West VBlBW 2010, 389; VGH BW DVBl 2011, 1035 u NVwZ-RR 2009, 574; Klenke NWVBl 2011, 7; OVG NW NVwZ-RR 2007, 803; Wickel/Zengerling NordÖR 2010, 91; NdsOVG NVwZ-RR 2005, 349.

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nicht geschehen ist, ist die eigentliche Planungsentscheidung wegen des Abwägungsgebotes (§ 1 VII BauGB) einem Plebiszit nicht zugänglich.353 „Kassatorische“ Bürgerbegehren, die sich gegen Gemeinderatsbeschlüsse richten, sind zu- 121 meist nur innerhalb kürzerer Fristen zulässig.354 Über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens entscheidet in der Regel der Gemeinderat.355 Gegen die ablehnende Entscheidung ist Rechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten nachzusuchen.356 Umstritten ist die Frage der richtigen Klageart: Mangels eines organschaftlichen Rechtsverhältnisses kommt eine kommunale Verfassungsstreitigkeit nicht in Betracht.357 Ausdrücklich geregelt ist die Frage in Baden-Württemberg;358 für die dort im Gesetz genannte Anfechtungs- bzw Verpflichtungsklage mit einer vorausgehenden Widerspruchsentscheidung durch die Rechtsaufsichtsbehörde sprechen systematische und praktische Gründe.359 Sie kann von jedem Mitunterzeichner gegen die Gemeinde erhoben werden; die Beteiligtenfähigkeit ergibt sich für Kläger und die beklagte Gemeinde aus § 61 Nr 1 VwGO. Rechtskonstruktiv erscheint es aber auch nicht ausgeschlossen, die (negative oder positive) Zulassungsentscheidung nicht als Verwaltungsakt zu qualifizieren und dann den Weg über eine allgemeine Leistungsklage, uU auch eine Feststellungsklage zu gehen.360 Der erfolgreiche Bürgerentscheid hat die Wirkung eines Gemeinderatsbeschlusses.361 Eine negative Entscheidung kann von einem abstimmungsberechtigten Bürger im Wege der Feststellungsklage nur insoweit angegriffen werden, als letzterer durch das Abstimmungsverfahren in der Ausübung seines Stimmrechts verletzt worden ist.362 Streitig ist, ob die Gemeindeorgane bei erfolgreichem Bürgerbegehren vor Durchführung des beabsichtigten Bürgerentscheids vollendete Tatsachen schaffen dürfen oder in der betroffenen Angelegenheit einstweilen keine konterkarierenden Maßnahmen treffen dürfen („Sperrwirkung des Bürgerbegehrens“), wenn die Gemeindeordnung darüber keine ausdrückliche Regelung trifft.363

8. Gemeindeinterne Gliederungen: Bezirke, Ortschaften Alle Gemeindeordnungen sehen die Möglichkeit vor, den gemeindlichen Binnenraum in Bezirke 122 oder Ortschaften aufzugliedern, diese innergemeindlichen Einheiten mit bestimmten Organen zu versehen und sie zur Aufgabenerfüllung heranzuziehen. Solche Aufteilungen können sich für Landgemeinden mit mehreren dörflichen Zentren ebenso wie für Großstädte als sinnvoll erweisen. Sie sind nicht erst in jüngster Zeit in das Kommunalrecht aufgenommen worden; wohl aber haben die Maßstabsvergrößerungen der Gebietsreform dazu veranlasst, verstärkt Gebrauch von diesen Formen zu machen. Einteilungen dieser Art erleichtern die Überschaubarkeit der Verwal-

_____ 353 Kühling/Wintermeier DVBl 2012, 317; BayVGH NVwZ-RR 2006, 208; BayVBl 2009, 245 u NVwZ-RR 2011, 331. 354 Zu Einzelfragen VGH BW VBlBW 2011, 388; VBlBW 1990, 460; NVwZ-RR 1994, 110; OVG NW NVwZ-RR 2003, 584; SächsOVG LKV 2008, 562. 355 Anders zB Nds: Haupt- bzw Verwaltungsausschuss; SH: Kommunalaufsicht. 356 Meyer NVwZ 2003, 183; zur Klageart ausf Heimlich DÖV 1999, 1029; zur Frage des einstweiligen Rechtsschutzes BayVGH BayVBl 2001, 500; BayVGH NVwZ-RR 2003, 670. 357 Schoch in Ehlers/ders, Rechtsschutz im ÖR, § 28 Rn 31. So a HessVGH NVwZ-RR 2000, 451; Heimlich aaO 1031 f; aA OVG RP NVwZ-RR 1997, 241; NdsOVG NdsVBl 1998, 96, OVG MV NVwZ 1997, 306; a Neumann HkWP I, § 24 Rn 49. 358 § 21 VIII GemO iVm § 41 II KWG; vgl a § 25 VI iVm § 24 VI GO LSA. 359 Ebenso v Danwitz DVBl 1996, 134, 141; Schliesky DVBl 1998, 169, 173; BayVGH NVwZ-RR 1999, 137 f. 360 Heimlich DÖV 1999, 1029, 1035 f (Leistungsklage); HessVGH NVwZ-RR 2000, 451 (Feststellungsklage). 361 Zur Frage der Klagebefugnis im Hinblick auf die Ungültigerklärung vgl BayVGH NVwZ-RR 2003, 448; zu rw Beschlüssen Stapelfeldt/Siemko NVwZ 2010, 419, 421 ff. 362 NdsOVG DÖV 2002, 253; vgl a VGH BW DÖV 2002, 257. 363 Ablehnend VGH BW NVwZ 1994, 397; v Danwitz DVBl 1996, 134, 141; anders SächsOVG NVwZ-RR 1998, 253 o JK VwGO § 123/3. Ausdr geregelt zB in § 26 VI 6 GO NW; vorher schon OVG NW DVBl 2008, 120. Zum vorl Rechtsschutz VGH BW VBlBW 2010, 311; VBlBW 2011, 471; zur Neutralitätspflicht BayVGH BayVBl 1997, 435; OVG NW NWVBl 2004, 151 o JK GO NW § 26/1.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

tungsorganisation, dienen als Anlaufstellen und bieten, sofern sie mit einer eigenen Vertretung ausgestattet sind, den Einwohnern weitere Beteiligungschancen, ihre im engeren Sinne lokalen Interessen wahrzunehmen. Ein verfassungsunmittelbarer Zwang zur Einführung solcher Untergliederungen ist gleichwohl nicht anzuerkennen. In der Einzelausgestaltung weichen die Gemeindeordnungen erheblich voneinander ab.364 Die meisten Länder stellen die Modelle der Binnengliederung den Gemeinden fakultativ zur Verfügung. In einigen Ländern ist die Einführung einer Bezirksverfassung für große Städte obligatorisch. Unterschiedlich ist auch die Ausstattung der Bezirke und Ortschaften mit eigenen Organen. Nur der dekonzentrierten Verwaltungsführung dient es, wenn Verwaltungsstellen in den Bezirken als Außenstellen der gemeindlichen Verwaltungszentrale eingerichtet werden. Elemente dezentraler Entscheidungsbildung dagegen kommen ins Spiel, wenn Ortsbeiräte (Bezirksausschüsse) und/oder Ortsvorsteher (Ortssprecher) bestellt werden, denen die Artikulation der besonderen lokalen Interessen des Ortes gegenüber der Gemeinde als ganzer obliegt oder sogar Entscheidungsaufgaben365 übertragen sind. Die Organe der Binnengliederungen werden teilweise vom Gemeinderat bestellt, teilweise direkt gewählt. Organisationsrechtlich bleibt in allen diesen Fällen die Gemeinde die einzige rechtsfähige Trägerkörperschaft. Ihr allein gilt die Garantie des Art 28 II 1 GG. Die Bezirke und Ortschaften können sich der gemeindlichen Zentralinstanz gegenüber ihrerseits nicht auf die Selbstverwaltungsgewährleistung berufen. Wohl aber können sie sich – nach Maßgabe dessen, was über den Kommunalverfassungsstreit gesagt worden ist (Rn 113 ff) – dann, wenn ihnen Beratungs- oder Entscheidungskompetenzen durch Rechtssatz eingeräumt sind, gerichtlich dagegen wehren, dass ihnen diese Kompetenzen rechtswidrig beschränkt oder entzogen werden.366

Spezialliteratur: v Arnim Ausschluß von Ratsmitgliedern wegen Interessenkollision, JA 1986, 1; ders Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie auf Gemeindeebene, DÖV 1990, 85; Buß Das Machtgefüge in den heutigen Kommunalverfassungen, 2002; v Danwitz Bürgerbegehren in der kommunalen Willensbildung, DVBl 1996, 134; Diemert Der Innenrechtsstreit im öffentlichen Recht und im Zivilrecht, 2002; Ehlers Die Klagearten und besonderen Sachentscheidungsvoraussetzungen im Kommunalverfassungsstreitverfahren, NVwZ 1990, 105; Engelken Demokratische Legitimation bei Plebisziten auf staatlicher und kommunaler Ebene, DÖV 2000, 881; Erichsen Der Innenrechtsstreit, FS Menger, 1985, 211; Ewer Der Ausschluss von Bürgerentscheiden auf dem Gebiet der Bauleitplanung, FS SchmidtJortzig, 191; Franz Der Kommunalverfassungsstreit, Jura 2005, 156; Gabriel/Walter-Rogg Bürgerbegehren und Bürgerentscheide – Folgen für den kommunalpolitischen Entscheidungsprozess, DfK 2/2006, 39; Glage Mitwirkungsverbote in den Gemeindeordnungen 1995; Henneke (Hrsg), Aktuelle Entwicklungen der inneren Kommunalverfassung, 1996; Holtmann „Das Volk“ als örtlich aktivierte Bürgerschaft: zur Praxis kommunaler Sachplebiszite, AfK 38 (1999) 187; Huber Die Vorgaben des Grundgesetzes für kommunale Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, AöR 126 (2001) 165; v Kodolitsch Miteinander oder gegeneinander? Zum schwierigen Verhältnis von Rat und Verwaltung, AfK 39 (2000) 199; Kühling/Wintermeier Die Bauleitplanung als Gegenstand plebiszitärer Bürgerbeteiligung, DVBl 2012, 317; Ogorek Der Kommunalverfassungsstreit im Verwaltungsprozess, JuS 2009, 511; Ott Der Parlamentscharakter der Gemeindevertretung, 1994; ders Zum Verhältnis von Demokratie und Selbstverwaltung, HkWP I § 19; Ritgen Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, 1997; Röhl Das kommunale Mitwirkungsverbot, Jura 2006, 725; W. Roth Verwaltungsrechtliche Organstreitigkeiten, 2001; Saftig Kommunalwahlrecht in Deutschland, 1990; Schliesky Der ehrenamtliche Bürgermeister im Spannungsfeld von Amt und Gemeinde in Schleswig-Holstein, 2000; Schnapp Der Streit um die Sitzungsöffentlichkeit im Kommunalrecht, VerwArch 78 (1987) 407; Schoch Unmittelbare Demokratie im deutschen Kommunalrecht durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, FS Schmidt-Jortzig, 167; ders Der verwaltungsgerichtliche Organstreit, Jura 2008, 826; Schliesky Bürgerschaftliches Engagement in der repräsentativen Demokratie, Der Landkreis 2004, 422; Schnell Freie Meinungsäußerung und Rederecht der kommunalen Mandatsträger, 1998; Schoch Das kommunale Vertretungsverbot, 1981; ders Der Kommunalverfassungsstreit im System des

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364 Dazu die Darstellung bei Schwarz HkWP I, § 27. 365 ZB § 70 II GemO BW; § 37 I GO NW; § 67 I SächsGemO; § 87 II GO LSA; § 47c II GO SH; § 45 VI 1 ThürKO. 366 HessVGH NVwZ 1987, 919 f; OVG NW NWVBl 1993, 262 u 265; VGH BW NVwZ-RR 2000, 813.

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verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, JuS 1987, 783; ders Verfassungsmäßigkeit und personeller Geltungsbereich des kommunalen Vertretungsverbots, JuS 1989, 531; Spies Bürgerversammlung – Bürgerbegehren – Bürgerentscheid, 1999; Weber Grundfälle zum Rechtsschutz im Kommunalwahlrecht, JuS 1989, 902.

1. Kapitel – Kommunalrecht VI. Die Gemeindeverwaltung – 1. Kapitel

VI. Die Gemeindeverwaltung 1. Grundlagen Zur Erledigung ihrer Verwaltungsaufgaben verfügen die Kommunen über einen eigenen Verwal- 123 tungsapparat, der bundesweit gesehen eine beträchtliche Größe hat: Etwa ein Drittel aller im öffentlichen Dienst Beschäftigten in Deutschland arbeiten im kommunalen Bereich.367 Die Einrichtung des Verwaltungsapparats liegt grundsätzlich in der Hand der Kommune und ist von ihrer Organisationshoheit umfasst (o Rn 39).368 Den hier bestehenden Spielraum füllen die Gemeinden durch Organisations- und Geschäftsverteilungspläne und Anstaltsordnungen aus. Gesetzliche Vorgaben kommen vor allem bei Verselbständigungen ins Spiel, dh der Einrichtung von Verwaltungseinheiten, die in mehr oder weniger großer Distanz von der zentralen Gemeindeverwaltung agieren können. Das gilt schon für öffentlich-rechtliche Verselbständigungen wie den Eigenbetrieb oder – wo vorhanden – das Kommunalunternehmen; spielt aber erst recht dann eine Rolle, wenn sich die Gemeinde privatrechtlicher Organisationsformen bedient.369 Solche Verselbständigungen sind – in öffentlich-rechtlicher Rechtsform – vor allem für Unternehmen und öffentliche Einrichtungen der Gemeinde vorgesehen (u 2). Die Verselbständigung in privatrechtlichen Rechtsformen betrifft zwar ebenfalls in erster Linie die wirtschaftliche Betätigung, ist aber hierauf nicht beschränkt (u 3). Als organisationsähnlich schließlich wird hier die Errichtung kommunaler Verwaltungsstrukturen durch Verträge behandelt (u 4). Verfassungsrechtlich stammen die Vorgaben für diesen Bereich abgesehen von der in Art 28 II GG wurzelnden Organisationshoheit vor allem aus dem Gebot demokratischer Legitimation (Art 20 II GG).370 Die Grundrechte sind weniger bedeutsam, zumal sich die in der Gemeindeverwaltung tätigen Personen hierauf in aller Regel nicht berufen können.371 Das Rechtsstaatsprinzip verlangt, dass sich die Kommune ihren rechtlichen Verpflichtungen, etwa einem kommunalrechtlichen Benutzungsanspruch, nicht durch öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Verselbständigungen entziehen darf. Allgemeine unionsrechtliche Vorgaben bestehen nicht, im Einzelfall kann sich das Unionsrecht aber durchaus auf die Zulässigkeit bestimmter kommunaler Organisationsmaßnahmen auswirken (u Rn 128).

2. Die allgemeine Gemeindeverwaltung Die Gemeindeverwaltung steht unter der Leitung des Bürgermeisters. Das begründet zum 124 einen organisatorische und dienstrechtliche Befugnisse zur Geschäftsleitung und Aufgabenverteilung sowie die Stellung als Dienstvorgesetzter der Beamten, Angestellten und Arbeiter der Gemeinde. Bei Grundentscheidungen, zB der Festlegung des Aufgabenbereichs der Beigeordneten, existieren allerdings länderweise unterschiedliche Einwirkungsbefugnisse des Gemeinde-

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367 Vgl Statistisches Bundesamt Fachserie 14 Reihe 6, 2010, 20. 368 Dazu BVerfGE 91, 228, 238 o JK GG Art 28 II/22; allg Schmidt-Jortzig Kommunale Organisationshoheit, 1979, 26 ff; Schliesky DV 38 (2005), 339. 369 Überblick bei Schmidt KomR, Rn 955 ff; Hauser Wahl, 2 ff; Erbguth/Stollmann Stadt und Gemeinde, 1994, 127; zu Haftungsfragen Parmentier DVBl 2002, 1378. 370 Dazu Trute GVwR I, § 6; Burgi in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 7 Rn 26 ff. 371 Etwas anderes muss aber zB für die künstlerischen Einrichtungen der Kommunen gelten (Theater, Museen), auch wenn sie als unselbständige Bestandteile der Gemeindeverwaltung (Regiebetriebe) organisiert sind, dazu Kadelbach NJW 1997, 1114.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

rates.372 Als Verwaltungschef ist der Bürgermeister die zentrale Gemeindebehörde. Die einzelnen „Ämter“ der Gemeinde (Ordnungsamt, Bauamt, Pressestelle) sind Untergliederungen dieser kommunalen Zentralbehörde, keine eigenständigen Behörden. Die vom Gemeinderat als weitere leitende Verwaltungsbeamte auf Zeit gewählten Beigeordneten („weitere Bürgermeister“, „Stadträte“) sind folglich keine eigenständigen Gemeindeorgane.373 Sie leiten aber ihre Ämter mit einer gewissen Selbständigkeit und vertreten insofern den (Ober-)Bürgermeister in ihrem Ressort. Außerdem kommt aus ihrem Kreis der allgemeine Vertreter des Bürgermeisters.

3. Wirtschaftliche Unternehmen in öffentlich-rechtlicher Rechtsform a) Überblick 125 Verselbständigungen in öffentlich-rechtlicher Form finden sich ieL für wirtschaftliche Unternehmen. Hier ist der Regiebetrieb derjenige Typus, der sich am engsten an die Gemeindeadministration anlehnt und organisatorisch nur eine Abteilung derselben bildet.374 Wirtschaftlich passt er nur noch für kleine Betriebseinheiten. Die Standardform dagegen soll der Eigenbetrieb sein, dessen besondere Position im Schnittpunkt wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit und kommunal-organisatorischer Anbindung durch das Eigenbetriebsrecht bestimmt wird; einige Gemeindeordnungen sehen neuerdings für eine weitergehende Verselbständigung in öffentlichrechtlicher Rechtsform das selbständige Kommunalunternehmen als (rechtsfähige) Anstalt des öffentlichen Rechts vor (Rn 126). Eigene Rechtsfähigkeit besitzen auch die kommunalen Sparkassen. Sie sind Anstalten öffentlichen Rechts nach Maßgabe der Sparkassengesetze. Daneben finden sich als Körperschaften öffentlichen Rechts zuweilen Zweckverbände (Rn 232 ff), für die die Anwendung des Eigenbetriebsrechts satzungsmäßig vorgesehen werden kann.

b) Eigenbetrieb, Kommunalunternehmen 126 Mit ihnen stellt das Kommunalrecht zwei öffentlich-rechtliche Sonderformen für wirtschaftliche Tätigkeiten zur Verfügung. Der Eigenbetrieb ist nicht rechtsfähig.375 Rechtlich bleibt die Gemeinde Träger von Rechten und Verbindlichkeiten, die aus den Geschäften des Eigenbetriebs folgen. Organisatorisch und finanzwirtschaftlich ist der Eigenbetrieb jedoch deutlich von der Gemeindeverwaltung abgesetzt. Die interne Organisationsstruktur ist im Rahmen des Eigenbetriebsrechts durch eine Betriebssatzung zu regeln. Geführt wird der Eigenbetrieb durch die Werksleitung. Der Werksausschuss, der ein Ausschuss des Gemeinderats ist, stellt die Verbindung zwischen politischer Führung und ökonomischer Betriebstätigkeit her. Er beschließt über die wichtigeren Angelegenheiten des Betriebs, sofern nicht eine Vorbehaltsaufgabe des Rates vorliegt. Das Kommunalunternehmen ist als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts organisiert.376 Damit verbindet es die Vorzüge eigener Rechtsfähigkeit im Wirtschaftsverkehr mit der

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372 ZB § 73 I GO NW, wonach der Rat den Geschäftskreis der Beigeordneten festlegen kann, dazu OVG NW NWVBl 2004, 348; anders § 24 II GemO BW: Entscheidung über Ernennung, Einstellung und Entlassung der Gemeindebediensteten durch den Gemeinderat, jedoch im Einvernehmen mit dem Bürgermeister, dazu VG Karlsruhe VBlBW 2002, 536. 373 Allgemein Wolter Der Beigeordnete, 1978, 6 ff; Gern/Schneider VBlBW 1999, 281; Jaeckel VerwArch 2006, 220. Zur Magistratsverfassung s Rn 109. Zur Wahl der Beigeordneten OVG NW NVwZ-RR 2003, 225 o JK VwGO § 61 Nr 2/5; SächsOVG v 15.3.05, Az 4B 436/04; Kroh/Starke SächsVBl 2004, 182. 374 Hellermann in: HBKomU, § 7 Rn 22 ff; Brüning in: HkWP II, § 44 Rn 1 ff. 375 Die Rechtsgrundlagen für die Führung der Eigenbetriebe finden sich nur zum Teil und mit unterschiedlicher Ausführlichkeit in den jeweiligen GOen. Die nähere Ausgestaltung ist jeweils einem Eigenbetriebsgesetz bzw einer verordnung überlassen. Zum Ganzen H. Schraffer Der kommunale Eigenbetrieb, 1993; Bolsenkötter/Dau/Zuschlag Gemeindliche Eigenbetriebe und Anstalten, 5. Aufl 2004; Lindl BayVBl 2002, 298; Brüning HkWP II, § 44 Rn 25 ff. 376 ZB Art 89–91 GO Bay; § 94 fBbgKVerf; § 126a HessGO; §§ 141–147 NdsKomVG; § 114a GO NW, §§ 86a fGemO RP, § 116 I 1 GO LSA u AnstG LSA; § 106a GO SH. Mann Die öffentlich-rechtliche Gesellschaft; Pielow FS K. Ipsen, 2000,

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Möglichkeit, auch hoheitlich handeln zu können. Die Gemeinden können die Rechtsverhältnisse der Anstalt durch Satzung weiter ausgestalten. Sie können der Anstalt dabei auch eine begrenzte eigene Satzungsgewalt übertragen, insb kann das Unternehmen so den Anschluss- und Benutzungszwang bzgl Einrichtungen regeln, die es selbst bereitstellt oder eine Abgabensatzung erlassen (zB § 94 IV 3 BbgKVerf; § 114a III GO NW). Die Anstalt wird vom Vorstand eigenverantwortlich geleitet. Kontrollorgan ist ein Verwaltungsrat, dem neben dem Bürgermeister als Vorsitzenden weitere vom Gemeinderat für eine feste Amtszeit bestellte Mitglieder angehören.

4. Privatrechtliche Organisationsformen als Teil des kommunalen Organisationsrechts Die Organisationshoheit der Gemeinden umfasst auch die Befugnis, zur Aufgabenerledigung auf 127 privatrechtliche Organisationsformen zurückzugreifen.377 Deren Verwendung ist in den Gemeindeordnungen traditionell im Kontext der wirtschaftlichen Betätigung geregelt; der Sache nach handelt es jedoch um einen Teil des kommunalen Organisationsrechts.378

a) Rechtsformen Von den privatrechtlichen Formen sind vor allem die AG und die GmbH im kommunalen All- 128 tag anzutreffen.379 Kaum zugänglich ist den Gemeinden demgegenüber die Form der OHG, weil das Kommunalrecht eine gemeindliche Beteiligung an privatrechtlich verfassten Unternehmen nur dann zulässt, wenn die Haftung der Gemeinde begrenzt ist (zB § 103 I Nr 3 GemO BW). Vielfach betreiben Gemeinden Kapitalgesellschaften nicht allein (Eigengesellschaften), sondern als Beteiligungsgesellschaften entweder mit anderen Verwaltungsträgern (gemischt-öffentlich) oder mit Privatpersonen (gemischt-wirtschaftlich) zusammen. Der Einsatz privatrechtlicher Rechtsformen ist allerdings dort schwierig bis unmöglich geworden, wo einem Unternehmen die eigentliche Aufgabenerfüllung durch öffentlichen Auftrag übertragen werden soll. Ein solcher gezielter Einsatz wird durch das grundsätzlich anwendbare Vergaberecht (Rn 148) verhindert. Eine Ausnahme soll nur dann bestehen, wenn die Kommune über das Unternehmen „eine Kontrolle ausübt wie über ihre eigenen Dienststellen“ und das Unternehmen zugleich seine Wirtschaftstätigkeit im Wesentlichen mit der oder den Körperschaften abwickelt, die es unterhalten (sog „In-HouseGeschäft“).380 Das scheint bei gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen praktisch ausgeschlossen, bei gemischt-öffentlichen Unternehmen hingegen möglich zu sein (vgl auch u Rn 231 aE).381

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275; Ehlers ZHR 167 (2003), 546; Schraml HkWP II, § 45. Zur Verwaltungsaktsbefugnis SächsOVG SächsVBl 2004, 286. 377 Mann Öffentlich-rechtliche Gesellschaft, 42 ff. Ausgeschlossen ist ihre Verwendung, soweit die Aufgabe eine Erledigung in hoheitlicher Rechtsform erfordert; zu diesen Grenzen (zB Art 33 IV GG, Art 87 ff GG) Schoch Jura 2008, 672, 679 ff. 378 Das zeigen Vorschriften wie § 106a GemO BW oder § 108 I 1 Nr 2 GO NW, die die Geltung dieser Vorgaben auch für nicht-wirtschaftliche Einrichtungen anordnen. Im Einz ist sorgfältig auf die konkreten Vorgaben der jeweiligen GO zu achten, vgl dazu VG Düsseldorf NWVBl 2008, 190, einerseits und OVG NW DVBl 2011, 45, andererseits zur alten Fassung des § 108 GO NW. 379 Die im Zuge der Rechtsprechung des EuGH (Slg 1999, I-1459 – Centros; Slg 2002, I-919 – Überseering; Slg 2003, I-10155 – Inspire Art) mögliche Verwendung ausländischer Gesellschaftsformen in Deutschland und die Konsequenzen der Reform der GmbH-Rechts werden in den nächsten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit erfordern, dazu Kronawitter NVwZ 2009, 936. 380 EuGH Slg 1999, I-8212 (Rn 49 f) – Teckal; Slg 2005, I-8585 – (Rn 46 ff) – Parking Brixen; BGHZ 148, 55; dazu Röhl JuS 2002, 1053. Anders, wenn das private Unternehmen der Gemeinde schon mit dem Ziel gegründet wird, später zumindest teilweise an einen Privaten übertragen zu werden und so das Vergaberecht umgangen wird, EuGH Slg 2005, I-9705 (Rn 42 ff) – Mödling. Zum Ganzen ausf Frenz HBEuR III Rn 2317 ff; Hardraht In-House-Geschäfte und europäisches Vergaberecht, 2006; Siegel NVwZ 2008, 7. 381 EuGH Slg 2005, I-1 (Rn 48 f) – Stadt Halle; Slg 2005, I-970 (Rn 46) – Mödling (gemischt-wirtschaftliche Unt); EuGH Slg 2006, I-4137 (Rn 33 ff) – Carbotermo; Slg 2008, I-8457 – Coditel; Slg 2009, I-8127 – Sea (gemischt-öffentl

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b) Erhalt der Gemeinwohlbindungen – „Einwirkungspflicht“ 129 Bedient sich die Gemeinde privatrechtlicher Rechtsformen, entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen den öffentlich-rechtlichen Bindungen der gemeindlichen Tätigkeit und den gesellschaftsrechtlichen Vorgaben an die Unternehmensorganisation,382 soweit dieses die Möglichkeiten der demokratisch legitimierten Selbstverwaltungsorgane beschränkt, auf die privatrechtliche Organisation Einfluss zu nehmen. So ist für die AG eine Unabhängigkeit des Vorstands vorgeschrieben (§ 76 I AktG); Weisungsrechte der Gemeinde gegenüber den von ihr entsandten Vertretern in der Gesellschaft, insbesondere in den Aufsichtsräten, können gesellschaftsrechtlich begrenzt sein; gesellschaftsrechtliche Verschwiegenheitspflichten, die auch die kommunalen Vertreter treffen würden, erschweren die Überwachung der privatrechtlichen Trabanten.383 Andere Sonderbestimmungen wie Regelungen über die Mitbestimmung oder das Konzernrecht treten hinzu.384 Teilweise Abhilfe sollen hier gesellschaftsrechtliche Sondernormen zur Reichweite von Verschwiegenheitspflichten bei Gebietskörperschaften 385 und haushaltsrechtliche Erweiterungen der handelsrechtlichen Abschlussprüfung (§§ 53 f HGrG) bieten. Abzulehnen sind aber Überlegungen, nach denen geltende privatrechtliche Normen grundsätzlich durch hoheitliche Bindungen überlagert werden (sog Verwaltungsgesellschaftsrecht).386 Daher versuchen die Gemeindeordnungen diesem Problem zu begegnen, indem sie wesentliche Anforderungen bereits an die Gründung, Beteiligung und die laufende Kontrolle solcher Verselbständigungen stellen. Als Landesrecht müssen sich derartige Vorgaben allerdings an das (bundes-)gesellschaftsrechtlich Zulässige halten.387 Nach den Vorgaben der Gemeindeordnungen ist insbesondere im Gesellschaftsvertrag der Zweck der Gesellschaft am öffentlichen Interesse auszurichten. Daran haben sich in der Folge alle Unternehmensorgane gesellschaftsrechtlich zu orientieren.388 Daneben ist der Gemeinde durch Vertreter in den Organen der Gesellschaft und insbesondere durch gesellschaftsvertraglich verankerte, unmittelbare Entsendungsrechte ein effektiver Einfluss zu sichern (Einwirkungspflicht).389

_____ Unt). Ausf Darst im Arbeitsdokument der KOM SEK (2011) 1169 endg. Jetzt Art 11 des RL-Vorschlags über die öffentliche Auftragsvergabe KOM (2011) 896 endg. Z Ganzen Pietzcker NVwZ 2007, 1225, 1230 f; Hahn Vergaberecht als Störfaktor der kommunalen Zusammenarbeit?, 2007; Kohout Kartellvergaberecht und interkommunale Zusammenarbeit, 2008; Erps Kommunale Kooperationshoheit und europäisches Vergaberecht, 2010; Döbling Verwaltungskooperationen und Vergaberecht, 2011; Wagner/Piesbergen NVwZ 2012, 653 Burgi NZBau 2012, 601. 382 Mann Öffentlich-rechtliche Gesellschaft, 55 ff; Spannowsky ZGR 1996, 400, 421 ff. 383 Spindler ZIP 2011, 689 ff; Geerlings HkWP II, § 52 Rn 12 ff; Weckerling-Wilhelm/Mirtsching NZG 2010, 327, 328 ff; Albrecht-Baba NWVBl 2011, 127, 128 f. 384 Teilweise verringern sie den Raum für die Umsetzung öffentlich-rechtlicher Bindungen, etwa durch zwingende Vorgaben an die Einrichtung und Ausgestaltung eines Aufsichtsrats in der mitbestimmten GmbH (BVerwG NVwZ 2012, 115, 116 f; krit Heidel NZG 2012, 48, 50 f), allg Becker HkWP II, § 50; teilweise erweitern sie ihn, etwa bei der Einführung einer Weisungsabhängigkeit des Vorstands einer Aktiengesellschaft nach Abschluss eines Beherrschungsvertrags, allerdings um den Preis einer (möglicherweise unzulässigen) Verlustübernahme- und Ausgleichspflicht (§§ 308 I, 302 I, 304 AktG; Oebbecke VBlBW 2010, 1, 3 ff). 385 §§ 394, 395 AktG; eingehend Schmidt-Aßmann/Ulmer, BB 1988 Beil 13, 1 ff; zukünftig sollen die in § 394 AktG vorausgesetzten Berichtspflichten eines Aufsichtsratsmitglieds gegenüber der Gebietskörperschaft auch rechtsgeschäftlich begründet werden können, RegEntw AktG 2012 (BT-Drs 17/8989, 21), dazu Land/Hallermayer AG 2010, 114. 386 Kraft Verwaltungsgesellschaftsrecht, 237 ff; im Ergebnis ähnlich v Danwitz AöR 120 (1995), 595, 610 ff, 622 ff. Aus der Rechtsprechung zul HessVGH DVBl 2012, 647, 649 f mwN; Mann, DV 35 (2002) 463, 473 ff; ders Öffentlichrechtliche Gesellschaft, 279 ff. 387 Zu den Einwirkungsmöglichkeiten eingehend Mann Öffentlich-rechtliche Gesellschaft, 189 ff; ders HkWP II, § 46 Rn 7 ff; ders VBlBW 2010, 7 ff. 388 Etwa § 103 I 1Nr 2 GemO BW; § 108 I 1 Nr 7 GO NW; § 87 I 1 Nr 2 GemO RP. Eingehend zu den gesellschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen und Folgen der Zweckvorgabe Habersack ZGR 1996, 544, 551 ff; Schön ZGR 1996, 419, 435 ff; Mann HkWP II, § 46 Rn 7 ff. 389 Etwa § 103 I 1 Nr 3 GemO BW, § 108 I 1 Nr 6 GO NW, § 87 I 1 Nr 3 GemO RP, § 122 I 1 Nr 3 HessGO.

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Die Forderung nach verbindlichen Weisungsrechten390 muss die gesellschaftsrechtlichen Vorgaben beachten. Sie lassen sich gegenüber den kommunalen Vertretern der Anteilseigner einer AG oder GmbH, gegenüber dem Geschäftsführer einer GmbH391 sowie gegenüber den kommunalen Vertretern eines fakultativen392 Aufsichtsrats einer GmbH verankern,393 im Übrigen, insbesondere gegenüber dem Vorstand einer AG, jedoch nicht.394 Auf Grund dieser Unabhängigkeit von Unternehmensleitung und Kontrollorgan im Aktienrecht sehen die Gemeindeordnungen teilweise die Subsidiarität der AG gegenüber anderen Rechtsformen vor.395

5. Vertragliche Verwaltungsstrukturen in der Kommune In vielen Bereichen gehen die Kommunen dazu über, ihre Leistungen in Zusammenarbeit mit 130 Privaten zu erbringen (vgl a o Rn 79 f): Stadtreinigung und Abfallentsorgung, Öffentlicher Nahverkehr, soziale Dienstleistungen, die Bewirtschaftung der Immobilien oder Energieversorgung sind nur einige Beispiele für kommunale Aufgaben, die auf Veranlassung oder unter Mitwirkung der Gemeinden ganz oder teilweise durch Private erbracht werden können.396 Die Grundlage für eine solche Zusammenarbeit bildet regelmäßig ein privat- oder öffentlich-rechtlicher Vertrag.397 Die Verwendung dieses Instruments verändert die Steuerungsmöglichkeiten der kommunalen Leitungsorgane, aber auch die Rechtsstellung der Empfänger kommunaler Leistungen; es hat damit Auswirkungen auf die Bedingungen kommunaler Demokratie und zieht grundrechtliche wie rechtsstaatliche Folgen nach sich. Die (Organ-)Zuständigkeit zum Vertragsschluss richtet sich nach allgemeinem Kommunal- 131 recht (u Rn 147). Die Verträge sind in der Regel mit finanziellen Leistungen der Kommune an den Vertragspartner verbunden; daher können sie in den Anwendungsbereich des Vergaberechts fallen (Rn 148). Zahlt der Benutzer hingegen direkt an den Privaten (Bsp: Schüler bezahlen das Essen in der Schulmensa) und trägt dieser das wirtschaftliche Risiko, handelt es sich um eine „Konzession“, die nicht den strengen vergaberechtlichen Vorgaben unterliegt. 398 Das EUBeihilferecht (Rn 184) ist ebenfalls zu beachten. Werden Verträge – wie typischerweise – auf längere Zeit geschlossen,399 muss sich die Kommune Überwachungs-, Einfluss- und evtl auch Modifikationsrechte einräumen lassen, um sicherstellen zu können, dass die kommunale Aufgabe dauerhaft ordnungsgemäß erfüllt wird.400 Auf dieser Grundlage kann die Einhaltung des

_____ 390 Vorgesehen etwa in § 113 I 2 GO NW; zurückhaltend § 104 III GemO BW. 391 ZB durch entsprechende Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrags §§ 37 I, 45 I GmbHG, Mann HkWP II, § 46 Rn 42 f; Keßler, GmbHR 2000, 71, 72 ff. 392 Also einer nicht den Regelungen der Mitbestimmung unterliegenden GmbH. 393 Vgl § 52 GmbHG; BVerwG NVwZ 2012, 115 f; aA Spindler ZIP 2011, 689, 694 f. IE Mann HkWP II, § 46 Rn 38; Pauly/Schüler DÖV 2012, 339. 394 Ratsbeschlüsse, die auf die Ausübung gesellschaftsrechtlich nicht bestehender Weisungsrechte an den Vorstand der kommunalen AG zielen, sind unzulässig, vgl HessVGH DVBl 2012, 647 ff. 395 Etwa § 102 Abs 2 GemO BW, § 108 Abs 4 GO NW; zur Reichweite der Subsidiaritätsklauseln Böttcher/Krömker, NZG 2001, 590, 591 ff. 396 Hoffmann-Klein/Noch DÖV 2002, 422; Fehling DV 34 (2001), 25; Kruhl NZBau 2005, 121; Jaeger FS Jürgen F. Baur, 2002, 455. 397 Zur öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Qualifikation solcher Verträge Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR, § 3 Rn 54 ff; Gurlit ebenda § 29; Schlette Verwaltung als Vertragspartner, 2000, 158 ff; Gündling Modernisiertes Privatrecht und öffentliches Recht, 2006, 134 ff. 398 EuGH Slg 2009, I-4779 (Tz 71 ff) – Oymanns; Rs C-348/10, NVwZ 2012, 236 (Tz 44 ff) – Norma-A; BGHZ 188, 200 (Tz 32 ff); jetzt dazu der RL-Vorschlag KOM (2011) 897 endg. Zur Konzession Burgi DVBl 2003, 949; ders NZBau 2005, 610. 399 Zu den unterschiedlichen Modellen der Aufgabenübertragung H. Bauer VerwArch 90 (1999), 561; Schliesky in: HkWP, § 47 Rn 7 ff. 400 Dazu die gesetzlichen Vorgaben zB in §§ 78b SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe), §§ 75 ff SGB XII (Sozialhilfe); zu vertraglichen Regelungen H. Bauer VVDStRL 54 (1995) 241, 274 ff; Brüning Der Private bei der Erledigung kom-

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1. Kapitel – Kommunalrecht

öffentlichen Zwecks überprüft und können mögliche Änderungen gemeindlicher Politik gegenüber dem Vertragspartner durchgesetzt werden. Auch für die Beendigung des Vertrages muss Vorsorge getroffen werden, indem Regelungen etwa über das Schicksal möglicher Investitionen des Vertragspartners festgelegt werden.401

Spezialliteratur: Brenner Gesellschaftsrechtliche Ingerenzmöglichkeiten von Kommunen auf privatrechtlich ausgestaltete kommunale Unternehmen, AöR 127 (2002) 222; Burgi Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999; ders Verwalten durch öffentliche Unternehmen im europäischen Institutionenwettbewerb, VerwArch 93 (2002) 255; Cronauge/Westermann Kommunale Unternehmen, 5. Aufl 2006; Döbling Verwaltungskooperationen und Vergaberecht, 2011; Engellandt Die Einflußnahme der Kommunen auf ihre Kapitalgesellschaften, 1995; Erichsen Die Vertretung der Kommunen in den Mitgliederorganen von juristischen Personen des Privatrechts, 1990; Erps Kommunale Kooperationshoheit und europäisches Vergaberecht, 2010; Gaß Die Umwandlung gemeindlicher Unternehmen, 2003; Gersdorf Öffentliche Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Demokratie- und Wirtschaftlichkeitsprinzip, 2000; Hauser Die Wahl der Organisationsform kommunaler Einrichtungen, 1987; Henneke (Hrsg), Organisation kommunaler Aufgabenerfüllung, 1998; ders (Hrsg), Kommunale Aufgabenerfüllung in Anstaltsform, 2000; ders (Hrsg), Kommunalrelevanz des Vergaberechts, 2009; Hille Grundlagen des kommunalen Beteiligungsmanagements, 2003; Hoppe/Uechtritz (Hrsg), Handbuch Kommunale Unternehmen, 2. Aufl. 2007; Hüser Ausschreibungspflichten bei der Privatisierung öffentlicher Aufgaben, 2005; J. Ipsen (Hrsg) Unternehmen Kommune?, 2007; Koch Der rechtliche Status kommunaler Unternehmen in Privatrechtsform, 1994; J. Koch Die Bestimmung des Gemeindevertreters in Gesellschaften mit kommunaler Beteiligung am Beispiel der Gemeindeordnung NW, VerwArch 2011, 1; Kohout Kartellvergaberecht und interkommunale Zusammenarbeit, 2008; Kraft Das Verwaltungsgesellschaftsrecht, 1982; Mann Die öffentlich-rechtliche Gesellschaft, 2002; ders Steuernde Einflüsse der Kommunen in ihren Gesellschaften, VBlBW 2010, 7; Nesselmüller Rechtliche Einwirkungsmöglichkeiten der Gemeinden auf ihre Eigengesellschaften, 1977; Pfeifer Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung kommunaler Aktiengesellschaften, 1991; Püttner Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl, 1985; ders Formvorschriften für Erklärungen des Bürgermeisters, JZ 2002, 197; Schmidt-Aßmann/ Ulmer Die Berichterstattung von Aufsichtsratsmitgliedern einer Gebietskörperschaft nach § 394 AktG, BB 1988, Beil Nr 13; Schmidt-Jortzig/Petersen Deliktische Haftung der Gemeinden für betrügerische Vertretungshandlungen ihres Bürgermeisters, JuS 1989, 27; Sydow/Gebhardt Auskunftsansprüche gegenüber kommunalen Unternehmen, NVwZ 2006, 986; Wolf Die Anstalt des öffentlichen Rechts als Wettbewerbsunternehmen, 2002.

1. Kapitel – Kommunalrecht VII. Rechtsetzung der Gemeinden und kommunale Verträge – 1. Kapitel

VII. Kommunalspezifische Handlungsformen: Rechtsetzung der Gemeinden und kommunale Verträge 132 Die Mitwirkung an der gemeindlichen Willensbildung ist für die Bürger nur interessant, wenn die Gemeindeverwaltung neben reinem Gesetzesvollzug Gestaltungsaufgaben, insbesondere der leistenden und planenden Verwaltung, wahrnehmen kann. Gestaltungsaufgaben ihrerseits lassen sich rechtlich nur dann erfüllen, wenn sich die Gemeinden die dazu notwendigen Rechtsregeln – selbstverständlich unter Wahrung des Gesetzesvorbehalts und des Gesetzesvorrangs – selbst schaffen können.402 Die Rechtsetzung ist folglich eine notwendige Äußerungsform der Gemeinden (vgl Rn 40). Sie manifestiert sich in den dem allgemeinen Verwaltungsrecht auch sonst bekannten Formen der Satzung, der Rechtsverordnung und gewisser inneradministrativer Rechtssätze (u 1 + 2).403 Gestaltungsaufgaben, insbesondere der leistenden und planenden Verwaltung sind zweitens in großem Umfang auf die Kooperation Privater angewiesen, sei es als Adressaten der Leistung,

_____

munaler Aufgaben, 1997, 163 ff; Burgi NVwZ 2001, 601, 606; ders in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 9 Rn 34. Allgemein Voßkuhle VVDStRL 62 (2003), 266, 320 ff. Zumindest unpräzise allerdings BVerwGE 140, 245 Rn 14. 401 Zu den sog Heimfallklauseln Th. Bauer BayVBl 1990, 292, 296; Kühling NVwZ 2010, 1257, 1259; H. Bauer DÖV 1998, 89, 95 f, dort auch zu besonderen Kündigungsklauseln. 402 Schmidt-Aßmann Rechtsetzung, 4 ff; Maurer DÖV 1993, 184. 403 Systematisch Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR, § 2 Rn 33 u 56 ff und Möstl ebenda, §§ 19 f; Ossenbühl HStR V, §§ 103–105; Hill in: GVwR II, § 34 Rn 26 ff.

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VII. Rechtsetzung der Gemeinden und kommunale Verträge – 1. Kapitel

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sei es als Beteiligte an der Leistungserbringung. Das typische Instrument ihrer Einbeziehung ist der Vertrag, dem dementsprechend für das kommunale Handeln große Bedeutung zukommt (u 3).

1. Gemeindliche Satzungen a) Regelungstypus Satzungen sind Rechtsetzungsakte selbständiger, dem Staate eingegliederter Verwaltungsträger 133 zur einseitig hoheitlichen Regelung ihrer Angelegenheiten.404 Meistens enthalten Satzungen generell-abstrakte Regelungen. Satzungen dieses Typs finden sich vor allem im gemeindlichen Abgabenrecht (Steuer-, Beitrags- und Gebührensatzungen) und zur Regelung der öffentlichen Einrichtungen der Gemeinden und ihrer Rechtsbeziehungen zu den Benutzern (Anstaltssatzungen). Die Allgemeinheit der Regelung dient hier der Gleichmäßigkeit des Verwaltungsvollzuges. Ein begriffsnotwendiges Merkmal der Satzung ist die Allgemeinheit jedoch nicht. Gerade in dem zweiten Anwendungsbereich des Satzungsrechts, bei den gemeindlichen Planungen, finden sich Regelungen, die sich im Norm-Einzelakt-Schema keinesfalls eindeutig als generell-abstrakt einstufen lassen, sondern individuell-konkrete und generell-abstrakte Elemente mischen. Bekanntestes Beispiel ist der Bebauungsplan, der nach § 10 BauGB als Satzung ergeht, obwohl er von einem rechtstheoretischen Standpunkte aus auf diese Form nicht notwendig fixiert zu sein brauchte. Beispiele wichtiger kommunaler Satzungen sind die Hauptsatzung, die Haushaltssatzung, Abgabensatzungen, Anstaltssatzungen, baurechtliche Satzungen (Bebauungspläne, Veränderungssperren, örtliche Bauvorschriften), straßenrechtliche Satzungen und Eigenbetriebssatzungen. Die Steuerung von Vorgängen kommunaler Massenverwaltung, die Planung und die Organisation sind demnach die Hauptanwendungsgebiete des Satzungsrechts.405

b) Ermächtigungsgrundlage für kommunale Satzungen und Gesetzesvorbehalt Die Satzung ist das typische Instrument eigenverantwortlicher Aufgabenerfüllung. Deshalb ge- 134 hört die Befugnis, in eigenen Angelegenheiten Satzungen zu erlassen – wenn auch nicht in allen Einzelheiten, so doch im Grundsatz – verfassungsfest zur Selbstverwaltungsgarantie (vgl Rn 40). Dem werden die Gemeindeordnungen dadurch gerecht, dass sie in ihren allgemeinen Satzungsklauseln den Gemeinden solche Rechtsetzungsbefugnis (Autonomie) zuweisen.406 Aber auch in Weisungs- und Auftragsangelegenheiten sind Satzungen nicht ausgeschlossen; der staatliche Gesetzgeber hat es hier jedoch in der Hand, den Gemeinden den Einsatz der Satzung als Regelungsinstrument vorzuenthalten oder ihn an besondere Voraussetzungen zu binden.407 Nicht ganz eindeutig zu beantworten ist, ob und inwieweit für Satzungen der Vorbehalt des Gesetzes gilt. Anerkannt ist immerhin, dass der in Art 80 I 2 GG und in den vergleichbaren Vorschriften der Landesverfassungen festgelegte rechtsformabhängige Gesetzesvorbehalt für Rechtsverordnungen408 auch analog nicht auf Satzungen angewandt werden kann.409 Die Gemeinden sind um ihres Selbstverwaltungsrechts willen freier gestellt als die Staatsverwaltung. Sie verfügen in dem von ihren Bürgern gewählten Gemeinderat über eine eigene direkte Legitimationsbasis.

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404 BVerfGE 33, 125, 156; Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR, § 2 Rn 56; Ruffert in: GVwR I, § 17 Rn 64 ff. 405 Zu einzelnen Funktionen von Satzungen Lübbe-Wolff/Wegener Umweltschutz; Hill Gutachten zum 58. DJT, 12 ff. Speziell zum Bebauungsplan o Krebs 4. Kap Rn 74 f, 83 ff. 406 § 4 GemO BW; Art 23 GO Bay; § 3 BbgKVerf; § 5 HessGO; § 5 KV MV; § 10 NdsKomVG; § 7 GO NW; § 24 GemO RP; § 12 KSVG SL; § 4 SächsGemO; § 6 GO LSA; § 4 GO SH; § 19 ThürKO. 407 Vgl Schmidt KomR, Rn 282 f; aber a HessVGH DÖV 2001, 253. 408 Art 80 I 2 GG gilt unmittelbar nur für bundesgesetzliche Ermächtigungen. Bundesgerichte, zu deren Erkenntnismaßstäben Landesverfassungsrecht nicht zählt (vgl zB § 137 I Nr 1 VwGO), sind mitunter versucht, die Vorschrift über die Homogenitätsklausel des Art 28 I 1 GG auch auf landesgesetzliche Ermächtigungen anzuwenden. 409 BVerfGE 97, 332, 343 f und die hM, Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR, § 2 Rn 49.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

Trotzdem sind die Ordnungsfunktionen des parlamentarischen Gesetzgebers auch im Selbstverwaltungsbereich unverzichtbar. Die Gründe, die das Bundesverfassungsgericht im FacharztBeschluss410 für die berufsständische Selbstverwaltung hierzu genannt hat, gelten im Prinzip auch für die gemeindliche Selbstverwaltung.411 Der Gemeinderat ist kein Parlament,412 und folglich muss der rechtsstaatlich notwendige Distanzschutz der Bürger durch das parlamentarische Gesetz auch gegenüber dem Satzungsgeber gesichert werden. Dieser Ordnungsauftrag sollte allerdings durch eine kommunalspezifische Fassung der Gesetzesvorbehaltslehre erfüllt werden.413 Demnach reichen die Vorschriften der Gemeindeordnungen, denen zufolge Gemeinden in 135 eigenen Angelegenheiten Satzungen erlassen können (allgemeine Satzungsklauseln) für den Erlass von Satzungen im Bereich der Gemeindeorganisation und weiten Teilen der Leistungsverwaltung (zB Benutzungssatzungen) aus.414 Einer besonderen gesetzlichen Grundlage bedarf es dagegen dort, wo Satzungen in Freiheit und Eigentum eingreifen oder ihrerseits zu Eingriffen ermächtigen sollen. Insofern gilt der klassische Eingriffsvorbehalt415 und verlangt eine gesetzliche Basis, die Art und Richtung des Eingriffs bezeichnet. Diesen Bestimmtheitsanforderungen an das gesetzliche „Ermächtigungsprogramm“ genügen die allgemeinen Satzungsklauseln nicht.416 Die Gesetzgebungspraxis hat sich auf diesen Befund eingestellt und fasst Voraussetzungen für Satzungen mit typischem Eingriffscharakter präziser: Satzungen, die den Anschlussund Benutzungszwang an gemeindliche Einrichtungen vorschreiben dürfen, finden in Spezialklauseln der Gemeindeordnungen, baugestalterische Satzungen in den Regeln der Landesbauordnungen über „örtliche Bauvorschriften“, Abgabensatzungen in den Kommunalabgabengesetzen (u Rn 197 ff) ihre besonderen gesetzlichen Grundlagen. Diese Vorschriften haben zugleich Ausschlusswirkung. Soweit sie eine Materie dem kommunalen Zugriff nicht erschließen, können die Gemeinden das durch Satzungsregelung nicht nachholen.417 Ist der Anschlusszwang an Fernwärmeeinrichtungen aus Gründen des Immissionsschutzes zugelassen, kann ihn die Gemeinde nicht aus energiepolitischen Gründen anordnen(Rn 167). An der notwendigen Gesetzesgrundlage scheitern auch die Versuche der Gemeinden, die Haftung für Amtspflichtverletzungen (Art 34 GG iVm § 839 BGB), zB aus Schadensfällen bei der Benutzung öffentlicher Einrichtungen, durch Satzung einzuschränken.418 Besonders strenge Anforderungen an die gesetzliche Ermächtigung und die Satzung sind schließlich zu stellen, wenn Verstöße gegen satzungsrechtliche Bestimmungen als Ordnungswidrigkeit geahndet werden sollen (sog Strafbewehrung von Satzungen).419 Über den Eingriffsvorbehalt hinaus kann nach Maßgabe der Wesentlichkeitslehre eine spezialgesetzliche Grundlage nur noch für „eingriffsnahe“, besonders konfliktträchtige

_____ 410 BVerfGE 33, 125, 159 f; E 97, 332, 343 f. 411 Ossenbühl HStR V, § 105 Rn 31. 412 Vgl o Rn 90; BVerwGE 90, 359, 362 o JK GG Art 12 I/31 u Schoch NVwZ 1990, 801. 413 Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR, § 2 Rn 57. 414 Vgl Burgi KomR, § 15 Rn 32. 415 Dazu allgemein Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR, § 2 Rn 57, 40 ff; Maurer AllgVwR, § 6 Rn 3 ff. 416 BVerwGE 90, 359 o JK GG Art 12 I/31 (Einwegverpackungen); VGH BW VBlBW 2007, 353 o JK GG Art 12 I/85 (Friedhofssatzung); VGH BW DVBl 1993, 778 o JK GG Art 13/6, BayVGH BayVBl 1998, 470 u OVG LSA LKV 2011, 89, 91 f (Betretungsrechte); dazu Lübbe-Wolff DVBl 1993, 762. 417 Z Immissionsrecht BayVGH NVwZ-RR 1999, 265. Z Verlangen eines Nachweises, dass Grabmale nicht aus Kinderarbeit stammen, in Friedhofssatzung BayVerfGH NVwZ-RR 2012, 50; Lorenzmeier BayVBl 2011, 485; aA OVG RP NVwZ-RR 2009, 394 u BayVGH BayVBl 2009, 367. 418 BGHZ 61, 7, 14 ff; BGH NJW 1984, 615, 617 und NVwZ 2008, 238, 239; vgl auch Seibert DÖV 1986, 957. Anders BayVGH NVwZ 1985, 844 o JK GG Art 34/6. Ausf Mittermeier Haftung und Haftungsbeschränkungen der Gemeinden für ihre öffentlichen Einrichtungen, 1984; Ehlers Jura 2012, 692, 699 f. 419 ZB § 142 I GemO BW; Art 24 II 2 GO Bay; § 124 I SächsGemO; § 134 V GO SH; § 19 I ThürKO. Zum Bestimmtheitsgrundsatz für die Strafbewehrung BVerfGE 32, 346, 361 ff; (K) NVwZ 1990, 751; BVerfGK 11, 337, Tz 47 ff; vgl SchmidtAßmann in: Maunz/Dürig, GG, Art 103 II Rn 211. Bedenklich weit daher § 3 II BbgKVerf; § 5 II HessGO; § 5 III KV MV; § 10 V NdsKomVG; § 7 II GO NW; § 24 V GemO RP; § 12 III KSVG SL; § 6 VII GO LSA.

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VII. Rechtsetzung der Gemeinden und kommunale Verträge – 1. Kapitel

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Satzungsregelungen, nicht aber in der ganzen Breite des sonst beachtlichen Parlamentsvorbehalts verlangt werden.

c) Formelle Vorgaben Der Erlass von Satzungen gehört zu den Vorbehaltsaufgaben des Gemeinderates (vgl Rn 101), der 136 diese Aufgabe daher nicht auf den Bürgermeister oder einen Ausschuss delegieren kann.420 aa) Satzungsgebungsverfahren: Für das Satzungsgebungsverfahren als Normsetzungsverfah- 137 ren fehlt es an einer geschlossenen Regelung. Die wichtigsten Verfahrensvorschriften ergeben sich aus den allgemeinen Regeln der Gemeindeordnungen über die innergemeindliche Willensbildung, vor allem aus den Vorschriften über die Ratssitzungen, den Ausschluss befangener Ratsmitglieder und die Rügerechte des Bürgermeisters (o Rn 94 ff). Dazu treten Sondervorschriften für einzelne Arten von Satzungen, zB die §§ 2 ff BauGB beim Erlass von Bebauungsplänen. Staatlicher Genehmigung bedürfen Satzungen nur dann, wenn dies ausdrücklich gesetzlich vorgeschrieben ist. Existierende Genehmigungsvorbehalte berechtigen die Aufsichtsbehörde im Regelfall nur zur Rechtskontrolle.421 Dem gleichen Ziel dienen Vorschriften, die den Gemeinden die schlichte Vorlage des beschlossenen Satzungsentwurfs zur Pflicht machen. Um Rechtsverbindlichkeit zu erlangen, bedarf jede Satzung förmlicher Publikation. Das Erfordernis der Publikation folgt schon, wenn es in den Gemeindeordnungen nicht nochmals genannt würde, aus dem Rechtsstaatsgrundsatz. Über die technischen Einzelheiten, insbesondere über zulässige Publikationsorgane und die Formen der normalen, der Ersatz- und der Notbekanntmachung trifft das Gemeinderecht genaue Festlegungen.422 Vor der Veröffentlichung ist die Authentizität des zur Publikation vorgesehenen Textes, dh seine Übereinstimmung mit der vom Gemeinderat beschlossenen Fassung, durch Ausfertigung förmlich festzustellen; 423 das gilt auch dort, wo Gemeindeordnungen die Ausfertigung nicht ausdrücklich vorschreiben. Die fehlende Publikation führt zur Nichtexistenz der Satzung, nicht etwa zu einem heilbaren Verfahrensfehler (s gleich).424 bb) Verfahrensfehler: Verstöße gegen das gesetzliche Verfahrensrecht begründen Rechtsfeh- 138 ler und machen, wenn es sich nicht um Verstöße gegen bloße Ordnungsnormen handelt, die Satzung grundsätzlich nichtig (Nichtigkeitsdogma),425 ohne dass die Möglichkeit einer Bestandskraft wie beim Verwaltungsakt besteht. Um die daraus resultierende Rechtsunsicherheit einzuschränken, sehen die betreffenden Gesetze vor, dass Verfahrensfehler nicht notwendig die gleiche Fehlerfolge der Nichtigkeit haben, wie sie für Inhaltsfehler gilt. Die Techniken, mit

_____ 420 Vgl Schmidt KomR, Rn 287 f. In Bay ist die Übertragung auf einen beschließenden Ausschuss für bestimmte Satzungen möglich, Art 32 II 2 Nr. 2 GO Bay. In seltenen Fällen erscheint es denkbar, dass eine Satzung im Wege des Dringlichkeitsbeschlusses vom dann zuständigen Bürgermeister (o Rn 107) erlassen wird, OVG NW NVwZ 1997, 598 u BayVGH BayVBl 2007, 239, jeweils für Veränderungssperre; vgl Geis KomR, § 8 Rn 13; abl Burgi KomR, § 15 Rn 22. Auch die Aufhebung von Satzungen bedarf eines förmlichen actus contrarius; ein schlichter Ratsbeschluss reicht nicht aus, OVG SH NVwZ-RR 2000, 313. 421 BayVerfGH NVwZ 1989, 551 (Abgabensatzung). Vgl a o Rn 74 f. 422 Dazu Ziegler Die Verkündung von Satzungen und Rechtsverordnungen der Gemeinden, 1976, 67 ff; ders DVBl 1987, 280; Herrmann/Schiffer VBlBW 2004, 163; BVerwG NVwZ-RR 1993, 262; BVerwGE 126, 388 Tz 19 ff. 423 BVerwGE 79, 200, 203; E 88, 204, 208 f u NVwZ-RR 1996, 630; VGH BW NVwZ 1985, 206 u VBlBW 2007, 203; BayVGH BayVBl 1991, 23; OVG RP NVwZ-RR 1998, 95; Swierczyna ThürVBl 2004, 149; Ziegler DVBl 2010, 291. Zu den bundesrechtlichen Vorgaben für eigene Entscheidungen des Verkündungsorgans BVerwGE 117, 58, 62 ff. 424 Ob eine Satzung wirksam bekannt gemacht wurde, ist eine Frage der Begründetheit eines Normenkontrollantrags, BVerwG NVwZ 2004, 620 o JK VwGO § 47 II 1/26. 425 Ossenbühl HStR V, § 105 Rn 62. Zu Reaktionsmöglichkeiten der Genehmigungs– und Aufsichtsbehörden BVerwGE 75, 142 ff o JK BauGB § 2 IV/1.

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denen die Gesetzgeber in Bund und Ländern Verfahrensfehler für unbeachtlich, nur teilweise beachtlich, nur zeitweise beachtlich oder nachträglich behebbar erklärt haben, weichen erheblich voneinander ab.426 Am weitesten gehen die Sonderregelungen für Satzungen nach dem Baugesetzbuch – also vor allem für Bebauungspläne –, die unter Verstoß gegen Verfahrens- und Formvorschriften dieses Gesetzes ergangen sind. Hier sehen die §§ 214 f BauGB ein ganzes Bündel von Unbeachtlichkeits-, Rüge- und Heilungsklauseln vor.427 Andere gesetzliche Regelungen erlauben es, Satzungen rückwirkend in Kraft zu setzen, um Verfahrensfehler im ursprünglichen Satzungsgebungsverfahren zu heilen.428 Aber auch die Gemeindeordnungen enthalten Sondervorschriften über Verstöße gegen 139 kommunalrechtliche Verfahrensvorschriften beim Erlass von Satzungen.429 Diese gelten grundsätzlich allgemein für alle kommunalen Satzungen, soweit nicht spezialgesetzliche Vorschriften greifen. Die meisten Länder430 folgen dabei einer Technik, die man als Rügemodell bezeichnen kann.431 Die entsprechenden Bestimmungen finden sich entweder, beschränkt auf diese, bei den Befangenheitsvorschriften oder sind den allgemeinen Satzungsklauseln angefügt und beziehen sich dann auf alle oder wenigstens auf einen größeren Kreis von Verfahrensvorschriften. Im Grundtenor erklären alle dem Rügemodell folgenden Bestimmungen die bezeichneten Verfahrens- und Formfehler für unbeachtlich, wenn sie nicht innerhalb einer länderweise unterschiedlichen Frist entweder von bestimmten Amtsträgern (Bürgermeister, Aufsichtsbehörde) oder Dritten der Gemeinde gegenüber gerügt worden sind. Eine einmal erhobene Rüge dagegen perpetuiert den Fehler. Sie wirkt für und gegen jedermann. Ist innerhalb der Frist von keiner Seite eine Rüge erhoben worden, so kann der Verfahrensfehler nicht mehr geltend gemacht werden. Rechtskonstruktiv wird man insoweit von einer rechtswidrigen, gleichwohl aber nicht mehr angreifbaren Satzung auszugehen haben.432

d) Materielle Anforderungen an Satzungen, insbes Vorrang des Gesetzes 140 Satzungsgebung ist wie alle gemeindliche Tätigkeit „Verwaltung“ und unterfällt der Gesetzesbindung des Art 20 III GG. Vom zwingenden Unions- und Gesetzesrecht kann das Satzungsrecht nicht abweichen, es gilt der Vorrang des Gesetzes. Höherrangiges Recht kann auch insofern die Satzungsgebung einschränken, als ein bestimmter Regelungsgegenstand in der höherrangigen Norm abschließend geregelt werden sollte (o Rn 34). Die Überprüfung des Satzungsinhalts durch die Gerichte oder Aufsichtsbehörden kann Einschränkungen unterworfen sein, wenn Beurteilungsermächtigungen oder Ermessen die Kontrolldichte zu Gunsten des Satzungsgebers reduzieren. So können die einzelnen Tatbestandsmerkmale der gesetzlichen Satzungsermächtigung unbestimmte Gesetzesbegriffe mit Beurteilungsermächtigung darstellen, die den Gemeinden die letztverbindliche, gerichtlich nicht voll überprüfbare Konkretisierung aus der Sicht der örtlichen Belange gestatten.433 Allgemein ist davon auszugehen, dass dem Satzungsgeber ein Satzungsermessen zuerkannt ist, weil Normset-

_____ 426 Im Einz Hill Verfahren, 78 ff, 174 ff; Morlok Folgen, 170 ff; Sachs in: GVwR II, § 31 Rn 99 ff, 124. 427 Z Ganzen o Krebs 4. Kap Rn 121 ff mwN. 428 ZB § 214 IV BauGB; Art 5 VIII KAG Bay. 429 Im Einz Hill Verfahren, 174 ff. Diese gehen idR den allg Heilungsvorschriften vor, SächsOVG SächsVBl 2004, 161. 430 Ein anderes Modell („Kausalitätsklausel“) enthält Art 49 IV GO Bay; o Rn 93. 431 § 4 IV GemO BW; § 3 IV BbgKVerf; § 5 IV HessGO; § 5 V KV MV; § 10 II NdsKomVG; § 7 VI GO NW; § 24 VI GemO RP; § 12 VI KSVG SL; § 4 IV SächsGemO; § 6 IV GO LSA; § 4 III (f städtebaul Satzungen) u § 22 V GO SH; § 21 IV ThürKO. 432 Maurer FS Bachof, 1984, 215, 233 f; Hill Verfahren, 83, 174, 182, 357 ff. 433 Speziell zur Kontrolldichte gegenüber Gebührensatzungen Quaas NVwZ 2007, 757; Wiesemann DVBl 2007, 873.

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zung ohne Gestaltungsfreiheit kaum denkbar ist und Art 28 II GG speziell für die Gemeinden einen solchen Freiraum besonders begründet.434

e) Rechtsschutz gegen Satzungen Der Gerichtsschutz gegen Satzungen435 vollzieht sich zum einen im Rahmen eines gerichtli- 141 chen Vorgehens gegen satzungskonkretisierende Vollzugsakte über die sog Inzidentkontrolle, zu der der Richter aufgrund seiner Prüfungskompetenz in jedem anhängigen Prozess verpflichtet ist. Stellt sich dabei die materielle oder formelle Fehlerhaftigkeit der Satzung heraus, so kann sie (von den Fällen zu Rn 138 f abgesehen) nicht Rechtsgrundlage des angegriffenen Vollzugsaktes sein und bleibt für diesen Prozess außer Anwendung: Anders als der Verwaltungsbehörde kommt dem Gericht insofern eine Verwerfungskompetenz zu. Eine allgemein verbindliche Nichtigkeitsfeststellung dagegen gibt es im Rahmen der Inzidentkontrolle nicht. Letztere ist Ziel der sog prinzipalen Normenkontrolle nach § 47 VwGO. Sie ist bundesge- 142 setzlich obligatorisch für die städtebaulichen Satzungen des § 47 I Nr 1 VwGO, vor allem also für Bebauungspläne436 eingeführt. In allen Flächenländern mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen (eingeschränkt in Bayern, Rheinland-Pfalz) können darüber hinaus auch alle anderen unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften mit der prinzipalen Normenkontrolle angegriffen werden.437 Einen wesentlichen Komplex dieser Normengruppe stellen die gemeindlichen Satzungen dar. Die Wege der inzidenten und der prinzipalen Kontrolle stehen einem Betroffenen grundsätzlich nebeneinander zur Verfügung.438 Wo eine prinzipale Normenkontrolle nach § 47 I Nr 2 VwGO nicht vorgesehen ist, kann es 143 besondere Rechtsschutzprobleme dann geben, wenn sich eine Satzungsregelung ohne Vollzugsakt sogleich belastend in die Individualsphäre umsetzt, so dass die klassische Inzidentkontrolle nicht eingreifen kann. Da die gesamte administrative Normsetzung unter den Begriff der öffentlichen Gewalt iSd Art 19 IV GG fällt,439 können sich hier im Lichte dieser Bestimmung Rechtsschutzlücken ergeben. Diese müssen durch eine verfassungskonforme Handhabung der Feststellungsklage nach § 43 VwGO geschlossen werden, die allerdings nicht zur allgemein verbindlichen Nichtigkeitserklärung der fehlerhaften Satzung führt.440 Sollte trotz der kommunalen Gestaltungsspielräume ausnahmsweise ein Anspruch auf Erlass einer Satzungsregelung in Betracht kommen, steht als geeignete Rechtsschutzform die Feststellungsklage (aA allg Leistungsklage auf Normerlass) zur Verfügung.441

2. Weitere gemeindliche Rechtsetzungsakte Satzungen sind die wichtigsten, aber nicht die einzigen Rechtsetzungsakte der Gemeinden.

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434 BVerwGE 80, 355, 370 f o JK VwGO §§ 40, 31/1; E 116, 188, 193 f; dazu Oebbecke NVwZ 2003, 1313; BayVerfGH NVwZ-RR 2012, 50, 53. Allg Herdegen AöR 114 (1989) 607, 623 ff; Badura in GS Martens, 25; a v Danwitz Die Gestaltungsfreiheit des Verordnungsgebers, 1989. 435 Dazu Gerhardt/Bier in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorb § 47; Ehlers in: ders/Schoch, Rechtsschutz im ÖR, § 27. 436 o Krebs 4. Kap Rn 234; ausnahmsw (§ 35 III 3 BauGB) auch Flächennutzungspläne: BVerwGE 128, 382 o JK VwGO § 47/30. 437 Vgl. im Einz Gerhardt/Bier in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 47, Rn 22 ff. 438 BVerwGE 68, 12, 16; zur Rechtskraftbindung vgl BGH DÖV 1981, 337 o JK VwGO § 47/6. 439 Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, GG, Art 19 IV Rn 70 ff. 440 Pietzcker in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 43 Rn 25 f; Gerhardt/Bier aaO § 47 Rn 12. Vgl a BVerfGE 115, 81; BVerwGE 111, 276 (Festellungsklage gegen Rechtsverordnung) o JK VwGO § 43/11. 441 BVerwG NVwZ 1990, 162; Hartmann DÖV 1991, 62 ff; zu Normsetzungsansprüchen und Rechtsschutz ausf Sodan NVwZ 2000, 601 u BVerwG NVwZ 2002, 1505 (Bspr Köller/Haller JuS 2004, 189).

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1. Kapitel – Kommunalrecht

a) Rechtsverordnungen Gemäß besonderer gesetzlicher Ermächtigung können Gemeinden auch Rechtsverordnungen erlassen. Beispiele finden sich vor allem im Polizeirecht,442 im Gewerbe- und im Umweltrecht. In den Einzelheiten weichen die einschlägigen Gesetze allerdings so stark voneinander ab, dass sich allgemeine Aussagen verbieten. Für manche Materien ist in einigen Ländern eine Regelungsmöglichkeit durch Rechtsverordnung, in anderen eine solche durch Satzung gesetzlich vorgeschrieben; ein Beispiel dafür sind Baumschutzregelungen.443

b) Inneradministrative Rechtssätze 145 Zahlreiche Rechtsetzungsakte der Gemeinden lassen sich weder den Satzungen noch den Rechtsverordnungen zurechnen, sondern müssen als inneradministrative Rechtssätze eingestuft werden. Gerade die kommunale Praxis zeigt, dass diese Gruppe, die nicht zu den klassischen Außenrechtssätzen zählt, mehr umfasst als die Verwaltungsvorschriften. Neben den innerorganschaftlichen Geschäftsordnungen (Rn 95) der gemeindlichen Kollegialorgane sind es vor allem die nicht als Satzung erlassenen sog schlichten Anstaltsordnungen der kommunalen öffentlichen Einrichtungen und eine Reihe gemeindlicher Pläne, unter ihnen der Flächennutzungsplan nach § 5 BauGB, die dieser Gruppe zuzurechnen sind.444 Zwischen rein inneradministrativen Rechtssätzen und solchen mit Außenrechtswirkung angesiedelt sind Richtlinien, die die Entscheidung der Verwaltung gegenüber dem Bürger lenken sollen. Beispiele sind Richtlinien für die Vergabe der Stadthalle, von Standplätzen auf kommunalen Märkten oder für die Erteilung straßenrechtlicher Sondernutzungserlaubnisse. Solche Richtlinien sind idR vom Gemeinderat zu erlassen, da ihr Erlass keine Angelegenheit der laufenden Verwaltung ist. Weicht die Verwaltung von derartigen Richtlinien ab oder legt sie fehlerhafte Richtlinien zu Grunde, wird wegen Art 3 I GG regelmäßig ein Ermessensfehler vorliegen und die Verwaltungsentscheidung rechtswidrig sein.

3. Kommunale Verträge 146 Weil sich die Hauptagenden gemeindlicher Tätigkeit nicht auf die Eingriffsverwaltung beziehen, spielt vertragliches Handeln eine große Rolle. Städtebauliche Verträge, Verträge über Subventionen oder öffentliche Aufträge gehören daher zum Standardrepertoire des Kommunalrechts; den Strukturen der kommunalen Leistungserbringung liegen häufig gesellschaftsrechtliche Verträge und Verträge mit Leistungserbringern zugrunde (s Rn 127 u 130). Grundsätzlich gelten für Verträge der Kommunen die allgemeinen Regeln über privat- bzw öffentlich-rechtliche Verträge der öffentlichen Hand.445 Daher ist hier nur auf einige Besonderheiten einzugehen.

a) Wirksames Zustandekommen 147 aa) Allgemein: Zur Abgabe der zum Zustandekommen eines Vertrages notwendigen Willenserklärung ist grundsätzlich der Bürgermeister als Vertreter der Gemeinde zuständig. Hier geht es um die rechtsgeschäftliche Vertretung der Gemeinde nach außen, nicht um die beim Gemeinderat liegende politische Repräsentation.446 Rechtsgeschäftliche Vertretungsbefugnis bedeutet,

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442 o Schoch 2. Kap Rn 373 ff. 443 Dazu Schink DÖV 1991, 7; Führen in: Lübbe-Wolff/Wegener, Umweltschutz, Rn 480 ff. 444 Dazu Schmidt-Aßmann Rechtsetzung, 31 ff; speziell zu Flächennutzungsplänen o Krebs 4. Kap Rn 76 ff. 445 Dazu Gurlit in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, §§ 29 ff. 446 Tettinger/Erbguth/Mann BesVwR, § 4 Rn 168 ff; Waechter KomR, Rn 382 ff; Habermehl DÖV 1987, 144 (teilw abw Systematik).

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VII. Rechtsetzung der Gemeinden und kommunale Verträge – 1. Kapitel

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im privat- und im öffentlich-rechtlichen Rechtsverkehr für die Gemeinde verbindliche Erklärungen abgeben zu können. Im Kommunalrecht muss also streng unterschieden werden zwischen der internen Willensbildungsbefugnis und der externen Vertretungsbefugnis, die zur Umsetzung der Willensentscheidungen in außenwirksame Handlungen (zB Verwaltungsakte, privatrechtliche Willenserklärungen) notwendig ist. Erstere ist innergemeindlich aufgeteilt (Rn 99 ff); letztere liegt einheitlich beim Bürgermeister447 und ist nur gesetzlich, nicht aber durch Ratsbeschluss beschränkbar. Werden im Rahmen der Vertretungsbefugnis Erklärungen abgegeben, die nicht der innergemeindlichen Willensbildung entsprechen, so sind sie für die Gemeinde regelmäßig gleichwohl verbindlich.448 Um hier eine gewisse Sperre einzuführen, schreiben die Gemeindeordnungen für (wichtigere) Verpflichtungserklärungen der Gemeinden die Schrift- bzw qualifizierte elektronische Form vor; für andere Vertreter als den Bürgermeister zT auch Mitzeichnungserfordernisse, die nach hM für privatrechtliche Verträge als Beschränkungen der Vertretungsmacht verstanden werden.449 Verstöße gegen diese vertretungsrechtlichen Formerfordernisse machen eine Erklärung unwirksam,450 die Nichteinhaltung der Form kann aber unbeachtlich sein, wenn das für die Willensbildung zuständige Organ, idR der Gemeinderat, den Abschluss des Geschäfts gebilligt hatte. Ansonsten kann über die fehlende Vertretungsmacht in der Regel nicht, auch nicht über die Figuren der Duldungs- oder Anscheinsvollmacht hinweggeholfen werden. Auf Treu und Glauben schließlich kann sich der Erklärungsempfänger nur berufen, wenn die Unwirksamkeit zu einem schlechthin untragbaren Ergebnis führt;451 im Übrigen hat der Schutz der Gemeinde Vorrang.452 Eine eigene Haftung des Bürgermeisters als falsus procurator nach § 179 I BGB soll trotz des vertretungsrechtlichen Verständnisses der genannten Formvorschriften nicht in Betracht kommen, wohl aber eine Haftung aus § 839 BGB.453 Für manche Verträge, die mit Risiken für den Haushalt der Gemeinde verbunden sind (Bürgschaften, Veräußerungen unter Wert, Abschluss von Gesellschaftsverträgen) sind Genehmigungs- oder jedenfalls Vorlagepflichten vorgesehen (o Rn 74 ff). Ein Verstoß gegen diese Pflichten macht in der Regel, dh wenn gesetzlich nichts anderes angeordnet ist, den zivilrechtlichen Vertrag nicht unwirksam; für den öffentlich-rechtlichen Vertrag gilt § 58 II VwVfG. Mindestens schwebende Unwirksamkeit ist hingegen die Folge eines Verstoßes gegen die Vorlagepflicht aus Art 107 III AEUV im Falle der vertraglichen Gewährung einer Beihilfe.454 bb) Insbesondere: Vergaberecht. Verträge der Gemeinde, die mit einer Geldzahlung an 148 den Vertragspartner verbunden sind, unterfallen idR als „öffentlicher Auftrag“ dem Vergaberecht. Das Vergaberecht findet gem § 99 I GWB Anwendung auf „entgeltliche Verträge zwischen öffentlichen Auftraggebern und Unternehmen“ über Liefer-, Bau- oder Dienstleistun-

_____ 447 Ausnahmen für Akte im organschaftlichen Bereich des Rates, zB Ordnungsrufe. 448 BGH DVBl 1979, 514; WM 1997, 2410; VGH BW NVwZ 1990, 892; Sensburg NVwZ 2002, 179, 180; aA für Bay zu Geschäften, die nicht der laufenden Verwaltung zuzurechnen sind, BayObLG NJW-RR 1986, 1080. 449 Std Rspr vgl BGH NJW 2001, 2626 o JK GO BW § 54/1; krit Ludwig/Lange NVwZ 1999, 136; Vogel JuS 1996, 964. Ausf Darstellung bei Günniker Rechtliche Probleme der Formvorschriften kommunaler Außenvertretung, 1984; Schmidt-Jortzig/Petersen JuS 1989, 27; Stelkens Verwaltungsprivatrecht, 210 ff. Zu Verpflichtungserklärungen der Gemeinde bei notarieller Beurkundung Basty/Wolff MittBayNot 2004, 21. 450 BGH NJW 2001, 2626, 2627 o JK GO BW § 54/1. 451 BGH DVBl 1979, 514, 516; so zB, falls das materielle Einverständnis des zuständigen Gemeindeorgans festgestellt ist, BGH NVwZ 1990, 403 u NJW 1994, 1528 o JK BGB §167/1; allg dazu a Fritz Vertrauensschutz im Privatrechtsverkehr mit Gemeinden, 1983. 452 In Betracht kommt aber ein Anspruch aus cic (§§ 311, 280 BGB) und eine deliktische Haftung der Gemeinde im Falle betrügerischer Handlungen ihres Organs, BGH NJW 1985, 1778, 1780 f u 1986, 2939 o JK BGB §§ 89, 31/1. 453 BGHZ 147, 381, 387 ff o JK GO BW § 54/1; Sensburg NVwZ 2002, 179; ebenso für das Fehlen einer kommunalaufsichtlichen Genehmigung BGHZ 157, 168, 177 f. Siehe die Fallbearbeitung von Pielow/Finger Jura 2005, 351. 454 Zum EU-Beihilferecht allg s Rn 184.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

gen. 455 Grundsätzlich zählt hierzu jeder (öffentlich- oder privatrechtliche) 456 Vertrag eines bestimmten Umfangs, den eine Kommune mit einem Dritten über Lieferungen, Bau- oder Dienstleistungen abschließt. Überschreitet ein öffentlicher Auftrag einen bestimmten Umfang („Schwellenwerte“, § 100 I GWB), hat dem Vertragsschluss ein transparentes, diskriminierungsfreies Vergabeverfahren im Wettbewerb voranzugehen (§ 97 I GWB).457 Das wird zumeist eine öffentliche Ausschreibung des Vertrages erfordern (§ 101 I GWB). Die anschließende Auswahl des Vertragspartners steht der Kommune nicht frei; vielmehr hat sie sich in der Regel für das wirtschaftlichste Angebot zu entscheiden (§ 97 V GWB); eine Bevorzugung lokaler Anbieter ist damit weitestgehend ausgeschlossen.458 Auf die Einhaltung dieser Vergabebestimmungen haben die Bieter ein subjektives Recht (§ 97 VII GWB); daher kann ein übergangener Bieter die Vergabeentscheidung in einem speziellen Rechtsschutzverfahren überprüfen lassen (§§ 102 ff GWB). Versäumt die Gemeinde die Durchführung eines Vergabeverfahrens vollständig, ist der Vertrag unwirksam (§ 101b GWB).

b) Grenzen der Wirksamkeit 149 Auch bei vertraglichem Handeln muss die Kommune die Grenzen ihrer Kompetenz beachten und kann sich nicht von ihrer Gesetzesbindung lösen (§ 134 BGB ggf iVm § 59 I VwVfG).459 Die Vereinbarungen unterliegen der AGB-Kontrolle.460 Trotz der Zustimmung des Vertragspartners findet zumindest über die Grundsätze des Verwaltungsprivatrechts idR eine Angemessenheitskontrolle statt.461

Spezialliteratur: Becker/Sichert Einführung in die kommunale Rechtsetzung am Beispiel gemeindlicher Benutzungssatzungen, JuS 2000, 144, 348, 552; Bethge Parlamentsvorbehalt und Rechtssatzvorbehalt für die Kommunalverwaltung, NVwZ 1983, 577; Funke/Papp Rechtsprobleme kommunaler Satzungen, JuS 2010, 395; Hahn Verwaltungsgerichtlicher Schutz gegen Rechtssätze der Verwaltung, 2004; Heintzen Das Rangverhältnis von Rechtsverordnung und Satzung, DV 29 (1996) 17; Herdegen Gestaltungsspielräume bei administrativer Normgebung, AöR 114 (1989) 607; Hill Das fehlerhafte Verfahren und seine Folgen im Verwaltungsrecht, 1986; ders Soll das kommunale Satzungsrecht gegenüber staatlicher und gerichtlicher Kontrolle gestärkt werden?, Gutachten zum 58. DJT 1990; Lübbe-Wolff/Wegener (Hrsg), Umweltschutz durch kommunales Satzungsrecht, 3. Aufl 2002; Manssen Stadtgestaltung durch örtliche Bauvorschriften, 1990; Martin Heilung von Verfahrensfehlern im Verwaltungsverfahren, 2004; Maurer Rechtsfragen kommunaler Satzungsgebung, DÖV 1993, 148; Morlok Die Folgen von Verfahrensfehlern am Beispiel von kommunalen Satzungen, 1988; Schmidt-Aßmann Die kommunale Rechtsetzung im Gefüge der administrativen Handlungsformen und Rechtsquellen, 1981; ders Soll das kommunale Satzungsrecht gegenüber staatlicher und gerichtlicher Kontrolle gestärkt werden?, Sitzungsberichte des 58. DJT 1990, N 8; Schoch Soll das kommunale Satzungsrecht gegenüber staatlicher und gerichtlicher Kontrolle gestärkt werden?, NVwZ 1990, 801.

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455 Dazu o Huber 3. Kap Rn 277 ff. 456 Burgi NZBau 2002, 57. Zu Grundstücksverkäufen Eisenreich/Barth NVwZ 2008, 635 u Hertwig NZBau 2011, 9. 457 Zum Vergaberechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte BVerfGE 116, 135 o JK GG Art 20 III/43; BVerwGE 129, 9 o JK VwGO § 40 I/37; Gundel Jura 2008, 275; Wollenschläger DVBl 2007, 589. 458 Im einz Roeßing, Einheimischenprivilegierungen und EG-Recht, 2008, 225 ff. 459 BGH NVwZ 2004, 636 – Verstoß gegen EU-Beihilferecht; NVwZ 2010, 398 – „Infrastrukturbeitrag“ als unzulässige Abgabe. 460 BGH NJW 2010, 3505. 461 Vgl. § 11 II BauGB, § 307 I 1 BGB; dazu BGHZ 153, 97; NJW-RR 2007, 962; NVwZ 2010, 531.

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VIII. Die Leistungen der Gemeinden für ihre Einwohner – 1. Kapitel

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VIII. Die Leistungen der Gemeinden für ihre Einwohner 1. Kapitel – Kommunalrecht VIII. Die Leistungen der Gemeinden für ihre Einwohner – 1. Kapitel

1. Das Recht kommunaler Leistungserbringung a) Grundfragen Das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wohl ihrer Einwohner durch die Bereitstellung oder 150 Gewährleistung eines Leistungsangebotes zu fördern, ist eine Grundaufgabe gemeindlicher Selbstverwaltung. Als solche genießt sie den Schutz des Art 28 II GG. In einem engeren Sinne ist das kommunale Leistungsrecht ein Recht der Daseinsvorsorge, verstanden als die Sorge für existentiell notwendige Güter. Es ist die Daseinsvorsorge, die gerade im Kommunalwesen traditionell eine starke Wurzel hat.462 Aber auch darüber hinaus ist das gemeindlich bereitgestellte oder gewährleistete Leistungsangebot vielfältig: Kommunale Wirtschaftsförderung, das gemeindliche Gesundheits- und Sozialwesen oder die Aktivitäten der Gemeinden im Bau- und Wohnungswesen, die Unterhaltung von Kultureinrichtungen wie Theater oder Museen, die Veranstaltung gemeindlicher Märkte und Jahrmärkte sind nur einige der Felder, auf denen Kommunen leistend tätig sind. Ob ein solches Leistungsangebot vorgehalten werden soll, entscheidet die Kommune im 151 Rahmen ihres Aufgabenfindungsrechts, soweit nicht gesetzliche Pflichten zur Leistungserbringung bestehen. Die Struktur der leistungserbringenden Einheit (zB Eigenbetrieb, Eigengesellschaft, beauftragter Unternehmer) ist ein Thema des Organisationsrechts (s Rn 124 ff) und ggf der Zulässigkeit wirtschaftlicher Betätigung (s Rn 170 ff). Dieser Abschnitt beschäftigt sich hingegen mit dem diesem Angebot korrespondierenden Leistungsanspruch: Besonders dann, wenn es um existentiell notwendige Güter geht, kann der Einzelne nicht auf ein Belieben der Behörden verwiesen sein. Schon die Deutsche Gemeindeordnung463 normierte deshalb einen individuellen Anspruch auf Zugang zu gemeindlichen Leistungen. Nach deren § 17 waren „die Einwohner … nach den hierüber bestehenden Vorschriften berechtigt, die öffentlichen Einrichtungen der Gemeinde zu benutzen.“ Eine vergleichbare Nachfolgebestimmung findet sich in allen Gemeindeordnungen. 464 Dieser spezifisch kommunalrechtliche Anspruch der Gemeindeeinwohner auf Nutzung öffentlicher Einrichtungen wird mittlerweile allerdings ergänzt, überlagert oder ersetzt durch eine größere Zahl weiterer Nutzungsansprüche, die vor allem die wichtigsten, früher als Aufgabe kommunaler Daseinsvorsorge verstandenen Leistungen betreffen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass diese Leistungen heute nicht allein durch die Kommune, 152 sondern ebenfalls durch andere, insbesondere private Anbieter erbracht werden (vgl o Rn 80, 130 ff). Hier haben Liberalisierung und Privatisierung seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zu einem Perspektivenwechsel geführt: Auch im öffentlichen Interesse als notwendig angesehene Leistungen, die jedermann zu akzeptablen Bedingungen zur Verfügung stehen sollen, müssen danach nicht notwendig von der öffentlichen Hand bereitgestellt werden. Vielmehr sollen geeignete Instrumente der Gewährleistung und Regulierung dafür sorgen, dass auch private Unternehmen in die Erstellung öffentlicher Leistungen eingebunden werden können. Das ist insbesondere die Sichtweise des Unionsrechts: Art 14 AEUV erkennt die Bedeutung solcher „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ ausdrücklich an.465 Darin ist aber kein Bestandsschutz überkommener kommunaler Versorgungsstrukturen zu sehen;466 das Unionsrecht interessiert sich für den Erhalt der Dienste, nicht für den Bestand der Träger. Die Gemeinden müssen sich daher, wenn sie selber Leistungen erbringen wollen, dem privaten Wettbewerb nach

_____ 462 Hellermann Daseinsvorsorge, 16 ff. 463 Deutsche Gemeindeordnung (1935); dazu Matzerath in: HkWP I, § 7 Rn 16 ff. 464 § 10 II 2 GemO BW; Art 21 I 1 GO Bay; § 12 I BbgKVerf; § 20 I HessGO; § 14 II KV MV; § 30 NdsKomVG; § 8 II GO NW; § 14 II GemO RP; § 19 I KSVG SL; § 10 II SächsGemO; § 22 I GO LSA; § 18 GO SH; § 14 I ThürKO. 465 Vgl Wernicke in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Recht, Art 14 AEUV, Rn 40; Knauff EuR 2010, 725, 730 ff. 466 Grundlegend Pielow Grundstrukturen, 96 ff, 688 ff; teilw anders Hellermann Daseinsvorsorge, 132 ff.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

Maßgabe der Art 101 ff, 106 f AEUV stellen. Ausnahmen sind nur dort und nur insoweit zulässig, als es die Erbringung „gemeinwirtschaftlicher Leistungen“ erfordert, Art 106 II AEUV.

b) Modi kommunaler Leistungserbringung 153 Die den kommunalen Leistungsangeboten korrespondierenden Leistungsansprüche der Nutzer bzw Leistungsempfänger unterscheiden sich in der Struktur des Zugangsrechts: Öffentliche Sachen, die die Gemeinde durch Widmung für die bestimmungsgemäße Nutzung zur Verfügung stellt, unterliegen einem so bezeichneten „dinglichen“ Nutzungsregime: Für Gemeindestraßen als dem wichtigsten Fall räumt das Straßenrecht jedermann ohne Rücksicht auf eine spezielle gemeindliche Trägerschaft oder Zugehörigkeit das Recht ein, sie im Rahmen des Gemeingebrauchs ohne Zulassung zu benutzen.467 In den meisten anderen Fällen, in denen die Gemeinde als Leistungserbringer auftritt, be154 steht hingegen ein obligatorischer Nutzungsanspruch gegen die Gemeinde, uU auch gegen die von ihr zur Leistungserbringung eingesetzte Organisationseinheit: – In den liberalisierten Märkten der Daseinsvorsorge wird die Kommune nicht als solche, sondern als Erbringerin einer besonderen Leistung in Anspruch genommen: So trifft (auch) ein gemeindliches Energieversorgungsunternehmen unter den Bedingungen des § 18 EnWG die Pflicht, Haushaltskunden einen Netzanschluss zu gewähren, und ggf als Grundversorger gem § 36 EnWG die Pflicht, sie mit Energie zu versorgen. Gemeindliche Nahverkehrsunternehmen müssen jedermann nach § 22 PBefG befördern. – Als Sozialleistungsträger haben die Gemeinden Ansprüche auf Sozialleistungen nach den besonderen Vorschriften des SGB zu erfüllen, etwa den Zugang zu einem Kindergartenplatz auf der Grundlage des § 24 I SGB VIII/KJHG. Für Krankenhäuser, auch solche in kommunaler Hand, gewährt das Landesrecht einen Aufnahmeanspruch.468 – Ein Nutzungsanspruch besteht jenseits dieser spezialgesetzlichen Vorgaben schließlich dann, wenn die Gemeinde eine öffentliche Einrichtung zur Verfügung stellt.469 Anspruchsberechtigt sind danach grundsätzlich nur die Einwohner der Gemeinde (s sogleich Rn 159).

2. Insbesondere: Öffentliche Einrichtungen a) Begriff 155 Ein Schlüsselbegriff des Rechts daseinsvorsorgender Kommunalverwaltung ist die öffentliche Einrichtung,470 die ihrerseits in den verwaltungsrechtlichen Systemzusammenhang des Rechts der Leistungsverwaltung, speziell des öffentlichen Sachen- und Anstaltsnutzungsrechts gehört.471 Dieser kommunalrechtliche Begriff meint „Betriebe, Unternehmen, Anstalten und sonstige Leistungsapparaturen höchst unterschiedlicher Struktur und Zweckbestimmung, denen letztlich nur die Funktionsweise gemeinsam ist, die Voraussetzungen für die Daseinsfürsorge und Daseinsvorsorge der Bevölkerung zu schaffen und zu gewährleisten“.472 Hierher zählen also

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467 o v Danwitz 7. Kap Rn 59 ff. Zu den im Einz unübersichtlichen Begrifflichkeiten im öffentlichen Sachenrecht Papier in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 38, insbes Rn 24 f. 468 ZB § 28 I LKHG BW; § 2 I KHGG NW; § 17 ThürKHG. 469 (Festgesetzte) Märkte nach §§ 64 ff GewO können auch von anderen Veranstaltern als der Kommune durchgeführt werden; ist die Gemeinde hingegen Veranstalterin, richtet sich der Zugangsanspruch für Teilnehmer nach § 70 GewO. Zu dem Verhältnis von Kommunalrecht und GewO in diesem Zshg Kahl/Weißenberger Jura 2009, 194, 199 ff; Ennuschat in: Tettinger/Wank/ders, GewO, § 69 Rn 3 ff, 47 ff. 470 Erichsen Jura 1986, 148 u 196; Dietlein Jura 2002, 445. 471 Dazu Papier in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, §§ 38 ff; Roth Die kommunalen öffentlichen Einrichtungen, 1998. 472 Ossenbühl DVBl 1973, 289; Mann HkWP I, § 17 Rn 17 ff; OVG NW DVBl 1976, 398; Broß VerwArch 80 (1989) 143, 156 f; vgl a Maier SächsVBl 2009, 177.

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VIII. Die Leistungen der Gemeinden für ihre Einwohner – 1. Kapitel

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Museen, Schwimmbäder, Bibliotheken, Verkehrsbetriebe, Altenheime, Kindergärten, Friedhöfe, Theater, Obdachlosenunterkünfte, Freizeitanlagen. Eine besondere, von der normalen Gemeindeverwaltung abgesetzte Organisation ist ebenso wenig Voraussetzung wie die Existenz eines besonders aufwendigen Apparats. Auch Parks, Sport- und Kirmesplätze, sogar Internet-Seiten473 werden deshalb zu den öffentlichen Einrichtungen gerechnet. Nicht zu den öffentlichen Einrichtungen gehören öffentliche Sachen im Gemeingebrauch, 156 vor allem das gemeindliche Straßennetz.474 Hier ist das Zugangsrecht „dinglich“ konstruiert und nicht auf den kommunalen Adressatenkreis begrenzt, wie dies für die öffentlichen Einrichtungen typisch ist (o Rn 153). Nicht zu den öffentlichen Einrichtungen zählen auch Vermögensgegenstände, die ausschließlich in das Finanzvermögen fallen, wie das zB für die erwerbswirtschaftlichen Betriebe einer Gemeinde gilt (Bsp: Spitalkellerei der Stadt Konstanz). Ebenfalls nicht öffentliche Einrichtungen sind die Sachen im Verwaltungsgebrauch, zB Dienstgebäude, Dienstwagen und andere Verwaltungseinrichtungen, die unmittelbar nicht der Nutzung durch Dritte, sondern der Erfüllung administrativer Amtsgeschäfte dienen. Dass in manchen dieser Einrichtungen Publikumsverkehr herrscht, macht sie noch nicht zu öffentlichen Einrichtungen iSd Kommunalrechts.475 Auf die Organisationsrechtsform oder das Maß der rechtlichen Verselbständigung der öffent- 157 lichen Einrichtung kommt es nicht an.476 Öffentliche Einrichtungen können als Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts, als Eigenbetrieb, oder auch in der Form der Aktiengesellschaft oder der Gesellschaft mit beschränkter Haftung geführt werden (zur Rechtsformenwahl o Rn 125 ff). Es ist nicht notwendig, dass die Gemeinde die ausschließliche Vermögensträgerin ist. Auch Gesellschaften, an denen die Gemeinde nur beteiligt ist, ja selbst ein ausschließlich in privaten Händen liegendes Unternehmen kann Träger einer öffentlichen Einrichtung sein, wenn ein entsprechendes Leistungsregime in der Unternehmenssatzung oder durch Vertrag mit der Gemeinde festgelegt ist und dieser hierdurch hinreichende Einflussmöglichkeiten gesichert sind.477

b) Widmung Ein Gegenstand oder eine Sachgesamtheit erhält die Eigenschaft als öffentliche Einrichtung 158 durch Widmung. Der Rechtsakt Widmung konstituiert das Recht zur Nutzung der Sache durch die kommunale Öffentlichkeit.478 An eine spezifische Rechtsform ist die Widmung nicht gebunden. Vielfach wird sie durch einen eigenen Ratsbeschluss ausgesprochen. Doch kommen auch rein administrative und konkludente Widmungen vor.479 So zeigt die Erhebung von Gebühren, dass eine Widmung vorliegen muss; zudem kann eine förmliche Nutzungsregelung durch eine großzügigere Vergabepraxis erweitert werden; bei einer faktisch von der Öffentlichkeit genutz-

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473 Ott/Ramming BayVBl 2003, 454; Duckstein/Gramlich SächsVBl 2004, 121; Frey DÖV 2005, 411. 474 Burgi KomR, § 16 Rn 8. Allerdings können öff Einrichtungen – auch konkludent, s gleich – der Allgemeinheit zum freien Zugang gewidmet sein, zB kommunale Grünflächen; das ist vom sachenrechtlich konstruierten Gemeingebrauch zu unterscheiden; Ehlers Jura 2012, 682 f; abw Lenski JuS 2012, 984, 985 ff. 475 Papier in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 39 Rn 48 ff; VG Leipzig NVwZ-RR 2000, 380: gemeindliches Amtsblatt. Etwas anderes gilt, wenn solche Einrichtungen regelmäßig der Öffentlichkeit zur Benutzung zur Verfügung gestellt werden wie zB Schulgebäude außerhalb des Unterrichts, VGH BW NVwZ-RR 2008, 179; BayVGH NJW 2012, 1095. 476 Darstellung und Kritik der Rechtspraxis bei Ehlers DÖV 1986, 897 mwN; BVerwG NVwZ 1991, 59; vgl Geis KomR, § 10 Rn 21. 477 S Rn 127 ff. Im Falle des Anschluss- und Benutzungszwangs (u Rn 166 ff) fordert das Prinzip der Verhältnismäßigkeit eine derartige Sicherung, BVerwGE 123, 159, 164 fo JK SächsGemO § 14/1; vgl Schmidt-Aßmann ZHR 170 (2006), 489, 490 f. 478 Dazu ausf Axer Die Widmung als Schlüsselbegriff des Rechts der öffentlichen Sachen, 1994, 138 ff; Germann AöR 128 (2003) 458; Ehlers Jura 2012, 849, 850. 479 Mann HkWP I, § 17 Rn 20; Burgi KomR, § 16 Rn 6.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

ten Einrichtung spricht im Zweifel eine Vermutung für ihre öffentliche Widmung.480 Die Gemeinde kann die Vermutung jedoch durch den Nachweis widerlegen, die Bereitstellung erfolge eindeutig als private Einrichtung. Die Widmung legt den genauen Nutzungszweck und damit auch die Nutzungsgrenzen fest. Eine Halle, die praktisch auch für Versammlungen genutzt werden könnte, aber nur als Sporthalle gewidmet ist, ist nur insofern eine öffentliche Einrichtung. Durch Entwidmung entfällt der Rechtscharakter einer Einrichtung als öffentliche Einrichtung. Überlässt die Gemeinde eine öffentliche Einrichtung, zB die Veranstaltung eines Volksfestes oder die Abwasserbeseitigung, privaten Unternehmern, so ist zu prüfen, ob sie sich damit ganz von der öffentlichen Aufgabe verabschieden oder nur die Durchführung übertragen wollte. Ersterenfalles liegt keine öffentliche Einrichtung mehr vor („materielle Privatisierung“, o Rn 80), so dass gegen die Gemeinde gerichtete Nutzungsansprüche, aber auch die Möglichkeit, Abgaben für die Benutzung zu erheben, entfallen. Die Übertragung zur Durchführung belässt es hingegen bei einer öffentlichen Einrichtung („funktionale Privatisierung“, o Rn 80). Entscheidend ist, ob sich die Gemeinde weiterhin maßgeblichen Einfluss durch Mitwirkungs- und Weisungsrechte vorbehalten hat.481

c) Nutzungsrechte 159 Die Einwohner sind nach den insoweit übereinstimmenden Gemeindeordnungen aller Länder berechtigt, die kommunalen öffentlichen Einrichtungen zu nutzen.482 Den Einwohnern sind Personen, die in der Gemeinde Grundstücke oder eine gewerbliche Niederlassung haben (sog Forensen), gleich gestellt. Ferner werden heute Einwohner der Nachbargemeinden als Nutzungsberechtigte jener Einrichtungen anzuerkennen sein, mit denen die Standortgemeinde zentralörtliche Funktionen für das Umland wahrnimmt.483 Gebietsfremde dagegen haben – außer in Brandenburg484 – regelmäßig keinen kommunalrechtlichen Nutzungsanspruch. Möglich ist allerdings, dass die Widmung, sei es ausdrücklich oder konkludent, Gebietsfremde einbezieht.485 Umgekehrt bestehen auch für die Einwohner Nutzungsrechte nur im Rahmen des Widmungszwecks. Wünschen nach einer den Widmungszweck übersteigenden besonderen Nutzung einer öffentlichen Einrichtung kann die Gemeinde entgegenkommen, muss es aber nicht; sie ist auch hier aber zu einer fehlerfreien Ermessensentscheidung verpflichtet.486 Gleichermaßen kann sich für Gebietsfremde bei entsprechender Widmung ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensentscheidung ergeben.487 Die wichtigste Grenze des Nutzungsrechts ist die Kapazität. Zur Schaffung neuer Einrich160 tungen ist die Gemeinde selbst bei nachhaltigem Bedarf rechtlich nicht verpflichtet,488 es sei denn, es läge gemäß spezieller gesetzlicher Regelung eine gemeindliche Pflichtaufgabe (Rn 62)

_____ 480 OVG NW NVwZ-RR 2000, 535 (Gebühren); VGH BW DVBl 1998, 780 (Vergabepraxis); OVG NW DVBl 1976, 398, 399 u OVG RP NVwZ 1982, 379 (Vermutung). 481 VG Augsburg NVwZ-RR 2001, 468; VG Freiburg NVwZ-RR 2002, 139; SächsOVG SächsVBl 2005, 14 o JK SächsGemO § 10 II/2; Schalt GewArch 2002, 137; Kahl/Weißenberger Jura 2009, 194, 195 f; Ehlers Jura 2012, 692, 693. Speziell zur Privatisierung der Abwasserbeseitigung Zacharias DÖV 2001, 454; Gruneberg Abwasserbeseitigung durch kommunale Unternehmen, 2007, 85 ff; zur Wasserversorgung Kahl GewArch 2007, 441; ausf Brehme Privatisierung und Regulierung der öffentlichen Wasserversorgung, 2010. 482 § 10 II GemO BW; Art 21 I 1 GO Bay; § 12 I BbgKVerf; § 20 HessGO; § 14 II K-V MV; § 30 NdsKomVG; § 8 II GO NW; § 14 II GemO RP; § 10 II SächsGemO; § 22 I GO LSA; § 19 KSVG SL; § 18 I GO SH; § 14 I ThürKO. Dazu Dietlein Jura 2002, 445; Kerkmann VR 2004, 73; Fügemann SächsVBl 2005, 57; Rennert JuS 2008, 211. 483 Th. Schmidt DÖV 2002, 696, 699 ff; aA Ehlers Jura 2012, 849, 852. 484 § 12 I BbgKVerf: „jedermann“; vgl LT-Drs. 4/5056, 138; dazu Schmidt KomR, § 18 Rn 619 ff. 485 OVG NW NVwZ 1984, 665. 486 Vgl a VGH BW NVwZ-RR 2001, 159; ausf Burgi KomR, § 16 Rn 42 ff, krit Ehlers Jura 2012, 849, 851. 487 VGH BW NVwZ-RR 1996, 344; vgl Burgi JZ 1999, 873. Zu Gebührenstaffelungen u Rn 191. 488 Mann HkWP I, § 17 Rn 27; im Ergebnis a Erichsen Jura 1986, 148, 153; OVG RP DVBl 1985, 176 f.

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vor. Ebenso wenig besteht ein Zwang, vorhandene Einrichtungen im bisherigen Umfang aufrechtzuerhalten.489 Der notwendige haushaltsrechtliche Umschichtungsspielraum der Gemeinden darf nicht durch die übereilte Konstruktion von Nutzungsansprüchen verdrängt werden. Lieb gewordene Gewohnheiten schaffen noch keinen Vertrauenstatbestand und erst recht keine Grundrechtspositionen. Bei knapper Kapazität freilich muss die Auswahlentscheidung einwandfrei sein.490 Hier hat die Gemeinde ein Ermessen hinsichtlich der anzuwendenden Maßstäbe: Sie kann formelle (Priorität, Losverfahren, Rotation) oder materielle („bekannt und bewährt“; Bewertung nach Qualität) Kriterien oder auch eine Kombination zwischen beiden einsetzen. Diese Kriterien müssen inhaltlich vor Art 3 I GG Bestand haben, soweit es um eine berufliche Nutzung geht, auch vor Art 12 GG und unionsrechtlichen Vorgaben.491 So müssen etwa auch Neubewerber eine Chance haben, das an und für sich akzeptable Kriterium „bekannt und bewährt“ darf also nicht ausschließlich gelten. Im Hinblick auf Parteien fordert § 5 I PartG ebenfalls eine Gleichbehandlung.492 Für das Verteilungsverfahren wird zutreffend die vorherige förmliche Fixierung der Kriterien gefordert (Konzeptpflicht);493 zuständig hierfür ist idR, weil kein Geschäft der laufenden Verwaltung, der Gemeinderat (o Rn 145). Kein Anspruch besteht bei einer voraussehbar strafrechtsrelevanten Nutzungsabsicht.494 Zur Zensur darf die Gemeinde die Vergabepraxis jedoch nicht benutzen.495 Wegen Art 21 II 2 GG darf einer Partei der Zugang nicht aufgrund einer vermeintlichen Verfassungswidrigkeit verweigert werden, solange sie nicht verboten ist.

d) Benutzungsverhältnis Der Nutzungsanspruch der Gemeindeordnungen ist nach hM öffentlich-rechtlicher Natur (vgl 161 aber u Rn 165). Davon zu trennen ist die Frage, wie auf der Basis dieses Nutzungsanspruchs das Benutzungsverhältnis rechtlich zu konstruieren ist.496 Nach ganz herrschender Auffassung können die Nutzungsverhältnisse in mehreren Typen verfasst werden; der einzelnen Gemeinde steht dann in gewissen Grenzen ein Wahlrecht zu, nach welchem Modell sie verfahren möchte.497 Im Einzelnen muss zwischen der bereits oben (Rn 127) behandelten Wahl der Organisationsform und der Wahl der Rechtsform – genauer: des öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Rechtsregimes und der in ihm verfügbaren Handlungsformen – unterschieden werden (z Rechtsweg u Rn 164). aa) Bei öffentlich-rechtlicher Organisationsform: Erbringt die Gemeinde die Leistungen der 162 öffentlichen Einrichtung selbst, ohne Zwischenschaltung einer Person des Privatrechts, so kann

_____

489 HessVGH NJW 1979, 886 o JK VwGO § 40 I/3; zur Rechtsform der Schließung HessVGH NVwZ 1989, 779 o JK VwGO § 80 V/7; Ehlers Jura 2012, 692, 694. 490 Ausf dazu F. Wollenschläger, Verteilungsverfahren, 2010, 324 ff; Geis KomR, § 10 Rn 41 f; allg zur gerichtlichen Prüfung der Auswahlentscheidung Rennert DVBl 2009, 1333. ZB BayVGH NVwZ-RR 1998, 193 o JK GO Bay Art 21/2. 491 Zu Art 10, 12 der Dienstleistungsrichtlinie (2006/123/EG); Wollenschläger aaO, 333. 492 BVerwG NJW 1990, 134; HessVGH NJW 1993, 2331; BayVGH NJW 2012, 1095 (Bspr Waldhoff JuS 2012, 383 f); Vollmer DVBl 1989, 1087; Cremer Jura 1992, 653, 657 f; Gassner VerwArch 85 (1994) 533; Fallbearbeitung: Bader Jura 2009, 940. 493 Ausf Wollenschläger aaO, 335 ff; VGH BW DÖV 1987, 650 u DÖV 1991, 805 (Zulassung gegen Haftungsübernahme). 494 HessVGH NJW 1993, 2331; vgl a Gassner VerwArch 85 (1994) 533; ferner Gern DtKomR, Rn 542 f. 495 VGH BW NVwZ 1990, 93. 496 Erichsen Jura 1986, 196, 198 ff; Fischedick Wahl, 2 ff; Ehlers DVBl 1986, 912; v Danwitz JuS 1995, 1; Dietlein Jura 2002, 445, 452; Gurlit in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 35 Rn 32 ff. Zu Ansprüchen Dritter Althammer/Zieglmaier DVBl 2006, 810. 497 BayVerfGH NVwZ 1998, 727; Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR, § 3 Rn 35 ff; Schnapp DÖV 1990, 826; Koch Der rechtliche Status, 38 ff.

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sie wählen, ob sie das Nutzungsverhältnis insgesamt öffentlich-rechtlich abwickeln oder aber sich des Privatrechts bedienen will.498 Wählt sie das öffentliche Recht, vollzieht sich die Nutzung auf der Grundlage eines Verwaltungsaktes, im Rahmen eines verwaltungsrechtlichen Vertrages oder eines verwaltungsrechtlichen Schuldverhältnisses, das mit der oft nur konkludent erfolgenden Zulassung zustande kommt. Auf ein solches schlichtes Schuldverhältnis muss vor allem deshalb häufig zurückgegriffen werden, weil sich im Verwaltungsalltag die für den Vertrag obligatorische Schriftform (§ 57 VwVfG) als unhandlich erweist.499 Handlungsmaßstäbe, Haftungsund Rechtswegfragen bestimmen sich nach öffentlichem Recht. Wählt die Gemeinde eine privatrechtliche Ausgestaltung der Leistungserbringung, erfolgt diese auf der Grundlage eines privatrechtlichen Vertrages. Dadurch treten der auf den öffentlichrechtlichen Zulassungsanspruch antwortende öffentlich-rechtliche Zulassungsakt – in der Regel ein Verwaltungsakt – und das ihm folgende Nutzungsverhältnis stärker auseinander (ZweiStufen-Lehre),500 was sich nicht zuletzt prozessual bemerkbar macht (u Rn 164). Die Wahl des Privatrechts muss sich mindestens aus Indizien (zB Entgelt statt Gebühren; AGB statt Satzung) eindeutig ergeben.501 Fehlt es daran, streitet eine Vermutung für das öffentliche Recht. Inhaltlich gestattet freilich auch die Wahl des Privatrechts der Gemeinde nicht eine privatautonome Gestaltung der Leistungsbeziehungen. Vielmehr gilt Verwaltungsprivatrecht, jenes mit gewissen dem öffentlichen Recht entlehnten Bindungen versehene Privatrecht, dem die öffentliche Hand bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben nicht entrinnen kann.502 bb) Bei privatrechtlicher Organisationsform: Wird die öffentliche Einrichtung durch eine juristische Person des Privatrechts in der Hand der Gemeinde betrieben oder sogar durch einen Privaten im Auftrag der Gemeinde, so ist mit der Wahl der Organisationsform auch die Frage der Handlungsform entschieden. Ohne gesetzesbegründete Beleihung – daran fehlt es durchgängig – können Privatrechtssubjekte ihre Rechtsbeziehungen zum Benutzer nicht öffentlich-rechtlich regeln. Die Leistungserbringung vollzieht sich hier folglich in den Formen des Privatrechts; auch wenn jedenfalls die von der Gemeinde beherrschten juristischen Personen des Privatrechts selber der Grundrechtsbindung unterliegen mögen (o Rn 56 f). 163 cc) Benutzungsbedingungen: Das öffentlich-rechtliche Benutzungsverhältnis kann durch Satzung ausgestaltet und durch Allgemeine Benutzungsbedingungen weiter konkretisiert werden;503 ist das Benutzungsverhältnis privatrechtlich verfasst, geschieht diese Konkretisierung durch AGB. Diese Benutzungsregelungen müssen sich im Rahmen des geltenden Rechts halten, hierzu zählen auch die Grundrechte, weil die öffentliche Einrichtung in der Hand der Gemeinde der Grundrechtsbindung unterliegt.504 Allerdings ist darauf zu achten, dass im Rah-

_____ 498 Das rechtskonstruktiv auf den ersten Blick einleuchtende einheitliche öffentlich-rechtliche Modell (Ossenbühl DVBl 1973, 289, 291 f; v Mutius JuS 1978, 400 f) hat sich hingegen nicht durchgesetzt, weil sich damit die anzutreffende Vielfalt der Organisations- und Rechtsformen nicht beschreiben ließ. 499 Vgl Tanneberg Zweistufentheorie, 188 ff. Ehlers Jura 2012, 692, 696, hält in diesem Falle die Erhebung eines Entgeltes für unzulässig und daher nimmt daher im Zw eine privatrechtliche Ausgestaltung an. 500 Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR, § 3 Rn 38 ff; Kramer/Bayer/Fiebig/Freudenreich JA 2011, 810; ausf jetzt Tanneberg, Die Zweistufentheorie, 2011. 501 VGH BW NJW 1979, 1900 fu NVwZ 1987, 701 f; Fischedick Wahl, 23. Speziell zur Frage, ob auch bei Vorliegen des Anschluss- und Benutzungszwangs für das Nutzungsverhältnis das Privatrecht gewählt werden kann, BVerwGE 123, 159, 161 f. 502 BVerwG NVwZ 1990, 754 u NVwZ 1991, 59; BGHZ 155, 166; BGH DVBl 1984, 1118 f; Fischedick Wahl, 43 ff; ausführlich Maurer, AllgVwR, § 3 Rn 26, § 17 Rn 1, § 26 Rn 56; Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR, § 3 Rn 86 ff; krit Röhl VerwArch 86 (1995) 531. 503 OVG Nds NVwZ 1999, 566; Brüning LKV 2000, 54. Zum Einfluss von AGB auf öffentlich-rechtliche Verträge Grziwotz NVwZ 2002, 391. Zum Vorbehalt von Kündigungs-/Ausschlussrechten: OVG LSA Az 3 K 483/10 – juris, Tz 24 ff. 504 Vgl Geis KomR, § 10 Rn 31.

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men der Leistungsverwaltung nicht jede mit der Leistung verbundene Grundrechtseinschränkung bereits den Gesetzesvorbehalt auslöst.505 Die Erhebung von Benutzungsgebühren ist nur im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Ausgestaltung möglich, im Übrigen kann ein privatrechtliches Entgelt verlangt werden. Es gelten die allgemeinen Grundsätze über die Gebührenerhebung (zB Kostendeckungsprinzip u Rn 200; dort ebenfalls zur Frage, ob Gebührenstaffelungen zB nach sozialen Gesichtspunkten oder zwischen Einheimischen und Auswärtigen zulässig sind). Bei Haftungsausschlüssen durch AGB sind die §§ 305 ff BGB zu beachten, wohingegen die Haftung aus einem öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnis durch Satzung beschränkt werden kann; ohne gesetzliche Grundlage allerdings nicht die Haftung aus Amtshaftung (o Rn 135).

e) Rechtsformen und Zugang Weil der Nutzungsanspruch der Gemeindeordnungen nach hM öffentlich-rechtlicher Natur ist, 164 muss die Zulassung zur Nutzung einer gemeindlichen öffentlichen Einrichtung nach § 40 I VwGO im Verwaltungsrechtsweg erstritten werden. Das gilt auch dann, wenn – bei öffentlichrechtlicher Organisationsform – das Benutzungsverhältnis privatrechtlich verfasst ist (ZweiStufen-Lehre). Dann sind allerdings für Leistungsstörungen und Haftungsfälle nach § 13 GVG die ordentlichen Gerichte zuständig; für Haftungsfälle ist allerdings auch bei öffentlichrechtlicher Ausgestaltung auf § 40 II 1 VwGO zu achten. Anspruchsverpflichteter ist die Gemeinde selbst als Körperschaft. Wird die Einrichtung von einer rechtsfähigen Anstalt öffentlichen Rechts getragen (Kommunalunternehmen, vgl Rn 126) so richtet sich der Anspruch gegen diese.506 Hat die Gemeinde den Betrieb der öffentlichen Einrichtung auf eine juristische Person des 165 Privatrechts übertragen, kann sie den kommunalrechtlichen Anspruch nicht mehr selbst erfüllen. Wegen der bestehenden Einwirkungsmöglichkeiten507 kann sie aber vor dem Verwaltungsgericht „auf Verschaffung des Zugangs“ in Anspruch genommen werden.508 Unter Umständen kann auch von der die Einrichtung betreibenden juristischen Person des Privatrechts direkt vor den Zivilgerichten die Gestattung des Zugangs verlangt werden.509 Auf der Grundlage des kommunalrechtlichen Zugangsanspruchs soll das nach der hM nicht möglich sein, dieser richte sich ausschließlich gegen die Gemeinde. 510 Denkbar sind dann auf zivilrechtliche Diskriminierungsverbote gestützte Ansprüche (§ 826 BGB, GWB).511 Vor den Zivilgerichten zu führen sind auch Prozesse über Fragen der Leistungserbringung gegen die Betreiberin der öffentlichen Einrichtung.

_____ 505 Burgi KomR, § 16 Rn 50 f. 506 AA Burgi KomR, § 16 Rn 38. 507 Bei einer „Organisationsprivatisierung“ (o Rn 80) auf eine von ihr beherrschte Eigen- oder gemischtwirtschaftliche Gesellschaft über diese Beherrschungsrechte, bei einer „funktionalen Privatisierung“ (o Rn 80) über die mit dem Privaten vereinbarten Einwirkungsmöglichkeiten. Liegen solche Einwirkungsmöglichkeiten nicht vor, handelt es sich um eine sog „materielle Privatisierung“ (o Rn 80), dann fehlt es aber auch an einer öffentlichen Einrichtung, o Rn 158. 508 BVerwG NVwZ 1991, 59; VGH BWGZ 2003, 804; Mann HkWP I, § 17 Rn 30; krit Ehlers in: Erichsen/ders, AllgVwR, § 3 Rn 95 u Th. Schmidt KomR, § 18 Rn 643 ff. 509 Ob eine, zB für Eigengesellschaften angenommene Grundrechtsbindung die Streitigkeit zu einer öffentlichrechtlichen macht, erscheint nicht sicher, so hingegen zB Ehlers in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 3 Rn 95; Kahl/ Weißenberger Jura 2009, 194, 197 mwN; anders NdsOVG NdsVBl 2008, 75 f. 510 Burgi KomR, § 16 Rn 38. Die GemOen sprechen allerdings nicht von einem Anspruch gegen die Gemeinde, sondern von einem Recht, „die öffentlichen Einrichtungen zu benutzen“, nennen also den Adressaten nicht. So ließe sich durchaus daran denken, dass ein Privater, der es – regelmäßig durch Vertrag – übernommen hat, eine Aufgabe der Kommune zu erfüllen, hierdurch zugleich im Rahmen der Widmung Verpflichteter des kommunalrechtlichen Zulassungsanspruchs wird. Den Anspruch jedenfalls auf die von der Kommune beherrschten Unternehmen erstreckend jetzt auch Ehlers Jura 2012, 849, 853. 511 Dazu etwa Busche in: MüKo BGB, Vor § 145, Rn 20 ff mwN.

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3. Einrichtungen mit Anschluss- und Benutzungszwang a) Tatbestand 166 Für bestimmte öffentliche Einrichtungen kann die Gemeinde die Benutzung zur Pflicht machen (Benutzungszwang) und vorschreiben, dass die Grundstücke ihres Hoheitsgebiets an die entsprechenden Versorgungsanlagen anzuschließen sind (Anschlusszwang). Anschluss- und Benutzungszwang sind, sofern sie heute nicht schon unmittelbar gesetzlich festgelegt sind,512 durch Satzung anzuordnen. Wegen des Eingriffscharakters solcher Anordnungen – betroffen sind vor allem die Grundrechte aus Art 12, 14 und 2 I GG – bedarf die Satzung ihrerseits der Grundlage im parlamentarischen Gesetz (Rn 134 f). Dem haben alle Gemeindeordnungen Rechnung getragen.513 Sie legen den Kreis derjenigen Einrichtungen genauer fest, für den ein solcher Zwang vorgesehen werden kann. Traditionell geschieht das in der Art, dass einige Einrichtungen (vor allem Wasserversorgung, Abwasserbeseitigung, Straßenreinigung, Schlachthöfe) ausdrücklich genannt und der nicht erschöpfenden Aufzählung die Klausel „und ähnliche der (Volks-) gesundheit dienende Einrichtungen“ angefügt wird.514 Jüngere Gesetzesformulierungen beziehen den Umweltschutz im Sinne einer Umweltvorsorgepolitik ausdrücklich mit ein.515 Von hieraus erschließt sich der Zweck des gesamten Instituts, auch für solche Gemeindeordnungen, die noch weitergehend „ähnliche dem öffentlichen Wohl dienende Einrichtungen“ einbeziehen.516 Diese Ausrichtung konkretisiert auch den Begriff des öffentlichen Bedürfnisses, an den die Gemeindeordnungen den Erlass der Satzung im Einzelfall binden. Nicht jedes öffentliche Interesse rechtfertigt also den Anschluss- und Benutzungszwang.517 167 Der Anschluss- und Benutzungszwang dient der Gefahren- und Umweltvorsorge. Bei den meisten der genannten Anlagen kann von einer Förderung gesundheitsschützender und umweltvorsorgender Belange typischerweise ausgegangen werden. Als Nebenzweck dürfen zB bei der Frage des Gebietszuschnitts auch fiskalische Überlegungen einer Rentabilität der Einrichtung beachtet werden.518 Die Gemeindeordnungen sehen heute ausdrücklich auch für die Fernwärmeversorgung die Möglichkeit eines solchen Anschlusszwanges vor. Systematisch zutreffend verlangte die Rechtsprechung bislang auch hier, dass das Bedürfnis ein solches des Gesundheitsschutzes (auch iwS des Immissionsschutzes) ist und sich aus der gemeindlichen Raumsituation exakter belegen lassen musste.519 § 16 EEWärmeG gestattet nunmehr den Anschlusszwang generell zum Zwecke des Klima- und Ressourcenschutzes.520

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512 So statuiert zB für die Abfallbeseitigung § 17 KrWG für Erzeuger und Besitzer von Abfällen unmittelbar eine Überlassungspflicht, die den Benutzungszwang bereits impliziert (Kunig/Paetow/Versteyl KrW-/AbfG, § 13 Rn 19 [zur Vorgängerregelung]); den Gemeinden verbleibt hier nur noch ein schmaler Ausgestaltungsspielraum. Zur Abwasserbeseitigung vgl § 56 WHG iVm den Wassergesetzen der Länder. Zum Niederschlagwasser zB § 53 Ic 1 iVm § 51 I 1 WG NW. 513 § 11 GO BW; Art 24 I Nr. 2 GO Bay; § 12 II BbgKVerf; § 19 II HessGO; § 15 KV MV; § 13 NdsKomVG; § 9 GO NW; § 26 GemO RP; § 22 KSVG SL; § 14 SächsGemO; § 8 Nr 2 GO LSA; § 17 II GO SH; § 20 II ThürKO. Daneben finden sich Ermächtigungsgrundlagen in Spezialgesetzen. 514 Dazu soll zB die Gasversorgung nicht gehören (VGH BW DVBl 1994, 1153). 515 § 14 SächsGemO; § 17 II GO SH; „… natürlichen Grundlagen des Lebens einschließlich Klima- und Ressourcenschutzes.“ § 11 I GemO BW; vgl krit. Schmidt-Aßmann ZHR 170 (2006), 489, 492 ff. 516 Art 24 I Nr. 2 GO Bay; § 15 KV MV; § 13 S. 1 Nr. 1 lit. c NdsKomVG; § 26 GemO RP; § 14 SächsGemO; § 20 II Nr. 2 ThürKO. Für alle öffentlichen Einrichtungen: § 12 II BbgKVerf. 517 Eine Beurteilungsermächtigung für die Gemeinden besteht nicht, Gern DtKomR, Rn 605; aM Wagener Anschlußzwang, 154 ff mwN; OVG NW NVwZ 1987, 727; a OVG Nds NVwZ-RR 1991, 576, allerdings für eine spezielle Formulierung des § 8 GO Nds a.F; zu dieser Rspr (bestätigend) BVerwG Buchholz 415.1 AllgKommR Nr 141. 518 BVerwG NVwZ 1986, 754; OVG Nds DÖV 2000, 643; BayVGH BayVBl 2001, 54. 519 BayVGH NVwZ 1983, 167; VGH BW VBlBW 2004, 337 o JK GO BW § 11/1; aA OVG SH NordÖR 2003, 21; aufgeh d BVerwG NVwZ 2004, 1131. Pielow Grundstrukturen, 697 f; zum Streitstand ausf Wagener Anschlußzwang, 71; zu europarechtl Grenzen Scharpf EuZW 2005, 295, 296; BVerwGE 125, 68 Tz 32 ff. 520 Dazu Kahl VBlBW 2011, 53; Ennuschat/Volino CuR 2009, 90; Böhm/Schwarz DVBl 2012, 540.

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b) Grundrechtsfragen Die Einführung des Anschluss- und Benutzungszwangs kann in mehrfacher Hinsicht Grund- 168 rechtspositionen berühren.521 aa) Anschlusspflichtige werden vor allem in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art 2 I GG) beschränkt, weil ihnen die Möglichkeit genommen wird, ihren Bedarf anderweitig zu decken. Gründe der Volksgesundheit sind jedoch Gesichtspunkte, die regelmäßig eine dem Übermaßverbot entsprechende Einschränkung rechtfertigen.522 Außerdem können vorhandene eigene Versorgungsanlagen wertlos werden. Das ruft Art 14 GG auf den Plan. Die Rechtsprechung sieht jedoch in solchen Folgen – jedenfalls regelmäßig – keinen unzumutbaren Eingriff, sondern die Konkretisierung einer dem Eigentum anhaftenden Pflichtigkeit.523 Zu überzeugen vermag das jedoch nur, wenn es sich um Anlagen geringeren Wertes handelt.524 Der Wertverlust einer gefahrenrechtlich einwandfreien aufwendigen Eigenanlage kann dagegen schwerlich in jedem Fall als immanente Pflichtigkeit abgetan werden; das gilt etwa für Heizanlagen. Um vor Art 14 GG zu bestehen, muss die Satzung uU Ausnahmen vorsehen.525 bb) Anbieter gleichartiger Leistungen wird für die Zukunft die Möglichkeit genommen, 169 sich weiterhin im Anschlussgebiet zu betätigen (Art 12 GG), der Kundenstamm geht ihnen verloren und die gewerblichen Anlagen, sofern nicht andere Absatzgebiete erschlossen werden, werden wertlos (Art 14 GG).526 Auch hier ist die Rechtsprechung jedoch wenig rücksichtsvoll: Jedenfalls eine Materie wie die Müllabfuhr sei mit der Pflichtigkeit belastet, nur solange unbeschränkt privatwirtschaftlich betrieben werden zu können, bis die Gemeinde dieses Gebiet zur öffentlichen Aufgabe mache; so lautete das Dogma der herrschenden Ansicht.527 Unserer Auffassung nach lässt sich dieser Satz jedoch nicht ohne Rücksicht auf den Umfang der aufgeopferten Position aufrechterhalten und auch nicht unbesehen auf andere Sachgebiete übertragen.528 Soweit der Anschluss- und Benutzungszwang im Einzelfalle mit Art 14 I GG und dem im Rahmen dieser Vorschrift zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht vereinbar ist – es sich also um eine ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung handelt529 –, muss er durch eine Befreiung abgefangen werden.530 Andernfalls ist die Satzung (teil-)nichtig, da zu einer entschädigungsrechtlichen Lösung durchgängig die erforderlichen gesetzlichen Grundlagen fehlen. Die Satzung selbst kann sie nicht bieten, denn sie ist kein Gesetz iSd Art 14 I 2 GG. Nur für seltene atypische Situationen kann an einen Anspruch aus dem richterrechtlichen Haftungsinstitut des „enteignenden Eingriffs“ gedacht werden.531

_____ 521 Erichsen Jura 1986, 196, 201 f; H. Weber NVwZ 1987, 641; Wagener Anschlußzwang, 92 ff; zu unionsrechtlichen Fragestellungen Pielow/Finger, Jura 2007, 189, 200. 522 BVerwG UPR 1998, 192; BayVerfGHE 20, 183, 187; weitergehend BVerfGE 50, 256 („Friedhofzwang“) o JK GG Art 2 I/2. 523 BGHZ 40, 355, 361; 54, 293; BVerwG NVwZ-RR 1990, 96 u NVwZ 1998, 1080; BayVGH DÖV 1988, 301; OVG Bbg LKV 2004, 277; OVG MV NVwZ-RR 2011, 891, 892 f. Etwas anderes soll nur gelten, wenn die Aufwendungen von behördlicher Seite veranlasst wurden. 524 Kritisch a Ossenbühl Staatshaftungsrecht, 197 f. 525 BayVGH DÖV 1988, 301 f; BVerwG NVwZ 1998, 1080. Zu Ausnahmen im Rahmen von AVB OVG RP NVwZ-RR 1996, 193; vgl aber OVG NW NWVBl 2011, 322. 526 Ossenbühl Staatshaftungsrecht, 198; allg zum Grundrechtsschutz privater Wirtschaftstätigkeit o Huber 3. Kap Rn 38 ff. 527 BGHZ 40, 355, 365; BVerwG DÖV 1981, 917 mwN; BVerwGE 134, 154; aM OVG Nds DÖV 1978, 44. 528 Zutreffend restriktiv OVG Thür NVwZ 1998, 871; BayVerfGH BayVBl 2005, 237 (städt Leichenhalle). 529 Papier in: Maunz/Dürig, GG, Art 14 Rn 550 f; 689. 530 BayObLG BayVBl 1985, 285; Erichsen Jura 1986, 196, 201. Einschränkend BbgOVG LKV 2004, 277 (atypische Ausnahmefälle). 531 BayVGH NVwZ 1983, 423 o JK GG Art 14 I/15; allg Papier in: Maunz/Dürig, GG, Art 14 Rn 723 f.

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Spezialliteratur: Ahmann Öffentlich- und privatrechtliche Organisationsformen kommunaler Einrichtungen der Daseinsvorsorge, 2009; Althammer/Zieglmeier Der Rechtsweg bei Beeinträchtigungen Privater durch die kommunale Daseinsvorsorge bzw erwerbswirtschaftliches Handeln von Kommunen, DVBl 2006, 810; Brüning Die Definitionsgewalt der Gemeinden über die Bestandteile öffentlicher Einrichtungen und die abgabenrechtlichen Konsequenzen, GemH 2004, 73; Britz Örtliche Energieversorgung nach nationalem und europäischem Recht, 1994; Bull Daseinsvorsorge im Wandel der Staatsformen, Der Staat 47 (2008), 1; v Danwitz Die Benutzung kommunaler öffentlicher Einrichtungen – Rechtsformenwahl und gerichtliche Kontrolle, JuS 1995, 1; Donhauser Neue Akzentuierungen bei der Vergabe von Standplätzen auf gemeindlichen Volksfesten und Märkten, NVwZ 2010, 931; Ehlers Die Entscheidung der Kommunen für eine öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Organisation ihrer Einrichtungen und Unternehmen, DÖV 1986, 897; ders Rechtsverhältnisse in der Leistungsverwaltung, DVBl 1986, 912; ders Verwaltung in Privatrechtsform, 1984; ders Rechtsprobleme der Nutzung kommunaler öffentlicher Einrichtungen, Jura 2012, 692 + 849; Erichsen Die kommunalen öffentlichen Einrichtungen, Jura 1986, 148 und 196; Fischedick Die Wahl der Benutzungsform kommunaler Einrichtungen, 1986; Frenz Rekommunalisierung und Europarecht nach dem Vertrag von Lissabon, WRP 2008, 73; Gassner Grenzen des Zulassungsanspruchs politischer Parteien zu kommunalen öffentlichen Einrichtungen, VerwArch 85 (1994) 533; Gern Privatrechtliche Entgelte für die Benutzung öffentlicher Einrichtungen der Kommunen VBlBW 2006, 458; Kahl/Weißenberger Die Privatisierung kommunaler öffentlicher Einrichtungen: Formen – Grenzen – Probleme, Jura 2009, 194 Kramer/Bayer/Fiebig/Freudenreich Die Zweistufentheorie im Verwaltungsrecht oder: Die immer noch bedeutsame Frage nach dem Ob und Wie, JA 2011, 810; Libbe/Hanke Rekommunalisierung – neue alte Wege der öffentlichen Daseinsvorsorge, Gemeindehaushalt 2011, 108; Löwer Energieversorgung zwischen Staat, Gemeinde und Wirtschaft, 1989; Pielow/Finger Der Anschluss- und Benutzungszwang im Kommunalrecht, Jura 2007, 189; Rennert Die Klausur im Kommunalrecht, JuS 2008, 211; Roth Die kommunalen öffentlichen Einrichtungen, 1998; Schmidt-Aßmann Anschluss- und Benutzungszwang bei der Fernwärmeversorgung: Kommunalem Aktivismus Grenzen setzen!, ZHR 170 (2006), 489; Schnapp Öffentliche Verwaltung und privatrechtliche Handlungsformen, DÖV 1990, 826; Schoch Privatisierung der Abfallentsorgung, 1992; ders Gewährleistungsverwaltung: Stärkung der Privatrechtsgesellschaft?, NVwZ 2008, 241; Wagener Anschluß- und Benutzungszwang für Fernwärme, 1989.

1. Kapitel – Kommunalrecht IX. Die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden – 1. Kapitel

IX. Die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden 1. Grundlagen 170 Die Gemeindeordnungen gestatten den Kommunen grundsätzlich, gemeindliche öffentliche Aufgaben durch wirtschaftliche Betätigung, dh durch die Bereitstellung eines Angebotes am Markt, zu erfüllen. Diese wirtschaftliche Betätigung prägt in Deutschland zu einem beträchtlichen Teil das Bild der Kommunen; man denke nur an Stadtwerke, Wohnungsbauunternehmen, kommunale Krankenhäuser oder Unternehmen der Abfallentsorgung. – Kommunalrechtliche Schranken: Die Befugnis zur wirtschaftlichen Betätigung verleihen die Gemeindeordnungen allerdings nicht unbegrenzt: Vorausgesetzt wird, dass tatsächlich ein öffentlicher Zweck erfüllt wird, die Gemeinde sich mit der Wirtschaftstätigkeit nicht übernimmt und – in unterschiedlichem Ausmaß – die private Unternehmenstätigkeit nicht übermäßig beeinträchtigt wird (Schrankentrias, u Rn 175). Jenseits der kommunalrechtlichen Schranken ist die wirtschaftliche Betätigung unzulässig. – Wirtschafts- und unionsrechtlicher Rahmen: Ist die wirtschaftliche Tätigkeit als solche gestattet, muss sich ihre Ausübung in den wirtschafts- und unionsrechtlichen Rahmen einfügen: Dazu zählen zum einen die für alle Unternehmen geltenden wirtschaftsrechtlichen Regelungen; hinzu treten die Vorgaben des Unionsrechts, deren Ziel es ist, staatliche Wirtschaft und staatliche Wirtschaftsförderung in das Binnenmarktkonzept einzupassen.

a) Kommunale Wirtschaft zwischen Daseinsvorsorge und Gewinnerzielung 171 Als wirtschaftliche Betätigungen lassen sich alle diejenigen Tätigkeiten einer Gemeinde kennzeichnen, die auch von einem Privatunternehmer mit der Absicht der Gewinnerzielung betrieben Röhl

IX. Die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden – 1. Kapitel

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werden könnten.532 Auf die tatsächliche Gewinnerzielung kommt es nicht an und darf es der Gemeinde auch nicht allein ankommen (u Rn 175). Die wirtschaftliche Betätigung, also die Bereitstellung eines Angebots an Sach- und/oder Dienstleistungen einschließlich Infrastrukturen,533 ist vielmehr ein Mittel für die Gemeinde, eine öffentliche Aufgabe zu erfüllen. In dieser Form gehört die wirtschaftliche Betätigung auch traditionell zum Bild kommunaler Verwaltung in Deutschland: Insbesondere die Tätigkeiten in der sog Daseinsvorsorge prägen die kommunalen Aktivitäten seit langem: Dazu zählt zum einen die Versorgung der Gemeindeeinwohner mit Wasser, Wärme oder Energie (Gas, Strom), die Entsorgung (Abfall und Abwasser), die Bereitstellung von Verkehrsdienstleistungen, daneben aber auch soziale und kulturelle Angebote, etwa Krankenhäuser oder Museen.534 Diese Tätigkeiten werden von den Schranken des Kommunalwirtschaftsrechts daher idR auch gar nicht nachhaltig betroffen.535 Tiefgreifende Auswirkungen hatte und hat hingegen das Unionsrecht, das auch für diese angestammten kommunalen Versorgungsleistungen auf Wettbewerb setzt. Hier, nicht im kommunalen Wirtschaftsrecht, ist denn auch der Schwerpunkt der Diskussion um die kommunale Daseinsvorsorge zu finden (dazu i Einz u Rn 183 ff). Jenseits dieses klassischen kommunalen Angebots versuchen nicht wenige Gemeinden, für ihre Betriebe neue lukrative Geschäftsfelder zu erschließen. Sie sind dabei sowohl getrieben von der vielerorts prekären Finanzlage als auch motiviert durch die Einführung betriebswirtschaftlichen Denkens in die Rathäuser, das auf optimale Ausnutzung der vorhandenen Ressourcen zu drängen scheint.536 Hinzu tritt der gerade in den angestammten Tätigkeitsfeldern eingeführte Wettbewerb: Wenn man schon mit privater Konkurrenz rechnen müsse, dann – so lautet die Devise – müsse man seine Chancen am Markt umfassend nutzen und ausbauen dürfen. Zu diesem Zweck werden bislang interne Tätigkeiten nach außen umgewidmet oder das Angebot auf das Gebiet jenseits der Gemeinde erstreckt. Als neues Geschäftsfeld haben sich manche Kommunen in jüngerer Zeit, teilweise unterstützt durch den jeweiligen Landesgesetzgeber, das Gebiet der Telekommunikationsdienstleistungen erschlossen. Vor allem diese Tätigkeitsbereiche bilden den Gegenstand intensiver Diskussionen im kommunalen Wirtschaftsrecht.

b) Schutzzweck des kommunalen Wirtschaftsrechts Das kommunale Wirtschaftsrecht bildet eine externe Schranke des kommunalen Aufgaben- 172 findungsrechts. Diese Begrenzung wird durch die Form des Tätigwerdens notwendig: Während Aufgaben wie Raumplanung, Brandschutz oder Straßenbau ihre natürliche Grenze durch das Territorium der Gemeinde, den dort bestehenden Bedarf oder schlicht die finanzielle Leistungsfähigkeit finden, ist wirtschaftliche Betätigung prinzipiell grenzenlos und unbegrenzt denkbar. Daher muss sie sachlich ihre Rechtfertigung in einer kommunalen Aufgabe und demokratischer Kontrolle finden; der Umfang muss so begrenzt sein, dass die Verwaltungskraft der Kommune für die Erledigung ihrer Kernaufgaben erhalten bleibt537 und die Risiken des unternehmerischen Handelns – die ja die Allgemeinheit trägt – nicht unverhältnismäßig groß werden. Die kommunalen Unternehmen sind kein Wettbewerber wie jedermann, sie verfügen über besondere öffent-

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532 Vgl § 68 I 1 KV MV; ähnlich zB § 91 I BbgKVerf; BVerwGE 39, 329, 333. 533 Kluth HkWP II, § 39 Rn 10; vgl § 107 I 3 GO NW. 534 Henneke in: Wurzel ua, RPkomUnt, A Rn 6. 535 Viele Gemeindeordnungen privilegieren Tätigkeiten in der Daseinsvorsorge explizit, z.B. § 102 I Nr 3 GemO BW; Art 87 I Nr 4 GO Bay; § 68 II 3 KV MV; § 71 I Nr 4 ThürKO. 536 Vgl nur die Auflistungen bei Henneke in: Wurzel ua, RPkomUnt, A Rn 2 ff; Schink NVwZ 2002, 129: Landschaftsgärtnerei, Elektroinstallationen, Gebäudeunterhaltung, Umzugs- oder Partyservice, Sonnenstudios, Campingplätze, Beratungsleistungen, Beteiligung an Verkehrsbetrieben im Ausland, Aktivitäten im Telekommunikationsgeschäft. Zu den Motiven Henneke aaO, A Rn 7 ff. 537 Kunze/Bronner, GemO BW, § 102 Rn 11.

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liche Ressourcen, besondere Kenntnisse und einen besonderen Zugang zur Politik. Daher muss sie der Gesetzgeber in eine angemessene Balance mit der Privatwirtschaft bringen. Dies alles vorausgesetzt, kann es gute Gründe geben, ein solches Angebot am Markt gerade durch ein kommunales Unternehmen erbringen zu lassen, wie etwa die Kontinuität der Leistungserbringung oder der Ausschluss einer reinen Gewinnorientierung bei der Ausgestaltung des Angebots. Das kommunale Wirtschaftsrecht ist damit ein Teil jenes großen Themenbereichs, der nach Zulässigkeit und Grenzen der Wirtschaftstätigkeit des Staates fragt. Das ist zunächst ein Problem des Verfassungsrechts und des Unionsrechts.538 Die Ausführungen in diesem Abschnitt konzentrieren sich auf die kommunalrechtliche Seite des Problems, das freilich nicht ganz ohne Einbeziehung des höherrangigen Rechts, insbesondere des für die kommunale Wirtschaftstätigkeit besonders bedeutsamen Unionsrechts betrachtet werden kann.

c) Systematische Überlegungen 173 Gemeindliches Leistungsrecht (Rn 150 ff) und gemeindliches Wirtschaftsrecht betrachten die kommunalen Aktivitäten aus unterschiedlichen Richtungen: Das kommunale Wirtschaftsrecht errichtet Schranken für die wirtschaftliche Betätigung als solche, das allgemeine Wirtschaftsrecht wie das Unionsrecht liefern Vorgaben für die Modalitäten des Tätigwerdens und für das Verhältnis der Kommune zu ihren Unternehmen. Dem kommunalen Leistungsrecht hingegen geht es um Beziehungen der Kommune zu den Empfängern öffentlicher Leistungen; es geht vor allem um die Frage, ob eine Berechtigung oder Verpflichtung zur Nutzung besteht, nicht, ob die Leistung überhaupt oder in dieser Form angeboten werden darf. Die wirtschaftliche Betätigung der Kommunen wird überwiegend in der Form wirtschaftlicher Unternehmen wahrgenommen; die Gemeindeordnungen behandeln beide Fragenkomplexe typischerweise in einem einheitlichen Abschnitt. Die Formen der kommunalen Unternehmen sind jedoch ein Thema des kommunalen Organisationsrechts und daher gesondert darzustellen (s Rn 125 ff). Zwischen den drei Rechtskomplexen Wirtschaftsrecht, Leistungsrecht und Organisationsrecht bestehen aber auch Überschneidungen:539 Oft werden gemeindliche Leistungen mit Hilfe und in der Form wirtschaftlicher Unternehmen der Gemeinden angeboten. Kommunale Wirtschaftsunternehmen können zugleich Träger öffentlicher Einrichtungen sein (o Rn 157). Andere kommunale Unternehmen erfüllen zwar wichtige öffentliche Aufgaben, wie zB kommunale Wohnungsbaugesellschaften, sind aber einer für öffentliche Einrichtungen charakteristischen öffentlichen Nutzung nicht zugänglich. Die Zulässigkeit einer wirtschaftlichen Betätigung schließlich kann häufig nur aufgrund einer Gesamtabwägung beurteilt werden, in die auch der Grad der rechtlichen Verselbständigung und damit die Rechtsform des Unternehmens mit einzufließen hat.540

2. Kommunalrechtliche Schranken gemeindlicher Wirtschaftstätigkeit a) Anwendbarkeit 174 Die Rahmenvorgaben des Gemeindewirtschaftsrechts beziehen sich idR auf „Unternehmen“,541 erfassen also nur die Tätigkeit durch Einheiten mit einer bestimmten betrieblich-organisatori-

_____ 538 Löwer VVDStRL 60 (2001), 416; Storr Der Staat als Unternehmer, 2001, 91 u 255. 539 o Huber 3. Kap Rn 539 ff; ferner Engel Grenzen und Formen mittelbarer Kommunalverwaltung, 1981. 540 Kunze/Bronner, GemO BW, § 102 Rn 9. 541 § 102 I GemO BW, Art 87 I GO Bay; § 68 KV MV; § 136 I 2 NdsKomVG; § 85 GemO RP; § 108 KSVG SL; § 97 SächsGemO; § 116 I GO LSA; § 101 I GO SH; § 71 I ThürKO.

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schen Verfestigung;542 lediglich einige Gemeindeordnungen (Bbg, Hess, NW) beziehen sich auf die „Betätigung“ insgesamt.543 Die (u näher geschilderten) Voraussetzungen müssen idR nur zur Beginn der Tätigkeit vorliegen;544 manche Gemeindeordnungen verlangen darüber hinaus, dass die Anforderungen des Gemeindewirtschaftsrechts auch während des laufenden Betriebs eingehalten werden.545 Aus dem Begriff des wirtschaftlichen Unternehmens und damit aus dem Geltungsbereich der besonderen kommunalrechtlichen Schranken nehmen die meisten Gemeindeordnungen einige Gruppen von Unternehmen per gesetzlicher Fiktion heraus (nicht-wirtschaftliche Unternehmen oder Einrichtungen).546 Hierunter zählen Unternehmen, zu deren Betrieb die Gemeinde gesetzlich verpflichtet ist (zB Abfallentsorgungsanlagen), Einrichtungen des Erziehungs-, Bildungs- und Gesundheitswesens, der Kunstpflege und Einrichtungen ähnlicher Art sowie Hilfsbetriebe, die ausschließlich der Deckung des gemeindeeigenen Bedarfs dienen (zB Stadtgärtnerei, Schlosserei für städtischen Busbestand).547 Die tatsächliche Bedeutung dieser Privilegierung sollte allerdings nicht überbewertet werden (i einz u Rn 181).

b) Kommunalrechtliche Schrankentrias Für die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden sehen die Gemeindeordnungen eine Schran- 175 kentrias vor, die bei vermehrten Abweichungen in Einzelpunkten einen auf § 67 der Deutschen Gemeindeordnung (1935) zurückgehenden gemeinsamen Standard erkennen lässt.548 aa) Öffentlicher Zweck: Errichtung, Übernahme und wesentliche Erweiterung wirtschaftlicher Unternehmen bzw die wirtschaftliche Betätigung sind nur zulässig, wenn der öffentliche Zweck das Unternehmen rechtfertigt.549 Diese Vorschrift konkretisiert das Aufgabenfindungsrecht der Gemeinden (o Rn 29, 172) für die wirtschaftliche Betätigung; ein legitimierender öffentlicher Zweck kann daher ohne weitergehende gesetzliche Ermächtigung nur in den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft gefunden werden (zur extraterritorialen Betätigung u Rn 178). Diese Eingrenzung entspricht der Verpflichtung aller staatlichen Tätigkeit auf das Gemeinwohl; eine grundrechtlich fundierte Wirtschaftsfreiheit steht den Gemeinden auch bei wirtschaftlicher Betätigung nicht zu (Rn 55 ff). Die reine Gewinnerzielung gibt keinen öffentlichen Zweck ab.550 Das mit unternehmerischer Tätigkeit notwendigerweise verbundene Risiko zu Lasten des Steuerzahlers kann nur durch einen über die Gewinnerzielung hinausgehenden öffentlichen Zweck gerechtfertigt wer-

_____ 542 VGH BW NVwZ-RR 2006, 714 mwN. 543 § 91 II BbgKVerf; § 121 I HessGO; § 107 I GO NW. 544 Die Gemeinden müssen die Unternehmen zB „errichten, übernehmen, wesentlich erweitern oder sich daran beteiligen“. 545 Bbg, Hess, MV, NW, Sachs, LSA, dazu Uechtritz/Otting HBKomU, § 6 Rn 102 ff; Burgi KomR, § 17 Rn 41. ZB verlangt § 121 VII HessGO, dass die Gemeinde die Einhaltung der Voraussetzungen einmal in jeder Wahlzeit überprüft. 546 § 102 IV GemO BW; § 121 II HessGO; § 107 II GO NW; § 85 IV GemO RP; § 108 II KSVG SL; § 97 II SächsGemO; § 101 IV GO SH. Nicht in: Bay, Bbg, LSA u Thür. § 68 KV MV trennt zwischen Unternehmen, für die die Schrankentrias gilt, und „Einrichtungen“; ähnlich § 136 III NdsKomVG. 547 Uechtritz/Otting HBKomU, § 6 Rn 112 ff; Pape/Holz NVwZ 2007, 636 ff; Stüer/Schmalenbach NWVBl 2006, 161, 164. 548 Uechtritz/Otting HBKomU, § 6; Ehlers Der Landkreis 2007, 456, 458. 549 Bay, NW u Thür: „erfordert“; dazu Neutz in: Wurzel ua, RPkomUnt, C Rn 101. 550 Ausdrücklich etwa Art 87 I 2 GO Bay; § 91 II Nr 1 BbgKVerf; § 68 II 2 KV MV; § 108 III 3 KSVG SL; § 116 I 2 GO LSA. Wie hier etwa Meyn Jura 1988, 116; Ehlers DVBl 1998, 497, 499; Henneke NdsVBl 1998, 273 u 1999, 1; aM Otting DVBl 1997, 1258; ders Neues Steuerungsmodell und rechtliche Betätigungsspielräume der Kommunen, 1997, 112.

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den.551 Damit ist der kommunalen Suche nach „lukrativen“ Aktivitäten eine Grenze gesetzt. Freilich wird es in Zeiten weit gespannter staatlicher Strukturpolitiken den Gemeinden nicht schwer fallen, den Zweckbegriff über die traditionellen Bereiche der Daseinsvorsorge hinaus ua auf wettbewerbspolitische, wirtschaftsfördernde, arbeitsplatzsichernde Aktivitäten auszudehnen. Als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft lassen sich solche Unternehmensziele jedoch nur ausweisen, wenn sie aus der lokalen Situation spezifisch begründet werden können; allgemeine Wettbewerbs- oder Arbeitsmarktpolitik zu betreiben steht daher den Kommunen nicht zu. Zwar kommt den Kommunen bei der hier notwendigen Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „öffentlicher Zweck“ eine Einschätzungsprärogative zu.552 Ein solcher Beurteilungsspielraum muss allerdings im Verfahren erst verdient werden, die Gemeinde unterliegt daher einer strikten Darlegungs- und Begründungspflicht, wenn sie neue Tätigkeitsfelder besetzen will. Derartige Überprüfungsverfahren und Darlegungslasten haben mittlerweile auch ausdrücklich in viele Gemeindeordnungen Einzug gehalten. Bankunternehmen schließlich sind den Gemeinden generell untersagt. Das öffentliche Sparkassenwesen richtet sich nach besonderen Vorschriften.553 Soweit die Unternehmenstätigkeit einen legitimen Zweck verfolgt, kann die Gemeinde Annextätigkeiten ausüben, wenn solche Leistungen typischerweise zusammen mit der eigentlichen Leistung angeboten werden oder wenn sie dadurch vorhandene, aber sonst brachliegende Kapazitäten ausnutzen kann;554 die Nebentätigkeit muss allerdings in einem angemessenen Verhältnis zum Hauptzweck des Unternehmens stehen.555 Eine Erweiterung des Unternehmens nur zur Steigerung des Gewinns wird hierdurch nicht legitimiert.556 176 bb) Leistungsfähigkeitsbezug: Gemeindliche Wirtschaftsunternehmen müssen nach Art und Umfang in einem angemessenen Verhältnis zur Leistungsfähigkeit der Gemeinde und zum voraussichtlichen Bedarf stehen. Diese Schranke dient dem Schutz der Gemeinde davor, sich selber finanziell und wirtschaftlich zu übernehmen. Gerade in Zeiten prekärer Haushaltslagen müssen die Kommunen die Risiken, die mit unternehmerischer Tätigkeit unweigerlich verbunden sind, eingehend abwägen. Mit dem Erfordernis der Bedarfsangemessenheit soll die Gemeinde vor unwirtschaftlichen Überdimensionierungen geschützt werden. 177 cc) Sog Subsidiarität: Alle Gemeindeordnungen lassen Wirtschaftstätigkeiten der Gemeinden schließlich nur dann zu, wenn der Zweck – nach der Formulierung mittlerweile in den meisten Ländern „nicht ebenso gut und wirtschaftlich“ („verschärfte“ oder „echte“ Subsidiarität), nach (nur noch) vereinzelter Formulierung „nicht besser“ – „durch einen anderen“ bzw „privaten Dritten/Anbieter“ („einfache“ Subsidiarität) erfüllt werden kann.557 Die Textunterschiede haben zwar zur Folge, dass zu Schutzrichtung und Schutzintensität dieser Schranke einheitliche Aus-

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551 Peters Die Dogmatik der Kommunalwirtschaft, 124 ff. Dieses Argument gilt es auch dem Gesetzgeber entgegenzuhalten, der überlegt, ein von den Bindungen des Gemeindewirtschaftsrechts weitgehend befreites „Wettbewerbsunternehmen“ zuzulassen, dazu Leder DÖV 2008, 173, Jarass Kommunale Wirtschaftsunternehmen im Wettbewerb, 2002. 552 BVerwGE 39, 329, 334; Scholz DÖV 1976, 441; Hidien DÖV 1983, 1002. 553 Ausf Henneke und Gerlach HkWP II, § 53 a und b; Oebbecke VerwArch 93 (2002) 278; zur Grundrechtsbindung BGH NJW 2003, 1658 o JK GG Art 1 III/6. 554 Ausdrücklich § 91 V BbgKVerf; § 121 IV HessGO; § 108 III 1 KSVG SL. 555 Pielow HkWP II § 54 Rn 22. 556 Neutz in: Wurzel ua, RPkomUnt, C Rn 109. 557 Eine echte Subsidiaritätsklausel („nicht ebenso gut und wirtschaftlich“) enthalten: § 102 I Nr. 3 GemO BW, Art 87 I 1 Nr. 4 GO Bay, § 121 I Nr. 3 HessGO, § 136 I 2 Nr. 3 NdsKomVG; § 107 I Nr. 3 GO NW, § 85 I Nr. 3 GemO RP, § 108 I Nr. 3 KSVG SL, § 71 I Nr. 4 ThürKO; mit anderer Formulierung: § 91 III BbgKVerf; § 116 I 1 Nr. 3 GO LSA. Einfache Subsidiaritätsklauseln enthalten § 68 I Nr 3 KV MV; § 97 I Nr 3 SächsGemO, § 101 I Nr 3 GO SH. Z Ganzen Uechtritz/Otting HBKomU, § 6 Rn 84 ff; Neutz in: Wurzel ua, RPkomUnt, C Rn 131 ff.

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sagen nur mit großer Vorsicht getroffen werden können. Immerhin haben die Änderungen der letzten Zeit zu einer Annäherung der Gemeindeordnungen geführt. Sie enthalten nunmehr überwiegend sog echte Subsidiaritätsklauseln als Voraussetzung wirtschaftlicher Betätigung, die gerichtlich durchgesetzt werden können (u Rn 179). Ausgenommen von ihrer Geltung ist dann aber in der Regel die Betätigung im Rahmen der Daseinsvorsorge (je nach GemO vor allem Energie- und Wasserversorgung, ÖPNV).557a Den Gemeinden bleibt zwar ein nicht vollständig überprüfbarer Einschätzungsspielraum; auch hier muss aber mindestens verlangt und durchgesetzt werden, dass die Gemeinden Untersuchungen zur Marktsituation vorgenommen und Feststellungen getroffen haben, die sie plausibel begründen können. dd) Insbesondere: Territorialitätsprinzip: Weil sich die Angelegenheiten der örtlichen Ge- 178 meinschaft und damit das gemeindliche Aufgabenfindungsrecht nur auf das Gemeindegebiet beziehen (o Rn 32 f, 175), hat sich auch die Leistungserbringung kommunaler Unternehmen grundsätzlich hierauf zu beschränken.558 Die Zulässigkeit extra-territorialer Tätigkeit setzt hingegen voraus, dass für sie ein gemeindespezifischer Anknüpfungspunkt, zB aus grenznachbarschaftlicher Zusammenarbeit nachweisbar ist und die Interessen der betroffenen Gebietskörperschaften gewahrt werden.559 Anders gehen demokratische Legitimation und demokratische Kontrollierbarkeit kommunalen Handelns verloren; auch die Berufung auf die Grundfreiheiten ändert an diesem Befund nichts (o Rn 52).560 Jenseits dieser engen Voraussetzungen bedarf die grenzüberschreitende Tätigkeit einer gesetzlichen Grundlage.561 Die Mehrzahl der Landesgesetzgeber stellen sie den Gemeinden wegen der geänderten Rahmenbedingungen kommunaler Daseinsvorsorge (o Rn 171) heute in begrenztem Umfang zur Verfügung, unter Umständen, insbesondere für die Betätigung im Ausland, verbunden mit einem Erfordernis aufsichtsbehördlicher Genehmigung.562

c) Durchsetzung der kommunalrechtlichen Schranken aa) Subjektiv-öffentliche Rechte: Ein breit diskutiertes Thema ist der Rechtsschutz privater 179 Unternehmen gegen gemeindliche Konkurrenz:563 Um die Einhaltung der kommunalrechtlichen Schranken vor den Verwaltungsgerichten, zB im Wege einer Unterlassungsklage, durchsetzen zu können, müssten sich diese Vorschriften nach Maßgabe der Schutznormlehre als subjektivöffentliche Rechte interpretieren lassen. Die hergebrachte verwaltungsgerichtliche Perspektive lehnte das ab; diese Vorschriften seien ausschließlich dem Interesse der Kommune zu dienen bestimmt. Klagen privater Unternehmer blieben daher erfolglos.564 Auch eine grundrechtliche

_____ 557a BW, Bay u Thür nennen explizit die „Daseinsvorsorge“. Der VGH BW (v 29.11.12, Az 1 S 1258/12) versteht diesen Begriff vhm weit. 558 Pointiert Ruffert VerwArch 92 (2001) 27, 34; Oebbecke ZHR 164 (2000) 375. Zur Diskussion Heilshorn Gebietsbezug der Kommunalwirtschaft, 2003; ders VerwArch 2005, 88; Uhlenhut Wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden außerhalb ihres Gebiets, 2004; zur Vereinbarkeit des Örtlichkeitsprinzips mit Art 101 AEUV s Fn 584. 559 Ehlers DVBl 1998, 497, 504; Badura DÖV 1998, 818; Schink NVwZ 2002, 129, 135 f; Held in: Henneke Optimale Aufgabenerfüllung, 1991, 181; anders iS deutlicher Ausweitungen Wieland ebenda, 193. 560 Ehlers in: Wurzel ua, RPkomUnt, B Rn 11 f; Knauff VR 2005, 145; Guckelberger BayVBl 2006, 293, 299 f; zurückhaltend auch Brosius-Gersdorf AöR 130 (2005), 392. 561 Ausf Brosius-Gersdorf AöR 130 (2005), 392; Heilshorn VerwArch 96 (2005), 88. Bestritten wird, dass die GemOen als Ermächtigungsgrundlage für die Tätigkeit in anderen Bundesländern herhalten können, Brosius-Gersdorf aaO, 401 f; Ehlers Landkreis 2007, 456, 461; krit a Suerbaum in Ehlers/Fehling/Pünder, BesVwR I, § 13 Rn 63. 562 § 102 VII GemO BW dazu Heilshorn, VBlBW 2007, 161, 163 f; Art 87 II GO Bay, § 91 IV BbgKVerf; § 121 V HessGO, § 107 III GO NW, § 85 II GemO RP; § 108 IV KSVG SL, § 116 III GO LSA, § 101 II GO SH, § 71 IV ThürKO. Nicht in MV, Nds u Sachs. 563 Dazu Ehlers Gutachten, 84 f; Schmidt-Aßmann FS Ulmer, 1015, 1023 ff; Wendt HkWP II, § 42; Schoch FS R Wahl, 573. 564 BVerwGE 39, 329, 336; dazu Ehlers DVBl 1998, 497, 503.

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Argumentation führte bisher nur in Ausnahmefällen zum Ziel; denn – so lautete die Argumentation – Art 12 und 14 GG sollten nicht vor Konkurrenz – auch nicht vor einer Konkurrenz der öffentlichen Hand – schützen;565 etwas anderes könne nur gelten, wenn es zu einem unerträglichen Verdrängungswettbewerb oder zur Ausbildung eines gesetzlich nicht abgesicherten Monopols käme. Dieses Bild hat sich durch die Änderung der kommunalrechtlichen Schranken, die die Gesetzgeber häufig gerade im Interesse der Privatwirtschaft vorgenommen haben, nachhaltig geändert: Jedenfalls die echten Subsidiaritätsklauseln sind als drittschützende Vorschriften zu interpretieren,566 wenn nicht sogar der Gesetzgeber einen solchen Drittschutz ausdrücklich anordnet.567 So sehen es mittlerweile auch etliche Verwaltungsgerichte.568 Ob sich darüber hinaus aus grundrechtlichen Erwägungen ein allgemeiner Drittschutz konstruieren lässt, erscheint nicht sicher. Zwar trifft es zu, dass die Grundrechte der Art 12, 14 GG gegenüber Eingriffen durch staatliche Wirtschaftskonkurrenz entsprechend dem Stand der allgemeinen Grundrechtsdogmatik569 deutlich mehr Schutz bieten als bisher angenommen. Hat sich aber der Gesetzgeber ausdrücklich570 oder implizit gegen die privatschützende Wirkung der kommunalrechtlichen Schranken entschieden, dürfte darüber auch mit grundrechtlichen Argumenten nicht hinwegzukommen sein. 180 bb) Durchsetzung über Wettbewerbsrecht (UWG, Vergaberecht): Weil ursprünglich vor den Verwaltungsgerichten wegen der restriktiven Interpretation der Schrankentrias Rechtsschutz nicht erfolgreich war, hatten sich die privaten Wettbewerber an die Zivilgerichte gewandt und die Auseinandersetzungen in das allgemeine Wettbewerbsrecht verlagert (u Rn 182). In diesem Rahmen haben einige oberlandesgerichtliche Entscheidungen in der Verletzung der kommunalrechtlichen Schranken als solche einen Verstoß gegen § 1 UWG aF gesehen und dementsprechend die Betätigung untersagt.571 Diese Vorschrift kann jedoch zur Sanktionierung von Marktzutrittsregelungen nicht herangezogen werden,572 das wird in der Neufassung des § 3 iVm § 4 Nr 11 UWG noch deutlicher. Eine Neuauflage dieser alten Kontroverse ist der Versuch, die Auftragsvergabe an kommunale Unternehmen, die sich über ihre Bindungen aus dem kommunalen Wirtschaftsrecht hinaus betätigen, als einen Vergabeverstoß einzustufen.573

d) Das Recht nichtwirtschaftlicher Unternehmen 181 Keine Anwendung findet die kommunalrechtliche Schrankentrias auf die „nichtwirtschaftlichen Unternehmen“ oder „Einrichtungen“. Die Konsequenzen dieser Freistellung sind aller-

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565 Vgl ferner BVerwG NJW 1978, 1539 f o JK GG Art 2 I/1 u 1995, 2938; VGH BW NJW 1995, 274 o JK GO BW § 102/2; Pieroth/Hartmann DVBl 2002, 421, 422 f. 566 Schink NVwZ 2002, 129, 138; sa Schliesky JA 2001, 110; allg Faber DVBl 2003, 761; Schoch FS R. Wahl, 573, 583 ff; speziell zum Schädigungsverbot des Art 95 II GO Bay Hösch GewArch 2000, 1, 5. 567 ZB § 121 Ib HessGO; § 136 I 3 NdsKomVG. 568 Drittschutz bezüglich § 102 I Nr. 3 GemO BW VGH BW NVwZ-RR 2006, 714; LT-Drs 13/4767, S. 9; Heilshorn VBlBW 2007, 161, 163; zu § 97 I Nr. 3 SächsGemO LT-Drs 3/7625; bereits VerfGH RP NVwZ 2000, 801, 803 f (zu § 85 I Nr 3 GemO RP) o JK GG Art 28 II 1/25, zust Ruffert NVwZ 2000, 763, 764; OVG NW DVBl 2004, 133 o JK GO NW § 107 I/2 u NVwZ-RR 2005, 198, 199 o JK GO NW § 107 I 1/3; umfassend J. Ipsen ZHR 170 (2006), 422; Uechtritz/Otting HBKomU, § 6 Rn 168 ff; Jungkamp NVwZ 2010, 546. Anders zu § 116 I GO LSA OVG LSA NVwZ-RR 2009, 91; dazu krit Mann DVBl 2009, 817; Berger DÖV 2010, 118. 569 Dazu Storr Der Staat als Unternehmer, 2001, 93 ff; Stamer Rechtsschutz gegen öffentliche Konkurrenzwirtschaft, 2007; aM Pieroth/Hartmann DVBl 2002, 421. 570 § 91 I 2 BbgKVerf. 571 OLG Düsseldorf NJW-RR 1997, 1470; OLG Hamm DVBl 1998, 792 o JK GO NW §107/1; krit Ehlers DVBl 1998, 497, 503; Tettinger NJW 1998, 3473; ausf Uechtritz/Otting HBKomU, § 6 Rn 140 ff. 572 BGHZ 150, 343 o JK UWG § 1/1; bestät BGHZ 156, 379, 390; NJW 2003, 586. 573 OLG Düsseldorf NZBau 2002, 626 u v 13.8.2008, VII-Verg 42/07; OVG NW NVwZ 2005, 1211; relativierend OVG NW NVwZ 2008, 1031; krit zB Burgi NZBau 2003, 539; Ennuschat NVwZ 2008, 966; Mann NVwZ 2010, 837.

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IX. Die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden – 1. Kapitel

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dings begrenzt:574 Der öffentliche Zweck, den die Schrankentrias fordert, liegt bei diesen, der Daseinsvorsorge dienenden Einrichtungen sicherlich vor; eine Überdimensionierung der Einrichtung ist wenig wahrscheinlich. Der wesentliche Unterschied liegt daher vor allem in der Freistellung von der Geltung des Subsidiaritätsprinzips. Dies wird allerdings weniger im Hinblick auf die eigentliche Tätigkeit der nicht-wirtschaftlichen Unternehmen, die typischerweise auf eine Rentabilität verzichten und damit stärker der verwaltenden als der wirtschaftenden Tätigkeit zuzurechnen sind, spürbar, sondern vor allem bei Annextätigkeiten, die sich auf eine eigentlich wirtschaftliche Tätigkeit erstrecken. Diese sind durch die Nicht-Geltung der Schrankentrias in weiterem Umfang möglich.575 Auch diese Unternehmen sind nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu führen; auch sie dürfen, sofern für sie kein Wettbewerb gleichartiger Privatunternehmen besteht, niemandem Leistungen in Koppelungsgeschäften aufdrängen. Die Organisationsformen des Gemeindewirtschaftsrechts (Rn 125 ff) stehen für sie, teilweise eingeschränkt, zur Verfügung.

3. Allgemeines Wirtschaftsrecht Mit ihrer Wirtschaftstätigkeit unterliegt die Kommune den für alle Unternehmen geltenden wirt- 182 schaftsrechtlichen Schranken: Einschlägig sind vor allem das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (UWG) und das Kartellgesetz (GWB).576 Kommunalspezifische Fragen sind hier der Missbrauch amtlicher Autorität, die Ausnutzung amtlicher Kenntnisse oder der zweckwidrige Einsatz öffentlicher Ressourcen. Ihnen kann mit der Generalklausel des § 3 UWG begegnet werden.577 Für solche Wettbewerbsstreitigkeiten sollen die Zivilgerichte selbst dann zuständig sein, wenn sich der Klageantrag gegen (schlicht-)hoheitliche Maßnahmen der öffentlichen Hand richtet.578

4. Unionsrechtlicher Rahmen Für die Kernbereiche kommunaler Wirtschaftstätigkeit übertrifft das Unionsrecht die kommu- 183 nalrechtlichen Schranken mittlerweile an Bedeutung bei weitem,579 zumal die wichtigsten Vorgaben auch von privaten Konkurrenten gerichtlich geltend gemacht werden können (dazu gleich). Dabei tastet das Unionsrecht die Existenz kommunaler Unternehmen nicht an, es verbietet wirtschaftliche Betätigung nicht, sondern lässt sie im Ausgangspunkt sogar in noch weiterem Umfang zu als das Kommunalrecht, das einen öffentlichen Zweck verlangt (Art 345 AEUV).580 Die kommunale Wirtschaftstätigkeit muss sich jedoch in das unionsrechtliche Konzept der Wettbewerbswirtschaft einfügen, das den Wettbewerb beschränkende Maßnahmen wie Subventionen, die Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung oder die Beeinträchtigung des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs grundsätzlich untersagt. In vielen wichtigen Angelegenheiten der Daseinsvorsorge hat zudem ausgehend vom sekundären Unionsrecht eine Marktöffnung stattgefunden. Diese schließt zwar eine Tätigkeit der Kommunen nicht generell aus, verändert aber ihre Rahmenbedingungen nachhaltig. Quersubventionierungen und kommunale Sonderrechte befinden sich danach auf dem Rückzug.

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574 So soll für sie das Territorialitätsprinzip (vgl o Rn 32 f, 178) nicht gelten, für NW OVG NW NZBau 2005, 167; NWVBl 2005, 133, zw. 575 Neutz in: Wurzel ua, RPkomUnt, C Rn 74 ff. 576 Ulmer ZHR 46 (1982) 466, 474 ff; Just DVBl 2012, 416; o Huber 3. Kap Rn 274 f. 577 Ulmer ZHR 46 (1982) 466, 480; BGH GRUR 1965, 373; BGH NJW 1982, 2117 ff; NJW 2003, 752. 578 BGHZ 66, 229; 67, 81; 121, 126; aM Schliesky Öffentliches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl 2008, 455; Ehlers in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 40 Rn 286; Brohm NJW 1994, 281, 288. 579 Dazu Hellermann Daseinsvorsorge, 2000, 66; Pielow Grundstrukturen, 2001, 41; Storr Der Staat als Unternehmer, 2001, 255; Kluth HkWP II § 39 mN. 580 Kluth HkWP II § 39 Rn 29.

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104

1. Kapitel – Kommunalrecht

Auch das Unionsrecht akzeptiert, dass die Erfüllung des staatlichen und kommunalen Gemeinwohlauftrags nicht ausschließlich im Wettbewerb erfolgen kann; Art 14 und 106 II AEUV erkennen Dienste bzw Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse an. Von der Grundlinie des Wettbewerbs kann danach abgewichen werden, soweit dies für den Erhalt der Dienste notwendig ist. Allerdings garantiert das Unionsrecht nicht den Bestand bestimmter Träger, sondern zielt aufgabenbezogen auf den Erhalt der Dienste.581 Kommunale Besitzstände sind also nicht garantiert, auch Art 14 und 106 II AEUV stehen der Einbeziehung der Kommunalwirtschaft in das allgemeine und besondere Regulierungsrecht nicht entgegen.582

a) Der allgemeine Rahmen 184 Wettbewerbsrecht: Für die Kommunalwirtschaft insgesamt beachtlich ist das EU-Wettbewerbsrecht der Art 101–106 AEUV. Hiermit kann die marktbeherrschende Stellung einer Kommune in Konflikt geraten; auch die Einräumung eines Ausschließlichkeitsrechts für die kommunalen Träger (zB die Festsetzung der Pflicht, Hausmüll ausschließlich den kommunalen Entsorgungsträgern zu überlassen583) muss sich gegenüber diesen Vorschriften rechtfertigen lassen, zB durch Berufung auf Art 106 II AEUV.584 Beihilferecht: Für die Wirtschaftsförderung durch Beihilfen, zu denen neben Subventionen auch andere kommunale Maßnahmen wie spezielle Infrastrukturhilfen und Unternehmensbeteiligungen zählen, finden die Art 107–109 AEUV Anwendung; auch für kommunale Beihilfen besteht danach zB die Notifikationspflicht.585 Hieran ist immer dann zu denken, wenn die Kommune ihrem Unternehmen finanzielle Leistungen gewährt, zB einen Verlustausgleich an ein defizitäres Nahverkehrsunternehmen. Solche Ausgleichszahlungen an Unternehmen, die mit gemeinwirtschaftlichen Leistungen betraut sind, fallen unter bestimmten Umständen allerdings bereits nicht unter den Beihilfebegriff;586 darüber hinaus können sie durch Art 106 II AEUV gerechtfertigt sein. Um zu verhindern, dass die so geförderten Unternehmen andere Tätigkeiten mit den staatlichen Mitteln mitfinanzieren können (Quersubventionierungen), sind die gemeinwirtschaftlichen Tätigkeiten kommunaler Unternehmen einem Transparenzgebot unterworfen.587 Konkurrenten können die Einhaltung dieser Regeln gerichtlich durchsetzen.588

_____ 581 Henneke in: Wurzel ua, RPkomUnt, A Rn 25. 582 Zum Regulierungsrecht Storr Der Staat als Unternehmer, 2001, 411; Schliesky Öffentliches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl 2008, 66 ff. 583 Dazu Schink HkWP II, § 55 Rn 15 ff. Allg Weiß in Terhechte, VwR der EU, § 20. 584 Das Örtlichkeitsprinzip hingegen ist mit Art 101 I AEUV vereinbar, dazu Ehlers in: Wurzel ua, RPkomUnt, B Rn 16; Suerbaum in Ehlers/Fehling/Pünder, BesVwR I, § 13 Rn 28; ausf Peters Die Dogmatik der Kommunalwirtschaft, 247 ff. 585 o Huber 3. Kap Rn 247 f; Bungenberg in Terhechte, VwR der EU, § 21. Zur Verwaltungspraxis (beschleunigte Genehmigung in Fällen geringeren Umfangs, Ausnahmen in Bagatellfällen) vgl die VO (EG) Nr 1998/2006 (Anwendung der Art 87 u 88 EGV auf „De-minimis“-Beihilfen); für Regionalbeihilfen, Beihilfen an kleine und mittlere Unternehmen oder Umweltschutzbeihilfen vgl die Art 13 ff der allgemeinen Gruppenfreistellungs-VO (EG) 800/ 2008. 586 EuGH Slg 2001, I-9067 (Rn 27) – Ferring SA/ACOSS; Slg 2003, I-7747 (Rn 87 ff) – Altmark Trans; dazu Ehlers in: Wurzel ua, RPkomUnt, B Rn 20; zur Verwaltungspraxis die VO (EU) 360/2012 (Anwendung der Art 107 fAEUV auf De-minimis-Beihilfen an Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbringen). 587 RL 80/723 EWG, ABl Nr L 195/35 idF RL 2006/111/EG, ABl Nr L 318/17 (TransparenzRL); TranspRLG (BGBl 2001, S 2141); dazu Britz DVBl 2000, 1641. 588 EuGH Slg 1996, I-3547 (Rn 40 ff) – SFEI; Slg 2006, I-9957 (Rn 38 ff) – Transalpine; OVG RP EuZW 2010, 274; BGHZ 188, 326 – Flughafen Frankfurt-Hahn m Anm Ehlers/Scholz JZ 2011, 585.

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IX. Die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden – 1. Kapitel

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Für öffentliche Aufträge der Gemeinden und ihrer Unternehmen ist das durch EU-Richt- 185 linien europäisierte Vergaberecht der §§ 97 ff GWB zu beachten (o Rn 148, auch z Rechtsschutz). Entgeltliche Aufträge der Kommune an ihre wirtschaftlichen Unternehmen sind danach ohne Ausschreibung nur unter besonderen Umständen („In-House-Geschäft“) möglich (s Rn 128).

b) Bereichsspezifische Vorgaben In wichtigen Gebieten kommunaler Daseinsvorsorge hat das sekundäre Unionsrecht bisher 186 geschlossene Versorgungsbereiche für private Anbieter geöffnet, aber die Kommunen von der Betätigung nicht ausgeschlossen: Das Recht der Energieversorgung trennt zwischen dem Betrieb der Netze (§§ 11 ff EnWG) und der Energielieferung (§§ 36 ff EnWG). In beiden Bereichen können sich kommunale Unternehmen betätigen. Allerdings müssen sie sich dem Wettbewerb auf den Netzen um ihre Kunden stellen. Große Stadtwerke (mehr als 100.000 Kunden) müssen darüber hinaus diese Tätigkeitsbereiche voneinander getrennt führen („Entflechtung“).589 Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) ist Selbstverwaltungsaufgabe der Gemeinden.590 Das bedeutet aber nicht, dass diese Aufgabe durch eigene kommunale Unternehmen erbracht werden muss, vielmehr können auch private oder andere öffentliche Unternehmen mit der Erbringung der Verkehrsdienstleistungen beauftragt werden. Wenn mit diesem Auftrag – wie häufig, weil sich der ÖPNV nicht selbst trägt – finanzielle Leistungen der Kommune oder die Einräumung eines ausschließlichen Bedienungsrechts einhergehen, unterfallen solche Aufträge der ÖPV-VO (EG) 1370/2007. Diese sieht grundsätzlich eine Vergabe im Wettbewerb vor, erlaubt der Kommune aber unter bestimmten Umständen auch die direkte Beauftragung des kommunaleigenen Unternehmens. Auch das Gebiet der Abfallentsorgung ist nachhaltig vom Unionsrecht beeinflusst. 591 Neben dem Wettbewerb um Entsorgungsaufträge von gewerblichen Kunden geht es hier vor allem um die Frage, inwieweit Überlassungspflichten an die Kommunen als öffentliche Entsorgungsträger festgesetzt werden können.592

Spezialliteratur: Badura Wirtschaftliche Betätigung der Gemeinde zur Erledigung von Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze, DÖV 1998, 818; Blanke Kommunale Selbstverwaltung und Daseinsvorsorge nach dem Unionsvertrag von Lissabon, DVBl 2010, 1333; Burgi Neuer Ordnungsrahmen für eine energiewirtschaftliche Betätigung der Kommunen, 2010; Doerfert Daseinsvorsorge – eine juristische Entdeckung und ihre heutige Bedeutung, JA 2006, 316; Ehlers Die Entwicklung des kommunalen Wirtschaftsrechts, Der Landkreis 2007, 456; Erichsen Gemeinde und Private im wirtschaftlichen Wettbewerb, 1987; Essebier Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse und Wettbewerb, 2005; Faiß ua Kommunales Wirtschaftsrecht in Baden-Württemberg, 2002; Franz Gewinnerzielung durch kommunale Daseinsvorsorge, 2005; Franzius Die wirtschaftliche Betätigung der Kommunen, Jura 2009, 677; Fuest/Kroker/Schatz Die wirtschaftliche Betätigung der Kommunen und die Daseinsvorsorge, 2002; Greiling Öffentliche Trägerschaft oder öffentliche Bindung von Unternehmen?, 1996; Henneke/ Ritgen Kommunales Energierecht, 2010; Hidien Gemeindliche Betätigungen rein erwerbswirtschaftlicher Art und „öffentlicher Zweck“ kommunaler wirtschaftlicher Wirtschaftsunternehmen, 1981; Hösch Die kommunale Wirtschaftstätigkeit, 2000; Huber Öffentliche Aufgabenerfüllung bei sich wandelnden Marktbedingungen, in Henneke (Hrsg) Öffentlicher Auftrag bei sich wandelnden Marktbedingungen, 2007, 11; Jarass Kommunale Wirtschaftsunternehmen und Verfassungsrecht, DÖV 2002, 489; Katz Kommunale Wirtschaft (Öffentliche Unternehmen zwischen

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589 Details in §§ 6 ff EnWG, dazu etwa Hölscher in: Britz/Hellermann/Hermes, EnWG, 2. Aufl 2010, § 6. 590 Nach den einschlägigen Landesgesetzen ist die „Aufgabenträgerschaft“ als pflichtige Aufgabe idR den Landkreisen und kreisfreien Städten zugewiesen zB § 6 I ÖPNVG BW, §§ 8 f BayÖPNVG, §§ 3 fÖPNVG NW. Das schließt aber die Wahrnehmung durch kleinere Gemeinden nicht aus, i Einz Häusler in: Wurzel ua, RPkomUnt, K Rn 54 ff. 591 Nachgezeichnet etwa bei Schink HkWP II § 55, Rn 8 ff. 592 Dazu zunächst BVerwGE 134, 154 ff und jetzt § 17 KrWG; dazu Queitsch UPR 2012, 221, 226 f.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

Gemeinwohl und Wettbewerb), 2004; Kluth Grenzen kommunaler Wettbewerbsteilnahme, 1988; Leder Kohärenz und Wirksamkeit des kommunalen Wirtschaftsrechts im wettbewerbsrechtlichen Umfeld, DÖV 2008, 173; Löwer Der Staat als Wirtschaftssubjekt und Auftraggeber, VVDStRL 60 (2001) 416; Oebbecke Die örtliche Begrenzung kommunaler Wirtschaftstätigkeit, ZHR 164 (2000) 375; Otting Neues Steuerungsmodell und rechtliche Betätigungsspielräume der Kommunen, 1997; Peters Die Dogmatik der Kommunalwirtschaft zwischen national- und europäischnormativer Konzeption, 2012; Pitschas/Ziekow (Hrsg), Kommunalwirtschaft im Europa der Regionen, 2004; Pünder/ Dittmar Die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden, Jura 2005, 760; Reichard (Hrsg), Kommunen am Markt, 2001; Rennert Die Klausur im Kommunalrecht, JuS 2008, 211; ders Kommunalwirtschaft und Selbstverwaltungsgarantie, DV 35 (2002) 319; Rottmann Die Rückkehr des Öffentlichen in die öffentlichen Unternehmen, ZögU 29 (2006), 259; Ruffert Grundlage und Maßstäbe einer wirkungsvollen Aufsicht über die kommunale wirtschaftliche Betätigung, VerwArch 92 (2001) 27; Rüfner Daseinsvorsorge in Deutschland vor den Anforderungen der Europäischen Union, FS Frotscher, 2007, 423; Scheps Das Örtlichkeitsprinzip im kommunalen Wirtschaftsrecht, 2006; Schiller Staatliche Gewährleistungsverantwortung und die Sicherstellung von Anschluss und Versorgung im Bereich der Energiewirtschaft, Schliesky Öffentliches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl 2008; R. Schmidt Die Liberalisierung der Daseinsvorsorge, Staat 2003, 225; Schmidt-Aßmann Verfassungsschranken der Kommunalwirtschaft, FS Ulmer, 2003, 1015; Schmidt-Leithoff Gemeindewirtschaft im Wettbewerb, 2011; Schnaudigel Der Betrieb nichtwirtschaftlicher kommunaler Unternehmen in Rechtsformen des Privatrechts, 1995; Schoch Konkurrentenschutz im kommunalen Wirtschaftsrecht, FS R Wahl, 2011, 573; Stamer Rechtsschutz gegen öffentliche Konkurrenzwirtschaft, 2007; Steffen Das wirtschaftliche Handeln der Kommunen auf dem Prüfstand, 2001; Welti Die kommunale Daseinsvorsorge und der Vertrag über eine Verfassung für Europa, AöR 130 (2005), 529; Winnik Die abfallwirtschaftliche Betätigung der Gemeinden, 2009; Wurzel/Schraml/Becker (Hrsg.), Rechtspraxis der kommunalen Unternehmen, 2. Aufl. 2010 (RPkomUnt).

1. Kapitel – Kommunalrecht X. Finanzen und Haushalt – 1. Kapitel

X. Finanzen und Haushalt 187 Die Garantie einer aufgabenadäquaten Finanzausstattung, die eigenverantwortliche Einnahmenwirtschaft sowie die eigenverantwortliche Ausgabengestaltung bilden die drei Grundelemente der gemeindlichen Finanzhoheit (o Rn 41). Sie finden ihre einfachgesetzlichen Konkretisierungen im Gemeindefinanzsystem (1), im kommunalen Abgabenrecht (2) sowie im gemeindlichen Haushaltsrecht (3).

1. Das Gemeindefinanzsystem 188 Das Gemeindefinanzsystem liefert die finanziellen Grundlagen der kommunalen Verwaltungstätigkeit und damit auch der kommunalen Selbstverwaltung:593

a) Überblick über die Einnahmen Das Gesamtaufkommen der von Gemeinden und Gemeindeverbänden erzielten Einnahmen (2011: 183,6 Mrd €) setzt sich im wesentlichen aus den folgenden Einnahmearten zusammen: Steuern (69,8 Mrd €); Gebühren und Beiträge (18 Mrd €); Finanzzuweisungen durch die Länder (72,2 Mrd €).594 Weitere Einnahmen erwachsen den Gemeinden aus ihrer Wirtschaftstätigkeit, aus privatrechtlichen Leistungsentgelten, aus Konzessionsabgaben,595 aus dem Verkauf gemeindlichen Vermögens (in jüngerer Zeit insbesondere kommunaler Wohnungsgesellschaf-

_____ 593 Systematisch Henneke Jura 1986, 568; ders Finanzverfassung, 128 ff; Schwarz in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art 106 Rn 99; Waldhoff DStJG 35 (2012), 11. 594 BMF, Eckdaten zur Entwicklung und Struktur der Kommunalfinanzen, 2002–2011, 2012. Detaillierte Angaben auch bei Anton/Diemert StädteT 5/2011, 6 ff. 595 ZB nach § 48 EnWG für die Benutzung gemeindlicher Verkehrswege für die Verlegung und den Betrieb von Strom- und Gasleitungen; dazu Fehling RdKomFin, § 17.

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X. Finanzen und Haushalt – 1. Kapitel

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ten) oder aus Kreditaufnahmen (u Rn 195). Die nachfolgenden Ausführungen heben nur die wichtigsten typischen Einnahmequellen hervor.596

b) Steuereinnahmen „Steuern sind Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstel- 189 len und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft.“ (§ 3 I AO). Unter den Steuereinnahmen der Gemeinden machen die Gewerbesteuer und die Grundsteuer („Realsteuern“, § 3 II AO) mittlerweile mehr als die Hälfte aus. Beide Steuern, deren Ertragshoheit prinzipiell bei den Gemeinden liegt (Art 106 VI 1 1. HS GG),597 werden aufgrund von Bundesgesetzen erhoben (GewStG, GrStG). Den Gemeinden ist das Recht eingeräumt, im Rahmen der Gesetze Hebesätze (u Rn 198) festzusetzen. Hierbei gilt es insbesondere für die Gewerbesteuer klug abzuwägen zwischen dem Finanzbedarf der Gemeinde auf der einen und dem möglichen Wegzug von Gewerbetrieben in Gemeinden mit niedrigeren Steuersätzen auf der anderen Seite. Zur Verhinderung von Missbräuchen ist bei der Gewerbesteuer ein Mindesthebesatz vorgesehen.598 Ein zweiter bedeutsamer Teil des gemeindlichen Steueraufkommens ist der Gemeindean- 190 teil an der Einkommensteuer gem Art 106 V GG.599 Nach dieser Vorschrift erhalten die Gemeinden auf der Grundlage der Einkommensteuerleistungen ihrer Einwohner einen Anteil am Aufkommen der Einkommensteuer. Die Höhe des Anteils ist durch § 1 GemeindefinanzreformG auf zur Zeit 15% festgesetzt. Von der in Art 106 V 3 GG vorgesehenen Möglichkeit, ein Hebesatzrecht einzuführen, hat der Bundesgesetzgeber bislang keinen Gebrauch gemacht. Auch diese Einnahme beruht auf einer originären gemeindlichen Ertragshoheit (o Rn 53); sie ist, wie Art 105 III 1 2 HS GG zeigt, nicht lediglich Finanzzuweisung.600 Das gleiche gilt für den Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer gem Art 106 Va GG, der nach §§ 5a ff GemeindefinanzreformG verteilt wird. Demgegenüber spielen die in Art 106 VI 1 2. HS GG den Kommunalkörperschaften weiterhin zugewiesenen örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern für die Einnahmeerzielung nur eine untergeordnete Rolle. Diese auf Landesgesetzen (Art 105 IIa 1 GG) beruhenden sog kleinen Gemeindesteuern oder Bagatellsteuern (zB Getränke-, Hunde-, Jagd-, Speiseeis- und Vergnügungssteuer) machen insgesamt nur ca 2% des gemeindlichen Steueraufkommens aus (u Rn 199).

c) Gebühren und Beiträge, privatrechtliche Entgelte Gebühren sind Gegenleistungen für besondere administrative Tätigkeiten (Verwaltungsgebüh- 191 ren) oder für die Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen (Benutzungsgebühren). Beiträge sind Geldleistungen, die dem Ersatz des Aufwandes für die Herstellung und Erweiterung öffentlicher Einrichtungen dienen; sie werden als Gegenleistung für die Möglichkeit der Benutzung erhoben. Privatrechtliche Entgelte werden anstelle dieser Leistungen auf vertraglicher Grund-

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596 Für die einzelne Gemeinde kann die individuelle Finanzsituation durch vorgegebene spezifische Belastungsund Begünstigungsfaktoren – aber auch durch eine behutsame oder aber durch eine zu leichtfertige Haushaltspolitik früherer Jahre – besser oder schlechter aussehen, als es die Durchschnittswerte der Statistiken indizieren. 597 Außer Acht gelassen wird hier die Gewerbesteuerumlage, Art 106 VI 4 GG, dazu Wohltmann in: RdKomFin, § 9; krit auch Waldhoff DStJG 35 (2012), 11, 27 f. 598 § 16 IV GewStG, dazu BVerfGE 125, 141, 162 ff. 599 Dazu Schwarz RdKomFin, § 12. Zum kommunalen Hebesatzrecht nach Art 106 V 3 (s gleich) Schwarz ebenda Rn 9. 600 Schwarz RdKomFin, § 12 Rn 4; Henneke Jura 1986, 568, 574; zur konkreten Ausformung krit Hidien RdKomFin § 26 Rn 56.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

lage eingenommen, wenn das Benutzungsverhältnis privatrechtlich ausgestaltet ist (o Rn 163). Weil die Höhe aller dieser (Gegen-)Leistungen nicht völlig unabhängig von den tatsächlichen Kosten der mit der Zahlungspflicht verbundenen Staatsleistung festgelegt werden kann,601 lassen sich hiermit zusätzliche Einnahmen, die über die Kostendeckung der Einrichtung hinausgehen, idR nicht erzielen; auch nicht über privatrechtliche Entgelte.602 Die Gesetzgebungskompetenz folgt idR der Sachkompetenz. Die (für öffentlich-rechtliche Abgaben notwendigen) gesetzlichen Grundlagen für die Erhebung finden sich teilweise in Spezialgesetzen, zB in §§ 127 ff BauGB für Erschließungsbeiträge,603 im Übrigen in den KommunalabgabenG (KAG) der Länder.604

d) Finanzzuweisungen, insbes der kommunale Finanzausgleich 192 Die bis hierher geschilderten Einnahmen stammen von Einwohnern und Unternehmen der Gemeinde und hängen damit ua von der Wirtschaftskraft der Kommune ab. Sie können weder für die Kommunen in ihrer Gesamtheit noch für jede einzelne Kommune sicherstellen, dass sie über eine hinreichende Finanzkraft verfügen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. An dieser Stelle kommen die Finanzzuweisungen vor allem im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs ins Spiel,605 der damit zu einem integralen Teil der gemeindlichen Finanzautonomie wird. Der Kern des Instituts liegt in der Pflicht der Länder, gem Art 106 VII GG von ihrem Gesamtanteil an den Gemeinschaftssteuern (vgl Art 106 III GG) einen bestimmten Hundertsatz den Gemeinden und Gemeindeverbänden weiterzugeben. 606 Manche Landesverfassungen erweitern diesen Ansatz um zusätzliche Ausgleichstatbestände oder normieren eine allgemeine Finanzausgleichspflicht. Die Ausgestaltung im Einzelnen ist Sache des Landesgesetzgebers (vgl die FAGe bzw GFG der Länder). Mit dem kommunalen Finanzausgleich werden zentral zwei Funktionen verfolgt, die die fi193 nanzielle Autonomie der Kommunen sichern:607 Erstens geht es darum, die den Gemeinden insgesamt zur Verfügung stehende Finanzmasse so aufzustocken, dass die finanzielle Grundlage für eine eigenverantwortliche Verwaltungstätigkeit vorhanden ist („fiskalische Funktion“). Zweitens geht es darum, auf die strukturbedingten Unterschiede der kommunalen Einnahmen zu reagieren („redistributive Funktion“): Aus dem kommunalen Steuersystem (o Rn 189 ff) ergibt sich ein interkommunales Wohlstandsgefälle, das so abgemildert (nicht: nivelliert608) werden soll, dass sich ein angemessenes Verhältnis zwischen Finanzbedarf und finanziellen Möglichkeiten ergibt. Dabei muss allerdings darauf geachtet werden, dass die positiven Folgen finanziell sachgemäßer ebenso wie die negativen Folgen nachteiliger Entscheidungen bei den jeweiligen Kommunen verbleiben. Besondere Finanzbedarfe (zB zentralörtliche Funktionen, Standortnachteile) sind mit einzubeziehen. Auf eine Angleichung der Lebensverhältnisse in dem jeweiligen Land ist Rücksicht zu nehmen. Die Finanzausgleichsgesetze der einzelnen Länder sind demgemäß komplizierte Rechenwerke, die wegen ihres deutlichen Maßnahmen- und Situa-

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601 BVerfGE 108, 1, 18 ff o JK GG Art 70/3; u Fn 629. 602 Kaufmann RdKomFin § 15 Rn 36. 603 Vgl aber Art 74 I Nr 18 GG; dazu Ernst/Grziwotz in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Vorb § 123, Rn 16 ff. 604 Einzelheiten bei Gern DtKomR, Rn 973 ff; Arndt RdKomFin, § 16. 605 Henneke Finanzverfassung, 491; Inhester Finanzausgleich, 1998, 25; Schwarz in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art 107 Rn 26, 34 ff; Schmidt DÖV 2012, 8. Daneben gibt es weitere spezielle Zuweisungen aufgrund besonderer Investitionsprogramme (zB Art 104b GG) oder besonderen Titels (zB Art 106 VIII GG). 606 Zur Rolle der Gemeinden im Bundesfinanzausgleich vgl BVerfGE 101, 158, 229 f; Hidien RdKomFin, § 26. 607 Henneke RdKomFin, § 25 Rn 4 ff; Hornfischer Insolvenzfähigkeit, 2010, 69 f. 608 „Nivellierungsverbot“: NdsStGH DVBl 1995, 1175, 1178; BayVerfGHE 60, 184; SächsVerfGH v 29.1.2010 – Vf. 25VIII-09 mwN; Inhester Finanzausgleich, 1998, 158.

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X. Finanzen und Haushalt – 1. Kapitel

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tionsbezuges fortgesetzt der Änderung bedürfen; sie werden immer wieder zum Gegenstand von Prozessen vor den Landesverfassungsgerichten. Die Verfassungsgerichte gewähren dem Gesetzgeber hierbei eine Entscheidungsprärogative, überprüfen die Gesetze aber ua am Maßstab der Systemgerechtigkeit und dem interkommunalen Gleichbehandlungsgebot.609 Nach Finanzkrise und Schuldenbremse (Art 109 III GG) ist mehr denn je in Streit, ob ein Land den Finanzausgleich mit Berufung auf die Grenzen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit begrenzen kann.610 Die Ausgleichsmasse wird zum wesentlichen Teil von dem jeweiligen Land (vertikaler Fi- 194 nanzausgleich), zu einem kleineren Teil von den Gemeinden selbst (horizontaler Finanzausgleich) aufgebracht. Das zentrale Ausgleichsinstrument sind dann die sog „Schlüsselzuweisungen“, die die Gesamtmasse des Finanzausgleichs auf die Kommunen nach einem normativ ermittelten, also bewerteten Finanzbedarf verteilen. Diese Zuweisungen ergänzen den allgemeinen Haushalt der Kommunen und können hier frei verwendet werden, verstärken damit die kommunale Autonomie (Allgemeine Zuweisungen). Für den Fall unvermeidbarer Fehlbeträge können die Kommunen zusätzlich sog „Bedarfszuweisungen“ beantragen, die als allgemeine Zuweisungen ebenfalls frei verwendet werden können. Zusätzliche, vor allem raumordnungspolitische Funktionen erfüllt der Finanzausgleich mit sog Zweckzuweisungen. Sie sind in der Verwendung gebunden und dienen zum einen Teil dem Sonderlastenausgleich (zB Schulwesen, ÖPNV, Straßen), zum anderen Teil der Steuerung der öffentlichen Infrastrukturpolitik und werden wie andere staatliche Investitionszuschüsse teilweise nur unter sehr genauen Dotationsauflagen vergeben. Damit sind sie tendenziell selbstverwaltungsfeindlich.611

e) Kredite und Entschuldung Einnahmebeschaffung ist den Kommunen schließlich über Kredite möglich.612 Weil hierdurch 195 die notwendige Einnahmeerzielung im Grunde nur auf spätere Jahre verschoben wird, sehen die Gemeindeordnungen für diesen Fall eine Reihe von Einschränkungen vor,613 vor allem eine Bindung an die Investitionstätigkeit: Laufende Ausgaben dürfen über Kredite nicht finanziert werden; die dauerhafte Leistungsfähigkeit der Kommune muss gewährleistet sein. In einigen Bundesländern umgehen die Kommunen dieses Verbot, indem sie auf Kassen- bzw Liquiditätskredite ausweichen, die jedoch nur zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen vorgesehen sind. Anstatt dem Wähler reinen Wein über die prekäre Finanzsituation der Kommunen einzuschenken, haben der Gesetzgeber durch Abschaffung von Genehmigungsvorbehalten614 und die Kommunalaufsicht durch großzügiges Gewährenlassen dieser Praxis keinen Einhalt geboten. Damit sind bundesweit mittlerweile beinahe 50 Mrd € an Kassenkrediten aufgelaufen; etliche Kommunen sind im Grunde überschuldet (vgl o Rn 14). In dieser Situation sehen sich die betroffenen Länder gezwungen, den Kommunen Mittel zur Entschuldung zu gewähren, die die betroffenen Kommunen zu einschneidenden, mit der Kommunalaufsicht oder dem Land zu vereinbarenden Konsolidierungsmaßnahmen zwingen.615

_____ 609 ZB VerfGH MV NVwZ-RR 2012, 377; ThürVerfGH NVwZ-RR 2005, 665; StGH BW DVBl 1999, 1351; vgl auch Leisner-Egensperger DÖV 2010, 705. 610 VerfGH RP DVBl 2012, 432 m Bspr Henneke; Groh LKV 2010, 1; Henneke DÖV 2008, 857. 611 Henneke RdKomFin, § 25 Rn 17; Schmidt DÖV 2012, 1, 15. Allg Gern DtKomR, Rn 672. 612 Nicht jedoch, indem sie direkt Einlagen von den Bürgern entgegennehmen, sog „Bürgerkredite“, dazu Erting NVwZ 2009, 1339; Prehn DÖV 2011, 174. 613 Schwarting RdkHW, § 9 Rn 49 f. 614 ZB § 89 GO NW im Vergleich mit § 89 III GemO BW. 615 ZB in Hess die Rahmenvereinbarung zwischen Kommunalen Spitzenverbänden und Landesregierung über einen Kommunalen Schutzschirm v 20.1.2012; in Nds der „Zukunftsvertrag“ zwischen der Landesregierung und den Kommunalen Spitzenverbänden v 17.12.2009; in NW das Stärkungspaktgesetz v 9.12.2011, GV NW 662; dazu Knirsch

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1. Kapitel – Kommunalrecht

f) Reformbedarf 196 Das Finanzwesen erweist sich heute als der eigentlich neuralgische Punkt im Spannungsfeld von Staat und Selbstverwaltung, von Verfassungsrecht und Verwaltungsrealität. So richtig es ist, die Gewährleistung eines hinlänglichen Finanzaufkommens in den Garantiebereich der Finanzautonomie (Art 28 II GG) einzubeziehen (Rn 41), so wenig ist es bisher gelungen, ein Finanzsystem zu finden, das die Gemeinden in einer der Konnexität von Aufgaben- und Ausgabenverantwortung entsprechenden Art am öffentlichen Finanzaufkommen beteiligt (Rn 41, 53, 58): So steht den laufend und in Krisenzeiten besonders wachsenden Aufwendungen für soziale Aufgaben auf der Einnahmeseite mit der Gewerbesteuer eine stark konjunkturabhängige Finanzquelle gegenüber. Alle Versuche, die kommunale Einnahmenstruktur grundlegend zu reformieren, sind bislang erfolglos geblieben, angesichts der Schuldenbremse (Art 109 III GG) auf der einen und der Lage der öffentlichen Haushalte auf der anderen Seite ist der Reformbedarf dringender als zuvor.616

2. Kommunales Abgabenrecht 197 Die eigenverantwortliche Einnahmenwirtschaft der Kommunen verwirklicht sich vor allem durch die Gestaltungsmöglichkeiten im kommunalen Abgabenrecht (zu weiteren Einnahmequellen o Rn 188 ff). Exemplarisch vorgestellt werden hier die Steuererhebung und die Festsetzung der Vorzugslasten (Gebühren und Beiträge). Diese Abgabenerhebung erfolgt auf gesetzlicher Grundlage. Ohne bundes- oder landesgesetzliche Grundlage können sich die Kommunen keine weiteren Steuerquellen erschließen, weil die Erhebung von Steuern einen Eingriffsvorgang darstellt. Die Generalermächtigungen der Gemeindeordnungen zum Erlass von Satzungen reichen dafür nicht aus (Rn 134 f). Art und Umfang des Steuerzugriffs müssen deutlich erkennbar sein.617 Für das Verhältnis der Einnahmearten untereinander legen die meisten Gemeindeordnungen zwar eine Rangfolge fest,618 deren Steuerungswirkung soll jedoch im Regelfall nicht groß sein. Bedeutung entfaltet sie vor allem im Zusammenhang mit der Haushaltskonsolidierung.

a) Steuern 198 Die Gewerbesteuer und die Grundsteuer werden grundsätzlich von den Gemeinden festgesetzt und erhoben,619 die Gewerbesteuer auf der Grundlage des Gewerbeertrags (§ 6 GewStG). Das Finanzamt setzt zu diesem Zweck einen Steuermessbetrag fest (§ 14 GewStG).620 Multipliziert mit einem von der Gemeinde zu bestimmenden Hebesatz ergibt dies den endgültigen Steuerbetrag. Der Hebesatz wird von der Gemeinde in der Haushaltssatzung oder einer eigenen Steuersatzung bestimmt. In dieser Möglichkeit liegt ein wesentlicher Autonomiegewinn, weil die Gemeinden

_____

u Klieve GemH 2012, 52 u 97; in RP der Kommunale Entschuldungsfonds (Vereinbarung der Landesregierung mit den kommunalen Spitzenverbänden v 22.9.2010), dazu Göhring/Müller/Meffert/Wagenführer, LKRZ 2011, 1; im SL das Sondervermögen „Entschuldung Fonds Kommunen 21“ G v 1.12.2011, ABl 2011, 507, 509. 616 Henneke ZG 2012, 1. Zur Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft Henneke RdKomFin § 4 Rn 73 ff; zuletzt die Gemeindefinanzkommission beim BMF, dazu der Abschlussbericht v 15.6.2011 und Henneke ThürVBl 2011, 217. Zur Kritik an der Gewerbesteuer zB Heine RdKomFin, § 8 Rn 15 ff. 617 Schwarz in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art 106 Rn 116 f; etwas gemeindefreundlicher Waldhoff FS Vogel, 495; Pünder/Waldhoff RdKomFin, § 1 Rn 15 ff. 618 ZB § 78 GemO BW; Art 62 GO Bay; § 64 BbgKVerf; § 77 GO NW; § 73 SächsGemO; dazu Schliesky RdKomFin, § 22 Rn 2 ff; Waldhoff RdKomFin, § 7 Rn 5. 619 ZB § 9 II KAG BW, § 1 RealStG NW. Zur Gewerbesteuer ausf Heine RdKomFin, § 8, zur Grundsteuer Eisele RdKomFin, § 10. 620 An diesen Bescheid ist die Gemeinde im Steuerfestsetzungsverfahren gebunden, ein Schadensersatzanspruch bei fehlerhafter Festsetzung besteht nicht, auch wenn dadurch die gemeindlichen Einnahmen geschmälert werden, BVerwGE 140, 34.

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ihre Einnahmen durch Erhöhung des Hebesatzes an den Bedarf anpassen oder umgekehrt durch eine Anpassung nach unten am Standortwettbewerb teilnehmen können.621 Dementsprechend unterliegt diese Festsetzung grundsätzlich keinen staatlichen Einwirkungsbefugnissen.622 Vergleichbares gilt für die Grundsteuer. Die Kommunalabgabengesetze ermächtigen die Kommunen zur Erhebung bestimmter ört- 199 licher Verbrauchs- und Aufwandsteuern (Hunde-, Jagdsteuer) und räumen den Gemeinden darüber hinaus die Möglichkeit ein, in begrenztem Umfang örtliche Verbrauchs- und Aufwandsteuern zu erfinden. Davon haben die Gemeinden zB durch die Einführung einer Zweitwohnungssteuer oder einer Vergnügungs-, insbes Spielautomatensteuer Gebrauch gemacht.623 Trotz des geringen Beitrags zum Gemeindehaushalt insgesamt können diese Steuerarten für die Kommunen durchaus interessant sein; zudem verwirklichen sich hier autonome Gestaltungsmöglichkeiten.624 Grundlage der Steuererhebung sind die Kommunalabgabengesetze iVm einer kommunalen Satzung. Verfolgt die Steuer eine Lenkungswirkung,625 kann sie an der Kompetenz des Sachgesetzgebers scheitern, wenn sie entweder der Gesamtkonzeption der sachlichen Regelung oder konkreten Einzelregelungen zuwiderläuft.626 Daneben ist das Gleichartigkeitsverbot zu beachten (Art 105 IIa 1 GG).

b) Gebühren und Beiträge, privatrechtliche Entgelte Gebühren und Beiträge (Def s Rn 191) werden jenseits spezialgesetzlicher Grundlage auf der 200 Grundlage der KommunalabgabenG (KAG) der Länder erhoben.627 Auf dieser Grundlage müssen die Gemeinden den Kreis der Abgabenschuldner, den die Abgabe begründenden Tatbestand, den Maßstab usw generell-abstrakt in Gebühren- oder Beitragssatzungen festlegen: Es gilt ein Satzungsvorbehalt.628 Diese Abgaben können nicht völlig unabhängig von den tatsächlichen Kosten der gebührenpflichtigen Staatsleistung festgelegt werden (Kostendeckungsprinzip; Äquivalenzprinzip).629 Wegen Art 3 GG und der unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote630 ist es zweifelhaft, inwieweit die Gebührensatzung unterschiedliche Belastungen der Benutzer vorsehen kann, also etwa niedrigere Gebühren für Einwohner. Jedenfalls für nicht kostendeckend betriebene Einrichtungen wurde eine solche Staffelung teilweise als zulässige Subventionierung der eigenen Einwohner gerechtfertigt;631 auch eine zB an sozialen Gesichtspunkten ausgerichtete

_____

621 BVerfGE 125, 141, 165 f o JK GG Art 28 II/34; BVerwGE 138, 89 (Tz 16). 622 Ausnahmsweise dann, wenn die Gemeinde in einer andauernden Haushaltsnotlage die Hebesätze senkt, ohne zu erkennen zu geben, wie sie die Einnahmeausfälle kompensieren will, BVerwGE 138, 89 (Tz 27 ff). 623 Zur Verfassungsmäßigkeit der Zweitwohnungssteuer BVerfGE 65, 325 o JK GG Art 105 II a/1; zu Einzelfragen BVerfGE 114, 316; BVerfG-K NVwZ 1996, 57; (K) NVwZ-RR 2010, 457; BVerwGE 99, 303; E 115, 165; E 117, 345; zur Vereinbarkeit mit EU-Recht Wollenschläger NVwZ 2008, 506. Zu Spielautomaten BVerfGE 123, 1 – Geldspielautomaten; BVerwGE 135, 367 – Vergnügungssteuer für Spielgeräte. In Zeiten knapper Kassen nimmt der Erfindungsreichtum zu: Pferdesteuer (Meier KStZ 2010, 221 u Rauscher/Rauber KStZ 2011, 161); Bettensteuer (OVG RP NVwZ-RR 2011, 778, nachfolgend BVerwG v 11.7.2010 – 9 CN 1.11; BayVGH DVBl 2012, 767; Henneke Landkreis 2011, 439; Becker FS Schmidt-Jortzig, 251); Solariensteuer (Siepmann/Meier KStZ 2011, 28). Allgemein zum Steuerfindungsrecht Wernsmann DStJG 35 (2012), 95; Henneke DStJG 35 (2012), 118, 144 ff. 624 Waldhoff RdKomFin, § 13 Rn 5 ff; ders DStJG 35 (2012), 11, 25 f; Henneke DStJG 35 (2012), 118, 129 ff. 625 ZB BVerwGE 110, 265 (Kampfhundesteuer), krit zuvor Karst NVwZ 1999, 244; allg dazu Kube RdKomFin, § 21. 626 BVerfGE 98, 106 – Verpackungssteuer; vgl o Rn 34; Waldhoff RdKomFin, § 13 Rn 50 ff. Ferner BVerwGE 110, 248 u. BVerfG-K NVwZ 2001, 1264 – Gewaltspielautomaten; BVerwGE 110, 265 – Kampfhundesteuer. 627 Einzelheiten bei Arndt RdKomFin, § 16; Wieland DStJG 35 (2012), 159. 628 VGH BW NVwZ-RR 1997, 123 o JK KAG § 2/1; HessVGH NVwZ-RR 2000, 55; OVG Nds NVwZ-RR 2004, 777. 629 BVerfGE 108, 1, 18 ff o JK GG Art 70/3; ausf Kaufmann RdKomFin, § 15 Rn 41 f, 50 ff; Wieland DStJG 35 (2012), 159, 166 ff. 630 EuGH Slg 2003, I-721 – KOM/Italien o JK EGV Art 49/7: Museumsgebühren für Touristen aus dem EU-Ausland und sog passive Dienstleistungsfreiheit. 631 BVerwGE 104, 60; Kaufmann RdKomFin, § 15 Rn 70.

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Staffelung soll zulässig sein.632 Für das konkrete Erhebungsverfahren sehen die KAG der Länder in weitem Umfang eine analoge Anwendung des Verfahrensrechts der AO 1977 vor.633 Privatrechtliche Entgelte werden bei privatrechtlichen Benutzungsverhältnissen auf ver201 traglicher Grundlage erhoben; teilweise explizit durch die KAGe der Bundesländer gestattet.634 Auch solche privatrechtlichen Entgelte haben die Grundprinzipien des kommunalen Abgabenrechts zu beachten.635

3. Haushaltsrecht 202 Der rechtliche Rahmen, innerhalb dessen die Gemeinden ihre Einnahmen– und Ausgabenhoheit auszuüben haben, ist das gemeindliche Haushaltsrecht. Das Haushaltsrecht gibt dem kommunalen Finanzgebaren Struktur (Übersichtlichkeit, Stabilität, Überprüfbarkeit). Rechte und Pflichten Dritter begründet es dagegen idR nicht;636 so folgt die Befugnis zur Abgabenerhebung aus den Abgabengesetzen, nicht aus dem Haushaltsrecht. Die haushaltsrechtlichen Abschnitte der Gemeindeordnungen637 und die dazugehörigen Verordnungen der Länder638 sind dem durch das HaushaltsgrundsätzeG von 1969 vereinheitlichten Haushaltsrecht für Bund und Länder nachgebildet (§§ 1, 48 HGrG).639

a) Neues Steuerungsmodell und kommunales Haushaltsrecht 203 Die Fortentwicklung des HGrG zur Stärkung einer dezentralen Ressourcenverantwortung (§ 1a, 7a HGrG) hat zur Umgestaltung auch des gemeindlichen Haushaltsrechts veranlasst.640 Ein wichtiger Ausgangspunkt dieser Reform war die Diskussion um das sog „Neue Steuerungsmodell“, durch das Ideen des New Public Managements in die kommunale Politik einbezogen worden sind. Das Modell wurde 1993 von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung vorgelegt. 641 Es folgt dem Leitbild „Dienstleistungsunternehmen Kommunalverwaltung“, das Verwaltungsleistungen als „Produkte“ und die Beziehungen der Verwaltung zum Bürger als „Kundenbeziehung“ deutet. Es zielt auf den Aufbau einer dezentralen Führungs- und Organisationsstruktur. Zu seinen Kernelementen rechnet eine klare Verantwortungsabgrenzung zwischen dem politischen und dem administrativen System innerhalb der Kommunalkörperschaften. Das oberste Kommunalorgan soll den gewünschten Umfang der disponiblen Aufgaben, die Führungsstruktur und die Rahmenbedingungen festlegen, Ziele für Leistungsaufträge

_____ 632 So BVerfGE 97, 332, 344 ff, BVerwGE 108, 188, 193 ff – Kindergartengebühren; krit Brohm FS Knöpfle, 57. Unionsrechtliche Zweifel bleiben. 633 Gern DtKomR, Rn 1006; Arndt RdKomFin, § 16 Rn 123. 634 ZB § 13 II KAG BW. 635 Kaufmann RdKomFin, § 15 Rn 36 f; Burgi KomR, § 18 Rn 14. 636 Ausnahmen hiervon zB für die Festsetzung der Steuersätze in der Haushaltssatzung. Für Subventionen können die Haushaltsansätze zusammen mit Vergaberichtlinien über Art 3 I GG Außenwirkung entfalten, dazu Möstl in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 20 Rn 21. 637 §§ 77 ff GemO BW; Art 61 ff GO Bay; §§ 63 ff BbgKVerf; §§ 92 ff HessGO; §§ 42b ff KV MV; §§ 110 ff NdsKomVG; §§ 75 ff GO NW; §§ 93 ff GemO RP; §§ 82 ff KSVG SL; §§ 72 ff SächsGemO; §§ 90 ff GO LSA; §§ 75 ff GO SH; §§ 52a ff ThürKO. 638 Die Gemeindehaushaltsverordnungen (GemHVO), Gemeindekassenverordnungen (GemKVO) der Länder. 639 Vgl die Darstellung von Pünder RdKomFin, § 27; Henneke/Strobl/Diemert RdkHW. 640 Bals in: Henneke (Hrsg), Steuerung der kommunalen Aufgabenerfüllung, 97; ders RdkHW, § 2. 641 Dazu KGSt-Bericht Nr. 5/1993; Nachw zu weiteren Dok u zur Lit bei Burgi in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 9 Rn 2 ff; Voßkuhle in: GVwR I, § 1 Rn. 50 ff; Schwarting Effizienz in der Kommunalverwaltung, 2. Aufl 2005; Wallerath VerwArch 88 (1997) 1; Hill u. J.-P. Schneider in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, Verwaltungsorganisationsrecht, 1997, 65 u 103; Grunol/Wollmann Lokale Verwaltungsreform in Aktion: Fortschritte und Fallstricke, 1998; Naschold/ Bogumil Modernisierung des Staates, 2000; Jann Status-Report Verwaltungsreform, 2004.

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setzen und deren Erfüllung fortlaufend kontrollieren.642 Die Verwaltung soll die final vorgegebenen Leistungsaufträge erfüllen. Eine wichtige Funktion wird dabei Vereinbarungen zugeschrieben, mit denen die im Rahmen von Programmbudgets zu erbringenden Leistungen zwischen Politik und Verwaltung, aber auch innerhalb des administrativen Systems näher festgelegt werden.643 Die Umsetzung des Modells in den Kommunen hat zu unterschiedlichen Umgestaltungen der Binnenorganisation geführt.644 Bleibende Bedeutung dürfte das Modell vor allem für das kommunale Haushaltsrecht und seine Fortentwicklung erlangt haben.

b) Haushaltssatzung, Haushaltsplan Im Zentrum des Gemeindehaushaltsrechts steht die Pflicht der Gemeinde, eine Haushaltssat- 204 zung zu erlassen.645 Hier hat die Reform des kommunalen Haushaltsrechts in den letzten Jahren deutliche Spuren hinterlassen, in deren Rahmen die Gemeindeordnungen von dem kameralistischen auf das doppische Haushaltswesen als ein Element des „Neuen Steuerungsmodells“ umgestellt worden sind.646 In der Kameralistik enthält (enthielt) die Haushaltssatzung die Festsetzung des Haushalts- 205 planes für das Haushaltsjahr unter Angabe des Gesamtbetrages der Einnahmen und Ausgaben, der vorgesehenen Kreditaufnahmen und Verpflichtungsermächtigungen; außerdem legt sie den Höchstbetrag der Kassen- bzw Liquiditätskredite und die jährlich neu festzusetzenden Steuersätze fest.647 Für einzelne Teile der Haushaltssatzung bestehen aufsichtsbehördliche Genehmigungsvorbehalte (Rn 74). Wichtigster Teil der Haushaltssatzung ist der Haushaltsplan.648 Er hat die im Haushaltsjahr zu erwartenden Einnahmen und zu leistenden Ausgaben zu enthalten. Seine Gliederung in einen Verwaltungs- und einen Vermögenshaushalt, in Gesamtplan und Einzelpläne (einschl eines Stellenplanes), werden durch die Gemeindehaushaltsverordnungen (GemHVO) im Einzelnen vorgegeben.649 Der Haushaltsplan ist in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen. Das kameralistische Haushaltsrecht kann mit seinen Grundsätzen650 (Vorherigkeit, Einnahmen– und Ausgabentrennung, Spezialität, Vollständigkeit etc) nur einen sehr weitgesteckten rechtlichen Rahmen bieten, während seine realen Steuerungswirkungen sehr beschränkt sind. Die Doppik651 soll zB durch erweiterte Möglichkeiten der Übertragbarkeit und Deckungs- 206 fähigkeit von Haushaltsansätzen zu stärkerer Kostentransparenz und zu einem sparsamen Um-

_____ 642 Berens/Budäus DÖV 2008, 109. Zur Umsetzung des Modells im Kommunalverfassungsrecht allg v Mutius FS Stern, 685; Ziekow in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, 2002, 349; Behrndt Neues Verwaltungsmanagement und kommunales Verfassungsrecht, 2004; Mehde Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip, 2000. Umfass Pünder Haushaltsrecht im Umbruch, 2003; speziell zum Organisationsrecht Schliesky Kommunale Organisationshoheit unter Reformdruck, DV 38 (2005), 339. 643 Wallerath DÖV 1997, 57; Pünder DÖV 1998, 63; Ch. Winter Das Kontraktmanagement, 1998; Sensburg Der kommunale Verwaltungskontrakt, 2003; Bauer in: GVwR II, § 37 Rn 54 ff; kommunalwissenschaftl-krit Bogumil VerwArch 93 (2002) 129. 644 Bogumil/Grohs/Kuhlmann/Ohm 10 Jahre Neues Steuerungsmodell, 2007. 645 Beckhof GemH 2011, 11. 646 Ausf Pünder RdKomFin § 5 u § 27; u d Darstellungen in Henneke/Strobl/Diemert RdkHW; krit Gröpl Haushaltsrecht und Reform, 380 ff. 647 Zur Zahlungsunfähigkeit von Kommunen Faber RdKomFin, § 35; insb zur Insolvenzfähigkeit Niederste Frielinghaus DÖV 2007, 636; Faber DVBl 2005, 933. 648 Zur Haushaltssicherung Faber RdKomFin, § 34 Rn 37 ff. 649 Dazu Schwarting RdKomFin, § 28; mit Anschauungsmaterial Gern DtKomR, Rn 686 ff; Pünder Haushaltsrecht, 67 ff. 650 Zu diesen Grundsätzen im Haushaltsrecht Grupp in: Achterberg/Püttner/Würtenberger BesVwR II, § 19 Rn 36 ff; Freytag Gemeindehaushalt 1995, 275. 651 Mit Beschluss vom 21.11.2003 verabschiedete die Innenministerkonferenz einen neuen Leittext zur Gemeindehaushaltsverordnung, in dem die Doppik empfohlen wurde, vgl dazu Pünder RdKomFin, §§ 5, 27; ders Haushaltsrecht, 321 ff; ders Der Landkreis 2005, 18; Frischmuth ZKF 2004, 57; Reif BWGZ 2004, 225; ders BWGZ 2004, 600; Wagenführer GemH 2003, 7.

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gang mit den verfügbaren Mitteln führen.652 Allerdings unterscheiden sich die vorgeschriebenen Festsetzungen je nach Bundesland in einzelnen Punkten,653 so dass hier nur eine grobe Übersicht gegeben werden kann. Die doppische Haushaltssatzung enthält zunächst ebenfalls den Haushaltsplan. Der Haushaltsplan selbst besteht jedoch im Gegensatz zur Kameralistik aus einem Finanzhaushalt sowie einem Ergebnishaushalt. Die wesentliche Neuerung im Finanzhaushalt soll sein, dass nicht mehr lediglich die Geldflüsse abgebildet werden, sondern die tatsächlich der Gemeinde zur Verfügung stehenden Ressourcen; ein Verwaltungsgebäude oder ein Dienst-Pkw wird also etwa nicht zu seinem vollen Wert angesetzt, sondern mit seinem um den Verschleiß bzw die Beschädigungen verminderten tatsächlichen Wert, so dass die wirkliche Vermögenssubstanz sichtbar wird. Im Ergebnishaushalt sollen nicht mehr lediglich die Ausgaben aufgeführt werden, sondern die mit bestimmten Ressourcen zu erzeugenden Produkte. Auf diese Weise wird versucht, die tatsächlichen Kosten von Verwaltungsleistungen darzustellen.654 Das alles bedeutet einen sehr viel höheren Beschreibungsaufwand. Inwieweit auf diese Weise in der Praxis tatsächlich eine größere Transparenz erzielt werden kann, bleibt abzuwarten.

c) Haushaltsvollzug 207 Mit dem Inkrafttreten der Haushaltssatzung ist die Gemeindeverwaltung ermächtigt, die im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben zu tätigen bzw die vorgesehenen Verpflichtungen einzugehen.655 Sie ist nach den Maßstäben des materiellen Rechts (zB Abgabenrecht, Vertragsrecht) verpflichtet, sich zu bemühen, die veranschlagten Einnahmen hereinzuholen. Die Abwicklung der Geldgeschäfte im Einzelnen ist durch die Gemeindekassenverordnungen rechtlich geregelt. Nach Abschluss des Haushaltsjahres ist die Verwaltung zur Rechnungslegung verpflichtet, an die sich die örtliche und die überörtliche Rechnungsprüfung656 anschließen.

Spezialliteratur: Bals/Hack Neues Kommunales Finanzmanagement, FiWi 2001, 95, 143, 215, 283, 2002, 6; Ernst Wissen wir überhaupt, was wir tun – Die kamerale Nachbetrachung eines kommunalen kaufmännischen Rechnungsabschlusses, Stadt und Gemeinde 2004, 180; Flach Kommunales Steuerfindungsrecht und Kommunalaufsicht, 1998; Gröpl Haushaltsrecht und Reform, 2001; Henneke Das Gemeindefinanzierungssystem, Jura 1986, 568; ders (Hrsg), Steuerung der kommunalen Aufgabenerfüllung durch Finanz- und Haushaltsrecht, 1996; ders Die Kommunen in der Finanzverfassung des Bundes und der Länder 5. Aufl 2012; Henneke/Pünder/Waldhoff Recht der Kommunalfinanzen, 2006 (RdKomFin); Henneke/Strobl/Diemert (Hrsg), Recht der kommunalen Haushaltswirtschaft, 2008 (RdkHW); Hornfischer Die Insolvenzfähigkeit von Kommunen, 2010; Inhester Kommunaler Finanzausgleich im Rahmen der Staatsverfassung, 1998; F. Kirchhof Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen?, Gutachten für den 61. DJT 1996; Lohse Kommunale Aufgaben, kommunaler Finanzausgleich und Konnexitätsprinzip, 2006; Mohl Die Einführung und Erhebung neuer Steuern aufgrund des kommunalen Steuererfindungsrechts, 1982; ders Bestand und Fortentwicklung der kommunalen Finanzhoheit, KStZ 2002, 28; Niederste Frielinghaus Die kommunale Insolvenz als Sanierungsansatz für die öffentlichen Finanzen, DÖV 2007, 636; Patzig/Traber Haushaltsrecht des Bundes und der Länder, Lsbl; Pünder Haushaltsrecht im Umbruch, 2003; Quaas Kommunales Abgabenrecht, 1997; Rehm/Matern-Rehm Kommunale Finanzwirtschaft, 2003; Schmidt Die Grundlagen des kommunalen Finanzaus-

_____ 652 Freytag Gemeindehaushalt 1995, 275; weitergehend Held/Zakrzewski Gemeindehaushalt 1999, 145; Bittig/ Fudalla/zur Mühlen Gemeindehaushalt 2002, 29. 653 So verlangt § 112 II Nr. 2, 3 NdsKomVG die Festsetzung des Höchstbetrags der Liquiditätskredite und der Hebesätze. Ähnlich auch § 94 Nr. 2, 3 HessGO. Nach § 78 II 1 Nr. 2–5 GO NW sind daneben noch die Inanspruchnahme der Ausgleichsrücklage und die Verringerung der allgemeinen Rücklage sowie das Jahr, in dem der Haushaltsausgleich wieder hergestellt ist, festzusetzen; S 2 enthält weitere mögliche Festsetzungen. 654 Z Ganzen Mehde RdkHW, § 5 Rn 18 ff; Schwarting RdKomFin, § 28 Rn 35 ff. 655 Pünder Haushaltsrecht, 88 ff. 656 Dazu Schwarting RdKomFin, § 36 Rn 87, 103.

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XI. Das Recht der Landkreise (Kreise) – 1. Kapitel

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gleichs, DÖV 2012, 8; Schumacher/Bergmann Kommunalhaftung, 3. Aufl 2002; Schwarz Finanzverfassung und kommunale Selbstverwaltung, 1996; Siegel Einführung in das Kommunalabgabenrecht, JuS 2008, 1071; Thiem Allgemeines kommunales Abgabenrecht, 1985; Wieland (Hrsg), Kommunalsteuern und –abgaben, DStJG 35 (2012); Wolff Bedarfsgerechte Strukturen der Kreiseinnahmen, 1990; Wallerath (Hrsg), Kommunale Finanzen im Bundesstaat, 2003.

1. Kapitel – Kommunalrecht XI. Das Recht der Landkreise (Kreise) – 1. Kapitel

XI. Das Recht der Landkreise (Kreise) Alle Flächenländer kennen oberhalb der Gemeindeebene einen weiteren kommunalen Verwal- 208 tungsträger, den Kreis (Landkreis). Ursprünglich eine Organisationsform des ländlichen Raumes, bilden die Kreise heute – neben den kreisfreien Städten (o Rn 83) – flächendeckend eine weitere Ebene kommunaler Gebietskörperschaften. Kreisangehörig sind heute nicht nur kleine Landgemeinden, sondern in manchen Ländern auch Städte, die die Schwelle von 100000 Einwohnern längst überschritten haben. Die Kreise sind rechtsfähige kommunale Verwaltungseinheiten mit dem Status der Gebietskörperschaft. Sie sind Gemeindeverbände, deren Mitglieder jedoch nicht die kreisangehörigen Gemeinden, sondern die wahlberechtigten Kreiseinwohner/Bürger sind. Rechtsstellung, Aufgabenerfüllung, Organisation und Handlungsformen ähneln daher denjenigen der Gemeinden und brauchen im Rahmen eines Grundrisses nur kurz erläutert zu werden. Außerdem ist das Gebiet des Kreises zugleich das Gebiet der unteren (allgemeinen) Verwaltungsbehörde (Rn 223). Die meisten Kreisordnungen heben diese Doppelung kreiskommunaler und staatlicher Aufgabenwahrnehmung schon in den Einleitungsbestimmungen deutlich hervor und folgen dann einer Gliederung, die sich ausführlicher zunächst mit dem Kreis als Kommunalkörperschaft und in einem späteren Teil mit Organisationsfragen der staatlichen Verwaltung im Kreis(gebiet) beschäftigt.

1. Grundgesetzliche Rechtsstellung Nach Art 28 II 2 GG haben auch die Gemeindeverbände im Rahmen ihres gesetzlichen Aufga- 209 benbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Aus dieser Vorschrift folgt eine Garantie auch der kreiskommunalen Selbstverwaltung, die der gemeindlichen Garantie zwar nicht an Schutzintensität, wohl aber im Aufbau vergleichbar ist (Rn 21).

a) Garantie der Kreisebene Der erste Garantiebestandteil ist auch hier die Garantie der Kreisebene. Die Elemente der eige- 210 nen Rechtsfähigkeit und der körperschaftlichen Organisation folgen schon aus dem Begriff des Gemeindeverbandes. Vom Wortlaut her nicht eindeutig ist dagegen, ob der garantierte Gemeindeverband die typusbestimmenden Merkmale gerade des Kreises aufweisen muss oder aber auch das Gepräge eines anderen „Gemeindeverbandes“ (Rn 224 ff) tragen könnte. Die Antwort ergibt sich jedoch, nimmt man Art 28 I 2 GG hinzu. Wenn dort die unmittelbare Volkswahl außer für die Länder und die Gemeinden nur noch für die Kreise zur Pflicht gemacht wird, so zeigt das, dass die Verfassung gerade auf diesen Typus eines Gemeindeverbandes gesteigertes Gewicht legt. Wenn also in Art 28 II 2 GG wenigstens eine Gemeindeverbandsebene garantiert wird, so kann das nur ein am Typus des Kreises ausgerichteter Verband sein.657

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657 So a Löwer in: v Münch/Kunig, GG II, Art 28 Rn 93 f; ähnlich Tettinger in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art 28 Rn 240 f. Zu den typusprägenden Merkmalen gehört die Überschaubarkeit des Kreisgebiets VerfG MV DVBl 2007, 1102, 1105 o JK GG Art 28 II/28; Hub Meyer NdsVBl 2007, 265; Stüer DVBl 2007, 1267; aber a VerfG MV NVwZ-RR 2011, 845 (LS); Obermann LKV 2011, 495.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

b) Garantie der Selbstverwaltung 211 Die Frage nach dem notwendigen Aufgabenbestand und der Art der Aufgabenerfüllung ist Gegenstand des Garantiebestandteils, der die eigenverantwortliche Wahrnehmung der Kreisaufgaben schützt. Die Verfassung gewährleistet den Gemeindeverbänden „das Recht der Selbstverwaltung“, allerdings nur „im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenkreises“. Der Gesetzgeber kann den überkommenen Aufgabenbestand der Landkreise zwar wesentlich nachhaltiger umgestalten als denjenigen der Gemeinden.658 Gleichwohl muss er den Kreisen so viele und solche Aufgaben zuweisen, dass eine Selbstverwaltung mit eigener, unmittelbar gewählter politischer Legitimationsbasis lohnt.659 Im Übrigen ist der Garantiegehalt des Art 28 II 2 GG geringer als der des gemeindlichen Aufgabenkreises, dem „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ von Verfassungs wegen zugeschrieben werden müssen (Rn 26 ff). Die Garantie der Selbstverwaltung der Kreise umfasst die Allzuständigkeit nicht. Daher setzt sich das gemeindespezifische Aufgabenverteilungsprinzip (Rn 29 ff) zugunsten der Gemeinden auch gegenüber den Landkreisen durch:660 Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft dürfen daher nur aus spezifischen Gemeinwohlgründen auf die Landkreise übertragen („hochgezont“) werden; das Zugriffsrecht auf noch unbesetzte Aufgaben liegt bei den Gemeinden. Von diesen Besonderheiten der kreislichen Aufgabengarantie abgesehen, gilt für die eigenverantwortliche Wahrnehmung der gesetzlich zugewiesenen Aufgaben und für die gesetzliche Einschränkung der Eigenverantwortlichkeit der Landkreise dasselbe, was für die gemeindliche Garantie beachtlich ist (Rn 35 ff).661 Das trifft auch für die Rechtsetzungs-, Personal-, Organisations- und Finanzhoheit zu, ohne die eine kreisliche Selbstverwaltung nicht möglich ist.662 Zu einer integralen Raumplanungshoheit dagegen haben es die Kreise bisher nicht gebracht. Im verfassungs- und verwaltungsgerichtlichen Schutz ihrer Rechte stehen die Kreise den Gemeinden nicht nach.

2. Aufgaben der Kreise 212 Bei der Sichtung der Kreisaufgaben stellen sich zwei rechtliche Probleme. Zum einen geht es um die Typisierung des staatlichen Einflusses (a). Zum anderen bereitet die Verteilung der Aufgaben zwischen dem Kreis und seinen Gemeinden Schwierigkeiten, wenn eine gesetzliche Zuweisung nicht getroffen ist (b).

a) Kreisaufgaben und staatliche Steuerung 213 Hier greifen die Länder in ihren Kreisordnungen auf die aus dem Gemeinderecht bekannten Gliederungsmodelle zurück (o Rn 60 ff):663 Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, das Saarland, Sachsen-Anhalt und Thüringen folgen einem Dualismus von Selbstverwaltungsaufgaben und Auftragsangelegenheiten. Baden-Württemberg, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Schleswig-Holstein halten es dagegen mit dem Monismus der freien und pflichtigen Selbstverwaltungs- sowie der Weisungsaufgaben. Die dogmatischen Konsequenzen für die staatliche Aufsicht und den Rechtsschutz der Kreise sind dieselben wie bei den Gemeinden (Rn 68 ff). Daneben spielen für die Verwaltung im Kreis staatliche

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658 BVerfGE 83, 363, 383 und E 119, 331 Tz 116; krit Schoch DVBl 2008, 937. Vgl Lusche Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, 1998, 71 ff. Enger Henneke ZG 2002, 72. 659 Hub Meyer HkWP I, § 25 Rn 13. 660 BVerfGE 79, 127, 150 f o JK GG Art 28 II/17. 661 BVerfGE 119, 331 Tz 146; LVerfG MV DVBl 2007, 1102, 1104. 662 BbgVerfGH NVwZ-RR 1999, 90 (Finanzhoheit und Kreisumlage); Henneke DVBl 2003, 282; ders Der Landkreis 2003, 268; Schink DVBl 2003, 417; Schneider NWVBl 2003, 121. 663 Vgl die Darstellung von Seele in: Der Kreis Bd 3, 387 f.

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XI. Das Recht der Landkreise (Kreise) – 1. Kapitel

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Sonderbehörden und die Tätigkeit der Kreisverwaltung als untere staatliche Verwaltungsbehörde eine wichtige Rolle (Rn 223).

b) Aufgabenverteilung zwischen Kreis und kreisangehörigen Gemeinden Sie ist zunächst ein Problem gesetzlicher Zuweisung und hat sich dabei an den aufgezeigten Verfassungsmaßstäben zu orientieren (Rn 211). Wo eine spezielle gesetzliche Zuweisung jedoch nicht vorliegt, wie das für die freien Selbstverwaltungsaufgaben gilt, ist eine Verteilungsregel in den aufgabenrechtlichen Generalklauseln zu suchen, wie sie sich in allen Kreisordnungen finden.664 Dabei entstehen schwierige Abgrenzungsfragen: So unbestreitbar es ist, dass die Kreise ihre sog Existenzaufgaben (eigenes Organisations-, Personal- und Finanzwesen) müssen wahrnehmen können, so deutlich wird, dass bei den eigentlichen Sachaufgaben, um die Kreise und Gemeinden konkurrieren, mit den Grundsätzen der Priorität oder mit einer spezifischen Gebietsbezogenheit (Regionalprinzip) nicht weiterzukommen ist. Zur Systematisierung hat sich eine Dreiteilung der Aufgaben eingebürgert, deren tragende Begriffe im Lichte der RastedeEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine restriktive, verfassungskonform gemeindefreundliche Auslegung verlangen.665 aa) Übergemeindlich sind Aufgaben, die sich kraft Natur der Sache einer einzelgemeindlichen Wahrnehmung entziehen. Als Beispiele genannt werden die Überwachung der Luftverschmutzung sowie Bau und Unterhaltung von Kreisstraßen. Bei diesen Aufgaben stehen Elemente einer (auch) örtlichen Relevanz eindeutig im Hintergrund; den Garantiebereich der gemeindlichen Selbstverwaltung berühren sie folglich allenfalls am Rande. bb) Ergänzende Aufgaben sind demgegenüber solche, die jedenfalls manche kreisangehörigen Gemeinden wegen geringer Leistungsfähigkeit nicht wahrnehmen können. Sie sind in der Mehrzahl der Bundesländer gesetzlich vorgesehen.666 Gerade hier ist freilich Vorsicht geboten. Im Streitfall rechtfertigen bloße Wirtschaftlichkeitsüberlegungen oder das Bestreben, ein einheitliches Leistungs- und Kostenniveau im Kreis zu schaffen, die Ausübung dieser Kompetenz nicht; anderes gilt nur, wenn ein Belassen der einzelgemeindlichen Aufgabenwahrnehmung zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg führte.667 Ein verfassungskonform bestimmter Bestand ergänzender Kreisaufgaben variiert folglich von Kreis zu Kreis und oft auch innerhalb des Kreises. Was eine große kreisangehörige Stadt gut allein erfüllen kann, geht über die Kraft kleinerer Gemeinden des gleichen Kreises hinaus. Deshalb begründet der Ergänzungsfall oft keine das gesamte Kreisgebiet umfassende Kompetenz des Kreises. Zuweilen wird hier auch ein Vorrang zweckverbandlicher Erledigung oder eine andere Ausprägung einer einfachgesetzlichen Subsidiarität von den Kreisordnungen ins Spiel gebracht.668 cc) Ausgleichende Aufgaben sind Kreisaufgaben, die sich in der Unterstützung einzelgemeindlicher Aufgabenerfüllung erschöpfen. So einfach die Ausgleichsfunktion aus dem Solidargedanken zu begründen sein mag, so streitig ist ihr Umfang. Sicher gehören technische Verwaltungshilfen in ihren Rahmen.669 Ob der Kreis aber zum Ausgleich unterschiedlicher Verwaltungskraft einzelner Gemeinden außerdem Finanzhilfen gewähren darf, ist streitig – streitig deshalb, weil ein solcher Ausgleich Geld kostet, das zu erheblichen Teilen über die Kreisumlage

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664 § 2 I LKrO BW; Art 4 I LKrO Bay; § 122 II 1 BbgKVerf; § 2 I HessKO; § 89 I, II KV MV; § 3 II NdsKomVG; § 2 I KrO NW; § 2 I 1 LKO RP; § 140 KSVG SL; § 2 I SächsLKrO; § 2 I LKO LSA; § 2 I KrO SH; § 86 I, II ThürKO. 665 Henneke Aufgabenzuständigkeit, 41 ff; ausf Lusche Selbstverwaltungsaufgaben 107; restriktiver Schmidt-Jortzig DÖV 1993, 973, 981 f; Wimmer NVwZ 1998, 28. Zu organisatorischen Konsequenzen vgl Pinski Der Gemeindeausschuß im „Gemeindeverband Landkreis“, 2001. 666 Details bei Hub Meyer HkWP I, § 25 Rn 24 f; für NW krit Dietlein/Lotz GS Tettinger, 215. 667 So für die gesetzliche Aufgabenzuweisung BVerfGE 79, 127, 158 o JK GG Art 28 II/17. 668 ZB § 122 II 1 BbgKVerf; § 89 II 1 KV MV; § 2 I 3 KrO NW. 669 Zur Rechtsberatung der Gemeinden durch den Kreis BGH DÖV 2000, 822.

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von anderen Gemeinden aufgebracht werden muss. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage in der Entscheidung vom 24.4.1996 bejaht.670 Die Kommunalgesetze ermächtigen die Kreise zwar zur Erhebung einer Kreisumlage und geben dazu gewisse Bemessungsgrundlagen vor; doch darf das Institut nicht zu einer nachhaltigen Verkürzung der gemeindeeigenen Finanzbasis führen.671 dd) Kompetenz-Kompetenz: Trotz der genannten Systematisierungen sind Kreis- und Ge218 meindeaufgaben nach materiellem Recht oft nicht exakt zu trennen. Die meisten Kreisordnungen672 sehen daher zusätzlich einen Verfahrensmechanismus vor, die Kompetenz-Kompetenz. In mehr oder weniger ausgeprägtem Umfange wird den Kreisen damit das Recht eingeräumt, gewisse Gemeindeangelegenheiten – vor allem solche im Grenzbereich der Ergänzungsaufgaben – durch Kreistagsbeschluss verbindlich zur Kreisangelegenheit zu erklären. Zum Schutz der Gemeinden sind besondere Kautelen, zB qualifizierte Mehrheiten bei der Beschlussfassung, vorgesehen. Gegen den Willen der betroffenen Gemeinden darf dieses Mittel nur in Fällen eines ganz außer Verhältnis stehenden Kostenanstiegs angewandt werden.

3. Organe des Kreises 219 Der innere Aufbau der Kreise ist durch ihre gebietskörperschaftliche Natur geprägt. Mitglieder des Kreises sind seine wahlberechtigten Einwohner, nicht die kreisangehörigen Gemeinden, deren Gebiet das Kreisgebiet ausmacht. Folglich ist der Kreis unitarisch organisiert. Die Gemeinden sind an der Verwaltung des Kreises nicht beteiligt.673 Das zentrale Entscheidungsgremium ist der aus direkten Wahlen (Art 28 I 2 GG) hervorgegangene Kreistag. Ihm stellen alle Kreisordnungen ein monokratisches Konkretionsorgan gegenüber, den Landrat. Außerdem sehen die meisten Länder einen Kreisausschuss vor.674

a) Kreistag 220 Er besteht aus den gewählten Repräsentanten der wahlberechtigten Kreiseinwohner/Bürger (Kreisverordnete, Kreistagsabgeordnete), die ehrenamtliche Mandatsträger sind.675 Das Verfahren der Entscheidungsfindung läuft nach den aus dem Gemeinderecht vertrauten Regeln kollegialer Willensbildungsorgane ab (Rn 92 ff). Stärker noch als der Gemeinderat ist der Kreistag auf die Entscheidung nur der bedeutsamen Angelegenheiten festgelegt. Innerhalb dieses Rahmens nehmen die nicht delegierbaren Vorbehaltsaufgaben einen besonderen Rang ein. Zu ihnen zählen ua der Erlass von Kreisrecht, wichtige Organ- und Personalentscheidungen, der Erlass der Haushaltssatzung und die Festsetzung der Kreisumlage. Jenseits dieses Kerns sind Entschei-

_____ 670 BVerwGE 101, 99; a BVerwG NVwZ 1998, 63 u 66; ferner BVerfG-K DVBl 1999, 840. 671 Ausf Henneke Landkreis 2005, 331; Oebbecke DV 42 (2009), 247. Str ist, ob die Gemeinde im Prozess gegen den Kreisumlagenbescheid einwenden kann, der Kreis finanziere damit Aufgaben, für die er nicht zuständig sei, so BayVGH NVwZ-RR 2006, 350 u BayVBl 2011, 632; dagegen OVG MV DVBl 2005, 652 dazu Oebbecke DV 2009, 247, 251 ff. Zur Genehmigungspflicht, der Kreise bei der Festlegung der Kreisumlage unterliegen, VerfGH NW NVwZ-RR 1997, 249; Schoch Die aufsichtsbehördliche Genehmigung der Kreisumlage, 1995; zur Kreisumlage in Zeiten prekärer Finanzsituation OVG RP DVBl 2011, 910; Wohltmann Landkreis 2011, 358; ders BayVBl 2012, 33. 672 § 2 II LKrO BW; § 122 III, IV BbgKVerf; § 19 HessKO; § 5 III NdsKomVG; § 2 III LKO RP; § 21 KrO SH. Nach Art 52 LKrO Bay, § 89 III KV MV u § 87 III ThürKO nur auf Antrag der betroffenen Gemeinden. Details bei Hub Meyer HkWP I, § 25 Rn 26 ff. 673 In Ausnahmefällen kann ein Gesetz die Kreise dazu ermächtigen, kreisangehörige Gemeinden zur Aufgabenerfüllung heranzuziehen; so sieht § 6 II SGB II vor, dass die Kreise als kommunale Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende auf der Grundlage eines Landesgesetzes ihnen zugehörige Gemeinden zur Durchführung von Aufgaben heranziehen und diesen dabei Weisungen erteilen können. 674 Überblick über die Entwicklungen bei Henneke DVBl 2007, 87. 675 In einigen Ländern außerdem der Landrat; vgl Gern DtKomR, Rn 874 f.

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dungsaufgaben auf die anderen Kreisorgane allgemein oder für den Einzelfall delegierbar. Teilweise haben die Kreisordnungen daraus auch eigene Kompetenzbereiche der anderen Organe gebildet.

b) Landrat Er ist der Hauptverwaltungsbeamte des Kreises. 676 Durch den Kreistag wird er in Baden- 221 Württemberg und Schleswig-Holstein, in den anderen Ländern dagegen wird er direkt vom Volk gewählt;677 in beiden Fällen ist er Kreisbeamter auf Zeit. Die wichtigsten Kompetenzen des Landrats sind die Außenvertretung des Kreises, die Wahrnehmung der Geschäfte der laufenden Verwaltung und seine Aufgaben als Chef der Kreisverwaltung.678 Für Einzelfragen kann man sich an der Rechtsstellung des Bürgermeisters orientieren (Rn 102 ff).

c) Kreisausschuss Die meisten Kreisordnungen sehen außerdem einen Kreisausschuss vor.679 Mit ihm soll eine 222 gewisse Schwerfälligkeit, wie sie der Meinungsbildung des Kreistags schon wegen seiner Größe anhaften mag, ausgeglichen werden. So kann man ihn, außer in Hessen, als einen „verkleinerten“ Kreistag ansehen. Seine Organstellung ist unterschiedlich weit ausgebildet: In manchen Ländern ist er neben dem Kreistag und dem Hauptverwaltungsbeamten ein gleichberechtigtes drittes Kreisorgan, das über alle Angelegenheiten beschließt, die nicht in den Vorbehaltsbereich eines der beiden anderen Organe fallen. Andere Länder reihen ihn unter die Ausschüsse des Kreistages ein und weisen ihm vor allem die Vorbereitung der Kreistagsbeschlüsse zu.

4. Staatliche Verwaltung im Kreis Das Kreisgebiet ist zugleich der Bezirk der (allgemeinen) unteren staatlichen Verwaltungsbe- 223 hörde. Die Kreisverwaltung (Landratsamt) und vor allem der Landrat werden auf unterschiedliche Weise in den staatlichen Aufgabenvollzug eingegliedert.680 In den meisten Ländern wird der Landrat (das Landratsamt) im Wege der Organleihe (Rn 78) als untere staatliche Verwaltungsbehörde tätig681 und unterliegt insoweit der Fach- und Dienstaufsicht der übergeordneten Staatsbehörden; für Amtspflichtverletzungen haftet idR nicht der Kreis, sondern das Land.682 Die übrigen Länder betrauen mit den staatlichen Aufgaben nicht ein einzelnes Kreisorgan, sondern im übertragenen Wirkungskreis den Kreis selbst.683 Die wichtigsten Aufgaben der unteren Verwal-

_____ 676 Länderweise Darstellung bei Gern DtKomR, Rn 877 ff. 677 Wahl durch den Kreistag: § 39 V LKrO BW; § 43 I KrO SH. Volkswahl: § 40 I GLKrWG Bay; § 126 BbgKVerf; § 37 Ia HessKO; § 116 I KV MV; § 80 I 1 NdsKomVG; § 44 I 1 KrO NW; § 46 I 1 LKO RP; § 177 I 1 KSVG SL; § 44 I 1 SächsLKrO; § 47 I 1 LKO LSA; § 106 II ThürKO; dazu Henneke/Ritgen DÖV 2010, 665. 678 In Hess obliegen einige dieser Aufgaben einem aus dem Landrat und den ehrenamtlichen Kreisbeigeordneten gebildeten Kreisausschuss als Hauptverwaltungsorgan (vgl § 41 HessKO); zum kollegial gebildeten Kreisvorstand in RP vgl §§ 50 ff LKO; Hub Meyer HkWP I, § 25 Rn 70 ff. 679 Dazu Hub Meyer HkWP I, § 25 Rn 64 ff. 680 Dazu Seele in: Der Kreis Bd 3, 284 ff; Schmidt-Jortzig KomR, Rn 329 ff. 681 § 1 III 2 LKrO BW; Art 37 I 2 LKrO Bay; § 132 BbgKVerf; § 58 I KrO NW; § 55 I LKO RP; § 1 G über die Errichtung allgemeiner unterer Landesbehörden SH; reduziert in § 55 II HessKO; § 111 II ThürKO (va Kommunalaufsicht). Zum Ganzen Kneip VerwArch 91 (2000), 566. 682 Im Einz kommt es auf die gesetzliche Ausgestaltung an, Stehle VBlBW 2010, 146. 683 ZB § 4 HessKO; § 6 I 2 NdsKomVG; §§ 140 II, 144 I KSVG SL; § 5 LKO LSA; § 2 V SächsLKrO; § 111 III ThürKO (Weisungsaufgaben); hierzu SächsOVG DÖV 1998, 1021. Vgl a BGH NJW 2000, 432 (435). Manche Länder nehmen davon wiederum die Kommunalaufsicht aus, die staatliche Aufgabe bleibt, zB Hess, dazu Kremer VerwArch 102 (2011), 242, 253 ff.

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tungsbehörde im Kreis sind Polizeiangelegenheiten und die Kommunalaufsicht über kreisangehörige Gemeinden. Dazu treten zahlreiche Kompetenzen, die die Landesorganisationsgesetze oder einzelne Fachgesetze den unteren Verwaltungsbehörden zuweisen.

Spezialliteratur: Blümel Das verfassungsrechtliche Verhältnis der kreisangehörigen Gemeinden zu den Kreisen, VerwArch 75 (1984), 197; Erbguth Zur gescheiterten Kreisgebietsreform in Mecklenburg-Vorpommern, DÖV 2008, 152; Henneke Aufgabenzuständigkeit im kreisangehörigen Raum, 1992; ders (Hrsg), Optimale Aufgabenerfüllung im Kreisgebiet?, 1998; ders Verfassungsrechtlicher Schutz der Gemeindeverbände vor gesetzlichem Aufgabenentzug im dualistischen und monistischen Aufgabenmodell, ZG 2002, 72; ders (Hrsg), Künftige Funktionen und Aufgaben der Kreise im sozialen Bundesstaat, 2004; ders Der Kreis – Bindeglied zwischen Staat und Gemeinden, FS Siedentopf, 2008, 429; Henneke/Maurer/Schoch Die Kreise im Bundesstaat, 1994; F. Kirchhof Die Rechtsmaßstäbe der Kreisumlage, 1995; Lusche Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, 1998; Hub Meyer Funktional- und Gebietsreformen in den Bundesländern – Chancen und Risiken für die kommunale Selbstverwaltung, DVBl 2007, 78; ders Die Entwicklung der Kreisverfassungssysteme, HkWP I, § 25; Schmidt-Aßmann Perspektiven der Selbstverwaltung der Landkreise, DVBl 1996, 533; Schoch (Hrsg), Selbstverwaltung der Landkreise in Deutschland, 1996; ders Neukonzeption der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie durch das Bundesverfassungsgericht?, DVBl 2008, 937; Seele Der Kreis aus europäischer Sicht, 1991; Trumpp Verwaltungsreform – Chance und Herausforderung für die Landkreise in Baden-Württemberg, FG Schlebusch, 2006, 209; Wohltmann/Hauschild Die Landkreise im doppischen Haushaltsrecht, GemH 2008, 25; Wolff Bedarfsgerechte Strukturen der Kreiseinnahmen, 1990. 1. Kapitel – Kommunalrecht XII. Sonstige Gemeinde-, Zweckverbände, interkommunale Zusammenarbeit – 1. Kapitel

XII. Sonstige Gemeindeverbände, Zweckverbände, interkommunale Zusammenarbeit 224 Neben den Kreisen fasst das Kommunalrecht unter dem Begriff des Gemeindeverbandes noch andere kommunale Verwaltungsträger zusammen, die von ihrem Gebietszuschnitt teilweise zwischen Gemeinden und Kreisen (niedere Gemeindeverbände), teilweise oberhalb der Kreisebene (höhere Gemeindeverbände) angesiedelt sind.684 Nicht alle von ihnen haben, wie es der Begriff nahe legen möchte, nur Gemeinden zu Mitgliedern; ja nicht einmal alle sind Bundkörperschaften, deren Mitglieder Kommunalkörperschaften sind. Neben echten Gemeindeverbänden gibt es vielmehr, wofür die Landkreise nicht das einzige Beispiel sind, auch unechte Gemeindeverbände, deren Mitglieder unmittelbar die Einwohner des Verbandsgebietes sind. Auch sonst weist der Begriff des Gemeindeverbandes allerlei Unklarheiten auf. So ist streitig, ob auch die Zweckverbände zu den Gemeindeverbänden zählen.685 Hier muss unterschieden werden: Der verfassungsrechtliche Sprachgebrauch (zB in Art 28 II 2 GG) verwendet den Begriff des Gemeindeverbandes erkennbar nur für solche Verbände, die von ihrem Aufgabenbestand her ein beachtliches Gewicht besitzen; dazu zählen die für die Wahrnehmung einzelner Aufgaben gegründeten Zweckverbände nicht. 686 Eine eher beschreibend-analytische kommunalrechtliche Begriffsbildung dagegen muss anerkennen, dass die Verwaltungsrealität vielfältige Übergänge und Zwischenformen zwischen Gemeindeverbänden ieS und Zweckverbänden aufweist, die sich nach dem Gewicht des Aufgabenbestandes nicht eindeutig zuordnen lassen. Mit diesen Vorbehalten empfiehlt es sich für eine kommunalrechtliche Lehrdarstellung, von einem weiten Begriff des Gemeindeverbandes auszugehen und darunter Gesamtgemeinden (1), höhere Gemeindeverbän-

_____ 684 Zum folgenden Abschn Oebbecke Gemeindeverbandsrecht; Bogner HkWP I, § 13; Gern DtKomR, Rn 918 ff; Dittmann in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II, § 18; Bovenschulte Gemeindeverbände als Organisationsformen kommunaler Selbstverwaltung, 2000. Zur kommunalen Zusammenarbeit umfassend Schmidt Kommunale Kooperation, 2005, ders in: Ehlers/Fehling/Pünder, BesVwR III, § 65. 685 Zum Meinungsstand Oebbecke Gemeindeverbandsrecht, 1 f; Bovenschulte Gemeindeverbände, 429 ff. 686 So für den Begriff des Gemeindeverbandes in Art 2 II der Landessatzung von SH (inzw: Verfassung d Landes SH) BVerfGE 52, 95 o JK GG Art 28 II/4; ebenso ausdr Art 71 I 1 LV BW.

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XII. Sonstige Gemeinde-, Zweckverbände, interkommunale Zusammenarbeit – 1. Kapitel

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de (2) und Zweckverbände (3) abzuhandeln, zu denen in der Verwaltungspraxis noch zahlreiche Sonderverbände, zB Stadt-Umland-Verbände und Regionalverbände treten.687 Eindeutig nicht hierher gehören dagegen die kommunalen Spitzenverbände.688 Sie sind Vereine des privaten Rechts, in denen sich die Gemeinden bzw Kreise zusammengefunden haben, um auf Bundesund Landesebene eine gemeinsame Interessenrepräsentanz zu besitzen.689 Daneben bieten die Spitzenverbände ihren Mitgliedern vielfältige Beratungs- und andere Serviceleistungen. Gemeinsam ist allen Gemeindeverbänden unter Einschluss der Zweckverbände das Ziel, für 225 bestimmte Aufgaben, die nach Zuschnitt, technischen Voraussetzungen, Finanzierbarkeit oder geschichtlichem Verständnis von den Standardtypen der Kommunalkörperschaften (Gemeinden, Landkreisen) nicht „optimal“ wahrgenommen werden können, eigenständige Aufgabenträger vorzuhalten. Solche „maßgeschneiderten“ Lösungen sind in einem Kommunalrecht, das wie das deutsche für alle Gemeindegrößenklassen vom Modell der Einheitsgemeinde ausgeht und innerhalb dieses Modells sonst nur wenige Sonderformen kennt, als Mittel flexibler Organisation besonders notwendig. Ein Teil der Gemeindeverbände ist daher unmittelbar durch Gesetz geschaffen worden. Für einen anderen Teil gibt das Gesetz dagegen nur die Grundlage und den Rahmen vor, überlässt es aber den beteiligten Gemeinden und Landkreisen, solche Verbände zu schaffen oder aber es bei der Regelzuständigkeit bewenden zu lassen. Gemeinsam ist den Gemeindeverbänden ferner die Rechtsform. Sie sind Körperschaften 226 des öffentlichen Rechts, können also Hoheitsaufgaben in den Formen des öffentlichen Rechts wahrnehmen. Im Einzelnen ergeben sich ihre Rechtsstellung, Aufgaben und Befugnisse aus dem entsprechenden Gründungsakt iVm jenen allgemeinen Zuständigkeits- und Befugnisnormen, in die sie mit ihrer Gründung als Verwaltungsträger einrücken. Auch hier dient die Form der Körperschaft der Wahrnehmung der Aufgaben in einer – teils originären, teils derivativen – Selbstverwaltung unter staatlicher Aufsicht.690 Demgemäß entspricht die interne Organisation der Gemeindeverbände und Zweckverbände der typischen Körperschaftsstruktur. Alle Verbände kennen folglich eine Verbandsversammlung, in der die Mitglieder oder deren gewählte Repräsentanten die Grundentscheidungen der Verbandspolitik (Schaffung von Verbandsrecht idR in der Form öffentlich-rechtlicher Satzungen, Verbandshaushalt) zu treffen haben. Daneben steht der Verbandsvorsteher als Spitze des Exekutivapparats. Dazu treten als weitere Organe zuweilen Verbandsausschüsse.

1. Gesamtgemeinden Mit diesem von Hans Julius Wolff geprägten Begriff wird eine verbandliche Organisationsform für 227 idR kleine ländliche Gemeinden bezeichnet:691 Die in ihrer Verwaltungskraft schwachen Kleingemeinden eines nachbarörtlichen Bereichs bleiben zwar als selbständige Körperschaften erhalten. Sie finden sich jedoch zusätzlich in einem „überwölbenden“ Verband zusammen, dem wichtige örtliche Aufgaben durch Gesetz zugewiesen sind und dem die verbandszugehörigen

_____ 687 Umf z Stadt-Umland-Verbänden Schliesky HkWP I, § 30 Rn 15 ff; ferner Chr. Mecking Die Regionalebene in Deutschland, 1995, 214; Müller/Trute Stadt-Umland-Probleme und Gebietsreform in Sachsen, 1996, 45; speziell zum Verband Region Stuttgart Groß VBlBW 1994, 429; Wolf Hauptstadtregion Stuttgart 1997; StGH BW VBlBW 1998, 295; zum (neuen) Regionalverband Ruhr Kremer NWVBl 2004, 337. 688 Deutscher Städtetag, Deutscher Städte- und Gemeindebund, Deutscher Landkreistag und die entspr Organisationen in den Bundesländern; Geisselmann Spitzenverbände, 25 ff; auch Schwarting DÖV 2005, 458. Nachw zu den daneben bestehenden kommunalen Fachverbänden und zu internationalen Verbänden bei Gern DtKomR, Rn 970 f; Henneke FG Schlebusch, 2006, 263; ders Die kommunalen Spitzenverbände, 2. Aufl 2012. 689 Ausnahme: Bay Städteverband u Bay Gemeindetag, denen die Rechtsstellung von Körperschaften des öffentl Rechts verliehen ist. 690 Vgl BVerfGE 107, 1, 17 u 19; VerfGH NW DÖV 2002, 475; hierzu Henneke DÖV 2002, 463. 691 Wolff/Bachof/Stober/Kluth, VwR II, § 98.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

Gemeinden (Ortsgemeinden) weitere Aufgaben von sich aus übertragen können. Dem liegt das Modell einer mehrstufigen kommunalen Organisationseinheit zur Erfüllung örtlicher Aufgaben zugrunde.692 Das ist verwaltungspolitisch sinnvoll und in der Praxis durchaus bewährt. Der zwangsweise Zusammenschluss findet in diesem Ausgleich zwischen einer möglichst bürgernahen und einer möglichst wirtschaftlichen Selbstverwaltung seine Rechtfertigung.693 Für die rechtliche Zuordnung können aus dem Miteinander freilich Probleme entstehen, insbes wenn es um die verfassungsrechtliche Kompetenzabgrenzung zwischen Ortsgemeinde und Gesamtgemeinde geht.694 Nur eine der beiden Körperschaften kann Trägerin der herausgehobenen gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie (Art 28 II 1 GG) sein. Solange den Ortsgemeinden der Gemeindestatus zuerkannt bleibt und sie nicht zu Ortsteilen umgebildet, dh eingemeindet werden, sind sie als unterste Ebene rechtsfähiger Organisationseinheiten allein Träger der Garantie des Art 28 II 1 GG, während für die Gesamtgemeinden nur die schwächere Gewährleistung gemeindeverbandlicher Selbstverwaltung verbleibt. In der Realität sind die Gewichte dagegen oft umgekehrt.695 Aus dieser Entwicklung muss gleichwohl nicht gefolgert werden, dass nunmehr die Gesamtgemeinden in den Status eines Gemeindeverbandes mit der Notwendigkeit direkter demokratischer Legitimation hineinwachsen;696 vielmehr muss der Gesetzgeber sicherstellen, dass die Aufgabenübertragung begrenzt bleibt und ggf Aufgaben auch wieder zurückübertragen werden können; gleichzeitig müssen der verbandsangehörigen Gemeinde hinreichende Einflussrechte erhalten bleiben. Gesamtgemeinden sind in den meisten Bundesländern (nicht Hessen, NRW, Saarl) als ei228 genständige Organisationsform vorgesehen. Bezeichnung, Aufgabenbestand und Aufbau weichen länderweise erheblich voneinander ab.697 RP, Nds und neuerdings LSA gehen von einer starken Stellung des Verbandes aus, dessen zentrales Willensbildungsorgan direkt von den Einwohnern gewählt wird,698 während die Gesamtgemeinden in anderen Bundesländern sich eher als potenzierte Zweckverbände verstehen lassen. Zu den typischerweise gesamtgemeindlichen Aufgaben zählen die Schulträgerschaft für Grund- und Hauptschulen, der Sportstättenbau und die Flächennutzungsplanung; gerade in diesem Punkte sind aber die Besonderheiten des jeweiligen Landesrechts exakt zu beachten. Im Einzelnen gehören zu den Gesamtgemeinden: – die Gemeindeverwaltungsverbände sowie die vereinbarten Verwaltungsgemeinschaften in Baden-Württemberg (§§ 59 ff GO) und Sachsen (§§ 3 ff KomZG), – die Verwaltungsgemeinschaften in Bayern (VerwaltungsgemeinschaftsO) und Thüringen (§§ 46 ff KO), – die Samtgemeinden in Niedersachsen (§§ 2 III, 97 ff NdsKomVG), – die Verbandsgemeinden in Rheinland-Pfalz (§§ 64–73 GO) und Sachsen-Anhalt (VerbandsgemeindeG), – die Ämter in Brandenburg (§§ 133 ff BbgKVerf), Mecklenburg-Vorpommern (§§ 125 ff KV) und Schleswig-Holstein (AmtsO).699

_____ 692 Dazu Bogner HkWP I, § 13. 693 BVerfGE 107, 1, 21. 694 Vgl StGH BW DÖV 1976, 595; ferner Schmidt-Aßmann DÖV 1973, 109; zum bay Recht Kahl BayVBl 1997, 298; zur Flächennutzungsplanung der Ämter in Bbg vgl BbgVerfGH LKV 2002, 516; Rademacher/Janz LKV 2002, 506. 695 Zum Anspruch auf Ausscheiden einer Gemeinde VGH BW NVwZ-RR 2000, 701 o JK VwGO § 42/23. 696 So jedoch LVerfG SH NordÖR 2010, 155; zu R krit Engelbrecht/Schwabenbauer DÖV 2010, 916; positiver Ernst NVwZ 2010, 816. 697 Darstellung bei Gern DtKomR, Rn 948 ff; Dittmann in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II, § 18 Rn 68 ff; Bogner HkWP I, § 13. 698 Konsequenzen etwa: Keine Rückübertragung einer Aufgabe: OVG RP DÖV 2008, 691; zust BVerwG Buchholz 415.1 Allg KommunalR Nr 169; Zulässigkeit der Samtgemeindeumlage in Nds BVerwGE 127, 155. 699 Dazu auch BVerfGE 52, 95 o JK GG Art 28 II/4.

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XII. Sonstige Gemeinde-, Zweckverbände, interkommunale Zusammenarbeit – 1. Kapitel

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2. Höhere Gemeindeverbände Diese oberhalb der Kreisebene angesiedelten Gemeindeverbände tragen ihr regelmäßig historisch 229 erklärbares besonderes Gepräge.700 Wo sie existieren, sind sie respektable Verwaltungseinheiten teilweise mit großen Fachverwaltungen, in denen auch besondere landsmannschaftliche (provinziale) Traditionen fortleben. Zu den Standardformen der Kommunalorganisation gehören sie gleichwohl nicht. Vielmehr bestimmen hier sondergesetzliche Regelungen das Feld.701 Die typischen Aufgaben der höheren Gemeindeverbände liegen auf sozialem und kulturellem Gebiet. In der Regel sind sie Träger der überörtlichen Sozialhilfe, unterhalten Spezialkrankenhäuser, sind in der Jugendhilfe tätig. Aufgaben des Denkmalschutzes und der Heimatpflege können hinzutreten. Gegen Aufgabenentzug sind sie verfassungsrechtlich nur eingeschränkt geschützt.702 In jüngerer Zeit werden diese Verbände gelegentlich zu Ansatzpunkten von Neugliederungsüberlegungen, die eine staatlich-kommunale „Regionalverwaltung“ schaffen wollen.703

3. Interkommunale Zusammenarbeit, Zweckverbände Schließlich stellt das Kommunalrecht den Gemeinden verschiedene Instrumente zur gemeinsa- 230 men Aufgabenerledigung zur Verfügung. Hierzu zählen insbesondere die von Fall zu Fall zu speziellen Verwaltungszwecken ad hoc geschaffenen Zweckverbände. Sie lassen sich in einem weiteren Sinne den Gemeindeverbänden zurechnen (Rn 232). Die Verwaltungsrealität kennt sie zB als Schul-, Sparkassen-, Wasser- oder Abwasserzweckverbände in reicher Zahl. Zweckverbände sind eine wichtige Form der interkommunalen Zusammenarbeit.704 Ihre Rechtsgrundlagen finden sie, von einigen Spezialvorschriften (zB § 205 BauGB: Planungsverbände) abgesehen, in den Landesgesetzen über kommunale Gemeinschaftsarbeit.705

a) Formen interkommunaler Zusammenarbeit Die meisten Gesetze nennen neben dem Instrument der Zweckverbandsbildung auch noch an- 231 dere Mittel der Zusammenarbeit: Eine Form nur interner Kooperation ist die kommunale Arbeitsgemeinschaft, während das Institut der öffentlich-rechtlichen Vereinbarung Gemeinden ermöglicht, mit Außenwirkung Hoheitsaufgaben zur Entscheidung und Erledigung auf einen der Beteiligten zu übertragen, also im Wege des Vertrages eine Änderung der gesetzlichen Zuständigkeiten vorzunehmen.706 Das ist eine Ausnahme von der grundsätzlich unverbrüchlichen Zuständigkeitsordnung, die besonderer Ermächtigungen in den genannten Gesetzen bedurfte. Dazu können sie sich nach Maßgabe der einschlägigen Gesetze auch der besonderen Formen öffentlicher Unternehmen bedienen (o Rn 126).707 Wo es den Gemeinden dagegen nicht darauf ankommt, Hoheitsbefugnisse zu übertragen, weil sie bestimmte Aufgaben in den Formen des Privatrechts erfüllen (Rn 127 f), stehen ihnen ebenfalls die privatrechtlichen Organisationsfor-

_____

700 Zu den bay Bezirken Geis KomR, § 19 f; ferner zB die Landschaftsverbände in NW; der Landeswohlfahrtsverband in Hess. 701 Einzelheiten bei Hörster HkWP I, § 31; Dittmann in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II, § 18 Rn 85 ff. 702 VerfGH NW DVBl 2001, 1595 mit Anm Ehlers dort 1601; Henneke ZG 2002, 72; ders DÖV 2002, 463; Hoerster HkWP § 31 Rn 5. 703 Dazu und zu den dabei beachtlichen Verfassungsgrenzen Erichsen/Büdenbender NWVBl 2001, 161. Allg Seggermann, Die Region, 2009. 704 Systematisch Oebbecke HkWP I, § 29; ders Gemeindeverbandsrecht, 100 ff; Schmidt Kommunale Kooperation; ders in: Ehlers/Fehling/Pünder, BesVwR III, § 65; Schroeder DV 34 (2001), 205; Müller DÖV 2010, 931; Brüning VBlBW 2011, 46. 705 Zum NKomZG: Franke NdsVBl 2007, 289. 706 Das GWB-Vergaberecht (o Rn 128 u 148) ist dagegen meist nicht einschlägig, dazu EuGH Slg 2009, I-4747 (Stadtreinigung HH); Ruhland VerwArch 2010, 399 u o Fn 381. 707 ZB Art 49 f BayKommZG; §§ 3 f NKomZG; §§ 19b ff GkZ SH.

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1. Kapitel – Kommunalrecht

men zur Verfügung.708 So wird der Personennahverkehr in benachbarten Gemeinden oft von einer GmbH erfüllt, deren Gesellschafter diese sind (Beteiligungsgesellschaften). Auch hier sind die Fragen nach der Anwendbarkeit des Vergaberechts noch nicht für alle Konstellationen geklärt (o Rn 128). Vor einer solchen Zusammenarbeit sind schließlich die steuerrechtlichen Konsequenzen sorgfältig zu erwägen.708a

b) Insbesondere Zweckverbandsbildungen 232 Die Bildung eines Zweckverbandes ist eine besonders aufwendige und fehleranfällige Art der Zusammenarbeit.709 Sie lässt einen neuen Rechtsträger entstehen, der die übertragenen Aufgaben anstelle der Beteiligten wahrnimmt.710 Der Zusammenschluss zu einem solchen Verband steht grundsätzlich im Ermessen der Kommunalkörperschaften (Freiverbände) und ist im Rahmen der Gesetze von ihrer Organisationshoheit gedeckt.711 Hierunter einen vergabepflichtigen Vorgang zu sehen, liegt eher fern.712 Bei dem Zusammenschluss sind Gesichtspunkte effektiver Leistungserbringung gegen die Nachteile einer nur mediatisierten Mitwirkung der Bevölkerung an den Entscheidungen solcher Verbände gegeneinander abzuwägen.713 Bei besonderem öffentlichen Interesse ermächtigen die Gesetze die Aufsichtsbehörde, die Bildung eines Zweckverbandes oder den Beitritt einer Gemeinde zu einem solchen zwangsweise zu verfügen (Pflichtverband). Der Freiverband als der Normalfall des Zweckverbandes setzt die Vereinbarung einer Verbandssatzung zwischen den Beteiligten voraus, die das Organisationsstatut der neuen Körperschaft wird. Entstanden ist der Verband mit der amtlichen Publikation der Satzung und der aufsichtsbehördlichen Genehmigung. Der Verband ist eine Bundkörperschaft. Seine Mitglieder sind die beteiligten Kommunalkörperschaften (gem besonderer Ermächtigung auch andere Rechtssubjekte des öffentlichen oder des privaten Rechts714). Hauptorgan des Verbandes ist die Verbandsversammlung, in die jedes Verbandsmitglied mindestens einen Vertreter entsendet.715 Die ihm übertragenen Selbstverwaltungsaufgaben der Gemeinden erfüllt der Verband seinerseits in eigener Verantwortung. Zu ihrer Regelung hat er ua das Recht, Satzungen zu erlassen (Rn 133 ff). Die Finanzierung über Umlagen ist hier wie andernorts konfliktträchtig.716

_____ 708 Ebenso Oebbecke HkWP I, § 29 Rn 8; einschr Ehlers DVBl 1997, 137, 141. 708a BFH BB 2010, 1070; Droege VBlBW 2011, 41; Leippe/Baldau/DStZ 2012, 283. 709 In den neuen Bundesländern waren flächendeckend fehlerhafte Zweckverbände gegründet worden, so dass die Landesgesetzgeber zu gesetzlichen Heilungsbestimmungen gegriffen haben; zu LSA BVerfG-K LKV 2002, 569; Naumann NVwZ 2002, 175; zu Sachs SächsVBl 2004, 84; Millgramm SächsVBl 2004, 101; zu Thür ThürOVG LKV 2000, 75; ThürOVG LKV 2001, 415; ThürOVG LKV 2002, 138; Aschke NVwZ 2003, 917. 710 Zu Zweckvereinbarungen mit dritten Gemeinden Knemeyer BayVBl 2003, 257; Schulz BayVBl 2003, 520. 711 So die hM; Schmidt-Jortzig FS v Unruh, 525 ff; aM Oebbecke Zweckverbandsbildung und Selbstverwaltungsgarantie, 1982, bes 67 ff. 712 Dazu Nachw o Rn 128. 713 Schroeder DV 34 (2001) 205; zu Haftungsfragen Paulick DÖV 2009, 110; Ziche/Wehnert DÖV 2011, 310. 714 Zu dabei auftretenden Legitimationsproblemen BVerwGE 106, 64; Britz VerwArch 91 (2000) 418. 715 Zu Weisungen an Verbandsräte BayVGH NVwZ-RR 1999, 141. 716 Trommer LKV 2008, 6; Oebbecke DV 2009, 247.

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I. Grundlagen – 2. Kapitel

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Zweites Kapitel 2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht I. Grundlagen – 2. Kapitel Schoch

Friedrich Schoch

Polizei- und Ordnungsrecht

I.

Gliederung Grundlagen des Polizei- und Ordnungsrechts ____ 1 1. Begriff und Gegenstand des Polizei- und Ordnungsrechts ____ 1 a) Polizeibegriff als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen ____ 3 aa) Wandlungen des Polizeibegriffs ____ 4 bb) Heutige Polizeibegriffe ____ 6 b) Inhalt und Umfang des Gefahrenabwehrrechts ____ 8 aa) Abgrenzung zur Strafverfolgung ____ 9 bb) Einbeziehung vorbeugender Bekämpfung von Straftaten ____ 12 c) Fazit ____ 20 2. Gefahrenabwehr als staatliche Aufgabe ____ 21 a) Gewährleistung der Inneren Sicherheit als Staatsaufgabe ____ 21 b) Gefahrenabwehr durch Private ____ 23 aa) Erscheinungsformen des privaten Sicherheitsgewerbes ____ 24 bb) Rechtliche Grundlagen ____ 27 cc) Privatisierung der Gefahrenabwehr ____ 33 c) Fazit ____ 34 3. Rechtsstaatliche Anforderungen an die Gefahrenabwehr ____ 35 a) Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes ____ 35 b) Rechtliche Bindungen für Gefahrenabwehrmaßnahmen ____ 36 4. Polizei- und Ordnungsrecht im Bundesstaat ____ 39 a) Gesetzgebung ____ 40 b) Verwaltung ____ 43 aa) Grundsatz: Verwaltungszuständigkeit der Länder ____ 44 bb) Ausnahme: Verwaltungskompetenzen des Bundes ____ 45 (1) Unterscheidung zwischen Polizei- und Sicherheitsdiensten ____ 46 (2) Informationelle Zusammenarbeit von Polizei und Sicherheitsdiensten ____ 49 (3) Polizeiverwaltung des Bundes ____ 53 (4) Nachrichtendienste des Bundes ____ 59 (5) Bundeswehr und Gefahrenabwehr ____ 64

II.

5. Europäisierung und Internationalisierung der Gefahrenabwehr ____ 67 a) Europarechtliche Vorgaben ____ 68 aa) Grundlegung: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ____ 69 bb) Ausprägungen Polizeilicher Zusammenarbeit ____ 72 cc) Institutionalisierung der Polizeilichen Zusammenarbeit ____ 76 dd) Operative Polizeiliche Zusammenarbeit ____ 82 b) Internationalisierung der Gefahrenabwehr ____ 86 6. Allgemeine Polizei- und Ordnungsverwaltung ____ 90 Materielles Polizei- und Ordnungsrecht ____ 94 1. Die Generalklausel ____ 94 a) Die Generalklausel als Eingriffsermächtigung ____ 94 aa) Spezialermächtigungen und Subsidiarität der Generalklausel ____ 95 bb) Anwendungsbereich der Generalklausel ____ 100 cc) Struktur und Bedeutung der Generalklausel ____ 105 b) Schutzgüter der Generalklausel ____ 108 aa) Öffentliche Sicherheit ____ 109 (1) Unverletzlichkeit der Rechtsordnung ____ 110 (2) Unverletzlichkeit individueller Rechte und Rechtsgüter ____ 116 (3) Bestand des Staates ____ 123 (4) Kollektive Rechtsgüter ____ 126 bb) Öffentliche Ordnung ____ 127 c) Gefahrenlage ____ 133 aa) Störung ____ 135 bb) Prognose ____ 137 cc) Anscheinsgefahr ____ 142 dd) Gefahrverdacht ____ 145 ee) Qualifizierte Gefahrbegriffe ____ 149 d) Befugnis zur Gefahrenabwehr (Opportunitätsprinzip) ____ 151 aa) Ermessen der Gefahrenabwehrbehörden ____ 152 bb) Ermessensgrenzen ____ 154 cc) Ermessensreduzierung ____ 160

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

dd) Anspruch auf Einschreiten ____ 165 2. Polizei- und ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit ____ 167 a) Polizei- und Ordnungspflicht als Zurechnungsproblem ____ 167 b) Funktion und Bedeutung der Verantwortlichkeit ____ 170 c) Rechtssubjekte der Polizei- und Ordnungspflicht ____ 174 d) Verhaltensverantwortlichkeit ____ 176 aa) Gefahrverursachung ____ 177 bb) Verhaltensverantwortlichkeit durch Unterlassen ____ 183 cc) Verhaltensverantwortlichkeit des Zweckveranlassers ____ 187 dd) Zusatzverantwortlichkeit ____ 191 e) Zustandsverantwortlichkeit ____ 192 aa) Legitimität der Zustandsverantwortlichkeit ____ 193 bb) Entstehung der Zustandsverantwortlichkeit ____ 195 cc) Grenzen der Zustandsverantwortlichkeit ____ 197 dd) Zustandsverantwortliche Rechtssubjekte ____ 201 ee) Ordnungspflicht im Insolvenzverfahren ____ 206 ff) Latente Gefahr ____ 211 gg) Anscheinsgefahr und Gefahrverdacht ____ 213 f) Rechtsnachfolge in die Polizei- und Ordnungspflicht ____ 214 aa) Problemstellung ____ 214 bb) Abstrakte Polizei- und Ordnungspflicht ____ 217 cc) Konkretisierte Polizei- und Ordnungspflicht ____ 220 dd) Fazit ____ 224 g) Störermehrheit: Auswahlermessen bei mehreren Verantwortlichen ____ 225 aa) Effektivität der Gefahrenabwehr als Ermessensdirektive ____ 227 bb) Kostentragung bei Störermehrheit ____ 233 cc) Gesamtschuldnerausgleich bei mehreren Verantwortlichen ____ 235 3. Polizeilicher und ordnungsbehördlicher Notstand ____ 237 a) Notstandspflicht im Gefahrenabwehrrecht ____ 237 b) Voraussetzungen für Notstandsmaßnahmen ____ 240 aa) Qualifizierte Gefahrenlage ____ 241 bb) Aussichtslosigkeit der Gefahrenabwehr durch Verantwortlichen ____ 242

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III.

cc) Unmöglichkeit behördlicher Gefahrenabwehr ____ 245 dd) Beachtung der Opfergrenze ____ 249 c) Rechtsfolgen der Notstandspflicht ____ 250 d) Umfang und Dauer von Notstandsmaßnahmen ____ 252 e) Folgenbeseitigung und Ersatzansprüche ____ 253 aa) Folgenbeseitigung bei Notstandsmaßnahmen ____ 253 bb) Entschädigung des Nichtverantwortlichen ____ 255 4. Standardmaßnahmen ____ 256 a) Begriff und Bedeutung ____ 256 b) Klassische Standardmaßnahmen ____ 260 aa) Befragung und Auskunftsverlangen ____ 261 bb) Identitätsfeststellung ____ 264 cc) Erkennungsdienstliche Maßnahmen ____ 269 dd) Vorladung und Vorführung ____ 273 ee) Platzverweisung, Aufenthaltsverbot, Wohnungsverweisung ____ 276 (1) Platzverweisung ____ 278 (2) Aufenthaltsverbot ____ 284 (3) Wohnungsverweisung ____ 289 ff) Ingewahrsamnahme ____ 295 gg) Durchsuchung von Personen und Sachen ____ 310 hh) Durchsuchung und Betreten von Wohnungen ____ 313 ii) Sicherstellung und Beschlagnahme ____ 319 c) Informationserhebung ____ 331 aa) Allgemeine Grundsätze ____ 332 bb) Rechtsgrundlagen ____ 335 cc) Besondere Mittel der Informationserhebung ____ 338 dd) Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen ____ 340 d) Informationsverarbeitung ____ 345 aa) Allgemeine Grundsätze ____ 346 bb) Ermittlungsverfahren und Gefahrenabwehr ____ 347 cc) Informationsabgleich ____ 349 dd) Informationsübermittlung ____ 352 ee) Rechte der betroffenen Person ____ 354 5. Sondergesetzliche Eingriffsbefugnisse ____ 357 a) Vorrang von Spezialregelungen ____ 357 b) Beispiel: Gefahrenabwehr im Versammlungswesen ____ 360 Formelles Polizei- und Ordnungsrecht ____ 363

I. Grundlagen – 2. Kapitel

1. Zuständigkeitsordnung ____ 363 2. Handlungsformen zur Gefahrenabwehr ____ 366 a) Einzelfallmaßnahmen ____ 367 aa) Verwaltungsakt ____ 368 bb) Verwaltungsrealakt ____ 370 b) Gefahrenabwehrverordnungen ____ 373 aa) Funktion und Bedeutung von Gefahrenabwehrverordnungen ____ 374 bb) Voraussetzungen für Gefahrenabwehrverordnungen ____ 376 cc) Determinanten für den Verordnungserlass ____ 380 dd) Durchsetzung der Verordnung ____ 383 c) Zwangsweise Durchsetzung von Gefahrenabwehrmaßnahmen ____ 384 aa) Zwangsmittel ____ 385 bb) Verwaltungszwang im gestreckten Verfahren ____ 390

IV.

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cc) Unmittelbare Ausführung und Sofortvollzug ____ 393 Kostenersatz und Entschädigung im Polizei- und Ordnungsrecht ____ 397 1. Kostenersatzansprüche der Verwaltung ____ 398 a) Vorbehalt des Gesetzes ____ 398 b) Kostenersatz für Gefahrenabwehrmaßnahmen ____ 400 c) Kostentragung bei Anscheinsgefahr und Gefahrverdacht ____ 406 2. Ersatzansprüche des Bürgers ____ 408 a) Entschädigungsanspruch des Nichtstörers ____ 409 aa) Voraussetzungen des Schadensausgleichs ____ 410 bb) Rechtsfolge des Anspruchs ____ 413 b) Schadensausgleich bei rechtswidrigen Maßnahmen ____ 419 c) Ersatzansprüche bei Anscheinsgefahr und Gefahrverdacht ____ 421

Literatur: M. Albers Die Determination polizeilicher Tätigkeit in den Bereichen der Straftatenverhütung und der Verfolgungsvorsorge, 2001. B. Drews/G. Wacke/K. Vogel/W. Martens Gefahrenabwehr, Allgemeines Polizeirecht (Ordnungsrecht) des Bundes und der Länder, 9. Aufl 1986. W. Frings/L. Spahlholz Das Recht der Gefahrenabwehr in Nordrhein-Westfalen, 2011. H.-U. Gallwas/H. A. Wolff Bayerisches Polizei- und Sicherheitsrecht, 3. Aufl 2004. V. Götz Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 15. Aufl 2013. V. Götz Innere Sicherheit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg), Handbuch des Staatsrechts Band IV (HStR IV), 3. Aufl 2006, § 85. A. Guckelberger Polizeirecht, in: Gröpl/Guckelberger/ Wohlfarth (Hrsg.), Landesrecht Saarland, 2. Aufl 2013, § 4. Ch. Gusy Polizeirecht, 8. Aufl 2011. K.-L. Haus/J. Wohlfarth Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht (Saarländisches Landesrecht), 1997. J. Hecker/A. Radcke Polizei- und Ordnungsrecht, in: Bauer/Peine (Hrsg), Landesrecht Brandenburg, 2. Aufl 2011, § 5. W. Hoffmann-Riem/M. Eifert Polizeiund Ordnungsrecht, in: W. Hoffmann-Riem/H.-J. Koch (Hrsg), Hamburgisches Staats- und Verwaltungsrecht, 3. Aufl 2006, 161 ff. J. Ipsen Niedersächsisches Polizei- und Ordnungsrecht, 4. Aufl 2010. D. G. Rühle Polizei- und Ordnungsrecht für Rheinland-Pfalz, 4. Aufl 2007. S. Karnop Recht der Gefahrenabwehr (Landesrecht Sachsen-Anhalt), 1998. W. Kluth Das Recht der öffentlichen Sicherheit (Polizeirecht), in: ders (Hrsg), Landesrecht Sachsen-Anhalt, 2. Aufl 2010, § 3. F.-L. Knemeyer Polizei- und Ordnungsrecht, 11. Aufl 2007. U. Kramer Hessisches Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl 2010. D. Kugelmann Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl 2012. O. Lepsius Besitz und Sachherrschaft im öffentlichen Recht, 2002. H. Lisken/E. Denninger Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl 2012. M. Möller/G. Warg Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl 2012. M. Möstl Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002. L. Mühl/R. Leggereit/W. Hausmann Polizei- und Ordnungsrecht Hessen, 3. Aufl 2010. P. Nissen Recht der Gefahrenabwehr, in: H.-J. Schmalz/W. Ewer/A. von Mutius/E. Schmidt-Jortzig (Hrsg), Staats- und Verwaltungsrecht für Schleswig-Holstein, 2002, 145 ff. W. Pausch/G. Dölger Polizei- und Ordnungsrecht in Hessen, 5. Aufl 2010. B. Pieroth/B. Schlink/M. Kniesel Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl 2012. H. Pohl-Zahn Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht in Brandenburg, in: A. von Brünneck/F.-J. Peine (Hrsg), Staats- und Verwaltungsrecht für Brandenburg, 2004, 261 ff. H. P. Prümm/H. Sigrist Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsrecht, 2. Aufl 2003. R. Poscher Gefahrenabwehr – Eine rechtsdogmatische Rekonstruktion, 1999. K.-H. Rudor/S. Schmitt Polizeirecht Baden-Württemberg, 7. Aufl 2011. J. Ruthig Polizei- und Ordnungsrecht, in: R. Hendler/F. Hufen/S. Jutzi (Hrsg), Landesrecht RheinlandPfalz, 6. Aufl 2012, § 4. W.-R. Schenke Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl 2011. D. Schipper Polizei- und Ordnungsrecht in Schleswig-Holstein, 5. Aufl 2010. P. J. Tettinger/W. Erbguth/T. Mann Besonderes Verwaltungsrecht, 11. Aufl 2012, 167 ff. M. Thiel Polizei- und Ordnungsrecht, 2013. K. Waechter Polizei- und Ordnungsrecht (Landesrecht Niedersachsen), 2000. E. Wagner/K.-H. Ruder Polizeirecht (Sächsisches Landesrecht), 1999. H.-M. Wolffgang/M. Hendricks/M. Merz Polizei- und Ordnungsrecht Nordrhein-Westfalen, 3. Aufl 2011. T. Würtenberger Polizei- und Ordnungsrecht, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger (Hrsg), BesVwR II, 2. Aufl 2000, § 21. T. Würtenberger/D. Heckmann Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl 2005. S. Zeitler/C. Trurnit Polizeirecht für Baden-Württemberg, 2. Aufl 2011.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

I. Grundlagen des Polizei- und Ordnungsrechts 1. Begriff und Gegenstand des Polizei- und Ordnungsrechts 1 Das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht umfasst in der geltenden Rechtsordnung die Summe der rechtlichen Regelungen, die sich auf diejenige Staatstätigkeit (iwS) erstrecken, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung schützt, Gefahren von ihr abwendet und eingetretene Störungen beseitigt. Polizei- und Ordnungsrecht ist danach im Kern 1 das Recht der staatlichen Gefahrenabwehr. Diese Begriffsbestimmung findet ihre positivrechtliche Grundlage in den Aufgabenzuweisungsnormen des einschlägigen Landesrechts.2 2 An diesem Ausgangspunkt ist – ungeachtet der Wandlungen des Polizeibegriffs (Rn 3 ff) – festzuhalten. Dies ist nicht nur dem positiven Recht geschuldet, sondern auch den Funktionen des Gefahrenabwehrrechts im demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Auch wenn leistende und lenkende sowie pflegende und vorsorgende Verwaltungstätigkeiten (zB im Sozialrecht, Planungsrecht, Umweltrecht, Schul- und Bildungswesen) an Bedeutung zugenommen haben und weiter zunehmen werden,3 behält das Polizei- und Ordnungsrecht seine zentrale Bedeutung für die Konstituierung des Staates als eines Ordnungs- und Friedensverbandes, der das gesellschaftliche Zusammenleben in Sicherheit gewährleistet und die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen sicherstellt.4 Angesichts sich ständig ändernder Realbedingungen macht es keinen Sinn, über Rang und Bedeutung des Polizei- und Ordnungsrechts im Vergleich zB zum Sozialrecht oder zum Wirtschafts(verwaltungs)recht zu streiten. Denn nach der Abschaffung des „Faustrechts“ ist der Einzelne existentiell darauf angewiesen, dass der Staat die individuellen Rechte und Rechtsgüter schützt, und die Sicherung der Kollektivinteressen ist Grundbedingung für die Gewährung und den Genuss aller sozialstaatlichen und sonstigen leistungsstaatlichen Errungenschaften.5 Das Gefahrenabwehrrecht ist demnach eingebettet in die leistende und lenkende sowie planende und vorsorgende Staatstätigkeit und muss seinerseits Entwicklungen im Verfassungs-, Europa- und Völkerrecht sowie gesellschaftliche Veränderungen erkennen, rezipieren und verarbeiten, um seiner Sicherungs-, Ordnungs- und Steuerungsfunktion gerecht werden zu können. Mit dem Wandel der maßgeblichen „Randbedingungen“ verändern sich zwar die Funktionen des Polizei- und Ordnungsrechts (zB Verstärkung der Gefahrenvorsorge, Rn 12 ff). Gefordert ist allerdings nicht ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel, zu erbringen ist vielmehr eine dem Recht auch sonst vielfach abgeforderte Anpassungsleistung.6 Solange die Innere Sicherheit rechtlich als Staatsaufgabe ausgeformt ist (Rn 21 f), sind der Schutz des Einzelnen und die Sicherung der Funktionsfähigkeit staatlicher Institutionen legitime und sogar notwendige staatliche Aufgaben sowie Grundbedingungen für die individuelle Freiheitsentfaltung und die Aufrechterhaltung sozialer Wohlfahrt.

_____ 1 Zu Weiterungen und Grenzziehungen Rn 6 ff. 2 § 1 I PolG BW; Art 2 I BayPAG und Art 6 BayLStVG; § 1 I 1 ASOG Bln; § 1 I 1 BbgPolG und § 1 I BbgOBG; § 1 I 1 PolG Bremen; § 3 HbgSOG; § 1 I 1 HessSOG; § 1 I und § 2 I SOG MV; § 1 I 1 NdsSOG; § 1 I 1 PolG NW und § 1 I OBG NW; § 1 I 1 POG RP; § 1 II PolG SL; § 1 I SächsPolG; § 1 I 1 SOG LSA; § 162 I LVwG SH; § 2 I 1 ThürPAG und § 2 I ThürOBG. – In Bremen und Schleswig-Holstein ist die „öffentliche Ordnung“ nicht Element der Aufgabenzuweisungsnorm. 3 Auf Grund dieser Entwicklung regten Erichsen und Knemeyer VVDStRL 35 (1977) 171, 182 ff bzw 221, 231 f eine Neubestimmung des materiellen Polizeibegriffs (Rn 7) an; zutr hiergegen Martens ebd 310; Friauf ebd 315; Götz ebd 323 f. 4 Würtenberger/Heckmann Rn 1: Durchsetzung einer Schutz- und Friedensordnung. 5 Martens DÖV 1982, 89, 90. 6 Das gilt auch für aktuelle Wandlungen des Polizeirechts, wie sie Pieroth/Schlink/Kniesel § 1 Rn 29 ff beobachten: Versubjektivierung, Aufwertung des informationellen Selbstbestimmungsrechts, Ausbau der Gefahrenvorsorge und vorbeugenden Verbrechensbekämpfung; Möstl DVBl 2007, 581 ff. – Vgl ferner Waechter JZ 2002, 854 ff, zurückhaltender in der Bewertung Calliess DVBl 2003, 1096 ff; Volkmann NVwZ 2009, 216 ff.

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a) Polizeibegriff als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen Dass die konkrete Ausgestaltung des Polizei- und Ordnungsrechts schon immer die gesellschaft- 3 lichen Verhältnisse reflektiert hat, zeigt sich an den Wandlungen des Polizeibegriffs. Das mehrfach veränderte inhaltliche Verständnis des Begriffs „Polizei“ (zB bzgl Aufgaben, Zuständigkeiten, Befugnissen) ist ein signifikanter Indikator für die jeweilige gesellschaftspolitische Bedeutung des Polizeirechts in der betreffenden historischen Epoche.7 aa) Wandlungen des Polizeibegriffs. Galt Polizei zunächst als „Zustand einer guten Ordnung 4 des Gemeinwesens“ (15.–17. Jhdt), so fungierte Polizei im absolutistischen Staat (17./18. Jhdt) als – rechtlich unbegrenzte – Zwangsgewalt des Monarchen und Instrument obrigkeitlicher Wohlfahrtspflege (bis hin zur Bevormundung in Fragen von Sitte und Moral). Der daraus entstandene sog Polizeistaat kannte keine Gewaltenteilung (Funktionentrennung), gestand dem Monarchen unbeschränkte Anordnungsbefugnisse zu und war von einer echten Kontrolle „polizeilicher“ Maßnahmen weit entfernt. Den Wendepunkt hin zu einem liberal-rechtsstaatlichen Polizeirecht markiert, wie sich später herausstellen sollte, § 10 II 17 ALR.8 War es bereits eine Forderung der Aufklärung, dass die Wohlfahrtspflege nicht Aufgabe der Polizei sein könne, sondern diese sich auf die Gefahrenabwehr zu beschränken habe, so setzte sich diese Sicht – nach vorangegangenen restaurativen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 19. Jhdt – als herrschende Rechtsauffassung mit dem berühmten Kreuzberg-Urteil des PrOVG vom 14.6. 1882 durch.9 Durch PolVO hatte das Polizeipräsidium in Berlin zur Sicherung der Aussicht von dem und auf das Siegesdenkmal auf dem Kreuzberg angeordnet, fortan dürften Gebäude „nur in solcher Höhe errichtet werden, dass dadurch die Aussicht von dem Fuße des Denkmals auf die Stadt und deren Umgebung nicht behindert und die Aussicht des Denkmals nicht beeinträchtigt wird“. Das PrOVG stellte fest, dass es für das Bauverbot an einer speziellen gesetzlichen Grundlage fehle; auf § 10 II 17 ALR könne die PolVO nicht gestützt werden, da diese Bestimmung nur Gefahrenabwehrmaßnahmen erlaube, nicht jedoch Einschränkungen der Nutzung von Grundeigentum aus ästhetischen Gründen.10 Damit war die Aufgabe der Polizei auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ord- 5 nung begrenzt. Die Wohlfahrtspflege war der Staatstätigkeit zwar nicht entzogen, jedoch war die Sozialgestaltung nicht mit dem Polizeirecht zu bewerkstelligen. Der liberal-rechtsstaatliche Polizeibegriff war etabliert; es handelte sich um die Durchsetzung eines materiellen Begriffsverständnisses (Gefahrenabwehr als Aufgabe der Polizei). Hieran konnte § 14 I PrPVG 11 anschließen. Das Polizeirecht des demokratischen Rechtsstaates hatte einen unaufgebbaren Kern gewonnen, der – nach Überwindung der NS-Diktatur 12 – als Ausgangspunkt für das Polizei- und Ordnungsrecht in der Bundesrepublik Deutschland fruchtbar gemacht werden konnte.

_____ 7 Zusammenfassend zur Geschichte der Polizei in Deutschland seit dem 15. Jhdt Boldt/Stolleis in: Lisken/ Denninger, A Rn 1 ff; Überblick zur Entwicklung des Polizeirechts bei Würtenberger GS Kopp, 2007, 427, 429 ff. 8 Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794; § 10 II 17 bestimmte: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publiko oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Policey.“ 9 Rechtsgeschichtlich gilt die Entscheidung als „Justizirrtum“, weil das PrOVG eine (wohl) nicht mehr gültige Norm herangezogen habe und § 10 II 17 ALR eigentlich auf die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen polizeilicher und ordentlicher Gerichtsbarkeit zielte; Preu Polizeibegriff und Staatszwecklehre, 1983, 303 ff. 10 PrOVG 9, 353 (Neuabdruck in DVBl 1985, 219 und VBlBW 1993, 271); dazu Rott NVwZ 1982, 363; Kroeschell VBlBW 1993, 268; Walther JA 1997, 287. 11 Preußisches Polizeiverwaltungsgesetz vom 1. 6. 1931 (GS 77). – § 14 bestimmte: „(1) Die Polizeibehörden haben im Rahmen der geltenden Gesetze die nach pflichtgemäßem Ermessen notwendigen Maßnahmen zu treffen, um von der Allgemeinheit und dem einzelnen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird. (2) Daneben haben die Polizeibehörden diejenigen Aufgaben zu erfüllen, die ihnen durch Gesetz besonders übertragen sind.“ 12 Dazu Boldt/Stolleis in: Lisken/Denninger, A Rn 61 ff.

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6 bb) Heutige Polizeibegriffe. Gegenstand der polizeilichen Aufgabe „Gefahrenabwehr“ war und ist der Schutz der öffentlichen Sicherheit (und Ordnung). Dazu lassen sich zwei gegenläufige Entwicklungen beobachten. Einerseits wurden und werden Gefahrenabwehraufgaben anderen Stellen als der Polizei übertragen; zu registrieren ist die fortwährende Spezialisierung der fachspezifischen Gefahrenabwehr (vgl zB Gewerberecht, Ausländerrecht, Lebensmittelrecht), die das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht „auszehrt“.13 Andererseits führen neue Herausforderungen bei der Sicherung des inneren Friedens (zB Bekämpfung organisierter Kriminalität, Internationalisierung von Problemursachen, Akzentuierung von Vorfeld- und Vorsorgemaßnahmen) zu einer Erweiterung polizeilicher Handlungsgrundlagen.14 Stichworte aktueller Befunde sind etwa Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung über das Internet 15 oder die Abwehr terroristischer Gefahren,16 wobei die Bedrohung von KKW durch Flugzeugangriffe besondere Diskussionen auslöst;17 das BVerwG hat (am Beispiel einer Genehmigung zur Aufbewahrung von Kernbrennstoffen gemäß § 6 AtG) die Anwendbarkeit des AtG bejaht, weil terroristische Anschläge auf ein KKW als „sonstige Einwirkungen Dritter“ (§ 6 II Nr 4 AtG18) zu qualifizieren seien.19 Im Übrigen sieht das allgemeine Polizeirecht ausdrücklich vor, dass der Polizei über die Gefahrenabwehr hinaus weitere Aufgaben übertragen werden können.20 Vor diesem Hintergrund lässt sich ein einheitlicher Polizeibegriff nicht aufrechterhalten. 7 Die divergierenden Entwicklungen verlangen im Interesse juristischer Präzision eine klare begriffliche Unterscheidung : 21 – „Polizei“ im materiellen Sinne ist die (ggf mit Zwangsgewalt verbundene) Staatstätigkeit, die darauf zielt, von dem Einzelnen oder von der Allgemeinheit Gefahren abzuwehren oder bereits eingetretene Störungen zu beseitigen, wenn die öffentliche Sicherheit oder Ordnung

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13 Götz § 1 Rn 16 (mit zutr Anerkennung der systembildenden Funktion des allg Polizei- und Ordnungsrechts). 14 Trute DV 32 (1999) 73; ders DV 36 (2003) 501; Poscher in: Vesting/Korioth, Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, 245, 251 f; ausf Schoch Staat 43 (2004) 347, 353 ff. – Zur Parallelentwicklung eines „kriminalpräventiven Strafrechts“ Bäcker FS Schenke, 2011, 331 ff. 15 Dazu Zimmermann NJW 1999, 3145; ausf Germann Gefahrenabwehr und Strafverfolgung im Internet, 2000, 183 ff, 239 ff und 326 ff; Greiner Die Verhinderung verbotener Internetinhalte im Wege polizeilicher Gefahrenabwehr, 2001, 44 ff; ders CR 2002, 620 ff; Gehde DuD 2003, 496 ff; vgl auch die Sperrungsverfügung der BezReg Düsseldorf TKMR 2002, 405, mit abl Besprechung Vassilaki TKMR 2002, 427; krit auch Ch. Engel MMR-Beilage 4/2003; zustimmend Dietlein/Heinemann K&R 2004, 418 ff; allg krit zu Sperrungsverfügungen im Internet Schöttle K&R 2007, 366 ff; J. Kahl SächsVBl 2010, 180 ff; Frey/Rudolph/Oster MMR-Beilage 3/2012; umfassend Billmeier Die Düsseldorfer Sperrungsverfügung, 2006; Sieber/Nolde Sperrverfügungen im Internet, 2008, 91 ff; Greve Access-Blocking – Grenzen staatlicher Gefahrenabwehr im Internet, 2012, 210 ff. – Aus der Rspr (erfolgreiche Klagen von AccessProvidern) VG Düsseldorf CR 2012, 155; VG Köln NWVBl 2012, 197. 16 Dazu Tettinger FS J. Kirchhoff, 2002, 281 ff; Hoffmann-Riem ZRP 2002, 497 ff; Krings/Burkiczak DÖV 2002, 501 ff; Brenneisen DuD 2004, 711 ff; Saurer NVwZ 2005, 275 ff; Mehde JZ 2005, 815 ff; Würtenberger in: Masing/Jouanjan, Terrorismusbekämpfung, Menschenrechtsschutz und Föderation, 2008, 27 ff; Gusy VerwArch 101 (2010), 309, 315 ff; am Bspl der Rasterfahndung zur Terrorismusbekämpfung OLG Düsseldorf DÖV 2002, 436 o JK PolG NW § 31/1 (vgl ferner Rn 350); speziell zum sog Terrorismusbekämpfungsgesetz (v 9. 1. 2002, BGBl I 361) Hetzer ThürVBl 2002, 251; Baldus ZRP 2002, 400; Nolte DVBl 2002, 573; zum Antiterrordateigesetz (Sartorius I Nr 82) und zum Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz Roggan/Bergemann NJW 2007, 876 ff. 17 Streitig ist die Anordnungsbefugnis zum Abschalten von KKW bei terroristischen Flugzeugangriffen; für Anwendung des allg Polizei- und Ordnungsrechts (weil das AtG auf kriegerische Ereignisse, mit denen Terrorattacken vergleichbar seien, nicht anwendbar sei), Ossenbühl NVwZ 2002, 290, 295 ff; v Danwitz Rechtsfragen terroristischer Angriffe auf Kernkraftwerke, 2002, 41 ff; Hollenbach NVwZ 2008, 1065 ff; für Anwendbarkeit des AtG (wegen der Weite seiner Schutzvorschriften) Sendler NVwZ 2002, 681 ff; Koch/John DVBl 2002, 1578 ff, mit Ergänzung Sendler DVBl 2003, 380 f; vgl ferner Wilkesmann NVwZ 2002, 1316 ff; Dederer DÖV 2005, 621 ff. 18 Dasselbe muss dann auch für §§ 7 II Nr 5, 9 II Nr 5 AtG gelten. 19 BVerwGE 131, 129, 135 Rn 17; dazu Bespr Dolde NVwZ 2009, 679, 680. 20 § 1 II PolG BW; Art 2 IV BayPAG; § 1 II ASOG Bln; § 1 IV BbgPolG, § 1 III BbgOBG; § 1 IV PolG Bremen; § 1 II HessSOG; § 2 II 1 SOG MV; § 1 V NdsSOG; § 1 IV PolG NW; § 1 II POG RP; § 8 II 1 PolG SL; § 1 II SächsPolG; § 1 III SOG LSA; § 163 II 1 LVwG SH; § 2 IV ThürPAG. 21 Näher zum Folgenden Boldt/Stolleis in: Lisken/Denninger, A Rn 38 f.

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bedroht wird; Kriterium ist die inhaltliche Qualifizierung (dh Funktion, Zielsetzung) der Staatstätigkeit, unbeachtlich ist die handelnde staatliche Stelle. – „Polizei“ im institutionellen Sinne umfasst alle diejenigen Einrichtungen und Behörden, die dem Organisationsbereich der Polizei zuzuordnen sind; Kriterium ist die Zugehörigkeit einer Stelle zur Polizeiorganisation. – „Polizei“ im formellen Sinne bezeichnet diejenigen Aufgaben, die von der Polizei im institutionellen Sinne wahrgenommen werden; Kriterium ist die sachliche Zuständigkeit der Polizei, unabhängig davon, wie polizeiliches Handeln in diesem Zuständigkeitskreis materiell zu qualifizieren ist. Materieller und formeller Polizeibegriff stehen zueinander im Verhältnis zweier sich schneidender Kreise: Deckung besteht bei der Gefahrenabwehr durch Beamte der Polizeiorganisation; daneben werden Aufgaben der Gefahrenabwehr weithin von „Sonder“-Behörden (insbesondere Ordnungsbehörden) wahrgenommen; 22 andererseits gibt es polizeiliche Aufgaben, die nicht der Gefahrenabwehr dienen (zB Strafverfolgung, Ahndung von Ordnungswidrigkeiten). Trotz der Aufspaltung des Polizeibegriffs gibt es keinen Grund, den materiellen Polizeibegriff als „überholt“ aufzugeben.23 Zwar dient er nicht (mehr) der rechtsstaatlichen Disziplinierung der Staatsgewalt; das erfolgt durch Verfassungs- und Gesetzesrecht. Aber zB die Abgrenzung zwischen präventiver und repressiver Polizeitätigkeit (Rn 9 ff) kommt ohne Rückgriff auf den materiellen Polizeibegriff nicht aus.

b) Inhalt und Umfang des Gefahrenabwehrrechts Der mit der gesetzlichen Aufgabenzuweisung „Gefahrenabwehr“ ( R n 1 ) umrissene Gegenstand 8 des Polizei- und Ordnungsrechts bezieht sich in seinem klassischen Kern auf die Abwehr konkreter (Rn 133) sowie abstrakter (Rn 373) Gefahren durch die Polizei- und Ordnungsbehörden. Umfasst davon ist auch die Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr.24 Abzugrenzen ist das Gefahrenabwehrrecht dagegen vom Strafverfolgungsrecht (Rn 9 ff). Umstritten ist, inwieweit die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten dem Recht der Gefahrenabwehr zuzuordnen ist (Rn 12 ff). aa) Abgrenzung zur Strafverfolgung. Gesetzlich ist der Polizei die Strafverfolgung 25 (und die 9 Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten 26) als Aufgabe ausdrücklich zugewiesen. Sie unterscheidet sich in der Zielsetzung fundamental von der Gefahrenabwehr. Diese umfasst die präventivpolizeiliche Tätigkeit, Strafverfolgung hingegen ist – in Anknüpfung an eine geschehene Straftat – repressives Handeln. An der Unterscheidung zwischen Prävention und Repression ist – ungeachtet mancherlei Überschneidung (Rn 10) – auf Grund ihrer erkenntnisleitenden Funktion prinzipiell festzuhalten; 27 die rechtlichen Unterschiede zwischen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung sind erheblich: Die Rechtsgrundlagen für Gefahrenabwehrmaßnahmen finden sich im Polizei- und Ordnungsrecht, für die Strafverfolgung im Strafprozessrecht (StPO); die Gesetzgebungskompetenz für das (staatsanwaltliche bzw polizeiliche) Ermittlungsverfahren in Strafsachen liegt beim Bund (Art 74 I Nr 1 GG), das allgemeine Gefahrenabwehrrecht fällt in die Gesetzgebungsbefugnis der Länder (Art 70 GG); für die Strafverfolgung gilt das Legalitätsprinzip (§ 152

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22 Konsequenz aus diesem Befund ist in den meisten Ländern die „Entpolizeilichung“; dazu Rn 92. 23 Ebenso Pieroth/Schlink/Kniesel § 1 Rn 27 f; krit Götz § 2 Rn 19; Möller/Warg Rn 16. 24 Ausdrücklich zum Inhalt der Aufgabe „Gefahrenabwehr“ erklärt in § 1 I 2 ASOG Bln; § 1 I 2 BbgPolG; § 1 I 2 PolG Bremen; § 1 I 2 Nr 2 HbgGDatPol (bzgl Datenerhebung und -verarbeitung); § 1 I 2 HessSOG; § 7 I Nr 4 SOG MV; § 1 I 2 NdsSOG; § 1 I 1 PolG NW; § 1 I 2 POG RP; § 1 I Nr 3 SächsPolG; § 1 I 2 SOG LSA; § 2 I 2 ThürPAG. 25 § 163 StPO; vgl ferner §§ 160, 161 StPO und § 152 GVG. 26 § 53 OWiG; vgl ferner §§ 35, 36 OWiG. 27 Trute DV 32 (1999) 73, 75; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 169 und Rn 204; Schenke Rn 412; Thiel Rn 83; nicht überzeugend insoweit Albers Straftatenverhütung, 93 f.

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StPO) und die Polizei unterliegt der staatsanwaltlichen Weisungsbefugnis (§ 161 StPO), während das Gefahrenabwehrrecht vom Opportunitätsprinzip beherrscht wird (Rn 151); Rechtsschutz gegen Gefahrenabwehrmaßnahmen ist idR im Verwaltungsrechtsweg zu erlangen, Strafverfolgungsmaßnahmen unterliegen der (zT insuffizienten) Kontrolle der ordentlichen Gerichtsbarkeit.28 Die kategoriale Differenzierung zwischen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung durch die 10 Rechtsordnung schließt nicht aus, dass es zwischen beiden Bereichen zu Überschneidungen kommt. Faktisch sind Gemengelagen in der Lebenswirklichkeit nicht zu vermeiden; 29 rechtlich können Maßnahmen, die ihrem äußeren Erscheinungsbild nach „ambivalent“ sind, ihre Rechtsgrundlage sowohl in der StPO als auch im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht finden; 30 funktional kommt es unter dem Eindruck neuartiger Gefährdungslagen für die Innere Sicherheit zu einer zunehmenden Verflechtung zwischen präventiven und repressiven Maßnahmen.31 Dennoch bedarf es aus den in Rn 9 genannten Gründen der Zuordnung polizeilichen Handelns zum Gefahrenabwehrrecht oder zum Strafverfolgungsrecht. Das faktisch einheitlich erscheinende Handeln der Polizei wird rechtlich mit dem Begriff 11 „doppelfunktionale Maßnahmen“ zu erfassen versucht. Darunter sind Maßnahmen zu verstehen, die zugleich zum Zweck der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung getroffen werden (können). Nach hM soll die Zuordnung der Maßnahme zur Strafverfolgung oder zur Gefahrenabwehr nach ihrem Schwerpunkt erfolgen, der anhand des Gesamteindrucks der Maßnahme zu ermitteln sei.32 Im Übrigen soll eine doppelfunktionale Maßnahme rechtmäßig sein, solange nur eine der in Anspruch genommenen Befugnisnormen (StPO oder Polizeirecht) sie trage.33 Rechtlich überzeugend ist die hM nicht.34 Notwendig ist eine differenzierende Beurteilung: Umfasst ein einheitlich erscheinender Handlungsablauf ein polizeiliches Maßnahmenbündel, muss dieses aufgespalten und die jeweilige Maßnahme der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr zugeordnet werden.35 Sodann verfügt die Polizei über die Entscheidungsbefugnis darüber, ob sie präventiv oder repressiv agieren will; allerdings muss dies vor dem Tätigwerden

_____ 28 Einzelheiten zum Rechtsschutz gegen polizeiliche Maßnahmen bei Schoch JURA 2001, 628 ff. – Zum Rechtsschutz gegen strafprozessuale Maßnahmen Krach JURA 2001, 737 ff; vertiefend Amelung FG 50 Jahre BGH, 2000, 911 ff; ferner Fallbearbeitung Lecheler/Germelmann JURA 2001, 781 ff. – Zur Rechtswegbestimmung bei Maßnahmen nach § 81b Alt 2 StPO BVerwG NVwZ-RR 2011, 710: Verwaltungsrechtsweg nach § 40 I 1 VwGO auch bei Maßnahmen der vorsorgenden Strafrechtspflege außerhalb eines konkreten Strafverfahrens; ferner Kruse/Bulling JuS 2007, 342 ff. – Aus der Praxis zB BVerfG-K NStZ 2004, 447 o JK EGGVG § 23/6: grds kein Rechtsschutz gegen Einleitung und Fortführung eines Ermittlungsverfahrens durch die StA. 29 Praktisches Bspl BGH DÖV 1991, 849 o JK StPO § 163/1 (Videoüberwachung eines mutmaßlichen Brandstifters zwecks Überführung des Überwachten und zur Verhinderung weiterer Brandstiftungen); dazu Wolter JURA 1992, 520 ff, sowie Fallbearbeitung Hantschel JURA 2001, 472 ff. 30 ZB Beschlagnahme nach der StPO (§§ 94 ff) oder nach Gefahrenabwehrrecht (Rn 319), ferner Wohnungsdurchsuchung (§§ 102, 104 ff StPO bzw Rn 313), Personendurchsuchung (§§ 102, 103 StPO bzw Rn 311), Personenfeststellung (§§ 163b, 163c StPO bzw Rn 264), erkennungsdienstliche Maßnahmen (§ 81b StPO bzw Rn 269). 31 Trute DV 32 (1999) 73, 76; Saurer NVwZ 2005, 275, 276 ff. – Signifikantes Bspl ist die nach Polizeirecht erfolgende Speicherung personenbezogener Daten, die im Rahmen der Strafverfolgung erhoben worden sind; VGH BW NVwZRR 2000, 287 und DVBl 2001, 838; verfassungsrechtlich gebilligt durch BVerfG-K DVBl 2002, 1110 o JK Polu OrdR/Datenspeicherung/1, m krit Bspr Hohnstätter NJW 2003, 490; allg zur Verwendung strafprozessual erhobener Daten für präventivpolizeiliche Zwecke Schenke FG Hilger, 2003, 225 ff. 32 BVerwGE 47, 255, 265; VGH BW NVwZ-RR 2005, 540; BayVGH NVwZ 1986, 655 sowie BayVBl 1991, 657 f und 1993, 429, 430; OVG NW NJW 1980, 855; Fezer JURA 1992, 126, 133; Jorzik/Kunze JURA 1990, 294, 297; Erichsen JURA 1993, 45, 49; Möstl DVBl 2010, 808, 814 f; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 101; Pieroth/Schlink/Kniesel § 2 Rn 15; Knemeyer Rn 122. 33 Vgl Götz § 18 Rn 18 f. 34 Einzelheiten zur Kritik bei Schoreit NJW 1985, 169, 172; Schmidtbauer FS Steiner, 2009, 734, 744 ff; Schenke NJW 2011, 2838, 2841 ff; Götz § 18 Rn 19; Schenke Rn 423. 35 OVG NW NWVBl 2012, 364 o JK VwGO § 40 I/41; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 102; Kugelmann 1/61; ferner Albers Straftatenverhütung, 95.

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feststehen.36 Fehlt es an einer entsprechenden Festlegung und ist die Maßnahme bereits durchgeführt, kann es aus rechtsstaatlichen Gründen nur auf die objektive Zwecksetzung der Polizeiaktion ankommen.37 Werden sowohl Ziele der Strafverfolgung als auch der Gefahrenabwehr verfolgt, so dass es um die rechtliche Würdigung einer „echten“ doppelfunktionalen Maßnahme geht, müssen – selbstverständlich – beide Rechtsgrundlagen (dh die Befugnisnorm nach der StPO und diejenige nach allg Gefahrenabwehrrecht) beachtet werden.38 bb) Einbeziehung vorbeugender Bekämpfung von Straftaten. Im Unterschied zur polizeili- 12 chen Strafverfolgung, die als repressive Tätigkeit eine Straftat voraussetzt und die Ermittlungstätigkeit daran anknüpft (§ 163 StPO), wird die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten dem Gefahrenabwehrrecht zugeordnet. Im positiven Recht wird dies durch unterschiedliche Gesetzestechniken mit divergierender inhaltlicher Reichweite zum Ausdruck gebracht: Überwiegend wird die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten in der allgemeinen Aufgabenzuweisungsnorm zum Gegenstand gefahrenabwehrender polizeilicher Tätigkeit erklärt; in der Mehrzahl der Fälle wird diesem Aufgabenkomplex sowohl die Verhütung von Straftaten als auch die Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten zugeordnet,39 andere Gesetzesbestimmungen rechnen zur Gefahrenabwehraufgabe nur die Verhütung von Straftaten.40 Nach einem bereichsspezifischen Aufgabenzuweisungskonzept umfasst die Gefahrenabwehr die Erhebung und Verarbeitung von Daten zur Verhütung von Straftaten und zur Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten.41 Dem steht ein Modell gegenüber, das die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten zum Inhalt von einzelnen Befugnisnormen erklärt, sei es generalklauselartig 42 oder sei es bereichsspezifisch.43 Die gesetzliche Ausdehnung der klassischen Gefahrenabwehr (Rn 8) auf die Gefahren- und 13 Strafverfolgungsvorsorge stellt die positivrechtliche Ausprägung eines polizeilichen Vorsorgeprinzips als Reaktion auf die veränderte Verbrechenswirklichkeit (zB Zunahme gewaltsamer Aktionen, organisierte Kriminalität, Terrorismus) dar.44 Markantestes Kennzeichen des neuen Aufgabenspektrums ist die polizeiliche Informationsvorsorge; sie äußert sich zB in besonderen Möglichkeiten zur Erhebung, Nutzung und Speicherung personenbezogener Daten, im verstärkten Einsatz der Videoüberwachung oder von V-Leuten.45 Rechtlich erlauben die ein-

_____ 36 Hantschel JURA 2001, 472, 476. – Daher hat die Polizei (im Nachhinein) kein Wahlrecht bzgl der Rechtsgrundlage; nicht relevant deshalb die Bedenken bei Knemeyer Rn 123 und Gusy Rn 155. 37 OVG NW NWVBl 2012, 364, 365 o JK VwGO § 40 I/41; Schoch FS Stree/Wessels, 1993, 1095, 1115; Kugelmann 1/49; Schenke Rn 423; krit Gusy Rn 22. 38 Wolter JURA 1992, 520, 526; Albers Straftatenverhütung, 96; Schenke Rn 423 f (mit der Konsequenz einer Rechtswegspaltung); Thiel Rn 91; aus der Praxis OVG SH NVwZ-RR 2007, 817, 818: zu trennende polizeiliche Handlungen und Unanwendbarkeit des § 17 II 1 GVG; aA Schmidtbauer FS Steiner, 2009, 734, 753; Wolffgang/Hendricks/Merz Rn 45: eine Rechtsgrundlage genügt. 39 § 1 III ASOG Bln; § 1 IV HessSOG; § 1 II iVm § 7 I Nr 4 SOG MV; § 1 I 2 PolG NW; § 1 I 2 Nr 2 SächsPolG; § 2 I SOG LSA; § 2 I 2 ThürPAG. 40 § 1 I 2 BbgPolG; § 1 I 3 PolG Bremen; § 1 I 3 NdsSOG; § 1 I 3 POG RP; ebenso für die Bundespolizei § 1 V BPolG. 41 So § 1 I 2 Nr 1 HbgGDatPol. 42 Art 11 II 1 Nr 1 BayPAG (Verhütung von Straftaten). 43 Beispiele: vorbeugende Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität (§ 26 I Nr 6 PolG BW; § 9a PolG SL); erkennungsdienstliche Maßnahmen zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten (§ 26 I Nr 2–5 PolG BW; § 10 I Nr 2 PolG SL; § 183 I 3 LVwG SH); Informationsvorsorge zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten (§§ 20 III, 22 II, 38 I PolG BW; §§ 28, 30 II PolG SL; §§ 179 II, 189 I LVwG SH). – Vergleichbare Befugnisnormen treten in den anderen Ländern zur Aufgabenzuweisung (Fn 39–41) hinzu. 44 Ausf Albers Straftatenverhütung, 97 ff; ferner Trute GS Jeand’Heur, 1999, 403 ff; Gusy VVDStRL 63 (2004) 151 ff; ders VerwArch 101 (2010), 309 ff; Möstl DVBl 2010, 808 ff; Poscher in: Vesting/Korioth (Fn 14), 245 ff; eine Annäherung des Polizeirechts an das Kriegsrecht konstatiert Waechter JZ 2007, 61 ff. 45 Horn FS Schmitt Glaeser, 2003, 435 ff; Kugelmann DÖV 2003, 781 ff; Schoch Staat 43 (2004) 347, 352 ff; Kutscha LKV 2008, 481 ff; Gusy JA 2011, 641 ff.

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schlägigen Gesetzesbestimmungen eine Vorverlagerung polizeilicher Aktivitäten; fassbare Konsequenzen hieraus sind verminderte Anforderungen für die Bejahung der Gefahrenlage für ein polizeiliches Einschreiten und die vermehrte Befugnis der Polizei zur Inanspruchnahme sog Nichtstörer.46 Im Grundsätzlichen wurden die Aufgabenerweiterung und die Einräumung der Vorfeldbefugnisse der Polizei angesichts veränderter Gefährdungen der Inneren Sicherheit durch neue Formen der Kriminalität seitens der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte zunächst für verfassungsmäßig erachtet.47 Demgegenüber hat das BVerfG eine Verschärfung vorgenommen.48 Ausgehend vom Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung49 vertritt das BVerfG in Bezug auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen für die gesetzliche Normierung polizeilicher Vorfeldbefugnisse eine restriktive Linie.50 So ist die präventive polizeiliche Rasterfahndung nur zulässig, wenn eine konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter (zB Bestand und Sicherheit des Staates; Leib, Leben, Freiheit einer Person) besteht, während im Vorfeld der Gefahrenabwehr eine solche Rasterfahndung ausscheidet;51 die Videoüberwachung eines öffentlichen Platzes setzt als verdachtsloser Eingriff mit großer Streubreite gegenüber sog Nichtstörern neben einer hinreichend bestimmten Rechtsgrundlage voraus, dass für die Überwachung ein hinreichender Anlass besteht und Überwachung sowie Aufzeichnung in räumlicher und zeitlicher Hinsicht sowie bzgl möglicher Auswertungen der Daten das Übermaßverbot wahren;52 die automatisierte Erfassung von Kfz-Kennzeichen darf nicht anlasslos erfolgen oder flächendeckend durchgeführt werden und sie muss zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit eine Maßnahme auf Grund konkreter Gefahrenlagen oder allgemein gesteigerter Risiken von Rechtsgutgefährdungen oder -verletzungen sein.53 Auf dieser Rechtsprechungslinie liegen – außerhalb des klassischen Polizei- und Ordnungsrechts – die Nichtigerklärung der Vorschriften zur OnlineDurchsuchung im Verfassungsschutzgesetz Nordrhein-Westfalen, 54 zur Vorratsdatenspeicherung von TK-Verkehrsdaten 55 und die (erneute) Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Regelungen des TKG (§ 113 I 2) zur Speicherung und Verwendung von TK-Daten.56 Hintergrund der Entwicklung ist eine neue Sicherheitsarchitektur, die insbesondere durch 14 die Ausweitung polizeilicher Vorfeldbefugnisse und die Vernetzung von Behörden (zB durch gemeinsame Dateien) gekennzeichnet ist.57 Auf der Befugnisebene führen die staatlichen Aktivitäten im Vorfeld möglicher Gefahren (zB durch den Terrorismus) zu einer Entgrenzung in vieler-

_____ 46 Trute DV 36 (2003) 501 ff; Bull FS Selmer, 2004, 29 ff; Gusy Rn 195 ff; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/ Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 30. 47 SächsVerfGH LKV 1996, 273 o JK SächsVerf Art 16 I 2/1 (zur heimlichen polizeilichen Informationsbeschaffung), ähnlich BbgVerfG LKV 1999, 450; LVerfG MV LKV 2000, 149 und BayVerfGH DVBl 2003, 861 sowie SächsVerfGH Urt v 10.7.2003 – Vf 43-II-00 – (zur verdachtsunabhängigen Identitätsfeststellung – „Schleierfahndung“); ähnlich VerfG LSA NVwZ 2002, 1370; BVerfG-K DÖV 2001, 777 (zur Datenerhebung durch Observation und zum verdeckten Einsatz technischer Mittel); stärker einschränkend zum „Großen Lauschangriff“ nach PolR LVerfG MV LKV 2000, 345. 48 Trute DV 42 (2009), 85, 87. – Nachzeichnung der Rspr des BVerfG durch Hofmann-Hoeppel in: FG Knemeyer, 2012, 329 ff. 49 Vgl. dazu Schoch JURA 2008, 352 ff. 50 Krit dazu Hillgruber JZ 2007, 209 ff; differenzierend Di Fabio NJW 2008, 421 ff. 51 BVerfGE 115, 320 ĺ JK GG Art 2 I iVm Art 1 I/41; dazu Bespr Volkmann JURA 2007, 132 ff. 52 BVerfG-K NVwZ 2007, 688; dazu Bespr Fetzer/Zöller NVwZ 2007, 775 ff. 53 BVerfGE 120, 378 o JK GG Art 2 I iVm 1 I/48; dazu Bespr Cornils JURA 2010, 443 ff; ferner Breyer NVwZ 2008, 824 ff; Roßnagel NJW 2008, 2547 ff. 54 BVerfGE 120, 274; dazu Hömig JURA 2009, 207 ff; Wegener/Muth JURA 2010, 847 ff. 55 BVerfGE 125, 260 o JK GG Art 10 I/5; dazu Wolff NVwZ 2010, 751 ff; Hornung/Schabel DVBl 2010, 824 ff; Roßnagel NJW 2010, 1238 ff. 56 BVerfG NJW 2012, 1419. 57 Würtenberger/Tanneberger in: Riescher (Hrsg), Sicherheit und Freiheit statt Terror und Angst, 2010, 97 ff; Gusy VerwArch 101 (2012), 309, 322 ff.

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lei Hinsicht (etwa bzgl Eingriffsschwellen, Störer/Nichtstörer, Datenaustausch und -abgleich, verdeckter Informationsgewinnung etc); demgegenüber ist zweifelhaft, ob die Strategien zur Begrenzung behördlicher Befugnisse (zB durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen, Präzisierung der Anforderungen an eine konkrete Gefahr, Kompetenzabgrenzungen) den drohenden Freiheitsverlusten angemessen Rechnung tragen (können).58 Das BVerfG stärkt in seiner Rechtsprechung (Rn 13) die Abwehrdimension der Grundrechte, fordert vom Gesetzgeber die Schaffung von Normenbestimmtheit und Normenklarheit ein und nutzt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (ieS) zur Detailkontrolle des Gesetzgebers (und mitunter zur richterlichen Rechtsgestaltung).59 In diesem Konzept stehen Freiheit und Sicherheit in einem fundamentalen Spannungsverhältnis, und die vom BVerfG inhaltlich konturierte Angemessenheit einer polizeilichen Vorfeldbefugnis erlaubt es dem Gericht immer wieder, konkrete Maßnahmen der staatlichen Sicherheitsvorsorge für verfassungswidrig zu erklären.60 Restlos überzeugend ist diese Judikatur nicht. Funktionellrechtlich nimmt sie eine Kompetenzverschiebung (und damit eine Machtverlagerung) vom Gesetzgeber auf die Rechtsprechung vor,61 zumal angesichts der zu bewältigenden komplexen Risiko- und Gefährdungslagen nicht selten darüber gestritten werden kann, was noch „angemessen“ oder schon „unangemessen“ ist. Materiellrechtlich blendet das BVerfG die Schutzpflichtendimension der Grundrechte (vgl Rn 22) weitgehend aus, ignoriert dadurch die Perspektive „Freiheit und Sicherheit“ und trägt damit dem üblichen Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Wahrnehmung seiner Schutzpflichten nicht immer (hinreichend) Rechnung.62 Unabhängig von den prinzipiellen Fragestellungen zur Balance zwischen Freiheit und 15 Sicherheit (Rn 14) muss in Bezug auf die Einbeziehung der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten in die Gefahrenabwehr (Rn 12) bei der rechtlichen Zuordnung differenziert werden. Als – weithin – unproblematisch gilt die Einbeziehung der Verhütung von Straftaten 63 in die Gefahrenabwehraufgabe der Polizei.64 Dieser Aufgabenbereich betrifft präventives polizeiliches Handeln. Dieser Regelungsgegenstand liegt in der Kompetenz des Landesgesetzgebers. Die Kennzeichnung als „Aufgabe der Gefahrenabwehr“ ist daher für die Straftatenverhütung zutreffend. Über die konkreten Befugnisse ist damit noch keine Aussage getroffen. Umstritten ist die Zuordnung der Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten.65 Eine 16 Auffassung66 sieht auch darin eine Aufgabe der Gefahrenabwehr, weil nicht iSd § 152 II StPO auf Grund eines Anfangsverdachts an eine in der Vergangenheit liegende Straftat angeknüpft, sondern iSd Prävention vorbeugende Verbrechensbekämpfung betrieben werde. Die Gegenauffassung 67 rechnet jene Vorsorge wegen der Zielrichtung der Maßnahmen zur Strafverfolgung.

_____ 58 Volkmann NVwZ 2009, 216, 217 ff; Poscher in: Vesting/Korioth (Fn 14), 245, 253 ff. 59 Rspr des BVerfG zusammenfassend Papier DVBl 2010, 801 ff; ders FS Schenke 2011, 263, 267 ff; zur Rspr differenzierende Kritik und Zustimmung bei Trute DV 42 (2009), 85, 87 ff. 60 Masing JZ 2011, 753, 756 ff. 61 Möstl DVBl 2010, 808, 811 f; Würtenberger in: Kugelmann (Hrsg), Polizei unter dem Grundgesetz, 2010, 73, 82 ff; ders in: FS M. Schröder, 2012, 285 ff. 62 Schoch in: Gander ua (Hrsg), Resilienz in der offenen Gesellschaft, 2012, 63, 67 ff. – Vgl auch Thiel Die „Entgrenzung“ der Gefahrenabwehr, 2011, 137 ff, 182 ff. 63 Einzelheiten dazu bei Albers Straftatenverhütung, 123 ff. 64 BVerfGE 113, 348, 368 ĺ JK GG Art 10 I/3; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 199; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 30, 99; Kugelmann 5/172 ff; Schenke Rn 10. 65 Einzelheiten dazu bei Albers Straftatenverhütung, 128 ff. 66 Pieroth VerwArch 88 (1997) 568, 574; Thiel Gefahrenabwehr (Fn 62) 113 f; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 99; Gusy Rn 188 f; Pieroth/Schlink/Kniesel § 5 Rn 5 f; unentschieden Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 200 f. 67 Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 177; Schenke Rn 11; Kugelmann 5/183 f; Zöller Informationssysteme und Vorfeldmaßnahmen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Nachrichtendiensten, 2002, 90 ff; Kral Die polizeilichen Vorfeldbefugnisse als Herausforderung der Dogmatik und Gesetzgebung des Polizeirechts, 2012, 97 ff.

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Auch die Rechtsprechung ist in der Beurteilung gespalten. Das BVerwG ordnete die vorsorgende Strafverfolgung auf Grund ihres vorbeugenden Zwecks der polizeilichen Gefahrenabwehraufgabe zu.68 Das BVerfG hingegen betont den funktionalen Zusammenhang der Strafverfolgungsvorsorge mit der Beweisbeschaffung in künftigen Strafverfahren und erachtet deshalb das Strafverfahrensrecht für einschlägig.69 Dem entspricht das weite Verständnis des Begriffs „Strafrecht“ durch das BVerfG; dazu gehöre die Regelung aller, auch nachträglicher, repressiver oder präventiver staatlicher Reaktionen auf Straftaten, die an die Straftat anknüpfen, ausschließlich für Straftäter gelten und ihre sachliche Rechtfertigung aus der Anlasstat bezögen.70 Am Beispiel des § 33a NdsSOG aF (vorbeugende TK-Überwachung) wurde vom BVerfG für die Praxis verbindlich geklärt, dass die Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten Art 74 I Nr 1 GG (und nicht Art 70 GG) zuzuordnen ist; da der Bundesgesetzgeber iSd Art 72 I GG abschließend von seiner Kompetenz Gebrauch gemacht habe, bestehe keine Landeskompetenz zur Ermächtigung der Polizei zur TK-Überwachung zwecks Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten.71 Das Gericht meint, die Vorsorge für die spätere Verfolgung von Straftaten auf den Kompetenztitel „gerichtliches Verfahren“ (Art 74 I Nr 1 GG) stützen zu können, obwohl ungewiss ist, ob die vorsorglich gespeicherten Daten für Zwecke der Strafverfolgung überhaupt benötigt werden; diese Ungewissheit könne sich auf die Rechtmäßigkeit der Maßnahme auswirken, stehe aber der Bejahung der Gesetzgebungskompetenz für den Bund nicht entgegen.72 Überzeugend ist das nicht. Wenn kein Sachzusammenhang zu einem konkreten gerichtlichen Verfahren (Strafverfahren) besteht, ist die vorbeugende Verbrechensbekämpfung Aufgabe der Gefahrenabwehr und damit Regelungsgegenstand des Polizeirechts der Länder.73 Die Kontroverse hat erhebliche Konsequenzen für die Ermittlung der Gesetzgebungskom17 petenz. Der Bund darf das Strafverfahrensrecht nach Art 74 I Nr 1 GG regeln, das allgemeine Gefahrenabwehrrecht liegt nach Art 70 GG in der Gesetzgebungskompetenz der Länder. Die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der landesgesetzlichen Einbeziehung der Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten in die allgemeine Gefahrenabwehraufgabe wird zusätzlich dadurch befrachtet, dass der Bund seinerseits in der StPO Befugnisse zur Strafverfolgungsvorsorge normiert.74 Umgekehrt wird dem Landesrecht gerichtlich attestiert, es enthalte materielles Strafverfahrensrecht.75 Wird die Strafverfolgungsvorsorge bzgl der Gesetzgebungsbefugnis Art 74 I Nr 1 GG zugeordnet, haben die Länder das Recht zur Gesetzgebung auf diesem Gebiet nur, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht nicht Gebrauch macht (Art 72 I GG); mit dem Bundesrecht kollidierende landespolizeiliche Vorschriften zu bestimmten erkennungsdienstlichen Maßnahmen oder zur Datenspeicherung bzgl künftiger Straftaten sind danach unwirksam.76 Unterfällt die Strafverfolgungsvorsorge dagegen dem Gefahrenabwehrrecht, hat der Bund durch seine straf-

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68 BVerwG NJW 1990, 2765, 2766 f; NJW 1990, 2768, 2769; NVwZ-RR 2011, 710. 69 BVerfG-K NJW 2001, 879 o JK StPO § 81g/2; vgl dazu auch Neuser JURA 2003, 461 ff. 70 So BVerfGE 109, 190, 212; Konsequenz: Verfassungswidrigkeit landesrechtlicher Regelungen der Straftäterunterbringung; vgl dazu Baier JURA 2004, 552 ff; ferner Gärditz NVwZ 2004, 693 ff und BayVBl 2006, 231 ff; Kinzig NJW 2004, 911 ff. 71 BVerfGE 113, 348, 369 f ĺ JK GG Art 10 I/3; dazu Bespr Lepsius JURA 2006, 929 ff; ferner Stephan VBlBW 2005, 410 ff; Gusy NdsVBl 2006, 65 ff. – Zu der mittlerweile erfolgten Änderung des NdsSOG vgl NdsOVG NdsVBl 2009, 202 (m Anm Pahlke NdsVBl 2010, 82) und NdsOVG NVwZ 2010, 69 o JK NdsSOG § 15 I 1 Nr 2/1. 72 BVerfGE 113, 348, 371 ĺ JK GG Art 10 I/3. 73 Pieroth/Schlink/Kniesel § 5 Rn 6b. 74 § 81b Alt 2 StPO (erkennungsdienstliche Maßnahmen); § 81g StPO (DNA-Identitätsfeststellung); § 484 StPO (Datenverarbeitung für Zwecke künftiger Strafverfahren); dazu ausf Zöller Vorfeldmaßnahmen (Fn 67) 100 ff. 75 OVG SH NJW 1999, 1418 zu § 189 I LVwG SH. 76 So in der Tat (mit Differenzierungen) Schenke Rn 12, 30 f; Zöller Vorfeldmaßnahmen (Fn 67) 93 f.

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prozessualen Regelungen zur Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten verfassungswidrig in die Kompetenz der Länder (Art 70 GG) eingegriffen.77 Betroffen von diesem Verdikt wären nicht nur neuartige strafprozessuale Bestimmungen, sondern auch – da materiell präventivpolizeiliches Handeln regelnd – § 81b Alt 2 StPO.78 Im Anschluss an die rechtliche Klärung der Kompetenzlage für die Praxis durch das BVerfG (Rn 16) hat das BVerwG indes § 81b Alt 2 StPO für kompetenzgemäß erklärt; die Bestimmung diene der zukünftigen Durchführung der Strafverfolgung in Bezug auf mögliche spätere Straftaten und sei daher von Art 74 I Nr 1 GG gedeckt.79 Konsequent ist das nicht, zumal das BVerwG gerade auch Maßnahmen außerhalb eines konkreten Strafverfahrens § 81b Alt 2 StPO zuordnet und die Strafverfolgungsvorsorge als Instrument des Polizeirechts qualifiziert.80 Im Anschluss daran hat das BVerwG entschieden, der Bund habe gemäß Art 74 I Nr 1 GG keine abschließende Regelung hinsichtlich der Strafverfolgungsvorsorge getroffen, weil sich das Kodifikationsprinzip nach § 6 EGStPO81 nicht auf die Strafverfolgungsvorsorge erstrecke; deshalb sei der Landesgesetzgeber nicht gehindert, Regelungen zur Gefahrenvorsorge zu treffen, selbst wenn der Bundesgesetzgeber parallel dazu Regelungen zur Strafverfolgungsvorsorge getroffen habe.82 Die Kompetenzlage nach Art 70, 72 I, 74 I Nr 1 GG wird dadurch nicht übersichtlicher. Soll die Gesetzessprache nicht jeden Sinn verlieren, kann die Strafverfolgungsvorsorge 18 nicht über das „gerichtliche Verfahren“ iSd Art 74 I Nr 1 GG der konkurrierenden Gesetzgebung zugeordnet werden.83 Die Gesetzgebungszuständigkeit liegt danach für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten nach zutreffender Auffassung insgesamt bei den Ländern.84 Im Vorfeld der Strafverfolgungstätigkeit werden der Polizei mit der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten Aufgaben zugewiesen, die keinen Bezug zu einer konkreten Straftat haben; die Voraussetzungen des Art 74 I Nr 1 GG liegen danach nicht vor.85 Allgemeine bundesgesetzliche Regelungen der Gefahren- und Strafverfolgungsvorsorge sind demgemäß unzulässig. Nun sind Straftatenverhütung und Verfolgungsvorsorge als moderne Formen der Kriminalitätsbekämpfung dadurch gekennzeichnet, dass es angesichts der komplexen und vernetzten Lebenswirklichkeit um die Erzeugung von Grundlagen- und Strukturwissen geht. Aber das kann nach geltendem Verfassungsrecht nicht dazu führen, präventivpolizeiliche Regelungen des Bundes dadurch „retten“ zu wollen, dass die „gewohnten Muster“ zur Abgrenzung zwischen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung für unbrauchbar erklärt werden und die Bundeskompetenz mit einer Annexkompetenz zu Art 74 I Nr 1 GG iVm einem funktionalen Verständnis der Verfolgungsvorsorge zu begründen versucht wird.86 Die Gesetzgebungskompetenzen nach Art 70, 73 ff GG sind nicht funktional, sondern gegenständlich (dh nach Sachmaterien) ausgestaltet. Bundesgesetzliche Vorschriften zum allgemeinen Gefahrenabwehrrecht können auf Grund des Sachzusammenhangs mit dem Strafverfahrensrecht nur Bestand haben, wenn die vorgesehenen Maßnahmen mit der „Beschuldigten“-Eigenschaft des Betroffenen verknüpft sind. In-

_____ 77 So Paeffgen JZ 1991, 437, 443; zustimmend Pieroth/Schlink/Kniesel § 5 Rn 6. 78 Vgl zu der Kontroverse hierüber Schoch FS Stree/Wessels, 1993, 1095, 1097; dezidiert Pieroth VerwArch 88 (1997) 568, 575 (Fn 38): Verfassungswidrigkeit von § 81b Alt 2 StPO wegen Kompetenzverstoßes. 79 BVerwG JZ 2006, 727, 729 (m abl Anm Eisenberg/Puschke) ĺ JK StPO § 81b/2; dazu Bespr Schenke JZ 2006, 707 ff; zuvor bereits HessVGH NJW 2005, 2727, 2728. 80 BVerwG NVwZ-RR 2011, 710; ähnlich zuvor bereits OVG SH NVwZ-RR 2007, 817, 818; NdsOVG NdsVBl 2009, 202 (m Anm Pahlke NdsVBl 2010, 82). 81 Abgedruckt in Schönfelder Nr 90a. 82 BVerwG BeckRS 2012, 48335 Rn 35 f o JK GG Art 2 I iVm 1 I/57. 83 Albers Straftatenverhütung, 268. 84 BayVerfGH DVBl 1995, 347, 349 und DVBl 2003, 861, 862; SächsVerfGH LKV 1996, 273, 275; BbgVerfG LKV 1999, 450, 451; LVerfG MV LKV 2000, 149, 151 und 345, 347; Pieroth/Schlink/Kniesel § 5 Rn 6. 85 LVerfG MV LKV 2000, 149, 150 f; ausf Kastner VerwArch 92 (2001) 216, 234 ff, sowie Notzon Zum Rückgriff auf polizeirechtliche Befugnisse zur Gefahrenabwehr im Rahmen der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung, 2002, 70 ff. 86 So bereits Albers Straftatenverhütung, 265 ff; ebenso BVerfGE 113, 348, 370 f ĺ JK GG Art 10 I/3.

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soweit sind landesgesetzliche Bestimmungen verdrängt (Rn 271). Diese kommen bei der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten zum Zuge, wo „Nichtbeschuldigte“ betroffen sind.87 Sind somit Straftatenverhütung und Strafverfolgungsvorsorge nach rechtsdogmatisch zu19 treffender Auffassung gegenständlich dem Gefahrenabwehrrecht zuzuordnen, könnte unter systematischen Vorzeichen eine „dritte“ polizeiliche Aufgabenkategorie neben der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung anzuerkennen sein.88 Ein fassbarer Erkenntnisfortschritt wäre damit jedoch nicht verbunden. Im Gegenteil, schon um die rechtsstaatlichen Sicherungen des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts nicht zu gefährden, sollte die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten als Teil der Gefahrenabwehraufgabe verstanden werden.89

c) Fazit 20 Der durch die Aufgabenzuweisung an die Polizei (und die Ordnungsbehörden) gekennzeichnete Gegenstandsbereich des Polizei- und Ordnungsrechts umfasst die klassische Gefahrenabwehr einschließlich der Vorbereitung hierauf, ferner die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten (Verhütung von Straftaten und Vorsorge zur Verfolgung von Straftaten); hinzu tritt die Vollzugshilfe.90 Sofern die Polizei weitere, ihr durch Rechtsvorschrift übertragene Aufgaben wahrzunehmen hat, ist das Gefahrenabwehrrecht nur im Falle der Prävention betroffen. Repressives behördliches Handeln wie zB die Verfolgung von Straftaten (und Ordnungswidrigkeiten) ist vom Polizei- und Ordnungsrecht nicht umfasst.

2. Gefahrenabwehr als staatliche Aufgabe a) Gewährleistung der Inneren Sicherheit als Staatsaufgabe 21 Die Gewährleistung der Inneren Sicherheit ist eine fundamentale und originäre Aufgabe des modernen Staates.91 Der Staat fungiert als rechtlich verfasste Friedens- und Ordnungsmacht (Rn 2), die die Sicherheit seiner Bevölkerung gewährleistet.92 Nach der Überwindung des mittelalterlichen Faustrechts ist die Ausübung von Gewalt, derer es zur Durchsetzung der Rechtsordnung mitunter bedarf, beim Staat monopolisiert.93 Von daher kann die Gewährleistung der Inneren Sicherheit als notwendige Staatsaufgabe 94 bezeichnet werden.95

_____ 87 In diesem Sinne speziell für § 81b Alt 2 StPO VGH BW NJW 2008, 3082; HessVGH NVwZ-RR 1994, 652, 653 und 656; ebenso VGH BW NVwZ-RR 2004, 572 o JK StPO § 81b/1; BayVGH NVwZ-RR 1998, 496, 497; OVG NW DVBl 1999, 1228; OVG RP DÖV 2001, 212; SächsOVG NVwZ-RR 2001, 238. – Anders (im Anschluss an die Rspr des BVerfG) NdsOVG NVwZ 2010, 69, 71. 88 So Roggan NJW 2009, 257; Knemeyer Rn 15; ders FS Rudolf, 2001, 483 ff; ders DVBl 2007, 785, 786; Albers Straftatenverhütung, 252 ff. – Kral Vorfeldbefugnisse (Fn 67) 169 ff entwickelt ein eigenständiges „Rechtsgüterschutzmodell“. 89 Götz DVBl 2001, 1198, 1199; Möstl DVBl 2007, 581, 584 f; Thiel Gefahrenabwehr (Fn 62) 134 ff. 90 § 60 IV PolG BW; Art 2 III BayPAG; § 1 V ASOG Bln; § 1 III BbgPolG; § 1 III PolG Bremen; § 1 V HessSOG; § 7 II SOG MV; § 1 IV NdsSOG; § 1 III PolG NW; § 1 IV POG RP; § 1 IV PolG SL; § 61 I SächsPolG; § 2 III SOG LSA; § 168 II 1 Nr 1 LVwG SH; § 2 III ThürPAG. 91 Krölls GewArch 1997, 445, 448; Trute GS Jeand’Heur, 1999, 403, 413; Schulze-Fielitz FS Schmitt Glaeser, 2003, 407 ff; G. Nolte VVDStRL 67 (2008), 129, 132; Ullrich VerwArch 102 (2011), 383; ausf Stoll Sicherheit als Aufgabe von Staat und Gesellschaft, 2003, 15 ff. 92 BVerfGE 49, 24, 56 f; E 115, 320, 346; E 120, 274, 319. 93 BVerfGE 69, 315, 360 unter Hinweis auf den Schutz schwächerer Minderheiten; aA Pitschas DÖV 1997, 393, 397: „Der Staat verfügt über kein Gewaltmonopol“; Kämmerer FS Stober 2008, 595 ff: Abschied vom staatlichen Gewaltmonopol; krit Pieroth in: Gutmann/Pieroth (Hrsg), Die Zukunft des staatlichen Gewaltmonopols, 2011, 53 ff; zutr Differenzierungsansatz bei Artelt Verwaltungskooperationsrecht – Zur Ausgestaltung der Zusammenarbeit von Polizei- und Sicherheitswirtschaft, 2009, 123 ff: staatliches Gewaltmonopol, aber kein staatliches Sicherheitsmonopol. 94 Möstl Sicherheit, 42 ff, begreift Innere Sicherheit als „Staatsziel“. 95 Saipa/Wahlers/Germer NdsVBl 2000, 285, 288. – Zur Sicherheit als Grundlage der Freiheit Calliess DVBl 2003, 1096, 1100 ff; zur Balance zwischen Freiheit und Sicherheit angesichts neuer Bedrohungen für die Innere Sicher-

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Die Gefahrenabwehr ist Teil der Gewährleistung der Inneren Sicherheit.96 Infolgedessen ist auch der präventive Schutz des Einzelnen und der Allgemeinheit vor Gefahren eine notwendige staatliche Aufgabe.97 Diese Aufgabenzuordnung bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein staatliches Monopol auf Sicherheitsgewähr entstehen muss.98 In die Aufgabendurchführung können möglicherweise auch Private einbezogen werden (Rn 24 ff). Aber die prinzipielle Aufgabenzuweisung an den Hoheitsträger begründet die „Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger … zu schützen“.99 Im Grundgesetz hat diese Staatsaufgabe nur unvollkommen Ausdruck erhalten. Es fehlt an 22 einer umfassenden und zusammenhängenden Regelung zur Staatsaufgabe „Sicherheit“; dazu finden sich nur punktuelle Aussagen.100 Dies rechtfertigt aber nicht die These, jene Staatsaufgabe gebe es in Deutschland 101 mit Verfassungsrang nicht.102 Mindestens aus der Garantiefunktion der Grundrechte (staatliche Schutzpflichten) 103 und dem staatlichen Gewaltmonopol 104 lässt sich herleiten, dass die Gefahrenabwehr eine notwendige staatliche Aufgabe darstellt.105 Das BVerfG qualifiziert die Gefahrenabwehr unter Hinweis auf die Schutzpflicht gemäß Art 2 II 1, 1 I 2 GG als eine verfassungsrechtliche Aufgabe des Staates.106 Das Gesetzesrecht, das mangels eines verfassungsrechtlichen Katalogs von Staatsaufgaben für deren Begründung maßgeblich ist, bestätigt den Befund. Prägnant wird die „Gefahrenabwehr als staatliche Aufgabe“ gekennzeichnet.107 Dem steht die Formulierung von der Gefahrenabwehr als „Angelegenheit des Landes“ bzw „Landesaufgabe“ gleich.108 Speziell in Bezug auf die Polizei, die eine spezifische Funktion öffentlicher (idR staatlicher) Verwaltung darstellt, ist verschiedentlich bestimmt, dass die Polizei „Angelegenheit des Landes ist“.109

b) Gefahrenabwehr durch Private Unabhängig von dieser rechtlichen Ausgangslage ist seit einiger Zeit in der Praxis eine Tendenz 23 zur Privatisierung der Gefahrenabwehr zu beobachten. Darin wird verschiedentlich eine Gefährdung des staatlichen Gewaltmonopols erblickt.110 Private sind (als Grundrechtsträger) in der Tat an die Grundrechte und an rechtsstaatliche Restriktionen (Begrenzung von Eingriffsbefugnis-

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heit Gusy VVDStRL 63 (2004) 151, 173 ff; Schoch Staat 43 (2004) 347, 360 ff; Papier FS Schenke 2011, 263 ff; Masing JZ 2011, 753 ff (die Spannungslage zwischen Freiheit und Sicherheit akzentuierend). 96 Pieroth/Schlink/Kniesel § 2 Rn 1: Innere Sicherheit als „Dach- und Sammelbegriff“ verschiedener Einzelaufgaben; anders Möstl Sicherheit, 127: „innere“ und „öffentliche“ Sicherheit seien vollständig deckungsgleich; ausf zur Begrifflichkeit Götz in: HStR IV § 85 Rn 3 ff. 97 Martens DÖV 1982, 89, 90 f; Drews/Wacke/Vogel/Martens Gefahrenabwehr, 2; Würtenberger in: Achterberg/ Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 19. 98 Pitschas DÖV 1997, 393, 398; Gramm VerwArch 90 (1999) 329, 330. 99 BVerfGE 46, 214, 223. 100 Vgl zB Art 13 IV und VII, 35 II, 73 Nr 10b, 87 I, 91 GG. 101 Zu den europarechtlichen Vorgaben Rn 68 ff. 102 So aber Gusy DÖV 1996, 573, 578; ders PolR Rn 73 f. 103 Winkler NWVBl 2000, 287, 289; Brugger VVDStRL 63 (2004) 101, 130 f; Hillgruber JZ 2007, 209, 210 f; Würtenberger/Heckmann Rn 23; Götz in: HStR IV § 85 Rn 24. 104 Drews/Wacke/Vogel/Martens Gefahrenabwehr, 2; Saipa/Wahlers/Germer NdsVBl 2000, 285, 287 f; Tettinger NWVBl 2000, 281; ders FS J. Kirchhoff, 2002, 281, 285 ff. 105 Ausdrücklich Art 1 II LV BW: Der Staat hat die Aufgabe, den in seinem Gebiet lebenden Menschen Schutz zu gewähren. 106 BVerfGE 120, 274, 319. 107 § 81 HessSOG; § 75 POG RP. 108 § 63 I PolG Bremen; § 1 IV SOG MV; § 162 III LVwG SH. 109 § 1 POG NW; § 76 I SOG LSA; ähnlich § 1 I POG SH. 110 Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 27; krit auch Schenke Rn 475; aA M. Lange Privates Sicherheitsgewerbe in Europa, 2002, 63 f, da mit einer schleichenden Ersetzung der Polizei durch private Sicherheitsdienste faktisch nicht zu rechnen sei.

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sen, Beachtung von Formen und Verfahren, Übermaßverbot), die der Disziplinierung der öffentlichen Verwaltung dienen, nicht gebunden.111 Die sachangemessene rechtliche Erfassung des komplexen Problems (Rn 24 ff) verlangt indes die genaue Ermittlung der recht unterschiedlichen Formen privater Gefahrenabwehr, um die Antworten der Rechtsordnung auf die faktischen Phänomene analysieren zu können (Rn 27 ff). Zu trennen von den Aussagen des geltenden Rechts ist die Frage, ob eine weitreichende Privatisierung der Gefahrenabwehr de lege ferenda in Betracht zu ziehen ist (Rn 33 f). 24 aa) Erscheinungsformen des privaten Sicherheitsgewerbes. In ihrer organisierten Form wird die Gefahrenabwehr von Privaten idR durch private Sicherheitsdienste vorgenommen.112 Wirtschaftsverwaltungsrechtlich ist das Sicherheitsgewerbe mit dem Bewachungsgewerbe gleichgesetzt. Dieses ist als die gewerbsmäßige Bewachung von Leben und Eigentum fremder Personen definiert (§ 34 a I 1 GewO).113 Ausgegrenzt ist damit der Werkschutz. Auch die rein beobachtende Tätigkeit ohne Erfüllung von Schutzaufgaben (zB Detekteien, § 38 I 1 Nr 2 GewO) wird nicht erfasst. Im Übrigen muss die Überwachung Hauptaufgabe des Dienstes sein.114 Dass die Rechtsordnung Fortentwicklungen und Ausdifferenzierungen des privaten Sicherheitsgewerbes aufnimmt, zeigt die Unterscheidung zwischen rein privaten Bewachungstätigkeiten und Tätigkeiten im öffentlichen Raum.115 25 Das im BDWS 116 organisierte private Sicherheitsgewerbe stellt eine „Wachstumsbranche“ dar. Nach vormals etwa 50.000 Beschäftigten in 335 Betrieben mit einem Umsatz von 573 Mio DM im Jahr 1974 erlebte das private Sicherheitsgewerbe seit Anfang der 1990er Jahre einen starken Boom.117 Für das Jahr 2000 wurden 2.500 Unternehmen mit 140.000 Beschäftigten (bei ca 250.000 Polizisten in Bund und Ländern) angegeben; der Umsatz lag bei 5.840 Mio DM (knapp 3 Mrd €).118 Die Zahlen wuchsen weiter: 2004 gab es etwa 3.000 Unternehmen mit ungefähr 175.000 Beschäftigten, und der Umsatz überstieg bereits 4,15 Mrd €; für das Jahr 2006 wurden 171.000 Beschäftigte in 3.300 Unternehmen mit einem Umsatz von 4,3 Mrd € registriert. Für das Jahr 2010 lauten die Zahlen (nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts): 3.700 Unternehmen mit 170.000 Mitarbeitern und einem Umsatz von etwa 4,6 Mrd €. Für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit ist das private Sicherheitsgewerbe in Deutschland 119 mittlerweile zu einer festen und unverzichtbaren Größe geworden.120 Die Tätigkeitsbereiche des privaten Sicherheitsgewerbes betreffen vornehmlich den Objektschutz, sodann Revier- und Streifendienste, ferner Geld- und Werttransporte sowie den Personenschutz. Die Überwachungstätigkeiten ergreifen zunehmend den öffentlichen Verkehrsraum (zB Patrouillen in Fußgängerzonen und Bahnhöfen, Personen- und Gepäckkontrolle auf Flug-

_____ 111 Wichtige Ausnahme: (Grund-)Rechtsbindung von der öffentlichen Hand beherrschter Unternehmen; dazu am Bspl der Versammlungsfreiheit auf dem Flughafengelände BVerfGE 128, 226, 244 ff o JK GG Art 1 III/8; dazu Gurlit NZG 2012, 249 ff; H. Wendt NVwZ 2012, 606 ff. 112 Umfassend zur Thematik Stober/Olschok (Hrsg) Handbuch des Sicherheitsgewerberechts, 2004. 113 Näher zur Qualifizierung privater Sicherheitsdienste Stober GewArch 2002, 129. 114 Lange Privates Sicherheitsgewerbe (Fn 110) 32. 115 § 34a V 1 GewO („Bewachungsaufgaben gegenüber Dritten“); vgl dazu BT-Drs 14/8386, 14. – Zur Tätigkeit privater Sicherheitsunternehmen im öffentlichen Raum Gusy VerwArch 92 (2001), 344, 353 ff; allg Kersten/Meinel JZ 2007, 1127 ff. 116 Bundesverband Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen eV. 117 Einzelheiten dazu bei Peilert DVBl 1999, 282; Rixen DVBl 2007, 221, 223; Lisken/Denninger B Rn 171; Wohlnick Tätigkeit, Auswirkungen und Wahrnehmung privater Sicherheitsdienste im öffentlichen Raum, 2007, 5 ff. 118 Vgl die Verbandsangaben www.bdws.de. 119 Zur Entwicklung in Österreich, Frankreich und England Lange Privates Sicherheitsgewerbe (Fn 110) 95 ff, 129 ff, 161 ff. 120 Pitschas DÖV 1997, 393, 394; Stober ZRP 2001, 260; Jungk Police Private Partnership, 2002, 10 ff; Götz HStR IV, § 85 Rn 43.

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häfen).121 Auch zB der Schutz von Botschaftsgebäuden und anderen öffentlichen Gebäuden sowie die Mitwirkung und Ordnung bei Großveranstaltungen (zB im Bereich des Sports122) gehören mittlerweile zum Aufgabenspektrum des Sicherheitsgewerbes. Weitere Einsatzfelder (iS eines umfassenden Dienstleistungsangebots) sind denkbar (zB Verkehrsüberwachung, Sky Marshals in Flugzeugen). Die Gründe für die Bedeutungszunahme des privaten Sicherheitsgewerbes werden zu- 26 nächst in Defiziten bei der staatlichen Gewährleistung der Inneren Sicherheit gesehen; angesichts hoher Kriminalitätsraten sei eine überlastete und zT schlecht organisierte und ausgestattete Polizei nicht in der Lage, dem gesteigerten Bedrohungsgefühl der Bevölkerung durch adäquate Schutzmaßnahmen Rechnung zu tragen.123 Sodann werden gesellschafts- und finanzpolitische Bedingungen („schlanker Staat“) hervorgehoben; der an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gelangte Staat suche nach Entlastung.124 Ausfluss hiervon sei eine dreifache Privatisierungsstrategie: rechtlicher Rückzug des Staates durch Privatisierungsmaßnahmen (zB Bahn, städtische Verkehrsbetriebe), förmliche Übertragung von Sicherheitsaufgaben auf Private (zB Objektschutz, Schutz von Großveranstaltungen) und faktische Privatisierung durch Rückzug der Polizei aus etlichen Bereichen (zB Personen- und Transportschutz, Überwachung des öffentlichen Verkehrsraums).125 Da ein Ende der Entwicklung nicht gesehen wird, finden sich seit geraumer Zeit vielfältige Forderungen nach einem weiteren Ausbau des privaten Sicherheitsgewerbes und einer verstärkten Kooperation zwischen Polizei und Privaten.126 Eine derartige Kooperation wird als Ausdruck eines sich wandelnden Staatsverständnisses gedeutet.127 bb) Rechtliche Grundlagen. Die skizzierte Entwicklung beruht nicht auf einem durchdachten 27 Konzept oder gar auf einer gezielten rechtlichen Steuerung. Ein „Aufgaben- und Befugnisgesetz“ gibt es in Deutschland für das private Sicherheitsgewerbe nicht.128 Den im öffentlichen Bereich ausgeführten Tätigkeiten des privaten Bewachungsgewerbes wurden rechtliche Grundlagen durch das „Gesetz zur Änderung des Bewachungsgewerberechts“ 129 gegeben.130 Wirtschaftsverwaltungsrechtlich ist § 34 a GewO von Bedeutung (Erlaubnispflicht des Bewachungsgewerbes), waffenrechtlich ist § 28 WaffG (Erwerb von Waffen und Munition) zu beachten.131 Aus der Perspektive des Gefahrenabwehrrechts hat die Entwicklung des privaten Sicherheitsgewerbes etwas „Wildwüchsiges“ an sich.

_____ 121 Schnekenburger Rechtsstellung und Aufgaben des Privaten Sicherheitsgewerbes, 1999, 35 ff; BrauserJung/Lange GewArch 2003, 224. 122 Vgl dazu am Beispiel der Fußball WM 2006 in Deutschland Feltes ZRP 2007, 243. 123 Pitschas DÖV 1997, 393, 394; Möstl Sicherheit, 291; F. Huber Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Gefahrenabwehr durch das Sicherheits- und Bewachungsgewerbe, 2000, 45 ff. 124 Saipa/Wahlers/Germer NdsVBl 2000, 285, 287; Brauser-Jung/Lange GewArch 2003, 224; krit zur „Ökonomisierung der Inneren Sicherheit“ Hetzer ZRP 2000, 20 ff. 125 Gusy VerwArch 92 (2001) 344, 353 f; zusammenfassend Wohlnick Private Sicherheitsdienste (Fn 117) 18 ff. 126 Stober NJW 1997, 889 ff; DÖV 2000, 261 ff; ZRP 2001, 260 ff; Pitschas DÖV 1997, 393, 398 ff; deutlich zurückhaltender zB Peilert DVBl 1999, 282, 289 ff; Winkler NWVBl 2000, 287, 292 ff; Hammer DÖV 2000, 613, 619 ff; Gusy VerwArch 92 (2001) 344, 355 ff; Schnekenburger Privates Sicherheitsgewerbe (Fn 121) 265 ff; Lisken/Denninger B Rn 176 ff, 192 ff; krit Rixen DVBl 2007, 221 ff. – Ein (ausformuliertes) Kooperationsgesetz für die Zusammenarbeit öffentlicher Stellen mit privaten Sicherheitsunternehmen schlägt Storr DÖV 2005, 101 ff vor; vgl ferner Artelt Verwaltungskooperationsrecht (Fn 93) 222 ff. 127 Artelt Verwaltungskooperationsrecht (Fn 93) 41 ff. 128 Zu Kodifizierungsüberlegungen bereits Beinhofer BayVBl 1997, 481 ff; Tettinger NWVBl 2000, 281 ff; vgl ferner Nachw aE von Fn 126. 129 G v 23. 7. 2002 (BGBl I 2724) mit Änderungen des § 34a GewO (Sartorius I Nr 800) und der Bewachungsverordnung. 130 Erläuternd dazu Schönleitner GewArch 2003, 1 ff u 46; Brauser-Jung/Lange GewArch 2003, 224, 225 ff. 131 Näher dazu Korte VerwArch 102 (2011), 51, 54 ff u 58 ff.

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Die rechtliche Strukturierung kann zunächst zwischen der staatlichen Zulassung privater Gefahrenabwehr (Rn 28) und der staatlichen Übertragung von Gefahrenabwehraufgaben auf Private (Rn 31) unterscheiden.132 Im letztgenannten Fall ist weiter zu differenzieren zwischen der Verleihung von Hoheitsbefugnissen an Private und deren rein zivilrechtlichen Handlungsmöglichkeiten. Eine besondere Erscheinungsform der Gefahrenabwehr durch Private stellt die gesetzlich vorgesehene Mitwirkung einzelner Bürger an der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar.133 Der staatlichen Zulassung privater Gefahrenabwehr liegt die Prämisse zu Grunde, dass 28 jeder das Recht hat, seine Rechtsgüter zu schützen und (unter der verfassungsrechtlichen Herrschaft der Privatautonomie) durch private Dritte schützen zu lassen.134 Das Tätigwerden privater Sicherheitsdienste im Auftrag Privater findet auf zivilrechtlicher Grundlage statt.135 In diesem Tätigkeitsfeld stehen den Akteuren des privaten Sicherheitsgewerbes lediglich, wie § 34 a V 1 GewO klarstellt, die „Jedermann“-(Not-)Rechte zur Verfügung.136 Umfasst sind hiervon insbesondere Notwehr- und Nothilfevorschriften (§ 227 BGB; § 32 StGB; § 15 OWiG), Bestimmungen zum rechtfertigenden (§§ 228, 904 BGB; § 34 StGB; § 16 OWiG) und ggf zum entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB), die zivilrechtlichen Selbsthilfevorschriften (§§ 229 ff, 859, 860 BGB) und das privatrechtliche Hausrecht sowie das Recht zur vorläufigen Festnahme (§ 127 StPO). 137 Hoheitliche Befugnisse gegenüber Dritten werden durch jene gesetzlichen Regelungen nicht vermittelt. Das gilt auch unter europarechtlichen Vorzeichen; die Tätigkeit privater Sicherheitsdienste 29 stellt keine Beteiligung an der Ausübung öffentlicher Gewalt dar.138 Europarechtlich sind private Sicherheitsdienste durch die Grundfreiheiten (Art 45, 49, 56 AEUV) geschützt.139 Sekundärrechtlich ist die Dienstleistungsrichtlinie140 auf private Sicherheitsdienste nicht anwendbar; derartige Dienste sind vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausdrücklich ausgenommen (Art 2 II lit k RL 2006/123/EG), jedoch ist der EU-Kommission ein Prüfauftrag für die Harmonisierung des Rechts privater Sicherheitsdienste erteilt (Art 38 lit b RL 2006/123/EG).141 An dem Befund fehlender Hoheitsbefugnisse ändert sich dadurch nichts. 30 Die fehlende (generelle) Ausstattung privater Sicherheitsdienste mit staatlichen (Zwangs-) Befugnissen bedeutet, dass zB die mit der Durchführung von Hoheitsaufgaben verbundene Einschaltung Privater in die Verkehrsüberwachung ohne eine entsprechende Rechtsgrundlage unzu-

_____ 132 Krölls GewArch 1997, 445, 446. 133 Baden-Württemberg: Gesetz über den Freiwilligen Polizeidienst; Bayern: Gesetz über die Sicherheitswacht in Bayern; Hessen: Gesetz über die aktive Bürgerbeteiligung zur Stärkung der Inneren Sicherheit; Sachsen: Gesetz über die Sächsische Sicherheitswacht. – In Niedersachsen (§ 95 SOG) und Rheinland-Pfalz (§ 95 POG) können Private zu Hilfspolizeibeamten bestellt werden. – Die rechtl Qualifizierung dieser „Polizeireserven“ als Polizeihelfer (Krölls GewArch 1997, 445; Lisken/Denninger B Rn 182) ist ungenau; großenteils findet eine Beleihung mit Hoheitsbefugnissen statt; Einzelheiten zum rechtlichen Status bei Fickenscher Polizeilicher Streifendienst mit Hoheitsbefugnissen, 2006, 55 ff und 72 ff; zum bayerischen Sicherheitswachtmodell Jungk Police (Fn 120) 243 ff. – In Berlin wurde der Freiwillige Polizeidienst aufgelöst (Art VII HaushaltsentlastungsG 2002 v 19.7.2002, GVBl 199, 204); die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos, VerfGH Bln LKV 2005, 212. 134 Zu den vertragsrechtlichen Beziehungen zwischen den Privatpersonen Schünemann NJW 2003, 1689 ff. 135 Die Tätigkeit privater Sicherheitsdienste ist grundrechtlich geschützt; Hammer DÖV 2000, 613, 618; Möstl Sicherheit, 302 ff. 136 Ausf dazu Schnekenburger Privates Sicherheitsgewerbe (Fn 121) 134 ff; Huber Bewachungsgewerbe (Fn 123) 64 ff; Lange Privates Sicherheitsgewerbe (Fn 110) 41 ff. 137 Gusy Rn 161; Kugelmann 5/214; Pieroth/Schlink/Kniesel § 5 Rn 55; Schenke Rn 473. 138 EuGH Slg 2001, I-4363 = EuZW 2001, 603 – Tz 20 mwN; ferner Korte VerwArch 102 (2011), 51, 53 f. 139 EuGH Slg 1998, I-6717; EuGH Slg 2000, I-1221 o JK EGV Art 49/3; EuGH Slg 2001, I-4363; EuGH Slg 2004, I-5645. 140 Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt v 12.12.2006, ABlEU L 376/36; auch abgedruckt in Sartorius II Nr 183. 141 Näher dazu Korte VerwArch 102 (2011), 51 ff.

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lässig ist.142 Denn Hoheitsaufgaben (zB die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten) dürfen nach Art 33 IV GG als ständige Aufgabe idR nur Angehörigen des öffentlichen Dienstes übertragen werden (vgl auch Rn 32). Die Rechtsprechung hat daher zB die Parkraumüberwachung durch Private 143 und die Durchführung systematischer Geschwindigkeitsmessungen durch Private 144 für unzulässig erklärt. Die staatliche Übertragung von Gefahrenabwehraufgaben auf Private findet eine spezifische 31 Ausprägung in den Eigensicherungspflichten, die der Staat Privaten auferlegt. Dabei geht es um die Pflicht zu privater Gefahrenabwehr gegenüber Angriffen Dritter auf bestimmte Einrichtungen. Am Beispiel eines Flughafenunternehmers hatte das BVerwG entschieden, dass dieser ohne besondere gesetzliche Regelung nicht schon nach allg Polizei- und Ordnungsrecht verpflichtet sei, auf eigene Kosten den Flughafen und seine Benutzer vor terroristischen Anschlägen zu schützen.145 Besondere Eigensicherungspflichten sind Privaten zB im Atomrecht,146 im Immissionsschutzrecht 147 und im Luftverkehrsrecht 148 auferlegt.149 Weitere Eigensicherungspflichten werden insbesondere mit Blick auf die Terrorismusabwehr diskutiert; Beispiele sind die Sicherung von Hafenanlagen150 und die Verpflichtung von Eisenbahnunternehmen zur Vornahme entsprechender Sicherungsmaßnahmen.151 Derartige Eigensicherungspflichten bilden die Basis für die Aufträge der Pflichtigen an das private Sicherheitsgewerbe. Die Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse durch Private (gegenüber Dritten) ist nur auf 32 Grund einer gesetzlich vorgesehenen Beleihung zulässig.152 Beispiele hierfür finden sich bislang nur selten.153 Rechtlich ist die Beleihung im Gefahrenabwehrrecht dem Grunde nach unproblematisch, weil der Beliehene funktional in die Verwaltungsorganisation eingebunden ist und staatlicher Aufsicht untersteht.154 Rechtliche Probleme ergeben sich vor dem Hintergrund des Art 33 IV GG bei der Ausgestaltung des Beleihungsverhältnisses. Dazu hat das BVerfG am Beispiel der Übertragung von Aufgaben des Maßregelvollzugs auf einen formell privatisierten Träger155 wichtige

_____ 142 Steiner DAR 1996, 272, 274; Scholz NJW 1997, 14, 15 f; Steegmann NJW 1997, 2157; Gramm VerwArch 90 (1999) 329, 348 ff. 143 KG NJW 1997, 2894. 144 BayObLG DÖV 1997, 601. – Anders bei der Aufgabenübertragung auf Gemeinden BayObLG NJW 1999, 2200. 145 BVerwG DVBl 1986, 360 (m Anm Schenke) = JZ 1986, 896 (m Anm Karpen). 146 § 7 II Nr 5 AtG (Sartorius I Nr 835); dazu BVerwGE 81, 185 = DVBl 1989, 517 (m Anm Bracher) = JZ 1989, 895 (m Anm Karpen) o JK AtG § 7/1. – Für eine Begrenzung der Eigensicherungspflichten der Betreiber kerntechnischer Anlagen gegenüber Einwirkungen Dritter (zB terroristische Angriffe) aus Gründen des Übermaßverbotes Leidinger DVBl 2004, 95 ff. 147 §§ 3 u 4 der 12. BImSchV (Sartorius ErgBd Nr 296/12). – Zur betrieblichen Eigenüberwachung nach §§ 26, 28, 29 BImSchG (Sartorius I Nr 296) Scheidler VBlBW 2009, 294 ff. 148 § 8 LuftSiG (Sicherungsmaßnahmen der Flugplatzbetreiber), § 9 LuftSiG (Sicherungsmaßnahmen der Luftfahrtunternehmen); vgl. dazu Baumann in: Oschmann/Stober (Hrsg), Luftsicherheit, 2007, 29, 36 ff; Karioth ebd 81, 88 ff; zur Verfassungsmäßigkeit des § 8 I 1 Nr 5 LuftSiG NdsOVG NVwZ-RR 2006, 33. – Abdruck des LuftSiG in Sartorius ErgBd Nr 976. 149 Ausf Schnekenburger Privates Sicherheitsgewerbe (Fn 121) 94 ff; ferner Möstl Sicherheit, 341 ff. 150 Rengeling DVBl 2004, 589 ff; Erbguth DVBl 2007, 1202 ff; Waechter FS Stober 2008, 685, 697 ff. – Aus der Praxis zu den Grenzen der Eigensicherung, markiert durch die privatrechtliche Eigentümerstellung bzw unbeschränkte Besitzposition des Hafenbetreibers, VG Düsseldorf DVBl 2012, 1315 (m Anm Büge). 151 Abl Ronellenfitsch DVBl 2005, 65 ff, der überdies § 3 Abs 2 BPolG für verfassungswidrig hält. 152 Pitschas DÖV 1997, 393, 398; Peilert DVBl 1999, 282, 285; Stober DÖV 2000, 261, 268 f. 153 Bewachung von Bundeswehreinrichtungen gemäß § 1 III UZwGBw (Sartorius I Nr 117). – Sicherheitskontrollen auf Flugplätzen gemäß § 5 V LuftSiG; Bordgewalt des Luftfahrzeugführers gemäß § 12 LuftSiG, dazu A.-K. Schröder Die Rechte und Pflichten des verantwortlichen Luftfahrzeugführers nach dem Luftsicherheitsgesetz, 2008, 49 ff. – Näher zu den bestehenden Beleihungstatbeständen Klüver Zur Beleihung des Sicherheitsgewerbes mit Aufgaben der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, 2006, 55 ff. 154 Zulässig wäre auch die Beleihung zur Erhebung ör Abgaben; Fehling in: Jachmann/Stober (Hrsg) Finanzierung der inneren Sicherheit unter Berücksichtigung des Sicherheitsgewerbes, 2003, 115 ff. 155 Zu den Grundtypen der Privatisierung Schoch JURA 2008, 672, 676 f.

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Anforderungen entwickelt: Wahrung eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses iSd Art 33 IV GG (quantitative Dimension), Vorliegen eines spezifischen Sachgrundes nach Maßgabe relevanter Besonderheiten der Tätigkeit für die ausnahmsweise erfolgende Übertragung hoheitsrechtlicher Befugnisse auf ein Privatrechtssubjekt (qualitative Dimension), Möglichkeit parlamentarischer Kontrolle der Aufgabenwahrnehmung (Demokratieprinzip), Fachaufsicht (zur effektiven Wahrnehmung der staatlichen Gewährleistungsverantwortung).156 Bei der Verwaltungshilfe vermag der Private im eigenen Namen nicht hoheitlich zu handeln.157 Der Verwaltungshelfer (zB privater Abschleppunternehmer) fungiert als „verlängerter Arm“ der Polizei.158 Es ist rechtlich grundsätzlich unproblematisch, dass sich eine Behörde zur Aufgabenerledigung Privater als „Verwaltungshelfer“ bedient; behördliche Eingriffsbefugnisse können dadurch aber nicht zu Lasten des Bürgers erweitert werden.159 Dem Verwaltungshelfer kommt gegenüber Dritten keine Privatautonomie zu. 33 cc) Privatisierung der Gefahrenabwehr. Die offenkundige Diskrepanz zwischen dem faktischen Entwicklungspotential privater Sicherheitsdienste und ihrer verwaltungsrechtlichen Einbeziehung in die (hoheitliche) Gefahrenabwehr wirft die Frage auf, ob eine verstärkte – materielle oder funktionale – Privatisierung der Gefahrenabwehr in Betracht kommt. Dies wird verschiedentlich mit der Erwägung bejaht, aus der staatlichen Sicherheitsaufgabe ergebe sich kein Sicherheitsmonopol.160 Die „Verantwortungsteilung“ zwischen Staat und Privaten gilt danach auch im Gefahrenabwehrrecht als das neue Paradigma.161 Eine materielle Privatisierung der staatlichen Gefahrenabwehraufgabe162 ist verfassungsrechtlich ausgeschlossen.163 Das Gewaltmonopol des Staates stellt insoweit eine absolute Sperre für eine Aufgabenprivatisierung dar.164 Dabei darf das Gewaltmonopol nicht als „Möglichkeit der physischen Gewaltanwendung des Staates“ verkürzt und missverstanden werden.165 „Staatliches Gewaltmonopol“ ist iSe tieferen Verständnisses als staatliches Rechtsetzungs- und Durchsetzungsmonopol zu verstehen, das ausschließlich dem Staat die Sorge für den Rechtsfrieden durch den Einsatz von Gesetz und Recht zuweist (Rn 21). Verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen ist eine stärkere funktionale Privatisierung der Gefahrenabwehr im Wege der Beleihung. Allerdings müssen die – im konkreten Fall zu bestimmenden – Grenzen des Funktionsvorbehalts nach Art 33 IV GG (dazu Rn 32) eingehalten werden. Die Beleihung darf nur abgegrenzte sowie in Quantität und Qualität nicht herausragende Aufgabenkomplexe erfassen.166 Unzulässig wäre eine „faktische Privatisierung“ dergestalt, dass sich der Staat systematisch aus der Gefahrenabwehr zurückzieht und auf eine

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156 BVerfG NJW 2012, 1563, 1565 ff o JK GG Art 33 IV/2; das Gericht betont ausdrücklich (Tz 147), dass rein fiskalische Gesichtspunkte die Ausnahme zu Art 33 IV GG nicht begründen könnten, Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkte könnten indes im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Tragen kommen (Tz 148); zu der Entscheidung Schladebach/Schönrock NVwZ 2012, 1011 ff; Wiegand DVBl 2012, 1134 ff. 157 Pieroth/Schlink/Kniesel § 5 Rn 59. 158 Winkler NWVBl 2000, 287, 290. 159 OVG Hamburg NJW 2008, 96, 98. 160 Möstl Sicherheit, 318 ff. 161 Vgl Stober DÖV 2000, 261 u 265; ders ZRP 2001, 260 („geteilte Sicherheitsverantwortung“). 162 So Knemeyer DVBl 2007, 785, 786 („dritte Entpolizeilichung“ – Auswanderung von Gefahrenabwehraufgaben in den nichtstaatlichen Bereich). 163 Näher dazu Schoch FS Stober 2008, 559 ff. 164 Scholz NJW 1997, 14, 15; Krölls GewArch 1997, 445, 448; ders NVwZ 1999, 233, 234; Saipa/Wahlers/Germer NdsVBl 2000, 285, 288; Winkler NWVBl 2000, 287, 288 f; Rixen DVBl 2007, 221, 229; Pieroth/Schlink/Kniesel § 5 Rn 62; ausf Mackeben Grenzen der Privatisierung der Staatsaufgabe Sicherheit, 2004, 186 ff, 234 ff; aA Kleespies Police Private Partnership, 2003, 98 ff. 165 So aber Stober NJW 1997, 889, 890 und DÖV 2000, 261, 263. 166 Krölls GewArch 1997, 445, 451 ff; Gramm VerwArch 90 (1999) 329, 335 ff, 350 ff; Hammer DÖV 2000, 613, 617 f, 619.

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Instrumentalisierung der „Jedermann“-Rechte nach BGB, StGB und StPO (Rn 28) seitens des privaten Sicherheitsgewerbes setzt.167 In der Sicht des staatlichen Gewaltmonopols stellen diese Rechte – da der Staat nicht omnipräsent sein kann – die verfassungsrechtlich gebotene „Gewaltgestattung“ dar.168 Auf der anderen Seite erlaubt das Ziel eines „schlanken Staates“ keine Vernachlässigung der polizeilichen Fähigkeiten zur Wahrnehmung des staatlichen Gewaltmonopols.169

c) Fazit Die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit (und Ordnung) ist nach geltendem Recht eine 34 staatliche Aufgabe. Sie unterfällt – mit allen Konsequenzen – dem staatlichen Gewaltmonopol iSe umfassenden Rechts- und Friedensordnung. Staatliche Polizei und private Sicherheitsdienste erfüllen rechtlich verschiedenartige Gefahrenabwehraufgaben.170 Im Rechtssinne kann es insoweit eine „Verantwortungsteilung“ nicht geben. Sozial- und verwaltungswissenschaftliche Deutungsmuster einer Aufgabenteilung und Kooperation zwischen Staat und Privaten vermögen an dem juristischen Befund nichts zu ändern.171

3. Rechtsstaatliche Anforderungen an die Gefahrenabwehr a) Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes Maßnahmen zur Gefahrenabwehr sind idR typische Erscheinungsformen der sog Eingriffsverwal- 35 tung. Die zum Einsatz gelangenden Instrumente der zuständigen Behörden sind vielfach durch Befehl und Zwang gekennzeichnet. Die dem Rechtsstaat auch in den Ländern verpflichtete Ordnung (Art 28 I 1 GG) muss die Polizei- und Ordnungsgewalt strikten rechtlichen Vorgaben unterwerfen. Verfassungsrechtlich ist die Bindung der Exekutive an Gesetz und Recht vorgegeben (Art 20 III GG); bei grundrechtsbeeinträchtigenden Maßnahmen besteht zudem eine Bindung an die Grundrechte „als unmittelbar geltendes Recht“ (Art 1 III GG). Polizei- und ordnungsbehördliches Handeln unterliegt demnach dem Vorrang und (grundrechtlichen) Vorbehalt des Gesetzes. Beide Prinzipien dokumentieren die rechtsstaatliche Verfasstheit der Gefahrenabwehr.172 Der Vorrang des Gesetzes gilt ausnahmslos; keine polizei- oder ordnungsbehördliche Maßnahme darf gegen Gesetz und Recht verstoßen. Der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt greift ein, wenn eine Gefahrenabwehrmaßnahme als Grundrechtseingriff zu qualifizieren ist; das Gesetz determiniert in solchen Fällen Grund, Maß, Umfang und Richtung zulässiger Gefahrenabwehrmaßnahmen. Es ist danach dem Gesetzgeber vorbehalten, das „Ob“, „Wann“ und „Wie“ grundrechtsbeeinträchtigender Maßnahmen iSe normativen Steuerung der Verwaltung zu bestimmen.173

_____ 167 Krölls NVwZ 1999, 233, 234; Hammer DÖV 2000, 613, 620; Lange Privates Sicherheitsgewerbe (Fn 110) 68 f; Gusy Rn 163, 164. 168 Schulte DVBl 1995, 130, 133. 169 Parallelüberlegung bei BVerfGE 103, 142, 155 zur tatsächlichen Sicherung des Richtervorbehalts gem Art 13 II GG. 170 Gusy DÖV 1996, 574, 583; ders VVDStRL 63 (2004) 151, 171 (Fn 114); ders Rn 160; Kugelmann 5/205; Götz in: Pitschas/Stober (Hrsg), Quo vadis Sicherheitsgewerbe?, 1998, 235, 237; Würtenberger/Heckmann Rn 32. 171 Ebenso zu § 34a V 1 GewO BT-Drs 14/8386, 14: Es werde verdeutlicht, „dass das Gewaltmonopol der hoheitlich agierenden Polizei unangetastet bleiben muss“. 172 Vgl Drews/Wacke/Vogel/Martens Gefahrenabwehr, 37. 173 Allg Erichsen JURA 1995, 550, 552; Gusy JA 2002, 610, 612 f; Detterbeck JURA 2002, 235, 236; Voßkuhle JuS 2007, 118. – Ausf Burkiczak in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, 2011, 129 ff.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

b) Rechtliche Bindungen für Gefahrenabwehrmaßnahmen 36 Nach diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben ist strikt zwischen Aufgabenzuweisungsnormen und Befugnisnormen zu trennen. Aufgabenzuweisungsnormen stellen Kompetenzvorschriften dar, die den Handlungsbereich der zuständigen Gefahrenabwehrbehörden festlegen. Als Rechtsgrundlage für behördliches Tätigwerden genügen sie rechtsstaatlichen Anforderungen, wenn Verwaltungsmaßnahmen nicht mit Eingriffen in Rechte der Bürger verbunden sind.174 Aufgabenzuweisungsnormen weisen den Gefahrenabwehrbehörden aber noch nicht diejenigen Befugnisse zu, die – dem Bestimmtheitsgebot genügend – für Grundrechtseingriffe nach dem Vorbehalt des Gesetzes notwendig sind.175 37 Eingriffsmaßnahmen benötigen zu ihrer Rechtfertigung eine Befugnisnorm, die zum Erlass der konkreten oder abstrakt-generellen (PolVO) Gefahrenabwehrmaßnahme ermächtigt. Der Schluss von der „Aufgabe“ auf die „Befugnis“ ist im Rechtsstaat unzulässig.176 Dies gilt unabhängig von der Handlungsform der Verwaltung. Auch ein Realakt (zB öffentliche Warnung in Bezug auf einen bestimmten Grundrechtsträger), der als Grundrechtseingriff zu qualifizieren ist, bedarf einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage.177 Im Rechtsstaat gilt: kein Eingriff ohne entsprechende gesetzliche Befugnis.178 Die Befugnisnormen des Gefahrenabwehrrechts weisen eine klare Typologie auf: Spezialbefugnisse außerhalb der allgemeinen Gesetze zum Polizei- und Ordnungsrecht (Rn 357 ff), Standardbefugnisse (Rn 256 ff) und Generalklausel (Rn 94 ff) im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht.179 Tatbestand und Rechtsfolge sind, je nach Typus, unterschiedlich weit ausgestaltet. Die Eingriffsvoraussetzungen der spezielleren Ermächtigungsgrundlagen sind vielfach strenger als diejenigen nach der Generalklausel. Auf der Rechtsfolgenseite ist durchweg Ermessen eröffnet; allerdings ermächtigen die Spezialbestimmungen idR nur zu ganz bestimmten Gefahrenabwehrmaßnahmen. 38 Das Gebrauchmachen von den Handlungsermächtigungen im Gefahrenabwehrrecht muss nicht nur das materielle Normprogramm und evtl Verfahrensbestimmungen beachten, es steht insbesondere auch nur den zuständigen Behörden und Organen zu. Einzuhalten sind die Verbandskompetenz und die behördliche Zuständigkeit. Die Verwaltungskompetenz liegt idR bei den Ländern; dies betrifft grundsätzlich die Ausführung der Bundesgesetze (Art 83 ff GG) und ausnahmslos den Vollzug der Landesgesetze (vgl Art 30 GG). Auch dies gilt unabhängig von der Handlungsform, also auch zB für öffentliche Warnungen zum Zweck der Gefahrenabwehr.180 Keineswegs darf im Rechtsstaat die Kompetenzordnung kurzerhand mit dem unjuristischen Begriff der „überregionalen Bedeutung“ einer Maßnahme ignoriert werden.181 Die Zuständigkeit der Gefahrenabwehrbehörden ist gesetzlich normiert (vgl Rn 363 ff).

_____

174 VGH BW DÖV 1989, 169 o JK GG Art 4 I/3; VGH BW NJW 1996, 2116 und NJW 1997, 754. 175 NdsOVG NJW 2006, 391, 393 ĺ JK Pol- u OrdR, Pol Generalklausel/6; im Anschluss daran HessVGH NVwZ-RR 2012, 344, 346. 176 BFH NJW 2002, 2340, 2341; HessVGH DVBl 1996, 570; NdsOVG NJW 1992, 192, 194; Gusy Rn 13; Knemeyer Rn 78; Pieroth/Schlink/Kniesel § 1 Rn 12 und § 2 Rn 2: Folgerungsweise des Polizeistaats. 177 BVerwGE 71, 183, 198 f; BVerwG NJW 1996, 3161, 3162; BVerwG NJW 2006, 1303 Tz 28 ff ĺ JK GG Art 4 I, II/34; Murswiek DVBl 1997, 1021, 1030; Lege DVBl 1999, 569, 574; Gusy NJW 2000, 977, 982, 984; Klement DÖV 2005, 507, 513 ff; Volkmann JZ 2005, 261, 269. 178 Unzutreffend daher BVerfGE 105, 279, 303 ff; zutr Kritik hierzu durch Murswiek NVwZ 2003, 1 ff; P.M. Huber JZ 2003, 290 ff; Bethge JURA 2003, 327 ff; Höfling FS Rüfner, 2003, 329, 332 ff; zT aA Bumke DV 37 (2004) 3 ff. – Seine verfehlte Rspr zur Aushebelung des Gesetzesvorbehalts bei informationellen Grundrechtseingriffen vertiefend BVerfG-K NJW 2011, 511 (m Anm Bertram) o JK GG Art 2 I iVm Art 1 I/54; abl zu jener Entscheidung Schoch NVwZ 2011, 193 ff. 179 Vgl dazu Überblick bei Schoch JURA 2006, 664, 666 ff; Büscher JA 2010, 719, 720 ff; Poscher/Rusteberg JuS 2011, 888, 889 ff. 180 LG Wiesbaden NJW 2001, 2977, 2979; Lege DVBl 1999, 569, 571, 574 f; Gusy NJW 2000, 977, 980 ff. 181 Unzutreffend daher BVerfGE 105, 252, 271; zutr Kritik dazu durch Hellmann NVwZ 2005, 163, 166; ausf zur Wahrung der Kompetenzordnung bei informalem Staatshandeln Schoch in: Isensee/Kirchhof, HStR III, § 37 Rn 128 ff.

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I. Grundlagen – 2. Kapitel

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4. Polizei- und Ordnungsrecht im Bundesstaat Nach der grundgesetzlichen Kompetenzordnung verfügt der Bund über Gesetzgebungs- und 39 Verwaltungsbefugnisse nur dann, wenn sie ihm ausdrücklich zugewiesen sind (Art 73 ff, 83 ff GG). Ist das nicht der Fall, obliegt die Gesetzgebung (Art 70 I GG) und die exekutive Ausübung staatlicher Befugnisse (Art 30 GG) den Ländern. Diese generelle bundesstaatliche Kompetenzverteilung gilt auch für das Polizei- und Ordnungsrecht.

a) Gesetzgebung Die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern erfolgt nach 40 Sachgebieten. Das Polizei- und Ordnungsrecht (Gefahrenabwehrrecht, Recht der öffentlichen Sicherheit und Ordnung) bildet nach Art 73 ff GG kein selbstständiges Sachgebiet. Damit greift die Kompetenz der Länder (Art 70 I GG) ein (Rn 42). Das (allgemeine) Polizei- und Ordnungsrecht ist folglich eine klassische Materie der Landesgesetzgebung.182 Dem Bund sind zum Recht der polizeilichen Gefahrenabwehr und der Inneren Sicher- 41 heit Gesetzgebungskompetenzen auf bestimmten Sachgebieten zugewiesen. Beispiele hierfür sind der Zoll- und Grenzschutz (Art 73 I Nr 5 GG), die Abwehr terroristischer Gefahren (Art. 73 I Nr 9a GG),183 die Bundeskriminalpolizei (Art 73 I Nr 10 a GG) und der Verfassungsschutz (Art 73 I Nr 10 b GG); polizeirechtliche Kompetenzen des Bundes bestehen ferner zB im Binnenschifffahrt- und Wasserstraßenrecht (Art 74 I Nr 21 GG) sowie im Straßenverkehrsrecht (Art 74 I Nr 22 GG). Zur ordnungsbehördlichen Gefahrenabwehr hat das BVerfG dem Bund frühzeitig eine Annexkompetenz eingeräumt. Die Ordnungsgewalt könne als Annex des Sachgebiets erscheinen, auf dem sie tätig werde; die Zuständigkeit zur Gesetzgebung in einem Sachbereich umfasse dann auch die Regelung der Ordnungsgewalt in diesem Sachbereich. Normen, die der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in einem bestimmten Sachbereich dienten, seien daher jeweils dem Sachbereich zuzuordnen, zu dem sie in einem notwendigen Zusammenhang stünden.184 Bedeutsame ordnungsrechtliche Kompetenzen enthalten danach zB das Vereinsrecht (Art 74 I Nr 3 GG), das Ausländerrecht (Art 74 I Nr 4 GG), das Gewerberecht (Art 74 I Nr 11 GG), das Seuchenrecht (Art 74 I Nr 19 GG), das Lebensmittelrecht (Art 74 I Nr 20 GG) sowie das Abfall- und das Immissionsschutzrecht (Art 74 I Nr 24 GG). Von diesen Kompetenzen hat der Bund weitgehend Gebrauch gemacht; Gesetzgebungsbefugnisse der Länder bestehen nur noch nach Maßgabe des Art 72 GG. Regelungen, bei denen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung den 42 alleinigen und unmittelbaren Gesetzeszweck bildet, sind einem selbstständigen Sachbereich zuzuordnen; dieser fällt in die Zuständigkeit der Landesgesetzgebung.185 Sie regelt infolgedessen das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht.186 In der Ausgestaltung des Rechts der allgemeinen

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182 BVerfGE 100, 313, 369; LVerfG MV LKV 2000, 345, 347; VGH BW DVBl 1995, 365; OVG SL GewArch 2004, 197, 198; Trute DV 32 (1999) 73. 183 Vgl zu diesem seit dem 1.9.2006 („Föderalismusreform I“) vorhandenen Kompetenztitel Tams DÖV 2007, 367 ff. 184 BVerfGE 8, 143, 149 f; E 78, 374, 386 f; E 109, 190, 215; E 113, 348, 369 ĺ JK GG Art. 10 I/3; BVerfG NVwZ 2012, 1239, 1240 f (m Bespr Ladiges NVwZ 2012, 1225) = DVBl 2012, 1227 (m Anm Wiefelspütz) o JK GG Art 35/ 1. 185 BVerfGE 8, 143, 150; E 109, 190, 215. 186 BW: Polizeigesetz (PolG); Bay: Polizeiaufgabengesetz (PAG), Polizeiorganisationsgesetz (POG), Landesstrafund Verordnungsgesetz (LStVG); Bln: Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG); Bbg: Polizeigesetz (PolG), Polizeiorganisationsgesetz (POG), Ordnungsbehördengesetz (OBG); Bremen: Polizeigesetz (PolG), Hbg: Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOG), Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei (GDatPol); Hessen: Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (SOG); MV: Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (SOG), Polizeiorganisationsgesetz (POG); Nds: Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (SOG); NW: Polizeigesetz (PolG), Polizeiorganisationsgesetz (POG), Ordnungsbehördengesetz (OBG); RP:

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

Gefahrenabwehr sind die Länder innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens an keine Direktiven gebunden. Der von der Innenministerkonferenz beschlossene Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder (MEPolG) 187 zielt zwar auf eine Vereinheitlichung des Polizeirechts, hat jedoch keine rechtliche Verbindlichkeit und ist in den Ländern unterschiedlich rezipiert worden.

b) Verwaltung 43 Die Verwaltungszuständigkeiten im Gefahrenabwehrrecht liegen überwiegend bei den Ländern (Rn 44). Dem Bund sind nur einzelne Verwaltungskompetenzen zugewiesen (Rn 45 ff). Allerdings dehnt der Bund seine Exekutivbefugnisse im Gefahrenabwehrrecht zu Lasten der Länder aus; das BVerfG unterstützt diese Tendenz (Rn 45, 54). 44 aa) Grundsatz: Verwaltungszuständigkeit der Länder. Die Ausführung der Landesgesetze ist ausschließlich Landesangelegenheit; folglich obliegt der Vollzug des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts allein den Ländern (Art 30 GG). Das BVerfG spricht pointiert von der „Entscheidung der Verfassung, die Polizeigewalt in die Zuständigkeit der Länder zu verweisen“.188 Auch die Ausführung der Bundesgesetze erfolgt grundsätzlich durch die Länder (Art 83 GG). Für die Gefahrenabwehr auf bundesgesetzlicher Grundlage sind demnach die Länder zuständig, soweit nichts anderes bestimmt ist. Das ist zB bei schifffahrtspolizeilichen Aufgaben (dazu Rn 57) der Fall.189 Zutreffend hatte das BVerwG erkannt, die Beseitigung von Ölverschmutzungen der Bundeswasserstraßen gehöre zu den schifffahrtspolizeilichen Aufgaben des Bundes, auch wenn die Verschmutzung von der Schifffahrt ausgehe.190 Später hat das BVerwG eine wenig überzeugende restriktive Auslegung vorgenommen und gemeint, die Verwaltungszuständigkeit des Bundes umfasse nur den ordnungsgemäßen Schiffsverkehr einschließlich der Gefahrenverhütung; sei die Gefahr eingetreten, müssten die Länder die Störung beseitigen.191 Gleiches soll für den abwehrenden Brandschutz für Einrichtungen der Bundeswehr gelten; Art 87 b GG begründe keine Verwaltungszuständigkeit des Bundes,192 zuständig seien vielmehr die nach Landesrecht zuständigen Träger der Feuerwehr.193 45 bb) Ausnahme: Verwaltungskompetenzen des Bundes. Verfassungsrechtlich ist ausdrücklich vorgesehen, dass der Bund seine Gesetze im Wege der bundeseigenen Verwaltung ausführen kann (Art 86 GG). Allerdings ist zu beachten, dass die Verwaltungskompetenz des Bundes nicht weiter geht als seine Gesetzgebungskompetenz; diese ist vielmehr nach der Systematik des Grundgesetzes die äußerste Grenze für die Verwaltungskompetenz des Bundes.194 Von besonderer

_____ Polizei- und Ordnungsbehördengesetz (POG); SL: Polizeigesetz (PolG); Sachs: Polizeigesetz (PolG); LSA: Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (SOG); SH: Landesverwaltungsgesetz (LVwG §§ 162 ff), Polizeiorganisationsgesetz (POG); Thür: Polizeiaufgabengesetz (PAG), Polizeiorganisationsgesetz (POG), Ordnungsbehördengesetz (OBG). 187 Vgl dazu Kniesel/Vahle DÖV 1987, 953. – Zur Orientierung der Gesetzgebung der neuen Länder am MEPolG Riegel LKV 1993, 1; Knemeyer/Müller NVwZ 1993, 437; Meierkord/Müller DVBl 1993, 985. 188 BVerfGE 97, 198, 218 o JK GG Art 30/1. 189 § 1 I Nr 2 BinSchAufgG nF (BGBl I 2001, 2027): „Dem Bund obliegt auf dem Gebiet der Binnenschifffahrt … die Abwehr von Gefahren für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs sowie die Verhütung von der Schifffahrt ausgehender Gefahren (Schifffahrtspolizei) …“. Verfassungsrechtliche Grundlage hierfür: Art 87 I 1, 89 II GG. 190 BVerwG DÖV 1986, 285. 191 BVerwGE 87, 181, 185 f = JZ 1993, 947 (m krit Anm Faber); bestätigend BVerwGE 110, 9 o JK GG Art 83/1. 192 So noch VGH BW DVBl 1995, 365. 193 BVerwG DVBl 1997, 954. 194 BVerfGE 12, 205, 229; E 15, 1, 16; E 78, 374, 386; E 102, 167, 173 f; BVerwGE 87, 181, 184; Bäcker DÖV 2011, 840, 844.

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I. Grundlagen – 2. Kapitel

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Bedeutung ist die in Art 87 I 2 GG getroffene Regelung; das BVerfG spricht insoweit von „sonderpolizeilichen Behörden des Bundes“.195 Zur Aufgabenwahrnehmung auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit kann der Bund auch nach Art 87 III 1 GG eine selbstständige Bundesoberbehörde einrichten; die Vorschrift ist gegenüber Art 87 I 2 GG nicht etwa subsidiär. Das BVerfG gesteht dem Bund ein Wahlrecht zu zwischen der Einrichtung einer Zentralstelle nach Art 87 I 2 GG und der Errichtung einer selbstständigen Bundesoberbehörde nach Art 87 III 1 GG, soweit die Voraussetzungen beider Ermächtigungsnormen erfüllt sind. Daher durfte der Bund das Zollkriminalamt als selbstständige Bundesoberbehörde zur Verhütung von Straftaten im Außenwirtschaftsverkehr einrichten. 196 Generell lassen sich starke Zentralisierungstendenzen im Gefahrenabwehrrecht feststellen; die Stärkung der Polizeibehörden des Bundes beruht va auf der Internationalisierung, Informatisierung und Technisierung der Gefahrenabwehr.197 (1) Unterscheidung zwischen Polizei- und Sicherheitsdiensten. Bei den für die Innere Si- 46 cherheit zuständigen Bundesbehörden ist zwischen den Polizeibehörden des Bundes (va Bundespolizei, Rn 54; BKA, Rn 55 f) und den Nachrichtendiensten (BND, Rn 60; BfV, Rn 61; MAD, Rn 63) zu unterscheiden.198 Eine Sonderrolle kommt der Bundeswehr zu (Rn 64 f). Die Nachrichtendienste (Geheimdienste) sind keine Polizeibehörden. 199 Sie verfügen nach geltender Gesetzeslage ausdrücklich nicht über polizeiliche Befugnisse.200 Hintergrund der Rechtslage ist das „Trennungsgebot“ (Rn 47), das besagt, „dass Geheimdienste keine polizeilichen Zwangsbefugnisse besitzen dürfen, also etwa keine Vernehmungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen durchführen oder anderen Zwang ausüben dürfen“.201 Aufgabe der Dienste ist insbesondere die (heimliche) Informationsbeschaffung im Vorfeld konkreter Gefahrenlagen, die Erstellung von Lagebildern und Lagebeurteilungen sowie die Unterrichtung der polizeilichen Führung über verfassungswidrige und staatsfeindliche Organisationen und Bestrebungen im In- und Ausland. Grundlage der Unterscheidung zwischen Polizei- und Sicherheitsdiensten ist das – in seiner 47 rechtlichen Qualität und inhaltlichen Reichweite seit jeher umstrittene – Gebot der Trennung von Nachrichtendiensten und Polizei.202 Seinen historischen Ursprung hatte das Trennungsgebot im „Polizei-Brief“ der Alliierten vom 14.4.1949, mit dem der Bundesregierung bestimmte Befugnisse auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit zugestanden wurden.203 Das Genehmigungsschreiben der Alliierten zum GG nahm ausdrücklich Bezug auf den „Polizei-Brief“, so dass dieser Bestandteil des Besatzungsrechts wurde, an das die deutschen staatlichen Stellen gebunden waren.204 Als Reaktion auf den Terror der Gestapo des NS-Regimes war die organisatorische

_____

195 BVerfGE 97, 198, 217 o JK GG Art 30/1. – Angesichts der permanenten Stärkung der Gefahrenabwehrbehörden des Bundes (bzgl Aufgaben, Organisation, Befugnissen) lässt sich kaum noch von „Sonder“-Polizeibehörden sprechen. 196 BVerfGE 110, 33, 49 ff. 197 Gusy Rn 41; Kugelmann 4/2. – Zum bundesstaatlichen Mehrebenensystem der Gewährleistung der Inneren Sicherheit Möstl DV 41 (2008), 309, 314 ff. 198 Überblick dazu bei Kretschmer JURA 2006, 336 ff; ferner Brissa DÖV 2011, 391, 392 f. 199 Götz § 16 Rn 32; Gusy Rn 37; Pieroth/Schlink/Kniesel § 2 Rn 18. 200 § 8 III BVerfGSchG (Sartorius I Nr 80); § 2 III BNDG (v 20.12.1990, BGBl I 2954, zuletzt geändert durch G v 7.12.2011, BGBl I 2576); § 4 II MADG (v 20.12.1990, BGBl I 2954, zuletzt geändert durch G v 7.12.2011, BGBl I 2576). 201 So BVerfG-K NJW 2011, 2417, 2420 Tz 59 o JK GG Art 13 I/11. 202 Vgl dazu Roewer DVBl 1986, 205; Gusy ZRP 1987, 45; ders DV 24 (1991) 467; Riegel DVBl 1988, 121; Albert ZRP 1995, 105; Hetzer ThürVBl 1999, 125; Zöller Vorfeldmaßnahmen (Fn 67) 311 ff; Klee Neue Instrumente der Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten – Geltung, Rang und Reichweite des Trennungsgebots, 2010, 47 ff. 203 Der „Polizei-Brief“ ist abgedruckt (in deutscher Übersetzung) bei Werthebach/Droste in: BK, Art 73 Nr 10 Rn 10; ferner (im englischen Originalwortlaut) bei König Trennung und Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten, 2005, 70 f; zudem Klee Zusammenarbeit (Fn 202) 232 f (englisch) u 234 (deutsch). 204 König Trennungsgebot (Fn 203) 73 f.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

Vermischung von Polizei und Verfassungsschutz untersagt, zudem waren dem Nachrichtendienst polizeiliche Mittel vorenthalten. Vollzogen wurden danach die organisatorische und die funktionelle Trennung von Polizei und Nachrichtendienst(en).205 Nach der Herstellung der vollen Souveränität Deutschlands besteht die historische Ausgangslage des „Polizei-Briefs“ nicht mehr.206 Es ist daher mehr als fraglich, ob und ggf welche rechtliche Qualität dem (ehemaligen) Trennungsgebot noch zuerkannt werden kann. Zu unterscheiden ist insoweit zwischen dem Gesetzesrecht und dem Verfassungsrecht; zu differenzieren ist weiter zwischen der organisatorischen, der finanziellen und der informationellen Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten. Bundesgesetzlich ist bestimmt, dass der BND, das BfV und der MAD einer polizeilichen Dienststelle nicht angegliedert werden dürfen;207 damit besteht ein Gebot organisatorischer Trennung. Die funktionelle Trennung von Polizei und Sicherheitsdiensten ist insoweit verwirklicht, als den Diensten polizeiliche Befugnisse vorenthalten werden (Rn 46). Ein informationelles Trennungsgebot besteht nach der Gesetzeslage nicht (Rn 49 ff). Auf Bundesebene208 kommt einem umfassenden Trennungsgebot kein Verfassungsrang 48 209 zu. Stützen ließe sich ein Trennungsgebot allenfalls auf das Rechtsstaats- und das Bundesstaatsprinzip sowie auf den Schutz der Grundrechte.210 Danach dürfte keine Verbindung von Behörden vorgenommen werden, die der jeweiligen verfassungsrechtlichen Aufgabenstellung zuwiderläuft. Eine Zusammenarbeit (zB Informationshilfe) zwischen Nachrichtendiensten und Polizei (sowie Strafverfolgungsbehörden) ist dadurch nicht ausgeschlossen.211 In der (Rechts-) Praxis ist zunehmend eine Funktionenvermischung zu beobachten.212 Offenbar um dieser Tendenz entgegenzuwirken, hat das BVerfG festgestellt, dass „die Zentralstellen für Zwecke des Verfassungsschutzes oder des Nachrichtendienstes – angesichts deren andersartiger Aufgaben und Befugnisse – nicht mit einer Vollzugspolizeibehörde zusammengelegt werden dürfen“.213 Verfassungsgerichtlich wird danach jedenfalls am organisatorischen Trennungsgebot festgehalten. Ein funktionelles oder gar ein informationelles Trennungsgebot lassen sich aus dem GG kaum herleiten.214 49 (2) Informationelle Zusammenarbeit von Polizei und Sicherheitsdiensten. Ein informationsrechtliches Trennungsgebot, das dem Verbot eines Informationsaustauschs gleich käme, kennt das geltende (Verfassungs-)Recht nicht.215 Die organisatorische und funktionale Trennung von Nachrichtendiensten und Polizei bedingt vielmehr deren informationelle Zusammen-

_____ 205 Wolff/Scheffczyk JA 2008, 81, 83; Götz in: HStR IV § 85 Rn 39. 206 So ausdrücklich BVerfGE 110, 33, 52. 207 § 1 I 2 BNDG, § 2 I 3 BVerfSchG; § 1 IV MADG. 208 Anders zT das Landesverfassungsrecht: Art 11 III BbgVerf; Art 83 III SächsVerf (dazu SächsVerfGH NVwZ 2005, 1310, 1311 f); Art 97 ThürVerf. 209 Nehm NJW 2004, 3289, 3290 ff; Baumann DVBl 2005, 798 ff; Mehde JZ 2005, 815, 818; Pieroth/Schlink/Kniesel § 2 Rn 19; Droste Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden im Kampf gegen Organisierte Kriminalität, 2002, 121; König Trennungsgebot (Fn 203) 118 ff, 195 f; Klee Zusammenarbeit (Fn 202) 48 ff. 210 Gusy VVDStRL 63 (2004) 151, 184. – Roggan/Bergemann NJW 2007, 876 sehen eine durch Art 87 I 2 GG „implizit“ vorgenommene Regelung; ähnlich Gusy Rn 37, sowie Götz in: HStR IV § 85 Rn 39. Überzeugend gegen die Deduktion aus Art 87 I 2 GG Abbühl Der Aufgabenwandel des Bundeskriminalamtes, 2010, 382 ff. 211 Nehm NJW 2004, 3289, 3293 ff; Mehde JZ 2005, 815, 819. 212 Trute DV 32 (1999) 73, 75; Hetzer ZRP 1999, 19; Zöller JZ 2007, 763, 767 ff; Roggan/Bergemann NJW 2007, 876, 877 ff. 213 BVerfGE 97, 198, 217 o JK GG Art 30/1; krit dazu Schenke Rn 444. 214 Wolff DÖV 2009, 597, 601 f. 215 Zöller JZ 2007, 763, 767; Wolff/Scheffczyk JA 2008, 81, 84; Wolff DÖV 2009, 597, 602; Weisser NVwZ 2011, 142, 144; zT aA Roggan/Bergemann NJW 2007, 876: keine „planmäßige“ Zusammenführung von Daten, zulässige Datenübermittlung zwischen Polizei und Geheimdiensten nur im Einzelfall.

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arbeit.216 Sie war schon früher gesetzlich verankert (zB §§ 17 ff BVerfSchG, §§ 10 ff BKAG). Mit der zum 31.12.2006 rechtlich in Kraft gesetzten Antiterrordatei,217 die beim BKA geführt wird (§ 1 I ATDG),218 ist ein neuartiger Informationsverbund der deutschen Sicherheitsbehörden entstanden.219 Beteiligte Behörden sind das BKA, die Bundespolizei, die Landeskriminalämter, die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, der MAD, der BND und das Zollkriminalamt; sie führen beim BKA zur Erfüllung ihrer jeweiligen gesetzlichen Aufgaben zur Aufklärung oder Bekämpfung des internationalen Terrorismus mit Bezug zur Bundesrepublik Deutschland eine gemeinsame standardisierte zentrale Antiterrordatei (§ 1 I ATDG). Weiteren Polizeivollzugsbehörden kann die Teilnahme an der Antiterrordatei im Benehmen mit dem BMI gestattet werden (§ 1 II ATDG). Der Inhalt der Datei und die darauf bezogene Speicherungspflicht (§ 2 ATDG) sowie die zu speichernden Datenarten (§ 3 ATDG) sind gesetzlich festgelegt. Zugriff auf die Daten haben (im automatisierten Verfahren) die beteiligten Behörden, soweit dies zur Erfüllung der jeweiligen Aufgaben zur Aufklärung oder Bekämpfung des internationalen Terrorismus erforderlich ist; im Falle eines Treffers erhält die abfragende Behörde Zugriff auf bestimmte Daten und im Eilfall auf die erweiterten Grunddaten (§ 5 ATDG). Auch eine an sich zweckwidrige Verwendung der Daten durch die abfragende Behörde ist nach näherer gesetzlicher Bestimmung zulässig (§ 6 ATDG). Aus dem Blickwinkel des Trennungsgebots bestehen, da Organisation und Befugnisse der Sicherheitsbehörden getrennt bleiben, gegen die Antiterrordatei keine rechtlichen Bedenken.220 Die im ATDG spezialgesetzlich geregelte Antiterrordatei (Rn 49) ist nur ein prominentes 50 Beispiel für den mittlerweile existierenden Datenverbund zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten (uz des Bundes und der Länder). Inzwischen betreibt das BKA mehr als 50 Verbunddateien (und sonstige Dateien) mit etwa 30 Mio Datensätzen.221 Rechtliche Grundlage hierfür ist die dem BKA als Zentralstelle für den elektronischen Datenverbund zwischen Bund und Ländern zugewiesene Aufgabe zur Unterhaltung eines polizeilichen Informationssystems (§§ 2 III, 11 I 1 BKAG).222 Verbunddateien sind die vom BKA in seiner Zentralstellenfunktion geführten Dateien des polizeilichen Informationssystems.223 Die in dieses System einzubeziehenden Dateien bestimmt das BMI im Einvernehmen mit den Innenministerien/-verwaltungen der Länder (§ 11 I 2 BKAG). Öffentliches Aufsehen hat die Datei „Gewalttäter Sport“ erregt. Die Erhebung und Speicherung von Daten in dieser Datei war lange Zeit rechtswidrig, weil es an der nach § 7 VI BKAG erforderlichen Rechtsverordnung fehlte.224 Dieser Mangel ist nun behoben,225 so dass die Grundlage für die Speicherung, Veränderung und Nutzung bestimmter Daten (§ 8 I, II BKAG) gegeben ist.226 Neben der Antiterrordatei (Rn 49) und sonstigen (Verbund-)Dateien (Rn 50) können das 51 BKA, das BfV und der BND auch projektbezogene gemeinsame Dateien betreiben.227 Projektdateien sind Datensammlungen von Polizei und Nachrichtendiensten zur anlassbezogenen

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216 Thiel Rn 65 f; Götz in: HStR IV § 85 Rn 40. 217 Antiterrordateigesetz – ATDG (Sartorius I Nr 82); dazu Klee Zusammenarbeit (Fn 202) 145 ff; Stubenrauch Gemeinsame Verbunddateien von Polizei und Nachrichtendiensten, 2009, 214 ff. 218 Einzelheiten dazu bei Abbühl BKA (Fn 210) 229 ff. 219 Zöller JZ 2007, 763, 771 (mit Hinweis darauf, dass die meisten EU-Staaten anders als Deutschland und Großbritannien Mischformen von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten bevorzugten). 220 Wolff/Scheffczyk JA 2008, 81, 84 f; Abbühl BKA (Fn 210) 239; rechtspolitische Kritik bei Zöller JZ 2007, 763, 770, sowie Roggan/Bergemann NJW 2007, 876, 880 f. 221 Näher zu den Verbunddateien des BKA Arzt/Eier DVBl 2010, 816 ff. 222 Abgedruckt in Sartorius I Nr 450. 223 BVerwGE 137, 113, 116 Tz 18. 224 NdsOVG NdsVBl 2009, 135. 225 VO über die Art der Daten, die nach §§ 8 und 9 BKAG gespeichert werden dürfen, BGBl I 2010, 716. 226 BVerwGE 137, 113, 118 ff; dazu Arzt NJW 2011, 352 ff; krit Spiecker gen. Döhmann/Kehr DVBl 2011, 930 ff. 227 § 9a BKAG; § 22a BVerfSchG; § 9a BNDG.

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Durchführung bestimmter Projektarbeiten.228 Welche Behörden beteiligt sind, richtet sich nach der inhaltlichen Ausrichtung des konkreten Projekts. Die projektbezogene Zusammenarbeit bezweckt nach Maßgabe der Aufgaben und Befugnisse der beteiligten Behörden insbesondere den Austausch und die gemeinsame Auswertung von polizeilichen oder nachrichtendienstlichen Bestrebungen. Eine projektbezogene gemeinsame Datei ist auf zwei Jahre zu befristen; es besteht allerdings die Möglichkeit der Verlängerung. 52 Eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten auf nationaler Ebene bildet das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ). Dieses Zentrum, das keinen Behördenstatus (§ 1 IV VwVfG) hat, sondern ein bloßes Netzwerk darstellt, nahm seine Arbeit im Dezember 2004 unter Federführung des BKA und Beteiligung des BfV auf; Ziel ist die Terrorismusbekämpfung. Mittlerweile sind etwa 40 Behörden am GTAZ beteiligt.229 53 (3) Polizeiverwaltung des Bundes. In einem gewissen Kontrast zu dem lange Zeit unangefochtenen Grundsatz, wonach die Verwaltung auf dem Gebiet des Polizei- und Ordnungsrechts Landesangelegenheit ist (Rn 44), hat der Bund seine Verwaltung im Gefahrenabwehrrecht stetig ausgebaut und mit der Bundespolizei (Rn 54) und dem BKA (Rn 55) Einrichtungen geschaffen, die auf Grund ihrer Aufgaben und Befugnisse in Konkurrenz zur Polizei der Länder stehen. Hinzu treten einige weitere Bundesbehörden, denen ebenfalls polizeiliche Funktionen zukommen (Rn 57 f). 54 Die Bundespolizei (vormals der Bundesgrenzschutz, BGS) 230 wird in bundeseigener Verwaltung im Geschäftsbereich des BMI geführt (§ 1 I BPolG). Der Ausbau des ehemaligen BGS zu einer schlagkräftigen Bundespolizei war unverkennbar, nachdem das BVerfG die Übertragung der Aufgaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit auf den BGS 231 gebilligt hatte.232 Es ist daher nur konsequent gewesen, dass der BGS in „Bundespolizei“ umbenannt wurde und das BGSG die Bezeichnung „Bundespolizeigesetz“ erhielt.233 In der Sache verfügt die Bundespolizei über Befugnisse wie jede Landespolizei (§ 14 I BPolG Generalklausel, §§ 21 ff u 38 ff BPolG Standardbefugnisse). Die große Bedeutung der Bundespolizei wird bei einem Blick auf deren Aufgaben und Verwendungen deutlich.234 Die Bundespolizei fungiert als Grenzschutz (§ 2 BPolG)235 und als Bahnpolizei (§ 3 BPolG), schützt den Luftverkehr (§ 4 BPolG) und die Bundesorgane (§ 5 BPolG), erfüllt Aufgaben auf See (§ 6 BPolG) und (im Rahmen internationaler Maßnahmen) im Ausland (§ 8 BPolG), unterstützt andere Bundesbehörden bis hin zum Schutz deutscher Auslandsvertretungen (§ 9 BPolG) und unterstützt die Länder (§ 11 BPolG), nimmt polizeiliche Aufgaben bei der Strafverfolgung (§ 12 BPolG) sowie bei der Ahndung von Ordnungswidrigkeiten (§ 13 BPolG) wahr; im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung sind der Bundespolizei auch Aufgaben an Bord von Luftfahrzeugen zugewiesen worden (§ 4a BPolG).236 Insgesamt muss von einem tiefgehenden Einbruch in die Gefahrenabwehrkompetenzen der Länder gesprochen werden. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen jedoch nicht.237 Mitunter ist die Zuständigkeit der Bundespolizei zur Gefahrenabwehr von der Zuständigkeit anderer Bundesbehörden abzugrenzen; dazu gelten die allgemeinen Regeln.238

_____ 228 Einzelheiten dazu bei Abbühl BKA (Fn 210) 236 ff; Klee Zusammenarbeit (Fn 202) 157 ff. 229 Näher zum GTAZ Weisser NVwZ 2011, 142 ff; Abbühl BKA (Fn 210) 226 ff; Klee Zusammenarbeit (Fn 202) 112 ff. 230 Das BPolG (Sartorius I Nr 90), vormals BGSG, basiert auf Art 73 Nr 5, 87 I 2 GG. 231 Dazu Papier DVBl 1992, 1; Schreiber DVBl 1992, 589. 232 BVerfGE 97, 198 o JK GG Art 30/1; dazu Hecker NVwZ 1998, 707; Ronellenfitsch VerwArch 90 (1999) 139, 150 ff. 233 Gesetz zur Umbenennung des Bundesgrenzschutzes in Bundespolizei v 21.6.2005, BGBl I 1818. 234 Näher dazu Wagner JURA 2009, 96, 98 ff; Lisken/Denninger B Rn 144 ff. 235 Zum Einsatz der Bundespolizei an den europäischen Außengrenzen Mrozek DÖV 2010, 886 ff. 236 Vgl dazu Schladebach NVwZ 2006, 430 ff. 237 Götz in: HStR IV § 85 Rn 36. 238 Vgl Schäling DÖV 2006, 295 ff (Gefahrenabwehr im Vorfeld der Fußball WM 2006 durch Bundespolizei und Eisenbahn-Bundesamt).

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Am 1.3.2008 ist eine wichtige Organisationsreform der Bundespolizei in Kraft getreten.239 Die vormalige Gliederung der Bundespolizei – Bundespolizeidirektion (mit Sitz in Koblenz), Polizeipräsidien (als Bundesmittelbehörden), Bundespolizeiämter (als Bundesunterbehörden) – ist abgeschafft worden; Bundespolizeibehörden sind nun (§ 57 BPolG) das Bundespolizeipräsidium (als Oberbehörde mit Sitz in Potsdam), die Bundespolizeidirektionen (als Unterbehörden) und die Bundespolizeiakademie (als zentrale Aus- und Fortbildungsstätte der Bundespolizei).240 Zahl und Sitz der Behörden bestimmt das BMI (§ 57 V BPolG). Mit der Bundespolizeireform 2008 hat der Gesetzgeber den Verfassungswortlaut erneut „gedehnt“. Gerechtfertigt wird das Bundespolizeipräsidium nach Art 87 I 2 Alt 1 GG (wegen seines Verwaltungsunterbaus gemessen an Art 87 III 1 GG) als „Bundesoberbehörde sui generis“.241 Das Bundeskriminalamt (BKA) 242 dient der Zusammenarbeit von Bund und Ländern in 55 kriminalpolizeilichen Angelegenheiten (§ 1 I BKAG) und fungiert als Zentralstelle (§ 2 BKAG) sowohl zur Verhütung als auch zur Verfolgung von Straftaten.243 Für Eingriffsmaßnahmen (Rn 37) fehlten dem BKA vielfach die notwendigen Rechtsgrundlagen.244 Erst durch die BKAG-Novelle 1997 245 wurde rechtsstaatlichen Standards im Bereich der Befugnisnormen entsprochen.246 Zahlreiche weitere Gesetzesänderungen 247 haben dem BKA zusätzliche Kompetenzen und Befugnisse verschafft (zB bei der Bekämpfung der Geldwäsche oder der Finanzierung terroristischer Vereinigungen). Stets ging es jedoch (abgesehen von der Zentralstellenfunktion des BKA, §§ 2 u 3 BKAG) um Aufgaben im Rahmen der Strafverfolgung (§ 4 BKAG).248 Der (jeweilige) Bundesinnenminister fordert indes immer wieder zusätzliche Kompetenzen für das BKA, damit dieses neben der Aufklärung bestimmter Straftaten (Strafverfolgung) auch – wie die Polizeien der Länder – Maßnahmen der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung durchführen kann.249 Der „Durchbruch“ iSd Bundes(innenministers) erfolgte zum 1.9.2006 mit der Schaffung des 56 Art 73 I Nr 9a GG.250 Unter den dort genannten Voraussetzungen hat der Bund die Gesetzgebungskompetenz in Bezug auf die Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das BKA.251 Durch das BKAGÄndG 2008 wurde von der neuen Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht.252 Erstmals wurden dem BKA präventivpolizeiliche Aufgaben und Befugnisse – wenn auch sachlich begrenzt auf die Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus – zugewiesen. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat es allerdings versäumt, die Verwaltungskompetenzen nach Art 87 I 2 GG anzupassen; dieses Defizit lässt sich nur beheben, wenn entweder in Art. 73 I Nr 9a GG eine immanente Vollzugskompetenz gesehen oder auf Art. 87 III 1 GG zurückgegriffen wird.253

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239 G zur Änderung des BPolG v 26.2.2008, BGBl I 215. 240 Näher dazu Wagner JURA 2009, 96, 97. 241 Wagner DÖV 2009, 66, 68 (mit zutr Kritik an der Gesetzesbegründung BT-Drs 16/6291, 11: „redaktionelle Bereinigung“). 242 Das BKAG (Sartorius I Nr 450) basiert auf Art 73 Nr 10, 87 I 2 GG. 243 Verfassungswidrigkeit von § 4 und § 5 BKAG wegen Überschreitung der Bundeskompetenz annehmend Lisken/Denninger B Rn 157 f. 244 HessVGH NVwZ-RR 1995, 661 und DVBl 1996, 570 (zur Speicherung personenbezogener Daten). 245 Dazu Schreiber NJW 1997, 2137, mit Erwiderung Riegel NJW 1997, 1408. 246 Vgl BVerwG DVBl 1999, 332. 247 ZB Art 4 GeldwäschebekämpfungsG (v 8. 8. 2002, BGBl I 3105), Art 5 G z Neuregelung des Zollfahndungsdienstes (v 16. 8. 2002, BGBl I 3202), Art 1 G z effektiven Nutzung Dateien StA (v 10. 9. 2004, BGBl I 2318), Art 4 GemeinsameDateien-Gesetz (v 22.12.2006, BGBl I 3409), Art 7 G z Neuregelung der TK-Überwachung (v 21.12.2007, BGBl I 3198). 248 Saurer NVwZ 2005, 275, 280; Kretschmer JURA 2006, 336, 337 ff. 249 Pointiert Schily in: FAZ Nr 297 v 20.12.2004, 10. 250 52. GG-ÄndG v 28.8.2006, BGBl I 2034. 251 Dazu Tams DÖV 2007, 367 ff; Bäcker Terrorismusabwehr durch das Bundeskriminalamt, 2009, 30 ff; Abbühl BKA (Fn 210) 292 ff. 252 Art 1 GG zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das BKA v 25.12.2008, BGBl I 3083. 253 Abbühl BKA (Fn 210) 305 ff.

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Die Aufgabenwahrnehmung (Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus) ist von gesetzlichen Voraussetzungen abhängig gemacht und in das Ermessen des BKA gestellt (§ 4a I BKAG). Die Befugnisnormen umfassen – vergleichbar dem Landespolizeirecht und dem BPolG – eine Generalklausel (§ 20a I 1 BKAG) und Standardmaßnahmen (§ 20b bis 20x BKAG).254 Für die Ausübung der Befugnisse gelten die allgemeinen Regeln des (Bundes-)Polizeirechts (§ 20a I 2 BKAG iVm §§ 15 bis 20 BPolG). Geschützt wird die öffentliche Sicherheit im Zusammenhang mit bestimmten Straftaten (§ 20a II iVm § 4a I 2 BKAG). Die gegen die BKAG-Novelle 2008 geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken255 überzeugen kaum.256 Zutreffend ist allerdings die Beobachtung eines Wandels des BKA von einer ehemaligen Strafverfolgungsbehörde zu einer multifunktionalen Sicherheitsbehörde.257 Neben der Bundespolizei (Rn 54) und dem BKA (Rn 55, 56) verfügt der Bund über weitere 57 Behörden, die – bezogen auf einzelne Sachmaterien – Aufgaben der Gefahrenabwehr wahrnehmen (zB Zollkriminalamt, Eisenbahn-Bundesamt, Kraftfahrt-Bundesamt, Bundesamt für Güterverkehr). Von besonderer Bedeutung ist die Gefahrenabwehr durch die Strom- und Schifffahrtspolizei im Bereich der Binnenschifffahrt. Nach Maßgabe der verfassungsrechtlichen Grundlage der Art 74 I Nr 21, 87 I 1, 89 II 1 und II GG sind von der Strompolizei (dh Wegepolizei) die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die Bundeswasserstraßen in einem für die Schifffahrt erforderlichen Zustand zu erhalten.258 Demgegenüber obliegen der Schifffahrtspolizei (dh Verkehrspolizei) die Abwehr von Gefahren für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs sowie die Verhütung von der Schifffahrt ausgehender Gefahren.259 Der Erwähnung bedarf schließlich die Polizeigewalt des BT-Präsidenten. Nach Art 40 II 1 58 GG übt der Präsident des Deutschen Bundestages das Hausrecht und die Polizeigewalt im Gebäude des Bundestages aus.260 Bei der Wahrnehmung seines Hausrechts und seiner Polizeigewalt wird der Parlamentspräsident von der Bundespolizei unterstützt (§ 9 I 1 Nr 1 BPolG). Dies kann jedoch nur nach Maßgabe des für diesen geltenden Rechts erfolgen. Insoweit mangelt es an gesetzlich geregelten Eingriffsbefugnissen des BT-Präsidenten. Ein Ausführungsgesetz zu Art 40 II 1 GG gibt es nicht. Vollzugsdefizite lassen sich nur vermeiden, wenn dem Begriff „Polizeigewalt“ alle hoheitlichen Befugnisse der allgemeinen Polizeibehörden zugeordnet werden.261 Art 40 II 1 GG fungiert nach dieser Lesart nicht nur als Aufgabenzuweisungsnorm, sondern zugleich als Befugnisnorm. 59 (4) Nachrichtendienste des Bundes. Die Nachrichtendienste – Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), Bundesnachrichtendienst (BND) und Militärischer Abschirmdienst (MAD) –, denen polizeiliche Befugnisse nicht eingeräumt sind (Rn 46), nehmen präventive Aufgaben auf dem Gebiet des Staatsschutzes (Innere und Äußere Sicherheit) wahr.262 Sie haben sach- und personenbezogene Informationen zu sammeln und auszuwerten. Dazu sind sie insbesondere zur Überwachung der Telekommunikation und zur Beeinträchtigung des Brief- und Postgeheimnis-

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254 Näher dazu Abbühl BKA (Fn 210) 333 ff; Bäcker BKA (Fn 251) 65 ff; zu § 20k BKAG (Verdeckter Eingriff in informationstechnische Systeme) Nazari-Khanachayi JA 2010, 761, 763 ff; zu § 20n BKAG (Identifizierung und Lokalisierung von Mobilfunk) Harnisch/Pohlmann NVwZ 2009, 1328 ff; zu § 20u BKAG (Schutz besonderer Vertrauensverhältnisse) Shirvani ZG 2011, 45 ff. 255 Baum/Schantz ZRP 2008, 137 ff; Roggan NJW 2009, 257 ff. 256 Abbühl BKA (Fn 210) 331, 344 f; Wolff DÖV 2009, 597, 602. 257 Tams DÖV 2011, 367, 371 f; Abbühl BKA (Fn 210) 353 ff; Bäcker BKA (Fn 251) 41 u 107. 258 §§ 24 ff WaStrG (Sartorius I Nr 971); vgl dazu Examensklausur von Schoch NWVBl 1993, 277. 259 § 1 I Nr 2 BinSchAufgG. – Zur Deutung durch das BVerwG oben Rn 44. 260 Dazu Köhler DVBl 1992, 1577 ff; Ramm NVwZ 2010, 1461 ff. 261 Morlok in: Dreier (Hrsg) GG II, 2. Aufl 2006, Art 40 Rn 36; Klein in: Maunz/Dürig, GG, Art 40 Rn 169 ff; aA Ramm NVwZ 2010, 1461, 1465 f. 262 Zur Entwicklung der Dienste sowie ihrer Kompetenzen und Kontrollen Kornblum Rechtsschutz gegen geheimdienstliche Aktivitäten, 2011, 37 ff.

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ses berechtigt.263 Die Dienste unterliegen nach Maßgabe des Art 45d GG einer besonderen Parlamentarischen Kontrolle.264 Als Auslandsnachrichtendienst obliegt dem Bundesnachrichtendienst (BND) insbesondere 60 die Sammlung und Auswertung von Informationen zur Gewinnung derjenigen Erkenntnisse über das Ausland, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind (§ 1 II BNDG).265 Dazu gehört ua die Fernmeldeüberwachung.266 Die strategische Überwachung internationaler TK-Beziehungen (§ 5 G 10) dient dem Schutz wichtiger Rechtsgüter.267 Dem BND dürfen keine Befugnisse eingeräumt werden, die auf die Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten als solche gerichtet sind; erhobene personenbezogene Daten unterliegen verfassungsrechtlich einer Zweckbindung, die nur in engen Grenzen die Datenübermittlung an andere Behörden und dortige Zweckänderungen erlaubt.268 Diese Vorgaben des BVerfG zum Schutz des Art 10 GG sind mittlerweile gesetzlich umgesetzt worden.269 Zunehmend ist der BND mit der Aufklärung der grenzüberschreitend agierenden Organisierten Kriminalität befasst; die Sammlung und Auswertung der Informationen hierüber ist von wachsender außenund sicherheitspolitischer Bedeutung für unser Gemeinwesen.270 Im Frühjahr 2008 hat der BND das Interesse der Öffentlichkeit auf sich gezogen, nachdem er ihm angebotene entwendete Kontendaten einer Bank in Liechtenstein gekauft und den deutschen Steuerbehörden übergeben hatte.271 Nach dem bekannt gewordenen Sachverhalt dürfte die Erlangung der Daten von § 1 II BNDG gedeckt gewesen sein.272 Auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit kommt dem Verfassungsschutz eine herausragende 61 Bedeutung zu.273 Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), eine dem BMI unterstehende Bundesoberbehörde, die einer Polizeidienststelle nicht angegliedert werden darf (§ 2 I BVerfSchG), nimmt die ihm übertragene Aufgabe des Staatsschutzes 274 insbesondere durch Sammlung und Auswertung von Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen und sicherheitsgefährdende Aktivitäten wahr (§ 3 BVerfSchG).275 Die Befugnisse des BfV sind zunächst in einer Generalklausel geregelt (§ 8 BVerfSchG); im Vordergrund steht die offene Informationsgewinnung.

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263 § 1 I G 10 (Sartorius I Nr 7); vgl zur grundrechtlichen Problematik Schoch JURA 2011, 194, 203 f.; Bäcker DÖV 2011, 840 ff hält das G 10 teilweise für verfassungswidrig. 264 Kontrollgremiumgesetz – PKGrG – (Sartorius I Nr 81); zur Neufassung des Gesetzes 2009 B. Huber NVwZ 2009, 1321 ff; Christopeit/Wolff ZG 2010, 77 ff; Shirvani VBlBW 2010, 99 ff; Kornblum Geheimdienstliche Aktivitäten (Fn 262) 93 ff. – Zur Kontrolle der Nachrichtendienste ferner Beck/Schlikker NVwZ 2006, 912 ff; Gusy ZRP 2008, 36 ff; Bull DÖV 2008, 751 ff. – Zur G 10-Kommission vgl § 15 G 10; dazu Kornblum Geheimdienstliche Aktivitäten (Fn 262) 185 ff u 308 ff. 265 Vgl dazu Kretschmer JURA 2006, 336, 340 f. 266 BVerfGE 100, 313, 317. 267 Dazu aus der Praxis BVerwGE 130, 180. 268 BVerfGE 100, 313; dazu Müller-Terpitz JURA 2000, 296; ferner Möstl DVBl 1999, 1394; Arndt NJW 2000, 47; Huber NVwZ 2000, 393. 269 Krit dazu Wollweber ZRP 2001, 213; Huber NJW 2001, 3296; Schafranek DÖV 2002, 846. – Der Neuregelung Verfassungsmäßigkeit attestierend Kaysers AöR 129 (2004) 121. 270 Soiné DÖV 2006, 204 ff; ders ZRP 2008, 108 ff. 271 Vgl dazu Carstens FAZ Nr 41 v 18.2.2008, 4; Sieber FAZ Nr 75 v 31.3.2008, 8. 272 Sieber NJW 2008, 881 f; das BVerfG hat die Frage unentschieden gelassen und im Falle der strafprozessualen Verwertung einer dem BND von einem Informanten angebotenen „Steuer-CD“ erkannt, es bestehe – auch bei rechtswidriger Beschaffung der CD – kein Beweisverwertungsverbot, BVerfG-K NJW 2011, 2417 o JK GG Art 13 I/11. – Aus der Sicht des StGB und des § 17 UWG Strafbarkeit der handelnden BND-Mitarbeiter annehmend Trüg/Habetha NJW 2008, 887 ff. 273 Vgl dazu Kretschmer JURA 2006, 336, 339 f. 274 Das BVerfSchG (Sartorius I Nr 80) basiert auf Art 73 Nr 10, 87 I 2 GG. Zur bedeutsamen Neufassung 1990 Bäumler NVwZ 1991, 643; Gusy DVBl 1991, 1288. 275 Einzelheiten bei Zöller Vorfeldmaßnahmen (Fn 67) 287 ff; Droste Handbuch des Verfassungsschutzes, 2007, 86 ff.

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Im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung sind dem BfV weitreichende Auskunftsbefugnisse zB gegenüber Postdienst-, Teledienste- und TK-Anbietern, Luftfahrtunternehmen, Kreditinstituten und sonstigen Finanzunternehmen eingeräumt worden (§ 8a BVerfSchG). Hinzu tritt die Befugnis zur heimlichen Informationsbeschaffung (§ 9 BVerfSchG). Die Beobachtung (rechts)extremistischer Parteien durch den Verfassungsschutz (des Bundes und der Länder) wird von der Rechtsprechung überwiegend gebilligt.276 Als unzulässig ist dagegen die Überwachung der Scientology-Organisation mit nachrichtendienstlichen Mitteln angesehen worden.277 Über seine Tätigkeit legt das BfV einen Bericht vor (§ 16 BVerfSchG).278 Der Verfassungs62 schutzbericht zeigt vorhandene verfassungsfeindliche Bestrebungen auf. Kritisch gesehen wird die stigmatisierende „Verdachtsberichterstattung“;279 Verfassungsschutzbeamte sehen dies (naturgemäß) anders und qualifizieren den Verfassungsschutzbericht als ein legitimes und unverzichtbares Mittel zur geistig-politischen Auseinandersetzung mit Extremisten.280 Inzwischen ist geklärt, dass ein Verfassungsschutzbericht bestimmte (verfassungs)rechtliche Mindestanforderungen einhalten muss.281 Das BVerfG hat die Erwähnung eines Presseverlags in einem Verfassungsschutzbericht als rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Pressefreiheit (Art 5 I 2 GG) erachtet; die gesetzliche Ermächtigung zur Information der Öffentlichkeit durch einen Verfassungsschutzbericht (für den Bund: § 16 BVerfSchG) sei zwar ein allgemeines Gesetz iSd Art 5 II GG, jedoch müsse der gegenüber dem Verlag öffentlich geäußerte Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen auf Tatsachen gestützt werden können bzw als (noch) nicht feststehend deutlich gemacht werden.282 Nach dieser Entscheidung sind auch zB die Aufnahme der Partei „Die Republikaner“ in einen Landesverfassungsschutzbericht283 und desgleichen die Aufnahme einer Vereinigung von Muslimen284 sowie einer als extremistisch und verfassungsfeindlich eingestuften Gruppierung (ohne Angabe von Fakten)285 als rechtswidrig erachtet worden. Stellt sich heraus, dass in Akten des BfV enthaltene personenbezogene Daten unrichtig sind, kann der Betroffene eine Berichtigung bzw einen entsprechenden Vermerk in der Akte verlangen (§ 13 BVerfSchG).286 63 Der Militärische Abschirmdienst (MAD) ist Teil des Bundesministeriums der Verteidigung. Zu seinen gesetzlichen Aufgaben287 gehört insbesondere die Sammlung und Auswertung von Informationen über Bestrebungen, die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Staates gerichtet sind sowie über sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Inland für eine fremde Macht; stets muss der Geschäftsbereich des Verteidigungsministeriums betroffen sein (§ 1 I 1 MADG).288 Vorgeschrieben ist eine enge Zusammenarbeit des MAD mit den Verfassungsschutzbehörden (§ 3 MADG). Die Befugnisse und Pflichten des MAD bestimmen sich weitgehend nach dem BVerfSchG (§§ 4 bis 9 sowie §§ 11 u 12 MADG).

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276 BVerwGE 110, 126 = DVBl 2000, 279 (m Anm Wollweber 574), dazu Bespr Michaelis NVwZ 2000, 399; BayVGH NJW 1994, 748; OVG RP DVBl 1999, 1751; NdsOVG NVwZ-RR 2002, 242; aA VG Berlin NJW 1999, 806. 277 VG Berlin NVwZ 2002, 1018; aA Albert DÖV 1997, 810; differenzierend Engelmann BayVBl 1998, 358. 278 Vgl dazu Droste Handbuch (Fn 275) 453 ff. 279 Insoweit Verfassungswidrigkeit annehmend Murswiek NVwZ 2004, 769; vgl auch ders FS von Arnim, 2004, 481. 280 Doll NVwZ 2005, 658. 281 Vgl dazu Murswiek in: Oebbecke/Pieroth/Towfigh (Hrsg), Islam und Verfassungsschutz, 2007, 73 ff. 282 BVerfGE 113, 63; dazu Bespr Betram NJW 2005, 2890; Murswiek NVwZ 2006, 121; Wisuschil ZUM 2006, 294. 283 OVG Bln-Bbg NVwZ 2006, 838. 284 VGH BW VBlBW 2007, 340; bestätigt durch BVerwGE 131, 171 o JK GG Art 2 I iVm Art 1 I/49. 285 BayVGH NVwZ-RR 2011, 62. 286 OVG NW NVwZ 2005, 969; Droste Handbuch (Fn 275) 443 ff. 287 Das MAD-Gesetz v 20.12.1990, BGBl I 2954, 2977 basiert auf Art 73 I Nr 1, 87a I GG; zum MADG Dau DÖV 1991, 661 ff. 288 Einzelheiten zum MAD bei Brissa DÖV 2011, 391 ff.

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Die Zulässigkeit eines Auslandseinsatzes des MAD war lange Zeit unklar und umstritten. Dagegen sprachen seine dem Verfassungsschutz entsprechende und allein auf die Bundeswehr bezogene Zuständigkeit. Durch das 1. MADGÄndG289 sind dem MAD Aufgaben und Befugnisse während besonderer Auslandsverwendungen der Bundeswehr zugewiesen worden (§ 14 MADG). Die Sammlung und Auswertung von Informationen ist allerdings auf Liegenschaften, in denen sich Dienststellen und Einrichtungen der Truppe befinden, begrenzt. Dadurch wird die Zuständigkeit des BND gewahrt.290 Der Kompetenzsicherung dienen auch die Unterrichtungspflichten und Abstimmungsgebote zwischen MAD und BND gemäß § 14 VI MADG. (5) Bundeswehr und Gefahrenabwehr. Die Bedrohungen der Inneren Sicherheit durch den 64 internationalen Terrorismus werfen die Frage auf, ob und inwieweit die Bundeswehr im Inland zur Gefahrenabwehr eingesetzt werden kann. 291 Nach geltender Verfassungsrechtslage (Art 87a, 35 GG) ist die Bekämpfung des Terrorismus im Inland keine Aufgabe der Streitkräfte, sondern der Polizei. Insoweit verläuft zwischen Militär und Polizei eine rechtlich vorgegebene Grenze, die den Kampfeinsatz des Militärs in einer befriedeten (Innen-)Rechtsordnung grundsätzlich nicht zulässt.292 Lediglich in bestimmten (Not-)Situationen ist der Einsatz der Bundeswehr auch im Inneren zulässig.293 Dies betrifft die (Landes-)Verteidigung (Art 87a I 1 GG),294 den Objektschutz im Verteidigungs- und im Spannungsfall (Art 87a III GG) und den Einsatz im Inneren Notstand (Art 87a IV GG); hinzu tritt nach Art 35 GG (dazu Rn 65, 66) die Katastrophenhilfe.295 Weitere Einsätze der Streitkräfte im Inneren sind nach Art 87a II GG ausgeschlossen. Diese verfassungsrechtliche Restriktion wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Bundeswehr bei ihren Auslandseinsätzen zunehmend polizeiliche Aufgaben wahrnimmt.296 Ein Mandat der EU sowie des UN-Sicherheitsrates für derartige Einsätze297 lässt Art 87a II GG unberührt. Danach setzt eine umfassende(re) rechtliche Möglichkeit zum Streitkräfteeinsatz im Inland – abgesehen von bestimmten Fällen (Rn 66) – eine Verfassungsänderung voraus.298 In einem speziellen Punkt hatte das BVerfG (Erster Senat) die gemäß Art 87a II iVm 35 II 2 65 u III 1 GG bestehenden Kompetenzgrenzen zum Einsatz der Streitkräfte im Inland bestätigt. Die Nichtigerklärung der Abschussermächtigung im LuftSiG (§ 14 III aF) gründet ua darauf, dass es Art 35 II 2 u III 1 GG dem Bund nicht ausdrücklich erlaubt, die Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen mit spezifisch militärischen Waffen einzusetzen.299 Unter den Vorzeichen der Amtshilfe (Art 35 GG) ist diese Feststellung von allgemeiner kompetenzbegrenzender Bedeutung. 300 Fordert man die Zulässigkeit eines

_____ 289 G v 8.3.2004, BGBl I 334. 290 Brissa DÖV 2011, 391, 393. 291 Näher dazu Krings/Burkiczak DÖV 2002, 501 ff; Wilkesmann NVwZ 2002, 1316; Gusy VVDStRL 63 (2004) 151, 186 f; H. Jochum JuS 2006, 511 ff; Ladiges/Glawe DÖV 2011, 621 ff; speziell unter dem Aspekt des Art 65a GG Lorse DÖV 2004, 329. 292 Di Fabio NJW 2008, 421, 423: „zivilisatorische Errungenschaft“; ferner Gusy Rn 37. 293 M. Fischer JZ 2004, 376 ff; Lisken/Denninger B Rn 138 ff. 294 Zur Verteidigung gegen terroristische Angriffe mit einem militär- oder kriegsähnlichen Zerstörungspotential Ladiges/Glawe DÖV 2011, 621, 623. 295 Näher dazu Hölscheidt/Limpert JA 2009, 86, 88 f. 296 Wiefelspütz FS Schmidt-Jortzig, 2011, 581 ff; speziell zur Abwehr von Piraterie Wolff ZG 2010, 209 ff. 297 Vgl zu den Rechtsgrundlagen Poscher in: Vesting/Korioth (Fn 14) 251. 298 Sattler NVwZ 2004, 1286, 1291; E. Klein ZG 2005, 299. 299 BVerfGE 115, 118, 140 ff o JK GG Art 2 II 1/18; dazu Bspr Baumann JURA 2006, 447. 300 Linke NWVBl 2006, 174, 176 ff; Franz/Günther VBlBW 2006, 340 ff; Franz Der Staat 45 (2006), 501, 522 ff; Lepsius FG B. Hirsch, 2006, 47, 55 ff; Hase DÖV 2006, 213, 216 f.; Starck JZ 2006, 417; Winkler NVwZ 2006, 536; Schenke NJW 2006, 736, 737; Depenheuer ZG 2008, 1, 7; krit zu den kompetenzrechtlichen Feststellungen Baldus NVwZ 2006, 532, 535; Gramm DVBl 2006, 653 ff; Palm AöR 132 (2007), 95, 99 ff.

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umfassenden Einsatzes der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr im Inland,301 bedarf es auch in der Perspektive des Polizeirechts einer Verfassungsänderung.302 Dies gilt zB in Bezug auf die Abwehr „einfacher“ terroristischer Gefahren aus dem Luftraum.303 Die nach Auffassung des BVerfG mit dem Recht auf Leben (Art 2 II 1 GG) iVm der Menschenwürdegarantie (Art 1 I GG) nicht zu vereinbarende Abschussermächtigung der Streitkräfte bezieht sich nur auf die Betroffenheit tatunbeteiligter Menschen an Bord des Luftfahrzeugs.304 Maßnahmen gegen unbemannte oder nur mit Terroristen besetzte Flugzeuge sind von der grundrechtlichen Restriktion nicht erfasst.305 Auf dem Gebiet der Luftsicherheit kann die Bundeswehr nach Maßgabe der §§ 13–15 Luft66 SiG306 im Rahmen der Amtshilfe für ein Land oder mehrere Länder bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen eingesetzt werden. Der Bundesgesetzgeber307 hat die Vorschriften – auch – auf Art 35 II 2 u III GG gestützt.308 Nach der Plenarentscheidung des BVerfG vom 3.7.2012 ergibt sich die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die §§ 13–15 LuftSiG aus Art 73 I Nr 6 GG im Wege der Annexkompetenz für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung309 (vgl bereits Rn 41); der notwendige Zusammenhang zwischen der geschriebenen Zuständigkeit des Bundes für den „Luftverkehr“ und dem Annex „Gefahrenabwehr“ sei jedenfalls für die Abwehr derjenigen spezifisch aus dem Luftverkehr herrührenden Gefahren, auf die §§ 13–15 LuftSiG zielen, gegeben, weil bei einer dezentralen Regelungskompetenz nur unzureichend abwehrwirksame Regelungen – mit negativen Folgen für die Sicherheit im Bundesgebiet – erlassen werden könnten.310 In der Sache war vom Ersten Senat des BVerfG für einen Einsatz der Streitkräfte im Wege der Amtshilfe nach Art 35 II 2, III 1 GG die Verwendung spezifisch militärischer Waffen für unzulässig erklärt worden (Rn 65); die Art der Hilfsmittel bei einem Streitkräfteeinsatz zum Zweck der Hilfeleistung könne nicht von qualitativ anderer Art sein als die Mittel der unterstützten Landespolizei(en).311 Demgegenüber hat das Plenum des BVerfG einen Ausschluss der Verwendung spezifisch militärischer Waffen bei einem Einsatz der Streitkräfte nach Art 35 II 2, III 1 GG zutreffend verneint; der Wortlaut dieser Bestimmungen sieht eine derartige Restriktion nicht vor, und auch für den Fall des Art 87a IV 1 GG besteht eine solche Einschränkung nicht.312 Zudem soll die Zulassung eines Streitkräfteeinsatzes in einem Katastrophenfall eine wirksame Gefahrenabwehr ermöglichen, was mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der „wirksamen Bekämpfung“ (Art 35 III 1 GG) deutlich zum Ausdruck gebracht wird.313 Unabhängig davon bleibt es bei der Verfassungswidrigkeit des § 14 III LuftSiG wegen Verstoßes gegen Art 2 II 1 iVm 1 I GG; 314 die verfassungswidrige Abschussermächti-

_____ 301 ZB Franz/Günther VBlBW 2006, 340, 347. – Depenheuer ZG 2008, 1, 7 ff meint, Art 87a GG reiche als Rechtsgrundlage aus; das dürfte mit BVerfGE 115, 118, 142 kaum vereinbar sein. 302 Pestalozza NJW 2007, 492 ff, mit Erwiderung Hirsch NJW 2007, 1188 f. 303 Wiefelspütz ZRP 2007, 17 ff (mit Vorschlag zur Neufassung des Art 35 GG); dazu Ladiges ZRP 2007, 172; Hümmer ZRP 2007, 204; Poretschkin ZRP 2007, 274; A. Meyer ZRP 2007, 274 f. 304 BVerfGE 115, 118, 151 ff o JK GG Art 2 II 1/18. 305 Baumann JURA 2006, 447, 453. 306 Sartorius ErgBd Nr 976. 307 Vgl BT-Drs 15/2361, 14 u 20 f; ferner Schily EuGRZ 2005, 290, 292. 308 Dem Grunde nach akzeptiert von BVerfGE 115, 118, 141 o JK GG Art 2 II 1/8; dazu Baumann JURA 2006, 447, 450. 309 BVerfG NVwZ 2012, 1239 Tz 15 ff o JK GG Art 35/1. 310 Zur Bejahung der Annexkompetenz krit Ladiges NVwZ 2012, 1225. 311 BVerfGE 115, 118, 146 ff o JK GG Art 2 II 1/8. 312 BVerfG NVwZ 2012, 1239 Tz 28 ff o JK GG Art 35/1; zustimmend Wiefelspütz DVBl 2012, 1233, 1235; anhand der Entstehungsgeschichte der „Notstandsgesetze“ Ladiges NVwZ 2012, 1225, 1226. 313 BVerfG NVwZ 2012, 1239 Tz 31 o JK GG Art 35/1. 314 BVerfGE 115, 118, 151 ff o JK GG Art 2 II 1/8.

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gung der Streitkräfte bezieht sich allerdings nur, wie bereits erwähnt (Rn 65), auf die Betroffenheit tatunbeteiligter Menschen an Bord eines Luftfahrzeugs, während Maßnahmen gegen unbemannte oder nur mit Terroristen besetzte Flugzeuge von dem grundrechtlichen (Abschuss-)Verbot nicht erfasst sind.315 Die verschiedentlich geforderte Zulässigkeit des Einsatzes der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr im Inland316 bedarf in der Perspektive des Polizeirechts auch vor dem Hintergrund des Art 35 GG (vgl bereits Rn 64) einer Verfassungsänderung.317 Das Plenum des BVerfG betont, dass eine (dauerhafte) Wahrnehmung von Gefahrenabwehraufgaben durch die Streitkräfte außerhalb des Anwendungsbereichs von Art 35 II 2, III 1 GG – zB im Vorfeld eines Katastrophengeschehens – verfassungsrechtlich unzulässig ist.318

5. Europäisierung und Internationalisierung der Gefahrenabwehr Strafverfolgung und zunehmend auch Gefahrenabwehr sehen sich einer internationalen Dimen- 67 sion ihrer Aufgabenstellung gegenüber. Die weiträumigen Verflechtungen der Organisierten Kriminalität, die Zunahme zB terroristischer Gewalttaten, der Wirtschaftskriminalität sowie des Drogen- und Waffenhandels indizieren die Begrenztheit nationaler Handlungsmöglichkeiten und zeigen zugleich die Notwendigkeit grenzüberschreitender Zusammenarbeit auf.319 Die Herausforderungen wollen nicht nur praktisch gemeistert, sie müssen auch rechtlich bewältigt werden. Insoweit muss zwischen Europarecht und Völkerrecht unterschieden werden. Während das EU-Recht mittlerweile klare Vorgaben setzt (Rn 68 ff), fehlt dem Völkerrecht noch ein breiter Ansatz (Rn 86 ff).

a) Europarechtliche Vorgaben Durch den am 1.12.2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon hat das EU-Recht zum Sicher- 68 heitsrecht erkennbare Strukturen erhalten und die frühere Unübersichtlichkeit320 einigermaßen überwunden. Das primäre Unionsrecht setzt zunächst einen allgemeinen Rahmen (Rn 69 ff), der durch konkrete Vorgaben zur Polizeilichen Zusammenarbeit spezifiziert wird (Rn 72 ff); diese Zusammenarbeit findet mitunter bereits in institutionalisierter Form statt (Rn 76 ff). Trotz der zunehmenden Europäisierung des Gefahrenabwehrrechts kann von einer wirklichen Durchdringung des nationalen Rechts (noch) keine Rede sein. Das EU-Recht selbst statuiert einen Zuständigkeitsvorbehalt für die öffentliche Sicherheit und Ordnung; danach bleibt die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der Inneren Sicherheit unberührt (Art 72 AEUV). In erster Linie wird der EU dadurch exekutives Handeln auf dem Gebiet des Polizeirechts untersagt, sofern nicht ein ausdrückliches Mandat vorliegt; auch darf die EU kein normatives Agieren, das in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten eingreift, vornehmen.321 Über eine eigene Polizei(organisation) mit exekutiven Befugnissen verfügt die EU ohnehin nicht; bestehende EU-Einrichtungen (zB Europol, Rn 77; Grenzagentur, Rn 81) sind vornehmlich

_____ 315 Weiter gehend Lutze BayVBl 2008, 745 ff. 316 Franz/Günther VBlBW 2006, 340, 347. – Überholt ist die auf Art 87a GG gestützte Argumentation von Depenheuer ZG 2008, 1, 7 ff. 317 Pestalozza NJW 2007, 492 ff, mit Erwiderung Hirsch NJW 2007, 1188 f. 318 BVerfG NVwZ 2012, 1239 Tz 47 o JK GG Art 35/1; zust Ladiges NVwZ 2012, 1225, 1227. 319 Pitschas JZ 1993, 857; ders NVwZ 1994, 625; Schily NVwZ 2000, 883; Würtenberger GS Kopp, 2007, 427, 433; ders FS Steiner, 2009, 948 ff; Abbühl BKA (Fn 210) 188 f; Kugelmann 14/1 ff u 15/1 ff. 320 Lindner BayVBl 2002, 479. 321 Rossi in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 72 AEUV Rn 5; Weiß in: Streinz, EUV/AEUV, Art 72 AEUV Rn 2.

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auf eine Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten ausgerichtet.322 Ferner hat die EU nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 I 1 u II EUV) keine Rechtsetzungskompetenz für das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht.323 Das europäische Recht statuiert lediglich einen allgemeinen EU-Rahmen für das innerstaatliche Recht der Gefahrenabwehr. 69 aa) Grundlegung: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Die EU bildet einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (RFSR).324 Damit ist der Rahmen für eine Art „europäische Innenpolitik“ abgesteckt. Die wesentlichen Politikfelder sind insoweit Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung (Art 77 ff AEUV), die Justizielle Zusammenarbeit (Art 81 AEUV: Zivilsachen; Art 82 ff AEUV: Strafsachen) und die Polizeiliche Zusammenarbeit (Art 87 ff AEUV); um diese geht es hier.325 70 Der RFSR ist ein Raum ohne Binnengrenzen (Art 3 II EUV). Die EU stellt sicher, dass Personenkontrollen an den Binnengrenzen (grundsätzlich) nicht stattfinden (Art 67 II 1 AEUV); die rechtliche Gewährleistung dieser Vorgabe besorgt vornehmlich das „Schengen“-Rechtsregime (Rn 72 f). Das Pendant zu dem Raum ohne Binnengrenzen sind Kontrollen an den Außengrenzen der EU (Art 3 II EUV, Art 67 II 1, 77 AEUV); eine wichtige Steuerungsfunktion übernimmt dabei die europäische Grenzagentur (Rn 81). 71 Die Polizeiliche Zusammenarbeit (ieS) bezieht sich auf die Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität (Art 67 III AEUV). Im Rahmen der Verwaltungszusammenarbeit steht es zunächst den Mitgliedstaaten frei, Kooperationsformen zu entwickeln und zu vereinbaren (Art 73 AEUV). Zudem erlässt der Rat Maßnahmen zur Gewährleistung der Verwaltungszusammenarbeit zwischen den zuständigen Dienststellen der Mitgliedstaaten untereinander bzw mit der Kommission (Art 74 AEUV). Die spezifische Polizeiliche Zusammenarbeit wird von der EU einem ständigen Entwicklungsprozess unterzogen (Art 87 I AEUV), durch einen Informationsaustausch substantiell unterfüttert (Art 87 II AEUV) und um die Möglichkeit einer operativen Zusammenarbeit der Behörden ergänzt (Art 87 III AEUV). 72 bb) Ausprägungen Polizeilicher Zusammenarbeit. Ausgangspunkt der Polizeilichen Zusammenarbeit innerhalb der EU ist der RFSR (Rn 69). Der Abbau der Personenkontrollen an den EU-Binnengrenzen ist juristisch durch das „Schengen“-Rechtsregime bewerkstelligt worden. Entwicklungsgeschichtlich steht am Beginn des Prozesses das Schengener Übereinkommen von 1985. Es handelt sich um einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen den BeneluxStaaten, Deutschland und Frankreich, der den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vorsieht.326 Operationabel gemacht wurde jenes Abkommen durch das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) von 1990.327 Der Schengen-Besitzstand ist in das Unionsrecht überführt worden328 und hat daher Teil an dessen supranationaler Qualität. Der Informationsaustausch (Rn 74) ist folglich nach geltendem Recht ein solcher des Art 87 II AEUV.329

_____ 322 Götz in: HStR IV § 85 Rn 46. 323 Lindner JuS 2005, 302, 304. 324 Art 3 II EUV, Art 67 I AEUV; dazu Frenz JURA 2012, 701 ff. – Ergänzend ist auf Art 6 GRCh hinzuweisen: „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit“; dazu Kugelmann 14/30 ff. 325 Zu den beiden erstgenannten Politikfeldern Kugelmann 14/86 ff. 326 Übereinkommen von Schengen v 14.6.1985, GMBl 1986, 79. 327 Übereinkommen v 19.6.1990 (Sartorius II Nr 280); ausf dazu Mokros in: Lisken/Denninger, O Rn 118 ff. 328 Protokoll Nr 19 zum EUV/AEUV über den im Rahmen der Europäischen Union einbezogenen SchengenBesitzstand (1997), abgedruckt in Sartorius II Nr 147; dazu Röben in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, EL 47, 4/2012, Art 67 AEUV Rn 130 ff. 329 Dannecker in: Streinz (Fn 321) Art 67 AEUV Rn 5 ff.

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Die Grenzkontrollen und die dabei zu beachtende Zusammenarbeit sind mittlerweile – frü- 73 her: Art 2 ff SDÜ (Rn 72) – im Schengener Grenzkodex geregelt.330 Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden (Art 20 VO 562/2006/EG).331 Unberührt bleiben Kontrollen der Mitgliedstaaten innerhalb ihres Hoheitsgebiets (Art 21 VO 562/2006/EG). Von Bedeutung ist dies für die „Schleierfahndung“ (Rn 266 ff). Der EuGH hat allerdings (unter Hinweis auch auf Art 67 II AEUV) entschieden, damit die Ausübung einer derartigen Befugnis nicht die gleiche Wirkung wie eine – unerlaubte – Grenzübertrittskontrolle habe, müsse die nationale Regelung sehr bestimmt sein und insbesondere das polizeiliche Ermessen (bei der Durchführung der Schleierfahndung) lenken.332 Die Außengrenzen sind zu kontrollieren (Art 6 ff VO 562/2006/EG). Zur Effektuierung der Grenzkontrollen ist die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten vorgeschrieben; ein wesentliches Element ist dabei der Informationsaustausch (Art 16 I VO 562/2006/EG). Vorgesehen ist auch die operative Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten beim Grenzschutz an den Außengrenzen; die Koordinierung wird von der Grenzagentur (Rn 81) vorgenommen (Art 16 II VO 562/2006/ EG). Als ein „Herzstück“ der Polizeilichen Zusammenarbeit kann das Schengener Informa- 74 tionssystem (SIS)333 bezeichnet werden. Seine Errichtung basiert auf Art 92 ff SDÜ (Rn 72).334 Das SIS fungiert als Ausgleichsmechanismus für den Wegfall der Grenzkontrollen im Binnenbereich der EU. Bei dem SIS handelt es sich um ein Fahndungssystem zur Ausschreibung von Personen und Sachen in den Schengen-Staaten (Art 92 I 2 SDÜ). Ziel des Systems ist in erster Linie die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit auf Grund der aus dem SIS erteilten Informationen (Art 93 SDÜ). Ein praktisches Beispiel ist der Abruf von Daten zwecks Einreiseverweigerung von Drittausländern (Art 96 SDÜ).335 Der Datenschutz muss zumindest den Standards des Europarates entsprechen (Art 126 ff SDÜ). Eine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes erfolgt durch den Vertrag von Prüm. 75 Es handelt sich um ein am 27.5.2005 in Prüm/Eifel getroffenes völkerrechtliches Abkommen zwischen Belgien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Luxemburg, Niederlande und Österreich über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration.336 Der Vertrag von Prüm ist 2008 in das Unionsrecht überführt worden.337 Gegenstand des Abkommens (ebenso des Beschlusses 2008/615/JI) ist in erster Linie der Informationsaustausch zwischen den Vertragsstaaten.338 Es geht va um die Einrichtung von nationalen DNA-Analyse-Dateien und den automatisierten Abruf sowie Abgleich von DNAProfilen und die Übermittlung weiterer personenbezogener Daten (Art 2 ff), sodann um die Iden-

_____ 330 VO 562/2006/EG über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) v 15.3.2006, abgedruckt in Sartorius II Nr 290. – Aus der Praxis zum Schengener Grenzkodex EuGH NVwZ-RR 2012, 736. 331 Nach Art 23 ff VO 562/2006/EG ist unter engen Voraussetzungen die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen erlaubt. 332 EuGH Slg 2010, I-5665 Rn 64 ff; dazu Trennt DÖV 2012, 216 ff. 333 Dazu Abbühl BKA (Fn 210) 212 ff; Schöndorf-Haubold Europäisches Sicherheitsverwaltungsrecht, 2010, Rn 60 ff. 334 Das SIS soll nach der VO 1987/2006/EG v 20.12.2006, ABlEU L 381/4 zum „SIS II“ fortentwickelt werden; dazu Abbühl BKA (Fn 210) 252 ff. 335 Zum Rechtsschutz hiergegen OVG RP DVBl 2007, 1043. 336 Der Vertrag ist abgedruckt in BGBl II 2006, 626; vgl ferner Ausführungsgesetz v 10.7.2006, BGBl I 1458. 337 Beschluss 2008/615/JI des Rates v 23.6.2008, ABlEU L 210/1. 338 Einzelheiten bei Mokros in: Lisken/Denninger, O Rn 135 ff u 296 ff; Abbühl BKA (Fn 210) 261 ff; SchöndorfHaubold Sicherheitsverwaltungsrecht (Fn 333) Rn 67 ff; Mutschler Der Prümer Vertrag, 2010, 71 ff; Würtenberger/ Mutschler in: Breitenmoser ua, Schengen und Dublin in der Praxis, 2010, 117 ff; Dannecker in: Streinz (Fn 321) Art 87 AEUV Rn 13.

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tifizierung für Fingerabdrücke (daktyloskopische Systeme) und den automatisierten Abruf entsprechender Daten (Art 8 f), ferner um den automatisierten Abruf von Daten aus Fahrzeugregistern (Art 12) und schließlich um die Datenübermittlung zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Zusammenhang mit Großveranstaltungen mit grenzüberschreitendem Bezug, insbesondere im Bereich des Sports oder der Tagungen des Europäischen Rates (Art 13 f). Als Maßnahmen zur Verhinderung terroristischer Straftaten sind ebenfalls der Informationsaustausch (Art 16) und zudem der Einsatz von Flugsicherheitsbegleitern („Sky-Marshals“), denen das Mitführen von Waffen und Munition erlaubt werden kann (Art 17 f), vorgesehen. Die illegale Migration soll va durch den Einsatz von Dokumentenberatern bekämpft werden (Art 20 ff). Der recht umfangreiche Informationsaustausch umfasst zwangsläufig die Übermittlung personenbezogener Daten. Aus datenschutzrechtlicher Sicht wird dem Verlag von Prüm ein hoher Standard bescheinigt.339 76 cc) Institutionalisierung der Polizeilichen Zusammenarbeit. Die Polizeiliche Zusammenarbeit innerhalb des EU-Rechtsrahmens stellt sich vornehmlich entweder als informelle Kooperation der Mitgliedstaaten oder als ein System des Informationsaustauschs zwischen Behörden der Mitgliedstaaten dar. Bestehende Einrichtungen (zB SIS) fungieren in erster Linie als Informationssammel-, Informationsverarbeitungs- und Informationsverteilungsstellen. Daran wird sich auch in Zukunft kaum etwas ändern. Immerhin verfügt die EU mittlerweile über Institutionen, die die Polizeiliche Zusammenarbeit koordinieren und unterstützen. Exemplarisch werden Europol (Rn 77 ff) und die Grenzagentur (Rn 81 ff) vorgestellt. Der Informationsaustausch ist auch hier von herausragender Bedeutung. Das Europäische Polizeiamt Europol war durch das Europol-Übereinkommen von 1995 er77 richtet worden.340 Dieser völkerrechtliche Vertrag wurde durch den Europol-Beschluss (EuropolB) vom 6.4.2009,341 der am 1.1.2010 in Kraft getreten ist, ersetzt (Art 1 I, 62 EuropolB). Angeordnet ist zudem die Rechtsnachfolge, so dass jener Beschluss die von Europol auf Grund des früheren Übereinkommens geschlossenen Vereinbarungen unberührt lässt (Art 1 II, 55 EuropolB). Mit dem Vertrag von Lissabon hat Europol seit dem 1.12.2009 Anerkennung im primären Unionsrecht gefunden (Art 88 AEUV). Durch Verordnung können ua Struktur und Aufgaben von Europol geregelt werden (Art 88 II AEUV). Solange die Verordnungsgebung noch nicht stattgefunden hat, behält der EuropolB auf Grund der Übergangsbestimmungen zum Vertrag von Lissabon seine Gültigkeit.342 Das Europäische Polizeiamt weist klare Rechtsstrukturen auf. Europol ist nach Art 1 I Euro78 polB eine Einrichtung der EU mit Sitz in Den Haag (Niederlande). Europol besitzt Rechtspersönlichkeit und hat in jedem Mitgliedstaat die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit, die juristischen Personen nach dessen Rechtsvorschriften zuerkannt wird (Art 2 EuropolB). Organe von Europol sind der Verwaltungsrat und der Direktor (Art 36 ff EuropolB). Im Außenverhältnis zu den Mitgliedstaaten ist Europol mit einer einzigen Stelle verbunden (Art 1 III EuropolG). Jeder Mitgliedstaat benennt diese Verbindungsstelle zwischen Europol und den zuständigen nationalen Behörden (Art 8 EuropolB). In Deutschland ist diese Zentralstellenfunktion dem BKA zugeordnet (§ 1 EuropolG, § 14 BKAG). Europol hat zum Ziel, die Tätigkeit der zuständigen mitgliedstaatlichen Behörden sowie de79 ren Zusammenarbeit bei der Prävention und Bekämpfung von Organisierter Kriminalität, Terro-

_____ 339 Schaar DuD 2006, 691 ff. 340 Einzelheiten dazu bei Schöndorf-Haubold Sicherheitsverwaltungsrecht (Fn 333) Rn 41. 341 Beschluss des Rates v 6.4.2009 zur Errichtung des Europäischen Polizeiamts (Europol), abgedruckt in Sartorius II Nr 300; Umsetzung durch G v 31.7.2009, BGBl I 2504. 342 Dannecker in: Streinz (Fn 321) Art 88 AEUV Rn 3; Suhr in: Calliess/Ruffert (Fn 321) Art 88 AEUV Rn 16. – Krit zur Fortgeltung des EuropolB Albrecht/Janson EuR 2012, 230 ff.

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rismus und anderen Formen schwerer Kriminalität zu unterstützen und zu verstärken, wenn zwei oder mehr Mitgliedstaaten betroffen sind (Art 3 EuropolB).343 Dies entspricht dem primärrechtlichen Auftrag von Europol (Art 88 I AEUV).344 Die Aufgaben des Europäischen Polizeiamts konzentrieren sich hauptsächlich auf die Erhebung, Verarbeitung und Vermittlung von Informationen (Art 5 EuropolB);345 hinzu tritt die Möglichkeit zur Teilnahme an gemeinsamen Ermittlungsgruppen (Art 6 EuropolB, dazu Rn 84). Abgesehen davon kann Europol als Informationsverarbeitungsstelle ohne Exekutivbefugnisse qualifiziert werden; 346 ungeachtet der breit angelegten Ziele und Aufgaben verfügt Europol – abgesehen vom Umgang mit personenbezogenen Daten (Rn 80) – nicht über eigene Ermittlungs- und Eingriffsbefugnisse.347 Zur Erfüllung seiner Aufgaben sowie zur Erreichung seiner Zielvorgaben betreibt Europol 80 Informationsverarbeitungssysteme. Herzstück ist das Europol-Informationssystem (Art 11 EuropolB); hinzu kommen die Arbeitsdateien zu Analysezwecken (Art 14 EuropolB) und ggf weitere Systeme (Art 10 I 3 EuropolB).348 Europol verarbeitet dabei Informationen und Erkenntnisse jedweder Art, einschließlich personenbezogener Daten (Art 10 I 1 EuropolB). Der Inhalt des Europol-Informationssystems ist detailliert vorgeschrieben (Art 12 EuropolB). Die Nutzung des Systems (Eingabe und Abrufung von Daten) steht Europol(bediensteten) und den nationalen Stellen zu (Art 13 EuropolB). Die Verarbeitung personenbezogener Daten verlangt die Schaffung datenschutzrechtlicher Vorkehrungen. Dem tragen Art 27 ff EuropolB Rechnung. Der vorgeschriebene Datenschutzstandard muss den Standards des Europarates entsprechen. Die primärrechtlich vorgegebene Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen mit Personen- 81 freizügigkeit (Rn 70) bedingt die Einführung von Personenkontrollen an den EU-Außengrenzen (Art 77 I lit b AEUV). Schrittweise soll ein integriertes Grenzschutzsystem an den Außengrenzen eingeführt werden (Art 77 I lit c AEUV). Der erste wesentliche Schritt zur Errichtung eines Grenzschutzregimes war die Schaffung der EU-Grenzagentur FRONTEX.349 Diese EU-Agentur mit Sitz in Warschau, die ihre Tätigkeit am 1.5.2005 aufgenommen hat (Art 34 VO 2007/2004/EG), hat Rechtspersönlichkeit (Art 15 VO 2007/2004/EG). Primärrechtliche Grundlage ist nunmehr Art 77 II lit d AEUV). FRONTEX schafft kein supranationales EU-Grenzschutzregime, sondern bezweckt eine bessere Zusammenarbeit der nationalen Grenz(schutz)behörden.350 Wesentliche Aufgaben von FRONTEX sind die Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten beim Schutz der EU-Außengrenzen und die Unterstützung der Mitgliedstaaten durch bestimmte Maßnahmen (Art 2 VO 2007/2004/EG).351 Ergänzt werden die Tätigkeiten von FRONTEX durch Soforteinsatzteams (Rapid Border Intervention Teams) nach Maßgabe der RaBIT-VO.352 Diese Grenzschutzkräfte, bestehend aus Beamten der Mitgliedstaaten, agieren kurzfristig als operative Einsatzgruppe(n) zum Zwecke der Grenzsicherung. Auch dies stellt keinen supranationalen Grenzschutz dar.

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343 Daran knüpft die Zuständigkeit von Europol gemäß Art 4 EuropolB iVm dem Anhang (Liste zu Formen schwerer Kriminalität) an. 344 Dazu Röben in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn 328) Art 88 AEUV Rn 5 ff; Suhr in: Calliess/Ruffert (Fn 321) Art 88 AEUV Rn 13 f. 345 Schöndorf-Haubold Sicherheitsverwaltungsrecht (Fn 333) Rn 44 f. 346 Kretschmer JURA 2007, 169, 170; ausf Korrell Europol, 2005, 15 ff. 347 Gusy Rn 28; Schenke Rn 467. 348 Einzelheiten dazu bei Abbühl BKA (Fn 210) 215 ff; Schöndorf-Haubold Sicherheitsverwaltungsrecht (Fn 333) Rn 64 ff; Mokros in: Lisken/Denninger, O Rn 170 ff. 349 VO 2007/2004/EG zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der EU v 26.10.2004, ABlEU L 349/1. – Dazu Mokros in: Lisken/Denninger, O Rn 98 ff. 350 Thym in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn 228) Art 77 AEUV Rn 36. 351 Näher dazu Schöndorf-Haubold Sicherheitsverwaltungsrecht (Fn 333) Rn 53 ff. 352 VO 863/2007/EG über einen Mechanismus zur Bildung von Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke v 11.7.2007, ABlEU L 199/30).

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82 dd) Operative Polizeiliche Zusammenarbeit. Operative Maßnahmen der Polizei gehören zum Kernbereich staatlicher Souveränität. Die unter das Gewaltmonopol des Staates fallende polizeiliche Tätigkeit ist vom BVerfG in seinem Lissabon-Urteil als „besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates“ bezeichnet worden.353 Andererseits verlangen grenzüberschreitende Gefahrensituationen eine grenzüberschreitende Gefahrenabwehr, wenn der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht ineffektiv werden soll. Der überkommene Weg der zwischenstaatlichen Kooperation über Rechtshilfe und Amtshilfe gilt als bürokratisch und schwerfällig und deshalb wenig effektiv.354 Hier setzt der Vertrag von Lissabon an und entwickelt den zuvor existierenden Rechtsbestand zur operativen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr vorsichtig weiter. Die durch den primärrechtlichen Rahmen (Art 87 III, 88 III, 89 AEUV) geschaffenen Möglichkeiten sind durch das Sekundärrecht bislang allerdings nicht ausgeschöpft worden.355 Art 87 III AEUV sieht in Gestalt einer Generalklausel sekundärrechtliche Regelungen zur 83 operativen Zusammenarbeit zwischen Gefahrenabwehrbehörden der Mitgliedstaaten (vgl Art 87 I AEUV) vor. Die Ermächtigung ist bislang nicht ausgeschöpft worden. Das grundsätzliche Einstimmigkeitserfordernis (bzw das Mindestquorum von neun Mitgliedstaaten) für eine fortentwickelte Polizeiliche Zusammenarbeit ist den mitgliedstaatlichen Souveränitätsvorbehalten geschuldet.356 Durch UAbs 4 des Art 87 III AEUV ist der Schengen-Besitzstand (Rn 72) allerdings gewahrt. Die operative Zusammenarbeit iSd Art 87 III AEUV umfasst jede gemeinsame Abstimmung und Koordination von Mitgliedstaaten bzgl polizeilicher Maßnahmen auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr.357 Die wichtigsten Formen einer derartigen Zusammenarbeit sind die grenzüberschreitende Observation (Rn 85), die grenzüberschreitende Nacheile (Rn 85), der Austausch von Beamten und die Bildung gemeinsamer Ermittlungsgruppen.358 Bei der Durchführung von Maßnahmen der operativen Zusammenarbeit gilt das Recht desjenigen Mitgliedstaates, in dessen Hoheitsgebiet der Polizeieinsatz erfolgt.359 Das nationale (Landes-)Polizeirecht hat auf die verstärkte Polizeiliche Zusammenarbeit in Europa durch entsprechende Öffnungsklauseln reagiert.360 Das Europäische Polizeiamt Europol (Rn 77) ist an sich auf operative Tätigkeiten nicht aus84 gerichtet. Diesbezüglich schafft der Vertrag von Lissabon eine Aufwertung. Allerdings darf Europol operative Maßnahmen nur in Verbindung und in Absprache mit den Mitgliedstaaten ergreifen, deren Hoheitsgebiet betroffen ist (Art 88 III 1 AEUV). Eigenständig darf Europol demnach Gefahrenabwehrmaßnahmen auf dem Territorium eines Mitgliedstaates nicht treffen. Zwangsmaßnahmen sind Europol sogar primärrechtlich ausdrücklich versagt (Art 88 III 2 AEUV). Die geltende Rechtslage zeigt, dass Europol noch lange kein „europäisches FBI“ ist.361 Ein für die Praxis wichtiges Beispiel zu operativen Tätigkeiten von Europol ist die Teilnahme von Europol-Personal an gemeinsamen Ermittlungsgruppen mit Mitgliedstaaten; dabei wird

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353 BVerfGE 123, 267, 359 = NJW 2009, 2267, 2274 Tz 252 o JK GG Art 38 I/18. 354 Dannecker in: Streinz (Fn 321) Art 87 AEUV Rn 21. 355 Zusammenfassung der Kritik bei Suhr in: Calliess/Ruffert (Fn 321) Art 89 Rn 11 ff. 356 Kotzur in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl 2010, Art 87 AEUV Rn 13. 357 Suhr in: Calliess/Ruffert (Fn 321) Art 87 AEUV Rn 23. 358 Ausf dazu Dannecker in: Streinz (Fn 321) Art 87 AEUV Rn 22 ff. 359 Röben in: Grabitz/Hilf /Nettesheim (Fn 328) Art 87 AEUV Rn 33. 360 Vgl §§ 78, 79 PolG BW; Art 11 BayPAG; §§ 7, 8 ASOG Bln; §§ 76, 77 BbgPolG; §§ 81, 82 PolG Bremen; §§ 30a, 30b HbgSOG; §§ 102, 103 HessSOG; §§ 9, 10 SOG MV; §§ 103, 104 NdsSOG; §§ 8, 9 POG NW; §§ 86, 87 POG RP; §§ 88, 89 PolG SL; §§ 77, 78 SächsPolG; §§ 91, 92 SOG LSA; §§ 170, 171 LVwG SH; § 11 ThürPOG. – Zum Bundespolizeirecht §§ 64, 65 BPolG. 361 Dannecker in: Streinz (Fn 321) Art 88 AEUV Rn 18; Kotzur in: Geiger/Khan/Kotzur (Fn 356) Art 88 AEUV Rn 18.

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Europol eine „unterstützende Funktion“ zugewiesen (Art 6 EuropolB). Insoweit sind die bisherigen Aktivitäten auf den Bereich der Strafverfolgung konzentriert.362 Auch dies zeigt, dass die Möglichkeiten (vgl die Verordnungsermächtigung gemäß Art 88 II 2 lit b AEUV) noch nicht ausgeschöpft sind. Das primäre Unionsrecht sieht nunmehr auch grenzüberschreitende Maßnahmen mit- 85 gliedstaatlicher Gefahrenabwehrbehörden vor (Art 89 AEUV). Polizeiliche Befugnisse sollen nicht an den nationalen Grenzen enden, wenn Gefährdungen der Inneren Sicherheit einen transnationalen Bezug aufweisen.363 Die extraterritorialen Aktivitäten eines Mitgliedstaates dürfen nur in Verbindung und in Absprache mit den Behörden des betroffenen Mitgliedstaates erfolgen; dieser Vorbehalt dient der Souveränitätswahrung.364 Die Polizeibeamten des agierenden Staates handeln nach dem Recht ihres Staates, sind aber an das Recht des betroffenen Mitgliedstaates auf dessen Territorium (und an das Unionsrecht) gebunden.365 Der von Art 89 AEUV geforderte Ratsbeschluss ist bisher nicht getroffen worden. Es gilt allerdings der Schengen-Besitzstand, so dass Art 89 AEUV als dessen Rechtsgrundlage fungiert.366 Vorgesehen sind im Schengen-System die grenzüberschreitende Observation (Art 40 SDÜ) und das Recht zur Nacheile (Art 41 SDÜ). Nach dem Vertrag von Prüm (Rn 75) sind zur Gefahrenabwehr gemeinsame Streifen zulässig, in denen Beamte bei Einsätzen im Hoheitsgebiet eines anderen Staates zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben Maßnahmen von Beamten einer anderen Partei getroffen werden (Art 25). Ferner sind die grenzüberschreitende Hilfeleistung bei Großereignissen, Katastrophen und schweren Unfällen (Art 26) sowie eine umfangreiche Zusammenarbeit auf Ersuchen (Art 27) vorgesehen.367 Weitergehende Vorschläge der EU-Kommission sind bislang nicht in geltendes Recht umgesetzt worden. Dies liegt – auch – daran, dass Ratsentscheidungen nach Art 89 AEUV dem Einstimmigkeitserfordernis unterliegen.

b) Internationalisierung der Gefahrenabwehr Die Globalisierung von Bedrohungen für die Innere Sicherheit der Staaten verlangt an sich 86 – auch – global ansetzende Reaktionen. Rechtlich bedeutete dies die Schaffung entsprechender Rechtsgrundlagen zur Internationalisierung der Gefahrenabwehr. Davon ist das geltende Recht aber noch weit entfernt. Zu registrieren sind immerhin einige Ansätze, mit denen das Internationale Recht auf die Herausforderungen reagiert. Im (klassischen) Völkerrecht ist der Vertrag das typische Instrument zur juristischen 87 Problembewältigung. Im vorliegenden Zusammenhang ist auf der Ebene der UNO auf wichtige Konventionen va zur Terrorismusbekämpfung zu verweisen; hinzu treten politisch bedeutsame Resolutionen des UN-Sicherheitsrates.368 Im direkten zwischenstaatlichen Kontakt wird die poli-zeiliche Zusammenarbeit (va zwecks Gewährleistung der Inneren Sicherheit in Grenzgebieten) auf der Grundlage bilateraler (und manchmal auch multilateraler) Verträge mit Nachbarstaaten organisiert.369 Insoweit sind die Möglichkeiten noch längst nicht ausgeschöpft.

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362 Schöndorf-Haubold Sicherheitsverwaltungsrecht (Fn 333) Rn 100 ff. 363 Dannecker in: Streinz (Fn 321) Art 89 AEUV Rn 2. 364 Kotzur in: Geiger/Khan/Kotzur (Fn 356) Art 89 AEUV Rn 1. 365 Röben in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn 328) Art 89 AEUV Rn 14. 366 Dannecker in: Streinz (Fn 321) Art 89 AEUV Rn 3 u 7: Suhr in: Calliess/Ruffert (Fn 321) Art 89 AEUV Rn 2. 367 Einzelheiten dazu bei Mokros in: Lisken/Denninger, O Rn 238 ff. 368 Dazu Saurer NVwZ 2005, 275, 281; G. Nolte VVDStRL 67 (2008), 129, 132 ff. 369 Zusammenstellung der wichtigsten Verträge bei Breuker Transnationale polizeiliche Gewaltprävention, 2003, 52; Möstl DV 41 (2008), 309, 328; Kugelmann 15/22; zum deutsch-schweizerischen Polizeivertrag Cremer ZaöRV 60 (2000), 103 ff.

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In der EU-Perspektive reichen die einzelstaatlichen Bemühungen zur Gewährleistung der Inneren Sicherheit im RFSR (Rn 69) nicht aus. Das europäische Sicherheitsrecht ergänzt daher den Binnen(markt)bezug durch eine EU-Außendimension.370 Vorgesehen sind Kooperationen Europäischer Agenturen mit Drittstaaten und Internationalen Organisationen. Europol (Rn 77) kann insoweit auf eine klare Rechtsgrundlage zurückgreifen (Art 23 EuropolB). FRONTEX (Rn 81) soll mit „Arbeitsvereinbarungen“ agieren (Art 14, 15 VO 2007/2004/EG). Weitere Instrumente sind (bilaterale) Abkommen der EU mit Drittstaaten zum Austausch personenbezogener Daten (zB Fluggastdaten) sowie die Umsetzung von UN-Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung. Auf der Grundlage der Art 216 u 220 AEUV ist die Union in der Lage, die Zusammenarbeit mit Internationalen Organisationen und Drittstaaten auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit weiter auszubauen. Die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (IKPO), besser bekannt unter der Be89 zeichnung Interpol,371 ist eine 1923 gegründete Organisation (ohne Rechtsgrundlage im überkommenen Sinne, dh völkerrechtlicher Vertrag oder Regierungsabkommen), die insbesondere durch die Ausschreibung von Personen zur Fahndung die gegenseitige Amtshilfe nationaler Sicherheitsbehörden aktiviert.372 Der Schwerpunkt der Arbeit von Interpol liegt im Bereich der Strafverfolgung.373 Sein Statut sieht als Ziel der Tätigkeiten aber auch die Verhütung von Verbrechen vor (Art 2 lit b). Von herausragender Bedeutung für Interpol sind die Informationsverarbeitung und der Informationsaustausch; dazu hat die Organisation spezielle Regeln aufgestellt.374 Nationales Zentralbüro der Bundesrepublik Deutschland für Interpol ist das BKA (§§ 3 I, 14 V BKAG).

6. Allgemeine Polizei- und Ordnungsverwaltung 90 Soweit die Aufgabe der Gefahrenabwehr von den Ländern wahrzunehmen ist, bestimmen diese die Organisation der Gefahrenabwehrbehörden. Ungeachtet etlicher Unterschiede im Detail lässt sich das Organisationsrecht der Gefahrenabwehr in den Ländern auf zwei Modelle zurückführen: das Einheitssystem und das Trennsystem.375 Formeller und materieller Polizeibegriff (Rn 7) sind weitgehend deckungsgleich, wenn die Aufgabe der Gefahrenabwehr den „Polizeibehörden“ zugewiesen ist. 91 Tendenziell ist dies im Einheitssystem der Fall. Dieses Modell gilt in Baden-Württemberg, Bremen, im Saarland und in Sachsen. In diesen Ländern obliegt die Aufgabe der Gefahrenabwehr der „Polizei“.376 Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine „Einheitsverwaltung“. Die Organisation der Polizei ist vielmehr aufgespalten in die Polizei(verwaltungs)behörden und den Polizeivollzugsdienst.377 Dieser untergliedert sich in die Schutz-, Kriminal-, Wasserschutz- und Bereitschaftspolizei.378 Die Polizei(verwaltungs)behörden sind weithin identisch mit den Behörden der allgemeinen inneren Verwaltung.379 Zuständig für die Wahrnehmung der polizeilichen

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370 Ausf dazu Schöndorf-Haubold Sicherheitsverwaltungsrecht (Fn 333) Rn 216 ff. 371 Abbdruck des IKPO-Interpol-Status bei Baldus Polizeirecht des Bundes mit zwischen- und überstaatlichen Rechtsquellen, 3. Aufl 2005, Nr 40. Sitz der Zentrale von Interpol ist Frankreich; das entsprechende Abkommen zwischen Interpol und der Regierung der Französischen Republik ist abgedruckt bei Baldus aaO Nr 44. 372 Soria VerwArch 89 (1998), 400 ff; ders in: Baldus/Soiné Rechtsprobleme der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit, 1999, 50 ff. 373 Gusy Rn 25; Schenke Rn 461 u 463. 374 Regelungen über die Informationsverarbeitung zum Zwecke internationaler polizeilicher Kooperation, abgedruckt bei Baldus Polizeirecht (Fn 371) Nr 41. 375 Näher dazu Krajewski StT 6/2002, 33. 376 § 1 I 1 PolG BW; § 1 I 1 PolG Bremen; § 1 II PolG SL; § 1 I 1 SächsPolG. 377 § 59 PolG BW; § 2 Nr 1 PolG Bremen; § 1 I PolG SL; § 59 SächsPolG. 378 § 70 PolG BW; § 70 PolG Bremen; vgl ferner § 82 PolG SL; §§ 71, 73 SächsPolG. 379 Vgl § 62 PolG BW; § 65 PolG Bremen; § 76 PolG SL; § 64 SächsPolG.

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Aufgaben sind grundsätzlich die Polizei(verwaltungs)behörden; die Vollzugspolizei verfügt nach allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht über bestimmte, ihr ausdrücklich zugewiesene Aufgaben, ist in Eilfällen zuständig und leistet Vollzugshilfe.380 Das Trennsystem in den anderen Ländern ist aus der „Entpolizeilichung“ der Verwal- 92 tungsaufgaben nach dem 2. Weltkrieg hervorgegangen; „Polizei“ sollte nur noch die Vollzugspolizei sein. Die Aufgabe der Gefahrenabwehr ist den Verwaltungsbehörden und der Polizei (ieS) übertragen. 381 Organisatorisch ist eine Trennung zwischen Ordnungsbehörden und Polizeibehörden vorgenommen worden.382 Besonders deutlich kommt dies in Bayern, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Thüringen zum Ausdruck, wo Ordnungsverwaltung und Polizei über jeweils eigene Gesetze für die Gefahrenabwehr verfügen.383 Die Zuständigkeit für die Gefahrenabwehr liegt primär bei den Ordnungsbehörden; 384 der Polizei sind enumerativ bestimmte Aufgaben zugewiesen, sie verfügt ferner über Eilzuständigkeiten und leistet Vollzugshilfe.385 Auch in Ländern mit Trennsystem ist die Polizei (ieS) in Schutz-, Kriminal-, Wasserschutz- und Bereitschaftspolizei untergliedert.386 Die praktische Bedeutung des Unterschieds der beiden Modelle darf nicht überbewertet 93 werden; die sachlichen Gemeinsamkeiten überwiegen. Die Aufgaben und Zuständigkeiten der Polizei(verwaltungs)behörden im Einheitssystem entsprechen im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht im Wesentlichen denjenigen der Ordnungsbehörden im Trennsystem; zugleich entspricht der Polizeivollzugsdienst des Einheitssystems in Organisation, Aufgabenstellung und Zuständigkeiten weitgehend der Polizei des Trennsystems.387 Die Identität der Funktionen findet eine Ergänzung in der Übereinstimmung der Befugnisnormen. In den zwölf Ländern, die nur über ein allgemeines Gefahrenabwehrgesetz (PolG, SOG, POG) verfügen, fungieren ein und dieselbe Generalklausel sowie zT auch Standardbefugnisse als Ermächtigungsgrundlagen für Gefahrenabwehrmaßnahmen von Polizei- und Verwaltungs-/Ordnungsbehörden. Und wo die sachliche Zuständigkeit auf Kommunen – als Polizei(verwaltungs)behörden bzw Ordnungsbehörden – übertragen ist, handeln diese im „übertragenen Wirkungskreis“ (Auftragsangelegenheiten, Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung).388 Angesichts der sachlichen Gemeinsamkeiten kann das allgemeine Gefahrenabwehrrecht trotz der begrifflichen Divergenzen einheitlich dargestellt werden. Zur Vereinfachung wird in der folgenden Darstellung, soweit nichts Abweichendes kenntlich gemacht ist, einheitlich von „Ordnungsbehörden“ gesprochen, auch wenn es um Polizei(verwaltungs)behörden (in Bayern: Sicherheitsbehörden) geht; „Polizei“ meint lediglich den Polizeivollzugsdienst.

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380 § 60 PolG BW; § 64 PolG Bremen; §§ 80 I, 85, 1 IV PolG SL; §§ 60, 61 SächsPolG. 381 § 1 I 1 ASOG Bln; § 3 HbgSOG; § 1 I 1 HessSOG; § 2 I SOG MV; § 1 I 1 NdsSOG; § 1 I 1 POG RP; § 1 I 1 SOG LSA; § 163 I LVwG SH. – Vgl auch Fn 383. 382 Überwiegend wird in Abgrenzung zur Polizei von „Ordnungsbehörden“ oder „Verwaltungsbehörden“ gesprochen. In Bayern und in Sachsen-Anhalt ist der Terminus „Sicherheitsbehörden“, in Hessen „Gefahrenabwehrbehörden“. 383 Zur Aufgabenzuweisung vgl Art 6 BayLStVG, Art 2 I BayPAG; § 1 I BbgOBG, § 1 I 1 BbgPolG; § 1 I OBG NW, § 1 I 1 PolG NW; § 2 I ThürOBG, § 2 I 1 ThürPAG. – Rechtspolitisch in Bayern (bei Beibehaltung des Trennsystems) für die Schaffung eines einheitlichen Gefahrenabwehrgesetzes Wolff BayVBl 2004, 737; dagegen Knemeyer/Behmer BayVBl 2006, 97, sowie Honnacker BayVBl 2006, 429. 384 Vgl Art 3 BayPAG; § 2 I ASOG Bln; § 5 BbgOBG, § 2 BbgPolG; § 3 I HbgSOG; § 2 HessSOG; § 4 I SOG MV; § 1 II 1 NdsSOG; § 5 OBG NW, § 1 I 3 PolG NW; § 2 II SOG LSA; § 165 I LVwG SH; § 3 S 1 ThürPAG, § 3 ThürOBG. – Keine klare Bestimmung in RP. 385 Vgl Art 2 III und IV, 3 BayPAG; §§ 1 II, 4, 52 ASOG Bln; §§ 1 III u IV, 2 BbgPolG; § 3 II HbgSOG; § 1 II u V HessSOG; § 7 SOG MV; § 1 II 1, IV, V NdsSOG; § 1 I 3, III, IV PolG NW; § 1 IV-VIII POG RP; § 2 II u III SOG LSA; § 168 LVwG SH; §§ 2 III, 3 S 1 ThürPAG, § 3 II ThürOBG. 386 Art 4 ff BayPOG; §§ 91 ff HessSOG; §§ 2 ff POG MV; §§ 87 ff NdsSOG; §§ 2 ff POG NW; §§ 76 ff POG RP; §§ 76 ff SOG LSA; §§ 1 ff POG SH; §§ 4 ff ThürPOG. – Anders Brandenburg nach dem PolStrRefG 2020 v 20.12.2010, GVBl I Nr 42. 387 Krajewski StT 6/2002, 33, 34. 388 Einzelheiten o Röhl 1. Kap Rn 63.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

II. Materielles Polizei- und Ordnungsrecht II. Materielles Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

1. Die Generalklausel a) Die Generalklausel als Eingriffsermächtigung 94 Eingriffsmaßnahmen der Gefahrenabwehrbehörden bedürfen nach dem Vorbehalt des Gesetzes (Rn 35) einer Ermächtigungsgrundlage.389 Vielfach bestehen Spezialbefugnisse in Sondergesetzen und Standardbefugnisse im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht. Daneben ist die Generalklausel schon wegen der Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse und in Anbetracht des sozialen Wandels unverzichtbar.390 Dem Gesetzgeber ist es nicht möglich, alle eintretenden Gefahrenlagen vorherzusehen und spezifischen Regelungen zu unterziehen. Das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht kennt generalklauselartige Eingriffsermächtigungen sowohl für Einzelfallmaßnahmen als auch für Verordnungen (dazu Rn 373). Für die im Vordergrund stehenden Eingriffsmaßnahmen im Einzelfall hatte § 14 I PrPVG bestimmt, dass die Polizei die notwendigen Maßnahmen treffen kann, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Damit stimmen die Generalklauseln des geltenden Rechts 391 wörtlich oder zumindest sachlich überein. Inhaltliche Abweichungen zu § 14 I PrPVG bestehen partiell nur insoweit, als in einigen Ländern die „öffentliche Ordnung“ als Schutzgut aus der Generalklausel herausgenommen worden ist. 392 95 aa) Spezialermächtigungen und Subsidiarität der Generalklausel. Spezialgesetzlich geregelte Eingriffsermächtigungen zur Gefahrenabwehr haben gegenüber der polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklausel Anwendungsvorrang. Derartige Spezialbefugnisse, hinter denen die Generalermächtigung zurücktritt, bestehen als sondergesetzliche Eingriffsermächtigungen außerhalb des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts (Rn 97 f, 357 ff) und als Standardbefugnisse nach allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht (Rn 256 ff). Die Sondergesetze zur Gefahrenabwehr (insbesondere im Ordnungsrecht) können ihrerseits wiederum Generalklauseln und bereichsspezifische Eingriffsbefugnisse enthalten; 393 in beiden Fällen besteht ein Anwendungsvorrang gegenüber der Generalklausel nach allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht. Mit dem Anwendungsvorrang spezieller Eingriffsermächtigungen ist die Frage verknüpft, 96 ob es sich dabei um abschließende Regelungen handelt. Die praktischen Konsequenzen der Problematik sind erheblich. Nicht selten normieren Spezialermächtigungen strengere Eingriffsvoraussetzungen als die allgemeine polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel und erlauben nur bestimmte Eingriffsmaßnahmen; auch die Behördenzuständigkeit ist bezüglich Spezialgesetz und Generalklausel oftmals unterschiedlich geregelt. Die Reichweite des Grundsatzes „lex specialis derogat legi generali“ ist insbesondere hinsichtlich der abschließenden Normierung von Eingriffsvoraussetzungen und von Eingriffsmaßnahmen sowie der Sperrwirkung einer Spezialermächtigung außerhalb ihres Anwendungsbereichs zu klären.394

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389 Aus Sicht der Verwaltung handelt es sich um eine Befugnisnorm, die die primären Voraussetzungen für die materielle Rechtmäßigkeit behördlichen Handelns statuiert; Götz § 7 Rn 3 ff. 390 BVerwGE 115, 189, 194 o JK OBG NW § 14/2; Pieroth/Schlink/Kniesel § 7 Rn 12; Schenke Rn 49; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVerwR II § 21 Rn 135. 391 § 3 iVm § 1 I 1 PolG BW; Art 11 I BayPAG, Art 7 II iVm Art 6 BayLStVG; § 17 I ASOG Bln; § 10 I BbgPolG, § 13 I BbgOBG; § 10 I 1 PolG Bremen; § 3 I HbgSOG; § 11 HessSOG; § 13 SOG MV; § 11 iVm § 2 Nr 1 lit a NdsSOG; § 8 I PolG NW, § 14 I OBG NW; § 9 I 1 POG RP; § 8 I PolG SL; § 3 I SächsPolG; § 13 iVm § 3 Nr 3 lit a SOG LSA; § 174 LVwG SH; § 12 I u II ThürPAG, § 5 I ThürOBG; § 14 I, II 1 BPolG. 392 § 10 I 1 PolG Bremen; § 174 LVwG SH. 393 Bspl ist das Bauordnungsrecht; die LBO enthält neben der generalklauselartigen Befugnisnorm zur Aufgabenerfüllung Spezialbefugnisse zB zur Baueinstellung, Nutzungsuntersagung, Beseitigungsanordnung; näher o Krebs 4. Kap Rn 225; ferner Schoch JURA 2005, 178. 394 Weithin unproblematisch ist demgegenüber der Rückgriff auf das allg Polizei- und Ordnungsrecht bei der Bestimmung der Verantwortlichkeit (Störereigenschaft), wenn dazu im Spezialgesetz keine Regelungen getroffen

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In ihrem Anwendungsbereich äußert eine Spezialermächtigung in Bezug auf die Eingriffsvoraussetzungen Sperrwirkung. Der Rückgriff auf die Generalklausel (mit ihren geringeren Eingriffsvoraussetzungen) ist ausgeschlossen.395 Andernfalls würde das System der Spezialermächtigungen unterlaufen. Dasselbe gilt in Bezug auf Eingriffsmaßnahmen. Hat der Gesetzgeber die Gefahrenabwehrbehörden spezialgesetzlich nur zu ganz bestimmten Maßnahmen ermächtigt, ist dies ein klarer Ausdruck abschließender behördlicher Befugnisse.396 Differenziert zu beurteilen ist die Sperrwirkung einer Spezialermächtigung außerhalb ihres Anwendungsbereichs. Ob und inwieweit eine Spezialregelung abschließend wirkt, ist im Wege der Auslegung zu ermitteln.397 Kein Rückgriff auf das allgemeine Gefahrenabwehrrecht ist zulässig, wenn ein Spezialgesetz, wie zB etliche Landespressegesetze, 398 Eingriffsmaßnahmen nur in seinem Rahmen erlaubt („Polizeifestigkeit der Presse“).399 Zu beachten ist dabei der Anwendungsbereich des Spezialgesetzes. Erfasst das Landespressegesetz nur Presseerzeugnisse („Druckwerke“), ist zB das in einer Digitalkamera gespeicherte Bild nicht durch die Polizeifestigkeit der Presse geschützt. Deshalb dürfen der Fotoapparat eines Pressefotografen und die zugehörige Speicherkarte mit bereits gefertigten Fotos nach Maßgabe des Polizei- und Ordnungsrechts beschlagnahmt werden.400 Die „Polizeifestigkeit der Presse“ bezieht sich nach hM außerdem nur auf den Inhalt von Presseerzeugnissen und die von ihm ausgehenden „Gefahren“ für die öffentliche Sicherheit und Ordnung; die Generalklausel ist daher (als „allg Gesetz“ iSd Art 5 II GG) anwendbar, soweit es um Gefahrenabwehr im Vorfeld der Pressearbeit gegenüber (Foto-)Reportern geht.401 Fehlt es an einer ausdrücklichen Regelung in dem betreffenden Spezialgesetz, ist die Typik oder Atypik des Eingriffs maßgeblich.402 So trifft zB das Versammlungsgesetz für öffentliche Versammlungen abschließende Regelungen zu behördlichen Befugnissen (§§ 5, 13, 15, 17 a IV, 18 III VersG), soweit es um die Abwehr versammlungstypischer Gefahren geht;403 die StVO wirkt abschließend bei der Bekämpfung verkehrstypischer Gefahren. Geht es um die Abwehr andersartiger Gefahren (zB bau-, feuer-, gesundheitspolizeilicher Art uä), kann auf das jeweilige Fachrecht bzw allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht zurückgegriffen werden. Anschauliche Beispiele für die abschließende Wirkung sondergesetzlicher Eingriffsermächti- 97 gungen bietet das Versammlungsrecht.404 Versammlungsspezifische Maßnahmen der Gefah-

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sind; vgl Rn 173. – Es geht bei der komplexen Materie um „Spezialität“ und um „Subsidiarität“; Poscher/Rusteberg JuS 2011, 888, 890 f; unklar Butzer VerwArch 93 (2002) 506, 517 f einerseits, 527 f andererseits. 395 Pieroth/Schlink/Kniesel § 7 Rn 14; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 142. 396 Eine Ausnahme besteht nach hM vor dem Hintergrund des Übermaßverbots in Bezug auf sog Minusmaßnahmen, vgl BVerwGE 64, 55 o JK VersG § 15/1; HessVGH NVwZ-RR 2011, 519, 521 f o JK GG Art 5 III/26; Enders JURA 2003, 34, 40; Lembke JuS 2005, 984, 987; Meßmann JuS 2007, 524, 526; krit dazu Butzer VerwArch 93 (2002) 506, 533 ff. 397 Enthält ein Spezialgesetz, das Ge- und Verbote normiert, keine Eingriffsermächtigung zur Durchsetzung der getroffenen Regelungen (lex imperfecta), kann auf das allg Polizei- und Ordnungsrecht zurückgegriffen werden, Rn 102. 398 § 1 II LPresseG BW; § 1 II BbgPresseG; § 1 II PresseG Bremen; § 2 I HessPresseG; § 1 II HbgPresseG; § 1 II LPresseG MV; § 1 II PresseG NW; § 4 III LMedienG RP; § 3 III MedienG SL; § 1 II LPresseG SH. – Die Presse (zusätzlich) den Gesetzen, die für jedermann gelten, unterwerfend (dazu Schwabe JuS 2000, 623) § 1 V LPresseG BW; § 1 II PresseG Bln; § 1 V HbgPresseG; § 2 II 1 HessPresseG; § 1 I 3 SächsPresseG. – Unspezifisch von „Beschränkungen, die durch das Grundgesetz zugelassen sind“ sprechend § 1 II NdsPresseG; § 1 II PresseG LSA; § 1 II 1 ThürPresseG; noch unspezifischer Art 1 BayPresseG. 399 OVG Bbg NJW 1997, 1387 o JK OBG Bbg § 13/1. 400 SächsOVG SächsVBl 2008, 89, 92 (m Anm Petersen-Thrö); ferner Pieroth AfP 2006, 305, 309 f. 401 VGH BW VBlBW 2011, 23, 24 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/11 (am Bspl eines – im Ergebnis aber rechtswidrigen – Fotografierverbots bei einem Spezialeinsatzkommando der Polizei). 402 Pieroth/Schlink/Kniesel § 7 Rn 20; vgl auch Butzer VerwArch 93 (2002) 506, 524 ff. 403 Enders JURA 2003, 34, 39; Meßmann JuS 2007, 524, 526. 404 Zum Versammlungsrecht wird im Rahmen dieses Beitrags das VersG des Bundes herangezogen; aus dem Blickwinkel des Polizei- und Ordnungsrechts gelten die Ausführungen für die existierenden Landesversammlungsgesetze (dazu Höfling/Krohne JA 2012, 734 f) entsprechend. Zur Weitergeltung des BVersG in den Ländern ohne

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renabwehr dürfen nur nach dem hierfür speziell erlassenen Versammlungsgesetz getroffen werden; dieses geht als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht vor.405 Daher dürfen polizeiliche Maßnahmen gegen die Teilnehmer einer öffentlichen, von Art 8 I GG und § 1 VersG geschützten Versammlung nur auf der Grundlage des Versammlungsgesetzes 406 und der dortigen engen Voraussetzungen (vgl Rn 360 ff) vorgenommen werden.407 Die Anwesenheit der Polizei in einer öffentlichen Versammlung ist abschließend in § 12 VersG geregelt und kann nicht (heimlich) unter Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel erzwungen werden; die Voraussetzungen für ein polizeiliches Einschreiten zur Gefahrenabwehr gegenüber einer öffentlichen Versammlung in geschlossenen Räumen sind versammlungsrechtlich abschließend und speziell in §§ 5 und 13 VersG geregelt.408 Die Zulässigkeit von Bild- und Tonaufnahmen von einer durch Art 8 I GG, § 1 VersG geschützten Versammlung hat eine abschließende Normierung in §§ 12a, 19a VersG gefunden; der Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht ist unzulässig. 409 Unzulässig ist ferner die Einkesselung einer Versammlung in Anwendung präventivpolizeilicher Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ohne vorherige Auflösung der Versammlung nach § 15 III VersG.410 Auch die Verhinderung der Anreise zur Versammlung kann, da das „Sich-Versammeln“ von Art 8 I GG geschützt ist,411 nicht auf das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht gestützt werden.412 Das Versammlungswesen ist andererseits aber nicht „polizeifest“ (vgl auch Rn 96).413 Liegt keine grundrechtlich geschützte Versammlung vor (zB wegen Unfriedlichkeit oder Waffentragens), sperrt Art 8 GG den Rückgriff auf das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht nicht. Der das allgemeine Gefahrenabwehrrecht verdrängende Vorrang des Versammlungsrechts setzt ohnehin voraus, dass es im konkreten Fall um eine „Versammlung“ im Rechtssinne (Art 8 I GG, § 1 I VersG) geht. Die Rechtsprechung folgt mittlerweile dem engsten Versammlungsbegriff414 und verlangt die örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zu gemeinschaftlicher, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder

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Landesversammlungsgesetz nach Art 125a I 1 GG HessVGH NVwZ-RR 2011, 519, 520 o JK GG Art 5 III/26. – Im vorliegenden Zusammenhang geht es nur um die Abgrenzung zum allg Polizei- und Ordnungsrecht; zur Gefahrenabwehr nach dem BVersG selbst unten Rn 360 ff. 405 BVerfG-K NVwZ 2011, 422 Tz 28. 406 Daher ist eine Platzverweisung nach allg Polizeirecht erst nach Ausschluss des betreffenden Teilnehmers von der Versammlung oder nach Auflösung einer Versammlung (§ 15 III VersG) zulässig, BVerfG-K NVwZ 2005, 80, 81 o JK GG Art 8/17; BVerfG-K NVwZ 2007, 1180, 1182 f o JK GG Art 8/23; krit dazu Schwabe DÖV 2010, 720 ff m Erwiderung Hettich DÖV 2011, 954 ff; der Teilnehmer einer nicht aufgelösten Versammlung begeht iSd § 113 StGB auch keinen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, BVerfG-K NVwZ 2007, 1180 o JK GG Art 8/23 sowie (aus strafrechtlicher Sicht) o JK StGB § 113/6. 407 VGH BW NVwZ 1999, 265 (am Bspl einer „Razzia“); dazu Deger NVwZ 1999, 265; ferner VGH BW VBlBW 2008, 60 („Mahnwache“). 408 BayVGH BayVBl 2009, 16 Tz 27 o JK GG Art 8 I/27; dazu Bspr Riedel BayVBl 2009, 391; ferner Fallbearbeitung Riedel JURA 2010, 144 mit Erwiderung Ketterer/Sauer JURA 2010, 717. 409 VG Berlin DVBl 2010, 1245 Tz 22 (m Anm Söllner) = NVwZ 2010, 1442, 1443 (m Bespr Roggan NVwZ 2010, 1402); ähnlich OVG NW DVBl 2011, 175 o JK GG Art 8/29. 410 OVG NW NVwZ 2001, 1315 o JK GG Art 8/14. 411 BVerfGE 69, 315, 349 o JK GG Art 8/2; BVerfGE 84, 203, 209 o JK GG 8 I/4; VGH BW VBlBW 2005, 431, 432; BayVGH BayVBl 2009, 16 Tz 20 o JK GG Art 8 I/27; Lembke JuS 2005, 984, 986; Trurnit NVwZ 2012, 1079, 1080. 412 VG Hamburg NVwZ 1987, 829, 831; unentschieden VG Schleswig NVwZ-RR 1990, 190; aA BVerwGE 129, 142 = NVwZ 2007, 1439 Tz 30 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/10; OVG NW DVBl 1982, 653 (m Anm Schwabe S 655 und Riegel S 1006); VG Braunschweig NVwZ 1988, 661, 662; Meßmann JuS 2007, 524, 527 f. – Verfassungswidrigkeit landesgesetzlicher Befugnisnormen bzgl Kontrolle im Vorfeld von Versammlungen annehmend Enders JURA 2003, 34, 41; differenzierend Trurnit NVwZ 2012, 1079, 1081 f. 413 BVerwGE 129, 142 = NVwZ 2007, 1439 Tz 30 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/10: VersG enthält keine abschließende Regelung für alle Gefahrenlagen im Versammlungswesen, Gefahrenabwehr ist im VersG nur lückenhaft geregelt. 414 Überblick zu den Versammlungsbegriffen bei Meßmann JuS 2007, 524, 525.

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Kundgebung.415 Ist zweifelhaft, ob eine öffentliche Veranstaltung im Rechtssinne als „Versammlung“ zu qualifizieren ist (zB Konzerte rechtsextremistischer Skinheadbands), muss nach dem Gesamtgepräge der Veranstaltung geurteilt werden; kann danach keine eindeutige Zuordnung vorgenommen werden (zB wegen des auch unterhaltenden Charakters des Konzertes), ist die Veranstaltung nach der Zweifelsregel wie eine Versammlung zu behandeln.416 Polizeiliche Maßnahmen im Vorfeld einer Versammlung, bei der das „sich versammeln“ (Art 8 I GG) noch nicht begonnen hat, können ebenfalls auf das allgemeine Polizeirecht gestützt werden.417 Das Besondere Verwaltungsrecht kennt auch jenseits des recht anschaulichen Versamm- 98 lungsrechts zahlreiche Beispiele für die spezialgesetzlich geregelte Gefahrenabwehr. Abschließende, die Anwendung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts verdrängende Wirkung haben die straßenrechtlichen Befugnisse zur Unterbindung einer unzulässigen Sondernutzung der Straße.418 Eine Gewerbeuntersagung findet ihre Rechtsgrundlage in § 15 II GewO ; 419 ein Rückgriff auf die landesrechtliche Generalklausel des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ist – wie § 1 I GewO deutlich macht – nicht zulässig.420 Dagegen kann – mangels Anwendbarkeit der GewO (§ 6 I 3 GewO) – die Anordnung, eine (wegen Unzuverlässigkeit) nicht genehmigte Notfallrettung und einen nicht genehmigten Krankentransport einzustellen, nach der ordnungsbehördlichen Generalklausel getroffen werden.421 Die gegenüber einem ausreisepflichtigen Ausländer, der keine Dokumente (Identitätspapiere) besitzt, getroffene Verfügung zur Abgabe eines Fingerabdrucks ist auf § 46 I AufenthG 422 zu stützen; die ordnungsbehördliche Generalklausel ist daneben nicht anwendbar. 423 Maßnahmen zur Verhütung übertragbarer Krankheiten finden ihre Rechtsgrundlage in § 16 I IfSG 424 und nicht im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht.425 Die behördliche Anordnung der Keulung von Rindern im Falle eines amtlich bestätigten BSE-Fundes war unmittelbar auf eine EG-Verordnung zu stützen.426 Eher selten ist der Fall, dass das besondere Gefahrenabwehrrecht die Befugnisse des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts rezipiert (zB § 139 b I 2 GewO).427 Exklusive Handlungsbefugnisse statuieren unter ebenfalls abschließenden (und vielfach 99 strengen) Eingriffsvoraussetzungen die Standardbefugnisse. Im Anwendungsbereich dieser Spezialermächtigungen des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts ist der Rückgriff auf die Generalklausel unzulässig.428 Liegen die Voraussetzungen für ein Vorgehen nach der Standardbefugnis nicht vor, muss die Gefahrenabwehrmaßnahme unterbleiben. So darf zB im Falle der Sicherstellung bzw Beschlagnahme (Rn 319 ff) nicht auf die Generalklausel zurückgegriffen werden,

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415 BVerfGE 104, 92, 104; BVerfG-K NVwZ 2011, 422 Tz 19; JZ 2011, 685 Tz 32; BVerwGE 129, 142 = NVwZ 2007, 1431 Tz 15 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/10 (dazu Bredt NVwZ 2007, 1358); BVerwG NVwZ 2007, 1434 Tz 14; VGH BW VBlBW 2008, 60. – Zur Abgrenzung von sonstigen Veranstaltungen Trurnit JURA 2012, 365, 366 f. 416 VGH BW VBlBW 2010, 468, 470; aA (mit wenig überzeugender Begründung) OVG Bremen BeckRS 2011, 56338 o JK Pol- u OrdR Generalklausel/12. 417 BayVGH NJW 2011, 793 o JK GG Art 5 I 1/45 (im konkreten Fall aber mit zweifelhafter Begründung des BayVGH). 418 VGH BW VBlBW 2002, 297 o JK StrG BW § 16/2; VGH BW VBlBW 2006, 239; OVG NW NVwZ-RR 2000, 429 o JK StrWG NRW § 22/1; VG München BayVBl 2008, 508, 509; aA OVG MV LKV 1999, 514. 419 Sartorius I Nr 800. 420 ThürOVG LKV 2003, 191, 192. 421 OVG NW NWVBl 2009, 443. 422 Sartorius I Nr 565. 423 Unzutreffend OVG NW NWVBl 2006, 261, 262. 424 Sartorius ErgBd Nr 285. 425 OVG RP NVwZ-RR 2002, 351; VG Stuttgart NJW 2004, 1404. 426 ThürOVG NVwZ 2002, 231. – Zur zulässigen Ausweitung der BSE-Untersuchungspflicht in Deutschland EuGH Slg 2010, I-1393 = NVwZ 2010, 629; zum zulässigen Verbot des Verfütterns von Mischfutter mit tierischen Fetten an Wiederkäuer zwecks Verhinderung von BSE-Infektionen BVerwG NVwZ-RR 2012, 99. 427 VGH BW VBlBW 1991, 140, 141. 428 Erichsen JURA 1993, 45; Möstl JURA 2011, 840; Poscher/Rusteberg JuS 2011, 888, 891.

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wenn die speziell geregelten Sicherstellungs-/Beschlagnahmevoraussetzungen nicht erfüllt sind; diese sind strenger als die Anforderungen der Generalermächtigung.429 Vielfach ist die Vornahme einer Standardmaßnahme nicht schon bei einer „einfachen“ Gefahrenlage erlaubt, sondern ein Einschreiten ist erst bei einer „unmittelbar bevorstehenden“, „erheblichen“ oder „dringenden“ Gefahr (dazu Rn 150) zulässig. Die Befugnisse nach der Generalklausel treten zwar nach dem Grundsatz der Subsidiarität hinter den Standardbefugnissen zurück,430 diese stellen jedoch ihrerseits als Spezialermächtigungen abschließende Sachverhaltsregelungen nur in Bezug auf ihr Normprogramm dar und verdrängen die Generalklausel im Übrigen nicht.431 Deshalb konnten früher Eingriffe in den Schutz der Wohnung (vgl dazu Rn 313 ff), die keine Durchsuchungen darstellten, auf die polizeiliche Generalermächtigung gestützt werden, mussten die verfassungsunmittelbaren Einschränkungen gemäß Art 13 III GG aF (Art 13 VII GG nF) jedoch beachten.432 Solange das Landesrecht für eine Platzverweisung oder ein Betretungsverbot noch keine Standardbefugnis (Rn 278, 284) kannte, fungierte die Generalklausel als Rechtsgrundlage.433 Dasselbe galt beim Fehlen einer Spezialbefugnis für die Anordnung eines (längerfristigen) Aufenthaltsverbots (unter Beachtung der Restriktionen nach Art 11 GG); die landesgesetzliche Spezialbefugnis zur Platzverweisung konnte als Rechtsgrundlage für das Aufenthaltsverbot (Rn 284 ff) nicht herangezogen werden.434 Auch eine polizeiliche Wohnungsverweisung (Rn 289) ist mangels Standardbefugnis (unter Beachtung der Anforderungen des Art 11 II GG) auf die Generalklausel zu stützen gewesen.435 Die (im konkreten Fall allerdings rechtswidrige) vollständige Abriegelung eines Ortes für mehrere Stunden durch Polizeikräfte war ebenfalls nach der Generalklausel vorzunehmen, da im Rechtssinne keine Ingewahrsamnahme (Freiheitsentziehung), sondern lediglich eine Freiheitsbeschränkung vorlag.436 Werden ehemals atypische Vorgehensweisen zu typischen Maßnahmen, zu denen sich im Laufe der Zeit sogar Standards entwickeln, kann der Rückgriff auf die Generalklausel nur noch für eine Übergangszeit gerechtfertigt sein, weil der Gesetzgeber zur Schaffung einer rechtsstaatlich einwandfreien Spezialermächtigung verpflichtet sein kann.437 Allerdings ist die Generalklausel nicht auf atypisches, in der polizeilichen Praxis noch nicht erprobtes Eingriffshandeln beschränkt; die Generalermächtigung dient ebenfalls der Bewältigung immer wieder vorkommender Gefahrensituationen.438 Die Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung einer (standardisierten) Spezialermächtigung hängt auch von der Qualität der mit der Maßnahme verbundenen (tiefgreifenden) Grundrechtseingriffe ab.

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429 VGH BW NVwZ-RR 1995, 527 o JK PolG BW § 34/1. 430 Ausdrücklich Art 11 I BayPAG, Art 7 II BayLStVG; § 17 I ASOG Bln; § 10 I BbgPolG; § 10 I 1 PolG Bremen; § 11 HessSOG; § 11 NdsSOG; § 8 I PolG NW; § 9 I 1 POG RP; § 8 I PolG SL; § 13 SOG LSA; § 12 I ThürPAG, § 5 I ThürOBG. – Für die Bundespolizei § 14 I BPolG. 431 NdsOVG NVwZ-RR 2007, 103 o JK Pol- u OrdR Generalklausel/8; VG Frankfurt/M NVwZ-RR 2002, 575, 576. 432 BVerwGE 47, 31, 40; OVG Berlin DÖV 1974, 28. – Zur heutigen Rechtslage unten Rn 314 ff. 433 VGH BW DÖV 1997, 255, 256 o JK Pol- u OrdR Platzverweis/1; VGH BW DVBl 1998, 97; Heckmann/Klein JuS 1995, 327. 434 OVG Bremen NVwZ 1999, 314, 315 o JK PolG Bremen § 10/1; BayVGH DÖV 1999, 520, 521 o JK BayLStVG Art 7/1; OVG NW NVwZ 2001, 459; VG Frankfurt/M NVwZ-RR 2002, 575, 576; aA HessVGH NVwZ 2003, 1400, 1401; Hecker JuS 1998, 575 und NVwZ 1999, 261, 262. 435 VGH BW NJW 2005, 88 o JK GG Art 11/2; dazu Bespr Wuttke JuS 2005, 779. 436 NdsOVG NVwZ-RR 2007, 103 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/8. 437 Pieroth/Schlink/Kniesel § 7 Rn 20. – Nach BVerwGE 115, 189, 194 ff o JK OBG NW § 14/2 kann das Verbot bestimmter Laserspiele wegen des Eingriffs in den Schutzbereich des Art 12 I GG nur noch für einen vorübergehenden Zeitraum auf die Generalermächtigung gestützt werden; daran „nicht uneingeschränkt“ festhaltend BVerwG GewArch 2007, 247, 249. – Die Normierung als Standardmaßnahme für die Wohnungsverweisung „nach einer Phase der Erprobung“ forderte wegen Art 11 GG VGH BW NJW 2005, 88, 89 o JK GG Art 11/2; zustimmend Gusy JZ 2005, 355, 356 f, krit zur Anerkennung einer „Phase der Erprobung“ Proske VBlBW 2005, 141. 438 BVerwGE 129, 142 = NVwZ 2007, 1439 Tz 36; (bzgl Meldeauflagen gegenüber Hooligans, vgl dazu auch Rn 101).

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bb) Anwendungsbereich der Generalklausel. In der Perspektive des besonderen Gefahren- 100 abwehrrechts (VersG, GewO, LBO etc) und der Standardbefugnisse nimmt die Generalermächtigung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts primär eine lückenausfüllende Funktion wahr. Sie deckt im Gefahrenabwehrrecht den Bereich ab, der nicht durch spezielle Ermächtigungen (besondere Befugnisse, Standardbefugnisse) erfasst ist.439 So ist die Generalklausel zB im Versammlungsrecht auf nichtöffentliche Versammlungen anwendbar, da das Versammlungsgesetz insoweit nicht gilt (§ 1 I VersG).440 Auch das Fernhalten externer Störer einer Versammlung, die eine erlaubte Versammlung verhindern wollen und daher von Art 8 I GG nicht geschützt sind, kann auf die Generalklausel gestützt werden.441 Im Gewerberecht sind Eingriffsmaßnahmen unterhalb der Schwelle der Gewerbeuntersagung nach der Generalermächtigung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts zugelassen worden.442 Im Wasserrecht können Vorschriften des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts herangezogen werden, soweit das Landeswassergesetz keine eigenständigen Regelungen enthält.443 Neben der wasserrechtlichen Generalklausel ist die Generalermächtigung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts allerdings nicht anwendbar.444 Die Generalermächtigung hat iVm Spezialbefugnissen eine ergänzende Funktion, wenn es 101 um die ganzheitliche Bewältigung komplexer Lebenssachverhalte geht, die spezialgesetzlich nur Teilregelungen gefunden haben. So muss zB die tatsächliche Beendigung einer rechtmäßig aufgelösten Versammlung (§§ 13 I, 15 III u IV VersG) bei Missachtung der Entfernungspflicht (§§ 13 II, 18 I VersG) durch die Teilnehmer nach allgemeinem Gefahrenabwehrrecht herbeigeführt werden.445 Die Verhinderung von Ausschreitungen deutscher Hooligans im Ausland kann nach hM in einer Kombination aus Pass- und Personalausweisbeschränkung (§§ 7, 8 PassG, § 6 VII PAuswG 446) sowie Meldeauflagen nach der Generalklausel bewerkstelligt werden.447 Bei der gefahrenabwehrrechtlichen Bekämpfung von Obdachlosigkeit durch Wohnungseinweisung bedarf es einer Sicherstellung bzw Beschlagnahme (Rn 319 ff) der Wohnung gegenüber dem Wohnungseigentümer und einer auf die Generalermächtigung gestützten Einweisungsverfügung gegenüber dem Obdachlosen.448 Die Generalklausel fungiert vielfach als Ergänzung einer lex imperfecta. Gesetzliche Ge- 102 bote oder Verbote als solche ermächtigen nicht zum Erlass von Eingriffsmaßnahmen im Einzel-

_____ 439 Ausdrücklich geregelt in Art 11 III 2 BayPAG; § 17 II 2 ASOG Bln; § 10 II 2 BbgPolG, § 13 II 2 BbgOBG; § 10 II 2 PolG Bremen; § 3 I 3 HessSOG; § 12 II SOG MV; § 3 I 3 NdsSOG; § 8 II 2 PolG NW, § 14 II 2 OBG NW; § 9 II 2 POG RP; § 8 II 2 PolG SL; § 4 I 2 SOG LSA; § 163 II 2 LVwG SH; § 12 III 2 ThürPAG, § 5 II 2 ThürOBG. – Für die Bundespolizei § 14 III 2 BPolG. 440 BVerwG DVBl 1999, 1740, 1741 o JK VwGO § 113 I 4/15; Enders JURA 2003, 34, 40; Lembke JuS 2005, 984, 987; aA Meßmann JuS 2007, 524 526 f (VersG gilt analog). 441 VGH BW NVwZ-RR 1990, 602, 603; bestätigt durch BVerfGE 84, 203 o JK GG Art 8 I/4. 442 OVG RP DVBl 1999, 338: vorläufige Schließung einer Spielhalle wegen Gefahr des Rauschgifthandels bis zum Abschluss der Ermittlungen zur gewerberechtlichen Zuverlässigkeit des Betreibers. – Zur Reglementierung der Art und Weise der Gewerbeausübung nach allg Ordnungsrecht OVG NW DÖV 1997, 1055. 443 VGH BW DÖV 1990, 394, 395 und OVG Hamburg NVwZ 2001, 215, 217 zur unmittelbaren Ausführung einer Gefahrenabwehrmaßnahme. 444 Missverständlich OVG Hamburg NVwZ 2001, 1295. 445 KG NVwZ 2000, 468, 470. 446 Sartorius I Nr 250 und Nr 255. 447 BVerwGE 129, 142 = NVwZ 2007, 1439 Tz 25 ff o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/10; VGH BW DVBl 2000, 1630 o JK Pol- u OrdR pol GK/5; BayVGH BayVBl 2006, 671; NdsOVG NVwZ-RR 2006, 613 ĺ JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/7. Ausf Breuker Transnationale polizeiliche Gewaltprävention, 2003, 143 ff (Pass- u PersAuswR) und 203 ff (allg Polizei- u OrdnungsR); zusammenfassend ders NJW 2004, 1631 ff; zu verfassungs- und europarechtlichen Fragen von Beschränkungen der Ausreisefreiheit Rossi AöR 127 (2002) 612 ff. – AA Schucht NVwZ 2011, 709, 713: Standardbefugnis erforderlich für polizeiliche Meldeauflagen; ebenso bereits Krahm Polizeiliche Maßnahmen zur Eindämmung von Hooligangewalt, 2008, 325 ff. 448 Vgl VGH BW DÖV 1991, 121; VBlBW 1996, 567.

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fall, stellen also keine Befugnisnormen dar.449 Sie sind jedoch Teil des Schutzguts „öffentliche Sicherheit“ (Rn 109), so dass ihre Einhaltung unter Rückgriff auf die Generalermächtigung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts durchgesetzt werden kann.450 Das gilt zB für den Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe, der durch Verbotsvorschriften in den Sonn- und Feiertagsgesetzen der Länder451 bzgl öffentlich bemerkbarer Tätigkeiten angeordnet ist.452 Droht der gesetzliche Sonn- und Feiertagsschutz durch eine öffentliche Versammlung gestört zu werden, auf die mit einem Verbot reagiert wird, fungiert die Generalermächtigung allerdings nicht als Befugnisnorm; Rechtsgrundlage zur Durchsetzung des Sonn- und Feiertagsschutzes mittels Versammlungsrecht ist § 15 VersG.453 Nicht mehr der Kategorie „lex imperfecta“ zuzuordnen ist das (mittlerweile) landesgesetzlich geregelte Ladenöffnungsrecht. Früher musste die Einhaltung gesetz- und verordnungsrechtlich angeordneter Ladenschlusszeiten auf der Grundlage der Generalklausel im Einzelfall durchgesetzt werden.454 Die (neuen) Ladenöffnungsgesetze der Länder enthalten eine Befugnisnorm, nach der die zuständige (Ordnungs-)Behörde die erforderlichen Maßnahmen zur Erfüllung der sich aus dem LadÖG ergebenden Pflichten verfügen kann; dabei handelt es sich um eine gegenüber dem allgemeinen (Polizei- und) Ordnungsrecht spezielle Eingriffsermächtigung.455 Die zivil- und strafrechtlichen Vorschriften über Notwehr und Notstand normieren keine 103 Befugnisse für die Polizei- und Ordnungsbehörden.456 Sie sind auf das Verhältnis von Individuen untereinander bezogen und erfüllen zudem nicht die Anforderungen des Gesetzesvorbehalts an die Ausgestaltung von staatlichen Handlungsermächtigungen.457 Behördliche „Notwehr-“ oder „Notstandsmaßnahmen“ müssen, um polizei- und ordnungsrechtlich legitimiert werden zu können, beim Fehlen von Spezialermächtigungen auf die Generalklausel gestützt werden können. Keine gesetzliche Handlungsermächtigung für gefahrenabwehrende Maßnahmen stellt eine 104 grundrechtliche Schutzpflicht dar.458 In der Praxis wurden verfassungsrechtliche Schutzpflichten bei Öffentlichkeitsinformationen von Regierung und Verwaltung verschiedentlich als „Eingriffstitel“ anerkannt.459 Diesen rechtsstaatswidrigen Erfindungen der Rechtsprechung ist zu widersprechen. Stellen behördliche Informationsmaßnahmen zur Gefahrenabwehr im Rechtssinne einen Grundrechtseingriff dar, bedarf es zu ihrer Rechtfertigung einer entsprechenden

_____ 449 Vgl OVG NW DÖV 2004, 666; unzutr dagegen VG Stuttgart GewArch 2003, 303. 450 Beljin/Micker JuS 2003, 556, 558. 451 Zum Sonntagsschutz aus verfassungsrechtlicher Sicht BVerfGE 125, 39 = JZ 2010, 137 (m Anm Classen) o JK GG Art 140/6; dazu Wißmann/Heuer JURA 2011, 214; Kühn NJW 2010, 2094; Klotz NVwZ 2011, 1. – Zum Landesverfassungsrecht BayVerfGH NVwZ-RR 2012, 537; SächsVerfGH LKV 2012, 309. 452 BVerwGE 90, 337, 341; VGH BW NVwZ 2007, 1333 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/9; BayVGH NVwZ 2007, 1215; OVG Hamburg NVwZ 1991, 180, 181; OVG NW DVBl 1991, 952; NVwZ-RR 1994, 439; OVG RP DVBl 1999, 44; SächsOVG SächsVBl 2002, 269; OVG SH GewArch 1997, 262, 263; ThürOVG NVwZ-RR 2010, 763; VG Gera NVwZ-RR 1999, 579. 453 OVG Bbg NVwZ 2003, 623; krit zur Beschränkung der Versammlungsfreiheit durch das Sonn- und Feiertagsrecht der Länder Arndt/Droege NVwZ 2003, 906 ff. 454 VG Berlin NJW 1999, 2988. 455 OVG RP NVwZ-RR 2009, 674 o JK LadÖG RP § 6/1; VG Freiburg VBlBW 2011, 365. 456 Ausdrücklich § 10 III PolG Bremen; § 8 III PolG SL. 457 Beaucamp JA 2003, 402 ff; Gusy Rn 177 f; Pieroth/Schlink/Kniesel § 12 Rn 24 f; Schenke Rn 40, 562; ferner Deger NVwZ 2001, 1229, 1231 mit kompetenzrechtlichen Argumenten. 458 Wahl/Masing JZ 1990, 553 ff; allg Erichsen JURA 1997, 85 ff; Brüning/Helios JURA 2001, 155 ff; ferner Stern DÖV 2010, 241 ff; Ulrich VerwArch 102 (2011), 383 ff. 459 BVerwGE 87, 37, 46 f; relativierend BVerwG NJW 1991, 1770; ferner OVG NW NJW 1996, 2114 und 3355 sowie NVwZ 1997, 302; VG Köln NVwZ 1999, 912. – Von einem staatlichen „Schutzauftrag“ als Eingriffstitel für die Abwehr von Angriffen auf die freiheitliche demokratische Grundordnung spricht der VerfGH RP NVwZ 2008, 897, 898 o JK Art 21/4.

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gesetzlichen Befugnis.460 Im Besonderen Verwaltungsrecht sind für spezifische Gefahrensituationen entsprechende Eingriffsermächtigungen vorgesehen.461 Fehlt es für eine öffentliche Warnung oder eine ähnliche Information der Öffentlichkeit an einem Spezialgesetz, muss auf die Generalklausel des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts zurückgegriffen werden.462 Allerdings können sich Bundesregierung, -minister und -behörden mangels Ermächtigung von Institutionen des Bundes durch Landesrecht hierauf nicht berufen, sondern nur die zuständigen Stellen des Landes. cc) Struktur und Bedeutung der Generalklausel. Die Generalklausel weist eine konditionale 105 Normstruktur auf. Wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung besteht, dann darf die zuständige Behörde die notwendigen Gefahrenabwehrmaßnahmen treffen. Die Generalermächtigung verknüpft demnach unbestimmte Rechtsbegriffe auf der Tatbestandsseite (Eingriffsvoraussetzungen), die keinen behördlichen Beurteilungsspielraum gewähren und gerichtlich voll nachprüfbar sind,463 mit einer Handlungsbefugnis auf der Rechtsfolgenseite (Handlungsermessen). Gefahrenabwehrmaßnahmen dürfen nur getroffen werden, wenn die Eingriffsvoraussetzungen im konkreten Fall erfüllt sind. Der Tatbestand weist zwei Elemente auf: ein Schutzgut („öffentliche Sicherheit“, „öffentliche Ordnung“), das sich in einer Gefahrenlage befindet. Das Rechtsfolgeermessen kennt ebenfalls zwei Elemente: das Entschließungsermessen (dh „ob“ eingeschritten wird) und das Auswahlermessen (dh „wie“ vorgegangen wird, bezogen auf die Maßnahme zur Gefahrenabwehr und – bei mehreren Verantwortlichen für den Gefahrenzustand – den Pflichtigen). Die Verfassungsmäßigkeit der Generalklausel ist nicht zweifelhaft. Die Verknüpfung un- 106 bestimmter Rechtsbegriffe mit Ermessen widerspricht nicht dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot. Die Generalklausel ist „in jahrzehntelanger Entwicklung durch Rechtsprechung und Lehre nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend präzisiert, in ihrer Bedeutung geklärt und im juristischen Sprachgebrauch verfestigt“.464 Die Generalermächtigung ist auch mit den Grundrechten vereinbar; sie erfüllt die Anforderungen der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte.465 Die mitunter geforderte restriktive, grundrechtskonforme Auslegung und Anwendung 466 ist entweder nur noch von historischem Wert bzw betrifft nicht die Normgeltung, sondern den Gesetzesvollzug. Die Generalklausel hat für das gesamte Gefahrenabwehrrecht eine strukturprägende Bedeu- 107 tung. Sie kann als Strukturierungsmodell für Gefahrenabwehrmaßnahmen begriffen werden. Auch spezialgesetzliche Gefahrenabwehrbestimmungen und Standardbefugnisse verlangen tatbestandlich das Vorliegen einer Gefahr für ein Schutzgut und eröffnen auf der Rechtsfolgenseite Handlungsermessen. Inhaltlich geht es bei den Tatbestandsvoraussetzungen jener Rege-

_____ 460 Gusy NJW 2000, 977, 982 ff; Murswiek NVwZ 2003, 1, 6; Huber JZ 2003, 290, 294; Bethge JURA 2003, 327, 332; Gurlit DVBl 2003, 1119, 1131; Bumke DV 37 (2004) 3, 21; Hellmann NVwZ 2005, 163, 166; rechtsdogmatisch nicht haltbar BVerfGE 105, 252, 268 f und E 279, 300 f; zur Kritik vgl Schoch in: HStR III, § 37 Rn 111 ff. – Näher zu der Problematik unten Rn 371. 461 Vgl etwa zum Lebensmittelrecht § 39 II 2 Nr 9 iVm § 40 LFGB (Sartorius ErgBd Nr 862): Information der Öffentlichkeit über gesundheitsgefährende Lebensmittel etc; zu technischen Verbraucherprodukten § 26 II 2 Nr 9 ProdSG (Sartorius ErgBd Nr 803): Warnung der Öffentlichkeit vor Risiken, die von einem auf dem Markt befindlichen Produkt ausgehen; zu Arzneimitteln § 69 IV AMG (Sartorius ErgBd Nr 272): öffentliche Warnung (durch die zuständige Bundesoberbehörde) vor einem mit dem begründeten Verdacht schädlicher Wirkungen belegten Arzneimittel. 462 NdsOVG NJW 2006, 391, 393 ĺ JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/6; HessVGH NVwZ-RR 2012, 344, 345; LG Stuttgart NJW 1989, 2257, 2258; LG Göttingen NVwZ 1992, 98, 99 f. 463 Schenke Rn 51; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 178. 464 So BVerfGE 54, 143, 144 f; ähnlich BVerfGE 69, 315, 352; BVerwGE 129, 142 = NVwZ 2007, 1439 Tz 33 ĺ JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/10. 465 BVerwGE 115, 189, 196 o JK OBG NW § 14/2 (bzgl Art 12 I 2 u 14 I 2 GG). 466 Vgl Fn 432, ferner Rn 285 zum Aufenthaltsverbot.

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lungen häufig nur um ganz bestimmte Schutzgüter, und bei der Gefahrenlage wird oftmals eine qualifizierte Gefahr (Rn 149 f) verlangt. Soweit eine sachliche Übereinstimmung besteht, weisen die Gesetzesbegriffe in der Generalklausel und im Spezialgesetz nicht selten einen identischen normativen Gehalt auf. Ein markantes Beispiel hierfür bietet § 15 VersG; die Begriffe „öffentliche Sicherheit“ 467 und „öffentliche Ordnung“ 468 stimmen im Versammlungsrecht mit denselben Begriffen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts inhaltlich überein.

b) Schutzgüter der Generalklausel 108 Gefahrenabwehrmaßnahmen nach der Generalklausel (Rn 94) setzen voraus, dass eine Gefahr für die „öffentliche Sicherheit“ oder „öffentliche Ordnung“ besteht.469 Das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit genießt Anwendungsvorrang gegenüber demjenigen der öffentlichen Ordnung. Systematisch ist das Schutzgut vor der „Gefahr“ zu prüfen.470 Diese ist nur in Bezug auf ein bestimmtes Schutzgut zu ermitteln. Liegt schon keine polizei- bzw ordnungswidrige Lage vor, stellt sich die Frage der „Gefahr“ nicht.471 109 aa) Öffentliche Sicherheit iSd Gefahrenabwehrrechts ist (im Anschluss an die Amtliche Begründung zu § 14 PrPVG und in Übereinstimmung mit Legaldefinitionen im Landesrecht 472) die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung (1), der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen (2) sowie des Bestandes, der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates oder sonstiger Träger von Hoheitsgewalt (3).473 Geschützt werden danach Individual- und Gemeinschaftsrechtsgüter. Die drei Teilelemente der öffentlichen Sicherheit überschneiden sich; denn die Rechtsordnung umfasst sowohl Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen als auch kollektive Rechtsgüter. Angesichts der „Verrechtlichung“ nahezu aller Lebensbereiche ist die Unversehrtheit der Rechtsordnung das dominierende Element im Rahmen der öffentlichen Sicherheit.474 (1) Die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung zielt auf die Wahrung des geltenden Rechts. 110 Umfasst ist von dem Schutzgut die gesamte Rechtsordnung.475 Ihre Einhaltung obliegt allerdings vorrangig den zuständigen (Fach-)Behörden im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereichs. Die Unversehrtheit der Rechtsordnung wird durch das allgemeine Gefahrenabwehrrecht nur ergänzend zu sichern versucht. Droht eine Verletzung geltenden Rechts und bestehen keine anderweitigen Abwehrbefugnisse, greift die polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel ein. Im Bereich des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts darf eine bevorstehende Rechts111 verletzung auf Grund der Generalklausel des Polizei- und Ordnungsrechts unterbunden werden. Der drohende Gesetzesverstoß stellt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar. Da es nicht um Strafverfolgung, sondern um Straftatenverhütung (Rn 15) geht, genügt für das behördliche Einschreiten die drohende (nicht gerechtfertigte) Verwirklichung des objektiven Tatbestandes;

_____

467 Dazu BVerfG-K NJW 2001, 2072; VGH BW VBlBW 2012, 61, 62. 468 Dazu BVerfG-K JZ 2001, 651, 652 (m Anm Enders) o JK GG Art 8/13; BVerfG-K NJW 2001, 2069, 2071; BVerfG-K NVwZ 2004, 90, 91 o JK 8/04 GG Art 8/16; BVerfGE 111, 147, 155 o JK BVerfGG § 32/8. 469 Näher zu den Schutzgütern der Generalklausel Schoch JURA 2003, 177 ff. 470 Vgl Fallbearbeitung Ladeur/Prelle JURA 2000, 138, 140. 471 VGH BW NVwZ 1994, 1233: selbstverantwortete Staatenlosigkeit kein polizeiwidriger Zustand. 472 § 2 Nr 2 PolG Bremen; § 3 Nr 1 SOG LSA; § 54 Nr 1 ThürOBG. 473 BVerfGE 69, 315, 352 oJK GG Art 8/2; BVerfG-K NJW 2001, 2072; LVerfG MV LKV 2000, 345, 350; VGH BW NVwZ 1994, 1233, 1234; OVG Bbg NVwZ 2003, 623 und NVwZ-RR 2004, 844 o JK 4/05 VersG § 15 I/5; Waechter NVwZ 1997, 729, 733; krit Erbel DVBl 2001, 1714, 1720. 474 Poscher/Rusteberg JuS 2011, 984, 985 u 986; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 17; Pieroth/Schlink/Kniesel § 8 Rn 7. 475 VGH BW NVwZ-RR 1990, 561, 562; Kugelmann 5/43; Pieroth/Schlink/Kniesel § 8 Rn 11; Schenke Rn 58; aA – Schutz nur des ör Teils der Rechtsordnung – Gusy Rn 81; Möller/Warg Rn 84; ebenso zu § 15 VersG BVerwGE 64, 55, 58 f oJK VersG § 15/1 und E 82, 34, 40.

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unerheblich ist, ob der für eine strafrechtliche Ahndung erforderliche subjektive Tatbestand erfüllt ist.476 Auch das Fehlen eines Antrags bei Antragsdelikten hindert das der Unversehrtheit der Rechtsordnung verpflichtete präventivpolizeiliche Einschreiten nicht.477 Beispiele aus der Praxis für die Verhinderung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten durch Einschreiten nach der Generalklausel sind das Verbot einer Theateraufführung wegen drohender strafbarer Handlungen nach § 166 StGB,478 die (damals noch nach der Generalklausel vorgenommene) Untersagung unerlaubter Glücksspiele (§ 284 StGB),479 die (seinerzeit ebenfalls nach der Generalklausel erfolgende) Anordnung von Aufenthaltsverboten480 gegen Drogenhändler der offenen Drogenszene wegen bevorstehender Verstöße gegen § 29 BtMG , 481 das Verbot eines rechtsextremistischen Konzerts wegen Volksverhetzung (§ 130 StGB) und Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB),482 das Einschreiten gegen sexuell aufreizende Werbung auf einem Fahrzeug als grob anstößige und belästigende Handlung iSd § 119 OWiG483 und die Verhängung von Meldeauflagen gegenüber Angehörigen der militanten Hooliganszene zwecks Verhinderung schwerer Straftaten (Landfriedensbruch, Körperverletzungen, Sachbeschädigungen) im Ausland.484 Immer geht es um den Schutz der Rechtsordnung, wenn objektiv eine rechtswidrige Gefährdung des durch einen bestimmten Straftatbestand geschützten Rechtsguts vorliegt. Ist das nicht der Fall, scheidet ein behördliches Einschreiten aus. Insbesondere bei Äußerungsdelikten kann das umstrittene Verhalten des Einzelnen von Grundrechten gedeckt sein, so dass entweder ein Straftatbestand nicht verwirklicht ist oder ein Rechtfertigungsgrund vorliegt. So stellte zB die satirische Darstellung des Papstes auf einem Plakat weder eine Beleidigung (§ 185 StGB) noch eine Beschimpfung des religiösen Bekenntnisses (§ 166 StGB) dar; die „Papstsatire“ war nach dem Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit (Art 5 I 1 GG) zulässig.485 Im Verwaltungsrecht beeinträchtigt ein Verstoß gegen Verhaltensnormen die öffentliche 112 Sicherheit. Maßnahmen nach der Generalklausel können den bevorstehenden Bruch einer Vorschrift des Öffentlichen Rechts abwenden.486 Jene Bestimmung muss ein Gebot oder Verbot enthalten, das durch ein Tun oder Unterlassen des Einzelnen verletzt werden kann.487 So unterliegt zB ein Ausländer, der in das Bundesgebiet einreist oder sich darin aufhält, der Passpflicht; 488 folglich stellt die Passlosigkeit eines Ausländers einen polizei- und ordnungswidrigen Zustand dar.489 Die Generalklausel fungiert als Eingriffsnorm bei (drohenden) Verletzungen von Ge- oder Verbotsvorschriften, die selbst keine Ermächtigung zum Einschreiten gegen den befürchteten Gesetzesverstoß enthalten (leges imperfectae, Rn 102). Die öffentliche Sicherheit ist auch bei der

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476 VG Karlsruhe NJW 1988, 1536 o JK GG Art 2 I/18; ebenso zu § 15 VersG BVerwGE 64, 55, 61 o JK VersG § 15/1. – Vgl auch BayVGH BayVBl 2008, 377, 378: zulässige präventiv-polizeiliche Sicherstellung eines Radarwarngeräts trotz Einstellung eines OWiG-Verfahrens. 477 Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 18; Kugelmann 5/43. 478 OVG RP NJW 1997, 1174; bestätigt durch BVerwG NJW 1999, 304. 479 NdsOVG NVwZ 2005, 1336; OVG LSA NVwZ-RR 2006, 470, 471; VG Frankfurt/M NJW 2008, 1096. – Zur heutigen spezialgesetzlichen Normierung des Glücksspielrechts Rn 359. 480 Zur heutigen Rechtslage (dh Aufenthaltsverbot als Standardmaßanhme) Rn 284 ff. 481 VGH BW NVwZ-RR 1997, 225 o JK Pol- u OrdR, Platzverweis/1; VGH BW NVwZ-RR 1998, 428; OVG Bremen NVwZ 1999, 314, 317; OVG NW NVwZ 2001,459; NVwZ-RR 2009, 516. 482 OVG Bremen BeckRS 2011, 56338 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/12. 483 OVG NW NJW 2009, 3179. 484 BVerwGE 129, 142 = NVwZ 2007, 1439 Tz 24, 40 ff; VGH BW NJW 2000, 3658, 3660 o JK Pol- u OrdR, Pol Generalklausel/5; BayVGH BayVBl 2007, 671; NdsOVG NVwZ-RR 2006, 613 ĺ JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/7. 485 BayVGH NJW 2011, 793 o JK GG Art 5 I 1/45. 486 VG Berlin NJW 1999, 2988. 487 VGH BW NVwZ 1994, 1233, 1234. 488 § 3 I AufenthG (Sartorius I Nr 565). 489 OVG NW NVwZ-RR 2004, 689 (im konkreten Fall aber mit zweifelhafter Begründung: Bejahung einer Ermessensüberschreitung bzgl der behördlichen Durchsetzung der Passpflicht).

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Missachtung untergesetzlichen Rechts (zB Rechtsverordnung, Satzung) beeinträchtigt. 490 Im Rahmen des Merkmals „öffentliche Sicherheit“ erfolgt die inzidente Prüfung der (drohenden) Verletzung der rezipierten Verhaltensnorm. Droht ihr keine Verletzung, liegt keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vor. So wird zB im (stillen) Betteln kein Verstoß gegen das Straßenrecht gesehen, weil eine unzulässige Sondernutzung nicht gegeben sei; folglich kann nicht wegen einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit gegen das Betteln eingeschritten werden.491 Im Sonn- und Feiertagsrecht ist umstritten, ob der Betrieb von Automatenvideotheken an Sonnund Feiertagen eine „öffentlich bemerkbare Arbeit“ darstellt, die die Feiertagsruhe iSd LandesFTG (Rn 102) zu beeinträchtigen geeignet ist und daher auf Grund der Generalklausel wegen Störung der öffentlichen Sicherheit untersagt werden kann.492 Die vorstehend erwähnten Beispiele weisen die gefahrenabwehrrechtlich relevante Verletzung der Rechtsordnung dadurch aus, dass der Verstoß unmittelbar gegen die materielle Geoder Verbotsnorm des Verwaltungsrechts droht bzw bereits eingetreten ist. Beruht das an sich rechtswidrige Verhalten auf einer behördlichen Erlaubnis (Genehmigung, Zulassung etc), liegt angesichts der Legalisierungswirkung des Verwaltungsakts iSd Generalklausel keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vor.493 Folglich kann nach allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht nicht eingeschritten werden, solange der Verwaltungsakt von der zuständigen (Fach-)Behörde nicht gemäß § 48 VwVfG zurückgenommen worden ist. 113 Als Teil der objektiven Rechtsordnung sind Grundrechte an sich Schutzelement der öffentlichen Sicherheit.494 Schutzgut der öffentlichen Sicherheit ist jedoch nicht die Rechtsordnung als solche, sondern ihre Unverletzlichkeit (Rn 109).495 Daher muss an ein Verhalten angeknüpft werden können, das zu einer Grundrechtsverletzung führen kann. Verhaltenspflichten für Einzelne bestehen nach Maßgabe der Grundrechte jedoch nicht; verpflichtet ist die Staatsgewalt (Art 1 III GG). 496 Folglich scheidet ein Verstoß gegen Grundrechtsbestimmungen durch individuelles menschliches Verhalten aus. Bei Konflikten zwischen Bürgern kann es jedoch zu „Grundrechtskollisionen“ kommen, bei denen nach Maßgabe der Generalklausel eingeschritten werden kann. Rechtsdogmatischer Anknüpfungspunkt ist dann aber nicht die „Unverletzlichkeit der Rechtsordnung“, sondern der Schutz von Individualrechtsgütern (Rn 116).497 Teil der objektiven Rechtsordnung ist auch das EU-Recht; es wird daher vom Begriff der 114 öffentlichen Sicherheit erfasst.498 Am Beispiel der Warenverkehrsfreiheit (Art 34 AEUV) hat der EuGH die schutzrechtliche Dimension der Grundfreiheiten deutlich gemacht, woraus sich Konsequenzen für die Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Polizei- und Ordnungsrechts ergeben. Daher muss ein EU-Mitgliedstaat (bzw die zuständige Stelle) zB bei einer Behinderung von Agrarimporten durch Demonstranten auf der Grundlage seines Gefahrenabwehrrechts ein-

_____ 490 VGH BW NVwZ-RR 1992, 246: Verbot eines „wilden“ Zeltlagers wegen VO-Verstoßes; OVG NW NVwZ-RR 2012, 470, 471 f: Verstoß gegen das Verbot des Wegwerfens von Abfällen auf öffentliche Straßen in einer kommunalen Straßenordnung; gleichsinnig OVG NW GewArch 2012, 265 o JK OBG NW § 14/3. 491 VGH BW DVBl 1999, 333 o JK Pol- u OrdR/Straßen- u Wegerecht/1. – Zur Thematik auch Holzkämper NVwZ 1994, 146 ff. 492 Bejahend VGH BW NVwZ 2007, 1333 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/9; VGH BW NVwZ-RR 2008, 781; verneinend BayVGH NVwZ 2007, 1215; Möstl GewArch 2006, 9 ff – Materielle Unzulässigkeit (im Rahmen einer wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsklage) bejahend auch OLG Düsseldorf NJW 2008, 158; ferner ferner Hunberg GewArch 2008, 233 ff; OLG Stuttgart NJW 2008, 159. 493 Gusy Rn 88; Pieroth/Schlink/Kniesel § 8 Rn 13 f. 494 Möller/Warg Rn 80, 89; Schenke Rn 59a; relativierend Pieroth/Schlink/Kniessel § 8 Rn 17. 495 Aubel DV 37 (2004) 229, 233. 496 Eine Ausnahme (dh unmittelbare grundrechtliche Drittwirkung) stellt Art 9 III GG dar. Zu Besonderheiten bei Art 1 I GG (unmittelbare Drittwirkung) Aubel DV 37 (2004) 229, 236 ff. Zur Grundrechtsbindung einer von der öffentlichen Hand dominierten AG, die öffentliche Aufgaben wahrnimmt oben Fn 111. 497 VGH BW NJW 2011, 2532 o JK GG Art 2 I/57. 498 Lindner JuS 2005, 302, 306.

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schreiten.499 EU-Recht konkretisiert demgemäß nicht nur den Tatbestand der Generalklausel („öffentliche Sicherheit“), sondern wirkt zudem ermessensreduzierend auf das innerstaatliche Gefahrenabwehrrecht ein (vgl Rn 163). Bestimmungen des Privatrechts sind ebenfalls als Teil der Rechtsordnung Schutzelement 115 der öffentlichen Sicherheit.500 Insoweit liegt eine Überschneidung mit dem Schutz individueller Rechte und Rechtsgüter vor.501 Die Zuordnung zu jenem Komplex (Rn 116) verdeutlicht besser die nur subsidiäre Anwendbarkeit der Generalklausel beim Schutz des Privatrechts. (2) Die Unverletzlichkeit individueller Rechte und Rechtsgüter im Rahmen der „öffent- 116 lichen Sicherheit“ ist im positiven Recht ausdrücklich verankert; die zuständigen Behörden haben nach der Generalklausel Gefahren nicht nur von der Allgemeinheit, sondern auch von dem Einzelnen abzuwehren.502 Schutz und Durchsetzung privater Rechte und Rechtsgüter obliegen nach der geltenden Zuständigkeitsordnung allerdings in erster Linie den Zivilgerichten (nebst Vollstreckungsorganen); die Generalklausel kommt nur subsidiär zur Anwendung (Rn 117). Diese Restriktion gilt von vornherein nicht, wenn vor Gericht ein Schutz nicht gefunden werden kann, zB bei der Bedrohung individueller Rechtsgüter durch Naturereignisse 503 oder in manchen Fällen unfreiwilliger Obdachlosigkeit,504 ferner bei der Straftatenverhütung, wenn potentielle Opfer unbekannt sind. 505 Restriktionen beim behördlichen Schutz individueller Rechte und Rechtsgüter bestehen auch in den Fällen der Selbstgefährdung. Insoweit geht es um die Entscheidung darüber, ob eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorliegt oder ob der Betreffende Gebrauch von seinen Grundrechten macht (Rn 121). Der Schutz privater Rechte (und individueller Rechtsgüter) obliegt den Gefahrenabwehr- 117 behörden nur, wenn gerichtlicher Schutz nicht rechtzeitig zu erlangen ist und wenn ohne behördliche Hilfe die Verwirklichung des Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert wird; 506 zT wird auch ein Antrag des Berechtigten verlangt.507 Nach dieser Subsidiaritätsklausel muss das zu schützende private Recht tatsächlich bestehen. Zumindest muss der um Hilfe Nachsuchende glaubhaft machen, Inhaber eines solchen Rechts zu sein; die Gefahrenabwehrbehörde muss ggf eine Plausibiltätsprüfung vornehmen.508 „Private Rechte“ sind, da einem Privatrechtssubjekt zugeordnet, auch solche Rechte, die (zusätzlich zur Zivilrechtsordnung) dem Grund-

_____

499 EuGH Slg 1997, I-6959 = DVBl 1998, 228 (m Bespr Szczekalla 219) o JK EGV Art 30/2; dem Grunde nach bestätigend EuGH Slg 2003, I-5659 = EuZW 2003, 592 (m Anm B. Koch) = BayVBl 2003, 621 (m Anm Lindner) o JK EGV Art 28/3. – Aus dem Blickwinkel des Art 11 EMRK Autobahnblockaden von Lkw-Fahrern missbilligend EGMR NVwZ 2010, 1139. 500 Möller/Warg Rn 90; Pieroth/Schlink/Kniesel § 8 Rn 16; aA Gusy Rn 81. 501 Restriktiv Waechter NVwZ 1997, 729, 736: Rechtsgüterschutz jenseits geschriebener Verhaltensnormen als Ausnahme (zB bei Naturgefahren). 502 Vgl Nachw Fn 391. 503 Pieroth/Schlink/Kniesel § 5 Rn 45. 504 VGH BW NJW 1993, 1027; NVwZ 1993, 1220; NVwZ-RR 1996, 439; DVBl 1996, 567; BayVGH NVwZ-RR 2002, 575; OVG Bremen DÖV 1994, 221, 222 o JK GG Art 11/1; NdsOVG NVwZ 1992, 502, 503. 505 SächsOVG SächsVBl 2000, 170: Verbot des Tragens von Springerstiefeln mit Stahlkappen und des Mitführens von Messern (etc) gegenüber einem wiederholt straffällig gewordenen (Körperverletzungsdelikte) Jugendlichen. 506 § 2 II PolG BW; Art 2 II BayPAG; § 1 IV ASOG Bln; § 1 II BbgPolG; § 1 II PolG Bremen; § 3 III HbgSOG; § 1 III HessSOG; § 1 III SOG MV; § 1 III NdsSOG; § 1 II PolG NW; § 1 III POG RP; § 1 III PolG SL; § 2 II SächsPolG; § 1 II SOG LSA; § 162 II LVwG SH; § 2 II ThürPAG, § 2 II ThürOBG; § 1 IV BPolG. – Die Subsidiaritätsklausel des § 1 II PolG NW entsprechend auf das OBG NW anwendend VG Minden NJW 2006, 1450, 1451. Generell für die Analogie Pieroth/Schlink/ Kniesel § 5 Rn 42, da die Ordnungsbehörden gegenüber den (Zivil-)Gerichten nicht mehr Rechte haben könnten als die Polizei. 507 Baden-Württemberg, Sachsen; generell Gusy Rn 94; Pieroth/Schlink/Kniesel § 5 Rn 47; Thiel Rn 101. 508 NdsOVG NdsVBl 2009, 23 (am Bspl eines kurzzeitigen Mietvertrags für ein Schützenhaus zur Durchführung einer rechtsextremistischen Veranstaltung).

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rechtsschutz unterliegen.509 Relevante Beispiele hierfür sind die körperliche Unversehrtheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht.510 Zum Schutz seiner privaten Rechte kann der Einzelne grundsätzlich auf den zivilgerichtlichen Rechtsschutz verwiesen werden. Im Regelfall ist dieser Rechtsschutz effektiv.511 Daher darf die Behörde der Forderung eines Grundstückseigentümers auf ordnungsbehördliches Einschreiten gegenüber einem Grundstücksnachbarn durch Anordnung des Fällens eines Baumes unter Hinweis auf die Möglichkeit zivilgerichtlichen Rechtsschutzes entgegentreten; es handelt sich um einen ausschließlich privatrechtlichen Nachbarrechtsstreit (§§ 906 ff, 1004 BGB; NachbG des Landes).512 Die Subsidiaritätsklausel gilt nicht nur bei Gefahrenabwehrmaßnahmen nach der Generalermächtigung, sondern auch bei Standardmaßnahmen (zB Sicherstellung bzw Beschlagnahme).513 Der Subsidiaritätsgrundsatz greift von vornherein nur bei ausschließlich privatrechtswid118 rigen Gefährdungslagen ein.514 Sind private Rechte und Rechtsgüter bedroht, die zugleich durch Vorschriften des Öffentlichen Rechts geschützt sind, ist die öffentliche Sicherheit unter dem Aspekt „Unverletzlichkeit der Rechtsordnung“ (Rn 110 ff) gefährdet und die Gefahrenabwehrbehörden dürfen einschreiten.515 In rein privatrechtlichen Konstellationen kann das polizeiliche bzw ordnungsbehördliche Einschreiten nach Maßgabe der Subsidiaritätsklausel (Rn 117) vor allem unter zeitlichen Aspekten in Betracht kommen, dh wenn das Beschreiten des Zivilrechtsweg im konkreten Fall als ineffektiv qualifiziert werden muss.516 In privatrechtlichen Fallgestaltungen soll das behördliche Einschreiten nach der Generalklausel auch zulässig sein, wenn individuelle Rechte oder Rechtsgüter einer unbestimmten Vielzahl von Personen bedroht werden.517 Insoweit lässt sich die hM indes vornehmlich von Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten leiten. Für die Wahrnehmung von Aufgaben der Gefahrenabwehr ist gesetzlich vereinzelt ein 119 „öffentliches Interesse“ gefordert.518 Unabhängig vom positiven Recht soll diese Voraussetzung beim Schutz privater Rechte und Rechtsgüter (ungeschrieben) immer zu beachten sein. Das öffentliche Interesse sei vom privaten Interesse zu scheiden und liege vor, wenn der Einzelne quasi als Repräsentant der Allgemeinheit in seinen Rechten gefährdet sei.519 Es ist jedoch zweifelhaft, ob zusätzlich ein „öffentliches Interesse“ vorliegen muss, wenn eine Gefahr für die „öffentliche“ Sicherheit abgewehrt werden soll. Da dieses Schutzgut eben auch Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen umfasst (Rn 116), ist das öffentliche Interesse an der behördlichen Gefahrenabwehr, falls die Eingriffsvoraussetzungen vorliegen, per se gegeben.520 Die Praxis

_____ 509 Pieroth/Schlink/Kniesel § 5 Rn 43. 510 VGH BW NVwZ-RR 1995, 527, 528; NVwZ 2000, 1292, 1293; VGH BW VBlBW 2011, 23, 25 o JK Pol- u OrdR Generalklausel/11; VGH BW VBlBW 2011, 425, 426 o JK Pol- u OrdR Generalklausel/12; VGH BW NJW 2011, 2532 o JK GG Art 2 I/57. 511 VGH BW NJW 2011, 2532, 2533 o JK GG Art 2 I/57. 512 VG Minden NJW 2006, 1450, 1451. 513 VGH BW NVwZ-RR 1995, 527, 528; NVwZ 2001, 1292, 1294. 514 VGH BW NJW 2011, 2532, 2534 o JK GG Art 2 I/57; Kugelmann 5/70; Pieroth/Schlink/Kniesel § 5 Rn 43. 515 ZB bei Störung des privaten Hausrechts wegen § 123 StGB (vgl zur Räumung widerrechtlich besetzter Häuser Benighaus LKV 2009, 202), bei Verletzung der gesetzlichen Unterhaltspflicht wegen § 170 StGB; Pünder NordÖR 2005, 292; zum Fall einer Nötigung (§ 240 StGB) OVG SL NJW 1994, 878, 879 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/2. 516 Vgl OVG RP NJW 1988, 929: nachts auf Privatgrundstück „zugeparkter“ Pkw; dazu Kugelmann 5/75. 517 VGH BW NJW 2011, 2532, 2534 o JK GG Art 2 I/57; (am Beispiel der behördlichen Untersagung einer „Gehsteigberatung“ von Frauen vor einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle); Möller/Warg Rn 82; Schenke Rn 56. 518 § 1 I 1 PolG BW; § 1 I 1 SächsPolG. 519 VG Minden NJW 2006, 1450, 1451; Beljin/Micker JuS 2003, 556, 558; Gusy Rn 81; Möller/Warg Rn 82; Schenke Rn 56; Thiel Rn 151. 520 Götz § 4 Rn 19; Pieroth/Schlink/Kniesel § 5 Rn 15; Würtenberger/Heckmann Rn 426; Wehr Rn 41; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 30.

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zeigt, dass das öffentliche Interesse und die Subsidaritätsklausel nur zwei Seiten derselben Medaille beschreiben.521 Die Subsidiaritätsklausel (Rn 117) normiert lediglich, unter welchen Voraussetzungen die 120 Gefahrenabwehrbehörden zum Schutz privater Rechte tätig werden dürfen. Eine bestimmte Rechtsfolge ist mit der behördlichen Befugnis nicht verknüpft. Gleichwohl sollen nach hM nur vorläufig wirkende Maßnahmen zulässig sein.522 In ihrer Ausschließlichkeit ist eine solche Restriktion nicht zutreffend. Die Abgrenzung der Aufgaben zwischen Gefahrenabwehrbehörde und (Zivil-)Gericht nach Maßgabe der Subsidiaritätsklausel darf nicht zu Lasten eines wirksamen Rechts(güter)schutzes gehen. Deshalb ist die Festlegung auf eine lediglich vorläufige behördliche Sicherung der privaten Rechte nur ein Grundsatz.523 Endgültige Maßnahmen sind nicht ausgeschlossen, wenn die zu schützende Privatperson andernfalls nicht oder nicht in zumutbarer Zeit zu ihrem Recht kommt.524 Grundsätzlich nicht tangiert ist die öffentliche Sicherheit bei rechtlich zulässiger Selbst- 121 gefährdung des Einzelnen. Das von Art 2 I GG geschützte Selbstbestimmungsrecht schließt die Befugnis des Individuums ein, selbst darüber zu befinden, welchen Gefahren (zB durch bestimmte Sportarten, Alkoholgenuss, Rauchen) es sich aussetzen will.525 Was grundrechtlich geschützt ist, kann nicht zugleich eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen. Voraussetzung für den Vorrang des Selbstbestimmungsrechts ist allerdings, dass Dritte und die Allgemeinheit nicht mitgefährdet werden 526 und dass die Selbstgefährdung auf einer freien Willensentschließung beruht und der Betreffende die Tragweite seines Tuns abzusehen vermag.527 Etwas anderes gilt, wenn die Freiheit zur Selbstgefährdung spezialgesetzlich eingeschränkt ist.528 Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit wird bei drohender Selbsttötung angenom- 122 men.529 Normativ wird auf die staatliche Schutzpflicht nach Art 2 II GG und das durch § 323c StGB sanktionierte Gebot zur Hilfeleistung hingewiesen; faktisch ist oftmals zweifelhaft, ob der Betreffende in freier Willensbestimmung handelt oder sich in einer verzweifelten Lage, einem psychischen Ausnahmezustand befindet.530 Die Unterbindung einer entdeckten versuchten Selbsttötung stellt rechtmäßiges polizeiliches Handeln dar. Potentielle Selbstmörder dürfen sogar zu ihrem eigenen Schutz in Gewahrsam genommen werden.531

_____

521 Vgl dazu VGH BW NJW 2011, 2532, 2533 f o JK GG Art 2 I/57. 522 Poscher/Rusteberg JuS 2011, 984, 985; Gusy Rn 95; Kugelmann 5/68; mit der Einschränkung „in der Regel“ Pieroth/Schlink/Kniesel § 5 Rn 48; Thiel Rn 101; Wehr Rn 47; zutr dagegen Schenke Rn 54. 523 Vgl zB OLG Düsseldorf NJW 1990, 998: Feststellung der Personalien zur Sicherung privater Rechtsansprüche. 524 Vgl zB OVG RP NJW 1988, 929: Einschreiten der Polizei nachts um 4 Uhr gegen rechtswidrig auf Privatgrund geparktes Kfz zur Ermöglichung des Wegfahrens des Berechtigten. 525 BVerfG-K NJW 2012, 1062 Tz 17 o JK GG Art 2 I/58; BVerwGE 82, 45, 48; ausf Gampp/Hebeler BayVBl 2004, 257 ff. – Zur freiwillig gewählten Obdachlosigkeit Ruder NVwZ 2001, 1223, 1224; ders NVwZ 2012, 1283, 1284. – Die Selbstgefährdung auf Art 2 II 1 GG stützend Pieroth/Schlink/Kniesel § 8 Rn 27. 526 VGH BW NJW 1998, 2235, 2236 o JK WG BW § 42 II/1: „ausschließliche Selbstgefährdung“, abgelehnt beim Sporttauchen an besonders gefährlichen Stellen eines Sees, wenn immer mindestens zwei Personen zusammen tauchen. 527 Kugelmann 5/62; Pieroth/Schlink/Kniesel § 8 Rn 29; Thiel Rn 173 ff; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 31. 528 BVerfGE 59, 275 o JK GG Art 2 I/5: Schutzhelmtragepflicht für Kraftradfahrer; BVerfGE 90, 145 o JK GG Art 2 I/26: kein „Recht auf Rausch“ (Strafdrohung beim unerlaubten Umgang mit Cannabisprodukten). 529 Aus der Rspr: BVerfG-K NJW 1987, 2288; BayVerfGH NJW 1989, 1790; BayObLG DÖV 1989, 273; VG Karlsruhe NJW 1988, 1536 = JZ 1988, 208 (m Bespr Herzberg S 182) o JK GG Art 2 I/18; ferner zB Schenke Rn 57; weniger streng Gusy Rn 86. – Zur Ablehnung eines Rechts auf aktive Sterbehilfe nach der EMRK vgl EGMR NJW 2002, 2851; dazu Heymann JuS 2002, 957; vgl ferner EGMR EuGRZ 2012, 616. 530 Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 32. 531 § 28 I Nr 2 PolG BW; Art 17 I Nr 1 BayPAG; § 30 I Nr 1 ASOG Bln; § 17 I Nr 1 BbgPolG; § 15 I 1 Nr 1 PolG Bremen; § 13 I Nr 1 HbgSOG; § 32 I Nr 1 HessSOG; § 55 I Nr 1 SOG MV; § 18 I Nr 1 NdsSOG; § 35 I Nr 1 PolG NW; § 14 I Nr 1 POG RP; § 13 I Nr 1 PolG SL; § 22 I Nr 2 SächsPolG; § 37 I Nr 1 SOG LSA; § 204 I Nr 1 LVwG SH; § 19 I Nr 1 ThürPAG; § 39 I Nr 1 BPolG.

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(3) Der Bestand des Staates und seiner Einrichtungen sowie die Funktionsfähigkeit des Staates zählen zu den anerkannten Schutzelementen der öffentlichen Sicherheit.532 Das BVerfG hat keine verfassungsrechtlichen Einwände, vom Schutzgut der öffentlichen Sicherheit rechtmäßige Veranstaltungen des Staates umfasst zu sehen.533 Geschützt sind die Träger von Hoheitsgewalt einschließlich ihrer Organe und Behörden sowie die ihnen zugeordneten Einrichtungen (Dienstgebäude, Theater, Museen etc) und von ihnen durchgeführten Veranstaltungen (zB Staatsempfänge, Manöver, Paraden, Ausstellungen) gegen äußere Störungen und Beeinträchtigungen jedweder Art. Eine eigenständige Bedeutung kommt diesem Aspekt der öffentlichen Sicherheit gleichwohl kaum zu. Die Rechtsordnung (Rn 110 ff) sichert insbesondere durch das politische Strafrecht (§§ 80 ff StGB) und weitere einschlägige Strafbestimmungen (zB §§ 123, 240, 316b ff StGB) umfassend den Staat und seine Untergliederungen.534 Eigene Befugnisse „bedrohter“ Hoheitsträger (zB Hausrecht, Ordnungs- und Polizeigewalt) und besondere Behörden des Staatsschutzes (Rn 60 ff) decken zudem den Schutz der öffentlichen Sicherheit ab. Praktische Fälle zur konstitutiven Wirkung des Schutzelements unabhängig von der geltenden Rechtsordnung lassen sich kaum mehr finden. 124 Soweit die Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit zugeordnet wird,535 kann ein gefahrenabwehrrechtlicher Schutz auch dort wirksam werden, wo Normverstöße nicht bestehen. So ist die Funktionsfähigkeit einer Obdachlosenunterkunft als öffentliche Einrichtung durch eine unbefugte Nutzung dadurch beeinträchtigt, dass die Einweisung eines Berechtigten verhindert wird.536 Die Warnung eines unbefugten Dritten vor einer Geschwindigkeitskontrolle der Polizei ist als Störung der Funktionsfähigkeit einer staatlichen Einrichtung zu werten, weil die Polizei ihre Aufgaben auf dem Gebiet der Verkehrsüberwachung nicht ordnungsgemäß durchführen kann.537 Wird ein betriebsbereites Radarwarngerät im Kfz mitgeführt,538 ist die öffentliche Sicherheit schon wegen Verstoßes gegen § 23 Ib StVO539 gefährdet; auf eine Beeinträchtigung der polizeilichen Verkehrskontrolle kommt es nicht an. Das Fotografieren (durch einen Pressefotografen) eines geplanten Zugriffs des Mobilen Einsatzkommandos der Polizei bei der Verfolgung eines seit Jahren gesuchten Mörders kann als Störung der Amtsführung der Polizei und damit als Gefährdung der Funktionsfähigkeit einer staatlichen Einrichtung erachtet werden.540 In den gewalttätigen Protesten gegen die Durchführung des G8Gipfels 2007 in Heiligendamm sah das BVerfG (im Rahmen des § 15 I VersG) die Bedrohung einer Veranstaltung des Staates und damit eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, gegen die polizeilich eingeschritten werden durfte.541

_____ 532 Vgl Rn 109; ferner Gusy Rn 82; Möller/Warg Rn 91; Schenke Rn 60; Thiel Rn 161 ff; krit Kugelmann 5/46 ff; Pieroth/Schlink/Kniesel § 8 Rn 34 ff (Ausnahme: Naturereignisse). 533 BVerfG-K NJW 2007, 2167 Tz 28 o JK GG Art 8/22. 534 Als erschöpfend erachtet von Waechter NVwZ 1997, 729, 736; Kugelmann 5/50. 535 Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 22; Gusy Rn 82; Schenke Rn 61; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/ Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 183; abl Waechter NVwZ 1997, 729, 736; krit auch Pieroth/Schlink/Kniesel § 8 Rn 41. 536 VGH BW NVwZ-RR 1992, 20, 21. 537 OVG NW NJW 1997, 1596 o JK PolG NW § 8 I/1; VG Hannover NdsVBl 2001, 228; VG Aachen NVwZ-RR 2003, 684; zustimmend Götz § 4 Rn 41; Möller/Warg Rn 92; Thiel Rn 164; abl, da die Warnung des Dritten (wie die Polizeikontrolle) zur Vermeidung von Rechtsverstößen beitrage, Schenke Rn 60; Pieroth/Schlink/Kniesel § 8 Rn 42; Gusy Rn 83; Wehr Rn 55; differenzierend Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 26. 538 Vgl dazu BayVGH BayVBl 2008, 377, 378. – Zur Sittenwidrigkeit des Kaufvertrags über ein Radarwarngerät vgl BGH NJW 2005, 1490 o JK BGB § 138/4. 539 Schönfelder Nr 35a. – Zu mobilen Navigationsgeräten als Radarwarngerät Hufnagel NJW 2008, 621 ff. 540 SächsOVG SächsVBl 2008, 89, 90 (m Bespr Petersen-Thrö 82); anders auf Grund der Umstände des konkreten Falles VGH BW VBlBW 2011, 23, 25 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/11 u BVerwG NJW 2012, 2676 o Pol- u OrdR Pol Generalklausel/14. 541 BVerfG-K NJW 2007, 2167 Tz 29 o JK GG Art 8/22.

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Keine Gefährdung des Bestandes und der Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrich- 125 tungen stellt, da grundrechtlich geschützt, unliebsame Kritik (Art 5 I 1 GG) dar, ebenso wenig eine friedliche Demonstration (Art 8 I GG) zB gegen staatliche Funktionsträger oder ausländische Staatsgäste. Auch in diesem Zusammenhang (vgl bereits Rn 111 aE) kann nicht als polizeirechtswidrig eingestuft werden, was durch Grundrechte geschützt ist.542 So hat das BVerfG in der erwähnten Entscheidung zum G8-Gipfel (Rn 124) die von Demonstranten vehement vorgetragene „Machtkritik“ nicht als Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit gewertet, auch wenn die an der Konferenz teilnehmenden Vertreter auswärtiger Staaten die Demonstrationen als „unfreundlichen Akt“ empfänden; „Empfindlichkeiten ausländischer Politiker“ änderten an der Wahrnehmung grundrechtlich geschützter Freiheiten nichts.543 Etwas anderes gilt nach Maßgabe der Rechtsordnung zB bei Beleidigungen von Organen und Vertretern ausländischer Staaten (§ 103 StGB).544 (4) Der Schutz „kollektiver Rechtsgüter“ 545 (als solcher) gehört nicht zu der anerkannten 126 bzw gesetzlich normierten Definition der öffentlichen Sicherheit und ist daher nicht Element der Generalklausel.546 „Rechts“güter müssen ihre Grundlage in der Rechtsordnung haben. Daher kann zB der Schutz der „Volksgesundheit“ ein behördliches Einschreiten nur rechtfertigen, soweit sie eine Ausprägung in der Rechtsordnung gefunden hat. Das ist im allgemeinen Polizeiund Ordnungsrecht – anders als beim Anschluss- und Benutzungszwang im Kommunalrecht547 – nicht der Fall. An Stelle unbestimmter Kollektivrechtsgüter sollte zur Gefahrenabwehr auf diejenigen Rechtsvorschriften zurückgegriffen werden, die das „Gut“ konstituieren und von einem Rechtsverstoß bedroht sind. bb) Öffentliche Ordnung iSd Gefahrenabwehrrechts ist nach hM die Gesamtheit der unge- 127 schriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird.548 Zu ergänzen ist, dass es sich nur um Regeln im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung handeln kann und dass es nur um das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit geht.549 Jene ungeschriebenen Regeln für ein geordnetes staatsbürgerliches Zusammenleben sind keine Rechtsnormen, sondern Sozialnormen. Ihnen wird eine faktische Verbindlichkeit kraft gesellschaftlicher Anerkennung attestiert, die durch Rezeption in der Generalklausel zur Rechtsverbindlichkeit mutiert und den Gefahrenabwehrbehörden zur Durchsetzung überantwortet ist.550 Die Gefahr einer Verquickung von Recht und Moral liegt auf der Hand.551

_____ 542 Pieroth/Schlink/Kniesel § 8 Rn 42; Schenke Rn 61. 543 BVerfG-K NJW 2007, 2167 Tz 28 o JK GG Art 8/22. 544 BVerwGE 64, 55 o JK VersG § 15/1; Gusy Rn 88. 545 BVerwG DVBl 1974, 297: öffentliche Wasserversorgung; VGH BW NVwZ 1988, 166: Natur und Landschaft; VG Gelsenkirchen ZfW 1988, 311: Reinheit des Wassers. 546 Waechter NVwZ 1997, 729, 735; Kugelmann 5/44; Pieroth/Schlink/Kniesel § 8 Rn 8; Thiel Rn 172; aA Erbel DVBl 2001, 1714, 1720; Knemeyer Rn 100; Möller/Warg Rn 82; Wolffgang/Hendricks/Merz Rn 59. 547 Dazu o Röhl 1. Kap Rn 166 ff. 548 BVerfGE 69, 315, 352 o JK GG Art 8/2; BVerfG-K NJW 2001, 651, 652 (m Anm Enders) o JK GG Art 8/13; BVerfG-K NJW 2001, 2072, 2073; BVerfG-K NVwZ 2004, 90, 91 o JK 8/04 GG Art 8/16; BayVGH BayVBl 2006, 185; OVG NW NJW 1994, 2909, 2910; DÖV 1995, 1004; DÖV 1996, 1052 o JK Pol- u OrdR, Pol Generalklausel/4; OVG RP DÖV 1994, 965; Hebeler JA 2002, 521; krit Erbel DVBl 2001, 1714, 1717. 549 § 3 Nr 2 SOG LSA; § 54 Nr 2 ThürOBG. 550 Erbel DVBl 2001, 1714, 1715; Hebeler JA 2002, 521, 522; Jestaedt JURA 2002, 552, 558; Kahl VerwArch 99 (2008), 451, 453; Poscher/Rusteberg JuS 2011, 984, 986; Gusy Rn 97. 551 Für eine Neuinterpretation der „öffentlichen Ordnung“ daher Götz FS Stober, 2008, 195, 204 f: Schutz der Freiheit von unzumutbaren Belästigungen und Behinderungen bei der Nutzung des öffentlichen Raums und Schutz des öffentlichen Friedens, nicht jedoch der Sittlichkeit und der verfassungsrechtlichen Wertordnung als solcher sowie einzelner Wertentscheidungen.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

Die Kritik an dem Schutzgut „öffentliche Ordnung“ im Polizei- und Ordnungsrecht ist alt.552 Verbindliche Normen könne im demokratischen Rechtsstaat nur der Gesetzgeber erlassen; wegen der Wandelbarkeit der Anschauungen sei der Begriff zu unbestimmt; die Mehrheit dürfe nicht als „Moralapostel“ oder „Sittenwächter“ ihre Sozialnormen den Minderheiten, die grundrechtlich geschützt seien, aufzwingen; der Inhalt der öffentlichen Ordnung sei empirisch kaum feststellbar.553 Außerdem wird – va unter Hinweis auf § 118 I OWiG (als Element der „öffentlichen Sicherheit“) – der öffentlichen Ordnung eine Lücken schließende praktische Bedeutung abgesprochen.554 Wo die „öffentliche Ordnung“ Bestandteil der Generalklausel ist,555 handelt es sich um gel129 tendes Recht.556 Der Gesetzgeber hat die Rezeption von Sozialnormen (Rn 127) angeordnet. Der Begriff hat sogar verfassungsrechtliche Qualität; 557 er findet sich ferner in Bestimmungen des besonderen Gefahrenabwehrrechts.558 Der Schutz der „öffentlichen Ordnung“ durch das Gefahrenabwehrrecht ist verfassungsrechtlich unbedenklich.559 Die Rechtsordnung weist der öffentlichen Ordnung eine offenbar unverzichtbare Reservefunktion zu, um auf unvorhersehbare und unerträgliche Störungen des sozialen Friedens reagieren zu können.560 Mit der Verrechtlichung nahezu aller Lebensbereiche hat die „öffentliche Ordnung“ im Poli130 zei- und Ordnungsrecht allerdings einen Bedeutungsschwund erlitten.561 Sitte, Anstand und Moral werden nur vereinzelt mit Hilfe der Generalklausel durchgesetzt; 562 überwiegend wird in „anrüchigem“ Verhalten kein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung erblickt.563 Freiwillige Obdachlosigkeit ist kein Ordnungsverstoß,564 ebenso wenig öffentliches Betteln.565 Teile der Verwaltungsrechtsprechung neigen dazu, in extremistischen politischen Verhaltensweisen mitunter einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung zu sehen.566 128

_____ 552 Vgl Hill DVBl 1985, 88, 91 ff. 553 Störmer DV 30 (1997) 233 f; Waechter NVwZ 1997, 729, 730 f; Finger DV 40 (2007), 105, 108 ff; Götz FS Stober, 2008, 195 ff; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 36; Götz § 5 Rn 10; Gusy Rn 99; Kugelmann 5/83 ff; Pieroth/ Schlink/Kniesel § 8 Rn 48 ff . 554 Störmer DV 30 (1997) 233, 256; Trute DV 32 (1999) 73, 78; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 186; Kugelmann 5/91 u 94; Pieroth/Schlink/Kniesel § 8 Rn 51. 555 Vgl Nachw Fn 391 u 392. 556 BVerfGE 54, 143, 144 f. 557 Vgl Art 13 VII, 35 II GG. 558 § 15 I VersG; §§ 47 I 2 Nr 1, 55 I u II Nr 8, 56 I 2, 58 I AufenthG; § 14 II Nr 1 VereinsG; §§ 56 II 1, 71a GewO; § 19 GaststG; §§ 5 II 1, 6 II 3, 20 II 2, 24 II, 29 I 1 LuftVG; §§ 5 IV 2, 12 I 1 LuftSiG; § 118 I OWiG; bzgl Straßenverkehr auch § 45 I 1 StVO. 559 BVerfGE 111, 147, 156 f (zu § 15 VersG) o JK BVerfGG § 32/8; Kahl VerwArch 99 (2008), 451, 454 f. 560 Erbel DVBl 2001, 1714, 1718; Fechner JuS 2003, 734, 735; Schenke Rn 65; Wehr Rn 57 ff; zum Öffentlichen Wirtschaftsrecht Voßkuhle FS R. Schmidt, 2006, 609 ff. 561 Überblick zu verbliebenen diskussionswürdigen Fallgruppen der „öffentlichen Ordnung“ bei Fechner JuS 2003, 734, 735 ff; ausf Baudewin Der Schutz der öffentlichen Ordnung im Versammlungsrecht, 2007, 69 ff (zum allg POR) sowie 182 ff, 236 ff, 277 ff (zum Versammlungsrecht). 562 BayVGH NVwZ 1984, 254 („Damen-Schlamm-Catch oben ohne“); HessVGH NJW 1984, 1368 (Modalitäten nicht verbotener Prostitution, zB in der Nähe einer Schule); OVG NW NJW 1997, 1180 o JK Pol- u OrdR, Pol Generalklausel/4 (aufdringliches nacktes Auftreten in der Öffentlichkeit). 563 ZB OVG NW NJW 1988, 787 o JK Pol- u OrdR, Gefahrenbegriff/5 (Verkauf von Kondomen aus Straßenautomat); VG Karlsruhe GewArch 1978, 163 und VG Gelsenkirchen GewArch 1978, 164 („Damen-Boxkämpfe oben ohne“); VGH BW VBlBW 2004, 378 und VG Dresden NVwZ-RR 2003, 848 (Veranstaltung von Paintball-Spielen), m Bespr Kramer NVwZ 2004, 1083; auch BVerwG DVBl 1974, 504 (Tanzveranstaltung während Staatstrauer nach Tod des Bundespräsidenten); legendär BVerwGE 1, 303 (zum Film „Die Sünderin“). 564 VGH BW DVBl 1983, 1070, 1072; Erichsen/Biermann JURA 1998, 371 f. 565 VGH BW DVBl 1999, 333, 334 o JK Pol- u OrdR/Straßen- u. Wegerecht/1 (zum „stillen“ Betteln); aA zum „aggressiven“ Betteln Holzkämper NVwZ 1994, 146, 149; krit dazu Finger DV 40 (2007), 105, 115 ff. – Zur PolVO Rn 378. 566 OVG NW NJW 1994, 2909 (Hissen der Reichskriegsflagge); krit Trute DV 32 (1999) 73, 78. – Zum Versammlungsrecht Rn 362.

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II. Materielles Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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Neuerdings sieht die Judikatur sogar in bestimmten Spielen der „Spaßgesellschaft“ eine 131 Verletzung der öffentlichen Ordnung. Signifikant ist insoweit die Entscheidung des BVerwG zum Verbot von Laserspielen mit simulierten (fiktiven) Tötungshandlungen.567 Ein derartiges gewerbliches Unterhaltungsspiel soll „wegen der ihm innewohnenden Tendenz zur Bejahung oder zumindest Bagatellisierung der Gewalt und wegen der möglichen Auswirkungen einer solchen Tendenz auf die allgemeinen Wertvorstellungen und das Verhalten in der Gesellschaft mit der verfassungsrechtlichen Menschenwürdegarantie unvereinbar“ sein und deshalb gegen die „öffentliche Ordnung“ verstoßen.568 Rechtlich haltbar sind diese Behauptungen gefahrenabwehrrechtlich 569 nicht.570 Methodisch ist der Rückgriff auf Art 1 I GG und seine Zuordnung zur „öffentlichen Ordnung“ angreifbar, weil Rechtsnormen und Sozialnormen (Rn 127) vermischt werden.571 Verfassungsrechtlich wird der normative Gehalt des Art 1 I GG verkannt und die Menschenwürde zur „kleinen Münze“ degradiert: Autonomes Handeln, das sich als Akt der Selbstbestimmung erweist und die Subjektqualität des Einzelnen gerade wahrt, kann – abgesehen vielleicht von schweren Tabubrüchen (zB verabredete Folter oder Verstümmelung, Eingehen eines sklavenähnlichen Abhängigkeitsverhältnisses) – Art 1 I GG (auch in seiner unverrückbaren objektivrechtlichen Dimension) nicht verletzen; 572 obwohl Art 1 I GG kein bestimmtes Menschenbild vorschreibt, funktioniert das BVerwG die grundrechtliche Schutznorm über die polizeirechtliche Generalklausel um und schreibt dem Grundrechtsträger in gewisser Weise menschenwürdiges Verhalten vor.573 Gefahrenabwehrrechtlich missachtet das BVerwG die normativen Vorgaben der „öffentlichen Ordnung“ (Rn 127) gleich dreifach: Das Gericht ignoriert die notwendige Tatsachenerforschung (Rn 132) zur Wirkung derartiger Spiele wie „Laserdrome“;574 das BVerwG übersieht, dass nur sozial relevantes Verhalten mit Öffentlichkeitsbezug, das also nach außen gegenüber der Allgemeinheit in Erscheinung tritt, die „öffentliche“ Ordnung zu beeinträchtigen vermag;575 selbst wenn die Bevölkerung – was jedoch gar nicht zutrifft – mit dem inkriminierten Spiel konfrontiert würde, müsste seine Untersagung „unerlässliche“ Voraussetzung für ein geordnetes menschliches Zusammenleben sein, wovon offensichtlich keine Rede sein kann.576 Letztlich haben die Richter des BVerwG in der „Laserdrome“Entscheidung ihre persönlichen Moral- und Wertvorstellungen anhand bloßer Vermutungen zu den Wirkungen eines (uU infantilen oder geschmacklosen) Spiels zur Geltung gebracht.577 Dies schadet der „öffentlichen Ordnung“ und liefert ihren Kritikern (Rn 128) zusätzliche Argumente.

_____

567 BVerwGE 115, 189 o JK OBG NW § 14/2; dazu krit Bespr Aubel JURA 2004, 255. 568 So BVerwGE 115, 189, 200; bekräftigend BVerwG GewArch 2007, 247, 248; ähnlich zuvor OVG NW NWVBl 1995, 473, 474 und NWVBl 2001, 94, 95; OVG RP NVwZ-RR 1995, 1994, 30. 569 Europarechtlich ist die Untersagung des Laserspiels mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar, wenn zum Schutz der öffentlichen Ordnung wegen der Verletzung der Menschenwürde eingeschritten wird; EuGH Slg 2004, I-9609 = EuZW 2004, 753 (m krit Anm Bröhmer) o JK EGV Art 49/13; dazu Bespr Jestaedt JURA 2006, 127; ferner Frenz NVwZ 2005, 48. 570 Zutr bereits BayVGH NVwZ-RR 1995, 32; vgl auch Beaucamp/Kroll JURA 1996, 13; Scheidler JURA 2009, 575, 577 f. 571 Aubel JURA 2004, 255, 258; Beaucamp DVBl 2005, 1174, 1178 f. 572 Aubel DV 37 (2004) 229, 243 f; Köhne GewArch 2004, 285, 287; Scheidler GewArch 2005, 312, 316; Beaucamp DVBl 2005, 1174, 1178; widersprüchlich Kramer/Strube ThürVBl 2003, 265, 268. 573 Aubel JURA 2004, 255, 259; allg zu dieser Tendenz in der Rspr des BVerwG H. Dreier FG 50 Jahre BVerwG, 2003, 201, 219 f. 574 Zur Unverzichtbarkeit gesicherter empirischer Erkenntnisse für die rechtliche Beurteilung derartiger Spiele VGH BW VBlBW 2004, 378, 379 f. 575 Thiel Rn 184 f. – Am Bspl des § 4 I GaststG BayVGH NVwZ 2002, 1393 und VG Berlin NJW 2001, 983, 984; ebenso das BVerwG selbst, DVBl 2003, 741, 742. 576 Gröpl/Brandt VerwArch 95 (2004) 223, 241. 577 Selbst wenn es sich dabei um mehrheitliche Anschauungen handeln sollte, kann es im Gefahrenabwehrrecht „nicht darum gehen, einer Minderheit die Moralanschauungen der Mehrheit aufzuzwingen“, so BayVGH NVwZ 2002, 1393 (am Bspl des § 4 I GaststG); ähnlich Scheidler GewArch 2005, 312, 316; Beaucamp DVBl 2005, 1174, 1178.

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Die „öffentliche Ordnung“ hat im Gefahrenabwehrrecht ihre Daseinsberechtigung, wenn ihre Anwendung restriktiv gehandhabt wird. Die Reservefunktion des Schutzguts (Rn 129) erlaubt – negativ – die Abwehr von Störungen unverzichtbarer Verhaltensregeln im menschlichen Miteinander, sie taugt aber nicht – positiv – zur Herstellung einer (zB von Bundesrichtern gewünschten) „guten Ordnung“.578 Grundrechtlich erlaubtes Verhalten, das insbesondere Minderheiten schützt, darf nicht über die Generalklausel unterbunden werden. Schwierig bleibt die Ermittlung der öffentlichen Ordnung im konkreten Fall. Angezeigt sind Methoden der empirischen Sozialforschung.579 Keinesfalls dürfen Behörden und Gerichte eigene Anschauungen der handelnden Personen als verbindliche Sozialnormen ausgeben. Maßgebend sind objektive Indikatoren (Medien, Demoskopie, Behördenpraxis, Rechtsprechung, Äußerungen von Fachleuten etc), um den Inhalt der „öffentlichen Ordnung“ zu konkretisieren.580 Unhaltbar ist der in der Rechtsprechung zunehmend eingeschlagene Weg, die öffentliche Ordnung unter Rückgriff auf „Prinzipien“ und „Werte“ der Verfassung konkretisieren zu wollen.581 Gesellschaftliche Sozialnormen, die die öffentliche Ordnung konstituieren (Rn 127), verlangen eine Tatsachenermittlung; außerdem müsste der Rückgriff auf die Verfassung präzise sein mit der Folge, dass die Heranziehung einer Verfassungsbestimmung das Merkmal „öffentliche Sicherheit“ erfüllt.582

c) Gefahrenlage 133 Maßnahmen nach der Generalklausel setzen voraus, dass einem Schutzgut eine Gefahr droht.583 Der „Gefahr“begriff erfüllt eine freiheitssichernde Funktion; er markiert die Eingriffsschwelle für die Gefahrenabwehrbehörden und dient der Legitimation hoheitlicher Grundrechtsbeeinträchtigungen.584 „Gefahr“ iSd Polizei- und Ordnungsrechts ist – im Anschluss an gesetzliche Begriffsbestimmungen585 – eine Sachlage, in der bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden für eines der Schutzgüter (öffentliche Sicherheit bzw Ordnung) eintreten wird.586 Erfasst ist die konkrete, dh in einem einzelnen Falle bestehende Gefahr. 587 Unbrauchbar für das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht ist ein vom BVerfG ohne gesetzlichen Anhaltspunkt frei erfundener Gefahrenbegriff. Danach ist eine konkrete Gefahr „eine Sachlage, bei der im Einzelfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ohne Eingreifen des Staates ein Schaden für die Schutzgüter der Norm durch bestimmte Personen verursacht wird“; drei Kriterien seien bestimmend: (1) der Einzelfall, (2) die zeitliche Nähe des Umschlagens einer Gefahr in einen Schaden und (3) der Bezug auf individuelle Personen als Verursacher.588 Zum zweiten Element ist aus

_____ 578 Finger DV 40 (2007), 105, 111; ausf Möstl Sicherheit, 136 ff. 579 Instruktiv dazu Kahl VerwArch 99 (2008), 451, 462 ff. 580 Anschaulich aus der Praxis VG Berlin NJW 2001, 983, 987 f. 581 So aber die in Fn 568 zit Entscheidungen; ferner VG Dresden NVwZ-RR 2003, 848, 850; Hill DVBl 1985, 88, 94 ff. – Zur Parallelproblematik beim Gesetzesmerkmal „gute Sitten“ zwischen Normativität und Faktizität H. Dreier GS Mayer-Maly, 2011, 141 ff. 582 Störmer DV 30 (1997) 233, 245 f; Erbel DVBl 2001, 1714, 1719; Hebeler JA 2002, 521, 526. 583 Näher dazu Schoch JURA 2003, 472 ff. 584 Kugelmann DÖV 2003, 781, 782; ders 5/95 ff. 585 Legaldefinitionen: § 2 Nr 3a PolG Bremen; § 2 Nr 1a NdsSOG; § 3 Nr 3a SOG LSA; § 54 Nr 3a ThürOBG. 586 BVerwGE 45, 51, 57; E 116, 347, 351 o JK Pol- u OrdR Gefahrenbegriff/6; VGH BW VBlBW 2011, 23, 24 o JK Polu OrdR Pol Generalklausel/11; BayVGH NJW 2008, 1549 f; BayVBl 2012, 375; OVG Hamburg NVwZ-RR 2009, 878, 880; OVG NW GewArch 2012, 265 o JK OBG NW § 14/3; OVG RP NVwZ 1992, 499 o JK Pol- u OrdR Gefahrenabwehr/ 1; SächsOVG SächsVBl 2008, 89, 90; Erichsen/Wernsmann JURA 1995, 219, 220; Röhrig DVBl 2000, 1658, 1660; Scheidler BayVBl 2004, 715, 717; Poscher/Rusteberg JuS 2011, 984, 986 f. 587 Zur abstrakten Gefahr bei der PolVO Rn 377. 588 BVerfGE 120, 274, 328 f; E 125, 260, 330 o JK GG Art 10 I/5.

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der Sicht des Gefahrenabwehrrechts fehlerhaft, dass auf ein „Eingreifen des Staates“ abgestellt wird; der Schadenseintritt droht auch dann nicht, wenn ein Dritter die bevorstehende Schutzgutverletzung abwendet. Das Postulieren des dritten Elements ist doppelt falsch; der Begriff der Gefahr wird unzulässigerweise vermischt mit der Frage der Verantwortlichkeit für den Gefahrenzustand (dazu Rn 167 ff), und Gefahrenlagen ohne menschliches Zutun (zB Naturereignisse) werden zu Unrecht aus dem Gefahrbegriff eliminiert. Die Kritik an der verfehlten Definition des BVerfG ist einhellig.589 Die Beeinträchtigung eines Schutzguts ist als Schaden iSd Gefahrenabwehrrechts zu qualifizieren, wenn es zu einer objektiven Minderung des vorhandenen Bestandes an geschützten Gütern kommt.590 Keinen Schaden stellt nach allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht die bloße Belästigung dar; sie führt zu bloßen Unbequemlichkeiten, die nur eine geringe Intensität der Beeinträchtigung von Schutzgütern aufweisen.591 Belästigungen können nach allgemeinem Gefahrenabwehrrecht nicht verhindert werden.592 Die notwendige Intensität zur Bejahung eines (drohenden) Schadens kann nur durch eine Würdigung der Umstände des konkreten Falles ermittelt werden. aa) „Störung“ ist die bereits realisierte Gefahr. Abwehrmaßnahmen nach der Generalklausel sind auch bei einer schon eingetretenen Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zulässig. Zum Teil ist dies gesetzlich geregelt.593 Die Befugnis zur Störungsbeseitigung ist jedoch auch ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung zulässig.594 Denn „Störung“ ist eine in Zukunft fortbestehende „Gefahr“, wird demnach vom Gefahrbegriff ohne Weiteres umfasst.595 Abwehrmaßnahmen zielen darauf, eingetretene Störungen zu unterbinden und zu beseitigen. Ist eine Wiederherstellung des polizei- bzw ordnungsrechtskonformen Zustands nicht möglich, bleiben nur repressive Maßnahmen. Da die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung mittlerweile das bedeutsamste Element des Schutzguts „öffentliche Sicherheit“ ist (Rn 109), liegt der „Schaden“ iSd Gefahrbegriffs (Rn 133) zumeist in einer Rechtsverletzung. Ist das der Fall, bedarf es nicht der ansonsten anzustellenden Prognose zum künftigen Schadenseintritt (Rn 137 ff); die Bejahung der „Gefahr“ hängt allein von der zutreffenden Diagnose des Normverstoßes ab.596 Liegt er vor, ist bereits eine „Störung“ eingetreten. bb) In den anderen Konstellationen ist zur Feststellung der realen Gefahr eine Prognose zur hinreichenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu treffen. Gefordert ist eine Vorhersage zum künftigen hypothetischen Geschehensablauf, falls es nicht zu Abwehrmaßnahmen kommt. Grundlage der Schadensprognose sind gesicherte tatsächliche Anhaltspunkte.597 Daher greift die einseitige Betonung des prognostischen Elements im Gefahrbegriff zu kurz. Zunächst

_____ 589 Möstl DVBl 2010, 808, 809 f; Darnstädt DVBl 2011, 263; Schoch in: Resilienz in der offenen Gesellschaft (Fn 62), 68. 590 Gusy Rn 104 ff; Kugelmann 5/104; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 40. 591 Näher zur Abgrenzung zwischen „Schaden“ und „Belästigung“ Pils DÖV 2008, 941, 945. 592 Bspl: VGH BW NVwZ-RR 1996, 577: Lärm durch Kuhglocken ist bloße Belästigung, die Schwelle der Gesundheitsgefährdung ist (außerhalb der Nachtzeit) dadurch nicht erreicht; ferner OLG Köln NVwZ 2000, 350: Belästigung von Passanten durch Meinungskundgabe; VGH BW NVwZ 2003, 115: Aufenthalt von „Punkern“ im Stadtgebiet; OVG Bremen NJW 2007, 939: keine Gefahr für Gesundheit oder Eigentum (Tiere) durch Feuerwerk. 593 § 3 iVm § 1 I 1 PolG BW; Art 11 II BayPAG, Art 7 II BayLStVG; § 3 I HbgSOG; § 16 I Nr 1 SOG MV; § 3 I iVm § 1 I 1 SächsPolG; § 176 I Nr 1 LVwG SH. – Ebenso § 2 I ThürOBG (Aufgabenzuweisungsnorm). 594 Bspl: OVG NW NJW 1997, 1180 o JK Pol- u OrdR, Pol Generalklausel/4: Verbot aufdringlichen nackten Auftretens in der Öffentlichkeit. 595 Schwabe JuS 1996, 988; Voßkuhle JuS 2007, 908; Gusy Rn 103; Kugelmann 5/107; Möller/Warg Rn 111. 596 Schwabe DVBl 2001, 968; aA Möstl Sicherheit, 179 f. 597 VGH BW VBlBW 2011, 23, 24 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/11; NdsOVG NdsVBl 2012, 117; Gusy Rn 111, 112; Thiel Rn 195; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 190.

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geht es um die Diagnose, dh die Feststellung des Sachverhalts; auf dieser Basis ist die Prognose zur weiteren Entwicklung des Geschehens vorzunehmen.598 Maßgeblich für die Beurteilung der Gefahrenlage ist die Sicht ex ante.599 Nicht jede Ge138 fahr realisiert sich und führt zu einem Schaden an einem der Schutzgüter. Deshalb besagt der evtl Nichteintritt des prognostizierten Schadens nichts über das Vorliegen einer Gefahr im Zeitpunkt der Prognoseentscheidung.600 Die Gefahrenbeurteilung basiert auf dem Erkenntnishorizont im Zeitpunkt der Entscheidung über das Eingreifen einer Abwehrmaßnahme, und sie mündet in ein Wahrscheinlichkeitsurteil über den weiteren Verlauf des Geschehens.601 Entscheidender Beurteilungsmaßstab ist das Wissensniveau eines objektiven Beobachters602 (vgl auch Rn 141). Die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts bei ungehindertem Geschehens139 ablauf ist idR nach Erfahrungssätzen zu treffen.603 Dabei geht es nicht um einen reinen Erkenntnisakt; gefordert sind mitunter auch wertende Abwägungen.604 Absolute Gewissheit über den Schadenseintritt ist nicht erforderlich; andererseits begründet die nur entfernte Möglichkeit des Schadenseintritts noch keine Gefahr.605 Die „hinreichende“ Wahrscheinlichkeit ist zwischen diesen beiden Extremen angesiedelt. In zeitlicher Hinsicht muss die diagnostizierte Sachlage bei ungehindertem Geschehensablauf in überschaubarer Zukunft zu einem Schaden führen können.606 Unter normativen Vorzeichen sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringer, je gewichtiger und hochwertiger das gefährdete Schutzgut ist.607 Danach kann „Gefahr“ iSd allgemeinen Gefahrenabwehrrechts als Produkt aus Scha140 densausmaß und Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umschrieben werden. In der Praxis hat sich diese Formel bewährt, zB bei der Prognose zum Eintritt von Rechtsgutverletzungen (zB Schnittwunden bei Menschen, Reifenschäden bei Autos) durch Glasbehältnisse im Straßenkarneval,608 bei der Annahme weiterer zukünftiger Körperverletzungen durch einen einschlägig vorbestraften Gewalttäter 609 oder bei der Einschränkung der Bewegungsfreiheit

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598 NdsOVG NJW 2006, 391, 394 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/6; OVG NW DVBl 2012, 1259, 1260; Classen JA 1995, 608. 599 BVerwGE 45, 51, 60; VGH BW NJW 2006, 635, 636; SächsOVG SächsVBl 2000, 170, 171; SächsVBl 2008, 89, 90; OLG München NVwZ-RR 2008, 247, 249 o JK BPolG § 39/1; VG Göttingen NJW 2012, 1675; Erichsen/Wernsmann JURA 1995, 219, 220; Di Fabio JURA 1996, 566, 569; Beljin/Micker JuS 2003, 556, 559; Poscher/Rusteberg JuS 2011, 984, 987. 600 VGH BW VBlBW 2011, 23, 24 f o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/11; NdsOVG NdsVBl 2012, 117; OVG NW DVBl 2012, 1259, 1260; SächsOVG SächsVBl 2008, 89, 90; Schwabe JuS 1996, 988, 990; Poscher/Rusteberg JuS 2011, 984, 987. 601 Poscher Gefahrenabwehr, 112 f. 602 NdsOVG NJW 2006, 391, 394 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/6; Classen JA 1995, 608, 609; Kugelmann 5/114; Poscher Gefahrenabwehr, 123, allerdings mit Übertreibungen (aaO S 118 f): idealer Beobachter, der über alles Wissen verfügt); ebenso auch Pils DÖV 2008, 941, 946; Jaeckel JZ 2011, 116, 119. 603 Näher dazu Poscher/Rusteberg JuS 2011, 984, 987; ausf K. Schneider ARSP 2009, 216 ff. 604 Ob eine Gefahr vorliegt, ist gerichtlich voll überprüfbar, einen behördlichen Beurteilungsspielraum bzgl der Prognoseentscheidung gibt es nicht; SächsOVG SächsVBl 2008, 89, 90; Pils DÖV 2008, 941, 944. 605 Bspl: VG Minden NJW 2006, 1450: Möglichkeit des Astbruchs bei einem gesunden Baum stellt ein allg Lebensrisiko dar. – Unterhalb der Gefahrenschwelle kann ein bloßes „Risiko“ gegeben sein, das Bedeutung im besonderen Gefahrenabwehrrecht hat; vgl Di Fabio JURA 1996, 566, 570 ff. 606 Röhrig DVBl 2000, 1658, 1659 f; Voßkuhle JuS 2007, 908; Schenke Rn 79; Kugelmann 5/119. 607 BVerwG NJW 2012, 2823 Tz 32; VGH BW NVwZ 1991, 493, 494; BayVGH BayVBl 1997, 280, 281; NVwZ-RR 1997, 615, 616; DÖV 2004, 579, 580; BayVBl 2012, 375; OVG NW NWVBl 1990, 159, 160; OVG RP NVwZ 1992, 499 o JK Polu OrdR Gefahrenabwehr/1; SächsOVG SächsVBl 2000, 170, 171; OLG Düsseldorf NWVBl 2002, 204, 205; Poscher/ Rusteberg JuS 2011, 984, 989; aA Leisner DÖV 2002, 326, 328 f. 608 OVG NW NVwZ-RR 2012, 470, 472; GewArch 2012, 265, 266 o JK OBG NW § 14/3; Heckel NVwZ 2012, 88, 89 f. – In Hamburg besteht für bestimmte Gebiete ein „GlasflaschenverbotsG“, GVBl 2009, 222. 609 SächsOVG SächsVBl 2000, 170.

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sog Hooligans, die früher bereits in Auseinandersetzungen verwickelt waren,610 sowie bei der Anordnung eines Leinen- und Maulkorbzwanges gegenüber dem Halter eines als gefährlich eingestuften Hundes.611 Weitere Beispiele aus der Praxis sind die Bejahung von Gefahren für die Gesundheit und körperliche Unversehrtheit von Menschen durch bestimmte (nicht als „gefährlich“ eingestufte) Hunde, 612 für Leben, Gesundheit und Eigentum von Anwohnern durch „Nachsackungen“ an der Tagesoberfläche an dem Schacht eines ehemaligen Bergwerks613 und die Prognose zur Verwirklichung eines Straftatbestandes (§ 130 StGB) durch eine Musikband aus der rechtsextremistischen Szene auf Grund einschlägiger früherer Vorkommnisse.614 Nicht zu folgen ist der These von der „Subjektivierung“ des Gefahrbegriffs 615 sowie der Auf- 141 spaltung in einen „objektiven“ und einen „subjektiven“ Gefahrbegriff.616 Es gibt nur einen einheitlichen Gefahrbegriff iSd Polizei- und Ordnungsrechts. Indem dem Gefahrbegriff ein an einen bestimmten Wissensstand gebundenes Wahrscheinlichkeitsurteil zu Grunde liegt, könnte von einem notwendig subjektiven Begriffsverständnis gesprochen werden. 617 Da jedoch im Rechtssinne bei der Gefahrenbeurteilung auf eine objektivierende Betrachtung ex ante abzustellen ist (Rn 138), gibt es im Rechtssinne keinen „subjektiven“ Gefahrbegriff, der die Vorstellungen der konkret handelnden Person für allein maßgeblich erklärt.618 Die Gefahrenlage ist ex ante objektiv zu bestimmen. Auf Grund dieser ex ante-Perspektive ist materiellrechtlich vorentschieden, dass eine Gefahrenabwehrmaßnahme nicht ex tunc rechtswidrig wird, wenn die prognostizierte Entwicklung nicht eingetreten ist.619 cc) Stellt sich ex post heraus, dass objektiv (dh in Kenntnis aller Umstände) eine Gefahren- 142 lage nicht bestand, wird von einer Anscheinsgefahr gesprochen.620 Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass auf Grund des ex post gewonnenen Wissens zu keinem Zeitpunkt eine reale Gefahr für ein Schutzgut bestanden hat, dass jedoch die Behörde – und jeder andere objektive Betrachter – ex ante nach Maßgabe der vorhandenen und verfügbaren Erkenntnisse von einer Gefahrenlage ausgehen musste.621 Der ex post sichtbar werdende Irrtum beruht oftmals nicht auf einer Fehlprognose, sondern wegen begrenzter, unvollständiger oder falscher Informationen oder Erkenntnisse auf einer defizitären Diagnose. Da es für die Beurteilung der Gefahrenlage jedoch allein auf die objektivierte Sicht ex ante ankommt (Rn 138), stellt die Anscheinsgefahr

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610 BVerwGE 129, 142 = NVwZ 2007, 1439 Tz 35 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/10; VGH BW NJW 2000, 3658 o JK Pol- u OrdR, pol Gk/5; BayVGH BayVBl 2006, 671; NdsOVG NVwZ-RR 2006, 613 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/7. 611 BayVGH DÖV 2004, 579; NVwZ-RR 2004, 490; zustimmend Scheidler BayVBl 2004, 715, 718 f. 612 VGH BW VBlBW 2011, 425, 426 (mehrere Angriffe auf Spaziergänger in der Vergangenheit) o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/12; BayVGH BayVBl 2012, 375, 376 (große, freilaufende Hunde mit hoher Beißkraft). 613 NdsOVG NdsVBl 2012, 117. 614 OVG Bremen BeckRS 2011, 56338 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/13. 615 Poscher Gefahrenabwehr, 49 ff, 83 ff, 110 ff; ders NVwZ 2001, 141 ff; Schlink JURA 1999, 169 ff; Pils DÖV 2008, 941, 943 f. 616 So Poscher/Rusteberg JuS 2011, 984, 987 f; Jaeckel JZ 2011, 116, 118 f; ausf Jaeckel Gefahrenabwehrrecht und Risikodogmatik, 2010, 110 ff; ferner zB Pieroth/Schlink/Kniesel § 4 Rn 31 ff, 47 ff; Wehr Rn 96 ff. – Nachzeichnung der Diskussion und Kritik bei Möstl Sicherheit, 164 ff, sowie Gromitsaris DVBl 2005, 535, 540. 617 Röhrig DVBl 2000, 1658, 1659; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 46. 618 Gusy Rn 114 weist dem Streit eine theoretische, aber nur eingeschränkte praktische Bedeutung zu. 619 VGH BW VBlBW 2011, 23, 24 f o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/11; NdsOVG NdsVBl 2012, 117; Thiel Rn 195, 197; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 198. – Nicht weiterführend daher der verfahrensrechtliche Lösungsansatz von Poscher NVwZ 2001, 141, 144 ff über eine „Beweismaßreduktion“. 620 HessVGH NVwZ 1993, 1009, 1010; Beljin/Micker JuS 2003, 556, 559. – Bspl: VG Berlin NJW 1991, 2854: Steuerung von Licht und Radio in Wohnung durch Zeitschaltuhr während dreiwöchiger Urlaubsabwesenheit, Durchführung von Rettungsmaßnahmen durch die Polizei wegen Annahme eines Unglücksfalles. 621 VGH BW NVwZ 1991, 493; VBlBW 2005, 231, 232; BayVGH BayVBl 1993, 429, 431; OVG Hamburg NVwZ-RR 2009, 878, 880; Erichsen/Wernsmann JURA 1995, 219, 220; Jaeckel JZ 2011, 116, 118.

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eine „Gefahr“ iSd Polizei- und Ordnungsrechts dar.622 Um eine Anscheinsgefahr bejahen zu können, müssen im Zeitpunkt der behördlichen Maßnahme – wie bei der „echten“ objektiven Gefahr – belastbare Tatsachen vorliegen, die die Gefahrenprognose stützen.623 Mit dem Begriff „Anscheinsgefahr“ ist also keine Minderung der Standards bei der ex ante-Betrachtung verbunden. Der Begriff der Anscheinsgefahr ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Gefahrenabwehrmaßnahmen verzichtbar,624 da er nur die – für die Schadensprognose ohnehin irrelevante – ex post-Erkenntnisse mit der ex ante-Sicht vergleicht. Wenn der Terminus dennoch beibehalten wird, beruht dies auf seinem spezifischen Eigenwert: Wo eine bloße Anscheinsgefahr vorliegt, muss wegen der Fehldiagnose die Abgrenzung zur Putativgefahr (Rn 144) im Blick behalten werden; hinzu tritt die Erheblichkeit in Bezug auf das Schadenersatz- und Entschädigungsrecht.625 Bei der Putativgefahr liegt – wie bei der Anscheinsgefahr – eine reale Gefahr nicht vor. Die Fehleinschätzung geht auf den konkret handelnden Amtswalter zurück; ein objektiver Betrachter wäre dem Irrtum nicht erlegen.626 Die Scheingefahr erfüllt den Gefahrbegriff nicht und berechtigt daher nicht zu behördlichen Maßnahmen.627 dd) Beim Gefahrverdacht hält die Behörde – anders als bei der Anscheinsgefahr (Rn 142) – auf Grund tatsächlicher Anhaltspunkte bei einer ungewissen Sachlage das Vorliegen einer Gefahr nur für möglich. Die Schadensprognose bei ungehindertem Geschehensablauf kann deshalb nicht mit hinreichender Gewissheit abgegeben werden, weil die Behörde die Unwägbarkeiten bei der Beurteilung der Lage erkennt. So kann zB zweifelhaft sein, ob alle Kälber eines Tierbestandes hormonbehandelt sind 628 bzw das Fleisch der Kälber in den Lebensmittelkreislauf gelangen wird,629 ob und ggf inwieweit auf einem früher industriell genutzten Grundstück wassergefährdende Stoffe abgelagert waren und deshalb eine Verunreinigung des Grundwassers droht,630 ob eine Abwassergrube undicht geworden ist und daher eine Grundwasseruntersuchung mit der Folge einer möglichen Gesundheitsbeeinträchtigung der Bevölkerung zu befürchten ist 631 oder ob der Schacht eines ehemaligen Bergwerks einbrechen könnte und deshalb das Erdreich bis zur Erdoberfläche in den Schacht nachzubrechen droht.632 Der Gefahrverdacht ist dadurch gekennzeichnet, dass bestimmte Unsicherheiten bei der Diagnose des Sachverhalts oder bei der Prognose des Kausalverlaufs (oder bei beiden) bestehen, die bekannt sind und eine Entscheidung über die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines

_____ 622 BVerwGE 45, 51, 58; VGH BW VBlBW 1993, 298, 300; OLG Karlsruhe VBlBW 2000, 329; Classen JA 1995, 608, 609; Gromitsaris DVBl 2005, 535, 540; Gusy Rn 122; Kugelmann 5/122; Schenke Rn 80 f; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 197; aA – allerdings unter Vernachlässigung der Anforderungen an die ex ante-Beurteilung (Rn 138) – Voßkuhle JuS 2007, 908, 909; Schwabe GS Martens, 1987, 419, 426 ff; Poscher Gefahrenabwehr, 121, 127. 623 Verneint von VGH VBlBW 2005, 231, 233 im Falle eines angeblichen Gewalttäters bzgl der Anreise zu einem G8Gipfel. 624 Brandt/Smeddinck JURA 1994, 225, 230 f; Di Fabio JURA 1996, 566, 569; Pils DÖV 2008, 941, 946; Götz § 6 Rn 39; Gusy PolR Rn 123; Möller/Warg Rn 105. 625 Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 50. – Vgl Rn 421. 626 BayVGH BayVBl 1993, 429, 431; Erichsen/Wernsmann JURA 1995, 219, 220; Pils DÖV 2008, 941, 946; Schenke Rn 82; Thiel Rn 202; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 193. 627 VGH BW NVwZ 1991, 493; Brandt/Smeddinck JURA 1994, 225, 230; Voßkuhle JuS 2007, 908, 909. 628 OVG NW NJW 1988, 2968. 629 OVG NW NJW 1989, 1691. 630 VGH BW NVwZ 1991, 491; HessVGH NVwZ 1993, 1009; OVG RP NVwZ 1992, 499 o JK Pol- u OrdR Gefahrenabwehr/1. 631 VG Frankfurt/M NVwZ-RR 2002, 269. 632 OVG NW NWVBl 1990, 159.

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Schadenseintritts (Rn 137) nicht mit der notwendigen Gewissheit zulassen.633 Dass ein Schutzgut der öffentlichen Sicherheit gefährdet wäre, wenn bei ungeklärter Sachlage von der ungünstigeren Annahme ausgegangen werden müsste, ist idR nicht zweifelhaft. Unsicherheiten begegnet jedoch häufig die Einschätzung, ob (bereits) genügend Anhaltspunkte für das Bestehen einer Gefahrenlage vorliegen. Bei den Standardbefugnissen genügt oftmals der Verdacht einer Gefahr („Tatsachen, die 147 die Annahme rechtfertigen“) zur Vornahme von Abwehrmaßnahmen. Auch das besondere Gefahrenabwehrrecht kennt behördliche Anordnungsbefugnisse, wenn auf Grund konkreter Anhaltspunkte der hinreichende Verdacht einer bestimmten Gefahr besteht.634 Die Generalklausel äußert sich zum Gefahrverdacht nicht explizit. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, die Verwaltung könne beim Gefahrverdacht gefahrenabwehrrechtlich nicht reagieren.635 Zwar ist es richtig, dass beim Gefahrverdacht die weitere Aufklärung des Sachverhalts im Vordergrund steht und dies nach § 24 VwVfG Aufgabe der Behörde ist.636 Jedoch ist die zuständige Behörde zur Wahrnehmung ihrer Gefahrenabwehraufgabe gesetzlich (und ggf sogar auf Grund einer grundrechtlichen Schutzpflicht) verpflichtet, und oftmals kann der effektive Rechtsgüterschutz ohne Mitwirkung bzw Inanspruchnahme des Verursachers des Gefahrverdachts gar nicht geleistet werden. Jedenfalls Gefahrermittlungen dienen der Gefahrenabwehr.637 Deshalb verlangt eine teleologische Auslegung des Gefahrbegriffs, dass die zuständige Behörde auf der Grundlage der Generalklausel (unter Beachtung des Übermaßverbots) die notwendigen Maßnahmen anordnen darf, um den Gefahrverdacht weiter abzuklären. Zulässig sind danach jedenfalls 638 Gefahrerforschungsmaßnahmen gegenüber dem Verursacher des Gefahrverdachts.639 Ein Gefahrerforschungseingriff ist der notwendige erste Schritt zur Bekämpfung der (möglichen) Gefahr. Umstritten ist der zulässige Inhalt behördlicher Gefahrerforschungsmaßnahmen. So soll 148 der Betroffene nur zur Duldung behördlicher Maßnahmen (zB auf seinem Grundstück) verpflichtet werden können, während die Verwaltung die weitere Sachverhaltsaufklärung selbst vornehmen müsse.640 Demgegenüber soll dem potentiell Verantwortlichen nach aA auch die Vornahme von Ermittlungsmaßnahmen (zB Durchführung von Bodenuntersuchungen) aufgegeben werden können. 641 Angesichts des bestehenden Spannungsverhältnisses (wirksamer

_____ 633 BayVGH NVwZ-RR 1997, 615, 616; OVG Hamburg NVwZ-RR 2009, 878, 880; Di Fabio JURA 1996, 566, 569; Voßkuhle JuS 2007, 908, 909; Pils DÖV 2008, 941, 946 f; Wehr Rn 112; ausf Bürmann Der Gefahrenverdacht, 2002, 31 ff; Poscher DV 41 (2008), 345, 366 ff. 634 Wichtig für den Bodenschutz § 9 II BBodSchG (Sartorius I Nr 299); dazu BVerwGE 126, 1 Tz 10 f; VGH BW NVwZ-RR 2008, 605; BayVGH BayVBl 2003, 467; NVwZ 2007, 112; OVG Berlin UPR 2001, 196; HessVGH NVwZ 2005, 718; Erbguth/Stollmann NuR 1999, 127, 129; dies GewArch 1999, 223, 228; Kutzschbach/Pohl JURA 2000, 225, 229; Buchholz NVwZ 2002, 563 ff. 635 So aber Schenke Rn 88, 90; ausf ders FS Friauf, 1996, 455 ff; Wehr Rn 116 f; Poscher Gefahrenabwehr, 127; ferner Möstl Sicherheit, 184 ff, der letztlich aber die „Wahrscheinlichkeitsschwellen“ absenken möchte; krit auch Weiß NVwZ 1997, 737, 738 f; Voßkuhle JuS 2007, 908, 909: Unverhältnismäßigkeit der Verpflichtung des potentiell Verantwortlichen zur Durchführung eigener Untersuchungen; krit ferner Kugelmann 5/137 ff. – Wapler DVBl 2012, 86, 88 verlangt eine spezielle gesetzliche Grundlage für Gefahrerforschungseingriffe. 636 Dabei verharrend BayVGH NVwZ-RR 1997, 615, 616; OVG NW NWVBl 1990, 159; OVG RP UPR 1992, 31, 32; NVwZ 1992, 499, 500 o JK Pol- u OrdR Gefahrenabwehr/1. 637 Gromitsaris DVBl 2005, 535, 541. 638 Anordnungen zur Eingrenzung der Schadensausbreitung sind selbstverständlich zulässig, OVG Bremen NVwZ-RR 2001, 157, 158. 639 OVG NW ZUR 2002, 290, 291; Erichsen/Wernsmann JURA 1995, 219, 221; Classen JA 1995, 608, 610 f; Martensen DVBl 1996, 286, 290; Di Fabio JURA 1996, 566, 569; Götz § 6 Rn 29; Thiel Rn 205, 208; Würtenberger in: Achterberg/ Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 194 ff. – Noch keine Entscheidung ist damit zur Kostentragung getroffen; vgl BayVGH NVwZ-RR 1997, 615, 617; OVG RP NVwZ-RR 1996, 320, 321. 640 HessVGH NVwZ 1993, 1009, 1010. 641 VGH BW NVwZ-RR 1991, 24, 25 o JK Pol- u OrdR Störer/6; VGH BW NVwZ 1991, 491; VBlBW 1993, 298 o JK Polu OrdR Selbstvornahme/2; OVG NW DVBl 1996, 1444, 1445; ZUR 2002, 290, 291.

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Rechtsgüterschutz versus Belastung eines Grundrechtsträgers bei ungewisser Gefahrenlage) sollte der Inhalt der konkreten Maßnahme fallbezogen auf der Rechtsfolgenseite nach Maßgabe des Übermaßverbots festgelegt werden.642 Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass bei der möglichen Gefährdung besonders hochwertiger Rechtsgüter nicht nur (vorläufige) Gefahrerforschungsmaßnahmen, sondern auch endgültige Maßnahmen zur Abwehr der möglichen Gefahr getroffen werden.643 149 ee) Für Maßnahmen nach der Generalklausel genügt die „einfache“ konkrete Gefahr (Rn 133). Qualifizierte Gefahrbegriffe bestehen insbesondere für Standardbefugnisse und sondergesetzliche Maßnahmen sowie bei der Inanspruchnahme eines Nichtstörers. Die Qualifikationen der konkreten Gefahr (Rn 150) beziehen sich entweder auf die besondere zeitliche Nähe der drohenden Schädigung oder auf die besondere Bedeutung des bedrohten Rechtsguts oder auf beides. 150 Eine gegenwärtige Gefahr 644 stellt hohe Anforderungen an die zeitliche Nähe und den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts645 und verlangt daher eine Sachlage, bei der das schädigende Ereignis bereits begonnen hat oder unmittelbar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht.646 Die unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung (zB § 15 I VersG) stellt ebenfalls eine Verschärfung der Eingriffsvoraussetzungen gegenüber dem allgemeinen Gefahrenabwehrrecht dar (besondere zeitliche Nähe und gesteigertes Maß der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts) und setzt eine Sachlage voraus, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für ein Schutzgut führt.647 Erhebliche Gefahr 648 meint eine Gefahr für ein bedeutsames Rechtsgut (Leben, Gesundheit, Freiheit, wesentliche Vermögenswerte, Bestand des Staates).649 Eine dringende Gefahr (zB Art 13 IV, VII GG) verlangt nach hM eine Sachlage, bei der mit großer Wahrscheinlichkeit einem besonders hochrangigen Rechtsgut ein Schaden droht.650 Eine Gefahr für Leib und Leben 651 liegt vor, wenn eine nicht nur leichte Körperverletzung oder der Tod eines Menschen einzutreten droht.652 Eine gemeine Gefahr (zB Art 13 IV, VII GG) ist dadurch gekennzeichnet, dass eine unbestimmte Zahl von nicht näher bestimmten Rechtsgütern gefährdet ist und dass ein unüberschaubares Gefahrenpotential besteht.653 Gefahr im Verzug 654 (zB Art 13 II GG) meint eine Sachlage, bei der ein Schaden eintreten würde, wenn nicht an Stelle der zuständigen Behörde eine andere Behörde tätig wird.655

_____ 642 Ähnlich bereits BayVGH DVBl 1986, 1283, 1284; ferner Ehlers DVBl 2003, 336, 338; Götz § 6 Rn 31. 643 Beljin/Micker JuS 2003, 556, 559; Pils DÖV 2008, 941, 947; Bürmann Gefahrenverdacht (Fn 633) 110 ff. 644 Legaldefinitionen: § 2 Nr 3b PolG Bremen; § 2 Nr 1b NdsSOG; § 3 Nr 3b SOG LSA; § 54 Nr 3b ThürOBG. 645 NdsOVG NVwZ-RR 2009, 954, 955; VG Göttingen NJW 2012, 1675. – Die „gegenwärtige Gefahr“ und die „unmittelbare Gefahr“ gleichsetzend OVG Hamburg NJW 2012, 1975, 1976 f o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/4. 646 BVerwGE 45, 51, 58; SächsVerfGH LKV 1996, 273, 280; LVerfG MV LKV 2000, 345, 349; VGH BW NVwZ-RR 1994, 52; BayVGH NJW 2008, 1549, 1550; OVG NW NJW 1989, 1691; OLG Düsseldorf DÖV 2002, 435, 436 o JK PolG NW § 31/1; OLG Frankfurt/M NVwZ 2002, 626, 627; OVG RP DÖV 2002, 743; Röhrig DVBl 2000, 1658, 1660; Meister JA 2003, 83, 86. 647 BVerfGE 69, 315, 353 f o JK GG Art 8/2; BVerfG-K NVwZ 2008, 671, 672; VGH BW VBlBW 2002, 383, 384; NJW 2006, 635, 636; VBlBW 2012, 61, 63; NdsOVG NdsVBl 2008, 283, 285; OLG Rostock NVwZ-RR 2008, 173, 176. 648 Legaldefinitionen: § 2 Nr 3c PolG Bremen; § 2 Nr 1c NdsSOG; § 3 Nr 3c SOG LSA; § 54 Nr 3c ThürOBG; § 14 II 2 BPolG. 649 Einzelheiten dazu bei Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 61. 650 BVerwGE 47, 31, 40; BbgVerfG LKV 1999, 450, 463; LVerfG MV LKV 2000, 345, 350; aA Schenke Rn 78: erhöhte Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts; wieder aA Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 63: Hochrangigkeit des Rechtsguts und zeitliche Dringlichkeit der Gefahrenabwehr; aA Kugelmann 5/153: Gefahr für bedeutsames Rechtsgut. 651 Legaldefinitionen: § 2 Nr 3d PolG Bremen; § 2 Nr 1d NdsSOG; § 3 Nr 3d SOG LSA; § 54 Nr 3d ThürOBG. 652 Einzelheiten dazu bei Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 62. 653 LVerfG MV LKV 2000, 345, 350. 654 Legaldefinitionen: § 2 Nr 4 NdsSOG; § 3 Nr 6 SOG LSA; § 54 Nr 5 ThürOBG. 655 VGH BW VBlBW 2005, 431, 433; Voßkuhle JuS 2007, 908; Einzelheiten dazu bei Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 64. – Bei Art 13 II GG ist „Gefahr im Verzug“ anzunehmen, wenn die vorherige Einholung der richterlichen

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d) Befugnis zur Gefahrenabwehr (Opportunitätsprinzip) Liegt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung vor, ist die zuständige Behörde 151 ermächtigt (nicht: verpflichtet), die notwendigen Gefahrenabwehrmaßnahmen zu treffen. Es gilt das Opportunitätsprinzip,656 nicht – wie im Strafverfolgungsrecht (§ 163 StPO) – das Legalitätsprinzip. 657 Auf der Rechtsfolgenseite der Generalermächtigung ist der Verwaltung also Ermessen eingeräumt.658 aa) Ermessen der Gefahrenabwehrbehörden. Das Opportunitätsprinzip erstreckt sich auf das 152 Entschließungsermessen und das Auswahlermessen.659 Im Rahmen des Entschließungsermessens („Ob“ des Handelns) befindet die Behörde darüber, ob sie zur Gefahrenabwehr einschreitet oder nicht. Das Entschließungsermessen eröffnet demnach auch die Möglichkeit, von Maßnahmen abzusehen. Darin liegt kein Widerspruch zur gesetzlichen Statuierung der Gefahrenabwehraufgabe. Nicht jedes Tätigwerden der Gefahrenabwehrbehörden ist mit einem Rechtseingriff verbunden und daher auf eine Befugnisnorm zu stützen (Rn 36). Im Übrigen leitet das Entschließungsermessen nicht zur Tatenlosigkeit an, sondern erlaubt iS pflichtgemäßer Betätigung (Rn 154) eine Optimierung des Einsatzes polizeilicher Mittel (zeitliche, räumliche, personelle, sächliche Schwerpunktsetzung).660 Ist das Entschließungsermessen auf Null reduziert (Rn 160), muss die Gefahrenabwehrbehörde tätig werden. Das Auswahlermessen („Wie“ des Handelns) umfasst (bei mehreren in Betracht kom- 153 menden Maßnahmen) die Wahl des einzusetzenden Mittels (Inhalt der Maßnahme) sowie (bei mehreren potentiellen Adressaten der Gefahrenabwehrmaßnahme) die Auswahl des Pflichtigen.661 Dabei besteht keine unbegrenzte „Wahlfreiheit“; im Rechtsstaat ist das behördliche Ermessen ein normativ begrenztes (Rn 154 ff). Nach der Generalklausel können die Gefahrenabwehrbehörden im Hinblick auf das einzusetzende Mittel die „erforderlichen Maßnahmen“ ergreifen 662 bzw die „notwendigen Maßnahmen“ treffen.663 Die Konkretisierung erfolgt anhand der Umstände des Einzelfalles. Wesentliche generelle Leitlinie ist das Übermaßverbot (Rn 155). Danach muss eine Gefahrenabwehrmaßnahme zur Zielerreichung zwecktauglich (geeignet) sein; sie muss sich aber auch als erforderlich und verhältnismäßig erweisen.664

_____ Anordnung den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde; BVerfGE 103, 142, 154; VerfG Bbg NJW 2003, 2305, 2306. 656 Waechter VerwArch 88 (1997) 298, 313 ff; Ullrich VerwArch 102 (2011) 383, 398. – Systematischer Vergleich zwischen Legalitäts- und Opportunitätsprinzip bei Vultejus ZRP 1999, 135. 657 Dazu Geppert JURA 1982, 139; Pommer JURA 2007, 662. – Zum Legalitätsprinzip gemäß § 152 II StPO Eisenberg/ Conen NJW 1998, 2241; zum Opportunitätsprinzip im Strafprozessrecht Geppert JURA 1986, 309; zum Verhältnis zwischen Legalitäts- und Opportunitätsprinzip im Strafverfahren Schulenburg JuS 2004, 765. 658 Dies ist im Wortlaut der Generalermächtigung (Fn 391) eindeutig zum Ausdruck gebracht („kann“, „können“, „pflichtgemäßes Ermessen“). – Das Opportunitätsprinzip gilt auch bei den Standardbefugnissen und sondergesetzlichen Spezialermächtigungen. 659 Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 105; Götz § 11 Rn 2; Gusy Rn 392; Kugelmann 10/7; Pieroth/Schlink/Kniesel § 10 Rn 33; Schenke Rn 94; Tettinger/Erbguth/Mann BesVwR Rn 532 ff; Thiel Rn 298 ff; Würtenberger in: Achterberg/ Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 222; Würtenberger/Heckmann Rn 494; aA Knemeyer Rn 126: kein Entschließungsermessen. 660 Götz § 11 Rn 4; Wehr Rn 428. – Waechter VerwArch 88 (1997) 298, 324 spricht von einer zT planerischen Entscheidung über die Art der Aufgabenwahrnehmung. 661 Speziell dazu unten Rn 225 ff. 662 § 3 PolG BW; § 3 I HbgSOG; § 11 HessSOG; § 3 I SächsPolG; § 13 SOG LSA. 663 Art 11 I BayPAG; § 17 I ASOG Bln; § 10 I BbgPolG, § 13 I BbgOBG; § 10 I 1 PolG Bremen; § 13 SOG MV; § 11 NdsSOG; § 8 I PolG NW, § 14 I OBG NW; § 9 I 1 POG RP; § 8 I PolG SL; § 174 LVwG SH; § 12 I ThürPAG, § 5 I ThürOBG; § 14 BPolG. 664 BVerwGE 129, 142 = NVwZ 2007, 1439 Tz 40 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/10; OVG RP NJW 2006, 1830, 1831 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/2; SächsOVG SächsVBl 2008, 89, 91.

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Innerhalb des rechtlichen Rahmens (§ 40 VwVfG) stellt die behördliche Ermessensbetätigung eine Zweckmäßigkeitsentscheidung dar. Diese ist von den Gerichten zu respektieren; ihnen ist es verwehrt, Gefahrenabwehrmaßnahmen anhand von Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu überprüfen.665 Die gerichtliche Kontrolle behördlicher Ermessensentscheidungen ist auf rechtswidriges Handeln begrenzt (§ 114 VwGO). Nur Ermessensfehler führen zur Rechtswidrigkeit einer Verwaltungsmaßnahme, nicht jedoch die lediglich unzweckmäßige behördliche Ermessensbetätigung. 154 bb) Ermessensgrenzen. Die Behörden müssen ihre Maßnahmen nach pflichtgemäßem Ermessen treffen.666 Damit ist zunächst auf die Vorgaben des Allgemeinen Verwaltungsrechts (§ 40 VwVfG) verwiesen; 667 diese gelten auch im Gefahrenabwehrrecht. Ermessensfehler, die zur Rechtswidrigkeit einer Maßnahme führen, sind die fehlende Ermessensbetätigung (Ermessensnichtgebrauch, -mangel), die nicht dem Zweck der Ermächtigung entsprechende Ermessensausübung (Ermessensfehlgebrauch) und die Missachtung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens (Ermessensüberschreitung).668 Rechtsdogmatisch beziehen sich diese Bindungen sowohl auf das Entschließungsermessen als auch auf das Auswahlermessen. Von Bedeutung sind im Gefahrenabwehrrecht in erster Linie die äußeren, dh die gesetzlich gezogenen Ermessensgrenzen. Diese werden im Wesentlichen durch das Übermaßverbot (Rn 155 ff) markiert.669 Daneben kommt den Grundrechten als Ermessensgrenze für behördliches Handeln 670 eine originäre und eigenständige Bedeutung grundsätzlich nicht zu. Zwar stellen sich Gefahrenabwehrmaßnahmen vielfach als Grundrechtseingriff dar und können grundrechtliche Vorgaben ausnahmsweise die Ermessensreduzierung auf Null bewirken (Rn 161), jedoch führt das grundrechtsdogmatisch als „Schranken-Schranke“ fungierende Übermaßverbot automatisch dazu, dass die Überprüfung der ermessensfehlerfreien Anwendung der Befugnisnorm zugleich eine Überprüfung am Maßstab der jeweiligen Grundrechtsgewährleistung umfasst.671 Das Übermaßverbot hat Verfassungsrang.672 Im Verwaltungsrecht verpflichtet es die ge155 setzesvollziehenden Behörden, nur geeignete, erforderliche und verhältnismäßige Maßnahmen zu ergreifen.673 Auf der Normanwendungsebene dient das Übermaßverbot dem Schutz des Einzelnen gegenüber Eingriffsmaßnahmen der Verwaltung sowie der Einzelfallgerechtigkeit; 674 es sichert ferner die Sachgerechtigkeit von Verwaltungsmaßnahmen und führt zur rechtsstaatlichen Disziplinierung der Exekutive. Die einfachgesetzlichen Ausprägungen des Übermaßver-

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665 OVG NW NJW 1997, 1180, 1181 o JK Pol- u OrdR, Pol Generalklausel/4 (am Bspl aufdringlicher Nacktauftritte in der Öffentlichkeit); SächsOVG SächsVBl 2000, 170, 173 (am Bspl eines Verbots zum Tragen von Springerstiefeln); VG Göttingen NJW 2012, 1675, 1676 (am Bspl einer Wohnungsverweisung). 666 § 3 PolG BW; Art 5 I BayPAG; § 12 I ASOG Bln; § 4 I BbgPolG, § 15 BbgOBG; § 4 I PolG Bremen; § 3 I HbgSOG; § 5 I HessSOG; § 14 I SOG MV; § 5 I NdsSOG; § 3 I PolG NW, § 16 OBG NW; § 3 I POG RP; § 3 I PolG SL; § 3 II SächsPolG; § 6 SOG LSA; § 174 LVwG SH; § 5 I ThürPAG, § 7 I ThürOBG; § 16 I BPolG. 667 Dazu Schoch JURA 2004, 462. 668 Einzelheiten dazu bei Jestaedt in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 11 Rn 60 ff. 669 In diesem Sinne zB BVerwG NJW 2012, 1608 Tz 16, 17; OVG RP NJW 2010, 457, 459; Schoch JURA 2004, 462, 466 f; aA zB Poscher/Rusteberg JuS 2011, 1082, 1086, die meinen, das Ermessen sei auf der dem Übermaßverbot folgenden Ebene angesiedelt; gerade umgekehrt Thiel Rn 298 ff u Rn 320 ff. 670 Dazu ausf Schenke Rn 341 ff; ferner Pieroth/Schlink/Kniesel § 10 Rn 5 ff. 671 Götz § 11 Rn 14; allg zur Wechselwirkung zwischen Grundrechten und Übermaßverbot Heintzen DVBl 2004, 721. – Vorausgesetzt ist die Verfassungsmäßigkeit der Befugnisnorm als solcher (Rn 106). 672 Einzelheiten dazu bei Krebs JURA 2001, 228 ff; ferner v Arnauld JZ 2000, 276 ff; Kraft BayVBl 2007, 577 ff; Saurer Der Staat 51 (2012), 3, 6 f; entwicklungsgeschichtlich Henne DVBl 2002, 1094 ff. 673 Ossenbühl JURA 1997, 617, 618 f; Kluth JA 1999, 606, 609 f; Michael JuS 2001, 764 f; Schoch JURA 2004, 462, 466 f; Kraft BayVBl 2007, 577, 579 f; Reuter JURA 2009, 511, 513. 674 Für ermessensfehlerhaft, da unverhältnismäßig, wurde daher zB eine durch Allgemeinverfügung ausgesprochene Platzverweisung erklärt; VGH BW NVwZ-RR 1997, 225, 226 o JK Pol- u OrdR Platzverweis/1; bekräftigend VGH BW NVwZ 2003, 115, 116: Allgemeinverfügung verzichtet auf die vom Übermaßverbot verlangte Einzelfallprüfung.

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bots im Polizei- und Ordnungsrecht 675 stellen Konkretisierungen seines verfassungsrechtlichen Gehalts dar. Jene Bestimmungen dirigieren im Übrigen nicht nur die Ermessensbetätigung nach der Generalklausel, sondern auch zB nach den Standardbefugnissen. Ferner steuert das Übermaßverbot das Ermessen nach sondergesetzlichen Eingriffstatbeständen, es legitimiert und begrenzt außerdem die Heranziehung des Notstandspflichtigen (Rn 240, 252) und es prägt die Vollstreckung von Gefahrenabwehrmaßnahmen (Rn 384 ff). Das Gebot der Geeignetheit erlaubt nur solche Maßnahmen, die zur Gefahrenabwehr 156 zwecktauglich sind. Eine vollständige Zweckerreichung wird nicht verlangt; es genügt, wenn mit Hilfe der Maßnahme der gewünschte Erfolg gefördert bzw die Gefahr gemindert wird.676 Dies wird zB bei Aufenthaltsverboten für Drogenhändler in bestimmten Stadtteilen zur Bekämpfung der offenen Drogenszene bejaht, auch wenn das Grundproblem dadurch nicht generell beseitigt werden kann; immerhin wird die Bildung und Verfestigung einer offenen Drogenszene in bestimmten Bereichen deutlich erschwert und der Umschlag für Dealer und Konsumenten in jenen Bereichen (zB in der Nähe von Schulen) unattraktiver gemacht.677 Auch das Verbot gegenüber einem gewaltbereiten Jugendlichen, Messer, Eisenketten und Baseballschläger mitzuführen, ist als „geeignet“ anerkannt worden, weil es zur Gefahrenminderung beitragen könne.678 Personenund Objektschutzmaßnahmen zu Gunsten eines aus kriminellen Kreisen mit Morddrohungen konfrontierten Staatsanwalts sind zur Abwehr der drohenden Gefahr geeignet.679 Dasselbe gilt für Meldeauflagen gegenüber potentiellen Gewalttätern für im Ausland geplante Gewaltaktionen (zB beim G8-Gipfel), da die Ausreise verhindert werden kann.680 Die während der Entfachung eines großen Feuers auf einer städtischen Straße erfolgende Personenfeststellung ist ein zur Gefahrenabwehr geeignetes Mittel, weil potentielle Störer von der Begehung weiterer Störungen abgehalten werden können.681 Die Beschlagnahme der Fotoausrüstung eines Pressefotografen ist eine taugliche Maßnahme, um diesen am Fotografieren eines Polizeieinsatzes zu hindern;682 dasselbe ist einem Fotografierverbot attestiert worden.683 Das Verbot des Mitführens von Glasbehältnissen im Straßenkarneval ist geeignet, der Gefahr von Schnittverletzungen durch Glasscherben entgegenzuwirken;684 dasselbe gilt für das gegenüber Einzelhandelsbetrieben erlassene Verbot der Abgabe von Glasgetränkebehältnissen.685 Dagegen wurde die Androhung der Zwangshaft zur Durchsetzung eines Verbots der Prostitutionsausübung als ungeeignet erachtet, da bei der Betroffenen keine Verhaltensänderung zu erwarten sei.686 Im Bauordnungsrecht wurde eine Rückbauverfügung als nicht geeignet zur Herstellung rechtmäßiger Zustände angesehen, da dieses Ziel nur durch die Anordnung des vollständigen Abbruchs des illegalen Baus erreichbar war.687

_____ 675 § 5 PolG BW; Art 4 BayPAG, Art 8 BayLStVG; § 11 ASOG Bln; § 3 BbgPolG, § 14 BbgOBG; § 3 PolG Bremen; § 4 HbgSOG; § 4 HessSOG; § 15 SOG MV; § 4 NdsSOG; § 2 PolG NW, § 15 OBG NW; § 2 POG RP; § 2 PolG SL; § 3 II–IV SächsPolG; § 5 SOG LSA; § 73 II, III LVwG SH; § 4 ThürPAG, § 6 ThürOBG; § 15 BPolG. 676 OVG NW NJW 1982, 2277, 2278; Kluth JA 1999, 606, 609; Schoch JURA 2004, 462, 466; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 167. – Explizit § 4 I 2 HbgSOG: Eine Maßnahme „ist auch geeignet, wenn sie die Gefahr nur vermindert oder vorübergehend abwehrt“. 677 BayVGH DÖV 1999, 520, 522 o JK BayLStVG Art 7/1; OVG Bremen NVwZ 1999, 314, 317 o JK PolG Bremen § 10/ 1. 678 SächsOVG SächsVBl 2000, 170, 174. 679 OVG RP NJW 2006, 1830, 1831 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/2. 680 BVerwGE 129, 142 = NVwZ 2007, 1439 Tz 41 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/10. 681 VGH BW NVwZ-RR 2011, 231, 233. 682 SächsOVG SächsVBl 2008, 89, 91 (m Bespr Petersen-Thrö 82). 683 VGH BW VBlBW 2011, 23, 26 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/11. 684 OVG NW NVwZ-RR 2012, 470, 473. 685 OVG NW GewArch 2012, 265, 267 o JK OBG NW § 14/3. 686 VG Stuttgart NVwZ 1999, 323, 324. 687 OVG NW BauR 2006, 90 o JK VwVfG § 40/1.

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Fehlende Geeignetheit einer Maßnahme liegt auch vor, wenn vom Adressaten etwas rechtlich oder tatsächlich Unmögliches verlangt wird. Wirtschaftliches Unvermögen stellt keinen Fall der Unmöglichkeit dar.688 Diese liegt hingegen vor, wenn der Pflichtige an der Vornahme der auferlegten Handlung privatrechtlich gehindert ist, weil er in Rechte Dritter eingreifen müsste.689 Steht mehreren Personen privatrechtlich die Sachherrschaftsbefugnis über eine Sache zu, auf die zur Gefahrenabwehr eingewirkt werden soll, liegt beim Pflichtigen nicht automatisch rechtliche Unmöglichkeit vor; der Mitberechtigte könnte einwilligen.690 Im Übrigen führt das privatrechtliche Hindernis nicht zur rechtlichen Unmöglichkeit, sondern lässt die Rechtmäßigkeit einer (Grund-)Verfügung unberührt und hindert lediglich ihre Vollziehbarkeit (Rn 391), solange nicht gegenüber dem Dritten eine vollziehbare Duldungsverfügung erlassen worden ist.691 Die Erforderlichkeit einer Maßnahme sichert das Gebot des geringstmöglichen Eingriffs 157 („Interventionsminimum“). Von mehreren zur Gefahrenabwehr in Betracht kommenden und gleich geeigneten Mitteln muss dasjenige ausgewählt werden, das den Einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigt. Maßgeblich ist die Sicht ex ante.692 Auf eine weniger belastend wirkende Maßnahme muss sich die Behörde nur verweisen lassen, wenn das mildere Mittel zur Zweckerreichung in gleicher Weise geeignet ist wie die eingriffsintensivere Maßnahme.693 Das ist zB der Fall, wenn der Schutz einer Trinkwassertalsperre an Stelle der Anordnung zur Entfernung einer Heizölbehälteranlage durch das Verbot zur Lagerung von Heizöl auf dem Grundstück bewerkstelligt werden kann.694 Als nicht erforderlich wurde auch das Gebot zur Räumung eines widerrechtlich besetzten Grundstücks innerhalb einer Stunde erachtet, nachdem die Behörde die Besetzung über einen längeren Zeitraum geduldet hatte.695 Bei einer Wohnungsverweisung wurde die Anordnung der gesetzlich zulässigen Höchstdauer von 14 Tagen als nicht erforderlich zur Gefahrenabwehr angesehen, weil ein Umzug des (potentiellen) Opfers häuslicher Gewalt unmittelbar bevorstand.696 Auch das Verbot der Haltung von Hunden, die auf öffentlichen Wegen Menschen angegriffen hatten, wurde als nicht erforderlich erachtet, weil Anordnungen zur Hundehaltung innerhalb des befriedeten Besitztums sowie zum Leinenzwang außerhalb des eingezäumten Bereichs als mildere Maßnahmen zum Rechtsgüterschutz gleich geeignet seien.697 Die erwähnte Personenfeststellung wegen der Entfachung eines Feuers im öffentlichen Raum (Rn 156) war erforderlich, da weniger belastende Maßnahmen (zB Gefährderansprache, Platzverweisung) keine gleichermaßen geeignete Mittel zur Gefahrenabwehr sind.698 Dasselbe wurde für die offene Videoüberwachung der Hamburger Reeperbahn zur Gefahrenvorsorge angenommen, da andere Mittel (zB größerer Polizeieinsatz) der eingesetzten Technik (zB Zoomfunktion) nicht ebenbürtig wären.699 Die längerfristige Observation eines rückfallgefährdeten ehemaligen Sexualstraftäters durch Polizeibeamte war ebenfalls zum Rechtsgüterschutz erfor-

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688 OVG RP NVwZ 1992, 499, 500 o JK Pol- u OrdR Gefahrenabwehr/4. 689 OVG Hamburg NVwZ-RR 1993, 602: Anordnung von Sanierungsmaßnahmen auf fremdem Grundstück. 690 OVG RP NVwZ 1992, 499, 500 o JK Pol- u OrdR Gefahrenabwehr/4; OVG RP NVwZ-RR 2004, 239. 691 BVerwGE 40, 101, 103; VGH BW DÖV 1993, 578, 579; BayVGH NVwZ-RR 2006, 389 o JK Pol- u OrdR Duldungsverfügung/1; OVG Berlin LKV 1997, 368; HessVGH NVwZ-RR 1996, 330; OVG NW DVBl 1997, 674, 675; OVG SL NVwZRR 2003, 337; ThürOVG LKV 1997, 368 f; vgl auch Stuttmann NVwZ 2004, 805. 692 VGH BW DVBl 1987, 153, 154; VBlBW 2011, 350, 351 o JK PolG BW § 28/1; Ossenbühl JURA 1997, 617, 618. 693 BVerwG NVwZ 2012, 1184, 1186; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 173. 694 OVG NW NJW 1980, 2210. 695 VGH BW DVBl 1987, 153, 154. 696 VG Osnabrück NJW 2011, 1244, 1245. 697 VGH BW VBlBW 2011, 425, 426 f o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/12. 698 VGH BW NVwZ-RR 2011, 231, 233. 699 OVG Hamburg MMR 2011, 128, 130 bestätigt durch BVerwG NVwZ 2012, 757 Tz 46 o JK GG Art 2 I iVm 1 I/57; krit Schnabel NVwZ 2010, 1457, 1459 u NordÖR 2012, 417.

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derlich; als milderes Mittel musste die Polizei nicht die „elektronische Fußfessel“ einsetzen, da diese zur Gefahrenabwehr nicht gleichermaßen geeignet ist.700 Beim Abschleppen vorschriftswidrig abgestellter Kraftfahrzeuge ist es bei ungewisser Erfolgsaussicht grundsätzlich nicht notwendig, dass behördlicherseits Nachforschungen zum Verbleib des Fahrers angestellt oder Wartepflichten eingehalten werden;701 zur Beseitigung der Störung ist das Abschleppen des Fahrzeugs idR erforderlich. Dasselbe gilt – zur Verhinderung von Diebstahlsversuchen bzw Beschädigungen – im Falle der polizeilichen Sicherstellung eines (mit geöffnetem Fenster abgestellten) Kraftfahrzeugs. 702 Beim Verbot des Tragens von Springerstiefeln mit Stahlkappen gegenüber einem gewaltbereiten Jugendlichen muss sich die Polizei nicht darauf verweisen lassen, erst anlassbezogen (dh bei neuen Bedrohungen oder Handgreiflichkeiten) einzugreifen, weil ein solches späteres Tätigwerden nicht die gleiche Eignung wie ein vorbeugendes Einschreiten hat.703 Die Verfügung einer Meldeauflage neben Pass- und Personalausweisbeschränkungen gegenüber einem Fußball-Hooligan wurde als erforderlich erachtet, um die Begehung von Straftaten im Ausland aus Anlass einer Fußballeuropameisterschaft unter allen Umständen zu verhindern.704 Ebenfalls erforderlich war die Ingewahrsamnahme randalierender „Fußballfans“, da eine Platzverweisung als denkbare mildere Maßnahme wenig(er) geeignet zur Beseitigung der eingetretenen Störung der öffentlichen Sicherheit gewesen ist.705 Erforderlich waren auch Personen- und Objektschutzmaßnahmen zu Gunsten eines Staatsanwalts nach Mordandrohungen durch Killer.706 Die Beschlagnahme der Fotoausrüstung eines Pressefotografen, der einen Polizeieinsatz verbotswidrig fotografieren wollte, war in einem Fall als erforderlich erachtet worden, da sich eine weniger einschneidende Maßnahme nicht angeboten habe;707 in einem anderen Fall wurde schon das Fotografierverbot für Pressefotografen während eines Polizeieinsatzes als nicht erforderlich erachtet, denn zur Gefahrenabwehr sei es ausreichend gewesen, die Pressevertreter zur vorübergehenden Herausgabe des Speichermediums bis zu einer gemeinsamen Sichtung der gefertigten Aufnahmen durch Presse und Polizei aufzufordern.708 Das „Glasverbot“ im Straßenkarneval ist erforderlich, weil die zu Verletzungen und Sachbeschädigungen führenden großen Scherbenmengen auf den Straßen mit den üblichen Mitteln der Müllabfuhr zeitnah nicht beseitigt werden können.709 Die Durchführung einer behördlich ausgewählten Gefahrenabwehrmaßnahme ist nicht erforderlich, wenn der Pflichtige ein gleich geeignetes Austauschmittel anbietet. Deshalb ist dem Betroffenen auf Antrag zu gestatten, ein anderes, ebenso wirksames Mittel anzuwenden, sofern

_____ 700 VG Freiburg VBlBW 2011, 239, 240. 701 VGH BW DVBl 1991, 1370; DÖV 2002, 1002; NVwZ-RR 2003, 558; OVG Hamburg NJW 2001, 168, 169; NJW 2005, 2247, 2249 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/4; OVG RP NJW 1999, 3573, 3574; SächsOVG NJW 2009, 2551, 2552 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/5; OVG SH NVwZ-RR 2003, 647 o JK LVwG SH § 238 I/1; Michaelis JURA 2003, 298, 303; ebenso trotz Hinweises des „Falschparkers“ OVG Hamburg NJW 2001, 3647, 3648 m Bespr Schwabe NJW 2002, 652; bedenklich VG Freiburg NJW 2000, 2602: Pflicht zur Ermittlung per Funk, ob für das betr Kfz ein Anwohnerparkausweis existiert. 702 SächsOVG SächsVBl 2002, 268, 269; LKV 2011, 564 o JK SächsPolG § 29/1; SächsVBl 2012, 71. 703 SächsOVG SächsVBl 2000, 170, 174. 704 VGH BW NJW 2000, 3658, 3660 o JK Pol- u OrdR pol Gk/5; ähnlich bzgl Meldeauflage wegen G8-Gipfel BVerwGE 129, 142 = NVwZ 2007, 1439 Tz 41. o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/10. 705 VGH BW VBlBW 2011, 350, 351 o JK PolG BW § 28/1. 706 OVG RP NJW 2006, 1830 1831 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/2. 707 SächsOVG SächsVBl 2008, 89, 91 (m Bespr Petersen-Thrö 82). 708 VGH BW VBlBW 2011, 23, 26 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/11. – BVerwG NJW 2012, 2676 Tz 35 (o JK Polu OrdR Pol Generalklausel/14) hält es sogar für angebracht, die Gefahrenabwehr mit den Pressevertretern „auf konsensualem Weg“ zu unternehmen. 709 OVG NW NVwZ-RR 2012, 473; ebenso zum Verkaufsverbot von Glasbehältnissen OVG NW GewArch 2012, 265, 267 o JK OBG NW § 14/3.

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die Allgemeinheit dadurch nicht stärker beeinträchtigt wird.710 Das angebotene Austauschmittel genießt selbst dann Vorrang, wenn es den Pflichtigen objektiv stärker belastet als die behördlich vorgesehene Maßnahme.711 Bietet der Pflichtige ein weniger wirksames Austauschmittel als das zur Gefahrenabwehr behördlich geforderte Mittel an, muss sich die Gefahrenabwehrbehörde darauf nicht einlassen.712 Die Verhältnismäßigkeit (Angemessenheit, Zumutbarkeit) ist gewahrt, wenn die Gefah158 renabwehrmaßnahme nicht zu einem Nachteil führt, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht. „Nachteil“ ist primär die Freiheitseinbuße beim Betroffenen, aber auch jede sonstige materielle und immaterielle Beeinträchtigung von Rechten und Rechtsgütern; „Erfolg“ ist die Gefahrenabwehr bzw Störungsbeseitigung. Indem die Proportionalität zwischen Mittel und Zweck zu wahren ist, gibt es keine Gefahrenabwehr um jeden Preis.713 Auch wenn eine Gefahrenabwehrmaßnahme geeignet und erforderlich ist, kann sie wegen Unverhältnismäßigkeit rechtswidrig sein. Die Angemessenheit einer Maßnahme ist im Wege der Güterabwägung zu ermitteln.714 Auf der einen Seite steht die Bedeutung des bedrohten Schutzguts, auf der anderen Seite das Ausmaß des durch die (geplante) behördliche Maßnahme drohenden Schadens für den Betroffenen. Durchzuführen ist ein Abwägungsvorgang, der stark von Wertungsfragen beeinflusst wird.715 Die Unverhältnismäßigkeit einer Maßnahme kann nur angenommen werden, wenn sie in einem offensichtlichen („erkennbaren“) Missverhältnis zur Schwere des Eingriffs steht. 716 Je nach Sachlage darf die Verwaltung nach bisheriger Doktrin auch generalpräventive Erwägungen anstellen. Von praktischer Bedeutung ist dies zB beim Abschleppen verbotswidrig abgestellter Fahrzeuge. Zur Wiederherstellung verkehrsgerechter Zustände ist das Abschleppen idR geeignet und erforderlich, aber auch – da die Nachteile beim Pflichtigen nicht allzu schwer wiegen – verhältnismäßig.717 Dabei kommt es für die Bejahung der Verhältnismäßigkeit nicht darauf an, ob das rechtswidrig abgestellte Fahrzeug tatsächlich eine konkrete Verkehrsbehinderung darstellt.718 Die gegenteilige Auffassung 719 übersieht, dass (unabhängig von zB zugeparkten Feuerwehrausfahrten und Behindertenparkplätzen) von jedem verbotswidrigen und nicht geahndeten Verhalten im Straßenverkehr eine negative Vorbildwirkung für andere Fahrzeugführer ausgeht, die die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung berücksichtigen darf.720 Als unverhältnismäßig ist (in einer nicht restlos überzeugenden Entscheidung) eine Abschleppanordnung gewertet worden, weil auf Grund der konkreten Umstände des Falles feststand, dass der Fahrer eines ver-

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710 Ausdrücklich Art 5 II 2 BayPAG; § 12 II 2 ASOG Bln; § 4 II 2 BbgPolG, § 20 S 2 BbgOBG; § 4 II 2 PolG Bremen; § 4 IV HbgSOG; § 5 II 2 HessSOG; § 14 II SOG MV; § 5 II 2 NdsSOG; § 3 II 2 PolG NW, § 21 S 2 OBG NW; § 3 II 2 POG RP; § 3 II 2 PolG SL; § 6 II 2 SOG LSA; § 5 II 2 ThürPAG, § 7 II ThürOBG; § 16 II 2 BPolG. 711 OVG NW DÖV 1962, 617: freiwillige kostspielige Instandsetzung eines baufälligen Hauses statt Abbruch. 712 OVG NW NWVBl 2003, 386, 390. 713 Ossenbühl JURA 1997, 617, 619; Götz § 11 Rn 29. 714 Poscher/Rusteberg JuS 2011, 1082, 1085 f; Pieroth/Schlink/Kniesel § 10 Rn 30. – Zur Strukturierung der Prüfung Reuter JURA 2009, 511, 515 f. 715 Kluth JA 1999, 606, 610; Voßkuhle JuS 2007, 429, 430. 716 Gusy Rn 399 betont zutreffend, nach Bejahung der Erforderlichkeit einer Maßnahme (mildestes Mittel) blieben nur wenige Fälle, die dem eindeutigen Verdikt der Unverhältnismäßigkeit unterfielen. 717 VGH BW NJW 1990, 2270, 2271; BayVGH NJW 1999, 1130; NJW 2001, 1960; HessVGH NVwZ-RR 1991, 28 und NVwZ-RR 1999, 23, 26 o JK HessSOG §§ 8, 49, 53/1 (dazu Remmert NVwZ 2000, 642); OVG NW NJW 1998, 2465; OVG SH NVwZ-RR 2003, 647, 648 o JK LVwG § 238 I/1. 718 BVerwG NJW 1990, 931; VGH BW NVwZ-RR 2003, 558; NJW 2003, 3363; BayVGH BayVBl 1991, 433, 434; NJW 1996, 1979, 1980; OVG MV LKV 2006, 225, 227; OVG NW NJW 1999, 1275; NWVBl 2000, 355; OVG RP NVwZ 1988, 658, 659. 719 BVerwGE 90, 189, 193 – Parken auf Gehweg; OVG Hamburg NJW 2001, 168, 169 – Parken auf Radweg, im Fall Behinderung bejaht; OVG Hamburg NJW 2001, 3647, 3649 – Parken auf Fußweg, im Fall Behinderung bejaht (dazu Schwabe NJW 2002, 652); ähnlich OVG Hamburg NJW 2005, 2247, 2251 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/4. 720 An der Richtigkeit seiner Rspr (Fn 719) zweifelnd BVerwG DVBl 2002, 1560 (m Anm Schwabe).

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kehrsordnungswidrig abgestellten Kfz in Kürze die Störung selbst beseitigen würde; eine Abschleppanordnung dürfe nicht aus Gründen der General- oder Spezialprävention getroffen werden (zw), weil die Ahndung von Verstößen (auch bei hartnäckigen Parksündern) mit den Mitteln des Ordnungswidrigkeitenrechts zu bewerkstelligen sei.721 Wird ein Fahrzeug ordnungsgemäß abgestellt und erst danach ein (mobiles) Haltverbotsschild angebracht, ist eine Abschleppmaßnahme idR nicht unverhältnismäßig, wenn zwischen dem Aufstellen des Schildes und dem Abschleppen des Fahrzeugs eine bestimmte Mindestfrist („Vorlaufzeit“) verstrichen ist;722 hierzu setzt sich die Auffassung durch, dass das Abschleppen des Fahrzeugs am vierten Tag nach dem Aufstellen des Schildes verhältnismäßig ist.723 Nach der Rechtsprechung muss mit Änderungen bzgl des ruhenden Verkehrs (zB wegen Bauarbeiten) gerechnet werden.724 Auf der Sekundärebene, dh bei der Kostenerstattung (allg dazu Rn 398 ff), kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dennoch zum Tragen kommen. Danach muss ein Verkehrsteilnehmer, der sein Fahrzeug ordnungsgemäß geparkt und eine nachträglich eingerichtete Halteverbotszone weder gekannt hatte noch mit ihr hatte rechnen müssen, zwar das polizeiliche Handeln auf der Primärebene hinnehmen, auf der Sekundärebene der Kostentragung kann seine Heranziehung jedoch unangemessen sein, wenn sein Vertrauen auf den Fortbestand des erlaubten Parkens in gewissem Umfang Schutz verdient.725 Die Angemessenheit von Personen- und Objektschutzmaßnahmen wurde im Falle des von Killern bedrohten Staatsanwalts (Rn 156, 157) bejaht, obwohl Dritte als Nichtstörer durch die Maßnahmen (mit)betroffen waren; der Schutz des Lebens des Staatsanwalts wog schwerer als das Unbehagen der betroffenen Dritten.726 Die vollständige Abriegelung eines Ortes für mehrere Stunden durch Polizeikräfte anlässlich eines Castor-Transports stand hingegen „in keiner angemessenen Reaktion zu dem angestrebten Zweck“.727 Meldeauflagen zur Verhinderung einer Ausreise potentieller Gewalttäter aus dem Bundesgebiet zu politischen oder sportlichen Großereignissen werden grundsätzlich als zumutbar erachtet; derartige Maßnahmen werden – zumal bei Ausnahmen von einer strikten Meldepflicht bei der Polizeibehörde – als nur wenig belastend eingestuft.728 Dasselbe gilt für die Personenfeststellung nach der Entfachung eines Feuers auf einer öffentlichen Straße.729 Auch die Beschlagnahme der Fotoausrüstung eines Pressefotografen während der Dauer eines Polizeieinsatzes wurde als angemessen qualifiziert, da die ungestörte Festnahme des gesuchten Straftäters Vorrang habe vor der jederzeitigen Ausübung der Pressefreiheit.730 Das „Glasverbot“ im Straßenkarneval steht nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg; die Abwehr von Gefahren betrifft bedeutsame Rechtsgüter (körperliche Unversehrtheit, Eigentum), auf der anderen Seite können die Karnevalisten auf dem Markt erhältliche Alternativen verwiesen werden (zB Plastikflaschen, Dosen, Pappbecher).731 Die erwähnte polizeiliche Observation des rückfallgefährdeten Sexualstraftäters wurde nicht nur für erforderlich erachtet (Rn 157), sondern auch als „noch angemessen“ eingestuft; zwar liege ein schwerwiegen-

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721 OVG Hamburg BeckRS 2011, 52410 (m Anm Klüver DVBl 2011, 1247) o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/6. 722 OVG Hamburg DÖV 1995, 783, 784: 3 Tage; OVG NW NVwZ-RR 1996, 59: 48 Stunden. 723 BVerwGE 102, 316, 320 (dazu Bespr Mehde JURA 1998, 297); VGH BW NJW 2007, 2058, 2059; BayVGH DÖV 2008, 732, 733; SächsOVG NJW 2009, 2551 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/5. 724 BVerwGE 102, 316, 320; vgl auch HessVGH NJW 1997, 1023, 1024 bei Ankündigung des geplanten Haltverbots und Einhaltung einer 3-Tage-Frist; dazu Bespr Michaelis NJW 1998, 122. 725 So OVG Hamburg NVwZ-RR 2010, 263, 265 (im konkreten Fall jedoch verneint). 726 OVG RP NJW 2006, 1830, 1832 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/2. 727 So NdsOVG NVwZ-RR 2007, 103, 105 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/8. 728 BVerwGE 129, 142 = NVwZ 2007, 1439 Tz 42 ff o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/10; BayVGH BayVBl 2006, 671; NdsOVG NVwZ-RR 2006, 613, 614 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/7. 729 VGH BW NVwZ-RR 2011, 231, 233. 730 SächsOVG SächsVBl 2008, 89, 91 f (m Bespr Petersen-Thrö 82). 731 OVG NW NVwZ 2012, 470, 473; ebenso zum Verkaufsverbot von Glasgetränkebehältnissen OVG NW GewArch 2012, 265, 267 o JK OBG NW § 14/3.

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der Grundrechtseingriff vor, weil sich der Betroffene außerhalb seines Wohnraums nur in dem Bewusstsein fortbewegen könne, dass er von Polizeibeamten verfolgt werde, jedoch wögen die Gefahren für Leben, Gesundheit und Freiheit Dritter so schwer, dass die Freiheitsrechte des Betroffenen dahinter zurückstehen müssten.732 Im Gefahrenabwehrrecht hat das Übermaßverbot auch eine wichtige zeitliche Dimension. 159 Eine Maßnahme ist nur solange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann (vgl auch Rn 385). 160 cc) Ermessensreduzierung. Der behördliche Ermessensspielraum kann im konkreten Fall so verengt sein, dass nur die Durchführung einer Gefahrenabwehrmaßnahme als ermessensfehlerfrei angesehen werden kann. Bei einer Ermessensreduzierung auf Null ist die Behörde zum Einschreiten verpflichtet. Dies entspricht Grundsätzen des Allgemeinen Verwaltungsrechts.733 Dabei betrifft die Ermessensreduzierung in erster Linie das Entschließungsermessen; beim Auswahlermessen verfügt die Behörde idR über mehrere Möglichkeiten zur Gefahrenbeseitigung, so dass insoweit selten eine vollständige Ermessensschrumpfung eintritt.734 Als Kriterien für eine Ermessensreduzierung auf Null fungieren nach hM die Bedeutung des Schutzguts und die Intensität der Gefahr.735 Richtig ist, dass zum Schutz hochwertiger Rechtsgüter (zB Leben, Gesundheit) idR eine Pflicht zum Einschreiten besteht. Aber auch unterhalb dieser Schwelle kann eine Verpflichtung zur Gefahrenabwehr angenommen werden, wenn diese zur Verhinderung eines Schadens an einem Schutzgut bei zumutbarem Aufwand und ohne Vernachlässigung anderer wichtiger Behördenpflichten erfolgen kann. 736 Ansonsten würde der Staat seiner Verfassungspflicht zur Gewährleistung der Inneren Sicherheit (Rn 21 f) nicht in dem rechtlich gebotenen und möglichen Maß nachkommen. Schematische Betrachtungen zum Ermessen verbieten sich ohnehin.737 Im konkreten Fall kann eine Ermessensreduzierung insbesondere auf einer Einwirkung von 161 Freiheitsgrundrechten auf die Ermessensausübung beruhen. Geht es um den Schutz der Menschenwürde (Art 1 I GG), besteht eine Pflicht zur Gefahrenabwehr.738 Zur Beseitigung unfreiwilliger Obdachlosigkeit ist die Verwaltung auf Grund der staatlichen Schutzpflicht nach Art 2 II 1 GG gehalten, Ermessen besteht nur in Bezug auf das „Wie“.739 Gegenüber Hausbesetzern darf die Polizei aus Gründen des Art 14 I GG nicht dauerhaft untätig bleiben, allenfalls besteht eine polizeitaktische Dispositionsbefugnis zum Zeitpunkt des Einschreitens (zB zwecks Vermeidung von Krawallen).740 Immer geht es darum, nach Maßgabe der grundrechtlichen Schutzpflicht zu

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732 VG Freiburg VBlBW 2011, 239, 241; im konkreten Fall waren die Häufigkeit und Brutalität der vom Betroffenen begangenen Sexualstraftaten sowie seine Therapieresistenz von Bedeutung. 733 Vgl Schoch JURA 2004, 462, 468; Jestaedt in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 11 Rn 64 f; Analyse der Rspr bei Laub Die Ermessensreduzierung in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, 2000, 50 ff. 734 VG Minden NJW 2006, 1450, 1452; Pieroth/Schlink/Kniesel § 10 Rn 39, 42. 735 BVerwGE 11, 95, 97; Pietzcker JuS 1982, 106, 108; Poscher/Rusteberg JuS 2011, 1082, 1086; Götz § 11 Rn 6; Schenke Rn 100 f. – Ebenso für das „baupolizeiliche“ Einschreiten BayVerfGH NVwZ-RR 1994, 631, 632; zweifelnd BVerwG NVwZ-RR 1997, 271. 736 Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 125 f. 737 Bedenklich daher zT die Rspr zum „intendierten“ Ermessen, BVerwGE 105, 55 = DVBl 1998, 145 (m Anm Schwabe) o JK Pol- u OrdR Entschl u Ausw Ermessen/1; ferner OVG Berlin LKV 2002, 184; dazu auch Volkmann DÖV 1996, 282; Borowski DVBl 2000, 149; Pabst VerwArch 93 (2002), 540. Zutr relativierend SächsOVG SächsVBl 2004, 157, 159: Auch beim intendierten Ermessen muss die Behörde erkennen, dass ihr ein – wenn auch gelenkter – Ermessensspielraum zusteht; richtig auch VGH BW VBlBW 2006, 357; OVG NW NWVBl 2009, 231, 232; Analyse zur Rspr bei Schoch JURA 2010, 358 ff. 738 BVerwGE 115, 189 o JK OBG NW § 14/2 (allerdings mit Subsumtionsfehler des BVerwG zu Art 1 I GG); bekräftigend BVerwG GewArch 2007, 247, 249. 739 VGH BW DVBl 1996, 294. 740 Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 138; richtig VG Freiburg VBlBW 1987, 349; bedenklich VG Berlin DVBl 1981, 785 o JK Pol- u OrdR Entschließungsermessen/1.

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ermitteln, ob (und ggf welches) Einschreiten der Gefahrenabwehrbehörden geboten ist oder ob (und ggf welche) Entscheidungsspielräume der Verwaltung verbleiben.741 Ermessensbindungen erfolgen auch durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 I GG). 162 Danach ist in vergleichbaren Fällen ein gleichmäßiges behördliches Einschreiten geboten, zB bei (bevorstehenden) Gesetzesverstößen gegen das Ladenöffnungsrecht742 oder den gesetzlichen Sonn- und Feiertagsschutz;743 eine differenzierende Behördenpraxis muss auf sachlichen Gründen beruhen.744 Das gilt insbesondere bei der Störerauswahl im Bauordnungsrecht beim behördlichen Einschreiten gegen illegale Bauwerke, Anlagen und Vorhaben etc, aber auch bei anderen Konstellationen der Störermehrheit (dazu Rn 225 ff). Die Behörde darf sich nicht willkürlich einzelne Störer „herauspicken“, sondern sie muss nach einem Gesamtkonzept vorgehen und nach Art 3 I GG (ggf zeitlich gestreckt) gegenüber allen Störern einschreiten.745 Ein Anspruch auf „Gleichheit im Unrecht“ besteht indes nicht.746 Ermessensreduzierend können auch Vorgaben des EU-Rechts wirken. Die Entscheidung 163 des EuGH zur rechtswidrigen mitgliedstaatlichen Duldung der Behinderung von Agrarimporten durch Demonstranten 747 lässt sich unschwer als „Anspruch“ der EU auf polizeiliches Einschreiten der Mitgliedstaaten bei Störungen des grenzüberschreitenden Warenverkehrs durch Private deuten.748 Generell umfasst die Pflicht zur Unionstreue (Art 4 III EUV) ggf die Pflicht zum Einsatz gefahrenabwehrrechtlicher Maßnahmen. Auch das einfache, bereichsspezifische Gesetzesrecht kann zu einer Ermessensreduzierung 164 bei der Gefahrenabwehr führen. Wenn zB vom Sonn- und Feiertagsschutz nur in einem „besonderen Ausnahmefall“ durch behördliche Ausnahmebewilligung abgesehen werden darf, ein solcher Fall nicht vorliegt und sich ein privater Anbieter von Waren gesetzeswidrig darüber hinwegsetzt, ist der zuständigen Behörde wegen Art 20 III GG idR kein Ermessen eröffnet, das eine Untätigkeit erlaubt.749 Ähnliches gilt, wenn sich ein Ausländer (Asylbewerber) gesetzeswidrig ohne gültigen Pass im Bundesgebiet aufhält; zur Beseitigung des polizeiwidrigen Zustands hat die Behörde keine andere Wahl, als zur Durchsetzung der Rechtsordnung die Vorlage eines gültigen Passes zu verlangen.750 dd) Anspruch auf Einschreiten. Mit der objektiv-rechtlichen behördlichen Pflicht zum Ein- 165 schreiten korrespondiert nicht notwendigerweise ein entsprechender Anspruch. Dafür müssen die Voraussetzungen des subjektiven öffentlichen Rechts 751 erfüllt sein. Als Anspruchsgrundlage kommt die Generalklausel in Betracht, soweit eine Gefahr für Rechte bzw Rechtsgüter des Einzelnen besteht. Die Bejahung eines Anspruchs setzt zudem voraus, dass das behördliche

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741 Eher zurückhaltend zur Aktivierung der Schutzpflicht Ullrich VerwArch 102 (2011) 383, 399 ff. 742 VG Berlin NJW 1999, 2988, 2989. 743 OVG Hamburg NVwZ 1991, 180, 183; SächsOVG SächsVBl 2002, 269, 270; VG Gera NVwZ-RR 1999, 579, 580. 744 OVG NW NWVBl 2001, 94, 96. 745 VGH BW NVwZ-RR 1998, 553, 554; OVG NW NVwZ-RR 1995, 635, 636; dazu Schoch JURA 2012, 685, 689. – Zum Verstoß einer Abrissverfügung gegen Art 3 I GG trotz „intendierten Ermessens“ wegen Nichtbeachtung der atypischen Fallgestaltung ThürOVG ThürVBl 2010, 270 o JK LBO Beseitigungsanordnung/1. – Zu den rechtlichen Konsequenzen einer „Amnestie“ für Schwarzbauten beim bauordnungsbehördlichen Ermessen OVG RP DVBl 2012, 250, 252. 746 OVG RP NJW 1997, 1174, 1176; differenziernd F. Kirchhof FS Merten, 2007, 109 ff. 747 EuGH Slg 1997, I-6959 o JK EGV Art 30/2; dem Grunde nach bestätigend EuGH Slg 2003, I-5659 o JK EGV Art 28/3. 748 Schwarze EuR 1998, 53; Meier EuZW 1998, 87; Lindner JuS 2005, 302, 306. 749 VGH BW NVwZ-RR 1991, 634, 635; ähnlich VG Schleswig GewArch 1997, 262, 263 und NVwZ-RR 2001, 236. 750 Unrichtig OVG NW NVwZ-RR 2004, 689, das in der Verfügung eine Ermessensüberschreitung sieht, weil das Fachrecht (Ausländer- und Asylrecht) eine Passbeschaffungspflicht nicht kenne; hier wird das Zusammenwirken von gesetzlicher lex imperfecta (Normierung einer Passpflicht) und ihrer Durchsetzung nach Maßgabe der Generalklausel (Rn 102) übersehen. 751 Dazu Scherzberg in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 12 Rn 8 ff.

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Ermessen dergestalt reduziert ist, dass nur das behördliche Einschreiten und die begehrte Maßnahme als rechtmäßig erscheinen. Das ist beim Entschließungsermessen manchmal, beim Auswahlermessen selten der Fall.752 Hier können Rang und Gewicht des bedrohten Schutzguts und die Intensität der Gefahr (vgl Rn 160) Bedeutung erlangen. Immer kommt es jedoch auf die konkreten Umstände des Falles an.753 Am Beispiel des Anspruchs auf Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft im Falle un166 freiwilliger Obdachlosigkeit wird die Problemstellung deutlich. Nach der Generalklausel hat der Obdachlose einen Anspruch dem Grunde nach.754 Der Anspruchsinhalt zielt auf die Zuweisung einer Unterkunft, die Mindeststandards entspricht (menschenwürdige Unterkunft, Zugänglichkeit auch tagsüber zum Schutz vor der Witterung), ohne dass sie eine allgemeinen Anforderungen entsprechende wohnungsmäßige Versorgung darstellen müsste.755 Im Übrigen liegt das „Wie“ zur Beseitigung der Obdachlosigkeit im behördlichen Ermessen; der Betroffene hat idR insbesondere keinen Anspruch auf Zuweisung einer bestimmten Unterkunft.756

2. Polizei- und ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit a) Polizei- und Ordnungspflicht als Zurechnungsproblem 167 Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung kann entweder von der zuständigen Gefahrenabwehrbehörde selbst (bzw durch von ihr Beauftragte) oder durch die Inanspruchnahme von Personen abgewehrt werden. Verfügt die Behörde Gefahrenabwehrmaßnahmen gegen Personen, muss sie sich idR an die für die Gefahrenlage Verantwortlichen („Störer“) halten; die Inanspruchnahme nichtverantwortlicher Personen („Nichtstörer“) kommt nur ausnahmsweise im Falle einer „Notstandspflicht“ in Betracht (Rn 237 ff). Die Verantwortlichkeit im Polizei- und Ordnungsrecht basiert entweder auf dem ge168 fahrverursachenden Verhalten einer Person (Verhaltensverantwortlichkeit, Rn 176 ff) oder sie gründet darauf, dass von einer Sache (oder einem Tier) eine Gefahr ausgeht (Zustandsverantwortlichkeit, Rn 192 ff).757 Beide Anknüpfungspunkte758 führen zu einem Zurechnungszusammenhang zwischen der Gefahrenlage und der hierfür bestehenden Verantwortlichkeit einer Person. Damit werden rechtsstaatliche und grundrechtliche Anforderungen erfüllt: Die Anordnung von

_____ 752 Vgl OVG Bremen NJW 2007, 939, 940; VG Minden NJW 2006, 1450, 1452. – Unabhängig davon kann der Anspruch nur dem Gefährdeten, nicht dem Störer zustehen; VGH BW VBlBW 1995, 64, 65. 753 Vgl VG Gelsenkirchen NJW 1999, 3730: Ablehnung der Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm; VG Hamburg NJW 2012, 2536: Ablehnung des Antrags auf Untersagung einer Theateraufführung (wegen – angeblicher – Blasphemie). – Im Bauordnungsrecht grds einen Anspruch auf behördliches Einschreiten schon bei der Verletzung nachbarschützender Vorschriften bejahend VGH BW NVwZ-RR 1995, 490; VBlBW 2003, 470, 472; BayVGH NVwZ-RR 2005, 56, 57 o JK BauGB § 36 I/2; OVG Berlin LKV 2003, 276, 278 o JK BauGB § 34 I/2; OVG NW NVwZ-RR 2000, 205; Schoch JURA 2005, 178, 184; aA NdsOVG NVwZ-RR 2003, 484; NVwZ-RR 2008, 374; NdsOVG NdsVBl 2009, 44 o JK NdsBauO § 89 I/1; NVwZ-RR 2012, 427; zweifelnd OVG Bremen NVwZ-RR 2002, 488; offen BVerwG NVwZ 1998, 395 u OVG MV LKV 2004, 188, 189 o JK LBO MV § 80 I 1/1; nach BVerwG NJW 1998, 395 kann der Nachbar evtl sogar auf ein zivilrechtliches Vorgehen gegen den Störer (§§ 1004, 906, 823 II BGB) verwiesen werden. – Analyse der Rechtsprechung bei Mehde/Hansen NVwZ 2010, 14 ff. 754 VGH BW NVwZ-RR 1996, 439; BayVGH NVwZ-RR 2002, 575; OVG Berlin JZ 1981 392 (m Anm B. Huber JZ 1981, 385) o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/1; Ruder NVwZ 2012, 1283, 1287. 755 VGH BW NVwZ 1993, 1220; NVwZ-RR 1994, 394; HessVGH LKRZ 2011, 217, 219; OVG MV NJW 2010, 1096, 1097; OVG NW NVwZ-RR 1993, 202. – Anders auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls NdsOVG NJW 2010, 1094 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/3: Wiedereinweisung des von Obdachlosigkeit bedrohten kranken Mieters in die bisherige Wohnung für einen bestimmten Zeitraum. 756 VGH BW NJW 1993, 1027; BayVGH NVwZ-RR 1991, 196; BayVBl 1993, 569; HessVGH LKRZ 2011, 217, 219; VG Hannover NVwZ-RR 1993, 148. 757 OVG NW DVBl 2008, 1129, 1131. 758 Die Unterscheidung zwischen Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit für die Zurechnung der Haftung abl Hollands Gefahrenzurechnung im Polizeirecht, 2005, 49 ff; krit dazu Möstl AöR 132 (2007), 326 f.

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Gefahrenabwehrmaßnahmen gegenüber Personen greift idR in die Rechtssphäre (insbesondere Grundrechte) des Einzelnen ein. Der Freiheitsanspruch des Einzelnen verlangt indes, von behördlichen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr verschont zu bleiben, die nicht durch eine hinreichende Beziehung zwischen ihm und der Gefährdung des zu schützenden Rechtsguts legitimiert sind.759 Die gesetzlichen Vorschriften zur Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit bilden demnach Grund und Grenze der behördlichen Inanspruchnahme von Personen zur Gefahrenabwehr.760 Beim Gesetzesvollzug muss die Gefahrenabwehrbehörde den Verantwortlichen ermitteln; es ist nicht Aufgabe des Adressaten einer Gefahrenabwehrmaßnahme, das Nichtvorliegen der von der Behörde nur vermuteten Polizei- bzw Ordnungspflicht nachzuweisen.761 Verhaltensverantwortlichkeit und Zustandsverantwortlichkeit wurzeln in unterschiedlichen 169 Legitimationsgrundlagen. Beim „Handlungsstörer“ beruht die Verantwortlichkeit auf der individuellen Gefahrverursachung, dh auf einer Kausalbeziehung zwischen Verhalten und Gefahr (Rn 178). Beim „Zustandsstörer“ liegt der Zurechnungsgrund für die Verantwortlichkeit in der Sachherrschaft (Rn 193). Von daher kann von einer „dualen Struktur“ der Pflichtigkeit im Polizei- und Ordnungsrecht gesprochen werden.762 Damit ist aber noch nichts zu den konkreten Zurechnungskriterien ausgesagt. Nicht (vor)entschieden ist insbesondere, ob und inwieweit die Zurechnung der Gefahr auch bei der Zustandshaftung auf Kausalbeziehungen beruht.763 Schon der Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen 764 deutet an, dass die Unmittelbarkeit der Verursachung (Rn 178) das tragende Zurechnungsprinzip (wenn auch in unterschiedlicher inhaltlicher Ausprägung) ist.765 Die strukturelle Parallele in beiden Zurechnungszusammenhängen wird sichtbar: So wie die Verhaltensverantwortlichkeit nur durch die unmittelbare Verursachung einer Gefahr ausgelöst wird, setzt die Zustandsverantwortlichkeit voraus, dass die Sache selbst unmittelbar die Gefahrenquelle bildet.766 Die nähere Bestimmung der Zurechnungskriterien muss im jeweiligen Regelungszusammenhang erfolgen (Rn 176 ff und Rn 192 ff). Vorentschieden ist indes, dass als „Verantwortlicher“ nicht in Anspruch genommen werden darf, wer weder eine Gefahr durch sein Verhalten verursacht hat (und auch für das Verhalten Dritter nicht einzustehen hat, Rn 191) noch für den gefährlichen Zustand einer Sache haftet.

b) Funktion und Bedeutung der Verantwortlichkeit Die Vorschriften zur Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit sind unter grundrechtlichen 170 Vorzeichen Schrankenbestimmungen (dh Ausprägungen des Gesetzesvorbehalts); der durch eine Verfügung zur Verantwortung gezogene „Störer“ sieht sich in seine (Grund-)Rechtsschranken verwiesen. Er hat die (rechtmäßige) Anordnung zu dulden und die finanziellen Lasten der Gefahrenabwehrmaßnahme zu tragen. Im Unterschied zum Nichtstörer (Rn 409 ff) hat er auch keinen Entschädigungsanspruch.767 Wurde die Gefahrenlage behördlicherseits beseitigt, hat der

_____ 759 LVerfG MV DVBl 2000, 262, 265 (m Anm Engelken); VG Trier NJW 2002, 3268, 3269. 760 Albers Straftatenverhütung, 59 f. – Instruktiv BayVGH NVwZ-RR 2005, 465, 466 o JK BBodSchG § 4 III/2 (§ 128 HGB als untaugliche Zurechnungsnorm). 761 OVG NW NWVBl 2003, 58. 762 Lepsius Besitz und Sachherrschaft, 241. 763 AA Lepsius JZ 2001, 22 und ders Besitz und Sachherrschaft, 224: „Verursachung“ unmaßgeblich für die Zustandsverantwortlichkeit. 764 „Verursacht eine Person eine Gefahr …“, vgl Nachw Fn 805. – „Geht von einer Sache eine Gefahr aus …“, vgl Nachw Fn 867, bzw „Wird die öffentliche Sicherheit oder Ordnung durch den Zustand einer Sache bedroht …“, vgl Nachw Fn 868. 765 Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 76 ff; Götz § 9 Rn 10 f. 766 OVG NW NJW 2000, 2124, 2125 f; NWVBl 2005, 177, 178. 767 Zur Ausnahme beim Verursacher eines Gefahrverdachts unten Rn 421.

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Verantwortliche unter bestimmten Voraussetzungen (Rn 400 ff) die Kosten zu erstatten; diese Kostentragungspflicht ist Ausdruck der besonderen Beziehung des Verantwortlichen zur Gefahr sowie Fortsetzung seiner nicht selbst erfüllten Polizei- und Ordnungspflicht.768 171 In ihren geltenden positivrechtlichen Ausprägungen sind die Vorschriften zur Verantwortlichkeit als Bestimmungen zum Erlass behördlicher Maßnahmen („Richtung“ von Maßnahmen) normiert. Eine allgemeine (abstrakt-generelle) materielle Polizei- und Ordnungspflicht ist nicht ausdrücklich statuiert. Gleichwohl liegt dem Gefahrenabwehrrecht (ausweislich der Generalklausel und spezieller Verhaltensnormen) eine allgemeine Nichtstörungspflicht, vergleichbar den Verkehrssicherungspflichten, zu Grunde.769 Danach müssen Personen ihr Verhalten und den Zustand ihrer Sachen so einrichten, dass daraus keine Gefahren entstehen. Die an einen bestimmten Adressaten gerichtete polizeiliche Verfügung konkretisiert die allgemeine Polizeipflicht.770 Die allgemeine Nichtstörungspflicht ist allerdings keine Grundlage für konkrete Deduktionen;771 maßgeblich hierfür ist das positive Recht. Deshalb besagt die Anerkennung jener Nichtstörungspflicht nichts zwingend zB zum Verhältnis zwischen Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit (vgl Rn 185) oder zur Rechtsnachfolge in die Polizei- und Ordnungspflicht (Rn 214 ff). Aber sie kann zB in Grenzfällen bei der Ermittlung der Verhaltensverantwortlichkeit als ein Element Berücksichtigung finden (vgl Rn 179, 184). Die allgemeinen Vorschriften des Gefahrenabwehrrechts zur Verhaltens- und Zustandsver172 antwortlichkeit kommen nicht zur Anwendung, soweit spezielle Bestimmungen regeln, gegen wen eine Maßnahme zu richten ist.772 Das ist zT im besonderen Gefahrenabwehrrecht der Fall; das wichtigste Beispiel insoweit ist § 4 III BBodSchG,773 weitere Beispiele finden sich zT im Abfallrecht 774 und zT im Landeswasserrecht (vgl auch Rn 173 aE)775 sowie für das Glücksspielrecht bei illegalen Online-Glücksspielen im Telemedienrecht (§§ 7 ff TMG776).777 Abweichende Bestimmungen finden sich ferner bei den Standardbefugnissen; sie erlauben vielfach Maßnahmen – zB Identitätsfeststellung (Rn 264 ff), Auskunftsverlangen (Rn 261) – gegen Personen, die nach Maßgabe der allgemeinen Vorschriften als „Nichtstörer“ qualifiziert werden müssten. Auf der anderen Seite haben die Bestimmungen zur allgemeinen Verhaltens- und Zustands173 verantwortlichkeit eine Bedeutung, die weit über die Anwendung der Generalklausel hinausgeht. Sie sind die maßgeblichen Direktiven für die Richtung von Standardmaßnahmen, wenn die Standardbefugnisnormen keine Regelung enthalten, gegen wen die Maßnahme zu richten ist. Die allgemeinen Vorschriften des Polizei- und Ordnungsrechts zur Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit finden ferner für Maßnahmen nach dem besonderen Gefahrenabwehrrecht Anwendung, wenn dort Regelungen zur „Störer“-Bestimmung fehlen.778 Wichtige

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768 OVG NW NVwZ-RR 1996, 59, 60 o JK VwVfG NW § 41/1. 769 VGH BW NVwZ 1996, 1036, 1037 o JK PolG BW § 6/1; VGH BW ZUR 2002, 227, 228; Pietzcker DVBl 1984, 457, 460; Martensen DVBl 1996, 286, 287 f; Götz § 9 Rn 6; Schenke Rn 228; insoweit auch zutr BVerwGE 125, 325 Tz 22 o JK BBodSchG § 4 III/3; aA Eschenbach NdsVBl 1998, 1 ff; Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 4; Kugelmann 8/5. 770 Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 69. 771 Vgl BayVGH NVwZ-RR 2005, 465 o JK BBodSchG § 4 III/2. 772 Ausdrücklich klarstellend Art 7 IV, 8 IV BayPAG; §§ 13 IV, 14 V ASOG Bln; §§ 5 IV, 6 IV BbgPolG, §§ 16 IV, 17 IV BbgOBG; § 8 PolG Bremen; §§ 68, 70 IV SOG MV; § 9 NdsSOG; §§ 4 IV, 5 IV PolG NW, §§ 17 IV, 18 IV OBG NW; §§ 217, 219 IV LVwG SH; §§ 7 IV, 8 IV ThürPAG, §§ 10 IV, 11 IV ThürOBG. 773 HessVGH NVwZ 2000, 828 o JK BBodSchG § 4/1: abschließende Regelung zum Kreis der Sanierungspflichtigen in § 4 BBodSchG; bestätigend BVerwG NVwZ 2000, 1179; dazu Bespr Bickel NVwZ 2000, 1133; ferner BVerwGE 122, 75, 83; BayVGH NVwZ-RR 2005, 465 o JK BBodSchG § 4 III/2. 774 Zur Zustandsverantwortlichkeit des Abfallbesitzers instruktiv BVerwGE 106, 43 = JZ 1998, 903 (m Anm Frenz/Bönning); vgl ferner BVerwG NVwZ 2003, 1252 (Besitzer von Abfällen an Wasserstraßen). 775 Dazu BayVGH BayVBl 2003, 466; OVG Hamburg NVwZ 2001, 1295, 1296. – Zur Verweisung des LWG auf das allg POR HessVGH NVwZ-RR 1998, 747, 748. 776 Sartorius ErgBd 922. 777 Dazu OVG NW DVBl 2010, 442, 443; VG Düsseldorf CR 2012, 401, 402. – Ferner Rn 359. 778 OVG NW NWVBl 2005, 177, 178.

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Beispiele insoweit bilden das Versammlungsrecht,779 das Bauordnungsrecht (zB bei der Beseitigungsverfügung),780 das Landesabfallrecht,781 das Landeswasserrecht,782 das Landesimmissionsschutzrecht,783 das Naturschutzrecht 784 und das Feuerwehrrecht.785

c) Rechtssubjekte der Polizei- und Ordnungspflicht Adressaten von Gefahrenabwehrmaßnahmen sind Personen. Bei natürlichen Personen hängt 174 die Verantwortlichkeit schon aus Gründen der effektiven Gefahrenabwehr nicht von der Geschäfts- oder Deliktsfähigkeit und der Schuld- oder Verschuldensfähigkeit ab.786 Rechtssubjekte der Polizei- und Ordnungspflicht sind auch juristische Personen des Privatrechts , 787 ferner teilrechtsfähige Personenvereinigungen (zB OHG, KG) 788 und – nach Anerkennung der Teilrechtsfähigkeit durch den BGH 789 – die (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts.790 Bei der Verantwortlichkeit von Hoheitsträgern unterscheidet die (noch) hM zwischen der 175 materiellen Polizeipflicht und der Kompetenz bzw Befugnis der zuständigen Gefahrenabwehrbehörde zur Konkretisierung und Durchsetzung der Polizeipflicht. Danach ist – sofern keine Sonderrechte bestehen 791 – die materielle Pflichtigkeit schon wegen der Gesetzesbindung der Verwaltung (Art 20 III GG) nicht zu bezweifeln; unzulässig sei jedoch die Ausübung von Befugnissen gegenüber anderen Hoheitsträgern, weil die staatliche Kompetenzordnung einen Eingriff in den hoheitlichen Zuständigkeitsbereich einer anderen Verwaltungsbehörde mit obrigkeitlichen Mitteln verbiete.792 Zulässig sind danach Verfügungen an Verwaltungsträger, die deren nichthoheitlichen Bereich betreffen , 793 ferner die Heranziehung zur Kostenerstattung, wenn die Gefahrenabwehrbehörde an Stelle des pflichtigen Hoheitsträgers die Gefahr beseitigt hat.794 Das Dogma vom – angeblich – kompetenzwidrigen Übergriff in den Hoheitsbereich eines anderen Verwaltungsträgers entspricht dem geltenden Recht nicht.795 Das BVerwG spricht von „einem vermeintlich dem Gesetz voraus liegenden Grundsatz …, nämlich einem (allgemeinen)

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779 Vgl zB BVerwG NVwZ 1999, 991, 992 o JK VwGO § 113 I 4/15; VGH BW VBlBW 2002, 383, 384. 780 BayVGH NJW 1993, 81 o JK MBO § 76/1; OVG NW NVwZ-RR 1995, 635, NVwZ-RR 1997, 12; NVwZ-RR 2000, 205. – Zu Modifizierungen der Verantwortlichkeit nach allg POR durch die LBO ThürOVG ThürVBl 1997, 163, 165 f; ThürVBl 2004, 233, 235. – Zur eigenständigen Störerbestimmung in der LBO NdsOVG NdsVBl 2000, 142, 145. 781 Vgl zB VGH BW DÖV 1996, 1057; NVwZ 1996, 1036; ZUR 2002, 227; NdsOVG NJW 1998, 97 o JK Pol- u OrdR Rechtsnachfolge/6; OVG RP UPR 2012, 234, 238; VG Weimar ThürVBl 2000, 21, 22. 782 Vgl zB VGH BW DVBl 1990, 1047 o JK Pol- u OrdR Störer/6; VGH BW VBlBW 1995, 281 o JK Pol- u OrdR Störer/ 7; OVG SH UPR 1996, 194. 783 OVG NW NJW 2000, 2124. 784 VGH BW NVwZ-RR 1992, 350. 785 Vgl zB VGH BW NVwZ-RR 1994, 52; VBlBW 2002, 73; HessVGH DVBl 1986, 783. 786 OVG NW UPR 2007, 315, 316; NVwZ-RR 2009, 364; VG Berlin NJW 2001, 2489, 2490; Poscher JURA 2007, 801. – Im Verwaltungsverfahren agiert für den Handlungsunfähigen (§ 12 VwVfG) der gesetzliche Vertreter. 787 OVG NW NVwZ-RR 1994, 386, 387; der Private, der für die jur Person agiert, kann auch in Anspruch genommen werden, dh die Zurechnung des Handelns zur jur Person führt nicht zur Befreiung von der eigenen Verantwortlichkeit des Privaten, OVG NW UPR 2007, 315, 316. 788 VGH BW VBlBW 1993, 298, 301; VBlBW 1996, 221, 222. 789 BGHZ 146, 341 = JZ 2001, 655 (m Anm Wiedemann) o JK BGB §§ 705 ff/6; vgl auch BVerfG-K NJW 2002, 3533. 790 OVG NW NVwZ-RR 2009, 364, 365; SächsOVG SächsVBl 2002, 269. 791 Wichtig: § 35 StVO; dazu OLG Stuttgart NJW 2002, 2118. 792 HessVGH NVwZ 1997, 304, 305; NVwZ 2002, 889; NdsOVG NVwZ-RR 1993, 405, 406; OVG SH NVwZ 2000, 1196; Gebhard DÖV 1986, 545, 548 f; Wallerath/Strätker JuS 1999, 127, 130; Glöckner NVwZ 2003, 1207; Poscher JURA 2007, 801, 810; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 95 ff; Knemeyer Rn 352; Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 8a; Schenke Rn 233 ff; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 218 ff; Zeitler/Trurnit Rn 222. 793 VGH BW NVwZ-RR 1997, 267, 268. 794 BVerwG NVwZ 1999, 421; OVG SH NVwZ 2000, 1196. 795 Ausf Schoch JURA 2005, 324, 326 ff.

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Verbot behördlicher Eingriffe in den Aufgabenbereich anderer selbstständiger Hoheitsträger“.796 Wenn Hoheitsträger ebenso wie Private materiell polizeipflichtig sind und den zuständigen Gefahrenabwehrbehörden die Aufgabe, die Kompetenz und die Befugnis übertragen sind, den Schutz der öffentlichen Sicherheit (und Ordnung) zu gewährleisten, obliegt es diesen Behörden, zur Durchsetzung dieses Schutzes auch gegenüber Hoheitsträgern die notwendigen Anordnungen zu treffen.797 Ein Teil der Rechtsprechung hat dies im besonderen Gefahrenabwehrrecht bereits erkannt und durchgesetzt.798 Im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht wird der Erlass von Kostenerstattungsbescheiden der Gefahrenabwehrbehörden gegenüber anderen Hoheitsträgern anerkannt, nachdem zuvor zB im Wege der Ersatzvornahme die Gefahrenlage beseitigt worden ist.799 Auch in Eilfällen sollen die Gefahrenabwehrbehörden an Stelle des an sich pflichtigen Hoheitsträgers handeln können.800 Keine Beschränkung bestehe ferner, wenn der andere Hoheitsträger rein fiskalisch tätig werde.801 Es ist an der Zeit, im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht den angeblichen allgemeinen Grundsatz fehlender Anordnungsbefugnis der Gefahrenabwehrbehörden gegenüber polizeipflichtigen Hoheitsträgern vollständig aufzugeben.802 Die zuständigen Behörden müssen, falls Hoheitsträger ihrer materiellen Pflichtigkeit nicht nachkommen, zur Erfüllung ihrer Aufgaben Anordnungen wie gegen Privatrechtssubjekte treffen können.803 Eine Missachtung der Kompetenzordnung liegt darin schon deshalb nicht, weil die Gefahrenabwehrbehörde mit einer Gefahrenabwehrmaßnahme gerade ihre Kompetenzen wahrnimmt und dem fremden Hoheitsträger dessen Fachkompetenzen, die ja außerhalb des Gefahrenabwehrrechts anzusiedeln sind, mitnichten streitig macht. Ein Kompetenzkonflikt kann allenfalls dann entstehen, wenn eine Gefahrenabwehrmaßnahme wegen ihres Inhalts bei dem anderen Hoheitsträger die Erfüllung seiner öffentlich-rechtlichen Aufgaben (dh die Funktionsfähigkeit) ernstlich beeinträchtigt.804 Nach geltendem Recht (§ 17 VwVG und Parallelvorschriften im Landesrecht) sind lediglich Zwangsmittel gegen Behörden und juristische Personen des Öffentlichen Rechts grundsätzlich unzulässig. Im Gegenschluss heißt dies, dass Maßnahmen im davor liegenden Verwaltungsverfahren gerade nicht ausgeschlossen sind.

d) Verhaltensverantwortlichkeit 176 „Verursacht eine Person eine Gefahr, so sind die Maßnahmen gegen diese Person zu richten.“ 805 Mit dieser Formulierung wird im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht die Verhaltensverantwortlichkeit als verschuldensunabhängige Kausalhaftung statuiert.806 Die Zurechnung der

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796 BVerwG NVwZ 2009, 588 Tz 18 o JK GG Art 74 I Nr 21/3. 797 Götz § 9 Rn 78; Möller/Warg Rn 123. 798 Immissionsschutzrecht: BVerwGE 117, 1 o JK BImSchG § 24/3; VGH BW VBlBW 2001, 496. – Abfallrecht: VGH BW NVwZ-RR 1997, 267; BayVGH NJW 2004, 2768. – Denkmalschutzrecht: BVerwG NVwZ 2009, 588 o JK GG Art 74 I Nr 21/3. 799 BVerwG NVwZ 1999, 421; NVwZ 2003, 1252. 800 HessVGH DÖV 1992, 752; Wallerath/Strätker JuS 1999, 127, 130. 801 HessVGH NVwZ 1997, 304, 305; Schenke Rn 237; Zeitler/Trurnit Rn 222. 802 Britz DÖV 2002, 891 ff; Scheidler UPR 2004, 253 ff; Borowski VerwArch 101 (2010) 58 ff. 803 Gusy Rn 143; Kugelmann 8/19; Möller/Warg Rn 123; Tettinger/Erbguth/Mann BesVwR Rn 527; Würtenberger/ Heckmann Rn 491. – Auch nach NdsOVG NVwZ-RR 2006, 397, 398 kommt im allg POR „eine Heranziehung des Bundes als Handlungsstörer in Betracht“. 804 Möller/Warg Rn 123; ansatzweise idS bereits BVerwGE 29, 52, 59. 805 Art 7 I BayPAG; § 13 I ASOG Bln; § 5 I BbgPolG, § 16 I BbgOBG; § 5 I PolG Bremen; § 8 I HbgSOG; § 6 I HessSOG; § 6 I NdsSOG; § 4 I PolG NW, § 17 I OBG NW; § 4 I POG RP; § 4 I PolG SL; § 7 I SOG LSA; § 7 I ThürPAG, § 10 I ThürOBG; § 17 I BPolG. – Mit abw Formulierung in der Sache identisch § 6 PolG BW; Art 9 I 1 BayLStVG; § 69 I SOG MV; § 4 SächsPolG; § 218 I LVwG SH. 806 VGH BW NVwZ-RR 1996, 387, 389 o JK AbfG BW § 22 IV/1; BayVGH BayVBl 1996, 437, 438; BayVBl 1997, 502.

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Verhaltensverantwortlichkeit beruht auf der Gefahrverursachung; die „Haftung“ des Betroffenen ist die Folge des eigenen Verhaltens.807 Dieses umfasst positives Tun, aber auch pflichtwidriges Unterlassen (Rn 183 ff). aa) Gefahrverursachung. Bildet die Verursachung einer Gefahr das entscheidende Zurech- 177 nungskriterium für die rechtliche Begründung der Verhaltensverantwortlichkeit, geht es beim inhaltlichen Verständnis des Verursachungsbegriffs um die – mit Blick auf die Gefahrenabwehr – sachgerechte Ermittlung der relevanten Kausalfaktoren. Die Äquivalenztheorie kommt nicht in Betracht,808 da sie auf Grund der Gleichwertigkeit aller Bedingungen (dh auch der entferntesten) zu weit ist und im Polizei- und Ordnungsrecht die „Schuld“ als Korrektiv fehlt. Allerdings ist die Erfüllung der „conditio sine qua non“ erste und unverzichtbare Voraussetzung der Zurechnung.809 Die Adäquanztheorie scheidet aus, weil im Gefahrenabwehrrecht gerade auch atypische, der Lebenserfahrung nicht entsprechende Geschehensabläufe erfasst werden müssen.810 Notwendig ist eine spezifisch gefahrenabwehrrechtliche Kausalitätslehre, die der Funktion des Polizei- und Ordnungsrechts, die Verknüpfung von Verhalten und Verantwortlichkeit des „Störers“ normativ zu begründen, gerecht wird. „Störer“ ist nicht schon jeder, dessen Verhalten zum Eintreten der Gefahr in irgendeiner Weise ursächlich beigetragen hat; vielmehr ist der Ursachenzusammenhang anhand eines spezifisch gefahrenabwehrrechtlich geprägten Maßstabs wertend zu ermitteln.811 Diese Lehre, die die Eingrenzung der polizei- und ordnungsrechtlich relevanten Kausalfak- 178 toren bewerkstelligt, ist die Theorie der unmittelbaren Verursachung.812 Danach verursacht nur diejenige Person verantwortlich eine Gefahr, die mit ihrem Verhalten die Schwelle zur konkreten Gefahr unmittelbar überschreitet. 813 Die Feststellung der unmittelbaren Gefahrverursachung bereitet in den meisten Fällen keine Schwierigkeiten. Da die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung das bedeutsamste Schutzgut ist (Rn 109), verwirklicht idR derjenige unmittelbar die Gefahr, der gegen die Rechtsordnung verstößt. Zu bewältigen sind allerdings auch komplexe Sachverhalte. Beim Zusammenwirken mehrerer Personen reicht die Mitverursachung der Gefahr aus, um die Verhaltensverantwortlichkeit zu begründen.814 Bei „Summationsschäden“

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807 Bickel NVwZ 2004, 1210, 1211: „Der handelnde Mensch hat für sein Verhalten und dessen Folgen einzustehen. Dies entspricht dem Gedanken der Eigenverantwortung und ist die Kehrseite der grundrechtlich garantierten Handlungsfreiheit“. 808 AA Muckel DÖV 1998, 18 ff, der eine Zurechnungstheorie für entbehrlich erachtet und die Grenzenlosigkeit der Kausalität durch die Kriterien „Effektivität der Gefahrenabwehr“ und „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ kompensieren will; abl dazu Poscher JURA 2007, 801, 802; Götz § 9 Rn 13; Schenke Rn 241 Fn 41. 809 OVG Hamburg NJW 2000, 2600, 2601; OVG NW NWVBl 2003, 320 f; SächsOVG NJW 1997, 2253, 2254; Pietzcker DVBl 1984, 457, 459, 464; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 75; Würtenberger/Heckmann Rn 441. 810 Kugelmann 8/26; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 76. 811 OVG NW NVwZ 1997, 804 f; Thiel Rn 233. 812 Seit langer Zeit hM; vgl zB BVerwG NVwZ 2008, 684; VGH BW VBlBW 1982, 371, 372 o JK Pol- u OrdR Störer/3; NVwZ-RR 1996, 387, 388 o JK AbfG BW § 22 IV/1; BayVGH GewArch 2004, 390, 391; OVG Hamburg DÖV 1983, 1016, 1017; HessVGH DVBl 1986, 783; NVwZ-RR 1989, 137; UPR 1995, 198; NdsOVG NVwZ 1988, 638, 639; NJW 2006, 391, 394 ĺ JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/6; OVG NW NVwZ 1985, 355, 356; NVwZ-RR 1988, 20, 21; NJW 1993, 2698; OVG RP DVBl 1991, 1376, 1377; NVwZ-RR 2009, 280, 281 o JK BBodSchG § 10 I 1/1; UPR 2012, 234, 238; VG Düsseldorf CR 2012, 401, 402; Selmer JuS 1992, 97, 99; Drews/Wacke/Vogel/Martens Gefahrenabwehr, 313. 813 BVerwGE 125, 325 Tz 30 o JK BBodSchG § 4 III/3; BayVGH NJW 2004, 2768, 2769; OVG Hamburg NJW 2000, 2600, 2601; OVG NW NVwZ 1997, 804, 805; NWVBl 2003, 320; UPR 2007, 315, 316; NVwZ-RR 2008, 12; OVG RP UPR 2012, 234, 238; SächsOVG NJW 1997, 2253, 2254; OVG SH UPR 1996, 194; Schmelz BayVBl 2001, 550, 552. 814 VGH BW VBlBW 1995, 281 o JK Pol- u OrdR Störer/7; VGH BW NVwZ-RR 1996, 387, 389 o JK AbfG BW § 22 IV/1; BayVGH NVwZ-RR 1997, 617 f; NdsOVG NJW 1998, 97 f o JK Pol- u OrdR Rechtsnachfolge/6. – Dem Grunde nach muss die Mitverursachung feststehen, die bloße Möglichkeit der (Mit-)Verursachung reicht nicht; BayVGH BayVBl 2003, 466; OVG SH UPR 1996, 194; allenfalls kann auf den Nachweis des genauen Kausalverlaufs verzichtet werden, BayVGH GewArch 2004, 390, 391 f am Bspl der Verseuchung eines Tankstellengrundstücks bzgl der Verhaltenshaftung nach § 4 III 1 BBodSchG.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

ist die Isolierung der Teilbeiträge mehrerer Handlungsverantwortlicher für die (Gesamt-)Gefahrenlage nachträglich nicht möglich, jeder Verursacher kann zur vollständigen Gefahrenbeseitigung herangezogen werden; die Inanspruchnahme des Einzelnen im konkreten Fall setzt aber aus Gründen der Verhältnismäßigkeit die Erheblichkeit des Verursachungsbeitrags voraus.815 Sind die Mitverursachungsbeiträge zeitlich gestaffelt, überschreitet idR derjenige die Gefahrengrenze, der die zeitliche letzte Ursache gesetzt hat;816 zwingend ist das im Rechtssinne aber nicht.817 Das Kriterium der „Unmittelbarkeit“ darf nicht nur in einem äußerlich formalen Sinn verstanden werden. Entscheidend ist eine wertende Betrachtung aller wesentlichen Faktoren; zu ermitteln ist die ausschlaggebende Ursache für die Entstehung der Gefahr. Es ist zu fragen, wer die eigentliche und wesentliche Ursache für den polizei- bzw ordnungswidrigen Erfolg gesetzt hat. Durch diese wertende Betrachtung des Verhältnisses zwischen dem Zurechnungsgrund und der Gefahr lässt sich ermitteln, ob eine unmittelbare Verursachung iS eines hinreichend engen Wirkungs- und Verantwortungszusammenhangs zwischen der Gefahr und dem Verhalten der Person vorliegt, die deren Pflichtigkeit gerechtfertigt erscheinen lässt.818 Der Rückgriff über die letzte Ursache hinaus führt zur Zweckveranlassung (Rn 187 ff). 179 Die Theorie der unmittelbaren Verursachung ist, wie die Praxis zeigt, praktikabel und anderen polizeirechtlichen Kausalitätslehren überlegen. Die Lehre von der Sozialadäquanz, die nur sozialinadäquates Verhalten als Zurechnungskriterium berücksichtigen möchte,819 liefert kein handhabbares Kriterium zur Bestimmung der Sozialadäquanz. Die Theorie der rechtswidrigen Verursachung 820 versagt, wo eine verhaltenssteuernde Norm fehlt.821 Diese Theorie steht indes nicht in einem Gegensatz zur Theorie der unmittelbaren Verursachung, sondern ist von dieser längst rezipiert worden. Elemente der Pflichtwidrigkeit und der Risikozurechnung werden bei der Bestimmung der wesentlichen Ursache für den polizei- bzw ordnungsrechtswidrigen Erfolg einbezogen (Rn 178), indem neben speziellen Verhaltensnormen auch die allgemeine Nichtstörungspflicht (Rn 171) und die gesamte sonstige Rechtsordnung Berücksichtigung finden.822 Wer sich rechtmäßig verhält und von seinen Freiheiten legalen Gebrauch macht, ist nicht 180 „Störer“.823 Die Rechtmäßigkeit des Verhaltens schließt eine gefahrenabwehrrechtliche Verantwortlichkeit aus.824 Deshalb sind zB bei einer friedlichen Versammlung (Art 8 I GG) mit einer gewaltsamen Gegendemonstration nicht die friedlichen Versammlungsteilnehmer, sondern die Gegendemonstranten „Störer“ (vgl 243, 247). Bei rechtmäßiger Kündigung des Mietvertrags und drohender Obdachlosigkeit des Mieters ist der Vermieter nicht „Handlungsstörer“ (vgl Rn 242); er verlässt seinen Rechtskreis nicht und überschreitet daher nicht die polizei- und ordnungsrechtliche Gefahrengrenze.

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815 BVerwGE 125, 325 Tz 14 o JK BBodSchG § 4 III/3; vgl auch Thiel Rn 238. 816 Bspl: Wird ein Kfz von mehreren Seiten „zugeparkt“ und dadurch am Wegfahren gehindert, ist die unmittelbare Ursache für die Störung allein von demjenigen gesetzt worden, der als letzter das Kfz blockiert hat; OVG NW NVwZ 2001, 1314 o JK Pol- u OrdR Verdachtsstörer/1. 817 OVG RP UPR 2012, 234, 238. 818 VGH BW ZUR 2002, 227, 228; Götz § 9 Rn 12. 819 Gusy Rn 339. 820 Schnur DVBl 1962, 1 ff; aufgegriffen von Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 81; ferner Poscher JURA 2007, 801, 803 ff; Poscher/Rusteberg JuS 2011, 1082, 1083. 821 Stellt man dann auf die Generalklausel ab, wird die Argumentation zirkulär; Pietzcker DVBl 1984, 457, 459. 822 VGH BW VBlBW 1996, 221, 223: Überwachungspflicht des Betreibers einer Tankanlage bzgl der Ordnungsmäßigkeit ihrer Befüllung mit Kraftstoffen nach dem WHG; OVG RP NVwZ-RR 2009, 280 o JK BBodSchG § 10 I 1/ 1: Verantwortung des Heizölanlieferers nach dem WHG für das ordnungsgemäße Befüllen eines Öltanks; VGH BW NVwZ-RR 1996, 553, 554 f: Unterhaltungspflicht einer Stützmauer nach StrG. – Allg Seibert DVBl 1992, 664, 670. 823 Götz § 9 Rn 15; Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 17; Schenke Rn 243; krit Thiel Rn 236: Ermessensproblem. 824 OVG RP NVwZ-RR 2009, 280, 281 o JK BBodSchG § 10 I 1/1; UPR 2012, 234, 239.

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Macht jemand von einer behördlichen Genehmigung Gebrauch (zB Betrieb einer umweltbelastenden Anlage) und kommt es zur Störung polizei- und ordnungsrechtlicher Schutzgüter, besteht eine Verhaltensverantwortlichkeit nicht, soweit die Legalisierungswirkung der Genehmigung reicht. Diese ergibt sich aus Gegenstand, Inhalt und Umfang der konkreten Regelung des Genehmigungsbescheids; 825 erfasst sind die im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung objektiv erkennbaren Risiken.826 In diesem Umfang ist der Betreiber einer Anlage durch die Legalisierungswirkung des Verwaltungsakts vor einer Inanspruchnahme als Verhaltensverantwortlicher geschützt. Nach dem erreichten Stand der Doktrin lässt sich die Theorie der unmittelbaren Verursa- 181 chung in ein klares systematisches Konzept überführen, das eine rationale Prüfungsabfolge ausweist: 827 (1) Ursächlichkeit des Verhaltens iSd conditio sine qua non-Formel; (2) Rechtswidrigkeit des ursächlichen Verhaltens wegen Missachtung eines (a) ausdrücklichen Pflichtgebots oder (b) durch Auslegung ermittelten Verhaltensgebots; (3) bei Fehlen von Ge- oder Verbotsnormen (a) Prüfung, ob das gefährliche Verhalten durch einen Rechtstitel (zB Genehmigung) gedeckt ist, wenn nicht, (b) Prüfung, ob der Betroffene von seinen Rechten (insbesondere Grundrechten) Gebrauch macht, dabei (aa) Einbeziehung der Anforderungen der Rechtsordnung über die Grundrechtsschranken bzw (bb) bei vorbehaltlosen Grundrechten Herstellung praktischer Konkordanz mit sonstigen Rechtsgütern von Verfassungsrang unter Berücksichtigung der allgemeinen Nichtstörungspflicht. In den Fällen der Anscheinsgefahr (Rn 142) und des Gefahrverdachts (Rn 145) ist als „Anscheinsstö- 182 rer“ verantwortlich, wer eine Gefahr dem Anschein nach verursacht hat, 828 als „Verdachtsstörer“ gilt, wer den Gefahrverdacht iSd Theorie der unmittelbaren Verursachung ausgelöst hat.829 Wie bei der Gefahrermittlung (Rn 138) ist bei der Bestimmung des Verantwortlichen die Sicht ex ante maßgebend. Zur Kostentragungspflicht ist damit noch nichts entschieden (dazu Rn 406 f). bb) Verhaltensverantwortlichkeit durch Unterlassen. Die Gefahrverursachung durch eine 183 Person kann außer durch positives Tun auch durch Unterlassen erfolgen. Das Unterlassen ist polizei- und ordnungsrechtlich relevant, wenn eine Rechtspflicht zur Gefahrenabwehr besteht. Diese muss sich, da es um die Begründung einer verwaltungsrechtlichen Pflicht geht, aus Vorschriften des Öffentlichen Rechts ergeben;830 zivilrechtliche Vorschriften vermögen eine verwal-

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825 BVerwGE 125, 325 Tz 31 o JK BBodSchG § 4 III/3; VGH BW NVwZ-RR 1996, 387, 389 o JK AbfG BW § 22 IV/1; VGH BW NVwZ-RR 2000, 589, 590; aA (eine Legalisierungswirkung prinzipiell abl) Hollands Gefahrenzurechnung (Fn 758) 199 ff. 826 Würtenberger/Heckmann Rn 463 ff. 827 Vgl dazu auch Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 82 ff. 828 VGH BW NVwZ-RR 1991, 24, 26 o JK Pol- u OrdR Störer/6; NVwZ-RR 2011, 231, 232 f; BayVGH NVwZ-RR 1996, 645, 646; NVwZ-RR 1997, 617; BayVBl 1998, 500, 501; OVG NW NVwZ-RR 1994, 386, 387; VG Berlin NJW 1991, 2854; Martensen DVBl 1996, 286, 290; zT aA Schenke/Ruthig VerwArch 87 (1996) 329 ff; Schenke FS Friauf, 1996, 455, 469 ff; ders Rn 256 ff. 829 VGH BW VBlBW 1995, 281 o JK Pol- u OrdR Störer/7; Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 24 f; aA Schenke Rn 263: Nichtstörer. 830 VGH BW ZUR 2002, 227; OVG NW NVwZ-RR 1988, 20, 21; Selmer JuS 1992, 97; Götz § 9 Rn 42; Kugelmann 8/37; Möller/Warg Rn 126.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

tungsrechtliche Handlungspflicht nicht zu begründen.831 Diese Differenzierung bezieht die Nichtbeachtung von Verkehrssicherungspflichten ein; derartige Pflichten finden sich nicht nur im Zivilrecht, sondern vielfach auch im Öffentlichen Recht (vgl Rn 184). Unabhängig davon müssen zivilrechtliche Handlungspflichten vom Polizei- und Ordnungsrecht nicht rezipiert werden, wenn der „Störer“ ohnehin als Zustandsverantwortlicher herangezogen werden kann.832 In der Praxis ist die Frage nach der Verhaltensverantwortlichkeit durch Unterlassen ver184 schiedentlich im Zusammenhang mit Verkehrssicherungspflichten bei mangelnder Standsicherheit einer Stützmauer und bei Felssturzgefahr von einem Grundstück zu entscheiden gewesen. Die Gerichte haben – unabhängig von der Zustandsverantwortlichkeit des Grundstückseigentümers (Rn 192 ff) – erkannt, dass der Betreffende nach Bauordnungsrecht für die Standsicherheit der Mauer zu sorgen hat 833 bzw als Grundstückseigentümer handeln müsse, damit tiefer gelegene Häuser und deren Bewohner nicht durch Felssturz vom Grundstück des Oberliegers gefährdet werden.834 Die letztgenannte Begründung trägt nicht (vgl Rn 185); maßgebend war allenfalls die allgemeine Nichtstörungspflicht (Rn 171), da die Gefahrenquelle in der Risikosphäre des Oberliegers wurzelt. 185 Die Handlungspflicht, die eine Verhaltensverantwortlichkeit durch Unterlassen zu begründen vermag, kann nicht auf die Pflicht des Eigentümers, sonstigen Berechtigten oder Inhabers der Sachherrschaft gestützt werden, eine Sache in einem ordnungsgemäßen Zustand zu halten; andernfalls wären Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit identisch: Jeder Eigentümer, Berechtigte oder Inhaber der tatsächlichen Gewalt würde auf Grund seiner Zustandsverantwortlichkeit wegen des Unterlassens störungsbeseitigender Maßnahmen immer auch Verhaltensverantwortlicher sein; dies führte zu einer rechtssytematisch unzulässigen Vermischung von Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit, diese würde zu einer Verhaltensverantwortlichkeit „aufgestockt“ und insoweit gegenstandslos.835 Deshalb ist der direkte Zugriff auf Art 14 II GG zur Begründung einer Verhaltensverantwortlichkeit durch Unterlassen 836 ebenso wenig tragfähig wie die Herleitung einer Pflicht zum Handeln aus der Verantwortlichkeit für den ordnungsgemäßen Zustand einer Sache (Rn 184 aE), zumal die Verhaltensverantwortlichkeit „ewig“ besteht, während die Zustandsverantwortlichkeit mit der Aufgabe des Eigentums, Besitzes etc. endet (Rn 203).837 Die Anknüpfung an die allgemeine Nichtstörungspflicht (Rn 171) zur Ermittlung pflichtwidrigen Unterlassens setzt voraus, dass zB eine öffentlich-rechtliche Verkehrssicherungspflicht (vgl Rn 184) besteht. Verhaltensverantwortlicher durch Unterlassen ist nicht der Inhaber des Gegenmittels, der 186 dieses nicht zur Gefahrenabwehr einsetzt. Daher kann zB der Inhaber einer leerstehenden Wohnung nur als Notstandspflichtiger herangezogen werden, um einen Obdachlosen aufzunehmen (Rn 239 ff). Keine Handlungspflicht trifft grds auch den Gestörten selbst. Deshalb sind zB die durch gewaltbereite Gegendemonstranten gefährdeten Teilnehmer einer friedlichen Demonstra-

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831 AA Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 6; Schenke Rn 239. – Deren Argumente überzeugen nicht: Dass das Zivilrecht vom Schutzgut „öffentliche Sicherheit“ umfasst ist, dh der in seinen Rechten bzw Rechtsgütern gefährdete Dritte auch polizeirechtlich geschützt ist, besagt nichts zur Konstituierung der Handlungspflicht des Störers. Zudem sind die von jenen Autoren angeführten Vorschriften des StGB zur Bestimmung der Handlungspflicht solche des Öffentlichen Rechts, so dass die Handlungspflicht gar nicht auf zivilrechtliche Bestimmungen gegründet wird. 832 Irritierend daher OVG NW NVwZ-RR 2011, 351, 352: Inanspruchnahme des Verwalters einer Wohnungseigentümergemeinschaft bzgl des Gemeinschaftseigentums (wegen Missachtung von Brandschutzvorschriften) als Zustandsverantwortlicher mit der ergänzenden These, den Handlungsbefugnissen des Verwalters nach § 27 III WEG (Schönfelder Nr 37) entsprächen Handlungspflichten, die im Fall eines Unterlassens zu einer Handlungsstörung führten. 833 OVG NW NVwZ-RR 1988, 20. 834 BayVGH BayVBl 1996, 437, 438; BayVBl 1997, 502; VG München NVwZ-RR 2002, 166, 167. 835 VGH BW NVwZ 1996, 1036, 1037 o JK PolG BW § 6/1; VGH BW ZUR 2002, 227, 228; Trute DV 32 (1999) 73, 80. 836 So aber OVG NW DVBl 1971, 828. 837 Götz § 9 Rn 45; Thiel Rn 228.

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tion ebenso wenig Verhaltensverantwortliche wie die Betreiber gefährdeter Infrastruktureinrichtungen (Flughäfen, Kernkraftwerke etc); Ausnahmen bestehen bei gesetzlichen Eigensicherungspflichten (Rn 31). cc) Verhaltensverantwortlichkeit des Zweckveranlassers. Nimmt jemand eine – isoliert 187 betrachtet – neutrale Handlung vor, die einen Dritten zur Gefährdung oder gar Störung der öffentlichen Sicherheit bzw Ordnung veranlasst, stellt sich die Frage, ob der „Hintermann“ als Zweckveranlasser gefahrenabwehrrechtlich verantwortlich gemacht werden kann. Ist dies auf Grund der Theorie der unmittelbaren Verursachung der Fall, ist der Zweckveranlasser als „Handlungsstörer“ zu qualifizieren.838 Die Anerkennung der Rechtsfigur der „Zweckveranlassung“ ist nicht unproblematisch. Der Zweckveranlasser verhält sich selbst rechtmäßig und führt – äußerlich gesehen – durch sein Verhalten keine Gefährdung bzw Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung herbei. Unmittelbare Ursache für den Eintritt des polizei- bzw ordnungsrechtswidrigen Ergebnisses ist das eigenverantwortliche Verhalten des Dritten. Deshalb wird die Figur des Zweckveranlassers vielfach abgelehnt; 839 der Betreffende könne als bloßer Veranlasser der Gefahr allenfalls im Wege der Notstandspflicht in Anspruch genommen werden.840 Die hM hält jene Rechtsfigur indes für unverzichtbar und auch vereinbar mit der Theorie der unmittelbaren Verursachung.841 In der Tat liefert die Lebenswirklichkeit Beispiele, in denen der „Hintermann“ durch sein Verhalten den Eintritt einer Gefahrenlage herausfordert, indem er eine Situation schafft, in der sich der Dritte dazu entschließt, die öffentliche Sicherheit oder Ordnung zu gefährden (vgl Rn 190). Die Verhaltensverantwortlichkeit durch Zweckveranlassung führt damit zu einem Wer- 188 tungsproblem, dessen Bewältigung entscheidend von den normativen Zurechnungskriterien abhängt.842 Abgrenzungsfragen stellen sich dabei nicht nur auf der Ebene zwischen „eigentlichem“ Störer/Zweckveranlasser/Veranlasser, sondern auch zur Figur des „Nichtstörers“. Je breiter die Zweckveranlassung Anwendung findet, desto stärker wird der polizeiliche Notstand mit der Folge zurückgedrängt, dass den dafür zu erfüllenden strengen Voraussetzungen (vgl Rn 240 ff) ausgewichen wird. Uneinigkeit besteht über die Zurechnungskriterien für die Zweckveranlassung. Nach der 189 subjektiven Theorie ist die Intention des „Hintermannes“ entscheidend (Wissen und Wollen der Überschreitung der Gefahrenschwelle durch den Dritten, mindestens billigendes Inkaufnehmen).843 Die objektive Theorie stellt auf den aus der Sicht eines unbeteiligten Dritten erkennbaren Wirkungs- und Verantwortungszusammenhang ab (Eintritt der Gefahrensituation als typische Folge der Veranlassung).844 Eine dritte Auffassung, die „Kombinationstheorie“, favorisiert die Verknüpfung von subjektiver und objektiver Theorie. Im Interesse einer wirksamen Gefahrenabwehr sei als Zweckveranlasser anzusehen, wer eine Gefährdung oder Störung der öffent-

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838 Ausf zur Figur des Zweckveranlassers Schoch JURA 2009, 360 ff. 839 Erbel JuS 1985, 257, 261 ff; Rühl NVwZ 1988, 577 f; Muckel DÖV 1998, 18 ff; Beaucamp JA 2007, 577 ff; Poscher JURA 2007, 801, 807; Kugelmann 8/45; Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 29; krit auch Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 80; Gusy Rn 336. 840 Poscher JURA 2007, 801, 807; Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 31. 841 HessVGH NVwZ 1992, 1111, 1113; OVG NW NVwZ 1997, 804, 805; NWVBl 2003, 320, 321; NVwZ-RR 2008, 12 o JK BauO NRW § 61 I/1; DVBl 2008, 1129, 1131; GewArch 2012, 265, 266 o JK OBG NW § 14/3; OVG RP UPR 2012, 234, 239; Schmelz BayVBl 2001, 550, 551; Götz § 9 Rn 29; Möller/Warg Rn 133; Tettinger/Erbguth/Mann BesVwR Rn 497; Schenke Rn 244; Thiel Rn 246; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 209; Würtenberger/ Heckmann Rn 448. 842 Trute DV 32 (1999) 73, 81. 843 VGH BW DVBl 1987, 151; DÖV 1990, 346; BayVGH DVBl 1979, 737, 738; OVG NW NVwZ-RR 2008, 12 o JK BauO NRW § 61 I/1; VG Minden NVwZ 1988, 663, 665; Selmer JuS 1992, 97, 99 f; Knemeyer Rn 328. 844 NdsOVG NVwZ 1988, 638, 639; OVG NW NWVBl 2003, 320, 321; GewArch 2012, 265, 266 o JK OBG NW § 14/3; Heckel NVwZ 2012, 88, 91; Götz § 9 Rn 21; Möller/Warg Rn 133; Tettinger/Erbguth/Mann BesVwR Rn 497.

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lichen Sicherheit oder Ordnung herbeiführe, indem er den Erfolg subjektiv bezwecke oder dieser sich als Folge seines Verhaltens zwangsläufig einstelle.845 Wenn das Verhalten des Zweckveranlassers und der durch das Verhalten des Dritten eintretende Erfolg eine natürliche Einheit bildeten, sei es gerechtfertigt, dem Zweckveranlasser das Verhalten des Dritten zuzurechnen;846 zu berücksichtigen sei allerdings, ob der Betreffende von einer rechtlichen Befugnis Gebrauch mache.847 190 Vereinbar mit dem auf objektive Umstände abstellenden Polizei- und Ordnungsrecht ist nur die objektive Theorie.848 Zudem muss von der Bejahung einer Zweckveranlassung mit Zurückhaltung Gebrauch gemacht werden, soll die Theorie der unmittelbaren Verursachung (Rn 178) nicht konterkariert werden. Die Beispiele der Praxis bestätigen diesen Ansatz. Im Rahmen polizeilicher Maßnahmen gegen die illegale Prostitution 849 wurde die Überlassung von Zimmern an Prostituierte zur Ausübung der Prostitution im Geltungsbereich einer Sperrgebietsverordnung als Zweckveranlassung gewertet,850 während der Zimmervermietung an Ausländerinnen, die – der Prostitution nachgehend – keine Erlaubnis zur selbstständigen Erwerbstätigkeit hatten, die Zwangsläufigkeit zwischen „Verhalten“ und „Erfolg“ abgesprochen wurde.851 Anders dagegen lag der Fall der Vermietung von Räumen zum Zweck der Prostitutionsausübung, nachdem der Vermieter trotz wiederholter Verwarnungen durch die Vermietung an Ausländerinnen ohne Aufenthaltsgenehmigung mehrfach gegen das Ausländerrecht verstoßen hatte.852 Der Antragsteller zur (baurechtlichen) Umnutzung eines ehemaligen Postbetriebsgebäudes als türkisches Konsulat wurde bzgl befürchteter Terroranschläge nicht als Zweckveranlasser eingestuft; weder bezwecke oder billige er polizeiwidriges Verhalten Dritter noch seien Anschläge eine zwangsläufige Folge der Umnutzung.853 Dagegen wurde ein Lebensmitteleinzelhändler im Falle fortdauernder Störung der Nachtruhe von Nachbarn als Zweckveranlasser qualifiziert; indem er seinen Lieferanten Schlüssel seines Betriebs zur Warenanlieferung ausgehändigt hatte, habe er nächtliche Warenanlieferungen mit der Konsequenz der Ruhestörung billigend in Kauf genommen.854 Der Veranstalter von Großereignissen (zB Konzerte, Sportveranstaltungen, Demonstrationen) ist nicht Zweckveranlasser bzgl evtl Ausschreitungen, wenn er sich im Einklang mit der Rechtsordnung verhält und von seinen Rechten (zB Art 8 I, 12 I GG) Gebrauch macht.855 Speziell im Versammlungsrecht verlangt die Rspr für den Einsatz der Rechtsfigur des Zweckveranlassers im Zusammenhang mit gewaltsamen Gegendemonstranten konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der vom Veranstalter angegebene Zweck der Versammlung nur Vorwand und die Provokation von Gegengewalt das eigentliche vom Veranstalter „objektiv“ oder gar „subjektiv“ bezweckte Vorhaben ist.856 Es genügt danach nicht die auf allgemeinen Erwägungen beruhende Schlussfolgerung, es sei evident, dass eine Provokation von Gewalttätigkeiten bezweckt sei; ein solcher

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845 VGH BW NVwZ-RR 1995, 663 o JK Pol- u OrdR Zweckveranlasser/2; VGH BW ZUR 2002, 227, 230; Schenke Rn 245; Thiel Rn 251; Würtenberger/Heckmann Rn 448. 846 OVG NW NVwZ-RR 2008, 12 o JK BauO NRW § 61 I/1. 847 VGH BW NVwZ-RR 1995, 663, 664 o JK Pol- u OrdR Zweckveranlasser/2; OVG RP UPR 2012, 234, 239. 848 Näher dazu Schoch JURA 2009, 360, 363; Möller/Warg Rn 133. – AA Schenke Rn 245, der nicht nur für eine Verknüpfung von subjektiver und objektiver Theorie eintritt, sondern weitergehend sogar noch sonstige „Gesichtspunkte“ heranziehen will. 849 Zum „Freier“ als Zweckveranlasser Schneider/Kensbock VBlBW 1999, 168 ff. 850 HessVGH NVwZ 1992, 1111. 851 VGH BW NVwZ-RR 1995, 663 o JK Pol- u OrdR Zweckveranlasser/2; vgl auch Zeitler VBlBW 1996, 44 ff. 852 NdsOVG NVwZ-RR 1997, 622: nicht nur Zweckveranlasser, sondern „normaler“ Handlungsstörer. 853 VGH BW VBlBW 2006, 431 f o JK BauGB § 31 I/1; rein baurechtlich dazu BVerwGE 128, 118 o JK BauGB § 31 I/2. 854 OVG NW NVwZ-RR 2008, 12 o JK BauO NRW § 61 I/1. 855 Schenke Rn 246; Tettinger/Erbguth/Mann BesVwR Rn 499; Würtenberger/Heckmann Rn 449; aA Lege VerwArch 89 (1998) 71, 81 ff; Götz § 9 Rn 31. 856 BVerfG-K NVwZ 2000, 1406, 1407 o JK GG Art 8/12; VGH BW VBlBW 2002, 383, 384.

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II. Materielles Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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Schluss muss auf nachweisbare Tatsachen gestützt sein.857 Im Baurecht wird die Zweckveranlassung durch einen Bebauungsplan für den Gefahrenzustand an Gebäuden auch im Falle einer Altlast verneint, weil es am engen inneren Wirkungs- und Verantwortungszusammenhang fehle; der Bauherr trage die Verantwortlichkeit.858 Im Abfallrecht wird die Vermietung eines Grundstücks zur risikobehafteten Nutzung durch den Dritten nicht als Zweckveranlassung eingestuft; 859 in der Tat fehlt die Zwangsläufigkeit einer Realisierung des Risikos durch das Nutzungsverhalten des Dritten. Im Gaststättenrecht wird der Betreiber einer Gaststätte grds für das Fehlverhalten seiner Gäste (zB Lärm, Rauschgifthandel und -konsum) – zT sogar über eine „echte“ Zweckveranlassung hinausgehend – verantwortlich gemacht, soweit ein Zusammenhang mit dem Betrieb der Gaststätte besteht.860 dd) Zusatzverantwortlichkeit. Das Polizei- und Ordnungsrecht statuiert neben der Verant- 191 wortlichkeit für eigenes Verhalten zusätzlich eine Verantwortlichkeit für das Verhalten Dritter. Diese Zusatzverantwortlichkeit tritt kumulativ neben die Verantwortlichkeit der anderen Person.861 Die Zusatzverantwortlichkeit trifft bei Kindern (unter 14 bzw 16 Jahren) den Aufsichtspflichtigen, bei betreuten Personen den Betreuer.862 Bei Verrichtungsgehilfen besteht die Zusatzverantwortlichkeit des Geschäftsherrn (ohne Exkulpationsmöglichkeit863), wenn der Verrichtungsgehilfe eine Gefahr in Ausübung der Verrichtung verursacht.864 Danach kann zB eine polizeirechtliche Verantwortlichkeit des Arbeitgebers für gefahrverursachendes Verhalten seiner Arbeitnehmer gegeben sein.865 Fehlt es an der Weisungsabhängigkeit des Handelnden, ist dieser kein Verrichtungsgehilfe, die Zusatzverantwortlichkeit scheidet aus.866

e) Zustandsverantwortlichkeit Die Zustandsverantwortlichkeit greift ein, wenn eine Gefahr vom Zustand einer Sache (oder vom 192 Verhalten eines Tieres) ausgeht. Die gesetzlichen Bestimmungen dazu variieren im Wortlaut, stimmen in der Sache aber überein. Die in Anlehnung an § 5 MEPolG formulierten Vorschriften bezeichnen den Inhaber der tatsächlichen Gewalt als primären Adressaten von Gefahrenabwehrmaßnahmen, wenn die Gefahr von einer Sache ausgeht; Maßnahmen können aber auch gegen den Eigentümer oder einen anderen Berechtigten gerichtet werden, falls nicht der Inhaber der tatsächlichen Gewalt diese ohne den Willen des Eigentümers (Berechtigten) ausübt.867

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857 SächsOVG SächsVBl 2005, 48. 858 OVG NW NVwZ 1997, 804, 805. 859 VGH BW Urt v 30. 7. 2002 (10 S 2153/01), LS abgedruckt in VBlBW 2003, 68. 860 BVerwGE 101, 157, 165 f; BVerwG GewArch 2003, 300; VGH BW GewArch 1992, 441 und 444, 445; GewArch 2001, 435; NVwZ-RR 2003, 745, 750; BayVGH NJW 1983, 409; NVwZ-RR 2010, 514, 515; HessVGH NVwZ-RR 1990, 406; OVG NW NVwZ-RR 1992, 614, 615; NVwZ-RR 1995, 27; OVG SL NVwZ-RR 2007, 598, 600 f; aA OVG Berlin GewArch 1981, 65, 66. 861 Ausf M. Peine Die Zusatzverantwortlichkeit im Gefahrenabwehrrecht, 2012, 182 ff und 214 ff. 862 § 6 II PolG BW; Art 7 II BayPAG, Art 9 I 2, 3 BayLStVG; § 13 II ASOG Bln; § 5 II BbgPolG, § 16 II BbgOBG; § 5 II PolG Bremen; § 8 II HbgSOG; § 6 II HessSOG; § 69 II SOG MV; § 6 II NdsSOG; § 4 II PolG NW, § 17 II OBG NW; § 4 II POG RP; § 4 II PolG SL; § 4 II SächsPolG; § 7 II SOG LSA; § 218 II LVwG SH; § 7 II ThürPAG, § 10 II ThürOBG; § 17 II BPolG. 863 Poscher JURA 2007, 801. 864 § 6 III PolG BW; Art 7 III BayPAG, Art 9 I 4 BayLStVG; § 13 III ASOG Bln; § 5 III BbgPolG, § 16 III BbgOBG; § 5 III PolG Bremen; § 8 III HbgSOG; § 6 III HessSOG; § 69 III SOG MV; § 6 III NdsSOG; § 4 III PolG NW, § 17 III OBG NW; § 4 III POG RP; § 4 III PolG SL; § 4 III SächsPolG; § 7 III SOG LSA; § 218 III LVwG SH; § 7 III ThürPAG, § 10 III ThürOBG; § 17 III BPolG. 865 HessVGH UPR 1995, 198. 866 VGH BW VBlBW 1996, 221, 223. 867 Art 8 I u II BayPAG, Art 9 II 1 u 2 BayLStVG; § 14 I u III ASOG Bln; § 6 I u II BbgPolG; § 6 I u II PolG Bremen; § 7 I u II HessSOG; § 7 I u II NdsSOG; § 5 I u II PolG NW; § 5 I u II POG RP; § 5 I u II PolG SL; § 8 I u II SOG LSA; § 8 I u II ThürPAG, § 11 I u II ThürOBG; § 18 I u II BPolG.

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Traditionell gefasste Bestimmungen erklären zunächst den Eigentümer und dann den Inhaber der tatsächlichen Gewalt zu Adressaten von Gefahrenabwehrmaßnahmen, wenn die öffentliche Sicherheit oder Ordnung durch den Zustand einer Sache (bzw das Verhalten eines Tieres) bedroht oder gestört wird.868 193 aa) Legitimität der Zustandsverantwortlichkeit. Die Zustandsverantwortlichkeit findet in der durch die Sachherrschaft vermittelten Einwirkungsmöglichkeit auf die gefahrverursachende Sache ihren legitimierenden Grund.869 Diese seit jeher anerkannte Rechtfertigung der Zustandsverantwortlichkeit ist vom BVerfG um die Überlegung ergänzt worden, der Eigentümer könne überdies aus der Sache Nutzen ziehen; auch dies rechtfertige es, ihn zur Beseitigung von Gefahren, die von der Sache für die Allgemeinheit ausgingen, zu verpflichten.870 Tragend ist die Erwägung zur rechtlichen und tatsächlichen Einwirkungsmöglichkeit auf die Sache; 871 wer die Sachherrschaft inne hat, kann (und muss) dafür sorgen, dass andere Personen nicht durch ihren gefährlichen Zustand gestört oder gar geschädigt werden.872 Beim Eigentümer kommt die Verknüpfung von Vorteilen aus der Privatnützigkeit des Eigentums (Art 14 I 1 GG) und Lasten aus seiner Sozialpflichtigkeit (Art 14 II GG) hinzu; insoweit geht es bei der Bemessung des Umfangs der Zustandsverantwortlichkeit (Rn 197 ff) um die angemessene Risikoverteilung zwischen Eigentümer und Allgemeinheit.873 194 Grundrechtsdogmatisch kann die Zustandsverantwortlichkeit des Eigentümers (iSd Art 14 GG) als Beeinträchtigung der Eigentümerfreiheit (Art 14 I 1 GG) qualifiziert werden.874 Diese Beeinträchtigung ist jedoch Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums und daher durch Art 14 II GG materiell gerechtfertigt; dogmatisch stellen die Vorschriften zur Zustandsverantwortlichkeit im Polizei- und Ordnungsrecht Inhalts- und Schrankenbestimmungen iSd Art 14 I 2 GG dar.875 195 bb) Entstehung der Zustandsverantwortlichkeit. Rechtskonstruktiv wird die Zustandsverantwortlichkeit dadurch ausgelöst, dass von einer Sache eine Gefahr „ausgeht“ bzw ein Schutzgut „durch“ den Zustand einer Sache „bedroht wird“. Folglich geht es auch bei der Zustandsverantwortlichkeit nach geltendem Recht um die Erfassung eines Zurechnungszusammenhangs (vgl bereits Rn 168 f) zwischen der Gefahrenquelle und dem Einstehenmüssen für die Gefahrenlage.876 Zu fragen ist (wie bei der Verhaltensverantwortlichkeit, Rn 178) nach der unmittelbaren

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868 § 7 PolG BW; § 17 I u II BbgOBG; § 9 I 1 u 3, II HbgSOG; § 70 I u II SOG MV; § 18 I u II OBG NW; § 5 SächsPolG; § 219 I u II LVwG SH. 869 OVG Hamburg NJW 1992, 1909; OVG NW NWVBl 1998, 64, 65; NJW 2000, 2124, 2125; NJW 2010, 1988, 1989 o JK Pol- u OrdR Störer/14; Bickel NVwZ 2004, 1210, 1211; Poscher JURA 2007, 801, 802; Lepsius Besitz und Sachherrschaft, 224 ff, 300, 319; Kugelmann 8/48; Möller/Warg Rn 135; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 202; krit Thiel Rn 260. 870 BVerfGE 102, 1, 17 o JK Pol- u OrdR Störer/10 (11); idS bereits BVerwG DVBl 1986, 360, 361 und NVwZ 1991, 475; ferner VGH BW VBlBW 2002, 161; OVG NW NJW 2010, 1988, 1989 o JK Pol- u OrdR Störer/14; DVBl 2012, 1259, 1260; Vöneky DÖV 2003, 400, 403 f; abl Hösch VBlBW 2004, 7, 8 f; Bickel NVwZ 2004, 1210, 1211. 871 OLG Dresden SächsVBl 2003, VG Berlin NJW 2000, 603, 604: Herrschaftswille über die störende Sache nicht erforderlich; ferner zB Poscher/Rusteberg JuS 2011, 1082, 1084. 872 BVerwG DVBl 1986, 360, 361; OVG NW DVBl 1997, 570. 873 OVG Bremen DVBl 1989, 1089. 874 BVerfGE 102, 1, 14 f o JK Pol- u OrdR Störer/10 (11). 875 BVerwG NVwZ 1997, 577, 578 und NJW 1999, 231; OVG NW NVwZ-RR 2009, 364, 365; OVG RP NJW 1998, 625, 626 o JK Pol- u OrdR Störer/10; Gusy Rn 353. – Lepsius (JZ 2001, 22, 24) meint, auf die Verankerung (auch) in Art 14 II GG könne verzichtet werden. 876 OVG NW NJW 2000, 2124, 2125 f; NWVBl 2005, 177, 178 o JK OBG NW § 18 I/1; OVG NW NWVBl 2007, 26, 28 o JK OBG NRW § 18 I, II/2; DVBl 2012, 1259; Kugelmann 8/51; Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 45; Zeitler/Trurnit Rn 247; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 108. – Überzogen Lepsius Besitz und Sachherrschaft, 224 ff, sowie ders JZ 2001, 22 mit der These, die Zustandsverantwortlichkeit habe mit „Verursachung“ nichts zu tun.

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Verursachung der Gefahr durch die Sache. Insoweit besteht weithin Übereinstimmung darüber, dass die Gefahrenlage entweder in der Beschaffenheit der Sache selbst wurzeln kann oder sich aus ihrer Lage im Raum ergibt. Die Sache als solche bildet unmittelbar die Gefahrenquelle, wenn diese (wie zB beim kontaminierten Grundstück) ihren Sitz in der Sache selbst (zB im Grundstück) hat.877 Ein Gegenbeispiel bildet das Brückenbauwerk, in dem sich Tauben einnisten; die Gefahr, die von dem Taubenkot ausgeht, steht nicht unmittelbar mit dem Zustand des Brückenbauwerks ursächlich in Verbindung, so dass der Eigentümer der Brücke nicht als Zustandsverantwortlicher herangezogen werden kann.878 Auch im Falle der Ablagerung von Tierabfällen auf einem Waldgrundstück wurde die Zustandshaftung verneint, da die Gefahr nicht von dem Grundstück sondern allein von den Tierabfällen ausging; der Grundstückseigentümer war auch nicht Eigentümer der Abfälle geworden, und Inhaber der tatsächlichen Gewalt war er mangels Sachherrschaft über das der Allgemeinheit frei zugängliche Grundstück (§ 14 BWaldG879 iVm LandesG) ebenfalls nicht.880 Klassisches Beispiel für einen Gefahrenzustand durch die Lage einer Sache im Raum ist das verkehrswidrig abgestellte Fahrzeug.881 Die Zustandsverantwortlichkeit tritt unabhängig von einem Verschulden des Betroffenen 196 ein.882 Es ist nach hM unerheblich, worauf die Gefahrenlage basiert. Infolgedessen kommt es nicht darauf an, ob der polizei- bzw ordnungswidrige Zustand der Sache durch den Eigentümer selbst oder durch Dritte oder durch höhere Gewalt (zB Naturereignisse) verursacht worden ist; 883 unbeachtlich ist auch, ob der Eigentümer bzw Inhaber der tatsächlichen Gewalt in der Lage gewesen ist, den Gefahreneintritt abzuwenden. Rechtsbegründend für die Zustandsverantwortlichkeit ist allein der objektive Umstand, dass eine Gefahrensituation eingetreten ist.884 Nach der Gegenauffassung tritt die Zustandshaftung nur ein, wenn der Grundstückseigentümer an der Gefahrentstehung mitgewirkt hat (zB durch Überlassung des Grundstücks an den späteren Verhaltensstörer) oder beim Erwerb des Grundstücks dessen Gefahrenlage (zB Altlast) kannte bzw hätte kennen müssen; in den Opferfällen (zB Naturereignis, Gefahrentstehung durch „von außen“ kommenden Dritten) sei der Grundstückseigentümer Nichtstörer, so dass er nur zur Duldung von Gefahrenabwehrmaßnahmen verpflichtet werden könne.885 In sich stimmig ist dieses Konzept nicht. Zwar ist die bloße Duldungsanordnung bzgl effektiver behördlicher Gefahrenabwehrmaßnahmen für den Grundstückseigentümer weniger belastend als die Heranziehung zur Gefahrenabwehr; aber auch die Auferlegung einer Duldungspflicht setzt voraus, dass der Betreffende überhaupt Zustandsverantwortlicher ist. Nur die hM bietet insoweit ein Erklärungsmuster. cc) Grenzen der Zustandsverantwortlichkeit. Auf Grund der mit Art 14 I, II GG in Einklang 197 stehenden Gesetzeslage zur „objektiven Zustandshaftung“ hatte die hM – trotz anhaltender verfassungsrechtlicher Kritik (Unvereinbarkeit der „Opferposition“ mit Art 14 I 1 GG, Übermaßverbot) 886 – eine dem Grunde nach unbegrenzte Zustandsverantwortlichkeit bejaht und hält dar-

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877 OVG NW NWVBl 1998, 64, 65; NJW 2000, 2124, 2126. 878 OVG NW NWVBl 2005, 177, 178 o JK OBG NW § 18 I/1. 879 Sartorius I Nr 875. 880 OVG NW NWVBl 2007, 26, 28 f o JK OBG NRW § 18 I, II/2. 881 VGH BW VBlBW 1990, 257, 260; BayVGH DÖV 2008, 732; BayVBl 2009, 21; DVBl 2008, 99; OVG Hamburg NJW 2005, 2247, 2251 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/4; NVwZ-RR 2009, 995, 996; BeckRS 2011, 52410 Tz 25 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/6; HessVGH NVwZ 1988, 655; OVG MV LKV 2006, 225, 227. 882 OVG NW NVwZ-RR 2009, 364, 365; DVBl 2012, 1259, 1260; Möller/Warg Rn 136. 883 BVerwG NJW 1999, 231; OVG RP NJW 1998, 625, 626 o JK Pol- u OrdR Störer/10. 884 OVG NW NWVBl 1998, 64, 65. 885 Tollmann DVBl 2008, 616, 620 ff; ausf ders Die umweltrechtliche Zustandsverantwortlichkeit: Rechtsgrund und Reichweite, 2007, 148 ff, 211 ff. 886 Friauf FS Wacke, 1972, 293, 300 ff; Schwerdtner NVwZ 1992, 141 ff; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 118 f; zusammenfassend Frenz VerwArch 90 (1999) 208 ff; Papier FS Maurer, 2001, 255 ff.

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an grundsätzlich fest.887 Danach soll kein Risiko von vornherein (dh tatbestandlich) aus der Zustandsverantwortlichkeit ausgegliedert und der Allgemeinheit überbürdet werden. Allenfalls bei einer die Privatnützigkeit des Eigentums zunichte machenden Kostenbelastung des Zustandsverantwortlichen sollte eine Begrenzung der „Haftung“ (dh „Rechtsfolgenlösung“) in Betracht kommen können.888 Die Problemlösung sollte allerdings im Rahmen der Ermessensbetätigung zum Vorgehen gegen den Verantwortlichen gefunden werden.889 198 Das BVerfG ist dieser Auffassung in einem Fall zur Altlastensanierung entgegengetreten. Bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften zur Zustandsverantwortlichkeit seien die Eigentumsgarantie und das Übermaßverbot zu beachten. Folgende „Gesichtspunkte“ seien maßgeblich: (1) Verkehrswert eines Grundstücks als Grenze von Belastungen bei (a) Gefahren aus Naturereignissen, (b) der Allgemeinheit zuzurechnenden Ursachen, (c) Gefahrverursachung durch nicht nutzungsberechtigte Dritte und (d) wenn das (zu sanierende) Grundstück den wesentlichen Teil des Vermögens des Pflichtigen bilde; (2) zumutbare Kostenbelastung auch bei Überschreitung des Verkehrswerts des Grundstücks dagegen bei freiwillig übernommenem Risiko (zB Kenntnis von Altlasten oder fahrlässige Unkenntnis).890 199 Damit sieht sich das ehemals klare Konzept zur Zustandsverantwortlichkeit im Polizei- und Ordnungsrecht teilweise „aufgelöst“.891 Die „Gesichtspunkte“ des BVerfG verweisen auf behördliche Zumutbarkeitsüberlegungen und Abwägungen im Einzelfall. Das Grundeigentum wird möglicherweise gegenüber dem Fahrniseigentum privilegiert. Welche Konsequenzen sich für die spezialgesetzliche Zustandsverantwortlichkeit nach § 4 BBodSchG ergeben, ist immer noch nicht restlos geklärt.892 Als Leitlinie für die Begrenzung der Zustandshaftung auf das zumutbare Maß fungiert der Verkehrswert des Grundstücks, falls der Eigentümer das Risiko der entstandenen Gefahr beim Grundstückserwerb nicht kannte oder hätte kennen müssen. Unter diesen Voraussetzungen ist die Zustandshaftung als Folge der Sozialbindung des Eigentums insoweit zumutbar, als der finanzielle Aufwand für die Gefahrenbeseitigung den Verkehrswert des Grundstücks nicht übersteigt; andernfalls entfiele der durch Art 14 I 1 GG geschützte privatnützige Gebrauch des Grundstücks.893 Ist die Kostenbelastung gegenüber dem Zustandsverantwortlichen wegen fehlender Zumutbarkeit von Verfassungs wegen begrenzt, muss die zuständige Behörde bei der Anordnung von Maßnahmen (zB Altlastenbeseitigung) gegenüber dem Grundstückseigentümer auch über die Begrenzung der Kostenbelastung entscheiden. Geschieht dies nicht, wird die Verfügung im Falle der gerichtlichen Anfechtung aufgehoben.894 Ob dieses rigide Vorgehen („alles oder nichts“) mit § 113 I 1 VwGO („soweit“), dh der Teilaufhebung eines Verwaltungsakts, vereinbar ist, kann bezweifelt werden.895 Fragen wirft auch die zeitliche Grenze der Zustandshaftung (bei Altlasten) auf. Eine gesetzliche Limitierung besteht insoweit nicht. Der Zeitfaktor

_____ 887 BVerwG NVwZ 1991, 475; NVwZ 1997, 577, 578; VGH BW NVwZ-RR 1996, 13; VBlBW 1998, 312; Pieroth/Schlink/ Kniesel § 9 Rn 70 ff; Lepsius Besitz und Sachherrschaft, 283; Drews/Wacke/Vogel/Martens Gefahrenabwehr, 320; Götz § 9 Rn 59; Gusy Rn 354; Thiel Rn 270; Poscher/Rusteberg JuS 2011, 1082, 1084. 888 BVerwG DÖV 1991, 428; ferner OVG NW NWVBl 1998, 64, 65: Grenzziehung bei „ruinöser Inanspruchnahme“. 889 BayVGH DVBl 1986, 1283, 1285; BayVBl 1996, 437, 438; BayVBl 1997, 502; Oerder NVwZ 1992, 1031, 1036. 890 BVerfGE 102, 1, 20 ff o JK Pol- u OrdR Störer/10 (11); erläuternd Klüppel JURA 2001, 26 ff. 891 Vgl zur Kritik Bickel NJW 2000, 2562 f; Lepsius JZ 2001, 22, 24 ff; aus der Rspr des BVerfG erhebliche Restriktionen ableitend Hösch VBlBW 2004, 7, 12 f; differenzierend Huber/Unger VerwArch 96 (2005) 139 ff. 892 Vgl etwa Müggenborg NVwZ 2001, 39 ff; Friedrich/von Oppen ZUR 2002, 257 ff; zu Tendenzen in der Rspr vgl Ginzky DVBl 2003, 169 ff; Mohr NVwZ 2003, 686, 688 rät angesichts der Ungewissheiten im Einzelfall zu vertraglichen Regelungen des Zustandsverantwortlichen mit der Behörde; ebenso Numberger NVwZ 2005, 529, 531. 893 OVG NW NJW 2010, 1988, 1989 o JK Pol- u OrdR Störer/14. 894 Vgl NdsOVG NVwZ-RR 2006, 397, 398. – Im Eilverfahren hat der Antrag nach § 80 V 1 VwGO Erfolg, OVG NW NJW 2010, 1988, 1989 o JK Pol- u OrdR Störer/14. 895 Drosdowski NVwZ 2007, 789, 791.

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kann daher nach geltendem Recht nur im Einzelfall im Rahmen des Übermaßverbots zur Geltung gebracht werden.896 Offen ist schließlich, ob nur Grundstückseigentümer in den Genuss der verfassungsgerichtlichen Privilegierungen kommen (sollen) oder ob die Zustandshaftung aller Zustandsverantwortlichen (insbesondere Inhaber der tatsächlichen Sachherrschaft) zu begrenzen ist. Aus Gründen der Rechtssicherheit sollten die Grenzen der Zustandsverantwortlichkeit gesetzlich geregelt werden.897 Grenzen der Zustandsverantwortlichkeit können sich ferner aus der Legalisierungswir- 200 kung von Genehmigungen ergeben; dazu gelten dieselben Grundsätze wie bei der Verhaltensverantwortlichkeit (Rn 180). Beschränkungen der „Haftung“ nach Maßgabe von Verjährung, Verwirkung und Verzicht sind im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht grds nicht anerkannt.898 Zum Bodenschutzrecht gibt es gegenläufige Überlegungen.899 dd) Zustandsverantwortliche Rechtssubjekte. Die Zustandsverantwortlichkeit trifft primär 201 den Inhaber der tatsächlichen Gewalt (der freilich mit dem Eigentümer identisch sein kann). Es handelt sich dabei um einen eigenständigen Begriff des Polizei- und Ordnungsrechts; auf zivilrechtliche Berechtigungen (zB §§ 855 ff BGB) kommt es nicht an. Das Gefahrenabwehrrecht stellt auf die rein tatsächliche Sachherrschaftsbeziehung ab.900 Daher kann auch der unrechtmäßige Inhaber der Sachherrschaft (zB Dieb) Zustandsverantwortlicher sein.901 Gehen von einem Hund Gefahren für die öffentliche Sicherheit aus, kommt es nicht auf die Bestimmung der Tierhaltereigenschaft gemäß § 833 BGB, sondern auf die mit der tatsächlichen Sachherrschaft verbundene Einwirkungsmöglichkeit auf den Hund an; bei ehelichen und eheähnlichen Gemeinschaften wird davon ausgegangen, dass idR beide Partner Hundehalter sind.902 Die Anknüpfung an die tatsächliche Sachherrschaft hat den Vorzug, dass es keiner (evtl langwierigen) Klärung der Eigentumsverhältnisse bedarf.903 Inhaber der Sachherrschaft ist nur, wer auch tatsächlich ein Mindestmaß an Herrschaft über die Sache hat. Das setzt voraus, dass die Allgemeinheit vom Zugang zu der Sache ausgeschlossen werden kann. Bei einem Grundstück, das rechtlich und tatsächlich dem Zutritt der Allgemeinheit nicht entzogen werden kann (vgl das Bspl in Rn 195), ist dies nicht der Fall.904 Ist das Grundstück dagegen nicht auf Grund von Betretungsrechten allgemein zugänglich, vermittelt die Sachherrschaft an dem Grundstück die tatsächliche Gewalt auch über die dort lagernden Gegenstände.905 In der Praxis ist die tatsächliche Sachherrschaft von Bedeutung insbesondere bei der Zustandsverantwortlichkeit für verkehrswidrig abgestellte Fahrzeuge. Inhaber der tatsächlichen Gewalt ist idR der – mit dem Fahrer nicht notwendigerweise identische – Halter des Fahr-

_____ 896 Näher dazu Hullmann/Zorn NVwZ 2010, 1267 ff (auch zu Fragen von Verjährung, Verwirkung und Versicherungslösungen). – Zum Sanierungsrisiko auf Grund der „Ewigkeitshaftung“ des § 4 VI BBodSchG Hellriegel NVwZ 2012, 541 ff. 897 Immerhin sieht § 24 II BBodSchG im Fall der Störermehrheit einen internen Kostenausgleich vor; dazu Rn 235. 898 Dazu VGH BW UPR 1996, 239 f; NVwZ-RR 2000, 589, 591; Trute DV 32 (1999) 73, 82 f; Gusy Rn 358; Kugelmann 8/70, 71; differenzierend Ossenbühl NVwZ 1995, 547 ff; für Verjährung nach 30 Jahren auf der Kostenebene (bei fortbestehender behördlicher Eingriffsbefugnis) Martensen NVwZ 1997, 442 ff. 899 Trurnit NVwZ 2001, 1126 ff; Hullmann/Zorn NVwZ 2010, 1267, 1268 f. 900 SächsOVG NJW 1997, 2253, 2254; Lepsius Besitz und Sachherrschaft, 306; Thiel Rn 267. 901 Drews/Wacke/Vogel/Martens Gefahrenabwehr, 329; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 111. – Überzogen daher die These von Lepsius Besitz und Sachherrschaft, 255, die „tatsächliche Sachherrschaft“ müsse durch Art 14 GG genauso geschützt sein wie das BGB-Eigentum und sonstige Berechtigungen (aaO S 295 wird sogar auf den Fall des Diebstahls verwiesen). 902 VGH BW VBlBW 2011, 425, 426 o JK Pol- u OrdR Generalklausel/12. 903 Sehr weit gehend VGH BW NVwZ-RR 1998, 165: tatsächliche Sachherrschaft (über importierte Sonderabfälle) trotz behördlicher Beschlagnahme. 904 OVG NW NWVBl 2007, 26, 29 o JK OBG NRW § 18 I, II/2. 905 BVerwG NVwZ 2004, 1360 f; BayVGH NVwZ-RR 2006, 537, 538.

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zeugs.906 Anderes gilt nur, wenn der Halter wirklich keine Einflussmöglichkeit auf das Fahrzeug hatte.907 Als Zustandsverantwortlicher kommt (neben seiner Verhaltensverantwortlichkeit) selbstverständlich auch der Fahrer in Betracht.908 Die Zustandsverantwortlichkeit kraft tatsächlicher Sachherrschaft endet mit der Aufgabe der tatsächlichen Gewalt.909 Entfällt mit der Veräußerung eines Kfz die Halter-Eigenschaft, besteht idR keine Sachherrschaft mehr; diese kann auch nicht (wegen des Rechtsverstoßes) fingiert werden.910 202 Soweit die Zustandsverantwortlichkeit an das Eigentum anknüpft, sind die zivilrechtlichen Eigentumsverhältnisse maßgebend. Der gefahrenabwehrrechtliche Eigentumsbegriff stimmt mit dem zivilrechtlichen Eigentumsbegriff überein.911 Deshalb kann der Erbbauberechtigte nur als „anderer Berechtigter“, nicht jedoch als Eigentümer Zustandsverantwortlicher sein.912 Den Verwalter einer Wohnungseigentümergemeinschaft trifft die Zustandsverantwortlichkeit in Bezug auf das Gemeinschaftseigentum kraft seiner Befugnisse nach § 27 WEG.913 Ist ein Kfz unter Eigentumsvorbehalt verkauft worden und wurde die letzte Rate bezahlt, ist der Veräußerer nicht mehr Eigentümer und daher auch nicht Zustandsverantwortlicher für das verkehrswidrig abgestellte Kfz.914 Bei der Grundstücksveräußerung endet die Zustandshaftung des bisherigen Eigentümers erst mit der Eintragung des neuen Eigentümers im Grundbuch.915 Bei mehreren Miteigentümern kann das zivilrechtliche Vollstreckungshindernis durch eine Duldungsverfügung ausgeräumt werden (Rn 156, 391). Mit der Beendigung des Eigentums endet die Zustandsverantwortlichkeit des Eigentü203 mers.916 Das ist idR gefahrenabwehrrechtlich unproblematisch, weil im Falle der Übereignung ein neuer Zustandsverantwortlicher für die Sache vorhanden ist. Bisweilen wird versucht, durch „Flucht aus dem Eigentum“ (zB Eigentumsübertragung an vermögenslose Dritte oder an ausländische Firmen) die Zustandsverantwortlichkeit „abzustreifen“.917 Die Veräußerung eines Altlastengrundstücks an eine mittellose ausländische Kapitalgesellschaft wurde als sittenwidrig (§ 138 BGB) eingestuft, da die Vertragsparteien die Sanierungslast gezielt auf die öffentliche Hand abwälzen wollten.918 Im Kriegsfolgenrecht geht das BVerwG (am Bspl des Erstattungsanspruchs eines Landes gegen den Bund für die Altlastenerkundung bzgl einer vom Deutschen Reich betriebenen Munitionsanstalt) vom Erlöschen der materiellen Polizei- und Ordnungspflicht aus; das Allgemeine Kriegsfolgengesetz habe „die Verbindlichkeiten des Reiches allumfassend bereinigen“ wollen.919

_____ 906 VGH BW VBlBW 1990, 257, 259 f; NVwZ-RR 1996, 149, 150; BayVGH DÖV 2008, 732; OVG Hamburg NJW 2001, 168, 169; HessVGH NVwZ 1988, 655; OVG NW NJW 1998, 2465; OVG RP NJW 1986, 1369; OVG SH NVwZ-RR 2003, 647 o JK LVwG SH § 238 I/1. 907 Dann dürfte idR ein Fall der Ausübung von Sachherrschaft gegen den Willen des Eigentümers (Rn 205) vorliegen; abl dazu OVG Hamburg NJW 1992, 1909; bestätigt von BVerwG NJW 1992, 1908. 908 VGH BW NJW 1991, 1698; DVBl 1991, 1370; NVwZ-RR 2003, 558; BayVGH BayVBl 2007, 249; OVG Hamburg NJW 2005, 2247, 2248 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/4; OVG NW NWVBl 2000, 355. 909 VGH BW DVBl 1990, 1046; HessVGH NJW 1999, 3793, 3794 o JK HSOG § 40/1. 910 SächsOVG NJW 1997, 2253, 2254. 911 VGH BW NVwZ-RR 1997, 267, 268; OVG Bln-Bbg NJW 2012, 3673; OVG NW NWVBl 2006, 265; SächsOVG NJW 1997, 2253, 2254; ausf Lepsius Besitz und Sachherrschaft, 292 ff. 912 VGH BW NJW 1998, 624; OVG NW NVwZ-RR 2009, 364, 365. – Überflüssig ist die von OVG NW DVBl 2012, 1259 in Betracht gezogene Analogie zum Eigentum, richtig in der Sache ist die Feststellung, dass die Zustandsverantwortlichkeit nur so weit reicht wie das Erbbaurecht. Noch weiter gehend OVG Bln-Bbg NJW 2012, 3673: Der Erbbauberechtigte ist Eigentümer des Bauwerks. 913 OVG NW NVwZ-RR 2011, 351, 352; krit Thiel Rn 266. – Das WEG ist abgedruckt in Schönfelder Nr 37. 914 HessVGH NJW 1999, 3650, 3651. 915 VGH BW NVwZ-RR 1997, 267, 268. 916 SächsOVG LKV 2009, 422. 917 Dazu Guldi BWVP 1996, 10 ff; Knopp DVBl 1999, 1010 ff. 918 VGH BW VBlBW 1998, 312; bestätigend BVerfG-K NVwZ 2001, 65, 66. 919 BVerwG NVwZ 2006, 354 Tz 10.

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Die Eigentumsbeendigung durch Dereliktion (§ 959 BGB bei beweglichen Sachen, § 928 204 BGB bei Grundstücken) ist in nahezu allen Ländern (und im Bundesrecht) gesetzlich geregelt. Geht die Gefahr von einer herrenlosen Sache (oder einem herrenlosen Tier) aus, können Gefahrenabwehrmaßnahmen gegen denjenigen gerichtet werden, der das Eigentum an der Sache (oder dem Tier) aufgegeben hat.920 Der frühere Eigentümer soll die mit dem Eigentum verbundenen Belastungen nicht einfach durch Dereliktion auf die Allgemeinheit abwälzen können.921 Die fortwirkende Zustandsverantwortlichkeit wird auch bei einem gesetzlich angeordneten Erlöschen des Eigentums angenommen.922 Voraussetzung für die andauernde „Zustandshaftung“ des früheren Eigentümers ist der Eintritt der Gefahr vor der Eigentumsaufgabe; ist die Gefahrenlage erst nach Aufgabe des Eigentums entstanden, steht Art 14 I GG der Inanspruchnahme des vormaligen Eigentümers als Zustandsstörer entgegen.923 Fehlt es an einer entsprechenden Regelung im Landesrecht, endet die Zustandsverantwortlichkeit des Eigentümers mit der Dereliktion. Wegen der unzweideutigen Verknüpfung der „Eigentümerhaftung“ im Gefahrenabwehrrecht mit der Eigentümerstellung im Zivilrecht (Rn 202) sowie wegen der Grundrechtsrelevanz (Art 14 I GG, Rn 194) der Zustandsverantwortlichkeit besteht ohne entsprechende gesetzliche Grundlage keine „nachwirkende Zustandshaftung“.924 Ist die Dereliktion allerdings sittenwidrig, weil sie sich zB in dem Zweck der Abwälzung von Entsorgungskosten auf die Allgemeinheit erschöpft, entfällt die Zustandshaftung des Derelinquenten nicht.925 Die Zustandsverantwortlichkeit des Eigentümers entfällt, wenn die tatsächliche Gewalt über 205 die Sache von einem Dritten ohne den Willen des Eigentümers oder Berechtigten ausgeübt wird. Der Eigentümer kann dann nicht auf die Sache einwirken. Diese „Enthaftung“ kann indes ein Ende finden. So hat zB der Dieb eines gestohlenen Kfz die tatsächliche Gewalt ohne den Willen des Eigentümers ausgeübt; 926 gibt der Dieb seine Sachherrschaft auf, besteht wieder die Zustandsverantwortlichkeit des Eigentümers.927 ee) Ordnungspflicht im Insolvenzverfahren. Im Falle der Insolvenz einer an sich ordnungs- 206 pflichtigen Gesellschaft (zB GmbH)928 können unterschiedliche Rationalitäten des Insolvenzrechts und des Gefahrenabwehrrechts aufeinanderprallen. Im Ausgangspunkt steht fest, dass durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens das Verwaltungs- und Verfügungsrecht über das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen vom Schuldner auf den Insolvenzverwalter übergeht (§ 80 InsO929). Der Insolvenzverwalter, eine unter der Aufsicht des Insolvenzgerichts stehende natürliche Person (vgl §§ 56 I, 58 I InsO), handelt als Inhaber eines privaten Amtes im eigenen Namen mit Wirkung für die Insolvenzmasse.930 Konsequenzen ergeben sich aus den insolvenz-

_____

920 Art 8 III BayPAG; § 14 IV ASOG Bln; § 6 III BbgPolG, § 17 III BbgOBG; § 6 III PolG Bremen; § 9 I 2 HbgSOG; § 7 III HessSOG; § 70 III SOG MV; § 7 III NdsSOG; § 5 III PolG NW, § 18 III OBG NW; § 5 III POG RP; § 5 III PolG SL; § 8 III SOG LSA; § 219 III LVwG SH; § 8 III ThürPAG, § 11 III ThürOBG. – Ebenso § 18 III BPolG; § 4 III 4 BBodSchG. 921 BVerwGE 122, 75, 83; OVG Bremen NVwZ-RR 1989, 16; NdsOVG NdsVBl 2012, 117, 118; OVG NW NJW 2010, 1988 o JK Pol- u OrdR Störer/14. 922 NdsOVG NdsVBl 2012, 117, 118 (zu kraft Gesetzes erloschenem Bergwerkseigentum). 923 OVG NW NJW 2010, 1988 o JK Pol- u OrdR Störer/14. 924 VGH BW DVBl 1990, 1046, 1047; NVwZ 1996, 1036, 1038 o JK PolG BW § 6/1; VGH BW NJW 1997, 3259; VG Kassel NVwZ-RR 1998, 648, 649; Trute DV 32 (1999) 73, 80; Pischel VBlBW 1999, 166 ff. – Zum Bodenschutzrecht Kohls Nachwirkende Zustandsverantwortlichkeit, 2002, 109 ff. 925 BVerwG NJW 2003, 2255 o JK PolG BW §§ 6, 7/2. 926 Setzt der Dieb das Kfz als „Waffe“ (zB gegen Polizeibeamte) ein, ist er Handlungsstörer, der Eigentümer des Kfz ist daneben nicht Zustandsstörer; OLG Dresden SächsVBl 2003, 173. 927 HessVGH NJW 1999, 3793, 3794 o JK HSOG § 40/1; OVG RP DVBl 1989, 1011, 1012; VG Berlin NJW 2000, 603; Lepsius Besitz- und Sachherrschaft, 295 f. 928 Gleichgestellt sind Verein, Stiftung, Genossenschaft. 929 Schönfelder Nr 110. 930 OVG NW DVBl 2011, 1162; OVG RP NZI 2010, 357, 358; Matthes/Henke SächsVBl 2011, 73, 75. – Der Insolvenzverwalter hat nicht, wie es mitunter fälschlich heißt, eine „persönliche“ Pflicht zu erfüllen.

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rechtlichen Regelungen für die Zustandsverantwortlichkeit (Rn 207 f) und ggf für die Verhaltensverantwortlichkeit (Rn 209). Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ändert sich an der Gefahrenabwehraufgabe 207 der Behörde nichts.931 Die Wahrnehmung dieser Aufgabe bestimmt sich nach den dafür geltenden Regelungen des Öffentlichen Rechts. Einen irgendwie gearteten Vorrang des Insolvenzrechts vor dem Gefahrenabwehrrecht gibt es nicht.932 Folglich ist nach den Vorschriften des Gefahrenabwehrrechts zu entscheiden, wen die Verantwortung für die Gefahrenbeseitigung trifft. Bei der Zustandshaftung erlischt nach hM die Verantwortlichkeit des Schuldners mit der Inbesitznahme der gefährlichen Sache durch den Insolvenzverwalter; als Eigentümer ist der Schuldner nicht (mehr) verantwortlich, weil der Insolvenzverwalter die tatsächliche Gewalt ohne oder gegen den Willen des Eigentümers ausübt.933 Zustandsverantwortlich ist der Insolvenzverwalter, der mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Inhaber der tatsächlichen Gewalt wird.934 Nach der Gegenauffassung nimmt die insolvente Gesellschaft ihre Ordnungspflicht ungeteilt in das Insolvenzverfahren mit, so dass sie einer kontinuierlichen Verantwortung unterliege; der Insolvenzverwalter sei lediglich für die Erfüllung der Ordnungspflicht zuständig.935 Die Pflicht zur Gefahrenbeseitigung, ggf nach behördlicher Inanspruchnahme, trifft den 208 Insolvenzverwalter nach hM originär; es handelt sich nicht etwa um eine lediglich übergegangene ursprüngliche Verpflichtung des Schuldners. Die Verknüpfung der Zustandsverantwortlichkeit mit der Inhaberschaft der tatsächlichen Gewalt hat indes Konsequenzen für die Beendigung der Zustandshaftung. Diese erfolgt nach hM mit der Freigabe von Gegenständen aus der Insolvenzmasse (§ 35 II InsO); mit deren Ausscheiden aus der Masse endet die Zustandsverantwortlichkeit des Insolvenzverwalters, die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Schuldners lebt wieder auf.936 Ist die Sache nach wie vor in einem gefährlichen Zustand, entsteht die Verantwortlichkeit beim Schuldner neu.937 Beim (Weiter-)Betrieb von Anlagen938 führt die Betreiberverantwortlichkeit des Insol209 venzverwalters im Falle der Verursachung einer Gefahrenlage zur Pflichtigkeit kraft Verhaltensverantwortlichkeit.939 Für die Anknüpfung an das aktive Handeln genügt es, dass der Anlagenbetrieb durch den Insolvenzverwalter nur kurze Zeit erfolgt ist.940 Er muss allerdings die Betreiberfunktion tatsächlich ausgeübt haben.941 Im Falle einer Verhaltensverantwortlichkeit beendet die Freigabeerklärung die Betreiberhaftung des Insolvenzverwalters nicht; denn die an die Betriebsführung anknüpfende Verhaltenshaftung entsteht unabhängig von der vermögensrechtlichen Zuordnung der Sache (Anlage) zur Insolvenzmasse, so dass die Freigabeerklärung gefahrenabwehrrechtlich ohne Bedeutung ist.942

_____ 931 Trute DV 32 (1999) 73, 85. 932 VGH BW NVwZ-RR 2012, 460, 462; Kley DVBl 2005, 727, 733. 933 Lepsius Besitz- und Sachherrschaft, 333. 934 BVerwGE 108, 269, 272; E 122, 75, 77 f (unter Zurückweisung der Kritik von BGHZ 148, 252, 260 und BGHZ 150, 305, 311); OVG MV NJW 1998, 175, 178; NdsOVG 1998, 398, 399; NJW 2010, 1546, 1547; VG Potsdam NJW 2002, 3566, 3567; Ritgen GewArch 1998, 393, 396; Matthes/Henke SächsVBl 2011, 73, 77. – Ebenso zum BImSchG BVerwGE 107, 299, 301 f o JK BImSchG § 5 I/3. 935 K. Schmidt NJW 2010, 1489, 1491 u 1493; ders NJW 2012, 3344, 3346. 936 BVerwGE 122, 75, 81; BayVGH NVwZ-RR 2006, 537, 539; NdsOVG NJW 2010, 1546, 1547; vgl ferner Kurz/Schwarz NVwZ 2007, 1380 ff. 937 K. Schmidt NJW 2010, 1489, 1490 meint, die Freigabe verlagere die Kostentragung auf den Fiskus. 938 Vgl etwa § 5 III BImSchG (Betrieb genehmigungspflichtiger Anlagen, zB Abfallentsorgungsanlagen), § 61 WHG (Betrieb von Abwasseranlagen). 939 Matthes/Henke SächsVBl 2011, 73, 78. 940 VGH BW NVwZ-RR 2012, 460, 461; BayVGH NVwZ-RR 2006, 537, 538; SächsOVG UPR 2006, 280, 281. 941 HessVGH NJW 2010, 1545, 1546 (mit angreifbarer Begründung) o JK HessSOG § 7/1. 942 VGH BW NVwZ-RR 2012, 460, 462; Matthes/Henke SächsVBl 2011, 73, 78.

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Die Qualifizierung der durch behördliche Anordnung konkretisierten Ordnungspflicht des 210 Insolvenzverwalters als „Masseverbindlichkeit“ (§ 55 InsO)943 ist missverständlich (und ohnehin überflüssig), da eine unmittelbar in Geld umrechenbare Verbindlichkeit (vgl § 45 InsO) nicht vorliegt.944 Anders ist dies (nach erfolgter behördlicher Gefahrenbeseitigung) bei Kostenerstattungsansprüchen der Verwaltung wegen Durchführung einer Ersatzvornahme (Rn 401) oder wegen unmittelbarer Ausführung der Gefahrenabwehrmaßnahme (Rn 403). Derartige Forderungen sind als Masseverbindlichkeiten zu behandeln.945 ff) Latente Gefahr. Im Bereich der Zustandsverantwortlichkeit soll die „latente Gefahr“ spe- 211 zielle Zurechnungsprobleme lösen. Es geht nicht etwa um Anforderungen an die Gefahrprognose, sondern um einen konkreten Zustand, der als solcher nicht die Gefahrenschwelle überschreitet, aber bei Hinzutreten weiterer (externer) Umstände in eine akute Gefahrenlage umschlagen kann.946 Als historisches Musterbeispiel hierfür gilt die im Außenbereich (§ 35 BauGB) betriebene Schweinemästerei, die als stark emittierender Betrieb gegenüber einer heranrückenden Wohnbebauung als „latenter Störer“ qualifiziert worden ist, dessen Betrieb untersagt werden dürfe.947 Der Begriff „latente Gefahr“ ist irreführend. Erfasst von dieser Rechtsfigur werden allenfalls 212 potentielle Gefahren(quellen). In der Sache geht es zudem nicht um Fragen der „Gefahr“, sondern der Verantwortlichkeit für einen Gefahrenzustand. Da idR (Boden-)Nutzungskonflikte zu bewältigen sind, ist das Polizei- und Ordnungsrecht nicht (mehr) das taugliche Rechtsregime für die Konfliktbewältigung. Im Bauplanungsrecht erfolgt die Konfliktlösung im Rahmen der planerischen Abwägung (§ 1 VII BauGB). Das Immissionsschutzrecht verbietet schädliche Umwelteinwirkungen auch bei nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen (§§ 22, 3 BImSchG). In den Fällen der von einem Grundstück ausgehenden Felssturzgefahr mag von einer „latent vorhandenen Gefahr“ gesprochen werden, 948 zur Begründung der Zustandsverantwortlichkeit des Eigentümers des Felsgeländes trägt jene sprachliche Wendung nichts bei. Auch die aus Anlass von Straßenbauarbeiten für eine Bundesautobahn auf einem Grundstück entdeckte Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg mag eine „latent vorhandene Gefahr“ begründen,949 die Verantwortlichkeit für die Gefahrbeseitigung kann jedoch nicht aus jener Figur abgeleitet werden, sondern ergibt sich aus dem Fachrecht.950 Zu einem neuerlichen „Schweinemästerfall“ (Rn 211) ist zutreffend erkannt worden, die Rechtsprechung zum „latenten Störer“ sei überholt.951 Sie ist in der Tat ein Muster nur noch von historischem Wert. gg) Anscheinsgefahr und Gefahrverdacht. Bei der Anscheinsgefahr (Rn 142) und beim Ge- 213 fahrverdacht (Rn 145) trifft die Zustandsverantwortlichkeit den Eigentümer bzw sonstigen Be-

_____ 943 VGH BW NVwZ-RR 2012, 460, 461; OVG MV NJW 1998, 175, 178; NdsOVG NJW 1998, 398, 399; Ritgen GewArch 1998, 393, 396. 944 K. Schmidt NJW 2010, 1489, 1491; ders NJW 2012, 3344, 3346. 945 BVerwGE 108, 269, 273 f; BayVGH NVwZ-RR 2006, 537, 540; OVG MV NJW 1998, 175, 178; NdsOVG NJW 1998, 398, 399; Trute DV 32 (1999) 73, 86. 946 Schmelz BayVBl 2001, 550, 553. 947 OVG NW OVGE 11, 250; krit Götz § 9 Rn 35; vgl auch Poscher JURA 2007, 801, 807 f. 948 OVG RP NJW 1998, 625, 626 o JK Pol- u OrdR Störer/10. 949 NdsOVG NVwZ 2009, 1050, 1052 o JK FStrG § 16a/1: Erst mit dem Beginn der Erdbewegungen im Zuge der Straßenbauarbeiten aktualisiere sich die latente Gefahr. 950 Grundstückseigentümer und sonstige Nutzungsberechtigte haben Bodenuntersuchungen zu dulden (§ 16a I FStrG, Sartorius I Nr 932), verantwortlich für die Sicherheit und Ordnung ist der Träger der Straßenbaulast (§ 4 FStrG). 951 VG Weimar ThürVBl 1999, 22, 23 f: gesetzliche Wertung des § 5 I 2 BauNVO für den in einem Dorfgebiet ansässigen Schweinemäster maßgeblich.

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rechtigten der gefährlichen Sache bzw den Inhaber der tatsächlichen Gewalt.952 Ist eine reale Gefahr vorhanden und besteht die Ungewissheit in Bezug auf das Ausmaß der Gefahr (zB Umfang einer Boden- oder Gewässerverunreinigung), ist der potentiell Verantwortliche heranzuziehen.953 Im Bodenschutzrecht ist zur Verantwortlichkeit bei Verdachtslagen eine spezielle Regelung getroffen worden (§ 9 II BBodSchG);954 diese ist abschließend, so dass das Bundesrecht insoweit Landesrecht verdrängt.955

f) Rechtsnachfolge in die Polizei- und Ordnungspflicht 214 aa) Problemstellung. Die gefahrenabwehrrechtliche Verantwortlichkeit im Falle der zivilrechtlich stattfindenden Rechtsnachfolge zählt zu den umstrittensten Fragen des Gefahrenabwehrrechts.956 Eine herausragende Bedeutung hat die Problematik seit jeher im Bauordnungsrecht.957 Typischerweise geht es darum, dass – vielfach nach einem langwierigen Verfahren – die Beseitigungsverfügung für einen „Schwarzbau“ bestandskräftig geworden ist und die Durchsetzung der Maßnahme deshalb hinfällig werden könnte, weil zivilrechtlich eine Rechtsnachfolge eintritt (zB Todes- und Erbfall, Veräußerung der gefährlichen Sache, Betriebsübergang). Nach dem Rechtsgefühl erscheint es nur schwer erträglich, dass die Verwaltung das Verfahren gegen den Rechtsnachfolger 958 soll von vorne beginnen müssen. Zweckmäßiger wäre es, wenn die zuständige Behörde das Verfahren im jeweils erreichten Stadium fortsetzen dürfte und zB den bestandskräftigen Verwaltungsakt gegen den Rechtsnachfolger vollstrecken könnte. Vermehrt diskutiert wird neuerdings aber auch die Rechtsnachfolge in die noch nicht durch Verfügung konkretisierte abstrakte Polizei- und Ordnungspflicht (Rn 217 ff). Rechtsstaatlich einwandfreie Lösungen lassen sich finden, wo das Öffentliche Recht die zi215 vilrechtliche Rechtsnachfolge zum Anknüpfungspunkt für die gesetzliche Anordnung des Übergangs der gefahrenabwehrrechtlichen Verantwortlichkeit nimmt. Derartige bereichsspezifische Regelungen finden sich zB im Bauordnungsrecht einiger Länder959 und für die Gesamtrechtsnachfolge im Bodenschutzrecht.960 Diese Rechtsnachfolgeregelungen sorgen dafür, dass eine behördliche Anordnung (ggf nach Durchführung eines Verwaltungsrechtsstreits) nicht zB durch eine Grundstücksübertragung gegenstandslos wird; die Behörde ist daher nicht gezwungen, trotz unveränderter Sach- und Rechtslage gegen den Rechtsnachfolger erneut eine Anordnung zu treffen (und ggf zu prozessieren).961 Im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht fehlen entsprechende Tatbestände.

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952 VGH BW DVBl 1990, 1047, 1048; NVwZ 1991, 491, 492; NVwZ 1991, 493, 494; BayVGH BayVBl 1997, 87. 953 OVG Hamburg NVwZ 2001, 215, 219 o JK Pol- u OrdR Störer/12. 954 Dazu VGH BW NVwZ 2002, 1260, 1261; NVwZ-RR 2008, 605, 606 f; BayVGH BayVBl 2003, 467; NVwZ 2007, 112; BayVBl 2008, 23; HessVGH DÖV 2005, 124. Vgl auch oben Rn 147. 955 BVerwGE 126, 1 Tz 11 ff. 956 Umfassend Dietlein Nachfolge im Öffentlichen Recht, 1999, 51 ff; Schorsch Die Einzel- und Gesamtrechtsnachfolge in die gefahrenabwehrrechtliche Zustands- und Verhaltensverantwortlichkeit, 2007, 11 ff. – Zusammenfassend Rau JURA 2000, 37 ff; Nolte/Niestedt JuS 2000, 1071 ff und 1172 ff; Zacharias JA 2001, 720 ff; allg (in rechtstheoretischer Perspektive) P. Reimer DVBl 2011, 201 ff. 957 Schoch BauR 1983, 532 ff; Schwarz BauR 1985, 497 ff; Guckelberger VerwArch 90 (1999) 499 ff. 958 Gegen den Rechtsvorgänger kann im allg Gefahrenabwehrrecht nicht als Zustandsverantwortlichen eingeschritten werden; OVG NW NVwZ-RR 1997, 12, 13. – Anders ist die Rechtslage im Bodenschutzrecht gemäß § 4 VI BBodSchG; dazu Kahl DV 33 (2000) 29, 55 ff; Müggenborg NVwZ 2000, 50 ff; Kohls ZUR 2001, 183 ff; Grzeszick NVwZ 2001, 721 ff; Dombert NJW 2001, 927 ff; Schlemminger/Friedrich NJW 2002, 2133 ff; Hellriegel NVwZ 2012, 541 ff; vgl auch Fallbearbeitung Kahl JURA 2004, 853, 856. 959 Art 54 II 3 BayBauO; § 58 II BlnBauO; § 52 V BbgBauO; § 58 II HbgBauO, § 53 V HessBauO; § 58 II LBauO MV; § 89 II 3 NdsBauO; § 81 S 3 LBO RP; § 57 V SaarlLBO; § 58 III SächsBauO; § 57 III BauO LSA; § 59 IV LBO SH; § 60 IV ThürBauO. 960 § 4 III 1 BBodSchG. – Dazu v Mutius/Nolte DÖV 2000, 1 ff; Kahl DV 33 (2000) 29, 39 ff; Trurnit VBlBW 2000, 261 ff. 961 OVG MV NVwZ-RR 2010, 266, 267 o JK VwGO § 80 III/5. – Nach NdsOVG NJW 2011, 2228 muss nach einem Grundstückserwerb durch ein Ehepaar gegenüber der Ehefrau keine Duldungsverfügung erlassen werden, wenn die

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II. Materielles Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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Ein Teil der Rechtsprechung hat sich einem rigorosen Pragmatismus verschrieben, der jede 216 rechtsstaatliche Bindung ignoriert und richterlicher „Rechts“schöpfung freien Lauf lässt. Bei diesem Ausgangspunkt interessiert allein das für richtig befundene Ergebnis; dessen Herstellung wird nurmehr mit einem „dringenden praktischen Bedürfnis“ zu rechtfertigen versucht.962 Diese Judikatur lässt sich – unter Hinweis auf das vertretbare praktische Ergebnis – kaum mit der These rechtfertigen, es handele sich um „Richterrecht auf dem Weg zum Gewohnheitsrecht“.963 Denn einerseits gibt es auch abweichende Stimmen, und andererseits vermag „Richterrecht“ weder den Vorbehalt des Gesetzes (Rn 21 aE, 220, 221) noch die Zuständigkeitsordnung (Rn 219, 220 aE, 222, 223) zu derogieren. Im Rechtsstaat ist vielmehr auf einer „unvoreingenommenen, nicht von einem möglicherweise erwünschten Ergebnis her denkenden Betrachtung“ zu bestehen.964 bb) Abstrakte Polizei- und Ordnungspflicht. Eine Rechtsnachfolge in die abstrakte Verant- 217 wortlichkeit, dh in die noch nicht durch Verfügung konkretisierte Polizei- und Ordnungspflicht, gibt es im geltenden Recht ohne entsprechende gesetzliche Grundlage (zB § 4 III 1 BBodSchG) nicht.965 Die Zustandsverantwortlichkeit ist ohnehin auf die Zeitspanne der Eigentümerstellung bzw sonstigen Berechtigung oder der Inhaberschaft der tatsächlichen Gewalt begrenzt (Rn 203 f) und entsteht beim neuen Eigentümer bzw sonstigen Berechtigten oder Inhaber der tatsächlichen Gewalt originär, so dass Maßnahmen gegen diese Rechtssubjekte gerichtet werden können.966 Eine Rechtsnachfolge in die abstrakte Verhaltensverantwortlichkeit findet nach zutref- 218 fender Auffassung grundsätzlich ebenfalls nicht statt.967 Für die nach Privatrecht erfolgende Einzelrechtsnachfolge ergibt sich dies daraus, dass die im öffentlichen Interesse normierte gefahrenabwehrrechtliche Verantwortlichkeit nicht der rechtsgeschäftlichen Disposition Privater unterliegt.968 Bei der zivilrechtlichen Gesamtrechtsnachfolge gilt nichts anderes. Die Verhaltensverantwortlichkeit ist als Kausalhaftung für persönliches Verhalten ausgeprägt (Rn 176). Schon dies macht die Rechtsnachfolge im Öffentlichen Recht zweifelhaft.969 Die Gesamtrechtsnachfolge in die abstrakte Polizei- und Ordnungspflicht kann auch nicht mit der Erwägung bejaht werden, die Verhaltensverantwortlichkeit sei eine bereits bestehende, durch Verwaltungsakt nur noch zu konkretisierende Rechtspflicht, so dass der zivilrechtliche Rechtsnachfolger in alle Pflichten seines Vorgängers eintrete.970 Die abstrakte (also: gesetzliche) Verhaltensverant-

_____ für den Schwarzbau auf dem Grundstück vorliegende bestandskräftige Beseitigungsverfügung kraft Rechtsnachfolge (§ 89 II 3 LBO) gegenüber dem Ehemann durchgesetzt werden soll. 962 Exemplarisch OVG Hamburg NVwZ-RR 1997, 11, 12 o JK Pol- u OrdR Rechtsnachfolge/5; HessVGH NVwZ 1998, 1315, 1316 o JK BImSchG § 22 II/2; ohne Begründung OVG NW BauR 2003, 1877, 1878; ThürOVG DÖV 2007, 260. 963 So aber Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 56; zustimmend Gusy Rn 364. 964 So (erfreulich deutlich) BayVGH NVwZ-RR 2004, 648. 965 VGH BW NVwZ-RR 2002, 16 u 2003, 103, 106; P. Reimer DVBl 2011, 201, 204; Kugelmann 8/6; Schorsch Einzelund Gesamtrechtsnachfolge (Fn 956) 96 ff. 966 BayVGH NVwZ 1986, 942, 946; Schink VerwArch 82 (1991) 357, 384; Schlabach/Simon NVwZ 1992, 143, 144; Rau JURA 2000, 37, 40; Götz § 9 Rn 83; Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 50, 58; Thiel Rn 292; Würtenberger/Heckmann Rn 456; aA Stadie DVBl 1990, 501, 505. 967 VGH BW NVwZ-RR 1999, 167, 168; NVwZ-RR 2002, 16; Papier DVBl 1996, 125, 127 f; Rau JURA 2000, 37, 43; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 122; Gusy Rn 364; Kugelmann 8/68; Schenke Rn 296; Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 61; Dietlein Nachfolge im ÖR (Fn 956) 88 ff. 968 BVerwG NVwZ 2001, 807, 808; NVwZ 2012, 888 Tz 10; VGH BW NVwZ-RR 1996, 387, 389 o JK AbfG BW § 22 IV/1; OVG NW NVwZ 1997, 507, 508; Trute DV 32 (1999) 73, 82. 969 Papier DVBl 1985, 873, 878 f und DVBl 1996, 125, 127 f. 970 So aber OVG NW UPR 1984, 279, 280; NdsOVG NJW 1998, 97, 98 o JK Pol- u OrdR Rechtsnachfolge/6; OVG SH DVBl 2000, 1877, 1878; Stadie DVBl 1990, 501, 505; Schink VerwArch 82 (1991) 357, 386 f; Schlabach/Simon NVwZ 1992, 143, 145; Würtenberger/Heckmann Rn 456.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

wortlichkeit ist rechtlich keine nachfolgefähige Rechtspflicht, sondern eine bloße Pflichtigkeit971 und vermittelt der zuständigen Behörde iVm der entsprechenden Befugnisnorm daher lediglich eine Eingriffsermächtigung, deren Konkretisierung nicht etwa in einen feststellenden Verwaltungsakt mündet, sondern eine Verfügung nach pflichtgemäßer Ermessensausübung hervorbringt.972 Der Pflichteninhalt wird erst durch die Verfügung mit der notwendigen Bestimmtheit (§ 37 I VwVfG) konstitutiv festgelegt. Ohne ausdrückliche Normierung fehlt es an einer Rechtsgrundlage für den Übergang der noch nicht durch Verwaltungsakt konkretisierten, abstrakten Pflichtigkeit auf den Rechtsnachfolger.973 Das BVerwG hat seine Entscheidung vom März 2006 zur Rechtsnachfolge in die abstrakte 219 Polizeipflicht im Bodenschutzrecht (§ 4 III 1 BBodSchG)974 dazu benutzt, allgemeine Ausführungen (auch zum Polizei- und Ordnungsrecht) über die – bejahte – Gesamtrechtsnachfolge in abstrakte Polizeipflichten zu machen. Die Ausführungen überzeugen nicht. Das Gericht behauptet dazu einen einheitlichen Meinungsstand,975 den es nicht (vgl Rn 218), weil die Rechtsnachfolge in die abstrakte Polizeipflicht vom BVerwG ständig mit derjenigen in die durch Verwaltungsakt konkretisierte Pflicht (dazu Rn 220 ff) vermengt wird.976 Sodann wird die abstrakte, materielle Polizeipflicht als „unfertige Verpflichtung“ etikettiert;977 juristisch gibt es so etwas nicht.978 Schließlich wird zu der für die Pflichtennachfolge notwendigen Übergangsnorm gesagt, die dem Zivilrecht zu entnehmenden gesetzlichen Regelungen zur Rechtsnachfolge (§§ 1922, 1967 BGB; §§ 20 I, 174 UmwG 1995) genügten „einem im weiteren Sinne verstandenen Vorbehalt des Gesetzes“;979 was ein Gesetzesvorbehalt „iwS“ sein soll, erläutert das BVerwG nicht und übersieht in der Sache, dass die Übergangsnorm im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht– selbstverständlich – vom zuständigen Landesgesetzgeber stammen muss980 (näher dazu Rn 222). Die Entscheidung des BVerwG ist also handwerklich schwach, methodisch angreifbar und dogmatisch unzutreffend. 220 cc) Konkretisierte Polizei- und Ordnungspflicht. Kann sich die Problematik der Rechtsnachfolge im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht somit de iure nur im Falle einer durch Verwaltungsakt konkretisierten Verantwortlichkeit stellen, müssen bestehende gesetzliche Voraussetzungen und (verfassungs)rechtliche Bindungen beachtet werden: (1) Zivilrechtlich muss im Rechtssinne überhaupt ein Fall der Rechtsnachfolge 981 vorliegen; 982 trifft dies nicht

_____ 971 Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 121. 972 Papier NVwZ 1986, 256, 262, Rau JURA 2000, 37, 44; Dietlein Nachfolge im ÖR (Fn 956) 92. 973 VGH BW VBlBW 2005, 388, 389 ĺ JK GG Art 20 III/42; Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 61. 974 BVerwGE 125, 325 = DVBl 2006, 1114 (m abl Anm Knauff 1321) = NVwZ 2006, 928 (m zust Bespr Palme 1130) = JZ 2006, 1124 (m krit Anm Ossenbühl) oJK BBodSchG § 4 III/3; dazu auch Hünnekens/Arnold NJW 2006, 3388 ff; Rixen JZ 2007, 171 ff; Wittreck JURA 2008, 534 ff. 975 BVerwGE 125, 325 Tz 19 ff. 976 Ossenbühl JZ 2006, 1128, 1129; Knauff DVBl 2006, 1321, 1322. 977 BVerwGE 125, 325 Tz 20, 22. 978 Rixen JZ 2007, 171, 175. 979 BVerwGE 125, 325 Tz 25; krit dazu Wittreck JURA 2008, 534, 539; seine Rspr bekräftigend BVerwG NVwZ 2012, 888 Tz 15. 980 Rixen JZ 2007, 171, 175 f. 981 Für den praktisch bedeutsamen § 4 III 1 BBodSchG ist als Gesamtrechtsnachfolger diejenige natürliche oder juristische Person zu erachten, die kraft gesetzlicher Anordnung oder vertraglicher Vereinbarung in die gesamten Rechte und Pflichten einer anderen Person eintritt; VGH BW NVwZ-RR 2002, 16, 17; HessVGH NVwZ 2000, 828 o JK BBodSchG § 4/1; HessVGH NVwZ-RR 2006, 781, 782; Erbguth GewArch 1999, 223, 230; Müggenborg SächsVBl 2000, 77, 82. 982 Im Falle der Gesamtrechtsnachfolge sind insb von Bedeutung bei natürlichen Personen die Universalsukzession (§§ 1922, 1967 BGB), bei juristischen Personen die gesellschaftsrechtliche Umwandlung durch Verschmelzung (§§ 2 ff, 20 I Nr 1 UmwG – Schönfelder Nr 52a), Spaltung (§§ 123 ff, 131 I Nr 1 UmwG) und Vermögensübertragung (§§ 174 ff UmwG). Nicht als Gesamtrechtsnachfolge werden angesehen der bloße Formwechsel eines Unternehmens

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II. Materielles Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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zu,983 stellt sich die Rechtsnachfolgeproblematik im Öffentlichen Recht nicht. Ist zivilrechtlich eine Rechtsnachfolge eingetreten, muss die durch Verwaltungsakt konkretisierte Verantwortlichkeit (2) eine nachfolgefähige Rechtspflicht darstellen und (3) auf Grund eines Nachfolgetatbestandes (Rechtsgrundes) dem Rechtsnachfolger auferlegt werden.984 Die Übergangsfähigkeit der verwaltungsrechtlichen Pflicht ist idR unproblematisch, da Verfügungen im Gefahrenabwehrrecht auf vertretbare Handlungen gerichtet sind. Der Nachfolgetatbestand trägt – da die polizeiliche bzw ordnungsbehördliche Inpflichtnahme des Einzelnen einen klassischen Grundrechtseingriff darstellt – dem Vorbehalt des Gesetzes Rechnung 985 und markiert die notwendige öffentlich-rechtliche Grundlage für die behördliche Inanspruchnahme des Gesamt- oder Einzelrechtsnachfolgers. Bei der Rechtsnachfolgenorm muss es sich um eine solche des zuständigen Gesetzgebers handeln (vgl Rn 222). Bei der Anwendung dieser Grundsätze ist idR der Nachfolgetatbestand problematisch. 221 Im Falle der durch Verwaltungsakt konkretisierten Zustandsverantwortlichkeit sieht die hM den Rechtsgrund des Pflichtenübergangs bei der Einzelrechtsnachfolge insbesondere in der „Dinglichkeit“ (idR „Grundstücksbezogenheit“) der Verfügung.986 Diese freischöpferische Erfindung der Rechtsprechung 987 ist juristisch nicht haltbar.988 Die Behauptung eines „dinglichen Verwaltungsakts“, den eine Polizeiverfügung (als Ermessensentscheidung mit zT personalen Elementen) mitnichten darstellt, ist eine reine petitio principii. Den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts zur Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs (Art 14 I, 2 I GG) wird von der hM auch nicht entsprochen. Fehlt es aber an der Rechtsnachfolgenorm im Öffentlichen Recht, findet eine Einzelrechtsnachfolge in die durch Verwaltungsakt konkretisierte Zustandshaftung nicht statt. Soll etwas anderes gelten, muss der zuständige Gesetzgeber dies durch einen entsprechenden Nachfolgetatbestand anordnen, wie es zT im Bauordnungsrecht (Rn 215) oder – spiegelbildlich für den früheren Rechtsinhaber – bei der Dereliktion (Rn 204) geschehen ist. Bei der Gesamtrechtsnachfolge könnte im Falle einer durch Verfügung konkretisierten Zu- 222 standsverantwortlichkeit an eine Heranziehung (Analogie) der die Rechtsnachfolge im Zivilrecht regelnden Vorschriften (zB §§ 1922, 1967 BGB, § 20 UmwG) gedacht werden.989 Dabei handelt es sich indes um Bundesrecht, das schon aus Kompetenzgründen (Art 70 GG) keine Aussage zum landesgesetzlichen Gefahrenabwehrrecht trifft.990 Der zur Rechtfertigung von Grundrechtsein-

_____ (vgl §§ 190 ff, 202 I Nr 1 UmwG) und die Firmenfortführung nach § 25 oder § 28 HGB (HessVGH NVwZ 2000, 828, 829 o JK BBodSchG § 4/1; Hess VGH NVwZ-RR 2006, 781, 782; vgl auch VGH BW NVwZ-RR 2012, 105 zu den Anforderungen des § 25 HGB). Vgl Schlabach/Heck VBlBW 2001, 46, 50; zum UmwG auch Schaffelhuber JuS 1998, 864, sowie Zeppezauer DVBl 2007, 599 ff. 983 Bsple: VGH BW VBlBW 1988, 110, 111: Der Pächter ist kein Rechtsnachfolger des vorherigen Pächters; BayVGH NJW 1993, 82: Der Mieter eines Hauses ist nicht Rechtsnachfolger des Eigentümers; OVG MV NVwZ-RR 2010, 266, 267 o JK VwGO § 80 III/5: Der Erbbauberechtigte ist kein Rechtsnachfolger des Bauherrrn. 984 OVG Hamburg NVwZ-RR 1997, 11 f o JK Pol- u OrdR Rechtsnachfolge/5; OVG NW NVwZ-RR 1997, 70; Rau JURA 2000, 37, 38 f; Dietlein Nachfolge im ÖR (Fn 956) 105. 985 Rau JURA 2000, 37, 43; Dietlein Nachfolge im ÖR (Fn 956) 197, 267. 986 VGH BW NVwZ 1992, 392; NVwZ-RR 1994, 384, 386; BayVGH BayVBl 1983, 21; OVG Hamburg NVwZ-RR 1997, 11, 12 o JK Pol- u OrdR Rechtsnachfolge/5; HessVGH NVwZ 1998, 1315, 1316; OVG NW NVwZ-RR 1998, 159, 160; ThürOVG DÖV 2007, 260; Beljin/Micker JuS 2003, 556, 560; Möller/Warg Rn 140; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 124 f. 987 Ausgangsentscheidung: BVerwG NJW 1971, 1624. 988 Zutr HessVGH NJW 1976, 1910 (m Anm Stober NJW 1977, 123); aus dem Schrifttum Schoch BauR 1983, 532, 537 ff; Stadie DVBl 1990, 501, 507; Schink VerwArch 82 (1991) 357, 385 f; Rau JURA 2000, 37, 42, 44; Dietlein Nachfolge im ÖR (Fn 956) 237 ff; Gusy Rn 362, 364; Kugelmann 8/66; Schenke Rn 293; Würtenberger/Heckmann Rn 455. 989 HessVGH NJW 1976, 1910 (m Anm Stober NJW 1977, 123); NVwZ-RR 2006, 781, 782; OVG RP DÖV 1980, 654, 655; Stadie DVBl 1990, 501, 503; Schink VerwArch 82 (1991) 357, 385; Schlabach/Simon NVwZ 1992, 143, 145; Rau JURA 2000, 37, 39, 42; Würtenberger/Heckmann Rn 455; Schorsch Einzel- und Gesamtrechtsnachfolge (Fn 956) 59 ff. 990 Am Bspl der Gefahrenabwehr nach der LBO idS BVerwG NVwZ-RR 1997, 271, 272; NVwZ 1998, 395.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

griffen bestehende Gesetzesvorbehalt bedeutet nicht, dass irgendein Gesetz (zB aus dem Zivilrecht) im Wege der Analogie herangezogen werden kann; da es um die Frage eines öffentlichrechtlichen Pflichtenübergangs geht, muss die Norm eine solche des Öffentlichen Rechts sein und vom zuständigen Gesetzgeber erlassen worden sein.991 Schon aus Kompetenzgründen wäre der Bundesgesetzgeber daran gehindert, die Rechtsnachfolge im landesgesetzlich zu regelnden Gefahrenabwehrrecht (PolG, SOG, aber auch zB LBO, LWG etc) anzuordnen. Der für das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht zuständige Landesgesetzgeber hat jedoch an keiner Stelle zu erkennen gegeben, dass die zivilrechtlichen Nachfolgetatbestände als öffentlich-rechtliche Ermächtigungsgrundlagen zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen anwendbar sein sollen.992 Daher scheidet auch eine Gesamtrechtsnachfolge aus. Bei der durch Verfügung konkretisierten Verhaltensverantwortlichkeit lehnt auch die 223 hM im Falle der Einzelrechtsnachfolge mangels Nachfolgetatbestands einen Übergang der Polizei- und Ordnungspflicht ab.993 Für die Gesamtrechtsnachfolge soll sich der Rechtsgrund für den öffentlich-rechtlichen Pflichtenübergang wieder aus den zivilrechtlichen Vorschriften (§§ 1922, 1967 BGB etc) ergeben.994 Auch insoweit greift jedoch der kompetenzrechtliche Einwand (Rn 222) durch.995 Die hM hat es bisher vermieden, die Kompetenzproblematik anzusprechen. 224 dd) Fazit. Als Grundrechtseingriff muss die Pflichtennachfolge im Gefahrenabwehrrecht gesetzlich angeordnet sein, um de iure anerkannt zu werden. Das ist nur in Teilbereichen des besonderen Gefahrenabwehrrechts erfolgt (zB § 4 III 1 BBodSchG, zT Regelung in der LBO zur Beseitigungsverfügung). Im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht fehlen derartige Nachfolgetatbestände;996 eine „Rechtsnachfolge“ (besser: Pflichtennachfolge) kann es daher insoweit nicht geben. Die von der Rechtsprechung gesetzesinakzessorisch entwickelten Thesen und Figuren („dinglicher Verwaltungsakt“) sind ersichtlich vom gewünschten Ergebnis diktiert. Richterrecht vermag aber nicht den verfassungsrechtlich verankerten Vorbehalt des Gesetzes zu überspielen. Erst recht kann Richterrecht nicht die Gesetzgebungskompetenz der Länder derogieren, wenn seitens der Judikatur unter Verstoß gegen Art 70 GG versucht wird, durch Rückgriff auf bundesgesetzliche BGB-Vorschriften landesgesetzliche Rechtsnachfolgetatbestände im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht zu konstruieren. Die Regelung der Rechtsnachfolge in die Polizei- und Ordnungspflicht bleibt ein Desiderat des zuständigen Landesgesetzgebers.

g) Störermehrheit: Auswahlermessen bei mehreren Verantwortlichen 225 Nicht selten ist eine Mehrheit von Personen für eine Gefahrenlage verantwortlich. So kann es neben einem Verhaltensstörer einen Zustandsstörer geben; auch können mehrere Verhaltensverantwortliche und/oder mehrere Zustandsverantwortliche existieren. Eine Person kann zudem

_____ 991 BayVGH NVwZ-RR 2004, 648, 649; Thiel Rn 295. 992 Dietlein Nachfolge im ÖR (Fn 956) 272; abl zur hM auch zB Peine DVBl 1980, 941, 946; ders JuS 1997, 984, 986 f; Rumpf VerwArch 78 (1987) 269, 284; Schenke Rn 295. 993 Vgl nur etwa Rau JURA 2000, 37, 44; Thiel Rn 296; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 126. 994 BVerwG NVwZ 2012, 888 Tz 15; BayVGH ZfW 1989, 147, 150; SächsOVG LKV 1998, 62, 64; VG Berlin LKV 2000, 315, 316; Schink VerwArch 82 (1991) 357, 386; Schlabach/Simon NVwZ 1992, 143, 145; Rau JURA 2000, 37, 44. 995 Abl aus sonstigen Gründen Dietlein Nachfolge im ÖR (Fn 956) 230 ff; Schenke Rn 296. 996 Polizei- und ordnungsrechtliche Vorschriften zum Vollzug eines Verwaltungsakts gegen den Rechtsnachfolger (zB § 84 SOG MV, § 233 LVwG SH) vermögen die geforderte, der Verwaltungsvollstreckung vorgelagerte gesetzliche Grundlage zum Übergang der Gefahrenbeseitigungspflicht als solcher nicht zu ersetzen. – Die Rechtsnachfolge in eine Vollstreckungsmaßnahme (Zwangsgeldandrohung) lehnt sogar BVerwG NVwZ 2012, 888 Tz 16 ab: Beugecharakter höchstpersönlicher Natur, daher fehlende Übergangsfähigkeit.

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verhaltens- und zustandsverantwortlich sein („Doppelstörer“), und daneben können weitere Verhaltens- bzw Zustandsstörer festgestellt werden.997 Zu der Frage, wer in solchen Fällen der „Störermehrheit“ heranzuziehen ist, sind im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht keine Regelungen getroffen. Pflichtgemäßes behördliches Auswahlermessen (§ 40 VwVfG) bestimmt daher die Heranziehung des Pflichtigen.998 Jeder Störer ist für den gesamten Gefahrenzustand verantwortlich; 999 eine (dem Grunde 226 nach) nur anteilige Verantwortlichkeit kennt das Polizei- und Ordnungsrecht nicht.1000 Zulässig ist auch die Inanspruchnahme mehrerer Störer, zB des Verhaltens- und des Zustandsverantwortlichen1001 oder mehrerer Verhaltensstörer1002 oder mehrerer Zustandsstörer1003 oder mehrerer Zustands- und mehrerer Verhaltensverantwortlicher.1004 Damit das Auswahlermessen pflichtgemäß betätigt werden kann, müssen alle Verantwortlichen ermittelt worden sein.1005 Wird ein objektiv vorhandener weiterer Störer von der Behörde übersehen, liegt ein (partieller) Ermessensausfall (-mangel) vor; die Auswahlentscheidung ist ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig.1006 aa) Effektivität der Gefahrenabwehr als Ermessensdirektive. Maßstab für die Störeraus- 227 wahl ist entsprechend dem Zweck des Gefahrenabwehrrechts die Effektivität der Gefahrenabwehr.1007 Diese Ermessensdirektive findet in § 40 VwVfG („Zweck der Ermächtigung“) ihren gesetzlichen Ausdruck. Unter mehreren Verantwortlichen ist derjenige heranzuziehen, der am wirksamsten die Gefahr beseitigen kann (rasch, gründlich, verlässlich etc). Wer dies konkret ist, muss anhand der Umstände des Einzelfalls ermittelt werden. Der Behörde müssen dabei die notwendigen Entscheidungsspielräume verbleiben.1008 So kann sich die Verwaltung wegen einer umstrittenen Rechtsnachfolge bei der Verhaltensverantwortlichkeit an denjenigen unter mehreren Störern halten, an dessen Verantwortlichkeit es keinen Zweifel gibt.1009 Hat die Behörde wegen tatsächlicher Ungewissheiten begründete Zweifel am Erfolg einer Heranziehung des Verhaltensverantwortlichen, darf sie die Gefahrenbeseitigungspflicht dem Zustandsverantwortlichen auferlegen.1010 Verlangt die Durchführung einer angeordneten Gefahrenabwehrmaßnahme besonderen Sachverstand, der zB nur bei Fachfirmen vorhanden ist, so dass die Vornahme der

_____ 997 Näher zur Entstehung einer Störermehrheit Schoch JURA 2012, 685, 686. 998 VGH BW VBlBW 1995, 281 o JK Pol- u OrdR Störer/7; NVwZ-RR 1997, 267, 269; BayVGH NJW 1993, 81; BayVBl 2005, 441, 442; OVG Berlin DÖV 1991, 557, 558; OVG Hamburg NVwZ 2001, 215, 219; HessVGH NVwZ 1992, 1111, 1113; NVwZ-RR 2004, 32; NVwZ-RR 2006, 781; NdsOVG NVwZ 1990, 786, 787; OVG NW NVwZ-RR 1995, 635; OVG RP DÖV 1990, 844, 845; ThürOVG LKV 1997, 369; Garbe DÖV 1998, 632. 999 BayVGH NJW 1993, 81; OVG Berlin DÖV 1991, 557, 558; NdsOVG NVwZ 2005, 1207, 1208. 1000 Bickel NVwZ 2004, 318, 320; Poscher JURA 2007, 801, 809; Kugelmann 8/79; Schenke Rn 284; aA Jochum NVwZ 2003, 526, 529 ff; zT auch R. Enders NVwZ 2005, 381, 385. – Zur Frage der Kostenaufteilung unten Rn 233 ff. 1001 VGH BW NVwZ-RR 1994, 565, 568. – Garbe DÖV 1998, 632, 635 tritt sogar dafür ein, dass alle Störer zur Gefahrenbeseitigung verpflichtet werden. 1002 NdsOVG NVwZ 2005, 1207, 1208. 1003 BayVGH BayVBl 2005, 441, 442. 1004 VGH BW NVwZ-RR 2012, 387. 1005 VGH BW NVwZ-RR 1992, 350; NVwZ-RR 1996, 553, 555. 1006 VGH BW NVwZ 1990, 179, 180; NVwZ-RR 1991, 27 (m Bespr Schwerdtner NVwZ 1992, 141); NVwZ-RR 1996, 553, 555; BayVGH BayVBl 2005, 441, 442; HessVGH NVwZ-RR 2004, 32, 33. – Ebenso zum Versammlungsrecht BVerfG-K NVwZ-RR 2007, 641, 642. 1007 VGH BW VBlBW 1995, 281 o JK Pol- u OrdR Störer/7; VGH BW NVwZ-RR 1996, 387, 390 o JK AbfG BW § 22 IV/1; VGH BW NVwZ-RR 2012, 387, 388; BayVGH NJW 1993, 81; NJW 2004, 2768, 2770; BayVBl 2005, 441, 442; HessVGH UPR 1995, 198; NVwZ-RR 2006, 781; OVG NW NVwZ-RR 1995, 635; DVBl 2012, 1259, 1260. 1008 Näher dazu Schoch JURA 2012,685, 688. 1009 VGH BW NVwZ 2000, 1199 o JK Pol- u OrdR Rechtsnachfolge/7. 1010 BayVGH BayVBl 2008, 23; HessVGH NVwZ-RR 1998, 747, 749; NVwZ-RR 2006, 781, 782; OVG NW NVwZ 1997, 804, 805.

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Maßnahme erhebliche Kosten verursacht, ist auch die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Störer ein sachgerechter Auswahlgesichtspunkt.1011 Ist die Effektivität der Gefahrenabwehr gewahrt, können innerhalb des Ermessensrahmens seitens der Verwaltung Zweckmäßigkeitserwägungen angestellt werden. 1012 Diese können auch Gründe der Billigkeit sein. So darf die Behörde den Handlungsstörer vor dem Zustandsstörer in Anspruch nehmen.1013 Der Aspekt der gerechten Lastenverteilung (Rn 233) kann schon bei der Störerauswahl berücksichtigt werden.1014 Dasselbe gilt – falls die Behörde über die privatrechtlichen Verhältnisse unter den Störern unterrichtet ist – bzgl der Heranziehung des zivilrechtlich Letztverantwortlichen.1015 Es handelt sich jeweils um Kriterien für die zweckmäßige Störerauswahl, wenn die Effektivität der Gefahrenabwehr allemal gewährleistet ist. Rechtlich eingefordert werden können derartige behördliche Opportunitätserwägungen nicht. Das Gebot der effektiven Gefahrenabwehr (Rn 227) steht nicht in einem Spannungsverhältnis zum Übermaßverbot, sondern ist ihm zugeordnet.1016 Eine Maßnahme muss zur Gefahrenabwehr in erster Linie geeignet (dh zwecktauglich) sein. Ist ein Vorgehen gegen Verhaltensverantwortliche ungeeignet zur Gefahrenabwehr, ist die Auswahl des Zustandsverantwortlichen rechtmäßig.1017 Können mehrere Verantwortliche die Gefahr gleich effektiv beseitigen, wird unter dem Aspekt der Erforderlichkeit derjenige pflichtig gemacht, bei dem der geringste Aufwand entsteht. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit der Störerauswahl können im Einzelfall ggf Aspekte der Zumutbarkeit zum Tragen kommen. Die gefahrenabwehrrechtlichen Ermessensdirektiven dürfen nicht durch „Faustformeln“ unterlaufen werden. Die Behauptung, der Verhaltensverantwortliche sei grundsätzlich vor dem Zustandsverantwortlichen heranzuziehen,1018 findet im geltenden Recht keine Stütze.1019 Es ist auch verfassungsrechtlich (Art 14 I GG) nicht geboten, dass der Zustandsverantwortliche nur nachrangig in Anspruch genommen wird.1020 Wenn sich die Behörde in einem Fall, in dem Verhaltens- und Zustandsstörer in gleicher Weise zur schnellen und wirksamen Gefahrenabwehr in der Lage sind, an den Verhaltensverantwortlichen hält, beruht dies nicht auf einer rechtlichen Vorrangregel, sondern kann zB im konkreten Fall mit Billigkeitserwägungen begründet werden (Rn 228).1021 Ein gesetzliches Rangverhältnis zwischen der Inanspruchnahme des Verhaltensverantwortlichen und derjenigen des Zustandsverantwortlichen gibt es nicht.1022 Das gilt auch für das besondere Gefahrenabwehrrecht; so kann zB der Reihenfolge der in § 4 III 1 BBodSchG aufgelisteten Verantwortlichen keine rechtsnormative Rangfolge bei der Störerauswahl entnommen werden.1023 Irgendeine Abfolge muss der Gesetzgeber schließlich bei jeder Aufzählung wählen.

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1011 HessVGH UPR 1995, 198, 199; OVG NW DVBl 2012, 1259, 1260. 1012 Näher dazu Schoch JURA 2012, 685, 688 f. 1013 VGH BW VBlBW 1995, 281 o JK Pol- u OrdR Störer/7; VGH BW NVwZ 2002, 1260, 1263; BayVGH NJW 2004, 2768, 2770. 1014 VGH BW NVwZ-RR 1997, 267, 269; Götz § 9 Rn 87. 1015 BayVGH NVwZ-RR 1997, 617, 618; Schenke Rn 287. 1016 Schoch JURA 2012, 685, 689; Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 89; unzutr Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 131. 1017 OVG Hamburg NVwZ-RR 2006, 169 f (am Bspl einer Nutzungsuntersagung nach BauOrdR). 1018 BayVGH NJW 1993, 81; OVG Hamburg NVwZ 2001, 215, 219; HessVGH NVwZ 1990, 1001; NVwZ 1994, 172, 173; NdsOVG NVwZ 1990, 1001; OVG RP DÖV 1988, 80, 81; DÖV 1990, 844, 845; Becker UPR 2004, 1, 3; Würtenberger/ Heckmann Rn 504. 1019 So zutr die hM; Nachw dazu bei Schoch JURA 2012, 685, 688 Fn 49. 1020 BVerfGE 102, 1, 19 o JK Pol- u OrdR Störer/10 (11); BayVGH NVwZ 2001, 821, 822. 1021 VGH BW VBlBW 1995, 281 o JK Pol- u OrdR Störer/7. 1022 VGH BW NVwZ-RR 1991, 27, 28; NVwZ-RR 1992, 350; NVwZ-RR 1996, 387, 390 o JK AbfG BW § 22 IV/1; OVG NW NVwZ-RR 1995, 635. – Anders zum BauOrdR ThürOVG LKV 1997, 369. 1023 VGH BW NVwZ-RR 2003, 103, 105; BayVGH NVwZ 2001, 821, 822; NJW 2004, 2768, 2770; HessVGH NVwZ-RR 2006, 781; Bickel NVwZ 2004, 1210, 1211; Schenke Rn 285; aA Becker UPR 2004, 1, 2; M. Tiedemann NVwZ-RR 2003,

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Wenn gesagt wird, die Existenz eines „Doppelstörers“ könne zu einer Verengung des behördlichen Ermessensspielraums führen,1024 ist dies nur mit der Maßgabe zutreffend, dass das Gebot der effektiven Gefahrenabwehr gewahrt ist. Nicht maßgeblich für die behördliche Störerauswahl sind die zivilrechtlichen Verhältnis- 232 se zwischen den Verantwortlichen.1025 Das BVerwG hat zwar gemeint, es könne im Einzelfall ermessensfehlerhaft sein, wenn die Behörde bei der Störerauswahl ihr bekannte und unstreitige Regelungen des internen Ausgleichs völlig unberücksichtigt lasse.1026 Maßgeblich ist indes nach § 40 VwVfG der öffentlich-rechtliche Normzweck für die Ermessensausübung; nur wenn er uneingeschränkt gewahrt bleibt, können zB zivilrechtliche Vereinbarungen zwischen mehreren Gesamtschuldnern, so sie der Behörde bekannt sind, im Rahmen der Ermessensbetätigung (Rn 228) eine Rolle spielen.1027 bb) Kostentragung bei Störermehrheit. Geht es nicht um die Störerauswahl in Bezug auf die 233 Gefahrenabwehrmaßnahme („Primärebene“), sondern (nach behördlich erledigter Gefahrenabwehr) um die Auswahl des Verantwortlichen bei der Kostenerstattung („Sekundärebene“), soll der Grundsatz der gerechten Lastenverteilung zum Tragen kommen; jeder Störer hafte nur für seinen Verursachungsanteil.1028 Eine derartige Ermessensdirektive, verstanden als strikte Vorgabe, steht uU in Widerspruch zu denjenigen polizeirechtlichen Bestimmungen, die (zB bei den Kosten einer unmittelbaren Ausführung) eine gesamtschuldnerische Haftung normieren. Im Ausgangspunkt gilt im Falle der Störermehrheit auch beim Kostenersatz, dass das Auswahlermessen nach § 40 VwVfG auszuüben ist. Von daher verbieten sich starre Regeln. Bei der Zuordnung der Kostentragung unter mehreren Verantwortlichen ist allerdings – anders als bei der Gefahrenabwehr – eine ex post-Betrachtung geboten.1029 Zweck der Heranziehung von Störern zur Kostentragung ist sicherlich die rasche und verlässliche Kostenerstattung.1030 Ist diese gesichert (dh Zahlungsfähigkeit mehrerer Störer vorausgesetzt), kann die Idee der gerechten Lastenverteilung als Grundsatz, abgesichert durch Art 3 I GG, akzeptiert werden.1031 Vor dem Hintergrund des vom BGH abgelehnten internen Störerausgleichs (Rn 235) wird vermieden, dass einem der mehreren Verantwortlichen allein die Kostenlast auferlegt wird. Eine Störerhaftung pro rata ist zudem nicht angezeigt, wenn der Innenausgleich zwischen den Verantwortlichen anerkannt wird (Rn 236). Schließlich kommt der Ausgleichsgedanke als Ermessenselement allenfalls in Betracht, wenn der jeweilige Verursachungsanteil der Verantwortlichen ohne größeren Aufwand von der Verwaltung ermittelt werden kann.1032 Die „gerechte Lastenverteilung“ als Direktive für das Auswahlermessen auf der Sekundär- 234 ebene ist allerdings nicht das alleinige Kriterium. Öffentliche Interessen sind für die Ermessensbetätigung ebenfalls von Gewicht. So werden zB unabhängig von dem Verursachungsanteil die Ermessensgrenzen bei der Inanspruchnahme eines von mehreren gesamtschuldnerisch haftenden Verantwortlichen überschritten, wenn ein völlig ungeeigneter Gesamtschuldner ausgewählt wird und daher das Risiko besteht, dass der Kostenerstattungsanspruch nicht realisiert

_____ 1477 hält die Einstandsverantwortlichkeit nach § 4 III 4 Alt 1 BBodSchG für subsidiär. – Überblick zu Fragen der Störerauswahl im Rahmen des § 4 BBodSchG bei Kügel NJW 2004, 1570, 1573 f. 1024 HessVGH UPR 1995, 198, 199; Schenke Rn 287; Würtenberger/Heckmann Rn 504. 1025 VGH BW NVwZ 1998, 1195, 1196; BayVGH NVwZ 2001, 458 (dazu Gornig/Hokema JuS 2002, 21); OVG NW DVBl 2012, 1259, 1260; Schenke Rn 284. 1026 BVerwG NVwZ 1990, 474, 475. 1027 VGH BW NVwZ 2002, 1260, 1263; BayVGH NVwZ 2000, 450, 452. 1028 Garbe DÖV 1998, 632, 636; Würtenberger/Heckmann Rn 508 ff. 1029 VGH BW NVwZ-RR 2012, 387, 389; BayVGH NVwZ-RR 1999, 99, 100. 1030 Götz § 9 Rn 92; Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 88. 1031 VGH BW VBlBW 2008, 137, 138; NVwZ-RR 2012, 387, 389. 1032 Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 137.

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werden kann.1033 Denn Zweck der Auswahlentscheidung bei der Kostentragung ist die Sicherstellung der Leistung. 235 cc) Gesamtschuldnerausgleich bei mehreren Verantwortlichen. Ist einer von mehreren Verantwortlichen zur Gefahrenbeseitigung herangezogen worden, muss nach hL ein Gesamtschuldnerausgleich analog § 426 BGB stattfinden.1034 Der BGH lehnt diese Analogie seit jeher ab,1035 weil die Rechtsbeziehungen mehrerer Störer zur Polizei- bzw Ordnungsbehörde mit einem Gesamtschuldverhältnis nicht vergleichbar seien; die an Gesetz und Recht gebundene Behörde könne nicht, wie es für die Gesamtschuld nach § 421 BGB charakteristisch sei, nach Belieben irgendeinen Störer zur Kostentragung heranziehen.1036 Etwas anderes gilt dort, wo (wie zB im Bodenschutzrecht) der Gesamtschuldnerausgleich gesetzlich ausdrücklich vorgesehen ist (§ 24 II BBodSchG).1037 Der rechtsdogmatischen Konstruktion nach wird die gesamtschuldnerische Haftung von § 24 II 1 BBodSchG vorausgesetzt, und es werden die Folgen iSe internen Ausgleichs der Sanierungspflichtigen (Verantwortlichen) geregelt.1038 Die Ablehnung des Gesamtschuldnerausgleichs analog § 426 BGB durch den BGH (Rn 235) 236 überzeugt nicht. Der BGH verwechselt die maßgeblichen Rechtsverhältnisse und vermischt die Ebenen. Zwar ist es richtig, dass die Verwaltung schon wegen Art 20 III GG nicht „nach Belieben“ verfahren darf, sondern § 40 VwVfG beachten muss. Doch darum geht es im vorliegenden Zusammenhang nicht. In Rede steht nicht die Pflichtgemäßheit des Ermessens der Verwaltung im Verhältnis zu der Störermehrheit, sondern das Innenverhältnis zwischen den Störern untereinander. Insoweit hindert die Gesetzesbindung der Verwaltung den Innenausgleich analog § 426 BGB nicht.1039 § 421 BGB spielt hier keine Rolle.

3. Polizeilicher und ordnungsbehördlicher Notstand a) Notstandspflicht im Gefahrenabwehrrecht 237 Die Beseitigung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erfolgt idR seitens der Verwaltung durch den Einsatz eigener Mittel oder durch die behördliche Inanspruchnahme eines Verantwortlichen. Die Heranziehung eines unbeteiligten Dritten kommt grundsätzlich nicht in Betracht. Die Rechtsordnung muss jedoch Vorkehrungen für den Ausnahmefall treffen, dass weder die Verwaltung noch ein Verantwortlicher die Gefahrensituation abwehren kann, ein Dritter dazu aber in der Lage ist. Eine solche Fallgestaltung wird als polizeilicher bzw ord-

_____ 1033 BayVGH BayVBl 1999, 180, 181. 1034 Breuer NVwZ 1987, 751, 756; Kloepfer/Thull DVBl 1989, 1121, 1125 ff; Seibert DVBl 1992, 664, 673; RaeschkeKessler DVBl 1992, 683, 690; ders NJW 1993, 2275, 2281; Spannowsky DVBl 1994, 560, 563 f; Finkenauer NJW 1995, 432, 434; Haller ZUR 1996, 21, 25 f; R. Enders NVwZ 2005, 381, 385; Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 135; Kugelmann 8/80; Schenke Rn 288 ff. 1035 BGH NJW 1981, 2457, 2458 o JK Pol- u OrdR Störer/2; zustimmend Papier NVwZ 1986, 256, 263; Schwachheim NVwZ 1988, 225, 227; Schwerdtner NVwZ 1992, 141, 143; Knemeyer Rn 340; Würtenberger/Heckmann Rn 510 ff. 1036 Seine Rspr bekräftigend BGHZ 98, 235, 239 f; BGH NJW 2006, 3628 Tz 24; BGHZ 184, 288 = NVwZ 2010, 789 Tz 32. 1037 Dazu Pützenbacher NJW 1999, 1137; Knoche NVwZ 1999, 1198; Schlette VerwArch 91 (2000) 41; Frenz NVwZ 2000, 647; Schönfeld NVwZ 2000, 648; v Westerholt NJW 2000, 931; Fluck/Kirsch UPR 2001, 253; Sandner NJW 2001, 2045; zu Fragen der Verjährung Landel/Mohr UPR 2008, 100; Vierhaus NWVBl 2009, 419. 1038 Bickel NVwZ 2004, 318, 319 f; aA Jochum NVwZ 2003, 526, 529 ff, die § 24 II 1 BBodSchG wegen BVerfGE 102, 1 (vgl Rn 198) für obsolet hält und im Falle der Störermehrheit eine Begrenzung der Kostentragungspflicht dadurch erreichen will, dass bzgl der „Überlast“ jenseits des jeweiligen Verursachungsanteils über die Figur des „Nicht-soStörers“ ein Entschädigungsanspruch wie beim Nichtstörer (Rn 409) gewährt werden solle; hiergegen zutr Poscher JURA 2007, 801, 809. – Aus der Praxis BGH JZ 2005, 145 (m Anm Wagner); BGHZ 178, 137 = NJW 2009, 139 (m Bespr Hellriegel/Schmitt NJW 2009, 1118); BGH NJW 2012, 3777; OLG Düsseldorf NWVBl 2008, 117; ThürOLG ThürVBl 2009, 126. 1039 Seibert DÖV 1983, 964, 972; Gehrig NVwZ 1992, 1049, 1051; Schenke Rn 288.

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nungsbehördlicher Notstand bezeichnet.1040 Nicht weiterführend ist die Unterscheidung zwischen „echtem“ und „unechtem“ Notstand. Letztgenannter soll vorliegen, wenn Maßnahmen gegen den Störer an sich zwar möglich sind, wegen des krassen Missverhältnisses zwischen dem damit verbundenen Schaden und dem (geringen) Nachteil einer Maßnahme gegen den Nichtstörer jedoch unverhältnismäßig und damit rechtswidrig wären.1041 Allemal müssen die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Notstandsmaßnahme (Rn 240 ff) erfüllt sein. Scheidet ein Vorgehen gegen den Störer im konkreten Fall wegen Unverhältnismäßigkeit aus, ist die Gefahrenabwehr durch den Verantwortlichen als aussichtslos (vgl Rn 242 ff) zu erachten. Die Notstandspflicht im Gefahrenabwehrrecht stellt einen Ausgleich divergierender Inte- 238 ressen dar. Die zur Gefahrenabwehr verpflichtete Behörde soll angesichts der Gefahrenlage nicht untätig bleiben müssen; die Heranziehung eines unbeteiligten Dritten wird erlaubt. Dieser ist jedoch für die Gefahrensituation nicht verantwortlich; daher kann er nur umfänglich begrenzt (Rn 252) unter strengen Voraussetzungen (Rn 240 ff) verpflichtet werden, und außerdem steht ihm ein Entschädigungsanspruch zu (Rn 255). Dieses Konzept ist als eine „Grenzlinie rechtsstaatlichen Polizeirechts“ bezeichnet worden.1042 Zum Rechtsstaat gehört aber auch, dass im Bereich der Inneren Sicherheit auf dem Gebiet des Gefahrenabwehrrechts keine Situationen eintreten, die die zuständigen Behörden zur Untätigkeit verdammen oder – im Gegenteil – zu Maßnahmen ohne rechtliche Bindung veranlassen (könnten).1043 Die Notstandspflicht im Gefahrenabwehrrecht hat seit jeher vor allem zwei praktisch be- 239 deutsame Anwendungsfelder: die Obdachlosenunterbringung und die Bekämpfung bestimmter Gefahren im Versammlungsrecht; hinzu treten neuerdings vermehrt Gefahrenabwehrmaßnahmen bei bestimmten öffentlichen Großveranstaltungen wie zB Straßenkarneval1044 und „Hochrisikospiele“ in der Fußball-Bundesliga1045 Für das Versammlungsrecht hat das BVerfG ausdrücklich bestätigt, das die Grundsätze des polizeilichen Notstands zur Anwendung kommen können.1046 Bei der Obdachlosenunterbringung markiert die Inanspruchnahme eines Wohnungseigentümers nur eine Variante der behördlichen Bekämpfung unfreiwilliger Obdachlosigkeit.1047 Im Vordergrund steht in der Praxis die behördliche Einweisung von Obdachlosen in öffentliche Obdachlosenunterkünfte. 1048 Gestritten wird mitunter über die Standards, die der Betroffene für sich reklamieren darf.1049 Andere Fallgestaltungen betreffen den Anspruch des Obdachlosen auf Zuweisung einer (bestimmten) Unterkunft (Rn 166); ein Anspruch auf Zuweisung der früheren, zwangsgeräumten Wohnung besteht grundsätzlich nicht.1050 Die Zwangseinweisung bei einem Wohnungseigentümer, ein nach dem Zweiten Weltkrieg geläufiges Phäno-

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1040 Möller-Bierth, Polizeiliche Inanspruchnahme im Grenzbereich zwischen Störerhaftung und polizeilichem Notstand, Diss Köln 1997, 29. 1041 VG Gera ThürVBl 2007, 89, 90; Zeitler/Trurnit Rn 261 u 265; krit Schenke Rn 316. 1042 Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 138. 1043 Zu Funktion und praktischer Bedeutung der Notstandspflicht im POR Schoch JURA 2007, 676 ff. 1044 Zum „Glasverbot“ OVG NW NWVBl 2010, 360; NWVBl 2011, 108; NVwZ-RR 2012, 470; GewArch 2012, 265 o JK OBG NW § 14/3; ausf zur Gesamtproblematik Heckel NVwZ 2012, 88 ff. 1045 OVG Hamburg NJW 2012, 1975 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/4: polizeiliches Verbot der Abgabe von Eintrittskarten gegenüber dem FC St. Pauli an den Gastverein FC Hansa Rostock. 1046 BVerfG-K NJW 2001, 1411, 1412; NJW 2001, 2069, 2072; NVwZ-RR 2007, 641, 642; NVwZ-RR 2010, 625, 627 o JK GG Art 8/28. 1047 Ausf dazu Peppersack Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser in Räumlichkeiten Privater, 1999, 55 ff; instruktiv ferner Fallbearbeitung von Cremer/Wolf/Gurzan JURA 2010, 773. 1048 Aus der Praxis VGH BW NVwZ-RR 1992, 20; NJW 1993, 1027; NVwZ-RR 1994, 394; NVwZ-RR 1995, 326; DVBl 1996, 567; VBlBW 1999, 274; BayVGH NVwZ-RR 1991, 196; BayVBl 1993, 569; NVwZ-RR 2002, 575; OVG Bremen DÖV 1994, 221 o JK GG Art 11/1; HessVGH NVwZ 2003, 1402; LKRZ 2011, 217; OVG MV NJW 2010, 1096; NdsOVG NVwZ-RR 1989, 15; OVG NW NVwZ 1982, 574. 1049 Zusammenfassend dazu Ruder NVwZ 2001, 1223, 1227; ders NVwZ 2012, 1283, 1286 f. 1050 BayVGH NVwZ-RR 1991, 196. – Zu einer Ausnahme (auf Grund einer psychischen Erkrankung des Räumungsschuldners) NdsOVG NJW 2010, 1094, 1096 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/3.

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men, kommt heutzutage zwar allenfalls in zweiter Linie in Betracht, ist in der Praxis allerdings keineswegs bedeutungslos. Zwei Erscheinungsformen sind auseinanderzuhalten 1051 (vgl auch Rn 253): die (unechte) Wiedereinweisung des Räumungsschuldners 1052 (und potentiell Obdachlosen) in die von ihm bislang bewohnte und noch nicht geräumte Wohnung 1053 sowie die Fremdeinweisung in eine leerstehende und fremde Wohnung.1054 Zu beiden Formen der Zwangseinweisung sind die zuständigen Behörden, wenn die Voraussetzungen der Notstandspflicht vorliegen, befugt. Zuständig ist diejenige Behörde, in deren Bezirk die Gefahr (Obdachlosigkeit) eintritt, also abzuwenden ist; 1055 unerheblich ist, wo der Obdachlose gemeldet ist oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte. Zwar ist die Bekämpfung der Obdachlosigkeit an sich eine Aufgabe der Sozial(hilfe)verwaltung 1056 und die Unterkunftsicherung auf Dauer daher vom Sozialhilfeträger zu leisten,1057 zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit bei akutem Wohnraumbedarf bietet das Sozialhilferecht 1058 jedoch keine Handhabe, so dass auf das Polizei- und Ordnungsrecht zurückzugreifen ist.1059 Dies gilt entsprechend für die Unterbringung obdachloser Asylbewerber, auch wenn insoweit an sich das AsylVfG (§§ 44 ff) 1060 maßgeblich ist.1061

b) Voraussetzungen für Notstandsmaßnahmen 240 Im geltenden Recht ist die Notstandspflicht als „Inanspruchnahme nicht verantwortlicher Personen“ ausgeprägt,1062 von engen Voraussetzungen abhängig gemacht und zudem dem Übermaßverbot unterworfen. Nach den einschlägigen (in Anlehnung an § 6 MEPolG formulierten) Bestimmungen 1063 können Maßnahmen gegen einen Nichtverantwortlichen gerichtet werden, wenn 1. eine gegenwärtige erhebliche Gefahr abzuwehren ist, 2. Maßnahmen gegen die Verantwortlichen nicht oder nicht rechtzeitig möglich sind oder keinen Erfolg versprechen, 3. die Gefahrenabwehrbehörde die Gefahr nicht oder nicht rechtzeitig selbst oder durch Beauftragte abwehren kann und 4. der Nichtverantwortliche ohne erhebliche eigene Gefährdung und ohne

_____ 1051 Roth DVBl 1996, 1401 differenziert zwischen Fremdeinweisung, echter Wiedereinweisung und unechter Wiedereinweisung. 1052 Dazu ausf Wieser Die polizeiliche Wiedereinweisung des Räumungsschuldners, 1999, 38 ff. 1053 Aus der Praxis BGHZ 131, 163; VGH BW VBlBW 1987, 423 (m Anm Götz) o JK PolG BW §§ 1, 3/1; VGH BW NJW 1990, 2770; NJW 1997, 2832; OVG Berlin JZ 1981, 392 (m Bespr B. Huber JZ 1981, 385) o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/1; OVG NW NVwZ 1991, 692; NVwZ 1991, 905. 1054 Aus der Praxis VGH BW NVwZ-RR 1990, 476; OVG Berlin NVwZ 1991, 691; NVwZ 1992, 501; OVG NW OVGE 35, 303; OVG SH NJW 1993, 413. 1055 BayVGH NVwZ-RR 2002, 575; BayVBl 2007, 439, 440; HessVGH NVwZ 2003, 1402; Ruder NVwZ 2012, 1283, 1285. 1056 VGH BW NJW 1993, 1027; NVwZ 1993, 1220; HessVGH LKRZ 2011, 217, 219; Ruder NVwZ 2001, 1223, 1228; Gusy Rn 342. – Zur Kostentragungspflicht des Sozialhilfeträgers bei ordnungsbehördlicher Obdachlosenunterbringung BVerwGE 100, 136. 1057 VGH BW NVwZ-RR 1996, 439; Ruder NVwZ 2012, 1283, 1287 f. 1058 SGB XII, Sartorius ErgBd Nr 412. 1059 HessVGH NJW 1984, 2305 o JK Pol- u OrdR Entschl u Auswahlermessen/3; HessVGH NVwZ 1992, 503, 504; OVG MV NJW 2010, 1096, 1097; Enders DV 30 (1997) 29, 30; Erichsen/Biermann JURA 1998, 371, 374; Gusy Rn 342; Götz § 10 Rn 8. 1060 Sartorius I Nr 567. 1061 BayVGH BayVBl 1995, 503; OVG Bremen DÖV 1994, 221 o JK GG Art 11/1; näher dazu Peppersack Unterbringung Obdachloser (Fn 1047), 88 ff. 1062 Es reicht nicht, dass die betreffende Person von der Behörde als „Störer“ in Anspruch genommen wird, die Voraussetzungen hierfür aber nicht vorliegen und allenfalls die Inanspruchnahme als „Nichtstörer“ in Betracht gekommen wäre; die Voraussetzungen hierfür sind von der Behörde zu prüfen und darzulegen, VG Düsseldorf CR 2012, 401, 403 f. 1063 Art 10 I, II BayPAG; § 16 I, II ASOG Bln; § 7 I, II Bbg PolG, § 18 I, II BbgOBG; § 7 PolG Bremen; § 9 HessSOG; § 71 I SOG MV; § 8 NdsSOG; § 6 I, II PolG NW, § 19 I, II OBG NW; § 7 POG RP; § 6 PolG SL; § 10 SOG LSA; § 220 LVwG SH; § 10 I, II ThürPAG, § 13 I, II ThürOBG; § 20 I BPolG. – Abweichende Formulierungen bei identischem Normgehalt § 9 PolG BW; Art 9 III BayLStVG; § 10 I HbgSOG; § 7 SächsPolG.

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Verletzung höherwertiger Pflichten in Anspruch genommen werden kann. Notstandsmaßnahmen dürfen zudem nur aufrechterhalten werden, solange die Abwehr der Gefahr nicht auf andere Weise möglich ist.1064 aa) Qualifizierte Gefahrenlage. Eine gegenwärtige erhebliche Gefahr liegt vor, wenn die 241 Schädigung des Schutzguts bereits eingesetzt hat bzw unmittelbar bevorsteht und ein bedeutsames Rechtsgut bedroht ist (Rn 150).1065 Die unfreiwillige Obdachlosigkeit erfüllt diese Voraussetzungen; sie stellt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar,1066 die herausragende Schutzgüter betrifft (Art 2 II 1 GG, ggf Art 1 I GG) und idR schon eingetreten ist bzw unmittelbar droht.1067 Im Versammlungsrecht geht es zumeist um das demnächst bevorstehende Aufeinandertreffen von Demonstration und Gegendemonstration mit zu befürchtenden Gewalttätigkeiten, bei denen der körperlichen Unversehrtheit von Menschen (Art 2 II 1 GG) und dem Privateigentum (Art 14 I 1 GG) Schaden droht.1068 Im Zusammenhang mit einem CastorTransport wurde die gegenwärtige erhebliche Gefahr bejaht, nachdem Demonstranten öffentlich angekündigt hatten, Blockadeaktionen auf der Transportstrecke durchzuführen und dabei Sachbeschädigungen in Kauf zu nehmen.1069 Vage Verdachtsmomente oder bloße Vermutungen reichen für die Gefahrprognose jedoch nicht aus; es müssen vielmehr konkrete Erkenntnisse vorliegen, die einschlägige Erfahrungen aus der Vergangenheit einbeziehen können. Die vollständige Abriegelung eines Ortes für mehrere Stunden durch Polizeikräfte anlässlich eines Castor-Transports konnte nicht auf einen polizeilichen Notstand gestützt werden, weil der bloße Aufenthalt ortsfremder Personen in einem bestimmten Gebiet (ohne weitere Anhaltspunkte) keinen Schluss auf die Störereigenschaft aller Betroffenen zulässt.1070 Dagegen musste auch nach mehr als sechs Jahren im Falle eines durch einen Mordauftrag aus hochkriminellen Kreisen mit dem Tode bedrohten Staatsanwalts eine gegenwärtige erhebliche Gefahr bejaht werden; denn die Gefahr der Tötung des Staatsanwalts konnte sich jederzeit verwirklichen, so dass Personen- und Objektschutzmaßnahmen zulässig waren.1071 Eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für Leib und Leben von Personen lag dem an Nichtstörer gerichteten Verbot der Mitführung und Benutzung von Glasbehältnissen im Straßenkarneval zu Grunde.1072 bb) Aussichtslosigkeit der Gefahrenabwehr durch Verantwortlichen. Die Notstandspflicht 242 kommt nur in Betracht, wenn Maßnahmen gegenüber dem Verantwortlichen keine Aussicht auf eine erfolgreiche Gefahrenabwehr versprechen. Bei der Obdachloseneinweisung in die zuvor gekündigte Wohnung ist der Vermieter nicht „Störer“, da er von einem ihm durch die Rechtsordnung eingeräumten Recht Gebrauch macht (Rn 180); „Störer“ im Rechtssinne ist der Obdach-

_____ 1064 Näher dazu Schoch JURA 2007, 676, 678 ff. 1065 Eine „unmittelbar bevorstehende Gefahr“ verlangt zB § 10 I HbgSOG; zu den Auslegungsmöglichkeiten OVG Hamburg NJW 2012, 1975, 1976 f o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/4. – Wo eine „erhebliche“ Gefahr im Landesrecht nicht vorausgesetzt ist, kann sie nicht contra legem über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz postuliert werden; so aber Schenke Rn 314. 1066 BayVGH BayVBl 1995, 729, 730; BayVBl 2007, 439, 440; OVG Bremen DÖV 1994, 221, 222 o JK GG Art 11/1; OVG MV NJW 2010, 1096, 1097; NdsOVG NVwZ-RR 2004, 777, 778 o JK AllgVwR Öff-rechtl Erstattungsanspruch/7; NdsOVG NJW 2010, 1094, 1095 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/3; Ruder NVwZ 2001, 1223; ders NVwZ 2012, 1283, 1284; unzutr VGH BW NVwZ-RR 1996, 439: öffentliche Ordnung. 1067 Ewer/v Detten NJW 1995, 353, 354; Erichsen/Biermann JURA 1998, 371, 372, 377. 1068 Vgl dazu BVerfG-K NVwZ 2006, 1049, 1050; BVerwG NVwZ 1999, 991, 992 o JK VwGO § 113 I 4/15; NdsOVG; NdsVBl 2005, 49; NdsVBl 2006, 226, 228; NdsVBl 2009, 229, 233 f. 1069 NdsOVG NVwZ-RR 2005, 820; ähnlich NdsOVG NdsVBl 2008, 283, 287. 1070 NdsOVG NVwZ-RR 2007, 103, 105 oJK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/8 (unzulässiger Pauschalverdacht). 1071 OVG RP NJW 2006, 1830 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/2. 1072 OVG NW NVwZ-RR 2012, 470, 472; ebenso Heckel NVwZ 2012, 88, 91.

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lose.1073 Maßnahmen gegen ihn versprechen idR jedoch keinen Erfolg.1074 Wäre er mit eigenen Mitteln zur Gefahrenabwehr in der Lage, träte die unfreiwillige Obdachlosigkeit erst gar nicht ein.1075 243 Im Versammlungsrecht entstehen beim Aufeinandertreffen von (friedlichen) Demonstranten und (gewaltbereiten) Gegendemonstranten komplexe Situationen und schwierige Rechtsfragen (vgl auch noch Rn 247). Der rechtliche Ausgangspunkt ist indessen klar: Geht die Gefahr für die öffentliche Sicherheit nicht von der Versammlung selbst, sondern von der Gegenveranstaltung aus, muss die zuständige Behörde zur Vermeidung einer Inanspruchnahme der Versammlungsteilnehmer als Nichtstörer prüfen, ob eine Verfügung gegen den Veranstalter der geplanten Gegendemonstration in Betracht kommt.1076 Den von einer Gegendemonstration ausgehenden Gefahren muss primär mit behördlichen Maßnahmen gegen die Störer (Gegendemonstranten) begegnet werden.1077 Das BVerfG betont, der Staat dürfe nicht dulden, dass friedliche Demonstrationen einer bestimmten politischen Richtung (zB Rechtsextremisten) durch gewalttätige Gegendemonstrationen verhindert werden; Gewalt von „links“ sei keine verfassungsrechtlich hinnehmbare Antwort auf die Bedrohung der rechtsstaatlichen Ordnung von „rechts“.1078 Daher ist die zuständige Behörde an sich verpflichtet, im Falle gewaltsamer Gegendemonstrationen Maßnahmen gegen die „Störer“ zu richten und die Durchführung der friedlichen Versammlung zu schützen.1079 Realistischerweise muss jedoch in vielen Fällen davon ausgegangen werden, dass die zur Gewaltanwendung entschlossenen Gegendemonstranten behördlichen Anordnungen kaum nachkommen werden. Trifft dies zu, ist eine Gefahrenabwehr durch behördliches Vorgehen gegen den Verantwortlichen iSd polizeilichen Notstands aussichtslos.1080 Das BVerfG verlangt allerdings behördliche Angaben dazu, dass und inwieweit gegen angekündigte Gegendemonstrationen gerichtete Maßnahmen nicht ausgereicht haben, der gewaltbereiten Gegendemonstranten Herr zu werden.1081 Die Aussichtslosigkeit der Heranziehung von Störern zeigt sich auch in anderen Bereichen. 244 Im Falle des durch Kriminelle mit dem Tode bedrohten Staatsanwalts (Rn 241 aE) kannte die Polizei weder die Auftraggeber des geplanten Mordes noch die möglichen Täter; eine Gefahrenabwehr durch Inanspruchnahme der Verantwortlichen war daher nicht möglich.1082 Zu dem behördlichen Verbot der Mitführung und Benutzung von Glasbehältnissen im Straßenkarneval wurde erkannt, ein Erfolg versprechendes Vorgehen gegen diejenigen, die im Schutz der Menschenmassen ihre Flaschen ordnungswidrig auf den Straßen und Plätzen entsorgten oder als Wurfgeschosse einsetzten, gebe es realistischerweise nicht; ein Einschreiten gegen Störer bewirke daher keine Gefahrenabwehr.1083 Auch bei einem „Hochrisikospiel“ im Fußball wurde

_____

1073 OVG Bremen DÖV 1994, 221, 222 o JK GG Art 11/1; HessVGH LKRZ 2011, 217, 218; OVG MV NJW 2010, 1096, 1097; NdsOVG NVwZ 1992, 502, 503; Eckstein VBlBW 1994, 306, 307; Ruder NVwZ 2012, 1283, 1285; krit Lübbe Wohnraumbeschaffung durch Zwangsmaßnahmen, 1993, 38 ff; Enders DV 30 (1997) 29, 31. 1074 NdsOVG NJW 2010, 1094, 1095 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/3; OVG SH NJW 1993, 413. 1075 Eher atypisch daher die Fallgestaltung vom BayVGH BayVBl 2007, 439: Begehren eines potentiell Obdachlosen auf gemeindliche Unterbringung trotz Möglichkeit der Gefahrverhütung aus eigener Kraft. Ferner OVG MV NJW 2010, 1096, 1097: Ablehnung einer Vielzahl kommunal vermittelter Wohnungsangebote durch einen potentiell Obdachlosen, der in einer bestimmten städtischen Notunterkunft bleiben wollte. 1076 BVerfG-K NVwZ-RR 2007, 641, 642. 1077 SächsOVG SächsVBl 2005, 48, 49; VG Gera ThürVBl 2007, 89, 90. 1078 BVerfG-K NVwZ 2006, 1049, 1050. 1079 BVerfGE 69, 315, 360 f o JK GG Art 8/2; BVerfG-K NVwZ 1998, 834, 836; SächsOVG SächsVBl 2005, 48, 49; NdsVBl 2006, 226, 228. 1080 Wirklichkeitsnah am Bspl eines Castor-Transports NdsOVG NdsVBl 2008, 283, 287: Wahrscheinliche Wirkungslosigkeit von allein gegen die Veranstalter einer Versammlung gerichteten Auflagen. 1081 BVerfG-K NVwZ-RR 2010, 625 Tz 28 o JK GG Art 8/28. 1082 OVG RP NJW 2006, 1830 f o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/2. 1083 OVG NW NVwZ-RR 2012, 470, 472; ebenso Heckel NVwZ 2012, 88, 92.

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mit Blick auf gewaltbereite Hooligans entschieden, mit polizeilichen Maßnahmen (zB Meldeauflagen, Aufenthaltsverbote) gegen potentielle Störer könne der Gefahrenlage nicht ausreichend begegnet werden; daher sei das an den Veranstalter (Nichtstörer) adressierte Verbot der Abgabe von Eintrittskarten an den Gastverein unter dem Aspekt der Aussichtslosigkeit von Gefahrenabwehrmaßnahmen gegenüber den potentiellen Störern rechtmäßig.1084 cc) Unmöglichkeit behördlicher Gefahrenabwehr. Als ultima ratio kommt die Notstands- 245 pflicht im Gefahrenabwehrrecht nur in Betracht, wenn die drohende Gefahr anders als durch Inanspruchnahme des Nichtverantwortlichen nicht abgewehrt werden kann. Die zuständige Behörde muss vor einer Heranziehung des Nichtstörers alles ihr Mögliche und Zumutbare zur Beseitigung der Gefahrensituation getan haben.1085 Nach hM darf der (evtl sehr hohe) finanzielle Aufwand keine Rolle spielen.1086 Fiskalische Gesichtspunkte dürfen idR die Inanspruchnahme des Nichtverantwortlichen nicht leiten (zB Kosteneinsparung). Es kann jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden, dass die den Geboten der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit unterworfene Verwaltung 1087 bei extrem hohen Kosten eigener Maßnahmen ausnahmsweise auch unter fiskalischen Gesichtspunkten eine Notstandssituation annehmen darf.1088 Das Problem liegt dann in der Quantifizierung, die indes nur im konkreten Fall unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten geleistet werden kann.1089 Bei der Obdachlosenunterbringung muss die Gefahrenabwehrbehörde vor Inanspruch- 246 nahme eines Nichtverantwortlichen alle eigenen Unterbringungsmöglichkeiten (Obdachlosenunterkünfte) ausgeschöpft haben; vorrangig ist auch die Anmietung von Zimmern in Hotels und Pensionen,1090 die Anmietung leerstehender Wohnungen, und sogar die vorübergehende Beherbergung in Wohnwagen oder Wohncontainern kommt in Betracht.1091 Ausgeschlossen ist auch nicht die Anmietung von Räumen außerhalb des Bezirks der zuständigen Behörde.1092 Dagegen kommt die Bereitstellung öffentlicher Gebäude, die anderen Zwecken gewidmet sind (zB Schulen, Verwaltungsgebäude), grundsätzlich nicht (allenfalls: ausnahmsweise und zeitlich äußerst begrenzt) in Betracht, da eine nachhaltige Beeinträchtigung anderer Verwaltungsaufgaben nicht gerechtfertigt ist.1093 Im Versammlungsrecht würde eine Lockerung der Restriktionen bei der Notstandspflicht 247 bedeuten, dass die friedliche Versammlung gegenüber den gewaltbereiten Gegendemonstranten zu Unrecht in die Rolle des Zweckveranlassers (Rn 187, 190) gedrängt wird.1094 Die Polizei hat jedoch die friedlichen Demonstranten zu schützen (Rn 243). Als Nichtverantwortliche dürfen sie nur in Ausnahmesituationen mit einem Versammlungsverbot belegt werden; der Polizei muss es selbst unter Aufbietung aller Kräfte (dh eigene sowie ggf externe Polizeikräfte) unmöglich sein, die befürchteten Gewalttätigkeiten zwischen friedlichen Demonstranten und

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1084 OVG Hamburg NJW 2012, 1975, 1977 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/4. 1085 Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 78, 81: Alternativlosigkeit des Einschreitens gegen den Nichtstörer. 1086 VG Köln NVwZ-RR 1990, 414; Möller JuS 1995, 664; Drews/Wacke/Vogel/Martens Gefahrenabwehr, 335; Kugelmann 8/8; Schenke Rn 317. 1087 § 34 II 1 BHO/LHO; § 25 I bzw 26 I GemHVO. 1088 VG Bremen NVwZ 1991, 706, 707; Lübbe Wohnraumbeschaffung (Fn 1073), 45 f; Günther/Traumann NVwZ 1993, 130, 133 f. 1089 Dabei kann es allenfalls um Extremfälle gehen; die Verhältnismäßigkeit ist kein Kriterium zu Gunsten der Verwaltung iS einer Begrenzung eigener behördlicher Mittel; OVG Hamburg NJW 2012, 1975, 1977 f o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/4. 1090 VGH BW NJW 1997, 2832, 2833; OVG SH NJW 1993, 413, 414; Erichsen/Biermann JURA 1998, 371, 377. 1091 OVG NW NVwZ 1991, 692 (im konkreten Fall aber abgelehnt). 1092 Ewer/v Detten NJW 1995, 353 (356); zu restriktiv OVG SH NJW 1993, 413. 1093 Erichsen/Biermann JURA 1998, 371, 377; noch strikter OVG SH NJW 1993, 413; aA dagegen Ewer/v Detten NJW 1995, 353, 355. 1094 VG Freiburg VBlBW 2002, 497, 498.

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gewaltbereiten Gegendemonstranten mit unübersehbar großen Personen- und Sachschäden zu verhindern.1095 Dies ist zB bei einem präventiven Versammlungsverbot in Form einer Allgemeinverfügung vor der Durchführung eines Castor-Transports nach Gorleben angenommen worden.1096 Auch ein Bedarf von etwa 6.300 Polizeibeamten aus anderen Ländern zum Schutz einer angemeldeten Versammlung vor gewaltbereiten Gegendemonstranten lässt sich am 1. Mai aller Erfahrung nach nicht realisieren.1097 Eine Notstandssituation ist hingegen nicht anzuerkennen, wenn nicht alle zur Verfügung stehenden eigenen Polizeikräfte mobilisiert werden bzw wenn externe Kräfte von anderen Bundesländern oder von der Bundespolizei angefordert werden können.1098 Ein polizeilicher Notstand kann auch durch Modifikation der Versammlungsumstände entfallen, ohne dass der Versammlungszweck vereitelt würde. Vor Erlass eines Versammlungsverbots gegenüber den Nichtstörern muss das mildere Mittel der Erteilung von Auflagen ausgeschöpft sein;1099 ggf kommt auch die Kooperation mit dem Veranstalter der friedlichen Demonstration zur Veränderung der Versammlungsmodalitäten in Betracht, um die öffentliche Sicherheit und Ordnung ohne behördliches Einschreiten wahren zu können. 1100 248 Bei dem in Gestalt einer Allgemeinverfügung1101 – auch – an Nichtstörer adressierten Verbot der Mitführung und Benutzung von Glasbehältnissen im Straßenkarneval konnte die Gefahr nicht auf andere Weise abgewehrt werden; Erfahrungen aus früheren Jahren hatten gezeigt, dass alle ergriffenen Maßnahmen (Einsammeln von Flaschen durch Bedienstete, Aufstellen zahlreicher Glascontainer, Einsatz von „Eventtonnen“ etc) Gefahren für Leib und Leben von Personen nicht abzuwehren vermochten.1102 Auch bei dem erwähnten „Hochrisikospiel“ im Fußball (Rn 239) erschien das dem Veranstalter auferlegte Kartenabgabeverbot als ultima ratio gerechtfertigt, weil angesichts eines weiteren Großereignisses im Innenstadtbereich mit Zehntausenden von Besuchern selbst beim Einsatz sehr vieler Polizeibeamter nicht zu erwarten war, dass die sich an vielen Stellen im Stadtgebiet abzeichnenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit hätten abgewehrt werden können.1103 249 dd) Beachtung der Opfergrenze. Dem Nichtverantwortlichen darf schon aus Gründen des Übermaßverbots weder eine erhebliche eigene Gefährdung noch eine Verletzung höherwertiger Pflichten zugemutet werden. Gesprochen wird von einer Opfergrenze für den behördlich in Anspruch genommenen Nichtstörer.1104 Beispiele aus der Praxis verdeutlichen, wie anhand der Umstände des konkreten Falles ermittelt wird, ob die Rechte und Pflichten des Herangezogenen gegenüber der behördlichen Notstandsmaßnahme vorrangig sind oder nicht. So sind die durch die Zwangseinweisung Obdachloser eintretenden Beeinträchtigungen dem privaten Eigentümer – zumal wenn es sich um eine „anonyme“ Gesellschaft (GmbH, KG, OHG etc) handelt 1105 –

_____ 1095 BVerfG-K NVwZ 2006, 1049, 1050: Grenze ist lediglich der „Vorbehalt der tatsächlichen Verfügbarkeit“ einsetzbarer Polizeikräfte. 1096 NdsOVG NVwZ-RR 2005, 820, 821; ähnlich NdsOVG NdsVBl 2008, 283, 287 ff. 1097 NdsOVG NdsVBl 2009, 229, 234. 1098 BVerfG-K NJW 2001, 2069, 2072; BVerwG NVwZ 1999, 991, 993 o JK VwGO § 113 I 4/15; NdsOVG NVwZ-RR 2007, 103, 104 o JK Pol- u OrdR Generalklausel/8; VG Gera ThürVBl 2007, 89, 90. 1099 NdsOVG NdsVBl 2006, 226, 228: Beschränkung der Versammlung auf eine stationäre Kundgebung (dadurch: Möglichkeit polizeilichen Schutzes) statt Demonstrationszug. 1100 VGH BW VBlBW 2002, 383, 385; VG Freiburg VBlBW 2002, 497, 499. 1101 Dazu Schoch JURA 2012, 26 ff. 1102 OVG NW NVwZ-RR 2012, 470, 472 f. 1103 OVG Hamburg NJW 2012, 1975, 1978 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/4. 1104 Gusy Rn 383; Kugelmann 8/90; Möller/Warg Rn 149; Zeitler/Trurnit Rn 267. 1105 Zu einer solchen Konstellation OVG Berlin NVwZ 1991, 691; nach Änderung der Verhältnisse korrigiert durch OVG Berlin NVwZ 1992, 501, 502; ferner NdsOVG NJW 2010, 1094, 1096 (gemeinnütziges Wohnungsbauunternehmen) o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/3.

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grundsätzlich zumutbar.1106 Anderes gilt zB, wenn der Wohnungseigentümer selbst obdachlos würde.1107 Personen- und Objektschutzmaßnahmen sind mitbetroffenen Dritten (zB Mitbewohner einer Wohnanlage) zumutbar, weil der Schutz des Lebens einer durch Morddrohungen gefährdeten Person Vorrang genießt gegenüber den Belästigungen der Dritten.1108 Auch das Glasverbot im Straßenkarneval muss hingenommen werden, da der Schutz von Leib und Leben gewichtiger ist als das Interesse der Feiernden am Genuss bestimmter Getränke.1109

c) Rechtsfolgen der Notstandspflicht Liegen die Voraussetzungen des polizeilichen bzw ordnungsbehördlichen Notstands vor, darf 250 der Nichtstörer zur Gefahrenabwehr herangezogen werden. Nach der Gesetzeslage steht die Inanspruchnahme des Nichtverantwortlichen im behördlichen Ermessen.1110 Tatsächlich verfügt die Behörde häufig nicht über eine Alternative, kann zur Gefahrenabwehr also nur gegen den Nichtstörer vorgehen. Bei der Obdachlosenunterbringung in privaten Räumen ergehen zwei Verfügungen. Die Wohnraumbeschlagnahme 1111 ist an den Wohnungseigentümer als Nichtstörer adressiert, die Einweisungsverfügung ergeht gegenüber dem (potentiell) Obdachlosen als Störer.1112 Der Behörde ist Auswahlermessen eingeräumt, wenn verschiedene Nichtstörer herange- 251 zogen werden können (zB bei der Obdachlosenunterbringung: Privatwohnungen, Pensionen, Hotels). Übt die Behörde ihr Ermessen nicht (fehlerfrei) aus, ist die Heranziehung des in Anspruch genommenen Nichtstörers rechtswidrig.1113

d) Umfang und Dauer von Notstandsmaßnahmen Werden Notstandsmaßnahmen ergriffen, ist das Übermaßverbot zu beachten. Die Notstands- 252 pflicht des Nichtverantwortlichen besteht nur solange, wie die Gefahrenabwehr nicht auf andere Weise möglich ist. Die Behörde muss ihre Maßnahme demnach ständig unter Kontrolle halten. Gegenüber dem Nichtstörer getroffene Notstandsmaßnahmen sind auf das sachlich und zeitlich Unumgängliche zu beschränken.1114 Bei der Obdachlosenunterbringung muss die Verwaltung auch nach der Wohnraumbeschlagnahme versuchen, den Eingewiesenen alsbald anderweitig unterzubringen.1115 Ist zB die Einweisung in eine gemeindliche Obdachlosenunterkunft möglich geworden, muss die Wohnraumbeschlagnahme aufgehoben werden.1116 Ansonsten hängt ihre Dauer, sofern keine gesetzliche Befristung vorgeschrieben ist,1117 von den Umständen des kon-

_____ 1106 OVG SH NJW 1993, 413. – Das gilt auch bei einem zwischenzeitlich mit einem Dritten abgeschlossenen neuen Mietvertrag; Möller/Warg Rn 150. 1107 Ewer/v Detten NJW 1995, 355, 356; Erichsen/Biermann JURA 1998, 371, 377. 1108 OVG RP NJW 2006, 1830, 1832 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/2. 1109 OVG NW NVwZ-RR 2012, 473; Heckel NVwZ 2012, 88, 92; ebenso zum Verkaufsverbot von Glasgetränkebehältnissen OVG NW GewArch 2012, 265, 267 f o JK OBG NW § 14/3. 1110 NdsOVG NJW 2010, 1094, 1095 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/3. 1111 Rechtsgrundlage ist entweder eine Standardbefugnis (§ 33 I PolG BW; § 27 I SächsPolG) oder eine andere besondere Ermächtigung (Art 7 II Nr 3 BayLStVG) oder die Generalklausel. 1112 Enders DV 30 (1997) 29, 33; Erichsen/Biermann JURA 1998, 371, 376 f, 378; Ruder NVwZ 2012, 1283, 1286; Gusy Rn 344. 1113 OVG SH NJW 1993, 413, 414. 1114 NdsOVG NVwZ-RR 2007, 103, 1043 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/8. 1115 OVG NW OVGE 35, 303, 304. 1116 VGH BW NJW 1990, 2770, 2771; OVG NW NVwZ 1991, 905, 906. 1117 § 33 IV 2 PolG BW: maximal 6 Monate; dazu VGH BW NVwZ-RR 1990, 476; NJW 1997, 2832, 2833. – § 27 III 2 SächsPolG: Wohnraumbeschlagnahme maximal 12 Monate.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

kreten Falles ab.1118 Die Wiedereinweisung des Räumungsschuldners in die bisherige Wohnung legt dem Vermieter ein Sonderopfer auf und konterkariert das als Räumungstitel vollstreckbare zivilgerichtliche Urteil;1119 das Übermaßverbot verlangt eine zeitliche (und, wenn möglich, sachliche) Begrenzung auf den für das Finden von Alternativlösungen notwendigen (Zeit-)Raum.1120 Die Einweisung eines ehemals Obdachlosen in Privaträume soll dann nicht mehr gerechtfertigt sein, wenn der Eigentümer diese selbst nutzen möchte.1121

e) Folgenbeseitigung und Ersatzansprüche 253 aa) Folgenbeseitigung bei Notstandsmaßnahmen. Sind die Voraussetzungen der Notstandspflicht entfallen, muss die Inanspruchnahme des Nichtverantwortlichen beendet werden. Kommt die Behörde dieser Rechtspflicht nicht nach, stellt sich die Frage nach einem Anspruch des Nichtstörers auf Beseitigung der tatsächlichen Folgen des früheren behördlichen Tuns. In der Praxis ist die Frage bei der Einweisung Obdachloser in private Räume virulent geworden, wenn die Beschlagnahmefrist abgelaufen ist und der Eingewiesene die Wohnung nicht verlässt. In den Fällen der Fremdeinweisung (Rn 239) liegt ein typischer Fall des Folgenbeseitigungsanspruchs vor.1122 Folgenbeseitigung kann der Wohnungseigentümer (und Räumungsgläubiger) nach hM auch bei (unechter) Wiedereinweisung verlangen, wobei lediglich rechtskonstruktiv umstritten ist, ob der Folgenbeseitigungsanspruch (FBA) als Anspruchsgrundlage fungiert 1123 oder die Generalklausel heranzuziehen ist1124 und wie der Anspruch durchgesetzt wird.1125 Die Anerkennung der Folgenbeseitigung auch bei der Wiedereinweisung in die bisherige Wohnung ist allerdings zunehmend in die Kritik geraten. Da der Wohnungseigentümer nur die Wiederherstellung des status quo ante verlangen könne, dürfe er nur einen Zustand iSd vormals eingeleiteten Zwangsvollstreckung (Wohnungsräumung) beanspruchen, die er nun – da der zivilgerichtliche Titel nicht verbraucht sei – fortsetzen könne; werde dem Eigentümer ein Anspruch auf behördliche Exmittierung des Eingewiesenen zuerkannt, erhalte er mehr, als er vor der Wohnraumbeschlagnahme gehabt habe.1126 254 An dieser Kritik ist richtig, dass dem Eigentümer das Vollstreckungs(kosten)risiko (teilweise) abgenommen würde, wenn auch die (unechte) Wiedereinweisung dem FBA zugeordnet wird. Allerdings darf zweierlei nicht übersehen werden. Der FBA ist nicht allein auf die Wiederherstellung des status quo ante gerichtet, sondern ebenso auf die Herstellung eines gleichwertigen Zustands.1127 Übersieht man sodann den Faktor „Zeit“ nicht, besteht kein Zweifel daran, dass der Eigentümer ohne die Beschlagnahme auf Grund seines Räumungstitels längst eine freie (und ggf zu besseren Konditionen schon weitervermietete) Wohnung hätte.1128 Was die Verfügbarkeit der

_____ 1118 Überblick dazu bei Ewer/v Detten NJW 1995, 353, 356; Erichsen/Biermann JURA 1998, 371, 378. 1119 Krit Pieroth/Schlink/Kniesel § 9 Rn 85; abl sogar Schink NJW 1988, 1689, 1693. 1120 VGH BW NJW 1990, 2770, 2771; NVwZ-RR 1996, 439, 440; NdsOVG NJW 2010, 1094, 1096 o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/3; Ewer/v Detten NJW 1995, 353, 356. 1121 OVG SH NJW 1993, 413, 414. 1122 OVG Berlin NVwZ 1991, 691; NVwZ 1992, 501, 502; Roth DVBl 1996, 1401, 1402; Erichsen/Biermann JURA 1998, 371, 379. 1123 So zutr BGHZ 130, 332, 335 ff o JK GG Art 34/13; OVG Berlin NVwZ 1992, 501, 502; OVG NW NVwZ 1991, 905, 906; Götz VBlBW 1987, 425; ders § 10 Rn 12; Möller/Warg Rn 150; Würtenberger/Heckmann Rn 480 f. 1124 So grdl VGH BW VBlBW 1987, 423 o JK PolG BW §§ 1, 3/1; ferner VGH BW NJW 1990, 2770, 2771; DÖV 1996, 1056, 1057; NJW 1997, 2832, 2833. 1125 Einzelheiten dazu bei Schoch DV 44 (2011) 397, 404 f u 413. 1126 OLG Köln NJW 1994, 1012, 1013; Roth DVBl 1996, 1401, 1406 f; Enders DV 30 (1997) 29, 36 ff; Erichsen/ Biermann JURA 1998, 371, 379; Masing DÖV 1999, 573, 576 f; Schenke Rn 323; Kugelmann 8/93. 1127 Schoch JURA 1993, 478, 484 und DV 34 (2001) 261, 271 sowie DV 44 (2011) 397, 407; Bumke JuS 2005, 22, 24. 1128 Eingeräumt von Roth DVBl 1996, 1401, 1408, der den FBA jedoch auf die Herstellung des Zustandes begrenzt sieht, „der vor dem Eingriff tatsächlich bestanden hat“.

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Wohnung betrifft, wird der Eigentümer durch die Folgenbeseitigung also keineswegs besser gestellt; und das andauernde rechtswidrige Verweilen des Eingewiesenen ist allein auf die Verwaltungsmaßnahme zurückzuführen. bb) Entschädigung des Nichtverantwortlichen. Als Nichtstörer hat der im Wege des Not- 255 stands in Anspruch Genommene einen Entschädigungsanspruch; dieser ist gesetzlich ausdrücklich vorgesehen (Rn 409). Nicht ausgeschlossen ist, dass unter den allgemeinen Voraussetzungen des Staatshaftungsrechts von dem Betroffenen sogar Schadenersatz beansprucht werden kann. Kommt zB die Behörde ihrer Folgenbeseitigungspflicht (Rn 253 f) nicht nach und entstehen dem Eigentümer im Falle der Obdachloseneinweisung Schäden (zB Mietzinsausfall), können diese aus Amtshaftung ersetzt verlangt werden.1129 Ein Schadenersatzanspruch des Eigentümers gegenüber der Behörde besteht auch für die infolge der Wohnungseinweisung durch den Obdachlosen in den Räumen verursachten Schäden.1130

4. Standardmaßnahmen a) Begriff und Bedeutung Gefahrenabwehrmaßnahmen nach der Generalklausel sind nicht auf gesetzlich vorgegebene 256 Inhalte festgelegt; dadurch kann atypischen Gefahrensituationen Rechnung getragen werden. Maßnahmen zur Abwehr bestimmter, häufig wiederkehrender Gefahrensituationen sind hingegen im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht typisiert.1131 Die daraus hervorgehende Standardisierung von Eingriffsbefugnissen hat zunächst eine rechtspraktische Bedeutung und dient der Rechtsklarheit. Da es sich bei den Standardmaßnahmen um Grundrechtseingriffe handelt, wird ferner dem Gesetzesvorbehalt und dem Bestimmtheitsgebot Rechnung getragen. Schließlich können die Standardbefugnisse auch als gesetzliche Ausprägung des Übermaßverbots begriffen werden, indem bindend normiert ist, welche Maßnahmen in bestimmten Gefahrensituationen getroffen werden dürfen.1132 Die Vorschriften zu den Standardmaßnahmen stellen spezielle Befugnisnormen dar, die 257 in ihrem Anwendungsbereich 1133 eine abschließende Regelung treffen und den Rückgriff auf die Generalklausel ausschließen (Rn 99). Signifikante Abweichungen zu den Rechtmäßigkeitsanforderungen bei Maßnahmen nach der Generalklausel bestehen in drei Punkten: Häufig sind die Eingriffsvoraussetzungen enger; mitunter genügt aber bereits ein Gefahrverdacht (Rn 145 ff) für das polizeiliche Einschreiten; vielfach werden Maßnahmen gegen Personen erlaubt,1134 die nach den allgemeinen Regeln als „Nichtstörer“ (Rn 237 ff) zu qualifizieren sind.1135 Standardmaßnahmen lassen sich nicht einheitlich dem System der Handlungsformen der 258 Verwaltung 1136 zuordnen. Die Befugnisnormen sind auch nicht auf bestimmte Handlungsformen

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1129 BGHZ 130, 332 o JK GG Art 34/13. 1130 BGHZ 131, 163. 1131 Überblick bei Erichsen JURA 1993, 45 ff; Glaser JURA 2009, 742 ff; Möstl JURA 2011, 840 ff; Poscher/Rusteberg JuS 2012, 26 ff; ferner Heintzen DÖV 2005, 1038, 1042. 1132 Würtenberger/Heckmann Rn 314. – Zur grundrechtsgebotenen Normierung von Standardbefugnissen Butzer VerwArch 93 (2002) 506, 522 ff; Möstl JURA 2011, 840, 844 f. 1133 Es geht hier nur um präventive Maßnahmen; zu Parallelbefugnissen nach der StPO Erichsen JURA 1993, 45, 49; ausf Lambiris Klassische Standardbefugnisse im Polizeirecht, 2002, 102 ff. 1134 Ausdrückliche Klarstellung in Art 7 IV, 8 IV, 10 III BayPAG, Art 9 II 3 BayLStVG; §§ 13 IV, 14 V, 16 IV ASOG Bln; §§ 5 IV, 6 IV, 7 III BbgPolG, §§ 16 IV, 17 IV, 18 III BbgOBG; § 8 PolG Bremen; §§ 68, 70 IV SOG MV; § 9 NdsSOG; §§ 4 IV, 5 IV, 6 III PolG NW, §§ 17 IV, 18 IV, 19 III OBG NW; §§ 217, 219 IV LVwG SH; §§ 7 IV, 8 IV, 10 III ThürPAG, §§ 10 IV, 11 IV, 13 III ThürOBG; § 20 II BPolG. 1135 Möstl JURA 2011, 840, 847; ausf zum Abrücken von der „Störereigenschaft“ bei polizeilichen Standardmaßnahmen Möller-Bierth Polizeiliche Inanspruchnahme (Fn 1040), 35 ff. 1136 Dazu Remmert in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 17 Rn 1 ff.

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festgelegt.1137 Deshalb lässt sich zur Rechtsnatur von Standardmaßnahmen eine pauschale Aussage nicht treffen. Teilweise wird zum Erlass eines Verwaltungsakts ermächtigt (zB Platzverweisung, Aufenthaltsverbot), der ggf mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden muss,1138 teilweise ergehen Standardmaßnahmen (zB Sicherstellung, Wohnungsdurchsuchung) als Realakte (iSd unmittelbaren Ausführung der Maßnahme); 1139 teilweise dürfen Standardmaßnahmen mit begleitenden Duldungsverfügungen sogleich ausgeführt werden (zB bei Überwindung eines Widerstands des Betroffenen bei Durchsuchungen).1140 In denjenigen Fällen, in denen das unmittelbare Handeln durch Realakt erlaubt ist, bedarf es nicht der Konstruktion (genauer: Fiktion) einer konkludenten Duldungsverfügung; dieses gekünstelte Konstrukt ist überflüssig, zumal verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz auch gegen Verwaltungstathandeln zur Verfügung steht.1141 Die Rechtsnatur der behördlichen Maßnahme ist nur für die statthafte Rechtsschutzform (Klageart) von Bedeutung. 259 Eine Systematisierung der Standardmaßnahmen nach einem einheitlichen Strukturmodell ist nicht (mehr) möglich. Die gesetzliche Einführung informationsbezogener Standardmaßnahmen auf Grund des Volkszählungsurteils des BVerfG 1142 hat zu unübersichtlichen Rechtslagen schon im jeweiligen Landesrecht und insbesondere auch zu Unterschieden zwischen den einschlägigen Landesgesetzen geführt.1143 Die Systematisierungsvorschläge der Wissenschaft 1144 folgen daher weniger gesetzlichen Ordnungsvorstellungen als vielmehr Zweckmäßigkeitskriterien. Auch wenn informationsbezogene Standardmaßnahmen immer weiter an Bedeutung gewinnen (werden), sollten die klassischen Standardbefugnisse des Polizeirechts (zumal für die akademische Ausbildung1145) nicht in den Hintergrund gerückt werden (b). Die wichtigsten informationellen Standardbefugnisse lassen sich in solche der Informationsbeschaffung (c) und der Informationsverarbeitung (d) gliedern.

b) Klassische Standardmaßnahmen 260 Standardbefugnisse, die – unabhängig von den seit 1986 geschaffenen Ermächtigungen zur Datenerhebung und -verarbeitung – seit jeher Bestandteil des rechtsstaatlichen Polizei- und Ordnungsrechts gewesen sind, können als „klassisch“ bezeichnet werden.1146 Auch unter diesen klassischen Standardmaßnahmen befinden sich – zumeist in der Gestalt offener Informationserhebung – solche der Informationsbeschaffung. Spezifische Mittel der Informationserhebung (Rn 331 ff) kommen jedoch nicht bzw kaum zum Einsatz. Die folgende Darstellung orientiert sich an §§ 9, 10, 11 f MEPolG.

_____ 1137 Heintzen DÖV 2005, 1038, 1039 f; Möstl JURA 2011, 840, 848; Poscher/Rusteberg JuS 2012, 26, 27 f; Gusy Rn 180. – AA – Standardmaßnahmen seien grds Verwaltungsakte – Schenke Rn 115 f; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/ Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 156. 1138 AA Schmitt-Kammler NWVBl 1995, 166 ff (Ermächtigung unmittelbar zu polizeilichen Tathandlungen). 1139 Finger JuS 2005, 116, 117. 1140 Pieroth/Schlink/Kniesel § 12 Rn 10 f; Würtenberger/Heckmann Rn 315 ff; Lambiris Standardbefugnisse (Fn 1133), 115 ff. 1141 Finger JuS 2005, 116, 117 f; Möstl JURA 2011, 840, 848. 1142 BVerfGE 65, 1; dazu Kunig JURA 1993, 595; vgl ferner Dix JURA 1993, 571. 1143 Vgl dazu Riegel DÖV 1994, 814 ff; ferner Schwabe DVBl 2000, 1815 ff. 1144 Erichsen JURA 1993, 45: (1) Maßnahmen der offenen Datenerhebung, (2) Maßnahmen der verdeckten Datenerhebung, (3) sonstige Standardmaßnahmen. – Gusy Rn 184: (1) Standardmaßnahmen der Gefahraufklärung, (2) Standardmaßnahmen der Gefahrbeseitigung; zustimmend Möstl JURA 2011, 840, 841. – Pieroth/Schlink/Kniesel § 12 Rn 6 ff: (1) aktionelle Standardbefugnisse, (2) informationelle Standardbefugnisse zur (a) Datenerhebung [(aa) nach einer Generalklausel, (bb) nach Spezialermächtigungen] und (b) Datenverarbeitung. 1145 Anerkannt auch von Möstl JURA 2011, 840, 842. 1146 Ausf dazu Lambiris Standardbefugnisse (Fn 1133), 18 ff.

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aa) Befragung und Auskunftsverlangen. Die Polizei bzw zuständige Ordnungsbehörde kann 261 eine Person befragen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person sachdienliche Angaben machen kann, die zur Wahrnehmung der Aufgabe erforderlich sind.1147 Bei dieser Standardbefugnis geht es um eine Anhörung des Betroffenen gegen seinen Willen.1148 An der Verfassungsmäßigkeit der Regelung bestehen keine Bedenken.1149 Die Befragung ist als Aufforderung zu verstehen, eine Auskunft zu erteilen oder eine Aussage zu machen.1150 Für die Dauer der Befragung kann die Person angehalten werden. Es besteht eine Auskunftspflicht. Die betroffene Person ist insbesondere verpflichtet, Name, Vorname, Tag und Ort der Geburt, Wohnanschrift und Staatsangehörigkeit anzugeben. Zu weiteren Auskünften ist die Person nur verpflichtet, soweit für sie gesetzliche Handlungs- 262 pflichten bestehen. Hierbei muss es sich nicht um eine spezielle Auskunftspflicht handeln; es genügen Pflichten des Verwaltungsrechts (oder nach §§ 138, 323 c StGB), deren Unterlassung durch die zu befragende Person eine Gefahr iSd Polizei und Ordnungsrechts verursacht.1151 Der Betroffene ist über seine Auskunftspflicht und die Rechtsgrundlage hierfür bzw über die Freiwilligkeit der Auskunft zu belehren. Der Aussagepflicht korrespondiert ein Aussageverweigerungsrecht.1152 Ein Berechtigungsschein 1153 ist zur behördlichen Prüfung auszuhändigen, wenn der Betrof- 263 fene verpflichtet ist, den Berechtigungsschein mitzuführen.1154 Spezialgesetzlich ist die Führerschein- und Fahrzeugscheinkontrolle geregelt (§ 36 V StVO). bb) Identitätsfeststellung. Die Identitätsfeststellung,1155 dh Personenfeststellung, ist die of- 264 fene Erhebung von Personalien bei dem Betroffenen selbst zur Klärung seiner Identität. Dazu kann die Polizei nach Maßgabe der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage alle erforderlichen Maßnahmen treffen. Mittel zur Identitätsfeststellung sind das Anhalten und Befragen zur Person sowie das Verlangen nach Aushändigung mitgeführter Ausweispapiere. Notfalls kann der Betroffene festgehalten und durchsucht werden. Auch erkennungsdienstliche Maßnahmen (Rn 269) kommen als ultima ratio in Betracht. Bei den Voraussetzungen für die Identitätsfeststellung unterscheidet das Gefahrenab- 265 wehrrecht traditionell vier Fallgruppen: (1) Abwehr einer (konkreten) Gefahr, (2) Aufenthalt an einem gefährlichen Ort, (3) Aufenthalt in bzw bei einem gefährdeten Objekt, (4) polizeiliche Kontrollstelle zur Verhinderung von Straftaten. Die Identitätsfeststellung zur Abwehr einer kon-

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1147 § 20 I PolG BW; Art 12 BayPAG; § 18 III ASOG Bln; § 11 BbgPolG, § 23 Nr 1 lit a BbgOBG; § 13 PolG Bremen; § 3 HbgGDatPol; § 12 HessSOG; § 28 SOG MV; § 12 NdsSOG; § 9 PolG NW, § 24 Nr 1 OBG NW; § 9a POG RP; § 11 I PolG SL; § 18 SächsPolG; § 14 SOG LSA; § 180 LVwG SH; § 13 ThürPAG, § 16 ThürOBG; § 22 BPolG. 1148 Einzelheiten bei Gusy NVwZ 1991, 614 ff; ferner Pünder NordÖR 2005, 349, 350. 1149 Vgl BVerfGE 92, 191 o JK GG Art 2 I/27 (zur Verfassungsmäßigkeit von § 163b I StPO, § 111 OWiG). 1150 Robrecht SächsVBl 2001, 19. 1151 Einzelheiten dazu bei Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 217 ff. 1152 § 20 I 5 u 6 PolG BW; § 18 VI ASOG Bln; § 3 III HbgGDatPol; § 12 II 2 HessSOG; § 28 II 3 SOG MV; § 12 V 2 NdsSOG; 9a III POG RP; § 11 I 4 u 5 PolG SL; § 18 VI 2 SächsPolG; § 14 II SOG LSA; § 180 II 3 LVwG SH; § 16 III ThürOBG; § 22 III BPolG. – Ohne ausdrückliche Vorschrift gilt der Rechtssatz, dass sich niemand selbst belasten muss. 1153 Dazu § 26 III PolG BW; Art 13 III BayPAG; § 22 ASOG Bln; § 14 BbgPolG, § 23 Nr 1 lit c BbgOBG; § 11 V PolG Bremen; § 4 IV HbgGDatPol; § 18 VII HessSOG; § 30 SOG MV; § 13 III NdsSOG; § 13 PolG NW, § 24 Nr 5 OBG NW; § 10 III POG RP; § 9 III PolG SL; § 19 III SächsPolG; § 20 VII SOG LSA; § 182 LVwG SH; § 15 ThürPAG, § 15 IV ThürOBG; § 23 IV BPolG. 1154 Waffenschein § 38 S 1 Nr 1a WaffG (Sartorius I Nr 820); Jagdschein § 15 I BJagdG (Sartorius I Nr 890); Genehmigungsurkunde im Personenbeförderungsrecht § 17 IV PBefG (Sartorius I Nr 950); Reisegewerbekarte § 60c GewO (Sartorius I Nr 800); Führerschein § 4 II FeV (Schönfelder ErgBd Nr 35d). 1155 § 26 PolG BW; Art 13 BayPAG; § 21 ASOG Bln; § 12 BbgPolG; § 11 PolG Bremen; § 12 HbgSOG, § 4 HbgGDatPol; § 18 HessSOG; § 29 SOG MV; § 13 NdsSOG; § 12 PolG NW; § 10 POG RP; § 9 PolG SL; § 19 SächsPolG; § 20 SOG LSA; § 181 LVwG SH; § 14 ThürPAG, § 15 ThürOBG; § 23 BPolG.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

kreten Gefahr unterliegt den allgemeinen Regeln des Gefahrenabwehrrechts; der Betroffene kann als Verantwortlicher bzw ausnahmsweise als Nichtverantwortlicher in Anspruch genommen werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Gefahrenprognose iS einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit der Bedrohung eines Schutzguts stützen.1156 Die anderen drei Fallgruppen1157 normieren polizeiliche Vorfeldbefugnisse, die zT von den üblichen Voraussetzungen für Eingriffsmaßnahmen dispensieren. Die im Bereich der Gefahrenvorsorge normierten niedrigen Eingriffsschwellen begegnen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken; als Beeinträchtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung stellt die Identitätsfeststellung einen vergleichsweise geringfügigen Grundrechtseingriff dar und ist angesichts der bedeutsamen Schutzzwecke mit dem Übermaßverbot vereinbar.1158 So kann sich die Identitätsfeststellung auf einen Nichtstörer beziehen, wenn er sich nur an einem der genannten Orte aufhält.1159 Auf Grund der gesetzlichen Wertung genügt für die Identitätsfeststellung die abstrakte Gefahr des Eintritts einer Störung.1160 Allerdings muss der abstrakte Gefahrverdacht wenigstens auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützt sein, wenn die Identität einer Person an einem gefährlichen Ort oder gefährdeten Objekt festgestellt werden soll. Das gilt auch für die Razzia.1161 Bei ihr werden grundsätzlich sämtliche Personen, die sich an einem bestimmten Ort aufhalten, einer Identitätsfeststellung unterzogen;1162 ein Bündel weiterer Maßnahmen schließt sich idR an (Datenabgleich, Durchsuchungen etc).1163 Liegen die Voraussetzungen für eine Personenfeststellung vor, muss von der Befugnis im konkreten Fall nach pflichtgemäßem Ermessen Gebrauch gemacht werden; zu beachten ist insbesondere das Übermaßverbot, dh die Identitätsfeststellung muss zur Gefahrenabwehr geeignet, erforderlich und verhältnismäßig (angemessen) sein. Bei Vorlage eines gültigen Ausweispapiers und fehlendem Zweifel an der Identität des Betroffenen ist die Sistierung zum Zwecke des Datenabgleichs mit polizeilichen Dateien nicht erforderlich.1164 266 Die Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen der EU hat im Polizeirecht zur Einführung der Schleierfahndung geführt.1165 Dabei handelt es sich idR um anlassunabhängige Personenkontrollen. Die Befugnis zur verdachts- und ereignisunabhängigen Personenkontrolle dient der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität. Im Landesrecht wird zT nur ein Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 km erfasst; zT werden auch Durchgangsstraßen (Bundesautobahnen, Europastraßen) und zT sogar der gesamte öffentliche Verkehrsraum einbezogen.1166 Die Befugnisnormen sind seit ihrer Einführung (beginnend 1995 in Bayern) umstritten ge267 wesen;1167 das betrifft auch die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen. Das LVerfG MV hat die

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1156 BayVGH BayVBl 1993, 429, 431; vgl ferner Pünder NordÖR 2005, 349, 350 f. 1157 Zunehmend erstrecken die Landesgesetzgeber und der Bundesgesetzgeber die Standardbefugnis auf weitere Fallgruppen: Schutz privater Rechte, gezielte Kontrolle ausgeschriebener Fahrzeuge. 1158 NdsOVG NdsVBl 2010, 299. 1159 VGH BW VBlBW 1982, 338, 339 f. 1160 Pieroth/Schlink/Kniesel § 14 Rn 32 ff; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 158. 1161 VG München NVwZ-RR 2000, 154, 155. 1162 Vgl aus der Praxis BVerwGE 121, 345, 356 o JK GG Art 13/8. 1163 Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 339 ff. 1164 VGH BW NVwZ-RR 2011, 231, 233. 1165 § 26 I Nr 6 PolG BW; Art 13 I Nr 5 BayPAG; § 12 I Nr 6 BbgPolG (vgl aber auch § 11 III BbgPolG); § 18 II Nr 6 HessSOG; § 27a SOG MV; § 12 VI NdsSOG; § 9a IV POG RP; § 9a PolG SL; § 19 I 1 Nr 5 SächsPolG; § 14 III SOG LSA; § 180 III 1 Nr 2 LVwG SH; § 14 I Nr 5 ThürPAG. – Spezielle Befugnis für die Bundespolizei nach § 23 I Nr 3, Ia BPolG. 1166 Näher dazu Schmid LKV 1998, 477 ff; Kutscha LKV 2000, 134 ff; Mahlmann LKV 2001, 102 ff. – Ausf Krane Schleierfahndung, 2003, 106 ff; Graf Verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen, 2006, 45 ff; vgl auch T. Peters Anlassunabhängige Personenkontrollen, 2004, 16 ff. 1167 Krit Lisken NVwZ 1998, 22 ff (mit Entgegnung Schwabe NVwZ 1998, 709 ff); Stephan DVBl 1998, 81 ff; Waechter DÖV 1999, 138 ff; Verfassungsmäßigkeit grds bejahend Möllers NVwZ 2000, 382 ff; Weingart BayVBl 2001, 33 ff.

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Schleierfahndung für verfassungsmäßig erklärt, soweit die Polizei in einem Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 km und bei öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs (sowie Küstenmeer) die Befugnis erhält, ohne gesetzlich festgelegte Eingriffsschwellen zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität Identitätsfeststellungen zu treffen. In allen anderen Fällen sei die Schleierfahndung wegen Verletzung des Übermaßverbots verfassungswidrig, weil es an dem notwendigen Zurechnungszusammenhang zwischen dem Verhalten des Einzelnen und einer Gefährdung eines zu schützenden Rechtsguts fehle; gesetzliche Ermächtigungen zur Identitätsfeststellung müssten Eingriffsschwellen festlegen, indem zB auf Lageerkenntnisse und polizeiliche Erfahrung abgestellt werde.1168 Diese Entscheidung ist nicht unproblematisch. 1169 Gerichtlich werden gesetzgeberische Einschätzungsprärogativen usurpiert. Die Bekämpfung der organisierten und nicht organisierten grenzüberschreitenden Kriminalität (Menschenschmuggel, Waffenhandel, Drogenhandel, Bandendiebstahl, Autoschieberei etc) ist ein in hohem Maße verfassungslegitimes Ziel („staatliche Schutzpflicht“), zu dessen Verwirklichung die Schleierfahndung geeignet und erforderlich ist; bei der Beurteilung der Angemessenheit kommt dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu.1170 Der BayVerfGH hat die Verfassungsmäßigkeit der Regelung zur Schleierfahndung anerkannt und dabei insbesondere keine Restriktionen aus dem Übermaßverbot abgeleitet: Die Identitätskontrolle stelle nur einen geringfügigen Grundrechtseingriff dar; die Eingriffsschwellen der ereignis- und verdachtsunabhängigen Kontrolle seien zwar niedrig ausgestaltet, andererseits diene die Kontrolle dem Schutz bedeutsamer Rechtsgüter, deren Verletzung strafbewehrt sei; da es um Gefahrenvorsorge gehe, könne auch ein „Zurechnungszusammenhang“ zwischen der Kontrolle und der Gefahr, der die Vorsorge gelte, sinnvollerweise nicht verlangt werden, da die Gefahr gleichsam anonym sei.1171 Die Vereinbarkeit der Befugnisnormen zur Schleierfahndung mit dem EU-Recht ist unge- 268 klärt. Sowohl nach dem primären Unionsrecht (Art 67 II AEUV) als auch nach dem Schengener Grenzkodex1172 (vgl dazu auch Rn 73) dürfen Personen an den EU-Binnengrenzen nicht kontrolliert werden (Art 20 VO 562/2006/EG). Zu diesen Vorgaben stehen die Ermächtigungsgrundlagen zur Schleierfahndung nicht in direktem Widerspruch, da sie keine Regelungen zum Grenzübertritt an den mitgliedstaatlichen Außengrenzen treffen.1173 Zudem ist europarechtlich ausdrücklich bestimmt, dass die Abschaffung der Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts nicht berührt; dies gilt allerdings nur, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat, uz gerade in Grenzgebieten (Art 21 lit a S 1 VO 562/2006/EG). Der EuGH behandelt die Verordnung(sbestimmung) wie eine umsetzungsbedürftige Richtlinie (vgl Art 288 III AEUV) und verlangt von nationalen Regelungen die Lenkung des Gesetzesvollzugs dergestalt, dass die tatsächliche Ausübung von behördlichen Identitätskontrollen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben könne.1174 Danach ist zweifelhaft, ob alle in Deutschland existierenden Befugnisnormen zur Schleierfahndung (Rn 266) europa-

_____ 1168 LVerfG MV DVBl 2000, 262 (m krit Anm Engelken). 1169 Pieroth/Schlink/Kniesel § 14 Rn 42. – Vgl ferner die Analysen von Schnekenburger BayVBl 2001, 129 ff, sowie Kastner VerwArch 92 (2001) 216 ff; abl Möllers ThürVBl 2000, 41 ff; grds zust Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 377 ff. 1170 Zurückhaltend zu § 14 III SOG LSA VerfG LSA NVwZ 2002, 1370 (m Bespr Martell NVwZ 2002, 1336). 1171 BayVerfGH NVwZ 2003, 1375, 1377 = BayVBl 2003, 560, 563; dazu Bespr Horn BayVBl 2003, 545; seine Rspr bekräftigend und fortführend BayVerfGH JZ 2006, 617 (m Anm Krane) = BayVBl 2006, 339 (m Anm Wolff 661); dazu Möstl JURA 2011, 840, 852 f. 1172 Vgl Nach Fn 330. 1173 Definition von „Grenzkontrollen“ iSd Schengener Grenzkodex in Art 2 Nr 9 VO 562/2006/EG (dazu Rn 73). 1174 EuGH Slg 2010, I-5665 Tz 74, 75; krit dazu Trennt DÖV 2012, 216, 219.

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rechtskonform sind.1175 Gesetzliche Ermächtigungen zu verdachts- und ereignisunabhängigen Kontrollen dürften den Forderungen des EuGH kaum genügen, Kontrollbefugnisse auf Grund polizeilicher Lagebilder könnten noch europarechtskonform sein,1176 während dies bei Rechtsgrundlagen, die einen Gefahrenverdacht für die Schleierfahndung voraussetzen, am ehesten zutreffen dürfte.1177 269 cc) Erkennungsdienstliche Maßnahmen. Die Befugnis zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen 1178 dient der Feststellung individueller körperlicher Merkmale zur Identifizierung von Personen. Anhand der äußerlich erkennbaren Merkmale soll insbesondere die Wiedererkennung des Betroffenen gewährleistet werden. Typische erkennungsdienstliche Maßnahmen sind die Abnahme von Fingerabdrücken, die Aufnahme von Lichtbildern, die Feststellung äußerer körperlicher Merkmale sowie Messungen. Der „genetische Fingerabdruck“ (DNA-Analyse) ist nicht mit umfasst, da es bei ihm nicht um die Feststellung äußerer Merkmale einer Person geht.1179 Teilweise sieht das Landesrecht inzwischen in Spezialvorschriften allerdings die Befugnis zur Durchführung medizinischer und molekulargenetischer Untersuchungen als erkennungsdienstliche Maßnahmen vor.1180 Daneben bestehen eng begrenzte Bestimmungen zur Möglichkeit der DNA-Analyse.1181 Nach den einschlägigen landesgesetzlichen Vorschriften (vgl Rn 269) sind Schutzgüter 270 für erkennungsdienstliche Maßnahmen einerseits die Schutzgüter der Identitätsfeststellung (Rn 265) und andererseits die Straftatenverhütung. Die – jeweilige – Gefahr ist schutzgutbezogen. Beim erstgenannten Schutzgut können erkennungsdienstliche Maßnahmen angeordnet werden, wenn eine zulässige Identitätsfeststellung auf andere Weise nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten möglich ist. Das ist zB nicht der Fall, wenn die Identität des Betroffenen der Polizei bekannt ist und die Feststellung seiner Identität auch in Zukunft keine Schwierigkeiten bereiten wird.1182 Zur Straftatenverhütung sind erkennungsdienstliche Maßnahmen zulässig, wenn der Betroffene verdächtigt wird, eine Straftat begangen zu haben oder wenn er wegen einer Straftat verurteilt worden ist und wegen der Art und Ausführung der Tat die Gefahr einer Wiederholung besteht. Für diese Annahme müssen tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.1183 Der zweite Eingriffstatbestand (vorbeugende Bekämpfung von Straftaten, Rn 270) muss von 271 § 81b Alt 2 StPO (Rn 17) abgegrenzt werden. Die dort normierten Maßnahmen für Zwecke des Erkennungsdienstes knüpfen an die „Beschuldigten“stellung des Betroffenen an. Diese Gesetzeslage erlaubt(e) den Schluss, dass erkennungsdienstliche Maßnahmen zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten auf das Landespolizeirecht gestützt werden können, soweit nicht § 81b Alt 2 StPO aus Anlass eines Strafverfahrens gegen einen „Beschuldigten“1184 zur Vornahme er-

_____ 1175 Bejahend für Art 13 I Nr 5 BayPAG Kempfler BayVBl 2012, 9 ff. 1176 Grundlage insoweit könnte Art 21 lit a S 2 VO 562/2006/EG sein, wonach bestimmte polizeiliche Maßnahmen der „Durchführung von Grenzübertrittskontrollen“ nicht gleichgestellt werden dürfen. 1177 Trennt DÖV 2012, 216, 221 ff. 1178 § 36 PolG BW; Art 14 BayPAG; § 23 ASOG Bln; § 13 BbgPolG; § 11b PolG Bremen; § 7 HbgGDatPol; § 19 HessSOG; § 31 SOG MV; § 15 NdsSOG; § 14 PolG NW; § 11 POG RP; § 10 PolG SL; § 20 SächsPolG; § 21 SOG LSA; § 183 LVwG SH; § 16 ThürPAG; § 24 BPolG. 1179 Möller/Warg Rn 299; Schenke Rn 125; Thiel Rn 367; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 160; aA Pieroth/Schlink/Kniesel § 14 Rn 57. 1180 § 21a ASOG Bln; § 31a SOG MV; § 15a NdsSOG; § 14a PolG NW; § 11a POG RP; § 10a PolG SL; § 183a LVwG SH. 1181 § 7 V HbgGDatPol; § 19 III HessSOG, dazu Graulich NVwZ 2005, 271, 274. 1182 So – zu § 81b Alt 2 StPO – BayVGH NVwZ-RR 1998, 496; anders bzgl „Rotlichtmilieu“ OVG RP NVwZ-RR 2001, 238. 1183 OVG NW NJW 1999, 2689, 2690. – Ebenso zu § 81b Alt 2 StPO VGH BW NVwZ-RR 2004, 572, 573 o JK StPO § 81b/1; NdsOVG NdsVBl 2008, 174, 175. 1184 Dazu NdsOVG NVwZ-RR 2004, 346; NdsVBl 2007, 42; SächsOVG NVwZ-RR 2001, 238, 239.

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kennungsdienstlicher Maßnahmen ermächtigt.1185 Aus (vermeintlichen) Gründen der Gesetzgebungskompetenz (Rn 17) erfolgt die Abgrenzung zwischen StPO und Landespolizeirecht nach hM nun aber nicht mehr anhand der „Beschuldigten“stellung, sondern nach dem Zweck der Maßnahme.1186 Danach sind erkennungsdienstliche Maßnahmen der Strafverfolgungsvorsorge § 81b Alt 2 StPO zuzuordnen;1187 nach dem Landespolizeirecht können erkennungsdienstliche Maßnahmen nur noch zur Verhütung von Straftaten angeordnet werden.1188 Der Anwendungsbereich der landesgesetzlichen Bestimmungen ist danach nicht sehr groß.1189 In diesem von der hM entwickelten System gibt es keine Rechtsgrundlage für erkennungsdienstliche Maßnahmen zur Strafverfolgungsvorsorge bei Personen, die „Nichtbeschuldigte“ iSd § 81b Alt 2 StPO1190 sind. Fehlt es an der Notwendigkeit einer weiteren Aufbewahrung der erkennungsdienstlichen 272 Unterlagen, sind diese – was in den einschlägigen Vorschriften (Rn 269) ausdrücklich angeordnet ist – zu vernichten, soweit andere Rechtsvorschriften nichts Abweichendes bestimmen. Die „Notwendigkeit“ ist anhand einer umfassenden Abwägung aller relevanten Umstände im konkreten Fall zu ermitteln. Liegen die Voraussetzungen für eine weitere Aufbewahrung der Unterlagen nicht mehr vor, hat der Betroffene einen Anspruch auf ihre Vernichtung.1191 dd) Vorladung und Vorführung. Vorladung und Vorführung sind klassische Standardmaß- 273 nahmen des Polizei- und Ordnungsrechts,1192 die von vergleichbaren Maßnahmen nach der StPO1193 abzugrenzen und gegenüber verwandten Rechtsinstituten des Besonderen Verwaltungsrechts 1194 subsidiär sind. Vorladung ist das rechtliche Gebot (Verwaltungsakt) an eine Person, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort (zB Polizeidienststelle) zu erscheinen und dort bis zur Erledigung der in der Vorladung bezeichneten Angelegenheit zu verweilen.1195 Die Vorladung dient der Durchführung polizeilicher Befragungen bzw erkennungsdienstlicher Maßnahmen.1196 Eine Vorladung kann ausgesprochen werden, wenn entweder Tatsachen die Annahme 274 rechtfertigen, dass die Person sachdienliche Angaben machen kann, die für die Erfüllung einer bestimmten polizeilichen Aufgabe notwendig sind oder wenn die Vorladung zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen erforderlich ist. Bei der Vorladung soll deren Grund angegeben werden; Rücksichtnahme auf die beruflichen Verhältnisse des Betroffenen und seine

_____ 1185 OVG NW NJW 1999, 2689, 2690; OVG RP NVwZ-RR 2001, 238. 1186 NdsOVG NVwZ 2010, 69, 71 o JK NdsSOG § 15 I 1 Nr 2/1; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 417. 1187 BVerwG JZ 2006, 727, 728 f (m. abl Anm Eisenberg/Puschke 729 u zust Bespr Schenke JZ 2006, 707) o JK StPO § 81b/2; BVerwG NVwZ-RR 2011, 710; VGH BW NJW 2008, 3082; NdsOVG NdsVBl 2007, 42; NdsVBl 2008, 174, 175; NdsVBl 2009, 202 (m Anm Pahlke NdsVBl 2010, 82); NVwZ 2010, 69, 70 o JK NdsSOG § 15 I 1 Nr 2/1. 1188 NdsOVG NVwZ 2010, 69, 70 o JK NdsSOG § 15 I 1 Nr 2/1. 1189 Gusy Rn 237. 1190 Das sind zB Strafunmündige, rechtskräftig Verurteilte, Verdächtige, gegen die das Strafverfahren eingestellt worden ist; OVG NW NJW 1999, 2689, 2690; OVG RP NVwZ-RR 2001, 238; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 409. 1191 Möller/Warg Rn 300; Schenke Rn 128; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 163. 1192 § 27 PolG BW; Art 15 BayPAG; § 20 ASOG Bln; § 15 BbgPolG, § 23 Nr 1 lit d BbgOBG; § 12 PolG Bremen; § 11 HbgSOG; § 30 HessSOG; §§ 50, 51 SOG MV; § 16 NdsSOG; § 10 PolG NW, § 24 Nr 2 OBG NW; § 12 POG RP; § 11 PolG SL; § 18 SächsPolG; § 35 SOG LSA; §§ 199, 200 LVwG SH; § 17 ThürPAG, § 16 IV, V ThürOBG; § 25 BPolG. 1193 §§ 161a, 163a III StPO (Staatsanwaltschaft), § 133 StPO (Richter). 1194 § 82 IV AufenthG (Sartorius I Nr 565); § 26 II IfSG (Sartorius ErgBd Nr 285); §§ 17 III, 24 VI Nr 3 WPflG (Sartorius I Nr 620); § 48 StVO (Schönfelder Nr 35a). 1195 OVG NW NVwZ 1982, 658. 1196 Näher zur Vorladung bzgl präventiver erkennungsdienstlicher Behandlung Petersen-Thrö/Ornatowski SächsVBl 2008, 29 ff.

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sonstigen Lebensverhältnisse ist geboten. Es besteht eine Pflicht zum Erscheinen und Bleiben; eine Pflicht zur Auskunft muss eigenständig ermittelt werden 1197 (Rn 261 f). Die Vorladung kann mittels Vorführung zwangsweise durchgesetzt werden. Voraussetzung 275 ist, dass der Betroffene der Vorladung ohne hinreichenden Grund keine Folge leistet und das Zwangsmittel entweder zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen oder zur Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person (zT auch für bedeutende fremde Sach- oder Vermögenswerte) erforderlich ist. Die Vorführung ist iSd Art 104 GG idR eine Freiheitsbeschränkung, nicht jedoch eine Freiheitsentziehung,1198 kann also auf Grund eines förmlichen Gesetzes unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Form von der zuständigen Behörde angeordnet werden. Eine richterliche Anordnung ist nur vonnöten, wenn das Landesrecht dies ausdrücklich vorsieht. Materiellrechtlich ist neben den gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Vorführung das Übermaßverbot zu beachten. Danach kommt die Vorführung nicht in Betracht, wenn die Gefahrenabwehr auf andere Weise leichter zu bewerkstelligen ist.1199 276 ee) Platzverweisung, Aufenthaltsverbot, Wohnungsverweisung. Durch eine Platzverweisung, ein Aufenthaltsverbot oder eine Wohnungsverweisung wird einer Person aufgegeben, einen bestimmten Ort nicht (mehr) zu betreten. Es handelt sich bei diesen behördlichen Maßnahmen um Einschränkungen der räumlichen Bewegungsfreiheit einer Person.1200 Die Platzverweisung (Rn 278 ff) ist eine vorübergehende (kurzfristige) Maßnahme (Entfernungsgebot oder Betretungsverbot) mit zeitlich und räumlich beschränkter Wirkung. Das länger andauernde Aufenthaltsverbot (Rn 284) kann sich auf einen größeren räumlichen Bereich (zB Stadtgebiet) beziehen und ggf mehrere Monate gelten.1201 Auf Grund der Befugnis zur Wohnungsverweisung (Rn 289) kann die zuständige Behörde eine Person zeitlich befristet aus ihrer Wohnung verweisen bzw ihr zeitlich befristet das Betreten der Wohnung verbieten. 277 Platzverweisung und Aufenthaltsverbot finden als behördliche Maßnahmen vornehmlich Anwendung zum Schutz der Integrität des öffentlichen Raumes.1202 Beispiele aus der Praxis veranschaulichen den Befund. Bei der Bekämpfung der offenen Drogenszene finden Platzverweisung 1203 und Aufenthaltsverbot 1204 ein breites Anwendungsfeld.1205 Die Platzverweisung hat zudem Bedeutung zB zur Durchsetzung einer Versammlungsauflösung 1206 und zur räumlichen Beschränkung eines Asylbewerbers,1207 bei der Abwehr von drohenden Gewalttätigkeiten auf einem bestimmten Platz 1208 und von Straftaten,1209 zur Durchsetzung eines Verbots gegenüber

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1197 Lambiris Standardbefugnisse (Fn 1133), 24; Pieroth/Schlink/Kniesel § 14 Rn 71; Schenke Rn 131; aA Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 424: keine Vorladung bei Fehlen einer Auskunftspflicht. 1198 BayObLG BayVBl 1984, 27 (m Anm Kießling BayVBl 1985, 249); Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 421; Götz § 8 Rn 20; ebenso zum WPflG BVerwG NVwZ 1990, 69; aA Pieroth/Schlink/Kniesel § 14 Rn 80. 1199 VG Gießen NVwZ-RR 1999, 376 (am Bspl polizeilicher Vorführung bei der Meldebehörde). 1200 Möller/Warg Rn 348. 1201 OVG Bremen NVwZ 1999, 314, 315 (m Bespr Hecker NVwZ 1999, 261) o JK BremPolG § 10/1; VG Schleswig NVwZ 2000, 464; VG Frankfurt/M NVwZ-RR 2002, 575, 576; VG Osnabrück NdsVBl 2003, 306. 1202 Finger Die offenen Szenen der Städte, 2006, 108 ff. 1203 VGH BW NVwZ-RR 1997, 225 o JK Pol- u OrdR Platzverweis/1; VGH BW NVwZ-RR 1998, 428; BayVGH NVwZ 2001, 1291. 1204 BayVGH NVwZ 2000, 454 o JK BayLStVG Art 7/1; OVG Bremen NVwZ 1999, 314 (m Bespr Hecker NVwZ 1999, 261) o JK BremPolG § 10/1; OVG NW NVwZ 2001, 459; NVwZ 2001, 231. 1205 Deger VBlBW 1996, 90; Haseloff-Grupp VBlBW 1997, 161; Scheithauer VBlBW 1997, 447; Cremer NVwZ 2001, 1218; Bösch JURA 2009, 650. 1206 BVerwG NVwZ 1989, 872; BayVGH NVwZ 1988, 1055; OVG Bremen NVwZ 1987, 235. – Vor Auflösung einer Versammlung (§ 15 III VersG) ist die polizeirechtliche Platzverweisung wegen des Schutzes der Versammlungsteilnehmer durch Art 8 I GG unzulässig; BVerfG-K NVwZ 2005, 80, 81 o JK GG Art 8/17; vgl auch oben Rn 97. 1207 VGH BW NVwZ-RR 1998, 428; VBlBW 1998, 112. 1208 VG Schleswig NVwZ 2000, 464. 1209 VG Leipzig NVwZ 2001, 1317; VG Frankfurt/M NVwZ-RR 2002, 575.

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Punkern zum Treffen bei „Chaostagen“ 1210 und bei der Unterbindung von Einwirkungen eines Störers auf Gottesdienstbesucher. 1211 Gerichtlich nicht bestätigt wurden behördliche Aufenthaltsverbote zB gegen (vermeintliche) Angehörige der „Tuning-Szene“,1212 gegen Mitglieder der „Punk-Szene“ 1213 und gegen Betreiber des „Hütchenspiels“.1214 (1) Die Platzverweisung stellt eine Freiheitsbeeinträchtigung dar. Die Art des Grundrechts- 278 schutzes ist umstritten. Die Auffassungen reichen von Art 2 II 2 GG 1215 über Art 11 GG 1216 bis zu Art 2 I GG.1217 Das Grundrecht auf Freiheit der Person ist nicht tangiert, weil Art 2 II 2 GG als Garantie der körperlichen Bewegungsfreiheit 1218 gewahrt bleibt. Art 11 I GG greift auch nicht ein; zwar darf nach dem Grundrecht der Freizügigkeit ungehindert durch staatliche Gewalt an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt oder Wohnung genommen werden, jedoch müssen Ortswechsel und Fortbewegung von gewisser Bedeutung und Dauer sein.1219 Dies trifft in den Konstellationen der Platzverweisung (Rn 277), einer kurzfristigen Maßnahme (Rn 281), nicht zu. Die Platzverweisung stellt demnach einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art 2 I GG) dar. Rechtsgrundlage für die Platzverweisung ist eine Standardbefugnis.1220 Besondere Recht- 279 mäßigkeitsvoraussetzungen normieren die Vorschriften zur Platzverweisung nicht. Die zuständige Behörde kann zur Abwehr einer Gefahr eine Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten. Besonders hervorgehoben ist in den Befugnisnormen die Platzverweisung gegen Personen, die den Einsatz der Feuerwehr bzw von Hilfs- oder Rettungsdiensten behindern. Die gesetzliche Ausgestaltung der Platzverweisung zielt demnach auf die Wegverweisung von einem bestimmten Ort (nicht – auch – auf das Hinverweisen zu einem Ort); dh die Standardmaßnahme erschöpft sich in dem Gebot, einen bestimmten Ort vorübergehend zu verlassen, bzw in dem Verbot, ihn einstweilen zu betreten.1221 In der Substanz normieren die Standardbefugnisse der Landesgesetze keine anderen Ein- 280 griffsvoraussetzungen als die Generalklausel; es muss eine Gefahr für ein Schutzgut vorliegen.1222 Ist dies der Fall, muss die Platzverweisung 1223 das Übermaßverbot beachten (vgl auch Rn 155 ff). Ein Verstoß hiergegen wurde in Platzverweisungen gesehen, die in Form einer All-

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1210 BayObLG NVwZ 2000, 467. 1211 OLG Köln NVwZ 2000, 350. 1212 VG Osnabrück NdsVBl 2003, 306. 1213 VGH BW NVwZ 2003, 115 (wegen unzul Allgemeinverfügung). 1214 HessVGH NVwZ 2003, 1400 (wegen – damals in Hessen – fehlender Rechtsgrundlage); dazu Hecker NVwZ 2003, 1334. 1215 Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 435; Möller/Warg Rn 351; Pieroth/Schlink/Kniesel § 16 Rn 4; abl Deger VBlBW 1996, 90, 93; Trurnit VBlBW 2009, 205, 208; Bösch JURA 2009, 650, 653; Braun Freizügigkeit und Platzverweis, 2000, 92 f. 1216 Alberts NVwZ 1997, 45, 47; Hetzer ThürVBl 1997, 241 ff; Braun Freizügigkeit (Fn 1215) 37 ff; abl Deger VBlBW 1996, 90, 92 f; Trurnit VBlBW 2009, 205, 206; Bösch JURA 2009, 650, 652 f; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 435. 1217 VGH BW NVwZ-RR 1997, 225, 226 o JK Pol- u OrdR Platzverweis/1; Deger VBlBW 1996, 90, 93; Trurnit VBlBW 2009, 205, 206; Bösch JURA 2009, 650, 653; Götz § 8 Rn 23; Kugelmann 6/24; Schenke Rn 132; Thiel Rn 403; Würtenberger/Heckmann Rn 308. 1218 BVerfGE 105, 239, 247; BVerfG-K NVwZ 2006, 379 Tz 34 o JK GG Art 2 II 2/2; NVwZ-RR 2009, 304, 305; NVwZ 2009, 1033; Kunig JURA 1990, 306, 307; Kappeler BayVBl 2001, 336, 337 f – BVerfGE 94, 166, 198; E 96, 10, 21: kein Recht, sich unbegrenzt überall aufhalten zu dürfen. 1219 Schoch JURA 2005, 34, 35; Pieroth/Schlink Grundrechte, 28. Aufl 2012, Rn 859. 1220 § 27a I PolG BW; Art 16 BayPAG; § 29 I ASOG Bln; § 16 I BbgPolG, § 23 Nr 1 lit e BbgOBG; § 14 I PolG Bremen; § 12a HbgSOG; § 31 I HessSOG; § 52 I SOG MV; § 17 I NdsSOG; § 34 I PolG NW, § 24 Nr 13 OBG NW; § 13 I POG RP; § 12 I PolG SL; § 21 I SächsPolG; § 36 I SOG LSA; § 201 I LVwG SH; § 18 I ThürPAG, § 17 I ThürOBG; § 38 BPolG. 1221 Bösch JURA 2009, 650; Möller/Warg Rn 349. 1222 VG Frankfurt/M NVwZ 1998, 770, 771; K. Stein NdsVBl 2010, 193, 196; ausf Braun Freizügigkeit (Fn 1215) 129 ff; Finger Die offenen Szenen der Städte, 2006, 164 ff. 1223 BayVGH NVwZ 2001, 1291: mündl Anordnung zulässig, Bestimmtheit (§ 37 I VwVfG) nötig.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

gemeinverfügung (§ 35 S 2 VwVfG) erlassen worden waren.1224 Dem Übermaßverbot trägt die Ausgestaltung der gesetzlichen Standardbefugnis dadurch Rechnung, dass die Platzverweisung als zeitlich (Rn 281) und räumlich (Rn 282) begrenzte Maßnahme anerkannt wird. Danach kann eine Person lediglich „vorübergehend“ bzw „zeitlich befristet“ von einem „Ort“ verwiesen bzw an dessen Betreten gehindert werden. Die Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe bereitet mitunter Schwierigkeiten. Da die Platzverweisung zur Abwehr einer Gefahr ausgesprochen wird, müssen Auslegung und Anwendung der Begriffe mit Bezug auf die „Gefahr“ erfolgen. Diese Deutung belegt auch die ausdrückliche gesetzliche Erwähnung der Platzverweisung zur Gewährleistung des Einsatzes der Feuerwehr oder von Hilfs- und Rettungsdiensten (Rn 279). Die Dauer der Platzverweisung kann sich demnach bei einem vorübergehenden Ereignis (zB 281 Unglücksfall) auf die gesamte Zeitdauer der Gefahrenabwehrmaßnahme erstrecken.1225 Diesem Bezug zur Gefahrenlage wird nicht Rechnung getragen, wenn der Zeitraum der Platzverweisung starr auf maximal 24 Stunden fixiert wird.1226 Bei einer zeitlich nicht begrenzten Gefahrensituation (zB Drogenszene) muss eine Höchstgrenze gezogen werden,1227 um die Platzverweisung von einem Aufenthaltsverbot abgrenzen zu können. Orientiert man sich an dem im Gesetz eigens genannten Feuerwehreinsatz bzw dem Einsatz von Hilfs- und Rettungsdiensten, der idR nur einige Stunden dauert, kann ein Zeitraum von 24 Stunden iS eines Richtwertes als „vorübergehend“ anerkannt werden; bei besonderen Gefahrenlagen kommt ein längerer Zeitraum in Betracht. 1228 Im Übrigen können und müssen die Gefahrenabwehrbehörden zu dem Mittel des Aufenthaltsverbots (Rn 284 ff) greifen. 282 Noch schwieriger zu bestimmen ist die zulässige räumliche Geltung, also der „Ort“, einer Platzverweisung. Kaum mit dem Gesetz vereinbar ist die Forderung, einen „Ort“ – abgesehen vom Katastrophenfall – sehr restriktiv nur iS einer eng begrenzten, überschaubaren Örtlichkeit (in Abgrenzung zur „Ortschaft“ bzw „Gemeinde“ iSd Kommunalrechts) zu verstehen.1229 Da für das Begriffsverständnis der Bezug zu der „Gefahr“ maßgebend ist (vgl bereits Rn 281), lassen sich willkürlich gegriffene abstrakte räumliche Fixierungen kaum geben; es kommt auf den konkreten Fall der Gefahrenbekämpfung an. Daher hat die Rechtsprechung keine Bedenken, wenn sich ein Betretensverbot auf das ganze Stadtgebiet bezieht.1230 Für die Bestimmung des Adressaten der Maßnahme gelten mangels abweichender gesetz283 licher Bestimmung die allgemeinen Regeln (Rn 168 ff, 237 ff); folglich können, sofern die Voraussetzungen vorliegen, neben den Störern auch Nichtstörer im Wege der Platzverweisung in Anspruch genommen werden.1231 Die Durchsetzung einer Platzverweisung kann mittels Ingewahrsamnahme einer Person (Rn 295 ff) erfolgen.1232 Gegenüber einem Versammlungsteilnehmer kommt allerdings erst nach Auflösung der Versammlung (§ 15 III VersG) oder nach versammlungsrechtlich begründetem Ausschluss aus der Versammlung ein Vorgehen nach Polizei- und Ordnungsrecht (vgl Rn 97) und damit eine Platzverweisung in Betracht, an die sich eine Ingewahrsamnahme anschließen kann.1233

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1224 VGH BW NVwZ-RR 1997, 225 o JK Pol- u OrdR Platzverweis/1; VG Stuttgart NVwZ-RR 1998, 103. 1225 Götz § 8 Rn 21. 1226 So aber Trurnit VBlBW 2009, 205, 206 f; Kugelmann 6/25; Möller/Warg Rn 350; Schenke Rn 132. 1227 Überblick zum Meinungsstand bei Robrecht/Petersen-Thrö SächsVBl 2006, 29, 32 f, die selbst zwei Tage als Obergrenze postulieren. 1228 Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 435: 24 Stunden als „Anhaltspunkt“. 1229 So aber Robrecht/Petersen-Thrö SächsVBl 2006, 29, 31. 1230 VGH BW NVwZ-RR 1998, 428. 1231 Götz § 8 Rn 22; Pieroth/Schlink/Kniesel § 16 Rn 15 ff; Thiel Rn 412; ausf Robrecht/Petersen-Thrö SächsVBl 2006, 29, 34 ff. – Aus der Praxis VG Schleswig NVwZ 2000, 464, 465: Platzverweisung gegenüber Nichtstörer. 1232 BayObLG NVwZ 2000, 467, 468. 1233 BVerfG-K NVwZ 2005, 80, 81 o JK GG Art 8/17.

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II. Materielles Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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(2) Bei dem (längerfristigen) Aufenthaltsverbot handelt es sich nicht um einen Eingriff in 284 den Schutzbereich des Art 2 II 2 GG; die körperliche Bewegungsfreiheit (vgl Rn 278) bleibt garantiert.1234 Es liegt jedoch ein Eingriff in das Grundrecht der Freizügigkeit (Art 11 I GG) vor.1235 Daraus ergeben sich Probleme wegen des qualifizierten Gesetzesvorbehalts (Art 11 II GG) und der Gesetzgebungskompetenz; außerdem muss das Zitiergebot (Art 19 I 2 GG) beachtet werden. Zweifel an der Kompetenzmäßigkeit landesrechtlicher Bestimmungen zur Einschränkung der Freizügigkeit im Bundesgebiet bestehen nicht. Zwar steht dem Bund die ausschließliche Gesetzgebung über die Freizügigkeit zu (Art 73 I Nr 3 GG), so dass die Länder in diesem Bereich von der Gesetzgebung grundsätzlich ausgeschlossen sind (Art 71 GG); jedoch ist Regelungsgegenstand des Art 73 I Nr 3 GG nach hM nur die interterritoriale Freizügigkeit (Zugang zwischen Staaten), so dass die Länder Regelungen zur interlokalen Freizügigkeit treffen dürfen.1236 Die Rechtsgrundlagen für das Aufenthaltsverbot müssen den Anforderungen des qualifi- 285 zierten Gesetzesvorbehalts (Art 11 II GG) genügen. Soweit Standardbefugnisse bestehen,1237 ist das der Fall.1238 In Bayern ist die Eingriffsbefugnis zweifelhaft. Die Regelung zur Platzverweisung (Rn 279) kann nicht herangezogen werden.1239 Damit bleibt nur der Rückgriff auf die Generalklausel.1240 Deren Heranziehung ist allerdings nicht unproblematisch.1241 Denn es stellt einen Wertungswiderspruch dar, wenn die Platzverweisung gesetzlich als Standardmaßnahme ausgeprägt ist (Rn 279), während das eingriffsintensivere Aufenthaltsverbot auf die Generalklausel gestützt wird.1242 Eine derartige Rechtslage konnte allenfalls für einen Übergangszeitraum hingenommen werden. Mittlerweile lässt sich nicht mehr behaupten, dass es beim Aufenthaltsverbot um die Abwehr atypischer Gefahren geht.1243 Zudem verlangt der qualifizierte Gesetzesvorbehalt (Art 11 II GG) eine spezifische gesetzliche Eingriffsermächtigung. Eine solche stellt die Generalklausel nicht dar. Bei der behördlichen Anwendung der landesgesetzlichen Bestimmungen zum Aufenthalts- 286 verbot ist der Kriminalvorbehalt des Art 11 II GG strikt zu beachten. Aufenthaltsverbote sind danach zulässig, um strafbaren Handlungen vorzubeugen.1244 Das ist zB bei einem Aufenthaltsverbot für Personen der „Punk-Szene“ nicht der Fall, wenn damit bloße Belästigungen und Geschmacklosigkeiten bekämpft werden.1245 Wird gegen Personen der „Tuning-Szene“ vorgegan-

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1234 BayVGH NVwZ 2000, 454, 455 f o JK BayLStVG Art 7/1; Kappeler BayVBl 2001, 336, 337 f. 1235 OVG Bremen NVwZ 1999, 314, 315 o JK BremPolG § 10/1; OVG NW NVwZ 2001, 459; Hetzer ThürVBl 1997, 241 ff; Hecker NVwZ 1999, 261, 262; ders NVwZ 2003, 1334, 1335; Robrecht SächsVBl 1999, 232, 234; Cremer NVwZ 2001, 1218, 1219, 1222; Schoch JURA 2005, 34, 37; Finger Die Polizei 2005, 82, 86; Trurnit VBlBW 2009, 205, 207; Bösch JURA 2009, 650, 654; Wuttke Polizeirecht und Zitiergebot, 2004, 85 ff; aA Würtenberger/Heckmann Rn 308: Art 2 I GG; ebenso VGH BW NVwZ 2003, 115, 116. 1236 OVG Bremen NVwZ 1999, 314, 316 o JK PolG Bremen § 10/1; VG Leipzig NVwZ 2001, 1317, 1318; Alberts NVwZ 1997, 45, 47; Cremer NVwZ 2001, 1218, 1223; Neuner, Zulässigkeit und Grenzen polizeilicher Verweisungsmaßnahmen, 2003, 103 ff; Schoch JURA 2005, 34, 37 f; zweifelnd Hecker NVwZ 1999, 261, 262 f; ders NVwZ 2003, 1334, 1335. 1237 § 27a II PolG BW; § 29 II ASOG Bln; § 16 II BbgPolG, § 23 Nr 1 lit e BbgOBG; § 14 II PolG Bremen; § 12b II HbgSOG; § 31 III HessSOG; § 52 III SOG MV; § 17 IV NdsSOG; § 34 II PolG NW; § 13 III POG RP; § 12 III PolG SL; § 21 II SächsPolG; § 36 II SOG LSA; § 201 II LVwG SH; § 18 III ThürPAG, § 17 II ThürOBG. 1238 VG Leipzig NVwZ 2001, 1317 (zu § 21 II SächsPolG). 1239 Möstl JURA 2011, 840, 843; Schenke Rn 134; Thiel Rn 417; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 446. 1240 BayVGH NVwZ 2000, 454, 455 o JK BayLStVG Art 7/1; Götz § 8 Rn 26; differenzierend Cremer NVwZ 2001, 1218, 1222: Generalklausel bei Drogendealer, Spezialbefugnis notwendig bei Drogenabhängigen; krit Hecker NVwZ 1999, 261, 263: Trennung des Personenkreises nur sehr bedingt möglich. 1241 Abl Bösch JURA 2009, 650, 656; Kugelmann 6/39; Schenke Rn 134; zweifelnd Möstl JURA 2011, 840, 844 f. 1242 Gusy Rn 282; Schenke Rn 134; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 447. 1243 Pieroth/Schlink/Kniesel § 16 Rn 23. 1244 Hetzer ThürVBl 1997, 241, 245 f; Robrecht SächsVBl 1999, 232, 235 f. 1245 VGH BW NVwZ 2003, 115, 116: kein Aufenthaltsverbot gegen bestimmte Personen beim bloßen Niederlassen dieser Personen auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen oder beim Niederlassen überwiegend zum Alkoholgenuss oder bei bloß „stillem“ Betteln.

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gen, müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade diese Personen Straftaten begehen werden.1246 Wegen Art 11 II GG bezieht sich ein Aufenthaltsverbot nicht auf eine bestimmte „Szene“ (als solche); immer geht es darum, dass einzelne Personen – nach Maßgabe nachprüfbarer Erkenntnisse – Straftaten begehen werden.1247 Die meisten der Befugnisnormen (Rn 285) bringen dies in Bezug auf die Eingriffsvoraussetzungen deutlich zum Ausdruck („Rechtfertigen Tatsachen die Annahme, dass eine Person in einem bestimmten öffentlichen Bereich eine Straftat begehen wird …“). Schon tatbestandlich ist das Aufenthaltsverbot nach der Ermächtigungsgrundlage demnach kein Instrument zur Unterbindung sonstiger unliebsamer Erscheinungen im Ortsbild (zB Betteln, Alkoholkonsum).1248 287 Nach den einschlägigen Gesetzen liegt ein Aufenthaltsverbot im behördlichen Ermessen. Auf der Rechtsfolgenseite der Befugnisnorm ist va das Übermaßverbot zu beachten.1249 Dieses hat insbesondere eine räumliche und eine zeitliche Komponente. Der räumliche Geltungsbereich eines Aufenthaltsverbots kann sich nach den gesetzlichen Bestimmungen (Rn 285) auf einen bestimmten Ort, ein bestimmtes Gebiet innerhalb einer Gemeinde oder auf das Gemeindegebiet insgesamt erstrecken. Die räumlichen Grenzen des „verbotenen Bereichs“ dürfen nicht weiter gezogen werden als zur Gefahrenabwehr (dh Verhütung von Straftaten) erforderlich. Räumlich darf ein Aufenthaltsverbot – soweit (zumeist gesetzlich vorgeschriebene) Ausnahmen im Einzelfall beachtet werden (zB Zugang zur Wohnung, zu Ärzten, Rechtsanwälten etc) – aber durchaus auf ein ganzes Gemeindegebiet ausgedehnt werden.1250 Die höchst zulässige zeitliche Geltungsdauer eines Aufenthaltsverbots ist im Landesrecht sehr unterschiedlich geregelt. Sie reicht von 14 Tagen (SH, allerdings mit Verlängerungsmöglichkeit bis insgesamt maximal drei Monate) bzw zehn Wochen (MV) über drei Monate (BW, Bbg, Hessen, NW, Sachsen, Thüringen) bis zu zwölf Monaten (Hbg, LSA);1251 in den anderen Ländern ist für das Aufenthaltsverbot eine Höchstdauer nicht normiert. Von der Rechtsprechung werden mehrmonatige Aufenthaltsverbote akzeptiert.1252 Zugelassen wird auch die erneute Anordnung eines Aufenthaltsverbots gegen eine bestimmte Person, wenn sich die zu bekämpfende Gefahr durch das Verhalten des Betroffenen erneut aktualisiert und deshalb die gesetzlichen Voraussetzungen für das Verbot wiederum vorliegen.1253 Schwierigkeiten kann die Bestimmung des richtigen Adressaten der Maßnahme bereiten. 288 Der Rückgriff auf die allgemeinen „Störer“-Vorschriften 1254 ist problematisch; denn vor dem Hintergrund des Art 11 II GG kommt das Aufenthaltsverbot nur gegen eine Person in Betracht, bei der Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person an dem betreffenden Ort eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird.1255 Folglich kann ein Aufenthaltsverbot nur gegen Störer, nicht aber gegen Nichtstörer verhängt werden.1256 (3) Als weitere Standardmaßnahme zur Einschränkung der räumlichen Bewegungsfreiheit 289 hat sich die Wohnungsverweisung – ggf mit Rückkehrverbot – zum Schutz vor häuslicher Ge-

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1246 VG Osnabrück NdsVBl 2003, 306: Zugehörigkeit zu einer bestimmten „Szene“ oder „szenetypisches“ Aussehen reichen nicht für ein Aufenthaltsverbot. 1247 Finger Die Polizei 2005, 82, 84; K. Stein NdsVBl 2010, 193, 197. 1248 Pieroth/Schlink/Kniesel § 16 Rn 24; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 457. 1249 Dazu Hecker NVwZ 2003, 1334, 1336 f; ausf Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 462 ff. 1250 VG Leipzig NVwZ 2001, 1317, 1319. 1251 Vgl dazu Pünder NordÖR 2005, 292, 294. 1252 ZB 6 Monate von OVG Bremen NVwZ 1999, 314, 317 o JK BremPolG § 10/1; OVG NW NVwZ 2001, 459; abl Hecker NVwZ 1999, 261, 263. – Zur gesetzlichen Begrenzung auf 3 Monate VG Leipzig NVwZ 2001, 1317, 1319. 1253 OVG NW NVwZ-RR 2009, 516. 1254 Schloer DÖV 1991, 955 ff. 1255 Vgl OVG NW NVwZ 2001, 459, 460: Verhaltensverantwortlichkeit durch Beitrag zur nachhaltigen Verfestigung der Drogenszene. 1256 Pieroth/Schlink/Kniesel § 16 Rn 26; Thiel Rn 422; Rachor in: Lisken/Denninger E Rn 460 (mit Kritik an den Regelungen in Bbg, NW u Sachsen).

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II. Materielles Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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walt herausgebildet; die Befugnisnormen1257 sehen zT ausdrücklich auch noch ein Betretungsverbot vor, das nach Sinn und Zweck von den beiden anderen Maßnahmen umfasst ist.1258 Einige Vorschriften gehen über den Bereich der Wohnung hinaus, beziehen das räumliche und soziale Umfeld der bedrohten Person (dazu Rn 291) ein und normieren zusätzlich ein Kontaktverbot1259 bzw ein Annäherungsverbot.1260 Dadurch soll dem staatlichen Schutz gefährdeter Personen außerhalb des engeren Bereichs der Wohnung Rechnung getragen werden. An der Verfassungsmäßigkeit der entsprechenden Standardbefugnis bestehen keine Bedenken.1261 Wo es an speziellen Eingriffsermächtigungen fehlte, konnte vorübergehend auf die Generalklausel zurückgegriffen werden.1262 Inzwischen können Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot nicht mehr als atypische Maßnahmen qualifiziert werden, bei denen eine Standardisierung vom Gesetzgeber nicht verlangt werden könnte.1263 Das Phänomen der häuslichen Gewalt gehört seit geraumer Zeit zum Dienstalltag der Polizei, die hierauf mit Wohnungsverweisung und ggf Rückkehrverbot reagiert. Dabei handelt es sich um Eingriffe in spezielle Freiheitsgrundrechte (Art 11 I, 14 I, uU 6 I u 12 I GG),1264 die zur Rechtfertigung landesgesetzlicher Spezialermächtigungen (Standardbefugnisse) bedürfen.1265 Soweit die Rechtsprechung für einige Zeit noch von einer „Phase der Erprobung“ sprach und den Rückgriff auf die Generalklausel erlaubte,1266 konnte darin nur eine rechtlich wenig überzeugende Konzession an die Praxis gesehen werden.1267 Mittlerweile ist diese „Phase“ vorbei. Die Generalklausel (in Bayern) taugt nicht mehr als Ermächtigungsgrundlage für die mit der Wohnungsverweisung verbundenen Eingriffe in die erwähnten Grundrechte.1268 Das Gewaltschutzgesetz des Bundes (GewSchG)1269 steht der Anwendung der landesge- 290 setzlichen Bestimmungen zur behördlichen Wohnungsverweisung nicht entgegen. Im Gegenteil, der zivilrechtliche Schutz vor Gewalttaten ist auf rasche behördliche Schutzmaßnahmen angewiesen, soll er nicht teilweise funktionsuntüchtig werden.1270 Zwar kann auch das Zivilgericht (auf Antrag) Betretungsverbote, Aufenthaltsverbote, Kontaktverbote etc verfügen (§ 1 I 3 GewSchG), jedoch kann eine zivilgerichtliche (Eil-)Entscheidung idR nicht so rasch ergehen (und durchgesetzt werden), dass der bedrohten Person zeitnah der notwendige staatliche Schutz zuteil wird. Es besteht demnach ein Ergänzungsverhältnis zwischen Bundes- und Landesrecht. Das BVerfG apostrophiert die landesgesetzlich ermöglichte Wohnungsverweisung als „kurzfris-

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1257 § 27a III-V PolG BW; § 29a ASOG Bln; § 16a BbgPolG; § 14a PolG Bremen; § 12b I HbgSOG; § 31 II HessSOG; § 52 II SOG MV; § 17 II NdsSOG; § 34a PolG NW; § 13 II POG RP; § 12 II PolG SL; § 21 III SächsPolG; § 36 III SOG LSA; § 201a LVwG SH; § 18 II ThürPAG. 1258 Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 471. 1259 § 29a I 2 ASOG Bln; § 17 II 2 NdsSOG; § 13 IV POG RP; § 201a I 2 LVwG SH. 1260 § 27a III 2 PolG BW; dazu Rachor in: Lisken/Denninger E Rn 488. 1261 OVG NW NJW 2002, 2195 o JK PolG NW § 34a/1; VG Gelsenkirchen NWVBl 2002, 361, 362; vgl auch BVerfG-K NJW 2002, 2225. – § 34a PolG NW nicht für verfassungsgemäß erachtend bei Wohnungsverweisung gegen den ausdrücklich erklärten Willen der gefährdeten Person Trierweiler Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot zum Schutz vor häuslicher Gewalt, 2006, 144 ff. 1262 VG Stuttgart VBlBW 2002, 43; Einzelheiten bei Ruder VBlBW 2002, 11 ff. 1263 Kugelmann 6/32; aA Pieroth/Schlink/Kniesel § 16 Rn 28. 1264 Näher dazu Krugmann NVwZ 2006, 152, 154 ff; Bösch JURA 2009, 650, 653 f; Trurnit VBlBW 2009, 205, 208; Guckelberger JA 2011, 1 f; ausf Eicke Die polizeiliche Wohnungsverweisung bei häuslicher Gewalt, 2008, 49 ff. 1265 Petersen-Thrö SächsVBl 2004, 173, 175 f; Lang VerwArch 96 (2005), 283, 288 ff; Bösch, JURA 2009, 650, 655 f; Rachor in: Lisken/Denninger E Rn 478; Neuner Verweisungsmaßnahmen (Fn 1236) 140 ff. 1266 VGH BW NJW 2005, 88, 89 o JK GG Art 11/2; zustimmend Gusy JZ 2005, 356 f; ebenso Seiler VBlBW 2004, 93, 94. 1267 Zutr Kritik von Proske VBlBW 2005, 141; ferner Wuttke JuS 2005, 779, 782. 1268 Bösch JURA 2009, 650, 656; Kugelmann 6/32; Schenke Rn 135a; aA Eicke; Wohnungsverweisung (Fn 1264), 136 ff; Gusy Rn 278. 1269 Schönfelder ErgBd Nr 49; zur Umsetzung in das Landespolizeirecht Herrmann NJW 2002, 3062 ff. 1270 VGH BW NJW 2005, 88, 89 o JK GG Art 11/2; VG Lüneburg NdsVBl 2003, 273, 274; Naucke-Lömker NJW 2002, 3525 ff; Bösch JURA 2009, 650; Trurnit VBlBW 2009, 205, 208 f; Schenke Rn 135; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 472.

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tige Krisenintervention“ bis zu einer evtl Inanspruchnahme des zivilgerichtlichen Rechtsschutzes nach dem GewSchG.1271 In diesem Fall enden behördliche Maßnahmen (Rn 292). Der Tatbestand der landesgesetzlichen Bestimmungen für eine Wohnungsverweisung 291 (Rn 289) nimmt Qualifizierungen sowohl beim Schutzgut als auch bei der Gefahr vor. Geschützt werden (Mit-)Bewohner einer Wohnung bzgl Leib, Leben und Freiheit; es geht demnach um Schutzgüter des Art 2 II GG. Gefordert wird überwiegend eine gegenwärtige bzw dringende oder unmittelbar bevorstehende (erhebliche) Gefahr für das Schutzgut.1272 In der Praxis bereiten weniger die rechtlichen Anforderungen an die Gefahrenprognose als vielmehr die Ermittlung der Tatsachen und die eng damit verknüpfte Beweisfrage Schwierigkeiten.1273 Maßgebend für die Einschätzung der Lage ist die ex ante-Sicht; der handelnde Beamte muss nach den erkennbaren Verhältnissen und dem möglichen Erkenntnisstand zur Zeit des Erlasses der Maßnahme vertretbar von einer Sachlage ausgehen dürfen, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu der Rechtsgutverletzung führen wird.1274 Liegen Anhaltspunkte (oder gar Beweise) für frühere körperliche Übergriffe und anhaltende Bedrohungen vor, ist das polizeiliche Einschreiten angesichts der zu schützenden hochrangigen Rechtsgüter tatbestandlich gedeckt.1275 Im Übrigen gelten die Regeln der Anscheinsgefahr1276 (dazu Rn 142). Selbstmorddrohungen eines Lebenspartners rechtfertigen die Wohnungsverweisung des anderen Partners nicht, falls keine strafbare Handlung (vgl Art 11 II GG) dieses Partners vorliegt.1277 Wendet sich die gefährdete Person gegen die Wohnungsverweisung ihres Peinigers, kann auf Grund des Selbstbestimmungsrechts des Opfers im Rechtssinne eine behördlich abzuwehrende Gefahr zu verneinen sein.1278 Gegen den erklärten Willen des (potentiellen) Opfers kann die Wohnungsverweisung nicht angeordnet werden. Voraussetzung ist die Freiwilligkeit der Willensäußerung.1279 Unbeachtlich ist der entgegenstehende Wille (wegen der staatlichen Schutzpflicht nach Art 2 II GG) beim drohenden Tod der gefährdeten Person oder bei der Gefährdung minderjähriger Kinder, die in der Wohnung leben.1280 Auf der Rechtsfolgenseite normieren die Befugnisnormen (Rn 289) behördliches Ermes292 sen. Ein Antrag ist für das Einschreiten nicht notwendig. Sowohl das Entschließungsermessen als auch das Auswahlermessen müssen pflichtgemäß ausgeübt werden. Die entscheidende Ermessensgrenze markiert das Übermaßverbot.1281 Zu seiner Konturierung normieren die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen zeitliche, räumliche und personenbezogene Vorgaben. So ist der räumliche Bereich, auf den sich die Wohnungsverweisung und das Rückkehrverbot beziehen, nach dem Erfordernis eines wirkungsvollen Schutzes der gefährdeten Person zu bestimmen; im Einzelfall können die Maßnahmen auf bestimmte Wohn- und Nebenräume beschränkt werden. Dem Betroffenen ist Gelegenheit zu geben, dringend benötigte Gegenstände des persönlichen Bedarfs mitzunehmen. Die Befristung von Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot ist für die Einhaltung des Übermaßverbots von großer Bedeutung. 1282 Dem tragen die Gesetzesbestimmungen dadurch

_____

1271 BVerfG-K NJW 2002, 2225. 1272 Näher dazu Kay NVwZ 2003, 521, 522 ff; Petersen-Thrö SächsVBl 2004, 173, 176 ff; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 480 ff; Eicke Wohnungsverweisung (Fn 1264) 190 ff. 1273 Collin DVBl 2003, 1499, 1502 f; Petersen-Thrö SächsVBl 2004, 173, 176 ff; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 482 ff. 1274 VG Göttingen NJW 2012, 1675; zur Geltung des § 24 VwVfG VG Osnabrück NJW 2011, 1244, 1245. 1275 OVG NW NJW 2002, 2195, 2196 o JK PolG NW § 34a/1. 1276 Guckelberger JA 2011, 1, 5. 1277 VGH BW NJW 2005, 88, 89 o JK GG Art 11/2. 1278 Pieroth/Schlink/Kniesel § 16 Rn 29: Recht zur Selbstgefährdung. 1279 Nicht anerkannt zB von VG Aachen NJW 2004, 1888, 1889; ebenso Thiel Rn 430. 1280 Guckelberger JA 2011, 1, 6; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 484; ausf Eicke Wohnungsverweisung (Fn 1264) 206 ff. 1281 Guckelberger JA 2011, 1, 7. 1282 Ausf dazu Eicke Wohnungsverweisung (Fn 1264) 233 ff.

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Rechnung, dass sie Höchstfristen von 10 Tagen oder 14 Tagen festlegen. Im konkreten Fall darf der zeitliche Rahmen ausgeschöpft werden, wenn dies zum Schutz des Opfers erforderlich ist und nur dadurch die Erwirkung zivilgerichtlichen Schutzes nach dem GewSchG gewährleistet werden kann.1283 Nicht erforderlich ist die Wohnungsverweisung für die Höchstdauer von 14 Tagen, wenn der Umzug des Opfers in eine andere Wohnung unmittelbar bevorsteht.1284 In jedem Fall setzt eine zivilgerichtliche Entscheidung nach dem GewSchG (Rn 290) eine zeitliche Zäsur. Lediglich die Regelungstechnik der landesgesetzlichen Bestimmungen zu diesem Einschnitt weist unterschiedliche Ausgestaltungen auf. Im Kern ist polizei- und ordnungsrechtlich bestimmt, dass die behördlich verfügte Maßnahme mit der (zT: ablehnenden, zT: wirksamen) gerichtlichen Entscheidung endet.1285 Das Zusammenwirken von GewSchG und Gefahrenabwehrrecht (Rn 290) setzt eine Infor- 293 mation der Behörden über evtl zivilgerichtliche Verfahren voraus. Die Mehrzahl der Landesgesetze bestimmt, dass das Zivilgericht die Gefahrenabwehrbehörde über die Beantragung von Schutzanordnungen nach dem GewSchG und den Tag der zivilgerichtlichen Entscheidung bzw das Ergebnis der Entscheidung unverzüglich unterrichtet.1286 Diese landesgesetzlichen Bestimmungen sind nicht aus Kompetenzgründen (Art 72, 74 I Nr 1 GG) nichtig;1287 es handelt sich um „besondere Rechtsvorschriften“ iSd § 13 I Nr 1 EGGVG.1288 Hinsichtlich des Adressaten der Maßnahme gelten die allgemeinen Regeln zur Verant- 294 wortlichkeit (Rn 176 ff). Treffend wird betont, der gewalttätige Störer habe vor dem Opfer zu weichen, nicht umgekehrt.1289 Bei wechselseitiger Gewaltanwendung wird derjenige Partner der Wohnung verwiesen, der den größeren Anteil an der gewaltsamen Auseinandersetzung trägt.1290 Wird die Maßnahme ergriffen und durchgesetzt, müssen im konkreten Fall die Anforderungen des Übermaßverbots (Rn 155 ff) beachtet werden.1291 ff) Ingewahrsamnahme. Der polizeiliche Gewahrsam stellt ein mit Hoheitsgewalt hergestell- 295 tes Rechtsverhältnis dar, kraft dessen einer Person die Freiheit dergestalt entzogen wird, dass sie von der Polizei in einer dem polizeilichen Zweck entsprechenden Weise verwahrt und daran gehindert wird, sich fortzubewegen.1292 Es handelt sich um eine kurzfristige präventivpolizeiliche Freiheitsentziehung (vgl Art 104 II 3 GG), für die eine Standardbefugnis normiert ist.1293 Die Befugnisnormen sind verfassungsmäßig 1294 und auch mit Art 5 EMRK vereinbar.1295

_____ 1283 VG Göttingen NJW 2012, 1675, 1676. 1284 VG Osnabrück NJW 2011, 1244, 1245. 1285 § 27a IV 3 PolG BW; § 29a III 1 ASOG Bln; § 16a V 2 BbgPolG; § 14a IV 2 PolG Bremen; § 12b I 3 HbgSOG; § 31 II 1–4 HessSOG; § 52 II 5 SOG MV; § 17 III 1 NdsSOG; § 34a V 2 PolG NW; § 12 II 6 PolG SL; § 36 III SOG LSA; § 201a II 2 LVwG SH. 1286 § 27a V PolG BW; § 29a III 2 ASOG Bln; § 16a VI BbgPolG; § 14a V PolG Bremen; § 12b I 4 HbgSOG; § 31 II 5 HessSOG; § 52 II 6 SOG MV; § 17 III 2 NdsSOG; § 34a VI 1 PolG NW. 1287 So aber Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 476. 1288 Trurnit VBlBW 2009, 205, 209. 1289 Bösch JURA 2009, 650; Guckelberger JA 2011, 1, 6. 1290 VG Lüneburg NdsVBl 2003, 273, 274. 1291 Näher dazu Petersen-Thrö SächsVBl 2004, 173, 179 ff; Storr ThürVBl 2005, 97, 102 f. 1292 OVG NW NJW 1980, 138; OLG München NVwZ-RR 2008, 247, 248 o JK BPolG § 39/1; LG Hamburg NVwZ-RR 1997, 537, 538; Stoermer Der polizeirechtliche Gewahrsam, 1998, 25. 1293 § 28 I PolG BW; Art 17 BayPAG; § 30 ASOG Bln; § 17 BbgPolG, § 23 Nr 1 lit f BbgOBG; § 15 PolG Bremen; § 13 HbgSOG; § 32 HessSOG; § 55 SOG MV; § 18 NdsSOG; § 35 PolG NW, § 24 Nr 13 OBG NW; § 14 POG RP; § 13 PolG SL; § 22 SächsPolG; § 37 SOG LSA; § 204 LVwG SH; § 19 ThürPAG; § 39 BPolG. 1294 BVerfG-K NVwZ 2006, 579, 582 f o JK GG Art 2 II 2/2 (zum Rechtsschutz gegen Ingewahrsamnahme); BayVerfGH NVwZ 1991, 664 (bzgl Bundesrecht: StPO, VersG); SächsVerfGH LKV 1996, 273, 275 foJK SächsVerf Art 16 I 2/1 (zum Bestimmtheitsgebot); VG Schleswig NJW 2000, 970 (bzgl Präventivgewahrsam); OLG Jena LKV 2005, 135. 1295 SächsVerfGH LKV 1996, 273, 276 foJK SächsVerf Art 16 I 2/1; VGH BW NVwZ-RR 2005, 540; VG Hannover DVBl 2012, 1323 (m Anm Söllner). – Vgl auch EGMR 2006, 797 Tz 33 ff; Heinemann/Hilker DVBl 2012, 1467 ff.

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Die im Anschluss an §§ 13 ff MEPolG normierten landesrechtlichen Vorschriften (sowie § 39 BPolG) stimmen in ihrer Grundstruktur und ihrem wesentlichen Inhalt überein, weisen aber im Detail Unterschiede auf. Der Schutzgewahrsam dient der Abwehr einer Gefahr für Leib und Leben der in Gewahrsam genommenen Person (zB zur Verhinderung einer Selbsttötung, Rn 122).1296 Liegt eine Person völlig betrunken in hilfloser Lage am Boden, ist der Schutzgewahrsam ebenfalls rechtmäßig.1297 Das Antreffen einer Person in leicht betrunkenem Zustand rechtfertigt den polizeilichen Schutzgewahrsam jedoch nicht.1298 Der Präventivgewahrsam zielt auf die Abwehr einer unmittelbar bevorstehenden erheblichen Störung der öffentlichen Sicherheit (idR durch Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit).1299 Unterfälle des Präventivgewahrsams stellen der (im Landesrecht zT ausdrücklich geregelte) Polizeigewahrsam zur Feststellung der Identität einer Person, zur Durchsetzung einer Platzverweisung bzw Wohnungsverweisung und zum Schutz privater Rechte dar.1300 Der Präventivgewahrsam darf nicht zu einem Sanktionsinstrument mutieren, das Aufga297 ben des Strafrechts wahrnimmt.1301 Die Grenzziehung im konkreten Fall ist schwierig. So wird zB die präventivpolizeiliche Freiheitsentziehung bei Drogenhändlern mit der Erwägung gebilligt, da Platzverweisungen hartnäckig ignoriert worden seien, dürfe zur Bekämpfung der offenen Drogenszene der Polizeigewahrsam vorgenommen werden.1302 Dem ist mit der Begründung widersprochen worden, die polizeiliche Ingewahrsamnahme dürfe nicht dazu eingesetzt werden, gewerbsmäßigen Straftätern (zB mit Kettenbeschlüssen von jeweils 48 Stunden Dauer) ständig die Freiheit zu entziehen.1303 Ob eine Ordnungswidrigkeit nach § 29 VersG eine solche „von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit“ ist, wird ebenfalls kontrovers beantwortet.1304 In der nachhaltigen Störung der Nachtruhe ist ein Verstoß gegen § 117 I OWiG gesehen worden, der zum Polizeigewahrsam berechtige.1305 Auch das unbefugte Herausreißen gentechnisch veränderter Pflanzen eines genehmigten Feldversuchs zwecks Störung bzw Verhinderung eines wissenschaftlichen Projekts, wodurch die Straftatbestände der Sachbeschädigung (§ 303 StGB) und des Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB) verwirklicht worden waren, rechtfertigte die Ingewahrsamnahme des Täters.1306 Dasselbe gilt nach innerstaatlichem Recht in Bezug auf Gewalttäter beim G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm.1307 Beim Aufeinandertreffen rivalisierender Hooligans anlässlich eines Fußballspiels konnte die Polizei davon ausgehen, dass die gewaltbereiten Anhänger der Heimmannschaft die Fans der Gastmannschaft angreifen werden und zur Abwehr der Gefahr mit der Ingewahrsamnahme der potentiellen Gewalttäter reagieren.1308 Dagegen durfte der polizeiliche Gewahrsam seitens der Bundespolizei gemäß § 39 BPolG nicht eingesetzt werden, um die Freiheitsentziehung zur abschließenden Gefahrenprognose zu instrumentalisieren.1309 Ohne eigene behördliche bzw richterliche (Rn 301) Erkenntnisse war die polizeiliche Ingewahrsam-

_____ 1296 Dazu ausf Stoermer Gewahrsam (Fn 1292), 49 ff. 1297 VGH BW NVwZ-RR 2012, 346; OVG Bremen NVwZ-RR 2012, 272, 273. 1298 VGH BW NVwZ-RR 2005, 247, 248. 1299 OLG München NVwZ-RR 2008, 247, 248 o JK BPolG § 39/1. – Zur Vereinbarkeit mit Art 5 I EMRK VG Hannover DVBl 2012, 1323 (m Anm Söllner). 1300 Einzelheiten bei Stoermer Gewahrsam (Fn 1292) 137 ff. 1301 Trute DV 32 (1999) 73, 88. 1302 OLG Hamburg NJW 1998, 2231; AmtsG Stuttgart NVwZ-RR 1998, 105. 1303 LG Berlin NJW 2001, 162. 1304 Bejahend BayObLG NVwZ 1999, 106; verneinend LG Hannover NVwZ-RR 1999, 578. 1305 VG Schleswig NJW 2000, 970, 971. 1306 OLG Frankfurt/M NVwZ-RR 2008, 244, 245. 1307 OLG Rostock NVwZ-RR 2008, 173, 176. – Anders zT nach Art 5 I EMRK EGMR NVwZ 2012, 1089 Tz 78 ff (m Bespr Scheidler NVwZ 2012, 1083): Präventivgewahrsam nur zulässig zur Verhinderung konkreter Straftaten. 1308 VGH BW DVBl 2011, 626, 627 (m Anm Söllner) o JK PolG BW § 28/1. 1309 OLG München NVwZ-RR 2008, 247, 248 f o JK BPolG § 39/1.

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nahme einer Person wegen einer angeblich bevorstehenden Straftat rechtswidrig; nicht ausreichend war das Vorbringen, auf Grund gesicherter Erkenntnisse des BfV sei von einer Anschlagsgefahr einer islamistischen Gruppe unter Beteiligung des Betroffenen auszugehen.1310 Die wiederholte Teilnahme an Sitzblockaden und der damit verbundene wiederholte Gesetzesverstoß haben im Vorfeld eines „Castor-Transports“ zur gerichtlich bestätigten Ingewahrsamnahme von Demonstrationsteilnehmern geführt.1311 Dagegen wurde die bloße „Neigung“ einer Person zu Verstößen gegen das Versammlungsrecht nicht als ausreichend für den Polizeigewahrsam angesehen; konkrete Verhaltensweisen der Person müssten hinzukommen, um eine rechtlich haltbare Gefahrenprognose abgeben zu können.1312 Eine an sich zulässige polizeiliche Ingewahrsamnahme zur Identitätsfeststellung ist deshalb als rechtswidrig erachtet worden, weil die Freiheitsentziehung länger andauerte, als es zur Feststellung der Identität der Person erforderlich war.1313 Rechtswidrig ist auch die mehrstündige Ingewahrsamnahme einer Person durch die Polizei zur Identitätsfeststellung, wenn die Identität auf Grund des vorgelegten Personalausweises sicher festgestellt werden kann.1314 Die Ingewahrsamnahme zur Durchsetzung einer Platzverweisung 1315 setzt voraus, dass 298 die Platzverweisung rechtmäßig gewesen ist.1316 Ausdrücklich wird diese Anforderung durch Art 5 I 2 lit b EMRK bestätigt; die Verpflichtung, um die es geht (Befolgung der Platzverweisung), muss genau und konkret sein, ferner muss der Betroffene die Pflichterfüllung versäumt haben und die Ingewahrsamnahme muss – ohne Strafcharakter anzunehmen – auf die Erfüllung jener Verpflichtung gerichtet sein.1317 Zu beachten ist sodann das Übermaßverbot. Angesichts des massiven Grundrechtseingriffs muss die Ingewahrsamnahme „unerlässlich“ sein.1318 Betrifft die Platzverweisung eine größere Menschenmenge (Versammlung, Ansammlung), muss dem Einzelnen zunächst Gelegenheit gegeben werden, sich aus der Menschenmenge zu entfernen und so eine Freiheitsentziehung zu vermeiden.1319 Unzulässig ist die polizeiliche Ingewahrsamnahme eines Demonstrationsteilnehmers vor Auflösung der Versammlung; denn wegen des Schutzes durch Art 8 I GG kommt eine Freiheitsentziehung nach Polizeirecht vor der Versammlungsauflösung nicht in Betracht.1320 Im Rechtssinne keine Ingewahrsamnahme iSd Standardbefugnis stellt der „Verbringungs- 299 gewahrsam“ dar. Darunter wird eine polizeiliche Maßnahme verstanden, durch die Personen von einem bestimmten Ort entfernt und an einen abgelegenen Ort verbracht werden, um ihre baldige Rückkehr (zB zu einer Demonstration) zu verhindern.1321 Von der Standardbefugnis zur polizeilichen Ingewahrsamnahme sind derartige Aktionen nicht gedeckt und damit unzulässig.1322 Ergänzend kann nicht auf die Generalklausel zurückgegriffen werden; Art 104 II GG ver-

_____ 1310 OLG Hamm NVwZ-RR 2008, 321, 322. 1311 VGH BW NVwZ-RR 2005, 540, 541. – Allg zur Ingewahrsamnahme aus Anlass von Castor-Transporten Gedaschko NdsVBl 2005, 229 ff. 1312 OLG Jena LKV 2005, 135, 136; ähnlich OVG NW NWVBl 2012, 278, 279. – Ebenso aus dem Blickwinkel der EMRK EGMR NVwZ 2012, 1089 Tz 75 ff. 1313 OLG Schleswig NVwZ 2003, 1412; ähnlich BayVGH BayVBl 2012, 657, 659. 1314 BVerfG-K NVwZ 2011, 743 Tz 23 o JK GG Art 2 II 2/3. 1315 Zur Verfassungsmäßigkeit BayVerfGH NVwZ 1991, 664, 668. 1316 OLG Köln NVwZ 2000, 350. 1317 EGMR NVwZ 2006, 797 Tz 37. 1318 Dazu BayObLG NVwZ 2000, 467, 468. 1319 OVG Bremen NVwZ 2001, 221, 223. – VG Hannover NVwZ-RR 1999, 578 lehnt Ingewahrsamnahme ab; „Vertreibung“ der von einem Platz zu entfernenden Personen genüge. 1320 OLG Celle NVwZ-RR 2005, 543 o JK GG Art 8/19. 1321 Mußmann VBlBW 1986, 52; Haase/Mordas ThürVBl 2002, 101; Butzer VerwArch 93 (2002) 506, 509; ausf Stoermer Gewahrsam (Fn 1292) 122 ff; Finger Die offenen Szenen der Städte, 2006, 148 ff. 1322 OLG Celle NVwZ-RR 2005, 252; LG Hamburg NVwZ-RR 1997, 537; AmtsG Ahaus NWVBl 2001, 321, 322; Maaß NVwZ 1985, 151; Mußmann VBlBW 1986, 52; Kappeler DÖV 2000, 227; Schucht DÖV 2011, 553, 557 ff; Gusy Rn 297;

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langt als gesetzliche Grundlage für die Freiheitsentziehung eine spezielle, dem Bestimmtheitsgebot genügende Befugnisnorm.1323 Beim Präventivgewahrsam kann die Bestimmung des Pflichtigen schwierig sein; dies gilt 300 vor allem für die Ingewahrsamnahme nach Massenveranstaltungen. Der Rückgriff auf die allgemeinen Regeln (Störer, Nichtstörer) 1324 kann bei der Ingewahrsamnahme zur Verhinderung von Straftaten in Konflikt geraten mit Art 5 I 2 lit c EMRK; danach muss der „Betreffende“ an der Begehung einer strafbaren Handlung gehindert werden. 1325 Die Vorschrift erlaubt ausschließlich Freiheitsentziehungen zwecks Durchführung eines Strafverfahrens bzw im Rahmen eines Strafverfahrens.1326 Beim Präventivgewahrsam muss also die Rechtsverletzung durch die Person drohen, die in Gewahrsam genommen werden soll.1327 Pflichtiger ist danach der potentielle Straftäter. Da im Gefahrenabwehrrecht bei der Gefahrenprognose die Sicht ex ante maßgeblich ist, kann sich die Ingewahrsamnahme allerdings auch gegen Anscheinsstörer richten.1328 Da die Ingewahrsamnahme von Personen eine Freiheitsentziehung iSd Art 104 II GG ist 301 (Rn 295), muss über die Zulässigkeit und Fortdauer des Gewahrsams der Richter entscheiden. Der Richtervorbehalt 1329 ist im Polizeirecht beachtet.1330 Die richterliche Entscheidung muss grundsätzlich vor der Freiheitsentziehung (Ingewahrsamnahme) herbeigeführt werden.1331 Der Richtervorbehalt dient der Sicherung des Grundrechts gemäß Art 2 II 2 GG. Auf Grund dieser Schutzfunktion sind alle staatlichen Organe verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt praktisch wirksam wird; folglich ist die Erreichbarkeit des zuständigen Richters zu gewährleisten, uz zur Tageszeit stets, während zur Nachtzeit ein richterlicher Bereitschaftsdienst gefordert ist, wenn hierfür ein über den Ausnahmefall hinausgehender Bedarf besteht.1332 Ist die vorherige richterliche Entscheidung unterblieben, muss sie unverzüglich nachgeholt werden (Art 104 II 2 GG). „Unverzüglich“ bedeutet: ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt;1333 als nicht vermeidbar gelten zB Verzögerungen, die durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung oder ein renitentes Verhalten des Festgenommenen bedingt sind.1334 Wird eine richterliche Entscheidung entgegen Art 104 II 2 GG nicht unverzüglich nachgeholt, ist die Freiheitsentziehung rechtswidrig; das bleibt sie auch, wenn das Gericht am Tag nach der Ingewahrsamnahme die Fortdauer des Gewahrsams zu Recht anordnet, da eine solche Anordnung keine Rückwir-

_____ Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 502; aA Leggereit NVwZ 1999, 263; wohl auch BayObLG BayVBl 1990, 347, 350; unklar Butzer VerwArch 93 (2002) 506, 536 f; Thiel Rn 464 spricht von „Vollstreckungsmaßnahme“. 1323 LG Hamburg NVwZ-RR 1997, 537, 539; Schucht DÖV 2011, 553, 559 f; aA Stoermer Gewahrsam (Fn 1292) 130 ff, der ua auf die „Notwendigkeit von Verbringungen“ verweist. 1324 BayObLG BayVBl 1990, 347, 350. 1325 Nach VGH BW NVwZ-RR 2005, 540, 541 umfasst der Begriff „strafbare Handlung“ iSd Art 5 I EMRK auf Grund der authentischen englischen und französischen Vertragssprache („offence“ bzw „infraction“; nicht „crime“ bzw „délit“) auch Ordnungswidrigkeiten iSd deutschen Rechts. 1326 EGMR NVwZ 2006, 797 Tz 35; NVwZ 2012, 1089 Tz 79. 1327 OVG Bremen NVwZ 2001, 221; dazu Haase NVwZ 2001, 164. 1328 VGH BW DVBl 2011, 626 (m Anm Söllner) o JK PolG BW § 28/1. 1329 Allg dazu v Kühlewein Der Richtervorbehalt im Polizei- und Strafprozessrecht, 2001, 109 ff; Schmidt-Aßmann FS Schmidt-Jortzig, 2011, 433 ff; Voßkuhle FS Wahl, 2011, 443 ff; krit zur Effektivität von Richtervorbehalten Kutscha NVwZ 2003, 1296, 1298 f. 1330 § 28 III, IV PolG BW; Art 18 BayPAG; § 31 ASOG Bln; § 18 BbgPolG; § 16 PolG Bremen; § 13a HbgSOG; § 33 HessSOG; § 56 SOG MV; § 19 NdsSOG; § 36 PolG NW; § 15 POG RP; § 14 PolG SL; § 22 VII, VIII SächsPolG; § 38 SOG LSA; § 204 VI iVm § 181 IV LVwG SH; § 20 ThürPAG; § 40 BPolG. 1331 Gedaschko NdsVBl 2005, 229. 1332 BVerfG-K NVwZ 2006, 579 Tz 36 o JK GG Art 2 II 2/2; dazu Dörschuck/Glaser VBlBW 2007, 90, 91. 1333 VGH BW DVBl 2011, 626, 627 (m Anm Söllner) o JK PolG BW § 28/1; VGH BW NVwZ-RR 2012, 346; OVG Bremen NVwZ-RR 2012, 272, 273. 1334 BVerfG-K NVwZ 2006, 579 Tz 37 o JK GG Art 2 II 2/2; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 538.

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kung hat.1335 Tagsüber kann die Einschaltung des Richters binnen zwei bis drei Stunden grundsätzlich noch als „unverzüglich“ bezeichnet werden.1336 Eine Ausnahme vom Richtervorbehalt kann nicht generell anerkannt werden, wenn 302 anzunehmen ist, dass die richterliche Entscheidung erst nach Wegfall des Grundes der polizeilichen Maßnahme ergehen würde. Die dazu bestehenden Gesetzesvorschriften1337 sind verfassungskonform zu deuten.1338 Danach soll eine sachlich nicht mehr gerechtfertigte Freiheitsentziehung nicht durch eine Vorführung vor den Haftrichter verlängert werden. Die nachträgliche Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung bleibt jedoch vom Schutzzweck des Art 104 II GG grundsätzlich gefordert.1339 Daher ist die pauschale These verfassungsrechtlich zweifelhaft, eine richterliche Entscheidung sei nicht einzuholen oder abzuwarten, wenn dadurch die Dauer des Gewahrsams verlängert würde.1340 Die hohe Bedeutung des Richtervorbehalts „als Sicherung gegen unberechtigte Freiheitsentziehungen“ 1341 wird mit jener pauschalen Annahme kaum respektiert. Jedenfalls muss Rechtsschutz auch nach Erledigung der Ingewahrsamnahme gewährt werden.1342 Das Rechtsschutzinteresse für einen Fortsetzungsfeststellungsantrag ist wegen des hohen Rangs des beeinträchtigten Freiheitsrechts (Art 2 II 2 GG) bzw wegen eines Rehabilitierungsinteresses idR zu bejahen.1343 Die richterliche Entscheidung zur Zulässigkeit bzw Fortdauer einer Ingewahrsamnahme ist 303 keine bloße Kontrolle der Verwaltung (Polizei), stellt also nicht nur eine Art „Genehmigung“ der vorangegangenen behördlichen Entscheidung dar, sondern ist als eigenständige richterliche Entscheidung konstitutiv für die Freiheitsentziehung.1344 Deshalb bedarf es richterlicher Sachaufklärung, um in tatsächlicher Hinsicht eine zureichende Grundlage für die Einschränkung der Freiheitsgarantie des Art 2 II 2 GG zu haben; das gilt auch beim nachträglichen Rechtsschutz im Falle der Erledigung der Freiheitsentziehung.1345 Wurde in tatsächlicher Hinsicht vom Richter nicht geklärt, ob tragfähige Anhaltspunkte für die Bejahung der gesetzlichen Voraussetzungen einer Ingewahrsamnahme vorliegen, so dass die Entscheidung auf bloße Vermutungen gestützt ist, ist sie schon aus diesem Grund rechtswidrig.1346 Zu unterscheiden sind die Anordnung der Ingewahrsamnahme und ihr Vollzug.1347 Auch 304 wenn die Anordnung rechtmäßig ist, können einzelne Maßnahmen des Vollzugs rechtswidrig sein. Das Gebot wirksamen Rechtsschutzes (Art 19 IV 1 GG) verlangt, dass Einwänden eines Rechtsschutzbegehrens zur Art und Weise des Vollzugs des Gewahrsams im gerichtlichen Verfahren nachgegangen wird.1348

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1335 OLG Frankfurt/M NVwZ-RR 2008, 244, 246 f. 1336 OLG Rostock NVwZ-RR 2008, 173, 176 f. 1337 § 28 III 4 PolG BW; Art 18 I 2 BayPAG; § 31 I 2 ASOG Bln; § 18 I 2 BbgPolG; § 16 II PolG Bremen; § 13a I 2 HbgSOG; § 33 I 2 HessSOG; § 56 V 2 SOG MV; § 19 I 2 NdsSOG; § 36 I 2 PolG NW; § 15 I 2 POG RP; § 14 I 2 PolG SL; § 22 VII 2 SächsPolG; § 38 I 2 SOG LSA; § 20 I 2 ThürPAG; ähnlich § 40 I BPolG. 1338 VGH BW NVwZ-RR 2012, 346, 347: enge Auslegung, um den Richtervorbehalt nicht auszuhöhlen; zweifelhaft die extensive Handhabung der Ausnahmebestimmung durch VGH BW DVBl 2011, 626, 627 f (krit o JK PolG BW § 28/1). 1339 BVerfGE 105, 239, 250 f. 1340 VGH BW NVwZ-RR 2005, 540, 541; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 540. 1341 So BVerfGE 105, 239, 251. 1342 BVerfG-K NJW 1999, 3773 o JK GG Art 19 IV/20; BayObLG NJW 1998, 2455; OLG Hamburg NJW 1998, 2231; OVG NW NWVBl 2012, 278, 279; OLG Schleswig NVwZ 2003, 1412, 1413. 1343 BayVGH BayVBl 2012, 657, 658; OLG Frankfurt/M NVwZ-RR 2008, 244 f; OLG München NVwZ-RR 2006, 544 u NVwZ-RR 2008, 247, 248 o JK BPolG § 39/1; OVG NW NWVBl 2012, 278, 279. 1344 VGH BW DVBl 2011, 626, 627 o JK PolG BW § 28/1; VGH BW NVwZ-RR 2012, 346; OLG München NVwZ-RR 2006, 153, 154; Gedaschko NdsVBl 2005, 229 u 230. 1345 BVerfG-K NVwZ 2006, 579 Tz 40 o JK GG Art 2 II 2/2; näher dazu Dörschuck/Glaser VBlBW 2007, 90, 92 ff. 1346 OLG Hamm NVwZ-RR 2008, 321, 322; BayVGH BayVBl 2012, 657, 658. 1347 BVerfG-K NVwZ 2011, 743, 745 o JK GG Art 2 II 2/3, BayVGH BayVBl 2012, 657, 658. 1348 BVerfG-K NVwZ 2006, 579 Tz 65 o JK GG Art 2 II 2/2; näher dazu Dörschuck/Glaser VBlBW 2007, 90, 95 ff.

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Der gerichtliche Rechtsschutz bei der präventivpolizeilichen Ingewahrsamnahme ist in den Ländern unterschiedlich geregelt. Übereinstimmend ist allerdings vorgeschrieben, dass im Falle des Festhaltens einer Person zwecks Ingewahrsamnahme unverzüglich eine richterliche Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung herbeizuführen ist.1349 In der Sache handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit iSd § 40 I 1 VwGO, jedoch haben die Landesgesetzgeber – verfassungsrechtlich unbedenklich1350 – nach § 40 I 2 VwGO eine abdrängende Sonderzuweisung vorgenommen; sachlich zuständig für die richterliche Entscheidung über die Ingewahrsamnahme ist das Amtsgericht.1351 Sofern keine eindeutige gesetzliche Regelung besteht, kann die örtliche Zuständigkeit zweifelhaft sein. Überwiegend ist bestimmt, dass dasjenige Amtsgericht zuständig ist, in dessen Bezirk die Person festgehalten wird;1352 in anderen Ländern ist maßgeblich, wo die Person in Gewahrsam genommen worden ist.1353 Zwischen beiden Orten kann durchaus eine Diskrepanz bestehen; der Ort der ursprünglichen Ingewahrsamnahme kann ein anderer sein als der Ort, an dem die betroffene Person festgehalten wird, wenn die gerichtliche Entscheidung herbeigeführt wird. Begründet ist die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts, in dessen Bezirk die Freiheitsentziehung vollzogen wird (Ort des aktuellen Gewahrsams).1354 Beim nachträglichen Rechtsschutz (dh nach Erledigung der Ingewahrsamnahme) ist die 306 Rechtslage noch disparater. In manchen Ländern ist kraft ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift das Amtsgericht für die Feststellung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung zuständig, in dessen Bezirk die Person von der Polizei in Gewahrsam genommen wurde.1355 Andererseits ist im Landesrecht für die nachträgliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme einer Person ausdrücklich die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte bestimmt.1356 Dem soll der Fall gleich stehen, dass die Polizei bei einer erledigten präventivpolizeilichen Ingewahrsamnahme einen Antrag auf Bestätigung der Maßnahme beim Amtsgericht nicht gestellt hat.1357 Überwiegend ist im Landesrecht (und in § 40 BPolG) zum nachträglichen Rechtsschutz keine Regelung getroffen. Ist von dem Vorbehalt des § 40 I 2 VwGO nicht Gebrauch gemacht, bleibt es bei der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit (§ 40 I 1 VwGO).1358 Vermehrt wird jedoch – allerdings auf brüchiger rechtlicher Grundlage – die einheitliche Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit postuliert; dem liegt der Gedanke einer Rechtsschutzkonzentration bei den Amtsgerichten zu Grunde.1359 Zur nachträglichen gerichtlichen Überprüfung des Vollzugs des Gewahrsams hat das BVerfG seine Neigung zur amtsgerichtlichen Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs zu erkennen gegeben; es sei sinnvoll, dass über einen einheit-

_____ 1349 § 28 III 3 PolG BW; Art 18 I 1 BayPAG; § 31 I 1 ASOG Bln; § 18 I 1 BbgPolG; § 16 I PolG Bremen; § 13a I 1 HbgSOG; § 33 I 1 HessSOG; § 56 V 1 SOG MV; § 19 I 1 NdsSOG; § 36 I 1 PolG NW; § 15 I 1 POG RP; § 14 I 1 PolG SL; § 22 VII 1 SächsPolG; § 38 I 1 SOG LSA; § 204 VI iVm § 181 IV 1 LVwG SH; § 20 I 1 ThürPAG; für den Bund § 40 I 1 BPolG. 1350 BVerfG-K NVwZ 2006, 579 Tz 56 o JK GG Art 2 II 2/2. 1351 BGH NJW 2011, 690; OVG Bln-Bbg NJW 2009, 2695, 2696; OLG Hamm NJW 2006, 2707, 2708 f. 1352 § 18 II 1 BbgPolG; § 33 II 1 HessSOG; § 19 III 1 NdsSOG; § 36 II 1 PolG NW; § 15 II 1 POG RP; § 14 II 1 PolG SL; § 38 II 1 SOG LSA; § 204 VI iVm § 184 IV 3 LVwG SH; § 20 II 1 ThürPAG; § 40 II 1 BPolG; ähnlich Art 18 III 1 BayPAG. – § 36 III 1 ASOG Bln: AmtsG Tiergarten; § 13a II 1 HbgSOG: AmtsG Hamburg. 1353 § 56 V 4 SOG MV; § 22 VIII 1 SächsPolG. – Unklar § 16 III 1 PolG Bremen. 1354 OLG Karlsruhe NJW 2009, 926 (zu § 28 IV 1 PolG BW); ferner OLG Hamm NJW 2006, 2707, 2708 f; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 543; aA OLG Köln NJW 2009, 2688 (zu § 36 II 1 PolG NW). 1355 Art 18 III 2 BayPAG; § 31 III 1 ASOG Bln; § 19 III 2 NdsSOG. 1356 So ausdrücklich § 13a II 4 HbgSOG. 1357 OVG Bremen NVwZ-RR 2012, 272, 273. 1358 VGH BW NVwZ-RR 2005, 540; HessVGH NJW 1984, 821, 822; OVG LSA LKV 1999, 511; OLG München NVwZ-RR 2008, 247 o JK BPolG § 39/1; Rachor in: Lisken/Denninger E Rn 542. 1359 OVG Bln-Bbg NJW 2009, 2695, 2696; OLG Frankfurt/M NVwZ-RR 2008, 244, 245; OLG Schleswig NVwZ 2003, 1412, 1413; Trute DV 32 (1999), 73, 89; grds auch OVG Bremen NVwZ-RR 2012, 272, 273.

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lichen Lebenssachverhalt in einem Rechtsweg entschieden werde.1360 Wie sich diese (rechtspolitisch zweckmäßige) These mit § 40 I 1 u 2 VwGO verträgt, hat das BVerfG nicht beantwortet. Das gerichtliche Verfahren wirft, soweit die Amtsgerichte zuständig sind, in etlichen Län- 307 dern ungelöste rechtliche Fragen auf. Hintergrund der Problematik sind das Außerkrafttreten des FEVG1361 mit Ablauf des 31.8.2009 und das Inkrafttreten des FamFG1362 zum 1.9.2009. Das Verfahren in Freiheitsentziehungssachen ist nun in §§ 415 ff FamFG geregelt. Die meisten Gefahrenabwehrgesetze verweisen hierauf.1363 Soweit das der Fall ist, entstehen zum anwendbaren Recht keine Zweifelsfragen. Nimmt das Landesrecht das außer Kraft getretene FEVG nach wie vor in Bezug, sieht der BGH darin die gesetzliche Anordnung zur „gesetzestechnisch möglichen Fortgeltung der Verfahrensvorschriften des FEVG“.1364 Die Gegenauffassung lehnt die Fortgeltung des FEVG als „inkorporiertes Landesrecht“ ab.1365 Die Problematik dürfte sich durch Zeitablauf erledigen, wenn der letzte Landesgesetzgeber den Wegfall des FEVG bemerkt haben wird und seine Verweisungsvorschrift auf das seit 2009 geltende Bundesrecht angepasst hat. Die Dauer des Polizeigewahrsams wirft mitunter Fragen des Verfassungsrechts 1366 und des 308 Europarechts 1367 auf. Die Regelungen zur möglichen Höchstdauer der Freiheitsentziehung sind im Landesrecht unterschiedlich getroffen.1368 In der richterlichen Entscheidung ist die Dauer des Gewahrsams zu bestimmen. Der Polizeigewahrsam ist aufzuheben, sobald sein Zweck erreicht oder der Grund für die Maßnahme entfallen ist. Für den präventivpolizeilichen Gewahrsam kann dem Betroffenen nach dem (Landes-)Ge- 309 bühren-/Kostenrecht1369 eine Gebühr auferlegt werden. Gerichtlicher Rechtsschutz gegen den Gebührenbescheid ist im Verwaltungsrechtsweg (§ 40 I 1 VwGO) zu erlangen. Die Rechtmäßigkeit des Heranziehungsbescheids setzt die Rechtmäßigkeit der zu Grunde liegenden Amtshandlung (dh der Ingewahrsamnahme) voraus. Hierüber entscheidet an sich das Amtsgericht (Rn 305). Ist jedoch zur Zulässigkeit (und Fortdauer) der Ingewahrsamnahme keine amtsrichterliche Entscheidung getroffen worden, ist die Rechtmäßigkeit des Gewahrsams eine im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle des Gebührenbescheids inzident zu prüfende Voraussetzung für die Kostenpflicht des Betroffenen; zu prüfen sind neben den materiellen Voraussetzungen der Ingewahrsamnahme (Rn 296 ff) auch die Anforderungen des Richtervorbehalts (Rn 301 ff).1370 Die unter Hinweis auf die Rechtswegspaltung (AmtsG zuständig bzgl Ingewahrsamnahme, VG zuständig bzgl Kostenbescheid) vertretene Gegenauffassung hat das BVerfG unter Hinweis auf

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1360 BVerfG-K NVwZ 2006, 579 Tz 63 o JK GG Art 2 II 2/2. 1361 Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen v 29.6.1956 (BGBl I 599), zuletzt geänd durch G v 17.12.2008 (BGBl I 2586). 1362 Abgedruckt in Schönfelder Nr 112. 1363 § 28 IV 2 PolG BW; Art 18 III 3 BayPAG; § 33 II 2 HessSOG; § 56 V 5 SOG MV; § 36 II 2 PolG NW; § 15 II 2 POG RP; § 22 VIII 2 SächsPolG; § 38 II 2 SOG LSA; § 204 VI iVm § 181 IV 4 LVwG SH; § 20 II 2 ThürPAG; § 40 II 2 BPolG. 1364 BGH NJW 2011, 690, 691. 1365 OVG Bremen NVwZ-RR 2012, 272, 274. 1366 BayVerfGH NVwZ 1991, 664, 670: 2 Wochen verfassungsmäßig; SächsVerfGH LKV 1996, 273, 277 foJK SächsVerf Art 16 I 2/1: pauschale Frist von 14 Tagen für alle Gewahrsamstatbestände verfassungswidrig. – Rechtspolitisch zur Thematik Lisken ZRP 1996, 332 ff. 1367 Vgl EGMR NJW 1999, 775oJK EMRK Art 5 I/1; ferner EGMR NVwZ 2006, 797 Tz 39 ff, 45: Polizeigewahrsam von mehr als 19 Stunden (iVm verzögerter richterlicher Nachprüfung) als Verletzung des Art 5 I 2 lit b EMRK. 1368 § 28 III PolG BW; Art 20 BayPAG; § 33 ASOG Bln; § 20 BbgPolG; § 18 PolG Bremen; § 13c HbgSOG; § 35 HessSOG; §§ 55 V, 56 V 3 SOG MV; § 21 NdsSOG; § 38 PolG NW; § 17 POG RP; § 16 PolG SL; § 22 VII 3 bis 5 SächsPolG; § 40 SOG LSA; § 204 V LVwG SH; § 22 ThürPAG; ferner § 42 BPolG. – Erläuternd Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 561 ff. 1369 Nachw zu den Rechtsgrundlagen o JK PolG BW § 28/1. 1370 VGH BW NVwZ-RR 2005, 247; VGH BW DVBl 2011, 626 (m Anm Söllner) o JK PolG BW § 28/1; aA NdsOVG NVwZ 2004, 760; NVwZ-RR 2006, 34, 35.

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Art 19 IV GG zurückgewiesen; zur Vermeidung einer Rechtsschutzlücke muss das VG im Rahmen der Kontrolle der Kostenanforderung eine Inzidentprüfung der polizeilichen Ingewahrsamnahme vornehmen.1371 310 gg) Durchsuchung von Personen und Sachen. Das Gefahrenabwehrrecht normiert Standardbefugnisse für mehrere Arten von Durchsuchungen. Bei ihnen geht es um das zielgerichtete Aufspüren von Gegenständen, die sich im Verborgenen befinden. Durchsuchungsmaßnahmen stellen Grundrechtseingriffe dar. Die Durchsuchung von Personen (Rn 311) tangiert zumindest die allgemeine Handlungsfreiheit (Art 2 I GG).1372 Die Durchsuchung von Sachen (Rn 312) beeinträchtigt die Eigentumsfreiheit (Art 14 I 1 GG). Die Durchsuchung von Wohnungen (Rn 313 ff) greift in die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art 13 I GG) ein. Die Durchsuchung von Personen 1373 zielt auf das Auffinden von Gegenständen, die je311 mand verborgen in der Kleidung oder am Körper bei sich trägt. Abzugrenzen ist die Durchsuchung von der Untersuchung einer Person. Die Durchsuchung beschränkt sich auf die Körperoberfläche und die natürlichen Körperöffnungen (Mund, Nase, Ohren); die Untersuchung bezieht sich auf den körperlichen Zustand einer Person bzw auf das Körperinnere.1374 Diese Standardbefugnis 1375 ermächtigt nur zur Durchsuchung von Personen.1376 Die Durchsuchung einer Person darf grundsätzlich nur von Personen gleichen Geschlechts oder von Ärzten vorgenommen werden. Das Verfahren bei der Durchsuchung von Personen ist im Landesrecht nur zum Teil geregelt. Unterschiede im Detail gibt es zwischen den Ländern auch bei den materiellen Voraussetzungen für Durchsuchungsmaßnahmen. Im Kern der Regelungen besteht jedoch Übereinstimmung darin, dass eine starke Vernetzung mit anderen Standardmaßnahmen vorgenommen ist. Die Durchsuchung von Personen ist insbesondere zulässig zur Identitätsfeststellung (Rn 264 ff), wenn die Person festgehalten (oder in Gewahrsam genommen) werden darf (Rn 269 ff, 295 ff), wenn eine Sicherstellung von Gegenständen (Rn 319 ff) zulässig ist, wenn sich die Person an gefährlichen oder gefährdeten Orten aufhält (Rn 265) oder wenn es um die Eigensicherung (Schutz des Polizeibeamten oder eines Dritten) geht.1377 Wird die Durchsuchung einer Person darauf gestützt, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, wonach diese Person Sachen mit sich führt, die sichergestellt (oder beschlagnahmt) werden dürfen, liegt der Sache nach die Situation des Gefahrverdachts vor und die Maßnahme ist als Gefahrerforschungseingriff zu qualifizieren; deshalb reichen bloße Vermutungen für die Rechtfertigung des Eingriffs nicht aus, sondern die Möglichkeit einer Gefahr muss auf eine objektivierbare Tatsachenbasis gestützt werden können.1378 312 Die Durchsuchung von Sachen dient dem Auffinden von verborgenen Gegenständen oder Personen in Sachen.1379 Typischer Anwendungsfall hierfür ist die Durchsuchung eines Kfz. Die ein-

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1371 BVerfG-K NVwZ 2010, 1482, 1484 o JK GG Art 19 IV/30. 1372 OVG NW NVwZ 1982, 46: Eingriff in den Schutzbereich von Art 2 II 2 GG; Pieroth/Schlink/Kniesel § 18 Rn 1: uU Eingriff in das allg Persönlichkeitsrecht, Art 2 I iVm 1 I GG. 1373 Dazu Robrecht LKV 2001, 391 ff. 1374 BayVGH NVwZ-RR 1999, 310; OVG SL LKRZ 2008, 102, 103; VG Regensburg BayVBl 1999, 347, 348. 1375 § 29 PolG BW; Art 21 BayPAG; § 34 ASOG Bln; § 21 BbgPolG; § 19 PolG Bremen; § 15 I-III HbgSOG; § 36 I–IV HessSOG; §§ 53 I-III, 54 SOG MV; § 22 I-III NdsSOG; § 39 PolG NW; § 18 POG RP; § 17 PolG SL; § 23 SächsPolG; § 41 SOG LSA; §§ 202, 203 LVwG SH; § 23 ThürPAG, § 18 ThürOBG; § 43 BPolG. 1376 Befugnisnormen für die körperliche Untersuchung einer Person enthalten § 15 IV HbgSOG (dazu Pünder NordÖR 2005, 292, 295 f); § 36 V HessSOG; § 53 IV SOG MV; § 22 IV NdsSOG; § 18 III POG RP; § 17a PolG SL; § 41 V SOG LSA. 1377 Einzelheiten bei Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 577 ff. 1378 OVG SL LKRZ 2008, 102, 104 (am Bspl der Durchsuchung eines weiblichen Fußballfan vor einem „Risikospiel“ zwecks Ermittlung pyrotechnischer Materialien). 1379 Lambiris Standardbefugnisse (Fn 1133) 31.

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schlägigen Befugnisnormen 1380 weisen wiederum einen starken Zusammenhang mit anderen Standardmaßnahmen auf. Die Durchsuchung von Sachen ist zulässig zB zur Identitätsfeststellung, im Zusammenhang mit der Durchsuchung von Personen, zum Auffinden von Personen, zur Sicherstellung einer Sache, an gefährlichen und gefährdeten Orten sowie an Kontrollstellen.1381 Zur Durchsuchung von Sachen im Rahmen der Schleierfahndung (Rn 266) ist die polizeigesetzliche Regelung in Bayern nur mit der Maßgabe für verfassungskonform erklärt worden, dass „das handlungsbegrenzende Erfordernis einer erhöhten abstrakten Gefahr hineingelesen wird“.1382 Diese richterliche Begriffsschöpfung ist misslungen.1383 Offenbar geht es darum, die verdachts- und ereignisunabhängige gesetzliche Durchsuchungsbefugnis nicht auf einen beliebig großen Personenkreis auszudehnen. Andernfalls würde die „präventivpolizeiliche Durchsuchung mitgeführter Sachen bereits im Vorfeld konkreter Gefahren … zu einem bloßen Gefahrerforschungseingriff entarten“.1384 Gemeint ist mit dem Postulat einer „erhöhten abstrakten Gefahr“ demnach das Erfordernis konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen einer Durchsuchung von Sachen. Überwiegend ist zum Verfahren die Anwesenheit des Inhabers der tatsächlichen Gewalt (bzw eines Vertreters oder Zeugen) vorgeschrieben. Eine Spezialbefugnis zur Durchsuchung von Sachen (sowie Personen und Räumen) besteht im Vereinsrecht (§ 4 IV 2 VereinsG).1385 hh) Durchsuchung und Betreten von Wohnungen. Das Eindringen der Polizei in eine Woh- 313 nung stellt eine Beeinträchtigung der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art 13 I GG) dar.1386 Mit Rücksicht auf die unterschiedlichen Anforderungen der qualifizierten Gesetzesvorbehalte (Art 13 II, VII GG) unterscheiden die Befugnisnormen 1387 zwischen dem Betreten und Durchsuchen einerseits und dem bloßen Betreten andererseits. Wie bei Art 13 I GG gilt im Gefahrenabwehrrecht nach hM ein weiter Wohnungsbegriff. Die Wohnung umfasst danach die Wohn- und Nebenräume, ferner Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume sowie anderes befriedetes Besitztum.1388 Geschützt ist die räumliche Privatsphäre.1389 Die Durchsuchung einer Wohnung ist gekennzeichnet durch das ziel- und zweckgerichte- 314 te Suchen staatlicher Organe nach Personen oder Sachen oder zur Ermittlung eines Sachverhalts, um etwas aufzuspüren, was der Inhaber der Wohnung im Verborgenen bzw geheim hält und von sich aus nicht offen legen oder herausgeben will.1390 Es geht also darum, dass etwas Verborgenes (Personen oder Sachen), was bislang dem Augenschein oder Zugriff entzogen war, zu Tage gefördert werden soll.1391

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1380 § 30 PolG BW; Art 22 BayPAG; § 35 ASOG Bln; § 22 BbgPolG; § 20 PolG Bremen; § 15a HbgSOG; § 37 HessSOG; §§ 57, 58 SOG MV; § 23 NdsSOG; § 40 PolG NW; § 19 POG RP; § 18 PolG SL; § 24 SächsPolG; § 42 SOG LSA; §§ 206, 206a, 207 LVwG SH; § 24 ThürPAG, § 19 ThürOBG; § 44 BPolG. 1381 Einzelheiten bei Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 610 ff. 1382 BayVerfGH JZ 2006, 617, 620 (m Anm Krane). 1383 Wolff BayVBl 2006, 661, 663. 1384 So BayVerfGH JZ 2006, 617, 621 (m Anm Krane). 1385 Vgl dazu OVG NW NWVBl 2003, 34. 1386 Zum grundrechtlichen Schutz der Wohnung Wißmann JuS 2007, 324 u 426; Schoch JURA 2010, 22. 1387 § 31 PolG BW; Art 23 BayPAG; § 36 ASOG Bln; § 23 BbgPolG; § 21 PolG Bremen; § 16 HbgSOG; § 38 HessSOG; § 59 SOG MV; § 24 NdsSOG; § 41 PolG NW; § 20 POG RP; § 19 PolG SL; § 25 SächsPolG; § 43 SOG LSA; § 208 LVwG SH; § 25 ThürPAG, § 20 ThürOBG; § 45 BPolG. 1388 BVerfGE 97, 228, 265; BVerfG-K NVwZ 2007, 1049 Tz 26 o JK GG Art 13/10; BVerfGE 120, 274, 309; BVerfG-K 2011, 2275; GewArch 2012, 328; BVerwGE 121, 345, 348oJK GG Art 13/8; OVG NW DVBl 2008, 795. – Der Wohnungsbegriff iSd Art 8 EMRK umfasst die Privatwohnung einer Person und Geschäftsräume (zB Anwaltskanzlei), EGMR NJW 2008, 3409 Tz 43; NJW 2010, 2109 Tz 29. 1389 BVerfGE 115, 166, 196; BVerfG-K NJW 2009, 3225; NJW 2011, 2257. 1390 BVerfGE 51, 97, 106 f; E 75, 318, 325; E 76, 83, 89; BVerwGE 47, 31, 46 f; E 78, 251, 254. – BVerwG NJW 2006, 2504 o JK GG Art 13/9; krit zur Begriffsbestimmung der hM Suttmann BauR 2006, 1986, 1988 f. 1391 BVerwGE 121, 345, 349 oJK GG Art 13/8; OVG Hamburg NJW 1997, 2193, 2194oJK GG Art 13/7; VG Oldenburg NVwZ-RR 2012, 721, 722.

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Die Wohnungsdurchsuchung ist stark von verfassungsrechtlichen Vorgaben geprägt.1392 Hinzu treten mittlerweile auch europarechtliche Direktiven.1393 Nach dem Richtervorbehalt des Art 13 II GG1394 dürfen Wohnungsdurchsuchungen grundsätzlich nur durch den Richter angeordnet werden. Lediglich bei „Gefahr im Verzug“ (Rn 150) dürfen die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe eine Wohnungsdurchsuchung anordnen und in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise durchführen. Der Begriff „Gefahr im Verzug“, der mit auf den Einzelfall bezogenen Tatsachen (nicht: hypothetische Erwägungen, kriminalistische Alltagserfahrungen) zu begründen ist, ist eng auszulegen; die richterliche Anordnung einer Durchsuchung ist die Regel, die nichtrichterliche Anordnung ist die Ausnahme.1395 Der Richtervorbehalt zielt auf eine vorbeugende Kontrolle (näher dazu Rn 316) der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz (Art 97 I GG), weil so am besten die Rechte des (idR vor der Durchsuchung nicht angehörten) Betroffenen gewahrt werden können. 1396 Zur angemessenen Begrenzung, Messbarkeit und Kontrollierbarkeit muss die richterliche Anordnung hinreichend bestimmt sein. Sie muss das Ziel und den Rahmen der Durchsuchung so festlegen, dass bei den staatlichen Vollzugsorganen Missverständnisse ausgeschlossen sind und der Wohnungsinhaber weiß, was er dulden muss.1397 Beruht die Wohnungsdurchsuchung auf einer nichtrichterlichen Anordnung, sind Auslegung und Anwendung des Begriffs „Gefahr im Verzug“ gerichtlich uneingeschränkt nachprüfbar.1398 In den Fällen einer behördlichen Durchsuchungsanordnung (und ihrer bereits erfolgten Durchführung) ist nachträglicher Rechtsschutz gegeben.1399 Dieser bestimmt sich – je nach Rechtsweg und Verfahren außerhalb des Anwendungsbereichs von § 113 I 4 VwGO (analog) – ggf nach § 98 II 2 StPO (analog) 1400 oder nach den einschlägigen FamFG-Vorschriften.1401 Auch für die nachträgliche gerichtliche Überprüfung der behördlichen Maßnahme gilt das Gebot wirksamen Rechtsschutzes.1402 316 Die materiellrechtlichen Voraussetzungen der Wohnungsdurchsuchung sind eng mit anderen Standardbefugnissen verknüpft. Die Wohnungsdurchsuchung ist – bei einzelnen Abweichungen zwischen den Landesgesetzen – ohne Einwilligung des Inhabers1403 idR zulässig zum Zwecke der Vorführung bzw Ingewahrsamnahme einer Person, Sicherstellung einer Sache,1404 Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr (Rn 150) für wichtige Schutzgüter, zT auch im Falle der Entführung einer Person. Erfolgt die Wohnungsdurchsuchung zum Zweck der Sicherstellung bzw Beschlagnahme von Identitätspapieren (Ausweis, Pass), müssen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich die Papiere in der Wohnung befinden; die vage Möglichkeit oder ein nur all315

_____

1392 Zur Rspr des BVerfG Kruis/Wehowsky NJW 1999, 682 ff; ferner (in der Perspektive der §§ 102 ff StPO) K. Schmitz GewArch 2010, 22 ff. 1393 EuGH Slg. 2002 I-9011 = NJW 2003, 35 (Tz 41 ff) zur notwendigen richterlichen Kontrolle von Durchsuchungsanordnungen bei Unternehmen, die im Verdacht von Verstößen gegen Wettbewerbsregeln stehen. Ferner EGMR NJW 2006, 1495 o JK EMRK Art 8/6: Verhältnismäßigkeit bei Durchsuchung von Wohn- und Geschäftsräumen (verneint bei bloßem Verdacht einer Verkehrsordnungswidrigkeit). 1394 Eindringlich dazu BVerfGE 115, 166, 196 f; bekräftigend BVerfG-K NJW 2009, 2516; Rspr analysierend (unter Einbeziehung der StPO) Gusy NStZ 2010, 353 ff. 1395 BVerfGE 103, 142; dazu Bespr Ostendorf/Brüning JuS 2001, 1063; Lepsius JURA 2002, 259; ferner Pätzel DuD 2002, 752; BVerfG-K NJW 2004, 3171; NJW 2005, 275, 276; NJW 2005, 1637, 1638; NVwZ 2006, 925, 926. – Zu Konsequenzen für den richterlichen Bereitschaftsdienst Fickenscher/Dingelstadt NJW 2009, 3473 ff. 1396 BVerfGE 103, 142, 150 f; BVerfG-K NJW 2009, 2516. 1397 BVerfG-K NJW 2000, 943, 944. – Ebenso zur Durchsuchung nach der StPO BVerfG-K NJW 2009, 2516 Tz 22. 1398 BVerfG-K NJW 2002, 1333; VerfG Bbg NJW 2003, 2305, 2306. 1399 Schoch JURA 2001, 628, 630. 1400 BVerfG-K NJW 2003, 2303, 2304. 1401 OLG Celle NVwZ 2003, 894; LG Ravensburg NVwZ-RR 2003, 650 – jeweils noch zum FGG. 1402 BVerfG-K NJW 2002, 1333. 1403 Vgl zum Fall einer Einwilligung in die Durchsuchung BayObLG BayVBl 2005, 348. 1404 Dazu BayVGH BayVBl 1997, 634, 635; OLG Zweibrücken NVwZ-RR 2012, 598, 599.

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gemeiner Verdacht genügen nicht zur Bejahung des „Gefahr“begriffs.1405 Liegen insoweit hinreichend konkrete Anhaltspunkte vor, kann sogar eine „gegenwärtige Gefahr“ bejaht werden, wenn mit den Identitätspapieren Missbrauch betrieben werden soll (zB Fälschung).1406 Generell gilt, dass eine Wohnungsdurchsuchung nicht vorschnell auf einer unzureichenden Verdachtsgrundlage angeordnet werden darf. Im Regelfall, dh bei richterlicher Anordnung (Rn 315), hat der Richter die Durchsuchungsvoraussetzungen eigenverantwortlich zu prüfen.1407 Der Richter „genehmigt“ nicht nur eine polizeiliche Maßnahme. Der Durchsuchungsbeschluss muss auf Grund der ermittelten Fakten die Gründe für die Durchsuchung angeben; zu wahren ist im konkreten Fall das Übermaßverbot. Soweit eine Wohnungsdurchsuchung im Landesrecht auch bei erheblichen Belästigungen der Nachbarschaft erlaubt wird, sind die Vorschriften nur bei verfassungskonformer Deutung mit Art 13 GG vereinbar.1408 Während der Nachtzeit (§ 104 III StPO) ist eine Wohnungsdurchsuchung nach den meisten landesgesetzlichen Bestimmungen nur unter engen Voraussetzungen zulässig (insbesondere Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für bedeutende Sach- und Vermögenswerte); das gilt allerdings dort nicht, wo das Polizeirecht des Landes entsprechende Einschränkungen nicht oder nur für bestimmte Fallgestaltungen vorschreibt.1409 Das Verfahren bei der Wohnungsdurchsuchung ist detailliert geregelt.1410 Besonders wich- 317 tig sind das Anwesenheitsrecht des Wohnungsinhabers und die Niederschrift zur Durchsuchungsmaßnahme. Das Betreten einer Wohnung zu anderen Zwecken als der Durchsuchung muss den Anfor- 318 derungen des Art 13 VII GG entsprechen.1411 Danach sind Eingriffe und Beschränkungen beim Wohnungsgrundrecht ua auf Grund eines Gesetzes zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zulässig. Unrichtig ist die Behauptung, dass Art 13 VII GG den Eintritt einer „konkreten Gefahr“ nicht voraussetze.1412 Die „dringende Gefahr“ darf nicht nur eine abstrakte Gefahr sein (Rn 150). Der qualifizierte Gesetzesvorbehalt ist im Landesrecht unterschiedlich ausgefüllt worden. In einigen Ländern dürfen Wohnungen zur Abwehr dringender Gefahren jederzeit betreten werden, wenn die Gefahrenabwehr nur dadurch möglich ist. Andere Landesgesetze verlangen tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Wohnung ein „gefährlicher Ort“ ist (zB Verabreden von Straftaten) oder der Prostitution dient. Von Bedeutung sind die Vorschriften in erster Linie für die Ordnungsbehörden und deren Betretungs- und Nachschaubefugnisse (Gewerbeüberwachung, Wirtschaftsaufsicht etc).1413 Die höchstrichterliche Rechtsprechung ignoriert die durch Art 13 VII GG normierten Vorgaben beim behördlichen Betreten von Betriebs- und Geschäftsräumen. In derartigen Fällen sollen wegen des insoweit nur geringen Schutzbedürfnisses behördliche Nachschaubefugnisse vom

_____ 1405 LG Ravensburg NVwZ-RR 2003, 650, 651. – Zu (grds unzulässigen) ausländerrechtlichen Durchsuchungen auf Grund des allg POR zur Verschaffung von Identitätspapieren (Pass etc) vgl Zschieschack NJW 2005, 3318 ff. 1406 OLG Düsseldorf DÖV 2004, 397. 1407 BVerfGE 115, 116, 197; BVerfG-K NVwZ 2007, 1047, 1048; NJW 2009, 2516 Tz 29. 1408 Schwabe NVwZ 1993, 1173, 1174: durch Art 13 III GG aF (Art 13 VII GG nF) gedeckt; aA Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 653: Verfassungswidrigkeit der Vorschriften. 1409 Einzelheiten bei Robrecht LKV 2006, 395 ff. 1410 § 31 V, VII, VIII PolG BW; Art 24 BayPAG; § 37 ASOG Bln; § 24 BbgPolG; § 22 PolG Bremen; § 16a HbgSOG; § 39 HessSOG; § 60 SOG MV; § 25 NdsSOG; § 42 PolG NW; § 21 POG RP; § 20 PolG SL; § 25 V–VII SächsPolG; § 44 SOG LSA; § 209 LVwG SH; § 26 ThürPAG, § 21 ThürOBG; § 46 BPolG. 1411 Vgl OVG Hamburg NJW 1997, 2193, 2194oJK GG Art 13/7: „Behebung der Raumnot“. 1412 So aber die Rspr: BVerwG NJW 2006, 2504, 2505 oJK GG Art 13/9; krit dazu Suttmann BauR 2006, 1986 ff; aus der Rspr ferner zB OVG NW DVBl 2008, 795, 796. 1413 Voßkuhle DVBl 1994, 611 ff; Ennuschat AöR 127 (2002) 252 ff; speziell im Bereich des Handwerks W. Dürr DVBl 2008, 1356 ff; K. Schmitz GewArch 2009, 237 ff; monographisch Figgener Behördliche Betretungsrechte und Nachschaubefugnisse, 2000.

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qualifizierten Gesetzesvorbehalt des Art 13 VII GG ausgenommen sein; derartige Maßnahmen seien „nicht als Eingriff iSv Art 13 VII GG anzusehen“,1414 daher sei (Art 2 I GG folgend) lediglich das Übermaßverbot zu beachten.1415 Auf Grund dieser richterrechtlichen Erfindung können entsprechende Maßnahmen auf eine polizei- und ordnungsrechtliche Generalermächtigung gestützt werden.1416 Letztlich wird damit ein richterlicher Eingriffsvorbehalt als ungeschriebener Art 13 VIII GG kreiert.1417 319 ii) Sicherstellung und Beschlagnahme. Im geltenden Polizei- und Ordnungsrecht wird nur zT zwischen Sicherstellung und Beschlagnahme unterschieden. Die Sicherstellung 1418 dient danach dem Schutz des Eigentümers oder rechtmäßigen Inhabers der tatsächlichen Gewalt vor Verlust oder Beschädigung einer Sache. Die Beschlagnahme 1419 erfolgt idR gegen den Willen des Berechtigten und dient dem Schutz Dritter oder der Allgemeinheit. Überwiegend folgen die Gesetzesbestimmungen 1420 einem weiten Sicherstellungsbegriff, der beide Konstellationen umfasst. In der Sache ist jene Differenzierung dennoch von Bedeutung. Erfolgt die Sicherstellung zum Zweck der Eigentumsicherung, liegt – vergleichbar der GoA – eine Art „Sonderleistung“ der Polizei vor.1421 Das mutmaßliche Einverständnis des Berechtigten mit der polizeilichen Maßnahme gewinnt rechtliche Bedeutung.1422 Eine gegen den Willen des Berechtigten gerichtete Maßnahme stellt keine Sicherstellung iSd Eigentumsschutzes dar.1423 Bei der Sicherstellung zur „üblichen“ Gefahrenabwehr kommt es dagegen auf den (mutmaßlichen) Willen des Betroffenen nicht an. Sicherstellung (iwS) ist die Beendigung des Gewahrsams des bisherigen Gewahrsaminha320 bers und die Begründung amtlichen Gewahrsams über eine Sache durch die Verwaltungsbehörde oder eine von ihr beauftragte Person.1424 Durch die Sicherstellung entsteht ein öffentlichrechtliches Verwahrungsverhältnis (Rn 325). Rechtskonstruktiv kann eine Sicherstellung je nach Fallgestaltung durch Realakt (unmittelbare Ausführung, Sofortvollzug) 1425 oder durch Verwaltungsakt (Anordnung der Sicherstellung)1426 erfolgen. Eine bestimmte Form ist gesetzlich nicht vorgeschrieben.1427 Ob das Abschleppen eines verbotswidrig abgestellten Fahrzeugs als Sicherstellung zu qualifizieren ist (vgl Rn 325), kann nicht einheitlich entschieden werden. Vielmehr ist nach der

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1414 So BVerfG-K NVwZ 2007, 1049, 1050 oJK GG Art 13/10; dazu Anm Maiwald GewArch 2007, 208 u Bespr Wolff GewArch 2007, 231; ferner (krit) W. Dürr DVBl 2008, 1356; K. Schmitz GewArch 2009, 237. 1415 BVerfGE 32, 54, 75 ff; BVerwGE 78, 251, 254 f. 1416 BVerwGE 121, 345 oJK GG Art 13/8; krit Hermes JZ 2005, 462 f; Mittag NVwZ 2005, 649 ff. 1417 Lepsius JURA 2002, 259, 260; krit auch Wolff GewArch 2007, 231: „dogmatisch unhaltbar“. 1418 § 32 PolG BW; § 26 SächsPolG. 1419 § 33 PolG BW; § 27 SächsPolG. 1420 Art 25 BayPAG; § 38 ASOG Bln; § 25 BbgPolG; § 23 PolG Bremen; § 14 HbgSOG; § 40 HessSOG; § 61 SOG MV; § 26 NdsSOG; § 43 PolG NW; § 22 POG RP; § 21 PolG SL; § 45 SOG LSA; § 210 LVwG SH; § 27 ThürPAG, § 22 ThürOBG; § 47 BPolG. 1421 OVG RP NVwZ-RR 1989, 300, 301; Söllner DVBl 2012, 655, 656; zum Schutzcharakter auch HessVGH NJW 1999, 3793, 3794oJK HSOG § 40/1; SächsOVG SächsVBl 2002, 268, 269. 1422 SächsOVG SächsVBl 2002, 268, 269; SächsVBl 2012, 71 (m Anm Petersen-Thrö); VG Frankfurt/M NJW 2000, 3224, 3225. 1423 VG Stuttgart NVwZ-Beilage I 7/2000, 86, 87. 1424 OVG MV LKV 2006, 225, 226; OVG NW NVwZ-RR 1991, 556. 1425 HessVGH NJW 1999, 3793oJK HSOG § 40/1: Sicherstellung eines Kfz; ähnlich SächsOVG LKV 2011, 564 o JK SächsPolG § 29/1 und SächsVBl 2012, 71; ferner BayVGH NJW 2008, 1549: Sicherstellung eines Radarwarngerätes; OVG MV NVwZ-RR 2000, 429: Sicherstellung eines Containers. 1426 OVG NW NVwZ-RR 1991, 556: Anordnung der Sicherstellung, dann Entgegennahme bzw Wegnahme der Sache; ferner (Anordnung der Sicherstellung potentieller Hehlerware) VG Hannover NVwZ-RR 2008, 616 und VG Köln NVwZ-RR 2010, 352. 1427 Möller/Warg Rn 398; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 673 f.

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Art des Vorgangs zu differenzieren: Keine Sicherstellung stellt das bloße „Umsetzen“ eines Fahrzeugs dar;1428 dagegen ist seine Entfernung auf einen amtlichen Verwahrplatz eine Sicherstellung.1429 Wird das Fahrzeug auf einen sonstigen (privaten) Abstellplatz verbracht, kommt es auf die Umstände des konkreten Falles an.1430 Im Tatbestand weisen die Vorschriften zur Sicherstellung (iwS, Rn 319) vergleichbare Struk- 321 turen und ähnliche Inhalte auf. Sicherstellungsgründe sind die Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr bzw unmittelbar bevorstehenden Störung, der Schutz des Privateigentums oder die Verhinderung der missbräuchlichen Verwendung einer Sache (zB zur Tötung, Körperverletzung, Sachbeschädigung) durch eine rechtmäßig festgehaltene Person; zT erlaubt das Landesrecht die Sicherstellung auch zur Verhütung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten.1431 Rechtmäßige behördliche Sicherstellungsmaßnahmen zur Abwehr einer gegenwärtigen 322 Gefahr (Rn 150) sind zB die Beschlagnahme des Kfz eines Fahrers ohne Fahrerlaubnis,1432 die Beschlagnahme einer illegalen „Wagenburg“ (Bau- und Wohnwagen), 1433 die Sicherstellung eines betriebsbereiten (durch § 23 Ib StVO verbotenen) Radarwarngeräts 1434 oder eines verkehrswidrig benutzten einspurigen Liegerads.1435 Weitere Beispiele aus der Praxis sind die Sicherstellung von Wildkatzenfellen 1436 und die Beschlagnahme einer Turnhalle zur Asylbewerberunterbringung.1437 Gebilligt wurde auch die polizeiliche Sicherstellung von Werkzeugen, die benutzt wurden, um Kfz-Kilometerzähler zurückzustellen.1438 Die Wohnungsbeschlagnahme zwecks Obdachloseneinweisung (Rn 239, 246) stellt einen weiteren Anwendungsfall dar. Dagegen wurde die Beschlagnahme einer schwarz-weiß-roten Reichsflagge für rechtswidrig erklärt, weil das Zeigen dieser Flagge keine Störung der öffentlichen Sicherheit bzw Ordnung darstellt.1439 Die Rechtmäßigkeit der Sicherstellung von Kamera und Lichtbildfilm eines Pressevertre- 323 ters (Fotoreporters) zB wegen des Filmens eines Polizeieinsatzes hängt sehr von den Umständen des Einzelfalles ab.1440 Das Filmen und Fotografieren polizeilicher Einsätze durch Medienvertreter ist an sich zulässig (Art 5 I 2 GG).1441 Eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit ist aber gegeben, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass zB Lichtbilder entgegen §§ 22, 23 KUG 1442 unter Missachtung des Rechts der Polizeibeamten (oder Dritter) am eigenen Bild veröffentlicht werden sollen.1443 Die Beschlagnahme des Fotoapparates (nebst Speicherkarten) eines

_____ 1428 Ausdrücklich § 14 I 2 HbgSOG (dazu OVG Hamburg NVwZ-RR 2009, 995); § 22 II 1 ThürOBG. 1429 OVG MV LKV 2006, 225; SächsOVG LKV 2011, 564 o JK SächsPolG § 29/1 und SächsVBl 2012, 71; Götz § 8 Rn 60; Kugelmann 6/94; Möller/Warg Rn 411; Pieroth/Schlink/Kniesel § 19 Rn 4; aA Schieferdecker Die Entfernung von Kraftfahrzeugen als Maßnahme staatlicher Gefahrenabwehr, 1998, 109 ff.; Schenke Rn 164. 1430 Ohne Differenzierung Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 688: keine Sicherstellung; eine amtliche Verwahrung kann indes auch von einer seitens der Behörde beauftragten Person (Verwaltungshelfer) vorgenommen werden, Rn 320. 1431 Einzelheiten bei Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 675 ff. 1432 VGH BW NVwZ-RR 1992, 184. 1433 VGH BW NVwZ-RR 1998, 173: Rechtswidrigkeit wegen Dauer der Beschlagnahme. 1434 BayVGH NJW 2008, 1549; VG Hannover NdsVBl 2001, 228; VG Aachen NVwZ-RR 2003, 684. 1435 VGH BW VBlBW 2001, 100; dazu Koehl BayVBl 2008, 365 ff. 1436 OVG NW NVwZ-RR 1991,556: Rechtswidrigkeit wegen Unbestimmtheit. 1437 VGH BW NVwZ 1993, 393. 1438 OVG Hamburg DÖV 2004, 928. 1439 VGH BW NJW 2006, 635, 636. 1440 Ausf Thäle VBlBW 1999, 48 ff. 1441 Deshalb darf (gestützt auf die Generalklausel) gegenüber einem Pressefotografen anlässlich eines Polizeieinsatzes grds kein Fotografierverbot verhängt werden; VGH BW VBlBW 2011, 23 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/11; BVerwG NJW 2012, 2676 Tz 35 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/14. 1442 Schönfelder Nr 67. 1443 VGH BW VBlBW 2001, 102 (m Bespr Eckstein VBlBW 2001, 97)oJK Pol- u OrdR Sicherstellung/Beschlagnahme/2; OVG RP NVwZ-RR 1998, 237; abl im konkreten Fall VGH BW NVwZ-RR 1995, 527oJK PolG BW § 34/1; OVG SL AfP 2002, 545; zu Rechtsschutzfragen BVerwGE 109, 203oJK VwGO § 113 I/15.

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Pressefotografen wurde gerichtlich gebilligt, weil das Fotografieren eines Polizeieinsatzes den erfolgreichen Zugriff auf einen gesuchten Straftäter zunichte zu machen drohte.1444 Zum Schutz von SEK-Beamten ist die (vorübergehende) Beschlagnahme des Speichermediums nach Anfertigung der Aufnahmen eines Polizeieinsatzes gegenüber dem Fotografierverbot als milderes Mittel qualifiziert worden, weil im Ergebnis eine Recherche und eine Bildberichterstattung nicht gänzlich ausgeschlossen würden.1445 Auch unabhängig von Polizeieinsätzen spielt die Sicherstellung (Beschlagnahme) eines Lichtbildfilms bzw einer Kamera zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Recht am eigenen Bild) in der Praxis mitunter eine Rolle. Das war zB der Fall, als ein Unbekannter eine Bibliotheksnutzerin ohne deren Einwilligung fotografierte; da der Unbekannte den Film freiwillig nicht herausgab, durfte die Polizei den Film beschlagnahmen und in Verwahrung nehmen.1446 324 In der jüngeren Vergangenheit hat die Sicherstellung mit der „präventiven Gewinnabschöpfung“ ein neues Anwendungsfeld erhalten.1447 Dabei geht es – da Scheine und Münzen taugliche Gegenstände einer Sicherstellung sind – um den präventiv-polizeilichen Zugriff auf Bargeld, das ganz offensichtlich deliktischer Herkunft (zB aus Drogenhandel) ist und aller Wahrscheinlichkeit nach wieder für kriminelle Aktivitäten eingesetzt oder der Geldwäsche zugeführt werden soll. Die „präventive Gewinnabschöpfung“ kann zum Schutz eines unbekannten Eigentümers erfolgen (Rn 327), aber auch der Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr dienen. Die Verwaltungsrechtsprechung bejaht die rechtliche Zulässigkeit der Sicherstellung – auch nach Einstellung eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens (zB gemäß § 170 II StPO) –, wenn das Bargeld auf Grund der vorliegenden Erkenntnisse aller Wahrscheinlichkeit nach aus illegalen Geschäften stammt und dafür unmittelbar wieder eingesetzt oder „gewaschen“ werden soll.1448 Im Schrifttum wird darin ein „Verfassungsbruch“ erblickt, falls das Landesrecht keine Bestimmung zur Einziehung sichergestellter Sachen (Rn 329) kennt.1449 Das BVerfG hat die Frage (am Maßstab des Art 14 GG) offen gelassen (Rn 327). Wertungsprobleme im konkreten Fall wirft zT die Sicherstellung zum Eigentumsschutz 325 (vgl Rn 319) auf. Es geht idR um den Schutz eines nicht (richtig) gesicherten Kfz (zB offen stehende Seitenfenster). Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung ist die polizeiliche Prognose grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass wegen eines zu befürchtenden Diebstahls des Kfz oder dessen Beschädigung eine Sicherstellung dem mutmaßlichen Willen des Eigentümers (Berechtigten) entspricht.1450 Anderes gilt allenfalls auf Grund konkreter gegenläufiger Anhaltspunkte im Einzelfall.1451 Nach allgemeiner Lebenserfahrung kann ein geöffnetes Autofenster Dritten Anlass bieten, Zugriff auf das Kfz zu nehmen, Sachen aus dem Wageninneren zu entwenden oder das Fahrzeug zu beschädigen. Die obergerichtliche Rechtsprechung verdient daher Zustimmung.

_____ 1444 SächsOVG SächsVBl 2008, 89 (m Anm Petersen-Thrö 82). 1445 VGH BW VBlBW 2011, 23, 24 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/11; bestätigt durch BVerwG NJW 2012, 2676 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/14. 1446 VGH BW NVwZ-RR 2008, 700, 701 o JK PolG BW § 33/1. 1447 Überblick zur Rspr bei Rohde/Schäfer/Röwekamp NdsVBl 2012, 145 ff. 1448 Leitentscheidung: NdsOVG NVwZ-RR 2009, 954. 1449 Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 692. 1450 BayVGH NJW 2001, 1960; HessVGH NJW 1999, 3793oJK HSOG § 40/1; OVG RP NVwZ-RR 1989, 300; SächsOVG SächsVBl 2002, 268; LKV 2011, 564 o JK SächsPolG § 29/1; SächsVBl 2012, 71 (m Anm Petersen-Thrö); zur Sicherstellung am Bspl eines als gestohlen gemeldeten Kfz BayVGH NJW 2009, 3384. 1451 VG Frankfurt/M NJW 2000, 3224 (mit zweifelhaftem Vergleich zu Cabriolets); VG Stuttgart NVwZ-RR 2000, 591 (mit zweifelhaftem Hinweis auf automatische Wegfahrsperre); VG Berlin LKV 2002, 293 (mit zweifelhafter Differenzierung zwischen Kfz mit Berliner und auswärtigem Kennzeichen).

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Die Sicherstellung zum Schutz des Eigentümers (oder rechtmäßigen Inhabers der tatsäch- 326 lichen Gewalt) vor Verlust oder Beschädigung seiner Sache findet auch beim behördlichen Zugriff auf „Hehlerware“ Anwendung. An sich ist der Eigenbesitzer durch die Eigentumsvermutung des § 1006 I 1 BGB geschützt; danach wird zu seinen Gunsten vermutet, er habe das Eigentum zugleich mit dem Eigenbesitz erworben.1452 Die Vermutung kann jedoch durch aussagekräftige Indizien widerlegt werden; dann ist die Sicherstellung der Ware zulässig.1453 Die „präventive Gewinnabschöpfung“ zum Schutz eines unbekannten Eigentümers 327 (Rn 324) sieht sich ebenfalls der Eigentumsvermutung für den Eigenbesitzer nach § 1006 I 1 BGB ausgesetzt. Für eine spezielle Fallgestaltung hat das BVerfG die Frage unentschieden gelassen, 4b die Sicherstellung von Bargeld auf Grund der polizeirechtlichen Eingriffsermächtigung (vgl Rn 319) mit Art 14 GG vereinbar ist; der Besitzer des Bargelds konnte sein Eigentum daran wegen einer Widerlegung der Vermutung des § 1006 I 1 BGB nicht beweisen, der (wahre) Eigentümer der Banknoten war unbekannt und die Behörde erachtete sein Auffinden als ausgeschlossen, so dass die Sicherstellung eine dauerhafte Entziehung des Eigentums zu Gunsten des Staates bewirkte.1454 Jene Problematik stellt sich kaum, wenn der Auffassung gefolgt wird, die gesetzliche Vermutung des § 1006 I 1 BGB könne nur durch den Beweis des Gegenteils widerlegt werden; dann reicht es für die Rechtmäßigkeit der Sicherstellung von Banknoten nicht aus, dass deren Herkunft nicht abschließend geklärt ist und das Geld womöglich einem unbekannten Dritten gehört.1455 Diese (zu) strenge Auffassung dürfte § 1006 I 1 BGB überdehnen. Wird ein nahe liegender oder vom Besitzer vorgetragener Erwerbsgrund ausgeräumt, ist die Eigentumsvermutung widerlegt.1456 Dann kann das Bargeld (vorläufig) sichergestellt werden,1457 zumal es beim Wegfall der Voraussetzungen für den behördlichen Zugriff ohnehin herausgeben werden muss (Rn 328). Lässt sich der Eigentümer des Bargeldes nicht ermitteln, vermag die Befugnis zur Sicherstellung eine dauerhafte Entziehung der Geldnoten und Münzen zu Gunsten des Staates nicht zu rechtfertigen; insoweit verlangt Art 14 GG in der Tat eine gesetzliche Regelung zur Einziehung (dazu bereits Rn 324), damit der Eigentumsübergang auf den Staat stattfinden kann (Rn 329). Die Verwahrung sichergestellter (bzw beschlagnahmter) Sachen muss nach den gesetz- 328 lichen Vorgaben1458 erfolgen. Insbesondere ist dem Betroffenen eine Bescheinigung auszustellen, die den Grund der Sicherstellung erkennen lässt und die sichergestellten Sachen bezeichnet; ersatzweise ist über die Sicherstellung eine Niederschrift anzufertigen. Wertminderungen an den verwahrten Sachen sind zu vermeiden. Die Sachen sind zu verzeichnen und so zu kennzeichnen, dass Verwechslungen vermieden werden. Sind die Voraussetzungen der Sicherstellung entfallen, ist die Sache dem Berechtigten herauszugeben; 1459 dieser hat hierauf einen Anspruch. Die Herausgabe ist aber ausgeschlossen, wenn dadurch erneut die Voraussetzungen für eine Sicherstellung eintreten würden.1460 Die Herausgabe einer zum Eigentumsschutz sichergestellten Sache

_____ 1452 Berger in: Jauernig, BGB, 14. Aufl 2011, § 1006 Rn 1. 1453 VG Hannover NVwZ-RR 2008, 616; VG Köln NVwZ-RR 2010, 352, 353. 1454 BVerfG-K NVwZ 2012, 239, 240. 1455 BayVGH NVwZ-RR 2012, 686, 687; restriktiv auch Rachor in: Lisken/Denninger E Rn 695. 1456 Berger in: Jauernig, BGB, § 1006 Rn 5. 1457 Söllner DVBl 2012, 655, 656 f (m Krtik an der Entscheidung des BayVGH). 1458 § 32 III PolG BW; Art 26 BayPAG; § 39 ASOG Bln; § 26 BbgPolG; § 24 PolG Bremen; § 14 III HbgSOG; § 41 HessSOG; §§ 62, 63 SOG MV; § 27 NdsSOG; § 44 PolG NW; § 23 POG RP; § 22 PolG SL; § 29 SächsPolG; § 46 SOG LSA; §§ 211, 212 LVwG SH; § 28 ThürPAG, § 23 ThürOBG; § 48 BPolG. 1459 §§ 32 IV, 33 III PolG BW; Art 28 BayPAG; § 41 ASOG Bln; § 28 BbgPolG; § 26 PolG Bremen; § 14 III 1 HbgSOG; § 43 HessSOG; § 61 II, III SOG MV; § 29 NdsSOG; § 46 PolG NW; § 25 POG RP; § 24 PolG SL; §§ 26 IV, 27 III SächsPolG; § 48 SOG LSA; § 30 ThürPAG, § 25 ThürOBG; § 50 BPolG; vgl ferner § 210 II, III LVwG SH. 1460 VGH BW VBlBW 2010, 240 (am Bspl eines beschlagnahmten bissigen Hundes); NdsOVG NVwZ-RR 2009, 954, 957 (am Bspl sichergestellten Geldes aus Drogenhandel); VG Hannover NdsVBl 2001, 228, 229 (am Bspl eines sichergestellten Radarwarngerätes); VG Köln NVwZ-RR 2010, 352, 354 (am Bspl gestohlener Ware wegen drohender Hehlerei).

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wird auch bei ungeklärten Eigentumsverhältnissen verneint; deshalb durfte die Polizei ein als gestohlen gemeldetes und sichergestelltes Kfz nicht an den russischen Halter freigeben, da das Eigentumsrecht an dem Fahrzeug nicht geklärt war.1461 Entstehen durch die Verwahrung Kosten, sind diese vom Eigentümer oder rechtmäßigen Inhaber der tatsächlichen Gewalt einer sichergestellten (bzw beschlagnahmten) Sache zu tragen.1462 Zu ersetzen sind aber nur die Aufwendungen, die die Polizei bzw Ordnungsbehörde zum Zweck der Verwahrung macht; Tagespauschalen nach Art einer Vergütung können nicht verlangt werden.1463 Der Behörde steht ein Zurückbehaltungsrecht zu; danach kann die Herausgabe der Sache von der Zahlung der (Verwahrungs-)Kosten abhängig gemacht werden.1464 Die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts wird bei einem sichergestellten Kfz nicht dadurch ermessensfehlerhaft, dass der Kostenpflichtige geltend macht, zur Begleichung der Kosten nicht in der Lage zu sein und den drohenden Eigentumsverlust durch Verwertung des Kfz nicht abwenden zu können; ein Verstoß gegen das Übermaßverbot durch Ausübung des Zurückbehaltungsrechts kommt allenfalls in Betracht, wenn der Kostenpflichtige glaubhaft macht, die Kosten nicht kurzfristig begleichen zu können und das sichergestellte Kfz aus zwingenden Gründen dringend und unverzüglich zu benötigen.1465 329 Im Landesrecht ist zT die Einziehung beschlagnahmter bzw sichergestellter Sachen vorgesehen.1466 Sie ist zulässig, wenn die Sache nicht mehr herausgegeben werden kann, ohne dass die Voraussetzungen der Beschlagnahme bzw Sicherstellung erneut eintreten oder wenn die Verwertung nicht möglich ist.1467 Auf Grund der privatrechtsgestaltenden Wirkung der Einziehungsanordnung geht das Eigentum an der Sache vom bisherigen Eigentümer auf den Rechtsträger der einziehenden (Polizei-)Behörde über. Der Eigentumsübergang erfolgt aber erst dann, wenn die (Beschlagnahme-)Verfügung vollzogen ist (durch freiwillige Herausgabe der Sache oder durch Vollstreckung der Herausgabeverpflichtung mittels unmittelbaren Zwangs, also Wegnahme) und die Behörde amtlichen Gewahrsam begründet hat; nur so können – dem Grundmodell des § 929 S 1 BGB folgend – Eindeutigkeit und Klarheit der Eigentumsverhältnisse gewährleistet werden.1468 Für die Zeit nach der Einziehung können vom früheren Eigentümer der eingezogenen Sache Verwahrungskosten nicht verlangt werden.1469 330 Detaillierte Bestimmungen enthalten die Gesetze zur Verwertung (zB durch Versteigerung oder Verkauf), Unbrauchbarmachung und Vernichtung sichergestellter Sachen.1470 Wird die Sache (zB ein Kfz) verwertet, hat der Eigentümer (Berechtigte) einen Anspruch auf Herausgabe des um die rechtmäßigen Verwertungskosten (zB Auktionskosten, Transportkosten) geminderten Erlöses.1471 Ein rechtswidrig in einem Kfz installiertes und daher sichergestelltes Radarwarn-

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1461 BayVGH NJW 2009, 3384, 3385. 1462 § 3 I 3 DVO PolG BW; Art 28 III 2 BayPAG; § 41 III 1 ASOG Bln; § 28 III 1 BbgPolG, § 23 Nr 1 lit g BbgOBG; § 26 III 1 PolG Bremen; § 14 III 3 HbgSOG; § 43 III 1 HessSOG; § 29 III 1 NdsSOG; § 46 III 1 PolG NW, § 24 Nr 13 OBG NW; § 25 III 1 POG RP; § 24 III 1 PolG SL; § 29 I 3 SächsPolG; § 48 III 1 SOG LSA; § 30 III 2 ThürPAG, § 25 III 2 ThürOBG; § 50 III 1 BPolG. 1463 VGH BW NJW 2007, 1375 oJK AllgVwR öff-rechtl Verwahrung/1. 1464 § 3 I 4 DVO PolG BW; Art 28 III 3 BayPAG; § 41 III 3 ASOG Bln; § 28 III 5 BbgPolG; § 26 III 3 PolG Bremen; § 43 III 4 HessSOG; § 61 III SOG MV; § 29 III 3 NdsSOG; § 46 III 4 PolG NW; § 25 III 3 POG RP; § 24 III 3 PolG SL; § 48 III 4 SOG LSA; § 30 III 4 ThürPAG, § 25 III 4 ThürOBG; § 50 III 3 BPolG. 1465 OVG Hamburg NJW 2007, 3513 oJK HbgSOG § 14/1. 1466 § 34 I PolG BW; § 25 IV PolG Bremen; § 14 VI HbgSOG; § 28 I SächsPolG; § 213 IV LVwG SH. 1467 Voraussetzung ist die Rechtmäßigkeit einer Beschlagnahme (bzw Sicherstellung) VGH BW NVwZ-RR 1995, 527oJK PolG BW § 34/1. 1468 VGH BW VBlBW 2010, 240. 1469 VGH BW VBlBW 2007, 351. 1470 § 34 II–IV PolG BW u § 3 II, III DVO PolG BW; Art 27 BayPAG; § 40 ASOG Bln; § 27 BbgPolG; § 25 PolG Bremen; § 14 IV–VI HbgSOG; § 42 HessSOG; § 64 SOG MV; § 28 NdsSOG; § 45 PolG NW; § 24 POG RP; § 23 PolG SL; §§ 28 II–IV, 29 II, III SächsPolG; § 47 SOG LSA; § 213 LVwG SH; § 29 ThürPAG, § 24 ThürOBG; § 49 BPolG. 1471 NdsOVG NdsVBl 2012, 192 (aber Herausgabe erzielter Zinsen durch Anlage des Verwertungserlöses als „Nutzungen“). – Befugnis zur Verwertung einer Immobilie abl OVG RP DVBl 2012, 1443 (m Anm Söllner DVBl 2013, 45).

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gerät (vgl Rn 322) darf vernichtet werden, weil nur so zuverlässig verhindert werden kann, dass dieses Gerät erneut illegal im Straßenverkehr eingesetzt wird.1472 Sichergestellte Tiere können, wenn eine Verwertung ausscheidet und die weiteren Voraussetzungen für die „Vernichtung“ vorliegen, getötet werden.1473

c) Informationserhebung Als Konsequenz des Volkszählungsurteils des BVerfG1474 sind den klassischen Standardbefug- 331 nissen neue Standardbefugnisse1475 hinzugefügt worden (Rn 259), die vornehmlich dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung1476 Rechnung tragen sollen. Dieser Teil des Polizeiund Ordnungsrechts ist am disparatesten; der MEPolG von 1986 (Rn 42) vermag insoweit keine vereinheitlichende und systematisierende Prägung zu entfalten. Schon die Terminologie in den Landesgesetzen ist uneinheitlich. Zumeist wird zwischen „Datenerhebung“ und „Datenverarbeitung“ unterschieden. In Wahrheit geht es um die Beschaffung von Informationen und deren Verarbeitung. Das Polizeirecht ist in diesem Bereich als spezifisches Informationsrecht zu begreifen.1477 Systematisch kann zwischen der Erhebung (Beschaffung, Gewinnung) von Informationen und deren Verarbeitung (Speichern, Verändern, Übermitteln, Sperren, Löschen) unterschieden werden (vgl auch § 3 III, IV BDSG sowie Parallelbestimmungen im LDSG). Etliche der klassischen Standardmaßnahmen (zB Befragung, Identitätsfeststellung, erkennungsdienstliche Maßnahmen) dienen ebenfalls der Informationsgewinnung. Die nachfolgende Darstellung konzentriert sich auf Grundlinien des spezifischen Polizeiinformationsrechts. aa) Allgemeine Grundsätze. Das Polizeirecht der Informationserhebung ist eine in hohem 332 Maße grundrechtssensible Materie. 1478 Die spezifischen informationellen Standardbefugnisse zielen idR auf die Informationsgewinnung im Vorfeld konkreter Gefahrensituationen.1479 Das Stichwort von der „Informationsvorsorge“ 1480 deutet die Problematik an.1481 Polizeiliche Informationsgewinnung reicht hin bis zum Eingriff in Amts- und Berufsgeheimnisse.1482 Landesverfassungsgerichtlich sind der Landesgesetzgebung verschiedentlich Grenzen gezogen worden; 1483 hinzuweisen ist auf Verfassungsschranken beim Einsatz „besonderer Mittel“ der heimlichen Informationsbeschaffung (Rn 338) durch die Polizei,1484 Grenzen der Wohnraumüberwachung und den Schutz von Amts- und Berufsgeheimnisträgern 1485 sowie spezifische Anforderungen beim „Großen Lauschangriff“ (Art 13 IV GG).1486 Außerdem gelten die verfassungsrechtlichen

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1472 BayVGH NJW 2008, 1549, 1550. 1473 OVG NW NVwZ 2001, 227. 1474 BVerfGE 65, 1; dazu Krause JuS 1984, 268; Kunig JURA 1993, 595. 1475 Dazu Überblick bei Glaser JURA 2009, 742 ff. 1476 Dazu Schoch JURA 2008, 352; Britz JA 2011, 81; vertiefend Schoch FS Stern, 2012, 1491; Masing NJW 2012, 2305. 1477 So bereits Peitsch ZRP 1992, 127; Pitschas ZRP 1993, 174. 1478 Kutscha LKV 2008, 481 ff; Masing JZ 2011, 753 ff; vertiefend Koch Datenerhebung und -verarbeitung in den Polizeigesetzen der Länder, 1999, 25 ff; Bonin Grundrechtsschutz durch verfahrensrechtliche Kompensation bei Maßnahmen der polizeilichen Informationsvorsorge, 2012, 168 ff; Petri in: Lisken/Denninger, G Rn 1 ff. 1479 Soiné DÖV 2000, 173 ff; Schoch Staat 43 (2004) 347, 352 ff. 1480 Knemeyer FS Rudolf, 2001, 483; krit Trute GS Jeand’Heur, 1999, 403, 405 ff. 1481 Überblick dazu bei Kugelmann DÖV 2003, 781, 783 ff. 1482 Würtenberger/Schenke JZ 1999, 548. – Zum Schutz von Berufsgeheimnisträgern: § 9a PolG BW (dazu Trurnit VBlBW 2010, 413, 416 ff); § 16 V PolG NW; ferner ThürVerfGH DVBl 2013, 111, 113 f: Verfassungswidrigkeit von § 5 III bis VI ThürPAG. 1483 Anders BayVerfGH JZ 1995, 299 (m Anm Schrader/Werner): Verfassungsmäßigkeit der Art 30–49 BayPAG. 1484 SächsVerfGH LKV 1996, 273oJK SächsVerf Art 16 I 2/1. 1485 BbgVerfG LKV 1999, 450. 1486 LVerfG MV LKV 2000, 345.

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Klärungen, die das BVerfG in seiner Entscheidung zu den einschlägigen StPO-Vorschriften zur akustischen Wohnraumüberwachung vorgenommen hat,1487 als maßgebliche grundrechtliche Direktiven für das Gesetzesrecht auch im Polizei- und Ordnungsrecht. 333 In einer Reihe von Entscheidungen hat das BVerfG verfassungsrechtliche Standards nach Maßgabe des Grundgesetzes unmittelbar zur Ausgestaltung des Polizei- und Ordnungsrechts entwickelt. Die Entscheidung zur TK-Überwachung zwecks Strafverfolgungsvorsorge nach § 33a NdsSOG aF hat nicht nur Klärungen zur Gesetzgebungskompetenz erbracht (Rn 16), sondern auch Anforderungen zum rechtsstaatlichen Gebot der Normenbestimmtheit und Normenklarheit formuliert und Einzelheiten zum Verhältnismäßigkeitsprinzip bei Vorfeldermittlungen entwickelt.1488 Der Beschluss zur präventiven polizeilichen Rasterfahndung (dazu auch Rn 13, 351) hat einerseits deutlich gemacht, dass für die Maßnahme das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr von Verfassungs wegen nicht gefordert ist, dass aber tatsächliche Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für die betroffenen Rechtsgüter gegeben sein müssen.1489 Die Entscheidung zur Videoüberwachung öffentlicher Plätze (näher dazu Rn 337) hat herausgestellt, dass es sich im Rechtssinne um verdachtlose Eingriffe mit großer Streubreite (überwiegend Nichtstörer betreffend) handelt, für die allgemeine Vorschriften nach dem LDSG als hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlage nicht ausreichen.1490 Im Urteil zur (verfassungswidrigen) automatisierten Erfassung von Kfz-Kennzeichen (dazu auch Rn 339) nach § 14 V HessSOG (aF) und § 184 V LVwG SH (aF) hat das BVerfG insbesondere die Verknüpfung der rechtsstaatlichen Anforderungen der Bestimmtheit und Klarheit einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage mit dem Gebot der Zweckbindung der erhobenen Information herausgestellt. 1491 In der Entscheidung zur (verfassungswidrigen) Online-Durchsuchung nach dem VerfSchG NW hat das BVerfG für Fälle des heimlichen Zugriffs auf ein informationstechnisches System allgemeine, ausdrücklich auch Polizeibehörden einbeziehende Ausführungen zu Eingriffsermächtigungen mit präventiver Zielsetzung gemacht; danach müssen (für Vorfeldmaßnahmen) tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für hinreichend gewichtige Schutzgüter bestehen.1492 Die Landesgesetzgeber reagieren auf die Verfassungsrechtsprechung und passen das Polizei- und Ordnungsrecht, soweit notwendig, den verfassungsrechtlichen Anforderungen an.1493 Die spezifische polizeiliche Informationsbeschaffung unterliegt als Grundrechtseingriff dem 334 Gesetzesvorbehalt. Personenbezogene Informationen dürfen – ohne Einwilligung des Betroffenen – nur zu den im jeweiligen Gesetz genannten Zwecken erhoben werden. Danach gelten wichtige allgemeine Grundsätze der Informationserhebung: 1494 Nach dem Grundsatz der Unmittelbarkeit sind personenbezogene Informationen idR bei der betroffenen Person zu erheben; der Grundsatz der Offenheit der Datenerhebung verbietet die heimliche und ohne Wissen der betroffenen Person erfolgende Informationsgewinnung und erklärt die verdeckte Datenerhebung zur

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1487 BVerfGE 109, 289, 325 ff; dazu Lepsius JURA 2005, 433 ff; ferner Denninger ZRP 2004, 101; I. Geis CR 2004, 338; Gusy JuS 2004, 457; Ruthig GA 2004, 587; Haas NJW 2004, 3082; Kutscha NJW 2005, 20. 1488 BVerfGE 113, 348 oJK GG Art 10/3; dazu Bespr Lepsius JURA 2006, 929. 1489 BVerfGE 115, 320 oJK GG Art 2 I iVm 1 I/41; dazu Bespr Volkmann JURA 2007, 132. 1490 BVerfG-K NVwZ 2007, 688; dazu Bespr Fetzer/Zöller NVwZ 2007, 775; Saurer DÖV 2008, 17. 1491 BVerfGE 120, 378 o JK GG Art 2 I iVm 1 I/48; dazu Bespr Cornils JURA 2010, 443; ferner Breyer NVwZ 2008, 824; Roßnagel NJW 2008, 2547. 1492 BVerfGE 120, 274, 328 ff; dazu Bespr Hömig JURA 2009, 207; Wegener/Muth JURA 2010, 847; ferner Hornung CR 2008, 299; Britz DÖV 2008, 411; Eifert NVwZ 2008, 521; Volkmann DVBl 2008, 590; Kutscha NJW 2008, 1042; Roßnagel/Schnabel NJW 2008, 3534; Sick VBlBW 2009, 85. 1493 Zu BW Trurnit VBlBW 2010, 413 ff; zu Bay Käß BayVBl 2008, 225 ff; BayVBl 2009, 360 ff, BayVBl 2010, 1 ff; zu Bbg Roggan NJ 2007, 199 ff; zu Hbg Pünder NordÖR 2005, 349 ff u 497 ff; zu Nds Starck NdsVBl 2008, 145 ff. 1494 § 19 PolG BW; Art 30 BayPAG; § 18 ASOG Bln; § 29 BbgPolG; § 27 PolG Bremen; § 2 HbgGDatPol; § 13 VI–VIII HessSOG; § 26 SOG MV; § 30 NdsSOG; § 9 III–VI PolG NW; 26 V POG RP; § 25 PolG SL; § 36 SächsPolG; § 15 V–VII SOG LSA; § 178 LVwG SH; § 31 ThürPAG; § 21 III, IV BPolG.

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Ausnahme; der Grundsatz der Rechtsbelehrung bei der Datenerhebung schafft Transparenz und sichert den Persönlichkeits- und Rechtsschutz der betroffenen Person. bb) Rechtsgrundlagen. Die polizeilichen Informationsgewinnungsbefugnisse im Rahmen der 335 Gefahrenabwehr ergeben sich aus besonderen Ermächtigungsgrundlagen; sie sind in zumeist umfänglichen Gesetzesvorschriften detailliert geregelt. Grund und Grenzen aller Arten der Informationserhebung sind der Polizei gesetzlich vorgegeben. Die offene Gewinnung von Informationen (Rn 336 f) kann von den besonderen Mitteln der Informationserhebung (Rn 338 ff), bei denen es idR um verdeckte Maßnahmen geht, unterschieden werden. Die Generalermächtigung zur Informationserhebung 1495 erlaubt die Gewinnung personen- 336 bezogener Informationen zur Gefahrenabwehr im überkommenen Sinne und zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten (Rn 12 ff). Teilweise sind weitere Befugnisse zB zur Vorbereitung für Hilfeleistungen in Gefahrenfällen, zur Vorbereitung der Gefahrenabwehr oder zum Schutz privater Rechte vorgesehen.1496 Spezielle Befugnisnormen bestehen für Bild- und Tonaufzeichnungen bei öffentlichen Ver- 337 anstaltungen und Ansammlungen (zT auch Versammlungen) sowie an besonders gefährdeten Objekten und auf öffentlichen Plätzen, zT auch in öffentlichen Verkehrseinrichtungen.1497 Dabei handelt es sich um einen praktisch besonders bedeutsamen Anwendungsfall der offenen Informationserhebung, der exemplarisch wirkt. Die Videoüberwachung im öffentlichen Raum 1498 wird verfassungsrechtlich und rechtspolitisch kontrovers diskutiert.1499 Der VGH BW hat die polizeigesetzliche Befugnisnorm zur Videoüberwachung öffentlicher Räume (obschon auch in der Beobachtung bestimmter Örtlichkeiten mittels Bildübertragung einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erblickend) für verfassungsrechtlich gerechtfertigt erachtet; als Maßnahme der Gefahrenvorsorge, die nicht das Vorliegen einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit voraussetze, dürfe die Videoüberwachung in restriktiver Handhabung der Befugnisnorm jedoch nur bei „Kriminalitätsbrennpunkten“ zum Einsatz kommen.1500 Das BVerfG hat in einem obiter dictum die grundsätzliche Zulässigkeit der Videoüberwachung bestätigt; die Videoüberwachung öffentlicher Einrichtungen mit Aufzeichnung des gewonnenen Bildmaterials könne auf der Grundlage einer hinreichend bestimmten und normenklaren Ermächtigungsgrundlage verfassungsmäßig sein, wenn für sie ein hinreichender Anlass bestehe und Überwachung sowie Aufzeichnung insbesondere in räumlicher und zeitlicher Hinsicht sowie im Hinblick auf die Auswertung der Daten das Übermaßverbot wahrten.1501 Die offene Videoüberwachung öffentlicher Orte ist demnach (insbesondere zur Verhütung von Straftaten) zulässig,

_____ 1495 § 20 II–V PolG BW; Art 31 BayPAG; § 18 I 2, 3, § 19 ASOG Bln; § 30 BbgPolG; § 28 PolG Bremen; §§ 5, 6 HbgGDatPol; § 13 HessSOG; § 27 SOG MV; § 31 NdsSOG; §§ 9 I, III, 11 PolG NW; § 26 I–IV POG RP; § 26 PolG SL; § 36 I, III SächsPolG; § 15 I–IV SOG LSA; § 179 LVwG SH; § 32 ThürPAG; § 21 I, II BPolG. 1496 Einzelheiten bei Koch Datenerhebung (Fn 1478), 93 ff; Petri in: Lisken/Denninger, G Rn 170 ff. 1497 § 21 PolG BW; Art 32 BayPAG; §§ 24, 24a, 24b ASOG Bln; § 31 BbgPolG; § 29 I-IV PolG Bremen; § 8 HbgGDatPol; § 14 HessSOG; § 32 I-IV SOG MV; § 32 I-III NdsSOG; §§ 15, 15a PolG NW; § 27 POG RP; § 27 PolG SL; § 38 SächsPolG; § 16 SOG LSA; § 184 LVwG SH; § 33 I-V ThürPAG; § 26 BPolG. 1498 Monographisch Büllesfeld Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze zur Kriminalitätsvorsorge, 2002; Gras Kriminalprävention durch Videoüberwachung, 2003; Bartsch Rechtsvergleichende Betrachtung präventiv-polizeilicher Videoüberwachungen öffentlich zugänglicher Orte in Deutschland und in den USA, 2004; ferner Bücking (Hrsg) Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Räume, 2007. 1499 Waechter NdsVBl 2001, 77 mit Erwiderung Schwabe NdsVBl 2002, 39; Roggan NVwZ 2001, 134 mit Erwiderung Maske NVwZ 2001, 1248; Haase ThürVBl 2000, 169 und 197; Vahle NVwZ 2001, 165; Schwarz ZG 2001, 246; Fischer VBlBW 2002, 89; Schmitt Glaeser BayVBl 2002, 584; Schewe NWVBl 2004, 415; Henrichs BayVBl 2005, 289; Zöller NVwZ 2005, 1235; Wohlfarth LKRZ 2007, 54; Robrecht SächsVBl 2008, 238; Siegel VerwArch 102 (2011), 159. 1500 VGH BW NVwZ 2004, 498oJK GG Art 2 I iVm 1 I/38; vgl dazu auch Anm Stephan VBlBW 2004, 28; v Stechow/v Foerster MMR 2004, 202. 1501 BVerfG-K NVwZ 2007,688, 691.

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wenn sie nicht „ins Blaue hinein“ erfolgt und mit Blick auf die Zielsetzung der Gefahrenabwehr die Verhältnismäßigkeit wahrt.1502 Dies ist am Beispiel der offenen polizeilichen Videoüberwachung der Hamburger Reeperbahn gerichtlich bestätigt worden; die entsprechende Befugnis dürfe der Landesgesetzgeber der Polizei zum Zwecke der Gefahrenvorsorge einräumen, auch wenn der Bundesgesetzgeber parallel dazu Regelungen zur Strafverfolgungsvorsorge (in der StPO) getroffen habe.1503 Von der Videoüberwachung zur „üblichen“ Gefahrenabwehr ist die polizeiliche Videoüberwachung zur Eigensicherung zu unterscheiden. Ein Teil der Länder hat hierfür Befugnisnormen vorgesehen.1504 Danach können zum Schutz der Polizeibeamten bei Personen- oder Fahrzeugkontrollen an öffentlich zugänglichen Orten Bildaufzeichnungen durch den offenen Einsatz technischer Mittel angefertigt werden; dies gilt auch dann, wenn Dritte unvermeidbar betroffen sind. 338 cc) Besondere Mittel der Informationserhebung. Die Stärkung der Vorfeldbefugnisse der Polizei (Rn 12 ff) hat dazu geführt, dass im Polizeirecht besondere Mittel der Informationserhebung für die Gewinnung personenbezogener Daten vorgesehen worden sind.1505 Instrumente und Methoden hierfür sind insbesondere die (technisch unterstützte) längerfristige Observation, der verdeckte Einsatz technischer Mittel (auch in oder aus Wohnungen) zur Anfertigung von Bildaufnahmen oder Bildaufzeichnungen sowie zum Abhören oder Aufzeichnen des gesprochenen Wortes auf Tonträger, der Einsatz von V-Leuten (Vertrauenspersonen, dh Informanten) und verdeckten Ermittlern sowie die polizeiliche Beobachtung.1506 Neuerdings treten Befugnisse der präventiven Telekommunikationsüberwachung und Online-Durchsuchung hinzu. 1507 Die gesetzlichen Bestimmungen zur längerfristigen Observation erfassen neben der verdeckten auch die offene Observation und werden zur Überwachung entlassener gefährlicher Straftäter (zB nach Ablauf der Sicherungsverwahrung) durch die Polizei als Rechtsgrundlagen herangezogen.1508 Die polizeigesetzlichen Vorschriften zur TK-Überwachung haben nach der Rechtsprechung des BVerfG kompetenzrechtlich nur Bestand, wenn sie nicht auf die Informationsvorsorge für die Verfolgung von Straftaten ausgerichtet sind, sondern der Gefahrenabwehr dienen.1509 Die (wenigen bereits existierenden) Regelungen zur präventivpolizeilichen OnlineDurchsuchung sind so voraussetzungsvoll konzipiert, dass sie als verfassungskonforme Einschränkungen des Rechts auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (Rn 333 aE) erachtet werden können.1510 Landesgesetzliche Vorschriften zur automatisierten Erfassung von Kfz-Kennzeichen 339 durch den Einsatz von Videokameras waren vom BVerfG mangels Bestimmtheit für nichtig er-

_____ 1502 Glaser JURA 2009, 742 f; Gusy JA 2011, 641, 644. 1503 OVG Hamburg MMR 2011, 128 (m krit Bespr Schnabel NVwZ 2010, 1457); bestätigt durch BVerwG NVwZ 2012, 757 (m Bespr Siegel NVwZ 2012, 738) = NordÖR 2012, 413 (m krit Anm Schnabel) o JK GG Art 2 I iVm 1 I/57. 1504 § 19a ASOG Bln; § 31a BbgPolG; § 29 V PolG Bremen; § 8 V HbgGDatPol; § 14 VI HessSOG; § 32 V SOG MV; § 32 IV NdsSOG; § 15b PolG NW; § 27 IV POG RP; § 27 III PolG SL; § 184 III LVwG SH; § 33 VI ThürPAG. 1505 §§ 22 ff PolG BW; Art 33 ff BayPAG; §§ 25 ff ASOG Bln; §§ 32 ff BbgPolG; § 30 ff PolG Bremen; §§ 9 ff HbgGDatPol; §§ 15 ff HessSOG; §§ 33 ff SOG MV; §§ 34 ff NdsSOG; §§ 16 ff PolG NW; §§ 28 ff POG RP; §§ 28 ff PolG SL; §§ 39 ff SächsPolG; §§ 17 ff SOG LSA; §§ 185 ff LVwG SH; §§ 34 ff ThürPAG; § 28 BPolG. §§ 34 III Nr 2 u 3, 34a III 1 Nr 2 u 3, 35 I 1 Nr 2 ThürPAG mangels hinreichender Bestimmtheit für verfassungswidrig erklärend ThürVerfGH DVBl 2013, 111, 115 f. 1506 Näher dazu Huber ThürVBl 2005, 1 ff u 33 ff; Petri in: Lisken/Denninger, G Rn 226 ff. 1507 § 23a PolG BW; Art 34a ff BayPAG; § 25a ASOG Bln; § 33b BbgPolG; §§ 10a ff HbgGDatPol; § 15a HessSOG; §§ 33 ff NdsSOG; §§ 31 ff POG RP; § 28b PolG SL; § 185a LVwG SH; § 34a ThürPAG. – Vgl dazu Bonin Informationsvorsorge (Fn 1478) 110 u 130; zu TK-Auskunftsrechten der Polizei LG Kaiserslautern NJW 2005, 443. 1508 VG Freiburg VBlBW 2011, 239; nur für eine Übergangszeit die Rechtsgrundlage(n) akzeptierend Guckelberger VBlBW 2011, 209 ff; Greve/v Lucius DÖV 2012, 97 ff. 1509 BVerfGE 113, 348 o JK GG Art 10/3; OLG Frankfurt/M NJW 2007, 3292, 3293. 1510 Glaser JURA 2009, 742, 747; Gusy JA 2011, 641, 649.

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klärt worden, da der Zweck der Informationserhebung offen blieb und Ermittlungen „ins Blaue hinein“ möglich sein sollten (Rn 333). Die noch bestehenden bzw neu erlassenen einschlägigen Regelungen1511 sind nur verfassungsmäßig, wenn sie eine bereichsspezifische und normenklare Bestimmung des Anlasses und des Verwendungszwecks der automatisierten Informationserhebung vornehmen; die lapidare Zweckangabe „Abgleich mit dem Fahndungsbestand“ genügt diesen Anforderungen nicht. 1512 Kompetenzrechtlich können die Länder entsprechende Vorschriften erlassen, wenn sie Regelungen zur Gefahrenabwehr (und nicht zur Strafverfolgung) treffen.1513 dd) Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen. Die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit der be- 340 hördlichen (polizeilichen) Informationserhebung weichen vielfach inhaltlich (nicht: strukturell) von den allgemeinen Voraussetzungen der Gefahrenabwehr ab. Das betrifft mitunter das Schutzgut (Rn 341), vor allem die Gefahrenlage (Rn 342) und oftmals die Verantwortlichkeit (Rn 343). In der Tendenz geht es um eine Lockerung der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen. Der Grund hierfür liegt darin, dass die polizeiliche Informationstätigkeit nicht selten im Vorfeld konkreter Gefahren ansetzt und damit unklar sein kann, welcher Kausalverlauf für das möglicherweise bedrohte Schutzgut eintreten wird und ob die informationelle Maßnahme „Störer“, notstandspflichtige „Nichtstörer“ oder unbeteiligte Dritte trifft.1514 Die neuen Standardbefugnisse sind überwiegend auf die Gewinnung von Informationen gerichtet, um dann entscheiden zu können, ob und ggf welche Aktionen zur Abwehr einer konkreten Gefahr oder Beseitigung einer eingetretenen Störung angezeigt sind. Die Lockerungen im materiellen Recht sollen durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen (teilweise) kompensiert werden (Rn 344). Beim Schutzgut bestehen im Vergleich mit den allgemeinen Rechtmäßigkeitsvoraussetzun- 341 gen keine Unterschiede, wenn die informationelle Standardmaßnahme zB zur „Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben“ oder zum Schutz der „öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ ergehen kann. Vielfach ist das Schutzgut jedoch tatbestandlich spezifiziert: Leib, Leben oder Freiheit einer Person; Schutz des Staates (Bestand sowie Sicherheit des Bundes oder eines Landes); Verhütung von Straftaten von erheblicher Bedeutung; bedeutende fremde Sach- oder Vermögenswerte. In derartigen Fällen liegt keine Lockerung der Eingriffsvoraussetzungen vor; vielmehr darf die Informationsgewinnung nur zum Schutz bestimmter Rechte bzw Rechtsgüter vorgenommen werden. Die signifikanteste Modifikation der informationellen Eingriffsbefugnisse auf der Tatbe- 342 standsseite der Ermächtigungsgrundlagen betrifft die Gefahrenlage. Soweit es um Maßnahmen im Gefahrenvorfeld geht, nehmen die einschlägigen Bestimmungen vielfach eine Absenkung der Eingriffsschwellen vor, um informationelle Standardmaßnahmen zu erlauben.1515 Das bedeutet aber nicht, dass die polizeiliche Informationstätigkeit insoweit voraussetzungslos erfolgen könnte. Angesichts des zT intensiven Grundrechtseingriffs darf eine Maßnahme nicht anlasslos („verdachtslos“) und ziellos erfolgen.1516 Diesem verfassungsrechtlichen Postulat tragen die gesetzlichen Eingriffsermächtigungen dadurch Rechnung, dass bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte für ein polizeiliches Vorgehen vorliegen müssen; Formulierungen für die Umschreibung der Vorfeldgefahr sind zB „Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass“, „tatsächliche An-

_____ 1511 § 22a PolG BW; Art 33 II 3 Nr 1 BayPAG; § 36a BbgPolG; § 8 VI 1 HbgGDatPol; § 14a HessSOG; § 43a SOG MV; § 32 V NdsSOG; § 27 III PolG SL; § 33 VII ThürPAG; krit zur Neuregelung in Hessen Bodenbenner/Heinemann NVwZ 2010, 679 ff; krit zur Neuregelung in Bayern Braun BayVBl 2011, 549 ff, m Erwiderung Kempfler/Käß BayVBl 2011, 556 ff. 1512 BVerfGE 120, 378, 409. 1513 Guckelberger NVwZ 2009, 352, 353 f; Glaser JURA 2009, 742, 745. 1514 Möstl JURA 2011, 840, 846 u 847. 1515 Überblick dazu bei Bonin Informationsvorsorge (Fn 1478), 184 ff. 1516 BVerfGE 115, 320, 359 f; E 120, 378, 404 ff.

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haltspunkte“, „erfahrungsgemäß“, „auf Grund einer aktuellen Gefährdungsanalyse“. Damit soll ausgeschlossen werden, dass die Polizei auf Grund bloßer Vermutungen tätig wird.1517 Eine Absenkung der Gefahrenschwelle scheidet aus, wenn die Befugnisnorm keine Lockerung vornimmt, sondern – im Gegenteil – eine qualifizierte Gefahrenlage voraussetzt. Das ist zB für den verdeckten Einsatz von technischen Mitteln in oder aus Wohnungen („Lauschangriff“) der Fall; wird gesetzlich insoweit eine „unmittelbar bevorstehende Gefahr“ verlangt, scheidet eine zeitliche Verlagerung der informationellen Maßnahme in das „Vorfeld“ unter Absenkung der Eingriffsschwelle aus.1518 Kann die Polizei die gesetzlich geforderte gesteigerte Gefahrenlage (allg Rn 150) nicht nachweisen, ist die vorgenommene informationelle Maßnahme rechtswidrig.1519 Die Standardbefugnisse zur Informationserhebung im Gefahrenvorfeld modifizieren zwangs343 läufig die allgemeinen Regeln zur Verantwortlichkeit im Polizei- und Ordnungsrecht.1520 Die Informationsgewinnung nach Maßgabe abgesenkter Eingriffsschwellen (Rn 342) setzt naturgemäß nicht notwendigerweise beim wirklichen „Störer“ an; auch der (notstandspflichtige) „Nichtstörer“ und viele unbeteiligte Dritte können betroffen sein. Manche Maßnahmen (zB Rasterfahndung, Videoüberwachung öffentlicher Räume, automatisierte Kfz-Kennzeichenerfassung) bewirken sogar Grundrechtseingriffe „mit großer Streubreite“.1521 Vor diesem Hintergrund müssen die einschlägigen Befugnisnormen mit hinreichender Bestimmtheit und Normenklarheit den Anlass und Zweck der informationellen Maßnahme normieren und das Übermaßverbot beachten. Dann können Maßnahmen zur Informationsgewinnung aus Gründen der Gefahrenabwehr auch an Nichtverantwortliche adressiert sein. 344 Lockerungen der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für informationelle Gefahrenabwehrmaßnahmen iSd Gefahrenvorsorge verlangen, um rechtsstaatliche Standards im Polizei- und Ordnungsrecht zu wahren, nach Kompensation. Diese kann aus der Natur der Sache heraus nicht im materiellen Recht gefunden werden. Zu aktivieren sind vielmehr verfahrensrechtliche Vorkehrungen, die die Defizite bei den materiellen Schutzstandards (teilweise) kompensieren sollen. Probate Kompensationsmittel sind der Richtervorbehalt, der Behördenleitervorbehalt, die Einschaltung des Datenschutzbeauftragten und die Auferlegung von Konzeptpflichten gegenüber der Polizei; neben diesen einer Maßnahme vorgelagerten Instrumenten stehen als nachgelagerte Mittel Unterrichtungs- und Berichtspflichten zur Verfügung.1522 In den Vorschriften zu den besonderen Mitteln der Informationserhebung sind verfahrensrechtliche Vorkehrungen vielfach vorgegeben. Dabei handelt es sich um Grundrechtsschutz durch Verfahren. Die Missachtung einer bestimmten gesetzlichen Vorgabe (zB Behördenleitervorbehalt beim Einsatz verdeckter Ermittler) führt zur Rechtswidrigkeit der getroffenen Maßnahme.1523 Erfolgt die Informationserhebung nicht offen, kommt der Benachrichtigung der betroffenen Person eine besondere Bedeutung (ua für den Rechtsschutz) zu.1524 Ausnahmen von der Unterrichtungspflicht sind restriktiv zu handhaben. So darf beim Einsatz eines verdeckten Ermittlers von dem gesetzlich ausnahmsweise zulässigen Absehen von der Unterrichtung Betroffener nur Gebrauch gemacht werden, wenn im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte dafür beste-

_____ 1517 Abl zu diesem Konzept K. Weber Die Sicherung rechtsstaatlicher Standards im modernen Polizeirecht, 2011, 182 ff: Unmöglichkeit der Umsetzung der Handlungsanweisungen des BVerfG („Tatsachen-Lösung“) bei der Normgestaltung. 1518 OLG Karlsruhe DVBl 1999, 1229, 1230. 1519 BGH JZ 2004, 454, 457 (m Anm Gusy). 1520 Möstl JURA 2011, 840, 847. 1521 BVerfGE 115, 320, 354; BVerfG-K NVwZ 2007, 688, 691; der Sache nach auch BVerfGE 120, 378, 402 u 430. 1522 Bonin Informationsvorsorge (Fn 1478) 246 ff u 270 ff; K. Weber Sicherung rechtsstaatlicher Standards (Fn 1517) 195 ff. 1523 VG Freiburg VBlBW 2006, 152, 154. 1524 BVerfG-K NVwZ 2001, 1261, 1263; ausf BVerfGE 109, 279, 363 ff.

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hen, dass durch die Unterrichtung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr für den Ermittler begründet wird.1525

d) Informationsverarbeitung Der Informationserhebung folgt die Informationsverarbeitung (insbesondere Speicherung, Ver- 345 änderung, Nutzung); besondere Formen der Nutzung personenbezogener Informationen sind die Informationsübermittlung und der Informationsabgleich. Die Ausgestaltung der Informationsverarbeitung ist detaillierten gesetzlichen Vorschriften unterworfen.1526 Die Divergenzen von Land zu Land sind zT erheblich.1527 aa) Allgemeine Grundsätze. Auch die Informationsverarbeitung umfasst grundrechtssensible 346 polizeiliche Maßnahmen. Dem Gesetzesvorbehalt kommt herausragende Bedeutung zu. Die Polizei darf nach den gesetzlichen Vorschriften (Rn 345) personenbezogene Informationen in Akten oder Dateien speichern, verändern und nutzen, soweit dies gesetzlich (zur Aufgabenerfüllung) zugelassen ist. Bedeutsam ist sodann die Zweckbindung. Die Informationsverarbeitung darf grundsätzlich nur zu dem Zweck erfolgen, zu dem die Informationen (rechtmäßig) erhoben worden sind; Speicherung, Nutzung und Veränderung zu einem anderen Zweck sind zulässig, soweit die Polizei die Informationen zu diesem Zweck erheben dürfte („rechtmäßige Alternativerhebung“).1528 Die Dauer der Speicherung ist auf das notwendige Maß zu beschränken; zur Kontrolle sind Prüfungstermine und Aufbewahrungsfristen festzulegen. Dadurch soll eine unzulässige „Speicherung auf Vorrat“ ausgeschlossen werden. bb) Ermittlungsverfahren und Gefahrenabwehr. Die Praxis ist immer wieder mit der Frage 347 konfrontiert, ob erkennungsdienstliche Unterlagen aus einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren für Zwecke der Gefahrenabwehr (Straftatenverhütung) gespeichert und ggf genutzt werden dürfen. Diese Art der Informationsverarbeitung zielt auf eine Zweckänderung. Die Rechtsprechung 1529 bejaht die Frage, da die Landesgesetzgeber die Änderung des Nutzungszwecks der im Rahmen von Ermittlungsverfahren gewonnenen Informationen mit dem Ziel der weiteren Speicherung und Veränderung zu präventivpolizeilichen Zwecken für zulässig erklärt haben.1530 Bundesrechtlich ist eine solche Zweckänderung ausdrücklich zugelassen (§ 481 I StPO). Damit wird der notwendigen bereichsspezifischen Regelung 1531 Rechnung getragen. Dies gilt grundsätzlich auch, wenn das strafrechtliche Ermittlungsverfahren nach § 153 a II StPO oder § 170 II StPO eingestellt worden ist.1532 Sogar im Falle des Freispruchs soll die fortdauernde Speicherung von personenbezogenen Daten erlaubt sein.1533 Handelt es sich um strafprozessual rechtswidrig er-

_____ 1525 VGH BW NVwZ-RR 2003, 843, 845 f. 1526 §§ 37 ff PolG BW; Art 37 ff BayPAG; §§ 42 ff ASOG Bln; §§ 37 ff BbgPolG; §§ 36a ff PolG Bremen; §§ 14 ff HbgGDatPol; §§ 20 ff HessSOG; §§ 36 ff SOG MV; §§ 38 ff NdsSOG; §§ 22 ff PolG NW; §§ 33 ff POG RP; §§ 30 ff PolG SL; §§ 43 ff SächsPolG; §§ 22 ff SOG LSA; §§ 188 ff LVwG SH; §§ 38 ff ThürPAG; §§ 29 ff BPolG. 1527 Ausf dazu Petri in: Lisken/Denninger, G Rn 367 ff. 1528 Dazu Petri in: Lisken/Denninger, G Rn 379. 1529 VGH BW DVBl 1992, 1309, 1311 f (m Anm Dronsch); BayVGH BayVBl 1996, 468, 469; BayVBl 1998, 115, 116 f (m Anm Limmer BayVBl 1998, 663); HessVGH NJW 2005, 2727, 2728; OVG SH NJW 1999, 1418. 1530 § 38 I PolG BW; Art 38 II 1 BayPAG; § 42 III ASOG Bln; § 39 II BbgPolG; § 36b V PolG Bremen; § 16 II HbgGDatPol; § 20 IV, V HessSOG; § 37 I, II SOG MV; § 39 III NdsSOG; § 24 II PolG NW; § 33 V POG RP; § 30 II PolG SL; § 43 II SächsPolG; § 23 SOG LSA; § 189 I, II LVwG SH; § 40 II ThürPAG; ebenso § 29 II BPolG. 1531 BVerfGE 65, 1, 46. 1532 VGH BW NVwZ-RR 2000, 287; NVwZ 2001, 1289, 1290. – Ausnahmen bestehen nach gesetzlicher Bestimmung zT beim rechtskräftigen Freispruch, bei unanfechtbarer Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens und in bestimmten Fällen der Einstellung des Verfahrens. 1533 BVerfG-K NJW 2002, 3231 (m abl Bespr Hohnstädter NJW 2003, 490) o JK Pol- u OrdR/Datenspeicherung/1.

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hobene Daten, die zum Zweck der Gefahrenabwehr weiter gespeichert und genutzt werden sollen, kommt dies aus rechtsstaatlichen Gründen allenfalls in Betracht, wenn es um den Schutz hochwertiger, verfassungsrechtlich gewährleisteter Rechtsgüter geht.1534 348 Eine Zweckänderung erhobener und gespeicherter personenbezogener Informationen ist auf gesetzlicher Grundlage auch in umgekehrter Richtung zulässig. Zum Zwecke der Gefahrenabwehr erhobene Informationen dürfen nach Maßgabe des Gesetzes zu strafprozessualen Zwecken eingesetzt und verwertet werden; Voraussetzung ist die Rechtmäßigkeit der präventivpolizeilichen Informationsgewinnung. 1535 Zulässig ist sogar eine gesetzliche Ermächtigung zum Zugriff auf „Mischdateien“, die sowohl strafprozessualen als auch präventiven Zwecken dienen, falls die Zugriffszwecke bestimmt sind; es muss erkennbar sein, ob ein Zugriff präventiven oder repressiven oder beiden Zwecken dient.1536 Eine entsprechende Regelung findet sich in § 483 StPO.1537 349 cc) Informationsabgleich. Eine spezifische Ausprägung der polizeilichen Informationsverarbeitung ist der Informationsabgleich. Er dient insbesondere der Verifizierung und Ergänzung des polizeilichen Informationsbestandes. Die Grundform ist der Datenabgleich innerhalb der Polizei. Nach den dazu bestehenden gesetzlichen Vorschriften1538 kann die Polizei personenbezogene Informationen zu Verhaltensverantwortlichen und Zustandsverantwortlichen mit dem Inhalt polizeilicher Dateien (die die Polizei führt oder für die sie eine Berechtigung zum Abruf hat) abgleichen. Der Informationsabgleich bzgl anderer Personen ist zulässig, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dies zur Erfüllung einer (bestimmten) polizeilichen Aufgabe erforderlich ist. Im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung erlangte personenbezogene Informationen kann die Polizei mit dem Fahndungsbestand abgleichen. Eine besondere Form des Informationsabgleichs stellt die Rasterfahndung dar.1539 Bei ihr 350 kann die Polizei von öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen die Übermittlung personenbezogener Informationen bestimmter Personengruppen aus Dateien zum Zweck des automatisierten Abgleichs mit anderen Informationsbeständen verlangen.1540 Es geht va um Namen, Anschriften, Tag und Ort der Geburt sowie fahndungsspezifische Sachkriterien. Die rechtliche Zulässigkeit der Rasterfahndung hängt von der Ausgestaltung des Landesrechts ab.1541 Soweit dieses lediglich verlangt, dass tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass die Rasterfahndung zur Abwehr einer Gefahr erforderlich ist, bestehen keine prinzipiellen Bedenken gegen die Maßnahme. Soweit eine „gegenwärtige“ Gefahr gefordert ist, wurde diese bei der Rasterfahndung zur Terrorismusbekämpfung (nach den Anschlägen vom 11.9.2001 in den USA) überwiegend bejaht,1542 zT aber auch abgelehnt.1543 Die Bejahung der „gegenwärtigen Gefahr“ (vgl Rn 150) ist rechtlich wenig überzeugend. Darüber vermag auch die These von der „Dauergefahr“ kaum

_____ 1534 Näher zu der Problematik Schenke FG Hilger, 2003, 225, 239 ff. 1535 BGHSt 54, 69 = NJW 2009, 3448 Tz 37 ff (zu § 100d V 3 StPO) o JK StPO § 100d/1. 1536 BVerfGE 120, 378, 422. 1537 Dazu Petri in Lisken/Denninger, G Rn 379. 1538 § 39 PolG BW; Art 43 BayPAG; § 28 ASOG Bln; § 40 BbgPolG; § 36h PolG Bremen; § 22 HbgGDatPol; § 25 HessSOG; § 43 SOG MV; § 45 NdsSOG; § 25 PolG NW; § 37 POG RP; § 36 PolG SL; § 46 SächsPolG; § 30 SOG LSA; § 195 LVwG SH; § 43 ThürPAG; § 34 BPolG. 1539 Vgl dazu Fallbearbeitung Unkroth JURA 2004, 703. 1540 Einzelheiten dazu bei Lisken NVwZ 2002, 513 ff; Bausback BayVBl 2002, 713 ff; Achelpöhler/Niehaus DÖV 2003, 49 ff; Meister JA 2003, 83 ff; Horn DÖV 2003, 746 ff; Geis/Möller DV 37 (2004) 431 ff. 1541 § 40 I PolG BW; Art 44 BayPAG; § 47 ASOG Bln; § 46 BbgPolG; § 36i PolG Bremen; § 23 HbgGDatPol; § 26 HessSOG; § 44 SOG MV; § 45a NdsSOG; § 31 PolG NW; § 38 POG RP; § 37 PolG SL; § 47 SächsPolG; § 31 SOG LSA; § 195a LVwG SH; § 44 ThürPAG. 1542 OLG Düsseldorf NVwZ 2002, 629oJK PolG NW § 31/1; OVG RP NVwZ 2002, 1528; KG Berlin DuD 2002, 692. 1543 OLG Frankfurt/M NVwZ 2002, 626 und 627. – Konsequenz hieraus: Änderung des § 26 HessSOG durch G v 6. 9. 2002.

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hinwegzutäuschen. Juristisch hat die Rechtsprechung eine Entgrenzung eingeführter Begriffe vorgenommen, die allenfalls eine nicht mehr vertretbare Konturenlosigkeit bewirkt.1544 Die rechtlich saubere Lösung besteht darin, auf die Qualifizierung „gegenwärtig“ zu verzichten und die einfache konkrete Gefahr (Rn 133) für die Rasterfahndung ausreichen zu lassen. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen hiergegen nicht (Rn 351). Denn eine bestimmte gefahrenabwehrrechtliche „Verdachtsschwelle“ ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben.1545 Das BVerfG hat die Verfassungsmäßigkeit der präventiven polizeilichen Rasterfahndung1546 351 dem Grunde nach bestätigt, in der Sache aber Restriktionen formuliert. Eine gesetzliche Regelung, die zur Rasterfahndung ermächtige, greife dreifach in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein: Übermittlungsanordnung (als Grundlage für die Erfassung und Speicherung der Daten sowie für ihren Abgleich mit weiteren Daten), Speicherung (der übermittelten Daten) und Datenabgleich (als Akt der Auswahl für eine weitere Auswertung).1547 Die Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung wahre aber das Übermaßverbot und sei daher gerechtfertigt, weil ein legitimer Zweck (Abwehr einer Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Staates oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person) mit einem geeigneten und erforderlichen Mittel (Rasterfahndung), das unter bestimmten Prämissen auch angemessen sei, verfolgt werde.1548 Da der Eingriff von hoher Intensität sei (große Zahl Betroffener, erhebliche Streubreite und Einbeziehung zahlreicher Nichtstörer, hohe Persönlichkeitsrelevanz der Daten, Risiko der Datenvorratssammlung und der Erstellung von Persönlichkeitsprofilen, unabsehbare Folgen für die Betroffenen bis hin zur Stigmatisierung etc),1549 sei er allerdings nur dann angemessen, wenn der Gesetzgeber rechtsstaatliche Anforderungen dadurch wahre, dass der Eingriff erst von der Schwelle einer – auf Tatsachen gestützten – konkreten Gefahr für die bedrohten Rechtsgüter an vorgesehen werde.1550 Als Mittel der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung, mit dem ein (bestimmter) Verdacht erst einmal gewonnen werden soll, ist die Rasterfahndung danach unzulässig.1551 Auf Grund dieser verfassungsgerichtlichen Restriktionen kommt die Rasterfahndung präventivpolizeilich kaum zum Einsatz. Denn nur als Maßnahme der Vorfeldaufklärung gerade bei diffusen Gefahrensituationen (va wenig greifbare terroristische Bedrohungen) macht die Rasterfahndung an sich Sinn;1552 ist die Gefahr schon konkret, braucht man die Rasterfahndung kaum noch oder sie kommt zu spät.1553 dd) Informationsübermittlung. Für die Gefahrenabwehr und die Gefahrenvorsorge kann die 352 Informationsübermittlung von großer Bedeutung sein. Es geht um die Weitergabe von personenbezogenen Informationen an einen Dritten; das ist jede Person oder Stelle außerhalb der verantwortlichen Stelle (dh der Polizeibehörde).1554

_____ 1544 Trute DV 36 (2003) 501, 508 ff; Schulze-Fielitz FS Schmitt Glaeser, 2003, 407, 419 ff; krit auch BVerfGE 115, 320, 367 f. 1545 Bull FS Selmer, 2004, 29, 42. 1546 Abzugrenzen von der Rasterfahndung zu Strafverfolgungszwecken nach § 98a StPO; dazu Petri in: Lisken/ Denninger, G Rn 528 ff. 1547 BVerfGE 115, 320, 343 ĺ JK GG Art 2 I iVm 1 I/41; erläuternd Kirchberg CR 2007, 10 ff. 1548 BVerfGE 115, 320, 345 ĺ JK GG Art 2 I iVm 1 I/41. 1549 BVerfGE 115, 320, 347 ff ĺ JK GG Art 2 I iVm 1 I/41; krit bis abl dazu (weil die Maßnahme heimlich erfolge, die meisten Daten gleich wieder gelöscht würden etc) Volkmann JZ 2006, 918, 919 f; ders JURA 2007, 132, 134; Bausback NJW 2006, 1922, 1923 f; Schenke Rn 213c; zust dagegen Robrecht SächsVBl 2007, 80, 85. 1550 BVerfGE 115, 320, 357 u 360 ĺ JK GG Art 2 I iVm 1 I/41. 1551 Volkmann JURA 2007, 132, 135. 1552 Trute DV 42 (2009), 85, 101 mit Hinweis darauf, dass die Forderung einer „konkreten Gefahr“ durch das BVerfG für die Vorfeldmaßnahme wenig überzeugend ist. 1553 Brenneisen/Bock DuD 2006, 685, 690; Bausback NJW 2006, 1922, 1923; Volkmann JURA 2007, 132, 137; Schewe NVwZ 2007, 174, 176. 1554 Petri in: Lisken/Denninger, G Rn 434.

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Die Polizei- und Ordnungsgesetze normieren allgemeine Regeln der Informationsübermittlung,1555 die – bei Divergenzen im Detail – im Kern Übereinstimmung aufweisen: Nach dem Grundsatz der Zweckbindung darf die Polizei personenbezogene Informationen nur zu dem Zweck übermitteln, zu dem sie die Informationen erlangt oder gespeichert hat; Abweichungen hiervon müssen durch Gesetz zugelassen oder zur Abwehr einer Gefahr erforderlich sein und der Empfänger die Informationen auf andere Weise nicht oder nicht rechtzeitig oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand erlangen können. Bestimmte Restriktionen bestehen in Bezug auf den Empfängerkreis und zum Schutz von Berufs- und besonderen Amtsgeheimnissen. Der Empfänger darf die übermittelten Informationen, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nur zu dem Zweck nutzen, zu dem sie übermittelt worden sind. Die Verantwortung für die Informationsübermittlung trägt grundsätzlich die übermittelnde Polizeibehörde; liegt dem Vorgang ein Ersuchen des Empfängers zu Grunde, hat dieser die zur Prüfung erforderlichen Angaben zu machen; erfolgt die Informationsübermittlung durch automatisierten Abruf, trägt der Empfänger die Verantwortung für die Rechtmäßigkeit des Abrufs. Disparat sind die landesgesetzlichen Vorschriften zu den besonderen Regeln der Informa353 tionsübermittlung zwischen bestimmten Stellen.1556 Normiert sind mit unterschiedlicher Ausführlichkeit und Intensität die Informationsübermittlung zwischen Polizeibehörden, die Informationsübermittlung an öffentliche Stellen, an ausländische öffentliche Stellen sowie an überund zwischenstaatliche Stellen und die Informationsübermittlung an Personen und an Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs; teilweise finden sich in den Gesetzen auch Vorschriften zum automatisierten Abrufverfahren und zur Informationsübermittlung an die Polizei. In die Diskussion geraten ist die präventive Öffentlichkeitsfahndung. Sie ist ein Unterfall der Informationsübermittlung und gibt personenbezogene Informationen an die Öffentlichkeit (via elektronische Medien, Printmedien) zwecks Ermittlung einer bestimmten Person und ggf Warnung vor ihr.1557 Nur einige Länder haben einen Spezialtatbestand (mit engen Voraussetzungen) für die präventive Öffentlichkeitsfahndung geschaffen.1558 In den anderen Ländern muss eine derartige Maßnahme auf die Rechtsgrundlage zur Informationsübermittlung an Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs gestützt werden. Die öffentliche Fahndung kann ua zur Abwehr terroristischer Gefahren in Betracht kommen. Jene Rechtsgrundlagen erlauben die Fahndung zur Verhütung erheblicher Nachteile für das Gemeinwohl sowie zur Verhütung schwerwiegender Beeinträchtigungen von gewichtigen Rechtspositionen Einzelner (Leib, Leben, Freiheit, erhebliche Vermögenswerte). Vor dem Hintergrund des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung wurde die erste Alternative gerichtlich wegen Unbestimmtheit und Verstoßes gegen das Übermaßverbot verworfen, ebenso die zweite Alternative, soweit sie die Gefahrerforschung und die Gefahrenvorsorge einbezieht; allerdings könne die zweite Variante dahingehend verfassungskonform einschränkend ausgelegt werden, dass die Übermittlung personenbezogener Informationen an Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs nur zur Abwehr von Gefahren für hochrangige Rechtsgüter zugelassen werde.1559

_____ 1555 § 41 PolG BW; Art 39 BayPAG; § 42 ASOG Bln; § 41 BbgPolG; § 36c PolG Bremen; § 18 HbgGDatPol; § 21 HessSOG; § 39 SOG MV; § 40 NdsSOG; § 26 PolG NW; § 35 POG RP; § 32 PolG SL; § 26 SOG LSA; § 191 LVwG SH; zT § 41 ThürPAG. 1556 §§ 42 ff PolG BW; Art 40 ff BayPAG; §§ 44 ff ASOG Bln; §§ 42 ff BbgPolG; §§ 36d ff PolG Bremen; §§ 19 ff HbgGDatPol; §§ 22 ff HessSOG; §§ 40 ff SOG MV; §§ 41 ff NdsSOG; §§ 27 ff PolG NW; §§ 34, 36 POG RP; §§ 33 ff PolG SL; §§ 44, 45, 48 SächsPolG; §§ 27, 28 SOG LSA; §§ 192 LVwG SH; §§ 41, 42 ThürPAG. 1557 Pieroth/Schlink/Kniesel § 15 Rn 65; Schenke Rn 204. 1558 § 36g II PolG Bremen; § 41 II SOG MV; § 44 II NdsSOG; § 34 VII POG RP. – Geschützt sind Leib, Leben und zT Freiheit einer Person, die Verhütung von Straftaten von erheblicher Bedeutung, und jeweils darf die Gefahrenabwehr auf andere Weise nicht möglich sein. 1559 OVG Hamburg NVwZ-RR 2009, 878; dazu Söllner DVBl 2009, 1120; krit zur „verfassungskonformen Auslegung“ Petri in: Lisken/Denninger, G Rn 304: keine schlüssige Entscheidungsbegründung.

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II. Materielles Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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ee) Rechte der betroffenen Person. Personenbezogene Informationen sind unter bestimmten 354 gesetzlichen Voraussetzungen zu berichtigen, zu löschen oder zu sperren.1560 Dabei handelt es sich zunächst um objektivrechtliche Pflichten der (Polizei-)Behörden (vgl auch Rn 355). Die Berichtigung erfolgt, wenn eine Information unrichtig ist; die Art und Weise der Berichtigung sowie eine evtl Dokumentation hierüber sind in den Gesetzen unterschiedlich geregelt. Die Löschung (zT auch noch Aktenvernichtung) ist vorzunehmen, wenn die Speicherung unzulässig ist oder die betreffenden Informationen für die Aufgabenerfüllung nicht mehr erforderlich sind; kommt eine Löschung aus bestimmten, im Gesetz genannten Gründen nicht in Betracht, sind die Informationen zu sperren. Die Sperrung findet (an Stelle der Löschung) statt, falls schutzwürdige Interessen des Betroffenen durch eine Löschung beeinträchtigt würden oder die Informationen zur Behebung einer Beweisnot (in einem Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren) unerlässlich sind; einige Gesetze erwähnen als zusätzlichen Tatbestand die Nutzung der Informationen zu wissenschaftlichen Zwecken. Die Vorschriften zu Berichtigung, Löschung und Sperrung von Informationen (Rn 354) sta- 355 tuieren nicht nur objektive Amtspflichten, sondern zudem subjektive öffentliche Rechte; die Regelungen wirken auch individualschützend.1561 In der Praxis dominieren Streitigkeiten um die Löschung personenbezogener Informationen. In den meisten Fällen ist umstritten, ob die weitere Speicherung der Informationen für Zwecke der Gefahrenabwehr erforderlich ist. Dabei geht es immer wieder um Informationen, die in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gewonnen worden sind. Dem Grunde nach steht fest, dass der Betroffene einen Anspruch auf Löschung (Vernichtung) der über ihn gespeicherten Informationen hat, wenn deren fortwährende Kenntnis zur polizeilichen Aufgabenerfüllung nicht mehr erforderlich ist; der unbestimmte Rechtsbegriff der Erforderlichkeit unterliegt der vollen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle.1562 Sind personenbezogene Informationen in einem eingestellten (§ 153a II StPO) Ermittlungsverfahren gewonnen worden, richtet sich die weitere Speicherung grds nach Polizeirecht (§ 484 IV StPO); danach ist der Löschungsanspruch zu bejahen, wenn keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme vorliegen, der Betroffene werde zukünftig strafrechtliche Verfehlungen begehen.1563 Bei Informationen in einer „Mischdatei“ (vgl Rn 348) bestimmt sich die weitere Speicherung nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens gemäß § 483 III StPO ebenfalls nach Polizeirecht; der Löschungsanspruch besteht nicht, wenn die Verarbeitung der Informationen auf Grund eines eigenständigen Zwecks des Gefahrenabwehrrechts noch erforderlich ist.1564 Von Bedeutung für den Betroffenen sind seine Auskunftsrechte. Soweit spezielle Rechte 356 nicht bestehen,1565 greift (zT ergänzt durch das LDSG) der allgemeine Auskunftsanspruch des Polizeirechts.1566 Danach hat der Betroffene einen Anspruch auf vollständige Auskunft der über seine Person gespeicherten Informationen.1567 Da Gegenstand des Anspruchs eine „Auskunft“ ist, ist die Polizei weder zur Akteneinsicht noch zur Übermittlung des Inhalts einer Akte in vollem Wortlaut verpflichtet.1568 Dem Anspruch stehen gesetzlich normierte Auskunftsverweige-

_____ 1560 § 46 PolG BW; Art 45 BayPAG; § 48 ASOG Bln; § 47 BbgPolG; § 36k PolG Bremen; § 24 HbgSOG; § 27 HessSOG; § 45 SOG MV; § 39a NdsSOG; § 32 PolG NW; § 39 POG RP; § 38 PolG SL; § 49 SächsPolG; § 32 SOG LSA; § 196 LVwG SH; § 45 ThürPAG; § 35 BPolG. 1561 VGH BW DVBl 1992, 1309 (m Anm Dronsch). 1562 HessVGH NJW 2005, 2727, 2730 ff. 1563 OVG NW DVBl 2010, 852, 853 (m Anm Söllner) o JK PolG NW § 24/1. 1564 NdsOVG NdsVBl 2008, 323, 324. 1565 ZB über den Einsatz eines verdeckten Ermittlers, VGH BW NVwZ-RR 2003, 843. 1566 § 45 PolG BW; Art 48 BayPAG; § 50 ASOG Bln; § 71 BbgPolG; § 25 HbgGDatPol; § 29 HessSOG; § 48 SOG MV; § 48 NdsSOG; § 40 POG RP; § 40 PolG SL; § 51 SächsPolG; § 198 LVwG SH; § 47 ThürPAG. 1567 VGH BW DVBl 1992, 1309, 1310 (m Anm Dronsch). 1568 BayVGH BayVBl 1996, 405.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

rungsgründe (Wohl des Bundes oder eines Landes; öffentliche Sicherheit; überwiegende Geheimhaltungsinteressen Dritter) entgegen. Handelt es sich nach der gesetzlichen Ausgestaltung nicht um strikte Verweigerungsgründe, ist eine pauschale Verweigerung der Auskunft unzulässig; es hat vielmehr eine Abwägung zwischen den (idR öffentlichen) Geheimhaltungsbelangen und dem (privaten) Auskunftsinteresse zu erfolgen.1569 Ist eine teilweise Auskunft zulässig, darf keine vollständige Verweigerung vorgenommen werden. Die betroffene Person hat außerdem einen Auskunftsanspruch (zT auch Akteneinsichtsrecht).1570 Dem stehen bestimmte Auskunftsverweigerungsgründe entgegen. Entschieden wird auf Grund einer Abwägung der konfligierenden Belange. Vor einer vollständigen Verweigerung der Auskunft sind Teilauskünfte in Betracht zu ziehen.1571

5. Sondergesetzliche Eingriffsbefugnisse a) Vorrang von Spezialregelungen 357 Die Rechtsordnung kennt sondergesetzliche Eingriffsbefugnisse zur Gefahrenabwehr in großer Zahl. Es geht idR um Spezialbefugnisse, die den Ordnungsbehörden (Sicherheitsbehörden) zustehen. Eine Vielzahl von Beispielen findet sich etwa im Ausländerrecht,1572 Bodenschutzrecht,1573 Gewerberecht1574 oder Bauordnungsrecht 1575 sowie in etlichen weiteren Rechtsgebieten. Die den Gefahrenabwehrbehörden (Sonderordnungsbehörden) dort eingeräumten Befugnisse dienen der Bekämpfung bereichsspezifischer Gefahren, also zB gewerbetypischer Gefahrenlagen. Eine herausragende Bedeutung (in Praxis, Ausbildung und Prüfung) kommt dem Versammlungsrecht zu; insoweit ist eine gesonderte Betrachtung angezeigt (Rn 360). Die Anwendung von Regelungen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts (insbeson358 dere der Rückgriff auf die Generalklausel) auf sondergesetzlich geregelten Gebieten ist ausgeschlossen, soweit die Spezialgesetze abschließende Regelungen treffen (Rn 95 ff). Das ist häufig der Fall in Bezug auf die Eingriffsvoraussetzungen und die zulässigen Maßnahmen. Dagegen ist der Rückgriff auf das allgemeine Gefahrenabwehrrecht bei der Bestimmung des Verantwortlichen weithin zulässig und auch notwendig (Rn 173); mitunter treten Modifizierungen hinzu (Rn 359). Auf der Tatbestandsseite sind die abschließenden Spezialermächtigungen vielfach dadurch gekennzeichnet, dass sie engere Eingriffsvoraussetzungen normieren als die Generalklausel. Auf der Rechtsfolgenseite der speziellen Befugnisnormen müssen bei der Betätigung des Handlungsermessens nicht selten grundrechtliche Grenzziehungen beachtet werden. Die vorstehend skizzierten Grundsätze gelten auch für die Gefahrenabwehr im Internet. 359 Das gilt etwa für die Untersagung eines Internetangebots, wenn die betreffende Internetseite Verlinkungen zu Webseiten mit jugendgefährdenden Inhalten (zB Pornografie) enthält und der Anbieter kein zuverlässiges Altersverifikationssystem vorhält; Rechtsgrundlage ist § 59 III 2 RStV,1576 die verantwortlichen Adressaten der Verfügung sind nach § 59 IV RStV (iVm §§ 7-10 TMG1577) zu bestimmen.1578

_____ 1569 BVerfG-K NVwZ 2001, 185, 186; VGH BW DVBl 1992, 1309, 1310; VG Gießen DÖV 2000, 516. 1570 § 45 PolG BW; Art 48 BayPAG; § 50 ASOG Bln; § 71 BbgPolG; § 25 HbgGDatPol; § 29 HessSOG; § 48 SOG MV; § 48 NdsSOG; § 40 POG RP; § 40 PolG SL; § 51 SächsPolG; § 198 LVwG SH; § 47 ThürPAG. 1571 BVerfG-K NVwZ 2001, 185, 186. 1572 Dazu Sailer in: Lisken/Denninger, J Rn 18 ff. 1573 DazuoEifert 5. Kap Rn 208. 1574 DazuoHuber 3. Kap Rn 321 f. 1575 DazuoKrebs 4. Kap Rn 225. 1576 Rundfunkstaatsvertrag, abgedruckt in Sartorius III Nr 791. 1577 Telemediengesetz, abgedruckt in Sartorius ErgBd Nr 922. 1578 NdsOVG NJW 2008, 1831; J. Kahl SächsVBl 2010, 180, 183.

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II. Materielles Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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In diesen Zusammenhang gehört auch die Gefahrenabwehr bei illegalen OnlineGlücksspielen. In der Praxis geht es zumeist um Sportwetten (§ 21 GlüStV). Bis Ende 2007 mussten Untersagungsverfügungen auf die polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel (iVm § 284 StGB) gestützt werden (unabhängig davon, ob online oder offline gewettet wurde).1579 Der am 1.1.2008 in Kraft getretene Glücksspielstaatsvertrag enthält eine Ermächtigungsgrundlage (§ 9 I 2 u 3 GlüStV), die nun für entsprechende Untersagungsverfügungen heranzuziehen ist.1580 Spezialgesetzlich geregelt sind die Eingriffsvoraussetzungen, das Rechtsfolgeermessen und (in Gestalt von Regelbeispielen) zulässige behördliche Maßnahmen. Keine Regelung ist zur Frage des Verantwortlichen getroffen, so dass insoweit auf das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht zurückzugreifen ist; dh es gilt insoweit die Theorie der unmittelbaren Verursachung (Rn 178). Wer als „Störer“ zu qualifizieren ist, kann allerdings nicht ohne Heranziehung der gesetzlichen Wertungen nach §§ 7 ff TMG entschieden werden; nach den dortigen Grundsätzen ist der AccessProvider (Zugangsvermittler) für fremde Informationen grds nicht verantwortlich,1581 denn ihm kommt die Haftungsprivilegierung des § 8 TMG zugute.1582 Die Beispiele zeigen, dass die Gefahrenabwehr im Internet klaren rechtlichen Strukturen folgt und juristisch möglich ist. Das Problem beim behördlichen Vorgehen gegen illegale Inhalte im Internet liegt eher auf der technischen Ebene und betrifft die Durchsetzbarkeit getroffener Anordnungen.1583

b) Beispiel: Gefahrenabwehr im Versammlungswesen Exemplarisch für das Verhältnis zwischen spezialgesetzlichen Ermächtigungen und Generalklausel 360 sowie für die jeweiligen Handlungsbefugnisse ist die Gefahrenabwehr im Versammlungswesen.1584 Auch insoweit gilt der Grundsatz, dass die Polizei- und Ordnungsbehörden die Gefahrenabwehraufgabe primär nach den besonderen gesetzlichen Regelungen durchführen. Liegt eine „Versammlung“ iSd Art 8 I GG vor (auch zB eine stille Mahnwache) und ist der Anwendungsbereich des VersG eröffnet (§ 1 VersG), dürfen Maßnahmen gegen die Versammlung nicht auf das Polizeigesetz des Landes gestützt werden.1585 Nur soweit spezialgesetzliche Bestimmungen fehlen oder nicht abschließend sind, gilt für die Durchführung der Gefahrenabwehr das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht.1586 Danach ist das allgemeine Gefahrenabwehrrecht zT verdrängt (Rn 97), zT nimmt es lückenfüllende Funktionen wahr (Rn 100) und zT ergänzt es vorhandene Spezialbefugnisse (Rn 101). Soweit das VersG – für öffentliche Versammlungen (§ 1 I VersG)1587 – abschließende Regelungen enthält, müssen deren (idR strengen) Voraussetzungen beachtet werden.1588 Der Rückgriff auf

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1579 BVerwGE 126, 149 Tz 35 ff [aufgehoben durch BVerfG-K NVwZ 2008, 301] o JK StGB § 284/2; NdsOVG NdsVBl 2007, 70, 71; ThürOVG ThürVBl 2007, 84. 1580 BVerwGE 140, 1 Tz 10 (dazu Schmittmann CR 2011, 805); grdl BVerwG NVwZ 2011, 549 und BVerwGE 138, 201 sowie BVerwG NWVBl 2011, 307 (m Anm Sauer), m Bespr Pagenkopf NVwZ 2011, 513; vgl auch Pagenkopf NJW 2012, 2918, 2923. 1581 VG Düsseldorf CR 2012, 155, 156 f; VG Köln NWVBl 2012, 197, 198. 1582 LG Köln K&R 2011, 674, 675 f (m Anm M. Beckmann). 1583 Schöttle K&R 2007, 366 ff; Greve Access-Blocking – Grenzen staatlicher Gefahrenabwehr im Internet, 2012, 116 ff. 1584 Enders JURA 2003, 34 ff u 103 ff; Lembke JuS 2005, 984 ff u 1081 ff; Höfling/Krohne JA 2012, 734 ff; zur Entwicklung des Versammlungsrechts Kniesel/Poscher NJW 2004, 422 ff; Höfling/Augsberg ZG 2006, 151 ff. 1585 VGH BW VBlBW 2008, 60. 1586 So zutreffend § 12 SOG MV; § 173 LVwG SH. – Zur Abgrenzung zwischen VersG und allg POR Meßmann JuS 2007, 524 ff. 1587 Zu nichtöffentlichen Versammlungen trifft das VersG keine Regelungen (vgl § 1 I VersG); folglich kommt insoweit das allg POR (und nicht das VersG analog) zur Anwendung; vgl zur Kontroverse Kniesel/Poscher in: Lisken/Denninger, K Rn 21 f. 1588 Dazu am Bspl des § 5 VersG ThürOVG DVBl 1998, 104oJK VersG § 5 Nr 4/1.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht ist nicht nur in den typischen Fällen des Verbots, der Auflage oder der Auflösung (§§ 5, 13, 15 VersG) ausgeschlossen (bzw eingeschränkt), sondern auch zB beim Anwesenheitsrecht der Polizei bei öffentlichen Versammlungen in geschlossenen Räumen; dazu normiert § 12 VersG eine abschließende Regelung.1589 Anschaulich können die strengen Eingriffsvoraussetzungen und die Einwirkung der Grund361 rechte auf die Gefahrenabwehr im Versammlungswesen am Beispiel von Maßnahmen gegen öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel (§ 15 VersG) aufgezeigt werden.1590 Schutzgüter sind die öffentliche Sicherheit und Ordnung; insoweit besteht kein Unterschied zur Generalklausel (Rn 108). Im Vordergrund stehen versammlungsbehördliche Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit. Für das behördliche Eingreifen muss die Gefahrenlage – auf „erkennbaren Umständen“ beruhend – als „unmittelbare“ Gefährdung eines Schutzguts qualifiziert werden können. Hierfür verlangt das BVerfG manifeste tatsächliche Anhaltspunkte (und nicht nur Verdachtsmomente oder Vermutungen) für die Gefahrenprognose.1591 Exemplarisch für die gegenüber dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht verschärften Eingriffsvoraussetzungen gegenüber Versammlungen ist die Entscheidung des BVerfG zum Verbot eines „Sternmarsches“ zum G8-Gipfel im Juni 2007 in Heiligendamm. Nur auf Grund der Gewaltexzesse in Rostock am 2.6.2007 wurde das behördliche Verbot der gesamten Veranstaltung (zum Schutz des G8-Gipfels als einer Veranstaltung des Staates sowie zum Schutz von Leib und Leben der Teilnehmer dieser Veranstaltung und anderer Personen) vom BVerfG bestätigt.1592 Liegt eine unmittelbare Gefährdung lediglich der öffentlichen Ordnung vor, rechtfertigt 362 dies nach der Rechtsprechung des BVerfG ein Versammlungsverbot grundsätzlich nicht; die Gefahrenabwehr muss idR durch Auflagen bewerkstelligt werden.1593 Die in § 15 I VersG als „Auflagen“ bezeichneten Beschränkungen einer Versammlung stellen – da eine Versammlung keiner Genehmigung bedarf (vgl § 14 VersG) – nicht etwa Nebenbestimmungen (§ 36 VwVfG) zu einem begünstigenden Verwaltungsakt dar; es handelt sich vielmehr um eigenständige Verfügungen (§ 35 VwVfG), die in die Versammlungsfreiheit eingreifen.1594 Die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Ordnung ist nach § 15 VersG zulässig, wenn es nicht um den Inhalt von (Meinungs-)Äußerungen, sondern um die Art und Weise der Durchführung der Versammlung geht (zB aggressives und provokatives, die Bürger einschüchterndes Verhalten der Demonstranten; Aufzug von Rechtsextremisten an einem der Erinnerung des Holocaust dienenden Feiertag; Pflege von Riten und Symbolen der NS-Gewaltherrschaft).1595 Die öffentliche Ordnung ist aber nicht etwa automatisch beeinträchtigt, wenn zB eine Versammlung von Rechtsextremisten an einem bestimmten Tag (27. Januar als Tag des Gedenkens an die NS-Opfer) stattfinden soll; immer ist im Einzelfall die Feststellung erforderlich, dass von der konkreten Art und Weise der Durchführung

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1589 BayVGH BayVBl 2009, 16 o JK GG Art 8/27; dazu Fallbearbeitung von Riedel JURA 2010, 144, mit Erwiderung Ketterer/Sauer JURA 2010, 717. 1590 Zur Rspr des BVerfG Hoffmann-Riem NVwZ 2002, 257 ff; zur Demonstrationsfreiheit für Rechtsextremisten ders NJW 2004, 2777 ff; zur Neuregelung der Versammlungsfreiheit bzgl rechtsextremistischer Versammlungen (§ 15 II VersG) Scheidler BayVBl 2005, 453 ff; Leist NVwZ 2005, 500 ff; Poscher NJW 2005, 1316 ff; Stohrer JuS 2006, 15 ff; Schoch JURA 2006, 27 ff; Enders/Lange JZ 2006, 105 ff; Nelles LKV 2006, 403 ff; aus der Rspr BVerfG-K NVwZ 2005, 1055 oJK GG Art 8/19. – Allg zur Rspr des BVerfG bzgl des behördlichen Vorgehens gegen extremistische Versammlungen Waechter VerwArch 99 (2008) 73 ff. 1591 BVerfG-K NVwZ 2004, 90, 92 oJK GG Art 8/16; NJW 2005, 3202; NJW 2010, 141, 142; NVwZ-RR 2010, 625, 626 o JK GG Art 8/28. – Ebenso zB OVG SH NordÖR 2012, 421. 1592 BVerfG-K NJW 2007, 2167 (m Anm Battis/Grigoleit) Tz 37 ff oJK GG Art 8/22. – Allg zur Anwendung des VersG bei Staatsbesuchen Bolewski DVBl 2007, 789 ff. 1593 BVerfG-K NJW 2001, 2069, 2071; NVwZ 2004, 90, 91 o JK GG Art 8/16; ferner zB BayVGH BayVBl 2006, 185; zu einer Ausnahme BVerfG-K NJW 2001, 1409 oJK GG Art 8/13. 1594 BVerfG-K NVwZ 2007, 1183, 1184. 1595 BVerfGE 111, 147, 156 f oJK BVerfGG § 32/8; dazu Bespr Wege NVwZ 2005, 900; ferner zB BVerfG-K NVwZ 2006, 586 oJK GG Art 8/20; NdsOVG NdsVBl 2012, 163, 164 o JK VersG § 15 I/6.

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III. Formelles Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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der Versammlung Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigen.1596 Diese Restriktionen beruhen nicht (nur) auf Art 8 I GG; Gefahrenabwehrmaßnahmen, die auf Beschränkungen des Inhalts von Meinungsäußerungen zielen, unterliegen (auch) den Anforderungen nach Art 5 I 1, II GG.1597 Zur Gefahrenlage bzgl der öffentlichen Ordnung gelten dieselben Anforderungen wie bei der unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit (Rn 361); auch hier reichen keine bloßen Verdachtsmomente oder Vermutungen, sondern die Gefahrenprognose muss auf konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkten basieren.1598 Gründe des Übermaßverbots verweisen bei einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung idR ebenfalls auf den Erlass von Auflagen und hindern die Verwaltung grds an einem Verbot der Versammlung. III. Formelles Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

III. Formelles Polizei- und Ordnungsrecht 1. Zuständigkeitsordnung Gefahrenabwehrmaßnahmen müssen, um rechtmäßig zu sein, von den zuständigen Behörden 363 getroffen werden. Die Behördenzuständigkeit ist mit der Organisation der Polizei und der Ordnungsverwaltung verknüpft. Diese ist von Land zu Land unterschiedlich ausgestaltet, so dass zu Einzelheiten auf Darstellungen des Landesrechts verwiesen werden muss.1599 In den Grundstrukturen bestehen weithin übereinstimmende Modelle. Sowohl im Einheits- 364 system als auch im Trennsystem (Rn 90 ff) sind für die Aufgabe der Gefahrenabwehr grundsätzlich die Ordnungsbehörden bzw (Polizei-)Verwaltungsbehörden bzw Sicherheitsbehörden zuständig, die Teil der allgemeinen inneren Verwaltung 1600 sind; die (Vollzugs-)Polizei (Polizeivollzugsdienst) verfügt insbesondere über Zuständigkeiten bei Standardmaßnahmen1601 sowie über Eilkompetenzen1602 und leistet Vollzugshilfe (Rn 91, 92 ff). Innerhalb der grundsätzlich1603 zuständigen Ordnungsverwaltung/Verwaltungs„polizei“ liegt die sachliche Zuständigkeit idR bei den unteren (dh örtlichen) Ordnungsbehörden/Polizeiverwaltungsbehörden.1604 Zuständige

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1596 BVerfG-K NVwZ 2012, 749. 1597 BVerfG-K NJW 2001, 2072, 2074; NJW 2001, 2076; krit Battis/Grigoleit NJW 2004, 3459; zu den verfassungsrechtlichen Grenzen von Auflagen gemäß § 15 I VersG BVerfG-K NVwZ 2008, 671, 673 f o JK GG Art 8/24. 1598 NdsOVG NdsVBl 2012, 163, 164 o JK VersG § 15 I/6. 1599 Baden-Württemberg: Würtenberger/Heckmann PolR BW Rn 118 ff, 223 ff; Zeitler/Trurnit PolR BW Rn 115 ff; Ruder/Schmitt PolR BW Rn 103 ff. – Bayern: Gallwas/Mößle Bay Polizei- und SicherheitsR Rn 101 ff. – Berlin: Prümm/Sigrist Allg Sicherheits- und OrdnungsR Rn 367 ff. – Brandenburg: Hecker/Radcke in: Bauer/Peine, LandesR Bbg, § 5 Rn 9 ff. – Hamburg: Hoffmann-Riem/Eifert in: Hoffmann-Riem/Koch, Hamburgisches Staats- und VerwaltungsR, 161, 165 ff. – Hessen: Mühl/Leggereit/Hausmann POR Hessen, Rn 8 ff, 24 ff; Kramer Hess POR Rn 44 ff; Pausch/Dölger POR in Hessen, 46 ff, 49 ff. – Niedersachsen: Waechter POR Rn 163 ff, 200 ff; Ipsen Nds POR Rn 710 ff. – Nordrhein-Westfalen: Frings/Spahlholz Recht der Gefahrenabwehr, Rn 62 ff, 158 ff. – Rheinland-Pfalz: Rühle POR B Rn 7 ff; Ruthig in: Hendler/Hufen/Jutzi, LandesR RP, § 4 Rn 19 ff. – Saarland: Guckelberger in: Gröpl/Guckelberger/Wohlfarth, LandesR SL, § 4 Rn 9 ff. – Sachsen: Wagner/Ruder PolR Rn 32 ff, 57 ff, 71 ff, 103 ff. – Sachsen-Anhalt: Karnop Gefahrenabwehr Rn 41 ff, 140 ff; Kluth in: ders, LandesR Sachsen-Anhalt, § 3 Rn 446 ff, 455 ff. – Schleswig-Holstein: Nissen in: Schmalz ua, Staats- u VerwR SH, 145, 170 ff; Schipper/Schneider/Büttner/Schade POR SH Rn 98 ff. 1600 Dazu Burgi in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 8 Rn 10 ff. 1601 Vgl am Bspl der Sicherstellung VG Köln NVwZ-RR 2010, 352; zum Aufenthaltsverbot NdsOVG NdsVBl 2009, 237. 1602 Am Bspl einer Abschleppmaßnahme NdsOVG NdsVBl 2010, 179. 1603 Abzugrenzen ist mitunter auch gegenüber Sonder(ordnungs)behörden; VGH BW GewArch 1996, 246: Zuständigkeit des staatlichen Gewerbeaufsichtsamts (und nicht der Gemeinde als „Ortspolizeibehörde“) für Untersagung des Vertriebs technischer Arbeitsmittel. 1604 § 66 II PolG BW; § 2 ASOG Bln; § 5 BbgOBG; § 79 PolG Bremen; § 89 II HessSOG; § 4 II SOG MV; 97 I NdsSOG; § 5 OBG NW; § 90 POG RP; § 80 II PolG SL; § 68 II SächsPolG; § 89 II SOG LSA; § 165 II LVwG SH; § 4 I ThürOBG; vgl ferner § 3 I HbgSOG. – Zu der unspezifischen Regelung in Art 6 BayLStVG Knemeyer POR Rn 436.

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Kommunen handeln im „übertragenen Wirkungskreis“ (Rn 93), unterliegen also der Rechts- und Fachaufsicht staatlicher Behörden.1605 Örtlich zuständig ist grundsätzlich die Behörde, in deren Dienstbezirk die Gefahrenabwehraufgabe wahrzunehmen ist.1606 Das ist zB bei der gefahrenabwehrrechtlichen Behebung unfreiwilliger Obdachlosigkeit die Gemeinde, in der die Gefahr eintritt (Rn 239); nicht maßgeblich sind gewöhnlicher Aufenthalt oder Wohnsitz des Betroffenen.1607 Für das Einschreiten bei unzulässiger Plakatwerbung für Zigaretten ist die Ordnungsbehörde örtlich zuständig, in deren Bezirk die Schutzgutverletzung aufgetreten ist; auf den Sitz des werbenden Unternehmens kommt es nicht an.1608 Im Glücksspielrecht (Rn 359) stellen sich besondere Zuständigkeitsprobleme, weil uner365 laubtes Glücksspiel nicht selten über Zuständigkeitsgrenzen hinweg in mehreren Ländern veranstaltet oder vermittelt wird. Dieses tatsächliche Phänomen führt aber nicht dazu, dass eine Gefahrenabwehrbehörde de iure automatisch ultra vires agieren kann. Im Gegenteil, die Verbandskompetenz muss auch im Gefahrenabwehrrecht gewahrt werden. Nach dem Bundesstaatsprinzip (Art 20 I, 28 I 1 GG) dürfen die Behörden eines Landes grds nur innerhalb des eigenen Landesgebiets tätig werden.1609 Für das Glücksspielrecht wird dies durch § 9 I 2 GlüStV bestätigt. Bezieht sich eine Gefahrenabwehrmaßnahme auf eine Gefahrenlage im Territorium eines anderen Landes, fehlt es an der Verbandskompetenz, und die Maßnahme ist schon aus formellen Gründen rechtswidrig.1610 Im Glücksspielrecht wird der die Landesgrenzen überschreitende Bezug unerlaubten Glückspiels in der Zuständigkeitsordnung durch § 9 I 4 GlüStV zu bewältigen versucht. Eine grenzüberschreitende Wirkung der Gefahrenabwehrmaßnahme setzt allerdings voraus, dass das betroffene Land die zuständige Behörde eines anderen Landes entsprechend ermächtigt. Fehlt es daran, gelten die Grenzen der Verbandskompetenz.

2. Handlungsformen zur Gefahrenabwehr 366 Bestimmte Handlungsformen der Verwaltung sind den Gefahrenabwehrbehörden im Polizeiund Ordnungsrecht grundsätzlich nicht vorgeschrieben (Ausnahme: PolVO bei der abstrakten Gefahr, Rn 373). Die Gesetze sprechen unspezifisch von „Maßnahmen“. Demnach verfügen die Behörden über alle Formen des Verwaltungshandelns1611 für ihre Gefahrenabwehrmaßnahmen. Von herausragender Bedeutung ist der Verwaltungsakt (zur Durchsetzung Rn 384 ff). Verbreitet ist daneben der Verwaltungsrealakt (Rn 370 ff). Auch die Verordnung (Rn 372 ff) ist ein wichtiges behördliches Handlungsinstrument im Gefahrenabwehrrecht.

a) Einzelfallmaßnahmen 367 Im Rahmen der behördlichen Gefahrenabwehr dominieren Einzelfallmaßnahmen. Von überragender Bedeutung ist die Verfügung; auch der Verwaltungsrealakt gewinnt zunehmend an Gewicht, wobei die behördliche Wissenserklärung als moderne Form informalen Verwaltungshandelns immer häufiger eingesetzt wird (Rn 371). Der verwaltungsrechtliche Vertrag hingegen spielt im Gefahrenabwehrrecht keine Rolle.

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1605 Dazu o Röhl 1. Kap Rn 60, 63. 1606 § 68 PolG BW; § 4 BbgOBG; § 78 PolG Bremen; § 100 HessSOG; § 5 SOG MV; § 100 NdsSOG; § 4 OBG NW; § 91 POG RP; § 81 PolG SL; § 70 SächsPolG; § 88 SOG LSA; § 166 LVwG SH; § 4 III ThürOBG. 1607 VGH BW NVwZ-RR 1996, 439; BayVGH BayVBl 1995, 503; NVwZ-RR 2002, 575. 1608 OVG NW NVwZ 1999, 562. 1609 BVerfGE 11, 6, 19; BVerwGE 115, 373, 384. 1610 OVG NW MMR 2010, 435 (am Bspl einer Sperrungsverfügung bzgl einer Internet-Adresse). 1611 Überblick bei Remmert in: Erichsen/Ehlers, AllgVerwR, § 17 Rn 2 ff.

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aa) Verwaltungsakt. Maßnahmen der Gefahrenabwehrbehörden sind idR auf die Beseitigung 368 einer konkreten Gefahr im Einzelfall gerichtet. Sofern die Behörde die Gefahr nicht selbst (oder durch beauftragte Dritte) bekämpft, ergeht eine Verfügung an den Verantwortlichen, bisweilen auch an den Nichtverantwortlichen (als Notstandspflichtigen). Der befehlende Verwaltungsakt (Gebot oder Verbot, gerichtet auf ein Tun, Dulden oder Unterlassen) ist das wichtigste Handlungsinstrument der Gefahrenabwehrbehörden. Für Gefahrenabwehrverfügungen gelten in formeller Hinsicht die allgemeinen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen; 1612 Besonderheiten normiert das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht idR nicht. Materielle Anforderungen für den Erlass einer Verfügung sind die (drohende) Beeinträchtigung eines Schutzguts (Rn 108 ff), die als Gefahr zu qualifizieren ist (Rn 133 ff), sowie die ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Maßnahme (Rn 151 ff) und die Bestimmung des richtigen Adressaten der Maßnahme (Rn 167 ff, 237 ff). Kaum von Bedeutung ist im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht der Verwaltungsakt in Ge- 369 stalt der Erlaubnis. Präventive Kontrollbefugnisse sind weitestgehend den zuständigen Fachbehörden (zB Umwelt-, Gewerbe-, Bauaufsichts-, Straßenbehörden) zugewiesen. Infolgedessen kommt die ordnungsbehördliche Erlaubnis im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht nur selten vor.1613 Eine gewisse Bedeutung hat die behördliche Erlaubnis im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht in der jüngeren Vergangenheit dadurch gewonnen, dass die Hundegesetze und -verordnungen der Länder (Rn 379) das Halten gefährlicher Hunde einer Erlaubnispflicht unterworfen haben.1614 bb) Verwaltungsrealakt. Der auf die Herbeiführung eines tatsächlichen Erfolgs gerichtete 370 Verwaltungsrealakt ist im Gefahrenabwehrrecht schon immer von Bedeutung gewesen.1615 Etliche Standardmaßnahmen sind als Verwaltungstathandeln zu qualifizieren (Rn 258). Dasselbe gilt für bestimmte Maßnahmen in der Verwaltungsvollstreckung (zB Anwendung eines Zwangsmittels, Rn 392). Auch die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme (Rn 393 ff) trifft keine „Regelung“ (§ 35 S 1 VwVfG), ist also ein Verwaltungsrealakt. Zunehmend werden behördliche Wissenserklärungen (Hinweise, Aufklärungen, Empfeh- 371 lungen, Warnungen) als Gefahrenabwehrinstrumente eingesetzt.1616 Von besonderer Bedeutung sind behördliche Warnungen in Gefahrensituationen. Warnungen, die an die Öffentlichkeit adressiert sind, können als funktionales Äquivalent zur Allgemeinverfügung (§ 35 S 2 VwVfG) qualifiziert werden. Sie wirken auf die Warnungsadressaten (zB Verbraucher eines bestimmten Produkts) ein und dienen der Verhaltenssteuerung iSd Prävention (zB Meidung eines gefährlichen Produkts).1617 Verhaltenslenkend soll auch die an den Einzelnen gerichtete polizeiliche „Gefährderansprache“1618 wirken, mit der der Adressat zu einem bestimmten Verhalten (zB Nichtteilnahme an einer Demonstration) veranlasst werden soll; zur Vermeidung polizeilicher Gefahrenabwehrmaßnahmen wird dem Betroffenen nahe gelegt, sich in dem „empfohlenen“

_____ 1612 Dazu Ruffert in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 22 Rn 30 ff. 1613 Vgl etwa HessVGH NVwZ-RR 2010, 716 (Ausnahmegenehmigung zum Halten von Giftschlangen in einer Privatwohnung nach § 43a HessSOG); VG Weimar LKV 2002, 483 (ordnungsbehördliche Genehmigung zum Plakatieren). 1614 Dazu Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 81. – Aus der Praxis BayVGH NVwZ-RR 2011, 193; HessVGH NVwZ-RR 2006, 794. 1615 Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 35 ff. 1616 Vgl zB Käß WiVerw 2002, 197 ff; Schoch in: HStR III § 37 Rn 58 ff; Gusy in: GVwR II § 23 Rn 95 ff; vgl auch Fallbearbeitung von Kremer JURA 2008, 299 ff. 1617 Spezialgesetzliche Warnbefugnisse bestehen zB für Lebensmittel und Futtermittel (§ 39 II 2 Nr 9 LFGB) sowie für (technische) Verbraucherprodukte (§ 26 II 2 Nr 9 ProdSG); vgl. ferner Fn 461. 1618 Erfolgt die „Gefährderansprache“ schriftlich, wird von einem „Gefährderanschreiben“ gesprochen; näher zu der Thematik Hebeler NVwZ 2011, 1364 ff; Kießling DVBl 2012, 1210 ff.

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Sinne zu verhalten.1619 Der Rechtsform nach handelt es sich bei der „Gefährderansprache“ um einen Verwaltungsakt; es wird keine „Regelung“ getroffen.1620 Verwaltungsrealakte unterliegen den allgemeinen und ggf besonderen Rechtmäßigkeits372 anforderungen des Verfassungs- und Verwaltungsrechts. So bestehen zB für Realakte in der Verwaltungsvollstreckung und für die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme spezifische Rechtmäßigkeitserfordernisse (Rn 396). Einen „Rabatt“ gibt es auch für behördliche Wissenserklärungen nicht. Greifen sie nicht in Rechte Einzelner ein, genügen eine Aufgabenzuweisungsnorm und kompetenzgemäßes behördliches Handeln. Hat die Maßnahme dagegen Eingriffsqualität, gilt der Gesetzesvorbehalt, die Voraussetzungen der Befugnisnorm (zB Generalklausel ) müssen erfüllt sein, das Übermaßverbot ist zu beachten, und selbstverständlich darf nur die zuständige (Landes-)Behörde von der Befugnisnorm Gebrauch machen. Die Behauptung des BVerfG, Grundrechtseingriffe durch administratives Informationshandeln könnten auch unmittelbar auf die Verfassung gestützt werden (Rn 38), überzeugt in keiner Weise.1621

b) Gefahrenabwehrverordnungen 373 Zur Bekämpfung abstrakter Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung können die Ordnungsbehörden (Polizeiverwaltungsbehörden, Sicherheitsbehörden) Verordnungen erlassen.1622 Die hierfür im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht bestehenden generalklauselartigen Ermächtigungsgrundlagen 1623 begegnen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.1624 374 aa) Funktion und Bedeutung von Gefahrenabwehrverordnungen. Der Einsatz von Verordnungen zur Gefahrenabwehr reicht in der Praxis vom Taubenfütterungsverbot bzgl verwilderter Haustauben 1625 über das verordnungsrechtliche Verbot des Bettelns 1626 sowie den Leinen- und Maulkorbzwang für bissige Hunde 1627 bis hin zum Verbot der Kontaktaufnahme mit Prostituierten in einem Sperrbezirk 1628 und zur Gefahrenabwehr bei umwelt- bzw gesundheitsschädlichem Verhalten. 1629 Lange Zeit fungierte die verordnungsrechtliche Generalklausel unangefochten

_____ 1619 NdsOVG NJW 2006, 391 ĺ JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/6; zur „Gefährderansprache“ gegen Inkassounternehmen HessVGH NVwZ-RR 2012, 344. – Vgl auch Examensklausur ÖR von Unkroth JURA 2008, 464 ff; Jötten/ Tams JuS 2008, 436 ff. 1620 AA – wenig überzeugend – OVG LSA NVwZ-RR 2012, 720 o JK Pol- u OrdR Pol Generalklausel/15 (mit Kritik am OVG). 1621 Vgl Darstellung der Rspr und Kritik bei Schoch NVwZ 2011, 193 ff u NJW 2012, 2844 ff. 1622 Ausf zu Gefahrenabwehrverordnungen Schoch JURA 2005, 600 ff. – Vgl auch Fallbearbeitungen von Groh/ Kaplonek JURA 2006, 304 (PolVO bzgl Tötungssimulationsspielen); Schenke/Gebhardt JURA 2006, 64 sowie Albers/ Roetting JURA 2007, 218 (jeweils zu KampfhundeVO); Riegner JURA 2012, 646 ff (Alkoholverbot durch VO). 1623 § 10 PolG BW; § 55 ASOG Bln; §§ 25, 26 BbgOBG; §§ 10 I 2, 48, 49 PolG Bremen; § 1 HbgSOG; §§ 71 ff HessSOG; § 17 I SOG MV; § 55 NdsSOG; §§ 26, 27 OBG NW; § 43 POG RP; § 59 PolG SL; § 9 SächsPolG; § 94 SOG LSA; § 175 I LVwG SH; § 27 ThürOBG. – Bayern verfügt in Art 12 ff BayLStVG über eine Vielzahl spezieller Verordnungsermächtigungen. 1624 VerfGH RP NVwZ 2001, 1273, 1274; VGH BW VBlBW 2002, 292; NdsOVG NVwZ-RR 2001, 742, 744; ThürOVG ThürVBl 2008, 34 o JK Pol- u OrdR PolVO/2. 1625 BayVerfGH BayVBl 2005, 172; VGH BW NVwZ-RR 1992, 19; NVwZ-RR 2006, 398 o JK Pol- u OrdR PolVO/1; NdsOVG NdsVBl 1997, 137oJK GG Art 2 I/30. 1626 VGH BW NVwZ 1999, 560oJK Pol- u OrdR PolVO/1; VGH BW VBlBW 1999, 101; dazu auch Höfling DV 33 (2000) 207 ff. 1627 BGH NJW 1991, 1691; VGH BW NVwZ 1992, 1105oJK GG Art 3 I/17; VBlBW 2008, 134; NdsOVG NVwZ 1991, 693; OVG RP DÖV 2007, 82; ThürOVG ThürVBl 2008, 34 o JK Pol- u OrdR PolVO/2; OLG Dresden LKV 2007, 527; OLG Oldenburg NVwZ 1991, 712. – Zu Bayern vgl Art 18 I BayLStVG. 1628 VGH BW NVwZ 2001, 1299. 1629 VGH BW NVwZ-RR 1996, 578: VO gegen nächtliche Lärmbelästigung durch Hundegebell; VGH BW VBlBW 1999, 101 u NVwZ 2000, 457: Umweltschutz-VO bzgl Grün- und Erholungsanlagen.

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auch zur Bekämpfung der Gefahren, die von gefährlichen Hunden (Kampfhunden) ausgehen.1630 Die Rechtslage schien sich zu ändern, als das BVerwG zum Schutz der Bevölkerung vor den von bestimmten Hunden (maßgeblich: Rassezugehörigkeit) ausgehenden Gefahren eine spezielle Rechtsgrundlage in einem Parlamentsgesetz forderte.1631 Die Rechtslage hat sich inzwischen jedoch normalisiert, nachdem das BVerfG in seiner „Kampfhundeentscheidung“ 1632 die rechtsdogmatischen Maßstäbe zurechtgerückt hat.1633 Der verordnungsrechtliche Schutz gegenüber Kampfhunden (Rn 379) ist danach (wieder) nach Maßgabe der Generalklausel zulässig;1634 dennoch sind (infolge der vom BVerwG gestifteten Verwirrung) in den meisten Ländern zur Gefahrenabwehr (und zT zur Gefahrenvorsorge) gegenüber (Kampf-)Hunden spezielle Gesetze (und Verordnungen) erlassen worden (Rn 379). Gefahrenabwehrverordnungen sind ein wirksames Instrument zur Bekämpfung abstrakter 375 Gefahren.1635 Sie sind unentbehrlich, um bei abstrakten Gefahrensituationen zeitlich, örtlich und sachlich flexibel reagieren zu können, ohne detaillierte Vorschriften des parlamentarischen Gesetzgebers abwarten zu müssen.1636 Der normative Gehalt der verordnungsrechtlichen Generalklausel (Rn 373) ist – ähnlich wie bei der Generalklausel für Einzelfallmaßnahmen (Rn 94) – durch Rechtsprechung und Wissenschaft in dem verfassungsrechtlich gebotenen Maße präzisiert.1637 Die Generalklausel für Gefahrenabwehrverordnungen kommt allerdings nur zur Anwendung, wenn sie nicht durch Spezialregelungen ausgeschlossen ist.1638 Insoweit gelten ähnliche Überlegungen wie zur Generalklausel für Einzelfallmaßnahmen (Rn 95 ff). Ein praktisches Beispiel zu der Problematik ist das durch Verordnung verhängte Taubenfütterungsverbot; die Verordnungsermächtigung des § 17 V IfSG1639 verdrängt die Generalermächtigung des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts nicht, weil jene Spezialbestimmung nur eine Verordnungsermächtigung bzgl übertragbarer Krankheiten enthält, während das Taubenfütterungsverbot als Regulierung der Taubenpopulation auch zB der Verschmutzung durch Taubenkot entgegenwirken soll.1640 bb) Voraussetzungen für Gefahrenabwehrverordnungen. Formelle Rechtmäßigkeitsvoraus- 376 setzung ist zunächst die Zuständigkeit des Verordnungsgebers. Diese ist – je nach räumlichem Geltungsbereich der Verordnung – allen Ebenen der Verwaltungshierarchie (von den Ministerien bis zu den örtlichen Behörden) eingeräumt.1641 Wird auf Landesebene der Geschäftsbereich von mehreren Ministerien berührt, sind auch gemeinsame Gefahrenabwehrverordnungen der

_____ 1630 Einzelheiten zu dieser Problematik bei Hölscheidt NdsVBl 2000, 1 ff; Caspar DVBl 2000, 1580 ff; Kaltenborn NWVBl 2001, 249 ff; Gängel/Gansel NVwZ 2001, 1208 ff; Kunze NJW 2001, 1608 ff. 1631 BVerwGE 116, 347 (m krit Anm Ehlers DVBl 2003, 336)oJK Pol- u OrdR/Gefahrenbegriff/6; dem folgend NdsOVG NdsVBl 2005, 130 oJK NdsSOG § 55/1; zutr aA VerfGH Bln NVwZ 2001, 1266, 1268; VerfGH RP NVwZ 2001, 1273, 1274; VGH BW VBlBW 2002, 292 f; NdsOVG NVwZ 2001, 742, 743. 1632 BVerfGE 110, 141oJK GG Art 12 I/75. 1633 Möstl JURA 2005, 48, 51 f; dem BVerfG zustimmend auch Pestalozza NJW 2004, 1840. 1634 VGH BW VBlBW 2003, 354; OVG MV DÖV 2005, 121; vgl auch BayVerfGH NVwZ-RR 2005, 176. 1635 Hamann NVwZ 1994, 669 ff. – Die Ermächtigungsgrundlage (Fn 1623) deckt keine in Form der PolVO erlassene kommunalrechtliche Nutzungsregelung für eine öffentliche Einrichtung, VGH BW NVwZ-RR 2012, 939 oJK Pol- u OrdR PolVO/3. 1636 VGH BW VBlBW 2002, 292, 293: OVG RP DÖV 2007, 82. 1637 BVerfGE 54, 143, 144 f. 1638 Bspl: VGH BW NVwZ 1998, 764oJK BImSchG § 22 II/1: Lärmbekämpfung von Anlagenlärm nur nach BImSchG. – SperrgebietsVO ergeht nach Art 297 EGStGB (Schönfelder Nr 85a): VGH BW VBlBW 2009, 220; HessVGH NVwZ-RR 1990, 472; NdsOVG NdsVBl 2003, 154; OVG NW NVwZ-RR 2012, 516; OVG RP NVwZ-RR 2006, 611; vgl auch BVerwG NVwZ 2005, 597; Art 297 EGStGB ist verfassungsgemäß, BVerfG-K NVwZ 2009, 905 o JK GG Art 80 I 2/5. 1639 Sartorius ErgBd Nr 285. – OVG NW DVBl 2012, 1385: allg Leinenzwang für Hunde im Wald nur nach LForstG. 1640 VGH BW NVwZ-RR 2006, 398, 399 o JK Pol- u OrdR PolVO/1. 1641 § 13 PolG BW; Art 42, 44 BayLStVG; § 55 ASOG Bln; §§ 25, 26 BbgOBG; § 49 PolG Bremen; § 1 I HbgSOG; §§ 72– 74 HessSOG; § 17 SOG MV; § 55 NdsSOG; §§ 26, 27 OBG NW; § 43 POG RP; § 60 S 1 PolG SL; § 12 SächsPolG; § 94 SOG LSA; § 175 I LVwG SH; §§ 27 I, 28 ThürOBG.

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Behörden zulässig.1642 Das Verfahren der Verordnungsgebung ist im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht nur zT geregelt (zB Vorlage an die Aufsichtsbehörde 1643). Bei der Verordnungsgebung auf örtlicher Ebene kann die Mitwirkung bzw Zuständigkeit der kommunalen Vertretungskörperschaft vorgesehen sein.1644 Ist dies der Fall, müssen im Verfahren einschlägige Vorschriften des Kommunalrechts 1645 beachtet werden.1646 Schließlich bestehen etliche Formerfordernisse.1647 Die Angabe der Rechtsgrundlage in der Verordnung ist zwingend.1648 Verzichtet werden kann dagegen auf die ausdrückliche Bezeichnung des örtlichen Geltungsbereichs 1649 und die Angabe des Inkrafttretens der Verordnung.1650 Materiellrechtlich setzt der Tatbestand der Verordnungsermächtigung eine abstrakte Gefahr 377 für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung voraus, dh eine für eine unbestimmte Zahl von Fällen und eine unbestimmte Zahl von Personen bestehende Gefahr. Dies verlangt eine Sachlage, die nach allgemeiner Lebenserfahrung oder fachlichen Erkenntnissen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit das Eintreten einer konkreten Gefahrenlage möglich erscheinen lässt; dabei ist der geforderte Wahrscheinlichkeitsgrad um so geringer, je hochrangiger das Schutzgut und je größer das Ausmaß des möglichen Schadens ist.1651 Es geht also um die verordnungsrechtliche Normierung eines Verhaltens, das regelmäßig und typischerweise zu einer Verletzung eines der Schutzgüter führt.1652 Maßgebend ist – wie bei der konkreten Gefahr – die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Abstrakte und konkrete Gefahr unterscheiden sich nicht durch den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, sondern durch den Bezugspunkt der Gefahrenprognose sowie die Zahl der Betroffenen bzw der Fälle: Vielzahl von Fällen versus Einzelfall.1653 Bei der Festlegung der Regelungsziele und der zur Zielverwirklichung einzusetzenden Mittel verfügt der Verordnungsgeber über einen gerichtlich zu respektierenden Einschätzungs- und Prognosespielraum;1654 keine behördliche Einschätzungsprärogative besteht jedoch bzgl der Frage, ob die vorliegenden Erkenntnisse die Annahme einer abstrakten Gefahr für ein Schutzgut rechtfertigen.1655 378 Nach diesen Voraussetzungen zum VO-Erlass ist das verordnungsrechtliche Taubenfütterungsverbot rechtmäßig, da es ein gefahrenabwehrrechtliches Vorgehen gegen verwilderte (Haus-)Tauben (Taubenkot) zur Verhütung von Gefahren für das Eigentum und zum Schutz der menschlichen Gesundheit darstellt.1656 Auch das Verbot der Kontaktaufnahme zu Prostituier-

_____ 1642 VGH BW VBlBW 2002, 292. 1643 § 16 I PolG BW; § 20 III SOG MV; § 44 POG RP; § 64 PolG SL; § 15 I SächsPolG; § 101 I 2 SOG LSA; § 33 ThürOBG. – Vgl auch § 50 PolG Bremen; § 73 S 2 HessSOG. 1644 § 15 PolG BW; § 26 III BbgOBG; § 50 PolG Bremen; § 74 S 2 HessSOG; § 55 II NdsSOG; § 27 IV OBG NW; § 43 III POG RP; § 14 I SächsPolG; § 55 III LVwG SH. 1645 Dazuo Röhl 1. Kap Rn 101, 144. 1646 VGH BW NVwZ-RR 2001, 462. 1647 § 12 PolG BW; § 29 BbgOBG; § 53 PolG Bremen; § 78 HessSOG; § 21 SOG MV; § 58 NdsSOG; § 30 OBG NW; § 46 POG RP; § 62 PolG SL; § 11 SächsPolG; § 97 SOG LSA; § 56 LVwG SH; § 32 ThürOBG. 1648 VGH BW NVwZ 1999, 560oJK Pol- u OrdR PolVO/1. 1649 OVG NW NWVBl 1997, 431, 432. 1650 VGH BW VBlBW 1999, 101, 102. 1651 VerfGH RP NVwZ 2001, 1273, 1274; VGH BW VBlBW 2008, 134, 135; NVwZ-RR 2010, 55, 56 o JK PolG BW § 10/1; BayVGH NVwZ-RR 2011, 193; OVG RP DÖV 2007, 82; ThürOVG ThürVBl 2008, 34, 35 oJK Pol- u OrdR PolVO/2; Scheidler BayVBl 2004, 715, 717; Möstl JURA 2005, 48, 51. 1652 VGH BW NVwZ 2000, 457; NVwZ 2001, 1299; VBlBW 2002, 292, 293; OVG Bremen DÖV 1993, 576; NdsOVG NVwZ 1991, 693; Poscher DV 41 (2008), 345, 360 f. 1653 Vgl VGH BW Urt v 26.7.2012 – 1 S 2603/11 – juris o JK PolG BW § 10/2; BayVGH NVwZ-RR 2011, 193, 194; ThürOVG ThürVBl 2008, 34, 35 f oJK Pol- u OrdR PolVO/2. 1654 BVerfG-K NVwZ 2004, 975. 1655 VGH BW Urt v 26.7.2012 – 1 S 2603/11 – juris o JK PolG BW § 10/2. 1656 BayVerfGH BayVBl 2005, 172; VGH BW NVwZ-RR 1992, 19; VGH BW NVwZ-RR 2006, 398, 399 oJK Pol- u OrdR PolVO/1; BayVGH DÖV 1997, 468; NdsOVG NdsVBl 1997, 137oJK GG Art 2 I/30; Wohlfarth DÖV 1993, 152, 156. – Zu einer Verbotsverfügung zur Taubenfütterung HessVGH NVwZ-RR 2008, 782.

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ten zwecks Vornahme sexueller Handlungen gegen Entgelt kann rechtmäßig sein, wenn es vor unzumutbaren Beeinträchtigungen für unbeteiligte Frauen und Mädchen schützt.1657 Dagegen ist das verordnungsrechtliche Bettelverbot vom Tatbestand der Generalermächtigung nicht gedeckt, soweit es um „stilles“ Betteln geht; denn diese Erscheinungsform des Bettelns stellt in keiner Weise eine abstrakte Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung dar (vgl auch Rn 130).1658 Dasselbe gilt für das Verbot des Alkoholkonsums auf öffentlich zugänglichen Flächen;1659 in den bisher geführten Rechtsstreitigkeiten konnte seitens der Behörden nicht nachgewiesen werden, dass gerade der Genuss mitgebrachter alkoholischer Getränke regelmäßig und typischerweise die Gefahr insbesondere von Körperverletzungen und Sachbeschädigungen mit sich bringt.1660 Nach vorliegenden Studien und Statistiken kann zwar ein gewisser Ursachenzusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Gewaltdelikten im öffentlichen Raum nicht ausgeschlossen werden, rechtlich begründen die tatsächlichen Erkenntnisse jedoch allenfalls einen Gefahrenverdacht, nicht aber eine abstrakte Gefahr für ein Schutzgut, so dass ein verordnungsrechtliches Alkoholverbot von der Ermächtigungsgrundlage nicht gedeckt ist.1661 Zum Schutz vor gefährlichen Hunden (Kampfhunden) haben die meisten Länder auf 379 Grund der vom BVerwG ausgelösten Irritationen (Rn 374) spezielle Gesetze erlassen.1662 Andere Länder haben in ihr OBG/SOG/PolG eine besondere VO-Ermächtigung zum Erlass einer HundeVO aufgenommen.1663 Nur vereinzelt haben sich Länder von der verfehlten Judikatur des BVerwG nicht beeindrucken lassen und stützen ihre Verordnung zur Gefahrenabwehr gegenüber gefährlichen Hunden auf die Generalklausel zum VO-Erlass (Baden-Württemberg, MecklenburgVorpommern). In der Sache kann eine GefAbwVO zu gefährlichen Hunden nach der Generalklausel erlassen werden. Das BVerfG hat auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse zutreffend festgestellt, dass der Normgeber (Gesetzgeber) bei abstrakter Betrachtung von der Annahme ausgehen dürfe, bestimmte Hunderassen (zB Pitbull-Terrier, American Staffordshire-Terrier) seien eine Gefahr für Leib und Leben von Menschen.1664 Angesichts nachgewiesener Vorkommnisse 1665 habe der Gesetzgeber Anlass zum Handeln gehabt,1666 da nach dem Stand der Forschung die genetisch determinierte besondere Gefährlichkeit jener Rassen nicht generell ausgeschlossen werden könne.1667 In der Tat liegt bei wirklichkeitsnaher Betrachtung eine „abstrakte Gefahr“ (und nicht nur ein „Gefahrenverdacht“) vor, da der für die Gefährlichkeitsannahme geforderte Grad der Wahrscheinlichkeit von dem gefährdeten Rechtsgut (hier: Leib und Leben von Menschen) und der Art der zu befürchtenden Schäden abhängt.1668 In der Rechtsprechung ist aner-

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1657 VGH BW NVwZ 2001, 1299. 1658 VGH BW VBlBW 1999, 101, 104 f; NVwZ 1999, 560, 561 o JK Pol- u OrdR PolVO/1; Schoch JURA 2012, 858, 863 f. 1659 Spezielle VO-Ermächtigung insoweit nach § 9a SächsPolG; dazu Brückner LKV 2012, 202 ff: Verfassungswidrigkeit der Norm wegen Unbestimmtheit und Unverhältnismäßigkeit. 1660 VGH BW NVwZ-RR 2010, 55, 56 f o JK PolG BW § 10/1; dazu Bespr Hecker NVwZ 2010, 359; VGH BW Urt v 26.7.2012 – 1 S 2603/11 – juris o JK PolG BW § 10/2; OVG LSA BeckRS 2010, 47490; OLG Hamm NVwZ 2010, 1319, 1320 o JK GO NW § 8/3. 1661 Hecker NVwZ 2009, 1016 ff; Pewestorf DVBl 2009, 1396 ff; Hebeler/Schäfer DVBl 2009, 1424 ff; Schoch JURA 2012, 858, 860; Köppert Alkoholverbotsverordnungen in der Rechtspraxis, 2011, 127 ff; aA Faßbender NVwZ 2009, 563 ff. 1662 Berlin, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen; dazu Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 63. 1663 § 25a BbgOBG; § 71a HessSOG; § 59a PolG SL. – Zur Rechtslage in Bayern Art 18, 37, 37a LStVG; dazu BayVGH NVwZ-RR 2011, 193. 1664 BVerfGE 110, 141, 159 f; zustimmend Möstl JURA 2005, 48, 52. 1665 Scheidler BayVBl 2004, 715, 718 berichtet von jährlich etwa 50.000 Opfern von Hundebissen, wobei jedes dritte Opfer ein Kind sein soll. 1666 Gesetz zur Bekämpfung gefährlicher Hunde v 12.4.2001, BGBl I 530. 1667 BVerfGE 110, 141, 160 foJK Pol- u OrdR Gefahrenbegriff/6. 1668 So ausdrücklich BVerfGE 110, 141, 163oJK Pol- u OrdR Gefahrenbegriff/6; ebenso bereits Ehlers DVBl 2003, 336, 337.

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kannt, dass von öffentlich frei herumlaufenden Hunden, vom Führen derartiger Hunde durch eine hierzu nicht befähigte Person sowie durch eine nicht ausbruchsichere Unterbringung dieser Hunde idR eine Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht; diese Annahme gründet nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Beißen, Hetzen, Reißen, Anspringen, Schnappen, Nachrennen und Beschnüffeln als spontane und unberechenbare Verhaltensweisen von Hunden mit Gefährdungen unbeteiligter Dritter jenseits der Schwelle bloßer Belästigung.1669 Allerdings muss der Gesetzgeber die Entwicklung beobachten und zB auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Ursachen aggressiven Verhaltens von Hunden der verschiedenen Rassen evtl reagieren.1670 Diese auf die parlamentarische Gesetzgebung bezogenen Ausführungen des BVerfG gelten uneingeschränkt für Gefahrenabwehrverordnungen zu gefährlichen Hunden.1671 380 cc) Determinanten für den Verordnungserlass. Liegen die Voraussetzungen der Generalklausel vor, steht der Erlass der Gefahrenabwehrverordnung im behördlichen Ermessen. Höherrangiges Recht darf, was sich schon aus Art 20 III GG ergibt, nicht verletzt werden.1672 Beachtung verdienen va die Grundrechte. Gefahrenabwehrverordnungen zum Schutz gegenüber gefährlichen Hunden sind mit Blick auf die Kategorisierung der Hunderassen nur zT als mit Art 3 I GG vereinbar erachtet worden; 1673 vielfach wurde – unter Verkennung der Gestaltungskompetenz des Verordnungsgebers 1674 – auf Grund übertriebener Anforderungen an die Gleichbehandlung von Hunderassen ein Verstoß gegen Art 3 I GG angenommen.1675 Dabei wurde übersehen, dass der Verordnungsgeber auf Grund hinreichend sicherer Anhaltspunkte für unterschiedliche Gefährlichkeiten verschiedener Hunderassen differenzieren darf, die Entwicklung des Beißverhaltens von Hunden jedoch beobachten muss (Rn 379) und die Gefahrenabwehrverordnung evtl anzupassen hat.1676 Bei den Gefahrhundeverordnungen können auch zB Art 12 I GG bzgl Hundezüchtern 1677 und Art 14 I GG 1678 oder Art 2 I GG bzgl Hundehaltern 1679 beachtlich sein. Beim Anleinzwang durch eine Gefahrenabwehrverordnung muss nicht mit Rücksicht auf Art 3 I GG eine Differenzierung nach Art und Größe der Hunde vorgenommen werden; angesichts der abstrakten Gefahr freilaufender Hunde (Rn 379) darf der Verordnungsgeber Sachverhalte typisieren und in seiner abstrakt-generellen Regelung atypische Besonderheiten des Einzelfalles vernachlässigen.1680 Dem verordnungsrechtlichen Taubenfütterungsverbot steht Art 2 I GG nicht entgegen.1681

_____ 1669 VGH BW VBlBW 2008, 134, 135; BayVGH NVwZ-RR 2011, 193, 194; OVG RP DÖV 2007, 82; OLG Dresden LKV 2007, 527. – Zur Gefährlichkeit von Hunden auch VGH BW VBlBW 2011, 185 (Leinenzwang); NdsOVG NdsVBl 2009, 347 (Leinenzwang); OVG SH NordÖR 2007, 210 (Leinen- und Maulkorbzwang); zur Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes NdsOVG NdsVBl 2012, 190. 1670 BVerfGE 110, 141, 166oJK Pol- u OrdR Gefahrenbegriff/6. 1671 Ausdrücklich in diesem Sinne BVerfG-K NVwZ 2004, 975; NVwZ 2005, 925, 926. 1672 § 11 PolG BW; Art 45 I BayLStVG; § 27 BbgOBG; § 75 HessSOG; § 20 SOG MV; § 28 OBG NW; § 10 SächsPolG; § 95 SOG LSA; § 57 LVwG SH; § 30 ThürOBG. 1673 BayVerfGH NVwZ-RR 1995, 262; VerfGH Bln NVwZ 2001, 1266; VerfGH RP NVwZ 2001, 1273; VGH BW VBlBW 2002, 292; OVG Bbg NVwZ 2001, 223; OVG Hamburg NVwZ 2001, 1311; OVG MV NVwZ-RR 2001, 752; NdsOVG NVwZRR 2001, 742 (Übermaßverbot aber als verletzt erachtet); OVG NW NWVBl 1997, 431. 1674 Zutr BayVerfGH NVwZ-RR 1995, 262, 263; VGH BW VBlBW 2002, 292, 294. 1675 VGH BW NVwZ 1999, 1016; OVG Bremen DÖV 1993, 576; HessVGH NVwZ-RR 2002, 650; OVG SH NVwZ 2001, 1300oJK GG Art 3 I/34. 1676 BVerfG-K NVwZ 2004, 975, 976; NVwZ 2005, 925, 926. 1677 OVG Bbg NVwZ 2001, 223, 225. 1678 NdsOVG NVwZ-RR 2001, 742, 745 f; OVG SH NVwZ 2001, 1300, 1306oJK GG Art 3 I/34. 1679 VerfGH RP NVwZ 2001, 1273 f. 1680 OVG RP DÖV 2007, 82, 83; OLG Dresden, LKV 2007, 527, 528. 1681 BVerfGE 54, 143, 147; BayVerfGH BayVBl 2005, 172, 173; VGH BW DÖV 1992, 19, 20; NVwZ-RR 2006, 398, 399 oJK Pol- u OrdR PolVO/1; NdsOVG NdsVBl 1997, 137, 138oJK GG Art 2 I/30.

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Beachtlich ist beim Verordnungserlass immer das Übermaßverbot.1682 Beim Anleinzwang 381 für Hunde achtet die Rechtsprechung darauf, dass zB nicht das gesamte Stadtgebiet erfasst ist; ist dies berücksichtigt, kann Hundehaltern zugemutet werden, ihre Hunde auf den vorhandenen (und zT ausgewiesenen) „Freilaufflächen“ artgerecht auszuführen.1683 Als unverhältnismäßig erachtet wurde eine Gefahrenabwehrverordnung, die den generellen Leinenzwang für Hunde im gesamten Stadtgebiet auch während der Nachtzeit anordnete.1684 Beim verordnungsrechtlichen Taubenfütterungsverbot wird die Eignung dieser Maßnahme zur Verringerung der Taubenpopulation darauf gestützt, dass die dauerhafte Verknappung des Nahrungsangebots durch ein generelles Fütterungsverbot wissenschaftlich erwiesen zu einem Rückgang der Nachkommensrate führt.1685 Gefahrenabwehrverordnungen müssen dem Bestimmtheitsgebot genügen; 1686 darauf hat 382 die Rechtsprechung immer wieder hingewiesen.1687 Bei den – ohnehin unzulässigen (Rn 378) – Alkoholverboten scheitern Verordnungen nicht selten auch daran, dass keine eindeutige Abgrenzung zwischen verbotenem und noch zulässigem Verhalten vorgenommen wird.1688 Inhaltlich hinreichend bestimmt ist zB eine Gefahrenabwehrverordnung, die den Anleinzwang für Hunde „innerhalb bebauter Ortslagen“ vorschreibt.1689 dd) Durchsetzung der Verordnung. Werden verordnungsrechtliche Ge- oder Verbote nicht 383 befolgt, liegt darin iSd der Generalklausel für Einzelfallmaßnahmen eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit (Rn 110, 112). Die Verordnung kann mittels vollstreckungsfähiger Verfügung durchgesetzt werden.1690 Wird zB zwischen Hundehalter und Behörde über die Gefährlichkeit eines Hundes iSd (LHundeG bzw) LHundeVO gestritten, kann behördlich eine Einstufung als gefährlicher Hund durch Verwaltungsakt vorgenommen werden.1691 Ein verordnungsrechtlich angeordneter Leinen- und Maulkorbzwang wird im Falle der Missachtung mittels Verfügung durchgesetzt.1692

c) Zwangsweise Durchsetzung von Gefahrenabwehrmaßnahmen Werden behördliche Verfügungen vom Pflichtigen nicht befolgt, müssen sie zwangsweise durch- 384 gesetzt werden.1693 Der Verwaltungszwang ist im Polizei- und Ordnungsrecht ausdrücklich vorgesehen. Dabei verfolgen die Länder – trotz weitgehender inhaltlicher Übereinstimmung – hinsichtlich der rechtlichen Grundlagen unterschiedliche Konzeptionen. Das Polizei- und Ordnungs-

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1682 VGH BW NVwZ 2001, 1299, 1300 bei VO gegen Prostitution; OVG Bremen NVwZ 2000, 1435, 1437 bei KampfhundeVO; NdsOVG NVwZ-RR 2001, 742, 746 f bei KampfhundeVO; OLG Hamm NVwZ 2002, 765, 766 bei Leinenzwang für Hunde. 1683 VGH BW VBlBW 2008, 134, 137; OLG Dresden LKV 2007, 527, 528. 1684 ThürOVG ThürVBl 2008, 34, 40 oJK Pol- u OrdR PolVO/2. 1685 VGH BW NVwZ-RR 2006, 398, 399 oJK Pol- u OrdR PolVO/1. 1686 Ausdrücklich idS § 56 II ASOG Bln; § 28 I 1 BbgOBG; § 52 II PolG Bremen; § 76 I 1 HessSOG; § 18 I SOG MV; § 57 I NdsSOG; § 29 I 1 OBG NW; § 45 II POG RP; § 61 I PolG SL; § 96 I SOG LSA; § 58 I LVwG SH; § 31 I 1 ThürOBG. 1687 BVerfG-K NVwZ 2004, 975, 976; VerfGH RP NVwZ 2001, 1273, 1274; VGH BW VBlBW 1999, 101, 102; VBlBW 2002, 292, 293; OVG Bbg NVwZ 2001, 223, 225; OVG MV NVwZ-RR 2001, 752, 753; OVG SH NVwZ 2001, 1300, 1305oJK GG Art 3 I/34. 1688 VGH BW VBlBW 2010, 33 (m Bespr Winkelmüller/Misera LKV 2010, 259); OVG LSA BeckRS 2010, 47490. 1689 VGH BW VBlBW 2008, 134, 136; OVG RP DÖV 2007, 82; ThürOVG ThürVBl 2008, 34, 38 f oJK Pol- u OrdR PolVO/1. 1690 VGH BW NVwZ-RR 1996, 578; VBlBW 2003, 354; VBlBW 2005, 28; OVG NW NWVBl 1997, 431; DVBl 1999, 1227; NVwZ 2000, 458. 1691 HessVGH NVwZ-RR 2005, 629; NdsOVG NdsVBl 2005, 213; NdsVBl 2012, 190. 1692 OVG SH NordÖR 2007, 210. 1693 Allg zur Verwaltungsvollstreckung Horn JURA 2004, 447 ff und 597 ff; App JuS 2004, 786 ff; Muckel JA 2012, 272 ff und 355 ff.

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recht trifft zur Erzwingung von Handlungen, Duldungen und Unterlassungen zT eine Vollregelung; 1694 zT gilt das allgemeine Verwaltungsvollstreckungsrecht; 1695 zT ist der Verwaltungszwang für die (Vollzugs-)Polizei speziell geregelt,1696 während für die Ordnungsbehörden das allgemeine Verwaltungsvollstreckungsrecht gilt; 1697 schließlich gibt es in manchen Ländern polizeirechtliche Regelungen für den unmittelbaren Zwang, während für Zwangsgeld und Zwangshaft sowie für die Ersatzvornahme das allgemeine Vollstreckungsrecht zur Anwendung kommt.1698 385 aa) Zwangsmittel. Die gesetzlich zugelassenen Zwangsmittel (Zwangsgeld, Ersatzvornahme, unmittelbarer Zwang) stellen eine abschließende Auflistung dar. Der Verwaltungszwang fungiert nicht etwa als „Verwaltungsstrafe“; den Zwangsmitteln kommt vielmehr eine Beugefunktion zu.1699 Folglich geht es nicht um die Verhängung einer Sanktion für pflichtwidriges Verhalten, sondern um die Durchsetzung der durch Verfügung (Rn 368) titulierten Pflicht. Daher ist zB das Vorgehen im Wege des Verwaltungszwangs einzustellen, wenn weitere Verstöße des Pflichtigen gegen eine Duldungs- oder Unterlassungspflicht nicht zu erwarten sind.1700 Hat sich die Grundverfügung erledigt (zB zeitlich befristetes Aufenthaltsverbot), ist der Einsatz eines Zwangsmittels ebenfalls unzulässig, weil es seine Beugefunktion nicht mehr erfüllen kann.1701 Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung sind bzw werden auch dann unzulässig, wenn der aus der Grundverfügung Verpflichtete seinen Handlungspflichten in vollem Umfang nachgekommen ist oder aber die Handlung, die erzwungen werden soll, nicht allein vom Willen des Pflichtigen (vgl dazu auch Rn 391 aE) abhängt.1702 Ein Teil der Rechtsprechung lässt indes bei einem Verstoß gegen ein Unterlassungsgebot zB die Festsetzung und Beitreibung eines Zwangsgeldes oder die Anordnung der Zwangshaft auch dann noch zu, wenn eine weitere Zuwiderhandlung zB wegen Fristablaufs oder Erledigung der Grundverfügung nicht mehr möglich ist.1703 Andernfalls gehe die Androhung des Zwangsmittels ins Leere, weil sie kein Übel darstelle, das den Pflichtigen zu dem geforderten Unterlassen bewegen könne.1704 Rechtlich zweifelsfrei ist diese Judikatur nicht.1705 Es gilt der Grundsatz, dass die Androhung bzw Anwendung eines Zwangsmittels einzustellen ist, sobald der Pflichtige seiner Verpflichtung nachgekommen ist oder bei einem befristeten Gebot bzw Verbot die Frist verstrichen ist. Andernfalls werden der Zweck des Verwaltungszwangs und der präventive Grundgedanke gefahrenabwehrrechtlichen Handelns verfehlt, der Verwaltungszwang verliert seine Beugefunktion und erhält einen unzulässigen Strafcharakter.1706 Anderes gilt nur, wenn gesetzlich die Fortsetzung des Verwaltungszwangs (zB Beitreibung eines angedrohten Zwangsgeldes) trotz Erfüllung der Duldungs- oder Unterlassungspflicht erlaubt ist.1707

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1694 §§ 47 ff HessSOG; §§ 79 ff SOG MV; §§ 64 ff NdsSOG; §§ 44 ff PolG SL; §§ 53 ff SOG LSA. 1695 §§ 6 ff VwVG Bln; §§ 228 ff LVwG SH. 1696 Art 53 ff BayPAG; §§ 53 ff BbgPolG; §§ 50 ff PolG NW; §§ 51 ff ThürPAG. 1697 Art 18 ff, 29 ff BayVwZVG; §§ 15 ff BbgVwVG; §§ 55 ff VwVG NW; §§ 18 ff, 43 ff ThürVwZVG. 1698 §§ 49 ff PolG BW; §§ 40 ff PolG Bremen; §§ 17 ff HbgSOG; §§ 57 ff POG RP; §§ 30 ff SächsPolG. 1699 BVerwGE 117, 332, 338; BVerwGE 125, 110 Tz 9; BVerwG NVwZ 2012, 888 Tz 16; VGH BW VBlBW 2006, 32, 33 u 34; NdsOVG NdsVBl 2009, 345, 346, OVG NW NVwZ-RR 2009, 516; OVG SL NVwZ 2009, 602, 604; SächsOVG SächsVBl 1996, 67, 68; SächsVBl 1997, 239. 1700 OVG MV NVwZ-RR 1997, 762; NdsOVG NdsVBl 2009, 345, 346; ThürOVG LKV 2012, 523. 1701 OVG NW NVwZ-RR 2009, 516 (am Bspl der Ersatzzwangshaft). 1702 VGH BW VBlBW 2006, 32, 33. 1703 OVG NW NVwZ-RR 1997, 764; NVwZ-RR 1998, 155; NVwZ-RR 1999, 802; NWVBl 2003, 183; OVG LSA DÖV 1996, 926oJK SOG LSA § 53/1. 1704 Differenzierend HessVGH NVwZ-RR 1998, 154, 155: Einstellung des Verwaltungszwangs bei Aufhebung der Grundverfügung, zulässige Beitreibung eines festgesetzten Zwangsgeldes. 1705 Vgl Dünchheim NVwZ 1996, 117 ff; Brinktrine SächsVBl 2000, 101 ff. 1706 VGH BW BWVP 1996, 207 f; NdsOVG NdsVBl 2009, 345, 347; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 887 ff. 1707 Art 37 IV 2 BayVwZVG (dazu BayObLG NVwZ-RR 1999, 785); § 60 III 2 Hs 2 VwVG NW; dazu T. Weber DVBl 2012, 1130, 1133.

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Das Zwangsgeld kommt als Zwangsmittel va bei der Verpflichtung zu einer Duldung oder Unterlassung in Betracht. Es dient nicht der Ahndung von Unrecht, sondern fungiert als Beugemittel zur Durchsetzung des Verwaltungsakts.1708 Das Zwangsgeld kann wiederholt angedroht bzw festgesetzt werden.1709 Die zulässige Höhe ist gesetzlich bestimmt. Innerhalb des gesetzlichen Rahmens erfolgt die Bestimmung der Höhe des anzudrohenden Zwangsgeldes nach behördlichem Ermessen, das durch das Übermaßverbot begrenzt ist; 1710 bei der Festsetzung (Rn 392) des Zwangsgeldes besteht kein Ermessen, sie muss dem angedrohten Betrag entsprechen.1711 Die Höhe des Zwangsgeldes darf die Kosten einer Ersatzvornahme übersteigen.1712 Die Zwangshaft – die kein eigenständiges Zwangsmittel darstellt – kann bei Uneinbringlichkeit des Zwangsgeldes angeordnet werden.1713 Sie ist Beugehaft und nicht etwa Strafe und kommt nur als ultima ratio in Betracht.1714 Ersatzzwangshaft kann zB angeordnet werden, wenn der Vollstreckungsschuldner mehrfach gegen eine Wohnungsverweisung und ein Rückkehrverbot in die Wohnung (Rn 289) verstoßen (sowie seine damalige Lebensgefährtin erneut körperlich misshandelt) hat und ein verhängtes Zwangsgeld uneinbringlich ist.1715 Hat sich die Grundverfügung erledigt, darf die Ersatzzwangshaft nicht mehr angeordnet werden (Rn 385). Die Ersatzvornahme ist die Ausführung einer vertretbaren Handlung durch die Verwaltung (oder einen von ihr beauftragten Dritten), zu der die Gefahrenabwehrverfügung den in Anspruch Genommenen verpflichtet. Die Ersatzvornahme erfolgt auf Kosten des Pflichtigen.1716 Wäre dieser der Verfügung nachgekommen, hätte er die Kosten ebenfalls tragen müssen. Der unmittelbare Zwang ist die behördliche Einwirkung auf Personen oder Sachen durch körperliche Gewalt, Hilfsmittel der körperlichen Gewalt oder durch Waffen.1717 Dieses Zwangsmittel kommt zur Durchsetzung vertretbarer und unvertretbarer Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen in Betracht. Beispiele sind der polizeiliche Wasserwerfereinsatz zur Durchsetzung der Platzverweisung (zB auch bei verbotenen oder aufgelösten Demonstrationen),1718 die Versiegelung einer Baustelle,1719 die Versiegelung eines Geländes,1720 die zwangsweise Zuführung einer Schülerin zur Schule zwecks Durchsetzung der Schulpflicht1721 und die Wegnahme freiwillig nicht herausgegebener Dokumente.1722 Die Auswahl des Zwangsmittels muss – sofern keine speziellen gesetzlichen Direktiven bestehen – das Übermaßverbot beachten. Die Behörde muss sich für dasjenige Zwangsmittel

_____ 1708 VGH BW VBlBW 2006, 32, 33; OVG Bremen, NVwZ-RR 2004, 658, 659; NdsOVG NdsVBl 2003, 190, 192; OVG NW NVwZ-RR 1993, 671; OVG RP NVwZ-RR 1992, 519, 520; SächsOVG SächsVBl 2004, 65; OVG SH NVwZ 2000, 821, 822. 1709 VGH BW VBlBW 2006, 32, 34. – Nach dem Landesrecht ist die erneute Androhung eines Zwangsgeldes zT erst zulässig, wenn das zunächst angedrohte Zwangsmittel erfolglos geblieben ist (OVG SH NVwZ 2000, 821), zT ist das nicht der Fall (OVG Bbg LKV 1999, 151). 1710 SächsOVG SächsVBl 2004, 65; OVG LSA NVwZ-RR 2002, 808. 1711 OVG LSA NVwZ-RR 2002, 808. 1712 VGH BW VBlBW 2004, 226, 227. 1713 OVG NW NVwZ-RR 1997, 763; NJW 2005, 2569; VG Meiningen NVwZ-RR 2000, 477; aA BayVGH NVwZ-RR 1997, 69, 70: Zwangshaft nur, wenn unmittelbarer Zwang keinen Erfolg verspricht. 1714 OVG NW NVwZ-RR 2004, 786, 787; NVwZ-RR 2009, 516; VG Berlin NVwZ-RR 1999, 349. 1715 OVG NW NJW 2006, 2569. 1716 Zum normativen Gehalt von Ersatzvornahmekosten BayVGH BayVBl 2000, 407; ausf zu den Kosten der Ersatzvornahme (nach Art 32 BayVwZVG) Schell BayVBl 2005, 746 ff. 1717 § 50 I PolG BW; Art 61 I BayPAG; § 2 I UZwG Bln; § 6 I BbgPolG, § 27 I BbgVwVG; § 41 I PolG Bremen; § 18 I HbgSOG; § 55 I HessSOG; § 102 I SOG MV; § 69 I NdsSOG; § 58 I PolG NW; § 67 I VwVG NW; § 58 I POG RP; § 49 II PolG SL; § 31 I SächsPolG; § 58 I SOG LSA; § 251 I LVwG SH; § 59 I ThürPAG. 1718 BVerfG-K NVwZ 1999, 290, 292oJK GG Art 19 IV/19. 1719 OVG MV NVwZ 1996, 488. 1720 VG Weimar NVwZ-RR 2000, 478. 1721 OVG Bremen NVwZ-RR 2004, 658. 1722 VGH BW DVBl 2009, 853, 854.

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entscheiden, das den Pflichtigen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt.1723 Welches Mittel dies ist, kann mitunter nicht leicht zu beurteilen sein.1724 Der unmittelbare Zwang kommt nur als ultima ratio in Betracht.1725 Gleichwohl kann er durchaus (zB zur Durchsetzung behördlicher Maßnahmen gegen illegale Demonstrationen) gerechtfertigt sein.1726 Auch bei der Durchsetzung der Schulpflicht wurde die Anwendung unmittelbaren Zwangs (Zuführung zur Schule) der Anordnung der Ersatzzwangshaft vorgezogen.1727 Bei unvertretbaren Handlungen kommt die Ersatzvornahme ohnehin nicht in Betracht. Insoweit steht als probates Zwangsmittel das Zwangsgeld 1728 – und (notfalls) die Zwangshaft 1729 – zur Verfügung. Im Übrigen genießt die Ersatzvornahme vielfach Vorrang vor dem Zwangsgeld; zwingend ist das aber nicht immer.1730 Ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung 1731 gibt es keinen generellen Vorrang der Ersatzvornahme gegenüber dem Zwangsgeld.1732 Die Auswahl des Zwangsmittels hat vielmehr mit Blick auf die Umstände des konkreten Falls nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen. Bei Uneinbringlichkeit des Zwangsgeldes soll die Zwangshaft trotz der bestehenden Gesetzeslage (Rn 386) idR ausscheiden, da allein die Ersatzvornahme tunlich sei.1733 390 bb) Verwaltungszwang im gestreckten Verfahren. Beim Verwaltungszwang im gestreckten Verfahren1734 unterscheidet sich das Polizei- und Ordnungsrecht nicht von der Vollstreckung von Verwaltungsakten zur Erzwingung von Handlungen, Duldungen und Unterlassungen nach Allgemeinem Verwaltungs(vollstreckungs)recht. 1735 Die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen (Rn 391) müssen erfüllt, die Verfahrensvorschriften eingehalten und der ordnungsgemäße Einsatz eines zulässigen Zwangsmittels (Rn 392) vorgenommen worden sein. Selbstverständlich sind auch die Zuständigkeitsregelungen zu beachten. Zuständig ist nach den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften als Vollstreckungsbehörde diejenige Behörde, die die Grundverfügung erlassen hat.1736 Einzuhalten sind die Verbandskompetenz sowie die sachliche, örtliche und ggf instanzielle Zuständigkeit. So stellt es eine Überschreitung der Verbandskompetenz dar, wenn die Vollstreckungsbehörde eines Landes eine Vollstreckungsmaßnahme in einem anderen Land durchführt.1737 Ein Zwangsgeldfestsetzungsbescheid ist rechtswidrig, wenn die Erlassbehörde sachlich nicht zuständig ist.1738 Schwierigkeiten hat die hM bei der Lösung der Zuständigkeitsfrage beim Abschleppen rechtswidrig abgestellter Fahrzeuge (vgl Rn 395).

_____ 1723 § 19 II VwVG BW; Art 29 III 2 BayVwZVG; § 9 II 2 VwVG Bln; § 18 I 2 BbgVwVG; § 13 II 2 VwVG Bremen; § 15 I HbgVwVG; § 58 I 2 VwVG NW; § 62 II VwVG RP; § 19 III SächsVwVG; § 45 II ThürVwZVG. – Im Übrigen folgt dies aus dem Übermaßverbot. 1724 Vgl Guldi VBlBW 1995, 462 ff; Horn JURA 2004, 447, 451. 1725 OVG Berlin NVwZ-RR 1998, 412, 413. 1726 BVerfG-K NVwZ 1999, 290, 293oJK GG Art 19 IV/19. 1727 OVG Bremen NVwZ-RR 2004, 658, 659. 1728 VGH BW NJW 2003, 234: Zwangsgeld bei Verstoß gegen Verbot von Nacktauftritten im Stadtgebiet. 1729 OVG NW NVwZ-RR 2004, 786: Anordnung von Ersatzzwangshaft zur Klärung der Identität und Nationalität eines Ausländers, zur Sicherung seiner Abschiebung und zur Durchsetzung seiner Passpflicht. 1730 Vgl SächsOVG LKV 1994, 412. 1731 Vgl zB § 11 I 2 BVwVG; § 32 S 2 BayVwZVG. 1732 VGH BW VBlBW 2004, 226; Horn JURA 2004, 447, 451. 1733 So VG Berlin NVwZ-RR 1999, 349, 350; VG Meiningen NVwZ-RR 2000, 476. 1734 Nach OVG RP NVwZ-RR 2009, 746, 747 ist das gestreckte Verfahren der „gesetzliche Regelfall“, so dass die unmittelbare Ausführung (Rn 393) nur unter strengen Voraussetzungen zulässig sei; in der Sache ebenso BVerwG NVwZ 2012, 1184, 1186. 1735 Dazu Ruffert in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 27 Rn 9 ff. 1736 Poscher/Rusteberg JuS 2012, 26, 28; Muckel JA 2012, 272, 275. 1737 NdsOVG NVwZ-RR 2006, 375 (am Bspl einer Forderungspfändung). 1738 BVerwGE 125, 110 Tz 10 ff (am Bspl des früheren BGS, jetzt: Bundespolizei).

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III. Formelles Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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Da es im gestreckten Verfahren um die zwangsweise Durchsetzung der Grundverfügung 391 geht (Rn 384, 390), muss ein Verwaltungsakt de iure überhaupt existent sein. Daran fehlt es, wenn die entsprechende Verfügung dem Pflichtigen nicht wirksam bekanntgegeben worden ist.1739 Sodann muss der Verwaltungsakt einen vollstreckbaren Inhalt haben. Das ist bei Gefahrenabwehrverfügungen idR unproblematisch.1740 Die formelle Vollstreckbarkeit ist gegeben, wenn der Verwaltungsakt unanfechtbar ist (Bestandskraft) oder ein Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung hat (§ 80 II VwGO).1741 Ob die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Verwaltungszwangs ist, wird nicht einheitlich beantwortet. Die Verfügung muss jedenfalls wirksam, darf also nicht nichtig (§ 43 III VwVfG, § 112 III LVwG SH) sein.1742 Ist die Grundverfügung unanfechtbar, kommt es – sofern die Verfügung nicht nichtig ist – auf ihre Rechtmäßigkeit nicht an.1743 Das soll nach hM1744 auch gelten, wenn die Verfügung im Zeitpunkt der Vollstreckung nicht unanfechtbar, sondern nur vorzeitig vollziehbar (§ 80 II VwGO) ist; zur Begründung wird auf den Wortlaut der Vorschriften zur formellen Vollstreckbarkeit hingewiesen, der lediglich die Wirksamkeit und die Vollziehbarkeit der Grundverfügung verlange, außerdem widerspräche eine Rechtmäßigkeitsprüfung der Grundverfügung der Effektivität der Verwaltungsvollstreckung. Gegenüber der hM lässt sich zunächst mit Blick auf Art 20 III GG einwenden, dass die mögliche gerichtliche Überprüfung der Verfügung noch nicht stattgefunden hat, so dass der Betroffene die Rechtmäßigkeit der Verfügung bestreiten kann; eine generelle behördliche Befugnis zur zwangsweisen Durchsetzung eines nicht bestandskräftigen Verwaltungsakts ist rechtsdogmatisch schon aus rechtsstaatlichen Gründen zweifelhaft.1745 Das „Wortlaut“argument der hM ist schon deshalb nicht stichhaltig, weil die Frage des „Rechtswidrigkeitszusammenhangs“ in den einschlägigen Vorschriften gar nicht thematisiert ist; die Effektivität der Gefahrenabwehr wird gewahrt (und damit praktischen Notwendigkeiten Rechnung getragen), da – ausweislich der insbesondere in § 80 II 1 Nr 2 u Nr 4 VwGO getroffenen Regelungen – die vorläufige Befolgungspflicht und Durchsetzbarkeit des Verwaltungsakts einerseits und seine Rechtmäßigkeit andererseits entkoppelt sind.1746 Kommt es indes zum Eilverfahren nach § 80 V VwGO, muss das Gericht nach Art 19 IV, 20 III, 97 I GG die Rechtmäßigkeit der noch nicht bestandskräftigen und vom Rechtsschutzsuchenden angefochtenen

_____

1739 NdsOVG NdsVBl 2012, 245, 246 (bzgl einer Ersatzvornahme). 1740 Vgl zB VGH BW NJW 2003, 234: Verbot von Nacktauftritten im Stadtgebiet; VGH BW VBlBW 2005, 386: Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung; BayVGH NVwZ-RR 1998, 310: Platzverweisung; OVG Bbg LKV 1999, 151: Anordnung zur Ablieferung des Führerscheins; NdsOVG NdsVBl 2009, 345: Untersagung der Vermittlung illegaler Sportwetten; NdsOVG NdsVBl 2012, 245 und OVG SL NVwZ 2009, 602: Verfügung zur Räumung eines Grundstücks von illegal gelagerten Sachen; OVG NW NVwZ-RR 1999, 802 u NVwZ-RR 2009, 516: Aufenthaltsverbot; OVG NW NJW 2006, 2569: Wohnungsverweisung mit Rückkehrverbot; OVG NW NWVBl 2007, 26 oJK OBG NRW § 18 I, II/2: Anordnung der Beseitigung herrenloser Tierkörper (Hunde, Katzen) auf einem Grundstück; VG Berlin NVwZ-RR 1999, 349: Gebot zur Räumung eines Grundstücks; VG Düsseldorf NWVBl 2001, 1521: Anordnung von Reinigungsmaßnahmen wegen Asbestes. – Instruktiv aus dem Sonderordnungsrecht zB BVerwGE 125, 110: Beförderungsverbot gegenüber Fluggesellschaft bzgl Fluggästen ohne Pass oder Visum; VGH BW VBlBW 2006, 32: Anordnung zum Führen eines Fahrtenbuches. 1741 § 2 VwVG BW; Art 53 I BayPAG, Art 19 I BayVwZVG; § 6 I VwVG Bln; § 53 I BbgPolG, § 15 I BbgVwVG; § 11 I 2 VwVG Bremen; § 18 I HbgVwVG; § 47 I HessSOG; § 80 I SOG MV; § 64 I NdsSOG; § 50 I PolG NW, § 55 I VwVG NW; § 2 VwVG RP; § 44 I PolG SL; § 2 SächsVwVG; § 53 I SOG LSA; § 229 I LVwG SH; § 51 I ThürPAG, § 44 I iVm § 19 ThürVwZVG. 1742 Horn JURA 2004, 447, 448; Muckel JA 2012, 272, 276. 1743 VGH BW VBlBW 2005, 386, 387; OVG NW NVwZ-RR 2004, 786; Poscher/Rusteberg JuS 2012, 26, 28. 1744 So BVerfG-K NVwZ 1999, 290, 292oJK GG Art 19 IV/19; BVerwG NVwZ 2009, 122 (dazu krit Enders NVwZ 2009, 958); NdsOVG NdsVBl 2009, 345, 346; OVG NW NWVBl 1997, 218, 219; OVG NW NWVBl 2007, 26, 27 ĺ JK OBG NRW § 18 I, II/2; OVG RP NVwZ-RR 2009, 746, 747; SächsOVG NVwZ-RR 1999, 101, 102; Weiß DÖV 2001, 275 ff; Geier BayVBl 2004, 389 ff; Poscher/Rusteberg JuS 2012, 26, 28 f; Muckel JA 2012, 272, 277; Kugelmann 11/11; Pieroth/Schlink/ Kniesel § 24 Rn 32 (mit Ausnahme Rn 33); Schenke Rn 540 ff. 1745 Vgl (m umfangr Nachw) Schoch in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 80 Rn 208. 1746 Pietzcker FS Schenke, 2011, 1045, 1052 ff.

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Grundverfügung – ebenfalls – prüfen.1747 Die Konsequenz hieraus ist ein Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen Grundverfügung und Vollstreckungsmaßnahme; die Rechtmäßigkeit der (nicht bestandskräftigen) Verfügung ist entgegen der hM Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Verwaltungszwangs.1748 Der Pflichtige muss auch zivilrechtlich zur Durchführung der verfügten Maßnahme in der Lage sein. Die Mitberechtigung eines Dritten (zB Miteigentümer, Mieter, Pächter) an der störenden Sache macht zwar die Grundverfügung nicht rechtswidrig, stellt jedoch ein Vollstreckungshindernis dar (Rn 156). Dieses kann durch Erlass einer Duldungsverfügung ausgeräumt werden.1749 Das gilt auch im Falle des Eigentumswechsels; die Durchsetzung der Verpflichtung des früheren Eigentümers setzt eine Duldungsanordnung gegen den neuen Eigentümer voraus.1750 Ergeht die Duldungsanordnung gegenüber einem lediglich obligatorisch Berechtigten (zB Pächter eines Grundstücks), kommt es nach einem Teil der Rechtsprechung für die Rechtmäßigkeit dieser Anordnung wegen der „Funktion“ der Duldungsanordnung (dh Überwindung des Widerstands gegen eine Maßnahme) nur auf die Wirksamkeit der Grundverfügung (nicht aber auf deren Rechtmäßigkeit) an;1751 überzeugend ist das kaum, wenn die Verfügung nicht bestandskräftig ist. Die Durchführung des Zwangsverfahrens beginnt mit der Auswahl des Zwangsmittels 392 (Rn 389).1752 Das eigentliche Zwangsverfahren ist idR dreistufig angelegt (bei Ersatzvornahme und unmittelbarem Zwang zT nur zweistufig). Die Androhung des Zwangsmittels, ein Verwaltungsakt,1753 unterliegt detaillierten gesetzlichen Vorgaben.1754 Probleme bereiten mitunter die Bestimmtheit der Androhung,1755 insbesondere die Bestimmung einer klaren Frist,1756 sowie die Androhung „für jeden Fall der Zuwiderhandlung“; 1757 unterschiedlich behandelt wird im Landesrecht die Frage eines Kumulationsverbots (gleichzeitige Androhung mehrerer Zwangsmittel).1758 Auf die Androhung des Zwangsmittels kann nach den einschlägigen Bestimmungen des Landesrechts ausnahmsweise verzichtet werden, wenn die Umstände die Androhung nicht zulassen, insbesondere wenn die sofortige Anwendung des Zwangsmittels zur Abwehr einer

_____ 1747 Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 802. 1748 VGH BW NVwZ 1989, 163; VG Bremen NVwZ-RR 1998, 468; Pietzcker FS Schenke, 2011, 1045, 1057 f; Götz § 13 Rn 8; Gusy Rn 438; Möller/Warg Rn 212; Würtenberger in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II § 21 Rn 328. 1749 BayVGH NJW 2000, 3297, 3298; BayVGH NVwZ-RR 2006, 389 o JK Pol- u OrdR Duldungsverfügung/1; OVG Berlin LKV 1997, 368; OVG NW NVwZ-RR 1998, 76; SächsOVG SächsVBl 2000, 294, 295; ThürOVG LKV 1997, 368; LKV 1998, 283, 284; v Kalm DÖV 1996, 463 ff. 1750 VGH BW NVwZ-RR 1995, 120. 1751 BayVGH BayVBl 2012, 470 (m Anm Jäde BayVBl 2012, 540); aA OVG MV NVwZ-RR 2010, 266, 267 (o JK VwGO § 80 III/5): inzidente Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausgangsverfügung, es sei denn, der Adressat der Duldungsanordnung war im Ausgangsrechtsstreit beigeladen. 1752 Näher zum Zwangsverfahren Horn JURA 2004, 597 ff; Muckel JA 2012, 272, 275 ff. 1753 BVerwG DVBl 1989, 362; HessVGH NVwZ-RR 1998, 154, 155; ThürOVG LKV 1997, 370, 371. 1754 § 20 VwVG BW; Art 59 BayPAG, Art 36 BayVwZVG; § 13 VwVG Bln; § 59 BbgPolG, § 23 BbgVwVG; § 17 VwVG Bremen; § 18 II HbgVwVG; § 53 HessSOG; § 87 SOG MV; § 70 NdsSOG; § 56 PolG NW, § 63 VwVG NW; § 66 VwVG RP; § 50 PolG SL; § 20 SächsVwVG; § 59 SOG LSA; § 236 LVwG SH; § 57 ThürPAG, § 46 ThürVwZVG. 1755 VGH BW NVwZ-RR 1996, 612, 613 f; OVG LSA NVwZ 1995, 614, 615. – Zweifelhaft NdsOVG NdsVBl 2011, 201, 202: behördliche Androhung der Ersatzvornahme sei nach dem Inhalt des VA als Androhung unmittelbaren Zwangs zu verstehen. 1756 VGH BW VBlBW 1995, 284, 285; OVG MV NVwZ-RR 1997, 762; T. Weber DVBl 2012, 1130, 1131 f. – VGH BW DVBl 2009, 853, 854: Rechtswidrigkeit der Androhung wegen zu kurzer Fristbemessung. 1757 Als unzulässig erkannt von VGH BW NVwZ 1998, 393, 394; VBlBW 2002, 297, 298; NVwZ-RR 2003, 238; aA für das dortige Landesrecht NdsOVG NdsVBl 2003, 190. 1758 VGH BW BWVP 1996, 43, 44; NVwZ-RR 1997, 444, 445: zulässig; ebenso OVG Bbg LKV 1999, 151; ferner SächsOVG SächsVBl 2004, 65; LKV 2004, 180; anders OVG LSA NVwZ 1995, 614, 615 und OVG SH NVwZ 2000, 821: unzulässig.

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(gegenwärtigen) Gefahr notwendig ist;1759 gefordert ist danach die Unaufschiebbarkeit der Gefahrenabwehrmaßnahme.1760 Wird die Verpflichtung aus der Grundverfügung nicht innerhalb der in der Androhung auferlegten Frist erfüllt, folgt die Festsetzung des zuvor angedrohten Zwangsmittels.1761 Auch dabei handelt es sich um einen Verwaltungsakt.1762 Die Festsetzung des Zwangsmittels gibt dem Pflichtigen als nochmalige unmissverständliche Warnung letztmals Gelegenheit, den Verwaltungszwang durch Befolgung der Grundverfügung abzuwenden.1763 Die Festsetzung ist auch dann rechtmäßig, wenn seit der Androhung des Zwangsmittels ein gewisser Zeitraum verstrichen ist; allein der Zeitablauf begründet beim Pflichtigen kein schützenswertes Vertrauen, dass die Behörde auf die Festsetzung verzichten werde.1764 Bleiben Androhung und Festsetzung des Zwangsmittels erfolglos, kommt es zu seiner Anwendung. Die Entscheidung hierüber ergeht nach pflichtgemäßem Ermessen. Beim Zwangsgeld erfolgt die Durchführung der Zwangsmaßnahme durch Beitreibung.1765 Die Realisierung der Ersatzvornahme und die Anwendung unmittelbaren Zwangs stellen einen Verwaltungsrealakt dar.1766 Vor der Durchführung der Ersatzvornahme muss dem Pflichtigen nicht erneut Gelegenheit gegeben werden, durch Einräumung einer „Nachfrist“ die Zwangsmaßnahme abwenden zu können.1767 Die intensivste Anwendung unmittelbaren Zwangs ist der Schusswaffengebrauch.1768 cc) Unmittelbare Ausführung und Sofortvollzug. In akuten Gefahrensituationen ist das ge- 393 streckte Verfahren der Zwangsanwendung zu aufwändig, um eine rasche Gefahrenbeseitigung bewirken zu können. Das Gefahrenabwehrrecht stellt zur Bewältigung derartiger Situationen das Rechtsinstitut der unmittelbaren Ausführung einer Maßnahme zur Verfügung 1769 oder es verweist auf den Sofortvollzug.1770 Die beiden Rechtsinstitute stimmen in ihrer Funktion überein, unterscheiden sich aber in der Rechtskonstruktion.1771 Die unmittelbare Ausführung ist eine klassische Maßnahme des Polizei- und Ordnungsrechts und kommt zum Einsatz, wenn die Gefahrenabwehr durch eine Inanspruchnahme des Verantwortlichen nicht oder nicht rechtzeitig erreicht werden kann. Der Sofortvollzug entspringt dem Allgemeinen Verwaltungs(vollstreckungs)recht

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1759 § 21 VwVG BW; Art 59 I 3 BayPAG, Art 35 BayVwZVG; § 59 I 3 BbgPolG, § 23 I 3 BbgVwVG; § 17 I 1 VwVG Bremen; § 27 HbgVwVG; § 53 I 4 HessSOG; § 87 I 2 SOG MV; § 70 I 3 NdsSOG; § 56 I 3 PolG NW, § 63 I 5 VwVG NW; § 66 I 2 POG RP; § 50 I 3 PolG SL; § 21 SächsVwVG; § 59 I 4 SOG LSA; § 236 I 2 LVwG SH; § 57 I 3 ThürPAG, § 54 ThürVwZVG. 1760 VGH BW VBlBW 2005, 386, 387. 1761 Ausf zur Zwangsmittelfestsetzung Malmendier VerwArch 94 (2003) 25 ff. 1762 HessVGH NVwZ-RR 1998, 154, 155; OVG RP NVwZ 1994, 715. 1763 BVerwG NVwZ 1997, 381, 382 o JK VwVG § 14/1; OVG NW NVwZ-RR 1998, 155, 156: Festsetzung angemessene Zeit vor der Anwendung des Zwangsmittels. 1764 NdsOVG NdsVBl 2009, 345. 1765 Dazu OVG SL NVwZ-RR 2003, 87o JK VwVG § 6/1. 1766 BVerfG-K NVwZ 1999, 290, 292 o JK GG Art 19 IV/19: Wasserwerfereinsatz der Polizei; VGH BW VBlBW 2005, 386, 387: Vollstreckung einer Herausgabeverpflichtung im Wege unmittelbaren Zwangs durch Wegnahme der Sache; VG Weimar NVwZ-RR 2000, 478: Versiegelung eines Geländes. 1767 OVG SL NVwZ 2009, 602, 603 f. 1768 Dazu BGH NJW 1999, 2533: pol Schusswaffengebrauch bei Festnahme. – Allg zum Schusswaffengebrauch im Gefahrenabwehrrecht Odendahl DV 38 (2005) 425, 429 ff; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 892 ff; zum „finalen Rettungsschuss“ Westenberger DÖV 2003, 627 ff (bzgl HbgSOG) u Buschmann/Schiller NWVBl 2007, 249 ff (bzgl NRW) sowie Jacobs DVBl 2006, 83 ff (zur Terrorismusbekämpfung); zum pol Schusswaffengebrauch im Lichte der EMRK Arzt DÖV 2007, 230 ff. 1769 § 8 PolG BW; Art 9 BayPAG, Art 7 III BayLStVG; § 15 ASOG Bln; § 7 HbgSOG; § 8 HessSOG; § 70a SOG MV; § 6 POG RP; § 6 SächsPolG; § 9 SOG LSA; § 9 ThürPAG, § 12 ThürOBG. – Vgl dazu Köhler BayVBl 1999, 582 ff. 1770 Art 53 II BayPAG; § 6 II VwVG Bln; § 53 II BbgPolG, § 15 II BbgVwVG; § 11 II VwVG Bremen; § 47 II HessSOG; § 81 SOG MV; § 64 II NdsSOG; § 50 II PolG NW, § 55 II OBG NW; § 61 II VwVG RP; § 44 II PolG SL; § 53 II SOG LSA; § 230 LVwG SH; § 51 II ThürPAG, § 54 ThürVwZVG. 1771 Näher dazu Kugelmann DÖV 1997, 153 ff; Köhler BayVBl 1999, 582 ff; Wehser LKV 2001, 293 ff; Felix/Schmitz NordÖR 2003, 133 ff; Wehser LKV 2003, 253 ff; vgl auch Fallbearbeitung v Arnauld JURA 2003, 53 ff.

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und erlaubt Verwaltungszwang ohne vorausgehende Grundverfügung, wenn dies zur Abwehr einer gegenwärtigen bzw drohenden Gefahr notwendig ist und die Behörde innerhalb ihrer Befugnisse handelt.1772 394 In denjenigen Ländern, die im Gefahrenabwehrrecht über beide Rechtsinstitute verfügen, kann sich die Frage der Abgrenzung stellen. Diese ist bislang nicht gelungen.1773 Vorgeschlagen wird, dem Sofortvollzug Maßnahmen gegen den Willen des Betroffenen zuzuordnen, alle übrigen Maßnahmen der unmittelbaren Ausführung zuzuweisen.1774 Eine derartige Differenzierung kann nur anerkannt werden, wenn das Gesetz die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme ausdrücklich vom tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen des Verantwortlichen abhängig macht.1775 Dann kommt das Rechtsinstitut des sofortigen Vollzugs zur Anwendung, wenn es um die Brechung eines entgegenstehenden Willens des Betroffenen geht.1776 Ohne einen entsprechenden Anhaltspunkt im Gesetz lässt sich jene Abgrenzungsregel kaum aufstellen. Vorrang sollte die unmittelbare Ausführung aus systematischen Gründen genießen, weil es sich bei ihr um ein genuin polizeirechtliches Instrument handelt.1777 Außerdem spricht für den Anwendungsvorrang der unmittelbaren Ausführung, dass sie im Vergleich zum Sofortvollzug den engeren Anwendungsbereich aufweist; erfasst werden nur vertretbare Handlungen des Verantwortlichen, während der Sofortvollzug auch gegenüber dem Nichtverantwortlichen zulässig ist.1778 Mit dem Rechtsinstitut der unmittelbaren Ausführung lassen sich zwanglos die Abschlepp395 fälle bei verbotswidrig abgestellten Fahrzeugen lösen.1779 Es kommt nicht darauf an, ob der Betreffende zB ein Haltverbotsschild (als Verkörperung eines Verwaltungsakts) zur Kenntnis genommen hat; für die Rechtmäßigkeit der Maßnahme müssen die Voraussetzungen für eine unmittelbare Ausführung (Rn 396) vorliegen.1780 Die hM bevorzugt indes eine andere Lösung. Das Abschleppen eines unter Verstoß gegen ein Verkehrszeichen oder eine Verkehrseinrichtung rechtswidrig abgestellten Fahrzeugs soll idR eine (im gestreckten Verfahren stattfindende) Ersatzvornahme darstellen; in dem Verbot sei – als Grundverfügung – zugleich ein Wegfahrgebot enthalten.1781 Damit das straßenverkehrsrechtliche Verbot und zugleich Gebot seine Wirkung entfalten kann, ist die objektive Erkennbarkeit der straßenverkehrsrechtlichen Regelung (verkörpert zB in einem Verkehrsschild oder Verkehrszeichen) gefordert.1782 Die äußere Wirksamkeit

_____ 1772 Zum „sofortigen Vollzug“ (in Abgrenzung zur „sofortigen Vollziehung“ iSd § 80 II 1 Nr 4 VwGO) Sadler Die Polizei 2005, 185 ff; ferner Sadler DVBl 2009, 292 ff: unmittelbare Ausführung einer Maßnahme durch sofortigen Vollzug. 1773 Wehser LKV 2001, 293 ff hält eine Abgrenzung für nicht möglich. 1774 Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 157; Knemeyer Rn 359; Schenke Rn 564. 1775 Bspl: § 70a S 1 SOG MV. 1776 OVG MV LKV 2006, 225, 226. 1777 Kugelmann DÖV 1997, 153, 156 ff; Möstl JURA 2011, 840, 851; Poscher/Rusteberg JuS 2012, 26, 29; Muckel JA 2012, 272, 275. 1778 Götz § 12 Rn 18; Kugelmann 11/46 ff; aA Schenke Rn 569. 1779 Vgl etwa VGH BW NJW 1991, 1698; DVBl 1991, 1370; BayVGH BayVBl 1991, 433, 435; DÖV 2008, 732; OVG Hamburg NJW 1992, 1909; BeckRS 2011, 52410 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/6; HessVGH NVwZ-RR 1995, 29; VG Leipzig LKV 1995, 165. 1780 VGH BW NVwZ-RR 1996, 149, 150; OVG Hamburg DÖV 1995, 783; HessVGH NJW 1997, 1023 (m Bespr Michaelis NJW 1998, 122); OVG NW NWVBl 2005, 176, 177; Möstl JURA 2011, 840, 852. – Differenzierend Denninger in: Lisken/Denninger, D Rn 158: unmittelbare Ausführung bei ordnungsgemäß abgestelltem Fahrzeug und nachträglicher Änderung der Verkehrsregelung, gestrecktes Vollstreckungsverfahren bei gezieltem Verkehrsverstoß. 1781 BVerwGE 102, 316, 319; VGH BW NJW 1990, 2270, 2271; DÖV 2002, 1002; NJW 2007, 2058; VBlBW 2010, 198; NJW 2010, 1898, 1899; OVG Hamburg NJW 2005, 2247 ĺ JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/4; HessVGH NVwZ-RR 1991, 28; NVwZ-RR 1999, 23, 24 o JK HessSOG §§ 8, 49, 53/1; OVG MV LKV 2006, 225; OVG RP NVwZ 1988, 658; SächsOVG NJW 2009, 2551 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/5; OVG SH NVwZ-RR 2003, 647 o JK LVwG SH § 238 I/1; VG Weimar ThürVBl 2001, 92, 93; vgl auch Michaelis JURA 2003, 298, 300 ff. 1782 OVG NW NWVBl 2005, 176, 177 (fehlende Erkennbarkeit bei Abnutzung oder Witterungseinflüssen auf Verkehrszeichen).

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III. Formelles Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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der Anordnung tritt mit der Aufstellung zB des Halteverbotsschildes ein; die innere Wirksamkeit entfaltet sich in dem Zeitpunkt, in dem der Verkehrsteilnehmer (erstmals) auf das Verkehrszeichen trifft und Gelegenheit zur Kenntnisnahme hat.1783 Die hM operiert mit einer Reihe von Ungereimtheiten. So muss die Konstruktion der Ersatzvornahme regelmäßig die Androhung des Zwangsmittels (Rn 392) contra legem für entbehrlich halten.1784 Rechtlich „sauber“ lösbar ist zudem in vielen Fällen die Zuständigkeitsfrage nicht. Da zuständige Vollstreckungsbehörde grundsätzlich die den Verwaltungsakt erlassende Behörde ist (Rn 390), fehlt es der (Vollzugs-)Polizei grds an der Zuständigkeit für das Abschleppen eines verbotswidrig abgestellten Fahrzeugs, weil das Verkehrszeichen nach § 45 StVO idR von der unteren Straßenverkehrsbehörde (Ordnungsbehörde) angebracht worden ist.1785 Die Ignorierung der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung unter Hinweis auf ein „handgreiflich praktisches Bedürfnis“ sowie wegen der „Funktionsgleichheit“ und „wechselseitigen Austauschbarkeit“ von Verkehrszeichen und Polizeivollzugsbeamten iSd § 80 II 1 Nr 2 VwGO1786 stellt einen richterlichen Gesetzesbruch dar und versucht nur das erwünschte Ergebnis (mit unbrauchbaren Argumenten) zu legitimieren; zuständige Vollzugsbehörde ist die Behörde, die die Grundverfügung erlassen hat, nicht eine andere Behörde, die die Verfügung unter bestimmten Voraussetzungen ggf auch erlassen könnte. Die wenig überzeugende Konstruktion der hM zur Qualifizierung einer Abschleppmaßnahme als Ersatzvornahme scheitert jedenfalls dort, wo es um die Beseitigung eines Verstoßes unmittelbar gegen die StVO (zB § 12) geht. Die Fiktion des gestreckten Verfahrens scheidet aus, da es an einer vollstreckbaren Grundverfügung fehlt. Es bleibt die unmittelbare Ausführung der Gefahrenabwehrmaßnahme.1787 Die Zuständigkeitsproblematik lässt sich insoweit auch beim Abschleppen von Fahrzeugen wegen Verstoßes gegen ein Verkehrszeichen leichter lösen.1788 Im Übrigen wird auch ein Sofortvollzug in Form der Ersatzvornahme befürwortet.1789 Die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen von Sofortvollzug und unmittelbarer Ausführung 396 weisen keine signifikanten Unterschiede auf.1790 Der Sofortvollzug ist nach den einschlägigen Bestimmungen (Rn 393) zulässig, wenn der Verwaltungszwang ohne vorausgehenden Verwaltungsakt zur Abwehr einer (gegenwärtigen) Gefahr notwendig ist, insbesondere weil die Maßnahme gegen den Pflichtigen nicht oder nicht rechtzeitig möglich ist oder keinen Erfolg verspricht,1791 und die Polizei innerhalb ihrer Befugnisse handelt.1792 Die unmittelbare Ausführung einer Gefahrenabwehrmaßnahme ist rechtmäßig, wenn der Zweck durch eine Maßnahme gegen den Pflichtigen nicht oder nicht rechtzeitig erreicht werden kann. Nach beiden Varianten müssen demnach (1) die Voraussetzungen für ein Einschreiten zur Gefahrenabwehr (nach einer Standardbefugnis, zB Sicherstellung eines Kfz, oder nach der Generalklausel) erfüllt sein und (2) die Anforderungen an die Eilbedürftigkeit bejaht werden können; zudem muss (3) die Durchführung des Sofortvollzugs bzw der unmittelbaren Ausführung rechtsfehlerfrei erfolgen.

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1783 BVerfG-K NJW 2009, 3642, 3643; BVerwG JZ 2011, 152 (m Anm Ehlers) o JK VwGO § 58 I/2; VGH BW VBlBW 2011, 275 o JK VwGO § 70/7. 1784 So zB VGH BW NVwZ-RR 2003, 558; OVG SH NVwZ-RR 2003, 647 o JK LVwG SH § 238 I/1. 1785 VGH BW VBlBW 2004, 213 (m Bespr Remmert VBlBW 2005, 41); VGH BW VBlBW 2010, 198. 1786 So OVG MV LKV 2006, 225, 227. 1787 OVG Hamburg NJW 2001, 168, 169; NJW 2001, 3647 (m Bespr Schwabe NJW 2002, 652); BeckRS 2011, 52410 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/6; HessVGH NJW 1999, 3650; OVG RP NJW 1999, 3573. 1788 Remmert VBlBW 2005, 41, 42 f. 1789 OVG NW NVwZ-RR 1996, 59 o JK VwVfG NW § 41/1; OVG NW NJW 2000, 602; NWVBl 2001, 72; NJW 2001, 172. 1790 Gusy Rn 440; Pieroth/Schlink/Kniesel § 24 Rn 44; Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 818. 1791 Zu diesen drei Varianten NdsOVG NdsVBl 2012, 245, 246. 1792 Ausf dazu Rachor in: Lisken/Denninger, E Rn 806 ff.

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Danach ist eine unmittelbare Ausführung rechtmäßig, wenn ein verkehrswidrig geparktes Fahrzeug eine Ausfahrt blockiert.1793 Steht ein Kfz im Halteverbotsbereich und ist der verantwortliche Fahrzeughalter nicht erreichbar, ist die Abschleppmaßnahme ebenfalls rechtens.1794 Dagegen ist die im Wege der unmittelbaren Ausführung vollzogene Sicherstellung eines Kfz rechtswidrig, wenn der Fahrer zugegen war und als Störer hätte in Anspruch genommen werden können.1795 Auch wenn für eine unmittelbare Ausführung alle Voraussetzungen vorliegen, soll eine Abschleppanordnung wegen Unverhältnismäßigkeit rechtswidrig sein, wenn die Fahrerin die – vorsätzlich und gegen eine polizeiliche Anordnung herbeigeführte – Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer in Kürze zu beseitigen gedenkt.1796 Fehlt es an einer akuten Gefahrensituation, so dass eine sofortige Abhilfe durch den Sofortvollzug oder die unmittelbare Ausführung nicht geboten ist, muss die Zwangsmaßnahme im gestreckten Verfahren vollzogen werden.1797 Liegen die gesetzlichen Voraussetzungen vor, können der Sofortvollzug bzw die unmittelbare Ausführung vorgenommen werden. Der zusätzlichen Fiktion einer Grundverfügung1798 bedarf es nicht.1799 Dafür findet sich im Wortlaut der maßgeblichen Bestimmungen (Rn 393) kein Anhaltspunkt. Auch Rechtsschutzgründe streiten nicht für die Annahme einer derartigen Fiktion, weil die VwGO nicht nur Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte, sondern auch gegen Verwaltungstathandeln eröffnet.1800 IV. Kostenersatz und Entschädigung im Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

IV. Kostenersatz und Entschädigung im Polizei- und Ordnungsrecht 397 Gefahrenabwehrmaßnahmen sind mit (zT beträchtlichen) Kosten verbunden. Hat der Verantwortliche auf Grund behördlicher Verfügung die Gefahr mit eigenen Mitteln beseitigt, entspricht die Kostentragungspflicht der polizei- und ordnungsrechtlichen Verantwortung (Rn 170). Ist die Gefahrenbeseitigung dagegen auf Kosten der Verwaltung erfolgt, stellt sich die Frage nach der Kostenabwälzung auf den Verantwortlichen (Rn 400 ff). Wurde ein Nichtstörer in Anspruch genommen, ergeben sich Fragen nach dessen Entschädigung (Rn 409).

1. Kostenersatzansprüche der Verwaltung a) Vorbehalt des Gesetzes 398 Die den Behörden durch die Gefahrenabwehr entstehenden Kosten (dh Personal- und Sachausgaben) sind (zunächst) von diesen bzw ihrem Verwaltungsträger zu tragen.1801 Es gilt der Grundsatz der Steuerfinanzierung von Aufgaben der Gefahrenabwehr.1802 Bliebe es in jedem Fall dabei, entstünden Wertungsdivergenzen zwischen der (primären) gefahrenabwehrrechtlichen Verantwortlichkeit des Pflichtigen und der (sekundären) Kostentragungspflicht. Über den Etat der Gefahrenabwehrbehörden müsste die Allgemeinheit unerfüllte verwaltungsrechtliche Pflich-

_____ 1793 BayVGH BayVBl 2010, 471. 1794 BayVGH DÖV 2008, 732. 1795 HessVGH NVwZ-RR 2008, 784. 1796 OVG Hamburg BeckRS 2011, 52410 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/6; zustimmend Klüver DVBl 2011, 1247. 1797 OVG RP NVwZ-RR 2009, 746, 747 (am Bspl der Sanierung einer Halde); BVerwG NVwZ 2012, 1184, 1187 (zur Fortnahme und Veräußerung von Tieren durch eine Ordnungsbehörde). 1798 So aber Poscher/Rusteberg JuS 2012, 26, 29; Pieroth/Schlink/Kniesel § 24 Rn 38 u Rn 44. 1799 Kugelmann 11/45; Schenke Rn 566 f. 1800 Von einer „hypothetischen Grundverfügung“ sprechen Muckel JA 2012, 355, 358 und Gusy Rn 441. 1801 Ausdrücklich § 82 PolG BW; § 44 BbgOBG; § 83 PolG Bremen; §§ 105 ff HessSOG; § 105 NdsSOG; § 45 OBG NW; § 103 SOG LSA. 1802 Poscher/Rusteberg JuS 2012, 26, 30; Sailer, in: Lisken/Denninger, N Rn 24.

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IV. Kostenersatz und Entschädigung im Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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ten finanzieren. Von daher erklärt sich das Bemühen um eine Abwälzung behördlicher Aufwendungen für die Gefahrenabwehr auf Private.1803 Funktional kann die Kostentragungspflicht des an sich Verantwortlichen als Surrogat für 399 die ihm eigentlich obliegende Pflicht zur Gefahrenbeseitigung auf eigene Rechnung qualifiziert werden.1804 Die Ersatzpflicht stellt daher eine Sekundärleistungspflicht im Verhältnis zu der primären Gefahrenbeseitigungspflicht dar.1805 Allerdings können die Gefahrenabwehrbehörden die ihnen entstandenen Kosten nicht ohne entsprechende Rechtsgrundlage auf Private abwälzen. Die Kostenerhebung unterliegt dem Vorbehalt des Gesetzes.1806 Daher kann eine Kostenerstattung seitens der Gefahrenabwehrbehörden nur beansprucht werden, wenn und soweit der Gesetzgeber eine entsprechende Rechtsgrundlage geschaffen hat. Das führt zu differenzierten und rechtspolitisch nicht immer vorbehaltlos akzeptierten Ergebnissen. So kann zB auf Grund einer entsprechenden gesetzlichen Regelung (§ 17 II LuftSiG)1807 von den Fluggesellschaften eine Flugsicherheitsgebühr für die behördliche Fluggast- und Gepäckkontrolle erhoben werden.1808 Dagegen kann für den Polizeieinsatz bei Großereignissen (zB Sportveranstaltungen, Demonstrationen) ein Kostenersatz nach allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht (anders uU nach Gebührenrecht) nicht verlangt werden (vgl auch Rn 190), weil es an einer Rechtsgrundlage fehlt;1809 der Veranstalter ist kein „Störer“ (auch nicht Zweckveranlasser), und der Kostenersatz auf der Sekundärebene (Rn 401 ff) zB für eine Ersatzvornahme oder die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme scheidet mangels Verantwortlichkeit des Veranstalters ebenfalls aus.1810 Diskutiert wird jedoch angesichts des ideellen Gewinns eines Veranstalters (zB Papstbesuch, G8-Gipfel) bzw des wirtschaftlichen Nutzens (zB große Sportereignisse, Popkonzerte) Privater bei gleichzeitigen Polizeikosten in Millionenhöhe de lege ferenda die Schaffung einer Rechtsgrundlage, um einen finanziellen Zugriff auf den Veranstalter derartiger Veranstaltungen nehmen zu können.1811 Die Kostenabwälzung für den Polizeieinsatz bei einem Fehlalarm ist sehr uneinheitlich geregelt, so dass es auf die konkrete Sach- und Rechtslage ankommt;1812 entsprechende Rechtsgrundlagen finden sich vornehmlich im Gebührenrecht.1813

b) Kostenersatz für Gefahrenabwehrmaßnahmen Für eine Systematisierung des Polizeikostenrechts ist die Unterscheidung zwischen der Primärebe- 400 ne (Gefahrenabwehr) und der Sekundärebene (Kostentragung) erkenntnisleitend. Fragen der Kostenerstattung stellen sich grundsätzlich1814 erst gar nicht, wenn der Verantwortliche (Handlungs-

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1803 Gusy DVBl 1996, 722 ff; am Bspl des ehemaligen BGS Isensee FS Vogel, 2000, 93 ff. 1804 BayVGH BayVBl 1987, 404; Martensen DVBl 1996, 286, 291. 1805 VGH BW VBlBW 2002, 161; Sailer in: Lisken/Denninger, N Rn 40. 1806 BVerwG NJW 1992, 2243; NdsOVG DVBl 1984, 57; Gusy DVBl 1996, 722, 727; Schmidt ZRP 2007, 120, 122. – Vgl ferner Art 76 BayPAG; § 114 SOG MV; § 90 PolG SL; § 249 LVwG SH; § 75 ThürPAG, § 53 ThürOBG. 1807 Sartorius ErgBd Nr 976. 1808 BVerfG-K DVBl 1998, 1220 (m Anm Zugmaier). – Vgl aber auch BVerwGE 120, 227, 235 ff zur unzulässigen Kostenerhebung des Staates für den Schutz auf Flugplätzen; ausf zu Fragen der Luftsicherheitsgebühr Sailer in: Lisken/ Denninger, N Rn 108 ff. 1809 § 81 II 1 PolG BW aF bestimmte: „Für die Kosten polizeilicher Maßnahmen bei privaten Veranstaltungen kann von dem Veranstalter Ersatz verlangt werden, soweit sie dadurch entstehen, dass weitere als die im üblichen örtlichen Dienst eingesetzten Polizeibeamten herangezogen werden müssen.“ 1810 Schmidt ZRP 2007, 120 f; Sailer in: Lisken/Denninger, N Rn 56 ff. 1811 Schmidt ZRP 2007, 120, 122 f (mit Formulierungsvorschlag). 1812 Überblick bei Sailer in: Lisken/Denninger, N Rn 96 ff. 1813 Aus der jüngeren Rechtsprechungspraxis VGH BW VBlBW 2011, 153 o JK Pol- u OrdR unmittelbare Ausführung/2; VG Hannover NJW 2011, 2380. 1814 Wichtige Ausnahme: Störermehrheit (Rn 225 ff) mit einer möglichen Inkongruenz der Verantwortlichkeit auf der Primär- und der Sekundärebene (dort: Grundsatz der gerechten Lastenverteilung); vgl VGH BW NVwZ-RR 2012, 387, 389; Sailer in: Lisken/Denninger, N Rn 26 ff.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

störer, Zustandsstörer) seiner Gefahrenabwehr- bzw Störungsbeseitigungspflicht – auf eigene Kosten (Rn 397) – nachkommt.1815 Ist das nicht der Fall, so dass die Gefahrenabwehr bzw Störungsbeseitigung durch Verwaltungszwang – sei es im gestreckten Verfahren oder sei es im abgekürzten Verfahren (Sofortvollzug, unmittelbare Ausführung) – bewerkstelligt wird, kann von dem Pflichtigen nach Maßgabe der gesetzlichen Grundlagen Kostenerstattung verlangt werden; entsprechende Vorschriften sind im Polizei- und Ordnungsrecht sowohl für die „regulären“ Zwangsmittel als auch für den Sofortvollzug bzw die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme vorgesehen (Rn 401 ff). Nachfolgend werden die praktisch bedeutsamsten Rechtsprobleme dargestellt.1816 Für die Ersatzvornahme ist die Kostentragungspflicht des Verantwortlichen ausdrücklich 401 vorgesehen.1817 Große praktische Bedeutung kommt ihr in denjenigen Ländern zu, in denen das Abschleppen eines verbotswidrig abgestellten Fahrzeugs als Ersatzvornahme qualifiziert wird (Rn 395); gestritten wird kaum um die Ersatzvornahme als solche, sondern idR um die Abschleppkosten.1818 Umstritten kann im Einzelfall die Höhe der Kostenforderung sein. Neuerdings ist in einigen Ländern ein behördliches Zurückbehaltungsrecht normiert; danach kann die Polizei die Herausgabe von Sachen, deren Besitz sie auf Grund einer Ersatzvornahme, einer Sicherstellung bzw Beschlagnahme oder der unmittelbaren Ausführung einer Maßnahme erlangt hat, von der Zahlung der entstandenen Kosten abhängig machen.1819 Ausdrücklich geregelt ist die Kostenerstattung auch für die Sicherstellung (Rn 319 ff) einer 402 Sache (zB eines Kfz).1820 Zu ersetzen sind nach allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht die Kosten der Sicherstellung als solcher; die Geltendmachung sonstiger Sach- und Personalkosten kann ihre Rechtsgrundlage nur außerhalb des Gefahrenabwehrrechts (zB im LGebG) finden.1821 Wird also ein abgeschlepptes Kfz von der Polizei verwahrt, kann nach Polizei- und Ordnungsrecht nur Ersatz der Verwahrungskosten verlangt werden.1822 Begleicht der Pflichtige die Kosten nicht, steht der Behörde ein Zurückbehaltungsrecht zu (Rn 328, vgl auch Rn 401 aE); allenfalls im Einzelfall kann die Ausübung dieses Rechts gegen das Übermaßverbot verstoßen, wenn der Pflichtige die Kosten nicht kurzfristig begleichen kann und das Kfz aus zwingenden Gründen dringend und unverzüglich benötigt.1823 403 Die Kosten der unmittelbaren Ausführung einer Maßnahme und des Sofortvollzugs durch Ersatzvornahme sind nach den einschlägigen Vorschriften (Rn 393) von dem gefahrenabwehrrechtlich Verantwortlichen zu tragen.1824 Das gilt auch für das Sonderpolizei-/-ordnungs-

_____ 1815 Zur Anscheinsgefahr und zum Gefahrverdacht Rn 406 f. 1816 Ausf Sailer in: Lisken/Denninger, N Rn 47 (Ersatzvornahme), Rn 48 (Zwangsgeld/Zwangshaft, unmittelbarer Zwang), Rn 42 (Sicherstellung), Rn 43 ff (unmittelbare Ausführung). 1817 § 49 I PolG BW iVm § 25 VwVG BW; Art 55 I 2 BayPAG, Art 32 BayVwZVG; § 10 VwVG Bln; § 55 I BbgPolG, § 37 iVm § 19 I BbgVwVG; § 40 I PolG Bremen, § 15 VwVG Bremen; § 19 I HbgVwVG; § 49 I HessSOG; § 89 I SOG MV; § 66 I NdsSOG; § 52 I PolG NW, § 77 I VwVG NW; § 57 I POG RP iVm § 63 I VwVG RP; § 46 I PolG SL; § 30 I SächsPolG iVm § 24 I SächsVwVG; § 55 I SOG LSA; §§ 249 I u II, 238 I LVwG SH; § 53 I ThürPAG, § 50 I ThürVwZVG. 1818 Vgl zB VGH BW; NVwZ-RR 2003, 558; NJW 2007, 2058; VBlBW 2010, 198; BayVGH DÖV 2008, 732; OVG Hamburg NJW 2005, 2247 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/4; NVwZ-RR 2009, 995; NVwZ-RR 2010, 263; BeckRS 2011, 52410 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/6; OVG MV LKV 2006, 225; OVG NW NJW 2000, 602; NWVBl 2001, 72; NJW 2001, 2035; OVG RP NVwZ-RR 2005, 577; SächsOVG NJW 2009, 2551 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/5; OVG SH NVwZ-RR 2003, 647 o JK LVwG SH § 238 I/1; VG Weimar ThürVBl 2001, 92, 93. – Instruktiv zu einem ör Erstattungsanspruch auf Rückzahlung beglichener Abschleppkosten VGH BW NJW 2010, 1898. 1819 § 83a PolG BW, § 34a SächsPolG; dazu N. Jäckel SächsVBl 2012, 53 ff. 1820 Dazu BayVGH NJW 2001, 1960; OVG Hamburg NVwZ-RR 2009, 995; NVwZ-RR 2010, 263; HessVGH DÖV 1999, 916 o JK HSOG § 40/1; OVG NW NJW 2001, 1961 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/3; SächsOVG SächsVBl 2002, 268; LKV 2011, 564. 1821 OVG RP NVwZ-RR 2006, 252, 253. 1822 VGH BW NJW 2007, 1375 o JK AllgVwR örVerwahrung/1. 1823 OVG Hamburg NJW 2007, 3513 o JK HbgSOG § 14/1. 1824 VGH BW VBlBW 2011, 153, 154 o JK Pol- u OrdR unmittelbare Ausführung/2; BayVGH BayVBl 2010, 471; OVG Hamburg NJW 2001, 3647; BeckRS 2011, 52410 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/6.

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IV. Kostenersatz und Entschädigung im Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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recht.1825 Erstattungsfähig sind (vorbehaltlich gesetzlicher Differenzierungen) diejenigen Kosten, die der Polizei durch die unmittelbare Ausführung der Maßnahme bzw den Sofortvollzug entstanden sind.1826 Die Kostenerstattung ist in den einschlägigen Bestimmungen zwingend vorgesehen. Gleichwohl behauptet die hM, die Heranziehung des Störers zum Kostenersatz stehe entgegen dem Gesetzeswortlaut im behördlichen Ermessen1827 oder sei nur als Grundsatz zu verstehen und erfahre im Einzelfall aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ggf eine „Anwendungskorrektur“.1828 Überzeugend ist das nicht. Wenn eine gebundene Verwaltungsentscheidung gesetzlich vorgeschrieben ist, hat die Rechtsprechung keinen Auslegungsspielraum. In der gesetzlich angeordneten Kostentragungspflicht des Störers kann auch kein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gesehen werden.1829 Allenfalls kann zusätzlich postuliert werden, dass das Übermaßverbot zur Vermeidung unbilliger Härten im Einzelfall ergänzende Regelungen zB zu Stundung, (Teil-)Erlass etc verlangt; die rechtliche Kritik richtet sich dann gegen die (zu enge) Gesetzesbestimmung zur Kostentragungspflicht. Für die Bundespolizei ist eine spezielle Kostenregelung in § 3 II BPolG getroffen. Danach 404 kann die Bundespolizei, wenn sie in der Funktion der Bahnpolizei agiert, einen gewissen Ausgleichsbetrag für die Erfüllung der Aufgaben nach § 3 I BPolG (Gefahrenabwehr auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes) von den begünstigten Verkehrsunternehmen verlangen. Die zur Kostenerhebung notwendige Verordnung von 2000 ist vom BVerwG für unwirksam erklärt worden;1830 daraufhin hat der Gesetzgeber reagiert.1831 Leistet der Kostenpflichtige nicht freiwillig, wird die behördliche Kostenanforderung durch 405 Leistungsbescheid geltend gemacht.1832 Voraussetzung für den geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch ist die Rechtmäßigkeit der Maßnahme, für die Kostenersatz verlangt wird.1833 Daher erfolgt bei der Anfechtung eines Leistungsbescheids die inzidente Prüfung der Rechtmäßigkeit der die Kosten begründenden behördlichen Maßnahme.1834 Für rechtswidriges Verwaltungshandeln muss nicht gezahlt werden. Eine Umgehung dieser Grundsätze des Polizeiund Verwaltungskostenrechts durch Heranziehung der ör GoA oder des Erstattungsanspruchs kommt nicht in Betracht.1835

_____ 1825 Bspl: Notbestattung durch unmittelbare Ausführung (VGH BW VBlBW 2008, 137) bzw Sofortvollzug (OVG NW NWVBl 2008, 398 o JK OBG NRW 14/3; OVG NW NWVBl 2010, 186 o JK BestG NRW § 8 I 2/1); näher dazu Repkewitz VBlBW 2010, 228 ff. 1826 HessVGH DVBl 1995, 370; zu Differenzierungen im Landesrecht Sailer in: Lisken/Denninger, N Rn 44 ff. 1827 VGH BW NJW 1991, 1698; VBlBW 2011, 153, 154 o JK Pol- u OrdR unmittelbare Ausführung/2; HessVGH DÖV 1997, 466, 467; VG Leipzig LKV 1998, 39. 1828 So OVG Hamburg NVwZ-RR 2010, 263, 265. 1829 SächsOVG NJW 2009, 2551, 2552 (am Bspl der Ersatzvornahmekosten) o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/5. 1830 BVerwGE 126, 60 Tz 33 ff. 1831 G v 21.6.2005 BGBl I 818. 1832 Schoch JURA 2010, 670, 675; Sailer in: Lisken/Denninger, N Rn 38. 1833 BVerwG NVwZ 1997, 381, 382 o JK VwVG § 14/1; VGH BW VBlBW 2010, 198; VBlBW 2011, 153, 154 o JK Polu OrdR unmittelbare Ausführung/2; BayVGH DÖV 2008, 732; OVG Hamburg NVwZ-RR 2010, 263; NdsOVG NdsVBl 2012, 245, 246; OVG NW NWVBl 1997, 306, 307; OVG RP; NVwZ-RR 2006, 252, 253; NVwZ-RR 2009, 746; OVG SL NJW 1994, 878, 879; SächsOVG NJW 2009, 2551 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/5. 1834 Vgl zB VGH BW NJW 2007, 2058, 2059; BayVGH DÖV 2008, 732; BayVBl 2010, 471; OVG Hamburg NJW 2001, 168, 169; NJW 2005, 2247, 2248 ff ĺ JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/4; BeckRS 2011, 52410 o JK Pol- u OrdR Ersatzvornahme/6; HessVGH NJW 1999, 3650, 3651; OVG MV LKV 2006, 225, 227; OVG RP; NVwZ-RR 2005, 577, 578; NVwZRR 2006, 252, 253; NVwZ-RR 2009, 746, 747; OVG SL NVwZ 2009, 602, 604. 1835 BGHZ 156, 394 o JK BGB § 677/1 u o JK BGB § 683/5.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

c) Kostentragung bei Anscheinsgefahr und Gefahrverdacht 406 Bei der Anscheinsgefahr (Rn 142) und dem Gefahrverdacht (Rn 145) ist zwischen der Handlungsebene und der Kostenebene zu unterscheiden.1836 Auf der primären Ebene der Gefahrenabwehr gilt die Betrachtungsweise ex ante. Dagegen ist die endgültige Kostentragungspflicht nach den tatsächlichen Umständen, dh nach einer objektiven Betrachtungsweise ex post zu entscheiden.1837 407 Diese Differenzierung führt dazu, dass die Behörde die Kosten zu tragen hat, wenn sich herausstellt, dass objektiv eine Gefahr gar nicht vorlag oder eine vorhandene Gefahr von dem in Anspruch genommenen „Anscheinsstörer“ nicht verursacht worden war 1838 bzw ein gerechtfertigter Gefahrverdacht der herangezogenen Person nicht zugerechnet werden kann.1839 Der „Anscheinsstörer“ und der vermeintliche Verursacher eines Gefahrverdachts werden demnach auf der Sekundärebene wie ein Nichtstörer behandelt (vgl Rn 421). Etwas anderes kommt nur in Betracht, wenn der zur Kostentragung Herangezogene die die Anscheinsgefahr bzw den Gefahrverdacht begründenden Umstände zurechenbar verursacht hat.1840

2. Ersatzansprüche des Bürgers 408 Ersatzansprüche der von Gefahrenabwehrmaßnahmen Betroffenen gegen die Behörde bzw deren Rechtsträger können als „Kehrseite der Kosten“ bezeichnet werden.1841 In derartigen Konstellationen will der Geschädigte einen (vollständigen) Ersatz oder wenigstens einen (gewissen) Ausgleich des ihm durch die Gefahrenabwehrmaßnahme entstandenen – materiellen – Schadens. Grundlegend für die Anspruchsberechtigung ist die Unterscheidung zwischen Verantwortlichen und Nichtverantwortlichen. Verhaltens- und Zustandsstörer müssen im Hinblick auf ihre Verantwortlichkeit die rechtmäßige Inanspruchnahme zur Gefahrenabwehr bzw Störungsbeseitigung ohne eine Entschädigung hinnehmen;1842 ausnahmsweise sind Ersatzansprüche spezialgesetzlich im Besonderen Verwaltungsrecht (zB aus Billigkeitsgründen) vorgesehen.1843 Die Frage nach einem Ersatzanspruch stellt sich im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht für Nichtstörer, unbeteiligte Dritte und freiwillige Polizeihelfer sowie Anscheinsstörer und Verursacher eines Gefahrverdachts.

a) Entschädigungsanspruch des Nichtstörers 409 Wird jemand im Wege des polizeilichen bzw ordnungsbehördlichen Notstands in Anspruch genommen (Rn 237 ff), steht ihm ein Anspruch auf Entschädigung zu.1844 Der Notstandspflichtige

_____ 1836 BayVGH NVwZ-RR 1996, 645; Finger DVBl 2007, 798, 800. 1837 VGH BW NVwZ-RR 2012, 387, 389; BayVGH NVwZ-RR 1999, 99, 100; OVG NW NVwZ 2001, 1314 o JK Polu OrdR Verdachtsstörer/1; Martensen DVBl 1996, 286, 291; Finger DVBl 2007, 798, 800; ausf Bürmann Der Gefahrenverdacht – Kostentragung in der Eingriffsverwaltung, 2002. 1838 BayVGH BayVBl 1995, 309, 310; OVG Hamburg NJW 1986, 2005, 2006; Sailer in: Lisken/Denninger, N Rn 49. 1839 OVG Berlin NVwZ-RR 2002, 623 o JK Pol- u OrdR/unmittelbare Ausführung/1; OVG NW DVBl 1996, 1444; NVwZ 2001, 1314 o JK Pol- u OrdR Verdachtsstörer/1; Sailer in: Lisken/Denninger, N Rn 52. 1840 VGH BW 2011, 153, 154 o JK Pol- u OrdR unmittelbare Ausführung/2; Finger DVBl 2007, 798, 800 f; Poscher/ Rusteberg JuS 2012, 26, 32; Sailer in: Lisken/Denninger, N Rn 51 u Rn 54. 1841 So Poscher/Rusteberg JuS 2012, 26, 32. 1842 BGHZ 45, 23, 25; BGH NJW 2011, 3157 Tz 8 o JK NdsSOG § 80 I 1/1. – Verfassungsrechtliche Probleme entstehen insoweit nicht, dem Verhaltensstörer werden die Grenzen seiner Handlungsfreiheit und dem Zustandsstörer die Bindungen seines Eigentums aufgezeigt; Rachor in: Lisken/Denninger, M Rn 41. 1843 § 51 GewO; § 56 IfSG; §§ 66 ff TierSG (dazu BGHZ 136, 172 o JK GefAbwG Nds § 80/1; BVerwG NVwZ-RR 2008, 449; NdsVBl 2011, 464). 1844 § 55 I 1 PolG BW; Art 70 I BayPAG, Art 11 I 1 BayLStVG; § 59 I Nr 1 ASOG Bln; § 70 BbgPolG, § 38 I lit a BbgOBG; § 56 I 1 PolG Bremen; § 10 III 1 HbgSOG; § 64 I 1 HessSOG; § 72 I SOG MV; § 80 I 1 NdsSOG; § 67 PolG NW, § 39 I lit a

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IV. Kostenersatz und Entschädigung im Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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(Nichtstörer) hat für die Allgemeinheit ein Sonderopfer erbracht, für das er zu entschädigen ist.1845 Diese Regelung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts kommt allerdings nur zur Anwendung, wenn nicht in einem bestimmten Sachbereich eine abschließende Spezialregelung vorliegt. 1846 Auf den Entschädigungsanspruch des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts kann auch dann nicht zurückgegriffen werden, wenn die Spezialbestimmungen enge Voraussetzungen aufweisen, die im konkreten Fall nicht erfüllt sind. aa) Voraussetzungen des Schadensausgleichs. Grundvoraussetzung für den – verschul- 410 densunabhängigen – Entschädigungsanspruch ist die rechtmäßige behördliche Inanspruchnahme des Nichtverantwortlichen. Teilweise ist dies ausdrücklich vorgeschrieben. 1847 Aber auch ohne eine gesetzliche Regelung setzt die Entschädigung bei Notstandsmaßnahmen die rechtmäßige Inanspruchnahme des Nichtstörers voraus.1848 Danach muss tatbestandlich eine Gefahrenabwehrmaßnahme zu Recht gegen den Notstandspflichtigen – mit der Folge eines Schadenseintritts bei diesem – gerichtet worden sein, wobei zwischen der Maßnahme und dem Schaden eine Kausalität besteht. Der Begriff „Maßnahme“ ist weit zu verstehen und umfasst jede nach außen in Erscheinung tretende Tätigkeit der Gefahrenabwehrbehörde, die ihre Grundlage im Polizei- und Ordnungsrecht hat; einbezogen sind auch Verwaltungsrealakte.1849 Entsteht einem unbeteiligten Dritten durch die Gefahrenabwehrmaßnahme (zB beim Po- 411 lizeieinsatz zur Verfolgung eines gestohlenen Kfz) ein Schaden (an dem Kfz), wird dem Dritten ebenfalls ein Entschädigungsanspruch zugebilligt. Unproblematisch ist die Anspruchsberechtigung des geschädigten Dritten, wenn dies ausdrücklich gesetzlich bestimmt ist.1850 Auch bei einer offenen Gesetzesformulierung1851 kann dieses Ergebnis im Wege der Gesetzesinterpretation erzielt werden.1852 Im Übrigen ist die Rechtsgrundlage des Entschädigungsanspruchs umstritten. Da es um den gerechten Ausgleich auf der Ebene des Sekundärrechtsschutzes geht, ist die analoge Anwendung der Bestimmungen zum Anspruch des Notstandspflichtigen (Rn 409) vorzugswürdig;1853 die Gegenauffassung lehnt die Analogie ab und stützt den Entschädigungsanspruch auf die Anwendung der allgemeinen Aufopferungsgrundsätze des Staatshaftungsrechts.1854 Der „freiwillige Polizeihelfer“ hat im Schadensfall nur dann einen Entschädigungsan- 412 spruch, wenn eine entsprechende gesetzliche Regelung besteht. Nach den einschlägigen Bestimmungen1855 ist der Schadensausgleich denjenigen Personen zu gewähren, die mit Zustimmung der Polizei-/Ordnungsbehörden bei der Wahrnehmung von Aufgaben dieser Behörden freiwillig mitgewirkt oder Sachen zur Verfügung gestellt und dadurch einen Schaden erlitten haben. Ohne eine derartige gesetzliche Anspruchsgrundlage kann eine Entschädigung zum

_____ OBG NW; § 68 I 1 POG RP; § 68 I 1 PolG SL; § 52 I 1 SächsPolG; § 69 I 1 SOG LSA; § 221 I LVwG SH; § 68 I 1 ThürPAG, § 52 ThürOBG; § 51 I Nr 1 BPolG. 1845 Instruktiv OLG Köln DÖV 1996, 86 o JK Pol- u OrdR Störer/8; ferner Sydow JURA 2007, 7, 8 f. 1846 Bejaht für rechtmäßige Maßnahmen bzgl §§ 66 ff TierSG von BGHZ 136, 172 o JK GefAbwG Nds § 80/1; daran anschließend OLG Oldenburg NVwZ 2000, 475; dazu Braatz NVwZ 2000, 400 ff. 1847 § 59 I Nr 1 ASOG Bln; § 56 I 1 PolG Bremen; § 64 I 1 HessSOG; § 80 I 1 NdsSOG; § 68 I 1 POG RP; § 68 I 1 PolG SL; § 69 I 1 SOG LSA; § 68 1 1 ThürPAG; § 51 I Nr 1 BPolG. 1848 Pieroth/Schlink/Kniesel § 26 Rn 7; Rachor in: Lisken/Denninger, M Rn 34. 1849 OLG Dresden LKV 2003, 582, 583 o JK Pol- u OrdR Störer/13; Kugelmann 12/13; Schenke Rn 684. 1850 Art 70 II BayPAG; Art 11 I 1 BayLStVG; § 59 I Nr 2 ASOG Bln; § 73 SOG MV; § 222 LVwG SH; § 51 II Nr 2 BPolG. 1851 Vgl etwa § 10 III 1 HbgSOG; § 52 I 1 SächsPolG. 1852 OLG Dresden LKV 2003, 582, 583 o JK Pol- u OrdR Störer/13. 1853 Sydow JURA 2007, 7, 9; Möller/Warg Rn 471; Würtenberger/Heckmann Rn 870. 1854 BGH NJW 2011, 3157 Tz 13 o JK NdsSOG § 80 I 1/1. 1855 Vgl § 59 III ASOG Bln; § 56 II PolG Bremen; § 10 V HbgSOG; § 64 III HessSOG; § 80 II NdsSOG; § 68 II POG RP; § 68 II PolG SL; § 69 III SOG LSA; § 68 II ThürPAG; § 51 III 1 BPolG.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

Ausgleich eines beim freiwilligen Einsatz erlittenen Schadens nicht verlangt werden.1856 Eine Analogie zum Entschädigungsanspruch des Nichtstörers (Rn 409) scheidet aus, weil es an der hoheitlichen Heranziehung des „freiwilligen Polizeihelfers“ fehlt. Hat dieser zur Erfüllung der aus § 323c StGB abzuleitenden Pflicht gehandelt, war er als Verantwortlicher aktiv und kann schon deshalb keine Entschädigung beanspruchen.1857 413 bb) Rechtsfolge des Anspruchs. Gerichtet ist der Anspruch nach der gesetzlichen Rechtsfolge auf eine Entschädigung bzw – je nach Landesrecht – auf einen angemessenen Ausgleich für den erlittenen Schaden. Zu leisten ist demnach nicht etwa Schadenersatz iSd §§ 249 ff BGB. Die Entschädigungspflicht umfasst den Ausgleich derjenigen Vermögensnachteile, die unmittelbare Folge (im haftungsrechtlichen Sinne) der behördlichen Maßnahme sind. Dies sind im Falle der behördlichen Einweisung eines Obdachlosen in eine Privatwohnung (Rn 239) ua der Mietausfall sowie die Mietnebenkosten.1858 Zu ersetzen sind auch Schäden, die der Eingewiesene durch unsachgemäßen Gebrauch der Wohnung angerichtet hat; 1859 wenig überzeugend ist die Hinnahme einer insoweit abweichenden OLG-Rechtsprechung, die die „Unmittelbarkeit“ zwischen der behördlichen Obdachloseneinweisung und den in der Wohnung vom Eingewiesenen angerichteten Schäden verneint, und zwar auf Grund eines – angeblichen – Beurteilungsspielraums des Tatrichters.1860 Zu Inhalt, Art und Umfang des Schadensausgleichs treffen die einschlägigen Vorschrif414 ten1861 detaillierte (und von Land zu Land mitunter abweichende) Regelungen. Grundsätzlich wird der Ausgleich, der in Geld zu leisten ist, nur für Vermögensschäden gewährt; vielfach finden sich aber auch Bestimmungen für den angemessenen Ausgleich von Gesundheitsschäden oder bei einer Freiheitsentziehung.1862 Entgangener Gewinn wird grundsätzlich für den Ausfall des gewöhnlichen Verdienstes oder Nutzungsentgelts ersetzt; im Übrigen sind Leistungen nur zur Abwendung unbilliger Härten vorgesehen. Eine Minderung des Schadensausgleichs ist im Falle der Mitverantwortung des Geschädigten bei der Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens angeordnet; Ausgleichspflicht und Ausgleichsumfang hängen insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem Geschädigten oder von der Polizei bzw Ordnungsbehörde verursacht worden ist. Der Entschädigungsanspruch besteht nicht, soweit der Geschädigte auf andere Weise Ersatz erlangt hat oder der Geschädigte bzw sein Vermögen durch die behördliche Maßnahme geschützt worden sind.1863 Die Verjährung des Anspruchs ist überwiegend gesondert geregelt.1864 Normiert ist idR eine 415 Verjährungsfrist von drei Jahren (zT nur von einem Jahr), beginnend mit dem Zeitpunkt, zu dem der Geschädigte/Anspruchsberechtigte von dem Schaden und dem zum Ausgleich Verpflichte-

_____ 1856 VG Düsseldorf NVwZ-RR 1999, 743, 744; Pieroth/Schlink/Kniesel § 26 Rn 9; Schenke Rn 694. – Nicht ausgeschlossen sind bundesgesetzliche Ansprüche nach dem Unfallversicherungsrecht, dazu Rachor in: Lisken/Denninger, M Rn 65. 1857 Anders hingegen die spezialgesetzliche Regelung des § 59 I Nr 3 ASOG Bln. 1858 BGHZ 130, 332 o JK GG Art 34/13; Sydow JURA 2007, 7, 9. 1859 BGHZ 131, 163; OLG Köln NJW 2000, 3076. 1860 So aber BGH NVwZ 2006, 963 o JK VwG SH § 223 I/1; Schlick NJW 2008, 31, 32 f. 1861 Art 70 BayPAG; § 60 ASOG Bln; § 39 BbgOBG; § 70 BbgPolG; §§ 57, 58 PolG Bremen; § 65 HessSOG; § 74 SOG MV; § 81 NdsSOG; § 40 OBG NW; § 67 PolG NW; § 69 POG RP; § 69 PolG SL; § 53 SächsPolG; § 70 SOG LSA; § 223 LVwG SH; § 69 ThürPAG; § 52 ThürOBG; § 52 BPolG. – Ohne Substanz § 55 I PolG BW. 1862 Näher dazu Rachor in: Lisken/Denninger, M Rn 95 ff. 1863 § 55 I 2 PolG BW; Art 70 IV BayPAG; § 38 II BbgOBG; § 70 BbgPolG; § 56 I 3 PolG Bremen; § 10 III 2 HbgSOG; § 64 II HessSOG; § 72 II SOG MV; § 81 V 1 NdsSOG; § 39 II OBG NW, § 67 PolG NW; § 52 I 2 SächsPolG; § 69 II SOG LSA; § 221 II LVwG SH. 1864 § 62 ASOG Bln; § 40 BbgOBG, § 70 BbgPolG; § 59 PolG Bremen; § 67 HessSOG; § 74 V SOG MV; § 83 NdsSOG; § 71 POG RP; § 71 PolG SL; § 72 SOG LSA; § 223 V LVwG SH; § 71 ThürPAG, § 52 ThürOBG; § 54 BPolG.

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IV. Kostenersatz und Entschädigung im Polizei- und Ordnungsrecht – 2. Kapitel

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ten Kenntnis erlangt hat; ohne Rücksicht auf die Kenntnis beträgt die Verjährungsfrist 30 Jahre von dem Eintritt des schädigenden Ereignisses an. Mitunter ist auf das BGB verwiesen.1865 Ohne spezielle Bestimmung im Polizei- und Ordnungsrecht gilt die dreijährige Verjährungsfrist des § 195 BGB.1866 Zum Anspruchsgegner ist bestimmt, dass diejenige Körperschaft ausgleichspflichtig ist, in 416 deren Dienst der Amtswalter steht, der die Maßnahme getroffen hat; hat der Bedienstete für die Behörde einer anderen Körperschaft gehandelt, ist die andere Körperschaft ausgleichspflichtig.1867 Im letztgenannten Fall ist in den meisten Gesetzen unter bestimmten Voraussetzungen ein (verwaltungsinterner) Erstattungsanspruch vorgesehen. Die Polizei- und Ordnungsgesetze regeln auch den Regress beim Verantwortlichen.1868 Die 417 gegenüber dem Anspruchsberechtigten entschädigungspflichtige Körperschaft kann von dem an sich Verantwortlichen (Verhaltensstörer, Zustandsstörer) Ersatz ihrer Aufwendungen verlangen, wenn sie eine Entschädigung gewährt hat. Sind mehrere Personen nebeneinander verantwortlich, so haften diese als Gesamtschuldner. Für den gerichtlichen Rechtsschutz im Streitfall sind Rechtswegregelungen getroffen.1869 418 Die Landesgesetze haben von der Option des § 40 I 2 VwGO Gebrauch gemacht. Nach den getroffenen Regelungen ist für den Anspruch auf Entschädigung bzw angemessenen Schadensausgleich der Zivilrechtsweg eröffnet; das gilt für einen Teil der Länder auch für den Regressanspruch (Rn 417), insoweit ist jedoch in einem anderen Teil der Länder (und im Bund für die Bundespolizei) der Verwaltungsrechtsweg gegeben.

b) Schadensausgleich bei rechtswidrigen Maßnahmen Bei rechtswidrigen Maßnahmen der Gefahrenabwehrbehörden ist zT eine verschuldensun- 419 abhängige Haftung vorgesehen.1870 Dabei handelt es sich um spezialgesetzliche Ausprägungen des aus dem allgemeinen Aufopferungsgedanken entwickelten Entschädigungsanspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs.1871 Fehlt es an entsprechenden Bestimmungen, ist der Geschädigte auf das Staatshaftungsrecht (Amtshaftung, enteignungsgleicher Eingriff) verwiesen (vgl Rn 420); eine analoge Anwendung der Bestimmungen zum Entschädigungsanspruch des Nichtstörers (Rn 409) scheidet wegen unterschiedlicher Sachlagen und fehlender Rechtsähnlichkeit aus.1872 Der Begriff „Maßnahme“ in den Haftungstatbeständen wird in einem weiten Sinne verstanden.1873 Allerdings muss es sich um ein behördliches Vorgehen handeln, das als Hoheitsmaßnahme ein taugliches Instrument zur Gefahrenabwehr darstellt. Das ist bei einer

_____ 1865 § 41 OBG NW, § 67 PolG NW. 1866 Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Sachsen. 1867 § 56 PolG BW; Art 70 VI BayPAG, Art 11 I 2 BayLStVG; § 63 ASOG Bln; § 41 I BbgOBG; § 70 BbgPolG; § 60 PolG Bremen; § 68 HessSOG; § 75 I u II SOG MV; § 84 NdsSOG; § 42 I OBG NW, § 67 PolG NW; § 72 POG RP; § 72 PolG SL; § 56 SächsPolG; § 73 SOG LSA; § 224 I LVwG SH; § 72 ThürPAG, § 52 ThürOBG; § 55 I BPolG. 1868 § 57 PolG BW; Art 72 BayPAG; § 64 ASOG Bln; § 41 II BbgOBG, § 70 BbgPolG; § 61 PolG Bremen; § 10 IV HbgSOG; § 69 HessSOG; § 75 III SOG MV; § 85 NdsSOG; § 42 II OBG NW, § 73 POG RP; § 73 PolG SL; § 57 SächsPolG; § 74 SOG LSA; § 224 II LVwG SH; § 73 ThürPAG; § 55 II BPolG. 1869 § 55 PolG BW; Art 73 BayPAG; § 65 ASOG Bln; § 42 BbgOBG, § 70 BbgPolG; § 62 PolG Bremen; § 70 HessSOG; § 77 SOG MV; § 86 NdsSOG; § 43 OBG NW; § 67 PolG NW; § 74 POG RP; § 74 PolG SL; § 58 SächsPolG; § 75 SOG LSA; § 226 LVwG SH; § 74 ThürPAG, § 52 ThürOGB; § 56 BPolG. 1870 § 59 II ASOG Bln; § 38 I lit b BbgOBG; § 56 I 2 PolG Bremen; § 64 I 2 HessSOG; § 80 I 2 NdsSOG; § 39 I lit b OBG NW, § 67 PolG NW; § 68 I 2 POG RP; § 68 I 2 PolG SL; § 69 I 2 SOG LSA; § 68 I 2 ThürPAG, § 52 ThürOBG; § 51 II Nr 1 BPolG. 1871 LG Bonn NWVBl 2012, 156, 158 (m Anm Davydov). 1872 Schenke Rn 690; Rachor in: Lisken/Denninger, M Rn 69; zweifelnd Pieroth/Schlink/Kniesel § 26 Rn 20 u 25. 1873 OLG Bbg LKV 2007, 573, 574 (m Bespr Gelen/Sägebarth LKV 2077, 547); Einzelheiten bei Rinne/Schlick NVwZ 1997, 34, 39 f.

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2. Kapitel – Polizei- und Ordnungsrecht

bloßen Bitte der Behörde, der der Angesprochene nachkommt und dadurch bei sich selbst Schäden verursacht, nicht der Fall.1874 Die verschuldensunabhängige staatliche Unrechtshaftung kann in Konkurrenz zur Amts420 haftung stehen.1875 In den meisten Gesetzen ist dies (deklaratorisch) zum Ausdruck gebracht.1876 Der Schadenersatzanspruch nach Art 34 GG, § 839 BGB wird durch das Haftungsregime des Polizei- und Ordnungsrechts nicht verdrängt.1877 Der Amtshaftungsanspruch zielt auf einen Schadenersatz (§§ 249 ff BGB), tatbestandlich handelt es sich um einen verschuldensabhängigen Anspruch. Die Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff ist kraft der Spezialbestimmung(en) ausgeschlossen (Rn 419). Ein rechtlicher Verlust ist damit kaum verbunden, weil sich die positivrechtlichen Regelungen und das allgemeine Haftungsinstitut weitgehend decken.1878

c) Ersatzansprüche bei Anscheinsgefahr und Gefahrverdacht 421 Wird jemand auf Grund einer Anscheinsgefahr oder eines Gefahrverdachts in Anspruch genommen, kann er nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung für dadurch erlittene Vermögensnachteile Entschädigung wie ein Nichtstörer verlangen, wenn sich nachträglich herausstellt, dass die ex ante angenommene Gefahr nicht bestand und wenn der Betreffende die den Anschein bzw Verdacht begründenden Umstände nicht zu verantworten hat.1879 Dieser Judikatur ist – ungeachtet dogmatischer Kritik zur Begründung1880 – grundsätzlich zuzustimmen.1881 Bei der Zuordnung des Kostenrisikos ex post besteht der bei der Gefahrenabwehrmaßnahme ex ante vorhandene Zeitdruck nicht mehr. Deshalb ist die auf der Primärebene notwendige Einbeziehung des Verdachts- und Anscheinsstörers auf der Sekundärebene bei der Verteilung des Kostenrisikos nicht mehr gerechtfertigt. Die nun mögliche und der finanziellen Lastentragung angemessene Betrachtungsweise ex post ergänzt die Risikoverteilung auf der Sekundärebene bei der Limitierung von Kostenerstattungsansprüchen der Verwaltung (Rn 406 f).

_____ 1874 BGH JZ 1998, 515 (m Anm Gusy); ausf zu der Problematik Rachor in: Lisken/Denninger, M Rn 26 ff. 1875 OLG Dresden LKV 2003, 582, 584 o JK Pol- u OrdR Störer/13. 1876 § 59 IV ASOG Bln; § 39 V BbgOBG, § 70 BbgPolG; § 56 III PolG Bremen; § 64 IV HessSOG; § 80 III NdsSOG; § 40 V OBG NW, § 67 PolG NW; § 68 III POG RP; § 68 III PolG SL; § 69 IV SOG LSA; § 223 VI LVwG SH; § 68 III ThürPAG, § 52 ThürOBG. 1877 Pieroth/Schlink/Kniesel § 26 Rn 4; Rachor in: Lisken/Denninger, M Rn 78. 1878 Vgl BGH NVwZ 2011, 1150, 1151. 1879 BGHZ 117, 303; 126, 279; BGH NJW 1996, 3151. 1880 Näher zur Detailkritik Schoch JuS 1993, 724 ff; Martensen DVBl 1996, 286, 291 f; Sydow JURA 2007, 7, 10. 1881 Kugelmann 12/18 u 12/20; Pieroth/Schlink/Kniesel § 26 Rn 16 ff; Rachor in: Lisken/Denninger, M Rn 49; krit Schenke Rn 685.

Schoch

I. Grundlagen des öffentlichen Wirtschaftsrechts – 3. Kapitel

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Drittes Kapitel 3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht I. Grundlagen des öffentlichen Wirtschaftsrechts – 3. Kapitel Peter M. Huber Huber

Öffentliches Wirtschaftsrecht

I.

II.

Gliederung Grundlagen des Öffentlichen Wirtschaftsrechts ____ 1 1. Herausbildung und Gegenstand des Öffentlichen Wirtschaftsrechts ____ 1 2. Historische Grundlagen ____ 5 a) Merkantilismus ____ 6 b) Liberalismus ____ 7 c) Sozialstaat und Soziale Marktwirtschaft ____ 10 d) Europäisierung und Internationalisierung – Kapitalismus II ____ 12 3. Marktwirtschaft und Wettbewerb, Planwirtschaft und Sozialisierung ____ 13 Verfassungsrechtliche Grundlagen ____ 17 1. Wirtschaftsverfassung ____ 17 a) Begriff der Wirtschaftsverfassung ____ 17 b) Streit um die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes ____ 18 c) Der soziale Rechtsstaat ____ 23 2. Gesetzgebung und Regierung im Öffentlichen Wirtschaftsrecht ____ 27 a) Bundesstaatliche Kompetenzverteilung und Öffentliches Wirtschaftsrecht ____ 27 b) Rechtsstaatliche Anforderungen ____ 30 aa) Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ____ 30 bb) Einzelfragen der Gesetzgebung ____ 34 3. Grundrechtsschutz wirtschaftlicher Tätigkeit ____ 38 a) Allgemeines ____ 38 aa) Grundrechtsberechtigung ____ 40 bb) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ____ 41 cc) Grundsatz des Vertrauensschutzes ____ 43 b) Allgemeiner Gleichheitssatz ____ 44 c) Allgemeine Wirtschafts- und Unternehmensfreiheit ____ 47 d) Koalitionsfreiheit ____ 49 e) Berufsfreiheit ____ 51 aa) Schutzbereich ____ 51 bb) Schranken ____ 55 cc) Eingriffsermächtigungen ____ 60 dd) Schutzpflicht ____ 62 f) Eigentumsgarantie ____ 63

III.

IV.

aa) Struktur ____ 65 bb) Schutzbereich ____ 68 cc) Schranken ____ 74 Unionsrechtliche Grundlagen ____ 78 1. Allgemeines ____ 78 2. Die europäische Rechtsordnung als wechselseitige Auffang- und Kooperationsordnung ____ 80 3. Grundzüge des Unionsrechts, allgemeine Rechtsgrundsätze ____ 87 a) Grundrechte ____ 87 aa) Anwendungsbereich ____ 88 bb) Wirtschaftsgrundrechte ____ 89 cc) Sonstige Grundrechte ____ 91 b) Rechtsangleichung ____ 92 c) Staatshaftung ____ 94 4. Binnenmarkt und Grundfreiheiten ____ 95 a) Grundfreiheiten ____ 96 b) Unionales Wettbewerbsrecht ____ 99 Wirtschafts- und Währungspolitik ____ 101 1. Begriffe ____ 101 2. Wirtschaftspolitik ____ 108 a) Konjunkturpolitik und Globalsteuerung ____ 109 aa) Ökonomische Konzeption ____ 109 bb) Bindungswirkung ____ 111 cc) Instrumentarium ____ 113 dd) Bewertung ____ 114 b) Fiskalpolitik ____ 116 aa) Unionsrechtliche Grundlagen ____ 117 bb) Innerstaatliche Regelungen ____ 119 cc) Völkerrechtliche Ergänzungen ____ 122 c) Außenhandelspolitik ____ 123 d) Wirtschaftsstatistik ____ 124 3. Währungsunion und Währungspolitik ____ 127 a) Eintrittsvoraussetzungen ____ 128 b) Organisation und Aufgaben des ESZB ____ 134 c) Ausrichtung des ESZB auf die Preisstabilität ____ 140 d) Die Währungsunion in der Krise – Von der Stabilitäts- zur Stabilisierungsunion ____ 142

Huber

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V.

VI.

3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

Wirtschaftsverwaltung ____ 143 1. Organisation ____ 143 a) Unionale Wirtschaftsverwaltung ____ 144 b) Staatliche Wirtschaftsverwaltung in Bund und Ländern ____ 146 aa) Bundesverwaltung ____ 147 bb) Landesverwaltung ____ 152 c) Selbstverwaltung der Wirtschaft ____ 156 aa) Allgemeines ____ 159 bb) Selbstverwaltungsträger ____ 161 cc) Europäisierung des Kammerrechts ____ 167 d) Koalitionen und Wirtschaftsverbände ____ 173 2. Verwaltungszwecke und Steuerungskonzepte im Öffentlichen Wirtschaftsrecht ____ 175 a) Überwachung ____ 176 aa) Funktion und Zielsetzung ____ 176 bb) Referenzgebiete ____ 179 cc) Beteiligung Privater an der Überwachung ____ 183 b) Regulierung ____ 186 aa) Einordnung der Regulierungsverwaltung ____ 187 bb) Referenzgebiete ____ 188 c) Wirtschaftslenkung ____ 189 aa) Marktordnungen ____ 190 bb) Punktuelle Interventionen ____ 193 3. Rechts- und Handlungsformen der Verwaltung im Öffentlichen Wirtschaftsrecht ____ 194 a) Öffentlich-rechtliche Bindung und Formenwahlfreiheit der Verwaltung ____ 194 b) Überwachung, Regulierung und Wirtschaftslenkung durch Verwaltungsakt ____ 200 aa) Überwachungsrechtliche Verwaltungsakte ____ 200 bb) Wirtschaftslenkende Verwaltungsakte ____ 203 cc) Nebenbestimmungen ____ 207 dd) Privatrechtsgestaltende Verwaktungsakte ____ 208 c) Vorhaben- und Unternehmergenehmigungen mit planungsrechtlichem Einschlag ____ 209 aa) Allgemeines ____ 210 bb) Atomanlagen ____ 218 cc) Flughäfen und Flugplätze ____ 223 Beihilfenrecht ____ 231 1. Allgemeines ____ 231 2. Staatliche Beihilfen ____ 237 a) Begriffe ____ 237 b) Beihilfen und Vorbehalt des Gesetzes ____ 241

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c)

Verwaltungsrechtliche Ausgestaltung des Zuwendungsrechtsverhältnisses ____ 244 d) Unionsrechtliche Anforderungen ____ 247 3. Unionsbeihilfen ____ 253 a) Indirekter Vollzug ____ 253 b) Direkter Vollzug ____ 256 VII. Öffentliches Wettbewerbsrecht ____ 257 1. Unternehmerische Betätigung der Öffentlichen Hand ____ 258 a) Grundlagen öffentlicher Unternehmenstätigkeit ____ 258 aa) Formen ____ 259 bb) Kommunale Wirtschaftstätigkeit ____ 262 b) Landesbanken und Sparkassen ____ 265 c) Grundrechte und Haushaltsrecht ____ 268 aa) Eingriff durch Konkurrenz ____ 268 bb) Haushaltsrecht ____ 270 d) Gesellschaftsrecht und Wettbewerbsrecht ____ 271 aa) Gesellschaftsrecht ____ 271 bb) Wettbewerbsrecht ____ 274 e) Unionsrechtliche Bindungen ____ 276 2. Vergaberecht ____ 277 a) Aufträge oberhalb der Schwellenwerte ____ 280 aa) Allgemeines ____ 280 bb) Vergabefremde Kriterien ____ 285 b) Aufträge unterhalb der Schwellenwerte ____ 288 c) Dienstleistungskonzessionen ____ 291 VIII. Gewerberecht ____ 292 1. Gewerbefreiheit ____ 292 a) Begriff des Gewerbes ____ 296 aa) Gewerbsmäßigkeit ____ 297 bb) Gewerbsfähigkeit ____ 299 b) Kompetenzrechtliche Dimension von § 1 GewO ____ 302 2. Grundlagen gewerberechtlicher Überwachungsmaßnahmen ____ 306 a) Formales Instrumentarium ____ 307 aa) Anzeigepflichtige Gewerbe ____ 307 bb) Genehmigungspflichtige Gewerbe ____ 309 b) Materielle Maßstäbe: Sachkunde, Zuverlässigkeit ____ 315 aa) Subjektive Anforderungen ____ 316 bb) Objektive Anforderungen ____ 323 c) Weitere Anforderungen ____ 324 3. Einzelne gewerberechtliche Erlaubnisse ____ 325 a) Stehendes Gewerbe, Reisegewerbe, Marktverkehr ____ 325

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I. Grundlagen des öffentlichen Wirtschaftsrechts – 3. Kapitel

Stehendes Gewerbe ____ 326 Reisegewerbe ____ 328 Marktverkehr ____ 329 Handwerk ____ 330 Anwendungsbereich ____ 331 Eintragung in die Handwerksrolle und Überwachung ____ 335 cc) Berufsausbildung ____ 342 c) Gaststättengewerbe ____ 343 d) Beförderungsgewerbe ____ 350 aa) bb) cc) b) aa) bb)

IX.

aa) Personenbeförderungsrecht ____ 350 bb) Güterkraftverkehr ____ 356 Regulierungsverwaltung ____ 359 1. Energiewirtschaftsrecht ____ 359 2. Eisenbahnen, Post und Telekommunikation ____ 364 a) Eisenbahnen ____ 365 b) Post und Telekommunikation ____ 367 aa) Post ____ 369 bb) Telekommunikation ____ 371

Gesetze: AktienG (AktG) v 6.9.1965 (BGBl I 1089), zul geänd durch G v 22.12.2011 (BGBl I 3044), Schönfelder Nr 51. Allgemeines EisenbahnG (AEG) v 27.12.1993 (BGBl I 2378, 2396), zul geänd durch G v 27.6.2012 (BGBl I 1421), Sartorius I Nr 962. ArzneimittelG (AMG) idF v 12.12.2005 (BGBl I 3394), zul geänd durch G v 16.7.2012 (BGBl I 1534), Sartorius ErgBd Nr 272. Atomrechtliche VerfahrensVO (AtVfV) idF v 3.2.1995 (BGBl I 181), zul geänd durch G v 9.12.2006 (BGBl I 2819). AußenwirtschaftsG v 27.5.2009 (BGBl I 1150), zul geänd durch G v 15.12.2011 (BAnz Nr 197, 4653). BundesApothekerO idF v 19.7.1989 (BGBl I 1478), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). Bundes-TierärzteO idF v 20.11.1981 (BGBl I 1193), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). BundesbergG (BBergG) v 13.8.1980 (BGBl I 1310), zul geänd durch G v 31.7.2009 (BGBl I 2585). BundesärzteO idF v 16.4.1987 (BGBl I 1218), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). BundesnotarO (BNotO) v 24.2.1961 (BGBl I 98), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515), Schönfelder ErgBd Nr 98a. BundesrechtsanwaltsO (BRAO) v 1.8.1959 (BGBl I 565), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515), Schönfelder ErgBd Nr 98. Finanzmarktstabilisierungsgesetz (FMStG) v 17.10.2008 (BGBl I 1982), zul geänd durch G v 24.9.2009 (BGBl I 3151). Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetz (FMStErgG) v 7.4.2009 (BGBl I 725). GaststättenG idF v 20.11.1998 (BGBl I 3418), zul geänd durch G v 7.9.2007 (BGBl I 2246), Sartorius I Nr 810. G gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) idF v 15.7.2005 (BGBl I 2114), zul geänd durch G v 22.12.2011 (BGBl I 3044), Schönfelder Nr 74. G für den Vorrang Erneuerbarer Energien (EEG) v 25.10.2008 (BGBl I 2074), zul geänd durch G v 22.12.2011 (BGBl I 3044). G über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen (Rechtsdienstleistungsgesetz – RDG) v 12.12.2007 (BGBl I 2840), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). G über das Apothekenwesen (ApoG) idF v 15.10.1980 (BGBl I 1993), zul geänd durch G v 28.5.2008 (BGBl I 874), Sartorius ErgBd Nr 271. G über das Kreditwesen (KWG) idF v 9.9.1998 (BGBl I 2776), zul geänd durch G v 26.6.2012 (BGBl I 1375), Sartorius ErgBd Nr 856. G über den Ladenschluß (LadSchlG) idF v 2.6.2003 (BGBl I 774) zul geänd durch G v 31.10.2006 (BGBl I 2407), Sartorius I Nr 805. G über die Ausübung der Zahnheilkunde idF v 16.4.1987 (BGBl I 1225), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). G über die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen (VersicherungsaufsichtsG) idF v 17.12.1992 (BGBl I 1993, 2), zul geänd durch G v 15.3.2012 (BGBl I 462). G über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (HeilpraktikerG) v 17.2.1939 (RGBl I 251), zul geänd durch G v 23.10.2001 (BGBl I 2702). G über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung v 14.8.1963 (BGBl I 685), zul geänd durch G v 31.10.2006 (BGBl I 2407). G über die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (FinanzdienstleistungsaufsichtsG – FinDAG) v 22.4.2002 (BGBl I 1310) zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2481). G über die Deutsche Bundesbank (BBankG) idF v 22.10.1992 (BGBl I 1782), zul geänd durch G v 22.12.2011 (BGBl I 2959), Sartorius ErgBd Nr 855. G über die Elektrizitäts- und Gasversorgung (Energiewirtschaftsgesetz – EnWG) v 7.7.2005 (BGBl I 1970, ber 3621), zul geänd durch G v 16.1.2012 (BGBl I 74), Sartorius I Nr 830. G über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (AtomG) idF v 15.7.1985 (BGBl I 1565), zul geänd durch G v 24.2.2012 (BGBl I 212), Sartorius I Nr 835. G über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ idF v 21.7.1988 (BGBl I 1055), zul geänd durch G v 9.12.2010 (BGBl I 1934). G über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ v 6.10.1969 (BGBl I 1861), zul geänd durch G v 7.9.2007 (BGBl I 2246). G über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder (Haushaltsgrundsätzegesetz – HGrG) v 19.8.1969 (BGBl I 1273), zul geänd durch G v 27.5.2010 (BGBl I 671), Sartorius I Nr 699. G über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht v 22.4.2002 (BGBl I 1310). G über die Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform v 24.6.1948 (WiGBl 17). G über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (MitbestimmungsG) v 4.5.1976 (BGBl I 1153), zul geänd durch G v 22.12.2011 (BGBl I 3044), Schönfelder ErgBd Nr 82a. Steuerberatungsgesetz idF v 4.11.1975 (BGBl I 2735), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). G über die Statistik für Bundeszwecke (BundesstatistikG – BStatG) v 22.1.1987 (BGBl I 462, ber 565), zul geänd durch G v 7.9.2007 (BGBl I 2246). G über die Statistik im Handel und Gastgewerbe (Handelsstatistikgesetz – HdlStatG) v 10.12.2001 (BGBl I

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

3438) zul geänd durch G v 23.11.2011 (BGBl I 2298). G über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) idF v 25.6. 2005 (BGBl I 1757, ber 2797), zul geänd durch G v 17.8.2012 (BGBl I 1726). G über eine Berufsordnung für Wirtschaftsprüfer (WirtschaftsprüferO) idF v 5.11.1975 (BGBl I 2803), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). G über Maßnahmen zur Förderung des deutschen Films (FilmförderungsG – FFG) idF v 24.8.2004 (BGBl I 2277), zul geänd durch G v 31.7.2010 (BGBl I 1048). G zu den Verträgen v 7.2.1992 über die Europäische Union und die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung des Vertrages von Lissabon v 13.12.2007 (BGBl. II 1038) berichtigt durch das Berichtigungsprotokoll vom 17.11.2009 (BGBl II S. 151). G zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (BImSchG) idF v 26.9.2002 (BGBl I 3830), zul geänd durch G v 27.6.2012 (BGBl I 1421), Sartorius I Nr 296. G zur Änderung der Rechtsgrundlagen für die Vergabe öffentlicher Aufträge (VergaberechtsänderungsG) v 26.8.1998 (BGBl I 2512). G zur Durchführung der gemeinsamen Marktorganisationen und der Direktzahlungen (MOG) idF v 24.6.2005 (BGBl I 1847), zul geänd durch G v 22.12.2011 (BGBl I 3044). G zur Durchführung einer Repräsentativstatistik über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt sowie die Wohnsituation der Haushalte (Mikrozensusgesetz 2005) v 24.6.2004 (BGBl I 1350), zul geänd durch G v 8.7.2009 (BGBl I 1781). G zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StabG) v 8.6.1967 (BGBl I 582), zul geänd durch G v 31.10.2006 (BGBl I 2407), Sartorius I Nr 720. G zur Neuordnung des Eisenbahnwesens (EisenbahnneuordnungsG – EneuOG) v 27.12.1993 (BGBl I 2378, ber 1994 I 2439), zul geänd durch G v 31.10. 2006 (BGBl I 2407). G zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation (PostneuordnungsG – PTNeuOG) v 14.9.1994 (BGBl I 2325), zul geänd durch G v 17.12.1997 (BGBl I 3108). G zur Ordnung des Handwerks (HandwerksO) idF v 24.9.1998 (BGBl I 3074), zul geänd durch G v 20.12.2011 (BGBl I 2854), Sartorius I Nr 815. G zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern (IHK-G) v 18.12.1956 (BGBl I 920), zul geänd durch G v 22.12.2011 (BGBl I 3044). GewerbeO idF v 22.2.1999 (BGBl I 202), zul geänd durch G v 15.12.2011 (BGBl I 2714), Sartorius I Nr 800. GüterkraftverkehrsG (GüKG) v 22.6.1998 (BGBl I 1485), zul geänd durch G v 24.2.2012 (BGBl I 212), Sartorius I Nr 952. InvestitionszulagenG 2010 v 7.12.2008 (BGBl I 2350), zul geänd durch G v 22.12.2009 (BGBl I 3950). LuftverkehrsG (LuftVG) idF v 10.5.2007 (BGBl I 698), zul geänd durch G v 8.5.2012 (BGBl I 698), Sartorius ErgBd Nr 975. Luftverkehrs-Zulassungs-O (LuftVZO) idF v 27.3.1999 (BGBl I 610), zul geänd durch G v 8.5.2012 (BGBl I 1032). LandwirtschaftsG v 5.9.1955 (BGBl I 565), zul geänd durch G v 13.12.2007 (BGBl I 2936). PatentanwaltsO v 7.9.1966 (BGBl I 557), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). PersonenbeförderungsG (PBefG) idF v 8.8.1990 (BGBl I 1690), zul geänd durch G v 22.11.2011 (BGBl I 2272), Sartorius I Nr 950. PostG v 22.12.1997 (BGBl I 3294), zul geänd durch G v 31.10.2006 (BGBl I 2407), Sartorius ErgBd Nr 910. RL 2006/111/EG der Kommission v 16.11.2006 über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedsstaaten und den öffentlichen Unternehmen sowie über die finanzielle Transparenz innerhalb bestimmter Unternehmen (ABlEU L 318/17). RL 97/67/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 15.12.1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität (ABlEU 1998 L 15/14), zul geänd d RL 2008/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 20.2.2008 (ABlEU L 52/3). RL 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 31.3.2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (ABlEU L 134/1, ber ABlEUL 358/35), zul geänd d VO (EU) Nr 1251/2011 der Kommission v 30.11.2011 (ABlEU L 319/43). RL 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.3.2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABlEU L 134/114, ber ABlEU L 351/44), zul geänd d VO (EU) Nr 1251/2011 der Kommission v 30.11.2011 (ABlEU L 319/43). RL 2011/85/EU des Rates v 8.11.2011 über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten (ABlEU L 306/41). Staatsvertrag zum Glücksspielwesen in Deutschland (Glücksspielstaatsvertrag – GlüStV) v 15.12.2011 (zB BayGVBl 2012, 318). StrahlenschutzVO idF v 20.7.2001 (BGBl I 1714), zul geänd durch G v 24.2.2012 (BGBl I 1459). TarifvertragsG (TVG) idF v 25.8.1969 (BGBl I 1323), zul geänd durch G v 8.12.2010 (BGBl I 1864), Schönfelder ErgBd Nr 81. TelekommunikationsG (TKG) v 22.6.2004 (BGBl I 1190), zul geänd durch G v 3.5.2012 (BGBl I 958), Sartorius ErgBd Nr 920. Transparenzrichtlinie-G v 16.8.2001 (BGBl I 2141), zul geänd durch G v 21.12.2006 (BGBl I 3364) zur Umsetzung der RL 2005/81/EG. ÜbergangsG über Preisbildung und Preisüberwachung (PreisG) v 10.4.1948 (WiGBl 27), fortgeltend gem G v 29.3.1951 (BGBl I 223), zul geänd durch G v 18.2.1986 (BGBl I 265). UmwandlungsG v 28.10.1994 (BGBl I 3210, ber 1995 I 428), zul geänd durch G v 22.12.2011 (BGBl I 3044), Schönfelder Nr 52a. VO über die Vergabe öffentlicher Aufträge (VgV) idF v 11.2.2003 (BGBl I 169) zul geänd am 12.7.2012 (BGBl I 1508). VO (EG) Nr 659/1999 des Rates v 22.3.1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 93 des EG-Vertrages (ABlEU L 83/1, zul geänd d VO (EG) Nr 1791/2006, ABlEU L 363/1), ergänzt d VO (EG) Nr 794/2004 der Kommission v 21.4.2004 (ABlEU140/1, ber ABl 2005 L 25/74). VO (EG) Nr 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v 28.1.2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABlEU L 31/1), zul geänd

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I. Grundlagen des öffentlichen Wirtschaftsrechts – 3. Kapitel

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d VO (EG) Nr 596/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18.6.2009 (ABlEU L 188/14). VO (EG) Nr 1/2003 des Rates v 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABlEU 2003 L 1/1), geänd d VO (EG) Nr 411/2004 des Rates vom 26.2.2004 (ABlEU 68/1). VO (EG) Nr 139/2004 des Rates v 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“, ABlEU L 24/1). VO (EG) Nr 2083/2005 der Kommission v 19.12.2005 zur Änderung der RL 2004/17/EG und RL 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf die Schwellenwerte für die Anwendung auf Verfahren zur Auftragsvergabe (ABlEU L 333/28). VO (EG) Nr 1234/2007 des Rates v 22.10.2007 über eine gemeinsame Organisationder Agrarmärkte und mit Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse (Verordnung über die einheitliche GMO) (ABlEU L 299/1), zul geänd durch VO (EU) Nr. 261/2012 v 14.3. 2012 (ABlEU L 94/38). VO (EG) Nr 223/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v 11.3.2009 über europäische Statistiken und zur Aufhebung der VO (EG, Euratom) Nr 1101/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Übermittlung von unter die Geheimhaltungspflicht fallenden Informationen an das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaften, der VO (EG) Nr 322/97 des Rates über die Gemeinschaftsstatistiken und des Beschlusses 89/382/EWG, Euratom des Rates zur Einsetzung eines Ausschusses für das Statistische Programm der Europäischen Gemeinschaften (ABlEU L 87/164). VO (EU) Nr 1173/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v 16.11.2011 über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet (ABlEU L 306/1). VO (EU) Nr 407/2011 des Rates v 11.5.2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (ABlEU L 118/1, ber d ABlEU 2012 L 188/19). VO (EU) Nr 1174/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v 16.11.2011 über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet (ABlEU L 306/8). VO (EU) Nr 1175/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v 16.11.2011 zur Änderung der VO (EG) Nr 1466/97 des Rates v 7.7.1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken (ABlEU L 306/12). VO (EU) Nr 1176/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v 16.11.2011 über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte (ABlEU L 306/25). VO (EU) Nr 1177/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v 8.11.2011 zur Änderung der VO (EG) Nr 1467/97 des Rates v 7.7.1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit (ABlEU L 306/33).

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

G. Schmidt/G. Biaggini/F. Uhlmann Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2. Aufl 2011. P. Richli Grundriss des schweizerischen Wirtschaftsverfassungsrechts, 2007. F. Rittner/M. Dreher Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl 2007. F. Rittner Unternehmensfreiheit und Unternehmensrecht zwischen Kapitalismus, Sozialismus und Laborismus, 1998. S. Rixen/K.Windthorst/O.Lepsius/M. Möstl/J. Gundel/H. Wißmann Konkurrenzschutz im Wettbewerb, WuV 4/2011 (Sonderheft). S. Robinski/B. Sprenger-Richter (Hrsg) Gewerberecht, 2. Aufl 2002. W. Rüfner Formen öffentlicher Verwaltung im Bereich der Wirtschaft, 1967. U. Scheuner (Hrsg) Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft, 1971. U. Schliesky Öffentliches Wettbewerbsrecht, 1997. R. Schmidt Wirtschaftspolitik und Verfassung, 1971. R. Schmidt Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg), Handbuch des Staatsrechts, Bd IV, 3. Aufl 2006, § 92. R. Schmidt Öffentliches Wirtschaftsrecht, 1990. R. Schmidt/T. Vollmöller Kompendium Öffentliches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl 2007. E. Schmidt-Aßmann/K. P. Dolde (Hrsg) Beiträge zum öffentlichen Wirtschaftsrecht: Verfassungsrechtliche Grundlagen, Liberalisierung und Regulierung, öffentliche Unternehmen, Beiheft ZHR, 2005. J. A. Schumpeter Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1942, 3. (dt) Aufl 1972. E. Steindorff Einführung in das Wirtschaftsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl 1985. R. Stober Handbuch des Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrechts, 1989. R. Stober Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 17. Aufl 2011. R. Stober/S. Eisenmenger Besonderes Wirtschaftsverwaltungsrecht, 15. Aufl 2011. St. Storr Der Staat als Unternehmer, 2001. P. Tettinger/R. Wank/J. Ennuschat Gewerbeordung, Kommentar, 8. Aufl. 2011. F. Wollenschläger Verteilungsverfahren, 2010. J. Ziekow Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2. Aufl 2010. W. Zorn Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 2. Aufl 1974.

Zeitschriften: Der Betriebsberater (BB); Der Betrieb (DB); Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW); Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (EWS); Gewerbearchiv (GewArch) mit der Vierteljahresbeilage Wirtschaft und Verwaltung (WuV); Neue Zeitschrift für Baurecht und Vergaberecht (NZBau); Wirtschaft und Wettbewerb (WuW); Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrecht (WUR); Recht der Energiewirtschaft (RdE); Vergaberecht (VergabeR); Zeitschrift für Beihilfen- und Subventionsrecht (BRZ); Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht (ZHR); Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen (ZögU).

I. Grundlagen des Öffentlichen Wirtschaftsrechts 1. Herausbildung und Gegenstand des Öffentlichen Wirtschaftsrechts 1 Seit dem 19. Jahrhundert wird das deutsche Recht von der Vorstellung einer Trennung von Staat und Gesellschaft geprägt. Der liberale Staat beschränkte das von ihm geschaffene Recht dabei auf die Funktion, die naturrechtlich begründete „vorstaatliche“, dh gesellschaftlich regulierte Freiheit des Einzelnen zu achten und zu sichern. In diesem Sinne ordnete er auch die Wirtschaft durch sein Recht, das sich entsprechend der zeitgenössischen liberalen Wirtschaftsidee im Wesentlichen in den Zusammenhängen des Privatrechts und des Polizeirechts entwickelte. Bis zum Ende der Monarchie (1918) kam es insoweit weder in der Forschung noch in der Lehre zur Ausbildung eines besonderen „Wirtschaftsrechts“.1 Allerdings brachte der industrielle Aufschwung nach der Reichsgründung von 18712 eine alle Rechtsgebiete erfassende Fülle von spezifischen Rechtssätzen und rechtlichen Problemen hervor, so dass die rechtliche Ordnung der Unternehmen, ihrer Beziehungen zu den Abnehmern, die Regelung des Wettbewerbs und der „Assoziationen“ von Unternehmern und Arbeitern, der Arbeitsverhältnisse und des Arbeitsschutzes Gegenstand eines besonderen Rechtsgebietes, des „Industrierechts“, wurde.3

_____ 1 Piepenbrock Der Gedanke eines Wirtschaftsrechts in der neuzeitlichen Literatur bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, 1964; Zacher Die Entstehung des Wirtschaftsrechts in Deutschland, 2002. 2 E. R. Huber Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd IV, 1969, 971 ff; Badura Das Verwaltungsrecht des liberalen Rechtsstaates, 1967, 16 ff. 3 Lehmann Grundlinien des deutschen Industrierechts, FS Zitelmann, 1913.

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I. Grundlagen des öffentlichen Wirtschaftsrechts – 3. Kapitel

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Nach dem 1. Weltkrieg verselbstständigte sich das „Wirtschaftsrecht“ – ebenso wie das 2 Arbeitsrecht – als eigenständiges Rechtsgebiet.4 Seine Entstehung verdankt es freilich weniger dem theoretischen Interesse an klassifizierender Systematik als der schon kurz vor der Jahrhundertwende einsetzenden und durch die Bedürfnisse der Kriegswirtschaft beschleunigten Umorientierung der Staatszwecke. Greifbar wird dies etwa in der Weimarer Reichsverfassung, deren Abschnitt „Das Wirtschaftsleben“ (Art 151–165) in gewisser Weise den Übergang von der liberalen Verfassungsidee zu einer neuen Staatsvorstellung markiert, in der das Prinzip der privatautonomen Wirtschaftsfreiheit verbunden ist mit der Verantwortung des Staates für die soziale Gerechtigkeit. Die Verselbstständigung des „Wirtschaftsrechts“ ist eine Folge dieser Umwälzung und wurde als die Summe der Rechtssätze definiert, durch die der Staat Organisation und Funktionsweise der Wirtschaft ordnet, gestaltet und lenkt.5 Angesichts seiner liberalen Wurzeln war es folgerichtig, dass sich das Wirtschaftsrecht zu- 3 nächst als Annex des Privatrechts entfaltete, konnten und können seine Regelungen doch vor allem als Beschränkungen der den Privatrechtsverkehr prägenden Privatautonomie aufgefasst werden. Die zunehmende staatliche Ingerenz in das Wirtschaftsgeschehen und der damit einhergehende Aufbau einer staatlichen Wirtschaftsverwaltung zum Vollzug der wirtschaftsrechtlichen Ermächtigungen bedingten mit der Zeit allerdings ein Vordringen des Öffentlichen Rechts (Publifizierung), das seinen ursprünglich polizeirechtlichen Charakter hinter sich ließ und ein neues Rechtsgebiet bildete, das „Öffentliche Wirtschaftsrecht“. Das Öffentliche Wirtschaftsrecht kann damit als Gesamtheit derjenigen Rechtssätze be- 4 zeichnet werden, die einem Träger öffentlicher Gewalt mit Blick auf die Gestaltung und Beeinflussung des Wirtschaftslebens spezifische Rechte und Pflichten zuweisen6 und umfasst als Teilgebiete das unionale und nationale Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht.7 Auch wenn sich diese nicht strikt voneinander trennen lassen, so regelt das Wirtschaftsverfassungsrecht doch primär die Grundlagen von Wirtschaftspolitik und -verwaltung auf der Ebene von EUV, AEUV und GG, während das Wirtschaftsverwaltungsrecht all jene Rechtssätze umfasst, durch die die Öffentliche Hand mit den Zielen der Gefahrenabwehr, der Verteilung, Lenkung und Förderung auf den wirtschaftlichen Prozess einwirkt, indem sie Aufgaben und Befugnisse der Verwaltung und nicht notwendigerweise öffentlich-rechtliche Rechte und Pflichten der am wirtschaftlichen Prozess Beteiligten begründet, beschränkt oder aufhebt. Das ursprünglich selbstständige Gewerberecht und seine Nebengebiete sind insoweit im Wirtschaftsverwaltungsrecht aufgegangen, aber auch das Kartell- und das Vergaberecht gehören richtigerweise hierher.

2. Historische Grundlagen In der Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit lassen sich bei typisierender Betrachtung vier Ent- 5 wicklungsstufen unterscheiden: der Merkantilismus des absolutistischen Staates, der Liberalismus des Konstitutionalismus, der Wohlfahrtsstaat der parlamentarischen Demokratie 8 und, seit der Zeitenwende der Jahre 1989/90, seine zunehmende Überforderung durch die Folgen von

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4 Nußbaum Das neue deutsche Wirtschaftsrecht, 1920, 2. Aufl 1922; Goldschmidt Reichswirtschaftsrecht, 1923; Hedemann Reichsgericht und Wirtschaftsrecht, 1929. 5 Hedemann FS Hueck, 1959, 377; Rittner Wirtschaftsrecht, StaatsL 8 (1963), 817; Rinck Begriff und Prinzipien des Wirtschaftsrechts, 1971; Reich Markt und Recht, 1977. 6 Schmidt in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR I, § 1 Rn 8. 7 E. R. Huber Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd I, II; Scheuner Das öffentliche Wirtschaftsrecht, in: Mitteilungen des Jenaer Instituts für Wirtschaftsrecht, Heft 28 (1934), 3; Stober Quellen zur Geschichte des Wirtschaftsverwaltungsrechts, 1986. 8 Lütge Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 3. Aufl 1966 (Nachdruck 1975); Stolper Deutsche Wirtschaft seit 1870, 2. Aufl 1966; Hausherr Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, 4. Aufl 1981; Beutin/Kellenbenz Wirtschaftsge-

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

Internationalisierung und Europäisierung. In diesen Wirtschaftsformen äußern sich Aufstieg, Blüte, Niedergang und – möglicherweise nur vorübergehende9 – Renaissance der kapitalistischen Wirtschaftsweise.

a) Merkantilismus 6 Der Übergang von der auf der agrarischen Produktion beruhenden Naturalwirtschaft des Mittelalters zur neuzeitlichen Verkehrswirtschaft auf der Grundlage von Handel und Gewerbe (Handwerk und Manufaktur) brachte die großräumigen Nationalwirtschaften und den modernen Staat hervor. Die geldwirtschaftliche Staatsfinanzierung ermöglichte Bürokratie und stehendes Heer, die maßgeblichen Voraussetzungen staatlicher Herrschaftsgewalt. Die Einsicht, dass territorialstaatliche Macht eine Blüte von Handel und Gewerbe voraussetzte, bildete vor diesem Hintergrund die Richtlinie der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. Deren Grundsätze waren die protektionistische Beschränkung der Einfuhren und das Streben nach einer aktiven Handelsbilanz mit dem Ziel der Autarkie, die Unterstützung der einheimischen Wirtschaft und die Ansammlung eines Edelmetallvorrats. Deshalb suchte der Staat Gewerbe und Handel durch eine vielfältige und sehr ins Einzelne gehende Reglementierung, die Vergabe von Monopolprivilegien für neue Industrien und durch die Gründung oder Übernahme zahlreicher Unternehmen anzuregen, zu fördern und zu beeinflussen. Diese mit dem Namen Colbert,10 des Finanzministers von Ludwig XIV, verbundene Wirtschaftskonzeption hat das Denken in vielen kontinentaleuropäischen Staaten nachhaltig geprägt und wirkt bis in unsere Tage fort, etwa wenn Regierungen die Übernahme großer Unternehmen durch ausländische Unternehmen zu verhindern suchen.11

b) Liberalismus 7 Die merkantilistische Bevormundung und Reglementierung der unter staatlichem Schutz im 17. und 18. Jahrhundert entstandenen und erstarkten Nationalwirtschaften erwies sich freilich bald als lähmend. Ebenso wie die politische Theorie der Aufklärung die Staatsidee des Absolutismus in Frage stellte und letztlich zerstörte, führte die Wirtschaftstheorie der Aufklärung zur Auflösung des Merkantilsystems. Die liberale Wirtschaftsidee forderte Freiheit der Wirtschaft vom Staat: Freihandel und Gewerbefreiheit. Gewerbefreiheit bedeutete die Beseitigung aller durch den Staat geschaffenen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Beschränkungen des Gewerbes und des Handels, soweit nicht polizeiliche Rücksichten eine bestimmte Einschränkung rechtfertigten. Dieses Prinzip richtete sich besonders gegen die aus der merkantilistischen Epoche hervorgegangenen monopolistischen Erscheinungen wie die Beherrschung einzelner Wirtschaftszweige durch staatliche Unternehmen und durch von Monopolprivilegien

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schichte, 1973; Treue Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, 2 Bde, 1973; Zorn Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd 2: Das 19. und 20. Jh, 1976; Engelsing Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, 2. Aufl 1976; Hardach Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 20. Jh, 1976; Wehler Bibliographie zur modernen deutsche Wirtschaftsgeschichte, 1976; Borchardt Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte, 1978. – Sombart Der moderne Kapitalismus, 2. Aufl 1916–27; Heckscher Der Merkantilismus, 2 Bde, 1932; Gerloff Staatstheorie und Staatspraxis des kameralistischen Verwaltungsstaates, 1937; Dobb Studies in the Development of Capitalism, 1946 (dt: Entwicklung des Kapitalismus, 1970); Tautscher Staatswissenschaftslehre des Kameralismus, 1947; Kuczynski Die Geschichte der Lage der Arbeitnehmer unter dem Kapitalismus, 40 Bde, 1948 ff; Borchardt Die industrielle Revolution in Deutschland, 1972; Blaich Die Epoche des Merkantilismus, 1973. 9 Huber Zur Renaissance des Staates, in: Bauer ua (Hrsg), Öffentliches Wirtschaftsrecht im Zeitalter der Globalisierung, 2012, 35 ff. 10 Cole Colbert and a Century of French Mercantilism, 2 Bde, 1964. 11 Zu E.ON/Endesa EuZW 2006, 195, 547, 642; Pressemitteilungen der Kommission IP/06/528, IP/06/1264 und 1265; MEMO/06/312; IP/07/427. Zu ENEL/Suez EuZW 2006, 196. Zu den industriepolitischen Implikationen bei EADS siehe etwa SZ Nr 227 vom 1.10.2012, S 19, „Fallschirmjäger gegen Pastor“.

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I. Grundlagen des öffentlichen Wirtschaftsrechts – 3. Kapitel

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geschützte Privatunternehmer, gegen ausschließliche Gewerbeberechtigungen, Zwangs- und Bannrechte 12 sowie gegen die Zwangskorporationen der Handwerker (Zünfte) und Kaufleute (Gilden). Der individualistische Grundsatz des „laissez-faire, laissez aller“, der im Mittelpunkt der 8 „klassischen“ Nationalökonomie des Liberalismus steht, gründet auf das Axiom einer „natürlichen“ Ordnung der Wirtschaft, die der Staat durch sein Eingreifen nur verwirre. Die Triebfeder des nach den Marktgesetzen funktionierenden wirtschaftlichen Prozesses sei der erwerbsorientierte und rationale Egoismus des „homo oeconomicus“, der mit seinem individuellen Wirtschaftserfolg zugleich die Prosperität der Nationalwirtschaft und die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse bewirke. „Das natürliche Bestreben jedes Menschen, seine Lage zu verbessern, ist, wenn es sich mit Freiheit und Sicherheit geltend machen darf, ein so mächtiges Prinzip, dass es nicht nur allein und ohne alle Hilfe die Gesellschaft zu Reichtum und Wohlstand führt, sondern auch hundert arge Hindernisse überwindet, mit denen die Torheit menschlicher Gesetze es allzu oft zu hemmen suchte“ (Adam Smith).13 Die Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen erfolgte im Rahmen der Stein-Hardenberg- 9 schen Reformen.14 Aufnahme und Fortsetzung eines Gewerbes waren nunmehr grundsätzlich nur noch von der mit der Entrichtung der Gewerbesteuer gekoppelten Lösung eines Gewerbescheins abhängig gemacht.15 Die Verwirklichung der Gewerbefreiheit und die damit korrespondierende Entwicklung eines Gewerbepolizeirechts kamen in Preußen mit der Allgemeinen Gewerbe-Ordnung v 17.1.1845 (GS 41) zum Abschluss, dem unmittelbaren Vorbild der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund v 21.6.1869. Sie gilt nach zahlreichen Änderungen heute idF vom 22.2.1999. Das Allgemeine BergG für die Preußischen Staaten v 24.6.1865 (GS 705) löste die Regalität des Bergbaus16 durch das Prinzip der Berg(bau)freiheit ab.

c) Sozialstaat und Soziale Marktwirtschaft Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich allerdings ein Paradigmenwechsel in der 10 Wirtschaftskonzeption ab, indem das liberale und kapitalistische System zunehmend um Elemente eines sozialstaatlichen Ausgleichs ergänzt wurde. Eine Initialzündung bildete in dieser Hinsicht die „Kaiserliche Botschaft“ von 1881, mit der die Grundlagen für das im folgenden Jahrhundert immer weiter perfektionierte System der gesetzlichen Sozialversicherung gelegt wurden. Nach dem Sturz der Monarchie fand diese Neuorientierung in der Weimarer Reichsverfassung auch verfassungskräftigen Ausdruck. Sie übernahm es im Abschnitt „Das Wirtschaftsleben“ (Art 151 ff WRV), die überkommenen Institutionen und Freiheiten des liberalen Wirtschaftsrechts durch – allerdings sehr verschiedenartige – sozialistische und sozialreformerische Grundsätze, Einrichtungen und Programme (Art 151, 156, 165 WRV) zu überformen. Auch die Mittelstandspolitik hat eine bis in die Weimarer Zeit zurückgehende Tradition (vgl Art 164 WRV). Auch unter dem Grundgesetz hat sich die sozialstaatliche Durchdringung der freien 11 Marktwirtschaft nach 1949 fortgesetzt und mit der „sozialen Marktwirtschaft“ ein gewisses Gleichgewicht erreicht. Diese ist auf das in Art 20 I GG niedergelegte Staatsziel der sozialen Ge-

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12 Vgl §§ 7 ff GewO. – BVerwGE 38, 244 (§ 39a S 1 GewO). 13 A. Smith An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776. 14 E. R. Huber Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd I, 2. Aufl 1967, 200 ff; Koselleck Preußen zwischen Reform und Revolution, 1967; Vogel Allgemeine Gewerbefreiheit, 1983; Ziekow GewArch 1985, 313; ders Freiheit und Bindung des Gewerbes, 1992; Stolleis in: Starck, Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, 1992, 15, 31 ff. 15 § 50 (Allgem Grundsätze über Gewerbepolizei) der Geschäfts-Instruktion für die Regierungen in sämtlichen Provinzen v 26.12.1808 (GS 1806–1810, 481); Edikt über die Einführung einer allgemeinen Gewerbe-Steuer v 28.10.1810 (GS 1810/11, 79); G über die polizeilichen Verhältnisse der Gewerbe v 7.9.1811 (GS 1810/11, 263). 16 Ebel ZfB 109 (1968), 146.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

rechtigkeit verpflichtet und stellt die Wirtschaftspolitik vor die Aufgabe, jedermann die Chance zu eröffnen, durch eigene Arbeit und Leistung einen selbstbestimmten Beitrag zur Erwirtschaftung des Sozialprodukts zu erbringen. Der Gesetzgeber darf die vorgefundenen Grundlagen des wirtschaftlichen Prozesses deshalb nicht als allgemein gerechtfertigt zugrunde zu legen, sondern muss Ungleichheiten in der Verteilung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse zumindest insoweit revidieren, als sie die gesellschaftliche und demokratische Emanzipation hindern.17 Er versucht dies durch zahlreiche Instrumente: die Vermögensbildung, die unternehmerische Mitbestimmung oder die Beschäftigungsförderung. Zwar sind individuelle Leistung und privatautonom verfügbarer Ertrag Ausgangspunkte für die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Wie weit sie im Interesse sozialstaatlicher Anliegen konkret beschränkt werden, ist jedoch Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Eine paritätische Mitbestimmung, etwa nach dem Muster der Montanmitbestimmung, eine umverteilende Vermögensbeteiligung der Arbeitnehmer am Produktionsvermögen oder die kollektive Bewirtschaftung von Arbeit („Recht auf Arbeit“) stoßen allerdings an die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen. Das MitbestG lässt deshalb zumindest ein leichtes Übergewicht der Anteilseigner bestehen.18

d) Europäisierung und Internationalisierung – Kapitalismus II 12 Mit der Zeitenwende der Jahre 1989/90 haben sich auch die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens grundlegend geändert und dem auf staatliche Korrektive angewiesenen Konzept der sozialen Marktwirtschaft mehr und mehr den Boden entzogen. An ihre Stelle ist eine zunehmend einseitige Dominanz des Faktors Kapital getreten, ein Kapitalismus neuer Prägung (II), in dem die Rendite von Kapitalanlagen zur entscheidenden Orientierung für ökonomisches Handeln geworden ist. Niedrige Zinsen und die damit verbundene Kreditschwemme (SubprimeKrise) sowie die durch die Liberalisierung der Geldwirtschaft ermöglichte Schaffung neuer Finanzprodukte (zB Derivate) haben diese Dominanz weiter verstärkt und mittlerweile zu einer zehnfachen Überkapitalisierung der globalen Wertschöpfung geführt, deren sozialverträgliche Rückführung weder auf nationaler noch auf unionaler oder globaler Ebene gelingen will. Schon seit Mitte der 1950er Jahre führt die europäische Integration zu einer schleichenden Verlagerung wirtschaftspolitischer Entscheidungszuständigkeiten vom Staat auf die europäische Ebene. Mit der Deregulierung der ursprüglich nationalen Märkte in einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der (Unions-)Verträge gewährleistet ist (Art 26 II AEUV), der Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen durch eine strenge Beihilfenaufsicht der EU-Kommission und einer weitgehenden Europäisierung des Vergaberechts haben die Mitgliedstaaten wesentliche Gestaltungsinstrumente in der Wirtschaftspolitik längst verloren. Darüber hinaus hat die unionale Gesetzgebung seit Beginn der 1990er Jahre die Privatisierung der mitgliedstaatlichen Infrastrukturverwaltungen im Bereich der Post-, Telekommunikations-, Eisenbahn- und Energieversorgung vorangetrieben und so neue – regulierte – Märkte geschaffen, auch wenn auf einzelnen dieser Märkte noch um einen funktionsfähigen Wettbewerb gerungen wird. Auf internationaler Ebene haben die Bindungen an GATT und TRIPS im Rahmen der WTO sowie andere völkerrechtliche Abkommen, die Faktizität des Internet, aber auch das Engagement

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17 Antwort der BReg auf eine Große Anfrage betr Entwicklung der Vermögen und ihrer Verteilung, BT-Drs 13/3885; Jahreswirtschaftsbericht 1997 der BReg „Reformen für Beschäftigung“, BT-Drs 13/6800; Jahreswirtschaftsbericht 2005 der BReg „Den Aufschwung stärken – Strukturen verbessern“, BT-Drs 15/4700; Jahreswirtschaftsbericht 2008 der BReg „Kurs halten!“, BT-Drs 16/7845. 18 BVerfGE 50, 290; E 99, 367 o JK GG Art 3 I/31; Fitting/Wlotzke/Wißmann Mitbestimmungsgesetz, 2. Aufl 1978; Badura Paritätische Mitbestimmung und Verfassung, 1985; Nagel Mitbestimmung im Montankonzern und Grundgesetz, 1992; Raiser/Veil Mitbestimmungsgesetz, 5. Aufl 2009; Ulmer/Habersack/Henssler Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl 2006.

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I. Grundlagen des öffentlichen Wirtschaftsrechts – 3. Kapitel

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Privater, etwa des International Accounting Standards Boards (IASB) bei der Festlegung internationaler Buchführungsstandards, oder von Ratingagenturen zu einem weiteren Gestaltungsverlust der Staaten, aber auch der EU geführt,19 so dass es derzeit den Anschein hat, als gäben global agierende Finanzinvestoren („Heuschrecken“), finanzkräftige Staaten und die Ratingagenturen die Rahmenbedingungen der Wirtschaft mehr und mehr vor. Ob es dem Gemeinwohl verpflichteten staatlichen, supranationalen und internationalen Organisationen gelingen wird, den für die soziale Marktwirtschaft unverzichtbaren Primat des Politischen über die Wirtschaft zu behaupten bzw wieder zu erringen, ist – wie auch die Finanzkrise zeigt – heute offener denn je.

3. Marktwirtschaft und Wettbewerb, Planwirtschaft und Sozialisierung Nach dem Maß der Selbstständigkeit, das die Wirtschaft gegenüber der Politik besitzt, bzw 13 nach der Funktion des Staates im Wirtschaftsprozess kann man – typisierend und vereinfachend – zwei Wirtschaftsformen unterscheiden: die Markt- und die Planwirtschaft.20 In der Marktwirtschaft (Verkehrswirtschaft) entfalten Privatautonomie, Privateigentum, Berufs- und Gewerbefreiheit sowie die Vertragsfreiheit prägenden Einfluss. Die wirtschaftlich relevanten Entscheidungen über Produktion, Investition, Distribution und Konsum sind hier dezentralisiert und dem Wettbewerb zwischen den einzelnen Wirtschaftssubjekten überlassen. Bei der Bedarfsdeckung gibt das individuelle Interesse den Ausschlag; die – divergierenden – Interessen von Unternehmern und Verbrauchern werden dabei durch den von Angebot und Nachfrage abhängigen Marktpreis koordiniert. Demgegenüber war die Plan- oder Zentralverwaltungswirtschaft die von der marxis- 14 tischen politischen Ökonomie ideologisch gerechtfertigte Wirtschaftsform der sozialistischen Staaten. Die sozialistische Planwirtschaft und das sozialistische Wirtschaftsrecht dienten der „Leitung und Planung der Volkswirtschaft“ (Art 9, 12 Verf DDR);21 die wesentlichen wirtschaftlichen Entscheidungen waren in der Hand des Staates zentralisiert, der auch alleiniger Eigentümer der Produktionsmittel war. Der staatliche Wirtschaftsplan legte auf der Grundlage von politischen Entscheidungen die Erzeugung und Verteilung nach den angenommenen Bedürfnissen des Gemeinwesens fest, so dass an die Stelle des für die Marktwirtschaft charakteristischen Tausches die Zuteilung trat.22 Da die institutionellen Grundlagen des Wirtschaftssystems fast durchwegs verfassungs- 15 rechtlich gewährleistet sind, könnte ein Übergang von der Markt- zur Planwirtschaft nur durch eine sozialrevolutionäre Umwälzung erfolgen. Eine Sozialisierung (Vergesellschaftung), dh die Umgestaltung der Eigentumsordnung durch Aufhebung des privaten Sondereigentums an bestimmten oder allen Produktionsmitteln und deren Überführung in staatliches Eigentum (Verstaatlichung) oder in das Eigentum unter staatlicher Aufsicht stehender halbautonomer

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19 Huber AöR 133 (2008), 389 ff. 20 Weber Grundriß der Sozialökonomik, 2. Aufl 1925, III/1, 59; Eucken Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 5. Aufl 1975; Heimann Wirtschaftssysteme und Gesellschaftssysteme, 1954; ders Soziale Theorie der Wirtschaftssysteme, 1963; Dahrendorf Markt und Plan, zwei Typen der Rationalität, 1966; Krüsselberg Marktwirtschaft und ökonomische Theorie, 1969; Heinze Autonome und heteronome Verteilung. Rechtsordnung staatlicher Lenkung von Produktion und Verteilung, 1970; Hensel Grundformen der Wirtschaftsordnung, 4. Aufl 1992; Hedtkamp Wirtschaftssysteme, 1974; Lindblom Jenseits von Markt und Staat, 1980; Bernholz/Breyer Grundlagen der Politischen Ökonomie, 2 Bde, 3. Aufl 1993/1994; Koslowski Ethik des Kapitalismus, 6. Aufl 1998. 21 Heuer ua Sozialistisches Wirtschaftsrecht – Instrument der Wirtschaftsführung, 1971; ders Wirtschaftsrecht, 1985; Staatsrecht der DDR, 1978, 126 ff, 207 ff; Brunner Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl 1979, bes 97 ff; Mampel Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, 2. Aufl 1982; Materialien zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland 1987, BT-Drs 11/11. 22 Hensel Einführung in die Theorie der Zentralverwaltungswirtschaft, 2. Aufl 1959; Salin Politische Ökonomie, 5. Aufl 1967, 94 ff; Engelhardt ua, Zur marxistischen und neuen Politischen Ökonomie, SchrVfS NF Bd 112, 1981.

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(„gemeinwirtschaftlicher“) Wirtschaftssubjekte, 23 ist nach dem Scheitern der sozialistischen Planwirtschaft keine ernst zu nehmende politische Option mehr. Das schließt es allerdings nicht aus, dass einzelne Unternehmen, Produktionsmittel oder 16 Sektoren auch nach einer vorangegangenen Privatisierung wieder vergesellschaftet bzw in öffentliche Trägerschaft überführt werden. So spricht derzeit wenig für eine (materielle) Privatisierung der Bahn.24 Zugleich wird über eine Rekommunalisierung der Energieversorgung25 oder über eine Verstaatlichung der Banken26 nachgedacht. Eine solche Teilsozialisierung bedeutete freilich keine Umgestaltung der Eigentumsordnung als solcher, sondern lediglich eine Änderung der konkreten Eigentumsverteilung. 3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht II. Verfassungsrechtliche Grundlagen – 3. Kapitel

II. Verfassungsrechtliche Grundlagen 1. Wirtschaftsverfassung a) Begriff der Wirtschaftsverfassung 17 Der Begriff „Wirtschaftsverfassung“ wird in einem engeren und in einem weiteren Sinn gebraucht, je nachdem ob damit nur die verfassungsrechtlichen Bestimmungen des GG über die Ordnung des Wirtschaftslebens oder die Gesamtheit der Rechtssätze bezeichnet werden soll, die Organisation und Ablauf des wirtschaftlichen Prozesses grundlegend und dauernd bestimmen, ohne Rücksicht auf ihren Rang als Verfassungs- oder Gesetzesrecht. Der weitere Begriff der Wirtschaftsverfassung orientiert sich somit daran, welche Rechtssätze und Rechtsinstitute für die reale Ordnung des Wirtschaftens prinzipiell bedeutsam und kennzeichnend sind und umfasst unter anderem das AktG, das GWB und das StabG. Vorzugswürdig erscheint gleichwohl eine auf den Verfassungsrang einer Regelung abstellende Begriffsverwendung, weil nur mit ihr die entscheidende Frage beantwortet werden kann, ob und inwieweit das Grundgesetz ein bestimmtes Wirtschaftssystem festschreibt oder ob es sich damit begnügt, einige Eckpunkte für das Verhältnis des Staates zur Wirtschaft festzulegen.

b) Streit um die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes 18 Nachdem die Weimarer Reichsverfassung im Abschnitt „Das Wirtschaftsleben“ (Art 151 ff WRV) die überkommenen Institutionen und Freiheiten des liberalen Wirtschaftsrechts durch verschiedenartige sozialistische und sozialreformerische Grundsätze, Einrichtungen und Programme (Art 151, 156, 165 WRV) ergänzt und modifiziert hatte, stellte sich nach 1945 die Frage nach der verfassungsgestalteten Grundordnung der Wirtschaft und dem Zusammenhang zwischen „Wirtschaftsverfassung“ und „politischer“ Verfassung.27 Im Unterschied zur WRV und zu einigen vorkonstitutionellen Landesverfassungen (BayVerf, HessVerf) enthält das GG keinen eigenen Abschnitt über das Wirtschaftsleben, wohl aber normiert es Aufgaben und Befugnisse des Staates

_____ 23 Burdeau Die französischen Verstaatlichungen, 1984 (Beiheft 56 der ZHR). 24 Stamm Eisenbahnverfassung und Bahnprivatisierung, 2010, 139 ff. 25 Brüning VerwArch 100 (2009), 453; Burgi NdsVBl 2012, 225; Bauer/Büchner/Hajasch, Rekommunalisierung öffentlicher Daseinsvorsorge, 2012. Vgl zum „ownership unbundling“ im Energiebereich J. F. Baur/Pritzsche/Pooschke DVBl 2008, 483; Kahle RdE 2007, 293; Pielow/E. Ehlers IR 2007, 259; Pießkalla EuZW 2008, 199. 26 FinMStabG v 17.10.2008; FinMStabEG v 7.4.2009 – hierzu: BT-Drs 16/12100; Bauer DÖV 2010, 20; Gurlit NZG 2009, 601; Peters DÖV 2012, 64; Pfab BayVBl 2010, 65. 27 E. R. Huber Das Deutsche Reich als Wirtschaftsstaat, 1931; ders Bewahrung und Veränderung 1975, 215; Raiser FS von Gierke, 1950, 181; Schmitt Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, 489; Zacher FS Böhm, 1965, 63; Karpen Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, 1990; Bleckmann JuS 1991, 536; Oppermann in: Coing ua, Staat und Unternehmen aus der Sicht des Rechts, 1993, 35; Papier in: Benda/Maihofer/Vogel, HVerfR, § 18; Badura FS K. Stern, 1997, 409; Nörr in: Acham/Nörr/Schefold, Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste, 1998, 356.

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zur Ordnung und Beeinflussung des wirtschaftlichen Prozesses. Vor diesem Hintergrund gab es in den 1950er Jahren eine heftige Kontroverse darüber, ob sich die einzelnen wirtschaftsrelevanten Vorschriften des GG zu einer besonderen „Wirtschaftsverfassung“ zusammenfügen, die der Gesetzgebung spezifische Grenzen setzt. Mit der fortschreitenden Integration Deutschlands zunächst in die EWG, dann in die EU (EEA 1986/87; EU-V 1992/93, 1997/99, 2001/03, 2007/09) und der Überlagerung der nationalen durch die europäische Wirtschaftsverfassung hat diese Diskussion jedoch ihre praktische Bedeutung verloren. Die These Hans Carl Nipperdeys von der verfassungsrechtlichen Institutionalisierung der 19 „sozialen Marktwirtschaft“, die vor allem auf der angreifbaren Annahme einer Gewährleistung der Institutionen des Wettbewerbs und der Gewerbefreiheit durch die Freiheitsrechte der Art 2 I und 12 I GG beruhte, konnte sich letztlich nicht durchsetzen, weil sie für ihr Konzept zentrale Fragen wie die Unterscheidung von marktkonformen und marktinkonformen Eingriffen nicht beantworten konnte.28 Das gilt auch für die polemische Gegenposition Herbert Krügers, nach der der Staat zwar nach Maßgabe der Verfassung okkasionell und pragmatisch in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen, sich dabei aber nicht auf ein bestimmtes Wirtschaftssystem festlegen dürfe, weil dem die relativistische Grundlinie der Demokratie entgegenstehe.29 Größere Durchschlagskraft hatte Ernst Rudolf Hubers These von der „gemischten Wirtschaftsverfassung“, der im GG ein spannungsvolles Gleichgewicht und einen durchdachten Ausgleich von grundrechtlichen Wirtschaftsfreiheiten und unterschiedlichen Sozialbindungen angelegt sah, die der Gesetzgeber unter Ausnutzung der Gesetzesvorbehalte durch seine gesamtwirtschaftliche Gestaltungsmacht verwirklichen dürfe.30 Im grundlegenden Urteil zum InvestitionshilfeG vom 20.7.1954 hat das BVerfG die These von 20 der „wirtschaftspolitischen Neutralität“ des GG aufgestellt und daran seither jedenfalls im Grundsatz festgehalten.31 Der Verfassungsgeber habe sich nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden, so dass der Gesetzgeber und – nach Maßgabe gesetzlicher Ermächtigungen (Art 80 I 2 GG) – auch die Exekutive jede ihnen sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik verfolgen dürften, sofern sie dabei nur die bundesstaatliche Kompetenzverteilung, den sozialstaatlichen Auftrag, die rechtsstaatlichen Verfassungsgrundsätze und die grundrechtlichen Gewährleistungen beachteten. Das GG enthält allerdings zahlreiche Festlegungen, Garantien, Rechte und Freiheiten 21 mit wirtschaftsverfassungsrechtlicher Tragweite. Die Grundrechte – der allgemeine Gleichheitssatz (Art 3 I GG), die Koalitions- (Art 9 III GG) und Berufsfreiheit (Art 12 I GG) sowie die Eigentumsgarantie (Art 14 I GG) – verbürgen einerseits Freiheitsrechte („Abwehrrechte“), andererseits aber auch objektive Grundentscheidungen und Institutsgarantien (Art 14 GG) und können insoweit Grundlage für bindende Schutzpflichten des Staates sein. Daneben enthält das GG wirtschaftsverfassungsrechtlich erhebliche Aufgabennormen mit Staatszielbestimmungen unterschiedlicher Intensität und Prägekraft: das Sozialstaatsprinzip (Art 20 I, 23 I 1, 28 I 1 GG), konjunkturpolitische Direktiven zur Vermeidung übermäßiger Defizite (Art 109 III, 115 II GG), zur Herstellung und Bewahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art 109 II, V, 104b GG) und zur Sicherung der Preisstabilität (Art 88 S 2 GG), Gesetzgebungskompetenzen für das Recht der Wirtschaft und die Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung (Art 74 I Nr 11 und 16 GG), die Infrastrukturgewährleistungspflicht des Bundes für Eisenbahnen, Post und Telekommunikation (Art 87e IV, 87f I GG), schließlich einen Schutzauftrag zugunsten der natürli-

_____ 28 Umso irritierender ist es, dass dieser Gedanke in der jüngeren Rechtsprechung des Ersten Senats wieder auftaucht, BVerfGE 105, 252, 265 f – Glykol. 29 H. Krüger DVBl 1951, 361. 30 E. R. Huber Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd I, 30. 31 BVerfGE 4, 7, 17 f; E 7, 377, 400; E 12, 341, 347; E 14, 19, 23; E 14, 263, 275; E 22, 180, 204; E 26, 16, 37; E 27, 253, 283; E 32, 273; E 50, 290, 336 ff.

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chen Lebensgrundlagen (Art 20a GG). Wenn das GG damit im Ergebnis doch eine freiheitliche, marktwirtschaftlich ausgerichtete Wirtschaftsverfassung etabliert, so ist dies nicht die Konsequenz der institutionellen Verankerung eines bestimmten Wirtschaftssystems bzw einer entsprechenden ordnungspolitischen Grundentscheidung, sondern Folge des Zusammenwirkens unterschiedlicher Verfassungsvorgaben, namentlich der die staatlichen Eingriffsbefugnisse beschränkenden Freiheitsrechte.32 22 Im Zuge der Wiedervereinigung haben die beiden Staatsverträge zur Herbeiführung der Rechts- und Wirtschaftseinheit Deutschlands33 die Grundziele der sozialen Marktwirtschaft und der Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen ausdrücklich bekräftigt und zu deren Verwirklichung eine verhältnismäßig detaillierte Programmatik entwickelt. Zwar besitzen beide Staatsverträge für die Bundesrepublik Deutschland keinen Verfassungsrang; sie hatten jedoch eine grundlegende Bedeutung für die Integration der zentralen Verwaltungswirtschaft der DDR in die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Der Staatsvertrag vom Mai 1990 mit seinen Festlegungen über die Soziale Marktwirtschaft und die sie prägenden Grundsätze und Rechtsinstitute – Art 1 II, 2, 4 I, 11 StV iVm dem Gemeinsamen Protokoll über Leitsätze, bes A. II. Wirtschaftsunion – stellt dabei in gewisser Weise eine authentische Interpretation der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Staatsziele und Garantien des Grundgesetzes dar. Dagegen hat die – auch auf ältere Forderungen zurückgehende – Empfehlung in Art 5 EinV, sich im Zuge nach der Wiedervereinigung auch mit Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz zu befassen, nicht zum Erfolg geführt.

c) Der soziale Rechtsstaat 23 Die etwas missverständliche Formel von der wirtschaftspolitischen „Neutralität“ des GG darf freilich nicht als wirtschaftsverfassungsrechtliche Inhalts- oder Entscheidungslosigkeit des GG verstanden werden. Vielmehr hat das GG in Art 20 I die Idee des sozialen Rechtsstaates rezipiert. Es hat damit die Verantwortung des Staates für die Herstellung und Wahrung der sozialen Gerechtigkeit in Gesellschaft und Wirtschaft verankert und vor allem dem Gesetzgeber den Auftrag erteilt, die fortdauernde Verwirklichung dieses Staatsziels durch evolutionäre Sozialgestaltung zu gewährleisten. In der Bestimmung wirtschaftspolitischer Ziele und der zu ihrer Verfolgung geeigneten Maßnahmen lässt es dem Gesetzgeber jedoch einen erheblichen (politischen) Beurteilungs- und Handlungsspielraum, innerhalb dessen das freie Spiel der Kräfte auch durch wirtschaftspolitische Lenkungsmaßnahmen korrigiert werden darf.34 24 Anders als die Weimarer Reichsverfassung, die vor allem in dem sozialpolitischen Art 165 WRV eine „Wirtschaftsverfassung“ mit der Tendenz einer „Wirtschaftsdemokratie“ proklamiert und die Wirtschaftsfreiheit einer expliziten Sozialbindung unterworfen hatte (Art 151 WRV), hat sich das GG von der Aufnahme programmatischer „Lebensordnungen“ ferngehalten. Ein – nicht nur symbolischer – Ausgleich dafür ist das Sozialstaatsprinzip in Art 20 I GG.35 Es hebt die Verantwortung des Staates für die soziale Gerechtigkeit als eine vordringliche Staatsaufgabe hervor und gibt damit der Gesetzgebung eine ausdrückliche verfassungsrechtliche „Legitimation“.36 Vorsorge und Fürsorge, Schutz und Ausgleich zugunsten derjenigen, die durch Be-

_____ 32 Everling FS Mestmäcker, 1996, 365, 367. 33 Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (Staatsvertrag) v 18.5.1990 (BGBl II 537); Einigungsvertrag v 31.8.1990 (BGBl II 889). – Schmidt-Preuß DVBl 1993, 236. 34 BVerfGE 53, 135, 145. 35 Eichenhofer in: ders, 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung – was ist geblieben?, 1999, 207, 222 ff. 36 Forsthoff/Bachof VVDStRL 12 (1954), 8, 37; E. R. Huber Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965, 249; Weber Der Staat 4 (1965), 409; Badura DÖV 1968, 446; ders SGb 1980, 1; Böckenförde FS Arndt, 1969, 53; Barion DÖV 1970, 15; Stern StR I, 521; Zacher FS Ipsen, 1977, 207; ders in: Isensee/Kirchhof, HStR II, § 28; Scheuner Staatstheorie und

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nachteiligung, Abhängigkeit oder sonstige Behinderung die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein nicht selbst zu sichern vermögen oder sonst eines besonderen Schutzes für ihre persönliche und soziale Entfaltung bedürfen, sind danach staatliche Verpflichtung.37 Die Rechtsprechung des BVerfG hat die Reichweite des Sozialstaatssatzes mit Hilfe des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art 3 I GG) verstärkt 38 und – in den 1970er Jahren, im Zusammenhang mit der numerus clausus-Problematik – sogar eine teilhaberechtliche Ergänzung grundrechtlicher Garantien zur Sicherung der realen Freiheitsvoraussetzungen erwogen.39 Der Sozialstaatssatz betrifft jedoch nicht nur den Ausgleich von Schutz- und Hilfsbedürftigkeit und die Sicherung sozialer Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit, sondern auch die gesellschaftspolitische Gesetzgebung im Bereich der Wirtschafts- und Arbeitsverfassung. So gehört es „zu der dem Staat obliegenden, ihm durch das Gebot der Sozialstaatlichkeit vom Grundgesetz auch besonders aufgegebenen Daseinsvorsorge“, dass die „Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und der Mangel an Arbeitskräften auf der anderen Seite gemindert und behoben werden“.40 Das Sozialstaatsprinzip des Art 20 I GG ist allerdings auf eine Ausgestaltung und Konkretisierung durch den Gesetzgeber angewiesen. Als isolierte „Anspruchsgrundlage“ taugt es nicht. So wird der Anspruch auf Gewährung eines Existenzminimums aus Art 1 I und 2 II GG iVm 25 dem Sozialstaatsprinzip (heute § 17 I 1 SGB XII) abgeleitet41 und aus Art 3 I, Art 12 I GG iVm dem Sozialstaatsprinzip auch der Anspruch auf Zugang zu den vorhandenen Studienplätzen.42 Bei der Schädigung des Fötus einer Kinderkrankenschwester, die sich während der Schwangerschaft im Krankenhaus mit Röteln infiziert hatte, wurden dem Kind aus Art 3 I iVm Art 20 I GG Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zugesprochen,43 während ein ebenfalls durch die Berufskrankheit seiner Mutter geschädigter Fötus von der Unfallversicherung ausgeschlossen blieb, weil er erst nach Eintritt der Berufskrankheit gezeugt worden war:44 der allgemeine Gleichheitssatz ließ diese Differenzierung zu, und Art 20 I GG reichte als isolierte Anspruchsgrundlage nicht aus. Letzteres galt auch mit Blick auf die vom BVerfG kassierte Rechtsprechung des BAG, das Sozialplanansprüche im Konkurs (Insolvenz) praeter legem als gegenüber allen anderen Forderungen vorrangig eingestuft hatte.45 Auch mit dem Prinzip des sozialen Rechtsstaats wird somit kein bestimmtes Modell der 26 Wirtschaftsordnung und der Wirtschaftspolitik fixiert. Umfang und Ausmaß der Realisierung des Sozialstaatsprinzips und die Verwirklichung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sind nicht in erster Linie von staatlichen Interventionen abhängig, sondern von der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Einzelnen und der Unternehmen. Die – in ihrer Ausübung zu regulierenden – Verfassungsgarantien der Privatautonomie, der Vertragsfreiheit und des freien Wettbewerbs, des beruflichen und unternehmerischen Handelns und des Privat- und Unternehmenseigentums sind deshalb Bedingungen des Sozialstaates und der Wirtschaftsfreiheit.

_____ Staatsrecht, 1978, 737; Isensee FS Broermann, 1982, 365; Blüm/Zacher (Hrsg), 40 Jahre Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland, 1989; Böckenförde FS Arndt, 1969, 53; Barion DÖV 1970, 15. 37 BVerfGE 35, 202, 236; E 35, 348, 355; E 40, 121, 133; E 44, 353, 375; E 84, 90, 125. 38 BVerfGE 42, 176; E 45, 376, 387; E 75, 348, 359. 39 BVerfGE 33, 303, 331 – numerus clausus. – Badura Der Staat 14 (1975), 17, 32 ff. 40 BVerfGE 21, 245, 251. 41 BVerfGE 40, 121, 133; E 82, 60, 85; E 123, 267, 362 f – Lissabon; E 125, 175, 222 f – Hartz IV; NVwZ 2012, 1024 – AsylbLG; BVerwGE 1, 159, 161 – Sozialhilfe. 42 BVerfGE 33, 303, 331 – numerus clausus; krit VG Gelsenkirchen, Beschl v 26.4.2012 – 6 K 3695/11. 43 BVerfGE 45, 376, 387 – Unfallrente Fötus I. 44 BVerfGE 75, 348, 359 – Unfallrente Fötus II. 45 BVerfGE 65, 182, 193 – Sozialplanabfindung im Konkurs.

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2. Gesetzgebung und Regierung im Öffentlichen Wirtschaftsrecht a) Bundesstaatliche Kompetenzverteilung und Öffentliches Wirtschaftsrecht 27 Die Gesetzgebungszuständigkeiten im Bereich des Öffentlichen Wirtschaftsrechts liegen weitgehend in der Hand des Bundes. Ihm kommt die Aufgabe zu, die Wirtschaftseinheit innerhalb Deutschlands zu wahren (vgl Art 72 II GG). Er besitzt für einzelne Bereiche teils ausschließliche (Art 73 I Nr 4, 5, 6, 6a, 7, 9, 11, 14 GG), teils konkurrierende (Art 74 I Nr 1, 3, 11, 12, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 19a, 20, 21, 23 GG) Zuständigkeiten. Eine zentrale Rolle spielt insoweit das „Recht der Wirtschaft“ nach Art 74 I Nr. 11 GG, dessen Gegenstände durch die in dem Klammerzusatz angegebenen Gegenstände nur beispielhaft erläutert werden. Zum „Recht der Wirtschaft“ gehören Gesetze, die ordnend und lenkend in das Wirtschaftsleben eingreifen, alle das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Betätigung als solche regelnde Normen, die sich in irgendeiner Weise auf die berufliche Tätigkeit oder die Erzeugung, Herstellung und Verteilung von Gütern des wirtschaftlichen Bedarfs beziehen.46 Dazu zählen auch wirtschaftslenkende Ausgleichsabgaben, etwa im Rahmen einer Marktordnung, sowie wirtschaftslenkende Sonderabgaben.47 Die Föderalismusreform des Jahres 2006 hat eine gewisse Regionalisierung der wirt28 schaftsbezogenen Gesetzgebungsgegenstände mit sich gebracht und namentlich das Recht des Ladenschlusses, das Gaststättenrecht und die gewerberechtliche Regelung von Spielhallen, Schaustellungen von Personen, Messen, Ausstellungen und Märkten den Ländern zugewiesen.48 Bis diese von ihren neuen Gesetzgebungszuständigkeiten Gebrauch gemacht haben, gelten allerdings die bundesrechtlichen Regelungen fort (arg e Art 125a I GG). Damit haben die (gesteigerten) Anforderungen an eine bundeseinheitliche Regelung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung stark an Bedeutung verloren. Denn nach der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG sind Regelungen des Bundes in den in Art 72 II GG aufgeführten Materien nur noch zulässig, wenn sich die Lebensverhältnisse in Deutschland in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander zu entwickeln drohen bzw eine unzumutbare Rechtszersplitterung oder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft zu besorgen sind.49 Für das Gaststätten-, Ladenschluss-50 und Marktrecht kommt es darauf jedoch nicht mehr an, da sie ohnehin in der Hand der Länder liegen. Am Übergewicht bundesrechtlicher Regelungen im Öffentlichen Wirtschaftsrecht hat 29 sich dadurch aber nichts geändert. Denn nach Art 72 II GG sind die wichtigsten Materien – nicht allerdings das Recht der Wirtschaft – von den Anforderungen der Erforderlichkeitsklausel ausgenommen hat. Auch deshalb bleiben die zT sehr ausführlichen Bestimmungen einiger älterer Landesverfassungen über das Wirtschaftsleben (insbesondere Art 151 ff BayVerf; Art 27 ff HessVerf) bedeutungslos (arg e Art 31 GG).51

_____ 46 BVerfGE 4, 7, 13; E 5, 25, 28 f; E 8, 143, 148 f; E 26, 246; E 28, 119; E 41, 344; E 68, 319. – Rengeling/Szczekalla BK, Art 74 Nr 11 (2007). 47 BVerfGE 4, 7, 13 ff; E 18, 315, 328; E 37, 1, 16 f; E 55, 274 (m Anm Stettner DVBl 1981, 375; Osterloh JuS 1982, 421); E 57, 139; E 67, 256 (m Anm Kirchhof ZIP 1984, 1423; Hofmann DVBl 1986, 537); E 78, 249; E 82, 159 o JK GG 101 I 2/5; E 91, 186; E 122, 316, 333 (CMA mangels Finanzierungsverantwortung der Agrarwirtschaft wegen Verstoßes gegen die Schutz- und Begrenzungsfunktion der Finanzverfassung [Art 105 GG] unzul); BVerwG DVBl 1984, 1175. 48 Höfling/Rixen GewArch 2008, 1. 49 BVerfGE 106, 62 – Altenpflege. 50 Siehe aber BVerfGE 111, 10, 28 f – Ladenschluss o JK GG Art 12 I/74. 51 Böckenförde/Grawert DÖV 1971, 119; Papier in: Starck/Stern, Landesverfassungsgerichtsbarkeit, 1983, Bd III, 319.

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b) Rechtsstaatliche Anforderungen aa) Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sichert die Entscheidungsvollmacht des parlamentarischen Gesetzgebers gegenüber der zweiten und dritten Gewalt für alle Regelungen und Maßnahmen auf dem Gebiete des Öffentlichen Wirtschaftsrechts, durch die individuelle Rechte oder Pflichten begründet, verändert oder beschränkt werden. Er eröffnet dem Parlament die Möglichkeit, Regierung und Verwaltung seinen Vorstellungen gemäß zu steuern, auch wenn dieser Anspruch in der Wirklichkeit immer weniger eingelöst wird. Grund dafür ist nicht nur, dass die Regierung über gesetzesfeste Kompetenzbereiche verfügt und vorrangige Inhaberin der Staatsleitung ist. Sie wirkt auch auf formellem wie informellem Wege auf die Gesetzentwürfe ein und ist über den Rat der EU wie über den Bundesrat selbst (meist entscheidend) an der Rechtsetzung beteiligt. Zudem verfügt sie mit der ihr nachgeordneten Verwaltung über ein stets präsentes Reservoir an Sachverstand, das sie jederzeit zur Erreichung ihrer Ziele einsetzen kann. Nimmt man die parteienstaatliche Überformung des Institutionengefüges hinzu, so besteht wenig Zweifel, dass sie faktisch noch immer die Mitte des politischen Systems ist.52 Der Vorrang des Gesetzes garantiert die Gesetzesbindung der Exekutive (Art 20 III GG), auch wenn der Gesetzgeber wie beim Haushaltsplan, der Wirtschaftsplanung,53 dh der Wirtschaftslenkung durch verbindliche oder mittelbar wirksame Planungsakte, der Fach-54 oder Regionalplanung auf umfangreiche Vorarbeiten von Regierung und Verwaltung angewiesen ist. Der – rechtsstaatlich radizierte – Vorbehalt des Gesetzes garantiert hingegen die Freiheit des Einzelnen vor gesetzlosem wie gesetzwidrigem Zwang.55 Der in der Rechtsprechung des BVerfG entwickelte Grundsatz, dass alle für die Ausübung der grundrechtlichen Freiheiten des Einzelnen „wesentlichen“ Regelungen durch Gesetz zu treffen sind (Wesentlichkeitsdoktrin),56 bezieht sich auf alle Sachverhalte, in denen die Verwaltung zu Eingriffen in Freiheit und Eigentum ermächtigt werden soll oder in denen ihr Handeln grundrechtsbeeinträchtigende Wirkungen zur Folge haben kann. Entgegen der Rechtsprechung des BVerfG57 bedürfen daher grundsätzlich auch der Exekutive zurechenbare Auswirkungen sog informalen Verwaltungshandelns – behördliche Warnungen und Empfehlungen, die Veröffentlichung von Transparenzlisten und Warentests58 – einer gesetzlichen Ermächtigung. Soweit der Vorbehalt des Gesetzes eingreift, müssen sich die Befugnisse der Exekutive dem Gesetz hinreichend bestimmt entnehmen lassen (Bestimmtheitsgrundsatz). Das war etwa bei einer gesetzlichen Regelung von Mitfahrerzentralen, die eine straflose Beförderung nicht gewährleisten konnte, nicht der Fall.59

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bb) Einzelfragen der Gesetzgebung. Dass das parlamentarische Gesetz, anders als der Ideal- 34 typus, nicht stets eine abstrakte und dauerhafte Regelung kollidierender Interessen enthält und

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52 Huber in: Isensee/Kirchhof, HStR III, § 47 Rn 29 ff. 53 Kaiser (Hrsg), Planung I–VII, 1965 ff; Scheuner FS Weber, 1974, 369; Graf Vitzthum Parlament und Planung, 1978; Ritter Der Staat 19 (1980), 413. 54 BVerfGE 95, 1 – Südumfahrung Stendal. 55 Jesch Gesetz und Verwaltung, 1961; Rupp Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 1965; Vogel/Herzog VVDStRL 24 (1966), 125, 183; Ossenbühl Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968; ders in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 100; Scheuner DÖV 1969, 565; ders GS Marcic, 1974, 889; Papier Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973; Badura FS Steindorff, 1990, 835. 56 BVerfGE 33, 125; E 34, 304; E 40, 237, 248 ff; E 41, 251, 259 f; E 45, 400, 417 f; E 47, 46, 78 f; E 49, 89, 124 ff. 57 BVerfGE 105, 252 – Glykol; E 105, 279 – Osho. – Abl dazu o Schoch 2. Kap Rn 37, 38. 58 BVerwGE 71, 183 – Transparenzliste; E 75, 109 – Subventionsbetreuer; E 87, 37 – Diethylenglykol; DVBl 1996, 807 – Warentest. – Bauer VerwArch 78 (1987), 241; Robbers DÖV 1987, 272; Murswiek DVBl 1997, 1021; Kloepfer Staatliche Informationen als Lenkungsmittel, 1998; Bethge JA 2003, 327; Huber JZ 2003, 290; Murswiek NVwZ 2003, 1; Kahl AöR 131 (2006), 579. 59 BVerfGE 17, 306, 313 – Mitfahrerzentralen.

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der Verwaltung entsprechende Ermächtigungen zur Verfügung stellt, sondern auch instrumentalen Charakter haben kann, tritt im Öffentlichen Wirtschaftsrecht besonders deutlich zutage. So greift das aus Anlass eines konkreten Falles erlassene „Maßnahme-Gesetz“ 60 als situationsbezogene Handlung selbst intervenierend und gestaltend in Wirtschaft und Gesellschaft ein. Solange es sich nicht als Einzelpersonen- oder als gruppenbezogenes Einzelfallgesetz61 darstellt, ist dies verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.62 Das „Plan-Gesetz“ dagegen legt für eine bestimmte Sachaufgabe und für einen bestimmten Zeitraum das Ziel und die Mittel der Aufgabenerfüllung fest.63 Planung durch Gesetz ist, wenn dafür besondere Gründe bestehen, auch in der Form von Investitonsmaßnahmegesetzen möglich, mit denen abschließend über die Gestattung eines Vorhabens entschieden wird.64 Das „Richtlinien-Gesetz“ schließlich normiert ein bestimmtes politisches Programm durch Abwägungsgrundsätze, die für das einschlägige Handeln der Exekutive, uU auch der künftigen Gesetzgebung verbindlich sein sollen.65 35 Das Bedürfnis, technische, untergeordnete und situationsbezogene Regelungen durch Delegation der Exekutive zu überlassen, ist im Bereich der Wirtschaftspolitik besonders groß. Die Rechtsverordnung ist ein Regelungsinstrument der Exekutive, mit der diese aufgrund Gesetzes, aber mit eigenständigem Gestaltungsspielraum, zu raschem, flexiblem und von spezialisiertem Sachverstand geleitetem Handeln zur Rechtsetzung ermächtigt ist.66 Nach nicht ganz überzeugender Auffassung des BVerfG soll auch der Gesetzgeber selbst aus Gründen der Rechtssicherheit unter bestimmten Voraussetzungen jedenfalls zur Änderung einer bestehenden Rechtsverordnungen ermächtigt sein.67 Die Stellung der Rechtsverordnung unter dem Gesetz schließt gesetzesvertretende und -ändernde Rechtsverordnung – vorbehaltlich anderweitiger verfassungsrechtlicher Ermächtigung (Art 115k I, 119 GG) – aus. Das wird auch durch Art 129 III GG bestätigt und kann nicht unter Hinweis auf Praktikabilitätsbedürfnisse relativiert werden. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Gesetz selbst den Verordnungsgeber zu bestimmten Abweichungen ermächtigt,68 weil mit der Rechtsverordnung dann das Gesetzesprogramm verwirklicht wird. Im Öffentlichen Wirtschaftsrecht sind die gesetzlichen Ermächtigungen häufig lediglich 36 Generalklauseln, die die Exekutive mit einem weiten Gestaltungsspielraum ausstatten. Gleichwohl sind auch dermaßen weit gefasste Ermächtigungen mit dem Erfordernis hinreichender Bestimmtheit (Art 80 I 2 GG) vereinbar, wenn die Eigenart des geregelten Gegenstands eine genauere Substantiierung im Gesetz selbst ausschließt und die mit Hilfe von Zweck und Regelungszusammenhang auszulegende Generalklausel Tendenz, Programm und Reichweite der zugelassenen Rechtsetzung erkennen lässt.69 So ermächtigt etwa der (noch vorkonstitutionelle) § 2 I PreisG die für die Preisbildung zuständigen Stellen dazu, Anordnungen und Verfügungen zu

_____ 60 Beispiele: InvestitionshilfeG v 7.1.1952 (BGBl I 7); Mitbestimmungs-ÄnderungsG v 27.4.1967 (BGBl I 505); Art 3 FMStErgG zur Enteignung der HRE Holding AG, dazu Appl/Rossi Finanzmarktkrise und Enteignung, 2009. – Ipsen AöR 78 (1953), 284; Forsthoff GS Jellinek, 1955, 221; K. Huber Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz, 1963; E. R. Huber in: ders, Bewahrung und Wandlung, 1975, 215, 265 ff; Schneider Gesetzgebung, 3. Aufl 2002, 142 ff. 61 Huber in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art 19 I Rn 60. 62 BVerfGE 4, 7; E 25, 371; Huber in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art 19 I Rn 61. 63 Badura FS H. Huber, 1981, 15. – Beispiel FernstraßenausbauG idF v 15.11.1993 (BGBl I 1878). 64 BVerfGE 95, 1 – Südumfahrung Stendal o JK GG Art 20 II 2/2, m Anm Hufeld JZ 1997, 302; Schneller ZG 1998, 179. 65 Beispiele: § 1 StabG; das dem Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (Staatsvertrag) v 18.5.1990 (BGBl II 537) beigefügte Gemeinsame Protokoll über Leitsätze. 66 Wilke AöR 98 (1973), 196; Lepa AöR 105 (1980), 337; Ossenbühl FS H. Huber, 1981, 283; Badura GS Martens, 1987, 25. – BVerwGE 70, 318. 67 BVerfGE 114, 196, 234 – einheitlicher Verordnungsrang. 68 Beispiel: § 23 LadSchlG; Bauer in: Dreier, GG II, Art 80 Rn 19; Brenner in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art 80 I Rn 31; Huber AllgVwR, 45; Möstl in Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 20 Rn 2. 69 BVerfGE 8, 274, 311; E 20, 257; E 28, 66; E 33, 358; E 34, 52; E 42, 191; E 58, 283 o JK GG Art 12 I/7. – Hasskarl AöR 94 (1969), 85.

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erlassen, durch die Preise, Mieten, Pachten, Gebühren und sonstige Entgelte für Güter und Leistungen jeder Art, ausgenommen Löhne, festgesetzt oder genehmigt werden, oder durch die der Preisstand aufrechterhalten werden soll; § 11 II EnWG ermächtigt den Verordnungsgeber dagegen, den Elektrizitätskunden Haftungsansprüche gegen die Betreiber von Energieversorgungsnetzen zuzuerkennen, wenn ihnen etwa aus der Unterbrechung der Stromversorgung Schäden entstehen. Ob der Verordnungsgeber von dieser Ermächtigung Gebrauch macht und wie strikt er die Haftungstatbestände ausgestaltet, ist dagegen seiner Entscheidung überlassen. Die Ausführung der Gesetze und die sog gesetzesfreie Verwaltung sind vielfach durch 37 Verwaltungsvorschriften geregelt, die von der Bundesregierung (Art 84 II, 85 II GG), Ministerien oder sonstigen Behörden für die nachgeordneten Dienststellen erlassen werden. Sie sind – vom Sonderfall der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften 70 abgesehen – keine Rechtssätze, haben also keine unmittelbare Bedeutung für die Rechte und Pflichten der Teilnehmer am Rechts- und Wirtschaftsverkehr. „Ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften“ kann über den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 I GG), den Grundsatz des Vertrauensschutzes und das Institut der „Selbstbindung der Verwaltung“ jedoch eine mittelbare „Außenwirkung“ zukommen.71 Für das Öffentliche Wirtschaftsrecht ist dies insbesondere mit Blick auf Subventions- und Vergaberichtlinien (VOB/A, VOL/A, VOF; Rn 278) von Bedeutung.

3. Grundrechtsschutz wirtschaftlicher Tätigkeit a) Allgemeines Staatliches Handeln findet auch auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik und der Wirtschafts- 38 verwaltung in den Grundrechten eine normative Begrenzung. Der Grundrechtsschutz der privatautonomen Unternehmenstätigkeit und -organisation ist jedoch auf zahlreiche Grundrechtsverbürgungen mit unterschiedlichen Inhalten und Gesetzesvorbehalten verstreut. 72 Neben den grundlegenden Freiheiten des Berufs (Art 12 I GG), des Eigentums (Art 14 GG) und der (subsidiären) allgemeinen Handlungsfreiheit im wirtschaftlichen Bereich (Art 2 I GG) gehören hierzu die Vereinigungsfreiheit (Art 9 I GG), die für das Gesellschaftsrecht und das Recht der Wirtschaftsverbände maßgebend ist, die Freizügigkeit im Bundesgebiet (Art 11 GG) sowie die Meinungsfreiheit (Art 5 I 1 GG), die nach hM auch die kommerzielle Wirtschaftswerbung schützt.73 Unternehmerisches Handeln und Wirtschaftsverkehr vollziehen sich regelmäßig nach den 39 Vorschriften und mit den Mitteln des Privatrechts. Die in den Grundrechten niedergelegte objektive Wertordnung entfaltet sich dabei mittelbar „durch das Medium“ des Privatrechts, hauptsächlich als Leitlinie für die Ermittlung der allgemeinen Wertmaßstäbe, auf die die zivilrechtlichen Generalklauseln (§§ 138, 242, 315 BGB) verweisen.74 Bei ihrer Auslegung und Anwendung hat der Zivilrichter deshalb Bedeutung und Tragweite betroffener grundrechtlicher Schutzgüter zu berücksichtigen, konkretisiert er die den Staat treffende Schutzpflicht zugunsten derjenigen,

_____ 70 BVerfGE 61, 82; E 78, 214; E 116, 1, 18; E 129, 1, BVerwGE 72, 300; E 80, 257; BVerwG NVwZ 1988, 824; BayVGH NVwZ 1996, 284; OVG NW NVwZ 1988, 173; Huber Die TA Siedlungsabfall und ihre Bindungswirkung, 2000, 28; Möstl in Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 20 Rn 22; siehe aber auch EuGH Urt v 30.5.1991 – C-361/88 – (TA Luft), Slg 1991, I-2567; Urt v 30.5.1991 – C-59/89 – (TA Luft), Slg 1991, I-2607. 71 BVerwGE 34, 278; E 35, 159; BVerwG DÖV 1979, 793; DVBl 1982, 195; NJW 1982, 1168. – Ossenbühl FS BVerwG, 1978, 433; Möstl in Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 20 Rn 19 ff; Gerhardt NJW 1989, 2233; Hill NVwZ 1989, 401. 72 Saladin/Papier VVDStRL 35 (1977), 7, 55; Badura DÖV 1990, 353; Ossenbühl AöR 115 (1990), 1; Papier in: Benda/Maihofer/Vogel, HVerfR, § 18 Rn 27 ff; Kluth in: Schmidt-Aßmann/Dolde, Beiträge zum öffentlichen Wirtschaftsrecht, ZHR-Beiheft, 2005, 11, 19 ff. 73 BVerfGE 95, 173, 182 (Warnhinweise auf Tabakerzeugnissen nur wenn als eigene Meinung verstehbar); E 102, 347 – Benneton-Werbung I; E 107, 275 – Benneton-Werbung II. 74 BVerfGE 7, 198; E 42, 143; E 81, 242 o JK GG 1 III/5; E 89, 214.

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die nicht selbst für deren Integrität Sorge tragen können. Eine Konstitutionalisierung des Privatrechts ist vor diesem Hintergrund bis zu einem gewissen Grade unvermeidbar.75 40 aa) Grundrechtsberechtigung. Für die Öffentliche Hand gelten die Grundrechte dagegen nicht. Sie ist in all ihren Erscheinungsformen grundrechtsverpflichtet (Art 1 III GG) und kann daher nicht zugleich grundrechtsberechtigt sein (Konfusionsthese).76 Das gilt angesichts der Formenwahlfreiheit der Verwaltung auch dort, wo sie Unternehmen in Privatrechtsform – AG, GmbH etc. – beherrscht77 und zur Verfolgung von Gemeinwohlzielen zu steuern vermag. Zu Recht hat das BVerfG deshalb den Hamburger Elektrizitätswerken, die sich seinerzeit zu 72% im Eigentum der Freien und Hansestadt Hamburg befanden, die Berufung auf den Grundrechtsschutz versagt: „Stellt … die Versorgung mit Strom eine öffentliche Aufgabe dar, dann erfüllt die Stadt H diese Aufgabe mit Hilfe der Bf auch dann, wenn sich letztere nicht vollständig, sondern nur etwa zu 72 % in öffentlicher Hand befindet. Denn auch bei diesem Beteiligungsverhältnis ist davon auszugehen, dass die Stadt H die Möglichkeit hat, auf die Geschäftsführung entscheidenden Einfluss zu nehmen“.78 Obwohl sich der HEW-Beschluss nicht dezidiert auf die Mehrheitsbeteiligung der Öffentlichen Hand stützt, spricht einiges dafür, dass das Gericht im Umfang der öffentlichen Beteiligung das entscheidende Kriterium für die Vorenthaltung des Grundrechtsschutzes sah. Das gewinnt zusätzliche Plausibilität, wenn man das Ergebnis mit dem Einfluss der Öffentlichen Hand auf das Unternehmen begründet und mit der damit einhergehenden Möglichkeit, dieses für die Erfüllung staatlicher Aufgaben in den Dienst zu nehmen. Dass die staatliche „Beherrschung“ eines Unternehmens das entscheidende Kriterium für die Zuerkennung oder Versagung des Grundrechtsschutzes ist,79 hat jüngst auch das Fraport-Urteil bestätigt, in dem es um die Bindung der Fraport AG an die Versammlungsfreiheit (Art 8 I GG) ging. Danach unterliegt ein gemischtwirtschaftliches Unternehmen der Grundrechtsbindung, „wenn es von den öffentlichen Anteilseignern beherrscht wird. Dies ist in der Regel der Fall, wenn mehr als die Hälfte der Anteile im Eigentum der Öffentlichen Hand stehen.“80 Maßgeblich seien insoweit nicht die konkreten Einwirkungsbefugnisse auf die Geschäftsführung sondern die in den eigentumsrechtlichen Mehrheitsverhältnissen zum Ausdruck kommende unternehmerische Gesamtverantwortung der Öffentlichen Hand, weshalb es sich unabhängig von Zweck und Inhalt der Betätigung „grundsätzlich nicht um private Aktivitäten unter Beteiligung des Staates, sondern um staatliche Aktivitäten unter Beteiligung von Privaten“ handele.81 41 bb) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist das wichtigste verfassungsrechtliche Kriterium für die Beurteilung von Art und Ausmaß zulässiger Grundrechtsbeschränkungen. Seine spezifische Bedeutung gewinnt er aus dem Zusammenhang mit dem beeinträchtigten Schutzgut indem er gewährleistet, dass der Einzelne vor unnötigen Eingriffen der Öffentlichen Hand in seine Freiheitssphäre und seinen Anspruch auf Gleichbehandlung bewahrt bleibt. Für das Öffentliche Wirtschaftsrecht bedeutet dies namentlich, dass das verfolgte wirtschaftspolitische Ziel stets ein hinreichendes Gewicht haben und die erfolgte

_____ 75 Dazu Oeter AöR 119 (1994), 529; Isensee JZ 1996, 1085; Ruffert Verfassung und Privatrecht, 2001; Hermes VVDStRL 61 (2002), 119. 76 BVerfGE 61, 82; BVerfG NVwZ 2002, 1366 o JK GG Art 134 III/1 (keine Berufung der Gemeinden auf Art 14 GG); Huber in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art 19 III Rn 245 mwN. 77 BVerfGE 128, 226, 245 – Fraport o JK GG Art 1 III/8 (ferner Anm Enders JZ 2011, 577; Bespr Gurlit NZG 2012, 249; H. Wendt NVwZ 2012, 606). 78 BVerfG NJW 1990, 1783 = JZ 1990, 335 (m Anm Kühne) o JK Art 19 III/7. – HEW; vgl ferner Schoch JURA 2001, 201, 204 f; Tonikidis JURA 2012, 517, 522 ff. 79 Huber in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art 19 III Rn 284 mwN. 80 BVerfGE 128, 226, 246 f – Fraport. 81 BVerfGE 128, 226, 247 – Fraport; um einen „Ausreißer“ dürfte es sich insoweit bei BVerfGE 115, 205, 227 f handeln, der eine Grundrechtsfähigkeit der Deutschen Telekom zu Unrecht bejaht hat; vgl ferner BVerfG NJW 2009, 3644.

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Freiheitsbeeinträchtigung geeignet und erforderlich sein muss, um das Ziel zu verwirklichen.82 Es verstößt deshalb gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn für eine Kontrollerlaubnis Kenntnisse und Fähigkeiten verlangt werden, die in keinem Bezug zu der geplanten Tätigkeit stehen.83 Ist ein gesetzlicher Eingriff unerlässlich, dürfen die Mittel den Einzelnen nicht unzumutbar belasten.84 Allein politischer, nicht verfassungsrechtlicher Natur ist dagegen die Frage, ob auch andere Maßnahmen zur Erreichung des vom Gesetzgeber verfolgten Zieles möglich und besser geeignet gewesen wären.85 Für die Beurteilung der Zwecktauglichkeit eines Gesetzes sowie der sonstigen Anforderun- 42 gen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit kommt dem Gesetzgeber ein differenzierter, an der Eingriffsintensität orientierter Einschätzungs- und Prognosespielraum zu, den das BVerfG zu respektieren hat.86 Seine Kontrolldichte reicht daher von der bloßen Evidenzkontrolle bei geringfügigen Eingriffen87 über eine Vertretbarkeitskontrolle bei mittelschweren Eingriffen88 bis zur strengen inhaltlichen Kontrolle.89 Dagegen ist ein Gesetz nicht allein deshalb unverhältnismäßig, weil sich nachträglich herausstellt, dass es auf einer Fehlprognose beruht. Bei „komplexen“ Sachverhalten ist dem Gesetzgeber vielmehr eine angemessene Zeit zum Sammeln von Erfahrungen zu konzedieren, was bei einer Veränderung des Kenntnisstandes verfassungsrechtliche Nachbesserungspflichten nach sich ziehen kann. cc) Grundsatz des Vertrauensschutzes. Soweit dies nicht schon aus den betroffenen Grund- 43 rechten folgt, ergibt sich jedenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art 20 III GG) auch der Grundsatz der Rechtssicherheit, der für den Einzelnen vor allem Vertrauensschutz bedeutet. Während eine „Rückbewirkung von Rechtsfolgen“ (echte oder retroaktive Rückwirkung) idR unzulässig ist, folgt die tatbestandliche Rückanknüpfung (unechte oder retrospektive Rückwirkung) den allgemeinen Anforderungen an Eingriffe in grundrechtlich geschützte Interessen. Die Eigentumsgarantie bietet den vermögenswerten Rechtspositionen insoweit Bestandsschutz, während die anderen Wirtschaftsfreiheiten – Berufsfreiheit und allgemeine Handlungsfreiheit – den Schutz des Vertrauens auf den Fortbestand der dem wirtschaftlichen Handeln zugrunde gelegten Rechtslage nur begrenzt vermitteln können. Namentlich schützen sie nicht das Vertrauen auf unveränderten Fortbestand der dem Einzelnen günstigen Gesetze, sondern allein das Vertrauen darauf, dass ein begünstigendes Gesetz nicht ohne besondere und überwiegende Gründe des öffentlichen Interesses nachteilig geändert wird.90

b) Allgemeiner Gleichheitssatz Eine gesetzliche Regelung verletzt den allgemeinen Gleichheitssatz nach der überkommenen 44 Rechtsprechung des BVerfG, wenn sie eine sachlich nicht gerechtfertigte „willkürliche“ Diffe-

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82 BVerfGE 21, 150; E 27, 344, 352 f; E 30, 292, 315 f; E 33, 171, 186 ff; E 37, 1; E 40, 198, 222 ff; Lerche Übermaß und Verfassungsrecht, 1961; ders in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 122 Rn 16 ff. 83 BVerfGE 34, 71, 78; E 55, 159, 165 – Falknerjagdschein (waffentechnische und –rechtliche Kenntnisse sowie Schießprüfung für Falknerei unverhältnismäßig). 84 BVerfGE 55, 159, 165 – Falknerjagdschein. 85 BVerfGE 29, 402; E 30, 250; E 33, 171, 181 f; E 36, 66; E 40, 198, 222 f; E 50, 290, 331 ff; E 71, 206, 215 f. – Ossenbühl FG BVerfG, 1976, I, 458; Badura FS Fröhler, 1980, 321. 86 Grundlegend BVerfGE 50, 290, 332 f – MitbestG. 87 BVerfGE 53, 153, 146 – Schokoladenosterhasen (Verbot des Vertriebs von Puffreisriegeln mit Kakaoglasur durch § 14 KakaoV aF evident unverhältnismäßig, weil Kennzeichnung ausgereicht hätte). 88 BVerfGE 19, 330, 340 – EinzelHG (Sachkundenachweis für den Einzelhandel unverhältnismäßig); E 25, 1, 12 f – Mühlengesetz (Errichtungs- und Erweiterungsverbot zum Abbau überschüssiger Vermahlungskapazität vertretbar). 89 BVerfGE 7, 377, 415 – Apotheken (objektive Zulassungsbeschränkung unzulässig). 90 BVerfGK 11, 445 ff – § 50 EnergieStG (Rücknahme der Steuerverschonung für Biokraftstoffe und Einführung einer Biokraftstoffquote zulässig).

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renzierung oder Nichtdifferenzierung von Sachverhalten oder Personengruppen bewirkt, dh wenn sie ohne vernünftige, sich aus der Natur der Sache ergebende oder sonst sachlich einleuchtende Gründe gleiche Tatbestände ungleich oder ungleiche Tatbestände gleich behandelt und die Unsachlichkeit der getroffenen Regelung evident ist.91 Das Verständnis des allgemeinen Gleichheitssatzes als Willkürverbot (Gebot willkürfreier Sachgerechtigkeit) geht auf die Weimarer Zeit zurück. Es gibt dem wirtschaftslenkenden Gesetzgeber, dessen Intention gerade die aus wirtschafts-, sozial- oder gesellschaftspolitischen Gründen gebotene Gestaltung, dh differenzierende Veränderung der Wirtschaftsstruktur oder der Wettbewerbsverhältnisse ist, erheblichen Spielraum.92 Die Beurteilung einer Regelung als „willkürlich“ bezieht sich dabei nicht auf die Motive oder sonstige subjektive Beweggründe der an der gesetzgeberischen Entscheidung beteiligten Personen, sondern auf die tatsächliche und eindeutige „objektive“ Unangemessenheit einer Norm im Verhältnis zu der Sachlage, für die eine Regelung getroffen wird.93 Eine Regelung ist dann nicht willkürlich, wenn die durch sie bewirkte Unterscheidung oder Gleichsetzung durch einen sachlichen Grund des öffentlichen Interesses von hinreichendem Gewicht gerechtfertigt ist, wobei es primär Sache des Gesetzgebers ist, das öffentliche Interesse für den betroffenen Sachbereich zu definieren und die sachlich in Betracht kommenden Regelungsbedürfnisse zu bestimmen. So ist etwa die sozialpolitisch motivierte Umverteilung zwischen schwächeren und leistungsfähigeren Mitgliedern einer Gruppe ein legitimes Mittel staatlicher Wirtschaftspolitik.94 Berührt eine Ungleichbehandlung, was regelmäßig der Fall ist, zugleich andere Verfas45 sungsgüter, zB den Sozialstaatssatz oder grundrechtlich geschützte Interessen, 95 so sind dem Gestaltungsraum des Gesetzgebers und der Verwaltung engere Grenzen gezogen. 96 Mit der „Neuen Formel“ hat das BVerfG Art 3 I GG spezifischer als Gleichbehandlungsgebot gefasst, das – wie auch der allgemeine Gleichheitssatz des Unionsrechts97 – eine Ungleichbehandlung von Personengruppen und Sachverhalten nur zulässt, wenn zwischen ihnen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung zu rechtfertigen vermögen.98 Empirisch erhebbare Sachgegebenheiten sind insoweit Voraussetzung und Grundlage der wertenden, dh differenzierenden Entscheidung, die vor allem dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen muss.99 Vor diesem Hintergrund ergeben sich auch aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgehalt und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit reichen.100 Dies geht einher mit einer differenzierten verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte, je nachdem, ob es sich um verhaltensbezogene,

_____ 91 BVerfGE 1, 14, 52; E 19, 101, 115; E 28, 227; E 30, 59; E 38, 187; E 38, 213; E 39, 316; E 55, 72, 90. – Rupp FG BVerfG, 1976, II, 364; Hesse AöR 109 (1984), 174; P. Kirchhof in: Isensee/ders, HStR VIII, § 181. 92 Triepel Goldbilanzenverordnung und Vorzugsaktien, 1924, 26 ff; BVerfGE 110, 274, 293 – Ökosteuer (Ausschluss von Kühlhäusern und Spediteuren von der Privilegierung zul). 93 BVerfGE 2, 266, 281; E 4, 144, 155; E 42, 64, 73; E 51, 1, 26 f. 94 BVerfGE 4, 7, 18 f, 24; E 12, 354, 367; E 21, 160; E 25, 1, 12, 17; E 30, 250, 270 f; E 30, 292, 317, 319; E 33, 171, 189 f; E 36, 321, 330 ff; E 40, 109. 95 BVerfGE 88, 87, 96; E 99, 367, 388; Huber Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 524. 96 BVerfGE 19, 101, 114; E 21, 292, 299; E 23, 50, 59 f; E 37, 1, 28 ff. 97 Art 9 S 1 EUV, Art 8, 18, 40 II, 157 AEUV, Art 20, 21 GRCh; EuGH Urt v 19.10.1977 – verb Rs 117/76 u 16/77 – (Ruckdeschel), Slg 1977, 1753; Urt v 19.10.1977 – verb Rs 124/76 u 20/77 – (Maisgritz), Slg 1977, 1795; Urt v 25.11.1986 – verb Rs 201 u 202/85 – (Marthe Klensch), Slg 1986, 3477; Urt v 11.11.1997 – C-409/95 – (Marschall), Slg 1997, I-6363; Huber Recht der Europäischen Integration, § 8 Rn 48 f, 70. 98 BVerfGE 37, 342, 353 f; E 44, 263, 389 f; E 55, 72, 88; E 60, 123, 134; E 62, 256, 274; E 79, 106, 121 f; E 82, 126, 146; E 95, 143, 155. – Zacher AöR 93 (1968), 341; Sachs JuS 1997, 124; Krugmann JuS 1998, 7. 99 BVerfGE 70, 230, 240; E 71, 146, 156; abwM Katzenstein BVerfGE 74, 9, 28; Hesse VerfR Rn 439. 100 BVerfGE 92, 26, 51 – FlaggRG (Ungleichbehandlung von ausl Arbeitnehmer auf im Zweitregister eingetragenen deutschen Handelsschiffen zulässig wg Anknüpfung an Wohnsitz).

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gruppen- oder personenbezogene Differenzierungskriterien handelt. Die Bindung des Gesetzgebers ist dabei umso enger, je mehr sich die personenbezogenen Merkmale den in Art 3 III GG genannten Merkmalen annähern und je größer deshalb die Gefahr ist, dass eine an sie anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung von Minderheiten führt.101 Der allgemeine Gleichheitssatz bindet Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtspre- 46 chung. Eine fehlerhafte Rechtsanwendung, die unter Berücksichtigung der dem GG zugrunde liegenden Wertentscheidungen nicht mehr verständlich ist, so dass sich der Schluss aufdrängt, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen, verletzt das Willkürverbot.102 Für die gesetzesfreie (Wirtschafts-)Verwaltung kann der allgemeine Gleichheitssatz durch das Gebot der Gleichbehandlung über die sog Selbstbindung der Verwaltung eine quasinormative Bindung bewirken, was in den Rechtsverhältnissen zwischen Verwaltungsträger und Bürger die Begründung von subjektiven öffentlichen Rechten und Pflichten nach sich ziehen kann.

c) Allgemeine Wirtschafts- und Unternehmensfreiheit Die selbstständige Erwerbstätigkeit des Unternehmers ist dadurch gekennzeichnet, dass er haf- 47 tendes Kapital investiert, um Waren und Dienstleistungen gewerbsmäßig und im Wettbewerb anzubieten. Seine spezifische Leistung besteht in Initiative, Organisation und Wagnis, seine rechtlichen Mittel sind die Handlungsmöglichkeiten des Privatrechts. Vorbehaltlich speziellerer Garantien, insbesondere des Art 12 I GG,103 umfasst das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art 2 I GG auch die Freiheit im wirtschaftlichen Verkehr. Es steht dem Einzelnen und, nach Maßgabe von Art 19 III GG, auch den juristischen Personen des Privatrechts zu, soweit diese nicht von der Öffentlichen Hand beherrscht werden (Rn 40). Bestandteil der allgemeinen Handlungsfreiheit ist das Interesse jeder natürlichen oder juristischen Person, ihre Rechtsverhältnisse nach eigenem Willen zu gestalten, der insoweit auch die grundrechtlichen Gewährleistungen der Privatautonomie und der (nicht berufsbezogenen) Vertragsfreiheit 104 zu entnehmen sind. Art 2 I GG schützt vor übermäßigen Eingriffen in diese Schutzgüter und gebietet als objektive Wertentscheidung darüber hinaus die Sicherung ihrer normativen Bedingungen im Privatrechtsverkehr.105 Aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie ergibt sich deshalb insbesondere eine Pflicht der Zivilgerichte zur Inhaltskontrolle von Verträgen und zu ihrer Korrektur, wenn sie eine Vertragspartei ungewöhnlich stark belasten und das Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind.106 Aus Art 2 I GG ist in den Jahren nach 1949 zunächst auch die Freiheit selbstverantwortlicher 48 unternehmerischer Disposition abgeleitet worden. 107 Dadurch sollten auch unternehmerische Entscheidungen über die Art und Weise, in der auf den Unternehmenserfolg hingearbeitet werden soll, über den Einsatz der Betriebs- und Investitionsmittel und über das Verhalten eines Un-

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101 BVerfGE 88, 87, 96; E 99, 367, 388 – MontanMitbestGErgG (Ungleichbehandlung hinsichtlich der Montanmitbestimmung zulässig bei ausreichendem Montanbezug; für das Kriterium Umsatz bejaht, für die Anzahl der Arbeitnehmer verneint). 102 BVerfGE 62, 189; E 67, 90; E 70, 93. 103 Manssen in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art 12 I Rn 69 ff, 274. – Der Umfang der Verdrängung ist umstritten. 104 BVerfGE 8, 274, 328 f; Raiser JZ 1958, 1; E. R. Huber Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Vertragsfreiheit, 1966; Roscher Vertragsfreiheit als Verfassungsproblem, 1974; Rittner AcP 188 (1988), 101; Höfling Vertragsfreiheit, 1991; Canaris FS Lerche, 1993, 873. 105 Ruffert Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 61. 106 BVerfGE 89, 214 – Bankbürgschaft m Anm Wiedemann JZ 1994, 411; BGH JZ 2000, 674 m Anm Tiedtke. 107 BVerfGE 4, 7, 15 f; E 12, 341, 347 f; E 29, 260, 266 f; E 65, 196, 210; BVerfG DVBl 1991, 309; BVerwGE 30, 191; Nipperdey Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, 3. Aufl 1965, 29 ff; Ipsen in: Kaiser, Planung II, 1966, 63, 93 ff; Ipsen AöR 90 (1965), 393, 430 ff; Scholz Entflechtung und Verfassung, 1981; Papier in: Maunz/Dürig, GG, Art 14 Rn 2 ff (2010); Di Fabio ebd, Art 2 I Rn 76–126 (2001); Tsiliotis Der verfassungsrechtliche Schutz der Wettbewerbsfreiheit und seine Einwirkung auf die privatrechtlichen Beziehungen, 2000.

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ternehmens im marktwirtschaftlichen Wettbewerb („Wettbewerbsfreiheit“), über die Preisgestaltung und die Werbung, gegenüber wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Geboten, Verboten und Pflichtbindungen einen eigenständigen grundrechtlichen Schutz erfahren. Das ist weitgehend überholt, kommt der Schutz von Art 2 I GG doch nur zum Zuge, soweit nicht die spezielleren Grundrechte der Berufsfreiheit oder der Eigentumsgarantie einschlägig sind. So sind das Verhalten eines Unternehmens im Wettbewerb und die Handlungsfreiheit im Bereich des Berufsrechts Schutzgut von Art 12 I GG, soweit sie berufsspezifisch, dh in Bezug auf die Verfolgung des Unternehmenszwecks oder die Berufsausübung, geregelt oder beschränkt werden.108 Die unternehmerische Nutzung von Eigentum genießt dagegen den Schutz des Art 14 GG, soweit der zu betrachtende Eingriff eine Schmälerung oder Beeinträchtigung der dem Unternehmenszweck gewidmeten vermögenswerten Rechte oder des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb zur Folge hat, was auch für die unternehmerischen Direktions- und Leitungsbefugnisse des Eigentümers gelten dürfte.109 Demgemäß schmal ist der Anwendungsbereich der allgemeinen Wirtschafts- und Unternehmensfreiheit.

d) Koalitionsfreiheit 49 Die Koalitionsfreiheit (Art 9 III GG) ist ein tragender Grundsatz der Wirtschafts- und Arbeitsverfassung.110 Sie gewährleistet – im status negativus – jedermann das Recht, Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu gründen, ihnen beizutreten oder fernzubleiben, sich in ihnen zu betätigen und aus ihnen auszutreten. Das Grundrecht ist auch ein Bestands- und Betätigungsrecht der Koalitionen selbst. Zu dem geschützten Tätigkeitsbereich der Koalitionen gehören alle Vorkehrungen und Verhaltensweisen, die der Erhaltung und Organisation der Koalition und der Verfolgung ihrer koalitionsmäßigen Ziele dienen, so beispielsweise die Tätigkeit im Rahmen der Betriebsverfassung, die Werbung neuer Mitglieder, der Abschluss von Tarifverträgen (Tarifautonomie)111 und der Arbeitskampf (Streik, Aussperrung).112 Die Koalitionsfreiheit enthält die Gewährleistung eines funktionsfähigen Tarifvertragssystems im Sinne des kol-

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108 BVerfGE 32, 311, 317; E 50, 290, 361 ff; E 95, 173, 188 o JK GG Art 12 I/45; Manssen in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art 12 I Rn 274; allerdings verfährt das BVerfG restriktiv mit der Anerkennung der „objektiv berufsregelnden Tendenz“, BVerfGK 11, 445 ff – § 50 EnergieStG (objektiv berufsregelnde Tendenz bei Streichung von Steuersubvention verneint). 109 Scheuner Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft, 1971, 50 f. 110 Dietz GRe III/1, 417; Weber Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie als Verfassungsproblem, 1955; Scholz Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971; ders Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit, 1972; Badura RdA 1974, 129; ders RdA 1976, 275; Farthmann/Coen in: Benda/Maihofer/Vogel, HVerfR, § 19; Seiter AöR 109 (1984), 88; Löwisch/ Rieble in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd II, 3. Aufl 2009, §§ 154–158. – BVerfGE 4, 96; E 17, 319; E 18, 18; E 19, 303; E 20, 312; E 28, 295; E 34, 307; E 38, 281; E 38, 386; E 42, 133; E 44, 322; E 50, 290, 366 ff; E 51, 77, 87 f; E 55, 7; E 57, 220, 244 ff; E 58, 233; E 60, 162, 169 f; E 84, 212; E 93, 352; E 94, 268. 111 TarifvertragsG idF v 25.8.1969 (BGBl I 1323) zul geänd durch Art 88 Bundesrechts-BereinigungsG v 8.12.2010 (BGBl I 1864). Materialien zur Entstehung des TVG v 9.4.1949, ZfA 4 (1973), 129; Herschel ebd, 183. – BVerfGE 4, 96; E 34, 307; E 44, 322; E 50, 290, 369; E 55, 7, 20 ff; E 58, 233, 246 ff; E 84, 212, 224 f; E 92, 365 o JK GG Art 9 III/12; E 94, 268, 282 ff; E 100, 271, 282 ff; E 103, 293, 304 ff. – Wiedemann TVG, 7. Aufl 2007; Sachs RdA 1989, 25; Jarass NZA 1990, 505; Lerche FS Steindorff, 1990, 897; Saecker/Oetker Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, 1992; Farthmann/Coen in: Benda/Maihofer/Vogel, HVerfR, § 19 Rn 46 ff; Söllner NZA 1996, 897; Gamillscheg Kollektives Arbeitsrecht, Bd I, 1997; Zöllner/Loritz/Hergenröder Arbeitsrecht, 6. Aufl 2008, 345 ff; Picker Die Tarifautonomie in der deutschen Arbeitsverfassung, 2000; Brox/Rüthers/Henssler Arbeitsrecht, 18. Aufl 2011, Rn 655 ff. 112 BVerfGE 38, 386; E 84, 212 (m Anm Richardi JZ 1992, 27); E 88, 103 (m Anm Isensee DZWir 1994, 309; Jachmann ZBR 1994, 1); E 92, 365; BAGE 1, 291; AP Nr 41 (zu Art 9 GG Arbeitskampf); E 23, 292; 33, 140; EzA § 615, 7 – BGB Betriebsrisiko; SAE 1983, 217; JZ 1986, 596; JZ 1989, 750 m Anm Konzen; JZ 1989, 85 m Anm Löwisch. – Lerche Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes, 1968; Scheuner RdA 1971, 327; Seiter Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1975; ders RdA 1986, 165; Konzen AcP 177 (1977), 473; Scholz/Konzen Die Aussperrung im System von Arbeitsverfassung und kollektivem Arbeitsrecht, 1980; Brox/Rüthers Arbeitskampfrecht, 2. Aufl 1982; Picker Der Warnstreik, 1983; Badura DB 1985, Beilage Nr 14/85; Buchner RdA 1986, 7; Richardi RdA 1986, 146; Scholz ZFA 1990, 377.

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lektiven Arbeitsrechts mit frei gebildeten Koalitionen als Tarifparteien (Institutsgarantie).113 Sie statuiert im Bereich der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen den grundsätzlichen Vorrang der Tarifautonomie vor einer zwingenden gesetzlichen Regelung und garantiert so einen „Kernbereich“ verbandsmäßiger Aushandlung und Entscheidung. Art 9 III GG verleiht den Tarifvertragsparteien in dem für tarifvertragliche Regelungen offen stehenden Bereich ein Normsetzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol. Der Gesetzgeber bleibt befugt, das Arbeitsrecht zu regeln (Art 74 I Nr 12 GG). Auch Einschränkungen der Tarifautonomie sind verfassungsgemäß, wenn der Gesetzgeber mit ihnen den Schutz der Grundrechte Dritter oder den Schutz von mit Verfassungsrang ausgestatteten Gemeinwohlbelangen bezweckt und wenn sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.114 Beispielsweise können gesetzliche Regelungen, die zu Eingriffen in die Tarifautonomie der Arbeitnehmerkoalitionen führen, zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit gerechtfertigt sein.115 Die Koalitionsfreiheit der Koalitionen und die Koalitionsfreiheit der Einzelnen können in 50 Konflikt geraten, entweder im Hinblick auf die Organisation und Willensbildung der Koalitionen 116 („innerverbandliche Demokratie“, Organisationszwang) oder im Verhältnis der Koalitionen zu den Nichtorganisierten und deren „negativer“ Koalitionsfreiheit 117 (Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit in tariflichen Regelungen). Neue Herausforderungen ergeben sich aus dem Einfluss von Art 11 EMRK,118 der Erosion der Tarifeinheit119 und neuen Formen des Arbeitskampfes (z. B. Flash Mobs).120

e) Berufsfreiheit aa) Schutzbereich. Art 12 I GG schützt das einheitliche Grundrecht der Berufsfreiheit, das 51 Recht, eine frei gewählte und frei ausgeübte Tätigkeit zur Grundlage der Lebensführung und Daseinsgestaltung zu machen.121 Das Grundrecht wendet sich gegen unverhältnismäßige und sachlich nicht begründete Einschränkungen der beruflichen Betätigung durch die öffentliche Gewalt. Es garantiert „die Freiheit des Bürgers, jede Tätigkeit, für die er sich geeignet glaubt, als Beruf zu ergreifen, das heißt zur Grundlage seiner Lebensführung zu machen und damit seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung selbst zu bestimmen“, und es sichert „die Freiheit der individuellen Erwerbs- und Leistungstätigkeit“.122 Zu dem Gewährleistungsgehalt des Grundrechts gehört auch eine auf die Privatrechtsbeziehungen des Wirtschafts- und Arbeitslebens gerichtete, in der objektiv-rechtlichen Dimension von Art 12 I GG wurzelnde Schutzpflicht des Staates, die sich primär an den Gesetzgeber wendet,123 aber auch bei der Auslegung des Privatrechts

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113 BVerfGE 4, 96; E 50, 290, 366 ff. 114 BVerfGE 103, 293, 306 (Anrechnung von Zeiten einer Kur auf den tariflichen Erholungsurlaub). – Rupp JZ 1998, 919. 115 BVerfGE 100, 271 – § 275 II SGB III (Lohnabstandsklauseln bei bestimmten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen). 116 Richardi AöR 93 (1968), 243. – Zur Zulässigkeit des Ausschlusses eines Gewerkschaftsmitglieds: BGH NJW 1973, 35; BGHZ 102, 265; NJW 1991, 485. 117 BVerfGE 50, 290, 367; BVerfG JZ 1981, 23; NJW 2000, 3704 – Arbeitnehmer-Entsendegesetz (m Anm R. Scholz SAE 2000, 266); BAG JZ 1969, 105. – Biedenkopf JZ 1961, 346; Gamillscheg Die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, 1966; Leventis Tarifliche Differenzierungsklauseln nach dem Grundgesetz und dem Tarifvertragsgesetz, 1974; Seiter JZ 1979, 657; ders JZ 1980, 749; Hanau/Kroll JZ 1980, 181. 118 EGMR Urt v 21.4.2009 – 68959/01 – (Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei), NZA 2010, 1423; Urt v 12.11.2008 – 34503/97 – (Demir u Baykara/Türkei), NZA 2010, 1425. 119 BAG NZA 2010, 1068; Papier/Krönke ZfA 42 (2011), 807. 120 Näher dazu Kersten, Neues Arbeitskampfrecht, 2012. 121 Badura FS Herschel, 1982, 21; Pitschas Berufsfreiheit und Berufslenkung, 1983; Tettinger AöR 108 (1983), 92; Papier DVBl 1984, 801; Schneider/Lecheler VVDStRL 43 (1985), 7, 48; Breuer in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, §§ 147, 148. 122 BVerfGE 30, 292, 334 f. 123 BVerfGE 81, 242 (Karenzentschädigung zum Ausgleich eines Wettbewerbsverbots zu Lasten des ausgeschiedenen Handelsvertreters) o JK GG Art 1 III/5, m Anm Hermes NJW 1990, 1764; Wiedemann JZ 1990, 695.

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durch den Zivilrichter Bedeutung erlangen kann. Neben der Berufsfreiheit gewährleistet Art 12 I GG auch die freie Wahl des Arbeitsplatzes124 und der Ausbildungsstätte.125 Der sachliche Schutzbereich der Berufsfreiheit wird durch den Begriff des Berufes be52 stimmt. Beruf ist jede erlaubte,126 für eine bestimmte Dauer und nicht nur vorübergehend ausgeübte Betätigung, die der Schaffung und Erhaltung der Lebensgrundlage dient, sei es als selbstständiger Unternehmer oder sonst Berufstätiger („freier Beruf“), sei es in abhängiger Arbeit. Da das Grundrecht die freie Disposition darüber gewährleistet, durch welche berufliche Betätigung die materielle Daseinssicherung angestrebt wird und sich die Anforderungen des Marktes insoweit auch immer rascher wandeln, ist „Beruf“ immer weniger die einem sozial geprägten oder überkommenen „Berufsbild“ entsprechende Erwerbstätigkeit.127 Allerdings darf der Gesetzgeber unter Wahrung der freiheitsrechtlichen Anforderungen des Grundrechts Berufsbilder typisierend festlegen. Durch das Grundrecht geschützte Berufe sind auch die dem Staat oder einem sonstigen Verwaltungsträger vorbehaltenen Wirtschafts- oder Berufstätigkeiten. Deshalb unterliegt sowohl die Monopolisierung einer Tätigkeit zugunsten des Staates, dh die Errichtung oder Beibehaltung eines Verwaltungsmonopols, als auch die Ausgestaltung der monopolisierten Tätigkeiten durch das Gesetz – neben unionsrechtlichen Schranken 128 – auch den Anforderungen des Art 12 I GG.129 Das gilt für die (monopolisierbare) Arbeitsvermittlung aus dem oder in das Ausland (§ 292 SGB III) ebenso wie für das mittlerweile durchlöcherte staatliche Glücksspielmonopol (GlüStV; GlüÄndStV).130 Durch Art 12 I iVm Art 33 II GG geschützt sind nach Maßgabe der staatlichen Organisations53 hoheit auch die Beschäftigung im öffentlichen Dienst und der Zugang zu und die Ausübung von „staatlich gebundenen“ Berufen.131 Hier stellt sich wie auch bei den freien Berufen typischerweise die Frage, ob und in welchem Maße die Aufnahme oder die Ausübung von Berufen, die typischerweise Belange der Allgemeinheit oder Rechte Dritter – der Mandanten des Rechtsanwalts, der Patienten des Arztes – berühren, besonderen Anforderungen oder Bindungen unterworfen werden dürfen. Die hier überlieferten Beschränkungen hat die Rechtsprechung in den letzten Jahren deutlich reduziert.132 54 Ungeachtet des „personalen Grundzugs“ der Berufsfreiheit werden auch das unternehmerische Handeln und die Wirtschaftstätigkeit juristischer Personen zur Verfolgung des Unternehmenszwecks vom Schutzbereich des Art 12 I GG umfasst. Das gilt für die freie Gründung und Führung von Unternehmen („Unternehmensfreiheit“) ebenso wie für das Interesse, eine Erwerbszwecken dienende Tätigkeit, insbesondere ein Gewerbe zu betreiben 133 und sich im

_____ 124 BAG NJW 1962, 1981; NJW 1964, 568; BVerwGE 30, 65; E 42, 296. 125 BVerfGE 33, 303 – NC; E 37, 104. 126 BVerwGE 22, 286 (zum Erfordernis einer restriktiven Interpretation des Kriteriums „erlaubt“, weil sonst das Risiko einer Grundrechtsgeltung nach Maßgabe des Gesetzes bestünde). 127 Fröhler/Mörtel GewArch 1979, 105, 145; Scholz DB 1980, Beilage 5. 128 EuGH Urt v 23.4.1991 – C-41/90 – (Höfner und Elser), Slg 1991, I-1979; Urt v 11.12.1997 – C-55/96 – (Job Centre), Slg 1997, I-7119 (Dienstleistungsmonopol in der Arbeitsvermittlung); Urt v 15.7.1964 – Rs 6/64 – (Costa/E.N.E.L), Slg 1964, 1251; Urt v 23.10.1997 – C-159/94 – (EdF), Slg 1997, I-5815 (Handelsmonopol Strom). 129 BVerfGE 16, 6; E 17, 371; E 21, 261; E 73, 301; BVerwG DÖV 1972, 647 – Fährregal. – Badura Das Verwaltungsmonopol, 1963, Tz 83; Breuer in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, § 148 Rn 62; Leisner AöR 93 (1968), 161. 130 BVerfGE 102, 197, 213 – Spielbanken BW; GewArch 2007, 242 – Bay Spielbankenmonopol; E 115, 276 – Sportwetten; BVerwGE 96, 392 – Spielbank Lindau; E 96, 293 – Sportwetten; Huber FS Rengeling, 2008, 57; Pagenkopf NJW 2012, 2918. 131 BVerfGE 73, 280;BverfG NJW 2002, 3090; 2003, 419 – Notare; Badura StaatsR C 80; Huber FS Kriele, 1997, 389. 132 BVerfGE 117, 163 (gesetzliches Verbot anwaltlicher Erfolgshonorare mit Art 12 I GG unvereinbar); BVerfG NJW 2008, 1298 (Versteigerung von rechtsanwaltlichen Beratungsleistungen über ein Internetauktionshaus zul); NJW 2004, 2656 (Verbot der Bezeichnung „Spezialist für Verkehrsrecht“ im Briefkopf unzul); NJW 2003, 2816 (Verurteilung wegen unzulässiger Werbung verletzt Art 12 I GG). 133 BVerfGE 21, 261, 266; E 50, 290, 362 f; E 65, 196, 209 f; BVerwG JZ 1995, 93.

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wirtschaftlichen Wettbewerb zu behaupten.134 Die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers wird allerdings davon beeinflusst, welchen sozialen Bezug die einzelnen Erscheinungsformen der Berufs- und Unternehmenstätigkeit aufweisen.135 Da die Unternehmenstätigkeit einer Handelsgesellschaft auch durch die gesellschaftsrechtlichen Bindungen bestimmt wird, ergeben sich die grundrechtlichen Maßstäbe der Gesetzgebung insoweit aus Art 12 I iVm Art 9 I GG. Ein rechtsformunabhängiges, von der gesellschaftsrechtlichen Grundlage abgelöstes Unternehmensrecht stößt hier auf verfassungsrechtliche Grenzen.136 bb) Schranken. Entgegen dem Wortlaut erstreckt sich der Regelungsvorbehalt des Art 12 I 2 GG 55 nicht nur auf die Ausübung, sondern auch auf die Wahl eines Berufes.137 Dass der Wortlaut von Art 12 I GG zwischen Wahl und Ausübung des Berufes unterscheidet, hat lediglich für die unterschiedliche Reichweite der zulässigen gesetzlichen Schranken Bedeutung, deren „Stufen“ sich nach dem Maß der durch sie bewirkten Freiheitsbeeinträchtigung und nach den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit unterscheiden. Sie reichen von der bloßen Ordnung der Berufsausübung bis zur Beschränkung der Berufswahl durch subjektive oder gar objektive Zulassungsvoraussetzungen.138 Dabei handelt es sich freilich lediglich um Anhaltspunkte für die Interpretation, nicht um schematisch anzuwendende Verfassungsvorgaben. So gibt es durchaus Regelungen der Berufsausübung, die eine derart einschneidende Wirkung haben, dass sie einer Beschränkung der Berufswahl nahe kommen, etwa wenn Berufsbilder typisiert, gegeneinander abgegrenzt und geschlossen werden.139 Entwickelt sich aus einer Tätigkeit mit festgelegtem Berufsbild für einen einfach zu beherrschenden Teilbereich ein eigener Beruf, so erlaubt Art 12 I GG Beschränkungen der Wahl dieses Berufs nur zur Abwehr schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut. 140 Ebenso können subjektive Zulassungsvoraussetzungen ihrer Wirkung nach objektiven Zulassungsvoraussetzungen gleichkommen.141 Eine Regelung der Berufsausübung kommt in ihren Wirkungen einer Zulassungsbeschränkung allerdings nur dann nahe, wenn die betroffenen Berufsangehörigen idR und nicht nur in Ausnahmefällen wirtschaftlich nicht mehr in der Lage sind, den gewählten Beruf ganz oder teilweise zur Grundlage ihrer Lebensführung oder – bei juristischen Personen – ihrer unternehmerischen Erwerbstätigkeit zu machen.142 Bei der begrenzten Indienstnahme Privater143 ist das grds ebenso wenig der Fall wie bei der Zahlung einer Sonderabgabe.144 Die Freiheit der Berufswahl darf nur eingeschränkt werden, wenn und soweit der Schutz 56 besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter es zwingend gebietet. Das staatliche Glücksspielmonopol hat deshalb vor der Berufsfreiheit – wie grundsätzlich auch vor dem Unionsrecht145 – nur

_____ 134 BVerwGE 71, 183, 189 f – Transparenzliste. 135 BVerfGE 50, 290, 362 ff – MitbestG. 136 Biedenkopf FS Ludwig Raiser, 1974, 339; Rittner ZHR 144 (1980), 330; Badura FS Rittner, 1991, 1; Semler FS Raisch, 1995, 291. 137 BVerfGE 7, 377 – Apotheken; E 33, 303 – NC; 92, 140; Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art 12 Rn 22 (2006); Mann in: Sachs, GG, Art 12 Rn 14; aA Hufen NJW 1994, 2913; Lücke Die Berufsfreiheit, 1994. 138 BVerfGE 7, 277 – Apotheken. – Rupp AöR 92 (1967), 212; Hesse AöR 95 (1970), 449. 139 BVerfGE 11, 30 – Kassenarztrecht; E 32, 1 – Apothekerassistenten; E 81, 70, 85 (Begrenzung der Rückkehrpflicht von Mietwagen); E 82, 209, 229 (Aufnahme in Krankenhausplan). 140 BVerfGE 97, 12 (Überwachung der Fälligkeit von Patentgebühren trotz RBerG zul). 141 BVerwGE 40, 17 (Ausschluss von Männern zum Hebammenberuf zul). 142 BVerfGE 13, 181, 187; E 16, 147, 165 – Werkfernverkehr; E 30, 292, 314 – Mineralölbevorratung. 143 BVerfGE 30, 292, 314 (Mineralölbevorratungspflicht von Importeuren und Herstellern zul); Geißler Der Unternehmer im Dienste des Steuerstaats, 2001. 144 BVerfGE 37, 1 (Sonderabgabe der Weinwirtschaft an Stabilisierungsfonds zul). 145 EuGH Urt v 6.11.2003 – C-243/01 – (Gambelli), Slg 2003, I-13031 (Rn 45 ff); Urt v 6.3.2007 – C-338/04, C-359/04 und C-360/04 – (Placania), Slg 2007, I-1891; differenzierend wegen fehlender Kohärenz Urt v 8.9.2010 – C- 409/06 – (Winner Wetten), Slg 2010 I-8015.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

solange Bestand, wie es tatsächlich einer effektiven Suchtbekämpfung dient.146 In seiner Entscheidung zum Spielbankenmonopol BW hat das BVerfG zwar erwogen, dass der Maßstab der Grundrechtsprüfung durch die Eigenart der „verstaatlichten“ Erwerbstätigkeit, mit der die Spielleidenschaft ausgenutzt wird, geprägt und also reduziert werde, und die Anforderungen an eine objektive Berufszulassungsbeschränkung für Berufe abgeschwächt, die – wie der Beruf des Spielbankenunternehmers – „durch atypische Besonderheiten gekennzeichnet sind“,147 in späteren Entscheidungen zum staatlichen Glücksspielrecht hat es diesen Ansatz jedoch zu Recht nicht fortgeführt.148 Objektive, dh außerhalb der Person des Berufsbewerbers liegende Umstände – wie zB ein 57 konkretes Bedürfnis149 – sind nur zulässig, wenn subjektive Bedingungen 150 zur Zielerreichung nicht genügen. Eine an Art 12 I GG zu messende Regelung der Berufsausübung liegt bei allen gesetzlichen 58 und administrativen Maßnahmen vor, die bestimmt oder geeignet sind, in die eigenverantwortliche Gestaltung der Berufstätigkeit einzugreifen. Auch tatsächliche (faktische) Auswirkungen einer berufsspezifischen Regelung, staatliche Planungen oder Beihilfen können geeignet sein, die Berufsfreiheit zu beeinträchtigen.151 Steuergesetze mit wirtschaftslenkender Nebenwirkung sind, sofern sie die Aufnahme eines Berufes nicht prohibitiv beschneiden, nach denselben Kriterien als Regelungen der Berufsausübung zu beurteilen.152 Eine Norm, die zwar nicht auf die Berufstätigkeit selbst zielt, ihre Rahmenbedingungen jedoch verändert, muss sich jedenfalls dann an Art 12 I GG messen lassen, wenn sie eine objektiv berufsregelnde Tendenz (obT) aufweist. Die Rechtsprechung verfährt insoweit allerdings sehr restriktiv.153 Die gesetzliche Verpflichtung, auf Packungen von Tabakerzeugnissen Warnungen öffentlicher Stellen vor den Gesundheitsgefahren des Rauchens zu verbreiten, regelt die Ausübung gewerblicher Tätigkeiten und berührt nicht die Freiheit der Meinungsäußerung.154 Regelungen, die die zukünftigen Chancen und Erwerbsmöglichkeiten beruflicher und gewerblicher Betätigung mindern, fallen nicht unter die auf Bestandsschutz beschränkte Eigentumsgarantie, sondern genießen nur den Schutz der Berufsfreiheit.155 Die Berufsausübung kann gesetzlich geregelt werden, soweit vernünftige Erwägungen des 59 Gemeinwohls dies zweckmäßig erscheinen lassen. Damit erschöpft sich der grundrechtliche Schutz praktisch in der Abwehr unverhältnismäßiger Beschränkungen. Eine solche hat das

_____ 146 BVerfGE 102, 197, 213 – Spielbanken BW; BVerfG GewArch 2007, 242 – Bay Spielbankenmonopol (zul); E 115, 276 – Sportwetten (grds zul); BVerwGE 96, 392 – Spielbank Lindau; E 96, 293 – Sportwetten; Huber FS Rengeling, 2008, 57. 147 BVerfGE 102, 197, 212 – Spielbanken BW o JK GG Art 12 I/54. – Zu Lotterien Jarass DÖV 2000, 753. 148 BVerfGE 115, 276 – Sportwetten; BVerfG GewArch 2007, 242 – Bay Spielbankenmonopol. 149 BVerfGE 9, 39; E 14, 19; E 21, 173; E 21, 245; E 21, 161; E 25, 1; E 40, 196; E 86, 28 o JK GewO § 36/1; E 87, 287, 316 ff o JK GG Art 12 I/30 (Inkompatibilitätsvorschriften bei Rechtsanwälten). 150 BVerfGE 9, 383; E 13, 97; E 19, 330; E 25, 236; E 34, 71; E 54, 301; E 69, 209. 151 BVerfGE 46, 120, 137 (§ 3 IV DirRufV); E 82, 209, 223 (Nichtaufnahme in Krankenhausplan); E 105, 262; BVerwGE 82, 37 (Warnung vor glykolhaltigem Wein); E 71, 183 (Veröffentlichung einer Transparenzliste für Arzneimittel); E 75, 109 (Verpflichtung zur Einschaltung von Subventionsbetreuern). 152 BVerfGE 13, 181; E 16, 147; E 38, 61; E 47, 1, 21, 37 ff. – Selmer Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, 244 ff. 153 BVerfGE 95, 267, 302 (keine obT bei Altschuldenregelung früherer LPGs aus DDR-Zeiten); E 106, 275, 300 (keine obT bei Festbetragsregelung für Arzneimittel zu Lasten von Herstellern und Apotheken); BVerfG NVwZ 2002, 197 (keine obT zu Lasten privater Konkurrenten bei Ausscheiden gewerblicher Brennereien aus dem Branntweinmonopol); krit Huber Die Wahltarife im SGB V, 2008, 31. 154 BVerfGE 95, 173, 181 – Warnhinweis auf Tabakerzeugnissen o JK GG Art 12 I/45, m Anm Di Fabio NJW 1997, 2863 und Selmer JuS 1998, 73. – Das Tabakwerbeverbot der RL 98/43/EG entbehrte zunächst einer hinreichenden unionsrechtlichen Ermächtigung, EuGH Urt v 5.10.2000 – C-376/98 – (TabakwerbeRL), Slg 2000, I-8419 o JK EGV Art 95/1; die Neufassung der RL 2003/33/EG hatte dagegen Bestand, EuGH Urt v 12.12.2006 – C-380/03 – (TabakwerbeRL), Slg 2006, I-11573, m Anm Gundel EuR 42 (2007), 251; Lindner BayVBl 2007, 304. 155 BGH DVBl 1996, 797.

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BVerfG im gesetzlichen Verbot erkannt, mehrere Facharztbezeichnungen zu führen,156 ebenso in dem Verbot, Impfstoffe an Ärzte zu versenden und dafür zu werben.157 Die Verfassung eröffnet dem Gesetzgeber bei der Festlegung der zu verfolgenden berufs-, arbeits- und sozialpolitischen Ziele eine weite Gestaltungsfreiheit. 158 Regelungen der Berufsausübung müssen ferner die Ungleichheiten berücksichtigen, die innerhalb der zu regelnden Berufsausübung typischerweise bestehen. Werden durch eine Berufsausübungsregelung daher nicht nur einzelne, aus dem Rahmen fallende Sonderfälle, sondern bestimmte, wenn auch zahlenmäßig begrenzte, Gruppen typischer Fälle ohne zureichenden sachlichen Grund wesentlich stärker belastet als andere, dann kann Art 12 I iVm Art 3 I GG verletzt sein.159 cc) Eingriffsermächtigungen. Einschränkungen der Berufsfreiheit bedürfen der Grundlage in 60 einem hinreichend bestimmten Gesetz.160 An der Intensität des Eingriffs entscheidet sich auch, inwieweit das Gesetz die wesentlichen Merkmale einer der Exekutive erteilten Ermächtigung selbst festlegen muss. Stellt es zB eine Eignungsprüfung für den Berufszugang auf, muss dies rechtssatzförmig geregelt werden und dem Gesetz zumindest zu entnehmen sein, welche Gesichtspunkte für die Beurteilung der geforderten Eignung ausschlaggebend sein sollen.161 Die allgemein (organisationsrechtlich) den Gemeinden verliehene Satzungsautonomie schließt dagegen nicht die Befugnis ein, in die Berufsfreiheit einzugreifen.162 Das gleiche gilt für berufsständische Kammern. Sie sind aber idR aufgrund besonderer gesetzlicher Ermächtigung dazu berechtigt, in Berufsordnungen berufliche Pflichten ihrer Angehörigen zu normieren, zB Werbebeschränkungen.163 Bei einer (eingriffsrelevanten) Beihilfenvergabe muss das Gesetz daher Auswahlgesichtspunkte und Auswahlverfahren in einer Weise regeln, die der Eingriffsintensität zulasten der Konkurrenten Rechnung trägt.164 Auch Satzungen und deren Auslegung durch die Gerichte dürfen die Berufsausübung nicht unverhältnismäßig einschränken.165 Soweit das Öffentliche Wirtschaftsrecht keine besonderen Ermächtigungen enthält, kann 61 zum Zwecke der Gefahrenabwehr auf die Generalklauseln des Polizei- und Sicherheitsrechts zurückgegriffen werden.166

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156 BVerfG NJW 2003, 879. 157 BVerfGE 107, 186 (§ 43 AMG aF). 158 BVerfGE 7, 377, 405 f; E 37, 1; E 37, 271; E 46, 120, 145; E 68, 155, 171; E 71, 183, 197; E 72, 26, 31; E 77, 308, 332, 334; E 81, 70, 84 ff o JK GG Art 12 I/23; E 81, 156, 188 f; E 87, 363 – Nachtbackverbot. 159 BVerfGE 30, 292, 327, 330 ff (Sonderbelastung der unabhängigen Importeure durch die Mineralölbevorratungspflicht); E 33, 171, 188 (sozialversicherungsrechtliche Honorarverteilungsmaßstäbe bei Kassenärzten); E 59, 336, 356 (Ladenschlusszeiten für Friseure) o JK GG Art 12 I/6; E 68, 155 (pauschalierte Erstattung von Fahrgeldausfällen wegen unentgeltlicher Beförderung von Schwerbehinderten). 160 BVerfGE 54, 224 u 237 m Anm Papier JZ 1980, 608; BVerwG DVBl 1982, 301. 161 BVerfGE 33, 125, 163 statusbildende Normen beim Facharzt; E 80, 257 (Höchstalter für die Bestellung zum Anwaltsnotar). 162 BVerwG NJW 1993, 411 (Verbot von Einwegerzeugnissen und Verpflichtung zur Rücknahme von Abfällen für den Einzelhandel). 163 BVerfGE 85, 248 (unverhältnismäßig weite Auslegung des ärztlichen Werbeverbots) o JK GG Art 12 I/29; E 94, 372 o JK GG Art 12 I/42; DVBl 2001, 1751 o JK GG Art 12 I/60 (umfassende Rechtsberatung); BVerfG NJW 2003, 3470 (zu restriktive Auslegung der werberechtlichen Vorschriften der zahnärztlichen Berufsordnung – hier: Werbung im Internet und in den „Gelben Seiten“); NJW 2003, 3472 (Verurteilung wegen unzulässiger Werbung einer ZahnarztGmbH unzul); NJW 2003, 2818 (unzulässige Auslegung und Anwendung der standesrechtlichen Bestimmungen über Werbemaßnahmen); NJW 2008, 1298 (verfassungswidrige Beanstandung einer Versteigerung von Rechtsanwaltsdienstleistungen im Netz); BVerwGE 72, 73; E 89, 30 (Verbot der Außenwerbung bei Apotheken nicht nur für Heilmittel zul). 164 BVerwGE 90, 112 – Osho (Beihilfe für Verein, der sich mit kritische Jugendsekten auseinandersetzt erfordert gesetzl Ermächtigung – zu Art 4 GG); OVG Berlin NJW 1975, 1938 (Beihilfe für Presse erfordert gesetzl Ermächtigung). 165 BVerfG NJW 2003, 2520 (verfassungswidrige Pflicht zur Mandatsniederlegung bei Sozietätswechsel des Anwalts). 166 BVerwGE 10, 164; BVerwG DVBl 1970, 504; VGH BW DVBl 1972, 503. – Näher dazu o Schoch 2. Kap Rn 94 ff.

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62 dd) Schutzpflicht. Art 12 I GG legt dem Gesetzgeber eine Schutzpflicht zugunsten der in abhängiger Arbeit ausgeübten Berufe auf, die vor allem in dem arbeitsrechtlichen Schutzprinzip zur Geltung kommt und auch die gerichtliche Auslegung und Anwendung der Gesetze leitet. Als freiheitsrechtliche Grundsatznorm begrenzt Art 12 I GG insoweit die Privatautonomie und Vertragsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien und muss vor allem durch den Arbeitsrichter zu einem verhältnismäßigen Ausgleich – praktischer Konkordanz – mit kollidierenden Verfassungsbelangen gebracht werden. Staatliche Regelungen und Interventionen im Bereich des Arbeitsrechts und des Arbeitsmarktes haben dabei die unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers und die Koalitionsfreiheit der Verbände und Gewerkschaften in Rechnung zu stellen.167

f) Eigentumsgarantie168 63 Für den Einzelnen ist das Eigentum eine materielle Sicherung seiner Lebensführung, letztlich seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit und Freiheit. Es wird insoweit als Grundlage individueller Freiheitsentfaltung im vermögensrechtlichen Bereich geschützt. „Je höher … der einem Anspruch zugrunde liegende Anteil eigener Leistung ist, desto stärker tritt der verfassungsrechtlich wesentlich personale Bezug und mit ihm ein tragender Grund des Eigentumsschutzes hervor“.169 Seiner verfassungspolitischen Funktion nach enthält die Eigentumsgarantie jedoch mehr 64 als die Zuerkennung einer individuellen Rechtsstellung. Für die Gesellschaft stellen die Existenz privaten und privatwirtschaftlich nutzbaren Eigentums vielmehr eine Grundlage für die Ordnung privater Interessen unter den Bedingungen der (sozialen) Marktwirtschaft dar. Das Eigentum hat insoweit die Aufgabe, die privatautonome Entscheidung über den Gebrauch und den Verkehr der Güter (Produktionsmittel, Waren) zu ermöglichen und ist eine wesentliche Voraussetzung für die Dezentralisation des wirtschaftlichen Prozesses und die individuelle Verteilung von Erfolg und Risiko.170 Art und Ausmaß des Eigentumsschutzes bilden daher eine entscheidende Grundlage der Wirtschaftsverfassung. Wenn diese das Eigentum – und nicht nur das „persönliche Eigentum“ – schützt, geschieht das nicht nur aus Rücksicht auf die Eigentümer, sondern auch weil darin ein nützliches Element der Gesellschaftsordnung gesehen wird. Dementsprechend muss der Gesetzgeber die Verschiedenheit der Eigentumsarten – Unternehmenseigentum, Grundeigentum, Eigentum an beweglichen Sachen, Geld etc – je nach ihrer sozialen und politischen Bedeutung berücksichtigen. 65 aa) Struktur. Nach Art 14 I 2 GG werden „Inhalt“ und „Schranken“ des Eigentums durch die Gesetze bestimmt. Damit bringt das GG zum Ausdruck, dass es – anders als es die liberale Formel von „Freiheit und Eigentum“ vermuten lässt – das Eigentum nicht als vorstaatliche Größe versteht, die der staatlichen Ordnung, Begrenzung und Gestaltung gewissermaßen vorgegeben wäre, sondern als Geschöpf des Gesetzes.171 Es ist das Gesetz, das den Inhalt des Eigentums idR

_____ 167 Badura FS Herschel, 1982, 21; H.-P. Schneider/Lecheler VVDStRL 43 (1985), 7, 48; Kluth DVBl 1999, 1145; Papier RdA 2000, 1. 168 Weber GRe II, 331; Reinhardt/Scheuner Verfassungsschutz des Eigentums, 1954; Papier VVDStRL 35 (1977), 55, 81 ff; ders in: Maunz/Dürig, GG, Art 14 (2010); Binswanger Eigentum und Eigentumspolitik, 1978, bes 115 ff; v Brünneck Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, 1984; Nüßgens/Boujong Eigentum, Sozialbindung, Enteignung, 1987; Leisner in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, § 149; Schoch JURA 1989, 113; Engel AöR 118 (1993), 169; Badura in: Benda/ Maihofer/Vogel, HVerfR, § 10; v Danwitz/Depenheuer/Engel Bericht zur Lage des Eigentums, 2002. 169 BVerfGE 53, 257, 288 f o JK GG Art 14 I/4. 170 Scheuner in: ders/Küng, Der Schutz des Eigentums, 1966, 43; Bericht „Mitbestimmung im Unternehmen“, BT-Drs VI/334, 78; Rittner in: Marburger Gespräch über Eigentum – Gesellschaftsrecht – Mitbestimmung, 1967, 50; Badura Freiheit und Eigentum in der Demokratie, 1998. 171 BVerfGE 14, 263; E 24, 367; E 50, 290, 339. – M. Wolff FS Kahl, 1923, IV.

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für die Zukunft festlegt und damit für in der Vergangenheit erworbene und in der Gegenwart bestehende vermögenswerte Rechte zugleich als Schranke fungiert. Als grundrechtliche Gewährleistung („Rechtsstellungsgarantie“) schützt die Eigentumsga- 66 rantie den einzelnen Grundrechtsträger zunächst vor einer Beeinträchtigung oder Entziehung seiner vermögenswerten Rechte durch die öffentliche Gewalt – bei der dem Gesetzgeber aufgetragenen Bestimmung der Schranken des Eigentums (Art 14 I 2 GG) oder ihrer Aktualisierung durch Behörden und Gerichte. Insoweit entfaltet Art 14 I 1 GG hinsichtlich der durch die Rechtsordnung anerkannten Vermögensrechte einen individuellen, die konkreten Rechte des Einzelnen betreffenden Schutz. Gleichzeitig garantiert die in Art 14 I GG enthaltene – objektiv-rechtliche – Instituts- oder 67 Einrichtungsgarantie die prinzipielle Privatnützigkeit des Eigentums und seiner Verwendung sowie die Lastengleichheit der einzelnen Eigentümer. Die Verfassung gewährleistet damit nicht nur den Schutz vermögenswerter Interessen, sondern verpflichtet den Gesetzgeber auch zur Vorhaltung unterschiedlicher (einfachgesetzlicher) Ausgestaltungsformen von Privateigentum.172 Sie garantiert daher nicht nur vorhandene privatrechtliche Rechtssätze über Erwerb, Innehaben, Nutzung und Verwendung vermögenswerter Rechte als Grundlage privater Daseinsgestaltung und privatautonomer Wirtschaftsführung, sondern enthält auch den Auftrag an den Gesetzgeber, (weitere) rechtliche Möglichkeiten für den Einzelnen zu schaffen, vermögenswerte Rechte gesetzlich definierter Art zu erwerben und innezuhaben.173 Dabei, dh bei der Regelung der Güterverteilung und der Bereitstellung der rechtlichen Ordnung für die vermögenswerten Rechte, ihre Ausgestaltung, Nutzung und die Verfügung über sie unterliegt der Gesetzgeber dem sog Untermaßverbot. bb) Schutzbereich. „Eigentum“ iSd Art 14 I GG ist jedes erworbene und bestehende vermö- 68 genswerte Recht, also nicht nur das Sacheigentum des BGB, sondern auch schuldrechtliche, sachenrechtliche und gesellschaftsrechtliche Berechtigungen, durch eigene Leistung erworbene öffentlich-rechtliche Ansprüche sowie alle sonstigen konkretisierten Rechtspositionen, auf denen Lebensführung und wirtschaftliche Betätigung beruhen (können). Er gewährleistet das Recht, Sach- und Geldeigentum zu besitzen, zu nutzen, es zu verwalten und über es zu verfügen und sichert so die „privat verfügbare ökonomische Grundlage individueller Freiheit“. Dementsprechend schützt die Eigentumsgarantie nicht nur körperlich greifbare Sachen, sondern auch geldwerte Forderungen, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger privatnützig zugeordnet sind, auf Eigenleistungen beruhen und als materielle Grundlage persönlicher Freiheit dienen.174 Zu den eigentumsfähigen Rechtspositionen des Privatrechts gehören gesellschaftsrecht- 69 liche Mitgliedschaftsrechte („Anteilseigentum“) in ihrer jeweiligen gesetzlichen Ausgestaltung, sowohl hinsichtlich der in ihnen verkörperten vermögensrechtlichen Ansprüche als auch hinsichtlich der durch die Mitgliedschaft vermittelten Leitungsbefugnisse,175 nicht dagegen die Börsennotierung eines Unternehmens.176 „Eigentum“ iSd Art 14 I GG sind solche Rechtspositionen des Öffentlichen Rechts, die nicht nur auf staatlicher Gewährleistung oder Zuteilung beruhen, wenn und soweit das Schutzziel der Eigentumsgarantie nach dem rechtsstaatlichen Grundgedanken der Sicherung von individueller Freiheit und materiellen Vertrauenstatbeständen eine

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172 Die Formulierung in BVerfGE 61, 82, 108 f – Sasbach, Art 14 I GG garantiere das Eigentum Privater, nicht das Privateigentum, war auf die mangelnde Grundrechtsträgerschaft einer Gemeinde gemünzt und letztlich etwas zu pointiert. 173 BVerfGE 58, 300, 334 f – Nassauskiesung o JK GG Art 14 I 2/13. 174 BVerfGE 83, 201, 211 ff (bergrechtliches Vorkaufsrecht) o JK GG Art 14 III/8. 175 BVerfGE 14, 263, 276 ff (Feldmühle); E 50, 290, 339 ff (MitbG); E 100, 289, 301 (Ausgleich für außenstehende oder ausgeschiedene Aktionäre). 176 BVerfG WM 2012, 1378 – Delisting.

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Gleichbehandlung mit den privatrechtlichen Vermögensrechten verlangt. Das gilt vor allem für die Anwartschaften und Ansprüche auf Renten aus der Sozialversicherung, auf Leistungen aus der Kranken- oder Arbeitslosenversicherung sowie auf Ansprüche aus dem Versorgungsausgleich.177 Staatliche Beihilfen, die ausschließlich auf einer durch das öffentliche Interesse bestimmten Gewährung beruhen, ohne dass eine eigene Leistung des Begünstigten hinzutritt, stellen dagegen keine eigentumsrechtlichen Rechtspositionen dar; ggf kann ein entstandener Vertrauenstatbestand bei Rechtsänderungen berücksichtigt werden müssen (Art 12 I bzw Art 2 I GG).178 Auch die Brennrechte im Rahmen des Branntweinmonopols stellen heute nurmehr Beihilfen für die dem Branntweinmonopol unterfallenden Brennereien dar und sind daher kein Eigentum iSd Art 14 GG.179 Erst recht vermittelt dieser keinen Anspruch auf staatliche Verschaffung von Rechten, zB auf Beihilfen, selbst wenn sie zur Existenzsicherung erforderlich wären.180 70 Bloße Erwerbsaussichten oder Chancen, die nach den gegebenen rechtlichen oder faktischen Verhältnissen, zB der Marktlage, zwar bestehen, auf deren Fortbestand aber nicht vertraut werden kann, fallen nicht in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie. Art 14 I GG enthält auch keine allgemeine Wertgarantie vermögenswerter Rechte. Ob der öffentlichen Gewalt zurechenbare Minderungen des Tausch- oder Marktwerts eines vermögensrelevanten Rechts – anders als der direkte Zugriff auf den Marktwert – überhaupt das Eigentumsgrundrecht berühren, ist daher zweifelhaft. Das gilt für das Geldeigentum, das allenfalls einen prekären Schutz gegen eine staatlich induzierte erhebliche Geldentwertung genießt,181 aber auch für Wertpapiere, bei denen nicht ihr Wert geschützt ist, sondern die in ihnen verbriefte Forderung.182 71 Ob das Vermögen selbst dem Schutz von Art 14 I GG unterfällt, ist zunehmend umstritten. Während die Rechtsprechung früher davon ausging, das Vermögen selbst sei kein Recht, sondern (nur) der Inbegriff aller geldwerten Güter einer Person, so dass Art 14 I GG daher auch nicht vor der staatlichen Auferlegung von Geldleistungen schütze, weil diese nicht mittels eines bestimmten Eigentumsobjekts zu erfüllen seien, sondern aus dem fluktuierenden Vermögen bestritten werden müssten,183 scheint sich in der jüngeren Rechtsprechung beider Senate des BVerfG ein Umdenken anzubahnen. So hat der 1. Senat die Haftung für auf einem Grundstück befindliche Altlasten unter Rückgriff auf Art 14 I GG begrenzt, obwohl die polizeirechtliche Haftung bis dahin stets nur an Art 2 I GG gemessen worden war;184 der 2. Senat hat 2006 sogar ausdrücklich festgestellt, dass die Steuerbelastung der Bürger in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie fällt.185 Ein im Öffentlichen Wirtschaftsrecht bedeutsames Problem betrifft die Frage, ob der einge72 richtete und ausgeübte Gewerbebetrieb im Hinblick auf das Handeln der Verwaltung, ggf auch den sozialgestaltenden und wirtschaftslenkenden Gesetzgeber als vermögenswertes Recht

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177 BVerfGE 53, 257, 289 ff – Versorgungsausgleich o JK GG Art 14 I/4; E 69, 272, 298 f – Krankenversicherung o JK GG Art 14 I 1/22; E 72, 9, 18 ff – Arbeitslosengeld o JK GG Art 14 I 1/24. 178 BVerfGE 78, 249, 284 (Wohnungsbauförderung, Fehlbelegungsabgabe); E 97, 67, 83 (Förderung des Schiffsbaus). 179 BVerfG NVwZ 2002, 197 – Branntweinmonopol o JK GG Art 14 I/43. 180 BVerfGE 80, 124, 137. 181 Zum Problem der eigentumsrechtlichen Absicherung des Geldwertes BVerfGE 97, 350, 370 f (grds Anerkennung der Schutzfähigkeit); E 129, 124, 173 – Griechenlandhilfe; BVerfG EuGRZ 2012, 569 – ESM (offen gelassen); BFHE 89, 422; 90, 396; 102, 383; BFH BStBl II 1974, 572 und 582; BFH JuS 1976, 545. – v Arnim Die Besteuerung von Zinsen bei Geldentwertung, 1978; Schmidt FS Berliner Jur Gesellschaft, 1984, 665; Hahn/Häde Währungsrecht, 2. Aufl 2010, 64 ff; Herrmann Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, 267 ff. 182 BVerfGE 95, 267, 300 – Altschulden; BVerfG NJW 2002, 3009 (kein Eingriff in Art 14 I GG durch Wertverlust infolge der Aufhebung der Steuerfreiheit von Zinsen aus „Sozialpfandbriefen“ ua). 183 BVerfGE 65, 196, 209; E 95, 267, 300 – Altschulden. 184 BVerfGE 102, 1 – Altlasten; E 114, 371, 383 f – bay Teilnehmerentgelt; Huber/Unger VerwArch 96 (2005), 139; Papier FS Maurer, 2001, 255. 185 BVerfGE 115, 97, 110 – Halbteilungsgrundsatz II.

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II. Verfassungsrechtliche Grundlagen – 3. Kapitel

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anerkannt werden kann.186 Beruht die Ausübung des Gewerbebetriebs auf einer öffentlichrechtlichen Zulassung, ist zwischen dem Bestand dieses Verwaltungsaktes, für den ggf Vertrauensschutz in Anspruch genommen werden kann (§§ 48, 49 VwVfG), und dem allein eigentumsrechtlich geschützten Gewerbebetrieb zu unterscheiden: die ins Werk gesetzte Genehmigung genießt Eigentumsschutz, sofern sie einen eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb darstellt.187 Der so geschützte Gewerbebetrieb188 umfasst den sachlichen Bestand des Betriebs und die „Ausstrahlungen“, die seinen wirtschaftlichen Wert ausmachen – Geschäftsbeziehungen, „good will“ oder der Zugang zum Straßennetz („Kontakt nach außen“), nicht aber bloße Erwerbsmöglichkeiten, Gewinnaussichten, Hoffnungen oder Chancen. Gewährleistet wird die „Sach- und Rechtsgesamtheit“ des Betriebs in ihrer „Substanz“, dh das ungestörte Funktionieren des Betriebsorganismus, dessen Beeinträchtigung den Verfügungsberechtigten daran hindert, von der in dem Gewerbebetrieb verkörperten Organisation sachlicher und persönlicher Mittel den bestimmungsgemäßen Gebrauch zu machen. Der Umfang des Schutzes wird durch die jeweilige ökonomische und örtliche „Situation“ bestimmt, so dass vorteilhafte Umstände nur garantiert sind, wenn und soweit sich der Betriebsinhaber darauf verlassen darf, dass sie auch auf Dauer erhalten bleiben. Wirtschaftslenkende Maßnahmen, die – wie die Veränderung des Basiszinssatzes, die Herabsetzung eines Schutzzolls oder die Einführung oder Umgestaltung einer Marktordnung – lediglich erkennbar situationsbedingte Erwerbschancen eines Gewerbebetriebs beeinflussen, stellen daher keinen entschädigungspflichtigen Eingriff in das Eigentum dar, sofern nicht ein besonderer Vertrauenstatbestand gegeben ist oder auf andere Weise ein Sonderopfer abverlangt wird.189 Wird der Unternehmer lediglich daran gehindert, ein bestimmtes Erzeugnis zu günstigen Bedingungen herzustellen, berührt dies den Betrieb als solchen nicht; es wird dem Unternehmer nur die Möglichkeit vorenthalten, in einer bestimmten Weise Gewinn zu erzielen.190 Das Vertrauen auf den unveränderten Fortbestand wirtschaftsverwaltungsrechtlicher Normen oder wirtschaftslenkender Maßnahmen und ein daraus abgeleiteter „Plangewährleistungsanspruch“ finden in Art 14 I GG daher keine Grundlage.191 Den Gesetzgeber kann schließlich auch eine verfassungsrechtliche Schutzpflicht aus Art 14 73 I GG treffen, angesichts der „Bedeutung, die die Wohnung als Mittelpunkt der menschlichen Existenz … hat“, etwa zugunsten des Mieters.192 cc) Schranken. Die in Art 14 II GG normierte Sozialbindung des Eigentums verpflichtet den 74 Staat, den privatnützigen Gebrauch des Eigentums, insbesondere des Kapitals, unter Aufrechterhaltung seiner Funktion in dem Maße Schranken zu unterwerfen, in dem es zur Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit erforderlich ist und in dem das Eigentum insbesondere sozial-

_____ 186 Zweifelnd BVerfGE 51, 193, 122 f; s ferner E 68, 193, 222 f; E 77, 84, 118; E 81, 208, 227 f; Larenz/Canaris Lehrbuch des Schuldrechts, Bd II/2, 13. Aufl 1994, 537 ff; bejahend BVerfGE 102, 1 – Altlasten; Badura FS Berliner Jur Gesellschaft, 1984, 1; Depenheuer in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art 14 Rn 135; Fröhler Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, 1972. 187 W. Weber AöR 91 (1966), 382, 400 f; Hösch JbUTR 1999, 121. 188 BVerfGE 68, 193, 222 f o JK GG Art 19 III/5; BGHZ 23, 157; 45, 150; 48, 58; 48, 65; NJW 1967, 1867; BGHZ 55, 261; 76, 387; 111, 349, 356; BayObLG BayVBl 1994, 540; BVerwGE 36, 248. – Buchner Die Bedeutung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb für den deliktischen Unternehmensschutz, 1971; Zuck Gewerbebetrieb und Enteignungsentschädigung, 1971; Löwisch/MeierRudolph JuS 1982, 237; Rinne DVBl 1993, 869; K. Schmidt JuS 1993, 985. 189 BGHZ 45, 83; BGH DÖV 1997, 127; BVerwG DVBl 1966, 751; EuGH Urt v 5.10.1994 – C-280/93 – (Bananenmarktordnung), Slg 1994, I-4973. 190 BGHZ 111, 349 = JZ 1991, 36 m Anm Maurer. 191 H. P. Ipsen VVDStRL 11 (1954), 129; Oldiges Grundlagen eines Plangewährleistungsrechts, 1970; Brohm JURA 1986, 617; Badura in: Benda/Maihofer/Vogel, HVerfR, § 10 Rn 69. 192 BVerfGE 18, 121, 131 f; E 89, 1 (Mieter als Eigentümer iSv Art 14 I GG).

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

schädliche Macht- und Ausbeutungschancen vermittelt. Dabei verfügt der Gesetzgeber über ein erhebliches Maß an Gestaltungsfreiheit. So ist zB die Abspaltung des Grundwassers 193 oder bestimmter bergfreier Bodenschätze vom Grundeigentum und ihre Unterwerfung unter ein verselbstständigtes System der Bewirtschaftung eine zulässige Inhaltsbestimmung des Eigentums iSd Art 14 I 2 GG.194 Das BBergG ist im Berechtsamswesen etwa zu einem öffentlich-rechtlichen Konzessionssystem übergegangen, in dessen Rahmen die Bezeichnung „Bergwerkseigentum“ für eine bestimmte, vom Grundeigentum geschiedene, beleihbare Bergbauberechtigung hinsichtlich bergfreier Bodenschätze fortbesteht.195 Soweit die abstrakte und generelle Ausgestaltung eines vermögenswerten Rechts im Einzelfall auf bestehende Rechte stößt und diese beschneidet oder umwandelt und dadurch den Rechtsinhabern ein (unzumutbares) Sonderopfer abverlangt, müssen Übergangsvorschriften, ein Befreiungsanspruch oder eine Entschädigung vorgesehen werden.196 75 Sofern eine wirtschaftslenkende Maßnahme oder Regelung ein vermögenswertes Recht beeinträchtigt, kommt es für die Frage, ob darin nur eine entschädigungslos zu duldende Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums zu sehen ist oder ein durch Ausgleichszahlungen in seiner Intensität zu mindernder Eingriff, darauf an, ob die Maßnahme – ihre Geeignetheit vorausgesetzt – im rechten Verhältnis zur Schwere der den Eigentümer treffenden Einschränkung seiner Dispositionsfreiheit steht, maW, ob sie notwendig und für den Eigentümer zumutbar ist.197 Als Kriterium für die Bewertung von „Schwere“ und „Zumutbarkeit“ des Eingriffs ist von der in der Eigentumsgarantie vorausgesetzten Zweckbestimmung des Privateigentums, seiner Privatnützigkeit, auszugehen, dh von seiner Funktion, Grundlage der Freiheitsentfaltung im vermögensrechtlichen Bereich zu sein. Entscheidend ist demnach, ob eine Maßnahme die Privatnützigkeit des Eigentums respektiert, wesentlich beeinträchtigt oder gar beseitigt, etwa durch einen übermäßigen Zugriff der Öffentlichen Hand auf das wirtschaftliche Substrat des Gewerbebetriebs oder durch Zerstörung seiner Rentabilität.198 Diese Grundsätze gelten auch, wenn Wirtschaftslenkung durch Besteuerung erfolgt. Damit stimmt die Rechtsprechung des BVerfG überein, wonach die Eigentumsgarantie verletzt werden kann, wenn staatliche Geldleistungspflichten den Betroffenen übermäßig belasten und seine Vermögensverhältnisse grundlegend beeinträchtigen.199 Den im Ergebnis plausiblen Versuch, mit dem sog Halbteilungsgrundsatz die Eigentumsgarantie für eine rechtsstaatlich begrenzte Besteuerung fruchtbar zu machen, hat das BVerfG allerdings wieder verworfen.200 Enteignungen, also hoheitliche Entziehungen vermögenswerter Rechte, sind nur zum 76 Wohle der Allgemeinheit zulässig und dürfen nur durch Gesetz (Legalenteignung) oder aufgrund eines Gesetzes (Administrativenteignung) erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt (Art 14 III GG). Diese verfassungsrechtlichen Anforderungen sichern den konkreten Bestand des Eigentums, weil der Eigentümer den hoheitlichen Zugriff auf den Bestand ihm zustehender konkreter Rechtspositionen nur unter der Voraussetzung dulden muss, dass das Wohl

_____

193 BVerfGE 58, 300 – Nassauskiesung o JK GG Art 14 I 2/13. 194 BVerwG JZ 1994, 197 (Kiesabbau in der früheren DDR); ferner BVerfG NJW 2003, 196 (Duldungsrecht des Grundeigentümers nach § 76 TKG) o JK GG Art 14 I/45. 195 §§ 6 ff BBergG. – Westermann Freiheit des Unternehmers und des Grundeigentümers und ihre Pflichtbindungen im öffentl Interesse nach dem Referentenentwurf eines Bundesberggesetzes, 1973; Weitnauer JZ 1973, 75; Karpen AöR 106 (1981), 15; Kühne JuS 1988, 433. 196 Ossenbühl Staatshaftungsrecht, 5. Aufl 1998; Schlette JuS 1996, 204. 197 BVerfGE 21, 74; E 21, 150; E 24, 367; E 25, 112; E 26, 215; E 31, 229 und 275; E 37, 132; E 52, 1; E 56, 249; E 58, 300 o JK GG Art 14 I 2/13. – BGHZ 6, 270; 32, 208; 48, 193; 60, 126; DVBl 1974, 625 u 627. – BVerwGE 15, 1; E 24, 60. 198 BGH NJW 1968, 294. 199 BVerfGE 4, 7, 16; E 19, 119, 128 f; E 30, 250; E 115, 97, 110 – Halbteilungsgrundsatz II; BVerfG NJW 1976, 101 (substanzverzehrende Vermögensteuer); BVerwGE 90, 202, 207. – Kirchhof/v Arnim VVDStRL 39 (1981), 213, 286; Papier in: Benda/Maihofer/Vogel, HVerfR, § 18 Rn 97 ff. 200 BVerfGE 93, 121; E 93, 165 – Halbteilungsgrundsatz I; E 115, 97 – Halbteilungsgrundsatz II.

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III. Unionsrechtliche Grundlagen – 3. Kapitel

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der Allgemeinheit den ihm abverlangten Rechtsentzug nach Art, Maß und Zeitpunkt auch tatsächlich erfordert.201 Wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen und zudem sichergestellt ist, dass das enteignungsbegünstigte Vorhaben zum Nutzen der Allgemeinheit verwirklicht werden wird, ist auch eine Enteignung zugunsten Privater zulässig (sog privatnützige Enteignung). Ergibt sich der Nutzen für das allgemeine Wohl allerdings nicht aus dem Unternehmensgegenstand selbst, sondern nur als mittelbare Folge der Unternehmenstätigkeit, etwa durch die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen, müssen besondere Anforderungen an die gesetzliche Konkretisierung gestellt werden.202 Art 15 GG ermächtigt den Gesetzgeber zur Sozialisierung, verpflichtet ihn jedoch nicht 77 dazu. 203 Eine etwaige Sozialisierung beschränkt er auf die dort aufgeführten Objekte der Produktionssphäre und bindet sie – wie die Enteignung – an eine angemessene Entschädigung. Das ist wirtschaftsverfassungsrechtlich auch deshalb bedeutsam, weil es zeigt, dass das GG keine Festlegung auf die liberale Wirtschaftsidee enthält. Von der Enteignung, die lediglich eine Durchbrechung der bestehenden Eigentumsordnung im Einzelfall darstellt, ist die Sozialisierung wegen ihrer auf Umwälzung der Eigentumsordnung gerichteten und auf Dauer angelegten Zwecksetzung zu unterscheiden. Deshalb stellte das im Zuge der Finanzkrise 2008/09 als Art 3 FMStabEG erlassene RettG, das zwar auf eine Enteignung der HRE zielte, nicht jedoch auf eine Verstaatlichung des Bankensektors insgesamt, auch keinen Fall der Sozialisierung dar.204 Mangels Vollzugs 205 hat Art 15 GG bislang keine praktische Bedeutung erlangt. 3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht III. Unionsrechtliche Grundlagen – 3. Kapitel

III. Unionsrechtliche Grundlagen 1. Allgemeines Mit der Einordnung Deutschlands zunächst in die EWG, dann in die EU (EEA 1986/87; EUV 78 1992/93, 1997/99, 2001/03, 2007/09) hat die Europäische Wirtschaftsverfassung zunehmend an Bedeutung gewonnen und die Wirtschaftsverfassung des GG in weiten Bereichen in den Hintergrund gedrängt. Heute steht sie, wie etwa die Diskussion um die Streichung des Zieles eines unverfälschten Wettbewerbs durch den Vertrag von Lissabon,206 das Spannungsverhältnis zwischen Daseinsvorsorge und der Gewährleistung unverfälschten Wettbewerbs oder die Bemühungen zur Behebung der Staatsschuldenkrise seit 2010 (EFSF, ESM, SKSV, EZB) zeigen, im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen und -politischen Auseinandersetzung. Soweit Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsverwaltung durch das Unionsrecht bestimmt wer- 79 den,207 geschieht dies auf der Grundlage des am 1.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von

_____ 201 BVerfGE 24, 267, 389; E 38, 175, 180 f; E 45, 297; E 56, 249, 260 ff; E 70, 191, 199 f; E 71, 137, 143. – Maurer FS Dürig, 1990, 293; Aust/Jacobs Die Enteignungsentschädigung, 1997. 202 BVerfGE 66, 248 (§ 11 [45] I EnWG); E 74, 264 – Boxberg (Schaffung von Arbeitsplätzen in einem strukturschwachen Gebiet) o JK GG Art 14 III/5. 203 Ipsen/Ridder VVDStRL 10 (1952), 74, 124; Badura in: Benda/Maihofer/Vogel, HVerfR, § 10 Rn 15 ff. – Ferner oben Rn 17 ff. 204 Appel/Rossi Finanzmarktkrise und Enteignung, 2009, 22 ff. 205 Zu der aufgrund Art 41 HessVerf erfolgten Sozialisierung und deren Schicksal Krüger AöR 77 (1951/52), 46; Ipsen DÖV 1952, 225; ders FS Jahrreiß, 1964, 115. 206 Art 3 III EUV. Nach dem Prot (Nr. 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb (ABl 2010 L 83/309) umfasst der Binnenmarkt ein System, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt. 207 Ipsen Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972; Schwarze Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl 2005; ders, EU-Kommentar, 3. Aufl 2012; ders, Die rechtsstaatliche Einbindung der europäischen Wirtschaftsverwaltung, EuR Beiheft 2/2002; Brenner Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union, 1996; Schweitzer/ Hummer Europarecht, 9. Aufl 2008; Steindorff EG-Vertrag und Privatrecht, 1996; Grabitz/Hilf Das Recht der Europäischen Union; Hatje Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, 1998; Kadelbach Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999; Herdegen Europarecht, 14. Aufl 2012; Lenz/Borchrdt EU-

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Lissabon (13.12.2007). Wesentliche Etappen auf diesem Weg waren die weitgehende Vollendung des „Binnenmarkts“ zum 31.12.1992 (Art 14 EGV aF) und der Eintritt von zunächst 11 Staaten in die dritte Stufe der Währungsunion zum 1.1.1999. Diese war bereits in der EEA 1986/87 konzipiert worden und ist dann nach Maßgabe des Vertrages von Maastricht in drei Stufen errichtet worden (Art 119, 127 ff AEUV).208

2. Die europäische Rechtsordnung als wechselseitige Auffang- und Kooperationsordnung 80 Grundlage für die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU – für die anderen Mitgliedstaaten gilt mutatis mutandis das gleiche – sind Art 23 GG und die auf seiner Grundlage ratifizierten EUV und AEUV.209 Auch ihre Fortschreibung und völkervertragliche Ergänzung ist idR von materiell verfassungsändernden Gesetzen abhängig . 210 Darüber hinaus ist die Mitwirkung der Bundesregierung an der Inanspruchnahme von Evolutivklauseln sowie der sekundär- und tertiärrechtlichen Rechtsetzung, insbesondere ihr Abstimmungsverhaltens im Rat, in der sog aufsteigenden Phase (theoretisch) an eine differenzierte Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat gebunden (Art 23 II-VI GG, IntVG, EUZBBG, EUZBLG, Vereinbarung v 22.9.2006),211 die insoweit eine Integrationsverantwortung trifft.212 In der Praxis funktioniert dieses Kondominium freilich (noch) nicht,213 was die demokratische Legitimation und Kontrolle der unionalen Gesetzgebung nicht unerheblich mindert.214 Die unionale Rechtsordnung beruht somit auf der von allen Mitgliedstaaten vorgenomme81 nen Öffnung des nationalen Verfassungsrechts für das „Integrationsprogramm“. Wo dieses eine Öffnung allerdings nicht zulässt (vgl Art 23 I 3 iVm Art 79 III GG), setzt sich das nationale Recht gegenüber dem Unionsrecht durch.215 Dies erkennt das Unionsrecht ausweislich der Bezugnahme in Art 4 II 1 EUV auf die nationale Identität der Mitgliedstaaten ausdrücklich an. Dasselbe gilt für den Fall, dass Rechtsakte der EU-Organe das vom nationalen Rechtsanwendungsbefehl gebilligte Integrationsprogramm überschreiten und damit ultra vires ergehen.216 EUV und AEUV sowie das auf ihrer Grundlage erlassene sekundäre und tertiäre Unionsrecht 82 bilden eine allen Mitgliedstaaten gemeinsame einheitliche (Teil-)Rechtsordnung. Ihr kommt

_____ Verträge, 5. Aufl 2010; Oppermann/Classen/Nettesheim Europarecht, 5. Aufl 2011; Geiger/Khan/Kotzur EUV/AEUV, 5. Aufl 2010; Schwarze/Müller-Graff, Europäische Verfassungsentwicklung, EuR Beiheft 1/2000; Bieber/Epiney/Haag Die Europäische Union, 10. Aufl 2012; Streinz Europarecht, 9. Aufl 2012; Borchardt Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 4. Aufl 2010; Huber Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl 2002; v Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl 2009; Della Cananea L’Unione europea, 2003; Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl 2012; De Quadros Direito da Uniao Europeia, 2004. 208 Antworten der BReg auf eine Reihe Großer und Kleiner Anfragen zur Wirtschafts- und Währungsunion (BT-Drs 13/3984), über die Zukunft der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (BT-Drs 13/2858, 13/2996, 13/4529, 13/4530) und über die Auswirkungen der Währungsunion (BT-Drs 13/10416); Europäische Kommission, EURO 1999, Teil 1 Empfehlung und Teil 2 Bericht über den Konvergenzstand, 1998. – Steindorff EuZW 1996, 167; Möschel JZ 1998, 217; Selmayr AöR 124 (1999), 357. 209 BVerfGE 89, 155 – Maastricht; E 97, 350 – Euro; E 123, 267 – Lissabon; Schmitt Glaeser Grundgesetz und Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts, 1996; Scheuing in: Müller-Graff/Riedel, Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, 1998, 157 ff. 210 Huber Recht der Europäischen Integration, § 4 Rn 13. 211 Badura FS Schambeck, 1994, 887; Breuer NVwZ 1994, 417; Di Fabio Der Staat 32 (1993), 191; Everling DVBl 1993, 936; Huber Recht der Europäischen Integration, §§ 11 Rn 50 ff, 19 Rn 10; Huber/Fröhlich FS v Arnim, 2004, 577, 590. 212 BVerfGE 123, 267, 351 ff – Lissabon. 213 BVerfG NVwZ 2012, 954 – ESM/EPP-Verhandlungen; Huber ZG 21 (2006) 354, 356 ff; ders Gutachten D zum 65. DJT, 2004, D 26 ff; Sommermann in: IPE II, 2008, § 14 Rn 44 f. 214 Siehe aber Art 12 EUV, Prot (Nr. 1) über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU, ABl 2010 L 83/203 sowie Prot (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ABl 2010 L 83/206. 215 Pernice in: Dreier, GG, Bd II, Art 23 Rn 30, spricht insoweit von einem „Notrecht“ der Mitgliedstaaten. 216 BVerfGE 126, 286, 302 – Honeywell.

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III. Unionsrechtliche Grundlagen – 3. Kapitel

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gegenüber dem nationalen Recht ein grundsätzlicher Anwendungsvorrang zu,217 den die Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten immer dann zu beachten haben, wenn sie Unionsrecht umsetzen, ausführen oder anwenden.218 Entscheidungs- und Regelungsvollmachten der Unionsorgane setzen nach dem Prinzip der 83 begrenzten Einzelermächtigung eine Kompetenzzuweisung im Primärrecht voraus (Art 5 I 1, II EUV, Art 7 AEUV); nur eine (einstimmige) vertragliche Ermächtigung durch die Mitgliedstaaten kann daher den Kompetenzraum der EU erweitern. Gleichwohl sind ihre Regelungs- und Entscheidungsbefugnisse trotz der Typisierungs- und Kategorisierungsversuche in den Art 3 bis 6 AEUV weniger durch bestimmte Materien umrissen, denn final durch Ziele und Aufgaben.219 Die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge ist Aufgabe 84 der Gerichte, letztlich der Unionsgerichte (Art 19 I UA 1 S 2 EUV).220 Zu den auf die EU übertragenen Hoheitsrechten gehört insoweit auch die Aufgabe des gerichtlichen Rechtsschutzes gegen die öffentliche Gewalt, soweit die Verträge eine Jurisdiktion von EuGH, EuG und Fachgerichten begründen. Der Schutz der nationalen Verfassung und die Wächterrolle über die von ihr gezogenen Grenzen der Integration bleibt dagegen Aufgabe der nationalen Gerichte,221 in Deutschland vor allem des BVerfG. Gegen die Anwendbarkeit von unionalen Rechtsakten in Deutschland kann es jedoch erst einschreiten, wenn die EU ihre Kompetenzen willkürlich überschritten hat222 oder sie sich Hoheitsrechte anmaßt, die ihr verfassungsrechtlich (Art 23 I, 79 III GG) nicht übertragen werden können. Die Öffnung der nationalen Rechtsordnung für das Integrationsprogramm zwingt die Mit- 85 gliedstaaten jedoch grundsätzlich dazu, sich den von Art 2 EUV formulierten Homogenitätsanforderungen anzupassen und bewirkt insoweit faktisch das Ende nationaler Verfassungsautonomie.223 Im Verhältnis zueinander beeinflussen und ergänzen sich Unionsrecht und nationales (Verfassungs-)Recht damit gegenseitig,224 besitzen sie komplementäre Maßstäblichkeit, haben sie die Funktion wechselseitiger Auffangordnungen.225 Insoweit sind unionales und nationales Verfassungsrecht „Komplementärverfassungen“,226 auf gegenseitige Ergänzung angelegte Teile eines Mehr-Ebenen-Verfassungsverbundes227 und jeweils auf die Rolle einer Teilverfassung reduziert.228 Verklammert werden sie durch die Verträge. An der Schnittstelle zwischen nationalem Verfassungsrecht und Sekundärrecht gelegen und identisch sowohl mit dem Primärrecht als auch mit den Zustimmungsgesetzen/Rezeptionsakten der Mitgliedstaaten, erweisen sie sich als

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217 EuGH Urt v 15.7.1964 – Rs 6/64 – Costa/ENEL, Slg 1964, 1251; BVerfGE 73, 339 – Solange II o JK GG 24 I/1; 75, 223. 218 Schwarze in: 40 Jahre GG, Freiburger Ringvorlesung, 1990, 209; ders/Becker/Pollak Die Implementation von Gemeinschaftsrecht, 1993. 219 Everling EuR 1987, 214. 220 Huber in: Streinz, EUV/AEUV, Art 19 EUV Rn 11 ff. 221 Huber in: IPE II, § 26 Rn 80 f mwN. 222 Huber in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art 19 Abs 4 Rn 425. 223 Pernice in: Bauer/Huber, Ius Publicum im Umbruch, 2000, 25, 35; Großbritannien: Birkinshaw/Künnecke in: IPE II, § 17 Rn 67 f. 224 Deutschland: BVerfGE 52, 197, 200 – Vielleicht; E 73, 339, 367 f – Solange II; Frankreich: CC No 92-308 DC v 9.4.1992, EuGRZ 1993, 187, 190 – Maastricht I (Die unionale Rechtsordnung sei eine eigene Rechtsordnung, „die, auch wenn sie in die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten eingebunden ist, doch nicht zum institutionellen Gefüge der französischen Republik gehört“); Italien: Corte costituzionale, No 170/1984, GiurCost 1984, 1099, 1113; No 389/1989 v 11.7.1989, RidDPC 1991, 1065, 1068 („tra loro coordinati e communicati“). 225 Huber in: IPE II, § 26 Rn 109 f. 226 Pernice in: Dreier, GG, Bd II, Art 23 Rn 20. 227 Zum Begriff Pernice in: Dreier, GG Bd II, Art 23 Rn 20; zum politikwissenschaftlichen Begriff des „Mehrebenensystems“ Morlok Grundfragen einer Verfassung auf europäischer Ebene, in: Häberle/Skouris, Staat und Verfassung in Europa, 2000, 73, 88. 228 Zur Vorstellung des GG als bloßer „Teilverfassung“; v Bogdandy Der Staat 39 (2000), 163, 166 („fragmentarische Ordnung“) vgl Steinberg ZRP 1999, 365, 373.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

Instrument „struktureller Koppelung“,229 durch das die Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten miteinander verbunden und auf das Integrationsprogramm hin ausgerichtet werden. In den Verträgen besitzen die Mitgliedstaaten eine identische Teilverfassung, im Unionsrecht eine identische Teilrechtsordnung. Erst aus der Zusammenschau von unionalem und nationalem (Verfassungs-)Recht erschließt sich somit die Rechtsordnung der EU, in der – in den Worten des polnVfGH – nationales und unionales Recht „nach dem Prinzip der gegenseitigen freundlichen Auslegung und kooperativen Anwendung koexistieren“.230 Dem muss bei der Auslegung und Anwendung des unionalen wie des nationalen Rechts Rechnung getragen werden. Die materielle Komplementarität von unionalem und nationalem Verfassungsrecht zwingt 86 die Organe der EU wie auch der Mitgliedstaaten zur Kooperation – bei der Gesetzgebung,231 der Verwaltung232 und der Rechtsprechung.233 Insoweit ist die Rechtsordnung der EU eine Kooperationsordnung, in der sich auch die Politik-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsstile234 der Mitgliedstaaten wechselseitig befruchten.

3. Grundzüge des Unionsrechts, allgemeine Rechtsgrundsätze a) Grundrechte 87 Seit 1969 hat der EuGH die Grundrechte der persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit nach und nach als allgemeine Rechtsgrundsätze, anerkannt, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind.235 Der Maastrichter Vertrag 1992/93 kodifizierte dieses richterrechtlich entwickelte Bekenntnis zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und bestimmte ausdrücklich, dass die EU die Grundrechte achtet, wie sie in der am 4.11.1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die bereits auf dem Gipfel von Nizza im Jahre 2000 proklamierte GRCh – mit Einschränkungen für Großbritannien und Polen236 – in das Primärrecht integriert (Art 6 I EUV). Damit existiert erstmals ein detaillierter Grundrechtskatalog auf EU-Ebene, der die älteren Wurzeln des unionalen Grundrechtsschutzes zwar nicht abschneidet (arg e Art 6 III EUV), sie in der Praxis aber zunehmend überlagern wird. Schließlich sieht Art 6 II EUV einen Beitritt der EU zur EMRK vor (Art 6 II), dessen Realisierung allerdings nach wie vor eine Fülle von Schwierigkeiten aufwirft.237 88 aa) Anwendungsbereich. Die Grundrechte des Unionsrechts binden in erster Linie die EU und ihre Organe. Wie weit die Mitgliedstaaten nicht nur an ihre eigenen Grundrechte gebunden sind,

_____ 229 Di Fabio Das Recht offener Staaten, 1998, 99; Huber VVDStRL 60 (2001), 194, 209. 230 PolnVerfGH, Urt K 18/04, EuR 41 (2006), 236; Biernat in: IPE II, § 21 Rn 10. 231 Huber Recht der Europäischen Integration, 19. 232 Huber Recht der Europäischen Integration, § 20; Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005. 233 EuGH Urt v 16.12.1981 – Rs 244/80 – Foglia/Novello II, Slg 1981, 3045 (Rn 14 ff) (zu Art 234 EG); BVerfGE 89, 155, 175 – Maastricht; Huber Recht der Europäischen Integration, § 21. 234 Birkinshaw/Künnecke in: IPE II, § 17 Rn 72. 235 EuGH Urt v 12.11.1969 – Rs 29/69 – Stauder, Slg 1969, 419; Urt v 13.12.1979 – Rs 44/79 – Hauer, Slg 1979, 3727; Urt v 21.9.1989 – verb Rs 46/87 u 227/88 – Hoechst, Slg 1989, 2859; Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl 2009; Durner in: Merten/Papier, HGR VI/1, 2010, § 162. 236 Prot (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, ABl 2010 L 83/313. 237 Prot (Nr. 8) zu Art 6 Abs 2 des Vertrages über die Europäische Union über den Beitritt der Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, ABlEU 2010 L 83/273; Grewe, EuR 47 (2012), 285; Obwexer, EuR 47 (2012), 115.

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III. Unionsrechtliche Grundlagen – 3. Kapitel

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sondern auch an die des Unionsrechts, ist dagegen umstritten. Nach der überkommenen Rechtsprechung des EuGH besteht eine solche Bindung im (gesamten) Anwendungsbereich des Unionsrechts, also nicht nur bei der Umsetzung und Operationalisierung von Richtlinien und Verordnungen, sondern auch dann, wenn die Mitgliedstaaten aufgrund eigener Kompetenzen die praktisch auf alle Lebensbereiche anwendbaren Grundfreiheiten beschränken.238 Da die zentrale Durchsetzung von Grundrechten erhebliche unitarisierende Effekte besitzt, hat der Konvent den Versuch unternommen, diese Wirkungen zu begrenzen und in Art 51 I GRCh eine Bindung der Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ vorgesehen;239 der EuGH tut sich freilich schwer damit, diese Korrektur des Vertragsgebers zu respektieren.240 bb) Wirtschaftsgrundrechte. Inhaltlich ist der unionale Grundrechtsschutz auf den ersten 89 Blick durch umfassend erscheinende Garantien gekennzeichnet. Angesichts der nach wie vor stark wirtschaftlichen Ausrichtung der EU kommt den unionsrechtlichen Garantien des Eigentums (Art 1 1 ZP EMRK, Art 17 GRCh)241 und der Berufsfreiheit (Art 15 f GRCh) eine überragende Bedeutung zu. Erste detaillierte Aussagen zu beiden Grundrechten finden sich schon im Urteil „Nold“, in dem es um eine Eigentums- und Berufsfreiheit beeinträchtigende Genehmigung von Kohlehandelsbedingungen durch die Kommission ging.242 Dies wird im Urteil „Hauer“ weiter ausgeführt, das nach wie vor den (vorläufigen) Höhepunkt der dogmatischen Entfaltung der unionalen Eigentums- und Berufsfreiheit darstellt. Auch wenn eine Grundrechtsverletzung im Ergebnis abgelehnt wurde, so ist die Entscheidung doch durch einen außergewöhnlichen Argumentationsaufwand gekennzeichnet, in dem der EuGH nicht nur zwischen Eigentumsentzug und Eigentumsbeschränkungen unterschieden, sondern auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Wesensgehaltsgarantie als Schranken-Schranken thematisiert hat (vgl auch Art 52 I GRCh).243 Von zentraler Bedeutung für den unionsrechtlichen Schutz von Eigentumsund Berufsfreiheit sind darüber hinaus die Rs Wachauf244 und die Rs Bananenmarktordnung.245 Handelte es sich bei den unionalen Freiheitsrechten über Jahrzehnte hinweg lediglich um „law in the books“, so hat der EuGH in jüngster Zeit etwa damit begonnen, die Eigentumsgarantie mit Leben zu füllen und unionale Rechtsakt wegen ihrer Verletzung für nichtig zu erklären.246 Die längste Traditionslinie unter den Grundrechten des Unionsrechts weist der allgemeine 90 Gleichheitssatz (Art 20 ff GRCh) auf. Er garantiert, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unter-

_____ 238 EuGH Urt v 18.6.1991 – C-260/89 – ERT, Slg 1991, I-2925; Urt v 8.4.1992 – C-62/90 – Arzneimittelimporte, Slg 1992, I-2575; Urt v 26.6.1997 – C-368/95 – Familiapress, Slg 1997, I-3689; Brosius-Gersdorf Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2005; Huber Recht der Europäischen Integration, § 8 Rn 59 ff; ders NJW 2011, 2385, 2386 f; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 51 GRCh Rn 16 f. Für eine weite Auslegung plädieren dagegen Jarass NVwZ 2012, 457, 458 f und Calliess JZ 2009, 113, 115. 239 Cremer in: Kischel/Masing, Unionsgrundrechte und Diskriminierungsverbote im Verfassungsrecht, 2012, 17; Huber EuR 43 (2008), 190, 196 f; ders NJW 2011, 2385; aA Schoch in: Kischel/Masing, ebd, 57 f. 240 Einerseits EuGH Beschl v 1.3.2011 – C-457/09 – Claude Chartry/État Belge; andererseits EuGH Urt v 8.3.2011 – C34/09 – Ruiz Zambrano, NVwZ 2011, 545. 241 Dazu Grabenwarter in: BK (2001), Anh zu Art 14: Europarecht; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997. 242 EuGH Urt v 14.5.1974 – Rs 4/73 – Nold, Slg 1974, 491. 243 EuGH Urt v 3.12.1979 – Rs 44/79 – Hauer, Slg 1979, 3727. 244 EuGH Urt v 13.7.1989 – Rs 5/88 – Wachauf, Slg 1989, 2609. 245 EuGH Urt v 5.10.1994 – C-280/93 – Bananenmarktordnung, Slg 1994, I-4973. 246 EuGH Urt v 6.12.2005 – C-453/03 – ABNA Ltd, Slg 2005, I-10423 (Rn 80): Richtlinie wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nichtig, so dass es auf die Eigentumsgarantie nicht mehr ankam); Urt v 3.9.2008 – verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P – Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, Slg 2008, I-6351 (Eigentumsverletzung durch EU-VO, die zur Umsetzung eines Beschlusses des Sicherheitsrates der VN Gelder von Al Quaida und Taliban-Sympathisanten einfror).

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schiedlich behandelt werden, es sei denn, dass eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist.247 Daneben enthält das Primärrecht in Art 8, 18 AEUV, den einzelnen Grundfreiheiten, Art 40 II UA 2 und Art 45 II AEUV eine Reihe spezifischer Diskriminierungsverbote aus Gründen der Staatsangehörigkeit, des Geschlechts uäm, die nach st Rspr des EuGH248 allerdings nur besondere Ausprägungen des allgemeinen Gleichheitssatzes sind.249 91 cc) Sonstige Grundrechte. Als im Zuge eines Kartellverfahrens die Geschäftsräume der Firma Hoechst durchsucht wurden, sah sich der EuGH vor die Frage gestellt, in welchem Umfang die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art 8 EMRK, Art 7 GRCh) im Unionsrecht anerkannt ist. Er hat diesen Schutz zunächst auf die Privatwohnung beschränkt, relativierte diese Position in der Rs Roquette Frères SA später jedoch angesichts der großzügigeren Rechtsprechung des EGMR, der auch die Geschäftsräume unter den Schutzbereich des Grundrechts fasst,250 so dass der Schutz der Wohnung „unter bestimmten Umständen auf Geschäftsräume ausgedehnt werden kann“.251 In anderem Zusammenhang – bei der Veranstaltung eines „Concours“ an einem jüdischen Feiertag – sah sich der EuGH veranlasst, die Religionsfreiheit (Art 10 GRCh) anzuerkennen. Wenn sich eine wertende Rechtsvergleichung wegen der sehr unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen nationalen Verfassungen252 bei diesem Grundrecht auch besonders schwierig darstellt, so schließt dies den Rückgriff auf Art 9 EMRK und das unionale „soft law“ doch keineswegs aus. Neben dem mittlerweile sogar ausdrücklich normierten Recht auf Datenschutz (Art 16 I AEUV, Art 7, 8 GRCh)253 sind in der Rechtsprechung des EuGH ferner auch die Meinungsfreiheit (Art 11 I GRCh), die Wissenschafts- (Art 13 GRCh),254 die Rundfunk- und Fernsehfreiheit (Art 10 EMRK, Art 11 II GRCh),255 die Pressefreiheit256 und das Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art 6, 13 EMRK, Art 47 GRCh)257 mehr oder weniger ausdrücklich anerkannt worden. Mit Blick auf letzteres kommt namentlich der sonstigen Nichtigkeitsklage nach Art 263 IV AEUV besondere Bedeutung zu, die von natürlichen und juristischen Personen erhoben werden kann, wenn sie von Maßnahmen eines EU-Organs „unmittelbar“ und „individuell“ betroffen werden, etwa Beschlüsse der EU-Kommission über die Genehmigung nationaler Beihilfen, die Vergabe von Unionsbeihilfen oder kartellrechtliche Maßnahmen. Der EuGH interpretiert die Voraussetzungen der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit allerdings restriktiv und verneint die Existenz eines

_____ 247 EuGH Urt v 13.7.1962 – Rs 19/61 – Mannesmann/Hohe Behörde, Slg 1962, 719; Urt v 19.10.1977 – verb Rs 117/76 u 16/77 – Ruckdeschel, Slg 1977, 1753 Rn 10; Urt v 19.10.1977 – verb Rs 124/76 u 20/77 – Maisgritz, Slg 1977, 1795 (Rn 22 f). 248 EuGH Urt v 19.10.1977– verb Rs 117/76 u 16/77 – Ruckdeschel, Slg 1977, 1753; Urt v 19.10.1977– verb Rs 124/76 u 20/77 – Maisgritz, Slg 1977, 1795. 249 EuGH Urt v 25.11.1986 – verb Rs 201 u 202/85 – Marthe Klensch, Slg 1986, 3477. 250 EGMR Urt v 30.3.1989 – 17/1987/140/194 – Chappell/Vereinigtes Königreich, RUDH 1990, 172; Urt v 24.4.1990 – 4/1989/164/220 – Huvig/Frankreich, RUDH 1989, 214; Urt v 16.12.1992 – 72/1991/324/396 – Niemitz/Deutschland, EuGRZ 1993, 65 = NJW 1993, 718. 251 EuGH Urt v 22.10.2002 – C-94/00 – Roquette Frères SA, Slg 2002, I-9011 Rn 29. 252 Die Bandbreite reicht vom strikten Laizismus in Frankreich (Art 1 FrzVerf) über die weltanschauliche Neutralität des Staates in Deutschland (Art 4, 140 GG iVm Art 136 f WRV) bis zu den staatskirchenrechtlichen Regimes in Großbritannien (Act of Settlement, 1701, III), Schweden (Übergangsbestimmungen Ziff 9 ff SchwedVerf) und Dänemark (Kap I § 4 DänVerf). 253 EuGH Urt v 9.11.2010 – verb Rs C-92 u 93/09 – Schecke GbR u Eifert, Slg 2010, I-11063 = EuZW 2010, 939. 254 EuGH Urt v 27.7.1973 – Rs 35/72 – Kley/Kommission, Slg 1973, 679; Urt v 11.7.1974 – Rs 53/72 – Guillot/ Kommission, Slg 1974, 791; Groß Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992, 175; Fink EuGRZ 2001, 193. 255 EuGH Urt v 18.6.1991 – C-260/89 – ERT, Slg 1991, I-2925. 256 EuGH Urt v 3.7.1985 – Rs 243/83 – Binon/AMP, Slg 1985, 2017; Rengeling Grundrechtsschutz in der EG, 1993, 90. 257 EuGH Urt v 15.5.1986 – Rs 222/84 – Johnston/RUC, Slg 1986, 1651; Urt v 15.10.1987 – Rs 222/86 – Unectef/ Heylens, Slg 1987, 4097; Huber in: v Mangoldt/Klein/Starck, Art 19 Abs 4 Rn 527 ff, 538 ff; Rengeling Grundrechtsschutz in der EG, 158 ff; Brenner DV 31 (1998), 1, 8; Schwarze NJW 1992, 1065, 1068.

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– dem deutschen Recht vergleichbaren – umfassenden Individualrechtsschutzes. Eine grundrechtskonforme Auslegung von Art 263 IV AEUV im Lichte der unionalen Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art 47 GRCh) hält er für nicht zwingend.258 Auch der erst mit dem Vertrag von Lissabon eröffneten Individualrechtsschutzes gegen Maßnahmen mit Verodnungscharakter, die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, wird in der Rechtsprechung des EuG259 in Übereinstimmung mit dem herrschenden Schrifttum260 restriktiv ausgelegt.

b) Rechtsangleichung Die Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich 92 unmittelbar auf die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes auswirken, ist Sache der vor allem durch RiL bewerkstelligten Rechtsangleichung (Art 114ff, 288 III AEUV). Die Verträge überlassen den Mitgliedstaaten allerdings grundsätzlich die politische Gestal- 93 tungsfreiheit hinsichtlich ihrer Eigentums- und Unternehmensordnung (Art 345 AEUV). Vor allem die Entscheidung, ob Aufgaben der Daseinsvorsorge (Wasser-, Strom-, Abwasser-, Verkehrsversorgung etc), dh „Dienste von allgemeinem“ und „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“261 (Art 14, 106 II AEUV) durch die Öffentliche Hand selbst wahrgenommen werden oder durch private Dritte („to do or to buy“), fällt in ihre Zuständigkeit.262 Gleichwohl entfaltet das unionale Wettbewerbsrecht auch jenseits sekundärrechtlicher Vorgaben zumindest einen faktischen Privatisierungsdruck.263

c) Staatshaftung Handlungen oder Unterlassungen eines Mitgliedstaates oder seiner Organe, die gegen Unions- 94 recht verstoßen, können zur Haftung des Mitgliedstaates führen und Entschädigungsansprüche nach sich ziehen.264 Das setzt einen „hinreichend qualifizierten“ Verstoß gegen eine Schutznorm zugunsten des Geschädigten in dem Sinne voraus, dass die dem Ermessen des Mitgliedstaates gezogenen Grenzen „offenkundig und erheblich“ überschritten worden sind.265 Damit

_____

258 EuGH Urt v 15.7.1963 – Rs 25/62 – Plaumann/Kommission, Slg 1963, 197; Urt v 22.112001– C-451/98 – Antillean Rice Mills/Rat, Slg 2001, I-8949; Urt v 25.7.2002–C-50/00 P – Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg 2002, I-6677 o JK EGV Art 230 IV/2; Urt v 1.4.2004 – C-263/02 P – Jégo-Quéré, Slg 2004, I-3425 o JK EGV Art 230 IV/3; krit Braun/Kettner DÖV 2003, 58, 64 f; Huber in: Streinz, EUV/AEUV, Art 19 EUV Rn 14. 259 EuG Beschl v 6.9.2010 – T-18/10 – Inuit Tapiriit Kanatami, EuZW 2012, 395 Rn 38 ff; Urt v 25.10.2011 – T-262/10 – Microban International Ltd, EWS 2012, 95 Rn 20 ff. 260 Thiele EuR 2010, 30, 43 f; Herrmann NVwZ 2011, 1352. Krit Everling EuZW 2012, 376. 261 Daseinsvorsorge, service publique, public service, servizio pubblico. 262 EuGH Urt v 22.11.2001 – C-53/00 – Ferring, Slg 2001, I-9067; Urt v 24.7.2003 – C-280/00 – Altmark Trans, Slg 2003, I-7747; Urt v 16.3.2004 – C-264/01 – AOK-Bundesverband ua/Ichtyol, Slg 2004, I-2493. 263 S EuGH Urt v 23.4.1991 – C-41/90 – Höfner und Elser, Slg 1991, I-1979 (Arbeitsvermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit für Führungskräfte unzul); Urt v 11.12.1997 – C-55/95 – Job Centre, Slg 1997, I-7119 (ital Arbeitsverwaltung); Bauer, VVDStRL 54 (1996), 243, 261; Böhmann Privatisierungsdruck des Europarechts, 2001; Huber Recht der Europäischen Integration, § 24 Rn 2 f. 264 EuGH Urt v 19.11.1991 – C-6/90 u C-9/90 – Francovich, Slg 1991, I-5357; EuGH Urt v 8.10.1996 – verb Rs C178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 u C-190/94– Dillenkofer/MP Travel Line, Slg 1996, I-4845; BGHZ 134, 30; Hailbronner JZ 1992, 284; Ossenbühl DVBl 1992, 993; Tomuschat FS Everling, 1995, Bd II, 1585; Huff NJW 1996, 3190; Huber Recht der Europäischen Integration, § 24 Rn 69 ff. 265 EuGH Urt 5.3.1996 – verb Rs C-46/93 u C-48/93 – Brasserie du pêcheur/Factortame III, Slg 1996, I-1029 o JK EGV Art 5/1 (Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit); Urt v 10.7.1997 – C-373/95 – Maso, Slg 1997, I-4051; Urt v 14.5.1998 – C-364/96 – Verein für Konsumenteninformation/Österreichische Kreditversicherungs AG, Slg 1998, I-2949; Urt v 4.7.2000 – C-424/97 – Haim II, Slg 2000, I-5123 o JK EGV Art 43/2; Urt v 30.9.2003 – C-224/01 – Köbler, Slg 2003, I-10239 sowie Urt v 13.7.2006 – C-173/03 – Traghetti del Mediterraneo SpA, Slg 2006, I-5177 (Staatshaftung f Richterunrecht); v Danwitz JZ 1994, 335; Detterbeck VerwArch 85 (1994), 159; Diehr Der Staatshaftungsanspruch des Bürgers wegen Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch die deutsche öffentliche Gewalt, 1997; Ehlers JZ 1996,

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hat der EuGH die Staatshaftung der Mitgliedstaaten im Bereich des Unionsrechts an die außervertragliche Haftung der EU angepasst, die ihrerseits auf den allgemeinen Rechtsgrundsätzen beruht, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind (Art 340 II AEUV). Allerdings ist mit Blick auf die Geltendmachung dieses Staatshaftungsanspruchs unklar, ob es sich, wie der BGH meint, um einen eigenständigen, unionsrechtlich radizierten Anspruch handelt,266 oder – was vorzugswürdig erscheint – um die Pflicht zu einer unionsrechtskonformen Auslegung von § 839 BGB iVm Art 34 GG.267

4. Binnenmarkt und Grundfreiheiten 95 Anders als das Grundgesetz folgen die (Unions-)Verträge nicht dem Leitgedanken der „wirtschaftspolitischen Neutralität“, sondern sind ordnungspolitisch auf den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“268 festgelegt (Art 3 III EUV; Art 26 II, 101 AEUV). Sie findet ihren Bezugspunkt im Binnenmarkt, dh in jenem Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist (Art 26 II AEUV). Dort sind Marktfreiheit, Marktgleichheit und ein System unverfälschten Wettbewerbs (Art 3 III EUV, Prot Nr 27) die zentralen Grundsätze. Sie werden durch die Grundfreiheiten (Art 28ff AEUV) und die Wettbewerbsregeln (Art 101ff AEUV) näher konkretisiert.269

a) Grundfreiheiten 96 Der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital ist einerseits ein objektivrechtliches Programm; er wird dem Einzelnen durch die Grundfreiheiten, die er als subjektive öffentliche Rechte gegen die Mitgliedstaaten geltend machen kann, jedoch zugleich individuell garantiert.270 Die Grundfreiheiten stellen zum einen bereichsspezifische Konkretisierungen des Diskriminierungsverbotes aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art 18 AEUV) dar; als sog Beschränkungsverbote verbürgen sie dem Einzelnen zum anderen aber auch einen grundsätzlichen Freiheitsanspruch im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr. Nach dem vom EuGH entwickelten Ursprungs- oder Herkunftslandprinzip sind Waren und Dienstleistungen in der gesamten EU verkehrsfähig, wenn sie den rechtlichen Anforderungen des Herkunftslandes genügen;271 Personen genießen entsprechend Freizügigkeit (Art 21, 45, 49 AEUV). Aus der Rechtsordnung des Bestimmungslandes stammende Hindernisse für den innergemeinschaftlichen Handel oder die Freizügigkeit müssen dagegen nur hingenommen werden, wenn sie durch bestimmte zwingende Erfordernisse des öffentlichen Interesses gerechtfertigt und verhältnismäßig sind.272 Die Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV) ist lex specialis zu den anderen Grundfreiheiten, 97 wenn eine Firmengruppe mit Sitz in mehreren Mitgliedstaaten Waren und Dienstleistungen ver-

_____ 776; Everling EuZW 1995, 33; Jarass NJW 1994, 881; Kopp DÖV 1994, 201; Ossenbühl FS Everling 1995, 1031; Papier in: Rengeling, EUDUR 2. Aufl 2003, Bd I, § 43; Pfab Staatshaftung in Deutschland, 1997; Streinz EuZW 1993, 599; ders EuZW 1996, 201. 266 BGHZ 134, 30, 36 – Brasserie du Pêcheur; Ossenbühl Staatshaftungsrecht, 5. Aufl, 1998, 526. 267 Huber Recht der Europäischen Integration, § 24 Rn 70 ff; Schoch FS Maurer, 2001, 759, 772. 268 Storr Der Staat als Unternehmer, 256 ff; Huber FS Badura, 2004, 897, 907 ff. 269 Kilian Europäisches Wirtschaftsrecht, 4. Aufl 2010; Nicolaysen Europarecht: 2. Das Wirtschaftsrecht im Binnenmarkt, 1996; Schwarze DVBl 1996, 881. 270 Huber Recht der Europäischen Integration, § 17 Rn 46; Masing Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997. 271 EuGH Urt v 11.7.1974 – Rs 8/74 – Dassonville, Slg 1974, 837. 272 EuGH Urt v 20.2.1979 – Rs 120/78 – Cassis de Dijon, Slg 1979, 649.

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treibt;273 sie verbürgt das Recht zur Gründung von Zweigniederlassungen 274 und zur Verlegung des Verwaltungssitzes nach Maßgabe des Rechts des Herkunftslandes.275 Der Versuch der EU-Kommission, diesen Grundsatz für alle von Art 57 AEUV erfassten 98 Tätigkeiten in einer Dienstleistungsrichtlinie festzuschreiben, Hindernisse für den freien Dienstleistungsverkehr und die Niederlassungsfreiheit unter Verzicht auf eine Harmonisierung zu beseitigen und den Spielraum der Mitgliedstaaten bei der Begrenzung dieser Grundfreiheiten weitgehend auszuschließen, ist zunächst auf Widerstand gestoßen.276 In abgeschwächter Form ist die Richtlinie – nachdem die Bereiche der öffentlichen Verwaltung und der Daseinsvorsorge ausgenommen worden waren – in die am 28.12.2006 in Kraft getretene RL 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt277 gemündet, die insbesondere für die Organisation der Wirtschaftsverwaltung erhebliche Änderungen mit sich gebracht hat. So mussten die Mitgliedstaaten einen einheitlichen Ansprechpartner einrichten, mit dessen Hilfe Dienstleistungserbringer „alle Verfahren und Formalitäten, die für die Aufnahme ihrer Dienstleistungstätigkeiten erforderlich sind, insbesondere Erklärungen, Anmeldungen oder die Beantragung von Genehmigungen bei den zuständigen Behörden, einschließlich der Beantragung der Eintragung in Register, Berufsrollen oder Datenbanken oder der Registrierung bei Berufsverbänden oder Berufsorganisationen“ sowie die „Beantragung der für die Ausübung ihrer Dienstleistungstätigkeit erforderlichen Genehmigungen“ (Art 6 I RL 2006/123/EG) abwickeln können. Die Verfahrensabwicklung muss zudem in elektronischer Form möglich sein (Art 8 I RL 2006/123/EG). In Deutschland ist dies ua mit den §§ 8a ff, 71a ff VwVfG, §§ 6–6c, 13a–13c GewO, § 5b HwO geschehen.

b) Unionales Wettbewerbsrecht Mit der zunehmenden Verwirklichung von Marktfreiheit und Marktgleichheit hat das dritte 99 Standbein des Binnenmarktes eine immer größere Bedeutung erlangt: die Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs. Auch wenn der Vertrag von Lissabon diese Gewährleistung als eigenständiges Ziel nicht mehr aufführt, wird es seine zentrale Bedeutung behalten (Prot Nr 26). Instrumente zur Verwirklichung des unverfälschten Wettbewerbs sind das Kartellrecht (Art 101 ff AEUV, FusKVO (EG) Nr 139/2004,278 KartV-VO (EG) Nr 1/2003279), das im Interesse von Konkurrenten und Verbrauchern das Entstehen marktbeherrschender Unternehmen ebenso verhindern soll wie eine Abstimmung ihres Geschäftsgebarens oder die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung sowie die Beihilfenaufsicht (Art 107 f AEUV; VO (EG) Nr 659/1999). Sie hat die Aufgabe, finanzwirksame Privilegierungen einzelner Unternehmen durch die Mitgliedstaaten zu unterbinden und damit Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden (Rn 231 ff). Beide Instrumente finden über Art 106 I AEUV auch auf öffentliche Unternehmen Anwendung, soweit dadurch nicht die Erfüllung von Aufgaben der Daseinsvorsorge rechtlich oder tatsächlich verhindert wird, Art 106 II AEUV (Rn 249). Seit Ende der 1990er Jahre ist die Entwicklung des unionalen Wirtschaftsrechts – nicht zu- 100 letzt durch französische Einflüsse – durch eine wachsende Skepsis gegenüber der Gewährleis-

_____ 273 EuGH Urt v 1.2.2001 – C-108/96 – Mac Quen, Slg 2001, I-837. 274 EuGH Urt v 9.3.1999 – C-212/97 – Centros, Slg 1999, I-1459. 275 EuGH Urt v 5.11.2002 – C-208/00 – Überseering, Slg 2002, I-9919 o JK EGV Art 43/3; EuGH Urt v 12.7.2012, – C-378/10 – VALE Építési kft, EuZW 2012, 621 (Verbot, eine ausländische Gesellschaft in eine solche innerstaatlichen Rechts umzuwandeln, verstößt gg Art 49, 54 AEUV). 276 European Parliament (ed), Hearing Internal Market Committee, Nov 11th 2004, 2005. 277 ABl 2006 L 376/36. 278 VO (EG) Nr 139/2004 des Rates v 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen – EGFusionskontrollverordnung, ABl 2004 L 24/1. 279 VO (EG) Nr 1/2003 des Rates v 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl 2003 L 1/1.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

tung eines unverfälschten Wettbewerbs gekennzeichnet und, damit einhergehend, durch einen immer umfassenderen Zugriff der EU auf alle Bereiche der Daseinsvorsorge (Art 14, 106 AEUV). Diese Entwicklung wird markiert durch die Aufnahme von Art 14 AEUV (Art 16 EGV aF) mit dem Vertrag von Amsterdam (1997/99) und durch die Streichung des Ziels eines „unverfälschten Wettbewerbs“ aus dem Katalog des Art 3 EUV durch den Vertrag von Lissabon (2007/09).280 Die Ermächtigung der EU durch Art 14 S 2 AEUV, in Zukunft „Grundsätze“ und „Bedingungen“ der Daseinsvorsorge (Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse) durch Verordnung (!) festlegen zu können, wird ihre Definitonsmacht auch in diesem Bereich erweitern, auch wenn Art 1 Prot Nr 26281 die wichtige Rolle und den weiten Ermessensspielraum der nationalen Stellen bei der Frage betont, „wie“ Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren sind, und ungeachtet des Umstandes, dass Art 2 ihre Zuständigkeit für nichtwirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse bekräftigt. Da die EU die Daseinsvorsorge (service public, public service, servizio pubblico) jedoch für einen wesentlichen Teil des „europäischen Gesellschaftsmodells“ hält (siehe insb Art 1 Sp 3 Prot Nr 26), und sie die Skepsis der Bürger auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Globalisierung zurückführt, hat die Kommission seit dem Jahr 2000 einen Paradigmenwechsel hin zu einer eher paternalistischen Politikkonzeption vollzogen, in der sie sich um die Lebensgrundlagen der Unionsbürger kümmert.282 Dazu passt die Einführung des auf die Feststellung eines (vermeintlichen) Marktversagens zielende, politischen Dezisionismus verschleiernde „more economic approach“.283 3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht IV. Wirtschafts- und Währungspolitik – 3. Kapitel

IV. Wirtschafts- und Währungspolitik 1. Begriffe 101 Die Wirtschaftspolitik besteht aus den sich in (staats-)leitenden und gesetzgeberischen Akten niederschlagenden politischen Entscheidungen – der EU-Organe, des Parlaments und der Regierung – über die Ordnung, die Entwicklung und den Ablauf der Wirtschaft.284 Auf der Grundlage der auf Privatautonomie und sozialer Marktwirtschaft beruhenden Wirtschaftsordnung bildeten die Sicherung des Wettbewerbs und die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bislang die leitenden Zielsetzungen der Wirtschaftspolitik. In jüngerer Zeit kommt daneben der Begrenzung der Staatsverschuldung eine immer größere Bedeutung zu. Die Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips fügt dieser Grundorientierung weitere Ziele 102 und Maßnahmen der Strukturpolitik und der Gesellschaftspolitik hinzu, in denen auch die Interdependenz mit der raumbezogenen Planung und der Sozialpolitik wirksam wird. Die Sicherung der Ernährung, der Rohstoffzufuhr und der Energieversorgung sowie die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen durch den Schutz von Natur und Umwelt (Art 20a GG, Art 114 III, 191 AEUV) haben Beschränkungen der Wirtschaftsfreiheit durch verschieden-

_____ 280 Art 3 III EUV. Vgl aber das Prot (Nr 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb, ABl 2010 L 83/309. 281 Prot (Nr 26) über Dienste von allgemeinem Interesse, ABl 2010 L 83/308. 282 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität: eine neue gesellschaftliche Vision für das Europa des 21. Jahrhunderts, KOM (2007) 726 endg; Huber L’armonizzazione dei servizi di interesse economico generale in europa es i suoi limit, Servizi pubblici e appalti, 1/2005, 85 ff; Wuermeling, Schorkopf und Ruge in: Bungenberg/Huber/Streinz, Daseinsvorsorge und öffentliches Beschaffungswesen nach dem Lissabonner Vertrag, 2011, 27 ff; 35 ff; 49 ff. 283 KOM (2005) 107 endg v 7.6.2005 Rn 21 ff; im Einzelnen Kersten VVDStRL 69 (2010), 288, 297; Koenig/Paul in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 107 AEUV Rn. 89 ff; v Wallenberg/Schütte in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 107 AEUV Rn 179. 284 v Arnim Volkswirtschaftspolitik, 6. Aufl 1998.

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IV. Wirtschafts- und Währungspolitik – 3. Kapitel

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artige Eingriffe und Steuerungsmaßnahmen zur Folge, die sich als Ausdruck der sozialstaatlichen Wirtschaftspolitik verstehen lassen. Globalisierung und europäische Integration machen die Sicherung des „Wirtschaftsstandortes Deutschland“ zum vorrangigen Ziel nationaler Wirtschaftspolitik.285 Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist es daher, unter den Bedingungen von europäischer Integration und „offener“ Weltwirtschaftsordnung 286 – die normativen Rahmenbedingungen von Produktion und Verteilung durch die staatliche Gesetzgebung bereitzustellen, – Rechte und Pflichten von Einzelnen und Unternehmen zu schützen, insbesondere durch Gefahrenabwehr, Risikovorsorge und die gerichtliche Durchsetzung des Rechts, – die Existenz einer den zivilisatorischen Gegebenheiten angepassten Infrastruktur und daseinsnotwendigen Versorgung sicherzustellen, sei es durch Eigentätigkeit der Öffentlichen Hand (Erfüllungsverantwortung), sei es durch Regulierung des privaten Angebots (Gewährleistungsverantwortung), und – defizitäre Wirtschaftssektoren und -regionen durch Wirtschaftslenkung zu fördern, durch staatliche Interventionen, Beihilfen oder andere Anreize (zB Einspeisevergütungen, Sonderabgaben). Die Wettbewerbspolitik ist bestrebt, auf den dafür geeigneten Märkten den Zustand wirksamen 103 Wettbewerbs herzustellen und zu erhalten, um die marktwirtschaftliche Steuerungsfunktion des Preises zu sichern. Sie wendet sich mit Hilfe wettbewerbs- und kartellrechtlicher Regelungen gegen den Wettbewerb gefährdende Unternehmenzusammenschlüsse (Fusionskontrolle), Verfälschungen und Beschränkungen des Wettbewerbs durch „unlauteres“ Verhalten, durch die Bildung oder Ausnutzung monopolistischer oder oligopolistischer Marktmacht und gegen Kartellabsprachen. Wesentlicher Ausdruck der marktwirtschaftlich orientierten Wettbewerbspolitik sind auf unionaler Ebene Art 101 f AEUV sowie die VO (EG) Nr 1/2003 und VO (EG) Nr 139/2004 („FusKVO“), auf nationaler Ebene das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Der „Ordo-Liberalismus“ der vor allem durch die Arbeiten von Walter Eucken bestimmten neoliberalen Freiburger Schule 287 erwartet die optimale Produktivität und Versorgung der Gesellschaft von den Mechanismen des Wettbewerbs. Die Wettbewerbspolitik bedarf daher der Einfügung in eine umfassende Ordnungspolitik. Durch die Programmatik der „sozialen Marktwirtschaft“ nehmen der Staat und die EU in Anspruch, die Bedingungen des unverfälschten Wettbewerbs zu gewährleisten und Fehlentwicklungen oder Mängel der marktwirtschaftlichen Allokation zu korrigieren (Art 3 III UA 1 EUV: „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“). Die Wachstumspolitik strebt eine Steigerung der Produktivität, des Sozialprodukts und des 104 Lebensstandards an; ihr Ziel ist eine angemessene Entwicklung der Wirtschaft, insbesondere durch die Förderung der technologischen Innovation. Die Komplexität der wachstums- und konjunkturpolitischen Zielsetzung der Wirtschaftspolitik zeigt sich in dem Richtlinienbündel des § 1 StabG: 288 „Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, dass sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.“ (zur Europäisierung Rn 112).

_____ 285 Bericht der BReg zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland, BR-Drs 626/93; Fortschrittsbericht, BTDrs 12/8090. 286 v Weizsäcker Logik der Globalisierung, 1999; Di Fabio Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001. 287 Eucken Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 7. Aufl 2004; Böhm Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, 1980; v Weizsäcker Ztschr für Wirtschaftspolitik 47 (1998), 257. 288 Stern/Münch/Hansmeyer Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, 2. Aufl 1972, 35 ff; v der Lippe Stabilität und Wachstum, 1975.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

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Die Konjunkturpolitik zielt darauf ab, die Entwicklung der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage, die sich in den Ausgaben des Staates, der Unternehmen (Investitionen) und der Haushalte (Verbrauch) ausdrückt, möglichst gleichmäßig und frei von den Schwankungen der Übernachfrage und des Überangebots zu halten. Den konjunkturpolitischen Zielen dienen hauptsächlich global ansetzende und insofern mittelbar lenkende Steuerungsmaßnahmen der Wirtschaftspolitik. Maßnahmen der Finanzpolitik der öffentlichen Haushalte, der Währungspolitik, der Kreditpolitik und der Außenwirtschaftspolitik stehen im Vordergrund.289 Die Kreditpolitik ist Sache des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB), das aus der Europäischen Zentralbank (EZB) und den (unabhängigen) nationalen Notenbanken besteht.290 Sie beeinflusst über den Zinssatz und die Liquidität der Geschäftsbanken die Kreditaufnahme auf dem Kapitalmarkt und damit die Investitionen. Die konjunkturpolitisch orientierte Finanzpolitik lenkt einerseits durch Art und Maß der Besteuerung die für Investitionen und Konsum verfügbare Geldmenge und setzt andererseits als antizyklische oder kompensatorische „fiscal policy“ die haushaltswirtschaftlichen Ausgaben der Öffentlichen Hand zur Dämpfung oder Ankurbelung der Konjunktur ein. 106 Soweit die Wachstumspolitik darauf gerichtet ist, zurückgebliebene oder dem marktwirtschaftlichen Prozess nicht gewachsene Gebiete oder Wirtschaftszweige zu unterstützen oder zu entwickeln, ist sie regionale oder sektorale Strukturpolitik. Strukturpolitische Maßnahmen bestehen hauptsächlich darin, eine eigene Investitionstätigkeit der Öffentlichen Hand zu entfalten, die der Verbesserung der sozialen und technischen Infrastruktur, der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Begünstigung von Innovationen und der Umstrukturierung ländlicher Gebiete dient und Investitionen Privater durch Subventionen und steuerliche Vorteile anzuregen und zu fördern. Die Strukturpolitik steht in einem engen Zusammenhang mit der Raumordnungspolitik, nimmt aber ebenso Zielsetzungen der Arbeits- und Sozialpolitik, der Verkehrspolitik, der Energiepolitik und des Umweltschutzes auf. Die regionale Strukturpolitik ist eine Schwerpunktförderung mit regionalen Aktionsprogrammen in abgegrenzten Fördergebieten; sie ist auf unionaler Ebene als eigenständiger Politikbereich („wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“, Art 174 ff AEUV) ausgestaltet, dessen Instrumente vor allem der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (Art 176 AEUV) und die Strukturfonds (Art 177 AEUV) sind. Im nationalen Bereich ist die Verbesserung der regionalen Wirtschafts- (Art 91a I Nr 1 GG)291 und der Agrarstruktur (Art 91a I Nr 2 GG) eine Gemeinschaftsaufgabe.292 Hauptfelder der sektoralen Strukturpolitik, die von der regionalen Strukturpolitik nicht immer eindeutig abgrenzbar ist, sind die Landwirtschaft, (noch) der Kohlebergbau und die Förderung erneuerbarer Energien.293 Dabei

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289 Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, 1966; Koller Der öffentliche Haushalt als Instrument der Staats- und Wirtschaftslenkung, 1983; Klein, Öffentliches Finanzrecht, 2. Aufl 1993; Andel Finanzwissenschaft, 4. Aufl 1998. 290 Art 88 GG; G über die Dt Bundesbank v 22.10.1992 (BGBl I 1782), zul geänd durch G v 22.12.2011 (BGBl I 2959); Art 127 ff AEUV, Satzung des ESZB. 291 G über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ v 6.10.1969 (BGBl I 1861), zul geänd durch G v 7.7.2007 (BGBl I 2246); Sechsunddreißigster Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 2007 bis 2010 BT-Drs 16/5215. – Das Gesetz gibt dem Rahmenplan eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Außenwirkung, BVerwG NJW 1980, 1862. Carl AöR 114 (1989), 450; Schmidt, Aktuelle Fragen der regionalen Strukturpolitik, 1989. 292 Art 91a I Nr 2 GG; G über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ idF v 21.7.1988 zul geänd durch G v 9.12.2010 (BGBl I 1934); Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für den Zeitraum 2007 bis 2010, BT-Drs 16/5324; Agrarpolitischer Bericht 2011, BT-Drs 17/5810. – Der Rahmenplan hat keine Rechtssatzqualität, BVerwG DÖV 1987, 289. 293 Vgl die „Eckpunkte einer kohlepolitischen Verständigung von Bund, Land Nordrhein-Westfalen (NRW) und Saarland, RAG AG und IG BCE“ v 7.2.2007 betreffend einen sozialverträglichen Ausstieg aus der subventionierten Förderung der Steinkohle in Deutschland bis 2018 mit Revisionsklausel 2012 (dokumeniert etwa unter www.bmwi. de) und das G zur Finanzierung der Beendigung des subventionierten Steinkohlebergbaus zum Jahr 2018 (Steinkohlefinanzierungsgesetz) v 20.12.2007 (BGBl I 3086), zul geänd durch G v 11.7.2011 (BGBl I 1344).

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IV. Wirtschafts- und Währungspolitik – 3. Kapitel

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sind unionsrechtliche Vorgaben im Bereich der Agrarpolitik (Art 38 ff AEUV) und der Beihilfenkontrolle (Art 108 III 3 AEUV) zu beachten. Die Mittelstandspolitik hat eine bis in die Weimarer Zeit zurückgehende Tradition (Art 164 107 WRV) und in zahlreichen Gesetzen des Öffentlichen Wirtschaftsrechts Niederschlag gefunden. So bestimmt etwa § 97 III GWB für das Vergaberecht, dass mittelständische Interessen vornehmlich durch die Teilung der Aufträge in Fach- und Teillose angemessen zu berücksichtigen sind; die Länder haben darüber hinaus Mittelstandsförderungsgesetze erlassen (MFG BW, BayMfG, BbgMFG, MFG Hamburg etc).

2. Wirtschaftspolitik Mit der 1967 normierten staatlichen Verantwortung für das „gesamtwirtschaftliche Gleichge- 108 wicht“ (Art 109 II GG) hat der verfassungsändernde Gesetzgeber das an sich bereits von Art 20 I GG umfasste Mandat zur Konjunktur- und Wachstumspolitik bekräftigt und konkretisiert. Die Bedeutung des Art 109 GG erschöpft sich jedoch nicht in der konjunkturpolitischen Einbindung der Haushalts- und Finanzpolitik und in der Ausrichtung der kommunalen Finanzhoheit an den konjunkturpolitischen Erfordernissen. Das auf der Grundlage von Art 109 GG erlassene StabG bindet Bund und Länder vielmehr auch bei ihren wirtschaftspolitischen Maßnahmen an die in Art 109 GG nur in einer Generalklausel ausgedrückten, in § 1 StabG genauer angegebenen Grundsätze der Konjunktur- und Wachstumspolitik. Diese Grundsätze, wie auch die zugrunde liegende verfassungsrechtliche Generalklausel, bilden eine Direktive für Parlament und Regierung, sind aber keine Grundlage für individuelle Ansprüche.

a) Konjunkturpolitik und Globalsteuerung aa) Ökonomische Konzeption. Ziel der Globalsteuerung ist die Gewährleistung des gesamt- 109 wirtschaftlichen Gleichgewichts. Dieses wird durch die Ziele des „magischen Vierecks“ konkretisiert: – Stabilität des Preisniveaus, – hoher Beschäftigungsstand, – außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei – stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum. Nach der ökonomischen Theorie von J. M. Keynes soll die staatliche Haushalts- und Finanzpoli- 110 tik deshalb im Interesse der Konjunkturstabilisierung auf eine antizyklische Steuerung des Konjunkturablaufs ausgerichtet werden und ihr die dazu notwendigen rechtlichen Instrumentarien verschaffen. Antizyklische Konjunkturpolitik bedeutet, dass bei guter Wirtschaftslage Kredite zurückgezahlt und staatliche Ausgaben vermindert werden (surplus saving), bei schlechter Wirtschaftslage jedoch die staatlichen Ausgaben und die Kreditaufnahme ausgeweitet werden sollen (deficit spending). Ein jüngeres Beispiel bildet die Abwrackprämie, die der Gesetzgeber in der Finanzkrise der Jahre 2008/09 aufgelegt hat, um die Nachfrage nach KfZ zu stimulieren.294 bb) Bindungswirkung. Art 109 II GG verpflichtet Bund und Länder, bei ihrer Haushaltswirt- 111 schaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen. Ungeachtet der Offenheit dieses Begriffs – das BVerfG spricht von einem „unbestimmten Verfassungsbegriff“ – handelt es sich hierbei nicht nur um einen allgemeinen Programmsatz, sondern um

_____ 294 Förderrichtlinie des BMWi v 7.3.2009.

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eine Staatszielbestimmung mit unmittelbar geltender rechtlicher Verpflichtung. Die Offenheit des Begriffs macht ihn jedoch ausfüllungs- und interpretationsbedürftig, wobei die Besonderheiten der Konjunkturpolitik (Unbestimmtheit der einzelnen Zielkomponenten, Zielkonflikte zwischen den einzelnen Teilzielen, Ungewissheit über die notwendige Intensität der einfachgesetzlichen Mittel usw) eine verfassungsgerichtliche Kontrolle nur bei offensichtlichen Missgriffen zulassen. Normenkontrollanträge gegen das HHG 1981 und das HHG 2004 wegen einer möglichen Verletzung der Verschuldungsgrenze des Art 115 I 2 GG aF blieben insoweit erfolglos, weil das Gericht den weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers nicht überschritten sah.295 Zwar wurde dieser durch eine im Gesetzgebungsverfahren zu erfüllende Darlegungslast begrenzt; das änderte jedoch nichts daran, dass, wie die Richter Di Fabio und Mellinghoff in ihrem Sondervotum formulierten, der Verschuldensbegrenzungsregelung des Art 115 I 2 GG aF dadurch jede Wirkung genommen wurde.296 Im Jahr 2009 wurde Art 115 I 2 GG aF aufgehoben und durch die „Schuldenbremse“ (Art 109 III, 115 II GG) ersetzt.297 Der Eintritt Deutschlands in die 3. Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion zum 1.1.1999 112 hat die Verpflichtung der Haushaltswirtschaft auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Art 109 II, 115 I 2 GG und § 1 StabG europäisiert. Seitdem verleihen Art 119 II 4 und 127 I 1 AEUV und der sie innerstaatlich konkretisierende Art 88 S 2 GG dem Ziel der Preisstabilität Vorrang vor den anderen Zielen des „magischen Vierecks“ und schränken die Möglichkeiten nationaler Konjunktur- und Wirtschaftspolitik damit empfindlich ein. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat Art 109 II GG im Jahre 2009 denn auch neu gefasst und den Vorrang der Verpflichtungen aus Art 126 AEUV (= Art 104 EGV aF) vor der Bindung an das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht verfassungsrechtlich festgeschrieben. 113 cc) Instrumentarium. Das StabG trifft eine Anzahl von Vorkehrungen zur Vorbereitung und Unterstützung konjunkturpolitischer Maßnahmen. Es verpflichtet die Bundesregierung zur Vorlage eines Jahreswirtschaftsberichts (§ 2) 298 und zur Aufstellung von Orientierungsdaten für ein gleichzeitiges aufeinander abgestimmtes Verhalten („konzertierte Aktion“) der Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Unternehmensverbände zur Wahrung der Ziele des § 1 (§ 3) und zur Vorlage zweijähriger Subventionsberichte (§ 12 II).299 Bund und Länder werden zu einer fünfjährigen Finanzplanung verpflichtet (§§ 9, 10, 14 StabG; §§ 50 ff HGrG).300 Zu den im StabG vorgesehenen Maßnahmen gehören Konjunkturausgleichsrücklagen und Kreditaufnahmen (§§ 5–8, 13, 14, 15), Kreditlimitierungen zu Lasten der öffentlichen Haushalte (§§ 19 ff) und Veränderungen des Steuersatzes der Einkommen- und der Körperschaftsteuer im Wege der Rechtsverordnung (§§ 26 Nr 3, 27). 114 dd) Bewertung. Die keynesianische Fiskalpolitik wurde in ihrer Wirksamkeit seit den 1980er Jahren angezweifelt und vor allem in den USA und Großbritannien tendenziell durch eine Geldmengenpolitik (M. Friedman)301 abgelöst, die auf eine bestimmte Rate einer der Wachstumsentwicklung angepassten monetären Gesamtgröße abstellt. Der Umfang der Kreditvergabe

_____ 295 BVerfGE 79, 311, 338 – HHG 1981; E 119, 96, 137 ff – HHG 2004. 296 SV Di Fabio und Mellinghoff zu BVerfGE 119, 96, 155 ff – HHG 2004. 297 G zur Änderung des GG (Artikel 91c, 91d, 104b, 109, 109a, 115, 143d) v 29.7.2009 (BGBl I 2248). – Koemm Eine Bremse für die Staatsverschuldung?, 2011. 298 Jahreswirtschaftsbericht 2012 der BReg, BT-Drs 17/8359. – Dazu Jahresgutachten 2011/12 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Drs 17/7710. 299 Bericht der BReg über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen für die Jahre 2009 bis 2012 (23. Subventionsbericht), BT-Drs 17/6795. 300 Zuerst: Beschl der BReg v 6.7.1968 über die Finanzplanung des Bundes bis 1971 (Bulletin 1968, Nr 73); zuletzt: Finanzplan des Bundes 2012 bis 2016, BT-Drs 17/10201 – Graf Vitzthum Parlament und Planung, 1978, 164 ff. 301 Friedman A Monetary History of the United States, 1867–1960, 1964.

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durch Geschäftsbanken etc und die damit verbundene Schöpfung sog Buchgeldes302 setzen jedoch auch der Steuerung der Geldmenge durch die Notenbanken praktische Grenzen. Sie haben zB die erhebliche Ausweitung der Geldmenge in der Eurozone seit dem Jahr 2000 ermöglicht und Spekulationsblasen (zB auf dem spanischen Immobilienmarkt) nicht verhindern können. Das zentrale Problem der antizyklischen Haushalts- und Finanzpolitik besteht freilich darin, 115 dass es nirgends gelungen ist, die in Rezessionsphasen ausgeweitete Staatsverschuldung in Phasen der wirtschaftlichen Erholung wieder zurückzuführen. Die Staatsverschuldung in den meisten Industriestaaten hat mittlerweile Größenordnungen zwischen 80% und 200% des BIP erreicht. Vor diesem Hintergrund bleiben für die Fiskalpolitik letztlich nur drei Alternativen: eine Insolvenz von Staaten, eine beschleunigte Inflation oder eine kontinuierliche Rückführung der Staatsverschuldung (Rn 116).

b) Fiskalpolitik Angesichts der Unzulänglichkeiten von Konjunkturpolitik und Globalsteuerung hat sich die Fis- 116 kalpolitik in den vergangenen Jahren zu einem immer wichtigeren Bereich der Wirtschaftspolitik entwickelt, die vor allem auf eine Reduzierung der Staatsverschuldung zielt. aa) Unionsrechtliche Grundlagen. So sah schon der EGV in der Fassung des Vertrages von 117 Maastricht vor, dass an der 3. Stufe der WWU nur teilnehmen durfte, wer ua kein übermäßiges Defizit aufwies (Rn 129). Art 126 AEUV verpflichtet die Mitgliedstaaten auch nach Eintritt in die Währungsunion, übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden (Abs 1). Er sieht insoweit einen Aufsichtsmechanismus durch die EU-Kommission vor, der zunächst in einen Bericht mündet (Abs 3), letztlich aber in einer mit qualifizierter Mehrheit zu treffenden Entscheidung des Rates über das Vorliegen eines übermäßigen Defizits (Abs 6). Daran schließen sich Empfehlungen des Rates an (Abs 7), die veröffentlicht werden können (Abs 8) sowie – für den Fall, dass der Mitgliedstaat ihnen nicht Folge leistet – das Inverzugsetzen, das ihn verpflichtet, die Maßnahmen zu treffen, die der Rat für erforderlich hält (Abs 9). Solange der Mitgliedstaat diesen Vorschlägen nicht Folge leistet, kann der Rat sogar finanzielle Sanktionen verhängen (Abs 11). Die (willkürliche) Aussetzung des Defizitverfahrens verstößt gegen Art 126 AEUV.303 Der Stabilitäts- und Wachstumspakt304 konkretisiert diese primärrechtlichen Vorgaben 118 durch die VO/EG Nr 1466/97 des Rates vom 7.7.1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken305 und durch die VO/EG Nr 1467/97 des Rates vom 7.7.1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit. Dabei regelt die VO/EG Nr. 1466/97 die regelmäßige Vorlage und Prüfung der von den Mitgliedstaaten vorzulegenden Stabilitätsprogramme (Art 3ff), ihre Umsetzung (Art 6) und die Heranführung der nicht teilnehmenden Staaten auf der Grundlage sog Konvergenzprogramme (Art 7ff), während die VO/EG Nr 1467/97 das komplizierte Verfahren des Art 126 AEUV durch eine Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe, eine Standardisierung der Sanktionen (Art 11ff) und enge Fristvorgaben etc zu operationalisieren sucht. Auch Vorschriften für das Ruhen des Verfahrens bei „willigen“ Mitgliedstaaten finden sich hier (Art 9ff). Nach der ersten Krise wurden diese Verordnungen durch die VO/EG Nr 1055/2005 306 und

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302 Grundlegend Herrmann Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 43ff; Issing Einführung in die Geldtheorie, 15. Aufl 2011, 6, 72 ff. 303 EuGH Urt v 13.7.2004 – C-27/04 – (KOM/Rat), Slg 2004, 6679 = DVBl 2004, 1017 (Aussetzung des Defizitverfahrens gegen Deutschland und Frankreich). 304 Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt, ABl 1997 C 236/01. 305 ABl L 209/01. 306 VO (EG) Nr 1055/2005 des Rates v 27.6.2005 zur Änderung der VO (EG) Nr 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, ABl L 174/1.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

1056/2005307 aufgeweicht und eine höhere Verschuldung bei grundlegenden Strukturreformen – etwa in der Rentenversicherung – zugelassen; die Staatsschuldenkrise seit 2010 hat mit dem sog Six-Pack,308 insbesondere mit den VO/EU Nr 1175/2011309 und die VO/EU Nr 1177/2011310 hingegen wieder zu einer Verschärfung der unionsrechtlichen Vorgaben für die Fiskalpolitik geführt und zu einer – unionsrechtlich fragwürdigen311 – Umkehrung der Abstimmungsregeln, die politisch diskretionäres Handeln soweit wie möglich ausschließen will. 119 bb) Innerstaatliche Regelungen. Auch die verfassungsrechtlichen Verschuldungsregeln (Art 109, 109a, 115 und 143d GG) sind im Jahr 2009 reformiert worden, weil die bis dahin geltenden Regelungen das Auflaufen eines übermäßigen Schuldenstandes nicht verhindern konnten312 und der Gesetzgeber sich von den Ansätzen des präventiven wie des korrektiven Arms des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes eine größere Durchschlagskraft versprach.313 Diese sog Schuldenbremse begrenzt die Neuverschuldung des Bundes ab 2016 grundsätzlich auf 0,35% des BIP (Art 115 II 2, 143d I 7 GG) und verpflichtet die Länder ab 2020 ganz ohne Neuverschuldung auszukommen (Art 143d I 4 GG). Nach Art 109 III 2 iVm Art 115 II 3 GG kann bei einer konjunkturellen Entwicklung, die von der Normallage abweicht, sowie bei Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, von den Defizitvorgaben abgewichen werden. Die vorrangige Verpflichtung auf die Preisstabilität wirft schwierige bundesstaatliche 120 Fragen auf, weil Bund und Länder bei ihrer Haushaltswirtschaft grundsätzlich unabhängig sind (Art 109 I GG), das Unionsrecht die Mitgliedstaaten jedoch als Einheit behandelt und die Umsetzung seiner Vorgaben grundsätzlich ihrer institutionellen und verfahrensrechtlichen Autonomie überlässt. Dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit entsprechend haben die Mitgliedstaaten allerdings dafür zu sorgen, dass Inhalt und Tragweite des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werden.314

_____ 307 VO (EG) Nr 1056/2005 des Rates v 27.6.2005 zur Änderung der VO (EG) Nr 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABl L 174/5. 308 VO (EU) Nr 1173/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v 16.11.2011 über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet, ABl L 306/1; VO (EU) Nr 1174/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v 16.11.2011 über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet, ABl L 306/8; VO (EU) Nr 1175/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v 16.11.2011 zur Änderung der VO (EG) Nr 1466/97 des Rates über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, ABl L 306/12; VO (EU) Nr 1176/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v 16.11.2011 über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, ABl L 306/25; VO (EU) Nr 1177/2011 des Rates v 8.11.2011 zur Änderung der VO (EG) Nr 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABl L 306/33; RL 2011/85/EU des Rates v 8.11.2011 über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten, ABl L 306/41. 309 VO (EU) Nr 1175/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v 16.11.2011 zur Änderung der VO (EG) Nr 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, ABl L 306/12. 310 VO (EU) Nr 1177/2011 des Rates v 8.11.2011 zur Änderung der VO (EG) Nr 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABl L 306/33. 311 Rathke DÖV 2012, 751, 756 ff. 312 BVerfGE 119, 96, 141 f. 313 BT-Drs 16/12410, 1, 5 f, 10; s auch Kube in: Maunz/Dürig, GG, Art 109 Rn 24 f (Mai 2011); Pünder in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art 115 Rn 17f, 34; Kirchhof in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art 109 Rn 28 f; Siekmann in: Sachs, GG, Art 109 Rn 83; Christ NVwZ 2009, 1333, 1337; Scholl DÖV 2010, 160, 164. 314 EuGH Urt v 20.11.1990 – C-5/89 –BUG Alutechnik, Slg 1990, I-3437 Rn 19; Urt v 15.9.1998 – C-231/96 – Edis, Slg 1998, I-4951 Rn 19, 34; Urt v 15.9.1998 – C-260/96 – Spac, Slg 1998, I-4997 Rn 18; Urt v 22.10.1998 – verb Rs C-1022/97 – IN. CO.GE, Slg 1998, I-6307 Rn 25.

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IV. Wirtschafts- und Währungspolitik – 3. Kapitel

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Durch die Neufassung des Art 109 V GG im Zuge der Föderalismusreform I315 ist nun fest- 121 gelegt, dass Sanktionen der EU für Verstöße gegen den Stabilitätspakt zwischen Bund und Ländern nach dem Verhältnis 65 vH zu 35 vH aufgeteilt werden. Ein weiteres Instrument zur Vermeidung von Verstößen gegen Art 126 AEUV und den Stabilitäts- und Wachstumspakt ist die Tätigkeit des nationalen Stabilitätsrates (§ 51 HGrG), der zur Koordinierung der Haushalts- und Finanzplanungen Bund, Länder und Kommunen berät und entsprechende Empfehlungen beschließen kann (§ 51 I 3 HGrG). cc) Völkerrechtliche Ergänzungen. Aufgegriffen und weiter verschärft werden diese Vorga- 122 ben der deutschen Schuldenbremse durch den Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung der Wirtschafts- und Währungsunion (SKSV). An dieser völkerrechtlichen Ergänzung des Integrationsprogramms wollen sich derzeit 25 der 27 Mitgliedstaaten der EU beteiligen, einschließlich des in Titel III geregelten „Fiskalpolitischen Paktes“ mit dem Ziel, die wirtschaftliche Säule der Wirtschafts- und Währungsunion durch die Förderung der Haushaltsdisziplin zu stärken. So sieht der SKSV die Einführung einer Schuldenbremse im nationalen Recht aller Mitgliedstaaten vor, die Wirtschaftspartnerschaftsprogramme zur Rückführung übermäßiger Defizite, einen Automatismus bei Verlassen dieses Anpassungspfades und eine grundsätzliche Verpflichtung, die EU-Kommission im Verfahren nach Art 126 AEUV zu unterstützen.316

c) Außenhandelspolitik Die Freiheit des Außenhandels ist der Grundsatz, auf dem das Außenwirtschaftsrecht Deutsch- 123 lands beruht317 und das außenwirtschaftliche Pendant der Gewerbefreiheit. Das bedeutsamste Instrument für einen freien Welthandel und den Abbau des Protektionismus war lange Zeit das GATT,318 das 1995 zusammen mit anderen multi- und plurilateralen Handelsübereinkünften als maßgebliche Rechtsquellen des Welthandelsrechts unter dem organisatorischen Dach der WTO (World Trade Organization) zusammengeführt worden ist.319 Die Außenwirtschaftspolitik Deutschlands und die Maßnahmen gegen außenwirtschaftliche Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (§§ 1, 4 StabG) 320 sind durch das Unionsrecht und die auf die EU übergegangene Außenhandelskompetenz (Art 3 I lit e, 206 f AEUV) weitgehend beschränkt. Die Ermächtigung der Bundesregierung in §§ 2 iVm 7 I Nr 2 und 3 AWG, durch Rechtsverordnung Exportbeschränkungen zu erlassen, um eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine erhebliche Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu verhüten, ist rechtswirksam.321

_____ 315 Huber ZG 21 (2006) 354, 375. 316 Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit in Deutschland BVerfG, NJW 2012, 3145 (m Anm Müller-Franken); in Frankreich CC, Décision n°2012-653 DC vom 9.8.2012. 317 AußenwirtschaftsG; AußenwirtschaftsVO idF v 22.11.1993 (BGBl I 1934) zul geänd durch VO v 7.6.2012. – Schmidt VVDStRL 36 (1978), 65; ders Öffentliches Wirtschaftsrecht, 1990, 199 ff; Fikentscher Wirtschaftsrecht, Bd I, 1983; Bryde in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR I, § 5; ders in: Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Bes Teil 2, 1996, § 14; Epping Außenwirtschaftsfreiheit, 1998; Hucko/Wagner Außenwirtschaftsrecht, 9. Aufl 2003; v Bogdandy VerwArch 83 (1992), 53; Ehlers/Wolffgang, Rechtsfragen der Ausfuhrkontrolle und Ausfuhrförderung, 1997. 318 General Agreement on Tariffs and Trade v 30.10.1947, BGBl 1951 II 173, 200. 319 Vertrag v 15.4.1994, ABl L 336/1; Beise Die Welthandelsorganisation (WTO), 2001; Herrmann/Weiß/Ohler, Welthandelsrecht, 2. Aufl 2007, § 7 Rn 105 ff; Krajewski Verfassungsperspektiven und Legitimation des Rechts der Welthandelsorganisation (WTO), 2001; Grave Der Begriff der Subvention im WTO-Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen, 2002. 320 BVerfGE 30, 250 – AbsicherungsG 1968. 321 BVerwG DÖV 1992, 445. – Das Irak-Embargo wegen der Invasion in Kuwait beruhte konstitutiv auf der VO (EG) Nr 2340/90 des Rates v 8. 8.1990; dazu BGH JZ 1994, 725 m Anm Herdegen.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

d) Wirtschaftsstatistik 124 Sachgerechtigkeit und Erfolg der Wirtschaftspolitik im Allgemeinen und der zugrunde liegenden Beurteilungen und Projektionen im Besonderen sind von einer umfassenden und aktuellen Informiertheit der zuständigen EU-Organe, von Bundestag und Bundesregierung über die für den wirtschaftlichen Prozess erheblichen Daten abhängig, die durch statistische Erhebungen vermittelt wird. Die amtliche Statistik liegt in den Händen von EUROSTAT, des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden und der statistischen Ämter der Länder. Kernstück des nationalen Statistikrechts ist das Bundesstatistikgesetz.322 Für die Wirtschaftsstatistik sind außerdem das Gesetz über die Statistik im Handel und Gastgewerbe (HdlStatG), das Zensusgesetz 2011323 und die Ausführungsgesetze der Länder sowie eine große Zahl fachstatistischer Gesetze und Rechtsvorschriften maßgebend. Das nationale Statistikrecht wird zunehmend durch unionsrechtliche Vorgaben bestimmt, insbesondere durch die VO (EG) Nr 322/97 über die Gemeinschaftsstatistiken. Die mit Auskunftspflichten verbundene Erhebung personen- und unternehmensbezogener 125 Einzelangaben und deren statistische Verarbeitung muss, soweit eine Reidentifizierung möglich bleibt, den datenschutzrechtlichen Anforderungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art 2 I iVm Art 1 I GG) und dem Schutz der Wirtschaftsfreiheit (Art 2 I, 12 I GG) genügen.324 Dem dienen insbesondere das Zweckbindungsgebot und das Statistikgeheimnis (§ 16 BStatG) und nach der – zu undifferenzierten – Vorstellung des EuGH auch die Einschaltung eines unabhängigen Datenschutzbeauftragten (RL 95/46/EG ).325 Die vielfältige Indienstnahme privater Unternehmen für statistische Zwecke beeinträch126 tigt zunehmend deren Unternehmensführung. Seit geraumer Zeit versucht die Politik auf EU-, Bundes- und Landesebene diese Belastung durch eine Reduzierung der Berichts- und Meldepflichten zu verringern.326

3. Währungsunion und Währungspolitik 127 Die 3. Stufe der Währungsunion ist mit der Einführung des Euro 1999327 plangemäß verwirklicht worden. Seit dem Beitritt Estlands zum 1.1.2011 gehören 17 Mitgliedstaaten der EU der Eurozone an. Dagegen scheint die Neigung, der Eurozone beizutreten, in Dänemark, Großbritannien und Schweden gering. Nach anfänglichen Akzeptanzproblemen hatte sich der Euro gut etabliert; auch die Inflationsgefahr schien im Griff. Die kontinuierliche Ausweitung übermäßiger Defizite in allen Staaten der Eurozone und die – verzögerten – Reaktionen der Märkte gefährden mittlerweile die Bonität vor allem von Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und Irland, die kaum noch in der Lage sind, die vom Markt geforderten Zinsen für ihre Staatsanleihen aufzubringen. Damit sind die rechtlichen Grundlagen der Währungsunion unter erheblich Druck ge-

_____

322 Dorer/Mainusch/Tubies BStatG, 1988; Meyer-Teschendorf/Hofmann DÖV 1998, 217. 323 G über den registergestützten Zensus im Jahre 2011 v 8.7.2009 (BGBl I 1781). 324 BVerfGE 27, 1; E 65, 1; BVerwG GewArch 1991, 133. – Scholz/Pitschas Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984; v Arnim Volkszählungsurteil und Städtestatistik, 1987; Gola NJW 1997, 3411; Simitis NJW 1997, 281. 325 EuGH Urt v 9.3.2010 – C-518/07 – KOM/Deutschland, Slg 2010, I-1885 Rn 31 ff; krit Huber NJW 2011, 2385, 2388; Masing NJW 2012, 2305, 2311. 326 Vgl insbesondere Erstes G zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft v 22.6.2006 (BGBl I 1970) und Zweites G zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft v 7.9.2007 (BGBl I 2246). Dazu Jahn GewArch 2007, 353; Stenger GewArch 2007, 448. 327 G zur Einführung des Euro (Euro-EinführungsG – EuroEG) v 9.6.1998 (BGBl I 1242); Gesetzentwurf der BReg, BT-Drs 13/9347; Zwischenbericht v 28.4.1997 und Zweiter Bericht v 27.3.1998 des Arbeitsstabes Europäische Wirtschafts- und Währungsunion des Bundesministeriums der Finanzen und der Bundesministerien zur Einführung des Euro in Gesetzgebung und öffentlicher Verwaltung (BT-Drs 13/7727, 13/10251); Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses, BT-Drs 13/10450. – Dittrich NJW 1998, 1269.

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IV. Wirtschafts- und Währungspolitik – 3. Kapitel

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raten, dem EU, EZB und Mitgliedstaaten durch immer neue Instrumente zu begegnen suchen (Rn 142).

a) Eintrittsvoraussetzungen Man kann die Währungsunion rechtlich nur erfassen, wenn man die Voraussetzungen für ihre 128 Begründung kennt. Diese sind zwar „nur“ in den Übergangsvorschriften der Art 139 ff AEUV niedergelegt. Gleichwohl sind sie für jene derzeit 10 Mitgliedstaaten, für die Ausnahmeregelungen gelten (Art 140 II AEUV), nach wie vor von entscheidender Bedeutung. Die Voraussetzungen für den Eintritt in die 3. Stufe der Währungsunion sind die in Art 140 I 129 AEUV niedergelegten und im Prot Nr 13 näher ausgestalteten Konvergenzkriterien. Danach müssen kumulativ vorliegen: – ein hoher Grad an Preisstabilität, d.h. eine Inflationsrate, die maximal 1,5% über jener liegt, die die drei besten Mitgliedstaaten des Euro-Raumes erzielt haben; – öffentliche Haushalte ohne übermäßiges Defizit; das ist anzunehmen, solange keine Ratsentscheidung vorliegt, die ein übermäßiges Defizit feststellt (Art 126 VI AEUV); – die Einhaltung der normalen Bandbreiten des Wechselkursmechanismus (WKM); das richtet sich nach dem Verhältnis zwischen dem Euro und den (noch) nicht beteiligten Währungen (WKM II);328 – ein gleichmäßiges Niveau der langfristigen Zinssätze, das sich an den langfristigen Staatsschuldverschreibungen orientiert. Nicht alle Mitgliedstaaten haben sämtliche Konvergenzkriterien von Anfang an erfüllt bzw an 130 der 3. Stufe der Währungsunion teilgenommen. Alle zwei Jahre überprüfen Kommission, EZB und Rat allerdings, ob die Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung – mit Ausnahme Dänemarks 329 und Großbritanniens 330 – die Voraussetzungen für den Eintritt in die 3. Stufe der Währungsunion erfüllen (wollen) (Art 140 I 1, II 2 UA 1 AEUV). Ist dies der Fall, so sind sie zur Teilnahme verpflichtet. Das gilt insbesondere für Schweden, das der Währungsunion bislang rechtswidrig nicht angehört.331 Für diese Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung gelten eine Reihe von Sonderbestim- 131 mungen. Sie wirken bei der Besetzung der EZB nicht mit, ihre Notenbankchefs gehören nicht dem Rat der EZB an und sie unterliegen auch nicht den besonderen Instrumentarien der Haushaltskontrolle (Art 126 IX, XI AEUV). Die rechtliche Verbindlichkeit und Justitiabilität der Konvergenzkriterien war Gegen- 132 stand heftiger Kontroversen. Auch wenn sie nicht prinzipiell in Frage gestellt werden kann, so besitzt der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs insoweit doch einen sehr weiten Gestaltungsspielraum, der allenfalls einer Willkürkontrolle unterzogen werden kann. Das ergibt insbesondere die Zusammenschau des komplizierten mehrstufigen Entscheidungsprozesses, der auch in der Neufassung durch den Vertrag von Lissabon auf jeder Stufe Raum für politische Erwägungen lässt: – Nach Art 140 I AEUV liefern die Konvergenzkriterien lediglich die Grundlage für die Berichte, die die Kommission und die EZB im Vorfeld der Entscheidung über den Eintritt in die 3. Stufe für den Rat zu erstellen haben. Sie sind insoweit zwar ein entscheidender, aber nicht der einzige Gesichtspunkt für die Beurteilung.

_____ 328 ABl 1998 C 236/5; Häde in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 142 AEUV Rn 9. 329 Prot (Nr 16) über einige Bestimmungen betreffend Dänemark v 7.2.1992, ABl 2010 C 83/287. 330 Prot (Nr 15) über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland v 7.2.1992, ABl 2010 C 83/284. 331 Nergelius in: IPE II, § 22 Rn 51.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

Der Rat ist an diese Beurteilung nicht gebunden. Er entscheidet vielmehr auf Vorschlag der Kommission und nach Aussprache im Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit der Mitglieder der Eurozone über die Neuaufnahme (Art 140 II AEUV). Nimmt man hinzu, dass auch das Verfahren zur Feststellung eines übermäßigen Defizits Raum für politische Wertungen lässt – anders wäre das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit kaum zu erklären (Art 126 XIII UA 3 AEUV) – so unterstreicht auch dies den weiten politischen Gestaltungsspielraum des Rates.

133 Ob die Aufnahme Belgiens und Italiens 1999 nicht gegen diese Vorgaben verstoßen hat, darüber lässt sich auch heute noch streiten (Art 1 Prot Nr 12 über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit). Ähnliches gilt für den Beitritt Griechenlands zum 1.1.2002. Das BVerfG hat ersteres im Frühjahr 1998 bekanntlich gebilligt332 und zwei Verfassungsbeschwerden, die ua eine Gesamtverschuldung Belgiens und Italiens von 120% gerügt hatten, zurückgewiesen. Der an sich nahe liegenden Frage nach der Bindung der deutschen Verfassungsorgane an die vertraglichen Konvergenzanforderungen und den dabei bestehenden Beurteilungsspielräumen333 wich das Gericht aus. Im Kontext von Art 14 I GG wurden der Beitritt zur Währungsunion einerseits zwar als Inhalts- und Schrankenbestimmung des Geldeigentums qualifiziert,334 andererseits aber auch die Einschätzungs-, Bewertungs- und Prognosespielräume von Regierung und Parlament betont. Der sich daran eigentlich notwendig anschließenden Frage nach den Grenzen dieser Spielräume und der bei ihrer Überprüfung anzulegenden Kontrolldichte hat sich das Gericht freilich entzogen und behauptet, dass der Geldeigentümer nicht das Recht besitze, „diese parlamentarisch mitzuverantwortende Entscheidung in dem Verfahren der Verfassungsbeschwerde inhaltlich überprüfen zu lassen“.335 An welchem Maßstab aber soll eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums oder – sub specie Art 38 GG I – eine Konkretisierung des Integrationsprogramms denn gemessen werden, wenn nicht an dem individualisierenden Maßstab des Grundrechts aus Art 14 I GG bzw des grundrechtsgleichen Rechts aus Art 38 I GG? Überzeugendere Kriterien hätten sich in den Bahnen der Kontrollmaßstäbe von Evidenzkontrolle, Vertretbarkeitskontrolle und strenger inhaltlicher Kontrolle336 oder – mit Blick auf Art 38 GG und das Integrationsprogramm – in der Fruchtbarmachung des Willkürkriteriums337 oder der Verneinung eines Gesetzesvollziehungsanspruchs finden lassen.

b) Organisation und Aufgaben des ESZB 134 Organisatorisches Rückgrat der Währungsunion ist das Europäische System der Zentralbanken (ESZB), das aus der Europäischen Zentralbank (EZB) und den Zentralbanken der Mitgliedstaaten besteht. Seine Rechtsgrundlagen finden sich in den Art 127 ff, 282 ff AEUV sowie im Prot Nr 4 über die Satzung des ESZB und der Europäischen Zentralbank. Das ESZB wird von der EZB bzw. ihren Beschlussorganen geleitet (Art 129 I AEUV). Dies sind das Direktorium, das aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und vier weiteren Mitgliedern besteht, und der EZB-Rat, der sich aus den Mitgliedern des Direktoriums und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken zusammensetzt. Die EZB ist ein mit eigener Rechtspersönlichkeit (Art 282 III 1 AEUV) ausgetattetes Organ der 135 EU (Art 13 I UA 2 EUV). Sie ist (sachlich) unabhängig sowohl gegenüber den EU-Organen als auch gegenüber den Regierungen der Mitgliedstaaten (Art 282 III 3 u 4 AEUV). Für ihren Zustän-

_____ 332 333 334 335 336 337

BVerfGE 97, 350 ff – Euro. Siehe insoweit nur BVerfGE 89, 155, 205 – Maastricht. BVerfGE 97, 350, 373 – Euro. BVerfGE 97, 350, 376 – Euro. BVerfGE 50, 290, 332 f – Mitbestimmung. Huber Recht der Europäischen Integration, § 21 Rn 60 ff.

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IV. Wirtschafts- und Währungspolitik – 3. Kapitel

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digkeitsbereich ist sie vor dem EuGH sowohl aktiv- als auch passivlegitimiert (Art 263 I, III AEUV). Ihre Unabhängigkeit wird in personeller Hinsicht zusätzlich dadurch abgesichert, dass die Mitglieder des Direktoriums mit 8 Jahren eine sehr lange Amtsdauer besitzen, die nicht verlängert werden kann (Art 283 II UA 3 AEUV, Art 11.2 ESZB/EZB-Satzung). Der EZB-Rat trifft die wesentlichen Leitlinien und Entscheidungen im Rahmen des ESZB. Er legt die Geldpolitik fest und entscheidet über die Leitzinsen und die Bereitstellung von Zentralbankgeld (Art 12.1 ESZB/EZB-Satzung). Im EZB-Rat besitzt, was sich mit der Ausweitung der Aktivitäten der EZB in der Staatsschuldenkrise für Deutschland als zunehmendes Problem erweist, jeder Mitgliedstaat grundsätzlich eine Stimme. Dagegen werden die Stimmen für Angelegenheiten, die insbesondere den Anteil am Kapital der EZB oder die Gewinnverteilung betreffen, gewichtet. Das Direktorium führt die Geldpolitik gemäß den Beschlüssen des EZB-Rates aus und bereitet seine Sitzungen vor. Solange nicht alle Mitgliedstaaten an der Währungsunion teilhaben, werden die Beschlussorgane durch einen Erweiterten Rat ergänzt, in dem die Präsidenten aller nationalen Notenbanken vertreten sind (Art 141 I AEUV). Dieser Erweiterte Rat nimmt für die Mitgliedstaaten, für die Ausnahmeregelungen gelten, die Aufgaben wahr, die das Europäische Währungsinstitut während der zweiten Stufe (1995–1998) erfüllt hat. Zu den Aufgaben des ESZB gehören vor allem die Festlegung der Geldpolitik, die Durchführung von Devisengeschäften, die Verwaltung der offiziellen Devisenreserven der Mitgliedstaaten, die Förderung des reibungslosen Funktionierens der Zahlungssysteme (Art 127 II AEUV), die Ausgabe von Banknoten, die durch die nationalen Zentralbanken erfolgt und durch die EZB genehmigt werden muss (Art 128 I AEUV), sowie die Führung von Konten, Einlagegeschäften, Offenmarkt- und Kreditgeschäften (Art 17 ff ESZB/EZB-Satzung). Weitere Aufgaben der Kreditaufsicht können der EZB durch einstimmigen Ratsbeschluss nach Zustimmung des Europäischen Parlaments übertragen werden (Art 127 VI AEUV). Das ist derzeit für die Bankenaufsicht im Gespräch,338 wobei nicht hinreichend berücksichtigt wird, dass Vollzugsaufgaben, die über das begrenzte technische Mandat einer Notenbank hinausgehen, sowohl nach Art 10 EUV als auch nach Art 23 I iVm Art 20 I und II GG nur Stellen übertragen werden dürfen, die einer effektiven demokratischen Legitimation und Kontrolle unterliegen. Instrumente der Aufgabenerfüllung sind Verordnungen, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen, die von der EZB erlassen werden können (Art 132 AEUV). Sie werden durch ein Anhörungsrecht ergänzt, das der EZB gegenüber allen EU-Organen und gegenüber den Mitgliedstaaten zusteht, wenn diese Rechtsakte erlassen, die die Zuständigkeiten der EZB berühren (Art 127 IV AEUV).

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c) Ausrichtung des ESZB auf die Preisstabilität Das geltende Integrationsprogramm gestaltet die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft 140 aus. Dies ist, wie das BVerfG wiederholt hervorgehoben hat,339 wesentliche Grundlage für die Beteiligung Deutschlands an der Währungsunion. Die Verträge laufen dabei nicht nur hinsichtlich der Währungsstabilität mit den Anforderungen des Art 88 S 2 GG, gegebenenfalls auch des Art 14 I 1 GG, parallel, der die Beachtung der Unabhängigkeit der EZB und das vorrangige Ziel der Preisstabilität zu dauerhaft geltenden Verfassungsanforderungen der deutschen Beteiligung an der Währungsunion macht (vgl Art 127 I, Art 130 AEUV). Ihr sind alle anderen Ziele untergeordnet. Eine Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik durch das ESZB kommt deshalb grundsätzlich nur in Betracht, wenn das Ziel der Preisstabilität dadurch nicht beeinträchtigt

_____ 338 Mitteilung der Europäischen Kommission an EP und Rat, KOM (2012) 510 endg. 339 BVerfGE 89, 155, 205; E 97, 350, 369; E 129, 124, 181 f.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

wird. Auch weitere zentrale Vorschriften zur Ausgestaltung der Währungsunion sichern die Stabilitätsgemeinschaft unionsrechtlich ab. Das gilt für das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung durch die EZB, das ua Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei der EZB oder den nationalen Notenbanken für die EU, die Mitgliedstaaten und ihre Untergliederungen untersagt sowie den unmittelbaren Erwerb von Schuldtiteln durch die EZB oder die nationalen Zentralbanken;340 es gilt für das Verbot der Haftungsübernahme (No-Bailout-Klausel) und die Stabilitätskriterien für eine tragfähige Haushaltswirtschaft (Art 123–126, 136 AEUV).341 Während die Währungspolitik zu den ausschließlichen Befugnissen der EU gehört (Art 3 I 141 lit c AEUV),342 beschränkt sich das Integrationsniveau in der Wirtschaftspolitik bislang auf eine Koordinierung dieses grundsätzlich in nationaler Zuständigkeit verbleibenden Politikbereichs (Art 121 I AEUV). Ob dies eine hinreichende Grundlage ist, um den dauerhaften Erfolg der Währungsunion zu sichern, ist offen. Die Kritik an dieser Sollbruchstelle ist Legion.343 Der – freilich nicht unmittelbar zum Integrationsprogramm gehörende – SKSV (Fiskalpakt), dem Bundestag und Bundesrat am 29.6.2012 zugestimmt haben, kann als erster Schritt zu einer stärkeren Vergemeinschaftung auch der Wirtschaftspolitik verstanden werden.

d) Die Währungsunion in der Krise – Von der Stabilitäts- zur Stabilisierungsunion 142 Von Beginn an wird die Belastbarkeit der unionsrechtlichen Grundlagen der Währungsunion auf eine harte Probe gestellt.344 Nicht nur sind die Regelungen zur Vermeidung übermäßiger Defizite immer wieder missachtet worden (Rn 133), seit der Finanzkrise des Jahres 2010 wird auch das Bailout-Verbot des Art 125 AEUV mehr und mehr relativiert.345 Die Einführung von Art 136 III AEUV sowie die Errichtung von EFSF und ESM bedeuten jedenfalls eine grundlegende Umgestaltung der bisherigen Wirtschafts- und Währungsunion.346 Denn seit Inkrafttreten der 3. Stufe der Währungsunion sind Hilfezahlungen einzelner Mitgliedstaaten in der EU nur noch an solche Mitgliedstaaten vorgesehen, deren Währung nicht der Euro ist (nunmehr Art 143 II 2 lit c AEUV). Die Einrichtung eines dauerhaften Mechanismus zur gegenseitigen Hilfeleistung der Mitgliedstaaten der Eurozone löst sich daher, wenn auch noch nicht vollständig, von dem die Währungsunion bislang charakterisierenden Prinzip der Eigenständigkeit der nationalen Haushalte. Denn sie relativiert die mit diesem Prinzip verbundene Marktabhängigkeit in Bezug auf die staatlichen Refinanzierungsmöglichkeiten, indem Hilfeleistungen auch zwischen den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes zugelassen werden, wenn dies zur Stabilisierung des EuroWährungsgebietes insgesamt unabdingbar ist. Mit Art 136 III 3 AEUV wird die stabilitätsgerichtete Ausrichtung der Währungsunion jedoch nicht aufgegeben. So werden insbesondere die Unabhängigkeit der EZB, ihre Verpflichtung auf das vorrangige Ziel der Preisstabilität (Art 127, 130 AEUV) und das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung (Art 123 AEUV) nicht berührt. Allein im Bereich der in Art 125 I AEUV normierten Haftungsausschlüsse lässt er nunmehr freiwillige Finanzhilfen zu, die allerdings nicht losgelöst von weiteren Anforderungen und nicht zu beliebigen Zwecken gewährt werden können.347 Angesichts von derzeit über 700 Mrd € Target2

_____ 340 BVerfG NJW 2012, 3145 Tz 276. 341 BVerfGE 129, 124, 181. 342 Huber Recht der Europäischen Integration, § 16 Rn 37. 343 v Bogdandy EuZW 2001, 449. 344 Calliess/Schorkopf VVDStRL 71 (2012), 113 ff, 183 ff. 345 Siehe dazu BVerfGE 129, 124 ff – Griechenlandhilfe/EFSF; BVerfG NJW 2012, 3145 Tz 276 – ESM o JK GG Art 38 I/25; Supreme Court of the Republic of Ireland, Record No 339/12 – Thomas Pringle vs The Government of Ireland, Ireland and the Attorney General; EuGH Urt v 27.11.2012 – C-370/12 – Thomas Pringle, NJW 2013, 29 (m Bespr Nettesheim NJW 2013, 14). 346 Calliess ZEuS 2011, 213, 279; Kube WM 2012, 245, 247. 347 BVerfG NJW 2012, 3145 Tz 233.

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V. Wirtschaftsverwaltung – 3. Kapitel

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Verbindlichkeiten der Mittelmeerstaaten gegenüber der EZB und entsprechenden Forderungen der Bundesbank gegen die EZB und nach der weiteren Ankündigung der EZB vom 6.9.2012, unbegrenzt Staatsanleihen bedürftiger Mitgliedstaaten aufkaufen zu wollen, stellt sich auch die Frage nach dem Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung (Art 123 AEUV) in voller Schärfe. 3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht V. Wirtschaftsverwaltung – 3. Kapitel

V. Wirtschaftsverwaltung 1. Organisation Auf allen Ebenen existieren Organisationen, Behörden und Gremien, die der Ausgestaltung der 143 Wirtschaftspolitik, dem Vollzug und der Konkretisierung des Öffentlichen Wirtschaftsrechts dienen. Auch wenn sie für Rechte und Pflichten des Einzelnen idR keine unmittelbare Bedeutung besitzen, so leisten vor allem die internationalen Wirtschaftsorganisationen doch einen wichtigen Beitrag zur Förderung des internationalen Wirtschaftsrechts, indem sie insbesondere versuchen, den Bilateralismus im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr zu überwinden und ihn durch globale Regeln zu ersetzen. Die World Trade Organisation (WTO) ist die organisatorische bzw institutionelle Grundlage des GATT und anderer materieller Regelwerke des Welthandelsrechts mit Entscheidungs- und Überwachungskompetenzen. Sie soll die Durchführung des GATTVertragssystems erleichtern und seine Zielsetzung fördern. Gleichzeitig dient sie als Forum für Verhandlungen und den weiteren Ausbau des GATT-Systems; auch ist ihr ein Streitbeilegungssystem (Dispute Settlement Understanding – DSU) mit einem zweistufigen „Instanzenzug“ (Panel, Appelate Body) angegliedert.348 Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist dagegen ein lockerer Zusammenschluss von Staaten, der als „Clearing House“ bzw informeller Arbeitsstab der Industrieländer fungiert. Sie hat Beratungsstatus und analysiert die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten. Der Internationale Währungsfonds (IWF) überwacht weltweit die Währungsstabilität und versucht, das Währungssystem vor gravierenden Erschütterungen zu bewahren. Bei Zahlungsbilanzdefiziten hilft er durch Kredite. Die Weltbank hat vornehmlich die Aufgabe, den Wiederaufbau und die Entwicklung der Mitgliedsländer zu unterstützen sowie die private Investitionstätigkeit zu fördern, während die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) jedem Vertragsstaat die Möglichkeit eröffnet, Marken für Waren und Dienstleistungen über eine einzige zentrale Anmeldung in allen Vertragsstaaten schützen zu lassen. Die internationale Registrierung hat die Wirkung einer nationalen Markeneintragung. Die Internationale Meeresbodenbehörde schließlich organisiert und überwacht nach Art 156 ff Seerechtsübereinkommen die Verwaltung der Ressourcen des Meeresbodens.

a) Unionale Wirtschaftsverwaltung Zwar sind nach dem Grundsatz der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie in erster 144 Linie die Mitgliedstaaten dazu berufen, das unionale Wirtschaftsverwaltungsrecht zu vollziehen. Gleichwohl, hat die EU im Laufe der Zeit eine Fülle von Einrichtungen der mittelbaren Unionsverwaltung geschaffen, die mit Fragen der Wirtschaftsverwaltung befasst sind. Neben der primärrechtlich verankerten Europäischen Investitionsbank (EIB, Art 308 f AEUV),349 dem Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) zur Vergabe einheitlicher Gemeinschaftsmarken350 oder dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF)351 gilt das

_____ 348 Herrmann/Weiß/Ohler Welthandelsrecht, § 10 Rn 250 ff. 349 Dazu Hahn DÖV 1989, 233, 241. 350 VO (EG) Nr 207/2009 des Rates v 26.2.2009 über die Gemeinschaftsmarke (ABl L 78/1); Ingerl Die Gemeinschaftsmarke, 1996.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

insbesondere für die mittlerweile über 30 Agenturen wie die Europäische Arzneimittel-Agentur,352 die Grundrechteagentur, die Agentur Frontex, die Europäische Umweltagentur, die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit353 uvam. Daneben gibt es zahlreiche Fonds, die ebenfalls dem Vollzug des Unionsrechts dienen: der Europäische Fonds für regionale Entwicklung, der Ausrichtungs- und Garantiefonds für Landwirtschaft (EAGFL, Art 174 ff AEUV), der Europäische Kohäsionsfonds oder der Europäische Investitionsfonds, der der Entwicklung kleiner und mittlerer Unternehmen dient.354 In immer mehr Bereichen erfolgt der Vollzug des Unionsrechts in einem Verwaltungsver145 bund,355 in dem EU-Kommission, Agenturen, Ämter und sonstige Stellen mit den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten kooperieren.356 Das gilt für die Beihilfenaufsicht der EU-Kommission nach Art 108 AEUV, VO (EG) Nr 659/1999 , 357 für die Bereiche, in denen ebenenübergreifende „Netzwerke“ eingerichtet worden sind – im Kartellrecht, in dem die EU-Kommission und die nationalen Kartellbehörden, in Deutschland das BKartA, ein solches Netzwerk bilden (Art 103 AEUV, VO (EG) Nr 1/2003),358 im Lebensmittelrecht, wo der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit ein entsprechendes Netzwerk auf der Grundlage der sog BasisVO (EG) Nr 178/2002 359 angegliedert ist, oder im Regulierungsrecht, das ein Netzwerk von EU-Kommission und nationalen Regulierungsbehörden kennt, in Deutschland der BNetzA.360

b) Staatliche Wirtschaftsverwaltung in Bund und Ländern 146 Während die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Öffentlichen Wirtschaftsrechts einschließlich des Erlasses von – meist zustimmungsbedüftigen (Art 80 II GG) – Rechtsverordnungen schwerpunktmäßig in den Händen des Bundes liegt, ist der Vollzug überwiegend eine Angelegenheit der Länder (Art 30, 83, 84 GG). 147 aa) Bundesverwaltung. Zur periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen ist der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung errichtet worden,361 zu dessen Jahresgutachten die Bundesregierung in ihrem Jahreswirtschaftsbericht Stellung nimmt (§ 2 I 2 Nr 1 StabG).

_____ 351 Beschl 1999/352/EG, EGKS, Eurotom der Kommission v 28.4.1999 zur Errichtung des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF), ABl L 136/20. 352 VO (EG) Nr 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v 31.3.2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur, ABl L 136/1; zul geänd d VO (EU) Nr 1235/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates v 15.12.2010, ABl L 348/1. 353 Art 22 ff VO (EG) Nr 178/2002, ABl L 31/1. 354 Beschl 1994/375/EG des Rates v 6.6.1994 über die Mitgliedschaft der Gemeinschaft im Europäischen Investitionsfonds, ABl L 173/12. 355 Zum Begriff Schmidt-Aßmann EuR 1996, 270 ff; ders in: ders/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, 1 ff; Ruffert, DÖV 2007, 761; Kahl Der Staat 50 (2011), 353. 356 Huber Recht der Europäischen Integration, § 20; ders FS Brohm, 2002, 127. 357 Huber Recht der Europäischen Integration, § 17 Rn 110 ff. 358 §§ 50 ff GWB. Ausdrücklich vom „Netzwerk der Wettbewerbsbehörden“ sprechen die Erwägungsgründe 15 bis 18 und 32 der VO (EG) Nr 1/2003. In den Art 11 ff ist dagegen nur von „Zusammenarbeit“ die Rede; Böge EWS 2003, 441 ff; H. Jochum VerwArch 94 (2003), 512, 517 ff. 359 Huber ZLR 31 (2004), 241; Knipschild Lebensmittelsicherheit als Aufgabe des Veterinär- und Lebensmittelrechts, 2003. 360 Kühne/Brodowski NVwZ 2005, 849, 855 f; Schmidt NVwZ 2006, 907. 361 G über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung v 14.8.1963 (BGBl I 685), zul geänd durch VO v 31.10.2006 (BGBl I 2407). – Jahresgutachten 2011/12 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Drs 17/7710. – Heinze Der Staat 6 (1969),

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Eine Wirtschaftsverwaltung durch den Bund ieS erfolgt gemäß Art 87 III 1 GG mit Hilfe von Bundesoberbehörden, wie zB dem Bundeskartellamt,362 dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) 363 oder dem Bundesamt für Güterverkehr (BAG).364 Einen Sonderfall bildet in gewisser Weise die im Geschäftsbereich des BMWi angesiedelte Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen – BNetzA (§ 1 BNetzAG).365 Neben dem Präsidenten verfügt sie über einen Beirat (§ 5 BNetzAG) und – für den Bereich des Energierechts – über einen Länderausschuss (§ 8 BNetzAG). Da sie wie ihre US-amerikanischen Vorbilder, die regulatory agencies, über weitreichende Aufgaben in der Wirtschaftsüberwachung und -regulierung verfügt, liegt es nahe, auch die BNetzA als weitgehend unabhängige und sachverständige Behörde auszugestalten.366 Eine solche Unabhängigkeit stößt freilich insoweit an Grenzen, als Art 87f II 2 GG für hoheitliche Regulierungsaufgaben zwingend eine bundeseigene Verwaltung vorschreibt; sie wäre auch unter demokratischen Gesichtspunkten (Art 20 I GG) wegen der damit verbundenen Einflussknicks rechtfertigungsbedürftig,367 angesichts möglicher Interessenkonflikte bei der Erfüllung der Regulierungsaufgabe aber wohl auch rechtfertigungsfähig:368 Da Bund, Länder und Kommunen mit der DB AG, der Deutschen Post AG, der Deutschen Telekom AG oder einzelnen Energieversorgern (zB EnBW) nach wie vor bestimmende Akteure auf den meisten regulierten Märkten sind und Entscheidungen der Regulierungsbehörde deren Unternehmerinteressen erheblich beeinträchtigen können, erscheint es plausibel, wenn die BNetzA über ein gewisses Maß an sachlicher Unabhängigkeit verfügt. Dieses wirkt sich vor allem darin aus, dass sie in gerichtsähnlichen Verfahren durch Spruchkammern entscheidet (zB § 132 TKG). Darüber hinaus verfügt der Bund zum Vollzug des Öffentlichen Wirtschaftsrechts auch über eine Reihe von Trägern mittelbarer Bundesverwaltung369 wie zB die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) 370 oder die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin).371 Hervorgegangen aus der Zusammenlegung des Bundesaufsichtsamtes für das Kreditwesen, des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen und des Bundesaufsichtsamtes für den Wertpapierhandel ist sie mit dem Gesetz über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht als eine im Geschäftsbereich des BMF angesiedelte sektorübergreifende „Allfinanzaufsicht“ errichtet worden.372 Der Bund hat darüber hinaus die Deutsche Bundesbank als Währungs- und Notenbank errichtet (Art 88 GG).373 Sie war zunächst eine – jedenfalls aufgrund einfach-gesetzlicher Anord-

_____

433; Brohm FS Forsthoff, 1972, 37; Voßkuhle in: Isensee/Kirchhof, HStR III, § 43; Molitor, Zehn Jahre Sachverständigenrat, 1973; Scholz DÖV 1973, 843; Kämper Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung,1989. 362 §§ 48 ff GWB. Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tätigkeit in den Jahren 2009/2010 sowie über die Lage und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet, BT-Drs 17/6640. – Günther ZHR 125 (1963), 38; 10 Jahre Bundeskartellamt, 1968. 363 Art 1 des G über die Zusammenlegung des Bundesamtes für Wirtschaft mit dem Bundesausfuhramt v 21.12.2000 (BGBl I 1956). 364 §§ 10 ff GüKG. 365 G v 7.7.2005 (BGBl I 1970), zul geänd durch G v 26.7.2011 (BGBl I 1554). 366 Schliesky Öffentliches Wirtschaftsrecht, 231 f. 367 Hermes in: Bauer ua, Demokratie in Europa, 2005, 457. 368 Schliesky Öffentliches Wirtschaftsrecht, 232. 369 Schuppert Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbstständigte Verwaltungseinheiten, 1981. 370 G v 2.8.1994 (BGBl I 2018), zul geänd durch G v 9.12.2010 (BGBl I 1885). 371 G über die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Finandiensleistungsaufsichtsgesetz – FinDAG) v 22.4.2002 (BGBl I 1310), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2481). RegE, BT-Drs 14/7033; Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses, BT-Drs 14/8389. 372 Pitschas, Integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht, 2002; Reiter/Geerlings DÖV 2002, 562. 373 BVerwGE 41, 334; Stern, StR II, 463 ff; Hahn/Häde Währungsrecht, 2. Aufl 2010, 95 ff; Schmidt in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR I, § 1 Rn 135 ff; Reidt Konjunktursteuerung in: Jarass, Wirtschaftsverwaltungs-

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nung 374 – unabhängige (ministerialfreie) Anstalt des öffentlichen Rechts.375 Heute gliedert sie sich in einen sechsköpfigen Vorstand (§ 7 II BBankG) sowie neun weisungsabhängige Hauptverwaltungen (§ 8 BBankG) und Filialen (§ 10 BBankG). Nach Art 88 GG können ihre Aufgaben und Befugnisse auf die EZB übertragen werden, die ausweislich des Art 88 S 2 GG unabhängig und dem vorrangigen Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet sein muss. Das ist mit dem 6. BBankGÄndG vom 22.12.1997 geschehen.376 Als „integraler Bestandteil“ des ESZB wirkt die Bundesbank an der Erfüllung seiner Aufgaben mit, hält und verwaltet die Währungsreserven der Bundesrepublik Deutschland, sorgt für die bankmäßige Abwicklung des Zahlungsverkehrs im Inland und mit dem Ausland und trägt zur Stabilität der Zahlungs- und Verrechnungssysteme bei (§ 3 BBankG). 152 bb) Landesverwaltung. Der Schwerpunkt wirtschaftsverwaltungsrechtlicher Zuständigkeiten liegt allerdings bei den Ländern, die nach Art 84 I GG idR im Rahmen der sog Landesexekution zur Ausführung der Bundesgesetze berufen sind. Auf dieser Grundlage regeln sie – vorbehaltlich bundesgesetzlicher Regelung, von der sie seit 2006 allerdings abweichen können (Art 84 I 2 GG) – in ihren Ausführungsgesetzen und -verordnungen namentlich die Zuständigkeit ihrer Behörden zum Vollzug des Bundesrechts („Einrichtung der Behörden“) und das Verwaltungsverfahren. 153 In einigen gesamtwirtschaftlich wesentlichen Gebieten ist durch das GG eine Bundesauftragsverwaltung vorgesehen, in anderen Bereichen, etwa im Atomrecht (Art 87c GG), kann sie durch Gesetz angeordnet werden. Die Bundesauftragsverwaltung gibt den obersten Bundesbehörden einen erheblichen Einfluss auf die Verwaltung der Länder, insbesondere vermittelt sie ihnen ein umfassendes Weisungsrecht (Art 85 GG). Durch dessen Ausübung nimmt der Bund die „Sachkompetenz“ für die Ausführung des Bundesgesetzes in Anspruch;377 die „Wahrnehmungskompetenz“ nach außen, gegenüber Adressaten und Dritten, die Zuständigkeit zum Erlass von Verwaltungsakten und die Passivlegitimation im Verwaltungsprozess (§ 78 VwGO) bleibt gleichwohl bei den Ländern.378 Wo es um den Vollzug von Landesrecht geht – im Öffentlichen Wirtschaftsrecht etwa im 154 Gaststätten- und Landenschlussrecht, im Sparkassenrecht und im Recht der Landesbanken –, regeln die Länder naturgemäß auch die Verwaltungsorganisation. Im Bereich des Rundfunks oder des Glücksspiels (GlüStV) geschieht dies durch Staatsverträge. Diese sind teilweise auch Grundlage für die Bildung und Errichtung von Behörden, die damit eine Art bundesweite Landesverwaltung darstellen379 – der ZDF-Staatsvertrag etwa für das ZDF oder der RStV380 für eine Reihe von für die Regulierung des Rundfunkrechts bedeutsamen Kommissionen: der Kommission für Jugendmedienschutz – KJM (§ 35 II Nr 4 RStV, §§ 14, 16 JMStV), der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich – KEK (§§ 35 II Nr 3, V, 36 IV RStV), der Kommission für Zulassung und Aufsicht – ZAK (§§ 35 II Nr 1, III, 36 II RStV) oder der Gremienvorsitzendenkonferenz – GVK (§§ 35 II Nr 2, IV, 36 III RStV).

_____ recht, 3. Aufl 1997, § 13 Rn 25 ff; Deutsche Bundesbank, Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, 1998. 374 Ob sie auch de jure unabhängig war, blieb bis zum Schluss umstritten, BVerfGE 62, 169, 183 (bejahend). 375 Kämmerer in: v Münch/Kunig, GG II, Art 88 Rn 4. 376 BGBl I 3274. 377 BVerfGE 84, 25 – Schacht Konrad (Verpflichtung von Nds auf Weisung des BMU, ein Planfeststellungsverfahren durchzuführen). 378 BVerfGE 81, 310; E 84, 25; E 104, 249 – Biblis mit SV Di Fabio und Mellinghoff 273 (Informale Absprachen des Bundes im Vorfeld der Atomkonsensvereinbarung kein Verstoß gegen die Wahrnehmungskompetenz der Länder). 379 Krit Huber, FS Drewitz, 2009, 75 ff. 380 IdFd 15. RÄndStV 2010, BayGVBl 2011, 258, 404.

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Landkreise und Gemeinden sind im Rahmen ihres Selbstverwaltungsrechts zu einer kom- 155 munalen Wirtschaftsverwaltung befugt.381

c) Selbstverwaltung der Wirtschaft Neben den staatlichen Behörden der Wirtschaftsverwaltung bestehen im Bereich der Industrie 156 und des Handels, des Handwerks und der Landwirtschaft Kammern als Einrichtungen der „Selbstverwaltung der Wirtschaft“ – Industrie- und Handelskammern (IHK), Handwerkskammern uam. Bei ihnen handelt es sich um Träger mittelbarer Staatsverwaltung in Gestalt von Körperschaften des öffentlichen Rechts,382 die für die Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder das Recht der Selbstverwaltung besitzen und unter Staatsaufsicht stehen. Ihre Bildung entspringt allerdings nicht dem Organisationsprinzip der Dezentralisation, dh dem Gedanken, eine Verwaltungsaufgabe durch Ausgliederung aus der unmittelbaren Staatsverwaltung besser erledigen zu können, sondern der Absicht, die kollektive Interessenwahrung in einzelnen Wirtschaftszweigen durch die öffentlich-rechtliche Organisation der Interessenten zu begünstigen und bis zu einem gewissen Grade zu disziplinieren; neben den eigenen Angelegenheiten der Mitglieder spielen übertragene Angelegenheiten bei den Trägern der wirtschaftlichen Selbstverwaltung nur eine geringe Rolle. Die in Struktur und Aufgabenzuschnitt grundsätzlich vergleichbaren Kammern der freien 157 Berufe (zB der Ärzte, Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer etc) werden wegen der von diesen angebotenen Dienstleistungen hingegen als ein besonderer, außerhalb des Gewerbes stehender Bereich der berufsständischen Selbstverwaltung angesehen.383 Hier ergeben sich jedoch ähnliche Probleme wie im Bereich der Selbstverwaltung der Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund hat sich in den vergangenen Jahren eine neue Teildisziplin des 158 Öffentlichen Wirtschaftsrechts herausgebildet, das sog Kammerrecht.384 aa) Allgemeines. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der hier meist bestehenden Zwangs- 159 mitgliedschaft und damit der „Verkammerung“ der Wirtschaft überhaupt beurteilt sich nicht nach Art 9 I GG, dessen Schutzbereich nur Vereinigungen auf privatautonomer Grundlage erfasst und die „negative“ Vereinigungsfreiheit deshalb auch nur mit Blick auf privatrechtliche Organisationsformen schützt. Die Praxis zieht die allgemeine Handlungsfreiheit heran: Art 2 I GG steht nicht im Wege, wenn sich der Staat bei der „legitimen Aufgabe der Förderung der Wirtschaft“ der Hilfe von Einrichtungen bedient, die er auf gesetzlicher Grundlage aus der Wirtschaft heraus sich selbst bilden lässt und die durch ihre Sachkunde die Grundlage dafür schaffen helfen, dass staatliche Entschließungen auf diesem Gebiet ein möglichst hohes Maß an Sachnähe und Richtigkeit gewinnen.385

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381 Stober JZ 1984, 105. – Näher dazu o Röhl 1. Kap Rn 170 ff. 382 E. R. Huber Selbstverwaltung der Wirtschaft, 1958; Brohm FG v Unruh, 1983, 777; Tettinger DÖV 1995, 169; Kluth Funktionale Selbstverwaltung, 1997; Hendler DÖV 1986, 675. – Selbstverwaltung der Wirtschaft findet auch durch nicht rechtsfähige, bestimmten Behörden zugeordnete Gremien statt, wie zB die Frachtenausschüsse der Binnenschiffahrt gem §§ 21 ff BinSchVG aF, BVerwGE 31, 359. 383 Brandstetter Der Erlaß von Berufsordnungen durch die Kammern der freien Berufe, 1971; Hahn Die öffentlichrechtliche Alterssicherung der verkammerten freien Berufe, 1974; Badura Dt Architektenbl 1979, BY 67; Papenfuß Die personellen Grenzen der Autonomie öffentlich-rechtlicher Körperschaften, 1991; Becker-Platen Die Kammern der freien Heilberufe, 1998; Tettinger NWVBl 2002, 20. 384 Siehe etwa Kluth, Handbuch des Kammerrechts, 2. Aufl 2011; ders, Jahrbuch des Kammer- und Berufsrechts 2002-11, 2003 ff; Tettinger, Kammerrecht, 1997. 385 BVerfGE 15, 235; E 32, 54; BVerfG DVBl 2002, 407 o JK GG Art 2 I/35; BVerwGE 107, 169; BVerwG NJW 1997, 814. – Gornig WiVerw 1998, 157.

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Die Errichtung derartiger Körperschaften ist nur durch Gesetz oder auf Grund Gesetzes möglich. Das Gesetz bestimmt Aufgabe und Wirkungskreis (Verbandskompetenz) der Körperschaft. Eine Tätigkeit außerhalb der gesetzlichen Aufgabenzuweisung, insbesondere ein allgemeinpolitisches Mandat, steht der Körperschaft nicht zu. Die Mitglieder haben deshalb einen in Art 2 I GG verankerten Anspruch darauf, dass sich die Körperschaft in den Grenzen ihrer Verbandskompetenz hält.386 Personell ist die Satzungsgewalt der Körperschaft auf ihre Mitglieder beschränkt, was es grundsätzlich ausschließt, ihnen Verwaltungszuständigkeiten gegenüber Dritten/Nichtmitgliedern einzuräumen. Dafür bedarf es vielmehr einer „Beleihung“, deren Rahmenbedingungen – zB Staatsaufsicht – die Idee der Selbstverwaltung tendenziell konterkarieren. Das ist bei der Umsetzung der DienstleistungsRL 2006/123/EG, bei der zahlreiche Länder (auch) die Kammern zu „einheitlichen Ansprechpartnern“ für Dienstleister aus anderen Mitgliedstaaten bestimmt haben,387 nicht ausreichend berücksichtigt worden.388

161 bb) Selbstverwaltungsträger. Die Industrie- und Handelskammern 389 haben die Aufgabe, das Gesamtinteresse der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden wahrzunehmen, für die Förderung der gewerblichen Wirtschaft zu wirken und dabei die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen; es obliegt ihnen insbesondere, durch Vorschläge, Gutachten und Berichte die Behörden zu unterstützen und zu beraten sowie für Wahrung von Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns zu wirken. Die Kammern wirken an der Berufsausbildung mit. Dagegen gehört die Wahrnehmung sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Interessen nicht zu ihren Aufgaben. Im übertragenen Wirkungskreis bestellen und vereidigen sie gewerbliche Sachverständige (§ 36 GewO); das gleiche gilt für die Führung des EMAS-Registers (§ 32 I UAG). Kammerzugehörige, die durch Beiträge (Grundbeiträge und Umlagen) die Kosten der Errichtung und Tätigkeit der Kammern aufzubringen haben, sind natürliche Personen, Handelsgesellschaften, andere nicht rechtsfähige Personenmehrheiten und juristische Personen des Privatrechts und des Öffentlichen Rechts, welche im Kammerbezirk entweder eine gewerbliche Niederlassung oder eine Betriebsstätte oder eine Verkaufsstelle unterhalten und mit dieser gewerbesteuerpflichtig sind;390 von der Pflichtmitgliedschaft ausgenommen sind die nicht in das Handelsregister eingetragenen freiberuflich tätigen Personen und Inhaber land- oder forstwirtschaftlicher Betriebe (§ 2 II IHKG). Der Inhaber eines Handwerksbetriebs, der außerdem eine nicht-handwerkliche Gewerbetätigkeit ausübt, gehört mit diesem Betriebsteil der Kammer an. Das Beitragsrecht orientiert sich an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (§ 3 III und IV IHKG).391 Die Pflichtmitgliedschaft in einer Industrie- und Handelskammer und die damit verbundene Beitragslast sind weiterhin verfassungsmäßig.392

_____ 386 BVerfGE 33, 125 – Facharzt-Urteil; BVerwGE 64, 298 – Ärztekammer m Anm Redeker NJW 1982, 1266; BVerwG GewArch 1996, 465 (Warentest durch Landwirtschaftskammer); NVwZ-RR 2001, 93 o JK GG Art 2 I/34; OVG Hamburg GewArch 2008, 74 (keine Verpflichtung der IHK gegen missverständliche Presseveröffentlichungen Dritter vorzugehen). – Ress GS Dietrich Schultz, 1987, 305; Meßerschmidt VerwArch 81 (1990), 55; Kannengießer WiVerw 1998, 182. 387 Siehe § 2 I EAG BW, Art 2 I BayEAG, § 2 EAG Hbg, § 1 I EAPG MV, § 1 I ThürES-ErrichtungsG; Luch/Schulz GewArch 2010, 225. 388 Huber in: Kluth, Jahrbuch des Kammer- und Berufsrechts 2007, 2008, …. 389 Axer GewArch 1996, 453; Rosenkranz JURA 2009, 597; Frentzel/Jäkel/Junge Industrie- und Handelskammergesetz, 7. Aufl 2009; Kluth Verfassungsfragen der Privatisierung von Industrie- und Handelskammern, 1997; Leibholz Die Stellung der Industrie- und Handelskammern in Gesellschaft und Staat, 1966; Stober Die Industrie- und Handelskammer als Mittler zwischen Staat und Wirtschaft, 1992; ders GewArch 1992, 41. 390 BVerwGE 16, 295; E 22, 58; E 55, 1; BVerwG GewArch 1984, 350; GewArch 2002, 69. 391 Jahn GewArch 1993, 129; ders GewArch 1995, 457; ders GewArch 1998, 356; ders NVwZ 1998, 1042; ders GewArch 1999, 449; Schulte Westenberg NJW 1994, 27. Entwicklung der Beiträge BT-Drs 14/9175. 392 BVerfG NVwZ 2002, 335 o JK GG Art 2 I/35, m Bespr Jahn JuS 2002, 434; ders GewArch 2002, 98; Kluth NVwZ 2002, 298; Hatje/Philipp NJW 2002, 1849; ferner BVerwG NVwZ 2005, 340.

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V. Wirtschaftsverwaltung – 3. Kapitel

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Aufgabe der Handwerkskammern 393 ist es, die Interessen des Handwerks zu wahren und 162 zu fördern und an der Berufsausbildung mitzuwirken (§§ 90 ff HwO). Dazu gehört als Selbstverwaltungsaufgabe die Führung der Handwerksrolle (§ 91 I Nr 3 HwO) und der Erlass von Gesellenund Meisterprüfungsordnungen (§ 91 I Nr 5 und 6 HwO). Die Mitgliedschaft beim Deutschen Handwerkstag und beim Zentralverband des Deutschen Handwerks dient der Erfüllung der Kammeraufgaben und kann rechtlich nicht beanstandet werden.394 Gleiches gilt für die Herausgabe einer Handwerkerzeitung, in der allgemeine wirtschaftspolitische Fragen erörtert werden, wenn sie die Kammermitglieder in ihrer gewerblichen Tätigkeit wesentlich betreffen.395 Auch eine betriebliche Beratung der Mitglieder hält sich im Rahmen der Kammeraufgaben, nicht jedoch eine wirtschaftliche Betätigung der Kammer.396 Mitglieder der Handwerkskammern sind die selbstständigen Handwerker und die Inhaber handwerksähnlicher Betriebe im Kammerbezirk sowie die Gesellen und Lehrlinge dieser Gewerbetreibenden. Die selbstständigen Handwerker und die Inhaber handwerksähnlicher Betriebe tragen durch Beiträge zur Deckung der Kosten bei, die durch die Errichtung und Tätigkeit der Handwerkskammer entstehen (§ 113 HwO).397 Die Handwerksinnungen sind ebenfalls Körperschaften des öffentlichen Rechts (§ 53 163 HwO), stellen jedoch einen freiwilligen Zusammenschluss der selbstständigen Handwerker desselben Handwerks oder verwandter Handwerke auf Kreisebene dar und sollen die gemeinsamen gewerblichen Interessen ihrer Mitglieder fördern (§§ 52 ff HwO). Sie werden von der zuständigen Handwerkskammer beaufsichtigt (§ 75 HwO) 398 und sind fachlich zu Landesinnungsverbänden (§ 79 HwO) und örtlich zu Kreishandwerkerschaften (§ 86 HwO) zusammengeschlossen. Landesinnungsverbände und Kreishandwerkerschaften sind in Rechtsformen des Privatrechts organisiert. Die Tariffähigkeit der Innungen und Innungsverbände (§§ 54 III Nr 1, 82 Nr 3 HwO) verletzt Art 9 III GG nicht.399 Innungen und Innungsverbände sind für den Wirkungskreis, in dem sie Aufgaben öffentlicher Verwaltung wahrnehmen, nicht grundrechtsfähig; soweit sie dagegen durch einen hoheitlichen Eingriff als Interessenvertretung und nicht in ihrer Funktion als Teil der staatlichen Verwaltung betroffen sind, können sie sich auf Grundrechte berufen.400 Für das Recht der Landwirtschaftskammern besteht eine bundesrechtliche Regelung, die 164 gemäß Art 74 I Nr 17 GG möglich wäre, nicht. In einigen Ländern sind jedoch auf landesrechtlicher Grundlage Landwirtschaftskammern errichtet worden.401 Die Veröffentlichung von Warentests durch eine Landwirtschaftskammer ohne gesetzliche Grundlage überschreitet die Verbandskompetenz der Kammer und verletzt die Berufsfreiheit der betroffenen Hersteller (Art 12 I GG).402

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393 Fröhler Die Staatsaufsicht über die Handwerkskammern, 1957; ders Das Organisationsrecht der Handwerksordnung, 1973; Chesi Struktur und Funktionen der Handwerksorganisation in Deutschland seit 1933, 1966; Kolbenschlag/Patzig Die dt Handwerksorganisation, 1968; Stober Rechtsfragen bei Mitgliederklagen auf Einhaltung des Aufgaben- und Zuständigkeitsbereiches innerhalb der Handwerksorganisation, 1984; Kopp WiVerw 1994, 1; Degenhart DVBl 1996, 551; Wendt FS Ress, 2005, 1353. 394 BVerwGE 74, 254 = NJW 1987, 338 m Bespr Pietzcker NJW 1987, 305 und Siegert/Sternberg GewArch 1986, 300. 395 BVerwGE 64, 115, 118; E 64, 298, 305. 396 OVG Lüneburg GewArch 1986, 201. – Ress GS Schultz, 1987, 305. 397 BVerwG NJW 1977, 1893; GewArch 2002, 245. 398 BVerwG GewArch 1992, 302. 399 BVerfGE 20, 312. 400 BVerfGE 68, 193 (Unzulässigkeit der Vb von Zahntechnikerinnungen und -innungsverbänden gegen das Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz in der GKV) o JK GG Art 19 III/5; E 70, 1, 20 f; BVerfG NVwZ 1994, 262. – Seidl FS Zeidler, 1987, Bd 2, 1459. 401 Vgl zB das nds G über Landwirtschaftskammern idF v 10. 2. 2003 (GVBl 61, 176), zul geänd durch G v 9.12.2011 (GVBl 471). Gesetz über die Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein idF d Bek vom 26.2.2002 (GVOBl 28, zul geänd durch G v 11.12.2007 (GVOBl 496). Der Bayer Bauernverband ist hingegen eine Körperschaft des Öffentl Rechts mit freiwilliger Mitgliedschaft; VO Nr 106 v 29.10.1946 (BayRS 7800-2-E), Bek v 17.2.1960 (StAnz Nr 9). – Sauer Landwirtschaftliche Selbstverwaltung, 1957. 402 BVerwG DVBl 1996, 807.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

Nach dem Vorbild des Reichswirtschaftsrates der Weimarer Republik , 403 der Wirtschaftsräte in einigen westeuropäischen Verfassungen oder des auf EU-Ebene eingerichteten Wirtschaftsund Sozialausschuss (Art 300 ff AEUV)404 ist vor allem in den 1970er Jahren immer wieder eine quasi-parlamentarische Repräsentation der organisierten Interessen der Wirtschaft in einem „Bundeswirtschaftsrat“ oder „Wirtschafts- und Sozialrat“ gefordert worden.405 Ein derartiges (Verfassungs-)Organ, das – ähnlich dem Ende der 1990er Jahre abgeschafften Bayerischen Senat 406 – beratend, beschließend oder auch nur mit dem Recht zur Gesetzesinitiative an der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung bzw der Gesetzgebung insgesamt beteiligt wäre, stünde tendenziell im Widerspruch zum Demokratiegebot des Art 20 I und II GG und könnte – wenn es über eine bloße Anhörung hinausgehende Befugnisse haben soll – jedenfalls nicht ohne Verfassungsänderung errichtet werden. In Bremen und im Saarland bestehen schließlich Arbeitnehmer- bzw Arbeitskammern, 166 die die Aufgabe haben, die Arbeitnehmerinteressen in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht zu fördern. Auch wenn ihr Aufgabenkreis von dem der Koalitionen abgegrenzt ist,407 stehen sie zu diesen doch in einer gewissen Spannungslage.408 165

167 cc) Europäisierung des Kammerrechts. Organisation und Aufgabenerfüllung der Kammern unterliegen einer Fülle von unionsrechtlichen Anforderungen, die teilweise zu einer substantiellen Modifikation des Kammerrechts zwingen – Anforderungen der Niederlassungs- (Art 49 AEUV) und der Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV), sekundärrechtliche Konkretisierungen und das unionale Wettbewerbsrecht. Indem die Kammern diese Anforderungen beachten, tragen sie zum idR mittelbaren Vollzug des Unionsrechts bei und erweisen sich insoweit als Bestandteil des Europäischen Verwaltungsverbundes. So kollidiert etwa die Pflichtmitgliedschaft in IHK, Handwerkskammer etc tendenziell mit 168 der Dienstleistungsfreiheit. Sie kann sich, wie der EuGH in den Rs Corsten409 und Schnitzer410 entschieden hat, vor allem dann als Verstoß gegen diese Grundfreiheit darstellen, wenn sie die Erbringung von Dienstleistungen erschwert oder verzögert, insbesondere Kosten- und Beitragspflichten auslöst. Damit ist die Pflichtmitgliedschaft in berufsständischen Kammern unionsrechtlich zwar nicht a priori unzulässig; die Eintragung in die Handwerksrolle muss aber ggf von Amts wegen erfolgen (§ 10 HwO) und darf nichts kosten. Die BerufsanerkennungsRL 2005/36/EG hat diese Rechtsprechung weitgehend kodifiziert. Danach bleibt eine Pro-Forma-Mitgliedschaft unter den genannten Bedingungen möglich (Art 6 lit a), was insbesondere die Überwachung der Dienstleistungserbringer erleichtern soll. 169 Mutatis mutandis gilt das auch mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit. Die Versuche, die Pflichtmitgliedschaft von der Niederlassung zeitlich411 oder von den Effekten her zu trennen, überzeugen nicht. Die Pflichtmitgliedschaft bleibt eine Beschränkung und diese wird durch die

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403 Art 165 WRV; VO über den vorläufigen Reichswirtschaftsrat v 4.5.1920 (RGBl 858). 404 Zellentin Der Wirtschafts- und Sozialausschuß der EWG und Euratom, 1962; Brüske Der Wirtschafts- und Sozialausschuß der Europäischen Gemeinschaften, 1979. 405 Entwurf eines G über die Errichtung eines Bundeswirtschafts- und Sozialrates, BT-Drs VI/2514. – Bryde Zentrale wirtschaftspolitische Beratungsgremien in der parlamentar Verfassungsordnung, 1972; Steinberg DÖV 1972, 837; Rupp Die „öffentlichen“ Funktionen der Verbände und die demokratisch-repräsentative Verfassungsordnung, SchrVfS 74/II, 1973, 1251; Donner DVBl 1974, 183; Böckenförde Der Staat 15 (1976), 457; Stern JöR 25 (1976), 103; Saipa AöR 102 (1977), 497; Menzel Legitimation staatlicher Herrschaft durch Partizipation Privater?, 1980. 406 G zur Abschaffung des Bayerischen Senates v 20.2.1998 (GVBl 42). – BayVerfGHE 52, 104; Sachs JuS 2000, 705. 407 Badura Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 4. Aufl 2011, Rn 358. 408 BVerfGE 38, 281. – Zacher Arbeitskammern im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1971. 409 EuGH Urt v 3.10.2000 – C-58/98 – Corsten, Slg 2000, I-7919 Rn 47 f. 410 EuGH Urt v 11.12.2003 – C-215/01 – Bruno Schnitzer, Slg 2003, I-14847 Rn 34 f. 411 Burgi in: Kluth, Jahrbuch des Kammerrechts, 2002, 23 f: Pflichtmitgliedschaft folge der Niederlassung nach.

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Beitragspflicht verstärkt.412 Insoweit bedarf sie auch im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit der Rechtfertigung. Dass diese gelingt, liegt auf der Hand. Der Zweck funktionaler Selbstverwaltung – eine dezentrale, bürgernahe und freiheitsschonende413 Aufgabenerledigung – lässt sich nämlich nur erreichen, wenn alle Betroffenen einbezogen werden. Insoweit hat auch der EuGH die Pflichtmitgliedschaft in Berufsverbänden schon in der Rs Auer414 für zulässig gehalten, weil sie die Zuverlässigkeit und die Beachtung der standesrechtlichen Grundsätze sowie die disziplinarische Kontrolle – in diesem Fall der Tierärzte – ermöglichte. Daran hat er auch später festgehalten.415 Unter dem Blickwinkel des Unionsrechts sind Kammern grds Unternehmensvereinigun- 170 gen iSd Art 101 AEUV. In der Rs Wouters416 hat der EuGH eine niederländische Rechtsanwaltskammer – wie in Deutschland eine Körperschaft des öffentlichen Rechts – als Unternehmensvereinigung qualifiziert und von ihr erlassene Verordnungen an Art 101 I AEUV gemessen. Die Kammern unterliegen daher den unionalen Wettbewerbsregeln, soweit sie durch ihre Beschlüsse kraft autonomer Entscheidung Regeln über das Verhalten ihrer Mitglieder aufstellen. Dass sie Körperschaften des öffentlichen Rechts sind und Berufspflichten durch Satzung normativ festlegen, steht dem nicht entgegen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn es sich bei ihrer Tätigkeit um die Ausübung von Hoheitsgewalt handelt. Insoweit hat man in der Literatur versucht, zwischen einem „Ermächtigungssystem“ zu unterscheiden, bei dem die Tätigkeit der Kammern in den Anwendungsbereich von Art 101 AEUV fällt, und einem „Vorbehaltssystem“, bei dem es sich um hoheitliches Handeln (des Staates!) handeln soll.417 Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Mitgliedstaat bei der Aufgabenzuweisung auch Kriterien des Allgemeininteresses berücksichtigt, die wesentlichen Grundsätze festlegt, die bei der Satzungsgebung zu beachten sind und dass er eine Letztentscheidungsbefugnis behält. Diese kann, wie der EuGH in der Rs Arduino418 festgestellt hat, auch durch ein ministerielles Genehmigungserfordernis oä sichergestellt werden. Alle drei Kriterien treffen auf die berufständischen Körperschaften in Deutschland zu: 171 – Sie sind Träger mittelbarer Staatsverwaltung, exekutieren also staatlich zugewiesene Aufgaben gegenüber ihren Mitgliedern und stellen sich gerade nicht als berufsständische Interessenvertretungen dar; deswegen fehlt ihnen auch die Grundrechtsträgerschaft. – Die im sog Facharztbeschluss419 Anfang der 1970er Jahre entwickelte Wesentlichkeitsdoktrin – danach sind die grundlegenden, statusbildenden Normen durch den Gesetzgeber selbst zu treffen – sichert darüber hinaus die Anbindung der Satzungsgebung an das Gesetz. – Problematisch ist somit allein, inwieweit die staatliche Letztentscheidungsbefugnis beim Satzungserlass sichergestellt ist. Die im Berufsrecht typischerweise anzutreffende Rechtsaufsicht (etwa § 11 I IHKG)420 genügt insoweit nach überwiegender Auffassung nicht.421 Allerdings findet sich vereinzelt auch die Anordnung einer Fachaufsicht;422 zudem ist die

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412 Zur grundrechtlichen Einordnung BVerfGE 15, 235, 239; BVerfG NVwZ 2002, 335 o JK GG Art 2 I/35. 413 BVerfG NVwZ 2002, 335 o JK GG Art 2 I/35. 414 EuGH Urt v 22.9.1983 – Rs 271/82 – Auer, Slg 1983, 2727 Rn 81. 415 EuGH Urt v 3.10.2000 – C-58/98 – Corsten, Slg 2000, I-7919 Rn 45. 416 EuGH Urt v 19.2.2002 – C-309/99 – Wouters ua, Slg 2002, I-1577 Rn 56 ff – zu Art 81 I EGV aF. 417 Kühling in: Streinz, EUV/AEUV, Art 106 AEUV Rn 9 mit Fn 48 unter Hinweis auf Römermann/Wellige BB 2002, 633, 635. 418 EuGH Urt v 19.2.2002 – C-35/99 – Arduino, Slg 2002, I-1529 Rn 40 ff. 419 BVerfGE 33, 125 – Facharztbeschluss. 420 Möllering WiVerw 2006, 261, 282; das schließt Sonderregelungen insbesondere dort, wo die Kammern mit Befugnissen ggü Dritten beliehen werden, jedoch nicht aus. 421 Möstl WuV 2002, 213, 226 f; Schöbener/Scheidtmann WuV 2006, 286, 296. 422 § 115 I HwO sieht im Grundsatz nur eine Rechtsaufsicht über Handelskammern vor – allerdings mit einer Vorbehaltsklausel („soweit nichts anderes bestimmt ist“). Nach § 124b HwO muss bei der Übertragung bestimmter Zuständigkeiten im Bereich der Berufszulassung (§§ 7a, 7b, 8 und 9 HwO) allerdings Fachaufsicht vorgesehen werden. Zur Fach- bzw Sonderaufsicht bei den Landwirtschaftskammern und bei den Kammern der Heilberufe in NRW,

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präventive Rechtsaufsicht durchaus geeignet, die vom EuGH geforderte Letztentscheidungsbefugnis des Mitgliedstaates sicherzustellen. Wenn etwa der Erlass von Meisterprüfungsund Gesellenprüfungsordnungen (§ 91 I Nr 5 bzw Nr 6 iVm § 106 I Nr 11 HwO) zwar lediglich der Rechtsaufsicht unterliegt, jedoch ein Genehmigungsvorbehalt zugunsten der obersten Landesbehörde besteht (§ 106 II HwO), dann dürfte dies den unionsrechtlichen Anforderungen genügen. 172 Selbst wenn man dies anders sehen und die Tätigkeit der berufsständischen Kammern nicht als öffentliche Gewalt iSd Unionsrechts qualifizieren wollte, lassen sich entsprechende ihre Regelungen durch eine an der „rule of reason“ orientierte teleologische Reduktion von Art 101 AEUV bzw über die Brücke des Art 106 II AEUV rechtfertigen. Eine Regelung der Berufspflichten beschränkt zwar den innergemeinschaftlichen Wettbewerb, verstößt aber weder gegen Art 101 I AEUV noch gegen die Niederlassungs- (Art 49 AEUV) und Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV), wenn die Kammern bei vernünftiger Betrachtung annehmen können, dass die Regelung für die ordnungsgemäße Ausübung des Berufs erforderlich ist.423 Soweit sie ihre gesetzlichen, ggf auch durch Verwaltungsakt oder -vertrag übertragenen Aufgaben im Allgemeininteresse erledigen, findet zudem Art 106 II AEUV jedenfalls seinem Grundgedanken nach Anwendung. Im Ergebnis dürfen die Kammern daher auch unter der Ägide des Unionsrechts alle Beschlüsse fassen, die notwendig sind, um die ordnungsgemäße Ausübung des Berufs sicherzustellen. Ihr gesetzliches Aufgabenprofil ist damit unionsrechtlich weitgehend abgesichert.

d) Koalitionen und Wirtschaftsverbände 173 Die Koalitionen (Art 9 III GG) gehören nicht zur öffentlichen Verwaltungsorganisation. Sie sind freiwillige und überbetriebliche Vereinigungen entweder von Arbeitgebern oder von Arbeitnehmern („Gegnerfreiheit“) mit dem Ziel der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, aber nicht notwendig mit Tarifwilligkeit und Streikbereitschaft.424 Beispiele auf Arbeitgeberseite sind insoweit „Gesamtmetall“ oder die „Tarifgemeinschaft der Länder“ als öffentliche Arbeitgeber, auf Arbeitnehmerseite die Gewerkschaften IG Metall oder Ver.di. Wirtschafts- und Unternehmensverbände sind dagegen Vereinigungen von fachlich 174 gleichartigen Unternehmen, die sich auf der Grundlage ihrer Vereinigungsfreiheit (Art 9 I GG) zur Wahrung und Förderung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen zusammenschließen, sowie deren regionale und nationale Spitzenverbände, zB der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) oder die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).425 Die Wirtschaftsverbände können für ihren Bereich Wettbewerbsregeln426 aufstellen und bei der Kar-

_____ soweit diese Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung zu erledigen haben, Möllering WiVerw 2006, 261, 282. Das BVerwG geht auch im Rahmen von § 75 HwO – also der mittelbaren Staatsaufsicht über die Innungen durch die Handwerkskammern – davon aus, dass die Handwerkskammern selbst der Fachaufsicht unterliegen. Im Rahmen von § 1 IV IHKG, welcher die Aufgabenübertragung durch Gesetz oder VO auf die IHK zulässt, wäre Fachaufsicht zwar denkbar, ist bisher allerdings nicht erfolgt, Frentzel/Jäkel/Junge, IHKG-Kommentar, 280 f; Möllering WiVerw 2006, 261, 283. 423 EuGH Urt v 19.2.2002 – C-309/99 – Wouters ua, Slg 2002, I-1577 (Schutz der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts durch ein Sozietätsverbot mit einer Wirtschaftsprüfergesellschaft), m Anm Eichele EuZW 2002, 182; Henssler JZ 2002, 983; Römermann/Wellige BB 2002, 633. 424 BVerfGE 18, 18; BAGE 21, 98; E 23, 320; BAG JZ 1977, 470. – Badura ArbRGgwart 15 (1978), 17. 425 v Arnim Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977; Berg DV 11 (1978), 71; Ipsen ZGR 1980, 548; Leßmann Die öffentlichen Aufgaben und Funktionen privatrechtlicher Wirtschaftsverbände, 1976; Nicklisch Die Koppelung von Wirtschaftsverbänden und Arbeitgeberverbänden, 1972; Völpel Rechtlicher Einfluß von Wirtschaftsgruppen auf die Staatsgestaltung, 1972; Schmidt in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR I, § 1 Rn 79 ff; Steinberg PVS 14 (1973), 27. 426 BGHZ 46, 168; Oehler Wettbewerbsregeln als Instrument der Wettbewerbspolitik, 1968.

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tellbehörde deren Eintragung in das Register für Wettbewerbsregeln beantragen (§§ 24 ff GWB). Ein von ihnen ausgeübter diskriminierender Organisationszwang ist kartellrechtlich verboten (§§ 21, 33 GWB). Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften sind präsumtive Partner der „konzertierten Aktion“ (§ 3 StabG).

2. Verwaltungszwecke und Steuerungskonzepte im Öffentlichen Wirtschaftsrecht Die Aufgaben des Staates in der Wirtschaftspolitik, durch die Grundentscheidung für den sozia- 175 len Rechtsstaat und die Verpflichtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewichts allgemein vorgezeichnet (Art 20 I, 109 II GG), werden durch die Gesetzgebung festgelegt, die Steuerungsziele und -konzepte formuliert und damit zugleich die Verwaltungszwecke bestimmt.

a) Überwachung aa) Funktion und Zielsetzung. Traditionelles Steuerungskonzept im Öffentlichen Wirtschafts- 176 recht ist die Überwachung. Typischerweise statuiert das Gesetz insoweit Maßstäbe für wirtschaftliche Betätigungen oder Handlungsweisen, die der Abwehr von Gefahren oder Nachteilen dienen sollen, aber auch auf die Gestaltung von Wirtschaftsabläufen zielen können. Im öffentlichen Interesse oder zum Schutz spezifisch betroffener Dritter statuiert es Anforderungen, deren Einhaltung die Behörde mit Hilfe der gesetzlichen Kontrollbefugnisse sicherzustellen hat.427 Ein bestimmtes Verhalten kann dabei geboten 428 oder verboten 429 oder eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung der Betroffenen zugunsten der Behörden430 begründet sein. „Überwachung“ meint maW die staatliche Kontrolle und Berichtigung privater Teil- 177 nehmer am Rechts- und Wirtschaftsverkehr, ggf unter Anwendung von Verwaltungszwang. Dies entspricht den historisch gewachsenen Konturen dieses Konzepts und hat in zahlreichen Normen des Besonderen Verwaltungsrechts seinen Niederschlag gefunden.431 „Überwachung“ erfolgt in der Distanz von Staat und Gesellschaft; sie setzt individuelle Freiheit voraus und gewährleistet im Interesse des Gemeinwohls deren Schranken. Sie erfolgt nach Maßgabe bereichsspezifischer unionaler, gesetzlicher oder untergesetzlicher Regelungen. Ihre Beachtung sicherzustellen, ist grundsätzlich Aufgabe der Verwaltung. „Überwachung“ ist nicht verantwortliche Planung durch die Verwaltung und auch nicht interventionistische Lenkung;432 sie zielt auf die Gewährleistung eines normativ definierten status quo, nicht auf seine Veränderung. Damit ist der Begriff ein Synonym für die verwaltungsmäßige Kontrolle privatautonomen Handelns im Rechts- und Wirtschaftsverkehr nach Maßgabe öffentlich-rechtlicher Pflichten.

_____ 427 Bullinger VVDStRL 22 (1965), 264; Stein Die Wirtschaftsaufsicht, 1967; Scholz Wirtschaftsaufsicht und subjektiver Konkurrentenschutz, 1971; Ehlers, Heckmann u Ehlers/Pünder in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR I, § 2, § 3 u § 4; Mösbauer Staatsaufsicht über die Wirtschaft, 1990; Schmidt Öffentliches Wirtschaftsrecht, 1990, 338 ff; Triantafyllou Haftungsrechtliche Probleme der Staatsaufsicht in der Wirtschaft, 1991. 428 ZB ein Beimischungszwang zur Sicherung der Verwertung von Rohstoffen inländischer Erzeugung (zB früher nach dem G über die Unterbringung von Rüböl aus inländischem Raps und Rüben v 12.8.1966, BGBl I 497). – BayVGH DVBl 1970, 977; BVerwG NJW 1974, 2247 u 2250. 429 ZB das Verbot des Vertriebs und des Ankaufs bestimmter Waren im Reisegewerbe (§ 56 GewO). 430 ZB die allgemeine Auskunftspflicht nach der VO über Auskunftspflicht v 13.7.1923 (RGBl 1923 I 723) oder die zahlreichen Auskunftspflichten im Rahmen der Wirtschaftsüberwachung (ua §§ 14, 24 KWG; § 127 TKG; § 39 GWB). 431 § 52 BImSchG, § 14 V GewO; §§ 38 ff LFGB; § 34 ProdSG; § 81 I VAG. 432 Ehlers Ziele der Wirtschaftsaufsicht, 1997, 5, 37 f, hält die Lenkung allerdings für einen Bestandteil der Wirtschaftsaufsicht, der neben der Wirtschaftsüberwachung steht und sich von dieser nur dadurch unterscheidet, dass er nicht lediglich auf die Beseitigung unerwünschter Zustände zielt, sondern auf die Erreichung bzw Erhaltung (sic!) erwünschter Zustände. Von diesem Standpunkt verbietet sich eine kategoriale Unterscheidung zwischen Lenkung und Überwachung.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

„Überwachung“ setzt mindestens zwei Beteiligte voraus – den Überwachenden und den Überwachungspflichtigen. Schon deshalb lässt sie sich – wie viele verwaltungsrechtliche Fragestellungen433 – mit Hilfe der Rechtsverhältnislehre besonders gut erfassen. Die Besinnung auf das zwischen Überwachendem und Überwachungspflichtigem bestehende Rechtsverhältnis ermöglicht es zudem, die Perspektive der handlungsorientierten sog Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft in den Blick zu nehmen, ohne die dadurch in keiner Weise delegitimierte rechtsstaatlich radizierte und rechtsschutzorientierte Perspektive der „tradtionellen“ Verwaltungsrechtswissenschaft zu vernachlässigen. Grundfigur für Verständnis und Erfassung von „Überwachung“ sowie für ihre Einordnung in das System des Verwaltungsrechts ist daher das Überwachungsrechtsverhältnis.434

179 bb) Referenzgebiete. Explizite Zuweisungen einer Überwachungsaufgabe finden sich im Gewerberecht – über § 14 GewO hinaus auch in den §§ 29 I, II, 38 GewO sowie in gewerberechtlichen Nebengesetzen (§§ 41a, 111 HwO). Ziel dieses „Gewerbepolizeirechts“ ist die Wahrung bestimmter Standards der Zuverlässigkeit und der Sachkunde oder der räumlichen und sachlichen Gewerbeausübung, zB im Reisegewerbe, im Gaststättenrecht oder im Verkehrsgewerbe. Eingehend geregelt sind – weitgehend in Umsetzung von EU-Richtlinien – auch die Versicherungsund Bankenüberwachung (bzw -aufsicht). 180 Das Kartellrecht435 (Art 101 f AEUV; VO (EG) Nr 1/2003; VO (EG) Nr 139/2004, GWB) schützt die Wettbewerbsordnung und den marktwirtschaftlichen Wettbewerb durch eine Überwachung der Marktteilnehmer einschließlich einer präventiven und repressiven Konzentrationskontrolle.436 Soweit Wettbewerbshandlungen geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen oder den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes zu verfälschen, unterliegen sie den Wettbewerbsregeln des Unionsrechts.437 Das nationale Wettbewerbsrecht bleibt daneben nur anwendbar, soweit nicht abschließende Regelungen des Unionsrechts oder Entscheidungen der EU-Kommission maßgebend sind. „Unternehmen“ ist insoweit jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unab181 hängig von ihrer Rechtsform und der Art der Finanzierung,438 dh jede Tätigkeit, die darin be-

_____ 433 Kahl in: GVwR III § 47 Rn 32; zu Recht mahnt Wahl in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert, Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, 177, 216, daher die Notwendigkeit einer weiteren Entfaltung der Lehre vom Verwaltungsrechtsverhältnis an; zum Nutzen einer rechtsverhältnistheoretischen Betrachtungsweise und zur Kritik daran siehe auch Bauer DV 25 (1992), 301 ff; v Danwitz DV 30 (1997), 339 ff; Gröschner DV 30 (1997), 301 ff; ders Das Überwachungsrechtsverhältnis, 1992, 142 ff; Hase DV 38 (2005), 453 ff; Remmert in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR § 17; Schmidt-Aßmann Ordnungsidee, Kap 6 Rn 40 ff; krit Masing in: GVwR I, § 7 Rn 120 ff; Pietzcker DV 30 (1997), 281 ff. 434 Gröschner Das Überwachungsrechtsverhältnis, 1992. 435 Möschel Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1983; Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, 2012; Rittner Wettbewerbs- und Kartellrecht, 8. Aufl 2009; ders ZHR 160 (1996), 180; Hootz, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und Europäisches Kartellrecht, 5. Aufl 2006; Bechtold NJW 1998, 2769; ders Kartellgesetz, 6. Aufl 2010; ders/Uhlig NJW 1999, 3526; ders NJW 2001, 3159; Böge GewArch 2000, 217; Emmerich Kartellrecht, 12. Aufl 2012; Immenga/Mestmäcker Wettbewerbsrecht, 5. Aufl 2012; Langen/Bunte Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, 2 Bände, 11. Aufl 2010. – Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tätigkeit in den Jahren 2009/2010 sowie über die Lage und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet, BT-Drs 17/6640. 436 Scholz Konzentrationskontrolle und Grundgesetz, 1971; ders Entflechtung und Verfassung, 1981; Kleinmann/Bechtold Kommentar zur deutschen Fusionskontrolle, 3. Aufl 2005; Windbichler Unternehmensverträge und Zusammenschlußkontrolle, 1977; Selmer Unternehmensentflechtung und Verfassung, 1981; Cannenbley/Moosecker Fusionskontrolle, 1982; Murach Deutsche Fusionskontrolle, 2011. – Neunzehntes Hautpgutachten der Monopolkommission 2010/2011, BR-Drs. 423/12. 437 Müller-Laube JuS 1991, 184; Wolf EuZW 1994, 233; Immenga/Mestmäcker Wettbewerbsrecht, Bd I EU, 5. Aufl 2012; Schröter/Jacob/Mederer Kommentar zum Europäischen Wettbewerbsrecht, 2003. 438 EuGH Urt v 23.4.1991 – C-41/90 – Höfner und Elser, Slg 1991, I-1979 Rn 21; Urt v 19.2.2002 – C-309/99 – Wouters ua, Slg 2002, I-1577; Urt v 22.1.2002 – C-218/00 – Cisal/INAIL, Slg 2002, I-691.

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steht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten.439 Das gilt für private und öffentliche Unternehmen440 gleichermaßen, auch für den Staat selbst.441 Eine Tätigkeit unterliegt den Wettbewerbsregeln des AEUV nur dann nicht, wenn es sich um eine „Dienstleistung von allgemeinem Interesse“ handelt, die nach ihrer Art und ihrem Gegenstand keinen Bezug zum Wirtschaftsleben hat, wie zB die durch das SGB V determinierte Tätigkeit der Krankenkassen und ihrer Verbände; sie war jedenfalls früher442 eine rein soziale Aufgabe, die auf dem Grundsatz der Solidarität beruhte und ohne Gewinnerzielung betrieben wurde.443 Keine wirtschaftliche Tätigkeit ist ferner die Ausübung hoheitlicher Befugnisse, wie zB die Überwachung zur Bekämpfung der Umweltverschmutzung im Meeresbereich.444 Für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind, gelten die Wettbewerbsregeln nur, soweit ihre Anwendung nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert (Art 14, 106 II AEUV).445 Die allgemeine Preisaufsicht – auch hier geht es um eine Überwachungsaufgabe mit 182 Hilfe der die „Aufrechterhaltung des Preisstandes“ als Maßstab verwendenden Generalklausel des § 2 PreisG – erlaubt ordnungssichernde Regelungen und Verfügungen, nicht dagegen eine aktiv wirtschaftsgestaltende Preislenkung.446 Die Vorschrift des § 2 PreisG ermächtigt zum Erlass von Rechtsverordnungen auf dem Gebiet der Preise bei öffentlichen Aufträgen.447 Fachlich speziellere Ermächtigungen erlauben weitergehende Eingriffe, zB bei der Gestaltung von Verkehrstarifen oder im Energiepreisrecht.448 cc) Beteiligung Privater an der Überwachung. Der bei vielen öffentlichen Aufgaben nach 183 1990 zu beobachtende Rückzug des Staates aus der Erfüllungsverantwortung hat die Neigung verstärkt, auch die Überwachung, eine mit dem staatlichen Gewaltmonopol aufs Engste verbundene und insoweit originäre Staatsaufgabe, ganz oder teilweise in die Hände Privater zu legen. Dass es sich bei diesen Formen funktioneller oder Verfahrensprivatisierung449 nicht um ein Phänomen jüngeren Datums handelt, zeigen die Beispiele der Technischen Überwachungsvereine und ihrer Prüfer (TÜV)450 oder die Bezirksschornsteinfegermeister, die seit Jahrzehnten die Aufgabe haben, Verkehrsteilnehmer bzw Hauseigentümer entweder anstelle der Verwaltung zu überwachen oder – wie die Bezirksschornsteinfegermeister – in arbeitsteiligem Zusammenwir-

_____ 439 EuGH Urt v 18.6.1998 – C-35/96 – Kommission/Italien, Slg 1998, I-3851 Rn 36. 440 Urt v 23.4.1991 – C41/90 – Höfner und Elser, Slg 1991, I-1979 Rn 21 ff; Urt v 22.1.2002 – C-218/00 – Cisal/INAIL, Slg 2002, I-691 Rn 22, unter Hinweis auf EuGH Urt v 12.9.2000 – verb Rs C-180/98 – C-184/98 – Pavlov au, Slg 2000, I-6451 Rn 74; v 19.2.2002 – C-309/99 – Wouters ua, Slg 2002, I-1577 Rn 46. 441 EuGH Urt v 11.12.1997 – C-55/96 – Job Centre, Slg 1997, I-7119. 442 Zu den Veränderungen im Rahmen der Gesundheitsreform Huber Die Wahltarife im SGB V, 2008, 49. 443 EuGH Urt v 17.2.1993 – verb Rs C-159/91 u C-160/91 – Poucet u Pistre/AGF u Cancava, Slg 1993, I-637 Rn 18, 19; Urt v 16.3.2004 – verb Rs C-264/01, C-306/01, C-354/01 u C-355/01 – AOK Bundesverband ua/Ichtyol, Slg 2004, I-2493. 444 EuGH Urt 18.3.1997 – C-343/95 – Cali & Figli, Slg 1997, I-1547 Rn 22, 23. 445 EuGH Urt v 19.5.1993 – C-320/91 – Corbeau, Slg 1993, I-2533; Urt v 27.4.1994 – C-393/92 – Almelo, Slg 1994, I-1477. 446 ÜbergangsG über Preisbildung und Preisüberwachung (PreisG) v 10.4.1948 (WiGBl 27), fortgeltend gem G v 29.3.1951 (BGBl I 223) zul geänd durch G v 18.2.1986 (BGBl I 265). – BVerfGE 8, 274; E 53, 1, m Anm Meng DVBl 1980, 613; E 65, 248. – Hauptkorn Preisrecht, 2000. 447 BVerwG DVBl 1999, 1364. 448 § 39 EnWG. 449 Stober Allg Wirtschaftsverwaltungsrecht, § 29 IV 2 a; Heintzen VVDStRL 62 (2003), 220, 241, 254 ff; Huber Staatliche Umweltregulierung versus ökologischer Unternehmensverantwortung, in: Stober/Vogel, Umweltrecht und Umweltgesetzbuch aus wirtschaftsrechtlicher Perspektive, 2001, 89, 94 f; Voßkuhle VVDStRL 62 (2003), 266, 299 ff mwN.; Reinhardt AöR 120 (1993), 617, 625. 450 Vgl Forsthoff VerwR, 492.

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ken mit ihr.451 Bildeten solche Konstellationen früher seltene und eng begrenzte Ausnahmen,452 so sind sie heute Standard.453 Die Einbeziehung Privater in die Erfüllung der Staatsaufgabe Überwachung454 hat mehrere 184 Gründe. In erster Linie dient sie, und das macht gerade in Zeiten leerer öffentlicher Kassen ihren Reiz aus, der Entlastung der Behörden und der sparsamen Verwendung öffentlicher Mittel (Entlastungsfunktion). Sie fördert zudem die Implementation des (durch Privatnützigkeit motivierten) Wirtschaftlichkeitsgedankens in staatliche Entscheidungsprozesse (Ökonomisierungsfunktion) und ermöglicht durch die Einbeziehung externen Sachverstandes darüber hinaus auch Effektivitätsgewinne. Denn in vielen Bereichen ist die Verwaltung heute von Kenntnissen und Erfahrungen aus Wissenschaft, Technik und Wirtschaft abhängig. Das zwingt sie mangels ausreichender eigener Kompetenzen zum Rückgriff auf externen Sachverstand (Erschließungs- oder Aktivierungsfunktion).455 Ob die Einbeziehung privater Dritter darüber hinaus auch ein Freiheitsgewinn ist, wird man jedenfalls aus der Perspektive der Überwachungspflichtigen bezweifeln müssen.456 Die Erscheinungsformen der funktionalen oder Verfahrensprivatisierung in diesem Bereich 185 sind so vielfältig und nuancenreich, dass sie eine Typologisierung beinahe unmöglich machen. Nach dem Ausmaß der Verantwortungsverlagerung lassen sich jedoch im Wesentlichen vier Typen unterscheiden: – die Beleihung; hier wird einer natürlichen oder einer juristischen Person des Privatrechts die Befugnis übertragen, gegenüber Dritten öffentlich-rechtlich zu handeln, wie zB den Prüfern der Technischen Überwachungsvereine (§ 29 StVZO)457 oder den Bezirksschornsteinfegermeistern (§ 3 II 2 SchfG).458 Wegen des institutionellen Vorbehalts des Gesetzes darf eine Beleihung nur durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes erfolgen.459 – Zulassung, Akkreditierung und Zertifizierung; – normativ angeordnete Fälle einer funktionalen Teilprivatisierung sowie – die Verwaltungshilfe und Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPP).

b) Regulierung 186 Die Zeitenwende von 1989/90, die damit einhergehende Beschleunigung der Globalisierung und die weitreichende, oftmals unionsrechtlich induzierte Privatisierung haben einen Struktur- und Funktionswandel der Verwaltung bewirkt. Dieser kommt unter organisatorisch-strukturellem Blickwinkel in der Schaffung immer neuer „Trabanten“ der Verwaltung und in einem immer komplexeren Zusammenspiel der Akteure zum Ausdruck, funktional in dem nahezu flächendeckenden Übergang von der Erfüllungs- zur Gewährleistungsverantwortung von Staat und Verwaltung.460 Vor allem im Bereich der Daseinsvorsorge hat dies einen neuen Steuerungstypus

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451 §§ 3 II, 13 I SchfG; Huber Die Zukunft des Schornsteinfegerhandwerks im Binnenmarkt, 2006, 11 f, 15 ff. 452 Heintzen VVDStRL 62 (2003), 220, 222. 453 § 7 I 2, II 3 BHO; Art. 7 I 2 BayHO; Voßkuhle VVDStRL 62 (2003), 266, 268. 454 Grundlegend Huber in: GVwR III, § 45 Rn 142 ff, 162 ff, 186 ff. 455 Brenner/Nehrig DÖV 2003, 1024, 1028. Vgl § 26 VwVfG, § 36 GewO; § 20 AtG; § 1 II 3 VO über Anlagen zum Umgang mit wassergefährdenden Stoffen v 31.3.2010 (BGBl I 377). 456 Relativierend Scherzberg VVDStRL 63 (2004), 214, 243. 457 BVerwGE 29, 166; BGH DÖV 1968, 135; Steiner Öffentliche Verwaltung durch Private, 1975; Kirchhof Verwalten durch „mittelbares“ Einwirken, 1977; Püttner/Losch in: Jeserich/Pohl/v Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd 5, 1987, 368. 458 Huber Die Zukunft des Schornsteinfegerhandwerks im Binnenmarkt, 2006, 20; Musielak/Schiera/Manke Schornsteinfegergesetz, 6. Aufl 2003, § 3 Rn 5 f. 459 Wolff/Bachof/Stober/Kluth VwR II, § 90 Rn 47; OVG NW JZ 1980, 93. 460 Voßkuhle VVDStRL 62 (2003), 266, 285 mit Fn 65; zum Energierecht Walter in: Leible/Lippert/ders, Die Sicherung der Energieversorgung auf globalisierten Märkten, 2007, 47 ff.

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in den Vordergrund geschoben: die Regulierung.461 Aufgabe der Regulierungsverwaltung ist es, Wettbewerb auf einem (noch nicht funktionierenden) Markt herzustellen und zu fördern, Interessenten einen effektiven und diskriminierungsfreien Zugang zum Markt (Netz) zu ermöglichen sowie ein Angebot flächendeckend bereitzustellender, angemessener und ausreichender Dienstleistungen zu gewährleisten.462 Besondere Kennzeichen des Regulierungsverwaltungsrechts sind bereichsbezogene Ungewissheitsbedingungen sowie besondere Gestaltungsbefugnisse der zuständigen (Regulierungs-)Behörden, ihre tendenzielle Verselbstständigung463 und die Indienstnahme der Betroffenen bzw ihrer Handlungsrationalitäten für die gesetzlichen Regulierungsziele (zB § 2 II TKG).464 Regulierung ist ein dynamischer Vorgang, dessen Instrumentarien vom Grad der Marktverwirklichung und dem Ausmaß der Zielerreichung im Übrigen abhängen. Wesentliche Adressaten der Regulierung sind nach wie vor (noch) öffentlich beherrschte Unternehmen (Deutsche Telekom AG, Deutsche Post AG, Deutsche Bahn AG, EnBW etc), die nicht nur Dienstleistungen am Markt erbringen, sondern die idR auch dem Gemeinwohl verpflichtet sind. aa) Einordnung der Regulierungsverwaltung. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob 187 man die Regulierungsverwaltung als Unterfall der „Überwachung“ begreifen kann, oder ob sie nicht wie „Planung“ und „Lenkung“ einen eigenen Verwaltungstyp darstellt. Viel hängt insoweit vom Zugriff auf das Rechtsgebiet und vom Blickwinkel ab.465 Sieht man in ihr – dem (verwaltungswissenschaftlichen) Agency-Konzept folgend – einen völlig neuen Typus von Verwaltungsrecht, der sich von der traditionellen Konzeption des auf der Dichotomie von Staat und Gesellschaft beruhenden Verwaltungsrechts kategorial unterscheidet, so wird man dies bejahen. Versucht man hingegen, die Regulierungsverwaltung in die verfassungsrechtlichen Vorgaben der Rechtsverhältnisse zwischen Bürger und Staat einzuordnen und dem rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip Rechnung zu tragen, so wirken die Unterschiede zur Überwachung geringer.466 Jedenfalls darf der bloße Rückgriff auf den aus dem amerikanischen Verwaltungsrecht stammenden, vom Unionsrecht rezipierten Begriff der „Regulierung“467 den Blick nicht dafür verstellen, dass es hier – da idealtypisch auch Private Adressaten des Regulierungsrechts sind – um einen Fall der Eingriffsverwaltung geht.468 Auch bei der Regulierung geht es um die Durchsetzung behördlicher Gemeinwohlkonkretisierungen gegenüber typischerweise der gesellschaftlichen Sphäre zuzuordnenden und insoweit grundrechtsberechtigten Unternehmen, mit der Folge, dass die rechtsstaatlichen Garantiefunktionen des Verwaltungsrechts auch auf das Regulierungsverwaltungsrecht anwend-

_____ 461 Berringer Regulierung als Erscheinungsform der Wirtschaftsaufsicht, 2004, 81 ff; v Danwitz DÖV 2004, 977 ff; Bullinger DVBl 2003, 1355 ff; Masing DV 36 (2003), 1 ff; ders Stand und Entwicklungstendenzen eines Regulierungsverwaltungsrechts, in: Bauer/Huber/Niewiadomski, Ius Publicum Europaeum, 2002, 161 ff; Ruffert AöR 124 (1999), 237 ff; Ruge Die Gewährleistungsverantwortung des Staates und der Regulatory State, 2004, 32 ff; Stober, Allg Wirtschaftsverwaltungsrecht, § 29 I 2. 462 Badura FS Großfeld, 1999, 35, 41 f; Eifert in: GVwR I, § 19 Rn 5; Hermes Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998; Masing Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden?, Gutachten D zum 66. DJT 2006, D 54; Trute FS Brohm, 2002, 169, 171. Ob die Gewährleistung des normativ vorgegebenen Versorgungsniveaus auch Bestandteil der Regulierung ist oder nicht eine eigenständige Gewährleistungsaufgabe darstellt, ist allerdings umstritten; dagegen Röhl JZ 2006, 831, 832 f; Walter Rohstoffbeschaffungsverantwortung, 54 f. 463 Pielow DÖV 2005, 1017. 464 Vgl Stober DÖV 2004, 221; Trute FS Brohm 2002, 169, 172, 177 ff. 465 Vgl etwa v Danwitz DÖV 2007, 977, 984: „Dennoch hat sich die Diskussion um das Wesen der Regulierung als eine lehrreiche Gelegenheit erwiesen, um über die Suggestionskraft innovativer Begrifflichkeiten nachzudenken, die ebenso sympathisch wie unbestimmt daherkommen und von ihren Protagonisten zur Umgestaltung der gesetzlichen Grundlagen eingesetzt werden.“ Vgl auch Masing Gutachten (Fn 462), D 9 ff. 466 Berringer Regulierung, 81 ff; v Danwitz DÖV 2007, 977 ff; Stober Allg Wirtschaftsverwaltungsrecht, § 29 I 2. 467 Trute FS Brohm, 2002, 169, 170 f. 468 Zu den Gefahren einer Verwaltungsrechtsdogmatik, die diesen Ausgangspunkt aus den Augen verliert, Schröder Verwaltungsrechtsdogmatik im Wandel, 2007, 325 ff.

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bar sind.469 Auch „Regulierung“ ist zudem eine Verwaltungsaufgabe, die an die Existenz öffentlich-rechtlicher Pflichten anknüpft, deren dauerhafte Erfüllung der Überwachung bedarf.470 Da „die organisatorische und verfahrensrechtliche Absicherung der Einhaltung der einschlägigen Vorgaben durch die privaten Akteure“ die Achillesferse des Regulierungs- bzw Gewährleistungsverwaltungsrechts ist,471 kommt der Effektivität der Überwachung geradezu eine Schlüsselfunktion zu. Durch die Besonderheiten der Regulierungsverwaltung wird dies nicht in Frage gestellt. Die Ermessens- und Beurteilungsspielräume der Regulierungsbehörden fallen nicht aus dem Rahmen: die – durch den Vorsorgegedanken bedingte – offene Programmierung verwaltungsrechtlicher Überwachungsmaßstäbe und die (potentielle) Multipolarität verwaltungsrechtlicher Überwachungsrechtsverhältnisse472 eröffnen der Verwaltung nicht unerhebliche Spielräume.473 Tendenzen zur institutionellen Verselbstständigung finden sich auch in anderen Bereichen – bei der Medienüberwachung474 oder im Kartellrecht.475 Die Verwaltungsaufgabe der Regulierung unterscheidet sich von anderen Formen der Überwachung somit zwar in Zielsetzung und Methoden, nicht jedoch in den rechtsstaatlichen und demokratischen Anforderungen an ihre Erledigung. 188 bb) Referenzgebiete. Im Bereich des Telekommunikations- (§ 2 TKG) und Postrechts (§ 2 PostG), im Energiewirtschafts- (§ 1 I, II EnWG) und Eisenbahnrecht (§ 1 I 1 AEG) hat der Gesetzgeber die BNetzA mit der Aufgabe betraut, Wettbewerb herzustellen, zu fördern und ein Angebot flächendeckend bereitzustellender angemessener und ausreichender Dienstleistungen zu gewährleisten.476 Die Ausgestaltung dieser Verwaltungsaufgabe ist in allen Referenzgebieten ähnlich, die öffentlich-rechtlichen Pflichten der Marktteilnehmer gleichen sich.

c) Wirtschaftslenkung 189 Die Verwaltungsaufgabe „Wirtschaftslenkung“ entspringt dem Sozialgestaltungsauftrag des Staates und unterscheidet sich sowohl von der Überwachung zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung als auch von der Regulierung. Unter Wirtschaftslenkung versteht man alle staatlichen Maßnahmen, durch die auf den wirtschaftlichen Prozess eingewirkt werden soll, um einen wirtschafts-, sozial- oder gesellschaftspolitisch erwünschten Zustand oder Ablauf des Wirtschaftslebens herzustellen oder zu erhalten, ohne Rücksicht auf die Rechtsform der Maßnahmen als verwaltungsrechtliches oder zivilrechtliches Gesetz, als Rechtsverordnung, Verwaltungsakt oder privatrechtliches Rechtsgeschäft.477 Mittelbare Wirkungen werden auch mit Hilfe wirtschaftslenkender Sonderabgaben angestrebt.478

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469 Büdenbender DVBl 2006, 197, 198; Huber/Storr RdE 2007, 1, 5; Masing Gutachten (Fn 462), D 157 f, mit Betonung der besonderen Eingriffsintensität; relativierend BVerwGE 114, 160, 192 f, das allerdings zu Unrecht von einer Grundrechtsberechtigung der jedenfalls seinerzeit noch staatlich beherrschten Deutschen Telekom AG ausgeht. Das kann hier nicht weiter vertieft werden. 470 Voßkuhle VVDStRL 62 (2003), 266, 321, nennt dies „gemeinwohlsichernde Einflussnahme“. Berringer Regulierung, 72 f macht im Regulierungsrecht zum einen ein „Comeback“ der klassischen Wirtschaftsaufsicht aus, zum anderen die Wiederkehr positiver (dh gestaltender) Elemente der Aufsicht. 471 Voßkuhle VVDStRL 62 (2003), 266, 320 f. 472 Zum Begriff des multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnisses Huber AllgVwR, 21. 473 Siehe BVerwGE 131, 41 Rn 21 (zur Marktdefinition und -analyse nach §§ 10 f TKG); BVerwG NVwZ 2012, 1047 (Entgeltgenehmigung durch BNetzA); siehe mit unterschiedlichen Akzenten Proells AöR 136 (2011), 402; Shu-Perng Hwang VerwArch 103 (2012), 356; Wieland DÖV 2011, 705. 474 § 35 VIII 1 RStV. Grund ist insoweit die Staatsferne der Medienüberwachung. 475 § 51 II 1 GWB; Emmerich Kartellrecht, 12. Aufl 2012, § 41 Rn 4. 476 Badura FS Großfeld, 1999, 35; Hermes Infrastrukturverantwortung, 1998; Trute FS Brohm, 2002, 169. 477 BVerwGE 71, 183, 190. – Müller-Graff Unternehmensinvestitionen und Investitionssteuerung im Marktrecht, 1984; Kluth ZHR 162 (1998), 657. 478 BVerfGE 82, 159 o JK GG Art 74 Nr 17/1; BVerfGE 108, 186 o JK GG Art 74 I Nr 7/2; BVerfGE 122, 316 o JK GG Art 12 I/89. – Breuer DVBl 1992, 485; w Nachw bei Schoch JURA 2010, 197 ff.

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aa) Marktordnungen. Ein Beispiel der Lenkung des Absatzes einzelner Produkte sind die 190 Marktordnungen.479 Hier werden der Wettbewerb und die durch ihn ausgeübten Wirkungen auf den Preis, den Inhalt der Austauschbeziehungen, die Art und Weise des Warenverkehrs und die Produktionsstruktur ganz oder teilweise durch öffentlich-rechtliche Regelungen ersetzt. Grund für die Wahl dieses Steuerungskonzeptes ist, dass unter den Bedingungen marktwirtschaftlicher Konkurrenz wirtschaftspolitisch unerwünschte Nachteile für Produzenten und Verbraucher eintreten würden. Durch die Marktordnung wird daher mit Hilfe eines vielgestaltigen Bündels gesetzlicher und administrativer Maßnahmen ein Ausgleich der bis zu einem gewissen Grade widerstreitenden Ziele der befriedigenden Versorgung der Verbraucher und der angemessenen Entlohnung der Produzenten über den (gelenkten) Preis angestrebt, zB durch die Festsetzung von Höchst-, Mindest-, Richt- und Interventionspreisen. Staatliche Kontroll- und Überwachungspflichten zur Durchführung einer Marktordnung verlagern das unternehmerische Risiko zwar nicht auf den Staat; die weitgehende Festsetzung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch den Staat bzw die EU vermindert dieses jedoch spürbar. Gleichwohl dient die Überwachung nur dem Allgemeininteresse, nicht auch dem Schutz der am Wirtschaftsverkehr teilnehmenden Unternehmen.480 Marktordnungen kommen heute – neben dem an Bedeutung immer weiter zurückgehenden 191 Montanbereich – hauptsächlich in der Landwirtschaft zur Anwendung (Art 40 I UA 2 lit c, 43 AEUV, MOG); sie sollen allerdings auch hier mittelfristig auslaufen. Unionsrechtliche Grundlage für die Marktordnungen ist die VO (EG) Nr 1234/2007 über eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte und mit Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse (Verordnung über die einheitliche GMO),481 die die früher bestehenden produktspezifischen Marktordnungen zusammengefasst hat. Die EU hat auch die Bananenmarktordnung (VO (EWG) Nr 404/93) aufgehoben,482 die 192 Anlass war, die rechtlichen Rahmenbedingungen dieser Form von Wirtschaftslenkung in jeder denkbaren Hinsicht zu untersuchen und die deshalb von bleibendem rechtsdogmatischem Wert ist. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen der EU-Agrarmarkt durch protektionistische Maßnahmen geschützt werden darf, beurteilt sich nämlich nicht nur nach Unionsrecht (insbesondere Art 39, 206 AEUV), sondern auch nach dem Vertragsrecht der WTO;483 sie musste deshalb auch geändert werden, nachdem das Streitbeilegungsorgan der WTO (Panel) einen Verstoß gegen das Vertragsrecht festgestellt hatte.484 Unionsrechtliche Beanstandungen blieben dagegen erfolglos,485 und das BVerfG hat – in der Sache angreifbar 486 – die Vorlage des VG Frankfurt/M, in der die Anwendbarkeit der VO (EG) Nr 404/93 im Hinblick auf Art 23 I, 14 I, 12 I und 3 I GG verneint wurde, als unzulässig verworfen. Nach Auffassung des BVerfG hatte das VG nicht dargelegt, dass die unionale Rechtsentwicklung nach der Solange II-Entscheidung487

_____ 479 Hensel Marktordnung, HDSW 7, 1961, 161; Götz Marktordnungsrecht, in: Hdwb des Agrarrechts II, 1982, Sp 448. 480 BGH NJW 1987, 585 – Milchmarktordnung. 481 VO (EG) Nr 1234/2007 des Rates v 22.10.2007 über eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte und mit Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse (ABl L 299/1). 482 VO (EWG) Nr 404/93 des Rates v 13.2.1993 über die gemeinsame Marktorganisation für Bananen (ABl L 47/1), zul geänd d VO (EG) Nr 2587/2001 des Rates v 19.12.2002 (ABl L 345/13). 483 Antwort der BReg auf eine Kleine Anfrage betr Negative Auswirkungen der EG-Bananenmarktordnung auf den Bananenwelthandel, BT-Drs 12/7230. – Sack EuZW 1992, 619; Hahn/Schuster EuR 1993, 261; Manservisi EuZW 1994, 209; Schmid NJW 1998, 190; Stein EuZW 1998, 261. 484 Siehe insoweit VO (EG) Nr 1637/98 des Rates v 20.7.1998 (ABl L 210/28). 485 EuGH Urt v 5.10.1994 – C-280/93 – Bundesrepublik Deutschland/Rat, Slg 1994, I-4973; Urt v 9.11.1995 – C-466/ 93 – Atlanta Frachthandelsgesellschaft ua, Slg 1995, I-3799. 486 Coppel/O’Neill CMLR 29 (1992) 669; Huber EuZW 1997, 517; ders Recht der Europäischen Integration, § 8 Rn 67; Selmer Die Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsschutzes durch den EuGH, 1998, 118; Storr Der Staat 36 (1997), 547. 487 BVerfGE 73, 339, 378 ff – Solange II.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

unter den vom GG geforderten Mindeststandard abgesunken sei 488 bzw diesen nie erreicht hatte. 193 bb) Punktuelle Interventionen. Klassische Instrumente der Wirtschaftslenkung sind schließlich punktuelle Interventionen in den Wettbewerb. Das gilt insbesondere für Beihilfen (Rn 237 ff), es kann aber auch für die Vergabe öffentlicher Aufträge (Rn 277 ff) gelten. In immer größerem Umfang erfolgt Wirtschaftslenkung heute schließlich durch informales Verwaltungshandeln, insbesondere durch Informationen, Warnungen, Empfehlungen uam. Die dadurch hervorgerufenen Folgen können sich sowohl als (rechtswidrige) Eingriffe in ein Grundrecht darstellen 489 als auch mit den Grundfreiheiten des AEUV kollidieren.490

3. Rechts- und Handlungsformen der Verwaltung im Öffentlichen Wirtschaftsrecht a) Öffentlich-rechtliche Bindung und Formenwahlfreiheit der Verwaltung 194 Soweit es nicht um spezifisch hoheitliche Maßnahmen geht, gewährt die Verwaltung im Rahmen der „Daseinsvorsorge“ (Forsthoff) bzw ihrer Infrastrukturverantwortung (Hermes) Leistungen und Vorteile, die durch die Begünstigten allein typischerweise nicht gedeckt werden können, die für das Leben unter den technischen und ökonomischen Voraussetzungen unserer Zeit jedoch unverzichtbar sind – zB Sozialversicherung oder Versorgung mit Energie, Wasser, Abwasser, Abfallbeseitigung, Telekommunikation, Post und öffentlichem Verkehr. In anderen Fällen verfolgt sie einen Gestaltungs- oder Lenkungszweck. Diese unterschiedlichen Verwaltungszwecke und das Bedürfnis nach einem den wahrzunehmenden Aufgaben angepassten Instrumentarium haben eine Vielfalt von Rechts- und Handlungsformen im Öffentlichen Wirtschaftsrecht hervorgebracht,491 zu denen in erheblichem Umfang auch privatrechtliche Handlungsformen gehören. Dagegen gibt es angesichts der Formenwahlfreiheit der Verwaltung grundsätzlich nichts zu erinnern. Die Praxis zeigt zudem, dass die eingesetzten Rechts- und Handlungsformen häufig austauschbar sind, etwa Verkaufsverbote und staatliche Verbraucherwarnungen.492 Die Wahl der Rechts- und Handlungsformen ist im Hinblick auf das demokratische Legi195 timationsniveau 493 und ihre rechtsstaatliche Einhegung keineswegs bedeutungslos, weil es für die effektive Durchsetzung öffentlich-rechtlicher Bindungen und Standards einen erheblichen Unterschied macht, ob Verwaltungszwecke durch eine weisungsabhängige Behörde erledigt werden oder durch eine Aktiengesellschaft, auf die der Staat idR nur mit den Mitteln des AktG einwirken kann. Für die Beteiligung am Privatrechtsverkehr im Rahmen des sog fiska-

_____ 488 BVerfGE 102, 147 – Bananenmarktordnung; VG Frankfurt/M EuZW 1997, 182. 489 BVerfGE 105, 252 – Glykol; E 105, 279 – Osho; BVerwGE 71, 183 – Transparenzliste; E 75, 109 – Subventionsbetreuer; E 87, 37 – Glykol; DVBl 1996, 807 – Warentest –. Bauer VerwArch 78 (1987), 241; Robbers DÖV 1987, 272; Murswiek DVBl 1997, 1021; ders NVwZ 2003, 1; Kloepfer Staatliche Informationen als Lenkungsmittel, 1998; Bethge JURA 2003, 327; Huber JZ 2003, 290; vgl ferner (m umfangr Nachw) Schoch NJW 2012, 2844. 490 Art 34 AEUV: EuGH Urt v 24.11.1982 – Rs 249/81 – „Buy Irish“, Slg 1982, 4005; Urt v 5.11.2002 – C-325/00 – „Markenqualität aus deutschen Landen“, Slg 2002, I-9977 o JK EGV Art 28/2; W. Schroeder in: Streinz, EUV/AEUV, Art 34 AEUV Rn 66. 491 Forsthoff Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938; ders Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959; E.R. Huber Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd I, 47 ff; Lerche DÖV 1961, 486; Badura DÖV 1966, 624; Rüfner Formen öffentlicher Verwaltung im Bereich der Wirtschaft, 1967; Stern Grundfragen der globalen Wirtschaftssteuerung, 1969; Bachof/Brohm VVDStRL 30 (1972), 193, 245; Steindorff FS Ludwig Raiser, 1974, 621; Haverkate Rechtsfragen des Leistungsstaates, 1983; Bohne VerwArch 75 (1984), 343; Becker DÖV 1985, 1003; Ossenbühl Umweltpflege durch behördliche Warnungen und Empfehlungen, 1986; Bauer VerwArch 78 (1987), 241; Robbers DÖV 1987, 272; Brohm NJW 1994, 281. 492 BVerfGE 105, 252 – Glykol; Huber JZ 2003, 290 ff. 493 Huber FS Badura, 2004, 900.

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lischen Verwaltungshandelns – bei der öffentlichen Auftragsvergabe oder der öffentlichen Unternehmenstätigkeit – stellt die Praxis, soweit nicht unmittelbar Verwaltungszwecke erfüllt werden, sogar sämtliche spezifischen Bindungen des öffentlichen Rechts in Abrede. Selbst die Bindung an die Grundrechte soll hier, ungeachtet des Art 1 III GG, ausscheiden, solange die Öffentliche Hand nicht kraft besonderer Vorschriften über Vorrechte verfügt oder solange das fiskalische Verwaltungshandeln im Einzelfall nicht zu Lasten Dritter, insbesondere privater Konkurrenten, lenkend eingesetzt wird.494 Richtigerweise kann sich die Verwaltung ihren öffentlich-rechtlichen Bindungen durch die 196 (idR freie) Wahl der Rechts- und Handlungsform jedoch nicht entziehen. Eine „Flucht ins Privatrecht“, vor der Fritz Fleiner schon in der Weimarer Republik warnte,495 ist unzulässig. Das leuchtet unmittelbar ein: Wenn der Staat aufgrund seiner Formenwahlfreiheit beliebig darüber entscheiden kann, welcher Handlungsformen er sich bedient, kann er damit nicht zugleich die rechtlichen Bindungen abstreifen, die ihm Dritten gegenüber auferlegt sind. Die über Jahrzehnte dominierende, von Hans J. Wolff begründete Lehre vom „Verwal- 197 tungsprivatrecht“ hat danach unterschieden, ob die Verwaltung die Gestaltungsmöglichkeiten des Privatrechts für die (unmittelbare) Erfüllung von Verwaltungsaufgaben verwendet, oder ob sie als „gewöhnlicher“ Teilnehmer am Privatrechtsverkehr („fiskalisch“) auftritt. Im ersten Fall – zB bei der Vergabe von Beihilfen durch Darlehens- (§§ 488 ff BGB) oder Bürgschaftsvertrag (§§ 765 ff BGB) – sollte die Tätigkeit trotz ihrer privatrechtlichen Einkleidung nach Grund, Inhalt und Wirkung Ausübung vollziehender Gewalt und deshalb „verwaltungsprivatrechtlich“ gebunden sein, die öffentlich-rechtlichen Bindungen also Anwendung finden.496 Vergleichbares galt bei Organisationsprivatisierungen, also der gesellschaftsrechtlichen Verselbstständigung einer bestimmten Verwaltungsaufgabe in Form einer öffentlich beherrschten GmbH, AG etc. Öffentlich beherrschte juristische Personen des Privatrechts werden seit langem als Teil der öffentlichen Verwaltung begriffen und unterliegen deshalb auch unstreitig den Bindungen des Öffentlichen Rechts, den Grundrechten497 etwa oder den kommunalrechtlichen Zugangsansprüchen zu öffentlichen Einrichtungen.498 Für das sog fiskalische Verwaltungshandeln kann letztlich nichts anderes gelten. Zwar 198 geht die Lehre vom Verwaltungsprivatrecht von der Überlegung aus, dass die Normen und Grundsätze des Privatrechts im Regelfall ausreichen, wenn die Öffentliche Hand als Anbieter oder Nachfrager am Privatrechtsverkehr teilnimmt, doch lassen die – freilich nicht abgeschlossene (Rn 277 ff) – Publifizierung des Vergaberechts und die Herausbildung eines öffentlichen Wettbewerbsrechts die Unterscheidung zwischen Verwaltungsprivatrecht und fiskalischem Verwaltungshandeln überholt erscheinen. Es ist schon zweifelhaft, ob es überhaupt (Verwaltungs-)Rechtsverhältnisse geben kann, in denen sich Grundrechtsträger gegenüber der Öffentlichen Hand nicht auf Grundrechte berufen können, denn die Öffentliche Hand ist – nach heute hM499 – stets unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Das Handeln Privater und privatrecht-

_____ 494 Offen gelassen in BVerfGE 116, 135, 151 – Unterschwelliges Vergaberecht (Bindung an Art. 3 I GG allerdings bejaht); E 116, 202 – Berliner Tariftreueregelung. 495 Fleiner Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl 1928, 326. 496 BGHZ 29, 76; E 52, 325; E 65, 284, 287; E 91, 84, 96 ff; BGH DVBl 1985, 793. – Wolff/Bachof/Stober/Kluth VwR I, § 23 Rn 61 ff; Siebert FS Niedermeyer, 1953, 215; Ehlers DVBl 1983, 422; ders Verwaltung in Privatrechtsform, 1984; Lerche FS Winkler, 1997, 581; U. Stelkens Verwaltungsprivatrecht, 2005. 497 BVerfGE 45, 63, 78 f; E 61, 82, 100 ff; E 128, 226 ff; BVerfG NJW 1980, 1093; NJW 1990, 1783; Huber in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art 19 III Rn 280 ff. 498 BVerfGE 45, 63, 78 ff; BVerwG NJW 1990, 134 (Kommunalrechtlicher Zugangsanspruch zum Hamburger CCH trotz Betriebs durch von HH beherrschte GmbH). – Näher zu der Thematik o Röhl 1. Kap Rn 155 ff. 499 Starck in: v Mangoldt/Klein/ders, GG I, Art 1 III Rn 228; Huber FS Badura, 2004, 910; Möstl Grundrechtsbindung öffentlicher Wirtschaftstätigkeit, 1999, 39; offen gelassen in BVerfGE 116, 135, 151 – Unterschwelliges Vergaberecht.

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liches Handeln der Öffentlichen Hand sind daher kategorial zu unterscheiden; ihre Gleichsetzung liefe darauf hinaus, den Grundrechten gegenüber der Öffentlichen Hand lediglich eine mittelbare (Dritt-)Wirkung zuzusprechen und führte Art 1 III GG ad absurdum. Denn zum einen gelten die Grundrechte in den Rechtsverhältnissen zwischen dem Einzelnen und der Öffentlichen Hand, anders als zwischen Privaten, unmittelbar und direkt; zum andern kann es für die Aktivierung des Grundrechtsschutzes nicht auf die Ziele und Modalitäten des Verwaltungshandelns ankommen, sondern allein auf die Zurechenbarkeit und die Auswirkungen, die das Handeln von Verwaltungsträgern auf die Rechtssphäre des Einzelnen hat.500 Weil negatorischer Grundrechtsschutz vor allem dort gefordert ist, wo der Staat mit seiner überlegenen Rechts- und Wirtschaftsmacht die Freiheitssphäre des Einzelnen beeinträchtigt, wird man auch in privatrechtlichem Handeln und in der Indienstnahme eines privatrechtlich organisierten Unternehmens durch die Öffentliche Hand, dh in seiner Beherrschung, den entscheidenden Ansatzpunkt für die Aktivierung der Grundrechtsbindung sehen müssen.501 Auch die Anforderungen des Unionsrechts an das mitgliedstaatliche Verwaltungshandeln hängen nicht von der Rechtsform ab, sondern – wie die systembildende Definition der „Maßnahmen gleicher Wirkung“ in der Rs Dassonville502 zeigt – von seinem Effekt. Im Rahmen der öffentlichen Unternehmenstätigkeit hat sich die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Aufgabenerfüllung im Übrigen als so wenig tragfähig erwiesen, dass die Landesgesetzgeber von ihr Abstand genommen und sie in den Regelungen über gemeindliche oder öffentliche Unternehmen zusammengefasst haben.503 Entscheidend für die Anwendung des öffentlichen Rechts bleibt somit, ob es um die (öffent199 lich-rechtliche oder privatrechtliche) Erledigung von Verwaltungsaufgaben durch den Staat oder von ihm beherrschte juristische Personen des Privatrechts geht oder um die privatautonome und privatwirtschaftliche Tätigkeit von Unternehmen und privaten Haushalten.

b) Überwachung, Regulierung und Wirtschaftslenkung durch Verwaltungsakt 200 aa) Überwachungsrechtliche Verwaltungsakte. Mit Blick auf das bei der Überwachung zur Verfügung stehende Instrumentarium unterscheidet man im wesentlichen drei Typen von Überwachungsmaßnahmen: das (repressive) Verbot mit Befreiungsvorbehalt, die Kontrollerlaubnis, die als Risikoentscheidung oder als präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ausgestaltet sein kann, sowie den Verbotsvorbehalt. Genehmigungspflichten sind dabei eine Technik präventiver Wirtschaftsüberwachung, während Anzeigepflichten die Behörde auf einen Sachverhalt repressiven Einschreitens aufmerksam machen können. 201 Genehmigungspflichten für die Aufnahme wirtschaftlicher Berufe, für bestimmte wirtschaftliche Tätigkeiten oder für bestimmte Verträge ermöglichen als präventive Verbote mit Erlaubnisvorbehalt eine vorbeugende Überwachung im Interesse der Gefahrenabwehr, der Wirtschaftslenkung oder sonstiger Verwaltungszwecke.504 Sie finden sich etwa bei besonders überwachungsbedürftigen Gewerbebetrieben wie Privatkrankenanstalten (§ 30 GewO), Spielhallen (§ 33i GewO), Pfandleihern (§ 34 GewO), im Bewachungsgewerbe (§ 34a GewO), im Gaststättenrecht (§§ 2, 4 GastG) oder im Personenbeförderungsrecht (§§ 9, 13 PBefG). Das Regulierungsrecht kennt Erlaubnisse auch in Gestalt einer Lizenz (zB § 5 PostG). Die Erteilung der Genehmigung für eine Anlage oder eine wirtschaftliche Tätigkeit schließt es aus, den bestimmungsgemäßen Be-

_____ 500 BVerfGE 105, 252 – Glykol; E 105, 279 – Osho; Huber JZ 2003, 290. 501 BVerfGE 128, 226, 245 – Fraport (vgl dazu auch Nachw Fn 77); früher schon Huber FS Badura, 2004, 911; Möstl Grundrechtsbindung öffentlicher Wirtschaftstätigkeit, 1999, 92. 502 EuGH Urt v 11.7.74 – Rs 8/74 – Dassonville, Slg 1974, 837 Rn 5 („unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell“). 503 Art 86 ff BayGO; §§ 71 ff ThürKO. 504 Dörschuck Typen- und Tarifgenehmigungen im Verwaltungsrecht, 1988; Gromitsaris VerwArch 88 (1997), 52.

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trieb eines Unternehmens oder einer Tätigkeit als polizeiwidrige Störung zu werten und mit den Mitteln des Polizei- und Ordnungsrechts einzuschreiten. Die Genehmigung hat insoweit eine Legalisierungswirkung,505 die auch einem negatorischen Anspruch des Privatrechts entgegengehalten werden kann.506 Wo die wirtschaftliche Tätigkeit keiner Genehmigung bedarf, verfügt die Verwaltung zumin- 202 dest über Verbotsvorbehalte, die es insbesondere ermöglichen, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch nachträgliches behördliches Einschreiten abzuwehren. Klassisches Beispiel ist insoweit die Befugnis zur Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit (§ 35 GewO). bb) Wirtschaftslenkende Verwaltungsakte. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie zwischen 203 Teilnehmern am Wirtschaftsverkehr, die durch dieselbe wirtschaftliche Situation verbunden sind, eine bestimmte Ordnung herstellen und in diesem Sinne nicht nur individuelle Verhaltensweisen, sondern kollektive Wirkungen erreichen (wollen). Rechtlich sind sie daher nicht allein aus der Perspektive des zweiseitigen Verwaltungsrechtsverhältnisses zwischen Verwaltungsträger und Begünstigtem zu erfassen; vielmehr ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie in multipolare – wechselbezügliche (Schmidt-Preuß) – Verwaltungsrechtsverhältnisse zwischen dem Verwaltungsträger, dem Adressaten und Dritten eingebettet sind. Wirtschaftslenkende Verwaltungsakte entfalten daher typischerweise eine „Dritt-“ oder „Doppelwirkung“ 507 durch die Veränderung der Wettbewerbslage zu Lasten der Konkurrenten. Das gilt etwa für Beihilfen, für Ausnahmegenehmigungen (zB nach § 23 I LSchlG508), für die Genehmigung eines Linienverkehrs zu Lasten der bereits tätigen Altunternehmer (vgl § 13 II Nr 2 PBefG) uam. Soweit die zu wirtschaftslenkenden Verwaltungsakten ermächtigenden Rechtsvorschriften 204 Grundlage von Eingriffen in grundrechtlich geschützte Interessen der Konkurrenten sind oder in deren Interesse bestimmte Anforderungen normieren, vermitteln sie ihnen entweder kraft der norminternen Direktiven des Rechts auf Chancengleichheit im Wettbewerb (Art 12 I, 3 I GG) oder kraft gesetzgeberischer Dezision ein rechtlich geschütztes Interesse, in ihrer Wettbewerbsstellung nur nach Maßgabe der gesetzlichen Vorgaben beeinträchtigt zu werden.509 Dieses subjektive öffentliche Recht510 kann Grundlage von Abwehr- und Unterlassungsansprüchen bzw Ansprüchen auf Erlass von Nebenbestimmungen sein und verleiht unter prozessrechtlichem Blickwinkel die Klagebefugnis (§ 42 II VwGO) für eine sog Konkurrentenklage. Das wirtschaftliche Interesse eines Gewerbetreibenden, dass die Zahl seiner Konkurrenten 205 nicht durch Neuzulassung vermehrt oder durch Ausschluss vermindert wird, genießt allerdings idR keinen rechtlichen Schutz, denn Art 12 I GG schützt nicht vor Konkurrenz. Etwas anderes gilt, wenn das Gesetz den Arrivierten aus besonderen Gründen einen derartigen Konkurrentenabwehranspruch vermittelt. Das ist etwa bei Altunternehmern im Linienverkehr nach § 13 II Nr 2 PBefG der Fall,511 nicht jedoch bei zugelassenen Taxiunternehmen.512

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505 BVerwGE 55, 118; BGH JZ 2000, 1004, m Anm Ehlers ebd, 1007 o JK VwVfG § 43/3. – Näher dazu o Schoch 2. Kap Rn 180, 200. 506 Schröder/Jarass VVDStRL 50 (1991), 196, 238. 507 Mußgnug NVwZ 1988, 33. – S § 80a VwGO für den vorläufigen Rechtsschutz. 508 BVerwGE 65, 167 (Ausnahmegenehmigungen nach § 23 LadSchlG); OVG Bremen NVwZ 2002, 873 o JK VwGO § 47 II/24. 509 BVerwG NJW 1980, 2764 (Festsetzung von Pflegesätzen für Krankenhäuser); E 65, 167; OVG Bremen NVwZ 2002, 873 o JK VwGO § 47 II/24 (Ausnahmegenehmigungen nach § 23 I LadSchlG); BVerwG DVBl 1984, 91 (Genehmigung nach dem GüKG). – Huber Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht; Schenke NVwZ 1993, 718; Erichsen JURA 1994, 385; Wieland DV 32 (1999), 217. 510 Huber Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 298; Koch Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, 2000. 511 BVerwGE 9, 340 (Zulässige Klage eines Altunternehmers im Linienverkehr); BVerwG NVwZ 2001, 322; VGH BW DVBl 2004, 823; VG Frankfurt/M v 13.3.2007 – 12 E 5424/05 (Konkurrentenklage eines Eisenbahnunternehmens gegen Genehmigung im Linienverkehr). 512 BVerwGE 16, 187; OVG NW NJW 1980, 2323.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

Gegen die Subventionierung seines Konkurrenten ist einem Unternehmer ein Begünstigungsabwehranspruch zugesprochen worden, wenn er geltend macht, dass seine schutzwürdigen Interessen willkürlich, dh durch eine Verzerrung der Wettbewerbslage und Verletzung der Chancengleichheit, vernachlässigt worden sind.513

207 cc) Nebenbestimmungen. Auflagen, die begünstigenden Verwaltungsakten beigefügt werden, sollen idR sicherstellen, dass die gesetzlichen Anforderungen erfüllt werden – zB bei Erlaubnissen nach § 5 I GastG, § 15 III PBefG ua – oder dass das mit der Entscheidung angestrebte Ziel nachhaltig erreicht wird – etwa der Zweck einer Beihilfe (§ 36 VwVfG).514 208 dd) Privatrechtsgestaltende Verwaltungsakte. Für den interventionistischen Charakter des Wirtschaftsverwaltungsrechts kennzeichnend ist die Rechtsfigur des privatrechtsgestaltenden Verwaltungsakts.515 Er zielt auf die Begründung, Veränderung oder Aufhebung privatrechtlicher Rechtsverhältnisse oder Rechte. Wenn die Wirkung des Verwaltungsaktes auf das private Rechtsgeschäft eingetreten ist, ist ein Widerruf ex tunc grundsätzlich ausgeschlossen.516

c) Vorhaben- und Unternehmergenehmigungen mit planungsrechtlichem Einschlag 209 Besonderheiten weisen Genehmigungspflichten auf, bei denen die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit die Verwirklichung eines raumbezogenen und insoweit planungsrelevanten Vorhabens zum Gegenstand hat – die Errichtung und der Betrieb von Atomanlagen oder von Flugplätzen etwa. „Unternehmer“ ist hier regelmäßig eine Kapitalgesellschaft, häufig mit alleiniger oder wesentlicher Beteiligung der Öffentlichen Hand, die durch das Vorhaben Aufgaben der Daseinsvorsorge im Bereich der Energie- oder Verkehrswirtschaft erfüllt. 210 aa) Allgemeines. Die „Unternehmergenehmigung“ ist eine fachplanerische Entscheidung, die sich in die Gesamtplanungen der Bodenbeanspruchung einzufügen hat. § 4 I und II ROG führt zu einer Beteiligung der Landesplanungsbehörde, die eine einfache landesplanerische Stellungnahme abgeben oder ein Raumordnungsverfahren (§ 15 ROG) durchführen muss. Ziele, Grundsätze und sonstige Erfordernisse der Raumordnung lösen eine Anpassungspflicht aus (§ 4 I ROG). Die sonstigen Erfordernisse der Raumordnung werden, ggf aufgrund spezieller Raumordnungsklauseln, wie zB in § 6 II 1 LuftVG, im Wege der landesplanerischen Stellungnahme ermittelt.517 Hingegen muss die örtliche Bauleitplanung grundsätzlich hinter der fachplanerischen Entscheidung zurücktreten (vgl §§ 7, 38 BauGB).518 Die Genehmigung des Vorhabens kann rechtstechnisch durch eine einzelne Genehmi211 gung erfolgen, durch mehrere (Teil-)Genehmigungen oder durch eine Planfeststellung, auch durch eine Kombination dieser Gestattungsakte, sowie aus vorbereitenden landes-und/oder fachplanerischen Entscheidungen. Die Eigenart dieser Genehmigungen besteht darin, dass sie zugleich eine dem Unternehmer erteilte Erlaubnis als auch eine Planungsentscheidung im Hinblick auf das Vorhaben sind. Da regelmäßig eine große Zahl von Dritten (Nachbarn, Unternehmen, NGOs etc) in ihren rechtlich geschützten Interessen betroffen ist, handelt es sich bei die-

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513 BVerwGE 30, 191 (m Anm Scholz NJW 1969, 1044; Mössner JuS 1971, 131). – Scholz WiR 1 (1972), 35; Zuleeg Subventionskontrolle durch Konkurrentenklage, 1974; Badura FS Berliner Jur Gesellschaft, 1984, 1. 514 BVerwGE 6, 282, 291; E 24, 129; E 29, 261. – Lange AöR 102 (1977), 337. 515 E. R. Huber Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd I, 2. Aufl 1953, 72 ff; Manssen Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, 1994. 516 BVerwGE 29, 314; differenzierend BVerwG JZ 1977, 794. 517 Steinberg/Winkel/Müller Fachplanung, 4. Aufl 2012, § 7 Rn 9 ff; Ronellenfitsch WiV 1985, 168. – BVerwG DVBl 1984, 627. 518 BVerwGE 79, 318; BVerwG DVBl 1989, 458; dazu auch o Krebs 4. Kap Rn 103.

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sen Gestattungsentscheidungen um Verwaltungsakte mit Drittwirkung im Rahmen multipolarer – kehrseitiger (Schmidt-Preuß) – Verwaltungsrechtsverhältnisse. Der Entscheidung über die Zulassung des Vorhabens geht ein förmliches Verwaltungsver- 212 fahren voraus,519 zu dessen Eigentümlichkeit eine gesetzlich vorgesehene oder zugelassene Stufung des Verfahrens gehört.520 Im Atomrecht ist die Anlagengenehmigung in der Regel projektbegleitend in mehrere aufeinander folgende Teilgenehmigungen, ggf mit je akzessorischen Freigabebescheiden, aufgespalten, und außerdem ein Vorbescheid zulässig, insbesondere zur Wahl des Standortes (§§ 7 ff AtG). Dadurch sollen die Beteiligung und das rechtliche Gehör betroffener Dritter gesichert werden. Neben spezifischen fachgesetzlichen Vorgaben521 bedarf es auch einer Prüfung der Umweltverträglichkeit, auf die – soweit das Fachgesetz keine besonderen Regelungen enthält – das UVPG Anwendung findet.522 Erfahrungsgemäß werden gegen größere Vorhaben zahlreiche, vielfach formularmäßige Einwendungen erhoben, so dass es zu einem „Massenverfahren“ kommt.523 Das Verfahrensrecht trägt dem ua dadurch Rechnung, dass die individuelle Zustellung des Planfeststellungsbeschlusses durch dessen öffentliche Bekanntmachung ersetzt werden darf, wenn außer an den Träger des Vorhabens mehr als 50 individuelle Zustellungen vorzunehmen wären (§ 74 V VwVfG).524 In materiell-rechtlicher Hinsicht sind die allgemeinen Grundsätze des Planungsrechts zu 213 beachten. Die Entscheidung über die Zulassung des Vorhabens beruht daher neben einer aus den Zielen des Gesetzes zu begründenden, die Gemeinwohlorientierung sichernden Planrechtfertigung auf einer durch die gesetzlichen Planungsleitsätze, Grundsätze und Ziele gesteuerten Abwägung zwischen dem (grundrechtlich geschützten) Anspruch des Unternehmers, den berührten öffentlichen Belangen und den rechtlich geschützten Interessen der durch das Vorhaben und seine voraussichtlichen Auswirkungen betroffenen Dritten. Bei dieser Abwägung verfügt die Behörde im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben über eine erhebliche planerische Gestaltungsfreiheit, etwa bei der Auswahl des Standortes.525 Dieses „Planungsermessen“ dient der umfassenden „Problembewältigung“ und hat die Grenzen des rechtsstaatlichen Abwägungsgebots zu beachten.526 Die Zulassung des Vorhabens erfolgt durch Planfeststellungsbeschluss oder Plangenehmigung.527

_____ 519 Hoppe/Schlarmann/Buchner Rechtsschutz bei der Planung von Straßen und anderen Verkehrsanlagen, 3. Aufl 2001; Pünder in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 15. 520 Wahl DÖV 1975, 373; Schmidt-Aßmann FG BVerwG, 1978, 569; Wieland DVBl 1991, 616; Pünder in: Erichsen/ Ehlers, AllgVwR, § 15 Rn 2 ff. 521 Für Verkehrswege und Verkehrsanlagen: VerkehrswegeplanungsbeschleunigungsG v 16.12.1991 (BGBl I 2174), zul geänd am 9.12.2006 (in Kraft bis zum 17.12.2006); PlanungsvereinfachungsG v 17.12.1993 (BGBl I 2123); GenehmigungsverfahrensbeschleunigungsG v 12.9.1996 (BGBl I 1354); Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz v 9.12. 2006 (BGBl I 2833), dazu Otto NVwZ 2007, 179 und Schütz VBlBW 2007, 441. – Zur Rspr zum Verkehrswegeplanungsrecht Storost DVBl 2012, 457. 522 Das Nähere o Eifert 5. Kap Rn 91 ff. 523 Blümel FS Weber, 1974, 539; Kopp DVBl 1980, 320; Henle BayVBl 1981, 1; Badura JA 1981, 33, 34 f. – Die Auswahl von Musterverfahren bei einer Vielzahl von verwaltungsgerichtlichen Klagen gegen einen Planfeststellungsbeschluss (vgl § 93a VwGO) ist verfassungsrechtlich zulässig (BVerfGE 54, 39). 524 BVerwG DVBl 1983, 901. 525 Die Behörde hat sich in dem projektbezogenen Fachplanungsverfahren auf die rechtliche Prüfung des von dem Unternehmer gewählten Standortes zu beschränken, sofern sich nicht eine andere Standortwahl anbietet oder „aufdrängt“ (BVerwG DÖV 1974, 418; NJW 1980, 953; DVBl 1992, 1435; DVBl 1996, 925). – Zur Standortvorsorgeplanung: Blümel DVBl 1977, 301; Brocke Rechtsfragen der landesplanerischen Standortvorsorge für umweltbelastende Großanlagen, 1979; Wahl DÖV 1981, 597. 526 BVerwGE 34, 301; E 45, 309; E 47, 144; E 48, 56; E 71, 150; E 71, 166; E 72, 282; BVerwG DVBl 1992, 1233. – Hoppe DVBl 1974, 641, ders DVBl 1977, 136; Blümel DVBl 1975, 695; Weyreuther DÖV 1977, 419; Korbmacher DÖV 1978, 589; ders DÖV 1982, 517; Steinberg/Wickel/Müller Fachplanung, 4. Aufl 2012, § 3 Rn 107 ff. 527 Badura FS Hoppe, 2000, 167; Breuer FS Brohm, 2002, 3.

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Die schwindende Akzeptanz derartiger Vorhaben- und Unternehmergenehmigungen in der Öffentlichkeit wie bei Drittbetroffenen stellt die Verwaltung, wie der Fall „Stuttgart 21“ zeigt, vor neue Herausforderungen.528 Da ihre Ursachen sowohl in den zu einseitig auf Durchsetzung der Vorhabens ausgerichteten Regelungen des Fachplanungsrechts als auch im häufig zu großen zeitlichen Abstand zwischen seiner Genehmigung und seiner Realisierung liegen dürften, wird der Gesetzgeber de lege ferenda an einer ernsthafteren Einbeziehung der Öffentlichkeit in die Entscheidungsfindung ebenso wenig herum kommen wie an weiteren Vorkehrungen zur Beschleunigung. Gerichtlicher Rechtsschutz reicht insoweit nicht (mehr) aus. Der subjektiv-rechtliche Charakter des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes bleibt 215 in „Großverfahren“ unberührt.529 Zwar können Drittbetroffene die Zulassung eines Vorhabens mit der Anfechtungsklage angreifen und Planergänzungsansprüche auf Beifügung von Nebenbestimmungen mit der Verpflichtungsklage geltend machen. Das gilt jedoch nur für solche Rechtsmängel, für die eine individuelle rechtliche Betroffenheit bestehen kann (§ 113 I 1 VwGO). Der Rechsschutz von Drittbetroffenen gegen ein Vorhaben oder seine Auswirkungen beruht materiell-rechtlich auf dem durch Gesetz und Verfassung begründeten Störungsabwehranspruch gegen rechtswidrige Beeinträchtigungen von Leben, Gesundheit oder Eigentum. Im Rahmen seiner subjektiven öffentlichen Rechte kann der Dritte die Zulassung des Vorhabens im Ganzen oder in einzelnen Punkten angreifen, die Ergänzung der Planungs- oder Genehmigungsentscheidung durch Schutzbestimmungen verlangen oder äußerstenfalls Entschädigung für unvermeidbare Rechtsbeeinträchtigungen fordern. Auf allgemeine Belange, zB des Naturschutzes, kann er sich nicht berufen. Nur wenn die Zulassung des Vorhabens mit einer Enteignung verbunden ist, weil sein Grundstück für die Ausführung des Vorhabens benötigt werden wird, kann er auch die Verletzung öffentlicher Belange durch die Genehmigung geltend machen (sog enteignungsrechtliche Vorwirkung), weil eine Enteignung nur dann dem „Wohl der Allgemeinheit“ iSv Art 14 III 1 GG dient, wenn sie in jeder Hinsicht rechtmäßig ist.530 Unmittelbar aus der Verfassung können sich subjektive öffentliche Rechte Dritter ergeben, wenn sich zB mangelhafte Regelungen von nuklearen Gefahren, Fluglärm oder Luftverschmutzung als Verletzung staatlicher Schutzpflichten aus Art 2 II 1 oder 14 GG darstellt (Untermaßverbot).531 Soweit das Gesetz auch den Schutz von im Ausland belegenen Rechtsgütern umfasst, steht das Territorialitätsprinzip der Klagebefugnis des ausländischen Rechtsinhabers nicht entgegen.532 Für die Klagebefugnis in atomrechtlichen Streitigkeiten kommt es darauf an, ob der Kläger behaupten kann, dass ihm durch die angefochtene Genehmigung ein höheres Risiko zugemutet wird, als er nach den Schutzbestimmungen des Atomrechts tragen muss.533 Angesichts der langen Dauer der Hauptsacheverfahren bei technischen Großvorhaben kommt dem vorläufigen Rechtsschutz (§§ 80, 80a, 80b VwGO) besondere Bedeutung zu.534

_____ 528 Dazu etwa Franzius GewArch 2012, 225; Mehde NdsVBl 2012, 33; Stüer DVBl 2012, 885. 529 BVerwG DÖV 1982, 323. 530 BVerwGE 67, 74. 531 BVerfGE 53, 30 – Mülheim Kärlich; E 56, 54 – Fluglärm; BVerfG NJW 1983, 2931. – Ossenbühl DÖV 1981, 1; ders DVBl 1981, 65; Badura FS Lukes, 1989, 3. 532 BVerwG JZ 1987, 351 (atomrechtl Anlagengenehmigung), dazu Rauschning ArchVR 25 (1987), 312; Weber DVBl 1987, 377. 533 BVerwGE 70, 365; OVG Lüneburg DVBl 1984, 887. 534 BVerfGE 35, 263; E 53, 30; NVwZ 1984, 429; GewArch 1985, 16; BVerwG DVBl 1974, 566; DÖV 1982, 323; VGH BW DÖV 1979, 521; BayVGHE 27, 115; NVwZ 1982, 130; DVBl 1984, 882. – Papier in: Rechtsfragen der Genehmigung von Kraftwerken, VEnergR 41/42, 1978, 86; Martens Suspensiveffekt, Sofortvollzug und vorläufiger gerichtlicher Rechtsschutz bei atomrechtlichen Genehmigungen, 1983.

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Eine Verbandsklage ist schließlich dort möglich, wo sie – wie im Umweltrecht – vom 216 Unionsrecht gefordert oder vom Gesetz ausdrücklich zugelassen ist (zB § 64 BNatSchG, § 2 UmwRG535).536 Den Gemeinden, deren Gebiet durch ein Vorhaben oder seine Auswirkungen berührt wird, 217 kommt planungsrechtlich eine besondere Stellung zu; zu ihren Gunsten ist ein Anhörungs- und Abwägungsgebot zu beachten. Die kommunale Planungshoheit schließt, auch unabhängig von einer ausdrücklichen gesetzlichen Festlegung (zB in § 10 II Nr 1 LuftVG), ein „Recht der Gemeinden auf Mitwirkung an überörtlichen, aber ortsrelevanten Planungen“ ein.537 Diese Rechtsposition eröffnet ihnen jedoch keinen umfassenden Abwehranspruch, sondern nur einen relativen Schutz konkreter Planungen und der grundsätzlichen Befugnis, die städtebauliche Entwicklung ihres Gebietes eigenverantwortlich zu bestimmen.538 Sie können sich im Verwaltungsverfahren und vor den Fachgerichten auch auf die Beeinträchtigung ihres Grundeigentums berufen, genießen dafür allerdings nicht den Schutz der Eigentumsgarantie (Art 14 I GG).539 bb) Atomanlagen. Der Genehmigung bedarf, wer eine ortsfeste Anlage zur Erzeugung oder 218 zur Bearbeitung oder Verarbeitung oder zur Spaltung von Kernbrennstoffen oder zur Aufarbeitung bestrahlter Kernbrennstoffe errichtet, betreibt oder sonst innehat oder die Anlage oder ihren Betrieb wesentlich verändert (§ 7 I AtG). Eine Änderung ist iSd § 7 I AtG wesentlich und damit genehmigungsbedürftig, wenn sie nach Art oder Umfang geeignet erscheint, die in den Genehmigungsvoraussetzungen festgelegten Sicherheitsanforderungen zu berühren und deswegen, auch im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Anlagenteile und Verfahrensschritte der genehmigten Anlage, die Genehmigungsfrage erneut aufwirft.540 Der Genehmigung bedürfen auch die Stilllegung einer Anlage sowie der sichere Einschluss der endgültig stillgelegten Anlage, ihr Abbau oder der Abbau von Anlageteilen (§ 7 III AtG). Die Genehmigung setzt die Einhaltung der in § 7 II AtG festgelegten nuklearspezifischen und 219 nicht-nuklearspezifischen (§ 7 II Nr 6 AtG) Anforderungen voraus, die sich aus der in § 1 AtG ausgesprochenen Zielsetzung des Gesetzes ableiten. Bestand diese ursprünglich in der Förderung der Erforschung, Entwicklung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken (§ 1 Nr 1 AtG aF), wobei der Schutzzweck stets Vorrang hatte vor dem Förderungszweck,541 so ist Zielsetzung des Gesetzes seit 2002/2011 der „Ausstieg aus der Kernenergie“, § 1 Nr 1 AtG.542 Folgerichtig werden für die Errichtung und den Betrieb von Anlagen zur Spaltung von Kernbrennstoffen

_____

535 EuGH Urt v 12.5.2011 – C-115/09 – EuZW 2011, 570 (m Anm Hellriegel) = NVwZ 2011, 801 (m Anm Schlacke) = DVBl 2011, 757 (m Anm Durner/Paus) = UPR 2011, 268 (m Anm Greim) o JK EG RL 85/337 Art 10a/1; dazu Bespr Berkemann DVBl 2011, 1253; Leidinger NVwZ 2011, 1345; Henning NJW 2011, 2765; ferner Siegel DÖV 2012, 709. – Trianel (keine Beschränkung von Umweltverbänden auf subjektive öffentliche Rechte bei der Anfechtung von Planungsentscheidungen mit Auswirkungen auf die Umwelt). 536 BVerwG DÖV 1981, 268; UPR 2008, 112; NVwZ 2010, 380. – Ausf M. Breuer DV 45 (2012), 171. 537 BVerfGE 56, 298; E 76, 107; BVerwGE 31, 263, 266; E 77, 128 – Breitbandverkabelung; DÖV 1992, 748 – Sonderabfalldeponie. 538 BVerwG DVBl 1974, 562; NVwZ 2006, 1055 Tz 173 ff; VerfGH NW DVBl 2012, 29; BayVGH BayVBl 1986, 370; Lerche FS BayVGH, 1979, 223. 539 BVerfGE 61, 82 – Sasbach; BVerwGE 100, 388. 540 BVerwG DVBl 1997, 52 (KKW Krümmel, Veränderung des Reaktorkerns) m Anm v Danwitz RdE 1997, 55 und Steinberg/Roller DVBl 1997, 57; Raetzke Die Veränderungsgenehmigung für Kernkraftwerke nach § 7 Atomgesetz, 2001. 541 BVerwG DVBl 1972, 678. 542 G zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität v 22.4.2002 (BGBl I 1351); 13. AtGÄndG v 31.7.2011 (BGBI I 1704) – Di Fabio Der Ausstieg aus der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie, 1999; Ossenbühl AöR 124 (1999), 1; Koch NJW 2000, 1529; ders/Roßnagel NVwZ 2000, 1; Kruis DVBl 2000, 441; Langenfeld DÖV 2000, 929; Schmidt-Preuß NJW 2000, 1524; Schorkopf NVwZ 2000, 1111; Stüer/Loges NVwZ 2000, 9; H. Wagner NVwZ 2001, 1089; Kühne/Brodowski NJW 2002, 1458. – Ferner Ossenbühl Verfassungsrechtliche Fragen eines beschleunigten Ausstiegs aus der Kernenergie, 2012; o Eifert 5. Kap Rn 305.

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zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität und von Anlagen zur Aufarbeitung bestrahlter Kernbrennstoffe keine Genehmigungen mehr erteilt, § 7 I 2 AtG. Dies gilt allerdings nicht für wesentliche Veränderungen von Anlagen oder ihres Betriebs, § 7 I 3 AtG. 220 Der Anlagenbegriff wird dadurch bestimmt, dass das Genehmigungserfordernis nach § 7 I AtG in erster Linie dem nuklearspezifischen Gefahrenschutz dient. Der Genehmigung bedarf die Anlage daher so, wie sie nach dem konkreten Konzept des Errichters zur Genehmigung gestellt ist, auch wenn sie abstrakt in eine Mehrzahl räumlich und betrieblich trennbarer – und dann selbstständig rechtlich zu beurteilender – Anlagen aufteilbar wäre. Demgemäß unterliegt etwa auch die Errichtung eines in räumlichem und betrieblichem Zusammenhang mit der Anlage stehenden Eingangslagers für die Brennelemente sowie die Errichtung der Anlagenwache und des Anlagenzauns der atomrechtlichen Genehmigungspflicht.543 Zentrale Genehmigungsvoraussetzung ist, dass die nach dem Stand von Wissenschaft und 221 Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist (§ 7 II Nr 3 AtG).544 Ungewissheiten jenseits einer „Schwelle praktischer Vernunft“, die durch die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens bedingt ist, dürfen als „Restrisiko“ außer Betracht gelassen werden.545 Diesseits dieser Schwelle umfasst das Erfordernis der Schadensvorsorge über die Gefahrenabwehr hinaus auch die Risikovorsorge (§§ 7 II Nr 3, 7d AtG). Bei der Entscheidung über die Genehmigung besitzt die Behörde – als Ausdruck des repressiven Befreiungsvorbehalts und insoweit von besonderer Eingriffsintensität – einen Spielraum pflichtgemäßen Ermessens, um auch nicht vorhersehbaren Umständen Rechnung tragen zu können. 222 Abweichend von dem ursprünglich angeordneten Vorrang der schadlosen Verwertung („Wiederaufarbeitung“) bestimmt § 9a I 1 AtG heute, dass radioaktive Reststoffe sowie ausgebaute und abgebaute radioaktive Anlagenteile seit dem 1. 7. 2005 nur noch geordnet beseitigt werden dürfen („direkte Endlagerung“). Die „Entsorgungsverantwortung“ für die Zwischenlagerung trifft die Länder, die für die Endlagerung den Bund, der diese Aufgabe allerdings auf Dritte zu übertragen kann (§ 9a III 3 AtG).546 Die Gewährleistungsverantwortung des Staates für eine ordnungsgemäße Entsorgung bleibt davon jedoch unberührt.547 223 cc) Flughäfen und Flugplätze. Die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes über den Luftverkehr (Art 73 I Nr 6 GG) erstreckt sich auch auf Regelungen, die die Zulassung von Flughäfen betreffen sowie auf die Rechtsbeziehungen zwischen dem Flughafenunternehmer und den vom Luftverkehr beeinträchtigten Grundstücken.548 Die Zulassung von Flugplätzen ist für Flughäfen, Landeplätze mit oder ohne beschränkten Bauschutzbereich und für Segelfluggelände unterschiedlich geregelt.549 Flughäfen sind Flugplätze, die nach Art und Umfang des vorhergesehenen Flugbetriebs einer Sicherung durch einen Bauschutzbereich nach § 12 LuftVG bedürfen; sie existieren als Flughäfen des allgemeinen Verkehrs (Verkehrsflughäfen) oder als solche für besondere Zwecke (§ 38 LuftVZO).

_____ 543 BVerwGE 72, 300, 329 – Wyhl; BVerwG DVBl 1988, 973 – WAA Wackersdorf; Rupp DVBl 1989, 345. 544 Einzelheiten dazu bei o Eifert 5. Kap Rn 306 ff. 545 BVerfGE 49, 89; Rengeling DVBl 1988, 257. 546 Menzer DVBl 1998, 820; ferner o Eifert 5. Kap Rn 315. 547 Huber DVBl 2001, 239. 548 HessStGH DÖV 1982, 320 (BVerfGE 60, 175); dazu Steinberg ZRP 1982, 113. 549 §§ 6 ff LuftVG; §§ 38 ff LuftVZO. – Grabherr/Reidt/Wysk, Luftverkehrsgesetz; Schwenk/Giemulla, Handbuch des Luftverkehrsrechts, 3. Aufl 2004; Badura FS Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, 27; Hartmann Genehmigung und Planfeststellung für Verkehrsflughäfen und Rechtsschutz Dritter, 1994; Delbanco Die Änderung von Verkehrsflughäfen, 1998; Zielke Verkehrsaufteilung in Flughafensystemen, 1998; Birmanns Internationale Verkehrsflughäfen, 2001; Ziekow, Flughafenplanung, Planfeststellungsverfahren, Anforderungen an die Planungsentscheidung, 2002.

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Flughäfen dürfen nur mit Genehmigung (§ 6 LuftVG) und nach vorheriger Planfeststellung (§§ 8 ff LuftVG)550 angelegt und betrieben werden. Die Genehmigung vermittelt dem Unternehmer eine Anlagen- und Betriebserlaubnis, ist jedoch zugleich eine überschlägige und vorläufige Planungsentscheidung, durch die ohne abschließende Verbindlichkeit die rechtliche Grundlage für das Planfeststellungsverfahren und den Planfeststellungsbeschluss geschaffen wird.551 Die Genehmigung ist allerdings nicht Voraussetzung für ein Planfeststellungs- oder Plangenehmigungsverfahren, § 8 VI LuftVG. Mit der Genehmigung ist die Festlegung des Ausbauplanes verbunden, der den Bauschutzbereich umschreibt (§ 12 LuftVG).552 Dem Genehmigungsvorbehalt unterliegt auch die wesentliche Erweiterung oder Änderung der Anlage oder des Betriebs des Flugplatzes (§ 6 IV 2 LuftVG).553 Die Aufeinanderfolge von Genehmigung und Planfeststellung und die Zuordnung der Regelungsgehalte und Gestattungswirkungen dieser beiden Zulassungsakte hat zu zahlreichen Problemen geführt und ist daher lange kritisiert worden. Für das Gebiet der neuen Länder hatte § 10 I VerkPBG eine vom LuftVG abweichende Regelung getroffen und bestimmt, dass die Anlegung und der Betrieb neuer Verkehrsflughäfen keiner vorherigen Genehmigung bedarf. Die Planfeststellungsbehörde regelt den Betrieb des Flughafens und legt den Ausbauplan fest. Nach dem Ergebnis des Planfeststellungsverfahrens ist die Genehmigung ggf zu ergänzen (§ 6 IV 1 LuftVG). Bundeswehr, Bundes- und Landespolizei sowie in Deutschland stationierte Streitkräfte fremder Staaten können bei Bau und Betrieb ihrer Flugplätze von den Vorschriften des Luftverkehrsrechts, außer von den Bestimmungen über den Bauschutzbereich und die Luftfahrthindernisse, abweichen, soweit dies zur Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben unter Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich ist. Eine Planfeststellung entfällt, wenn militärische Flugplätze angelegt oder geändert werden sollen (§ 30 I 2 LuftVG).554 Für die zivile Nutzung eines aus der militärischen Trägerschaft entlassenen ehemaligen Militärflugplatzes ist eine Änderungsgenehmigung erforderlich (§ 8 V LuftVG). Über die Genehmigung befindet die zuständige Landesbehörde im Auftrag des Bundes, mit Ausnahme der dem Bundesminister für Verkehr vorbehaltenen Prüfung und Entscheidung, inwieweit durch die Anlegung und den Betrieb eines Verkehrsflughafens die öffentlichen Interessen des Bundes berührt werden (Art 87d GG, § 31 II Nr 4 LuftVG); diese Entscheidung hat allerdings nur verwaltungsinternen Charakter. Dem Unternehmer können Regelungen des Flugbetriebs auferlegt werden. Da erst das Planfeststellungsverfahren die verbindliche Regelung der Rechtsbeziehungen zu den Drittbetroffenen, insbesondere den Nachbarn, zum Gegenstand hat (§§ 9, 11 LuftVG), können sie die Genehmigung mangels Klagebefugnis (§ 42 II VwGO) nicht angreifen.555 Wenn dem Genehmigungsverfahren kein Planfeststellungsverfahren vorausgeht oder folgt, kommt den betroffenen Anwohnern gemäß § 6 LuftVG ein Recht auf angemessenen Schutz vor Fluglärm durch die Genehmigung zu.556 Flugschulen und Flugcharterunternehmen, denen an einem Flughafen ein Benutzungsrecht eingeräumt ist, können verlangen, dass ihre gewerbli-

_____ 550 Die zu der Genehmigung hinzutretende Planfeststellung ist durch die Novelle v 5.12.1958 (BGBl I 899) eingeführt worden. – Beine ZLW 7 (1958), 363; ders ZLW 10 (1961) 3. 551 BVerwG DÖV 1969, 283; DVBl 1969, 362; DVBl 1971, 415; DÖV 1974, 418 m Anm Wahl DÖV 1975, 373; BVerwGE 56, 110; DÖV 1980, 135. 552 Das im Bauschutzbereich eintretende Erfordernis der Zustimmung der Luftfahrtbehörde zu Baugenehmigungen hat für sich allein grds keine enteignende Wirkung (BGH ZLW 21 [1972] 179; BGH DVBl 1974, 430), kann aber im Fall der Verweigerung der Zustimmung, die eine nur verwaltungsinterne und nicht selbstständig anfechtbare Verwaltungshandlung ist, zu einer entschädigungspflichtigen Enteignung führen (§ 19 LuftVG). 553 BVerwG DVBl 1989, 363. 554 BVerwG NVwZ 1988, 1122; DVBl 1989, 363; JZ 1995, 510 – Tieffluggebiet, m Anm Ossenbühl; HessVGH NJW 1989, 470; Deiseroth DVBl 1989, 9; Giemulla/Most DVBl 1990, 508; Ronellenfitsch DÖV 1994, 45. 555 BVerwG DÖV 1969, 283. – Vgl auch BVerfG DVBl 1981, 374 m Anm Schmidt-Aßmann DVBl 1981, 334. 556 BVerwG DVBl 1989, 1051.

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chen und wirtschaftlichen Belange angemessen berücksichtigt werden, wenn ihre Betätigung durch eine Änderung der Genehmigung wesentlich erschwert wird.557 In ihrer Planungshoheit betroffene Gemeinden sind an dem Genehmigungsverfahren – und ggf an einem vorgängigen Raumordnungsverfahren – zu beteiligen, haben ein Recht auf Information und Anhörung und können dessen Verletzung im Wege der Anfechtungsklage geltend machen.558 Unter bestimmten Voraussetzungen haben sie auch einen Anspruch auf Durchführung eines Genehmigungsverfahrens und dessen Abschluss durch Sachentscheidung.559 Da der Anspruch auf Information und Anhörung der (nur) planerischen Vorwirkung der Genehmigung Rechnung tragen soll, entfällt er, wenn das Genehmigungsverfahren der Planfeststellung nachfolgt. 228 Die Planfeststellung erfolgt aufgrund eines entsprechenden Verwaltungsverfahrens durch Planfeststellungsbeschluss oder – ohne das Anhörungsverfahren, aber mit derselben Rechtswirkung – durch Plangenehmigung, wenn Rechte Dritter nicht beeinträchtigt werden oder diese ihr Einverständnis erklärt haben, und wenn mit den berührten Trägern öffentlicher Belange das Benehmen hergestellt worden ist (§§ 8 ff LuftVG, §§ 72 ff VwVfG). Betriebliche Regelungen und die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit von Hochbauten auf dem Flugplatzgelände können Gegenstand der Planfeststellung sein. Planfeststellung und Plangenehmigung können bei Änderungsvorhaben von unwesentlicher Bedeutung unterbleiben (§ 8 III 1 LuftVG). Die Beseitigung eines in der Abfertigungskapazität eines Flughafens aufgetretenen Engpasses durch einen Erweiterungsbau erfordert regelmäßig nicht die Durchführung eines Planfeststellungsoder Plangenehmigungsverfahrens.560 Flughafenhochbauten sind, unbeschadet der notwendigen Baugenehmigung, an sich planfeststellungsfähig (§ 8 IV 1 LuftVG). Planfeststellungsbehörde ist die von der Landesregierung bestimmte Behörde, die wie229 derum im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung tätig wird (Art 87d GG, § 10 LuftVG).561 Bei der Entscheidung über die Planfeststellung sind die entsprechend geltenden Anforderungen nach § 6 II und III LuftVG maßgebend.562 Die voraussichtlichen Auswirkungen des Vorhabens auf die rechtlich geschützten Interessen Dritter müssen, sofern sie der Planfeststellung nicht überhaupt entgegenstehen, aufgrund der gebotenen planerischen Abwägung durch Auflagen (§ 9 I 1 LuftVG) oder Entschädigung ausgeglichen werden.563 Von besonderem Gewicht ist der Schutz gegen Fluglärm.564 In § 29b LuftVG ist hierfür eine beim Betrieb von Luftfahrzeugen in der Luft und am Boden zu beachtende allgemeine Grundpflicht normiert. Die normativen Vorkehrungen zur Bekämpfung des Fluglärms und ihr Vollzug im Einzelfall müssen der in Art 2 II GG begründeten Schutzpflicht des Staates genügen. Ihre Erfüllung kann nicht ausschließlich davon abhängen, welche Maßnahmen nach dem „Stand der Technik“ möglich sind; maßgebliches Kriterium ist vielmehr, was den Nachbarn etc unter Abwägung widerstreitender Interessen an Schädigun-

_____ 557 BVerwG DVBl 1989, 1097. 558 BVerwGE 56, 110; BVerwG DÖV 1979, 517; DÖV 1980, 135; DVBl 1988, 532; Grabherr ZLW 1977, 247. – Vgl auch BVerfG DVBl 1981, 374; BVerwG NVwZ 2006, 1055; BVerwGE 141, 1. 559 BVerwG DVBl 1989, 363. 560 BVerwG NVwZ 2001, 566 – Berlin-Tegel; DVBl 2002, 272 – Berlin-Tegel (Mit einer gegen eine Baugenehmigung für Flughafenhochbauten gerichteten Verwaltungsklage können Drittbetroffene rügen, die planerische Abwägung ihrer dem Vorhaben entgegenstehenden Belange sei ihnen rechtswidrig vorenthalten worden, indem anstelle des an sich gebotenen Planfeststellungsverfahrens nur ein Baugenehmigungsverfahren durchgeführt worden sei). 561 Das Gesetz schreibt den Landesregierungen nicht vor, für die Anhörung der Beteiligten und für die Planfeststellung verschiedene Behörden zu bestimmen (BVerwG NJW 1980, 1706). 562 BVerwGE 69, 256; E 75, 214. 563 BVerwGE 56, 110; E 69, 256; BVerwG DÖV 1991, 853; VGH BW DVBl 1990, 108; Quaas NVwZ 1991, 16. 564 Dazu auch das G zum Schutz gegen Fluglärm idF v 31.10.2007 (BGBl I 2550), das ua die Festsetzung von Lärmschutzbereichen und die Erstattung von Aufwendungen für bauliche Schallschutzmaßnahmen vorsieht. Der in § 3 des G und in der Anlage als Maßstab vorgesehene äquivalente Dauerschallpegel wird auch im Rahmen der Planfeststellung zur Ermittlung der Lärmbelastung herangezogen. – Bericht der BReg über die Erfahrungen bei der Durchführung des Fluglärmgesetzes, BT-Drs 8/2254. – BayVGH BayVBl 1998, 463 – Nachtflugverkehr.

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gen und Gefährdungen zugemutet werden darf.565 Wegen der Fluglärmimmissionen, die von einem – nicht planfeststellungspflichtigen – Militärflugplatz ausgehen, kann ein Entschädigungsanspruch nach Aufopferungsgrundsätzen bzw wegen enteignenden Eingriffs in Betracht kommen.566 Gemeinden und private Betroffene können die Planfeststellung angreifen, soweit sie in ihren Rechten berührt sind und die Verletzung von Vorschriften rügen können, die ihren Schutz bezwecken. Entsprechend dem Sach- und Regelungsgehalt der Entscheidung müssen die Verwaltungsgerichte „die umfassende Nachprüfung der luftverkehrsrechtlichen Gesichtspunkte innerhalb der Planung“ in einem Verfahren gegen den Planfeststellungsbeschluss vornehmen.567 Die Luftverkehrsverwaltung kann nach der Neufassung des Art 87d GG sowohl in öffentlich- 230 rechtlicher als auch in privatrechtlicher Form betrieben werden, was der Gesetzestext durch den für das GG untypischen Begriff der „Bundesverwaltung“ zum Ausdruck bringt.568 Die Flugsicherung, die der sicheren, geordneten und flüssigen Abwicklung des Luftverkehrs dient und auch die Festlegung der An- und Abflugverfahren eines Flughafens umfasst, ist in §§ 27c f LuftVG geregelt. Der Bundesminister für Verkehr (BMV) kann durch Rechtsverordnung eine GmbH, deren Anteile ausschließlich vom Bund gehalten werden, mit der Wahrnehmung von in § 27c LuftVG genannten Aufgaben beauftragen (§§ 31b I, 31d I LuftVG). Das ist durch VO v 11.11.1992569 geschehen, die die Deutsche Flugsicherung GmbH als Flugsicherungsunternehmen beauftragt hat. Eine materielle Privatisierung dieser Eigengesellschaft des Bundes ist am Prüfungsrecht des Bundespräsidenten einstweilen gescheitert.570 Nach Art 87d I 2 GG können Aufgaben der Flugsicherung auch durch ausländische Flugsicherungsorganisationen wahrgenommen werden, die nach dem Recht der Europäischen Union571 zugelassen sind. Das nähere regelt ausweislich Art 87d I 3 GG ein Bundesgesetz, das – soll eine Verfassungswidrigkeit der Übertragung vermieden werden – Aufsichts- und Weisungsrechte deutscher Stellen ebenso sicherstellen muss wie ein Mindestmaß effektiven Rechtsschutzes. Die Flugplankoordinierung erfolgt heute nach Maßgabe des Unionsrechts (§ 27a I LuftVG, VO (EWG) Nr 95/93).572 3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht VI. Beihilfenrecht – 3. Kapitel

VI. Beihilfenrecht 1. Allgemeines Wirtschaftsförderung erfolgt auf allen politischen Ebenen. Sie geschieht durch die EU, den 231 Bund und die Länder, aber auch durch Kreise und Gemeinden, denen sie in den Grenzen ihrer Selbstverwaltungsgarantie erlaubt ist.573 Ihre Förderungswerkzeuge sind ua Werbung, Stand-

_____ 565 BVerfGE 56, 54 – Düsseldorfer Flughafen; E 125 116 Rn 236 ff – Verkehrsflughafen Berlin-Schönefeld (dazu de Witt DVBl 2006, 1376; Deutsch NVwZ 2006, 878), bestätigt von BVerfG NVwZ 2008, 775 u 780; BVerwG NVwZ 2012, 432 Tz 144 – Verkehrsflughafen Berlin-Schönefeld. 566 BGH JZ 1994, 259 m Anm Ossenbühl ebd 263; BGH DÖV 1995, 733. 567 BVerfG DVBl 1981, 374. 568 Horn in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG III Art 87d Rn 26 f; Hermes in: Dreier, GG, Supplementum 2010, Art 87d Rn 34 f. 569 BGBl I 1928. 570 Vgl BT-Drs 16/3262; Grundlage dazu Schoch Vereinbarkeit des Gesetzes zur Neuregelung der Flugsicherung mit Art 87d GG, 2006 (DV Beiheft 6); vgl ferner Giemulla DVBl 2007, 719. 571 Siehe VO (EG) Nr. 550/2004 („Flugsicherungsdienste-Verordnung“) (ABl L 96/10) 572 VO (EWG) Nr 95/93 des Rates v 18.1.1993 über gemeinsame Regeln für die Zuweisung von Zeitnischen auf Flughäfen in der Gemeinschaft (ABl L 14/1); zul geänd durch VO (EG) Nr 545/2009 v 18.6.2009 (ABl L 167/24). – Badura FS Friauf, 1996, 529, 537 f. 573 Köttgen Der heutige Spielraum kommunaler Wirtschaftsförderung, 1963; Altenmüller DVBl 1981, 619; Lange Möglichkeiten und Grenzen gemeindlicher Wirtschaftsförderung, 1981; Knemeyer WiV 1989, 92; Ehlers, Kommunale Wirtschaftsförderung, 1990. – BVerwG JZ 1990, 591 m Anm Ehlers.

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ortmarketing, Märkte und Messen, Finanzhilfen, Realförderung, Bereitstellung von Grundstücken sowie eine gewerbefreundliche Bauleitplanung. Öffentliche Finanzhilfen, die an Unternehmen oder sonstige Anbieter von Waren oder 232 Dienstleistungen vergeben werden, verfolgen im Regelfall Ziele der regionalen oder sektoralen Strukturpolitik.574 Sie führen dem Unternehmen mit Blick auf ein bestimmtes öffentliches Interesse Mittel zu, die es im Wettbewerb nicht erzielt hat oder nicht erzielen kann. Durch die Vergabe von Finanzhilfen, wie sie in der Landwirtschaft, bei der Förderung des Kohlebergbaus oder regionalen Strukturmaßnahmen vorkommen, werden die begünstigten Wirtschaftszweige und -regionen, aber auch einzelne Unternehmen von besonderer regionaler oder sektoraler Bedeutung zum Medium der Wirtschaftslenkung und dadurch von politischen Entscheidungen abhängig. Der Nutzen von Finanzhilfen und ihre „Beherrschbarkeit“ sind Gegenstand – idR kriti233 scher – wirtschaftswissenschaftlicher Beurteilung.575 Der Umfang der Finanzhilfen, die nur zum Teil auf besonderen gesetzlichen Ermächtigungen beruhen, häufig jedoch nur aufgrund eines Ansatzes im Haushaltsgesetz nach Maßgabe von Richtlinien der Exekutive ausgeschüttet werden, korrespondiert häufig mit dem Einfluss der entsprechenden organisierten Interessen. Insoweit hat der Satz, mit Subventionen interveniere „weniger der Staat in die Wirtschaft als die Wirtschaft in den Staat“ (Volkmar Götz), eine gewisse Berechtigung.576 Die Verpflichtung der Wirtschaftspolitik auf die (zu) allgemeinen Vorgaben des StabG hat 234 sich ungeachtet des von der Bundesregierung alle zwei Jahre vorzulegenden Subventionsberichts (§ 12 II-IV StabG) 577 als untauglich erwiesen, um das Subventionsvolumen nennenswert zu reduzieren. Auch das Bestreben, durch eine Begrenzung und Reduzierung der Subventionen den finanzpolitischen Spielraum der Öffentlichen Hand zu sichern,578 der ordnungspolitischen Irregularität insbesondere der Erhaltungssubventionen Rechnung zu tragen und solche Förderungsmaßnahmen zurückzuführen, die ihren Zweck verfehlt haben oder wegen veränderter Umstände nicht mehr erfüllen,579 ist durch eine Kette von Fehlschlägen gekennzeichnet. Die ordnungs- und wettbewerbspolitischen Risiken des Subventionswesens lassen sich daher nur durch eine strenge und unbestechliche Festlegung und Überwachung des öffentlichen Interesses bei der Einführung, Abwicklung und Beibehaltung jeder einzelnen Hilfsmaßnahme einigermaßen in Grenzen halten.580 Die Abgrenzung des Kreises der zu begünstigenden Wirtschaftssubjekte ist zudem eine wirtschaftspolitische Entscheidung, die neben freiheitsrechtlichen Anforderungen581

_____ 574 Köttgen DVBl 1953, 485; Ipsen Öffentliche Subventionierung Privater, 1956; Kämmerer in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 124; Götz Recht der Wirtschaftssubventionen, 1966; Ipsen/Zacher VVDStRL 25 (1967), 257, 308; Badura WiV 1978, 137; Haverkate in: Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Bes Teil 1, 1995, § 4; Rodi Die Subventionsordnung, 2000. 575 Hansmeyer Subventionen in der Bundesrepublik Deutschland, 1963; ders FinArch 30, 1971/72, 103; Andel Subventionen als Instrument des finanzwirtschaftlichen Interventionismus, 1970; Kirchhoff Subventionen als Instrument der Lenkung und Koordinierung, 1973; Schetting Rechtspraxis der Subventionierung, 1973; Gröbner Subventionen. Eine kritische Analyse, 1983; Hansmann Der Schutz des öffentlichen Finanzinteresses bei der Gewährung von Subventionen, 1993. 576 Götz Recht der Wirtschaftssubventionen, 1964, 24. 577 Bericht der BReg über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen für die Jahre 2009 bis 2012 (23. Subventionsbericht), BT-Drs 17/6795. 578 Siehe Koch/Steinbrück Subventionsabbau im Konsens, 2003, 22, 78. 579 BVerfGE 78, 249 (Fehlbelegungsabgabe im sozialen Wohnungsbau, die eine Fehlleitung der Subvention durch die Erhebung einer Abschöpfungsabgabe ausgleichen soll). 580 Antwort der BReg auf eine Große Anfrage: Subventionspolitik der BReg, BT-Drs 8/3429. – Ehlers DVBl 1993, 861. 581 Siehe BVerwGE 75, 109 – Subventionsbetreuer (Erforderlichkeit einer gesetzl Regelung für den Ausschluss von möglichen Aufträgen); E 90, 112 – Osho (Unzulässigkeit einer Finanzhilfe an einen Verein, der sich kritisch mit Sekten auseinandersetzt).

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vor allem dem Gebot willkürfreier Sachgerechtigkeit (Art 3 I GG) unterliegt.582 Deshalb bedarf die durch Subventionierungen bewirkte Veränderung der Chancengleichheit im (unternehmerischen) Wettbewerb der sachlichen Rechtfertigung durch ein hinreichend gewichtiges öffentliches Interesse, dh ein definiertes strukturpolitisches Ziel. Subventionen können verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein – durch den allgemeinen 235 sozialstaatlichen Schutz- und Gestaltungsauftrag, aber auch durch grundrechtliche Schutzpflichten, wie zB im Fall der privaten Ersatzschulen (Art 7 IV GG).583 Da die Schutzpflichten ihren Grund in der Förderung individueller Freiheit finden, ist es selbstverständlich, dass der Begünstigte eine angemessene Eigenleistung erbringen muss und vom allgemeinen unternehmerischen Risiko, insbesondere vom Wettbewerb mit anderen Anbietern, nicht freigestellt werden darf.584 Besondere Umstände der Regional- und Sozialpolitik können die zeitweilige Fortführung von ordnungspolitisch sachwidrigen Förderungsmaßnahmen ebenfalls rechtfertigen, zB die zeitlich nun begrenzte Subvention des Steinkohlebergbaus585 oder Förderung erneuerbarer Energien durch die Einspeisevergütung (§§ 16 ff EEG). Die Gewährung einer Subvention begründet grundsätzlich keinen schutzwürdigen Ver- 236 trauenstatbestand für das Interesse an einer Weitergewährung der Förderung.586

2. Staatliche Beihilfen a) Begriffe Das Öffentliche Wirtschaftsrecht hat keine einheitliche Begrifflichkeit für Finanzhilfen, Sub- 237 ventionen oder Beihilfen hervorgebracht, und insofern auch kein umfassendes Regelungsregime. Von zentraler Bedeutung ist jedoch der Begriff der „Zuwendung“ in § 14 HGrG, §§ 23, 44 238 BHO. Der Gesetzgeber versteht darunter „Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen für Leistungen an Stellen außerhalb der Verwaltung des Bundes bzw des Landes zur Erfüllung bestimmter Zwecke“. Subventionen sind Geldleistungen, die in Verfolgung eines bestimmten Zweckes an einen 239 privaten Unternehmer als Angehörigen eines zu fördernden Wirtschaftszweiges oder wegen des Standortes seines Betriebes durch einen Träger öffentlicher Verwaltung im Rahmen eines besonderen Rechtsverhältnisses in Gestalt von Zuschüssen, Krediten,587 Zinserleichterungen, Prämien oder Bürgschaften vergeben werden. Subvention im Sinne der strafrechtlichen Vorschriften über den Subventionsbetrug (§ 264 StGB) ist eine Leistung aus öffentlichen Mitteln nach Bundes-, Landes- oder Unionsrecht an (private oder öffentliche) Betriebe oder Unternehmen, die wenigstens zum Teil ohne marktmäßige Gegenleistung gewährt wird und der Förderung der Wirtschaft dienen soll (§ 264 VII StGB).588 In einem weiteren Sinne können auch alle vermögenswerten Zu-

_____ 582 BVerwG DÖV 1973, 317; v Münch AöR 85 (1960), 270; Kreussler Der allgemeine Gleichheitssatz als Schranke für den Subventionsgesetzgeber, 1973. 583 BVerfGE 75, 40 – Ersatzschulen (In welcher Weise diese Schutzpflicht erfüllt wird, obliegt der Entscheidung des Gesetzgebers. Entschließt er sich, im Rahmen seiner Schutzpflicht Ersatzschulen finanziell zu fördern, so unterliegt er hierbei den Beschränkungen aus Art 3 I GG). 584 BVerfGE 75, 40, 68. 585 Vgl G zur Finanzierung der Beendigung des subventionierten Steinkohlebergbaus zum Jahr 2018 (Steinkohlefinanzierungsgesetz) v 20.12.2007 (BGBl I 3086), zul geänd durch G v 11.7.2011 (BGBl I 1344). 586 BVerfGE 72, 175 (Gewährung zins- und tilgungsbegünstigter Darlehen nach II. WoBauG begründet keine schutzwürdige Eigentumsposition); BVerfG DVBl 2007, 375 (Rücknahme der Steuerverschonung für Biokraftstoffe und Einführung einer Biokraftstoffquote zul). 587 Hier ergeben sich besondere Rechtsgestaltungen, wenn sich die Verwaltung zur Kreditvergabe einer Bank bedient: BVerwGE 30, 211; BGH NJW 1964, 2060; BayVerfGH NJW 1961, 163; DVBl 1967, 383. 588 Findeisen JZ 1980, 710; Ranft NJW 1986, 3163.

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wendungen und Vorteile, die nicht als Geldleistungen vergeben, sondern als Realförderung, dem Subventionswesen zugerechnet werden. Für diesen umfassenderen Ansatz verwendet das Unionsrecht den Begriff der „Beilhilfe“ 240 (Art 107 I AEUV). Beihilfen idS sind auch Steuervergünstigungen, die sich aus steuerrechtlichen Ausnahmevorschriften ergeben und zu Mindereinnahmen des Staates führen. Sie sind bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise den Finanzhilfen gleichzustellen („verdeckte“ Subventionen, Verschonungssubventionen),589 wirtschaftsverwaltungsrechtlich aber keine Zuwendungen. Die Investitionszulage, jetzt nach dem InvZulG 2010, ist allerdings keine Steuervergünstigung, sondern eine Finanzhilfe.590

b) Beihilfen und Vorbehalt des Gesetzes 241 Ob die Vergabe von Beihilfen dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegt, ist noch immer umstritten. HM und Staatspraxis gehen nach wie vor davon aus, dass nur Eingriffe in Freiheit und Eigentum bzw „wesentliche“ Regelungen einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, nicht aber der weite Bereich der Leistungsverwaltung. Da jedenfalls die Vergabe von Zuwendungen nach klassischem Verständnis einen Teil der Leistungsverwaltung darstellt, genügen die generelle Bereitstellung staatlicher Mittel im Haushaltsplan und Haushaltsgesetz.591 242 In der Sache ist dabei zwischen der Bereitstellung der Mittel im Haushaltsgesetz und der normativen Grundlage des Zuwendungsrechtsverhältnisses zwischen der Öffentlichen Hand und dem Zuwendungsempfänger zu unterscheiden: Das Haushaltsgesetz als Ausprägung des parlamentarischen Budgetrechts bezieht sich nur auf das Rechtsverhältnis zwischen Parlament und Exekutive und kann mangels Außenwirkung keine individuellen Ansprüche begründen (§ 3 II HGrG). Als Grundlage einer dem Vorbehalt des Gesetzes entsprechenden Zuwendungsvergabe kommt es deshalb nicht in Betracht.592 In der Praxis wird die Vergabe von Zuwendungen deshalb vor allem durch Verwaltungsvorschriften (Subventionsrichtlinien) gesteuert, die den durch das Haushaltsgesetz normierten Subventionszweck konkretisieren. Als sog ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften entfalten sie allerdings eine mittelbare Außenwirkung – über den Zusammenhang von tatsächlichem Verwaltungshandeln und den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Gleichbehandlung („Selbstbindung der Verwaltung“, Art 3 I GG) und des Vertrauensschutzes. Zu Rechtsnormen werden die Subventionsrichtlinien dadurch nicht.593 Wo die Vergabe von Zuwendungen jedoch in (Grund-)Rechte Dritter, insbesondere der Kon243 kurrenten des Begünstigten eingreift, sieht sie sich in ein multipolares Verwaltungsrechtsverhältnis eingebettet, das einer besonderen gesetzlichen Grundlage bedarf. Dies ist jedenfalls anzunehmen, wenn die Beihilfe in einem notwendigen Zusammenhang mit der Belastung eines Dritten steht, wie zB bei Ausgleichsabgaben und -leistungen, oder wenn die Verwaltung mit ihr zielgerichtet in den Schutzbereich von Grundrechten eingreift, wie zB bei Pressesubventionen,594

_____ 589 BVerfGE 110, 274 – Ökosteuer. 590 BVerwG NJW 1985, 1972 (zu § 4a InvZulG 1975). 591 BVerwGE 58, 45; E 104, 220, 222; OVG NW NWVBl 2009, 120; ThürOVG ThürVBl 2002, 232, 234. – Bereichsspezifisch (va im Sozialrecht) bestehen gesetzliche Subventionstatbestände; Bsple: BVerwG NVwZ 2008, 1355 (SGB XI); BVerwGE 132, 339 u BVerwG NVwZ-RR 2009, 482 (AFBG); OVG NW NVwZ-RR 2002, 127 (SGB VIII); OVG NW NWVBl 2009, 114 (SchKG). 592 BVerfGE 38, 121. – Auf den FBA kann ein Subventionsanspruch nicht gestützt werden, HessVGH NVwZ-RR 2011, 442 o JK AllgVwR FBA/15. 593 BVerwG DVBl 1996, 814. 594 BVerfGE 80, 124; VG Berlin DÖV 1975, 134 m Anm Scholz; OVG Berlin DVBl 1975, 905. – Schenke GewArch 1977, 313.

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bei der Filmförderung595 oder bei Förderungen im Bereich der Religion.596 Aber auch darüber hinaus kann die Gewährung einer Zuwendung einen „Eingriff“ in grundrechtlich geschützte Interessen von Konkurrenten darstellen, wenn dadurch eine spürbare Veränderung der Chancengleichheit in einer Wettbewerbsbeziehung bewirkt wird. Sie unterliegt dann dem Vorbehalt des Gesetzes.597

c) Verwaltungsrechtliche Ausgestaltung des Zuwendungsrechtsverhältnisses Die Vergabe von Zuwendungen erfolgt im Einzelfall grundsätzlich durch Bewilligungsbescheid 244 und regelmäßig aufgrund einer Ermessensentscheidung. Besondere Fallgestaltungen können es rechtfertigen, eine Zuwendung auch durch öffentlich-rechtlichen Verwaltungsvertrag zu gewähren.598 Ein Anspruch auf Gewährung oder Weitergewährung der Zuwendung kann sich aus dem Gesetz, sonst jedoch nur aus dem Gleichheitssatz oder einem besonderen Vertrauenstatbestand, zB einer Zusage, ergeben.599 Nur in Ausnahmefällen richtet sich ein Anspruch unmittelbar auf Zahlung eines bestimmten Zuwendungsbetrages.600 Eine rechtsfehlerhaft gewährte oder zweckwidrig verwendete Zuwendung kann zurückge- 245 fordert werden. Dabei kommt den haushaltsrechtlichen Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit eine ermessenslenkende, Rücknahme601 und Widerruf im Regelfall gebietende Bedeutung zu.602 Nach Rücknahme einer fehlerhaften (§ 48 VwVfG) oder – bei Zweckverfehlung – nach Widerruf einer rechtmäßigen Bewilligung (§ 49 III VwVfG) besteht ein öffentlichrechtlicher Erstattungsanspruch (§ 49a I 1 VwVfG),603 der durch Verwaltungsakt geltend gemacht werden kann (§ 49a I 2 VwVfG).604 Zuwendungen zielen darauf ab, die Bedingungen, unter denen die Begünstigten am Wirt- 246 schaftsverkehr teilnehmen, zu verändern. Dass sie daher für deren Konkurrenten von Bedeutung sind, liegt auf der Hand – wenn diese aus dem Kreis der Zuwendungsempfänger (willkürlich) ausgeschlossen werden605 oder wenn ihre Wettbewerbsfähigkeit durch die Verzerrung spürbar vermindert wird. Ein Zuwendungsbescheid ist insoweit stets Verwaltungsakt mit Dritt-

_____

595 G über Maßnahmen zur Förderung des deutschen Films (FFG) idF d Bek v 24.8.2004 (BGBl I 2277), zul geänd d G v 31.7.2010 (BGBl I 1048). 596 BVerwGE 90, 112 m Anm Badura JZ 1993, 33; Huber/Kohnen ZG 8 (1994), 75 ff; OVG NW DVBl 1990, 999; vgl zur Subventionierung von Religionsgemeinschaften auch BVerfGE 123, 148 o JK GG Art 4 I, II/48. 597 Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 497; Jarass NVwZ 1994, 473. – AA (trotz Geschlechterdiskriminierung) OVG NW NWVBl 2002, 239 (m Bespr Wernsmann JuS 2002, 959) o JK GG Art 3 III/2; BVerwG NVwZ 2003, 92; zutr demgegenüber OVG Bln-Bbg NVwZ 2012, 1265 (m Bespr H. Merten NVwZ 2012, 1228): staatl Subventionierung der Jugendorganisationen polit Parteien bedarf gesetzl Grundlage. 598 BVerwG NVwZ 1992, 769; HessVGH NVwZ 1990, 879; Henke Das Recht der Wirtschaftssubventionen als öffentliches Vertragsrecht, 1979; Menger FS Ernst, 1980, 301. – Ein Konkurrent kann Rechtsschutz im Wege der Feststellungsklage erlangen (OVG NW GewArch 1984, 227 m Anm Knuth JuS 1986, 523). – Mitunter erfolgt die Subventionsvergabe in privatrechtlicher Form; vgl zB OVG NW NWVBl 2005, 475 o JK VwGO § 40 I/36; BVerwG DÖV 2006, 873; BGH JZ 2007, 415 m Anm Stober. 599 BGH JZ 1975, 485; OVG Hamburg GewArch 1975, 20; OVG NW DVBl 1980, 648. – Schwerdtfeger Vertrauensschutz und Plangewährleistung im Subventionsrecht, 1993. – Grds gibt es keinen Anspruch auf Fortdauer einer Subventionierung; vgl zB BVerfGE 122, 1, 23 ff; BVerwGE 126, 33 Rn 52 ff o JK AllgVwR SubventionsR/3; VGH BW NVwZ 2001, 1428 o JK AllgVwR SubventionsR/1; HessVGH NJW 2005, 1963 o JK AllgVwR SubventionsR/2. 600 BVerwGE 55, 349 m Anm Erichsen VerwArch 71 (1980), 289; vgl auch (am Bspl des sozialen Wohnungsbaus) OVG Berlin DVBl 2003, 1333 (m Anm Pietzcker), dazu Bespr Schwarz JZ 2004, 79. 601 Auch die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, das Legalitätsprinzip, streitet idR für eine Rücknahme. 602 BVerwG DÖV 1997, 1006; NVwZ-RR 2004, 413, 415 o JK VwVfG § 49 III Nr 2/2; OVG NW NVwZ-RR 2012, 671, 675. 603 Gesetzentwurf der BReg, BT-Drs 13/1534; Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drs 13/3868. – Heße NJW 1996, 2779; Gröpl VerwArch 88 (1997), 23. 604 BVerwG NJW 1977, 1838. – Oldiges NVwZ 2001, 626. 605 BVerwGE 30, 191. – Huber Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 375 ff u passim.

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oder Doppelwirkung. Beeinträchtigt die Zuwendung die Konkurrenten rechtwidrig in ihrer Chancengleichheit im Wettbewerb (Art 12 I iVm Art 3 I GG), steht ihnen ein „Begünstigungsabwehranspruch“ zu, sei es, dass die Zuwendung ohne gesetzliche Grundlage vergeben worden ist, sei es, dass dies unter Verstoß gegen das einschlägige Gesetz geschehen ist.606

d) Unionsrechtliche Anforderungen 247 Sämtliche Beihilfen nach nationalem Recht fallen unter das Beihilfeverbot der Art 107 ff AEUV.607 Staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte „Beihilfen“608 gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt verfälschen oder zu verfälschen drohen, sind untersagt, sofern sie nicht durch Gruppenfreistellung (zB in der Landwirtschaft, Art 42 AEUV) oder besondere Entscheidung von EU-Kommission und Rat (Art 108 AEUV) zugelassen werden. Will eine mitgliedstaatliche Stelle eine Beihilfe einführen oder umgestalten, hat sie diese der 248 EU-Kommission zu notifizieren (Art 108 III AEUV iVm Art 2 VO (EG) Nr 659/1999). Dabei ist es unerheblich, ob die Beihilfe unmittelbar vom Staat oder von öffentlichen oder privaten Einrichtungen gewährt wird, die von ihm zur Ausreichung der Beihilfe errichtet oder beauftragt worden sind, weil das Beihilfeverbot sonst umgangen werden könnte. Vergünstigungen können jedoch nur als Beihilfen iSd Art 107 I AEUV eingestuft werden, wenn sie unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährt werden und dem Staat zuzurechnen sind.609 Das hat die EUKommission sowohl für Anstaltslast und Gewährträgerhaftung bei öffentlichen Banken610 als auch für die Rundfunkgebühren611 angenommen und sich in beiden Fällen im Ergebnis auch durchgesetzt.612 Nicht unter den Tatbestand der Beihilfe fallen dagegen Leistungen des Staates, die erforder249 lich sind, um Dienstleistungen von allgemeinem und allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, dh Aufgaben der Daseinsvorsorge zu ermöglichen, weil diese nur die tatsächlichen Mehrkosten des Unternehmens ausgleichen sollen (Art 106 II AEUV). Auch die Beihilfenaufsicht der EU-Kommission greift deshalb nicht, wenn der Empfänger – (1.) mit der Aufgabe tatsächlich betraut ist und seine Verpflichtungen klar definiert sind, – (2.) die Parameter objektiv und transparent sind und zuvor festgelegt wurden, – (3.) der Ausgleich nicht über das hinaus geht, was zur Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung erforderlich ist, und – (4.) der Maßstab eines durchschnittlich gut geführten Unternehmens zugrunde gelegt wird.613

_____ 606 BVerwG NVwZ-RR 2012, 628, 630 f; Huber Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 375. – Die VA-Befugnis besteht nicht, wenn die Subventionierung privatrechtlich erfolgt war; BVerwG NJW 2006, 536. 607 Börner/Bullinger, Subventionen im Gemeinsamen Markt, 1978; Rengeling JZ 1984, 795; Leisner GewArch 1990, 377; Liebrock EuR 1990, 20; Ossenbühl DÖV 1998, 811; Oldiges NVwZ 2001, 280. 608 Dieser Begriff ist weiter gefasst als der deutsche Subventionsbegriff: EuGH Urt v 14.2.1990 – C-301/87 – Frankreich/Kommission, Slg 1990, I-307; Urt v 11.7.1996 – C-39/94 – SFEI ua, Slg 1996, I-3547; Urt v 26.9.1996 – C-241/94 – Frankreich/Kommission, Slg 1996, I-4551; Urt v 19.9.2000 – C-156/98 – Deutschland/Kommission, Slg 2000, I-6857 o JK EGV Art 87/1 = EuZW 2000, 723 m Anm Heidenhain (steuerbegünstigte Investitionen); Herrmann ZEuS 2004, 415. 609 EuGH Urt v 16.5.2002 – C-482/99 – Stardust, Slg 2002, I-4397. 610 Dokumentation der Diskussion in Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2002/I, 2003. 611 EU-KOM, GD Wettbewerb Az CP 43/2003 (Deutschland); Funkkorrespondenz 6/2007, 28 ff; s auch die Reaktionen in epd medien 100/2006, 10 f; Stellungnahme der Bundesregierung gegenüber der GD Wettbewerb im Verfahren Staatliche Beihilfen E 3/2005 (ex CP 232/2002, CP 2/2003, CP 43/2003, CP 195/2004 und CP 234/2004; s auch EuGH Urt v 13.12.2007 – C-337/06 – Bayerischer Rundfunk ua, Slg 2007, I-11173. 612 Dazu Huber FS Henle, 2007, 143. 613 EuGH Urt v 22.11.2001 – C-53/00 – Ferring, Slg 2001, I-9067; Urt v 24.7.2003 – C-280/00 – Altmark Trans, Slg 2003, I-7747.

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Eine unter Verstoß gegen das Unionsrecht erfolgte Beihilfengewährung ist entsprechend dem 250 Grundsatz der instiutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie nach den Vorschriften des nationalen Rechts (§ 48 VwVfG, § 10 MOG) zurückzunehmen, die gezahlte Beihilfe ist zurückzufordern (§ 49a VwVfG). Dabei sind die nationalen Rechtsvorschriften so anzuwenden, dass die unionsrechtlich gebotene Rückforderung nicht praktisch unmöglich gemacht und das Unionsinteresse in vollem Umfang berücksichtigt wird (Effektivitätsgebot). Zudem dürfen die unionsrechtlichen Ansprüche nicht schlechter behandelt werden als Ansprüche nach nationalem Recht (Äquivalenzgebot). Die damit gebotene Europäisierung des nationalen Verwaltungsrechts bewirkt, dass sich Un- 251 ternehmen bei Verstoß gegen die Notifizierungspflicht oder bei einer abschlägigen Entscheidung der EU-Kommission (Art 108 III AEUV) nicht auf Vertrauensschutz berufen können. Dem ist bei der Anwendung der §§ 48 II 2, 3, IV und 49a II 2 VwVfG Rechnung zu tragen. Wer sich bei Empfang einer Beihilfe daher nicht der Einhaltung des Notifizierungsverfahrens vergewissert, handelt grob fahrlässig oder ist jedenfalls nicht schutzwürdig iSv § 48 II 1 VwVfG und muss auch eine längst verbrauchte Beihilfe in vollem Umfang zurückerstatten.614 Wäre die Beihilfe materiell rechtmäßig, so genügt die Abschöpfung des Vorteils, der durch die verfrühte Auszahlung entsteht.615 Die nationale Behörde ist nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art 4 III EUV) verpflichtet, rechtswidrige Beihilfebescheide von Amts wegen zurückzunehmen. Gleichzeitig stellt Art 108 III AEUV auch ein Schutzgesetz iSv § 823 II BGB bzw eine Marktverhaltensregel iSv § 4 Nr 11 UWG dar, die Konkurrenten zu zivilrechtlichen Unterlassungs- und Schadensersatzansprüchen berechtigt616, und verwaltungsrechtlich eine drittschützende Norm, die Grundlage eines Begünstigungsabwehranspruchs sein kann.617 Das Unternehmen kann die Entscheidung der EU-Kommission, mit der die Gewährung einer Beihilfe im Einzelfall untersagt wird, allerdings mit der Nichtigkeitsklage zum EuG angreifen (Art 263 IV iVm Art 256 I AEUV).618 Grundlegend anders stellt sich die Rechtslage dar, wenn eine Notifizierung nach Art 108 III 252 AEUV iVm Art 2 VO (EG) Nr 659/1999 erfolgt ist und die EU-Kommission die Beihilfe zu Unrecht als gem Art 107 II, III AEUV mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen hat. Auch dann ist der Beihilfenbescheid zwar rechtswidrig, und auch dann bemisst sich seine Aufhebung nach den §§ 48, 49 a VwVfG. Anders als bei fehlender Notifizierung oder Beanstandung der Beihilfe greifen die den Vertrauensschutz relativierenden Anforderungen des unionalen Effektivitätsgebotes hier jedoch nicht. Daher hat es mit der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten sein Bewenden. Das nicht begünstigte, drittbetroffene Konkurrenzunternehmen kann allerdings vor dem EuG gegen eine Freistellungsentscheidung klagen und evtl Begünstigungsabwehransprüche durchsetzen, wenn es in der Prüfphase nach Art 108 II AEUV beteiligt war oder die EU-Kommission dieses Verfahren gar nicht eingeleitet hat.619

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614 EuGH Urt v 21.9.1983 – verb Rs 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor GmbH, Slg 1983, 2633; Urt v 20.9.1990 – C-5/89 – (BUG-Alutechnik), Slg 1990, I-3437; Urt v 20.3.1997 – C-24/95 – Alcan II, Slg 1997, I-1591 m Anm Classen JZ 1997, 724; BVerwGE 92, 81; BVerwG NVwZ 1995, 703; DVBl 1999, 44 (BVerfG NJW 2000, 2015); OVG NW JZ 1992, 1080 m Anm Fastenrath. – Triantafylloú NVwZ 1992, 436; Happe NVwZ 1998, 26; Huber KritV 82 (1999) 359; ders Recht der Europäischen Integration, § 24 Rn 9. 615 EuGH Urt v 12.2.2008 – C-199/06 – Celf und Ministre de la Culture et de la Communication, Slg 2008, I-469. 616 BGHZ 188, 326 (Klage der Lufthansa gegen Flughafen Frankfurt Hahn wegen zu niederiger Gebühren für Ryanair); BGH Urt v 10.2.2011 – I ZR 213/08 (Klage von Air Berlin gegen Flughafen Lübeck wegen zu niedriger Gebühren für Ryanair). 617 BVerwGE 138, 322 (Konkurrent hatte sich gegen zu hohe Umlagen eines Zweckverbandes Tierkörperbeseitigung gewandt; Durchsetzung des Anspruchs scheiterte an der Bestandskraft der Bescheide); Rennert EuZW 2011, 576; krit Martin-Ehlers EuZW 2011, 583, 590. 618 EuGH Urt v 9.3.1994 – C-188/92 – Textilwerke Deggendorf, Slg 1994, I-833. 619 EuGH Urt v 12.7.1990 – C-169/84 – Cofaz/Kommission, Slg 1986, 391 (zul Klage frz Unternehmen auf dem Stickstoffdüngermarkt gegen die Genehmigung wettbewerbsverzerrender Gasbezugstarife in den Niederlanden durch die

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

3. Unionsbeihilfen a) Indirekter Vollzug 253 Dient die Beihilfe der Verwirklichung eines unionsrechtlich bestimmten Förderungszieles und wird sie gleichwohl durch nationale Behörden vergeben, liegt also ein Fall des indirekten Vollzugs vor, so liegen die Dinge ähnlich wie bei von der EU-Kommission genehmigten staatlichen Beihilfen, auch wenn die nationalen Behörden hier von vornherein im Dienste unionaler Zielsetzungen stehen und als funktionale Unionsbehörden tätig werden. Die Rückforderung von Unionsbeihilfen bemisst sich hier grundsätzlich ebenfalls nach nationalem Recht;620 die Art 107 f AEUV greifen nicht ein, und deshalb bedarf es idR auch keiner unionsrechtlichen Modifizierung der deutschen Vorschriften.621 Das ist seit der Rs Deutsche Milchkontor622 anerkannt , so dass der von den §§ 48 II-IV, 49 III und 49a II VwVfG statuierte Vertrauensschutz grundsätzlich – dh vorbehaltlich spezialgesetzlicher Regelungen wie Art 8 ZK (Zollkodex)623 – zum Tragen kommt . 624 In der Rs Oelmühle Hamburg hat der EuGH dies noch einmal klargestellt und das Argument der EUKommission zurückgewiesen, eine Rückzahlung der in Rede stehenden Beihilfe sei ua deshalb geboten, weil er auch in der Rs Alcan II eine Berufung auf den Wegfall der Bereicherung im Rahmen von § 49a II 2 VwVfG für unzulässig erklärt habe: „Diese im Rahmen des Artikels 93 [108] … getroffene Feststellung lässt sich jedoch nicht auf die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Gemeinschaftsbeihilfen übertragen. Wie sich aus den … Schlussanträge(n) des Generalanwalts ergibt, sind diese beiden Sachverhalte nämlich unterschiedlich gelagert …“.625 Allerdings verlangt der EuGH auch in diesen Fällen, dass dem Interesse der EU „in vollem 254 Umfang“ Rechnung getragen wird, konkret, dass die Behörde rechtmäßige Zustände überall dort wiederherstellt, wo sie die Möglichkeiten dazu hat.626 Dahinter steht eine – im Vergleich zu Deutschland – stärkere Akzentuierung des Legalitätsprinzips, die rechtswidriges Verhalten – vorbehaltlich der gegenläufigen Anforderungen des Vertrauensschutzes – grundsätzlich nicht zu tolerieren bereit ist. Im französischen Verwaltungsrecht verwurzelt, hat diese Wertung auch in das Allgemeine Verwaltungsrecht der EU Eingang gefunden, das die etwas andersartigen Wertungen des deutschen Rechts nun überlagert, soweit letzteres auf den indirekten und mittelbaren Vollzug des Unionsrechts Anwendung findet. Das ist nicht nur eine technische Quisquilie, denn hinter der anderen Gewichtung von Gesetzmäßigkeitsprinzip und individueller Nutzenmaximierung stehen grundlegend verschiedene Konzeptionen des Verhältnisses von Bürger und Staat bzw EU.627 Praktisch bedeutet dies, dass das von §§ 48 I 1, 49 III VwVfG vorgesehene Ermessen grundsätzlich auf Null reduziert wird.

_____ KOM); Urt v 19.5.1993 – C-198/91 – Cook, Slg 1993, I-2487; Urt v 15.6.1993 – C-225/91 – Matra, Slg 1993, I-3203 (zul Klage von Matra gegen Genehmigung portugiesischer Beihilfen für VW und Ford durch die KOM); J.-P. Schneider DVBl 1996, 1301. 620 BVerwG BayVBl 1987, 87; DVBl 1993, 727. – Papier in: Die Bedeutung der Europ Gemeinschaften für das dt Recht und die dt Gerichtsbarkeit, 1989, 51. 621 BVerwGE 95, 213, 226 ff. – Zu Widerruf und Rücknahme einer Nichtvermarktungsprämie aufgrund der VO (EWG) 1078/77 Huber AllgVwR, 205. 622 EuGH Urt v 21.9.1983 – verb Rs 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor GmbH, Slg 1983, 2633. 623 Kadelbach Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999, 458 f. 624 EuGH Urt v 16.7.1998 – C-298/96 – Oelmühle Hamburg, Slg 1998, I-4767 Rn 31, 37; BVerwGE 74, 357; BVerwG NVwZ 1988, 349; 1992, 474; NJW 1992, 703; 1992, 705. 625 EuGH Urt v 16.7.1998 – C-298/96 – Oelmühle Hamburg, Slg 1998, I-4767 – Hervorheb d Verf. 626 EuGH Urt v 21.9.1983 – verb Rs 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor GmbH, Slg 1983, 2633 Rn 17 f, 22; EuGH Urt v 16.7.1998 – C-298/96 – Oelmühle Hamburg, Slg 1998, I-4767 Rn 23; Kadelbach Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999, 458 ff, 463 mit einer differenzierenden Stellungnahme zu der Frage, ob sich allein aus dem Unionsrecht eine zwingende Pflicht zur Rücknahme ableiten lässt. 627 Zum Verhältnis zwischen Individualrechtsschutz und objektiver Rechtmäßigkeitskontrolle als einem zentralen Ausschnitt aus diesem Problembereich siehe BVerfGE 60, 253; Huber in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art 19 IV Rn 341 ff; ders EuR 1991, 31, 32 ff; ders AllgVwR, 89 f; Lorenz Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsschutzga-

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Das MOG 2005, die wesentliche Rechtsgrundlage für den Vollzug der Gemeinsamen 255 Marktorganisationen in Deutschland, hat diese aus der Europäisierung der §§ 48 I, 49a II und III VwVfG folgenden Wertungen628 für den Bereich der Landwirtschaft ausdrücklich übernommen (§ 10 I, II MOG) . 629

b) Direkter Vollzug Von erheblicher Bedeutung sind schließlich die von den EU-Organen im Wege des direkten Voll- 256 zuges selbst vergebenen Beihilfen, also Geldzahlungen an andere Rechtsträger, die unmittelbar von den EU-Organen bewilligt und bewirtschaftet werden. Solche Beihilfen finden sich zB im Rahmen der europäischen Regionalpolitik, wo sie ua der Verbesserung von Infrastruktur, Handel, Handwerk, Fremdenverkehr und Industrie dienen sollen.630 Beihilfen im weitesten Sinne sind aber auch Geldzahlungen, die die EU im Rahmen anderer Politiken, etwa der allgemeinen und beruflichen Bildung (Art 165 AEUV) oder der Industriepolitik (Art 173 AEUV), an Bürger und Einrichtungen der Mitgliedstaaten verteilt (zB Sokrates-Programm, Jean-Monet-Programm, PhareProgramm etc). Neben der Ermächtigungsnorm (Einzelkompetenz, Art 5 I 1, II EUV) kann hierbei insbesondere auch die Grundrechtskonformität (Art 6 EUV, GRCh) Probleme bereiten. Eine Bindung der EU an die Art 107 ff AEUV besteht hingegen – vorbehaltlich anderweitiger sekundärrechtlicher Anordnung – nicht, spricht Art 107 I AEUV doch eindeutig nur von „staatlichen oder aus staatlichen Mitteln gewährten Beihilfen“. 3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht VII. Öffentliches Wettbewerbsrecht – 3. Kapitel

VII. Öffentliches Wettbewerbsrecht Das Allgemeine Verwaltungsrecht unterscheidet im Bereich der privatrechtlichen Handlungs- 257 formen traditionell zwischen der unmittelbaren Erfüllung öffentlicher Aufgaben im Wege des sog Verwaltungsprivatrechts und dem sog fiskalischen Verwaltungshandeln, das nur der mittelbaren Erfüllung spezifischer Verwaltungsaufgaben dient (Rn 197 f). Fiskalisches Verwaltungshandeln kommt dabei in zweierlei Erscheinungsformen vor: als unternehmerische Betätigung der Öffentlichen Hand und als öffentliche Auftragsvergabe.631 Da sich die Unterscheidung zwischen einer unmittelbaren und einer nur mittelbaren Erfüllung öffentlicher Aufgaben aus einer Reihe von Gründen – der umfassende Ansatz des Art 106 AEUV, die Eignung der öffentlichen Unternehmenstätigkeit wie der öffentlichen Auftragsvergabe als Instrument der Wirtschaftslenkung und der Sozialgestaltung, die unterschiedslose Bindung an die Grundrechte (Art 1 III GG) – jedoch nicht sinnvoll aufrecht erhalten lässt, macht auch die Kategorie des fiskalischen Verwaltungshandeln keinen Sinn mehr (Rn 198). Bei genauerem Hinsehen zeigt sich vielmehr, dass es in beiden Bereichen um die Voraussetzungen und Bedingungen geht, unter denen die Öffentliche Hand am Wettbewerb teilnehmen kann – bei der öffentlichen Unternehmenstätigkeit als Anbieter, bei der öffentlichen Auftragsvergabe als Nachfrager. Das lässt es angemessen erscheinen, diese Fragen unter dem spezifischen Gesichtspunkt eines „Öffentlichen Wettbewerbsrechts“ zu erfassen.632

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rantie, 1973, 130; Masing Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997; Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, GG, Art 19 IV Rn 9 (2012); mit anderem Akzent Classen VerwArch 88 (1997), 645, 677. 628 EuGH Urt v 6.5.1982 – verb Rs 146, 192 u 193/81 – BayWA/BALM, Slg 1982, 1503, 1535; EuGH Urt v 21.9.1983 – verb Rs 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor GmbH, Slg 1983, 2633, die dieses Ergebnis aus entsprechenden EGVerordnungen abgeleitet haben. 629 BayVGH BayVBl 1995, 212 f. 630 Grabitz NJW 1989, 177 ff; Huber Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 408 f. 631 Huber AllgVwR, 253. 632 Begriffsbildend insoweit Schliesky Öffentliches Wettbewerbsrecht, 1997.

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1. Unternehmerische Betätigung der Öffentlichen Hand a) Grundlagen öffentlicher Unternehmenstätigkeit 258 Nicht auf den Zweck, sondern auf die Tätigkeit und ihre Auswirkungen abstellend, wird die unternehmerische Betätigung der Öffentlichen Hand als das Anbieten von Waren oder Dienstleistungen im Wirtschaftsverkehr beschrieben, ohne Rücksicht darauf, ob diese Tätigkeit in privatrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen Organisations- oder Handlungsformen ausgeübt wird und ob sich die Öffentliche Hand dabei eines rechtlich verselbstständigten Wirtschaftssubjekts bedient. Damit wird die alte Unterscheidung zwischen einer der Leistungsverwaltung zuzuordnenden Daseinsvorsorge und einer bloß fiskalischen Unternehmenstätigkeit überwunden, die sich aus mehreren Gründen als nicht mehr tragfähig erweist: weil die Öffentliche Hand stets nur tätig werden darf, um öffentliche Aufgaben zu erfüllen,633 weil eine aussagekräftige Abgrenzung zwischen einer unmittelbaren und einer nur mittelbaren Aufgabenerfüllung beim Angebot von Waren und Dienstleistungen mit Blick auf Art 106 I AEUV, aber auch angesichts der fließenden Übergänge vom Realbefund her nicht möglich ist, weil die Landesgesetzgeber von ihr Abstand genommen haben und insbesondere in den Kommunalordnungen nur noch Regelungen über gemeindliche oder öffentliche Unternehmen vorsehen, die beide Bereiche erfassen (Art 86 ff BayGO, §§ 71 ff ThürKO), nicht zuletzt aber auch deshalb, weil die Handlungsform unter dem Blickwinkel einer rechtsverhältnisdogmatischen Betrachtungsweise634 keine entscheidende Rolle spielt. 259 aa) Formen. Das Spektrum öffentlicher Unternehmenstätigkeit reicht von der gemeinwohlorientierten Erbringung von Waren und Dienstleistungen im Rahmen der Leistungsverwaltung bis zu unternehmerischem Handeln am Markt ohne besondere öffentlich gebundene Zielsetzung, insbesondere in Form von Industriebeteiligungen.635 Dabei kann die Unternehmenstätigkeit bis zu einem gewissen Grade auch wirtschaftslenkend eingesetzt werden, etwa zur Gewährleistung sozialpolitisch orientierter Preise oder Konditionen; sie kann im öffentlichen Interesse Zweckbindungen unterliegen oder dienstbar gemacht werden, wie zB bei den öffentlich-rechtlichen Unternehmen der Kredit- und Versicherungswirtschaft (Landesbanken, Sparkassen, KfW) oder neuerdings bei Eisenbahn, Post und Energieversorgern. Anders als in anderen Ländern ist die öffentliche Unternehmenstätigkeit in Deutschland aber nicht planmäßig zu einem „gemeinwirtschaftlichen“ Sektor der Gesamtwirtschaft ausgestaltet worden. Nach der verallgemeinerungsfähigen Abgrenzung der Transparenz-Richtlinie (Art 2 260 RL 2006/111/EG, TranspRLG) ist ein öffentliches Unternehmen jedes Unternehmen, auf das die Öffentliche Hand aufgrund Eigentums, finanzieller Beteiligung, Satzung oder sonstigen Bestimmungen, die die Tätigkeit des Unternehmens regeln, unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben kann. Zu den öffentlichen Unternehmen gehören daher die Verwaltungsträger selbst, Unternehmen in deren alleiniger Trägerschaft (Eigengesellschaften)

_____ 633 § 65 I Nr 1 BHO, Art 65 I Nr 1 BayHO, § 65 I Nr 1 ThürLHO. 634 Bauer AöR 113 (1988), 582; ders DV 25 (1992), 301; Gröschner Das Überwachungsrechtsverhältnis, 1992; ders DV 30 (1997), 301; Huber in: ders, ThürStVerwR, 2. Teil Rn 34; krit Pietzcker DV 30 (1997), 281. 635 Klein Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, 1968; Emmerich Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen Unternehmen, 1969; Scholz AöR 97 (1972), 301; ders in: Duwendag, Der Staatssektor in der sozialen Marktwirtschaft, 1976, 113; Janson Rechtsformen öffentlicher Unternehmen in der Europ Gemeinschaft, 1980; Badura FS Schlochauer, 1981, 3; ders ZHR 146 (1982), 448; ders FS Steindorff, 1990, 835; Dickersbach WiV 1983, 187; Püttner Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl 1985; Brede/v. Loesch, Die Unternehmen der öffentlichen Wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland, 1986; Berg GewArch 1990, 225; Ehlers JZ 1990, 1089; Wieland in: Blaurock, Das Recht der Unternehmen in Europa, 1993, 9; Brohm NJW 1994, 281; Ehlers JURA 1999, 212; J.-P. Schneider DVBl 2000, 1250; Storr Der Staat als Unternehmer, 2001; Ehlers Gutachten E zum 64. DJT 2002; Th. Mann JZ 2002, 819; Stober NJW 2002, 2357; Masing EuGRZ 2004, 395. – Der Bundesminister der Finanzen ist Herausgeber des jährlich erscheinenden Berichts: Beteiligungen des Bundes.

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sowie öffentlich beherrschte gemischt-wirtschaftliche Unternehmen. Letztere werfen dann besondere Probleme auf, wenn der private Anteilsbesitz mindestens über die zur Verhinderung einer Satzungsänderung erforderliche Sperrminorität (§ 179 II AktG) verfügt.636 Das Haushaltsrecht (§ 65 BHO) legt die Voraussetzungen fest, unter denen der Staat sich 261 an einem privatrechtlich organisierten Unternehmen beteiligen darf. Das öffentlich-rechtliche Organisationsrecht, zB Art 87 ff GG, setzt der Wahl privatrechtlicher Rechtsformen und der Ausgliederung von Verwaltungsaufgaben in Tochter- oder Beteiligungsgesellschaften allerdings Grenzen (Art 87d I 1 GG [Flugsicherung], Art 87e III GG [Deutsche Bahn AG]).637 Das Demokratieprinzip638 verlangt darüber hinaus einen hinreichenden Einfluss des Verwaltungsträgers auf den Unternehmenszweck und die Geschäftsführung des Unternehmens (zB Art 92 I Nr 1 und 2 BayGO). Bloß untergeordnete Kapitalanteile, die keinen Einfluss auf die Unternehmensführung eröffnen, gehören hingegen zum Finanzvermögen. Das gilt ohne Rücksicht darauf, ob der Anteilseigner bei seinem Handeln öffentlich-rechtlichen Bindungen unterliegt und ob er dabei unmittelbar einen besonderen öffentlichen Zweck verfolgt.639 bb) Kommunale Wirtschaftstätigkeit. Für die kommunale Wirtschaftstätigkeit640 enthalten 262 die Gemeindeordnungen der Länder nach dem Vorbild der §§ 67 ff DGO besondere Vorschriften. Sie ist zum größten Teil nicht erwerbswirtschaftliche, sondern leistungsverwaltungsrechtliche Daseinsvorsorge, denn das Gemeinderecht erlaubt die Errichtung, Übernahme oder wesentliche Erweiterung kommunaler Unternehmen und Beteiligungen an Kapitalgesellschaften ua nur, wenn der öffentliche Zweck das Unternehmen rechtfertigt. Die kommunalrechtlichen Beschränkungen der unternehmerischen Betätigung der Ge- 263 meinden sichern ihre finanzielle Leistungsfähigkeit und bringen einen allgemeinen ordnungspolitischen Grundsatz der Subsidiarität kommunaler Wirtschaftsteilhabe zur Geltung. Sie sind von den Landesgesetzgebern ursprünglich nicht als Schutznormen zugunsten privater Gewerbetreibender gedacht gewesen und begründeten deshalb nach überkommener Auffassung keine vor den Verwaltungsgerichten durchsetzbaren „Fiskusabwehransprüche“.641 Angesichts flächendeckender Verstöße gegen diese Beschränkungen und angesichts eines vollständigen Versagens von Rechtsaufsicht und Verwaltungsgerichtsbarkeit verfiel die Zivilgerichtsbarkeit auf die Idee, den – bis dahin rechtsschutzlos gestellten – privaten Konkurrenten kommunaler Unternehmen bei Verstoß gegen die Vorschriften über die kommunale Wirtschaftstätigkeit zumindest Unterlassungsansprüche auf der Grundlage von heute § 4 Nr 11 UWG (Vorsprung durch Rechtsbruch) zu eröffnen.642 Dem ist der BGH jedoch entgegengetreten643 und hat – dogmatisch überzeugend – festgestellt, dass das UWG nicht bezwecke, den Marktzutritt zu verhindern, um

_____ 636 Schmidt-Aßmann BB 1990, Beilage 34; Merten FS Krejci, 2001, I, 2003. 637 Badura FS Werner Lorenz 1991, 3; weniger restriktiv Scholz/Aulehner ArchPT 45 (1993), 221. – Nach BVerfGE 129, 356 o JK GG Art 110/1, besteht kein Beteiligungsrecht des BT bei einer Veräußerung von Vermögensgegenständen durch die Deutsche Bahn AG; dazu Heise DVBl 2012, 1290. 638 BremStGH NVwZ 2003, 81 ff; Huber FS Badura, 2004, 900. 639 BVerwG VIZ 1995, 532. 640 S o Röhl 1. Kap Rn 170 ff. 641 BVerwGE 39, 329; BVerwG DVBl 1996, 152; VGH BW VBlBW 1983, 78 o JK GO BW § 102/1; NJW 1995, 274 o JK GO BW § 102/2; HessVGH NVwZ 1996, 816. – Anders: Heintzen Rechtliche Grenzen und Vorgaben für eine wirtschaftliche Betätigung von Kommunen im Bereich der gewerblichen Gebäudereinigung, 1998; Huber Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 82, 324; Otto GewArch 2001, 360; Schick NVwZ 2002, 129; Suerbaum DV 40 (2007), 29, 30; Henke NordÖR 2010, 335. 642 OLG Hamm DVBl 1998, 792 o JK GO NW § 107/1 – Gelsengrün; OLG Düsseldorf DVBl 2000, 284; NVwZ 2002, 248; OLG Karlsruhe NVwZ 20001, 712 (m Bespr Stehlin NVwZ 2001, 645) o JK GO BW § 102/3; OLG München GewArch 2000, 279. 643 BGHZ 150, 343 o JK UWG § 1/1 (Elektroarbeiten auf dem Oktoberfest), unter Abweichung von BGH DVBl 1965, 362 – Blockeis II, m Bespr H. Meyer NVwZ 2002, 1075.

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bestimmte Marktstrukturen zu erhalten, sondern dass es auf die Unterbindung solcher Verhaltensweisen im Wettbewerb ziele, die nach den Gesamtumständen auch als Wettbewerbsmaßnahmen unlauter seien. Die kommunalrechtlichen Schranken öffentlicher Wirtschaftstätigkeit hat er dagegen als Festlegung einer bestimmten „Marktstruktur“ angesehen, die den Schutz des lauteren Wettbewerbs nicht berühre. Vor diesem Hintergrund beginnt sich die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zum Schutznormcharakter der Vorschriften über die kommunale Wirtschaftstätigkeit in jüngster Zeit (endlich) zu wandeln und den grundrechtlichen Vorgaben Rechnung zu tragen.644 Dagegen umfasst die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art 28 II GG) zwar auch die Befugnis zu einer Wirtschaftstätigkeit der Gemeinde im Rahmen der Daseinsvorsorge sowie für Förderungs- und Versorgungsaufgaben neuer Art; sie schützt die Gemeinde aber nicht vor privater Konkurrenz.645 Durch die gesetzliche Beschränkung der kommunalen Wirtschaftstätigkeit auf einen öffentlichen Zweck und die Subsidiaritätsklausel werden Art 28 II GG und die parallelen Garantien des Landesverfassungsrechts daher nicht verletzt.646 Seit längerem sind Landesgesetzgeber dabei, das kommunale Unternehmensrecht weiterzu264 entwickeln.647 In zahlreichen Ländern hat es namentlich eine Aufweichung des Örtlichkeitsoder Regionalprinzips gegeben. In NRW (§ 107 IV GO NW), Sachsen-Anhalt (§ 116 IV GO LSA) und Schleswig-Holstein (§ 101 III 2 GO SH) erlauben die Gemeindeordnungen den Kommunen sogar eine Wirtschaftstätigkeit im Ausland. Diese Entwicklung begegnet unter dem Blickwinkel des Demokratieprinzips und der Ratio der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie erheblichen Bedenken; durch das Unionsrecht wird sie jedenfalls nicht gefordert.648

b) Landesbanken und Sparkassen 265 Die öffentlichen Sparkassen unterliegen wie die Landesbanken landesrechtlicher Regelung (s auch Art 99 EGBGB).649 Auch nach der sog Brüsseler Verständigung – besser wäre wohl „Diktat“ – vom 17.7.2001 bzw vom 28.2.2002650 haben sie einen öffentlichen Auftrag zu erfüllen. Den Landesbanken weisen die Landesbank- und Sparkassengesetze die Aufgabe einer Staatsbank zu, einer Girozentrale für Kommunen und Sparkassen, die Verpflichtung, ihre Träger bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben zu unterstützen sowie die finanztechnische Abwicklung regionaler und sektoraler Förderprogramme (zB Art 2 II 1 BayLBG); die Sparkassen haben den Sparsinn zu fördern, die Teilhabe einkommensschwacher Bevölkerungskreise am Wirtschaftsverkehr zu sichern, Mittelstandsförderung zu betreiben, die Öffentlichen Hand mit geld- und kreditwirt-

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644 VGH BW NVwZ-RR 2006, 714, 715; OVG NW NVwZ 2003, 1520 o JK GO NW § 107 I/2; ; NVwZ 2005, 1211; NVwZRR 2005, 198; NVwZ 2008, 1031 (m Bespr Ennuschat NVwZ 2008, 966); Ehlers in: Henneke, Öffentlicher Auftrag bei sich wandelnden Marktbedingungen, 2007, 83, 96; Huber ebenda, 11, 20; ders Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 316; Schoch FS Wahl, 2011, 573, 583 ff. – AA nach wie vor OVG LSA NVwZ-RR 2009, 347 o JK GO LSA § 116/1; tendentiell auch NdsOVG NVwZ 2009, 258 (m Bespr Roling NVwZ 2009, 226) o JK NdsGemO § 108/1. 645 BayVGH NVwZ 1997, 481 o JK Verf Bay Art 11 II/1. 646 VerfGH RP DVBl 2000, 992 (m Anm Henneke u Bespr Ruffert) NVwZ 2000, 763 o JK GG Art 28 II 1/25. – Jarass DÖV 2002, 489. 647 Art 86 ff BayGO. – Köhler BayVBl 2000, 1; Britz NVwZ 2001, 380; Zugmaier BayVBl 2001, 233; Brenner AöR 127 (2002), 222. 648 Ehlers in: Henneke, Öffentlicher Auftrag bei sich wandelnden Marktbedingungen, 2007, 83, 98; auf das Landesrecht verweisend o JK GG Art 3 I/48. 649 Schliersbach Das Sparkassenrecht in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West, 1981; Stern/Burmeister Die kommunalen Sparkassen, 1972; Weides DÖV 1984, 41; Nierhaus DÖV 1984, 662; ders/Stern Regionalprinzip und Sparkassenhoheit im europäischen Binnenmarkt, 1992. – BVerfGE 75, 192; BVerfG NVwZ 1995, 370; DÖV 1972, 350; BayVGHE 26, 177; DVBl 1982, 500; OVG NW DVBl 1984, 504. 650 Dazu etwa Alber, Arnold, Weber, Kokott/Schick, v Danwitz, Brenner, Kluth, Mittler, Dietel, Streinz, Huber in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2002/I, 2003, 7, 29, 39, 53, 73, 91, 111, 157, 167, 179, 199; v Friesen Staatliche Haftungszusagen für öffentliche Kreditinstitute aus europarechtlicher Sicht, 1998.

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schaftlichen Leistungen zu versorgen, die Wirtschaftserziehung der Jugend zu unterstützten, die ausreichende und angemessene Versorgung aller zu gewährleisten uam.651 Dieser gesetzlich normierte öffentliche Auftrag muss nach der Abschaffung von Anstaltslast 266 und Gewährträgerhaftung vollständig unter Wettbewerbsbedingungen erfüllt werden. Seit der Umsetzung der „Plattform“ hat sich das Erscheinungsbild der öffentlich-rechtlichen Banken dem der Geschäftsbanken denn auch weiter angenähert – im operativen Geschäft, aber auch hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Stellung (vgl Art 2 I 2 BayLBG). Seit dem 19.7.2005 können die Gläubiger nicht mehr auf die Haftung der „Träger“ zurückgreifen, was die Refinanzierung von Krediten angesichts eines prospektiv schlechteren „Ratings“ erschwert. Die Anstaltslast ist auf das begrenzt, was auch von jedem privaten Kapitalgeber erwartet werden kann (reasonable investor´s test).652 Ansprüche von Gläubigern gegen die Träger auf Kapitalausstattung bestehen nicht mehr. Neben der – allerdings nur begrenzt justitiablen653 – Ausrichtung auf das Gemeinwohl be- 267 steht der wesentliche praktische Unterschied zu den Geschäfts- und Genossenschaftsbanken vor allem in der Rechtsform. Die Sparkassen – für die Landesbanken gilt das nur noch mit Einschränkungen – werden bislang noch immer als Anstalten des öffentlichen Rechts geführt. Das schützt sie – einstweilen654 – vor einer „feindlichen Übernahme“ durch die private, auch ausländische Konkurrenz und sichert ihren öffentlichen Auftrag institutionell ab. Ob es dabei bleiben wird, ist offen. Nach dem gescheiterten Versuch, die Sparkasse Stralsund zu verkaufen, ist die Berliner Sparkasse 2006 mit einer verwaltungsrechtlich interessanten Konstruktion „privatisiert“ worden – genauer gesagt, die in eine Aktiengesellschaft umgewandelte Landesbank Berlin Girozentrale (LBB AG) unter Beibehaltung der für öffentlich-rechtliche Kreditinstitute reservierten Bezeichnung „Sparkasse“ (§ 40 KWG) mit der Trägerschaft der teilrechtsfähigen Anstalt Sparkasse „beliehen“ worden.655 Das mutet zwar wie ein Widerspruch in sich an, dürfte letztlich jedoch keinen durchgreifenden Einwänden begegnen, weil die LBB AG die mit der Bezeichnung verbundenen Mindestanforderungen – Vertrauens- und Verbraucherschutz in eine bestimmte, am Gemeinwohl orientierte Form der Erledigung von Bankgeschäften656 – erfüllt. Mit der „Privatisierung“ bröckelt freilich auch der Bezeichnungsschutz. § 40 I 1 KWG bestimmt, dass nur solche öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute die Bezeichnung „Sparkasse“ führen dürfen, die eine Erlaubnis nach § 32 KWG besitzen. Dieser im Interesse des Verbraucherschutzes angeordnete Bezeichnungsschutz sieht sich – bei privatisierten Sparkassen – wettbewerbsrechtlichen Einwänden ausgesetzt. Ein Vertragsverletzungsverfahren (Art 258 AEUV) wegen des Bezeichnungsschutzes hat die EU-Kommission wieder eingestellt.657

c) Grundrechte und Haushaltsrecht aa) Eingriff durch Konkurrenz. Die Grundrechte schützen grundsätzlich nicht vor öffentlicher 268 Konkurrenz.658 Versuche, Beschränkungen aus dem Verfassungsrecht zu gewinnen, namentlich

_____ 651 § 6 I SpkG BW; Art 2 BaySpkG; § 2 I BbgSpkG; § 2 HessSpkG; § 2 I SpkG MV; § 4 I NdsSpkG; § 2 I, II SpkG NW. 652 Die Begrifflichkeit variiert. Im Englischen ist auch vom „rational investor principle“ die Rede, im Deutschen vom „marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgeber“. 653 BGHZ 154, 146 – NPD (Verpflichtung, Konten für radikale Parteien zu führen); ähnlich NdsOVG DVBl 2010, 973 o JK GG Art 3 I/48. 654 Stellungnahme der EU-Kommission v 28.6.2006 – Az Nr 2002/4930; dazu Henneke/Wohltmann Der Landkreis 2006, 790, 796 ff mwN. 655 Berliner SparkassenG (SpkG ) v 28.7.2005 (GVBl 346); dazu Huber FS Schmidt, 2006, 487. 656 Huber FS Schmidt, 487, 493 ff. 657 Stellungnahme der EU-Kommission v 28.6.2006 – Az Nr 2002/4930; Brennecke ZBB 2007, 1 ff; Henneke/ Wohltmann Der Landkreis 2006, 790. 658 BVerwGE 39, 329; BVerwG NJW 1988, 1277; DVBl 1996, 152; VGH BW NJW 1995, 274. – Pieroth/Hartmann DVBl 2002, 421.

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aus einem vorgeblich geltenden Grundsatz der „Subsidiarität“ der Staatstätigkeit oder aus einem wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundsatz privater Wettbewerbsfreiheit (Art 2 I GG), konnten sich nicht durchsetzen. Auch ein Fiskusabwehranspruch auf Unterlassung „unverhältnismäßiger“ Wirtschaftstätigkeit der Öffentlichen Hand wird durch Art 2 I, 12 I GG nicht begründet.659 Die nicht privilegierte Teilnahme der Öffentlichen Hand am Wettbewerb, die als mittelbare und diffuse Wirkung zu Lasten Privater lediglich eine dem Wettbewerb immanente Verschärfung des Konkurrenzdrucks zur Folge hat, erfüllt grundsätzlich nicht die Anforderungen an einen faktischen (Grundrechts-)Eingriff 660 bzw eine entsprechende Beeinträchtigung. Die bei Gelegenheit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben ausgeübte „Randnutzung“ von Verwaltungsmitteln ist als solche zulässig und bedarf angesichts ihrer Geringfügigkeit auch keiner besonderen gesetzlichen Ermächtigung.661 Dagegen kann ein grundrechtlich erheblicher „Eingriff durch Konkurrenz“ 662 dann in Be269 tracht kommen, wenn ein Gesetz dem öffentlichen Unternehmen Vorrechte einräumt (zB ein Verwaltungsmonopol) oder die öffentliche Wirtschaftstätigkeit nach Zielsetzung oder Wirkung so gravierende Auswirkungen auf die grundrechtlich geschützten Interessen privater Konkurrenten entfaltet, dass diese als der Öffentlichen Hand zurechenbare „Eingriffe“ qualifiziert werden müssen.663 In diesen Fällen einer im Grunde interventionistischen Wirtschaftstätigkeit der Öffentlichen Hand, die nur durch oder aufgrund Gesetzes zugelassen werden darf,664 gelten die an den jeweiligen Schutzbereichen der beeinträchtigten Grundrechte auszurichtenden Anforderungen von Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit sowie das Willkürverbot des allgemeinen Gleichheitssatzes.665 270 bb) Haushaltsrecht. Gesetzliche Bestimmungen über die öffentliche Unternehmenstätigkeit finden sich vor allem im Haushaltsrecht;666 individuelle Fiskusabwehransprüche lassen sich daraus nach hM nicht ableiten.

d) Gesellschaftsrecht und Wettbewerbsrecht 271 aa) Gesellschaftsrecht. Die Öffentliche Hand unterliegt als Aktionär den Vorschriften des Aktienrechts, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt (§§ 394, 395 AktG). Auch der Staat oder eine Gebietskörperschaft können deshalb herrschendes Unternehmen in einer Unternehmensverbindung (§ 17 AktG) sein.667 Das Aktienrecht setzt der Durchsetzung öffentlicher Interessen allerdings Grenzen. Denn es verpflichtet die Mitglieder des Aufsichtsrats und des Vorstands auf das Unternehmensinteresse, das mit den Interessen des Anteilseigners nicht notwendig identisch ist.668 Für das Entsendungs- und Weisungsrecht öffentlich-rechtlicher Körperschaften in den Aufsichtsrat einer AG ist seit dem AktG 1965 allein das Aktienrecht einschließlich des Konzern-

_____

659 BVerwGE 17, 306; Ossenbühl Bestand und Erweiterung des Wirkungskreises der Deutschen Bundespost, 1980, 113 ff; Papier in: Benda/Maihofer/Vogel, HVerfR, § 18 Rn 44 ff. – Anders Isensee DB 1979, 145. 660 Löwer VVDStRL 60 (2001), 445. 661 BVerwG JZ 1989, 688 (postfremde Werbebeilage, die dem Postgiroteilnehmer mit dem Kontoauszug übersandt wird). 662 Scholz AöR 97 (1972), 301, 305 f; ders FS Sieg, 1976, 507, 518 f. – VG Münster NVwZ 1982, 522. 663 Huber Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 325; ders FS Badura, 2004, 916; Löwer VVDStRL 60 (2001), 416; Pielow NWVBl 1999, 369. 664 Huber FS Badura, 2004, 920. 665 Badura FS Steindorff, 1990, 835. 666 § 65 BHO (§ 60 Wirtschaftsbestimmungen für die Reichsbehörden v 11.12.1929) sowie die entspr Vorschriften der Landeshaushaltsordnungen. 667 BGHZ 69, 334 zu § 320 V 3 AktG. – Zöllner ZGR 1976, 1; Rittner FS Flume, 1978, 241; Hohrmann Der Staat als Konzernunternehmer, 1983; Ipsen FS Berliner Jur Gesellschaft, 1984, 265. 668 Leisner WiV 1983, 212; HansOLG Hamburg ET 1990, 269 (HEW).

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rechts maßgebend (§§ 15 ff, 101 II, 103 II, 311, 394, 395 AktG); kommunalrechtliche Vorschriften des Landesrechts über Sonderrechte bei Beteiligungen der Gemeinde (Eigengesellschaft, gemischtwirtschaftliches Unternehmen) treten gegenüber den abschließenden Regelungen des Aktienrechts zurück.669 Wie jedes einfache Recht unterliegt auch das Gesellschaftsrecht dem Vorrang der Verfas- 272 sung.670 Das kann, da der Gesetzgeber die AG offenkundig zum Instrument des Verwaltungshandelns bestimmt hat (arg e §§ 394, 395 AktG), insbesondere dazu zwingen, die Weisungsungebundenheit der Aufsichtsratsmitglieder im Interesse des Demokratieprinzips zu modifizieren.671 Für ein Verwaltungsgesellschaftsrecht bleibt gleichwohl nur wenig Raum. Die Umwandlung einer Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts in eine Handels- 273 gesellschaft („Formwechsel“) richtet sich nach den Vorschriften des öffentlichen Rechts. Für die gesellschaftsrechtlichen Rechtsfolgen gelten die Vorschriften der §§ 301 ff des UmwG.672 bb) Wettbewerbsrecht. Auch die Öffentliche Hand ist mit ihren wirtschaftlichen Betätigun- 274 gen dem Wettbewerbsrecht (UWG, GWB) unterworfen, vorausgesetzt, dass sie zu einem Dritten in ein Wettbewerbsverhältnis tritt und in ihrem Angebots- oder Nachfrageverhalten nicht normativ gebunden ist (vgl § 130 I GWB).673 Das gilt auch dann, wenn die Unternehmenstätigkeit (unmittelbar) einer öffentlichen Aufgabe dient oder sonstwie dem „Kompetenzkern“ der Aufgabe des Verwaltungsträgers zuzuordnen ist.674 Die Entscheidung der Öffentlichen Hand, überhaupt eine unternehmerische Tätigkeit auf- 275 zunehmen, ist der Nachprüfung durch die ordentlichen Gerichte entzogen (Rn 263). Überschreitet ein Verwaltungsträger bei einer wirtschaftlichen Betätigung die ihm gesetzlich zugewiesene Aufgabe, kann darin ein wettbewerbswidriges Verhalten iS des UWG liegen, auf dessen Unterlassen er im Zivilrechtsweg in Anspruch genommen werden kann (§§ 4 Nr 11, 8 UWG – „Vorsprung durch Rechtsbruch“).675 Zu einem wettbewerbsrechtlich begründeten Unterlassungsanspruch kann das Verhalten der Öffentlichen Hand regelmäßig erst dann führen, wenn sie sich dabei sittenwidriger Mittel bedient, beispielsweise ihre Stellung als öffentlich-rechtliche Körperschaft missbraucht („Missbrauch amtlicher Autorität“) oder wenn sie sonst aus der Verbindung hoheitlicher und privatwirtschaftlicher Interessen einen unzulässigen Vorsprung vor ihren Mitbewerbern erlangt oder erstrebt, zB durch Preisunterbietung („unlautere Verquickung“).676

e) Unionsrechtliche Bindungen Die öffentlichen Unternehmen der Mitgliedstaaten unterliegen ferner dem Unionsrecht, insbe- 276 sondere den Wettbewerbsregeln der Art 101 ff AEUV (Art 106 I AEUV),677 die durch die EU-

_____ 669 BGHZ 69, 334; Fischer AG 1982, 85; Huber StWiss 8 (1997), 433; Schmidt ZGR 1996, 345. 670 v Danwitz AöR 120 (1995), 616; Huber FS Badura, 2004, 906. 671 v Danwitz AöR 120 (1995), 616; Huber FS Badura, 2004, 906; offen BGHZ 36, 296; aA Schmidt ZGR 1996, 354. 672 H. Schmidt in: Lutter/Winter, Umwandlungsgesetz, 4. Aufl 2009, 3140. 673 BGHZ 66, 229; 67, 81; GRUR 1982, 425; BGHZ 110, 371 (Erwerb von Senderechten durch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten). – Mestmäcker NJW 1969, 1; Scholz ZHR 132 (1969), 97; ders NJW 1978, 16; Badura Postarch 1981, 262 ff; Ulmer ZHR 146 (1982), 466; Immenga NJW 1995, 1921; Fuchs FS Brohm, 2002, 275. 674 Abw Brohm NJW 1994, 281. 675 BGHZ 82, 375 (Brillen-Selbstabgabestelle einer AOK, Augenoptiker). 676 BGH GewArch 1987, 13 (Gemeindliche Wirtschaftstätigkeit im Bestattungswesen); BGH DÖV 1993, 573 – Vermessungstätigkeit. 677 EuGH Urt v 4.5.1988 – Rs 30/87 – Bodson, Slg 1988, 2479; Urt v 19.3.1991 – C-202/88 – Telekommunikations-Endgeräte, Slg 1991, I-1223; Urt v 23.4.1991 – C-41/90 – Arbeitsvermittlungsmonopol, Slg 1991, I-1979; Urt v 10.12.1991 – C-179/90 – Hafen von Genua, Slg 1991, I-5889. – Mestmäcker RabelsZ 52, 1988, 526; Immenga/ders Wettbewerbsrecht, Bd I EU, 5. Aufl 2012; Junker ZGR 1990, 249; Hailbronner NJW 1991, 593; Badura ZGR 1997, 291; Burgi VerwArch 93 (2002), 255.

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Kommission konkretisiert werden (Art 106 III AEUV).678 Als öffentliches Unternehmen ist dabei jede der Öffentlichen Hand zuzurechnende Tätigkeit anzusehen, mit der Waren oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt angeboten werden, ohne Rücksicht auf die Rechtsform und auf den verfolgten Zweck. Eine Tätigkeit, die ihrer Art, ihrem Gegenstand und den für sie geltenden Regeln nach sich typischerweise als die Ausübung hoheitlicher Befugnisse darstellt oder eine Aufgabe mit ausschließlich sozialem Charakter wahrnimmt (Dienstleistungen von allgemeinem Interesse), weist keinen wirtschaftlichen Charakter auf, der die Anwendung der EUWettbewerbsregeln rechtfertigen würde.679 Die unionsrechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten in Bezug auf ihre öffentlichen Unternehmen und die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln werden darüber hinaus durch die besondere Vorschrift des Art 106 II AEUV eingeschränkt. Danach gelten für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind, die Wettbewerbsregeln des AEUV nur, soweit ihre Anwendung nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert.680

2. Vergaberecht 277 Das Volumen öffentlicher Aufträge macht in der gesamten EU ca 10%–15 % des BIP aus.681 Es liegt daher auf der Hand, dass die ausgedehnte Investitionstätigkeit der Öffentlichen Hand, vor allem im Bausektor, ein so bedeutsamer Teil der Gesamtnachfrage ist, dass sie sich auch als Instrument der Wirtschaftslenkung eignet (§§ 6 I, 10, 11 StabG). Traditionell wurde das öffentliche Auftragswesen (nur) als eine Angelegenheit sparsamer 278 und wirtschaftlicher Verwendung öffentlicher Mittel angesehen und deshalb dem Haushaltsrecht zugeordnet.682 Detaillierte Regelungen erfolgten in diesem Rahmen durch Verwaltungsvorschriften, insbesondere die Verdingungsordnungen (VOB/A, VOL/A, VOF).683 Das Schutzbedürfnis konkurrierender Anbieter und die Beachtung des Gleichbehandlungsgebots wurden durch das Wettbewerbsrecht erfasst; 684 nur unter engen Voraussetzungen wurde übergangenen Bietern bei Verstoß gegen die Verdingungsordnungen ein Schadensersatzanspruch aus culpa in contrahendo zuerkannt.685 Soweit sich in den Vergabebedingungen – sei es auf gesetzlicher Grundlage, sei es auf der Grundlage von Verwaltungsvorschriften – auch sozial- und wirtschaftspolitische Ziele (sog vergabefremde Kriterien) fanden, konnte ein durch sie begünstigter

_____ 678 RL 2006/111/EG der Kommission v 16.11.2006 über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen sowie über die finanzielle Transparenz innerhalb bestimmter Unternehmen (ABl L 318/17); EuGH Urt v 6.7.1982 – verb Rs 188-190/80 – Frankreich, Italien u UK/Kommission, Slg 1982, 2545. – TranspRLG v 16. 8. 2001 (BGBl I 2141) zur Umsetzung der RiL 2000/52/EG, zul geänd durch Gesetz vom 21. Dezember 2006 (BGBl I 3364) zur Umsetzung der RL 2005/81/EG (vgl RegEntw, BT-Drs 16/2952). S ferner die Nachweise bei Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 106 AEUV Rn 64 ff (RL), 68 ff (Beschlüsse). 679 EuGH Slg 1993, I-637 Rn 18, 19 – Rs C-173/91 – Poucet und Pistre; Urt v 16.3.2004 – verb Rs C-264/01, C-306/01, C-354/01 u C-355/01 – AOK Bundesverband ua/Ichtyol, Slg 2004, I-2493. 680 EuGH Urt v 19.5.1993 – C-320/91 – Corbeau, Slg 1993, I-2533; Urt v 27.4.1994 – C-393/92 – Almelo, Slg 1994, I1477; Urt v 23.10.1997 – C-159/94 – EdF, Slg 1997, I-5815; Urt v 22.11.2001 – C-53/00 – Ferring, Slg 2001, I-9067; Urt v 24.7.2003 – C-280/00 – Altmark Trans, Slg 2003, I-7747. 681 EU-Kommission, Grünbuch, Das öffentliche Auftragswesen in der EU, KOM (96) 583 endg. 682 Forsthoff Der Staat als Auftraggeber, 1963; Pietzcker Der Staatsauftrag als Instrument des Verwaltungshandelns, 1978; ders AöR 107 (1982), 61; ders NVwZ 1983, 121; Dohmen JbDBP 1985, 198; Broß VerwArch 84 (1993), 395. 683 Ingenstau/Korbion/Kratzenberg/Leupertz, VOB, 18. Aufl 2012; Hoffjan/Müller/Waldmann/Ebisch/Gottschalk Preise und Preisprüfungen bei öffentlichen Aufträgen, 8. Aufl 2010; Motzke/Pietzcker/Prieß, BeckOK VOB/A, 2001; Preussner/Kandel, BeckOK VOB/B, 9. Ed 2011; Englert/Motzke/Katzenbach, BeckOK VOB/C, 2. Aufl 2008; Kapellmann/Messerschmidt, VOB, 4. Aufl 2012. 684 BGHZ 36, 91 = JZ 1962, 176 m Anm Stern = DVBl 1962, 298 m Anm Zeidler; BVerwG GewArch 1970, 285. – Zur Frage des Schadensersatzes, auch nach Kartellrecht (§§ 26 II, 35 GWB), bei willkürlicher „Auftragssperre“ OLG Düsseldorf DÖV 1981, 537 m Anm Pietzcker. 685 BGH DÖV 1992, 450 (VOB/A); DÖV 1993, 307 (VOL/A). – Faber DÖV 1995, 403.

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Bieter bei Nichtberücksichtigung immerhin Feststellungsklage vor den Verwaltungsgerichten erheben.686 Dem seit Ende der 1960er Jahre zunehmenden Europäisierungsdruck, der auf ein transpa- 279 rentes Vergabeverfahren, subjektive Rechte der Bieter und einen effektiven Rechtsschutz zielte, versuchte der Gesetzgeber zunächst durch die „haushaltsrechtliche Lösung“ Rechnung zu tragen, die zwar eine Nachprüfung durch Vergabeprüfstellen und Vergabeüberwachungsausschüsse einführte, den unterlegenen Bietern aber individuelle, einklagbare Ansprüche vorenthielt.687 Dies hat der EuGH beanstandet;688 zudem bestanden auch verfassungsrechtliche Zweifel im Hinblick auf Art 19 IV GG.689 Daraufhin hat das VgRÄG 1998 das Vergaberecht aus dem Haushaltsrecht herausgelöst und es (nur) in dem unionsrechtlich geforderten Umfang, dh oberhalb der Schwellenwerte, als Bestandteil des Wettbewerbsrechts neu geordnet (§§ 97 ff GWB; VgV).690

a) Aufträge oberhalb der Schwellenwerte aa) Allgemeines. Das unionale Sekundärrecht zielt darauf ab, den Markt zu öffnen, transparen- 280 te und nachprüfbare Vergabeverfahren zu sichern und das öffentliche Beschaffungswesen im Binnenmarkt oberhalb bestimmter Schwellenwerte, die je nach der Art der Beschaffungsaufträge abgestuft sind (§ 2 VgV),691 nach einheitlichen Verfahren zu gestalten. Es wird aktuell bestimmt durch die Sektoren-RL 2004/17/EG (SRL), die Vergabe-RL 2004/18/EG (VRL), die RL 2009/81/ EG (VSRL)692 und durch die VO (EU) Nr 1251/2011 der Kommission zur Änderung der Richtlinien 2004/17/EG, 2004/18/EG und 2009/81/EG.693 Kern dieser Regelungen ist – in Abweichung von den wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Traditionen Deutschlands – die Zuerkennung eines Anspruchs auf Einhaltung der Vergabevorschriften zugunsten des rechtswidrig übergangenen Bieters sowie des Rechts auf Nachprüfung der Vergabeentscheidung in einem rechtsförmigen Verfahren. Das öffentliche Auftragswesen umfasst die Beschaffung von Waren, Bau- und Dienstleis- 281 tungen im Wege entgeltlicher Verträge des Privatrechts zwischen öffentlichen Auftraggebern und Unternehmen und ein dem Vertragsschluss vorausgehendes Vergabeverfahren (§§ 97 ff GWB). An das Vergaberecht gebunden sind öffentliche Auftraggeber (§ 98 GWB), dh alle öffentlichen Stellen oder privatrechtlichen Unternehmen, soweit sie im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nicht-gewerblicher Art wahrnehmen.694 Auch die Deutsche Post AG695 und die GEZ696 sind öffentliche Auftraggeber idS. Öffentliche Aufträge sind an fachkundige, leistungsfähige und zuverlässige Unterneh- 282 men zu vergeben (§ 97 IV GWB).

_____ 686 BVerwG BB 1969, 1084; DVBl 1970, 866 m Anm Hoffmann-Becking VerwArch 62 (1971), 191; BVerwG DÖV 1971, 705. – Bettermann DVBl 1971, 112. 687 §§ 57a ff HGrG aF; VgV v 22.2.1994 (BGBl I 321); NachprüfungsVO v 22.2.1994 (BGBl I 324). 688 EuGH Urt v 11.8.1995 – C-433/93 – Kommission/Deutschland, Slg 1995, I-2303. – Boesen EuZW 1998, 551. 689 Huber Kampf um den öffentlichen Auftrag. 690 Gesetzentwurf der BReg, BT-Drs 13/9340. – Byok NJW 1998, 2774; Pietzcker ZHR 162 (1998), 427; ders Die Zweiteilung des Vergaberechts, 2001; H. Thieme/Correll DVBl 1999, 884; Byok/Jaeger, Kommentar zum Vergaberecht, 3. Aufl 2011; Reidt/Stickeler/Glahs, Vergaberecht, 3. Aufl 2010; Byok NJW 2001, 2295; Motzke/Pietzcker/Prieß, BeckOK VOB/A, 2001; Vetter NVwZ 2001, 745; Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, 2011; Weyand Praxiskommentar Vergaberecht, 3. Aufl 2011. 691 Huber JZ 2000, 877; ders BayVBl 2000, 193. 692 Vgl auch Vergabeverordnung für die Bereiche Verteidigung und Sicherheit (VSVgV) v 12.7.2012 (BGBl I 1509). 693 Prieß Handbuch des europäischen Vergaberechts, 3. Aufl 2005. 694 EuGH Urt v 15.1.1998 – C-44/96 – Mannesmann Anlagenbau Austria, Slg 1998, I-73; Urt v 10.11.1998 – C-360/96 – Gemeente Arnhem, Slg, 1998 I-6821. – Wollenschläger EWS 2005, 343. 695 Nach Art 2 RL 2004/17/EG; näher Huber/Wollenschläger VergabeR 2006, 431. 696 EuGH Urt v 13.12.2007 –C-380/03 – Bayerischer Rundfunk ua, Slg 2007 I-11573.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

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Die Vergabe öffentlicher Aufträge ist, obwohl sie nicht unmittelbar der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dient, als eine Rechte Dritter berührende Verwaltungstätigkeit an die Grundrechte gebunden.697 Die Bieter haben zudem einen Anspruch darauf, dass der Auftraggeber die Bestimmungen über das Vergabeverfahren einhält und dem wirtschaftlich günstigsten Angebot den Zuschlag erteilt (§ 97 VII GWB) . 698 Unbeschadet der Prüfungsmöglichkeiten von Aufsichtsbehörden und Vergabeprüfstellen unterliegt die Vergabe öffentlicher Aufträge der Nachprüfung durch unabhängige Vergabekammern, die der unterlegene Bieter anrufen und damit den Zuschlag blockieren kann. Gegen Entscheidungen der Vergabekammer ist die sofortige Beschwerde zum OLG (Vergabesenat) statthaft. 284 Ein bereits erteilter Zuschlag bzw der Vertragsabschluss mit dem erfolgreichen Bieter kann nach dem Grundsatz „pacta sunt servanda“ zwar nicht aufgehoben werden (§ 114 II GWB). Da der EuGH in der Rs Alcatel Austria699 jedoch einen eigenständigen, vom Vertragsschluss zu unterscheidenden und gerichtlich angreifbaren (öffentlich-rechtlichen!) Rechtsakt gefordert hat, sieht § 101a GWB vor, dass der übergangene Bieter mit einer angemessenen Frist vor Vertragsabschluss zu informieren ist; wird dagegen verstoßen, ist der Vertrag nichtig (§ 101b I Nr 1 GWB). 285 bb) Vergabefremde Kriterien. Dass das Vergaberecht nicht nur der Gewährleistung des Wirtschaftlichkeitsgebotes bei der Beschaffung von Waren und Dienstleistungen dient, sondern sich auch als Instrument der Wirtschaftslenkung und Sozialgestaltung eignet, liegt angesichts des in Rede stehenden Volumens auf der Hand.700 Aus der Sicht des Unionsrechts gibt es gegen die Verwendung vergabefremder Kriterien 286 nichts zu erinnern, soweit sie – mit dem Gegenstand des Auftrags zusammenhängen, – dem Auftraggeber keine uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit einräumen, – im Leistungsverzeichnis und bei der Bekanntmachung des Auftrags ausdrücklich genannt werden und – die allgemeinen Wertungen des Unionsrechts, insbesondere das Diskriminierungsverbot, beachten.701 Die VRL 2004/18/EG hat diese Rechtsprechung ausweislich der Erwägungsgründe kodifiziert (siehe Art 53 VRL 2004/18/EG). Unter dem Blickwinkel des nationalen Rechts ist zunächst bemerkenswert, dass § 97 IV 287 GWB einen Gesetzesvorbehalt für vergabefremde Kriterien eingeführt und damit den zahllosen, in Verwaltungsvorschriften niedergelegten vergabefremden Kriterien den Boden entzogen hat. In der Tariftreueregelung wollte das BVerfG zwar einen Eingriff in die Berufsfreiheit (Art 12 I GG) sehen, jedoch keinen Konflikt mit der Koalitionsfreiheit (Art 9 III GG).702 Das bleibt angesichts der Beanstandung durch den EuGH (Rn 286) jedoch folgenlos.

_____ 697 Hermes JZ 1997, 909; Huber JZ 2000, 877, 878 ff; Puhl VVDStRL 60 (2001), 456. 698 Huber Kampf um den öffentlichen Auftrag, 17. 699 EuGH Urt v 28.10.1999 – C-81/98 – Alcatel Austria, Slg 1999, I-7671. – Malmendier DVBl 2000, 963; Otting NVwZ 2001, 775; Vetter NVwZ 2001, 745, 747. 700 Storr WuV 2007, 183. 701 EuGH Urt v 20.9.1988 – Rs 31/87 – Beentjes/Niederlande, Slg 1988, 4635; Urt v 26.9.2000 – C-225/98 – Nord Pas de Calais, Slg 2000, I-7446 (Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen); Urt v 17.9.2002 – C-513/99 – Concordia Bus Finland, Slg 2002, I-7213 (Berücksichtigung von Umweltbelangen zul); Urt v 4.12.2003 – C-448/01 – Wienstrom, Slg 2003, I-14527 (Zuschlagskriterium Strom aus erneuerbaren Energien zul); Urt v 3.4.2008 – C-346/06 – Rüffert, Slg 2008, I-1989 (nds Tariftreueregelung wg Verstoßes gg Art 56 AEUV und RL 96/71/EG unzul). – Brenner JbUTR 1997, 141; Huber ThürVBl 2000, 193; Huber/Wollenschläger WuV 2005, 212 (EMAS und Vergabrecht). 702 BVerfGE 116, 202 – VgG Bln (Tariftreue kein Verstoß gegen Art 12 I GG); BayVerfGH BayVBl 2008, 626 (kein Verstoß gegen Art 3, 101, 170 I BV); früher BGH DB 2000, 465; Löwisch DB 2001, 1090; Scholz RdA 2001, 193; Kling EuZW 2002, 229.

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VII. Öffentliches Wettbewerbsrecht – 3. Kapitel

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b) Aufträge unterhalb der Schwellenwerte Nach der Rechtsprechung des EuGH fordern die Grundfreiheiten für alle öffentlichen Aufträge, 288 also auch für diejenigen unterhalb der Schwellenwerte, Transparenz und Diskriminierungsfreiheit.703 Die EU-Kommission hat diese Anforderungen 2006 in einer Mitteilung zusammengefasst;704 die hiergegen gerichtete Nichtigkeitsklage der Bundesrepublik Deutschland wurde vom EuG als unzulässig abgewiesen.705 Nach nationalem Recht werden Aufträge unterhalb der Schwellenwerte dagegen nach wie 289 vor706 nur durch die §§ 16, 29, 30 HGrG, §§ 24, 54, 55 BHO bzw ihr landesrechtliches Pendant und die auf der Grundlage von § 55 II BHO/LHO fortgeltenden Basisparagraphen der VOB/A, VOL/A 707 etc gesteuert. Eine die Bieter schützende Qualität soll diesen Bestimmungen nicht zukommen, Primärrechtsschutz nach Auffassung des BVerfG ungeachtet der Bindung an Art 3 I GG nicht eröffnet sein.708 Das BVerwG hat auch die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs verneint.709 Diese Rechtsprechung verkennt die Bindungen aus Art 1 III, 12 I und 19 IV GG.710 Sie relati- 290 viert die Grundrechtsbindung, vermag nicht zu erklären, warum der Gleichheitssatz des Art 3 I GG ein Grundrecht von minderer Qualität sein soll, dessen Verletzung keinen Primärrechtsschutz nach sich zieht, übersieht Art 6 EMRK711 und missachtet, soweit es das BVerwG angeht, die unzweifelhaft öffentlich-rechtlichen Bindungen, die sich aus dem AEUV auch für das unterschwellige Vergaberecht ergeben.712

c) Dienstleistungskonzessionen Die vom EuGH für das unterschwellige Vergaberecht entwickelten Grundsätze gelten auch für 291 die Vergabe von Dienstleistungskonzessionen, da die Anwendung der SRL und der VRL insoweit ausgeschlossen ist.713 Daher muss auch die Auslagerung von Aufgaben der Daseinsvorsorge auf Private oder auf gemischt-wirtschaftliche Unternehmen, dh die Errichtung von ÖPP, grundsätzlich ausgeschrieben werden; zudem ist das Diskriminierungsverbot zu beachten. Etwas anderes gilt nur bei sog In-House-Geschäften.714

_____

703 EuGH Urt v 7.12.2000 – C-324/98 – Telaustria, Slg 2000, I-10745 Rn 61; Urt v 18.10.2001 – C-19/00 – SIAC Construction, Slg 2001, I-7725 Rn 41; EuGH Urt 21.7.2005 – C-231/03 – Consorzio Aziende Metano, Slg 2005, I-7287 = EuZW 2005, 529, 530. – Prieß WuV 2007, 221; Ruhland WuV 2007, 203; Wollenschläger NVwZ 2007, 388, 391 ff; zurückhaltender Marx WuV 2007, 193, 198. 704 Mitteilung der Kommission zu Auslegungsfragen in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht, das für die Vergabe öffentlicher Aufträge gilt, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen (ABl 2006 C 179/2). 705 EuG Urt v 20.5.2010 – T-258/06 – Deutschland/Kommission, Slg 2010, II-2027. 706 Zu dem einstweilen gescheiterten Versuch einer verwaltungsrechtlichen Ausgestaltung in Thüringen Huber FS Berg, 2011, 120. 707 VOB/A idF v 31.7.2009, BAnz Nr 155, zul geänd d BAnz v 13.7.2012; VOL/A idF v 20.11.2009, BAnz Nr 196a. 708 BVerfGE 116, 135 (kein Primärrechtsschutz im unterschwelligen Vergaberecht erf); Burgi WuV 2007, 173. 709 BVerwGE 129, 9 – Unterschwelliges Vergaberecht; aA OLG Koblenz DVBl 2005, 988. 710 Dörr WuV 2007, 211; Huber in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art 19 IV Rn 429 f; Wollenschläger DVBl 2007, 589. 711 Bungenberg in: Huber/Streinz/ders, Daseinsvorsorge und öffentliches Beschaffungswesen nach dem Lissabonner Vertrag, 2011, 63. 712 Bungenberg/Huber/Streinz, Wirtschaftsverfassung und Vergaberecht, 2011, mit Beiträgen von Huber, Burgi, Storr, Bungenberg, Marx, Ruhland, Dörr, Prieß; Hermes JZ 1997, 909; Huber JZ 2000, 877, 878 ff; Puhl VVDStRL 60 (2001), 456; siehe auch ÖstVfGH v 30.1.2000 – G 110, 111/99-8. Zum primärrechtlichen EU-Vergaberegime Wollenschläger NVwZ 2007, 388. 713 EuGH Urt v 13.10.2005 – C-458/03 – Parking Brixen, Slg 2005, I-8585 Rn 42; EuGH Urt v 10.11.2011 – C-348/10 – Norma-A u Dekom, NVwZ 2012, 236 (Konzession für öffentliche Busverkehrsleistungen in Ludza an die Ludzas autotransporta uzņēmums SIA). 714 EuGH Urt v 11.1.2005 – C-26/03 – Stadt Halle, Slg 2005 I, 1 Rn 49; Urt v 6.4.2006 – C-410/04 – ANAV/Commune di Bari, Slg 2006, I-3303 = NVwZ 2006, 555 (Dienstleistungskonzession im ÖPNV).

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

VIII. Gewerberecht 3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht VIII. Gewerberecht – 3. Kapitel 1. Gewerbefreiheit 292 Die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund v 21.6.1869 enthielt die erste bundesrechtliche, gegenüber dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht spezielle Gesamtregelung des Gewerbewesens.715 Sie statuierte den Grundsatz der Gewerbefreiheit, der Beschränkungen der gewerblichen Tätigkeit nur zulässt, wenn und soweit die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung es erfordert. Heute gilt die Gewerbeordnung idF v 22.2. 1999.716 293 Der Grundsatz der Gewerbefreiheit (§ 1 I GewO) war das tragende Prinzip der liberalen Wirtschaftsverfassung. Danach darf jedermann jede gewerbliche Tätigkeit ausüben, ohne bei Beginn und Fortsetzung des Gewerbebetriebs anderen administrativen Beschränkungen – Erlaubnispflichten oder Untersagungsmöglichkeiten – unterworfen zu sein, als sie durch die GewO oder andere Bundesgesetze festgelegt sind. Vorschriften, die die Ausübung eines Gewerbes regeln oder zu derartigen Regelungen ermächtigen, werden durch die Gewerbefreiheit nicht berührt. Charakteristisches Beispiel ist insoweit etwa das LadSchlG717 bzw die es zunehmend ersetzenden Ladenöffnungsgesetze der Länder.718 Anders als noch die Weimarer Reichsverfassung (Art 151 III WRV) kennt das GG kein selbst294 ständiges Grundrecht der Gewerbefreiheit. Diese ist vielmehr in der umfassenderen Berufsfreiheit (Art 12 I GG) aufgegangen, die im Unterschied zu dem überkommenen Inhalt der Gewerbefreiheit jedoch „personal“ geprägt ist.719 295 In kompetenzieller Hinsicht knüpft Art 74 I Nr 11 GG an den überkommenen Begriff und Regelungsbereich des Gewerberechts an.720 Gewerbe sind die industrielle und handwerkliche Produktion und Verarbeitung, der Groß-, Einzel- und Kleinhandel und die wirtschaftlichen Dienstleistungen (zB Verkehrs- und Vermittlungsgewerbe, Vermietungen721 und Verpachtungen, Touristikgewerbe, Fotografen). 1974 ist ein Gewerbezentralregister eingerichtet worden (§§ 149 ff GewO).

a) Begriff des Gewerbes 296 Der sachliche Anwendungsbereich der Gewerbefreiheit wird durch den von der GewO nicht genau abgegrenzten,722 sondern vorausgesetzten Begriff der gewerbsmäßigen Ausübung eines Gewerbes bestimmt. Der Begriff des Gewerbes erklärt sich dabei aus der der Gewerbefreiheit historisch zugrunde liegenden wirtschaftspolitischen Zielsetzung und umfasst jede erlaubte, auf Gewinnerzielung gerichtete und auf Dauer angelegte selbstständige Tätigkeit, ausgenommen Urproduktion, freie Berufe und die bloße Verwaltung eigenen Vermögens.

_____ 715 Frotscher in: Schmidt, Öffentl Wirtschaftsrecht, BT 1, 1995, § 1; Stober, Lexikon des Rechts. Gewerberecht, 1999; Tettinger/Wank/Ennuschat GewO, 8. A u f l 2011; Kempen NVwZ 2000, 1115; Hahn GewArch 2002, 41; Landmann/Rohmer GewO, 2 Bde, Lsbl (2012); Robinski/Sprenger-Richter Gewerberecht, 2. Aufl 2002. 716 BGBl I 1999, 202. 717 BVerfGE 13, 237; E 59, 336 o JK Art 12 I/6; BVerwG GewArch 1994, 117 – Tankstellen. 718 Zur bundesstaatlichen Dimension des Ladenschlussrechts s Art 74 I Nr 11 GG; BVerfGE 111, 10 – LadSchlG o JK GG Art 12 I/74; BW LadÖG, BerlLadÖffG, LÖG NW etc. 719 BVerfGE 50, 290, 362. 720 BVerfGE 41, 344. 721 BVerwG DVBl 1973, 857; GewArch 1993, 196 – Ferienwohnungen; DÖV 1970, 403 (Betrieb eines Dauercampingplatzes mit 1200 Standplätzen ist Ausübung eines stehenden Gewerbes, nicht bloße Verwaltung und Nutzung eigenen Vermögens). 722 Die Aufzählung in § 6 GewO ist nicht erschöpfend. – Zum Gewerbebegriff Hösch ThürVBl 1996, 153 u 169.

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VIII. Gewerberecht – 3. Kapitel

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aa) Gewerbsmäßigkeit. „Gewerbsmäßigkeit“ bedeutet, dass das Gewerbe erlaubt sein723 und 297 selbstständig,724 auf Erwerb gerichtet 725 und nachhaltig (auf eine gewisse Dauer angelegt) ausgeübt werden muss. Die Erwerbsabsicht fehlt bei Tätigkeiten, die einen „idealen“ (gemeinnützigen) Zweck verfolgen, sowie bei öffentlichen Unternehmen der Daseinsvorsorge (zB Verkehrsund Versorgungsbetriebe). Das Prostitutionsgesetz (ProstG)726 wollte zwar die Behandlung der Prostitution im Rahmen 298 der gewerberechtlichen Beurteilung nicht verändern, sondern verfolgt die sozialpolitische Zielsetzung, die Situation der Prostituierten zu verbessern.727 Eine unionsrechtskonforme Auslegung des Gewerberechts muss jedoch berücksichtigen, dass die selbstständig ausgeübte Prostitution als eine gegen Entgelt erbrachte Dienstleistung angesehen wird und unter den Schutz der Niederlassungs- (Art 49 AEUV),728 uU aber auch der Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) fällt. Das schließt es aus, die Prostitution als generell unerlaubte Tätigkeit zu behandeln. bb) Gewerbsfähigkeit. Die „Gewerbsfähigkeit“ fehlt dagegen bei der Verwaltung eigenen 299 Vermögens, den persönlichen Dienstleistungen höherer Art (Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten, freie Unterrichtstätigkeit ua),729 wissenschaftlichen und künstlerischen Tätigkeiten, der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben (zB Notare) und der sog Urproduktion. Unter dem rechtlich nicht fest umrissenen Sammelbegriff der „Freien Berufe“ 730 werden 300 verschiedenartige selbstständige Berufstätigkeiten zusammengefasst, die Dienstleistungen höherer Art erbringen und deshalb nicht dem Gewerberecht unterliegen. Die Freien Berufe haben im Allgemeinen auf der Grundlage besonderer beruflicher Qualifikation oder schöpferischer Begabung die persönliche, eigenverantwortliche und fachlich unabhängige Erbringung von Dienstleistungen höherer Art im Interesse der Auftraggeber und der Allgemeinheit zum Inhalt (§ 1 II PartGG). Die wichtigsten von ihnen sind Gegenstand besonderer Gesetze, in denen eine typisierende Ausformung von „Berufsbildern“ erfolgt ist. Charakteristisch für diese gesetzlichen Regelungen sind eine Reglementierung der Berufsausbildung, qualifizierte Sachkundenachweise als Bedingung der Berufszulassung und die Bindung der Berufsausübung durch öffentlichrechtliche Pflichten. Die früher deutlicher berufsständische Ordnung dieser Berufe, deren Zusammenfassung in Kammern mit Zwangsmitgliedschaft und ihre besondere Pflichtbindung, sind seit einiger Zeit aufgrund der strikten Interpretation der Berufsfreiheit durch das BVerfG (Art 12 I GG) einem Liberalisierungsprozess ausgesetzt. Signifikant ist insoweit die Lockerung der Werbeverbote bei Anwälten731 und Apothekern732 (Rn 53, 60). Das Recht der freien Berufe hat ferner durch die fortschreitende Verwirklichung des Binnenmarktes und – damit einhergehend

_____

723 VG Berlin GewArch 2000, 203 (keine generelle Sittenwidrigkeit von „Swinger Clubs“). 724 BVerwG DÖV 1977, 401. – Das Merkmal der Selbstständigkeit, dh des auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko ausgeübten Gewerbes, gilt für das Reisegewerbe nicht (Mußmann GewArch 1979, 166 gegen OLG Düsseldorf GewArch 1979, 125). 725 Die Absicht der Gewinnerzielung iSd Gewerberechts ist auch dann gegeben, wenn die im voraus festgelegte Gegenleistung als Spendenbeitrag bezeichnet wird und wenn die Erträge idealen Zwecken zugeführt werden; auch soweit der Verkauf an Mitglieder erfolgt, liegt gewerbliche Betätigung vor (BVerwG NVwZ 1995, 473 u GewArch 1998, 110 u 416 – Scientology Church). 726 Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (ProstG) v 20.12.2001 (BGBl I 3983). 727 Pauly GewArch 2002, 217; anders Caspar NVwZ 2002, 1322 (für Liberalisierung der gaststättenrechtlichen „Unsittlichkeit“). 728 EuGH Urt v 20.11.2001 – C-268/99 – Jany, Slg 2001, I-8615 o JK EGV Art 43/2. 729 BVerwG DVBl 1987, 1075; OVG NW DÖV 2001, 829. 730 Bericht der BReg über die Lage der freien Berufe in der Bundesrepublik Deutschland (2002) BT-Drs 14/9499. – Steindorff Freie Berufe – Stiefkinder der Rechtsordnung?, 1980; Jarass NJW 1982, 1833; Tettinger NJW 1987, 294; Ring Wettbewerbsrecht der freien Berufe, 1989; Raisch FS Rittner, 1991, 471; Pitschas in: Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, BT 2, 1996, § 9; Ennuschat in: Tettinger/Wank/Ennuschat, GewO, § 1 Rn 57 ff. 731 BVerfGE 76, 196; E 101, 312 o JK GG Art 12 I/51; BVerfG NJW 2001, 3324 o JK GG Art 12 I/60. 732 BVerfGE 94, 372 o JK GG Art 12 I/42; BVerwGE 89, 30.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

– der Dienstleistungs- (Art 56 ff AEUV) und Niederlassungsfreiheit (Art 49 ff AEUV), vor allem durch Richtlinien zur Rechtsangleichung („Koordinierung“) und zur gegenseitigen Anerkennung von Berufszugangsberechtigungen,733 tief greifende Veränderungen erfahren.734 Unter den nichtgewerblichen Heilberufen sind Ärzte,735 Zahnärzte,736 Tierärzte 737 und Heilpraktiker 738 hervorzuheben. Die Apotheker werden zum Gewerbe gerechnet,739 was mit dem Wortlaut von § 6 GewO schwerlich zu vereinbaren ist. Sie verfügen aber über ein eigenes Berufsrecht.740 Zu den rechtsberatenden Berufen zählen die Rechtsanwälte,741 Patentanwälte 742 und Rechtsbeistände für bestimmte Spezialmaterien.743 Die Besonderheiten des Notarwesens weisen die Notare den freien, jedoch „staatlich gebundenen“ Berufen zu.744 Freie Berufe sind weiter Wirtschaftsprüfer 745 und Steuerberater.746 Die Berufe der freien Architekten und Ingenieure fallen in die Kompetenz des Landesgesetzgebers.747

_____ 733 RL 77/249/EWG zur Erleichterung der tatsächlichen Dienstleistungsfreiheit der Rechtsanwälte; RechtsanwaltsRL 98/5/EG (ABl 1998 Nr L 77/36), umgesetzt durch G v 9.3.2000 (BGBl I 182); RL 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, die die sektoralen Richtlinien in diesem Bereich – darunter die RL 89/48/EWG – zusammenfasst (ABl Nr L 255/22, ber ABl L 271/18 u ABl 2009 Nr L 33/49); zul geänd durch VO (EU) Nr 623/2012 (ABl L 180/9). 734 EuGH Urt v 21.6.1974 – Rs 2/74 – Reyners, Slg 1974, 631; Urt v 25.2.1988 – Rs 427/85 – (Kommission/Deutschland), Slg 1988, 1123 (Gouvernantenklausel); Urt v 20.11.2001 – C-268/99 – Jany, Slg 2001, I-8615 o JK EGV Art 43/2 (Prostitution); Müller Dienstleistungsmonopole im System des EWGV, 1988; Blumenwitz NJW 1989, 621; Everling EuR 1989, 338; ders Der Gegenstand des Niederlassungsrechts in der Europäischen Gemeinschaft, 1990. 735 BundesärzteO idF v 16.4.1987 (BGBl I 1218), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). – BVerfGE 11, 30; E 33, 125; E 85, 248 o JK GG Art 12 I/29; BVerfG DVBl 2002, 691 (zulässige Werbung mit der Bezeichnung als Knie- bzw Wirbelsäulenspezialist); BVerwG NJW 1998, 2759 – Werbeverbot. – Schenke NJW 1991, 2313. 736 G über die Ausübung der Zahnheilkunde idF v 16.4.1987 (BGBl I 1225), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). – BVerfGE 12, 144; E 25, 236; BGH GewArch 1972, 303. 737 Bundes-TierärzteO idF v 20.11.1981 (BGBl I 1193), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). – BVerfGE 38, 312. 738 G über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (HeilpraktikerG) v 17.2.1939 (RGBl I 251), zul geänd durch G v 23.10.2001 (BGBl I 469). – BVerwG NVwZ-RR 2011, 23 (§ 1 HeilprG Nr 1); GewArch 1993, 406. 739 BVerfGE 5, 25. 740 G über das Apothekenwesen idF v 15.10.1980, zul geänd durch G v 28.5.2008 (BGBl I 874); Bundes-ApothekerO idF v 19.7.1989, zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). – BVerfGE 7, 377; E 17, 232; E 38, 373; E 53, 96; E 94, 372; BVerwGE 72, 73; E 89, 30; BVerwG NJW 1992, 588; NJW 1999, 881 – Autoschalter. 741 BundesrechtsanwaltsO v 1. 8.1959, zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). – BVerfGE 22, 114; E 28, 21; E 34, 293; E 39, 238; E 52, 256; E 76, 171; E 76, 196; E 87, 287. – Papier NJW 1987, 1308; Zuck NJW 1990, 1025; Prütting, Die deutsche Anwaltschaft zwischen heute und morgen, 1990; Henssler/ders, Bundesrechtsanwaltsordnung, 3. Aufl 2009; Kleine-Cosack NJW 1994, 2249; ders Bundesrechtsanwaltsordnung, 6. Aufl 2009. 742 PatentanwaltsO v 7. 9.1966 (BGBl I 557), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). 743 G über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen (RechtsdienstleistungsG – RDG) v 12.12.2007 (BGBl I 2840), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). – BVerfGE 10, 185; E 41, 378; E 75, 246; BVerwGE 2, 85; E 7, 349; E 59, 138. 744 BundesnotarO v 24. 2.1961 (BGBl I 98), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). – BVerfGE 16, 6; E 17, 371; E 47, 285; E 54, 237; E 73, 280 o JK Art 20 III/24; E 80, 257; E 80, 269; BVerfG NJW 1997, 45; JZ 1998, 1062 (Sozietät von Anwaltsnotar und Wirtschaftsprüfer); BGH JZ 1994, 790 m Anm Zuck; Bohrer Das Berufsrecht der Notare, 1991; Arndt/Lerch/Sandkühler Bundesnotarordnung, 6. Aufl 2008; Eylmann NJW 1998, 2929; Huber FS Kriele, 1997, 389, 390. – Nach EU-Recht darf der Zugang zum Beruf des Notars nicht von der dt Staatsangehörigkeit abhängig gemacht werden; EuGH EuZW 2011, 468 (m Anm Fuchs u Bespr Ritter EuZW 2011, 707) = NJW 2011, 2941 (m Bespr Schmid/Pinkel NJW 2011, 2928) = DVBl 2011, 887 (m Anm Frenz) = JZ 2012, 354 (m Bespr Spickhoff JZ 2012, 333) o JK AEUV Art 49/3; dazu auch J. Wolff JURA 2012, 714. 745 G über eine Berufsordnung der Wirtschaftsprüfer idF v 5.11.1975 (BGBl I 2803), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). – Badura Berufsrechtl Fragen der Abschlußprüfung nach dem Entwurf eines Bilanzrichtlinie-Gesetzes, 1983. – BVerfGE 54, 237, 239 f; Markus Der Wirtschaftsprüfer, 1996. 746 SteuerberatungsG idF v 4.11.1975 (BGBl I 2735), zul geänd durch G v 6.12.2011 (BGBl I 2515). – BVerfGE 21, 227; E 34, 252; E 54, 301; E 55, 185; E 59, 302; E 60, 215; E 69, 209. 747 ZB ArchitektenG BW v 28.3.2011, zul geänd am 25.1.2012 (GBl 65); Bay G zum Schutze der Berufsbezeichnung „Ingenieur und Ingenieurin“ (BayIngG) v 27. 7.1970 (BayRS 702–2-W) ), zul geänd durch G v 24.3.2010 (GVBl 138). – BVerfGE 26, 246; Jagenburg NJW 1997, 2277.

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Urproduktion schließlich ist die auf die Gewinnung roher Naturerzeugnisse gerichtete Wirt- 301 schaftstätigkeit, die Land- und Forstwirtschaft,748 Wein- und Gartenbau,749 Jagd und Fischerei oder der Bergbau.

b) Kompetenzrechtliche Dimension von § 1 GewO Der in § 1 GewO niedergelegte Grundsatz der Gewerbefreiheit besagt, dass das Gewerberecht abschließend durch Bundesrecht geregelt ist, und, was angesichts der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung idR auf dasselbe hinausläuft, dass die gewerberechtlichen Vorschriften über Beginn und Fortsetzung eines Gewerbebetriebs gegenüber dem allgemeinen Polizeirecht abschließend sind. Die praktische Bedeutung von § 1 I GewO besteht somit vor allem darin, landesrechtliche Beschränkungen von Beginn und Fortsetzung eines Gewerbebetriebs auszuschließen (Art 125 Nr 1, 74 I Nr 11, 72 I GG). Das gilt insbesondere für auf die polizeiliche Generalklausel gestützte Beschränkungen von Beginn und Fortsetzung eines Gewerbebetriebs, soweit die GewO insoweit nicht ausdrücklich eine Öffnung für das Landesrecht enthält – wie zB für Tanzlustbarkeiten (§ 33b GewO) oder für Messen, Ausstellungen und Märkte (§ 71a GewO), so dass zB Laserdrome auf der Grundlage des OBG NW verboten werden konnten.750 „Ausnahmen und Beschränkungen“ im Sinne des § 1 I GewO finden sich aber auch in zahlreichen Nebengesetzen – etwa in der HwO, dem GastG, dem PBefG oder dem GüKG. Die Formulierung „durch dieses Gesetz“ in § 1 GewO ist insoweit missverständlich. Ein polizeiliches Einschreiten gegenüber einer von der Gewerbefreiheit geschützten Tätigkeit kommt deshalb nur hinsichtlich der Art und Weise der Gewerbeausübung in Frage, um diese mit den Anforderungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Einklang zu halten. Ein Verbot des Gewerbebetriebs ist aufgrund des allgemeinen Polizeirechts nicht zulässig; jedoch bleibt eine polizeiliche Anordnung hinsichtlich der Gewerbeausübung auch dann rechtmäßig, wenn sie faktisch bewirkt, dass die weitere Ausübung des Gewerbebetriebs unmöglich wird.751 Durch die Gewerbefreiheit nicht geschützte und wegen ihres grundlegenden Widerspruchs zu den Wertentscheidungen der Verfassung daher auch nicht gewerbliche Wirtschaftstätigkeiten, wie Peep Shows, Drogenhandel uam, sind nach Maßgabe von Art 72 I GG landesgesetzlicher Regelung zugänglich. Sie sind nicht „erlaubt“ und unterfallen daher eigentlich nicht dem Gewerbebegriff, was in der Praxis zu Abgrenzungsschwierigkeiten führt. 752 Die GewO sieht schließlich einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Gewerbefreiheit und arbeitsrechtlicher Vertragsfreiheit (§§ 41, 105 ff GewO). Sie enthält deshalb in Titel VII unter der Überschrift „Arbeitnehmer“ einige allgemeine arbeitsrechtliche Grundsätze. Die Grundnorm über die „freie Gestaltung des Arbeitsvertrages“ bestimmt insoweit, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer Abschluss, Inhalt und Form des Arbeitsvertrages frei vereinbaren können, soweit nicht zwingende gesetzliche Vorschriften, Bestimmungen eines anwendbaren Tarifvertrages oder eine Betriebsvereinbarung entgegenstehen (§ 105 GewO).

_____ 748 Der Verkauf selbstgebackenen Brotes durch einen Landwirt kann gewerbsmäßiger Einzelhandel sein (BayObLG BayVBl 1970, 324). 749 Ein mit einer Gärtnerei verbundenes Ladengeschäft ist insoweit Gewerbebetrieb (Einzelhandel), als in ihm nicht selbst erzeugte, zugekaufte Waren feilgeboten werden (OVG Lüneburg BB 1966, 678). 750 BVerwG GewArch 2002, 154; GewArch 2007, 247; OVG NW GewArch 2001, 71 (Laserdrome als Störung wegen Verstoßes gegen Art 1 I GG); siehe auch EuGH Urt v 14.10.2004 – C-36/02 – Omega Spielhallen; Slg 2004, I-9609; krit zu dieser Rspr o Schoch 2. Kap Rn 131. 751 PrOVGE 92, 99, 106 f; E 100, 127; RG RVerwBl 1937, 143; BVerwG DVBl 1965, 768; E 38, 209 (Immissionsschutzrechtliche Anordnung gegen einen Fischereibetrieb zul). – E. R. Huber Wirtschaftsverwaltungsrecht I, 696; Lorenz BB Beilage Nr 19/1973. – Zum Verhältnis von GewO u PolR o Schoch 2. Kap Rn 98. 752 BVerwGE 64, 274; E 84, 314 (Peep Show am Maßstab von § 33a II Nr 2 GewO gemessen, obwohl man angesichts des Verstoßes gegen Art 1 I GG auch die Gewerbsmäßigkeit hätte verneinen können).

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2. Grundlagen gewerberechtlicher Überwachungsmaßnahmen 306 Die behördliche Überwachung der Gewerbebetriebe erfolgt rechtstechnisch mit Hilfe eines abgestuften Instrumentariums und ist an durch die Eigenart der betroffenen Gewerbe bestimmten materiellen Maßstäben orientiert. Wesentliche Instrumente sind die Anzeigepflicht, die Untersagungsermächtigung und das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt.

a) Formales Instrumentarium 307 aa) Anzeigepflichtige Gewerbe. Durch eine Anzeigepflicht soll die Verwaltung einen Überblick darüber gewinnen, wie viele und welche Gewerbebetriebe in ihrem Zuständigkeitsbereich vorhanden sind. Das gilt namentlich dort, wo der Gesetzgeber strengere Überwachungsinstrumente wie ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für unverhältnismäßig hält, zB bei bestimmten Arten des Reisegewerbes (§ 55c GewO) oder bei handwerksähnlichen Gewerben (§ 18 HwO). Neben der grundsätzlich753 für alle stehenden Gewerbebetriebe geltenden und für die gewerberechtliche Überwachung wie für die Gewerbestatistik notwendigen allgemeinen Anzeigepflicht (§§ 14, 15 I, 146 II Nr 2 GewO) 754 hat das Gewerberecht 755 auch vielfältige zusätzliche Anzeigepflichten begründet, zB für Handwerker (§ 16 HwO) und für Gastwirte (§ 4 II GastG). Eine Untersagungsermächtigung gibt der zuständigen Behörde die Befugnis, die Fortset308 zung eines erlaubten oder erlaubnisfreien Gewerbebetriebs aus bestimmten Gründen des öffentlichen Wohls ganz oder zum Teil zu verbieten. Ein allgemeiner Untersagungsvorbehalt besteht nur bei Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden (§ 35 GewO). Daneben gibt es besondere Untersagungsermächtigungen mit spezifischen Anknüpfungspunkten, zB § 59 GewO, § 16 III HwO. 309 bb) Genehmigungspflichtige Gewerbe. Wenn das Gesetz die Ausübung eines Gewerbes oder den Betrieb einer Anlage von einer Erlaubnis (Genehmigung, Konzession, Lizenz) abhängig macht und so eine Erlaubnispflicht begründet, sind die Ausübung des Gewerbes und der Betrieb der Anlage so lange verboten, bis die Erlaubnis erteilt ist. Dieses Verbot mit Erlaubnisvorbehalt hat im Gegensatz zu einem repressiven Verbot mit Befreiungsvorbehalt, mit dem eine an sich unerwünschte Tätigkeit für den Regelfall unterbunden und nur aus besonderen Gründen zugelassen werden soll,756 nur eine formell-rechtliche Bedeutung, denn es dient allein dazu, die Ausübung des betreffenden Gewerbes einer vorbeugenden (präventiven) Kontrolle im Einzelfall zu unterwerfen.757 Aus Art 12 I GG ergibt sich, dass die gewerberechtlichen Erlaubnisse „gebundene“ Erlaub310 nisse sind, dh dass die Behörde bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen die Erlaubnis zu erteilen hat und dass der Antragsteller ein subjektives öffentliches Recht auf diese Erteilung besitzt. Je nachdem, ob sich eine Erlaubnis nur auf den Gewerbetreibenden und seine gewerberechtlich relevanten Eigenschaften bezieht, oder ob sie auch bzw nur eine bestimmte Anlage zum Gegenstand hat, unterscheidet man persönliche und dingliche Erlaubnisse (Personal- und Sachkonzessionen). Der Regelfall ist die raum- oder sachgebundene Personalerlaubnis, bei der die Erlaubnis einem bestimmten Gewerbetreibenden für bestimmte Räume, Anlagen oder Gerätschaften erteilt wird, so dass sowohl ein Wechsel in der Person des Gewerbetreiben-

_____ 753 Ausnahmen gelten für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen, § 4 I 2 GewO. 754 BVerwG GewArch 1993, 196; OVG SL NJW 1992, 2846; ausf Ennuschat in: Tettinger/Wank/Ennuschat, GewO, § 14 Rn 9 ff. 755 Steuerrechtl Anzeigepflicht für gewerbliche Betriebe: §§ 138, 139 AO. 756 Beispiele: Zulassung von Spielbanken (§ 33h Nr 1 GewO; GlüStV); BVerfGE 28, 119; OVG NW GewArch 1968, 89. Vorschriften über die allgem Sperrzeit und deren Verkürzung für einzelne Betriebe (§ 18 I GastG); BVerwG DÖV 1977, 405; NVwZ-RR 1991, 403; NVwZ-RR 1996, 260; BVerwGE 101, 157; BVerwG GewArch 2003, 300. 757 E. R. Huber Wirtschaftsverwaltungsrecht I, 696 ff; Gromitsaris DÖV 1997, 401.

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den 758 als auch ein Wechsel oder eine wesentliche Änderung der Betriebsräume oder Einrichtungen eine erneute Erlaubnispflicht auslöst.759 Die reine Personalerlaubnis, zB die Zulassung zum selbstständigen Betrieb eines Handwerks, ist grundsätzlich 760 an die Person des Erlaubnisempfängers gebunden. Die Erlaubnis wird im Regelfall in Form eines schriftlichen Bescheids erteilt, der neben dem Ausspruch der Gewerbeerlaubnis die für erforderlich gehaltenen Auflagen enthält; in einigen Fällen ist eine besondere urkundliche Form vorgeschrieben, zB die Reisegewerbekarte (§§ 55, 60c GewO) oder die (konstitutive) Erlaubnisurkunde gemäß § 3 II GüKG, Art 3 VO (EG) Nr 1072/2009 (Gemeinschaftslizenz). Eine besondere Gestalt der Erlaubnis ist die Eintragung in ein Register, zB die Eintragung in die Handwerksrolle (§§ 1, 10, 17 HwO). Soweit die Voraussetzungen für die Aufhebung einer erteilten Erlaubnis spezialgesetzlich geregelt sind, wie zB in §§ 33d IV, V GewO, § 15 GastG, sind die Vorschriften der VwVfG über Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten nicht anwendbar. Wird ein erlaubnispflichtiges Gewerbe ohne Erlaubnis ausgeübt, dh ohne Erlaubnis begonnen oder trotz Aufhebung der Erlaubnis fortgesetzt, kann die Fortsetzung des Betriebes durch die zuständige Behörde verhindert werden (§ 15 II GewO).761 Da diese Vorschrift einen allgemeinen gewerberechtlichen Grundsatz normiert, gilt sie nicht nur für stehende Gewerbebetriebe nach der GewO, sondern für alle erlaubnispflichtigen Gewerbe, bei denen eine entsprechende Vorschrift 762 fehlt, zB für die Personenbeförderung. Missverständlich ist freilich, dass § 15 II GewO von der „Verhinderung“ der Fortsetzung des Betriebes spricht und damit die Anwendung von Verwaltungszwang zu gestatten scheint. Richtigerweise ermächtigt er jedoch lediglich zum Erlass einer Stilllegungsverfügung. Dieser Verwaltungsakt stellt die Grundverfügung dar, deren Vollstreckung sich nach den landesrechtlichen Vorschriften richtet. Das Einschreiten nach § 15 II GewO, § 16 III HwO etc steht im Ermessen der Behörde. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt dabei, dass vor dem Einschreiten gegen einen ohne Erlaubnis ausgeübten Gewerbebetrieb (formelle Illegalität) geprüft wird, ob nicht eine nachträgliche Erteilung der Erlaubnis in Betracht kommt, vorausgesetzt, dass der Gewerbetreibende einen Erlaubnisantrag stellt oder eine Entscheidung von Amts wegen möglich ist (zB § 10 I HwO).

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b) Materielle Maßstäbe: Sachkunde, Zuverlässigkeit Die materiellen Anforderungen des Gewerberechts, die als Anknüpfungspunkte für die Unter- 315 sagung eines Gewerbebetriebs oder für die Erteilung und den Widerruf einer Erlaubnis dienen, beziehen sich entweder auf die Person des Gewerbetreibenden oder auf das sachliche Substrat des Gewerbebetriebs. aa) Subjektive Anforderungen. Die wichtigsten subjektiven Anknüpfungspunkte sind 316 Zuverlässigkeit und Sachkunde; für einzelne Gewerbe ist eine bestimmte gesundheitliche Eignung erforderlich.763

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758 Sonderregelungen bestehen für den Betrieb durch Stellvertreter (zB §§ 45, 47 GewO; § 9 GastG) und in Gestalt des „Witwenprivilegs“ (zB § 46 GewO; § 10 GastG). 759 ZB die Konzession einer Privatkrankenanstalt (§ 30 I 2 Nrn 1, 2 GewO); die gaststättenrechtl Erlaubnis (§§ 3 I, 4 I Nr 1, 2 GastG); der Betrieb von Spielgeräten (§ 33c iVm § 33e GewO). 760 Vgl § 4 HwO. 761 H.-J. Odenthal GewArch 2001, 448. – Wird das Gewerbe nach einer Untersagung gem § 35 GewO fortgesetzt, ist im Wege des Verwaltungszwangs vorzugehen. 762 § 16 III, IV HwO – BVerwGE 59, 5; BVerwG GewArch 1979, 96; ThürOVG LKV 2003, 191. 763 § 2 I Nr 7 ApothekenG.

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Unter dem Blickwinkel der Berufsfreiheit (Art 12 I GG) ist das Erfordernis der Sachkunde ( § 34b V GewO; § 33 I 1 Nr 4 KWG; § 3 II 1 GüKG) eine intensivere Beschränkung als das Erfordernis der Zuverlässigkeit und muss daher durch besondere, aus der Eigenart des jeweiligen Gewerbes hervorgehende Gründe gerechtfertigt sein, um dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu genügen. Die Meisterprüfung als Voraussetzung für den selbstständigen Betrieb eines Handwerks (§ 7 I a HwO) genügt grundsätzlich den verfassungsrechtlichen Anforderungen, weil Existenz und Leistungsfähigkeit des Handwerks als eines gemeinschaftsnotwendigen Berufsstandes von diesem besonderen Sachkundenachweis abhängen,764 während im Fall des Einzelhandels die allgemein aufgestellte Voraussetzung einer besonderen Sachkunde eine unverhältnismäßige Einschränkung der freien Berufswahl darstellte.765 Die geläufigste Anforderung, die das Gewerberecht für die Person des Gewerbetreibenden 318 aufstellt, ist die „Zuverlässigkeit“. Die Voraussetzungen dieses gerichtlich voll überprüfbaren, unbestimmten Rechtsbegriffs fehlen, wenn der Gewerbetreibende nach dem Gesamteindruck seines Verhaltens nicht die Gewähr für eine ordnungsmäßige Ausübung seines Gewerbes bietet.766 Dieses Merkmal ist zwar jeweils auf ein bestimmtes Gewerbe bezogen, so dass die dadurch ausgedrückten Anforderungen nicht für alle Gewerbe gleich, sondern je nach der Art des Gewerbes verschieden sind; seine Anforderungen sind aber nicht auf die eigentliche gewerbliche Tätigkeit beschränkt, so dass zB ein Bauunternehmer nicht nur bei einem Versagen auf bautechnischem Gebiet unzuverlässig ist, sondern auch dann, wenn seine Betriebsführung einen „Mangel an wirtschaftlichem und sozialem Verantwortungsbewusstsein“ offenbart.767 Das ist etwa dann der Fall, wenn der Gewerbetreibende hartnäckig und in erheblicher Weise die für seine Betriebsführung einschlägigen gesetzlichen Verpflichtungen verletzt oder der allgemeinen Strafrechtsordnung zuwiderhandelt. Ist eine Bestrafung erfolgt, darf sich die Behörde nicht mit dem Strafregisterauszug oder dem Strafausspruch als solchem begnügen, sondern muss den dem Strafurteil zugrundeliegenden Sachverhalt selbst gewerberechtlich würdigen (§ 35 III GewO). 768 Typische Fälle fehlender Zuverlässigkeit liegen vor, wenn der Gewerbetreibende nachhaltig seinen steuerlichen Verpflichtungen nicht nachkommt oder er fortlaufend die Sozialversicherungsbeiträge der bei ihm Beschäftigten nicht abführt.769 Unzuverlässig ist ein Gastwirt, der in seinen Räumen die Begehung strafbarer Handlungen duldet.770 Der Begriff der Zuverlässigkeit ist auf den beabsichtigten oder ausgeübten Gewerbebetrieb und auf dessen Betriebsart ausgerichtet, so dass die Unzuverlässigkeit nicht unbedingt einen charakterlichen Mangel des Gewerbetreibenden voraussetzt.771 Wo das Gesetz keine Sachkunde fordert, kann ihr Fehlen keine Unzuverlässigkeit begründen.772 319 Für die Beurteilung der Zuverlässigkeit kommt es nicht auf ein moralisches oder strafrechtliches Verschulden, sondern auf eine (gewerbe)polizeiliche Zurechnung an, dh darauf, ob nach dem bisherigen Verhalten des Gewerbetreibenden damit zu rechnen ist, dass er im Zusammenhang mit seiner gewerblichen Tätigkeit die öffentliche Sicherheit und Ordnung verlet-

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764 BVerfGE 13, 97; VGH BW DVBl 1998, 539; siehe allerdings BVerfG JZ 2007, 354 (Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Meisterzwangs nach der alten HwO); krit Frenz JZ 2007, 343. 765 BVerfGE 19, 330 (Nachweis der Sachkunge für Einzelhandel mit Waren aller Art [mit Ausnahme der im EzHdlG § 3 III 2 genannten Waren] verletzt Art 12 I GG); E 34, 71 (fehlende Möglichkeit, Erlaubnis für den Einzelhandel mit Lebensmitteln auf bestimmte Warenarten zu beschränken, verletzt Art 12 I GG iVm Art 3 I GG). 766 BVerwGE 65, 1. – Laubinger/Repkewitz VerwArch 89 (1998), 145, 337, 609. 767 BVerwG DÖV 1958, 548; E 36, 288 (Verkehrsdelikt in der Freizeit begründet nicht Unzuverlässigkeit eines Güterkraftverkehrsunternehmers). 768 BVerwG VerwRspr 16, 983; DVBl 1966, 443; GewArch 1991, 195 (zu § 24 II LuftVZO). 769 BVerwGE 23, 280; E 28, 202; E 65, 1 – Stukkateur; BVerwG NVwZ 1988, 432; DÖV 1992, 218; NVwZ 1997, 278, 280; VGH BW GewArch 1991, 69; OVG NW NVwZ-RR 2011, 553; Forkel GewArch 2004, 53. 770 BVerwG JZ 1978, 642; OVG Bremen NVwZ-RR 2010, 102. 771 BVerwGE 39, 247; BVerwG DÖV 1973, 822. 772 BVerwGE 22, 286 (keine Unzuverlässigkeit wegen fehlender astrologischer Kenntnisse).

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zen und dadurch eine Gefährdung von Rechtsgütern der Allgemeinheit oder Einzelner herbeiführen wird.773 Die Unzuverlässigkeit kann daher auch aus weit zurückliegenden Straftaten 774 und selbst aus Tatsachen gefolgert werden, die vor Beginn der Gewerbeausübung liegen,775 sofern sie für die Einschätzung des künftigen Verhaltens eine Bedeutung haben können. Daraus ergibt sich weiterhin, dass auch die fehlende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bei bestimmten Gewerben die Unzuverlässigkeit begründen kann.776 Schließlich kann sich eine Unzuverlässigkeit auch daraus ergeben, dass der Gewerbetreibende einem Dritten (insbesondere dem Ehegatten), der die für das Gewerbe erforderliche Zuverlässigkeit nicht besitzt, Einfluss auf den Gewerbebetrieb einräumt oder nicht willens oder nicht in der Lage ist, einem solchen Einfluss zu widerstehen (sog Strohmannverhältnis).777 Die Zuverlässigkeit ist eine häufige Erlaubnisvoraussetzung,778 die Unzuverlässigkeit da- 320 gegen Voraussetzung für die Rücknahme oder den Widerruf für eine erteilte Erlaubnis, zB §§ 15 II iVm § 4 I Nr 1 GastG,779 § 3 V GüKG. Soweit ein Gewerbe keiner Erlaubnispflicht unterliegt,780 gilt die allgemeine Ermächtigung 321 für die Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit nach § 35 GewO.781 Sie ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, denn sie verbietet dem Betroffenen für die Dauer ihrer Wirksamkeit, das Gewerbe auszuüben. Wegen des Antragserfordernisses in § 35 VI GewO sind Änderungen der Sach- oder Rechtslage nach dem Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung bei der gerichtlichen Anfechtung einer Untersagungsverfügung allerdings nicht zu berücksichtigen.782 Der Gewerbetreibende muss eine ihm günstige Änderung der Verhältnisse vielmehr zunächst durch einen Wiedergestattungsantrag bei der Behörde geltend machen. Maßnahmen, wie die Schließung der Betriebs- oder Geschäftsräume oder die Wegnahme der Arbeitsmittel, mit denen die Ausübung des untersagten Gewerbes verhindert werden soll, vollziehen die Gewerbeuntersagung, sind also Maßnahmen des Verwaltungszwangs.783 Die Beurteilung der persönlichen Zuverlässigkeit und Sachkunde erfolgt ausschließlich im 322 öffentlichen Interesse. Individualinteressen sind insoweit nicht betroffen, so dass Dritte Erlaubnisse wegen Fehlens dieser Voraussetzungen grundsätzlich nicht anfechten oder daraus gar einen Anspruch auf behördliches Einschreiten ableiten können.784

_____ 773 BVerwGE 36, 288; DÖV 1985, 834; OVG Lüneburg GewArch 1962, 269; OVG Bremen NVwZ-RR 2010, 102. 774 BVerwG GewArch 1993, 414; GewArch 1995, 116. 775 BVerwGE 24, 34 (Keine Untersagung eines Großhandels mit Gärtnereibedarf, w die Untersagungsmöglichkeiten nachträglich verschärft werden, der Gewerbetreibende den Tatbestand des § 35 GewO aber nicht mehr erfüllt – arg e § 1 II GewO); E 24, 38 (Gegenüber einem Gewerbetreibenden, der nach Inkrafttreten neuen Rechts den Betrieb eines Großhandels mit Elektro-, Fernsehgeräten angefangen hat, ist es dagegen zulässig, die nach neuem Recht mögliche Gewerbeuntersagung auch allein auf Straftaten zu stützen, die er während der Geltung des früheren Rechts begangen hat). 776 BVerfG NVwZ 1995, 1096; BVerwGE 22, 16; VGH BW GewArch 69, 33; BayVGH GewArch 1979, 37; HbgOVG GewArch 1994, 286; OVG NW NVwZ-RR 2011, 553, 554. 777 BVerwGE 9, 222; E 65, 12; BayVGH BayVBl 1964, 375; GewArch 1980, 334. – Zu den Grenzen bzgl „Strohmannverhältnis“ BVerwG NVwZ 2004, 103; ausf Ennuschat in: Tettinger/Wank/Ennuschat, GewO, § 35 Rn 107 ff. 778 §§ 30 I 2 Nr 1, 33d III, 34a I 3 Nr 1, 34b IV Nr 1 GewO; § 4 I Nr 1 GastG; § 2 I Nr 4 ApothekenG; § 13 I Nr 2 PBefG, § 3 II GüKG iVm Art. 3 I lit b VO (EG) Nr 1071/2009. 779 Widerruf einer Gaststättenerlaubnis BVerwG DÖV 1977, 406 und JZ 1978, 642 (§ 15 II iVm § 4 I Nr 1 GastG). 780 Das gilt auch für die besonders überwachungsbedürftigen Gewerbe nach § 38 GewO. 781 BVerwGE 65, 1; GewArch 1982, 298, 299, 301 u 303; DÖV 1993, 618; NVwZ 1994, 374; BayVGH GewArch 1992, 191. – Klein FS Partsch, 1989, 425; Laubinger VerwArch 89 (1998), 145, 337. 782 BVerwGE 65, 1; BVerwG GewArch 1991, 110; GewArch 1994, 114; GewArch 1995, 200; GewArch 1996, 24; OVG NW NVwZ-RR 2011, 553, 554. 783 Laubinger/Repkewitz VerwArch 89 (1998), 609; Kempen NVwZ 1999, 360; Ennuschat in: Tettinger/Wank/Ennuschat, GewO, § 35 Rn 200. 784 VGH BW GewArch 1988, 240.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

323 bb) Objektive Anforderungen. Als objektive Bedingungen für die Ausübung eines Gewerbes fordert das Gesetz etwa die Eignung von Betriebsräumen785 oder der Betriebseinrichtung 786 für den beabsichtigten Gewerbebetrieb oder auch den Nachweis eines bestimmten Betriebskapitals, wenn das fragliche Gewerbe den Kunden in besonderer Weise von der Solvenz des Gewerbetreibenden abhängig macht.787

c) Weitere Anforderungen 324 Grundanliegen des Gewerberechts ist die Verhinderung von Gefahren oder Nachteilen, die von der Ausübung eines Gewerbes für das öffentliche Interesse oder für die schutzwürdigen Belange der Arbeitnehmer und des Publikums ausgehen können. Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, darüber zu befinden, ob und in welcher Weise eine gewerbliche Tätigkeit zum Schutz von Gemeininteressen oder von Rechten Dritter durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes beschränkt werden soll. Über die „gewerbepolizeiliche“ Gefahrenabwehr hinaus können dabei auch Belange des Verbraucherschutzes oder sozialpolitische Ziele, wie im Recht des Ladenschlusses,788 zur Geltung kommen. Der verfassungsrechtlich gewährleistete Schutz von Sonnund Feiertagen (Art 140 GG, Art 139 WRV) kann nach näherer gesetzlicher Regelung das Verbot von Tätigkeiten umfassen, die mit der verfassungsrechtlich festgelegten Zweckbestimmung des Sonn- und Feiertages nicht vereinbar sind.789

3. Einzelne gewerberechtliche Erlaubnisse a) Stehendes Gewerbe, Reisegewerbe, Marktverkehr 325 Die GewO unterscheidet nach der Art der Gewerbeausübung stehendes Gewerbe (Titel II), Reisegewerbe (Titel III) und Marktverkehr (Titel IV). 326 aa) Stehendes Gewerbe. Grundform der Gewerbetätigkeit ist der stehende Gewerbebetrieb, der von einer gewerblichen Niederlassung (§ 4 III GewO) aus betrieben wird. Er erfasst jede Gewerbeausübung, die nicht Reisegewerbe oder Marktverkehr ist, wobei sich die Abgrenzung an dem besonderen Zweck orientiert, der mit der Sonderregelung für das Reisegewerbe 790 verfolgt wird. Wesentliches Charakteristikum des stehenden Gewerbes ist insoweit, dass hier die Kunden um Angebote nachsuchen. Der stehende Gewerbebetrieb ist grundsätzlich bloß anzeigepflichtig (§ 14 GewO) 791 und 327 nur nach besonderer Bestimmung (§§ 30 ff GewO – „Gewerbetreibende, die einer besonderen Genehmigung bedürfen“ – sowie Nebengesetze) erlaubnispflichtig. 328 bb) Reisegewerbe. Im Unterschied zum stehenden Gewerbebetrieb geht die Initiative zur Erbringung der Leistung beim Reisgewerbe vom Anbietenden aus.792 Die sich in einer intensiven

_____ 785 § 30 I 2 Nr 2-4 GewO; § 4 I Nr 2, 2a, 3 GastG; §§ 2 I Nr 6, 21 ApothekenG. 786 § 33e GewO; § 13 I Nr 1 PBefG. 787 §§ 34 I 3 Nr 2, 34a I 3 Nr 2, 34b IV Nr 2 GewO; §§ 33 I 1 Nr 1, 10, 10a, 10b KWG. 788 BVerfGE 111, 10 – LadSchlG o JK, GG Art 12 I/74; BW LadÖG, BerlLadÖffG, LÖG NW etc. 789 BVerfGE 125, 39 – § 3 Abs 1 LÖG Bln o JK GG Art 140/6 (Adventssonntagsregelung für die Ladenöffnungszeiten in Berlin mit Art 4 I und II iVm Art 140 GG und Art 139 WRV unvereinbar), dazu Wißmann/Heuer JURA 2011, 214; BVerwGE 79, 118; E 90, 337; OVG RP GewArch 1993, 16. – Kästner DÖV 1994, 464. 790 BGH NJW 1980, 1585; BayObLG GewArch 1979, 167; Ennuschat in: Tettinger/Wank/Ennuschat, GewO, Vor § 64 Rn 1. 791 Die gesetzl Statuierung der Anzeigepflicht schließt die Ermächtigung für die Behörde ein, die Anzeige nach Vordruck zu verlangen (BVerwG NJW 1977, 772). Auf die Erteilung der Anmeldebestätigung gem § 15 I GewO kann der Anzeigepflichtige verzichten (BVerwGE 38, 160).

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VIII. Gewerberecht – 3. Kapitel

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Gewerbeüberwachung (§§ 56, 57, 59, 60c GewO) äußernde besondere Kontrollbedürftigkeit knüpft an das Merkmal an, dass eine Gewerbeausübung außerhalb oder ohne eine gewerbliche Niederlassung „ohne vorhergehende Bestellung“ erfolgt (§ 55 I GewO). Schutzzweck der Vorschrift ist es, die Verbraucher vor unlauteren Geschäftsmethoden zu schützen. Das Reisegewerbe ist deshalb grundsätzlich erlaubnispflichtig (§ 55 II GewO: „Reisegewerbekarte“) und nur ausnahmsweise erlaubnisfrei (§§ 55a, 55b GewO). Bei diesen reisegewerbekartenfreien Tätigkeiten verlangt das Gesetz lediglich eine Anzeige (§ 55c GewO). Die Sonderstellung des ambulanten Gewerbes ist im Laufe der Zeit allerdings abgeschwächt und das Reisegewerbe „von nicht mehr zeitgemäßen Beschränkungen“ befreit worden.793 cc) Marktverkehr. Das Recht der Messen, Ausstellungen und Märkte ist durch die Föderalis- 329 musreform I des Jahres 2006 in die Zuständigkeit der Länder übergegangen (Art 74 I Nr 11 GG). Solange diese von ihrer neu gewonnenen Zuständigkeit jedoch keinen Gebrauch machen, gelten die Vorschriften der §§ 64 ff GewO fort (Art 125a I GG). Der Marktverkehr 794 ist durch den Grundsatz der Marktfreiheit privilegiert (§ 70 I GewO). Das bedeutet, dass Besuch, Kauf und Verkauf der zum Marktverkehr zugelassenen Waren 795 auf den festgesetzten Messen, Ausstellungen und Märkten (§ 69 GewO) von administrativer Beschränkung grundsätzlich frei sind, dh den Erlaubnis- und Anzeigepflichten des Gewerberechts, insbesondere der Titel II und III der GewO, nicht unterliegen. Im Marktverkehr entfallen daher ua die Anzeigepflicht (§ 14 GewO) und das Erfordernis der Reisegewerbekarte (§ 55 II GewO). Dem Veranstalter eines festgesetzten Volksfestes steht bei der Auswahl der Art der zuzulassenden Geschäfte ein weiter Spielraum zu; allerdings darf die allen geeigneten Bewerbern zukommende Zulassungschance nicht durch eine jahrelange und ausschließliche Vergabe der Stellplätze nach dem Grundsatz „bekannt und bewährt“ leer laufen (§ 70 I, III GewO).796 Ggf kann sich aus § 70 GewO iVm Art 3 I und 12 I GG ein „Konkurrentenverdrängungsanspruch“ eines leer ausgegangenen Bewerbers ergeben.797

b) Handwerk Das Handwerk nahm seit jeher in mehr oder weniger ausgeprägter Weise eine Sonderstellung 330 im Rahmen des Gewerberechts ein. Die Entwicklung zu einem besonderen Handwerksrecht erfolgte zunächst durch verschiedene Novellen zur GewO, hauptsächlich durch die Handwerkernovelle v 26.7.1897, auf welche die früher in Titel VI behandelten Handwerkskammern zurückgehen, und durch die Handwerksnovelle v 11.2.1929, die die Handwerksrolle einrichtete (vormals Titel VI a). Mit dem Gesetz zur Ordnung des Handwerks (Handwerksordnung) v 28.12.1965 kam es schließlich auch gesetzestechnisch zu einer Verselbstständigung des Handwerksrechts. Die HwO gilt heute idF v 24.9.1998.798

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792 BVerfG GewArch 2000, 480. 793 RegE BT-Drs 10/1125; Ausschussbericht BT-Drs 10/1646. – Schönleiter GewArch 1984, 317. 794 Das Recht des Marktverkehrs ist durch das G zur Änderung des Titels IV und anderer Vorschriften der GewO v 5.6.1976 (BGBl I 1773) durchgreifend umgestaltet worden. RegE, BT-Drs 7/3859; Ausschussbericht, BT-Drs 7/4846. – Wirth Marktverkehr, Marktfestsetzung, Marktfreiheit, 1985; Frotscher/Kramer Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, Rn 332 ff; Ennuschat in: Tettinger/Wank/Ennuschat, GewO, Vor § 64 Rn 1. 795 Zu Volksfesten vgl § 60b GewO. 796 BayVGH GewArch 1991, 230 (Erlanger Bergkirchweih); NdsOVG NJW 2003, 531 o JK GewO § 70/1; NdsOVG NdsVBl 2012, 238; Schalt GewArch 2002, 137; Heitsch GewArch 2004, 225, 228; Braun NVwZ 2009, 747, 750 f. 797 NdsOVG NdsVBl 2010, 81 o JK GewO § 70/3. 798 BGBl I 1998, 3074. – Honig Handwerksordnung, 4. Aufl 2008; Detterbeck Handwerksordnung, 4. Aufl 2008; Kolb GewArch 1998, 217; Schwannecke/Heck GewArch 1998, 305; Czybulka NVwZ 2000, 136; Hahn GewArch 2001, 441; Leisner GewArch 2001, 1, 51; Webers WiVerw 2001, 260. – Zur HwO-Novelle 2004 Schwannecke/Heck GewArch 2004, 129; Kormann/Hüpers GewArch 2004, 353; M. Müller NVwZ 2004, 403; Beaucamp DVBl 2004, 1458; Zwischenbilanz bei Wiemers/Sonder DÖV 2011, 104.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

331 aa) Anwendungsbereich. Ein Gewerbebetrieb ist ein Handwerksbetrieb, wenn er eines der in der Positivliste (Anlage A zur HwO) aufgeführten Gewerbe (Handwerk) zum Gegenstand hat und wenn er handwerksmäßig ausgeübt wird (§ 1 II HwO). Die Positivliste knüpft an die tatsächlich bestehenden Verhältnisse an, insbesondere an die traditionellen Berufsbilder des Handwerks, und berücksichtigt dabei die typischen Besonderheiten der einzelnen handwerklichen Gewerbe. Erweiterungen der Positivliste sind dem Gesetzgeber vorbehalten.799 Die Änderung der Positivliste zum 1.1.2004 hat die dort aufgeführten Gewerbe durchforstet und auf 41 um mehr als die Hälfte reduziert. Die Beurteilung, ob eine bestimmte gewerbliche Tätigkeit ein Handwerk zum Gegenstand 332 hat, bringt idR keine Schwierigkeiten mit sich.800 Da die Qualifizierung eines Gewerbebetriebes als Handwerksbetrieb jedoch die besonderen Zulassungsvoraussetzungen und Pflichten der HwO zur Folge hat – Meisterprüfung (Rn 366 f), Eintragung in die Handwerksrolle, Zwangsmitgliedschaft in der Handwerkskammer – wird die Frage dann praktisch bedeutsam, wenn sich ein Gewerbetreibender weigert, die Eintragung in die Handwerksrolle zu beantragen oder wenn er die Löschung aus der Handwerksrolle begehrt. 333 Die Ausübung eines nichthandwerklichen Gewerbes kann sich durch Tätigkeiten, die sich für das betreffende Handwerk nur als untergeordnet darstellen, mit einem Handwerk überschneiden. Ein solcher Gewerbebetrieb wird dadurch aber nicht zum Handwerksbetrieb.801 Dabei ist – wie bei der Abgrenzung zum „Minderhandwerk“ – der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen.802 Probleme bereitet immer wieder, ob ein Handwerk handwerksmäßig betrieben wird. Für 334 die Abgrenzung zur industriellen Betriebsweise ist dabei die Rolle ausschlaggebend, die der Gebrauch von Maschinen im Betrieb spielt.803 Die industrielle Betriebsweise ist dadurch gekennzeichnet, dass die erbrachte Arbeitsleistung einem von maschinellen Fertigungs- und Behandlungsvorgängen bestimmten technischen Prozess ihre Prägung verdankt, so dass sich die Kenntnisse und Fertigkeiten des Betriebspersonals nicht unmittelbar auf den Arbeitsgegenstand, sondern auf die technische Wirkungsweise der maschinellen Hilfsmittel beziehen. Für eine industrielle Betriebsweise spricht es ebenfalls, wenn die Verwendung von Maschinen keinen Raum lässt für die Entfaltung von Handfertigkeit, und es im Wesentlichen auf die Bedienung der Maschinen ankommt. Dagegen deutet auf eine handwerksmäßige Betriebsweise hin, wenn die Maschinen nur zur Erleichterung der Arbeit und zur Unterstützung der Handfertigkeit dienen, eine einwandfreie und fachgerechte Arbeitsleistung ohne qualifizierte Handarbeit jedoch nicht erreicht werden kann. Es kommt somit weniger auf das Ausmaß der Verwendung von technischen Hilfsmitteln und auf die Betriebsgröße als solche an, als auf die Funktion der Maschinen für die Arbeitsweise des Betriebs und den Zusammenhang der Betriebsgröße und

_____ 799 BVerwG GewArch 1994, 199. 800 BVerwG GewArch 1979, 377 (Fassadenverkleidung als Bestandteil des Dachdeckerhandwerks); GewArch 1979, 305 (das praxiseigene Labor des Zahnarztes ist grds nicht Ausübung des Zahntechniker-Handwerks); BayObLG DÖV 1987, 548 (gewerbsmäßige Restaurierung alter Möbel ist idR nicht als – eigenschöpferische – künstlerische Tätigkeit höherer Art, sondern als Handwerksausübung zu bewerten); VGH BW GewArch 1993, 418 (Machinenbaumechaniker – Abgrenzung zum maschinellen Maschinenbau); BSG GewArch 1999, 76 (Ledertaschenherstellung – Abgrenzung zur Kunst); BVerfG NVwZ 2001, 187 (Elektriker – Abgrenzung zum Einzelhandel); NdsOVG NVwZ-RR 2010, 639 (Steinmetz – Abgrenzung zum Handel mit Grabmalen); BVerwG NVwZ-RR 2012, 23 (Dachdecker und Bauwerksabdichter). 801 Das Anlegen von befahrbaren Wegen und (Park-)Plätzen im Zusammenhang mit (landschafts-)gärtnerisch geprägten Anlagen gehört zum Berufsbild des nichthandwerklichen Gewerbes des Garten- und Landschaftsbauers; insoweit überschneiden sich die Berufsbilder dieses Gewerbes und des Straßenbauer-Handwerks (BVerwG GewArch 1993, 329). 802 BVerfG NVwZ 2001, 187 o JK GG Art 12 I/56 – Elektrohandwerk; dazu Bespr Mirbach NVwZ 2001, 161. 803 Grdl VGH BW GewArch 1993, 418; ferner Czybulka NVwZ 1995, 538, 541; Mallmann GewArch 1996, 89, 90; Degenhart DVBl 1996, 551; Leisner GewArch 1997, 393; Schlarmann/Niewerth DVBl 1999, 375.

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Betriebsorganisation mit der Wirkungsweise der maschinellen Arbeitsprozesse. Die Abgrenzung kann letztlich nur nach den Umständen des Einzelfalles und dem Gesamtcharakter des Betriebes erfolgen, wobei auch die Arbeitsteilung zwischen unternehmerischer Leitung und technischer Tätigkeit sowie das Ausmaß des Kapitaleinsatzes ins Gewicht fallen. Eine wesentliche Konsequenz der den Handwerksbetrieb kennzeichnenden persönlichen Leistung des selbstständigen Handwerksmeisters ist das Gebot der „Meisterpräsenz“ im Betrieb und die Notwendigkeit, dass der Betriebsleiter der ein Handwerk betreibenden juristischen Person (§ 7 I 1 HwO) die fachlichtechnische Leitung des Handwerksbetriebs innehaben muss.804 bb) Eintragung in die Handwerksrolle und Überwachung. Voraussetzung für den selbstständigen Betrieb eines Handwerks als stehendes Gewerbe ist die Eintragung in die Handwerksrolle, die von der Handwerkskammer als ein Verzeichnis der selbstständigen Handwerker ihres Bezirks geführt wird (§§ 6 ff HwO). Die Eintragung in die Handwerksrolle entspricht der Erteilung einer gewerblichen Erlaubnis; sie ist personen-, nicht betriebsbezogen.805 Die Entscheidung über die Eintragung ist ein Verwaltungsakt, gegen den auch die IHK klagebefugt ist (§ 12 HwO). Das gleiche gilt für die Mitteilung, dass die Eintragung oder die Löschung der Eintragung beabsichtigt sei (§§ 11, 13 III HwO).806 Die Eintragung in die Handwerksrolle stellt für die Frage, ob der Eingetragene selbstständiger Handwerker ist, eine die Innung bindende Feststellung dar (§ 58 HwO).807 Voraussetzung für die Eintragung in die Handwerksrolle – und damit für die Zulassung zum Beruf des selbstständigen Handwerkers – ist grundsätzlich der Befähigungsnachweis in Form der Meisterprüfung in dem zu betreibenden oder einem diesem verwandten Handwerk (§§ 7 Ia, 45 ff HwO).808 Im Interesse eines geordneten und einheitlichen Meisterprüfungswesen kann durch Rechtsverordnung bestimmt werden, welche Tätigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten den einzelnen Handwerken zuzurechnen (Berufsbild) und welche Anforderungen in der Meisterprüfung zu stellen sind (§ 45 HwO). Das „Berufsbild“ zahlreicher Handwerke ist auf diesem Wege fixiert worden. Die gemäß § 7 II 6 HwO erlassene HwREintrV809 legt fest, welche anderen Prüfungen der Meisterprüfung für die Ausübung des betreffenden Handwerks gleichartig sind. Am großen Befähigungsnachweis im Handwerk durch den „Meisterbrief“ hat der Gesetzgeber ungeachtet vielfältiger Kritik bis heute festgehalten.810 Nach der Rechtsprechung des BVerfG stellt diese subjektive Berufszulassungsschranke grundsätzlich auch keine Verletzung der Berufsfreiheit (Art 12 I GG) dar, obwohl die durch ihre Europäisierung geforderten Relativierungen (Rn 340) die sie rechtfertigenden Belange des Verbraucherschutzes und der Lehrlingsausbildung unter Verhältnismäßigkeitsaspekten zunehmend fraglich erscheinen lassen.811 Der selbstständige Betrieb eines handwerksähnlichen Gewerbes unterliegt nicht der Pflicht zur Eintragung in die Handwerksrolle, sondern nur einer besonderen Anzeigepflicht (§ 18

_____ 804 BVerwGE 88, 122; VG Göttingen GewArch 1994, 423. – Badura GewArch 1992, 201; Schmitz WiVerw 1999, 88. 805 VGH BW DÖV 2002, 170. 806 BVerwGE 88, 122. 807 BVerwG DÖV 1988, 346. 808 Die Aufzählung der „verwandten“ Handwerke in der Anlage zu der VO über verwandte Handwerke v 18.12. 1968 (BGBl I 1355) zul geänd am 22.6.2004 (BGBl I 1314) ist abschließend (BVerwG GewArch 1994, 115). 809 Verordnung über die Anerkennung von Prüfungen für die Eintragung in die Handwerksrolle v 29.6.2005 (BGBl I 1935). 810 Initiativentwurf für das Zweite ÄndGHandwO, BT-Drs 13/9388; Antwort der BReg auf eine Kleine Anfrage, BTDrs 13/10676. 811 BVerfGE 13, 97; BVerfG JZ 2007, 354; BVerwG NVwZ-RR 2012, 23 Tz 28 ff (m Bespr Wiemers NVwZ 2012, 284 u Grünewald NVwZ 2012, 736); allgemein zu den grundrechtlichen Konsequenzen der Inländerdiskriminierung Huber Recht der Europäischen Integration, § 17 Rn 74 ff.

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HwO; Anlage B zur HwO). Die Inhaber eines zulassungsfreien Handwerks oder handwerksähnlichen Gewerbes sind in ein Verzeichnis aufzunehmen, das die Handwerkskammer führt und dessen Einzelheiten sich aus Anlage D zur HwO ergeben (§ 19 HwO). Das gilt nicht für den Nebenbetrieb eines zur Industrie- und Handelskammer gehörenden Unternehmens.812 In besonderen Fällen kann die Eintragung in die Handwerksrolle auch ohne Meisterprü339 fung mithilfe einer Ausnahmebewilligung bzw einer Gleichwertigkeitsfeststellung erreicht werden (§§ 7 III, 8, 9, 50b HwO). Diese Regelung durchbricht nicht die Bedingung des Befähigungsnachweises, sondern nur den Grundsatz, dass dieser Nachweis gerade durch die Meisterprüfung zu erbringen ist.813 Die Ausnahmetatbestände sind wegen der mit dem großen Befähigungsnachweis verbundenen empfindlichen Eingriffe in die Freiheit der Berufsausübung „grundrechtsfreundlich“, dh großzügig auszulegen und anzuwenden. Die Ablegung der Meisterprüfung ist für den Antragsteller unzumutbar, wenn die mit ihr verbundene Belastung nach den Umständen des Einzelfalls deutlich höher ist als im Regelfall. Dabei ist der persönlichen und familiären Situation des Bewerbers Rechnung zu tragen.814 Für Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten wird die Ausnahmebewilligung auf der 340 Grundlage von § 9 HwO durch die EU/EWR-HwV815 geregelt, die die BerufsanerkennungsRL 2005/ 36/EG umsetzt.816 Die Niederlassungs- (Art 49 AEUV) und die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) stehen der materiellen Anforderung des großen Befähigungsnachweises nicht entgegen. Doch darf die Verrichtung handwerklicher Tätigkeiten für Angehörige anderer Mitgliedstaaten der EU nicht von einem Verfahren zur Erteilung der Erlaubnis abhängig gemacht werden, das geeignet ist, die Ausübung dieser Freiheiten zu verzögern oder zu erschweren, nachdem die Voraussetzungen für die Aufnahme der betreffenden Tätigkeiten bereits geprüft worden sind und festgestellt worden ist, dass die Voraussetzungen erfüllt sind.817 Wird der selbstständige Betrieb eines Handwerks als stehendes Gewerbe entgegen den Vor341 schriften der HwO ausgeübt, kann die Fortsetzung des Betriebs untersagt und die Ausübung des untersagten Gewerbes durch Betriebsschließung verhindert werden (§ 16 III, IV HwO). Die Untersagung eines Handwerksbetriebs führt zur Löschung in der Handwerksrolle.818 342 cc) Berufsausbildung. Die Berufsbildung im Handwerk und vor allem die Ausbildung der Lehrlinge und der Gesellen ist eine wesentliche Aufgabe der Handwerksbetriebe. Sie ist 2005 eingehend neu geregelt worden (§§ 21 ff HwO).819 Im Interesse einer geordneten und einheitlichen Berufsausbildung kann das BMWi im Einvernehmen mit dem BMBF für die in Anlage A und B aufgeführten Gewerbe durch eine – nicht zustimmungspflichtige – Rechtsverordnung Ausbildungsberufe staatlich anerkennen und entsprechende Ausbildungsordnungen erlassen. Die Regelung und Überwachung der Berufsausbildung gehört zu den Aufgaben der Handwerkskammern (§ 91 I Nr 4 bis 7 HwO) und der Innungen (§ 54 I Nr 3 bis 6 HwO).

_____ 812 BVerwG GewArch 1994, 248. 813 BVerwG GewArch 1993, 121; GewArch 1994, 250; DÖV 1995, 648; VGH BW VBlBW 1998, 315, 316. – Heck GewArch 1995, 217. 814 BVerwGE 115, 70 – Bäcker. 815 VO über die für Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der EU oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz geltenden Voraussetzungen für die Ausübung eines zulassungspflichtigen Handwerks v 20.12.2007 (BGBl I 3075). 816 Krit dazu Frenz DVBl 2007, 347 817 EuGH Urt v 3.10.2000 – C-58/98 – Josef Costen, Slg 2000, I-7919 = EuZW 2000, 763 (m Anm Früh) o JK EGV Art 49/4; EuGH Urt v 11.12.2003 – C-215/01 – Bruno/Schnitzer – Slg 2003, I-14847 o JK EGV Art 49/9. – Stork WiVerw 2001, 229. – Diefenbach GewArch 2001, 353; Streinz JuS 2001, 388. 818 BVerwG BayVBl 1993, 439. 819 Art 2 BerufsbildungsreformG v 23.3.2005 (BGBl I 931).

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c) Gaststättengewerbe Wie das Recht der Messen, Ausstellungen und Märkte sowie das Ladenschlussrecht, so hat die Föderalismusreform I auch das Gaststättenrecht aus der Gesetzgebungskompetenz nach Art 74 I Nr 11 GG herausgelöst und in die Hände der Länder gelegt, die das GastG insoweit ablösen können (Art 125a I GG). Praktische Auswirkungen hat dies bislang vor allem bei der Regelung des Nichtraucherschutzes in Gaststätten gehabt, der von allen Ländern in spezifischen Gesetzen geregelt worden ist.820 Soweit es an landesrechtlichen Regelungen fehlt, findet das GastG bis auf weiteres Anwendung. Das GastG 821 begründet eine Erlaubnispflicht (§ 2 GastG) für den Betrieb einer Schankwirtschaft, einer Speisewirtschaft und eines Beherbergungsbetriebs im stehenden Gewerbe (§ 1 I GastG) sowie für den Tatbestand, dass jemand als selbstständiger Gewerbetreibender im Reisegewerbe von einer für die Dauer der Veranstaltung ortsfesten Betriebsstätte aus Getränke oder zubereitete Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle verabreicht (§ 1 II GastG). Ein Gaststättengewerbe liegt vor, wenn der Betrieb jedermann oder auch nur bestimmten Personenkreisen zugänglich ist. Der Verkauf von Flaschenbier nach Ladenschluss und außerhalb der Abgabe von Reisebedarf in einem aus Tankstelle, Selbstbedienungsgetränkemarkt und Stehausschank bestehenden Mischbetrieb unterliegt den Vorschriften des GastG.822 Verschiedene Formen des Gaststättengewerbes sind von der Erlaubnispflicht ausgenommen, zB die Verabreichung unentgeltlicher Kostproben, zubereiteter Speisen und alkoholfreier Getränke (§ 2 II GastG) sowie die Erbringung gastgewerblicher Leistungen anlässlich der Beförderung von Personen durch Verkehrsunternehmen, nicht mehr jedoch in Bahnhofsgaststätten (§ 25 II GastG). Der Verkauf von Getränken, zubereiteten Speisen, Tabak- und Süßwaren von einer Schank- oder Speisewirtschaft aus „über die Straße“ zum alsbaldigen Verzehr oder Verbrauch ist als „Gassenschank“ Bestandteil des Gaststättengewerbes und nicht zusätzlich Ausübung von Einzelhandel (§ 7 II GastG). Die Erlaubnis ist für eine bestimmte Betriebsart und für bestimmte Räume zu erteilen und deshalb eine raumgebundene Personalerlaubnis (§ 3 I 1 GastG). Die gesetzlichen Voraussetzungen der Erlaubniserteilung erstrecken sich auf die Zuverlässigkeit des Antragstellers,823 die ordnungsgemäße Beschaffenheit der für die Gewerbeausübung vorgesehenen Räume, die im Hinblick auf die örtliche Lage des Betriebs oder auf die Verwendung der Räume sonst berührten öffentlichen Interessen und den Nachweis lebensmittelrechtlicher Kenntnisse. Dieses Erfordernis, das der Antragsteller durch eine Bescheinigung der zuständigen IHK erfüllen muss, mit der er nachweist, dass er oder sein Stellvertreter über die Grundzüge der für den in Aussicht genommenen Betrieb notwendigen lebensmittelrechtlichen Kenntnisse unterrichtet worden ist und mit ihnen als vertraut gelten kann (§ 4 I Nr 4 GastG), ist die berufsrechtlich bedeutsamste Anforderung an die Erlaubniserteilung; die Erwägungen über Art und Umfang dieses „Unterrichtungsnachweises“ haben in den Ausschussberatungen des Bundestages eine beherrschende Rolle gespielt. Ein allgemeiner Sachkundenachweis, wie er von der Interessenvertretung des Gaststättengewerbes gefordert worden war und wie ihn der Rechtsausschuss bei Speisewirtschaften für notwendig gehalten hatte, wurde vom Wirtschaftsausschuss aus rechtlichen und wirtschaftspolitischen Gründen abgelehnt, ist in die als Gesetz beschlossene Fassung nicht eingegangen und hätte angesichts der durch Art 12 I GG normierten Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit einer subjektiven Zulassungsbeschränkung, die das BVerfG im Hinblick auf

_____ 820 § 7 LNRSchG BW; Art 3 BayGSG; § 2 I Nr 8 BlnNRSG; § 2 I Nr 8 BbgNiRSchG; § 2 I Nr 8 BremNiSchG; § 2 I Nr 9 HmbPSchG uam. 821 Metzner GaststG, 6. Aufl 2001; Michel/Kienzle/Pauly Das Gaststättengesetz, 14. Aufl 2003. 822 BayObLG DÖV 1998, 161. 823 BVerwG GewArch 1998, 254 (keine nachbarschützende Wirkung des § 4 I Nr 1 GastG).

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den Sachkundenachweis im Einzelhandel verdeutlicht hatte,824 kaum gerechtfertigt werden können.825 Zum Schutze der Allgemeinheit, der Gäste, des Personals, der Bewohner des Betriebsgrund347 stücks und der Nachbargrundstücke können der Erlaubnis jederzeit Auflagen beigefügt werden, § 5 I GastG.826 Die Vorschrift ist lex specialis gegenüber § 36 II Nr 4 VwVfG. Die Anforderung, wonach der Gewerbebetrieb im Hinblick auf seine örtliche Lage oder auf 348 die Verwendung der Räume dem öffentlichen Interesse nicht widersprechen darf und insbesondere immissionsschutzrechtlich unbedenklich sein muss (§ 4 I Nr 3 GaststG), ist zum Teil Gegenstand anderer Rechtsvorschriften und besonderer Genehmigungsvorbehalte, besonders im Rahmen des Bau- und des Immissionsschutzrechts.827 Wird eine anderweitig erforderliche Genehmigung abgelehnt, steht das der Erteilung der gaststättenrechtlichen Erlaubnis nicht unter allen Umständen entgegen. Das gilt vor allem für die Ablehnung einer Baugenehmigung,828 die lediglich faktische Voraussetzung für die Ausnutzung der Gaststättenerlaubnis ist. Die Gaststättenbehörde darf zu einem Zeitpunkt, in dem eine baurechtliche Vorentscheidung (noch) nicht vorliegt, auch über baurechtliche Fragen befinden;829 dagegen hat eine bereits erteilte Baugenehmigung Bindungswirkung auch für die gaststättenrechtliche Erlaubnis, soweit es um die Grundstücksnutzung und die darauf bezogenen öffentlichen und privaten Belange geht.830 Über die zulässigen Betriebszeiten ist dagegen im Rahmen der Gaststättenerlaubnis zu entscheiden; sind Betriebszeitenregelungen jedoch Ausdruck der Betriebsart, zB Tagescafe, Nachtlokal (vgl § 3 I GastG), fällt die Entscheidung in die Sachkompetenz der Baugenehmigungsbehörde.831 Durch Rechtsverordnung der Landesregierung kann für Schank- und Speisewirtschaften 349 sowie für öffentliche Vergnügungsstätten eine Sperrzeit allgemein festgesetzt werden (§ 18 GastG). Diese Ermächtigung gilt auch für Spielhallen. Bei der Ausübung dieser Ermächtigung ist eine Gesamtwürdigung der örtlichen Verhältnisse, der Besonderheiten des jeweiligen Gewerbes und der berührten öffentlichen und privaten Belange anzustellen und insbesondere auch dem Bedürfnis der Nachbarschaft auf Nachtruhe Rechnung zu tragen.832 Wie hier Gaststätten- und Immissionsschutzrecht ineinandergreifen, hat der Fall des Biergartens „Waldwirtschaft“ in Großhesselohe bei München gezeigt.833

d) Beförderungsgewerbe 350 aa) Personenbeförderungsrecht. Das PBefG unterwirft die entgeltliche oder geschäftsmäßige Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, mit Oberleitungsbussen und mit Kraftfahrzeu-

_____ 824 BVerfGE 19, 330. 825 Stober Der Befähigungsnachweis im Gastgewerbe als Rechtsproblem, 1986; Kienzle WiV 1987, 95. 826 BVerwGE 31, 15; BVerwG GewArch 1996, 425; BayVGH GewArch 1990, 218; OLG Hamm DVBl 1975, 584 m Anm Götz; HessVGH GewArch 1979, 24. 827 Zu den sonstigen öffentlichen Interessen, zB des Straßenverkehrs: BVerwGE 10, 91; VGH BW GewArch 1964, 39; OVG RP GewArch 1964, 174. 828 BVerwGE 80, 259 m Anm Czermak BayVBl 1990, 602. 829 BVerwGE 84, 11, 15. 830 BVerwGE 80, 259 (Durch die bestandskräftige Baugenehmigung für eine Trinkhalle ist nicht nur deren Vereinbarkeit mit den Immissionsschutzanforderungen des § 15 I 2 BauNVO bindend festgestellt, sondern auch, dass sich die von der Nutzung der Trinkhalle typischerweise ausgehenden Immissionen im Rahmen des § 4 I Nr 3 GastG halten); HessVGH GewArch 1996, 252, 253. 831 BVerwG NVwZ 1992, 569; BayVGH GewArch 1987, 99. 832 BVerwG GewArch 1992, 346 u 393; GewArch 1995, 155, 382 u 426; DVBl 1996, 1201; VGH BW NVwZ-RR 2003, 745, 747; BayVGH BayVBl 2009, 695, 696 u NVwZ-RR 2010, 514; ThürOVG ThürVBl 2004, 75, 77 ff. 833 BVerwG JZ 1999, 787 (Nichtigkeit der BayBiergarten-NutzungszeitenV, die auf der Grundlage von § 23 II BImSchG die Öffnungszeiten der Biergärten ohne Bezug zu Lärmimmissionen regelte). – Zur Verfassungsmäßigkeit von Sperrzeitvorschriften BayVGH NVwZ-RR 2003, 29.

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gen einem Genehmigungsvorbehalt (§ 2 I PBefG) und einer – in der tradtionellen Terminologie „Aufsicht“ genannten – Überwachung (§ 54 PBefG).834 Die neben subjektiven Anforderungen zu erfüllenden objektiven Genehmigungsvoraussetzungen sind danach differenziert, ob Linienverkehr oder Gelegenheitsverkehr betrieben werden soll (§ 13 PBefG). Vor allem der Linienverkehr berührt die öffentlichen Verkehrsinteressen in hohem Maße. 351 Daher verpflichtet § 8 III PBefG die Genehmigungsbehörde für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in Abstimmung mit dem Aufgabenträger und den Verkehrsunternehmen einen Nahverkehrsplan zu entwickeln (§ 8 III PBefG). Die Verkehrsleistungen sind eigenwirtschaftlich zu erbringen (§ 8 IV 1 PBefG). Die Erteilung von Genehmigungen des Linienverkehrs auf Schiene und Straße unterliegen 352 den spezifischen Anforderungen der VO (EG) Nr 1370/2007,835 soweit es sich um den Verkehr mit Kraftomnibussen handelt, auch der VO (EG) Nr 1071/2009 (§ 13 Ia PBefG). Dabei sind die Interessen der vorhandenen Unternehmen angemessen zu berücksichtigen, sog Altunternehmerprivileg (§ 13 III PBefG). Das Altunternehmerprivileg kann Grundlage eines „Konkurrentenabwehranspruchs“ gegenüber Neubewerbern sein.836 Bei mehreren Bewerbern um die Genehmigung eines Linienverkehrs ist im Rahmen des wechselseitigen, multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnisses eine verkehrswirtschaftliche Auswahlentscheidung zu treffen, mit der über die Ansprüche aller Bewerber auf Erteilung der Genehmigung entschieden wird.837 Schon im Vorfeld hat die Genehmigungsbehörde den Konkurrenten die notwendigen Informationen zur Verfügung zu stellen, um ihnen eine sachgerechte Entscheidung über die Beteiligung an dem Genehmigungsverfahren zu ermöglichen.838 Die Genehmigung ist ein rechtsgestaltender Verwaltungsakt, kein Dauerverwaltungsakt. Der Erfolg der Anfechtungsklage, mit der der abgelehnte Bewerber die Erteilung der Linienverkehrsgenehmigung an einen Konkurrenten angreift und einen entsprechenden „Konkurrentenverdrängungsanspruch“ 839 geltend macht, richtet sich nach der Sachund Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung.840 Wenn Genehmigungsvoraussetzungen nachträglich entfallen, kann die Genehmigung gemäß § 25 PBefG widerrufen werden. Die Genehmigung eines Linienverkehrs mit Omnibussen schließt keine Entscheidung 353 über die von den Straßenanliegern zu duldenden Immissionen ein und kann von diesen deshalb nicht im Hinblick auf verkehrsbedingte Immissionen angegriffen werden.841 Straßenbahnen einschließlich Hoch- und Untergrundbahnen sowie Oberleitungsbusse bedürfen für die Betriebsanlagen der Planfeststellung (§§ 28 ff, 41 PBefG),842 die zusätzlich zu der verkehrswirtschaftlichen Genehmigung (§§ 9 ff PBefG) erforderlich ist.

_____ 834 BVerfGE 11, 168; BVerwGE 23, 314; E 30, 242; E 31, 184; E 55, 159; E 64, 238; E 79, 208. – Bidinger Personenbeförderungsrecht, Lsbl, Stand 2011; Fromm/Sellmann NVwZ 1994, 547, 551 ff; Sellmann NVwZ 1995, 1167; Fehling DV 34 (2001), 25. 835 Dazu Fehling/Niehnus DÖV 2008, 662; Saxinger GewArch 2009, 350; Ziekow NVwZ 2009, 865; Nettesheim NVwZ 2009, 1449; Sennekamp/Fehling N&R 2009, 95. 836 BVerwGE 9, 340 (Zul Konkurrentenabwehrklage eines Altunternehmers im Linienverkehr); BVerwG NVwZ 2001, 322; VGH BW DVBl 2004, 823; VG Frankfurt/M v 13.3.2007 – 12 E 5424/05 (Konkurrentenabwehrklage eines Eisenbahnunternehmens gegen Genehmigung im Linienverkehr). – Huber Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 304. – Nach BVerwGE 127, 42 = DVBl 2007, 307 (m Anm Sitsen) besteht kein Altunternehmerprivileg, wenn die Betriebsführung einem anderen übertragen worden war, gegenüber diesem Betriebsführer. 837 VGH BW, ESVGH 22, 74, 75; Wollenschläger Verteilungsverfahren 404 ff. 838 BVerwGE 118, 270 o JK GG Art 12 I/71; nach VGH BW NVwZ-RR 2009, 720, 725 f müssen die behördl Entscheidungskriterien nicht offengelegt werden. 839 OVG LSA LKV 1999, 31 (m Bespr Baumeister LKV 1999, 12); Huber Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 94. 840 BVerwG DVBl 2000, 1614. 841 BVerwG DVBl 1990, 774. 842 BVerwG DVBl 1988, 538.

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Beim Gelegenheitsverkehr mit Taxen ist die Genehmigung zu versagen, wenn die öffentlichen Verkehrsinteressen dadurch beeinträchtigt werden, dass durch die Neuzulassung das örtliche Taxigewerbe in seiner Funktionsfähigkeit bedroht wird (§ 13 IV PBefG).843 Bei der abwägenden Bewertung der öffentlichen Verkehrsinteressen hat die Genehmigungsbehörde einen gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Prognosespielraum, dessen Ausfüllung allerdings substantiiert dargelegt werden muss.844 Die nähere Regelung der Neuzulassung von Taxen erfordert wg Art 12 I GG einen Beobachtungszeitraum und die Anwendung eines qualifizierten Prioritätsgrundsatzes (§ 13 IV 3, V 2 PBefG). Das Verbot, Mietwagen auf öffentlichen Straßen und Plätzen taxiähnlich bereitzustellen 355 und dort Beförderungsaufträge entgegenzunehmen, schützt den stärker reglementierten Taxenverkehr, an dessen Existenz und Funktionsfähigkeit ein gewichtiges öffentliches Interesse besteht. Das Rückkehrgebot für Mietwagen (§ 49 IV 3 PBefG) sichert als verhältnismäßige Berufsausübungsregelung dieses Verbot.845

356 bb) Güterkraftverkehr. Der gewerbliche Güterkraftverkehr ist nach dem GüKG erlaubnispflichtig, soweit sich nicht aus dem unmittelbar anwendbaren Unionsrecht, insbesondere aus der VO (EG) Nr 1071/2009 etwas anderes ergibt (§§ 3 I, 6 S 2 Nr 1 GüKG).846 Die Durchführung von gewerblichem Güterkraftverkehr in Deutschland ist allein von der Erfüllung subjektiver Berufszulassungsvoraussetzungen abhängig (persönliche Zuverlässigkeit, finanzielle Leistungsfähigkeit, fachliche Eignung). Um den deutschen Transportunternehmen gleiche Wettbewerbschancen innerhalb des eu357 ropäischen Binnenmarktes und des EWR zu eröffnen, sind die früheren Kontingentierungen im Güterfernverkehr (Kabotage) und die Nahzone 1998 abgeschafft worden.847 Auch der Tarifzwang wurde im Zuge der Liberalisierung der Verkehrsmärkte beseitigt.848 358 Der unionsrechtlich induzierte Abbau und zT Wegfall der Regulierung des Güterkraftverkehrs haben den Aufgabenkreis der vormaligen Bundesanstalt für den Güterfernverkehr grundlegend verändert. Sie ist infolgedessen in das Bundesamt für Güterverkehr umgewandelt worden, eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung. Ihm sind die Verwaltungsaufgaben des Bundes auf dem Gebiet des Güterkraftverkehrs zugewiesen, insbesondere Überwachung der gesetzlichen Pflichten der in- und ausländischen Unternehmen des gewerblichen Güterkraftverkehrs (§§ 11 II GüKG). 3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht IX. Regulierungsverwaltung – 3. Kapitel

IX. Regulierungsverwaltung 1. Energiewirtschaftsrecht 359 Die Reform des Energiewirtschaftsrechts beruht vor allem auf unionsrechtlichen Anstößen. Seit dem Vertrag von Lissabon enthält der AEUV ein besonderes „Energiekapitel“ (Art 194 AEUV). „Unbeschadet“ der hierdurch begründeten Regelungskompetenz können im Bereich Energie (Art 4 II lit i AEUV) auch sonstige Regelungszuständigkeiten in Betracht kommen.849 Regelmäßig – und insbesondere im Verhältnis zur allgemeinen Harmonisierungskompetenz des

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843 BVerwG Beschl v 31.1.2008 – 3 B 77/07 – juris; DVBl 1990, 50. 844 BVerwG NJW 1989, 3233 für den Linienverkehr; E 79, 208 (Prognose bei der Zulassung neuer Taxen); Beschl v 31.1.2008 – 3 B 77/07 – juris (substantiierungspflichtige Prognose bei Zulassung von Taxen). 845 BVerfGE 81, 70. 846 Lammich/Pöttinger Gütertransportrecht, Lsbl; Hein/Eichhoff/Pukall/Krien Güterkraftverkehrsrecht, Lsbl. 847 G zur Reform des Güterkraftverkehrsrechts v 22.6.1998 (BGBl I 1485); GesE d BReg, BT-Drs 13/9314. 848 G zur Aufhebung der Tarife im Güterverkehr v 13.8.1993 (BGBl I 1489), aufgehoben durch G v. 19.9.2006 (BGBl. I 2146). 849 Lukes ET 1998, 26; Baur/Blask ET 2002, 636; Brandt/Witthohn ET 2002, 253.

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IX. Regulierungsverwaltung – 3. Kapitel

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Art 114 AEUV – dürfte Art 194 II AEUV aber lex specialis sein.850 Die in den 1990er Jahren zur Durchsetzung der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit sowie zur Verwirklichung eines wettbewerbsorientierten Energiemarktes erlassenen Richtlinien851 sind 2003 durch das „Binnenmarktpaket für die leitungsgebundene Energieversorgung“852 abgelöst worden, das im Jahre 2009 wiederum durch die RL 2009/72/EG (Strom), RL 2009/73/EG (Gas), die VO (EG) Nr 714/2009 (grenzüberschreitender Stromhandel) und die VO (EG) Nr 715/2009 (Zugang zu Erdgasfernleitungsnetzen) ersetzt wurde. Zugleich wurde die Europäische Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden gegründet.853 Die Umsetzung dieser Richtlinien erfolgte durch das Gesetz zur Neuregelung energiewirtschaftlicher Vorschriften vom 26.7.2011.854 Ziel des Energiewirtschaftsrechts nach dem EnWG ist die möglichst sichere, preisgünstige, 360 verbraucherfreundliche und umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas (§ 1 I). Dazu statuiert das Gesetz ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für den Betrieb von Energieversorgungsnetzen (§ 4) und eine Anzeigepflicht für die Belieferung von Haushaltskunden (§ 5). Es ordnet die Entflechtung der vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmen an (§§ 6 ff) und enthält ausführliche Bestimmungen über die Regulierung des Netzbetriebs (§§ 11 ff), den Netzzugang (§ 20 ff) und die Versorgung der Letztverbraucher. Mit Blick auf sie begründet es – wie andere Infrastrukturgesetze – eine Grundversorgungsplicht (§ 36). Die Regulierung der Strom- und Gasmärkte überträgt das EnWG der BNetzA.855 Gegen deren 361 Entscheidungen ist – obwohl es sich um öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art handelt – die Beschwerde zum OLG eröffnet (§ 75 EnWG), dagegen wiederum steht die Rechtsbeschwerde zum BGH offen (§ 86 EnWG). Die das Energierecht nach der Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte idealtypisch prä- 362 gende Unternehmens- und Wettbewerbsfreiheit wird in jüngerer Zeit zunehemend durch Rechtsvorschriften des Umwelt- und Klimaschutzes begrenzt, die eine Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen nach dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung (sustainable development) gewährleisten sollen (Art 20a GG).856 Zudem wird die Begünstigung der Stromgewinnung aus Wasserkraft, Windkraft, Sonnenenergie, Deponiegas, Klärgas und Biomasse durch eine Abnahmepflicht der Energieversorgungsunternehmen zu überhöhten Entgelten fortgeführt. Das Stromeinspeisungsgesetz 1990, dessen Vergütungsregelung verfassungsrechtlich 857 und europarechtlich 858 vergeblich angegriffen worden war, hat seine Fortsetzung insoweit im Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien (Erneuerbare-Energien-Gesetz – EEG) gefunden.859 Das

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850 Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 194 AEUV Rn 12. 851 Richtlinie 98/30/EG v 22.6.1998 betr gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt, ABl L 204/1. – Zu dem Vorschlag der Kommission vom 13. 3. 2001 für eine Änderung der beiden Richtlinien: Scholz ET 2001, 678; Baur/Lückenbach ET 2002, 420. 852 ABl 2003 L 176. 853 VO (EG) Nr 713/2009 (ABl 2009 L 211). 854 BGBl I 1554. 855 G über die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen, erlassen als Art 2 des G zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts v 7.7.2005, BGBl I 1970, 2009. – Dazu BT-Drs 15/3917 idF v BT-Drs 15/5268. 856 Salje UPR 1998, 201; Büdenbender DVBl 2002, 800; Zimmer DÖV 2002, 201; Ewer in: H.-J. Koch, Umweltrecht, 2. Aufl 2007, § 9. 857 BGH NJW 1997, 574; BVerfG RdE 1996, 105; DVBl 2002, 548. – Friauf ET 1995, 597; Ossenbühl ET 1996, 54; ders RdE 1997, 46; dagegen Scholz ET 1995, 600; Theobald NJW 1997, 550. 858 EuGH Urt v 13.3.2001 – C-379/98 – PreußenElektra, Slg 2001, I-2099 (Die Vergütungsregelung des StrEG stellt keine staatliche Beihilfe iSd Art 107 I 1 AEUV dar; denn sie führt nicht zu einer unmittelbaren oder mittelbaren Übertragung staatlicher Mittel auf die Unternehmen, die den Strom aus erneuerbaren Energiequellen erzeugen). – Gellermann DVBl 2000, 509; Koenig/Kühling NVwZ 2001, 768; Martinez Sorìa DVBl 2001, 882; Pünder JURA 2001, 591; Ruge EuZW 2001, 241; Witthohn ET 2001, 466. 859 Gent ET 2000, 600; Oschmann ET 2000, 460; Raabe NJW 2000, 1298; Reshöft/Bönning EEG, 3. Aufl 2009.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

KWKG860 strebt neben der Erfüllung allgemeiner ökologischer Ziele vor allem eine Minderung der Kohlendioxid-Emmissionen im Interesse des Klimaschutzes an.861 Dagegen soll die nukleare Energieerzeugung mittelfristig auslaufen.862 363 Das Kartellrecht – GWB und Art 101 ff AEUV863 – bleiben anwendbar, soweit das EnWG und die ihm zugrunde liegenden Richtlinien keine abschließenden Regelungen enthalten (§ 111 GWB). Auch die §§ 19 (Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung) und 20 GWB (Diskriminierungsverbot) gelten nur vorbehaltlich energiewirtschafsrechtlicher Spezialregelungen.

2. Eisenbahnen, Post und Telekommunikation 364 Bundesbahn und Bundespost, ursprünglich die beiden großen Verkehrsanstalten des Bundes, haben einen Strukturwandel von der anstaltlichen Leistungsverwaltung über neue Formen öffentlicher Unternehmen bis hin zu einer Privatisierung des Leistungsangebots und selbst der infrastrukturellen Versorgungswege durchlaufen (Übertragungswege der Telekommunikation). Das GG enthält heute einen Eisenbahn-Artikel (Art 87e GG) 864 und einen Post-Artikel (Art 87f GG) , 865 in denen zugleich organisatorische und materielle Regelungen und Direktiven für die Gesetzgebung festgelegt sind. Die Reformen sind maßgeblich durch das Unionsrecht und durch bereichsspezifische EU-Richtlinien bestimmt, mit denen die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 ff AEUV), der unverfälschte Wettbewerb (Art 101 ff AEUV) und die gemeinsame Politik auf dem Gebiet des Verkehrs (Art 90 ff AEUV) verwirklicht werden. Die Aufgabe, in den ehemals monopolisierten Bereichen funktionsfähige Marktstrukturen zu schaffen, liegt – wie bei Strom und Gas – in den Händen der BNetzA.

a) Eisenbahnen 365 Das Eisenbahnneuordnungsgesetz (ENeuOG) 1993 hat die hoheitliche Eisenbahnverkehrsverwaltung von den als Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form zu führenden Eisenbahnen des Bundes getrennt 866 und durch Art 2 ENeuOG die Deutsche Bahn AG gegründet und ihr das betriebsnotwendige Bundeseisenbahnvermögen zugewiesen. Sie erbringt Eisenbahnverkehrsleistungen zur Beförderung von Gütern und Personen und betreibt die Eisenbahninfrastruktur (Schienenwege); die Bereiche Personennahverkehr, Personenfernverkehr, Güterverkehr und Fahrweg wurden zunächst innerorganisatorisch getrennt und dann in neu gegründete Aktienge-

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860 G für die Erhaltung, die Modernisierung und den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung – Kraft-WärmeKopplungsgesetz, BGBl I 2002, 1092, zul geänd durch G v 12.7.2012 (BGBl I 1494). 861 Raabe/N. Meyer NJW 2000, 2253; Salje Kraft-Wärme-Koppelungsgesetz 2002, 2. Aufl 2004; ders ET 2001, 601; Adam/Czernik ET 2002, 701; Stevens ET 2002, 355. 862 G zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität v 22. 4. 2002; 13. AtÄndG v 31.7.2011 (BGBl I 1704). – Vgl auch Rn 219. 863 Kuxenko DÖV 2001, 141; Nill-Theobald/Theobald Grundzüge des Energiewirtschaftsrechts, 2. Aufl 2008; Badura Umweltschutz und Energiepolitik, in: Rengeling, Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 2. Aufl 2003, Bd II, § 82; Bartsch/Köhling/Salje/Scholz Stromwirtschaft, 2. Aufl 2008; Baur Regulierter Wettbewerb in der Energiewirtschaft, 2002; Danner Energierecht (2012); Lippert Energiewirtschaftsrecht, 2002; Scholtka NJW 2002, 483. 864 G zur Änderung des Grundgesetzes v 20.12.1993 (BGBl I 2089). – GesE d BReg, BT-Drs 12/5015; Beschlussempfehlung u Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs 12/6280. – Schmidt-Aßmann/Röhl DÖV 1994, 577. 865 G zur Änderung des Grundgesetzes v 30.8.1994 (BGBl I 2245). – GesE d BReg, BT-Drs 12/7269; Beschlussempfehlung u Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs 12/8108. 866 GesE der BReg, BT-Drs 12/5014; Beschlussempfehlung u Bericht des Ausschusses für Verkehr, BT-Drs 12/6269. – Dürr Bahnreform, 1994; Fromm DVBl 1994, 187; Freise/Wittenberg GewArch 1996, 353; Hommelhoff/SchmidtAßmann ZHR 160 (1996), 521; Ronellenfitsch DÖV 1996, 1028; Repkewitz NVwZ 1998, 1049; Kämmerer Privatisierung, 2001, 497ff; Fehling DÖV 2002, 793; W. Kunz, Eisenbahnrecht, 2002 ff; Gersdorf in: Schmidt-Aßmann/Dolde, Beiträge zum öffentlichen Wirtschaftsrecht, 2005, 131.

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IX. Regulierungsverwaltung – 3. Kapitel

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sellschaften ausgegliedert. Die Anteile des Bundes an der Deutsche Bahn AG können privatisiert werden, soweit es sich um den Unternehmensteil „Fahrweg“ handelt, jedoch nur aufgrund eines Gesetzes und nur mit der Maßgabe, dass die Mehrheit der Anteile beim Bund verbleibt. Dieser gewährleistet, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf dem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen (s Art 106a GG, Art 4 ENeuOG), Rechnung getragen wird. Zur Verpflichtung der Deutsche Bahn Netz AG, ihre Strecken in einem betriebssicheren Zustand vorzuhalten, BVerwGE 129, 381 = DVBl 2008, 380 (m Anm Kramer). Am 30.5.2008 hat der Bundestag die Privatisierung von 24, 9 vH der Aktien der Deutschen Bahn AG beschlossen; die Verwirklichung dieses Beschlusses steht allerdings aus. Näher zur Privatisierung der Deutschen Bahn Heinz ThürVBl 2011, 150. Die das „Eisenbahninfrastrukturpaket“ bildenden drei Richtlinien der EU-Kommission 366 v 26.2.2001 haben die Liberalisierung des Eisenbahnwesens im Hinblick auf die Trennung von Fahrweg (Netz) und Betrieb weiter vorangetrieben;867 später sind weitere Vorordnungen und Richtlinien der EU hinzugetreten.868 Die allgemeine Regelung des Eisenbahnwesens enthält das durch Art 5 ENeuOG neugefasste Allgemeine Eisenbahngesetz (AEG), in dem sich auch die Regelungen und Ermächtigungen der Eisenbahnaufsicht (§§ 5 f AEG) und der Planfeststellung für die Schienenwege und Betriebsanlagen der Eisenbahn (§§ 18 ff AEG) finden.869 Die Eisenbahnaufsicht obliegt dem Eisenbahn-Bundesamt (EBA), einer Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Gesetz über die Eisenbahnverkehrsverwaltung des Bundes, Art 3 ENeuOG).870

b) Post und Telekommunikation Die Postreform erfolgte in drei Schritten. Das Gesetz zur Neustrukturierung des Post- und 367 Fernmeldewesens und der Deutschen Bundespost (Poststrukturgesetz) v 8.6.1989 (BGBl I 1026) hat die unternehmerischen und betrieblichen Aufgaben der drei Teilbereiche der Deutschen Bundespost – Postdienst, TELEKOM, Postbank – von den politischen und hoheitlichen Aufgaben des Bundesministers für Post und Telekommunikation auch organisatorisch getrennt. Der postalische Beförderungsvorbehalt (§ 2 PostG aF), das Übertragungswegemonopol, das Funkanlagenmonopol und das Telefondienstmonopol (§ 1 II und IV FAG aF) blieben zunächst bestehen, doch wurde in dem sich technologisch und wirtschaftlich rapide entwickelnden Sektor der Telekommunikation eine weitgehende Öffnung für den Wettbewerb herbeigeführt. Die Leistungsbeziehungen der Unternehmen der Bundespost wurden durchgehend privatrechtlich gestaltet. Die durch Art 87 f GG ermöglichte Postreform II durch das PTNeuOG 1994 hat die Unter- 368 nehmen der Bundespost in Aktiengesellschaften umgewandelt, deren Anteilsrechte, soweit sie dem Bund zustehen, von einer Anstalt des öffentlichen Rechts wahrgenommen werden, der durch Bundesgesetz weitere nicht die hoheitlichen Aufgaben des Bundes und nicht die Unternehmenstätigkeit betreffende Aufgaben zugewiesen werden können. Die Dienstleistungen im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation, deren flächendeckend angemessene und ausreichende Erbringung der Bund nach Maßgabe eines Gesetzes zu sichern hat, werden „als privatwirtschaftliche Tätigkeiten“ durch die aus dem früheren Sondervermögen Deutsche Bundespost hervorgegangenen Unternehmen und andere Wettbewerber angeboten. Die Frage der formellen und materiellen Privatisierung wurde durch die Übergangsvorschrift des Art 143b GG

_____ 867 Berschin DVBl 2002, 1079; Ronellenfitsch DVBl 2002, 657. 868 Dazu Brandenberg EuZW 2009, 359. 869 Das BundesbahnG v 13.12.1951 (BGBl I 955) mit seinen Änderungen wurde aufgehoben. – Schmidt-Aßmann/ Fromm Aufgaben und Organisation der Deutschen Bundesbahn in verfassungsrechtlicher Sicht, 1986. 870 Grupp DVBl 1996, 591; Studenroth VerwArch 87 (1996), 97.

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3. Kapitel – Öffentliches Wirtschaftsrecht

in Umrissen gesteuert. Das Postneuordnungsgesetz ließ die bisherigen Verwaltungsmonopole des Bundes auf dem Gebiet der Post und der Telekommunikation für eine befristete Übergangszeit bestehen (Art 5, 6 PTNeuOG). Die hoheitlichen Befugnisse wurden in dem Gesetz über die Regulierung der Telekommunikation und des Postwesens (Art 7 PTNeuOG) geregelt. 369 aa) Post. Wie die Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte, so war auch die Neuordnung des Postwesens wesentlich durch Vorgaben des Unionsrechts beeinflusst, insbesondere durch die RL 97/67/EG über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität und durch die RL 2002/ 39/EG im Hinblick auf die weitere Liberalisierung des Marktes für Postdienste in der EU. Das Angebot von Postdienstleistungen kann durch den Mitgliedstaat mit Garantien und besonderen Vorkehrungen ausgestattet werden, um die Infrastrukturerfordernisse zu gewährleisten (Art 106 II AEUV).871 Das PostG regelt die Regulierung, die Lizenzen und den Universaldienst im Bereich des 370 Postwesens.872 Der Deutsche Post AG stand bis zum 31.12.2007 eine befristete gesetzliche Exklusivlizenz für die gewerbsmäßige Beförderung näher bezeichneter Brief- und Infosendungen zu,873 die mehrmals verlängert worden war. Verfassungsrechtlich begegnete dies keinen Bedenken (Art 143b II 1 GG).874 371 bb) Telekommunikation. Im Zuge der Postreformen hat sich das Telekommunikationsrecht zu einem eigenständigen, komplexen Rechtsgebiet entwickelt, in dem sich das Fernmelderecht zunehmend mit wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Bestimmungen verbindet. 875 Das Übertragungswegemonopol der Telekom AG endete am 31.7.1996, das Sprachtelefondienstmonopol am 31.1.1997; neue Anbieter in diesen Bereichen bedurften zunächst einer Lizenz, die inzwischen ebenfalls abgeschafft ist. Das TKG 2004 876 verfolgt den Zweck, durch Regulierung im Bereich der Telekommunika372 tion den Wettbewerb zu fördern und flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen zu gewährleisten sowie eine Frequenzordnung festzulegen. Die verfassungsrechtlich gebotene Grundversorgung wird durch Universaldienstleistungen (§§ 78 ff TKG) gewährleistet. Privatisierung und Liberalisierung waren hier so erfolgreich, dass immer wieder einmal erwogen wird, das Telekommunikationsrecht aus der Regulierung zu entlassen und nur mehr auf die allgemeinen Regelungen des Wettbewerbsrechts zu vertrauen.

_____ 871 EuGH Urt v 19.5.1993 – C-320/91 – Corbeau, Slg 1993, I-2533 m Anm Schroeder ArchPT 1994, 132. – Bekanntmachung der Kommission über die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf den Postsektor und über die Beurteilung bestimmter staatlicher Maßnahmen betr Postdienste (98/C 39/02), ABl C 39/2. 872 Masing in: HStR IV, § 90 Rn 39 ff. 873 Die zunächst bis zum 31.12.2002 eingeräumte Exklusivlizenz ist durch das Erste ÄndGPostG v 2.9.2001 (BGBl I 2271) bis zum 31. 12.2007 verlängert worden; RegE, BT-Drs 14/6121; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie, BT-Drs 14/6325. Die dagegen erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken (R. Scholz Postmonopol und Grundgesetz, 2001) schlagen nicht durch (v Danwitz Verfassungsfragen der gesetzlichen Exklusivlizenz der Deutschen Post AG, 2002). Durch das Zweite ÄndGPostG v 30.1.2002 (BGBl I 572) sind die Bestimmungen der §§ 52 bis 54 PostG der Verlängerung der Exklusivlizenz angepasst worden. Das Dritte ÄndGPostG v 16.8.2002 (BGBl I 3218), mit dem die RL 2002/39/EG umgesetzt wird, senkt die Gewichts- und Preisgrenze der Exklusivlizenz zum 1.1.2006 auf 50 Gramm bzw das Zweieinhalbfache des Grundpreises ab. Die abgehende grenzüberschreitende Briefbeförderung ist ab dem 1.1.2003 freigegeben (§ 51 nF PostG). Die gesetzliche Exklusivlizenz der Deutschen Post AG gemäß § 51 PostG lief am 31.12.2007 aus. 874 BVerfGE 108, 370; Huber FS Schmitt Glaeser, 2003, 509. 875 Zur Entwicklung des TK-Rechts Scherer/Heinickel NVwZ 2012, 142; Nacimiento K&R 2012, 251; zum EU-Recht Ladeur K&R 2012, 317. 876 Grdl Änderung durch die TKG-Novelle 2012, G v 3.5.2012, BGBl I 958; dazu Scherer/Heinickel NVwZ 2012, 585; Holznagel NJW 2012, 1622.

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I. Einführung – 4. Kapitel

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Viertes Kapitel 4. Kapitel – Baurecht I. Einführung – 4. Kapitel Krebs

Walter Krebs

Baurecht

I.

II.

Gliederung Einführung ____ 1 1. Aufgaben, Begriff und Gegenstände des Baurechts ____ 1 a) Privates Baurecht ____ 2 b) Öffentliches Baurecht ____ 3 aa) Raumordnungsrecht ____ 4 bb) Städtebaurecht ____ 5 cc) Bauordnungsrecht ____ 6 dd) Verhältnis des Städtebaurechts zum Bauordnungsrecht ____ 7 2. Die verfassungsrechtliche Vorordnung des Baurechts ____ 8 a) Die bundesstaatliche Kompetenzverteilung für das öffentliche Baurecht ____ 9 aa) Gesetzgebungszuständigkeiten ____ 9 bb) Rechtsquellen ____ 10 cc) Verwaltungszuständigkeiten ____ 15 b) Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden ____ 16 c) Grundrechte ____ 26 aa) Baurecht und Baufreiheit ____ 27 bb) Leistungsrechtliche Aspekte ____ 31 Raumordnungsrecht ____ 34 1. Aufgaben, Leitvorstellungen und Prinzipien der Raumordnung ____ 36 2. Zielsetzung der Raumordnungsplanung und Typen planerischer Aussagen ____ 38 a) Zielsetzung der Raumordnungsplanung ____ 38 b) Typen planerischer Aussagen ____ 39 3. Raumordnungsgrundsätze des Bundes ____ 42 a) Inhalt der Raumordnungsgrundsätze des Bundes ____ 43 b) Verwirklichung der Raumordnungsgrundsätze des Bundes ____ 44 4. Raumordnungsplanung ____ 46 a) Allgemeine Vorgaben ____ 46 b) Raumordnungsplanung der Länder ____ 48 aa) Besondere bundesrechtliche Vorgaben ____ 48 bb) Landesrechtliche Regelungen ____ 52 cc) Landesweite Raumordnungsplanung ____ 53

III.

dd) Regionalplanung ____ 57 c) Raumordnungsplanung des Bundes ____ 60 d) Verwirklichung der Raumordnungsplanung ____ 62 5. Sonstige Instrumente der Raumordnung ____ 63 a) Untersagung raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen ____ 64 b) Raumordnungsverfahren ____ 66 6. Rechtsschutzfragen des Raumordnungsrechts ____ 68 a) Rechtsschutzkonstellationen ____ 68 b) Rechtsschutz gegen Raumordnungspläne ____ 69 Städtebaurecht ____ 74 1. Typen der Bauleitplanung ____ 74 a) Flächennutzungsplan ____ 76 aa) Inhalt ____ 76 bb) Rechtswirkungen ____ 79 b) Bebauungsplan ____ 83 aa) Inhalt ____ 83 bb) Rechtswirkungen ____ 87 cc) Vorhabenbezogener Bebauungsplan gem § 12 BauGB ____ 89 2. Aufstellung der Bauleitpläne ____ 90 a) Planungspflicht ____ 90 b) Anpassungs- und Entwicklungspflichten ____ 95 c) Abwägungsgebot und Planungsmaßstäbe ____ 98 aa) Bauleitplanung und Struktur der Planungsnormen ____ 98 bb) Rechtsbindung ____ 101 cc) Kontrollmaßstäbe ____ 107 d) Aufstellungsverfahren ____ 110 e) Fehlerfolgen ____ 121 f) Außerkrafttreten ____ 126 3. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit von Vorhaben ____ 127 a) Allgemeines ____ 127 b) Zulässigkeit von Vorhaben im Geltungsbereich eines qualifizierten oder vorhabenbezogenen Bebauungsplans ____ 132 aa) § 30 I BauGB bzw § 30 II BauGB ____ 132

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IV.

4. Kapitel – Baurecht

bb) Ausnahmen und Befreiungen ____ 133 c) Zulässigkeit von Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile (§ 34 BauGB) ____ 134 d) Zulässigkeit von Vorhaben im Außenbereich ____ 137 e) Zulässigkeit von Vorhaben aufgrund besonderen Grundrechtsschutzes? ____ 143 f) Ausnahmen ____ 147 4. Instrumente und Maßnahmen zur Verwirklichung und Sicherung der Bauleitplanung ____ 148 a) Veränderungssperre und Zurückstellung von Baugesuchen ____ 149 b) Grundstücksteilung ____ 153 c) Gemeindliche Vorkaufsrechte ____ 156 d) Umlegung und vereinfachte Umlegung ____ 160 e) Erschließung ____ 163 f) Enteignung ____ 167 aa) Gegenstand ____ 168 bb) Zulässigkeit ____ 169 cc) Entschädigung ____ 171 dd) Verfahren ____ 172 ee) Rechtsweg ____ 173 g) Städtebauliche Verträge ____ 174 5. Besonderes Städtebaurecht ____ 178 a) Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen ____ 179 b) Stadtumbau ____ 183 c) Soziale Stadt ____ 184 d) Private Initiativen ____ 185 e) Erhaltungssatzung und städtebauliche Gebote ____ 186 6. Planschadensrecht ____ 187 Bauordnungsrecht ____ 195 1. Funktionen des Bauordnungsrechts ____ 195 a) Gefahrenabwehr ____ 196 b) Ästhetische Anforderungen ____ 201 c) Soziale Standards ____ 205 d) Ökologische Standards ____ 206

V.

2. Die baurechtliche Verantwortlichkeit ____ 207 3. Bauaufsichtsbehörden ____ 208 4. Zulassung von Vorhaben ____ 209 a) Genehmigungsbedürftige Vorhaben ____ 210 aa) Genehmigungsarten ____ 210 bb) Anspruch auf Genehmigung ____ 211 cc) Abweichungen bzw Ausnahme und Befreiung ____ 212 dd) Nebenbestimmungen ____ 213 ee) Regelungsgehalt ____ 214 ff) Verfahren ____ 216 gg) Wirksamkeit, Geltungsdauer ____ 220 b) Nicht-genehmigungsbedürftige Vorhaben ____ 221 5. Bauüberwachung und (Wieder-)Herstellung baurechtmäßiger Zustände ____ 222 a) Bauüberwachung ____ 222 b) (Wieder-)Herstellung baurechtmäßiger Zustände ____ 224 aa) Ermächtigungsgrundlagen ____ 225 bb) Bestandsschutz rechtmäßig errichteter baulicher Anlagen ____ 228 cc) Vorgehen gegen rechtswidrig errichtete bauliche Anlagen ____ 229 Rechtsschutzfragen des Städtebau- und Bauordnungsrechts ____ 234 1. Gerichtlicher Rechtsschutz gegen städtebauliche Pläne ____ 234 a) Prinzipale Normenkontrolle ____ 234 b) Individualrechtsschutzverfahren ____ 235 2. Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung ____ 236 a) Verpflichtungsklage ____ 236 b) Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen ____ 237 3. Drittschutz (Nachbarschutz) ____ 238 a) Begriff des „Nachbarn“ ____ 239 b) Einfachgesetzlicher Drittschutz ____ 240 c) Unvermittelter grundrechtlicher Drittschutz ____ 245 d) Verfahrensfragen ____ 246

Literatur: Allgemeines: U. Battis Öffentliches Baurecht und Raumordnungsrecht, 5. Aufl 2006. U. Battis/M. Krautzberger/R.-P. Löhr Baugesetzbuch, 11. Aufl 2009. W. Bielenberg/P. Runkel/W. Spannowsky/F. Reitzig/H. Schmitz Raumordnungs- und Landesplanungsrecht des Bundes und der Länder, Lsbl (Stand: 2/2012). G. Boeddinghaus BauNVO – Baunutzungsverordnung, 5. Aufl 2005. M. Brenner Öffentliches Baurecht, 3. Aufl 2009. W. Brohm Öffentliches Baurecht, 3. Aufl 2002. H. Brügelmann ua Baugesetzbuch, Lsbl (Stand: 2/2012). W. Cholewa/H. Dyong/H.-J. von der Heide/W. Arenz Raumordnung in Bund und Ländern, Lsbl (Stand: 11/2011). D. Dörr Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, in: Achterberg/Püttner (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd I, 2. Aufl 2000, 544 ff. W. Erbguth Baurecht, in: Tettinger/ders/Mann (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht, 11. Aufl 2012, Rn 794 ff. W. Erbguth Bauplanungsrecht, in: Achterberg/Püttner (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd I, 2. Aufl 2000, 627 ff. W. Erbguth Öffentliches Baurecht, 5. Aufl 2009. W. Ernst/W. Zinkahn/W. Bielenberg/M. Krautzberger Baugesetzbuch, Lsbl

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I. Einführung – 4. Kapitel

435

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Otto Bauordnungsrecht, Nachbarschutz, Rechtsschutz, in: Finkelnburg/Ortloff/ders (Hrsg), Öffentliches Baurecht, Bd II, 6. Aufl 2010. F.-J. Peine Öffentliches Baurecht, 4. Aufl 2003. W.-R. Schenke Bauordnungsrecht, in: Achterberg/Püttner (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd I, 2. Aufl 2000, 748 ff. O. Schlichter/R. Stich/H. Driehaus (Hrsg), Berliner Kommentar zum Baugesetzbuch, Lsbl (Stand: 9/2010). E. Schmidt-Aßmann Grundfragen des Städtebaurechts, 1972. H. Schrödter (Hrsg) Baugesetzbuch, 7. Aufl 2006. W. Spannowsky/M. Uechtritz (Hrsg) Öffentliches Baurecht, BeckOK (Stand: 1.5.2012). U. Steiner Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, in: ders (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Aufl 2006, 653 ff. F. Stollmann Öffentliches Baurecht, 8. Aufl 2011. B. Stüer Handbuch des Bau- und Fachplanungsrechts, 4. Aufl 2009. B. Stüer Der Bebauungsplan, 4. Aufl 2009. Zur Einarbeitung in das Landesrecht: G. H. Reichel/B. H. Schulte Handbuch Bauordnungsrecht, 2004. BadenWürttemberg: H. 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Schroeder Baurecht Nordrhein-Westfalen, 2010. Rheinland-Pfalz: E. Gurlit Bauordnungsrecht, in: R. Hendler/ F. Hufen/S. Jutzi (Hrsg) Landesrecht Rheinland-Pfalz, 6. Aufl 2012, § 5. R. Hendler Landesplanungsrecht, in: ders/ F. Hufen/S. Jutzi (Hrsg) Landesrecht Rheinland-Pfalz, 6. Aufl 2012, § 8. C. M. Jeromin (Hrsg) LBauO Rh-Pf, 3. Aufl 2012. R. Stich/H. Gabelmann/K. W. Porger Landesbauordnung Rheinland-Pfalz, Lsbl (Stand: 10/2010). Sachsen: H. Dürr/A. Ebner Baurecht Sachsen, 3. Aufl 2005. H. Jäde/F. Dirnberger/G. Böhme/u.a. Bauordnungsrecht Sachsen, Lsbl (Stand: 9/2011). Sachsen-Anhalt: H. Dürr/D. Brücken-Thielmeyer/R. Himstedt Baurecht Sachsen-Anhalt, 2005. H. Jäde/F. Dirnberger/K. Bauer Bauordnungsrecht Sachsen-Anhalt, Lsbl (Stand: 3/2011). T. Franz/W. Kluth Öffentliches Baurecht, in: W. Kluth Landesrecht Sachsen-Anhalt, 2. Aufl 2010, § 5. Schleswig-Holstein: H. Domning/G. Möller/M. Suttkus Bauordnungsrecht Schleswig-Holstein, Lsbl (Stand: 8/2010). H. Dürr/H. Alberts Baurecht SchleswigHolstein, 2005. Thüringen: H. Dürr/M. Aschke Baurecht Thüringen, 2005. H. Jäde/F. Dirnberger/T. Michel Bauordnungsrecht Thüringen, Lsbl (Stand: 3/2011).

I. Einführung 1. Aufgaben, Begriff und Gegenstände des Baurechts Jedermann lebt in Raum und Zeit. Gestalt und Gestaltung des Raumes berühren die Lebensver- 1 hältnisse jedes Einzelnen, zT elementar. Wohnen, Arbeiten und Erholen sind mehr oder minder auch abhängig von den natürlichen und künstlichen Gegebenheiten des Raumes. Jede BeanKrebs

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4. Kapitel – Baurecht

spruchung des Raumes sowohl durch Private als auch durch Einrichtungen des Staates trifft auf viele, häufig unterschiedliche Interessen. Dieser Umstand erklärt nicht nur die Notwendigkeit eines Ausgleichs privater und öffentlicher Interessen durch eine rechtliche Ordnung der Raumnutzung. Die vielfältige Betroffenheit von privaten und öffentlichen Belangen durch raumbezogene Maßnahmen verdeutlicht auch, dass es zahlreicher, richtiger: zahlloser Regelungen bedarf, um diese rechtliche Ordnung zu erstellen: rechtliche Regelungen über die Entwicklung des Raumes, Regelungen über die konkrete Nutzbarkeit des Raumes in Gemeinden, Regelungen über die Anforderungen an Gebäude, Regelungen zum Ausgleich privater Nutzungsinteressen. Von daher verwundert es nicht, dass sich Regelungen über die Nutzbarkeit und Nutzung von Grund und Boden in vielen Teilen der gesamten Rechtsordnung finden.

a) Privates Baurecht 2 Die rechtliche Ordnung der Raumgestaltung und Bodennutzung ist zwar vornehmlich, aber nicht exklusiv Aufgabe des öffentlichen Rechts. Auch im Zivilrecht gibt es Normen, die sich auf die Nutzung von Grund und Boden und insbesondere auf die Errichtung von Bauwerken beziehen oder zumindest im Einzelfall dafür Bedeutung erlangen können. Zu dem in diesem Sinn privaten Baurecht1 zählen zB die Vorschriften des BGB über Grundeigentum und Nachbarrecht (§§ 903 ff BGB); baurechtliche Bedeutung können zudem auch das Werkvertragsrecht (§§ 631 ff BGB) und das Deliktsrecht (§§ 823 ff BGB) haben. Die aufgrund von Art 124 EGBGB erlassenen Nachbarrechtsgesetze der Bundesländer2 enthalten ua privatrechtliche Vorschriften über Grenzabstände für Gebäude, Fenster- und Lichtrechte, Nachbarwände und Grenzwände.

b) Öffentliches Baurecht 3 Im öffentlichen Recht gibt es neben dem eigentlichen „Baurecht“ zahlreiche Rechtsgebiete, die zwar nicht spezifisch baurechtlicher Natur sind, sich aber entweder zT auch auf die Raumgestaltung und Bodennutzung und auf bauliche Anlagen sowie deren Nutzung beziehen oder jedenfalls im Einzelfall dafür bedeutsam sein können. Zu diesen Rechtsgebieten zählen zB das Immissionsschutzrecht, Naturschutzrecht, Wasserhaushaltsrecht, Waldrecht, Atomrecht, Abfallrecht sowie das Wohnungsbauförderungsrecht. Versteht man unter öffentlichem Baurecht die Gesamtheit der rechtlichen Regelungen, „die sich auf die Zulässigkeit, die Ordnung und die Förderung der Errichtung von baulichen Anlagen sowie auf die bestimmungsgemäße Nutzung dieser Anlagen beziehen“,3 dann lassen sich viele Vorschriften der genannten Rechtsgebiete diesem Begriff zuordnen. Rechtssystematisch wird der Begriff des öffentlichen Baurechts aber als Oberbegriff für die Rechtsmaterien des Städtebaurechts (Bauplanungsrecht) und des Bauordnungsrechts verwendet. Bei einem erweiterten Begriffsverständnis, das das Recht der Raumgestaltung und -planung einbezieht, gehören zum öffentlichen Baurecht auch die Rechtsmaterien des Raumordnungsrechts. 4 aa) Raumordnungsrecht. Unter dem gesetzlich nicht definierten Begriff der Raumordnung kann – mit dem BVerfG4 – die „zusammenfassende, übergeordnete Planung und Ordnung des

_____ 1 Dazu H. Locher Das private Baurecht, 8. Aufl 2012. 2 Vgl die Nachw der gesetzlichen Fundstellen und der Kommentarliteratur bei Bassenge in: Palandt, BGB, 71. Aufl 2012, Art 124 EGBGB Rn 2. Zum Verhältnis des öffentlichen zum privaten Nachbarrecht Brenner BauR, Rn 9 f; Dolderer DVBl 1998, 19 ff. 3 Friauf Baurecht in: v Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Aufl 1988, 483. Dies ist die übliche Definition. Vgl nur Erbguth Baurecht in: Tettinger/ders/Mann, BesVerwR, Rn 794 mwN; ders BauR, § 1 Rn 1; Stollmann BauR, 1. 4 BVerfGE 3, 407, 425.

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I. Einführung – 4. Kapitel

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Raumes“ verstanden werden. Ziel der Raumordnung ist es, die unterschiedlichen individuellen und kollektiven Ansprüche an die Raumnutzung auf überörtlicher Ebene übergreifend aufeinander abzustimmen. Sie bezieht sich sowohl auf die vorfindlichen als auch auf die anzustrebenden Gegebenheiten des Raumes und umfasst zum einen die Entwicklung und Durchsetzung von Leitvorstellungen für eine übergreifende Ordnung des Raumes sowie zum anderen die Abstimmung und Koordination der raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen der verschiedenen staatlichen Träger dieser Aufgabe (Bund, Länder, Kommunen). Die Aufgabe des Raumordnungsrechts liegt insbesondere in der Zusammenfügung der Planungen unterschiedlicher Planungsstufen (Planung des Bundes, Landesplanung, Regionalplanung, Ortsplanung) zu einem konsistenten Planungssystem. Insoweit ist das Raumordnungsrecht auch mit dem Städtebaurecht verklammert. bb) Städtebaurecht. Städtebaurecht, häufig auch als Bauplanungsrecht bezeichnet, ist flä- 5 chenbezogen und bezieht sich auf die Raumnutzung und Raumgestaltung innerhalb der Gemeinde nach städtebaulichen Gesichtspunkten. Es ist weitestgehend bundesrechtlich im Baugesetzbuch (BauGB) geregelt, das die Rechtsmaterie in ein Allgemeines und ein Besonderes Städtebaurecht unterteilt. Das Erste Kapitel des BauGB – „Allgemeines Städtebaurecht“ – regelt ua die verfahrensrechtlichen und inhaltlichen Voraussetzungen für die Aufstellung kommunaler Bauleitpläne (Flächennutzungsplan/Bebauungspläne), die – auch rechtlich (§ 1 IV BauGB) – im Verbund des Planungssystems der Raumordnung stehen und die Raumnutzung in der Gemeinde nach überörtlichen und örtlichen Gesichtspunkten vorbereiten und leiten. Dabei enthalten sie sowohl Festlegungen und Vorgaben für den gemeindlichen Planungsprozess als auch rechtsverbindliche Maßgaben für die Grundstücksnutzung durch den Bürger. Das allgemeine Städtebaurecht regelt weiterhin die Frage, ob ein Grundstück bebaubar ist und – unter städtebaulichen Gesichtspunkten – wie es bebaubar ist (zB Wohnen, Gewerbe, Geschosszahlen). Darüber hinaus enthält es das Planschadensrecht und zahlreiche bodenrechtliche Vorschriften, die der Durchsetzung der in den Bauleitplänen festgelegten Planungsvorstellungen dienen: Bestimmungen über den Bodenverkehr und Umlegungen („Bodenordnung“), Enteignungen, die Erschließung von Grundstücken sowie Maßnahmen für den Naturschutz und Klimaschutz. In einem Zweiten Kapitel – „Besonderes Städtebaurecht“ – befasst sich das BauGB insbesondere mit Maßnahmen zur Bewältigung besonderer städtebaulicher Problemlagen. So sollen mit Hilfe von Sanierungsmaßnahmen städtebauliche Missstände in Gebieten mit veralteter Bausubstanz beseitigt und mit Hilfe von Entwicklungsmaßnahmen Siedlungsgebiete erweitert und entwickelt bzw neu erstellt werden. Darüber hinaus soll durch Maßnahmen des Stadtumbaus und der „Sozialen Stadt“ eine nachhaltige und sozial ausgewogene Stadtentwicklung gewährleistet werden. cc) Bauordnungsrecht. Anders als das flächenbezogene Bauplanungsrecht ist das Bauord- 6 nungsrecht objektbezogen und regelt die ordnungsrechtlichen Anforderungen an ein konkretes Bauwerk. Es dient zum einen der Gefahrenabwehr (ehemals: „Baupolizeirecht“) und zum anderen der Verhütung von Verunstaltungen, der Wahrnehmung sozialstaatlicher Anliegen sowie der Sicherung ökologischer Standards.5 dd) Verhältnis des Städtebaurechts zum Bauordnungsrecht. Beide Regelungskomplexe 7 stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern weisen materiell-rechtliche Überschneidungsbereiche auf und sind verfahrensrechtlich miteinander verklammert. So stellt das flächen-

_____ 5 Otto in: Finkelnburg/Ortloff/ders, BauR, Bd II, 7 f. Vgl auch § 3 I MBO sowie u Rn 195 ff.

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bezogene Städtebaurecht materiell-rechtliche Anforderungen an das konkrete Bauwerk insofern, als sich dieses in den festgelegten Charakter des jeweiligen Gebietes einzufügen hat. Andererseits stellt das objektbezogene Bauordnungsrecht nicht nur Anforderungen an die Konstruktion und Gestaltung der baulichen Anlagen, sondern enthält auch Regelungen über die Beziehungen des Bauwerks zu seiner Nachbarschaft. Dabei kann die Rechtsanwendung im Einzelfall besondere Rechtsprobleme aufwerfen, wenn sich die städtebaulichen und bauordnungsrechtlichen Bestimmungen nicht nur ergänzen, sondern einander mit unterschiedlichen Anforderungen gegenüberstehen.6 So kann es beispielsweise zu einem Konflikt zwischen planungsrechtlichen Vorschriften hinsichtlich überbaubarer Grundstücksflächen und bauordnungsrechtlichen Maßgaben für freizuhaltende Abstandsflächen kommen. Derartige Konflikte erfordern allgemeine (Art 31 GG) wie besondere Kollisionsnormen (zB § 6 I 3 MBO7). Eine verfahrensrechtliche Verklammerung von Städtebaurecht und Bauordnungsrecht erfolgt bei genehmigungsbedürftigen Vorhaben im bauordnungsrechtlich geregelten Baugenehmigungsverfahren (Rn 216 ff) und im Übrigen zB in den ebenfalls bauordnungsrechtlich geregelten Verfahren der Bauüberwachung und der (Wieder-)Herstellung baurechtmäßiger Zustände (Rn 222 ff). Ein konkretes Bauvorhaben muss sowohl den städtebaulichen als auch den bauordnungsrechtlichen Vorschriften genügen, so dass bei der Prüfung seiner Rechtmäßigkeit idR sowohl die planungsrechtliche als auch die bauordnungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens zu untersuchen ist.8

2. Die verfassungsrechtliche Vorordnung des Baurechts 8 Ebenso wie jedermann von Gestalt und Gestaltung des Raumes mehr oder minder intensiv betroffen ist, haben mehr oder minder alle Untergliederungen des politischen Gemeinwesens und Mitglieder der Gesellschaft Anteil an den Entscheidungen über die Raumgestaltung. Das gilt sowohl für den Staat in seiner Erscheinungsform vielgestaltiger Untergliederungen, der mit gesetzgeberischen und exekutiven Entscheidungen die Gestaltung und Entwicklung des Raumes betreibt, als auch für Private, die insbesondere mit ihren Entscheidungen über die bauliche und sonstige Nutzung von Grund und Boden an der Raumgestaltung beteiligt sind. Eine rechtliche Ordnung des Gesamtgeschehens muss daher einerseits eine Zuständigkeitsordnung sein, andererseits aber auch inhaltliche Vorgaben für staatliche und private Raumgestaltungsentscheidungen enthalten. Das Verfassungsrecht als Teil dieser rechtlichen Ordnung enthält Aussagen sowohl in der einen wie in der anderen Hinsicht.

a) Die bundesstaatliche Kompetenzverteilung für das öffentliche Baurecht 9 aa) Gesetzgebungszuständigkeiten. Nach dem prinzipiellen grundgesetzlichen Verteilungsmodus für die Gesetzgebungskompetenzen haben die Länder das Recht der Gesetzgebung, soweit nicht das GG dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verleiht (Art 70 I GG). Das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v 28.8.20069 (sog Föderalismusreform) hat die Kompetenzverteilung für das öffentliche Baurecht nicht wesentlich verändert. Der Bund hat danach im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung die Befugnis zur Gesetzgebung für den städtebaulichen Grund-

_____

6 Dazu ausf Proksch Das Bauordnungsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, 1981, 43 ff. Vgl auch BVerwG NVwZ 1994, 1008 f; NVwZ-RR 1997, 520 f. 7 § 5 I 2 BauO BW; Art 6 I 3 BauO Bay; § 6 I 3 BauO Bln; § 6 I 2 BauO Bbg; § 6 I 3 BauO Bremen; § 6 I 3 BauO Hbg; § 6 I 2, 3, 4 BauO Hess; § 6 I 3 BauO MV; § 5 V BauO Nds; § 6 I 2 BauO NW; § 8 I 2, 3, 4 BauO RP; § 7 I 2, 3, 4 BauO SL; § 6 I 3 BauO Sachs; § 6 I 3 BauO LSA; § 6 I 4 BauO SH; § 6 I 3 BauO Thür. 8 In der genannten Reihenfolge, vgl OVG Hamburg BRS 27, Nr 117; Erbguth in: BesVerwR (Fn 3) Rn 804. 9 BGBl I 2034. Vgl zu den für das öffentliche Baurecht relevanten Änderungen nur Erbguth in: BesVerwR (Fn 3) Rn 807 f; Battis/Krautzberger/Löhr NVwZ 2007, 121, 122; allg zur Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen Degenhart NVwZ 2006, 1209 ff.

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stücksverkehr und das Bodenrecht (Art 74 I Nr 18 GG),10 welche allerdings nunmehr nicht mehr den Voraussetzungen des Art 72 II GG unterliegt. Weiterhin darf der Bund – nun ebenfalls im Rahmen seiner konkurrierenden Zuständigkeit – ua die Bodenverteilung (Art 74 I Nr 30 GG) und die Raumordnung (Art 74 I Nr 31 GG) regeln, wobei den Ländern eine sog Abweichungskompetenz nach Art 72 III 1 Nr 3, 4 GG zukommt.11 Der Inhalt dieser Kompetenztitel ist und war insbesondere in der Vergangenheit nicht unumstritten.12 Praktische Aktualität erlangte der Streit anlässlich des Projektes eines (Bundes-) Baugesetzes, das das Bau-, Boden-, Planungs-, Anliegerund Umlegungsrecht im Zusammenhang und bundeseinheitlich regeln sollte. Zur Klärung des Umfanges der Bundeskompetenzen ersuchten Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung das BVerfG um die Erstattung eines Rechtsgutachtens,13 das diesem Antrag am 16.6.1954 entsprach.14 Das BVerfG geht davon aus, dass sich weder aus den im GG aufgeführten Einzelzuständigkeiten noch aus der „Natur der Sache“15 eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Gesamtmaterie des Baurechts herleiten lässt. Aus der „Natur der Sache“ habe der Bund eine ausschließliche Vollkompetenz nur hinsichtlich der „Raumplanung für den Gesamtstaat“.16 Für die Raumordnung im Übrigen (Landesplanung) komme ihm nur die in Art 75 I 1 Nr 4 GG aF vorgesehene Rahmengesetzgebungskompetenz zu, dh die Befugnis zu einer gesetzlichen Regelung, die einer landesgesetzlichen Ausfüllung fähig und bedürftig sein muss.17 Für das Städtebaurecht folgte nach dem Baurechtsgutachten des BVerfG aus Art 74 Nr 18 GG aF unter der Voraussetzung des Art 72 II GG aF eine Bundeszuständigkeit für die städtebauliche Planung, die Baulandumlegung, die Zusammenlegung von Grundstücken, den Bodenverkehr, die Bodenbewertung, soweit sie sich auf diese Gebiete bezieht, sowie die Erschließung.18 Durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v 27.10.199419 wurde Art 74 I Nr 18 GG aF geändert und das Recht der Erschließungsbeiträge von der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit ausgenommen. Seither unterfällt es der Kompetenz der Länder. Daneben verbleibt die Gesetzgebungsbefugnis für das Bauordnungsrecht und – im Rahmen des Raumordnungsrechts des Bundes – für das Landesplanungsrecht bei den Ländern. bb) Rechtsquellen. Der Bund hatte zunächst die ihm kraft „Natur der Sache“ zugestandene 10 Vollkompetenz für die Bundesraumordnung nicht vollständig ausgeschöpft. Das Raumordnungsgesetz (ROG) v 8.4.1965 stellte im Wesentlichen einen – weiten – Rahmen für die Landesraumordnung dar. Im ROG v 18.8.199720 machte der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz dadurch Gebrauch, dass er bundesweit geltende Leitvorstellungen und Grundsätze der Raumordnung normierte, die Rechtswirkungen bestimmter planerischer Aussagen mit unmittelbarer Geltung festlegte und zudem – wenige – Bestimmungen zur Raumordnung im Bund traf. Im

_____ 10 Vgl dazu nur BVerwGE 129, 318 ff; Kment in: Finkelnburg/Ortloff/ders, BauR I, 13. 11 Zum Inhalt und Umfang der Abweichungskompetenz der Länder im Bereich des Raumordungsgesetzes vgl u Rn 35 m Fn 119; zur Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen für Raumordnung und Bauleitplanung vgl Langguth ZfBR 2011, 436, 436 ff; vgl auch BVerwG NVwZ 2010, 587, 589. 12 Dazu Kunig in: v Münch/Kunig, GG II, Art 74 Rn 69 ff. 13 Nach § 97 BVerfGG aF, aufgehoben durch G v 21.7.1956, BGBl I 662. 14 BVerfGE 3, 407 ff; krit Schmidt-Aßmann FS Weyreuther, 1993, 73, 75 ff. 15 Zu diesem „ungeschriebenen“ Kompetenztitel vgl näher BVerfGE 11, 89, 96 ff; E 22, 180, 217; E 26, 246, 257; Degenhart Staatsrecht I, 27. Aufl 2011, Rn 174 f. 16 BVerfGE 3, 407, 427 f. Der Inhalt dieser Bundeskompetenz ist gleichwohl nicht endgültig geklärt. Zu den Fragen, die sich nach der sog Föderalismusreform stellen vgl u Rn 35 m Fn 119. 17 Vgl Art 75 II GG aF. 18 BVerfGE 3, 407, 439. Nach alledem ist der Begriff des „Bodenrechts“ (Art 74 I Nr 18 GG) weiter zu verstehen als der der „Bodenordnung“ iSd BauGB, vgl o Rn 5. 19 BGBl I 3146. 20 Inkraftgetreten am 1.1.1998 gem Art 11 I des G zur Änderung des Baugesetzbuchs und zur Neuregelung des Rechts der Raumordnung – BauROG v 18.8.1997, BGBl I 2081.

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Übrigen enthielt das Gesetz rahmenrechtliche Vorgaben für die Raumordnung in den Ländern, welche bis zur Novellierung des ROG v 22.12.200821 gemäß Art 125b I 1 GG fortgalten. Das ROG 2008 übernimmt weitgehend die Regelungen des ROG 1997. Die Neuregelung trägt der Neuverteilung der Zuständigkeiten durch die Föderalismusreform Rechnung22 und enthält dementsprechend statt der bisherigen rahmenrechtlichen Bestimmungen Vollregelungen. Außerdem erweitert es die Möglichkeiten des Bundes, auf die Raumordnung Einfluss zu nehmen. Der Bund hat damit von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz gem Art 72 I, 74 I Nr 31 GG Gebrauch gemacht. Die Landesraumordnung findet ihre landesrechtlichen Grundlagen in den Landesplanungsgesetzen sowie in Raumordnungsplänen, die zT in Gesetzesform gefasst sind (Rn 34 ff). 11 Von seinen städtebaurechtlichen Gesetzgebungskompetenzen hat der Bund weitgehend Gebrauch gemacht. Die erste bundesrechtliche Kodifikation enthielt das Bundesbaugesetz (BBauG) v 23.6.1960, das später durch das Städtebauförderungsgesetz (StBauFG) ergänzt wurde. Beide Gesetze fasste das Baugesetzbuch (BauGB) aus dem Jahre 1986 zusammen.23 Seit der Wiederherstellung der Deutschen Einheit galt es auch in den neuen Bundesländern und in Ost-Berlin, wurde dort allerdings zunächst durch eine Überleitungsvorschrift modifiziert und durch das Maßnahmengesetz zum Baugesetzbuch (BauGBMaßnG)24 v 17.5.1990 ergänzt.25 Bereits 1993 wurden einige der Regelungen des BauGBMaßnG in das BauGB übernommen.26 Die Sonderregelungen für die neuen Bundesländer wurden zT gestrichen und zT in das BauGBMaßnG aufgenommen, das zugleich auch in den alten Bundesländern in Kraft gesetzt wurde. Durch Art 1 des Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs und zur Neuregelung des Rechts der Raumordnung (BauROG) v 18.8.199727 wurden die unterschiedlichen städtebaurechtlichen Rechtsquellen im BauGB wieder zusammengeführt. Das BauGB wurde ua durch aus dem BauGBMaßnG stammende Regelungen ergänzt bzw modifiziert28 und gilt seit dem 1.1.1998 einheitlich in allen Bundesländern. Durch das Gesetz zur Anpassung des Baugesetzbuchs an EU-Richtlinien (Europarechtsanpassungsgesetz Bau – EAG Bau) v 24.6.200429 hat es umfangreiche Änderungen erfahren, die in erster Linie seiner Anpassung an europarechtliche Vorgaben30 dienen.31 Aufgrund dessen wurde das BauGB am 23.9.2004 neu bekannt gemacht.32 Am 1.1.2007 ist das Gesetz zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte (BauGB 2007) v 21.12.200633 in Kraft getreten und sollte ua mit der Regelung in § 13a BauGB nF einer ungebremsten Außenentwicklung bestehender Sied-

_____ 21 BGBl I 2986. Der 3. und 4. Abschnitt traten am 31.12.2008 in Kraft; der 1. und 2. Abschnitt traten, bedingt durch Art 72 III 2 GG, am 30.6.2009 in Kraft. 22 BT-Drs 16/10292 S 1. Zu Anlass und Entstehungsgeschichte des ROG vgl Stüer Bau- und Fachplanungsrecht, Rn 4891 ff; Krautzberger/ders BauR 2009, 180 ff. 23 Zum Inhalt vgl o Rn 5. Zur Entwicklung des Städtebaurechts davor und insgesamt Ehebrecht-Stüer FS Hoppe, 2000, 39 ff; Peine BauR, Rn 62 ff; Krautzberger NVwZ 2010, 729 ff. 24 Eine Übersicht zum BauGBMaßnG idF v 1990 bei Jäde UPR 1991, 50 ff. 25 Es sollte insbes helfen, den damaligen Engpass in der Wohnraumversorgung durch rechtliche Erleichterungen des Wohnungsbaus zu beseitigen und war zunächst bis zum 1.6.1995 und dann bis zum 31.12.1997 befristet. 26 Durch Art 2 des G zur Erleichterung von Investitionen und der Ausweisung und Bereitstellung von Wohnbauland – InvWoBaulG v 22.4.1993, BGBl I 446. Dazu zB Krautzberger NVwZ 1993, 520 ff; Lüers ZG 1993, 225 ff. 27 BGBl I 2081. 28 Dazu zB Battis/Krautzberger/Löhr NVwZ 1997, 1145 ff; Lüers ZfBR 1997, 231 ff, 275 ff. 29 BGBl I 1359. 30 Laut amtlicher Fußnote im BGBl dient das EAG Bau der Umsetzung der Richtlinien 2001/42/EG v 27.6.2001, ABlEG Nr L 197, 30 (sog Plan-UP-Richtlinie) sowie 2003/35/EG v 26.5.2003, ABlEU Nr L 156, 17. Nach der Begründung des Gesetzentwurfs wurde es ferner „zum Anlass genommen, der gemeindlichen Bauleitplanung ein einheitliches und übersichtliches Verfahren zur Verfügung zu stellen, mit dem den komplexen Anforderungen an die räumliche Planung effizient Rechnung getragen werden kann und das seiner besonderen Bedeutung für die nachhaltige Entwicklung in Deutschland gerecht wird“ (vgl BT-Drs 15/2250 S 29). 31 Vgl zu den Änderungen Finkelnburg NVwZ 2004, 897 ff. 32 BGBl I 2414. 33 BGBl I 3316.

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lungen entgegenwirken.34 Die sog Klimaschutznovelle (Gesetz zur Förderung des Klimaschutzes bei der Entwicklung in den Städten und Gemeinden) v 22.07.201135 ist nunmehr der erste Teil einer bereits länger geplanten Reform des BauGB.36 Sie soll dem Klimawandel entgegenwirken.37 Dafür stellt sie den Städten und Gemeinden städtebauliche Instrumente zur Verfügung, welche die Berücksichtigung von Klimaschutzbelangen bei der Abwägung festigen.38 Die Baunutzungsverordnung (BauNVO),39 die nunmehr auf § 9a BauGB beruht, ergänzt 12 die Bestimmungen des BauGB über die gemeindliche Bauleitplanung und die planungsrechtliche Zulässigkeit baulicher und sonstiger Anlagen. Ua vertypt und konkretisiert sie die Festsetzungen der Bebauungspläne, deren Bestandteil sie nach § 1 III 2 BauNVO zT werden kann (Rn 86). Darüber hinaus kann sie über § 34 II BauGB auch Bedeutung für die Zulässigkeit von Bauvorhaben in bestimmten Ortsteilen erlangen, die nicht im Geltungsbereich eines qualifizierten oder vorhabenbezogenen Bebauungsplans liegen (Rn 136). Die aufgrund von § 9a Nr 4 BauGB erlassene Planzeichenverordnung (PlanzV) bestimmt im 13 Wesentlichen die technischen Darstellungsmöglichkeiten und Planzeichen, die die Gemeinden bei der Erstellung der Bauleitpläne verwenden können. Die aufgrund von § 199 I BauGB ergangene Immobilienwertermittlungsverordnung (ImmoWertV) regelt, wie der Wert eines Grundstücks zu bestimmen ist, sofern es auf ihn im Zusammenhang mit städtebaulichen Maßnahmen ankommt. Das Bauordnungsrecht fällt in die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder und ist damit 14 – ähnlich wie zB das Kommunalrecht – unterschiedlichen landesrechtlichen Regelungen zugänglich. Dem wirkt faktisch eine Musterbauordnung (MBO) entgegen, die eine Bund-LänderKommission 1959 erstmals erarbeitet hat und deren jetziger Fassung ein Beschluss v 20.10.2008 der Arbeitsgemeinschaft der für das Bau-, Wohnungs- und Siedlungswesen zuständigen Minister der Länder (ARGEBAU) zugrunde liegt.40 An der MBO haben sich die landesgesetzlichen Landesbauordnungen (LBauOen) aller Bundesländer ausgerichtet. Allerdings haben die Länder bezüglich ihrer seit 1994 getroffenen Regelungen zur Vereinfachung, Beschleunigung oder Abschaffung des Baugenehmigungsverfahrens erst 2002 eine Abstimmung durch Änderung der MBO herbeigeführt. Insofern differiert das Landesrecht noch immer teilweise.41 cc) Verwaltungszuständigkeiten. Gem Art 83 GG führen grundsätzlich die Länder die Bun- 15 desgesetze als eigene Angelegenheiten aus. Die Länder haben also nicht nur die Verwaltungszuständigkeit für das landesgesetzlich geregelte Bauordnungsrecht, sondern auch für das bundesrechtlich geregelte Städtebaurecht.

b) Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden Das Verfassungsrecht enthält nicht nur in Art 83 GG Vorgaben für die Verteilung exekutiver Ent- 16 scheidungszuständigkeiten. Zudem bestimmt Art 28 II 1 GG im Verbund mit den entsprechenden

_____ 34 BR-Drs 558/06; BT-Drs 16/2496. Einen Überblick über die Änderungen geben ua Battis/Krautzberger/Löhr NVwZ 2007, 121 ff; Stemmler/Hohrmann ZfBR 2007, 224 ff; Stüer DVBl 2008, 270 ff. 35 BGBl I 1509. 36 Überblick über Geschichte und Inhalte der Klimaschutznovelle und der geplanten weiteren Änderungen bei Wilke BauR 2011, 1744 ff; Stüer/Stüer DVBl 2011, 1117 ff. 37 BT-Drs 17/6253; zu ähnlichen Bestrebungen im Bauordnungsrecht der Länder vgl Otto ZfBR 2008, 550 ff. 38 Söfker ZfBR 2011, 541 ff; Stüer/Stüer DVBl 2011, 1117 ff; Wilke BauR 2011, 1744 ff; zT sind die Änderungen lediglich klarstellend, vgl Battis/Krautzberger/Mischang/Reidt/Stüer NVwZ 2011, 897 ff. 39 Dazu zB Boeddinghaus BauNVO; Fickert/Fieseler BauNVO; König/Roeser/Stock BauNVO. 40 Text der MBO 2008 mit Begr im Internet, http://www.is-argebau.de (Stand: 1.2.2011); zur MBO 2002 vgl Jäde Musterbauordnung (MBO 2002), 2003. 41 Dazu u Rn 218, 221. Zur Novellierung der MBO Jäde ZfBR 2008, 538 ff.

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landesverfassungsrechtlichen Normen, 42 dass den Gemeinden das Recht gewährleistet sein muss, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Sofern staatliche Entscheidungen über Raumgestaltung und Raumnutzung in den verfassungsrechtlich geschützten Bereich gemeindlicher Selbstverwaltung fallen, werden die Gesetze über die Art und Weise der gemeindlichen Beteiligung an diesen Entscheidungen und die Gesetzesanwendung durch die Verfassungsgarantie mitbestimmt. 17 Tatsächlich sind die Gemeinden im Bereich des Baurechts einerseits in den gesamten staatlichen Entscheidungsprozess in vielfältiger Weise einbezogen und andererseits bei ihren Entscheidungen durch gesetzliche Vorgaben oder Entscheidungen anderer Verwaltungsträger vielfach fremdbestimmt. So weist zB § 1 III 1 BauGB die Aufstellung der Bauleitpläne den Gemeinden zu, statuiert aber zugleich dieses Planungsrecht als Planungspflicht, „sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist“ (Rn 90 ff). Zwar sind die Bauleitpläne gem § 2 I 1 BauGB von der Gemeinde „in eigener Verantwortung“ aufzustellen, allerdings unterliegen sie inhaltlich dabei einer Anpassungspflicht an die ihnen vorgegebenen Ziele der Raumordnung (§ 1 IV BauGB). Nach § 203 BauGB ist sogar eine Übertragung von Planungsaufgaben auf eine andere Gebietskörperschaft (Abs 1) oder auf Verbandsgemeinden, Verwaltungsgemeinschaften bzw ähnliche gesetzliche Zusammenschlüsse (Abs 2) zulässig,43 und nach § 205 BauGB ist der Zusammenschluss verschiedener Gemeinden zu Planungsverbänden nicht nur freiwillig (Abs 1), sondern auch zwangsweise möglich,44 „wenn dies zum Wohl der Allgemeinheit dringend geboten ist“ (Abs 2 S 1). Im Übrigen unterliegen die gemeindlichen Flächennutzungspläne gem § 6 I BauGB der staatlichen Genehmigungspflicht. Das gilt unter den Voraussetzungen des § 10 II BauGB auch für bestimmte Bebauungspläne.45 Die Gemeinden stehen damit auch bei städtebaulichen Entscheidungen unter staatlicher Aufsicht. Bei der Wahrnehmung der Aufgaben der Bauordnung, sofern das Gesetz sie nicht ohnehin anderen Verwaltungsträgern zuweist,46 kann diese Aufsicht über eine Rechtsaufsicht hinausgehend zu einer inhaltlichen Aufsicht gesteigert sein. Die Zulässigkeit derartiger Modifikationen und Beeinflussungen gemeindlicher Entschei18 dungsprozesse hängt von Art 28 II 1 GG bzw den entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Garantien ab, soweit die von den Gemeinden wahrgenommenen Aufgaben zu den „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ zählen. Dieser schwierige und in seinem Verständnis umstrittene Begriff bedarf hier keiner näheren Erörterung. Er ist zum einen oben47 dargelegt und zum anderen besteht zumindest grundsätzlich Einigkeit, dass die (Raum-)Planungshoheit, verstanden als die „Befugnis, für das eigene Gebiet die wesentlichen Festsetzungen der Bodennutzung zu treffen“,48 dem verfassungsrechtlichen Garantiebereich zuzuordnen ist.49 Die Zuweisung der Bauleitplanung in die eigene Verantwortung der Gemeinden durch § 2 I 1 BauGB ist demnach eine verfassungsrechtliche Konsequenz, und die genannten Planungs-, Anpassungsund Genehmigungspflichten müssen sich an Art 28 II 1 GG messen lassen.

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42 Zum Verhältnis der grundgesetzlichen zu den landesverfassungsrechtlichen Garantien o Röhl 1. Kap Rn 58. 43 Zur – im konkreten Fall unzulässigen – Übertragung der Flächennutzungsplanung auf die brandenburgischen Ämter VerfG Bbg LKV 2002, 516 ff = DVBl 2002, 789 (LS). 44 Vgl Bsp für eine Zwangsverbandsbildung nach dem früheren, inhaltsgleichen § 4 II BBauG: NdsOVG BRS 28, Nr 16. 45 Nach Maßgabe des § 246 Ia BauGB können die Länder bestimmen, dass Bebauungspläne, die keiner Genehmigung bedürfen, der Aufsichtsbehörde anzuzeigen sind. Dazu u Rn 119. 46 Zu den die Aufgaben des Bauordnungsrechts wahrnehmenden Bauaufsichtsbehörden vgl u Rn 208. 47 o Röhl 1. Kap Rn 27. 48 o Röhl 1. Kap Rn 31. 49 BVerfGE 56, 298, 317 f o JK GG Art 28 II/5; E 76, 107, 117 f o JK BVerfGG § 91/1; E 103, 332, 365 f; BVerwGE 81, 95, 106; E 90, 96, 100; E 90, 329, 335 f; E 118, 181, 184 ff; VGH BW NVwZ 1996, 281, 283; Stüer NVwZ 2004, 814, 815; Oebbecke FS Hoppe, 2000, 239, 240 f; Widera Zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung gemeindlicher Planungshoheit, 1985, 83 ff jeweils mwN; vgl auch Schmehl BayVBl 2006, 325 mwN aus der Rspr.

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Die Raumordnung von Bund und Ländern ist demgegenüber schon begrifflich „überört- 19 liche“ Planung und damit gerade keine „örtliche Angelegenheit“ iSd kommunalen Selbstverwaltungsgarantien. Allerdings kann die schon erwähnte Pflicht der Gemeinden, ihre Bauleitpläne den Zielen der Raumordnung anzupassen (§ 1 IV BauGB50), die gemeindliche Autonomie in der Verwirklichung der eigenen Planungsabsichten beachtlich einschränken, so dass sich die Frage nach der Vereinbarkeit der überörtlichen Raumordnung mit dem Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden stellt.51 Insofern ist zunächst zu bedenken, dass die überörtliche Planung ebenso als staatliche Angelegenheit geboten ist wie die örtliche. Überörtliche Planung muss sich aber notwendig örtlich auswirken und kann schon von daher nicht von vornherein unzulässig sein. Man mag deshalb die Restriktionen der gemeindlichen Planungen als Beschränkung der verfassungsrechtlich geschützten Planungshoheit sehen, die so weit zulässig bleibt, wie sie die Selbstverwaltungsgarantie nicht aushöhlt,52 oder aber die Anpassungspflicht nicht als Eingriff in das Selbstverwaltungsrecht, sondern vielmehr als zulässige Beschreibung seines Umfanges deuten, solange die staatlichen Planungsinstanzen bei der Ausgestaltung hinreichend Rücksicht auf die gemeindlichen Belange nehmen.53 Jedenfalls besteht vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie die Notwendigkeit eines Ausgleichs zwischen staatlichen und gemeindlichen Planungsbefugnissen. Von daher wird zT ein „neues Selbstverwaltungsverständnis“ gefordert, das „jedenfalls in den Überschneidungsbereichen ein Kondominium staatlicher und kommunaler Planungshoheit“ anerkenne, welches durch Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte der Gemeinde an den höherstufigen Planungen (Rn 50, 58) herzustellen sei.54 Gegen eine solche Konzeption bestehen indes Bedenken. Die parallele Diskussion in der Grundrechtsdogmatik lehrt, dass die Einräumung von Verfahrensbeteiligungen („status processualis“) als flankierender Freiheitsschutz der zusätzlichen Absicherung der geschützten Autonomie, nicht aber der Kompensation von Autonomieverlusten zu dienen hat.55 Demnach ist auch ein Ausgleich von überörtlicher und örtlicher Planung geboten. Daraus folgt, dass ein pauschaler Vorrang der überörtlichen Raumplanung mit der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie unvereinbar sein muss, so dass eine Ermächtigung zu staatlicher Einflussnahme auf die Planung rein örtlicher Angelegenheiten unzulässig wäre.56 Vielmehr muss der Gemeinde die Möglichkeit planerischer Berücksichtigung und Entwicklung der eigenen Bedürfnisse bleiben.57 Meint man, die Selbstverwaltungsgarantie des Art 28 II 1 GG verleihe den Gemeinden eine Rechtsstellung, die in ihren Strukturen dem grundrechtlichen Abwehrstatus ähnele,58 ist zu erwägen, den Ausgleich zwischen staatlicher und gemeindlicher Planung nach den Grundsätzen

_____ 50 Zusätzlich enthalten zT die LPlGe wie zB §§ 34 f LPlG NW Anpassungspflichten. Dazu Rn 39 m Fn 144. 51 Dazu Brohm DÖV 1989, 429 ff; Hoppe FS v Unruh, 1983, 555 ff; Langer VerwArch 80 (1989) 352 ff; BVerfGE 76, 107, 117 ff o JK BVerfGG § 91/1; VerfGH NW NVwZ 2009, 1287 m Anm Kaltenborn/Würtenberger NVwZ 2010, 236 ff. Vgl auch Blümel/Pfeil VerwArch 88 (1997) 353 ff zum Verhältnis Raumordnungsverfahren – kommunale Selbstverwaltungsgarantie. 52 BVerfGE 76, 107, 118 o JK BVerfGG § 91/1; E 103, 332, 365 f; BVerwGE 90, 329, 335; Krautzberger in: Battis/ders/ Löhr, BauGB, § 1 Rn 34. 53 In diesem Sinne Oldiges in: Steiner, BesVwR, Abschn III Rn 35. 54 Oldiges (Fn 53) Rn 36; vgl auch Pappermann JuS 1973, 689, 691. 55 Erichsen Kommunalrecht des Landes Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl 1997, 374. Zur Notwendigkeit von Verfahrensregelungen zur Verwirklichung realer Freiheit BVerfGE 52, 380, 389; BVerfG NJW 1981, 1436, 1437; Häberle VVDStRL 30 (1972) 43 ff; Goerlich Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981. 56 BVerwGE 6, 342, 347. 57 Zum Verhältnis von kommunaler Selbstverwaltung und Planung insbes Hoppe FS v Unruh, 1983, 555 ff; Oebbecke FS Hoppe, 2000, 239 ff. 58 Vgl so zB Erichsen (Fn 55) 375 f; Oebbecke FS Hoppe, 2000, 239, 242; J. Ipsen ZG 1994, 194, 199 ff, 211 f; Schink VerwArch 81 (1990) 385, bes 402.

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des Übermaßverbotes vorzunehmen.59 Das Übermaßverbot ist jedoch vornehmlich ein Strukturprinzip des abwehrrechtlichen Grundrechtsschutzes.60 Das spricht gegen seine Anwendbarkeit im Bereich institutioneller Garantien und im Bereich der staatlichen Funktionengliederung. Das Übermaßverbot hat im Rahmen des Art 28 I 1 GG daher zumindest insofern keinen Anwendungsbereich, als es um gesetzliche Ausgestaltungen der institutionellen kommunalen Selbstverwaltungsgarantie61 und nicht um Eingriffe in die individuelle Rechtsstellung einer einzelnen Gemeinde geht.62 Beschränkungen der institutionellen Garantie des Art 28 II 1 GG sind also nicht am Übermaßverbot, sondern vielmehr an dem spezifischen „verfassungsrechtlichen Aufgabenverteilungsprinzip“63 des Art 28 II 1 GG zu messen, demzufolge der Vorrang der gemeindlichen Aufgabenwahrnehmung in Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft nur ausnahmsweise aus „überwiegenden Gründen“64 durchbrochen werden darf. Mag auch die Dichte der damit bestehenden Bindung des Gesetzgebers weniger hoch sein als eine durch das Übermaßverbot bewirkte,65 so werden sich beide doch zumindest ähneln.66 Für das Verhältnis von überörtlicher und örtlicher Planung bedeutet das ua, dass der Gesetzgeber nicht nur sicherzustellen hat, dass die Gemeinden in höherstufigen Planungsverfahren zu beteiligen sind, sondern auch, dass ihre Belange mit den Belangen der überörtlichen Planung abzuwägen sind.67 Die Frage des verfassungsrechtlichen Schutzes der Gemeinden bei der Wahrnehmung von 20 Bauordnungsaufgaben wird man differenziert zu beantworten haben. Jedenfalls können Entscheidungen der Bauaufsichtsbehörden auch planerischen Charakter haben und damit das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinde berühren. Das ist etwa dann der Fall, wenn die zuständige Behörde bei der Genehmigung eines Bauvorhabens von den planerischen Festsetzungen der Gemeinde abweichen will. § 36 BauGB verlangt deshalb dafür das Einvernehmen mit der Gemeinde. Im Übrigen wirkt sich bei der Beurteilung der Bauordnungsaufgaben die Entwicklung des Bauordnungsrechts aus dem Baupolizeirecht68 aus. „Baupolizei“ ist als „Polizei“ traditionell keine gemeindliche, sondern staatliche Aufgabe. Konsequenz dieses Verständnisses ist es, dass die Bauaufsichtsbehörden, sofern es sich um gemeindliche Behörden handelt, einer staatlichen Aufsicht unterstellt sind, die über die Rechtmäßigkeitsaufsicht hinausgeht. Diese Sicht ist plausibel, soweit Aufgaben der Gefahrenabwehr wahrgenommen werden. Sie wird aber fraglich, wo der Vollzug des Bauordnungsrechts anderen Funktionen wie zB der Wahrnehmung bauästhetischer Standards dient,69 da lokale Kulturpflege ohne weiteres als „örtliche Angelegenheit“ iSd Art 28 I 1 GG angesehen werden kann. Bezeichnenderweise sehen die Landesbauordnungen für örtliche Gestaltungsvorschriften eine Regelung durch Satzung, dh durch das typische Rege-

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59 BVerfGE 76, 107, 119 ff o JK BVerfGG § 91/1; E 103, 332, 366 f; VerfGH NW DVBl 1990, 417, 419; NVwZ 2009, 1287, 1288; Oebbecke FS Hoppe, 2000, 239, 250 f; Schink VerwArch 81 (1990) 385, bes 402; Erichsen (Fn 55) 375 f; Erbguth in: BesVerwR (Fn 3) Rn 814; ders (Fn 3) § 2 Rn 17; Stüer Handbuch, Rn 149. 60 Schmidt-Aßmann FS Sendler, 1991, 121, 135 f; Ossenbühl FS Lerche, 1993, 151, 160 ff; Frenz DV 28 (1995) 33, 36 ff; vgl auch D. Merten FS Schambeck, 1994, 349, 372 ff; Krebs Jura 2001, 228, 233; ders in: Merten/Papier, HdbGR II, § 31 Rn 87 ff. 61 Vgl BVerfGE 79, 127, 150 ff o JK GG Art 28 II/17. Dazu Schmidt-Aßmann FS Sendler, 1991, 121, 135 ff; Ossenbühl FS Lerche, 1993, 151, 160 ff; Schoch VerwArch 81 (1990) 18, 33 ff; Schink VerwArch 81 (1990) 385 ff. 62 Vgl Schmidt-Aßmann FS Sendler, 1991, 121, 136; Clemens NVwZ 1990, 834, 835, die eine – analoge – Anwendung des Übermaßverbotes bei gezielten individuellen Eingriffen nicht ausschließen. 63 BVerfGE 79, 127, 150 o JK GG Art 28 II/17. 64 BVerfGE 79, 127, 154 o JK GG Art 28 II/17. 65 Vgl Schmidt-Aßmann FS Sendler, 1991, 121, 137 f. 66 Vgl Schink VerwArch 81 (1990) 385, 401; Brohm BauR, § 9 Rn 6 ff. 67 Stüer (Fn 59) Rn 149, bes 153 f, 197; ders NVwZ 2004, 814. Vgl auch BVerwG NJW 1978, 119, 120; NVwZ 1993, 167, 168; BVerwGE 90, 96, 100; E 90, 329, 335 f; bezogen auf eine Entscheidung nach § 38 BauGB aF OVG RP DVBl 1995, 251, 251 f. 68 Dazu statt anderer Brohm (Fn 66) § 1 Rn 10 ff sowie u Rn 196. 69 Vgl Muckel BauR, § 9 Rn 70 ff.

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lungsinstrument der Selbstverwaltungskörperschaften70 und nicht durch ordnungsbehördliche Verordnung vor.71 Zählt eine Aufgabe zu den „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ iSd Art 28 II 1 GG 21 und der entsprechenden Normen des Landesverfassungsrechts, so ist den Gemeinden die Befugnis gegeben, sie „in eigener Verantwortung“ zu regeln. Aus dieser verfassungsrechtlichen Aufgaben- und Modalitätsgarantie folgt nun nicht, dass jegliche Minderung des gemeindlichen Aufgabenbestandes oder jegliche Begrenzung kommunaler Autonomie verfassungsrechtlich unzulässig wäre. So ist eine der Einfügung der kommunalen Gebietskörperschaften in das Gesamtgefüge staatlicher Verwaltungsorganisation und der selbstverständlichen Rechtsbindung der Gemeinden (Art 20 III GG) korrespondierende Rechtsaufsicht verfassungsrechtlich wenn nicht geboten, so doch zulässig. Die Aufsicht darf bei reinen Selbstverwaltungsangelegenheiten allerdings nicht über die Rechtsaufsicht hinausgehen. Beschneidungen des gemeindlichen Aufgabenbestandes und Schmälerungen der gemeind- 22 lichen Selbstverwaltung sind zwar nicht per se unzulässig, ihnen gegenüber wirken aber die verfassungsrechtlichen Schutzmechanismen, die Art 28 II 1 GG und das entsprechende Landesverfassungsrecht vorhalten. So stellt Art 28 II 1 GG die Selbstverwaltungsgarantie ausdrücklich unter Gesetzesvorbehalt. Als weiterer Schutzmechanismus tritt das „verfassungsrechtliche Aufgabenverteilungsprinzip“ des Art 28 II 1 GG (Rn 19) hinzu, so dass Begrenzungen und Restriktionen des gemeindlichen Selbstverwaltungsrechts, wie schon die obige Diskussion zur Zulässigkeit überörtlicher Planungen gezeigt hat, besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen müssen. Der Gesetzesvorbehalt steht zum gemeindlichen Selbstverwaltungsrecht in einem ambivalenten Verhältnis. Zum einen trägt er zum Schutz des Selbstverwaltungsrechts bei, da es exklusiv dem Gesetzgeber vorbehalten ist, Abstriche am kommunalen Aufgabenbestand und an der gemeindlichen Selbstverwaltung vorzunehmen. Begrenzungen des Selbstverwaltungsrechts bedürfen zwar nicht notwendig immer der Form des formellen Gesetzes, müssen aber, sofern sie nicht gesetzesförmlich vorgenommen werden, eine hinreichend bestimmte gesetzliche Ermächtigung haben.72 Demnach kann auch die Verbindlichkeit der Ziele der Raumordnung nicht davon abhängen, ob sie in Gesetzesform ergehen (Rn 72). Notwendig ist nur, dass ihnen ein Gesetz zugrundeliegt, das ihre Aufstellung vorsieht. Zum anderen gefährdet der Gesetzesvorbehalt Aufgaben und Autonomie der Gemeinden. Gesetzliche Minderungen des Selbstverwaltungsrechts der Gemeinden sind daher nur zulässig, wenn sie sich an ihre verfassungsrechtlichen Grenzen halten. Dabei ist umstritten, ob diese Grenze nur durch die schon erwähnte Aufgabenverteilungsregel des Art 28 II 1 GG markiert wird,73 oder ob über diesen relativen Schutz hinaus die Verfassungsgarantien auch eine absolute, gesetzesfest garantierte Substanz aufweisen.74 Vergegenwärtigt man sich den Sinn und Zweck der institutionellen Garantie des Art 28 II 1 GG, so wird man der letzteren Auffassung zu folgen und die gesetzgeberisch unübersteigbare Grenze dort festzumachen haben, wo die gemeindliche

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70 Vgl o Röhl 1. Kap Rn 133 ff. 71 § 74 I BauO BW; Art 81 I BauO Bay; § 81 I BauO Bbg; § 85 I BauO Bremen; § 81 I BauO Hess; § 86 I BauO MV; § 84 III, IV BauO Nds; § 86 I BauO NW; § 88 I BauO RP; § 85 I BauO SL; § 89 I BauO Sachs; § 85 I BauO LSA; § 84 I BauO SH; § 83 I BauO Thür. In den Stadtstaaten Berlin und Hamburg ergehen örtliche Gestaltungsvorschriften als RVO, vgl § 84 I Nr 1 BauO Bln, § 81 I Nr 1, 2 BauO Hbg. Zum Erlass örtlicher Bauvorschriften durch die Gemeinde Manssen Stadtgestaltung durch örtliche Bauvorschriften, 1990; ders DV 24 (1991) 33 ff. 72 BVerfGE 26, 228, 237; E 56, 298, 309 o JK GG Art 28 II/5; E 76, 107, 117 o JK BVerfGG § 91/1; E 107, 1, 15. 73 So v Mutius StuGR 1981, 161, 163 f; Schink DVBl 1983, 1165, 1171 f. 74 Dafür BVerfGE 1, 167, 174 f; E 38, 258, 278 f; E 76, 107, 118 o JK BVerfGG § 91/1; E 79, 127, 146 ff o JK GG Art 28 II/17; 91, 228, 238 f o JK GG Art 28 II/22; E 107, 1, 12 f; E 125, 141, 167 f; Stern StR I, § 12 II 4d (S 416); Erichsen (Fn 55) 371 ff; Funke/Schroer ZG 1986, 256, 261. Zur Frage, ob und inwieweit die Selbstverwaltungsgarantie aus Art 28 II 1 GG „europafest“ ist, zB VerfGH RP BauR 2006, 59 (62 f); Erbguth (Fn 3) § 2 Rn 23; Papier DVBl 2003, 686 (691).

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Selbstverwaltung als verfassungsrechtlich gewollte Einrichtung leer zu laufen droht. Um diese Grenzlinie zu markieren, sind Kernbereichslehren entwickelt worden, auf die hier verwiesen werden kann.75 Zu diesem Kernbereich zählt nach nahezu unumstrittener Auffassung in der Literatur die Befugnis, Bebauungspläne aufzustellen,76 und nach umstrittener Auffassung auch die zur Aufstellung von Flächennutzungsplänen.77 Man sollte diesem Streit und der Schwierigkeit der Bestimmung des Kernbereichs allerdings keine allzu große praktische Bedeutung zumessen, weil einerseits auch der Kernbereich keinen fest umrissenen Aufgabenkatalog garantiert78 und andererseits jenseits des Kernbereichs der staatliche Zugriff auf die Gemeinden vor dem Aufgabenverteilungsprinzip des Art 28 II 1 GG Bestand haben muss. 23 Zu beachten ist, dass der beschriebene – absolute – Schutz institutionell garantiert ist. Dh zum einen, dass es sich um einen objektivrechtlichen Schutz handelt, und zum anderen, dass er nicht individuell, also nicht zugunsten der einzelnen Gemeinde wirkt. Demnach wäre zB eine totale Verlagerung der örtlichen Planungsaufgaben auf staatliche Verwaltungsbehörden mit der institutionellen Garantie – absolut – unzulässig, während der Entzug von Planungsaufgaben im Einzelfall (§ 203 BauGB) nicht prinzipiell ausgeschlossen ist. 24 Art 28 II GG enthält jedoch nicht nur eine objektivrechtliche Gewährleistung, sondern garantiert den Gemeinden auch eine subjektive Rechtsstellung. Diese verleiht den Gemeinden die Prozessführungs- bzw Klagebefugnis, mit deren Hilfe sie (verfassungs-)rechtlich unzulässige Eingriffe in ihren Selbstverwaltungsbereich gerichtlich abwehren können.79 Daher können die Gemeinden Maßnahmen staatlicher Bauaufsichtsbehörden, zB Baugenehmigungen, anfechten, wenn diese ihre Planungshoheit verletzen.80 Das kann im Einzelfall auch durch einen Verstoß gegen eine bauordnungsrechtliche Bestimmung geschehen, wenn diese der Sicherung der Planungsbefugnisse der Gemeinde zu dienen bestimmt ist.81 Anfechtbar sind bei Betroffenheit des Selbstverwaltungsrechts auch Planfeststellungen im Rahmen von Fachplanungen.82 25 Die objektiv- wie subjektivrechtlichen Gewährleistungen der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantien wirken nicht nur vertikal gegenüber staatlichen Instrumenten, sondern auch horizontal im Verhältnis der Gemeinden untereinander.83 Einfachgesetzliche Konsequenz dieser verfassungsrechtlichen Vorgabe ist das interkommunale Abstimmungs- bzw Abwägungsgebot84 des § 2 II BauGB, dh die Pflicht, die Bauleitpläne benachbarter Gemeinden aufeinander

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75 Vgl o Röhl 1. Kap Rn 43 sowie ausf Erichsen (Fn 55) 371 ff. 76 Vgl Just in: Hoppe/Bönker/Grotefels, BauR, § 2 Rn 35; Erbguth (Fn 3) § 2 Rn 18; Funke/Schroer ZG 1986, 256, 262. Gegen die Zugehörigkeit zum Kernbereich Clemens NVwZ 1990, 834, 838. Die Rspr hat bisher offengelassen, inwieweit die Planungshoheit zum Kernbereich zählt, BVerfGE 56, 298, 313 o JK GG Art 28 II/5; E 76, 107, 118 f o JK BVerfGG § 91/1; E 103, 332, 366; VGH BW NVwZ 1990, 390, 390. Differenzierend o Röhl 1. Kap Rn 43. 77 Für ihre Zugehörigkeit zum Kernbereich zB Erbguth (Fn 3) § 2 Rn 18; Stüer (Fn 59) Rn 148 f mwN; Löhr Die kommunale Flächennutzungsplanung, 1977, 111; Funke/Schroer ZG 1986, 256, 262. Dagegen Schmidt-Aßmann Fortentwicklung des Rechts im Grenzbereich zwischen Raumordnung und Städtebau, 1977, 37 ff; ders VerwArch 71 (1980), 117, 130; Heinemann DÖV 1982, 189, 191 ff. Offengelassen in VerfG Bbg LKV 2002, 516, 516 = DVBl 2002, 789 (LS). 78 Vgl BVerfGE 79, 127, 146 o JK GG Art 28 II/17; E 107, 1, 12. 79 Redeker/v Oertzen VwGO § 42 Rn 76, 78-80. Zur umstrittenen Frage, ob und wo dieser Rechtsschutzanspruch verfassungsrechtlich fundiert ist, vgl Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, GG, Art 19 IV Rn 43 und Schenke in: BK, Art 19 IV Rn 83. 80 BVerwGE 22, 342, 347; NVwZ 1982, 310, 311 o JK GG Art 28 II/6; NVwZ 1985, 566, 566; BayVGH NVwZ 1998, 205 ff. 81 NdsOVG NVwZ-RR 1995, 498; BayVGH NVwZ 1998, 205 ff; vgl auch BVerwG NVwZ 2000, 1048 ff. 82 Vgl im Zusammenhang mit dem Ausbau einer Bundesstraße BVerwG BauR 2003, 205; mit einem luftverkehrsrechtlichen Genehmigungsverfahren BVerwG NJW 1980, 718, 719; mit dem damaligen § 36 BBahnG BVerwGE 31, 263, 264; NVwZ 1984, 584, 584; mit einem abfallrechtlichen Planfeststellungsverfahren VGH BW NVwZ 1996, 281 ff; zum Gesamtkomplex ausf Stühler JuS 1999, 234 ff; Stüer NVwZ 2004, 814, 818 f; ferner BVerwG KommJur 2008, 429 m Anm Schiffer KommJur 2008, 431. 83 Brohm (Fn 66) § 9 Rn 10 ff; Hoppe FS Wolff, 1973, 307 ff. 84 Vgl Peine (Fn 23) Rn 389; vgl zu einem weitergehenden, hinsichtlich seiner rechtsdogmatischen Konstruktion aber zweifelhaften Gebot „kompetenzieller Rücksichtnahme“ Brohm (Fn 66) § 9 Rn 16 f mwN.

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abzustimmen. Verletzungen dieses Gesetzes durch grenznahe Planungen kann die nachteilig betroffene Nachbargemeinde gerichtlich angreifen.85

c) Grundrechte Das Verfassungsrecht enthält nicht nur Regelungen über die Verteilung von Gesetzgebungs- 26 und Verwaltungszuständigkeiten, also Vorgaben für die staatliche Zuständigkeitsordnung, sondern ebenso für die Verteilung von Entscheidungszuständigkeiten im Verhältnis Staat – Gesellschaft. Mit dem für die Grundrechte häufig verwendeten Begriff der „negativen Kompetenzbestimmungen“86 wird der normative Gehalt der verfassungsrechtlichen Freiheitsrechte zwar nicht hinreichend erfasst. Er bringt aber zutreffend zum Ausdruck, dass zugunsten der freien, also selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Entfaltung der Persönlichkeit staatliche Entscheidungsgewalt begrenzt sein muss und dass jenseits dieser Grenze der gesellschaftliche Entscheidungsbereich verfassungsrechtlich geschützt ist. Da jedermann in Raum und Zeit lebt, ist private Lebensgestaltung „raumbeanspruchend“. Die grundrechtlich abgesicherte Persönlichkeitsentfaltung bedarf daher des „räumlichen Substrats“, so dass sich die Frage nach dem Grundrechtsschutz für private Entscheidungen über die Raumnutzung stellt. Sie kann angesichts der differenzierten Grundrechtsgewährleistungen nur für jedes Grundrecht isoliert aufgeworfen und beantwortet werden. In unserem Zusammenhang stellt sich nicht nur, aber besonders bedeutsam die Frage nach dem Grundrechtsschutz für die bauliche Nutzung von Grund und Boden. aa) Baurecht und Baufreiheit. Das Grundeigentum genießt grundrechtlichen Eigentums- 27 schutz.87 Die Frage, ob die privatautonome Entscheidung des Grundeigentümers über das Ob und Wie der Bebauung des Grundeigentums („Baufreiheit“) in dem Grundrechtsschutz für das Grundeigentum mitenthalten ist, muss daher wesentlich mit Hilfe des Regelungsgehaltes des Art 14 I GG beantwortet werden.88 Angesichts der grundgesetzlichen Konzeption des Eigentumsschutzes fällt die Antwort nicht gerade leicht, und es verwundert kaum, dass darüber, in welchem rechtsdogmatischen Verhältnis Art 14 I GG zu den einfachgesetzlichen Baurechtsbestimmungen steht, insbesondere, ob die Baufreiheit eine nur einfachgesetzlich zugeteilte Befugnis darstellt oder verfassungsunmittelbar zum Schutzbereich des Art 14 I GG zählt, heftiger Streit herrscht.89 Dieser führt letztlich bis in tief verwurzelte ideologische Vorurteile, die hier nicht aufgearbeitet werden können, und bis zu grundrechtstheoretischen Grundannahmen, die hier nicht im Einzelnen entfaltet werden sollen. Einfacher ist es wieder, die Ursache dieser Schwierigkeiten zu erklären. Art 14 I Satz 1 GG 28 schützt als Grundrecht, also auch subjektivrechtlich, das Eigentum verfassungsunmittelbar,

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85 BVerwGE 40, 323, 329 f; E 84, 209, 216; NVwZ 1995, 694, 694 f. Zu sog „Factory-Outlet-Centern“ (FOC) BVerwGE 117, 25 ff o JK BauGB § 35/2; NVwZ 2010, 1026, 1029; dazu zB Uechtritz NVwZ 2003, 176 ff mwN. Zur Betroffenheit von § 2 II BauGB bei Erteilung einer Baugenehmigung ohne vorherige Planaufstellung OVG NW DÖV 2000, 644 f o JK BauGB § 2 II/2. 86 Hesse VerfR, Rn 291. 87 BVerfGE 35, 263, 276; E 52, 1, 30 o JK GG Art 14 I/3; E 58, 300, 336 ff o JK GG Art 14 I 2/13; E 74, 264, 281 o JK GG Art 14 III/5; BVerwGE 50, 49, 55 ff. 88 Vgl zur möglichen Betroffenheit anderer Grundrechte B. H. Schulte Rechtsgüterschutz durch Bauordnungsrecht, 1982, 40, 158 ff. Ist der Bauherr nicht Eigentümer des Grundstücks, kommt anstelle von Art 14 I GG Art 2 I GG in Betracht, vgl Menger/Erichsen VerwArch 56 (1965) 374, 387 f. Zu Aspekten des Grundrechtsschutzes der „Bau-Kunst“ durch Art 5 III GG BVerwG BauR 1991, 727; NJW 1995, 2648 ff o JK GG Art 5 III/17; VG Berlin NJW 1995, 2650 ff; Schütz JuS 1996, 458 ff; Voßkuhle BayVBl 1995, 613 ff; Zeiss ZfBR 1997, 286 ff. 89 Dazu Battis in: ders/Krautzberger/Löhr, BauGB, § 42 Rn 3; Papier in: Maunz/Dürig, GG, Art 14 Rn 57 ff; SchmidtAßmann Grundfragen, 89 ff; Breuer Die Bodennutzung im Konflikt zwischen Städtebau und Eigentumsgarantie, 1976, 162 ff; Ehlers VVDStRL 51 (1992) 211, 217 ff.

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wohingegen Art 14 I Satz 2 GG die Inhalts-, also nicht nur die Schrankenbestimmung eben dieses Eigentums dem (einfachen) Gesetzgeber zuweist. Die Vorschrift überlässt die Ausgestaltung der grundrechtlichen Freiheit damit gerade den Staatsorganen, vor deren Entscheidungen sie den Grundrechtsträger nach Art 1 III GG schützen will, und ist damit auf den ersten Blick paradox: Stellt man sich Eigentum als eine verfassungsunmittelbar geschützte Freiheit vor, erscheinen zumindest eigentumsmindernde Regelungen eigentlich nur als Schranken-, nicht als Inhaltsbestimmung, während sich eine erst den Inhalt des Eigentums festlegende Regelung kaum mit der Vorstellung einer bereits vom Grundrecht selbst geschützten Freiheit zu vertragen scheint. Wenn Art 14 I GG dennoch beides für möglich hält, kann Eigentum weder eine vorfindliche, gleichsam „fertige“ Freiheit iS eines beliebigen Umgangs mit Gütern sein, die nur noch „nachträglichen“ Beschränkungen zugänglich ist, noch eine nur einfachgesetzlich eingeräumte Rechtsposition. Die erstere Auffassung würde die Angewiesenheit der Eigentumsfreiheit auf die Rechtsordnung unterschätzen und den verfassungsrechtlichen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber verkennen, letztere das „Selbstgewicht“ der Verfassung90 missachten und eine Überprüfung der einfachgesetzlichen Eigentumsregelung am Grundrecht ausschließen. Daher kann auch weder ein Verständnis von Baufreiheit iS einer verfassungsunmittelbar und prinzipiell allumfassend gewährleisteten Möglichkeit beliebiger baulicher Nutzung jedes Grundstücks, noch ein Verständnis von Baufreiheit als ausschließlich durch unterverfassungsrechtliche Rechtsnormen und nur nach deren Maßgabe zugewiesene Nutzungsmöglichkeit der Konstruktion des Grundrechts gerecht werden. Keine der beiden oben genannten Auslegungsalternativen vermag deshalb zu überzeugen. 29 Eigentum iSd Art 14 I GG muss demnach beides zugleich sein: eine von der Verfassung geschützte Freiheitschance und eine für den Gesetzgeber inhaltlich gestaltbare Freiheit. Dem BVerfG ist deshalb zuzustimmen, wenn es einerseits betont, dass Art 14 I GG einen eigenständigen, dh auch dem Gesetzgeber vorgegebenen und ihn bindenden Eigentumsbegriff enthält,91 und andererseits darauf hinweist, dass sich die „konkrete Reichweite des Schutzes durch die Eigentumsgarantie … erst aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums (ergibt), die nach Art 14 Abs. 1 Satz 2 GG Sache des Gesetzgebers ist“.92 Der Inhalt des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs ist sowohl durch die Privatnützigkeit der vermögenswerten Güter und der Verfügungsbefugnis des Rechtsträgers über sie93 als auch durch die soziale Bindung dieser Rechtsposition gekennzeichnet. Beide Elemente sind vom Grundrecht „mitgedacht“ und vom Gesetzgeber mit Hilfe des Übermaßverbotes in einen Ausgleich zu bringen.94 Verfassungsrechtlich geschützte Baufreiheit ist also die vom Gesetzgeber in dieser Weise grundrechtskonform ausgestaltete bauliche Nutzungsmöglichkeit des Grundstücks. Das bedeutet, dass nicht jedes Allgemeininteresse eine Verkürzung privater Interessen am Umgang mit Grund und Boden rechtfertigt und dass das Ausmaß staatlicher Gestaltungsbefugnis vom (verfassungs-)rechtlichen Stellenwert der geltend gemachten Allgemeininteressen abhängt. Die scheinbare Widersprüchlichkeit von Inhalts- und Schrankenbestimmung löst sich in der zeitlichen Dimension auf. Was sich im Rückblick auf den status quo als Schranke darstellt, ist zukunftsgerichtet eine Inhaltsbestimmung.95 Der so konzipierte Grundrechtsschutz ist mit einem – im Übrigen auch unhistorischen96 – Verständnis des gewährleisteten Eigentums iS einer

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90 Leisner JZ 1964, 201, 202. 91 BVerfGE 58, 300, 335 o JK GG Art 14 I 2/13. 92 BVerfGE 53, 257, 292 o JK GG Art 14 I/4; vgl zB auch BVerfGE 90, 226, 236 o JK GG Art 14 I/37; BVerwGE 117, 287, 303 o JK § 35/3. 93 BVerfGE 24, 367, 389; E 50, 290, 339; E 53, 257, 290 f o JK GG Art 14 I/4; 79, 283, 289; E 88, 366, 377; E 89, 1, 6 o JK GG Art 14 I 1/32; E 91, 207, 220 o JK GG Art 14 I/38; E 100, 226, 240. 94 So zB ausdr BVerfG NVwZ 2003, 727, 727 f. 95 Ehlers VVDStRL 51 (1992) 211, 225. 96 Vgl Schmidt-Aßmann (Fn 89) 89 ff; ders DVBl 1972, 627, 631.

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statischen, unveränderlichen Größe unvereinbar. Der Ausdruck „Baufreiheit“ darf weder über die dynamische Eigenart der verfassungsrechtlichen Gewährleistung noch darüber hinwegtäuschen, in welch unterschiedlichem Ausmaß diese Freiheit gesetzlich ausgestaltet ist. So kann Planungsrecht die bauliche Nutzung eines Grundstücks völlig ausschließen und auch das Bauordnungsrecht die Wahlmöglichkeiten des Bauherrn hinsichtlich des „Wie“ des Bauens erheblich reduzieren.97 Verfassungsrecht ist nicht nur eine verbindliche Vorgabe für das Baurecht und Beurtei- 30 lungsmaßstab für seine Gültigkeit. Es kann auch die Normauslegung und -anwendung mitbestimmen. So regelt zB § 35 II BauGB, dass sonstige, dh nicht durch § 35 I BauGB erfasste (sog „privilegierte“, Rn 138) Vorhaben im Außenbereich zugelassen werden „können“, wenn ihre Ausführung oder Benutzung öffentliche Belange nicht beeinträchtigt. Dieses der Behörde eingeräumte Ermessen wird vor dem Hintergrund des Art 14 I GG regelmäßig grundrechtskonform zugunsten des Bauherrn zu reduzieren sein.98 Das Bauordnungsrecht wird idR erst dann relevant, wenn das Grundstück planungsrechtlich bebaubar, Baufreiheit also prinzipiell realisierbar ist. Auch insofern hat der Gesetzgeber die grundrechtlich gebotene Aufgabe, die einander widerstreitenden Interessen in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen. So leuchtet etwa ein, wenn der Gesetzgeber aus Gründen der Gefahrenabwehr die private Gestaltungsbefugnis über die Art und Weise eines Bauvorhabens einengt; nicht immer dieselbe Plausibilität haben aber baugestalterische Restriktionen zugunsten ästhetischer Interessen. Das legt eine zurückhaltende Auslegung und Anwendung der Normen nahe, die derartige Zwecke verfolgen. Aus der grundrechtlichen Absicherung der gesetzlich eingeräumten Dispositionsmöglichkeiten über die bauliche Nutzung des Grundstücks folgt zugleich das Gebot, Baurechtsnormen nur bei Beachtung des Übermaßverbotes anzuwenden; getroffene Maßnahmen müssen also geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. Aus diesem Grund kommen bestimmte städtebauliche oder bauordnungsrechtliche Zwangsmaßnahmen wie zB eine Enteignung (Rn 167 ff) oder eine Abrissverfügung (Rn 224 ff) nur als ultima ratio in Betracht. bb) Leistungsrechtliche Aspekte. Die soeben besprochene – abwehrrechtliche – Bedeutung 31 der Grundrechte ist ein äußerst bedeutsamer, bei weitem aber nicht der einzige Aspekt im Spektrum des Problemfeldes Grundrechte und Baurecht. Die allgemeine Grundrechtsdogmatik ist zwar für den abwehrrechtlichen Grundrechtsschutz am weitesten ausgeformt, erschöpft sich aber nicht in diesem Teilaspekt.99 Insofern ist zumindest als Fragestellung anzumerken, ob nicht die Bedeutung der Grundrechte für das Baurecht über den Freiheitsschutz für den Bauherrn hinausgeht und ob nicht auch eine grundrechtliche Inpflichtnahme des Staates zugunsten einer Raumgestaltung denkbar ist, die für eine Ausübung grundrechtlicher Freiheit („reale Freiheit“100) unverzichtbar ist. Das BVerfG hat 1972 in der berühmten numerus-clausus-Entscheidung darauf hingewiesen, dass das grundrechtlich gewährleistete Recht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte (Art 12 I GG) „ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos“ sei.101 Diese Feststellung ließe sich auch für das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art 13 I GG) treffen. Wie eine Fortführung dieses Gedankens heißt es zB in Art 106 I Verf Bay: „Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung“.102

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97 Vgl auch Papier in: Maunz/Dürig, GG, Art 14 Rn 58. 98 BVerwGE 18, 247, 249 ff; Rieger in: Schrödter, BauGB, § 35 Rn 55; Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 35 Rn 73; aA Dähne Jura 2003, 455, 460; Ortloff NVwZ 1988, 320 ff. 99 Krebs (Fn 60) Rn 1 ff insbes 97 ff. 100 Hesse FS Smend, 1962, 71, 85; Krebs (Fn 60) § 31 Rn 1. 101 BVerfGE 33, 303, 331. 102 Vgl auch Art 28 I Verf Bln; Art 47 I Verf Bbg; Art 14 I Verf Bremen; Art 17 II Verf MV; Art 6a Verf Nds; Art 29 II Verf NW; Art 63 Verf RP; Art 7 I Verf Sachs; Art 40 I Verf LSA; Art 15 S. 1 Verf Thür.

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Nun ist allerdings zu bedenken, dass das Grundgesetz in Abkehr von der WRV und anders als einige Landesverfassungen auf die ausdrückliche Normierung sozialer Grundrechte weitgehend verzichtet und stattdessen den Sozialstaat als Staatsstruktur- und -zielbestimmung (Art 20 I, 28 I GG) verankert hat. Danach sind alle staatlichen Organe und insbesondere der Gesetzgeber verpflichtet, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen.103 Daher ist auch die Feststellung zutreffend, dass die Raum- und Städtebauplanung eine sozialstaatliche Pflicht ist.104 Allerdings ist die Verwirklichung des sozialen Auftrags damit prinzipiell dem demokratischen Entscheidungsprozess überantwortet. Man kann jedoch die verfassungsrechtlich begründete soziale Inpflichtnahme des Staates konkreter mit Hilfe der Grundrechte formulieren. Die Grundrechte lassen sich als Konkretisierungen des Sozialstaates und damit nicht nur als subjektivrechtliche Abwehrrechte zum Schutz rechtlicher Freiheitschancen, sondern auch als – zumindest objektivrechtliche – Verpflichtungen des Staates zugunsten der von ihnen thematisierten faktischen Handlungsmöglichkeiten verstehen.105 Ihnen wachsen damit Schutzpflichten für die jeweilige Freiheit zu, so dass sie auch rechtsverbindliches Sozialprogramm106 des Staates sind. Vor diesem Hintergrund erscheinen viele Baurechtsnormen als Erfüllung sozialstaatlicher Grundrechtspflichten. So ist es zB gem § 1 I, II ROG die Leitvorstellung der Raumordnung, eine nachhaltige Rahmenentwicklung zu schaffen, welche die sozialen und wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang bringt und zu einer dauerhaften, großräumig ausgewogenen Ordnung mit gleichwertigen Lebensverhältnissen in den Teilräumen führt. Nach § 1 VI Nr 2 BauGB sind die „Wohnbedürfnisse der Bevölkerung“ ein für die gemeindliche Bauleitplanung relevanter Belang, und nach § 3 I MBO107 sind bauliche Anlagen so zu errichten, dass insbesondere Leben, Gesundheit und die natürlichen Lebensgrundlagen nicht gefährdet werden. Fraglich ist, ob die abstrakten grundrechtlichen Schutzpflichten in konkrete, einklagbare 33 Handlungspflichten umschlagen können. Nähme man dies an, könnte zB die Bestimmung des § 1 III 2 BauGB, nach der auf die Aufstellung von Bauleitplänen kein Anspruch besteht, verfassungsrechtlich fragwürdig werden. Insofern ist zu vergegenwärtigen, dass der Staat nur in äußerst seltenen Ausnahmefällen grundrechtlich zu konkreten Leistungshandlungen verpflichtet sein kann. Zum einen hat der Staat in Fällen, in denen die Befriedigung sozialer Bedürfnisse vorwiegend gesellschaftlich organisiert ist (zB Wohnraumwirtschaft), nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten. Zum anderen zwingt die Endlichkeit staatlicher Ressourcen zu einer Prioritätensetzung, die nicht völlig verrechtlicht werden kann, weil ansonsten die Grundrechte gegen den demokratischen Entscheidungsprozess ausgespielt würden. Das BVerfG geht daher zu Recht davon aus, dass nur bei einer besonderen Gefährdungslage für Grundrechtsgüter die verfassungsrechtlich eingeräumten Handlungspielräume der staatlichen Organe durch konkrete Handlungspflichten reduziert sein können.108 Immerhin ist damit die (ausnahmsweise) Möglichkeit einer auch subjektivrechtlich abgesicherten Handlungspflicht nicht völlig ausgeschlossen. Das spricht dafür, dass § 1 III 2 BauGB nur die verfassungsrechtliche Normallage konkretisiert.109

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103 BVerfGE 22, 180, 204; E 36, 237, 249 f; E 69, 272, 314 o JK GG Art 14 I 1/22; E 75, 348, 359 f; vgl auch BVerfGE 82, 60, 80. 104 Friauf (Fn 3) 483. 105 Vgl dazu Krebs (Fn 60) § 31 Rn 111 sowie Häberle VVDStRL 30 (1972) 43, 100 ff; Jarass AöR 110 (1985) 363 ff; Scherzberg DVBl 1989, 1128 ff; Böckenförde Staat 29 (1990) 1 ff. 106 Auch die sozialen Grundrechte der Landesverfassungen haben entgegen ihres zT missverständlichen Wortlauts lediglich Programmcharakter. 107 Eine entsprechende Regelung findet sich in allen LBauOen; vgl u Rn 196 m Fn 625. 108 BVerfGE 33, 303, 333; E 56, 54, 81 o JK GG Art 2 II 1/2; E 75, 40, 67 o JK GG Art 7 IV/1. Vgl auch Krebs (Fn 60) § 31 Rn 114. 109 Ähnlich – noch zu der inhaltsgleichen Vorschrift des § 2 III BauGB aF – W. Schrödter in: H. Schrödter, BauGB, 6. Aufl 1998, § 2 Rn 50a. Anders Frenz BayVBl 1991, 673, 675. Ausf hierzu Fackler Verfassungs- und verwaltungs-

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II. Raumordnungsrecht 4. Kapitel – Baurecht II. Raumordnungsrecht – 4. Kapitel Das Raumordnungsrecht110 befasst sich mit der Planung für eine Ordnung des Gebietes der Bundes- 34 republik Deutschland und seiner Teilräume111 sowie mit der Umsetzung dieser Raumplanung.112 Raumplanung geht der gemeindlichen Bauleitplanung (Rn 74 ff) und den Fachplanungen113 vor. Sie ist daher übergeordnete Planung.114 Räumlich reicht Raumplanung über den Bezirk einer Gemeinde hinaus. Sie ist also überörtlich. Schließlich ist sie zusammenfassend bzw überfachlich,115 weil sie sämtliche raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen (Rn 38) koordiniert, vgl § 1 I 1 ROG. Auf Bundesebene ist das Raumordnungsrecht im Raumordnungsgesetz (ROG)116 geregelt. 35 Die Neuregelung des ROG 2008117 sollte insbesondere der Neuverteilung der Zuständigkeiten durch die Föderalismusreform 2006 Rechnung tragen.118 Diese Gelegenheit wurde gleichzeitig genutzt, um das ROG neu zu strukturieren und die raumordnerischen Möglichkeiten des Bundes zu erweitern. Das ROG gliedert sich nun in einen allgemeinen Abschnitt (§§ 1–7), jeweils einen Abschnitt über die Raumordnung in den Ländern (§§ 8–16) und im Bund (§§ 17–25) und einen ergänzende Vorschriften und Schlussvorschriften beinhaltenden Abschnitt (§§ 26–29). Damit hat der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz gem Art 72 I, 74 I Nr 31 GG für das Gebiet der Raumordnung Gebrauch gemacht. Die Länder haben von der ihnen gem Art 72 III 1 Nr 4 GG zustehenden Abweichungskompetenz 119 bisher nur selten Gebrauch gemacht. 120 In den Landesplanungsgesetzen finden sich aber das Bundesrecht ergänzende und konkretisierende Regelungen.121 Das Raumordnungsrecht ist darüber hinaus zunehmend auch europarechtlichen Einflüssen ausgesetzt.122

_____ rechtliche Aspekte eines Individualanspruchs auf Bauleitplanung, 1989. Ausdrücklich gegen einen Anspruch auf Bauleitplanung, aber ohne Rückgriff auf die Grundrechte, BVerwG DÖV 1997, 251, 252; BauR 2001, 1060, 1060; NordÖR 2004, 284, 285. 110 §§ 9 IV und 24 II ROG bezeichnen die Raumordnung der Länder in ihrem Gebiet als Landesplanung. „Raumordnung“ wird hier als Oberbegriff für die Raumordnung im Bund und in den Ländern verwendet. 111 Nach § 17 III ROG gehört dazu auch die sog deutsche ausschließliche Wirtschaftszone. Dazu u Rn 60 Fn 229, 230. 112 Zur historischen Entwicklung des Raumordnungsrechts Appold FS Hoppe, 2000, 21 ff. 113 BVerwG NVwZ 2004, 1240, 1241; Stüer UPR 2002, 333 ff. Mit „Fachplanungen“ sind konkrete staatliche Projektplanungen gemeint (Ausbau eines Gewässers, Bau einer Autobahn etc). Zum Fachplanungsrecht vgl die Nachw bei Stüer (Fn 59) Rn 1402 Fn 1. 114 BVerfGE 3, 407, 425: „Sie ist übergeordnet, weil sie überörtliche Planung ist und weil sie vielfältige Fachplanungen zusammenfaßt und aufeinander abstimmt“. 115 Vgl Steiner in: ders, BesVwR, Abschn V Rn 3. Zum Verhältnis von Raumordnung und Fachplanung vgl Kment NuR 2010, 392 ff. 116 V 22.12.2008, BGBl I 2986, zul geänd durch Art 9 G v 31.7.2009, BGBl I 2585. 117 Ein Überblick zu Änderungen und Inhalt des ROG bei Krautzberger/Stüer BauR 2009, 180 ff; Durner NuR 2009, 373 ff; Söfker, UPR 2009, 161. 118 BT-Drs 16/10292 S 1. Zu Anlass und Entstehungsgeschichte des ROG vgl auch Stüer Bau- und Fachplanungsrecht, Rn 4891 ff. 119 Fraglich ist, ob das Abweichungsrecht der Länder vor einem „abweichungsfesten Kern“ endet, der durch die „gesamtstaatliche Raumordnung“ bestimmt wird (dies überlegen Hoppe BauR 2007, 26, 30 f; ders DVBl 2007, 144 ff; Battis/Kersten DVBl 2007, 152 ff; dagegen aber Koch/Hendler BauR, § 1 Rn 2 ff). Jedenfalls wird man dem Bund weiterhin eine ausschließliche Kompetenz kraft Natur der Sache in Bezug auf „Raumplanung für den Gesamtstaat“ (vgl dazu BVerfGE 3, 407, 427 f und o Rn 9) zuerkennen müssen. 120 Abweichungen enthalten etwa §§ 1 II, III, 3 II, 4 III und 6 V LPlG SL. 121 Die landrechtlichen Regelungen dienten ursprünglich der Konkretisierung der auf der Grundlage des Art 75 I Nr 4 Alt 2 GG aF erlassenen rahmenrechtlichen Bestimmungen des ROG aF. Gem § 28 III ROG bleiben insbesondere landesrechtliche Regelungen, die Vorschriften des 2. Abschnitts ergänzen, von der Neuregelung unberührt. Nach BT-Drs 16/10292 S 18 soll auch das ROG nF „Spielraum für ergänzendes Landesrecht belassen“. Vgl auch Kment in: Finkelnburg/Ortloff/ders, Bauplanungsrecht, § 20 Rn 5 ff; Jarass JuS 2011, 215, 217. 122 Vgl dazu Jarass DÖV 1999, 661 ff; Kadelbach FS Hoppe, 2000, 897, 898 ff; Wahl FS Hoppe, 2000, 913, 917 ff. Zu den Änderungen des ROG durch das EAG Bau Erbguth NuR 2004, 91 ff; Schreiber UPR 2004, 50 ff; Kment NVwZ 2005, 886 ff.

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1. Aufgaben, Leitvorstellungen und Prinzipien der Raumordnung 36 Aufgabe der Raumordnung ist es gem § 1 I 1 ROG, den Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland und seine Teilräume zu entwickeln, zu ordnen und zu sichern.123 Die inhaltlichen Gesichtspunkte, nach denen dies zu erfolgen hat, nennt § 1 II ROG. Die Norm ist kein bloßer Programmsatz, sondern unmittelbar geltendes Recht für die Raumordnung des Bundes und der Länder.124 Leitvorstellung der Raumordnung ist gem § 1 II 1 ROG125 eine nachhaltige Raumentwicklung,126 die die sozialen und wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang bringt und zu einer dauerhaften, großräumig ausgewogenen Ordnung mit gleichwertigen Lebensverhältnissen führt. 127 Diese unterschiedlichen Anforderungen an die Ordnung, Sicherung und Entwicklung des Raumes kollidieren vielfach. Da das Gesetz sie als prinzipiell gleichgewichtig ansieht, bestimmt § 1 I 2 Nr 1 ROG, dass sie aufeinander abzustimmen und auftretende Konflikte auszugleichen sind. 37 Jede Fläche ist Teil eines übergeordneten Gebietes und setzt sich zugleich aus Teilgebieten zusammen. Das Gebiet eines Landes ist zB im Verhältnis zum Bundesgebiet Teilraum, im Verhältnis zum Gebiet seiner Gemeinden dagegen übergeordneter Gesamtraum. Ob eine Raumnutzung den Anforderungen zB des § 1 II ROG entspricht, hängt oft davon ab, ob man dies aus der Sicht des Gesamt- oder des Teilraumes beurteilt. Die Sicherung der Trasse einer Autobahn128 kann zB nachteilige Auswirkungen für das Gebiet einer Gemeinde haben, gleichzeitig aber aus Sicht des Landes oder Bundes besonders bedeutsam sein. Denkbar ist ein System der Raumordnung, demzufolge sich die Teilräume jeweils an den Erfordernissen des übergeordneten Gesamtraumes auszurichten haben. Auch ein umgekehrtes Modell ist vorstellbar. Das ROG hat sich für keine dieser Konzeptionen entschieden und stattdessen in § 1 III ROG das Gegenstromprinzip129 normiert. Danach soll sich einerseits die Entwicklung, Ordnung und Sicherung der Teilräume in die Gegebenheiten und Erfordernisse des Gesamtraumes einfügen. Andererseits soll die Entwicklung, Ordnung und Sicherung des Gesamtraumes die Gegebenheiten und Erfordernisse seiner Teilräume berücksichtigen. Das bedeutet, dass zB die raumbezogenen Gegebenheiten und Erfordernisse des Gebietes einer Gemeinde den Erfordernissen der übergeordneten Räume weder vollständig unter- noch übergeordnet werden dürfen. Damit raumbezogene Planungen dieser inhaltlichen Vorgabe entsprechen können, sieht § 1 I 1 ROG nF raumordnerische Zusammenarbeit unterschiedlicher Planungsträger vor und trägt damit dem praktischen Bedürfnis nach „Koordinierung mittels Kooperation“ erstmals ausdrücklich Rechnung.130

2. Zielsetzung der Raumordnungsplanung und Typen planerischer Aussagen a) Zielsetzung der Raumordnungsplanung 38 Wichtigstes Instrument der Raumordnung ist die Raumordnungsplanung.131 Sie hat zum Ziel, zur Verwirklichung der Aufgaben der Raumordnung verbindliche Vorgaben für raumbedeutsame

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123 Dazu zählt nach § 1 I 2 Nr 2 ROG auch die Vorsorge für einzelne Raumfunktionen und -nutzungen. 124 Hoppe in: ders/Schoeneberg, RaumO, Rn 535 zu § 1 ROG aF. Missverständlich insofern Koch/Hendler (Fn 119) § 1 Rn 30. 125 § 1 II, III LPlG SL bestimmt eine von § 1 II ROG abweichende Leitvorstellung. 126 Zum Begriff Frenz UPR 2003, 361 ff; Krautzberger/Stemmler FS Hoppe, 2000, 317 ff; ausf Bode Der Planungsgrundsatz der nachhaltigen Raumentwicklung, 2003. 127 Die in § 1 II 2 ROG aF enthaltenen Konkretisierungen wurden nach BT-Drs 16/10292 S 20 „aus Gründen der Rechtsvereinfachung und zur Vermeidung von Wiederholungen“ in die in § 2 II ROG genannten Grundsätze der Raumordnung „überführt“. 128 Sie kann Inhalt von Raumordnungsplänen sein, vgl § 8 V 1 Nr 3a ROG. 129 Dazu Hoppe (Fn 124) Rn 536 ff zu § 1 IV ROG aF. 130 Vgl BT-Drs 16/10292 S 20. Diese raumordnerische Zusammenarbeit wird durch zahlreiche Mitwirkungs- und Abstimmungspflichten zwischen den unterschiedlichen Planungsträgern zB in §§ 7 III, 8 III, 10, 13, 18, 26 ROG konkretisiert. 131 Zur variierenden Begriffsbildung Peine (Fn 23) Rn 119 ff; Brohm (Fn 66) § 2 Rn 23 sowie § 36 Rn 8 ff.

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Planungen und Maßnahmen zu treffen. Den Begriff der raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen definiert § 3 I Nr 6 ROG. Er umfasst alle Planungen, Vorhaben und sonstigen Maßnahmen, durch die Raum in Anspruch genommen oder die räumliche Entwicklung oder Funktion eines Gebietes beeinflusst wird, einschließlich des Einsatzes der hierfür vorgesehenen öffentlichen Finanzmittel. Beispiele sind Flächennutzungs- und Bebauungspläne, Planfeststellungen, Förderungsprogramme zur Industrieansiedlung, Ausweisungen von Naturschutzgebieten, die Errichtung von Anlagen, der Bau von Straßen, Wasserwegen, Flughäfen132 etc.133

b) Typen planerischer Aussagen Das ROG kennt verschiedene Typen raumplanerischer Aussagen, durch die die erforderlichen 39 verbindlichen Vorgaben für raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen getroffen werden. Ziele der Raumordnung134 sind gem § 3 I Nr 2 ROG „verbindliche Vorgaben in Form von räumlich und sachlich bestimmten oder bestimmbaren,135 vom Träger der Raumordnung abschließend abgewogenen (§ 7 I, II) textlichen oder zeichnerischen Festlegungen in Raumordnungsplänen zur Entwicklung, Ordnung und Sicherung des Raums“. Das Ausmaß ihrer Verbindlichkeit, also ihre Bindungswirkung regeln §§ 4–6 ROG.136 Gem § 4 I 1 Alt 1 ROG sind Ziele der Raumordnung von öffentlichen Stellen137 bei ihren raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen (Nr 1) (Rn 38) sowie bei Entscheidungen über die Zulässigkeit raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen anderer öffentlicher Stellen (Nr 2) und von Personen des Privatrechts, die der Planfeststellung oder der Genehmigung mit der Wirkung der Planfeststellung bedürfen (Nr 3), zu beachten. Beachtung heißt, sich an die Zielvorgaben zu halten und keine gegenläufigen Raumnutzungen umzusetzen. Ziele der Raumordnung sind also strikt bindende Vorgaben138 für öffentliche Stellen, die auch im Rahmen von Abwägungs- oder Ermessensentscheidungen dieser Stellen über ihre raumbedeutsamen Planungen oder Maßnahmen keiner Relativierung zugänglich sind139 („unüberwindbare Belange“, Rn 103). Ausnahmen bestehen nur für bestimmte raumbedeutsame Bundesmaßnahmen (§ 5 ROG) sowie dann, wenn sie gem § 6 I ROG im Raumordnungsplan festgelegt sind oder wenn eine Abweichung nach § 6 II ROG zulässig ist. „SollVorschriften“ können deshalb Ziele der Raumordnung nur dann festlegen, wenn sie selbst gem § 6 I ROG Ausnahmen festlegen.140 In gleicher Weise binden Ziele der Raumordnung gem § 4 I 2

_____ 132 Erbguth NVwZ 2003, 144, 145. Vgl auch u Rn 49 Fn 176. 133 Vgl die Kataloge bei Koch/Hendler (Fn 119) § 1 Rn 18; Erbguth/Schoeneberg RaumO, Rn 24; Brummund DVBl 1988, 77 ff; Runkel in: Bielenberg/ders/Spannowsky, RaumO, L § 3 Rn 231 ff sowie die Begr zu § 3 im Entw der BReg zum BauROG, BT-Drs 13/6392 S 1. Für „raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen“ iSd § 3 I ROG aF wurde zT angenommen, es müsse sich um „öffentlich-rechtliche“ bzw „hoheitliche“ (Erbguth/Schoeneberg RaumO, Rn 24) Maßnahmen handeln. § 4 I 1 Nr 3, I 2, II ROG zeigt durch die Nennung von „raumbedeutsamen Maßnahmen von Personen des Privatrechts“, dass das ROG diese Differenzierung nicht mehr trifft. 134 Dazu BVerwGE 119, 54 ff, insbes 58; Ronellenfitsch FS Hoppe, 2000, 355 ff; Schroeder UPR 2000, 52 ff; Schulte NVwZ 1999, 942 ff; Hoppe NWVBl 1998, 461 ff; ders DVBl 1993, 681 ff. Zur Frage des Drittschutzes von Zielen der Raumordnung Dolde in: Huff/Schunder, Sonderheft für Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Weber zum 65. Geburtstag, 2001, 12 ff. 135 Zum Bestimmtheitserfordernis bei planerischen Zielaussagen BVerwG NVwZ 2002, 869, 870 ff. 136 Vgl zu § 4 ROG aF BVerwGE 119, 217, 223 f; Runkel ZfBR 1999, 3 ff. 137 Das sind gem § 3 I Nr 5 ROG alle Bundes- und Landesbehörden, kommunalen Gebietskörperschaften sowie bundesunmittelbaren oder unter Landesaufsicht stehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts. 138 BVerwGE 119, 217, 223; Hoppe in: ders/Bönker/Grotefels, BauR, § 4 Rn 33. 139 BVerwGE 90, 329, 332 ff; E 119, 217, 223; BayVGH BayVBl 1997, 178, 179; Hoppe DVBl 1993, 681, 682; Halama FS Schlichter, 1995, 201, 201; Dolderer NVwZ 1998, 345, 346; Goppel BayVBl 1998, 289, 290 ff; Ronellenfitsch FS Hoppe, 2000, 355, 364. 140 Nach BVerwGE 138, 301, 303 soll die Festlegung von Zielen durch Sollvorschriften möglich sein, „wenn der Plangeber neben der Regel auch die Voraussetzungen der Ausnahme mit hinreichender tatbestandlicher Bestimmtheit oder doch wenigstens Bestimmbarkeit selbst festlegt“. Vgl auch BayVGH, DVBl 2011, 1181; Kment UPR 2009, 93,

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ROG auch Personen des Privatrechts, die in Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben raumbedeutsame Planungen oder Maßnahmen durchführen, sofern an ihnen öffentliche Stellen mehrheitlich beteiligt sind oder die von ihnen durchgeführten raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen überwiegend mit öffentlichen Mitteln finanziert werden.141 Im Übrigen binden Ziele der Raumordnung Private bei ihren raumbedeutsamen Maßnahmen grundsätzlich142 nicht. Allerdings sind nach § 4 II ROG bei behördlichen Entscheidungen über die Zulässigkeit privater raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen die Erfordernisse der Raumordnung nach Maßgabe der für diese Entscheidung geltenden Vorschriften zu berücksichtigen.143 Erfordert zB ein Genehmigungstatbestand für ein privates Vorhaben die Berücksichtigung öffentlicher Belange, haben insofern die Ziele der Raumordnung in die behördliche Genehmigungsentscheidung einzufließen. Dies gilt insbesondere auch für die Genehmigung von Bauvorhaben im sog Außenbereich nach § 35 III 2, 3 BauGB (Rn 68 ff). Fachgesetze können die gebundenen Stellen darüber hinaus ausnahmsweise verpflichten, Ziele der Raumordnung aktiv durch Einleitung von Planungen und Maßnahmen zu realisieren.144 Die Grundsätze der Raumordnung145 sind ein zweiter Typus raumplanerischer Aussagen. 40 Grundsätze der Raumordnung sind nach § 3 I Nr 3 ROG „Aussagen zur Entwicklung, Ordnung und Sicherung des Raums als Vorgaben für nachfolgende Abwägungs- oder Ermessensentscheidungen“.146 Der Umfang ihrer Bindungswirkung ergibt sich ebenfalls aus § 4 ROG. Gem § 4 I 1 Alt 2 ROG sind die Grundsätze der Raumordnung von öffentlichen Stellen147 bei eigenen raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen (Nr 1), bei solchen anderer öffentlicher Stellen (Nr 2) und bei solchen von Privatpersonen, die der Planfeststellung oder der Genehmigung mit Rechtswirkung der Planfeststellung bedürfen (Nr 3), in Abwägungs- oder Ermessensentscheidungen zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass bei Ermessens- oder Abwägungsentscheidungen öffentlicher Stellen über ihre raumbedeutsamen Planungen oder Maßnahmen die Raumordnungsgrundsätze in

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95 ff; Söfker UPR 2009, 161, 164. Gem Art 3 II 2 des am 1.1.2005 – noch vor der Föderalismusreform – in Kraft getretenen LPlG Bay sollen demgegenüber Ziele der Raumordnung „grundsätzlich als Soll-Vorschriften formuliert“ werden. Zwar sind auch Soll-Vorschriften verbindliche Ziele (vgl u Rn 41 m Fn 153), fraglich ist allerdings, wann ein atypischer und wann ein Ausnahmefall iSv Art 3 II 2 LPlG Bay vorliegt. Die bundesrechtliche Systematik von grundsätzlicher Zielbindung (§ 3 I Nr 2 ROG) und ausnahmsweiser Zielabweichung (§ 6 II ROG bzw § 11 ROG aF) wird mit dieser Regelung jedenfalls verändert. Krit daher Hoppe BayVBl 2005, 356, 359 f; aA Goppel/Schreiber BayVBl 2005, 353 ff. Fraglich ist, ob eine solche landesrechtliche Regelung nunmehr nach Art 72 III 1 Nr 4 GG nF zulässig wäre. Ausführlich zu Möglichkeiten einer Flexibilisierung der Ziele der Raumordnung in einem neuen Raumordnungsgesetz Hoppe BauR 2007, 26 ff; Heemeyer Flexibilisierung der Erfordernisse der Raumordnung, 2006, 37 ff. Die verfassungsrechtliche Beurteilung von Art 3 II 2 LPlG Bay ändert sich auch nach der Föderalismusreform nicht, da eine ursprünglich verfassungswidrige und damit nichtige Regelung nicht nachträglich verfassungsgemäß werden kann. 141 Ziele der Raumordnung sind also zB von der im Bundeseigentum stehenden Bahn-AG beim Schienenneu- bzw -ausbau zu beachten, vgl Begr zu § 4 des Entw der BReg zum BauROG (Fn 133). Dazu auch Hendler DVBl 2001, 1233, 1235; ausf zu § 4 III ROG Kment DVBl 2003, 1018 ff mwN. 142 § 4 I 3 ROG lässt die Regelung weitergehender Bindungswirkungen durch spezielle Vorschriften zu. Zu derartigen „Raumordnungsklauseln“ Koch/Hendler (Fn 119) § 3 Rn 38 f; Wagner DVBl 1990, 1024 ff. 143 Zum Begriff der Berücksichtigung vgl u Rn 40. Nach BVerwG NVwZ 2003, 1261, 1263 und OVG RP NuR 2004, 465 ff sind Ziele der Raumordnung bereits dann zu berücksichtigen, wenn sie sich noch in Aufstellung befinden. Eine strenge behördliche Beachtungspflicht besteht nach § 4 I 1 Nr 3 ROG bei Planfeststellungen und -genehmigungen über raumbedeutsame Maßnahmen Privater. Vgl zum Ganzen auch Reidt ZfBR 2004, 430 ff. 144 Zur Frage, ob § 1 IV BauGB eine entsprechende Erstplanungspflicht auslöst, vgl u Rn 96. ZT enthalten die LPlGe der Länder Planungsgebote, mit deren Hilfe Gemeinden verpflichtet werden können, Bauleitpläne entsprechend den Zielen der Raumordnung aufzustellen, vgl § 21 LPlG BW; Art 30 I LPlG Bay; § 23 I NdsROG; § 33 LPlG NW; § 23 I LPlG RP; § 7 III LPlG SL; § 18 I LPlG Thür. 145 Dazu Hoppe DVBl 1993, 681 ff; Brummund Die Grundsätze der Raumordnung, 1989. Zur Abgrenzung von Zielen und Grundsätzen der Raumordnung durch § 7 IV ROG bzw § 7 I 3 ROG aF Hoppe DVBl 1999, 1457 ff. 146 § 2 II ROG nennt nicht abschließend („insbesondere“) einige Grundsätze der Raumordnung, vgl dazu BTDrs 16/10292 S 20. Nach Maßgabe des § 2 I ROG sind diese anzuwenden und zu konkretisieren. 147 Vgl die Definition in § 3 I Nr 5 ROG sowie o Fn 137.

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diese Entscheidung einfließen müssen, anderen relevanten Belangen dabei aber als prinzipiell gleichrangig gegenübertreten. Sie sind damit – anders als die Ziele der Raumordnung – einer Relativierung im Prozess der Ermessensausübung oder Abwägung zugänglich („überwindbare Belange“, Rn 103). Das Gesetz stellt auch insoweit den öffentlichen Stellen die in § 4 I 2 ROG genannten Personen des Privatrechts gleich (Rn 39). § 4 II ROG sieht zudem auch in Bezug auf die Raumordnungsgrundsätze vor, dass sie bei behördlichen Entscheidungen über die Zulässigkeit raumbedeutsamer Maßnahmen von Privaten nach Maßgabe der für diese Entscheidungen geltenden Vorschriften zu berücksichtigen sind.148 Grundsätze und Ziele der Raumordnung sind gem § 3 I Nr 1 ROG Erfordernisse der Raumord- 40a nung. Hierzu zählen aber auch die sonstigen Erfordernisse der Raumordnung, die den Grundsätzen der Raumordnung nach § 4 ROG in der Bindungswirkung gleichstehen.149 Gem § 3 I Nr 4 ROG handelt es sich dabei um „in Aufstellung befindliche Ziele der Raumordnung, Ergebnisse förmlicher landesplanerischer Verfahren und landesplanerische Stellungnahmen“. Das ROG kennt damit drei verschiedene Arten von Erfordernissen der Raumordnung, wobei die Ziele einerseits und die Grundsätze und sonstigen Erfordernisse andererseits mit unterschiedlicher Bindungswirkung ausgestattet sind. Dies macht eine Unterscheidung der verschiedenen Erfordernisse der Raumordnung erforderlich. Dem soll die nach § 7 IV ROG vorzunehmende Kennzeichnung dienen.150 Um Wirksamkeit zu entfalten, müssen sowohl die Ziele als auch die Grundsätze der Raum- 41 ordnung bestimmten Rechtmäßigkeitsanforderungen genügen. Dazu müssen idR151 die Rechtmäßigkeitsanforderungen für die Planwerke, deren Bestandteil sie sind, erfüllt sein.152 Außerdem müssen die Festlegungen hinreichend bestimmt oder bestimmbar sein (§ 3 I Nr 2 ROG), ohne ihren als „Vorgabe“ notwendig übergreifenden Charakter zu verlieren.153

3. Raumordnungsgrundsätze des Bundes Einzelne nicht abschließend aufgezählte („insbesondere“)154 Grundsätze der Raumordnung sind 42 in § 2 II ROG als unmittelbar geltende Vorgaben des Bundes in Gesetzesform für sämtliche raumbedeutsamen Maßnahmen geregelt. QQQ a) Inhalt der Raumordnungsgrundsätze des Bundes Die bundesgesetzlichen Grundsätze der Raumordnung treffen Aussagen zu den wichtigsten für 43 den Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland relevanten Belangen. Sie wurden mit der Novellierung des ROG in § 2 II funktional strukturiert (Nr 2–7) und durch übergeordnete, nicht

_____ 148 Insoweit gilt dasselbe wie bei den Zielen der Raumordnung, vgl o Rn 39a. 149 Vgl Koch/Hendler (Fn 119) § 3 Rn 50. 150 Nach BVerwG NVwZ 2002, 869, 870 soll die Kennzeichnung nicht allein maßgeblich für die Qualifizierung einer Festlegung sein. So auch Runkel in: Spannowsky/ders/Goppel, ROG, 1. Aufl 2010, § 7 Rn 51 ff. Hierfür spricht, dass der dem § 7 IV ROG weitestgehend entsprechende § 7 I 3 ROG aF nach BT-Drs 635/96 S 83 dazu „beitragen“ sollte, „Dritten die Bindungswirkung von Planaussagen (…) aufzuzeigen“. 151 Zu Unbeachtlichkeits- und Planerhaltungsregelungen u Rn 51. 152 Zu den Rechtmäßigkeitsanforderungen an Raumordnungspläne, die ua Grundsätze und Ziele der Raumordnung enthalten, u Rn 48 ff. 153 Zum Rahmencharakter der Ziele der Raumordnung sowie zum erforderlichen Bestimmtheitsgrad Paßlick Die Ziele der Raumordnung und Landesplanung, 1986, 30 ff, 109 ff; Krautzberger (Fn 52) § 1 Rn 38 f; Hoppe (Fn 138) § 4 Rn 15 ff; Kment DVBl 2006, 1336 ff. Zur Bestimmtheit von „Soll-Zielen“ vgl auch BVerwGE 119, 54, 60; BauR 2002, 1063, 1063 f; OVG NW BauR 2005, 1577, 1581 ff. Zur Bestimmtheit von „Regel-Zielen“ BVerwGE 119, 25, 41. Vgl auch Schmidt-Aßmann (Fn 89) 158 f: „Bestimmtheit ist nicht identisch mit einem Höchstmaß an Konkretheit“. Zur Bestimmtheit sonstiger Erfordernisse der Raumordnung vgl Runkel in: Spannowski/ders/Goppel, ROG, § 3 Rn 9. 154 Vgl die Begründung der Bundesregierung BT-Drs 16/10292 S 20.

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nutzungsspezifische Erwägungen (Nr 1) sowie „die immer stärker werdende Verflechtung Deutschlands mit Europa“ betreffende Grundsätze ergänzt.155 Die neustrukturierten Nr 2–7 betreffen Raum- und Siedlungsstrukturen (Nr 2), Infrastruktur und Verkehr (Nr 3), Wirtschaft (Nr 4), Kulturlandschaften (Nr 5), Umwelt und Klimaschutz (Nr 6) und Verteidigung und Zivilschutz (Nr 7).156

b) Verwirklichung der Raumordnungsgrundsätze des Bundes 44 Die bereits beschriebene Bindungswirkung der Grundsätze der Raumordnung (Rn 40) bedeutet auf der Ebene des Bundes, dass seine Behörden, Körperschaften, Anstalten und Stiftungen sowie die von § 4 I 2 ROG erfassten Personen des Privatrechts die in § 2 II ROG enthaltenen Vorgaben bei allen erfassten Ermessens- und Abwägungsentscheidungen über raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen zu berücksichtigen haben (§ 4 I 1, II ROG) und sie gem § 2 I ROG „im Sinne der Leitvorstellung einer nachhaltigen Raumentwicklung nach § 1 Abs. 2 anzuwenden“ haben. Dergestalt fließen die Grundsätze des § 2 II ROG zB in die Bestimmung der Linienführung einer Bundeswasserstraße durch den Bundesminister für Verkehr157 oder in die Planfeststellung bzw -genehmigung der Schienenwege von Eisenbahnen des Bundes durch das Eisenbahn-Bundesamt158 ein. 45 Auf Landesebene haben die Behörden des Landes und seine juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die kommunalen Gebietskörperschaften sowie die von § 4 I 2 ROG erfassten Personen des Privatrechts die Vorgaben des § 2 II ROG gleichermaßen zu berücksichtigen.159 Die bundesrechtlichen Raumordnungsgrundsätze beeinflussen dergestalt zB die durch die Länder aufzustellenden wasserwirtschaftlichen Maßnahmenprogramme 160 oder die von Flurbereinigungsbehörden zu treffenden Entscheidungen.161 Insbesondere determinieren sie den Inhalt der von den Ländern aufzustellenden Raumordnungspläne: § 2 I ROG bestimmt, dass die Grundsätze der Raumordnung in Raumordnungsplänen zu konkretisieren sind.162

4. Raumordnungsplanung a) Allgemeine Vorgaben 46 Raumordnungspläne sind gem § 3 I Nr 7 ROG zusammenfassende, überörtliche und raumübergreifende Pläne nach §§ 8 und 17 ROG. Raumordnungsplanung erfolgt sowohl im Bund (§ 17 I–III) als auch in den Ländern (§ 8 I 1). Allgemeine Vorschriften über Raumordnungspläne finden sich in dem so überschriebenen § 7 ROG sowie in den Regelungen der §§ 1–6 ROG. In Raumordnungsplänen sind gemäß § 7 I 1 ROG für einen bestimmten Planungsraum und einen regelmäßig mittelfristigen Zeitraum Festlegungen als Ziele und Grundsätze der Raumordnung zu treffen.163

_____ 155 Vgl die Begr der Bundesregierung BT-Drs 16/10292 S 21. 156 Vgl die Begr der Bundesregierung BT-Drs 16/10292 S 21 f. 157 Vgl § 13 Bundeswasserstraßengesetz – WaStrG idF der Bekanntmachung v 23.5.2007, BGBl I 962. 158 Vgl § 18 Allgemeines Eisenbahngesetz – AEG v 27.12.1993, BGBl I 2378, 2396, ber 1994 I 2439, zul geänd durch G v 9.12.2006, BGBl I 2833. 159 §§ 3 I Nr 5, 4 I 1, I 2, II ROG. 160 Vgl § 45 h I Wasserhaushaltsgesetz – WHG idF v 31.7.2009, BGBl I 2585, zul geänd durch G v 6.10.2011, BGBl I 1986. 161 Vgl § 37 II Flurbereinigungsgesetz – FlurbG idF v 16.3.1976, BGBl I 546, zul geänd durch G v 19.12.2008, BGBl I 2749. 162 § 3 I Nr 6 ROG stellt zudem klar, dass Raumordnungspläne raumbedeutsame Planungen iSd Gesetzes sind. 163 Zulässig sind auch räumliche und sachliche Teilpläne (§ 7 I 2 ROG). Dazu und zur Abgrenzung sachlicher Teilpläne („Fachprogramme“, „Entwicklungspläne“) von Fachplanungen Brohm (Fn 66) § 37 Rn 10. Zur Abgrenzung räumlicher Teilpläne der Länder zu Regionalplänen Koch/Hendler (Fn 119) § 4 Rn 2 f.

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Diese Festlegungen müssen gem § 2 I ROG die Raumordnungsgrundsätze164 im Sinne der Leitvorstellung (§ 1 II ROG) für den jeweiligen Planungsraum konkretisieren. Dabei ist das Gegenstromprinzip des § 1 III ROG zu beachten. Für die Verwirklichung dieses inhaltlich vagen, aber rechtlich verbindlichen Zielprogramms bestehen rechtliche Vorgaben und Grenzen.165 Zunächst müssen Raumordnungspläne dem Verfassungsrecht, insbesondere Art 28 II 1 GG (Rn 16 ff), sowie zwingenden höherstufigen Planvorgaben166 entsprechen. Darüber hinaus sind nach § 7 II 1 ROG bei der Aufstellung der Pläne öffentliche und private Belange gegeneinander und untereinander abzuwägen, soweit sie auf der jeweiligen Planungsebene erkennbar und von Bedeutung sind.167 Zu berücksichtigen sind dabei gem § 7 II 2 ROG insbesondere das Ergebnis der Umweltprüfung nach § 9 ROG sowie die Stellungnahmen in den Beteiligungsverfahren nach den §§ 10, 18 ROG. Gem § 7 III ROG sind die Festlegungen auch mit denen benachbarter Planungsräume abzustimmen. § 7 VI ROG trifft schließlich Aussagen zur Behandlung bestimmter naturschutzrechtlicher Belange.168 § 7 ROG enthält keine allgemeine Vorgabe zur Rechtsform von Raumordnungsplänen. Ihre 47 Auswahl ist daher grundsätzlich169 dem Träger der Raumordnung überlassen (Rn 55). Die gem § 7 I 1 ROG in den Raumordnungsplänen festgelegten Ziele und Grundsätze der Raumordnung sind aber von §§ 4, 5 ROG unabhängig von ihrer Rechtsform mit der oben beschriebenen Bindungswirkung ausgestattet (Rn 39 f).

b) Raumordnungsplanung der Länder aa) Besondere bundesrechtliche Vorgaben. Die allgemeinen Vorschriften über Raumord- 48 nungsplanung werden durch besondere Anforderungen an die Raumordnung in den Ländern in den §§ 8 ff ROG ergänzt. Nach § 8 I 1 ROG ist grundsätzlich170 in den Ländern ein Raumordnungsplan für das Landesgebiet (landesweiter Raumordnungsplan, Nr 1) und Raumordnungspläne für die Teilräume der Länder (Regionalpläne, Nr 2) aufzustellen. Gem § 8 II 1 ROG sind die Regionalpläne aus den landesweiten Raumordnungsplänen zu entwickeln.171 Gem § 8 II 2 ROG sind Flächennutzungspläne und sonstige städtebauliche Planungen entsprechend dem Gegenstrom-

_____ 164 In Bezug genommen sind damit zunächst die Grundsätze der Raumordnung des Bundes (§ 2 II ROG). Haben die Länder gem § 3 I Nr 3 ROG weitere Grundsätze der Raumordnung aufgestellt, müssen Raumordnungspläne auch höherrangige landesrechtliche Grundsätze konkretisieren. Enthält zB ein Landesplanungsgesetz Raumordnungsgrundsätze, sind diese durch den auf das gesamte Land bezogenen Raumordnungsplan zu konkretisieren. Enthält dieser wiederum Grundsätze der Raumordnung, sind diese in den Regionalplänen zu konkretisieren. 165 Vgl ausf zur Struktur von Planung und zur Rechtsbindung im Prozess der Planung u Rn 98 ff. 166 ZB darf ein Regionalplan nicht Zielen der Raumordnung, die im Raumordnungsplan für das gesamte Landesgebiet enthalten sind, widersprechen. 167 § 7 II 2 ROG entscheidet die zuvor umstrittene Frage, inwieweit bei der Aufstellung von Raumordnungsplänen private Belange zu berücksichtigen sind. Das ist insbes von Bedeutung, wenn Ziele der Raumordnung durch fachgesetzliche Anordnung (vgl zB § 35 III 2, 3 BauGB) ausnahmsweise unmittelbar gegenüber Privaten Wirksamkeit entfalten. Das kann vor deren Grundrechten regelmäßig nur Bestand haben, wenn die durch sie geschützten privaten Interessen in der raumordnerischen Abwägung berücksichtigt wurden. Dem trägt § 7 II 1 ROG Rechnung, vgl zu § 7 VII 3 ROG aF BVerwGE 118, 33, 42 ff; BVerwG NVwZ 2003, 1261, 1261 f; Runkel DVBl 1997, 698, 703; Hendler DVBl 2001, 1233, 1240; ders UPR 2003, 401 ff. 168 § 7 VI ROGG knüpft an den § 7 VII 4 ROG aF an, vgl die Begründung der Bundesregierung BT-Drs 16/10292 S 23. Dieser diente ua der Umsetzung von Vorgaben der Richtlinie des Rates der EWG 92/43/EWG v 21.5.1992, ABl L 206 v 22.7.1992, 7, zul geänd durch Richtlinie des Rates der EG 2006/105/EG v 20.11.2006, ABl L 363 v 20.12.2006, 368 – Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie. 169 Für die Raumordnungsplanung des Bundes nach § 17 II und III ROG ist die Rechtsform der Rechtsverordnung vorgeschrieben. 170 Ausnahmen bestehen für die Stadtstaaten gem § 8 I 2 und 3 ROG. Dazu Rn 54. 171 Zur entsprechenden Vorschrift des § 8 II 1 BauGB, derzufolge Bebauungspläne aus dem Flächennutzungsplan zu entwickeln sind, vgl u Rn 95 ff.

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prinzip (§ 1 III ROG) in der Abwägung nach § 7 II ROG zu berücksichtigen.172 § 8 III ROG ermöglicht es den Ländern bei bestehender Verflechtung gemeinsame Regionalpläne aufzustellen. Schließlich ermöglicht § 8 IV ROG die Einführung des sog „regionalen Flächennutzungsplans“.173 Zum Inhalt von Raumordnungsplänen in den Ländern bestimmt § 8 V 1 ROG, dass sie Fest49 legungen zur Raumstruktur enthalten sollen, die insbesondere174 Aussagen zur anzustrebenden Siedlungs- und Freiraumstruktur (§ 8 V 1 Nr 1, 2 ROG) und zu den zu sichernden Standorten und Trassen für Infrastruktur (§ 8 V 1 Nr 3 ROG) treffen.175 Bedeutung hat letzteres vor allem im Zusammenhang mit der Ausweisung von Standorten für Verkehrsflughäfen erlangt.176 50 Zum Aufstellungsverfahren gibt § 10 I 1 ROG vor, dass die Öffentlichkeit sowie die in ihren Belangen berührten öffentlichen Stellen (§ 3 I Nr 5 ROG) von der Aufstellung von Raumordnungsplänen zu unterrichten sind und dass ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zum Entwurf des Raumordnungsplans und zu der Begründung (§ 7 V ROG) zu geben ist.177 Daneben sollen die Träger der Landes- und Regionalplanung gem § 13 I ROG zur Vorbereitung von Raumordnungsplänen mit den hierfür maßgeblichen öffentlichen Stellen und Privatpersonen zusammenarbeiten oder auf Zusammenarbeit hinwirken. Zudem ist nach § 9 I ROG entsprechend europarechtlicher Vorgaben178 bei der Aufstellung und Änderung von Raumordnungsplänen grundsätzlich eine Umweltprüfung durchzuführen und ein Umweltbericht zu erstellen.179 Die in § 10 I 1 ROG vorgesehene Gelegenheit zur Stellungnahme öffentlicher Stellen und der Öffentlichkeit muss

_____ 172 Dazu OVG MV NVwZ 2001, 1063, 1064 f; VGH BW BauR 2003, 1444 f sowie zum Gegenstromprinzip bereits o Rn 37 m Fn 129. 173 Zu diesem Instrument und zur damit verbundenen Problematik einer Umverteilung der Entscheidungsgewichte zwischen der Landesraumordnung und der örtlichen Bauleitplanung Runkel UPR 1997, 1, 7 f; Spannowsky DÖV 1997, 757 ff; ders UPR 1999, 409 ff. Zur landesrechtlichen Umsetzung am Beispiel Sachsen-Anhalts Schmidt-Eichstaedt/Reitzig LKV 2000, 273 ff; am Beispiel Nordrhein-Westfalens Kreibohm/Zülka NWVBl 2003, 334 ff. 174 Vgl zu § 7 II ROG aF Runkel UPR 1997, 1, 6: „inhaltliche Kernbereiche von Raumordnungsplänen“. Ähnlich Dolderer NVwZ 1998, 345, 347. 175 Nach Maßgabe des § 8 VI ROG sollen Raumordnungspläne zudem Festlegungen zur Integration von Fachplanungen in die Raumordnungsplanung treffen. Vgl dazu die Begr zu § 7 des Entw der BReg zum BauROG (Fn 133). Zur Festlegung von Gebieten als Vorrang-, Vorbehalts- oder Eignungsgebiet (§ 8 VII ROG) Grotefels FS Hoppe, 2000, 369 ff; Erbguth DVBl 1998, 209 ff; Busse BayVBl 1998, 293, 293 f. 176 Vgl HessVGH NVwZ 2003, 329, 330 f; OVG Bbg v 10.2.2005 – 3 D 104/03, jew zur Nichtigkeit der Ausweisung von Standorten für Flughafenerweiterungen im Landesentwicklungsplan wegen Mängeln in der Abwägung. Dazu auch Erbguth NVwZ 2003, 144 ff; Koch/Wieneke NVwZ 2003, 1153, 1155 f; Steinberg/Steinwachs NVwZ 2004, 531 ff. Zur Verkehrssteuerung durch Instrumente des Raumordnungsrechts im Allgemeinen Ramsauer NVwZ 2004, 1041 ff; Erbguth NVwZ 2000, 28 ff, bes 35. 177 § 10 I 1 ROG knüpft an den § 7 VI 1 ROG aF an, vgl BT-Drs 16/10292 S 25. Zu den diesen Vorschriften zugrundeliegenden Vorgaben des europäischen Rechts Grotefels/Uebbing NuR 2003, 460 ff. Nach der noch vor Erlass des ROG 1998 ergangenen Entscheidung BVerwGE 95, 123, 129 ff binden Ziele der Raumordnung, die unter Missachtung der gesetzlichen Mitwirkungsrechte der Gemeinden aufgestellt werden, diese nicht. Es ist davon auszugehen, dass dies auch nach 7 VI ROG aF und § 10 I 1 ROG nF gilt, da die Vorschrift die bisherigen Beteiligungsvorschriften lediglich erweitern, im Übrigen aber den Rechtsgedanken des § 7 V ROG aF übernehmen soll, der zwingend nur eine Beteiligung derjenigen Stellen vorsah, für die eine Beachtenspflicht nach § 4 I, III ROG begründet werden sollte (§ 7 V ROG aF), vgl BT-Drs 15/2250 S 71. 178 Richtlinie 2001/42/EG des europäischen Parlaments und des Rates v 27. Juni 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme. Vgl auch BT-Drs 16/10292 S 24. 179 Vgl auch § 16 UVPG. Eine Ausnahme von der Pflicht zur Erstellung eines Umweltberichts kann nach § 8 II 1 ROG nur für den Fall vorgesehen werden, dass ein Raumordnungsplan nur geringfügig geändert und die Änderung voraussichtlich keine erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt haben wird. Allerdings kann die Feststellung, dass eine geringfügige Änderung eines Raumordnungsplans voraussichtlich keine erheblichen Umweltauswirkungen haben wird, nur unter Beteiligung der öffentlichen Stellen getroffen werden, deren Aufgabenbereich von den Umweltauswirkungen berührt werden kann (§ 8 II 2 ROG). Zur Umweltprüfung nach den Änderungen des ROG durch das EAG Bau vgl auch Schreiber UPR 2004, 50 ff; Erbguth NuR 2004, 91, 92 f. Zu den Vorgaben des ROG zur Umweltplanung insgesamt Scheidler NVwZ 2010, 19 ff.

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sich gem § 10 I 2 ROG auch auf den Umweltbericht erstrecken. Nach § 11 III ROG ist Raumordnungsplänen eine Erklärung beizufügen ua über die Art und Weise, wie die Umweltbelange und die Ergebnisse der Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung berücksichtigt wurden. Schließlich sind der Raumordnungsplan mit Begründung und die Umweltprüfung betreffender Erklärung öffentlich bekannt zu machen (§ 11 I und II ROG) und die erheblichen Auswirkungen seiner Durchführung auf die Umwelt zu überwachen (§ 9 IV ROG). Nicht jeder Rechtsfehler bei der Aufstellung eines Raumordnungsplans bewirkt dessen 51 Unwirksamkeit. Mit Neuregelung des ROG wurden in § 12 ROG erweiterte, den §§ 214 und 215 BauGB (Rn 121 f) vergleichbare Regelungen zur Planerhaltung geschaffen.180 Gem § 12 I ROG sind Verfahrens- und Formvorschriften nur beachtlich, wenn dies in den Nr 1–3 des Absatzes angeordnet ist. Danach können Verletzungen der Beteiligungsvorschriften (Nr 1), Verletzung der Vorschriften über die Begründung (Nr 2) und die Nichterreichung des Hinweiszwecks der öffentlichen Bekanntmachung (Nr 3) zur Beachtlichkeit führen. Nach § 12 II ROG ist ein Verstoß gegen das Gebot, den Regionalplan aus dem landesweiten Raumordnungsplan zu entwickeln (§ 8 II 1 ROG) unbeachtlich, wenn die Raumverträglichkeit gewahrt bleibt.181 Mängel bei der gem § 7 II ROG zu erfolgenden Abwägung sind gem § 12 III 2 ROG nur erheblich, wenn sie offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen sind. § 12 IV ROG trifft ergänzende Regelungen zur Beachtlichkeit von Fehlern bei der Umweltprüfung. Gem § 12 V ROG sind einige der nach den vorherigen Absätzen beachtlichen Fehler nach Ablauf einer einjährigen Rügefrist unbeachtlich.182 Schließlich regelt § 12 VI ROG, dass Raumordnungspläne durch ergänzende Verfahren zur Behebung183 beachtlicher Fehler auch rückwirkend in Kraft gesetzt werden können. bb) Landesrechtliche Regelungen. Fast alle Länder haben Landesplanungsgesetze erlassen, 52 die die grundlegenden Regelungen zur Landesplanung enthalten.184 Eine Ausnahme besteht für die Stadtstaaten Bremen und Hamburg. Dort übernimmt gem § 8 I 2 ROG der Flächennutzungsplan die Funktion eines landesweiten Raumordnungsplans. Auf den Erlass von Landesplanungsgesetzen wurde verzichtet. Besonderheiten bestehen auch in Brandenburg und in Berlin. Diese Länder haben durch Staatsvertrag185 vereinbart, die Raumordnung für das Gesamtgebiet beider Länder186 gemeinsam wahrzunehmen.187 Die darüber hinaus notwendigen landesrechtlichen Regelungen enthält in Berlin das AGBauGB,188 in Brandenburg das RegBkPlG Bbg. Nach Neuregelung des ROG müssen bzw. mussten auch die landesrechtlichen Regelungen, die bis dahin zur Konkretisierung der rahmenrechtlichen Regelungen des ROG aF dienten, novelliert werden. Das bedeutet wegen der Abweichungskompetenz des Art 72 II 1 Nr 4 GG nicht notwendig eine Anpassung an die bundesrechtliche Regelung.189 Soweit am 30. Juni 2009 geltende landesrechtliche Regelungen die Grundsätze der Raumordnung nach § 2 II ROG, die Zielabweichung

_____

180 Vgl dazu BT-Drs 16/10292 S 25 f. 181 BT-Drs 16/10292 S 25. 182 Für die Rüge enthält zB § 4 III LPlG SL ein ausdrückliches Schriftformerfordernis. 183 Zur parallelen Vorschrift des § 214 IV BauGB aF u Rn 124. 184 Zu den Rechtsfolgen der Unvereinbarkeit landesplanungsrechtlicher Regelungen mit dem ROG nF vgl Rn 56. 185 Vertrag über die Aufgabe und Trägerschaft sowie Grundlagen und Verfahren der gemeinsamen Landesplanung zwischen den Ländern Berlin und Brandenburg (Landesplanungsvertrag – LPlVertrag) v 1.2.2008, GVBl Bbg I 42 und GVBl Bln 37, zul geänd durch Art 1 Fünfter ÄndStV v 16.2.2011, GVBl Bln 220, GVBl Bbg I Nr 21 S 1. 186 Nachstufige Raumordnungsplanung findet auf der Ebene jedes Landes statt. Zu Bedenken gegen die Vereinbarkeit der getroffenen Vereinbarung mit dem ROG nF vgl u Rn 54 m Fn 200. Zu verfassungsrechtlichen Grenzen vgl u Rn 53 m Fn 195. 187 Dazu Wimmer LKV 1998, 127 ff; Battis LKV 1999, 347 ff. Vgl auch Priebs DÖV 1996, 541 ff. 188 G zur Ausführung des Baugesetzbuchs – AGBauGB idF der Bekanntmachung v 7.11.1999 (GVBl Bln 578) zul geänd durch G v 3.11.2005 (GVBl Bln 692). 189 Abweichende Regelungen enthalten etwa §§ 1 II, III, 3 II, 4 III und 6 V LPlG SL.

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nach § 6 II oder die Vorschriften des 2. Abschnitts des ROG ergänzen, bleiben sie gem § 28 III ROG durch die Novellierung des ROG unberührt. Im Übrigen werden sie durch die bundesrechtlichen Regelungen gem Art 31 GG verdrängt.190 53 cc) Landesweite Raumordnungsplanung. Die Wahrnehmung der Aufgaben der landesweiten Raumordnungsplanung ist unterschiedlich organisiert. Eine dreistufige Verteilung von Zuständigkeiten und Kompetenzen auf eine oberste, eine obere bzw höhere und eine untere Landesplanungsbehörde findet sich in Bayern, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. 191 In BadenWürttemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen192 konzentriert sich die Landesplanung auf das zuständige Ministerium sowie auf die Bezirksregierungen bzw Regierungspräsidien oder Landesdirektionen. Ebenfalls zweistufig erfolgt die Aufgabenwahrnehmung in MecklenburgVorpommern, Niedersachsen und in Thüringen.193 Das Saarland und Schleswig-Holstein194 benennen dagegen nur das Umwelt- bzw das Innenministerium als Landesplanungsbehörde. Berlin und Brandenburg haben für die Raumordnungsplanung für das Gesamtgebiet beider Länder eine gemeinsame Landesplanungsabteilung eingerichtet.195 54 Anders als das derzeit geltende ROG, das ausschließlich den Begriff des Raumordnungsplans verwendet, differenzierte § 5 I, II ROG aF begrifflich zwischen Programmen und Plänen, ohne diese jedoch näher zu definieren. Das erklärt, weshalb sich diese Terminologie in uneinheitlicher Verwendung in den derzeitigen Landesplanungsgesetzen findet. Uneinheitlich ist auch der Standort der beiden Typen planerischer Aussagen (Rn 39 f), also der Ziele und der Grundsätze der Raumordnung. In einigen Bundesländern enthält das jeweilige Landesplanungsgesetz die Grundsätze der Raumordnung, während die landesgebietsbezogenen Ziele der Raumordnung in einem Landes(raum)entwicklungsprogramm oder Landesraumordnungsprogramm aufgestellt werden.196 Verbreitet verweist das jeweilige Landesplanungsgesetz hinsichtlich der Grundsätze der Raumordnung auf das ROG. 197 In anderen Bundesländern werden Grundsätze und Ziele der Landesraumordnung ausschließlich im jeweiligen Landesentwicklungsprogramm und in diese konkretisierenden Landesentwicklungsplänen dargestellt. 198 Schleswig-Holstein formuliert die Grundsätze der Raumordnung in einem besonderen Gesetz und die landesgebietsbezogenen Ziele der Raumordnung in einem Landesraumordnungsplan.199

_____ 190 Im Einzelnen dazu Hager BauR 2012, 31, bes 35; vgl zur Landeskompetenz Art 72 I, III 1 Nr 4 GG. 191 Art 4 LPlG Bay; § 3 LPlG RP; § 16 I-III LPlG LSA. In Bayern ist der obersten Landesplanungsbehörde zudem nach Art 10 LPlG Bay ein Landesplanungsbeirat beigeordnet. 192 § 30 LPlG BW; § 20 LPlG Hess; §§ 3, 4 LPlG NW; § 19 LPlG Sachs. In Nordrhein-Westfalen nimmt allerdings darüber hinaus die untere Verwaltungsstufe Aufgaben der allgemeinen Aufsicht wahr, vgl § 5 LPlG NW. 193 In Mecklenburg-Vorpommern ist gem § 10 LPlG MV das für Raumordnung und Landesplanung zuständige Ministerium oberste Landesplanungsbehörde, der als untere Landesplanungsbehörden Ämter für Raumordnung und Landesplanung nachgeordnet sind. Dem Ministerium ist zudem gem § 11 I LPlG MV ein beratender Landesplanungsbeirat beigeordnet. In Niedersachsen ist das zuständige Fachministerium gem § 24 I 1 NdsROG oberste Landesplanungsbehörde; die Landkreise und kreisfreien Städte nehmen gem § 24 I 2 NdsROG die Aufgaben der unteren Landesplanungsbehörden wahr. In Thüringen sind gem § 2 I LPlG Thür das zuständige Ministerium und das Landesverwaltungsamt Behörden der Landesplanung. Dem Ministerium ist nach § 6 I LPlG Thür ein Landesplanungsbeirat beigeordnet. 194 § 2 I LPlG SL: Ministerium für Umwelt, Energie und Verkehr; § 8 I LPlG SH: Innenministerium. In SchleswigHolstein ist der Landesplanungsbehörde gem § 9 LPlG SH ein Landesplanungsrat beigeordnet. 195 Art 2 I LPlVertrag (Fn 185). Zu verfassungsrechtlichen Grenzen derartiger Kooperationen Rudolf in: Isensee/ Kirchhof, HStR IV, § 105 Rn 79 ff. Zur Stadt- und Bereichsentwicklungsplanung in Berlin vgl § 4 AGBauGB (Fn 188). 196 Vgl Art 2, 3 I, 11 I LPlG Bay; §§ 2, 4 LPlG MV; §§ 2, 3, 7 NdsROG; §§ 1, 5, 7 I LPlG RP. 197 §§ 3 I, 7 LPlG BW; § 6 I LPlG Hess; §§ 1 I, IV, 5 LPlG RP; § 3 I, II LPlG LSA; § 1 III LPlG SL; § 7 VII LPlG Thür. 198 §§ 12, 17 LPlG NW; § 3 I LPlG Sachs. 199 Vgl §§ 3 I, 5 I LPlG SH zum Standort der Ziele der Raumordnung und § 2 I LPlG SH iVm dem G über Grundsätze zur Entwicklung des Landes – LandesentwicklungsgrundsätzeG SH v 31.10.1995 (GVOBl 364) zu den Grundsätzen der Raumordnung.

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Ähnlich enthält für das gemeinsame Plangebiet200 von Berlin und Brandenburg das Landesentwicklungsprogramm übergreifende Grundsätze und Ziele der Raumordnung, die die Landesentwicklungspläne durch weitere Grundsätze und Ziele der Raumordnung konkretisieren.201 Auch die Rechtsformen der unterschiedlichen Planwerke differieren. Die Grundsätze der 55 Raumordnung werden unabhängig von ihrem systematischen Standort im Einzelnen (Landesplanungsgesetz, Landesentwicklungsplan bzw -programm etc) häufig durch eine Rechtsverordnung202 oder durch ein Gesetz203 beschlossen.204 In Bezug auf die Pläne, die die landesgebietsbezogenen Ziele der Raumordnung enthalten, lässt sich feststellen, dass häufig der gesamte Plan,205 zumindest aber die in ihm enthaltenen „normativen Vorgaben“206 als Rechtsverordnung beschlossen werden. In Sachsen-Anhalt ist dagegen der die landesgebietsbezogenen Ziele der Raumordnung enthaltende Landesentwicklungsplan (noch) Gesetz, 207 während der entsprechende Plan in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein durch Feststellung der Landesregierung bzw der Landesplanungsbehörde zustande kommt.208 In Nordrhein-Westfalen ist der die allgemeinen Ziele der Raumordnung enthaltende Plan Gesetz209 und der die konkreteren Ziele der Raumordnung enthaltende Plan Rechtsverordnung.210 Die durch §§ 4–6 ROG bestimmte

_____ 200 Art 1 I LPlVertrag (Fn 185) lautet: „Die vertragsschließenden Länder betreiben eine auf Dauer angelegte gemeinsame Raumordnung und Landesplanung. Sie nehmen alle damit zusammenhängenden Aufgaben nach Maßgabe dieses Vertrages für das Gesamtgebiet beider Länder (gemeinsamer Planungsraum) gemeinsam wahr“. Angesichts des Wortlauts von § 8 I 1 ROG, demzufolge „für das Landesgebiet“ ein Raumordnungsplan aufzustellen ist, erscheint die Schaffung eines gemeinsamen Planungsraumes rechtlich nicht völlig unproblematisch. Die vom ROG vorgesehenen Möglichkeiten einer landesübergreifenden Zusammenarbeit im Bereich der Raumordnung (vgl zB § 9 III ROG) greifen zumindest nicht unmittelbar. 201 Art 7 I, 8 I 1 LPlVertrag (Fn 185). 202 § 8 IV 1 LPlG Hess; § 5 III 1 LPIG LSA; § 17 II LPlG NW; § 7 III 1 NdsROG; § 8 I 7 LPlG RP; § 3 VIII 1 LPlG SL; § 7 I LPlG Sachs; § 13 I, III LPlG Thür. In Baden-Württemberg wird der Landesentwicklungsplan gem § 9 I 1 LPlG BW vom Wirtschaftsministerium als der obersten Raumordnungs- und Landesplanungsbehörde iSd § 30 I LPlG BW aufgestellt. Gem § 10 I LPlG BW kann die Landesregierung den Landesentwicklungsplan durch Rechtsverordnung für verbindlich erklären; sie muss es aber nicht. 203 In Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz sind sie Bestandteil des Landesplanungsgesetzes (vgl Art 2, 3 I, 11 I LPlG Bay; § 2 LPlG MV; §§ 2, 3, 7 NdsROG; §§ 1 I, 5, 7 I LPlG RP), in BadenWürttemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, SLand und Thüringen wird – teilw zusätzlich – auf § 2 II ROG verwiesen (vgl §§ 3 I, 7 LPlG BW; §§ 1 I, IV, 5 LPlG RP; § 3 I, II LPlG LSA; § 1 III LPlG SL; § 7 VII LPlG Thür). In SchleswigHolstein sind sie Bestandteil eines gesonderten Gesetzes (vgl Fn 199). Die Planwerke, die in Nordrhein-Westfalen die Grundsätze der Raumordnung enthalten, werden ebenfalls als Gesetz beschlossen, § 16a S 1 LPlG NW. In Sachsen-Anhalt gilt derzeit noch das G ü den Landesentwicklungsplan des Landes Sachsen-Anhalt v 23.11.1999 (GVBl 244), zul geänd durch G v 19.12.2007 (GVBl 466, 469). Gem § 5 III 1, 4 LPlG LSA ist jedoch ein neuer Landesentwicklungsplan durch Rechtsverordnung zu beschließen, und bereits vor einem solchen Beschluss ist die Landesregierung gem § 5 III 2, 3 LPlG LSA ermächtigt, einzelne Ziele der Raumordnung durch Rechtsverordnung zu ändern. 204 Eine Modifikation ergibt sich in Berlin und Brandenburg. Das die allg Grundsätze enthaltende Landesentwicklungsprogramm wird gem Art 7 I 1 LPlVertrag (Fn 185) als Staatsvertrag zwischen den beiden Ländern vereinbart. Die gemeinsamen Landesentwicklungspläne, die gem Art 8 I 1 LPlVertrag weitere Grundsätze der Raumordnung enthalten können, werden gem Art 8 VI 1 LPlVertrag von den Regierungen der beiden Länder jeweils als Rechtsverordnung mit Geltung für das eigene Hoheitsgebiet beschlossen. 205 § 8 IV 1 LPlG Hess; § 7 IV 1 LPlG MV; § 7 III 1 NdsROG; § 8 I 5 LPlG RP; § 3 VIII 1 LPlG SL; § 7 I LPlG Sachs. 206 So ausdr Art 17 II LPlG Bay. 207 Vgl o Fn 203. 208 § 9 IX LPlG BW; § 7 III LPlG SH. In Baden-Württemberg kann der Landesentwicklungsplan jedoch von der Landesregierung durch Rechtsverordnung für verbindlich erklärt werden, § 10 I LPlG BW. 209 § 16a S 1, 2 LPlG NW. 210 § 17 II LPlG NW. Dem ähnelt die Rechtslage in Berlin und Brandenburg. Dort wird das die allgemeinen Ziele der Raumordnung enthaltende Landesentwicklungsprogramm gem Art 7 I 1 LPlVertrag (Fn 185) als Staatsvertrag zwischen den beiden Ländern vereinbart. Die gemeinsamen Landesentwicklungspläne, die gem Art 8 I 1 weitere Ziele enthalten können, werden gem Art 8 VI 1 LPlVertrag von den Landesregierungen jeweils als Rechtsverordnung mit Geltung für das eigene Hoheitsgebiet beschlossen.

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rechtliche Bindungswirkung (Rn 39 f) kommt den Grundsätzen und Zielen der Raumordnung aber unabhängig davon zu, welche Rechtsform sie oder die sie enthaltenden Pläne aufweisen. 56 Alle Landesplanungsgesetze enthalten ergänzende211 Bestimmungen zum Verfahren der Aufstellung der auf das gesamte Landesgebiet bezogenen Pläne,212 zur Beteiligung anderer Stellen an diesem Verfahren213 sowie zur in § 7 III ROG vorgesehenen Abstimmung der Raumordnungspläne benachbarter Planungsräume.214 Mit Ausnahme von Schleswig-Holstein haben die Bundesländer auch die Planerhaltungsregelungen des § 12 ROG ergänzende Regelungen erlassen.215 Ergänzende Vorschriften über die Umweltprüfung haben Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Thüringen in ihre Landesplanungsgesetze bzw in ihren Landesplanungsvertrag aufgenommen.216 57 dd) Regionalplanung. Regionalpläne sind gem § 8 I 1 Nr 2 ROG untergeordnete Raumordnungspläne für Teilräume der Länder. Sie konkretisieren die landesweiten Raumordnungspläne, aus denen sie zu entwickeln sind,217 durch weitere, gebietsbezogene Grundsätze und Ziele der Raumordnung. Mit Ausnahme des Saarlandes und der Stadtstaaten218 verpflichtet § 8 I Nr 2 ROG alle Bundesländer, Regionalpläne aufzustellen. Aus § 9 IV 1 ROG lässt sich rückschließen, dass für die Organisation der Aufgabenwahr58 nehmung der Regionalplanung theoretisch zwei Grundmodelle zur Verfügung stehen: Regionalplanung kann entweder durch Zusammenschlüsse von Gemeinden und Gemeindever-bänden in regionalen Planungsgemeinschaften oder durch staatliche Stellen erfolgen.219 Regionalplanung ist zumindest auch eine staatliche Aufgabe.220 Folglich ist bei Wahl des ersten Modells ein hinreichender staatlicher Einfluss auf die Regionalplanung sicherzustellen.221 Andererseits kann Regionalplanung sehr konkrete Vorgaben für die gemeindliche Planung enthalten. Deshalb ist

_____ 211 Gem § 28 III ROG bleibt am 30.6.2008 geltendes Landesrecht unberührt, soweit es den 2. Abschnitt des ROG ergänzt. 212 §§ 9, 10 I LPlG BW; Art 12–15, 17 LPlG Bay; § 8 I–V LPlG Hess; § 7 LPlG MV; §§ 4–7 NdsROG; §§ 13, 14, 17 LPlG NW; §§ 6, 6a, 8 LPlG RP; § 3 I–VII LPlG SL; §§ 6, 7 I LPlG Sachs; § 5 LPlG LSA; § 7 I–III LPlG SH; §§ 8–11 LPlG Thür. Zum Verfahren der gemeinsamen Landesplanung in Berlin und Brandenburg Art 7, 8 LPlVertrag (Fn 185). 213 § 9 III LPlG BW; Art 13 I LPlG Bay; § 8 III LPlG Hess; §§ 7 II, III, 11 I LPlG MV; § 5 IV, V NdsROG; §§ 13 LPlG NW; § 8 I 1–5 LPlG RP; § 3 V-VII LPlG SL; § 6 I-3 LPlG Sachs; §§ 3 X, 5 II, IV LPlG LSA; § 7 I 2–4, II LPlG SH; §§ 6 I, 10 II LPlG Thür. Zu Beteiligungsrechten bei der Landesplanung von Berlin und Brandenburg Art 7 II–VII, 8 IV, V LPlVertrag (Fn 185). 214 Vgl §§ 1 Nr 2, 9 III Nr 1, 27 LPlG BW; Art 1 II Nr 2, 13 III LPlG Bay; Art 7 VI LPlVertrag (Fn 185); §§ 8 III 2 Nr 1, 14 LPlG Hess; §§ 1 I Nr 3 LPlG MV; §§ 1 IV, 5 IV 1 Nr 1e, 7 I 3 NdsROG; §§ 3 Nr 3, 12 VII LPlG NW; §§ 4 I 1 Nr 1b, 8 I 1 LPlG RP; §§ 3 V 2 Nr 5, 10 I LPlG SL; § 6 I 1 Nr 5 LPlG Sachs; § 3 XII LPlG LSA; § 14a II 1 Nr 3 LPlG SH sowie § 1 III LPlG Thür, die sich allerdings unterschiedlicher Regelungstechniken bedienen, so dass die Abstimmung unterschiedlich intensiv ausfällt. 215 Dazu schon o Rn 51. Planerhaltungsregelungen für die auf das gesamte Landesgebiet bezogenen Planwerke enthalten derzeit § 5 LPlG BW; Art 20 LPlG Bay; § 15 LPlG Hess; § 5 III–V LPlG MV; § 10 NdsROG; § 6 VII, VIII LPlG RP; § 4 LPlG SL; § 8 LPlG Sachs; § 9 LPlG LSA; § 16 LPlG Thür sowie Art 9 LPlVertrag (Fn 185). § 23 LPlG NW bezieht sich hingegen nur auf Regionalpläne. 216 § 2a LPlG BW; Art 12 LPlG Bay; §§ 4, 5 NdsROG; § 6a LPlG RP; § 4 LPlG SL; §§ 3a, b LPlG LSA; § 8 LPlG Thür; Art 8a LPlVertrag (Fn 185). Vgl schon o Rn 50. 217 Vgl § 8 II 1 ROG. Zur entsprechenden Vorschrift des § 8 II 1 BauGB, derzufolge Bebauungspläne aus dem Flächennutzungsplan zu entwickeln sind, vgl u Rn 95 ff. 218 § 8 I 3 ROG. Zur Stadt- und Bereichsentwicklungsplanung in Berlin vgl § 4 AGBauGB (Fn 188). 219 Sog „verbandlich-kommunale“ und „staatliche“ Regionalplanung, vgl zu § 9 IV ROG aF Brohm (Fn 66) § 37 Rn 17; Peine (Fn 23) Rn 279. 220 Vgl Brohm (Fn 66) § 37 Rn 17 sowie o Rn 19. Nach Schmidt-Aßmann AöR 101 (1976) 520, 534 ist Regionalplanung dagegen als „Aufgabe eines staatlich-kommunalen Kondominiums“ zu beschreiben. 221 Das kann zB durch Mitwirkungs-, Weisungs- und Aufsichtsrechte geschehen. Zur Diskussion um das erforderliche Ausmaß der Aufsicht und ihre Qualifikation Erbguth/Schoeneberg (Fn 133) Rn 101 mwN.

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II. Raumordnungsrecht – 4. Kapitel

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bei Wahl des zweiten Modells ein ausreichender Einfluss der Gemeinden und Gemeindeverbände durch entsprechende Beteiligungsrechte zu gewährleisten.222 Die Länder haben sich durchweg nicht für die Umsetzung eines der beiden Grundmodelle entschieden, sondern Mischformen entwickelt. Deshalb variiert die Organisation der Aufgabenwahrnehmung der Regionalplanung erheblich. Entsprechend differieren auch die Verfahrens- und Beteiligungsregelungen.223 Als Rechtsform des Regionalplans ist in Baden-Württemberg, Brandenburg, Niedersach- 59 sen und Sachsen die der Satzung224 vorgesehen. In Mecklenburg-Vorpommern werden Regionalpläne durch Rechtsverordnung für verbindlich erklärt.225 In Bayern werden die in den Regionalplänen enthaltenen „normativen Vorgaben“ als Rechtsverordnung beschlossen.226 Die Gesetze der übrigen Länder treffen keine Aussage zur Rechtsform der Regionalpläne. Unabhängig von der Rechtsform entfalten Regionalpläne oder zumindest die in ihnen enthaltenen Grundsätze und Ziele der Raumordnung idR227Rechtsverbindlichkeit nicht schon durch entsprechenden Beschluss des Planungsträgers, sondern erst nach staatlicher Genehmigung, Verbindlicherklärung oder Feststellung.228

c) Raumordnungsplanung des Bundes Das ROG ermöglicht dem Bund, Raumordnungspläne aufzustellen. Anders als das ROG aF sieht 60 § 17 ROG nicht mehr allein die Raumordnungsplanung des Bundes für die deutsche ausschließliche Wirtschaftszone229 vor (Abs 3),230 sondern befähigt den Bund darüber hinaus Grundsätze der Raumordnung in Raumordnungsplänen zu konkretisieren (Abs 1) und Raumordnungspläne für das Bundesgebiet mit Festlegungen zu länderübergreifenden Standortkonzepten für See-, Binnen- und Flughäfen aufzustellen (Abs 2). Das ROG soll damit die Möglichkeiten des Bundes erweitern, auf die Entwicklung des Bundesgebietes Einfluss zu nehmen.231 Die Möglichkeiten des Bundes, verbindliche Vorgaben für die Raumordnung zu schaffen, haben aber Einschränkungen

_____ 222 § 9 IV ROG aF stellte dies ausdrücklich sicher. Die Gemeinden müssen aber zumindest nach § 10 I ROG nF an der Planaufstellung beteiligt werden, soweit ihre Belange berührt sind. Zu § 5 III 2 ROG aF betont das BVerwG NVwZ 2002, 869, 871: „Dieses bundesrechtlich normierte Beteiligungsrecht darf durch den Landesgesetzgeber nicht angetastet werden, denn es ist im Gegensatz zur Mitwirkung anderer Stellen oder zu sonstigen verfahrensrechtlichen Anforderungen, die zur einfachgesetzlichen Disposition stehen, verfassungsrechtlich fundiert. Es ist unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass eine Zielaussage für die von ihr betroffene Gemeinde eine Anpassungspflicht auslöst. Denn es stellt als Ausfluss der Selbstverwaltungsgarantie des Art 28 II 1 GG, die auch die kommunale Planungshoheit umfasst, eine Kompensation für den mit § 1 IV BauGB verbundenen Eingriff in das System der gemeindlichen Bauleitplanung dar. Die Gemeinde wird durch diese Einbindung in den überörtlichen Planungsprozess davor bewahrt, zum bloßen Objekt einer höherstufigen Gesamtplanung degradiert zu werden.“ 223 Eine ausf Darstellung bei Koch/Hendler (Fn 119) § 5 Rn 3 ff. Zur Unmöglichkeit, die verschiedenen Ausgestaltungen dem einen oder anderen Grundmodell zuzuordnen, Brohm (Fn 66) § 37 Rn 18. 224 § 12 X LPlG BW; § 2 IV 1 RegBkPlG Bbg; § 8 VI 1 NdsROG; § 7 II 1 LPlG Sachs. 225 § 9 V LPlG MV. 226 Art 19 I 2 LPlG Bay. 227 § 9 V LPlG MV: Verbindlicherklärung durch RVO der Landesregierung; § 19 IV, VI 1 LPlG NW: Regionalplan wird vom Regionalrat aufgestellt; § 7 I, III 1 LPlG SH: Planungsträger ist idR (Ausnahme: § 7a LPlG SH) die Landesplanungsbehörde, die den Plan auch feststellt. Diese festgestellten Pläne werden mit ihrer Bekanntmachung im Amtsblatt wirksam. 228 Vgl § 13 I LPlG BW; Art 19 I 2, II LPlG Bay; § 2 IV 2 RegBkPlG Bbg; § 11 I 2, II, III LPlG Hess; § 8 VI 1 HS 2 NdsROG; § 10 II LPlG RP; § 7 II, III LPlG Sachs; § 7 VI 2 LPlG LSA; § 14 IV LPlG Thür. 229 Die ausschließliche Wirtschaftszone ist eine maximal 200 Seemeilen breite Meereszone, die nicht zum Staatsgebiet gehört, in der der Bundesrepublik Deutschland aber bestimmte Hoheitsbefugnisse völkerrechtlich zugewiesen sind. Dazu Erbguth NuR 2004, 91 ff, bes 91, 93 ff; ders DV 2009, 179, 181 f. 230 Vgl § 18a ROG aF. Damit wurden insbes auch die Voraussetzungen für sog „Offshore-Windenergieanlagen“ geschaffen, vgl dazu zB Erbguth UPR 2011, 207 ff; Runkel in: Spannowsky/ders/Goppel, ROG, § 17 Rn 35 ff; Erbguth/Mahlburg DÖV 2003, 665 ff; Maier UPR 2004, 103 ff. 231 Vgl BT-Drs 16/10292 S 27.

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erfahren. Zwar bestimmt sich die Bindungswirkung der in diesen Plänen aufgestellten Ziele und Grundsätze der Raumordnung nach den allgemeinen Regeln der §§ 4–6 ROG.232 Jedoch ermöglicht § 17 I ROG nur die Aufstellung von Grundsätzen der Raumordnung. Die Bindungswirkung der nach § 17 II ROG aufgestellten Pläne findet ihre Beschränkung darin, dass einziger Adressat dieser Pläne die Bundesverkehrswegeplanung ist.233 Die nach § 17 III ROG aufgestellten Pläne sind räumlich auf die ausschließliche Wirtschaftszone begrenzt. 61 Neben den allgemeinen Vorschriften des § 7 ROG regeln § 17 I-III ROG besondere inhaltliche Vorgaben für die Raumordnungspläne des Bundes. So sind bei der Konkretisierung der bundesrechtlichen Grundsätze der Raumordnung gem § 17 I ROG die raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen der europäischen Union und deren Mitgliedstaaten einzubeziehen. Nach § 17 II 1 ROG können Festlegungen als Grundlage für die verkehrliche Anbindung von See-, Binnen- und Flughäfen im Rahmen der Bundesverkehrswegeplanung aufgestellt werden, soweit dies für die räumliche Entwicklung und Ordnung des Bundesgebietes unter nationalen oder europäischen Gesichtspunkten erforderlich ist. Raumordnungspläne gem § 17 III ROG sollen nach dessen Satz 2 Festlegungen zur wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Nutzung, zur Gewährleistung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs sowie zum Schutz der Meeresumwelt treffen. Raumordnungspläne des Bundes werden vom Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtent61a wicklung aufgestellt.234 Im Aufstellungsverfahren ist die Beteiligung verschiedener Stellen vorgesehen. So werden etwa die vorbereitenden Verfahrensschritte gem § 17 I 2 ROG vom Bundesministerium für Bauwesen und Raumordnung und gem § 17 III 3 ROG vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie durchgeführt. Nach § 17 I 3, II 4 ROG ist das Benehmen mit den Ländern und angrenzenden Staaten herzustellen. Gem § 18 iVm § 10 ROG sind Öffentlichkeit und die in ihren Belangen berührten öffentlichen Stellen zu beteiligen. Bei der Aufstellung von Plänen nach § 17 II, III ROG ist gem § 17 VI der zuständige Ausschuss des Bundestages zu beteiligen. Außer bei den Plänen nach § 17 I ROG ist außerdem nach § 17 V iVm § 9 ROG eine Umweltprüfung durchzuführen, die ebenso wie die Begründung (§ 7 V ROG) zum Zwecke der Beteiligung gem § 18 iVm § 10 ROG öffentlich auszulegen ist. Raumordnungspläne nach § 17 I ROG treten mit Bekanntmachung in Kraft, § 19 I 1 HS 2 61b ROG. Die Bekanntmachung erfolgt entweder durch Veröffentlichung im Bundesanzeiger (§ 17 I 1 HS 1 ROG) oder durch öffentliche Auslegung und entsprechendem Hinweis im Bundesanzeiger (§ 19 I 2 ROG). Pläne nach § 17 II 1 und III 1 ROG sind in der Form der Rechtsverordnung aufzustellen. Mangels anderweitiger gesetzlicher Regelungen sind diese gem Art 82 I 2 GG nach Ausfertigung durch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung im Bundesgesetzblatt zu verkünden.

d) Verwirklichung der Raumordnungsplanung 62 Wesentlich für die Verwirklichung der Raumordnungsplanung ist wiederum die Bindungswirkung, die den in den Raumordnungsplänen enthaltenen Grundsätzen und Zielen der Raumordnung nach §§ 4–6 ROG zukommt. Soweit Ausnahmen nicht geregelt sind235 bewirkt sie, dass alle öffentlichen Stellen des Bundes und der Länder sowie die von § 4 I 2 ROG erfassten privatrechtlich organisierten Stellen die in Raumordnungsplänen enthaltenen Grundsätze und Ziele der

_____ 232 Lediglich § 21 ROG modifiziert den § 6 II ROG hinsichtlich der Zuständigkeit und des Verfahrens. 233 BT-Drs 16/10292 S 28. 234 §§ 17 I 1, II 1, III 1 ROG. Die vorbereitenden Verfahrensschritte werden gem § 17 I 2 ROG vom Bundesministerium für Bauwesen und Raumordnung und gem § 17 III 3 vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie durchgeführt. 235 Vgl etwa § 17 II ROG.

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II. Raumordnungsrecht – 4. Kapitel

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Raumordnung bei raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen nach Maßgabe des § 4 ROG beachten bzw berücksichtigen müssen (Rn 39 f). Praktisch bedeutsam ist hierbei insbesondere die Bindung der gemeindlichen Bauleitplanung.236 Daneben verpflichtet § 13 I ROG die verschiedenen Träger der Raumplanung zur gegenseitigen Zusammenarbeit und zur Zusammenarbeit mit Privatpersonen sowie dazu, auf diese Zusammenarbeit hinzuwirken.237

5. Sonstige Instrumente der Raumordnung Zur effektiven Wahrnehmung der Aufgaben der Raumordnung (Rn 36) bedarf es weiterer In- 63 strumente zur Vorbereitung, Sicherung und Durchsetzung der Raumordnungspläne sowie zur Abstimmung sonstiger raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen. Zu diesen Instrumenten zählen die Untersagung raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen und das Raumordnungsverfahren.238

a) Untersagung raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen Während der Aufstellung eines Raumordnungsplans besteht die Gefahr, dass raumbedeutsame 64 Planungen und Maßnahmen begonnen werden, die die spätere Realisierung des in Aufstellung befindlichen Raumordnungsplans erschweren oder verhindern.239 Nach §§ 14 II, 22 ROG kann deshalb die Raumordnungsbehörde240 raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen sowie die Entscheidung über die Zulässigkeit gegenüber den in § 4 ROG genannten öffentlichen Stellen zeitlich befristet untersagen, wenn zu befürchten ist, dass durch sie die Verwirklichung von in Aufstellung, Änderung, Ergänzung oder Aufhebung (§ 7 VII ROG) befindlichen Zielen der Raumordnung unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert würde.241 Sind raumbedeutsame Planungen oder Maßnahmen genehmigungs- oder anzeigepflichtig, 65 wird ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht im Genehmigungs- oder Anzeigeverfahren überprüft. Dergestalt ist für den Regelfall sichergestellt, dass sie den vorrangigen Zielen der Raumordnung tatsächlich entsprechen. Unterliegen raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen keiner Genehmigungs- oder Anzeigepflicht, wie dies zB idR bei gemeindlichen Bebauungsplänen der Fall ist (Rn 119), kann mangels vorgängiger aufsichtsbehördlicher Kontrolle der Fall eintreten, dass sie Zielen der Raumordnung widersprechen. Nach §§ 14 I, 22 ROG kann deshalb zur Durchsetzung der Beachtungspflicht des § 4 ROG die Raumordnungsbehörde242 raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen sowie Entscheidungen über die Zulässigkeit gegenüber den in § 4 ROG genannten öffentlichen Stellen zeitlich unbefristet untersagen, wenn Ziele der Raum-

_____ 236 Vgl § 1 IV BauGB, § 4 ROG, Rn 38 ff sowie u Rn 96 ff. Vgl zur Frage, ob Ziele der Raumordnung gemeindliche Erstplanungspflichten auslösen, o Rn 39 Fn 144 sowie u Rn 96 Fn 344. 237 § 13 II ROG nennt mögliche Formen der Zusammenarbeit. § 13 II 1 Nr 1 ROG hebt hervor, dass vertragliche Vereinbarungen zur Vorbereitung und Verwirklichung der Raumordnungspläne geschlossen werden können. § 2 II 2 BauGB ermöglicht es den Gemeinden darüber hinaus, sich iRd interkommunalen Abstimmung auf die ihnen durch die Ziele der Raumordnung zugewiesenen Funktionen zu berufen (vgl dazu nur Hoppe BauR 2007, 28, 28; ders/ Otting DVBl 2004, 1125 ff; Uechtritz DVBl 2006, 799 ff). 238 Zu weiteren Instrumenten wie zB den Raumordnungsberichten und -katastern, landesplanerischen Gutachten zB Koch/Hendler (Fn 119) § 7 Rn 16 ff. 239 Beispiel nach Grotefels in: Hoppe/Grotefels, BauR, 1. Aufl 1995, § 4 Rn 16: Eine Gemeinde setzt durch Bebauungsplan Flächen als Baugebiet fest, die im Raumordnungsplan als Erholungsgebiet ausgewiesen werden sollen. 240 Gem § 22 ROG ist das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung für Untersagungen bei raumbedeutsamen Planungen des Bundes zuständig. 241 Das Instrument der Untersagung ähnelt insoweit den baurechtlichen Instrumenten der Veränderungssperre bzw der Zurückstellung von Baugesuchen, dazu u Rn 149 ff. 242 Gem § 22 ist das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung für Untersagungen bei raumbedeutsamen Planungen des Bundes zuständig.

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ordnung entgegenstehen. Mit Ausnahme des Saarlandes haben die Länder ergänzende Verfahrensregelungen zu befristeter und unbefristeter Untersagung geschaffen.243

b) Raumordnungsverfahren 66 Gem § 15 I 1 ROG prüft die für Raumordnung zuständige Landesbehörde in einem besonderen Verfahren die Raumverträglichkeit bestimmter raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen.244 Das Raumordnungsverfahren zielt darauf ab, raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen untereinander und mit den Erfordernissen der Raumordnung245 abzustimmen. Gegenstand des projektbezogenen Verfahrens sind einzelne raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen. Welche Projekte dem Raumordnungsverfahren unterliegen, bestimmt die Raumordnungsverordnung (ROV)246 des Bundes. Die Länder können darüber hinaus weitere raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen dem Raumordnungsverfahren unterwerfen.247 Ergebnis des Raumordnungsverfahrens ist die Feststellung,248 ob das jeweilige Projekt 67 mit den Erfordernissen der Raumordnung übereinstimmt und wie es unter den Gesichtspunkten der Raumordnung mit anderen raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen abgestimmt oder durchgeführt werden kann (vgl § 15 I 2 HS 2 ROG). Diese Feststellung entfaltet dem Projektträger gegenüber keine unmittelbaren Rechtswirkungen.249 Insbesondere ersetzt sie die erforderlichen spezialgesetzlichen Genehmigungen, Planfeststellungen bzw -genehmigungen oder sonstigen behördlichen Entscheidungen über die Zulässigkeit des Vorhabens nicht.250 Die Rechtsfolgen der Feststellung erschließen sich bundesrechtlich aus §§ 3, 4 ROG. Nach § 3 I Nr 4 ROG ist die Feststellung „Erfordernis der Raumordnung“. Für diese gilt die Berücksichtigungspflicht (Rn 40) des § 4 ROG. Sie bewirkt zum einen, dass bei Ermessens- oder Abwägungsentscheidungen von öffentlichen Stellen und Personen des Privatrechts iSd § 4 I 2 ROG über ihre raumbedeutsamen Planungen oder Maßnahmen das Ergebnis des Raumordnungsverfahrens in diese Entscheidungen einfließt. Zum anderen ist bei behördlichen Entscheidungen über die Zulässigkeit raumbedeutsamer Maßnahmen von Privaten das Ergebnis des Raumordnungsverfahrens nach Maßgabe der für diese Entscheidungen geltenden Vorschriften zu berücksichtigen.

_____ 243 § 20 LPlG BW; Art 24 LPlG Bay; Art 14 LPlVertrag (Fn 185); § 16 LPlG Hess; § 16 LPlG MV; § 22 NdsROG; § 36 LPlG NW; § 19 LPlG RP; § 14 LPlG Sachs; § 11 LPlG LSA; § 15 LPlG SH; § 20 I 1 Nr 2 LPlG Thür. 244 Den Stadtstaaten ist die Durchführung des Raumordnungsverfahrens gem § 15 VI 1 ROG freigestellt. Berlin hat sich durch Art 16 LPlVertrag (Fn 185) zur gemeinsamen Durchführung von Raumordnungsverfahren mit Brandenburg verpflichtet. 245 Vgl zum Begriff § 3 I Nr 1 ROG: Erfordernisse der Raumordnung sind Ziele, Grundsätze und sonstige Erfordernisse der Raumordnung. Sonstige Erfordernisse der Raumordnung sind in Aufstellung befindliche Ziele, Ergebnisse förmlicher landesplanerischer Verfahren wie des Raumordnungsverfahrens und landesplanerische Stellungnahmen, § 3 I Nr 4 ROG. 246 ROV 13.12.1990, BGBl I 2766, zul geänd durch G v 31.7.2009, BGBl I 2585. Sie ist noch aufgrund von § 6a II 1 ROG idF der Bekanntmachung v 19.7.1989, BGBl I 1461 erlassen worden und findet ihre Rechtsgrundlage nunmehr in § 23 I ROG. 247 Vgl Koch/Hendler (Fn 119) § 7 Rn 11. 248 Diese Feststellung wird landesrechtlich oft landesplanerische oder raumordnerische Beurteilung genannt, vgl § 18 III LPlG BW; Art 22 VI 1 LPlG Bay; § 15 II LPlG MV; § 32 IX LPlG NW; § 6 VI LPlG SL; § 15 IX 1 LPlG LSA; § 14b I 1 LPlG SH; § 22 VII LPlG Thür. Vgl auch § 16 II 1 NdsROG: „landesplanerische Feststellung“; § 17 X LPlG RP: „raumordnerischer Entscheid“. 249 Zu den Rechtswirkungen der Feststellung vgl Zoubek Das Raumordnungsverfahren, 1978, 154 ff; Koch/Hendler (Fn 119) 116; Hopp NuR 2000, 301, 304. 250 So nunmehr ausdr § 18 V 2 LPlG BW; § 16 V 3 NdsROG; § 17 XI LPlG RP; § 14b II 1 HS 2 LPlG SH; vgl auch § 15 II 3 LPlG MV; § 22 IX LPlG Thür.

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6. Rechtsschutzfragen des Raumordnungsrechts a) Rechtsschutzkonstellationen Die denkbaren Rechtsschutzbegehren im Bereich des Raumordnungsrechts sind vielfältig. So 68 kann sich zB eine Gemeinde gegen die Festlegung bestimmter Ziele der Raumordnung zur Wehr setzen wollen. Umgekehrt kann die Gemeinde aber auch an der Festlegung derartiger Ziele interessiert sein. Auch private Vorhabenträger können Rechtsschutz gegen Raumordnungspläne begehren, soweit sie durch § 35 III 2, 3 BauGB an die darin ausgewiesenen Ziele der Raumordnung gebunden sind und ihnen aufgrund dessen die Zulassung eines Bauvorhabens versagt wurde oder versagt zu werden droht. Weiterhin kann zB ein Regionalplanungsträger die staatliche Genehmigung bzw Verbindlicherklärung eines Regionalplans begehren, die unter Berufung auf entgegenstehende höherstufige Ziele der Raumordnung versagt wurde. Rechtsschutz kann auch gegen das Verlangen der Landesplanungsbehörden auf Anpassung von Bauleitplänen, gegen Planungsgebote oder gegen Untersagungsverfügungen251 gesucht werden. Der Vielfalt der denkbaren Rechtsschutzbegehren entspricht die Vielfalt der einschlägigen Rechtsschutzformen. Von ihnen hängen die näheren Modalitäten der Ausgestaltung des Rechtsschutzes ab. Besondere Schwierigkeiten weist der im Folgenden im Mittelpunkt stehende Rechtsschutz gegen Raumordnungspläne auf.252

b) Rechtsschutz gegen Raumordnungspläne Raumordnungspläne bzw die in ihnen enthaltenen Ziele der Raumordnung können Gegenstand 69 inzidenter gerichtlicher Kontrollen sein. Kommt es für die Entscheidung einer verwaltungsgerichtlichen Anfechtungs-, Verpflichtungs- oder Feststellungsklage auf die Rechtsverbindlichkeit solcher Pläne bzw Ziele an, unterliegen sie der gerichtlichen Überprüfung.253 Praktische Bedeutung hat dies insbesondere in der bereits erwähnten Konstellation der Verweigerung einer Baugenehmigung für ein Bauvorhaben im sog Außenbereich (Rn 137 ff) erlangt, wenn Flächen für gleichartige Vorhaben durch einen Raumordnungsplan an anderer Stelle ausgewiesen sind (§ 35 III 3 BauGB).254 Will sich eine Gemeinde255 unmittelbar gegen einen Raumordnungsplan gerichtlich zur 70 Wehr setzen, kommt dafür zum einen die kommunale Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG (Art 93 I Nr 4b GG) bzw – bei entsprechender landesrechtlicher Regelung256 – vor dem jeweiligen Landesverfassungsgericht in Betracht. Zum anderen erscheint ein Antrag auf prinzipale verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle gem § 47 I Nr 2 VwGO möglich, wenn das Landesrecht diese fakultative Normenkontrolle eingerichtet hat.257

_____ 251 Vgl zum vorläufigen Rechtsschutz gegen Untersagungsverfügungen die Vorgabe des § 12 III ROG. 252 Dazu Weidemann Gerichtlicher Rechtsschutz der Gemeinden gegen regionale Raumordnungspläne, 1983; Kment Rechtsschutz im Hinblick auf Raumordnungspläne, 2002; ders DVBl 2004, 214 ff; ders DÖV 2003, 349 ff; ders NVwZ 2003, 1047 ff; Böttger/Broosch UPR 2002, 420 ff; Hendler DVBl 2001, 1233 ff; Blümel VerwArch 84 (1993) 123 ff; Heintschel von Heinegg NWVBl 1994, 441 ff; Sauer VBlBW 1995, 465 ff; vgl auch Bertrams FS Hoppe, 2000, 975 ff. 253 Bei Planwerken in Gestalt eines förmlichen Gesetzes haben die Verwaltungsgerichte allerdings Art 100 I GG zu beachten. 254 BVerwGE 118, 33, 37 ff. Vgl auch Kment Rechtsschutz im Hinblick auf Raumordnungspläne, 2002, 252 ff, 360 ff. 255 Zur prinzipalen Normenkontrolle von Raumordnungsplänen auf Antrag von Privatpersonen Kment Rechtsschutz im Hinblick auf Raumordnungspläne, 2002, 232 ff, 305 ff; ders NVwZ 2003, 1047 ff; Böttger/Broosch UPR 2002, 420, 423 ff; ablehnend Bartlsperger Raumplanung zum Außenbereich, 2003, 223 ff, 232 f. Die Rspr ist uneinheitlich. Von der Zulässigkeit entsprechender Normenkontrollanträge gehen zB OVG RP DVBl 2007, 1587 (LS); SächsOVG SächsVBl 2005, 225 ff; SächsVBl 2003, 84 ff; VGH BW ZfBR 2005, 691 ff aus. Ablehnend zB BayVGH BayVBl 2005, 722, 723 f. Nicht abschließend entschieden von BVerwG NVwZ 2007, 229, 230. Vgl dazu auch Rn 234. 256 Dazu o Röhl 1. Kap Rn 58 mwN. 257 Dazu o Röhl 1. Kap Rn 142.

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Sowohl die prinzipale Normenkontrolle nach § 47 I Nr 2 VwGO als auch die bundes- oder landesrechtlichen kommunalen Verfassungsbeschwerden richten sich gegen Rechtsnormen. Die prinzipale Normenkontrolle bezieht sich auf „im Rang unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschriften“. Die kommunale Verfassungsbeschwerde nach Art 93 I Nr 4b GG knüpft an „Gesetze“ an. Gesetze iSd Norm sind „alle vom Staat erlassenen Rechtsnormen, die Außenwirkung gegenüber einer Kommune entfalten“.258 Die landes(verfassungs)rechtlichen Normen, die den Gemeinden (verfassungs)gerichtlichen Rechtsschutz eröffnen, nennen als Beschwerdegegenstand „(Landes-)Gesetze“,259 „Rechtsvorschriften“260 oder „Landesrecht“.261 Das ROG enthält keine Aussagen zur Rechtsform der Raumordnungspläne der Länder oder 72 der in ihnen enthaltenen Ziele der Raumordnung. Die nach § 17 II 1, III 1 ROG erlassenen Raumordnungspläne des Bundes werden als Rechtsverordnung aufgestellt. Bei ihnen handelt es sich schon auf Grund der gesetzlichen Zuordnung um Rechtsvorschriften. Gleiches gilt, wenn Landesplanungsgesetze für die Raumordnungspläne oder für die in ihnen enthaltenen Ziele der Raumordnung als Rechtsform die Rechtsverordnung oder die Satzung vorgeben, oder wenn Ziele der Raumordnung in Gesetzen enthalten sind.262 Aber auch für den Fall, dass das Landesrecht keine ausdrückliche Zuordnung vornimmt,263 ist man sich inzwischen264 einig, dass jedenfalls den in den Plänen enthaltenen Zielen der Raumordnung die Qualität einer Rechtsnorm mit Außenwirkung gegenüber rechtlich selbständigen Normadressaten, also etwa den Gemeinden, zukommt.265 Die den Zielen der Raumordnung zukommende Bindungswirkung des § 4 ROG und der damit verbundene Verpflichtungs- bzw Verbindlichkeitscharakter kann nur kraft Rechtssatzes begründet werden.266 Fraglich kann allenfalls sein, ob in diesen Konstellationen der Plan insgesamt oder nur die Ziele der Raumordnung als die der gerichtlichen Kontrolle unterliegenden Rechtsnormen anzusehen sind.267 Insofern ist zu vergegenwärtigen, dass sich die Rechtsnormqualität des Plans auf die Planaussagen beschränkt, die Rechtsverbindlichkeit bean-

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258 BVerfGE 76, 107, 114 o JK BVerfGG § 91/1; vgl auch BVerfGE 56, 298, 309 o JK GG Art 28 II/5; 71, 25, 34; Kment DVBl 2004, 214, 215 f mwN. 259 Art 76 Verf BW; Art 100 Verf Bbg; Art 53 Nr 8 Verf MV; Art 54 Nr 5 Verf Nds; Art 130 I Verf RP; Art 123 Verf SL; Art 90 Verf Sachs; Art 75 Nr 7 Verf LSA; Art 44 II Nr 4 Verf SH. Ausf zur Ausgestaltung der Kommunalverfassungsbeschwerde in den Bundesländern Kment DVBl 2004, 214, 220 ff. 260 Art 55 I VerfGHG Bay. Der BayVerfGH weist dem landesverfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsrecht Grundrechtsähnlichkeit und insoweit den Gemeinden die Möglichkeit der Popularklage zu. Vgl BayVerfGH NVwZ 1984, 711 ff. 261 § 46 StGHG Hess; § 52 VerfGHG NW. Art 80 I Nr 2 Verf Thür sowie § 31 II VerfGHG Thür nennen den Beschwerdegegenstand nicht ausdrücklich. 262 Vgl zu den unterschiedlichen landesrechtlichen Regelungen der Rechtsform der Pläne die Nachw bei Rn 55 zu den auf das gesamte Landesgebiet bezogenen Raumordnungsplänen und bei Rn 59 zu Regionalplänen. 263 Vgl o Fn 262. 264 Zur früheren Diskussion vgl die ausf Darstellung bei Erbguth DVBl 1981, 57 ff. 265 BVerwGE 119, 217, 220 f; NVwZ 2002, 869, 870; BVerfG DÖV 1993, 118 ff; E 76, 107, 114 o JK BVerfGG § 91/1 für die Regelungen in Teil II des LROP Nds; VerfGH NW StuGR 1990, 33, 34 = (gekürzt) DVBl 1990, 417, 417 für Ausweisungen des Gebietsentwicklungsplans; BayVGH BayVBl 1982, 726, 726 f für einzelne Ziele der Landesplanung nach Art 26 LPlG Bay; BayVGH BayVBl 1984, 240, 241 f für einen sachlichen Teilabschnitt des Regionalplans über die Bestimmung von Kleinzentren; OVG RP DVBl 2007, 1578 (LS) für Ziele eines regionalen Raumordnungsplans über Konzentrationsflächen für Windenergie; ebenso VGH BW ZfBR 2005, 691 ff. Aus der Literatur zB Grooterhorst NuR 1986, 276, 279 ff mwN; Sauer VBlBW 1995, 465, 467 ff; Heintschel von Heinegg NWVBl 1994, 441, 442; Goppel BayVBl 1998, 289, 290 f; Kment DÖV 2003, 349, 350; ders DVBl 2004, 214, 217. Vgl auch Steiner in: ders, BesVwR, Abschn VI Rn 89: „rechtsnormähnliche Hoheitsakte sui generis“. 266 Die Qualifizierung als Rechtsnorm hat lange Zeit Schwierigkeiten bereitet, weil man den Rechtsnormbegriff abstrakt-generellen Regeln des Außenrechts vorbehalten hat und Ziele der Raumordnung sich den insoweit zur Verfügung stehenden traditionellen Handlungsformen und deren Rechtmäßigkeitsanforderungen nicht unmodifiziert anpassen lassen. 267 Explizit auf den Plan stellen ab Löhr DVBl 1980, 13, 15; Grooterhorst NuR 1986, 276, 279. Demgegenüber eher an die Ziele anknüpfend BVerwGE 119, 217, 221 f; dem folgend VGH BW ZfBR 2005, 691 f; OVG RP DVBl 2007, 1578; Ronellenfitsch FS Hoppe, 2000, 355, 368; Sauer VBlBW 1995, 465 ff; Goppel BayVBl 1998, 289, 291.

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spruchen. Das trifft jedenfalls auf Ziele der Raumordnung zu. Ob daneben auch Grundsätze der Raumordnung Rechtsvorschriften iSd § 47 I Nr 2 VwGO sind, hängt davon ab, welchen Grad an Verbindlichkeit die Vorschrift voraussetzt.268 Kontrollmaßstäbe für die Rechtmäßigkeit269 festgelegter Ziele der Raumordnung sind zum 73 einen die jeweils einschlägigen Kompetenz- und Verfahrensregelungen. Zum anderen ist die Einhaltung der Vorschriften zu prüfen, die Rechtsvorgaben für den Planinhalt enthalten. Das sind zB die kommunale Selbstverwaltungsgarantie, das Bestimmtheitsgebot, höherstufige Planvorgaben, die bundesrechtlichen Grundsätze der Raumordnung des § 2 II ROG und das Abwägungsgebot (vgl § 7 II ROG). Beim Abwägungsgebot ist die Kontrollintensität wegen des planerischen Gestaltungsspielraums zurückgenommen. Insoweit weist die Kontrolle von Raumordnungsplänen und Zielen der Raumordnung Parallelen mit der gerichtlichen Kontrolle gemeindlicher Bauleitplanung auf (Rn 234 f). 4. Kapitel – Baurecht III. Städtebaurecht – 4. Kapitel

III. Städtebaurecht 1. Typen der Bauleitplanung Der Vorgang der Entscheidungsfindung über eine „nachhaltige städtebauliche Entwicklung“ (§ 1 74 V 1 BauGB) ist die Bauleitplanung. Ihre Aufgabe ist es gem § 1 I BauGB, die bauliche und sonstige Nutzung der Grundstücke in der Gemeinde „vorzubereiten und zu leiten“. Der Prozess der Bauleitplanung mündet in Bauleitpläne, für die das BauGB zwei Typen vorsieht, nämlich den Flächennutzungsplan und den Bebauungsplan (§ 1 II BauGB).270 Dabei ist der gesamte Planungsprozess vom BauGB als zweistufige Abfolge geregelt. Zunächst ist als „vorbereitender Bauleitplan“ (§ 1 II BauGB) der Flächennutzungsplan aufzustellen, und aus ihm heraus soll als „verbindlicher Bauleitplan“ der Bebauungsplan entwickelt werden (§ 8 II 1 BauGB). Bevor der Flächennutzungsplan aufgestellt ist, darf ein Bebauungsplan nur dann aufgestellt, geändert, ergänzt oder aufgehoben werden, wenn dringende Gründe es erfordern und der Plan der beabsichtigten städtebaulichen Entwicklung des Gemeindegebiets nicht entgegenstehen wird („vorzeitiger Bebauungsplan“, § 8 IV BauGB). Nach § 8 III BauGB können Flächennutzungsplan und Bebauungsplan gleichzeitig aufgestellt, geändert, ergänzt oder aufgehoben werden („Parallelverfahren“).271 Nur ausnahmsweise darf auf den Flächennutzungsplan verzichtet werden, wenn der Bebauungsplan zur Ordnung der städtebaulichen Entwicklung ausreicht (§ 8 II 2 BauGB). Pläne können die verschiedensten Rechtsformen – zB Verwaltungsakt oder Gesetz – haben 75 und in den verschiedensten Gestaltungen erscheinen (Rn 55, 59, 61b). Für die von den Bauleitplänen zu leistenden Darstellungen und Festsetzungen der unterschiedlichen Bodennutzungen wird der üblicherweise sprachlich formulierte Rechtssatz häufig ein ungenügendes, teilweise ungeeignetes Ausdrucksmittel sein. Daher sah früher § 9 I BBauG für den Bebauungsplan aus-

_____ 268 Nach BVerwG NVwZ 2009, 1226 sollen Grundsätze der Raumordnung keine Rechtsvorschriften sein, weil sie lediglich bei Abwägungsentscheidungen zu berücksichtigen sind. Damit fehlt ihnen zwar die Letztverbindlichkeit, wie sie die Ziele der Raumordnung beanspruchen, nicht jedoch jede Verbindlichkeit. Immerhin handelt es sich um „Vorgaben für nachfolgende“ Entscheidungen, vgl § 3 I Nr 3 ROG. Insoweit kommt auch den Grundsätzen rechtliche Bindungswirkung zu. Vgl auch Kment Rechtsschutz im Hinblick auf Raumordnungspläne (2002), 56 ff. 269 Zu den Rechtmäßigkeitsanforderungen sowie zu Fehlerfolgenregelungen vgl o Rn 48 ff. Ausf zu den Kontrollmaßstäben Halama FS Schlichter, 1995, 201, 211 ff. 270 Der vorhabenbezogene Bebauungsplan nach Maßgabe des § 12 BauGB ist ein Unterfall des Bebauungsplans. Dazu u Rn 89. 271 Vgl dazu BVerwG NVwZ 1985, 485 ff. Ausf zum Verhältnis der Bauleitpläne zueinander Finkelnburg FS Weyreuther, 1993, 111 ff. Auch die Aufstellung eines von den Darstellungen des Flächennutzungsplans abweichenden Bebauungsplans ist gem § 13 II Nr 2 BauGB zulässig. Aus dem letzten HS der Norm ergibt sich jedoch, dass damit zugleich eine Änderung des Flächennutzungsplans bewirkt wird.

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drücklich die Verwendung von „Zeichnung, Farbe, Schrift oder Text“ vor. Das galt unausgesprochen auch für den Flächennutzungsplan, und an dieser Rechtslage hat sich durch den Wegfall dieses Zusatzes in § 9 I BauGB ersichtlich nichts geändert.272 Das folgt auch aus der Ermächtigung des § 9a Nr 4 BauGB zum Erlass einer Planzeichenverordnung (PlanzVO), die für die äußere Gestaltung der Bauleitpläne verbindlich ist. 273 Die Gemeinde hat zwischen den genannten Medien die Wahl. Erforderlich ist nur, dass die Planaussagen klar und unmissverständlich sind.274 Dafür bietet sich häufig die Kombination der Festsetzungsmittel an. Der Text dient oft der Erläuterung der zeichnerischen Darstellung.

a) Flächennutzungsplan 76 aa) Inhalt. Der Flächennutzungsplan soll nach § 5 I 1 BauGB grundsätzlich für das gesamte Gemeindegebiet 275 die sich aus der beabsichtigten städtebaulichen Entwicklung ergebende Art der Bodennutzung nach den voraussehbaren Bedürfnissen der Gemeinde in Grundzügen darstellen. Ihm kommt die dreifache Aufgabe der Umsetzung übergeordneter Planungen,276 der Steuerung nachfolgender Planungen und der unmittelbaren Standortbestimmung etwa nach § 35 III 3 BauGB zu.277 Damit verknüpft der Flächennutzungsplan die überörtliche Raumordnung (Rn 34 ff) mit der für das jeweilige Gemeindegebiet. Seinen programmatischen Charakter verdeutlicht das Gesetz mit der Forderung, dass er an den „voraussehbaren Bedürfnissen der Gemeinde“ (§ 5 I 1 BauGB) auszurichten ist. Der Flächennutzungsplan soll damit die künftige städtebauliche Entwicklung in der Gemeinde darstellen und steuern. 77 § 5 BauGB nennt als Inhalte eines Flächennutzungsplans „Darstellungen“ (Abs 2), „Kennzeichnungen“ (Abs 3 sowie Abs 2 Nr 1 HS 2), „nachrichtliche Übernahmen“ (Abs 4 S 1, Abs 4a S 1) und „Vermerke“ (Abs 4 S 2, Abs 4a S 2). Seine programmatischen Aussagen über die städtebauliche Entwicklung der Gemeinde kommen im Wesentlichen in den Darstellungen zum Ausdruck. Welche der in dem nicht erschöpfenden278 Katalog des § 5 II BauGB genannten Darstellungsmöglichkeiten die Gemeinde in den Flächennutzungsplan aufnimmt, steht in ihrem Ermessen („können“) und hängt von ihrem planerischen Konzept ab. Der Flächennutzungsplan stellt insbesondere die Nutzungsformen für die einzelnen Gemeindegebiete dar, so zB Baugebiete und -flächen (Nr 1), Verkehrs- (Nr 3) oder Grünflächen (Nr 5).279 Einzelheiten der Darstellbarkeit der baulichen Nutzung (§ 5 II Nr 1 BauGB) werden durch die BauNVO näher bestimmt.280 Für Darstellungen mit den Rechtswirkungen des § 35 III 3 BauGB können sachliche Teilflächennutzungspläne auch für Teile des Gemeindegebietes aufgestellt werden (§ 5 IIb BauGB).281 Nach § 5 V BauGB ist dem Flächennutzungsplan eine Begründung beizufügen, in der die Ziele, Zwecke und wesentliche Auswirkungen des Plans darzulegen sind und in der der Umweltbericht nach

_____ 272 Vgl nur Gaentzsch in: Schlichter/Stich/Driehaus/Paetow, Berliner Kommentar, § 5 Rn 22. 273 Text und Kommentar bei Bielenberg in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Abschn PlanzeichenVO. Vgl dazu auch BVerwG NVwZ-RR 2001, 422, 423. 274 Dazu BVerwGE 42, 5, 6 ff; E 95, 123, 124 ff; OVG NW NVwZ 1999, 79, 80 f; NVwZ-RR 2001, 14, 15 f; Boeddinghaus ZfBR 1993, 161 ff. 275 Ausnahmen finden sich in § 5 I 2, IIb BauGB. Zu letzterer u Rn 77. 276 Vgl dazu BVerwG NVwZ 2010, 1430 ff. 277 Zu Aufgabe und Funktion Löhr in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, § 5 Rn 1 ff; Muckel (Fn 69) Rn 6. Allg zum Flächennutzungsplan Guckelberger DÖV 2006, 973 ff; Mitschang LKV 2007, 102 ff. 278 Brohm (Fn 66) § 6 Rn 8; W. Schrödter (Fn 109) § 5 Rn 18. 279 Die Darstellung von Grünflächen kann ebenso wie zB die von Wasserflächen, Wald oder Flächen iSd § 5 II Nr 10 BauGB auch dazu dienen, im Flächennutzungsplan schon vorgezeichnete Eingriffe in Natur und Landschaft auszugleichen. Vgl dazu § 1a III BauGB sowie u Rn 104. Gem § 5 IIa BauGB können derartige Ausgleichsflächen solchen Flächen, auf denen Eingriffe in Natur und Landschaft zu erwarten sind, ganz oder teilw zugeordnet werden. 280 Vgl §§ 1 I, II, 16 I BauNVO. 281 Dazu Stüer DVBl 2011, 1117, 1120.

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§ 2 IV BauGB einen gesonderten Teil darstellt (§ 2a BauGB). Nach § 6 V 3 BauGB ist dem Flächennutzungsplan auch eine zusammenfassende Erklärung beizufügen über die Art und Weise, wie die Umweltbelange und die Ergebnisse der Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung berücksichtigt wurden und aus welchen Gründen der Plan nach Abwägung mit den geprüften, in Betracht kommenden anderweitigen Planungsmöglichkeiten gewählt wurde.282, 283 Aus seinem Charakter als „vorbereitender Bauleitplan“ folgt für den Flächennutzungsplan, 78 dass er der weiteren Konkretisierung durch den Bebauungsplan zugänglich sein muss. Daher beschränkt § 5 I 1 BauGB den Flächennutzungsplan auf die Darstellung der Grundzüge.284 Eine parzellenscharfe Darstellung gehört nicht zu den Grundzügen und ist nicht Aufgabe des Flächennutzungsplans, sondern des Bebauungsplans. Die – technisch unumgängliche – grenzscharfe zeichnerische Darstellung bringt allerdings eine „überschießende Genauigkeit“285 mit sich, die mehr enthält, als zu den Grundzügen zählt. Dieses Übermaß an Präzision wird jedoch durch die Begründung und die zusammenfassende Erklärung relativiert. bb) Rechtswirkungen. Der Gesetzgeber hat die Rechtswirkungen des Flächennutzungsplans 79 differenziert geregelt. Rechtsverbindlichkeit kommt ihm zunächst für die gemeindeinterne Planung zu. Bebauungspläne sind nach § 8 II 1 BauGB „aus dem Flächennutzungsplan zu entwickeln“. Damit unterstreicht das Gesetz seine Funktion als Steuerungsinstrument für die städtebauliche Entwicklungsplanung in der Gemeinde. Der Flächennutzungsplan hat aber auch gemeindeexterne planbindende Rechtswirkun- 80 gen. Gem § 7 S 1 BauGB haben andere öffentliche Planungsträger, insbesondere Fachplanungsträger, ihre jeweiligen Planungen grundsätzlich dem Flächennutzungsplan anzupassen, sofern sie gem §§ 4, 13 BauGB an der Planaufstellung beteiligt worden sind und dem Plan nicht widersprochen wird.286 Gem § 8 II 2 ROG sind bei der Aufstellung von Regionalplänen Flächennutzungspläne in der zu treffenden Abwägungsentscheidung zu berücksichtigen (Rn 48). Gegenüber dem Bürger kann der Flächennutzungsplan zwar erhebliche faktische Bedeu- 81 tung erlangen, etwa wenn durch seine Darstellung eine Fläche zum Baugebiet hochgestuft wird (sog Bauerwartungsland). Der Flächennutzungsplan verleiht aber keinen Anspruch auf Erteilung einer seinem Inhalt entsprechenden Baugenehmigung.287 Im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans richtet sich die Zulässigkeit eines Bauvorhabens ausschließlich nach dessen Festsetzungen (§ 30 BauGB).288 Im unbeplanten Innenbereich (§ 34 BauGB) bleibt er nach Auffassung des BVerwG für die Beurteilung der Zulässigkeit von Bauvorhaben ebenfalls außer Betracht.289 Andererseits ist der Flächennutzungsplan für den Bürger keineswegs rechtlich bedeutungslos. Vielmehr äußert er auch ihm gegenüber Rechtswirkungen insofern, als nach § 35 III 1 Nr 1 BauGB ein Vorhaben öffentliche Belange beeinträchtigen und damit unzulässig sein

_____ 282 Krit zu diesem Erfordernis Finkelnburg NVwZ 2004, 897, 901: „Zu den beachtlichen Verfahrens- und Formvorschriften … gehört die Bestimmung … zum Glück nicht. Das gibt der Praxis Raum, sich mit der Vorschrift zu arrangieren“. 283 Durch das EAG Bau (Fn 29) war eine periodische Überprüfung des Flächennutzungsplans nach spätestens 15 Jahren eingefügt worden. Diese Bestimmung ist aber durch G v 21.12.2006 wieder aufgehoben worden. 284 Zur Regelungstiefe der Darstellungen BVerwGE 124, 132, 139 f o JK BauGB § 5/1; Graf BauR 2004, 1552 ff; Guckelberger DÖV 2006, 973, 979 f; Mitschang LKV 2007, 102, 104 f. 285 Löhr (Fn 277) § 5 Rn 8. 286 Zur Beteiligung im Aufstellungsverfahren u Rn 115. Zum im Übrigen in weitem Umfang bestehenden Vorrang der Fachplanung vgl u Rn 103 m Fn 362 und Rn 147. 287 Vgl BVerwG NJW 1969, 68 f; BGH DVBl 1976, 774, 775. 288 Bzw im Geltungsbereich eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans nach § 12 BauGB nach dessen Inhalt. Vgl § 30 II BauGB sowie u Rn 89, 132 ff. 289 Vgl dazu bezugnehmend auf in § 34 I BauGB aF genannte „entgegenstehende öffentliche Belange“ BVerwGE 35, 256, 257 f; E 62, 151, 152 f. Die dort angestrengten Überlegungen sind heute für das in § 34 I BauGB enthaltene Erfordernis des „Einfügens“ bedeutsam.

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kann, wenn es den Darstellungen des Flächennutzungsplans widerspricht. Das gilt auch für die sog privilegierten Vorhaben des § 35 I BauGB.290 Ihnen können nach § 35 III 3 BauGB öffentliche Belange auch dann entgegenstehen, wenn für sie durch Darstellungen im Flächennutzungsplan eine Ausweisung an anderer Stelle erfolgt ist.291 Wegen seiner differenziert gestalteten Rechtswirkungen bereitet die Bestimmung der 82 Rechtsnatur des Flächennutzungsplans292 Schwierigkeiten. Die Rechtsform der Satzung hat § 10 BauGB dem Bebauungsplan vorbehalten. Im Hinblick darauf, dass der Flächennutzungsplan nicht an den Bürger adressiert ist, wurde ihm eine unmittelbare Rechtswirkung „nach außen“ (§ 35 VwVfGe) abgesprochen.293 Er sollte eine hoheitliche Maßnahme eigener Art ohne Rechtsnormqualität sein.294 Daran ist richtig, dass sich der Flächennutzungsplan den vertypten Rechtsformen des Außenrechts nicht zuordnen lässt. Hält man den Begriff der Rechtsnorm für eine Kategorie des Außenrechts, ist auch die Aussage nachvollziehbar, der Flächennutzungsplan sei keine Rechtsnorm. Gleichwohl ist diese Begrifflichkeit fragwürdig, weil sie suggeriert, der Flächennutzungsplan habe keine Rechtsqualität. Das ist aber gerade nicht der Fall. Er hat sogar – wie gezeigt (Rn 81) – auch Rechtswirkungen gegenüber dem Bürger.295

b) Bebauungsplan 83 aa) Inhalt. „Der Bebauungsplan enthält die rechtsverbindlichen Festsetzungen für die städtebauliche Ordnung“ (§ 8 I 1 BauGB). Er soll also auch gegenüber dem Bürger die Bodennutzung rechtlich regeln. Zu diesem Zweck muss der Bebauungsplan anders als der „vorbereitende“ Flächennutzungsplan seine Festsetzungen „parzellenscharf“ treffen. Er kann sich wie der Flächennutzungsplan auf das ganze Gemeindegebiet erstrecken, was selten vorkommen wird, oder aber auch, wenn städtebauliche Erfordernisse dies gebieten, nur für ein einzelnes Grundstück Festsetzungen treffen.296 Regelmäßig bezieht er sich jedoch auf größere oder kleinere Teile des Gemeindegebiets. Die Inhalte des Bebauungsplans regelt § 9 BauGB. Danach kann der Bebauungsplan „Festsetzungen“ (Abs 1–4, 7), „Kennzeichnungen“ (Abs 5) und „nachrichtliche Übernahmen und Vermerke“ (Abs 6, 6a) enthalten. Ihm ist notwendig eine Begründung beizufügen (Abs 8), die die Angaben nach § 2a BauGB enthalten muss, sowie eine zusammenfassende Erklärung (§ 10 IV BauGB). Eine Sonderregelung zum Inhalt einer besonderen Form des Bebauungsplans, dem vorhabenbezogenen Bebauungsplan, enthält § 12 III 1, 2, IIIa BauGB (Rn 89). Der Bebauungsplan ist idR eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Grundeigentums iSd 84 Art 14 I 2 GG (Rn 28). Seine rechtsverbindlichen Regelungen müssen daher auf gesetzlicher

_____ 290 BVerwGE 68, 311, 313 ff. Dazu Hoppe DVBl 1991, 1277 ff. Allerdings führt der Widerspruch gegen den Flächennutzungsplan auch nicht zwangsläufig zur Unzulässigkeit des Vorhabens, vgl BVerwGE 68, 311, 314 f o JK BBauG § 35/2; NVwZ 1991, 161 f; Krautzberger (Fn 52) § 35 Rn 50 ff. 291 Vgl zu den damit aufgeworfenen Rechtsfragen BVerwGE 128, 382, 387; E 117, 287 ff o JK BauGB § 35/3; sowie Hoppe DVBl 2003, 1345 ff; Kment NVwZ 2003, 1047 ff; sa o Rn 46 m Fn 167, Rn 68 ff m Fn 254 sowie u Rn 140; zur gerichtlichen Überprüfung im Wege einer prinzipalen Normenkontrolle gem § 47 VwGO u Rn 234. 292 Ausf dazu Löhr Die kommunale Flächennutzungsplanung, 1977, 133 ff mwN. 293 ZB VGH BW BRS 27, Nr 17; Gaentzsch (Fn 272) § 5 Rn 3. Vgl jetzt aber BVerwGE 128, 382, 387; E 117, 287, 303 o JK BauGB § 35/3: Der Flächennutzungsplan mit Darstellungen iSv § 35 III 3 BauGB „erlangt über die mittelbaren Wirkungen des § 35 III 1 BauGB hinaus unmittelbare Außenwirkungen“. 294 BVerwG NVwZ 1991, 262, 263 o JK VwGO § 47/17; E 124, 132, 141; OVG Lüneburg DVBl 1971, 322, 323; VGH BW BRS 27, Nr 17; Finkelnburg/Ortloff/Kment (Fn 10) § 7 Rn 45; Peine (Fn 23) Rn 35, 463. 295 BVerwGE 117, 287, 303 o JK BauGB § 35/3 spricht davon, dass soweit „die Gemeinde von dem Darstellungsprivileg Gebrauch macht“, der Flächennutzungsplan „über die mittelbaren Wirkungen des § 35 III 1 BauGB hinaus unmittelbare Außenwirkungen“ erhält. Zu den insofern aufgeworfenen Rechtsschutzfragen vgl auch die Bspr von Kment NVwZ 2004, 314 f. 296 BVerwG NJW 1969, 1076; ZfBR 1994, 101; Brohm (Fn 66) § 6 Rn 18.

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Grundlage beruhen. Deshalb sind die in § 9 I-IV BauGB genannten Festsetzungen erschöpfend.297 Zusätzlich enthält § 9 IV BauGB eine Ermächtigung zugunsten des Landesrechts.298 Der Katalog möglicher Festsetzungen muss allerdings nicht ausgeschöpft werden; welche Festsetzungen die Gemeinde trifft, hängt von ihrer planerischen Konzeption ab. Enthält der Bebauungsplan zumindest die in § 30 I BauGB genannten Festsetzungen, handelt es sich um einen sog qualifizierten Bebauungsplan, sonst um einen vom Gesetz sog einfachen Bebauungsplan (§ 30 III BauGB). Diese Differenzierung ist für die Beurteilung der Zulässigkeit von Bauvorhaben rechtserheblich (Rn 127 ff). § 9 I BauGB stellt klar, dass Festsetzungen allein „aus städtebaulichen Gründen“ getroffen 85 werden können.299 Die Norm sagt aber nicht, wie detailliert die Festsetzungen sein müssen. Aus seiner „phasenspezifischen Funktion“300 folgt, dass der Bebauungsplan einerseits konkret genug sein muss, um den notwendigen Interessenausgleich (§ 1 V-VII BauGB) zu leisten, soweit er nicht schon durch den Flächennutzungsplan geschaffen wurde. Andererseits hat der Bebauungsplan aber nicht die Funktion, alle Einzelheiten nachfolgender Genehmigungsverfahren für Einzelprojekte vorwegzunehmen.301 Die in § 9 I BauGB aufgelisteten möglichen Festsetzungen beziehen sich entweder auf die 86 bauliche Nutzung von Baugrundstücken oder auf die nichtbauliche Nutzung von Flächen. Für die Zulässigkeit von Festsetzungen302 über die Art und das Maß der baulichen Nutzung (§ 9 I Nr 1 BauGB) enthält die BauNVO verbindliche Vorgaben; zugleich konkretisiert sie die dort genannten Begriffe und ergänzt den Bebauungsplan. Nach § 1 III 1 BauNVO erfolgt die Festsetzung der Art der baulichen Nutzung durch die Entscheidung des Plangebers für einen der in § 1 II BauNVO klassifizierten Baugebietstypen (zB reine Wohngebiete, Mischgebiete, Gewerbegebiete). Die für den festgesetzten Baugebietstyp zulässigen Nutzungsformen ergeben sich aus §§ 2–15 BauNVO.303 ZB bestimmt § 3 III Nr 1 BauNVO, dass in reinen Wohngebieten neben Wohngebäuden auch dem Bedarf des Gebietes dienende Läden und nicht störende Handwerksbetriebe zulässig sind. Nach § 1 III 2 BauNVO wird die jeweils einschlägige Vorschrift der §§ 2–14 BauNVO Bestandteil des Bebauungsplans, sofern nicht eine der näher geregelten Ausnahmen vorliegt. Ähnlich ist die Regelungstechnik für Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung. § 16 II BauNVO regelt, wie das Maß der baulichen Nutzung bestimmt werden darf, zB durch Festsetzung der Zahl der Vollgeschosse oder der Höhe der baulichen Anlagen.304 Unter den nach § 9 I BauGB möglichen Festsetzungen über die nichtbauliche Nutzung haben die des § 9 I Nr 20 BauGB (Festsetzungen bzgl des Boden-, Natur- und Landschaftsschutzes) und des § 9 I Nr 24 BauGB (Festsetzungen ua bzgl von der Bebauung freizuhaltender Schutzflächen) besondere praktische Bedeutung. Sie können – zusammen zB mit der Festsetzung von Flächen für Wald (§ 9 I Nr 18b BauGB), Grünflächen (§ 9 I Nr 15 BauGB) oder Anpflanzungen (§ 9 I Nr 25 BauGB) – ua dazu die-

_____ 297 BVerwG DVBl 1993, 1097, 1097; NVwZ 1995, 696, 697. Für den vorhabenbezogenen Bebauungsplan entbindet § 12 III 2 BauGB die Gemeinde von dem Festsetzungskatalog des § 9 I BauGB. Dazu u Rn 89. 298 ZB § 86 IV BauO NW. Zu ihrer Problematik Gelzer FS Redeker, 1993, 395 ff. 299 Zur Rechtswidrigkeit von Festsetzungen aus anderen Zielsetzungen BVerwGE 114, 247, 249 f m Bespr Selmer JuS 2002, 302 f (Denkmalschutz); VGH BW VBlBW 2002, 124 ff; BayVGH BayVBl 2001, 564 f sowie u Rn 102 m Fn 360. 300 Löhr (Fn 277) § 9 Rn 4b. 301 Zur notwendigen Bestimmtheit von Festsetzungen BVerwG DÖV 1995, 822, 822 f; OVG NW NVwZ 1999, 79, 80. 302 IdR unzulässig sind Bebauungspläne, die sich ausschließlich auf die Festsetzung unzulässiger baulicher Nutzungen beschränken, BVerwGE 40, 258 ff. Vgl aber auch BVerwG NVwZ 1991, 875, 876 f; HessVGH NVwZ 1993, 906, 907 f sowie ausf von und zu Franckenstein BayVBl 1997, 202 ff; Brohm (Fn 66) § 14 Rn 5 f. Unzulässig sind idR auch gebietsbezogene, vorhabenunabhängige Nutzungskontingentierungen, BVerwG NVwZ 2008, 902 ff; OVG RP NVwZRR 2011, 432, 433 ff o JK BauGB § 9/3. 303 Vgl dazu und zur „Gebietsunverträglichkeit“ auch u Rn 241. 304 Zu Einzelheiten der BauNVO vgl Fickert/Fieseler BauNVO.

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nen, im Bebauungsplan angelegte Eingriffe in Natur und Landschaft (vgl § 1a III BauGB) auszugleichen. § 9 Ia BauGB bestimmt, wo inner- oder außerhalb des Plangebiets Flächen und Maßnahmen zum Ausgleich festgesetzt werden können. Nach § 9 II BauGB können Festsetzungen in besonderen Fällen (also aus besonderen städtebaulichen Gründen) befristet werden. Damit können zB zeitlich begrenzte Zwischennutzungen einschließlich der Folgenutzung festgesetzt werden.305 87 bb) Rechtswirkungen. Die Festsetzungen des Bebauungsplans sind gem § 8 I 1 BauGB rechtsverbindlich. Seine Geltung ist vom Gesetzgeber nicht befristet, so dass bei Aufstellung des Bebauungsplans noch nicht abschließend feststehen kann, wer von ihm im Verlaufe seiner Geltung betroffen sein wird. Insofern weist der Bebauungsplan Elemente eines allgemeinen Rechtssatzes auf. Andererseits trifft er Regelungen für konkrete Grundstücke und ähnelt damit dinglichen Einzelfallregelungen (vgl § 35 S 2 HS 2 VwVfGe). Diese unterschiedlichen Elemente des Bebauungsplans und die damit verbundenen unterschiedlichen Beurteilungsmöglichkeiten lösten die Diskussion über seine Rechtsnatur306 aus, in deren Verlauf alle denkbaren Alternativen vertreten wurden: Rechtsnorm, Verwaltungsakt und Hoheitsakt eigener Art.307 Der Gesetzgeber hat diesen rechtstheoretischen Streit zwar nicht entschieden, ihm aber seine rechtsdogmatische und -praktische Bedeutung genommen, indem er bestimmt hat, dass der Bebauungsplan von der Gemeinde als Satzung zu beschließen sei (§ 10 I BauGB). Der Bebauungsplan ist damit rechtlich (auch prozessrechtlich: § 47 I Nr 1 VwGO) wie eine Satzung zu behandeln; ihm kommt damit eine rechtssatzmäßige Bindung zu.308 88 Die rechtliche Bedeutung des Bebauungsplans liegt darin, dass er in seinem Geltungsbereich die (nicht-)bauliche Nutzung der Grundstücke negativ und positiv determiniert. Negativ determinierend ist der Bebauungsplan insofern, als die Zulässigkeit von Bauvorhaben davon abhängt, dass sie seinen Festsetzungen nicht widersprechen (§§ 30 ff BauGB), und er so eine planwidrige Bodennutzung verhindert. Unter diesem Aspekt sind Bebauungspläne „weniger auf ,Durchführung‘ ihrer Festsetzungen als auf den Ausschluss planwidriger Maßnahmen angelegt“.309 Sie sind in dieser Hinsicht Ausdrucksform einer Auffangplanung, die auf die tatsächliche Verwirklichung der Planvorstellungen durch private Bauwillige angewiesen ist. Das Städtebaurecht belässt es aber nicht bei dieser Funktion, sondern weist auch Elemente einer positiven Determination der Bodennutzung auf. Der Bebauungsplan schafft die rechtliche Voraussetzung für eine Reihe behördlicher Maßnahmen, die auf die Planverwirklichung und -sicherung zielen (Rn 148 ff). Zu ihnen zählen zB das Baugebot (§ 176 BauGB), das Pflanzgebot (§ 178 BauGB) und

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305 Die Regelung soll einem Bedürfnis in der Planungspraxis Rechnung tragen, „in Anbetracht der zunehmenden Dynamik im Wirtschaftsleben und den damit verbundenen kürzeren Nutzungszyklen von Vorhaben die zeitliche Nutzungsfolge berücksichtigen zu können“, BT-Drs 15/2250 S 34. Zur prakt Anwendung des § 9 II BauGB ausf Kuschnerus ZfBR 2005, 125 ff; Schieferdecker BauR 2005, 320 ff; Battis/Otto UPR 2006, 165 ff; vgl auch Lege LKV 2007, 97 ff. 306 Dazu ausf zB Bielenberg (Fn 273) § 10 Rn 29 ff; Schmidt-Aßmann (Fn 89) 63 f; Imboden VVDStRL 18 (1960) 113 ff; Obermayer VVDStRL 18 (1960) 144, 164 ff. 307 Für Rechtsnorm zB PrOVGE 25, 387, 390; BVerwGE 26, 282, 283; aus jüngerer Zeit VGH BW NVwZ 2004, 357, 358 unter Berufung auf die Rspr des BVerwG; Obermayer VVDStRL 18 (1960) 144, 164 ff; Breuer NVwZ 1982, 273, 275; Schmidt-Aßmann DVBl 1984, 582, 586. Für Verwaltungsakt zB VGH Stuttgart ESVGH 6, 200, 205. Zum Hoheitsakt eigener Art Forsthoff DVBl 1957, 113, 115. 308 BVerwGE 25, 243, 250; DVBl 1975, 492, 493. Gem § 246 II 1 BauGB bestimmen die Länder Berlin und Hamburg, welche Form der Rechtsetzung an die Stelle der Satzung tritt. In Berlin wird der Bebauungsplan als Rechtsverordnung festgesetzt, §§ 6 V, 7 II 2 AGBauGB (Fn 188); dazu und zu Zuständigkeitsfragen Wilke FS Hoppe, 2000, 385, 391 ff. In Hamburg wird der Bebauungsplan idR durch Rechtsverordnung, ausnahmsweise durch Gesetz festgestellt, § 3 I, II G über die Feststellung von Bauleitplänen und ihre Sicherung – BauleitplanfeststellungsG idF v 30.11.1999 (GVBl 271), zul geänd durch G v 6.9.2004 (GVBl 356). Das Land Bremen kann nach § 246 II 2 BauGB eine solche Bestimmung treffen, hat von dieser Möglichkeit aber keinen Gebrauch gemacht. 309 BVerwG DVBl 1972, 119, 122.

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das Rückbau- und Entsiegelungsgebot (§ 179 BauGB), aber auch etwa das allgemeine Vorkaufsrecht der Gemeinde (§ 24 I 1 Nr 1 BauGB), die Umlegung (vgl § 45 BauGB) und die Enteignung (§ 85 I Nr 1 BauGB). cc) Vorhabenbezogener Bebauungsplan gem § 12 BauGB. Bebauungspläne existieren idR 89 nur für Teile des Gemeindegebietes. Daher kann es vorkommen, dass ein Privater auf einer unbeplanten Fläche ein Bauvorhaben durchführen will, das zulässigerweise nur dann verwirklicht werden kann, wenn zuvor ein Bebauungsplan aufgestellt wird.310 Gleichermaßen ist der Fall denkbar, dass ein Vorhaben auf einem beplanten Grundstück erst nach Planänderung oder -aufhebung zulässig ist.311 Ist einerseits die Gemeinde an der Durchführung des Vorhabens durch den Privaten interessiert, und ist dieser auf der anderen Seite willens, an der Schaffung der planungsrechtlichen Voraussetzungen für sein Vorhaben ua durch Einsatz von Finanzmitteln mitzuwirken, kann auf das Instrument des vorhabenbezogenen Bebauungsplans nach Maßgabe des § 12 BauGB zurückgegriffen werden.312 Der Erlass eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans kommt nach § 12 I 1 BauGB in Betracht, wenn der Vorhabenträger einen mit der Gemeinde abgestimmten Plan über die Durchführung seines Vorhabens und der Erschließungsmaßnahmen (Vorhaben- und Erschließungsplan) vorlegt, er bereit und in der Lage ist,313 das Vorhaben auch tatsächlich durchzuführen, und er sich gegenüber der Gemeinde vertraglich zur Durchführung des Vorhabens innerhalb einer bestimmten Frist sowie zur Tragung der Planungs- und Erschließungskosten ganz oder teilweise verpflichtet (Durchführungsvertrag).314 Liegen diese Voraussetzungen vor, kann die Gemeinde einen vorhabenbezogenen Bebauungsplan erlassen, durch den die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens bestimmt wird. Ob dieser Bebauungsplan ergeht, liegt im planerischen Ermessen der Gemeinde.315 § 12 IV BauGB stellt es der Gemeinde zudem frei, einzelne Flächen außerhalb des Vorhaben- und Erschließungsplans in den vorhabenbezogenen Bebauungsplan einzubeziehen.

_____ 310 Das ist der Fall, wenn das Vorhaben weder nach § 34 noch nach § 35 BauGB zulässig ist. Zur Zulässigkeit von Vorhaben gem §§ 34, 35 BauGB u Rn 134 ff. 311 Das ist der Fall, wenn das Vorhaben den Festsetzungen des vorhandenen Bebauungsplans widerspricht und weder ausnahme- noch befreiungsfähig ist. Dazu u Rn 132 f. 312 § 12 BauGB wurde durch das BauROG (Fn 20) in das BauGB eingefügt. Vorläuferregelungen zur damals sog Satzung über den Vorhaben- und Erschließungsplan enthielt zunächst für die neuen Bundesländer und für OstBerlin § 55 der Bauplanungs- und Zulassungsverordnung – BauZVO v 20.6.1990, GBl DDR I Nr 45, 739, der durch § 246a I 1 Nr 6 BauGB idF v 1990 für die neuen Bundesländer und für Ost-Berlin in das BauGB übernommen wurde. Diese Bestimmung wurde später leicht modifiziert in den fortan bundeseinheitlich geltenden § 7 BauGBMaßnG integriert. Dazu zB Pietzcker Der Vorhaben- und Erschließungsplan, 1993. Zur Rechtsentwicklung allgemein Stich ZfBR 1999, 304 ff. Zum Verfahren nach § 12 BauGB vgl ausf Erbguth (Fn 5) § 5 Rn 199 ff; ders VerwArch 89 (1998) 189, 193 ff; Menke NVwZ 1998, 577 ff; Grziwotz JuS 1999, 245 ff; Dolderer UPR 2001, 42 ff; Grigoleit DV 33 (2000) 79, 97 ff; Kuschnerus BauR 2004, 946 ff; Köster ZfBR 2005, 147 ff. Zur Neuregelung durch das BauGB 2007 vgl Battis/ Krautzberger/Löhr NVwZ 2007, 121, 125 f. 313 Die Gemeinde muss diese Leistungsfähigkeit in geeigneter Weise überprüft haben, OVG MV NordÖR 2005, 216; Krautzberger (Fn 52) § 12 Rn 62. 314 Der öffentlich-rechtliche Durchführungsvertrag ist nach § 12 I 1 BauGB „vor dem Beschluß nach § 10 Abs 1“, also vor dem Satzungsbeschluss über den Bebauungsplan abzuschließen. Er unterliegt dem Schriftformerfordernis des § 11 III BauGB und kann zusätzlich weitergehende, auch nicht-städtebauliche Aspekte zum Gegenstand haben, vgl Brohm (Fn 66) § 7 Rn 26; Krautzberger (Fn 52) § 12 Rn 8; Burmeister VBlBW 2002, 245 ff. 315 Ein Anspruch des Vorhabenträgers auf Planaufstellung besteht nicht. Vgl § 12 II 1 iVm § 1 III 2 BauGB sowie u Rn 93. § 12 II 1 BauGB gewährt jedoch dem Vorhabenträger einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Einleitung des Planungsverfahrens; dazu BayVGH BauR 2000, 365 ff; NVwZ 2000, 1060 f; Krautzberger (Fn 52) § 12 Rn 22. Zu möglichen Schadensersatzansprüchen bei Verletzung dieser Pflicht Fischer DVBl 2001, 258 ff sowie dazu, dass umgekehrt auch kein Anspruch darauf besteht, dass ein bereits beschlossener Plan nicht wieder aufgehoben oder abgeändert wird, wenn sich die planerische Konzeption der Gemeinde ändert, Burmeister VBlBW 2002, 245, 250 mwN.

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Der vorhabenbezogene Plan ist nach § 12 I 1 BauGB ein Bebauungsplan.316 Im Grundsatz hat er daher die Inhalte eines Bebauungsplans (Rn 83 ff), unterliegt dessen Rechtsbindungen (Rn 90 ff) und teilt dessen rechtliche Bedeutung (Rn 87 f). Allerdings ist der vorhabenbezogene Bebauungsplan anders als die sonstigen Bebauungspläne im Grundsatz nicht vorrangig auf den „Ausschluss planwidriger Maßnahmen angelegt“,317 sondern primär auf die Verwirklichung eines konkreten Vorhabens318bezogen. Dem tragen die Regelungen des § 12 II-VI BauGB ebenso Rechnung wie dem Umstand, dass der vorhabenbezogene Bebauungsplan auf privaten Vorarbeiten beruht und mit Verpflichtungen des Vorhabenträgers einhergeht.319 Hervorzuheben ist ua die Sonderregelung zum Inhalt des vorhabenbezogenen Bebauungsplans. Gem § 12 III 1 BauGB wird der vom Vorhabenträger ausgearbeitete, mit der Gemeinde abgestimmte Vorhaben- und Erschließungsplan Bestandteil des vorhabenbezogenen Bebauungsplans. Gleichzeitig entbindet § 12 III 2 BauGB die Gemeinde insoweit von dem sonst durch § 9 BauGB bzw durch die BauNVO zwingend vorgegebenen Katalog der Festsetzungsmöglichkeiten (Rn 84).

2. Aufstellung der Bauleitpläne a) Planungspflicht 90 Nach § 1 III 1 BauGB haben die Gemeinden die Bauleitpläne aufzustellen, „sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist“. Die Norm wiederholt nicht nur die aus der verfassungsrechtlich abgesicherten Planungshoheit (Rn 18 ff) folgende Planungsbefugnis der Gemeinden, sondern begründet auch deren Planungspflicht im Hinblick auf das „Ob“ und das „Wann“ der Planung.320 In dem „Soweit“ des § 1 III 1 BauGB klingt außerdem schon der Umfang („Wieviel“) der Planung und damit der Zusammenhang mit ihrem „Wie“ an. Die Planungspflicht bezieht sich sowohl auf die Flächennutzungs- als auch auf die Bebauungsplanung und kann auch hinsichtlich nur weniger oder sogar nur eines Grundstücks bestehen.321 Bestimmungsfaktor für die Planungspflicht ist die in § 1 III 1 BauGB genannte Erforderlichkeit. Ihr Maßstab kann die planerische Konzeption der Gemeinde sein.322 Sie ist dafür aber nicht allein ausschlaggebend. Vielmehr verdichtet sich das Planungsermessen zur strikten (Erst)Planungspflicht, wenn qualifizierte städtebauliche Gründe von besonderem Gewicht vorliegen.323 Der Begriff der Erforderlichkeit lässt sich unter Rückgriff auf § 1 I BauGB, auf die Aufga91 ben- und Funktionsbestimmung der Planung sowie auf das Gebot gerechter Abwägung (§ 1 VII BauGB) näher entfalten.324 Nach dem in § 1 I, III 1 BauGB zum Ausdruck kommenden Entwicklungs- und Ordnungsprinzip soll die städtebauliche Entwicklung nicht sich selbst über-

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316 Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Bezug auf die sonstige Bauleitplanung Erbguth VerwArch 89 (1998) 189, 203 ff. 317 BVerwG DVBl 1972, 119, 122. Vgl o Rn 88. 318 Zum Vorhabenbegriff in diesem Zusammenhang Brohm (Fn 66) § 7 Rn 24. Zur Bestimmtheit der Festsetzungen bzgl der/s Vorhaben(s) vgl BVerwGE 119, 45 ff. Dieser Rspr ist durch die Einführung von § 12 IIIa BauGB nun die Grundlage entzogen. Danach kann die Nutzung auch allgemein festgesetzt werden, vgl Battis/Krautzberger/Löhr NVwZ 2007, 121, 125 f; Fleckenstein DVBl 2008, 216 ff. 319 Die Abweichungen werden im jeweiligen Zusammenhang erläutert. 320 Zur Planungshoheit und Planungspflicht Stüer NVwZ 2004, 814 ff; Moench DVBl 2005, 676 ff. 321 BVerwG DÖV 1969, 644, 644; Krautzberger (Fn 52) § 1 Rn 28. 322 Vgl BVerwG DVBl 1971, 759, 762; NVwZ 1999, 1338, 1338; W. Schrödter (Fn 109) § 1 Rn 33; vgl auch BVerwG DÖV 1997, 251, 252. Zur Funktion der planerischen Konzeption der Gemeinde für die Bestimmung der Erforderlichkeit der Planung vgl BVerwGE 119, 25, 31 f o JK BauGB § 1 III/1. 323 BVerwGE 119, 25, 32 o JK BauGB § 1 III/1. Auch das interkommunale Abstimmungsgebot (§ 2 II BauGB) kann eine Planungspflicht begründen, vgl BVerwGE 119, 25, 35 o JK BauGB § 1 III/1. Dazu und allg zu dieser Entscheidung Moench DVBl 2005, 676, 681 ff. 324 Ausf zum Begriff der Erforderlichkeit Weyreuther DVBl 1981, 369 ff; Bender FS Weyreuther, 1993, 125 ff; nicht erforderlich ist ein Bebauungsplan, wenn seiner Verwirklichung auf unabsehbare Zeit rechtliche oder tatsächliche Hindernisse im Wege stehen, BVerwG NVwZ 2004, 856, 856.

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lassen, sondern vorbereitend und leitend durch Pläne (Planmäßigkeitsprinzip) gesteuert werden.325 Aus der schon angesprochenen phasenspezifischen Funktion (Rn 85) folgt, dass sich die Erforderlichkeit des konkreten Bauleitplans danach richtet, was im Gesamtprozess der Ordnung der städtebaulichen Entwicklung von ihm an Konflikten zu bewältigen ist. So machen §§ 29 ff BauGB deutlich, dass selbst der Gesetzgeber davon ausgeht, dass nicht alle Gebietsteile der Gemeinde von einem Bebauungsplan erfasst sein müssen. Schließlich ist zu bedenken, dass der Bebauungsplan Inhalts- und Schrankenbestimmung iSd Art 14 I 2 GG ist (Rn 27 ff). Er unterliegt damit nicht nur dem planungsrechtlichen Erforderlichkeitsgebot, sondern findet seine Zulässigkeitsgrenze auch in dem grundrechtlichen Erforderlichkeitsgebot als Element des Übermaßverbotes, das sich wie ein Planungsverbot auswirken kann. Im Übrigen ist die Frage der Planungspflicht auch eine solche der gerechten Abwägung zwischen den betroffenen privaten und öffentlichen Interessen (§ 1 V-VII BauGB).326 Nach alledem wird deutlich, dass die in § 1 III 1 BauGB angesprochene Erforderlichkeit der Planung einen weiten Beurteilungsspielraum eröffnet. Dieser ist ähnlich der Ermessenskontrolle (§ 114 S 1 VwGO) gerichtlich nur begrenzt bei grober Verkennung der skizzierten Grundlinien des Entscheidungsspielraums überprüfbar.327 Dieselbe Reduktion der Kontrolldichte gilt grundsätzlich für die staatliche Rechtsaufsicht über die Gemeinden. Hingewiesen sei aber auf besondere Planungspflichten der Gemeinden, die sich aus Spezialvorschriften ergeben können.328,329 Bauleitplanung geschieht zur Ordnung der städtebaulichen Entwicklung und damit prinzi- 92 piell im Allgemeininteresse. Daraus folgt nicht nur, dass die Planungspflicht des § 1 III 1 BauGB grundsätzlich objektivrechtlichen Charakter hat, sondern auch, dass eine Bauleitplanung, die ausschließlich an privaten Interessen ausgerichtet ist, ohne dass ihr zugleich städtebauliche Erfordernisse zugrunde liegen, unzulässig ist.330 Die Regelung des § 1 III 2 BauGB, nach der auf die Aufstellung von Bauleitplänen kein Anspruch besteht, entspricht diesem Regelbefund. Darauf, dass sich – in Ausnahmefällen – aus grundrechtlichen Schutz- und Handlungspflichten eine Abweichung von diesem Regelbefund ergeben kann, ist schon hingewiesen worden (Rn 33). Gem § 1 III 2 HS 2 BauGB kann auch durch Vertrag kein Anspruch auf Aufstellung eines 93 Bauleitplans begründet werden.331 Faktisch entsteht im Zusammenhang mit der Aufstellung eines Bauleitplans eine Vertragskonstellation zum einen dann, wenn eine Gemeinde mit ihrer Planung Zwecke verfolgt, die sich nur mit Hilfe privater Vorhabenträger erfüllen lassen. Diese wiederum haben häufig ihre eigenen zeitlichen und inhaltlichen Vorstellungen von der Realisierung ihrer Projekte und sind an einer Minimalisierung auch des finanziellen Planungsrisikos interessiert. Zum anderen entstehen Vertragskonstellationen in solchen Situationen, die zur Aufstellung vorhabenbezogener Bebauungspläne führen (Rn 89). Beide Fallgestaltungen drängen auf Verständigung und führen zu einem übereinstimmenden Interesse an einer vertraglichen Vorwegbindung der Planung. § 1 III 2 HS 2 BauGB bestimmt, dass eine derartige vertragliche Vorwegbindung aber zumindest nicht in der vertraglichen Verpflichtung der Gemeinde zur

_____ 325 Dazu näher Schmidt-Aßmann BauR 1978, 99 ff. 326 Vgl zB OVG NW NWVBl 1993, 468, 469. 327 Vgl BVerwGE 34, 301, 304; DVBl 1989, 369 ff. Zur Verletzung dieses Spielraums VGH BW VBlBW 2002, 124 ff. Zu den Kontrollmaßstäben vgl noch u Rn 107 ff. 328 Vgl zB § 188 I BauGB sowie die in einigen LPlGen enthaltenen Planungspflichten. Dazu o Rn 39 m Fn 144. 329 Zur (Un-)Zulässigkeit einer Negativplanung BVerwG NVwZ 2004, 477, 479; SächsOVG BauR 2010, 256. 330 BVerwGE 40, 258, 261 ff; ZfBR 2010, 272, 273 f. Das schließt nicht aus, dass die Gemeinde private Belange zum Anlass einer Bauleitplanung nehmen und sich dabei an den Wünschen der Grundeigentümer orientieren darf, OVG NW BauR 2010, 1730; OVG RP BauR 2010, 661. Davon geht ersichtlich auch § 12 BauGB aus. 331 Zur Diskussion um die Zulässigkeit von Planabreden vor dem BauROG (Fn 20) zB Krebs VerwArch 72 (1981) 49 ff; Schmidt-Aßmann/Krebs Rechtsfragen städtebaulicher Verträge, 2. Aufl 1992, 87 ff mwN; zum Instrument des „städtebaulichen Vertrages“ (§ 11 BauGB) vgl noch u Rn 174 ff.

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Aufstellung eines Bauleitplans bestehen darf. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass andernfalls der gesetzlich offen strukturierte Planungsprozess funktionslos würde.332 Verpflichtet sich eine Gemeinde dennoch durch – öffentlich-rechtlichen333 – Vertrag zur Planaufstellung, ist dieser gem § 59 I VwVfGe iVm § 134 BGB iVm § 1 III 2 HS 2 BauGB334 nichtig.335 Das heißt aber nicht, jegliche Planabreden zu verwerfen.336 Abreden im Zusammenhang 94 mit Planungsvorgängen, die die gesetzlichen Vorgaben im Hinblick auf die Bindungsfeindlichkeit des planerischen Abwägungsprozesses und das Aufstellungsverfahren beachten, können durchaus zulässig sein. Deshalb sind in Literatur und Praxis anstelle von rechtlicher Bindung des Planungsinhalts „Ersatzbindungen“ in Betracht gezogen worden,337 zB eine Übernahme des Planungsrisikos oder eine Planungsgarantieabrede.338 Auch wenn dergestalt die Planung rechtlich ungebunden bleibt, kann die faktische Einflussnahme durch die Ersatzbindung im Einzelfall doch so gewichtig sein, dass die Planung abwägungsfehlerhaft und damit rechtswidrig wird. Dann ist auch die entsprechende vertragliche Ersatzbindung als unwirksam anzusehen.339

b) Anpassungs- und Entwicklungspflichten 95 Raumplanung erfolgt in gestuften Entscheidungsverfahren, die inhaltlich aufeinander abgestimmt sein müssen, wenn nicht das Planungssystem insgesamt Funktionsverluste hinnehmen soll. Das gilt hinsichtlich der verschiedenen Planungen ein und desselben Planungsträgers, erst recht aber auch für die Planungen unterschiedlicher Planungsträger. Aus diesem Grund sind die überörtliche und örtliche Raumplanung miteinander und untereinander verzahnt. Die Anpassungspflicht des § 1 IV BauGB340 ist auf die Abstimmung der gemeindlichen Bauleitplanung mit der staatlichen Raumordnung gerichtet, während die Entwicklungspflicht des § 8 II 1 BauGB auf die Verklammerung der örtlichen Bauleitplanungen untereinander abzielt. Die in § 1 IV BauGB genannten, für die Bauleitplanung beachtlichen Ziele der Raumordnung 96 sind verbindliche Vorgaben zur Entwicklung, Ordnung und Sicherung des Raumes in Raumordnungsplänen (§ 3 I Nr 2 ROG).341 Anpassen iSd § 1 IV BauGB bedeutet, dass die Gemeinden die Ziele der Raumordnung zu beachten haben. Sie sind im Umfang ihrer jeweiligen Konkretisierung als rechtsverbindliche Vorgaben für die örtliche Raumplanung der gemeindlichen Disposition entzogen und damit einer Relativierung im Prozess der bauleitplanerischen Abwägung nicht zugänglich.342 § 1 IV BauGB verpflichtet die Gemeinden auch zur nachträglichen Anpassung an

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332 Vgl BVerwGE 124, 385, 388 f mit weiteren Erwägungen. Das Verbot des § 1 III 2 BauGB gilt auch für die vertragliche Verpflichtung gegenüber einer anderen Gemeinde, BVerwG NVwZ 2006, 458, 459. 333 Die vertragliche Verpflichtung zur Aufstellung eines Bauleitplans kann nur öffentlich-rechtlich erfüllt werden. Ein entsprechender Vertrag ist daher öffentlich-rechtlich, vgl Krautzberger (Fn 52) § 1 Rn 31; Schmidt-Aßmann/Krebs (Fn 331) 85. 334 Wie hier – Deutung des § 1 III 2 HS 2 BauGB bzw der parallelen Vorgängernormen des § 2 III HS 2 BauGB aF und des § 6 II 3 HS 2 BauGBMaßnG als Verbotsgesetz – Brohm (Fn 66) § 7 Rn 9, 18; Dirnberger in: Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB, § 1 Rn 48; Krautzberger (Fn 52) § 1 Rn 31. 335 Erkennt man § 1 III 2 HS 2 BauGB lediglich deklaratorischen Charakter zu – so Bönker in: Hoppe/ders/ Grotefels (Fn 76) § 5 Rn 102 –, ergibt sich die Nichtigkeit eines solchen Vertrages gleichermaßen aus § 59 I VwVfGe iVm § 134 BGB iVm den funktionslos werdenden Vorschriften des BauGB über die Notwendigkeit der Abwägung der Planung und über das Verfahren der Planaufstellung. 336 Krit zB Ebsen JZ 1985, 57, 60 ff; Simon BayVBl 1974, 145, 147. 337 Dazu Schmidt-Aßmann/Krebs (Fn 331) 93 mwN sowie Dolde/Uechtritz DVBl 1987, 446, 448 ff. 338 BGHZ 76, 16 ff o JK VwVfG § 59/1. Dazu Papier JuS 1980, 498, 501; Ebsen JZ 1985, 57, 60 ff; Dolde/Uechtritz DVBl 1987, 446, 448 f; Jäde BayVBl 1992, 549 ff. 339 So Ebsen JZ 1985, 57, 61; dagegen Dolde/Uechtritz DVBl 1987, 446, 449. 340 Vgl die Parallelvorschrift des § 4 I ROG und die Planungspflichten in einigen LPlGen. Dazu o Rn 39 m Fn 144. 341 Zu ihnen und zu ihren Rechtmäßigkeitsanforderungen o Rn 39, 41, 46; nach BVerwG NVwZ 2010, 1430 lässt es die Wirksamkeit eines Flächennutzungsplans unberührt, wenn ein (erforderlicher) Raumordnungsplan fehlt. 342 Vgl BVerwGE 90, 329, 332 ff und ausf o Rn 39 mwN.

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geänderte Zielvorgaben343 und kann eine gemeindliche „Erstplanungspflicht“ auslösen.344 Geänderte Ziele der Raumordnung sind auch zwischen Beschlussfassung und Bekanntmachung eines Bebauungsplans zu beachten.345 Als nicht disponible, rechtlich vorgegebene Daten begrenzen sie den verfassungsrechtlich geschützten (Rn 16 ff) Planungsspielraum der Gemeinden. Sie dürfen ihm daher nur einen Rahmen setzen, der ausfüllungs- und konkretisierungsfähig bleiben muss (Rn 41). Die Anpassungspflicht des § 1 IV BauGB bewirkt, dass die landesplanerischen Zielvorstellun- 97 gen über das Medium der gemeindlichen Bauleitplanung Außenwirkung entfalten. Das Planungskonzept der Gemeinde wird durch den Bebauungsplan außenrechtsverbindlich. Folgerichtig verpflichtet § 8 II 1 BauGB den Bebauungsplan auf die gemeindliche Grundkonzeption der Raumplanung, wie sie im Flächennutzungsplan Ausdruck gefunden hat. Das kann freilich nur in dem Umfang gelten, wie der Planungsstand fortgeschritten ist. Die Möglichkeiten des Verzichts auf den Flächennutzungsplan (§ 8 II 2 BauGB), des „Parallelverfahrens“ (§ 8 III 1 BauGB) und des „vorzeitigen Bebauungsplans“ (§ 8 IV BauGB) (Rn 74) modifizieren daher die Entwicklungspflicht des § 8 II 1 BauGB. Der Begriff der Entwicklung weist auf die Entwicklungsbedürftigkeit und -fähigkeit des Flächennutzungsplans hin und meint, dass der Bebauungsplan den Flächennutzungsplan „konkreter ausgestaltet und damit zugleich verdeutlicht“. 346 Da „Entwickeln“ auch nicht dasselbe wie „Übereinstimmen“ bedeutet, darf der Bebauungsplan vom Flächennutzungsplan abweichen, solange er sich im Rahmen der vom Flächennutzungsplan dargestellten „Grundzüge“ (§ 5 I 1 BauGB) hält. Wegen der grenzscharfen und damit „überschießenden Genauigkeit“ (Rn 78) muss sich der Bebauungsplan zB nicht notwendig an die im Flächennutzungsplan dargestellten räumlichen Grenzen der Nutzung halten.347 Er darf sich aber bei entwicklungsbedingten Abweichungen nicht in Widerspruch zum Flächennutzungsplan setzen und muss seine Grundkonzeption unberührt lassen.348 Übersteigen die planerischen Festsetzungen den vorgegebenen Entwicklungsrahmen, ist er nicht aus dem Flächennutzungsplan „entwickelt“ iSd § 8 II BauGB. Das ist er auch dann nicht, wenn ein Flächennutzungsplan unzulässigerweise fehlt oder ungültig ist. Ein Bebauungsplan, der zwar aus den Darstellungen eines Flächennutzungsplans entwickelt worden ist, aber einem Ziel der (geänderten) Regionalplanung widerspricht, verstößt dennoch gegen § 1 IV BauGB.349

c) Abwägungsgebot und Planungsmaßstäbe aa) Bauleitplanung und Struktur der Planungsnormen. Bauleitplanung ist ein mehrphasiger 98 informationsverarbeitender Entscheidungsprozess. Diese Strukturmerkmale hat die Bauleitplanung mit anderen administrativen Entscheidungsprozessen gemeinsam, wenn auch in aller Regel die Entscheidungsphasen nicht so stark ausgebildet sind und der konventionell geübte juristische Blick eher gewohnt ist, auf das Entscheidungsergebnis zu schauen und den prozess-

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343 Schmidt-Aßmann VerwArch 71 (1980) 117, 134 f; Krautzberger (Fn 52) § 1 Rn 32; Runkel in: Ernst/Zinkahn/ Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 1 Rn 65b; in zeitlicher Hinsicht einschränkend Gaentzsch (Fn 272) § 1 Rn 39. 344 Krautzberger (Fn 52) § 1 Rn 32; Schmidt-Aßmann (Fn 89) 20 f; Moench DVBl 2005, 676, 683 f. Nach BVerwGE 119, 25, 38 ff o JK BauGB § 1 III/1 begründet § 1 IV BauGB eine gemeindliche Erstplanungspflicht, wenn die Verwirklichung von Zielen der Raumordnung bei Fortschreiten einer „planlosen“ städtebaulichen Entwicklung auf unüberwindbare tatsächliche oder rechtliche Hindernisse stoßen oder wesentlich erschwert würde. Zum Verhältnis der Erstplanungspflichten aus § 1 III und IV BauGB BVerwGE 119, 25, 42 f o JK BauGB § 1 III/1. 345 BVerwG NVwZ 2007, 953, 953. 346 BVerwGE 48, 70, 70. Vgl auch BVerwGE 56, 283, 285 f; NVwZ 2000, 197, 198. 347 BVerwGE 48, 70, 72 ff; BauR 1979, 206, 208 o JK BBauG § 8/1; NVwZ 2000, 197, 198; OVG NW BauR 2000, 358, 359. 348 BVerwGE 48, 70, 72 ff; E 56, 283, 285 f; NVwZ 2000, 197, 198; HessVGH ZfBR 2010, 588, 590. 349 BVerwGE 117, 351, 356: Insofern tritt das Entwicklungsgebot des § 8 II 1 BauGB hinter das Anpassungsgebot des § 1 IV BauGB zurück.

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haften Charakter der Entscheidung auszublenden. Die Besonderheit der Bauleitplanung als örtliche Raumplanung besteht zum einen in der Fülle und Vielgestaltigkeit („Komplexität“) des zu verarbeitenden Problemstoffes. Zudem ist sie stets auch zukunftsorientiert und auf Zukunftsgestaltung gerichtet. Daraus folgt, dass der Prozess der raumplanerischen Problemlösung und Entscheidungsfindung durch ein hohes Maß an wertenden und prognostischen Elementen gekennzeichnet ist, der nicht ohne Beurteilungs- und Gestaltungsspielräume der Planer durchführbar ist. Dieser Umstand spricht dagegen, Verlauf und Ergebnis der Bauleitplanung rechtlich im Einzelnen vorzuprogrammieren. Sinnvolle administrative Raumplanung ist nicht als mechanistischer Gesetzesvollzug vorstellbar. Andererseits ist staatliche und gemeindliche Raumplanung keine Enklave für rechtsfreies Verwaltungshandeln. Daher muss rechtsstaatliche Planung rechtlich binden und rechtlich gebunden sein. Im Städtebaurecht kann es also nicht um das „Ob“ der Rechtsbindung der Planung, sondern muss es um das „Wie“ und „Wieviel“ gehen. 99 Häufig wird zur Lösung dieses Problems auf die unterschiedlichen Modalitäten rechtlicher Programmierung hingewiesen. Planungsnormen seien als Finalprogramme350 strukturiert, die im Gegensatz zur Struktur eines Konditionalprogramms dem Planer größere Freiräume ließen. Mit einem rechtlichen Konditionalprogramm ist der Steuerungsmodus eines „klassischen“ Rechtssatzes gemeint, der mit Hilfe von Tatbestand und Rechtsfolge („Wenn-Dann-Schema“) dem Rechtsanwender einen bestimmten Verhaltensbefehl erteilt, wenn eine bestimmte Voraussetzung (Bedingung: „conditio“) eintritt. Das Finalprogramm verpflichtet demgegenüber zur Erreichung eines bestimmten Zwecks (oder Ziels: „finis“) und überlässt dem Rechtsanwender, mit welchem Verhalten er den vorgegebenen Zweck erfüllt.351 Beide Begriffe sind allerdings keine Rechtsbegriffe. Ihre Unterscheidung ist idealtypisch und in erster Linie von entscheidungsund organisationstheoretischem Erkenntnisinteresse. Überträgt man die Unterscheidung auf Rechtssätze, lässt sich ein Finalprogramm auch als Konditionalprogramm formulieren, und es kann in der Zielsetzung so konkret und bestimmt abgefasst sein, dass seine Ausführung nur wenige Handlungsalternativen offen lässt. Andererseits kann auch ein Konditionalprogramm je nach Bestimmtheitsgrad große Handlungsspielräume eröffnen. Man denke an die ordnungsbehördliche Generalklausel. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung wird man nicht annehmen können, dass die von 100 einem Finalprogramm belassenen Handlungsspielräume zwangsläufig großzügiger und qualitativ anders geartet sind als die, die ein Konditionalprogramm einräumt. Ebenso fragwürdig wird dann aber die Annahme, das von einer als Finalprogramm formulierten Planungsnorm zugestandene Ermessen („Planungsfreiheit“) unterscheide sich qualitativ von dem Ermessen, das der konditional programmierten Verwaltung zur Verfügung stehen kann („Verwaltungsermessen“).352 Der Begriff des Ermessens beschreibt als Rechtsbegriff einen Entscheidungsspielraum des Rechtsanwenders, der nur begrenzt rechtlich kontrolliert werden darf.353 Diese rechtliche Eigenschaft haben die von Planungs- oder anderen Normen eröffneten Entscheidungsspielräume gemeinsam. Planungsermessen und Verwaltungsermessen weisen demnach als Rechtsbegriffe keine (qualitativen) Unterschiede auf. Vielmehr haben sie als deskriptive Begriffe ihre Funk-

_____ 350 ZB Hoppe DVBl 1974, 641, 644; Oldiges (Fn 54) Rn 40; Erbguth DVBl 1981, 1230, 1231; Brohm (Fn 66) § 11 Rn 3; Stüer Bebauungsplan, Rn 453; ders (Fn 59) Rn 9, 1311; krit dazu zB Koch/Hendler (Fn 119) § 17 Rn 4 ff; Weitzel Justitiabilität des Rechtsetzungsermessens, 1998, 99 ff sowie Rubel Planungsermessen, 1982, passim. 351 Zu den Begriffen Hoppe DVBl 1974, 641, 643. Von ihrer Herkunft her handelt es sich nicht um rechtswissenschaftliche Begriffe, vgl Luhmann Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, 1966, 36 ff. 352 So aber zB Badura FS 25-jähr Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, 1972, 157 ff; Hoppe DVBl 1974, 641, 644; vgl auch Brohm (Fn 66) § 11 Rn 4 ff. Zur Möglichkeit einer konditionalen Deutung von Planungsnormen bzw krit zu der Unterscheidung von konditionalen und finalen Normprogrammen überhaupt Di Fabio FS Hoppe, 2000, 75, insbes 91 ff. 353 Dazu Jestaedt in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 11 Rn 10 ff, 55. Vgl auch Krebs Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, 1984, insbes 68 ff.

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tion darin, dass sie auf die typische Eigenart von Planungsnormen hinweisen. Diese besteht darin, dem Planer regelmäßig das Planungsermessen zuzugestehen, das ihm angesichts der beschriebenen Eigenart der von ihm zu bewältigenden Aufgaben zustehen muss. Insofern mag man beschreibend feststellen, dass sich Verwaltungsermessen und Planungsermessen quantitativ unterscheiden.354 Auch ist die Unterscheidung zwischen Finalprogramm und Konditionalprogramm in unserem Zusammenhang nicht sinnlos, sondern behält eine heuristische Funktion: Der Begriff des Finalprogramms hilft, die besondere Modalität der Rechtsbindung der Bauleitplanung zu verstehen. bb) Rechtsbindung. Der Prozess bauleitplanerischer Problemlösung und Entscheidungsfin- 101 dung ist in verfahrensmäßiger und inhaltlicher Hinsicht rechtlich gebunden. Zur Herstellung der Rechtsbindung hat sich der Gesetzgeber der Kombination unterschiedlicher Bindungstechniken bedient, deren Verständnis zudem dadurch erschwert wird, dass sie von Literatur und Rechtsprechung mit ganz unterschiedlichen Ausdrücken bezeichnet werden. Für die nachfolgende Darstellung kann daher nicht auf eine „übliche“ Terminologie zurückgegriffen werden. Die Grobstruktur der inhaltlichen Rechtsbindung besteht aus folgenden Elementen: – aus einem rechtsverbindlichen Zielprogramm, – aus „Beachtens-“ bzw „Berücksichtigungspflichten“, dh Rechtspflichten, je nach Einzelfall bestimmte Umstände („Belange“) mit einer bestimmten Gewichtung in den Planungsvorgang einzustellen, sowie – dem Abwägungsgebot, dh der Berechtigung und Verpflichtung, bei der Aufstellung der Bau- 102 leitpläne „die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen“ (§ 1 VII BauGB). Als final-programmierte Planung muss die Bauleitplanung ein rechtsverbindliches Ziel haben. Dieses Zielprogramm formuliert § 1 V BauGB iVm § 1 I und III 1 BauGB in Gestalt von Oberziel und Unterzielen. § 1 V BauGB nennt fünf „generelle Planungsziele“,355 deren erstes als oberstes Ziel der Bauleitplanung verstanden werden kann und mit Hilfe von § 1 I und III 1 BauGB vervollständigt werden muss: die Gewährleistung einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in Einklang bringt, durch Vorbereitung und Leitung der Bodennutzung in der Gemeinde,356 wobei das Prinzip der Nachhaltigkeit durch den Nebensatz betont wird.357 Dieses oberste Ziel der Bauleitplanung wird in § 1 V 1, 2 BauGB weiter aufgefächert in „sozialgerechte Bodennutzung“, „menschenwürdige Umwelt“, „Schutz und Entwicklung der natürlichen Lebensgrundlagen“, „den Klimaschutz und die Klimaanpassung“358 und „Baukultur“,359 die im Orts- und Landschaftsbild zu erhalten und entwickeln ist. Dieses Zielprogramm ist insgesamt sehr grobmaschig und gibt dem Planer hin-

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354 Schmidt-Aßmann in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BBauG, § 1 Rn 306. Die Kommentierung Schmidt-Aßmanns zu § 1 BBauG in der Vorauflage des Kommentars von Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger wird zT bei Söfker (Fn 98) § 1 Rn 181 wiedergegeben. 355 Erbguth (Fn 3) § 5 Rn 119 f. 356 Erbguth (Fn 3) § 5 Rn 121; vgl auch Gaentzsch (Fn 272) § 1 Rn 51. 357 Vgl auch BT-Drs 15/2250 S 37. 358 Zu diesen Begriffen Mitschang DVBl 2012, 134 f. 359 Die „Baukultur“ als Grundsatz des Planungsinstrumentariums geht nach BT-Drs 15/2250 S 37 zurück auf einen vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen vorgelegten Statusbericht (BT-Drs 14/8966), der eine wahrnehmbare baukulturelle Integrations- und Kulturleistung der Gesellschaft als Beitrag für attraktive Städte, für eine stabile Wirtschaftsentwicklung und für mehr Qualität im Erscheinungsbild der gebauten Umwelt fordere. Dabei wird „Baukultur“ nicht nur als eine ästhetische Angelegenheit bezeichnet, sondern als „Ausbalancieren und Integrieren vieler Qualitätsaspekte, neben der Architektur auch des Ingenieurwesens, der Landschafts- und Freiflächenplanung, des Städtebaues, des Denkmalschutzes, der Kunst am Bau. Der Begriff bezieht sich dementsprechend nicht nur auf Gebäude, sondern auf die gesamte gebaute Umwelt“ (BT-Drs 14/8966 S 2).

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reichend Gestaltungsspielraum. Es setzt diesem allerdings auch rechtliche Grenzen. Die positive Verpflichtung auf die städtebauliche Entwicklung durch Ordnung der Bodennutzung verbietet den Einsatz des planerischen Instrumentariums zugunsten anderer Ziele,360 zB für Wettbewerbspolitik. Die Beachtens- bzw Berücksichtigungspflichten hat das Gesetz unterschiedlich intensiv 103 ausgestaltet. Einige – wenige – Belange werden vom Gesetz als strikt beachtlich angesehen, dh, sie sind dem von § 1 VII BauGB vorgesehenen Abwägungsprozess entzogen und damit nicht zugunsten anderer Belange relativierbar („unüberwindbare Belange“). Aus dem Städtebaurecht361 sind zu diesen, vom Gesetz als strikt beachtliche Vorgaben angesehenen Belangen die Ziele der Raumordnung (Rn 39) (§ 1 IV BauGB) und die privilegierten Fachplanungen iSd § 38 BauGB362 zu zählen. Andere zu berücksichtigende Belange bilden das „Abwägungsmaterial“, dh, sie müssen mit ihrem jeweiligen Gewicht in den Abwägungsprozess eingebracht werden, sind damit aber zugunsten der anderen Belange relativierbar („überwindbare Belange“). Solche Belange finden sich zT in gesetzlichen Regelungen außerhalb des BauGB. ZB hat das BVerwG § 50 BImSchG als eine Regelung charakterisiert, „die nach ihrem Inhalt (,so weit wie möglich‘), nur bei der Abwägung des Für und Wider in der konkreten Problembewältigung beachtet werden kann“.363 Im Übrigen sind derart zu berücksichtigende Belange in dem offenen („insbesondere“) Katalog des § 1 VI BauGB aufgezählt. § 1 VI BauGB konkretisiert die generellen Planungsziele zu „Leitpunkten“,364 die beim Planungsvorgang Beachtung verlangen. Welche der genannten Belange mit welchem Gewicht in die Planung eingehen müssen, hängt wesentlich von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab.365 Praktisch besonders bedeutsam sind die Umweltbelange. Diese listet § 1 VI Nr 7 BauGB in 104 einem umfangreichen Katalog auf. Ihre Ermittlung und Bewertung findet im Rahmen der Umweltprüfung (Rn 112) statt. Ergänzende Vorschriften zum Umweltschutz enthält § 1a BauGB.366 Dabei dient § 1a II BauGB mit seiner sog Bodenschutzklausel (S 1 HS 2) und der sog Umwidmungssperrklausel (S 2) dem sparsamen und schonenden Umgang mit Grund und Boden. Die in § 1a II 1, 2 BauGB genannten Grundsätze sind in der Abwägung nach § 1 VII BauGB zu berücksichtigen (§ 1a II 3 BauGB).

_____ 360 Vgl OVG NW NWVBl 1993, 468, 468; OVG Lüneburg NVwZ 1990, 576, 576 ff. Dementsprechend wiederholt § 9 I BauGB für den Bebauungsplan, dass in ihm Festsetzungen nur aus „städtebaulichen Gründen“ getroffen werden dürfen. Dazu o Rn 85 m Fn 299. 361 Aus dem Fachplanungsrecht vgl zB § 1 III FStrG (Verbot höhengleicher Kreuzungen für Bundesautobahnen), dazu BVerwGE 71, 163 ff. In dieser viel rezipierten Entscheidung werden derart strikt beachtliche gesetzliche Vorgaben des Fachplanungsrechts „Planungsleitsätze“ genannt und den relativierbaren „Optimierungsgeboten“ gegenübergestellt. 362 Dem Wortlaut nach stellt § 38 BauGB lediglich bestimmte Planfeststellungs- und -genehmigungsverfahren von der Anwendung der §§ 29 bis 37 BauGB frei. Das BVerwG hat zum insoweit strukturgleichen § 38 BauGB aF festgestellt, der Normtext bringe das Verhältnis des Bauplanungsrechts zu den von § 38 BauGB erfassten Fachplanungen nur unvollständig zum Ausdruck. Nach ihrem Sinn und Zweck nehme die Norm die von ihr erfassten Fachplanungen von der Planungshoheit der Gemeinde aus, BVerwGE 81, 111, 112. Das bedeute ua, dass planerische Aussagen in Bauleitplänen, die sich inhaltlich nicht mit bestehenden Fachplanungen vereinbaren lassen, von der Gemeinde nicht getroffen werden dürfen, BVerwGE 81, 111, 116 f; DVBl 1998, 46, 47. Vgl auch Rieger in: H. Schrödter, BauGB, § 38 Rn 17 ff; Stüer UPR 1998, 408, 410; Schoch FS Hoppe, 2000, 711, 719 ff sowie zur Auslegung des § 38 BauGB nF BVerwG UPR 2001, 33 f. Vgl auch u Rn 147. Zum Verhältnis von Planfeststellung und städtebaulicher Planung auch Schmidt-Eichstädt NVwZ 2003, 129 ff. 363 BVerwGE 71, 163, 165. Vgl auch BVerwGE 108, 248, 253; OVG NW NVwZ-RR 2001, 432, 433: „Abwägungsdirektive“. Eine die Anforderungen des § 50 S 2 BImSchG übernehmende Regelung enthält § 1 VI Nr 7h) BauGB. Vgl zu § 50 BImSchG auch Rn 106 m Fn 381. 364 Schmidt-Aßmann (Fn 354) § 1 Rn 308. Sie werden zT als „Planungsleitlinien“ bezeichnet, zB Krautzberger (Fn 52) § 1 Rn 47; Hoppe (Fn 119) § 5 Rn 25. 365 BVerwG DVBl 1993, 662, 664. 366 Mitschang DVBl 2012, 134, 135.

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§ 1a III BauGB ergänzt § 1 VI Nr 7a) und § 1 VII BauGB. Die genannten Belange sind nicht nur in der planerischen Abwägung (§ 1 VII BauGB) zu berücksichtigen. Bei einer erheblichen Beeinträchtigung dieser Belange enthalten § 1a III 2–5 BauGB Regelungen für einen Ausgleich.367 Dabei verklammert die Norm ebenso wie § 1a IV BauGB die Bauleitplanung mit den naturschutzrechtlichen Regelungen über Eingriffe in Natur und Landschaft.368 § 1a IV BauGB verweist bei erheblichen Beeinträchtigungen des Belangs aus § 1 VI Nr 7b) BauGB auf das BNatSchG.369 Nach §§ 36 S 2, 34 I 2, II–V BNatSchG wird die Planung in diesen Fällen in der Regel unzulässig. Somit kann dieser Belang bei einer erheblichen Beeinträchtigung zu einem in der Regel unüberwindbaren Belang werden. § 1a V BauGB konkretisiert die schon in § 1 V 2 BauGB begründete Pflicht, Klimaschutz und Klimaanpassung zu fördern. 370 Im Zentrum der planerischen Entscheidungsfindung steht die Abwägung der im konkreten 105 Planungsfall erheblichen Belange. Das Abwägungsgebot (§ 1 VII BauGB) ähnelt in seiner Rechtssatzstruktur dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und macht damit darauf aufmerksam, dass Planung einerseits nicht ohne Prognosen und Wertungen auskommt und als schöpferischer Vorgang nur begrenzt rechtlich programmierbar ist, andererseits aber keineswegs ein rechtsungebundener, dezisionistischer Akt des Planers sein kann. Der rechtliche Bindungsgehalt des Abwägungsgebots371 weist eine dynamische und eine statische Komponente auf, bezieht sich auf Vorgang und Ergebnis der Planung.372 Die Komplexität des von der Planung zu leistenden Interessenausgleichs kommt darin zum Ausdruck, dass die jeweils betroffenen Belange in dreifacher Hinsicht abzuwägen sind und abgewogen sein müssen: öffentliche Belange untereinander, private Belange untereinander und öffentliche und private Belange gegeneinander. Die gesetzliche Formulierung verdeutlicht, dass weder die öffentlichen noch die privaten Belange per se Vorrang genießen. Das Abwägungsgebot ist weder Optimierungsgebot zu Gunsten noch Minimalisierungsgebot zu Lasten der Baufreiheit (Rn 27 ff). Im Übrigen fallen unter die privaten Belange nicht nur die (grund-)rechtlich geschützten Eigentümerinteressen, sondern zB auch die von Mietern und Pächtern sowie weitere Interessen, die durch die Planung absehbar betroffen werden.373 Dabei geht der Begriff des privaten Belangs über den des subjektiven Rechts hinaus und kann auch rechtlich nicht geschützte Interessen erfassen.374 Zu den öffentlichen Belangen zählen zB auch, wie § 2 II BauGB zeigt, die planerischen Interessen benachbarter Gemeinden (sog interkommunales Abstimmungsgebot375). Nach § 2 II 2 BauGB kann sich die Nachbargemeinde auch auf die ihr durch Ziele der Raumordnung zugewiesenen Funktionen sowie auf Auswirkungen auf ihre zentralen Versorgungsbereiche berufen.376

_____ 367 Zum Eingriffs- und Ausgleichsbebauungsplan sowie allgemein zur Regelung des § 1a III BauGB und zum ergänzenden § 200a BauGB ausf Tophoven NVwZ 2004, 1052 ff mwN. Zur Problematik von Ausgleichsmaßnahmen auf Vorrat Stich BauR 2003, 1308 ff. 368 Zur Bedeutung naturschutzrechtlicher Vorschriften bei der Errichtung baulicher Anlagen Rieger UPR 2012, 1 ff. 369 Über diesen Verweis werden auch die Vogelschutzrichtlinie (79/409/EWG v 2.4.1979) und die Fauna-FloraHabitat-Richtlinie (FFH-Richtlinie, 92/43/EWG v 21.5.1992) für das Bauplanungsrecht verbindlich. Vgl zu diesem Zusammenhang auch Bönker (Fn 335) § 5 Rn 115 ff, insbes 131 ff. 370 Mitschang DVBl 2012, 134, 135 f. 371 Dazu ausf Ibler JuS 1990, 7 ff; Schulze-Fielitz Jura 1992, 201 ff; Hoppe DVBl 1994, 1033 ff. 372 BVerwGE 45, 309, 315; E 47, 144, 146; Schmidt-Aßmann (Fn 354) § 1 Rn 309. 373 Vgl zB BVerwGE 59, 87, 101 o JK VwGO § 47/4; NVwZ 2000, 1413, 1414; BayVGH NVwZ 1997, 1016, 1017 f. 374 ZB das Interesse, von heranrückender Bebauung oder heranrückendem (zB Verkehrs- oder Freizeit-)Lärm verschont zu bleiben, BVerwGE 107, 215, 222 o JK BauGB § 1 VI/1; NVwZ 2001, 431, 432 o JK VwGO § 47 II 1/23. Vgl auch Oldiges (Fn 53) Rn 54; Peine (Fn 23) Rn 362 f. Zu Fragen des Rechtsschutzes in diesem Zusammenhang u Rn 234. 375 Dazu Bunzel ZfBR 2008, 132 ff; BVerwGE 117, 25 (32): „besondere Ausprägung des Abwägungsgebots“. 376 Vgl zur Erweiterung des § 2 II BauGB durch das EAG Bau Hoppe/Otting DVBl 2004, 1125 ff; Heilshorn/Seith VBlBW 2004, 409, 412 f; Uechtritz NVwZ 2004, 1025 ff; ders DVBl 2006, 799, 800 ff; Kment UPR 2005, 95 ff; ders NVwZ 2007, 996 ff; Vietmeier BauR 2005, 480 ff; krit auch Bönker (Fn 335) § 5 Rn 143.

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§ 1 VII BauGB verpflichtet die Gemeinde, die öffentlichen und privaten Belange gerecht abzuwägen. Zur Auffüllung dieser „Generalklausel reinsten Wassers“377 haben Lehre und Gerichte eine Reihe von Planungsgrundsätzen378 entwickelt, deren normativer Gehalt nicht immer leicht zu fassen ist. ZT haben sie den Charakter rechtlicher Teilaussagen des allgemeinen Gebots (zB „Gebot der Abwägungsbereitschaft“). Andere Grundsätze sind eher Funktionsbeschreibungen des Abwägungsvorgangs („Gebot der Konfliktbewältigung“)379 oder Interpretationshilfen, die einzelne Aspekte der Generalklausel besonders hervorheben („Gebot der Rücksichtnahme auf schutzwürdige Interessen“)380 und dergestalt helfen, den normativen Gehalt der allgemeinen Verpflichtung für den Einzelfall sichtbar zu machen. Je konkreter diese Planungsgrundsätze werden, desto mehr verliert ihr Aussagegehalt an Allgemeingültigkeit. Sie bleiben aber hilfreich als Gesichtspunkte, die bei der konkreten Problemlösung herangezogen werden können, freilich nicht müssen. Das wird zB an dem auch in § 50 S 1 BImSchG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der möglichsten Trennung unverträglicher Nutzungen 381 deutlich, der allerdings regelmäßig modifiziert werden muss, wenn es um die Problematik städtebaulicher „Gemengelagen“,382 dh um die Nutzungskonflikte bei einem Nebeneinander unterschiedlicher Nutzungsarten geht.

107 cc) Kontrollmaßstäbe. Konsequenz einer rechtlich nur begrenzt vorprogrammierbaren Bauleitplanung ist der hohe Anteil autonomer Entscheidungsgehalte an den Planungsentscheidungen. Dem entspricht es, dass die Rechtskontrolle über die gemeindliche Bauleitplanung, insbesondere durch die Gerichte, eingeschränkt ist. Es erscheint daher auf den ersten Blick widersprüchlich, wenn die Rechtsprechung die generellen Planungsziele des § 1 V BauGB und die in § 1 VI BauGB gesetzlich formulierten Belange als unbestimmte Rechtsbegriffe ansieht, deren Auslegung und Anwendung uneingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung unterliegen.383 Der Streit über diese Auffassung384 ist bei näherer Betrachtung nicht von einer derart praktischen Bedeutung, dass er hier ausdiskutiert werden müsste. Der autonome Entscheidungsanteil des Planers an der Bauleitplanung manifestiert sich wesentlich in dem Abwägungsvorgang. Dessen Kontrolle wird auch von den Gerichten restriktiv gehandhabt.385 Die Gerichte dürfen insoweit nur eine Überschreitung der Entscheidungsspielräume der planenden Gemeinde kontrollieren und sanktionieren. Das bedeutet, dass nur solche Planmaßstäbe zugleich Kontrollmaßstäbe für die gerichtliche Überprüfung der Planung sein können, deren Missachtung eine Überschreitung des administrativen Entscheidungsspielraums darstellt. In der gerichtlichen Praxis hat die Entwicklung von Kontrollmaßstäben für die Abwägung 108 zu einer Abwägungsfehlerlehre386 geführt, deren Grundstruktur das BVerwG schon 1969387 auf-

_____ 377 Schmidt-Aßmann (Fn 354) § 1 Rn 324. 378 Vgl im Einzelnen Hoppe (Fn 76) § 7 Rn 132 ff; Schmidt-Aßmann BauR 1978, 99 ff. 379 Dazu VGH BW VBlBW 2002, 206 ff; Hoppe (Fn 76) § 7 Rn 133 ff; Pfeifer DVBl 1989, 337 ff; Weyreuther BauR 1975, 1, 5 f. 380 Dazu zusammenfassend OVG Berlin BauR 1985, 434 ff sowie Hoppe (Fn 76) § 7 Rn 144 ff; Erbgut (Fn 3) § 5 Rn 164; Jäde JuS 1999, 961 ff. Vgl auch Krebs FS Hoppe, 2000, 1055 ff. Zum sog Gebot der Rücksichtnahme vgl noch u Rn 243 f. 381 Dazu Söfker (Fn 98) § 1 Rn 228 ff; BVerwGE 45, 309, 327; DÖV 2002, 483; NdsOVG NVwZ-RR 2002, 172, 173; OVG RP NVwZ-RR 2002, 329, 330 f o JK BauGB § 1 VI/3. 382 Dazu zB Ritter NVwZ 1984, 609 ff; Drosdzol NVwZ 1985, 785 ff; Dolde DVBl 1983, 732 ff. 383 BVerwGE 34, 301, 308; vgl dazu auch die Würdigung von Hoppe DVBl 2003, 697 ff sowie BVerwGE 45, 309, 323; allg zum unbestimmten Rechtsbegriff Jestaedt (Fn 353) § 10 Rn 23. 384 Zur Kritik an der Rspr Papier NJW 1977, 1714, 1715; Gassner DVBl 1981, 4, 5; Hoppe DVBl 2003, 697, 702 mwN. 385 Vgl BVerwGE 34, 301, 308 f; E 47, 144, 146; VGH BW NVwZ-RR 2001, 716, 717 f; VBlBW 2002, 203, 203. 386 Dazu BVerwGE 34, 301, 309; E 45, 309, 314 f; E 47, 144, 146; Finkelnburg/Ortloff/Kment (Fn 10) § 5 Rn 24 ff; Söfker (Fn 98) § 1 Rn 187; Stollmann (Fn 3) § 7 Rn 36 ff. 387 BVerwGE 34, 301, 309.

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gezeigt hat: „Das Gebot gerechter Abwägung ist verletzt, wenn eine (sachgerechte) Abwägung überhaupt nicht stattfindet. Es ist verletzt, wenn in die Abwägung an Belangen nicht eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muß. Es ist ferner verletzt, wenn die Bedeutung der betroffenen privaten Belange verkannt oder wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen Belangen in einer Weise vorgenommen wird, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht. Innerhalb des so gezogenen Rahmens wird das Abwägungsgebot jedoch nicht verletzt, wenn sich die zur Planung berufene Gemeinde in der Kollision zwischen verschiedenen Belangen für die Bevorzugung des einen und damit notwendig für die Zurückstellung eines anderen entscheidet“. In der bekannten Flachglas-Entscheidung hat das Gericht 1974 erläuternd und ergänzend hinzugefügt,388 „daß sich die damit umrissenen Anforderungen grundsätzlich sowohl an den Abwägungsvorgang als auch an das Abwägungsergebnis richten. Eine Ausnahme gilt einzig für die mit dem ersten Satz angesprochene Notwendigkeit einer Abwägung überhaupt; sie kann – mit Rücksicht auf ihren Inhalt – allein im Hinblick auf den Abwägungsvorgang praktisch werden. Im übrigen aber verlangt das Abwägungsgebot sowohl vom Abwägungsvorgang als auch vom Abwägungsergebnis, daß gewichtige Belange nicht einfach übersehen werden (zweiter Satz) und die Gewichtung verschiedener Belange in ihrem Verhältnis zueinander nicht in einer Weise erfolgt, durch die die objektive Gewichtigkeit eines dieser Belange völlig verfehlt wird (dritter Satz)“. Diese Grundsätze sind bis heute weitestgehend anerkannt.389 Einzelfallprobleme werden sich regelmäßig diesem Prüfungsraster zuordnen lassen. So 109 kann die (vertragliche) Vorabbindung der Gemeinde im Hinblick auf eine bestimmte Planung390 dazu führen, dass eine „sachgerechte Abwägung überhaupt nicht stattfindet“ (Abwägungsausfall). Die unzureichende oder unvollständige Ermittlung zB des Ausmaßes einer Altlast391 kann zur Folge haben, dass nicht in die Abwägung eingestellt wird, „was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss“ (Abwägungsdefizit). Die unzureichende Einschätzung etwa der Gewichtigkeit der Belange einer Religionsgemeinschaft392 kann bewirken, dass „die Bedeutung der betroffenen Belange verkannt“ (Abwägungsfehleinschätzung) oder der Ausgleich zwischen den berührten Belangen „in einer Weise vorgenommen wird, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht“ (Abwägungsdisproportionalität). d) Aufstellungsverfahren. Das BauGB enthält in den §§ 2–4c, 6, 10, 13 sowie 13a Regelungen 110 über das Verfahren zur Aufstellung der Bauleitpläne.393 Die bundesrechtlichen Vorschriften regeln das Verfahren allerdings nicht abschließend. Ergänzend tritt das Landesrecht hinzu. Da die Bauleitplanung in den Verantwortungsbereich der Gemeinden fällt (§ 2 I BauGB), enthalten die Gemeindeordnungen zB Regelungen über die gemeindeinterne Zuständigkeit für die Bauleitplanung, die näheren Modalitäten der Beschlüsse der Gemeindeorgane wie zB über die Befangen-

_____ 388 BVerwGE 45, 309, 315. Dazu Schulze-Fielitz Jura 1992, 201 ff. Nach diesen Grundsätzen bestimmt sich auch die (Un-)Zulässigkeit abwägungsdirigierender Verträge. Dazu Spannowsky ZfBR 2010, 429, 431 ff. 389 Vgl statt vieler Krautzberger (Fn 52) § 1 Rn 93 ff; Söfker (Fn 98) § 1 Rn 187; Brohm (Fn 66) § 13 Rn 15 ff, jew mwN. 390 Zur vertraglichen Vorabbindung o Rn 93; zur Vorabbindung durch Plebiszite vgl BayVGH BayVBl 2009, 245, 246; Kühling/Wintermeier DVBl 2012, 317, 319 ff bes 322 f zu landesrechtl Regelungen; Burrack/Stein LKV 2009, 433, 439 ff jew mwN. 391 Vgl BGHZ 106, 323, 325 ff; E 109, 380, 385 ff o JK BGB § 839/3; VGH BW ESVGH 49, 266, 267 ff; Raeschke-Kessler NJW 1993, 2275 ff mwN; zu den Anforderungen an die Ermittlung von Altlasten nach Inkrafttreten des Bundesbodenschutzgesetzes – BBodSchG v 17.3.1998, BGBl I 502, zul geänd durch G v 9.12.2004, BGBl I 3214; Louis/Wolf NuR 2002, 61, 69 ff; Kratzenberg UPR 1997, 177, 179 ff. 392 Vgl BayVGH NVwZ 1997, 1016 ff. 393 Zu den Neuerungen durch das EAG Bau vgl die Übersichten bei Erbguth Jura 2006, 9 ff; Wagner/Engel BayVBl 2005, 33 ff.

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heit von Mitgliedern der Gemeindevertretung sowie über allgemeine Verfahrensfehlerfolgen.394 Die Grundzüge des Aufstellungsverfahrens für Flächennutzungs- und Bebauungspläne395 stimmen im Wesentlichen überein. Gem § 1 VIII BauGB gelten die Vorschriften des BauGB über die Aufstellung von Bauleitplänen auch für ihre Änderung, Ergänzung396 und Aufhebung. Unter den Voraussetzungen des § 13 I BauGB397 kann die Gemeinde das vereinfachte Verfahren anwenden. Dann kann sie nach § 13 II, III BauGB die Beteiligung nach §§ 3, 4 BauGB vereinfachen; außerdem ist von der Umweltprüfung, dem Umweltbericht und der Angabe nach § 3 II 2 BauGB abzusehen und es entfällt die Überwachung nach § 4c BauGB. Unter den Voraussetzungen des § 13a I BauGB398 kann ein Bebauungsplan der Innenentwicklung im beschleunigten Verfahren aufgestellt werden. Dann gelten nach § 13a II Nr 1 BauGB dieselben Erleichterungen wie im vereinfachten Verfahren, insbesondere entfällt die Umweltprüfung. Zudem kann nach § 13a II Nr 2 BauGB auch vor einer Änderung oder Ergänzung des Flächennutzungsplans von dessen Darstellungen abgewichen werden. § 13a III BauGB enthält Regelungen über die Bekanntmachung. Nach der Vorstellung des Bundesgesetzgebers (§ 2 I 2 BauGB) wird der – offizielle – Beginn 111 des Verfahrens durch einen ortsüblich bekanntzumachenden Beschluss markiert, einen Bauleitplan aufzustellen (Planaufstellungsbeschluss).399 In ihm ist das Plangebiet zu bestimmen. Inhaltliche Aussagen zur beabsichtigten Planung sind nicht erforderlich. § 2 III BauGB enthält nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung eine Verfahrensgrundnorm, die dennoch lediglich deklaratorische Bedeutung haben soll.400 Zu den nach § 2 III BauGB zu ermittelnden und zu bewertenden Belangen gehören auch die 112 Umweltbelange des § 1 VI Nr 7 und § 1a BauGB (Rn 104). Für sie verlangt § 2 IV BauGB die Durchführung einer Umweltprüfung.401 Die Umweltprüfung402 ist nach der Konzeption des § 2 III, IV BauGB kein eigenständiges Verfahren, sondern Bestandteil des Aufstellungsverfahrens, in dem unter Anwendung der Anlage 1 zum BauGB die voraussichtlichen erheblichen Umweltauswirkungen zu ermitteln und in einem Umweltbericht zu beschreiben und zu bewerten sind. Der Umweltbericht bildet nach § 2a S 3 BauGB einen gesonderten Teil der Begründung des Bauleitplans. Erhebliche Umweltauswirkungen liegen schon dann vor, wenn einer der Belange des § 1 VI Nr 7 oder des § 1a BauGB berührt ist. § 2 IV 3 BauGB relativiert die Anforderungen an die Umweltprüfung. Nach § 2 IV 2 BauGB legt die Gemeinde fest, in welchem Umfang und Detaillierungsgrad die Ermittlung der Belange für die Abwägung erforderlich ist (sog Scoping). Das Ergebnis der Umweltprüfung wird also ebenso wie die anderen ermittelten abwägungsrelevanten Belange in die Abwägung eingestellt, § 2 IV 4 BauGB. Diese Norm stellt aber auch klar, dass die Umweltbelange in der Abwägung mit den an-

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394 Dazu o Röhl 1. Kap Rn 93, 138 ff. Zur städtebaurechtlichen Fehlerfolgenregelung u Rn 121 ff. 395 Zur zweistufigen Abfolge der Bauleitplanungen vgl o Rn 74. 396 Zum Verfahren der Planergänzung bei einem fehlerhaften Bauleitplan nach § 214 IV BauGB vgl u Rn 124. 397 Eine in § 13 I BauGB vorausgesetzte Berührung der Grundzüge der Planung ist nicht stets bei der Änderung des Gebietscharakters nach §§ 2-11 BauNVO gegeben, BVerwGE 134, 264, 266 ff Æ JK BauGB § 13/1. 398 Die Norm enthält positive (Abs 1 S 1–3) und negative Voraussetzungen (Abs 1 S 4, 5). Ausf zu § 13a BauGB Schrödter ZfBR 2010, 332 ff und 422 ff; Scheidler BauR 2007, 650 ff. 399 Nach BVerwGE 79, 200, 204 f besteht allerdings keine bundesrechtliche Verpflichtung, einen Aufstellungsbeschluss zu fassen. Sein Vorliegen sei daher auch keine Wirksamkeitsvoraussetzung eines späteren Bebauungsplanes. 400 BT-Drs 15/2250 S 42. Zu § 2 III BauGB Hoppe NVwZ 2004, 903, 904 f. 401 Die Einführung einer Umweltprüfung bei der Aufstellung von Bauleitplänen dient ebenso wie die Einführung der Strategischen Umweltprüfung durch das UVPG insgesamt der Umsetzung der sog Plan-UP-Richtlinie (2001/42/EG) v 27.6.2001. Zum Verhältnis der Regelungen des UVPG zu § 2 IV BauGB vgl § 17 I, II UVPG. 402 Dazu Uechtritz BauR 2005, 1859 ff; Schrödter LKV 2006, 251 ff; ders LKV 2008, 109 ff. Vgl auch zur Abwägungsproblematik krit Krautzberger/Stüer DVBl 2004, 914 ff; Hoppe NVwZ 2004, 903 ff, zugleich zur „Umweltprüfung im Gefüge der bauleitplanerischen Abwägung“. Ausf zu fachlich-methodischen Anforderungen an die Umweltprüfung Mitschang ZfBR 2004, 653 ff.

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deren Belangen grds überwunden werden können.403 Durch § 2 IV 5 BauGB und § 17 III UVPG sollen Doppelprüfungen verhindert werden. § 3 BauGB sieht eine zweistufige Öffentlichkeitsbeteiligung vor. Nach § 3 I 1 BauGB ist die Öffentlichkeit möglichst frühzeitig über die allgemeinen Ziele und Zwecke der Planung, die Alternativen und die voraussichtlichen Auswirkungen der Planung zu unterrichten. Der Öffentlichkeit ist Gelegenheit zur Äußerung und Erörterung zu geben. Von dieser frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung kann nur in den Fällen des § 3 I 2 BauGB sowie im vereinfachten Verfahren nach § 13 II Nr 1 BauGB und damit im beschleunigten Verfahren nach § 13a BauGB abgesehen werden. Die Öffentlichkeit umfasst die Allgemeinheit, dh jede natürliche oder juristische Person kann sich an der Bauleitplanung beteiligen, ohne ein irgendwie geartetes Interesse nachweisen zu müssen.404 Ist die Planung so weit fortgeschritten, dass ein beschlussfähiger Planentwurf vorliegt, ist der Entwurf öffentlich auszulegen (§ 3 II BauGB). Nach § 3 II 3 BauGB sollen die Träger öffentlicher Belange von der Auslegung benachrichtigt werden. Gem § 3 II 2 BauGB ist durch ortsübliche Bekanntmachung405 auf die Auslegung sowie darauf hinzuweisen, dass während der Auslegungsfrist Stellungnahmen abgegeben werden können, nicht fristgerecht abgegebene Stellungnahmen bei der Beschlussfassung unberücksichtigt bleiben können und dass nicht rechtzeitig geltend gemachte Einwendungen zur Unzulässigkeit eines Antrags nach § 47 VwGO führen (Rn 234). Zudem ist nach § 4a V 3 BauGB auf eine erforderliche grenzüberschreitende Beteiligung hinzuweisen. Die fristgerecht abgegebenen Stellungnahmen hat die Gemeinde zu prüfen und den Einwendern das Ergebnis der Prüfung mitzuteilen, § 3 II 4 BauGB.406 Werden die Stellungnahmen nicht berücksichtigt, müssen sie der höheren Verwaltungsbehörde vorgelegt werden, sofern es sich um einen genehmigungsbedürftigen Bauleitplan handelt (§ 3 II 6 BauGB). Auch die Behörden und sonstigen Träger öffentlicher Belange sind nach §§ 4 I 1, 3 I 1 HS 1 BauGB frühzeitig zu unterrichten und zur Äußerung auch im Hinblick auf den erforderlichen Umfang und Detaillierungsgrad der Umweltprüfung aufzufordern. Anschließend holt die Gemeinde nach § 4 II BauGB die Stellungnahmen der Behörden und der sonstigen Träger öffentlicher Belange ein, die diese innerhalb eines Monats abzugeben haben. Für den Begriff der Träger öffentlicher Belange ist entscheidend, ob die fragliche Stelle als eigenständige Verwaltungseinheit öffentliche Aufgaben wahrnimmt407 und ob ihr Aufgabenbereich durch die Planung berührt werden kann. § 4 III BauGB begründet die Verpflichtung der Behörden, die Gemeinde bei unvorhergesehenen nachteiligen Auswirkungen der Durchführung des Bauleitplans auf die Umwelt zu unterrichten und ergänzt so die Verpflichtung der Gemeinde aus § 4c BauGB (Monitoring, Rn 120). In § 4a BauGB sind gemeinsame Vorschriften zur Beteiligung enthalten. Nach § 4a I BauGB dienen die Vorschriften über die Beteiligung insbesondere der vollständigen Ermittlung und zutreffenden Bewertung der berührten Belange. Nach § 4a II BauGB kann die Beteiligung der Öffentlichkeit und der Behörden gleichzeitig erfolgen. Bei Änderung oder Ergänzung des Entwurfs infolge des Verfahrens nach §§ 3 II, 4 II BauGB regelt § 4a III BauGB die erneute Auslegung.408 § 4a IV BauGB sieht die Nutzung elektronischer Medien vor. Für grenzüberschreitende

_____ 403 Einige Belange sind aber strikt zu beachten und entziehen sich der einfachen Abwägung, vgl o Rn 104 und Krautzberger/Stüer DVBl 2004, 914, 923 f. 404 Bönker (Fn 335) § 5 Rn 192. 405 Zur „Anstoßwirkung“ der Bekanntmachung und den sich daraus ergebenden inhaltlichen Anforderungen vgl BVerwG ZfBR 2008, 806, 807. 406 Dies muss jedoch nicht vor dem Satzungsbeschluss (dazu Rn 118) geschehen, BVerwG NVwZ 2003, 206 f. 407 Bönker (Fn 335) § 5 Rn 216. Das ist zB der Fall bei der Nachbargemeinde, Naturschutzbehörden, Industrie- und Handelskammern und Kirchen. Dies gilt auch für Verwaltungseinheiten, die in Privatrechtsform ihnen zugewiesene öffentliche Versorgungsaufgaben wahrnehmen, Jäde in: ders/Dirnberger/Weiß, BauGB, § 4 Rn 3. 408 Klarstellungen und redaktionelle Korrekturen sollen nach BVerwG UPR 1988, 186 ff keine Änderungen oder Ergänzungen in diesem Sinne sein. Änderung kann nach BVerwGE 133, 98, 114 ff uU auch bei Abtrennung eines im Übrigen unveränderten Plangebietes vorliegen.

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Auswirkungen trifft § 4a V BauGB spezielle Regelungen. § 4a VI BauGB schließlich beinhaltet die Rechtsfolgen für nicht rechtzeitig abgegebene Stellungnahmen und ordnet eine beschränkte Präklusion an.409 117 Gem § 4b BauGB kann die Gemeinde insbesondere zur Beschleunigung des Bauleitplanverfahrens die Vorbereitung und Durchführung von Verfahrensschritten nach den §§ 2a – 4a BauGB einem Dritten übertragen. In welcher Beziehung dieser Dritte zur Gemeinde steht, ist umstritten.410 Es ist davon auszugehen, dass § 4b BauGB die durch § 2 I 1 BauGB begründete Zuständigkeit der Gemeinde, die Bauleitpläne in eigener Verantwortung aufzustellen, unverändert lässt.411 Die Zuständigkeit der Gemeinde für das Aufstellungsverfahren sowie für die daraus hervorgehende Entscheidung über die Planaufstellung beinhaltet grundsätzlich die Verpflichtung der Gemeinde, alle zur Zuständigkeitswahrnehmung erforderlichen Schritte selbst, dh in organisationsrechtlich zurechenbarer Weise vorzunehmen.412 Die Gemeinde muss also durch Amtswalter tätig werden, deren Handeln und Entscheiden ihr rechtlich als eigenes zugerechnet wird. Nicht ausreichend ist es demgegenüber, auf fremde Entscheidungen zurückzugreifen und diese – nach Kontrolle – zu übernehmen. Das liegt daran, dass die Übernahme einer fremden Entscheidung eine eigene Entscheidung nicht vollständig ersetzen kann.413 Ermöglicht § 4b BauGB also einerseits den Einsatz eines Dritten im Planaufstellungsverfahren und lässt er andererseits die Zuständigkeit der Gemeinde aus § 2 I 1 BauGB unberührt, so muss auch der Dritte iSd § 4b BauGB organisationsrechtlich Amtswalter der planaufstellenden Gemeinde sein. Dann gilt sein Handeln und Entscheiden rechtlich als das der Gemeinde. Prinzipiell darf eine Verwaltungseinheit zur Wahrnehmung ihrer Zuständigkeiten allerdings – das fordern Art 33 IV GG und das rechtsstaatliche Rationalitätsgebot – nur auf solche Amtswalter zurückgreifen, die zu ihrem eigenen, dauerhaft beschäftigten Personal zählen.414 § 4b BauGB ist daher verfassungskonform so zu interpretieren, dass er den Einsatz Dritter nur für Sondersituationen erlaubt, in denen der planaufstellenden Gemeinde ausnahmsweise kein geeignetes eigenes Personal zur Verfügung steht. In diesem Fall darf die Gemeinde Amtswalter einsetzen, mit denen sie kein Beamten- oder Angestelltenverhältnis, sondern beispielsweise ein Dienst- oder Werkvertrag verbindet. 118 Nach Abschluss des Auslegungsverfahrens beschließt das Repräsentativorgan der Gemeinde (Gemeinderat, Gemeindevertretung) über einen Flächennutzungsplan durch einfachen Beschluss, über einen Bebauungsplan durch Satzungsbeschluss (§ 10 I BauGB). Nach § 246 II BauGB können die Stadtstaaten eine andere Rechtsform für den Bebauungsplan wählen.415 Nach Beschlussfassung durch die Gemeinde ist der Flächennutzungsplan gem § 6 I BauGB 119 der Aufsichtsbehörde zur Genehmigung416 vorzulegen. Die Genehmigungsbehörde übt gem § 6 II

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409 Vgl dazu Bönker (Fn 335) § 4 Rn 231. 410 Umstritten ist darüber hinaus zB die Rechtsnatur des Vertrages zwischen der Gemeinde und dem Dritten oder die Frage, ob Dritter auch derjenige sein darf, der Träger eines Vorhabens ist, für das nach § 12 BauGB ein vorhabenbezogener Bebauungsplan aufgestellt wird, oder derjenige, der zugleich Partner eines städtebaulichen Vertrages iSd § 11 BauGB ist. Zu diesen Fragen zB Lauster Die Beteiligung privater Dienstleister an der Wahrnehmung bauleitplanerischer Aufgaben, 2010, 43 ff mwN; Battis in: ders/Krautzberger/Löhr, BauGB, § 4b Rn 1 ff. 411 Battis (Fn 410) § 4b Rn 7 sowie ausf Remmert Private Dienstleistungen in staatlichen Verwaltungsverfahren, 2003, 206 ff, 214 f. 412 Bezogen auf den Verpflichtungsgehalt jeder Zuständigkeitszuweisung Pietzcker in: Starck, Zusammenarbeit der Gliedstaaten im Bundesstaat, 1988, 17, 55; Remmert (Fn 411) 217 ff; BVerfG NVwZ 2008, 183, 186 f. 413 Remmert (Fn 411) 230 f. 414 Art 33 IV GG gebietet für die Wahrnehmung hoheitsrechtlicher Befugnisse prinzipiell den Einsatz von Beamten. Dazu o Kunig 6. Kap Rn 34 ff. Das rechtsstaatliche Rationalitätsgebot verlangt darüber hinaus für die Wahrnehmung aller übrigen Befugnisse den prinzipiellen Einsatz von auf Dauer beschäftigten Angestellten, Remmert (Fn 411) 462 ff. 415 Vgl o Rn 87 m Fn 308. 416 Die Genehmigung kann auch unter Auflagen erteilt werden. Das ergibt sich aus § 36 VwVfG. Die Norm ist anwendbar, da die Genehmigung ein Verwaltungsakt ist. Dagegen kommt eine Genehmigungserteilung unter einer Befristung, einer auflösenden Bedingung oder unter Widerrufsvorbehalt nicht in Betracht. Sie widerspräche der

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BauGB eine bloße Rechts-, keine Zweckmäßigkeitsaufsicht aus. Wird die Erteilung der Genehmigung nicht innerhalb von drei Monaten abgelehnt, gilt sie nach § 6 IV 4 BauGB als erteilt. Bebauungspläne sind grundsätzlich weder genehmigungs- noch anzeigepflichtig.417 Gem § 10 II BauGB bedürfen lediglich der selbständige (§ 8 II 2 BauGB), der vor Bekanntmachung des Flächennutzungsplans bekannt gemachte (§ 8 III 2 BauGB418) und der vorzeitige Bebauungsplan (§ 8 IV BauGB) der Genehmigung der höheren Verwaltungsbehörde. Nach Maßgabe des § 246 Ia BauGB steht es den Ländern frei, genehmigungsfreie Bebauungspläne einem Anzeigeverfahren zu unterziehen.419 Für die Stadtstaaten enthält § 246 I BauGB zudem eine Sonderregelung. Den Abschluss des Aufstellungsverfahrens bildet die öffentliche Bekanntmachung des Bauleitplans (§§ 6 V, 10 III BauGB), wobei die Begründung (§§ 5 V, 9 VIII BauGB) und die zusammenfassende Erklärung beizufügen sind (§§ 6 V 3, 10 IV BauGB). Nach § 4c BauGB überwachen die Gemeinden die erheblichen Umweltauswirkungen, die auf 120 Grund der Durchführung der Bauleitpläne eintreten, um unvorhergesehene nachteilige Auswirkungen frühzeitig zu ermitteln und geeignete Maßnahmen zur Abhilfe zu ergreifen (sog Monitoring).420 Sie nutzen hierfür die schon im Umweltbericht angegebenen Überwachungsmaßnahmen und die Informationen der Behörden nach § 4 III BauGB (Unterrichtung durch die Behörden bei Feststellung nachteiliger Umweltauswirkungen). e) Fehlerfolgen. Die Fehlerfolgen eines Hoheitsaktes beurteilen sich idR nach seiner Rechts- 121 form. Rechtswidrige Satzungen werden nach überkommener Auffassung als nichtig angesehen.421 Damit müsste ein rechtswidriger Bebauungsplan, der wie eine Satzung beschlossen wird (§ 10 I BauGB), prinzipiell nichtig sein. Soweit dasselbe auch für sonstige Rechtsnormen und einfache Ratsbeschlüsse angenommen wird,422 müsste auch der rechtswidrige Flächennutzungsplan dieses Rechtsschicksal teilen. Die Gemeindeordnungen haben diese Grundsätze allerdings modifiziert, indem sie die rechtliche Relevanz von Verfahrensfehlern für die Geltung von Satzungen und Flächennutzungsplänen abgeschwächt haben.423 Einen noch weitergehenden, tiefen Einschnitt in das Dogma von der Nichtigkeit rechtswidriger Satzungen enthalten für Bauleitpläne424 die Regelungen der §§ 214, 215 BauGB. Die §§ 214, 215 BauGB beschränken die – inzidente oder prinzipale – verwaltungsgerichtliche Kontrolle und Sanktion der Bauleitplanung. Demgegenüber bleibt bei genehmigungsbedürftigen Bauleitplänen (Rn 119) der Kontrollmaßstab im Genehmigungsverfahren von den §§ 214, 215 BauGB unberührt (§ 216 BauGB).425

_____ Entscheidung des BauGB für eine prinzipiell unbefristete Geltung der Bauleitpläne, die nur in dem dafür vorgesehenen Verfahren aufgehoben oder vom zuständigen Gericht für nichtig erklärt werden können. Vgl W. Schrödter (Fn 109) § 6 Rn 16; Löhr (Fn 277) § 6 Rn 15. 417 Krit zum Wegfall des früher bestehenden Anzeigeverfahrens Stollmann UPR 1997, 9 ff. 418 Nach BVerwG ZfBR 2008, 687, 688 soll das nicht gelten, wenn ein Flächennutzungsplan im Parallelverfahren erlassen und bereits genehmigt wurde, wegen fehlender Bekanntmachung der Genehmigung (§ 6 V BauGB) aber noch nicht wirksam ist. 419 Vgl dazu Jäde (Fn 407) § 246 Rn 3 ff. 420 Dazu Rautenberg NVwZ 2005, 1009 ff. Übergreifend zum Monitoring Windoffer VerwArch 2011, 343 ff. 421 Zum „Nichtigkeitsdogma“ und seinen Modifikationen in Bezug auf Satzungen Maurer AllgVwR § 4 Rn 56; Hill DVBl 1983, 1 ff; Pietzcker DVBl 1986, 806 ff; Ossenbühl NJW 1986, 2805 ff. 422 Oldiges (Fn 53) Rn 114. Vgl dazu ausf Menke Das kommunale Mitwirkungsverbot bei der Bauleitplanung, 1990, 86 ff, 163 ff. 423 Dazu o Röhl 1. Kap Rn 138 f. 424 §§ 214–216 BauGB beziehen sich außer auf Bauleitpläne auch auf sonstige Satzungen nach dem BauGB. 425 Für Bebauungspläne, die idR genehmigungsfrei sind, hat § 216 BauGB kaum Bedeutung. Etwas anderes kann sich nur ergeben, wenn Landesrecht nach Maßgabe des § 246 Ia BauGB für Bebauungspläne eine Anzeigepflicht einführt. Dann hat die Aufsichtsbehörde die Verletzung solcher Rechtsvorschriften geltend zu machen, die die Versagung der Genehmigung eines Flächennutzungsplans rechtfertigen würden (§ 246 Ia 2 BauGB). Dazu zählen gem § 216 BauGB auch die in §§ 214, 215 BauGB genannten Rechtsfehler.

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§§ 214, 215 BauGB normieren ein System der Fehlerfolgen.426 § 214 I BauGB regelt die Beachtlichkeit der Verletzung von Verfahrens- und Formvorschriften,427 § 214 II BauGB Verstöße gegen Vorschriften über das Verhältnis des Bebauungsplans zum Flächennutzungsplan. In § 214 III BauGB ist der maßgebende Zeitpunkt für die Abwägung festgelegt und sind die Folgen von Mängeln im Abwägungsvorgang geregelt. Das ergänzende Verfahren zur Behebung von Fehlern ist in § 214 IV BauGB geregelt. § 215 BauGB enthält Rügefristen, nach deren Ablauf bestimmte nicht geltend gemachte Fehler unbeachtlich werden. Im Einzelnen lassen sich die Fehlerfolgen nach ihrem Gewicht stufen: 123 – (1) Stets beachtlich sind – zunächst die von §§ 214, 215 BauGB nicht erfassten materiellen Rechtsverstöße, insbesondere Fehler im Abwägungsergebnis,428 ebenso Verstöße gegen §§ 1 III, IV, 9 I BauGB; – die in § 214 I 1 Nr 4 BauGB genannten Verfahrensfehler; – schließlich die grds nach § 215 I BauGB nur befristet beachtlichen Mängel, wenn der Hinweis nach § 215 II BauGB unterblieben ist. – (2) Nur bei fristgerechter Rüge429 beachtlich sind die in § 215 I BauGB genannten Fehler. Nach § 215 II BauGB ist bei Inkraftsetzung des Plans auf die Voraussetzungen für die Geltendmachung der Verletzung von Vorschriften sowie auf die Rechtsfolgen hinzuweisen. Unterbleibt dieser Hinweis, so beginnt die Frist nicht zu laufen.430 – (3) Stets unbeachtlich sind – die nicht in § 214 I BauGB aufgeführten Verstöße gegen Verfahrens- und Formvorschriften des BauGB; – die Verfahrens- und Formfehler, die zwar in § 214 I, IIa Nr 3 BauGB aufgeführt sind, aber die in einzelnen Bestimmungen dieser Norm aufgestellten Voraussetzungen für ihre Beachtlichkeit nicht erfüllen (sog „interne Unbeachtlichkeitsklauseln“);431 – die in § 214 IIa Nr 1 und 2 BauGB genannten Verfahrens- und Formfehler; – Verstöße gegen die in § 214 II BauGB genannten Anforderungen an das Verhältnis des Flächennutzungsplans zum Bebauungsplan. 122

124 § 214 IV BauGB sieht die Möglichkeit eines ergänzenden Verfahrens432 vor, dessen Durchführung im Ermessen der Gemeinde steht. Zwar entfaltet der Plan bis zur Behebung der Mängel

_____ 426 Ausf zu §§ 214, 215 BauGB idF des EAG Bau Erbguth DVBl 2004, 802 ff; Uechtritz ZfBR 2005, 11 ff; Quaas/Kukk BauR 2004, 1541 ff jew mwN. Vgl auch Stelkens UPR 2005, 81 ff; Kupfer DV 2005, 493 ff. Zur Frage der Anwendbarkeit der verschiedenen Fassungen der Planerhaltungsvorschriften und den Übergangsvorschriften Kuchler BauR 2007, 37 ff (EAG Bau) sowie ders BauR 2007, 835 ff (BauGB 2007). 427 Zu den Verfahrens- und Formvorschriften gehört gem § 214 I 1 Nr 1 BauGB die nach § 2 III BauGB vorzunehmende Ermittlung und Bewertung der von der Planung berührten Belange. Die nach § 1 VII BauGB vorzunehmende Abwägung ist dagegen gem § 214 III 2 BauGB keine Verfahrens- oder Formvorschrift. Vgl dazu BVerwGE 131, 100, 106 Æ JK BauGB § 214/1; Martini/Finkenzeller JuS 2012, 126, 128 f. Auch ein vollständiger Abwägungsausfall ist Abwägungsfehler iSd §§ 214, 215 BauGB, BVerwG ZfBR 2011, 145, 147. 428 Vgl auch Stelkens UPR 2005, 81, 82 ff mwN und ausführlicher Auseinandersetzung mit dem Wortlaut von § 214 III 2 HS 1 BauGB. 429 Solange die Rügefrist läuft, ist der Fehler jedoch noch beachtlich und im Normenkontrollverfahren von Amts wegen zu berücksichtigen, auch wenn er bislang weder gegenüber der Gemeinde noch im Normenkontrollantrag gerügt wurde, VGH BW VBlBW 2002, 304, 305 m Anm Quaas VBlBW 2002, 289, 290. Zum Umfang der gerichtlichen Prüfungspflicht vgl u Rn 234. 430 Jäde (Fn 407) § 216 Rn 10 f mwN auch zu der Frage, ob und mit welchen Folgen der Hinweis nachgeholt werden kann. 431 Nach BVerwGE 134, 264, 299 ff Æ JK BauGB 13/1 soll die interne Unbeachtlichkeitsklausel des § 214 I Nr 2 BauGB entsprechend anzuwenden sein, wenn die Gemeinde irrtümlich die Voraussetzungen des vereinfachten Verfahrens annahm. 432 Vgl dazu Bönker (Fn 335) § 17 Rn 47 ff mwN.

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keine Rechtswirkungen, er kann aber auch rückwirkend in Kraft gesetzt werden.433 Durch das ergänzende Verfahren können Verfahrens- und Formfehler sowie Festsetzungs- und Abwägungsmängel behoben werden. In diesem Verfahren werden die fehlerhaften Verfahrensschritte nachgeholt. Die Fehlerfolgenregelung der §§ 214, 215 BauGB ist das Ergebnis einer Fortentwicklung der 125 Rechtslage des Bundesbaugesetzes (§§ 155a–155c BBauG) und des BauROG 1998 (§§ 214–215a BauGB aF). Die Rechtsentwicklung war von Beginn an von verfassungsrechtlicher Skepsis begleitet.434 Maßstabsnormen für den die Fehlerfolgen regelnden Gesetzgeber sind in erster Linie Art 20 III GG sowie Art 19 IV GG. Art 20 III GG normiert den Vorrang des Gesetzes. Er enthält aber keine ausdrückliche Regelung über die Sanktion eines exekutiven Rechtsverstoßes und lässt sich auch nicht als strikte Verpflichtung des Gesetzgebers interpretieren, die in Art 20 III GG vorgesehene Rechtsbindung der Verwaltung durch eine ausnahmslose Nichtigkeitsdrohung für rechtswidrige Verwaltungsentscheidungen abzusichern.435 Der Blick auf die Fehlerfolgenregelungen beim Verwaltungsakt (§§ 43 III, 44 VwVfG) und beim öffentlich-rechtlichen Vertrag (§ 59 VwVfG) zeigt, dass der Gesetzgeber die Folgen von Gesetzesverstößen differenziert regeln kann und unter Abwägung zwischen verschiedenen rechtsstaatlichen Verfassungsgrundsätzen zu regeln hat. Von daher hängt die Verfassungsmäßigkeit der Fehlerfolgenregelung davon ab, ob sie dem Erfordernis einer ausgewogenen Verhältnisbestimmung zwischen den Anforderungen an die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, den Geboten der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und des Gerichtsschutzes entspricht. Das wurde in der Literatur schon für §§ 214 ff BauGB aF zT bezweifelt.436 Die Rechtsprechung hat sich im Hinblick auf Teilaspekte der Fehlerfolgenregelungen des Instruments der restriktiven, verfassungskonformen Gesetzesinterpretation bedient.437 Auch gegen die Neuregelung durch das EAG Bau werden Bedenken geltend gemacht.438 f) Außerkrafttreten. Da Bauleitpläne in ihrer Geltung zeitlich nicht befristet sind, treten sie 126 grundsätzlich durch Aufhebung außer Kraft. § 1 VIII BauGB bestimmt ausdrücklich, dass die Vorschriften des BauGB über die Aufstellung von Bauleitplänen auch für ihre Änderung, Ergänzung und Aufhebung gelten. Rechtsdogmatisch zweifelhaft ist die Annahme, dass ein Bebauungsplan durch entgegenstehendes Gewohnheitsrecht 439 oder durch sog „Funktionsverlust“ wegen grundlegender und dauerhafter Änderung der tatsächlichen Verhältnisse außer Kraft treten könne.440 Bei Ungewissheit über die Rechtsgültigkeit eines Bebauungsplans darf weder die

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433 Dies gilt jedoch nicht, wenn zuvor eine inhaltsgleiche Satzung rechtskräftig für nichtig erklärt worden ist, BVerwG NVwZ 2006, 329 ff. 434 Dolde BauR 1990, 1 ff; Kirchhof NJW 1981, 2382 ff; Gubelt NJW 1979, 2071, 2074 ff; Schmidt-Aßmann NJW 1976, 1913, 1915 f. Zur Neuregelung der §§ 214, 215 BauGB durch das EAG Bau vgl Uechtritz ZfBR 2005, 11 ff; Erbguth DVBl 2004, 802, 806 ff. 435 Hill DVBl 1983, 1, 5; Schmidt-Aßmann/Krebs (Fn 331) 198, 207 f; Schmidt-Aßmann DVBl 1984, 582, 587; Ossenbühl NJW 1986, 2805, 2807. 436 ZB Oldiges in: Steiner, BesVwR, 7. Aufl 2003, Abschn IV Rn 127 und Brohm (Fn 66) § 13 Rn 30 für § 215 I Nr 2 BauGB aF im Hinblick auf Art 19 IV GG; Dolde BauR 1990, 1, 6 ff für § 215 I Nr 2 BauGB aF im Hinblick auf Art 19 IV GG, Art 20 III GG, einzelne Grundrechte bzw das Übermaßverbot. Vgl auch Peine NVwZ 1989, 637 ff, der für eine verfassungskonforme Auslegung eintrat. Schmaltz DVBl 1990, 77 ff hielt die Regelungen dagegen für unbedenklich. 437 ZB BVerwGE 64, 33, 34 ff o JK BBauG § 155b/1; BGH ZfBR 1982, 264, 265, jew zu § 155b II 2 BBauG. Vgl auch BVerwG NVwZ 1983, 30, 31; NVwZ 1992, 662, 662 f sowie die Übersicht bei Battis (Fn 410) Vorb §§ 214–216 Rn 12 ff. 438 Vgl nur Oldiges (Fn 53) Rn 127; Uechtritz ZfBR 2005, 11, 17 ff; Stelkens UPR 2005, 81, 88 je mwN; zum Ganzen Merkel Die Gerichtskontrolle der Abwägung im Bauplanungsrecht, 2012, 236 ff. Zur Europarechtskonformität Kment AöR 130 (2005), 570 ff (EAG Bau) sowie ders DVBl 2007, 1275 ff (BauGB 2007). 439 BVerwGE 26, 282, 284 f; E 54, 5, 9. 440 BVerwGE 54, 5, 8 ff; aus jüngerer Zeit zB BVerwG ZfBR 2010, 787, 788; BauR 2000, 854 f m Bespr Selmer JuS 2000, 1128 f; BVerwGE 108, 71, 76; BVerwG BauR 2004, 1128 f; NVwZ 2004, 1244 ff o JK BauGB § 1 III/2. Grundsätzlich zust Grooterhorst Der Geltungsverlust von Bebauungsplänen durch nachträgliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse, 1988, insbes 96 ff. Ablehnend Hoffmann Jura 2012, 11, 15.

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Plangenehmigungsbehörde (Rn 119) noch die Gemeinde selbst den Plan verwerfen. Vielmehr ist die Gemeinde gehalten, den Plan im Aufhebungsverfahren (§ 1 VIII BauGB) zu beseitigen.441 Außer in diesem Verfahren kann der Bebauungsplan unter den Voraussetzungen des § 47 VwGO im Verfahren der prinzipalen verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle für unwirksam erklärt werden.442

3. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit von Vorhaben a) Allgemeines 127 Soweit die Bodennutzung in der Gemeinde durch Bauleitpläne vorbereitet und geleitet wird (§ 1 I BauGB), muss auch rechtlich sichergestellt sein, dass sich die tatsächliche bauliche Entwicklung plankonform vollzieht. Auch für den Fall, dass Bauleitpläne, insbesondere Bebauungspläne, fehlen, muss die Ordnung der städtebaulichen Entwicklung rechtlich gewährleistet sein. Die §§ 30 ff BauGB enthalten deshalb Vorschriften über die planungsrechtliche Zulässigkeit von Vorhaben.443 Zu deren Umsetzung tragen insbesondere444 die Instrumente des Bauordnungrechts bei. Die §§ 30 ff BauGB finden gem § 29 I BauGB zum einen auf Aufschüttungen und Abgrabun128 gen größeren Umfangs sowie auf Ausschachtungen und Ablagerungen einschließlich Lagerstätten Anwendung. Zum anderen beziehen sie sich – und das ist ihr wesentlicher Anwendungsbereich – auf Vorhaben, die die Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung von baulichen Anlagen zum Inhalt haben. Bauliche Anlagen iSd § 29 I BauGB sind Anlagen, „die in einer auf Dauer gedachten Weise künstlich mit dem Erdboden verbunden sind“.445 Mit dieser Definition ist das Begriffselement des Bauens („Schaffen von Anlagen“) ausgedrückt, zu dem einschränkend das Merkmal der bodenrechtlichen Relevanz hinzukommt: Dieses liegt vor, wenn das Vorhaben die Belange des § 1 VI BauGB in nicht unerheblicher Weise berühren kann und damit ein Bedürfnis nach planungsrechtlicher Kontrolle hervorruft.446 Auch das Bauordnungsrecht hat bauliche Anlagen zum Regelungsgegenstand (§ 1 I 1 MBO: 129 „Dieses Gesetz gilt für bauliche Anlagen …“). Allerdings hat der Begriff der baulichen Anlage je nach Gesetzeszusammenhang unterschiedliche Funktionen. Die Begriffe der baulichen Anlage iSd § 29 I BauGB und iSd Bauordnungsrechts sind folglich nicht identisch. Sie sind aber in weiten Bereichen inhaltsgleich447 und tragen so zu einer materiellen und verfahrensrechtlichen Verknüpfung von Bauordnungsrecht und Städtebaurecht bei. Zum einen wird – soweit erforderlich 448 – die bauordnungsrechtlich vorgesehene Baugenehmigung nach den einschlägigen Bestimmungen nur erteilt, wenn die Anlage – auch – den planungsrechtlichen Erfordernissen genügt (Rn 211). Mit Hilfe der bauordnungsrechtlichen Bauüberwachung und der bauordnungsrechtlichen Instrumente der (Wieder-)Herstellung baurechtmäßiger Zustände (Rn 222 ff) werden zum anderen sowohl die bauordnungs- als auch die -planungsrechtliche Rechtmäßigkeit bau-

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441 Vgl BVerwGE 75, 142 ff o JK BauGB § 2 IV/1; OVG NW NVwZ 1982, 636, 636 f. 442 Dazu u Rn 234. Nach Auffassung des BVerwG kann im Wege der Normenkontrolle auch das Außerkrafttreten wegen Funktionslosigkeit festgestellt werden, BVerwGE 108, 71, 72 ff. 443 Allg zur Zulässigkeit von Bauvorhaben und deren Prüfung in der Fallbearbeitung Dolderer Jura 2004, 752 ff. 444 Vgl daneben zB § 6 I Nr 2 BImSchG. 445 BVerwGE 44, 59, 62. 446 Halama in: Schlichter/Stich/Driehaus/Paetow, Berliner Kommentar, § 29 Rn 6 ff; Löhr (Fn 277) § 29 Rn 14 ff, jew m Bsp für bauliche Anlagen aus der Rspr. Insoweit hatte auch die Neufassung des § 29 BauGB durch das BauROG (Fn 20) zu keiner Änderung geführt, vgl BVerwGE 114, 206, 209 f; Battis/Krautzberger/Löhr NVwZ 1997, 1145, 1159. 447 Oldiges (Fn 53) Rn 175. Zu Einzelheiten der Abgrenzung Krautzberger in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/ders, BauGB, § 29 Rn 22 ff. 448 Vgl u Rn 209, 221. Zur Abkoppelung des Vorhabenbegriffs des § 29 BauGB vom bauordnungsrechtlichen Genehmigungs- oder Anzeigeerfordernis Battis/Krautzberger/Löhr NVwZ 1997, 1145, 1159.

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licher Anlagen iSd Bauordnungsrechts sichergestellt. Den Bauaufsichtsbehörden obliegt damit insofern auch der Vollzug der Planungsentscheidungen der Gemeinde. Das kann zu Kollisionen mit der gemeindlichen Planungshoheit insbesondere dann führen (Rn 20), wenn die Bauaufsichtsbehörde (Rn 208) kein Organ der betroffenen Gemeinde ist. Das BauGB schafft insofern Kompensation durch gemeindliche Einvernehmenserfordernisse. Sie bewirken, dass die Bauaufsichtsbehörde bestimmte Entscheidungen nur im Einvernehmen mit der Gemeinde treffen darf.449 Die Systematik der gesetzlichen Regelung über die planungsrechtliche Zulässigkeit von Vor- 130 haben folgt deren Lage in bestimmten planungsrechtlichen Gebietstypen: – (1) Vorhaben im räumlichen Geltungsbereich eines qualifizierten (§ 30 I BauGB) oder eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans nach § 12 BauGB (§ 30 II BauGB),450 – (2) Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile (§ 34 BauGB), – (3) Vorhaben im sog Außenbereich, dh außerhalb der von (1) und (2) bezeichneten Gebiete (§ 35 BauGB). Die gesetzliche Systematik verdeutlicht die Funktion der Vorschriften über die planungsrechtliche Zulässigkeit von Vorhaben außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs eines qualifizierten bzw vorhabenbezogenen Bebauungsplans. Ihnen muss es darum gehen, planerische Kriterien („Planersatzfunktion“)451 aufzustellen, mit deren Hilfe sich die städtebauliche Entwicklung ordnen lässt. Die Zulässigkeit der Bauvorhaben beurteilt sich nach den jeweiligen Maßgaben, die für 131 die unter (1), (2) und (3) genannten planungsrechtlichen Bereiche gelten. Keinen zusätzlichen planungsrechtlichen Bereich, wohl aber einen weiteren positiven Zulässigkeitstatbestand452 schafft § 33 BauGB.453 Die Norm setzt voraus, dass ein Vorhaben in einem Gebiet, für das ein Beschluss über die Aufstellung eines Bebauungsplans gefasst ist, nach den §§ 30, 34 oder 35 BauGB planungsrechtlich (noch) unzulässig ist, und kann ausnahmsweise dazu führen, dass das Vorhaben trotzdem im Hinblick auf die künftigen planerischen Festsetzungen genehmigt werden kann und muss.454 Dies setzt im Hinblick darauf, dass nach § 33 I Nr 2 BauGB künftige Festsetzungen des Bebauungsplans dem Vorhaben nicht entgegenstehen dürfen, vor allem voraus, dass die Planung schon so weit fortgeschritten ist, dass man eine hinreichend sichere Prognose über den Inhalt des zukünftigen Bebauungsplans treffen kann (sog Planreife).455

_____ 449 §§ 36, 14 II 2, 145 I 2 BauGB. Zum Verhältnis von § 36 BauGB zur Planungshoheit der Gemeinde aus § 2 I 1 BauGB und zur Veränderungssperre nach Erteilung des Einvernehmens BVerwGE 120, 138, 143 ff o JK BauGB § 14/2. Zu Rechtsfragen des § 36 BauGB Hellermann Jura 2002, 589 ff; Horn NVwZ 2002, 406 ff; Schlotterbeck VBlBW 2001, 15 ff; Lasotta DVBl 1998, 255 ff; ders BayVBl 1998, 609 ff; Schoch NVwZ 2012, 777 ff; vgl auch VGH BW VBlBW 2004, 56 ff o JK BauGB § 36 I 1/6 sowie – unter Aufgabe seiner bisherigen Rspr – BVerwGE 121, 339 ff m Anm Budroweit NVwZ 2005, 1013 ff; Hummel BauR 2005, 948 ff. Zum Beginn der Frist des § 36 II 2 HS 2 BauGB BVerwGE 122, 13 ff. 450 Ein qualifizierter Bebauungsplan muss die in § 30 I BauGB genannten Festsetzungen enthalten, vgl o Rn 84. Zum vorhabenbezogenen Bebauungsplan vgl o Rn 89. 451 BVerwGE 119, 25, 30 o JK BauGB § 1 III/1: §§ 34, 35 BauGB „gelten als Planersatzvorschriften, nicht als Ersatzplanung“. 452 BVerwGE 20, 127, 130 ff; Krautzberger (Fn 52) § 33 Rn 1; Stock in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 33 Rn 9, 13 f; dazu ausf Bartholomäi BauR 2001, 725 ff. 453 Zu den Voraussetzungen der einzelnen Tatbestände ausf Bönker (Fn 335) § 7 Rn 80 ff; Stock (Fn 452) § 33 Rn 24 ff; Scheidler BauR 2006, 310 ff; Uechtritz/Buchner BauR 2003, 813 ff insbes zur Bedeutung von BVerwGE 117, 25 ff o JK BauGB § 35/2. Zu diesem Urteil noch u Rn 140 m Fn 484. 454 BVerwGE 20, 127, 131. 455 BVerwG BRS 33, Nr 34; vgl ausf OVG NW BauR 2001, 1394 ff; BayVGH DÖV 2007, 802 f.

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b) Zulässigkeit von Vorhaben im Geltungsbereich eines qualifizierten oder vorhabenbezogenen Bebauungsplans 132 aa) § 30 I BauGB bzw § 30 II BauGB. Die §§ 30 I bzw 30 II BauGB stellen folgende Voraussetzungen auf: – (1) Das Vorhaben muss im räumlichen Geltungsbereich eines qualifizierten bzw vorhabenbezogenen Bebauungsplans liegen. – (2) Das Vorhaben darf den Festsetzungen des Bebauungsplans bzw beim vorhabenbezogenen Bebauungsplan auch dessen sonstigem Inhalt456 nicht widersprechen, oder es muss nach § 31 I BauGB eine Ausnahme zugelassen bzw nach § 31 II BauGB eine Befreiung erteilt worden sein. Zu beachten ist, dass auch kein Widerspruch zu den nach § 1 III 2 BauNVO zum Planbestandteil gewordenen Vorschriften der BauNVO (Rn 86) bestehen darf. – (3) Die Erschließung muss gesichert sein. Den Begriff der Erschließung verwendet das Gesetz an verschiedenen Stellen (vgl §§ 123 ff BauGB), allerdings nicht einheitlich. Die Erschließung iSd § 30 I BauGB umfasst zumindest den Anschluss des Grundstücks an das öffentliche Straßennetz, die Versorgung mit Elektrizität und Wasser und die Abwasserbeseitigung.457 Sie ist gesichert, wenn die Anlagen spätestens bis zur Fertigstellung der baulichen Anlage benutzbar sein werden.458 133 bb) Ausnahmen und Befreiungen. Die Abstraktheit des Bebauungsplans kann dazu führen, dass seine Anwendung im Einzelfall den Bauwilligen übermäßig belastet oder städtebaulichen Interessen zuwiderläuft. § 31 BauGB eröffnet deshalb der Baugenehmigungsbehörde die Möglichkeit, Ausnahmen und Befreiungen von den Festsetzungen eines – einfachen, qualifizierten oder vorhabenbezogenen – Bebauungsplans zu erteilen. Ausnahmen (§ 31 I BauGB) sind solche Abweichungen vom Bebauungsplan, die schon der Bebauungsplan selbst nach Art und Umfang ausdrücklich vorsieht. Sie stellen also keine Durchbrechung des planerischen Konzepts dar, sondern realisieren nur die Möglichkeiten einer städtebaulichen Entwicklung, wie sie die planende Gemeinde selbst ins Auge gefasst hat.459 Demgegenüber ist die Erteilung einer Befreiung (§ 31 II BauGB) von den Festsetzungen des Bebauungsplans eine Abweichung vom planerischen Konzept. Sie ermöglicht damit die Durchführung von Bauvorhaben, die sonst nur bei entsprechender Planänderung zulässig wären. § 31 II BauGB normiert drei Befreiungstatbestände: (1) Entweder muss das Wohl der Allgemeinheit die Befreiung erfordern,460 oder (2) die Abweichung muss städtebaulich vertretbar sein, oder (3) die Durchführung des Plans würde zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte füh-

_____ 456 Dazu, dass beim vorhabenbezogenen Bebauungsplan die Gemeinde gem § 12 III 2 BauGB nicht an den Festsetzungskatalog des § 9 BauGB bzw der BauNVO gebunden ist, vgl o Rn 89. Vorhabenbezogene Bebauungspläne werden daher häufig nicht die Mindestfestsetzungen eines qualifizierten Bebauungsplans enthalten. Bei isolierter Betrachtung des § 30 III BauGB könnte man daher bezweifeln, ob sich die Zulässigkeit eines Vorhabens im Geltungsbereich eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans tatsächlich nur nach dessen Inhalt bemisst, oder ob nicht zusätzlich § 34 bzw § 35 BauGB heranzuziehen ist. Die Systematik des § 30 BauGB lässt aber erkennen, dass die einzelnen Absätze der Norm die unterschiedlichen Fallgruppen – qualifizierter Bebauungsplan (Abs 1), vorhabenbezogener Bebauungsplan (Abs 2), einfacher Bebauungsplan (Abs 3) – jeweils abschließend regeln. Diese Interpretation entspricht im Ergebnis auch der gesetzgeberischen Intention (vgl Begr zu § 30 im Entw der BReg zum BauROG [Fn 133]). Vgl auch Winkler NVwZ 1997, 1193, 1193; Battis/Krautzberger/Löhr NVwZ 1997, 1145, 1159 f. 457 Löhr (Fn 277) § 30 Rn 16; Söfker (Fn 98) § 30 Rn 40; Dürr in: Brügelmann, BauGB, § 30 Rn 13 f. 458 BVerwG DVBl 1977, 41, 43; DVBl 1986, 685, 685. Die Eingriffsregelung der §§ 14–17 BNatSchG kann einem Anspruch auf Genehmigung nach § 30 BauGB nicht entgegengesetzt werden, vgl § 18 I, II BNatSchG. Zum Verhältnis der naturschutzrechtlichen Regelungen zum Städtebaurecht Rieger UPR 2012, 1 ff. 459 Vgl Erbguth (Fn 3) § 8 Rn 20; Brohm (Fn 66) § 19 Rn 6. 460 Dazu BVerwGE 56, 71 ff. Hierunter soll auch ein dringender Wohnbedarf fallen, vgl VGH BW NVwZ 1999, 670.

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ren.461 Für alle drei Fälle verlangt § 31 II BauGB zusätzlich, dass die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen462 vereinbar ist. Schließlich dürfen in allen drei Fällen die „Grundzüge der Planung nicht berührt werden“ (§ 31 II HS 1).463 § 31 I und § 31 II BauGB stellen die Zulassung einer Ausnahme bzw die Erteilung einer Befreiung in das Ermessen der Bauaufsichtsbehörde.464 Das bedeutet, dass bei Vorliegen der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Bewilligung der Abweichung besteht.465

c) Zulässigkeit von Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile (§ 34 BauGB) Die Zulässigkeit eines Vorhabens im planungsrechtlichen Bereich des § 34 BauGB (sog Innenbe- 134 reich) setzt voraus, dass – (1) das Vorhaben im räumlichen Geltungsbereich des § 34 BauGB liegt; – (2) kein Widerspruch zu den Festsetzungen eines einfachen Bebauungsplans vorliegt (§ 30 III BauGB) bzw nach § 31 I BauGB eine Ausnahme zugelassen oder nach § 31 II BauGB eine Befreiung erteilt wurde; – (3) das Vorhaben sich iSd § 34 I BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung „einfügt“ bzw von diesem Erfordernis gem § 34 IIIa BauGB abgewichen werden kann oder – hinsichtlich der Art des Vorhabens – die Voraussetzungen des § 34 II BauGB vorliegen; – (4) keine der in § 34 I 2 BauGB bzw § 34 III BauGB466 bezeichneten öffentlichen Belange entgegenstehen und – (5) die Erschließung gesichert (Rn 132) ist. Ein Vorhaben liegt im räumlichen Geltungsbereich des § 34 BauGB, wenn es sich außerhalb des 135 Geltungsbereichs eines qualifizierten Bebauungsplans, aber innerhalb eines „im Zusammenhang bebauten Ortsteils“ befindet. Mit der letzteren gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzung ist jeder Bebauungskomplex im Gebiet einer Gemeinde gemeint, der nach Zahl der vorhandenen Gebäude ein gewisses Gewicht besitzt und Ausdruck einer organischen Siedlungsstruktur ist.467 Es

_____ 461 Gemeint sind nicht persönliche, sondern nur bodenbezogene Härten, vgl BVerwGE 51, 71, 74; Dürr (Fn 457) § 31 Rn 45. Solche liegen zB vor, wenn das Grundstück wegen seines besonderen Zuschnitts nur begrenzt oder erschwert bebaubar ist. 462 Zu diesem Begriff BVerwGE 117, 50, 53 f. 463 § 31 II BauGB setzt weder eine atypische Fallgestaltung noch einen Einzelfall voraus. Vgl dazu mit Hinweis auf die Entstehungsgeschichte VGH BW NVwZ 2004, 357, 359 f o JK BauGB § 31 II/4, zust Herrmann NVwZ 2004, 309. Allerdings findet auch eine Befreiung in mehreren gleichgelagerten Fällen jedenfalls dort ihre Grenze, wo die Grundzüge der Planung berührt sind, so dass ggf eine Abänderung des Bebauungsplans erforderlich wird, vgl Löhr (Fn 277) § 31 Rn 26 mwN sowie BVerwG NVwZ 1999, 1110, 1110. 464 BVerwGE 117, 50, 55 o JK BauGB § 31 II/3 m Anm Jung BauR 2003, 1509, auch zur Planänderungsabsicht als Ermessenserwägung; BGHZ 82, 361, 369; Bönker (Fn 335) § 8 Rn 44, 74; Oldiges (Fn 53) Rn 210 f. Dazu, dass dieses Ermessen „auf Null“ reduziert sein kann, Söfker (Fn 98) § 31 Rn 61. 465 Das ist nicht ganz unumstritten. Auf die Erteilung einer Ausnahme besteht nach VG Münster DVBl 1967, 298 ff bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen ein strikter Rechtsanspruch. Nach VGH BW BauR 1990, 340 f besteht zumindest im Fall des § 31 II Nr 1 BauGB weder ein Anspruch auf eine Befreiung noch ein Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung hierüber, weil sonst der Bauherr zum Sachwalter öffentlicher Belange gemacht würde. 466 Zu dieser Regelung und deren praxisrelevanten Auswirkungen auf den großflächigen Einzelhandel BVerwGE 129, 307 ff; Schlarmann/Hamann NVwZ 2008, 384 ff; Uechtritz NVwZ 2004, 1025, 1029 ff; ders DVBl 2006, 799, 806 ff; ders NVwZ 2007, 660 ff m Bespr OVG NW NVwZ 2007, 727; Gatawis NVwZ 2006, 272 ff; Reidt NVwZ 2007, 664 ff; Janning BauR 2005, 1723 ff. Vgl zum Kontext mit § 2 II BauGB ferner Rn 111. Zum drittschützenden Charakter der Norm u Rn 241. 467 BVerwGE 27, 137, 138; E 31, 22, 26; NVwZ 1999, 527 f. Ausf zur Begrenzung auf das Gemeindegebiet Söfker (Fn 98) § 34 Rn 16; aA hierzu Rinke BauR 2005, 1406 ff.

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darf sich nicht nur um eine „Splittersiedlung“ handeln. Vielmehr muss ein tatsächlicher Bebauungszusammenhang bestehen, der trotz vorhandener Baulücken den Eindruck von Geschlossenheit vermittelt.468 Zur griffigeren Handhabung dieser etwas vagen gesetzlichen Vorgabe ermöglicht § 34 IV BauGB den Gemeinden, den Anwendungsbereich von § 34 BauGB durch sog Abgrenzungs- bzw Klarstellungs- (S 1 Nr 1),469Entwicklungs- (S 1 Nr 2) oder Ergänzungssatzungen (S 1 Nr 3) festzulegen.470 Die Satzungen gem § 34 IV 1 Nr 2, 3 BauGB können die Zulässigkeit von Vorhaben erheblich erweitern. § 34 V und VI BauGB stellen daher besondere Anforderungen an ihren Inhalt und an das Verfahren ihrer Aufstellung, die zT den Anforderungen an Bauleitpläne (Rn 90 ff) entsprechen. 136 Die Planersatzfunktion des § 34 BauGB wird insbesondere deutlich an dem gesetzlichen Erfordernis, dass sich das Vorhaben in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen muss. Ein „Einfügen“471 iSd § 34 I 1 BauGB setzt voraus, dass sich das Vorhaben innerhalb des durch die Umgebung gezogenen Rahmens der tatsächlich vorhandenen Bebauung hält.472 Es darf ihn ausnahmsweise überschreiten, wenn dadurch keine boden- bzw planungsrechtlichen Spannungen erzeugt werden,473 und ist in jedem Fall unzulässig, wenn es die gebotene Rücksichtnahme auf die in seiner unmittelbaren Nachbarschaft vorhandene Bebauung vermissen lässt.474 Entspricht ein Baugebiet hinsichtlich seiner Bebauung einem der in der BauNVO genannten Baugebiete, so ist nach § 34 II BauGB hinsichtlich der Art der Nutzung allein475 darauf abzustellen, ob das Bauvorhaben nach den Kriterien der BauNVO zulässig ist. Hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung und der Bauweise verbleibt es bei § 34 I BauGB. Vom Erfordernis des Einfügens in die Eigenart der näheren Umgebung kann nach § 34 IIIa BauGB abgewichen werden.476

d) Zulässigkeit von Vorhaben im Außenbereich 137 Dem Außenbereich sind alle Gebiete zuzurechnen, die weder von § 30 I, II BauGB noch von § 34 BauGB erfasst werden. Außenbereiche sind demnach alle Gebiete, die nicht im räumlichen Geltungsbereich eines qualifizierten oder eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans und außerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile liegen. Der Begriff des Außenbereichs ist damit ein reiner Rechtsbegriff; die Assoziationen von „Stadtferne“ und „freier Natur“, die der sprachliche Ausdruck hervorruft, können zwar, müssen aber durchaus nicht auf die Gebiete zutreffen, die von § 35 BauGB erfasst werden. Das BauGB geht davon aus, dass der Außenbereich bevorzugt für bestimmte Nutzungsarten 138 zur Verfügung stehen soll. § 35 BauGB unterscheidet daher die sog privilegierten Vorhaben

_____ 468 Vgl zur Bestimmung des „im Zusammenhang bebauten Ortsteils“ zB BVerwGE 31, 20 f; E 31, 22, 26 ff; NVwZ 1999, 527, 527 f m Bespr Selmer JuS 1999, 1137 f; ZfBR 2000, 426, 426 f; NVwZ-RR 2001, 83; NVwZ 2001, 70, 70 f m Bespr Selmer JuS 2001, 405 f; BauR 2002, 277 f; ZfBR 2007, 480 ff. 469 Die Abgrenzungs- bzw Klarstellungssatzung wird zT als deklatorisch bezeichnet, vgl zB Brohm (Fn 66) § 20 Rn 7. Zweifel am nur deklaratorischen Charakter bei Jeand’ Heur NVwZ 1995, 1174 ff. 470 Zu den Satzungen gem § 34 IV 1 Nr 1, 2 BauGB Hofherr in: Schlichter/Stich/Driehaus/Paetow, Berliner Kommentar, § 34 Rn 74 ff; vgl auch SächsOVG NVwZ-RR 2001, 426 ff. Zur Ergänzungssatzung gem § 34 IV 1 Nr 3 BauGB Erbguth (Fn 3) § 8 Rn 49 ff; vgl auch VGH BW DVBl 2007, 1232 ff. 471 Ausf dazu BVerwGE 55, 369, 381 ff; vgl aus der neueren Rspr zB BVerwGE 75, 34 ff; DÖV 1997, 831 f. Sa Dolderer Jura 2004, 752, 755 f. 472 Zu Beispielen und Einzelfällen aus der Rspr vgl Söfker (Fn 98) § 34 Rn 52 ff. 473 Derartige Spannungen entstehen zB, wenn das Vorhaben städtebauliche Belange iSd § 1 V-VII BauGB beeinträchtigt und so uU Planungserfordernisse auslöst. Dazu BVerwG BauR 2000, 245 sowie Söfker (Fn 98) § 34 Rn 31. 474 BVerwGE 55, 369, 386; NVwZ 1995, 698, 699; NVwZ 1999, 879, 880 m Bespr Selmer JuS 2000, 409 f; BauR 2001, 212, 213. Die Errichtung eines Minaretts soll gegen das Gebot der Rücksichtnahme nicht verstoßen, OVG RP NVwZ 2001, 933, 934. 475 Ein Rückgriff auf § 34 I BauGB ist insoweit ausgeschlossen, BVerwG NVwZ 1990, 557, 558. 476 Vgl dazu Bönker (Fn 335) § 8 Rn 154 ff.

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(Abs 1 Nr 1–8), die unter bestimmten Voraussetzungen zulässig sind, und die sonstigen Vorhaben, die im Einzelfall zugelassen werden können (Abs 2). Der Katalog der privilegierten Vorhaben in § 35 I BauGB ist abschließend.477 „Essentiale der Privilegierung ist jeweils eine bestimmte Nutzungsart, also die bauliche Anlage in ihrer privilegierten Funktion“.478 Nutzungsänderungen können daher zu einer Entprivilegierung führen. Das kann Schwierigkeiten bei einem wirtschaftlichen Strukturwandel, insbesondere im landwirtschaftlichen Bereich, hervorrufen. Ua diesem Problem versucht § 35 IV BauGB Rechnung zu tragen (Rn 142). Zulässigkeitsvoraussetzungen für Vorhaben im Außenbereich sind: 139 – für privilegierte Vorhaben – (1) es muss einer der Privilegierungstatbestände des § 35 I Nr 1–8 BauGB erfüllt sein; – (2) es darf kein Widerspruch zu einem einfachen Bebauungsplan vorliegen (§ 30 III BauGB) bzw es muss nach § 31 I BauGB eine Ausnahme zugelassen oder nach § 31 II BauGB eine Befreiung erteilt worden sein; – (3) öffentliche Belange dürfen nicht entgegenstehen, und – (4) die Erschließung muss gesichert sein; – (5) für Vorhaben nach § 35 I Nr 2–6 BauGB muss eine Verpflichtungserklärung nach § 35 V 2 BauGB abgegeben worden sein, das Vorhaben nach dauerhafter Aufgabe der zulässigen Nutzung zurückzubauen und Bodenversiegelungen zu beseitigen. – für sonstige Vorhaben im Außenbereich – (1) es darf kein Widerspruch zu einem einfachen Bebauungsplan vorliegen (§ 30 III BauGB) bzw es muss nach § 31 I BauGB eine Ausnahme zugelassen oder nach §31 II BauGB eine Befreiung erteilt worden sein; – (2) öffentliche Belange dürfen nicht beeinträchtigt sein, und – (3) die Erschließung muss gesichert sein. Die öffentlichen Belange, die einem privilegierten Vorhaben „nicht entgegenstehen“ (§ 35 I 140 BauGB) und von einem sonstigen Vorhaben „nicht beeinträchtigt“ (§ 35 II BauGB) sein dürfen, sind beispielhaft („insbesondere“) in § 35 III 1 BauGB aufgezählt.479 Zu ihnen zählen auch die Darstellungen im Flächennutzungsplan (§ 35 III 1 Nr 1 BauGB), die dergestalt mittelbar Außenwirkung erlangen können.480 Gleichwohl darf der Flächennutzungsplan auch in diesen Fällen nicht wie ein rechtsverbindlicher Außenrechtssatz gehandhabt werden.481 Seine Darstellungen können nur „entgegenstehend“ sein, wenn sie „sachlich und räumlich hinreichend konkret sind“.482 Nach § 35 III 2 BauGB können auch Ziele der Raumordnung einem Vorhaben entgegenstehen. Zudem können Konzentrations- oder Vorrangflächen für Vorhaben nach § 35 I Nr 2–6 BauGB durch Darstellungen im Flächennutzungsplan oder als Ziele der Raumordnung ausge-

_____ 477 Krautzberger (Fn 52) § 35 Rn 1; Söfker (Fn 98) § 35 Rn 18; Stollmann JuS 2003, 855, 856. 478 Friauf (Fn 3) 528; vgl auch BVerwGE 47, 185, 188. 479 Praktisch bedeutsam ist zB der Belang „Hervorrufung schädlicher Umwelteinwirkungen“. Der Begriff der schädlichen Umwelteinwirkungen ist in § 3 I BImSchG legaldefiniert. Diese Definition kann auch im Anwendungsbereich des § 35 III BauGB herangezogen werden, BVerwGE 52, 122, 126. In Hinsicht auf seine drittschützende Funktion hat die Rspr in diesem Belang zudem einen gesetzlichen Ausgangspunkt des Gebotes der Rücksichtnahme erkannt, vgl zB BVerwG NVwZ 2000, 552, 553 o JK BauGB § 35 I/3; NVwZ 2005, 328, 329; NVwZ 2007, 336 f. Häufig beschäftigt hat die Rspr ua auch der Belang „Gefahr einer Splittersiedlung“ (Nr 7), vgl dazu zB BVerwGE 25, 161 ff; 27, E 137 ff; E 54, 73, 76 ff. 480 Vgl o Rn 81 f. Zur Wirkung von Zielen der Raumordnung gegenüber Außenbereichsvorhaben § 35 III 2 BauGB sowie Söfker (Fn 98) § 35 Rn 116 ff; Jäde (Fn 407) § 35 Rn 230 ff; Krautzberger (Fn 52) § 35 Rn 72. Dazu auch o Rn 39 und u Fn 491. 481 Dies gilt wohl trotz BVerwGE 117, 287 ff o JK BauGB § 35/3 (vgl Rn 82 m Fn 293) auch weiterhin. 482 BVerwGE 68, 311, 311 (LS 1) o JK BBauG § 35/2; vgl auch o Rn 81 m Fn 290.

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wiesen werden. Dies steht gem § 35 III 3 BauGB einem an anderer Stelle geplanten Vorhaben derselben Art nach in der Regel als öffentlicher Belang entgegen.483 Ein nicht benannter Belang kann das Erfordernis einer förmlichen Planung sein, wenn das Vorhaben einen Koordinierungsbedarf auslöst, dem nicht das Konditionalprogramm des § 35 BauGB, sondern nur eine Abwägung im Rahmen einer förmlichen Planung Rechnung zu tragen vermag.484 Weitere ungeschriebene öffentliche Belange können ein in Aufstellung befindliches Ziel der Raumordnung,485 das Ergebnis eines Raumordnungsverfahrens486 und eine bislang legal ausgeübte Nutzung sein.487 Die Feststellung, ob öffentliche Belange einem Vorhaben iSd § 35 I BauGB entgegenstehen 141 oder durch ein Vorhaben iSd § 35 II BauGB beeinträchtigt werden, erfordert eine Gegenüberstellung des Vorhabens mit den berührten Belangen und kommt nicht ohne Wertungen aus. Die Normanwendung weist damit abwägungsähnliche Strukturen auf,488 ist aber Rechtsanwendung und daher auch gerichtlich uneingeschränkt überprüfbar.489 Die sprachliche Differenzierung zwischen Abs 1 („entgegenstehen“) und Abs 2 („beeinträchtigen“) bringt zum Ausdruck, dass privilegierte Vorhaben nach der Vorstellung des Gesetzes gerade vorzugsweise im Außenbereich durchgeführt werden sollen. Das ist bei der Normanwendung zu berücksichtigen.490 Stehen öffentliche Belange dem Vorhaben nicht entgegen bzw sind diese nicht beeinträchtigt, besteht ein Rechtsanspruch auf die Genehmigung. Aus Gründen des Grundrechtsschutzes (Rn 30) gilt dies – entgegen dem Wortlaut von § 35 II BauGB („können“) – auch für die Zulässigkeit „sonstiger Vorhaben“.491 § 35 IV BauGB ordnet an, dass bestimmte öffentliche Belange (Widerspruch gegen Darstel142 lungen des Flächennutzungs- oder eines Landschaftsplans, Beeinträchtigung der natürlichen Eigenart der Landschaft, Splittersiedlung) gesetzlich näher bestimmten sonstigen Vorhaben iSd

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483 Zu Konzentrationsflächen, deren Ausschlusswirkung und deren Bindungskraft einer Inhalts- und Schrankenbestimmung sowie deren Vereinbarkeit mit Art 14 I GG BVerwGE 117, 287 ff o JK BauGB § 35/3; E 118, 33, 42 ff; E 122, 109, 113 f; NVwZ 2006, 339 f. Speziell zu Konzentrationsflächen für Windkraftanlagen Schmehl Jura 2010, 832 ff; Scheidler ZfBR 2009, 750 ff; vgl auch Regenfus Jura 2007, 279, 280 f. Unzulässig ist die Festsetzung von Konzentrationsflächen für Windenergieanlagen auf dafür ungeeigneten Flächen, um durch die Ausschlusswirkung des § 35 III 3 BauGB den Bau von Windenergieanlagen zu vermeiden („Verhinderungsplanung“), BVerwG NVwZ 2008, 559 ff. 484 BVerwGE 117, 25 ff o JK BauGB § 35/2 m Anm Uechtritz NVwZ 2003, 176 ff; Wurzel/Probst DVBl 2003, 197 ff; Nickel/Kopf UPR 2003, 22 ff; BVerwG BauR 2005, 832 f. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein interkommunaler Abstimmungsbedarf iSd § 2 II BauGB besteht, BVerwGE 117, 25, 32 f o JK BauGB § 35/2. Vgl auch Hornmann NVwZ 2006, 969, 971 zu den ungeschriebenen öffentlichen Belangen. 485 Vgl §§ 4 I 1, II, 3 I Nr 4 ROG. Dazu BVerwGE 122, 364 ff; E 137, 247 ff. 486 Das ergibt sich für raumbedeutsame Maßnamen unmittelbar aus §§ 4 I 1, II, 3 I Nr 4 ROG und nicht etwa aus § 35 III 2, wie in BVerwG ZfBR 2009, 57 angenommen wird. 487 Vgl BVerwG NVwZ 2005, 328 f. 488 Sie wurde früher – auch in der 11. Aufl Rn 136 – durchweg als „Abwägung“ bezeichnet. Vgl BVerwGE 28, 148, 150; E 28, 268, 274; Krautzberger (Fn 52) § 35 Rn 45 ff. Das BVerwG spricht inzwischen von einer sog „nachvollziehenden Abwägung“ iSe „konkretisierenden Rechtsanwendung“, BVerwGE 115, 17, 24 ff; E 117, 287, 302 o JK BauGB § 35/3; E 124, 132, 142 f. 489 BVerwGE 115, 17, 24; Brohm (Fn 66) § 21 Rn 18 mwN. 490 In der Entscheidung BVerwGE 68, 311, 314 f o JK BBauG § 35/2 betont das Gericht, der Gesetzgeber gehe zwar von der generellen Zulässigkeit der privilegierten Vorhaben im Außenbereich aus, er habe aber die Frage des konkreten Standorts privilegierter Vorhaben nicht „planartig“ entschieden, sondern der Prüfung am Maßstab öffentlicher Belange unterworfen. Auch für privilegierte Vorhaben gelte das Gebot größtmöglicher Schonung des Außenbereichs. Das kommt nun auch in § 35 V 1 BauGB zum Ausdruck. Vgl ferner SächsOVG SächsVBl 2000, 244, 245 f. 491 BVerwGE 18, 247, 250 f; Söfker (Fn 98) § 35 Rn 73; aA Ortloff NVwZ 1988, 320 ff. Der Anspruch besteht allerdings nur, wenn dem Vorhaben die §§ 14–17 BNatSchG nicht entgegenstehen. Sie finden – im Gegensatz zu Vorhaben im Geltungsbereich eines Bebauungsplans oder innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils – auf Vorhaben im Außenbereich uneingeschränkt Anwendung, vgl § 18 II 2 BNatSchG. Dazu Rieger UPR 2012, 1, 2 f. Auch dürfen sonstige Vorschriften nicht entgegenstehen, § 29 II BauGB. Das gilt insbes gem § 35 III 2 BauGB auch für Ziele der Raumordnung, die – soweit sie inhaltlich hinreichend konkretisiert sind – auch privilegierten Vorhaben unüberwindbar entgegenstehen. Vgl dazu o Rn 39 sowie Rn 140 m Fn 480 und 483.

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§ 35 II BauGB nicht entgegengehalten werden dürfen, soweit diese im Übrigen außenbereichsverträglich sind. § 35 IV 1 Nr 1 BauGB betrifft zB den Fall, dass ein vorhandenes, wegen landwirtschaftlicher Nutzung privilegiertes Gebäude durch Nutzungsänderung entprivilegiert werden soll. Lässt der Flächennutzungsplan die angestrebte Nutzung nicht zu, wäre das Vorhaben grds gem § 35 II, III BauGB unzulässig. Unter den Voraussetzungen des § 35 IV 1 Nr 1 BauGB ist dieser Belang jedoch nicht zu berücksichtigen. In gleicher Weise erleichtern § 35 IV 1 Nr 2–6 BauGB die Zulässigkeit bestimmter Ersatz- und Erweiterungsbauten. Die Norm begünstigt auf diese Weise die Zulassung bestimmter Vorhaben iSd § 35 II BauGB, indem diese sich nicht an den genannten Belangen messen lassen müssen. Auch im Außenbereich können sich im Laufe der Zeit gewachsene Siedlungsstrukturen entwickeln. Neue, nicht privilegierte Vorhaben sind dort allerdings häufig unzulässig, weil sie idR öffentliche Belange beeinträchtigen. Will die Gemeinde die Zulassung derartiger Vorhaben einerseits erleichtern, ist aber andererseits die Aufstellung eines Bebauungsplans nach ihrer städtebaulichen Konzeption nicht erforderlich (vgl § 1 III BauGB, Rn 90 f), kann sie nach Maßgabe des § 35 VI BauGB eine Außenbereichssatzung492 erlassen. Durch sie wird bestimmt, dass Wohnzwecken dienenden, nicht privilegierten Vorhaben nicht entgegengehalten werden kann, dass sie einer Darstellung im Flächennutzungsplan über Flächen für die Landwirtschaft oder Wald widersprechen oder die Entstehung oder Verfestigung einer Splittersiedlung befürchten lassen. Diese Rechtsfolge kann die Gemeinde gem § 35 VI 2 BauGB auf Vorhaben erstrecken, die kleineren Handwerks- oder Gewerbebetrieben dienen. § 35 VI 4–7 BauGB regeln die Voraussetzungen und das Verfahren der Aufstellung der Satzungen.

e) Zulässigkeit von Vorhaben aufgrund besonderen Grundrechtsschutzes? Baufreiheit ist die durch grundrechtskonforme Rechtsregelungen eingeräumte Befugnis zur bau- 143 lichen Nutzung des Grundeigentums.493 Die so erworbene Rechtsposition genießt den Grundrechtsschutz des Art 14 I GG.494 Das bedeutet, dass in ihren Bestand nur nach Maßgabe der Art 14 I, III GG eingegriffen werden darf. Deshalb kann zB die Beseitigung (Rn 225 ff) einer rechtmäßig errichteten baulichen Anlage nicht allein mit der Begründung angeordnet werden, sie widerspreche zwischenzeitlich geändertem Planungsrecht und sei insofern planungsrechtlich unzulässig495 („passiver Bestandsschutz“). Es fragt sich, ob darüber hinaus die verfassungsrechtliche Sicherung des status quo auch zu unmittelbar aus Art 14 I GG abzuleitenden Ansprüchen auf die Zulassung von Vorhaben führen kann. Davon ging jedenfalls im Ergebnis die frühere Rechtsprechung des BVerwG aus.496 Danach sollten zum einen bauliche Maßnahmen zur Erhaltung und zeitgemäßen Nutzung einer rechtmäßig errichteten baulichen Anlage auch dann zulässig sein, wenn sie im Widerspruch zum einfachgesetzlichen Planungsrecht standen („aktiver Bestandsschutz“).497 Bedurften vorhandene Anlagen zur Wahrung ihrer Funktionsfähigkeit baulicher Änderungen, Erweiterungen oder Nutzungsänderungen, hielt die Rechtsprechung diese aufgrund

_____ 492 Dazu BVerwGE 126, 233 ff; Krautzberger (Fn 52) § 35 Rn 117 ff. 493 Zur – umstrittenen – Konzeption des Art 14 I GG vgl o Rn 27 ff. 494 Dazu Lege ZJS 2012, 44, 45. 495 Vgl BVerwGE 72, 362, 363 o JK GG Art 14 I/23: „Der Bestandsschutz berechtigt …, eine rechtmäßig errichtete bauliche Anlage in ihrem Bestand zu erhalten und sie wie bisher zu nutzen“. Zu der Frage, wann diese Berechtigung – insbes bei zwischenzeitlicher Nutzungsaufgabe – endet, BVerwGE 98, 235, 240 f; NVwZ 2001, 557, 558; OVG NW BauR 1997, 811 ff; OVG SH NordÖR 2001, 180 f. Vgl dazu, dass bei genehmigten baulichen Anlagen dieser Schutz auch der Regelung der Baugenehmigung entnommen werden kann, u Rn 228 sowie Uechtritz DVBl 1997, 347, 347. 496 Zu Nutzungsansprüchen aus „Bestandsschutz“: BVerwGE 27, 341, 343 f; E 50, 49, 55 ff; E 72, 362, 363 o JK GG Art 14 I/1. Zu Nutzungsansprüchen aus „eigentumskräftig verfestigter Anspruchsposition“: BVerwGE 26, 111, 117 ff; E 27, 341, 342 ff; E 47, 126, 130 ff; E 49, 365, 371 f. 497 BVerwGE 47, 126, 128 f; E 72, 362, 363 o JK GG Art 14 I/1.

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des sog überwirkenden Bestandsschutzes auch entgegen dem einfachgesetzlichen Planungsrecht für zulässig.498 War ein Grundstück einmal legal baureifes Bauland gewesen, konnte schließlich auch bei späterem Verlust dieser Eigenschaft499 aus Art 14 I GG ein Bebauungsanspruch bestehen. „Eine derart eigentumskräftig verfestigte Anspruchsposition setzt zweierlei voraus, nämlich erstens, daß überhaupt irgendwann ein Anspruch auf die Zulassung der Bebauung entstanden ist, und zweitens, daß dieser Anspruch nach Art 14 Abs. 1 GG gegen eine entschädigungslose Entziehung geschützt, also mit anderen Worten ‚Eigentum‘ im Sinne der Vorschrift geworden ist“.500 Das sollte der Fall sein, wenn sich nach „der Verkehrsauffassung aus der gegebenen Situation die Bebaubarkeit eines Grundstücks aufdrängt“.501 Dergestalt konnte zB der einfachgesetzlichem Planungsrecht widersprechende Ersatzbau eines zerstörten, nach früherem Planungsrecht aber rechtmäßig errichteten Bauwerks zulässig sein.502 Das BVerwG entwickelte diese Rechtsprechung unter der Geltung früherer Fassungen der 144 §§ 30 ff BauGB bzw BBauG. Der ihr zugrundeliegende Gedanke fand später in §§ 34 III, 35 IV BauGB aF sowie in § 4 II, III BauGBMaßnG Ausdruck.503 Das BVerwG hat daraufhin seine Rechtsprechung geändert504 und entschieden: „Die Fallgruppen, für die der Anspruch aus ‚eigentumskräftig verfestigter Anspruchsposition‘ ursprünglich gedacht war, hat der Gesetzgeber inzwischen normiert. Das gilt insbesondere für den Fall des Wiederaufbaus nach Brandzerstörung (vgl. § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr 3 BauGB). Fälle nicht ausgenutzter Baulandqualität von Grundstücken sind vom Planschadensrecht (nunmehr §§ 39 ff. BauGB) erfaßt; weitergehende Ansprüche bestehen nicht. Im übrigen lassen sich im beplanten und unbeplanten Innenbereich mit Hilfe der §§ 31, 34 Abs. 2 und 3 BauGB angemessene Ergebnisse erreichen“.505 „Im Anwendungsbereich“ des § 34 III 1 Nr 2 BauGB aF506 sowie im Außenbereich507 hat das Gericht darüber hinaus zumindest den Rückgriff auf einen grundrechtlich begründeten „überwirkenden Bestandsschutz“ für ausgeschlossen508 gehalten und zudem formuliert, dass „ein Bestandsschutz, soweit damit eine eigenständige Anspruchsgrundlage gemeint sein soll, zu verneinen ist, wenn eine gesetzliche Regelung vorhanden ist“.509

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498 BVerwGE 49, 365, 370; E 50, 49, 56; E 72, 362, 364 o JK GG Art 14 I/1. 499 In einem beplanten Gebiet kann die Baulandeigenschaft durch Bebauungsplanänderung oder -aufhebung verloren gehen. Im nicht qualifiziert beplanten Innenbereich kann ein Grundstück seine Baulandeigenschaft durch eine tatsächliche Veränderung der Umgebung oder durch Neufassung der gesetzlichen Zulassungstatbestände verlieren. Im Außenbereich verliert ein Grundstück seine Baulandeigenschaft ebenfalls bei entsprechender Änderung der gesetzlichen Zulassungstatbestände. 500 BVerwGE 26, 111, 117 f, Hervorhebung nicht im Original. 501 BVerwGE 47, 126, 131; vgl auch BVerwGE 49, 365, 372; E 67, 84, 92. 502 Vgl BVerwGE 47, 126, 131. Dazu nunmehr § 35 IV 1 Nr 3 BauGB und u Rn 146. 503 § 34 III BauGB aF lautete: „Nach den Absätzen 1 und 2 unzulässige Erweiterungen, Änderungen, Nutzungsänderungen und Erneuerungen von zulässigerweise errichteten baulichen und sonstigen Anlagen können im Einzelfall zugelassen werden, wenn 1. die Zulässigkeit aus Gründen des Wohls der Allgemeinheit erforderlich ist oder 2. das Vorhaben einem Betrieb dient und städtebaulich vertretbar ist …“. § 4 II BauGBMaßnG erstreckte diese Möglichkeit auf Wohngebäude. § 35 IV BauGB aF (1998) und § 4 III BauGBMaßnG erfassten zusammen im Wesentlichen dieselben Fallgruppen wie § 35 IV BauGB. Zur Entstehungsgeschichte vgl nur Söfker (Fn 98) Rn 131. 504 Vgl aus der Diskussion dieser Rspr in der Lit zB Wahl FS Redeker, 1993, 245 ff; Uechtritz FS Gelzer, 1991, 259 ff; Fickert FS Weyreuther, 1993, 327 ff; Sieckmann NVwZ 1997, 853 ff; Hoppe/Krane FS 100 Jahre Allg Baugesetz Sachsen, 2000, 389 ff. 505 BVerwGE 85, 289, 294. Vgl ferner BVerwGE 106, 228, 233 ff mwN. Zu dieser Entscheidung vgl Aichele/Herr NVwZ 2003, 415 ff. 506 BVerwGE 84, 322, 344; NVwZ 1999, 523, 524 f. Dem zust zB Söfker (Fn 98) § 34 Rn 87c. 507 BVerwG ZfBR 1991, 83, 85; ZfBR 1991, 221, 224; BayVGH BayVBl 1996, 87, 87. Diese Rspr hat das BVerwG für § 35 BauGB in einer späteren Fassung bestätigt, BVerwGE 106, 228, 235 f. 508 In der Entscheidung BVerwG DVBl 1993, 1097, 1098 ließ das Gericht noch offen, ob es im Übrigen an der Figur des Nutzungsanspruchs aufgrund „überwirkenden Bestandsschutzes“ festhält. 509 BVerwGE 88, 191, 203 mit Bezug auf eine bauordnungsrechtliche Vorschrift.

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Im Grundsatz ist mit dem BVerwG davon auszugehen, dass eine vorhandene verfassungs- 145 konforme gesetzliche Regelung über die bauliche Nutzung eines Grundstücks den unmittelbaren Rückgriff auf die Grundrechte verwehrt.510 Wann in den hier angesprochenen Fallgestaltungen der Rückgriff unmittelbar auf Art 14 I GG ausgeschlossen ist, hängt zunächst davon ab, inwieweit die planungsrechtlichen Zulässigkeitstatbestände abschließend sind, also auch die Fälle regeln, in denen ein Grundeigentümer bereits zuvor eine als Eigentum grundrechtlich geschützte Nutzungsbefugnis erworben hat. Stellen sich die §§ 30 ff BauGB als in dieser Weise abschließend konzipiert heraus, ist zu fragen, ob die durch sie dann uU bewirkte Beeinträchtigung von zuvor entstandener grundrechtlicher Freiheit den Anforderungen des Art 14 I, III GG standhält. Soweit das der Fall ist, sind die Zulassungstatbestände als abschließend zu verstehen. Soweit das allerdings nicht der Fall ist, sind sie verfassungskonform als nicht abschließend auszulegen. Mustert man die §§ 30 ff BauGB vor diesem Hintergrund, stellt man fest, dass § 35 IV BauGB 146 für die angesprochenen Konstellationen im Außenbereich eine ausdrückliche und differenzierte Regelung enthält (Rn 142). Sie dürfte abschließend511 und aus Sicht des Art 14 I GG nicht zu beanstanden sein. Im Übrigen fehlen entsprechende Regelungen. Durch den durch das BauROG 1998 erfolgten Wegfall des § 34 III BauGB aF war zwar eine gesetzliche Regelung für die Fallgruppen des „Bestandsschutzes“ und der „eigentumskräftig verfestigten Anspruchsposition“ im Bereich des § 34 BauGB entfallen. Man durfte gleichwohl nicht annehmen, der Gesetzgeber habe entsprechende Zulassungsansprüche abschließend ausschließen wollen.512 Daher ist insofern der unmittelbare Rückgriff auf Art 14 I GG zulässig, soweit es sich nicht um Fallgestaltungen handelt, die nunmehr von § 34 IIIa BauGB geregelt sind. Im Hinblick auf qualifiziert beplante Gebiete hängt die Einschätzung der gesetzlichen Regelungen als abschließend ua davon ab, ob man meint, dass die in den angesprochenen Fallgestaltungen beeinträchtigten, grundrechtlich geschützten Nutzungsbefugnisse durch die Befreiungsmöglichkeiten des § 31 II BauGB (Rn 133) sowie das Planschadensrecht (Rn 187 ff) hinreichend iSd Art 14 I, III GG berücksichtigt sind.

f) Ausnahmen Die Zulassungstatbestände der §§ 30, 34, 35 BauGB gelten nicht in vollem Umfang bzw nicht 147 ausnahmslos für alle Vorhaben. § 37 BauGB ermöglicht für näher bestimmte bauliche Maßnahmen des Bundes und der Länder Abweichungen von den planungsrechtlichen Anforderungen.513 § 38 BauGB enthält für Planfeststellungs- und -genehmigungsverfahren für Vorhaben von überörtlicher Bedeutung sowie für Verfahren für die Errichtung und den Betrieb von öffentlich zugänglichen Abfallbeseitigungsanlagen nach dem BImSchG eine Freistellung von der Anwendung der §§ 29–37 BauGB (sog privilegierte Fachplanungen).514 Städtebauliche Belange sind in diesen Verfahren lediglich zu berücksichtigen (Rn 39, 103). Da Vorhaben, über deren Zulässigkeit in

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510 Zu der Frage, ob sich im Einzelfall ein über die §§ 30 ff BauGB hinausgehender Bebauungsanspruch aus Art 5 III GG – Kunstfreiheit – ergeben kann, BVerwG DVBl 1993, 1008 ff. Dazu auch Brohm JuS 1999, 1097, 1102 mwN. 511 Vgl dazu auch BVerwGE 120, 130, 137. AA zu § 35 IV BauGB Sieckmann NVwZ 1997, 853, 856 f. Vgl o Fn 507. 512 Für diese Sicht spricht auch die Entstehungsgeschichte der Neufassung des § 34 BauGB durch das BauROG. Die Begr zu § 34 des Entw der BReg (Fn 133) ging davon aus, dass gleichzeitig mit dem BauGB auch die BauNVO novelliert würde. Die beabsichtigten Änderungen der BauNVO hätten zu einer erheblichen Erleichterung bei der Zulassung von Vorhaben in den hier angesprochenen Konstellationen geführt. Angesichts der zudem erleichterten Befreiungsmöglichkeit nach § 31 II BauGB hielt man die Beibehaltung der Regelung des § 34 III BauGB nicht für notwendig. AA zB Hoppe/Krane FS 100 Jahre Allg Baugesetz Sachsen, 2000, 389, 407 sowie Gehrke/Brehsan NVwZ 1999, 932, 936, die für die Wiedererrichtung von Gebäuden im Innenbereich stattdessen vorschlagen, eine Prägung der Umgebung durch den zerstörten Altbestand anzunehmen, so dass sich der Ersatzbau in diese iSd § 34 I BauGB einfügt. 513 Dazu Ritgen DÖV 1997, 1034 ff; Mampel UPR 2002, 92 ff. 514 Vgl dazu schon o Rn 103 m Fn 362 sowie Lasotta DVBl 1998, 255 ff.

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den genannten Verfahren entschieden wird, keiner – zusätzlichen – Baugenehmigung bedürfen, bedeutet das, dass sie auch entgegen den §§ 29 ff BauGB errichtet werden können.

4. Instrumente und Maßnahmen zur Verwirklichung und Sicherung der Bauleitplanung 148 Bauleitplanung ist als Zielprogramm der städtebaulichen Entwicklung darauf angelegt, durch plankonforme Nutzung des beplanten Gebiets verwirklicht zu werden. Diesem Ziel dienen einige vom BauGB den Gemeinden und zuständigen Behörden zur Verfügung gestellte Maßnahmen und Instrumente. Sie sind überwiegend im Ersten Kapitel des BauGB (Allgemeines Städtebaurecht) geregelt. Ergänzend treten Regelungen aus dem Zweiten Kapitel (Besonderes Städtebaurecht) hinzu.

a) Veränderungssperre und Zurückstellung von Baugesuchen 149 Vor Inkrafttreten eines Bebauungsplans besteht die Gefahr, dass die Verwirklichung der Planungsabsichten der Gemeinde durch tatsächliche bauliche Maßnahmen unmöglich oder erschwert wird. Dem sollen die Veränderungssperre und die Zurückstellung von Baugesuchen entgegenwirken. Die Veränderungssperre enthält, zeitlich befristet, abstrakte Verbotstatbestände für Bauvorhaben iSd § 29 BauGB (§ 14 I Nr 1 BauGB) sowie für näher bestimmte Veränderungen von Grundstücken oder baulichen Anlagen (§ 14 I Nr 2 BauGB). Die Zurückstellung von Baugesuchen bewirkt bei genehmigungsbedürftigen Vorhaben eine zeitlich befristete Aussetzung des Baugenehmigungsverfahrens bzw sonst eine zeitlich befristete, vorläufige Untersagung des Vorhabens im konkreten Fall. Der Anwendungsbereich beider Instrumente überschneidet sich, ist aber nicht deckungsgleich. Als Instrumente zur Sicherung der gemeindlichen Planung setzen sowohl die Veränderungssperre als auch die Zurückstellung von Baugesuchen nach § 15 I BauGB voraus, dass die Gemeinde gem § 2 I 2 BauGB für das betreffende Gebiet einen förmlichen Beschluss über die Aufstellung eines Bebauungsplans gefasst hat (§§ 14 I, 15 I BauGB). Es ist nicht erforderlich, dass der Aufstellungsbeschluss selbst bereits Aussagen über die beabsichtigte Planung enthält; allerdings muss die Planung insgesamt einen Stand erreicht haben, „der ein Mindestmaß dessen erkennen läßt, was Inhalt des zu erwartenden Bebauungsplans sein soll“.515 Die Zurückstellung von Baugesuchen nach § 15 III BauGB516 dient ebenfalls der Sicherung der gemeindlichen Planung und setzt voraus, dass die Gemeinde beschlossen hat, einen Flächennutzungsplan aufzustellen, zu ändern oder zu ergänzen. Die Veränderungssperre wird nach § 16 I BauGB als Satzung beschlossen. Ihre Geltung ist 150 nach § 17 I 1 BauGB zunächst auf zwei Jahre befristet;517 die Gemeinde kann die Frist bis zu zweimal um jeweils ein Jahr verlängern (§ 17 I 3, II BauGB) und dann erneut beschließen, wenn die Voraussetzungen für den Erlass fortbestehen (§ 17 III BauGB).518 In jedem Fall tritt die Veränderungssperre außer Kraft, sobald und soweit die Bauleitplanung rechtsverbindlich abgeschlossen ist (§ 17 V BauGB).519 Die Zurückstellung von Baugesuchen erfolgt durch die Bauaufsichtsbehörde und ist ein Verwaltungsakt. Sie dient der Sicherung der Planungshoheit der Gemeinde,

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515 BVerwGE 51, 121, 128; E 120, 138, 146 f o JK BauGB 14/2, dazu Graf NVwZ 2004, 1435 ff; Hager/Kirchberg NVwZ 2002, 400, 401 f. Vgl auch SächsOVG SächsVBl 2000, 193, 195; VGH BW VBlBW 2002, 200, 200. Zum Bestimmtheitserfordernis hinsichtlich des Plangebiets ThürOVG NVwZ-RR 2002, 415, 416 f o JK BauGB § 14/1. 516 Dazu Hinsch NVwZ 2007, 770 ff. 517 Zu Einzelfragen der Fristberechnung Bielenberg/Stock in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 17 Rn 8 ff; Hager/Kirchberg NVwZ 2002, 400, 403 ff. Zu Besonderheiten in den Stadtstaaten § 246 I, II BauGB. 518 Dazu zB BVerwG NVwZ 1993, 474, 474 f; NdsOVG NVwZ-RR 2002, 417 ff. 519 Die Veränderungssperre lebt auch nicht wieder auf, wenn der Bebauungsplan gerichtlich für unwirksam erklärt wird, vielmehr muss sie nach § 14 I BauGB neu beschlossen werden, BVerwG NVwZ 2007, 954 f.

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ist also kein Ausfluss eigener Entscheidungsbefugnisse der Bauaufsichtsbehörde. Sie erfolgt aufgrund eines entsprechenden Antrags der Gemeinde, dem die Behörde stattzugeben hat (§ 15 I bzw III BauGB), wenn die gesetzlichen Voraussetzungen des § 15 I oder III BauGB vorliegen. Die Zurückstellung von Baugesuchen ist zeitlich (§ 15 I bzw III BauGB) befristet. Inhaltlich enthält die Veränderungssperre das Verbot, die in § 14 I BauGB näher bezeichne- 151 ten Vorhaben durchzuführen. Soweit kein Ausnahmetatbestand (§ 14 II-IV BauGB) vorliegt, ist während ihrer Geltungsdauer die Verwirklichung der entsprechenden Vorhaben planungsrechtlich unzulässig. Die Zurückstellung von Baugesuchen hat demgegenüber keinen Einfluss auf die materiell-rechtliche Zulässigkeit des Vorhabens.520 Sie löst lediglich dem Baubeginn, der Nutzungsänderung etc entgegenstehende Verfahrenshindernisse aus, die mit Fristablauf automatisch entfallen. Zulässige Veränderungssperren und Zurückstellungen von Baugesuchen sind rechtmäßige 152 Eigentumsbeeinträchtigungen, die prinzipiell entschädigungslos hinzunehmen sind. Wird die Veränderungssperre über einen Zeitraum von mehr als vier Jahren hinaus aufrechterhalten, ist den Betroffenen gem § 18 I BauGB eine Entschädigung zu leisten, die zT als Enteignungsentschädigung (Art 14 III GG) angesehen wird.521 Fraglich ist, welche Rechtsfolgen rechtswidrige Veränderungssperren oder Zurückstellungen von Baugesuchen auslösen522 und ob sie – wie auch andere sog faktische Bausperren523– als enteignungsgleiche Eingriffe Entschädigungsansprüche begründen.524 Faktische Bausperren sind – soweit rechtswidrig – keine Enteignungen iSd Art 14 III GG, sondern rechtswidrige Beeinträchtigungen des Grundrechts aus Art 14 I GG. Als Abwehrrecht räumt Art 14 I GG bei einer rechtswidrigen Beeinträchtigung, also bei einer Grundrechtsverletzung Abwehransprüche ein, die mit Hilfe des Primärrechtsschutzes (zB einer Verpflichtungsklage auf Erlass einer Baugenehmigung) gerichtlich durchzusetzen sind.525 Nur soweit der Primärrechtsschutz die Eigentumsminderung nicht zu kompensieren vermag, kommt ein Rückgriff auf den enteignungsgleichen Eingriff in Betracht.526 Gleiches gilt, wenn die Inanspruchnahme des Primärrechtsschutzes für den Betroffenen nicht zumutbar527 war.528

b) Grundstücksteilung Die Teilung von Grundstücken im Geltungsbereich eines Bebauungsplans birgt die Gefahr einer 153 Durchkreuzung der im Plan zum Ausdruck gekommenen planerischen Vorstellungen. Die in § 19 I BauGB legal definierte Grundstücksteilung ist gleichwohl529 grds genehmigungsfrei. § 19 II BauGB bestimmt aber, dass durch die Teilung eines Grundstücks im Geltungsbereich eines Bebauungsplans keine Verhältnisse entstehen dürfen, die den Festsetzungen des Bebauungsplans widersprechen.530

_____ 520 BVerwG DÖV 1972, 497, 498. 521 ZB Friauf (Fn 3) 538. Vgl auch Breuer in: H. Schrödter, BauGB, § 18 Rn 1 ff. Zu § 18 I 1 BauGB als „selbstständige andere Veränderungssperre“ Schäling NVwZ 2003, 149 ff. 522 Die Frage stellt sich ähnlich bei rechtswidrig verzögerter Behandlung oder rechtswidriger Ablehnung von Bauanträgen sowie bei von der Behörde rechtswidrig verhinderten Bauanträgen. 523 Zu den verschiedenen faktischen Bausperren Hager/Kirchberg NVwZ 2002, 538, 540 f; Grabe BauR 1999, 1419, 1419 ff; Berkemann FS Weyreuther, 1993, 389 ff. 524 In diesem Sinne Hager/Kirchberg NVwZ 2002, 538, 541; Nüßgens/Boujong Eigentum, Sozialbindung, Enteignung, 1987, Rn 165 ff mwN. 525 BVerfGE 58, 300, 320, 324 o JK GG Art 14 I 2/13. 526 Kreft FS Geiger, 1989, 399, 413; vgl auch Maurer AllgVwR § 27 Rn 20 ff. 527 Vgl BGHZ 90, 17, 31 f o JK GG Art 14/20; E 91, 20, 24; Bielenberg (Fn 273) § 18 Rn 26. 528 Daneben kommen Ansprüche aus Amtshaftung in Betracht, dazu Hager/Kirchberg NVwZ 2002, 538, 541. 529 Sie war nach § 20 BauGB aF genehmigungspflichtig. Zur Begründung der Abschaffung der Genehmigungspflicht vgl BT-Drs 15/2250 S 32. 530 Vgl zur Neuregelung durch das EAG Bau Finkelnburg NVwZ 2004, 897, 902.

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Eine bauordnungsrechtliche Teilungsgenehmigung kann allerdings landesrechtlich eingeführt werden.531 Grundstücksteilungen in Umlegungsgebieten (§ 51 I 1 Nr 1 BauGB), städtebaulichen Sanie154 rungsgebieten (§ 144 II Nr 5 BauGB) und Entwicklungsbereichen (§ 169 I Nr 3 iVm § 144 II Nr 5 BauGB) bedürfen allerdings einer Genehmigung. Diese Normen sind leges speciales zu § 19 BauGB. 155 Der Sicherung von Gebieten mit Fremdenverkehrsfunktionen dient § 22 BauGB. Danach können die Gemeinden, die oder deren Teile überwiegend durch den Fremdenverkehr geprägt sind, durch Bebauungsplan oder sonstige Satzung bestimmen, dass die Begründung oder Teilung von Wohnungseigentum oder Teileigentum einem Genehmigungsvorbehalt unterliegt. Das soll den Gemeinden helfen, dem Problem der schleichenden Umstrukturierung von Fremdenverkehrsgemeinden durch eine überhandnehmende Vermehrung von Zweitwohnungen wirksam zu begegnen.532, 533

c) Gemeindliche Vorkaufsrechte 156 Das BauGB räumt den Gemeinden zwei Arten von Vorkaufsrechten ein. Nach § 24 I BauGB besteht ein gesetzliches Vorkaufsrecht („Allgemeines Vorkaufsrecht“) an Grundstücken, die in den von § 24 I 1 Nr 1–7 BauGB näher bezeichneten Gebieten liegen. Betroffen sind zB Grundstücke „im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, soweit es sich um Flächen handelt, für die nach dem Bebauungsplan eine Nutzung für öffentliche Zwecke534 oder für Flächen oder Maßnahmen zum Ausgleich im Sinne des § 1a Abs. 3535 festgesetzt ist“ (§ 24 I 1 Nr 1 BauGB). Die „Besonderen Vorkaufsrechte“ werden gem § 25 I 1 Nr 1, 2 BauGB durch Satzung begründet, zB im Geltungsbereich eines Bebauungsplans an unbebauten Grundstücken. Die Vorkaufsrechte bestehen nur an Grundstücken, nicht an Wohnungseigentum oder Erbbaurechten (§§ 24 II, 25 II 1 BauGB). Durch das Vorkaufsrecht entsteht ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis zwischen der 157 Gemeinde und dem Grundstückseigentümer.536 Konsequenterweise wird das öffentlich-rechtliche Vorkaufsrecht durch Verwaltungsakt ausgeübt (§ 28 II 1 BauGB). Dieser Verwaltungsakt hat privatrechtsgestaltende Wirkungen, die sich nach den einschlägigen bürgerlich-rechtlichen Vorschriften bestimmen (§ 28 II 2 BauGB). Durch die Ausübung des Vorkaufsrechts537 kommt ein privatrechtlicher Kaufvertrag538 zwischen der Gemeinde539 und dem Verpflichteten, dh dem Verkäufer, zustande, und zwar „unter den Bestimmungen …, welche der Verpflichtete mit dem Dritten vereinbart hat“ (§ 464 II BGB). Damit bemisst sich prinzipiell auch der Kaufpreis nach der Vereinbarung zwischen den ursprünglichen Vertragsparteien. In Bezug auf die Kaufpreisgestaltung bestehen allerdings Ausnahmen. § 28 IV BauGB betrifft den Fall, in dem die Gemeinde ein Vorkaufsrecht gem § 24 I 1 Nr 1 BauGB ausübt, also im Hinblick auf ein Grundstück, das im Gel-

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531 Finkelnburg NVwZ 2004, 897, 902. Davon haben bisher Gebrauch gemacht: § 4 III BauO Bbg; § 8 BauO NW. 532 Vgl dazu Greiving DVBl 2001, 336, 336 f sowie Kraft in: Schlichter/Stich/Driehaus/Paetow, Berliner Kommentar, § 22 Rn 1. 533 Durch das EAG Bau wurde § 22 BauGB ua deshalb geändert, um in Fällen, in denen die Gemeinde von der Ermächtigung zum Erlass der Satzung keinen Gebrauch gemacht hat, das Grundbuchverfahren zu erleichtern und das Negativzeugnis entbehrlich zu machen, vgl BT-Drs 15/225 S 52 f. 534 ZB Verkehrs- oder Grünflächen, Versorgungs- oder Entsorgungsflächen. 535 Dazu o Rn 104, 86. 536 Vgl Oldiges (Fn 53) Rn 259; Bönker (Fn 335) § 10 Rn 63 ff. 537 Das Vorkaufsrecht darf nur ausgeübt werden, wenn das Wohl der Allgemeinheit dies rechtfertigt, § 24 III 1 BauGB. Das ist nur dann der Fall, wenn die Gemeinde ihre städtebaulichen Ziele zeitnah verwirklichen kann, BVerwG NVwZ 2010, 593 f. 538 Zu seiner Abwicklung Grziwotz NVwZ 1994, 215 ff. 539 Ausnahmsweise kommt der Vertrag zwischen dem Verpflichteten und einem Dritten zustande, wenn die Gemeinde das Vorkaufsrecht nach Maßgabe des § 27a BauGB zugunsten eines Dritten ausübt.

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tungsbereich eines Bebauungsplans liegt und dort für öffentliche Zwecke oder für Ausgleichsflächen oder -maßnahmen iSd Naturschutzrechts vorgesehen ist. Könnte das Grundstück auch enteignet werden, richtet sich der Kaufpreis nach dem enteignungsrechtlichen Entschädigungswert (Rn 171). Eine weitere Ausnahme enthält § 28 III BauGB. Danach bemisst sich der von der Gemeinde zu zahlende Betrag abweichend von § 28 II 2 BauGB nach dem Verkehrswert des Grundstücks (§ 194 BauGB), wenn der vereinbarte Kaufpreis den Verkehrswert „in einer dem Rechtsverkehr erkennbaren Weise deutlich überschreitet“. Dem Verkäufer steht dann allerdings das Recht zu, innerhalb einer näher bestimmten Frist vom Vertrag zurückzutreten (§ 28 III 2 BauGB), wodurch das Vorkaufsrecht gegenstandslos wird. § 26 BauGB regelt den Ausschluss des Vorkaufsrechts ua zugunsten gesetzlich privilegierter 158 Käufer (§ 26 Nr 1, 2 BauGB) oder zB für den Fall, dass das Grundstück entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans genutzt wird (§ 26 Nr 4 BauGB). Darüber hinaus hat der Käufer die Möglichkeit der Abwendung des Vorkaufsrechts, wenn er sich verpflichtet, das Grundstück entsprechend den städtebaurechtlichen Bestimmungen und städtebaulichen Belangen zu verwenden; § 27 BauGB trifft dazu eine nähere Regelung. Schließlich kann die Gemeinde nach § 28 V BauGB durch öffentliche Erklärung für das ganze Gemeindegebiet oder sämtliche Grundstücke einer Gemarkung auf die Ausübung des Vorkaufsrechts widerruflich verzichten. Die städtebaurechtlichen Vorkaufsrechte dienen nicht nur der Sicherung der Bauleitplanung, 159 sondern auch der gemeindlichen Bodenpolitik. Mit ihrer Hilfe kann die Gemeinde, auch ohne das äußerste Mittel der Enteignung anzuwenden, Grundstücke erwerben, um ihre städtebaulichen Vorstellungen zu verwirklichen. Sie kann damit zB Hortungskäufen spekulierender, aber nicht bauwilliger Privater vorbeugen. Allerdings unterbindet das Gesetz auch Hortungskäufe durch die Gemeinde. § 89 BauGB regelt eine Veräußerungspflicht der Gemeinde unter Berücksichtigung städtebaulicher und sozialpolitischer Belange (§ 89 III BauGB).

d) Umlegung und vereinfachte Umlegung Da im Bebauungsplan die Flächennutzungen unabhängig vom Grenzverlauf der Grundstücke 160 festgesetzt werden können, kann der vorhandene Zuschnitt der Grundstücke einer plankonformen Gestaltung eines Gebietes im Wege stehen. Die Planverwirklichung ist in diesen Fällen auf einen Neuzuschnitt der Grundstücke bzw auf die Änderung von Grundstücksgrenzen angewiesen. Hierfür stehen nach dem BauGB die bodenrechtlichen Instrumente der Umlegung (§§ 45 ff BauGB) und der vereinfachten Umlegung (§§ 80 ff BauGB) zur Verfügung.540 Mit der Umlegung541 können im Geltungsbereich eines Bebauungsplans sowie innerhalb 161 bestimmter im Zusammenhang bebauter Ortsteile bebaute und unbebaute Grundstücke „in der Weise neu geordnet werden, dass nach Lage, Form und Größe für die bauliche oder sonstige Nutzung zweckmäßig gestaltete Grundstücke entstehen“ (§ 45 BauGB). Dabei werden die im „Umlegungsgebiet“ (§ 52 BauGB) gelegenen Grundstücke rechnerisch zu einer „Umlegungsmasse“ vereinigt (§ 55 I BauGB). Aus dieser Umlegungsmasse werden die nach dem Bebauungsplan festgesetzten oder erforderlichen Gemeinbedarfsflächen ausgeschieden (§ 55 II BauGB), und die verbleibende „Verteilungsmasse“ (§ 55 IV BauGB) wird den beteiligten Grundstückseigentümern zugeteilt (§ 59 I BauGB). Obwohl bei der Umlegung der Eigentümer sein konkretes Grundstück oder Teile davon verlieren kann und dafür ein anderes oder anders geschnittenes Grundstück

_____ 540 Insbes die Umlegung weist Ähnlichkeiten mit der Flurbereinigung nach dem FlurbereinigungsG v 16.3.1976, BGBl I 546 ff, zul geänd durch G v 19.12.2008, BGBl I 2794, auf. Vgl hierzu BVerfGE 74, 264 ff o JK GG Art 14 III/ 5. 541 Dazu ausf zB Dieterich Baulandumlegung, 4. Aufl 2000; Schmidt-Aßmann Studien zum Recht der städtebaulichen Umlegung, 1996; Stock ZfBR 2004, 536, 538 ff zur Rechtslage nach dem EAG Bau; Goldschmidt DVBl 2006, 740 ff zur Umlegung im Rahmen von Stadtumbaumaßnahmen.

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zurückerhält, soll es sich prinzipiell nicht um eine Enteignung handeln.542 Nach Auffassung des BGH bedeutet die Umlegung vielmehr „ihrem Wesen nach eine ungebrochene Fortsetzung des Eigentums an einem verwandelten Grundstück“.543 Das BVerfG erkennt zwar an, dass es sich um die Entziehung einer konkreten Rechtsposition handelt. Diese diene allerdings nicht der hoheitlichen Güterbeschaffung, sondern dem Ausgleich privater Interessen und soll aus diesem Grunde keine Enteignung sein.544 162 Nach § 80 I BauGB kann die Gemeinde eine Umlegung iSd § 45 BauGB als vereinfachte Umlegung durchführen, wenn die in § 46 I BauGB bezeichneten Voraussetzungen vorliegen und wenn mit der Umlegung lediglich unmittelbar aneinander grenzende oder in enger Nachbarschaft liegende Grundstücke oder Teile von Grundstücken untereinander getauscht oder Grundstücke, insbesondere Splittergrundstücke oder Teile von Grundstücken, einseitig zugeteilt werden. Die §§ 80–84 BauGB enthalten dazu nähere Regelungen.545

e) Erschließung 163 Unter den heutigen Gegebenheiten ist ein Baugebiet erst dann in umfassender Hinsicht nutzbar, wenn es in verkehrsstruktureller, technischer und sozialer Hinsicht in seine Umgebung eingebunden, dh „erschlossen“ ist. Das BauGB verwendet den Begriff der „Erschließung“ allerdings nicht in diesem umfassenden und nicht einmal in einem einheitlichen Sinn. So ist der Begriff der Erschließung iSd Zulässigkeitstatbestände für bauliche Vorhaben (§§ 30 ff BauGB) grundstücksbezogen und umfasst zumindest den Anschluss des Grundstücks an das öffentliche Straßennetz, die Versorgung mit Elektrizität und Wasser und die Abwasserbeseitigung (Rn 132). Der Begriff der Erschließung iSd §§ 123 ff BauGB ist demgegenüber gebietsbezogen und geht insofern über den grundstücksbezogenen Erschließungsbegriff hinaus.546 Unter Erschließung iSd §§ 123 ff BauGB versteht man die erstmalige547 Herstellung von Erschließungsanlagen,548 die dazu dienen, das Baugebiet in baurechtlich zulässiger Weise nutzen zu können.549 Zu diesen Erschließungsanlagen zählen nicht nur Anlagen zur Ableitung von Abwasser sowie zur Versorgung mit Elektrizität, Gas, Wärme und Wasser (vgl § 127 IV 2 BauGB), sondern zB auch Sammelstraßen innerhalb der Baugebiete (vgl § 127 II Nr 3 BauGB) sowie uU auch Parkflächen und Grünanlagen (§ 127 II Nr 4 BauGB). 164 Die Erschließungslast, dh die Pflicht zur Herstellung der erforderlichen Anlagen, tragen prinzipiell die Gemeinden (§ 123 I BauGB). Dieser Pflicht korrespondiert – grundsätzlich – kein Rechtsanspruch auf Erschließung (§ 123 III BauGB). Trotz dieses ausdrücklichen gesetzlichen Hinweises kann sich nach Ansicht des BVerwGs die gemeindliche Erschließungspflicht unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise zu einem von dem bauwilligen Bürger einklagbaren Anspruch auf Herstellung der für die funktionsgerechte Nutzung unerlässlichen Erschließungsmaßnahmen verdichten.550

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542 BVerwGE 12, 1, 2; Löhr (Fn 277) Vor §§ 45–84 Rn 9; Breuer (Fn 521) § 45 Rn 20 ff. Offen gelassen in BVerwGE 85, 96, 98 f. Zur Umlegung im Lichte des Eigentumsschutzes Spannowsky UPR 2004, 321 ff mwN. 543 BGHZ 100, 148, 156. 544 BVerfGE 104, 1, 9 f o JK GG Art 14 I/42 m Bespr Selmer JuS 2002, 201 f. So auch Haas NVwZ 2002, 272, 273 f; vgl auch Christ DVBl 2002, 1517 ff. 545 Vgl dazu Stock ZfBR 2004, 536 ff. 546 Löhr (Fn 277) § 123 Rn 12; Brohm (Fn 66) § 26 Rn 4. 547 BVerwG NVwZ 1988, 355, 356. 548 Zum Begriff BGH NVwZ 2005, 238 f mwN. 549 Vgl Ernst/Grziwotz in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 123 Rn 4b f; Driehaus in: Schlichter/ Stich/Driehaus/Paetow, Berliner Kommentar, § 123 Rn 1 ff. Die bauliche oder gewerbliche Nutzbarkeit eines Grundstücks wird als sog Erschließungsvorteil bezeichnet, vgl BVerwGE 126, 378 ff mwN. 550 BVerwGE 64, 186, 189 ff; DÖV 1993, 713 ff; BauR 2000, 247, 248 f; vgl auch § 124 III 2 BauGB sowie dazu BVerwG NVwZ-RR 2002, 413.

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Die Kosten der Herstellung gesetzlich näher bezeichneter Erschließungsanlagen kann die 165 Gemeinde durch Erhebung von Erschließungsbeiträgen551 auf die Eigentümer der erschlossenen Grundstücke abwälzen. Das Erschließungsbeitragsrecht ist in den §§ 127 ff BauGB enthalten. Allerdings ist durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v 27.10.1994 (Rn 9) die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für diese Materie entfallen. Jedoch gelten die §§ 127 ff BauGB gem Art 125a I GG als Bundesrecht fort, bis es durch Landesrecht ersetzt wird. Von dieser Ersetzungsmöglichkeit haben die Länder bisher nur vereinzelt Gebrauch gemacht.552 Die Gemeinden können bis zu 90 vH der Kosten der Herstellung von Erschließungsanlagen auf die betroffenen Eigentümer umlegen. Gem § 129 I 3 BauGB haben sie lediglich einen Anteil von mindestens 10 vH selbst zu tragen. Das gilt nur dann nicht, wenn eine Gemeinde gem § 124 I BauGB die Durchführung der Erschließung – nicht die Erschließungslast553 – durch Vertrag auf einen Dritten überträgt (vgl § 124 II 2, 3 BauGB). Mit einem solchen öffentlich-rechtlichen Erschließungsvertrag554 übernimmt ein Dritter555 die Pflicht, Erschließungsanlagen auf eigene Kosten herzustellen.556 Soweit der Gemeinde dadurch Kosten erspart bleiben, kann sie von den betroffenen Grundstückseigentümern keine Beiträge erheben. Dem die Durchführung der Erschließung vertraglich übernehmenden Dritten, der von der Gemeinde nicht das Recht der Beitragserhebung erwirbt, bleibt es unbenommen, seinen Aufwand durch privatrechtliche Vereinbarungen mit Grundstückskäufern oder Mietern abzudecken. Von den Erschließungsverträgen sind die sog Folgekostenverträge zu unterscheiden. Das 166 sind öffentlich-rechtliche Verträge, in denen sich Dritte zur Übernahme solcher Folgelasten verpflichten, die über die beitragsfähige Erschließung eines Gebiets hinaus entstehen können (Rn 175) (zB die Errichtung eines Kindergartens). Sie haben in § 11 I 1 Nr 3 BauGB eine gesetzliche Regelung gefunden.

f) Enteignung Die Verwirklichung der durch das Städtebaurecht und insbesondere durch Bebauungspläne 167 vorgezeichneten städtebaulichen Ordnung erfordert idR entweder die freiwillige Bereitschaft der privaten Eigentümer, die Nutzung ihrer Grundstücke an diesem Programm auszurichten, oder aber eine Einflussnahme auf den Eigentümer durch staatlichen Zwang. Letzterer wird sich regelmäßig in Nutzungsbeschränkungen und -lenkungen erschöpfen, kann aber im äußersten Fall auch den Entzug von Grundeigentum und seine Übertragung auf einen Dritten erfordern. Die aus städtebaulichen Gründen notwendige Enteignung ist in den §§ 85 ff BauGB geregelt.557

_____ 551 Dazu ausf Driehaus Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 8. Aufl 2007. 552 Art 5a des bayerischen Kommunalabgabengesetzes – KAG idF der Bekanntmachung v 4.4.1993 (GVBl 264), zul geänd durch G v 25.2.2010 (GVBl 66) enthält ergänzende Details zu § 127 II Nr 4 BauGB. Das Berliner Erschließungsbeitragsgesetz – EBG v 12.7.1995 (GVBl 444), zul geänd durch G v 19.6.2006 (GVBl 573) enthält in § 15a lediglich eine Überleitungs- und Ausschlussvorschrift und damit nur eine zusätzliche Bestimmung. Anders als die bayer Regelung hat der Berliner Gesetzgeber die bundesrechtlichen Vorschriften damit nicht übernommen, die somit daneben als Bundesrecht fortgelten, aA Driehaus (Fn 549) Vor §§ 127–135 Rn 2. Baden-Württemberg hat in §§ 20–28, 33–41 KAG v 17.3.2005, GBl 206, zul geänd durch G v 4.5.2009, GBl 185, ein eigenständiges landesrechtliches Erschließungsbeitragsrecht geschaffen; dazu Driehaus NVwZ 2005, 1136 ff. 553 Nach außen bleibt die Gemeinde für die Erschließung verantwortlich, vgl zB Brohm (Fn 66) § 26 Rn 23. 554 Vgl dazu noch u Rn 176. Dieser Vertrag ist nicht zu verwechseln mit einem privatrechtlichen Werkvertrag, den eine Gemeinde mangels eigener Hilfskräfte zB mit einem Bauunternehmen abschließt. 555 Zur Frage, ob von der Gemeinde beherrschte Eigengesellschaften Dritte iSd § 124 BauGB sind, BVerwG NVwZ 2011, 690, 692 ff; Birk VBlBW 2011, 329 ff. 556 Birk KommJur 2012, 6 ff. 557 Dazu ausf Finkelnburg/Ortloff/Kment (Fn 10) § 19; Just (Fn 76) § 12.

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4. Kapitel – Baurecht

168 aa) Gegenstand. Nach § 86 BauGB können durch Enteignung Grundeigentum und dingliche Rechte am Grundeigentum (zB Dienstbarkeiten) entzogen oder belastet werden (§ 86 I Nr 1, 2 BauGB), obligatorische Rechte zum Erwerb, Besitz oder zur Nutzung von Grundstücken (zB auf Kauf, Miete) entzogen (§ 86 I Nr 3 BauGB) oder solche Rechte begründet werden (§ 86 I Nr 4 BauGB). Schon von ihrem Gegenstand her, aber auch im Übrigen, ist die städtebauliche Enteignung der sog klassischen Enteignung558 stark angenähert. Diese war und ist von ihrem Charakter her ein gemeinwohlmotivierter „Zwangskauf“ von Grund und Boden. Sie besteht in dem Entzug von Grundeigentum oder dinglichen Rechten durch Verwaltungsakt aufgrund Gesetzes zu Zwecken des Gemeinwohls gegen Entschädigung und in der Übertragung des Grundeigentums oder der dinglichen Rechte auf ein im öffentlichen Interesse liegendes privates559 oder staatliches Unternehmen. Der mit der klassischen Enteignung verbundene Eingriff in private Rechte ist stets Enteignung iSd Art 14 III GG, ohne dass es dafür einer Heranziehung der Theorien zur Abgrenzung von Inhalts- und Schrankenbestimmung und Enteignung bedarf.560 169 bb) Zulässigkeit. Die Zulässigkeit der städtebaulichen Enteignung ist dementsprechend verfassungsrechtlich gebunden und setzt voraus, dass – die Enteignung entweder durch Gesetz (sog Legalenteignung) oder aufgrund eines Gesetzes (sog Administrativenteignung) erfolgt (Gesetzesvorbehalt); – die Enteignung dem Wohl der Allgemeinheit dient; – die Enteignung das Übermaßverbot beachtet; – das Enteignungsgesetz Art und Ausmaß der Entschädigung regelt; – ein „rechtssicherndes Verfahren“561 gewährleistet ist, dh ein Verfahren, in dem eine „enteignungsrechtliche Gesamtabwägung aller Gemeinwohlgesichtspunkte und widerstreitenden Interessen unter Prüfung auch der Erforderlichkeit des Vorhabens“562 vorgenommen wird. 170 Die verfassungsrechtlichen Vorgaben liefern eine Grobstruktur zur Übersicht über die Enteignungsvorschriften des BauGB: Die städtebauliche Enteignung ist wie die sog klassische Enteignung eine Administrativenteignung, die aufgrund eines Gesetzes (§§ 85 ff BauGB) durch Verwaltungsakt (§ 112 I BauGB)563 durchgeführt wird. Dabei bestimmt § 87 I BauGB ausdrücklich, dass die Enteignung im einzelnen Fall nur zulässig ist, wenn das Wohl der Allgemeinheit sie erfordert. Dieses Gemeinwohlerfordernis wird durch die in § 85 BauGB abschließend564 normierten Enteignungszwecke konkretisiert. Diese bieten zugleich den Ansatzpunkt für die Anwendung des Übermaßverbotes. Die Enteignung muss demnach geeignet sein, die in § 85 BauGB genannten Zwecke zu fördern,565 also zB „entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans ein Grundstück zu nutzen oder eine solche Nutzung vorzubereiten“ (§ 85 I Nr 1 BauGB). Zumindest mittelbar lässt sich das Erfordernis der Geeignetheit als Teilelement des Übermaßverbotes auch § 87 I BauGB entnehmen, da im Falle der Zweckuntauglichkeit die Enteignung nicht vom Wohl der Allgemeinheit „erfordert“ ist. Unmittelbar spricht die Norm dagegen die Voraussetzung der

_____ 558 Dazu zB Frenzel Das öffentliche Interesse als Voraussetzung der Enteignung, 1978, 36 ff; Ossenbühl Staatshaftungsrecht, 5. Aufl 1998, 145 ff; Maurer FS Dürig, 1990, 293, 295 ff; Schmidt-Aßmann JuS 1986, 833, 834. 559 Zu den Voraussetzungen einer Enteignung zugunsten Privater vgl BVerfGE 74, 264, 284 ff o JK GG Art 14 III/5 sowie Frenzel (Fn 558) 97 ff. 560 Zu den Theorien im Einzelnen zB Ossenbühl (Fn 558) 167 ff. 561 Schmidt-Aßmann JuS 1986, 833, 833. 562 BVerfGE 74, 264, 293 f o JK GG Art 14 III/5. 563 Der Enteignungsbeschluss gem § 112 I BauGB ist Verwaltungsakt, vgl Breuer (Fn 521) § 112 Rn 1; Dyong in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 112 Rn 5e. 564 Battis (Fn 410) § 85 Rn 11; Halama in: Schlichter/Stich/Driehaus/Paetow, Berliner Kommentar, § 85 Rn 11. 565 Vgl zB Halama (Fn 564) § 87 Rn 38.

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III. Städtebaurecht – 4. Kapitel

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Erforderlichkeit der Enteignung an566 und bringt insbesondere zum Ausdruck, dass die Enteignung als der intensivste Eingriff in das Eigentum ultima ratio sein muss (§ 87 I BauGB: „… und der Enteignungszweck auf andere zumutbare Weise nicht erreicht werden kann“). Das Prinzip der Erforderlichkeit gilt auch im Hinblick auf das Ausmaß der Enteignung (§ 92 BauGB) und hat mit dem Vorrang des freihändigen Erwerbs (§ 87 II BauGB) seinen verfahrensrechtlichen Niederschlag gefunden.567 Schließlich erfordert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (ieS) eine Abwägung zwischen der Förderung der Enteignungszwecke (dem Gemeinwohl) und dem Eingriff in das Eigentumsgrundrecht des Betroffenen.568 cc) Entschädigung. Die von der sog Junktim-Klausel des Art 14 III 2 GG verlangte gesetzliche 171 Regelung von Art und Ausmaß der Entschädigung569 enthalten §§ 93 ff BauGB. Der von Art 14 III GG und §§ 93 ff BauGB benutzte Begriff der Entschädigung macht deutlich, dass es sich nicht um Schadensersatz handelt. Schadensersatz will das schädigende Ereignis ungeschehen machen, ist also auf die Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre (vgl § 249 I BGB). Die enteignungsrechtliche Entschädigung will demgegenüber das Sonderopfer ausgleichen, das der Betroffene durch die Enteignung tragen muss (Kompensation, nicht Restitution).570 Die Entschädigung soll den Substanzverlust ausgleichen.571 Sie erfolgt in Geld (§ 99 BauGB), durch Beschaffung von Ersatzland (§ 100 BauGB) oder durch Gewährung von anderen Rechten (§ 101 BauGB). Werden die enteigneten Grundstücke nicht zu dem Enteignungszweck verwendet, kann der enteignete frühere Eigentümer einen Anspruch auf sog Rückenteignung (§ 102 BauGB) haben. Nach § 95 I BauGB bemisst sich die Entschädigung nach dem Verkehrswert (§ 194 BauGB) des Gegenstands der Enteignung. Dabei kommt es auf den Zeitpunkt an, in dem die Enteignungsbehörde über den Enteignungsantrag entscheidet, § 95 I 2 BauGB. Aufgrund der sog Reduktionsklauseln572 des § 95 II BauGB bleiben allerdings bestimmte Wertsteigerungen, -änderungen und -erhöhungen unberücksichtigt, so zB Planungsgewinne, die durch „Heraufzonung“ des Grundstücks eingetreten sind. Soweit mit der Enteignungsentschädigung das Sonderopfer des Enteigneten nicht ausgeglichen wird (sog Folgeschäden),573 besteht ein zusätzlicher Entschädigungsanspruch gem § 96 BauGB. dd) Verfahren. Die städtebauliche Enteignung wird in einem gesetzlich detailliert geregelten 172 Verfahren (§§ 104 ff BauGB) durchgeführt, das nach § 104 I BauGB in die Zuständigkeit der vom Landesrecht bestimmten höheren Verwaltungsbehörde (Enteignungsbehörde) fällt. Die Zulässigkeit der Enteignung setzt im Hinblick auf das Verfassungsgebot der Erforderlichkeit zunächst voraus, dass sich der Antragsteller ernsthaft, aber vergeblich um den freihändigen Erwerb des Grundstücks bemüht (Rn 170, 176) hat (§ 87 II BauGB). Das eigentliche Enteignungsverfahren beginnt mit dem Antrag (§ 105 BauGB) des Antragsbefugten, dh derjenigen natürlichen oder juristischen Person, die die Absicht hat, einen der in § 85 BauGB genannten Enteignungszwecke zu verwirklichen. Die Enteignungsbehörde hat zunächst auf eine Einigung zwischen den Beteiligten hinzuwirken (§ 110 I BauGB). Diese wirkt wie ein Enteignungsbeschluss (§ 110 III 1 BauGB), der gefasst werden muss, wenn eine Einigung nicht zustande kommt. Der Enteignungsbeschluss (§ 112 I BauGB) setzt zugleich Art und Höhe der Entschädigung fest. Er wird durch die Ausfüh-

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566 567 568 569 570 571 572 573

Dazu Halama (Fn 564) § 87 Rn 39 ff; Runkel (Fn 343) § 87 Rn 54 ff. Vgl Battis (Fn 410) § 87 Rn 4. Vgl von Brünneck NVwZ 1986, 425, 429 f; Halama (Fn 564) § 87 Rn 42 ff. Vgl dazu im Einzelnen BVerfGE 46, 268, 285; Papier in: Maunz/Dürig, GG, Art 14 Rn 592 ff. Dazu Papier (Fn 569) Art 14 Rn 603 ff; Ossenbühl (Fn 558) 207 ff. BGHZ 57, 359, 368; Ossenbühl (Fn 558) 209 f. Battis (Fn 410) § 95 Rn 1; Weiß in: Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB, § 95 Rn 10. BGHZ 55, 294, 297; Breuer (Fn 521) § 96 Rn 1 mwN.

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rungsanordnung (§ 117 BauGB) ausgeführt, der dingliche Wirkung zukommt (§ 117 V 1 BauGB). In dringenden Fällen kann eine vorzeitige Besitzeinweisung (§ 116 BauGB) erfolgen. 173 ee) Rechtsweg. Über die Zulässigkeit von städtebaulichen Enteignungen müssten an sich die Verwaltungsgerichte (§ 40 I 1 VwGO) und über die Höhe der Entschädigung aufgrund der Sonderzuweisung des Art 14 III 4 GG die ordentlichen Gerichte entscheiden. Um eine Zweigleisigkeit des Rechtsweges zu vermeiden, hat der Gesetzgeber ua für alle mit der Enteignung zusammenhängenden Entscheidungen den „Antrag auf gerichtliche Entscheidung“ (§ 217 BauGB) vor den Kammern für Baulandsachen bei den Landgerichten eingerichtet. Die Kammern für Baulandsachen entscheiden nach § 220 I 2 BauGB in der Besetzung von zwei Richtern des Landgerichts einschließlich des Vorsitzenden sowie einem hauptamtlichen Richter des Verwaltungsgerichts. Entsprechend „gemischt“ ist die Besetzung des Senats für Baulandsachen bei dem Oberlandesgericht, der über die Berufung entscheidet (§ 229 I BauGB). Revisionsinstanz ist der Bundesgerichtshof (§ 230 BauGB).

g) Städtebauliche Verträge 174 Die bisherige Darstellung des hoheitlichen städtebaulichen Instrumentariums könnte den Eindruck erwecken, die Gemeinden gingen zur Sicherung und Verwirklichung ihrer städtebaulichen Planung ausschließlich oder vornehmlich mit Befehl und Zwang vor. Tatsächlich ist die Realisierung gemeindlicher Planungsabsichten aber in hohem Maße auf die Mitwirkungsbereitschaft Betroffener angewiesen. Rechtsformen kooperativen Verwaltungshandelns gehören daher seit langem zum unverzichtbaren Instrumentarium des Städtebaurechts. Dabei erfüllen städtebauliche Verträge im Verhältnis zum einseitig hoheitlichen Instrumentarium eine in der Praxis unverzichtbare Ergänzungs- und Ersatzfunktion, indem sie die amtlichen Verfahren erleichtern und zT den Einsatz der Zwangsinstrumente ganz oder teilweise überflüssig machen. Inzwischen zeichnet sich ab, dass die Praxis des Städtebaurechts ein Besonderes Vertragsrecht herausbildet. Positivrechtlich zeigt sich diese Entwicklung574 ua in § 11 BauGB. § 11 I 1 BauGB stellt ausdrücklich klar: „Die Gemeinde kann städtebauliche Verträge schließen“.575 § 11 I 2 BauGB nennt beispielhaft („insbesondere“) mögliche Gegenstände derartiger Verträge, für die § 11 II und III BauGB ua mit der Angemessenheitsklausel sowie dem Schriftformerfordernis Rechtmäßigkeitsanforderungen normieren.576 Als Typen städtebaulicher Verträge unterscheidet § 11 I 2 BauGB Verträge zur Vorberei175 tung oder Durchführung städtebaulicher Maßnahmen durch den Vertragspartner auf eigene Kosten (Nr 1), Verträge zur Förderung oder Sicherung der mit der Bauleitplanung verfolgten Ziele (Nr 2), Verträge zur Übernahme von Kosten oder sonstigen Aufwendungen infolge städtebaulicher Maßnahmen (Nr 3) sowie solchen zur Nutzung von Netzen und Anlagen der Kraft-WärmeKopplung sowie von Solaranlagen für die Wärme-, Kälte- und Elektrizitätsversorgung (Nr 4). ZT greift das Gesetz damit Vertragstypen auf, die sich bereits vorher in der Praxis herausgebildet hatten. Das betrifft zB die in § 11 I 2 Nr 3 BauGB angesprochenen Folgekostenverträge,577 dh Verträge über solche Aufwendungen für die Herrichtung eines Baugebietes, die den Gemeinden

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574 Ausf zu städtebaulichen Verträgen vor der Geltung von § 11 BauGB bzw der Vorläuferregelung des § 6 BauGBMaßnG Schmidt-Aßmann/Krebs (Fn 331). Zu § 6 BauGBMaßnG H.-J. Birk Die neuen städtebaulichen Verträge, 2. Aufl 1996; Scharmer NVwZ 1995, 219 ff. Zum Überblick über Typen städtebaulicher Verträge Schmidt-Aßmann FS Gelzer, 1991, 117 ff; Krebs DÖV 1989, 969 ff; Busse BayVBl 1994, 353 ff; Stüer DVBl 1995, 649 ff. 575 Zu § 11 BauGB Hamann Der Verwaltungsvertrag im Städtebaurecht, 2003; Oerder BauR 1998, 22 ff; Erbguth VerwArch 89 (1998) 189, 210 ff; Brohm FS 100 Jahre Allg Baugesetz Sachsen, 2000, 457 ff; Bick DVBl 2001, 154 ff. 576 Zur Inhaltskontrolle städtebaulicher Verträge anhand § 11 II BauGB BGH NVwZ 2003, 371 ff. 577 Dazu schon o Rn 166 sowie mit Vertragsmustern Grziwotz/Döring Baulanderschließung, 1993, 170 ff. Zur Übertragbarkeit verwaltungsinterner Kosten BVerwGE 124, 385 ff.

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jenseits abgabenrechtlich erstattungsfähiger Kosten entstehen.578 Gleiches gilt für die durch § 11 I 2 Nr 1 BauGB erfasste „freiwillige Umlegung“.579 Damit sind Vertragstypen gemeint, mit deren Hilfe sich Private, mit oder ohne Beteiligung der Gemeinde, freiwillig über einen Neuzuschnitt ihrer Grundstücke einigen, so dass sich die amtliche Umlegung (Rn 160 ff) ganz oder teilweise erübrigt. Die nur partielle gesetzliche Regelung der städtebaulichen Verträge in § 11 BauGB bedeutet 176 keine rechtliche Verwerfung der in der Norm nicht erwähnten Vertragstypen. Im Gegenteil bestimmt § 11 IV BauGB ausdrücklich, dass die „Zulässigkeit anderer städtebaulicher Verträge … unberührt“ bleibt. In Bezug genommen sind damit zum einen Verträge auf der Grundlage anderweitiger Bestimmungen des BauGB, die den Einsatz eines Vertrages voraussetzen oder zumindest von der Möglichkeit einer einvernehmlichen Regelung ausgehen. Nach der Reprivatisierungsnorm des § 89 BauGB hat die Gemeinde zB Grundstücke „zu veräußern“, die sie durch Ausübung des Vorkaufsrechts oder Enteignung erworben hat. Nach § 110 I BauGB hat die Enteignungsbehörde zur Vermeidung eines Enteignungsbeschlusses auf eine „Einigung“, dh auf einen öffentlich-rechtlichen580 Enteignungsvertrag hinzuwirken. Die Enteignung erübrigt sich auch bei „freihändigem“, also vertraglichem581 Erwerb des Grundstücks, um den sich der Antragsteller gemäß § 87 II BauGB ernsthaft bemüht haben muss. Zu einem öffentlich-rechtlichen Vertrag, dem schon erwähnten Erschließungsvertrag,582 ermächtigt § 124 I BauGB. Ebenfalls ein öffentlich-rechtlicher Vertrag ist der Sanierungsträgervertrag,583 der in § 159 BauGB eine detaillierte gesetzliche Regelung gefunden hat. Eine Aufforderung an die Gemeinden, städtebauliche Verträge zu schließen, findet sich in § 171c BauGB für den Stadtumbauvertrag und in § 171e V 4 BauGB für Verträge bzgl Maßnahmen der Sozialen Stadt. § 1 III 2 HS 2 BauGB lässt einen Rückschluss auf den Rahmen der (Un-)Zulässigkeit von Planungsverträgen zu, deren besondere Rechtsprobleme bereits angesprochen wurden (Rn 93 f). § 12 I BauGB ermächtigt schließlich ausdrücklich zum Abschluss eines Durchführungsvertrages im Rahmen der Aufstellung eines vorhabenbezogenen Bebauungsplanes (Rn 89). Unberührt iSd § 11 IV BauGB bleibt zudem die Zulässigkeit derjenigen Verträge, die nach wie 177 vor gesetzlich weder geregelt noch erwähnt sind. Beispielhaft sei auf die Baudispensverträge hingewiesen, die zT eine jahrzehntealte Tradition haben.584 Mit ihnen verpflichtet sich die Behörde zur Erteilung einer Ausnahme oder Befreiung (Rn 133, 212), im Gegenzug übernimmt der Bauherr zB Verpflichtungen hinsichtlich des Baugrundstücks.

5. Besonderes Städtebaurecht Die Überschrift des Zweiten Kapitels des BauGB (§§ 136 ff) „Besonderes Städtebaurecht“585 ist 178 insofern gerechtfertigt, als es im Wesentlichen Sonderregelungen für besondere städtebauliche Problemlagen enthält und dafür das Allgemeine Städtebaurecht ergänzt und modifiziert.

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578 § 11 I 2 Nr 3 BauGB setzt die Kausalität der städtebaulichen Maßnahme für die entstehenden Kosten voraus, BVerwGE 133, 85, 93 ff o JK BauGB § 11/2. Diesem Kausalitätserfordernis genügt es, wenn eine unteilbare städtebauliche Maßnahme durch mehrere Vorhaben veranlasst wurde, BVerwG ZfBR 2011, 474 ff. Vgl dazu Bunzel DVBl 2011, 796 ff. 579 Dazu BVerwG NVwZ 2002, 473, 475; Dieterich (Fn 541) Rn 465 ff; Schmidt-Aßmann/Krebs (Fn 331) 42 ff. 580 BGH NJW 1973, 656 f; Holtbrügge in: Schlichter/Stich/Driehaus/Paetow, Berliner Kommentar, § 110 Rn 5. 581 Dieser ist nach BGHZ 50, 284, 287; E 84, 1, 3 ff privatrechtlicher Natur. 582 Vgl o Rn 165. Dazu H.-J. Birk BauR 1999, 205 ff; Pietzcker FS Hoppe, 2000, 439, 442 ff; Grziwotz DVBl 2005, 471 ff. Zur Ausschreibungspflichtigkeit von Erschließungsverträgen Köster/Häfner NVwZ 2007, 410 ff. 583 Dazu zB Fislake in: Schlichter/Stich/Driehaus/Paetow, Berliner Kommentar, § 159 Rn 9 ff. 584 Dazu E. Schulze Verwaltung und Wirtschaft, 1964, 23 ff; v Campenhausen DÖV 1967, 662 ff; Ehlers DVBl 1986, 529 ff. Vgl auch BGH DVBl 1967, 36 ff sowie zu Garagendispensverträgen u Rn 199. 585 Ausf Darstellungen bei Brohm (Fn 66) §§ 33–35; Finkelnburg/Ortloff/Kment (Fn 10) §§ 30 ff; Bönker in: Hoppe/ ders/Grotefels (Fn 76) § 14.

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4. Kapitel – Baurecht

a) Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen 179 Das Sanierungsrecht ist ein auf sachlich, räumlich und zeitlich begrenzte Vorhaben bezogenes Sonderrecht zur „Behebung städtebaulicher Missstände“ (§ 136 II 1 BauGB) durch „städtebauliche Sanierungsmaßnahmen“ (§ 136 I, II BauGB). Das BauGB konzipiert die Sanierung als gebietsbezogene Gesamtmaßnahme586 in der Verantwortung der Gemeinde und gliedert das Sanierungsverfahren in die Vorbereitung (§§ 140 ff BauGB) und die Durchführung (§§ 146 ff BauGB) der Sanierung. Die Vorbereitung der Sanierung besteht aus den in § 140 BauGB aufgelisteten Maßnah180 men.587 Dazu zählt insbesondere die „vorbereitende Untersuchung“ (§§ 140 Nr 1, 141 BauGB). Sie dient ua dem Ziel, der Gemeinde Gewissheit darüber zu verschaffen, ob ein bestimmtes Gebiet städtebauliche Missstände aufweist und als Sanierungsgebiet ausgewiesen werden soll. Zur Beurteilung städtebaulicher Missstände normiert § 136 III BauGB einen Kriterienkatalog. Ob die Gemeinde ein Gebiet durch eine „Sanierungssatzung“588 (§ 142 III BauGB) förmlich als Sanierungsgebiet festlegt, steht in ihrem Ermessen (§ 142 I 1 BauGB).589 Eine Festlegung als Sanierungsgebiet löst weit reichende Rechtsfolgen aus,590 die zT im Allgemeinen Städtebaurecht (vgl §§ 24 I 1 Nr 3, 87 III 3, 88 S 2 BauGB), im Übrigen im Besonderen Städtebaurecht geregelt sind (vgl §§ 144, 145, 152 ff BauGB).591 Die Gemeinde kann sich allerdings auch für das sog vereinfachte Verfahren entscheiden und in der Sanierungssatzung den Einsatz der Instrumente des Besonderen Städtebaurechts teilweise ausschließen (§ 142 IV BauGB). Die Durchführung der Sanierung umfasst nach § 146 I BauGB die Ordnungs- und die 181 Baumaßnahmen innerhalb des förmlich festgelegten Sanierungsgebiets, die nach den Zielen und Zwecken der Sanierung erforderlich sind. Die Ordnungsmaßnahmen zählen gem § 147 BauGB zum Aufgabenbereich der Gemeinden, wohingegen die Durchführung der Baumaßnahmen den Eigentümern überlassen ist, „soweit die zügige und zweckmäßige Durchführung durch sie gewährleistet ist“ (§ 148 I BauGB). Zur Erfüllung ihrer Aufgaben bei der Vorbereitung und Durchführung der Sanierung kann sich die Gemeinde eines besonders qualifizierten Beauftragten (insbesondere: Sanierungsträger) bedienen, dessen Bestellung, Rechtsstellung und Aufgaben der Gesetzgeber einer eingehenden und differenzierten Regelung unterworfen hat (§§ 157 ff BauGB). Ist die Sanierung durchgeführt, hat die Gemeinde die Sanierungssatzung aufzuheben. Dasselbe gilt, wenn sich die Sanierung als undurchführbar erweist oder die Sanierungsabsicht aus anderen Gründen aufgegeben wird (§ 162 I BauGB). Im Gegensatz zum Sanierungsrecht, das sich auf vorhandene Gebiete mit städtebaulichen 182 Missständen bezieht, gilt das Recht der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen592 für Gebiete, in denen neue Siedlungseinheiten, dh neue Orte, Ortsteile oder Ortserweiterungen geschaffen werden sollen (vgl § 165 II BauGB). Das Instrumentarium, das der Gemeinde dazu zur Verfügung steht, entspricht im Wesentlichen dem des Sanierungsrechts (§ 169 I BauGB).

_____ 586 Vgl Krautzberger NVwZ 1987, 647, 649. 587 Die in § 140 Nr 3 BauGB genannten „Ziele und Zwecke“ umfassen neben baulichen auch soziale Ziele der Sanierung, BVerwGE 126, 104 ff m Bespr Tietsch NVwZ 2007, 299 ff. 588 Zu Besonderheiten in den Stadtstaaten vgl § 246 II BauGB. 589 Zum Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum beim Erlass einer Sanierungssatzung BVerwG ZfBR 2010, 479 ff. 590 Dazu, dass die städtebauliche Sanierung auch bei sehr langer Dauer keine Enteignung iSd Art 14 III GG ist, BVerwG DÖV 1997, 30, 30 f. Nunmehr ist die Durchführung der Sanierung zu befristen, § 142 III 3 und 4 BauGB, wodurch die Sanierungsmaßnahmen beschleunigt werden sollen. § 235 IV BauGB enthält eine Überleitungsvorschrift für Sanierungssatzungen nach altem Recht. Zu den Grenzen der Sozialbindung und den Folgen ihrer Überschreitung durch Sanierungssatzungen BVerwG ZfBR 2011, 477 ff. 591 Dazu und zu den Wirkungen des Sanierungsvermerks Heiß/Schreiner NVwZ 2009, 1147 ff. 592 Dazu Ax BauR 1996, 803 ff; Busch FS Hoppe, 2000, 405 ff; Stich GewArch 2001, 137 ff. Zur städtebaulichen Bedeutung der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme Krautzberger WiVerw 1993, 85 ff; Porger WiVerw 1999, 36 ff; BVerfG NVwZ 2008, 1229 ff.

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III. Städtebaurecht – 4. Kapitel

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b) Stadtumbau Die durch das EAG Bau neu eingefügten §§ 171a–171d BauGB beinhalten Vorschriften über den 183 Stadtumbau.593 Durch diese soll nach der Gesetzesbegründung der besonderen und zunehmenden Bedeutung von Stadtumbaumaßnahmen in Reaktion auf insbesondere demografische und wirtschaftliche Strukturveränderungen und den damit einhergehenden Auswirkungen auf die städtebauliche Entwicklung Rechnung getragen werden.594 Stadtumbaumaßnahmen können nach § 171a I BauGB anstelle oder ergänzend zu sonstigen Maßnahmen nach dem BauGB durchgeführt werden. § 171a II BauGB definiert die Stadtumbaumaßnahmen, die nach § 171a III 1 BauGB dem Wohl der Allgemeinheit dienen und insbesondere die Erreichung der in § 171a III 2 BauGB genannten Ziele fördern sollen.595 Nach § 171b II BauGB stellt die Gemeinde unter Abwägung der öffentlichen und privaten Belange ein städtebauliches Entwicklungskonzept auf, das Grundlage für die Festlegung des Stadtumbaugebiets nach § 171b I 1 BauGB ist. Nach § 171c S 1 BauGB soll die Gemeinde Stadtumbaumaßnahmen auf der Grundlage von städtebaulichen Verträgen iSd § 11 BauGB insbesondere mit den beteiligten Eigentümern durchführen. In § 171c S 2 sind mögliche Inhalte solcher Verträge nicht abschließend („insbesondere“) aufgezählt. Zur Sicherung von Durchführungsmaßnahmen kann die Gemeinde nach § 171d I BauGB durch Satzung ein Gebiet bezeichnen, in dem bestimmte Vorhaben und Maßnahmen der Genehmigung bedürfen.596 § 171d III BauGB begründet in bestimmten Fällen einen Anspruch auf Erteilung der Genehmigung. Unter den Voraussetzungen des § 171d II BauGB können Baugesuche zurückgestellt werden.

c) Soziale Stadt § 171e BauGB dient der Unterstützung der Programmziele des im Jahre 1999 eingeleiteten Bund- 184 Länder-Programms „Soziale Stadt“.597 Die Gemeinde stellt nach § 171e IV, V BauGB unter Beteiligung der Betroffenen und der öffentlichen Aufgabenträger ein Entwicklungskonzept auf, das Grundlage für den Beschluss nach § 171e III BauGB ist. Durch diesen wird das Gebiet festgelegt, in dem die städtebaulichen Maßnahmen der Sozialen Stadt (Maßnahmen zur Stabilisierung und Aufwertung von durch soziale Missstände benachteiligten Teilen des Gemeindegebiets, § 171e II 1 BauGB) gem § 171e I BauGB durchgeführt werden können. Nach § 171e IV, V BauGB bestehen Beteiligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten von Betroffenen (§ 137 BauGB) und öffentlichen Aufgabenträgern (§ 139 BauGB). Insbesondere sollen nach § 171e V 4 BauGB städtebauliche Verträge geschlossen werden.

d) Private Initiativen Der neu eingeführte § 171 f BauGB ermöglicht es dem Landesgesetzgeber, die rechtlichen Vor- 185 aussetzungen für sog private Initiativen zur Stadtentwicklung zu schaffen. Danach können nach Maßgabe des Landesrechts Gebiete festgelegt werden, in denen in privater Verantwortung standortbezogene Maßnahmen durchgeführt werden. Diese Maßnahmen müssen auf der Grundlage eines mit den städtebaulichen Zielen der Gemeinde abgestimmten Konzepts der

_____ 593 Einführend in die Neuregelungen Goldschmidt BauR 2004, 1402 ff; auch zur Sozialen Stadt ders DVBl 2005, 81 ff; zur Bodenordnung im Rahmen von Stadtumbaumaßnahmen ders DVBl 2006, 740 ff. Zu Erfahrungen mit dem Städteumbau Schmidt-Eichstaedt FS Krautzberger 2008, 345, 349 ff. 594 BT-Drs 15/2250 S 32. 595 Zu den im Zuge der Klimanovelle vorgenommenen Änderungen Krautzberger DVBl 2012, 69, 71 f. 596 Zu den Anwendungsmöglichkeiten dieses Satzungstyps Goldschmidt BauR 2004, 1707 ff. 597 BT-Drs 15/2250 S 32.

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4. Kapitel – Baurecht

Stärkung oder Entwicklung bestimmter für die städtebauliche Entwicklung bedeutsamer Bereiche dienen.598

e) Erhaltungssatzung und städtebauliche Gebote 186 Das Besondere Städtebaurecht ergänzt das Instrumentarium des Allgemeinen Städtebaurechts schließlich um solche Instrumente, mit denen die Gemeinden aktiv auf das städtebauliche Geschehen einwirken können. Nach §§ 172 ff BauGB kann die Gemeinde durch Bebauungsplan oder durch Satzung zur Erhaltung und Erneuerung der städtebaulichen599 Eigenart eines Gebiets beitragen (Erhaltungssatzung).600 §§ 175 ff BauGB ermächtigen die Gemeinden zu Baugeboten (§ 176 BauGB), Modernisierungs- und Instandsetzungsgeboten (§ 177 BauGB), Pflanzgeboten (§ 178 BauGB) und Rückbau- und Entsiegelungsgeboten (§ 179 BauGB).601

6. Planschadensrecht 187 Der Bebauungsplan enthält für den Bürger rechtsverbindliche Festsetzungen über die Nutzungsmöglichkeiten der im Plangebiet gelegenen Grundstücke (Rn 83 ff). Die Festsetzungen können für die Nutzungsberechtigten günstig sein, zB wenn der Bebauungsplan zuvor nicht bestehende Nutzungsmöglichkeiten eröffnet oder bestehende erweitert. Sie können aber im Fall einer Nutzungsbeschränkung oder eines Nutzungsentzugs für die Berechtigten auch ungünstig sein. Das Planschadensrecht der §§ 39 ff BauGB regelt, unter welchen Voraussetzungen Entschädigungen dafür zu leisten sind, dass jemand von einer Planungsmaßnahme nachteilig betroffen wird. Die Notwendigkeit derartiger Regelungen erscheint auf den ersten Blick keinesfalls selbst188 verständlich. Der Bebauungsplan geht aus einer Abwägung privater und öffentlicher Belange hervor (§ 1 VII BauGB) und hat damit auch Ausdruck eines verhältnismäßigen Ausgleichs mit den grundrechtlich geschützten Interessen der betroffenen Privaten zu sein (Rn 98 ff). Von daher liegt es nahe, den Bebauungsplan im Grundsatz als eine aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung vorgenommene Inhalts- und Schrankenbestimmung iSd Art 14 I 2 GG zu verstehen, die prinzipiell entschädigungslos hinzunehmen ist.602 Wenn §§ 39 ff BauGB gleichwohl einen Anspruch für durch Planung verursachte Vermögensnachteile (Planungsschäden) gewähren, könnte man das Planschadensrecht des BauGB als Entschädigungsregelung iSd Art 14 III GG deuten, die deshalb erforderlich sei, weil ein Bebauungsplan – ausnahmsweise – auch enteignend wirken,603 also eine „Administrativenteignung“ (Enteignung aufgrund eines Gesetzes) sein könne.604 §§ 39 ff BauGB müssen demgegenüber differenzierter beurteilt werden. Zum einen ist der 189 Hinweis zutreffend, dass „das Gesetz nicht gehindert ist, auch über den Bereich der Enteignung hinaus Entschädigungsansprüche zu gewähren“.605 Zum anderen kann grundrechtsdogmatisch das Übermaßverbot auch eine Entschädigungsleistung für eine Inhalts- und Schrankenbestim-

_____ 598 Zur Neuregelung des § 171 f BauGB Battis/Krautzberger/Löhr NVwZ 2007, 121, 127; Krautzberger DVBl 2008, 337 ff und 737, 744; Finkelnburg/Ortloff/Kment (Fn 10) § 32 Rn 18 ff. 599 Zum Verhältnis dieser Vorschriften zum Denkmalschutzrecht vgl BVerfG DVBl 1987, 465 f; BVerwGE 114, 247 ff. 600 Ausf dazu Finkelnburg/Ortloff/Kment (Fn 10) § 33. 601 Zu den städtebaulichen Geboten zB Stüer DÖV 1988, 337 ff; Schlichter FS Weyreuther, 1993, 349 ff; Lege NVwZ 2005, 880 ff; Leisner Baugebot und Baufreiheit, 2009, insbes 41 ff. 602 BVerfG NVwZ 1999, 979 f. So auch Friauf (Fn 3) 545 f. 603 Vgl Finkelnburg/Ortloff/Kment (Fn 10) § 13 Rn 2 f. 604 So noch Erbguth/Wagner Bauplanungsrecht, 3. Aufl 1998, Rn 334 f; anders nunmehr Erbguth (Fn 3) § 2 Rn 55, § 7 Rn 14 ff. Ausf dazu Koch/Hendler (Fn 119) § 19 Rn 24 ff. 605 Friauf (Fn 3) 546.

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III. Städtebaurecht – 4. Kapitel

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mung erfordern.606 Schließlich ist es keinesfalls unproblematisch, den Bebauungsplan überhaupt im Regelungsbereich des Art 14 III GG anzusiedeln.607 Jedenfalls können §§ 39 ff BauGB keine vollständige „Regelung“ einer (Administrativ-) Enteignung sein. Eine Enteignung erfordert die Einhaltung aller von Art 14 III GG aufgestellten Voraussetzungen (Rn 169 ff), und die von Art 14 III 2 GG geforderte Entschädigungsregelung stellt nur eine dieser Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen dar. Nur bei Vorliegen einer auch im Übrigen zulässigen Enteignung durch Bebauungsplan608 kann das Planschadensrecht der §§ 39 ff BauGB eine Enteignungsentschädigung iSd Art 14 III GG sein. Ein an sich unzulässig enteignender Bebauungsplan wird nicht durch §§ 39 ff BauGB legalisiert. Auch löst er nicht primär Entschädigungs-, sondern Abwehransprüche aus. Systematisch lassen sich im Planschadensrecht der §§ 39 ff BauGB drei Arten von Entschädi- 190 gungsregelungen unterscheiden: – Entschädigung für entwertete Aufwendungen, die im Vertrauen auf den Bestand eines Bebauungsplans getätigt wurden (§ 39 BauGB); – Entschädigung für die Festsetzung von öffentlichen Flächen, Belastungen und Bindungen (§§ 40, 41 BauGB) und – Entschädigung bei Änderung oder Aufhebung einer zulässigen Nutzung (§ 42 BauGB).609 Für das Verhältnis der Anspruchsgrundlagen zueinander bestimmt die Konkurrenzklausel des § 43 III BauGB, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 40 und 41 I BauGB „eine Entschädigung nur nach diesen Vorschriften zu gewähren“ ist. Das betrifft im Wesentlichen aber nur das Verhältnis zwischen § 42 BauGB und §§ 40, 41 I BauGB.610 Der Vertrauenstatbestand des § 39 BauGB gewährt Entschädigung für die durch eine Plan- 191 änderung verursachte Entwertung von Aufwendungen (zB Architektenhonorare), die im Vertrauen auf den Bestand eines Bebauungsplans gemacht wurden. Entschädigungsberechtigt sind nicht nur Eigentümer, sondern auch „sonstige Nutzungsberechtigte“, also Berechtigte auf Grund dinglicher (zB Erbbaurecht) oder obligatorischer (zB Miete, Pacht) Berechtigung. Voraussetzung ist das Vertrauen611 in einen „rechtsverbindlichen“ Bebauungsplan, so dass ein rechtsunwirksamer Bebauungsplan keinen Entschädigungsanspruch auszulösen vermag.612 Der Anspruchsberechtigte kann die Entschädigung nach § 39 S 1 BauGB „in Geld“ verlangen. Inwieweit eine entschädigungsrechtliche Gleichstellung geboten ist, wenn Aufwendungen im Vertrauen auf den Fortbestand einer nach §§ 34, 35 BauGB bestehenden, zulässigen Nutzung getätigt worden sind, ist umstritten.613 Einem Grundstückseigentümer können auch dadurch Vermögensnachteile entstehen, 192 dass die Festsetzungen eines Bebauungsplans (§ 9 I BauGB) die privatnützige Nutzung seines Grundstücks zugunsten einer fremdnützigen vermindern. § 40 I BauGB listet 14 dieser Fälle auf und sucht den Eigentümer dadurch zu entschädigen, dass er ihm einen Anspruch auf Übernahme des Grundstücks durch die öffentliche Hand einräumt (§ 40 II BauGB). Der Eigentümer kann damit im praktischen Ergebnis eine Enteignung erzwingen,614 hat allerdings auch nur die Wahl zwischen der Abgabe des Grundstücks oder der Hinnahme der verminderten Nutzungsmöglich-

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606 BVerfGE 58, 137, 149 f o JK GG Art 14 I/12; Ehlers VVDStRL 51 (1992) 211, 232 ff. 607 Ablehnend Peine (Fn 23) Rn 925. 608 Vgl auch die Hinweise von Battis (Fn 410) Vorb §§ 39–44 Rn 5. 609 Zu Ansprüchen aus § 42 BauGB bei Ausweisung eines Vorranggebietes für Windkraftanlagen im Flächennutzungsplan Heuwinkel NdsVBl 2004, 298 ff. 610 Entschädigungsansprüche außerhalb des Planschadensrechts bleiben unberührt. Zwischen § 41 II BauGB und § 42 BauGB gibt es ebenso wenig Überschneidungen wie zwischen § 39 S 1 BauGB und §§ 40–42 BauGB. 611 Eine vorhandene oder gesicherte Erschließung ist für eine Vertrauensgrundlage nach § 39 BauGB nicht erforderlich, BGH NVwZ 2005, 239. 612 BGHZ 84, 292, 295 f. 613 Dazu Remmert DVBl 1995, 221 ff. 614 Friauf (Fn 3) 548.

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4. Kapitel – Baurecht

keit. Das soll mit Art 14 GG vereinbar sein, weil die Verwirklichung der Festsetzungen idR ohnehin den Erwerb des Grundstücks erfordere.615 Auch § 41 BauGB gewährt Entschädigungsansprüche für fremdnützige Belastungen des Grundstücks. Enthält der Bebauungsplan Festsetzungen über Geh-, Fahr- und Leitungsrechte, kann der Eigentümer nach § 41 I BauGB die Begründung einer entschädigungspflichtigen Dienstbarkeit verlangen;616 bei Festsetzungen über Bepflanzungen räumt § 41 II BauGB unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf angemessene Entschädigung „in Geld“ ein. Für die Fälle, in denen §§ 40 und 41 I BauGB nicht eingreifen (vgl § 43 III BauGB), gewährt der 193 „Auffangtatbestand“617 des § 42 BauGB einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld, wenn die zulässige Nutzung eines Grundstücks618 durch den Bebauungsplan619 aufgehoben oder geändert wird620 und dadurch eine „nicht nur unwesentliche Wertminderung des Grundstücks“ eintritt (§ 42 I BauGB). Die Entschädigungsleistung regelt das Gesetz differenziert. Innerhalb einer Frist von sieben Jahren ab Zulässigkeit der Nutzung wird die Entschädigung abstrakt für die verminderte Nutzungsmöglichkeit berechnet, dh unabhängig davon, ob der Berechtigte von der Nutzungsmöglichkeit auch Gebrauch gemacht hat (§ 42 II BauGB). Danach kommt es darauf an, inwieweit der Berechtigte die Nutzung auch tatsächlich ausgeübt hat (§ 42 III BauGB). Das bewirkt einen mittelbaren Druck auf den Eigentümer zu plankonformer Grundstücksnutzung. Zur Entschädigung verpflichtet ist in erster Linie der durch eine Festsetzung Begünstigte 194 (§ 44 I 1 BauGB). Dient eine Festsetzung der Beseitigung oder Minderung von Auswirkungen, die von der Nutzung eines anderen Grundstücks ausgehen, kann dessen Eigentümer zur Entschädigung verpflichtet sein (§ 44 II BauGB). Zumindest subsidiär haftet stets die Gemeinde (§ 44 I 2, 3 BauGB). 4. Kapitel – Baurecht IV. Bauordnungsrecht – 4. Kapitel

IV. Bauordnungsrecht 1. Funktionen des Bauordnungsrechts 195 Das Bauordnungsrecht621 regelt im Wesentlichen materielle Anforderungen an das Baugrundstück und an bauliche Anlagen.622 Darüber hinaus regelt es den Vollzug dieser Normen sowie den des Städtebaurechts623 durch die Bauaufsichtsbehörden. Die materiellen Anforderungen lassen sich hauptsächlich in solche der Gefahrenabwehr (Rn 196 ff) und solche der Festlegung ästhetischer (Rn 201 ff) und sozialer (Rn 205) Mindeststandards gruppieren. Darüber hinaus finden sich auch Festlegungen ökologischer Standards.624

_____ 615 Vgl Battis (Fn 410) § 40 Rn 3; Finkelnburg/Ortloff/Kment (Fn 10) § 13 Rn 16. 616 Vgl Einzelheiten zB bei Paetow in: Schlichter/Stich/Driehaus/ders, Berliner Kommentar, § 41 Rn 3 ff. 617 Battis (Fn 410) § 42 Rn 1. 618 Die Zulässigkeit der Nutzung kann sich auch aus §§ 34, 35 BauGB ergeben; vgl Schieferdecker in: Hoppe/Bönker/Grotefels (Fn 76) § 9 Rn 22. 619 Zu der umstrittenen Frage, ob die Aufhebung der Nutzung außer durch Bebauungsplan oder sonstige städtebauliche Satzung auch dadurch erfolgen kann, dass die Nutzungsmöglichkeiten in einem im Zusammenhang bebauten Ortsteil durch die Erteilung von Baugenehmigungen allmählich umstrukturiert werden, BGHZ 64, 366 ff; E 81, 347 ff; Paetow (Fn 616) § 42 Rn 10 mwN. 620 Für die von vornherein nur befristete oder bedingte Zulässigkeit nach § 9 II BauGB gilt § 42 BauGB nicht, vgl Kukk VBlBW 2006, 302, 305; Heemeyer DVBl 2006, 25, 26 f jew mwN. 621 Zu aktuellen Entwicklungen im Bauordnungsrecht vgl nur Jäde ZfBR 2011, 427 ff; ders ZfBR 2010, 551 ff; ders ZfBR 2009, 428 ff. 622 Bauliche Anlagen sind nach der Legaldefinition der LBauOen „mit dem Erdboden verbundene, aus Bauprodukten hergestellte Anlagen“ (§ 2 I 1 MBO). Zum Verhältnis des bauplanungsrechtlichen zum bauordnungsrechtlichen Begriff der „baulichen Anlage“ vgl o Rn 128 f. 623 Zum Verhältnis der Rechtsmaterien zueinander vgl o Rn 7. 624 Vgl Brohm (Fn 66) § 5 Rn 1.

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IV. Bauordnungsrecht – 4. Kapitel

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a) Gefahrenabwehr Zu den klassischen, vom Staat stets wahrgenommenen Aufgaben gehören die der Gefahrenab- 196 wehr. In seinem berühmten § 10 Teil II Titel 17 (§ 10 II 17) bestimmte das PrALR v 1.6.1794: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publiko, oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey“. Die Wahrnehmung der in § 10 II 17 PrALR normierten Aufgabe der Gefahrenabwehr fiel in Preußen in die Zuständigkeit der Polizei („Baupolizei“). Die bauordnungsrechtlichen Generalklauseln knüpfen auffällig an diese baupolizeiliche Tradition an, wenn es heißt, dass bauliche Anlagen so „anzuordnen, zu errichten, zu ändern und instandzuhalten (sind), dass die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, insbesondere Leben, Gesundheit und die natürlichen Lebensgrundlagen, nicht gefährdet werden“ (§ 3 I MBO625). Die gesetzlich getroffene Begriffswahl ähnelt der der allgemeinen ordnungs- und polizeirechtlichen Aufgabenzuweisungs- und Ermächtigungsnormen.626 Das spricht dafür, die Begriffe „Gefahr“ und „öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ entsprechend dem ordnungs- und polizeirechtlichen Verständnis auszulegen.627 Die Einzelvorschriften des materiellen Bauordnungsrechts erschöpfen sich aber nicht in Konkretisierungen der Generalklausel. Vielmehr können sie auch Anforderungen enthalten, die über die der Generalklausel hinausgehen. Die Generalklausel behält aber für den Bereich der Gefahrenabwehr die Funktion eines Auffangtatbestandes. Neben der Generalklausel und den übrigen materiellrechtlichen Einzelvorschriften in den 197 LBauOen finden sich weitere Bestimmungen zur Verwirklichung der bauordnungsrechtlichen Anforderungen in den Rechtsverordnungen,628 zu deren Erlass die LBauOen ausdrücklich ermächtigen (§ 85 MBO629). Eine Fülle von technischen Bestimmungen über das Bauwerk und seine Ausführung enthalten zudem die in verschiedenen Normen630 angesprochenen „allgemein anerkannten Regeln der Technik“ bzw die „durch öffentliche Bekanntmachung als Technische Baubestimmungen eingeführten technischen Regeln“ (§ 3 III 1 MBO). Diese sind im Wesentlichen in den von sachverständigen Gremien des deutschen Normenausschusses erarbeiteten Regelwerken der DIN-Normen sowie in den VDI-Vorschriften und den Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften enthalten. Durch ihre gesetzliche Einbeziehung erhalten die technischen Regeln zwar nicht den Charakter von Rechtsnormen.631 Werden sie aber beachtet, kann davon ausgegangen werden, dass das Vorhaben den gesetzlichen Anforderungen, auf die sich die Regeln jeweils beziehen, entspricht.632 Die LBauOen stellen zum einen – sehr detaillierte – Anforderungen an die bauliche Anlage 198 selbst, etwa unter dem Gesichtspunkt der Standsicherheit, des Brandschutzes und des Wärme-

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625 Vgl Art 3 I BauO Bay; § 3 II BauO SH; mit im Einzelnen bisweilen leicht divergierender Terminologie auch § 3 I aller übrigen LBauOen. 626 Dazu o Schoch 2. Kap Rn 94 ff. 627 Grotefels (Fn 76) § 15 Rn 12; Schenke in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR I, § 9 Rn 45 ff. Soweit die obersten Bauaufsichtsbehörden ermächtigt werden, „zur Verwirklichung der in § 3 Abs. 1 und 2 bezeichneten Anforderungen“ durch Rechtsverordnungen Vorschriften zu erlassen (vgl § 85 I MBO), muss wie bei den polizei- und ordnungsrechtlichen Verordnungsermächtigungen auch das Vorliegen einer abstrakten Gefahr genügen. ZT verzichten die Ordnungs- und PolizeiG inzwischen auf die Normierung des Schutzgutes „öffentliche Ordnung“, vgl o Schoch 2. Kap Rn 94. 628 In Berlin zB FeuerungsVO v 31.1.2006 (GVBl 116); Verordnung über den Betrieb von baulichen Anlagen (BetrVO) v 10.10.2007 (GVBl 516). 629 Vgl § 73 BauO BW; Art 80 BauO Bay; § 84 BauO Bln; § 80 BauO Bbg; § 84 BauO Bremen; § 81 BauO Hbg; § 80 BauO Hess; § 85 BauO MV; § 82 BauO Nds; § 85 BauO NW; § 87 BauO RP; § 86 BauO SL; § 88 BauO Sachs; § 84 BauO LSA; § 83 BauO SH; § 82 BauO Thür. 630 Vgl §§ 17 I 2, 3, III 1; 19 I 2; 21 I 1, 3 MBO. 631 BVerwG BauR 2000, 859, 860 ff; ZfBR 2010, 792. Zur Problematik der technischen Regeln im Recht zB Brohm (Fn 66) § 5 Rn 9 ff. 632 Art 3 II 4 BauO Bay; § 3 IV 4 BauO SL; Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 23 f; Dürr/Korbmacher Baurecht für Berlin, Rn 254.

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4. Kapitel – Baurecht

schutzes. Hierzu zählen auch Vorschriften über die Beschaffenheit von Bauteilen, Baustoffen, von Wänden, Treppen, Aufzügen und haustechnischen Anlagen etc, deren Anwendung zT davon abhängig gemacht wird, welcher Gebäudeklasse das Bauwerk angehört (vgl § 2 III MBO633). Zum anderen stellen die LBauOen Anforderungen an das Grundstück selbst und an die Art und Weise seiner Bebauung. So darf ein Gebäude nur errichtet werden, wenn das Grundstück in angemessener Breite an einer befahrbaren öffentlichen Verkehrsfläche liegt.634 Besonderer Erwähnung bedarf dabei die Regelung über Abstandsflächen (insbesondere früher sog Bauwiche).635 Mit Abstandsflächen sind die prinzipiell freizuhaltenden Flächen zwischen den Gebäuden gemeint.636 Sie dienen unterschiedlichen Zwecken, zB der Versorgung der Räume mit Tageslicht, der Durchlüftung der Freiräume, dem Nachbarfrieden und dem Brandschutz. Der Konzeption der von § 6 MBO vorgesehenen Abmessungen liegt die Vorstellung zugrunde, dass mit der Wahrung des einen Belanges zugleich die anderen Belange mitberücksichtigt werden können, so dass der Gesamtheit der Abstandsregelungen ein einheitliches Maß zugrunde gelegt werden kann.637 Zum Schutz des ruhenden Verkehrs vor Überlastung ist die Errichtung einer baulichen oder 199 anderen Anlage davon abhängig, dass Garagen oder Stellplätze in ausreichender Größe und geeigneter Beschaffenheit vorhanden sind.638 Sie sind auf dem Baugrundstück oder „in zumutbarer Umgebung davon“ herzustellen. In baulich verdichteten Gebieten oder in Gebieten mit alter Bausubstanz ist aber uU die Schaffung von Parkraum für den Bauherrn ausgeschlossen oder aus städtebaulichen Gründen untunlich. Auch kann die Herstellung von Stellplätzen oder Garagen bauplanungsrechtlich unzulässig (§ 12 VI BauNVO) sein. Weiterhin sehen viele LBauOen vor, dass die Gemeinden die Herstellung von Stellplätzen oder Garagen untersagen oder einschränken können.639 Um die Bebaubarkeit des Grundstücks – oder die wesentliche Änderung oder Nutzungsänderung der baulichen Anlage – nicht schon aus diesem Grund auszuschließen, sehen die LBauOen640 die Möglichkeit der Ablösung der Stellplatzpflicht vor. Danach „kann“ die Bauaufsichtsbehörde mit Einverständnis der Gemeinde auf die an sich erforderliche Schaffung von Parkraum verzichten, wenn der zur Herstellung Verpflichtete einen Geldbetrag

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633 Art 2 III BauO Bay sowie jew § 2 III BauO BW; BauO Bln, BauO Bremen; BauO Hbg, BauO Hess, BauO LSA, BauO MV, BauO SL, BauO Sachs, BauO SH; BauO RP, BauO Thür. Die LBauOen der übrigen Länder enthalten keine Einteilung in Gebäudeklassen. 634 § 4 I MBO. So oder ähnlich § 4 I BauO BW; Art 4 I Nr 2 BauO Bay; § 4 I BauO Bln; § 4 I Nr 2 BauO Bbg; § 4 I 1 BauO Bremen; § 4 I 1 BauO Hbg; § 4 I BauO Hess; § 4 I BauO MV; § 4 I BauO Nds; § 4 I Nr 1 BauO NW; § 6 II 1 Nr 1 BauO RP; § 5 I BauO SL; § 4 I BauO Sachs; § 4 I BauO LSA; § 4 II BauO SH; § 4 I BauO Thür. 635 § 6 MBO. Vgl §§ 5 f BauO BW; Art 6 BauO Bay; §§ 5 ff BauO Nds; § 8 f BauO RP; § 7 f BauO SL und jew § 6 aller übrigen LBauOen. 636 Im Hinblick auf die Abstandsflächenregelung kann es zu Überschneidungen bauplanungs- und bauordnungsrechtlicher Regelungen kommen, vgl o Rn 7. 637 Oldiges (Fn 53) Rn 292; vgl zu den Abstandsflächen weiter Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 28 ff. 638 Vgl § 37 BauO BW; Art 47 I BauO Bay; § 43 I, II, VI BauO Bbg; § 49 I BauO Bremen; § 48 I BauO Hbg; § 44 I BauO Hess; § 49 iVm § 86 I Nr 4 BauO MV; § 47 I BauO Nds; § 51 I BauO NW; § 47 I BauO RP; § 47 I BauO SL; § 49 I BauO Sachs; § 48 I 1 BauO LSA; § 50 I BauO SH; § 49 I BauO Thür. § 86 I Nr 4 iVm § 49 MBO sieht hingegen nur die Möglichkeit vor, dass Gemeinden durch Ortssatzung eine derartige Pflicht zur Schaffung von Stellplätzen begründen können. In Berlin sind Stellplätze für Kfz gem § 50 I 1 BauO Bln nur bei der Errichtung öffentlich zugänglicher Gebäude und insoweit auch nur in ausreichender Zahl für schwer Gehbehinderte und Rollstuhlfahrer herzustellen. Im Übrigen besteht in Berlin lediglich eine Stellplatzpflicht im Hinblick auf Fahrräder. Vgl insoweit nun auch § 49 III MBO. 639 So oder ähnlich § 74 II Nr 3 BauO BW; § 81 IV 2 Nr 2 BauO Bbg; § 48 IV BauO Hbg; § 44 I 2 Nr 6 BauO Hess; § 47 I 3 BauO Nds; § 51 IV Nr 2 BauO NW; § 47 IV 1 iVm § 88 III Nr 3 BauO RP; § 47 III 1 iVm § 85 I Nr 8 BauO SL; § 49 I 3 iVm § 83 I Nr 7 BauO Thür. 640 Vgl § 37 V BauO BW; Art 47 III Nr 3 BauO Bay; § 50 III 1 BauO Bln; § 43 III BauO Bbg; § 49 II iVm § 85 I Nr 4 BauO Bremen; § 49 BauO Hbg; § 44 I 2 Nr 7 BauO Hess; § 49 II 1 iVm § 86 I Nr 4 BauO MV; § 47 V BauO Nds; § 51 V BauO NW; § 47 IV BauO RP; § 47 III iVm § 85 I Nr 9 BauO SL; § 49 II 1 BauO Sachs; § 48 II BauO LSA; § 50 VI BauO SH; § 49 III BauO Thür sowie § 49 II iVm § 86 I Nr 4 MBO.

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IV. Bauordnungsrecht – 4. Kapitel

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an die Gemeinde nach Maßgabe einer gemeindlichen Satzung zahlt.641 Zum Verfahren der Geltendmachung des Ablösebetrages enthält die MBO keine Regelung. Demgegenüber bestimmt § 51 V 3 BauO NW: „Den Geldbetrag zieht die Gemeinde ein“.642 Diese Vorschrift ermächtigt zum Erlass eines Verwaltungsakts,643 stellt andererseits aber – wie auch die entsprechenden Vorschriften der anderen LBauOen – keine dem Abschluss eines Verwaltungsvertrages („Garagendispensvertrag“) „entgegenstehende Rechtsvorschrift“ iSd § 54 S 1 VwVfGe dar.644 § 43 III 1 BauO Bbg sieht demgegenüber den öffentlich-rechtlichen Vertrag als alleinige Handlungsform der Gemeinde zur Ablösung der Stellplatzpflicht vor. Bauordnungsrechtlichen Anforderungen an das Grundstück und die Art und Weise seiner 200 Bebauung kann das Baugrundstück selbst häufig nicht oder nur schwer genügen. Daher sieht das Gesetz in einigen Fällen vor, dass derartige Voraussetzungen durch Inanspruchnahme anderer Grundstücke erfüllt werden können, wenn diese Inanspruchnahme „öffentlich-rechtlich gesichert“ ist.645 Als Instrument zur Herstellung dieser öffentlich-rechtlichen Absicherung baurechtlicher Anforderungen kennen die LBauOen die Baulast646 (§ 83 MBO647). Mit der Baulast können nicht nur bauordnungsrechtliche, sondern auch bauplanungsrechtliche Anforderungen an ein Grundstück sichergestellt werden.648 Die Übernahme einer Baulast bedeutet, dass der Grundstückseigentümer durch öffentlich-rechtliche Willenserklärung649 gegenüber der Bauaufsichtsbehörde eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung650 zu einem Verhalten in Bezug auf sein Grundstück übernimmt, die sich nicht ohnehin schon aus öffentlich-rechtlichen Vorschriften ergibt. Die in das Baulastenverzeichnis eingetragene Verpflichtung651 kann von der Bauaufsichtsbehörde mit den Mitteln der Bauaufsicht durchgesetzt werden.

b) Ästhetische Anforderungen Die Baugestaltung war in Form des Schutzes vor baulichen Verunstaltungen schon im PrALR 201 angesprochen. § 65 I 8 PrALR bestimmte: „In der Regel ist jeder Eigenthümer seinen Grund und Boden mit Gebäuden zu besetzen oder ein Gebäude zu verändern wohl befugt“. § 66 I 8 PrALR

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641 Nach BVerfG BauR 2009, 1119 ff und BVerwGE 122, 1 ff ist der Stellplatzablösebetrag verfassungsmäßig und keine unzulässige Sonderabgabe. 642 Die übrigen LBauOen beschränken sich auf eine der MBO entsprechende Regelung, vgl aber § 44 IV BauO Hess. 643 OVG NW NJW 1983, 2834, 2834 f. 644 Vgl zB OVG Lüneburg BauR 1987, 672, 673; OVG NW DVBl 1977, 903, 904; BauR 1985, 69, 70 und insbes Ehlers DVBl 1986, 529 ff. Zum Dispensvertrag schon o Rn 177. 645 Im Hinblick auf Abstandsflächen: § 6 II 3 MBO. So oder ähnlich § 7 1 BauO BW; Art 6 II 3 BauO Bay; § 6 II 3 BauO Bln; § 6 II 4 BauO Bbg; § 6 II 3 BauO Bremen; § 6 II 4 BauO Hbg; § 7 I BauO Hess; § 6 II 3 BauO MV; § 4 II BauO Nds; § 6 II 3 BauO NW; § 9 I 1 BauO RP; § 8 VI 1 BauO SL; § 6 II 3 BauO Sachs; § 6 II 3 BauO LSA; § 6 II 3 BauO SH; § 6 II 3 BauO Thür. 646 Dazu BVerwG NVwZ 1995, 377, 377 f; Broß VerwArch 86 (1995) 483 ff; Schwarz BauR 1998, 446 ff; Kluth/ Neuhäuser NVwZ 1996, 738 ff; Probst ZfIR 2007, 777 ff. Zu zivilrechtlichen Aspekten Masloh NJW 1995, 1993 ff. 647 §§ 71 f BauO BW; § 82 BauO Bln; § 82 BauO Bremen; § 79 BauO Hbg; § 75 BauO Hess; § 83 BauO MV; § 81 BauO Nds; § 83 BauO NW; § 86 BauO RP; § 83 BauO SL; § 83 BauO Sachs; § 82 BauO LSA; § 80 BauO SH; § 80 BauO Thür. In § 65 BauO Bbg ist statt der Baulast eine öffentlich-rechtliche Sicherung durch eine in das Grundbuch einzutragende beschränkte persönliche Dienstbarkeit zu Gunsten der Gebietskörperschaft vorgesehen. Die BauO Bay kennt kein Sicherungsinstrument dieser oder ähnlicher Art. 648 Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 73 ff; in Bezug auf planungsrechtliche Baulasten einschränkend Dürr/Korbmacher (Fn 632) Rn 266 mwN. 649 BGH DVBl 1981, 922, 923 mwN; Brohm (Fn 66) § 4 Rn 16. 650 Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 71; Stollmann (Fn 3) § 18 Rn 33; VGH BW BauR 2008, 84, 86. 651 § 83 I 2 MBO. Nach § 82 I 3 BauO Bln; § 82 I 2 BauO Bremen; § 79 I 2 BauO Hbg; § 75 I 2 BauO Hess; § 83 I 2 BauO MV; § 81 I 2 BauO Nds; § 83 I 3 BauO NW; § 86 I 2 BauO RP; § 83 I 2 BauO SL; § 83 I 2 BauO Sachs; § 82 I 2 BauO LSA; § 80 I 2 BauO SH; § 80 I 2 BauO Thür wird die Baulast durch Eintragung im Baulastverzeichnis wirksam. Keine ausdrückliche Regelung zur konstituierenden Wirkung der Eintragung in § 71 I BauO BW.

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ergänzte: „Doch soll zum Schaden oder zur Unsicherheit des gemeinen Wesens, oder zur Verunstaltung der Städte und öffentlichen Plätze, kein Bau und keine Veränderung vorgenommen werden“. Unter „Verunstaltung“ verstand das PrOVG die „Herbeiführung eines positiv häßlichen, jedes offene Auge verletzenden Zustandes“.652 Zur Pflege der örtlichen Eigenart und Bauweise, der Schonung alter Ortsbilder und der Erhaltung von Baudenkmälern ergingen in Preußen später das Gesetz gegen die Verunstaltung landschaftlich hervorragender Gegenden v 2.6. 1902653 und das Gesetz gegen die Verunstaltung von Ortschaften und landschaftlich hervorragenden Gegenden v 15.7.1907.654 Reichsrechtlich wurde die Verunstaltungsabwehr Gegenstand der Regelung der Baugestaltungsverordnung v 10.11.1936.655 Der Verunstaltungsschutz gehört also zu den traditionellen Funktionen des Bauordnungsrechts.656 Die normativen Restriktionen privater Bauvorhaben müssen sich heute an den Grundrech202 ten, insbesondere an Art 14 I und II GG messen lassen (Rn 27 ff). Die staatliche Beschränkung der Gestaltungsabsichten des Bauherrn zugunsten ästhetischer Belange wirft in grundrechtlicher Hinsicht deshalb besondere Probleme auf, weil bei Heranziehung des Übermaßverbotes (Rn 30) die staatlich verfolgten bauästhetischen Interessen keineswegs stets Vorrang vor denen des Bauherrn haben müssen. Insbesondere steht nicht fest, dass die staatliche oder gemeindliche Vorstellung von der Bauwerks- oder Stadtbildgestaltung stets das gegenüber den Vorstellungen Privater bessere ästhetische Konzept sein muss. Dies legt eine restriktive Auslegung und Anwendung der auf die Baugestaltung zielenden Vorschriften nahe. Diesen Vorgaben kommen die Formulierungen der bauordnungsrechtlichen Vorschriften 203 entgegen, die die Anforderungen an die Baugestaltung überwiegend als „Verunstaltungsschutz“ ausformen.657 Danach dürfen bauliche Anlagen „nicht verunstaltet wirken“ und sind mit ihrer Umgebung so in Einklang zu bringen, dass sie das Straßen-, Orts- oder Landschaftsbild nicht „verunstalten“ (§ 9 MBO 658 ). An Werbeanlagen 659 werden dabei erhöhte Anforderungen gestellt.660 Bei der Errichtung oder Änderung baulicher Anlagen kann verlangt werden, dass die Oberfläche des Grundstücks erhalten oder verändert wird, um eine Störung des Straßen-, Ortsoder Landschaftsbildes zu vermeiden.661 Der Begriff der Verunstaltung bringt schon seinem Wortsinn nach zum Ausdruck, dass er 204 nur auf die Abwehr ästhetischer Missgriffe zielt, nicht aber den Bauherrn zur Übernahme der baugestalterischen Vorstellungen der Bauaufsichtsbehörde zwingt.662 Das BVerwG versteht unter dem Begriff der Verunstaltung, der umfassender gerichtlicher Überprüfung unterliegt, einen

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652 PrOVGE 9, 353, 382 – Kreuzberg-Urteil, auch abgedruckt in DVBl 1985, 219 ff. Dazu Weyreuther Eigentum, öffentliche Ordnung und Baupolizei, 1972. 653 GS 159. 654 GS 260. 655 RGBl I 938. 656 Zur eingeschränkten Prüfungskompetenz der Bauaufsichtsbehörden im vereinfachten Verfahren vgl u Rn 218. 657 Noch weitergehend ist zB die Verpflichtung zur gärtnerischen Anlage und Unterhaltung nicht überbauter Flächen, § 8 I MBO; § 9 I BauO BW; Art 7 I 1 Nr 2 BauO Bay; § 8 I Nr 2 BauO Bln; § 7 I 1 Nr 2 BauO Bbg; § 8 I BauO Bremen; § 9 I Nr 2 BauO Hbg; § 8 I 1 Nr 2 BauO Hess; § 8 I 1 Nr 2 BauO MV; § 9 I, II BauO Nds; § 9 I BauO NW; § 10 IV BauO RP; § 10 I 1 Nr 2 BauO SL; § 8 I 1 Nr 2 BauO Sachs; § 8 I 1 Nr 2 BauO SH; § 9 I 1 Nr 2 BauO Thür. 658 Vgl § 11 I, II BauO BW; Art 8 BauO Bay; § 9 BauO Bln; § 8 BauO Bbg; § 9 BauO Bremen; § 12 BauO Hbg; § 9 BauO Hess; § 9 BauO MV; § 10 BauO Nds; § 12 BauO NW; § 5 BauO RP; § 4 BauO SL; § 9 BauO Sachs; § 9 BauO LSA; § 10 BauO SH; § 12 BauO Thür. 659 § 10 MBO; § 11 III Nr 1 BauO BW; Art 8 S 3 BauO Bay; § 10 BauO Bln; § 9 BauO Bbg; § 10 BauO Bremen; § 13 BauO Hbg; § 10 BauO MV; § 50 BauO Nds; § 13 BauO NW; § 52 BauO RP; § 12 BauO SL; § 10 BauO Sachs; § 10 BauO LSA; § 11 BauO SH; § 13 BauO Thür. Soweit Werbeanlagen bauliche Anlagen iSd LBauOen darstellen, gelten für sie zudem die allgemeinen Bauordnungsvorschriften. 660 BayVGH BRS 65 Nr 148; OVG RP BauR 2003, 868 f; OVG Berlin BRS 65 Nr 151; vgl auch OVG Bln-Bbg LKV 2009, 182 f; Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 43 f. 661 Vgl § 10 Nr 1 BauO BW; § 7 II BauO Bbg; § 9 III BauO NW; § 10 I BauO RP; § 5 V 2 Nr 1 BauO SL. 662 OVG NW NVwZ 1993, 89; OVG Hamburg BRS 42 Nr 134; Oldiges (Fn 53) Rn 296.

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hässlichen, das ästhetische Empfinden des Beschauers nicht bloß beeinträchtigenden, sondern verletzenden Zustand.663 Dabei ist umstritten, über welche ästhetische Sensibilität der die Frage der Verunstaltung beurteilende „Beschauer“ verfügen muss. Das BVerwG setzt auch insoweit das Maß nicht allzu hoch an, wenn es „das Empfinden jedes für ästhetische Eindrücke offenen Betrachters …, also des sogenannten gebildeten Durchschnittsmenschen“ für maßgeblich erachtet. 664 Unter Zugrundelegung dieser Kriterien kann das Gericht das (Nicht-)Vorliegen einer Verunstaltung ohne Hinzuziehung von Sachverständigen, ggf nach Augenscheinnahme, selbst beurteilen.665 Nicht nur auf negative Verunstaltungsabwehr, sondern auch auf positive Baugestaltung können die örtlichen Bauvorschriften gerichtet sein, die die Gemeinden erlassen dürfen (§ 86 MBO666).

c) Soziale Standards Aufgrund von Art 20 I, 28 I 1 GG hat der Staat ein Mandat zur Verfolgung sozialstaatlicher Belan- 205 ge. Die Wahrnehmung wohlfahrts- und sozialpflegerischer Aufgaben gehört daher zu den verfassungsrechtlich zulässigen Funktionen auch des Bauordnungsrechts. Sie kommen zwar nicht immer in den bauordnungsrechtlichen Generalklauseln,667 wohl aber in zahlreichen Einzelvorschriften zum Ausdruck. Zu ihnen zählen etwa Vorschriften über die Bereitstellung von Spielflächen für Kinder668 und die Mindestausstattung von Wohnungen669 sowie Regelungen zum Schutz von besonders schutzbedürftigen Personengruppen.670 Im Übrigen können auch nicht spezifisch sozialstaatliche Vorschriften soziale Funktionen (mit-)erfüllen, zB die Regelungen über Abstandsflächen (Rn 198), die neben der Gefahrenabwehr auch dem „Nachbarfrieden“ dienen können.671

d) Ökologische Standards Gem Art 20a GG schützt der Staat die natürlichen Lebensgrundlagen. Dementsprechend finden 206 sich in mehreren Bestimmungen der MBO und der LBauOen ökologische Standards.672 Zudem müssen bereits aufgrund der Generalklausel des § 3 I MBO bauliche Anlagen so beschaffen sein, dass die natürlichen Lebensgrundlagen nicht gefährdet werden.673 Um bauordnungsrechtliche

_____ 663 BVerwGE 2, 172, 176 f. Der Begriff der Verunstaltung genügt den rechtsstaatlichen Geboten der Rechtsklarheit und -sicherheit, BVerfG NVwZ 1985, 819 f (Vorprüfungsausschuss). 664 BVerwGE 2, 172, 177; E 27, 129, 130 f; OVG NW BRS 35, Nr 130; VGH BW BRS 39, Nr 144. 665 Hoppe FS F. Klein, 1977, 190, 206; OVG Berlin BRS 20, Nr 122. 666 Vgl § 74 BauO BW; Art 81 BauO Bay; § 81 BauO Bbg; § 85 BauO Bremen; § 81 BauO Hess; § 86 BauO MV; § 84 BauO Nds; § 86 BauO NW; § 88 BauO RP; § 85 BauO SL; § 89 BauO Sachs; § 85 BauO LSA; § 84 BauO SH; § 83 BauO Thür. 667 Sozialstaatliche Belange kommen positiv in § 3 IV BauO BW; § 3 I 2 BauO Bremen; § 3 II BauO Nds; § 3 I Nr 5 BauO SL; § 3 I BauO SH zum Ausdruck. Vgl auch § 4 BauO RP. Kaum hingegen in § 3 der übrigen LBauOen. 668 Vgl § 8 II MBO; § 9 II BauO BW; Art 7 II BauO Bay; § 8 II, III BauO Bln; § 7 III BauO Bbg; § 8 III, IV BauO Bremen; § 10 BauO Hbg; § 8 II BauO Hess; § 8 II BauO MV; § 9 II BauO NW; § 11 BauO RP; § 10 II BauO SL; § 8 II BauO Sachs; § 8 BauO LSA; § 8 II BauO SH; § 9 II BauO Thür. 669 Vgl § 48 MBO; §§ 35 f BauO BW; Art 46 BauO Bay; § 49 BauO Bln; § 41 BauO Bbg; §§ 47 f BauO Bremen; § 45 BauO Hbg; § 43 BauO Hess; § 48 BauO MV; §§ 44 f BauO Nds; §§ 49 f BauO NW; §§ 44 ff BauO RP; § 46 BauO SL; § 48 BauO Sachs; § 47 BauO LSA; §§ 49 f BauO SH; § 46 BauO Thür. 670 § 50 MBO sowie § 39 BauO BW; Art 48 BauO Bay; § 51 BauO Bln; § 45 BauO Bbg; § 50 BauO Bremen; § 52 BauO Hbg; § 46 BauO Hess; § 50 BauO MV; § 49 BauO Nds; § 55 BauO NW; § 51 BauO RP; § 50 BauO SL; § 50 BauO Sachs; § 49 BauO LSA; § 52 BauO SH; § 53 BauO Thür. 671 Vgl Dürr/Korbmacher (Fn 632) Rn 222: „Wohnfrieden“; ebenso Hahn/Radeisen BauO Bln, § 6 Rn 1. 672 Vgl §§ 8 I, 11 IV, 13 MBO. 673 Vgl Art 3 I BauO Bay; § 3 I Nr 3 BauO Bbg; § 3 I 2 BauO Nds; § 3 I Nr 4 BauO SL sowie jew § 3 I der übrigen LBauOen.

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und ökologische Belange in Ausgleich zu bringen, sehen einige LBauOen außerdem eine Privilegierung von Windenergieanlagen hinsichtlich der einzuhaltenden Abstandsflächen vor.674

2. Die baurechtliche Verantwortlichkeit 207 Nach allgemeinem Gefahrenabwehrrecht haftet der Verantwortliche für die Beseitigung der Gefahr. Dabei ist die „Verursachung“ wesentliches Kriterium für die Begründung der polizei- und ordnungsrechtlichen Verantwortlichkeit.675 Auch das Bauordnungsrecht, das in weiten Teilen Gefahrenabwehrrecht („Baupolizeirecht“) ist, knüpft im Grundsatz an dieses Kriterium an. Allerdings nehmen die LBauOen auf die Besonderheiten der Sachmaterie Rücksicht und gestalten in den Regelungen über „Die am Bau Beteiligten“ die baurechtliche Verantwortlichkeit differenziert aus (§§ 52 ff MBO676). Im Hinblick auf die Errichtung, Änderung, Nutzungsänderung und den Abbruch baulicher Anlagen haften nicht nur der Bauherr, sondern „im Rahmen ihres Wirkungskreises“ auch andere am Bau beteiligte Personen (idR Entwurfsverfasser, Unternehmer, Bauleiter) für die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften. Dabei sind die jeweiligen Verantwortungsbereiche an den verschiedenen Funktionen der Beteiligten (Planen – Ausführen – Überwachen) und an den durch berufliche Standards geprägten Anforderungsprofilen ausgerichtet. Diese spezialgesetzlichen Regelungen schließen in ihrem Anwendungsbereich einen Rückgriff auf die im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht normierte Verhaltensverantwortlichkeit aus.677 Die Verantwortlichkeit der am „Bau Beteiligten“ endet jedoch mit der Fertigstellung des jeweiligen Vorhabens. Im Anschluss gelten daher für die Verantwortlichkeit bzgl der Vereinbarkeit von baulicher Anlage und Grundstück mit dem öffentlichen Recht die allgemeinen polizei- und ordnungsrechtlichen Grundsätze.678

3. Bauaufsichtsbehörden 208 Zuständig für den Vollzug der jeweiligen LBauO sowie anderer öffentlich-rechtlicher Vorschriften über die Errichtung, Änderung, Nutzung oder den Abbruch baulicher Anlagen sind die Bauaufsichtsbehörden (vgl § 57 I 2 MBO). Der Behördenaufbau entspricht dem der Verwaltungsorganisation im jeweiligen Bundesland, dh in den Flächenstaaten ist er regelmäßig679 dreistufig,680 bei nur zweistufigem Verwaltungsaufbau entsprechend zweistufig.681 Die Bauaufsicht bezeichnet § 58 I MBO undifferenziert als „Aufgabe des Staates“.682 In der untersten Instanz, der grundsätzlich die eigentlichen Vollzugsaufgaben zukommen, sind idR683 kommunale Stellen zustän-

_____ 674 § 6 X 2–5 BauO NW; § 8 X 2 BauO RP; dazu Rspr-Übersicht bei Meier LKRZ 2007, 457 ff. Zu den baurechtlichen Problemen von Windenergieanlagen Jeromin BauR 2003, 820 ff. 675 Dazu o Schoch 2. Kap Rn 167 ff. 676 §§ 41 ff BauO BW; Art 49 ff BauO Bay; §§ 53 ff BauO Bln; §§ 46 ff BauO Bbg; §§ 52 ff BauO Bremen; §§ 53 ff BauO Hbg; §§ 47 ff BauO Hess; §§ 52 ff BauO MV; §§ 52 ff BauO Nds; §§ 56 ff BauO NW; §§ 54 ff BauO RP; §§ 52 ff BauO SL; §§ 52 ff BauO Sachs; §§ 51 ff BauO LSA; §§ 53 ff BauO SH; §§ 54 ff BauO Thür. Auch außerhalb des Abschnitts über die am Bau Beteiligten enthalten die LBauOen gelegentlich Bestimmungen über den Verantwortlichen, vgl zB § 12 III BauO BW; Art 9 III BauO Bay; § 11 III BauO Bln; § 10 III BauO Bbg; § 11 III BauO Bremen; § 14 III BauO Hbg; § 11 III BauO MV; § 14 III BauO NW; § 53 III BauO RP; § 11 IV BauO SL; § 11 II, III BauO Sachs; § 11 III BauO LSA; § 12 III BauO SH; § 14 III BauO Thür. 677 Grotefels (Fn 76) § 16 Rn 4; Schenke (Fn 627) § 9 Rn 66. 678 Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 111; Grotefels (Fn 76) § 16 Rn 9. 679 Vgl insofern die jew Landesorganisationsgesetze. 680 § 57 I MBO sowie § 46 BauO BW; Art 53 BauO Bay; § 52 BauO Hess; § 60 I BauO NW; § 58 BauO RP; § 57 I BauO Sachs; § 56 BauO LSA; § 59 BauO Thür. 681 Vgl § 51 BauO Bbg; § 57 I BauO MV; § 57 I BauO Nds; § 58 I BauO SL; § 65 BauO SH. 682 Vgl nun auch § 57 I BauO SL. 683 Anderes gilt zB in den Stadtstaaten sowie zT in Baden-Württemberg und im Saarland.

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dig. Diese nehmen die Aufgaben der Bauaufsicht als Auftragsangelegenheiten bzw als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung684 wahr.685 Die Bauaufsichtsbehörden handeln als Sonderpolizei- bzw Sonderordnungsbehörden.686

4. Zulassung von Vorhaben Die Bauaufsichtsbehörden haben dafür Sorge zu tragen, dass bei der baulichen Nutzung von 209 Grundstücken die öffentlich-rechtlichen Vorschriften, besonders die des öffentlichen Baurechts, eingehalten werden.687 Dazu steht ihnen ein differenziertes Instrumentarium zur Verfügung, mit dessen Hilfe sie sowohl präventiv (vorgängige Kontrolle) als auch repressiv (nachgängige Kontrolle) auf das Baugeschehen einwirken können. Mit der vorgängigen Kontrolle baulicher Vorhaben beschäftigen sich die Vorschriften über ihre Zulassung. Dabei sehen die LBauOen als gesetzlichen Regelfall die Genehmigungsbedürftigkeit der Errichtung, Änderung, Nutzungsänderung und des Abbruchs baulicher Anlagen sowie anderer Anlagen und Einrichtungen vor (§ 59 I MBO688). Hiervon bestehen aber verschiedene Ausnahmen (Rn 221).

a) Genehmigungsbedürftige Vorhaben aa) Genehmigungsarten. Die Baugenehmigung zielt grundsätzlich auf eine Kontrolle des gan- 210 zen Bauvorhabens vor Baubeginn. Eine partielle, dh nur auf bestimmte Aspekte ausgerichtete Kontrolle des Vorhabens attestiert der Vorbescheid (§ 75 MBO689), dessen Erteilung der Bauherr durch eine sog Bauvoranfrage beantragen kann. Der praktisch bedeutsamste Fall ist dabei die Abklärung der planungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens („Bebaubarkeit“ des Grundstücks). In dieser Fallgestaltung wird der Vorbescheid daher auch Bebauungsgenehmigung690 genannt. Der Vorbescheid steht in seiner rechtlichen Bedeutung – bezogen auf den jeweiligen Kontrollumfang – der Baugenehmigung gleich und ist insofern ein vorweggenommener Teil der Baugenehmigung.691 Er berechtigt allerdings noch nicht zum Bauen.692 Vergleichbare Rechtswir-

_____ 684 Auftragsangelegenheit: Art 54 I BauO Bay; § 57 I 2 BauO MV; § 47 III BauO Nds; § 58 IV BauO RP; § 58 I 2 BauO SL; § 57 I BauO LSA; § 59 I Nr 1 BauO Thür. Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung: § 47 IV 1 BauO BW; § 52 I BauO Bbg; § 52 I 2 BauO Hess; § 60 II 1 BauO NW iVm §§ 12, 3 OBG NW; § 58 I BauO Sachs; § 58 III BauO SH. 685 Diese Differenzierung ist für die Aufsicht über die Bauaufsichtsbehörden rechtserheblich. Dazu o Röhl 1. Kap 68 ff. Der Rechtscharakter der Aufgaben richtet sich nach dem differenzierten Aufgabenzuschnitt des jew Landesrechts. Dazu o Röhl 1. Kap Rn 60 ff. 686 Dazu Sailer in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl 2012, Abschn J Rn 3. 687 Vgl die generalklauselartige Aufgabenumschreibung in § 58 II 1 MBO; § 47 I 1 BauO BW; Art 54 II 1 BauO Bay; § 58 I 1 BauO Bln; § 52 II 1 BauO Bbg; § 58 II 1 BauO Bremen; § 58 I 1 BauO Hbg; § 53 II 1 BauO Hess; § 58 I 1 BauO MV; § 58 I 1 BauO Nds; § 61 I 1 BauO NW; § 59 I 1 HS 1 BauO RP; § 57 II 1 BauO SL; § 58 II 1 BauO Sachs; § 57 II 1 BauO LSA; § 59 I 1 BauO SH; § 60 II 1 BauO Thür. Zu den Grenzen des bauaufsichtlichen Prüfungsumfanges im Baugenehmigungsverfahren vgl u Rn 217. 688 Vgl § 49 BauO BW; Art 55 I BauO Bay; § 60 I BauO Bln; § 54 BauO Bbg; § 59 I BauO Bremen; § 59 I 1 BauO Hbg; § 54 I 1 BauO Hess; § 59 I BauO MV; § 59 f BauO Nds; § 63 I 1 BauO NW; § 61 BauO RP; § 60 I BauO SL; § 59 I BauO Sachs; § 58 I BauO LSA; § 62 I BauO SH; § 62 I BauO Thür. 689 Vgl § 57 BauO BW; Art 71 BauO Bay; § 74 I BauO Bln; § 59 BauO Bbg; § 75 BauO Bremen; § 63 BauO Hbg; § 66 BauO Hess; § 75 BauO MV; § 73 BauO Nds; § 71 BauO NW; § 72 BauO RP; § 76 BauO SL; § 75 BauO Sachs; § 74 BauO LSA; § 66 BauO SH; § 73 BauO Thür. 690 Dazu BVerwG NJW 1984, 1473 f o JK BauNVO § 11 III/1; BayVGH NVwZ 1994, 307; Ortloff NVwZ 1983, 705 ff; Goerlich NVwZ 1985, 90 ff. 691 Brenner (Fn 2) Rn 707; Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 142 ff; BayVGH BauR 2008, 975, 976; aA Hauth BauR 2010, 32 ff, der den Vorbescheid auch für Rechtsfragen, die außerhalb des Prüfungsumfangs der Baugenehmigung stehen, zulassen will. Vgl Lit-Übersicht bei Schmaltz BauR 2007, 975 ff. 692 Zum Verhältnis von Vorbescheid und Baugenehmigung OVG NW NVwZ 1997, 1006 f; BRS 74 Nr 133; VGH BW BRS 63, Nr 184 (bes S 788 f) o JK LBO BW § 57 I 1/1.

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kungen hat die Typengenehmigung,693 die für bauliche Anlagen erteilt werden kann, die in derselben Ausführung an mehreren Stellen errichtet werden sollen (zB Fertighäuser). Auch sie ersetzt die Baugenehmigung nicht, die Prüfung im Baugenehmigungsverfahren beschränkt sich aber auf die Besonderheiten des konkreten Falles. Eine nicht auf die ganze bauliche Anlage, sondern nur auf Teile davon bezogene Kontrolle bescheinigt die Teilbaugenehmigung (§ 74 MBO694). 211 bb) Anspruch auf Genehmigung. Die Baugenehmigung ist zu erteilen, wenn die Voraussetzungen des jeweiligen Genehmigungstatbestandes vorliegen. Diese wurden von den Landesbauordnungen früher allgemein mit der Formulierung umschrieben, dass die Baugenehmigung zu erteilen sei, „wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen“.695 Nachdem in jüngerer Zeit die meisten Bauordnungen der veränderten Regelung in § 72 I MBO angeglichen wurden, heißt es in den einschlägigen Normen nunmehr idR, dass die Baugenehmigung zu erteilen ist, „wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind“.696 Lediglich einige LBauOen verwenden noch die alte sprachlich weiter gefasste Formulierung.697 Da die Normen über die Genehmigungserteilung die Voraussetzungen eines subjektiven öffentlichen Rechts698 erfüllen, hat der Bauherr unabhängig davon, ob und inwieweit die Baufreiheit unmittelbar durch Art 14 I GG grundrechtlich gewährleistet ist (Rn 27 ff), nach Maßgabe dieser Normen einen Rechtsanspruch auf die Erteilung der Baugenehmigung. Der Behörde ist kein Ermessen eingeräumt, so dass es sich um eine sog gebundene Erlaubnis handelt, die zu erteilen ist, wenn die Voraussetzungen der Erlaubnisnorm vorliegen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung dieser Voraussetzungen ist im Verwaltungsverfahren der der endgültigen behördlichen Entscheidung.699 212 cc) Abweichungen bzw Ausnahme und Befreiung. Ist das Vorhaben in einzelnen Aspekten nicht baurechtskonform, darf die Behörde die rechtlichen Hindernisse durch die Gewährung von Abweichungen von den Vorschriften der jeweiligen LBauO700 ausräumen (§ 67 MBO701). Die frü-

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693 Vgl § 65 BauO Hbg; § 78 BauO NW; § 75 BauO RP. Einige LBauOen sehen im Anschluss an § 66 IV 3 MBO die Typengenehmigung nicht mehr vor, sondern haben sie durch eine engere Typenprüfung ersetzt, vgl § 68 BauO BW; § 67 III 2 BauO Bln; § 66 VIII BauO Bbg; § 66 IV 2 BauO MV; § 65 BauO Nds; § 67 IV 2 BauO SL; § 66 IV BauO Sachs; § 65 IV 2 BauO LSA; § 70 VI 2 BauO SH; § 63d V 2 BauO Thür. 694 Vgl § 61 BauO BW; Art 70 BauO Bay; § 73 BauO Bln; § 75 BauO Bremen; § 72 V BauO Hbg; § 67 I BauO Hess; § 74 BauO MV; § 70 III 1 BauO Nds; § 76 BauO NW; § 73 BauO RP; § 75 BauO SL; § 74 BauO Sachs; § 73 BauO LSA; § 74 BauO SH; § 71 BauO Thür. Zur Teilbaugenehmigung zB Grotefels (Fn 76) § 16 Rn 72 ff. Vgl auch OVG NW NWVBl 1996, 392 ff. 695 So noch § 67 I BauO Bbg; § 75 I 1 BauO NW; § 70 I 1 BauO RP; § 73 I 1 BauO SH. 696 Vgl Art 68 I 1 BauO Bay; § 71 I BauO Bln; § 72 I BauO Hbg; § 64 I BauO Hess; § 72 I BauO MV; § 73 I 1 BauO SL; § 72 I BauO Sachs; § 71 I BauO LSA; § 70 I BauO Thür. Gem § 70 I 1 BauO Nds ist die Genehmigung zu erteilen, wenn die Baumaßnahme „soweit eine Prüfung erforderlich ist, dem öffentlichen Baurecht“ entspricht. Gem § 58 I 1 BauO BW ist die Baugenehmigung zu erteilen, wenn das Vorhaben keinen „von der Baurechtsbehörde“ zu prüfenden Vorschriften widerspricht. Zum damit angesprochenen Prüfungsumfang im Genehmigungsverfahren vgl u Rn 217. 697 Vgl u Fn 735. 698 ZB Erichsen in: ders/Ehlers, AllgVwR, 12. Aufl 2002, § 11 Rn 30 ff; Maurer Allg VwR, 18. Aufl 2011, § 8 Rn 8. Eine andere Konzeption bei Scherzberg in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 12 Rn 10 ff. 699 Zum Beurteilungszeitpunkt im gerichtlichen Verfahren vgl u Rn 236. 700 Für das Bauplanungsrecht vgl unter der Bezeichnung „Ausnahme“ und „Befreiung“ § 31 BauGB. Dazu o Rn 133. 701 Vgl Art 63 BauO Bay; § 68 BauO Bln; §§ 60 f BauO Bbg; § 67 BauO Bremen; § 69 BauO Hbg; § 63 BauO Hess; § 67 BauO MV; § 66 BauO Nds; § 73 BauO NW; § 69 BauO RP; § 68 BauO SL; § 67 BauO Sachs; § 66 BauO LSA; § 71 BauO SH; § 63e BauO Thür. Abweichungen können sowohl bei verfahrensfreien als auch bei genehmigungsfreigestellten bzw anzeigepflichtigen Vorhaben gestattet werden, vgl § 67 II 2 MBO; Art 63 II 2 BauO Bay; § 68 II 2 BauO Bln; § 61 I BauO Bbg; § 67 II 2 BauO Bremen; § 69 II 2 BauO Hbg; § 63 III BauO Hess; § 67 II 2 BauO MV; § 66 II 2 BauO LSA; § 67 II 2 BauO MV; § 66 II 2 BauO Nds; § 73 II BauO NW; § 68 II 2 BauO SL; § 67 II 3 BauO Sachs; § 66 II 2 BauO LSA; § 71 II 2 BauO SH; § 63e II 2 BauO Thür sowie – nur für verfahrensfreie Vorhaben – § 69 II BauO RP.

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her verbreitete und nach Ausnahme und Befreiung (sog Dispens) differenzierende Terminologie ist heute nur noch in der LBauO BW zu finden.702 Die Unterscheidung der Begriffe ist umstritten.703 Sie war verfahrensrechtlich erheblich, soweit über eine Befreiung nur auf Antrag entschieden wurde,704 während die Voraussetzungen einer Ausnahme von Amts wegen geprüft wurden. Soweit heute Abweichungen vorgesehen sind, ist für diese stets ein Antrag erforderlich.705 Die Abweichung erlaubt eine flexible Handhabung des Baurechts. Mit ihr können Härten ausgeglichen werden, die etwa dadurch entstehen, dass sich die Rechtslage vor dem für die Beurteilung des Vorhabens maßgeblichen Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung, aber nach Einreichung des Bauantrages, zu Ungunsten des Bauwilligen ändert. Auch kann, wenn im Einzelfall die Beseitigung einer rechtswidrigen Anlage unvertretbar erscheint, der rechtswidrige Zustand mit Hilfe der Gewährung einer Abweichung legalisiert werden.706 dd) Nebenbestimmungen. Die Sicherstellung baurechtlicher Erfordernisse kann die Behörde 213 auch dadurch erreichen, dass sie die Baugenehmigung mit einer Nebenbestimmung versieht. Deren Zulässigkeit richtet sich prinzipiell nach § 36 VwVfGe. ZT sehen die LBauOen die Beifügung von Nebenbestimmungen auch ausdrücklich vor. 707 Praktisch bedeutsam ist insbesondere die Auflage, mit der dem Bauherrn im Zusammenhang mit der ihm erteilten Genehmigung zusätzliche, selbständig erzwingbare Verpflichtungen auferlegt werden können.708 Keine Auflage, auch keine Art von Nebenbestimmung, ist die irrigerweise so bezeichnete „modifizierende Auflage“.709 Wird eine Baugenehmigung unter einer sog „modifizierenden Auflage“ erteilt, handelt es sich vielmehr um eine von der beantragten Erlaubnis abweichende Genehmigung.710 ee) Regelungsgehalt. Die rechtliche Bedeutung der Baugenehmigung besteht zum einen in der 214 Feststellung, dass dem Vorhaben die im Verfahren zu prüfenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften nicht entgegenstehen, zum anderen in der Erlaubnis, mit der Bauausführung zu beginnen711 und das geplante Vorhaben ins Werk zu setzen sowie schließlich in der Erlaubnis, die der Baugenehmigung entsprechende bauliche Anlage der Genehmigung entsprechend zu nut-

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702 § 56 BauO BW. 703 Vgl Dürr, Baurecht BW, Rn 219; Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 9 f. 704 So früher § 86 I BauO NdsaF; § 56 VI BauO NW sieht einen Antrag nur für verfahrensfreie Vorhaben vor. 705 Vgl Art 63 II BauO Bay; § 68 II BauO Bln; § 60 I 1 BauO Bbg; § 67 II Bremen; § 69 II BauO Hbg; § 63 II BauO Hess; § 67 II BauO MV; § 68 II BauO SL; § 67 II BauO Sachs; § 66 II 1 BauO LSA; § 71 II 1 BauO SH; § 63e II BauO Thür; vgl auch § 67 II MBO. Gem § 73 II BauO NW; § 69 II 1 BauO RP sind nur Abweichungen bei verfahrensfreien Vorhaben schriftlich zu beantragen. 706 Zur Möglichkeit einer Befreiung auch ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung Bleckmann DÖV 2003, 155 ff. 707 Vgl § 72 III MBO; § 71 III BauO Bln; § 72 III BauO Bremen; § 72 III BauO Hbg; § 64 IV BauO Hess; § 72 IV BauO MV; § 72 III 1 BauO Sachs; § 71 III BauO LSA; § 73 II BauO SH; § 70 III 1 BauO Thür. Nur für bestimmte Vorhaben § 58 IV 1 BauO BW; § 70 II BauO Nds. Demgegenüber setzen die Zulässigkeit der Beifügung einer Nebenbestimmung nur voraus Art 68 III BauO Bay; § 67 III 1 BauO Bbg; § 70 I 3 HS 2 BauO RP; § 73 II 2 BauO SL. 708 Vgl Henneke in: Knack/ders, VwVfG, § 36 Rn 40. Zum Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen u Rn 237. 709 ZB die Genehmigung eines Baus unter der Voraussetzung, dass statt des beantragten Satteldachs ein Flachdach verwendet wird, VGH BW BRS 28, Nr 113. Zur „modifizierenden Auflage“ BVerwG BRS 28, Nr 111; Weyreuther DVBl 1984, 365 ff; Ehlers VerwArch 67 (1976) 369 f. 710 Vgl auch BVerwG NVwZ 1984, 366 o JK VwVfG § 36/2; BVerwG NVwZ-RR 1992, 529, 530; OVG NW NWVBl 1989, 99. 711 Die Erlaubnis besteht mit dem Zugang der Baugenehmigung, sowie der Erfüllung weiterer Voraussetzungen: § 72 VI MBO; Art 68 V BauO Bay; § 71 VII BauO Bln; § 72 V BauO Bremen; § 72a I BauO Hgb; § 72 VII BauO MV; § 73 VI BauO SL; § 72 VI BauO Sachs; § 71 VI BauO LSA; § 73 V BauO SH; § 70 VI BauO Thür. Zugang der Baugenehmigung: § 65 I BauO Hess; § 75 V BauO NW. Zustellung der Baugenehmigung, sowie Erfüllung weiterer Voraussetzungen: § 77 I BauO RP. Erteilung der Baugenehmigung: § 72 I 1 BauO Nds. Erteilung des Baufreigabescheins: § 59 I 2 BauO BW. Vorliegen der Baugenehmigung sowie Erfüllung weiterer Voraussetzungen: § 68 I BauO Bbg. Dazu Ehlers FS Bartlsperger, 2006, 463 ff.

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zen („Nutzungsgenehmigung“712). Unsicherheit besteht in der Einschätzung, welche dieser Gehalte konstitutiv bzw deklaratorisch sind. Nach wohl allgemeiner Ansicht soll es sich bei der durch das Gesetz für bestimmte Vorhaben erklärten Notwendigkeit, eine Baugenehmigung einzuholen, rechtstechnisch um ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt handeln.713 Dem entspricht die Auffassung, die Baugenehmigung verleihe „nicht etwa ein Recht zum Bauen“,714 sondern setze das Recht zu bauen gerade voraus. 215 Das rechtsdogmatische Verständnis der Baugenehmigung hängt zum einen davon ab, was man unter dem Regelungsgehalt eines Verwaltungsakts versteht, und zum anderen davon, in welchem Verhältnis man den Regelungsgehalt der Baugenehmigung zur grundrechtlichen Gewährleistung der Baufreiheit sieht. Aus § 35 VwVfG folgt, dass die Baugenehmigung nur dann und so weit Verwaltungsakt ist, als sie Regelungscharakter hat. Aus Art 14 I GG ergibt sich, dass die Baufreiheit in der gesetzlich grundrechtskonform ausgestalteten und konkretisierten Nutzungsmöglichkeit des Grundstücks besteht (Rn 27 ff). Soweit die Baugenehmigung die Rechtskonformität des Vorhabens bescheinigt, enthält sie zunächst schon deshalb eine Regelung, weil sie in Konkretisierung und Individualisierung715 der abstrakten Rechtsnormen über die Übereinstimmung des Vorhabens mit den Gesetzen iSd Art 14 I 2 GG entscheidet. Sie hat damit im jeweiligen Kontrollumfang die Funktion, rechtsverbindlich festzustellen, dass das Bauvorhaben den Schutz des Art 14 I 1 GG genießt.716 Die Bedeutung einer derartigen Regelung ergibt sich daraus, dass die grundrechtliche Baufreiheit durch die sie ausgestaltenden gesetzlichen Vorschriften nicht nur von inhaltlichen Anforderungen geprägt, sondern auch unter einen „Verfahrensvorbehalt“ gestellt ist. Daraus folgt, dass die Intensität des Grundrechtsschutzes eines genehmigungsbedürftigen Vorhabens nicht unabhängig davon sein kann, ob diesem die Genehmigung erteilt oder versagt wurde (Rn 228 ff). Daraus folgt auch, dass einem genehmigten Bau grundsätzlich717 kein Verbot eines Baubeginns mehr entgegenstehen darf. Die Aufhebung des Bauverbots – der „verfügende Teil“ – ist damit ebenso wenig oder viel deklaratorisch oder konstitutiv wie der „feststellende“ Teil. Beides sind Regelungsgehalte der Baugenehmigung.718 216 ff) Verfahren. Das Genehmigungsverfahren wird auf den Bauantrag des Bauherrn hin eingeleitet.719 Dieser ist schriftlich entweder bei der unteren Bauaufsichtsbehörde (§ 68 I MBO720) oder

_____ 712 Vgl NdsOVG BauR 2005, 381 f; OVG NW BRS 42, Nr 163; Brohm (Fn 66) § 28 Rn 26; Peine (Fn 23) Rn 1071. 713 Vgl nur Brenner (Fn 2) Rn 697; Peine (Fn 23) Rn 1071; Stüer (Fn 59) Rn 1068 mwN. 714 BGHZ 65, 182, 186; Friauf (Fn 3) 558; dazu krit Grochtmann, Die Normgeprägtheit des Art 14 GG, 2. Aufl 2010, 267 ff. 715 Als Regelung erfüllt der Verwaltungsakt wesentlich eine Konkretisierungs- bzw Individualisierungsfunktion. Vgl Ruffert in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 21 Rn 33. 716 Diese Feststellungsfunktion ist durch die Sachentscheidungskompetenz der Bauaufsichtsbehörden begrenzt. Soweit diese damit im vereinfachten Genehmigungsverfahren zB nur noch einen geringen Teil der bauordnungsrechtlichen Vorschriften prüfen (vgl § 63 MBO) und die Einhaltung der sonstigen baurechtlichen Anforderungen der nachträglichen Kontrolle überlassen, handelt es sich um eine entsprechend begrenzte Feststellungsfunktion (vgl u Rn 218). Jedenfalls knüpft sich an die Baugenehmigung in diesem Fall ein nur sehr begrenzter Bestandsschutz, vgl u Rn 228. Fraglich ist daher, welche rechtliche Bedeutung den vom Antragsteller eingereichten, vollständigen Bauunterlagen (§ 68 MBO) zukommt. 717 Ausnahme: Die Baugenehmigung wird erteilt, es bedarf aber zur Ausführung des Vorhabens noch einer weiteren Genehmigung in einem anderen Verfahren. Dazu u Rn 217. 718 Zur Frage, wie weit die Bestandskraft eines die Baugenehmigung versagenden Verwaltungsaktes reicht, vgl BVerwGE 48, 271 ff m Anm Drexelius NJW 1976, 817 f; Krebs VerwArch 67 (1976) 411 ff; Sendler FS Ernst, 1980, 403 ff. 719 Fraglich ist, ob die Bauaufsichtsbehörde den Bauherrn zur Stellung eines Antrags zwingen kann, wenn dieser eine genehmigungsbedürftige Anlage ohne Genehmigung errichtet hat. Dagegen OVG NW NWVBl 2003, 223 f. Dazu auch Baumanns Verfahrensrecht und Praxis der Bauaufsicht, 1982, Rn 302 mwN. 720 § 69 I BauO Bln; § 62 I 2 BauO Bbg; § 68 I BauO Bremen; § 70 I BauO Hbg; § 60 I BauO Hess; § 68 I BauO MV; § 69 I 1 BauO NW; § 69 I BauO SL; § 68 I BauO Sachs; § 67 I BauO LSA; § 64 I BauO Thür.

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bei der Gemeinde721 einzureichen. Mit dem Bauantrag sind alle für die Beurteilung des Vorhabens und die Bearbeitung des Bauantrags erforderlichen Unterlagen (Bauvorlagen) einzureichen (§ 68 II 1 MBO722). Der Bauherr und der Entwurfsverfasser haben den Bauantrag, der Entwurfsverfasser die Bauvorlagen zu unterschreiben (§ 68 IV 1 MBO723). Der behördlichen Kontrolle unterliegen neben baurechtlichen Vorschriften sonstige öf- 217 fentlich-rechtliche Anforderungen idR lediglich insoweit, als „wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt oder ersetzt wird“ (§§ 63 S 1 Nr 3, 64 S 1 Nr 3 MBO).724 Dies soll ausweislich der Begründung zur MBO dann der Fall sein, wenn die fachgesetzlichen Vorschriften eine Prüfung durch die Bauaufsichtsbehörden ausdrücklich vorsehen (sog „aufgedrängtes sonstiges öffentliches Recht“).725 Eine noch weitergehende Kontroll- bzw Sachentscheidungsbefugnis der Bauaufsichtsbehörden in Bezug auf öffentlichrechtliche Vorschriften, „soweit diese für das Vorhaben beachtlich sind“, sehen die LBauOen Bbg und Hbg (§ 56 Nr 3 BauO Bbg726 und § 62 I 1 Nr 3 BauO Hbg) vor und ordnen zugleich eine Verfahrenskonzentration an (§ 67 I 2 BauO Bbg und § 72 II BauO Hbg).727 Die Baugenehmigung schließt danach die für das Vorhaben erforderlichen weiteren behördlichen Entscheidungen ein. In allen übrigen Fällen stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis das Baugenehmigungsverfahren zu anderen behördlichen Verfahren steht. Soweit die Bauaufsichtsbehörden zu prüfen haben, ob die Erteilung der Baugenehmigung vom Vorliegen einer weiteren Genehmigung „abhängig“ ist,728 bildet die Baugenehmigung den „Schlusspunkt“ der für genehmigungsbedürftige Bauvorhaben durchzuführenden öffentlich-rechtlichen Zulässigkeitsprüfung.729 In den übrigen Fällen ist umstritten, ob die Baugenehmigungsbehörde die Voraussetzungen derjenigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die aufgrund sondergesetzlicher Regelung Gegenstand eines eigenständigen Verfahrens sind und damit nicht unter ihre Kompetenz zur Sachentscheidung fallen, gleichwohl prüfen und ggf – sofern die Voraussetzungen dieser Vorschriften nicht erfüllt sind – von der Erteilung der Baugenehmigung absehen muss bzw darf oder – falls deren Voraussetzungen erfüllt sind – die Entscheidung der für die Sachentscheidung zuständigen Behörde abwarten muss.730 Soweit die LBauOen die Entscheidungsbefugnis entsprechend §§ 63 S 1 Nr 3, 64 S 1 Nr 3 MBO beschränken, nehmen sie zugleich eine verfahrensrechtliche Trennung

_____ 721 Vgl § 53 I BauO BW; Art 64 I 1 BauO Bay; § 67 I 1 BauO Nds; § 64 I 2 BauO SH. In Rheinland-Pfalz kann an die Stelle der Gemeinde die Verbandsgemeindeverwaltung treten, vgl § 63 I BauO RP. 722 Vgl § 53 I 1 BauO BW; Art 64 II 1 BauO Bay; § 69 II 1 BauO Bln; § 62 II BauO Bbg; § 68 II 1 BauO Bremen; § 70 II 2 BauO Hbg; § 60 II 1 BauO Hess; § 68 II 1 BauO MV; § 67 I 2 BauO Nds; § 69 I 1 BauO NW; § 63 II 1 BauO RP; § 69 II 1 BauO SL; § 68 II BauO Sachs; § 67 II 1 BauO LSA; § 64 II 1 BauO SH; § 64 II 1 BauO Thür. 723 So oder ähnlich § 53 II 1 BauO BW; Art 64 IV 1 BauO Bay; § 69 IV 1 BauO Bln; § 62 IV BauO Bbg; § 68 IV 1 BauO Bremen; § 67 I BauO Hbg; § 60 V 1 BauO Hess; § 68 IV 1 BauO MV; § 69 II 1 BauO NW; § 63 III BauO RP; § 69 III 1 BauO SL; § 68 IV BauO Sachs; § 67 IV 1 BauO LSA; § 64 IV 1 BauO SH; § 64 IV 1 BauO Thür. 724 Lediglich einige LBauOen sehen noch die Prüfung sonstiger öffentlich-rechtlicher Vorschriften vor, so zB §§ 50 V, 58 I 1 BauO BW; § 75 I 1 BauO NW; §§ 65 I 1, 2, 70 I 1 BauO RP. Danach prüft die Bauaufsichtsbehörde auch diejenigen Anforderungen, für die kein eigenes fachgesetzliches Kontrollverfahren besteht. Vgl zur alten Rechtslage noch Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 102 ff. 725 So ausdrücklich S 94 der Begründung zur MBO 2008, abrufbar unter www.is-argebau.de. Die fachgesetzliche Umsetzung ist bislang lediglich vereinzelt geblieben, vgl dazu Ehlers FS Bartlsperger, 2006, 463, 470, der ua auf denkmalschutzrechtliche Regelungen verweist. Sonstige öffentlich-rechtliche Anforderungen dürfen danach von den Bauaufsichtsbehörden nicht geprüft werden. 726 Dazu Hecker BauR 2006, 629; Ortloff NVwZ 2003, 1218. 727 Ausführlich zur sog Konzentrationswirkung Buchmann VBlBW 2007, 201 ff. 728 So ausdr zB § 65 V 1 BauO RP; § 72 I 1 Nr 2 BauO NW. Vgl auch § 67 V 1 BauO SH. 729 So ausdr OVG RP BauR 2007, 1857 f zu § 65 V 1 BauO RP; OVG NW BauR 2010, 600 ff; DÖV 2004, 302, 305 zu § 72 I 1 Nr 2 BauO NW. Allg zur sog Schlusspunkttheorie vgl nur Berger VerwArch 100 (2009), 342, 355 ff; Ehlers FS Bartlsperger, 2006, 463, 473 ff. 730 Zum Meinungsstand vgl nur Ehlers FS Bartlsperger, 2006, 463, 468 ff; Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 104 ff; Mampel BauR 2002, 719 ff.

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zwischen bauaufsichtlichem und sonstigen Genehmigungsverfahren vor. Damit darf jedenfalls aus Sicht des Bauordnungsrechts die Baugenehmigung nicht allein deswegen versagt werden, weil anderweitig erforderliche Genehmigungen noch ausstehen.731 Zahlreiche Vorschriften sehen die Beteiligung anderer Behörden und Rechtsträger am Baugenehmigungsverfahren vor,732 wozu die meisten LBauOen ausdrückliche Verfahrensbestimmungen enthalten.733 Fast alle LBauOen regeln die Beteiligung privater Dritter (Nachbarn, Angrenzer), dies allerdings in unterschiedlicher, zT fragwürdig restriktiver Art und Weise.734 Die erforderliche Kontrollintensität richtet sich nach dem Kontrollbedürfnis. Daher setzen 218 viele LBauOen735 bestimmte Vorhaben nur einem vereinfachten Genehmigungsverfahren aus, in dem neben der planungsrechtlichen Zulässigkeit lediglich die Erfüllung einiger, im Gesetz ausdrücklich genannter bauordnungsrechtlicher Anforderungen überprüft wird. 736 Zumeist handelt es sich um Wohnbauvorhaben von geringer Grundfläche und Höhe,737 soweit sie überhaupt einem Genehmigungsverfahren unterliegen,738 sowie um landwirtschaftliche Betriebsgebäude und eingeschossige sonstige Gebäude. IdR hat die Baugenehmigungsbehörde im vereinfachten Verfahren innerhalb einer bestimmten Frist zu entscheiden, nach deren Ablauf die beantragte Genehmigung als „erteilt gilt“ (sog fingierte Genehmigung).739 Die im vereinfachten Verfahren erteilte bzw die fingierte Genehmigung stellen die Vereinbarkeit des Vorhabens mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften nur insoweit fest, als die Prüfungskompetenz der Genehmigungsbehörde im vereinfachten Verfahren reicht.740 Daher darf die Erteilung der Baugenehmigung auch grds nicht wegen eines Verstoßes des Vorhabens gegen Rechtssätze abgelehnt werden, die nicht zum Prüfungsumfang zählen.741

_____ 731 In diesem Sinne auch Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 110; Ehlers FS Bartlsperger, 2006, 463, 468 ff und S 97 der Begründung zur MBO 2008 (Fn 725) mit Erwägungen zu fehlendem Sachentscheidungsinteresse, wenn eine erforderliche fachrechtliche Parallelgenehmigung (unanfechtbar) versagt worden ist. Ob die Bauaufsichtsbehörde möglicherweise aufgrund anderer Rechtssätze verpflichtet ist, die Erteilung der Baugenehmigung vom Vorliegen anderer Genehmigungen abhängig zu machen, soll hier dahingestellt bleiben. 732 ZB § 36 I BauGB; § 9 II Bundesfernstraßengesetz. 733 § 69 MBO. Vgl § 53 BauO BW; Art 65 BauO Bay; § 70 II BauO Bln; § 63 III-V BauO Bbg; § 69 BauO Bremen; § 70 V, VI BauO Hbg; § 61 I BauO Hess; § 69 I BauO MV; § 69 BauO Nds; § 72 II-V BauO NW; § 65 V BauO RP; § 70 II, III BauO SL; § 69 I BauO Sachs; § 68 II BauO LSA; § 67 I, V BauO SH; § 67 I BauO Thür. 734 Das betrifft zB den Kreis der zu beteiligenden Dritten. Während zB Art 66 I BauO Bay, § 70 BauO Sachs und § 72 I BauO SH eine Beteiligung der Eigentümer „benachbarter“ Grundstücke vorsehen (vgl auch § 70 MBO), erfordern etwa § 55 I 1 BauO BW, § 64 BauO Bbg sowie § 74 I 1 BauO NW nur die Beteiligung der Eigentümer „angrenzender“ Grundstücke. 735 Vgl § 63 MBO; Art 59 BauO Bay; § 64 BauO Bln; § 57 BauO Bbg; § 63 BauO Bremen; § 61 BauO Hbg; § 57 BauO Hess; § 63 BauO MV; § 63 BauO Nds; § 68 BauO NW; § 66 BauO RP; § 64 BauO SL; § 63 BauO Sachs; § 62 BauO LSA; § 69 BauO SH; § 63b BauO Thür. 736 Zum vereinfachten Genehmigungsverfahren Jäde UPR 1995, 81, 83 ff; Herbert/Keckemeti/Dittrich ZfBR 1995, 67, 68 ff. 737 Zum Begriff der „Höhe“ vgl nur § 2 III 2 MBO. 738 Zu Vorhaben, die keinem Genehmigungsverfahren unterliegen, vgl u Rn 221. 739 § 61 III 4 BauO Hbg; § 57 II 3 BauO Hess; § 63 II 2 BauO MV; § 66 IV 5 BauO RP; § 64 III 5 BauO SL; § 69 V 1 BauO Sachs; § 69 IX BauO SH; § 63b II 2 BauO Thür. Dazu Ortloff FS Gelzer, 1991, 223 ff; Saurer DVBl 2006, 605 ff. Die Frist beginnt erst mit Feststellung der Vollständigkeit des Bauantrags, OVG Bln-Bbg BauR 2011, 1375; OVG RP BauR 2007, 1718. 740 Vgl Decker BayVBl 2011, 517, 522; Uechtritz NVwZ 1996, 640, 646 f. Zu den Konsequenzen für den Rechtsschutz vgl u Rn 250. 741 Anders, soweit dies gesetzl geregelt ist, vgl Art 68 I 1 BauO Bay. Zweifelhaft scheint der Versuch, eine Ablehnungsbefugnis mit fehlendem Sachbescheidungsinteresse – zum Begriff Gierth DVBl 1967, 848 – zu begründen, so aber BVerwGE 61, 128, 130; OVG NW BauR 2010, 208 ff; krit Bay VGH BayVBl 2009, 507, 507 f m Anm Schröder BayVBl 2009, 495. Es scheint überzeugender, derartige Fragen beim materiellen Anspruch zu verorten. So ist denkbar, dass der Anspruch auf Erteilung der BauGen im Einzelfall wegen Rechtsmissbrauchs (Treu und Glauben) nicht besteht.

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Den Abschluss des Genehmigungsverfahrens bildet entweder die abschlägige oder die statt- 219 gebende Entscheidung über den Bauantrag und ihre Bekanntgabe – bei Stattgabe in Schriftform (Bauschein) – an den Bauherrn. Vielfach ist geregelt, dass für den Fall, dass Einwendungen von Nachbarn bzw Angrenzern nicht entsprochen wurde, auch ihnen die Entscheidung bekanntzugeben bzw zuzustellen ist (§ 70 IV MBO).742 gg) Wirksamkeit, Geltungsdauer. Als Verwaltungsakt wird die Baugenehmigung mit Zugang 220 wirksam (§ 43 I 1 VwVfG). Maßgebend für den Inhalt der Baugenehmigung ist die Genehmigungsurkunde. Die Baugenehmigung hat insofern dingliche Wirkung, als sie auch für und gegen den Rechtsnachfolger des Bauherrn gilt (§ 58 III MBO743). Sie wird „unbeschadet der Rechte Dritter“ erteilt (§ 72 IV MBO744). Dies wird als „private Rechte Dritter“ verstanden,745 weswegen die Baugenehmigung also nicht die Privatrechtskonformität des Bauvorhabens bescheinigt.746 Wird die Baugenehmigung nicht ins Werk gesetzt, ist ihre Geltungsdauer zeitlich befristet (§ 73 MBO).747 Sie wird nur für ein konkretes Vorhaben erteilt und deckt insofern nur die einmalige Ausführung des genehmigten Vohabens.748

b) Nicht-genehmigungsbedürftige Vorhaben Die Genehmigungsbedürftigkeit von Vorhaben ist gem § 59 I MBO749 der gesetzliche Regelfall. Eine 221 erste Ausnahme hiervon bilden die genehmigungsfreien Vorhaben,750 die ohne jegliches bauaufsichtliches Verfahren errichtet werden dürfen.751 Hierbei handelt es sich um untergeordnete, für die Gefahrenabwehr unbedeutendere Anlagen.752 Eine weitere Ausnahme stellen die Vorhaben

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742 Vgl § 58 I 5-7 BauO BW; Art 66 I 6 BauO Bay; § 64 V BauO Bbg; § 72 II BauO Bremen; § 71 III 3 BauO Hbg; § 62 III 1 BauO Hess; § 70 IV BauO MV; § 70 V BauO Nds; § 74 IV 1 BauO NW; § 70 III 2 BauO RP; § 71 IV 1 BauO SL; § 70 IV BauO Sachs; § 69 IV 1 BauO LSA; § 72 III BauO SH; § 68 VI BauO Thür. Es besteht eine korrespondierende Pflicht der Bauaufsichtsbehörde, den Bauherrn unverzüglich von einem Nachbarwiderspruch zu unterrichten, vgl BGH NVwZ 2004, 638 ff o JK GG Art 34/26. 743 Vgl § 58 II BauO BW; Art 54 II 3 BauO Bay; § 58 II BauO Bln; § 67 V BauO Bbg; § 58 V BauO Bremen; § 58 II BauO Hbg; § 53 V BauO Hess; § 58 II BauO MV; § 70 VI BauO Nds; § 75 II BauO NW; § 70 I 2 BauO RP; § 57 V BauO SL; § 58 III BauO Sachs; § 57 III BauO LSA; § 59 IV BauO SH; § 60 IV BauO Thür. 744 Vgl § 71 IV BauO Bln; § 72 IV BauO Bremen; § 72 IV BauO Hbg; § 72 V BauO MV; § 74 IV BauO Sachs; § 71 IV BauO LSA; die frühere Fassung „unbeschadet der privaten Rechte Dritter“ verwenden: § 58 III BauO BW; Art 68 IV BauO Bay; § 67 VI BauO Bbg; § 64 V BauO Hess; § 75 III 1 BauO NW; § 70 I 2 BauO RP; § 73 IV BauO SL; § 73 III BauO SH; § 70 IV BauO Thür. 745 OVG LSA, Urt v 23.4.2010, 2 L 148/09, JURIS Rn 5; OVG MV, NordÖR 2010, 494 f; Knuth in: Wilke, Bauordnung für Berlin, § 71 Rn 45. Die frühere Fassung „private Rechte Dritter“ wurde in der MBO aus „redaktionellen Gründen“ verändert, vgl die Begründung zur MBO 2008 (Fn 725) S 121. 746 Entgegenstehende private Rechte Dritter, zB vertragliche Unterlassungsansprüche, dürfen daher die Genehmigungserteilung nicht verhindern. 747 Vgl § 62 BauO BW; Art 69 BauO Bay; § 72 BauO Bln; § 69 BauO Bbg; § 73 BauO Bremen; § 73 BauO Hbg; § 64 VII BauO Hess; § 73 BauO MV; § 71 BauO Nds; § 77 BauO NW; § 74 BauO RP; § 74 BauO SL; § 73 BauO Sachs; § 72 BauO LSA; § 75 BauO SH; § 72 BauO Thür. Vgl OVG Bln-Bbg LKV 2006, 282, zum Erlöschen der Baugenehmigung mangels Baufortschritts. 748 HessVGH BauR 2003, 1875 ff; OVG NW BauR 1992, 610 ff. 749 Vgl o Rn 209 m Fn 688. 750 Vgl § 61 MBO; § 50 BauO BW; § 62 BauO Bln; § 55 BauO Bbg; § 61 BauO Bremen; § 60 BauO Hbg; §§ 55, 80 IV 1 Nr 1 BauO Hess; § 61 BauO MV; § 60 BauO Nds; §§ 65 f BauO NW; § 62 BauO RP; § 61 BauO SL; § 61 BauO Sachs; § 60 BauO LSA; § 63 BauO SH; § 63 BauO Thür. 751 Terminologisch klarer – in Abgrenzung zu den „genehmigungsfreigestellten“ bzw „anzeigepflichtigen“ Vorhaben – als „verfahrensfreie Vorhaben“ bezeichnet. So auch die Terminologie des § 61 MBO; § 50 BauO BW; Art 57 BauO Bay; § 62 BauO Bln; § 61 BauO Bremen; § 60 BauO Hbg; § 61 BauO MV; § 60 BauO Nds; § 61 BauO SL; § 61 BauO Sachs; § 60 BauO LSA sowie des § 63 BauO Thür. 752 An sich genehmigungsfreie Vorhaben können genehmigungspflichtig werden, wenn ein Funktionszusammenhang mit einem genehmigungspflichtigen Vorhaben besteht, OVG Berlin BRS 48, Nr 125.

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dar, die lediglich einem sog „Genehmigungsfreistellungs-“ bzw „Bauanzeigeverfahren“753 unterstellt sind. Danach kann der Bauherr innerhalb einer bestimmten Frist nach Einreichung von Bauunterlagen bzw -anzeige ohne behördliche Genehmigung mit der Bauausführung beginnen.754 Dem Genehmigungsfreistellungs- oder Anzeigeverfahren unterliegen idR Wohngebäude geringer Höhe, die im Geltungsbereich eines Bebauungsplans iSd § 30 I, II BauGB liegen, den Festsetzungen des jeweiligen Plans nicht widersprechen und ggf weitere Voraussetzungen erfüllen.755 Die fehlende Genehmigungsbedürftigkeit entbindet die verfahrensfreien756 und die von der Genehmigung freigestellten bzw anzeigepflichtigen Vorhaben757 selbstverständlich nicht von der Pflicht zur Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Anforderungen an bauliche Anlagen. Fliegende Bauten, dh solche, die geeignet und bestimmt sind, an verschiedenen Orten aufgestellt und zerlegt zu werden (zB Karusselle oder Zirkuszelte), bedürfen keiner Bau-, dafür aber vor ihrer ersten Aufstellung einer Ausführungsgenehmigung (§ 76 II MBO758). Bei an sich genehmigungsbedürftigen öffentlichen Bauvorhaben kann unter näher geregelten Voraussetzungen an die Stelle der Baugenehmigung die Zustimmung der oberen Bauaufsichtsbehörde treten (§ 77 MBO759). Die Notwendigkeit einer an sich erforderlichen Baugenehmigung entfällt zudem, wenn sondergesetzliche Genehmigungen die Überprüfung des Vorhabens an den Normen des öffentlichen Baurechts und damit die Baugenehmigung mitumfassen (sog Konzentrationswirkung).760

5. Bauüberwachung und (Wieder-)Herstellung baurechtmäßiger Zustände a) Bauüberwachung 222 Die Bauüberwachung soll die rechtmäßige Bauausführung sicherstellen und erstreckt sich zB auf die Prüfung, ob den Bauvorlagen entsprechend gebaut wird, auf den Nachweis der Brauchbarkeit der Baustoffe oder auf die ordnungsgemäße Erfüllung der Pflichten der am Bau Beteiligten. Zur Wahrnehmung dieser Kontrolle räumen die LBauOen den Behörden spezielle Befugnisse ein.761

_____ 753 Vgl § 62 MBO; Art 58 BauO Bay; § 63 BauO Bln; § 58 BauO Bbg; § 62 BauO Bremen; § 56 BauO Hess; § 62 BauO MV; § 67 BauO RP; § 63 BauO SL; § 62 BauO Sachs; § 61 BauO LSA; § 68 BauO SH; § 63a BauO Thür. In der gesetzlichen Bezeichnung anders, aber in der Ausgestaltung ähnlich § 51 BauO BW („Kenntnisgabeverfahren“); § 67 BauO NW. Zu Einzelheiten der unterschiedlich ausgestalteten Verfahren vgl Jäde UPR 1995, 81 ff; zum Rechtsschutz des Nachbarn vgl u Rn 238 ff. 754 Anders als beim vereinfachten Baugenehmigungsverfahren erhält der Bauherr keine „fingierte Genehmigung“. Dazu o Rn 218. 755 Zu den Einzelheiten vgl die Länderübersicht bei Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 92 ff. 756 Vgl § 59 II MBO; § 50 V BauO BW; § 60 II BauO Bln; § 55 I BauO Bbg; § 59 II BauO Bremen; § 59 II BauO Hbg; § 54 II BauO Hess; § 59 III iVm § 61 BauO MV; § 60 BauO Nds; §§ 65 IV, 66 S 2 BauO NW; § 62 III BauO RP; § 60 II iVm § 61 BauO SL; § 59 II iVm § 61 BauO Sachs; § 60 V BauO LSA; § 62 II 1 iVm § 63 BauO Thür. 757 So ausdrücklich § 59 II MBO; § 60 II BauO Bln; § 58 V iVm § 57 II BauO Bbg; § 59 II BauO Bremen; § 54 II BauO Hess; § 59 III iVm § 62 BauO MV; § 67 V 8 iVm § 65 IV BauO NW; § 62 BauO Nds; § 67 IV iVm § 62 III BauO RP; § 60 II iVm § 63 BauO SL; § 59 II iVm § 62 BauO Sachs; § 58 II iVm § 61 BauO LSA; § 62 II 1 iVm § 63a BauO Thür. Ähnlich § 51 IV BauO BW. 758 Vgl § 69 II BauO BW; Art 72 II BauO Bay; § 75 II BauO Bln; § 71 II BauO Bbg; § 76 II BauO Bremen; § 66 II BauO Hbg; § 68 II BauO Hess; § 76 II BauO MV; § 75 II BauO Nds; § 79 II BauO NW; § 76 II BauO RP; § 77 II BauO SL; § 76 II BauO Sachs; § 75 II BauO LSA; § 76 II BauO SH; § 74 II BauO Thür. 759 Vgl § 70 BauO BW; Art 73 BauO Bay; § 76 BauO Bln; § 72 BauO Bbg; § 64 BauO Hbg; § 69 BauO Hess; § 77 BauO MV; § 74 BauO Nds; § 80 BauO NW; § 83 BauO RP; § 77 BauO Sachs; § 76 BauO LSA; § 77 BauO SH; § 75 BauO Thür. Gem § 62 BauO SL ist bei bestimmten an sich genehmigungsbedürftigen Vorhaben des Bundes nur eine Benachrichtigung der Bauaufsichtsbehörden erforderlich. 760 Vgl § 60 MBO; Art 56 BauO Bay; § 61 BauO Bln; § 67 II 1 BauO Bbg; § 60 BauO Bremen; § 60 BauO MV; § 63 II BauO NW; §§ 70 VI, 84 BauO RP; § 60 III BauO SL; § 60 BauO Sachs; § 59 BauO LSA; § 62 II BauO SH. Nach BVerwG BauR 2004, 1745, 1748 besteht dann schon keine Sachkompetenz der Bauordnungsbehörde. Zur Konzentrationswirkung der Baugenehmigung vgl o Rn 217. 761 § 81 MBO; § 66 BauO BW; Art 77 BauO Bay; § 80 BauO Bln; § 75 BauO Bbg; § 80 BauO Bremen; § 78 BauO Hbg; § 73 BauO Hess; § 81 BauO MV; § 76 BauO Nds; § 81 BauO NW; § 78 BauO RP; § 78 BauO SL; § 81 BauO Sachs; § 80 BauO LSA; § 78 BauO SH; § 78 BauO Thür.

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Innerhalb des gesetzlich festgelegten zeitlichen und sachlichen Rahmens der Überwachung steht deren Umfang in der Beurteilungsprärogative bzw im Ermessen der Bauaufsichtsbehörde. Gesetzlich besonders institutionalisiert sind die Überwachungsmaßnahmen nach Fertig- 223 stellung des Rohbaus und nach abschließender Fertigstellung der baulichen Anlage. Sie sind in den Bundesländern unterschiedlich als Bauabnahme762 oder als Bauzustandsbesichtigung bzw als Anzeigepflichten und Prüfungsrecht763 ausgestaltet. Entsprechend unterschiedlich ist auch die Zulässigkeit der Inbetriebnahme der baulichen Anlage geregelt.

b) (Wieder-)Herstellung baurechtmäßiger Zustände Der tatsächliche Zustand eines Grundstücks und seine bauliche Nutzung können aus vielen 224 Gründen baurechtlichen Vorschriften widersprechen. So kann zB bei genehmigungsbedürftigen Anlagen eine Baugenehmigung rechtswidrig erteilt worden sein. Eine genehmigungsbedürftige Anlage kann ungenehmigt sein, aber trotzdem den baurechtlichen Anforderungen entsprechen – oder nicht. Da im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nur eine sehr eingeschränkte Überprüfung bauordnungsrechtlicher Vorschriften stattfindet, sind auch hier baurechtswidrige Zustände denkbar. Von der Genehmigung freigestellte bzw anzeigepflichtige Anlagen sowie verfahrensfreie Vorhaben können abweichend von den gesetzlichen Bestimmungen errichtet sein. Schließlich kann eine rechtmäßig errichtete bauliche Anlage Baurecht widersprechen, weil sich der Bau mit oder ohne Zutun des Bauherrn oder Dritter verändert hat (zB Anbau, Umbau, Zerfall, Nutzungsänderung), oder es ist zwar der Bau unverändert geblieben, aber die Rechtslage hat sich geändert. Zur (Wieder-)Herstellung der Übereinstimmung von Baurecht und tatsächlichem Zustand kommen verschiedene Maßnahmen in Betracht: zB die Anordnung der Baueinstellung, die Verfügung eines Nutzungsverbotes oder die Anordnung der Beseitigung der baulichen Anlage.764 Der Einsatz dieser Instrumente ist an unterschiedliche rechtliche Voraussetzungen gebunden. aa) Ermächtigungsgrundlagen. Die rechtliche Determination der Behörde ist relativ schwach, 225 soweit diese jenseits rechtlichen Zwangs durch Hinweise, Ratschläge oder Anregungen auf die (Wieder-)Herstellung baurechtmäßiger Zustände hinwirkt. Will sie dagegen durch Gebot oder Verbot die Verpflichtungsadressaten des Baurechts zu einem bestimmten Verhalten rechtlich verpflichten, so stößt sie idR auf die Grundrechte der Betroffenen (zB Art 14 I 1, 13 I, 12 I 1 GG). Grundrechtsrelevante Maßnahmen unterfallen dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt; sie dürfen also nur durch oder aufgrund Gesetzes ergehen. Ermächtigungsgrundlagen für Ge- bzw Verbote oder tatsächliche Maßnahmen der Bauaufsichtsbehörde sind in den LBauOen zT spezialgesetzlich geregelt. IdR enthalten die Gesetze eine Spezialermächtigung für die Baueinstellung (§ 79 MBO765) und für die Beseitigung baulicher Anlagen (§ 80 MBO766). Soweit derartige Rege-

_____ 762 Vgl § 67 BauO BW; § 76 BauO Bbg; § 81 Bau Bremen; § 77 BauO Nds. 763 Vgl § 82 MBO; Art 78 BauO Bay; § 81 BauO Bln; § 77 BauO Hbg; § 74 BauO Hess; § 82 BauO MV; § 82 BauO NW; § 78 II-IX BauO RP; § 79 BauO SL; § 82 BauO Sachs; § 81 BauO LSA; § 79 BauO SH; § 79 BauO Thür. 764 Daneben kann ein Bußgeldverfahren eingeleitet werden, vgl § 84 I Nr 3 MBO; § 75 IV BauO BW; Art 79 BauO Bay; § 83 III BauO Bln; § 79 V BauO Bbg; § 83 III BauO Bremen; § 80 III BauO Hbg; § 76 III BauO Hess; § 84 III BauO MV; § 80 BauO Nds; § 84 III BauO NW; § 89 BauO RP; § 87 III BauO SL; § 87 III BauO Sachs; § 83 III BauO LSA; § 59 II 1 Nr 1 BauO SH; § 82 III BauO Thür. 765 Vgl § 64 BauO BW; Art 75 BauO Bay; § 78 BauO Bln; § 73 I, II BauO Bbg; § 78 BauO Bremen; § 75 BauO Hbg; § 71 BauO Hess; § 79 BauO MV; § 79 I 2 Nrn 1, 2 BauO Nds; § 80 BauO RP; § 81 BauO SL; § 79 BauO Sachs; § 78 BauO LSA; § 85 BauO SH; § 76 BauO Thür. 766 Vgl § 65 BauO BW; Art 76 BauO Bay; § 79 BauO Bln; § 74 BauO Bbg; § 79 BauO Bremen; § 76 I 1 BauO Hbg; § 72 I 1 BauO Hess; § 80 BauO MV; § 79 I 2 Nr 4 BauO Nds; § 81 BauO RP; § 82 I BauO SL; § 80 BauO Sachs; § 79 BauO LSA; § 59 II 1 Nr 3 BauO SH; § 77 BauO Thür.

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lungen fehlen oder für eine andere Maßnahme eine Spezialermächtigung nicht vorhanden ist, ist fraglich, ob auf die bauordnungsrechtliche Generalklausel zurückgegriffen werden kann. Gem § 58 II 2 MBO können die Bauaufsichtsbehörden „in Wahrnehmung dieser Aufgaben die erforderlichen Maßnahmen treffen“. Mit dieser Formulierung767 wird zumindest nicht ausdrücklich die Befugnis zum Eingriff begründet und es wird zudem auf eine nähere Regelung von Eingriffsvoraussetzungen verzichtet. Insofern kann man zweifeln, ob die Generalklauseln eine Eingriffsermächtigung normieren. 768 Andererseits ist die bauordnungsrechtliche Generalklausel in ihrer Formulierung an die der (polizei-)ordnungsrechtlichen Generalklausel angelehnt. Das spricht für deren Funktionsgleichheit. Verneint man das, ist als Ermächtigungsgrundlage die polizei- bzw ordnungsrechtliche Generalklausel heranzuziehen.769 Die Ermächtigungsnormen räumen den Behörden durchweg ein Entschließungs- und 226 Auswahlermessen ein. Die Ermessensausübung ist zum einen an Art 3 I GG gebunden. Das bedeutet, dass die Behörde bei mehreren oder gleichartigen Baurechtsverstößen mehrerer Bauherren nicht willkürlich vorgehen darf.770 Im Übrigen ist gem § 40 VwVfG das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben. Dabei kann sich im Einzelfall eine Ermessensreduktion iS eines Zwanges zum Einschreiten aus der erheblichen Gefährdung wichtiger Rechtsgüter ergeben.771 Werden Normen verletzt, die dem Schutz von Rechtsgütern Dritter dienen, kann diesen ein Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung über das Einschreiten, bei Ermessensreduktion auch ein Anspruch auf das Tätigwerden der Bauaufsichtsbehörden zustehen.772 Soweit die Behörden Grundrechte beschränken, sind sie an das in den allgemeinen Polizei227 und Ordnungsgesetzen speziell normierte Übermaßverbot gebunden. Sie dürfen also keine ungeeigneten, nicht erforderlichen oder unverhältnismäßigen Maßnahmen treffen.773 Der durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (ieS) geschaffene Zwang zum Ausgleich der Individualrechtsgüter mit den von den Baurechtsnormen geschützten Allgemeingütern oder Interessen privater Dritter erfordert ein je nach Baurechtsverstoß und Schwere des Eingriffs abgestuftes Vorgehen der Behörden. 228 bb) Bestandsschutz rechtmäßig errichteter baulicher Anlagen. Bei genehmigungsbedürftigen Vorhaben hat die Baugenehmigung im Umfang der der Behörde zukommenden Kontroll- und Entscheidungskompetenz ua die Funktion, rechtsverbindlich festzustellen, dass das Bauvorhaben den Schutz des Art 14 I 1 GG genießt.774 Das erklärt, dass eine der Genehmigung entsprechende bauliche Anlage insoweit vor dem Rückgriff auf die abstrakt-generelle Baurechtsordnung geschützt ist. Da die Baugenehmigung ein Verwaltungsakt ist, dessen Rechtsgeltung von seiner Wirksamkeit, nicht aber von seiner Rechtmäßigkeit abhängt, gilt dies – bei Wirksamkeit der Ge-

_____ 767 So oder ähnlich § 47 I 2 BauO BW; Art 54 II 2 BauO Bay; § 58 I 2 BauO Bln; § 52 II 2 BauO Bbg; § 58 II 2 BauO Bremen; § 58 I 2 BauO Hbg; § 53 II 2 HS 1 BauO Hess; § 58 I 2 BauO MV; § 61 I 2 BauO NW; § 59 I 1 HS 2 BauO RP; § 57 II 2 BauO SL; § 58 II 2 BauO Sachs; § 57 II 2 BauO LSA; § 59 I 2 BauO SH; § 60 II 2 BauO Thür. Vgl ferner § 79 I 1 BauO Nds. 768 Krit Oldiges (Fn 53) Rn 327; aA zB Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 157; Schoch Jura 2005, 178, 178; Stollmann (Fn 3) 273; OVG Bln-Bbg LKV 2008, 136. 769 Dazu o Schoch 2. Kap Rn 94 ff. Das OVG NW hat die Frage nach der Ermächtigungsnorm gelegentlich pragmatisch offengelassen und auf beide in Betracht kommenden Vorschriften abgestellt, vgl OVG NW NJW 1984, 883, 883: „§ 76 NRWBauO i. V. mit § 14 NRWOBG“; OVG NW E 35, 153, 158: „§§ 1 und 14 OBG iVm § 76 BauO“. 770 Dazu Götz NJW 1979, 1478, 1481 ff; Schoch Jura 2005, 178, 183; BVerwG BRS 57, Nr 248. 771 Gern DVBl 1987, 1194, 1195; weitergehend OVG Berlin NJW 1983, 777, 778. 772 Dazu grundlegend BVerwGE 11, 95 m Anm Bachof DVBl 1961, 128 ff. Vgl auch Decker in: Simon/Busse, BayBO, Art 76 Rn 487 ff; OVG NW BauR 2009, 1716, 1717. Zur Rechtsstellung des Dritten gegenüber von der Genehmigung freigestellten bzw nur anzeigepflichtigen Vorhaben vgl u Rn 248. 773 Dazu BVerfG-K NVwZ 2005, 203; OVG NW BauR 2006, 90 o JK 5/06, VwVfG § 40/1. 774 Vgl o Rn 214 f m Fn 716.

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nehmigung – unabhängig davon, ob diese erteilt werden durfte oder nicht.775 Diesen einfachund grundrechtlichen Schutz genießt der wirksam genehmigte Bau grundsätzlich auch gegenüber nachträglichen Rechtsänderungen (Bestandsschutz776). Er erstreckt sich jedoch, das sei noch einmal betont, nur auf den der Baugenehmigungsbehörde im konkreten Verfahren eingeräumten Prüfungsumfang.777 Allerdings wird der Grundrechtsschutz eines Bauvorhabens nicht exklusiv durch die Baugenehmigung vermittelt. Auch von der Genehmigung freigestellte bzw anzeigepflichtige sowie verfahrensfreie bauliche Anlagen (Rn 221) können grundrechtlich in ihrem Bestand geschützt sein. Da es bei ihnen aber an einer Genehmigung fehlt, die den Grundrechtsschutz vermittelt, muss ihr grundrechtlicher Schutz davon abhängen, ob sie baurechtskonform errichtet wurden. Allerdings schützt Art 14 I GG das Eigentum nicht vor jedweder Schmälerung auf alle Zeiten. Nachträgliche Eigentumsbeschränkungen sind daher nicht prinzipiell ausgeschlossen. Sie müssen jedoch auf gesetzlicher Grundlage beruhen und dem Übermaßverbot entsprechen. Bei nachträglicher Rechtsänderung darf zB verlangt werden, dass bestehende oder nach genehmigten Bauvorlagen bereits begonnene bauliche Anlagen der neuen Rechtslage angepasst werden, wenn dies im Einzelfall „wegen der Sicherheit oder Gesundheit erforderlich ist“.778 cc) Vorgehen gegen rechtswidrig errichtete bauliche Anlagen. Wie soeben festgestellt, 229 kommt bei genehmigungsbedürftigen Anlagen ein Einschreiten bei Vorliegen einer wirksamen Genehmigung nur ausnahmsweise in Betracht. Einem genehmigungsbedürftigen Vorhaben kann aber aus verschiedenen Gründen die erforderliche Genehmigung auch fehlen (formelle Illegalität). Der Bauherr kann auf die Stellung eines Bauantrages und die Einholung einer Genehmigung verzichtet haben (sog Schwarzbau); er kann den Bau anders als genehmigt ausgeführt oder ihn nachträglich verändert haben; schließlich kann die ursprüngliche Baugenehmigung aufgehoben worden sein. Dabei kann der ungenehmigte Bau den baurechtlichen Anforderungen entsprechen – oder nicht. Die sog materielle Baurechtswidrigkeit kann ursprünglich – oder zwischenzeitlich – vorhanden gewesen sein und fortdauern – oder nicht. Diese unterschiedlichen Fallgestaltungen gebieten eine differenzierte Beurteilung der rechtlichen Konsequenzen ungenehmigten Bauens. Auch eine als Grundsatz verstandene rechtliche Aussage wie die, dass eine Abriss- oder Beseitigungsverfügung formelle und materielle Illegalität voraussetze,779 kann allenfalls eine die rechtliche Tendenz beschreibende „Daumenregel“ sein.780 Die Zulässigkeit behördlicher Maßnahmen in diesen Konstellationen hängt zunächst we- 230 sentlich davon ab, inwieweit auch das genehmigungsbedürftige, aber genehmigungslose Bauwerk grundrechtlich geschützt ist. Auch insofern muss differenziert werden. Der ungenehmigte Bau ist jedenfalls (Sach-)Eigentum und wird zumindest unter diesem Aspekt von Art 14 I GG erfasst. Ein Vorgehen gegen den Eigentümer steht also unter Gesetzesvorbehalt (Art 14 I 2 GG) und

_____ 775 Friauf DVBl 1971, 713, 722. 776 Zum planungsrechtlichen Bestandsschutz vgl o Rn 143 ff. 777 BVerfG-K BauR 1996, 235; StGH Hess ESVGH 60, 14, 17 f. So reduziert das vereinfachte Genehmigungsverfahren aufgrund seines regelmäßig begrenzten Prüfungsumfangs (vgl o Rn 218) den Bestandsschutz für die bauliche Anlage, vgl Wehr DV 38 (2005) 65, 70; Decker BayVBl 2011, 517, 522. 778 So oder ähnlich § 76 I BauO BW; § 85 II 1 BauO Bln; § 78 I BauO Bbg; § 53 III BauO Hess; § 85 II BauO Nds; § 87 I BauO NW; § 85 I BauO RP; § 86 I BauO LSA; § 60 I BauO SH; § 84 I BauO Thür. Vgl auch BVerfG BauR 1996, 235 ff. 779 Vgl Brenner (Fn 2) Rn 768; Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 172 f; Muckel (Fn 69) § 9 Rn 38. 780 So kann im Einzelfall die formelle Illegalität für den Erlass einer Beseitigungsverfügung ausreichen, Selmer NJW 1968, 173, 174 unter Hinw auf OVG Lüneburg NJW 1967, 2281. Vgl auch OVG Bln-Bbg BRS 73 Nr 141; OVG NW BRS 23, Nr 205. AA Mampel BauR 2000, 996, 1001 f; Fischer NVwZ 2004, 1057 ff mit Kritik an den Begriffen der formellen und materiellen Illegalität. Zur bauordnungsrechtlichen Behandlung ungenehmigter DDR-Altbauten vgl ThürOVG ThürVBl 2003, 134 ff mit Anm Lieder ThürVBl 2004, 173 ff.

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muss dem Übermaßverbot genügen.781 Ist das genehmigungsbedürftige Bauwerk nicht genehmigt, so ist damit allerdings noch nicht festgestellt, dass es auch den grundrechtlichen „Baufreiheitsschutz“ genießt. Ungenehmigtes Bauen verstößt gegen die Normen, die die grundrechtlich geschützte Baufreiheit unter einen Verfahrensvorbehalt stellen. Dieser Umstand rechtfertigt idR bei einem noch nicht fertig gestellten Bau die Verfügung einer Baueinstellung,782 bei einem noch nicht bezogenen Bauwerk ein Nutzungsverbot.783 231 Im Übrigen hängt der Grundrechtsschutz des ungenehmigten Bauwerks davon ab, welche (grund-)rechtliche Bedeutung man der Baugenehmigung beimisst. Die hier vertretene Auffassung, dass die Genehmigung die grundrechtliche Baufreiheit im jeweiligen Prüfungsumfang des Genehmigungsverfahrens rechtsverbindlich feststellt, bedeutet, dass das Bauvorhaben, soweit es keiner Prüfung im Genehmigungsverfahren unterliegt, insoweit Grundrechtsschutz genießt, als es (bau-)rechtskonform errichtet und genutzt wird. Auch formell illegales Bauen schließt den Grundrechtsschutz nicht ipso iure gänzlich aus. Steht die Übereinstimmung des Bauwerks mit den baurechtlichen Anforderungen fest, ist es also genehmigungsfähig, dann genießt es insofern auch Grundrechtsschutz und ist zB in aller Regel vor Abriss geschützt. Ist der ungenehmigte Bau im Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung nicht genehmigungsfähig, muss wiederum differenziert werden: Ist der Bau zu irgendeinem früheren Zeitpunkt einmal genehmigungsfähig gewesen, so soll ihm Bestandsschutz zukommen, wenn seit der Genehmigungsfähigkeit ein „beachtlicher“ Zeitraum, der mit mindestens drei Monaten veranschlagt wird, verstrichen ist.784 War und ist der Bau nicht genehmigungsfähig, so muss das Ausmaß der behördlichen Befugnisse auch davon abhängen, gegen welche Rechtsnormen die bauliche Anlage verstößt.785 Das muss auch bei genehmigten Bauvorhaben gelten, die gegen Rechtsnormen verstoßen, die nicht zu den Kontrollnormen im Genehmigungsverfahren zählen. Da die Maßnahme nicht gegen das Übermaßverbot verstoßen darf, muss die Behörde eine Güterabwägung durchführen. Es kommt daher darauf an, welchen rechtlichen Stellenwert das von der verletzten Norm geschützte Rechtsgut besitzt. Für die Eingriffsbefugnisse786 kann etwa von Bedeutung sein, ob das Grundstück planungsrechtlich überhaupt bebaubar oder nicht bebaubar ist und gegen welche bauordnungsrechtlichen Anforderungen verstoßen wurde. Die zuletzt genannten Grundsätze gelten gleichermaßen für Anlagen, die entweder verfah232 rensfrei sind oder einem Freistellungs- oder Anzeigeverfahren unterliegen und rechtswidrig errichtet wurden. Für alle Fallgestaltungen fordert das Gebot des Interventionsminimums jedenfalls, dass die Abriss- oder Beseitigungsverfügung als einschneidendste Maßnahme nur als ultima ratio eingesetzt wird.787

_____ 781 Vgl Nachweise in Fn 773. 782 OVG NW BauR 2006, 369; BRS 20, Nr 191; BRS 16, Nr 132; Oldiges (Fn 53) Rn 331 f. Eine Baueinstellung kann auch dann verfügt werden, wenn das Baugenehmigungsverfahren noch erfolgreich nachgeholt werden kann, vgl VGH BW NVwZ-RR 2005, 10 f. 783 VGH BW BRS 76 Nr 202; OVG NW BauR 2009, 1719 ff; Peine (Fn 23) Rn 1123; aA Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 198, der auch die materielle Baurechtswidrigkeit zu den Voraussetzungen zählt; differenzierend Muckel (Fn 69) § 9 Rn 39. 784 ZB BVerwG BRS 24, Nr 193; BauR 1979, 228, 229; BRS 33, Nr 37; BRS 35, Nr 206; Rieger (Fn 362) § 30 Rn 46. Anders zB Schoch Jura 2005, 178, 182. 785 Vgl OVG Bln-Bbg NVwZ-RR 2010, 794, 795. 786 Diese sind nach VGH BW BauR 2009, 485, 488; NdsOVG BRS 64 Nr 198 nicht verwirkbar; denkbar ist aber, den Zeitablauf bei der Güterabwägung insofern zu berücksichtigen, als der Normzweck jedenfalls für den abgelaufenen Zeitraum nicht mehr erreichbar ist. Vgl zur Verwirkung als Frage des Vertrauensschutzes BVerwG Buchholz 406.17 Bauordnungsrecht Nr 35. 787 Schoch Jura 2005, 178, 181.

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V. Rechtsschutzfragen des Städtebau- und Bauordnungsrechts – 4. Kapitel

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Nach ausdrücklicher Regelung in fast allen Bundesländern788 gilt die Abbruchverfügung 233 auch gegen den Rechtsnachfolger. Ob dies auch dann gilt, wenn eine ausdrückliche Regelung fehlt,789 ist fragwürdig. Denn auch in die Grundrechte des Rechtsnachfolgers darf nur eingegriffen werden, wenn ein Gesetz dazu ermächtigt.790 4. Kapitel – Baurecht V. Rechtsschutzfragen des Städtebau- und Bauordnungsrechts – 4. Kapitel

V. Rechtsschutzfragen des Städtebau- und Bauordnungsrechts 1. Gerichtlicher Rechtsschutz gegen städtebauliche Pläne a) Prinzipale Normenkontrolle Nach § 47 VwGO ist gegen bestimmte untergesetzliche Rechtsnormen teils obligatorisch (§ 47 I 234 Nr 1 VwGO), teils fakultativ (§ 47 I Nr 2 VwGO)791 die prinzipale Normenkontrolle792 eröffnet. In unserem Zusammenhang ist die obligatorische Normenkontrolle nach § 47 I Nr 1 VwGO von besonderer Bedeutung, da in diesem Verfahren das OVG über die Gültigkeit von Satzungen, die nach den Vorschriften des BauGB erlassen worden sind, sowie von Rechtsverordnungen auf Grund des § 246 II BauGB entscheidet.793 Zu den Satzungen iSd Norm gehört insbesondere794 der Bebauungsplan (§ 10 BauGB).795 Nicht als Satzung wird der Flächennutzungsplan beschlossen (Rn 82), der nach dem Wortlaut daher an sich auch nicht im Verfahren nach § 47 VwGO überprüft werden kann.796 Allerdings gibt die Regelung des § 35 III 3 BauGB (Rn 140) Anlass, den Rechtscharakter einzelner Darstellungen des Flächennutzungsplans 797 und damit auch die Rechtsschutzmöglichkeiten neu auszuloten.798 Der Antrag im Normenkontrollverfahren ist darauf gerichtet, die angegriffene Norm für unwirksam799 zu erklären.800 Diesen Antrag kann nach § 47 II 1 VwGO jede natürliche oder juristi-

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788 § 58 III MBO; Art 54 II 3 BauO Bay; § 52 V BauO Bbg; § 58 II BauO Bln; § 58 V BauO Bremen; § 58 II BauO Hbg; § 53 V BauO Hess; § 57 III BauO LSA; § 58 II BauO MV; § 79 I 5 BauO Nds; § 81 S 3 BauO RP; § 57 V BauO SL; § 58 III BauO Sachs; § 59 IV BauO SH; § 60 IV BauO Thür; entsprechende Regelungen fehlen in den BauOen BW und NW. 789 Dafür Ortloff JuS 1981, 574, 577 f. Das OVG NW NVwZ-RR 1998, 159, 160; Urt v 15.7.2002, 7 A 1717/01 folgert dies aus der dinglichen Wirkung der Baugenehmigung (dazu o Rn 220), die eine Rechtsnachfolge in die Bauherreneigenschaft bewirke. Dazu krit Nolte/Niestedt JuS 2000, 1172, 1173 mwN. Übersicht über Rspr und Lit bei Guckelberger VerwArch 90 (1999) 499, 508 ff. 790 Schoch JuS 1994, 1026, 1030 f. IE ebenso HessVGH NJW 1976, 1910; DÖV 1987, 302. 791 Nach BVerwGE 119, 217 ff gehören dazu auch die in einem Regionalplan enthaltenen Ziele der Raumordnung. 792 Dazu Ehlers Jura 2005, 171 ff. 793 Vgl hierzu Kohl JuS 1993, 320 ff; Kintz JuS 2000, 1099 ff. 794 Kontrollgegenstand können darüber hinaus zB Satzungen nach § 34 IV BauGB, die Sanierungssatzung (§ 142 BauGB) und die Veränderungssperre (§ 16 I BauGB) – dazu Jäde ZfBR 2011, 115 ff – sein. Ein nur planreifer Bebauungsplan iSd § 33 I BauGB ist der prinzipalen Normenkontrolle nicht zugänglich, vgl BVerwG BauR 2002, 445 f. Dazu Jäde BayVBl 2003, 449 ff. 795 Vgl aber § 246 II BauGB, der den Stadtstaaten den Gebrauch anderer Rechtsformen erlaubt. Zu den Einzelheiten der Bebauungsplanung in Hamburg o Rn 87 m Fn 308. Nach einer vom BVerfG gegen den Wortlaut des Gesetzes getroffenen Entscheidung (BVerfGE 70, 35 ff o JK VwGO § 47/11) sind auch die Gesetze prüfungsfähig, mit denen in Hamburg zT die Bebauungspläne festgestellt werden. 796 St Rspr; zB BVerwG NVwZ 1991, 262 f; BVerwGE 77, 300, 305; aus jüngerer Zeit BVerwGE 124, 132, 141; Redeker/ v Oertzen VwGO, § 47 Rn 17; Gerhardt/Bier in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 47 Rn 18. 797 Vgl unter dem hier angesprochenen Aspekt BVerwGE 117, 287, 303 o JK BauGB § 35/3; E 119, 217, 225; E 122, 109, 115 f; E 128, 382, 386 ff; BVerwG BauR 2009, 475 f; Dazert BauR 2007, 657 ff. 798 Für eine Normenkontrolle nach § 47 I Nr 1 VwGO analog: BVerwG BauR 2009, 475 f; BVerwGE 128, 382 ff; OVG Bln-Bbg BRS 73 Nr 37; OVG RP BauR 2008, 1101; Schenke NVwZ 2007, 134, 140 f; ders VerwArch 98 (2007), 448, 468 ff. Für eine Normenkontrolle nach § 47 I Nr 2 VwGO: noch OVG RP NVwZ 2006, 1442 f; Gerhardt/Bier (Fn 796) § 47 Rn 30; Guckelberger DÖV 2006, 973, 980 f; Herrmann NVwZ 2009, 1185, 1187 ff und Jeromin NVwZ 2006, 1374, 1376. 799 Zum Begriff der Unwirksamkeit und der Änderung des § 47 V 2 VwGO durch das EAG Bau vgl Bickenbach NVwZ 2006, 178 ff; Rieger NVwZ 2006, 1027 ff. 800 Nach BVerwGE 68, 12, 14 o JK VwGO § 47/10 kann der Antrag auch auf die Feststellung gerichtet sein, „daß eine während der Anhängigkeit des Normenkontrollantrages außer Kraft getretene Norm ungültig war“. Für diesen

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4. Kapitel – Baurecht

sche Person sowie jede Behörde innerhalb eines Jahres801 nach Bekanntmachung der Norm stellen. Für natürliche oder juristische Personen verlangt § 47 II 1 VwGO,802 dass sie geltend machen, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden (Antragsbefugnis). Die Anforderungen des § 47 II 1 VwGO entsprechen damit weitgehend denen des § 42 II VwGO.803 Ein Normenkontrollantrag ist nach § 47 IIa VwGO unzulässig, wenn nur Einwendungen geltend gemacht werden, die bereits während des Planaufstellungsverfahrens geltend gemacht werden konnten,804 und der Antragssteller auf diese Rechtsfolge hingewiesen worden ist.805 Der Antrag ist begründet, wenn die angegriffene Norm „ungültig“ ist (§ 47 V 2 VwGO). Ob das der Fall ist, beurteilt sich nach materiellem Recht. Für den Bebauungsplan sei auf die Ausführungen zu seinen Kontrollmaßstäben806 und zu den Fehlerfolgen (Rn 121 ff) verwiesen.

b) Individualrechtsschutzverfahren 235 Auf die Gültigkeit eines Bebauungsplans kann es auch im Rahmen von Anfechtungs-, Verpflichtungs-, Feststellungs- oder allgemeinen Leistungsklagen ankommen, etwa dann, wenn ein Nachbar (oder eine Nachbargemeinde) eine Baugenehmigung anficht, die nur bei Gültigkeit eines Bebauungsplans rechtmäßig ist. In diesem Fall ist das Gericht berechtigt und verpflichtet, die Gültigkeit des Bebauungsplans zu überprüfen und ihn bei seiner Ungültigkeit nicht anzu-

_____ „Fortsetzungsfeststellungsantrag“ verlangt das BVerwG ein „berechtigtes Interesse an der Feststellung“. Dem folgend NdsOVG BauR 2010, 1043, 1044 f; OVG NW BRS 69 Nr 56. 801 Die Verkürzung der Antragsfrist von ehemals zwei Jahren auf nunmehr ein Jahr sollte die Rechtssicherheit erhöhen, vgl BT-Drs 16/2496 S 17 f; befürwortend Blechschmidt ZfBR 2007, 120, 125; krit dazu Ziekow BauR 2007, 1169, 1174; Gronemeyer BauR 2007, 815, 823 f. 802 Anträge von Behörden sind nur bei Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses zulässig. Eine Behörde kann den Normenkontrollantrag also nur stellen, wenn sie die Norm, um deren Gültigkeit gestritten wird, zu vollziehen oder bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zumindest zu beachten hat. Die Einzelheiten sind str, vgl zB HessVGH BRS 62, Nr 53; SächsOVG NVwZ 2002, 110, 112 f. 803 BVerwGE 107, 215, 217 o JK BauGB § 1 VI/1. Die Antragsbefugnis ist regelmäßig gegeben, „wenn sich ein Eigentümer eines im Plangebiet gelegenen Grundstücks gegen eine bauplanerische Festsetzung wendet, die unmittelbar sein Grundstück betrifft“, BVerwG DÖV 1998, 76, 76 f (LS 1); NVwZ 1998, 732, 732 (LS 1). Sie kann auch gegeben sein, wenn das Grundstück außerhalb des Plangebiets liegt, BVerwG BauR 2011, 1947, 1948 ff; BVerwG NVwZ 2001, 431, 432 o JK VwGO § 47 II 1/23. Zum subjektiven Recht iSd § 47 II 1 VwGO auf fehlerfreie Abwägung (§ 1 VII BauGB) BVerwGE 107, 215, 220 ff o JK BauGB § 1 VI/1; BVerwG DVBl 2007, 634 ff; VGH BW BauR 2007, 1103 ff; Schenke VerwArch 90 (1999) 310, 317 ff; krit Steinberg FS Schlichter, 1995, 599, 607. Das Interesse, mit einem nicht bebauten Grundstück in den Geltungsbereich eines Bebauungsplans einbezogen zu werden, ist für sich genommen kein abwägungserheblicher Belang, der dem Eigentümer die Antragsbefugnis vermitteln kann, BVerwG BauR 2007, 1711 f; NVwZ 2004, 1120 f o JK VwGO § 47 II 1/27; etwas anderes gilt dann, wenn die Nichteinbeziehung des Grundstücks willkürlich erfolgt ist, VGH BW UPR 2006, 356 mwN. Gemeinden können eine Antragsbefugnis insbesondere aus einer möglichen Verletzung des interkommunalen Abstimmungsgebots nach § 2 II BauGB durch die Bauleitplanung der Nachbargemeinde herleiten, dazu VGH BW VBlBW 2008, 218 ff; BauR 2007, 2113; aA OVG RP BauR 2010, 1726, 1728. Zu den Rechtsschutzmöglichkeiten der Gemeinden gegen nachbargemeindliche Bauleitpläne vgl Schenke VerwArch 98 (2007), 448 ff. Zur Erweiterung der Antragsbefugnis von Gemeinden durch § 2 II 2 BauGB vgl o Rn 105 aE. 804 Vgl OVG NW BauR 2008, 2032 f. 805 Bei dieser prozessualen Präklusion soll es sich um eine Konkretisierung des Rechtsschutzbedürfnisses handeln, vgl BT-Drs 16/2496 S 18 und o Fn 801; aA Battis/Krautzberger/Löhr NVwZ 2007, 121, 128; Ziekow BauR 2007, 1169, 1175 f, die die Präklusionsregelung als Verschärfung der Antragsbefugnis sehen. Die Präklusion soll nach BVerwG NVwZ 2011, 309 f auch dann grds nicht ausgeschlossen sein, wenn eine falsche Belehrung verwandt wurde. 806 Vgl o Rn 107 ff. Die Prüfung ist nicht auf die vom Antragsteller geltend gemachten oder dessen geschützten Belange berührenden Ungültigkeitsgründe beschränkt, BVerwG NVwZ 2001, 431, 432 (LS 2) o JK VwGO § 47 II 1/23; NVwZ 2007, 223; NVwZ 2008, 899 f. Vgl zum Umfang der Prüfungspflicht auch BVerwG NVwZ 2002, 83 ff sowie Quaas VBlBW 2002, 289, 290 f.

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wenden. Einer derartigen „inzidenten Normenkontrolle“ ist nicht nur der Bebauungs-, sondern auch der Flächennutzungsplan zugänglich.807 Prozessual vorstellbar ist auch eine Unterlassungsklage gegen den Erlass eines Bebauungsbzw Flächennutzungsplans. Sie ist allerdings nur erfolgreich, wenn dem Kläger ein entsprechender Unterlassungsanspruch zusteht.808 Zumindest theoretisch ist es auch prozessual nicht ausgeschlossen, dass der Kläger eine Klage auf Erlass eines Bauleitplans erhebt. Sie wird beim Flächennutzungsplan wohl immer, beim Bebauungsplan idR daran scheitern, dass dem Kläger kein Anspruch auf Bauleitplanung zusteht.809

2. Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung a) Verpflichtungsklage Stehen einem genehmigungsbedürftigen Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften 236 entgegen, hat der Bauherr einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Baugenehmigung.810 Dieser Anspruch ist ein Recht iSd §§ 42 II, 113 V 1 VwGO und kann vom Bauherrn notfalls im Wege der Verpflichtungsklage gem § 42 I Alt 2 VwGO vor den Verwaltungsgerichten durchgesetzt werden. Steht der Bauaufsichtsbehörde bei der Entscheidung über den Bauantrag noch ein Ermessensspielraum zu (etwa bei der Entscheidung über eine „Ausnahme“ iSd § 31 I BauGB), kann die Verpflichtungsklage in Form der Bescheidungsklage811 erhoben werden. Die Erteilung einer Baugenehmigung im Wege einstweiliger Anordnung wird als grundsätzlich unzulässig angesehen.812 Da sich die Klageart nach dem Klagebegehren richtet, ist die Verpflichtungsklage auch dann einschlägig, wenn die Bauaufsichtsbehörde den Erlass der begehrten Baugenehmigung deshalb verweigert, weil eine für diesen Erlass notwendige Beteiligung einer anderen Behörde oder Körperschaft fehlt. So kann zB die Gemeinde ihr Einvernehmen gem § 36 BauGB versagt haben. Nach Auffassung des BVerwG813 ist die Gemeinde gem § 65 II VwGO beizuladen; die rechtskräftige Verurteilung der Bauaufsichtsbehörde mache die Zustimmung der Gemeinde entbehrlich.814 Ein Fall der notwendigen Beiladung gem § 65 II VwGO liegt auch dann vor, wenn die Entscheidung des Gerichts über die Verpflichtung der Behörde zum Erlass der Baugenehmigung auch Dritten (zB Nachbarn) gegenüber nur einheitlich erfolgen kann.

_____ 807 Vgl auch BVerwG DVBl 1973, 34 ff; Gaentzsch (Fn 272) § 5 Rn 4; Herrmann NVwZ 2009, 1185, 1188 f. Sa Erbguth NVwZ 2005, 241 ff mit Überlegungen zu einem auf früheren Entscheidungsebenen einsetzenden, „phasenspezifischen“ Rechtsschutz. 808 Vgl BVerwGE 54, 211, 214 ff; aA Schenke NVwZ 2007, 134, 137 f; ders VerwArch 98 (2007), 448, 456, der eine solche Klage am fehlenden Rechtsschutzbedürfnis scheitern lässt. 809 § 1 III 2 BauGB. BVerwG NVwZ 2006, 458, 458 f. Für den Bebauungsplan vgl o Rn 33, 92 f. 810 Das ergibt sich auch ohne Rückgriff auf die Grundrechte aus den § 72 I MBO entsprechenden Normen der LBauOen. Vgl o Rn 211. 811 Die Möglichkeit der Erhebung einer derart modifizierten Verpflichtungsklage ergibt sich im Rückschluss aus § 113 V 2 VwGO. 812 Schoch in: ders/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 123 Rn 156; Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 270. Das soll nach HessVGH NVwZ-RR 2003, 814 ff o JK VwGO § 123 I 2/2 mit krit Anm Maaß NVwZ 2004, 572 ff auch dann gelten, wenn die Zulässigkeit des Bauvorhabens durch Änderung der Bauleitplanung in Gefahr gerät. AA Rolshoven BauR 2003, 646 ff. Zum einstweiligen RS gegen die Zurückstellung von Baugesuchen nach § 15 I BauGB vgl VGH BW NJWRR 2011, 923 mit Anm Schlarmann VBlBW 2011, 465. 813 BVerwGE 42, 8, 10 ff; vgl auch Bier in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 65 Rn 23. Nach BVerwGE 51, 310, 311 f; DVBl 1993, 657, 658 ist die im Baugenehmigungsverfahren zu beteiligende höhere Verwaltungsbehörde nicht notwendig beizuladen, wenn sie Teil der Verwaltungsorganisation des Beklagten ist. 814 AA Erichsen VwR u VwGerichtsbkt I, 109 ff: Es müsse ein Bescheidungsurteil gem § 113 V 2 VwGO ergehen. Vgl zu § 36 BauGB auch die Nachweise in Fn 449.

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4. Kapitel – Baurecht

Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob die für den Anspruch auf die Baugenehmigung erforderliche Baurechtmäßigkeit des Vorhabens vorliegt, ist der Abschluss der mündlichen Verhandlung. Das gilt auch, wenn sich die Sach- und Rechtslage bis dahin zu Ungunsten des Klägers verschlechtert hat.815 Im Einzelfall können dadurch entstehende Härten durch die Erteilung von Abweichungen bzw Ausnahmen und Befreiungen kompensiert werden (Rn 133, 212).

b) Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen 237 Ist die Baugenehmigung mit einer Nebenbestimmung versehen, stellt sich die Frage, ob der Bauherr die Nebenbestimmung – isoliert – anfechten kann.816 Mit der Anfechtungsklage macht der Bürger einen materiellen Anspruch auf vollständige oder teilweise Aufhebung eines Verwaltungsakts geltend. 817 Die Zulässigkeit einer Anfechtungsklage gegen eine Nebenbestimmung hängt daher davon ab, ob es möglich ist, dass ein Anspruch auf isolierte Aufhebung der Nebenbestimmung besteht (vgl § 42 II VwGO). Erhält der Bauherr die beantragte Baugenehmigung unter Beifügung einer Auflage, hat er infolge der – wirksam – erteilten Genehmigung einerseits das grundrechtlich geschützte Recht, das Vorhaben wie beantragt zu errichten (Rn 214 f). Gleichzeitig begründet die Auflage allerdings eine rechtliche Verhaltenspflicht (Rn 213) für den Fall, dass der Bauherr von seinem grundrechtlich geschützten Recht aus der Baugenehmigung Gebrauch macht. Dadurch wird der Bauherr in seiner Baufreiheit beeinträchtigt. Rechtswidrige Grundrechtsbeeinträchtigungen begründen einen Anspruch auf Aufhebung der Beeinträchtigung. Erhält also der Bauherr eine wirksame Baugenehmigung unter Beifügung einer uU rechtswidrigen Auflage, so ist es möglich, dass er einen grundrechtlichen Anspruch auf deren Aufhebung hat. Diesen Anspruch kann er im Wege der Anfechtungsklage verfolgen. Die Anfechtungsklage ist begründet, wenn der Anspruch auf Aufhebung der Auflage besteht. Das hängt davon ab, ob die die Grundrechtsbeeinträchtigung bewirkende Auflage rechtswidrig ist.818 Bedingungen und Befristungen verändern den Inhalt der beantragten Genehmigung. Sie begründen aber keine rechtlichen Verhaltenspflichten. Sie beeinträchtigen daher für sich genommen den Bauherrn nicht in seiner Baufreiheit und lösen auch bei Rechtswidrigkeit keine grundrechtlichen Ansprüche auf ihre isolierte Aufhebung aus. Hat der Bauherr aus den einschlägigen Vorschriften der LBauOen819 einen Anspruch auf die begehrte, unbedingte oder unbefristete Baugenehmigung, ist dieser Anspruch durch Erteilung einer bedingten oder befristeten Genehmigung nicht erfüllt. Der Bauherr muss folglich im Wege der Verpflichtungsklage die Erteilung einer unbedingten bzw unbefristeten Baugenehmigung einklagen.820 Die Klage ist begründet, wenn die Voraussetzungen des Genehmigungstatbestandes erfüllt sind.

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815 Vgl Schenke (Fn 627) § 9 Rn 123. 816 Ausf zum Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen Remmert VerwArch 88 (1997) 112 ff; Pietzcker NVwZ 1995, 15 ff; Störmer DVBl 1996, 81 ff; Hufen/Bickenbach JuS 2004, 867 ff, 966 ff. 817 Pietzcker in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 42 I Rn 3. 818 Auf die Frage, ob die verbleibende Genehmigung rechtmäßig ist oder ob sie ohne die Auflage erteilt worden wäre, kommt es nicht an, vgl Remmert (Fn 816) 112, 125; Pietzcker NVwZ 1995, 15, 19. AA BVerwGE 81, 185, 186; 112, 221, 224; vgl auch Erichsen Jura 1990, 214, 217 mwN. 819 § 72 I MBO bzw die entsprechenden Vorschriften des Landesrechts, vgl o Rn 211 m Fn 696. 820 So – jew für Bedingungen – VGH BW VBlBW 1995, 29, 29 o JK VwVfG § 36/6; OVG Berlin BRS 58, Nr 124; NVwZ 2001, 1059 f; Remmert (Fn 816) 112 ff; aA BVerwGE 81, 185, 186; 112, 221, 224: Unabhängig von der Art der Nebenbestimmung müsse eine Anfechtungsklage erhoben werden. Für die Zulässigkeit der Klage dürfe die isolierte Aufhebbarkeit nur nicht offenkundig von vornherein ausscheiden, es wird also nach der Trennbarkeit von Hauptverwaltungsakt und Nebenbestimmung gefragt. Im Rahmen der Begründetheit prüft das BVerwG, ob der Verwaltungsakt ohne die Nebenbestimmung sinnvoller- und rechtmäßigerweise bestehen bleiben kann. Zust NdsOVG NVwZ-RR 2005, 394, 394; auch die aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels beziehe sich nur auf den angefochtenen Teil,

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V. Rechtsschutzfragen des Städtebau- und Bauordnungsrechts – 4. Kapitel

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3. Drittschutz (Nachbarschutz) Die Frage, welche Rechtsschutzmöglichkeiten einem Dritten zur Verfügung stehen, der sich 238 durch ein geplantes oder vorhandenes Bauwerk in seinen Interessen beeinträchtigt sieht, stößt auf ein vielschichtiges Problemfeld. Zum einen ist damit das Verhältnis zwischen privatrechtlichem und öffentlich-rechtlichem „Nachbarrecht“ angesprochen. Wie eingangs (Rn 2) erwähnt, ist der Ausgleich der durch die bauliche Nutzung von Grund und Boden betroffenen privaten Interessen auch Gegenstand privatrechtlicher Regelungen. Der durch eine bauliche Anlage ausgelöste Konflikt kann daher uU auch mit Hilfe einer zivilrechtlichen Klage ausgetragen werden. Im Übrigen kommt es aber auf die öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten an. Hierfür ist entscheidend, ob und wie potentiell betroffene Drittinteressen subjektiv-(öffentlich-)rechtlich bewehrt sind und wie sie verfahrensmäßig durchgesetzt werden können. Diese Frage hat in Rechtsprechung und Literatur eine breite, zumeist unter dem Schlagwort „Nachbarschutz“ geführte Diskussion ausgelöst.821 Darunter fallen auch die Konstellationen, in denen eine Gemeinde gegen das Bauvorhaben einer Nachbargemeinde vorgeht.822

a) Begriff des „Nachbarn“ Zur wirksamen Wahrnehmung seiner Interessen kann es für den Nachbarn wichtig sein, auf die 239 Entscheidungen der Bauaufsichtsbehörden einzuwirken. So kann er zB an der Aufhebung behördlicher Entscheidungen (zB einer ihn belastenden Baugenehmigung) oder an der Herbeiführung einer solchen Entscheidung (zB Erlass einer Beseitigungsanordnung) interessiert sein. Da der hierfür einschlägige verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz als Individualrechtsschutz konzipiert ist, kommt es darauf an, ob und inwieweit das öffentliche Baurecht Interessen des Nachbarn durch subjektive öffentliche Rechte absichert. Diese Fragestellung als eine solche nach der Existenz und dem Inhalt „nachbarschützender Normen“ zu bezeichnen, ist zumindest terminologisch missverständlich. Ein derartiger Sprachgebrauch suggeriert, dass es für das hier angeschnittene Problem auf den Begriff des Nachbarn ankomme und die Nachbareigenschaft über den durch öffentlich-rechtliche Rechtssätze vermittelten Schutz individueller Interessen entscheide. Der Adressatenkreis subjektiver öffentlicher Rechte lässt sich demgegenüber nur von der jeweiligen Norm her bestimmen, so dass „Nachbar“ im Baurecht jeder Dritte ist, dessen Interessen ein Rechtssatz des öffentlichen Baurechts in seinen Schutzzweck (mit-)aufgenommen hat.823 Die umstrittenen Fragen, ob der geschützte „Nachbar“ notwendig Angrenzer oder ob er dinglich berechtigt sein muss, ob also eine nur obligatorische Rechtsstellung (zB Miete, Pacht) noch keinen Nachbarschutz auszulösen vermag,824 sind daher in dieser Abstraktheit nicht zu beantworten. Vielmehr ist die Frage nach dem Schutz Dritter im Baurecht ein Problem der Interpretation von Einzelvorschriften. Man sollte solche Normen daher besser „drittschützende“ Baurechtsnormen nennen.

_____ Hellriegel/Malmendler DVBl 2010, 486. Krit zum Ganzen Labrenz NVwZ 2007, 161 ff, der gegen Nebenbestimmungen nur die Verpflichtungsklage für statthaft hält. 821 Zum Überblick vgl Dürr DÖV 2001, 625 ff; Stollmann VR 2005, 397 ff; Kaplonek/Mittag JA 2006, 664 ff; Beckmann BauR 2009, 1525 ff. 822 Dazu Schenke VerwArch 98 (2007), 561 ff. Hug Die Gemeindenachbarklagen im öffentlichen Baurecht, 2008, passim. Das Bauvorhaben einer Gemeinde kann eine Nachbargemeinde in ihrem Recht aus § 34 III BauGB verletzen. § 2 II BauGB findet nur im Rahmen der Bauleitplanung Anwendung und kann für die Beurteilung der Zulässigkeit eines Bauvorhabens nicht herangezogen werden, vgl Kment NVwZ 2007, 996, 1001 f. 823 Zutreffend Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 217; Schoch Jura 2004, 317, 318. 824 So BVerwG NVwZ 1998, 956, 956; VGH BW DÖV 2007, 568 f; OVG NW BauR 2009, 857 f. Vgl dazu auch Kühl Die Rechtsstellung der obligatorisch Berechtigten im öffentlichen Baurecht, 1996.

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4. Kapitel – Baurecht

b) Einfachgesetzlicher Drittschutz 240 Subjektive öffentliche Rechte Dritter können sowohl in den Grundrechten als auch in Normen des einfachen Rechts enthalten sein. Die Bestimmung des subjektivrechtlichen Gehalts einfachgesetzlicher Baurechtsvorschriften wirft deshalb besondere Schwierigkeiten auf, weil keinesfalls alle Baurechtsvorschriften potentiell drittschützenden Charakter haben und der Normtext nur selten ausdrücklich über seine subjektivrechtlichen Gehalte Auskunft gibt (zB in negativer Hinsicht § 1 III 2 BauGB, in positiver § 6 V 4 BauO Bremen825). Nach nicht unumstrittener, aber verbreiteter Begriffsbestimmung des subjektiven öffentlichen Rechts826 kommt es darauf an, ob der objektivrechtliche Rechtssatz auch Individualinteressen zu dienen bestimmt ist. Es reicht also nicht aus, dass die Wahrnehmung der (objektivrechtlichen) rechtssatzmäßigen Verpflichtung durch die Behörden den Dritten („Nachbarn“) tatsächlich begünstigt;827 vielmehr muss diese Begünstigung von der Norm auch bezweckt sein. Die Herausarbeitung von Gesichtspunkten, die sich als die Einzelauslegung von Normen übergreifende Interpretationskriterien eignen, hat sich als überaus schwierig erwiesen. Im Städtebaurecht stellt das BVerwG darauf ab, ob sich „aus individualisierenden Tatbe241 standsmerkmalen der Norm ein Personenkreis entnehmen läßt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet“.828 Im Hinblick auf städtebauliche Normen verfährt die Rechtsprechung insofern restriktiv, als sie Vorschriften des BauGB (früher: BBauG) nur selten generell drittschützenden Charakter zumisst.829 Drittschützend sollen aber zB § 31 II BauGB830 und § 34 II BauGB831 sowie zumindest partiell zB § 34 I BauGB, § 35 I BauGB, § 36 BauGB sowie § 15 I BauNVO832 sein. Für den Drittschutz besonders relevant sind die Festsetzungen des Bebauungsplans. Hierzu vertrat das BVerwG früher die Auffassung, dass grundsätzlich allein „der Ortsgesetzgeber berechtigt [ist], je nach den tatsächlichen Gegebenheiten eines Planbereichs Festsetzungen drittschützend auszugestalten oder nicht“.833 Nunmehr soll die Gemeinde insofern zwar weiterhin „im Grundsatz frei“ sein,834 doch gelte dies nicht bei Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung, da eine nicht nachbarschützende Gebietsfestsetzung durch die Gemeinde gegen das Abwägungsgebot des § 1 VII BauGB verstoßen würde.835 Folgt man dem, sind zumindest die Festsetzungen über

_____ 825 § 6 V 4 BauO Bremen lautet: „Nachbarschützende Wirkung kommt nur Dreiviertel der Tiefe der nach Satz 1 bis 3 erforderlichen Abstandsfläche, mindestens jedoch einer Tiefe von 2,50 m zu.“ Vgl ferner u Rn 242 m Fn 840. 826 Vgl o Fn 698. 827 Vgl BVerwG DVBl 1994, 697 ff o JK BauGB § 35/1. Die Behörde kann einem Dritten aber durch Zusage ein subjektives öffentliches Recht auf Einhaltung objektivrechtlicher Verpflichtungen einräumen, vgl BVerwGE 49, 244, 247 f. 828 BVerwG NVwZ 1987, 409, 409 o JK BauGB § 31 II/1; BVerwGE 130, 39, 41; NVwZ-RR 2011, 613, 614. 829 BVerwG BauR 1983, 560 f. Zum Überblick über die drittschützenden Normen des Bauplanungsrechts vgl Pauli Das Gebot der Rücksichtnahme und Drittschutz im Bauplanungsrecht, 2005; Kaplonek/Mittag JA 2006, 664, 665 f; unter dem Gesichtspunkt des sog „Rücksichtnahmegebots“ – dazu u Rn 243 – Gaentzsch ZfBR 2009, 321 ff; vgl ferner die Rspr-Übersicht bei Beckmann BauR 2009, 1525 ff. 830 BVerwG NVwZ 1987, 409 o JK BauGB § 31 II/1 m Anm Goerlich JZ 1988, 406 ff; aA BayVGH BayVBl 2003, 599, 600, der eine drittschützende Wirkung des § 31 II BauGB nur bei konkreter Rücksichtslosigkeit annimmt. 831 BVerwG BauR 2000, 1019; BVerwGE 94, 151 ff o JK BauGB § 34/3 m Anm Schmidt-Preuß DVBl 1994, 288 ff; für § 34 II BauGB iVm § 4 BauNVO als Anspruch auf Bewahrung der Gebietsart OVG NW NVwZ-RR 2004, 245. 832 Vgl – jew unter Hinzuziehung des sog „Rücksichtnahmegebots“ – zu § 15 I BauNVO BVerwG BRS 73 Nr 82; BVerwGE 128, 118, 120; E 67, 334, 339; zu § 34 I BauGB BVerwG BauR 1999, 615 ff; NVwZ 1999, 879 f; HessVGH DÖV 2007, 394; zu § 35 BauGB BVerwGE 52, 122, 125 f; NVwZ 1983, 609, 609; BauR 2001, 83, 83 f. Zum „Rücksichtnahmegebot“ u Rn 243 f. Ein Anspruch auf Aufrechterhaltung der typischen Prägung eines Baugebiets soll sich auch aus § 15 I 1 BauNVO ergeben können, vgl BVerwG NVwZ BauR 2002, 1499 f. Zu § 36 BauGB vgl BVerwG NVwZ 2008, 1347 ff o JK BauGB § 36/11; HessVGH NVwZ-RR 2009, 750, 751 f o JK BauGB § 36/12. 833 BVerwG DVBl 1986, 187, 188 o JK BBauG § 15/1; vgl auch BVerwG BRS 40, Nr 192; BRS 42, Nr 123; NVwZ 1993, 1100, 1100. 834 Vgl hierzu krit Krebs FS Hoppe, 2000, 1055, 1066 f. 835 BVerwGE 94, 151, 155 o JK BauGB § 34/3 m Anm Schmidt-Preuß DVBl 1994, 288 ff.

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V. Rechtsschutzfragen des Städtebau- und Bauordnungsrechts – 4. Kapitel

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die Art der baulichen Nutzung kraft Bundesrechts als drittschützend anzusehen.836 Ein solcher sog Gebietserhaltungsanspruch soll gem § 34 II BauGB auch dann bestehen, wenn im unbeplanten Innenbereich die nähere Umgehung eines Grundstücks faktisch einem der in den §§ 2 ff BauNVO festgelegten Baugebiete entspricht.837 Der Anspruch ist jedenfalls dann verletzt, wenn ein neues Vorhaben in dem Gebiet weder allgemein noch ausnahmsweise zulässig ist.838 Im Bauordnungsrecht ist die Rechtspraxis nicht nur im Hinblick auf die teilweise differie- 242 renden Normen der LBauOen unübersichtlich, sondern auch deshalb, weil inhaltlich übereinstimmende Vorschriften der verschiedenen LBauOen von den jeweils zuständigen Oberverwaltungsgerichten unterschiedlich ausgelegt werden.839 Drittschützend können zB die Vorschriften über den seitlichen Grenzabstand von Bauwerken (Bauwiche, Abstandsflächen840), Vorschriften mit feuer- und gesundheitspolizeilichem Inhalt841 und die Vorschriften über die Anordnung von Garagen und Stellplätzen842 sein; die Baugestaltungsvorschriften sollen es hingegen regelmäßig nicht sein.843 Keine subjektiven Rechte sollen die Vorschriften über die einzelnen bauaufsichtsrechtlichen Verfahren vermitteln.844 Fraglich ist, ob insbesondere im Städtebaurecht, aber auch im Bauordnungsrecht845 darüber 243 hinaus einem sog Gebot der Rücksichtnahme Drittschutz abzugewinnen ist.846 Ein solches Gebot ist aus dem Anliegen entstanden, vor dem Hintergrund eines in subjektivrechtlicher Hinsicht restriktiven Normverständnisses einem Dritten gleichwohl Rechtsschutz einzuräumen, wenn er im Einzelfall in besonderer Weise beeinträchtigt ist. So soll etwa § 34 I BauGB nicht generell Drittschutz zukommen, sondern nur, wenn der Dritte in besonders qualifizierter Weise betroffen ist.847 Für die Diskussion des Problems ist eine Rückbesinnung auf die grundrechtsdogmatische Fundierung der Schutznormlehre848 hilfreich.849 Diese Lehre gebietet, die Suche nach rechtlichem Schutz für nachteilig betroffene Drittinteressen vor dem unmittelbaren Rückgriff auf die Grundrechte bei den einfachrechtlichen Rechtsnormen anzusetzen, also zu fragen,

_____ 836 Vgl Schoch Jura 2004, 317, 319 mwN. Festsetzungen bzgl des Maßes der baulichen Nutzung (§§ 16 ff BauNVO) sollen im Zweifel keinen Drittschutz vermitteln, da sie lediglich grundstücksbezogene Normen seien und ausschließlich städtebaulichen Belangen dienten, so VGH BW NVwZ-RR 1993, 347 o JK BauNVO § 23/1; OVG NW BauR 1992, 60, 61; anders, wenn die Festsetzungen erlassen wurden, um private Belange zu schützen, BVerwG BauR 1995, 823, 823; OVG NW BauR 1992, 60, 61. Vgl dazu und hinsichtlich der Differenzierung beim drittschützenden Charakter bei Festsetzungen bzgl der Bauweise und überbaubaren Grundstücksflächen Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 235 f. 837 Vgl Nachw o Fn 831. 838 Dabei ist nicht nur auf den Wortlaut der Vorhabenkataloge in der Norm über das jeweilige Baugebiet in den §§ 2-11 BauNVO abzustellen, sondern aus systematischen Gründen auch auf die jeweils in Abs 1 enthaltene Zweckbestimmung für das Gebiet, vgl BVerwGE 90, 140, 145; E 116, 155, 157 f. Dies wird auch als spezieller Gebietsprägungserhaltungsanspruch diskutiert, vgl Decker JA 2007, 55, 56; Stühler BauR 2011, 1576, 1580; BVerwG BauR 2002, 1499 f. 839 Vgl dazu die Übersicht bei Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 241 ff. 840 Vgl OVG NW BRS 32, Nr 98; BRS 42, Nr 119; NVwZ 1986, 317 o JK VwGO § 113 I 1/3; BRS 52, Nr 100; BayVGH BRS 44, Nr 100. § 6 V 4 BauO Bremen bestimmt ausdrücklich, in welchem Umfang die Vorschriften über die Abstandsflächen drittschützend sind. 841 OVG NW BRS 27, Nr 103; BRS 39, Nr 48; VGH BW BRS 40, Nr 207. 842 OVG Lüneburg DVBl 1975, 915; BRS 42, Nr 127; BRS 54, Nr 101; verneinend VGH BW NVwZ-RR 2008, 600, 601. 843 OVG NW BauR 2007, 1560; OVG Lüneburg BRS 44, Nr 118; OVG SL BRS 44, Nr 162; OLG Karlsruhe BauR 1990, 459; differenzierend Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 244 f. 844 Ein Dritter soll sich daher nicht darauf berufen können, dass ein Bauvorhaben rechtsfehlerhaft genehmigungsfreigestellt wurde, vgl Seidel NVwZ 2004, 139, 140 f mwN; vgl auch SächsOVG BauR 2010, 947; NVwZ-RR 2009, 633. 845 Vgl dazu Ortloff NVwZ 1985, 13, 19 f; Sarnighausen NVwZ 1993, 1054 ff. 846 Dazu Krebs FS Hoppe, 2000, 1055 ff. 847 Vgl dazu die Nachw o Fn 832. 848 Dazu Schmidt-Aßmann (Fn 89) Art 19 IV Rn 127 ff mwN; Bauer AöR 113 (1988) 582 ff. Überblick bei Krebs in: v Münch/Kunig, GG I, Art 19 Rn 66 sowie ders FS Hoppe, 2000, 1055, 1064 ff. 849 Vgl Krebs FS Hoppe, 2000, 1055, 1062 ff.

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ob eine einfachrechtliche Norm eine „Schutznorm“ ist. Dieses Gebot gründet auf der Annahme, dass die Grundrechte, in unserem Zusammenhang insbesondere Art 14 I GG, den Gesetzgeber und den untergesetzlichen Normgeber verpflichten, bei der Regelung der Nutzung von Grund und Boden nicht nur die Privatinteressen und die Allgemeininteressen, sondern auch konfligierende Privatinteressen untereinander in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen.850 Von daher kann eine unterverfassungsrechtliche Norm in Erfüllung dieser Grundrechtspflicht gebieten, bei der Entscheidung über die zulässige Nutzung eines Grundstücks auch auf die Interessen von Drittbetroffenen (Nachbarn) Rücksicht zu nehmen. Das Problem des „Gebots der Rücksichtnahme“ und des Drittschutzes ist damit vorrangig ein Problem grundrechtskonformer Norminterpretation. Diese kann im Einzelfall durchaus ergeben, dass die Schwere der faktischen Beeinträchtigung Tatbestandsvoraussetzung der Schutznorm ist, die Norm also rechtlichen Drittschutz erst vermittelt, „wenn eine bestimmte Schwelle der Beeinträchtigung erreicht wird“.851 Vor diesem (grundrechts-)dogmatischen Hintergrund wird auch die Rechtsprechung des 244 BVerwG zum Gebot der Rücksichtnahme852 verständlich. Das Gericht hatte die Auffassung vertreten, dass diesem Gebot „drittschützende Wirkung zukommt, soweit in dadurch qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf besondere Rechtspositionen Rücksicht zu nehmen ist, und daß zweitens ein solcher Fall auch dann gegeben sein kann, wenn unabhängig von der besonderen rechtlichen Schutzwürdigkeit der Betroffenen ihr Betroffensein wegen der gegebenen Umstände so handgreiflich ist, daß dies die notwendige Qualifizierung, Individualisierung und Eingrenzung bewirkt“.853 Die Rechtsprechung des BVerwG hat ein lebhaftes literarisches Echo ausgelöst.854 Dabei war das Rücksichtnahmegebot, wohl nicht zuletzt wegen seines Namens („Gebot“), dem Missverständnis ausgesetzt, als praeterlegaler Maßstab zur Einräumung von Drittschutz eingesetzt zu werden. Das BVerwG hat aber klarstellend und zutreffend darauf hingewiesen, dass es ein das gesamte Baurecht umfassendes außergesetzliches Rücksichtnahmegebot nicht gebe. Vielmehr seien die einzelnen Normen auf ihren Drittschutzgehalt zu untersuchen. „Deswegen sind es auch die einfachrechtlichen Vorschriften selbst, nicht aber ein außerhalb dieser Vorschriften stehendes Gebot der Rücksichtnahme, die Drittschutz vermitteln“.855 Das Rücksichtnahmegebot ist also dogmatisch kein „Gebot“, weil es kein Rechtssatz ist, sondern ein Interpretationskonzept, dh eine Theorie („Rücksichtnahmelehre“856).

c) Unvermittelter grundrechtlicher Drittschutz 245 Wenn das einfache Recht die beeinträchtigten Drittinteressen nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt, ist fraglich, ob sich der Dritte unmittelbar auf seine Grundrechte berufen kann. Dazu ist zunächst zu erinnern, dass die Grundrechte keine unmittelbare Rechte- und Pflichtenbeziehung zwischen den privaten Nachbarn konstituieren. Es geht also in erster Linie darum, inwieweit die Grundrechte Drittschutz vor behördlichen Maßnahmen leisten. Diese Frage wirft

_____ 850 Zur Konzeption von Art 14 I GG o Rn 27 ff. 851 BVerwG NVwZ 1987, 409, 409 o JK BauGB § 31 II/1. 852 Zur Rspr-Geschichte vgl Krebs FS Hoppe, 2000, 1055, 1057 ff. 853 BVerwGE 52, 122, 131; ähnlich BVerwG BRS 38, Nr 186; OVG NW NVwZ 1983, 414, 415 o JK GG Art 14 I/16. 854 Vgl Schrödter DVBl 1977, 726 ff; Müller NJW 1979, 2378 ff; Breuer DVBl 1982, 1065 ff; Redeker DVBl 1984, 870 ff; Schlichter DVBl 1984, 875 ff; Alexy DÖV 1984, 953 ff; Peine DÖV 1984, 963 ff. 855 BVerwG NVwZ 1987, 409, 410 o JK BauGB § 31 II/1; vgl auch BVerwG DVBl 1992, 564, 567; DVBl 1994, 697, 698 o JK BauGB § 35/1; NVwZ 1999, 879, 880. Klarstellend BVerwGE 107, 215, 219 f o JK BauGB § 1 VI/1: Das Rücksichtnahmegebot gebe es nur nach Maßgabe der einfachen Gesetze, nicht aber als ein das gesamte Bauplanungsrecht umfassendes allgemeines Gebot iS einer eigenständigen rechtlichen Kategorie. Zu diesem Urteil vgl die Anm Schmidt-Preuß DVBl 1999, 103 ff. Vgl auch BVerwG NVwZ 2005, 328, 329; Gaentzsch ZfBR 2009, 324 ff. 856 Krebs FS Hoppe, 2000, 1055, 1070.

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vielfach deshalb besondere Probleme auf, weil die der Grundrechtsbindung unterliegenden Bauaufsichtsbehörden in den Freiheitsbereich des Dritten (Nachbarn) regelmäßig nicht unmittelbar durch rechtlichen Zwang, sondern mittelbar dadurch eingreifen, dass sie das (unmittelbar) beeinträchtigende Verhalten Privater (zB ein Bauvorhaben) mit hoheitlichen Maßnahmen steuern (zB eine Baugenehmigung erteilen). Dass die Grundrechte auch vor solchen „mittelbaren“ Freiheitsverkürzungen schützen, ist im Grundsatz ebenso anerkannt, wie weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass nicht jede mittelbare Beeinträchtigung grundrechtlich thematisierter Freiheiten den Grundrechtsschutz auszulösen vermag.857 Entscheidend ist daher, welche Art und Weise an Betroffenheit die unmittelbare Inanspruchnahme der Grundrechte rechtfertigen kann. Die Rechtsprechung hat diese „Grundrechtsschwelle“ gelegentlich sehr hoch angesiedelt und dem Dritten etwa Grundrechtsschutz aus Art 14 I GG858 nur dann zugestanden, wenn durch die Baugenehmigung die Grundstückssituation „nachhaltig verändert“ und der Dritte dadurch „schwer und unerträglich“ betroffen ist.859 Diese Kriterien werden nicht häufig erfüllt sein, so dass der durch das einfache Recht vermittelte Drittschutz in der Regel intensiver ausfällt als der unvermittelte grundrechtliche Drittschutz. Soweit abschließende drittschützende Regelungen des einfachen Rechts vorhanden sind, kann ein weitergehender, unmittelbar auf Art 14 I 1 GG beruhender Drittschutz ohnehin nicht bestehen.860

d) Verfahrensfragen Die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes eines Dritten richtet sich nach des- 246 sen Begehren. Will der Dritte einem genehmigten Vorhaben die Rechtsgrundlage entziehen, muss er versuchen, die Baugenehmigung im Wege von Widerspruch und Anfechtungsklage861 zu beseitigen.862 Ist dem Dritten die Baugenehmigung nicht bekanntgegeben worden (§ 43 I 1 VwVfGe), läuft für ihn weder die Widerspruchsfrist des § 70 I VwGO (Monatsfrist) noch die des § 58 II VwGO (Jahresfrist). Hatte er jedoch sichere Kenntnis von der Baugenehmigung oder hätte er sie haben müssen, kann er die Möglichkeit der Erhebung von Widerspruch und Anfechtungsklage verwirken.863 Die erforderliche Klagebefugnis (§ 42 II VwGO) ist gegeben, wenn nach dem Sachvortrag des Klägers die Verletzung seiner Rechte nicht ausgeschlossen ist. Der gegen die Baugenehmigung klagende Dritte muss demnach Tatsachen vortragen, nach denen die Verletzung einer auch seine Interessen schützenden Norm möglich erscheint. Durch die ausdrückliche Zustimmung zum Bauvorhaben verzichtet der Dritte auf seine Abwehransprüche und deren Geltendmachung;864 durch die längere Duldung eines baurechtswidrigen Zustands kann der Dritte

_____ 857 Vgl dazu Krebs (Fn 60) § 31 insbes Rn 94, 124; Pieroth/Schlink Grundrechte, 28. Aufl 2012, Rn 252 ff; vgl auch BVerwGE 44, 244, 246 ff. 858 In Betracht kommen auch andere Grundrechte, zB Art 2 II GG, vgl BVerwGE 54, 211, 222 f; NJW 1980, 2368, 2369; OVG NW NJW 1984, 1982 ff; VGH BW BauR 2006, 1865, 1866 f o JK BauGB § 31 I/1. 859 BVerwGE 32, 173 ff; E 44, 244, 246 ff; vgl zu dieser Rspr auch Krebs FS Menger, 1985, 191, 205 ff. 860 BVerwGE 89, 69, 78; DVBl 1997, 61, 62. Vgl auch o Rn 143, 145 zur insoweit vergleichbaren Fragestellung beim sog Bestandsschutz. 861 Ausnahmsweise kann auch eine Unterlassungsklage zulässig sein, vgl BVerwG DVBl 1971, 746 ff; Pietzcker in: Schoch/Schneider/Bier VwGO, § 42 I Rn 165 f. 862 Im Regelfall soll aus der gerichtlichen Aufhebung der Baugenehmigung ein Anspruch des Dritten auf Erlass einer Abrissverfügung gegen den Bauherrn folgen, vgl BVerwG BauR 2000, 1318 f; aA OVG MV UPR 2004, 80 ff o JK LBO MV § 80 I 1/1. 863 BVerwGE 44, 294, 298 ff; E 78, 85 ff o JK VwGO § 47/14; OVG NW BauR 2000, 381, 381 f o JK Allg VerwR Verwirkung/2; OVG RP BauR 2011, 1805, 1806; NdsOVG BauR 2012, 239; Bauer DV 23 (1990) 211 ff. 864 NdsOVG NdsVBl 2003, 212 ff; OVG Bln-Bbg Beschl v 21.6.2011, OVG 2 N 73.08. Zu den Voraussetzungen eines auch den Rechtsnachfolger bindenden Verzichts auf die Einhaltung drittschützender Normen HessVGH DVBl 1995, 525, 525 o JK Allg VerwR Verzicht/1; OVG NW Urt v 2.9.2010, 10 A 2616/08, JURIS Rn 50 ff; Schlemminger/Fuder NVwZ 2004, 129, 131 ff; Schröer/Dziallas NVwZ 2004, 134 ff.

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seine Abwehrsansprüche unter Umständen verwirken.865 Macht er sie dennoch geltend, liegt ein Verstoß gegen das Gebot von Treu und Glauben (§ 242 BGB) vor.866 Die Anfechtungsklage des Dritten ist gem § 113 I 1 VwGO begründet, soweit die Baugenehmigung rechtswidrig und der Dritte dadurch in seinen Rechten verletzt ist.867 Das setzt voraus, dass die Baugenehmigung gegen drittschützende Normen verstößt oder – bei Nicht-Existenz drittschützender Normen – in besonders qualifizierter Weise (Rn 245) in Grundrechte eingreift. Verstößt die Genehmigung – ausschließlich gegen nur objektivrechtliche Normen, ist die Anfechtungsklage des Dritten trotz Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung unbegründet.868Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung ist der Zeitpunkt ihres Erlasses, 869 nachträgliche Rechtsänderungen zugunsten des Bauherrn sind jedoch zu berücksichtigen.870 Vorläufigen Rechtsschutz871 eines Dritten gegen einen Verwaltungsakt gewährt die VwGO 247 grundsätzlich dadurch, dass dessen Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben (§ 80 I 2 HS 2 VwGO). Das hat zur Folge, dass der Adressat des Verwaltungsaktes von der jeweiligen Regelung keinen Gebrauch machen darf.872 Nach § 80 II 1 Nr 3 VwGO entfällt die aufschiebende Wirkung jedoch ua in den „durch Bundesgesetz […] vorgeschriebenen Fällen“. Einen solchen Fall regelt § 212a I BauGB. Danach haben „Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens […] keine aufschiebende Wirkung“. Das bedeutet, dass bei einem genehmigten Vorhaben der Bauherr trotz Widerspruchs oder Anfechtungsklage eines Dritten gegen die Baugenehmigung873 zunächst weiter bauen darf. Der Dritte kann nur nach §§ 80a I Nr 2, 80 IV VwGO behördlichen oder nach §§ 80a III, 80 V VwGO874 vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz erlangen. § 212a BauGB verlagert dergestalt die Verfahrenslast vom Bauherrn auf den Dritten.875

_____

865 BVerwG BauR 2003, 1031 f; OVG NW NWVBl 2006, 25 f; OVG RP BauR 2011, 1805, 1806 ff. Zur Verwirkung allgemein vgl BVerwG NVwZ-RR 2004, 314 f. Zur Konstellation der Anfechtung einer dem Nachbarn ggü abgegebenen behördlichen Duldungserklärung vgl OVG NW BauR 2010, 1213 ff. 866 So für den ausdrücklichen Verzicht auf Abwehrrechte OVG NW NWVBl 2003, 468 ff o JK GG Art 12/69. Wird das geduldete bzw genehmigte Bauvorhaben verändert, können aber Abwehransprüche gegen die Änderung geltend gemacht werden. Zu den Voraussetzungen und den Unterschieden zwischen Zustimmung und Duldung OVG RP NVwZ-RR 2005, 525 ff. 867 Im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren (vgl o Rn 218) ist der Prüfungsumfang deutlich reduziert. Nur hinsichtlich der geprüften Vorschriften ist insoweit eine Rechtsverletzung des Klägers iSd § 113 I 1 VwGO möglich, vgl BayVGH BayVBl 2003, 342 f. Vgl auch u Rn 250. 868 OVG NW UPR 2012, 37 mwN. Verstößt die Baugenehmigung gegen eine drittschützende Vorschrift, kann der Dritte nach OVG Berlin DVBl 1993, 120 o JK VwGO § 113 I 1/7; NVwZ-RR 1999, 9, 10 die Aufhebung der Baugenehmigung nur hinsichtlich der Teile des gesetzwidrigen Vorhabens erreichen, durch die er in seinen Rechten verletzt wird, ohne dass es auf die Teilbarkeit der Genehmigung ankommt. Für Aufhebung der gesamten Baugenehmigung NdsOVG BRS 52, Nr 97; OVG NW ZMR 1992, 564; SächsOVG SächsVBl 1999, 137, 138; VGH BW BRS 73 Nr 131. 869 BVerwG NVwZ 1998, 1179, 1179 o JK VwVfG § 48/18; Grziwotz AöR 113 (1988) 213, 218 ff. 870 OVG NW BRS 64, Nr 84; VG Gera ThürVBl 2005, 19 ff. 871 Zum Überblick Debus Jura 2006, 487 ff; Brühl JuS 1995, 627 ff, 722 ff, 818 ff, 916 ff. 872 Das gilt iE unabhängig von der „Vollziehungs-“ und „Wirksamkeitstheorie“, dazu Erichsen/Klenke DÖV 1976, 833 ff. 873 Die Baugenehmigung ist „bauaufsichtliche Zulassung“ iSd § 212a BauGB. Str ist dies für den Bauvorbescheid. Eine Anwendung des § 212a BauGB auf diesen befürwortet zB NdsOVG BauR 2004, 1596 ff; BauR 1999, 1163 ff. Abgelehnt wird sie vom BayVGH NVwZ 1999, 1363, 1363 o JK VwGO § 80 I/4; VG Dessau BauR 2000, 1733 ff. Auf Befreiungen soll § 212a BauGB Anwendung finden nach OVG Bln-Bbg BauR 2010, 206 f; OVG SH BauR 1998, 1223; zur Anwendung auf Abweichungsentscheidungen krit OVG NW DVBl 1999, 788, 789; BauR 2008, 1588 f. § 212a BauGB soll nicht anwendbar sein, wenn statt einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung fälschlich eine baurechtliche erteilt wurde; es bleibe dann beim Grundsatz des § 80 I VwGO, NdsOVG NVwZ-RR 2011, 139, 140 f. 874 Zum Prüfungsmaßstab NdsOVG BauR 2007, 1394 ff. 875 Uneinigkeit besteht darüber, ob § 212a BauGB darüber hinausgehend eine generelle materielle Wertung des Gesetzgebers zu Gunsten des Vollzugsinteresses beinhaltet, zustimmend Huber NVwZ 2004, 915 ff mwN; NdsOVG BauR 2007, 1394, 1394; aA BayVGH NVwZ-RR 2003, 9 ff o JK VwGO §§ 80, 80a/4.

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V. Rechtsschutzfragen des Städtebau- und Bauordnungsrechts – 4. Kapitel

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Will der Dritte ein Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde durch Erlass eines Verwaltungsak- 248 tes (zB einer Abrissverfügung) gerichtlich erzwingen, muss er in der Hauptsache nach Durchführung eines erfolglosen Vorverfahrens (§ 68 II VwGO) Verpflichtungsklage gem § 42 I VwGO erheben. Ein solches Begehren ist in unterschiedlichen Fallgestaltungen denkbar. So kann sich der Dritte zB gegen einen „Schwarzbau“ (Rn 229) oder gegen ein zwar genehmigtes, aber nachträglich gefährlich gewordenes Bauwerk zur Wehr setzen wollen. Insbesondere kommt ein Verpflichtungsbegehren in Betracht, wenn ein Dritter ein behördliches Einschreiten gegen ein verfahrensfreies oder ein genehmigungsfreigestelltes bzw anzeigepflichtiges Vorhaben durchsetzen will. Diesen Vorhaben liegt gerade keine anfechtbare Baugenehmigung zugrunde. Materiellrechtliche Anspruchsgrundlage für ein solches Begehren ist die Norm, die die Behörde zur gewünschten Maßnahme ermächtigt – sofern sie auch den Drittschutz bezweckt. Räumt diese Norm der Behörde Ermessen ein, kann ein Verpflichtungsurteil nur im Falle einer Ermessensreduktion (Rn 226) ergehen; andernfalls erhält der Dritte ein Bescheidungsurteil. Die durch die jüngsten Baurechtsnovellen erfolgten Freistellungen bestimmter (Wohn-) Bauvorhaben von der Genehmigungspflicht (Rn 221) könnten demnach auf den ersten Blick die Rechtsstellung des Dritten verschlechtert haben.876 Mussten früher Widerspruch und Anfechtungsklage des Dritten gegen die erteilte Baugenehmigung bei Verstoß des Bauvorhabens gegen drittschützende Normen Erfolg haben (Rn 246), steht nunmehr bei von der Genehmigung freigestellten Vorhaben das Vorgehen gegen rechtswidrige Vorhaben idR selbst dann im Ermessen der Behörde, wenn der Baurechtsverstoß auf der Verletzung drittschützender Normen beruht.877 Daher wird erwogen, diesen Rechtsnachteil zu Lasten des Dritten dadurch zu kompensieren, ihm bei Verletzung drittschützender Normen einen strikten Rechtsanspruch auf Tätigwerden der Bauaufsichtsbehörden zuzugestehen. Es müsse in diesen Fällen von einer prinzipiellen Ermessensreduktion im Rahmen der einschlägigen Befugnisnormen ausgegangen werden.878 Dieses rechtspolitische Anliegen lässt sich de lege lata rechtsdogmatisch so aber nicht umsetzen. Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich nicht gezwungen, den Verstoß gegen drittschützende Normen generell mit einer staatlichen Eingriffspflicht zu sanktionieren, sondern kann den notwendigen Interessenausgleich auch der pflichtgemäßen Ermessensausübung durch die Behörde überantworten. Daher kann auch das in den Befugnisnormen eingeräumte Ermessen nicht mit Hilfe grundrechtskonformer Interpretation reduziert werden. Die Frage nach einer Ermessenreduktion zugunsten des Dritten bleibt damit Einzelfallfrage.879 Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für das Vorliegen der Voraussetzungen einer Eingriffsverfügung ist grundsätzlich der Abschluss der letzten mündlichen Verhandlung.880 Will der Dritte im vorläufigen Rechtsschutz ein Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde er- 249 zwingen, kann er den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 I VwGO beantragen. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang das im vorläufigen Rechtsschutz grundsätzlich geltende Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache, soweit durch eine Entscheidung irreparable Tat-

_____ 876 Vgl aber Fn 877. 877 Das galt allerdings auch nach der früheren Rechtslage, wenn der Bauherr das Bauvorhaben trotz aufgehobener Baugenehmigung weiter verwirklicht bzw das Bauvorhaben zum Zeitpunkt der Aufhebung der Baugenehmigung schon verwirklicht war. 878 Vgl BayVGH NVwZ 1997, 923, 923; VGH BW BauR 1995, 219, 220; Martini DVBl 2001, 1488, 1492 ff; Schoch Jura 2005, 178, 184 mwN; Bock DVBl 2006, 12, 15; vgl auch Otto ZfBR 2012, 15 und die ausf Rspr-Nachweise bei Mehde/ Hansen NVwZ 2010, 14 ff. 879 Vgl BVerwG NVwZ 1998, 395, 395; Seidel NVwZ 2004, 139, 142, der alternativ einen privatrechtlichen Nachbarschutz über § 823 II BGB iVm § 1004 BGB (analog) für möglich und sinnvoll hält. Vgl zur Problematik auch NdsOVG ZfBR 2009, 169, 172 f; Schoch Jura 2004, 317, 324 f; ders Jura 2005, 178, 184 und Debus Jura 2006, 487, 491 jew mwN zum Streitstand. 880 Vgl Gerhardt in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 113 Rn 66 m Fn 307.

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4. Kapitel – Baurecht

sachen geschaffen werden.881 Relevant wird dies zB bei der Durchsetzung einer Abrissverfügung – die gerichtliche Anordnung einer vorläufigen Nutzungsuntersagung oder Baueinstellung hingegen ist grundsätzlich möglich.882 250 Wendet sich ein Dritter gegen ein im vereinfachten Verfahren genehmigtes Vorhaben, muss er uU sowohl Anfechtungs- als auch Verpflichtungsklage erheben. Das liegt daran, dass eine im vereinfachten Verfahren erteilte Baugenehmigung die Vereinbarkeit des Vorhabens mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften nur insoweit feststellt, als diese Prüfungsgegenstand des Baugenehmigungsverfahrens waren (Rn 218). Eine Anfechtungsklage des Dritten gegen die Baugenehmigung ist daher nur erfolgreich, wenn diese gegen drittschützende Normen verstößt, die Gegenstand der behördlichen Prüfung waren; verstößt das Vorhaben gegen im vereinfachten Verfahren nicht geprüfte drittschützende Normen, muss der Dritte Verpflichtungsklage, gerichtet auf Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde, erheben.883 Diese „Zweigleisigkeit“884 der Rechtsbehelfe setzt sich entsprechend in den Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes fort. Drittschutzfragen treten schließlich auch in der Konstellation auf, in der ein Bauherr – uU 251 auf Antrag eines Dritten – eine bauaufsichtliche Verfügung zur (Wieder-)Herstellung rechtmäßiger Zustände erhält. Legt der Bauherr dagegen Widerspruch oder Anfechtungsklage ein, hat sein Rechtsbehelf gem § 80 I VwGO aufschiebende Wirkung.885 Das bedeutet, dass der Bauherr zunächst weiterbauen darf. Der Dritte kann hiergegen bei der Behörde die Anordnung der sofortigen Vollziehung gem § 80a II VwGO beantragen. Gerichtlicher vorläufiger Rechtsschutz steht ihm nach Maßgabe des § 80a III VwGO zu. Danach kann das Gericht auf Antrag Maßnahmen nach § 80a II VwGO treffen, also selbst anstelle der Behörde die sofortige Vollziehung anordnen.

_____ 881 Vgl Erichsen Jura 1984, 644, 653. 882 Bönker in: Hoppe/ders/Grotefels (Fn 76) § 18 Rn 107; Finkelnburg/Ortloff/Otto (Fn 5) 292. 883 Vgl BVerwG NVwZ 1998, 58 o JK VwGO § 43/10; SächsOVG BRS 60, Nr 106; BayVGH Beschl v 23.8.2011, 2 CS 11.1218, JURIS Rn 7; Uechtritz NVwZ 1996, 640, 647. 884 Uechtritz NVwZ 1996, 640, 647. 885 Eine bauaufsichtliche Eingriffsverfügung fällt nicht unter § 212a BauGB.

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I. Entstehung und Entwicklung des Umweltschutzrechts – 5. Kapitel

547

Fünftes Kapitel 5. Kapitel – Umweltschutzrecht I. Entstehung und Entwicklung des Umweltschutzrechts – 5. Kapitel Eifert

Eifert

Umweltschutzrecht*

I. II.

III.

IV.

Gliederung Entstehung und Entwicklung des Umweltschutzrechts ____ 1 Umweltschutzrecht als Rechtsgebiet ____ 7 1. Umweltrecht als zielzentriertes Rechtsgebiet ____ 7 2. Umweltrecht als Mehrebenensystem ____ 11 a) Bedeutung der Ebenen ____ 13 aa) Die völkerrechtliche Ebene ____ 13 bb) Besondere Bedeutung der europäischen Ebene ____ 18 cc) Relativer Bedeutungsverlust der nationalen Ebene ____ 24 b) Kompetenzverteilung zwischen den Ebenen ____ 26 aa) Rechtsetzung ____ 26 bb) Verwaltung ____ 31 Prinzipien des Umweltrechts ____ 36 1. Bedeutung der Prinzipien ____ 37 2. Verursacherprinzip ____ 41 3. Schutz-, Vorbeuge- und Vorsorgeprinzip ____ 45 a) Ziele und Ansätze ____ 45 b) Vorgaben und Abgrenzungen in Unionsund nationalem Recht ____ 50 c) Vorsorge als Legitimation und Auftrag einer Umweltgesetzgebung ____ 54 d) Umsetzung und Ausgestaltung im Verwaltungsrecht ____ 60 4. Nachhaltigkeitsprinzip ____ 62 5. Integrationsprinzip ____ 64 6. Weitere Prinzipien ____ 67 Instrumente und Charakteristika des Umweltrechts ____ 71 1. Instrumentelle Perspektive im Umweltrecht ____ 71 2. Hoheitliche Regulierung ____ 74 a) Normkonkretisierung durch untergesetzliche und private Regelsetzung ____ 75 b) Differenzierte Eröffnungskontrollen, insbesondere Genehmigung ____ 79

_____

c)

Hohe Bedeutung und umfangreiche Ausgestaltung der Verfahren ____ 86 aa) Charakteristische Bausteine ____ 88 bb) Zentraler Verfahrenskomplex: Umweltverträglichkeitsprüfung ____ 91 cc) Informale Verfahrenselemente ____ 98 d) Koordination der Einzelmaßnahmen durch staatliche Planung ____ 99 e) Räumliche Pflichtenregime durch Schutzgebiete ____ 102 f) Überwachung ____ 104 aa) Staatliche Überwachung und Eigenüberwachung ____ 105 bb) Repressive Maßnahmen bei Verstößen ____ 108 3. Regulierte Selbstregulierung ____ 112 a) Nutzung von Organisation ____ 113 aa) Organisationsvorgaben, insbesondere Betriebsbeauftragte ____ 115 bb) Umwelt-Audit ____ 121 b) Ausgestaltung des ökonomischen Marktes ____ 125 aa) Folgenzurechnung durch „Haftung“ (UmwHG; USchadG; Fonds) ____ 125 bb) Abgaben ____ 134 cc) Finanzielle Förderung ____ 139 dd) Nutzung staatlicher Nachfragemacht ____ 142 ee) Schaffung von Markttransparenz : Umweltkennzeichen, Informationshandeln ____ 144 c) Einrichtung eines ökonomischen Marktes ____ 147 aa) Zertifikate ____ 147 bb) Private Entsorgungsstrukturen ____ 157 d) Effektivierung politischer Öffentlichkeit: Umweltinformationen ____ 161 e) Schatten des Rechts: Selbstverpflichtungen der Wirtschaft ____ 166 4. Instrumentenmix als Strategie ____ 169

* Das Kapitel wurde hinsichtlich des Allgemeinen Teils (I.–IV.) vollständig neu gefasst. Hinsichtlich der besonderen Teile handelt es sich um eine aktualisierte und gekürzte Fassung des Textes von Rüdiger Breuer aus der Vorauflage. Für wertvolle Unterstützung bei der Aktualisierung der besonderen Teile danke ich Herrn Jacob Roggon und Herrn Christos Paraschiakos.

Eifert

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

5. Rechtsschutz ____ 171 a) Grundkonstellationen ____ 172 b) Allgemeiner Rahmen des Rechtsschutzes ____ 174 c) Klageart ____ 176 d) Subjektive Rechte und Klagebefugnis ____ 178 aa) Schutz und Vorsorge ____ 179 bb) Abgeschichtete Entscheidungen ____ 181 e) Klagemöglichkeiten von Umweltverbänden ____ 182 f) Verfahrensrechte ____ 187 g) Kontrolldichte ____ 189 V. Das Recht des Naturschutzes und der Landschaftspflege ____ 193 1. Allgemeines ____ 193 2. Landschaftsplanung ____ 196 3. Eingriffe in Natur und Landschaft ____ 198 a) Allgemeiner Bestandsschutz ____ 198 b) Besonderer Biotopschutz ____ 201 4. Schutzgebiete ____ 202 5. Artenschutz ____ 203 VI. Bodenschutzrecht ____ 204 1. Allgemeines ____ 204 2. Grundsätze und Pflichten des Bodenschutzes ____ 206 3. Ergänzende Vorschriften für Altlasten ____ 211 4. Wertausgleich ____ 212 VII. Wasserrecht ____ 213 1. Allgemeines ____ 213 2. Die allgemeine wasserwirtschaftsrechtliche Benutzungsordnung ____ 216 a) Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Grundsätze ____ 217 b) Die Rechtsinstitute der Erlaubnis und der Bewilligung ____ 220 c) Erlaubnis- oder bewilligungspflichtige Benutzungen ____ 224 d) Die allgemeinen Voraussetzungen der Erteilung einer Erlaubnis oder Bewilligung ____ 229 e) Nebenbestimmungen, nachträgliche Beschränkungen und Widerruf einer Erlaubnis oder Bewilligung ____ 233 f) Gewässeraufsicht und repressives Einschreiten der Wasserbehörden ____ 235 3. Maßnahmen- und Bewirtschaftungspläne ____ 238 4. Die Festsetzung von Wasserschutzgebieten ____ 241 5. Unterhaltung und Ausbau oberirdischer Gewässer ____ 243 VIII. Immissionsschutzrecht ____ 245 1. Allgemeines ____ 245

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IX.

X.

2. Genehmigungsbedürftige Anlagen ____ 250 a) Kreis der genehmigungsbedürftigen Anlagen ____ 252 b) Genehmigungsvoraussetzungen ____ 253 aa) Betreiberpflichten ____ 253 bb) Weitere immissionsschutzrechtliche Genehmigungsvoraussetzungen ____ 267 cc) Außer-immissionsschutzrechtliche Genehmigungsvoraussetzungen ____ 268 c) Genehmigungsverfahren ____ 269 d) Inhalt und Wirkung der Anlagengenehmigung ____ 273 e) Vorbescheid und Teilgenehmigung ____ 279 f) Nachträgliche Anordnungen ____ 280 g) Untersagung, Stilllegung und Beseitigung von Anlagen, Widerruf der Anlagen-genehmigung ____ 283 h) Anlagenbezogene Überwachung ____ 285 3. Nicht genehmigungsbedürftige Anlagen ____ 286 4. Der produktbezogene Immissionsschutz ____ 289 5. Der verkehrsbezogene Immissionsschutz ____ 290 a) Grundlagen des Immissionsschutzes bei Straßen, Schienenwegen und Flughäfen ____ 290 b) Sonderregelung des Fluglärmschutzgesetzes ____ 293 6. Der allgemeine handlungsbezogene Immissionsschutz ____ 294 7. Der gebietsbezogene Immissionsschutz ____ 295 8. Treibhausgasemissionshandel ____ 298 a) Allgemeines ____ 298 b) TEHG 2011, Zuteilung von Berechtigungen ____ 300 Atom- und Strahlenschutzrecht ____ 302 1. Allgemeines ____ 302 2. Die atomrechtliche Anlagengenehmigung ____ 305 a) Grundlagen und Entwicklung ____ 305 b) Genehmigungsvoraussetzungen ____ 306 c) Versagungsermessen ____ 311 d) Änderungsgenehmigung ____ 313 e) Genehmigungsverfahren ____ 314 3. Radioaktive Reststoffe und Abfälle ____ 315 4. Atomrechtliche Haftung ____ 317 Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht ____ 319 1. Allgemeines ____ 319

I. Entstehung und Entwicklung des Umweltschutzrechts – 5. Kapitel

2. Abfallbegriff ____ 326 3. Grundsätze und Handlungspflichten im Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht ____ 330

4. 5. 6. 7.

549

Produktverantwortung ____ 340 Abfallwirtschaftspläne ____ 342 Abfallentsorgungsanlagen ____ 343 Überwachung ____ 344

Gesetze: Bund: Allgemeines EisenbahnG (AEG) v 27.12.1993 (BGBl I 2378, ber. 1994 I 2439), zul geänd am 27.6.2012 (BGBl I 1421), Sartorius I Nr 962. BundesbergG (BBergG) v 13.8.1980 (BGBl I 1310), zul geänd am 31.7.2009 (BGBl I 2585), Kloepfer II 970. BundesfernstraßenG (FStrG) idF v 28.6.2007 (BGBl I 1206), zul geänd am 31.7.2009 (BGBl I 2585), Sartorius I Nr 932. BundeswasserstraßenG (WaStrG) idF v 23.5.2007 (BGBl I 962, ber. BGBl I 2008 1980), zul geänd am 6.10.2011 (BGBl I 1986), Sartorius I Nr 971. EnergiesteuerG (EnergieStG) v 15.7.2006 (BGBl I 1534), zul geänd am 1.3.2011 (BGBl I 282 iVm Bek. v 3.8.2011 (BGBl I 1726), Kloepfer I Nr 78. Erste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft – TA Luft) v 24.7.2002 (GMBl 511), Sartorius ErgBd Nr 101. FlurbereinigungsG (FlurbG) idF 16.3.1976 (BGBl I 546), zul geänd am 19.12.2008 (BGBl I 2794), Kloepfer I Nr 128. G für den Vorrang Erneuerbarer Energien (Erneuerbare-Energien-Gesetz – EEG) v 25.10.2008 (BGBl I 2074), zul geänd am 22.12.2011 (BGBl I 3044), Sartorius ErgBd Nr 883. G für die Erhaltung, die Modernisierung und den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung (Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz) v 19.3.2002 (BGBl I 1092), zul geänd am 28.7.2011 (BGBl I 1634), Sartorius ErgBd Nr 834. G gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) idF v 15.7.2005 (BGBl I 2114, ber. 2009 I 3850), zul geänd am 22.12.2011 (BGBl I 3044), Schönfelder Nr 74. G über Abgaben für das Einleiten von Abwasser in Gewässer (AbwasserabgabenG – AbwAG) idF v 18.1.2005 (BGBl I 114), zul geänd am 11.8.2010 (BGBl I 1163), Sartorius ErgBd Nr 846. G über das Inverkehrbringen, die Rücknahme und die umweltverträgliche Entsorgung von Batterien und Akkumulatoren (Batteriegesetz – BattG) v 25.6.2009 (BGBl I 1582), zul geänd am 24.2.2012 (BGBl I 212), Kloepfer II Nr 710. G über das Inverkehrbringen, die Rücknahme und die umweltverträgliche Entsorgung von Elektro- und Elektronikgeräten (Elektro- und Elektronikgerätegesetz – ElektroG) v 16.3.2005 (BGBl I 762), zul geänd am 24.2.2012 (BGBl I 212), Kloepfer I Nr 340. G über den Handel mit Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen (Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz – TEHG) idF v 21.7.2011 (BGBl I 1475), zul geänd am 22.12.2011 (BGBl I 3044), Kloepfer II Nr 720. G über den nationalen Zuteilungsplan für Treibhausgas-Emissionsberechtigungen in der Zuteilungsperiode 2008 bis 2012 (Zuteilungsgesetz 2012 – ZuG 2012), zul geänd am 22.12.2011 (BGBl I 3044), Kloepfer II 731. G über die Bereitstellung von Produkten auf dem Markt (Produktsicherheitsgesetz – ProdSG) v 8.11.2011 (BGBl I 2178, ber 2012 I 131), Sartorius ErgBd Nr 803. G über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (AtomG – AtG) idF v 15.7.1985 (BGBl I 1565), zul geänd am 24.2.2012 (BGBl I 1565), Sartorius I Nr 835. G über die Sicherstellung von Leistungen auf dem Gebiet der Wasserwirtschaft für Zwecke der Verteidigung (Wassersicherstellungsgesetz) v 24.8.1965 (BGBl I 1225, ber. 1817), zul geänd am 12.8.2005 (BGBl I 2354), Kloepfer I Nr 220. G über die umweltgerechte Gestaltung energieverbrauchsrelevanter Produkte (Energieverbrauchsrelevante-Produkte-Gesetz – EVPG) v 27.2.2008 (BGBl I 258), zul geänd am 16.11.2011 (BGBl I 2224), Kloepfer II Nr 968. G über die Umweltverträglichkeit von Wasch- und Reinigungsmitteln (Wasch- und Reinigungsmittelgesetz – WRMG) v 29.4.2007 (BGBl I 600), zul geänd am 2.11.2011 (BGBl I 2162), Kloepfer I Nr 230. G über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) idF v 24.2.2010 (BGBl I 94), zul geänd am 24.2.2012 (BGBl I 212), Sartorius I Nr 295. G über die Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden (Umweltschadensgesetz – USchadG) v 10.5.2007 (BGBl I 666), zul geänd am 24.2.2012 (BGBl I 212), Kloepfer I 40. G über Energiedienstleistungen und andere Energieeffizienzmaßnahmen (EDL-G) v 4.1.2010 (BGBl I 1483), Kloepfer II Nr 960. G über Energiestatistik (Energiestatistikgesetz – EnStatG) v 26.7.2002 (BGBl I 2867), zul geänd am 12.4.2011 (BGBl I 619), Kloepfer II Nr 969. G über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Umweltangelegenheiten nach der EGRL 2003/35/EG (Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz – UmwRG) v 7.12.2006 (BGBl I 2816), zul geänd am 24.2.2012 (BGBl I 212), Sartorius I Nr 293. G über Naturschutz und Landschaftspflege (BundesnaturschutzG – BNatSchG) v 29.7.2009 (BGBl I 2542), zul geänd am 6.2.2012 (BGBl I 148), Sartorius I Nr 880. G über Wasser- und Bodenverbände (WasserverbandsG – WVG) v 12.2.1991 (BGBl I 405), zul geänd am 15.5.2002 (BGBl I 1578), Kloepfer I 250. G zum Schutz der Kulturpflanzen (PflanzenschutzG – PflSchG) idF v 6.2.2012 (BGBl I 148), Sartorius I Nr 863. G zum Schutz gegen Fluglärm v 31.10.2007 (BGBl I 2550), Sartorius ErgBd Nr 980. G zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (ChemikalienG – ChemG) idF v 2.7.2008 (BGBl I 1146), zul geänd am 24.2.2012 (BGBl I 212), Kloepfer I 400. G zum Schutz vor schädlichen Bodenveränderungen und zur Sanierung von Altlasten (Bundes-BodenschutzG – BBodSchG) v 17.3.1998 (BGBl I 502), zul geänd am 24.2.2012 (BGBl I 212), Sartorius I Nr 299. G zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-ImmissionsschutzG – BImSchG) idF v 26.9.2002 (BGBl I 3830), zul geänd am 24.2.2012 (BGBl I 212), Sartorius I Nr 296. G zum vorsorgenden Schutz der Bevölkerung gegen Strahlenbelastungen (StrahlenschutzvorsorgeG – StrVG) v 19.12.1986

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

(BGBl I 2610), zul geänd am 8.4.2008 (BGBl I 686), Sartorius ErgBd Nr 836. G zur Ausführung der VO (EG) Nr 1013/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates v 14.6.2006 über die Verbringung von Abfällen und des Basler Übereinkommens v 22.3.1989 über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung (Abfallverbringungsgesetz – AbfVerbrG) v 19.7.2007 (BGBl I 1462), zul geänd am 24. 2. 2012 (BGBl I 212), Kloepfer I Nr 350. G zur Ausführung der VO (EG) Nr 1221/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v 25.11.2009 über die freiwillige Teilnahme von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung und zur Aufhebung der VO (EG) Nr 761/2001, sowie der Beschlüsse der Kommission 2001/681/EG und 2006/193/EG (Umweltauditgesetz – UAG) idF v 4.9.2002 (BGBl I 3490), zul geänd am 6.12.2011 (BGBl I 2509), Kloepfer I Nr 90. G zur Durchführung der Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union auf dem Gebiet der Gentechnik und über die Kennzeichnung ohne Anwendung gentechnischer Verfahren hergestellter Lebensmittel (EG-Gentechnik-Durchführungsgesetz – EGGenTDurchfG) v 22.6. 2004 (BGBl I 1244), zul geänd am 9.12.2010 (BGBl I 1934), Kloepfer II Nr 1025. G zur Einsparung von Energie in Gebäuden (Energieeinsparungsgesetz – EnEG) idF v 1.9.2005 (BGBl I 2684), zul geänd am 28.3.2009 (BGBl I 643), Sartorius ErgBd Nr 832. G zur Erhaltung des Waldes und zur Förderung der Forstwirtschaft (Bundeswaldgesetz – BWaldG) idF v 2.5.1975 (BGBl I 1037), zul geänd am 31.7.2010 (BGBl I 1050), Sartorius I Nr 875. G zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Bewirtschaftung von Abfällen (KreislaufwirtschaftsG – KrWG) idF v 24.2.2012 (BGBl I 212), Sartorius I Nr 298. G zur Förderung Erneuerbarer Energien im Wärmebereich (Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz – EEWärmeG) v 7.8.2008 (BGBl I 1658), zul geänd am 22.12.2011 (BGBl I 3044), Sartorius ErgBd Nr 833. G zur Kennzeichnung von energieverbrauchsrelevanten Produkten, Kraftfahrzeugen und Reifen mit Angaben über den Verbrauch an Energie und an anderen wichtigen Ressourcen (Energieverbrauchskennzeichnungsgesetz – EnVKG) v 10.5.2012 (BGBl I 1070), Kloepfer II Nr 962. G zur Ordnung des Wasserhaushalts (WasserhaushaltsG – WHG) v 31.7.2009 (BGBl I 2585), zul geänd am 24.2.2012 (BGBl I 212), Sartorius I Nr 845. G zur Regelung der Gentechnik (GentechnikG – GenTG) idF v 16.12.1993 (BGBl I 2066), zul geänd am 9.12.2010 (BGBl I 1934), Sartorius I Nr 270. G zur Umsetzung der RL 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (Europarechtsanpassungsgesetz Erneuerbare Energien – EAG EE) v 12.4.2011 (BGBl I 619). G zur Verbesserung der gesundheitsbezogenen Verbraucherinformation (Verbraucherinformationsgesetz – VIG) v 5.11.2007 (BGBl I 2558), zul geänd am 15.3.2012 (BGBl I 476), Sartorius ErgBd Nr 862 a. G zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) v 20.7.2000 (BGBl I 1045), zul geänd am 28.7.2011 (BGBl I 1622), Sartorius ErgBd Nr 285. G zur Verminderung von Luftverunreinigungen durch Bleiverbindungen in Ottokraftstoffen für Kraftfahrzeugmotoren (BenzinbleiG – BzBlG) v 5.8.1971 (BGBl I 1234), zul geänd am 31.10.2006 (BGBl I 2407, ber 2007 I 2149), Kloepfer II Nr 710. Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch (Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch – LFGB) idF v 22.8.2011 (BGBl I 1770), zul geänd am 15.3.2012 (BGBl I 481), Sartorius ErgBd Nr 862. RaumordnungsG (ROG) v 22.12.2008 (BGBl I 2986), zul geänd am 31.7.2009 (BGBl I 2585), Sartorius I Nr 340. Sechste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm – TA Lärm) 26.8.1998 (GMBl 503), Sartorius ErgBd Nr 100. TierschutzG (TierSchG) idF v 18.5.2006 (BGBl I 2205), zul geänd am 9.12.2010 (BGBl I 1934), Sartorius I Nr 873. UmwelthaftungsG (UmweltHG) v 10.12.1990 (BGBl I 2634), zul geänd am 23.3.2007 (BGBl I 2631), Schönfelder Nr 28. UmweltinformationsG (UIG) v 22.12.2004 (BGBl I 3704), Sartorius I Nr 294. UmweltstatistikG (UStatG) v 16.8.2005 (BGBl I 2446), zul geänd 24.2.2012 (BGBl I 212), Kloepfer I Nr 30. EU: RL 92/43/EWG des Rates vom 21.5.1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl Nr L 206/7), zul geänd d ÄndRL 2006/105 v 20.11.2006 (ABl Nr L 363/368). RL 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.11.2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung) (ABl Nr L 334/17, ber ABl 2012 Nr L 159/25). Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) v 25.5.1957 (BGBl II 1014, ber. 1678; ber. BGBl 1999 II 1024), zul geänd am 13.12.2007 (ABl Nr C 306 197; ber. ABl 2009 Nr L 290/1). VO/EG Nr 338/97 des Rates vom 9.12.1996 über den Schutz von Exemplaren wildlebender Tier- und Pflanzenarten durch Überwachung des Handels (ABl Nr L 61/1, ber ABl 1997 Nr L 100/72 und Nr L 298/70), zul geänd d ÄndVO/EU 101/2012 v 6.2.2012 (ABl Nr L 39/133). VO/EG Nr 1831/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.9.2003 über Zusatzstoffe zur Verwendung in der Tierernährung (ABl Nr L 268/29, ber. ABl 2004 Nr L 192/34, ABl 2007 Nr L 98/29), zul geänd d ÄndVO/EG 767/2009 v 13.7.2009 (ABl Nr L 229/1). VO/EG Nr 1013/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates v 14.6.2006 über die Verbringung von Abfällen (ABl Nr L 190/1, ber ABl Nr L 299/50 und ABl 2008 Nr L 318/15), zul geänd d ÄndVO (EU) 135/2012 vom 16.2.2012 (ABl Nr L 46/30). VO/EG Nr 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates v 18.12.2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Chemikalienagentur, zur Änderung der RL 1999/45/EG und zur Aufhebung der VO (EWG) Nr 793/93 des Rates, der VO (EG) Nr 1488/94 der Kommission, der RL 76/769/EWG des Rates sowie der RL 91/

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I. Entstehung und Entwicklung des Umweltschutzrechts – 5. Kapitel

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155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission (ABl Nr L 396/1, ber ABl 2007 Nr L 136/3), zul geänd d ÄndVO/EU 412/2012 v 15. 5. 2012 (ABl Nr L 128/1). VO/EG Nr 1272/2008 des europäischen Parlaments und des Rates v 16.12.2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen, zur Änderung und Aufhebung der Richtlinien 67/548/EWG und 1999/45/EG und zur Änderung der VO/EG Nr 1907/2006 (ABl Nr L 353/1, ABl Nr L 16/1), zul geänd d VO/EU Nr 286/2011 der Kommission v 10.3.2011 (ABl Nr L 83/1). VO/EG Nr 1221/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2009 über die freiwillige Teilnahme von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung und zur Aufhebung der VO/EG Nr 761/2001, sowie der Beschlüsse der Kommission 2001/681/EG und 2006/193/EG (ABl Nr L 342/1). VO/EG Nr 66/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2009 über das EU-Umweltzeichen (ABl 2010 Nr L 27/1). VO/EU Nr 1031/2010 der Kommission vom 12.11.2010 über den zeitlichen und administrativen Ablauf sowie sonstige Aspekte der Versteigerung von Treibhausgasemissionszertifikaten gemäß der RL 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft (ABl Nr L 302/1). Völkerrechtliche Verträge: G zu der Änderung des Übereinkommens vom 25.6.1998 über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Erstes Aarhus-Änderungs-Übereinkommen) v 17.7.2009 (BGBl II 794). Protokoll von Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (Kyoto-Protokoll) v 11.12.1997 (BGBl 2002 II 966). Länder: Es wird auf die Gesetzessammlungen für die einzelnen Länder und die nachfolgend angegebene Sammlung von Burhenne verwiesen. Textsammlungen: W. Burhenne Umweltrecht, Systematische Sammlung der Rechtsvorschriften des Bundes und der Länder (Losebl). M. Kloepfer Umweltschutz, Textsammlung des Umweltrechts der Bundesrepublik Deutschland (Losebl).

Literatur: I. Appel Methodik des Umgangs mit Ungewissheit in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg), Methoden der Verwaltungswissenschaft, 2004. I. Appel Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge. Zum Wandel der Dogmatik des Öffentlichen Rechts am Beispiel des Konzepts der nachhaltigen Entwicklung im Umweltrecht, 2004. B. Arndt Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, 2009. U. Beyerlin/T. Marauhn International Environmental Law, 2011. R. Breuer Verwaltungsrechtliche Prinzipien und Instrumente des Umweltschutzes, 1999. M. Böhm Der Normmensch, 1996. R. Breuer Öffentliches und privates Wasserrecht, 3. Aufl 2004. C. Calliess Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001. M. Czychowski/M. Reinhardt Wasserhaushaltsgesetz: WHG – Kommentar, 10. Aufl 2010. U. Di Fabio Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994. K.-P. Dolde (Hrsg): Umweltrecht im Wandel, 2001. W. Erbguth/S. Schlacke Umweltrecht, 4. Aufl 2012. E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim Das Recht der Europäischen Union, Stand: 48. EL 8/2012. K. Hansmann/D. Sellner (Hrsg) Grundzüge des Umweltrechts, 4. Aufl 2012. H. D. Jarass Bundes-Immissionsschutzgesetz: BImSchG Kommentar unter Berücksichtigung der Bundes-Immissionsschutzverordnungen, der TA Luft sowie der TA Lärm, 9. Aufl 2012. M. Kloepfer Umweltrecht, 3. Aufl 2004. M. Kloepfer Umweltschutzrecht, 2. Aufl 2011. H.-J. Koch (Hrsg), Umweltrecht, 3. Aufl 2010. H.-J. Koch/E. Pache/D. Scheuing (Hrsg), Gemeinschaftskommentar zum Bundes-Immissionsschutzgesetz, Stand: 32. EL 12/2012. R. v. Landmann/G. Rohmer (Begr), Umweltrecht, hrsg von M. Beckmann, 4 Bde, Losebl-Kommentar, 63. EL 12/2011. G. Lübbe-Wolff Modernisierung des Umweltordnungsrechts, 1996. K. Meßerschmidt Europäisches Umweltrecht, 2010. A. Prehn Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf den mitgliedstaatlichen Verwaltungsvollzug im Bereich des Umweltschutzes am Beispiel Deutschlands, 2006. U. Sacksofsky Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, 2000. A. Scherzberg Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht, VVDStRL 63 (2003), 214 ff. S. Schlacke Überindividueller Rechtsschutz, 2008. R. Schmidt/W. Kahl Umweltrecht, 8. Aufl 2010. D. Sellner/O. Reidt/M. Ohms Immissionsschutzrecht und Industrieanlagen, 3. Aufl 2006. R. Sparwasser/R. Engel/A. Voßkuhle Umweltrecht: Grundzüge des öffentlichen Umweltschutzrechts, 5. Aufl 2003. R. Steinberg der ökologische Verfassungsstaat, 1998. A. Voßkuhle Das Kompensationsprinzip, 1999. R. Wahl/I. Appel/G. Hermes/K. Sach Prävention und Vorsorge, 1995.

5. Kapitel – Umweltschutzrecht I. Entstehung und Entwicklung des Umweltschutzrechts – 5. Kapitel

I. Entstehung und Entwicklung des Umweltschutzrechts Das Umweltrecht hat sich als grundlegende Staatsaufgabe und eigenes Rechtsgebiet ab den 1 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entfaltet, auch wenn die Geschichte umweltschützender recht-

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

licher Regelungen weiter zurückgeht.1 Seine Entfaltung spiegelte das gewachsene Bewusstsein über die Schutzbedürftigkeit der natürlichen Umwelt in der industrialisierten Gesellschaft ins Recht.2 Eine international vielbeachtete Studie des Club of Rome über „Die Grenzen des Wachstums“,3 und die aufkommende sogenannte „Umweltbewegung“4 waren wichtige Triebfedern für das seit den 1970er Jahren wachsende Bewusstsein dafür, dass sich die industrielle Gesellschaft schon in ihrem Normalbetrieb selbst gefährdet. Eine maßgebliche Ursache dafür liegt in der weitgehend kostenlosen Nutzung der Umweltgüter, also Luft, Wasser und Boden, deren Knappheit sich folglich nicht in den Marktpreisen niederschlägt und zur Übernutzung führt.5 Hinzu kommt, dass die Umweltwirkungen komplexer Technologien und neuer Stoffe nur teilweise bekannt sind, so dass die grundsätzlich erwünschte und wettbewerbseigene Innovationstätigkeit notwendig mit erheblichen Risiken für Umwelt und Gesundheit verbunden ist.6 Die Gewährleistung einer ökologischen Verträglichkeit der wirtschaftlichen Entwicklung wurde als existentielle gesellschaftliche Herausforderung erkannt,7 als wichtiges eigenes Politikfeld etabliert8 und programmatisch insbesondere durch die wachsende Umweltgesetzgebung bearbeitet. Nimmt man die sich schrittweise entwickelnden leitenden Prinzipien des Umweltrechts als Richtschnur, weil sie eine Bündelung der jeweils prägenden Entwicklungen darstellen, lässt sich vergröbernd folgende Entwicklungslinie ziehen: Die zunächst drängende Beseitigung großer und grober Umweltbelastungen der zentralen Umweltmedien (va Luft und Wasser) im Wege der ordnungsrechtlichen Gefahrenabwehr wurde durch eine Vorverlagerung des Schutzes und die Bearbeitung von Ungewissheit gegenüber bestehenden Risiken durch Maßnahmen der Vorsorge ergänzt. Die Erweiterung der zunächst auf die Einzelfragen fokussierten Ansätze zu einer umfassenden Problembearbeitung erfolgte schließlich durch die zunehmende Einbeziehung aller Umweltwirkungen und Wechselwirkungen in die einzelne Entscheidung (Integration) und die zeitoffene Ausrichtung des Schutzkonzepts auf die Nachhaltigkeit.9 Diese inhaltliche Entwicklung ging mit einer zunehmenden Europäisierung und Internationalisierung einher. Die Mobilität vieler Schadstoffeinträge (Verunreinigungen von Luft, Meeren oder Fließgewässern) und vieler Belastungsquellen (zB Warenverkehr gefährlicher Produkte oder Abfälle), die Verknüpfungen durch übergreifende, teils globale ökologische Zusammenhänge (Klima) und grenzüberschreitende Ökosysteme (Flüsse; Naturgebiete) sowie die Anerkennung ökologischer Zustände als gemeinsames Erbe der Menschheit (Artenvielfalt) gaben

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1 Siehe umfassend zur Geschichte Kloepfer Zur Geschichte des deutschen Umweltrechts, 1994 und aus geschichtswissenschaftlicher Sicht den Überblick über die Forschungen bei Freytag Historische Zeitschrift 282 (2006), 383 ff; zu den „Kanonisierungsprozessen“ knapp Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, IV, 2012, 523 ff. 2 Zum Zusammenhang von Umweltbewusstsein und Begriffs- wie Systembildung konzise Wahl Herausforderungen und Antworten, 2006, 55 f. 3 Meadows Die Grenzen des Wachstums, 1972; ähnlich einflussreich wurde später der deutlich elaboriertere Bericht der US-Regierung Global 2000, 1982. 4 Siehe dazu im Kontext der breiteren Entwicklung sozialer Bewegungen Raschke Soziale Bewegungen, 1985, 411 ff; vgl Hallensleben Von der Grünen Liste zur Grünen Partei, 1984. 5 Umweltpolitische Analyse und Zusammenfassung der Entwicklungen bei von Weizsäcker Erdpolitik, 1989, fortlaufend aktualisiert bis zur 4. Aufl 1997. 6 Zu den Ambivalenzen von Innovationen Hoffmann-Riem/Fritzsche Innovationsverantwortung – Zur Einleitung in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung, 11, 16 f; zu den Vorkehrungen zur Sicherung der Gemeinwohlverträglichkeit von Innovationen die Beiträge ebda. 7 Vgl auch Breuer Voraufl Rn 2 und Sparwasser/Engel/Voßkuhle UmwR § 1 Rn 1: „Schicksalsaufgabe“. 8 Ein wichtiger organisatorischer Meilenstein hierbei war die Einrichtung eines eigenen Ministeriums, das auf Bundesebene 1986 in Reaktion auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erfolgte. 9 Skizzierung angelehnt an Reese ZUR 2010, 339 ff; Eine übersichtliche Zeittafel über die nationalen und europäischen Meilensteine der Rechtsentwicklung findet sich bei Meßerschmidt Europäisches UmwR § 1 Rn 74 ff.

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vielen Umweltproblemen einen zunehmend übernationalen Charakter, auf den mit einer Internationalisierung der Problembearbeitung reagiert werden musste und reagiert wurde.10 Die Vereinheitlichung umweltrechtlicher Anforderungen dient dabei zugleich ihrer Kompatibilität mit dem internationalen Wirtschaftsverkehr. In tatsächlicher Hinsicht11 hat die Umweltpolitik in vielen Bereichen Wirkung gezeigt, wie 6 sich beispielhaft an den gesunkenen Emissionen zentraler Luftschadstoffe (SO2; NOx) durch Industrieanlagen zeigt. In der Gesamtwirkung werden die Erfolge va im Anlagenrecht aber durch die stark wachsenden dezentralen Emissionen des Verkehrssektors erheblich relativiert. Auch rücken sich verschärfende Umweltprobleme wie der Verlust an Biodiversität und der Klimawandel in den Vordergrund. Das Umweltrecht hat insgesamt noch kein nachhaltig hinreichendes ökologisches Schutzniveau ausgebildet und muss immer wieder an die Verschiebungen bei den Belastungspfaden angepasst werden. 5. Kapitel – Umweltschutzrecht II. Umweltschutzrecht als Rechtsgebiet – 5. Kapitel

II. Umweltschutzrecht als Rechtsgebiet 1. Umweltrecht als zielzentriertes Rechtsgebiet Das Umweltrecht reagiert auf die Schutzbedürftigkeit der natürlichen Umwelt und ist damit eine 7 „problembezogene Querschnittsaufgabe“. 12 Seinen strukturprägenden Kern bildet der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, der gerade auch um der Menschen willen erfolgt13 und in den konsequenterweise der Schutz der menschlichen Gesundheit einbezogen wird. Es umfasst entsprechend grundsätzlich alle Regelungen, die diesem Schutzziel dienen. Die einfach-gesetzlichen Regelungen des Umweltrechts beziehen darüber hinaus häufig auch Kultur- und Sachgüter ein, was der Bedeutung und Schutzbedürftigkeit auch der kulturell überformten Lebensumwelt entspricht und angesichts der gleichermaßen gegebenen Eignung vieler Schutzkonzepte nahe liegt.14 Die hier näher behandelten verwaltungsrechtlichen Regelungen setzen in weiten Teilen an 8 spezifischen Schutzgütern oder Gefährdungsquellen an.15 So werden medial die verschiedenen Umweltgüter Luft, Wasser und Boden und vital ökosystemare und landschaftliche Zusammenhänge und die Artenvielfalt geschützt sowie kausal ansetzend die Gefährdungspotentiale radioaktiver Strahlung, chemischer Stoffe, gentechnisch veränderter Organismen oder von Abfällen reguliert. Die Gesetze verwirklichen dabei teilweise nur einen (vgl BNatSchG) teilweise aber auch mehrere Ansätze (vgl BImSchG, das auch produktbezogene Regelungen enthält). Daneben bestehen aber auch zahlreiche Querschnittsregelungen, die vor allem der Umweltbe- 9 obachtung (zB UmweltstatistikG), der übergreifenden Berücksichtigung von Umweltwirkungen (Umweltverträglichkeitsprüfungen) oder der Durchsetzung des Umweltrechts dienen (UmweltauditG, UIG, UmweltrechtsbehelfsG).

_____ 10 Zürn Regieren jenseits des Nationalstaates, 1998, 85 ff beschreibt, dass die Entwicklung von Umweltrisiken „dem idealtypischen Muster der gesellschaftlichen Denationalisierung“ folge. Guter näherer Überblick bei Koch/Mielke ZUR 2009, 403 ff; ausf zur Entwicklung des Umweltvölkerrechts Beyerlin/Marauhn IEL, 2011, 1 ff. 11 Zur tatsächlichen Umweltsituation und Wirkungen der rechtlichen Regulierung siehe nur jeweils die Einleitungen in Koch Umweltrecht; umfassende Informationen va auf den Internetseiten des UBA „Daten zur Umwelt“ (http://www.umweltbundesamt-daten-zur-umwelt.de/umweltdaten/public/theme.do?nodeIdent=2700). 12 So treffend Breuer Voraufl Rn 36. 13 Inwieweit der Umweltschutz anthropozentrisch oder um der Umwelt selbst willen betrieben werden sollte und im geltenden Recht zu verstehen ist, wird seit langem intensiv diskutiert (Siehe näher Kloepfer UmwR § 1 Rn 19). Da die rechtspraktischen Konsequenzen gering sind, wird dieser Streit hier nicht näher behandelt. 14 Siehe nur § 1 BImSchG; § 1 Nr 1 GenTG; Dietlein in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 1 BImSchG Rn 9; Stöckel/Müller in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Vorbem Rn 3. 15 Ausf und grundlegend zu dieser Systematisierung Breuer Der Staat 20 (1981), 393, 385 ff, ders in Voraufl Rn 37 ff.

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Angesichts der vielfältigen Ansätze und des in den verschiedenen Gesetzen nicht immer parallelen Verlaufs der allgemeinen Entwicklungslinie ist das geltende Umweltrecht stark zersplittert und in vielen Fragen uneinheitlich. Da sich die Regelungen um ein gemeinsames Schutzgut zentrieren, zahlreiche parallele und übergreifende Fragen auftreten und die integrative Betrachtung zunehmend bedeutsam wurde, besteht seit langem das Bedürfnis nach Harmonisierung.16 Entsprechend wurde die Kodifikation der Regelungen in einem Umweltgesetzbuch mehrfach wissenschaftlich diskutiert und auch politisch initiiert.17 Letztlich wurden die Ansätze trotz fertiger Entwürfe nicht realisiert.18 Für das Umweltrecht und seine Entwicklung ergab sich darüber aber ein besonders intensiver Dialog zwischen Politik und Wissenschaft, der auch dazu beitrug, das Umweltrecht zum zentralen Referenzgebiet für die Entwicklung und das Verständnis des Verwaltungsrechts insgesamt in den letzten zwei Jahrzehnten zu machen.19

2. Umweltrecht als Mehrebenensystem 11 Das geltende Umweltrecht ist formal ganz überwiegend nationales Umweltverwaltungsrecht, das aus Bundes- und Landesregelungen besteht. Inhaltlich geformt wurde es aber in vielen Bereichen auf anderen Ebenen. In Reaktion auf den übernationalen Charakter vieler Umweltprobleme entstanden immer mehr internationale und europäische Regelungen, so dass das Umweltrecht heute in besonders hohem Maße ein Mehrebenen-Recht darstellt, in dem Völkerrecht, Europarecht sowie nationales Bundes- und Landesrecht zusammenkommen. Auch die Spannungslagen umweltschützender Regelungen mit den rechtlich geschützten ökonomischen Freiheiten treten folglich nicht nur auf der gleichen Ebene, sondern auch diagonal gegenüber anderen Ebenen auf. Den bekanntesten Bereich bilden hier die Spannungen zwischen nationalen oder europäischen Umweltregelungen und dem Schutz des Freihandels durch GATT und WTO.20 12 Die Feinsteuerung und Realisation des Umweltrechts erfolgt in seinem Vollzug. Er findet überwiegend auf der Landesebene statt, wird aber teilweise auch durch die übergeordneten Ebenen gesteuert und häufig auf nationaler Ebene kooperativ eingebettet (vgl u Rn 31 ff).

a) Bedeutung der Ebenen 13 aa) Die völkerrechtliche Ebene. Im Völkerrecht gibt es eine feste Tradition und entsprechend auch eine gewohnheitsrechtliche Anerkennung von Regeln, die Staaten zum Unterlassen erheblicher grenzüberschreitender Umweltschädigungen verpflichten. Soweit solche Schädigungen vorhersehbar sind, müssen sie wohl auch bereits vermieden werden.21 Deutlich schwieriger ist

_____ 16 Aus der frühen Lit näher Kloepfer/Messerschmidt Innere Harmonisierung des Umweltrechts, 1986. 17 Die Etappen bildeten zunächst die Professorenentwürfe Kloepfer/Rehbinder/Schmidt-Aßmann/Kunig, Umweltgesetzbuch – Allgemeiner Teil, 1990; Jarass/Kloepfer/Kunig/Papier/Peine/Rehbinder/Salzwedel/Schmidt-Aßmann, Umweltgesetzbuch – Besonderer Teil, 1994, die im Kommissionsentwurf Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Umweltgesetzbuch, 1998 fortgeschrieben wurden und dann in einem zweiten Anlauf der unter breiter Beteiligung entstandene Referentenentwurf für das Umweltgesetzbuch 2007 (abrufbar unter http://www.um-weltbundesamt.de/umweltrecht/umweltgesetzbuch.htm) mit Begleitliteratur, ua Sangenstedt ZUR 2007, 505; vgl die Vor- und Nachteile mit dezidiert befürwortender Haltung zusammenfassend Kloepfer UPR 2007, 161 ff. 18 Während der erste, mit dem Kommissionsentwurf verbundene Ansatz an den Grenzen der damaligen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes scheiterte, brachten den zweiten politische Partikularinteressen kurz vor der verabschiedung zu Fall. Abriss der Entwicklung va beim letzten gescheiterten Versuchs bei Schmidt/Kahl UmwR § 1 Rn 4 ff; krit gegenüber der Kodifikationsidee hingegen ua Schrader ZRP 2008, 60 ff. 19 Vgl nur Hoffmann-Riem AöR 115 (1990), 400 ff und die weiteren Nachweise unten. 20 Vgl zu den Konfliktlagen ausführlicher Buck in: Koch, UmwR, § 16. 21 Vgl den Überblick bei Beyerlin/Marauhn IEL, 2011, 39 ff; Buck/Verheyen in: Koch, UmwR, § 1 Rn 31 ff; knapp auch Schmidt/Kahl UmwR § 9 Rn 18 ff. Diese im Kern negativen Pflichten bringen durchaus auch positive Begleitpflichten

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es, eine internationale Übereinstimmung über weitergehende Prinzipien und insbesondere abgestimmte Handlungspflichten zur Lösung bestehender Umweltprobleme herbeizuführen. Dennoch gibt es seit Ende der 1960er Jahre auch eine wachsende Schicht vor allem des Völkervertragsrechts mit positiven Handlungspflichten, Koordinationsmechanismen und vergleichbaren Grundkonzepten.22, 23 Die Pflichten umfassen insbesondere Reduktionsziele mit übernationalen Reduktionsmechanismen (Kyoto-Protokoll), Schutzgebietsausweisungen und Bewirtschaftungsgrundsätze sowie absichernde umfassendere Kooperationspflichten24 und adressieren damit vor allem typische übernationale Probleme. Weit in die nationalen Strukturen hineinreichende Wirkungen hatte allerdings die querschnitthaft angelegte Aarhus-Konvention von 1998, die auf eine Stärkung der informierten Öffentlichkeit als umweltpolitischem Akteur zielte und für Jedermann den Zugang zu Umweltinformationen und die Beteiligung bei Projekten verbreiterte sowie den Zugang zu den Gerichten erleichterte.25 Das Völkerrecht bedarf der Umsetzung in die deutsche Rechtsordnung. Für das Völkergewohnheitsrecht erfolgt dies ohne Weiteres über Art 25 GG, die konkreteren Pflichten völkerrechtlicher Verträge werden regelmäßig durch Zustimmungsgesetze (Art 59 II GG) in einfaches Bundesrecht transformiert. Vor allem wenn die EU selbst Vertragspartei ist (zB Aarhus-Konvention, Kyoto-Protokoll), wird der nationale Transformationsmechanismus allerdings durch die unionale Umsetzung mit entsprechenden Sekundärrechtsakten überlagert.26 Auf Grund der regelmäßig erforderlichen Transformation begegnet das Umweltvölkerrecht dem Rechtsanwender regelmäßig in Form bundesgesetzlicher Regelung. Auch erfolgt der Vollzug gegenüber den Bürgern regelmäßig durch die nationale Umweltverwaltung. Die völkerrechtlichen Verwaltungseinrichtungen (Sekretariate, Kommitees etc) dienen vor allem der zwischenstaatlichen Kontrolle der Einhaltung und der Weiterentwicklung der Verträge. Zur Bewältigung gerade der globalen Umweltprobleme (zB Klima- und Artenschutz) kommt dem Umweltvölkerrecht eine wachsende Bedeutung zu.27 Angesichts der heterogenen (nicht zuletzt wirtschaftlichen) Interessen geschuldeten relativ langsamen Entwicklungsgeschwindigkeit, der notwendig hinter den Vorreitern zurückbleibenden Entstehung übergreifender normativer Prinzipien allein durch Völkergewohnheitsrecht28 und der grundsätzlichen Fokussierung auf übernationale Probleme bildet es aber keine strukturprägende Ebene des Umweltrechts. Im

_____ wie Informations- oder Kooperationspflichten mit sich, deren Status aber bereits unsicherer ist (Beyerlin/Marauhn IEL, 2011, 45). Eine Ausprägung der Grundsätze sind vor allem Verbote von Produkten oder Tätigkeiten. 22 Zu den Schlüsselkonzepten näher Beyerlin/Marauhn IEL, 2011, 31 ff. 23 Vgl zum wohl typischen Mechanismus der institutionellen Eigendynamik von Rahmenkonventionen, internationalen Sekretariaten, Berichtspflichten etc, die im Wechselspiel mit der Verstärkung innernationalen politischen Drucks zur Entwicklung verbindlicher Verpflichtungen führt nur Zürn Regieren jenseits des Nationalstaates, 1998, 182 ff und am Beispiel des Genfer Luftreinhalteübereinkommens Koch/Mielke ZUR 2009, 403, 406. 24 Siehe näher am Beispiel wichtiger Verträge Buck/Verheyen in: Koch, UmwR, § 1 Rn 41 ff und am Beispiel zentraler Sachfragen Beyerlin/Marauhn IEL, 2011, 85 ff. 25 Siehe näher zur Konvention und den Wirkungen im nationalen Recht Walter EuR 2005, 302 ff; Beyerlin/Marauhn IEL, 2011, 234 ff. 26 Siehe nur Wolfrum Ansätze eines allgemeinen Verwaltungsrechts im internationalen Umweltrecht in: Trute/ Groß/Röhl/Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, 665, 677 ff; zum völkerrechtlichen Hintergrund unionaler Umweltrechtsetzung näher Durner in: Möllers/Voßkuhle/Walter, Internationales Verwaltungsrecht, 2007, 121, 130 ff. 27 Siehe die Beispiele und Einschätzung bei Koch/Mielke ZUR 2009, 403, 406; Beyerlin/Marauhn IEL, 2011, 439 ff. 28 Vor allem die materiellen Prinzipien der Nachhaltigkeit und der Vorsorge sowie die kooperationsorientierten Prinzipien der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung und der gerechten Nutzung gemeinsamer Ressourcen werden als entstehendes Völkergewohnheitsrecht diskutiert, können aber noch nicht zum festen Bestand gerechnet werden (vgl nur Beyerlin/Marauhn IEL, 2011, 55, 59, 69, 79; Sparwasser/Engel/Voßkuhle UmwR § 1 Rn 84 ff; Buck/Verheyen in: Koch, UmwR, § 1 Rn 34, 37.

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Rahmen der vorliegenden Darstellung wird deshalb nur punktuell in den besonderen Regelungsbereichen darauf eingegangen. 18 bb) Besondere Bedeutung der europäischen Ebene. Prägend für Struktur und Inhalt des Umweltrechts ist das Recht der europäischen Union.29 Von Beginn der 1970er Jahre an wurden umweltrelevante europäische Sekundär-Rechtsakte erlassen und die Bedeutung des europäischen Umweltschutzes wurde seit der erstmaligen Aufnahme ins Primärrecht mit der einheitlichen europäischen Akte 1987 durch alle Vertragsänderungen hindurch kontinuierlich bestätigt und fortentwickelt.30 Der Umweltschutz ist jetzt als Ziel in der Präambel sowie unter Verpflichtung auf ein hohes Schutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität in Art 3 III EUV verankert und über die Berücksichtigungspflicht des Art 11 AEUV („Querschnittsklausel“) notwendig integraler Bestandteil aller Politiken der EU. Eine Konkretisierung der Ziele und die inhaltliche Anleitung der sekundärrechtlichen Ausgestaltung erfolgt insbesondere durch Art 191 ff AEUV. Zentrales Mittel der Festlegung von Linien, Konzepten und Prioritäten sind dabei die Umweltaktionsprogramme (vgl Art 192 III AEUV).31 Die Ermächtigung zur Umweltpolitik und der nach den allgemeinen Regeln bestehende Vor19 rang des Europarechts vor allem nationalen Recht sind die normativen Voraussetzungen für die unionale Prägung des Umweltrechts. Verwirklicht wird sie durch dessen hohe Regelungsdichte und ihre zentralen inhaltlichen Orientierungen, die teils parallel zu nationalen Entwicklungslinien liegen, teilweise aber auch erheblich von ihnen abweichen.32 Quantitativ kann davon ausgegangen werden, dass insgesamt etwa 80% des Umweltrechts 20 auf unionale Vorgaben zurück gehen.33 Zwischen den Sachbereichen und Regelungsmaterien gibt es dabei aber erhebliche Unterschiede, die den unterschiedlichen Grad grenzüberschreitender Problemlagen und die unterschiedliche Sensibilität für den gemeinsamen Markt widerspiegeln. So ist das Gefahrstoffrecht in höchstem und direktestem Maße unional geprägt34 und sind das Immissionsschutz-, Wasser- und Abfallrecht weitgehend durch Richtlinien vorgeprägt, während im Bodenschutzrecht keine direkten europäischen Vorgaben bestehen. Qualitativ liegt das unionale Umweltrecht zwar hinsichtlich der Orientierung am Verursa21 cher- und Vorsorgeprinzip sowie dem Nachhaltigkeitsziel grundsätzlich parallel zur nationalen Entwicklung, betont und schützt aber sehr viel stärker die Öffentlichkeits- und Verfahrensrechte und bekennt sich zu einem integrativen, alle Umweltbelastungen in eine Gesamtbetrachtung einbeziehenden Ansatz. In diesen Bereichen gestaltet es das nationale (Verwaltungs-)Recht an zentralen Stellen um und wirkt weit über das Umweltrecht hinaus auf dessen Entwicklung ein.35

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29 Siehe ausf dazu Meßerschmidt Europäisches UmwR; Krämer/Winter in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 26; Scherer/Heselhaus UmwR in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Stand: 26. Ergänzungslieferung 2010. 30 Knapper Überblick bei Schmidt/Kahl UmwR § 10 Rn 4 ff. 31 Das gegenwärtig maßgebliche 6. Umweltaktionsprogramm umfasste den Zeitraum von 2002 bis 2012 (KOM (2001) 31, Beschl 1600/2002, ABl 2002 L 242 S 1). 32 Hierin spiegelt sich auch eine Verschiebung im Einfluss auf die europäische Rechtsetzung wider. Während am Anfang die Bundesrepublik die Entwicklung stark beeinflusst hatte, nahm in jüngerer Zeit der Einfluss Großbritanniens und etwa auch eine stärkere Betonung des Verfahrens zu (vgl zur Verschiebung auch Meßerschmidt Europäisches UmwR § 1 Rn 121 ff). 33 Vgl Nur Töller ZParl 2008, 3 ff, der für die 15. Wahlperiode 81,3% ermittelt; 80% bestätigend unter Einbeziehung qualitativer Aspekte König/Mader PVS 49 (2009), 438, 442 und auf den Anstieg im Umweltbereich hinweisend ebda, 447; Eine genaue Quantifizierung ist schwierig, da ein rein quantitativer Ansatz unter Rückgriff auf die GESTADatenbank des Deutschen Bundestages methodischen Bedenken begegnet (vgl zu den methodischen Problemen auch Göler PVS 50 (2009), 75 ff). 34 Vgl Meßerschmidt Europäisches UmwR § 19 Rn 4; Pache in: Koch, UmwR, § 12 Rn 135; Krämer/Winter in: Schulze/ Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 26. 35 So werden im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Umweltverbandsklage Erweiterungen des Begriffs des subjektiven Rechts und der Schutznormtheorie diskutiert (vgl z.B Hong, JZ 2012, 380 ff). Siehe zu den

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II. Umweltschutzrecht als Rechtsgebiet – 5. Kapitel

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Die dominante Handlungsform der unionalen Umweltrechtsetzung sind Richtlinien. Dies 22 entspricht in der (Handlungs-)Form dem europarechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art 5 IV EUV), darf aber nicht über die regelmäßig hohe Detaillierung der inhaltlichen Vorgaben hinwegtäuschen. Da die Richtlinien der Umsetzung in nationales Recht bedürfen (Art 288 III AEUV) – aber auch umzusetzen sind (Art 192 III AEUV) – begegnet das unionale Umweltrecht dem Rechtsanwender zunächst regelmäßig als nationales Verwaltungsrecht. Unmittelbar geltendes unionales Verordnungsrecht (Art 288 II AEUV) prägt allein die Chemikalienregulierung (REACH-VO) und ist sonst im Wesentlichen auf einzelne Instrumente beschränkt (zB Öko-Audit). Der unionale Hintergrund muss bei der Anwendung des nationalen Umsetzungsrechts aber 23 aus zwei Gründen im Blick bleiben. Zunächst ist die Umsetzung der europäischen Vorgaben nicht immer hinreichend und in den Bereichen struktureller Unterschiede zum nationalen Recht sogar notorisch defizitär.36 Die Probleme der Realisierung der integrierten Betrachtungsweise bei den immissionsschutzrechtlichen Genehmigungen37 und die viel zu kurz greifende Umsetzung der ÖffentlichkeitsbeteiligungsRL (2003/35/EG) 38 zeigen dies anschaulich. Hier drängt das Unionsrecht entsprechend den allgemeinen Regeln vor allem über eine europarechtskonforme Auslegung oder die direkte Anwendbarkeit nicht umgesetzter Richtlinieninhalte wieder in den Vordergrund. Zum Zweiten sind die Umsetzungsrechtsakte (jedenfalls)39 so weit sie auf zwingenden europarechtlichen Vorgaben beruhen an den europäischen und nicht an den nationalen Grundrechten zu messen.40 cc) Relativer Bedeutungsverlust der nationalen Ebene. Die europarechtliche Prägung des 24 Umweltrechts hat damit ihre direkte Entsprechung im relativen Bedeutungsverlust der nationalen umweltrechtlichen Strukturvorgaben, namentlich des umweltbezogenen Staatsziels aus Art 20a GG und der Grundrechte. Der Verfassungsauftrag zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere aus Art 20a GG bindet zwar rechtlich alle Hoheitsgewalt und wirkt vor allem als Gesetzgebungsauftrag und Abwägungsbelang von Verfassungsrang, ist in seiner Direktionskraft aber durch die unionalen Vorgaben auf die nationalen Umsetzungsspielräume und Verschärfungsmöglichkeiten beschränkt.41 Inhaltlich sind seine zentralen Gehalte aber ohnehin stark mit den unionalen Prinzipien und Art 37 GrCh parallelisiert.42 Auf der grundrechtlichen Ebene steht das Umweltverwaltungsrecht regelmäßig im Span- 25 nungsfeld zwischen der Abwehr unverhältnismäßiger Beschränkungen der Berufsfreiheit (Art 12 GG) oder unverhältnismäßiger Inhaltsbestimmungen des Eigentums (Art 14 GG) mit Blick auf umweltgefährdende Anlagen oder Tätigkeiten einerseits und dem Gebot der Gewährung des verfassungsrechtlich gebotenen Mindestschutzes gegen die hiervon ausgehenden Gesundheits- oder Eigentumsgefährdungen bei jedenfalls potentiell Betroffenen andererseits. In diesem

_____ Auswirkungen der europäischen Verbandsklage auf das deutsche Rechtsschutzsystem auch Schlacke, Überindividueller Rechtsschutz, 2008, zusammenfassend S 469 ff; Zur Diskussion um die gebundene Kontrollerlaubnis und andere Rechtsstrukturen angesichts des integrierten Ansatzes nur Martini, Integrierte Regelungsansätze im Immissionsschutzrecht, 2000. 36 Vgl nur Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 192 Rn 39 im Kontext der Problematisierung des Vollzugsdefizits insgesamt. 37 Vgl Bohne, JEEPL 5.1 (2008), 1 (26 f, 33). 38 Insbes die darin vorgesehenen Verbandsklagerechte wurden durch die deutsche Umsetzung in § 2 I Nr 1 UmwRG zu sehr eingeschränkt (dazu EuGH Urt v 12.5.2011, – C-115/09 – (Trianel) = NVwZ 2011, 801 m zust Anm Schlacke). 39 Der Umfang der Bindung an die Unionsgrundrechte, der wegen des im Kollisionsfall stets bestehenden Vorrangs auch die Reichweite des Grundrechtsschutzes mitbestimmt, hängt davon ab, ob der Begriff der „Durchführung des Rechts der Union“ in Art 51 I GrCh die Umsetzung insgesamt oder nur die zwingender Vorgaben erfasst. Zum Streitstand siehe näher Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 51 GrCh Rn 8 ff. 40 Vgl etwa BVerfGE 118, 79, 95 f (zum Emissionshandelssystem). 41 Siehe nur Schulze-Fielitz in: Dreier, GG, Art 20a Rn 15 ff. 42 Siehe dazu näher unten bei den Prinzipien des Umweltrecht, Rn 36 ff.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

Spannungsfeld wurden die Entwicklungen des Umweltrechts regelmäßig auch verfassungsrechtlich problematisiert und häufig gerichtlich angegriffen.43 Angesichts der bestehenden erheblichen Gestaltungsspielräume für den Ausgleich der Interessen und die Ausgestaltung des angemessenen Schutzes44 ergaben sich hieraus aber keine entscheidenden Veränderungen für die rechtlichen Entwicklungspfade. Die weitgehende Verlagerung der grundrechtlichen Spannungslage auf die europäische Ebene mit Art 15–17 GrCh einerseits und Art 3 I GrCh andererseits führt nicht zur Veränderung der Grundorientierung, sondern führt die Linie erheblicher rechtsetzender Gestaltungsfreiräume fort.45

b) Kompetenzverteilung zwischen den Ebenen 26 aa) Rechtsetzung. Das geltende Umweltrecht wird inhaltlich trotz der grundsätzlich zwischen Union und Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeit (Art 4 II lit e AEUV) durch die unionale Rechtsetzung bestimmt, und ist formal ganz weitgehend durch die umsetzende und ergänzende Gesetzgebung des Bundes erlassen. 27 Den unmittelbar umweltschutzbezogenen Kompetenztitel der Europäischen Union bildet Art 192 AEUV, wobei je nach Schwerpunkt der Regelungen46 vor allem für produktbezogene Vorschriften auch die Binnenmarktkompetenz des Art 114 AEUV einschlägig werden kann.47 Abweichend zur allgemeinen Kompetenz nach Art 192 I AEUV werden durch dessen spezielleren Abs 2 besondere Verfahrensanforderungen und insbesondere das Einstimmigkeitserfordernis für solche umweltpolitischen Bereiche festgelegt, die in besonderem Maße die nationale Souveränität betreffen (insbesondere Raumordnung, mengenmäßige Wasserbewirtschaftung und den Energiemix). Die unionale Rechtsetzung nach Art 192 AEUV sperrt mitgliedstaatliche Regelungen nicht vollständig, da die sog Schutzverstärkungsklausel des Art 193 AEUV umweltschutzoptimierende Regelungen ausdrücklich zulässt.48 Diese müssen allerdings der Kommission mitgeteilt werden, in dieselbe Richtung wie das unionale Regelungskonzept gehen49 und mit dem AEUV

_____ 43 Als logische Konsequenz der umfangreicheren Konstitutionalisierung der bundesrepublikanischen Rechtsordnung beschrieben bei Wahl Herausforderungen und Antworten, 2006, 67 ff. 44 Vgl nur BVerfGE 46, 160, 164; 49, 89, 127; 56, 73, 80; 79, 174, 202; 96, 56, 64; BVerfG NJW 1996, 651; BVerfG NVwZ 2002, 1103. Der abweichende Ansatz des HessVGH, NJW 1990, 336 ff, nach dem aus der Schutzpflicht etwa unmittelbar ein Genehmigungserfordernis abzuleiten war, wurde zu recht nicht weiter verfolgt (vgl dazu krit nur Wahl/Masing JZ 1990, 553 ff). 45 Die zeitweise sehr betonte prozedurale Dimension eines Grundrechtsschutzes durch Verfahren (vgl nur BVerfGE 54, 30, 65 f) wird durch das stark verfahrensrechtlich geprägte unionale Recht ohnehin überholt. 46 Vgl nur EuGH Urt v 4.10.1991 – C-70/88 – (Tschernobyl), Slg 1991, I-4529; ausf Scheuing in Dolde, 129, 149; Meßerschmidt Europäisches UmwR § 2 Rn 122 ff, insbes 123 m Fn 303). Zum Streit um die Abgrenzungstheorien und die Unterschiede zwischen den Rechtsgrundlagen näher Meßerschmidt Europäisches UmwR § 2 Rn 114, 121 ff; Schmidt/Kahl UmwR § 10 Rn 37 ff. 47 Vgl für eine Typisierung der jeweils einschlägigen Kompetenzen nur Epiney Umweltrecht in der Europäischen Union, 2. Aufl 2005, 76 f; Meßerschmidt Europäisches UmwR § 2 Rn 133 und zu den sonstigen Kompetenzen mit Umweltbezug aber auch Schmidt/Kahl UmwR § 10 Rn 26. 48 Parallel ist auch im Rahmen der Binnenmarktkompetenz eine mitgliedstaatliche Schutzverstärkung grundsätzlich möglich (Art 114 IV–VI AEUV). Keine entsprechende Regelung findet sich allerdings im Titel zur Energiepolitik, die vor allem mit Blick auf den Klimaschutz von zunehmender umweltpolitischer Bedeutung ist. Hier wird die entsprechende Anwendbarkeit des Art 193 AEUV über die öffnende Bestimmung des Art 194 II AEUV diskutiert (vgl Britz Klimaschutzmaßnahmen der EU und der Mitgliedstaaten im Spannungsfeld von Klimaschutz und Binnenmarkt in: Schulze-Fielitz/Müller, Europäisches Klimaschutzrecht, 71, 86 einerseits und SRU-Sondergutachten: Wege zur 100% erneuerbaren Stromversorgung, BT-Drs 17/4890 v 18.2.2011, Tz 309 andererseits). Eine Schutzverstärkung kann daneben auch sekundärrechtlich zugelassen sein. 49 Näher Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 193 Rn 8 f; Nettesheim in: Grabitz/Hilf/ders, Europäische Union, Art 193 Rn 13; deutlich enger im Sinne systemimmanenter Konkretisierungen Giesberts NVwZ 1996, 949, 950. Im Ergebnis wird jedenfalls der Spielraum für weitergehende nationale Regelungen umso enger, je detaillierter die europäischen Vorgaben sind (Krämer/Winter in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 26 Rn 15).

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II. Umweltschutzrecht als Rechtsgebiet – 5. Kapitel

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vereinbar, insbesondere also bei Betroffenheit anderer Vertragsbestimmungen verhältnismäßig sein.50 Praktisch haben sie bislang keine hohe Relevanz entwickelt. Auf nationaler Ebene gibt es keine allgemeine Umweltkompetenz, sondern eine Vielzahl 28 umweltbezogener Kompetenztitel,51 so dass insbesondere bei übergreifenden Aufgaben wie dem Klimaschutz ein „Kompetenzmix“ erforderlich ist.52 Seit der Föderalismusreform I sind fast alle53 Kompetenztitel dem Bereich der konkurrierenden Zuständigkeit des Bundes zugewiesen (Art 74 I GG), was im Ausgangspunkt einer einfachen Umsetzung der europäischen Richtlinien förderlich ist.54 Der Bund hat von diesen Kompetenzen auch durchweg Gebrauch gemacht, was eine Ländergesetzgebung aber nur für den Bereich der sog Kernkompetenzen gem Art 72 I GG sperren kann. Abhängig von der Zuordnung zu den verschiedenen anderen Varianten der konkurrieren- 29 den Gesetzgebung unterliegt die Vereinheitlichung durch Bundesrecht Grenzen (vgl Art 72 GG). Auf Art 74 I Nr 11 GG (Recht der Wirtschaft) gestützte Regelungen, also ua die Regulierung erneuerbarer Energien, müssen der vom Bundesverfassungsgericht eng ausgelegten Erforderlichkeitsklausel des Art 72 II GG entsprechen. Vor allem aber ermöglicht Art 72 III GG für mehrere Bereiche eine vollständige (Nr 3, 4) oder partielle (Nr 1, 2, 5) Abweichungsgesetzgebung der Länder.55 Bei den partiellen Abweichungsmöglichkeiten ist die Grenze zu den abweichungsfesten Bereichen insbesondere hinsichtlich der „allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes“ (Nr 2) nicht leicht zu ziehen.56 Im Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten sichern die materiellen Voraussetzungen der 30 Schutzverstärkungsklausel, dass Abweichungen nur zur Verbesserung des Umweltschutzes möglich sind und die Differenzierung dem Gedanken einer Dynamisierung über entsprechende Anstöße folgt.57 Auf der nationalen Ebene sind die Abweichungskompetenzen der Länder inhaltlich ungebunden. Entsprechend werden in der Literatur sowohl Befürchtungen standortmotivierter

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50 Vgl nur EuGH Urt v 14.4.2005 – C-6/03 – (Deponiezweckverband Eiterköpfe), Slg 2005, I-2753; EuGH Urt v 21.7. 2011 – C-2/10 – (Azienda Agro-Zootecnica ua/Regione Puglia) = ZUR 2012, 43, Rn 54 ff; zur praktisch allerdings wohl nur selten relevanten Frage, ob eine Vereinbarkeit nur mit dem Primärrecht oder auch mit dem sonstigen Sekundärrecht gegeben sein muss nur Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 193 Rn 10 einerseits (Primärrecht) und Nettesheim in: Grabitz/Hilf/ders, Europäische Union, Art 193 Rn 15 andererseits (auch Sekundärrecht). 51 Vgl insbes Art 73 I Nr 14, Art 74 I Nr 20, 24, 28–32 GG, aber auch ergänzend Art 74 I Nr 11 GG (Recht der Wirtschaft), Nr 17 und Nr 18 GG. 52 Die Möglichkeit des Kompetenzmixes wird grundsätzlich breit anerkannt (siehe nur Rozek in: v Mangoldt/Klein/ Starck, GG Bd II, Art 70 Rn 57 mwN). Schwierigkeiten treten erst auf, wenn Kompetenzen verknüpft werden, die unterschiedlichen weiteren Anforderungen unterliegen, also etwa von Kompetenzen mit und ohne Bindung an die Erforderlichkeitsklausel des Art 72 II GG. Vgl zu den unterschiedlichen Ansichten am Beispiel des ErneuerbareEnergien-Wärmegesetzes ausfüh Milkau ZUR 2008, 561 ff. 53 Die einzige ausschließliche Bundeskompetenz ist Art 73 Nr 14 GG als Grundlage für verschiedene Regelungsbereiche im Zusammenhang mit der Kernenergie. 54 Siehe zu den Anlässen und Folgen der Föderalismusreform für das Umweltrecht näher Schulze-Fielitz NVwZ 2007, 249 ff und Sachverständigenrat für Umweltfragen Der Umweltschutz in der Föderalismusreform, Stellungnahme 2006. 55 Diese Abweichungskompetenzen bilden im wesentlichen die Kompensation für die Verschiebung der Materien in die konkurrierende Bundeskompetenz im Rahmen der Föderalismusreform I. Zuvor war für diese Materien dem Bund nur eine Rahmenkompetenz eingeräumt (Art 75 I Nr 3, 4 GG aF), so dass den Ländern deutliche Spielräume verblieben. Da grundsätzlich auch der Bund nach dem Erlass von Landesgesetzen wieder von seiner Kompetenz Gebrauch machen kann, handelt es sich um eine Vollkompetenz beider Ebenen, bei der die jeweils letzte Regelung Anwendungsvorrang genießt (allg statt aller Pieroth in: Jarass/ders, GG, Art 72 Rn 28). 56 Vgl allgem dazu Degenhart DÖV 2010, 422 ff; zu den umweltrechtlich besonders wichtigen Bereichen des Naturund Gewässerschutzes Becker DVBl 2010, 754 ff. Die Begründung zur Föderalismusreform erleichtert die Abgrenzung va im Naturschutzrecht durch die ausdrückliche Aufzählung einzelner Materien. Auch wenn das BNatSchG ausdrücklich „allgemeine Grundsätze“ benennt (zB § 6 I BNatSchG), kann es als einfaches Gesetz die verfassungsrechtlichen Kompetenzen nicht konkretisieren, so dass letztlich Art 72 III GG alleiniger Maßstab zulässiger abweichungsfester Regelungen bleibt. 57 Vgl Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 193 Rn 3.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

Abweichungen nach unten als auch Erwartungen eines Wettbewerbs um das beste Konzept im Bundesstaat formuliert.58 Da die Abweichungsgesetzgebung der Länder erst langsam in Gang kommt,59 ist eine empirische Feststellung über die Entwicklungsrichtung noch nicht möglich. 31 bb) Verwaltung. Der Vollzug des Umweltrechts obliegt in Übereinstimmung mit der Grundstruktur der EU in weiten Teilen der nationalen Verwaltung (vgl speziell für den Umweltbereich Art 192 IV AEUV) entsprechend deren nationaler Kompetenzverteilung.60 In der Bundesrepublik Deutschland erfolgt er entsprechend den Verwaltungskompetenzen der Art 30, 83 ff GG vor allem durch die Länder und die ihnen bundesstaatlich zugeordneten Kommunen. Die Organisation und Aufgabenverteilung der Umweltverwaltung ist in den Ländern sehr unterschiedlich und auch abhängig von ihrer jeweiligen allgemeinen Verwaltungsstruktur. Unterschiede bestehen insbesondere hinsichtlich der Zahl der Stufen, der Bedeutung von Sonderbehörden sowie des Grades der Kommunalisierung und funktionalen Privatisierung.61 Ungeachtet der weitgehenden Dezentralisierung des Vollzugs gibt es verschiedene hierar32 chische und kooperative Mechanismen, die eine relative Einheitlichkeit des Vollzugs sicherstellen. Die Rechtsetzung der Europäischen Union beinhaltet im Umweltbereich schon seit langem viele Vorgaben zum Verfahren sowie Berichtspflichten und in geringerem Umfang auch Vorgaben zur Organisation.62 Zunehmend finden sich darüber hinaus auch Vorgaben für den kontrollierenden Vollzug der Mitgliedstaaten, sei es die Forderung nach strukturierten Vollzugsprogrammen63 oder direkt eine unionale Strukturierung des Vollzugs hinsichtlich Regelmäßigkeit, Durchführung und Dokumentation von Kontrollen, mittels derer vor allem eine gleichmäßige Vollzugsintensität sichergestellt werden soll.64 Daneben werden entsprechend einzelner rechtlicher Vorgaben,65 vor allem aber im Netzwerk IMPEL (Implementation and Enforcement of Environmental Law) der nationalen Vollzugsbehörden jenseits rechtlicher Verpflichtungen Erfahrungen und Informationen ausgetauscht und in den Bereichen privater Kontrolltätigkeit solche Foren des Austauschs vorgeschrieben.66

_____ 58 Vgl zu den Befürchtungen nur Sachverständigenrat für Umweltfragen Der Umweltschutz in der Föderalismusreform, 2006, 8 f; zur positiven Einschätzung nur Kloepfer UmweltschutzR § 2 Rn 33. 59 Vgl etwa zum Naturschutzrecht Krings NordÖR 2010, 181 ff; Cancik NdsVBl 2011, 177 ff. 60 Im Ergebnis führt dies zu erheblichen Unterschieden in den Vollzugsmodalitäten und der -intensität (krit etwa Krämer/Winter in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 26 Rn 31 ff mit dem Hinweis auf die daraus folgende Bedeutung des formlosen Beschwerdeverfahrens). 61 Vgl näher SRU Sondergutachten 2007, Umweltverwaltungen unter Reformdruck Tz 109 ff, 119 ff; 123 ff. Zu den beiden grundlegenden Organisationsoptionen des Gebiets- und des Aufgabenorganisationsmodells siehe nur die Zusammenstellung bei Bauer et al Modernisierung der Verwaltungsorganisation und Verwaltungsverfahren im Umweltschutz, 2006, 247. 62 Das Sekundärrecht verlangt regelmäßig Berichte an die Kommission, die eine Vollzugskontrolle ermöglichen (vgl beispielhaft RL 91/692/EG (Vereinheitlichung und zweckmäßige Gestaltung der Berichte über die Durchführung bestimmter Umweltschutzrichtlinien) und die spätere Entscheidung der Kommission v 29.7.1996, ABlEG 1996 L 213/16; insgesamt näher Prehn Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts, 2006, 190 ff, 314 ff; allgemeiner Groß VVDStRL 66 (2007), 152 ff, 164; Pache VVDStRL 66 (2007), 106, 128 ff. 63 Vgl näher Sommer Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im europäischen Umweltrecht, 2003, 185 ff. 64 Beispielhaft jetzt die Industrieemissions-RL, RL 2010/75/EU v 24.10.2010 über Industrieemissionen, ABlEU 2010 L 334/17 (Erwägungsgrund 26, 41 ua sowie Art 16, 21, 23) in Reaktion auf Vollzugsdefizite (Kommissionsdienststellen, SEK (2007) 1696), 6 f; Röckinghausen UPR 2012, 161 ff). Vgl etwa EuGH, Urt v 13.12.2001 – C-324/99 – (DaimlerChrysler AG/Land Baden-Württemberg), Slg 2001, I-09897; Allgemeiner Eifert Europäischer Verwaltungsverbund als Lernverbund in: Spiecker gen Döhmann/Collin, Generierung und Transfer staatlichen Wissens im System des Verwaltungsrechts, 2008, 159, 170ff. 65 Vgl etwa Art 21 III der RL 2003/87/EG (Treibhausgasemissionszertifikate-Handel). 66 Siehe nur Art 16 der VO (EG) 1221/2009 v 25.11.2009 über die Freiwillige Teilnahme von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung, ABlEU 2009 L 342/1; Zum IMPELNetzwerk nur Prehn Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts, 2006, 332 ff.

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III. Prinzipien des Umweltrechts – 5. Kapitel

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Auf nationaler Ebene hängen die Möglichkeiten bundesrechtlicher Verfahrens- und Organisa- 33 tionsregelungen von den konkreten Verwaltungskompetenzen ab. Im Regelfall des Ländervollzugs als eigene Angelegenheit kann der Bund grundsätzlich Regelungen zur Einrichtung der Behörden und des Verwaltungsverfahrens erlassen, wobei es den Ländern aber freisteht, dann auch davon abweichende Regelungen zu treffen (Art 84 I 2 GG). Für das Verfahrensrecht kann der Bund allerdings wegen eines „besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung“ mit Zustimmung des Bundesrates auch Regelungen ohne Abweichungsmöglichkeit erlassen (Art 84 I 5 GG) und nach der Begründung zur Föderalismusreform ist beim Umweltverfahrensrecht stets ein solches Bedürfnis zu vermuten.67 Im Ergebnis besteht ein weitgehend einheitliches Verfahrensrecht, aber eine heterogene Organisationslandschaft. Für den kontrollierenden Vollzug besteht – soweit ersichtlich – jenseits der unional zwingen- 34 den Vorgaben keine weitere Steuerung des Bundes. Es findet allerdings ein intensiver Austausch in der Umweltministerkonferenz mit ihren Arbeitsgremien statt, über den eine gewisse Einheitlichkeit des Vollzugs und die Verbreitung und Verbreiterung von Vollzugswissen hergestellt wird.68 Soweit die Bewältigung der Umweltprobleme eine grenzüberschreitende Koordination des 35 Vollzugs erforderlich macht, sehen die unionalen Rechtsakte eine Koordination der nationalen Verwaltungen (Bsp Wasserrecht) bzw durch die EU-Kommission (Bsp FFH-RL) vor. Wenn die Europäische Union ausnahmsweise Vollzugskompetenzen in Anspruch nimmt wie etwa im Gefahrstoffrecht mit der Registrierung und Zulassung chemischer Stoffe durch die Europäischen Agentur für chemische Stoffe, werden meist nationale Stellen im Verfahren beteiligt und bleiben die begleitende Marktkontrolle sowie ggf Sanktionierung Aufgaben der Mitgliedstaaten.69 Das Umweltrecht ist mit diesen Mechanismen ein Beispielsfeld für den sich immer stärker entwickelnden Europäischen Verwaltungsverbund.70 Neben der Vollzugsverwaltung hat sich noch eine eigene, alle Verwaltungsebenen umspannende und verbindende behördliche Wissensinfrastruktur herausgebildet, die nur teilweise mit Entscheidungsbefugnissen verbunden ist.71 Auf Landesebene bestehen häufig Sonderbehörden und auf Bundesebene selbständige Bundesoberbehörden im Bereich der Bundesgesetzgebungskompetenz (Art 87 III 1 GG), wie etwa das Umweltbundesamt, das Bundesamt für Naturschutz und das Bundesamt für Risikobewertung. Auf europäischer Ebene bestehen schließlich Agenturen, wie die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit und die formal allein als Wissensbehörde und -knoten konzipierte Europäische Umweltagentur.72 Diese Wissensinfrastruktur ist in besonderer Weise durch Vernetzung sowohl innerhalb der Verwaltungen als auch mit nicht-staatlichen Akteuren gekennzeichnet, wobei es gleichzeitig Tendenzen zur Hochzonung und Zentralisierung der Wissensknoten dieses Netzwerks gibt. 5. Kapitel – Umweltschutzrecht III. Prinzipien des Umweltrechts – 5. Kapitel

III. Prinzipien des Umweltrechts Die vielfältigen Instrumente, mit denen gesteuert wird, erhalten ihre inhaltliche Prägung durch 36 grundlegende Prinzipien.

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67 BT-Drs 16/813, 15. 68 Siehe näher zur Umweltministerkonferenz SRU Sondergutachten 2007, Umweltverwaltungen unter Reformdruck, Tz 135 ff, 440 ff. Am Beispiel des Immissionsschutzes siehe auch näher Schulze-Fielitz Immissionsschutz und Föderalismus aus Sicht der Wissenschaft in: Kloepfer, Umweltföderalismus, 2002, 287, 293 ff. 69 Vgl nur für das Gefahrstoffrecht Pache in: Koch, UmwR, § 12 Rn 43 ff, 110 ff, 116, 133 f. 70 Vgl näher Ramsauer in: Koch, UmwR, § 3 Rn 143 ff. 71 Siehe dazu und zu den Problemen der unzureichenden Verknüpfung mit den Entscheidungsverfahren näher Eifert Innovationsverantwortung in der Zeit in: ders/Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung, 2009, 369 ff. 72 Siehe näher dazu Ladeur NuR 1997, 8 ff ; Runge DVBl 2005, 542 ff und im allgemeineren Kontext der Agenturen Groß EuR 2005, 54 ff.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

1. Bedeutung der Prinzipien 37 Vor allem das Verursacher-, Vorsorge-, Nachhaltigkeits- und Integrationsprinzip bilden zentrale Orientierungen der Umweltpolitik und ihrer Umsetzung im Umweltrecht. Sie sind nach und nach unter dem Eindruck der jeweils in ihrer Zeit vordringlichen oder als vordringlich empfundenen umweltpolitischen Herausforderungen entstanden und damit weder trennscharf noch ein geschlossenes System.73 Als Schaniere zwischen Umweltrecht und Politik haben sie typischerweise einen rechtlichen und einen überschießenden politischen Gehalt und sind deshalb nicht einheitlich einzuordnen.74 Eine hochstufige rechtliche Verankerung75 fanden zentrale Prinzipien insbesondere im euro38 päischen Primärrecht (va Art 11, 191 AEUV)76 und im Grundgesetz (Art 20a GG) und wurden insoweit verbindliche Vorgaben für die europäische bzw nationale Umweltpolitik. Die rechtliche Direktionskraft der Prinzipien ist allerdings unterschiedlich stark,77 wobei das Verursacherprinzip die relativ größte Wirkung entfaltet.78 Auch sind die Konturen der Prinzipien auf den verschiedenen Rechtsebenen uneinheitlich, wenngleich die detailliertere europäische Normierung erheblich auf die Auslegung des unbestimmten Art 20a GG durch die Literatur ausstrahlt79 und damit homogenisierend wirkt. Durchgängig bedürfen die Prinzipien erheblicher Konkretisierung80 und konkurrieren letztlich in ihrer umweltbezogenen Umsetzung mit anderen Schutzgütern wie den Wirtschaftsfreiheiten.81 Sie sind deshalb nur eingeschränkt justitiabel, weshalb Ihre praktische Bedeutung weniger in konkreten Pflichten für die Rechtsetzer als in der Legitimation umweltrechtlicher Regelungen besteht.82 Auf der einfachgesetzlichen Ebene erlauben die Prinzipien zunächst eine übergreifende sys39 tematische Erfassung der Einzelregelungen, an die rechtsdogmatische Folgerungen mittels einer vereinheitlichenden systematischen oder teleologischen Auslegung angeschlossen werden können.83 Lange Zeit wurde etwa aus der Einordnung als Vorsorgevorschrift ein bloßer Schutz der Allgemeinheit abgeleitet und daran ein Ausschluss von Klagen Dritter geknüpft. Ungeachtet dieser Verrechtlichungen leben die Prinzipien aber auch als umweltpolitische 40 Handlungsmaximen fort.

_____ 73 Siehe instruktiv Reese ZUR 2010, 339 ff. 74 Der Streit darüber, inwieweit hier Rechtsprinzipien oder umweltpolitische Leitvorstellungen bestehen, darf deshalb sinnvollerweise auch nicht auf die Prinzipien insgesamt bezogen werden. Es kann rechtlich nur um die Bestimmung des Gehalts jener Normen gehen, die rechtlich auf die Prinzipien Bezug nehmen. 75 Vgl zu Inhalt und Statur von Verursacher-, Vorsorge- und Nachhaltigkeitsprinzip im Völkerrecht Beyerlin/ Marauhn IEL, 2011, 47 ff, 57 ff, 73 ff. 76 Die Ausdifferenzierung und Zuordnung der Prinzipien erfolgt in der Lit höchst unterschiedlich, führt aber zu keinen gravierenden Unterschieden (vgl nur Meßerschmidt Europäisches UmwR § 3 Rn 6 mwN). Zu den Prinzipien im Einzelnen neben den Kommentierungen zu Art 191 AEUV nur Winter ZUR Sonderheft 2003, 137 ff. 77 Ausführlicher mit Bezug zum Streit um den Charakter als Rechtsprinzipien Sparwasser/Engel/Voßkuhle UmwR § 2 Rn 9 ff. 78 Vgl zur europäischen Ebene Cremer DV Beiheft 11, Umwelt- und Planungsrecht im Wandel, 2010, 9 ff. 79 Vgl nur Jarass in: ders/Pieroth, GG, Art 20a Rn 1; Murswiek in: Sachs, GG, Art 20a Rn 55a. 80 Der Konkretisierungsbedarf relativiert zusätzlich den Streit um den Charakter als Rechtsprinzipien (Ramsauer in: Koch, UmwR, § 3 Rn 15). 81 Dies folgt bereits aus dem Gebot des verhältnismäßigen Ausgleichs zwischen den konkurrierenden Grundrechtsinteressen der Nutzer und der Betroffenen. Soweit keine ausdrücklichen Möglichkeiten des Ausgleichs eröffnet sind (vgl zum Schutzprinzip insofern krit Reese ZUR 2010, 339, 342 ff), muss er über die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und die Rechtsfolgenbestimmung vorgenommen werden. 82 Vgl für das Europarecht nur EuGH Urt v 14.7.1998 – C-284/95 – (Safety Hi-Tech Srl/T.Srl), Slg 1998, I-04301 Rn 37; Meßerschmidt Europäisches UmwR § 3 Rn 77; für das nationale Recht nur BVerfGE 118, 79, 110; Murswiek in: Sachs GG, Art 20a Rn 17 ff. 83 Vgl etwa den Rückgriff auf das Verursacherprinzip für die Bestimmung der Abfallpflicht in BVerwG, NVwZ 1988, 1126; BVerwGE 106, 43 ff und für die Reichweite von § 4 Abs 3 BBodSchG HessVGH NuR 2011, 729.

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2. Verursacherprinzip Das Verursacherprinzip zielt auf die Begründung rechtlicher Verantwortung für Umweltbelastungen, also deren wertende normative Zurechnung.84 Es umfasst die Auferlegung umweltschonender Handlungspflichten (zB Einhaltung von Grenzwerten) und die Zurechnung der Kosten für die Vermeidung oder den Ausgleich von Umweltschäden.85 Als umweltrechtliche Ausprägung der allgemeinen ordnungsrechtlichen Verantwortlichkeit drückt es grundsätzlich wie diese eine Gerechtigkeitsidee und den Zusammenhang von Nutzen und Pflichten aus. Ökonomisch zielt es auf eine Internalisierung der externen Kosten, also eine Einbeziehung der Umweltbelastungen in die Preise, damit diese die realen Knappheiten unter Einschluss der Umweltfolgen abbilden. Als verpflichtende Orientierung ist das Verursacherprinzip ausdrücklich in Art 191 II 2 AEUV der europäischen und als ungeschriebenes Teilprinzip in Art 20a GG der nationalen Umweltpolitik vorgegeben.86 Dem Gesetzgeber kommt in der Ausformung erhebliches Gestaltungsermessen zu. Neben Art und Maß der Verursachungsbeiträge darf er auch die Effektivität des Umweltschutzes und die Leistungsfähigkeit der Verursachergruppen berücksichtigen und wird erst durch die Verhältnismäßigkeit begrenzt. Die normative Zurechnung kann also weiter reichen als die polizeirechtliche Störereigenschaft.87 So sieht das BBodSchG neben den Verhaltens- und Zustandsverantwortlichen uU auch eine (Nach-)Haftung des früheren Eigentümers vor (§ 4 VI BBodSchG). Das Umweltordnungs- und -haftungsrecht sind stark durch das Verursacherprinzip geprägt und verdeutlichen zugleich dessen Variabilität. Im Bereich stationärer Anlagen werden regelmäßig die Betreiber als unmittelbare Verursacher in Anspruch genommen, bei umweltgefährdenden Produkten häufig zumindest neben den unmittelbar gefährdenden Nutzern auch die Hersteller. Die Umwelt„haftung“ ergibt sich ebenfalls aus der Verursachung der Schäden, allerdings wird der Kausalitätsnachweis teilweise vereinfacht. Das Verursacherprinzip setzt schon begrifflich eine Kausalbeziehung zwischen dem Verpflichteten und den zugerechneten Umweltbelastungen voraus. Es stößt deshalb an seine Grenzen, wenn die Kausalität ungewiss ist, weil eine Zurechnung zu einzelnen Umweltnutzern scheitert (zB Waldsterben bei kumulierten Ferntransporten von Schadstoffen) oder die Wirkungsbeziehungen zeitlich gestreckt oder gänzlich ungewiss sind (zB Krebsrisiko bei einzelnen Schadstoffen oder Folgen der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen). Soweit zumindest eine Gruppe als typischer Verursacher identifizierbar ist, kann der Gesetzgeber diese unter weiteren Voraussetzungen als Kollektiv in Anspruch nehmen,88 zB im Wege von Sonderabgaben. Wenn der Verursachungszusammenhang ungewiss ist, kommt eine Inanspruchnahme nach dem Vorsorgeprinzip in Betracht. Soweit eine verursachungsorientierte Inanspruchnahme nicht möglich ist, können die Umweltbelastungen nur durch die Verwaltung auf Kosten der Allgemeinheit bewältigt werden. Im Umfang der grundrechtlichen Schutzpflichten (va Art 2 II GG) muss dies erfolgen. Insgesamt sollte auf die Allgemeinheit aber nur zurückgegriffen werden, wenn und soweit eine verursachungsorientierte Lösung nicht möglich oder ausnahmsweise wegen überwiegender gegenläufiger Interessen nicht sinnvoll ist (zB besitzloser Abfall unbekannter Herkunft).89

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84 Vgl näher Sparwasser/Engel/Voßkuhle UmwR § 2 Rn 31 ff. 85 Besonders anschaulich wird das Ziel in der englischen Fassung als „polluter pays principle“. 86 Epiney in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd II, Art 20a Rn 73 mwN; Wenn man das Ursprungsprinzip des Art 191 AEUV nicht nur räumlich versteht, wirkt es ebenfalls auf eine Begrenzung der Umweltbelastungen an der (verursachenden) Quelle hin (vgl die Beispiele bei Calliess/Ruffert EUV/AEUV Art 191 Rn 34). 87 Vgl etwa OVG NW, Urt v 7.10.2011 – 20 A 1181/10 zur abfallrechtlichen Verantwortlichkeit eines Chemieunternehmens für die Entsorgung von Löschwasser. 88 Dies wird auch als „Gruppenlastprinzip“ bezeichnet. 89 Vgl zur unterschiedlich engen Fassung des Ausnahmecharakters nur Steinberg Der ökologische Verfassungsstaat, 1998, 131 f und Kloepfer UmweltschutzR § 3 Rn 21 f. Die Kostentragung durch die Allgemeinheit wird regelmä-

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3. Schutz-, Vorbeuge- und Vorsorgeprinzip a) Ziele und Ansätze Das Schutz-, Vorbeuge- und Vorsorgeprinzip zielen auf das materielle Schutzniveau des Umweltrechts. Während das seit den Anfängen des Umweltrechts bekannte Schutzprinzip den Schutz der Rechte und Rechtsgüter vor Gefahren durch Umweltbelastungen nach den Maßstäben des überkommenen Polizeirechts verlangt,90 erweitern das Vorbeuge- und das Vorsorgeprinzip den Schutz gerade in die hierüber nicht mehr erreichbaren Bereiche. Sie haben damit für den modernen Umweltschutz eine prägende Bedeutung.91 In der Sache geht es bei Vorbeuge- und Vorsorgeprinzip darum, unnötige Umweltbelastungen zu vermeiden, mögliche Schäden zu verhindern, die über Summationen, Synergien oder Langzeitwirkungen von Umweltbelastungen entstehen können sowie der Ungewissheit über die Wirkungen vieler Umweltbelastungen Rechnung zu tragen. Dabei können zwei Ansätze unterschieden werden: Zum einen die Schaffung eines Freiraums gegenüber der Gefahrenschwelle und zum anderen die Strukturierung und damit Rationalisierung von Entscheidungen unter Ungewissheit (Risikoentscheidungen).92 Beim ersten Ansatz sollen Umweltbelastungen möglichst reduziert oder vermieden werden, um einen „Freiraum“ gegenüber den ökologischen und gesundheitlichen Belastungsgrenzen zu erhalten oder zu schaffen. Es geht um einen Umweltschutz, der insbesondere räumlich und zeitlich weiter reicht als die Gefahrenabwehr.93 So sollen etwa technisch leicht vermeidbare Emissionen grundsätzlich unterbunden werden.94 Soweit der Freiraum Ungewissheit über Umweltfolgen kompensieren soll, geht er bereits in den zweiten Ansatz über. Der risikobezogene Ansatz soll die Entscheidungen unter Ungewissheit strukturieren und damit rationalisieren. Beispiele sind die Wirkungsweisen vieler Stoffe oder die Folgen der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen auf das Ökosystem. Hier geht es um ein Management von Risiken, das eine möglichst weitreichende Informationsgrundlage, einen transparenten Umgang mit verbleibender Ungewissheit sowie einen fortlaufenden Lernprozess sichern soll. Weil die entscheidungsrelevanten Risiken durch eine Ungewissheit charakterisiert sind, die mangels entsprechenden Erfahrungswissens zunächst nicht einmal eine Wahrscheinlichkeitsaussage über einen Schadenseintritt erlaubt,95 sind sie ein aliud gegenüber der Gefahr und tragen eher Züge eines (allerdings nicht zeitnah aufklärbaren) Gefahrverdachts.96

_____ ßig als „Gemeinlastprinzip“ bezeichnet. Dies ist angesichts der allgemein zugewiesenen Rolle unglücklich, weil es über die Gleichstellung mit den Prinzipien als Optimierungsgeboten zur begrifflichen Verwirrung beiträgt. 90 Die „Gefahr“ wird entsprechend auch im Umweltrecht als Produkt aus Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit verstanden. 91 Diese prägende Bedeutung galt für die Entwicklung zu einem eigenen Rechtsgebiet neben dem Polizeirecht (vgl näher Steiger AöR 117 (1992), 100 ff) ebenso wie für seine Fortentwicklung insbes als Risikoverwaltungsrecht (vgl knapp resümierend Schulze-Fielitz in: GVwR I, § 12 Rn 30 ff). 92 Diese Grundkonturen des Vorsorgeverständnisses wurden an Hand von § 5 I Nr 2 BImSchG entwickelt, der den Vorsorgegrundsatz erstmals positivierte (vgl nur Sellner NJW 1980, 1255 ff), aber bald auch breiter für den Arbeitsund Gesundheitsschutz verankert (vgl nur Ossenbühl NVwZ 1986, 161; Europäische Kommission Die Anwendung des Vorsorgeprinzips, KOM (2000) 1 endg). Im für die Entwicklung des Vorsorgegedankens ebenfalls zentralen Atomrecht stand entsprechend der gegenüber den Luftschadstoffen abweichenden Sachlage von vornherein die Risikovorsorge im Zentrum (vgl nur BVerfGE 49, 89, 143; BVerwGE 72, 300, 315 f). 93 Vgl auch Kloepfer UmweltschutzR § 3 Rn 10 f. 94 Vgl BVerwGE 69, 37, 44; BVerwG NVwZ 1995, 994, 995. 95 Grundlegend Ladeur Umweltrecht der Wissensgesellschaft, 1995, 9 ff. 96 Wollenschläger Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, 59 ff auch mit der Parallele zum Gefahrverdacht.

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b) Vorgaben und Abgrenzungen in Unions- und nationalem Recht Schutz-, Vorbeuge- und Vorsorgeprinzip sind ausdrücklich in Art 191 II, III AEUV97 für die europäische Umweltpolitik und in der Sache als anerkannte Teilprinzipien in Art 20a GG für die nationale Umweltpolitik rechtlich verankert. Während nach nationalem Verständnis das Vorsorgeprinzip allerdings beide genannten Grundansätze umfasst („Ressourcenvorsorge“ bzw „Risikovorsorge“), differenziert der AEUV im Wortlaut zwischen Vorbeugeprinzip und Vorsorgeprinzip. Soweit ihnen ein jeweils eigenständiger Gehalt zuerkannt wird, umfasst das Vorbeugeprinzip die Prävention bekannter Schadensmöglichkeiten und das Vorsorgeprinzip den Umgang mit Risiken.98 Da die Abgrenzung notwendig unscharf und hinsichtlich der Rechtsfolgen ohne größere Bedeutung ist, wird hier beides unter den Begriff der Vorsorge gefasst. Soweit Leben und Gesundheit von Menschen betroffen sind, werden der Schutz vor Gefahren und die Rationalisierung von Risikoentscheidungen überdies durch die Grundrechte aus Art 3 GrCh und Art 2 II GG gestützt.99 Die konkrete Ausgestaltung des Schutzes vor Gefahren sowie das Niveau der Vorsorge stehen im Gestaltungsermessen des Gesetzgebers bzw europäischen Sekundär-Rechtsetzers. Das europäische Primärrecht enthält allerdings ausdrückliche, auf eine Rationalisierung der Vorgehensweise zielende prozedurale Vorgaben, indem es gem Art 191 III Sp 1 und 3 AEUV ua die Berücksichtigung der verfügbaren Daten und eine Gesamtfolgenabschätzung für Handeln und Unterlassen in der Umweltpolitik fordert. In den Rechtsakten werden die Ziele der Gefahrenabwehr und der Vorsorge häufig ausdrücklich betont.100 Die zur Handhabbarkeit aufgestellten Sicherheitskonzepte folgen allerdings unterschiedlichen Modellen. Teilweise wird ausdrücklich zwischen der Gefahrenabwehr und der Vorsorge differenziert, wie in § 5 I Nr 1 und 2 BImSchG in Folge seiner gewerberechtlichen Entwicklungslinie. Es finden sich aber auch einheitlich definierte, Gefahrenabwehr und Vorsorge umfassende Schutzniveaus, etwa im Atom-101 und Gentechnikgesetz. Auch das europäische Recht kennt keine konzeptionelle Unterscheidung zwischen Gefahrenabwehr und Vorsorge. Ungeachtet dieser uneinheitlichen Ausgestaltung wurde die Unterscheidung zwischen Schutz vor Gefahren und Vorsorge im deutschen Umweltrecht dogmatisch aufgeladen. Die Gefahrenabwehr ist wegen ihrer Grundrechtsgebotenheit grundsätzlich zwingend und vermittelt subjektive Rechte. Die Vorsorge soll demgegenüber nur objektiv-rechtlich ausgestaltet sein. Diese Unterscheidung ist letztlich aber nur für den Vorsorgeansatz der Freiräume sichernden Schonung natürlicher Ressourcen geboten, weil es hier allein um Interessen der Allgemeinheit geht, so dass nach der Schutznormtheorie keine subjektiven Rechte angenommen werden können. Insbesondere hinsichtlich der Risikovorsorge bei Rechten und Rechtsgütern Einzelner, die sich als aliud zur Gefahrenabwehr nicht einfach einem Bereich unterhalb der Gefahrenschwelle zuordnen lässt, vermag sie nicht zu überzeugen.102 So fällt es schwer, etwa unter Bedingungen von

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97 Hinzu tritt Art 37 GrCh, der diese Prinzipien nicht ausdrücklich aufführt, aber inhaltlich stark an Art 191 AEUV angelehnt ist (Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, GrCh Art 37 Rn 4). Zu den Handlungsgrundsätzen des Art 191 II 2 AEUV als Rechtfertigungsgründe, Eingriffsverbote und Handlungsgebote differenzierend Cremer DV Beiheft 11, Umwelt- und Planungsrecht im Wandel, 2010, 9, 19 ff; vgl zum Vorsorgeprinzip umfassend Appel Staatliche Zukunftsvorsorge, 2005, 185 ff. 98 Vgl ausf Arndt Vorsorgeprinzip, 2009, 124 ff, 325 f. Zum Streit darum, ob das europäische Vorsorgeprinzip auch eine ressourcenökonomische Bedeutung hat siehe Arndt Vorsorgeprinzip, 2009, 127 ff. 99 Das BVerwG hat Art 20a GG insoweit mit der grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art 2 II GG parallelisiert, als er keine weitergehenden Anforderungen als diese enthalten soll (BVerwGE 104, 36, 54). 100 Vgl nur § 1 BImSchG; § 1 Nr 1 GenTG; § 1 BBodSchG. 101 Vgl Appel/Wahl Prävention und Vorsorge. Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung in: Wahl, Prävention und Vorsorge, 1995, 9 f; Di Fabio Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, 70 f. 102 Für den Gesundheitsschutz bereits frühzeitig Böhm Der Normmensch, 1996, 169 ff; vgl auch die grundrechtliche Zuordnung der atomrechtlichen Vorsorge in BVerfG NVwZ 2010, 114, 115 (BVerfG Beschl v 10.11.2009 – 1 BvR 1178/07, Rn 22).

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Ungewissheit festgelegte Grenzwerte für krebserzeugende Luftschadstoffe der Gefahrenabwehr oder der Vorsorge zuzuweisen. Für diesen Bereich werden entsprechend nicht zuletzt nach europäischen Vorgaben auch zunehmend subjektive Rechte anerkannt.

c) Vorsorge als Legitimation und Auftrag einer Umweltgesetzgebung 54 Indem der vorsorgeorientierte Umweltschutz in die Bereiche ausgreift, die mit der polizeirechtlichen Gefahrenabwehr nicht mehr erfassbar sind, verlässt er auch die rechtsstaatlichen Begrenzungen, die für diese entwickelt wurden.103 Zugleich ist den Vorsorgeansätzen eine Tendenz zur Ausweitung rechtlicher Anforderungen eigen.104 Ein Freiraum sichert umso besser gegen Belastungskumulationen, unvorhergesehene Wirkungen und Wechselwirkungen, je größer er ist und zur Minderung von Ungewissheit können immer weitergehende Maßnahmen ergriffen werden ohne je absolute Gewissheit zu erreichen. Eine verbleibende Ungewissheit schließlich drängt auf den vermeintlich sicheren völligen Ausschluss der Risikoquelle. Es bedarf deshalb der rechtsstaatlichen Markierung des Bereichs, in dem Umweltvorbeugung und -vorsorge staatliche Eingriffe legitimieren können. Weitgehende Einigkeit besteht hinsichtlich des erforderlichen Anlasses für solche Vorsor55 gemaßnahmen. Vorausgesetzt ist europäisch wie national ein sogenanntes „abstraktes Besorgnispotential“,105 also eine plausible bzw wissenschaftlich begründbare potentielle Schädigungseignung des Regelungsobjekts.106 Die Kontrolle der prozeduralen Pflicht zur wissenschaftlichen Risikobewertung ist tendenziell im europäischen Recht strenger und im nationalen Verfassungsrecht stärker durch die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers überlagert. 107 Grundsätzlich ist die Schwelle zum Vorsorgeanlass aber niedrig anzusetzen und auch ein Risiko auf Grund vorläufiger Daten und bloßer Heuristiken, also näherungsweiser Verfahren zur Bestimmung komplexer Zusammenhänge, bereits hinreichend.108 Die größten Schwierigkeiten bereitet die Bestimmung der Grenze zulässiger Vorsorge. 56 Zwar gilt selbstverständlich auch hier der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, so dass die Eingriffe verhältnismäßig zu Umfang und Ausmaß des Risikopotentials sein müssen.109 Je größer die

_____ 103 Dies betrifft namentlich den zentralen Zusammenhang von Gefahr, Störer und Verhältnismäßigkeit der Gefahrenabwehrmaßnahmen. Vorsorge reicht weiter als die Gefahr, erfasst nicht nur Verursacher oder Zustandsverantwortliche einer Gefahrenlage und ist insbes bei Ungewissheitssituationen über möglicherweise gravierende Folgen nur schwer in der Zweck-Mittel-Relation der Verhältnismäßigkeit zu erfassen. 104 Vgl grundlegend bereits Appel/Wahl Prävention und Vorsorge. Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung in: Wahl, Prävention und Vorsorge, 1995, 82 ff. 105 BVerwGE 72, 300, 315; Kloepfer UmweltschutzR § 3 Rn 12; Rehbinder FS Sendler, 1991, 269, 279 f. 106 BVerfGE 128, 1 Rn 142, ist zwar nicht ganz eindeutig, wenn es heißt, dass die Annahme eines „Basisrisikos“ im Bereich der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers liege und keinen wissenschaftlich-empirischen Nachweis eines realen Gefährdungspotenzials voraussetze, damit ist aber kein Verzicht auf das nach der Sachverhaltsdarstellung ausdrücklich angenommene Risiko ausgesprochen. Die Voraussetzung folgt auch schon aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der Maßnahmen nur in Relation zu einem Risikopotential erlaubt (BVerwGE 69, 37, 44 f). Der EuGH fordert „vernünftige“ bzw „ernsthafte“ Zweifel an der Unbedenklichkeit (EuG Urt v 28.1.2003 – T-147/00 –(Les Laboratoires Servier/Kommission), Slg 2003, II-85 Rn 52; EuG Urt v 11.7.2007 – T-229/04 – (Königreich Schweden/Kommission), Slg 2007, II-2437, Rn 161, 224. Für europäische Regelungen wird dies durch Art 191 III Sp 2 AEUV unterstrichen, der verlangt, dass die verfügbaren wissenschaftlichen und technischen Daten berücksichtigt werden müssen. Näher Arndt Vorsorgeprinzip, 2009, 112 ff, 199 ff. 107 Ausf Calliess Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, 214 ff. Bei der Bewertung kommt dem Gesetzgeber eine weite Einschätzungsprärogative zu (BVerfGE 128, 1, 40). 108 Gegenwärtig ist dies vor allem für die Nanotechnologie relevant, hinsichtlich derer noch keine wissenschaftlich fundierte Risikoabschätzung möglich ist (siehe näher Scherzberg ZUR 2010, 303 ff; Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen, Vorsorgestrategien für Nanomaterialien, BT-Drs 17/7332 v 11.10.2011). 109 Siehe nur EuG Urt v 11.9.2002 – T-13/99 – (Pfizer Animal Health/Rat), Slg 2002, II-3305, Rn 407 ff; BVerwGE 69, 37, 44; E 110, 216, 224. Das EuG hält den Gemeinschaftsgesetzgeber auch für befugt, bei ernsthaften Ansatzpunkten

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Ungewissheit über das Schadenspotential ist, desto weniger lässt sich hier aber eine rationale Abwägung vornehmen.110 In der Folge werden die Verhältnismäßigkeitsprüfungen schnell pauschal111 und lassen sich nur durch Verfahrenspflichten, insbesondere durch solche zur Wissensgenerierung, rationaler fassen. Nach europäischem Primärrecht ist vor Erlass europäischer Vorsorgemaßnahmen eine Folgenabschätzung vorzunehmen, über die zumindest eine gewisse Aufbereitung verfügbarer Informationen und Alternativen gesichert wird.112 Die Justierung der materiellen Grenze zwischen auszuschließenden und zuzulassenden Risiken bestimmt die Innovationsoffenheit der Rechtsordnung. 113 Als Kompensation für verbleibende Ungewissheiten wird auf begleitende Beobachtungs- und Revisionspflichten abgestellt,114 die auf die konkreten Handlungsoptionen abgestimmt werden sollten.115 Diese Möglichkeiten und Pflichten zur prozeduralen Absicherung reichen über das materielle Vorsorgeniveau hinaus und bedürfen der eigenen, abwägenden Begrenzung. Formal ist es sinnvoll, aus Gründen der Rationalitätssicherung und Gleichbehandlung in al- 57 len Fällen, in denen keine individuelle Zurechnung von Risikoanteilen erfolgen kann, Maßnahmen der Vorsorge konzeptionell zu entwickeln und an abstrakt-generelle Kriterien zu binden.116 Aus dem Erfordernis eines abstrakten Besorgnispotentials und dem Verhältnismäßigkeits- 58 grundsatz ergibt sich eine äußerste Grenze der Vorsorge: Ungewissheiten jenseits der „Schwelle praktischer Vernunft“, also bloß „hypothetische Risiken“, sind als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen.117 Die gerichtliche Kontrolle der Einhaltung der Grenzen ist aber ebenfalls durch die weiten Einschätzungsspielräume der Rechtsetzer eingeschränkt.118 Inwieweit neben der in diesem Rahmen bestehenden Legitimation für Maßnahmen auch 59 eine Handlungspflicht des Staates besteht, ist differenziert zu beurteilen. Nach Verfassungsund europäischem Primärrecht ist hier inhaltlich von einem weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers auszugehen, der selbst im Bereich der grundrechtlichen Schutzpflichten nur auf evidente Verletzungen überprüfbar ist.119 Hierdurch wird aber nur die gerichtliche Kontrolle

_____ für ein Risiko eine Gefahrenquelle vollständig zu verbieten (EuG Urt v 21.10.2003 – T-392/02 – (Solvay Pharmaceuticals/Rat), Slg 2003, II-4555 Rn 150. 110 Vgl näher Nicklisch NJW 1986, 2287, 2290; Lübbe-Wolff Präventiver Umweltschutz in: Bizer/Koch, Sicherheit, Vielfalt, Solidarität, 1998, 47, 64. 111 Vgl nur BVerfGE 128, 1, 40. 112 Vgl bereits die Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM (2000) 1 endg, 22 f („Abwägung der mit einem Tätigwerden oder Nichttätigwerden verbundenen Vor- und Nachteile“); zur KostenNutzen-Analyse als Ausprägung dann EuG Urt v 11.9.2002 – T-13/99 – (Pfizer Animal Health/Rat), Slg 2002, II-3305 Rn 469; ausf Arndt Vorsorgeprinzip, 2009, 276 ff. 113 Scherzberg VVDStRL 63 (2004), 214, 223 zieht vor diesem Hintergrund die Grenze zwischen Riskoabwehr und „Restrisko“ überzeugend dort, wo die Folgen der Irrtumsmöglichkeit bei der Risikobestimmung den Sicherheitsgewinn weitergehender Vorsorge überwiegen. Vgl zum Vergleich der Risikosteuerung zwischen USA, Europa und dem WTO-Ansatz knapp Scherzberg ZUR 2010, 303, 305 ff. 114 Siehe nur SRU Sondergutachten v 15.12.1999, BT-Drs 14/2300, 18. 115 Vgl Scherzberg ZUR 2010, 303, 309 f. 116 So BVerwGE 69, 37, 45 zur Vorsorge gegen Umweltbelastungen durch den Ferntransport von Luftverunreinigungen. Die Übertragbarkeit der Anforderungen ist allerdings unklar. 117 Vgl zur entsprechenden Vereinbarkeit mit den grundrechtlichen Schutzpflichten grundlegend BVerfGE 49, 89, 141 ff; jüngst wieder BVerfG NVwZ 2010, 114, 115 (BVerfG Beschl v 10.11.2009 – 1 BvR 1178/07 Rn 23); grundsätzlich zum Verhältnis des Restrisikos zu den Schutzpflichten Hermes Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, 237 ff; Zur entsprechenden Grenze des europäischen Vorsorgeprinzips EuG Urt v 11.9.2002, – T-13/99 – (Pfizer Animal Health/Rat), Slg 2002, II-3305 Rn 146; EuG Urt v 21.10.2003 – T-392/02 – (Solvay Pharmaceuticals/Rat), Slg 2003, II-4555 Rn 129. 118 Vgl nur EuG Urt v 21.10.2003 – T-392/02 – (Solvay Pharmaceuticals/Rat), Slg 2003, II-4555 Rn 126; BVerfGE 128, 1, 40 f. 119 Siehe nur zum weiten Gestaltungsspielraum selbst für den Bereich der grundgesetzlichen Schutzpflichten BVerfGE 46, 160, 164; 56, 54, 80 f; 77, 381, 405; 79, 174, 200; 85, 191, 212; 92, 26, 46; 96, 56, 64; zum Europarecht nur Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 191 Rn 26 ff, 46.

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begrenzt, ungeachtet derer national von einer in den Grundrechten sowie Art 20a GG und europäisch von einer in Art 191 II AEUV angelegten Pflicht zu einer dem Risikopotential angemessenen Vorsorge und vor allem zu einer angemessenen prozeduralen Bearbeitung der Risiken für Gesundheit und Umwelt auszugehen ist.120 Hier trifft sich die Frage nach der Reichweite einer Handlungspflicht mit der Suche nach den Grenzen der Vorsorge, da in der Ungewissheit beiden nur der Ausweg zu rationalisierenden Verfahrensgestaltungen bleibt.

d) Umsetzung und Ausgestaltung im Verwaltungsrecht 60 In den Umweltgesetzen wird der Schutz vor Gefahren in der Regel ausdrücklich gefordert oder ist in der Anforderung einer Vermeidung von Umweltbelastungen nach dem Stand von Wissenschaft und Technik mit einer Vorsorge zusammengefasst. Typische Ausprägungen vor allem der Freiraum sichernden Vorsorge bilden die Pflichten zur Berücksichtigung der Umweltbelange in den vorausschauenden räumlichen Gesamtplanungen, die Sicherung der Berücksichtigung aller Umweltbelange über Umweltverträglichkeitsprüfungen121 und Pflichten zur Emissionsbegrenzung nach dem Stand der Technik bzw der besten verfügbaren Technik. Als typische Elemente der Risikovorsorge lassen sich etwa Verfahrensvorgaben bei der 61 Festsetzung von Grenzwerten, detaillierte Untersuchungspflichten für Antragsteller und fortlaufende Beobachtungspflichten ausmachen. Vor allem im Stoffrecht hat sich ein ausdifferenziertes System der Risikovorsorge herausgebildet, das die Stufen der Risikoermittlung und -bewertung vom Risikomanagement trennt.122 Auf den ersten beiden Stufen geht es um die Identifikation der Risikoquellen und die Abschätzung der Wirkungswege und -intensitäten. Sie werden in kooperativen, auf Wissensgenerierung angelegten Verfahren zwischen Antragsteller und Genehmigungsbehörden unter maßgeblicher Einbeziehung weiterer fachwissenschaftlicher Expertise insbesondere von Behörden der Ressortforschung vorgenommen.123 Die bei den Abschätzungen zentralen Methoden werden oftmals rechtlich vorgegeben.124 Die anschließende Entscheidung des Risikomanagements erlaubt meist eine offene Abwägung zwischen den ermittelten Risiken und dem erwarteten Nutzen über „Vertretbarkeitsklauseln“125 und ist revisionsoffen gestaltet. Ein zentrales Steuerungselement in den Verfahren bilden dabei differenzierte Verteilungen von Beweislast und Beweismaß.126 Sie gestalten die Anreizstruktur zur Herstellung und Offenlegung

_____ 120 Vgl zu Art 20a GG jetzt BVerfGE 128, 1, 40; Schulze-Fielitz in Dreier, GG, Art 20a Rn 64; zu den Schutzpflichten BVerfGE 49, 89, 142 („abhängig von Art, Nähe und Ausmaß möglicher Gefahren, Art und Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie von schon vorhandenen Regelungen); BVerwGE 69, 37, 44; Murswiek DV 33 (2000), 241, 245 ff; Appel Staatliche Zukunftsvorsorge, 2005, 114; zu den europäischen Vorgaben nur Lübbe-Wolff Präventiver Umweltschutz in: Bizer/Koch, Sicherheit, Vielfalt, Solidarität, 1998, 47, 62; Europarechtlich ist zu berücksichtigen, dass Art 191 II AEUV die EU ausdrücklich auf ein „hohes Schutzniveau“ verpflichtet (vgl zum daran anknüpfenden Grundsatz des bestmöglichen Umweltschutzes Kahl Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, 1993, 92 ff). Eine Handlungspflicht bis zur Grenze der praktisch ausgeschlossenen Risikoverwirklichung (so Kloepfer UmweltschutzR § 3 Rn 12) geht allerdings zu weit, weil sie der Risikobekämpfung letztlich einen absoluten Vorrang vor konkurrierenden Rechtsgütern einräumt. 121 Abweichende Zuweisung zur Risikoregulierung bei Appel Methoden, 347. Hier wird die Ermittlung der vorhersehbaren Umweltfolgen in den Vordergrund gerückt, die auf eine möglichst umweltschonende Alternative zielt und weniger auf die Bewältigung von Ungewissheit. 122 Vgl nur übergreifend Scherzberg VVDStRL 63 (2004), 214, 245 ff und die Darstellung von Streinz Bewältigung von Risiken im Lebensmittelrecht und im Arzneimittelrecht in: Vieweg, Risiko – Recht – Verantwortung, 2006, 131, 150 f, 159 f; zur europarechtlichen Ausgestaltung von Risikobewertung und Risikomanagement ausf Arndt Vorsorgeprinzip, 2009, 180 ff bzw 252 ff. 123 Vgl Wollenschläger Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, 69 ff und den Referenzbereich Gentechnikrecht 79 ff. 124 Geregelt sind sie meist in den Anhängen der europäischen Rechtsakte bzw in untergesetzlichen nationalen Normen (vgl auch Appel Methoden, 338 ff). 125 Vgl dazu näher Appel Methoden, 2004, 348 f. 126 Ausf Arndt Vorsorgeprinzip, 2009, 286 ff.

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III. Prinzipien des Umweltrechts – 5. Kapitel

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von Risikowissen durch die Privaten127 und bestimmen das gesellschaftlich hinzunehmende Risikoniveau mit. Die Zuordnung der vorsorgeorientierten Instrumente und Pflichten zu den Grundansätzen des Freiraums und der Risikovorsorge sind allerdings höchst unscharf.

4. Nachhaltigkeitsprinzip Das zunehmend bedeutsame128 Nachhaltigkeitsprinzip zielt wie die Vorsorge auf das materielle 62 Umweltschutzniveau, entwickelte sich aber nicht aus der Perspektive der Umweltgefährdung, sondern aus Grundsätzen langfristiger Umweltnutzung, namentlich der Waldwirtschaft.129 Im Zentrum steht deshalb die Sicherung der dauerhaften Funktionsfähigkeit der Umwelt als System, aus der sich Regeln für die Umweltnutzung („Managementregeln“) ableiten:130 Sich erneuernde Umweltressourcen sollen nur in dem Maße verbraucht werden, in dem sie sich auch erneuern und der Schadstoffeintrag soll die Abbaukapazität der Ökosysteme nicht übersteigen. Die Einbeziehung sich nicht erneuernder Umweltressourcen erfolgt verschieden: Teilweise wird nur gefordert, dass sie möglichst sparsam genutzt werden.131 Die Verbindung zur Dauerhaftigkeit entsteht mit einer geforderten Begrenzung ihres Verbrauchs auf das Maß, in dem gleichzeitig physisch und funktionell gleichwertiger Ersatz an sich erneuernden Ressourcen geschaffen wird.132 Das Nachhaltigkeitsprinzip wurde primärrechtlich ua in den Zielen der Union verankert 63 (Art 3 III EUV) und in der Querschnittsklausel des Art 11 AEUV („Förderung einer nachhaltigen Entwicklung“) sowie verfassungsrechtlich in Art 20a GG („auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“) verankert.133 Es sollte auch als Bezugspunkt der ansonsten nicht näher spezifizierten Verbesserungsgebote verstanden werden, die nach allgemeiner Ansicht in Art 191 I (sp 1) AEUV und Art 20a GG enthalten sind.134 Seine Managementregeln entsprechen zahlreichen umweltrechtlichen Grundansätzen von der Kreislaufwirtschaft bis zur Energiewende. Kleinteiliger hat es der Gesetzgeber aber auch in den Zielkatalog vieler Umweltgesetze135 und die Vor-

_____ 127 Spiecker genannt Döhmann DVBl 2006, 278, 280 ff. 128 Das Prinzip wurde als übergreifendes Prinzip der Umweltpolitik erstmals im sog Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung von 1987 formuliert und hat sich als eine Leitorientierung schnell auf allen Rechtsebenen etabliert. Umfassende Darstellungen finden sich bei Beaucamp Das Konzept der zukunftsfähigen Entwicklung im Recht, 2002, 241 ff; Appel Staatliche Zukunftsvorsorge, 2005; Es ist über den Umweltbereich hinaus zu einem übergreifenden Prinzip langfristig orientierter Politik geworden (vgl nur Kahl, Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008; Bundesregierung Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland Fortschrittsbericht 2012 (ua abrufbar auf http://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/nachhaltigkeit/DE/Startseite/Startseite.html?__site=Nachhal tigkeit)). 129 Der Unterschied in der Perspektive wird verwischt, wenn man das Nachhaltigkeitsprinzip von vornherein dem Vorsorgeprinzip (vgl Kloepfer UmweltschutzR § 3 Rn 1) oder einzelnen seiner Elemente (wie dem Freiraum-Gedanken, vgl etwa Ramsauer in: Koch, UmwR, § 3 Rn 33) zuordnet. 130 Vgl nur Bundesregierung, Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland Fortschrittsbericht 2012, 31 ff. Die nachfolgend genannten Managementregeln entsprechen den dort auf S 33 genannten Regeln 2 und 3, die als zentrale ökologische Grundregeln breit konsentiert sind (vgl nur Winter ZUR 2003 Sonderheft, 144; Schmidt/Kahl UmwR § 1 Rn 31). 131 Vgl Schmidt/Kahl, § 1 Rn 31. 132 Winter ZUR Sonderheft 2003, 137, 144. Präziser wäre es wahrscheinlich, nicht einen Ersatz der Ressourcen, sondern nur ihrer Funktionen zu fordern. 133 Vgl zu Art 11 AEUV nur Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 11 AEUV Rn 12 f; Kahl in: Streinz, EUV/EGV, Art 11 AEUV, der in Rn 8 das Nachhaltigkeitsprinzip mit seinen häufigen Erwähnungen als Leitprinzip des unionalen Umweltrechts identifiziert; zu Art 20a Sommermann in v Münch/Kunig GG, Art 20a Rn 25 ff. 134 Vgl grundlegend Kahl Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, 1993, 19 f; Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 4; Schulze-Fielitz in: Dreier, GG, Art 20a Rn 44. 135 § 1 I, III Nr 1 BNatSchG (mit ausdrücklicher Benennung von Managementregeln).

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

gaben der Gesamtplanung136 aufgenommen, so dass es sich vor allem im Rahmen der dortigen Gestaltungsspielräume entfaltet. Die systemare, auf Regenerationsfähigkeit bezogene Perspektive des Nachhaltigkeitsprinzips legt zudem nahe, die Maßnahmen des Umweltschutzes aus den erforderlichen Umweltqualitäten abzuleiten. 137 Entsprechende planerische Ansätze, etwa im Gewässerschutz,138 lassen sich deshalb auch als seine Ausprägung verstehen.

5. Integrationsprinzip 64 Das vor allem unionsrechtlich entwickelte und ausgestaltete Integrationsprinzip verpflichtet auf die (integrative) Einbeziehung aller Umweltauswirkungen in die umweltrechtlichen Bewertungen.139 Berücksichtigt werden sollen die Auswirkungen auf alle Umweltmedien einschließlich der Wechselwirkungen zwischen diesen sowie bei Produkten auch zeitlich während ihres gesamten Lebenszyklus. Damit soll vermieden werden, dass umweltpolitische Maßnahmen nur zu Verlagerungen von Belastungen statt zur Verbesserung der Umweltsituation führen (zB Luftreinhaltung durch Filter, die schwer zu entsorgen sind oder Produktanforderungen, die das Recycling erschweren). Das Integrationsprinzip ist weder im Primärrecht der Union, noch im nationalen Verfas65 sungsrecht verankert, sondern hat sich als sekundärrechtlicher unionaler Ansatz entwickelt. 140 Verfahrensrechtlich bildet es sich in den Pflichten zur umfassenden Ermittlung aller Umweltauswirkungen bei den Umweltverträglichkeitsprüfungen sowie Pflichten zur Integration paralleler Zulassungsverfahren ab. Materiell-rechtlich fordert es insbesondere die Berücksichtigung aller Umweltauswirkungen in den Zulassungstatbeständen (zB § 5 I BImSchG). Der Ansatz bringt ein Dilemma mit sich. Wird er typisierend in Ordnungsrecht übersetzt, 66 etwa durch konkrete Anforderungen an Anlagen oder Produkte, besteht die Gefahr einer innovationshemmenden technischen Pfadvorgabe. 141 Wird er dort im Wege der Einzelfallbetrachtung verfolgt, müssen die Genehmigungstatbestände Ermessen zulassen, wobei die Komplexität der erforderlichen Abwägungen aber schnell zu unvertretbarem Aufwand oder willkürlichen Entscheidungen führt und erhebliche Rechtsunsicherheit mit sich bringt. Es ist deshalb nicht überraschend, wenn die tatsächliche Berücksichtigung, aber auch das strukturelle Potential einer integrativen Betrachtung im Anlagenrecht als gering angesehen wird142 und in der Produktpolitik für die konkreten ordnungsrechtlichen Vorgaben in der Praxis eine Orientierung an umweltpolitischen Prioritäten statt an ganzheitlichen Betrachtungen erfolgt.143

_____ 136 § 1 V BauGB. 137 Vgl nur Appel Staatliche Zukunftsvorsorge, 2005, 129 ff; Reese ZUR 2010, 349, 341. 138 Vgl den Ansatz der WRRL und die Umsetzung im WHG (u Rn 238 ff). 139 Neben dieser sog internen Integration steht die sog externe Integration, die auf die Berücksichtigung der Umweltbelange in anderen Politiken zielt, wie sie va ausdrücklich von der Querschnittsklausel Art 11 AEUV gefordert wird. 140 Vgl für die Anlagenzulassung nur IVU-RL 2008/1/EG und für die Produktpolitik nur Europäische Kommission Integrierte Produktpolitik – Auf den ökologischen Lebenszyklus-Ansatz aufbauen, Mitteilung der Kommission v 18.6.2003. 141 Siehe auch Reese ZUR 2010, 349, 340, 344. 142 Vgl Bohne JEEPL 2008, 1, insbes 30 ff für die materielle Integration. 143 Vgl anschaulich dazu die Erwägungsgründe 13 und 14 der Ökodesign-RL 2009/125/EG, ABlEU L 285/10 v 31.10. 2009, in denen zunächst das Konzept wiederholt, dann aber die Schwerpunktsetzung auf die Energieeffizienz zur Senkung von Treibhausgasemissionen begründet wird.

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IV. Instrumente und Charakteristika des Umweltrechts – 5. Kapitel

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6. Weitere Prinzipien Neben den voranstehend behandelten Prinzipien werden noch eine Reihe weiterer Prinzipien für das Umweltrecht genannt. Sie reichen vom Abwägungsprinzip144 über das Kompensationsprinzip145 bis zum Kooperationsprinzip.146 Diese Prinzipien beziehen sich teilweise auf Modalitäten der Aufgabenerfüllung (Kompensations- und Kooperationsprinzip), die aber wegen ihrer besonderen Abhängigkeit von den jeweiligen Sachkontexten notwendig variabler und wegen der Bezogenheit auf die normativ hinterlegten Zwecke nur begrenzt eigenständig normativ konturierbar sind. Die daraus resultierende Schwäche prinzipieller Anleitung, die bereits beim Integrationsprizip aufscheint, wird umso größer, je stärker die nähere instrumentelle Ausgestaltung in den Vordergrund rückt und den spezifischen Umweltbezug zurückdrängt. Das Abwägungsprinzip hat zwar einen stärkeren materiellen Charakter, ist jedoch in jeder prinzipiengeleiteten Rechtsordnung so fundamental und allgegenwärtig, dass es keiner Betonung in einzelnen Bereichen bedarf. Das bedeutsamste dieser insgesamt eher schwachen Prinzipien ist das Kooperationsprinzip. Es zielt auf das Zusammenwirken von Staat und Privaten beim Umweltschutz auf der Grundlage einer Verantwortungsteilung und fordert den verstärkten oder sogar vorrangigen Einsatz gesellschaftlicher Problemlösung gegenüber unmittelbar staatlichem Handeln. Das Kooperationsprinzip leitet als politische Orientierung das Umweltrecht – in Übereinstimmung mit breiteren verwaltungsrechtlichen Entwicklungen - schon lange an und hat zu vielfältigen Einbeziehungen Privater geführt.147 Sie reichen von verstärkten Pflichten zur Sachverhaltsermittlung von Antragstellern (zB UVP), über Pflichten zur Eigenüberwachung potentieller Umweltgefährder (zB Betriebsbeauftragte; Berichtspflichten) und die Einbeziehung des Sachverstandes privater Organisationen (zB Standardsetzung) bis zur Übertragung von Aufgaben (zB Abfallentsorgung) oder der Selbstverpflichtung von Verbänden. Es hat in Art 34 Einigungsvertrag auch begrifflich einen gesetzlichen Niederschlag gefunden, lässt sich aber weder auf einen einheitlichen Leitgedanken zurückführen, noch ist es als solches im primären Unions- oder Verfassungsrecht normativ verankert. Es ist deshalb eine heuristische Kategorie und jedenfalls kein Rechtsprinzip des Umweltrechts,148 verdeutlicht als solche aber zutreffend, dass ohne Rückgriff auf das Wissen und die Handlungskapazität der Privaten sowie ihre Akzeptanz der rechtlich gebotene effektive Umweltschutz nicht erreicht werden kann.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht IV. Instrumente und Charakteristika des Umweltrechts – 5. Kapitel

IV. Instrumente und Charakteristika des Umweltrechts 1. Instrumentelle Perspektive im Umweltrecht Für die Erfassung und Systematisierung des Umweltrechts sind die zentralen Prinzipien und 71 ihre Leitbegriffe wichtig. Neben sie trat die instrumentelle Perspektive als neuer Ordnungsan-

_____ 144 Vgl Kloepfer UmweltschutzR § 3 Rn 32; Meßerschmidt Europäisches UmwR § 3 Rn 156 ff. 145 Vgl grundlegend Voßkuhle Das Kompensationsprinzip, 1999; ferner Sparwasser/Engel/Voßkuhle UmwR § 2 Rn 42 ff. 146 Siehe aus der breiten Lit nur Sparwasser/Engel/Voßkuhle UmwR § 2 Rn 48 ff. 147 Siehe die umfangreichen Darstellungen von Rengeling Das Kooperationsprinzip im Umweltrecht, 1988; Shirvani Das Kooperationsprinzip im deutschen und europäischen Umweltrecht, 2005, 132 ff; Salzborn Das umweltrechtliche Kooperationsprinzip auf unionaler Ebene, 2011, 164 ff. 148 Siehe nur Rengeling Das Kooperationsprinzip im Umweltrecht, 1988, 106 f; Lübbe-Wolff NUR 1989, 295; Murswiek ZUR 2001, 7 ff; Voßkuhle ZUR 2001, 23 ff; Koch NuR 2001, 541 ff. Die Schwierigkeiten eigenständiger und zugleich übergreifender und gehaltvoller Regelungen spiegeln auch die Entwürfe zur Verankerung des Kooperationsprinzips in einem Umweltgesetzbuch wider (vgl nur UGB-KomE § 7). Jüngster Versuch, die vielfältigen kooperationsbezogenen Regelungen und Phänomene zu einem europäischen Rechtsprinzip zu bündeln bei Salzborn Das umweltrechtliche Kooperationsprinzip auf unionaler Ebene, 2011, 146 ff. Siehe nur Koch NUR 2001, 541 ff.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

satz,149 der sich aus verschiedenen Quellen speiste. Das Umweltrecht reagierte von vornherein auf die zeitkritische Gefährdung fundamentaler Rechtsgüter (natürliche Lebensgrundlagen und Gesundheit). Sein Ziel der erforderlichen Verbesserung der Umweltqualität bedingte eine starke Wirkungsorientierung und einen rechtspolitischen Impetus,150 traf aber zugleich auf die „Entdeckung“ der Vollzugsdefizite im Umweltordnungsrecht151 und eine theoretische Großwetterlage im Umschwung von Planungseuphorie zu Steuerungspessimismus,152 die die Effektivität der überkommenen rechtlichen Ansätze in Frage stellten. Auch der europäische Zugriff erfolgte stark aus instrumenteller Perspektive.153 Vor diesem Hintergrund lag von vornherein eine Kontrastierung des überkommenen Ord72 nungsrechts mit den verstärkt in die politische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit rückenden Alternativen nahe, die zur bis heute verbreiteten, aber sehr unscharfen Kategorisierung in Instrumente der direkten (ordnungsrechtlichen) und indirekten Verhaltenssteuerung führte.154 Mit der nachfolgenden Unterteilung in Hoheitliche Regulierung und Regulierte Selbstregulierung wird eine durchaus parallel liegende, die Wirkungsweisen aber begrifflich schärfer fassende Einteilung gewählt.155 Die Darstellung konzentriert sich dabei auf spezifische umweltrechtliche Instrumente. Die 73 Bedeutung des Umweltschutzes spiegelt sich daneben auch in seiner Berücksichtigung bei übergreifenden Instrumenten und in anderen Bereichen. Vor allem in der räumlichen Gesamtplanung, die alle relevanten Interessen in einen gerechten Ausgleich bringen soll, bildet der Umweltschutz einen wichtigen Belang.156 Nach § 2 II Nr 6 ROG ist er bundesrechtlich als Grundsatz der Raumordnung bei den nachfolgenden Abwägungs- und Ermessenentscheidungen zu berücksichtigen157 und in den bedeutsameren Normprogrammen zur Landesplanung ist er ebenfalls durchweg hervorgehoben und ihm differenziert Rechnung zu tragen.158 Die kommunale Bauleitplanung wird durch § 1 V, VI Nr 7 BauGB auf eine angemessene Berücksichtigung des

_____

149 Die instrumentelle, wirkungsorientierte Perspektive bildete das zentrale Moment der nicht zufällig an Hand des Umweltrechts angestoßenen Diskussion um eine notwendige Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Siehe zentral hierfür Hoffmann-Riem AöR 115 (1990), 400 ff und die daran anschließenden, bei Nomos erschienenen 10 Bände zur Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts (Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Bd 1) und ab Bd 2 die beiden Erstgenannten). Zur Einordnung in breitere Entwicklungen nur König/Dose Instrumente und Formen staatlichen Handelns, 1993; Zusammenfassend und weiterführend Voßkuhle in: GVwR I, § 1 insbes Rn 10 ff; Das Ungewohnte der instrumentellen Perspektive als Ordnungssystem mag ein Grund für die Versuche sein, instrumentelle Fragen wieder in leitende Prinzipien und Begriffe wie das Kooperationsprinzip zu übersetzen. 150 Vgl zum von vornherein rechtspolitischen Charakter Wahl Herausforderungen und Antworten, 2006, 56, 60. 151 Winter Das Vollzugsdefitzit im Wasserrecht, 1975; Mayntz, ua Vollzugsprobleme der Umweltpolitik, 1978. 152 Siehe nur die retrospektive Analyse der Entwicklung bei Mayntz Politische Steuerung: Aufstieg, Niedergang und Transformation einer Theorie in: von Beyme/Offe, Politische Theorien in der Ära der Transformation, 1996, 148 ff. 153 Vgl nur Prehn Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts, 2006, 52 ff. 154 Vgl nur Franzius Die Herausbildung der Instrumente indirekter Verhaltenssteuerung im Umweltrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2000. Vgl zu parallelen älteren Kategorienbildungen im Allgemeinen und Wirtschaftsverwaltungsrecht nur Scheuner VVDStRL 11 (1954), 1, 26 ff; P. Kirchhof Verwalten durch mittelbares Einwirken, 1977. 155 Immer noch hochinstruktiver Überblick mit nochmals anderer Einteilung bei Lübbe-Wolff NVwZ 2001, 481 ff; weitere Kategorisierungsmöglichkeiten und Kritik an der überkommenen Einteilung bei Meßerschmidt Europäisches UmwR § 5 Rn 207, 215 ff; siehe zu den hier gewählten Kategorien als Mechanismen grundlegender Regulierungsstrategien umfassender Eifert in: GVwR I, § 19. 156 Vgl ausführlicher Sanden in: Koch, UmwR, § 13 Rn 15 ff sowie die Beiträge in: Troge, Was kann das Planungsrecht für die Umwelt tun?, 2008 und, wenn auch teilweise überholt, Chen Der Umweltschutz und die ökologische Nachhaltigkeit im räumlichen Gesamtplanungsrecht, 2006, 101 (zur nationalen räumlichen Gesamtplanung). Zur Verschränkung von Umwelt- und Planungsrecht siehe auch die Fälle in Glaser/Klement Umweltrecht mit Planungsrecht, 2010. 157 Siehe ausf u krit zum ROG Durner NuR 2009, 373 ff. 158 Vgl nur Art 6 I, II Ziff. 7 Landesplanungsgesetz Bayern. Die Raumordnung unterfällt der konkurrierenden Gesetzgebung in Form der sog Abweichungskompetenz (Art 72 III Nr 4 GG), so dass die Länder hier eigene Regelungen treffen können.

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IV. Instrumente und Charakteristika des Umweltrechts – 5. Kapitel

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Umweltschutzes verpflichtet. Eine verfahrensrechtliche Absicherung erfahren die Umweltbelange dadurch, dass die Pläne und Programme einer strategischen Umweltprüfung unterliegen, in deren Rahmen ihre Umweltauswirkungen weitgehend entsprechend dem unten dargestellten Verfahren der projektbezogenen Umweltverträglichkeitsprüfung ermittelt, bewertet und berücksichtigt werden (vgl § 1 UVPG).159

2. Hoheitliche Regulierung Den Kern des Umweltrechts bildet nach wie vor die hoheitliche Regulierung durch das Ord- 74 nungsrecht mit seinen behördlich durchsetzbaren Ge- und Verboten.160 Neben dem Entwicklungspfad aus der gewerberechtlichen Tradition und institutionellen Hürden für die Einführung insbesondere ökonomischer Instrumente sind hierfür vor allem die Vorteile einheitlicher und bestimmter Anforderungen und des entsprechenden Vollzugs mit hoher ökologischer Treffsicherheit maßgeblich.161 Vor allem für den Bereich der Gefahrenabwehr ist das Ordnungsrecht trotz der durch seine relative Einheitlichkeit bedingten Nachteile volkswirtschaftlicher Ineffizienz, vergleichsweise hoher Freiheitseinbußen und starker Umgehungsanreize unverzichtbar.162

a) Normkonkretisierung durch untergesetzliche und private Regelsetzung Die ordnungsrechtlichen Verhaltensanforderungen sind nur zu einem kleinen Teil unmittelbar 75 und abschließend aus dem Gesetz ablesbar, wie dies etwa bei Produktverboten der Fall ist. In der Regel bestehen sie aus Pflichten, die gesetzlich in generalklauselartiger Weite umschrieben und zur Konkretisierung ausdrücklich der untergesetzlichen Normsetzung überantwortet sind. Ganz überwiegend erfolgt eine Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen (zB § 24 KrwG; § 48a BImSchG; § 30 II GenTG)), teilweise aber auch zum Erlass von Verwaltungsvorschriften (zB § 48 BImSchG). Die überragende Bedeutung der untergesetzlichen Normsetzung führt zunächst zu einer ver- 76 fassungsrechtlichen Spannung mit dem Vorbehalt des Gesetzes aus Art 20 III GG und seiner inhaltlichen Ausfüllung mittels der „Wesentlichkeitstheorie“, nach der die grundrechtswesentlichen Entscheidungen durch den Gesetzgeber selbst getroffen werden müssen. Das BVerfG hat sie im Bereich des Umwelt- und Technikrechts zugunsten der untergesetzlichen Normsetzung aufgelöst. Es sieht die hierfür tragende Rechtfertigung in den Grundrechten selbst, da die einfachere Änderbarkeit der Normen eine Anpassung an den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt in diesen dynamischen Gebieten erleichtere und entsprechend gerade einen „dynamischen Grundrechtsschutz“ ermögliche.163 Angesichts der realen Änderungsträgheit vieler Konkretisierungen164 ist zu betonen, dass es sich hierbei um eine normative Konstruktion und nicht um eine empirisch begründete Rechtfertigung handelt.

_____ 159 Durch die Umweltverträglichkeitsprüfung auf der Planungs- bzw den Planungsebenen sowie auf der Projektebene bedarf es der Koordination, um zeit- und ressourcenaufwändige Doppelprüfungen zu vermeiden (vgl dazu §§ 2 IV S 5 BauGB, §§ 16 II, 17 II UVPG); siehe insgesamt näher Schwarz Die Umweltprüfung in gestuften Planungsverfahren, 2011, 20 ff. 160 Eine starke Diskrepanz zwischen der gerade in der damaligen Zeit intensiv geführten Debatte um einen erforderlichen Instrumentenwechsel und die reale Instrumentierung auf europäischer Ebene belegten empirisch Holzinger/Knill/Schäfer European Law Journal 12 (2006), 403 ff. 161 Näher Lübbe-Wolff NVwZ 2001, 481, 483 ff. Zu den Vor- und Nachteilen der hoheitlichen Regulierung auch Eifert, GVwR I, § 19 Rn 25 f. 162 Vgl nur Köck, DVBl 1994, 27, 29; zurückhaltender Cansier, NVwZ 1994, 642, 643 f. 163 Grundlegend BVerfGE 49, 89, 137, seitdem st Rspr (zuletzt 1 BvR 1178/07 = DVBl 2010, 52). 164 Siehe nur ausf zu den Technischen Anleitungen Luft und Lärm nach BImSchG und ihrer langsamen Fortentwicklung Koch in: ders, UmwR, § 4 Rn 81 ff.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

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Verwaltungsrechtlich kommt den umwelt- und technikrechtlichen Verwaltungsvorschriften eine besondere Bedeutung zu. Ihnen wird in Abweichung von den allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen von der gerichtlichen Praxis eine unmittelbare Außenwirkung zuerkannt (normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften), wenn sie in einem gesetzlich statuierten Verfahren mit Beteiligung der betroffenen Kreise erlassen worden sind. Solche normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften sind etwa die immissionsschutzrechtlich zentralen TA Luft und Lärm.165 Diese rechtliche Bindungswirkung ist allerdings insofern beschränkt, als sie ua keine atypischen Fälle erfassen soll und die Grenzen des Beurteilungsspielraums eingehalten werden müssen, insbesondere also keine neueren, eine abweichende Beurteilung verlangenden Erkenntnisse vorliegen dürfen.166 Grundsätzlich wird dadurch die Möglichkeit einer funktionalen Differenzierung bei der Normkonkretisierung zwischen RechtsVO und Verwaltungsvorschrift eröffnet, 167 bei der die RechtsVO eine strikte und die Verwaltungsvorschrift eine bedingte Verbindlichkeit beansprucht. Da der EuGH168 aber Verwaltungsvorschriften mit Blick auf die Angewiesenheit des Unionsrechts gerade auf unbedingte einheitliche Geltung nicht als ordnungsgemäße Umsetzung unionaler Richtlinien anerkennt, bleibt hierfür nur ein begrenzter Anwendungsbereich. Vielmehr ergibt sich in Folge der erheblichen unionalen Durchdringung des Umweltrechts die Notwendigkeit einer unpraktischen Zweispurigkeit der Normkonkretisierung (vgl anschaulich §§ 48, 48a BImSchG), die eine Zukunft der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift in Frage stellt. Von hoher praktischer Bedeutung sind auch die zahlreichen von Normungsorganisationen 78 (va DIN) oder privaten Verbänden wie dem VDI erarbeiteten umweltrechtlichen Standards. Auf sie wird angesichts des darin gespeicherten Sachverstandes von den Umweltnutzern und den rechtsanwendenden Behörden häufig zurückgegriffen. Bei der letztverbindlichen Rechtskonkretisierung durch die Gerichte kommt ihnen aber allenfalls Indizfunktion zu.

b) Differenzierte Eröffnungskontrollen, insbesondere Genehmigung 79 Ein zentrales Bauelement der umweltrechtlichen Pflichtenregime bilden die differenzierten Eröffnungskontrollen. Mit steigendem umweltgefährdendem Potential169 unterliegen die Aufnahme einer Tätigkeit oder der Beginn eines Vorhabens häufig dem Erfordernis einer vorherigen Anzeige bzw Anmeldung oder einem weiterreichenden Genehmigungsvorbehalt. Die Anzeige oder Anmeldung sichern die Information der Behörde und die Möglichkeit einer zeitnahen Kontrolle, der Genehmigungsvorbehalt eine systematische Vorab-Prüfung. Bei besonders raumbedeutsamen Vorhaben wird die Genehmigung oft mit planerischen Elementen angereichert und erfolgt im Wege der Plangenehmigung oder des Planfeststellungsbeschlusses.170

_____ 165 BVerwG Beschl v 15.2.1988 – 7 B 219.87, Buchholz 406.25 § 48 BImSchG Nr 2, 1; BVerwG Beschl v 10.1.1995 – 7 B 112.94, Buchholz 406.25 § 48 BImSchG Nr 4, 1; BVerwG Beschl v 21.3.1996 – 7 B 164.95 -, Buchholz 406.251 § 22 UVPG Nr 4, 2; BVerwGE 110, 216, 218; E 114, 342, 344 f; weitere Beispiele finden sich im Atomrecht (BVerwGE 72, 300, 320) und im Wasserrecht (vgl nur BVerwGE 107, 228, 341; näher unten Rn 191); grundsätzlich krit Koch in: ders, UmwR, § 4 Rn 94 ff; Maurer AllgVwR § 24 Rn 25 ff jeweils mwN. 166 BVerwGE 72, 300; 107, 338, 341; BVerwG Urt v 20.12.1999 – 7 C 15/98 Rn 9; BVerwG Beschl v 21.3.1996 – 7 B 164/ 95 Rn 15, 16. 167 Siehe ausf Wahl FS BVerwG, 2003, 589 ff. 168 EuGH Urt v 30.5.1991 – C-59/89 – (Kommission/BRD), Slg 1991, I-2607; C-361/88, Slg 1991, I-2567. Die Entscheidung weist eine Reihe von Missverständnissen hinsichtlich der Dogmatik normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften auf, ist wegen des funktionalen Hintergrundes aber im Ergebnis unabhängig von diesen tragfähig und nachvollziehbar (Siehe näher Schmidt/Kahl UmwR § 10 Rn 76). 169 Vgl beispielhaft insofern §§ 4, 15 f, 22 BImSchG. 170 Der Planfeststellungsbeschluss und die Plangenehmigung werden regelmäßig der Fachplanung zugeordnet, wodurch das planerische Element betont wird. Funktional handelt es sich bei den Vorhabenzulassungen aber um genehmigungsähnliche Eröffnungskontrollen, die auch hinsichtlich der Struktur der Tatbestände und der Kompe-

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Die grundsätzliche verfahrensrechtliche Konsequenz eines Genehmigungsvorbehalts ist 80 eine zeitliche Vorverlagerung des Verfahrens und eine Verschiebung der Darlegungslast von der Behörde auf den Antragsteller. Dieser hat ein hohes Interesse an der Genehmigung und eine nur geringe Bindung durch schon getätigte Investitionen, woraus sich starke Kooperationsanreize ergeben.171 Sie können durch die Verfahrensausgestaltung differenziert genutzt werden. Soweit aus Gründen der Investitionsbeschleunigung gesetzlich die Möglichkeit der Zulassung eines vorzeitigen Beginns eröffnet ist,172 werden diese Vorteile ggf beschränkt. Diese vorläufige Zulassung setzt aber ausdrücklich eine positive Prognose voraus und weist alle Risiken ausdrücklich dem Antragsteller zu. Fristvorgaben für die Verwaltung und ggf sogar eine Genehmigungsfiktion bei Fristablauf begrenzen teilweise die zeitliche Unsicherheit der Antragsteller.173 Die Genehmigungsentscheidung selbst ist regelmäßig eine komplexe Entscheidung, in der 81 die vielfältigen Pflichten zur Gefahrenabwehr, Risiko- und Ressourcenvorsorge konkretisierend gebündelt sowie eventuell erforderliche Verteilungsentscheidungen über die Nutzung von Umweltgütern getroffen werden. Die Genehmigungstatbestände sind teilweise als gebundene Entscheidungen und teilweise 82 als Ermessensentscheidungen formuliert.174 Verbreitet werden sie in der Tradition des allgemeinen Verwaltungsrechts in sogenannte präventive Verbote mit Erlaubnisvorbehalt und sogenannte repressive Verbote mit Befreiungsvorbehalt unterteilt.175 Erstere sollen für generell erwünschtes Verhalten gelten und bei Erfüllung der Voraussetzungen mit einem Anspruch verbunden sein, während letztere grundsätzlich unerwünschtes Verhalten betreffen sollen, für das Ausnahmebewilligungen nur für individuelle oder öffentliche Sondersituationen vorgesehen sind. Die Komplexität und Variabilität der umweltrechtlichen Genehmigungen lässt sich durch die Zweiteilung aber nur schlecht abbilden, weil die letztlich maßgeblichen vielfältigen Genehmigungsvoraussetzungen der Verwaltung unterschiedliche Grade an Gestaltungsspielräumen einräumen und unterschiedlich weit reichende subjektive Rechte vermitteln.176 Die immissionsschutzrechtliche Genehmigung bildet zwar formal eine gebundene Erlaubnis, enthält angesichts der unbestimmten Rechtsbegriffe in ihren vorsorgebezogenen Voraussetzungen („Vorsorge gegen … erhebliche Nachteile …; Stand der Technik“) aber auch Abwägungselemente, die durch den integrativen europarechtlichen Ansatz nochmals verstärkt werden (müssten).177 Das wasserrechtliche Benutzungsregime wird den repressiven Verboten zugerechnet; es wird aber auch einhellig davon ausgegangen, dass nicht jede Wassernutzung unerwünscht ist und ein subjek-

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tenzverteilung zwischen Vorhabenträger und Behörde eher einem Versagungsermessen als einer planerischen Gestaltung entsprechen (näher und mit Darstellung der grundsätzlich unterschiedlichen Einordnungen Beckmann Planfeststellung zwischen Zulassungsverfahren und Planung in: Erbguth/Kluth, Planungsrecht in der gerichtlichen Kontrolle, 2012, 123, 132 ff). 171 Siehe ausf Lübbe-Wolff Modernisierung des Umweltordnungsrechts, 1996, 160 ff. 172 ZB § 8a BImSchG; 17 WHG. 173 Vgl als Fristenregelung etwa § 16 III GenTG; Von einer Genehmigungsfiktion nach Zeitablauf, die jetzt mit § 42a VwVfG auch Eingang ins allgemeine Verwaltungsrecht gefunden hat, wird im Umweltrecht angesichts der empfindlichen Schutzgüter nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht (zB § 7 I BattG). 174 Siehe als Beispiele gebundener Entscheidungen: § 6 I BImSchG; § 42 IV 1 BNatSchG; Ermessensentscheidungen liegen in Form des Planungsermessens grundsätzlich bei den Planfeststellungen vor, wenn der Gesetzgeber das Prüfprogramm nicht – wie im Atomrecht – als gebundene Entscheidung ausgestaltet hat (vgl zum Atomrecht BVerwG Beschl v 26.3.2007 – 7 B 72/06 (Schacht Konrad). 175 Vgl nur Ramsauer in: Koch, UmwR, § 3 Rn 62; Erbguth/Schlacke UmwR § 5 Rn 32 ff (mit allerdings nur auf die Bewertung bezogener Problematisierung in Rn 34); Schmidt/Kahl UmwR § 1 Rn 40 ff (aber auch mit Fn 160). 176 Siehe auch näher Voßkuhle Das Kompensationsprinzip, 1999, 347 ff und konzise zusammenfassend und verallgemeinernd Bumke in: GVwR II, § 35 Rn 90 ff; eine Ausdifferenzierung in vier Grundtypen nach Maßgabe des Entscheidungsgehalts der Genehmigung findet sich bei Masing in: GVwR I, § 7 Rn 165 ff, der ebenfalls die alle Formen betreffende grundrechtliche Durchdringung hervorhebt. 177 Vgl zur Entwicklung nur Curtius Entwicklungstendenzen im Genehmigungsrecht, 2005, 205 ff, 213 ff. Zur Umsetzung der integrativen Betrachtung Koch in: ders, UmwR, § 4 Rn 127 ff.

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tives Recht auf ermessenfehlerfreie Ausübung des Bewirtschaftungsermessens besteht. Insofern geht es bei der Bestimmung der behördlichen Gestaltungsspielräume und der Rechtsposition des Antragstellers um eine differenzierte Auslegung, bei der diese Ausgestaltungen und ihre rechtfertigenden umweltschutzfördernden Wirkungen jeweils im Lichte der einschlägigen Wirtschaftsgrundrechte gesehen werden müssen.178 Die Komplexität der Genehmigungstatbestände und die damit verbundene hohe Verfahrens83 last können häufig durch eine Verfahrensstufung abgeschichtet werden. Bei einem berechtigten Interesse besteht dann die Möglichkeit der verbindlichen Entscheidung über einzelne Genehmigungsvoraussetzungen (Vorbescheid) oder über Teile bzw Phasen des Vorhabens (Teilgenehmigung). Diese Entscheidungen beinhalten auch ein vorläufiges positives Gesamturteil, dessen Bindungswirkung allerdings bei Änderungen der Sach- oder Rechtslage entfällt. Hierüber werden Rechtssicherheit für den Antragsteller und das Allgemeininteresse an Berücksichtigung der jeweils aktuellen Erkenntnisse ausbalanciert.179 Die praktische Bedeutung ist allerdings bislang begrenzt.180 Die Genehmigung beseitigt zunächst das mit dem Genehmigungsvorbehalt verbundene 84 Tätigkeits-, Errichtungs- oder Betriebsverbot. Bei den Vorhabengenehmigungen treten häufig noch weitere Wirkungen hinzu, die regelmäßig auf Inhalt und Umfang der Genehmigungsvoraussetzungen und -verfahren abgestimmt sind. Soweit, wie etwa bei der zentralen immissionsschutzrechtlichen Genehmigung181 zugleich die meisten anderen Genehmigungen eingeschlossen sind, werden mit dieser sog Konzentrationswirkung die sonst erforderlichen parallelen Verfahren erspart. Bei der ua hier ebenfalls angeordneten182 privatrechtsgestaltenden Wirkung werden grundsätzlich von der Genehmigungslage unabhängig bestehende privatrechtliche Abwehransprüche ausgeschlossen, was die Rechtssicherheit für den Genehmigungsinhaber erhöht. Die weitestgehenden Wirkungen entfalten Planfeststellungen, mit denen die Rechtslage grundsätzlich umfassend und abschließend festgestellt wird.183 Charakteristisch für das Umweltrecht ist auch der nur sehr eingeschränkte Bestandsschutz 85 durch die Genehmigungen, auf Grund dessen eine fortlaufende Anpassung an neue Sachlagen und insbesondere neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse erfolgen kann. Den Betreibern von Anlagen sind regelmäßig sogenannte dynamische Grundpflichten auferlegt, die eine auf die technische Entwicklung und den wissenschaftlichen Erkenntnisstand abgestimmte Fortschreibung der Verhaltenspflichten mit sich bringen und ein Verharren auf dem Genehmigungsstand unter Berufung auf die Genehmigung gerade verhindern.184 Eine solche zentrale Grundpflicht bildet etwa die Pflicht zur Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen nach dem Stand der Technik oder dem Stand von Wissenschaft und Technik.185 Die Durchsetzung dieser Pflichten oder andere Aktualisierungen der Genehmigungen werden durch die jeweils vorgesehenen speziellen Ermächtigungen zu Befristungen, Widerrufsvorbehalten und nachträglichen Anordnungen

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178 In der Folge kann deshalb zB die Diskussion um eine integrierte Vorhabenzulassung mit Einzelfallermessen, die angesichts der IVU-RL aufkam (vgl näher Kahl/Diederichsen NVwZ 2006, 1107, 1108, dort auch Fn 19) weder durch den Rückgriff auf eine verwaltungsrechtliche Kategorie der gebundenen Kontrollerlaubnis, noch durch eine pauschale verfassungsrechtliche Annahme grundrechtlich gebotener gebundener Zulassungsentscheidungen gelöst werden. 179 Grundlegend für die Teilgenehmigung BVerwGE 72, 300, 306 ff, zur Interessenbalancierung BVerwGE 92, 185, 191 f; insgesamt näher Ramsauer in: Koch, UmwR, § 3 Rn 66; Dietlein in: Landmann/Rohmer, UmwR, BImSchG Vorbem § 4–21 Rn 12; Schmidt-Kötters in: Posser/Wolf, BeckOK VwGO, § 42 Rn 184 ff. 180 Vgl dazu nur Beaucamp DV Beiheft 11, 2010, 55 ff mzN zu Empirie und Reformvorschlägen. 181 § 13 BImSchG; vgl aber auch §§ 22 GenTG; § 8 AtG. 182 § 14 BImSchG; vgl aber auch § 7 VI AtG; § 16 WHG; § 23 GenTG. 183 Vgl nur Wickel in: Fehling/Kastner, Verwaltungsrecht, 2. Aufl 2010, § 75 VwVfG Rn 8 ff. 184 Vgl grundlegend Sach, Genehmigung als Schutzschild? 1994, 111, 148 f. 185 Vgl § 5 I Nr 2 BImSchG; §§ 57 I Nr 1, 16 I WHG; § 7 II Nr 3 AtomG; § 7 BBodSchG; dazu Schmidt/Kahl UmwR § 1 Rn 21.

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bzw Widerrufen ermöglicht, die regelmäßig über die Möglichkeiten der Revision einer Genehmigung nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts hinausgehen.

c) Hohe Bedeutung und umfangreiche Ausgestaltung der Verfahren Die Komplexität der umweltrechtlichen Genehmigungsentscheidungen und dabei insbesondere 86 die Vielfalt der betroffenen Interessen, die Vielzahl der Betroffenen und die Ungewissheit der Risikoentscheidungen spiegeln sich in einer hohen Bedeutung und teilweise umfangreichen spezialgesetzlichen Ausgestaltungen der Verwaltungsverfahren wider.186 Die umfassende Informationsgrundlage zur Beurteilung der materiellen Genehmigungsvoraussetzungen einschließlich der Herstellung eventuell erforderlichen neuen Wissens sowie ein vorgezogener Rechtsschutz der Betroffenen und deren Akzeptanz für die Entscheidung können nur in und durch Verfahren erarbeitet werden.187 Die konkreten Verfahrensgestaltungen und der -aufwand variieren je nach Genehmigungs- 87 gegenstand und -reichweite entsprechend dem jeweiligen Gefährdungspotential, dem Grad der Ungewissheit, der Verteilung der entscheidungserheblichen Informationen und dem Kreis der Betroffenen. Anschaulich zeigt dies etwa die einige dieser Kriterien aufgreifende Differenzierung in das vereinfachte und das förmliche Verfahren für Genehmigungen nach dem BImSchG.188 Hier interessieren zunächst nur die Charakteristika der umweltrechtlichen Verfahren. aa) Charakteristische Bausteine. Der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 24 VwVfG) wird verbrei- 88 tet durch gesetzliche Informationspflichten der Antragsteller modifiziert. Diese müssen erhebliche Eigenbeiträge zur Aufbereitung des Sachverhalts erbringen, die inhaltlich über die eigene Sphäre hinaus auch weitere Informationen vor allem zu den möglichen Umweltwirkungen der Vorhaben oder Produkte umfassen. Diese aufwändigen sachverständigen Untersuchungen werden von der Behörde nur im Wege der sog „nachvollziehenden Amtsermittlung“189 überprüft, die regelmäßig eine Plausibilitätsprüfung sein wird, bei Anhaltspunkten einer interessengeleiteten Informationsverarbeitung aber auch zur Vollprüfung führen kann. Der verfahrensrechtliche Kommunikationszusammenhang wird dann regelmäßig durch 89 eine breite Beteiligung von Bürgern sowie verschiedenen Fachbehörden als Vertretern spezifischer öffentlicher Belange verbreitert. Bei den Planfeststellungsverfahren190 kann jeder, der in anerkennenswerten Interessen berührt ist, und in den förmlichen immissionsschutz-, atom- oder gentechnikrechtlichen Genehmigungsverfahren191 jedermann ohne jede Einschränkung Einwendungen erheben. Die Effektivität dieser Beteiligungen wird meist in doppelter Hinsicht abgesichert. Der Betei- 90 ligung im förmlichen Verfahren wird bei Großvorhaben eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung vorgeschaltet, um eine Einflussnahme vor Verfestigung der Planungen zu ermöglichen. Und

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186 Vgl nur § 10 BImSchG mit den Konkretisierungen in der 4. BImSchV im Anlagenrecht und §§ 23–27 KrWG; §§ 4–12 ChemG im Produktrecht. Im Vergleich dazu geringere spezialgesetzliche Ausgestaltung in § 11 WHG mit den Konkretisierungen in Pape in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 11 WHG Rn 4. Die vergleichsweise geringsten Erfordernisse spezialgesetzlicher Überformung ergeben sich beim Planfeststellungsverfahren (§§ 72–78 VwVfG), da hier schon die Verwaltungsverfahrensgesetze eine umfangreiche Ausgestaltung vorgenommen haben. 187 Siehe näher zur Grundstruktur schon Trute UTR 48 (1999), 13, 27 ff; aktueller statt vieler Trute in: Isensee/ Kirchhof, HStR IV, § 88 Rn 24 f, 39, 45 ff; Wollenschläger Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, 69 ff. Zur Multifinalität des Planfeststellungsverfahrens nur Bonk/Neumann in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl 2008, § 73 Rn 7 ff. 188 Vgl §§ 10, 19 BImSchG; siehe aber auch die Differenzierung in §§ 11, 15 II WHG. 189 Umfassend dazu Schneider Nachvollziehende Amtsermittlung bei der Umweltverträglichkeitsprüfung, 1991. 190 Vgl § 72 VwVfG; näher BVerwG UPR 1995, 269. 191 Siehe ausführlicher Hett Öffentlichkeitsbeteiligung bei Atom- und Immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren, 1993, 25 ff, 39 ff.

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umgekehrt werden nicht vorgebrachte Einwendungen von Bürgern oder Umweltverbänden von einer späteren gerichtlichen Geltendmachung ausgeschlossen (materielle Präklusion).192 Damit wird ein starker Anreiz zur Beteiligung Drittbetroffener gesetzt, der eine umfassende Interessenklärung im Verwaltungsverfahren erleichtert und Planungssicherheit ermöglicht.193 Stellungnahmen von Behörden, die nicht rechtzeitig vorgebracht wurden, werden (nur) bei Planfeststellungsverfahren und nur soweit sie nicht für die Rechtmäßigkeit der Entscheidung von Bedeutung sind von einer weiteren Berücksichtigung im Verfahren ausgeschlossen (formelle Präklusion).194 91 bb) Zentraler Verfahrenskomplex: Umweltverträglichkeitsprüfung. Die zentrale, übergreifende Anforderung für besonders umweltrelevante Vorhaben bildet die unionsrechtlich vorgegebene Umweltverträglichkeitsprüfung, in der sich auch alle typischen Verfahrensbausteine wieder finden. Sie soll sicherstellen, dass die Auswirkungen der Vorhaben auf die Umwelt frühzeitig und umfassend ermittelt, beschrieben und bewertet sowie die Ergebnisse bei den Zulassungsentscheidungen berücksichtigt werden (vgl § 1 UVPG). Dies ermöglicht eine Reflexion der Vorhabenträger über die Wirkungen und sichert ihnen und der Zulassungsbehörde eine Informationsgrundlage für integrative und vorsorgende Maßnahmen.195 Der Kreis der „UVP-pflichtigen Vorhaben“ wird im Wesentlichen durch die Liste in Anlage 1 92 des UVPG festgelegt. Obligatorisch ist eine UVP danach wegen ihrer Art, Größe und Leistung (vgl § 3b UVPG) für solche Vorhaben oder kumulierende Vorhaben, die in Spalte 1 mit einem „X“ gekennzeichnet sind. Bei entsprechenden Vorhaben mit mittlerer Größe oder Leistung ist die UVP-Pflicht vom Ergebnis einer allgemeinen Vorprüfung („A“ in Spalte 2) und bei geringerer Größe oder Leistung vom Ergebnis einer standortbezogenen Vorprüfung („S“ in Spalte 2) durch die Behörde abhängig (vgl §§ 3c, 3a S 4 UVPG). 93 Die Umweltverträglichkeitsprüfung selbst ist als unselbständiger Teil der jeweiligen Zulassungsverfahren ausgestaltet (§ 2 I UVPG) und erfolgt damit in deren Rahmen. Konsequenterweise ist sie oftmals in die entsprechenden Verfahrensvorschriften integriert und das UVPG dann nur subsidiär anwendbar (§ 4 UVPG).196 Die für eine Gesamtbewertung (§ 2 I 3 UVPG) erforderliche Koordination bei mehreren Zulassungsverfahren liegt bei der zur Federführung bestimmten Behörde (§ 14 UVPG). Die Umweltverträglichkeitsprüfung beginnt mit der Feststellung der zuständigen Behörde, ob 94 für das Vorhaben eine UVP durchgeführt werden muss (§ 3a UVPG). Der Vorhabenträger muss dann bereits zu Beginn des Zulassungsverfahrens die entscheidungserheblichen Unterlagen über die Umweltauswirkungen vorlegen (§ 6 UVPG). Um nicht zuletzt angesichts des weitreichenden Prüfprogramms (vgl §§ 2 I, 6 II UVPG) leicht entstehenden Unklarheiten etwa über Umfang, Inhalt

_____ 192 § 73 IV VwVfG; § 10 III 5 BImSchG, § 2 III UmwRG; § 10 IV 1 LuftVG; § 17 IV 1 FStrG; § 20 II 1 AEG; § 17 Nr 5 S 1 BWaStrG; die Präklusion begrenzt nach überwiegender Ansicht die sachliche Überprüfung der Entscheidung durch das Gericht und führt damit zur Unbegründetheit einer Klage (BVerwG NVwZ 1996, 267; Bonk/Neumann in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl 2008, § 73 Rn 88). 193 Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit nur BVerwGE 60, 297, 305 ff; 61, 82, 109 ff; vgl umfassend Röhl/Ladenburger Die materielle Präklusion im raumbezogenen Verwaltungsrecht, 1997, 22 ff; knapp Sparwasser/Engel/Voßkuhle UmwR § 4 Rn 116 ff. 194 §§ 73 IIIa VwVfG; da die Behörden keine klagefähige Rechtsposition haben, ist die mit der formellen Präklusion bezeichnete Wirkung des Ausschlusses vom weiteren Verwaltungsverfahren hier im Ergebnis mit der materiellen Präklusion vergleichbar. Krit zu einem solchen Ausschluss va wegen der Wahrnehmung öffentlicher Interessen und Praktikabilitätsüberlegungen zB Wickel in: Fehling/Kastner, Verwaltungsrecht, 2. Aufl 2010, § 73 VwVfG Rn 38 ff. 195 Eine Evaluation der Umweltverträglichkeitsprüfung 2008 bescheinigte dem Verfahren bei allen Defiziten im Einzelnen insgesamt positive Vor- und Auswirkungen im Sinne umweltschonender Vorhabengestaltung (http:// www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/uvp_evaluation_abschlussbericht_mf.pdf). 196 Praktisch besonders wichtig ist die 9. BImSchV, in der das immissionsschutzrechtliche Zulassungsverfahren geregelt ist.

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oder Methoden entgegen zu wirken, können frühzeitig unter Beteiligung des Vorhabenträgers und sachverständiger Dritter entsprechende Festlegungen getroffen werden (sog Scoping, § 5 UVPG). Auf Grundlage der UVP-Unterlagen, des Zulassungsantrags und weiterer Informationen 95 werden dann die anderen, in ihren Zuständigkeiten berührten Behörden (§§ 7 f UVPG) und die Öffentlichkeit (§§ 9 f UVPG) beteiligt. Dabei erfolgen die Unterrichtung und die Auslegung der Unterlagen zur Einsichtnahme für die Öffentlichkeit insgesamt, während eine Gelegenheit zur Äußerung nach dem UVPG nur der betroffenen Öffentlichkeit eingeräumt wird (§ 9 UVPG).197 Diese umfasst Personen, deren Belange, aber auch Vereinigungen, deren satzungsmäßiger Aufgabenbereich durch die Entscheidung berührt werden (§ 2 VI UVPG). Für das Beteiligungsverfahren wird im Übrigen vor allem auf das Planfeststellungsverfahren verwiesen. Auf der Grundlage von Unterlagen und Beteiligungen erarbeitet die zuständige Behörde eine zusammenfassende Darstellung der Umweltauswirkungen und der Vermeidungs-, Verminderungs- und Ausgleichs- sowie ggf naturschutzrechtlichen Ersatzmaßnahmen (§ 11 UVPG). Sie bildet wiederum die Grundlage für die allein umweltbezogene Bewertung der Umweltauswirkungen (§12 UVPG). Diese Bewertung ist dann bei der Zulassungsentscheidung oder ggf den Zulassungsent- 96 scheidungen „nach Maßgabe der geltenden Gesetze“ zu berücksichtigen (§ 12 UVPG). Die UVP sichert also eine umfassend und integrativ angelegte umweltbezogene Wirkungsabschätzung und Bewertung der Vorhaben, deren Entscheidungsrelevanz aber von den jeweiligen Zulassungstatbeständen und den dortigen Zuordnungen zu den konkurrierenden öffentlichen und privaten Interessen abhängt. Bei gebundenen Entscheidungen wie der BImSchG-Genehmigung kann die Berücksichtigung nur im Rahmen der jeweiligen unbestimmten Tatbestandsmerkmale (zB schädliche Umweltauswirkungen) erfolgen. Der integrative Aspekt ist dann auf eine schwer einzulösende Abbildung in den vielfältigen Konkretisierungen der Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften angewiesen.198 Ermessensentscheidungen und vor allem die Planfeststellung können die Bewertung hingegen vollumfänglich im Wege der Abwägung verarbeiten. Die Berücksichtigung der Bewertung nur nach Maßgabe der Gesetze verdeutlicht die gesetz- 97 liche Ausgestaltung der gesamten UVP als Verfahrenselement.199 In der Folge sind unterbliebene oder fehlerhafte UVP als Verfahrensfehler einzuordnen, die nach § 44a VwGO nicht selbständig anfechtbar und nach den allgemeinen Regeln (§§ 45, 46 VwVfG) im Verwaltungsprozess nur begrenzt beachtlich wären. Während § 44a VwGO und die weitreichenden Heilungsmöglichkeiten des § 45 II VwVfG auch Anwendung finden, wird die Beachtlichkeit verbleibender Fehler durch den spezielleren § 4 I UmwRG erheblich erweitert. Nach seinem ausdrücklichen Wortlaut kann die Aufhebung der Zulassung verlangt werden, wenn eine erforderliche UVP oder Vorprüfung im Einzelfall nicht erfolgt ist. Umstritten ist allerdings, inwieweit hierdurch auch eine fehlerhafte Durchführung erfasst wird oder vor dem Hintergrund von Art 10a der UVP-RL unionsrechtlich zwingend einzubeziehen ist.200 Das Bundesverwaltungsgericht hat ua die letztgenannte Frage

_____ 197 Weitergehende Einwendungsrechte für Jedermann, insbes im immissionsschutzrechtlichen Verfahren, gehen auch hier vor. Die Beschränkung auf die betroffene Öffentlichkeit im UVPG wird in der Lit für (noch) unionsrechtskonform erachtet (zentral Erbguth/Schubert ZUR 2005, 524, 529 zur SUP). 198 Die Spannung zwischen gebotener Berücksichtigung und begrenzter Rezeptionseignung der gebundenen Entscheidungen wurde seit Erlass der UVP-RL intensiv diskutiert. Der Gesetzgeber hat aber weiter an der gebundenen Erlaubnis vor allem im BImSchG festgehalten und versucht, die integrative Betrachtung in den untergesetzlichen Konkretisierungen aufzunehmen. Ob dies hinreichend gelungen ist, wird unterschiedlich beurteilt (vgl nur Kloepfer UmweltschutzR § 4 Rn 32; Erbguth/Schlacke UmwR § 5 Rn 70). 199 Siehe BVerwGE 100, 238, 243 (st Rspr). Zuvor war dies auch in der Rspr uneinheitlich gesehen worden (vgl zur Annahme eines materiellen Gehalts nur BayVGH DVBl 1994, 1198). 200 Vgl nur zurückhaltend aus der Rspr HessVGH ZUR 2010, 46, 49 f und aus der Lit Schmidt/Kahl UmwR § 1 Rn 112; Ziekow NVwZ 2007, 259, 264; aA Kment NVwZ 2007, 274, 277 ff; Schlacke ZUR 2009, 80, 81 ff; zur europarechtlichen Einschätzung nur Wegener UTR 57 (2008), 319, 345 f.

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jetzt dem EuGH vorgelegt und es spricht viel dafür, dass dieser eine entsprechende Erweiterung verlangen wird.201 98 cc) Informale Verfahrenselemente. Die formalen umweltrechtlichen Verfahren können schließlich auch noch durch informale Verfahrenselemente angereichert und ggf effektiviert werden. Im Bereich des Anlagenzulassungsrechts bildet die Einschaltung von Mediatoren ein praktisch bedeutsames Instrument, um in konflikthaften Verfahren Blockaden zu verhindern und umfassend interessengerechte Lösungen mit hoher Akzeptanz auf allen Seiten zu finden.202

d) Koordination der Einzelmaßnahmen durch staatliche Planung 99 Das Ordnungsrecht setzt grundsätzlich zeitlich und räumlich punktuell am konkreten Vorhaben oder Verhalten an. Der langfristigen Perspektive und Raumbezogenheit von Umweltbelastungen wird teilweise durch eine vorgelagerte und ergänzende planende Koordination Rechnung getragen. Neben den überkommenen allgemeinen Festlegungen im Rahmen der räumlichen Gesamtund Fachplanungen wurden durch das unionale Umweltrecht zunehmend solche planerischen Elemente eingeführt, die vor allem der systematischen Verbesserung der Umweltsituation in Bezug auf Immissionen oder Gewässerqualität dienen.203 Dabei gibt die EU den Mitgliedstaaten Pflichten zur Erstellung langfristig angelegter Pläne auf, mittels derer Maßnahmen zur ggf stufenweisen Erreichung der dort festgelegten mitgliedstaatlichen oder unionalen Umweltqualitätsziele koordiniert werden (Maßnahme bzw Bewirtschaftungspläne/-programme).204 Als Schwesterinstrument dienen Pläne der kurzfristigeren oder auf Belastungsschwerpunkte fokussierten koordinierten Problemlösung, wie etwa die Pläne für kurzfristig zu ergreifende Maßnahmen bei drohender Überschreitung von Alarmschwellen der Luftverunreinigung (zB Feinstaubbelastung) oder die Lärmaktionspläne. Soweit eine vorgelagerte Planung erfolgt ist, bindet sie die Behörden und muss bei der Aus100 übung der ordnungsrechtlichen Befugnisse beachtet werden – auch wenn die Rechtsnatur der Pläne und die Regelungen zur Verbindlichkeit uneinheitlich sind.205 Die Planung kann in Abhängigkeit von ihrer inhaltlichen Bestimmtheit206 teilweise im Rahmen der Tatbestandsmerkmale und immer bei einem eingeräumten Ermessen berücksichtigt werden. Sie beeinflusst das wasserrechtliche Bewirtschaftungsermessen und wird häufig zu einer Reduktion des Entschließungsermessens für nachträgliche Maßnahmen führen, kann aber auch weitergehende Vorgaben mit sich bringen.207 Besonders umstritten sind die Fragen des Rechtsschutzes bei solchen vorgelagerten Plänen, 101 die notwendig eng mit den Fragen nach der Rechtsnatur verbunden sind. Sie werden unten näher aufgegriffen.

_____ 201 Siehe BVerwG Beschl v 10.1.2012 – 7 C 20.11; dazu Kment NVwZ 2012, 481 f. 202 Siehe grundlegend zu den amerikanischen Vorbildern Holznagel Konfliktlösung durch Verhandlungen, 1990; für deutsche Verwaltungsverfahren Hoffmann-Riem Konfliktmittler in Verwaltungsverhandlungen, 1989, 20 ff; aus jüngerer Zeit Pünder DV 38 (2005), 1 ff. 203 Instruktive, im Tenor sehr kritische übergreifende Analyse und Beschreibung bei Durner/Ludwig NuR 2008, 457 ff. 204 Vgl §§ 45, 47 BImSchG; §§ 82 ff WHG. 205 Vgl nur § 47 VI BImSchG (dazu nur Jarass BImSchG § 47 Rn 37) und die Vorschriften der Landeswassergesetze dazu Durner NuR 2009, 77 ff; Faßbender ZfW 2010, 189, 190 ff, 195 ff mit Übersicht über den Streitstand hinsichtlich der europarechtlichen Anforderungen. 206 Skeptisch deshalb hinsichtlich der Determinationskraft Breuer NuR 2007, 503, 513. 207 Die Verpflichtung zur Belastungsgerechtigkeit des § 47 IV BImSchG modifiziert wohl auch die Verhältnismäßigkeitsprüfung für die konkrete Einzelmaßnahme.

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e) Räumliche Pflichtenregime durch Schutzgebiete Der räumlichen Dimension des Umweltschutzes wird auch durch raumbezogene Pflichtenregime 102 entsprochen, die mit der Ausweisung von Schutzgebieten verbunden sind. Der Schutz von Natur und Landschaft durch die Schutzgebiete nach BNatSchG fällt genauso darunter wie etwa der Schutz des Trinkwassers durch Wasserschutzgebiete oder der Immissionsschutz durch die Ausweisung besonderer Schutzgebiete nach § 49 BImSchG. Es erfolgt jeweils die Festlegung eines bestimmten räumlichen Bereichs als Schutzgebiet, 103 regelmäßig durch einen nach außen wirkenden, verbindlichen Rechtsakt wie eine RechtsVO.208 Unmittelbar damit verbunden oder hieran anknüpfend gelten dann regelmäßig Bündel von Verhaltenspflichten, etwa Betretensverbote oder Nutzungsbeschränkungen.

f) Überwachung Das Umweltrecht hat eine eigene Schicht der allgemeinen und koordinierten Umweltbeobachtung 104 sowie deren statistischer Aufbereitung herausgebildet. Sie vermittelt den staatlichen Stellen fortlaufend aktualisierte Informationen über den Zustand der Umwelt, an die je nach Inhalt und Konkretisierungsstufe umweltpolitische und administrative Maßnahmen anknüpfen können.209 Daneben steht die Kontrolle der Befolgung umweltrechtlicher Verhaltenspflichten. aa) Staatliche Überwachung und Eigenüberwachung. Für die Überwachung der ordnungs- 105 rechtlichen Ge- und Verbote sind regelmäßig die staatlichen Behörden zuständig. Sie sind dafür jeweils mit den üblichen gewerbeaufsichtlichen Befugnissen ua zur Durchführung näherer Untersuchungen, Informationserhebungen und, soweit erforderlich, auch zum Betreten fremder Grundstücke, Geschäfts- und Betriebsräume ausgestattet.210 Die nähere Ausgestaltung der Überwachung ist gesetzlich nur begrenzt geregelt211 und unterfällt im Übrigen dem Ermessen der Vollzugsbehörden. Diese können insbesondere auch Privatpersonen mit Überwachungsaufgaben beauftragen, denen in vielen Gesetzen ausdrücklich die gleichen Ermittlungsbefugnisse wie Behördenmitarbeitern zugestanden werden. Umstritten ist allerdings, unter welchen Voraussetzungen diese Übertragungen einem Gesetzesvorbehalt unterfallen.212 Eine Reihe von Umweltgesetzen sehen daneben auch Pflichten zur Eigenüberwachung vor. 106 Insbesondere Anlagenbetreibern werden Dokumentationspflichten213 oder auch die Pflicht zur Messung von Umweltbelastungen und ggf deren Übermittlung an die Behörden auf eigene Kosten auferlegt,214 so dass die staatliche Überwachung entlastet wird. Sicherungen der Überwa-

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208 Vgl nur § 23 BNatSchG, dazu Lütkes/Ewer BNatSchG, 2011, § 22 Rn 3, 9, 11. Für die Abgrenzungen der besonderen Schutzgebiete nach der Vogelschutz und der FFH-RL verlangt der EuGH ebenfalls eine „unbestreitbare Verbindlichkeit“ (EuGH Urt v 14.10.2010 – C-535/07– (Kommission/Österreich) = ZUR 2011, 26 Rn 61 ff mwN aus der Rspr zu den Anforderungen an die Ausweisung von Schutzgebieten). 209 Vgl insbes § 6 BNatSchG und das Umweltstatistikgesetz (UStatG), aber auch etwa §§ 44 BImSchG; 45 f WHG. 210 Vgl nur §§ 52 BImSchG; 100 f WHG; 47 KrWG; 25 GenTG; 44 LFGB. 211 Vgl etwa §§ 52 I; 16 der 12. BImSchV; § 100 II WHG; Siehe zur unionalen Überformung auch o Rn 32. 212 Vgl nur als Beispiele gesetzlicher Einräumung von Durchsetzungsbefugnissen für die (dann regelmäßig beliehenen) Beauftragten §§ 52 II BImSchG; 47 III KrWG; zur Frage des Gesetzesvorbehalts nur Di Fabio DB 1996, Beilage 16/96, 1 ff; Seidel Privater Sachverstand und staatliche Garantenstellung im Verwaltungsrecht, 2000, 117 ff; Eifert DV 39 (2006), 309, 317 f; Zum Problem insgesamt erhellend Lübbe-Wolff/Steenken ZUR 1993, 263, 265; Sparwasser/ Engel/Voßkuhle UmwR § 3 Rn 45 ff. 213 Vgl nur § 49 KrWG; § 61 II WHG; § 13 DepV; Die Dokumentationspflichten im Abfallbereich erstrecken sich über die Anlagenbetreiber hinaus auch auf alle anderen verantwortlichen Rollen vom Erzeuger bis zum Entsorger (vgl § 49 I Nr 1 u 2, III, V KrWG). 214 Vgl §§ 26–31 BImSchG. Dabei kann ggf sogar die computergerechte und fortlaufende Übermittlung der Messergebnisse an die Behörde angeordnet werden (vgl § 31 BImSchG und dazu BVerwG NVwZ 1997, 998 f; Lechelt in: Koch/Scheuing, GK-BImSchG, § 31 Rn 26); § 40 II KrWG; § 62 WHG. Funktional vergleichbar sind Verpflichtungen zur Zertifizierung wie etwa § 11 III ElektroG.

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chungsqualität bestehen va darin, dass für die Messungen eine von der Behörde bekannt gegebene und damit auf Sachkunde und Neutralität geprüfte Stelle zu beauftragen ist bzw bei der Dokumentation von Lieferketten alle Mitglieder eigenständige Dokumentationen vornehmen.215 Im Produktbereich werden den Herstellern gefährlicher Produkte Marktbeobachtungs107 pflichten hinsichtlich der Umweltwirkungen auferlegt (sog Nachmarktkontrolle).216 Dabei variieren die Regelungen in der gesetzgeberischen Ausgestaltung ua hinsichtlich der jeweils genannten Überwachungspflichten und der Verschränkung mit den behördlichen Überwachungsaufgaben.217 108 bb) Repressive Maßnahmen bei Verstößen. Verstöße gegen umweltrechtliche Pflichten können repressive Maßnahmen der Behörden auslösen. Die Umweltgesetze halten hier unterschiedliche Ermächtigungen bereit, die meist im Rahmen ihrer jeweiligen Voraussetzungen nebeneinander anwendbar sind.218 Auf eine bestehende Genehmigung bezieht sich der meist spezialgesetzlich geregelte Wider109 ruf, der nicht nur zur Anpassung an geänderte Verhältnisse, sondern insbesondere auch bei Nichterfüllung von Auflagen in Betracht kommt.219 Ansonsten finden sich regelmäßig Ermächtigungen für Anordnungen bzw bei bestehenden Genehmigungen für sog nachträgliche Anordnungen, auf die auch Verfügungen zur Beseitigung von Pflichtverletzungen gestützt werden können.220 Von hoher praktischer Bedeutung sind die ebenfalls meist spezialgesetzlich ausgeformten 110 Ermächtigungen zum Verbot des weiteren Betriebs bei bestimmten Pflichtverletzungen (va Verletzungen von Anordnungen) 221 durch Untersagungs-/Stilllegungsanordnungen 222 bzw zur Anordnung der Beseitigung.223 Wegen der besonderen Bedeutung der Umwelt und der Irreversibilität vieler Umweltschäden sind hier die Voraussetzungen weniger restriktiv als etwa im Baurecht. Für die Untersagung/Stilllegung genügt insbesondere grundsätzlich bereits die formelle Illegalität, also das Fehlen der Genehmigung.224 Die Beseitigung ist der Stilllegung tatbestandlich teilweise als Alternative zur Seite gestellt, kommt jedoch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur in Betracht, wenn eine Gefahrenabwehr nicht schon durch eine Stillegung erreicht werden kann.225 Wenn die Beseitigung aber zum Schutz erforderlich ist, soll bzw muss sie angeordnet werden.226

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215 Vgl §§ 26–31 BImSchG; 50 KrWG. 216 §§ 16c GenTG; Art 14 II lit b der Verordnung (EG) 1831/2003; Art 22 REACH-VO. 217 Siehe aus der Lit näher nur Regenbrecht Monitoring gentechnisch veränderter Organismen, 2005, 68 ff; Calliess DÖV 2006, 10, 18. 218 Vgl für das BImSchG Jarass BImSchG § 20 Rn 1; auch § 26 GenTG. Insbes ist zu beachten, dass auch bei genehmigten Anlagen grundsätzlich Untersagungsanordnungen etc in Betracht kommen können. 219 Vgl nur § 21 I Nr 2 BImSchG; § 17 III Nr 3 AtomG; § 26 I Nr 2, 3 und II GenTG. 220 Vgl nur §§ 17, 24 BImSchG; § 17 I S 3 AtomG; §§ 21 I, V WHG. 221 Handelt es sich bei den Pflichtverletzungen um Verstöße gegen Auflagen oder nachträgliche Anordnungen, bilden diese Maßnahmen für die Behörde eine alternative zu deren Vollstreckung (vgl nur für § 20 BImSchG Jarass BImSchG § 20 Rn 14). Teilweise umfassen die Tatbestände auch die Verletzung konkreter gesetzlicher Pflichten (vgl § 20 I BImSchG; § 26 II GenTG). 222 Vgl nur § 20 BImSchG; § 26 GenTG; Untersagung und Stilllegung werden vom Gesetzgeber häufig terminologisch unterschieden und auf verschiedene Arten von Pflichtverletzungen bezogen. In der Sache sind beide aber gleichermaßen Verbote des weiteren Betriebs (vgl auch Jarass BImSchG § 20 Rn 33). Die Untersagung ist vor allen Dingen regelmäßig milder als ein Widerruf der Genehmigung. 223 Vgl § 20 II BImSchG. 224 Vgl nur § 20 II BImSchG, nach dem die Behörde dann sogar die Untersagung anordnen soll. Unverhältnismäßig ist dies nur, wenn die Genehmigungsfähigkeit der Anlage feststeht (BVerwGE 84, 220, 233). 225 Vgl auch Koch in: ders/Scheuing, GK-BImSchG, § 20 Rn 103. 226 Vgl §§ 20 II BImSchG; 26 III GenTG.

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IV. Instrumente und Charakteristika des Umweltrechts – 5. Kapitel

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Soweit keine speziellen umweltrechtlichen Regelungen vorliegen,227 kann bei Rechtsverlet- 111 zungen wegen der Störung der öffentlichen Sicherheit auf die polizeiliche Generalklausel zurückgegriffen werden.

3. Regulierte Selbstregulierung Im Umweltrecht wurden ungeachtet seiner ordnungsrechtlichen Grundfärbung in geradezu ex- 112 emplarischer Weise auch zahlreiche innovative Instrumente entwickelt. Sie haben gemeinsam, dass sie zur Verwirklichung der Umweltziele nicht allein auf die staatlichen Ressourcen setzen, sondern gesellschaftliche (Selbst-)Regelungszusammenhänge wie Organisationen, Verbände und Märkte mittels rechtlicher Vorgaben ebenfalls nutzbar machen (Regulierung).228 Dies dient der Entlastung der hoheitlichen Regulierung, fördert die Akzeptanz und erlaubt eine Vorverlagerung der steuernden Ansätze.229

a) Nutzung von Organisation Ein prominentes Beispiel des Grundansatzes bildet die regulatorische Einwirkung auf die Unter- 113 nehmensorganisation, um dort eine umweltfreundliche Orientierung zu verankern und damit die Kompatibilität der unternehmerischen Orientierung mit den Umweltbelangen von vornherein zu verbessern. Gelegentlich erfolgt die Einwirkung durch die Auferlegung von Verfahrenspflichten wie etwa 114 der Pflicht zur Erarbeitung eines Störfallverhinderungskonzepts (§ 8 der 12. BImSchV), die vor allem das unternehmensinterne Wissen für jeweils spezifische Problemlösungen nutzen. Unspezifischer, aber auch sehr breiter setzen die häufiger anzutreffenden Vorgaben für die Unternehmensorganisation an. aa) Organisationsvorgaben, insbesondere Betriebsbeauftragte. In ihrer einfachsten Ausge- 115 staltung verlangen sie nur die Benennung eines für die Einhaltung der umweltrechtlichen Vorgaben verantwortlichen Vertretungsberechtigten des Unternehmens, um die Kommunikation zwischen Behörde und Unternehmen zu erleichtern und das entsprechende Rollenverständnis des Benannten zu stärken.230 Weitergehend und umfangreicher ausgestaltet ist die Pflicht zur Benennung und Anzeige 116 von Beauftragten (ua Beauftragte für Immissionsschutz, Gewässerschutz),231 die eine eigen-

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227 Im Einzelnen ist das Verhältnis zwischen den speziellen Regelungen und der polizeilichen Generalklausel allerdings oft umstritten (vgl nur Jarass BImSchG § 20 Rn 2 für die zentralen repressiven Befugnisse des BImSchG). 228 Siehe zum Ansatz der Regulierten Selbstregulierung nur die Beiträge in DV, Beiheft 4, 2001 und Trute DVBl 1996, 950 ff. 229 Vgl zusammenfassend Eifert in: GVwR I, Rn 53 ff. Weil die umweltfreundlicheren Ergebnisse über eine Veränderung des Kontextes der privaten Handlungen angestrebt werden, werden die meisten Facetten des Ansatzes (soziologisch) auch als „Kontextsteuerung“ bzw angesichts der Verlagerung der Rechtseinwirkung zu den Abläufen, als „prozedurales Recht“ bezeichnet. Diese Begriffe der Kontextsteuerung und des Prozeduralen Rechts bilden zusammen mit dem Begriff des Reflexiven Rechts, der sich auf das Selbstverständnis des Rechts als eigenes geschlossenes System bezieht, drei sich überschneidende Spielarten der systemtheoretischen Erfassung und Fortentwicklung des Problems der Steuerung in modernen Staaten, die va mit Helmut Willke und Gunther Teubner verbunden sind. Gute Übersicht über die Theorielage bei Calliess Prozedurales Recht, 1999, insbes 122 ff und Lange/Braun Politische Steuerung zwischen System und Akteur, 2000; zu den entsprechenden Ansätzen des Umweltrechts übersichtlich Hagenah Prozeduraler Umweltschutz, 1996. 230 Vgl § 52a BImSchG; § 58 KrWG. Die formal als Mitteilungspflichten ausgestalteten Vorgaben enthalten zugleich entsprechende Organisationspflichten, die aber nur bei evident fehlerhafter Organisation behördlich beanstandet werden können (vgl nur Rehbinder ZHR 165, 1, 19 ff). 231 Vgl §§ 53 ff BImSchG; §§ 64 ff WHG; §§ 59 f KrWG. Eine Mehrfachbeauftragung der gleichen Person ist zulässig. Eine auf das besondere Problem möglicher Störfälle bezogene, aber strukturgleich ausgestaltete Variante bildet der

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ständige, betriebsinterne Position erhalten und damit in verstetigter Weise auf die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und eine darüber hinaus gehende Optimierung der Umweltschonung hinwirken sollen.232 Ihre Aufgaben umfassen entsprechend neben der auf Rechtskonformität zielenden Kontrolle und Aufklärung auch das Hinwirken auf umweltfreundliche Verfahren und Produkte und entsprechende Mitwirkungen bei der Entwicklung und Einführung.233 Die effektive Erfüllung dieser Aufgaben setzt einerseits eine hohe Akzeptanz im Unternehmen und andererseits dennoch eine entsprechende Qualifikation und Unabhängigkeit voraus. Zur Sicherung einer breiten Akzeptanz bleibt die Bestellung jeweils den Unternehmen überlassen und wurden den Beauftragten keine Entscheidungsbefugnisse übertragen. Die Beauftragten müssen allerdings fachlich und persönlich qualifiziert sein und sind gesetzlich durch Benachteiligungsverbote und Kündigungsschutzregeln geschützt. Der Betreiber muss vor besonders umweltrelevanen Entscheidungen eine Stellungnahme des Betriebsbeauftragten einholen und diesem kommt ein Vortragsrecht bei der Geschäftsführung zu.234 Die organisatorische An- und Einbindung der Beauftragten im Unternehmen ist allerdings nicht geregelt, so dass diesbezügliche Anforderungen nur vorsichtig aus den Aufgaben entwickelt und missbräuchliche Ausgestaltungen nur als Mangel der erforderlichen Zuverlässigkeit behördlich beanstandet werden können.235 Eine etwas abweichende Rolle kommt den Strahlenschutzbeauftragten nach §§ 31 ff StrlSchV zu. Ihre Tätigkeit bleibt nicht nur intern, sondern ist insoweit an die staatliche Aufsicht angeschlossen, als sie die Aufsichtsbehörden über Mängel informieren müssen, wenn sie sich mit den Entscheidungsverantwortlichen nicht über deren Beseitigung verständigen können. Die Einschätzungen über die Effektivität der Betriebsbeauftragten für den Umweltschutz fallen eher skeptisch aus. Der Rollenkonflikt zwischen Firmen- und Umweltinteresse wird wohl regelmäßig zugunsten der Firma aufgelöst, so dass zwar die Kontrollfunktion im Rahmen des unternehmerischen Eigeninteresses an der Vermeidung von Sanktionen wahrgenommen wird, Optimierungen bei Verfahren oder Erzeugnissen aber ausbleiben.236

121 bb) Umwelt-Audit. Auf eine breite Verbesserung des Umweltmanagements insgesamt zielt die freiwillige Teilnahme am Umwelt-Audit-System nach der Umweltaudit-VO 1221/2009,237 das nach

_____ Störfallbeauftragte nach §§ 58 ff BImSchG. Siehe insgesamt näher Böhm in: Koch/Scheuing, GK-BImSchG, Vorbem zu §§ 53–58d; Rehbinder ZHR 165 (2001), 1, 8 ff; Fischer Der Betriebsbeauftragte im Umweltschutzrecht, 1996. 232 Szelinski WiVerw 1980, 266, 274 hat für die umweltrechtlichen Beauftragten den treffend zusammenfassenden Begriff „Umweltgewissen“ geprägt. 233 Vgl §§ 54 BImSchG; §§ 65 WHG; 60 KrWG. Nach § 65 III WHG kann die Behörde im Einzelfall den Aufgabenbereich des Gewässerschutzbeauftragten nachjustieren. 234 Die Anforderungen an Qualifikation und Zuverlässigkeit sind im Verordnungswege weiter konkretisiert worden (vgl die 5. BImSchV); vgl zum Verhältnis des Beauftragten zum zur Bestellung Verpflichteten näher §§ 55–58 BImSchG, die über die Verweisungen in §§ 66 WHG; 60 III KrWG ganz oder überwiegend auch auf die dort geregelten Beauftragten Anwendung finden. 235 Rspr und Lit sind hier höchst zurückhaltend, was sich etwa daran zeigt, dass nur der Betreiber selbst oder der zuständige Betriebsleiter, nicht aber schon der Prokurist oder der Leiter der technischen Betriebe als Immissionsschutzbeauftragter ausgeschlossen sein soll (Jarass BImSchG § 55 Rn 16) noch zurückhaltender und offen lassend selbst für den zuständigen Betriebsleiter OVG NW GewArch 2001, 495, 497 und ähnlich zurückhaltend für den Gewässerschutzbeauftragten Hünnekens in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 66 WHG Rn 19. 236 Vgl nur Führ, Eigenüberwachung und Public Scrutiny, in: Koch/Lechelt, 20 Jahre BImSchG, 1994, 99, 105 ff; Hagenah Prozeduraler Umweltschutz, 1996, 186 ff; Lübbe-Wolff NVwZ 2001, 481, 490. 237 VO (EG) 1221/2009 „über die freiwillige Teilnahme von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung“ (EMAS). Eingeführt wurde das Öko-Audit durch die EMAS-VO von 1993 (näher Kloepfer NuR 1993, 353 ff). Die gegenwärtig geltende sog EMAS III-VO novellierte die EMAS II-VO von 2001 im Rahmen des dort vorgesehenen Evaluierungs- und Anpassungszyklus. Siehe insgesamt näher zur EMAS III-VO Schmidt-Räntsch EurUP 2010, 123 ff; zum System grundsätzlich bereits ua Schneider DV 28 (1995), 361 ff.

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der Abkürzung für die englische Bezeichnung (Eco-Management and Audit Scheme) auch EMAS-System genannt wird. Ergänzende Rechtsgrundlagen für das komplexe und detailliert geregelte System bilden insbesondere das Umweltauditgesetz (UAG) und die EMAS-Privilegierungs-VO. Vergröbert dargestellt funktioniert das System wie folgt: Im Zentrum steht die Implementierung eines Umweltmanagement-Systems, bei dem eine vom Unternehmen selbst definierte betriebliche Umweltpolitik nicht nur die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben, sondern auch eine kontinuierliche Verbesserung der Umweltleistungen fordert, die über klar definierte Zielsetzungen messbar gemacht und durch die Festlegung von entsprechenden Verantwortlichkeiten, Kontroll- und Korrekturmaßnahmen in einem Umweltprogramm verwirklicht werden soll (vgl Art 4 I lit b Umweltaudit-VO). Dieses System wird auf Grundlage einer ersten umfassenden Umweltprüfung erarbeitet und anschließend qualifizierten periodischen (internen) Umweltbetriebsprüfungen unterzogen und extern aufgrund eines zivilrechtlichen Vertrags durch einen privaten Umweltgutachter (Art 18 ff Umweltaudit-VO) begutachtet (vgl Art 4 I lit b, lit c, V; 6; Art 19 I Umweltaudit-VO). Die privaten Umweltgutachter müssen bestimmte Qualifikationsanforderungen erfüllen und zugelassen werden (Art 11 III–V Umweltaudit-VO). Die Zulassung erfolgt in Deutschland durch die Deutsche Akkreditierungs- und Zulassungsgesellschaft für Umweltgutachter mbH als Beliehene.238 Neben diesen Überprüfungsmechanismus tritt die Dokumentation der Anstrengungen und 122 Umweltleistungen des Unternehmens gegenüber der Öffentlichkeit in Form einer Umwelterklärung (Art 6 III Umweltaudit-VO). Diese muss ebenfalls periodisch aktualisiert und vom Umweltgutachter validiert werden (Art 4 V; 6 I Umweltaudit-VO) und soll einen offenen Dialog mit der Öffentlichkeit und interessierten Kreisen ermöglichen (Art 1 Umweltaudit-VO). Die teilnehmenden Unternehmen werden bei Erfüllung aller Voraussetzungen und nach Beteiligung der staatlichen Umweltbehörden in ein Register eingetragen, das in Deutschland von den Industrie- und Handelskammern geführt wird und müssen diese Registrierung periodisch verlängern lassen (Art 13 f Umweltaudit-VO; §§ 32 ff UAG). Als Anreiz zur Teilnahme erhält das Unternehmen das Recht zur (nicht produktbezogenen) 123 Benutzung des EMAS-Logos (Art 10 Umweltaudit-VO) und – in Entsprechung der unionalen Forderung nach Prüfung regulatorischer Entlastungen (Art 38 Umweltaudit-VO) – Privilegierungen bei der ordnungsrechtlichen Überwachung. Sie betreffen insbesondere die Verlängerung von Intervallen der staatlichen Überwachung, erweiterte Möglichkeiten der Eigenüberwachung und die Nutzung von EMAS-Dokumenten in anderen Verfahren.239 Das Umweltaudit-System ist rechtlich ausgestaltet und mit dem Umweltordnungsrecht ver- 124 zahnt. Es hat eine beträchtliche Verbreitung erfahren und offenbar positive Wirkungen auf die Umweltleistung der teilnehmenden Unternehmen.240 Dennoch bildet es letztlich nur eines unter zahlreichen mit Zertifikaten versehenen Umweltmanagementssystemen auf dem Markt und kon-

_____ 238 Die DAU untersteht gem § 27 UAG der Rechtsaufsicht des BMU. Bei diesem besteht ferner ein Umweltgutachterausschuss mit Vertretern aller betroffenen Verwaltungen und gesellschaftlichen Gruppen, der Richtlinien zur Anwendung der Bestimmungen über Zulassung und Aufsicht erlässt und das Ministerium berät (§§ 21 ff UAG). Dazu näher Ewer Der Umweltgutachterausschuss, 2000; Lübbe-Wolff NuR 1996, 217, 220 f. 239 Siehe insbes die EMAS-Privilegierungs-Verordnung, aber auch etwa § 24 WHG. Ausf zu den bereits von Art 10 II der EMAS II-VO angeregten Privilegierungen Adam Die Privilegierung des EMAS-auditierten Unternehmens, 2011, 61 ff. Rechtspolitisch wird immer wieder die Möglichkeit noch weitergehender Entlastungen diskutiert (vgl nur zu verwirklichten und möglichen Privilegierungen Kenzler Das umweltrechtliche und vergaberechtliche Privilegierungspotential des gemeinschaftsrechtlichen Umwelt-Audit-Systems, 2009, S 53 ff, 103 ff; Adam Die Privilegierung des EMAS-auditierten Unternehmens, 2011, 61 ff, 149 ff). 240 Vgl nur UBA EG-Aumweltaudit in Deutschland, Erfahrungsbericht 1995–1998, 1999; gegenwärtig läuft die zweite Befragung durch das UBA, deren Auswertung Ende 2012 vorliegen wird; vgl auch die empirischen Ergebnisse von Schwarz-Herion EurUP 2006, 17–21.

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kurriert insbesondere mit dem regional noch stärker verbreiteten System der ISO 14001.241 Die von der EMAS-VO jetzt vorgesehene Anerkennung von Teilen solcher Systeme im Rahmen einer EMAS-Teilnahme (Art 45 Umweltaudit-VO) reagiert darauf und soll die weitere Verbreitung fördern.

b) Ausgestaltung des ökonomischen Marktes 125 aa) Folgenzurechnung durch „Haftung“ (UmwHG; USchadG; Fonds). Eine erste Ausgestaltung des ökonomischen Marktes bilden die Regeln über Zurechnung und Ausgleich der Folgen individuellen Verhaltens. Sie dienen dem Ausgleich zwischen Geschädigtem und Verursacher (Ausgleichfunktion), über die Zurechnung von Folgekosten zu den Verursachern der Bildung gesamtkostengerechter Preise (sog. Internalisierung externer Kosten) und reizen zur Vermeidung solcher Kosten an (Präventionsfunktion). Die allgemeinen Regeln des BGB über Unterlassens- und Schadensersatzansprüche bei uner126 laubten Handlungen (insbesondere §§ 823 I, II; 1004 BGB) einschließlich der Ausgleichsansprüche bei zu duldenden Beeinträchtigungen (§§ 1004, 906 II BGB) gelten grundsätzlich neben dem Umweltverwaltungsrecht und werden nur in Fällen der privatrechtsgestaltenden Wirkung von Genehmigungen modifiziert. Die zentralen Wertungen, insbesondere die Reichweite der Duldungspflicht von Betroffenen (§ 906 BGB), wurden dabei dem öffentlichen Recht angeglichen. Die Zurechnung und der Ausgleich von Umweltfolgen über diese allgemeinen Regeln bleiben 127 jedoch im Ergebnis sehr begrenzt. Sie erfassen von vornherein nur Individualrechtsgüter und auch in diesem Bereich können die beweispflichtigen Kläger häufig die haftungsbegründende Kausalität und/oder das Verschulden nicht beweisen. Auf diese Defizite wurde mit einer Gefährdungshaftung in einzelnen Umweltgesetzen242 und in allgemeinerer Form mit dem Umwelthaftungsgesetz und dem Umweltschadensgesetz reagiert. Diese sind neben die allgemeinen Regeln getreten (§§ 18 UmwHG; 1 USchadG). Das Umwelthaftungsgesetz243 begründet eine auf spezifische Anlagen bezogene Gefähr128 dungshaftung für Schäden aus der Verletzung der Individualrechtsgüter Leben, Gesundheit und Eigentum durch Umwelteinwirkungen (§ 1 UmwHG). Die zentrale Haftungserweiterung liegt in einem erleichterten Kausalitätsnachweis; hinzu treten flankierende Auskunftsansprüche (§§ 8 ff UmwHG) und ein erweiterter Anspruch auf Naturalrestitution bei Beeinträchtigung des Naturhaushalts (§ 16 UmwHG). Nach § 6 I UmwHG greift grundsätzlich eine (widerlegbare) Ursachenvermutung, wenn eine 129 Anlage nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet ist, den entstandenen Schaden zu verursachen. Diese Vermutung findet aber keine Anwendung, wenn die Anlage bestimmungsgemäß betrieben wurde (§ 6 II–IV UmwHG) und wird ausgeschlossen, wenn „ein anderer Umstand nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet ist, den Schaden zu verursachen“ (§ 7 UmwHG), also etwa eine Grundbelastung durch Emissionen anderer Emittenten als den Anlagen nach UmwHG. Eine für die Gefährdungshaftung grundsätzlich typische Haftungshöchstgrenze begrenzt das Risiko (§ 15 UmwHG). Insgesamt hat das Gesetz keine größere praktische Bedeutung und wird insbesondere wegen des letztlich engen Anwendungsbereichs der Ursachenvermutung kritisiert.244

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241 Siehe zu den verschiedenen Ansätzen Engel Analyse und Kritik der Umweltmanagementsysteme, 2010, zu ISO 14001 S 36 ff; zur höheren Verbreitung von ISO 14001 nur Krämer/Winter in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 26 Rn 165; zur Motivationslage bei den Unternehmen näher EU-Kommission Study on the Costs and Benefits of EMAS to Registered Organisations, 2009. 242 Vgl nur §§ 32 ff GenTG; §§ 89 f WHG. 243 Siehe näher dazu Hager NJW 1991, 134 ff; Michalski Jura 1995, 617 ff. 244 Siehe nur Hager NJW 1991, 134, 143; Cosack/Enders DVBl 2008, 405; Kloepfer UmweltschutzR § 4 Rn 131 ff; Schmidt/Kahl UmwR § 1 Rn 67; Beispiele der seltenen Anwendungsfälle finden sich etwa in OLG Düsseldorf BeckRS 2011, 2254 = NJW-RR 2002, 26 f; OVG NW NVwZ 2010, 466 ff.

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Das Umweltschadensgesetz245 erweitert gegenüber der zivilrechtlichen Haftung die Zurechnung von Schäden um solche an den Umweltgütern selbst (zB Biodiversität) und begründet dafür eine öffentlich-rechtliche Verantwortlichkeit der Verursacher zur Vermeidung, Begrenzung und Sanierung, die behördlich durchgesetzt wird. Diese Verantwortlichkeit besteht entsprechend den unionalen Vorgaben grundsätzlich auch für Genehmigungsinhaber und umfasst auch den Normalbetrieb.246 Als Umweltschaden werden dabei erhebliche nachteilige Veränderungen oder funktionale Beeinträchtigungen natürlicher Ressourcen (Arten und natürliche Lebensräume, Gewässer und Boden) nach Maßgabe der fachgesetzlichen Wertungen in BNatSchG, WHG und BBodSchG definiert (§ 2 USchadG). Eine Verantwortlichkeit für diese Schäden und unmittelbare Gefahren solcher Schäden trifft nach §§ 3, 2 Nr 3 USchadG denjenigen, der sie durch eine im Anhang aufgeführte berufliche Tätigkeit (zB Betrieb fast aller genehmigungsbedürftigen Anlagen nach BImSchG) verursacht hat (Gefährdungshaftung) sowie hinsichtlich Biodiversitätsschäden den schuldhaft handelnden Verursacher auch anderer beruflicher Tätigkeiten (Verschuldenshaftung).247 Die Verantwortlichkeit umfasst die Pflichten zur unverzüglichen und umfassenden Information der Behörde (§ 8 USchadG) sowie die Pflicht zur Gefahrenabwehr durch Vermeidungsmaßnahmen (§ 5 USchadG) bzw zur Schadensbegrenzung und Sanierung nach den fachrechtlichen Vorschriften bei bereits eingetretenen Schäden (§§ 6, 8 USchadG) auf grundsätzlich eigene Kosten (§ 9 USchadG). Die zuständige Behörde überwacht die Maßnahmen oder ordnet sie ggf an (§ 7 USchadG) und hat im Falle der Sanierung darüber hinaus die Aufgabe der Konkretisierung von Art und Umfang sowie ggf zur Priorisierung der Maßnahmen (§ 8 USchadG).248 Die Behörde muss von Amts wegen tätig werden. Ergänzend sind aber auch Antrags- und Klagerechte für Betroffene und Umweltverbände vorgesehen (§§ 10 f USchadG). Eine Haftungshöchstgrenze besteht im USchadG nicht, wohl aber eine zeitliche Begrenzung der Anwendung (§ 13 USchadG). Insgesamt ist noch offen, ob das erst Ende 2007 in Kraft getretene Gesetz noch größere Relevanz erreichen wird. Die teilweise hochkomplizierte Regelungstechnik und die hohe Unbestimmtheit der Regelungen werden nicht nur verfassungsrechtlich problematisiert, sondern können auch den Vollzug beeinträchtigen.249 Soweit die individuell ansetzende Haftung und Verantwortlichkeit trotz dieser Ansätze leerläuft, wie dies häufig wegen unklarer Kausalverläufe bei Distanz-, Summations- und Langzeitschäden sein wird, kann eine Schadenszurechnung nur durch kollektive Haftungsmodelle

_____ 245 Vgl ausf dazu Diederichsen NJW 2007, 3377 ff; Scheidler NVwZ 2007, 1113 ff und, auch im Vergleich zum Umwelthaftungsgesetz, Ruffert NVwZ 2010, 1177 ff. Terminologisch wird im deutschen Recht zwischen (öffentlichrechtlicher) Verantwortlichkeit und (zivilrechtlicher) Haftung unterschieden (Ruffert NVwZ 2010, 1177, 1178), aber diese Unterscheidung verschwimmt angesichts der unionalen UmwelthaftungsRL, die mit der Verantwortlichkeit nach dem USchadG umgesetzt wird. 246 Vgl näher und mit Nachweisen zur Diskussion darüber Diederichsen NJW 2007, 3377, 3379; Shirvani UPR 2010, 209 ff. Eine Privilegierung kann allerdings durch Landesrecht auf der Ebene der Kostentragung erfolgen. Nach § 9 I 2 USchadG können die Länder in ihren Kostenregelungen vorsehen, dass die Verantwortlichen für Umweltschäden, die durch rechtmäßigen Normalbetrieb und ohne Verschulden entstanden sind, keine Sanierungskosten zu tragen haben (krit dazu mit Blick auf föderale Rechtsungleichheit Diederichsen NJW 2007, 3377, 3379). 247 Die Regelung zur Verantwortlichkeit in § 2 Nr 3 stellt auf eine unmittelbare Verursachung ab, ist aber unionskonform erweiternd auszulegen, so dass eine Kausalität genügt (bereits Diederichsen NJW 2007, 3377, 3380; Schmidt/Kahl UmwR § 1 Rn 73; vgl auch EuGH Urt v 9.3.2010 – C-378/08 – (Raffinerie Mediterranee ua/Ministero dello Sviluppo economico ua), Slg 2010 I-01919 = EuZW 2010, 307 ff). 248 Näher Bruns/Kieß/Peters NuR 2009, 149 ff. 249 Zur verfassungsrechtlichen Problematisierung nur Diederichsen NJW 2007, 3377, 3378; Schmidt/Kahl UmwR § 1 Rn 75; zu unterschiedlichen Einschätzungen hinsichtlich der Vollzugsmöglichkeit nur Cossack/Enders DVBl 2008, 405, 415; Ruffert NVwZ 2010, 1177, 1183; zur geringen praktischen Relevanz, aber bestehenden Potentialen in der umfassenden Bilanz von Brinktrine EurUP 2012, 2 ff.

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erfolgen. Ein teilweise bereits verfolgter Ansatz sind hier Fondslösungen, die über Sonderabgaben finanziert werden.250 134 bb) Abgaben. Auch Abgaben führen zu einer Kostenerhöhung für die Umweltnutzer und können zur Internalisierung externer Kosten, aber auch als Anreiz zu umweltschonenderem Verhalten genutzt werden. Die Internalisierung von Kosten setzt allerdings eine genauere Bestimmung und Monetarisierung der Umweltfolgen voraus. Soweit über die Verhaltenslenkung eine bestimmte Umweltqualität erreicht werden soll, haben Abgaben ferner gegenüber Zertifikaten den Nachteil, dass sich die für die Lenkungswirkung notwendige Abgabenhöhe nicht sicher vorherbestimmen lässt.251 In der Praxis knüpfen Abgaben deshalb nur an die Finanzierung spezifischer Aufgaben an oder dienen als allgemeiner Anreiz zur Verringerung von Umweltbelastungen. Rechtlich sind Abgaben in Steuern, Gebühren, Beiträge und Sonderabgaben zu unterteilen, 135 die alle zur Verfolgung ökologischer Ziele eingesetzt werden können, aber unterschiedlichen rechtlichen Anforderungen unterliegen.252 Insbesondere sind die Kompetenzen zur Steuererhebung in Art 105 GG eigenständig und abweichend von den für die übrigen Abgabenarten maßgeblichen Sachkompetenzen geregelt. Auch bedürfen die nicht-steuerlichen Abgaben einer besonderen Rechtfertigung, damit die detaillierten, fast nur die Steuern in Bezug nehmenden Regelungen der Finanzverfassung nicht unterlaufen werden.253 Steuern sind keine Gegenleistung für eine besondere Leistung, sondern werden zur Erzie136 lung von Einnahmen allen auferlegt, auf die der Steuertatbestand zutrifft. Sie können auch als Lenkungsinstrument eingesetzt werden,254 sind von der Steuerkompetenz aber nur gedeckt, solange es auch um Einnahmeerzielung geht.255 Den wichtigsten umweltrechtlichen Anwendungsfall bildet die insbesondere auf Mineralöl erhobene sogenannte „Öko-Steuer“,256 die mittels Verteuerung eine Reduzierung seines Verbrauchs und damit korrelierend des CO2-Ausstosses bewirken soll. Gebühren und Beiträge werden als Gegenleistung für eine individuell zurechenbare öffent137 liche Leistung erhoben und gerechtfertigt, wobei die Gebühr eine tatsächliche Inanspruchnahme voraussetzt, während für den Beitrag nur die entsprechende Möglichkeit bestehen muss. Gebühren und Beiträgen fallen selbstverständlich auch für umweltbezogene Verwaltungsleistungen an und können dort im Rahmen des Gestaltungsspielraums bei der Bemessung, ansonsten aber nur bei entsprechender gesetzlicher Ermächtigung auch umweltpolitische Lenkungseffekte haben (zB Höhe der Abfallgebühr).257 Problematisch sind allein Gebühren, bei denen keine staatliche

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250 Siehe zu kollektiven Haftungsmodellen und den Fondslösungen im Dünge- und Batteriegesetz Kloepfer UmweltschutzR § 4 Rn 137; Forderung danach auch etwa bei Hager NJW 1991, 134, 143. 251 Ihr Vorteil besteht demgegenüber darin, dass der umwelttechnische Fortschritt automatisch zu Umweltqualitätsverbesserungen führt. 252 Umfassend Sacksofsky Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, 2000 und, allgemeiner, Wernsmann Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005; Trzaskalik DJT 63 (2000), E 16 ff; näher zum umweltschützenden Potential Koch FS Selmer, 2004, 769 ff. Zu den Abgabeformen näher Korioth in: GVwR III, § 44 Rn 33 ff. 253 Vgl nur Heun in: Dreier, GG, Art 105 Rn 10 ff. 254 Siehe nur BVerfGE 98, 106, 117 (st Rspr). 255 Vgl näher Heun in: Dreier, GG, Art 105 Rn 16; Nach hM müssen sie überdies einer der grundgesetzlichen Steuerarten zuzuordnen sein. Die vom BVerfG in den umweltrechtlich bedeutsamen Verfahren zu kommunalen Verpackungssteuern und landesrechtlichen Abfallabgaben herangezogene Verbot einer Verfälschung des Regelungskonzepts des Sachgesetzgebers aus dem Gedanken der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung wurde in der Lit zu Recht massiv kritisiert (vgl nur Jarass AöR 126 (2001), 588, 594) und wohl nicht weiterverfolgt. Es kann als historische Episode gelten und soll hier nicht näher behandelt werden (vgl auch Schmidt/Kahl UmwR § 1 Rn 5). 256 Tatsächlich handelt es sich um eine Mehrzahl von steuerrechtlichen Maßnahmen, mit denen bereits bestehende Steuern eine ökologische Lenkungswirkung erhielten (zuletzt Gesetz zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform vom 23.12.2002 (BGBl I S 4602)). Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Ansatzes BVerfGE 110, 274 ff; Haas FS Mußgnug, 2005, 205 ff. 257 Vgl näher Ramsauer in: Koch, UmwR, § 3 Rn 99.

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Gegenleistung vorliegt, sondern die Einräumung eines ökonomisch wertvollen subjektiven Rechts abgeschöpft wird, wie bei der Abgabe für die Wasserentnahme durch die landesrechtlich geregelten „Wasserpfennige“. Die Einordnung und Rechtfertigung hängt zentral davon ab, ob man grundsätzlich für solche Fälle eine „Verleihungsgebühr“ anerkennt. Ansonsten ist von einer Sonderabgabe auszugehen.258 Sonderabgaben belasten die Pflichtigen über die allgemeine Steuerpflicht hinaus ohne 138 dass ihnen eine unmittelbare Gegenleistung gegenübersteht. Sie können zur Finanzierung von Aufgaben (zB Schadensausgleich bei landbaulicher Klärschlammverwertung), als Mittel der Verhaltenslenkung (zB Abgabe auf schädliche Abwässer nach dem Abwasserabgabengesetz) oder als Ausgleich für Umweltbelastungen (naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe)259 erhoben werden und müssen an die Verantwortlichkeit der Belasteten für die Aufgabe anknüpfen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG setzt ihre Rechtfertigung insbesondere voraus, dass eine vorgefundene, von der Allgemeinheit abgrenzbare homogene Gruppe belastet wird, die zur Aufgabe in einer spezifischen Sachnähe und damit verbundenen Verantwortung steht und zugunsten derer das Aufkommen in sachgerechter Weise verwendet wird (Gruppenhomogenität, -verantwortung und -nützigkeit).260 Bei den umstrittenen umweltschutzbezogenen Sonderabgaben wurden diese Voraussetzungen für die Beiträge zum Klärschlamm-Entschädigungsfonds und die naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe bejaht, während die Abfallverbringungsabgabe, die einen Fonds zur Rückführung unzulässig exportierter Abfälle über Beiträge aller Abfallexporteure finanzieren sollte, mangels Gruppenverantwortung für unzulässig erachtet wurde.261 cc) Finanzielle Förderung. Den spiegelverkehrten Effekt zu Abgaben haben Subventionen. 139 Hier fördert der Staat finanziell gezielt umweltfreundliche Maßnahmen (zB Gebäudedämmung), Produkte (zB abgasarme KfZ) und Technologien (zB erneuerbare Energien). Für die rechtlichen Voraussetzungen ist dabei die Ausgestaltung des Finanzierungsmechanismus entscheidend. Bei einer Finanzierung aus staatlichen Mitteln, seien es direkte Leistungen (Geldzahlungen, 140 Bürgschaften etc) oder Privilegierungen bei Belastungen (va Steuervergünstigungen), handelt es sich um Subventionen, die europarechtlich als Beihilfe zu qualifizieren sind. Hier sind die allgemeinen Regeln, also insbesondere Art 107 ff AEUV anzuwenden. Die Beihilfen für Umwelt- und Energieeinsparungen machen einen beträchtlichen Anteil des Gesamtvolumens aus,262 bringen aber keine spezifischen Fragen oder Problemfälle mit sich.

_____ 258 Zur „Verleihungsgebühr“ nur Wieland Die Konzessionsabgaben, 1991, 298 ff; in der Lit wird eine solche Verleihungsgebühr teilweise wegen der mangelnden Konnexität mit staatlichem Aufwand grundsätzlich abgelehnt, eine Abschöpfung im Wege der Sonderabgabe aber zugelassen (vgl nur Heun in: Dreier, GG, Art 105 Rn 19). Das BVerfG hat von einer Qualifikation abgesehen, entsprechende landesrechtliche Abgaben aber jedenfalls als nichtsteuerliche Abgaben für zulässig erachtet (BVerfGE 93, 319, 345 ff). Zum Wasserpfennig auch näher Schmidt/Kahl UmwR § 1 Rn 56. 259 Zu dieser Abgabe nur BVerwGE 74, 308, 309 und zu den Schwierigkeiten der Einordnung in die Sonderabgabendogmatik Schmidt/Kahl UmwR § 1 Rn 59. 260 Hinzu kommen noch die Erfordernisse der periodischen Überprüfung und der Dokumentation in einer Anlage zum Haushaltsplan. Vgl insgesamt zu den Voraussetzungen nur BVerfGE 55, 274, 298 ff; E 108, 186, 218 (st Rspr). Umstritten ist allerdings, ob die Sonderabgaben mit Lenkungswirkung den gleichen strengen Anforderungen unterfallen, die für solche mit Finanzierungsfunktion gelten (vgl nur Korioth in: GVwR III, § 44 Rn 41; Pieroth in: Jarass/ ders, GG, Art 105 Rn 9). 261 BVerfGE 110, 370, 383 ff (Klärschlamm-Entschädigungsfonds); BVerwGE 74, 308 ff (naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe); BVerfGE 113, 128 ff (Abfallverbringungsverordnung), dazu aA Koch/Reese DVBl 1997, 85 ff. 262 In Deutschland lag der relative Anteil der horizontalen, also nicht auf einen Wirtschaftszweig konzentrierten Beihilfen für Umwelt und Energieeinsparungen bei 37% (vgl hierzu und zu weiteren Daten den 23. Subventionsbericht der Bundesregierung für die Jahre 2009–2012).

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Ein anderer Finanzierungsmechanismus liegt der quantitativ wie qualitativ bedeutsamen Förderung umweltfreundlicher Energieerzeugung durch erneuerbare Energien (EEG) oder eine effiziente Kraft-Wärme-Kopplung (KWK-Gesetz) zu Grunde. Hier wird den Betreibern von Stromnetzen zugunsten dieser Stromproduzenten neben einer Anschluss- und Abnahmepflicht eine (anreizende) Vergütungspflicht in festgelegter Höhe auferlegt, die diese über einen gesetzlich näher ausgestalteten Mechanismus auf die Energieversorger der Endkunden abwälzen können, die sie dann ihrerseits an die Endverbraucher weitergeben.263 Weil die finanzielle Förderung hier durch private Mittel erfolgt, Art 107 I AEUV tatbestandlich aber nur eine staatliche oder aus staatlichen Mittel erfolgende Gewährung erfasst, liegt hier keine Beihilfe vor.264 Gegenwärtig umstritten ist allerdings, ob die in den Gesetzen auf die Förderung entsprechender nationaler Stromerzeugung begrenzte Förderung mit der Warenverkehrsfreiheit vereinbar ist.265

142 dd) Nutzung staatlicher Nachfragemacht. Eine Lenkung der Marktentwicklung hin zu umweltfreundlichen Technologien und Produkten erfolgt auch durch den gezielten Einsatz der staatlichen Nachfragemacht. Dabei muss die Verfolgung ökologischer Zwecke in den allgemeinen Rechtsrahmen des Vergaberechts eingepasst werden. Der EuGH hat hier frühzeitig die Berücksichtigung von Umweltschutzkriterien zugelassen, wenn diese insbesondere mit dem Gegenstand des Auftrags zusammenhängen, ausdrücklich im Leistungsverzeichnis der Ausschreibung genannt sind und die wesentlichen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachtet werden.266 Im vergaberechtlichen Sekundärrecht wurde diese Möglichkeit der Berücksichtigung aufgegriffen und für die verschiedenen Phasen des Vergabeverfahrens konkretisiert.267 Das sekundärrechtliche Umweltrecht forciert den instrumentellen Einsatz der öffentlichen 143 Beschaffung, indem die Vorbildfunktion der Staaten mit ihren Beschaffungen betont, produktgruppenbezogene Bemühenspflichten zur Anschaffung umweltfreundlicher Produkte (energieeffizienter Geräte) verankert oder sogar rechtliche Pflichten zur Berücksichtigung zentraler Umweltauswirkungen bei der Beschaffung besonderer Produkte (Straßenfahrzeuge) auferlegt werden.268 Diese Tendenz zur stärkeren Instrumentalisierung scheint sich ausweislich der Reformvorschläge der Europäischen Kommission zum Rechtsrahmen der Vergabe auch weiter fortzusetzen.269

_____ 263 Vgl ausf zum EEG Oschmann NJW 2009, 263 ff und zur verordnungsrechtlichen Weiterentwicklung Schütte/ Winkler ZUR 2009, 339 f; zum KWK-Gesetz Elspas Die Förderung der Stromerzeugung in Kraft-Wärme-Kopplung, 2005; Überblick insgesamt in: Gerstner, Grundzüge des Rechts der Erneuerbaren Energien, 2012. 264 Siehe nur die zentrale Entscheidung des EuGH Urt v 13.3.2001 – C-379/98 – (PreußenElektra/Schleswag), Slg 2001 I-2099 (PreußenElektra). 265 Siehe dazu ausf und die Vereinbarkeit mit guten Argumenten bejahend Schmidt/Kahl UmwR § 3 Rn 70 ff, 81. 266 EuGH Urt v 17.9.2002 – C-513/99 – (Concordia Bus Finland), Slg 2002 I-07213 zusammenfassend Rn 64, 69 und Nr 1 des Entscheidungstenors; EuGH Urt v 4.12.2003 – C-448/01 – (Wienstrom), Slg 2003 I-14527 Rn 33. Der Umweltschutz wurde damit von vornherein großzügiger zugelassen als andere, nicht auf die Wirtschaftlichkeit im engen Sinne zielende sog „vergabefremde Zwecke“. 267 VergabekoordinierungsRL 2004/18/EG (VKR). Näher Schneider NVwZ 2009, 1057 ff; Wegener NZBau 2010, 273, 275 ff; Heyne ZUR 2011, 578 ff. 268 Zur Vorbildfunktion Art 5 I RL 2006/32/EG (EDL-RL); Zur Bemühenspflicht Art 9 RL 2010/30/EU (Energieverbrauchskennzeichnungs-RL); zur Anordnung der Berücksichtigung von Energieverbrauch und Umweltauswirkungen bei der Auftragsvergabe für Straßenfahrzeuge RL 2009/33/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 23. April 2009 über die Förderung sauberer und energieeffizienter Straßenfahrzeuge, ABlEU L 120 v 15.5.2009, 5–12; weitere Beispiele für energieeffizienzrechtliche Einflüsse (Bereiche Energy-Star und Ökodesign) auf das Vergaberecht bei Schneider NVwZ 2009, 1057, 1062; insgesamt auch Wegener NZBau 2010, 273 ff. 269 Vorschlag für eine RL des Europäischen Parlaments und des Rates über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste, KOM (2011) 895 endg v 20.12.2011; Vorschlag für eine RL des Europäischen Parlaments und des Rates über die öffentliche Auftragsvergabe, KOM (2011) 896 endg v 20.12.2012; Vorschlag für eine RL des Europäischen Parlaments und des Rates über die Konzessionsvergabe, KOM (2011) 897 endg v 20.12.2011.

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ee) Schaffung von Markttransparenz: Umweltkennzeichen, Informationshandeln. Der 144 Markt kann nicht nur über Kosten, sondern auch über Informationen beeinflusst werden. Neben dem eher seltenen unmittelbaren staatlichen Informationshandeln, für das nach der Rechtsprechung des BVerfG bei sachlich richtigen Informationen unterhalb einer verbotsgleichen Wirkung mangels eines Grundrechtseingriffs keine gesetzliche Befugnisnorm erforderlich ist,270 wird dies vor allem bei Informationspflichten und Produktkennzeichnungen genutzt. Sieht man von bloßen Warnhinweisen ab, die in erster Linie den Nutzer vor Schaden be- 145 wahren sollen (va im Gefahrstoffrecht), wird durch die Kennzeichnungen eine Markttransparenz geschaffen, die es den Verbrauchern erlaubt, ihr Umweltbewusstsein in Kaufentscheidungen umzusetzen. Dies kann durch Kennzeichnungspflichten271 erfolgen, wie beim Hinweis auf enthaltene gentechnisch veränderte Organismen bzw die jeweilige Energieeffizienzklasse bei energieverbrauchsrelevanten Produkten,272 oder durch die freiwillige Nutzung eines Umweltzeichens für besonders umweltfreundliche Produkte, etwa des (deutschen) blauen Engels273 oder der weniger verbreiteten europäischen Margarite.274 Die Kennzeichnungen haben eine wichtige Funktion vor allem bei der integrierten Produktpolitik der EU,275 die vor allem auf ein von Produzenten und Verbrauchern getragenes Vorgehen setzt und das Ordnungsrecht nur als ergänzendes Instrument vorsieht. Die Effektivität eines Umweltschutzes mittels Verbraucherinformation und Kennzeichnung 146 wird allerdings insbesondere durch Wissensgrenzen über die Gesamtökobilanz der Produkte und damit verbundene Bewertungsschwierigkeiten sowie eine erhebliche Kluft zwischen Umweltbewusstsein und Kaufentscheidungen bei den Verbrauchern eingeschränkt.276

c) Einrichtung eines ökonomischen Marktes aa) Zertifikate. Die Einrichtung eines Marktes mit Zertifikaten für Umweltnutzung setzt sich 147 aus mehreren Maßnahmen zusammen. Es wird zunächst eine Gesamtbelastungsmenge der zulässigen Umweltnutzung festgelegt. In deren Höhe werden an die beteiligten Unternehmen Einzelrechte zur Umweltnutzung in Form von Zertifikaten ausgegeben. Die Umweltnutzung hängt dann für jedes beteiligte Unternehmen vom Besitz einer entsprechenden Zahl an Berechtigungen ab. Die Zertifikate dürfen frei gehandelt werden, so dass ihre Aufteilung unter den Unternehmen letztlich über den Markt geregelt wird. Entsprechend den zentralen Schritten der Begrenzung und Handelbarkeit wird der Mechanismus „cap and trade“ genannt.

_____ 270 BVerfGE 105, 252, 265 ff – Glykol – die Rspr wird erhellend rekonstruiert bei Bumke DV 37 (2004), 1 ff; insgesamt lehnt die ganz überwiegende Lit diese Rspr ab und geht stattdessen von einem Eingriff aus, der den Gesetzesvorbehalt auslöst, so dass die Überlegungen des BVerfG entsprechend die Rechtfertigung anleiten (vgl statt vieler Mannsen in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art 12 Rn 88). 271 Vgl §§ 17b GenTG; CLP-Verordnung Nr 1272/2008 EG; §§ 13, 15a ChemG. 272 Zu den entsprechenden Regelungen nur Britz/Eifert/Reimer Charakteristika des Energieeffizienzrecht in: dies, Energieeffizienzrecht, 2010, 63, 69 f, 95 ff; Reimer Das Informationsmodell im Energieeffizienzrecht am Beispiel der PKW-Energieverbrauchskennzeichnung, ebd, 253 ff. 273 Das Vergabesystem des Blauen Engels beruht darauf, dass das Bundesumweltministerium Inhaberin des Umweltzeichens ist. Die Vergabebedingungen werden in einem kooperativen Verfahren von UBA, Landesbehörden und RAL durch eine unabhängige Jury beschlossen und die Vergabe dann durch das RAL vorgenommen. Ausf dazu Neveling Produktinnovation durch Umweltzeichen, 2000; Zakrzewski Umweltschutzbezogene Verbraucherinformationen durch das Umweltzeichen „Der Blaue Engel“, 2010. 274 Das System der Vergabe dieses Umweltzeichens ist geregelt in der VO (EG) Nr 66/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates v 25.11.2009 über das EU-Umweltzeichen, ABlEU L 27 v 30.1.2010, 1 ff. 275 Kommission, Grünbuch v 7.2.2001. 276 Vgl dazu nur Eifert/Figge ZAU 1995, 360 ff; Reimer, Das Informationsmodell im Energieeffizienzrecht am Beispiel der PKW-Energieverbrauchskennzeichnung in: Britz/Eifert/ders, Energieeffizienzrecht, 2010, 253, 256 ff.

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Der Mechanismus erlaubt grundsätzlich eine flexible Steuerung der Gesamtbelastung über die Veränderung der Zertifikatemenge. Der Handel wiederum führt zu einer volkswirtschaftlich effizienten Verteilung, weil sich die Knappheit der Zertifikate in Marktpreisen abbildet. Jedes Unternehmen kann entsprechend seiner Kostenstruktur mit Blick auf die Marktpreise individuell entscheiden, ob und welche Maßnahmen zur Verringerung der Umweltnutzung ökonomisch sinnvoll sind und dann entsprechend eigene Zertifikate verkaufen oder fremde zukaufen, so dass ein Anreiz zur Innovation besteht, aber die entsprechenden Anstrengungen dort vorgenommen werden, wo sie am kostengünstigsten erfolgen können.277 Das Instrument wurde bislang nur für Emissionen wichtiger Treibhausgase (va CO2) auf Grundlage internationaler Verpflichtungen aus dem Klimarahmenabkommen und dem KyotoProtokoll eingeführt.278 Umweltpolitisch werden weitere Anwendungsfelder diskutiert.279 Beim bestehenden Emissionszertifikatehandel wurden die absoluten Begrenzungen und Sektorenzuteilungen bisher jeweils periodisch durch das nationale ZUG auf Grundlage des jeweiligen, von der Europäischen Kommission zu genehmigenden Nationalen Allokationsplans (NAP) vorgenommen, ab 2013 aber durch eine EU-weite Obergrenze und vereinheitlichte Zuteilungsregeln verstärkt unionalisiert.280 Den zentralen Ordnungsrahmen des Emissionshandels legt das TEHG fest. Der Anwendungsbereich des Instruments wird durch mehrere kritische Funktionsbedingungen begrenzt. Zunächst bedingt die freie Handelbarkeit der Zertifikate auf dem Markt, dass die räumliche Verteilung der Nutzungen nicht gesteuert wird. Bei Umweltnutzungen, bei denen lokale oder regionale Konzentrationen gefährlich werden können (sog Hot Spots), sind deshalb ergänzende ordnungsrechtliche Vorgaben erforderlich, die aber ihrerseits die Liquidität des Marktes begrenzen.281 Der Emissionszertifikatehandel umfasst gegenwärtig nicht zuletzt deshalb nur die Treibhausgase, die wegen ihrer alleinigen Klimarelevanz nur in der Gesamtmenge begrenzt werden müssen.282 Ferner stößt das Erfordernis effektiver Überwachung für Sektoren mit einer hohen Zahl dezentraler Emissionsquellen auf Schwierigkeiten. Private Haushalte sind entsprechend nicht in das System einbezogen. Einen Ausweg bietet allerdings die Verschiebung des Ansatzpunktes vom Emittenten weg auf Vorstufen der Schadstoffe („upstream“), etwa die Hersteller oder Händler fossiler Brennstoffe. Dieser Weg wird teilweise im Verkehrssektor gegangen. Die konzeptionellen Problempunkte liegen bei der Überführung der Umweltnutzung in das mit dem Zertifikatehandel verbundene Bewirtschaftungsregime, bei der ökologisch treffenden Festlegung der Gesamt-Belastungsgrenze, bei der Erstverteilung der Zertifikate und bei der Schnittstelle zum Ordnungsrecht. Die notwendige Organisation des Handels kann demgegenüber va auf den Börsenhandel zurückgreifen.

_____ 277 Siehe zum Konzept zusammenfassend Endres Umweltzertifikate: Marktwirtschaftliche Alternative im Widerstreit in: ders/Rehbinder/Schwarze, Umweltzertifikate und Kompensationslösungen aus ökonomischer und juristischer Sicht, 1994, 1 ff; Darstellung nach den Methoden der Wirtschaftswissenschaften, die in der Formalisierung für Juristen schwer verständlich ist bei Hanley/Shogren/White Environmental Economics, 2. Aufl 2007, 131 ff. 278 Die Einführung erfolgte 2005. Vgl zum Rechtsrahmen näher Frenz NuR 2007, 513 ff, 587 ff; Sachverständigenrat für Umweltfragen Umweltgutachten 2008, 2008, Tz 164 ff; Wegener ZUR 2009, 283 ff. 279 Vgl zu handelbaren Flächenausweisungsrechten Köck/Bizer/Hansjürgens/Einig/Siedetopf, Handelbare Flächenausweisungsrechte, 2008; Marty ZUR 2011, 395 ff; zu Zertifikaten für Energieeinsparungen („weiße Zertifikate“) zB Britz/Eifert/Reimer Charakteristika des Energieeffizienzrechts in: dies, Energieeffizienzrecht, 63, 77 f; Wüstemann Die Vorgaben der Europäischen Union im Bereich der Energieeffizienz, 2011 S 207 ff. 280 Vgl nur VO (EU) 1031/2010, ABlEU L 302/1 und die Mitteilung der Kommission zur Durchführung einiger ihrer Artikel v 26.7.2011 (ABlEU C 220/12); § 8 TEHG. 281 Vgl zum Problem der hot spots Koch/Wienecke DVBl 2001, 1085; Sachverständigenrat für Umweltfragen Umweltgutachten 1987, 1987, Tz 161 ff; zur gegenwärtigen Diskussion um die Einbeziehung von NO2 und SO2 Epiney NuR 2011, 167 ff. 282 Vgl nur Epiney NuR 2011, 167, 169 f.

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Der Übergang der Umweltnutzung in das Bewirtschaftungssystem bildet wegen der Einschränkung der Benutzungsmöglichkeiten des Sacheigentums an den bestehenden Anlagen eine Beschränkung der grundrechtlichen Eigentumsfreiheit der Betreiber, die zu rechtfertigen ist und insbesondere für den Handel mit Treibhausgasen durch den Klimaschutz gerechtfertigt wird.283 Bei einer selektiven Einbeziehung von Industriebranchen ist die entsprechende Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.284 Die Festlegung der Gesamtbelastungsmenge ist grundsätzlich eine politische Entscheidung, die bei den Treibhausgasen durch die völkerrechtliche Selbstbindung in den Klimaübereinkommen überformt ist. Für die Erstverteilung der Zertifikate stehen zwei Vorgehensweisen zur Verfügung: Eine Versteigerung der Zertifikate oder eine an den jeweiligen tatsächlichen Nutzung orientierte kostenfreie Vergabe (sog „grandfathering“). Die Einführung der Emissionszertifikate für zentrale Klimagase erfolgte für die erste Handelsperiode zunächst im Wege des grandfathering. Seit 2010 ist aber auch eine Versteigerung eingeführt und ab 2013 ist unional der schrittweise Übergang zu einer grundsätzlichen Versteigerung geregelt.285 Neben der Erzielung von Einnahmen soll dies auch in besonderer Weise eine effiziente Verteilung sichern. Rechtlich wird die Versteigerung unter finanzverfassungsrechtlichen und grundrechtlichen Gesichtspunkten diskutiert, ist im Ergebnis aber als zulässig anzusehen.286 Die Schnittstelle zum Ordnungsrecht definiert § 5 I 2–4 BImSchG. Danach sind grundsätzlich ordnungsrechtliche Anforderungen an die vom Treibhausgas-Emissionshandel erfassten Emissionen nur zur Gefahrenabwehr zulässig.287 Das Emissionshandelssystem hat zunächst die erhofften umweltpolitischen Wirkungen kaum erzielen können, was va an einer Überversorgung des Marktes mit Zertifikaten lag.288 Die vorgenommenen Nachjustierungen bei der Ausgestaltung sollen jetzt zu größerer Effektivität führen.

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bb) Private Entsorgungsstrukturen. Einen stärker in das Ordnungsrecht eingebetteten Markt 157 bilden die privaten Entsorgungsstrukturen in der Kreislaufwirtschaft. Hierbei geht es einerseits um die Organisation und Finanzierung von privaten Entsorgungssystemen und andererseits um private gewerbliche Sammlungen, die neben diesen und den staatlichen Entsorgungsstrukturen zulässig sind. Die privaten Entsorgungssysteme beruhen auf der Grundlage einer ordnungsrechtlich statu- 158 ierten individuellen Produktverantwortung289 von Entwicklern, Herstellern, Verarbeitern und

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283 Angesichts der unionalen Vorgabe sind hier die Gemeinschaftsgrundrechte entscheidend (vgl ausf zur Konformität Zimmer CO2-Emissionshandel in der EU, 2004); vgl insbes BVerwGE 124, 47 ff; BVerfG ZUR 2007, 579 ff und zusammenfassend Frenz UPR 2008, 8 ff; nicht verfassungsrechtlich, aber völkerrechtlich umstritten war die Einbeziehung des (auch) transkontinentalen Luftverkehrs in den Emissionshandel. Der EuGH hat hier die Rechtmäßigkeit bestätigt (EuGH Urt v 21.12.2011 – C-366/10 – (American Airlines ua/Secretary of State for Energy and Climate Change) = NVwZ 2012, 226 ff). 284 Zentrale Kriterien sind hier die Emissionsmengen, nach der Rspr aber auch die globale Wettbewerbsintensität auf den verschiedenen Märkten. Dem Rechtsetzer wird von der Rspr ein Gestaltungsspielraum zugebilligt, vgl nur EuGH Urt v 16.12.2008 – C-127/07 – (Société Arcelor Atlantique et Lorraine ua/Premierminister ua), Slg 2008, I-98959946 = NVwZ 2009, 382 = EuZW 2009, 263; BVerfGE 118, 79, 100 ff. 285 Art 10 ff RL 2009/29/EG v 23.4.2009 zwecks Verbesserung und Ausweitung des Gemeinschaftssystems für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten, ABlEG L 140/63. Siehe ausf Greb Der Emissionshandel ab 2013, 2011. 286 Siehe zur Diskussion nur einerseits Burgi/Selmer Verfassungswidrigkeit einer entgeltlichen Zuteilung von Emissionszertifikaten, 2007 und andererseits Sachverständigenrat für Umweltfragen Umweltgutachten 2008, Tz 175 ff, 187 ff; Sacksofsky Rechtliche Möglichkeiten des Verkaufs von Emissionsberechtigungen, 2008. 287 Vgl ausf zum Verhältnis des Emissionshandels zum Anlagenrecht statt vieler Mager DÖV 2004, 561 ff; weitere Nachweise bei Meßerschmidt Europäisches UmwR § 16 Fn 247. 288 Vgl nur Kommission der Europäischen Gemeinschaften Bericht nach Maßgabe von Art 30 der RL 2003/87/EG, KOM (2006) 676 endg; Wegener ZUR 2009, 283 ff; Winter ZUR 2009, 289 ff; Beckmann/Fisahn ZUR 2009, 299 ff. 289 Ausf Silke Thomson Produktverantwortung, 1998.

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Vertreibern (§ 23 KrWG), die ihre damit verbundenen Produktrücknahmepflichten durch den Aufbau und Betrieb von kollektiven Sammel- und Verwertungsstrukturen erfüllen können oder müssen (§§ 25 ff KrWG). Sie bilden rechtlich vorstrukturierte, auf staatliche Zielvorgaben ausgerichtete private Entsorgungssysteme, in denen der Wettbewerb von Entsorgungsunternehmen und die Kooperation in einem übergreifenden System verbunden sind.290 Das bekannteste Beispiel bildet die VerpackungsVO als Grundlage des „Duales System Deutschland“ (Grüner Punkt). Rechtlich sind für diese privaten Entsorgungssysteme die öffentlich-rechtliche und die wett159 bewerbsrechtliche Steuerung der privaten Entsorgungssysteme aufeinander abzustimmen. Dies kann nicht durch pauschale Vorrangregeln erfolgen, sondern muss über eine detaillierte Analyse der jeweiligen abfallrechtlichen Vorgaben einerseits und der immanenten Beschränkungen des wettbewerbsrechtlichen Kartellverbots andererseits erfolgen.291 160 Private gewerbliche Sammlungen neben diesen und den staatlichen Entsorgungsstrukturen sind unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, dürfen aber grundsätzlich die Funktionsfähigkeit dieser komplexeren Entsorgungsstrukturen nicht gefährden (§ 17 III KrWG).

d) Effektivierung politischer Öffentlichkeit: Umweltinformationen 161 Einen unspezifischen, aber mit großem Wirkungspotential versehenen Mechanismus zur Effektivierung umweltrechtlichen Vollzugs und umweltpolitischer Initiativen bildet die Aktivierung der Öffentlichkeit. Das zentrale umweltrechtliche Mittel hierfür ist die Verbreitung von und der Zugang zu Umweltinformationen als dem Rohstoff für gesellschaftliches Engagement und Rechtsschutzbegehren.292 In Umsetzung unionaler Vorgaben enthalten vor allem die Umweltinformationsgesetze von Bund und Ländern293 Pflichten der Behörden zur aktiven Bereitstellung und Verbreitung von Umweltinformationen sowie voraussetzungslose Ansprüche der Bürger auf Zugang zu den verfügbaren Umweltinformationen. Die aktiven Informationspflichten294 des UIG treten neben die vereinzelt bestehenden speziel162 len Unterrichtungspflichten des Umweltrechts.295 Sie verlangen neben einem periodischen Umweltzustandsbericht der Bundesregierung (§ 11 UIG) vor allem eine aktive, angemessene und systematische Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Umwelt durch die informationspflichtigen Stellen, insbesondere die Verwaltung. Hierfür müssen verfügbare Umweltinformationen,

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290 Näher Trute/Denkhaus/Kühlers Regelungsstrukturen der Kreislaufwirtschaft zwischen kooperativem Umweltrecht und Wettbewerbsrecht, 2004, 22 ff; Schmidt-Preuß Selbstregulierung und Privatisierung in der Abfallpolitik, 2001, 3 ff, 33 ff. Die individuelle Rücknahmeverpflichtung wurde mit der 5. Novelle der VerpackungsVO (2008) in eine Rechtspflicht zur Beteiligung an Rücknahmesystemen überführt, um dem Problem der Trittbrettfahrer zu begegnen (vgl näher Dieckmann/Reese in: Koch, UmwR, § 6 Rn 139 ff). 291 Kloepfer JZ 2002, 1117 ff; Darstellung der Entwicklung bei Flanderka/Stroetmann Verpackungsverordnung, 3. Aufl 2009, Einführung; Trute/Denkhaus/Kühlers Regelungsstrukturen Kreislaufwirtschaft zwischen kooperativem Umweltrecht und Wettbewerbsrecht, 2004, 102 ff; 161 ff; formal vom höherrangigen GWB ausgehend dagegen etwa Rinne WiVerw 2004, 255 ff. 292 Vgl näher statt vieler Klein Umweltinformation im Völker- und Europarecht, 2011. 293 Die ursprünglich umfassende bundesrechtliche Regelung wurde zu Gunsten auf den jeweils eigenen Verwaltungsbereich begrenzter Gesetze von Bund und Ländern aufgegeben und damit (keineswegs zwingend) kompetenziell dem Bezug solcher Informationen zur Verwaltungsorganisation Vorrang vor dem sachlich inhaltlichen Ziel eingeräumt. Neben der daraus folgenden föderalen Zersplitterung der Regelungen wird auch die sachliche Zersplitterung der Informationsansprüche der Bürger kritisiert und eine Zusammenfassung von IFG, UIG und VIG in einem Informationsgesetzbuch gefordert (vgl nur Schoch IFG, 2009, Einl Rn 118–120). Nachfolgend wird das UIG des Bundes beispielhaft zitiert. Siehe zum UIG Gurlit EurUP 2006, 224 ff; Murswiek/Ketterer/Sauer/Wöckel DV 44 (2011) 235, 260 ff; Voland DVBl 2011, 1262 ff; zu den Landesgesetzen Schomerus/Tolkmitt NVwZ 2007, 1119. 294 Vgl übersichtlich dazu Kümper/Wittmann NUR 2011, 840 ff; vgl auch Tolkmitt Instrumente zur aktiven Verbreitung umweltbezogener Informationen, 2010, 115 ff und die Analyse möglicher Wirkungsrestriktionen auf S 252 ff. 295 Vgl nur §§ 46a und 47d BImSchG; § 28a GenTG (insgesamt näher Kümper/Wittmann NuR 2011, 840, 847).

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mindestens aber die vom Gesetz genannten Pflichtinformationen zu Handlungsprogrammen, Überwachungstätigkeit und Zulassungsentscheidungen in verständlicher Darstellung leicht, dh möglichst auch elektronisch, zugänglich gemacht werden (§ 10 UIG). Der Zugang zu Umweltinformationen für Jedermann nach den Umweltinformationsgesetzen 163 steht neben den Akteneinsichtsrechten nach den Verwaltungsverfahrens- und speziellen Umweltgesetzen, die sich auf konkrete Verwaltungsverfahren beziehen sowie dem Anspruch auf Informationszugang aus § 2 Verbraucherinformationsgesetz (VIG),296 der sich auf den Bereich der Lebens- und Futtermittel bezieht (§ 2 I VIG). Er verdrängt hinsichtlich des Zugangs zu Umweltinformationen die ebenfalls verfahrensunabhängig bestehenden Ansprüche auf Informationszugang nach den Informationsfreiheitsgesetzen (§ 1 III IFG).297 Anspruchsberechtigt ist nach § 3 UIG Jedermann, was natürliche, juristische und angesichts 164 des Gesetzeszwecks auch nichtrechtsfähige, verfestigte Organisationen (zB Bürgerinitiativen) umfasst.298 Anspruchsverpflichtet sind grundsätzlich299 die gesamte öffentliche Verwaltung sowie Privatrechtssubjekte, soweit sie umweltrelevante öffentliche Aufgaben wahrnehmen und staatlich kontrolliert sind (§ 2 UIG). Anspruchsinhalt ist grundsätzlich der freie Zugang zu Umweltinformationen (§ 3 I UIG), worunter insbesondere alle Daten verstanden werden, die sich auf den Zustand der Umwelt sowie Faktoren, Tätigkeiten und Maßnahmen mit Auswirkungen für die Umwelt einschließlich eventueller Vorarbeiten hierfür und Berichte über die Umsetzung des Umweltrechts beziehen (§ 2 III UIG).300 Der Informationszugang wird durch flankierende Pflichten erleichtert, so insbesondere die Pflicht, auf eine elektronische Verfügbarkeit und Abrufmöglichkeit hinzuwirken und praktische Vorkehrungen wie Datenbanken oder Verzeichnisse zur leichten Auffindbarkeit einzurichten (§ 7 UIG). Ganz entsprechend der informationsfreundlichen Grundtönung des Gesetzes sind die für die Übermittlung von Informationen zu erhebenden Kosten hinsichtlich der Gebühren so zu bemessen, dass der Anspruch wirksam genutzt werden kann (§ 3 I, II UIG). Für die aktiven Informationspflichten wie den antragsgebundenen Zugang zu Umweltin- 165 formationen sehen die Gesetze in Konkretisierung der grundrechtlichen Spannungslagen regelmäßig einheitliche Grenzen zum Schutz öffentlicher und privater Belange vor (§§ 8 f, 10 VI UIG).301

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296 Der Anspruch nach VIG ist im rechtstechnischen Grundmuster parallel zum Anspruch nach dem UIG strukturiert. Er besteht aber gegenüber der Bundes- wie Landesverwaltung und bezieht sich auf den abweichenden Informationsbereich des Umgangs mit Lebens- und Futtermitteln. Hinsichtlich des Verfahrens und der Ausnahmen bestehen Abweichungen im Detail (siehe näher die Beiträge in: Böhm/Freund/Voit, Verbraucherinformationsgesetz, 2009; Wustmann BayVBl 2012, 715 ff; Schoch NVwZ 2012, 1497 ff). 297 Vgl zum Verhältnis näher Schoch IFG, 2009, § 1 Rn 172; die Rspr lässt bei Informationsbegehren, die in beiden Fällen berechtigt sind mitunter offen, welches Gesetz anwendbar ist, BVerwG NVwZ 2009, 1113. 298 Zur Anspruchsberechtigung der nichtrechtsfähigen Personenmehrheiten BVerwGE 108, 369 ff. Der Anspruch setzt einen hinreichend bestimmten Antrag voraus, wobei an die Bestimmtheit keine hohen Anforderungen zu stellen sind (vgl § 3 I, IV UIG). 299 § 2 I Nr 1 S 2 lit a UIG nimmt die obersten Bundesbehörden aus, „soweit sie im Rahmen der Gesetzgebung oder beim Erlass von Rechtsverordnungen tätig werden“, was vom EuGH ausdrücklich, aber nur für die Dauer des Gesetzgebungsverfahrens für zulässig erachtet wurde (EuGH Urt v 14.2.2012 – C-204/09 – (Flachglas Torgau/BRD) = NuR 2012, 183 ff; dazu Much ZUR 2012, 288 ff). Nach BVerwG DVBl 2013, 34 ist ein Bundesministerium im Rahmen seiner gesetzesvorbereitenden Tätigkeit nicht informationspflichtig. 300 Die Rspr fasst den Begriff regelmäßig weit. Vgl näher Fluck/Theuer in: dies, Informationsfreiheitsrecht, § 2 Rn 269 ff (Stand 7/2006); aus neuerer Zeit nur BayVGH ZUR 2011, 486 ff; EuGH Urt v 16.12.2010 – C-266/09 – (Stichting Natuur en Millieu ua/College etc) = NVwZ 2011, 156 ff. 301 Die Gründe für die Verweigerung sind wegen des durch die RL 2003/4 EG vorgegebenen Ziels möglichst weitgehender Transparenz und ihres ausdrücklich dahingehenden Erwägungsgrundes 16 eng auszulegen (vgl entsprechend OVG RP DVBl 2006, 1059; EuGH Urt v 28.7.2011 – C-71/10 – (Office of Communications/Information Commisioner), Tz 22 mit weiteren Ausführungen zur Abwägung in Tz 23 ff). Spezielle Regelungen zur Geheimhaltung bzw Veröffentlichung von Daten gehen der allgemeinen RL aber vor (vgl zur Geheimhaltung von Transaktionsdaten im Emissionshandel EuGH Urt v 22.12.2012 – C-524/09 – (Ville de Lyon/Caisse de dépôts et consignations) = NVwZ 2011, 352 ff und umgekehrt zu den Transparenzanforderungen im Gentechnikrecht EuGH Urt v 17.2.2009 – C 552/07 – (Sausheim/Azelvandre) = NuR 2009, 182).

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

Zu den öffentlichen Belangen zählen insbesondere die Öffentliche Sicherheit und die Vertraulichkeit von Beratungen der pflichtigen Stellen, zu den privaten Belangen insbesondere das Persönlichkeitsrecht, das Geistige Eigentum und Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse.302 Wenn entsprechende Interessen nachteilig betroffen oder Rechte beeinträchtigt würden, ist insoweit eine Verbreitung zu unterlassen bzw der Antrag abzulehnen, es sei denn, das öffentliche Interesse an der Verbreitung überwiegt303 oder die betroffenen Privaten haben zugestimmt. Durch Unkenntlichmachung oder Aussonderung der entsprechenden Teile ist aber dennoch ein möglichst weitgehender individueller Informationszugang sicherzustellen (§§ 5 III, 6 III UIG). Für alle Verwaltungsinformationen muss schließlich im Rahmen des Möglichen die Richtigkeit und Aktualität gewährleistet werden (§§ 7 III, 10 VI UIG).304 Insgesamt wird das UIG zur Informationsgewinnung tatsächlich genutzt, wobei die Verwaltungspraxis aber überwiegend noch die erwarteten Widerstände gegen die gesetzlich angestrebte weitgehende Transparenz zeigt.305

e) Schatten des Rechts: Selbstverpflichtungen der Wirtschaft 166 Seit den 1980er Jahren haben sich im Umweltrecht Selbstverpflichtungen der Wirtschaft verbreitet, mit denen regelmäßig drohende umweltpolitische Maßnahmen abgewendet werden sollten.306 Aus der instrumentellen staatlichen Perspektive kommen hier die Verbandsstrukturen der Wirtschaft im Dienste umweltpolitischer Ziele zum Einsatz – häufig mit staatlicher Einflussnahme und regelmäßig unter dem fortwirkenden307 „Schatten des Rechts“. Über die Selbstverpflichtungen sollen privates Wissen aktiviert und schnelle, flexible, innovative und problemangemessene Lösungen entwickelt und umgesetzt werden. Mit der Öko-Design-RL308 wurde die Alternative zwischen Normerlass und freiwilliger Selbstverpflichtung erstmals in Ansätzen verrechtlicht.309 Der Staat ist rechtlich grundsätzlich bei seinen auch informellen Handlungsbeiträgen vor 167 allem an die Verfassungsvorgaben, insbesondere die Kompetenzordnung gebunden.310 Die Privaten werden durch das Kartellrecht beschränkt, das allerdings mit den Freistellungsmög-

_____ 302 Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse sind auf ein Unternehmen bezogene Tatsachen, Umstände und Vorgänge, die nicht offenkundig sind und an deren Nichtverbreitung der Rechtsträger ein berechtigtes Interesse hat, insbes weil die Zugänglichmachung für Marktkonkurrenten die Wettbewerbsposition des Unternehmens nachteilig beeinflusst (vgl nur BVerwG NVwZ 2009, 1113 f in Übereinstimmung mit BVerfGE 115, 205, 230). 303 So jedenfalls teilweise bei Informationsansprüchen bzgl des Erhalts von Agrarsubventionen OVG NW DVBl 2011, 698 ff. 304 Ausf zu den Anforderungen an die Informationsrichtigkeit Britz/Eifert/Groß DÖV 2007, 717 ff, insbes 718–722. 305 Vgl zur Praxis die empirische Untersuchung von Zschiesche/Sperfeld ZUR 2011, 71 ff; zur Prognose der Widerstände nur Schomerus/Schrader/Wegener Umweltinformationsgesetz, 1. Aufl 1995, 5. 306 Empirische Erhebung in Knebel/Wicke/Michael, Selbstverpflichtungen und normersetzende Umweltverträge als Instrumente des Umweltschutzes, 1999, 291 ff und weitere Bsp bei Michael Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat, 2002, 47 ff; insgesamt näher Faber Gesellschaftliche Selbstregulierungssysteme im Umweltrecht, 2001 und knapp Eifert in: GVwR I, § 19 Rn 73 ff. 307 Eine eingegangene Selbstverpflichtung lässt die Möglichkeit einer umweltrechtlichen Lösung nicht entfallen, da selbst bei intensiven informellen Kontakten zwischen Staat und Wirtschaft beiderseitig keinerlei Rechtsbindungswillen besteht und der Staat schon aus demokratiestaatlichen Gründen keinen rechtsverbindlichen Verzicht auf Normerlass erklären kann. 308 RL 2009/125/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 21. Oktober 2009 zur Schaffung eines Rahmens für die Festlegung von Anforderungen an die umweltgerechte Gestaltung energieverbrauchsrelevanter Produkte, ABlEU Nr L 285 v 31.10.2009, 10. Zu deren weitreichendem Potential Schomerus/Spengler EurUP 2010, 54 ff. 309 Die Alternative lautet hier konkret: Erlass einer unionalen Durchführungsmaßnahme oder freiwillige Vereinbarung (Art 15 I, III lit b, Art 17 iVm Anhang VIII RL 2009/125/EG). 310 Darüber hinaus wird je nach Konstellation die analoge Anwendung der Vorschriften zur Normsetzung oder dem Verwaltungsverfahren intensiv diskutiert (Helberg Normabwendende Selbstverpflichtungen als Instrumente des Umweltrechts, 1999, 221 ff; vgl auch Faber Gesellschaftliche Selbstregulierungssysteme im Umweltrecht, 2001, etwa 261 ff, 325 ff), sollte aber allenfalls punktuell und differenziert vorgenommen werden, um die Informalität als Voraussetzung der Leistungsfähigkeit nicht aufzuheben.

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IV. Instrumente und Charakteristika des Umweltrechts – 5. Kapitel

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lichkeiten (§§ 2 f GWB; Art 101 AEUV) Mechanismen besitzt, das öffentliche umweltpolitische Interesse zu berücksichtigen.311 Empirisch hängt der umweltpolitische Erfolg der Selbstverpflichtungen vor allem von parallelen Interessen und einem hohen Organisations-/Konzentrationsgrad der Wirtschaft sowie einer hinreichenden Bestimmtheit der Verpflichtungen und einem effektiven Monitoring mit hoher Transparenz ab.312 Die Öko-Design-RL stellt die unionale Rechtsetzung und die freiwilligen Verpflichtungen 168 als Bewirkungsmodi gleichrangig nebeneinander, sieht aber ausdrücklich eine „Bewertung“ der Verpflichtungen an Hand von Kriterien vor, die ua die empirisch belegten Erfolgsfaktoren umfassen.313 Insgesamt ist gegenwärtig unklar, ob eine solche formalisierte Instrumentenwahl die Selbstverpflichtung als Instrument fördert oder ob sich ihr im letzten Jahrzehnt zu beobachtender praktischer Bedeutungsrückgang fortsetzt.

4. Instrumentenmix als Strategie Wenn man die skizzierten Instrumente zu den Umweltproblemen in Bezug setzt, zeigt sich, dass 169 regelmäßig eine Kombination verschiedener Instrumente zur Problemlösung vorliegt, ein sogenannter Instrumentenmix bzw ein Instrumentenverbund.314 Eine Instrumentenverbindung kann aus einer strategischen, umfassenden Problemfeldbearbeitung erwachsen, wie sie die sog thematischen Strategien darstellen, die auf EU-Ebene mit dem sechsten Umweltaktionsprogramm zur Erreichung der Umweltziele entwickelt und umgesetzt werden.315 Sie können aber auch historisch gewachsen sein, wobei der Gesetzgeber seine Instrumentenwahl wohl durchaus bewusst trifft.316 Rechtlich wird die Instrumentenwahl kaum positiv gesteuert. Normative Orientierungen 170 geben nur „weiche“ Maßstäbe wie das Effektivitätsgebot oder die Aufgabe einer rationalen Regulierung, die nach Konsistenz und Anpassungsfähigkeit verlangt. 317 Begrenzt wird der Instrumentenmix aber durch die Grundrechte der Adressaten. Aus dieser Perspektive sind widersprüchliche Regelungen unzulässig und muss die Gesamtbelastung verhältnismäßig bleiben. Die Prüfung der Gesamtbelastung erfordert allerdings eine entsprechende Erweiterung der traditionell für Einzelregelungen konzipierten Verhältnismäßigkeitsprüfung.318

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311 Vgl näher nur Kloepfer JZ 1980, 781 ff; Michael Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat, 2002, 519 ff. 312 Zusammenfassend Helberg Normabwendende Selbstverpflichtungen als Instrumente des Umweltrechts, 1999, 263 ff; vgl auch Europäische Kommission KOM (2002) 412 endg. 313 Vgl Art 15 I, 17 iVm Anhang VIII RL 2009/125/EG; Zur Gleichwertigkeit Reimer Ansätze zur Erhöhung der Energieeffizienz im Europarecht in: Schulze-Fielitz/Müller, Europäisches Klimaschutzrecht, 2009, 147, 162 f; Eifert „Sachverständiges Recht“ am Beispiel des Technikrechts in: Bumke/Röthel, Privates Recht, 2012, 79, 84 ff mit Auflistung der in Vorbereitung befindlichen Selbstverpflichtungen; aA: Hermes FS Rehbinder, 2007, 569, 583. Anhang VIII nennt als Kriterien: Offenheit der Beteiligung, Mehrwert, Repräsentativität, Quantifizierte und abgestufte Ziele, Beteiligung der Zivilgesellschaft, Überwachung und Berichterstattung, Kostenwirksamkeit der Verwaltung einer Selbstregulierungsinitiative, Nachhaltigkeit sowie Kompatibilität von Anreizen. 314 Siehe allgem dazu Michael in: GVwR II, § 41; Zum Umweltrecht nur frühzeitig Breuer NVwZ 1997, 833 ff; neuer und exemplarisch Hermes FS Rehbinder, 2007, 569 ff; aus ökonomischer Perspektive aufgearbeitet bei Gawel Umweltpolitik durch gemischten Instrumenteneinsatz, 1991. 315 Gegenwärtig gibt es sieben thematische Strategien, und zwar zur Luftreinhaltung, zum Schutz der Meeresumwelt, für Abfallvermeidung und -recycling, für Bodenschutz, für eine nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen, für den nachhaltigen Einsatz von Pestiziden und für die städtische Umwelt (vgl http://ec.europa.eu/environment/ newprg/strategies_en.htm). 316 Vgl nur die genaue Analyse zu den Instrumenten im Energieeffizienzrecht von Jesse Die Entwicklung des Instrumentenverbundes im Energieeffizienzrecht in: Britz/Eifert/Reimer, Energieeffizienzrecht, 2010, 15 ff. 317 Vgl nur Britz/Eifert/Reimer Charakteristika des Energieeffizienzrechts in: dies, Energieeffizienzrecht, 2010, 63, 101 ff. 318 Siehe umfassend jetzt Jesse, Der Instrumentenverbund, iE; vgl auch Klement AöR 134 (2009), 35 ff; vgl auch Kloepfer UmwR § 5 Rn 237 mit dem vielzitierten Vorschlag einer Entindividualisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Umweltrecht.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

5. Rechtsschutz 171 Umweltpolitische Konflikte werden regelmäßig durch gerichtliche Auseinandersetzungen begleitet oder in diesen fortgesetzt. Hierdurch ist der Rechtsprechung eine wichtige Rolle bei der Konkretisierung und Fortentwicklung des Umweltrechts zugewachsen. Rechtsschutz wird dabei in unterschiedlichen Konstellationen begehrt.

a) Grundkonstellationen 172 Der Rechtsschutz dient umfassend dem Schutz subjektiver Rechte (vgl Art 19 IV GG). Hier geht es zum einen Teil um Klagen der von staatlichen Maßnahmen betroffenen Umweltnutzer, etwa Verpflichtungsklagen auf Genehmigung oder die Anfechtung von nachträglichen Anordnungen. Zum anderen Teil handelt es sich um Klagen von Dritten, die als Betroffene der Umweltnutzungen um Schutz ihrer Gesundheit oder ihres Eigentums nachsuchen, etwa Anwohner in der Nähe von Industrieanlagen. Sie greifen meist entweder Genehmigungen an oder begehren Maßnahmen zu ihrem Schutz. Gleichermaßen kann es jeweils um vorbereitende oder begleitende Fragen des Informationszugangs oder der Verfahrensteilhabe gehen. Der Rechtsschutz wird über diesen Schutz der subjektiven Rechte hinaus aber teilweise 173 auch als Mittel der objektiven Rechtskontrolle und damit als Vollzugsmotor eingesetzt. Dieser Ansatz geht vor allem auf völkerrechtliche (Aarhus-Konvention) und unionale Vorgaben zurück.319 Das Unionsrecht kompensiert hier teilweise das Fehlen eigener Vollzugsmöglichkeiten bei seiner gleichzeitigen Angewiesenheit auf einen einheitlichen Vollzug.320 Anerkannte Umweltverbände können bei wichtigen staatlichen Entscheidungen wie etwa zentralen Zulassungsentscheidungen eine gerichtliche Kontrolle anstrengen und sie auch auf Verstöße gegen objektive Rechtsnormen überprüfen lassen. Die gesteigerte Bedeutung der Öffentlichkeit für die Verwirklichung des Umweltrechts wird hier über die Verfahrensteilhabe und den Informationszugang hinaus in die gerichtliche Kontrolle verlängert.321

b) Allgemeiner Rahmen des Rechtsschutzes 174 Der umweltrechtliche Rechtsschutz erfolgt regelmäßig durch die Verwaltungsgerichte (§ 40 I VwGO) und verläuft grundsätzlich in den Bahnen der allgemeinen verwaltungsprozessualen Bestimmungen. Er ist deshalb im Rahmen der üblichen Prüfungsschemata zu bearbeiten. Seine Besonderheiten treten bei der Anwendung oder Modifikation einzelner Prüfungspunkte im Zusammenhang mit Regelungen des spezifischen Umweltrechts auf, die anschließend behandelt werden. Es gibt aber auch zahlreiche Regelungen im allgemeinen Verwaltungsprozessrecht, die 175 sich auf umweltrelevante Verfahren beziehen oder zumindest auch typische umweltbezogene Verfahren zum Hintergrund haben.322 Sie reichen von der erstinstanzlichen Zuständigkeit des BVerwG für die großen Infrastrukturvorhaben (§ 50 I Nr 6 VwGO) über die Regelungen für sogenannte Massenverfahren (§§ 56a, 67a, 93a VwGO) bis zu Maßnahmen der Verfahrensbeschleunigung wie dem weitgehenden Wegfall der Vorverfahren durch spezielles Bundes- oder Landesrecht (vgl § 68 I 2 HS 1 VwGO).

_____ 319 Umfassend Schlacke Überindividueller Rechtsschutz, 2008; siehe auch Wegener ZUR 2011, 363 ff. 320 Siehe umfassend zum unionalen Ansatz Masing Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997, 37 ff. 321 Vgl zur Erweiterung des Kontrollzugangs insgesamt näher Schlacke Überindividueller Rechtsschutz, 2008, 102 ff; Schoch in: GVwR III, § 50 Rn 174 ff. 322 Vgl auch näher Kloepfer UmweltschutzR § 5 Rn 1 ff.

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c) Klageart Die jeweils statthafte Klageart hängt nach der VwGO wesentlich von der Handlungsform der an- 176 gegriffenen staatlichen Maßnahme ab. Soweit es sich um untergesetzliche landesrechtliche Rechtsvorschriften handelt, wie etwa bei den Schutzgebietsausweisungen durch RechtsVO, ist regelmäßig das von § 47 I Nr 2 VwGO in Verbindung mit dem Landesrecht eröffnete Normenkontrollverfahren einschlägig. Diskutiert wird hier nur die Anwendung der Normenkontrolle bei generellen, rechtserheblichen Maßnahmen, wenn und soweit deren Qualifikation unklar ist – wie insbesondere bei den vorgelagerten koordinierenden Plänen im Immissionsschutz – und Wasserrecht. Ganz überwiegend wird die Anwendung aber jedenfalls beim Fehlen unmittelbar außenwirksamer Regelungen abgelehnt.323 In allen Fällen besteht daneben die Möglichkeit einer inzidenten Kontrolle im Rahmen der Überprüfung von Einzelmaßnahmen, die auch auf solche Pläne gestützt werden.324 Wenn keine Rechtsvorschriften vorliegen, sind die anderen Klagearten je nach Art der Maß- 177 nahme einschlägig. Soweit es um Genehmigungen oder Anordnungen der Behörde geht, liegen Verwaltungsakte vor, die (vom Adressaten oder Dritten) mit der Verpflichtungsklage begehrt oder mit der Anfechtungsklage angegriffen werden können. Auch gegen Nebenbestimmungen solcher Verwaltungsakte, die im Umweltrecht regelmäßig eingesetzt werden, ist nach der Rechtsprechung die Anfechtungsklage zulässig.325 Soweit es um Auskunfts- oder Informationsrechte geht, ist regelmäßig die Entscheidung der Behörde über das Ob als Verwaltungsakt anzusehen und entsprechend Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage zu erheben. Darüber hinaus ist hier die statthafte Klageart strittig.326

d) Subjektive Rechte und Klagebefugnis Soweit keine abweichende gesetzliche Regelung besteht, ist der Zugang zu den Gerichten von 178 der möglichen Verletzung subjektiver Rechte des Klägers (Klagebefugnis) abhängig (§ 42 II VwGO in direkter oder analoger Anwendung, § 47 II VwGO). Ob der im Rahmen grundrechtlicher und unionaler Vorgaben maßgebliche Gesetzgeber dem Kläger subjektive Rechte eingeräumt hat, ist insbesondere bei Klagen Drittbetroffener schwer zu ermitteln. Entsprechend der sog Schutznormtheorie327 setzt ein subjektives Recht grundsätzlich voraus, dass die in Rede stehende Norm nicht nur dem Allgemeininteresse, sondern (zumindest auch) Individualinteressen zu dienen bestimmt ist und der Kläger personell zum geschützten Personenkreis gehört. aa) Schutz und Vorsorge. Der Schutz von Individualinteressen ist für die Vorschriften zur Ge- 179 fahrenabwehr schon wegen der grundrechtlichen Schutzpflichten anzunehmen. Für die Vor-

_____ 323 Zur Luftreinhalteplanung Sparwasser NVwZ 2006, 369, 376 dort auch Fn 115; zu den wasserrechtlichen Plänen Durner NuR 2009, 77, 84; Faßbender ZfW 2010, 189, 204; Czychowski/Reinhardt Wasserhaushaltsgesetz: WHG Kommentar, 10. Aufl 2010, § 82 Rn 12; § 83 Rn 18; aA Götze ZUR 2008, 393, 396 ff unter Rückgriff ua auf die Rspr des BVerwG zur uU eröffneten Normenkontrolle gegen Flächennutzungspläne. 324 Zur Möglichkeit der inzidenten Normenkontrolle eines Flächennutzungsplans bei mittelbarer Außenwirkung über § 35 I Nr 1 BauGB vgl Kopp/Schenke VwGO § 47 Rn 22; siehe ausführlicher Ramsauer in: Koch, UmwR, § 3 Rn 155 ff. 325 Der Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen ist im Einzelnen umstritten, vgl Schenke Verwaltungsprozessrecht, 13. Aufl 2012, § 6 Rn 281 ff; die Rspr nimmt aber grundsätzlich die Statthaftigkeit der Anfechtungsklage an (BVerwGE 112, 221). Sorgfältig abzugrenzen bleibt aber immer, ob es sich nicht nur um eine scheinbare Nebenbestimmung handelt und in Wirklichkeit eine Inhaltsbestimmung vorliegt, die nicht isoliert angegriffen werden kann. 326 Vgl Ramsauer in: Koch, UmwR, § 3 Rn 153 f; zur Einordnung der voraussetzungslosen Ansprüche auf Informationszugang in das System der subjektiven Rechte näher Schoch in: GVwR III, § 50 Rn 162 ff. 327 Vgl dazu nur BVerwGE 7, 355; 111, 276, 280; systematisch erhellend und weiterführend Schoch in: GVwR III, § 50 Rn 134 ff; Wahl in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorb § 42 II Rn 94 ff; ausf Behandlung umweltrechtlicher Vorschriften bei Wahl/Schütz in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 42 Rn 150 ff.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

schriften zur Vorsorge wird er demgegenüber prinzipiell abgelehnt. Diese prinzipielle Betrachtung ist allerdings überholt.328 Die Unterscheidung beruht auf der Grundannahme, dass die Vorsorgevorschriften sich nur auf den Bereich unterhalb der Gefahrenschwelle bezögen, in dem es insbesondere nicht mehr um Gesundheitsschutz gehe, sondern nur noch um Kollektivrisiken der ökologischen Belastungsgrenzen.329 Soweit die umweltrechtlichen Regelungen dieser Annahme folgen, ist die Unterscheidung plausibel möglich. Soweit sie aber dieser stark am Immissionsschutzrecht entwickelten Grundannahme nicht entsprechen, trägt sie von vornherein nicht. Dies ist bei einer Reihe von Grundkonstellationen der Fall.330 Soweit nur Vorsorgewerte, aber keine eigenen Grenzwerte zur Gefahrenabwehr bestehen, kann auch der Schutz der individuellen Rechtsgüter nur über diese Werte praktikabel erfolgen, so dass sie als drittschützend anerkannt werden.331 Soweit es um kanzerogene Stoffe geht, für die regelmäßig keine gesundheitsschützende Grenzwertbildung möglich ist, wird eine grenzwertunabhängige Minimierung der Emissionen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit vertreten.332 Soweit die rechtlichen Regelungen von vornherein keine Abschichtung zwischen Gefahrenabwehr und Vorsorge vornehmen, wie dies im Atom- und Gentechnikrecht der Fall ist, muss der effektive Drittschutz ebenfalls auch den Vorsorgebereich umfassen.333 Und soweit es schließlich um den großen Bereich unionaler Vorgaben geht, ist jedenfalls im Wege unionskonformer Auslegung ein Drittschutz für alle Maßnahmen anzunehmen, die den unionalen Gesundheitsschutz umsetzen. Denn das Unionsrecht selbst unterscheidet nicht zwischen Schutz und Vorsorge, sondern fordert eine Rechtsschutzmöglichkeit bei allen Normen, die den Schutz der Gesundheit oder anderer personaler Rechtsgüter bezwecken.334 Ob diese unionalen Vorgaben als „anders gesetzlich bestimmt“ iSd § 42 II VwGO angesehen oder im Wege einer unionskonformen Interpretation der subjektiven Rechte in die Schutznormtheorie integriert werden, ist eine rein konstruktive Frage.335 180 Personell umfasst der Drittschutz im besonders bedeutsamen Anlagenrecht alle, die sich regelmäßig im Einwirkungsbereich der Anlage aufhalten. Im Gegensatz zum Baurecht sind in diesem jeweils näher zu bestimmenden räumlichen Bereich336 also auch etwa Mieter und Arbeitnehmer geschützt.337 181 bb) Abgeschichtete Entscheidungen. Schwierigkeiten bereitet die Klagebefugnis bei einer Abschichtung der behördlichen Maßnahmen. Grundsätzlich ist hier eine unmittelbare rechtliche Betroffenheit erforderlich. In gestuften Genehmigungsverfahren wird diese unabhängig von dem abschließend geregelten Inhalt des Vorbescheids oder der Teilgenehmigung regelmäßig durch das vorläufige positive Gesamturteil vermittelt.338 Für einen Angriff auf die vorgelagerte koordinierende Planung im Luftreinhalte- und Wasserrecht wird nach hM die Klagebefugnis mangels

_____ 328 Siehe Ramsuauer in: Koch, UmwR, § 3 Rn 166; Trute Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanungen nach dem BImSchG, 1989, 350. 329 Vgl nur BVerwG NVwZ 1983, 32 ff; NVwZ 2008, 789, 790. 330 Vgl auch Schmidt/Kahl, UmwR § 1 Rn 104. 331 Vgl nur BVerwGE 119, 329, 333; Jarass BImSchG § 5 Rn 122; Kopp/Schenke VwGO § 42 Rn 105; weitere Beispielsfälle aus der Rspr bei Roller NVwZ 2010, 990 ff. 332 Vgl Roßnagel in: Koch/Scheuing, GK-BImSchG, § 5 Rn 366, 840 mwN; offen gelassen von VGH BW, NVwZ 1996, 297, 300. 333 VGH BW, NVwZ 1996, 297, 300; Roller NVwZ 2010, 990, 991 ff; Wahl/Schütz in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO § 42 Rn 155 f. 334 Vgl näher Schoch in: GVwR III, § 50 Rn 154 ff. 335 Vgl dazu Huber BayVBl 2001, 577, 579; Schoch NVwZ 1999, 457 ff. 336 Schlotterbeck NJW 1991, 2669, 2670 f; Wahl/Schütz in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 42 Rn 155 f. 337 Wahl/Schütz in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 42 Rn 162. 338 Siehe grundlegend zum Rechtsschutz im gestuften Verfahren BVerwGE 92, 192 ff.

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ihrer unmittelbaren Außenwirkung verneint.339 Soweit allerdings eine unional begründete rechtliche Verpflichtung zur Planung besteht und diese zum Gesundheitsschutz erforderlich ist, muss ein Anspruch auf Planung340 angenommen werden. Besteht bereits eine Planung, vermitteln ihre Vorgaben in Verbindung mit den gesetzlichen Realisierungsgeboten und den konkreten Ermächtigungsgrundlagen für die Maßnahmen den Betroffenen auch einen Anspruch auf Umsetzung.341

e) Klagemöglichkeiten von Umweltverbänden Neben den Schutz der Individualrechte ist im Umweltrecht die Rechtskontrolle durch anerkann- 182 te Umweltschutzvereinigungen getreten. Im Zentrum steht dabei das auf die Aarhus-Konvention und die Öffentlichkeitsbeteiligungs-RL zurückgehende UmwRG. Nach § 2 I UmwRG können anerkannte Vereinigungen Rechtsbehelfe gegen die vom Anwen- 183 dungsbereich erfassten Entscheidungen oder deren Unterlassen wegen der Verletzung umweltrechtlicher Vorschriften einlegen, ohne in eigenen Rechten verletzt zu sein. Das UmwRG beschränkt diese Möglichkeit zwar auf die Rüge der Verletzung solcher Normen, die subjektive öffentliche Rechte begründen (§ 2 I Nr 3 UmwRG). Diese von Anfang an stark kritisierte, dem Grundgedanken von Aarhus-Konvention und Öffentlichkeitsbeteiligungs-RL widersprechende Schutznormakzessorietät wurde vom EuGH allerdings für unionsrechtswidrig erklärt.342 Sie widerspreche dem Ziel der RL, einen weiten Zugang der Öffentlichkeit zu den Gerichten zu gewähren und verwehre es den Umweltverbänden, die unional bedingten Vorschriften des nationalen Umweltrechts, die nicht auf den Schutz Einzelner gerichtet sind, gerichtlich überprüfen zu lassen.343 In der Folge können die Umweltverbände bis zur Anpassung des UmwRG eine Rüge der Nichteinhaltung von aus Unionsrecht hervorgegangenen Vorschriften unmittelbar auf die zugrundeliegenden Richtlinien stützen (va Art 10a RL 85/337/EWG-IVU-RL). 344 Der Entwurf zur Anpassung des UmwRG sieht ua vor, in § 2 I Nr 1 UmwRG die Wörter „Rechte Einzelner begründen“ zu streichen, so dass die Umweltverbände (nicht aber Individualkläger) auch die Verletzung nicht-drittschützender Normen geltend machen können sollen.345 Die Befugnis zur Einlegung der Rechtsbehelfe besteht grundsätzlich nur für nach § 3 UmwRG 184 anerkannte inländische und ausländische Vereinigungen. Nach § 3 I UmwRG besteht ein Anspruch auf Anerkennung, wenn die Vereinigung ua nach ihrer Satzung ideell vorwiegend den

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339 Siehe für die Luftreinhalteung nur OVG NW ZUR 2011, 199; für das Wasserrecht Durner NuR 2009, 77, 84; Faßbender ZfW 2010, 189, 204. 340 Vgl EuGH Urt v 25.7.2008 – C-237/07 – (Janecek/Freistaat Bayern), Slg 2008 I-06221 = NVwZ 2008, 984 zur Auslegung der damals geltenden RL 96/62. Nach der jetzt geltenden Luftqualitätsrichtlinie 2008/50 besteht gem Art 24 I iVm Anhang XII (umgesetzt durch § 47 II BImSchG iVm der 39. BImSchV) eine ausdrückliche Verpflichtung zur Planung nur noch bei der Gefahr einer Überschreitung der Alarmschwellen für SO2, NO2 und (in Grenzen) für Ozon. Ergänzend kann noch die Pflicht zum Erlass kurzfristig wirkender Maßnahmen nach Art 23 LQRL herangezogen werden (Sparwasser/Engel NVwZ 2010, 1513, 1519). Inwieweit in der Regel auch in den anderen Fällen eine Planungspflicht wegen einer Ermessensreduktion auf Null anzunehmen ist und diese ein mitgliedstaatliches subjektives Recht erfordert, ist umstritten (vgl näher Cancik ZUR 2011, 283, 294; Sparwasser/Engel NVwZ 2010, 1513, 1519). Für das Wasserrecht wird hier weitgehend auf die Paralelle zum Luftreinhalterecht abgestellt (vgl nur Götze ZUR 2008, 393, 400 f; Faßbender ZfW 2010, 189, 202). 341 VG Wiesbaden, Urt v 10.10.2011 – 4 K 757/11.WI. 342 EuGH Urt v 12.5.2011 – C-115/09 – (Trianel) = DVBl 2011, 757 ff m Anm Durner; näher dazu statt vieler Wegener ZUR 2011, 363 ff; Schlacke NVwZ 2011, 804 f; Berkemann DVBl 2011, 1253 ff. 343 Die Argumentation mit dem Effektivitätsgrundsatz hat auch das Potential zu einer Ausweitung der zulässigen Gegenstände der Rechtsbehelfe in weitere Bereiche des Umweltrechts (vgl Erbguth/Schlacke UmwR § 6 Rn 15). 344 BVerwG NVwZ 2012, 176 ff; VGH BW ZUR 2011, 600 ff. 345 Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umweltrechtlicher Vorschriften v 30.5.2012 (http://www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/umwrg_ aendg_entwurf_bf.pdf).

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

Umweltschutz fördert, eine näher bestimmte Dauerhaftigkeit und organisatorische Verfestigung aufweist, gemeinnützig ist und für jedermann offen steht. Gegenstände der Rechtsbehelfe können die in § 1 UmwRG genannten Entscheidungen über 185 die zentralen umweltrechtlichen Vorhaben sein, die insbesondere die Zulässigkeit von UVPpflichtigen Vorhaben und allen genehmigungsbedürftigen Anlagen nach dem BImSchG sowie wasserrechtliche Erlaubnisse nach § 8 I WHG umfassen. Über den Verweis des § 11 USchadG auf das UmwRG kommt noch die rechtswidrige Untätigkeit der Behörden bei Umweltschäden nach der Umwelthaftungsrichtlinie hinzu.346 Der Prüfungsumfang ist entsprechend der Klagebefugnis auf die Verletzung umweltrechtlicher Vorschriften beschränkt.347 Neben348 dem UmwRG besteht für die entsprechend gem § 3 UmwRG anerkannten Vereinigun186 gen die ältere naturschutzrechtliche Möglichkeit einer Verbandsklage (§ 64 I BNatSchG) zur Überprüfung der naturschutzrechtlichen bzw naturschutzbezogenen Vorschriften. Ihr Gegenstand können die in § 63 I iVm 64 I BNatSchG genannten naturschutzrechtlichen Entscheidungen sein.349

f) Verfahrensrechte 187 Auch wenn die Ausgestaltung der Verfahren einen wichtigen Baustein des Umweltrechts bildet, ist die gerichtliche Geltendmachung von Verfahrensfehlern nur beschränkt möglich. Dabei spielen verschiedene Vorschriften zusammen. § 44a VwGO versperrt grundsätzlich ihre isolierte Geltendmachung, § 45 VwVfG eröffnet weitreichende Heilungsmöglichkeiten bis zur letzten mündlichen Verhandlung der letzten Tatsacheninstanz und § 46 VwVfG koppelt den Aufhebungsanspruch des Klägers bei verbleibenden Fehlern an die Möglichkeit eines Einflusses auf das Ergebnis und beschränkt ihn damit auf Entscheidungen mit behördlichen Gestaltungsspielräumen. In diesen Restriktionen drückt sich das traditionelle und schon lange kritisierte Grundverständnis des sog dienenden Charakters des Verfahrens aus. Spezialgesetzliche Regelungen eröffnen aber punktuell einen weitergehenden Rechts188 schutz. Die Beteiligungsrechte der Naturschutzverbände (§ 63 BNatSchG) bilden sogenannte absolute Verfahrensrechte, die von der Beschränkung des § 44a VwGO nicht erfasst werden und isoliert gerichtlich durchgesetzt werden können.350 Und § 4 I UmwRG gebietet in Verdrängung des § 46 VwVfG ausdrücklich die Aufhebung aller Entscheidungen, bei denen die UVP oder die entsprechende Vorprüfung des Einzelfalls auf UVP-Pflichtigkeit nicht durchgeführt wurde und muss wohl europarechtskonform auch auf fehlerhafte UVP-Verfahren erstreckt werden (so Rn 97). Klagebefugt sind nach § 4 I iVm III UmwRG alle gem § 61 Nr 1 und 2 VwGO Beteiligtenfähigen, also Individualkläger351 und Gemeinden352 soweit sie zur betroffenen Öffentlichkeit nach dem UVPG gehören sowie die anerkannten Umweltverbände (so Rn 182). Schließlich wird europarechtlich auch darüber hinausgehend gefordert, das nationale Verfahrensrecht im Sinne eines effektiven Rechtsschutzes hinsichtlich unionaler Vorgaben zu ermöglichen.353

_____ 346 Krämer/Winter in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 26 Rn 88 mit dem Hinweis darauf, dass hierfür gleichermaßen alle Streitpunkte über die Unionsrechtskonformität relevant sind. 347 VGH BW ZUR 2011, 600 ff. Offengelassen wird hier, inwieweit bauplanungsrechtliche Vorschriften umfasst sind. 348 Zur älteren Diskussion um das Verhältnis von UmwRG und der naturschutzrechtlichen Verbandsklage Ramsauer in: Koch, UmwR, § 3 Rn 176 mzN. 349 Vgl näher Ramsauer in: Koch, UmwR, § 3 Rn 172 ff. 350 Vgl BVerwGE 87, 62 zu § 60 II BNatSchG aF; Skeptisch hinsichtlich des verbleibenden Anwendungsbereichs angesichts der Klagemöglichkeit bei unterlassener UVP gem § 4 UmwRG Ramsauer in: Koch, UmwR, § 3 Rn 182. 351 Vgl OVG NW NVwZ-RR 2007, 89, 95 f; OVG LSA ZUR 2009, 36, 38. 352 OVG LSA, Urt v 25.4.2012 – 2 L 193/09, Rn 65 f; in ähnliche Richtung auch HessVGH DVBl 2012, 714. 353 Vgl HessVGH, Beschl v 14.5.2012, 9 B 1918/11 hinsichtlich der Beachtung unional verankerter Vorgaben der Raumplanung unter Hinweis auf EuGH, Urt v 8.3.2011, C-240/09, NVwZ 2011, 346 ff, der sich auf den nicht unmittelbar anwendbaren Art 9 III Aarhus-Konvention bezieht.

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IV. Instrumente und Charakteristika des Umweltrechts – 5. Kapitel

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g) Kontrolldichte Die gerichtliche Kontrolldichte der Verwaltungsentscheidungen folgt im Umweltrecht grund- 189 sätzlich den allgemeinen Regeln. Danach folgt aus Art 19 IV GG, dass die Gerichte eine vollständige gerichtliche Kontrolle vornehmen, soweit nicht der Gesetzgeber die Kompetenz zur Letztentscheidung zulässigerweise der Behörde übertragen hat. 354 Dies ist ausdrücklich bei Ermessensentscheidungen der Fall (§§ 40 VwVfG, 114 VwGO) und wird regelmäßig auch für planerische Abwägungsentscheidungen angenommen, bei denen die Rechtsprechung aus dem Charakter der Planung einen exekutiven Gestaltungsspielraum ableitet.355 Hier sind die Entscheidungen nur auf Ermessens- bzw Abwägungsfehler zu überprüfen. Bei unbestimmten Rechtsbegriffen wird nur ausnahmsweise von einer gesetzlichen Über- 190 tragung der Letztentscheidung auf die Behörde ausgegangen. Bei diesen Ausnahmen wird im Umweltrecht einzeln oder in Kombination auf zwei Punkte abgestellt. Es fehlt entweder an einem verfügbaren festen Wissensbestand, so dass im einzelnen Gerichtsverfahren auch unter Heranziehung von Sachverständigen die Anforderungen nicht ebenso sachgerecht konkretisiert werden können wie durch die laufend damit beschäftigten Verwaltungen. Dies ist etwa der Fall, wenn, wie im Atom- oder Gentechnikgesetz, Vorsorge „nach dem Stand von Wissenschaft und Technik“ gefordert wird, weil sich die Verwaltung hier nicht auf eine „herrschende Meinung“ verlassen darf, sondern alle vertretbaren wissenschaftlichen Meinungen heranziehen und wertend verarbeiten soll.356 Den zweiten Begründungsstrang bildet eine gesetzgeberische Ausgestaltung von Organisation und Verfahren der Entscheidung, aus der zu folgern ist, dass die letztverbindliche Konkretisierung in diesem Herstellungszusammenhang erfolgen soll. Dies ist etwa bei der Einbindung der überwiegend aus Sachverständigen bestehenden Zentralen Kommission für die Biologische Sicherheit im Rahmen der Zulassungsentscheidung nach § 8 GenTG der Fall.357 Die Gerichte prüfen hier jeweils nur, ob sich die Entscheidung in den Grenzen des Beurteilungsspielraums hält, also namentlich der Sachverhalt zutreffend ermittelt, die Verfahrensvorschriften eingehalten sowie die allgemeinen Bewertungsgrundsätze und spezifischen gesetzlichen Wertungen beachtet wurden. Aus der Legitimation des dynamischen Grundrechtsschutzes (s Rn 76) tritt dabei die Anforderung hinzu, dass die Wertungen nicht durch Erkenntnisfortschritte überholt sein dürfen.358 Soweit Beurteilungsspielräume der Verwaltung bestehen, kann sie diese auch generalisie- 191 rend durch Verwaltungsvorschriften ausfüllen. Diese sind dann als normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften bindend, soweit sie nicht die Grenzen der Beurteilungsspielräume überschreiten.359 Die Rechtsprechung fordert darüber hinaus, dass ihrem Erlass ein umfangreiches Beteiligungsverfahren mit dem Zweck der Ausschöpfung der vorhandenen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse vorangehen muss.360 Dies überzeugt als eigenständige Forderung bei einem festgestellten Beurteilungsspielraum nur, wenn sie als grundsätzlich gebotene Methodik aus den allgemeinen Bewertungsmaßstäben abgeleitet werden kann. Soweit aber der Gesetzgeber solche Verfahren für den Erlass von Verwaltungsvorschriften vorgesehen hat, können sie die normkonkretisierende Wirkung der generellen Festlegungen eigenständig begründen und müssen dann als Verfahrensvorgaben auch eingehalten werden. So ist es bei den Technischen Anleitungen auf Grundlage von § 48 BImSchG (TA Lärm und TA Luft), denen eine

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354 Jestaedt in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 11 Rn 38 ff; Emmenegger in: Fehling/Kastner, Verwaltungsrecht, 2. Aufl 2010, § 113 VwGO Rn 14 mwN; aus der Rspr BVerfG NVwZ 2011, 1062 ff; zusammenfassend Eifert ZJS 2008, 336 ff; Voßkuhle JuS 2008, 117. 355 BVerwGE 34, 301, 308 ff; E 45, 309, 314 f. 356 Vgl BVerwGE 72, 300, 315 f; BVerwG NVwZ 1999, 1232, 1233 f. 357 BVerwG NVwZ 1999, 1232, 1233 f. 358 Siehe BVerwGE 107, 338, 341; ausf Jestaedt in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 11 Rn 50–52. 359 Vgl nur Sendler UPR 1993, 321, 324. 360 BVerwGE 107, 338, 341.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

normkonkretisierende Wirkung auch für die Ausfüllung von Tatbestandsmerkmalen wie den Stand der Technik zukommt, für die bei einer Einzelfallentscheidung kein Beurteilungsspielraum anerkannt wird.361 192 Die Standards von Normungsorganisationen oder privaten Verbänden haben keine Bindungswirkung für die Gerichte, werden von diesen aber differenziert als Indizien oder Vermutungsgrundlage berücksichtigt. Dabei kommt ihnen umso mehr Bedeutung zu, je stärker das konkretisierende Tatbestandsmerkmal auf das Wissen der Praxis verweist (wie etwa beim „Stand der Technik“) und je besser die Zusammensetzung des Gremiums und das Verfahren der Erarbeitung eine sachgerechte Konkretisierung erwarten lassen (wie etwa beim DIN auf Grundlage des dahingehenden Vertrages zwischen ihm und der Bundesrepublik Deutschland).362 5. Kapitel – Umweltschutzrecht V. Das Recht des Naturschutzes und der Landschaftspflege – 5. Kapitel

V. Das Recht des Naturschutzes und der Landschaftspflege 1. Allgemeines 193 Im Recht des Naturschutzes und der Landschaftspflege sind Regelungen über den medialen Schutz des Bodens und den vitalen Umweltschutz zusammengefasst. Den Kern dieses Rechtsgebiets bilden das Bundesnaturschutzgesetz363 und die Naturschutz- und Landschaftspflegegesetze der Länder. 364 Daneben verdienen vor allem das Bundeswaldgesetz 365 und die BundesartenschutzVO366 Beachtung. Auf der europarechtlichen Ebene schreibt die RL zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (sog Fauna-Flora-HabitatRL)367 vor, dass ein „kohärentes europäisches ökologisches Netz besonderer Schutzgebiete“ mit der Bezeichnung „Natura 2000“ errichtet wird (Art 3 ff). Außerdem sind die Mitgliedstaaten nach dieser RL zu näher beschriebenen Maßnahmen des Artenschutzes verpflichtet (Art 12 ff). Das BNatSchG setzt neben der FFH-RL auch die VogelschutzRL368 und weitere EG-Richtlinien369 in deutsches Recht um.370

_____ 361 Vgl nur Jarass BImSchG, § 5 Rn 117 f. 362 Anschaulich BVerwGE 79, 254, 264; BVerwG DÖV 1997, 303 f; siehe näher dazu Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, GG, Art 19 IV, Rn 207 mwN. 363 Neufassung v 29.7.2009 (BGBl I 2542), zul geänd d G v 6.2.2012 (BGBl I 148), die die rahmenrechtliche F v 25.3.2002 (BGBl I 1193) ablöst; allgem dazu Gellermann NVwZ 2010, 73 ff; Louis NuR 2010, 77 ff; Müggenborg/Hetschel NJW 2010, 961 ff; Kloepfer UmweltschutzR § 12 Rn 2 ff; zur konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes für Naturschutz und Landschaftspflege (Art 74 I Nr 29 GG) nach der Föderalismusreform I ( Rn 28 ff insbes m Fn 57) Fischer-Hüftle NuR 2007, 78 ff; zu den Auswirkung des gescheiterten UGB-Entwurfs auf die Neufassung des BNatSchG Schmidt/Kahl UmwR § 7 Rn 4 mwN. 364 Zusammenstellung bei Burhenne UmwR, Bd 2, 071511 (BW) – 079011 (THÜ); aktuelle Fassungen auch unter https://www.naturschutzrecht-online.de/datenbanken/gesetze/deutschland/. 365 V 2.5.1975 (BGBl I 1037), zul geänd d G v 31.7.2010 (BGBl I 1050). 366 V 16.2.2005 (BGBl I 258, ber 896). 367 RL 92/43/EWG v 21.5.1992 (ABlEG, L 206/7), zul geänd d RL 2006/105/EG v 20.11. 2006 (ABlEU, L 363/368); hierzu EuGH Urt v 13.1.2005 – C-117/03 – (Societa Italiana Dragaggi/Ministerio delle Infrastrutture) = NVwZ 2005, 311; Gellermann Natura 2000 – Europäisches Habitatschutzrecht und seine Durchführung in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl 2001; Frenz UPR 2009, 5 ff; Schmidt/Kahl UmwR § 7 Rn 10. 368 RL über die Erhaltung wildlebender Vogelarten 2009/147/EG v 30.11.2009 (ABlEU, L 20/7), ersetzt die VogelschutzRL 79/409/EWG v 2.4.1979 (ABlEG, L 103/1). 369 RL 83/129/EWG v 28.3.1983 betreffend die Einfuhr in die Mitgliedstaaten von Fellen bestimmter Jungrobben und Waren daraus (ABlEG, L 91/30), zul geänd d RL 89/370/EWG v 8.6.1989 (ABlEG, L 163/37); RL 99/22/EG v 29.3.1999 über die Haltung von Wildtieren in Zoos (ABlEG, L 94/24). 370 Der EuGH verurteilte die Bundesrepublik Deutschland wegen unzureichender Umsetzung der FFH- und Vogelschutz-RL (EuGH Urt v 10.1.2006 – C-98/03 – (Kommission/BRD), Slg 2006 I-00053 = NVwZ 2006, 319). In Reaktion darauf hat der Bundesgesetzgeber die §§ 42, 43 BNatSchG aF durch die „kleine Novelle“ v 12.12.2007 (BGBl I 2873, dazu Gellermann NuR 2007, 783 ff; Louis NuR 2008, 65 ff; Dolde NVwZ 2008, 121 ff) an die Anforderungen des europäischen Rechts angepasst. Diese Regelungen finden sich nun in §§ 44, 45 BNatSchG nF.

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V. Das Recht des Naturschutzes und der Landschaftspflege – 5. Kapitel

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Die umfassende, aktive und gestalterische Aufgabenstellung des modernen Naturschutz- 194 und Landschaftspflegerechts371 kommt bereits in den allgemeinen Vorschriften des BNatSchG über die Ziele (§§ 1, 2 BNatSchG), den Aufbau des europäischen Netzes „Natura 2000“ (§ 2 V BNatSchG) und weitere Grundlagen (§§ 3–7 BNatSchG) zum Ausdruck. Als Basis der administrativen Tätigkeit fungieren die Umweltbeobachtungen (§ 6 BNatSchG) und die Landschaftsplanung (§§ 8–12 BNatSchG). Dem allgemeinen, sachlich und räumlich umfassenden Naturschutz dient auch die Regelung über Eingriffe in Natur und Landschaft (§§ 13–19 BNatSchG). In den Vorschriften über Schutz, Pflege und Entwicklung bestimmter Teile von Natur und Landschaft (§§ 20–36 BNatSchG) sind in herkömmlicher, aber modernisierter Weise unterschiedliche Schutzgebietsfestsetzungen sowie die Festsetzung von einzelnen Naturdenkmälern und geschützten Landschaftsbestandteilen sowie der von den Ländern zu schaffende Biotopverbund von mindestens 10 vH der Landesfläche vorgesehen. Gegenstand der Vorschriften über Schutz und Pflege wildlebender Tier- und Pflanzenarten (§§ 37–55 BNatSchG) ist der Artenschutz. Der Meeresnaturschutz dient dem marinen Arten- und Gebietsschutz und ist der besonderen Bedeutung der Meere für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen geschuldet (§§ 65–58 BNatSchG). Die Regelungen über die Erholung in Natur und Landschaft (§§ 59–62 BNatSchG) gestalten die Sozialpflichtigkeit des Grundeigentums im Hinblick auf das Betreten der Flur und die Bereitstellung von Ufergrundstücken und anderen Grundstücken, die sich nach ihrer Beschaffenheit für die Erholung der Bevölkerung eignen. Durch Vorschriften über Befreiungen und Ausgleichsansprüche zielt das Kapitel über Eigentumsbindungen und Befreiungen (§§ 65–68 BNatSchG) ua darauf, bei intensiven Eigentumsbelastungen die Verhältnismäßigkeit der Beschränkung sicherzustellen. Eine besondere Rolle spielt auf dem Gebiet des Naturschutzes und der Landschaftspflege 195 die Mitwirkung von Verbänden.372 In den §§ 63, 64 BNatSchG ist die „Mitwirkung von anerkannten Naturschutzvereinigungen“ normiert. Diese Regelung umfasst die Beteiligung nach § 3 UmwRG anerkannter Naturschutzvereinigungen in Verwaltungsverfahren des Bundes (§ 63 I BNatSchG), noch weitergehende Beteiligung bei den Verwaltungsverfahren der Länder (§ 63 II) sowie Rechtsbehelfe von Naturschutzvereinigungen, dh insbesondere die Verbandsklage (§ 64 BNatSchG). Auf dem Wege des „objektiv-rechtlichen Beanstandungsverfahrens“373 kann der Verband bestimmte Entscheidungen wegen Verletzung umweltrechtlicher Vorschriften angreifen. Die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs setzt ua voraus, dass der betreffende Verband sich bereits berechtigterweise an dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren beteiligt und dort geäußert oder rechtswidrig keine Gelegenheit zur Äußerung erhalten hat (§ 64 I Nr 3 BNatSchG). Im Verwaltungsverfahren versäumte Einwendungen sind ausgeschlossen (Präklusion nach § 64 II BNatSchG iVm § 2 III UmwRG).374 Unabhängig von der Vereinsklage kann einem Verband als Eigentümer eines betroffenen Grundstücks die Klagebefugnis zur Anfechtung eines Verwaltungsakts, zB einer Planfeststellung für einen Gewässerausbau, zustehen.375 Die Rechtsbehelfe der anerkannten Vereinigungen nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz kommen neben § 64 BNatSchG zur Anwendung.

_____ 371 Kloepfer UmwR § 11 Rn 33; Erbguth/Schlacke UmwR § 10 Rn 17; zur Rspr Gaentzsch in: Dolde, Umweltrecht im Wandel, 2001, 473 ff. 372 Ausf o Rn 182 ff. 373 Kloepfer UmweltschutzR § 12 Rn 76. 374 Vgl zur Vereinbarkeit des deutschen Verbandsklagerechts mit europäischem Recht EuGH Urt v 12.5.2011 – C-115/09 – (Trianel) = NuR 2011, 423 ff; dazu auch Durner/Paus NuR 2012, 325; zu aktuellen empirischen Untersuchungen über die Verbandsklage vgl Schmidt/Zschiesche/Tryjanowski NuR 2012, 77 ff. 375 BVerwGE 72, 15, 16; vgl zu den „Sperrgrundstücksklagen“ Erbguth/Schlacke UmwR § 10 Rn 62.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

2. Landschaftsplanung 196 Die ressourcenökonomisch und ökologisch orientierte Landschaftsplanung376 hat die Ziele des Naturschutzes und der Landschaftspflege „zu konkretisieren“, und die Erfordernisse und Maßnahmen zur Verwirklichung dieser Ziele „aufzuzeigen“ (§ 9 I BNatSchG). Sie gliedert sich parallel zu den Planungsebenen der gesamträumlichen Planung377 in die überörtliche und die örtliche Ebene. Die Landschaftsplanung ist insbesondere dann voranzutreiben, wenn Erfordernisse und Maßnahmen zur Umsetzung der konkretisierten Ziele des Naturschutzes und der Landschaftspflege dies erfordern (§ 9 IV 1 BNatSchG). Auf der überörtlichen Ebene können für den Bereich eines Landes Landschaftsprogramme, für Teile des Landes müssen Landschaftsrahmenpläne aufgestellt werden (§ 10 I 1, II BNatSchG). Auf der örtlichen Ebene sind, sobald erforderlich (§ 11 II 1 BNatSchG), für die Gebiete der Gemeinden Landschaftspläne aufzustellen. Für Teile eines Gemeindegebiets können Grünordnungspläne aufgestellt werden (§ 11 I 1, II 2 BNatSchG). In den Ländern Berlin, Bremen und Hamburg werden Landschaftspläne von aufgestellten Landschaftsprogrammen und Landschaftsrahmenplänen ersetzt, soweit sie örtliche Erfordernisse und Maßnahmen des Naturschutzes darstellen (§ 11 IV BNatSchG).378 197 Die Integration der überörtlichen Landschaftsplanung in die landesrechtliche Gesamtplanung findet entweder unmittelbar bei der Aufstellung der Raumordnungspläne („Primärintegration“) oder durch die nachträgliche Berücksichtigung eigenständiger Landschaftsplanung („Sekundärintegration“) statt.379 § 10 III BNatSchG bestimmt, dass die raumbedeutsamen, „konkretisierten Ziele, Erfordernisse und Maßnahmen des Naturschutzes und der Landschaftspflege“ in der Abwägung des § 7 II ROG bei der Aufstellung der Raumordnungspläne zu berücksichtigen sind. Soweit dies geschehen ist, entfalten sie über die Vorschrift des § 4 I ROG Bindungswirkung als Ziele der Raumordnung. Landschaftspläne können als RechtsVO oder Satzung380 beschlossen oder in die Bauleitplanung übergeleitet werden (§ 11 III BNatSchG).381

3. Eingriffe in Natur und Landschaft a) Allgemeiner Bestandsschutz 198 Im Rahmen der Vorschriften über den allgemeinen Schutz von Natur und Landschaft (§§ 13–19 BNatSchG) hat die am Verursacherprinzip ausgerichtete Regelung über Eingriffe in Natur und Landschaft zentrale Bedeutung.382 Derartige Eingriffe können in Veränderungen der Gestalt oder Nutzung von Grundflächen oder in Veränderungen des mit der belebten Bodenschicht in Verbindung stehenden Grundwasserspiegels bestehen, die entweder die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts oder das Landschaftsbild erheblich beeinträchtigen können

_____ 376 Vgl SRU, Umweltgutachten 1987, BT-Drs 11/1568, Tz 389 ff; Hoppe VVDStRL 38 (1980) 289 ff; zum Verhältnis zur Raumordnung und Bauleitplanung Kopf NuR 2008, 396 ff; zum Verhältnis zur Landesplanung Gellermann NVwZ 2010, 73 f. 377 Maaß/Schütte in: Koch, UmwR, § 7 Rn 61; zu den landesspezifischen Abweichungen Erbguth/Schlacke UmwR § 7 Rn 14. 378 A. Schumacher/J. Schumacher in: Schumacher/Fischer-Hüftle, BNatSchG, 2. Aufl 2010, § 11 Rn 22; Erbguth/ Schlacke UmwR § 10 Rn 24. 379 Primärintegration der überörtlichen Planung nach Art 3 I und II BayNatSchG, §§ 5, 6 SächsNatSchG, § 4 I ThürNatSchG, § 17 II 2 NatSchG BW; § 15 LG NW; § 8 II, III LNatSchG RP; § 6 LNatSchG SH; näher Maaß/Schütte, in: Koch, UmwR, § 7 Rn 63 ff. 380 Vgl für Rechtsverordnung § 10 IX BlnNatSchG; § 5 III HbgNatSchAG (für Landschaftsprogramme, die in Hamburg grds auch die örtliche Planung beinhalten); Satzung: § 16 II 1 LG NW. 381 Primärintegration der örtlichen Planung durch Aufnahme in die Bauleitplanung nach § 11 I 1 HessNatSchG; § 8 IV LNatSchG RP; Sekundärintegration: § 18 II und III NatSchG BW; näher Maaß/Schütte in: Koch, UmwR, § 7 Rn 68 ff. 382 Vgl zu §§ 13–19 BNatSchG: Koch in: Kerkmann, Naturschutzrecht, 2. Aufl 2010, 119 ff; Michler/Möller NuR 2011, 81 ff.

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V. Das Recht des Naturschutzes und der Landschaftspflege – 5. Kapitel

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(§ 14 I BNatSchG); für die land-, forst- und fischereiwirtschaftliche Bodennutzung gelten Modifizierungen (§ 14 II BNatSchG). Typischerweise sind solche Eingriffe mit Großvorhaben verbunden, die durch Planfeststellungen383 oder andere außer-naturschutzrechtliche Genehmigungsakte384 zugelassen werden. Die naturschutzrechtliche Regelung modifiziert somit das gesamte Fachplanungs-, Bau-, Boden- und Wirtschaftsrecht sowie das sonstige Umweltschutzrecht. Erstens gilt ein materielles Vermeidungsgebot; der Verursacher eines Eingriffs ist zu ver- 199 pflichten, vermeidbare Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft zu unterlassen (§ 15 I BNatSchG). Zweitens gilt das Gebot einer Naturalkompensation; der Verursacher eines Eingriffs ist zu verpflichten, unvermeidbare Beeinträchtigungen durch Maßnahmen des Naturschutzes und der Landschaftspflege vorrangig auszugleichen (Ausgleichsmaßnahmen) oder in sonstiger Weise zu kompensieren (Ersatzmaßnahmen). Ausgleichsmaßnahmen sind auf funktionale Wiederherstellung, Ersatzmaßnahmen auf gleichwertigen Naturalersatz gerichtet (§ 15 II BNatSchG). Gleichwohl müssen Ausgleichsmaßnahmen nicht unbedingt am unmittelbaren Ort des Eingriffs erfolgen; es genügt, dass sie mit diesem im funktionalen Zusammenhang stehen.385 Für Eingriffe infolge von Bauleitplänen ist dies ausdrücklich gesetzlich geregelt (§ 1a III 2 BauGB386). § 16 BNatSchG eröffnet die Möglichkeit Naturschutzmaßnahmen, die vor dem Eingriff durchgeführt wurden, als Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen für Eingriffe anerkennen zu lassen. Drittens unterliegt ein Eingriff bei unvermeidbaren und nicht in angemessener Frist ausgleichbaren oder in sonstiger Weise kompensierbaren Beeinträchtigungen einem Abwägungsgebot und infolgedessen nur einer abwägungsabhängigen, mithin relativierten Untersagungsmöglichkeit:387 Er darf nicht zugelassen oder durchgeführt werden, wenn die Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege bei der gebotenen Abwägung aller Anforderungen anderen Belangen im Rang vorgehen (§ 15 V BNatSchG).388 Wird der Eingriff nach § 15 V BNatSchG zugelassen, hat der der Verursacher eine für Maßnahmen des Naturschutzes zweckgebundene Ersatzzahlung zu leisten (§ 15 VI 1 BNatSchG).389 § 15 VII ermächtigt schließlich zum Erlass einer RechtsVO, die Näheres zur Kompensation von Eingriffen, insbesondere Art und Umfang von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen und Höhe der Ersatzzahlung, regelt. Über die Zulässigkeit von Eingriffen in Natur und Landschaft wird nicht in einem eigenen 200 naturschutzrechtlichen Verfahren, sondern zugleich mit der in anderen Rechtsvorschriften vorgeschriebenen Bewilligung, Erlaubnis, Genehmigung, Zustimmung, Planfeststellung oder sonstigen Entscheidung oder mit einer repressiven, auf eine vorgeschriebene Anzeige hin erfolgenden Verfügung der jeweils zuständigen Behörde entschieden („Huckepackverfahren“).390 Sofern aufgrund der Aufstellung, Änderung, Ergänzung oder Aufhebung von Bauleitplänen Eingriffe in Natur und Landschaft zu erwarten sind, ist hierüber nach den Spezialvorschriften der §§ 18 BNatSchG und 1a BauGB sowie den ergänzenden Bestimmungen der §§ 5 IIa, 9 Ia, 135a–c und 200a BauGB im Bauleitplan zu entscheiden.391

_____ 383 So nach §§ 72 ff VwVfG; §§ 17 ff FStrG; §§ 18 ff AEG; §§ 28 ff PBefG; §§ 8 ff LuftVG; §§ 35 ff KrWG; § 9b AtomG; §§ 68 ff WHG; §§ 14 ff WaStrG; § 41 FlurbG. 384 ZB nach §§ 4 ff BImSchG; § 7 AtomG; § 6 LuftVG; zur Anlagengenehmigung Proeßl NVwZ 2006, 655. 385 So BVerwGE 85, 348, 360; BVerwG NuR 2005, 177; Breuer NuR 1980, 94; Maaß/Schütte in: Koch, UmwR, § 7 Rn 49 f; diff Berkemann NuR 1993, 102; aA Thum ZUR 2005, 63. 386 IdF v 23.9.2004 (BGBl I 2414), zul geänd d G v 22.7.2011 (BGBl I 1509); vgl dazu Brohm FS Hoppe, 2000, 511 ff. 387 Krit dazu Gellermann NVwZ 2002, 1025, 1030 f. 388 Zur Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung des Abwägungsergebnisses BVerwGE 85, 384; Maaß/ Schütte in: Koch, UmwR, § 7 Rn 51; Gellermann in: Hansmann/Sellner, Grundzüge des Umweltrechts, 3. Aufl 2007, Rn 10/55. 389 Zur Qualifizierung der Ersatzzahlungspflicht als Sonderabgabe BVerwGE 74, 308, 309 ff. 390 Dies ergibt sich aus § 17 I BNatSchG; ausnahmsweise ist gemäß § 17 III BNatSchG eine Genehmigung erforderlich; Wolf Umweltrecht, 2002, Rn 1096. 391 Vgl zum Verhältnis von Bau- und NaturschutzR Schmidt/Kahl UmwR § 7 Rn 41 ff.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

b) Besonderer Biotopschutz 201 Eingriffe in erhaltenswerte Biotope unterliegen einer verschärften Sonderregelung (§ 30 BNatSchG). Nach dem gesetzlichen Grundsatz sind alle Maßnahmen, die zu einer Zerstörung oder sonstigen erheblichen oder nachhaltigen Beeinträchtigung bestimmter Biotope führen können, verboten (§ 30 II 1 BNatSchG). Unter den Katalog der hiernach besonders geschützten Biotope fallen zB Moore, Sümpfe, Bruch-, Sumpf- und Auwälder sowie Fels- und Steilküsten. Die Länder können weiteren Biotopen den gleichen Schutz gewähren (§ 30 II 2 BNatSchG). Einer zusätzlichen Ausweisung der einzelnen Biotope bedarf es nicht, sie sind gleichwohl zu registrieren und die Registrierung ist zu veröffentlichen (§ 30 VII BNatSchG). Es können dann Ausnahmen von dem strikten Bestandsschutz zugelassen werden, wenn die Beeinträchtigungen der Biotope ausgeglichen werden können (§ 30 III BNatSchG).392

4. Schutzgebiete 202 Durch Rechtsnorm (Gesetz,393 RechtsVO,394 Satzung395) oder allgemeinverbindlichen Verwaltungsakt396 können Naturschutzgebiete, Nationalparke, Nationale Naturmonumente, Biosphärenreservate, Landschaftsschutzgebiete und Naturparke, (einzelne) Naturdenkmäler oder geschützte Landschaftsbestandteile festgesetzt werden (§§ 20, 22 ff BNatSchG). Die Ziele dieser Gebietsfestsetzungen, die schutzfähigen Gebietstypen und die festsetzungsbedingten Rechtswirkungen, insbesondere die in den einzelnen Schutzgebieten geltenden Gebote und Verbote, sind gesetzlich in differenzierter Weise geregelt.397 Damit wird im Falle von Natur- und Landschaftsschutzgebieten ein gesteigerter Schutz kleinerer Räume und im Falle von Nationalparken, Biosphärenreservaten und Naturparken ein vergleichbarer, allerdings elastischerer Schutz großer Räume erreicht. Teile von Natur und Landschaft, deren Schutz beabsichtigt ist, können unter bestimmten Voraussetzungen einstweilig sichergestellt werden (§ 22 III 1 BNatSchG). Mit den naturschutzrechtlichen Schutzgebietsfestsetzungen gilt es, die europarechtlichen Anforderungen der FFH-RL (Netz „Natura 2000“) sowie der VogelschutzRL398 zu erfüllen und die geforderten Gebiete und Erhaltungsmaßnahmen festzulegen (§ 32 BNatSchG). Bei der FFH- und VogelschutzVerträglichkeit (§ 34 BNatSchG)399 handelt es sich um ein europarechtliches Konfliktfeld, das neben dem Schutz der ausgewiesenen, gemeldeten oder konzentrierten Gebiete die rechtliche Möglichkeit „potentieller“ oder „faktischer“ (dh staatlicherseits weder ausgewiesener noch angemeldeter, jedoch europarechtlich präfixierter) Schutzgebiete umschließt und sich mit den Anforderungen des Artenschutzes überschneiden kann.400

_____ 392 Zum Verhältnis zur Bauleitplanung Kloepfer UmweltschutzR § 12 Rn 44. 393 § 27 NatSchG BW; § 19 I Var 1 BbgNatSchG. 394 So §§ 26, 28, 29, 30 NatSchG BW; Art 12 I BayNatSchG; § 18 I BlnNatSchG; § 19 I Var 2 BbgNatSchG. 395 So § 16 II 1 und IV Nr 2 LG NW für im Landschaftsplan festgesetzte Schutzgebiete. 396 Art 12 II BayNatSchG sieht die Erklärung zum Biosphärenreservat oder Naturpark durch Allgemeinverfügung vor. 397 Zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen und Regelungsinhalten naturschutzrechtlicher Verordnungen zB Nds OVG NuR 1999, 470 (Elbtalaue); Schmidt/Kahl UmwR § 7 Rn 57 ff; § 68 I BNatSchG sieht nun unter weiteren Voraussetzungen für naturschutzrechtliche Eigentumsbeschränkungen eine Entschädigungspflicht vor; zu eigentums- und entschädigungsrechtlichen Fragen einer NaturschutzVO BVerwGE 84, 361, 371; E 112, 373, 377; zur Aufhebung einer LandschaftsschutzVO zwecks Bebauungsplanung BVerwGE 119, 312. 398 Vgl o Rn 193. 399 Zur Vereinbarkeit eines Vorhabens mit FFH- bzw Vogelschutzgebieten BVerwG NuR 2012, 188 ff. 400 Grdl EuGH Urt v 2.8.1993 – C-355/90 – (Santoña); Slg 1993 I-4221; EuGH Urt v 14.9.2006 – C-244/05 – (Bund Naturschutz in Bayern/Freistaat Bayern), Slg 2006 I-8445 = NVwZ 2007, 61, 63; BVerwGE 128, 1 (Westumfahrung Halle, zu Art 6 III und IV FFH-RL); Stüer NVwZ 2007, 1147 ff; Frenz UPR 2011, 100 ff; Louis NuR 2012, 385 ff; krit Vallendar EurUP 2007, 275 ff; krit bzw ablehnend zur Frage, ob überhaupt noch potentielle FFH-Gebiete bestehen, BVerwG NuR 2008, 495 und VGH BW ZUR 2010, 261; zu den Anforderungen des Artenschutzes beim Straßenbau

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VI. Bodenschutzrecht – 5. Kapitel

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5. Artenschutz Der Artenschutz umfasst näher bezeichnete Maßnahmen zum Schutz der wildlebenden Tier- 203 und Pflanzenarten, ihrer Lebensgemeinschaften sowie ihrer Lebensstätten und Biotope (§ 37 I BNatSchG). Der allgemeine Artenschutz umfasst alle Vorschriften, die sich ohne Einschränkung auf wildlebende Tier- und Pflanzenarten beziehen, also nicht nur auf supranationale oder nationale Artenlisten. Seine unmittelbar geltenden Regelungen (§§ 39–43 BNatSchG) verbieten es, wildlebende Tiere mutwillig zu beunruhigen oder ohne vernünftigen Grund zu fangen, zu verletzen oder zu töten, ohne vernünftigen Grund wildlebende Pflanzen von ihrem Standort zu entnehmen oder zu nutzen oder ihre Bestände niederzuschlagen oder auf sonstige Weise zu verwüsten oder ohne vernünftigen Grund Lebensstätten wildlebender Tier- und Pflanzenarten zu beeinträchtigen oder zu zerstören. Darüber hinaus wird die Bekämpfung nichteinheimischer oder invasiver Arten angeordnet sowie eine Anzeigepflicht für Tiergehege statuiert. Der besondere Artenschutz betrifft besonders bestimmte und geschützte Tier- und Pflanzenarten gemäß den Artenschutzlisten (§§ 43–47 BNatSchG). Er umfasst spezifizierte Beeinträchtigungs- und Zerstörungsverbote für wildlebende Tier- und Pflanzenarten und ihre Lebensstätten (§ 44 I BNatSchG) sowie Besitz- und Vermarktungsverbote (§ 44 II, III BNatSchG). Im Übrigen ist zu beachten, dass der besondere Artenschutz auf internationalen Verträgen401 und unmittelbar geltendem Europarecht (Art 288 II AEUV) beruht. Dessen Grundlage ist die VO 97/338/EG über den Schutz von Exemplaren wildlebender Tier- und Pflanzenarten durch Überwachung des Handels.402 Auf dieser Basis regelt die BundesartenschutzVO403 nähere Einzelheiten. Insbesondere bestimmt sie die unter besonderem Schutz stehenden Tier- und Pflanzenarten. 5. Kapitel – Umweltchutzrecht VI. Bodenschutzrecht – 5. Kapitel

VI. Bodenschutzrecht 1. Allgemeines Mit dem Bundes-Bodenschutzgesetz (BBodSchG) vom 17.3.1998404 wurde der mediale Umwelt- 204 schutz vervollständigt und das Umweltmedium Boden einem einheitlichen bundesrechtlichen Schutz unterstellt.405 Der Gesetzgeber hat die Bundeskompetenz mit Blick auf die Bodennutzung und schädliche Bodenveränderungen auf Art 74 I Nr 18 GG, für den Ursachenkomplex wirtschaftlicher Tätigkeiten auf Art 74 I Nr 11 GG und unter dem abfallrechtlichen Gesichtspunkt der Altlasten auf Art 74 I Nr 24 GG gestützt.406 Diese Mosaikschau entspricht dem Sachzusammenhang zwischen wirtschaftlichen und baulichen Bodennutzungen, nutzungsbedingten Bodenveränderungen und hiermit verbundenen Schadstoffen im Boden, die insbesondere als Altlasten in Gestalt von Altablagerungen und Altstandorten (§ 2 V BBodSchG) überkommen sind.

_____ BVerwG NVwZ 2006, 1161 (Ortsumgehung Stralsund); zum Verhältnis von Artenschutz und Habitatschutz BVerwG NVwZ 2009, 302 (Nordumfahrung von Bad Oeynhausen); zum Artenschutz in der Planung Dolde NVwZ 2008, 121 ff. 401 Washingtoner Artenschutzübereinkommen v 3.3.1973 (BGBl 1975 II 773); vgl Bendomir-Kahlo CITES – Washingtoner Artenschutzübereinkommen, 1989; Schmidt-Räntsch/Schmidt-Räntsch Leitfaden zum Artenschutzrecht, 1990, 13 ff; zum einschlägigen EU-Recht Gellermann in: Landmann/Rohmer, UmwR, Vorb §§ 37–55 BNatSchG Rn 9 ff. 402 ABlEG, L 61/1, ber L 100/72 und L 298/70, zul geänd d VO 2012/101/EU v 6.2.2012 (ABlEU, L 39/133); vgl Gellermann in: Landmann/Rohmer, UmwR, Vorb §§ 37–55 BNatSchG Rn 10 ff; Sparwasser/Engel/Voßkuhle UmwR Rn 6/ 258 ff; zum Artenschutz in der Rspr des EuGH Sobotta NuR 2007, 642 ff. 403 IdF v 16.2.2005 (BGBl I 258, ber 896), zul geänd d G 29.7.2009 (BGBl I 2542). 404 BGBl I 502, zul geänd d G v 24.2.2012 (BGBl I 212). 405 Aus europarechtlicher Perspektive zum Ganzen Bückmann/Lee NuR 2008, 1 ff. 406 BT-Drs 13/6701, 16 ff; so auch Peine NuR 1992, 353 ff; fehlende Bundeskompetenz laut Degenhart ZRP 1997, 397 ff.

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5. Kapitel – Umweltchutzrecht

Der Inhalt des BBodSchG gliedert sich in fünf Teile: die allgemeinen Vorschriften (1. Teil, §§ 1–3 BBodSchG), Grundsätze und Pflichten (2. Teil, §§ 4–10 BBodSchG), ergänzende Vorschriften für Altlasten (3. Teil, §§ 11–16 BBodSchG), die Regelung der guten fachlichen Praxis bei der landwirtschaftlichen Bodennutzung (4. Teil, § 17 BBodSchG) und Schlussvorschriften (5. Teil, §§ 18–26 BBodSchG). Der erklärte Zweck des Gesetzes besteht darin, nachhaltig die Funktionen des Bodens zu sichern oder wiederherzustellen (§ 1 S. 1 BBodSchG). Hierzu sind schädliche Bodenveränderungen abzuwehren, der Boden und Altlasten sowie hierdurch verursachte Gewässerverunreinigungen zu sanieren und Vorsorge gegen nachteilige Einwirkungen auf den Boden zu treffen (§ 1 S 2 BBodSchG). Des Weiteren sollen bei Einwirkungen auf den Boden Beeinträchtigungen seiner natürlichen Funktionen sowie seiner Funktion als „Archiv der Natur- und Kulturgeschichte“ so weit wie möglich vermieden werden (§ 1 S 3 BBodSchG). Im Übrigen legen die allgemeinen Vorschriften des BBodSchG Begriffsbestimmungen (§ 2 BBodSchG) sowie den Anwendungsbereich und das Verhältnis zu anderen Umweltgesetzen (§ 3 BBodSchG) fest. Soweit die in § 3 I BBodSchG aufgeführten Gesetze (ua Vorschriften des KrWG, des Bauplanungs- und Bauordnungsrechts, des BBergG und des BImSchG) Einwirkungen auf den Boden regeln, ist das BBodSchG nicht anwendbar, also subsidiär. Dies gilt umgekehrt nicht im Verhältnis zum Wasser- sowie zum Naturschutz- und Landschaftspflegerecht, neben die das BBodSchG tritt.407 In wesentlichen Belangen bleiben jedoch allein die wasserrechtlichen Vorschriften maßgebend. So bestimmen sich die bei der Sanierung von Gewässern zu erfüllenden Anforderungen nach dem Wasserrecht (§ 4 IV 3 BBodSchG) und richtet sich die Vorsorge für das Grundwasser nach wasserrechtlichen Vorschriften (§ 7 S 6 BBodSchG).

2. Grundsätze und Pflichten des Bodenschutzes 206 Der Bodenschutz wird in einem abgestuften Pflichtenprogramm verwirklicht, bestehend aus Gefahrenabwehrpflichten (§ 4 I und II BBodSchG) und Sanierungspflicht (§ 4 III BBodSchG) sowie – weniger relevant – Entsiegelungs- (§ 5 BBodSchG) und Vorsorgepflicht (§ 7 BBodSchG). Die Pflicht, sich so zu verhalten, dass schädliche Bodenveränderungen nicht hervorgerufen werden, trifft gem § 4 I BBodSchG jedermann, der auf den Boden einwirkt. Diese Pflicht ist nicht mit Zwang durchsetzbar (su Rn 208) und hat daher nur Appellcharakter. Gem § 4 II BBodSchG sind ferner Eigentümer oder der Inhaber der tatsächlichen Gewalt über ein Grundstück zur Abwehr der von ihrem Grundstück drohenden schädlichen Bodenveränderungen verpflichtet. Zentral ist die nachsorgende Sanierungspflicht in § 4 III BBodSchG,408 deren Inhalt sich nach dem Grundsatz der nutzungsadäquaten Sanierung bestimmt.409 Bei der Erfüllung dieser boden- und altlastenbezogenen Pflichten sind die planungsrechtlich zulässige Nutzung des Grundstücks und das sich daraus ergebende Schutzbedürfnis zu beachten, soweit dies mit den Bodenfunktionen nach § 2 II Nr 1 und 2 BBodSchG zu vereinbaren ist (§ 4 IV 1 BBodSchG). Fehlen planungsrechtliche Festsetzungen, bestimmt die Prägung des Gebiets unter Berücksichtigung der absehbaren Entwicklung das Schutzbedürfnis (§ 4 IV 2 BBodSchG). Hierdurch wird die tatsächliche Nutzungsstruktur – ähnlich wie im Bauplanungsrecht (§ 34 II BauGB) – zum planersetzenden Maßstab der Bodensanierung. Geboten ist mithin weder eine Luxus- noch eine abstrakt definierte Optimalsanierung, sondern lediglich eine situationsgerechte und verhältnismäßige Sanierung, die sich an der vorhandenen Nutzung und der absehbaren Gebietsentwicklung ausrichten muss. In diesem Sinne ermächtigt § 8 I BBodSchG die Bundesregierung nach Anhörung der beteiligten Kreise (§ 20 BBodSchG) durch RechtsVO mit Zustimmung des Bundesrates Vorschriften über die Erfül-

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407 Vierhaus NJW 1998, 1262 ff; allgem zum Anwendungsbereich des BBodSchG u zu Abgrenzungsfragen Erbguth/ Stollmann NuR 2001, 241 ff und Schmidt/Kahl UmwR § 8 Rn 10 ff. 408 Schmidt/Kahl UmwR § 8 Rn 21. 409 Vierhaus NJW 1998, 1262, 1266; Sanden in: Koch, UmwR, § 8 Rn 40.

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VI. Bodenschutzrecht – 5. Kapitel

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lung der sich aus § 4 BBodSchG ergebenden boden- und altlastenbezogenen Pflichten zu erlassen, also gesetzeskonkretisierende Prüf- und Maßnahmenwerte sowie gefahren- und sanierungsbezogene Anforderungen festzulegen. Hierauf ist die Bundes-Bodenschutz- und AltlastenVO (BBodSchV) vom 12.7.1999410 gestützt. Im Anhang 2 der BBodSchV sind neben Maßnahmen- und Prüfwerten auch Vorsorgewerte festgelegt, welche die bodenbezogene Vorsorgepflicht (§§ 7 und 8 II BBodSchG) konkretisieren. Das Gesetz geht bei der Sanierungspflicht (§ 4 III BBodSchG) von der „klassischen“ poli- 207 zeirechtlichen Verhaltens- und Zustandshaftung aus.411 Demgemäß sind der Verursacher einer schädlichen Bodenveränderung oder Altlast sowie dessen Gesamtrechtsnachfolger,412 der Grundstückseigentümer und der Inhaber der tatsächlichen Gewalt über ein Grundstück verpflichtet, den Boden und Altlasten sowie durch schädliche Bodenveränderungen oder Altlasten verursachte Verunreinigungen von Gewässern so zu sanieren, dass dauerhaft keine Gefahren, erheblichen Nachteile oder erheblichen Belästigungen für den Einzelnen oder die Allgemeinheit entstehen (§ 4 III 1 BBodSchG). Darüber hinaus ist zur Sanierung auch verpflichtet, wer aus handels- oder gesellschaftsrechtlichem Rechtsgrund für eine juristische Person einzustehen hat, der ein Grundstück mit einer schädlichen Bodenveränderung oder einer Altlast gehört (§ 4 III 4, 1. Alt BBodSchG). Insoweit eröffnet das Gesetz eine Durchgriffshaftung wegen Unterkapitalisierung oder qualifizierter Konzernabhängigkeit.413 Eine echte Erweiterung der ordnungsrechtlichen Verantwortlichkeit regelt § 4 VI BBodSchG. Danach ist der frühere Eigentümer eines Grundstücks zur Sanierung verpflichtet, wenn er sein Eigentum nach dem 1.3.1999 übertragen hat und die schädliche Bodenveränderung oder Altlast hierbei kannte oder kennen musste. Dies gilt jedoch für denjenigen nicht, der beim Erwerb des Grundstücks in schutzwürdiger Weise darauf vertraut hat, dass schädliche Bodenveränderungen oder Altlasten nicht vorhanden sind. Hierdurch wird der „gutgläubige Erwerber“ privilegiert.414 Bei alldem sind die verfassungsrechtlichen Grenzen einzuhalten, die Art 14 I GG den gesetzlichen Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums im Hinblick auf die Verantwortlichkeit für Altlasten setzt.415 Die zuständige Behörde kann gem § 10 I BBodSchG Anordnungen treffen, um die Pflichten, 208 die sich aus §§ 4, 7 BBodSchG und den konkretisierenden Rechtsverordnungen ergeben, durchzusetzen. Dabei ist nach den verschiedenen Pflichten zu differenzieren: Trotz des weiten Wortlauts des § 10 I BBodSchG kann die Jedermann-Pflicht aus § 4 I BBodSchG nicht erzwungen werden, da sie zu unbestimmt ist.416 Die Missachtung dieser Pflichten bleibt daher ohne Konsequenz. Problematisch ist, ob die Behörde die Gefahrenabwehrpflichten aus § 4 II BBodSchG mit Anordnungen durchsetzen kann. Dagegen spricht, dass § 26 I Nr 2 BBodSchG den § 4 II BBodSchG unerwähnt lässt. Allerdings sind Pflicht und Verpflichteter in § 4 II BBodSchG klar umrissen, so dass sich aus dieser Vorschrift eine durchsetzbare Zustandsverantwortlichkeit herleiten lässt.417 Die Sanierungspflicht aus § 4 III BBodSchG hingegen ist immer durchsetzbar, dies ergibt sich aus § 10 I 2 BBodSchG und der Bußgeldanordnung bei Zuwiderhandlung aus § 26 I

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410 BGBl I 1554, geänd d VO v 23.12.2004 (BGBl I 3758); vgl dazu Sandner NJW 2000, 2542 ff; Kobes NVwZ 2000, 216 ff. 411 Vgl zum Ganzen Franz Die Sanierungsverantwortlichen nach dem Bundes-Bodenschutzgesetz, Voraussetzungen und Grenzen der Altlastenhaftung, 2007. 412 Zur Frage der Geltung für Altfälle vor Inkrafttreten des Gesetzes angesichts des Rückwirkungsverbots BVerwGE 125, 325; entwickelt an einem Beispielsfall bei Schmidt/Kahl UmwR § 8 Rn 56 ff. 413 So auch Vierhaus NJW 1998, 1262, 1265 f mwN; Frenz BBodSchG, 2000, § 4 III Rn 81 ff; aA Bickel BBodSchG, 4. Aufl 2004, § 4 Rn 55; Spindler ZGR 2001, 385, 398; krit Darstellung bei Schmidt/Kahl UmwR, § 8 Rn 25. 414 Vierhaus NJW 1998, 1262, 1266; ausführl Kohls Nachwirkende Zustandsverantwortlichkeit, 2002. 415 Allgem dazu BVerfGE 102, 1 (Verhältnis zwischen Sanierungskosten und Grundstückswert); krit dazu sowie zur mangelnden Berücksichtigung der „Opferfälle“: Tollmann DVBl 2008, 616 ff. 416 Vierhaus NJW 1998, 1262, 1264; aA Sparwasser/Engel/Voßkuhle UmwR § 9 Rn 97; ohne klare Differenzierung Sanden in: Koch, UmwR, § 8 Rn 28 ff. 417 Sparwasser/Engel/Voßkuhle UmwR § 9 Rn 97 f.

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5. Kapitel – Umweltchutzrecht

Nr 2 BBodSchG. Sofern der Anwendungsbereich des § 10 I BBodSchG eröffnet ist, steht der Behörde gem § 10 I 3 BBodSchG ein Ermessen zu, bei dessen Ausübung sie die berechtigten Nutzungsinteressen zu berücksichtigen hat. 209 Im Vorfeld einer Gefahr ermächtigt das Gesetz die zuständige Behörde zu Ermittlungsmaßnahmen der Gefährdungsabschätzung und zu Untersuchungsanordnungen (§ 9 BBodSchG). Besteht aufgrund konkreter Anhaltspunkte der hinreichende Verdacht einer schädlichen Bodenverunreinigung oder einer Altlast, kann die zuständige Behörde anordnen, dass die pflichtigen Personen (§ 4 III, V und VI BBodSchG) die notwendigen Untersuchungen zur Gefährdungsabschätzung durchzuführen haben (§ 9 II 1 BBodSchG). Nach Maßgabe des § 24 BBodSchG ist hiervon die Kostenlast des Pflichtigen umfasst. Auch bei der Störerauswahl darf die zuständige Behörde in der überkommenen Weise im Rahmen ihres Ermessens auf die nach dem Haftungsgrund unterschiedliche Zumutbarkeit abstellen.418 210 Allgemein gilt, dass mehreren Verpflichteten nach dem BBodSchG unabhängig von ihrer Heranziehung untereinander ein Ausgleichsanspruch zusteht (§ 24 II BBodSchG). Soweit nichts anderes vereinbart wird, hängt die Verpflichtung zum Ausgleich sowie deren Umfang davon ab, inwieweit die Gefahr oder der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist; § 426 I 2 BGB ist entsprechend anwendbar.419

3. Ergänzende Vorschriften für Altlasten 211 Unter den ergänzenden Vorschriften für Altlasten (3. Teil des BBodSchG, §§ 11–16 BBodSchG) kommt den Regelungen über Sanierungsuntersuchungen, der Sanierungsplanung und dem Sanierungsvertrag (§§ 13, 14 BBodSchG) eine besondere praktische Bedeutung zu.420 Falls bei Altlasten wegen der Verschiedenartigkeit der erforderlichen Maßnahmen ein abgestimmtes Verhalten notwendig ist oder aufgrund von Art, Ausbreitung oder Menge der Schadstoffe in besonderem Maße schädliche Bodenveränderungen oder sonstige Gefahren für den Einzelnen oder die Allgemeinheit ausgehen, soll die zuständige Behörde von dem Sanierungsverpflichteten (§ 4 III, V oder VI BBodSchG) die notwendigen Sanierungsuntersuchungen sowie die Vorlage eines Sanierungsplans mit bestimmten Inhalten verlangen (§ 13 I BBodSchG). Die zuständige Behörde kann den Sanierungsplan selbst erstellen, wenn ein Verpflichteter dem Verlangen nicht rechtzeitig oder nur unzureichend nachkommt oder nicht (rechtzeitig) herangezogen werden kann, ferner wenn die großflächige Ausdehnung der Altlast oder die Anzahl der Verpflichteten ein koordiniertes Vorgehen erforderlich macht (§ 14 BBodSchG). Schließlich sieht das Gesetz mit dem Sanierungsvertrag (§ 13 IV BBodSchG) einen öffentlichrechtlichen Vertrag iSd §§ 54 ff VwVfG vor, der wegen des hohen Kooperationsbedarfs bei der Altlastensanierung und der allgemeinen Tendenz zu kooperativem Verwaltungshandeln voraussichtlich breite Anwendung finden wird. Eine europarechtlich bedingte Verschleifung des Altlasten- mit dem Abfallrecht ergibt sich indessen aus der jüngsten Rechtsprechung des EuGH. Danach sind Stoffe, die – wie zB Kraftstoffe – unabsichtlich ausgebracht worden sind und eine Boden- und Grundwasserkontamination verursacht haben, Abfälle iSd EG-Abfallrichtlinien; Gleiches gilt für das derart verunreinigte Erdreich, auch wenn es nicht ausgehoben worden ist.421

_____ 418 BayVGH NJW 2004, 2768; HessVGH BeckRS 2006, 21378. 419 Kloepfer UmwR § 13 Rn 37 mwN. 420 Vgl grundlegend Diehr UPR 1998, 128 ff; zusammenfassend Frenz/Heßler NVwZ 2001, 13 ff. 421 EuGH Urt v 7.9.2004 – C-1/03 – (Van de Walle/Texaco), Slg 2004, I-7613 Tz 52 ff, dazu Petersen/Lorenz NVwZ 2005, 257 ff (Sanierung von Altlasten nach AbfallR?); Leitzke/Schmitt UPR 2005, 16 ff.

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VII. Wasserrecht – 5. Kapitel

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4. Wertausgleich Soweit durch den Einsatz öffentlicher Mittel bei Maßnahmen zur Erfüllung der Pflichten nach 212 § 4 BBodSchG der Verkehrswert eines Grundstücks nicht nur unwesentlich erhöht wird und der Eigentümer die Kosten hierfür nicht oder nicht vollständig getragen hat, hat er einen von der zuständigen Behörde festzusetzenden Wertausgleich in Höhe der maßnahmenbedingten Wertsteigerung an den öffentlichen Kostenträger zu leisten (§ 25 I 1 BBodSchG).422 Die Höhe des Ausgleichsbetrages wird durch die Höhe der eingesetzten öffentlichen Mittel begrenzt (§ 25 I 2 BBodSchG). 5. Kapitel – Umweltschutzrecht VII. Wasserrecht – 5. Kapitel

VII. Wasserrecht 1. Allgemeines Das Wasserrecht regelt den medialen Schutz und die Nutzung der Gewässer. Seit der Föderalis- 213 musreform 2009 besteht für den Wasserhaushalt – synonym Wasserwirtschaft – gem Art 74 I Nr 32 GG eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz, 423 von der der Bund mit dem zum 1.3.2010 in Kraft getretenen Wasserhaushaltsgesetz (WHG) Gebrauch gemacht hat.424 Die Länder sind nach Art 72 III Nr 5 GG außerhalb stoff- und anlagenbezogener Vorschriften zu abweichenden Regelungen ermächtigt, wobei gem Art 72 III 2 GG das jeweils spätere Gesetz gilt.425 Bisher haben sechs Bundesländer von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.426 Im Übrigen dienen die bereits bestehenden Wassergesetze der Länder zur Lückenfüllung und Ergänzung soweit sie dem WHG nicht entgegenstehen. Die Verwaltungskompetenz zum Vollzug des Wasserwirtschaftsrechts liegt ausschließlich und insgesamt bei den Ländern (Art 30, 83 GG). Auf die alte Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art 75 I Nr 4 GG aF ist das 214 Abwasserabgabengesetz 427 gestützt, das die wasserwirtschaftsrechtliche Benutzungsordnung flankiert und der Gewässerverschmutzung durch den ökonomischen Druck der Abgabe entgegenwirken soll.428 Dem Ziel des Gewässerschutzes dienen ferner stoffbezogene Sondergesetze wie das Gesetz über die Umweltverträglichkeit von Wasch- und Reinigungsmitteln.429 Eine beachtliche wasserwirtschaftliche Relevanz kommt auch der TrinkwasserVO430 zu, die sich allerdings auf Ermächtigungsgrundlagen des Infektionsschutzgesetzes und des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes stützt. Als situationsbezogenes Sondergesetz für den Verteidigungsfall – fungiert das auf Art 73 Nr 1 GG gestützte Wassersicherstellungsgesetz.431 Das Wasserwegerecht, das die Verkehrsfunktion der Gewässer betrifft, hat im WaStrG432 für die dem allgemeinen

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422 Dazu Albrecht NVwZ 2001, 1120 ff; Kloepfer UmwR § 13 Rn 38 f; zu vergleichbaren landesrechtlichen Regelungen Körner/Vierhaus LKV 1996, 345, 350 f. 423 Zur Gesetzgebungskompetenz ausf Reinhardt AöR 135, 459 ff. 424 IdF v 7.8.2009, BGBl I 2585, zuletzt geänd d G v 24.2.2012 (BGBl I 212); vor der Föderalismusreform hatte das WHG die Gestalt eines Rahmengesetzes. Für 2009 war die Schaffung eines Umweltgesetzbuches vorgesehen, das jedoch scheiterte, so dass das neue WHG als eigenständiges Gesetz erlassen wurde; näher Kloepfer UmwR § 14 Rn 3. 425 Zur Lösung von kollidierenden Normen im Wasserrecht Schmidt/Kahl UmwR § 5 Rn 8 ff. Zur Abweichungskompetenz des GG näher Franzius NVwZ 2008, 492 ff; mit Fokus auf WHG und BNatSchG Becker DVBl 2010, 754 ff. 426 BayWG vom 25.2.2010, GVBl 66; BbgWG vom 2.3.2012, GVBl I, 12; WG Bremen vom 13.12.2011; HessWG vom 14.12.2010, GVBl I, 548 (befristet bis 31.12.2015); NdsWG vom 19.2.2010, GVBl, 64; WG LSA vom 16.3.2011, GVBl, 492 (befristet bis 1.4.2013). 427 IdF v 18.1.2005 (BGBl I 114), zuletzt geänd d G v 11.8.2010 (BGBl I 1163). 428 Dazu o Rn 134 ff. 429 IdF v 5.3.1987 (BGBl I 875), zul geänd d G v 2.11.2011 (BGBl I 2162, 2168). 430 VO v 21.5.2001 (BGBl I 959) zur Umsetzung der RL 98/83/EG v 23.10.1998 (ABlEG, L 330/32), zul geänd d G v 22.12.2011 (BGBl I 3044); Breuer in: Rengeling, EUDUR, Bd II/1, 2. Aufl 2003, § 69; zu den jüngsten Änderungen Seeliger/Wrede ZfW 2012, 14 ff. 431 V 24.8.1965 (BGBl I 1225, ber 1817), zul geänd d G v 12.8.2005 (BGBl I 2354). 432 IdF v 23.5.2007 (BGBl I 962, ber BGBl I 2008, 1980), zul geänd d G v 6.10.2011 (BGBl I 1986). Mit Zweifel an der Vereinbarkeit mit der WRRL Möckel DVBl 2010, 618 ff.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

Verkehr dienenden Binnenwasserstraßen des Bundes und die Seewasserstraßen eine abschließende Regelung gefunden. Soweit sonstige Gewässer schiffbar sind, fehlt es an einer bundesrechtlichen Regelung, so dass für diese Gewässer wasserwegerechtliche Bestimmungen durch die Länder getroffen werden können.433 Das nationale Wasserrecht wird zunehmend durch europäisches Recht geprägt. Besondere 215 Bedeutung kommt dabei der WasserrahmenRL (WRRL) 2000/60/EG vom 23.10.2000434 zu, die sieben ältere Richtlinien zusammenführte (Art 22 WRRL) und einen einheitlichen europäischen Ordnungsrahmen für den Gewässerschutz schuf (Art 1 WRRL). Die RL wurde im WHG umgesetzt.435

2. Die allgemeine wasserwirtschaftsrechtliche Benutzungsordnung 216 Das WHG ist in sechs Kapitel unterteilt. Das erste (§§ 1 bis 5 WHG) enthält allgemeine Bestimmungen, das zweite (§§ 6 bis 49 WHG) behandelt die Bewirtschaftung von Gewässern, beginnend mit gemeinsamen Bestimmungen im ersten Abschnitt (§§ 6 ff WHG) und differenzierenden Regelungen unterteilt nach Gewässerarten (§§ 25 ff WHG: oberirdische Gewässer, §§ 43 ff WHG: Küstengewässer, §§ 45a ff WHG: Meeresgewässer, §§ 49 ff WHG: Grundwasser). Es folgen besondere wasserwirtschaftliche Bestimmungen in Kapitel 3 (§§ 50 bis 95 WHG), ua zur öffentlichen Wasserversorgung (§ 50 WHG), der Abwasserbeseitigung (§§ 54 ff WHG), der wasserwirtschaftlichen Planung und Dokumentation (§§ 82 ff WHG), der Haftung für Gewässerveränderungen (§§ 89 f WHG) sowie Duldungs- und Gestattungsverpflichtungen (§§ 91 ff WHG). Es schließen sich an Kapitel 4 zu Entschädigung und Ausgleich (§§ 96 bis 99 WHG), Kapitel 5 zur Gewässeraufsicht (§§ 100 bis 102 WHG) und zuletzt Kapitel 6 mit Bußgeld- und Überleitungsbestimmungen (§§ 103 bis 106 WHG).

a) Verwaltungs- und verfassungsrechtliche Grundsätze 217 Unter welchen Voraussetzungen und in welcher Weise Gewässer benutzt werden dürfen, ist primär im öffentlichen Recht geregelt. Deklaratorisch ist insofern § 4 III WHG, wonach das Grundeigentum nicht zu einer Gewässerbenutzung, die einer behördlichen Zulassung bedarf, oder zum Ausbau eines Gewässers berechtigt. Gewässer sind öffentliche Sachen. Als solche haben sie grundsätzlich436 einen dualistischen Status. Einerseits sind sie Gegenstände privatrechtlichen Eigentums, andererseits sind sie einer öffentlich-rechtlichen Zweckbestimmung und Benutzungsordnung unterworfen, welche die privatrechtliche Eigentumsordnung überlagert (vgl § 4 III Nr 1 WHG).437 Die oberirdischen Gewässer438 werden zu den öffentlichen Sachen im Gemeingebrauch gezählt.439

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433 Vgl Czychowski/Reinhardt WHG Einl Rn 18. 434 Breuer ZfW 2005, 1 ff kritisiert die RL als zu starken Eingriff in das deutsche System des Wasserrechts; Bilanz zur WRRL zieht Durner NuR 2010, 452 ff. Hinzu tritt die GrundwasserRL 2006/118/EG vom 12.12.2006, die als TochterRL der WRRL erlassen wurde. 435 G v 6.10.2011 (BGBl I, 2986). Dem vorangegangen war ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH Urt v 15.12.2005 – C-67/05 – (Kommission/BRD) = ZfW 2007, 98, der beanstandete, dass die RL lediglich in Verwaltungsvorschriften umgesetzt worden war; Anm zur Umsetzung Köck ZUR 2009, 227. 436 Ausnahmen bilden die im öffentlichen Eigentum stehenden Bundeswasserstraßen (§ 4 I 1 WHG) und die Oberflächengewässer in Baden-Württemberg (§§ 4, 5 WG BW; § 4a HbgWG regelt ein öffentliches Eigentum lediglich an Hochwasserschutzanlagen). 437 Allgem hierzu Papier in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 38 Rn 18 ff. 438 Zu deren Begriff BVerwG NVwZ-RR 2003, 829, 830; 2005, 739, 740; Breuer Öffentliches und privates Wasserrecht Rn 118 ff. 439 BVerwGE 32, 299, 302 f; Czychowski/Reinhardt WHG Einl Rn 59; aA Papier in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 39 Rn 19 ff.

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Bei der öffentlich-rechtlichen Überformung handelt es sich nach dem Nassauskiesungs- 218 beschluss440 des BVerfG um eine verfassungskonforme Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums. Das WHG hat in verfassungskonformer Weise das unterirdische Wasser zur Sicherung einer funktionsfähigen Wasserbewirtschaftung – insbesondere der öffentlichen Wasserversorgung – einer vom Grundstückseigentum getrennten öffentlich-rechtlichen Benutzungsordnung unterstellt. Mit der Reform des WHG und dem neuen § 4 II WHG, wonach Wasser eines fließenden oberirdischen Gewässers und Grundwassers nicht eigentumsfähig sind, wird dies noch stärker betont. § 1 WHG stellt das Gesetz unter den allgemeinen Zweck der nachhaltigen Gewässerbewirt- 219 schaftung. § 6 WHG konkretisiert diesen Grundsatz im Sinne einer programmatischen Leitnorm und nennt im Einzelnen die Gemeinwohlorientierung, gleichwohl unter Berücksichtigung der Interessen einzelner (§ 6 I Nr 3 WHG), die Aspekte des Naturschutzes (Nr 1 und 2), der Nachhaltigkeit (Nr 4), des Klimaschutzes (Nr 5), des Hochwasserschutzes (Nr 6) und des Schutzes der Meeresumwelt (Nr 7). Die Vorschrift richtet sich an die Behörden der Wasserwirtschaft und lenkt ihr Ermessen für den Vollzug wasserwirtschaftsrechtlicher Vorschriften. § 5 WHG hingegen verpflichtet jede Person, bei Maßnahmen, mit denen Einwirkungen auf ein Gewässer verbunden sein können, die nach den Umständen erforderliche Sorgfalt anzuwenden, um eine nachteilige Veränderung der Gewässereigenschaften zu vermeiden, eine mit Rücksicht auf den Wasserhaushalt gebotene sparsame Verwendung des Wassers sicherzustellen, die Leistungsfähigkeit des Wasserhaushalts zu erhalten und eine Vergrößerung und Beschleunigung des Wasserabflusses zu vermeiden. Die Vorschrift bezieht insbesondere auch Handlungen im Vorfeld der wasserwirtschaftsrechtlichen Kontrollen ein und begründet eine allgemeine Sorgfaltspflicht, die kraft öffentlichen Rechts im Wege eines polizeilichen oder ordnungsbehördlichen Einschreitens der Wasserbehörden durchgesetzt werden kann.441

b) Die Rechtsinstitute der Erlaubnis und der Bewilligung Die allgemeine wasserwirtschaftsrechtliche Benutzungsordnung wird vor allem durch den 220 Erlaubnis- oder Bewilligungsvorbehalt für Gewässerbenutzungen geprägt (§ 8 I WHG). Die Zulassung zur Gewässerbenutzung ist in das Ermessen der zuständigen Wasserbehörde gestellt; es besteht kein Anspruch auf Zulassung, lediglich auf ermessenfehlerfreie Bescheidung.442 Erlaubnis und Bewilligung unterscheiden sich grundsätzlich nicht nach dem Gegenstand und dem Umfang der ermöglichten Gewässerbenutzung, sondern durch die Art der gewährten Rechtsstellung. Eine Ausnahme hiervon ergibt sich aus § 14 I Nr 3 WHG. Danach darf die Bewilligung nicht für das Einbringen oder Einleiten von Stoffen in ein Gewässer (§ 9 I Nr 4 WHG) sowie für Maßnahmen, die geeignet sind, dauernd oder in einem nicht nur unerheblichen Ausmaß nachteilige Veränderungen der Wasserbeschaffenheit herbeizuführen (§ 9 II Nr 2 WHG). Gemeinsam ist beiden Rechtsinstituten die Dinglichkeit: Ebenso wie die Erlaubnis geht die Bewilligung mit der Wasserbenutzungsanlage oder, wenn sie für ein Grundstück erteilt ist, mit diesem auf den Rechtsnachfolger über, soweit bei der Erteilung nichts anderes bestimmt ist (§ 8 IV WHG). Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass mit der Erteilung kein Recht auf Zufluss von Wasser bestimmter Menge und Beschaffenheit eingeräumt wird (§ 10 II WHG). Die Bewilligung gewährt das beständige und nur begrenzt widerrufbare und mit nachträg- 221 lichen Inhalts- und Nebenbestimmungen versehbare, allerdings befristete Recht zu einer bestimmten Gewässerbenutzung (§ 10 I, § 13 III und § 18 II WHG). Die Frist muss von der Wasser-

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440 BVerfGE 58, 300, insbes 337 ff; dazu Lege JZ 2011, 1084 ff. 441 Czychowski/Reinhardt WHG § 5 Rn 17. 442 Verbreitet wird die Regelung als repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt eingeordnet (vgl etwa Kloepfer UmwR § 14 Rn 40). Zur Problematik dieser Kategorisierung siehe aber o Rn 82 ff.

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behörde angemessen bestimmt werden und darf nur in besonderen Fällen 30 Jahre überschreiten (§ 14 II WHG). Die Bewilligung sichert den Begünstigten nicht nur gegenüber Maßnahmen der Verwaltungsbehörden, sondern auch gegenüber betroffenen Dritten, indem sie gesetzliche Ansprüche Betroffener auf Beseitigung einer Störung, Unterlassung der Benutzung, Herstellung von Schutzeinrichtungen oder Schadensersatz ausschließt (§ 16 II WHG).443 Dieser nachbarrechtsgestaltenden Wirkung entspricht das Erfordernis, die Bewilligung nur in einem förmlichen Verfahren (§ 11 II WHG) und im Falle der Erhebung von Einwendungen nur unter Berücksichtigung von Einwirkungen auf Rechte und Interessen Dritter zu erteilen (§ 14 III WHG). 222 In der Rechtspraxis bildet jedoch die Erlaubnis den Regelfall der Benutzungsgestattung. Sie gewährt lediglich die widerrufliche Befugnis, ein Gewässer zu einem bestimmten Zweck in einer nach Art und Maß bestimmten Weise zu benutzen (§§ 10 I, 18 I WHG). Die Erlaubnis wird grundsätzlich ohne förmliches Verfahren erteilt; ein solches findet nur statt, wenn die betreffende Benutzung einer Umweltverträglichkeitsprüfung444 bedarf, § 11 I WHG. Die gehobene Erlaubnis (§ 15 WHG) nimmt eine Mittelstellung zwischen Bewilligung und 223 Erlaubnis ein und erweitert das wasserrechtliche Instrumentarium. Sie räumt dem Inhaber eine festere Rechtsposition ein, bleibt aber – anders als die Bewilligung – frei widerruflich.445 Ihre Erteilung setzt voraus, dass ein öffentliches Interesse oder ein berechtigtes Interesse des Gewässerbenutzers besteht, § 15 I WHG. Die gehobene Erlaubnis kann nur in einem förmlichen Verfahren erteilt werden, §§ 15 II, 11 II WHG, zeitigt dafür aber eingeschränkt Drittschutz (§§ 15 II iVm § 14 III bis V WHG) und privatrechtsgestaltende Wirkung (§ 16 I WHG).

c) Erlaubnis- oder bewilligungspflichtige Benutzungen 224 Das Erfordernis einer Erlaubnis oder Bewilligung (§ 8 I WHG) setzt eine Gewässerbenutzung voraus. Die Einzeltatbestände der Gewässerbenutzungen sind in § 9 WHG geregelt. Dabei wird der Kreis der bewirtschafteten Benutzungen weit gezogen.446 Hierunter fallen das Entnehmen und Ableiten von Wasser aus oberirdischen Gewässern,447 das Aufstauen und Absenken von oberirdischen Gewässern, das Entnehmen fester Stoffe aus oberirdischen Gewässern, soweit sich dies auf die Gewässereigenschaften auswirkt, das Einbringen und Einleiten von Stoffen in Gewässer, sowie das Entnehmen, Zutagefördern, Zutageleiten und Ableiten von Grundwasser (§ 9 I WHG).448 Diesen sog echten Benutzungen, die gezielte Einwirkungen auf die Gewässer darstellen,449 werden in § 9 II WHG die sog unechten Benutzungen gleichgestellt. Als erlaubnis- oder bewilligungspflichtige Benutzungen gelten danach auch das Aufstauen, Absenken und Umleiten von Grundwasser durch Anlagen, die hierzu bestimmt oder geeignet sind, sowie Maßnahmen, die geeignet sind, dauernd oder in einem nicht nur unerheblichen Ausmaß nachteilige Veränderungen der Wasserbeschaffenheit herbeizuführen. Hierunter fällt zB eine Trockenauskiesung, die definitionsgemäß oberhalb des Grundwasserspiegels bleibt, jedoch die Bodendeckenschicht wesentlich verringert.450 Maßnahmen der Bodendüngung sowie die Anwendung von Pestiziden und Herbiziden in der Land- und Forstwirtschaft stellen aufgrund ihrer Zweck-

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443 Vgl BGHZ 147, 125. § 16 I WHG ist an § 14 BImSchG angelehnt, BR-Drs 280/09, 162. 444 Vgl dazu o Rn 91 ff. 445 BR-Drs 280/09, 162. Ausf zur gehobenen Erlaubnis Guckelberger VerwArch 2010, 139 ff. 446 Vgl zu den Benutzungstatbeständen im Einzelnen Breuer Öffentliches und privates Wasserrecht Rn 208 ff; Spranger JA 2001, 310 ff. 447 ZB die Entnahme von Kühlwasser für ein Kraftwerk; OVG NW ZfW 1974, 235. 448 Zur Grundwasserförderung zB BVerwGE 20, 219 (Gildebrauerei-Fall) = ZfW 1965, 98 (ausführlicher); auch BVerwG DVBl 1968, 32 (Füssing-Fall). 449 BVerwG NJW 1974, 815. 450 OVG NW ZfW 1973, 56; VGH BW ZfW 1997, 32; zugrunde gelegt auch in BGHZ 84, 230; BGH ZfW 1983, 23.

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richtung kein Einleiten von Schadstoffen in das Grundwasser oder in ein Oberflächengewässer, sondern allenfalls wegen einer konkreten und darlegungsbedürftigen Schädigungseignung eine unechte Gewässerbenutzung nach § 9 II Nr 2 WHG dar.451 Einer Erlaubnis oder Bewilligung bedürfen schließlich auch Maßnahmen zur Unterhaltung eines oberirdischen Gewässers, soweit hierbei chemische Mittel verwendet werden (§ 9 III 2 WHG); dies trifft zB für chemische Entkrautungen eines Gewässers zu.452 Bestimmte Gewässerbenutzungen von geringerer wasserwirtschaftlicher Bedeutung werden durch das WHG und die landesgesetzlichen Ausfüllungsvorschriften ausdrücklich von der Erlaubnis- oder Bewilligungspflicht ausgenommen. Aufgrund des Gemeingebrauchs darf nach § 25 WHG jedermann oberirdische Gewässer in einem Umfang benutzen, wie dies nach Landesrecht gestattet ist, soweit nicht Rechte anderer entgegenstehen und soweit Befugnisse oder der Eigentümer- oder Anliegergebrauch anderer dadurch nicht beeinträchtigt werden. Die Landeswassergesetze schränken den Gemeingebrauch fast ausschließlich auf traditionelle, heute minder bedeutsame Benutzungen ein, wie etwa das Waschen (nicht von Kraftfahrzeugen) oder Schöpfen mit Handgefäßen.453 Das Befahren eines Gewässers mit Motorfahrzeugen fällt grundsätzlich nicht unter den wasserwirtschaftlichen Gemeingebrauch. Überdies lassen die Landeswassergesetze in verschieden starkem Umfang zu, dass die Ausübung des Gemeingebrauchs geregelt, über den gesetzlichen Umfang hinaus beschränkt oder verboten wird.454 Eine Erlaubnis oder Bewilligung ist weiterhin nicht erforderlich, soweit die Benutzung eines oberirdischen Gewässers vom Eigentümer-, Anlieger- oder Hinterliegergebrauch (sog gesteigerter Gemeingebrauch) gedeckt ist. Diese umfassen nach § 26 I 1, II WHG die Benutzung eines oberirdischen Gewässers durch Eigentümer, Anlieger oder Hinterlieger oder die durch sie Berechtigten (zB Mieter) für den eigenen Bedarf, wenn dadurch andere nicht beeinträchtigt werden und keine nachteilige Veränderung der Wasserbeschaffenheit, keine wesentliche Verminderung der Wasserführung sowie keine andere Beeinträchtigung des Wasserhaushalts zu erwarten sind. Erlaubnis- und bewilligungsfrei sind ferner einige weniger bedeutsame Benutzungen der Küstengewässer (§ 43 WHG, § 23 WG MV, § 80 NdsWG, § 17 WG SH) und des Grundwassers (§ 46 WHG). Dies gilt insbesondere für das Entnehmen, Zutagefördern, Zutageleiten oder Ableiten von Grundwasser für Zwecke des Haushalts oder des landwirtschaftlichen Hofbetriebs455 sowie für die gewöhnliche landwirtschaftliche Bodenentwässerung, sofern nicht von den Benutzungen signifikante nachhaltige Auswirkungen auf den Zustand des Gewässers zu erwarten sind (§ 33 I 1 WHG). Weitere Ausnahmen von der Erlaubnis- oder Bewilligungspflicht betreffen alte Rechte, alte Befugnisse und andere alte Benutzungen, die das WHG aus der Zeit der früheren Rechtslage vorgefunden und aus Praktikabilitätserwägungen sowie aus Gründen des eigentumsrechtlich gebotenen Bestandsschutzes aufrechterhalten hat (§§ 20 f WHG).456 Schließlich bedarf es weder einer

_____ 451 Kloepfer UmwR § 14 Rn 25. Zum normativen Rahmen Vorreyer Maßnahmen zur Verminderung des landwirtschaftlichen Belastungsbeitrags in: Koch/Lagoni, Meeresumweltschutz für Nord- und Ostsee, 1996, 273 ff; mit allgemeinerem Ansatz: Hendler/Marburger/Reiff/Schröder, Landwirtschaft und Umweltschutz, UTR 92, 2007; Scheidler NuR 2006, 631 ff. 452 Czychowski/Reinhardt WHG § 9 Rn 104. 453 § 26 I 1 WG BW; Art 18 I 1 BayWG; § 25 I 1 BlnWG; § 43 I BbgWG; § 14 I 1 WG Bremen; § 9 I 1, § 10 II 1 HbgWG; § 19 I HessWG; § 21 I-III WG MV; § 32 I 1 NdsWG; § 33 I 1 WG NW; § 36 I 1 WG RP; § 22 I 1 WG SL; § 34 I SächsWG; § 29 I WG LSA; § 14 I u III WG SH; § 37 I 1 ThürWG; vgl zum Ganzen Breuer Öffentliches und privates Wasserrecht Rn 264 ff. 454 So § 28 II WG BW; Art 18 IV BayWG; § 25 VI BlnWG; § 44 BbgWG; § 18 Nr 1 WG Bremen; § 11 HbgWG; § 19 III HessWG; § 21 VI WG MV; § 34 NdsWG; § 34 WG NW; § 37 WG RP; § 23 WG SL; § 34 IV SächsWG; § 29 V WG LSA; §§ 19 WG SH; § 37 III, IV ThürWG; näher dazu Breuer Öffentliches und privates Wasserrecht Rn 270 ff. 455 Vgl zur Abgrenzung BayVGH DVBl 1965, 43 f; OVG NW ZfW 1989, 44. 456 Näher dazu Breuer Öffentliches und privates Wasserrecht Rn 284 ff.

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Erlaubnis noch einer Bewilligung für Maßnahmen, die dem Ausbau eines oberirdischen Gewässers dienen (§ 9 III 1 WHG). Die hierdurch berührten öffentlichen und privaten Interessen werden im Planfeststellungsverfahren nach §§ 67 ff WHG, zumindest aber in einem Plangenehmigungsverfahren umfassend geprüft.457

d) Die allgemeinen Voraussetzungen der Erteilung einer Erlaubnis oder Bewilligung 229 Die Erteilung einer Erlaubnis oder Bewilligung ist ein im Ermessen der Wasserbehörde stehender Verwaltungsakt, § 12 II WHG. Bei der Entscheidung über einen Erlaubnis- oder Bewilligungsantrag verdient allerdings der zwingende Versagungsgrund des § 12 I WHG vordringliche Beachtung. Danach sind die Erlaubnis und die Bewilligung zu versagen, wenn schädliche, auch durch Nebenbestimmungen nicht vermeidbare oder nicht ausgleichbare Gewässerveränderungen zu erwarten sind (§ 12 I Nr 1 WHG). Der Begriff der schädlichen Gewässerveränderungen ist in § 3 Nr 10 WHG legaldefiniert als Veränderungen von Gewässereigenschaften, die das Wohl der Allgemeinheit, insbesondere die öffentliche Wasserversorgung, beeinträchtigen oder die nicht den Anforderungen entsprechen, die sich aus dem WHG oder anderen wasserrechtlichen Vorschriften ergeben. Damit ist wiederum auf § 6 WHG, die Grundsätze der Gewässerbewirtschaftung, verwiesen; dazu treten spezielle Anforderungen zu den jeweiligen Gewässerarten, so dass die Maßstäbe für die Schädlichkeit von Gewässerveränderungen entsprechend unterschiedlich ausfallen.458 Die Normstruktur von § 12 I Nr 1 WHG macht eine zweistufige Prüfung erforderlich, die sich erstens auf die tatbestandlichen Voraussetzungen des wiedergegebenen zwingenden Versagungsgrundes und – bei dessen Verneinung – zweitens auf die gemeinwohlbezogene Opportunität der Benutzung im Rahmen der öffentlichen Bewirtschaftung der Gewässer bezieht. Soweit die Wasserbehörden dabei auf der ersten Stufe über den unbestimmten Rechtsbegriff der schädlichen Gewässerveränderung zu entscheiden haben, steht ihnen kein Beurteilungsspielraum zu.459 Erst wenn diese Voraussetzungen für den unabdingbaren Minimalschutz der Gewässer erfüllt sind, setzt der Ermessensspielraum der Behörden ein. Er dient einer einzelfallbezogenen Optimierung des Gewässerschutzes. Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich insoweit auf das Vorliegen von Ermessensfehlern. Rechtserhebliche Ermessensdirektiven ergeben sich indessen aus den gesetzlichen Bewirtschaftungszielen (§§ 27–31, 44, 47 WHG) und der wasserwirtschaftlichen Planung in Gestalt vorhandener Maßnahmenprogramme und Bewirtschaftungspläne (§§ 82, 83 WHG).460 Daneben sind Erlaubnis und Bewilligung zu versagen, wenn andere Anforderungen nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften nicht erfüllt werden, § 12 I Nr 2 WHG.461 Beim Einleiten von Stoffen in das Grundwasser sind die verschärften, über § 12 I Nr 1 WHG 230 hinausgehenden Anforderungen des Besorgnisgrundsatzes nach § 48 I WHG zu beachten. Hiernach darf eine Erlaubnis nur erteilt werden, wenn eine schädliche Verunreinigung des Grundwassers oder eine sonstige nachteilige Veränderung seiner Eigenschaften nicht zu besorgen ist. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn die Möglichkeit eines Schadenseintritts – etwa durch das Eindringen von Schadstoffen in das Grundwasser – nach den gegebenen Umständen und im Rahmen einer sachlich vertretbaren, auf konkreten Feststellungen beruhenden Prognose nicht von der Hand zu weisen ist.462 Ein striktes Verbot gilt auch insofern, als feste Stoffe in ein oberir-

_____ 457 Müllmann Die Plangenehmigung im Wasserrecht, 1994; Sprogies ZfW 1994, 385 ff. 458 BR-Drs 280/09, 151. Krit zur neuen Systematik und begrifflichen Veränderungen im neuen WHG Czychowski/Reinhardt WHG § 12 Rn 12 f. 459 Czychowski/Reinhardt WHG § 12 Rn 18 f. 460 Vgl dazu u Rn 238 ff. 461 Im Immissionsschutzrecht erfüllt § 6 I Nr 2 BImSchG die gleiche Funktion. 462 BVerwG DÖV 1981, 104 f; 1983, 101.

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disches Gewässer nicht zu dem Zweck eingebracht werden dürfen, sich ihrer zu entledigen (§ 32 I WHG). Über die Grundregel des § 12 I WHG hinausgehend stellt § 14 I WHG für die Erteilung einer 231 Bewilligung besondere Voraussetzungen auf. Hiernach darf eine Bewilligung nur erteilt werden, wenn erstens dem Benutzer die Gewässerbenutzung ohne eine gesicherte Rechtsstellung nicht zugemutet werden kann (§ 14 I Nr 1 WHG), zweitens die Benutzung einem bestimmten Zweck dient, der nach einem bestimmten Plan verfolgt wird (§ 14 I Nr 2 WHG), und drittens die Benutzung nicht im Einbringen und Einleiten von Stoffen in Gewässer oder einer Maßnahme besteht, die geeignet ist, nachteilige Veränderungen der Wasserbeschaffenheit herbeizuführen (§§ 14 I Nr 3, 9 I Nr 4 und II Nr 2 WHG).463 Darüber hinaus ist bei einer Bewilligung – auf Einwendungen Betroffener hin – die Verträglichkeit mit Rechten (§ 14 III WHG) und Interessen (§ 14 IV WHG) Dritter zu prüfen. Dabei sind nachteilige Wirkungen möglichst durch Inhalts- und Nebenbestimmungen zu vermeiden oder auszugleichen. Soweit dies nicht möglich ist, setzt die Bewilligung gegenüber Rechteinhabern ein Gemeinwohlerfordernis und eine Entschädigung, gegenüber Interessen Dritter erheblich überwiegende Gründe voraus. Bei diesen Regelungen handelt es sich um materielles Wasser-Nachbarrecht.464 Besondere Anforderungen gelten im Zusammenhang mit der Einleitung von Abwässern, 232 die in § 54 I 1 WHG als Schmutzwasser und Niederschlagswasser definiert sind. Zu unterscheiden ist zwischen der Direkteinleitung als der Einleitung in Gewässer (§ 57 I WHG) und der Indirekteinleitung als der Einleitung in öffentliche Abwasseranlagen, also etwa in Kläranlagen (§ 58 I 1 WHG). Für Direkteinleitungen darf keine Bewilligung erteilt werden (vgl § 57 I WHG). Außerdem sind Menge und Schädlichkeit des Abwassers so gering zu halten, wie dies nach dem Stand der Technik möglich ist (§ 57 I Nr 1 WHG)465 und die Einleitung muss mit den Anforderungen an die Gewässereigenschaften vereinbar sein (Nr 2). Indirekteinleitungen hingegen stellen keine Benutzungen (vgl § 9 I Nr 4 WHG) dar.466 Sie bedürfen jedoch gem § 58 I WHG einer Genehmigung, die mit Inhalts- und Nebenbestimmungen sowie mit Widerrufsvorbehalt versehen werden kann (§ 58 IV WHG).

e) Nebenbestimmungen, nachträgliche Beschränkungen und Widerruf einer Erlaubnis oder Bewilligung Nach § 13 I WHG können die Erlaubnis und die Bewilligung unter Festsetzung von Inhalts- und 233 Nebenbestimmungen erteilt werden.467 § 13 II WHG enthält hierfür einen nicht abschließenden Katalog. Die zuständige Behörde kann ua Anforderungen an die Beschaffenheit einzubringender oder einzuleitender Stoffe stellen (Nr 1) oder Maßnahmen anordnen, die der Feststellung der Gewässereigenschaften vor der Benutzung oder der Beobachtung der Gewässerbenutzung und ihrer Auswirkungen dienen (Nr 2 lit c) oder die zum Ausgleich einer auf die Benutzung zurückzuführenden nachteiligen Veränderung der Gewässereigenschaften erforderlich sind (Nr 2 lit d). Ferner kann die zuständige Behörde dem Benutzer angemessene Beiträge zu den Kosten von Maßnahmen auferlegen, die eine Körperschaft des öffentlichen Rechts getroffen hat oder treffen wird, um eine mit der Benutzung verbundene Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit zu

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463 Zum Ausschluss bestimmter Benutzungen siehe auch o Rn 225 ff. 464 BGHZ 69, 1, 21 f; 88, 34, 38 f; BayObLG ZfW 1981, 119, 121; 1990, 299, 301 f; OVG NW ZfW 1990, 417 f; Czychowski/Reinhardt WHG § 14 Rn 65. 465 Zum Pate stehenden Begriff des Stands der Technik in § 3 VI BImSchG s Rn 260; zum Begriff im WHG s nur Kloepfer UmwR § 14 Rn 42. 466 Eine Benutzung liegt aber etwa in der anschließenden Einleitung des geklärten Abwassers in ein anderes Gewässer. 467 Zum alten Recht und der sog Benutzungsbedingung Sparwasser/Engel/Voßkuhle UmwR § 8 Rn 137 ff; zum drittschützenden Charakter Czychowski/Reinhardt WHG § 13 Rn 42 f.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

vermeiden oder auszugleichen (Nr 4). Daneben kann auf die allgemeine Regelung des § 36 II VwVfG zurückgegriffen werden.468 Inhalts- und Nebenbestimmungen sind qua Gesetz auch nachträglich möglich, § 13 I WHG, 234 so dass im Ausgangsbescheid kein entsprechender Vorbehalt ausgewiesen sein muss.469 Die Vorschrift spiegelt den geringen Bestandsschutz, der der Erlaubnis zukommt, und ist milderes Mittel zu ihrer freien Widerruflichkeit (§ 18 I WHG). Der höhere Bestandsschutz der Bewilligung ist in § 13 III WHG verwirklicht, wonach nachträglich nur Inhalts- und Nebenbestimmungen im Sinne von § 13 II Nr 1 bis 4 zulässig sind, der Katalog in diesem Fall also abschließend ist. Ein Widerruf der Bewilligung kommt nur unter den Voraussetzungen der §§ 18 II 1 WHG, 49 II 1 Nr 2 bis 5 VwVfG (ggf gegen Entschädigung) in Betracht oder wenn der Inhaber der Bewilligung die Benutzung drei Jahre ununterbrochen nicht ausgeübt oder ihrem Umfang nach erheblich unterschritten hat (§ 18 II Nr 1 WHG) oder den Zweck der Benutzung so geändert hat, dass er mit dem Plan nicht mehr übereinstimmt (§ 18 II Nr 2 WHG). 470 Mangels Regelung zur Rücknahme einer rechtswidrig erteilten Erlaubnis oder Bewilligung ist auf § 48 VwVfG zurückzugreifen.

f) Gewässeraufsicht und repressives Einschreiten der Wasserbehörden 235 Aufgabe der Gewässeraufsicht ist es, einerseits die Gewässer und andererseits die Erfüllung der wasserrechtlichen Verpflichtungen zu überwachen, § 100 I 1 WHG. § 100 I 2 WHG dient der zuständigen Behörde als Ermächtigungsgrundlage, um entsprechende Maßnahmen anzuordnen (wasserrechtliche Generalklausel). Daneben sind ihr spezielle Befugnisse gegenüber den Überwachten eingeräumt, die in erster Linie zur Duldung und Mitwirkung verpflichtet werden können (§ 101 I und II WHG). Dabei kommt vor allem der Auskunftspflicht eine zentrale Bedeutung zu. 236 Soweit den Wasserbehörden Befugnisse gem § 100 I WHG zustehen, ist grundsätzlich von der wasserbehördlichen Alleinzuständigkeit auszugehen. Den allgemeinen Polizei- und Ordnungsbehörden steht dann nur noch die Hilfszuständigkeit für Not- und Eilfälle zu.471 In materiell-rechtlicher Hinsicht ist die Wasserbehörde zum Einschreiten berechtigt, wenn ein Gewässer durch die Verwirklichung eines Tatbestandes des § 9 WHG unbefugt benutzt wird, ein Gewässerausbau ohne die Voraussetzungen der Planfeststellung oder Plangenehmigung nach § 68 WHG erfolgt oder ein Verhalten gegen Gebote oder Verbote verstößt, die der Gewässerreinheit dienen.472 Für eine Untersagungs-, Stilllegungs- oder Beseitigungsverfügung reicht im Wasserrecht, ebenso wie im gesamten Umweltschutzrecht, bereits die bloße formelle Illegalität einer Handlung oder Anlage aus.473 Die Verantwortlichkeit des Adressaten ist nach den polizei- und ordnungsrechtlichen Grundsätzen der Verhaltens- und Zustandshaftung zu beurteilen.474 Neben die staatliche Aufsicht tritt die weitergehende Binnenkontrolle durch Gewässer237 schutzbeauftragte. Diese sind kraft Gesetzes bei großen Abwassereinleitern zu bestellen (§ 64 I WHG)475 bzw müssen durch andere Einleiter oder Betreiber (§ 64 II WHG) bzw sonstige Benutzer (§ 13 II Nr 3 WHG) bei behördlicher Anordnung bestellt werden. (Zum Beauftragten näher o Rn 115 ff).

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468 Vgl Pape in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 13 WHG Rn 14. 469 Erbguth/Schlacke UmwR § 11 Rn 45. Im Falle konkurrierender Gewässerbenutzungen kann die Behörde daneben auch auf § 22 WHG zurückgreifen; ihr steht insoweit ein Wahlrecht zu (Czychowski/Reinhardt WHG § 22 Rn 3). 470 Zum Verhältnis zwischen § 18 II und § 13 WHG Kotulla/Rolfsen NuR 2010, 625, 628 f. 471 Czychowski DVBl 1970, 379 ff; Breuer Öffentliches und privates Wasserrecht Rn 800. 472 Allgem dazu Czychowski/Reinhardt WHG § 100 Rn 37 ff; einschränkend in Bezug auf die sofortige Vollziehung OVG NW ZfW 1993, 118. 473 S nur Kischel DVBl 1996, 185, 189. 474 Näher dazu Czychowski/Reinhardt WHG § 100 Rn 37. 475 Zum Gewässerschutzbeauftragten Nagel ZfW 2012, 71 ff.

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VII. Wasserrecht – 5. Kapitel

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3. Maßnahmen- und Bewirtschaftungspläne Um das langfristige Ziel476 einer nachhaltigen Wasserbewirtschaftung (§ 1 WHG) zu forcieren, 238 sieht das WHG eine Reihe von Planungstypen vor, die auf den Vorgaben der WRRL beruhen. Die Pläne machen die vom WHG für die einzelnen Gewässertypen vorgegebenen Bewirtschaftungsziele (oberirdische Gewässer: §§ 27–31 WHG; Küstengewässer: § 44 WHG; Grundwasser: § 47 WHG) operabel und lenken das Ermessen der Behörde bei Einzelfallentscheidungen.477 Besondere Beachtung478 verdienen Bewirtschaftungspläne (§ 83 WHG) und Maßnahmenprogramme (§ 82 WHG), die für jede Flussgebietseinheit zu erlassen sind. Die Bundesrepublik Deutschland ist in zehn solche Einheiten unterteilt (§ 7 I WHG), die jeweils nach dem Hauptstrom benannt sind (etwa Donau, Rhein, Elbe und Warnow/Peene). Der Bewirtschaftungsplan stellt die oberste Planungsstufe dar. Gem § 83 II 1 WHG iVm 239 der WRRL muss der Bewirtschaftungsplan eine detaillierte Zustandsbeschreibung (Kartierung, Zusammenfassung der Belastungen, etc) und eine Zusammenfassung der Maßnahmen, die zur Erreichung der Bewirtschaftungsziele nötig sind, enthalten. Die Maßnahmenprogramme (§ 82 I WHG) dienen der konkreten Umsetzung der Bewirtschaftungsziele.479 Sie enthalten in jedem Fall grundlegende Maßnahmen, die gem § 82 III WHG dem Maßnahmenkatalog der WRRL zu entnehmen sind, der insbesondere Fördermaßnahmen, Entnahmebegrenzungen, Einleitungsregelungen und schadstoffbezogene Maßnahmen vorsieht. Daneben können die Maßnahmenprogramme ergänzende Maßnahmen vorsehen, § 82 II und IV WHG. Maßnahmen- und Bewirtschaftungspläne sind alle sechs Jahre zu überprüfen und ggf zu aktualisieren (§ 84 I WHG). Mangels Regelung im WHG hängt es vom Landesrecht ab, welche Behörde für den Erlass der 240 Pläne zuständig ist. Der Planerlass selbst folgt einer finalen Entscheidungsstruktur, die an den Zielen der Wasserbewirtschaftung ausgerichtet ist und die Einbeziehung aller relevanten Abwägungsbelange erfordert. Zur breiten Ermittlung dieser Belange sieht § 85 WHG vor, dass die zuständigen Behörden die aktive Beteiligung interessierter Stellen (etwa Umweltverbände oder Bürgerinitiativen) fördern. Für Maßnahmenprogramme ordnet ferner § 14b I Nr 1 UVPG iVm Anlage 3 Nr 1.4 die Durchführung einer strategischen Umweltprüfung an, bei Bewirtschaftungsplänen übernimmt § 83 IV WHG eine ähnliche Funktion. 480 Der Bewirtschaftungsplan dient lediglich als „informatorische Grundlage“481 für den Maßnahmenplan und muss daher nicht als Rechtsnorm mit Außenwirkung erlassen werden.482 Zum Maßnahmenplan, seiner Rechtsnatur und Rechtsschutz siehe auch o Rn 101, 181).

4. Die Festsetzung von Wasserschutzgebieten Die allgemeine wasserwirtschaftsrechtliche Benutzungsordnung wird ergänzt und verschärft 241 durch die besondere Nutzungsordnung für Wasserschutzgebiete. Die Landesregierungen können derartige Gebiete festsetzen, soweit es das Wohl der Allgemeinheit erfordert, Gewässer vor nachteiligen Einwirkungen zu schützen (§ 51 I Nr 1 WHG), das Grundwasser anzureichern (§ 51 I Nr 2 WHG) oder das schädliche Abfließen von Niederschlagswasser sowie das Abschwemmen und den Eintrag von Bodenbestandteilen, Dünge- oder Pflanzenbehandlungsmitteln in Gewäs-

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476 § 29 I WHG nennt als Zieldatum für die Erreichung eines guten Gewässerzustands den 22. Dezember 2015. 477 Näher Faßbender ZfW 2010, 189, 199 f. 478 Daneben kennt das WHG Risikomanagementpläne im Bereich des Hochwasserschutzes (§ 75 WHG) sowie Zielfestlegungen und Überwachungsprogramme im Bereich der Meeresgewässer (§ 45e f WHG). 479 Gem § 82 I 2 WHG sind die Ziele der Raumordnung zu beachten; näher zum Verhältnis zum Bauplanungsrecht Czychowki/Reinhardt WHG § 82 Rn 13 f. 480 Zur Beteiligung der Öffentlichkeit umfassend Guckelberger NuR 2010, 835. 481 Kloepfer UmwR § 14 Rn 72. 482 BT-Drs 14/7755, 21 und 16/12275, 77.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

ser zu verhüten (§ 51 I Nr 3 WHG). Die Festsetzung erfolgt durch RechtsVO, § 51 I 1 aE. § 52 I WHG ermächtigt zu drei nach Adressaten differenzierten Schutzanordnungen: Zum einen können jedermann gegenüber bestimmte Handlungen verboten oder für beschränkt zulässig erklärt werden (§ 52 I Nr 1 WHG). Zum zweiten können die Eigentümer und Nutzungsberechtigten von Grundstücken dazu verpflichtet werden, bestimmte auf das Grundstück bezogene Handlungen vorzunehmen (§ 52 I Nr 2 lit a und b WHG) oder bestimmte Maßnahmen zu dulden, etwa Maßnahmen zur Beobachtung des Gewässers und des Bodens (§ 52 I Nr 2 lit c WHG). Drittens können Begünstigte verpflichtet werden, die vom Eigentümer bzw Nutzungsberechtigten zu duldenden Maßnahmen vorzunehmen (§ 52 I Nr 3 iVm Nr 2 lit c WHG). 242 Solche Schutzanordnungen stellen Inhalts- und Schrankenbestimmungen (Art 14 I 2 GG) dar, die grundsätzlich entschädigungslos hinzunehmen sind.483 Gem § 52 IV WHG ist bei unzumutbarer Beschränkung des Eigentums Entschädigung zu leisten, so dass dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch im Einzelfall Rechnung getragen ist.484 Besteht keine solche Entschädigungspflicht, so kann bei erhöhten Schutzanordnungen, die zu Einschränkungen ordnungsgemäßer Land- und Forstwirtschaft führen, ein Billigkeitsausgleich für dadurch verursachte wirtschaftliche Nachteile in Betracht kommen (§ 52 V WHG).485

5. Unterhaltung und Ausbau oberirdischer Gewässer 243 Die Unterhaltung eines oberirdischen Gewässers umfasst seine Pflege und Entwicklung als öffentlich-rechtliche Verpflichtung, insbesondere die Erhaltung des Gewässerbettes, Erhaltung und Freihaltung der Ufer, Erhaltung der Schiffbarkeit, Erhaltung und Förderung der ökologischen Funktionsfähigkeit des Gewässers sowie Erhaltung des Gewässerzustands, der wasserwirtschaftlichen Bedürfnissen entspricht, § 39 I WHG. § 40 I WHG weist die Unterhaltungslast grundsätzlich den Eigentümern der Gewässer zu, wobei den Ländern die konkrete Ausgestaltung überlassen ist. In der Regel trifft die Unterhaltungslast Körperschaften des öffentlichen Rechts, und zwar für die Bundeswasserstraßen den Bund (§§ 7, 8 WaStrG), für sonstige Gewässer erster Ordnung das jeweilige Land und für Gewässer zweiter und dritter Ordnung teils die Gemeinden oder die Landkreise und kreisfreien Städte, teils Wasser- und Bodenverbände und teils bestimmte Grundstücks-, Anlagen- oder Gewässereigentümer.486 244 Gewässerausbau ist die Herstellung, Beseitigung oder wesentliche Umgestaltung eines Gewässers oder seiner Ufer, es sei denn, es entsteht nur für einen begrenzten Zeitraum und der Wasserhaushalt wird dadurch nicht erheblich beeinträchtigt (§ 67 II 1 und 2 WHG). Deich- und Dammbauten, die den Hochwasserabfluss beeinflussen sowie Bauten des Küstenschutzes sind dem Gewässerausbau gleichgestellt (§ 67 II 3 WHG). Der Gewässerausbau bedarf der vorherigen Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens durch die zuständige Behörde (§ 68 I WHG), das ggf den Anforderungen des UVPG487 entsprechen muss. Für einen nicht UVP-pflichtigen Gewässerausbau kann anstelle eines Planfeststellungsbeschlusses eine Plangenehmigung erteilt werden (§ 68 II WHG).

_____ 483 Für verfassungsgemäß befunden von BVerfG NVwZ 2005, 1412 ff; für die schlichte Einbeziehung von Grundstücken in ein Wasserschutzgebiet bereits BGHZ 60, 145, 146; für Bewirtschaftungsbeschränkungen gegenüber der Land- und Forstwirtschaft BGHZ 133, 271, 274. 484 Die Junktimklausel (Art 14 III 2 GG) steht hier mangels Enteignung also nicht entgegen. Wie hier Kloepfer UmwR § 14 Rn 57. 485 Vgl dazu BGHZ 138, 395; krit wegen der Abkehr vom Verursacherprinzip Kloepfer UmwR § 14 Rn 58. 486 Vgl Czychowski/Reinhardt WHG § 40 Rn 8. 487 Vgl dazu o Rn 91 ff.

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VIII. Immissionsschutzrecht – 5. Kapitel

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VIII. Immissionsschutzrecht 5. Kapitel – Umweltschutzrecht VIII. Immissionsschutzrecht – 5. Kapitel

1. Allgemeines Unter den Rechtsgrundlagen des Immissionsschutzrechts nimmt das Bundes-Immissionsschutzgesetz488 die zentrale Stelle ein. Es gliedert sich in einen Allgemeinen Teil, der den Zweck des Gesetzes, seinen Geltungsbereich und Legaldefinitionen bestimmt (§§ 1–3 BImSchG). Errichtung und Betrieb von Anlagen werden in den §§ 4 ff BImSchG geregelt; das Gesetz differenziert zwischen genehmigungsbedürftigen (§§ 4–21 BImSchG) und nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen (§§ 22–25 BImSchG), deren Überwachung in den §§ 26–31a BImSchG normiert ist. Im Übrigen regelt das Gesetz die Planung von Verkehrswegen (§§ 38–43 BImSchG), von Luftqualität (§§ 44–47 BImSchG) und von Lärmminderung (§§ 47a–47f BImSchG). Das BImSchG wird durch ergänzende Rechtsverordnungen, 489 durch das Fluglärmschutzgesetz 490 und das Benzinbleigesetz491 als Spezialgesetze des Bundes und durch die Immissionsschutzgesetze und -verordnungen der Länder492 abgerundet. Gemeinsames Ziel dieser Rechtsnormen ist der mediale Schutz der Luft vor Verunreinigungen und Lärm. Wie § 1 I BImSchG ausdrücklich bestimmt, ist es der Zweck des Gesetzes, Menschen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäre sowie Kultur- und sonstige Sachgüter vor schädlichen Umwelteinwirkungen zu schützen und dem Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen vorzubeugen. Damit ist neben der anthropozentrisch und polizeirechtlich orientierten Abwehr von Gefahren, erheblichen Nachteilen und erheblichen Belästigungen die ressourcenökonomisch und ökologisch orientierte, aber auch risikobezogene Vorsorge zum Gesetzeszweck erhoben worden.493 Die Zielsetzung des integrativen, medienübergreifenden Umweltschutzes in Umsetzung ua der IVU-RL 2010/75/EU494 findet sich in § 1 II BImSchG wieder. Sie bezieht sich auf die genehmigungsbedürftigen Anlagen (§§ 4 ff BImSchG) und muss im Kontext der Betreiberpflichten (§ 5 BImSchG) gewürdigt werden. Schädliche Umwelteinwirkungen sind nach der Legaldefinition des § 3 I BImSchG „Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen“. Immissionen werden gesetzlich definiert als „auf Menschen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäre sowie Kultur- und sonstige Sachgüter einwirkende Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen, Licht, Wärme, Strahlen und ähnliche Umwelteinwirkungen“ (§ 3 II BImSchG). Das Immissionsschutzrecht gilt jedoch nicht für Anlagen, Geräte, Vorrichtungen sowie Kernbrennstoffe und sonstige radioaktive Stoffe, die den Vorschriften des Atom- und Strahlenschutzrechts unterliegen (§ 2 II BImSchG). Ausweislich § 1 I BImSchG bezweckt das Gesetz den Schutz des Menschen und seiner gesamten Umwelt.495 Die Formulierung des Gesetzeszwecks und der wiedergegebenen Legaldefinitionen sprechen somit für eine umfassende Schutzgutinterpretation. Danach müsste bei der ge-

_____ 488 Ursprünglich v 15.3.1974 (BGBl I 721, ber 1193); gegenwärtig idF v 26.9.2002 (BGBl I 3830), zul geänd d G v 24.2.2012 (BGBl I 212). 489 Zusammengestellt bei Kloepfer Umweltschutz, Bd II, Nr 601–690. 490 IdF v 31.10.2007 (BGBl I 2550). 491 V 5.8.1971 (BGBl I 1234), zul geänd d VO v 31.10.2006 (BGBl I 2407, ber 2007 I 2149). 492 Zusammenstellung bei Burhenne UmwR, Bd 5, 131511 (BW) – 139093 (THÜ); vgl auch Jarass BImSchG Einl Rn 23 ff. 493 Vgl Dietlein in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 1 BImSchG Rn 10 f; Jarass BImSchG § 1 Rn 9; allgem zum Vorsorgeprinzip bereits o Rn 45 ff; zu § 5 I Nr 2 BImSchG u Rn 260 ff. 494 V 24.11.2010 (ABl EU, L 334/17) über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung); vgl zum Integrationsprinzip o Rn 64 ff. 495 Vgl BT-Drs 11/6633, 43; zum früheren Streit, ob auch Tiere Pflanzen und andere Sachen Schutzgüter des BImSchG sind, Führ IUR 1990, 54.

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nerellen oder konkreten Bestimmung der höchstzulässigen Immissionswerte der Schutz des jeweils empfindlichsten Partners – Mensch, Tier oder Pflanze – den Ausschlag geben.496 Dagegen wird die Auffassung vertreten, dass Tiere, Pflanzen und andere Sachen nicht selbständige Schutzgüter des Bundes-Immissionsschutzgesetzes seien; vielmehr seien sie nur als Teil der Allgemeinheit und der Nachbarschaft, also mit Rücksicht auf den Menschen und die Lebensqualität seiner Umgebung, geschützt.497 Sieht man die Sachgüter nur als mittelbar um des Menschen willen geschützt an, gelangt man jedenfalls tendenziell zu einem verminderten Sachgüterschutz. Praktische Bedeutung kann dieser Streit bei der Bestimmung der höchstzulässigen Immissionswerte haben. Die TA Luft von 1983/86 suchte diesen Gegebenheiten durch unterschiedliche Gesundheits- und Nachteilswert für Immissionen sowie Vorsorgewerte und Sanierungsklauseln gerecht zu werden.498 Die TA Luft vom 24.7.2002499 führt diese Differenzierung durch gesonderte Immissionswerte fort, die teils dem Schutz der menschlichen Gesundheit und teils dem Schutz vor erheblichen Belästigungen oder Nachteilen durch verschiedene Umwelteinwirkungen dienen; zudem stellt sie, soweit Immissionswerte nicht festgelegt sind, aber auch für Sonderfälle immissionsseitige Anforderungen auf. 249 Ungeachtet der gemeinsamen Zielsetzung umfassen die Gesetze und Verordnungen des Immissionsschutzrechts verschiedene Lebensbereiche und Immissionsquellen. Bei systematischer Betrachtung lassen sich der anlagenbezogene, der produktbezogene, der verkehrsbezogene, der allgemeine handlungsbezogene und der gebietsbezogene Immissionsschutz unterscheiden.

2. Genehmigungsbedürftige Anlagen 250 Die Regelung der §§ 4 ff BImSchG über genehmigungsbedürftige Anlagen verfolgt grundsätzlich das formell- und materiellrechtliche System der gewerberechtlichen Anlagengenehmigung.500 Dennoch unterscheidet sich die immissionsschutzrechtliche von gewerberechtlichen Anlagengenehmigung durch eine Reihe von Verschärfungen.501 Deren rechtlicher Hebel liegt in den fortlaufend zu erfüllenden Betreiberpflichten des § 5 BImSchG, dem hiervon umfassten Gebot der Vorsorge nach Maßgabe des dynamischen, fortschrittlichen Standes der Technik (§ 3 VI BImSchG) sowie den weitergehenden Ermächtigungen zum Erlass nachträglichen Anordnungen (§ 17 BImSchG), Untersagungs-, Stilllegungs- und Beseitigungsverfügungen (§ 20 BImSchG) und zum Widerruf der Anlagengenehmigung (§ 21 BImSchG).

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496 So die vom BMI dem OVG NW im Voerde-Fall gegebene Auskunft, vgl BVerwGE 55, 250, 259 f; anscheinend auch die amtl Begründung der BReg in BT-Drs 8/2751, 6. 497 So Erbguth/Schlacke UmwR § 9 Rn 23a; differenzierter mit Blick auf den Rechtsschutz Dietlein in: Landmann/ Rohmer, UmwR, § 1 BImSchG Rn 9 ff, § 5 BImSchG Rn 68 ff; Jarass BImschG § 1 Rn 19. Diese These muss vor dem Hintergrund der Erkenntnis gesehen werden, dass bestimmte Tiere und Pflanzen möglicherweise eine besondere Empfindlichkeit aufweisen und vor Schäden nur bewahrt werden können, wenn gewisse Immissionen unter den allgemein zugrunde gelegten Werten liegen, die nach sachkundiger Beurteilung für den Menschen – und zwar auch für Risikogruppen wie Kranke, Schwangere und Kinder – „auf der sicheren Seite“ liegen; vgl insoweit die v 20.–24.2.1978 durchgeführte Sachverständigenanhörung über die medizinischen, biologischen und ökologischen Grundlagen zur Bestimmung schädlicher Luftverunreinigungen; hierzu BT-Drs 8/2751, 6, 7. 498 ZB Vorsorgewert für Schwefeldioxid und Sanierungsklauseln für überbelastete Gebiete; die Fassung der TA Luft v 23.2.1983 (GMBl 93) hat insbes die Immissionswerte novelliert; vgl dazu Feldhaus/Ludwig DVBl 1983, 565 ff; die Novellierung der TA Luft v 27.2.1986 (GMBl 95, ber 202) hat vor allem die emissionsbezogenen Anforderungen verschärft; vgl dazu Jarass NVwZ 1986, 607, 609 f; zur Entstehungsgeschichte der TA Luft v 24.7.2002 (GMBl 511) Hansmann in: Landmann/Rohmer, UmwR, Vorbem TA Luft Rn 11 ff. 499 Erste AVwV zum BImSchG (GMBl 511); dazu Hansmann NVwZ 2003, 266 ff. 500 Bis 1974 war die Anlagengenehmigung in den §§ 16 ff GewO geregelt; vgl dazu Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 5 f. 501 Vgl Ule FS Fröhler, 1980, 349 ff; Schwerdtfeger NJW 1974, 778 f; Feldhaus in: Dolde, Umweltrecht im Wandel, 2001, 15 ff.

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VIII. Immissionsschutzrecht – 5. Kapitel

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Insgesamt betrachtet ist die Anlagengenehmigung dadurch, den Erfordernissen des Um- 251 weltschutzes und dem Wandel der Technik entsprechend, dynamisiert worden. Zwar enthält sie nach wie vor einen sachbezogenen, in hinreichendem Maße Bestands- und Vertrauensschutz gewährleistenden Zulassungsakt. Sie entbehrt jedoch insofern des Charakters einer gewerberechtlichen Sachkonzession, als sie nicht ein subjektiv-öffentliches Recht verleiht, die einmal genehmigte Anlage ungeachtet eines Wandels der tatsächlichen oder rechtlichen Rahmenbedingungen weiter zu betreiben.502

a) Kreis der genehmigungsbedürftigen Anlagen Der Genehmigung bedürfen nach § 4 I 1 BImSchG503 die Errichtung und der Betrieb von Anla- 252 gen, die aufgrund ihrer Beschaffenheit oder ihres Betriebes in besonderem Maße geeignet sind, schädliche Umwelteinwirkungen hervorzurufen oder in anderer Weise die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft zu gefährden, erheblich zu benachteiligen oder erheblich zu belästigen sowie von ortsfesten Abfallentsorgungsanlagen zur Lagerung oder Behandlung von Abfällen. Der Anlagenbegriff ist in § 3 V BImSchG legaldefiniert. Wie sich aus § 4 I 2 BImSchG ergibt, gilt die Genehmigungspflicht zwar nicht ausschließlich, aber doch in erster Linie für gewerbliche Anlagen und im Übrigen für die genannten Entsorgungsanlagen. Der abfallrechtlichen Planfeststellung unterliegen nur Deponien (§ 35 II 1 KrWG).504 Welche Anlagenarten unter die immissionsschutzrechtliche Genehmigungspflicht fallen, ist aufgrund der Ermächtigung des § 4 I 3 BImSchG in der VO über genehmigungsbedürftige Anlagen (4. BImSchV505) in enumerativer, der Rechtssicherheit dienender Weise geregelt.506

b) Genehmigungsvoraussetzungen aa) Betreiberpflichten. Die Erteilung der Errichtungs- oder Betriebsgenehmigung setzt nach 253 § 6 I Nr 1 BImSchG voraus, dass die Erfüllung der Betreiberpflichten nach § 5 BImSchG sichergestellt ist. Diese Pflichten erhalten ihre Stoßkraft durch das Viergespann des Schutzgrundsatzes, des Vorsorgegrundsatzes, des Abfallvermeidungs- und Entsorgungsgrundsatzes sowie des Gebotes der sparsamen und effizienten Energieverwendung (§ 5 I BImSchG). Die genannten Pflichten sind in zeitlicher und phasenspezifischer Weise erweitert worden (sog. Nachsorgegrundsatz, § 5 III BImSchG).507 Bei der Umschreibung der Betreiberpflichten verwendet das Gesetz unbestimmte Rechtsbegriffe, die die Behörden und Gerichte vor erhebliche Auslegungsschwierigkeiten stellen. Dennoch ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Genehmigungsbehörde kein Beurteilungsspielraum zusteht.508 Ob ein Anspruch des Antragstellers auf Genehmigung der Errichtung oder des Betriebs einer Anlage nach den §§ 5, 6 I Nr 1 BImSchG besteht, ist daher eine rechtlich gebundene Entscheidung. Sie unterliegt grundsätzlich509 der vollumfänglichen verwaltungsgerichtlichen Überprüfung. Dies gilt auch für die Festsetzung von Nebenbestimmungen zur Ge-

_____ 502 Vgl o Rn 250; zum entschädigungslosen Entzug der Rechtsposition BVerwG UPR 1983, 67. 503 IdF d Investitionserleichterungs- und WohnbaulandG v 22.4.1993 (BGBl I 466). 504 Vgl zur Entstehungsgeschichte sowie zur Bewertung dieses geänderten „Zulassungsregimes“ für Abfallentsorgungsanlagen Paetow in: Kunig/ders/Versteyl, KrW-/AbfG, § 31 Rn 5 ff, 8 ff; Näheres u Rn 343. 505 IdF v 14.3.1997 (BGBl I 504), zul geänd d G v 24.2.2012 (BGBl I 212); allgemein zur Verordnungsänderung durch G Uhle DÖV 2001, 241 ff; Külpmann NJW 2002, 3436 ff. 506 Böhm in: Koch/Scheuing, GK-BImSchG, § 4 Rn 9, 29; Jarass UPR 2011, 201; Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 18 ff. 507 Maßgeblich für die Erweiterung waren die 3. Novelle vom 11.5.1990 – dazu BT-Drs 11/4909, 15, 27 f, 41; auch Vallendar UPR 1991, 91, 92 ff – und das Artikelgesetz vom 27.7.2001 zur Umsetzung der IVU-RL; zum Nachsorgegrundsatz Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 47, 63. 508 Vgl o Rn 190 f; BVerwGE 55, 250, 253 f. 509 Zu gerichtlichen Kontrolldichte bei Verwaltungsvorschriften Rn 77, 191.

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nehmigung nach § 12 I BImSchG; insbesondere steht der Genehmigungsbehörde kein Ermessensspielraum bei der Festsetzung von Auflagen zu, wenn diese erforderlich sind, um die Rechtsgüter der §§ 5, 6 I Nr 1 BImSchG zu schützen.510 Europarechtliche Grundlage der Betreiberpflichten ist Art 11 IVU-RL 2010/75/EU. (1) Schutzgrundsatz: Nach § 5 I Nr 1 BImSchG sind genehmigungsbedürftige Anlagen so 254 zu errichten und zu betreiben, dass „zur Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Umwelt insgesamt“ schädliche Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit nicht hervorgerufen werden können.511 255 Der Gefahrenbegriff, der sowohl in der Legaldefinition schädlicher Umwelteinwirkungen (§ 3 I BImSchG) als auch bei der Feststellung „sonstiger Gefahren“ eine maßgebende Rolle spielt, kann im Anschluss an das Polizeirecht präzisiert werden. Eine Gefahr liegt hiernach vor, wenn ein Schaden für Leib oder Leben eines Menschen oder ein erheblicher Sachschaden nach der Lebenserfahrung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bevorsteht. 512 Je höherrangiger ein Rechtsgut und je größer der ihm drohende Schaden ist, desto eher muss eine nur geringe Eintrittswahrscheinlichkeit als gefahrbegründend und eine Vermeidungsmaßnahme als erforderlich angesehen werden.513 Von der Gefahr kann der Gefahrenverdacht unterschieden werden.514 Aufgrund konkreter Anhaltspunkte kann sich ein Gefahrenverdacht in einer für den Schutzgrundsatz relevanten Weise zu einer Gefahr verdichten. Dies ist der Fall, wenn unter Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten der Schadenseintritt ernsthaft in Betracht kommt.515 Das Gesetz geht davon aus, dass es keine perfekte technische Sicherheit geben kann. Vielmehr muss ein „Restrisiko“ hingenommen werden, das praktisch unvermeidbar und gesetzlich akzeptiert ist.516 Die Störfall-VO517 hat durch sicherheitstechnische Gebote den Schutzgrundsatz konkretisiert und damit das hinzunehmende Restrisiko eines Störfalls begrenzt. Sie setzt die „Seveso IIRL“518 in deutsches Recht um.519 Ein rechtserheblicher Nachteil wird als Vermögensschaden oder Einschränkung des per256 sönlichen Lebensraums aufgrund von physischen Einwirkungen, eine Belästigung als Einwirkung auf das physische oder psychische Wohlbefinden des Menschen bis zur Grenze des Ge-

_____ 510 Ausf Blankenagel in: Koch/Scheuing, GK-BImSchG, § 12 Rn 22; Jarass BImSchG § 12 Rn 24 f; Sellner in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 12 BImschG Rn 138 f und zur Differenzierung zwischen Nebenbestimmung und Inhaltsbestimmung 4, 92 ff, 181 ff. 511 Insoweit sind die präventivpolizeilichen Genehmigungsvoraussetzungen der früheren §§ 16 ff GewO einschließlich des Postulats vorbeugenden Immissionsschutzes beibehalten worden; vgl Dietlein in: Landmann/ Rohmer, UmwR, § 1 BImSchG Rn 36. 512 o Schoch 2. Kap Rn 133 ff; ferner Hansen-Dix Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, 1982; Voßkuhle JuS 2007, 429; Denninger in: Lisken/Denninger, PolR, 5. Aufl 2012, D Rn 39 ff. 513 BVerwGE 45, 51,61; 47, 31, 40; dazu krit Leisner DÖV 2002, 326. 514 So BVerwGE 61, 251, 267; 69, 37, 43; 72, 300, 315; Jarass BImSchG § 3 Rn 44; aA Hansen-Dix Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, 1982, 172 ff, auch 66 ff, 69 ff; Sturm BLJ 2011, 56, 62. 515 So auch Kutscheid in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 3 BImSchG Rn 11b. 516 BVerfGE 49, 89, 141 f – Kalkar; Rauschning VVDStRL 38 (1980) 191 ff; Martens DVBl 1981, 599; Kutscheidt in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 3 BImSchG Rn 11c. 517 12. BImSchV idF v 8.6.2005 (BGBl I 1643), zul geänd d VO v 26.11.2010 (BGBl I 1643); allgem dazu Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 31. 518 RL 96/82/EG v 9.12.1996 zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen (ABlEG, L 10/13), zul geänd d VO 2008/1137/EG v 21.11.2008 (ABlEU, L 311/1). 519 Gerade dadurch wirft sie allerdings konzeptionelle und rechtspraktische Abstimmungsprobleme auf, da sie anstelle des Anlagenbezuges den Ansatz des „Betriebsbereichs“ (§ 3 Va BImSchG) und damit eine geographische und organisatorische anstelle der technologischen Sichtweise zugrunde legt, vgl Rebentisch NVwZ 1997, 6 ff; Spindler UPR 2001, 81 ff.

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sundheitsschadens definiert.520 Die Erheblichkeit eines Nachteils oder einer Belästigung kann je nach der „Vorbelastung“ des betreffenden Gebietes differieren.521 In Bereichen, in denen Baugebiete von unterschiedlicher Schutzwürdigkeit zusammentreffen, ist die Grundstücksnutzung mit einer gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme belastet; danach muss der Betroffene Nachteile und Belästigungen hinnehmen, die er außerhalb eines derartigen Grenzbereiches nicht hinzunehmen brauchte.522 Umgekehrt begründen Immissionen, die das nach § 5 I Nr 1 BImSchG zulässige Maß nicht überschreiten, keine Verletzung des baurechtlichen Gebots der Rücksichtnahme. Vielmehr hat insofern das BImSchG die Grenze der Zumutbarkeit von Umwelteinwirkungen auch mit Wirkung für das Baurecht allgemein bestimmt.523 Nach § 48 I 1 Nr 1 BImSchG erlässt die Bundesregierung nach Anhörung der beteiligten Krei- 257 se allgemeine Verwaltungsvorschriften, insbesondere über Immissionswerte, die nicht überschritten werden dürfen. Die Anforderungen an die Schutzpflicht werden durch diese Verwaltungsvorschriften, namentlich die TA Luft und die TA Lärm, für eine rechtssichere Anwendung konkretisiert. Grundsätzlich besitzen Verwaltungsvorschriften als Verwaltungsinnenrecht keine Außenwirkung und sind damit für den Bürger grundsätzlich unverbindlich.524 Dennoch kommt den Verwaltungsvorschriften nach der normativen Ermächtigungslehre Verbindlichkeit zu. Danach ist zu berücksichtigen, dass die Verwaltungsvorschriften nach § 48 BImSchG einen naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnisspielraum ausfüllen, in einem besonderen politisch legitimierten Verfahren erlassen werden (Bundesregierung erlässt mit Zustimmung des Bundesrates) und auf fundiertem Expertenwissen beruhen (Anhörung beteiligter Kreise, § 51 BImSchG).525 Davon ausgehend lässt sich in § 48 I BImSchG eine gesetzliche Ermächtigung an die Exekutive zur Konkretisierung der gesetzlichen Vorgaben sehen526 und folglich die TA Luft und TA Lärm als normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften qualifizieren.527 Die Verbindlichkeit dieser Verwaltungsvorschriften kennt aber diesen Grundsätzen folgend auch Grenzen. Den Gerichten bleibt erstens die Prüfung vorbehalten, ob bestimmte Immissionswerte nach dem neuesten Stand der naturwissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse unzureichend und überholt sind; zweitens, ob ein atypischer Fall, der bei der Festsetzung eines bestimmten Immissionswertes nicht berücksichtigt wurde, vorliegt – zB ein Zusammentreffen mit anderen Schadstoffen –, so dass der festgesetzte Wert nicht oder nur in modifizierter Weise angewendet werden kann.528 Der EuGH hält Verwaltungsvorschriften als Instrument zur Umsetzung gemeinschaftsrecht- 258 licher Richtlinien für unzureichend.529 Dies begründet er damit, dass hinsichtlich der betreffenden Grenzwerte und Leitwerte weder der Einzelne „Gewissheit über den Umfang seiner Rechte“

_____

520 Sellner/Reidt/Ohms Immissionsschutzrecht Rn 1/73, 151; Kutscheidt in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 3 BImSchG Rn 12 ff, Erbguth/Schlacke UmwR § 9 Rn 27. 521 BVerwGE 88, 210; differenziert bei Kutscheidt in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 3 BImSchG Rn 15d; Jarass BImSchG § 3 Rn 59; Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 52. 522 BVerwGE 50, 49, 54 f; VGH BW NVwZ 1997, 1014 (verminderte Schutzwürdigkeit eines Wohngebäudes im Außenbereich); Kutscheidt in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 3 BImSchG Rn 15c; zur „Verzahnung“ zwischen Immissionsschutz- und BauR Koch FS Hoppe, 2000, 549 ff; im Hinblick auf Lärmimmissionen statuiert die TA Lärm Zwischenwerte beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Gebiete, vgl Jarass BImSchG § 3 Rn 60; zum Verhältnis von Bestandsschutz und Erheblichkeit BVerwGE 50, 49, 58 f; vgl dagegen BayVGH NVwZ-RR 2000, 273,274 mwN. 523 BVerwGE 68, 58, 60. 524 Vgl Jarass BImSchG § 48 Rn 41 f. 525 BVerwGE 119, 329, 333. 526 Vgl Jarass BImSchG § 48 Rn 43. 527 BVerwGE 110, 216, 219; 114, 342; BVerwG ZUR 2008, 32; v Danwitz VerwArch 84 (1993) 92 ff; Hoppe/ Beckmann/Kauch Umweltrecht, 2. Aufl 2000, § 5 Rn 35; zur Vereinbarkeit mit der „Wesentlichkeitstheorie“ vgl o Rn 76. 528 Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 56. 529 EuGH Urt v 30.5.1991 – C-361/88 – (Kommission/BRD), Slg 1991 I-2567 (Schwefeldioxid und Schwebestaub); EuGH Urt v 30.5.1991 – C-59/89 – (Kommission/BRD), Slg 1991 I-2607 (Blei); vgl o Rn 77.

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hat, „um sie gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten geltend machen zu können, noch dass diejenigen, deren Tätigkeiten geeignet sind, Immissionen zu verursachen, über den Umfang ihrer Verpflichtungen hinreichend unterrichtet sind“. Die Anforderungen des EuGH, wonach die Durchführung der zugrundeliegenden Grenzwertbestimmungen der Richtlinien „mit unbestreitbarer Verbindlichkeit und mit der Konkretheit, Bestimmtheit und Klarheit“ erfolgen muss, seien damit nicht erfüllt.530 Zur europarechtskonformen Umsetzung der grenzwertsetzenden Richtlinien wurde die auf § 48a I, III BImSchG gestützte 39. BImSchV531 erlassen.532 Durch diese VO sind die EG-Luftqualitätsrichtlinien533 in deutsches Recht umgesetzt worden. Im Einzelnen hat die 39. BImSchV hierzu schadstoffbezogene Immissionswerte festgelegt (§§ 1–10) sowie diesbezügliche Beurteilungsmaßstäbe (§§ 11–20), Kontrollverfahren (§§ 21–26), Maßnahmen (§§ 27–29) und Informationspflichten geregelt (§§ 30–32). Der nachbarschützende Charakter des Schutzgrundsatzes des § 5 I Nr 1 BImSchG wird mit 259 der ausdrücklichen Erwähnung der Nachbarn sowie seinem abwehrrechtlichen Charakter begründet.534 Die Nachbarschaft erstreckt sich auf den gesamten räumlichen Einwirkungsbereich der Anlage und erfordert in personaler Hinsicht eine besondere persönliche oder sachliche Bindung („qualifiziertes Betroffensein“) zu diesem Bereich.535 Daher kann ein Nachbar vor allem mit der Anfechtungsklage gegen eine immissionsschutzrechtliche Anlagengenehmigung oder mit der auf die Festsetzung einer (nicht-modifizierenden) Schutzauflage (§ 12 I BImSchG) gerichteten Verpflichtungsklage geltend machen, die erteilte Genehmigung verstoße gegen den Schutzgrundsatz. (2) Vorsorgegrundsatz: § 5 I Nr 2 BImSchG verlangt, dass Vorsorge gegen schädliche Um260 welteinwirkungen und sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen getroffen wird, insbesondere durch die dem Stand der Technik (§ 3 VI BImSchG)536 entsprechenden Maßnahmen. Dadurch soll der gebotene Immissionsschutz vorverlagert werden, indem über den Schutzgrundsatz hinaus dem Entstehen konkreter Umwelteinwirkungen vorgebeugt wird.537 Er schlägt sich insbesondere in der strikten und einheitlichen, nämlich technikbezogenen und umgebungsunabhängigen Emissionsbegrenzung nieder. Aus dem Vorsorgegrundsatz des § 5 I Nr 2 BImSchG folgt auch unter dem Vorzeichen des in261 tegrierten Umweltschutzes eine Vorsorge in verschiedenen Ausprägungen. Ziele des Vorsorgegrundsatzes sind gerade unter ungewissen Bedingungen möglichst rationale Entscheidungen und die Schaffung einer Sicherheitszone (Risikoentscheidungen) sowie die „Erhaltung von Freiräumen als Belastungsreserven“.538 Eine Risikovorsorge der ersten Variante kommt in Betracht, wenn eine bestimmte Immission oder Emission nach Auswertung aller naturwissenschaftlichen

_____ 530 EuGH Urt v 30.5.1991 – C-361/88 – (Kommission/BRD), Slg 1991 I-2567, I-2602 f und EuGH Urt v 30.5.1991 – C-59/ 89 – (Kommission/BRD), Slg 1991 I-2607, I-2632; krit Breuer Entwicklungen des europäischen Umweltrechts – Ziele, Wege und Irrwege, 1993, 74 ff. 531 VO v 2.8.2010 (BGBl I 1065). 532 Zum Nebeneinander von Verordnungsrecht und Verwaltungsvorschriften o Rn 75 ff; Hansmann NVwZ 1995, 320 ff. 533 Insbes RL 2008/50/EG über Luftqualität und saubere Luft in Europa; dazu Jarass BImSchG § 48a Rn 13; Aufzählung der RL bei Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 12; noch zur 22. BImSchV, die durch die 39. BImSchV aufgehoben wurde: Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 56. 534 So BVerwGE 80, 184, 189; E 119, 329, 332; BGH NVwZ 2010, 467, 468; Jarass BImSchG § 5 Rn 120; für den grenzüberschreitenden Drittschutz OVG SL NVwZ 1995, 97. 535 Vgl BT-Drs 7/179, 29; Jarass BImSchG § 3 Rn 33 ff. 536 Zur Definition des Standes der Technik Jarass BImSchG § 3 Rn 93 f; Erbguth/Schlacke UmwR § 9 Rn 29a; zum europarechtlichen Hintergrund auch Traulsen DÖV 2011, 769. 537 Jarass BImSchG § 5 Rn 46; Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 59. 538 Vgl dazu o Rn 45 ff; BVerwGE 65, 313, 320 f; Dietlein in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 5 BImSchG Rn 136 ff; Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 59; Erbguth/Schlacke UmwR § 9 Rn 45; differenziert Roßnagel in: Koch/Scheuing (Hrsg) GK-BImSchG, § 5 Rn 425 ff; krit: Darnstädt Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, 123 ff.

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und technischen Erkenntnisse als unschädlich angesehen wird, jedoch mit Rücksicht auf eine naturwissenschaftlich-technische Mindermeinung mit einer „Restunsicherheit“ behaftet bleibt539 oder für sie eine Gefahrenschwelle nicht festgelegt werden kann.540 Die Vorsorgepflicht gebietet in diesen Fällen einen strukturierten und folglich rationalen Umgang mit Ungewissheit. Eine Risikovorsorge der zweiten Variante dient in erster Linie der Ressourcenschonung und soll trotz dicht besiedelter Lebensräume auch die zukünftige Errichtung emittierender Industriebetriebe ermöglichen.541 Auch die Verringerung der Gesamtbelastung der Umwelt („Sanierungskomponente“) und die Vermeidung nicht zuzuordnender Immissionen werden als Schutzzwecke der Vorschrift genannt.542 In jedem Fall stehen die Anforderungen des Vorsorgegrundsatzes unter dem Vorbehalt, dass sie nicht gegen das rechtsstaatliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoßen dürfen.543 Auch für die Vorsorgepflicht finden sich zahlreiche Konkretisierungen in Rechtsverord- 262 nungen, zB hinsichtlich der Luftverunreinigung durch Großfeuerungsanlagen in der 13. BImSchV.544 Auch Verwaltungsvorschriften nach § 48 BImSchG (TA Luft und TA Lärm) sind im Vorsorgebereich heranzuziehen, soweit sie hierfür über den Bereich des Schutzgrundsatzes hinaus Regelungen treffen.545 Auf der Grundlage der hier dargelegten Schutzzwecke kann nicht pauschal festgestellt werden, ob der Vorsorgegrundsatz den Belangen einzelner Dritter dient. Jedenfalls soweit der Schutz individueller Rechtsgüter nur über Vorsorgewerte erfolgt, ist nach der Schutznormtheorie vom nachbarschützenden Charakter dieser Werte auszugehen.546 Für CO2-Emissionen von Anlagen, die dem Anwendungsbereich des Treibhaus-Emissions- 263 handelsgesetzes547 unterfallen, ist die Vorschrift des § 5 I 2 BImSchG zu beachten. Hinsichtlich der Vorsorgepflicht schuldet der Anlagenbetreiber demnach nicht Maßnahmen nach dem Stand der Technik. Hier greifen nur die speziellen Anforderungen der §§ 5, 7 TEHG, die die Emissionsberichterstattung und Abgabe von Emissionsberechtigungen vorsehen und damit die Grundlage für den nach dem TEHG vorgesehen Emissionszertifikathandel bilden.548 (3) Abfallvermeidungs- und Entsorgungsgrundsatz: Nach § 5 I Nr 3 BImSchG sind ge- 264 nehmigungsbedürftige Anlagen so zu errichten und zu betreiben, dass Abfälle549 vermieden, nicht zu vermeidende Abfälle verwertet und nicht zu verwertende Abfälle ohne Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit beseitigt werden. Diese Pflicht bezweckt die sparsame Verwendung von Rohstoffen und den Abbau des Abfallaufkommens genehmigungsbedürftiger Anlagen.550

_____ 539 Zu einem solchen Sachverhalt NdsOVG GewArch 1980, 203; allg zur Ungewissheit als typische Vorsorgesituation Ossenbühl NVwZ 1986, 161, 165 ff. 540 Jarass BImSchG § 5 Rn 47; Dietlein in: Landmann/Rohmer,UmwR, § 5 BImSchG Rn 136; ausf zum planerischen Element Feldhaus DVBl 1980, 133 ff; Sellner NJW 1980, 1255, 1257; krit dazu Sparwasser/Engel/Voßkuhle UmwR § 10 Rn 157. 541 Vgl BT-Drs 7/179, 32; Dietlein in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 5 BImSchG Rn 139 f. 542 Dietlein in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 5 BImSchG Rn 141 f. 543 BVerwGE 69, 37, 45; Ossenbühl NVwZ 1986, 167; Jarass BImSchG § 5 Rn 60; vgl zu den Schwierigkeiten bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes o Rn 56 ff. 544 Vom 20.7.2004 (BGBl I 1717, ber 2847), zul geänd d VO v 27.1.2009 (BGBl I 129); iÜ finden sich Konkretisierungen in der 2., 17., 20., 25., 30., 31. BImSchV; vgl auch Dietlein in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 5 BImSchG Rn 157 ff. 545 So für die Emissionswerte der TA Luft BVerwGE 110, 216; E 114, 342. 546 Vgl o Rn 179; BVerwGE 119, 329, 333; Jarass BImSchG § 5 Rn 121; unter dem Gesichtspunkt europarechtlich gebotenen Drittschutzes Lübbe-Wolff NuR 2000, 19, 21 ff; Sparwasser/Engel/Voßkuhle UmwR Rn 10/159; früher noch generell ablehnend BVerwGE 65, 313; diff Trute Vorsorgestrukturen und Luftreinhaltung im BImSchG, 1989, 359 f: drittschützende Wirkung der raumbezogenen Vorsorge, aber kein Drittschutz der risikobezogenen Vorsorgevariante. 547 TEHG v 21.7.2011 (BGBl I 1475), zul geänd d G v 22.12.2011 (BGBl I 3044). 548 Jarass BImSchG § 5 Rn 5a; noch zum TEHG aF Schmidt/Kahl UmwR § 3 Rn 30 ff; § 4 Rn 60; Erbguth/Schlacke UmwR § 9 Rn 45; krit zum Emissionszertifikatehandel als Vorsorge Koch in: ders, UmwR, § 4 Rn 136. 549 Zum Abfallbegriff, der grds dem des § 3 I KrWG folgt, Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 61. 550 Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 27.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

Der Betreiber hat nicht die Wahl, ob er Abfälle vermeidet oder schadlos verwertet, vielmehr gilt ein Vorrang der Vermeidung gegenüber der Verwertung. Die Abfallbeseitigung ist nur nachrangig zulässig.551 Die Verwertung und die Beseitigung von Abfällen unterliegen alsdann den Vorschriften des Abfallrechts. Der Abfallvermeidungs- und Entsorgungsgrundsatz entbehrt, soweit er Ausdruck des Vorsorgeprinzips ist,552 der nachbarschützenden Wirkung.553 (4) Energieeffizienzgebot: Nach § 5 I Nr 4 BImSchG sind genehmigungsbedürftige Anlagen 265 so zu errichten und zu betreiben, dass zur Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Umwelt insgesamt „Energie sparsam und effizient verwendet wird“. Dieses Gebot bezweckt die Senkung des Einsatzes fossiler Energieträger und dient damit auch dem Klimaschutz.554 Es ist an die Stelle des früheren Abwärmenutzungsgrundsatzes555 getreten und geht über diesen sachlich weit hinaus. Zwar belässt es dem Betreiber die Auswahl des Energieträgers. Im Übrigen erstreckt es sich jedoch auf die Berücksichtigung aller „Möglichkeiten zur Erreichung hoher energetischer Wirkungs- und Nutzungsgrade, zur Einschränkung von Energieverlusten sowie zur Nutzung der anfallenden Energie“.556 Unterfallen Anlagen auch den Anforderungen des TEHG, können jedenfalls auf das Energieeffizienzgebot keine weitergehenden Pflichten zum effizienten Einsatz von Energie gestützt werden (§ 5 I 3 BImSchG).557 Das Energieeffizienzgebot wirkt nicht drittschützend.558 (5) Nachsorgepflicht: In zeitlicher Hinsicht den Betreiberpflichten des § 5 I BImSchG nach266 gelagert ist die Nachsorgepflicht des § 5 III BImSchG.559 Danach sind genehmigungsbedürftige Anlagen so zu errichten, zu betreiben und stillzulegen, dass auch nach einer Betriebseinstellung von der Anlage oder dem Anlagengrundstück keine schädlichen Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft hervorgerufen werden können (§ 5 III Nr 1 BImSchG), vorhandene Abfälle ordnungsgemäß und schadlos verwertet oder ohne Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit beseitigt werden (§ 5 III Nr 2 BImSchG) und die Wiederherstellung eines ordnungsgemäßen Zustandes des Betriebsgeländes gewährleistet ist (§ 5 III Nr 3 BImSchG). Bei Genehmigungserteilung lassen sich die Nachsorgepflichten im Einzelnen häufig noch nicht absehen, so dass diese oft erst im Wege der nachträglichen Anordnung (§ 17 BImSchG) konkretisiert werden. Im Falle der Insolvenz ist eine entsprechende immissionsschutzrechtliche Anordnung an den Insolvenzverwalter zu richten.560 267 bb) Weitere immissionsschutzrechtliche Genehmigungsvoraussetzungen. Neben den Betreiberpflichten des § 5 I, III BImSchG sind zur Genehmigungserteilung nach § 6 I Nr 1 BImSchG auch diejenigen Pflichten zu erfüllen, die sich aus den Rechtsverordnungen ergeben, die aufgrund des § 7 BImSchG erlassenen wurden. Relevant sind hier insbesondere die Störfall-VO (12. BImSchV561), die Großfeuerungs- und Gasturbinenanlangen-VO (13. BImSchV562), und die Abfall-

_____ 551 Vgl OVG SL NVwZ 1990, 491 ff; Hansmann NVwZ 1990, 409, 412 ff; Fluck NuR 1989, 409 f. 552 Erbguth/Schlacke UmwR § 9 Rn 47. 553 OVG NW NVwZ 1987, 146; NuR 1990, 328; Sellner/Reidt/Ohms Immissionsschutzrecht Rn 1/217; diff unter Bezugnahme auf die einzelnen Pflichten Dietlein in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 5 BImSchG Rn 194 f. 554 Koch in: ders, UmwR, § 4 Rn 61. 555 Vgl dazu 11. Aufl Rn 190. 556 So in verfahrensrechtlicher Hinsicht § 4d der 9. BImSchV idF v 29.5.1992 (BGBl I 1001), zul geänd d G v 23.10. 2007 (BGBl I 2470). 557 Vgl Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 28 m Verw auf die bisher geringe Bedeutung dieser Vorschrift. 558 Unabhängig davon, ob man es als Konkretisierung des Vorsorgegebots oder als speziellen und eigenständigen Grundsatz qualifiziert; vgl Rebentisch in: Dolde, Umweltrecht im Wandel, 2001, 432 f; Sellner/Reidt/Ohms Immissionsschutzrecht Rn 1/220. 559 S o Rn 253. 560 Vgl BVerwGE 107, 299; Jarass BImSchG § 5 Rn 107; zu Ausnahmen hiervon NdsOVG NJW 2010, 1547. 561 IdF v 8.6.2005 (BGBl I 1598), zul geänd d VO v 26.11.2010 (BGBl I 1643). 562 Vom 20.7.2004 (BGBl I 1717, ber 2847), zul geänd d VO v 27.1.2009 (BGBl I 129).

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verbrennungs- und -mitverbrennungs-VO (17. BImSchV563).564 Unter besonderen Voraussetzungen kann auch von den Anforderungen des § 6 I BImSchG abgewichen werden: Ausnahmsweise kommt eine Änderungsgenehmigung nach § 6 III BImSchG rechtmäßigerweise in Betracht, wenn zwar einige Immissionswerte überschritten werden, insgesamt aber der Immissionsbeitrag der Anlage durch das Vorhaben deutlich reduziert wird („Verbesserungsgenehmigung“).565 cc) Außer-immissionsschutzrechtliche Genehmigungsvoraussetzungen. Die Erteilung der 268 immissionsschutzrechtlichen Anlagengenehmigung setzt ferner voraus, dass andere öffentlichrechtliche Vorschriften und Belange des Arbeitsschutzes der Errichtung und dem Betrieb der Anlage nicht entgegenstehen (§ 6 I Nr 2 BImSchG). Hiernach ist bei der Anlagengenehmigung insbesondere das Bauplanungs- und Bauordnungsrecht anzuwenden. Dies gilt vor allem für die §§ 29 ff BauGB.566 Der Schutz vor Immissionen durch bauplanungsrechtliche Vorgaben erreicht dabei regelmäßig nicht das Niveau der Betreiberpflichten aus § 5 BImSchG.567

c) Genehmigungsverfahren Die Rechtsgrundlage des Anlagengenehmigungsverfahrens besteht in § 10 BImSchG und in der 269 9. VO zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (9. BImSchV).568 Das Verfahren zeichnet sich durch Förmlichkeit, Publizität und Öffentlichkeitsbeteiligung aus. Der Genehmigungsantrag muss schriftlich bei der landesrechtlich bestimmten Genehmigungsbehörde gestellt werden und spezifizierte Angaben enthalten. Außerdem sind ihm die zur Prüfung nach § 6 BImSchG erforderlichen Unterlagen beizufügen (§ 10 I 1, 2 BImSchG). Sind die Unterlagen vollständig, so hat die Genehmigungsbehörde das Vorhaben öffentlich bekanntzumachen. Der Antrag sowie eine Reihe von Unterlagen sind nach der Bekanntmachung einen Monat zur Einsicht auszulegen. Zur Erhebung von Einwendungen ist jedermann bis zwei Wochen nach Ablauf der Auslegungsfrist befugt (§ 10 III 1, 2 und 4 BImSchG). Mit Ablauf dieser Einwendungsfrist werden alle Einwendungen ausgeschlossen, die nicht 270 auf „besonderen privatrechtlichen Titeln“ beruhen (§ 10 III 5 BImSchG). Hierbei handelt es sich um eine materielle Präklusion, die später auch im Widerspruchs- sowie im Gerichtsverfahren zu beachten ist.569 Vor dem Hintergrund des Gebots effektiven Rechtsschutzes aus Art 19 IV GG stellt der Zwang, Einwendungen innerhalb der gesetzlichen Frist zu erheben, eine zumutbare Formalisierung des Verfahrens sowie die konsequente und verfassungskonforme Kehrseite der breit angelegten, grundrechtlich fundierten Verfahrensteilhabe dar.570 Die 9. BImSchV hält zahlreiche Regelungen zur Beschleunigung und Vereinfachung im- 271 missionsschutzrechtlicher Genehmigungsverfahren bereit, die der Straffung des Genehmigungsverfahrens dienen sollen.571 Dazu gehört beispielsweise die Formalisierung der („unver-

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563 IdF v 14.8.2003 (BGBl I 1633), zul geänd d VO v 27.1.2009 (BGBl I 129). 564 Im Einzelnen Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 64 ff; Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 30 ff. 565 Ausf Kenyeressy/Posser/Theuer NVwZ 2009, 1460 ff; Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 35. 566 BVerwG NJW 1975, 460; zu den Voraussetzungen der Zulässigkeit genehmigungsbedürftiger Anlagen im Außenbereich nach § 35 I Nr 4 BauGB Rieger in: Schrödter, BauGB, 7. Aufl 2006, § 35 Rn 41 ff. 567 BVerwGE 68, 58, 60; Jarass BImSchG § 6 Rn 32. 568 IdF v 29.5.1992 (BGBl I 1001), zul geänd d G v 23.10.2007 (BGBl I 2470); Rebentisch NVwZ 1992, 926 ff; Vallendar UPR 1992, 212 ff; Sellner/Reidt/Ohms Immissionsschutzrecht Rn 2/43 ff. 569 BVerwGE 60, 297, 301 ff; Jarass BImSchG § 10 Rn 91 ff; Sellner/Reidt/Ohms Immissionsschutzrecht Rn 2/95, 3/50 ff; Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 36 f. 570 So Redeker NJW 1980, 1579 f; zweifelhaft ist indessen, ob der Einwendungsausschluss nach § 10 III 5 BImSchG „neuen“ (insbes „nachgeborenen“) Nachbarn entgegengehalten werden kann; verneinend NdsOVG NVwZ 1986, 671. 571 Vgl zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben und Grenzen der Verfahrensbeschleunigung Steinbeiß-Winkelmann DVBl 1998, 809 ff; wN zur Beschleunigungsgesetzgebung bei Feldhaus NVwZ 1998, 1138 f.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

züglichen“) Entscheidung über den Genehmigungsantrag (§ 20 der 9. BImSchV). Des Weiteren finden sich Regelungen zur gebotenen Umweltverträglichkeitsprüfung572 (zB §§ 1 II, 2a, 4e der 9. BImSchV). Zur Umsetzung der IVU-RL,573 insbesondere deren Art 5 II,574 schreibt § 11 S 4 der 9. BImSchV (vgl auch § 10 V 2 BImSchG) auf Basis der begrenzten Konzentrationswirkung und der daraus resultierenden Parallelität des immissionsschutzrechtlichen Genehmigungs- und beispielsweise des wasserrechtlichen Erlaubnisverfahrens (§13 BImSchG) sowie der bundesstaatlichen Kompetenzordnung (Art 30, 70 ff, 83 ff GG) die prozedural – in Grenzen auch materiell – zu verfolgende Integrierung unterschiedlicher Genehmigungsverfahren vor. Danach hat sich die Genehmigungsbehörde „über den Stand der anderweitigen das Vorhaben betreffenden Zulassungsverfahren Kenntnis zu verschaffen und auf ihre Beteiligung hinzuwirken sowie mit den für diese Verfahren zuständigen Behörden frühzeitig den von ihr beabsichtigten Inhalt des Genehmigungsbescheides zu erörtern und abzustimmen“.575 272 § 19 BImSchG sieht vor, dass für genehmigungsbedürftige Anlagen bestimmter Art oder bestimmten Umfangs sowie für bestimmte Abfallentsorgungsanlagen ein vereinfachtes Verfahren eingeführt werden kann. § 2 I 1 Nr 2 der 4. BImSchV bestimmt, dass für die in Spalte 2 des Anhangs der 4. BImSchV genannten Anlagen eben dieses vereinfachte Verfahren durchzuführen ist, es sei denn es ist eine UVP-Prüfung durchzuführen (§ 2 I 1 Nr 1 lit c der 4. BImSchV). Im vereinfachten Verfahren sind auch Teilgenehmigungen und Vorbescheide möglich und die erlassenen Bescheide mit Konzentrationswirkung (§ 13 BImSchG) ausgestattet, die Präklusion von Einwendungen und die nachbarrechtsgestaltende Wirkung der Genehmigung (§§ 10 III, 11, 14 BImSchG) jedoch ausgeschlossen (§ 19 II BImSchG).

d) Inhalt und Wirkung der Anlagengenehmigung 273 Falls der Antrag nicht abgelehnt werden muss, ist das Verfahren durch die Erteilung der Genehmigung zu beenden. Zum obligatorischen Inhalt des Genehmigungsbescheides (§ 21 der 9. BImSchV) gehören ua die Nebenbestimmungen und die Begründung. Aus dieser sollen die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben und die Behandlung der Einwendungen hervorgehen. Sofern die Anlage einer Umweltverträglichkeitsprüfung bedarf, bilden die zusammenfassende Darstellung und die Bewertung der Auswirkungen auf die Umweltgüter notwendige Entscheidungsgrundlagen (§ 12 UVPG, § 20 Ia, Ib, der 9. BImSchV). Nebenbestimmungen können nach Maßgabe des § 12 BImSchG in Bedingungen, Auflagen, 274 einer Befristung und einem Widerrufs- oder Auflagenvorbehalt bestehen. Sie müssen hinreichend bestimmt sein. ZB muss eine Schutzauflage entweder eine bestimmte Maßnahme oder einen bestimmten Immissions- oder Emissionswert bezeichnen.576 Nebenbestimmungen sind selbständig anfechtbar und erstreitbar577 – es sei denn, es handelt sich um eine sog modifizierende Auflage, die als Inhaltsbestimmung für die Genehmigung konstituierende Wirkung hat

_____ 572 Vgl zu den maßgeblichen Rechtsgrundlagen und Grundproblemen der UVP o Rn 91 ff. 573 Dazu o Rn 246. 574 Demzufolge haben die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen für eine vollständige Koordinierung des Genehmigungsverfahrens und der Genehmigungsauflagen zu treffen, „wenn bei diesem Verfahren mehrere zuständige Behörden mitwirken, um ein wirksames integriertes Konzept aller für diese Verfahren zuständigen Behörden sicherzustellen“. 575 Noch zu Art 7 der IVU-RL aF: Koch/Siebel-Huffmann NVwZ 2001, 1081, 1083 f; Rebentisch in: Dolde, Umweltrecht im Wandel, 2001, 415 f; krit zur Europarechtskonformität Wasielewski ebda, 213, 239 f; Schmidt-Preuß NVwZ 2000, 252, 255 f. 576 Vgl etwa BVerwGE 38, 209; OVG RP UPR 2000, 153; Sellner/Reidt/Ohms Immissionsschutzrecht Rn 2/158, 3/5. 577 Str; so wie hier BVerwGE 112, 221, 224; Kopp/Schenke VwGO, 18. Aufl 2012, § 42 Rn 22; ausf zum Meinungsstand Pietzcker in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 22. EL Sept 2011, § 42 I Rn 121 ff.

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und daher vom Genehmigungsinhalt nicht getrennt werden kann578 oder die isolierte Aufhebung aus materiellen Gründen offensichtlich nicht möglich ist.579 Die Gestattungswirkung der Genehmigung ist mit einer begrenzten Konzentrationswirkung verbunden (§ 13 BImSchG). Eingeschlossen sind insbesondere die Baugenehmigung sowie Genehmigungen nach TEHG und des Natur- und Landschaftsschutzrechts, nicht aber Planfeststellungen, Zulassungen bergrechtlicher Betriebspläne, atomrechtliche Genehmigungen sowie wasserrechtliche Erlaubnisse und Bewilligungen.580 Gegenüber dem privaten Nachbarrecht übt die immissionsschutzrechtliche Anlagengenehmigung eine materiellrechtliche, anspruchsändernde Gestaltungswirkung aus (§ 14 BImSchG).581 Sie stellt somit einen typischen Fall des Verwaltungsakts mit Doppelwirkung iSd §§ 80 I 2 und 80a VwGO dar.582 Die genehmigte Anlage genießt Bestandsschutz zunächst nach Maßgabe der immissionsschutzrechtlichen Regelungen. Diese begrenzen den Bestandsschutz mithilfe dynamischer Betreiberpflichten des § 5 BImSchG, dem Vorbehalt des Widerrufs (§ 21 BImSchG), der Möglichkeit nachträglicher Anordnungen (§ 17 BImSchG) und der Möglichkeit zur Untersagung, Stilllegung und Beseitigung der Anlage (§ 20 BImSchG).583 Unmittelbar aus den Grundrechten, insbesondere der Eigentumsfreiheit fließender Bestandsschutz kommt nicht in Betracht. Art 14 I GG selbst schützt subjektive öffentliche Rechte nur, wenn sie ihrem Inhaber eine dem Eigentümer vergleichbare Rechtsposition verschaffen. Das subjektiv öffentliche Recht darf also nicht überwiegend auf staatlicher Gewährung beruhen, sondern muss Ausfluss eigener Leistung sein. Davon ausgehend genießt die Anlagengenehmigung selbst keinen Eigentumsschutz.584 Die prozeduralen Anforderungen bei Änderungen genehmigungsbedürftiger Anlagen richten sich nach den §§ 15, 16 BImSchG. Im Regelfall ist die Änderung der Lage, der Beschaffenheit oder des Betriebs einer genehmigungsbedürftigen Anlage der zuständigen Behörde mindestens einen Monat vor Beginn der geplanten Änderung schriftlich anzuzeigen, wenn sich die Änderung auf in § 1 BImSchG genannte Schutzgüter auswirken kann (§ 15 I 1 BImSchG). Der Träger des Vorhabens darf die Änderung vornehmen, sobald die Behörde ihm die Genehmigungsfreiheit mitteilt oder sich innerhalb eines Monats nach Eingang der Anzeige nicht geäußert hat (§ 15 II 2 BImSchG). Eine Änderungsgenehmigung ist nur bei einer wesentlichen Änderung iSd § 16 I 1 BImSchG erforderlich. Eine solche liegt vor, wenn durch die Änderung nachteilige Auswirkungen hervorgerufen werden können und diese für die Prüfung nach § 6 I Nr 1 BImSchG erheblich sein können. Der Betreiber kann jedoch auch für anzeigebedürftige Änderungen eine Genehmigung beantragen (§ 16 IV BImSchG), also von sich aus den aufwendigeren, aber sichereren Weg wählen und so die Genehmigungswirkungen (nicht zuletzt nach den §§ 13, 14 BImSchG) herbeiführen. Ob die Änderungsgenehmigung zu erteilen ist, richtet sich nach § 6 BImSchG.585 Der vorzeitige Beginn von Errichtungsmaßnahmen ist in einem laufenden Genehmigungsverfahren nach Maßgabe des § 8a BImSchG zulässig. Anders als die Regelungen über die Teilge-

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578 Vgl BVerwG DÖV 1974, 380; NVwZ 1984, 371; Sodan in: ders/Ziekow, VwGO, 3. Aufl 2010, § 42 Rn 21; für die grds isolierte Anfechtbarkeit auch von Inhaltsbestimmungen Kopp/Schenke VwGO, 18. Aufl 2012, § 42 Rn 23. 579 BVerwGE 112, 221, 224. 580 Dazu Fluck NVwZ 1992, 114 ff; Seibert in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 13 BImSchG Rn 80 ff; im Hinblick auf Art 5 der IVU-RL o Rn 193. 581 Vgl o Rn 84. 582 Statt vieler Sellner/Reidt/Ohms Immissionsschutzrecht Rn 3/108 ff. 583 Vgl Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 105 f. 584 So auch Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 107 f mit Verweis auf den eigentumsrechtlichen Schutz der privatrechtlichen Vermögensposition, die auf Grundlage der Genehmigung durch eigene Leistung erworben wurde; auf die Kriterien Privatnützigkeit und Verfügungsbefugnis bezieht sich Wieland in: Dreier, GG, Art 14 Rn 64; vgl o Rn 256 zur Berücksichtigung bestehender Anlagen bei der Bestimmung der Erheblichkeit von Nachteilen und Belästigungen. 585 Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 111 f; vgl zum Ganzen Hansmann DVBl 1997, 1421 ff; Jarass UPR 2006, 45 ff; Dolde FS Sellner, 2010, 237 ff.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

nehmigung (§ 8 BImSchG) und den Vorbescheid (§ 9 BImSchG) begründet § 8a BImSchG einen eigenständigen Zulassungstatbestand mit vorläufigem Charakter.586 Danach kann die Genehmigungsbehörde im Interesse der Beschleunigung von Investitionen587 – jederzeit widerruflich (§ 8a II BImSchG) – zulassen, dass bereits vor Erteilung der Genehmigung mit der Errichtung (einschl Maßnahmen zur Prüfung der Betriebstüchtigkeit) der geplanten Anlage begonnen wird. Voraussetzung hierfür ist, dass mit der Entscheidung zugunsten des Antragsstellers gerechnet werden kann (§ 8a I Nr 1 BImSchG). Außerdem muss an der vorzeitigen Errichtung der Anlage ein öffentliches Interesse588 – zB wegen der zu erwartenden Verbesserung des Umweltschutzes – oder ein berechtigtes Interesse des Antragstellers bestehen (§ 8a I Nr 2 BImSchG). Schließlich ist es erforderlich, dass sich der Antragsteller verpflichtet, alle bis zur endgültigen Genehmigungsentscheidung durch die Errichtung der Anlage verursachten Schäden zu ersetzen und den früheren Zustand wiederherzustellen, wenn das Vorhaben nicht genehmigt wird (§ 8a I Nr 3 BImSchG). Unter den genannten Voraussetzungen kann die Genehmigungsbehörde in einem Verfahren der Änderungsgenehmigung nach § 16 I BImSchG auch den vorzeitigen Betrieb der Anlage zulassen, wenn die beabsichtigte Änderung der Erfüllung einer immissionsschutzrechtlichen Pflicht dient (§ 8a III BImSchG).

e) Vorbescheid und Teilgenehmigung 279 Der Vorbescheid nach § 9 BImSchG und die Teilgenehmigung nach § 8 BImSchG sind als Zwischenakte Instrumente des gestuften Verwaltungsverfahrens. Sie dienen der Rationalität, Transparenz und Beschleunigung des Verfahrens, sofern die Genehmigungsbehörde über die Zulässigkeit einer komplexen Anlage zu entscheiden hat.589 Der Vorbescheid enthält eine abschließende Entscheidung über einzelne Genehmigungsvoraussetzungen, von denen die Erteilung der gesamten Genehmigung abhängt, zB über den Standort oder das Konzept der Anlage.590 Die Teilgenehmigung gestattet dagegen in abschließender Weise die Errichtung oder den Betrieb von realen Anlagenteilen. Beide Zwischenakte enthalten somit eine abschließende Teilentscheidung, daneben aber auch ein vorläufiges positives Gesamturteil über die betreffende Anlage. Während die abschließende Teilentscheidung die volle, inhaltlich begrenzte Bindungswirkung der Anlagengenehmigung ausübt, entfaltet das vorläufige positive Gesamturteil eine verminderte, unter dem Vorbehalt der gleichbleibenden Sach- und Rechtslage stehende Bindungswirkung.591 Diese reicht allgemein nur soweit, wie die Anlage Gegenstand der Prüfung war.592

f) Nachträgliche Anordnungen 280 Durch die Möglichkeit nachträglicher Anordnungen nach § 17 BImSchG wird der Bestandsschutz der unanfechtbar genehmigten Anlage beschränkt.593 Der zulässige Inhalt einer nachträglichen Anordnung deckt sich nahezu mit demjenigen einer Auflage.594 Die nachträgliche

_____ 586 Dazu Führ IUR 1990, 54 f; krit – noch zu § 15a BImSchG aF und zur Zweckmäßigkeit – Sellner NVwZ 1991, 305, 309. 587 Sellner in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 8a BImSchG Rn 1 f; Jarass BImSchG § 8a Rn 1. 588 Sellner in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 8a BImSchG Rn 66; Jarass BImSchG § 8a Rn 8. 589 Vgl zum Ganzen Schmidt-Aßmann FG BVerwG, 1978, 569 ff; Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 83 ff; Kloepfer UmweltschutzR § 4 Rn 49 ff, § 8 Rn 43 ff. 590 Zum Konzeptvorbescheid (im AtomR) BVerwGE 70, 365, 372; E 72, 300, 303 f; zum Vorbescheid nach § 9 BImSchG BVerwGE 121, 182 (189); Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 84. 591 So ausdr für die Teilgenehmigung der Wortlaut des § 8 Satz 2 BImSchG; ausf Jarass BImSchG § 8 Rn 26 ff. 592 Vgl für Vorbescheid Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 86 ff. 593 S o Rn 276. 594 Diff zum Verhältnis zu § 12 BImSchG Hansmann in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 17 BImSchG Rn 25 f.

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Anordnung dient der fortlaufenden Erfüllung der Betreiberpflichten des § 5 BImSchG sowie der Pflichten, die sich aus den nach § 7 BImSchG erlassenen RechtsVO ergeben. Für die Rechtmäßigkeit der nachträglichen Anordnung muss eine Verletzung dieser Pflichten zumindest drohen.595 Aufgrund des dynamischen Charakters der Betreiberpflichten kommt es auf die Sachlage und den Erkenntnisstand sowie im Rahmen des Vorsorgegrundsatzes (§ 5 I Nr 2 BImSchG) auf den Stand der Technik im Zeitpunkt des Erlasses an.596 Grundsätzlich steht die Entscheidung über eine nachträgliche Anordnung im Ermessen der Behörde. Falls jedoch nach Erteilung der Genehmigung festgestellt wird, dass die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft nicht ausreichend vor schädlichen Umwelteinwirkungen oder sonstigen Gefahren, erheblichen Nachteilen oder erheblichen Belästigungen geschützt ist, dass also – vereinfacht gesprochen – der Schutzgrundsatz (§ 5 I Nr 1 BImSchG) verletzt wird, soll die zuständige Behörde nachträgliche Anordnungen treffen (§ 17 I 2 BImSchG). Diese Sollvorschrift hat nachbarschützenden Charakter.597 Unter ihren Voraussetzungen besteht daher grundsätzlich ein verwaltungsprozessual durchsetzbarer Anspruch auf Erlass einer nachträglichen Anordnung. Die Schranken nachträglicher Anordnungen finden sich in § 17 II BImSchG; sie dienen ua 281 dem (eingeschränkten) Bestandsschutz von Altanlagen.598 Die Behörde darf hiernach eine nachträgliche Anordnung nicht treffen, wenn diese unverhältnismäßig ist, „vor allem wenn der mit der Erfüllung der Anordnung verbundene Aufwand außer Verhältnis zu dem mit der Anordnung angestrebten Erfolg steht; dabei sind insbesondere Art, Menge und Gefährlichkeit der von der Anlage ausgehenden Emissionen und der von ihr verursachten Immissionen sowie die Nutzungsdauer und technische Besonderheiten der Anlage zu berücksichtigen“ (§ 17 II 1 BImSchG).599 Die nachträgliche Anordnung ist verhältnismäßig, wenn sie zur Verminderung der Immissionen geeignet, erforderlich und angemessen ist. Zur Beurteilung der Angemessenheit sind ua die Höhe der Investitionskosten, Restnutzungsdauer der Anlage, wirtschaftliche Vertretbarkeit der Maßnahme und etwaige Sicherung von Arbeitsplätzen als Abwägungsgesichtspunkte heranzuziehen. 600 Legen hingegen Rechtsverordnungen oder Verwaltungsvorschriften601 Anforderungen und Übergangsfristen für bestehende Anlagen näher fest, müssen (lediglich) diese Rechtsvorschriften (generell) verhältnismäßig ausgestaltet sein. Wird eine gesetzeskonkretisierende Verwaltungsvorschrift wie zB die TA Luft als Maßstab der Verhältnismäßigkeit herangezogen, bleibt des Weiteren beim Vorliegen eines atypischen Sachverhalts die konkrete Verhältnismäßigkeit der nachträglichen Anordnung zu prüfen.602 Soweit durch RechtsVO die Anforderungen nach § 5 I Nr 2 BImSchG abschließend festgelegt sind, dürfen durch nachträgliche Anordnungen keine weitergehenden Vorsorgeanforderungen gestellt werden (§ 17 III BImSchG).

_____ 595 Jarass BImSchG § 17 Rn 14. 596 Hoppe Wirtschaftliche Vertretbarkeit im Rahmen des BImSchG, 1977, 33; Hansmann in: Landmann/Rohmer, UmwR § 17 BImSchG Rn 72. 597 Sellner/Reidt/Ohms Immissionsschutzrecht Rn 4/46; Jarass BImSchG § 17 Rn 83 ff; Hansmann in: Landmann/ Rohmer, UmwR, § 17 BImSchG Rn 230 f. 598 Vgl zur kontinuierlichen Einschränkung des Bestandsschutzes Feldhaus und Friauf WiVerw 1986, 67 ff, 87 ff; Wickel Bestandsschutz im Umweltrecht, 1996, 165 ff. 599 Darin liegt eine Verschärfung gegenüber dem früheren Recht, das nachträgliche Anordnungen – abgesehen von der technischen Unerfüllbarkeit – ausschloss, wenn sie für den Betreiber und für Anlagen der von ihm betriebenen Art wirtschaftlich nicht vertretbar waren (§ 17 II 1 BImSchG 1974); vgl iÜ BT-Drs 10/1862, 6, 11 f; 10/3556, 2, 16; Jarass BImSchG § 17 Rn 38 ff. 600 Vgl Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 101 f. 601 Vgl hierzu Jarass BImSchG § 17 Rn 51 ff; Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 53. 602 BVerwG NVwZ 1995, 994 (im konkreten Fall Verneinung eines atypischen Sachverhalts); BVerwG NVwZ 1997, 497, 499 (im konkreten Fall Unterstellung eines atypischen Sachverhalts, aber dennoch Bejahung der Verhältnismäßigkeit); vgl auch o Rn 257.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

Nach § 17 IIIa BImSchG soll die zuständige Behörde von nachträglichen Anordnungen absehen, soweit in einem vom Anlagenbetreiber vorgelegten Plan technische Maßnahmen an dessen Anlagen oder an Anlagen Dritter vorgesehen sind, die zu einer weitergehenden Verringerung der Emissionsfrachten führen als die Summe der Minderungen, die durch den Erlass nachträglicher Anordnungen zur Erfüllung der gesetzlichen oder verordnungsrechtlichen Pflichten bei den beteiligten Anlagen erreichbar wäre, und soweit hierdurch der Gesetzeszweck (§ 1 BImSchG) gefördert wird. Damit wird im Vorsorgebereich603 die Möglichkeit zur sog Schadstoffkompensation eröffnet.604 Eine solche Kompensation ist jedoch nach § 17 IIIa 2 BImSchG ausgeschlossen, soweit der Betreiber bereits zur Emissionsminderung aufgrund einer nachträglichen Anordnung nach § 17 I BImSchG oder einer Auflage nach § 12 I BImSchG verpflichtet ist oder eine nachträgliche Anordnung wegen eines festgestellten Verstoßes gegen den Schutzgrundsatz (§ 17 I 2 iVm § 5 I Nr 1 BImSchG) getroffen werden soll.

g) Untersagung, Stilllegung und Beseitigung von Anlagen, Widerruf der Anlagengenehmigung 283 Nach § 20 I BImSchG kann die zuständige Behörde den Betrieb einer genehmigungsbedürftigen und genehmigten Anlage ganz oder teilweise untersagen, wenn der Betreiber einer Auflage, einer vollziehbaren nachträglichen Anordnung oder einer abschließend bestimmten Pflicht aus einer RechtsVO nach § 7 BImSchG nicht nachkommt und die verletzte Regelung die Beschaffenheit oder den Betrieb der Anlage betrifft. Die Behörde hat den Betrieb zu untersagen, wenn nur unzureichende Maßnahmen zur Unfallverhütung getroffen wurden (§ 20 Ia BImSchG). Nach § 20 II BImSchG soll die zuständige Behörde die Stilllegung oder Beseitigung einer Anlage anordnen, die ohne die erforderliche Genehmigung errichtet, betrieben oder wesentlich geändert wird.605 § 20 III BImSchG sieht die Untersagung des weiteren Betriebes einer genehmigungsbedürftigen Anlage wegen persönlicher Unzuverlässigkeit vor. Die Vorschriften über den Widerruf der Genehmigung (§ 21 BImSchG) stellen eine ab284 schließende Spezialregelung gegenüber den allgemeinen Vorschriften über den Widerruf von Verwaltungsakten (§ 49 VwVfG) dar.606 Die spezialgesetzlichen Widerrufsgründe entsprechen allerdings den allgemeinen. Der Widerruf ua wegen einer Änderung der Sach- oder Rechtslage oder wegen schwerer Nachteile für das Gemeinwohl ist entschädigungspflichtig, soweit er in ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen eingreift (§ 21 IV BImSchG). Eine Sonderregelung enthält § 21 VII BImSchG: Die restriktiven Widerrufsgründe und die Entschädigungspflicht gelten nicht, wenn die Genehmigung von einem Dritten angefochten und von der Behörde während des Vorverfahrens oder des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufgehoben wird, soweit dadurch dem Widerspruch oder der Klage abgeholfen wird. Insoweit liegt kein schutzwürdiges Vertrauen auf den Bestand der Genehmigung vor.607

h) Anlagenbezogene Überwachung 285 Unter den Voraussetzungen der §§ 26 I und 28 BImSchG kann die zuständige, landesrechtlich bestimmte Behörde entweder aus besonderem Anlass oder zur erstmaligen und periodisch wiederkehrenden Präventivkontrolle genehmigungsbedürftiger Anlagen anordnen, dass Messungen von Emissionen sowie von Immissionen im Einwirkungsbereich der Anlage durch eine be-

_____ 603 Sellner NVwZ 1991, 305, 309. 604 Vgl dazu BT-Drs 11/4909, 14, 16; Jarass BImSchG § 17 Rn 88 ff; vgl ferner die Verordnungsermächtigung des § 7 III BImSchG; dazu Jarass BImSchG § 7 Rn 14. 605 Dazu BVerwG NVwZ 1990; BayVGH ZUR 2007, 537, 539 f; Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 115. 606 Zur Rücknahme rechtswidriger Genehmigungen vgl Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 116. 607 Vgl BVerwGE 65, 313, 321 f; Kloepfer UmwR § 14 Rn 200.

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hördlich bekanntgegebene Messstelle durchgeführt werden. Statt solcher Einzelmessungen können bei genehmigungsbedürftigen Anlagen kontinuierliche Messungen durch aufzeichnende Messgeräte erfolgen (§ 29 BImSchG). Der Betreiber kann seitens der Überwachungsbehörde verpflichtet werden, ihr die kontinuierlich aufzuzeichnenden Emissionsdaten elektronisch zu übermitteln (§ 31 Satz 2 BImSchG).608 Des Weiteren ist der Betreiber einer genehmigungsbedürftigen Anlage nach Maßgabe des § 27 BImSchG zur Abgabe einer Emissionserklärung verpflichtet. Im Interesse der Anlagensicherheit kann die zuständige Behörde ferner anordnen, dass der Betreiber einer genehmigungspflichtigen Anlage einen der von der zuständigen obersten Landesbehörde bekanntgegebenen Sachverständigen mit der Durchführung bestimmter sicherheitstechnischer Prüfungen sowie mit Prüfungen von sicherheitstechnischen Unterlagen beauftragt (§ 29a I 1 BImSchG).609 Die hierdurch ermöglichten sicherheitstechnischen Prüfungen dienen – ebenso wie andere gesetzliche Instrumente610 – dem Ziel durch das BImSchG eine umfassende Anlagensicherheit zu gewährleisten.611 Ergänzend treten die Auskunftspflicht nach § 31 BImSchG sowie das behördliche Zutrittsrecht im Rahmen der allgemeinen Überwachung nach § 52 BImSchG hinzu. Schließlich wird die anlagenbezogene Überwachung im Bereich der genehmigungsbedürftigen Anlagen im Wege der regulierten Selbstregulierung und gemäß dem Kooperationsprinzip612 durch die Bestellung und die Tätigkeit eines Betriebsbeauftragten für Immissionsschutz (§§ 53 ff BImSchG) sowie eines Störfallbeauftragten (§§ 58a ff BImSchG) effektiviert.

3. Nicht genehmigungsbedürftige Anlagen Nicht genehmigungsbedürftige Anlagen iSd §§ 22 ff BImSchG sind solche Anlagen iSd § 3 V 286 BImSchG, die keiner Genehmigung nach den §§ 4 ff BImSchG bedürfen. Sie können jedoch einer Genehmigung nach anderen gesetzlichen Vorschriften, zB einer Baugenehmigung, bedürfen.613 Abgrenzungsprobleme wirft weniger die Frage der Genehmigungsbedürftigkeit, als vielmehr der Anlagenbegriff selbst auf.614 Im Einzelfall problematisch kann auch sein, eine Immission als anlagebedingt zu qualifizieren, um den Anwendungsbereich des BImSchG zu eröffnen.615 Die Betreiberpflichten nach § 22 BImSchG statuieren geringere Anforderungen als die Pflich- 287 ten des Betreibers einer genehmigungsbedürftigen Anlage nach § 5 BImSchG.616 Das Gebot, schädliche Umwelteinwirkungen, also Immissionen (§ 3 I BImSchG) zu verhindern (§ 22 I Nr 1 BImSchG), differenziert prinzipiell nicht zwischen dem Schutz- und dem Vorsorgegrundsatz. Begrenzt wird der hierdurch gewährte Schutz durch den Stand der Technik (§ 3 VI BImSchG). Des Weiteren sind die nach dem Stand der Technik unvermeidbaren schädlichen Umwelteinwir-

_____ 608 BVerwG NVwZ 1997, 998 (Emissionsfernüberwachung); Jarass BImSchG § 31 Rn 2a. 609 In einer solchen Anordnung kann die Durchführung der Prüfungen durch den Störfallbeauftragten (§§ 58a ff BImSchG iVm der 5. BImSchV), eine zugelassene Überwachungsstelle nach § 37 I ProdSG oder einem in einer Rechtsverordnung nach § 2 Nr 30 ProdSG genannten Sachverständigen gestattet werden, sofern der Betreffende näher bezeichnete Qualifikationsvoraussetzungen nach § 29a IV BImSchG erfüllt. 610 Vgl die Regelungen über die Kommission für Anlagensicherheit (§ 51a BImSchG) beim BMU. 611 Vgl den Gesetzeszweck, § 1 II BImSchG; so ausdrücklich Töpfer in: Umwelt (BMU) Nr 12/1989, 597; auch die BReg in BT-Drs 11/4909; Dietlein in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 1 BImSchG Rn 36; Jarass BImSchG § 1 Rn 14 ff. 612 Vgl o Rn 67 ff. 613 Hansmann in: Landmann/Rohmer, UmwR, Vor § 22 BImSchG Rn 16 mwN. 614 Vgl zB BVerwGE 68, 62 (Kirchenglocken); 79, 254 (Feuersirenen); 90, 163 (Kirchturmuhr) und aus der aktuellen Rspr OVG Hamburg BauR 2009, 203 (Kinderspielplatz und -tagesstätte); Sächs OVG NVwZ 2005, 352 (Mobilfunkstation); weitere Bsp bei Jarass BImSchG § 22 Rn 9 f; Hansmann in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 22 BImSchG Rn 8; Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 123. 615 Ausf dazu und zum ungeschriebenen Merkmal „Betreiben“ bei § 3 V BImSchG Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 124 f. 616 Hierzu Sellner/Löwer WiVerw 1980, 233 ff; zur Verneinung eines Vorsorgegebots BayVGH UPR 1987, 317; ebenso Jarass BImSchG § 22 Rn 22; krit dazu Hansmann/Röckinghausen in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 22 BImSchG Rn 15; Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 60.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

kungen auf ein Mindestmaß zu beschränken (§ 22 I Nr 2 BImSchG). Beide Betreiberpflichten dienen auch dem Schutze der Nachbarschaft und sind folglich drittschützend.617 Diese Betreiberpflichten werden jedenfalls dann verletzt, wenn die schädlichen Umwelteinwirkungen Leben oder Gesundheit von Menschen oder bedeutende Sachwerte gefährden (vgl § 25 II BImSchG).618 Hinzu tritt die Pflicht des Betreibers zur ordnungsgemäßen Abfallbeseitigung (§ 22 I Nr 3 BImSchG). 288 Neben den §§ 22 ff BImSchG können weitergehende bundes- und landesrechtliche Vorschriften anwendbar sein (vgl § 22 II BImSchG). Im Einzelnen ist das Verhältnis zwischen landes- und bundesrechtlichen Regelungen umstritten,619 zumindest können nichtanlagebezogene (dh handlungsbezogene) landesrechtliche Vorschriften weitergehende Anforderungen iSd § 22 II BImSchG stellen. Einen unklaren Fall stellen insofern landesrechtliche Vorschriften dar, die ruhestörende Betätigungen zur Nachtzeit verbieten.620 § 23 I BImSchG ermächtigt die Bundesregierung, nach Anhörung der beteiligten Kreise (§ 51 BImSchG) durch RechtsVO mit Zustimmung des Bundesrates vorzuschreiben, dass die Errichtung, die Beschaffenheit und der Betrieb nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen bestimmten Schutz- und Vorsorgeanforderungen genügen müssen. Auf dieser Grundlage ist eine Reihe verschiedenartiger Rechtsverordnungen erlassen worden, unter denen die VO über Kleinfeuerungsanlagen (1. BImSchV)621 Hervorhebung verdient. Soweit die Bundesregierung von der Ermächtigung nach § 23 I BImSchG keinen Gebrauch macht, sind die Landesregierungen nach § 23 II BImSchG zum Erlass entsprechender Rechtsverordnungen ermächtigt.622

4. Der produktbezogene Immissionsschutz 289 Die §§ 32 ff BImSchG sehen einen produktbezogenen Immissionsschutz vor. Dessen Anwendungsbereiche sind die Beschaffenheit von bestimmten technischen Anlagen, die Einführung einer Bauartzulassung für diese Anlagen oder Anlagenteile, die Beschaffenheit von Brennstoffen, Treibstoffen und Schmierstoffen sowie von sonstigen Stoffen und Erzeugnissen, die geeignet sind, bei ihrer bestimmungsmäßigen Verwendung oder bei der Verbrennung zum Zwecke der Beseitigung oder der Rückgewinnung einzelner Bestandteile schädliche Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen hervorzurufen. Das Gesetz ist insoweit auf die Konkretisierung im Verordnungswege angewiesen. Es begnügt sich mit Ermächtigungen, wonach die Bundesregierung nach Anhörung der beteiligten Kreise (§ 51 BImSchG) durch RechtsVO mit Zustimmung des Bundesrates einschlägige Regelungen des produktbezogenen Immissionsschutzes treffen kann.623 Die §§ 37a–37d BImSchG schreiben aus Gründen des Klimaschutzes einen Mindestanteil an Biokraftstoffen an der gesamten Kraftstoffmenge vor.

_____ 617 BVerwGE 74, 315, 327; E 101, 157, 164; VGH BW DVBl 2012, 1055; Heitsch JA 2001, 258, 259; Jarass BImSchG § 22 Rn 69. Zur Nachbarklage zwecks Abwehr des Lärms von einem Kinderspielplatz (§ 22 Ia BImSchG) OVG RP NVwZ 2012, 1347 o JK Allg VerwR Öff-rechtl Unterlassungsanspruch/3. 618 So auch Erbguth/Schlacke UmwR § 9 Rn 56. 619 Eingehend zu diesem Problem Sellner/Löwer WiVerw 1980, 221 ff; Jarass BImSchG § 22 Rn 15 ff; Hansmann in: Landmann/Rohmer, UmwR, Vor § 22 BImSchG Rn 29 ff; Hansmann/Röckinghausen in: Landmann/Rohmer, UmwR, § 22 BImSchG Rn 31 ff; vgl auch u Rn 294. 620 Für die Anwendbarkeit als anlagebezogene Vorschrift neben den §§ 22 ff BImSchG OVG NW DVBl 1979, 317. 621 Vom 26.1.2010 (BGBl I 38); ausf zu § 23 BImSchG Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 129 ff; Erbguth/Schlacke UmwR § 9 Rn 57. 622 Vgl zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen einer LandesVO über die Nutzungszeiten von Biergärten BVerwGE 108, 260; BVerwG NVwZ 1996, 1025; BayVGH NVwZ 1996, 483. 623 Vgl zB aufgrund der §§ 32, 37 BImSchG: 32. BImSchV (Geräte- und Maschinenlärm) v 29.8.2002 (BGBl I 3478), zul geänd d G v 8.11.2011 (BGBl I 2178); aufgrund der §§ 34, 37 BImSchG: 10. BImSchV (Beschaffenheit und Auszeichnung der Qualität von Kraft- und Brennstoffen) v 8.12.2010 (BGBl I 1849).

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5. Der verkehrsbezogene Immissionsschutz a) Grundlagen des Immissionsschutzes bei Straßen, Schienenwegen und Flughäfen Die §§ 41–43, 50 BImSchG enthalten eine Spezialregelung des Verkehrslärmschutzes bei Straßen 290 und Schienenwegen.624 Sie ergänzen insbesondere die Planfeststellungsregelungen des Straßenrechts (§§ 16 ff FStrG) und des Schienenwegerechts (§§ 18 ff AEG).625 Schädliche Umwelteinwirkungen sind zunächst durch geeignete Trassenführungen so weit 291 wie möglich zu vermeiden.626 Des Weiteren gilt es die Anforderungen des Lärmschutzes zu wahren. Die auf § 43 I 1 Nr 1 BImSchG gestützte VerkehrslärmschutzVO (16. BImSchV)627 konkretisiert dabei den aktiven Lärmschutz, der an der Lärmquelle selbst ansetzt628 (§ 41 I BImSchG). Zum Schutz der Nachbarschaft vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Verkehrsgeräusche sind beim Bau oder der wesentlichen Änderung von öffentlichen Straßen sowie von Schienenwegen der Eisenbahnen und Straßenbahnen konkrete Immissionsgrenzwerte zu beachten sowie technische Anforderungen für Straßen oder Schienenwege selbst einzuhalten. Die Verkehrswege-SchallschutzmaßnahmeVO (24. BImSchV)629 konkretisiert demgegenüber den passiven Lärmschutz. Sie sieht in Konkretisierung des § 42 BImSchG Schallschutzmaßnahmen an benachbarten baulichen Anlagen sowie Entschädigungszahlungen für diese vor.630 Beachtung verdienen auch die in § 40 BImSchG geregelten Verkehrsbeschränkungen. Zum 292 einen wird die zuständige Straßenverkehrsbehörde hierdurch ermächtigt, den Kraftfahrzeugverkehr nach Maßgabe der straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften zu beschränken oder zu verbieten, soweit ein Luftreinhalte- oder Aktionsplan nach § 47 I oder II BImSchG dies vorsieht (§ 40 I BImSchG). Auf Grundlage dieser Vorschrift wurde das sog Plaketten-Modell eingeführt.631 Zum anderen kann die zuständige Straßenverkehrsbehörde den Kraftfahrzeugverkehr nach Maßgabe der straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften auf bestimmten Straßen oder in bestimmten Gebieten verbieten oder beschränken, wenn er zur Überschreitung von festgelegten Immissionswerten (gem einer RechtsVO nach § 48a BImSchG) beiträgt und soweit die für den Immissionsschutz zuständige Behörde dies im Hinblick auf die örtlichen Verhältnisse für geboten hält, um schädliche Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen zu vermindern oder deren Entstehen zu vermeiden (§ 40 II BImSchG). Die Bundesregierung ist ermächtigt, nach Anhörung der beteiligten Kreise (§ 51 BImSchG) durch RechtsVO mit Zustimmung des Bundesrates Ausnahmen zu regeln; diese können sich auf umweltfreundliche Kraftfahrzeuge oder auf bestimmte, durch besondere Erfordernisse legitimierte Fahrten oder Personen beziehen (§ 40 III BImSchG).

b) Sonderregelung des Fluglärmschutzgesetzes Das Fluglärmschutzgesetz632 enthält die bindende Ermächtigung, dass zum Schutz der Allge- 293 meinheit vor Gefahren, erheblichen Nachteilen und erheblichen Belästigungen durch Fluglärm in der Umgebung von Flugplätzen für Verkehrsflughäfen mit Fluglinien- oder Pauschalflugreiseverkehr und für militärische Flugplätze, die dem Betrieb von Flugzeugen mit

_____ 624 Zum Vorrang des § 41 I BImSchG gegenüber § 74 II 2 VwVfG BVerwGE 97, 367, 370 ff. 625 Vgl Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 77. 626 Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 77; zum Stellenwert bei Planungsentscheidungen Sanden in: Koch, UmwR, § 13 Rn 123. 627 BGBl I 1036, geänd d G v 19.9.2006 (BGBl I 2146); dazu BVerwGE 104, 123; BVerwG NVwZ 1998, 1071; SchulzeFielitz ZUR 2002, 199 ff (Straßenverkehrslärm); Schulte ZUR 2002, 195 ff (Schienenverkehrslärm); Schink NVwZ 2003, 1041 ff; jeweils mwN. 628 Vgl Sanden in: Koch, UmwR, § 13 Rn 124. 629 Vom 4.2.1997 (BGBl I 172, ber 1253) zul geänd d VO v 23.9.1997 (BGBl I 2329). 630 Dazu Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 78. 631 Ausf Herrmann/Hofmann in: Koch, UmwR, § 14 Rn 95 ff. 632 IdF v 31.10.2007 (BGBl I 2550), eingehend dazu Mechel ZUR 2007, 561 ff; Koch FS Sellner, 2010, 277 ff.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

Strahltriebwerken zu dienen bestimmt sind, Lärmschutzbereiche festgesetzt werden. Die Festsetzung erfolgt im Wege der RechtsVO. Derartige Lärmschutzverordnungen für einzelne Flughäfen oder Flugplätze633 sind in zwei abgestufte Schutzzonen für den Tag und eine Schutzzone für die Nacht gegliedert und lösen bestimmte Bauverbote, Schallschutzanforderungen und Förderungen für bauliche Maßnahmen des passiven Schallschutzes aus. Nachbaransprüche aus den §§ 1004, 906 BGB iVm den §§ 11 LuftVG, 14 BImSchG werden durch die planungsrechtlichen Regelungen des Fluglärmschutzgesetzes nicht berührt.634 Auf europäischer Ebene ist mit der RL über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebseinschränkungen auf Flughäfen der Gemeinschaft635 erstmals ein Rahmen für gemeinschaftsrechtliche Restriktionen geschaffen worden.636

6. Der allgemeine handlungsbezogene Immissionsschutz 294 Den Immissionsschutzgesetzen und -verordnungen der Länder637 verbleibt die Regelung des allgemeinen handlungsbezogenen Immissionsschutzes. Hierunter fallen zB Vorschriften über das Verbrennen im Freien, den Schutz der Nachtruhe638, die Benutzung von Tongeräten, das Abbrennen von Feuerwerken oder Feuerwerkskörpern und die Tierhaltung.

7. Der gebietsbezogene Immissionsschutz 295 Zur Stärkung des gebietsbezogenen Immissionsschutzes sieht das BImSchG insbesondere die Luftreinhalteplanung (§ 47 BImSchG) sowie die Lärmminderungsplanung (§§ 47a ff BImSchG) vor. Diese Vorschriften gehen zurück auf die Vorgaben der EG-LuftqualitätsrahmenRL639 und der EGUmgebungslärmRL.640 296 Der gebietsbezogenen Immissionsschutz ist an der Luftqualität ausgerichtet und setzt damit „quellenunabhängig“ an.641 Die zuständigen Behörden sind verpflichtet, zur Überwachung der Luftqualität regelmäßige Untersuchungen nach den Anforderungen der Rechtsverordnungen nach § 48a I oder 1a BImSchG642 durchzuführen (§ 44 I BImSchG). Maßgeblich zu berücksichtigen sind dabei die in der 39. BImSchV643 festgelegten Werte. Die zuständigen Behörden sind dabei nach § 45 I BImSchG verpflichtet, die „erforderlichen Maßnahmen“ zu ergreifen, um die Einhaltung der durch eine RechtsVO nach § 48a BImSchG festgelegten Immissionswerte sicherzustellen. Dazu gehört insbesondere die Aufstellung von Plänen nach § 47 BImSchG. Werden die durch eine RechtsVO nach § 48a BImSchG festgelegten Immissionsgrenzwerte einschließlich festgelegter Toleranzmargen überschritten, muss die zuständige Behörde einen Luftreinhalte-

_____ 633 Zusammenstellung bei Feldhaus Bundesimmissionsschutzrecht, Bd 5, Abschnitt E. 634 BGHZ 69, 105, 108 ff. 635 RL 2002/30/EG v 26.3.2002 (ABlEG, L 85/40) zul geänd d VO 2008/1137/EG v 22.11.2008 (ABlEU L 311/1). 636 Weder das Unionsrecht noch das nationale Recht sehen standardisierte Lärmwerte vor. Damit fehlen rechtssicher anwendbare Konkretisierungen; vgl auch Paetow NVwZ 2010, 1184, 1189 ff; Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 79; zu internationalen Bemühungen Koch/Prall NVwZ 2002, 666, 672 f; zu Umweltproblemen bei der Zulassung von Flughäfen Storost NVwZ 2004, 257 ff. 637 Vgl o Rn 245 m Fn 492. 638 Vgl zur Anwendung des § 9 BImSchG NW auf die Festsetzung eines Volksfestes (§§ 60b, 69, 69a GewO) BVerwG NVwZ 1987, 494; OVG NW NVwZ 1986, 64; aus der aktuelleren Rspr OVG NW NJW 2000, 2124 ff. 639 RL 96/62/EG v 27.9.1996 (ABlEG L 296/55) an deren Stelle jetzt die RL über Luftqualität und saubere Luft für Europa (Luftqualitäts-RL) 2008/50/EG vom 21.5.2008 (ABlEU L 152/1) getreten ist; ausf zum europarechtlichen Hintergrund der Luftreinhalteplanung Cancik ZUR 2011, 283 ff. 640 RL 2002/49/EG v 25.6.2002 (ABlEG L 189/12) zul geänd d VO 2008/1137/EG v 22.10.2008 (ABlEU L 311/1). 641 Jarass UPR 2000, 241, 245 ff; ders BImSchG § 44 Rn 1; Koch in: ders, UmwR, § 4 Rn 37 ff, 42 ff. 642 Vgl die 22. BImSchV v 11.9.2002 (BGBl I 3626), nunmehr idF v 4.6.2007 (BGBl I 1006). 643 Verordnung über Luftqualitätsstandards und Emissionshöchstmengen v 2.8.2010 (BGBl I 1065).

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VIII. Immissionsschutzrecht – 5. Kapitel

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plan aufstellen, der Maßnahmen zur dauerhaften Verminderung von Luftverunreinigungen festlegt (§ 47 I 1 BImSchG). Besteht die Gefahr, dass festgelegte „Alarmschwellen“ überschritten werden, hat die zuständige Behörde einen Plan für kurzfristig zu ergreifende Maßnahmen644 aufzustellen, soweit dies durch die jew RechtsVO645 vorgesehen ist (§ 47 II BImSchG). Liegen bloße Anhaltspunkte dafür vor, dass festgelegte Immissionsgrenzwerte nicht eingehalten werden, kann die Behörde einen Luftreinhalteplan aufstellen; das gleiche gilt, wenn in einem Untersuchungsgebiet sonstige schädliche Umwelteinwirkungen zu erwarten sind (§ 47 III BImSchG). § 47 IV 1 BImSchG sieht vor, dass die in den Plänen festgelegten Maßnahmen entsprechend dem Verursacheranteil unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gegen alle Emittenten zu richten sind, die zum Überschreiten der Immissionswerte oder in einem Untersuchungsgebiet zu sonstigen schädlichen Umwelteinwirkungen beitragen (§ 47 IV 1 BImSchG).Weiter statuieren §§ 47 V iVm 45 II BImSchG insbesondere das Erfordernis, dem integrierten Ansatz des Umweltschutzes bei der Planaufstellung Rechnung zu tragen. Die in den Luftreinhalteplänen festgelegten Maßnahmen sind durch behördliche Entscheidungen nach dem BImSchG oder anderen Rechtsvorschriften durchzusetzen (§ 47 VI 1 BImSchG), die Pläne selbst stellen keine tauglichen Ermächtigungsgrundlagen dar.646 Vor dem Hintergrund sog Feinstaubklagen war lange Zeit umstritten, ob ein subjektiv öf- 297 fentlich-rechtlicher Anspruch auf Aufstellung (insb) eines Planes für kurzfristig zu ergreifende Maßnahmen besteht, wenn die og Alarmschwellen überschritten sind.647 Zwar sind die auslösenden Schwellen ausweislich der 39. BImSchV zum Schutz der menschlichen Gesundheit festgesetzt. Unter Rückgriff auf die (hochschwellige) Schutznormtheorie folgt daraus allerdings kein Drittschutz der Pflicht zur Planaufstellung, da ein abgrenzbar geschützter Personenkreis nicht ersichtlich ist und allein die Aufstellung eines Planes dem Bürger noch keine Besserung verschafft (vgl § 47 VI BImSchG).648 Für Unionsrechtsnormen gilt allerdings, dass sie subjektive Rechte vermitteln, wenn dem Einzelnen ein wesentliches Schutzgut der Norm dient. Der Einzelne muss folglich in der Lage sein, die Verletzung von Grenzwerten, die der menschlichen Gesundheit dienen, gerichtlich geltend zu machen.649 Daraus folgt nicht nur der drittschützende Charakter der Grenzwerte bzw Alarmschwellen der 39. BImSchV. 650 Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt dies auch für die Pflicht zur Planaufstellung, soweit sie durch Richtlinien der Union vorgesehen ist und dem Gesundheitsschutz dient.651 Bei den Plänen nach § 47 BImSchG handelt es sich mangels Außenwirksamkeit weder um Rechtsverordnungen noch um Allgemeinverfügungen, sondern um ein der Verwaltungsvorschrift ähnliches Instrument.652

_____ 644 Früher sog Aktionsplan, vgl Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 160; Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 82; zur Vereinbarkeit dieser Pläne mit europarechtlichen Anforderungen Kugler NVwZ 2010, 279 ff. 645 Für die 39. BImSchV ist dies in § 28 I der Verordnung vorgesehen. 646 Kloepfer UmweltschutzR § 8 Rn 82. 647 Verneinend das BVerwG NVwZ 2007, 695 mit Verweis darauf, es bestehe ein Anspruch auf planunabhängige Maßnahmen; bejahend BayVGH NVwZ 2007, 233; VG Stuttgart NVwZ 2005, 972; auch Sparwasser NVwZ 2006, 369, 375 ff; iÜ Erbguth/Schlacke UmwR § 9 Rn 33; vgl allg dazu o Rn 181 m Fn 340. 648 Vgl Sparwasser NVwZ 2006, 369, 376. 649 Vgl Jarass BImSchG § 48a Rn 23; Kopp/Schenke VwGO, 18. Aufl 2012 § 42 Rn 152; Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 168. 650 Noch für die 22. BImSchV BVerwGE 128, 278, 286. 651 Der EuGH folgert dies daraus, dass Art 7 III der LuftqualitätsrahmenRL (nunmehr ersetzt durch Art 24 der LuftqualitätsRL) hinreichend bestimmt sei und dem Gesundheitsschutz diene; irrelevant sei hingegen, ob das nationale Recht einen Anspruch auf planunabhängige Maßnahmen vorsehe, EuGH Urt v. 25.7.2008 – C-237/07 – (Janecek/Freistaat Bayern), Slg 2008 I-06221 = NVwZ 2008, 984, 985; vgl zum Ganzen Fonk NVwZ 2009, 69; Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 167 ff; Erbguth/Schlacke UmwR § 9 Rn 33. 652 BVerwGE 128, 278 (288); Jarass BImSchG § 47 Rn 47; Schmidt/Kahl UmwR § 4 Rn 166.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

8. Treibhausgasemissionshandel a) Allgemeines 298 Mit dem „System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten“ findet sich im Zuge der internationalen, europäischen und nationalen Bemühungen um den Klimaschutz auch ein ökonomisches Instrument im deutschen Umweltrecht.653 Es ist von den ordnungsrechtlichen Anforderungen an bestimmte Anlagen und Standorte sowie an lokalisierte und individualisierte Umwelteinwirkungen grundsätzlich losgelöst. Stattdessen folgt es der ökonomischen Grundidee der Internalisierung externer Kosten, indem es den Emittenten zwischen der Emissionsvermeidung und dem alternativ möglichen Erwerb benötigter Emissionsberechtigungen wählen lässt. Der Emittent wird vor die Alternative gestellt, entweder in die kostengünstige Emissionsvermeidung zu investieren und so die Emissionsberechtigungen erübrigen oder veräußern zu können oder umgekehrt solche Berechtigungen zu erwerben, falls die Emissionsverminderung für ihn in concreto teurer wäre. Volkswirtschaftlich soll dadurch die bestmögliche Allokation der knappen Mittel, also die postulierte Emissionsminderung zu den geringstmöglichen Kosten erreicht werden. So gesehen ergänzt dieses ökonomische Instrument den anlagenbezogenen wie auch den gebietsbezogenen Immissionsschutz. Die Einführung des Systems „für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten“ be299 ruht auf völker-654 und europarechtlichen Vorgaben. Die EmissionshandelsRL 2003/87/EG655 sah zu dem Zweck, auf kosteneffiziente und wirtschaftlich effiziente Weise auf eine Verringerung der Treibhausgasemissionen hinzuwirken (Art 1), folgende Rechtsakte vor: die Genehmigung zur Emission von Treibhausgasen (Art 4–6), den nationalen Zuteilungsplan (Art 9 iVm Art 11 I und II), die Zuteilung der Zertifikate an die Betreiber der einzelnen Anlagen (Art 10 und 11), die Abgabe und Löschung von Zertifikaten (Art 12 III und IV, Art 13 II und III) sowie Überwachungs- und Prüfungsmaßnahmen und Sanktionen im Rahmen des staatlichen Vollzuges (Art 14 ff).656 Mit der RL 2009/29/EG wurde die Festlegung der Gesamtzuteilungs-

_____ 653 Vgl o Rn 147 ff; Rengeling, Klimaschutz durch Emissionshandel, 2001; Endres in: Hendler/Marburger/Reinhardt/Schröder, Emissionszertifikate und UmweltR, UTR Bd 74, 2004, 11 ff; Sellner/Reidt/Ohms Immissionsschutzrecht Rn 6/1 ff; Martini/Gebauer ZUR 2007, 225 ff; Epiney ZUR 2010, 236; Kloepfer UmweltschutzR § 10 Rn 15 ff; zu den rechtlichen Rahmenbedingungen der CCS-Technik, die als zusätzlicher Ansatz zum Klimaschutz durch Reduktion von CO2Emissionen beitragen soll, Wickel ZUR 2011 115 ff. 654 In Art 3 I des Protokolls von Kyoto vom 11.12.1997 (BGBl 1998 II 130) zum Rahmenübereinkommen über Klimaveränderungen (vgl BGBl 1993 II 1783) haben sich die in Anlage I der Klimarahmenkonvention aufgeführten Staaten verpflichtet, einzeln oder gemeinsam dafür zu sorgen, dass ihre gesamten anthropogenen Emissionen der aufgeführten Treibhausgase in Kohlendioxidäquivalenten die ihnen zugeteilten Mengen nicht überschreiten, dazu Weinreich/Marr NJW 2005, 1078 ff. Nach Art 4 des Kyoto-Protokolls können die in Anlage I aufgeführten Staaten ihre Reduktionsverpflichtungen gemeinsam erfüllen. Von dieser Möglichkeit haben die EU-Mitgliedstaaten Gebrauch gemacht. Art 17 des Kyoto-Protokolls sieht den „Handel mit Emissionen“ vor, trifft hierüber aber keine prozeduralen oder inhaltlichen Bestimmungen. Völkerrechtlich ist das Kyoto-Protokoll am 16.2.2005 in Kraft getreten, vgl Kloepfer UmweltschutzR § 10 Rn 15 ff mwN. 655 RL v 13.10.2003 (ABlEU L 275/32); geänd d RL 2004/101/EG v 27.10.2004 (ABlEU L 338/18; Anerkennung der Gutschriften aus projektbezogenen Maßnahmen wie „Joint Implementation“ und „Clean Development Mechanism“), RL 2008/101/EG v 19.11.2008 (ABlEU L 8/3; Einbeziehung des Luftverkehrs), d RL 2009/29/EG v 23.4.2009 (ABlEU L 140/63, Verbesserung und Ausweitung des Emissionshandelssystems); vgl dazu Kreuter-Kirchhof EuZW 2004, 711 ff; Brattig ZUR 2004, 412 ff. 656 In zweifacher Weise schränkt die RL den sachlichen Geltungsbereich des Handelssystems, mit dem KyotoProtokoll verglichen, ein: Zum einen gilt die RL nur für die in Anhang I aufgeführten Tätigkeiten, nämlich für die Branchen der Energieumwandlung und -umformung, der Metallerzeugung und -verarbeitung, der mineralverarbeitenden Industrie sowie der Industriezweige der Zellstoff- und Papierindustrie. Damit sind 46% der Kohlendioxidemissionen in der EU erfasst; dagegen sind insbes die Emissionen des sonstigen Gewerbes, der privaten Haushalte und des Verkehrs nicht erfasst. Zum anderen bezieht sich die RL nur auf Kohlendioxid, nicht hingegen auf die übrigen Treibhausgase des Kyoto-Protokolls. Begründet wird dies damit, dass über 80% der Treibhausgasemissionen aus Kohlendioxid bestehen und andere Treibhausgase noch Überwachungs- und Nachweisprobleme bereiten.

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VIII. Immissionsschutzrecht – 5. Kapitel

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menge und die Ausgestaltung der Zuteilungsregeln für die sog Phase III (2012–2020) europäisiert.657

b) TEHG 2011, Zuteilung von Berechtigungen Der Umsetzung der RL dient das Gesetz über den Handel mit Berechtigungen zur Emission von 300 Treibhausgasen (Treibhausgasemissionshandelgesetz – TEHG).658 Das TEHG regelt insbesondere die Genehmigung und Überwachung von Emissionen (§§ 4–6 TEHG), das System der Berechtigungen und ihrer Zuteilung einschließlich des Emissionshandelsregisters (§§ 7–18 TEHG), die Zuständigkeiten und sonstige formellrechtliche Fragen (§§ 19–28 TEHG) sowie Sanktionen (§§ 29–32 TEHG). Besonders bedeutsam ist § 7 I TEHG; danach hat der Betreiber bis zum 30. April eines Jahres eine Anzahl von Berechtigungen an die zuständige Behörde abzugeben, die den durch seine Tätigkeit im vorangegangenen Kalenderjahr verursachten Emissionen entspricht. Mit Beginn der Zuteilungsphase III (2013–2020)659 werden die Berechtigungen nach § 8 I TEGH versteigert bzw kostenlos zugeteilt, wenn ein Antrag nach § 9 II TEHG gestellt wurde. Einzelheiten der Zuteilung sind europarechtlich vorgegeben660 und im Übrigen geregelt in der VO über die Zuteilung von Treibhausgas-Emissionsberechtigungen in der Handelsperiode 2013 bis 2020 (Zuteilungsverordung 2020 – ZuV 2020),661 die auf Grundlage ua des § 10 TEHG erlassene wurde.662 Der Umfang kostenlos zugeteilter Berechtigungen richtet sich nach einem komplexen Berechnungsmodell, dass das bisherige „produktionsbezogene Auslastungsniveau“ einer konkreten Anlage mit einem gesetzlich definierten „produktbezogenen Benchmark“ multipliziert. Dieser Benchmark richtet sich nach den effizientesten 10 % der Anlagen eines Sektors.663 Damit wird Betreibern ineffizienter Anlagen der Ankauf von weiteren Zertifikaten notwendig. Verbunden mit der gezielten Verknappung der europaweiten Zertifikatsmenge soll so ein Anreiz zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes gesetzt werden.664 Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Zuteilungsentscheidungen, die Verwaltungsakte iSd § 35 S 1 VwVfG darstellen, haben keine aufschiebende Wirkung (§ 12 TEHG). Nach § 17 TEHG werden Emissionsberechtigungen in einem Emissionshandelsregister 301 gehalten und übertragen. Aus §§ 7 III, 17 TEHG folgt darüber hinaus, dass Berechtigungen gehandelt werden können. Die Verwaltung der Emissionsberechtigungen lief bisher über die beim Umweltbundesamt angesiedelte Deutsche Emissionshandelsstelle (DEHSt).665 Nach Art 19 I der RL 2003/87/EG sind die ab dem 1.1.2012 vergebenen Zertifikate nunmehr in einem Gemeinschaftsregister zu führen. Rechtsgrundlage für das Unionsregister ist ab 1. Januar 2013 Art 4 der VO 1193/2011/EU zur Festlegung eines Unionsregisters.666

_____ 657 Näher Hartmann ZUR 2011, 246 ff. 658 Vom 21.7.2011 (BGBl I 1475), zul geänd d G v 22.12.2011 (BGBl I 3044). 659 Von 2008 bis 2012 erfolgte die Zuteilung nach § 9 TEHG aF iVm den Zuteilungsregeln des Gesetzes über den nationalen Zuteilungsplan für Treibhausgas-Emissionsberechtigungen in der Zuteilungsperiode 2008 bis 2012 (Zuteilungsgesetz 2012) v 7.8.2007 (BGBl I 1788), zul geänd d G v 22.12.2011 (BGBl I 3044); es bestand nach diesen Regelungen ein Anspruch auf Zuteilung von Berechtigungen; hierzu o Rn 147 ff; Kloepfer UmweltschutzR § 10 Rn 30 ff; Erbguth/Schlacke UmwR § 16 Rn 36. 660 Instruktiv hierzu Spieth/Hamer NVwZ 2011, 920 ff. 661 Vom 26.9.2011 (BGBl I 1921). 662 Ausf zu Zuteilung, Auktionierung und Transfer von Emissionszertifikaten Hartmann ZUR 2011, 246 ff. 663 Ausf Spieth/Hamer NVwZ 2011, 920, 921 f. 664 Erbguth/Schlacke UmwR § 16 Rn 36. 665 Vgl hierzu Erbguth/Schlacke UmwR § 16 Rn 37. 666 Vom 18.11.2011 (ABlEU L 315/1).

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

IX. Atom- und Strahlenschutzrecht 5. Kapitel – Umweltschutzrecht IX. Atom- und Strahlenschutzrecht – 5. Kapitel

1. Allgemeines 302 Im Zentrum des Atom- und Strahlenschutzrechts steht das Atomgesetz.667 Dessen Inhalt ist im Wesentlichen auf das Kernenergierecht beschränkt. Unmittelbar regelt das Atomgesetz lediglich die Verwendung von Kernbrennstoffen. Seine Zweckbestimmung geht nunmehr dahin, „die Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität geordnet zu beenden und bis zum Zeitpunkt der Beendigung den geordneten Betrieb sicherzustellen“ (§ 1 Nr 1 AtomG).668 Als weitere Gesetzeszwecke ist insbesondere der Schutz von Leben, Gesundheit und Sachgütern vor den Gefahren der Kernenergie nach § 1 Nr 2 AtomG zu nennen. Hinsichtlich der Verwendung von sonstigen radioaktiven Stoffen (§ 2 III) begnügt das Atomgesetz sich mit Verordnungsermächtigungen.669 Es umfasst verwaltungsrechtliche Überwachungsvorschriften (§§ 3–21b AtomG), Vorschriften über die verwaltungsbehördlichen Zuständigkeiten (§§ 22–24b AtomG) und privatrechtliche Haftungsvorschriften (§§ 25–40 AtomG). Gewiss hat das Feld des Kernenergierechts unter den Aspekten des Umweltschutzes und der technischen Sicherheit sowie unter allgemeinen staats-, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Aspekten eine besondere Brisanz.670 Die geltenden Rechtsverordnungen des Atom- und Strahlenschutzrechts greifen jedoch über dieses Feld hinaus. 303 So enthält die StrahlenschutzVO,671 auf die Ermächtigungen des Atomgesetzes gestützt, in den Überwachungsvorschriften (§§ 7 ff) teils ergänzende und modifizierende Regelungen über die Verwendung von Kernbrennstoffen, teils originäre Regelungen über die Verwendung sonstiger radioaktiver Stoffe. Die Schutzvorschriften der StrahlenschutzVO gelten für den gesamten Bereich der Verwendung radioaktiver Stoffe. Nicht anwendbar sind sie auf die Errichtung und den Betrieb von Röntgeneinrichtungen und Störstrahlern (§ 2 II Nr 3 StrlSchV). Für die letzteren Einrichtungen gilt die gleichfalls auf das Atomgesetz gestützte RöntgenVO.672 Als bloße Durchführungsverordnungen zum Atomgesetz fungieren demgegenüber die Atomrechtliche VerfahrensVO,673 die das Verfahren der Anlagengenehmigung nach § 7 AtomG regelt, die Atomrechtliche Deckungsvorsorge-VO,674 die Atomrechtliche KostenVO675 und die Atomrechtliche Sicherheitsbeauftragten- und MeldeVO.676 Über den Regelungsbereich der Kernenergie und der Verwendung radioaktiver Stoffe geht das nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl erlassene Strahlenschutzvorsorgegesetz677 hinaus, indem es die Bundes- und Landesbehörden in umfassender Weise zur Überwachung der Umweltradioaktivität sowie zu Maßnahmen ermächtigt, durch die bei „nuklearen Ereignissen“ die Strahlenexposition des Menschen und die radioaktive Kontamination der Umwelt so gering

_____ 667 IdF v 15.7.1985 (BGBl I 1565), zul geänd d G v 24.2.2012 (BGBl I 212). 668 Mit dem Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität v 22.4.2002 (BGBl I 1351) – Atomrechtsnovelle 2002 – wurde der Förderungszweck (§ 1 Nr 1 AtomG aF) durch den Beendigungszweck ersetzt, vgl John/Jankowski in: Koch, UmwR, § 10 Rn 49. 669 Regelungen finden sich etwa in der Strahlenschutzverordnung und in der Röntgenverordnung, vgl Junker in: Danner/Theobald, Energierecht, 73. Aufl 2012, V/B3 Rn 12. 670 Vgl etwa den Bericht der Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik“, BT-Drs 8/4341; Roßnagel Radioaktiver Zerfall der Grundrechte?, 1984; zur verfassungsrechtlichen Kontroverse um den ersten „Ausstieg“ einerseits die Einwände bei Ossenbühl AöR 124 (1999) 1 ff; andererseits den gesetzl Ausstieg unterstützend Koch/Roßnagel NVwZ 2000, 1 ff; zu den jüngsten Novellen nur den Überblick bei Sellner NVwZ 2011, 1025ff. 671 VO v 20.7.2001 (BGBl I 1714, ber 2002 I 1459), zul geänd d G v 24.2.2012 (BGBl I 212). 672 IdF v 30.4.2003 (BGBl I 605) zul geänd d VO v 4.10.2011 (BGBl I 2000); zur Novellierung der Röntgenverordnung im Jahre 2003 Wagner NVwZ 2002, 1426 ff. 673 IdF v 3.2.1995 (BGBl I 180), zul geänd d G v 9.12.2006 (BGBl I 2819, ber 2007 I 195). 674 Vom 25.1.1977 (BGBl I 220), zul geänd d G v 23.11.2007 (BGBl I 2631). 675 Vom 17.12.1981 (BGBl I 1457), zul geänd d G v 29.8.2008 (BGBl I 1793). 676 Vom 14.10.1992 (BGBl I 1766), zul geänd d VO v 8.6.2010 (BGBl I 755). 677 Vom 19.12.1986 (BGBl I 2610), zul geänd d G v 8.4.2008 (BGBl I 686).

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wie möglich gehalten werden soll. Durch Gesetz vom 9.10.1989678 ist das Bundesamt für Strahlenschutz als selbständige Bundesoberbehörde errichtet worden. Die Überwachungsvorschriften des Atomgesetzes und der StrahlenschutzVO sind der Sitz 304 der genehmigungsbedürftigen Tatbestände (§§ 3–9 AtomG, §§ 7–29 StrlSchVO). Die Genehmigungsvoraussetzungen bestehen – ungeachtet unterschiedlicher Details – in den durchweg wiederkehrenden Erfordernissen der Zuverlässigkeit, der Fachkunde und hinreichender Kenntnisse, der Schadensvorsorge, der Deckungsvorsorge, des Schutzes gegen Einwirkungen Dritter sowie der Umweltverträglichkeit.679 Abgesehen vom Vorbehalt der Genehmigungen nach den §§ 7 und 9 AtomG, handelt es sich hierbei um präventive gesetzliche Verbote unter dem Vorbehalt einer administrativen, rechtlich gebundenen Unbedenklichkeitserklärung.680

2. Die atomrechtliche Anlagengenehmigung a) Grundlagen und Entwicklung Die Anlagengenehmigung nach § 7 AtomG stellt sich als hoheitliches Regulierungsinstrument dar, 305 dessen Rechtsgrundlage nach dem traditionellen Verständnis auf der Grenze zwischen einem präventiven und einem repressiven Verbot steht.681 Ausgehend von den Genehmigungsvoraussetzungen und dem hinzutretenden Versagungsermessen besteht jedenfalls kein Anspruch auf Erteilung einer Anlagengenehmigung.682 Dieser Genehmigungsvorbehalt ist allerdings seit dem Atomausstiegsgesetz vom 22.4.2002 zu einem auslaufenden Rechtsinstitut geworden.683 Zum einen werden für die Errichtung und den Betrieb von Kernkraftwerken keine (neuen) Genehmigungen mehr erteilt (§ 7 I 2 AtomG). In Betracht kommen diesbezüglich allerdings noch Genehmigungen für wesentliche Veränderungen von Kernkraftwerken oder ihres Betriebs (§ 7 I 3 AtomG). Zum anderen wurden die vorgefundenen, unbefristet erteilten Anlagengenehmigungen kraft Gesetzes befristet. Dabei hat der Gesetzgeber eine Regellaufzeit von 32 Jahren zugrunde gelegt und daraus für jedes einzelne Kernkraftwerk Restlaufzeiten und Reststrommengen errechnet (Anlage 3). Mit dem 11. Gesetz zur Änderung des AtomG vom 8.12.2010684 wurde diese Regellaufzeit um durchschnittlich 12 Jahre verlängert. Das nach der Katastrophe von Fukushima beschlossene 13. Gesetz zur Änderung des AtomG685 revidierte diese Laufzeitverlängerung und legte zudem Termine für das Erlöschen bestehender Betriebsgenehmigungen fest, die unabhängig vom Ausschöpfen der zugestandenen Reststrommenge greifen.686 Die Berechtigung zum

_____

678 BGBl I 1830, zul geänd d G v 3.5.2000 (BGBl I 636). 679 Vgl Winters Atom- und Strahlenschutzrecht, 1978, 18; zu § 7 II Kloepfer UmweltschutzR § 9 Rn 25. 680 Vgl Fischerhof Dt AtomG und Strahlenschutzrecht, Bd I, 2. Aufl 1978, Einf Rn 13, Vorbem vor § 3 Rn 1; zur Terminologie o Rn 72 ff. 681 Vgl zur Differenzierung der Kritik daran o Rn 81 ff; o Huber 3. Kap Rn 218 ff; von einem besonders ausgestalteten präventivem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt spricht Kloepfer UmwR § 15 Rn 63. 682 Die atomrechtliche Anlagengenehmigung hat dem BVerfG zudem Gelegenheit gegeben, den Gesetzesvorbehalt und die erforderliche Bestimmtheit des Gesetzes sowie positive grundrechtliche Schutzpflichten des Staates auf dem Gebiet des Umweltschutzes zu präzisieren, BVerfGE 49, 89; E 53, 30; Kloepfer UmwR § 15 Rn 34 ff, 63 ff mwN; vgl o Rn 45 ff. 683 Amtl Begründung, BT-Drs 14/6890; Schmidt-Preuß in: Koch/Roßnagel, 10. Dt AtomR-Symposium, 2000, 153 ff; vgl zu den Modifikationen durch das 11. und 13. AtGÄndG nachfolgend; zur verfassungsrechtlichen Kontroverse Denninger Verfassungsrechtliche Fragen des Ausstiegs aus der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung, 2000; Di Fabio Der Ausstieg aus der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie, 1999; Ossenbühl AöR 124 (1999) 1–54; Roßnagel/Roller Die Beendigung der Kernenergienutzung durch Gesetz, 1998; zu Folgefragen der Restlaufzeiten und Strommengenregelungen Böwing und Huber in: Ossenbühl, Deutscher Atomrechtstag 2002, 2003, 131 ff, 147 ff. 684 BGBl I 1814; am selben Tag wurde auch das 12. Gesetz zur Änderung des AtomG verabschiedet (BGBl I 1817); insbes zum neu eingefügten § 7d Ziehm ZUR 2011, 3 ff. 685 Vom 31.7.2011 (BGBl I 1740). 686 Ausf hierzu Kloepfer UmweltschutzR § 9 Rn 5 ff; zum Stand vor dem 11. AtG ÄndG John/Jankowski in: Koch, UmwR, § 10 Rn 10 ff, 49 ff; zu verfassungsrechtlichen Fragen insbes im Zusammenhang mit der Kernbrennstoffsteuer Martini ZUR 2012, 219 ff.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

Leistungsbetrieb einer Anlage erlischt folglich, wenn die aufgeführte Reststrommenge produziert ist (§ 7 Ia AtomG), spätestens jedoch zu dem in § 7 Ia 1 Nr 1–6 AtomG für das jeweilige Kernkraftwerk festgelegten Termin. Übertragungen einer Reststrommenge von einer Anlage auf eine andere sind möglich, allerdings grundsätzlich nur von einer älteren auf eine jüngere Anlage (§ 7 Ib 1 AtomG).687 Da die gesetzliche Regelung der atomrechtlichen Anlagengenehmigung in Bundesauftragsverwaltung vollzogen wird (Art 87c GG, § 24 AtomG), hat der technologische, energiewirtschaftliche und rechtliche Dissens über die Kernenergie zu bundesstaatlichen Kompetenzkonflikten und wiederholten Verfassungsstreitigkeiten geführt.688

b) Genehmigungsvoraussetzungen 306 Unter den Voraussetzungen für die Erteilung der atomrechtlichen Anlagengenehmigung interessieren aus der Perspektive des Umweltschutzes insbesondere, dass die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen sein muss (§ 7 II Nr 3 AtomG) und überwiegende öffentliche Interessen, insbesondere im Hinblick auf die Umwelteinwirkungen, der Wahl des Standorts der Anlage nicht entgegenstehen dürfen (§ 7 II Nr 6 AtomG). § 7 II Nr 3 AtomG umschließt die Gebote der unabdingbaren Gefahrenabwehr und der vor307 gelagerten Risikovorsorge. Die erforderliche „Schadensvorsorge“ unterscheidet sich gerade in ihrer gesteigerten Strenge von den Voraussetzungen, die bei der Anlagengenehmigung in anderen Rechtsbereichen erfüllt sein müssen. Eine Schadensvorsorge nach dem Stand von Wissenschaft und Technik hat stets die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft zu berücksichtigen. Ein „Restrisiko“ kann als „sozialadäquate Last“ nur dann hingenommen werden, wenn ein Schadensereignis nach den Maßstäben „praktischer Vernunft“ ausgeschlossen ist.689 Ist die Umsetzung dieses dynamischen Maßstabes bloß technisch unmöglich, muss die Genehmigung versagt werden.690 Die Genehmigungsbehörde hat nach § 7 II Nr 3 AtomG das konkrete Vorliegen generell-abstrakter Voraussetzungen zu prüfen.691 Das gleiche gilt für das ergänzende strahlenschutzrechtliche Minimierungsgebot (§ 6 StrlSchVO), in dem das Gebot der Risikovorsorge ebenfalls Niederschlag gefunden hat.692 Im Gegensatz zu den Dosisgrenzwerten der StrahlenschutzVO und zu der Grundnorm des § 7 II Nr 3 AtomG entbehrt das Minimierungsgebot der nachbarschützenden Wirkung.693

_____ 687 Mit Zustimmung des Bundesministeriums für Umwelt und Reaktorsicherheit ist eine Übertragung auch von jüngeren auf ältere Anlagen möglich, § 7 Ib 2; dazu Kloepfer DVBl 2009, 340; vgl zur Sonderregelung des § 7 Id AtomG für das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich BVerwG NVwZ 2009, 921; Kloepfer UmweltschutzR § 9 Rn 36; ausf zum Stand vor dem 11. AtG ÄndG John/Jankowski in: Koch, UmwR, § 10 Rn 74 ff. 688 BVerfGE 81, 310; E 84, 25; E 104, 238; zum Ganzen Ossenbühl und Hermes in: Ossenbühl, Deutscher Atomrechtstag 2002, 2003, 49 ff, 61 ff; J. Ipsen DVBl 2006, 585 ff; zur umstrittenen Frage der Zustimmungsbedürftigkeit des 11. AtGÄndG Papier NVwZ 2010, 1113 ff; Roßnagel/Hentschel UPR 2011, 1 ff; zur Zuständigkeit des Bundes bei der Elektrizitätsmengenübertragung Kloepfer DVBl 2007, 1189, 1199. 689 Vgl dazu auch o Rn 58, 255; BVerfGE 49, 89, 143; NdsOVG DVBl 2006, 1044, 1051 f; krit insgesamt Kastendieck Der Begriff der praktischen Vernunft in der juristischen Argumentation, 2000. 690 BVerfGE 49, 89, 133 ff; E 53, 50, 59; BVerwGE 78, 177 ff; Kloepfer UmweltschutzR § 9 Rn 26. 691 Zur Unbestimmtheit der Regelung u Rn 308; zu Konkretisierungen mittels (Dosis-)Grenzwerten der StrlSchV Kloepfer UmweltschutzR § 9 Rn 26; allg zu den Problemen naturwissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse Breuer NVwZ 1990, 211, 215 ff; zu den Risiken der Kernenergienutzung John/Jankowski in: Koch, UmwR, § 10 Rn 61 ff; zur richterlichen Sachaufklärung Czajka DÖV 1982, 99 ff. 692 Probleme bereitet diese Vorschrift vor dem Hintergrund der gebotenen Rechtssicherheit, vgl zu §§ 28 I, 46 I Nr 2 StrlSchV aF: NdsOVG DVBl 1977, 340, 342; DVBl 1978, 67, 69 f; Breuer DVBl 1978, 609 f; Rauschning VVDStRL 38 (1980) 197 f; einschränkend Schattke DVBl 1979, 652 ff. 693 BVerwGE 61, 256, 267 f; Kloepfer UmwR § 15 Rn 161; aA zum Minimierungsgebot OVG NW ET 1975, 220; NdsOVG DVBl 1978, 67, 69.

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IX. Atom- und Strahlenschutzrecht – 5. Kapitel

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In seinem Wyhl-Urteil694 leitete das BVerwG aus der nach § 7 II Nr 3 AtomG gebotenen Scha- 308 densvorsorge neben einer – polizeirechtlich verstandenen – Gefahrenabwehrpflicht auch eine gefahrenunabhängige Risikovorsorgepflicht ab. Demnach sind auch Schadensmöglichkeiten in Betracht zu ziehen, für die mangels naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ein (bloßes) Besorgnispotential besteht.695 Darüber hinaus trägt die Exekutive die Verantwortung für die Risikoermittlung und -bewertung, wobei sie die Wissenschaft zu Rate zu ziehen hat. Daraus folgert das BVerwG einen Beurteilungsspielraum mit nur eingeschränkter gerichtlicher Kontrolldichte bei der Wertung wissenschaftlicher Streitfragen einschließlich der daraus folgenden Risikoabschätzung. Die Exekutive verfügt demnach über eine „sachverständigen Kompetenz zur Risikoabschätzung und Risikostandardisierung“.696 Ihr stehen gegenüber der Legislative und den Gerichten rechtliche Handlungsformen zur Verfügung, mit denen sie für die Verwirklichung des Grundsatzes bestmöglicher Gefahrenabwehr und Risikovorsorge iS eines dynamischen Grundrechtsschutzes sehr viel besser gerüstet sei.697 Ein rechtserhebliches Ermittlungs- oder Bewertungsdefizit liegt nur vor, wenn die zuständige Verwaltungsbehörde ihre spezifischen Handlungs- und Erkenntnismittel nicht oder ersichtlich fehlerhaft genutzt hat. Begründet wird dieser administrative Beurteilungsspielraum unter Rückgriff auf die Figur des „administrativen Standardisierungsspielraums“.698 Soweit keine generellen Standards etwa in Form von Verwaltungsvorschriften699 vorliegen, kann die Genehmigungsbehörde bei der Einzelfallentscheidung über die Erteilung einer Anlagengenehmigung zur Ermittlung des Standes von Wissenschaft und Technik (iSd § 7 II Nr 3 AtomG) auf technische Regeln sachverständiger Gremien (zB der Reaktorsicherheitskommission oder des Kerntechnischen Ausschusses) zurückgreifen, sofern kein Anhalt für Zweifel an den zugrundeliegenden Annahmen der Regelwerke besteht.700 Die Genehmigungsvoraussetzung des § 7 II Nr 6 AtomG steht mit derjenigen des § 7 II Nr 3 309 AtomG in einem wechselbezüglichen Zusammenhang.701 § 7 II Nr 6 AtomG bezieht sich nur auf die umweltspezifischen Auswirkungen der Atomanlage und zwingt weder zur Wahl eines optima-

_____ 694 BVerwGE 72, 300, 315 ff; bestätigend BVerwGE 78, 177, 189 f; E 80, 207, 217, 221 f; E 81, 185, 192; BVerwG NVwZ 1989, 864 ff; BVerwGE 85, 368, 379; E 106, 115 ff; zum Ganzen Breuer NVwZ 1988, 104, 108 ff; NVwZ 1990, 211, 222; ähnlich Jarass NJW 1987, 1228; Cloosters in: Ossenbühl, Dt Atomrechtstag 2000, 2001, 39, 51 f. 695 BVerwGE 72, 300 (315). 696 John/Jankowski in: Koch, UmwR, § 10 Rn 63 mit Verweis auf BVerwG UPR 1989, 439, 440; krit zum Beurteilungsspielraum der Exekutive Di Fabio Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, 270 (289); vgl o Rn 189 ff. 697 BVerfGE 49, 89, 133 f, 137; Kloepfer UmwR § 15 Rn 69; dazu auch o Rn 75 ff. 698 Der gesetzliche Maßstab des Standes von Wissenschaft und Technik verweist auf einen naturwissenschaftlichtechnischen, also fortschreitenden Erkenntnisspielraum; daran ist ein administrativer Standardisierungsspielraum geknüpft. Dieser setzt die einzuholenden naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnisse als Entscheidungsbasis voraus. Er gestattet nur die Modifikation der Genehmigungspraxis bei verbleibenden Erkenntnislücken und Bewertungsunterschieden, bei verfassungsrechtlich gebotener „Bereinigung“ (insbes aufgrund der Verhältnismäßigkeit) oder bei notwendigen Pauschalierungen und sonstigen Vereinfachungen; so Breuer NVwZ 1988, 104, 112 ff; in der Lit wird dagegen betont, dass mit dem Beurteilungsspielraum gestiegene Anforderungen an die behördliche Sachverhaltsermittlung, Beteiligung von Sachverstand, Dokumentation der wissenschaftlichen Daten und Quellen und Begründung einher gehen; zudem sei die Einhaltung verfahrensrechtlicher Anforderungen gerichtlich überprüfbar; Di Fabio Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, 270, 289; vgl zu Beurteilungsspielräumen im Umweltrecht o Rn 190. 699 Als normkonkretisierende und damit für die Gerichte bindende Verwaltungsvorschrift charakterisiert das BVerwG die RL über die „Allgemeine Berechnungsgrundlage für Strahlenexposition bei radioaktiven Ableitungen mit der Abluft oder in Oberflächengewässer“ zu § 45 StrlSchV v 15.8.1979; BVerwGE 72, 300, 320; vgl dazu auch Kloepfer UmwR § 15 Rn 167. 700 Die Verwertbarkeit solcher Regelwerke wird nicht schon dadurch in Frage gestellt, dass den betreffenden Gremien keine Vertreter von gesellschaftlichen Gruppen angehören, die gegenüber der Nutzung der Kernenergie grundsätzlich kritisch eingestellt sind; dazu BVerwG ZUR 1994, 32 m krit Anm von Winter. 701 Eine Befugnis zur Raum- oder Umweltplanung der Behörde folgt daraus nicht; vgl zum wechselseitigen Zusammenhang mit § 7 II Nr 3 AtomG OVG NW ET 1975, 220, 222; Ronellenfitsch Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, 285 ff; Haedrich AtomG, 1986, § 7 Rn 118 ff.

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len Standorts noch zur Prüfung von Standortalternativen. Beurteilungsgrundlage für dieses Kriterium stellt die umfassende Prüfung der Umweltauswirkungen dem UVPG entsprechend dar.702 Die Anlagengenehmigung ist zu versagen, wenn der vorgesehene Standort ungeeignet ist, weil seiner Wahl unter umweltspezifischen Gesichtspunkten überwiegende öffentliche Interessen des Umweltschutzes entgegenstehen.703 Eine Optimierung der Standortwahl sowie eine Prüfung von Standortalternativen sind hingegen mit den Instrumenten der systematisch vorgelagerten Raumplanung möglich.704 § 7d AtomG fordert ferner, dass der Inhaber einer Genehmigung entsprechend dem fort310 schreitenden Stand von Wissenschaft und Technik dafür zu sorgen hat, dass die Sicherheitsvorkehrungen verwirklicht werden, die jeweils entwickelt, geeignet und angemessen sind, um zusätzlich zu den Anforderungen des § 7 II Nr 3 AtomG einen nicht nur geringfügigen Beitrag zur weiteren Vorsorge gegen Risiken für die Allgemeinheit zu leisten. Mit dieser neuen Vorsorgevorschrift sollten, nicht zuletzt mit Blick auf die Gefahren terroristischer Angriffe, dynamische Betreiberpflichten verankert werden. Es ist jedoch unklar, welche zusätzliche Vorsorge die Vorschrift gegenüber§ 7 II Nr 3 AtomG beinhaltet und ob sie nicht letztlich zu einer Reduzierung des Schutzniveaus führt.705

c) Versagungsermessen 311 Die Genehmigung einer Anlage, die sämtliche rechtsbegriffliche Voraussetzungen des § 7 II AtomG erfüllt, darf aufgrund des Versagungsermessens nur zur Wahrung eines in § 1 Nr 1–4 AtomG geregelten Schutzzwecks abgelehnt werden.706 Die Versagung einer atomrechtlichen Anlagengenehmigung für zulässig gebliebene Vorhaben ungeachtet der Erfüllung aller Voraussetzungen des § 7 II AtomG unter Berufung lediglich auf den Ordnungs- und Sicherstellungszweck des § 1 Nr 1 AtomG erscheint allerdings fragwürdig.707 Umstritten ist, ob die Sicherstellung der nuklearen Entsorgung zu den Voraussetzungen 312 der Anlagengenehmigung nach § 7 II Nr 3 AtomG gehört708 oder lediglich für die Ausübung des Versagungsermessens bei der Entscheidung über die Anlagengenehmigung bedeutsam ist.709 Die Schadensvorsorge nach § 7 II Nr 3 AtomG bezieht sich auf das anlagenimmanente Risikopotential. Hierzu gehören der Anfall und der eventuelle Verbleib radioaktiver Reststoffe oder Abfälle in der betreffenden Anlage, zB in einem Kernkraftwerk. Dieses Gebot ist dann erfüllt, wenn irgendeine geeignete Maßnahme der anlagenexternen Verbringung radioaktiver Reststoffe oder Abfälle oder eine den Anforderungen der Gefahrenabwehr und Risikovorsorge genügende anlageninterne Zwischenlagerung (Kompaktlagerung) gewährleistet ist.710 Das verbleibende anla-

_____ 702 Vgl § 1a AtVfV; zu den Anforderungen nach dem UVPG o Rn 91 ff. 703 In der Rspr zB OVG RP ET 1976, 539, 546; VG Würzburg NJW 1977, 1649 ff; vgl auch Degenhart Kernenergierecht, 1981, 57 ff. 704 Vgl Breuer in: 7. Dt AtomR-Symposium, 1983, 153 ff; zur Standortvorsorgeplanung Hoppe VVDStRL 38 (1980) 295 ff; ferner Degenhart Kernenergierecht, 1981, 123 ff; Haedrich AtomG, 1986, § 7 Rn 119, 124. 705 Vgl Ziehm ZUR 2011, 3 ff; Roller NVwZ 2011, 1431 ff. 706 Es besteht folglich anders als bei der immissionsschutzrechtlichen Anlagengenehmigung kein Anspruch auf Genehmigungserteilung, wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind; vgl Haedrich AtomG, 1986, § 7 Rn 47; Kloepfer UmwR § 15 Rn 64; das Ermessen stärker einschränkend Ronellenfitsch Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, 356 f. 707 Abl Kühne DVBl 2003, 1361. 708 So NdsOVG DVBl 1978, 67, 71 ff; VG Schleswig NJW 1977, 644 f; wohl auch VG Freiburg NJW 1977, 1645, 1649. 709 So VGH BW NJW 1979, 2528; VG Karlsruhe DVBl 1978, 856, 859; VG Schleswig NJW 1980, 1296, 1300 f; Lukes/ Dauk ET 1979, 667 ff; Wagner/Ziegler DVBl 1980, 142 ff. 710 Vgl dazu die Regelung in § 9a Ia-Id AtomG (Entsorgungsvorsorgenachweis); krit Breuer in: Ossenbühl, Dt Atomrechtstag 2002, 2003, 107 ff.

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IX. Atom- und Strahlenschutzrecht – 5. Kapitel

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gentranszendente Risikopotential kann aber für die Ausübung des Versagungsermessens nach § 7 II AtomG bedeutsam werden.711

d) Änderungsgenehmigung Mit der nach wie vor zulässigen atomrechtlichen Änderungsgenehmigung gem § 7 I 3 AtomG712 313 werden sicherheitsverbessernde Nachrüstungsmaßnahmen ermöglicht.713 Damit leben bei Anlagenänderungen Zweifelsfragen des früheren Rechts714 wieder auf. Von einer wesentlichen Veränderung kann dann gesprochen werden, wenn vom genehmigten Anlagenbestand oder -betrieb derart abgewichen wird, dass nicht nur offensichtlich unerhebliche Konsequenzen für das Sicherheitsniveau daraus folgen.715

e) Genehmigungsverfahren Das Verfahren der atomrechtlichen Anlagengenehmigung entspricht im Wesentlichen dem Ver- 314 fahren der Anlagengenehmigung nach den §§ 4 ff BImSchG.716 Dies gilt insbesondere für die Stufung des Verfahrens durch Vorbescheid und Teilgenehmigungen (§§ 7a, 7b AtomG)717 sowie für die Förmlichkeit, Publizität und Öffentlichkeitsbeteiligung (§ 7 IV AtomG iVm §§ 4 ff AtVfV). Die materielle Präklusion nicht fristgerecht erhobener Einwendungen (§ 7 I 2 AtVfV, § 7b AtomG) ist mit Art 19 IV GG und den Grundrechten vereinbar.718 Allerdings kann ein Standortvorbescheid nach § 7a AtomG – trotz nachfolgender, unanfechtbarer Teilerrichtungsgenehmigung – von einem Dritten mit der substantiierten Behauptung angefochten werden, dass ihm gegenüber an dem gewählten Standort die erforderliche Schadensvorsorge nicht gewährleistet sei.719 Aufgrund ihrer nur beschränkten Konzentrationswirkung (vgl § 8 II AtomG) ist die atomrechtliche Anlagengenehmigung mit parallelen, kompetenziell abzugrenzenden Gestattungsverfahren anderer Sachbereiche gekoppelt.720

3. Radioaktive Reststoffe und Abfälle § 9a AtomG begründet lückenlose Pflichten zur Entsorgung von radioaktiven Reststoffen so- 315 wie ausgebauten oder abgebauten radioaktiven Anlagenteilen. Diese Pflichten obliegen zunächst jedem, der Anlagen, in denen mit Kernbrennstoffen umgegangen wird, errichtet, be-

_____ 711 Breuer VerwArch 72 (1981) 261, 273 ff; von dieser Warte aus argumentiert offenbar auch das BVerwG, wenn es verfassungsrechtliche Bedenken „wegen mangelnder Erhebung der Entsorgungssicherheit zur Genehmigungsvoraussetzung“ zurückweist; BVerwG ZUR 1994, 32 f m krit Anm v Winter 24 f. 712 Vgl o Rn 305. 713 Vgl zum aufgehobenen § 7 II 2 AtomG idF von 1998, der sicherheitsverbessernde Nachrüstungsmaßnahmen unter erleichterten Voraussetzungen ermöglichte, Schmidt-Preuß NVwZ 1998, 553 ff. 714 Vgl dazu BVerwGE 88, 286; zum Ganzen Ossenbühl Bestandsschutz und Nachrüstung von Kernkraftwerken, 1994; Raetzke Die Veränderungsgenehmigung für Kernkraftwerke, 2001. 715 BVerwG NVwZ 1997, 161, 162; John/Jankowski in: Koch, UmwR, § 10 Rn 72. 716 Vgl o Rn 269 ff; auch Kloepfer UmweltschutzR § 9 Rn 31 f. 717 Vgl dazu BVerwGE 70, 365, 372 f (Konzeptvorbescheid); E 80, 207; Breuer Genehmigungsverfahren Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich, Rechtsgutachten, 1989; Gerhardt DVBl 1989, 125, 132 ff. 718 Vgl (noch zu § 3 I AtAnlV) BVerfGE 61, 82, 109 ff o JK GG Art 19 III/3; BVerwGE 60, 297. 719 Eine solche Klage wird gerade nicht dadurch unzulässig, dass der Kläger die nachfolgenden Teilerrichtungsgenehmigungen hat unanfechtbar werden lassen; BVerwG DVBl 1982, 960; vgl auch BVerwGE 80, 207 (Anfechtung einer ersten Teilerrichtungsgenehmigung) und E 106, 115 (Mülheim-Kärlich, „Erste Teilgenehmigung Neu“). 720 Vgl zum Meinungsstand BVerwG DÖV 1980, 178 m Anm v Krause 522; BVerwG DVBl 1988, 489 f (Bestimmungen über Radioaktivitätsabgaben in einer wasserrechtlichen Erlaubnis); NdsOVG DVBl 1983, 184; Kloepfer UmweltschutzR § 9 Rn 34.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

treibt, sonst innehat, wesentlich verändert, stilllegt oder beseitigt, außerhalb solcher Anlagen mit radioaktiven Stoffen umgeht oder Anlagen zur Erzeugung ionisierender Strahlen betreibt. Diese Personen haben dafür zu sorgen, dass die fraglichen Reststoffe und Anlagenteile schadlos verwertet oder als radioaktive Abfälle geordnet beseitigt werden (§ 9a I 1 AtomG). Die Abgabe von bestrahlten, aus dem Betrieb von Kernkraftwerken stammenden Kernbrennstoffen zur schadlosen Verwertung an eine Wiederaufarbeitungsanlage ist seit dem 1. Juli 2005 unzulässig (§ 9a I 2 AtomG).721 Der Betreiber eines Kernkraftwerks hat nunmehr dafür zu sorgen, dass ein genehmigungsbedürftiges (§ 6 I, III AtomG) „standortnahes Zwischenlager“ innerhalb des abgeschlossenen Geländes der Anlage oder in deren Nähe errichtet wird und die anfallenden bestrahlten Kernbrennstoffe bis zu deren Ablieferung an eine Anlage zur Endlagerung radioaktiver Abfälle dort aufbewahrt werden (§ 9a II 3 AtomG).722 Demgegenüber fällt die Einrichtung von Landessammelstellen durch die Länder sowie von Anlagen zur Sicherstellung und zur Endlagerung radioaktiver Abfälle, dem Risikopotential entsprechend, grundsätzlich in staatliche Eigenregie (§ 9a III 1 AtomG).723 Der Staat kann sich hier eines Dritten als „Erfüllungsgehilfen“ bedienen (§ 9a III 2 AtomG). Darüber hinaus sieht das Gesetz eine Beleihung vor: Der Bund kann zur Erfüllung seiner Pflicht die Wahrnehmung seiner Aufgaben ganz oder teilweise auf Dritte übertragen, wenn sie Gewähr für die ordnungsgemäße Erfüllung der übertragenen Aufgaben bieten (§ 9a III 3 AtomG).724 Wer radioaktive Abfälle besitzt, hat sie kostenpflichtig an eine Anlage nach § 9a III AtomG abzuliefern (§§ 9a II 1, 21a I AtomG). Anlagen des Bundes zur Sicherstellung und zur Endlagerung radioaktiver Abfälle bedürfen ei316 ner Planfeststellung, die in einem förmlichen Verfahren ergeht und eine Konzentrationswirkung ausübt (§ 9b AtomG). Die Konzentrationswirkung ist lediglich insofern durchbrochen, als die Planfeststellung sich nicht auf die Zulässigkeit des Vorhabens nach den Vorschriften des Bergund Tiefspeicherrechts erstreckt (§ 9b V Nr 3 AtomG).725 In Deutschland existieren zur Zeit zwar mehrere Endlagerprojekte, gleichwohl ist die Suche nach einem Endlager insbesondere für hochradioaktiven Müll noch nicht abgeschlossen.726

_____ 721 Str ist, ob das Wiederaufbereitungsverbot als Ausfuhrverbot gegen die Warenverkehrsfreiheit im Kernenergiebereich gem Art 93 EAGV verstößt: bejahend Di Fabio Der Ausstieg aus der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie, 1999, 52 ff, 168; aA Sparwasser/Engel/Voßkuhle UmwR Rn 7/282; allgem John Rechtsfragen der Beendigung der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente, 2005; zur Einbindung der EAG (EURATOM) in die Strukturen der Europäischen Union nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon Kloepfer Verfassungsrecht, Bd I, 2011, § 40 Rn 1 ff. 722 Vgl zum erforderlichen Schutz gegen terroristische Anschläge für standortnahe Zwischenlager BVerwGE 131, 129; zum problematischen Nebeneinander von atomrechtlicher und baurechtlicher Genehmigung standortnaher Zwischenlage BayVGH NVwZ-RR 2005, 524; Kühne/Brodowski NJW 2002, 1458, 1462. 723 Rengeling DVBl 2008, 1141 (1148 f); Kuhbier/Prall ZUR 2009, 358; John/Jankowski in: Koch, UmwR, § 10 Rn 99. 724 Näher dazu Menzer Privatisierung der atomaren Endlagerung, 1998; Rengeling DVBl 2008, 1141; Kuhbier/Prall ZUR 2009, 358; John/Jankowski in: Koch, UmwR, § 10 Rn 99 f. 725 Die untertägige Erkundung eines Standortes auf seine Eignung für die Sicherstellung und Endlagerung radioaktiver Abfälle ist noch nicht der Beginn der Errichtung einer entsprechenden Anlage und deshalb nicht nach § 9b AtomG planfeststellungspflichtig, vgl BVerwG DVBl 1990, 593 m Anm v Wagner; dies soll auch gelten, wenn Teile des Erkundungsbergwerks (wie zB die Schächte) nach Dimensionierung und Bauausführung im Falle positiver Standortentscheidung im dann aufgrund einer Planfeststellung zu errichtenden Endlager Verwendung finden sollen, vgl NdsOVG DVBl 1989, 834; Rengeling Rechtsfragen zu Bundesendlagern für radioaktive Abfälle, 1990; aA Breuer Die Planfeststellung für Anlagen zur Endlagerung radioaktiver Abfälle, 1984. 726 Zum Planfeststellungsbeschluss für den Schacht Konrad als Endlager für radioaktiver Abfälle mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung: BVerfGK 16, 370; BVerwG UPR 2007, 272; zu den laufenden Projekten ausf John/Jankowski in: Koch, UmwR, § 10 Rn 91 ff; Kloepfer UmweltschutzR § 9 Rn 42 ff.

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IX. Atom- und Strahlenschutzrecht – 5. Kapitel

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4. Atomrechtliche Haftung In den §§ 25 ff AtomG ist die atomrechtliche Gefährdungshaftung geregelt.727 Nach § 25 I AtomG 317 ist die Gefährdungshaftung für Schäden, die auf einem von einer ortsfesten Kernanlage ausgehenden nuklearen Ereignis beruhen, aus dem Pariser Übereinkommen und dem Gemeinsamen Protokoll iVm den ergänzenden Vorschriften des Atomgesetzes zu entnehmen. Das Pariser Übereinkommen ist unabhängig von seiner völkerrechtlichen Verbindlichkeit für die Bundesrepublik Deutschland innerstaatlich anzuwenden, soweit nicht seine Regeln eine Gegenseitigkeit voraussetzen (§ 25 I 2 AtomG). § 25a AtomG fügt eine modifizierende Haftungsregelung für Reaktorschiffe hinzu; als Rechtsgrundlage der Haftung tritt hier das Brüsseler ReaktorschiffÜbereinkommen an die Stelle des Pariser Übereinkommens. Aufgrund des internationalen Rechts gilt das Haftungsprinzip der „rechtlichen Kanalisierung“.728 Dies bedeutet, dass für Schäden aus einem von der Anlage ausgehenden nuklearen Ereignis ausschließlich der Anlageninhaber – nicht etwa ein Dritter wie zB ein Zulieferer – nach Maßgabe des Pariser Übereinkommens haftet. Den Umfang der grundsätzlich verschuldensunabhängigen Haftung regeln die §§ 28 ff AtomG.729 Die Haftung des Anlageninhabers nach dem Pariser Übereinkommen iVm § 25 I, II und IV 318 AtomG ist aufgrund des Änderungsgesetzes vom 22.5.1985 summenmäßig unbegrenzt;730 bei Schäden aus nuklearen Ereignissen infolge eines bewaffneten Konfliktes, ähnlicher Vorkommnisse oder einer schweren und außergewöhnlichen Naturkatastrophe (§ 25 III AtomG) ist die Haftung auf den Höchstbetrag der staatlichen Freistellungsverpflichtung begrenzt (§ 31 I AtomG). Die Höchstsumme der vorgeschriebenen Deckungsvorsorge beträgt 2,5 Milliarden Euro (§ 13 III 2 AtomG). Tritt der Schaden in einem anderen Staat ein, so gilt eine gestaffelte Haftungsbegrenzung, es sei denn, dass der Staat des Schadenseintritts eine dem deutschen Recht nach Art, Ausmaß und Höhe gleichwertige Regelung sichergestellt hat (§ 31 II AtomG). Soweit gesetzliche, aus einem nuklearen Ereignis entstandene Schadensersatzverpflichtungen des Inhabers einer inländischen Kernanlage nach dem Pariser Übereinkommen iVm § 25 I–IV AtomG oder aufgrund des anwendbaren Rechts eines fremden Staates von der Deckungsvorsorge nicht gedeckt sind oder aus ihr nicht erfüllt werden können, greift die Freistellungsverpflichtung des Bundes ein (§ 34 AtomG).731 Die §§ 38–40 AtomG enthalten besondere Regelungen des Opferschutzes für grenzüberschreitende Schäden nuklearer Ereignisse. Im Falle des Reaktorunglücks von Tschernobyl hat der Bund indessen den Geschädigten mit Rücksicht auf die haftungsrechtlichen Schwierigkeiten732 durch „Billigkeitsrichtlinien“733 Entschädigungsansprüche gewährt.

_____ 727 Die §§ 25 ff AtomG sind durch die Änderungsgesetze vom 15.7.1975 und 22.5.1985 (BGBl I 781; vgl dazu BTDrs 10/2231; Haedrich AtomG, 1986, Vorbem vor § 25 Rn 7, 11) an die Pariser und Brüsseler Atomhaftungsübereinkommen angepasst worden; Pariser Übereinkommen v 29.7.1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie idF v 5.2.1976 (BGBl II 310, 311), geänd d Prot v 16.11.1982 (BGBl II 970); Brüsseler Zusatzübereinkommen v 31.1.1963 zum Pariser Übereinkommen idF v 5.2.1976 (BGBl II 310, 318), geänd d Prot v 16.11.1982 (BGBl II 691); Brüsseler Reaktorschiff-Übereinkommen v 25.5.1962 über die Haftung der Inhaber von Reaktorschiffen (BGBl II 957, 977); Brüsseler Kernmaterial-Seetransport-Übereinkommen v 17.12. 1971 über die zivilrechtliche Haftung bei der Beförderung von Kernmaterial auf See (BGBl 1975 II, 957, 1026); das Protokoll von 2004 zum Pariser Übereinkommen und Brüsseler Übereinkommen ist im Juni 2012 noch nicht in Kraft getreten (Texte und Informationen dazu unter http://www.oecd-nea.org/law/legal-documents.html#decisions); dazu Blobel NuR 2005, 137 ff; Fillbrandt NVwZ-Extra 2011, 1 f. 728 Zuvor galt das Prinzip der „wirtschaftlichen Kanalisierung“, vgl zur Ablösung BT-Drs 7/2183, 13 f; Haedrich AtomG, 1986, § 25 Rn 14 ff. 729 Verschuldensabhängig ist hingegen der Ersatz eines Nichtvermögensschadens (Schmerzensgeld) nach § 29 II AtomG. 730 Vgl dazu Pfaffelhuber ua in: 6. Dt AtomR-Symposium, 1980, 383 ff; Haedrich AtomG, 1986, § 31 Rn 8. 731 Vgl zu den Änderungen durch das 11. AtGÄndG Kloepfer UmweltschutzR § 9 Rn 54. 732 Vgl dazu Pelzer DVBl 1986, 875 ff. 733 BilligkeitsRL Gemüse v 2.6.1986, BAnz v 12.6.1986, 7237; Allg BilligkeitsRL v Juli 1986, BAnz v 2.8.1986, 10388.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

X. Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht 5. Kapitel – Umweltschutzrecht X. Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht – 5. Kapitel

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1. Allgemeines Der dem kausalen Umweltschutz zuzurechnende Problembereich des Abfallrechts wird im Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Bewirtschaftung von Abfällen (KrWG) geregelt. Das KrWG löste zum 1.6.2012 das KrW-/AbfG734 ab, da zahlreiche europarechtliche Vorgaben735 eine Neuregelung erforderlich machten, anlässlich derer der Gesetzgeber auch die Systematik des Gesetzes verbessert hat.736 Auf internationaler und europarechtlicher Ebene bestehen wichtige abfallrechtliche Regelungen, die auf die nationale Gesetzgebung und den Verwaltungsvollzug einwirken. Hervorhebung verdienen das Basler Übereinkommen vom 22.3.1989 über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung737 sowie die in Ausführung dieses Übereinkommens ergangene Abfallverbringungs-VO der EG.738 Auf nationaler Ebene ist das Abfallverbringungsgesetz739 als Ausführungsgesetz zum Basler Übereinkommen verabschiedet worden. Das KrWG dient dem vorrangigen Ziel, die Kreislaufwirtschaft zur Schonung der natürlichen Ressourcen zu fördern und den Schutz von Mensch und Umwelt bei der Erzeugung und Bewirtschaftung von Abfällen sicherzustellen, § 1 KrWG.740 In zweiter Linie tritt die traditionelle ordnungsrechtliche Komponente der Sicherstellung einer umweltverträglichen Abfallbeseitigung hinzu. Der ganzheitlichen funktionalen Zielsetzung folgend, erstreckt sich der Anwendungsbereich des KrWG auf den gesamten privatwirtschaftlichen Produktions- und Verwertungsprozess. Dem Verursacherprinzip entsprechend erhebt das KrWG die Erzeuger und Besitzer gewerblicher Abfälle zu primären Trägern der Vermeidungs-, Verwertungs- und Beseitigungspflichten. Das KrWG ist gestützt auf die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Abfallwirtschaft nach Art 74 I Nr 24 GG. Das KrWG regelt diese Materie nahezu abschließend, so dass die Landesgesetzgeber darauf beschränkt sind, in Ausführungsgesetzen offene Einzelfragen, Zuständigkeiten und Modalitäten des Gesetzesvollzugs zu regeln. Das KrWG enthält eine Reihe von Verordnungsermächtigungen zur Ergänzung und Konkretisierung seiner Bestimmungen.741 Die vorgesehenen Rechtsverordnungen sind durchweg an die Anhörung der beteiligten Kreise (§ 68 KrWG) und die Zustimmung des Bundesrates gebunden. Zum Teil sind sie in einem besonderen Verfahren unter der Beteiligung des Bundestages zu erlassen (§ 67 KrWG).742 Zur Umsetzung von Rechtsakten der Europäischen Union ermächtigt § 65 I KrWG die Bundesregierung in pauschaler Weise, zu dem in § 1 KrWG genannten Zweck mit Zustimmung des Bundesrates Rechtsverordnungen zur Sicherstellung der umweltverträglichen Abfallvermeidung und Abfallbewirtschaftung zu erlassen.743 Das KrWG besteht aus neun Teilen. Teil 1 enthält allgemeine Vorschriften (§§ 1–5 KrWG), ua Begriffsbestimmungen, § 3 KrWG. In Teil 2 (§§ 6–22 KrWG) sind Grundsätze und Pflichten nie-

_____

734 Vom 27.9.1994 (BGBl I 2705), zul geänd d u außer Kraft aufgrund G v 24.2.2012 (BGBl I 212). 735 Insbes zur Umsetzung der ihrerseits novellierten AbfallrahmenRL (2008/98/EG, ABlEU L 312/3), deren Umsetzungsfrist bereits zum 12.12.2010 endete. Zu weiteren Einzelrichtlinien siehe Erbguth/Schlacke UmwR § 12 Rn 4. 736 Zum Novellierungsprozess vgl Petersen AbfallR 2008, 154 ff; Petersen/Stöhr NVwZ 2012, 512 ff. 737 BGBl II 2703, zul geänd d VO v 28.9.2005 (BGBl II 1122). 738 Ursprüngl Verordnung (EWG) 259/93 v 1.2.1993 zur Überwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfällen in der, in die und aus der EG, ABlEG L 30/1, zul geänd d VO (EG) 2557/2001, ABlEG L 349/1; abgelöst d VO (EG) 1013/2006 v 14. 6. 2006, ABlEU L 190/1. 739 AbfVerbrG v 19.7.2007 (BGBl I 1462), zuletzt geänd d G v 24.2.2012 (BGBl I 212). 740 Zum Konzept des KrW-/AbfG, das auch dem KrWG zugrunde liegt, Petersen in: UTR Bd 30, 1995, 49 ff. 741 Eine Übersicht der geltenden Rechtsverordnungen findet sich bei Erbguth/Schlacke UmwR § 12 Rn 10 f. 742 Vgl die verfassungsrechtlichen Einwände gegen solche Zustimmungsvorbehaltsverordnungen bei Rupp NVwZ 1993, 756 ff; Kotulla/Rolfsen NVwZ 2010, 943 ff. 743 Vgl die verfassungsrechtlichen Einwände gegen diese Ermächtigung bei Ossenbühl DVBl 1999, 1, 6 f; Weihrauch NVwZ 2001, 265 ff.

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X. Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht – 5. Kapitel

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dergelegt, unterteilt nach vier Abschnitten: Die sog Abfallhierarchie (§ 6 KrWG) ist als programmatische Leitnorm in Abschnitt 1 vorangestellt, es folgen die Bereiche der Kreislaufwirtschaft (§ 7 ff KrWG), der Abfallbeseitigung (§§ 15 f KrWG) und der öffentlich-rechtlichen Entsorgung sowie Beauftragung Dritter (§§ 17 ff KrWG). Teil 3 behandelt die Produktverantwortung, §§ 23–27 KrWG, Teil 4 (§§ 28–44 KrWG) die Planungsverantwortung, insbesondere für Ordnung und Durchführung der Abfallbeseitigung, Abfallwirtschaftspläne und -vermeidungsprogramme sowie Zulassung für Abfallentsorgungsanlagen. Die letzten Teile widmen sich der Absatzförderung und Abfallberatung (§§ 45 f KrWG), der Überwachung (§§ 47–55 KrWG), den Entsorgungsfachbetrieben (§§ 56 f KrWG) und der Betriebsorganisation (§§ 58–61 KrWG). Das KrWG endet mit Schlussbestimmungen, §§ 62–72 KrWG. Der gesetzlich geregelte Tätigkeitsbereich umfasst die Vermeidung, Verwertung und Besei- 324 tigung von Abfällen und sonstige Maßnahmen der Abfallbewirtschaftung (§ 2 I Nr 1–4 KrWG). Mit Vermeidung ist sowohl die Verhinderung der Abfallentstehung als auch die Verminderung der Abfallmenge und Schädlichkeit gemeint (§§ 6 I Nr 1, 3 XX KrWG).744 Unter Verwertung versteht das Gesetz jedes Verfahren, als dessen Hauptergebnis die Abfälle einem sinnvollen Zweck zugeführt werden, indem sie Materialien ersetzen, die sonst zur Erfüllung einer bestimmten Funktion verwendet worden wären (§ 3 XXIII KrWG). Es ist also die Substitutionsfunktion entscheidend – umweltbezogene Aspekte wie etwa die Schädlichkeit des Abfalls sind irrelevant.745 Im Einzelnen umfasst die Verwertung die Vorbereitung zur Wiederverwendung (§§ 6 I Nr 2, 3 XXIII und XXIV KrWG), das Recycling als Begriff für jene Verwertungsverfahren, durch die Abfälle zu Erzeugnissen, Materialien oder Stoffen entweder für den ursprünglichen Zweck oder für andere Zwecke aufbereitet werden (§§ 6 I Nr 3, 3 XXV KrWG), sowie die sonstige Verwertung (insbesondere energetische Verwertung und Verfüllung), §§ 6 I Nr 4, 3 XXV aE KrWG.746 Die Beseitigung schließlich umfasst jedes Verfahren, das die Verwertung nicht zum Hauptergebnis hat; wenn als Nebenfolge Stoffe oder Energie zurückgewonnen werden, ist dies irrelevant (§§ 6 I Nr 5, 3 XXVI 1 KrWG). Vermeidung und Verwertung sind unter dem Oberbegriff der Kreislaufwirtschaft zusammengefasst (§ 3 XIX KrWG), Verwertung und Beseitigung wiederum unter dem Begriff der Abfallentsorgung (§ 3 XXII KrWG). Aus dem Anwendungsbereich des allgemeinen Abfallrechts ist eine Reihe von Stoffen aus- 325 geklammert, die nach spezialgesetzlichen Vorschriften zu verwerten oder zu beseitigen sind. § 2 II KrWG enthält einen Katalog dieser negativen Bereichsausnahmen. Dazu gehören ua Stoffe, die nach spezielleren Entsorgungsvorschriften zu behandeln sind, etwa nach dem Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch747 (§ 2 II Nr 1 lit a KrWG) oder dem Tierseuchengesetz748 (§ 2 II Nr 1 lit d KrWG). Das KrWG ist ferner nicht anwendbar auf bestimmte Stoffe, etwa Kernbrennstoffe und sonstige radioaktive Stoffe iSd AtomG (§ 2 II Nr 5 KrWG),749 Stoffe, sobald sie in Gewässer oder Abwasseranlagen eingeleitet oder eingebracht worden sind (§ 2 II Nr 9 KrWG),750 oder Böden am Ursprungsort (Böden in situ), die dauerhaft mit dem Grund und Boden verbunden sind.751

_____ 744 Versteyl in ders/Mann/Schomerus, KrWG, 3. Aufl 2012, § 3 Rn 68 ff; Schink/Krappel KrWG, 2012, § 3 Rn 106 ff. 745 BR-Drs 216/11, 177. 746 Zur begrifflichen Kaskade BR-Drs 216/11, 177. Im nunmehr abgelösten KrW-/AbfG war der Begriff der Verwertung nur in stoffliche und energetische Verwertung untergliedert. 747 Statischer Verweis auf das G idF der Bekanntmachung v 22.8.2011 (BGBl I 1770). 748 Dynamischer Verweis auf das G idF der Bekanntmachung v 22.6.2004 (BGBl I 1260, 3588), zul geänd d G v 22.12. 2011 (BGBl I 3044). 749 Vgl dazu das Atomrecht, o Rn 315 f. 750 Vgl dazu das Wasserrecht, o Rn 216 ff; zum Verhältnis von Wasser- und AbfallR auch Nolte/Stüber NVwZ 2001, 1131 ff. 751 Vgl dazu das Bodenschutzrecht, o Rn 204 ff, sowie u Rn 326.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

2. Abfallbegriff 326 Der Schlüsselbegriff des Abfalls ist durch die EG-AbfallrahmenRL752 vorgegeben. Er erschließt den Anwendungsbereich des deutschen wie des europäischen Abfallrechts. Nach der Legaldefinition des § 3 I KrWG sind Abfälle „alle Stoffe oder Gegenstände, derer sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss“. Abfälle zur Verwertung sind Abfälle, die verwertet werden; Abfälle, die nicht verwertet werden, sind Abfälle zur Beseitigung. Im abgelösten § 3 I KrW-/ AbfG war der Abfallbegriff noch auf bewegliche Sachen iSd § 90 BGB beschränkt.753 Da Böden und dauerhaft mit dem Boden verbundene Bauwerke nun jedoch gem § 2 II Nr 10 KrWG vom Anwendungsbereich ausgenommen sind, stehen de facto weiterhin bewegliche Sachen im Vordergrund.754 Die ergänzenden Bestimmungen des § 3 II bis IV KrWG konkretisieren die Entledigungstrias des real-subjektiven („entledigt“), fiktiv-subjektiven („entledigen will“) und objektiven („entledigen muss“) Abfallbegriffs. 327 Eine Entledigung liegt nach dem real-subjektiven Abfallbegriff des § 3 II KrWG vor, wenn der Besitzer (§ 3 IX KrWG) Stoffe oder Gegenstände einer Verwertung im Sinne der Anlage 2 oder einer Beseitigung im Sinne der Anlage 1 zuführt (1. Alt) oder die tatsächliche Sachherrschaft über sie unter Wegfall jeder weiteren Zweckbestimmung aufgibt (2. Alt). Dem Wortlaut nach setzt die Entledigung iSd 1. Alt nicht die Aufgabe der Sachherrschaft voraus, so dass auch die vom Sachbesitzer selbst vorgenommene Verwertung oder Beseitigung eine Entledigung darstellt.755 Ebenso wenig erfordert eine solche den Wegfall jeder weiteren Zweckbestimmung durch den Besitzer. Auf die Zweckbestimmung durch den Besitzer kommt es nur an, sofern kein Verwertungs- oder Beseitigungsverfahren durchgeführt werden soll. 328 Der Wille zur Entledigung kann durch positives Tun aber auch durch Unterlassen nach außen dokumentiert werden.756 Er wird gem § 3 III 1 KrWG fingiert,757 wenn der Anfall der beweglichen Sache nicht den Zweck eines Energieumwandlungs-, Herstellungs-, Behandlungs- oder Nutzungsvorgangs oder einer Dienstleistung darstellt (Nr 1) oder die ursprüngliche Zweckbestimmung der Sache ohne unmittelbare Neuwidmung endet (Nr 2). Im ersten Fall handelt es sich um sog Produktionsabfälle, im zweiten Fall um sog Produktabfälle.758 Ausgangspunkt für die Beurteilung der Zweckbestimmung ist dabei die Auffassung des Erzeugers oder Besitzers, die es anhand der Verkehrsanschauung zu überprüfen und im Konfliktfall zu korrigieren gilt (§ 3 III 2 KrWG).759 Der subjektive Abfallbegriff ist damit insgesamt in seinem Anwendungsbereich erheblich ausgedehnt und objektiviert worden; nicht zweckgerichtet entstandene, aber verwertbare Stoffe unterfallen grundsätzlich dem Abfallbegriff.760 Eine Ausnahme hat der Gesetzgeber in Übereinstimmung mit der AbfRRL761 in § 4 I KrWG eingeführt: Fällt ein Stoff oder Gegenstand bei einem Herstellungsverfahren an, dessen hauptsächlicher Zweck nicht auf die Herstellung dieses

_____ 752 Vgl o Fn 735; zum europäischen Abfallbegriff Petersen/Doumet/Stöhr NVwZ 2012, 521, 522. 753 Für Aufruhr sorgte allerdings ein Urt des EuGH (EuGH Urt v 7.9.2004 – C-1/03 – (Van de Walle/Texaco), Slg 2004 I-7613 Rn 52 ff), demzufolge auch verunreinigtes, nicht ausgehobenes Erdreich Abfall iSd EG-Abfallrichtlinien (75/552/EWG und 91/156/EWG) sei; ferner Versteyl NVwZ 2004, 1297 ff; Jochum NVwZ 2005, 140 ff; Petersen/Lorenz NVwZ 2005, 257 ff. 754 Diese Bereichsausnahme beruht auf der neuen AbfallrahmenRL (2008/98/EG v 19.11.2008), die damit das Urteil des EuGH (Fn 421, 753) korrigiert; dazu Petersen ZUR 2007, 450 f; Frenz UPR 2007, 81. 755 Für die Eigenkompostierung von Speiseresten so auch BVerwG NVwZ 1996, 1010. 756 BVerwG DÖV 1990, 570. 757 Wie hier Kunig NVwZ 1997, 212; vgl Stuttmann NVwZ 2006, 401, 404 zu anderen Ansichten (insbes widerlegliche Vermutung). 758 Krings WiVerw 1995, 103, 114, 116; Breuer in: Jarass/Ruchay/Weidemann, Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz: KrW-/AbfG, Stand 29. EL, Bd II, § 3 Rn 85 ff. 759 Vgl dazu Dieckmann/Reese in: Koch, UmwR, § 6 Rn 51 ff. 760 Wird eine Sache hingegen zweckgerichtet hergestellt, handelt es sich um ein Produkt und nicht um Abfall. Zur Abgrenzung zwischen Nebenerzeugnissen und Abfällen Uwer/Held EuZW 2010, 127 ff. 761 Art 5 AbfRRL; dazu Petersen NVwZ 2009, 1063, 1065.

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Stoffes oder Gegenstandes gerichtet ist, dann ist er als Nebenprodukt und nicht als Abfall anzusehen, wenn die Weiterverwendung sichergestellt und dafür eine weitere, über ein normales industrielles Verfahren hinausgehende Vorbehandlung nicht erforderlich ist. Ferner muss das designierte Nebenprodukt als integraler Bestandteil (und nicht bloß zufällig) eines Herstellungsprozesses erzeugt werden und die weitere Verwendung rechtmäßig sein. Das letzte Erfordernis ist an § 5 I Nr 3 KrWG angelehnt, der ein ähnliches Erfordernis für das Ende der Abfalleigenschaft (su Rn 335) vorsieht.762 § 3 IV KrWG beschreibt die Voraussetzungen, unter denen der Besitzer verpflichtet ist, sich 329 Stoffen oder Gegenständen zu entledigen. Eine solche Pflicht besteht, wenn diese entsprechend ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung nicht mehr verwendet werden, aufgrund ihres konkreten Zustandes geeignet sind, gegenwärtig oder künftig das Wohl der Allgemeinheit, insbesondere die Umwelt, zu gefährden und deren Gefährdungspotential nur durch eine ordnungsgemäße und schadlose Verwertung oder gemeinwohlverträgliche Beseitigung nach den Vorschriften des KrWG und der hierauf gestützten Verordnungen ausgeschlossen werden kann. Dem hier im Anschluss an die Rechtsprechung des BVerwG763 umschriebenen objektiven Abfallbegriff liegt die Wertung zugrunde, dass im Konfliktfall die objektiven öffentlichen Belange einem anders gearteten subjektiven Willen des Besitzers vorgehen müssen.

3. Grundsätze und Handlungspflichten im Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht § 6 I KrWG sieht ein gestuftes System der Vermeidung und Abfallbewirtschaftung vor (sog Abfall- 330 hierarchie). Danach sind Maßnahmen der Vermeidung vorrangig vor Maßnahmen der Vorbereitung zur Wiederverwendung, des Recyclings und sonstiger Verwertung (Maßnahmen der Verwertung),764 die ihrerseits wiederum vorrangig sind vor Maßnahmen der Beseitigung. § 6 II 1 KrWG bestimmt, dass ausgehend von dieser Rangfolge nach Maßgabe der §§ 7 und 8 KrWG diejenige Maßnahme Vorrang haben soll, die den Schutz von Mensch und Umwelt bei der Erzeugung und Bewirtschaftung von Abfällen unter Berücksichtigung des Vorsorge- und Nachhaltigkeitsprinzips am besten gewährleistet. Gem § 6 II 2, 3 KrWG ist bei der Betrachtung der gesamte Lebenszyklus des Abfalls unter Berücksichtigung folgender Aspekte zugrunde zu legen: der zu erwartenden Emissionen, dem Maß der Schonung der natürlichen Ressourcen, der einzusetzenden oder zu gewinnenden Energie sowie der Anreicherung von Schadstoffen. Als Schranken sind das technisch Mögliche, das wirtschaftlich Zumutbare und soziale Folgen zu beachten (§ 6 II 4 KrWG). Nach dieser Hierarchie des KrWG sind Abfälle vorrangig zu vermeiden (§ 6 I Nr 1 KrWG).765 331 Als Ansatzpunkt für Vermeidungsmaßnahmen benennt § 3 XX 2 KrWG beispielhaft das Produktionsverfahren, die Produktgestaltung, die Wiederverwendung von Erzeugnissen oder die Verlängerung ihrer Lebensdauer und das Konsumverhalten. Hinsichtlich der aus diesem Grundsatz erwachsenden Pflichten verweist § 7 I KrWG auf die immissionsschutzrechtlichen Vermeidungspflichten (§ 13 KrWG iVm § 5 I Nr 3 BImSchG) und auf eine nähere Konkretisierung durch Rechtsverordnungen aufgrund der §§ 24, 25 KrWG. Aus § 7 I KrWG selbst ergeben sich dagegen keine vollziehbaren Rechtspflichten des einzelnen.766 In zweiter Linie sind Abfälle zu verwerten, also zur Wiederverwendung vorzubereiten, zu 332 recyclen oder auf sonstige Weise, insbesondere energetisch, zu verwerten (§§ 6 I Nr 2–4, 3 XXIII KrWG). § 7 II KrWG erhebt diesen Grundsatz zur Rechtspflicht. Die Verwertung von Abfällen

_____ 762 763 764 765 766

Vgl dazu und zum Hintergrund der ganzen Norm BR-Drs 216/11, 179 ff. BVerwGE 93, 353 ff; E 93, 359 ff. Zur Hierarchie innerhalb der drei Stufen der Verwertung s u Rn 332 f. Zum Abfallvermeidungsprogramm Schomerus/Herrmann-Reichold/Strophal ZUR 2011, 507 ff. Erbguth/Schlacke UmwR § 12 Rn 52.

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hat wiederum grundsätzlich Vorrang vor deren Beseitigung (§ 7 II 2 KrWG). Die Verwertungspflicht ist einzuhalten, soweit dies – eventuell nach einer Vorbehandlung der Abfälle – technisch möglich und wirtschaftlich zumutbar ist, insbesondere für einen gewonnenen Stoff oder gewonnene Energie ein Markt vorhanden ist oder geschaffen werden kann (§ 7 IV KrWG).767 Die wirtschaftliche Zumutbarkeit ist gegeben, wenn die mit der Verwertung verbundenen Kosten nicht außer Verhältnis zu den anfallenden Beseitigungskosten stehen (§ 7 IV 3 KrWG). Ferner gilt der Vorrang der Verwertung nicht für Abfälle, die unmittelbar und üblicherweise durch Forschungs- und Entwicklungsmaßnahmen anfallen (§ 7 II 4 KrWG). Abfälle zur Verwertung und zur Beseitigung sind grundsätzlich zu trennen (§ 9 I KrWG). Die Pflichten der Betreiber von genehmigungsbedürftigen und nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen nach dem BImSchG, diese so zu errichten und zu betreiben, dass Abfälle verwertet oder beseitigt werden, richten sich nach immissionsschutzrechtlichen Vorschriften (§ 13 KrWG).768 333 Zwar stellt § 6 I KrWG die Arten der Verwertung in eine Rangfolge, doch bestimmt § 8 I KrWG, dass bei der Erfüllung der Verwertungspflicht diejenige Verwertungsmaßnahme Vorrang hat, die den Schutz von Mensch und Umwelt am besten gewährleistet (sog Hochwertigkeitsgebot); zwischen mehreren gleichrangigen Verwertungsmaßnahmen besteht ein Wahlrecht.769 Bei der Ausgestaltung der gewählten Verwertungsmaßnahme ist wiederum eine den Schutz von Mensch und Umwelt am besten gewährleistende, hochwertige Verwertung anzustreben, § 8 I 3 KrWG. Dabei sind die gleichen Kriterien wie bei der Wahl zwischen Vermeidung, Verwertung und Beseitigung anzulegen (§§ 8 I 1 iVm § 6 II 2 und 3 KrWG).770 Sowohl bei Wahl als auch bei Ausgestaltung der Verwertungsmaßnahme ist das Hochwertigkeitsgebot auf das technisch Mögliche und wirtschaftlich Zumutbare beschränkt (§§ 8 I 4, 7 IV KrWG). Für bestimmte Abfallarten können nach Maßgabe der skizzierten Kriterien der Vorrang oder Gleichrang einer Verwertungsmaßnahme sowie Anforderungen an die Hochwertigkeit der Verwertung durch RechtsVO auch abstrakt-generell bestimmt werden (§ 8 III 1 KrWG). Nach § 7 III KrWG hat die Verwertung von Abfällen „ordnungsgemäß und schadlos“ zu erfolgen. Ordnungsgemäß erfolgt eine Verwertung, wenn diese mit den Vorschriften des KrWG und anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften im Einklang steht (§ 7 III 2 KrWG). Schadlos ist sie, wenn nach der Beschaffenheit der Abfälle, dem Ausmaß der Verunreinigungen und der Art der Verwertung keine Beeinträchtigungen des Gemeinwohls zu erwarten sind, insbesondere keine Schadstoffanreicherungen im Wertstoffkreislauf erfolgen (§ 7 III 3 KrWG). § 10 KrWG ermächtigt die Bundesregierung die weiteren Anforderungen zur Sicherung einer schadlosen Verwertung durch RechtsVO festzulegen. 334 Abfälle, die nicht verwertet werden, sind gem § 15 I 1 KrWG zu beseitigen, und zwar so, dass das Wohl der Allgemeinheit nicht beeinträchtigt wird (§ 15 II KrWG). Durch die Behandlung von Abfällen sind deren Menge und Schädlichkeit zu vermindern; bei der Beseitigung anfallende Energie oder Abfälle sind hochwertig zu nutzen (§ 15 I 3 KrWG). Ferner statuiert § 28 I 1 KrWG die Pflicht, Abfälle zur Beseitigung nur in den dafür zugelassenen Abfallbeseitigungsanlagen zu behandeln, zu lagern und abzulagern (sog Anlagenzwang). Eine Auflockerung erfährt dieses Gebot durch die Bestimmung, dass die Behandlung von Abfällen zur Beseitigung auch in Anlagen zulässig ist, die überwiegend einem anderen Zweck als dem der Abfallbeseitigung dienen und die einer Genehmigung nach § 4 BImSchG bedürfen (§ 28 I 2 KrWG). Soweit sich aus Rechtsverordnungen oder Verwaltungsvorschriften nichts anderes ergibt, ist die Lagerung oder

_____ 767 Umfassend dazu Klages Vermeidungs- und Verwertungsgebote im AbfallR, 1991, 107 ff. 768 Zum Verhältnis des KrWG zum BImSchG Mann in Versteyl/Mann/Schomerus, KrWG (Fn 744) § 13 Rn 1 ff. 769 Welche Bedeutung die Hierarchie aus § 6 I KrWG noch für Verwertungsmaßnahmen hat, ist umstritten. Gegen eine Bedeutung argumentieren Erbguth/Schlacke UmwR, § 12 Rn 40; aA Meßerschmidt Europäisches UmwR § 18 Rn 50; Kloepfer UmwR § 15 Rn 37. 770 Siehe dazu o Rn 331 f.

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Behandlung von Abfällen zur Beseitigung auch in Abfallentsorgungsanlagen zulässig, die als unbedeutende Anlagen keiner immissionsschutzrechtlichen Genehmigung bedürfen (§ 28 I 3 KrWG). Die Anforderungen an die Beseitigung werden im Übrigen unter Berücksichtigung des Standes der Technik auf dem Verordnungswege konkretisiert (§ 13 KrWG). Gem § 5 I KrWG endet die Abfalleigenschaft eines Stoffes oder Gegenstandes, wenn dieser ein 335 Verwertungsverfahren durchlaufen hat und so beschaffen ist, dass er üblicherweise für bestimmte Zwecke verwendet wird und ein Markt für ihn oder eine Nachfrage nach ihm besteht. Ferner muss er alle für seine jeweilige Zweckbestimmung geltenden technischen Anforderungen sowie alle Rechtsvorschriften und anwendbaren Normen für Erzeugnisse erfüllen und seine Verwendung insgesamt darf nicht zu schädlichen Auswirkungen auf Mensch oder Umwelt führen.771 Die Erzeuger und Besitzer von Abfällen sind grundsätzlich auch selbst Adressaten der 336 Verwertungs- und Beseitigungspflichten (§§ 7 II 1, 15 I 1 KrWG). Ausnahmen von diesem Grundsatz bestimmt § 17 I KrWG. Für die Verteilung der Entsorgungsverantwortung ist dabei nach Herkunftsbereich und Entsorgungsart der Abfälle zu differenzieren.772 Für Abfälle aus privaten Haushaltungen besteht nach § 17 I 1 KrWG grundsätzlich eine Überlassungspflicht des Besitzers gegenüber den landesrechtlich bestimmten öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern. 773 Bei Abfällen aus anderen Bereichen, insbesondere bei Abfällen gewerblicher Herkunft, ist die Verwertung vollständig der Privatwirtschaft überantwortet; solche Abfälle zur Beseitigung sind nach § 17 I 2 KrWG den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern zu überlassen, dürfen aber vorbehaltlich entgegenstehender überwiegender öffentlicher Interessen auch selbst beseitigt werden. Unabhängig von der Herkunft besteht für Abfälle, die einer Rücknahme- oder Rückgabepflicht unterliegen oder die durch gemeinnützige oder gewerbliche Sammlung einer Verwertung zugeführt werden, unter den Voraussetzungen des § 17 II KrWG keine Überlassungspflicht. Die Voraussetzungen, unter denen eine gewerbliche Sammlung durchgeführt werden kann, bestimmen maßgeblich die Grenzziehung zwischen privater und öffentlicher Entsorgung in wirtschaftlich interessanten Bereichen und waren unter dem KrW-/AbfG und im Gesetzgebungsverfahren heftig umstritten.774 Der Gesetzgeber hat sich letztlich für restriktive Voraussetzungen entschieden. Für gefährliche Abfälle (§§ 3 V 1, 48 S 2 KrWG iVm der AVV775) zur Beseitigung sieht schließlich § 17 IV 1 KrWG vor, dass die Länder Andienungs- und Überlassungspflichten bestimmen können.776 Besitzer von Abfällen ist nach § 3 IX KrWG jede natürliche oder juristische Person, die die 337 tatsächliche Sachherrschaft über Abfälle hat. Ein Besitz(begründungs)wille ist nicht erforderlich, so dass der Besitzer eines Grundstücks grundsätzlich auch Besitzer dorthin gelangten „wilden Mülls“ ist. Erforderlich ist aber ein Mindestmaß an Sachherrschaft, so dass der Besitz eines der Allgemeinheit tatsächlich und rechtlich frei zugänglichen Grundstücks keinen Abfallbesitz begründet.777 Eine Inpflichtnahme als Zustandsstörer nach dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht scheidet aus, da das KrWG insoweit die abschließende Spezialmaterie dar-

_____ 771 Zum europarechtlichen Hintergrund Petersen NVwZ 2009, 1063, 1065 f. 772 Näher dazu BVerwG NVwZ 2006, 589 Rn 28 ff; Peters VBlBW 1997, 49 ff; Schink NVwZ 1997, 435 ff. 773 Eine Ausnahme besteht nur, wenn sie zu einer Verwertung auf den von ihnen im Rahmen der privaten Lebensführung genutzten Grundstücken in der Lage sind und diese beabsichtigen (§ 17 I 1 KrWG). 774 Vgl stellvertretend für den Streit unter dem KrW-/AbfG nur BVerwGE 134, 154 ff; Schmehl NVwZ 2009, 1262. 775 Verordnung über das Europäische Abfallverzeichnis v 10.12.2011 (BGBl I 3379), zuletzt geänd d G v 24.2.2.2012 (BGBl I 212). 776 Andienungs- und Überlassungspflichten begegneten unter dem KrW-/AbfG Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit Verfassungs- und Europarecht; vgl zur entsprechenden Anpassung in der AbfRRL Petersen/Doumet/ Stöhr NVwZ 2012, 521, 526. 777 So auch Erbguth/Schlacke UmwR § 12 Rn 30; zur Sachherrschaft OVG Berlin ZUR 2005, 203 ff.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

stellt. Die Pflicht zur Verwertung oder Beseitigung trifft dann – genau wie für andere auf ihrem Gebiet angefallene Abfälle – die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger (§ 20 I 1 KrWG). Im Geltungsbereich von Überlassungspflichten sind die Abfallerzeuger und -besitzer von 338 den Verwertungs- und Beseitigungspflichten freigestellt. Insoweit treffen diese Pflichten als Wahrnehmungskompetenzen die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger (§ 20 I KrWG). Umgekehrt verlieren die Erzeuger und Besitzer ihre Berechtigung zu einer Eigenentsorgung; sie erhalten dafür einen Entsorgungsanspruch gegen die öffentliche Hand. § 20 II KrWG eröffnet dieser allerdings die Möglichkeit, unter engen Voraussetzungen bestimmte Abfälle von der Entsorgung auszuschließen.778 Sind die Abfallerzeuger und -besitzer dagegen nicht überlassungspflichtig, sondern ihrerseits verwertungs- oder beseitigungspflichtig, so können sie mit der Erfüllung ihrer Pflichten – unbeschadet ihrer fortbestehenden Verantwortlichkeit779 – Dritte beauftragen, sofern diese über die erforderliche Zuverlässigkeit verfügen (§ 22 KrWG). Die gleiche Möglichkeit besteht auch für die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger. Der öffentlichen Hand obliegen besondere Pflichten, zur Erfüllung des Zweckes des § 1 339 KrWG beizutragen. Insbesondere haben etwa die Bundesbehörden sowie die der Aufsicht des Bundes unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts bei der Gestaltung von Arbeitsabläufen, der Beschaffung oder Verwendung von Material- oder Gebrauchsgütern, bei Bauvorhaben oder sonstigen Aufträgen zu prüfen, ob und in welchem Umfang Erzeugnisse eingesetzt werden können, die sich durch Langlebigkeit, Reparaturfreundlichkeit und Wiederverwendbarkeit oder Verwertbarkeit auszeichnen, im Vergleich zu anderen Erzeugnissen zu weniger oder zu schadstoffärmeren Abfällen führen oder durch Vorbereitung zur Wiederverwendung oder durch Recycling aus Abfällen hergestellt worden sind (§ 45 I 2 Nr 1 KrWG);780 ferner ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang die entstandenen Abfälle zu verwerten sind (§ 45 I 2 Nr 2 KrWG). Den Entsorgungsträgern obliegt eine Abfallberatungspflicht (§ 46 I KrWG).

4. Produktverantwortung 340 Die Produktverantwortung zur Erfüllung der Ziele der Kreislaufwirtschaft trägt, wer Erzeugnisse entwickelt, herstellt, be- und verarbeitet oder vertreibt (§ 23 I 1 KrWG). Zur Erfüllung der Produktverantwortung sind Erzeugnisse möglichst so zu gestalten, dass bei deren Herstellung und Gebrauch das Entstehen von Abfällen vermindert wird und die umweltverträgliche Verwertung und Beseitigung der nach deren Gebrauch entstandenen Abfälle sichergestellt ist (§ 23 I 2 KrWG). Diese „Grundnorm“ entspricht dem Verursacherprinzip. Ihre rechtspraktische Bedeutung wird jedoch dadurch gemindert, dass der Gesetzgeber hiermit weder eine Legaldefinition der Produktverantwortung noch hinreichend bestimmte und durchsetzbare Handlungspflichten geregelt hat.781 Der konkrete Pflichtengehalt hängt von den auf § 23 IV iVm den §§ 24 und 25 KrWG gestützten Rechtsverordnungen ab. Nach den potentiellen Inpflichtnahmen betrachtet, umfasst die Produktverantwortung nach 341 § 23 II KrWG insbesondere den Herstellungsprozess mit dem Grundsatz, vorrangig verwertbare Abfälle oder sekundäre Rohstoffe einzusetzen (Nr 2), das Erzeugnis selbst, etwa in Bezug auf mehrfache Verwendbarkeit, Langlebigkeit und spätere Geeignetheit zur Verwertung und Beseitigung (Nr 1), sowie die Rücknahme des Erzeugnisses einschließlich verbleibender Abfälle und deren nachfolgende Verwertung oder Beseitigung (Nr 5). Daneben umfasst die Produktverant-

_____ 778 Dazu Schomerus in: Versteyl/Mann/Schomerus, KrWG (Fn 744) § 20 Rn 11 ff; Schink in: ders/Versteyl, KrWG (Fn 744) § 20 Rn 80 ff. 779 Im KrW-/AbfG war unter bestimmten Voraussetzungen noch die vollständige Übertragung der Pflicht auf Dritte möglich, § 16 II KrW-/AbfG. 780 Dazu allg Wustlich ZUR 2011, 113 ff. 781 Dazu Mann in: Versteyl/Mann/Schomerus, KrWG (Fn 744) § 23 Rn 1 f, 5.

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wortung die Kennzeichnung von schadstoffhaltigen Erzeugnissen (Nr 3) und Hinweise auf Kreislaufsysteme (Nr 4). § 24 KrWG ermächtigt die Bundesregierung, zur Festlegung von Anforderungen nach § 23 KrWG nach Anhörung der beteiligten Kreise (§ 68 KrWG) durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Verbote, Beschränkungen und Kennzeichnungspflichten in Bezug auf bestimmte Erzeugnisse zu regeln. Dies ist etwa in der VerpackungsVO782 und der AltfahrzeugVO783 geschehen.784 Des Weiteren sieht § 25 KrWG vor, dass zur Konkretisierung der Produktverantwortung im gleichen Verfahren durch Rechtsverordnung Rücknahmepflichten der Hersteller oder Vertreiber bestimmter Erzeugnisse sowie Rückgabepflichten der Besitzer bestimmter Abfälle eingeführt werden können. Für Elektro- und Elektronikgesetze sind die Pflichten nach § 23 KrWG im ElektroG785 (und nicht im Verordnungswege) konkretisiert.

5. Abfallwirtschaftspläne Die Länder sind verpflichtet, für ihren Bereich Abfallwirtschaftspläne nach überörtlichen Ge- 342 sichtspunkten aufzustellen (§ 30 I 1 KrWG). Diese Pläne müssen die Ziele der Abfallvermeidung, -verwertung und -beseitigung, die bestehende Situation der Abfallbewirtschaftung, die erforderlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Abfallverwertung und -beseitigung sowie die erforderlichen Abfallentsorgungsanlagen darstellen. Weiterhin sind hierin die zugelassenen Abfallentsorgungsanlagen auszuweisen und geeignete Standorte für weitere Anlagen festzulegen. Die Pläne können ferner Bestimmungen über den verantwortlichen Entsorgungsträger und die zu benutzenden Anlagen enthalten. Bei der Aufstellung der Abfallwirtschaftspläne sind die Gemeinden oder deren Zusammenschlüsse und die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger beteiligen (§ 31 II KrWG). Die Pläne sind alle sechs Jahre auszuwerten und bei Bedarf fortzuschreiben (§ 31 V KrWG).786 Grundsätzlich handelt es sich hierbei um verwaltungsinterne Fachpläne. Sie gewinnen jedoch normativen Charakter, sofern und soweit ihre Ausweisungen gem § 30 IV iVm I 3 Nr 2 und S 4 KrWG für alle Entsorgungspflichtigen für verbindlich erklärt werden. Demgemäß ist ein für verbindlich erklärter Abfallwirtschaftsplan dem Rechtsschutz im Verfahren der verwaltungsprozessualen Normenkontrolle nach Maßgabe des § 47 VwGO und der ergänzenden Landesgesetze zugänglich.787

6. Abfallentsorgungsanlagen Die Zulassung von Abfallentsorgungsanlagen richtet sich nach unterschiedlichen Vorschriften. 343 Ortsfeste Abfallverwertungsanlagen unterliegen unmittelbar der Genehmigungspflicht nach den §§ 4 ff BImSchG. Die Errichtung und der Betrieb von ortsfesten Abfallbeseitigungsanlagen zur Lagerung oder Behandlung von Abfällen zur Beseitigung sowie die wesentliche Änderung einer solchen Anlage oder ihres Betriebes bedürfen aufgrund der Verweisung in § 35 I KrWG ebenfalls der Genehmigung nach den §§ 4 ff BImSchG;788 einer weiteren Zulassung nach dem KrWG bedarf es nicht. Dagegen bedürfen die Errichtung und der Betrieb von Anlagen zur Ablagerung von Abfällen (Deponien) sowie die wesentliche Änderung einer solchen Anlage oder ihres Betriebes grundsätzlich einer Planfeststellung (§ 35 II KrWG), in deren Verfahren die Um-

_____

782 Vom 21.8.1998 (BGBl I 2379); zul geänd d VO v 2.4.2008 (BGBl I 531); dazu o Rn 158. 783 IdF v 21.6.2002 (BGBl I 2214), zul geänd d G v 24.2.2012 (BGBl I 212). 784 Die BattVO (neugefasst durch Bekanntmachung v 2.7.2001, BGBl I 1486) wurde abgelöst durch das BattG (v 25.6. 2009, BGBl I 1582, zul geänd d G v 24.2.2012, BGBl I 212), das wesentliche Teile der BattVO übernommen hat. 785 Vom 16.3.2005 (BGBl I 762), zul geänd d G v 24.2.2012 (BGBl I 212). 786 Allg zu Abfallwirtschaftsplänen Erbguth UPR 1997, 69 ff; Dippel/Doerfert NVwZ 1998, 239 ff; Dolde/Vetter NVwZ 2001, 1103 ff. 787 Weidemann NVwZ 1989, 1033 ff; Kotzea/Franz UPR 2000, 5 ff. 788 Vgl dazu Fluck UPR 1997, 234 ff; Mayer ZUR 1997, 201 ff; auch o Rn 252.

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5. Kapitel – Umweltschutzrecht

weltverträglichkeitsprüfung durchzuführen ist. Der Planfeststellung sind die für dieses Rechtsinstitut typische Genehmigungs-, Konzentrations-, Gestaltungs-, Ausschluss- und Duldungswirkung sowie in verfahrensrechtlicher Hinsicht die charakteristische Förmlichkeit, Publizität und Interessentenbeteiligung eigen (§§ 35 ff KrWG, §§ 72 ff VwVfG). Anstelle der Planfeststellung genügt eine (schlichte) Genehmigung, wenn die Errichtung und der Betrieb geringe Bedeutung hat oder die wesentliche Änderung einer Deponie oder ihres Betriebes beantragt wird, soweit dies keine erheblichen nachteiligen Auswirkungen auf ein in § 2 I 2 UVPG genanntes Schutzgut haben kann (§ 35 III 1 Nr 1 und 2 KrWG).789

7. Überwachung 344 Das ordnungsrechtliche Instrumentarium der §§ 47 bis 55 KrWG umfasst Regelungen zur Überwachung der Verwertung und Beseitigung von Abfällen. Hierzu gehören Vorschriften über abgestufte Nachweispflichten für Abfallbesitzer und Anlagenbetreiber (§§ 47 bis 59 KrWG) sowie die Pflicht zur Tätigkeitsanzeige für Sammler, Beförderer, Händler und Makler von Abfällen (§ 53 I KrWG). Der Genehmigungspflicht unterliegen die Genannten, wenn ihre Tätigkeit gefährliche Abfälle einschließt (§ 53 II KrWG). Die Verpflichtung, unter bestimmten Voraussetzungen einen oder mehrere Betriebsbeauftragte für Abfälle (Abfallbeauftragte) zu bestellen, ist in § 59 KrWG geregelt.790

_____ 789 Zum planerischen Gestaltungsspielraum siehe Erbguth/Schlacke UmwR § 12 Rn 96. 790 Vgl zu den genannten Instrumenten o Rn 113 ff; zu den Neuregelungen im Bereich der Überwachung Petersen/ Doumet/Stöhr NVwZ 2012, 521, 529.

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I. Gegenstand und Begriff – 6. Kapitel

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Sechstes Kapitel 6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes I. Gegenstand und Begriff – 6. Kapitel Kunig

Philip Kunig

Das Recht des öffentlichen Dienstes

I.

II.

III.

IV.

Gliederung Gegenstand und Begriff ____ 1 1. Zum systematischen Standort des Rechtsgebiets ____ 1 2. Öffentlicher und privater Dienst ____ 4 3. Gesichtspunkte der Abgrenzung ____ 7 a) Dauer und Eingliederung ____ 8 b) Abgrenzung nach dem Dienstherrn ____ 9 c) Ausgrenzung des Rechts der Richter, Berufssoldaten und der kirchlichen Bediensteten ____ 10 d) Dienstrecht als Straf- und Haftungsrecht ____ 11 e) Kollektives Dienstrecht ____ 12 Zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Dienstes ____ 16 1. Zur geschichtlichen Entwicklung ____ 16 2. Reformfragen ____ 24 Die Rechtsetzungsebenen im Recht des öffentlichen Dienstes und ihre Regelungsfelder ____ 30 1. Völkerrecht und europäisches Recht ____ 30 2. Verfassungsrecht ____ 32 a) Institutionelle Verbürgung des Berufsbeamtentums ____ 33 aa) Der Funktionsvorbehalt für Beamte ____ 34 bb) Der verfassungsrechtliche Regelungsauftrag für das Beamtenrecht ____ 40 b) Ämterzugang und Grundrechtsschutz im Dienstverhältnis ____ 48 c) Bundesstaatliche Aspekte ____ 52 3. Das einschlägige Gesetzesrecht im Überblick ____ 55 Das Beamtenrecht ____ 58 1. Beamtenbegriffe ____ 58 a) Staatsrechtlicher, haftungsrechtlicher und strafrechtlicher Beamtenbegriff ____ 59 b) Kategorien des staatsrechtlichen Beamtenbegriffs ____ 64 aa) Bundesbeamte, Landesbeamte, Gemeindebeamte ____ 65 bb) Berufsbeamte auf Lebenszeit und auf Zeit ____ 66

cc) Beamte auf Probe und auf Widerruf ____ 67 dd) Laufbahnbeamte ____ 68 ee) Ehrenbeamte ____ 69 ff) Politische Beamte ____ 70 2. Die Begründung, Veränderung und Beendigung des Beamtenverhältnisses ____ 71 a) Die Ernennung zum Beamten ____ 71 aa) Anwendungsfeld, Zuständigkeit, Form ____ 72 bb) Objektive und subjektive Ernennungsvoraussetzungen ____ 77 cc) Leistungsprinzip, Ernennungsanspruch, Konkurrenz ____ 89 dd) Die Nichtigkeit der Ernennung ____ 96 ee) Die Rücknahme der Ernennung ____ 101 ff) Rechtsfolgen mangelhafter Ernennungen im Innen- und Außenverhältnis ____ 105 b) Beförderung, Versetzung, Umsetzung und Abordnung ____ 110 aa) Die Beförderung ____ 112 bb) Die Versetzung ____ 115 cc) Die Umsetzung ____ 116 dd) Die Abordnung ____ 117 c) Ruhestand, Entlassung und Entfernung aus dem Dienst ____ 118 aa) Endgültiger und einstweiliger Ruhestand ____ 119 bb) Die Entlassung ____ 123 cc) Beendigung des Dienstverhältnisses infolge strafgerichtlicher Verurteilung ____ 128 dd) Die Entfernung aus dem Dienst ____ 129 3. Pflichten und Rechte im Beamtenverhältnis ____ 130 a) Die Pflichten des Beamten ____ 131 aa) Dienstpflicht, Gehorsamspflicht, Residenzpflicht ____ 132 bb) Nebentätigkeit des Beamten ____ 136 cc) Neutralität und Unparteilichkeit im Amt ____ 138 dd) Amtsverschwiegenheit ____ 140 ee) Die politische Treuepflicht ____ 142

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

Dienstvergehen ____ 143 Haftung ____ 147 Die Beamtenrechte ____ 151 Spezielle Fürsorgeverpflichtungen ____ 152 bb) Die allgemeine Fürsorgepflicht ____ 155 cc) Dienstbezüge und deren Rückforderung ____ 160 dd) Personalakten ____ 167 b) c) d) aa)

e)

Die Bedeutung einzelner Grundrechte für die Rechtsstellung des Beamten ____ 171 4. Rechtsbehelfe im Beamtenverhältnis ____ 179 a) Außergerichtliche Rechtsbehelfe ____ 180 b) Gerichtliche Rechtsbehelfe ____ 182

Literatur: S. Alber Das europäische Recht und seine Auswirkungen auf den öffentlichen Dienst, ZBR 2002, 225 ff. U. Battis Bundesbeamtengesetz, Kommentar, 4. Aufl 2009 (zit Battis BBG). U. Battis Beamtenrecht, in: Achterberg/ Püttner/Würtenberger (Hrsg.), BesVwR II, 2. Aufl 2000, 1012 ff. U. Battis Arbeiter und Angestellte im öffentlichen Dienst, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger (Hrsg.), BesVwR II, 2. Aufl 2000, 1093 ff. U. Battis Personalvertretungsrecht, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger (Hrsg.), BesVwR II, 2. Aufl 2000, 1115 ff. H. J. Behrens Beamtenrecht, 2. Aufl 2001. H. Bierschneider Bayerisches Beamtenrecht, 1968. A. Bochalli Grundriss des deutschen Beamtenrechts, 1965. L. Budjarek Das Recht des öffentlichen Dienstes und die Fortentwicklungsklausel des Art. 33 V GG nach der Föderalismusreform, 2009. H. R. Claussen/W. Janzen Bundesdisziplinarordnung, 8. Aufl 1996. H. R. Claussen (Begr.) Bundesdisziplinarrecht: Rechtsprechungsübersicht zum materiellen Disziplinarrecht, 9. Aufl (Bearb: P. Czapski), 2001. J. Crisolli/M. Schwarz Hessisches Beamtengesetz, 1981. W. Dietz/R. Richardi Bundespersonalvertretungsgesetz, 3. Aufl 2008. A. Dillenburger Das Beamtenstatusgesetz als neues Beamtenbundesrecht für die Beamtinnen und Beamten der Länder, NJW 2009, 1115. K. Ebert Das gesamte öffentliche Dienstrecht, 1972. O. Fischbach Bundesbeamtengesetz, 3. Aufl 1. Halbbd 1964, 2. Halbbd 1965. W. Frotscher Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat, 1975. W. Fürst/A. Strecker Beamtenrecht (einschließlich Disziplinar- und Personalvertretungsrecht), 1987. W. Fürst (Hrsg.) Gesamtkommentar Öffentliches Dienstrecht. Bd I: W. Fürst/H. J. Finger/O. Mühl/F. Niedermaier Beamtenrecht des Bundes und der Länder. Bd II: H.-D. Weiß Disziplinarrecht des Bundes und der Länder. Bd III: M.-C. Schinkel Besoldungsrecht des Bundes und der Länder. Bd IV: G. Arndt/S. Baumgärtel ua Recht der Arbeiter und Angestellten im Öffentlichen Dienst. Bd V: A. Fischer/H.-J. Goeres Personalvertretungsrecht des Bundes und der Länder. K. Gerhardt/K. Hahn/A. Schäufele Landesbeamtenrecht für Baden-Württemberg, 1966. W. Grabendorff/P. Arend Beamtengesetz von Rheinland-Pfalz, 1967. A. Gunkel/B. E. Pilz Beamtenrecht in Nordrhein-Westfalen, 5. Aufl 2007. H. Hartmann/F. Janssen/U. Kühn Bayerisches Beamtengesetz, 5. Aufl 1978. W. Hildebrandt/H. Demmler/H.-G. Bachmann Kommentar zum Beamtengesetz für das Land Nordrhein-Westfalen, 1963. G. Hilg/G. Müller Beamtenrecht in Bayern, I. Halbbd – Allgemeines Beamtenrecht, 2. Aufl 1981. J. Isensee Öffentlicher Dienst, in: E. Benda/W. Maihofer/ H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl 1994, 1527 ff. J. Isensee Affekte gegen Institutionen – überlebt das Berufsbeamtentum?, in: Verantwortung und Leistung, Heft 34/1998. K. Kessler Personalvertretungsrecht, 1997. K. König/H. W. Laubinger/F. Wagener (Hrsg.) Öffentlicher Dienst. FS C. H. Ule, 1977. K. König/H. Siedentopf (Hrsg.) Öffentliche Verwaltung in Deutschland, 1997. K. Köpp Öffentliches Dienstrecht, in: U. Steiner (Hrsg.), BesVwR, 7. Aufl 2003, 407 ff. H. Korn/G. Siecken Das Beamtenrecht in Nordrhein-Westfalen, 1962. W. Kümmel Niedersächsisches Beamtengesetz, 1965 ff. H. Lecheler Der öffentliche Dienst, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd V, 3. Aufl 2007, § 110. W. Leisner Grundlagen des Berufsbeamtentums, 1971. W. Leisner (Hrsg.) Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat, 1975. W. Leisner Beamtentum. Schriften zum Beamtenrecht und zur Entwicklung des Öffentlichen Dienstes 1968–1991, 1995. C. Leusser/E. Gerner/K. Kruis Bayerisches Beamtengesetz, 2. Aufl 1970. P. Linde Angestellte im Öffentlichen Dienst, Bd 1: Grundlagen des Arbeitsverhältnisses, 3. Aufl 2001. U. Lorenzen/M. Haus/L. Schmidt Bundespersonalvertretungsgesetz, 1975. W. Loschelder Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderbindung, 1982. S. Magiera/H. Siedentopf (Hrsg.) Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 1994 (zit Magiera/Siedentopf Öffentlicher Dienst). A. Maneck/H. Schirrmacher Hessisches Bedienstetenrecht, 1960. R. Mehlinger Grundlagen des Personalvertretungsrechts, 1996. G. Müller/E. Beck Beamtenrecht in Baden-Württemberg, 1962. F.-J. Peine/M. Heinlein, Beamtenrecht, 2. Aufl 1999. E. Plog/A. Wiedow/G. Beck/B. Lemhöfer Kommentar zum Bundesbeamtengesetz mit Beamtenversorgungsgesetz, 2. Aufl 1958 ff (zit Plog/Wiedow/Beck/Lemhöfer BBG). A. Reich Beamtenstatusgesetz Kommentar, 2. Aufl. 2012. W. Rudolf Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, VVDStRL 37 (1979) 175 ff. C. Sachse/ E. Topka Niedersächsisches Beamtengesetz, 1961. H. W. Scheerbarth/H. Höffken/H. J. Bauschke/L. Schmidt Beamtenrecht, 6. Aufl 1992. W.-R. Schenke Fälle zum Beamtenrecht, 2. Aufl 1990. W. Schmidt/G. Ehrenthal Niedersächsisches

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I. Gegenstand und Begriff – 6. Kapitel

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Beamtengesetz, 3. Aufl 1967. F. E. Schnapp Amtsrecht und Beamtenrecht, 1977. H. Schnellenbach Beamtenrecht in der Praxis, 7. Aufl 2011. E. Schütz Beamtenrecht des Bundes und der Länder, 5. Aufl 1973. J. Senff/St. Sippel Beamtenrecht in Thüringen, 1996. H. Sommer/I. Sommer/K.-H. Konert Niedersächsisches Beamtengesetz, 2001. W. Sponer/ F. Steinherr/J. Schwimmbeck Die Dienstverhältnisse der Angestellten bei öffentlichen Verwaltungen und Betrieben im Beitrittsgebiet-BAT-O, 1992. G. P. Strunk Beamtenrecht, 3. Aufl 1986. R. Summer Auswirkungen des Europarechts auf das Beamtenrecht, Recht in Europa, FS anlässlich des 200-jährigen Bestehens der juristischen Fakultät Augsburg, 2003, 281 ff (zit Summer). A. Thiele Art. 33 Abs. 4 als Privatisierungsschranke, Der Staat 49 (2010), 274 ff. W. Thieme Der öffentliche Dienst in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1961. C. H. Ule Beamtenrecht, 1970. C. H. Ule Öffentlicher Dienst, im GRe IV/2, 1962, 537 ff. F. Wagener Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, VVDStRL 37 (1979) 215 ff. F. Wagner Beamtenrecht, 8. Aufl 2004. G. Weber/J. Banse Das Urlaubsrecht des öffentlichen Dienstes, 1978. H. Weiss/F. Niedermaier/R. Summer/S. Zängl Bayerisches Beamtengesetz, 1966. S. Werres Beamtenverfassungsrecht. Systematische Darstellung des Berufsbeamtentums auf Grundlage der verfassungsrechtlichen Vorschriften, 2011. W. Wiese Handbuch des Öffentlichen Dienstes. Bd I: H. Hattenhauer Geschichte des Beamtentums, 2. Aufl 1993. Bd II, Teil 1: W. Wiese Beamtenrecht, 3. Aufl 1988. Bd III, Teil 1: H.-E. Meixner Personalpolitik, 1982. Bd III, Teil 3: H. Siepmann/U. Siepmann Arbeits- und Stellenbewertung im öffentlichen Dienst, 1984. Bd IV, Teil 1: D. Rogalla Dienstrecht der Europäischen Gemeinschaften, 2. Aufl 1992. Bd IV, Teil 2: J.-D. Busch Dienstrecht der Vereinten Nationen, 1981. F. Wind/R. Schimana/M. Wichmann/K.-U. Langer Öffentliches Dienstrecht, 6. Aufl 2007. H. J. Wolff/O. Bachof/R. Stober Verwaltungsrecht II, 7. Aufl 2010. W. Woydera/R. Summer/S. Zängl Sächsisches Beamtengesetz, 1993 ff.

I. Gegenstand und Begriff 1. Zum systematischen Standort des Rechtsgebiets Zum Recht des öffentlichen Dienstes gehören das Beamtenrecht und das Recht der Angestellten 1 und Arbeiter im öffentlichen Dienst. Nur das Beamtenrecht ist „Besonderes Verwaltungsrecht“. Es steht deshalb hier im Mittelpunkt der Darstellung, doch komplettiert erst der Blick auf alle Formen der Rechtsverhältnisse von Bediensteten der öffentlichen Hände das Gesamtbild von den Akteuren, die die staatlichen Funktionen, Regierung und Verwaltung, in Person wahrnehmen. Grundgedanken des Beamtenrechts strahlen auf die anderen Rechtsverhältnisse im öffentlichen Dienst aus, während sich andererseits Unterschiede erst im Vergleich erschließen. Vorliegend geht es um deutsches Dienstrecht, nicht um die Rechtsbeziehungen der Bediensteten, die bei supranationalen oder internationalen Institutionen beschäftigt sind.1 Nur das Beamtenrecht ist öffentliches Dienstrecht. Es steht für sich unter den Rechtsge- 2 bieten, die gemeinsam das Besondere Verwaltungsrecht bilden. Diese betreffen zum überwiegenden Teil die Kontrolle, Steuerung, Förderung von im gesellschaftlichen Raum sich vollziehender Aktivität oder suchen die soziale Sicherung der Bürger zu gewährleisten. Wie das Kommunalrecht betrifft dagegen das Beamtenrecht die Organisation der Verwaltung, allerdings nicht diejenige von Körperschaften,2 sondern deren Personal; es regelt die Rechtsverhältnisse derjenigen, durch die die Verwaltung handelt, sie dabei in öffentlich-rechtliche Pflichten nehmend und sich ihnen öffentlich-rechtlich verpflichtend. Es geht – so gesehen – um ein Innenverhältnis innerhalb der staatlichen Organisation, das vom Wirken staatlicher Personalge-

_____ 1 Zum Dienstrecht der EU Überblick bei Nicolaysen Europarecht I, 2. Aufl 2002, 265 f; Frenz Hdb Europarecht Bd 6, 2011, Rn 1681 ff; Alber ZBR 2002, 225 ff; s ferner Rogalla Dienstrecht der europäischen Gemeinschaften, 2. Aufl 1992; Hatje Der Rechtsschutz der Stellenbewerber im europäischen Beamtenrecht, 1988; Demmke ZTR 2003, 483 ff; zur Meinungsfreiheit eines Bediensteten der EU-Kommission EuGH DVBl 2001, 716 ff o JK EGV Art 220/1; s auch EuGH DVBl 2001, 1199 ff; EuGH NVwZ 2008, 537 ff – gleichgeschlechtliche Partnerschaft und Ehe; zu den Bediensteten internationaler Organisationen Ullrich ZBR 1988, 49 ff; ders Das Dienstrecht der Internationalen Organisationen, 2009; vergleichend Riegel ZTR 1993, 223 ff. Zur Besoldungskürzung bei Versorgung aus der Verwendung im öffentlichen Dienst einer überstaatlichen Einrichtung (vgl § 8 I BBesG) s BVerwG ZBR 1997, 399. 2 Vgl die Definition des Kommunalrechts o Röhl 1. Kap Rn 1.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

walt3 und Organisationsgewalt4 geprägt ist, und aus dem Konsequenzen auch für das Verhältnis von Bürger und Verwaltung erwachsen. Es geht aber nicht um „Staatsorganisationsrecht“, denn der Beamte ist durch das Beamtenrecht nicht als Organ des Staates, sondern als dessen Bediensteter angesprochen, auch wenn er nach außen hin ein Organ repräsentiert. Die Bedeutung des Beamtenrechts und des Rechts des öffentlichen Dienstes insgesamt er3 gibt sich nicht nur aus dem Umstand, dass der Staat ohne Bedienstete handlungsunfähig ist, oder aus der Quantität der Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst (vgl Rn 25).5 Wichtiger ist, dass das Beamtenrecht als Rechtsgebiet systematische Einsichten in das Verwaltungsrecht vermittelt, von deren Instituten es sich teils eigenständig abhebt, deren verallgemeinernde Kraft es deshalb auf die Probe stellt, deren rechtsstaatlichen Anliegen es sich andererseits öffnet. Der damit angesprochene Aspekt verwaltungsrechtlicher Systembildung, wie auch die nachhaltige verfassungsrechtliche Vorprägung, legen eine Beschäftigung mit dem Rechtsgebiet in der rechtswissenschaftlichen Ausbildung nahe. Das dienstrechtliche Detail kann angemessen nur erfasst werden, wenn es in die allgemeinen staats- und verwaltungsrechtlichen Grundlinien eingeordnet wird.

2. Öffentlicher und privater Dienst 4 Der Begriff „öffentlicher Dienst“ ist Rechtsbegriff wie auch Systembegriff, sofern er Institutionen und Betätigungen bezeichnet, für die Sonderrecht gilt. Als Rechtsbegriff verwendet ihn zB Art 33 V GG und meint damit die Dienstverhältnisse der Beamten (auch der Richter), nicht aber der im Staatsdienst beschäftigten Angestellten und Arbeiter. Art 131, 132 GG – Übergangsvorschriften aus Anlass des Neuaufbaus nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches – verwenden dagegen den Begriff „öffentlicher Dienst“ in einem weiten Sinne; sie beziehen sich auf jede Art der Beschäftigung bei einem öffentlichen Dienstherrn.6 Wird in systematischem Sinne vom Recht des öffentlichen Dienstes gesprochen, so sind damit alle Rechtsnormen gemeint, die die Rechtsverhältnisse der Funktionsträger regeln, welche für öffentliche Dienstherren tätig sind. Für sie alle gelten, auch wenn ihnen eine privatrechtliche Abrede zugrunde liegt, Besonderheiten gegenüber zwischen Privaten begründeten Dienstverhältnissen, die die Leistung eines versprochenen Dienstes gegen die Entrichtung einer vereinbarten Vergütung zum Gegenstand haben. Sonderrecht ist also das Recht des öffentlichen Dienstes, das in einen öffentlich-rechtlichen, 5 beamtenrechtlichen Teil und einen privatrechtlichen Teil, dem Recht der Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes, zerfällt; es betrifft jeweils Dienstleistungen gegenüber öffentlichen Dienstherren, setzt immer die Eingliederung in den Dienstbetrieb voraus und steht daher dem Arbeitsrecht näher als dem bürgerlich-rechtlichen Dienstvertragsrecht. Es betrifft dauernd erbrachte, berufsmäßige Leistungen in Eingliederung in eine Organisation. Demzufolge treffen den Dienstherrn, vergleichbar dem Arbeitgeber, gesteigerte soziale und fürsorgerische Pflichten. Es besteht wechselseitig ein Verhältnis besonderer Loyalität. Das Beamtenrecht als Kern des öffentlichen Dienstrechts in Deutschland hat sich aber – weitergehend – von allen sonstigen rechtlichen Formen für dienstliche Beziehungen entfernt. Pflichten und Rechte im Beamtenverhältnis sind Gegenstand öffentlich-rechtlich geregelter, 6 teilweise auch verfassungsrechtlich vorgegebener Sonderregeln zur Bewältigung von Lagen, wie sie sich teilweise auch in anderen Bereichen des Arbeitslebens stellen. Da die soziale Anschau-

_____ 3 Zum Begriff s Loschelder in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 107 Rn 50 mwN; vgl auch Schuppert in: Benda/Maihofer/ Vogel, HVerfR, § 31 Rn 40 f. 4 Zum Begriff s Burgi in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 7 Rn 1 ff. 5 Zum Beamtenrecht in Ausbildung und Prüfung Kirsch Jura 2010, 487 ff. 6 Vgl für Angestellte BVerfGE 3, 162, 175, für Soldaten BVerfGE 3, 288, 314 f.

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I. Gegenstand und Begriff – 6. Kapitel

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ung und das Erleben der Bürger auch das Beamtenverhältnis nicht selten „wie ein Arbeitsverhältnis“ begreift, gewinnt die Frage nach der Legitimation der besonders einschneidenden Unterschiede (zB kein Streikrecht für Beamte,7 besondere, auch „politische“ Treuepflicht; andererseits: privilegierte soziale Sicherung) besondere Brisanz. Auch wenn und solange die Verfassung die Existenz des Berufsbeamtentums verlangt, besteht die Notwendigkeit seiner Legitimation.8 Ähnliches gilt, soweit das Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst trotz abweichender rechtlicher Konstruktion sich inhaltlich dem Beamtenrecht angenähert hat. 9 Grundlegend für das Verständnis jedweden Sonderstatus’ im öffentlichen Dienst, mag er Inpflichtnahme oder Privilegierung bedeuten, und für die Beurteilung seiner Legitimität ist der Umstand, dass die wechselseitige Beziehung zwischen Dienstherrn und Dienstnehmer um eines Dritten willen begründet wird: um der Allgemeinheit willen. Erschöpft sich ein privates Arbeitsverhältnis im Austausch von Leistungen in der Zweierbeziehung zum gegenseitigen Vorteil, so wird das Dienstverhältnis begründet, damit der Staat die ihm verfassungsrechtlich aufgegebenen Leistungen erfüllen kann. Das Dienstverhältnis zwischen zweien ist Leistungsverhältnis für die Allgemeinheit.10 Seine Besonderheiten reflektieren die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft.

3. Gesichtspunkte der Abgrenzung Als Rechtsbegriff ist der Begriff „öffentlicher Dienst“ jeweils normspezifisch, also nach der je- 7 weiligen Gesetzessystematik und nach dem Sinn und Zweck der Norm auszulegen, die ihn verwendet.11 Allgemein und (gesetzes-)kontextunabhängig kommt es für die Abgrenzung vor allem auf die Qualifizierung des jeweiligen Dienstgebers an.

a) Dauer und Eingliederung Allgemeines Begriffsmerkmal ist zunächst, dass eine Dienstleistung dauernd erbracht wird:12 8 Eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst erfolgt grundsätzlich „berufsmäßig“, auch soweit sie nicht als Ausübung von Berufsfreiheit iS des Art 12 I GG geschützt ist.13 Sie setzt ferner die Eingliederung in die Organisation des Dienstherrn voraus,14 ist – so gesehen – „Arbeit“. Diese Kriterien führen zur Ausgrenzung ehrenamtlicher Tätigkeit, Wehrpflichtiger (nicht aber: von Berufssoldaten auf Zeit oder Lebenszeit) und Ersatzdienstpflichtiger. Rechtsanwälte sind „Organe der Rechtspflege“ (§ 1 BRAO),15 ohne dem öffentlichen Dienst anzugehören, auch Notare sind nicht in die staatliche Organisation eingegliedert,16 ebenso wenig beliehene Unternehmer, ungeachtet

_____ 7 Näheres s Rn 176. 8 Vgl dazu einerseits Czapski FS Claussen, 1988, 11 ff; Leisner Legitimation des Berufsbeamtentums aus der Aufgabenerfüllung, 1988; Merten ZBR 1999, 1 ff; Lindner ZBR 2006, 1 ff; andererseits Blanke ArbuR 1989, 306, 313: „Sonderkaste“; vgl auch Thiele DöD 1994, 245 ff; Summer PersV 1996, 241 ff; Lecheler ZBR 1996, 1 ff; Öhlinger DöD 1996, 145 ff; Vogelsang ZBR 1997, 33 ff; Sommermann VerwArch 89 (1998) 290 ff; Remmert JZ 2005, 52 ff. 9 Überblick dazu bei Lecheler in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 110 Rn 105 ff. 10 Das wird – verkürzend – zugespitzt von Adomeit ZRP 1987, 75, 79, mit der These, im öffentlichen Dienst sei „jeder Arbeitnehmer sein eigener Arbeitgeber“; zur zeitgeistbedingten Erosion des Amtsethos Isensee ZBR 2004, 3 ff. 11 Vgl BVerwGE 9, 314, 316; vgl auch BVerfGE 55, 207, 227 o JK GG Art 80 I/2 sowie BAG DZWiR 1993, 416, 418 m Anm Oetker. Zu § 22 Nr 3 VwGO s SächsOVG NVwZ-RR 1998, 324. 12 Vgl OVG Lüneburg DVBl 1958, 803. 13 Zum Verhältnis von Art 12 GG zu Art 33 GG s zB Gubelt in: v Münch/Kunig, GG I, Art 12 Rn 21. 14 Vgl dazu BVerfGE 17, 371, 377 ff. 15 Zu „Rechtsanwälten im öffentlichen Dienst“ s § 47 BRAO; Feuerich MDR 1993, 1141 ff; für die Zulassung von verbeamteten Juristen als Anwalt Braun DÖD 2008, 217 ff. 16 Vgl zur Auslegung des § 1 BNotO BayVerfGHE 29, 123, 129. S ferner Zuck FS Schippel, 1996, 817 ff.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

ihrer Fähigkeit zu hoheitlichem Handeln.17 Auch die Mandatsträger in Organen der kommunalen Gebietskörperschaften gehören dem öffentlichen Dienst nicht an, auch wenn sie Teil der Exekutive sind,18 ebenso wenig die Mitglieder der Regierungen, die parlamentarischen Staatssekretäre.19 Regierungsmitglieder stehen an den Spitzen des öffentlichen Dienstes, sind ihm aber nicht eingeordnet, stehen nicht im Beamten-, sondern in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis, das eigenen Regeln folgt.20 Einen besonderen, eigenständig in Einzelgesetzen geregelten Status haben auch der Wehrbeauftragte (Art 45b GG)21 und die Datenschutzbeauftragten.22

b) Abgrenzung nach dem Dienstherrn 9 Allgemeiner Auffassung entspricht es heute, zum öffentlichen Dienst alle Personen zu zählen, die von einem in öffentlich-rechtlicher Rechtsform befindlichen Dienstherrn beschäftigt werden, also von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts.23 Es sind das der Staat in Bund und Ländern, die Gemeinden, sonstige Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts oder von ihnen errichtete juristische Personen öffentlichen Rechts, auch die als öffentlich-rechtliche Körperschaft organisierten Kirchen. Eigenbetriebe hingegen, die über eigene Rechtspersönlichkeit nicht verfügen, sind unmittelbar ihrem Träger, etwa einer Gemeinde, zugeordnet, deren Dienstherreneigenschaft demzufolge die Zugehörigkeit der Beschäftigten zum öffentlichen Dienst begründet.24 Nicht jede juristische Person des öffentlichen Rechts kann alle Spielarten öffentlicher Dienstverhältnisse begründen. Die sog Dienstherrenfähigkeit bezeichnet die Fähigkeit, über Angestellten und Arbeitern hinaus auch Beamten Dienstherr sein zu können. Sie kommt nach § 2 BeamtStG Bund, Ländern, Gemeinden, Gemeindeverbänden zu, anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts aber nur, wenn ihnen dieses Recht gesondert eingeräumt worden ist. Juristische Personen privaten Rechts sind nicht dienstherrenfähig. Nichtsdestotrotz können Beamte im Rahmen einer Zuweisung (§ 20 I Nr 2 BeamtStG) dort tätig sein. Im Vergleich zu § 123a BRRG erweitert § 20 BeamtStG die Möglichkeiten der Zuweisung, da jetzt statt „dringender öffentlicher Interessen“ „öffentliche Interessen“ ausreichen. Ohne Zustimmung des Beamten ist weiterhin die Zuweisung einer Tätigkeit bei einer Dienststelle, die in eine privatrechtlich organisierte Einrichtung der öffentlichen Hand umgebildet wird (§ 20 II BeamtStG), möglich. Die Vorschrift ist vor dem Hintergrund der Post- und Bahnreformen zu sehen (Rn 26).25 Die so entstandenen Aktiengesellschaften sind beliehene Trägerinnen öffentlicher Verwaltung. 26 Zu ihrem Personal zählen „Beamte in der Privatwirtschaft“.27

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17 Dazu Burgi in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 9 Rn 23 ff. 18 Näher – und zu Besonderheiten – o Röhl 1. Kap Rn 91. 19 Vgl dazu das ParlStG, BGBl 1974 I 1538, zul geänd d Art 15 III G v 5.2.2009, BGBl I 160. 20 Vgl das G über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung – BundesministerG, BGBl 1971 I 1166; zul geänd d Art 1 G v 23.10.2008, BGBl I 2018. 21 Vgl das G über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, BGBl 1982 I 677, zul geänd d Art 15 LXVIII G v 5.2.2009, BGBl I 160; eingehend Busch Der Wehrbeauftragte, 4. Aufl 1991. 22 Vgl §§ 22 bis 26 BDSG; Flanderka Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, 1988. 23 S dazu auch die in § 15 II ArbplSchG gegebene Definition, wonach unter „öffentlichem Dienst“ im Sinne dieses Gesetzes die Tätigkeit im Dienst des Bundes, eines Landes, einer Gemeinde (eines Gemeindeverbandes) oder anderer Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts (oder der Verbände von solchen, ausgenommen öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften und ihre Zusammenschlüsse) zu verstehen ist. 24 Zur privatisierenden Umwandlung/Ausgliederung Hinw bei Steuck NJW 1995, 2887 ff. 25 § 20 I Nr 2 BeamtStG dient der Förderung des Personalaustauschs zwischen öffentlichem Dienst und Privatwirtschaft. Vgl BT-Drs 16/4027 S 26 f; Hebeler/Knappstein ZBR 2010, 217, 222. 26 S für die Deutsche Bahn AG BayObLG DÖV 1997, 1053. 27 Zur Anwendbarkeit des Disziplinarrechts – vgl u Rn 143 ff – s BVerwG NVwZ 1997, 584 f – Deutsche Telekom AG; s ferner Wendt/Elicker ZBR 2002, 73 ff; zur „amtsangemessenen Beschäftigung“ bei der Deutschen Bahn AG OVG RP NVwZ 1998, 538 ff. S ferner Wernicke ZBR 1998, 266 ff (Bahnbeamte) sowie zur verfassungsrechtlichen Absicherung

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I. Gegenstand und Begriff – 6. Kapitel

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c) Ausgrenzung des Rechts der Richter, Berufssoldaten und der kirchlichen Bediensteten Nach den bisher vorgetragenen Begriffsmerkmalen sind auch Richter, Berufssoldaten und Be- 10 dienstete der Kirchen Angehörige des öffentlichen Dienstes. Ihre Rechtsstellung unterscheidet sich aber teils recht deutlich von derjenigen aller anderen Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Die Rechtsstellung der Richter ist im DRiG geregelt, das die verfassungsrechtlich geforderte Unabhängigkeit der Richter (Art 97 GG) sicherzustellen hat.28 Für die Dienstverhältnisse der Soldaten ist das SoldG maßgeblich, das den Soldaten um der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr willen stärkere Pflichtenbindungen auferlegt als den sonstigen Dienstnehmern.29 Die Dienstverhältnisse kirchlicher Bediensteter sind Gegenstand des (inneren) Kirchenrechts und in je unterschiedlichem Ausmaß dem staatlichen Dienstrecht angenähert. Gemäß § 63 II BeamtStG gilt mangels einer dort enthaltenen entsprechenden Regelung § 135 BRRG fort, wonach dieses Gesetz nicht für die öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften und ihre Verbände gilt. Diesen bleibt es überlassen, die Rechtsverhältnisse ihrer Beamten und Seelsorger diesem Gesetz entsprechend zu regeln und die Vorschriften des Kapitels II Abschnitt II für anwendbar zu erklären. Sie sind vom Selbstverständnis und der Aufgabenspezifik kirchlicher Verwaltung derart geprägt, dass sie, wie das Recht der beiden vorgenannten Berufsgruppen, hier – unabhängig von terminologischen Fragen – jedenfalls in die weitere Darstellung nicht einzubeziehen sind.30

d) Dienstrecht als Straf- und Haftungsrecht Zum Recht des öffentlichen Dienstes könnten auch die Bestimmungen des bürgerlichen Rechts 11 (Amtshaftungsrecht, vgl § 839 BGB) und des Strafrechts (Amtsdelikte, vgl §§ 331 ff StGB) gezählt werden, die Sonderregelungen für Amtsträger enthalten. Sie sind im vorliegenden Zusammenhang nicht darzustellen, allerdings bei der Bestimmung der verschiedenen Beamtenbegriffe heranzuziehen (Rn 59).

e) Kollektives Dienstrecht Kollektives öffentliches Dienstrecht ist das Personalvertretungsrecht, auf das hier ebenfalls 12 nur hingewiesen werden kann.31 Es stellt für den öffentlichen Dienst ein modifiziertes Pendant zum Betriebsverfassungsrecht der privaten Wirtschaft dar. Dem Begriff des Betriebes entspricht dabei die Dienststelle, dem Unternehmer der Dienststellenleiter, als Mitbestimmungsorgane sind der Personalrat (vgl den Betriebsrat) und die Personalversammlung (vgl die Betriebsversammlung) einzurichten. Geregelt ist das Personalvertretungsrecht im BPersVG und den innerhalb seiner Rahmenvorschriften (§§ 95 bis 106 BPersVG) geschaffenen Personalvertretungsgesetzen der

_____ der künftigen Verwendung von Beamten von Bahn u Post Art 143a I 2 bzw Art 143b III GG. Kritisch Battis FG zum 50jährigen Bestehen des BVerwG, 2003, 771, 776 ff; Janssen ZBR 2003, 113 ff; Kutscha NVwZ 2002, 942 ff. Zu den Überlegungen für eine Privatisierung des Gerichtsvollzieherwesens Roth/Karpenstein ZVI 2004, 442. 28 Zum Spannungsverhältnis von richterlicher Unabhängigkeit und Dienstaufsicht s Achterberg NJW 1985, 3041 ff; vgl auch Dütz JuS 1985, 745 ff. 29 S dazu Rauschning 8. Aufl des vorliegenden Buches, 919 ff. 30 Vgl dazu BVerfGE 55, 207, 230 ff o JK GG Art 80 I/2; E 70, 138, 160 ff o JK GG Art 140/1; BVerwGE 10, 355 ff; OVG NW DÖV 1998, 393 f; Thieme DÖV 1986, 62 ff; Weber NJW 1989, 2217, 2224; Hammer ZTR 1997, 97 ff; zur strafrechtlichen Amtsträgerschaft von Kirchenbeamten BGH NJW 1991, 367 ff; zur Frage des Rechtsweges OVG RP NVwZ 1997, 802 f; BVerwG DÖV 1994, 961 f; dazu Haastert DÖV 1996, 363 ff – „Besondere Beamtenverhältnisse“ erörtert Battis in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II, § 31 Rn 182 ff. 31 Zusammenfassende Darstellung bei Battis in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II, § 33; Ilbertz Personalvertretungsrecht des Bundes und der Länder, 2010. Zur Reformbedürftigkeit Hebeler ZBR 2004, 80 ff und Vogelgesang ZfPR 2003, 194 ff; ferner ders Tendenzen in der neueren Rechtsprechung des BVerwG zum Personalvertretungsrecht, ZTR 2003, 366 ff. Zur Mitbestimmung in Eigengesellschaften (Rn 9) Ossenbühl ZGR 1996, 504 ff. Zu den Besonderheiten bei der Bundeswehr Gronimus PersV 2003, 123 ff.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

Länder; unmittelbar gelten in den Ländern die §§ 107 bis 109 BPersVG. Gemäß der Mehrspurigkeit des öffentlichen Dienstes setzen sich die Personalräte aus Gruppen („Gruppenprinzip“) für Beamte, Angestellte oder Arbeiter zusammen. Der Aufbau der Personalvertretung entspricht dem hierarchischen Verwaltungsaufbau, so dass im Bereich mehrstufiger Verwaltungen Bezirkspersonalräte (bei den Mittelbehörden) und Hauptpersonalräte (bei den obersten Dienstbehörden) errichtet werden (Stufenvertretungen). 13 Grundgedanke der Personalvertretung ist, den Bediensteten die eigene Interessenvertretung in der Dienststelle zu ermöglichen. Sie erhalten so die Möglichkeit, sich an der Bewältigung von Interessenkonflikten zu beteiligen, die typischerweise in einer arbeitsteiligen Organisation auftreten. Ob Mitbestimmung im öffentlichen Dienst verfassungsgeboten ist und wo ihre verfassungsrechtlichen Grenzen gezogen sind, ist im Grundsätzlichen wie in den Einzelheiten umstritten.32 Die Unsicherheit über die verfassungsrechtlichen Vorgaben prägt auch die Diskussion über die Inhalte einzelner Landespersonalvertretungsgesetze und deren Vereinbarkeit mit dem Bundesrecht.33 Im Grunde standen sich langjährig zwei Positionen gegenüber: das Drängen nach weit reichender, teils über die Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsrecht noch hinausreichender Beteiligung einerseits, die Betonung der Unterschiede zwischen Privatwirtschaft und öffentlichem Sektor unter Hinweis auf dessen Verfassungsbindung andererseits, beide Positionen geprägt von unterschiedlichen Verständnissen des Demokratieprinzips. In einer Entscheidung v 24.5.1995 hat das BVerfG34 die Beteiligungsrechte von Beschäftigtenvertretungen im öffentlichen Dienst als Einschränkungen des Demokratieprinzips begriffen, welche aber im Interesse der Beschäftigten gerechtfertigt sein können. Es hat damit derartige Mitbestimmung für nicht grundsätzlich unzulässig erklärt, aber ihre verfassungsrechtlichen Grenzen deutlich betont. Diese Grenzen werden im Blick auf den genannten Schutzzweck, aber auch auf die gebotene Letztentscheidung eines dem Parlament verantwortlichen Entscheidungsträgers („Verantwortungsgrenze“) markiert. Über den Verfahrensgegenstand (des MBG SH)35 hinaus hat das Gericht damit weit reichenden Korrekturbedarf im Personalvertretungsrecht ausgelöst und den Gesetzgebern dabei wenig Spielräume gelassen.36 Die Personalräte37 verfügen über unterschiedliche Beteiligungsrechte, die in den Gesetzen 14 – getrennt für Beamte einerseits, für Arbeiter und Angestellte andererseits – katalogartig aufgeführt sind. Sie unterscheiden sich nach voller Mitbestimmung, eingeschränkter Mitbestimmung und bloßer Mitwirkung.38 Volle Mitbestimmung bedeutet, dass eine Entscheidung nur mit der Zustimmung des Personalrates getroffen werden kann. Wird sie verweigert und ist eine Einigung nicht zu erzielen, so hat der Leiter der Dienststelle oder der Personalrat die Möglichkeit, die Angelegenheit der obersten Dienstbehörde vorzulegen. Hier vollzieht sich dann die Mitbestimmung der dort bestehenden Personalvertretung. Im Falle der Nichteinigung auch auf dieser Ebene entscheidet eine unabhängige Einigungsstelle. Bei eingeschränkter Mitbestimmung führt die Verweigerung der Zustimmung des Personalrates zur Vorlage an die Einigungsstelle, die

_____ 32 Vgl aus der älteren Rspr BVerfGE 9, 268 ff; HessStGH PersV 1986, 227 ff; aus dem Schrifttum Schenke JZ 1994, 1025 ff; Lecheler PersV 2007, 218 ff. 33 Vgl für NW Krüger PersV 1990, 242 ff; für SH Schuppert PersR 1993, 1 ff; Bryde PersR 1994, 4 ff; für RP Schuppert PersR 1993, 521 ff; für Sachs Thiele ZTR 1993, 487 ff; für LSA Hütter ZTR 1993, 491 ff; für Hess Battis RdA 1993, 129 ff; für Nds Thiele PersV 1994, 337 ff. 34 BVerfGE 93, 37 ff; dazu Kisker PersV 1995, 529 ff; Ehlers Jura 1997, 180 ff; v Mutius FS Kriele 1997, 119 ff. 35 Dazu zuvor Schuppert PersR 1993, 1 ff; s danach ders PersR 1997, 137 ff. 36 Krit unter diesem Aspekt Battis/Kersten DÖV 1996, 584, 587 f; zu den Konsequenzen für SH dies, PersV 1998, 21 ff; für BW Beeretz VBlBW 1996, 401 ff. 37 Einführend zu ihren Aufgaben am Bsp des bayerischen Rechts: Schmitt BayVBl 1985, 7 ff. 38 Vgl dazu Laubinger VerwArch 76 (1985) 459 ff (auch zum Verhältnis von Personalvertretungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht); zur Rspr Becker ZBR 1991, 321 ff; vgl auch ThürVerfGH PersV 2004, 252, mit Anm Lecheler PersV 2004, 244.

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sodann eine Empfehlung an die oberste Dienstbehörde richten kann, welche die endgültige Entscheidung trifft. Bei bloßer Mitwirkung hat der Personalrat lediglich das Recht der Anhörung, dh auf Unterrichtung und Ermöglichung einer Stellungnahme. Die Personalversammlung ist die Versammlung aller Bediensteten einer Dienststelle. Als 15 ordentliche Personalversammlung ist sie jährlich abzuhalten, kann aber auch als außerordentliche Versammlung einberufen werden. Auf der Jahresversammlung erstattet der Personalrat einen Tätigkeitsbericht. Die Personalvertretung kann darüber hinaus nur Angelegenheiten behandeln, die in die Zuständigkeit des Personalrats fallen, Anträge an ihn richten und Stellungnahmen zu seinen Beschlüssen verabschieden. Mit rechtlicher Bindung kann sie nicht auf den Personalrat einwirken. 6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Rechts

II. Zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Dienstes II. Zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Dienstes – 6. Kapitel

1. Zur geschichtlichen Entwicklung39 Staatsdiener gibt es seit der Herausbildung von Staatlichkeit, Beamtenrecht dagegen ist ein 16 Phänomen der Neuzeit, das (heutige) Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst hat seine Wurzeln erst im 19.Jahrhundert. Während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. von Preußen (1713–1740) wurden Dienstverhältnisse zunehmend durch einseitige Hoheitsakte begründet und beendet. Aus Dienern des Landesherrn wurden im Laufe der Entwicklung Staatsdiener, die über einen in Ansätzen gegenüber der Einwirkung des Dienstherrn gesicherten rechtlichen Status verfügten. Mit zunehmender Erkenntnis der organisatorischen und personalen Anforderungen an eine effektive Verwaltung prägte sich – oft wird gesagt: vor allem in Preußen – ein spezifisches Amtsethos aus. Es setzte sich die Auffassung durch, dass gegenüber Dienstverhältnissen im gesellschaftlichen Bereich andersartige Strukturen erforderlich seien. Hier liegen Wurzeln für die heute im GG anzutreffenden spezifischen Aussagen zum Beamtentum und für seine moderne einfachgesetzliche Ausgestaltung; gemeinsam mit den rechtsstaatlichen und föderalen Elementen des GG charakterisieren sie dieses als eine in deutscher Tradition stehende, auch im Kreis von der Grundkonzeption her vergleichbarer europäischer Verfassungsgesetze eigenständige Verfassung. Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 dokumentiert die Entwicklungen der voran- 17 gegangenen Jahrzehnte textlich und terminologisch: Sein Abschnitt „Von den Rechten und Pflichten der Staatsdiener“ (Teil II Titel 10) forderte Eignung und Qualifikation, statuierte den Grundsatz lebenslanger Amtstätigkeit in besonderer Loyalität, begrenzte die Möglichkeit der Entlassung materiell wie verfahrensmäßig.40 Zunächst in Bayern (1805), dann in Württemberg (1821) folgten eigenständige beamtenrechtliche Kodifikationen.41 Im Zuge der Herausbildung moderner Verfassungsstaatlichkeit in Deutschland nahmen die ersten Konstitutionen auf das Beamtentum Bezug. Nach der Reichsgründung von 1871 wurde ein Reichsbeamtengesetz (1873) – für den Reichsdienst – geschaffen. Weniger infolge legislativer Akte als durch seinen administrativen Beitrag zum Aufschwung Preußens vor und nach der Reichsgründung gewann das preußische Beamtentum modellhaften Charakter. Die WRV von 1919 fixierte „Grundsätze“ für das Beamtenverhältnis (vgl Art 129 WRV), so (zB) die Anstellung auf Lebenszeit, eine Garantie

_____ 39 Dazu Hattenhauer Geschichte des Beamtentums, 2. Aufl 1993; Thiele Die Entwicklung des deutschen Berufsbeamtentums – Preußen als Ausgangspunkt modernen Beamtentums, 1981; Püttner in: Jeserich/Pohl/von Unruh Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd 5, Die Bundesrepublik Deutschland, 1987, 1124 ff; Hübener/Hübscher ZBR 1998, 407 ff; Summer Dokumente zur Geschichte des Beamtenrechts, 1986; Günther ZBR 2010, 1 ff. 40 Näheres zum Beamtenrecht des ALR Günther DÖD 2009, 14. 41 Dazu Wunder Privilegierung und Disziplinierung. Die Entstehung des Berufsbeamtentums in Bayern und Württemberg (1780–1825), 1978. Zu Bayern ferner Hamm ZBR 1998, 151 ff; Wunder, ZBR 2005, 2 ff.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Rechts

„wohlerworbener Rechte“, den Gesetzesvorbehalt für Amtsenthebung, Versetzung, Versorgung und die Verpflichtung auf die Allgemeinheit; die WRV ging deutlich stärker in Details als das GG, sprach etwa auch das Einsichtsrecht des Beamten in Personalakten an. Der Übergang von der Monarchie zur Republik veränderte die Grundlagen des vorherigen Beamtentums.42 Der sog Führerstaat43 knüpfte durchaus an Weimarer Entwicklungslinien an. Schon am 18 7.4.1933 wurde freilich das die Entfernung unerwünschter Beamter legalisierende, auf „Unzuverlässigkeit“ im Sinne der nationalsozialistischen Bewegung und auf rassische Kriterien abstellende Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums44 erlassen. Es unternahm den Versuch, die Beamtenschaft auf die Loyalität zu einer Person – unter namentlicher Nennung Adolf Hitlers in der Gesetzespräambel – zu verpflichten. Parteizugehörigkeit wurde zum wesentlichen Kriterium für den Zugang zum Dienst.45 Auch das Deutsche Beamtengesetz von 193746 war von der Ideologie des Nationalsozialismus geprägt. Private Dienstverhältnisse mit öffentlichen Dienstgebern hatten sich schon in der Zeit 19 der konstitutionellen Monarchie entwickelt,47 weil dem Staat daran gelegen war, Rechtsbeziehungen zu schaffen, die leichter beendbar waren als das Beamtenverhältnis und nicht dessen Versorgungslasten mit sich brachten. Die Fülle der Staatsaufgaben, denen sich deutsche Staaten des 19. Jahrhunderts stellten, legten solche Art der Flexibilisierung nahe. Annäherungen beider Diensttypen brachte schon die Weimarer Zeit, nachhaltig dann der Nationalsozialismus.48 Mit dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs waren die Beamtenverhältnisse erloschen.49 20 Die Nachkriegszeit in deutscher Zweistaatlichkeit sah auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zunächst die erneute Aufsplitterung des Beamtenrechts in Ländergesetze, in der sowjetischen Besatzungszone und nachmaligen DDR die Abschaffung des Berufsbeamtentums.50 Das GG suchte – zunächst war das nicht unumstritten – an Traditionen der Entwicklung des deutschen Beamtenrechts anzuknüpfen.51 Die Bundesrepublik gelangte durch BBG (1953) und BRRG (1957) zur Rechtsvereinheitlichung des Beamtenrechts, erst in späteren Jahren zur Vereinheitlichung auch des Besoldungsrechts (1971) und des Versorgungsrechts (1976). Die Zweispurigkeit blieb gewahrt, für Angestellte und Arbeiter war damit grundsätzlich das BGB der Ausgangspunkt, dessen Regelungen aber zunehmend überlagert wurden durch tarifvertragliche Regelungen, welche wiederum eine Annäherung an das Beamtenverhältnis bewirkten. Dieser Rechtszustand wurde durch die deutsche Einigung am 3.10.1990 auch für die Bundesrepublik Deutschland in den neuen Grenzen maßgeblich.

_____ 42 Vgl dazu Morsey/Fenske in: 25 J Hochschule f VerwWiss Speyer, 1972, 101 ff bzw 117 ff. 43 Vgl dazu § 1 des G über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches v 1.8.1934, RGBl I 747: „Das Amt des Reichspräsidenten wird mit dem des Reichskanzlers vereinigt. Infolgedessen gehen die bisherigen Befugnisse des Reichspräsidenten auf den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler über. Er bestimmt seinen Stellvertreter.“ S dazu MüllerDietz Jura 1991, 505 ff. 44 RGBl I 175; s dazu Kremer DöD 1993, 204 ff. – Vgl auch G zur Änderung von Vorschriften auf dem Gebiet des allg Beamtenrechts v 30.6.1993, RGBl I 433. 45 Zum Beamtentum in der NS-Zeit Mommsen Beamtentum im Dritten Reich, 1966; Roth FS Claussen, 1988, 25 ff; Mühl-Benninghaus Das Beamtentum in der NS-Diktatur bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges, 1996. 46 RGBl I 39. 47 Dazu Otto Das Recht der Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Dienst, 1973, 24 ff. 48 Vgl – zB – das G zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben v 23.3.1934, RGBl I 220. 49 Vgl dazu BVerfGE 3, 58, 76 ff; s ferner Bachof DÖV 1954, 33 ff; H. Peters JZ 1954, 589 ff; eingehend Langhorst Beamtentum und Art 131 des Grundgesetzes, 1994. 50 S die Nachw u Fn 55. 51 Vgl dazu Schwegmann, Die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums seit 1945. Geburtsfehler oder Stützpfeiler der Demokratiegründung in Westdeutschland?, 1986; Grotkopp Beamtentum und Staatsformwechsel, 1992; Morsey DÖV 1993, 1061 ff.

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Der Einigungsvertrag v 31.8.199052, 53 hat keine Änderungen im Wortlaut des GG herbeigeführt, 21 die für das Recht des öffentlichen Dienstes unmittelbar relevant sind.54 Allerdings ist Art 131 GG, der die Rechtsverhältnisse von am 8.5.1945 im öffentlichen Dienst tätig gewesenen Personen betrifft, im Beitrittsgebiet nicht in Kraft gesetzt worden (Art 6 EV). Demzufolge sind auch mehrere thematisch in diesen Zusammenhang gehörige Gesetze entgegen der Grundregel des Art 8 EV nicht auf das Beitrittsgebiet erstreckt worden (s Anlage I Kap II Sachgebiet B, Abschn I). Art 33 IV GG, der Funktionsvorbehalt für die Beamten, wurde in Art 20 II EV insofern auf- 22 genommen, als danach die Wahrnehmung hoheitsrechtlicher Befugnisse auch im Beitrittsgebiet „sobald wie möglich“ Beamten zu übertragen war. Eine Protokollnotiz zu Art 20 II EV vermerkt, dass die Einführung des Beamtentums entsprechend den für die Personalausstattung der für die bisherige Bundesrepublik Deutschland maßgebenden Grundsätze für auf Dauer erforderliche Funktionen zu erfolgen habe – was im Vorgriff auf die Postreform und die Privatisierung der Bahnen (su Rn 26) insoweit nicht umgesetzt wurde. Überleitungsvorschriften und übergangsweise eingeführte Rechtsänderungen im Bereich 23 des öffentlichen Dienstrechts ergeben sich aus Anlage I Kap XIX EV, wobei etwa für die Besoldung und Versorgung der Übergang zeitlich gestreckt wurde. Besonderer Regelungsbedarf bestand naturgemäß bezüglich der personalen Kontinuität. Die Rechtsordnung der DDR kannte lediglich Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst.55 Die Anlage regelt die Fortgeltung und Überführung dieser Dienstverhältnisse auf neue Dienstherren und die befristete Fortgeltung der bisherigen Arbeitsbedingungen bis zu tarifvertraglichen Vereinbarungen, des Weiteren zusätzliche Gründe für ordentliche und außerordentliche Kündigungen, insbesondere aus Bedarfs- und Qualifikationsgründen, aber auch wegen Verstoßes gegen Menschenrechte oder wegen Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit.56 Das BVerfG hat positiv zu der Verfassungsmäßigkeit einzelner Sonderkündigungstatbestände Stellung genommen, dabei aber auch rechtsstaatliche Maßgaben zu ihrer Begrenzung herausgearbeitet.57 Auch die Regelungen des EV, nach denen Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten bei infolge der Umgestaltung der Verwaltung abzuwickelnden öffentlichen Einrichtungen zum Ruhen gebracht und zu befristen waren, sind vom BVerfG für im Wesentlichen verfassungsgemäß erachtet worden.58 Für die Übernahme in das Beamtenverhältnis wurden unbeschadet der für den Übergang angeordneten entsprechenden Geltung des BBG besondere Maßgaben errichtet, die grundsätzlich die Möglichkeit der Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Probe vorsahen.59 Seither hatten sich die Gerichte mehr-

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52 BGBl II 889. 53 Eingehende Darstellung der dienstrechtsbezogenen Inhalte von „Staatsvertrag I“ (Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion v 18.5.1990, BGBl II 537) und EV bei Weiß ZBR 1991, 1 ff. 54 Zum Verhältnis des Einigungsvertrages zum GG s Stern DtZ 1990, 289 ff; Merten Grundfragen des Einigungsvertrages unter Berücksichtigung beamtenrechtlicher Probleme, 1991. 55 Dazu Leissner Verwaltung und öffentlicher Dienst in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, 1961; Jacobs Das Recht des Staatsdienstes in der DDR, 1975; Unverhau ZBR 1987, 33 ff; Mampel Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, 2. Aufl 1982, Rn 31 ff zu Art 21; Überlegungen zu „Beitritt und Beamtentum“ kurz vor dem Ende der DDR bei Goerlich JZ 1990, 675 ff; sa Bernet DÖV 1991, 185 ff u ZBR 1991, 40 ff. 56 Zur Überleitung des im öffentlichen Dienst beschäftigten Personals der DDR Trute in: Isensee/Kirchhof, HStR IX, § 125 Rn 57 ff; ders Die Überleitung des Personals der ehemaligen DDR zwischen Kontinuität und Neubeginn, 1997. Zur Rechtsprechung des OVG Bbg bzgl Einstellungspraxis und Entlassungen von ehemaligen MfS-Mitarbeitern Schwarz LKV 2003, 77. 57 S BVerfGE 92, 140 ff o JK GG Art 12 I/38 u dazu Goerlich JZ 1995, 800 f; BVerfG DVBl 1997, 1169 ff; vgl auch BVerfG LKV 1998, 141 f zu einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde. – S zu dem Fragenkreis ferner Schlink FS Böckenförde, 1995, 341 ff; Hantel NJ 1995, 169 ff; Rauscher FS Gitter, 1995, 757 ff; Neumann FS Wlotzke, 1996, 83 ff; Patermann DtZ 1997, 242 ff. 58 BVerfGE 84, 133 o JK GG Art 12 I/26 (Ausnahme: Durchbrechung des Mutterschutzes); s dazu Hauck-Scholz LKV 1991, 225 ff; Beseler PersR 1993, 537 ff. 59 Zur Startphase des öffentlichen Dienstrechts, insbes des Beamtenrechts, in den neuen Ländern etwa Lecheler ZBR 1991, 48 ff; Püttner DÖV 1991, 327 ff; Battis NJ 1991, 89 ff; Box LKV 1991, 87 ff; Pitschas, Verwaltungsintegration in

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Rechts

fach mit der Inanspruchnahme allgemeiner beamtenrechtlicher Eingriffsgrundlagen gegenüber als belastet angesehenen Bediensteten zu befassen (su Rn 85).

2. Reformfragen 24 Vor allem gegen Ende der 1960er Jahre wurde eingehend erwogen, ein einheitliches Dienstrecht zu schaffen. Angesichts der durch Art 33 IV GG (dazu Rn 34 ff) erfolgten Festschreibung der bei der Verfassungsgebung vorgefundenen Zweiteilung und des Regelungsauftrags des Art 33 V GG (dazu u Rn 40) warf das auch die Frage nach Möglichkeit und Sinn von Verfassungsänderungen auf. Eine von der Bundesregierung eingesetzte Studienkommission für die Reform des Dienstrechts60 legte einen Bericht vor, der die Bundesregierung dazu veranlasst hat, statt einer grundlegenden Strukturreform eine anpassende Weiterentwicklung des Dienstrechts zu betreiben.61 Für die letzten Jahre der Bundesrepublik Deutschland im alten territorialen Zuschnitt standen im Mittelpunkt der Entwicklung zB Vorhaben, die auf die zunehmende Staatsverschuldung reagierten (Angleichung der Beamtenversorgung an die Altersversorgung nach dem Sozialversicherungssystem) oder arbeitsmarktpolitische und familienpolitische Ziele verfolgten (zB Teilzeitdienst). Die Dimension jeder Diskussion um Veränderungen des Dienstrechts erweist sich auch an 25 Zahlen. Im Öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland waren Mitte 2010 knapp 4,6 Mio Beschäftigte (inkl Soldaten und Richter) tätig, von denen gut 3,1 Mio den Beruf als Vollzeitbeschäftigte und 1,5 Mio als Teilzeitbeschäftigte (letztere mit steigender Tendenz) ausübten. 62 Weitere 0,95 Mio waren bei rechtlich selbständigen Unternehmen mit mehrheitlich öffentlicher Beteiligung beschäftigt. Die größte Beschäftigtengruppe waren die Arbeitnehmer in tarifvertraglich geregelten Beschäftigungsverhältnissen (2,7 Mio) vor den Beamten (1,7 Mio);63 es überwogen also die nichtbeamteten Dienstnehmer. Insgesamt ist die Zahl der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst seit den 1990er Jahren rückläufig gewesen,64 was sich unmittelbar aus der Belastungslage öffentlicher Haushalte erklärt und eine Parallele in zahlreichen anderen europäischen Staaten findet. Die Zahlen belegen auch, dass das Beamtenverhältnis – nach Art 33 IV GG Regeltypus 26 im öffentlichen Dienst – insgesamt quantitativ zurücksteht. Auch im Grundsätzlichen wird nach wie vor über das rechte Verhältnis des Einsatzes der Diensttypen gestritten.65 Die Strukturdiskussion ist als juristische Diskussion vielschichtig, weil verfassungsrechtliche Weichenstellungen, einfach-gesetzliche Regelungen über die Begründung von Beamtenverhältnissen, aber auch das europäische Recht hier von Bedeutung sind. Von unterschiedlicher Warte wird die Beschäftigungspolitik der Dienstgeber teilweise interpretiert als von Tendenzen zur „Verbeamtung“ gekennzeichnet, teilweise werden aber auch „Entbeamtungsaktionen“ vermerkt (und angeprangert).66 Je nach Ausgangspunkt wird etwa Art 33 IV GG als unerfüllt gerügt, anderer-

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den neuen Bundesländern, 1993; Wagner DöD 1993, 81 ff; im weiteren Zusammenhang der Erstreckung des Verwaltungsrechts auf die neuen Länder Kunig Jura 1994, 595 ff. Überblick zu den Beamtengesetzen der neuen Länder bei Battis/Lühmann LKV 1994, 197 ff. 60 Vgl Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstes, 1973, 12 Bde. 61 Vgl dazu Siedentopf ZBR 1986, 153 ff. 62 Statistisches Bundesamt Finanzen und Steuern Personal des öffentlichen Dienstes, 2010. 63 Statistisches Bundesamt Finanzen und Steuern Personal des öffentlichen Dienstes, 2010. 64 Vgl Bundesministerium des Innern Der öffentliche Dienst des Bundes Daten zur Personalstruktur, 2011, 10. 65 Zur Zweispurigkeit aus ökonomischer Sicht Langer Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst aus der Sicht von Segmentationsansätzen, 1989; Henneberger Arbeitsmärkte und Beschäftigung im öffentlichen Dienst, 1997. 66 Vgl – im Rahmen rechtswissenschaftlicher Begutachtung – einerseits Lecheler Die Verfassungspflicht der Dienstherrn zum Einsatz von Beamten bei der Erfüllung staatlicher Daueraufgaben, dargestellt an den Beispielen der Bundesbahn, der Bundespost und der staatlichen allgemeinbildenden Schulen, 1989; andererseits Dörr Für eine

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seits die Norm auch als Sperre für Verbeamtungen interpretiert (dazu u Rn 35). Von einigen wird Art 33 IV GG im Licht der europarechtlichen Vorgaben „eng“ ausgelegt, andere fordern, die Norm als Bollwerk der integrativen Tendenz zur Freizügigkeit innerhalb des öffentlichen Dienstes der Mitgliedstaaten entgegenzuhalten. Die zunehmende Verlagerung der Diskussion auf die europarechtliche Ebene lässt den jahrelangen Streit um die Struktur des öffentlichen Dienstes und seine Reform (Rn 24) also in einem neuen Licht erscheinen. Er gehört in den größeren Zusammenhang auch der Auseinandersetzung über die Wünschbarkeit der Privatisierung staatlicher Aufgabenwahrnehmung (realisiert für Bahnen und Flugsicherung, weitgehend auch für die Post). Dabei wird zuweilen (auch hier) verkannt, dass das – an dieser Stelle insoweit nicht näher auslotbare – Verfassungsrecht dem politischen Ringen um angemessene Lösungen erhebliche Spielräume lässt.67 Das gilt angesichts der Grundsatzentscheidung für den Beamtentypus, die Art 33 IV GG darstellt (Rn 34 ff), weniger bei lediglich formeller Privatisierung (als Wahl eines privatrechtlichen Organisationstypus), wohl aber im Blick auf die Möglichkeit, ehedem in staatlicher Regie wahrgenommene Aufgaben auch materiell der Wahrnehmung Privater zu überlassen.68 Die Dienstrechtsreform steht also in unmittelbarem Zusammenhang mit der Diskussion 27 über die Aufgabenbestimmung des Staates, wie sie politisch geführt und sozialwissenschaftlich begleitet wird.69 Das Dienstrecht ist dabei nur ein Einzelelement auf der Suche nach optimierender Umgestaltung. In Frage steht etwa auch der Zustand des Haushaltsrechts sowie allgemein des Organisationsrechts der Verwaltung. Was den öffentlichen Dienst anlangt, so hatte der Gesetzgeber des Bundes bereits mit dem Dienstrechtsreformgesetz v 24.2.199770 eine Zwischenschritt bleibende Modernisierung unternommen. Ihre Leitlinien sind Stärkungen des Leistungsprinzips, die Erleichterung von Entscheidungen über den Personaleinsatz, eine weitere Akzentuierung der Flexibilität der Arbeitszeit, dazu die Minderung der drastisch angewachsenen Versorgungslasten öffentlicher Hände, schließlich die Bekämpfung der Korruption.71 Das Ziel einer Kräftigung des

_____ zukunftsorientierte Personalstruktur des öffentlichen Dienstes – Die Abgrenzung von Beamten und Angestellten unter Einbeziehung des EWG-Rechts, 1990; zusammenfassend ders EuZW 1990, 565 ff; vgl auch Reinhardt AöR 118 (1993) 617, 621. 67 Zu den Postreformen I u II etwa Schatzschneider NJW 1989, 2371 ff; Gramlich NJW 1994, 2785 ff; F. Kirchhof NVwZ 1994, 1041 ff; vgl auch Pestalozza Jura 1994, 561, 571 f. Zur Bahnreform vgl Lecheler NVwZ 1989, 834 ff; Fromm DVBl 1994, 187 ff; unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten Schmidt-Aßmann/Röhl DÖV 1994, 577 ff; Benz DÖV 1995, 692 ff. Zur Flugsicherung s §§ 27c–31a LuftVG sowie Epping JZ 1991, 1102 ff. – Allg zur „Privatisierung“ Burgi Privatisierung öffentlicher Aufgaben, Gutachten D zum 67. DJT 2008; Schoch Jura 2008, 672 ff; Sellmann NVwZ 2008, 817 ff; Gersdorf JZ 2008, 831 ff; Kämmerer DVBl 2008, 1005 ff; Stober NJW 2008, 2301 ff; Wieland NdsVBl 2009, 33 ff; Maurer FS Steiner, 2009, 529 ff; K. Stein DVBl 2010, 563 ff; Kästner FS Schenke, 2011, 863 ff; zu Art 33 IV GG als Privatisierungsschranke Thiele Der Staat 49 (2010), 274 ff. 68 Vgl dazu die Überlegungen bei Schuppert Der Staat 32 (1993), 581 ff. Vgl zur Parkraum-/Verkehrsüberwachung KG NJW 1997, 2894 ff; Scholz NJW 1997, 14 ff; zur Sonderabfallentsorgung BVerwG NVwZ 2006, 829 ff o JK GG Art 33/1; zum Jugendstrafvollzug Gusy JZ 2006, 651 ff; zur Privatisierung im Maßregelvollzug BVerfG NJW 2012, 1563 o JK GG Art 33 IV/2, dazu Schladebach/Schönrock NVwZ 2012, 1011 u Wiegand DVBl 2012, 1134; zum Gerichtsvollzieherwesen Heister-Neumann ZRP 2007, 140 ff. 69 Vgl dazu etwa Busse DÖV 1996, 398 ff; König VerwArch 87 (1996) 19 ff; Meyer-Teschendorf/Hofmann DÖV 1997, 268 ff. Aus dem Blickwinkel der Allg Staatslehre, auch rechtsvergleichend, Saladin Wozu noch Staaten?, 1995. 70 G zur Reform des Öffentlichen Dienstrechts, BGBl I 322; dazu Battis NJW 1997, 1033 ff; Schnellenbach NVwZ 1997, 521 ff; Lecheler ZBR 1998, 223 ff; im Vorfeld ders ZBR 1996, 1 ff; Wolff ZRP 1996, 479 ff; Bredendiek/Meier NVwZ 1996, 444 ff. S ferner Adolf/Durner G zur Reform des öffentlichen Dienstrechts, 1997; Ehrhardt G zur Reform des öffentlichen Dienstrechts, 1997. 71 S das G zur Bekämpfung der Korruption v 13.8.1997, BGBl I 2038 mit Änderung der §§ 39, 43 BRRG (jetzt: §§ 37, 42 BeamtStG), des § 70 BBG sowie der BDO. S Claussen, Korruption im öffentlichen Dienst, 2. Aufl 2002; Pfeiffer NJW 1997, 797 ff; Lüderssen JZ 1997, 112 ff; Bottke ZRP 1998, 215 ff; vgl auch Roßbach DÖV 1996, 450 ff; Schiemann, NJW 2001, 1262 ff; zur Pflicht eines Beamten, erlangte „Schmiergelder“ an seinen Dienstherrn heraus zu geben, BVerwG DöD 2002, 170 f. Ferner Zetzsche Anspruch der öffentlichen Hand auf Schmiergeldablieferung, Anm zu BGH wistra 2004, 391 ff.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Rechts

Leistungsprinzips hat zu besoldungsrechtlichen Veränderungen72 geführt. In diesen Zusammenhang gehört auch die Vergabe von Führungspositionen auf Probe (vgl § 24a BBG) und auf Zeit (vgl § 4 II BeamtStG, Rn 66 f).73 Der Erleichterung des Personaleinsatzes dienen Veränderungen bei den Instituten der Versetzung und Abordnung (Rn 115 ff)74 sowie der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen gegen solche Entscheidungen (s § 54 IV BeamtStG, Rn 183). Verändert wurden auch die Rechtsgrundlagen für Teilzeitbeschäftigung und Dauerurlaub (vgl § 72a BBG, § 43 BeamtenStG, Rn 134). Im Bereich der Versorgung sind zahlreiche Einschnitte zu Lasten der Bediensteten erfolgt.75 Der mit dem Dienstrechtsreformgesetz im Jahr 1997 eingeschlagenen Tendenz folgt auch 28 der sog Bull-Bericht der Regierungskommission des Landes NRW zur Zukunft des öffentlichen Dienstes vom 27.1.2003,76 der im Wesentlichen eine Angleichung des öffentlichen Dienstrechts an das allgemeine Arbeitsrecht unter Überwindung der bisherigen Zweiteilung, ein Leistungsanreizsystem,77 die Einführung von Zielvereinbarungen auf verschiedenen Ebenen sowie erweiterte Handlungsspielräume für die ausführenden Instanzen bei weniger Vorschriften „von oben“ empfiehlt, sowie das Eckpunktepapier78 von Bundesregierung, Beamtenbund und Dienstleistungsgewerkschaft vom 4.10.2004. Letzteres betont die Vermeidung dauerhafter Mehrkosten, die Unverzichtbarkeit lebenserfahrener, also älterer Beamter, die Bedeutung von Fortbildungsmaßnahmen, die Förderung der Mobilität zwischen privaten und öffentlichen Karrieren und die Flexibilität der Arbeitszeit. Auch die im Jahr 2008 in einfachgesetzlicher Umsetzung der Föderalismusreform von 29 2006 erlassenen Gesetze – das Beamtenstatusgesetz,79 das am 1.4.2009 in Kraft trat, die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Statusrechte der Landesbeamten und -richter wahrnimmt und der Sache nach das BRRG weitgehend ersetzt, sowie das Dienstrechtsneuordnungsgesetz vom 5.2.200980 (das eine Neufassung des Bundesbeamtengesetzes, ferner Novellen des Bundesbesoldungsgesetzes und des Beamtenversorgungsgesetzes beinhaltet), folgen den durch die Dienstrechtsreform abgesteckten Leitlinien der Modernisierung. So soll das Leistungsprinzip durch erhöhte Anforderungen an die Probezeit und die Erweiterung des Kreises der auf Probe zu vergebenden Führungsämter (vgl § 24 BBG) und durch die Ausweitung der leistungsbezogenen Elemente der Besoldung (vgl § 27 BBesG) weiter gestärkt werden. In dieselbe Richtung geht die Umstellung des überkommenen Besoldungsdienstalterprinzips auf die Anknüpfung an Erfahrungsstufen bei der Bemessung des Grundgehalts, wobei der Aufstieg in die

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72 S zB § 42a BBesG (Prämien und Zulagen für besondere Leistungen), dazu Böhm ZBR 1997, 101 ff. S ferner Bull DÖV 1995, 592 ff. So ergingen das Bundesbesoldungs- u Versorgungsanpassungsgesetz v 19.4.2001, BGBl I 618, dazu Meier, ZBR 2001, 345 ff sowie das Besoldungsstrukturgesetz v 21.6.2002, BGBl I 2138, beides Artikelgesetze mit zahlreichen Änderungen der einschlägigen Bundesgesetzgebung. 73 S BVerfGE 121, 205 ff; Dorf, DÖV 2009, 14; die bayerische Regelung für einen Verstoß gegen das Lebenszeitprinzip haltend BayVerfGH BayVBl 2004, 111. 74 Zur Personalumschichtung im Zuge des Personalabbaus innerhalb des öffentlichen Dienstes und den neuen, landesrechtlich unterschiedlichen Regelungsmodellen (Stellenbörse, Personalvermittlungstelle und Stellenpool) Battis/Kersten DÖV 2004, 596 ff; speziell zum Berliner Modell des zentralen Stellenpools Gottwald NJ 2004, 197 ff; BVerwG ZBR 2009, 96. 75 Etwa: Bei Frühpensionierung wegen Dienstunfähigkeit nunmehr Berechnung der Versorgung aus der erreichten Dienstaltersstufe statt aus dem Endgrundgehalt, Ausnahme: Dienstunfall, vgl § 5 II BeamtVG. 76 Zusammenfassend mit Auflistung der derzeitigen Mängel und Reformzielen der Kommissionsvorsitzende Bull RuP 2003, 15 ff und DÖV 2004, 155 ff. Auf die Vorschläge eingehend Behrens/Münch ZRP 2003, 329 ff; Remmert JZ 2005, 53 ff. Vgl auch Loschelder ZBR 2003, 12 ff; Schönenbroicher DöD 2003, 149 ff. Mit weitergehenden Vorschlägen zur Eindämmung der zunehmenden Privatisierung Janssen ZBR 2003, 113 ff. 77 Kritisch zu den Ansätzen leistungsbezogener Besoldung Kutscha RuP 2003, 145 ff. 78 S Zusammenfassung der Verhandlungsergebnisse von Schily, Heesen und Bsirske ZTR 2004, 570 ff; ferner Lorse VBlBW 2006, 81 ff; Landau/Steinkühler DVBl 2007, 133 ff. 79 Umfassend zu den Neuerungen im BeamtStG Dillenburger NJW 2009, 1115; Ziekow, PersV 2007, 344 ff. 80 Battis NVwZ 2009, 409 ff.

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III. Die Rechtsetzungsebenen i. Recht d. öffentl. Dienstes u. ihre Regelungsfelder – 6. Kapitel

nächsthöhere Stufe von der Erbringung anforderungsgerechter Leistungen abhängen soll (vgl § 27 I 2 BBesG). Die Reform des Laufbahnrechts im Bundesbeamtengesetz,81 mit der Reduzierung der Zahl der Laufbahnen und der Öffnung des Laufbahnrechts für neue Qualifikationen, dient der Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit des Öffentlichen Dienstes. Weitere Grundsätze sind die Förderung der Mobilität zwischen Öffentlichem Dienst, Privatwirtschaft und internationalen Organisationen, die langfristige Sicherung der Beamtenversorgung (unter anderem durch die schrittweise Anhebung des Pensionseintrittsalters auf 67 Jahre) und die Optimierung der Regelungen zur Bekämpfung der Korruption.82 Die weitere Zukunft des öffentlichen Dienstrechts in Deutschland wird maßgeblich beeinflusst sein von den Entwicklungen des europäischen Kontexts (Rn 30 f). Auch dem Beamtenrecht kann auf dem Weg zu einem europäischen Verwaltungsrecht83 eine wichtige Rolle zukommen.84 6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

III. Die Rechtsetzungsebenen im Recht des öffentlichen Dienstes und ihre Regelungsfelder III. Die Rechtsetzungsebenen i. Recht d. öffentl. Dienstes u. ihre Regelungsfelder – 6. Kapitel

1. Völkerrecht und europäisches Recht Die internationale (im Gegensatz zur „unionsrechtlichen“) Rechtsetzungsebene hatte bisher für 30 das innerstaatliche Dienstrecht kaum Bedeutung. Einzelstaatliches Recht des öffentlichen Dienstes blieb von völkerrechtlichen Vorgaben wenig berührt, weil und insoweit dessen Ausgestaltung der nationalen Souveränität überantwortet ist. Seit dem Aufschwung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes und seiner institutionellen Verfestigung muss sich allerdings auch das Recht des öffentlichen Dienstes an den internationalen Menschenrechtsstandards messen lassen.85 So ist der EGMR86 zu dem Schluss gelangt, der Bundesrepublik Deutschland sei im Zusammenhang mit der beamtenrechtlichen (Verfassungs-)Treuepflicht (Rn 79 f) in einem Einzelfall ein Menschenrechtsverstoß vorzuhalten gewesen. Schon bald nach dem 2. Weltkrieg hatte die – bereits 1919 gegründete – Internationale Arbeitsorganisation87 ihre Bemühungen um den Schutz der Rechte von Arbeitnehmern nachhaltig ausgebaut; sie gibt Empfehlungen und Stellungnahmen ab und erarbeitet internationale Übereinkommen, deren Annahme sie den Mitgliedstaaten empfiehlt, und sie überwacht deren Einhaltung. Das betrifft auch Rechtsverhältnisse im öffentlichen Dienst.88

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81 Zu der Regelung der Laufbahnen der Landesbeamten und -richter in den einzelnen Bundesländern, Drescher DÖD 2011, 25, 29 f; Battis ZBR 2010, 21, vgl Battis, NVwZ 2008, 379, 380; zum Recht in BW: Lorse ZBR 2011, 11 ff; in Bay: Wissmann ZBR 2011, 361 ff; Kathke/Eck ZBR 2009, 361 ff. 82 Vgl die Neuregelungen der Herausgabepflicht in § 71 II BBG, § 42 II BeamtStG sowie die neu aufgenommenen Ausnahmen von der Verschwiegenheitspflicht in § 67 II Nr 3 BBG; Schrapper DÖD 2012, 49 ff. 83 Zur Begrifflichkeit u zu den „Schichten“ des „europäischen“ Verwaltungsrechts, zu dem auch die nationalen Verwaltungsrechte als Basis und Fundus zu rechnen sind, systematisch Schmidt-Aßmann Ordnungsidee, Kap 7 Tz 12 ff. 84 Vgl Rieckhoff Die Entwicklung des Berufsbeamtentums in Europa, 1993; Siedentopf FS Schnur, 1997, 327 ff; Niedobitek in: Magiera/Siedentopf, Öffentlicher Dienst, 11 ff; zum Austausch von Beamten im Rahmen eines Aktionsprogramms der EU ders DV 31 (1998) 81 ff. 85 S dazu im Überblick Widmeier ZBR 2002, 244 ff; zum zunehmenden Einfluss des EGMR auf das deutsche Beamtenrecht: Werres, DÖV 2011, 873 ff; Battis in: Sachs, GG, Art 33 Rn 63; zum Streikrecht Niedobitek ZBR 2010, 361; ferner Rn 177 mwN. 86 EGMR NJW 1996, 375 ff o JK EMRK Art 10/2; Roggemann NJ 1996, 338 ff. 87 Dazu einführend Ganser-Hillgruber ZBR 1998, 15 ff; Samson in: Bernhardt, Encyclopedia of Public International Law 5 (1993) 87 ff; Text des Gründungsstatuts: Kunig/Lau/Meng International Economic Law, 1993, 42 ff. 88 Vgl die Stellungnahme zum Streikrecht und Streikeinsatz von Beamten – dazu u Rn 173, 189 –, 291. Bericht des ILO-Ausschusses für Vereinigungsfreiheit vom 10.11.1993, No 1692; dazu Lörcher ArbuR 1993, 279 ff. Zum Fragenkreis ILO und Verfassungstreuepflicht eingehend Voegeli Völkerrecht und „Berufsverbote“ in der Bundesrepublik Deutschland, 1995.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

Mit dem Allgemeinen Völkerrecht ist es vereinbar, wenn ein Staat den Zugang zum öffentlichen Dienst grundsätzlich allein den eigenen Staatsangehörigen eröffnet. Die europäische Integration zielt demgegenüber auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in allen Mitgliedstaaten (Art 45 AEUV). Zu den „Arbeitnehmern“ zählen insoweit auch die Beamten. Das deutsche Recht hatte den Beamtenstatus bisher grundsätzlich den Deutschen (Art 116 I GG) vorbehalten, während der Abschluss von Dienstverträgen über Angestellten- oder Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst unabhängig von der Staatsangehörigkeit war (vgl Rn 78). Die Freizügigkeit ist europarechtlich allerdings nicht auf die Beschäftigung in der „öffentlichen Verwaltung“ erstreckt (Art 45 IV AEUV). Die Reichweite dieses Begriffes war für längere Zeit umstritten.89 Nach Auffassung der EU-Kommission unterfallen ihm (lediglich) etwa Bereiche wie Polizei, Rechtspflege, Finanzverwaltung, Diplomatie, Kommunal- und Zentralbankverwaltung, soweit sie hoheitliche Befugnisse ausüben, nicht jedoch Bereiche wie der Unterricht an staatlichen Bildungseinrichtungen, das öffentliche Gesundheitswesen, kommerzielle Dienstleistungen wie Verkehr, Strom- und Gasversorgung, Post- und Fernmeldewesen.90 Nach dieser Interpretation war die Vereinbarkeit der beamtengesetzlichen Zugangsregelungen bis zum Inkrafttreten des 10. G zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften v 20.12.1993 mit dem europäischen Recht zweifelhaft gewesen.91 Angesichts der ebenfalls engen Interpretation des Begriffs „öffentliche Verwaltung“ in Art 45 IV AEUV durch den EuGH stellt sich auch weiterhin und unabhängig von der erwähnten Änderung der Zugangsvoraussetzungen die Grundsatzfrage nach der Zugänglichkeit des Beamtendienstes für Ausländer und deren Grenzen, letzteres wegen verfassungsrechtlicher Hintergründe, die aber letztlich ebenfalls keine endgültige Resistenz des deutschen Rechts gegenüber seiner europarechtlichen Durchdringung bewirken können. Das so eingetretene Spannungsverhältnis zwischen Art 45 IV AEUV einerseits, Art 33 IV GG (Funktionsvorbehalt für Beamte) und Art 33 V GG (spezifischer verfassungsrechtlicher Regelungsauftrag für das einfache Beamtenrecht) andererseits erscheint jedoch auflösbar, ohne dass es einer explizit auf das europäische Recht bezogenen Grundgesetzänderung bedürfte.92 Zum einen stellt zutreffender Ansicht nach das Erfordernis der deutschen Staatsangehörigkeit keinen „hergebrachten Grundsatz“ iSd Art 33 V GG dar.93 Sieht man dies anders, so ist die Annahme einer Unvereinbarkeit des europarechtlich Verlangten mit dem verfassungsrechtlich Aufgegebenen ebenfalls nicht zwingend, denn die Gesetzgeber verfügen bei der Umsetzung des sich aus Art 33 V GG ergebenden Regelungsprogramms über Ermessensspielräume, welche durch die 2006 eingefügte Fortentwicklungsklausel tendenziell erweitert werden sollten (Rn 40).94 Daher steht die Vorschrift auch der über die erwähnte Gesetzesänderung vom Dezember 1993 hinausgehenden Öffnung des Be-

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89 Vgl dazu Everling DVBl 1990, 225 ff; Lecheler ZBR 1991, 97 ff; Badura FS Everling Bd 1, 1995, 33 ff; Hillgruber ZBR 1997, 1 ff; Summer in: FS jur Fakultät Augsburg, 2003, 282 ff; Kämmerer DV 37 (2004) 353 ff; Voßkuhle FS R. Scholz, 2007, 189, 191 ff. – Eingehend und unter Würdigung der Rspr des EuGH – Art 45 IV AEUV (früher Art 39 IV EGV, davor Art 48 IV) sei so auszulegen, dass seine Tragweite sich auf dasjenige beschränke, was zur Wahrung mitgliedstaatlicher Interessen „unbedingt erforderlich“ sei (s zB EuGH Slg 1986, 2121, 2146; EuGH EuZW 1992, 446; EuGH DVBl 1994, 577 f; vgl auch EuGH JZ 1998, 562 ff m Anm v Danwitz betr die Anerkennung von Vordienstzeiten, die im öffentlichen Dienst anderer Mitgliedstaaten geleistet wurden) – Schotten Die Auswirkungen des europäischen Gemeinschaftsrechts auf den Zugang zum öffentlichen Dienst in der Bundesrepublik Deutschland, 1994, 72 ff; ferner Fabis Die Auswirkungen der Freizügigkeit gemäß Art 48 EG-Vertrag auf Beschäftigungsverhältnisse im nationalen Recht, 1995; Burgi in: Hailbronner, 30 Jahre Freizügigkeit in Europa, 1998, 115 ff; Alber ZBR 2002, 225, 228 ff; nach Calliess/Ruffert EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 109, jetzt nicht mehr umstritten. 90 ABl C 72 v 18.3.1988; dazu Hochbaum ZBR 1989, 33 ff. 91 S BGBl I 2136; vgl zuvor BVerwG ZBR 1992, 308 ff. 92 Vgl etwa Kroppenstedt ZBR 1990, 197 ff; aA Büchner/Gramlich RiA 1992, 110 ff. 93 Etwa Battis in: Magiera, Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, 1990, 47, 50; Edelmann DöD 1993, 56 ff; aA zB Loschelder ZBR 1991, 102 ff. 94 Zur Fortentwicklungsklausel des Art. 33 V GG unter dem Aspekt von Kollisionen des Beamtenrechts mit dem Europarecht Summer PersV 2007, 223 ff; s ferner Kenntner JZ 2008 340, 346; Kunig in: v Münch/Kunig, GG I, Art 33 Rn 59; Dorf DÖV 2009, 14, 16 f.

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III. Die Rechtsetzungsebenen i. Recht d. öffentl. Dienstes u. ihre Regelungsfelder – 6. Kapitel

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amtendienstes für Ausländer im Zuge der einfachgesetzlichen Umsetzung der Föderalismusreform nicht entgegen. § 7 I BeamtStG (s dazu Rn 54 f) erweitert den Kreis der zum Öffentlichen Dienst zuzulassenden Personen um Staatsangehörige von Drittstaaten, mit denen völkerrechtliche Verträge bzgl der gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen bestehen. Insgesamt wird die fortschreitende gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen es im vorliegenden Bereich erleichtern, die verfassungsrechtlichen und die europäischen Vorgaben im Einklang zu halten und zugleich eine für die europäische Integration förderliche Bereicherung einzelner Dienstbereiche durch die Beschäftigung von Europäern zu erreichen. Öffnung (auch) des durch Beamte wahrgenommenen öffentlichen Dienstes, nicht die Abschaffung des Beamtentums in Deutschland ist von der Integrationsordnung gefordert.95 Inhaltlich wird das deutsche Dienstrecht insbesondere bei die Rechte und Interessen von Frauen betreffenden Fragen europarechtlich mitbestimmt, dies vor allem – aber nicht nur96 – in der unmittelbaren Konkurrenzsituation mit Männern (dazu Rn 90).

2. Verfassungsrecht Das Recht des öffentlichen Dienstes, insbesondere das Beamtenrecht, ist auf verfassungsrecht- 32 licher Ebene materiell und kompetenzrechtlich besonders angesprochen. Einige der speziellen Vorgaben sind hier vor der Darstellung des einfachen Gesetzesrechts auszuführen, weil dieses sich erst unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Grundlagen voll erschließt; auf weitere verfassungsrechtliche Normen (etwa: Gleichheitsanforderungen beim Ämterzugang, einzelne Grundrechte) ist dagegen aus der Sicht des einfachen Rechts zurückzukommen.

a) Institutionelle Verbürgung des Berufsbeamtentums97 Das GG gibt das Berufsbeamtentum als Institution vor und weist ihm Funktionen zu. Art 33 33 IV, V GG beinhalten entsprechende Regelungsaufträge. Die Abschaffung des Berufsbeamtentums würde eine Verfassungsänderung voraussetzen, seiner rechtlichen Ausgestaltung setzt die Verfassung Grenzen. Art 33 IV GG gibt dem Einzelnen kein Recht auf „Verbeamtung“,98 Art 33 V GG soll nach überwiegender Auffassung (auch) individualrechtliche Aussagen treffen (Rn 40). aa) Der Funktionsvorbehalt für Beamte: Art 33 IV GG verlangt, „die Ausübung hoheitsrecht- 34 licher Befugnisse“ solchen Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, die „in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen“; damit sind Beamte gemeint. Die Vorschrift errichtet eine Verfassungspflicht, ist nicht lediglich Programmsatz. Die gesetzlichen Vorschriften über die Zulässigkeit der Ernennung nehmen Art 33 IV GG auf (Rn 77). Was unter „hoheitsrechtlichen“ Befugnissen zu verstehen ist, wird unterschiedlich beur- 35 teilt.99 Auch wenn die Entstehungsgeschichte von Art 33 IV GG dafür spricht, dass (lediglich) die Eingriffsverwaltung gemeint gewesen sein wird,100 vor allem Gefahrenabwehr durch Polizei- und

_____ 95 Isensee in: Benda/Maihofer/Vogel, HVerfR, § 32 Rn 96. 96 S etwa OVG NW NVwZ-RR 2000, 695 f – Sonderzuwendung/Erziehungsurlaub; OVG Berlin ZBR 2000, 428 f – Adoptivmutter; auch BVerwG NVwZ-RR 2000, 692 – Frauenbeauftragte. 97 Aus neuerer Zeit s Merten in: Lüder, 50 Jahre Hochschule für VerwWiss Speyer, 1997, 145 ff. 98 Vgl VGH BW NJW 1980, 1868 ff; BVerfGE 6, 376, 385. 99 Die Frage wird – trotz eingehender literarischer Bemühungen – mitunter als „ungeklärt“ bezeichnet, so zB Köpp in: Steiner, BesVwR, Abschn III Rn 12. Aus der Rspr BVerfGE 9, 268, 284; BVerwGE 57, 55, 59 o JK GG Art 33 IV/1. Aus dem Schrifttum zB P. Kirchhof Der Begriff der hoheitsrechtlichen Befugnisse in Art 33 IV des Grundgesetzes, 1968; Lerche Verbeamtung als Verfassungsauftrag?, 1973; Huber DV 29 (1996), 437 ff; Leitges, Die Entwicklung des Hoheitsbegriffes in Art 33 IV des Grundgesetzes, 1998; Strauß, Funktionsvorbehalt und Berufsbeamtentum, 2000. 100 Zutr Schuppert in: AK-GG, Art 33 IV, V Rn 25.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

Ordnungsbehörden sowie Steuerverwaltung, geht die überwiegende Auffassung davon aus, dass auch die Leistungsverwaltung, also die öffentliche Förderung der Lebensverhältnisse durch unmittelbare Leistungsgewähr, dem Funktionsvorbehalt unterfalle.101 Insbesondere rein fiskalische Verwaltung sei von dem Funktionsvorbehalt nicht erfasst. Andere lassen die Verfolgung eines „öffentlichen Zwecks“ genügen102 – was sich aber im Grunde von jedem Verwaltungshandeln sagen lässt. Weitere Stimmen interpretieren „hoheitsrechtliche Befugnis“ eng als „obrigkeitliches“ Auftreten des Staates und meinen hiermit die nach überkommenem Verständnis als „notwendig“ vom Staat wahrzunehmenden Aufgaben,103 insbesondere diejenigen, bei denen der Staat ein Wahrnehmungsmonopol beansprucht, also etwa die Aufrechterhaltung der Sicherheit nach innen wie außen sowie die Erhebung von Steuern. Die Beschränkung des Begriffs „hoheitsrechtliche Befugnis“ auf traditionell als genuin obrig36 keitsstaatlich eingeordnete Aufgaben berücksichtigt trotz ihrer historischen Plausibilität den Funktionswandel des Staates nicht hinreichend.104 Sie entzieht der Entscheidung für einen zweispurigen öffentlichen Dienst, in dem ein „nach hergebrachten Grundsätzen“ (Art 33 V GG) agierendes Beamtentum im Vordergrund steht, den Boden. Aufgaben, die für das Gemeinwohl von besonderer Bedeutung sind, sollen von solchen Bediensteten wahrgenommen werden, die der besonderen Pflichtenbindung des Beamten unterliegen. Hat sich der Staat dafür entschieden, etwa in den Bereichen der sozialen Sicherung oder des kulturellen Lebens Aufgaben an sich zu ziehen, sie nicht den Zufälligkeiten des gesellschaftlichen Bereichs zu überlassen, so ist es konsequent, grundsätzlich denjenigen Personaltypus zu ihrer Bewältigung einzusetzen, der nach der Vorstellung des GG die Gemeinwohlverwirklichung am ehesten gewährleistet. Im Hinblick auf den Sinn des Art 33 IV GG gelingt weder die Abgrenzung nach „obrigkeitlicher“ und „sonstiger“ Eingriffsverwaltung noch nach Eingriffs- und Leistungsverwaltung, zumal auch im Zuge der Leistungsgewähr Zwangsmittel eingesetzt werden können, auch die Leistungsverwaltung Eingriffe vornimmt, auch ihr Handeln in Teilen dem Vorbehalt des Gesetzes unterworfen ist, aus grundrechtlicher Sicht: der Verrechtlichung bedarf, sofern die Verwaltung in der Lage ist, auf die Bedingungen der Grundrechtsausübung des Bürgers wesentlich einzuwirken.105 Es lässt sich ferner nicht überzeugend danach abgrenzen, ob Verwaltungshandeln sich in der Form des öffentlichen Rechts oder des Privatrechts vollzieht,106 denn damit wäre auf die Potentialität einer Handlungsalternative abgestellt: Es kann Wahlfreiheit zwischen einem Handeln in öffentlich-rechtlicher oder in privatrechtlicher Form bestehen; die Entscheidung über die Formenwahl ist rechtlich zwar immer begrenzt, aber nicht immer auch endgültig programmiert. Nicht entscheidend ist, ob die Verwaltung dem Bürger oktroyierend durch Einzelakt oder auf der Ebene der Gleichordnung als Vertragspartner begegnet. 37 Geboten ist die Qualifizierung der einzelnen Beschäftigungsposition, die in allen Verwaltungsbereichen von der Wahrnehmung hoheitsrechtlicher Befugnis geprägt sein kann.107 Letzteres ist dann der Fall, wenn die Effizienz, Berechenbarkeit und Qualität des auf dem Dienstposten zu entfaltenden Handelns nur erreicht werden kann, wenn der Dienstnehmer den Status des Beamten bekleidet. Hierfür kommt es nicht darauf an, ob sein Tun eine Außenwirksamkeit gegenüber dem Bürger aufweist. Hoheitsrechtliche Befugnisse können auch im Rahmen

_____ 101 S Isensee in: Benda/Maihofer/Vogel, HVerfR, § 32 Rn 58. S zur Reichweite des Art 33 IV GG und zur Notwendigkeit von Beamten Remmert JZ 2005, 53 ff. 102 Vgl Lecheler in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 110 Rn 16 ff. 103 S Schuppert (Fn 100) Rn 34 ff mwN. 104 Zustimmend Leuze VR 2012, 145, 146. 105 Hierzu allg Kunig Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, 316 ff. – Im Rahmen der Auslegung von Art 33 IV GG stellt etwa Lehnguth ZBR 1991, 266, 269 auf die Wertigkeit, die Bedeutung der Aufgabe ab. S schon Otto ZBR 1956, 223 ff. 106 Zur Geltung des Art 33 IV GG bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben in Privatrechtsform BVerfGE 130, 76 111 ff = JZ 2012, 676 (m Anm Waldhoff) = NJW 2012, 1563 (m Bespr Schladebach/Schönrock NVwZ 2012, 1011) o JK GG Art 33 IV/2; dazu auch Wiegand DVBl 2012, 1134 ff. 107 Lecheler in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 110 Rn 16; Kunig in: v Münch/Kunig, GG II, Art 33 Rn 49.

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III. Die Rechtsetzungsebenen i. Recht d. öffentl. Dienstes u. ihre Regelungsfelder – 6. Kapitel

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des internen Willens- und Entscheidungsprozesses der Verwaltung wahrgenommen werden. Ob der jeweilige Dienstnehmer selbst Verwaltungsakte erlässt oder auch nur an einem Handeln mitwirkt, das zu ihrem Erlass führt, ob sein Wirken überhaupt der Begründung öffentlich-rechtlicher Beziehungen zum Bürger dient, ist für sich genommen nicht ausschlaggebend. Für Bedienstete ohne relevante eigene Entscheidungsbefugnis, also Tätigkeiten zB im Fahrdienst, im Schreibdienst, bei der Hausverwaltung, im Reinigungsdienst, bedarf es – nach allen Auffassungen – des Einsatzes von Beamten nicht, ohne dass dies irgendeine Aussage über die Bedeutung solcher Tätigkeiten beinhaltete: Der Beamtenstatus bewirkt keine personale Aufwertung, er gibt nicht eine „Kader“-Position, er nimmt und gibt gleichermaßen. Um der Eigengesetzlichkeit ihrer Tätigkeit willen können auch diejenigen Bediensteten außerhalb der beamtenrechtlichen Inpflichtnahme verbleiben, deren Wirken sich prägend nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten vollzieht. Schließlich können auch grundrechtliche Vorgaben für die Abgrenzung fruchtbar gemacht werden, was vor allem für die Kulturverwaltung Bedeutung hat: So bedarf zB der Intendant eines Staatstheaters als Grundrechtsträger (Art 5 III GG) künstlerischer Freiheit, die einer Einbindung in das Beamtenverhältnis entgegensteht;108 das Grundrecht wirkt hier als immanente Schranke des Funktionsvorbehalts. Hochschullehrer sind bisher regelmäßig Beamte,109 doch enthalten die für ihren Status bedeutsamen Bestimmungen des HRG Sonder-Beamtenrecht. Fraglich ist, ob auch Schullehrer regelhaft in den Beamtenstatus zu bringen sind.110 Hoheitsrechtliche Befugnisse können ausnahmsweise anderen Bediensteten übertragen 38 werden, wenn hierfür Gründe sachlicher (nicht allein fiskalischer) Zweckmäßigkeit sprechen, etwa im Falle der Beleihung, bei nur partiellem Einsatz (Lehrbeauftragte), in Ausbildungsverhältnissen zur Vorbereitung auf einen freien Beruf (wie den des Rechtsanwalts) oder bei der Wahrnehmung nur vorübergehend zu erfüllender Aufgaben. Trotz der bestehenden Spielräume dürfte die Personalpraxis insgesamt nicht die vom Grundgesetz intendierte Struktur geschaffen haben: Beamte finden sich auf Positionen, die ohne weiteres von Angestellten wahrgenommen werden könnten. Angestellten sind andererseits in solchem Maße – auf Dauer – Tätigkeiten übertragen, die dem Regel-Ausnahme-Konzept des Art 33 IV GG nicht gerecht werden. Die schon erwähnte tendenzielle Angleichung der Rechtsverhältnisse von Beamten und anderen Bediensteten (Rn 9) mindert die Brisanz dieses Befundes. Gegenreaktion auf Versuche, die Vorgaben des Art 33 IV GG durch „Verbeamtung“ in stär- 39 kerem Maße zur Geltung zu bringen, ist der – nicht überzeugende – Gedanke, die Norm nicht nur als Funktionsvorbehalt zugunsten des Typus des Beamten, sondern umgekehrt zugleich als solchen zugunsten der anderen Beschäftigungsformen im öffentlichen Dienst zu verstehen: Was außerhalb der Reichweite des beamtenrechtlichen Funktionsvorbehalts bleibe, sei von Verfassungs wegen zwingend der Wahrnehmung durch Angestellte oder Arbeiter vorbehalten. Die Norm erscheint dann (auch) als Funktionssperre.111 bb) Der verfassungsrechtliche Regelungsauftrag für das Beamtenrecht: In dem Funktions- 40 vorbehalt des Art 33 IV GG ist vorausgesetzt, dass der Gesetzgeber beamtenrechtliche Regelungen schafft bzw in Geltung belässt. Der verfassungsrechtliche Regelungsauftrag des Art 33 V GG

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108 Vgl dazu Kunig DÖV 1982, 765 ff; oft werden kulturelle Einrichtungen in der Form der Kapitalgesellschaft (bei 100%-Beteiligung der Gebietskörperschaften, sog Eigengesellschaft) betrieben, also außerhalb des öffentlichen Dienstes (Rn 9). 109 S dazu BVerfGE 49, 137, 141; Lecheler PersV 1990, 299 ff; Epping ZBR 1997, 383 ff; Hartmer WissR 1998, 152 ff; zur Anwaltszulassung wissenschaftlich Beschäftigter vgl Kleine-Cosack NJW 1993, 1289 ff; von Hochschullehrern Michalski/Römermann MDR 1996, 433 ff. 110 Die Frage wird wohl überwiegend bejaht, s etwa Leisner ZBR 1980, 361 ff; Battis/Schlenga ZBR 1995, 253, 256 f; anders zB Peine DV 17 (1984), 415, 437 f; Masing in: Dreier, GG II, Art 33 Rn 67; Böhm DÖV 2006, 665 ff. 111 In diese Richtung zunächst Thieme Der Aufgabenbereich der Angestellten im öffentlichen Dienst, 1962; wie hier etwa Lehnguth, ZBR 1991, 266, 270.

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konstituiert eine Pflicht des Gesetzgebers und programmiert zugleich die Gesetzgebung inhaltlich, umgrenzt das legislative Ermessen. Der Auftrag, das Recht des öffentlichen Dienstes „unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln“ bzw. – wie es seit 2006 heißt – „und fortzuentwickeln“,112 könnte so verstanden werden, als fordere er die Berücksichtigung der angesprochenen Grundsätze bei allen Vorschriften, die den öffentlichen Dienst betreffen, also auch eine Ausgestaltung des Rechts der dort beschäftigten Angestellten und/oder Arbeiter in Orientierung am Beamtenrecht. Hierauf zielt Art 33 V GG jedoch nicht.113 Das Recht des öffentlichen Dienstes kann vielmehr schon dann als unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums geregelt gelten, wenn diese Grundsätze dort legislativ entfaltet werden, wo sie traditionell Bedeutung hatten, also im Bereich des Beamtenrechts. Soweit das Recht weiterer Bediensteter in Anlehnung an beamtenrechtliche Grundsätze fortentwickelt worden ist, geschah dies nicht in Erfüllung von Art 33 V GG, sondern in sozialstaatlicher Motivation oder wegen der Eigenheiten des Dienstes in der Verwaltung. Der Gesetzgeber hat Grundsätze zu „berücksichtigen“, muss also nicht Vorgefundenes 41 übernehmen. Er verfügt über Ermessen, das hier – atypisch – nicht nur durch Verfassungssätze, sondern durch Anbindung an einen in vorkonstitutioneller Zeit gewachsenen Rechtsbestand begrenzt ist. Die Überschreitung des Ermessens ist (auch) vorliegend denkbar durch Fehlgewichtung der zur Berücksichtigung aufgegebenen Elemente der verfassungsrechtlich vorgedachten Gestalt des Beamtenrechts. Eine solche Fehlgewichtung folgt nicht notwendigerweise schon aus der Eliminierung einzelner dieser Elemente aus dem geltenden Gesetzesrecht. Zwar hat das BVerfG eine Unterscheidung zwischen „besonders wesentlichen“ und anderen hergebrachten Grundsätzen versucht (die ersteren seien – über „Berücksichtigung“ hinaus – zu „beachten“114), doch dürfte diese Unterscheidung dem Umstand nicht gerecht werden, dass Art 33 V GG die Flexibilität des Gesetzgebers zwar beschnitten, aber nicht beseitigt sehen möchte.115 Dem Anliegen der Bewahrung der vorkonstitutionellen Grundsubstanz des Berufsbeamtentums kann auf andere Weise Rechnung getragen werden als durch schematische Differenzierung zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem. Die Tragweite jedes „hergebrachten Grundsatzes“ ist gesondert zu ermitteln, seine Leistungsfähigkeit unter gewandelten Bedingungen zu prüfen: Dass (zB) unter dem GG kein Verzicht auf die Verpflichtung des Beamten zu weltanschaulicher Neutralität möglich ist, ist dem Wandel unzugänglich, denn sonst könnte die Verwaltung dem Gleichheitssatz nicht genügen; dass der Grundsatz der Vollzeitanstellung, mag er sich im Blick auf frühere gesellschaftliche Verhältnisse auch als „wesentlich“ für das (frühere) Berufsbeamtentum erweisen, Gestaltungen zulässt, die aus arbeitsmarktpolitischen Gründen und um der Zugänglichkeit von Beamtenstellen für Frauen willen stärkere Akzente auf die Teilzeitbeschäftigung setzen, ist dagegen ein Beispiel für die Modifizierbarkeit des Überkommenen (Rn 152). Die Wandlungen im Verständnis des Alimentationsgrundsatzes („Angemessenheit“ der Besoldung, Rn 162) bieten ein weiteres Beispiel.116 Art 33 V GG begründet

_____ 112 Zur Ergänzung des Art 33 V GG um eine Fortentwicklungsklausel Höfling/Burkiczak DÖV 2007, 328 ff; Summer PersV 2007, 223 ff; sowie Battis in: Sachs, GG, Art 33 Rn 61 a: „Die Fortentwicklungsklausel des Art 33 V eröffnet Bund und Ländern keine weiteren Fortentwicklungsmöglichkeiten als sie bisher schon bestanden.“ Vgl hier, 13. Aufl, Rn 44 aE, ferner Lecheler ZBR 2007, 18 ff; Budjarek, Das Recht des öffentlichen Dienstes und die Fortentwicklungsklausel des Art. 33 V GG nach der Föderalismusreform, 2009; BVerfG NVwZ 2007, 1396 ff; Kenntner JZ 2008, 340, 346 f. 113 BVerfGE 3, 162, 186; E 16, 94, 110 f; gegenteilige Stimmen finden sich in der älteren Literatur, zB Wacke Grundlagen des öffentlichen Dienstrechts, 1957, 27 ff. 114 BVerfGE 8, 1, 16 f; vgl auch E 42, 263, 278 und E 71, 255, 268; krit Würdigung der Rspr von BVerfG und BVerwG bei Lecheler AöR 103 (1978), 349 ff. 115 Vgl Battis in: Sachs, GG, Art 33 Rn 67 f; Kunig in: v Münch/Kunig, GG II, Art 33 Rn 59; Studenroth ZBR 1997, 212, 214. 116 Zuletzt zur W2-Besoldung: BVerfGE 130, 263; wN Fn 412.

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also Darlegungslasten für den Gesetzgeber und strukturiert seine Abwägungsentscheidungen, ohne diese final zu programmieren. Der beamtenrechtliche Regelungsauftrag besteht zur Sicherung der Institution des Berufsbeamtentums, weist aber nach der Rechtsprechung des BVerfG auch eine grundrechtsähnliche Komponente auf.117 Sie soll dem von einem Verstoß unmittelbar betroffenen Beamten ein subjektives Recht auf Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze einräumen, das mit der Verfassungsbeschwerde rügefähig sei.118 Letzteres kann nicht schon damit begründet werden, dass Art 93 I Nr 4a GG „Art 33“ unter denjenigen Rechtspositionen anführt, deren Verletzung im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann;119 auch im Hinblick auf Art 38 GG steht außer Frage, dass nur die Wahlrechtsgrundsätze beschwerdefähig sind, nicht aber die Verbürgung des freien Abgeordnetenmandats. Für eine Differenzierung innerhalb von Art 33 GG sprechen – über den Wortlaut des Art 33 V GG hinaus – Gründe der Entstehungsgeschichte, der Systematik und des Telos.120 Ein in ein grundrechtsähnliches Recht umgedeuteter Art 33 V GG droht, die Differenzierungen, die sich aus der Geltung der Grundrechte der Art 1 ff GG ergeben, einzuebnen. Den Beamten berechtigen verfassungsunmittelbar seine Grundrechte, ein Recht auf eine bestimmte Ausgestaltung des Beamtenrechts hat er nicht, wohl aber – letztlich aus Art 2 I GG – ein solches auf eine ihm gegenüber verfassungskonforme Anwendung einfachen Rechtes.121 Die an Organschaft anknüpfenden verfassungsrechtlichen Verfahrensberechtigungen vor dem BVerfG schützen im Übrigen hinreichend davor, dass der Gesetzgeber ein mit Art 33 V GG unvereinbares Beamtenrecht schafft. Umgekehrt kann Art 33 V GG die Begrenzung von Grundrechten legitimieren. 122 Die Grundrechtsausübung des Beamten steht kraft Verfassungsrechts unter dem Vorbehalt der Einhaltung der Grenzen, die der Gesetzgeber in Vollzug des Regelungsauftrags zulässigerweise geschaffen hat, nicht allerdings solcher Gehalte „hergebrachter Grundsätze“, die er einfachrechtlich nicht umgesetzt hat – dies ungeachtet der weiteren Frage, ob eine solche Unterlassung im Rahmen des Regelungsauftrags zulässig war oder nicht. In den Einzelheiten bestehen unterschiedliche Sichtweisen auch zu der Frage, welche Grundsätze zum Kreis der hergebrachten Grundsätze zu rechnen sind, doch lässt sich für einen Kernbestand ein einhelliges Meinungsbild ermitteln. Die Vokabel „hergebracht“ weist in die Vergangenheit, ohne einzelne Zeiträume deutscher Geschichte festzulegen. Es liegt auf der Hand, dass dabei die Zeit der ersten deutschen Republik (1919–1933) besondere Bedeutung hat; unter der WRV als verbindlich anerkannt und prinzipiell auch gewahrte Grundsätze erscheinen prima facie tauglich, das Blankett des Art 33 V GG zu füllen, doch darf nicht verkannt werden, dass ein in diesem Sinne punktueller Ansatz den auf die Breite der geschichtlichen Entwicklung abstellenden Begriffsgehalt verfehlen könnte. So öffnet sich der Blick auch auf Entwicklungslinien, die im monarchischen Konstitutionalismus wurzeln, auch auf das Geschick, dem beamtenrechtliche Regelungsprinzipien während der Herrschaft des Nationalsozialismus ausgesetzt waren. Die Infizierbarkeit und Infektion solcher Prinzipien durch den Totalitarismus allein ist noch nicht Ausschlussgrund für ihre Einbeziehung in Art 33 V GG. Die Zuordnung zu Art 33 V GG

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117 BVerfGE 12, 81, 87; E 43, 154, 167; krit zB Bender DÖV 1977, 565 ff; Niedermaier/Günther ZBR 1977, 238 ff; Menger VerwArch 69 (1978), 221, 226. Eingehend Rottmann Der Beamte als Staatsbürger. Zugleich eine Untersuchung zum Normtypus von Art 33 V GG, 1981; vgl auch Köbele/Zimmermann Jura 1990, 436 ff. 118 Dazu Günther VerwArch 99 (2008) 538 ff. 119 Vgl aber Battis in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II, § 31 Rn 22; v Münch 8. Aufl des vorliegenden Buches, 39 f. 120 Vgl dazu die abw Meinung Wand/Niebler BVerfGE 43, 177 ff; Kunig in: v Münch/Kunig, GG II, Art 33 Rn 55. 121 Dazu allg Löwer in: Isensee/Kirchhof, HStR III, § 70 Rn 90 ff; zum Grundrechtsschutz im Dienstverhältnis Rn 48, 171. 122 Vgl BVerwGE 56, 227, 229; Kunig in: v Münch/Kunig, GG II, Art 33 Rn 56.

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setzt aber Kompatibilität mit allen anderen grundgesetzlichen Regelungsinhalten voraus. Maßgebend ist die Substanz, nicht das Vokabular einer Norm: Die Formulierung, dass für Treue „Gewähr bieten“ müsse, wer zum Beamten ernannt werden soll, ist vom Nationalsozialismus missbraucht worden, ihre Weiterverwendung gleichwohl unschädlich; die Treuepflicht ist ein hergebrachter Grundsatz deshalb, weil und soweit sie zur Weimarer Zeit und zuvor den Status des Beamten bereits geprägt hat. Ihre konkreten Inhalte sind im Einklang mit dem Gesagten wesentlich mitbestimmt durch andere grundgesetzliche Aussagen (Rn 41). Insgesamt sind also vorkonstitutionelle beamtenrechtliche Regelungsprinzipien im 46 Hinblick auf ihre Einbeziehung in den Regelungsauftrag des Art 33 V GG einem zweifachen Test zu unterwerfen: Der Nachweis ihrer Geltung in vorkonstitutioneller Zeit – dies des längeren, also eine beamtenrechtliche Tradition begründend – ist zu führen; ihre Vereinbarkeit mit den materiellen Grundaussagen des GG muss außer Zweifel stehen, um sie als verfassungsrechtliche Vorgaben ansprechen zu können. Beide Anforderungen werden erfüllt von einer Reihe von (hier nicht näher zu entfaltenden) 47 Grundsätzen,123 die sich zur Regelung des Typus des Lebenszeitbeamten herausgebildet hatten; nur dieser Typus (zB nicht der Zeitbeamte oder der Wahlbeamte) ist in Art 33 V GG angesprochen, auf andere Typen können dennoch einzelne hergebrachte Grundsätze anwendbar sein. Beispielhaft sind zu nennen: Das Leistungs- und das Laufbahnprinzip, der das Besoldungsrecht prägende Grundsatz der Alimentation (als ein Korrelat zur Verpflichtung des Beamten, seinerseits dem Dienstherrn – grundsätzlich – seine volle Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen), die Grundzüge des Versorgungswesens, die Existenz des Disziplinarrechts, das Recht auf Amtsbezeichnungen124 (die aber dem Wandel unterliegen können) und auf statusgemäße Beschäftigung, die Vollzeitbeschäftigung als Regel, die Pflicht zum Gehorsam und zur Neutralität bei der Amtsführung, die Möglichkeit der Nebenbeschäftigung, die Verschwiegenheitspflicht, die Treuepflicht, das Streikverbot, die Fürsorgepflicht des Dienstherrn (als Korrelat der Treuepflicht des Beamten). Damit sind Strukturen und Institutionen (Disziplinarrecht in gesonderter Disziplinargerichtsbarkeit), Regelungsfelder (Besoldung, Versorgung) wie auch Einzelprinzipien angesprochen (zB Fürsorgepflicht), die teils generalklauselartig, teils in konkretisierenden Einzelnormen in das Gesetzesrecht umgesetzt worden sind. Ihre Umgestaltung und Neuordnung in Bezug auf neu entstehende oder empfundene Regelungsbedürfnisse ist in der beschriebenen Weise begrenzt durch zur beamtenrechtlichen Tradition verfestigte Grundsätze.125 Daraus kann sich auch Resistenz gegenüber in anderen Bereichen des Besonderen Verwaltungsrechts bemerkbaren Entwicklungstendenzen der Handlungsformen der Verwaltung ergeben. Dem Wesen des Beamtenrechts, wie es Art 33 V GG bewahrt sehen möchte, wird entnommen, dass das Beamtenverhältnis vertraglicher Gestaltung nur insoweit zugänglich ist, als dafür eine gesetzliche Grundlage besteht.126 Andere Grundsätze, die die Beamtenrechtsentwicklung nachhaltig bestimmt haben (so ein Grundsatz der Bewahrung von Besitzständen),127 können Art 33 V GG nicht zugeordnet werden, sind politisches Leitprinzip ohne verfassungsrechtliche Dignität. Nicht ausgeschlossen ist, dass

_____ 123 Überblick zB bei Isensee in: Benda/Maihofer/Vogel, HVerfR, § 32 Rn 65 ff; Lecheler in: Isensee/Kirchhof, HStR V § 110 Rn 52 f; Masing in: Dreier, GG II, Art 33 Rn 82 ff; teils krit zur Rspr Summer ZBR 1992, 1 ff. 124 Str; sie müssen jedenfalls „anredefähig“ sein. – Vgl dazu BVerfGE 38, 1, 11 ff. 125 Unzutr ist die Auffassung, der Verfassungsauftrag des Art 33 V GG sei „erfüllt“, künftige Regelungen des Beamtenrechts seien deshalb nicht mehr an dieser Norm zu messen; idS aber etwa Köpp in: Steiner, BesVwR, 7. Aufl 2003, Abschn III Rn 14; vgl auch Rottmann FS Zeidler II, 1987, 1097, 1115 f. 126 S BVerwG NVwZ 1993, 1193 o JK GG Art 33 V/13; dazu Schubert BayBl 1994, 233 ff; Hufen JuS 1995, 71 f; allg zu Verträgen (und „Absprachen“) zwischen Verwaltung und Bürger Krebs DVBl 1992, 1523 f; Kunig DVBl 1992, 1193 ff; Scherzberg JuS 1992, 205 ff. 127 Art 129 S. 3 WRV sprach von „wohlerworbenen Rechten“; diese Formulierung wurde bewusst nicht in das GG übernommen.

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sich Regelungsmuster, die sich erst nach 1949 etabliert haben, zu „hergebrachten Grundsätzen“ verfestigen:128 Entscheidend kann nicht für alle Zeiten sein, was im Zeitpunkt der Verfassungsgebung dem Herkommen entsprach. So mag die Ermöglichung „gleitender Arbeitszeit“ auf dem Weg zu einem „Grundsatz“ sein.

b) Ämterzugang und Grundrechtsschutz im Dienstverhältnis Weitere verfassungsrechtliche Aussagen zum öffentlichen Dienst setzen auf der staatsbürger- 48 lichen Ebene an. Das GG gibt jedem Deutschen in jedem der 16 Länder gleiche staatsbürgerliche Rechte und Pflichten (Art 33 I GG; vgl aber auch Art 36 GG). Diese umfassen auch den Zugang zu staatlichen Ämtern. Art 33 II GG nimmt dies auf und stellt „den Zugang“ unter die Maßgabe von „Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung“. Art 33 III 1 GG erklärt die „Zulassung“ zu öffentlichen Ämtern und die „im öffentlichen Dienst erworbenen Rechte“ für unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Sowohl Art 33 II GG wie Art 33 III GG beziehen sich nicht nur auf Beamte, sondern auf alle öffentlichen Dienstverhältnisse.129 Ist das Dienstverhältnis einmal begründet, so wird es weiterhin grundrechtlich durchdrun- 49 gen. Für die Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst wirken im Verhältnis zum Dienstgeber die Grundrechte wie im Arbeitsverhältnis, finden also Einfluss auf die privatrechtliche Beziehung im Wege der Vermittlung durch Generalklauseln130 und sind bei der Auslegung von Tarif- und Einzelvertrag zu berücksichtigen. Die Geltung der Grundrechte im Beamtenverhältnis wurde dagegen ursprünglich verneint oder relativiert, die Begründung des Beamtenverhältnisses gleichsam als Austritt aus dem Staat-Bürger-Verhältnis hinein in einen Binnenraum staatlicher Organisation begriffen.131 Das Beamtenverhältnis wurde demgemäß lange Zeit als ein „besonderes“ Gewaltverhältnis bezeichnet – ein Begriff, dem es um die Hervorhebung der Unterschiede zum „allgemeinen“ Gewaltverhältnis geht, in welches jeder Bürger gegenüber dem Staat gestellt ist.132 Zu dieser Besonderheit sollte auch gehören, dass die Einschränkung von Grundrechten auch ohne Einhaltung der von der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes geforderten Anforderungen erfolgen könne. Als besondere Gewaltverhältnisse werden auch – in eigenartigem Nebeneinander – das Strafvollzugsverhältnis, das Schulverhältnis und das Soldatenverhältnis bezeichnet. Für das Strafvollzugsverhältnis hat das BVerfG die Konsequenzen aus der früheren Verwendung des Begriffs „besonderes Gewaltverhältnis“ im Jahre 1976 aufgegeben und gesetzliche Grundlagen für Grundrechtseingriffe gefordert.133 Diese Entscheidung hat eine Folgediskussion für alle „Verhältnisse“ ausgelöst, die von einer im Vergleich zu dem gewöhnlichen Staat-Bürger-Verhältnis intensiveren Gewaltunterworfenheit gekennzeichnet sind. Wie im Schul- oder im Strafvollzugsverhältnis Lehrer bzw Anstaltsleiter, so verfügen im Beamtenverhältnis Staat bzw Dienstherr über „besondere“ Einwirkungsmöglichkeiten gegenüber den Beamten um der Erfüllung jener besonderen Zielsetzung willen, wegen der dieses Verhältnis begrün-

_____ 128 S Kunig in: v Münch/Kunig, GG II, Art 33 Rn 61; ebenso Lecheler in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 110 Rn 53; Merten in: Magiera/Siedentopf, Öffentlicher Dienst, 181, 189; Badura ZBR 1996, 321, 325; abl etwa BVerfGE 25, 142, 148; Edelmann DöD 1993, 56, 58 f. 129 Etwa OVG SH NJW 2001, 3495, betreffend die Wahl von Bundesrichtern. 130 Insb die §§ 134, 138, 242 BGB; vgl dazu Ramm JZ 1991, 1 ff mwN. 131 Das mag noch nachklingen in einer Wendung wie der vom Beamten als „Rad im Uhrwerke des Staates“, so Depenheuer DVBl 1992, 404 f, mit Recht krit Leuze ZBR 1998, 187 f. 132 Schick ZBR 1963, 67 ff; W. Martens ZBR 1970, 197 ff; Thiele ZBR 1983, 345 ff; eingehend Loschelder Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderbindung, 1982; das Sondervotum zur „Kopftuch-Entscheidung“ des BVerfG (E 108, 282 o JK GG Art 4 I, II/29) zielt in kritikwürdiger Weise auf eine Immunisierung des Bereichs der Dienstpflichten von grundrechtlicher Einwirkung; vgl auch Sachs NWVBl 2004, 209 ff sowie Rn 171; dem Sondervotum zustimmend Werres ZBR 2006, 288 ff. 133 BVerfGE 33, 1 ff.

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det worden ist.134 Die vorgenannte Parallele mag auf den ersten Blick verquer erscheinen, bei nüchterner Betrachtung ist sie es nicht, auch wenn es um ganz unterschiedliche Zwecke, damit auch unterschiedliche Inhalte der Gewaltunterworfenheit geht. Die Parallele besteht einzig in der Unterscheidung zum Verhältnis des Jedermann zum Staat – trägt allerdings auch schon aus diesem Grunde nicht weit, sofern es um die Beurteilung von Einzelfragen geht. Dass aus der Summe besonderer Zugriffsmöglichkeiten auf den Beamten und deren innerer 50 Sachgemäßheit (die jedenfalls prinzipiell und unabhängig von den Einzelheiten der gegenwärtigen gesetzlichen Ausgestaltung besteht) nicht der Schluss auf die Nichtgeltung des Vorbehalts des Gesetzes gezogen werden kann, liegt in der Konsequenz der Bindung aller Staatsgewalt an die Grundrechte (Art 1 III GG): Bereits diese, nicht erst das (vieldeutige) allgemeine Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, verlangen nach dem Vorbehalt des Gesetzes, geben das Maß für die notwendige formale Bestimmtheit von Eingriffsnormen und bestimmen materiell das Ausmaß, in welchem der Grundrechtsträger Beschränkungen der Grundrechtsausübung hinnehmen muss. Dieses kann differieren nach dem dienstlichen Aufgabenbereich (etwa: Lehrer, Polizist135) und nach dem Rang des Beamten in der Hierarchie. So verlagert sich der Ort, an dem die aus der spezifischen Funktionalität des Beamtenverhältnisses erwachsenden Erfordernisse auf den Grundrechtsschutz durchschlagen: Es ist dies einerseits die Frage, ob eine dienstliche Maßnahme den Beamten überhaupt als Grundrechtsträger betrifft (oder lediglich als Amtswalter,136 also Frage des Grundrechtseingriffs) und andererseits die Frage, welches Gewicht den Anforderungen an einen funktionsfähigen öffentlichen Dienst bei der Abwägung mit den grundrechtlich geschützten Interessen des Beamten zukommt. Entscheidend ist die Intensität der Interessenbeeinträchtigung: Eine dienstliche Weisung spricht den Beamten zunächst als Amtswalter an; verlangt sie von ihm aber (zB) die Preisgabe seiner Menschenwürde, ist der Grundrechtsschutz aktiviert. Ob die Kategorie des besonderen Gewaltverhältnisses weiterhin verwendet werden sollte, mag unterschiedlich beurteilt werden:137 Keinesfalls ist sie problemlösend, gewiss aber problembezeichnend. Die Frage nach der Tragweite der Grundrechte im Beamtenverhältnis ist deshalb eine Frage 51 nach der Beschränkbarkeit einzelner Grundrechte wegen des Beamtenstatus und um der Funktion des Beamtenverhältnisses willen. Funktionsfähigkeit und grundrechtlich fundiertes Interesse, vor einer übermäßigen Schmälerung der Handlungsfreiheit bewahrt zu bleiben, treten in ein Spannungsverhältnis.138 Für ihre Beantwortung gibt einfaches Recht den Ausgangspunkt, das an den Grundrechten zu messen und unter ihrer Berücksichtigung auszulegen ist. Demgemäß ist auf die Problematik im Zusammenhang mit den Rechten der Beamten zurückzukommen (Rn 171).

c) Bundesstaatliche Aspekte 52 Verfassungsrecht verteilt auch die Gesetzgebungskompetenzen für das öffentliche Dienstrecht und stellt durch verwaltungskompetenzielle Regelungen die Weichen zur Beantwortung der Frage, welche Bereiche des öffentlichen Dienstes vom Bund zu führen sind. Zwingend dem öffentlichen Dienst des Bundes sind die Gegenstände zugewiesen, die in 53 bundeseigener Verwaltung zu führen sind (Art 87 I 1,139 Art 87b GG), ferner diejenigen sozialen

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134 Vgl dazu BVerfGE 19, 303, 322; E 39, 334, 366 ff; Battis NJW 1986, 1151 ff; Sachs NWVBl 2004, 209. 135 Für Lehrer beispielhaft OVG Hamburg DVBl 1985, 456 ff o JK GG Art 4/6; ferner Alberts NVwZ 1985, 92 ff; für Richter s Sendler NJW 1984, 689 ff; Hager ZBR 1990, 311 ff; Papier NJW 1990, 8 ff. Für Polizisten und allg zu Grundrechtsschutz/Dienstpflichten von Beamten in Gefahrensituationen F. Hofmann ZBR 1998, 196 ff. 136 Vgl dazu Obermayer NJW 1987, 2642, 2645 f; ferner Rn 70, 181 f. 137 Dafür etwa Battis in: Sachs, GG, Art 33 Rn 76. 138 Vgl dazu BVerfGE 19, 303, 322; E 39, 334, 366 f; Schnapp ZBR 1997, 208 ff. 139 Die Streichung der Eisenbahn aus Art 87 I 1 GG – s jetzt Art 87e GG – erfolgte durch das 40. G zur Änderung des GG v 20.12.1993, BGBl I 2089; vgl auch die Änderung von Art 73 I Nr 7 GG sowie die Einfügung v Art 87 f (Postwesen) durch G v 30.8.1994, BGBl I 2245; vgl schon o Rn 26 mN.

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III. Die Rechtsetzungsebenen i. Recht d. öffentl. Dienstes u. ihre Regelungsfelder – 6. Kapitel

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Versicherungsträger, deren Zuständigkeit sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt (Art 87 II GG). Im Übrigen bemessen sich die Zuständigkeiten nach den Verteilungsmaßstäben der Art 83 ff GG, welche ein differenziertes Bild bieten, aber grundsätzlich vom Vorrang der Landesverwaltung geprägt sind. Dass der Bund ausschließlich zuständig ist, die Rechtsverhältnisse der im Dienst des Bun- 54 des und der bundesunmittelbaren Körperschaften des öffentlichen Rechts stehenden Personen gesetzlich zu regeln (Art 73 I Nr 8 GG), ist selbstverständlich. Die Verteilung der Kompetenzen zur Regelung des Landesbeamtenrechts hat sich durch die Föderalismusreform im Jahr 2006 und die damit erfolgte Abschaffung der Kategorie der Rahmengesetzgebung sowie die Neuordnung des Katalogs der konkurrierenden Gesetzgebung grundlegend geändert.140 Die vormals der konkurrierenden Gesetzgebung unterfallende Regelungsmaterie der Besoldung und Versorgung fällt nunmehr in die Zuständigkeit der Länder, ebenso der zuvor in der Rahmengesetzgebung enthaltene Kompetenztitel für die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Landesbediensteten. Laufbahnen, Besoldung und Versorgung der Landesbeamten und -richter sind damit ausschließlich Ländersache.141 Demgegenüber erstreckt sich gemäß Art 74 I Nr 27 GG die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis des Bundes auf die „Statusrechte und -pflichten der Beamten der Länder, Gemeinden und anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts sowie der Richter in den Ländern“.142 Die auf Grund der bis 2006 bestehenden Kompetenzverteilung erlassenen – nunmehr in die Zuständigkeit der Länder fallenden – Bundesgesetze gelten gemäß der Übergangsnorm des Art 125 a I GG bis zum Erlass entsprechender Landesvorschriften fort.143 Ob sich angesichts des neuen Kompetenzgefüges Befürchtungen bezüglich einer für den öffentlichen Dienst schädlichen Fragmentierung des Landesbeamtenrechts bewahrheiten werden,144 bleibt abzuwarten, scheint bis jetzt aber noch nicht eingetreten zu sein.145 Die Gesetzgebungskompetenz für das Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst wird im Grundgesetz nicht gesondert angesprochen. Sie ergibt sich aus Art 74 I Nr 1 GG.

3. Das einschlägige Gesetzesrecht im Überblick Unterhalb der verfassungsrechtlichen Ebene konstituieren (parlaments-)gesetzliche und ver- 55 ordnungsrechtliche Bestimmungen in Bund und Ländern das Beamtenrecht, ferner Verwaltungsvorschriften. Das Recht der Bundesbeamten enthält das BBG, das der Landes- und Kommunalbeamten findet sich in den Landesbeamtengesetzen (bedeutsam auch Regelungen in Gemeinde- und Kreisordnungen). An die Stelle des BRRG, das in seinem Anwendungsbereich Rahmenvorschriften für die Gesetzgebung der Länder enthält, trat ab dem 1.4.2009 das Beamtenstatusgesetz,146 das auf der im Zuge der Föderalismusreform neu dem Bund zugewiese-

_____ 140 Vgl Degenhart in: Sachs GG, Art 74 Rn 112; Wolff DÖV 2007, 504 ff; Knopp/Schröder NJ 2007, 97 ff; Lecheler ZBR 2007, 18 ff; Pechstein ZBR 2006, 285 ff. 141 Vgl Knopp DÖD 2006, 237, 242. 142 Zum Inhalt des Begriffs der Statusrechte s Degenhart (Fn 140) Rn 114. Zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern s Bochmann ZBR 2007, 1 ff; Günther RiA 2007, 97 ff; Ziekow PersV 2007, 344 ff. 143 Zur Aufhebungskompetenz des Bundes für das BRRG im Rahmen des Beamtenstatusgesetzes vgl Wolff ZBR 2007, 145 ff. 144 So sinngemäß Pechstein ZBR 2006, 285 ff; die durch die Pflicht bundesfreundlichen Verhaltens nicht ausreichend begrenzte Gefahr eines zu Lasten der finanzschwächeren Länder gehenden „Wettbewerbs um die Besten“ sieht Lecheler ZBR 2007, 18 ff; ähnlich Knopp DÖD 2006, 237 ff. 145 Vgl Battis NVwZ 2009, 812; erste Bilanz ziehend Battis ZBR 2010, 21, 24 f. 146 Umfassend zu den Neuerungen im BeamtStG: Dillenberger NJW 2009, 1115; Ziekow, PersV 2007, 344 ff; Battis NVwZ 2009, 409 ff; zu der Regelung der Laufbahnen der Landesbeamten und -richter in den einzelnen Bundesländern Drescher DÖD 2011, 25, 29 f; Battis ZBR 2010, 21; Battis, NVwZ 2008, 379, 380; zum Recht in BW: Lorse ZBR 2011, 11 ff; in Bay: Wissmann ZBR 2011, 361 ff; Kathke/Eck ZBR 2009, 361 ff.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

nen konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz für die Statusrechte der Beamten 147 beruht (Rn 54). Bestehen bleiben – bis zum Erlass eigener Gesetze der Länder bzw entsprechender bundesrechtlicher Regelungen – die einheitlich und unmittelbar geltenden Vorschriften der §§ 121 ff BRRG, sowie § 135 BRRG.148 Seit dem Inkrafttreten des Dienstrechtsneuordnungsgesetzes im Jahr 2009 regeln Bundesbesoldungsgesetz und Beamtenversorgungsgesetz die Besoldung und Versorgung der Bundesbeamten, während die Länder Besoldungs- und Versorgungsgesetze in eigener Zuständigkeit erlassen haben (Rn 160). Personalvertretungsrecht und Disziplinarrecht sind in Bund und Ländern gesondert geregelt, ebenso (verordnungsrechtlich) das Laufbahnrecht, das Nebentätigkeitsrecht, das Urlaubsrecht, der Mutterschutz. Bundesgesetzliche Sondervorschriften mit beamtenrechtlicher Relevanz sind zB das Schwerbehindertengesetz und das Arbeitsplatzschutzgesetz. Zahlreiche Verwaltungsvorschriften auf Bundes- und Landesebene sind im Beamtenrecht 56 als „Allgemeine Verwaltungsvorschriften“ (die von Seiten des zuständigen Ministers den Gesetzesvollzug verbindlich vorgeben) oder als – meist größere Spielräume belassende – „Richtlinien“ erlassen worden.149 Seit der Kodifikation des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts im VwVfG tritt neben das – das beamtenrechtliche Verwaltungsverfahren teils eigenständig, insgesamt aber rudimentär ausgestaltende – Beamtenrecht auch das (jeweilige) VwVfG in Bund und Ländern. Es ist grundsätzlich „subsidiär“ (vgl § 1 I 1 VwVfG des Bundes), so dass vom Beamtenrecht her zu ermitteln ist, ob Raum für den Rückgriff auf allgemeines Verfahrensrecht besteht. Dies setzt voraus, dass eine tatbestandlich einschlägige Norm in den Beamtengesetzen nicht oder nur mit begrenztem Regelungsanspruch vorhanden ist, sich eine einschlägige Norm der allgemeinen Verfahrensgesetze samt Rechtsfolge aber in die Systematik des Beamtenrechts einordnen lässt.150 Das ist teilweise der Fall bezüglich der Begründungspflicht beim Erlass von Verwaltungsakten (§ 39 VwVfG), durchweg aber nicht bei der Anhörung im Verwaltungsverfahren, die das Beamtenrecht eigenständig regelt, aber auch durch die Fürsorgepflicht erfassen kann (Rn 157). 57 Die allgemeinen Strukturen des Beamtenrechts, wie sie Gegenstand der Darstellung unter IV. sind, lassen sich dem BBG und BeamtStG entnehmen. BBG und BeamtStG folgen im Wesentlichen gleichen Grundsätzen, auch wenn sie sich im Aufbau unterscheiden und gleiche Phänomene nicht durchweg wortgleich normieren. Es wird im Folgenden deshalb meist auf BBG und BeamtStG und die Landesbeamtengesetze hingewiesen. 6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

IV. Das Beamtenrecht 1. Beamtenbegriffe 58 Der Beamtenbegriff hat in einzelnen Rechtsgebieten verschiedene Inhalte: Unterschieden werden ein staatsrechtlicher, ein haftungsrechtlicher und ein strafrechtlicher Beamtenbegriff. Im Rahmen des staatsrechtlichen Beamtenbegriffs ist kategorial nach dem jeweiligen Dienstherrn zu unterscheiden, ferner zwischen Berufs- und Ehrenbeamten, innerhalb der Gruppe der Berufsbeamten wiederum nach der Länge der künftigen Dienstdauer einerseits, nach der Vor- und Ausbildung andererseits. Eine Sonderstellung nimmt der sog politische Beamte ein.

_____ 147 Zum Begriff s Degenhart (Fn 142). 148 Vgl § 63 II BeamtStG. 149 Zur Rechtsnatur eines institutionellen Erlasses über Sonderzuschläge s OVG NW DÖV 1997, 884, einer Regierungsbekanntmachung über Hinw zur Verfassungstreue betr die Partei „Die Republikaner“ BayVGHE 50, 76 ff. 150 Dazu dogmatisch Kunig ZBR 1986, 253 ff; Wagner DÖV 1988, 277 ff; aus der Rspr s BVerwG NVwZ 1993, 1193 f o JK GG Art 33 V/13.

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IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

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a) Staatsrechtlicher, haftungsrechtlicher und strafrechtlicher Beamtenbegriff Als staatsrechtlicher (oder auch „beamtenrechtlicher“) Beamtenbegriff wird der Begriff des Beamten bezeichnet, der verfassungsrechtlich in Art 33 IV, V GG, einfachgesetzlich in § 4 BBG, § 3 I BeamtStG angesprochen ist. Beamter im staatsrechtlichen Sinne ist, wer in einem öffentlichrechtlichen Dienst- und Treueverhältnis steht. Diesem materiellen Kriterium ist ein formelles Kriterium hinzugefügt: Beamter ist nur, wer in das Dienstverhältnis unter Aushändigung einer formgerechten Urkunde berufen, also zum Beamten ernannt worden ist (vgl § 10 I, II BBG, § 8 I, II BeamtStG). Der staatsrechtliche Beamtenbegriff ist immer dann maßgebend, wenn eine gesetzliche Begriffsverwendung nicht ausdrücklich oder dem Sinne nach einen anderen Inhalt erkennen lässt.151 Beamter im haftungsrechtlichen Sinne ist derjenige, für den Art 34 S. 1 GG die Überleitung der bürgerlich-rechtlichen Beamtenhaftung auf den Staat vorsieht.152 Dabei erweitert Art 34 S. 1 GG den erfassten Personenkreis: § 839 I, II BGB begründen eine persönliche Verpflichtung zum Schadensersatz für Beamte im staatsrechtlichen Sinne und (eingeschränkt) für Richter, iVm Art 34 S. 1 GG tritt aber Staatshaftung für das Handeln all derjenigen ein, denen die zuständige Stelle die Ausübung eines öffentlichen Amtes anvertraut hat.153 Maßgeblich ist die Betrauung mit einer Funktion, nicht das Bestehen eines öffentlich-rechtlichen Treueverhältnisses, das durch Ernennung begründet wurde. Deshalb können auch Angestellte und Arbeiter des öffentlichen Dienstes, darüber hinaus beliehene Unternehmer, auch Regierungsmitglieder Beamte im haftungsrechtlichen Sinne sein, auch die Mitglieder von Organen der Selbstverwaltungskörperschaften, wie Gemeinderäte.154 Es zeigt sich also, dass der Begriff des Beamten im haftungsrechtlichen Sinne noch weiter reicht als der allgemeine Begriff des öffentlichen Dienstes (Rn 7). Für den strafrechtlichen Beamtenbegriff liegt eine Legaldefinition vor: § 11 I Nrn 2 bis 4 StGB definieren die Begriffe „Amtsträger“, „Richter“ und „für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter“ als Tatbestandsmerkmale strafrechtlicher Normen. „Amtsträger“ sind danach nicht nur der Beamte im staatsrechtlichen Sinne und der Richter, sondern auch Personen, die „in einem sonstigen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis“ stehen oder „sonst dazu bestellt“ sind, Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen.155 Die drei dargestellten Beamtenbegriffe decken sich offenkundig nicht, überschneiden sich aber. Am weitesten reicht die strafrechtliche Begriffsbildung. Jeder Beamte im staatsrechtlichen Sinne ist zugleich Amtsträger im Sinne des Strafrechts, jeder Beamte im haftungsrechtlichen Sinne jedenfalls „für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter“. Die Begriffe des Staatsrechts und des Haftungsrechts stehen zueinander im Verhältnis sich schneidender Kreise. Der fiskalisch handelnde, förmlich ernannte Beamte ist nicht ein solcher „im haftungsrechtlichen Sinne“, wohl aber der hoheitlich handelnde Angestellte des öffentlichen Dienstes. Das Fehlen eines einheitlichen Beamtenbegriffs für alle Rechtsgebiete ist oft beklagt worden,156 jedoch wegen der unterschiedlichen funktionalen Erfordernisse wohl unausweichlich. Im Verhältnis des Beamten zum Staat bedarf es einer strikt formalen Festlegung für den Eintritt der spezifischen beamtenrechtlichen Rechtsfolgen. Im Rahmen der Staatshaftung verlangen die Inte-

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151 S dazu Wolff/Bachof/Stober VwR II, 5. Aufl 1987, § 109 Rn 1 ff; Kunig Jura 1991, 556 ff. 152 Überblick zur Rechtsprechung zum Amtshaftungsrecht bei Schlick NJW 2009, 3487; Durner JuS 2005, 793 ff u 900 ff; Schwager-Wenz DVBl 1993, 1171 ff; vgl auch Schoch Jura 1988, 585 ff sowie Lüdemann/Windthorst SächsVBl 1995, 125 ff; BGH NJW 1996, 2431 ff u dazu Meysen JuS 1998, 404 ff. 153 Dazu zB Papier in: Maunz/Dürig, GG, Art 34 Rn 105 ff; Papier/Dengler Jura 1995, 38 ff. 154 S zB BGHZ 84, 292, 298 f; BGH DVBl 1993, 605 ff. 155 Überblick Schönke/Schröder-Eser StGB-Kommentar, § 11 Rn 13 ff; Walther Jura 2009, 421 ff; Wagner JZ 1987, 594 ff; Knopp DÖV 1994, 676 ff; Haft NJW 1995, 1113 ff; Zeiler MDR 1996, 439 ff; Paeffgen JZ 1997, 178 ff. – Zur (uneingeschränkten) Anwendbarkeit der allg Strafgesetze auf Amtsträger s BVerfG NJW 1995, 186 f. 156 S schon W. Jellinek HdbDtStR Bd II, 1932, 30; v Münch 8. Aufl dieses Buches, 17.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

ressen des Geschädigten nach einer funktionalen Abgrenzung, kann es auf das Innenverhältnis nicht ankommen. Das Strafrecht schließlich verfolgt eigengeartete Ziele mit dem Sonderrecht für staatliche Funktionsträger, die im Innen- wie im Außenverhältnis liegen können (zB Ahndung des Bruchs des Treueverhältnisses gegenüber dem Dienstherrn einerseits, Missbrauch staatlicher Machtbefugnis andererseits), die sich in differenzierter Anknüpfung ausdrücken.

b) Kategorien des staatsrechtlichen Beamtenbegriffs 64 Innerhalb des Personenkreises, der dem staatsrechtlichen Beamtenbegriff unterfällt, sind kategoriale Differenzierungen nach den jeweiligen Dienstherren geboten, ferner nach Berufs- und Ehrenbeamten; innerhalb dieser Gruppen sind weitere Unterteilungen vorzunehmen, an die sich Rechtsfolgen knüpfen. 65 aa) Bundesbeamte, Landesbeamte, Gemeindebeamte: Nach dem Dienstherrn ist zu unterscheiden zwischen Bundesbeamten, Landesbeamten und Gemeindebeamten. Hiernach bemisst sich die Anwendbarkeit des jeweiligen beamtenrechtlichen Gesetzeswerks; auch einzelne Normen knüpfen an diese Kategorien an. Für den Dienst bei einer verselbständigten Körperschaft erfolgt die Zuordnung nach ihrer jeweiligen Einbindung in die staatliche Hierarchie. Demzufolge ist Bundesbeamter nicht nur, wer den Bund zum Dienstherrn hat (zB als Ministerialbeamter in einem Bundesministerium, als Beamter einer Bundesoberbehörde), sondern auch derjenige, der zu einer bundesunmittelbaren Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts in einem Beamtenverhältnis steht (also zB als Beamter bei der Bundesversicherungsanstalt).157 Es wird insoweit oft auch von unmittelbaren und mittelbaren Bundesbeamten gesprochen, ohne dass hiermit ein rechtlicher Statusunterschied bezeichnet würde.158 Auf der Landes- und kommunalen Ebene gelten parallele Definitionen.159 66 bb) Berufsbeamte auf Lebenszeit und auf Zeit: Als Begriffsmerkmal bereits des öffentlichen Dienstes wurde oben (Rn 8) die Berufsmäßigkeit der dienstlichen Tätigkeit bezeichnet. Dennoch regelt das Beamtenrecht auch die Rechtsstellung sog Ehrenbeamter (Rn 69). Berufsbeamte unterscheiden sich untereinander nach der für das Dienstverhältnis vorgesehenen Zeitdauer. Dabei bildet das Beamtenverhältnis „auf Lebenszeit“ die Regel (§ 4 I 2 BeamtStG; § 6 I BBG); es wird begründet, wenn der Beamte dauernd für hoheitliche Aufgaben verwendet werden soll. Ist dies dagegen nur für eine begrenzte Zeit vorgesehen, kann der Beamte „auf Zeit“ berufen werden, § 4 II BeamtStG.160 Einen Sonderfall bilden – auf Zeit im Amt befindliche – kommunale Wahlbeamte.161 Verfassungsrechtlich und politisch umstritten ist die Vergabe leitender Funktionen auf Zeit, die früher im BBG nicht vorgesehen war; mit der Neufassung des BBG durch das Dienst-

_____ 157 Vgl § 2 BBG: „Das Recht, Beamtinnen und Beamte zu haben, besitzen der Bund sowie sonstige bundesunmittelbare Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, die dieses Recht zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes besitzen oder denen es danach durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes verliehen wird.“ 158 Vgl aber Wolff/Bachof/Stober VwR II, 5. Aufl 1987, § 110 Rn 2. 159 Diese Begrifflichkeit wird teilweise im Landesrecht explizit verwendet, s zB § 2 II LBG Bln und § 3 I LBG LSA. Allgemein zur Institution des mittelbaren Beamtenverhältnisses Werres ZBR 2011, 334 ff, der ua der Frage nachgeht, ob es sich hierbei um einen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums gem Art 33 V GG handelt. 160 Dazu Siedentopf DÖV 1985, 1033 ff; Thieme DÖV 1987, 933 ff. 161 Zur Altersgrenze für kommunale Wahlbeamte s BVerfG ZBR 1997, 397 ff und zur Abwahl BVerfG NVwZ 1994, 473 ff; BbgOVG LKV 1997, 174 ff. Ferner VerfGH RP NVwZ 2007, 1052 ff; dazu Waldhoff, JuS 2008, 79 ff. Zur Amtsführung eines solchen Beamten als Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses BayVerfGHE 48, 35 ff.

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IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

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rechtsneuordnungsgesetz (Rn 29) wird die Zulässigkeit des Beamtenverhältnisses auf Zeit in § 6 II BBG geregelt (zur Vergabe auf Probe sogleich Rn 67).162 Die Bedenken verweisen insbesondere auf das Prinzip lebenszeitiger Übertragung der einer Laufbahn zugeordneten Ämter als einen hergebrachten Grundsatz iSv Art 33 V GG163 und auf die Sorge vor (weiterem) Vorschub für unsachgemäße, namentlich parteipolitisch orientierte Personalentscheidungen.164 Derartige Bedenken hat sich das BVerfG jüngst angeschlossen und eine Regelung des nordrhein-westfälischen Beamtengesetzes zur Vergabe von Führungsämtern im Beamtenverhältnis auf Zeit insbesondere aufgrund der Feststellung einer Verletzung des Lebenszeitprinzips für nichtig erklärt; eine Rechtfertigung durch das Leistungsprinzip wurde verneint.165 cc) Beamte auf Probe und auf Widerruf: Zwei weitere Differenzierungen betreffen Beamte, 67 welche sich im Vorstadium der Ernennung auf Lebenszeit bzw in einer Ausbildungsphase befinden, die auf eine spätere Tätigkeit als Lebenszeitbeamter, aber auch auf eine anderweitige Berufsausübung vorbereiten kann. Es gilt dies für den Beamten auf Probe, der zu späterer Verwendung auf Lebenszeit zunächst eine sog Probezeit zurückzulegen hat (§§ 6 III BBG, 4 III lit b BeamtStG).166 Solche Probezeiten sind laufbahnrechtlich vorgegeben und zeitlich befristet. Das Probebeamtenverhältnis ist seit der Dienstrechtsreform von 1997 (Rn 27) für Ämter mit leitender Funktion obligatorisch gem § 24 BBG, was nicht auf durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken treffen dürfte.167 Regelmäßig werden diese Ämter (deren Kreis gesetzlich festgelegt ist, vgl für den Bund § 24 V BBG) auf zwei Jahre vergeben. Mit erfolgreichem Abschluss der Probezeit soll das Führungsamt auf Dauer weiter übertragen werden. Voraussetzung für die Berufung in ein Führungsamt ist, dass sich der zu Berufende bereits in einem Beamtenverhältnis auf Lebenszeit befindet und dass er auch in das Führungsamt auf Lebenszeit berufen werden könnte, also die laufbahnmäßigen Voraussetzungen (Rn 68) erfüllt. Der Beamte gelangt so in ein Doppelbeamtenverhältnis.168 Mit erfolgreichem Abschluss der Probezeit entsteht ein Anspruch auf Übertragung des Führungsamtes auf Lebenszeit, anderenfalls fällt der Beamte in den früheren Status zurück. Die Regelung soll das Risiko falscher Prognosen über die Eignung vermeiden; ihre tatsächlichen Auswirkungen bleiben abzuwarten. Die Neuregelung mag sich als ein Beitrag zur besseren Feststellung der Leistung iSv Art 33 II GG erweisen.169 „Auf Widerruf“ zum Beamten wird ernannt, wer aufgrund besonderer Vorschriften einen Vorbereitungsdienst abzuleisten hat oder nur nebenbei oder vorübergehend für eine hoheitliche Aufgabenerfüllung verwendet werden soll (§ 6 IV BBG, § 4 IV BeamtStG). Hierzu gehören etwa der Referendar im Justiz- oder Schuldienst; zwar nicht die berufliche Tätigkeit des Juristen und des Lehrers, wohl aber beider Ausbildung sind in der Endphase staatlich grundsätzlich monopolisiert. dd) Laufbahnbeamte: Das Laufbahnprinzip gliedert den Beamtendienst (Laufbahngruppen, 68 darin Fachrichtungen). Es soll der Verwirklichung des Leistungsprinzips dienen und auch ein

_____ 162 S auch § 4 II lit b BeamtStG. 163 S dazu BVerfGE 17, 251, 266; BVerwG ZBR 2008, 46 o JK GG Art 33 V/17; allg o Rn 47. 164 S etwa Leisner ZBR 1996, 289 ff; Battis BBG, § 24 Rn 12; anders etwa Thieme DÖV 1987, 933 ff; iErg auch Böhm DÖV 1996, 403 ff. 165 BVerfGE 121, 205 ff; dazu Wolff JA 2008, 908 ff. Auch wenn die Berufung auf Zeit wegen Verstoßes gegen Art. 33 V GG verfassungswidrig ist, kann sie gleichwohl wirksam sein, vgl BVerwGE 136, 1 ff; dazu Hufen JuS 2010, 1128 ff. 166 Zum Beamten auf Probe eingehend Oswald Die Rechtsstellung der Beamten auf Probe, 1989; Überblick bei J. Müller VR 1996, 404 ff. 167 Näher dazu Summer ZBR 1995, 125, 133; krit aber Lecheler Vorgaben der Verfassung für die Übertragung von Leitungsfunktionen im Beamtenverhältnis, Verantwortung und Leistung, Heft 33/1997, 1 ff; Isensee Affekte, 17 f. 168 Näher Battis BBG, § 24 Rn. 5; von „Aufpfropfung“ spricht Schnellenbach ZBR 1998, 223. 169 S Battis ZBR 1996, 193, 197.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

Gegengewicht zur „Dynamik des Parteienstaates“170 bilden. Laufbahnen zeichnen erreichbare Ämterfolgen vor und errichten Anforderungen an die Laufbahnbefähigung durch Vor- und Ausbildung oder gleichwertige Qualifizierung.171 Die Regelung der Laufbahnprüfung von Beamtenanwärtern bedarf in ihren wesentlichen Teilen einer Festlegung durch Gesetz oder Rechtsverordnung. 172 Innerhalb der Laufbahnfachrichtungen werden herkömmlich vier Gruppen, nämlich der einfache, der mittlere, der gehobene und der höhere Dienst unterschieden. Der Zugang erfordert entsprechend grundsätzlich Hauptschulbildung, Realschulbildung, Fachhochschulreife bzw einen Hochschulabschluss. § 23 BBesG ordnet die Eingangsämter der Laufbahnen den einzelnen Besoldungsgruppen (Rn 161) zu. Als Laufbahnbeamter wird bezeichnet, wer unter Erfüllung der laufbahnrechtlichen Voraussetzungen in sein Amt gelangt ist. Ist die Befähigung außerhalb des Dienstes erworben worden, spricht man von „freien Bewerbern“. Wechselt der Beamte von einer niedrigeren in die nächsthöhere Laufbahngruppe, ohne deren Eingangsvoraussetzungen zu erfüllen (§ 25 BBG), so spricht man von „Aufstieg“, der nach Maßgabe näherer gesetzlicher Regelungen als sog Regelaufstieg173 oder als Aufstieg für besondere Verwendungen möglich ist. Das ab dem 1.4.2009 geltende BeamtStG enthält keine Regelungen der Laufbahnen174 (zu der veränderten kompetenziellen Situation nach der Föderalismusreform vgl Rn 54). 69 ee) Ehrenbeamte: Ehrenbeamte sind Personen, auf die alle Merkmale des staatsrechtlichen Beamtenbegriffs zutreffen, ohne dass ihnen Besoldungs- oder Versorgungsansprüche zustünden. Sie sind vor allem auf kommunaler Ebene anzutreffen,175 im Bereich des Bundes als Honorarkonsuln.176 Nicht jede ehrenamtliche Tätigkeit im öffentlichen Bereich wird von Ehrenbeamten wahrgenommen. Die Abgrenzung erfolgt wiederum nach dem formalen Gesichtspunkt der Ernennung; erst sie hat die Anwendbarkeit beamtenrechtlicher Vorschriften auf den Ehrenbeamten zur Folge, die demgemäß zB für Wahlvorstände nicht gelten. 70 ff) Politische Beamte: An der Nahtstelle zwischen politischer Spitze und Beamtenapparat sind diejenigen Funktionsträger angesiedelt, die als „politische Beamte“ Verantwortung für die Umprägung politischer Leitentscheidungen in die kleine Münze des Verwaltungsgeschehens tragen (Rn 89 aE). Ein Minister muss seinem Staatssekretär in besonderem Maße vertrauen, die Regierung zB auch dem Chef des Presse- und Informationsamtes, den höheren Beamten der Verfassungsschutzbehörden und des Auswärtigen Dienstes; die Beamtengesetze listen die betreffenden Gruppen (mit Differenzen im Ländervergleich177) auf.178 Solche Beamten können deshalb „jederzeit in den einstweiligen Ruhestand“ versetzt werden. Dies ist die einzige Besonderheit im

_____ 170 So Lecheler in: König/Siedentopf, Öffentliche Verwaltung in Deutschland, 1997, 501, 506. 171 S Lecheler Das Laufbahnprinzip, Verantwortung und Leistung, Heft 3/1981; zu Veränderungen im Laufbahngefüge ders in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 110 Rn 120 ff; zu „Aufstiegsprozessen“ im öffentlichen Dienst eingehend Dreher Karrieren in der Bundesverwaltung, 1996; rechtspolitisch Nokiel RiA 2007, 115 ff. 172 BVerwGE 98, 324, 327 o JK GG Art 12 I/39. 173 Vgl dazu Dürr DVBl 1985, 1207 ff. 174 S aber § 22 V BBG. 175 S o Röhl 1. Kap Rn 102; ferner Stober Der Ehrenbeamte in Verfassung und Verwaltung, 1981; Bsp aus der Rspr: BVerwG NVwZ 1998, 1304 f. 176 G über die Konsularbeamten, ihre Aufgaben und Befugnisse, BGBl 1974 I 2317, §§ 20 ff. 177 Übersicht über die landesgesetzlichen Regelungen bei Lindner ZBR 2011, 150, 153 f. 178 § 30 I 1 BeamtStG nennt als Maßstab: „ein Amt …, bei dessen Ausübung sie in fortdauernder Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung stehen müssen“; für die Bundesbeamten s § 54 BBG. Das bayerische Recht kennt den politischen Beamten nicht, s dazu Steiner in: Berg/Knemeyer/Papier/ Steiner, Staats- u Verwaltungsrecht in Bayern, 6. Aufl 1996, Teil F Rn 13. Allerdings sind Staatssekretäre in Bayern nicht Beamte, vgl Art 43 II BayVerf. Aktuell zum Rechtsinstitut des politischen Beamten Kugele ZBR 2007, 109 ff; Lindner ZBR 2011, 150 ff.

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IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

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Status des „politischen“ Beamten. Auf die damit verbundenen Rechtsfragen ist deshalb im Zusammenhang mit den allgemeinen Regeln über die Versetzung in den Ruhestand zurückzukommen (Rn 121).

2. Die Begründung, Veränderung und Beendigung des Beamtenverhältnisses a) Die Ernennung zum Beamten Ein Merkmal bereits des staatsrechtlichen Beamtenbegriffs (Rn 59), zwingende Voraussetzung 71 der Begründung des Beamtenverhältnisses, aber auch von Bedeutung für einzelne seiner Veränderungen ist die Ernennung. Sie unterliegt strikter Formbindung (Urkundsprinzip). Ihre Zulässigkeit hat objektive und subjektive Voraussetzungen. Rechtliche Mängel einer Ernennung und ihre Aufhebung (Rücknahme) unterliegen speziellen Regelungen, sind also nicht nach allgemeinem Verwaltungsverfahrensrecht zu beurteilen. Leidet die Ernennung von vornherein an Mängeln oder wird sie durch Rücknahme beseitigt, so stellt sich die Frage nach den rechtlichen Konsequenzen für das Verhältnis zwischen dem Dienstherrn und dem Ernannten einerseits, für von diesem vorgenommene Amtshandlungen und die Haftung im Außenverhältnis andererseits. aa) Anwendungsfeld, Zuständigkeit, Form: Der Ernennung bedürfen (vgl § 10 BBG, § 8 72 BeamtStG)179 die Einstellung des Beamten (als Begründung eines Beamtenverhältnisses zu einem bestimmten Dienstherrn), die Umwandlung des Beamtenverhältnisses (als Wechsel zwischen den Kategorien „auf Probe“, „auf Widerruf“, „auf Zeit“, „auf Lebenszeit“), die Verleihung eines anderen Amtes oder beim Laufbahnwechsel (Beförderung) mit höherem Endgrundgehalt (Rn 111), die Verleihung eines anderen Amtes mit niedrigerem Endgrundgehalt (Herabsetzung; dies kommt – außer mit Zustimmung des Beamten – in Betracht bei organisatorischen Umbildungen der Behörde).180 Die Ernennung ist also ein Verwaltungsakt zur Begründung eines Beamtenverhältnisses und zur Festlegung seiner Art, und sie bewirkt eine Aufgabenzuweisung. Entscheidend ist nicht, was die Behörde anstrebte oder wozu sie verpflichtet war, sondern grundsätzlich, was sie ausgesprochen hat. Die Konsequenzen fehlerhafter Ernennungen sind im Einzelnen und abschließend geregelt. Deshalb kann zB ein Beamter auf Widerruf nicht die (bezüglich der Beendigung des Dienstverhältnisses für ihn günstigere) Rechtsstellung des Beamten auf Probe in Anspruch nehmen, auch wenn er aus Rechtsgründen zu einem solchen hätte ernannt werden müssen.181 Wer rechtswidriger Weise befristet in das Beamtenverhältnis berufen wurde, ist nicht allein deshalb bereits Lebenszeitbeamter.182 Mit der Ernennung wird dem Beamten ein „Amt“ übertragen. Zu beachten ist, dass der 73 Amtsbegriff im Beamtenrecht mit verschiedenen Inhalten verwendet wird.183 Die Ernennung überträgt ein Amt im sog statusrechtlichen Sinne,184 dh eine Aufgabe, für die eine Laufbahngruppe, besoldungsrechtlich eine Amtsbezeichnung oder jedenfalls eine gesonderte Besoldung festgelegt ist, zB das Amt eines Oberregierungsrates. Davon zu unterscheiden ist das Amt im abstrakt-funktionalen Sinne, nämlich der allgemeine Aufgabenkreis des Beamten im Rahmen einer Behördenorganisation. Die Übertragung eines solchen Amtes erfolgt durch die Einweisung

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179 §§ 9 ff LBG BW, Art 18 ff BayBG, §§ 10 ff LBG Berlin, §§ 4 ff BbgLBG, §§ 9 ff LBG Bremen, § 9 HmbBG, §§ 9 ff HessBG, §§ 8 ff LBG MV, §§ 8 ff NdsBG, §§ 16 ff LBG NW, §§ 8 ff LBG RP, §§ 6 ff LBG SL, §§ 10 ff SächsBG, §§ 8 ff BG LSA, §§ 9 ff LBG SH, §§ 7 ff ThürBG. 180 Zu den einzelnen Fallgruppen im Überblick Günther ZBR 2009, 49, 50 f. 181 Vgl BVerwGE 28, 155, 159. 182 Zur Frage seines Anspruchs auf eine entsprechende Ernennung Ingenlath DVBl 1986, 24 ff. Zu etwaigen Schadensersatzansprüchen beim Scheitern einer Ernennung Kellner DVBl 2004, 207. 183 Zu den Amtsbegriffen vgl Summer FS Knöpfle, 1996, 369, 372 ff. 184 Vgl dazu BVerwGE 40, 104, 107 u E 65, 270, 272; BVerwG DVBl 1991, 642 f.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

in eine – haushaltsrechtlich ausgewiesene (Rn 77) – Planstelle bei einer Behörde (zB Oberregierungsrat im Umweltbundesamt). Das Amt im konkret-funktionalen Sinne schließlich bezeichnet die konkrete Tätigkeit des Beamten, die Zuweisung erfolgt hier durch den Organisations- oder Geschäftsverteilungsplan der Behörde (zB Fachgebietsleiter Chemische Industrie im Fachbereich Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung des Umweltbundesamtes). Das so verstandene Amt wird auch als Dienstposten bezeichnet. Die Dienstpostenbewertung (im Hinblick ua auf die Vorbildung, die Art der Tätigkeit)185 ist Voraussetzung der haushaltsrechtlichen Ermittlung des Stellenbedarfs. Ausnahmsweise kann das Statusamt auch funktional bestimmt sein, zB: Präsident des Umweltbundesamtes – dann fallen alle drei vorgestellten Amtsbegriffe zusammen. 74 Zuständig zur Beamtenernennung ist auf der Ebene des Bundes idR der Bundespräsident,186 in den Ländern der Ministerpräsident oder die Regierung als Kollegialorgan.187 Das wird erst praktikabel durch die Möglichkeit, die Ausübung der Ernennungsbefugnis auf andere Stellen zu übertragen.188 Nur auf Bundesebene begegnet das Problem des möglicherweise divergenten politischen Willens zwischen der auswählenden Regierung und dem den Formalakt vollziehenden Staatsoberhaupts. Wie bezüglich der Ausfertigung von Gesetzen stellt sich bei der Beamtenernennung die Frage, ob dem Bundespräsidenten ein Prüfungsrecht zusteht. Wie dort ist sie nicht strikt iS eines (lediglich) „formellen“ oder eines (sogar) „materiellen“ Prüfungsrechts zu beantworten, vielmehr bestehen ein prinzipiell auf das Verfahren bezogenes Prüfungsrecht sowie ein materielles Prüfungsrecht im Sinne einer (bloßen) Evidenzkontrolle.189 Die strikte Formbindung des Ernennungsakts dient der Rechtssicherheit im Interesse des 75 Adressaten wie der Allgemeinheit.190 Wirksam ist die Ernennung nur, wenn dem zu Ernennenden eine Ernennungsurkunde ausgehändigt wird, die einen gesetzlich festgelegten Mindestinhalt an Aussagekraft aufweist; er richtet sich in den Einzelheiten nach dem Inhalt des beabsichtigten Ernennungsakts. Entspricht die Urkunde nicht der Form, so ist die Ernennung nichtig (§ 13 I Nr 1 BBG, § 11 I Nr 1 BeamtStG). Die Aushändigung der Ernennungsurkunde ist ein tatsächlicher Vorgang, der nicht nur Beweisfunktion hat, sondern selbst konstitutive Wirkung entfaltet. Grundsätzlich trifft den Dienstherrn auch die (Fürsorge-)Pflicht, die Aushändigung nicht aus unsachlichem Grund hinauszuzögern,191 sofern die Sachentscheidung bereits gefallen ist. Das gilt vor allem, wenn ein Fürsorge gebietendes Dienstverhältnis bereits begründet ist, etwa in der Konstellation der anstehenden Beförderung, vor der Einstellung in eingeschränktem Ausmaß als Rechtsfolge des bereits begründeten Verfahrensrechtsverhältnisses. Rückwirkende Ernennungen sind – auch ungeachtet einer hierauf zielenden Datumsnennung in der Urkunde – unzulässig, aber in eine Ernennung am Tag der Aushändigung umdeutbar. 76 Welche Anforderungen an den Aushändigungsvorgang selbst zu stellen sind, ist gesetzlich nicht festgelegt. Jedenfalls setzt die Aushändigung der Ernennungsurkunde den Annahmewillen des zu Ernennenden voraus; die Ernennung zum Beamten stellt einen mitwirkungsbedürftigen Verwaltungsakt dar,192 ist ein abwendbares Schicksal. Es wird für ausreichend gehalten,

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185 S dazu Hachenberg VR 1993, 109 ff; allg Siedentopf Bewertungssysteme für den öffentlichen Dienst, 1986. Vgl auch HessVGH NVwZ-RR 1998, 446 ff. 186 § 12 I BBG, Art 60 I GG und Art 58 S 1 GG; vgl auch § 129 I BBG. 187 Vgl etwa Art 51 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg, Art 45 der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg; zur Zuständigkeit in Hessen vgl HessVGH NVwZ-RR 1996, 339, in Sachsen-Anhalt OVG LSA ZBR 1997, 282. 188 S die Anordnung des Bundespräsidenten über die Ernennung und Entlassung der Beamtinnen, Beamten, Richterinnen und Richter des Bundes v 23.6.2004, BGBl I 1286. 189 Vgl dazu Nettesheim in: Isensee/Kirchhof, HStR III, § 62 Rn 49 f; Kunig Jura 1994, 214, 217 ff. 190 Vgl OVG SH NVwZ 1995, 1139 f. Zur Rechtswidrigkeit eines auf die Begründung eines Beamtenverhältnisses gerichteten Vertrages, mit welchem sich ein Angestellter zu Geldleistungen als Gegenleistung verpflichtete, BVerwG DöD 2004, 60. 191 S BGH ZBR 1983, 336 ff. 192 Dazu allg Pünder in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 14 Rn 18.

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IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

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wenn die Urkunde dem zu Ernennenden nicht in Person, sondern einem von ihm Bevollmächtigten ausgehändigt wird, der die Annahmebereitschaft in einer Rechtssicherheit herstellenden Weise belegt.193 Die (unverzügliche) Anfechtung durch den Ernannten ist – auch deshalb – in analoger Anwendung der §§ 119, 123 BGB möglich. Die Ausschließlichkeit der beamtengesetzlichen Nichtigkeits- und Rücknahmegründe steht dem nicht entgegen, weil sie im Interesse des Ernannten besteht; diesem Interesse trägt auch die Anfechtungsmöglichkeit Rechnung. Die ernennende Behörde muss ihrerseits mit Entäußerungswillen handeln; entwendete Urkunden sind nicht von der Behörde „ausgehändigt“ worden. Die Gewährung von Einsicht in die Urkunde genügt nicht. Ferner muss es sich um das Original der Urkunde handeln. Der Begriff „Aushändigung“ legt an sich nahe, dass die Besitzverschaffung „von Hand zu Hand“ erfolgen müsse, also der Vertreter der Ernennungsbehörde dem zu Ernennenden oder seinem Bevollmächtigten selbst gegenübertritt, doch wird auch die postalische Zustellung für ausreichend gehalten. Das ist nur dann unbedenklich, wenn Klarheit über die Begründung des Besitzes durch den Ernannten und den genauen Zeitpunkt dieses Vorgangs besteht.194 bb) Objektive und subjektive Ernennungsvoraussetzungen: In Anknüpfung an Art 33 IV GG 77 (Rn 34) sehen die Beamtengesetze als objektive Voraussetzung der Berufung in das Beamtenverhältnis (also seiner Begründung iS der Einstellung, aber gleichermaßen geboten für jede weitere Variante der Ernennung) vor, dass von dem Berufenen entweder hoheitsrechtliche Aufgaben wahrgenommen werden oder aber solche, „die zur Sicherung des Staates oder des öffentlichen Lebens nicht ausschließlich Personen übertragen werden dürfen, die in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis stehen“ (§ 5 Nr 2 BBG, § 3 II Nr 2 BeamtStG). Haushaltsrechtlich besteht als weitere objektive Voraussetzung der durch die Ernennung herbeigeführten Statusbegründung oder -änderung das Vorhandensein einer entsprechenden – besetzbaren – Planstelle.195 Dass eine solche erst eingerichtet wird, kann von Interessierten nicht verlangt werden.196 Subjektiv, also als in der Person des Bewerbers liegende Merkmale, setzt die Berufung in das 78 Beamtenverhältnis die Eigenschaft als Deutscher iSd Art 116 GG oder die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der EU voraus, verlangt ferner seine Verfassungstreue und fachliche Befähigung (§ 7 BBG, § 7 BeamtStG). Hinsichtlich des Staatsangehörigkeitserfordernisses hat das 10. G zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften die Bezugnahme auf die EU eingeführt (Rn 31). Auch zuvor war es aber nicht ausgeschlossen, dass Ausländer bzw Staatenlose ohne deutsche Volkszugehörigkeit zu Beamten ernannt werden konnten.197 Die Ernennung eines Ausländers oder Staatenlosen hat nicht die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit zur Folge.198 Bewerber aus Mitgliedstaaten der EU dürfen allerdings nicht zu Beamten ernannt werden, „wenn die Aufgaben es erfordern“ (vgl § 7 II BBG, § 7 II BeamtStG). Auch von dem Deutschenvorbehalt darf abgewichen werden, wenn – so gilt es auch für die Ernennung von Nicht-EU-Ausländern bzw Staatenlosen – für die Gewinnung ein dringendes dienstliches Bedürfnis besteht (§ 7 III BBG, § 7 III Nr 1 BeamtStG; dort weitere Ausnahmen für den wissenschaftlichen Bereich, Nr 2). Derartige Ausnahmeentscheidungen sind Ermessensentscheidungen. Für die Annahme des die Ermessensausübung erst

_____ 193 Str, s Wegmann BayVBl 1981, 40, 43 mwN. 194 Erreichbar durch Einschreiben mit Rückschein oder Postzustellungsurkunde unter Ausschluss der Ersatzzustellung. 195 Vgl § 49 I BHO und BVerwGE 101, 112, 114. – Zur Zulässigkeit von Wiederbesetzungssperren BayVerfGH DVBl 1985, 1370 ff. 196 Vgl BVerwG NVwZ 1991, 375; OVG Hamburg MDR 1991, 84; BAGE 78, 244, 247. 197 S die 9. Aufl dieses Buches Rn 75. 198 Anders früher §§ 14, 15 I RuStAG aF – was dem Österreicher Adolf Hitler die deutsche Staatsangehörigkeit infolge seiner Ernennung zum (Vermessungs-)Beamten verschaffte.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

eröffnenden Tatbestandes besteht gerichtliche Kontrolle, allerdings eine weitgehende Einschätzungsprärogative auf behördlicher Seite. Zum Beamten darf nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für 79 die freiheitliche demokratische Grundordnung eintritt. Das gilt ungeachtet der Deutscheneigenschaft.199 Die beamtenrechtliche Pflicht zur „Verfassungstreue“200 setzt auf der Ebene der Ernennungsvoraussetzungen an, durchzieht das gesamte Beamtenverhältnis und wirkt noch nach, wenn der aktive Dienst beendet ist. Als „Beamtenpflicht“ (Rn 142) erscheint die politische Treuepflicht dabei in modifiziertem Vokabular, verglichen mit der tatbestandlichen Umschreibung der korrespondierenden Einstellungsvoraussetzung, doch geht es um Gleiches: Im Rahmen der Einstellung ist eine Prognose zu unternehmen, ob der Beamte der Treueverpflichtung genügen wird. Im vorliegenden Zusammenhang kommt es auf die Tragweite der sog Gewährbieteklausel als Einstellungsvoraussetzung an. Sie erschließt sich nicht allein aus der einfachgesetzlich festgelegten Rechtslage, sondern ist in das Licht des Verfassungsrechts zu stellen. Näherer inhaltlicher Bestimmung bedarf zunächst der Bezugsgegenstand der Loyalität, die 80 „freiheitliche demokratische Grundordnung“ iSd GG (Art 18, 21 II GG). Art 9 II GG beschreibt ein vergleichbares Prinzipienensemble mit dem Ausdruck „verfassungsmäßige Ordnung“.201 Im Wege systematischer Auslegung lässt sich zur Begriffsbestimmung Art 79 III GG heranziehen, der inhaltlich beschreibt, was den Kern der grundgesetzlichen Ordnung ausmacht. Zu einem Schluss auf denkbare weitere Begriffsmerkmale könnte auch Art 33 V GG verhelfen: Kann insoweit ein „hergebrachter Grundsatz“ mit Konturen ermittelt werden, so wird er ergiebig sein, um die Einstellungsvoraussetzungen näher zu bestimmen.202 Die so veranlasste historische Betrachtungsweise kann andererseits für den Bezugsgegenstand der Treuepflicht unter dem GG schon deshalb keinen endgültigen Aufschluss vermitteln, weil die – gegenwärtige – freiheitliche und demokratische Ordnung zwar in der durch die WRV umrissenen Ordnung (teilweise und in Teilen defizitär) einen Vorläufer, in der deutschen Geschichte jedoch im Übrigen kein eigentliches Vorbild findet. Würde sich etwa als „hergebrachter Grundsatz“ feststellen lassen, dass der Beamte für die jeweilige Verfassung in allen ihren Einzelheiten einzutreten habe (er dürfte dann nicht in politischer Aktivität auf Verfassungsänderungen dringen), so ließe sich eine solche Anforderung nicht vereinbaren mit dem Verhältnis von Dienstherrn und Beamten unter der Geltung des GG – wobei dahingestellt bleiben kann, ob sich die Rechtslage in vorkonstitutioneller Zeit insoweit anders dargestellt hat. Der Bezugsgegenstand der beamtenrechtlichen Verfassungstreuepflicht ist von ihrer Funk81 tion her zu bestimmen, worüber auch das Ausmaß der Inpflichtnahme Aufschluss vermittelt: „Jederzeitiges Eintreten“ für Grundsätze ist eine weit gespannte Verpflichtung, die schon deshalb einer engen Auslegung ihres Bezugsgegenstandes bedarf, um mit dem grundgesetzlichen Bild des mündigen Beamten vereinbar zu sein und darüber hinaus dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die verfassungsgewollte Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes nur gewährleistet ist, wenn seine Akteure im Rahmen ihrer Gehorsamspflicht eigenständig denkende und kritische Subjekte bleiben. „Jederzeitiges Eintreten“ bezieht sich deshalb auf die Grundlagen der grundgesetzlichen Ordnung, nämlich die Grundrechtsordnung und die Strukturprinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie, der Bundesstaatlichkeit, der Sozialstaatlichkeit und des

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199 Zutreffend Isensee in: Benda/Maihofer/Vogel, HVerfR, § 32 Rn 95. 200 Zu ihrer historischen Entwicklung Laubinger FS Ule, 1977, 89 ff. Grundlegende Darstellung bei Schrader Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, 1985. Vgl auch Beate Rudolf „Verfassungsfeinde“ im öffentlichen Dienst, in: Thiel, Wehrhafte Demokratie, 2003, 209, mit kritischer Würdigung von BVerfGE 39, 334 und zur Vereinbarkeit der Gewährbieteklausel mit internationalem Recht. 201 Dazu – und zum Parteiverbot – Kunig Jura 1995, 384 ff. 202 Gegen die Annahme, es handele sich um einen hergebrachten Grundsatz, zB Köpp in: Steiner, BesVwR, 7. Aufl 2003, Abschn III Rn 38, im Anschluss an Zwirner Politische Treupflicht des Beamten, 1956 (Neudruck 1987).

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IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

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republikanischen Prinzips, dabei nicht auf jede grundgesetzliche oder einfach-rechtliche Ausformung. „Eintreten“ für diese Prinzipien kann auch, wer ihre Einhaltung gerade gegenüber dem Staat anmahnt oder Rechtsänderungen, auch Verfassungsänderungen, zu ihrer bewahrenden Fortentwicklung erstrebt. Die so Konturen gewinnende Pflichtenbindung ist verfassungsgemäß, auch wenn dem GG 82 die Vorstellung an sich fremd ist, jemanden zur Ablegung von Bekenntnissen zu verpflichten oder ihn rechtlich anzuhalten, aktiv für bestimmte Ordnungsvorstellungen einzutreten. Die von Art 33 IV GG vorgenommene Strukturentscheidung zugunsten eines in tragender Rolle den öffentlichen Dienst gestaltenden, Treuepflichten unterworfenen Beamtentums impliziert die Verpflichtung dieser Personen auf die Grundpfeiler der Verfassung. Auf diesen ruht die Verwaltung, der Beamte darf an ihnen nicht rühren, ist zu ihrem Schutz auch als einzelner verpflichtet. Diese Legitimation trägt die Pflicht zum „Eintreten“ für die Grundordnung, weil zwischen passivem Gewährenlassen und aktivem Eintreten sinnvoll nicht unterschieden werden kann. Aktives Eintreten ist gefordert, wenn bereits passives Gewähren lassen die Grundordnung beeinträchtigt, also im Sinne einer Einstandspflicht. Die Treuepflicht begründet eine Garantenstellung für die Grundordnung, so weit die Einflussmöglichkeit des Beamten reicht. Das gilt auch für das „Bekenntnis“ zur Grundordnung, das die politische Treuepflicht in dem einmal begründeten Beamtenverhältnis fordert (vgl zB § 60 I 3 BBG; dazu noch u Rn 131, 142). Das Bekenntnis ist nicht Selbstzweck, es geht nicht um Erklärungen oder Reden, sondern um die Tat durch Handlung oder Wort. Einzuräumen ist: Die missverständliche Formulierung vom Bekennertum könnte und sollte getilgt werden, ohne dass dies die Rechtslage verändern müsste. Sie erweckt den Eindruck, als wolle das Recht Gesinnungen vorschreiben – was es nicht zu leisten vermag. Die Treuepflicht erstreckt sich als durch die Begründung des Beamtenverhältnisses entste- 83 hende Pflicht auf das „gesamte Verhalten“ des Beamten, differenziert also nicht zwischen inner- und außerdienstlichem Verhalten. Das spricht den Beamten nicht nur auf Amtswalterebene an, sondern auch in seiner privaten Sphäre. Muss der Beamte auch außerdienstlich das Gebot der Treue beachten, so ist dies allerdings weniger einsichtig als für den dienstlichen Bereich: Ein funktionsfähiges Berufsbeamtentum mag denkbar sein, auch ohne den Beamten außerhalb des Dienstes zum Eintritt für die Grundordnung zu verpflichten. Ist eine solche Verpflichtung aber – wie im geltenden Recht – ausgesprochen, so kann das angesichts insbesondere der Meinungsfreiheit nur bedeuten, dass der Beamte bzw Beamtenbewerber rechtlichen Konsequenzen aus außerdienstlichen Verstößen gegen die Treuepflicht nur insoweit ausgesetzt werden darf, als dies mit den grundrechtlichen Wertentscheidungen vereinbar ist. Auf die Bereitschaft zur Einhaltung der Verfassungstreuepflicht können Rückschlüsse aus dem außerdienstlichen Verhalten deshalb nur unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gezogen werden. Ein besonderes Problem wirft die Betätigung in politischen Parteien auf, die nicht verbo- 84 ten sind, aber materiell die Voraussetzungen eines Verbots erfüllen. In der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind verschiedentlich Parteien linker wie rechter Ausrichtung aufgetreten, die zu der Frage Anlass gaben, ob sie „verfassungswidrig“ iSd Art 21 II 1 GG waren oder sind; zur Feststellung dessen oder des Gegenteils durch das BVerfG nach Art 21 II 2 GG ist es bekanntlich seit den 1950er Jahren nicht gekommen. Unter Billigung durch die Rechtsprechung sind Mitglieder etwa der DKP und der NPD als „Verfassungsfeinde“ eingestuft und Rechtsfolgen wegen Verstoßes gegen die beamtenrechtliche Treuepflicht ausgesetzt bzw wegen Fehlens der Einstellungsvoraussetzungen nicht zu Beamten ernannt worden.203 Dabei haben

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203 S BVerfGE 39, 334 ff und dazu aus dem Schrifttum etwa Schlink Der Staat 15 (1976), 335 ff; Scholz FS Broermann, 1982, 409 ff; zuvor etwa Thieme FS Wacke, 1972, 71 ff. – BVerwGE 73, 263 ff und E 76, 157 ff – Disziplinarverfahren; BVerwGE 86, 99 ff. Nach BVerwG NVwZ-RR 2004, 269 kann die politische Aktivität in einer Partei mit verfassungs-

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

sich Differenzierungen zur Art des jeweiligen Einsatzes für die Partei („bloße“ Mitgliedschaft, Funktionsträgerschaft, Kandidatur bei Wahlen) und zu dem für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt herausgebildet (etwa: einschlägige Betätigung während des Studiums als geringer ins Gewicht fallende sog Jugendsünde). Parteimitgliedschaft allein ist nicht geeignet, eine Einschätzung der Verfassungsuntreue zu tragen. Das gilt bzw galt auch für die Mitgliedschaft in der SED oder sog Blockparteien der DDR, welche als alleinigen Ausschlussgrund für die Beamtenlaufbahn anzusehen ahistorisch wäre.204 Auch insoweit waren stets Einzelfallprüfungen geboten. Ein Verhalten unter den Bedingungen von Staat und Gesellschaft der DDR kann nicht ohne weiteres an den Maßstäben gemessen werden, die der freiheitliche Rechtsstaat entwickelt hat.205 Zu berücksichtigen ist auch, dass für ein Parteimitglied die Übernahme auch von Funktionen innerhalb der Partei selbstverständlicher war als bei Parteien der bisherigen Bundesrepublik. Es ist lange gestritten worden, in welchem Verfahren die Überprüfung der Verfassungs85 treue bei der Einstellung von Beamten erfolgen solle.206 In den Ländern wurden und werden unterschiedliche Verfahren praktiziert, teilweise die sog Regelanfrage bei den Ämtern für Verfassungsschutz, teilweise die Anfrage nur aus besonderem Anlass; in den neuen Ländern stand wegen der (unterschiedlich gearteten) Zuarbeit vieler Bediensteter der Verwaltung für das Ministerium für Staatssicherheit die Anfrage bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik bzw den Landesbeauftragten (§ 38 StUG) lange Zeit im Vordergrund.207 Die Rechtsprechung lehnt es ab, die Anforderungen spezifisch auch an der jeweiligen Tätig86 keit des Beamten auszurichten, also das konkrete Gefährdungspotential, das aus der Beschäftigung eines „Verfassungsfeindes“ resultieren kann, in Rechnung zu stellen, wie es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nahe legt.208 Nur für nichtbeamtete öffentliche Dienstnehmer kämen Differenzierungen in Betracht.209 Dies begegnet Bedenken, weil die Treuepflicht lediglich wegen der Funktionserhaltung des öffentlichen Dienstes gesetzlich gefordert werden kann. Gründet sie im Ziel der Funktionserhaltung, so liegt nahe, sie auch funktional zu differenzieren, also in ihrem Ausmaß an dem konkreten Amt auszurichten. Anlass zu Bedenken gibt auch die Rechtsprechung zum Verständnis der Gewährbieteklausel 87 als eines der richterlichen Kontrolle nur eingeschränkt zugänglichen Rechtsbegriffs. Unbestimmte Rechtsbegriffe des Verwaltungsrechts unterliegen im Grundsatz voller richterlicher Kontrolle. Ausnahmen bedürfen jeweils der Rechtfertigung vor der (auch) materiellen Rechtsschutzgarantie des Art 19 IV GG. Unter dem Gesichtspunkt des Prognosecharakters der Einschätzung des künftigen Verhaltens des Bewerbers wie auch im Hinblick auf eine besondere Sachnähe der (Einstellungs-)Behörde wird hier weithin eine solche Ausnahme angenommen.210

_____ feindlicher Tendenz der Einberufung eines Reserveoffiziers entgegenstehen (beide betr „Die Republikaner“). Vgl auch BayVGH DÖD 2006, 43; VG Berlin, ZBR 2006, 102. Zum Verhältnis von Verfassungstreue und Parteienprivileg Lindner ZBR 2006, 402 ff. Zum Problemkreis Treuepflicht und Mitgliedschaft in sog Neuen Weltanschauungsgemeinschaften Cremer/Kelm NJ 1997, 565 ff; Diringer NVwZ 2003, 901 ff. 204 Vgl dazu auch Kunig in: Isensee/Kirchhof, HStR IX, 2. Aufl. 1997, § 216 Rn 13. 205 S dazu Isensee in: ders, Vergangenheitsbewältigung durch Recht, 1992, 91, 104. 206 Dazu Simon/Mommsen/Becker ZRP 1989, 175 ff; Riegel ZRP 1989, 321 ff. 207 Vgl zu § 6 III SächsBG BVerwGE 99, 371 ff und Roellecke SächsVBl 1996, 29 ff. S ferner Kathke ZBR 1992, 344 ff; Franzki DRiZ 1992, 469 ff; zur Mitwirkung der Nachrichtendienste Riegel JZ 1993, 442 ff. – Aus der Rspr s OLG Naumburg DVBl 1993, 960 ff; SächsOVG LKV 1994, 341 ff u ZBR 1997, 132 ff (Fragen nach Stasi-Kontakten an einen Westbeamten); BVerwG ZBR 2000, 36 ff (Zumutbarkeit des Festhaltens am Beamtenverhältnis). 208 S BVerfGE 39, 334 f; BVerwGE 73, 273, 276 o JK GG Art 33 V/4; anders Thieme FS Wacke, 1972, 71, 81. 209 S BAG NJW 1987, 269. 210 BVerfGE 39, 334, 354; BVerwG DVBl 1994, 111 f (zu §§ 3, 4 SoldG); Battis BBG, § 7 Rn 16; anders Stern Zur Verfassungstreue der Beamten, 1974, 27. Zu recht für volle gerichtliche Überprüfbarkeit des Begriffs der „Unzumutbarkeit“ (des Festhaltens am Dienstverhältnis) im Rahmen der Sonderkündigungstatbestände nach dem EV (Rn 23) OVG MV LKV 1996, 251 ff.

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IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

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Solche Erwägungen überzeugen bezüglich der Beurteilung der fachlichen und der allgemeinen persönlichen Eignung (Rn 89), nicht aber bezüglich der Verfassungstreue. Das in einem unbestimmten Rechtsbegriff auszumachende Prognoseelement allein reicht nicht aus, um dessen Justitiabilität zu begrenzen. Anders als im Hinblick auf die Eignung für die spezifischen Anforderungen eines Amtes (Rn 73) ist die Gewähr der Verfassungstreue daher nach allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen; ein sachlicher Kompetenzvorsprung der Behörde gegenüber den Gerichten besteht nicht. Das gilt auch dann, wenn man das Ausmaß der zu beurteilenden Treue in Beziehung zur konkreten Amtstätigkeit setzt. Die Rechtslage ist insofern vergleichbar dem wirtschaftsverwaltungsrechtlich vielfach geforderten Zuverlässigkeitsurteil, das zu Recht seit jeher voller richterlicher Überprüfung für zugänglich gehalten wird,211 obwohl auch hier – bis in das Vokabular hinein vergleichbar – eine auf Wertungen beruhende Feststellung darüber zu treffen ist, ob eine Person die „Gewähr bietet“, bestimmten (ebenfalls relativen) normativen Anforderungen künftig gerecht zu werden. Die weiteren subjektiven Ernennungsvoraussetzungen sind teilweise rein formal bestimm- 88 bar, teilweise wiederum mit unbestimmten Rechtsbegriffen umschrieben. So ist für den Laufbahnbeamten eine Vorbildung gesetzlich vorgeschrieben oder als üblich gefordert, etwa ein Vorbereitungsdienst,212 während der freie Bewerber (Rn 72) die erforderliche Befähigung anderweitig nachweisen kann. Mindest- und Höchstgrenzen bestehen für das Lebensalter;213 letztere differenzieren im Interesse von Frauen und erziehenden Männern. Auch die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter214 und die (Nicht-)Mitgliedschaft im Bundestag oder in Landtagen 215 sind formal bestimmbar, nicht dagegen die Anforderungen an die gesundheitliche Dienstfähigkeit216 und die allgemeine fachliche und charakterliche217 Eignung – auch ihre Beurteilung muss (konkret) amtsbezogen erfolgen, darf nicht abstrakte Persönlichkeitsbewertung sein.218 cc) Leistungsprinzip, Ernennungsanspruch, Konkurrenz: Die Entscheidung über die Ernen- 89 nung erfolgt regelmäßig als Auswahlentscheidung zwischen mehreren Bewerbern. Sie ist durch verfassungsrechtliche Anforderungen materiell programmiert, insbesondere durch Art 33 II, III GG, die Gleichheitsgrundrechte des Art 3 GG, aber auch durch das Sozialstaatsprinzip des Art 20 I GG, das zB die Bevorzugung Schwerbehinderter grundsätzlich legitimiert.219 Der Dienstherr darf die Beurteilung entscheidungsrelevanter Aspekte nicht auf Dritte übertragen, sich aber etwa Ergebnisse einer psychologischen Begutachtung zu Eigen machen.220 Das Leistungsprinzip soll etwa auch durch die Vergabe von Leitungsfunktionen auf Probe (Rn 67) gestärkt werden.

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211 S zB BVerwGE 36, 288 ff und o Huber 3. Kap Rn 318 ff. 212 Zur Rücknahme einer Ernennung wegen Widerrufs einer Prüfungsentscheidung BVerwGE 71, 330, 332 ff. 213 Zur Vereinbarkeit von Altershöchstgrenzen mit unionsrechtlichen Vorgaben vgl EuGH Urt v 12.1.2010 – C 229/ 08 – (Wolf/Stadt Frankfurt/M), Slg 2010, I-1. Ferner Fischer RiA 2010, 111 ff; Gärditz GPR 2010, 17 ff. Zur entspr Anwendbarkeit des § 113 BGB bei Minderjährigkeit vgl BVerwG BayVBl 1996, 637 f. 214 Vgl §§ 45, 45b StGB. 215 Vgl Art 137 I GG iVm § 32 I Nr 3 BBG; die sog Inkompatibilität ist in den Ländern teilw gesondert im Rahmen der Ernennungsvoraussetzungen geregelt. Zu § 12 I Nr 1 des KommunalwahlG Bbg vgl VerfG Bbg DÖV 1996, 372 ff; dazu Engelken DÖV 1996, 853 u Menzel DÖV 1996, 1037. Zu § 26 I Nr 6 BerlWahlG vgl BVerfG NJW 1996, 2497. Zu § 13 I lit a KommWahlG NW OVG NW NVwZ 1998, 768 ff. 216 Zum HIV-Test s BayVGH DVBl 1989, 212 ff o JK GG Art 28 II 1/18; Seume BayVBl 1988, 359 ff; Haesen ZRP 1989, 15 ff; Seewald VerwArch 90 (1989), 163 ff – Zur Übergewichtigkeit s BVerwGE 92, 147 u VGH BW NVwZ-RR 1996, 454. 217 Vgl VGH BW ZBR 1984, 281 f zu einem straffällig gewordenen Bewerber. 218 „Diplomatisches Geschick“ soll kein zulässiges Befähigungsmerkmal sein, OVG NW NWVBl 2004, 463. 219 Vgl § 5 BLV; § 11a ArbplSchG; vgl aus der Rspr BVerwG ZBR 1990, 325; NdsOVG NVwZ-RR 1996, 281. Zur Förderung Behinderter im öffentlichen Dienst nach Art 3 III 2 GG vgl Schwidden RiA 1997, 70 ff. Zu Grenzen, die das AGG zieht, Fischer ZBR 2009, 9 ff. 220 Vgl BVerwGE 80, 224, 227 f.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

Ausgangspunkt für die Auswahl221 der Beamten (vgl § 9 BBG) ist ein Maßstab, der bereits in der institutionellen Verbürgung des Berufsbeamtentums angelegt und in Art 33 II, III GG individualrechtlich ausgemünzt ist: Es bedarf einer strikt an der Befähigung und der fachlichen Leistung ausgerichteten Entscheidung. Das Leistungsprinzip hat über den Zugang zum und das Fortkommen im öffentlichen Dienst zu entscheiden.222 Damit dies gelingen möge, besteht bundesrechtlich für die Bundesbeamten (die Landesgesetzgebung divergiert) grundsätzlich eine Ausschreibungspflicht (vgl § 8 BBG), die sich auf Einstellungen iSv § 2 I BLV (vgl § 4 I BLV) bezieht, für Beförderungen eine Soll-Vorschrift zur innerdienstlichen Ausschreibung (§ 23 BBG, § 4 Abs 2 BLV).223 Das Leistungsprinzip fordert, die Entscheidung an der Eignung (persönliche, intellektuelle, charakterliche Eigenschaften), der Befähigung (fachliches Wissen, berufliches Können) und der fachlichen Leistung (bisherige Arbeitsleistungen in praktischer Tätigkeit, besonders wichtig bei der Beförderung und bei der Beurteilung von Bewerbern, die nicht Laufbahnbewerber sind) auszurichten. Es handelt sich hierbei um unbestimmte Rechtsbegriffe, denen eine Beurteilungsermächtigung für die entscheidende Verwaltung innewohnt.224 Gerichtlich kann nur kontrolliert werden, ob die Verwaltung von einem zutreffenden Tatsachenbild ausgegangen ist, ob sie allgemein gültige Wertmaßstäbe beachtet und ob sie sachwidrige Erwägungen angestellt hat. Wegen der Relativität der Kriterien in Bezug auf das zu vergebende Amt kann der Dienstherr im Rahmen sachgerechter Beurteilung auch über die Gewichtung der Kriterien im Einzelfall befinden. Im Fall einer Überprüfung im Verwaltungsverfahren (vgl § 126 III BRRG, § 126 II BBG, § 54 II BeamtStG) bzw im gerichtlichen Verfahren hat der Dienstherr die Plausibilität seiner Erwägungen nachvollziehbar zu machen. Verboten ist eine Bevorzugung einzelner Personen aus sachwidrigen Motiven (persönliche Präferenz, zB aus politischer, landsmannschaftlicher, religiöser Verbundenheit) – ein theoretisch leicht konsentierbares Postulat, das in der Realität auf vielfältige Anfechtungen stößt, bekanntlich vor allem durch die sog Ämterpatronage,225 mit der politische Parteien ihren Einfluss zu sichern trachten und ihren Mitgliedern einen Anreiz zu politischer Betätigung setzen. Ebenso abzulehnen wie die „einseitige“ Patronage (etwa im Anschluss an Wahlen, „Machtwechsel“) ist die Proporz-Patronage, bei der sich Parteien im Zusammenwirken bedienen.226 Bereits in dem kraft Gesetzes verpönten Entscheidungskriterium „politischer Anschauungen“ ist ein Abgrenzungsproblem unmittelbar angelegt. Auf der Stufe des sog politischen Beamten (Rn 70) anerkennt die Rechtsordnung selbst die Notwendigkeit eines politischen Grundkonsenses zwischen den Beamten und der jeweiligen Regierung. Daraus kann auch geschlossen werden, dass das Fehlen eines solchen politischen

_____ 221 Früher „Auslese“, § 8 I 2 BBG aF. 222 Dazu Krüger Das Leistungsprinzip als Verfassungsgrundsatz, 1957; Isensee FS BVerwG, 1978, 337 ff; Siedentopf FS Bulling, 1990, 155 ff; Schmidt-Aßmann NJW 1980, 16 ff; Bochmann ZBR 2004, 405 ff; für Beförderungsentscheidungen s Laubinger VerwArch 83 (1992) 246 ff; Schnellenbach DVBl 1995, 1153, 1156 mwN; anders insoweit Wenger Leistungsanreize für Beamte, 1995, 80; dagegen zurecht Battis ZBR 1996, 193, 195. Zur Unzulässigkeit eines mit sozialen Erwägungen motivierten Verzichts auf eine Erprobung OVG SH NVwZ 1997, 613 ff. Zu gegenüber dem Leistungsprinzip nachrangigen Auswahlprinzipien BVerfG DVBl 1995, 1237 ff; BVerfG NVwZ 2007, 691; BVerwGE 124, 99. Vgl auch OVG SH NVwZ-RR 1995, 583. Zu Hilfskriterien bei gleicher Eignung s BVerwG ZBR 2003, 420. 223 S dazu Battis BBG, § 8 Rn 3; aus der Rspr s BVerwG NVwZ 1989, 563 u RiA 1997, 132 ff; BremStGH DÖV 1993, 300 o JK GG Art 33 II/14; SächsOVG SächsVBl 2001, 196; s ferner Ladeur Jura 1992, 77 ff. § 8 BBG bezieht sich nicht nur auf die Fälle der Begründung eines Beamtenverhältnisses durch Einstellung gem § 2 I BLV, sondern gilt umfassend auch für behördenintern zu besetzende Stellen. 224 S dazu BVerwGE 8, 192, 195 f; E 15, 39 ff; E 68, 109 f o JK GG Art 33 II/8; Differenzierung mwN bei SchmidtAßmann in: Maunz/Dürig, GG, Art 19 Abs 4 Rn 194. – Zum Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Bewertung von Examensnoten, die in einem anderen Bundesland erzielt worden sind, NdsOVG NVwZ 1995, 803 f. 225 Dazu Wichmann ZBR 1988, 365 ff; Klieve VR 2003, 183 ff; v Armin DÖV 2007, 221 ff. Analyse der „Karrierefaktoren“ bei Spitzenbeamten: Derlien DÖV 1990, 311 ff. 226 „Arrangement unter den Beuteberechtigten“, so Battis BBG, § 9 Rn 4.

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IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

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Konsenses für andere als politische Beamte die Ernennungsentscheidung nicht beeinflussen darf.227 Die verpönten Auswahlkriterien geben nicht nur in sich Auslegungsprobleme auf, sondern 90 stehen ihrerseits in einem Spannungsverhältnis zu gegenläufigen verfassungsrechtlichen Vorgaben. So war Art 3 II GG auch vor der Einfügung von Satz 2 nicht nur ein Grundrecht auf individuelle Gleichbehandlung, sondern bereits auch ein Gebot zur Herstellung gleicher Entfaltungschancen für Männer und Frauen.228 Ob Frauen bei gleicher Eignung und Leistung bevorzugt werden dürfen, ist umstritten; allerdings ist schon die Prämisse zweifelhaft, ob zwei Bewerber überhaupt „gleich“ geeignet sein können. Jedes Bevorzugungsgebot, mag es auf Gesetz oder – lediglich – Verwaltungsvorschrift beruhen, entfaltet Vorwirkungen, es drängt sich ein schon in die wertende Feststellung über gleiche Eignung. Das Verfassungsgebot, Männer und Frauen gleich zu behandeln, verlangt nach der Berücksichtigung realer Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Bewertung bisheriger Lebensleistung, gestattet aber keinen Schematismus, der in genereller und qualifikationsunabhängiger Bevorzugung resultieren würde.229 Im Mittelpunkt der seit längerem andauernden Diskussion steht die Frage, in welcher Weise durch Gesetz die Einstellungsund Beförderungspraxis mit dem Ziel der Frauenförderung gesteuert werden darf oder gar muss.230 Neben den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen sind für die Zulässigkeit bzw Auslegung solcher Vorschriften Vorgaben des Unionsrechts von Bedeutung, dies über das Beamtenrecht bzw das öffentliche Dienstrecht hinausweisend. Anhand der früheren Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG hatte der EuGH auf Vorlagen deutscher Gerichte231 ein wohl nicht gänzlich in sich stimmiges,232 aber doch in den Grundzügen plausibles Konzept vorgegeben, das jedenfalls für einige Landesgesetze zur Gleichstellung Anpassungsbedarf ausgelöst hat. Nunmehr wurden die genannte und weitere Gleichbehandlungsrichtlinien einschließlich der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EuGH in der RL 2006/54/EG zusammengefasst.233 Danach ist

_____ 227 Zur verstärkten Einstellung von Personen mit Migrationshintergrund im Polizeivollzugsdienst s Kunig FS Schnapp, 2008, 643 ff. 228 Vgl BVerfGE 85, 191, 207 o JK GG Art 3 II/6; BVerfG NJW 1994, 647 u dazu Zimmer NJW 1994, 1203 f; Sacksofsky Das Grundrecht auf Gleichbehandlung, 2. Aufl 1996; Fisahn NJ 1995, 352 ff. Statistische Befunde zur Beteiligung von Frauen an Führungspositionen bei Löhr VR 1998, 182 ff. – Die erwähnte Änderung des GG erfolgte durch G v 27.10.1994, BGBl I 3146; dazu König DÖV 1995, 837 ff. Durch Art 1 des 2. GleichberechtigungsG v 24.6.1994, BGBl I 1406 das FrauenförderG hat der Bundesgesetzgeber (für die Bundesverwaltung) eine Reihe von Förderungsmaßnahmen zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern vorgegeben und dabei den „Vorrang von Eignung, Befähigung und Leistung“ unter Bezugnahme auf Art 33 II GG in der Zielbestimmung des Gesetzes betont (§ 2 2. GleichbG). – S dazu Mittmann NJW 1994, 3048 ff. 229 Vgl zu dem Problemfeld Ebsen Jura 1990, 515 ff; Fuchsloch NVwZ 1991, 442 ff; Südhoff JZ 1991, 751 ff; Rüfner FS Stern, 1997, 1011 ff. Zu einzelnen landesrechtlichen Regelungen Überblick bei Battis/Schulte-Trux/Weber DVBl 1991, 1165 ff; Breunig PersR 1994, 446 ff; Schnellenbach NWVBl 1994, 371 f; Hofmann NVwZ 1996, 424 ff. – Zu § 125b I BRRG (Ausgleich mutterschaftsbedingter Nachteile) s BVerfGE 91, 130 ff; für verfassungsrechtlich nicht geboten hält die Vorschrift BVerfG NVwZ 1997, 54 f. 230 Bspl aus der neueren Rspr: NdsOVG NVwZ 1996, 497 ff o JK GG Art 3 III/1; VG Berlin NVwZ-RR 1996, 406 ff; VG Darmstadt NVwZ-RR 1995, 289 f. 231 EuGH Urt v 17.10.1995 – C-450/93 – (Kalanke/Freie Hansestadt Bremen), Slg 1995, I-03051 = NJW 1995, 3109 ff, dazu Holznagel/Schlünder Jura 1996, 519 ff, auf Vorlage von BAG NZA 1994, 77 ff; EuGH Urt v 11.11.1997 – C-409/95 – (Marschall/Land NW), Slg 1997, I-06363 = DVBl 1998, 181 ff o JK GG Art 3 II/8, auf Vorlage des VG Gelsenkirchen EuZW 1996, 223 ff; EuGH Urt v 28.3.2000 – C-158/97 – (Badeck/Land Hessen), Slg 2000, I-01875 = NJW 2000, 1549 ff, auf Vorlage des HessVGH, StAnz Hess 1997, 1447 ff, dazu Sachs JuS 2000, 812 f; Piestner EuZW 2000, 479 ff. 232 Eingehend dazu Sachs RdA 1998, 129 ff; Zusammenschau auch bei Starck JZ 1998, 140 f; Glauben DRiZ 1998, 52 ff; Pape AuR 1998, 14 ff. – Zum zunächst geführten Streit um das rechte Verständnis der Kalanke-Entscheidung etwa Loritz EuZW 1995, 763 ff; Starck JZ 1996, 197 ff; B. Schmidt NJW 1996, 1724 ff; Colneric in: Das Arbeitsrecht der Gegenwart 34 (1997), 69 ff. 233 RL 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.7.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen, ABlEU L 204/23.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

eine nationale Regelung („Quote“), nach der weiblichen Bewerbern mit gleicher Qualifikation wie männlichen Mitbewerbern in solchen Tätigkeitsbereichen, in denen im jeweiligen Beförderungsamt weniger Männer als Frauen beschäftigt sind, bei einer Beförderung automatisch der Vorzug eingeräumt wird, als geschlechtsbezogene Diskriminierung der Männer europarechtlich unzulässig. Diese Erkenntnis führte im Fall Kalanke zur Beanstandung einer Vorschrift bremischen Rechts. Im Fall Marschall betonte der EuGH die genannte Aussage erneut, gelangte aber zu der Auffassung, die in jenem Verfahren in Rede stehenden (nordrhein-westfälischen) Regelungen seien angesichts einer „Öffnungsklausel“ (§ 25 VI 2 LBG NW aF), nach der Frauen nicht vorrangig befördert werden müssen, sofern in der Person eines männlichen Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen, mit der erwähnten Richtlinie vereinbar. Der EuGH hob in diesem Zusammenhang ausdrücklich hervor, dass solche Öffnungsklauseln zum Abbau in der sozialen Wirklichkeit bestehender faktischer Ungleichheiten beitragen könnten. Zulässig seien sie dann, wenn mit Frauen gleichqualifizierten Männern im Einzelfall garantiert sei, dass eine „objektive“ Beurteilung erfolge, alle in Betracht kommenden Kriterien – deren Inhalt bleibt allerdings letztlich offen – gewürdigt würden und eben der Frauen-Vorrang entfalle, sobald solche Kriterien zugunsten des Mannes „überwögen“; diesen Kriterien dürfe aber nicht ihrerseits diskriminierende Wirkung zukommen. Im Fall Badeck ua wurde das hessische Gleichberechtigungsgesetz für europarechtskonform gehalten. Der Billigung einer „Verfahrensquote mit Öffnungsklausel“234 aus europäischer Sicht wird man sich auch aus dem Blickwinkel von Art 33 II, Art 3 II GG grundsätzlich anschließen können,235 wobei allerdings noch die Frage zu beantworten bleibt, ob und mit welchem Ergebnis es grundrechtlich geboten ist, die bei gleicher Qualifikation den Frauenförderungsautomatismus abwendenden Beurteilungskriterien zugunsten gleichqualifizierter männlicher Bewerber gesetzlich festzulegen.236 Nicht vergessen werden sollte im Übrigen, dass Regelungen wie die genannten nur eines unter anderen (verfassungsrechtlich dann weniger problematischen) Instrumenten auf reale Gleichstellung zielender Politik darstellen.237 Aus keiner der Normen, die die Entscheidung über die Ernennung materiell anleiten, folgt 91 ein Anspruch auf Ernennung,238 aus Art 33 II GG allerdings – unproblematisch – das Recht auf Bewerbung, das sich fortsetzt in dem Recht auf ein faires Entscheidungsverfahren.239 Allerdings kann ein Auswahlverfahren aus sachlichen Gründen jederzeit abgebrochen werden.240 Im bloßen Recht auf Bewerbung erschöpft sich die Rechtsstellung, die Art 33 II GG dem Bewerber verleiht, nicht. Es besteht vielmehr ein subjektives öffentliches Recht auf eine rechtmäßige Ermessensausübung. Ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung kann sich regelmäßig zum subjektiven Recht auf die begehrte Entscheidung auch in der Sache verdichten. Dies ist bei Ernennungen allerdings schon deshalb gerichtlich selten durchsetzbar, weil die vorauszusetzende Spruchreife meist fehlt (vgl § 113 V 1 VwGO). Auch wenn zur Zeit der Entscheidungsfindung nur die Ernennung des zu Unrecht abgewiesenen Bewerbers in Betracht gekommen wäre, kann es der Behörde vorbehalten sein, in Zukunft entweder von einer Ernennung ganz abzusehen oder ein neues Ausschreibungsverfahren einzuleiten, um weitere Bewerber zu gewinnen.

_____ 234 So etwa Battis NJ 1998, 44. Vgl die Einfügung der Worte „sofern nicht in der Person eines Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen“ in § 4 I, II des brem LandesgleichstellungsG durch G v 3.2.1998, GBl 25. 235 Vgl näher Kunig in: v Münch/Kunig, GG I, Art 33 Rn 34 Stichw „Frauenförderung“ mwN. 236 Vgl NdsOVG DVBl 1995, 1254 ff o JK GG Art 3 III/1; für den vorliegenden Zusammenhang VG Berlin DöD 1998, 169 ff u allg Streinz EuropaR, Rn 202 ff. 237 S bei Kunig (Fn 235). – Zur gesetzlichen Pflicht von Gemeinden zur Bestellung kommunaler Frauenbeauftragter NdsStGH NVwZ 1997, 58 ff u dazu Fritsche/Wankel NVwZ 1997, 43 ff; Niebaum DÖV 1996, 900 ff. Ferner Kunig FS Schnapp, 2008, 643 ff. 238 BVerfGE 39, 334, 354; BVerwGE 2, 151, 153; SächsOVG LKV 1994, 147 ff; Günther ZBR 1979, 93, 101; vgl auch Sachs ZBR 1994, 133 ff. Zum Ernennungsanspruch nach erfolgreicher Erprobung Rn 67. 239 Vgl dazu HessVGH NJW 1985, 1103 ff u ZBR 1994, 345 ff; Lecheler JZ 1984, 448, 452 f. 240 BVerwGE 101, 112, 114 f.

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In besonderen Fallkonstellationen verdichtet sich das Ermessen dagegen typischerweise 92 zum Ernennungsanspruch. Es betrifft dies zum einen den Fall der Zusicherung von Seiten der zuständigen Stelle.241 Aus § 183 I 1 BBG lässt sich schließen, dass die Zusicherung einer Ernennung rechtlich zulässig ist. Sie bedarf der Schriftform.242 Des Weiteren gibt für diejenigen Vorbereitungsdienste, die dem Zugang zu Berufen außerhalb des öffentlichen Dienstes zwingend vorgeschaltet sind, Art 12 I GG das Zugangsrecht, wenn der Bewerber die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt.243 In Mangelsituationen (wie bezüglich der Stellen im Vorbereitungsdienst der Justiz) muss die „Verwaltung des Mangels“ den Erfordernissen des Gleichheitssatzes genügen; zugleich ist der Staat grundsätzlich gehalten, ein angemessenes Maß solcher Stellen bereitzuhalten.244 Schließlich kennt das Beamtenrecht eigene Anspruchsgrundlagen für die Ernennung, so 93 bezüglich der Lebenszeiternennung für den Beamten auf Probe,245 für den Wahlbeamten nach ordnungsgemäßer Wahl und deren Annahme, schließlich – aus zeitlichen Gründen wohl abgeschlossen – im Falle der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts.246 Für die Wiedergutmachung in der DDR vom Staatsdienst ferngehaltener oder am Fortkommen willkürlich gehinderter Personen ergibt sich aus § 8 2. SED-UnBerG eine Rehabilitierungschance und Nachteilsausgleichung.247 Die klagweise Durchsetzung eines Anspruchs auf Ernennung ist mit durch das materielle 94 Recht verursachten prozessualen Problemen verbunden, die üblicherweise unter dem Stichwort „Konkurrentenklage“ zusammengefasst werden. Es ist dies ein Sammelbegriff für unterschiedliche Konstellationen; er steht nicht für eine eigenständige „Klageart“.248 Eine Klage ist jedenfalls wegen fehlenden (individuellen) Rechtsschutzinteresses unzulässig, wenn die Begünstigung eines Konkurrenten lediglich öffentliche Interessen verletzt. Es kann also nicht gegen eine fremde Begünstigung vorgegangen, sondern nur die eigene Begünstigung erstrebt werden. Dafür bietet sich zunächst die Form der Verpflichtungsklage an. Das eigene subjektive Recht kann jedoch grundsätzlich nicht mehr verwirklicht werden, wenn dem Konkurrenten die Begünstigung erteilt wurde. Demnach muss ein Kläger auch gegen den fremdbegünstigenden Verwaltungsakt vorgehen, um einen ihn selbst begünstigenden Verwaltungsakt zu erreichen: Er muss Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erheben, sofern es um die Einstellung und Beförderung geht, im Falle der Umsetzung (die keinen Verwaltungsakt darstellt, Rn 116) entsprechende Leis-

_____ 241 Dazu Grellert Zusicherungen im Beamtenrecht, 1964; Günther ZBR 1988, 181 ff; Erichsen Jura 1991, 109 ff. 242 Zu § 38 I 1 VwVfG insoweit Kunig ZBR 1986, 253, 257; Wagner DÖV 1988, 277, 282; zur Verwaltungsaktsqualität Hochschullehrern erteilter Rufe BVerwG DVBl 1998, 643 f (abl); s demgegenüber etwa Epping WissR 1992, 166, 179. 243 Vgl dazu BVerwGE 6, 13 ff; 16, 241, 245 f; Battis NJW 1988, 947, 952 mwN. Wenn die Übernahme in das Beamtenverhältnis nicht möglich ist, muss der Staat einen gleichwertigen Vorbereitungsdienst anbieten, vgl BAG NJW 1987, 2699 ff. 244 Vgl OVG Hamburg DVBl 1987, 316 ff u MDR 1991, 84; offengelassen von VGH BW VBlBW 1998, 69 f. Vgl in diesem Zusammenhang auch die grundlegende Entscheidung des BVerfG zu Art 12 I GG als Teilhaberecht (E 33, 303, 331 f), das sog 1. NC-Urteil; einordnend dazu Kämmerer in: v Münch/Kunig, GG I, Art 12 Rn 36 ff. 245 Vgl § 9 II BBG; eine solche Entscheidung muss in angemessener Zeit erfolgen, vgl dazu BVerwGE 19, 344, 347; weiter BVerwGE 92, 147 ff; VGH BW NVwZ-RR 1996, 454, dort auch zu der Beurteilung der Bewährung als Akt wertender Erkenntnis, der die gerichtliche Kontrolldichte einschränkt. 246 G zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes, BGBl 1965 I 2073. 247 Vom 22.6.1994, BGBl I 1311, zuletzt geänd am 20.12.2001, BGBl I 3986; dazu Lehmann/Wimmer NJ 1994, 350, 352 ff; Heintzen DÖV 1994, 413 ff. 248 Allg dazu Munding DVBl 2011, 1512 ff; Laubinger ZBR 2011, 289 ff u 332 ff; Kirsch Jura 2010, 487, 490 ff; Solte ZBR 1972, 109 ff; Finkelnburg DVBl 1980, 809 ff; Brohm FS Menger, 1985, 235 ff; Rothländer PersR 1996, 479 ff; Schnellenbach ZBR 1997, 169 ff. Zur Übertragbarkeit auf Angestellte Günther ZTR 1993, 281 ff; Vergleich mit „Konkurrentenklagen“ auch in anderen Bereichen bei Erichsen Jura 1994, 385 ff; unter dem Gesichtspunkt des vorläufigen Rechtsschutzes eingehend und unter Würdigung der Rechtsprechung Ronellenfitsch VerwArch 82 (1991), 121 ff; vgl auch Seewald/Martini JA 1993, 129 ff; v Golitschek BayVBl 1996, 1 ff.

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tungsklagen in Klagehäufung. Ist die Begünstigung des Konkurrenten bereits erfolgt, stellt sich jedoch die Frage, ob für die Klage des Unterlegenen noch Klagebefugnis und Rechtsschutzbedürfnis bestehen. Auf die Rücknahme (Rn 101) einer Ernennung des anderen hat der abgewiesene Bewerber keinen Anspruch. Der Grundsatz der Ämterstabilität setzt sich durch. Mit der Ernennung des erfolgreichen Konkurrenten ist das Verfahren der Stellenbesetzung also endgültig beendet – der Antrag des Unterlegenen, der sich auf die Erlangung von statusrechtlichem Amt, Planstelle und Dienstposten richtet, kann nicht mehr zum Erfolg führen. Wird die Stelle zu einem späteren Zeitpunkt wieder frei und könnte erneut besetzt werden, so handelt es sich um ein neues Verfahren, in dem der ursprüngliche Anspruch nicht mehr verwirklicht werden kann. Er ist – in den Worten des BVerwG – „erledigt“.249 Somit entfällt in dieser Konstellation jedenfalls das Rechtsschutzinteresse. Es soll ausnahmsweise allerdings dann nicht entfallen, wenn der Dienstherr den Konkurrenten entgegen einer vorangegangenen einstweiligen Anordnung (§ 123 VwGO) ernennt.250 In einem solchen Fall beansprucht der Grundsatz der Ämterstabilität zwar ebenfalls Geltung, doch ist nötigenfalls für den zu Unrecht Übergangenen eine Planstelle zu schaffen, um ihn verfahrens- und materiell-rechtlich so zu stellen, als sei die einstweilige Anordnung beachtet worden. Der Grundsatz der Ämterstabilität steht nach neuerer Rechtsprechung des BVerwG ferner „der Aufhebung der Ernennung auf Klage eines unterlegenen Bewerbers nicht entgegen, wenn dieser daran gehindert worden ist, die Rechtsschutzmöglichkeiten zur Durchsetzung seines Bewerbungsverfahrensanspruchs vor der Ernennung auszuschöpfen.“251 Die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit der fehlerhaften Auswahlentscheidung des Dienstherrn oder die Verweisung auf Schadensersatz in Geld genügen dem Rechtsschutzanspruch des Konkurrenten nicht. Seinem Anspruch kann der Dienstherr nicht mangelnde Haushaltsmittel entgegenhalten, da dies auch bei einem Schadensersatzanspruch nicht möglich wäre. Wird indessen lediglich um die Vergabe eines Dienstpostens (Rn 73) konkurriert, so bleibt eine Korrektur immer möglich.252 Die materielle Rechtslage im Bereich der Ämterkonkurrenz führt zu einer überragenden Be95 deutung des vorläufigen Rechtsschutzes. Art 33 II GG und der Rechtsschutzgarantie des Art 19 IV GG kann dabei verfahrensrechtlich nur Rechnung getragen werden, indem der Bewerber, dessen Nichtberücksichtigung beabsichtigt ist, so rechtzeitig ins Bild gesetzt wird, dass er gerichtlich noch die Ernennung des Konkurrenten verhindern kann.253 Dafür wird eine schlichte Mitteilung nicht in jedem Fall ausreichen, es vielmehr umfassender Aufklärung durch Begründung, auch Anhörung bedürfen. Dies sind Postulate, die sich leichter erheben als einlösen lassen: Wird ihnen

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249 BVerwGE 80, 127, 129 f o JK GG Art 33 II/12. Vom Fallen einer „Rechtsschutzklappe“ spricht Weiß ZBR 1989, 276. – Beispielhaft für die Rechtslage bei der Konkurrenz um ein Statusamt s Peter JuS 1992, 1042 ff, um ein Wahlamt s OVG SH NVwZ 1993, 1124 f, um Dienstposten s BVerwG DVBl 1989, 1150; OVG SH DÖV 1989, 947; Günther ZBR 1990, 284 ff u DöD 1993, 162 ff. Zum gerichtlichen Streit um das Amt eines Vorsitzenden Richters am BGH s VGH BW ESVGH 47, 6 ff. Zum Sonderfall eines „deutsch-deutschen“ Konkurrentenstreits lesenswert VG Potsdam DtZ 1997, 269 ff o JK GG Art 33 II/16. 250 BVerwGE 118, 370 o JK GG Art 19 IV/25 (und Anm Hermanns JA 2004, 520). Vgl auch BVerwG DVBl 2002, 203 (und Anm Aulehner JA 2002, 554), wonach die Neubesetzung des Amtes eines politischen Beamten nicht die Anfechtungsklage des Vorgängers gegen die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand erledigt. Zusammenfassende Darstellungen der neueren Rechtsprechung bei Gundel DV 37 (2004) 401 ff; Tegethoff ZBR 2004, 341 ff und JA 2004, 732 ff. 251 BVerwGE 138, 102 ff (Ls 2) o JK GG Art 33 II/22. Vgl auch BVerfG NVwZ 2007, 1178 f und NVwZ 2008, 70 f; ferner Herrmann NJW 2011, 653 ff; Schenke NVwZ 2011, 321 ff; Muckel JA 2011, 479 f; Gärditz DVBl 2011, 1173 ff; Hufen JuS 2011, 957 ff; v Roetteken ZBR 2011, 73 ff. 252 S zB ThürOVG DÖV 1998, 607 ff. 253 Vgl BVerfG NJW 1990, 501; HessVGH DÖV 1991, 698 u DöD 1994, 234 f; OVG SH DÖV 1993, 962 f; BVerfG NVwZ 2006, 1401 o JK GG Art 33 II/20; Schnellenbach DöD 1990, 153 ff; Wittkowski NJW 1993, 817 ff u NVwZ 1995, 345 ff; Jakob NJ 2004, 368. – Zu den korrespondierenden Anforderungen an die Zeitigkeit der Reaktion des Übergangenen HessVGH NVwZ 1994, 398. Nach BVerwG NVwZ 2004, 1257 gilt die mit Schadensersatzpflicht bewehrte Benachrichtigungspflicht des Dienstherrn auch bei Massenbeförderungen.

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IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

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nicht genügt, zahlt der nicht ernannte Bewerber den Preis. Rechtswidrige Nichtberücksichtigung gibt keinen Bonus für künftige Entscheidungen. Da das verletzte Zugangsrecht als „drittgerichtet“ zu qualifizieren ist, kommt aber ein Amtshaftungsanspruch in Betracht, dies unabhängig davon, ob der Bewerber um das Amt bereits Bediensteter des Dienstherrn ist, der das Amt zu vergeben hat, oder ob es sich um einen außenstehenden Bewerber handelt.254 dd) Die Nichtigkeit der Ernennung: Rechtswidrige Verwaltungsakte sind grundsätzlich be- 96 standskräftig bis zu ihrer behördlichen oder gerichtlichen Aufhebung; leiden sie an besonders schwer wiegenden Fehlern, die offenkundig sind, bedarf es solcher Aufhebung nicht, der Verwaltungsakt ist nichtig (vgl § 44 VwVfG). Diese Rechtslage ist bei Ernennungsakten beamtenrechtlich modifiziert: Die Gründe der Nichtigkeit sind in den Beamtengesetzen eigenständig und abschließend festgelegt.255 Rechtswidrige Ernennungen, welche sich unter Anlegung dieser Maßstäbe als nicht nichtig erweisen, können oder müssen – aus gleichfalls gesondert und abschließend geregelten Gründen – zurückgenommen werden. Bis zur Rücknahme haben sie Bestand wie auch die rechtswidrigen, aber nicht rücknehmbaren Ernennungsakte, deren rechtliche Qualität sich von der rechtmäßigen Ernennung nicht unterscheidet, auch wenn sie wegen ihrer Rechtswidrigkeit besondere Rechtsfolgen, insbesondere Haftungsfolgen, auslösen können. Ehe die Differenzierung zwischen der nichtigen und der rücknehmbaren Ernennung an- 97 setzt, stellt sich die Frage, ob überhaupt die Qualität eines Ernennungsaktes erreicht ist oder ob eine sog Nichternennung vorliegt. Hierüber entscheidet die Tatbestandlichkeit im Hinblick auf den Ernennungsbegriff256 (Rn 73). Wird eine „Ernennung“ ohne Urkunde, ohne deren Aushändigung oder unter Verwendung einer Urkunde, die die textlichen Minima nicht erfüllt,257 unternommen, fehlt es etwa auch an der Zustimmung des Adressaten,258 ist die tatbestandliche Schwelle einer Ernennung nicht erreicht, damit das Ausschließlichkeit für die Nichtigkeitsgründe beanspruchende Anwendungsfeld der Norm über mangelhafte Ernennungen noch nicht betreten. Ernennung im (Beamten-)Rechtssinne kann ferner nur ein Akt sein, den ein Träger öffentlicher Verwaltung ausspricht, der die Eigenschaft der Dienstherrenfähigkeit (Rn 9) aufweist. Ist die Behörde zwar dienstherrenfähig, aber sachlich unzuständig, so ist die Ernennung nichtig.259 Sie kann dann von der sachlich zuständigen Behörde „bestätigt“ werden, dies mit rückwirkender Kraft (§ 13 II Nr 2 BBG, § 11 II Nr 2). Das Unterbleiben der gesetzlich vorgeschriebenen Mitwirkung einer anderen Stelle260 ist kein Nichtigkeitsgrund, wenn dies nicht besonders vorgeschrieben ist. Treten allerdings ausnahmsweise mehrere Behörden als Ernennungsbehörden in Erscheinung, so ist die Ernennung bereits dann nichtig, wenn es einer der beteiligten Behörden an der sachlichen Zuständigkeit fehlt.261 Örtliche Unzuständigkeit begründet die Nichtigkeit nicht, die Ernennung wirkt allerdings nur für den Bereich, auf den sich die örtliche Zuständigkeit erstreckt. An die früher grundsätzlich – und bundesrechtlich ausnahmslos – als Nichternennung zu 98 qualifizierende Ernennung in Unterschreitung der vorgeschriebenen Form konnten nach den

_____ 254 Vgl dazu in ausdrücklicher Anknüpfung an die zuvor genannte Rspr des BVerwG und des BVerfG eingehend BGHZ 129, 226 ff o JK BGB (ÖR) § 839/4; dazu Huber JZ 1996, 149 ff; Mann JR 1996, 114 f; s ferner Czybulka/Biermann JuS 1998, 601 ff. 255 Dazu Kunig ZBR 1986, 253, 256. 256 Vgl dazu Günther DöD 1990, 281 ff. 257 Geringfügige Schreibfehler sind unbeachtlich, vgl § 42 VwVfG; Unklarheiten in der Urkunde können auch durch Auslegung beseitigt werden, vgl BVerwG NJW 1965, 1978 f. Zur Wirksamkeit einer Ernennung unter Anordnung einer rechtswidrigen Teilzeitbeschäftigung in der Ernennungsurkunde vgl BVerwG NVwZ-RR 2010, 776. 258 Dazu Plog/Wiedow/Beck/Lemhöfer BBG, § 6 Rn 9 und 24a. 259 Dazu Blasius VR 1981, 386 ff; SächsOVG SächsVBl 1996, 283. 260 ZB ein Personalausschuss, vgl dazu Zängl ZBR 1973, 138 ff. 261 Vgl Battis BBG, § 13 Rn 53 mit Bspl der Ernennung eines Oberfinanzpräsidenten.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

Landesbeamtengesetzen besondere Rechtsfolgen geknüpft werden, etwa deren Wirkung als Ernennung zum Beamten auf Widerruf oder auf Probe, sofern eine Ernennung auf Lebenszeit erfolgen sollte (vgl § 5 III 2 BRRG aF). Es ließ sich dies als Fiktion einer Ernennung modifizierten Inhalts erklären, nicht als Modifizierung der Rechtsfolgen einer nichtigen Ernennung, denn die formwidrige Ernennung war Nichternennung. Das Dienstrechtsneuordnungsgesetz hat den Fehler der Formunterschreitung jedenfalls entschärft: Gem § 13 II Nr 1 BBG ist die Ernennung auch bei Unterschreitung der vorgeschriebenen Form als von Anfang an wirksam anzusehen, wenn sich der genaue Inhalt der gewollten Entscheidung eindeutig ermitteln lässt und die zuständige Stelle die Wirksamkeit schriftlich bestätigt. 262 99 Weitere Nichtigkeitsgründe (die aber der Heilung durch „Bestätigung“ nicht zugänglich sind) betreffen einen Ausschnitt aus den subjektiven Ernennungsvoraussetzungen, nämlich die Deutscheneigenschaft bzw Staatsangehörigkeit, die Gewähr der Verfassungstreue und die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter. Bezogen sind diese Nichtigkeitsgründe auf die Sachbzw Rechtslage im Zeitpunkt der Ernennung. Fallen die bezeichneten subjektiven Ernennungsvoraussetzungen später fort, berührt dies die Wirksamkeit des Beamtenverhältnisses nicht, vielmehr ergeben sich differenzierte Rechtsfolgen: Der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit bzw ggf derjenigen eines anderen Mitgliedstaates der EU führt zur Entlassung kraft Gesetzes (§ 31 I Nr 1 BBG; § 22 I Nr 1 BeamtStG). Bietet der Beamte nicht mehr die Gewähr, für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten, so kann disziplinarrechtlich eingeschritten werden, was bis zur Entfernung aus dem Dienst führen kann (Rn 143). Der Verlust der Amtsfähigkeit, der Folge einer strafgerichtlichen Verurteilung sein kann (Rn 128), lässt das Beamtenverhältnis mit Rechtskraft des Urteils enden. Umgekehrt beseitigt der nachträgliche Eintritt der Ernennungsvoraussetzungen (etwa: Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit) die Nichtigkeit des vorgenommenen Ernennungsaktes nicht. 100 Was die objektiven Ernennungsvoraussetzungen anlangt, so kann landesrechtlich vorgesehen werden, dass die für die Ernennung zum Wahlbeamten erforderliche Wahl, erweist sie sich als unwirksam, die Nichtigkeit der Ernennung bewirkt (vgl § 11 I Nr 3 lit c BeamtStG). 101 ee) Die Rücknahme der Ernennung: Eine rechtswidrige Ernennung, die nicht nichtig ist, kann oder muss zurückgenommen werden, soweit dies gesetzlich vorgesehen ist; anderenfalls steht sie rechtlich der rechtmäßigen Ernennung gleich. Die von der Unterscheidung zwischen dem begünstigenden und dem belastenden Verwaltungsakt (Ernennungen haben insoweit doppelte Wirkung) geprägte und auf einen Ausgleich zwischen den Geboten der Gesetzlichkeit staatlichen Handelns und des Vertrauensschutzes des Adressaten zielenden Regelungen des § 48 VwVfG sind verdrängt durch spezielleres Beamtenrecht, das die Gründe für eine Rücknahme abschließend regelt263 und auch – anders als § 48 VwVfG – keine Möglichkeit der Rücknahme mit Wirkung lediglich für die Zukunft kennt. Die beamtenrechtliche Rücknahme hebt das mit der Ernennung begründete Rechtsverhältnis rückwirkend auf. Die Rücknahme muss innerhalb gesetzlich bestimmter Frist nach Kenntnis der obersten Dienstbehörde von dem Rücknahmegrund erfolgen (§ 14 III BBG).264 Um der Behörde Entschließungsfreiheit zu erhalten, andererseits aber sicherzustellen, dass 102 typischerweise ungeeignete Personen regelmäßig im erleichterten Rücknahmeverfahren (und also nicht erst im Entlassungsverfahren) aus dem Dienst entfernt werden, unterscheidet das Gesetz zwischen der obligatorischen und der fakultativen Rücknahme. Rücknahmepflicht (§ 14 I BBG, § 12 I BeamtStG) ist gegeben, wenn die Ernennung durch Zwang, arglistige Täuschung oder Bestechung herbeigeführt wurde, ferner in gewissen Fällen der Begehung von Straftaten.

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262 Vgl auch § 11 II Nr 1 BeamtStG. 263 Kunig ZBR 1986, 253, 255 f; Pohl SächsVBl 1996, 130, 132; ThürOVG ZBR 1994, 319 ff. 264 In § 12 BeamtStG ist keine Frist vorgegeben.

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IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

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Die Feststellung von Zwang und Bestechung ist strafrechtlich auszurichten, wobei § 240 StGB (Nötigung) bzw § 334 StGB (Bestechung) die Maßstäbe vorgeben. Die Verwirklichung des Unrechtstatbestandes ist ausreichend, Verschulden nicht gefordert. Der Begriff der „arglistigen Täuschung“ ist dem bürgerlichen Recht (§ 123 BGB) entlehnt. Die Täuschung kann auch in einem Unterlassen bestehen, also im Verschweigen von Tatsachen, sofern eine Pflicht zu deren Offenbarung besteht. Hier ist Zurückhaltung geboten; es ist zunächst Sache der Behörde, die für ihre Ernennungsentscheidung relevanten Tatsachen zu ermitteln bzw bei dem Bewerber zu erfragen. Weiß dieser jedoch oder nimmt in Kauf, dass die Behörde solche Tatsachen nicht kennt oder sich von ihnen ein gänzlich unzutreffendes Bild macht, so kann eine Offenbarungspflicht bestehen.265 „Herbeigeführt“ durch eine der drei verpönten Verhaltensweisen ist die Ernennung nur, wenn feststeht, dass die Behörde anderenfalls die Ernennung nicht vorgenommen hätte.266 In den letzten Jahren hatte die Rechtsprechung häufig über die Zulässigkeit von Rücknahmeentscheidungen angesichts verschwiegener Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR zu entscheiden.267 Der Rücknahmegrund der Straftatbegehung bezieht sich auf Straftaten (Verbrechen und 103 Vergehen, vgl § 12 I, II StGB), die vor der Ernennung begangen worden sind und der Ernennungsbehörde nicht bekannt waren. Sie müssen zu rechtskräftiger Verurteilung zu einer Strafe geführt haben, wobei deren Ausspruch vor oder nach dem Zeitpunkt der Ernennung liegen kann. Die Rücknahme ist nur möglich (und dann geboten), wenn es sich um eine Tat handelt, die den Betreffenden einer Berufung in das Beamtenverhältnis für „unwürdig“ erscheinen lässt. Diese Qualifizierung ist nicht unproblematisch, weil hier ein in hohem Maße unbestimmter Rechtsbegriff (der freilich im Berufszugangsrecht nicht ohne Parallelen ist, vgl § 7 Nr 5 BRAO) verwendet wird. Die Regelung soll die charakterliche Integrität der Beamten gewährleisten, darüber hinaus auch dem Umstand Rechnung tragen, dass der Bürger insoweit Erwartungshaltungen gegenüber dem Personal des Dienstes hegt. Gerade solche Erwartungshaltungen unterliegen allerdings auch dem Wandel der Anschauungen. Ist gewiss unwürdig für den Dienst als Beamter, wer Straftaten zB gegen das Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder schwere Eigentumsund Vermögensdelikte begangen hat, so könnte das anders zu beurteilen sein etwa bei der Trunkenheit am Steuer. Die Brisanz solcher Abgrenzungen wird nachhaltig entschärft durch den Umstand, dass die Ernennungsbehörde sich vor der Ernennung Klarheit über gegen den Bewerber verhängte Strafurteile oder im Gang befindliche Ermittlungsverfahren verschaffen kann und im Übrigen das Beamtenverhältnis ohnehin – in strafmaß- bzw straftatbezogener Differenzierung – mit der Rechtskraft gewisser Strafurteile endet (Rn 128). Eine fakultative Rücknahmemöglichkeit besteht gem § 14 II BBG, § 12 II BeamtStG im Fall 104 der Unkenntnis der Behörde von einem (abgeschlossenen) früheren Disziplinarverfahren, das mit der Entfernung aus dem Dienst oder einer Verurteilung zum Verlust der Versorgungsbezüge geendet hat. ff) Rechtsfolgen mangelhafter Ernennungen im Innen- und Außenverhältnis: Mit Män- 105 geln behaftete Ernennungen haben nur dann Rechtsfolgen, welche sich von denjenigen mangelfreier Ernennungen unterscheiden, wenn sie nichtig oder zurückgenommen worden sind. Teilweise werden diese Rechtsfolgen auch durch Akte ausgelöst, die als Nichternennung zu qualifizieren sind. Zu unterscheiden ist zwischen dem Innenverhältnis und dem Außenverhält-

_____ 265 BVerwGE 13, 156, 158 f; vgl auch RGZ 65, 52 (zu § 263 StGB). 266 BVerwGE 16, 340, 342 f; E 17, 1, 3; Battis BBG, § 12 Rn 4. 267 Vgl OVG LSA ZBR 1997, 191 ff; BbgOVG DtZ 1997, 267 ff. Zur grundrechtskonformen Begrenzung der Pflicht zur wahrheitsgemäßen Antwort unter zeitlichen Gesichtspunkten s unter Berufung auf BVerfG NJW 1997, 2307 ff: VG Potsdam LKV 1998, 245 ff sowie SächsOVG DtZ 1997, 398 ff; anders BVerwG DtZ 1997, 143 f; vgl auch OVG Berlin DtZ 1997, 266 f sowie ThürOVG ThürVBl 1998, 138 f.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

nis, das die von dem mangelhaft Ernannten vorgenommenen Amtshandlungen gegenüber Dritten betrifft.268 Nur ein Ausschnitt der das Innenverhältnis betreffenden Rechtsfragen unterliegt aus106 drücklicher Regelung (vgl § 15 BBG).269 Ausgangspunkt ist jeweils, dass sowohl im Falle der Nichtigkeit wie im Falle der Rücknahme das Beamtenverhältnis als nicht existierend zu betrachten ist, auch wenn dies bei der Rücknahme erst deren Ausspruch voraussetzt. Demzufolge sind bereits geleistete Dienstbezüge ohne Rechtsgrund erlangt und rückforderbar (Rn 165); sie können dem Ernannten aber „belassen“ werden (vgl § 15 S 4 BBG).270 Der Dienstvorgesetzte hat nach Kenntnis des Nichtigkeitsgrundes dem Ernannten die weitere Führung der Dienstgeschäfte zu verbieten; im Falle der Ernennung durch die sachlich unzuständige Behörde gilt das erst, wenn die zuständige Behörde es abgelehnt hat, die Ernennung zu bestätigen, und zwar gegenüber dem Ernannten selbst.271 Das Verbot der Amtsausübung ist ein Verwaltungsakt, der einer besonderen Form nicht unterliegt. Eine Anhörung des Betroffenen ist nicht vorgesehen. Für die Rücknahme der Ernennung fehlt es an einer vergleichbaren Regelung, weil § 14 III BBG lediglich das Verfahren der Rücknahme betrifft. Andererseits beseitigt die Zustellung der Rücknahmeerklärung sogar für das Außenverhältnis die bis dahin geltende Gleichstellung mit Amtshandlungen, die ein wirksam ernannter Beamter vornimmt. Von diesem Zeitpunkt an bedarf es schon deshalb keiner gesonderten Untersagungserklärung. Bis zur Zustellung der Rücknahme unterliegt der Beamte der Weisungsbefugnis seines Vorgesetzten, durch deren Inanspruchnahme ihm konkrete dienstliche Betätigungen untersagt werden können. Erweist sich eine Ernennung als unwirksam oder wird eine solche zurückgenommen, welche ihrerseits ein zuvor bestehendes Beamtenverhältnis beseitigt hatte, so besteht der frühere Status fort.272 Der Rechte- und Pflichtenkreis im Innenverhältnis, etwa auch die Frage der Haftung des Er107 nannten gegenüber der Behörde, sind für Adressaten einer nichtigen oder zurückgenommenen Ernennung nicht geregelt. Auch wenn ein Beamtenverhältnis nicht begründet worden ist bzw rückwirkend wegfällt, ist doch ein (spezifisches) Rechtsverhältnis entstanden. Dieses kann nicht angemessen in zivilrechtlichen Kategorien erfasst werden, sondern mag, sucht man nach einer Bezeichnung, in Anlehnung an das Phänomen des faktischen Arbeitsverhältnisses als faktisches (öffentlich-rechtliches) Dienstverhältnis bezeichnet werden. 273 Beamtenrecht ist hier analog anwendbar, sofern dem das Fehlen der wirksamen Ernennung nicht zwingend entgegensteht. Demzufolge ist der Ernannte zB zur Amtsverschwiegenheit (Rn 140) verpflichtet, aber ohne dass er den spezifisch beamtenrechtlichen (disziplinarrechtlichen) Sanktionen ausgesetzt werden könnte. 108 Für das Außenverhältnis sind die Fragen nach der Gültigkeit von Amtshandlungen und nach der Haftung von Interesse. Bis zur Untersagung der Weiterführung der Dienstgeschäfte bzw bis zur (Zustellung der) Erklärung der Rücknahme sind die Amtshandlungen des Ernannten „in gleicher Weise gültig“, „wie wenn sie ein Beamter ausgeführt hätte“ (§ 15 S 3 BBG). Geschützt ist das Vertrauen der Allgemeinheit auf den Bestand von Amtshandlungen, dies im Sinne allgemeiner Rechtssicherheit. Kennt ein von der Amtshandlung Betroffener Nichtigkeits- oder Rücknahmegründe, so ist dies unbeachtlich.274

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268 Allg dazu Fromme DöD 1981, 169 ff. 269 Keine Entsprechung im BeamtStG, aber landesgesetzlich geregelt. 270 Vgl auch BayVGH ZBR 1973, 58 f. 271 Vgl dazu SächsOVG SächsVBl 1996, 283, 284. 272 BayVGHE 8, 136, 139; HessVGH NVwZ-RR 1996, 340 f: Richter auf Probe wird zum Staatsanwalt ernannt. Gleiches gilt nicht für ein früheres privates Arbeitsverhältnis, s BAG ZTR 1997, 471 u Hinw auf § 10 III BBG aF (jetzt § 12 III BBG). 273 Brückner Das faktische Dienstverhältnis, 1968; vgl dazu auch BVerwG DÖV 1983, 898 ff; BVerwGE 100, 280, 283 o JK BRRG § 46/2. 274 Plog/Wiedow/Beck/Lemhöfer BBG, § 14 Rn 2.

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IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

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Auch eine Nichternennung vermag Rechtsschein zu vermitteln, denn der Bürger kann nicht erkennen, dass ein Bediensteter zB wegen einer Formunterschreitung der Ernennungsurkunde gar nicht im Rechtssinne „ernannt“ worden ist. Eine analoge Anwendung des § 15 S. 3 BBG ist insoweit geboten; den Grenzpunkt setzt auch hier eine auf die Nichternennung hinweisende Erklärung im Innenverhältnis. Vertrauensschutz besteht nicht, wenn die Behörde zu dem entstehenden Anschein gar nicht beigetragen hat. Die persönliche Haftung des Beamten nach § 839 BGB tritt nicht ein, wenn es an der 109 (staatsrechtlichen; Rn 59) Beamteneigenschaft fehlt. Das gilt auch für den Fall der Rücknahme. Das allgemeine Deliktsrecht (§§ 823 ff BGB) schließt die Lücke teilweise. Haftungsrechtlich bleibt die Beamteneigenschaft des Ernannten, wenn und soweit ihm ein öffentliches Amt anvertraut worden war, erhalten; der Überleitung der Haftung auf den Staat gem Art 34 GG steht somit die Nichtigkeit oder Rücknahme nicht entgegen. Auch bei fiskalischem Handeln bleibt die Haftungslage bezüglich unerlaubter Handlungen (Verrichtungsgehilfe, § 831 BGB, s auch §§ 31, 89 BGB) oder im Rahmen vertraglicher Beziehungen (Erfüllungsgehilfe, § 278 BGB) unberührt.

b) Beförderung, Versetzung, Umsetzung und Abordnung Das durch Ernennung begründete Beamtenverhältnis unterliegt Veränderungen durch die be- 110 amtenrechtlichen Institute der Beförderung,275 der Versetzung, der Umsetzung und der Abordnung.276 Es sind dies behördliche Anordnungen, die die rechtliche Stellung des Beamten in jeweils unterschiedlicher Weise betreffen und die an unterschiedliche Zulässigkeitsvoraussetzungen gebunden sind, insbesondere im Hinblick auf die Berücksichtigung der Willensrichtung des betroffenen Beamten und die Mitwirkungsrechte der Personalvertretung.277 Ihre Rechtsnatur (Verwaltungsaktsqualität) wird teilweise unterschiedlich beurteilt, was Konsequenzen nicht für das Ob, wohl aber das Wie des Rechtsschutzes hat (Rn 186). Seit dem DienstrechtsreformG (Rn 27) schließen § 126 IV BBG, § 54 IV BeamtStG und § 126 III Nr 3 BRRG die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage bei Abordnungen und Versetzungen aus. Ob das die Rechtsschutzchancen im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes im Ergebnis erheblich vermindert, steht allerdings dahin, da auch nach bisheriger Rechtslage strenge Anforderungen an die Aussetzung angeordneten Sofortvollzuges gestellt wurden.278 Nunmehr muss der Beamte nach §§ 80 V, II 1 Nr 3 VwGO vorgehen (s im Übrigen u Rn 179 ff). Die Beförderung wird, anders als die Umsetzung, die Versetzung und die Abordnung, durch 111 Ernennung ausgesprochen (Rn 72). Daran zeigt sich sogleich, dass sie – und nur sie – den Beamtenstatus insgesamt verändert (nicht notwendigerweise allerdings auch das Amt im konkretfunktionalen Sinn; Rn 73); ihre Verwaltungsaktsqualität kann nicht zweifelhaft sein. Versetzung und Umsetzung haben die Zuweisung eines anderen Amtes gemeinsam, wobei nur bei der Umsetzung der Beamte notwendigerweise bei der bisherigen Behörde verbleibt, die Versetzung dagegen einen Behördenwechsel innerhalb oder außerhalb des Dienstbereichs des (bisherigen) Dienstherrn bewirken kann. Bei der Versetzung wird nicht der Beamtenstatus als solcher, wohl aber stets das Amt in seinem sog abstrakt-funktionellen Sinn verändert, dh der abstrakt beschreibbare Aufgabenkreis innerhalb einer Behördenorganisation. Bei der Umsetzung ist (lediglich) das konkrete Amt betroffen, dh der im Organisations- oder Geschäftsverteilungsplan umris-

_____ 275 Zu Rechtsfragen der Beförderung eingehend Günther ZBR 1979, 193 ff; zum „Aufstieg“ ders DöD 1990, 11 ff. 276 Eingehend Paehlke-Gärtner Versetzung, Umsetzung, Abordnung, 1988; s ferner Leisner ZBR 1989, 193 ff; zum Eilrechtsschutz Günther DöD 1996, 173 ff. Die „Zuweisung“ zu öffentlichen Einrichtungen, auf die das BRRG keine Anwendung findet, sowie zu privatisierten Einrichtungen regelt § 123a BRRG; s dazu Kotulla ZBR 1995, 168 ff; Ziekow DöD 1999, 7, 22 ff; Schönrock, ZBR 2002, 306 ff; s nunmehr § 29 BBG, § 20 BeamtStG; vgl ferner o Rn 9, 26. 277 Vgl dazu OVG NW ZBR 1989, 286; BVerwG DVBl 1994, 1071 ff. 278 Vgl etwa BVerwGE 82, 196, 202 ff.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

sene Aufgabenbereich. Die Versetzung zielt auf Dauer, die Umsetzung nicht notwendigerweise, die Abordnung dagegen von vornherein nur auf einen begrenzten Zeitraum; bei ihr geht es – wie bei der Versetzung – wiederum um das Amt im abstrakt-funktionalen Sinne. Die Beförderung ist laufbahnrechtlich geregelt, im Übrigen durch die Bestimmungen über die Ernennung erfasst. Versetzung und Abordnung sind Gegenstand von Regelungen der Beamtengesetze (§§ 27, 28 BBG; §§ 14, 15 BeamtStG); die Umsetzung hingegen blieb gesetzlich ungeregelt. Ihre Zulässigkeit folgt unmittelbar aus der Organisations- und Personalgewalt des Dienstherrn, geht letztlich auf die verfassungsgewollte Regierungsgewalt zurück. 112 aa) Die Beförderung: Die Beförderung ist nach laufbahnrechtlicher Legaldefinition (vgl § 2 VIII 1 BLV) die Verleihung eines anderen Amtes mit einem höheren Endgrundgehalt; sie erfolgt in den Fällen, in denen die Amtsbezeichnung wechselt, durch Ernennung (vgl § 2 VIII 1 BLV). Regelbeförderung ist im geltenden Recht nicht vorgesehen, wohl aber gibt es – für sog höherbewertete Dienstposten, aber nicht ausnahmslos – sog Erprobungszeiten (vgl §§ 2 VII, 34 BLV). Insgesamt ist auch das Recht der Beförderung vom Leistungsprinzip (Rn 89) geprägt und der Ermessensentscheidung des Dienstherrn überantwortet. Die verfassungsrechtlichen Entscheidungskriterien entfalten sich auch hier.279 Einfaches Recht enthält Grenzen der Beförderung, insbesondere Fristen; auch dürfen Beamte auf Probe nicht befördert werden.280 113 Die Frage, ob ein Anspruch auf Beförderung bestehen kann,281 ist in Parallele zu der Frage nach dem Anspruch auf Einstellung zu beantworten. Auch hier besteht ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Ein weiterer Gesichtspunkt tritt hinzu: Da die Beförderung im Unterschied zur Einstellung das Bestehen eines Beamtenverhältnisses voraussetzt, befindet sich der die Beförderung erstrebende Beamte bereits im wechselseitigen Treueverhältnis, kann also vom Dienstherrn die Einhaltung der Fürsorgepflicht verlangen. Das BVerwG hat zunächst hieraus, nicht aus Art 33 II GG, den Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Beförderung hergeleitet.282 Auch wenn es dieser (zusätzlichen) Fundierung nicht bedarf, ist die Fürsorgepflicht hier bedeutsam, denn sie bezieht sich nicht nur auf das jeweils innegehabte Amt,283 sondern ist an die Person gebunden, verlangt, das Aufstiegsinteresse des Beamten gehörig zu gewichten und in die Abwägung einzustellen. Gegenüber Gesichtspunkten fachlicher Leistung vermag sich dies nicht durchzusetzen, gewinnt aber Bedeutung in Fällen gleicher Befähigung mehrerer Bewerber. Ist die Beförderungsentscheidung gegenüber dem nicht berücksichtigten Beamten rechts114 widrig, so treten auf der Rechtsfolgenseite die im Zusammenhang mit dem nicht erfüllten Einstellungsanspruch dargestellten Schwierigkeiten auf.284 Insofern kommt in Betracht, dass der Beamte finanziellen Nachteilsausgleich (Gehälterdifferenz) erreicht, soweit das Unterbleiben der Beförderung als adäquate Folge der Rechtsverletzung festgestellt werden kann.285

_____ 279 S zum Ganzen Eckstein ZBR 2009, 86 ff. 280 § 32 Nr 2 BLV; zum Verbot der Sprungbeförderung, Anstellungsbeförderung, Eilbeförderung vgl Battis in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II, § 31 Rn 73. 281 BVerwG DÖV 1990, 1023 f; zur früheren Rspr Schack ZBR 1963, 353 f. 282 BVerwGE 13, 17, 23 ff. Überblick über die Rspr bei Schnellenbach NVwZ 1989, 435 ff und Günther DöD 1994, 14 ff; später indessen wurde der Anspruch auch vom BVerwG auf Art 33 II GG gestützt, vgl BVerwG NVwZ 2004, 1257. S zum Ganzen Eckstein ZBR 2009, 86 f. 283 Anders aber BVerwGE 15, 3, 7; dagegen zB Segger ZBR 1973, 166, 168; Günther ZBR 1979, 101. Vgl auch BVerwG NVwZ 1991, 375. 284 Vgl o Rn 94; eine rückwirkende Beförderung kann nicht erreicht werden; zum Problem des „Freihaltens“ einer Planstelle s HessVGH NJW 1985, 1103 ff. 285 Vgl BVerwGE 80, 123 ff o JK GG Art 33 II/12; BVerwG NJW 1997, 1321 ff (auch zur Verjährung); BVerwG NVwZ 1998, 3288; J. Martens ZBR 1992, 129 ff. Das BVerwG geht nunmehr von einem eigenständigen, im Dienstverhältnis wurzelnden Schadensersatzanspruch aus.

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bb) Die Versetzung: Die Versetzung (§ 28 BBG, § 15 BeamtStG)286 ist eine dauernde Zuweisung 115 eines anderen Amtes im abstrakt-funktionalen Sinne,287 wobei die Zusicherung der „Rückübernahme“ erfolgen kann. Die Versetzung ist Verwaltungsakt.288 Einer (erneuten) Ernennung bedarf es, anders als bei der Beförderung, nicht. Der Status bleibt, aber das „abstrakte“ Amt (Rn 73) verändert sich. Das neue Amt kann außerhalb oder innerhalb des Bereichs des bisherigen Dienstherrn angesiedelt sein. Die Versetzung erfolgt auf Antrag289 oder in Erfüllung eines dienstlichen Bedürfnisses,290 kann aber auch gegen den Willen des Betroffenen erfolgen. Auch insoweit hat das DienstrechtsreformG (Rn 27) Änderungen herbeigeführt. Anders als früher bedarf es nicht allein deswegen der Zustimmung des Beamten, weil dieser in dem bisherigen, aber nicht mehr im neuen Amt eine ruhegehaltsfähige Stellenzulage erhält. War früher die Versetzung in eine nicht gleichwertige Laufbahn oder in den Dienstbereich eines anderen Dienstherrn stets von der Zustimmung des Beamten abhängig, so gilt das nunmehr nicht, sofern „dienstliche Gründe“ eine derartige Versetzung gebieten (§ 28 II BBG, § 15 II 1 BeamtStG). Damit dürften allerdings hohe Legitimationsanforderungen gestellt sein, die der Gesetzgeber bedauerlicherweise nicht näher programmiert hat. Die verfassungsrechtliche Umkleidung des Beamtenstatus wird hier bedeutsam im Rahmen eines höchst unbestimmten Rechtsbegriffs. Gewichtige Gründe müssen sich anführen lassen,291 um den Eingriff in das Laufbahnprinzip rechtfertigen zu können.292 Bei der Auflösung oder einer wesentlichen Änderung des Aufbaus oder der Aufgaben einer Behörde oder auch der Verschmelzung von Behörden kann ein Beamter, dessen Aufgabengebiet dadurch berührt wird, ohne seine Zustimmung in ein anderes Amt derselben oder einer gleichwertigen Laufbahn mit geringerem Endgrundgehalt versetzt werden, wenn er gemäß seinem bisherigen Amt nicht mehr verwendet werden kann, wobei das Endgrundgehalt demjenigen des Amtes entsprechen muss, das er vor dem bisherigen Amt innehatte (§ 28 II BBG, § 15 II 1 BeamtStG). Anders als nach der bisherigen Rechtslage kommt es nicht mehr darauf an, ob die behördliche Umstrukturierung durch Rechtssatz erfolgt. Unzulässig und mit dem Kernbereich der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums gem Art. 33 V GG nicht vereinbar, ist die Versetzung in einen sog Stellenpool, da der Betroffene insofern kein (neues) abstrakt-funktionelles Amt erhält.293 cc) Die Umsetzung: Bei der – bundesgesetzlich nicht geregelten – Umsetzung294 erhält der 116 Beamte einen neuen – konkreten – Dienstposten innerhalb der bisherigen Behörde, allerdings nicht notwendigerweise am selben Ort. Ob abstrakt (dann Versetzung) oder lediglich konkret die Amtsaufgaben verändert werden, lässt sich organisations- und haushaltsrechtlich bestimmen: Die Zuordnung zu einer Planstelle bedeutet die Verleihung eines Amtes im abstrakten Sinne, Planstellenwechsel ist also Versetzung. Ob die Umsetzung einen Verwaltungsakt oder schlicht hoheitliches Handeln darstellt, stand im Streit,295 wobei sich daran denken lässt, nur aus-

_____ 286 § 24 LBG BW, Art 48 BayBG, § 28 LBG Bln, § 30 LBG Bbg, § 29 BremBG, §§ 29 HmbBG, § 29 HessBG, § 29 LBG MV, § 28 NdsBG, § 25 BG NW, § 33 LBG RP, § 29 BG SL, § 35 SächsBG, § 31 BG LSA, § 29 LBG SH, § 30 ThürBG. 287 Vgl BVerwGE 60, 144, 147 o JK VwVfG § 35 S 1/5. 288 Vgl BVerwGE 65, 270, 276: „berührt“ den Status; diff Günther ZBR 1993, 353 ff; vgl auch BVerwG DVBl 1991, 642 ff. 289 Zur gerichtlichen Kontrolle der Ablehnung eines solchen Antrags s BayVGH BayVBl 1996, 758 f. 290 Zu einem aus einem „innerdienstlichen Spannungsverhältnis“ hergeleiteten dienstlichen Bedürfnis s VG Gera ThürVBl 1996, 284 f. 291 Womöglich: „sich aufdrängen“, so Schnellenbach ZBR 1998, 223, 235. 292 Bei „oktroyiertem Dienststellenwechsel“ fordert Günther ZBR 1996, 299, 302 einen „drastischen Aufgabenwegfall“. 293 Vgl BVerwGE 132, 31 ff; dazu Lecheler PersV 2009, 124 ff. 294 Zu ihr BVerwGE 40, 104, 107 o JK VwVfG § 35 S 1/5; E 60, 144, 146. Landesgesetzliche Regelung zB in § 28 LBG Bbg. 295 Vgl dazu – diff – Erichsen DVBl 1982, 95 ff; Franz ZBR 1986, 14 ff; Allgaier ZBR 1989, 301 ff. Gegen Einordnung als Verwaltungsakt die überwiegende Rspr, BVerwGE 60, 144, 146; OVG NW NVwZ-RR 1988, 1027; BVerwGE 98,

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

nahmsweise Verwaltungsaktscharakter anzunehmen, dies in Orientierung an der Art der Beeinträchtigung, die für den Beamten mit der Umsetzung verbunden ist. Dies ist jedoch kein sachgerechtes Kriterium, denn in keinem Fall zielt die Umsetzung auf eine Regelung iSd Verwaltungsaktsbegriffs, sie ist lediglich dienstliche Anordnung, auch wenn sie Rechte verletzt; sie ist deshalb mit der Leistungsklage anzugreifen (Rn 94, Rn 186). Die Rechtmäßigkeit einer Umsetzung setzt grundsätzlich voraus, dass der neue Dienstposten dem abstrakten Aufgabenbereich des statusrechtlichen Amts entspricht, schützt aber nicht vor dem Entzug des bisherigen Postens bei Zuweisung eines (etwa im Hinblick auf die Mitarbeiterzahl) weniger attraktiven Postens.296 Eine Anhörung dürfte auch hier wegen der Fürsorgepflicht regelmäßig geboten sein.297 117 dd) Die Abordnung: Die Abordnung (§ 27 BBG, § 14 BeamtStG)298 erhält dem Beamten die bisherige Planstelle für die Dauer seiner vorübergehenden Tätigkeit an einer anderen Dienststelle.299 Vorausgesetzt ist auch hier ein dienstliches Bedürfnis. Die vorübergehend wahrgenommene Tätigkeit muss grundsätzlich dem abstrakt- funktionalen Amt entsprechen. Es ist nunmehr möglich, dass der Beamte aus „dienstlichen Gründen“ (§ 27 II BBG, § 14 II BeamtStG) auch ohne seine Zustimmung zu einer nicht seinem Amt entsprechenden Tätigkeit abgeordnet wird, wenn ihm diese zumutbar ist; der Zustimmung bedarf es aber, wenn die Abordnung die Dauer von zwei Jahren übersteigt. Die Abordnung zu einem anderen Dienstherrn bedarf, solange das gleiche Grundgehalt gewährleistet ist, bei einer Dauer von mehr als fünf Jahren der Zustimmung (§ 14 III BeamtStG, § 27 III BBG) – was die Abordnung der Sache nach in die Nähe zur Versetzung rückt. Gesetzlich ist auch hier nicht näher ausgeformt, worum es sich bei den maßgeblichen „dienstlichen Gründen“ handeln soll. Gewiss können solche „Gründe“ nicht in der Person des Beamten liegen, sicher werden sie über ein bloßes „Bedürfnis“ als Voraussetzung ja jeglicher Abordnung hinausführen müssen.

c) Ruhestand, Entlassung und Entfernung aus dem Dienst 118 Das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit endet durch den Tod, durch Eintritt in den Ruhestand (dies der Regelfall der Beendigung der beruflichen Betätigung des Beamten), durch Entlassung, durch strafgerichtliche Verurteilung oder durch disziplinargerichtliche Entfernung aus dem Dienst. Nur bei dem Eintritt in den Ruhestand bleibt das beamtenrechtliche Grundverhältnis bestehen: Es endet hier (lediglich) das aktive Beamtenverhältnis. 119 aa) Endgültiger und einstweiliger Ruhestand:300 Im Ruhestandsverhältnis tritt an die Stelle des Besoldungsanspruchs der Versorgungsanspruch,301 der Fürsorgeanspruch wirkt fort, ebenso

_____

334 ff; ThürOVG ThürVBl 1997, 133; vgl auch BVerwGE 102, 81 ff zur Verwendung eines Richters auf Probe als „Organisationsakt“, vgl § 13 DRiG. S aber auch BayVGH BayVBl 1994, 500 f. Überblick über die Rspr bei Battis BBG, § 28 Rn 4 f. 296 Vgl dazu etwa BVerwGE 65, 270, 272 f und E 98, 334, 337 f o JK VwVfG § 35 S 1/19. S auch OVG MV NVwZ-RR 2001, 457 f. 297 Vgl etwa OVG NW ZBR 1986, 274. 298 § 25 LBG BW, Art 47 BayBG, § 27 LBG Bln, § 29 LBG Bbg, § 28 BremBG, § 28 HmbBG, §§ 28, 30 HessBG, § 28 LBG MV, § 27 NdsBG, § 24 LBG NW, §§ 32, 34 LBG RP, § 28 BG SL, § 36, SächsBG, § 30 BG LSA, § 28 LBG SH, § 29 ThürBG. 299 Überblick: Müssig ZBR 1990, 111 ff; zu Anforderungen an eine Abordnungsverfügung VG Frankfurt/M NVwZ-RR 2001, 397 f. 300 S §§ 50 ff BBG; §§ 25 ff BeamtStG; §§ 36 ff LBG BW, Art 62 ff BayBG, §§ 38 ff LBG Bln, §§ 44 ff LBG Bbg, §§ 35 ff BremBG, §§ 35 ff HmbBG, §§ 50 ff HessBG, §§ 35 ff LBG MV, §§ 35 ff NdsBG, §§ 34 ff LBG NW, §§ 49a ff LBG RP, §§ 43 ff BG SL, §§ 49 ff SächsBG, §§ 39 ff BG LSA, §§ 35 ff LBG SH, §§ 44 ff ThürBG. 301 Zur Kürzung bei mehreren Versorgungsansprüchen BVerfGE 46, 97, 107 ff; BVerwG NVwZ 1994, 494 f; vgl auch Schick Ruhestandsbeamte und private Nebeneinkünfte, 1984.

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die Treuepflicht und die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit.302 Wird die gesetzliche Altersgrenze erreicht,303 so tritt der Beamte kraft Gesetzes in das besondere Rechtsverhältnis des Ruhestandes, eine Ernennung ist dann nicht mehr zulässig und führt zur Entlassung. Früher wurde die Altersgrenze – regelhaft – am Ende des Monats erreicht, in dem das 65. Lebensjahr vollendet wurde (§ 41 I BBG aF). Mit Inkrafttreten des Dienstrechtsneuordnungsgesetzes (Rn 29) wird eine stufenweise Anhebung des Pensionseintrittsalters wie in der gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre eingeführt, § 51 BBG.304 Der Eintritt in den Ruhestand kann auch hinausgeschoben werden (vgl § 53 BBG).305 In den Ruhestand kann der Beamte aber auch unabhängig von seinem Lebensalter gelangen, und zwar sowohl auf seinen Antrag306 wie gegen seinen Willen. Die Versetzung in den Ruhestand erfolgt für alle Beamten bei Dienstunfähigkeit („Zwangspensionierung“) oder auf Antrag,307 bei den sog politischen Beamten (Rn 121) im Hinblick auf deren spezifischen Aufgabenbereich (sog einstweiliger Ruhestand).308 Eine erneute Berufung ist in beiden Fällen möglich und an jeweils unterschiedliche Voraussetzungen gebunden: Wer sich als politischer Beamter im einstweiligen Ruhestand befindet, hat der Berufung uU Folge zu leisten (vgl § 57 BBG).309 Wer wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt wurde, kann darüber hinaus seine erneute Berufung uU verlangen (§ 46 BBG, § 29 BeamtStG).310 Der Begriff der Dienstunfähigkeit311 ist gesetzlich definiert (§ 44 I BBG, § 26 I BeamtStG) als 120 ein Zustand, in dem der Beamte „wegen des körperlichen Zustandes oder aus gesundheitlichen Gründen zur Erfüllung der Dienstpflichten dauernd unfähig“ ist. Der Dienstherr ist dann verpflichtet, die Versetzung in den Ruhestand vorzunehmen; er kann sie gem § 42 I 2 BBG vornehmen, wenn krankheitshalber innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten mehr als drei Monate kein Dienst getan wurde und keine Aussicht besteht, dass die volle Dienstfähigkeit binnen sechs weiterer Monate wieder eintritt. Im Einzelnen geregelt sind die Voraussetzungen und das Verfahren der Feststellung der Dienstunfähigkeit auf Antrag des Beamten und seines Dienstvorgesetzten. Der Kreis der politischen Beamten, nämlich der Inhaber der in § 54 I BBG bzw gem § 30 I 121 BeamtStG in den Landesgesetzen aufgeführten hohen Ämter (Rn 70), kann „jederzeit“ in den Ruhestand versetzt werden.312 Die Formulierung erweist, über den zeitlichen Aspekt hinaus

_____ 302 Vgl BVerfG DVBl 1983, 505 ff. 303 Die Festlegung einer generellen, dh nicht auf die individuelle Leistungskraft des Beamten abstellenden Altersgrenze ist verfassungsgemäß; es ist auch zulässig, die Altersgrenze im Hinblick auf das Anforderungsprofil einer bestimmten Gruppe von Beamten differenziert festzulegen (vgl § 41 I 2 BBG); Battis/Deutelmoser RdA 1994, 264 f. 304 Im BeamtStG ist keine Altersgrenze mehr geregelt, vgl § 25 BeamtStG. Zur Fristberechnung BVerwGE 30, 167 ff. 305 Zum Anspruch des Beamten auf fehlerfreie Ermessensausübung in diesem Zusammenhang BayVGH BayVBl 1993, 243 f. 306 Der Antrag bestimmt den Grund der Versetzung in den Ruhestand, der nachträglich nicht mehr geändert werden kann, vgl BVerwG NVwZ-RR 2008, 193 ff. 307 Zu den Grenzen der Ermessensausübung des Dienstherren bei Bescheidung des Antrages s OVG NW ZBR 2010, 208. 308 In den einstweiligen Ruhestand können Beamte auch bei der Umbildung ihrer Anstellungskörperschaft versetzt werden, vgl § 130 II BRRG. S auch § 55 BBG, § 31 BeamtStG. 309 Vgl dazu OVG RP DöD 1982, 204 ff. 310 Vgl auch VGH BW VBlBW 1993, 476 ff. 311 Zum Begriff der Dienstunfähigkeit s OVG Hamburg DöD 1989, 211; BVerwG DVBl 1992, 98 f; zum Verfahren zB OVG Berlin ZBR 1989, 250; Weigert BayVBl 1993, 653 f. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Beurteilung der Dienstunfähigkeit BVerwG DVBl 1998, 201 f. 312 Eingehend Wacke AöR 91 (1966), 441 ff; Schunke Der politische Beamte, 1973; Priebe Die vorzeitige Beendigung des aktiven Beamtenstatus bei politischen und kommunalen Wahlbeamten, 1997; zum Spielraum der Landesgesetzgeber Grigoleit ZBR 1998, 128 ff; rechtspolitisch (u krit) etwa Juncker ZBR 1974, 205 ff; s ferner Bracher DVBl 2001, 19 ff; vgl auch § 50 I SoldG und dazu BVerfG NJW 1994, 477 f. Janssen ZBR 2003, 113 ff fordert die Abschaffung dieses Instituts de lege ferenda.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

(lebens- und dienstaltersunabhängig, an Fristen nicht gebunden), dass die Versetzungsentscheidung auch inhaltlichen Bindungen kaum unterliegt. Es ist Sache des Dienstherrn, über die Fortführung des Dienstes zu entscheiden. Zu rechtfertigen ist diese weit reichende Eingriffsmöglichkeit, weil die verfassungsrechtliche Aufgabenzuweisung an die Regierung nahe legt, dass diese möglichst frei über die personale Besetzung von Spitzenpositionen befinden kann; auch die Rechtsvergleichung lehrt, dass dies ein berechtigtes Bedürfnis sein kann.313 Die Befugnis dazu ist minderstufige Ergänzung des Ministerberufungsrechts des Bundeskanzlers (vgl Art 64 I GG). Fiskalische Interessen (Ruhestandsversorgung) sind hierdurch zwar empfindlich betroffen, doch veranlassen sie verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Regelung ebenso wenig wie das Vertrauensinteresse der Betroffenen. Anderes gilt unter Bestimmtheits- und Rechtsschutzgesichtspunkten: Die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand ist in gewissem Sinne politischer „Willkür“ anheim gegeben, auch wenn die zur Entscheidung Befugten „willkürlich“ nicht handeln dürfen. Dieser – nur scheinbare – Widerspruch relativiert sich begrifflich, wenn man sich verdeutlicht, dass aus den genannten Gründen die politische Motivation einen „sachgerechten“ Grund iSd in Art 3 I GG angelegten Willkürverbots darstellen kann und regelmäßig wird. Auch wenn es im Hinblick auf Art 19 IV GG zulässig sein muss, die Frage zur verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zu stellen, ob „überhaupt“ Gründe vorliegen oder ob solche nur „vorgeschoben“ sind,314 ist es letztlich der Begründungssorgfalt, die die Versetzungsentscheidung aufweist, anheim gestellt, ob eine verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage Erfolg haben kann.315 Welche Bedeutung die Verwendung der Vokabel „jederzeit“ im gesetzlichen Tatbestand 122 auch für das Verwaltungsverfahren hat, insbesondere für die Frage der Erforderlichkeit vorheriger Anhörung des Betroffenen und das Ausmaß der ihm zu gebenden Entscheidungsbegründung, wird unterschiedlich beurteilt.316 Beide den Meinungsstand prägende Positionen – keine Begründungspflicht, keine Anhörungspflicht, oder aber: Verpflichtung zu beidem – greifen zu kurz. Das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht ist (auch) hier in die Subsidiarität verdrängt, doch das Institut der beamtenrechtlichen Fürsorgepflicht springt als flexibles Konfliktlösungsinstrument ein: Einzelfallabhängig ist danach regelmäßig Anhörung geboten, die Begründung immer dann zu geben, wenn der Sinn des Instituts „einstweiliger Ruhestand“ – die Erhaltung politischer Entscheidungsautonomie im Personalbereich – nicht gerade hierdurch nachhaltig beeinträchtigt würde.317 123 bb) Die Entlassung:318 Die Entlassung des Beamten erfolgt kraft Gesetzes, wenn ein Entlassungstatbestand eintritt. Sie kann oder muss durch Einzelakt verfügt werden, wenn Entlassungsgründe vorliegen. Der Beamte ist kraft Gesetzes entlassen, wenn er die Eigenschaft als Deutscher bzw die 124 Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der EU verliert (allerdings nicht, wenn er die Staatsangehörigkeit eines sonstigen Mitgliedstaates besitzt), regelmäßig auch, wenn er in ein öffentlich-rechtliches Dienst- oder Amtsverhältnis zu einem anderen Dienstherrn tritt; letzteres

_____ 313 Krit aber Lindner ZBR 2011, 150 ff. 314 Vgl dazu bereits Fees ZBR 1956, 203 ff. 315 Vgl aus der Rspr – der klagende Beamte des Auswärtigen Dienstes, der im Wesentlichen aus Altersgründen in den Ruhestand versetzt wurde, war erfolgreich – BVerwGE 52, 33 ff und dazu Wiese DVBl 1977, 718 ff; Nierhaus JuS 1978, 596 ff; zuvor VG Köln DöD 1972, 198 u OVG NW DÖV 1974, 166 m Anm Thieme. 316 Näher Kunig ZBR 1986, 253, 258 f mN zum Meinungsstand; OVG NW DVBl 1994, 120 ff o JK GG Art 60/1. 317 Zust Battis BBG, § 54 Rn 9; anders aber die ältere Lit u Rspr, s etwa Wacke AöR 91 (1966), 441, 478, auch BVerfGE 8, 332, 356. 318 §§ 31 ff BBG; §§ 22 f BeamtStG; §§ 31 ff LBG BW, Art 56 ff BayBG, §§ 33 ff LBG Bln, §§ 32 ff LBG Bbg, §§ 30 ff BremBG, §§ 30 ff HmbBG, §§ 39 ff HessBG, §§ 30 ff LBG MV, §§ 30 ff NdsBG, §§ 27 ff LBG NW, §§ 38 ff LBG RP, §§ 36 ff BG SL, §§ 39 ff SächsBG, §§ 33 ff BG LSA, §§ 30 ff LBG SH, §§ 31 ff ThürBG. – Zum Ausscheiden kommunaler Wahlbeamter aus dem Amt infolge einer Abwahl s o Röhl 1. Kap Rn 102 mN.

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gilt nicht für Beamte auf Widerruf und Ehrenbeamte,319 wohl aber für die Ernennung zum Berufsrichter (anderes öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis, also nicht nur: Beamtenverhältnis) oder die Übernahme des Amtes eines Regierungsbeauftragten (anderes Amtsverhältnis; s aber § 29 IV BBG für Ministerämter). Obwohl die Entlassung kraft Gesetzes eintritt, bedarf es ihrer Feststellung durch den Dienstherrn im Wege eines – deklaratorischen – Verwaltungsakts. Die Entlassung durch gestaltenden Verwaltungsakt erfolgt obligatorisch oder fakultativ. 125 Zu entlassen ist der Beamte, der sich weigert, den Diensteid oder das Gelöbnis zu leisten. Zu entlassen ist ferner, wer nicht in den Ruhestand oder einstweiligen Ruhestand versetzt werden kann, weil eine versorgungsrechtliche Wartezeit nicht erfüllt ist oder wer die subjektive Ernennungsvoraussetzung, nicht Träger eines mit dem Beamtenstatus inkompatiblen Mandats zu sein, zur Zeit der Ernennung nicht erfüllt und das Mandat in angemessener Frist nicht niedergelegt hat, schließlich, wer ohne Genehmigung der obersten Dienstbehörde seinen Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt im Ausland nimmt.320 Entlassen werden kann ein Beamter, der die Deutscheneigenschaft verliert, wenn er ein Amt innehat, das wegen seiner Eigenart die Berufung eines Deutschen erforderte (§ 32 II BBG, § 23 II BeamtStG, Rn 78). Der Beamte selbst verfügt über ein – unverzichtbares, also auch vertraglich nicht abdingba- 126 res – Recht auf Entlassung. Dem (schriftlich zu erklärenden,321 binnen zwei Wochen rücknehmbaren) Verlangen muss auf einen Zeitpunkt hin entsprochen werden, der nicht später als drei Monate nach dem beantragten Entlassungszeitpunkt liegen darf; auch dies ist nur zulässig, um zu erreichen, dass der Beamte seine Amtsgeschäfte ordnungsgemäß abwickelt. Dass die Beamtengesetze Fristen für die Rücknehmbarkeit errichten, schließt die gleichzeitige Anwendbarkeit der bürgerlich-rechtlichen Bestimmungen über die Anfechtung von Willenserklärungen nicht aus. Soweit die Anfechtung „unverzüglich“ zu erklären ist (vgl § 121 I BGB – also ohnehin nicht bei arglistiger Täuschung oder Drohung), ist dies nach allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen. Die Fürsorgepflicht kann zum Versuch der Einwirkung auf den Beamten Anlass geben, wenn der Entschluss zur Antragstellung etwa in einem erkennbaren Erregungszustand oder aufgrund ersichtlich verfehlter Vorstellungen über die Rechtsfolgen (zB Verlust der Beamtenrechte, § 39 BBG) oder künftige Entscheidungen des Dienstherrn getroffen worden ist. Die Entlassung der Beamten auf Probe – ihnen gibt das Beamtenverhältnis Gelegenheit, 127 sich als geeignet zu bewähren, doch trägt der Dienstherr für eine Nichtbewährung die Darlegungslast322 – und auf Widerruf kennt zusätzliche Konstellationen überwiegend fakultativer Entlassung.323 Im Vorbereitungsdienst (zB Rechtsreferendariat) „soll“ dem Beamten auf Widerruf Gelegenheit gegeben werden, die Abschlussprüfung abzulegen,324 auch wenn an sich der Widerruf „jederzeit“ (aber nach pflichtgemäßem, hier trotz Identität des Vokabulars engeren Ermessens als bezüglich der Ruhestandsversetzung des politischen Beamten)325 entlassen werden kann (§ 37 BBG, § 23 IV BeamtStG). In grundrechtskonformer Auslegung ist die Verpflichtung anzunehmen, dem Beamten die Ablegung der Prüfung mit Wiederholungschance zu ermöglichen, soweit dem nicht gesetzlich geregelte Gründe entgegenstehen.

_____ 319 S § 31 I Nr 2 BBG, § 22 II BeamtStG. 320 Zu den Gründen obligatorischer Entlassung § 32 BBG; ferner § 23 I BeamtStG. Der Entlassungsgrund der Wohnsitzverlegung ins Ausland führte früher zur Entlassung kraft Gesetzes gem § 28 Nr 3 BBG aF; s dazu BVerwGE 32, 1 ff. 321 Vgl dazu VG Regensburg BayVBl 1989, 410. 322 Die Entlassung muss spätestens „alsbald“ nach Ablauf der Probezeit ausgesprochen werden, vgl BVerwG NVwZ 1990, 768 ff; VGH BW NVwZ 1990, 789 ff; BVerwG NVwZ-RR 1989, 560; HessVGH NVwZ 1989, 82; BVerwG NVwZ 1991, 170 ff. 323 §§ 34 ff BBG, § 23 III, IV BeamtStG; sa Battis in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II, § 31 Rn 94 f sowie Horn Jura 1994, 269 ff. 324 Dazu VGH BW NJW 1987, 917; Günther ZBR 1987, 129 ff; Schwindt VBlBW 1990, 209 ff. 325 S dazu BVerwG DVBl 1968, 430 f.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

128 cc) Beendigung des Dienstverhältnisses infolge strafgerichtlicher Verurteilung: Der Entlassung nahe (vgl § 41 BBG bzw § 24 BeamtStG), aber nicht gleich, steht die Beendigung des Beamtenverhältnisses infolge strafgerichtlicher Verurteilung. Sie tritt mit Rechtskraft des Urteils – ohne das Erfordernis eines feststellenden Verwaltungsakts (vgl § 38 BBG) – bei Verurteilung wegen vorsätzlicher Tatbegehung326 ein, sofern das Strafmaß mindestens ein Jahr beträgt oder es sich um Straftaten nach den beiden 1. Abschnitten des StGB (Friedensverrat, Hochverrat uä) handelt und das Strafmaß mindestens sechs Monate beträgt.327 Der Verlust der Beamtenrechte unterliegt dem Gnadenrecht.328 Der erfolgreiche Abschluss eines strafgerichtlichen Wiederaufnahmeverfahrens fingiert das Beamtenverhältnis als nicht unterbrochen. 129 dd) Die Entfernung aus dem Dienst: Die Darstellung insbesondere der Entlassungsgründe hat gezeigt, dass Pflichtverstöße des Beamten den Dienstherrn nicht in den Stand setzen, das Dienstverhältnis gegen den Willen des Beamten zu beenden, soweit nicht Dienstunfähigkeit gegeben und soweit der gefestigte Status des Beamten auf Lebenszeit oder Zeit erreicht ist (und nicht die Sondersituation des politischen Beamten besteht). Eine Entfernung aus dem Dienst kann sich jedoch als Ergebnis eines Disziplinarverfahrens (Rn 143) ergeben. Sie ist die schärfste Sanktion im System der Disziplinarmaßnahmen, bewirkt den Verlust von Versorgungsansprüchen und bedarf der gerichtlichen Entscheidung. Von der (endgültigen) Entfernung aus dem Dienst zu unterscheiden ist die im förmlichen Disziplinarverfahren mögliche vorläufige Enthebung vom Dienst.

3. Pflichten und Rechte im Beamtenverhältnis 130 Den Inhalt des Beamtenverhältnisses bestimmen vor allem die Pflichten und die Rechte des Beamten. Sie sind vielfach aufeinander bezogen und systematisch nicht immer so deutlich voneinander zu trennen, wie es angesichts der in den Beamtengesetzen gegenübergestellten Kataloge von Pflichten und Rechten den Anschein hat: So hat der Beamte die Pflicht, über amtsbezogene Vorgänge zu schweigen, aber uU den Anspruch, die Erlaubnis zum Reden zu erhalten; er hat den Anspruch auf Besoldung, aber die Verpflichtung, die Höhe ihm überwiesener Beträge zu prüfen und auf Überzahlungen aufmerksam zu machen. Die Intensität der Pflichtenbindung legitimiert sich an korrespondierenden Rechten, was im Gegenüber der Pflicht zur Treue und dem Anspruch auf Fürsorge sinnfällig wird. Die Betrachtung der verfassungsrechtlichen Aussagen zum Beamtenrecht (Rn 32 ff) hat gezeigt, dass „hergebrachte“ Grundsätze vor allem den Inhalt des Beamtenverhältnisses betreffen. Sie sind konkretisiert durch die beamtengesetzlichen Bestimmungen über die Pflichten und die Rechte des Beamten und besondere Regelungen bei Pflichtverstößen, die im Grundsatz, wenn auch nicht in den Einzelheiten der Ausgestaltung verfassungsrechtlich vorgegeben sind. Wegen Art 33 IV, V GG ist der Inhalt des Beamtenverhältnisses von wechselseitiger „Treue“ bestimmt. Worin sie zu bestehen hat, ist gesetzlich weitgehend ausformuliert, auf Seiten des Beamten vor allem durch Dienstleistungs-, Gehorsams- und Verhaltenspflichten, auf Seiten des Dienstherrn – über einzelne Schutzpflichten hinaus – durch die generalklauselartige Fürsorgeverpflichtung (§ 78 BBG, § 45 BeamtStG).329 Für die Bemessung von Pflichten und Rechten auf beiden Seiten, für die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, für die Ermessensausübung kann die Konzeption des Beamtenverhältnisses als wechselseitiges Treue-

_____ 326 Vgl dazu näher BVerwG NJW 1990, 1865. 327 Zur Addition mehrerer Freiheitsstrafen BVerwG DÖV 1992, 973 f. – Der Verlust der Beamtenrechte tritt auch bei Aberkennung der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter und der Verwirkung von Grundrechten nach Art 18 GG ein; zum Ausspruch der letzteren – dem BVerfG vorbehalten – s Butzer/Clever DÖV 1994, 637 ff. 328 Dazu Battis in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR II, § 31 Rn 109. 329 Zu Treu und Glauben im Beamtenrecht OVG NW GewArch 2003, 331 o JK GG Art 12/69; Stauf DöD 2004, 150 ff.

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verhältnis Maßstäbe liefern; sie leitet dessen Auslegung an, enthält aber selbst nicht unmittelbar die Legitimation zum regelnden Zugriff auf den Beamten, dem aber umgekehrt die Fürsorgeverpflichtung eine Anspruchsgrundlage bieten kann.

a) Die Pflichten des Beamten330 Bereits systematisch bringen die Beamtengesetze teilweise331 zum Ausdruck, dass die rechtliche 131 Stellung des Beamten besonders durch seine Pflichten gekennzeichnet sein soll: Aufeinander folgend geben diese Gesetze erst den Pflichtenkatalog wieder, nennen dann die Rechte. Die beamtenrechtlichen Pflichten betreffen überwiegend das Verhalten im Dienst, zielen auf Effizienz, wollen Rechtseinhaltung sichern und das Vertrauen des Bürgers gegenüber dem Beamtentum und damit dem Staat stärken. Ferner reagieren sie auf Anfechtungen, die an den Beamten herangetragen werden. Sie betreffen das innerdienstliche Betragen (zB in der Kommunikation mit Vorgesetzten) und den Kontakt des Beamten mit der Außenwelt (bis hin zur Frage der Dienstkleidung und des äußeren Erscheinungsbildes).332 Die Pflichten sprechen den Beamten aber auch als deren Mitglied an: Auch „außerhalb des Dienstes“ hat er „der Achtung und dem Vertrauen gerecht“ zu werden, „die sein Beruf erfordert“ (§ 61 I 3 BBG, § 34 S 3 BeamtStG),333 hat bei politischer Betätigung (gemeint ist individuelle Betätigung, nicht die als Amtswalter geübte politische Gestaltung) „Zurückhaltung zu wahren“ (§ 60 II BBG, § 33 II BeamtStG); sein „gesamtes Verhalten“ ist der politischen Treuepflicht unterworfen. aa) Dienstpflicht, Gehorsamspflicht, Residenzpflicht: Kernpflicht im Dienstverhältnis ist die 132 Verpflichtung zur Leistung des Dienstes, dies „mit vollem persönlichen Einsatz“ (§ 61 I 1 BBG, § 34 S 1 BeamtStG). Er ist damit prinzipiell auch verpflichtet, sich um dienstnotwendige Weiterbildung zu bemühen und sich dienstfähig, also gesund zu halten.334 Alle anderen Pflichten des Beamten flankieren die Dienstpflicht. Welche Art Tätigkeit der Beamte zu leisten hat, in welchem Umfang und in welcher Weise, ergibt sich aus dem ihm übertragenen Amt. Er hat den von seinen Vorgesetzten getroffenen Anordnungen zu folgen, schuldet „Gehorsam“, wenn nicht ausnahmsweise kraft Gesetzes Weisungsfreiheit besteht (vgl § 62 BBG, § 35 BeamtStG). Von dem regelmäßigen Aufgabenbereich inhaltlich abweichende Dienstleistungen können nur unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit gefordert werden, wobei die Fürsorgepflicht sich begrenzend auswirkt. Der Beamte hat – wie die Vorschriften über das nur ausnahmsweise aussprechbare Verbot der Führung von Dienstgeschäften zeigen (vgl § 66 BBG, § 39 BeamtStG) – grundsätzlich auch das Recht, seinen Dienst wahrzunehmen. Die Gehorsamspflicht ist im Zusammenhang zu sehen mit der Verantwortungszuweisung 133 für die Rechtmäßigkeit dienstlicher Handlungen: Der Beamte trägt für sie „die volle persönliche

_____ 330 §§ 60 ff BBG, §§ 33 ff BeamtStG; §§ 47 ff LBG BW, Art 73 ff BayBG, §§ 48 ff LBG Bln, §§ 52 ff LBG Bbg, §§ 46 ff BremBG, §§ 46 ff HmbBG, §§ 68 ff HessBG, §§ 47 ff LBG MV, §§ 46 ff NdsBG, §§ 42 ff LBG NW, §§ 49 ff LBG RP, §§ 55 ff BG SL, §§ 70 ff SächsBG, §§ 51 ff BG LSA, §§ 46 ff LBG SH, §§ 54 ff ThürBG. – Übersicht über Dienstpflichten von Soldaten bei Schwandt ZBR 1993, 161 ff. 331 LBG Bln, HessBG, NdsBG, SächsBG, BG LSA, LBG SH. 332 § 74 BBG; vgl dazu BVerwGE 84, 287 ff (Ohrschmuck eines Zollbeamten); die Verfassungsbeschwerde gegen diese Entscheidung war nicht erfolgreich, BVerfG DVBl 1991, 32 f. S ferner HessVGH NJW 1996, 1164 f o JK GG Art 2 I/28 (Lagerfeld-Zopf eines Polizeibeamten); dazu Biletzki RiA 1997, 38 f; zur Rechtmäßigkeit von Verwaltungsvorschriften über die Haarlänge OVG RP ArbuR 2004, 272. 333 Eingehend und diff Biletzki ZBR 1998, 84 ff; allg zu Bedeutung und Inhalten der beamtenrechtlichen Treupflicht Lemhöfer, FS Fürst, 2002, 205, der auch auf Gefährdungen eingeht. 334 S BVerwGE 63, 322, 324; zur Verpflichtung des Beamten, eine Operation zur Wiederherstellung seiner Dienstfähigkeit vornehmen zu lassen, OVG NW NJW 1990, 2950; BVerwG NJW 1991, 766. Vgl auch Fleig RiA 1996, 226 f; Simianer ZBR 2004, 149 ff.

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Verantwortung“ (§ 63 I BBG, § 36 I BeamtStG), dh die strafrechtliche, die disziplinarrechtliche und die persönliche haftungsrechtliche Verantwortung.335 Diese Verantwortung kann in Konflikt treten mit der Gehorsamspflicht gegenüber dem Vorgesetzten, die verbunden ist auch mit der Verpflichtung, die Vorgesetzten „zu beraten und zu unterstützen“ (§ 62 I 1 BBG, § 35 S 1 BeamtStG). Lassen sich Meinungsverschiedenheiten über die rechtliche Zulässigkeit einer dem Beamten angesonnenen Maßnahme nicht ausräumen, auch nachdem der Beamte seine Bedenken bei seinem unmittelbaren Vorgesetzten geltend gemacht hat – er ist hierzu „unverzüglich“ verpflichtet (sog Remonstrationspflicht) –, so hat ihn der Weg zum nächsthöheren Vorgesetzten zu führen (§ 63 II 1, 2 BBG; § 36 II 1, 2 BeamtStG).336 Bestätigt dieser die Anordnung, so besteht Ausführungspflicht, es sei denn, die Handlung sei strafbar oder ordnungswidrig oder verletze die Würde des Menschen (Art 1 I GG). Folgerichtig ist, dass die Bestätigung oder Anordnung durch den nächsthöheren Vorgesetzten den Beamten von der eigenen Verantwortung für die sodann vorgenommene Handlung befreit. Die Rechtslage nimmt den Beamten also grundsätzlich persönlich in die Pflicht strafrechtlicher, disziplinarrechtlicher und haftungsrechtlicher Verantwortung. Zugleich verlangt sie ihm ab, an ihn gerichtete Weisungen kritisch auf die Rechtmäßigkeit des so angeordneten dienstlichen Handelns zu überprüfen. Genügt er dem nicht in dem vorgesehenen Verfahren, unterdrückt also seine Zweifel, so bleibt er in der persönlichen Verantwortung, kann sich nicht „hinter den Vorgesetzten“ verschanzen. Die Remonstrationspflicht dient damit auch der Rechtmäßigkeitskontrolle „von unten“, verdeutlicht das Leitbild des (auch gegenüber dem Vorgesetzten) mündigen Beamten. Ist der Remonstrationspflicht genügt, setzt sich freilich das Interesse an der Entscheidungsstrenge durch, das den hierarchisch aufgebauten Beamtenapparat kennzeichnet und auch erforderlich ist, soll die Verwaltung sich nicht durch ständige Binnendiskussion lähmen. Rechtliche Nachteile für den Bürger ergeben sich dadurch nicht; die Verantwortung ist nur an eine höhere Stelle in der Hierarchie verlagert. Den zeitlichen Rahmen für die dienstliche Leistungspflicht337 setzt § 87 I BBG mit der Maß134 gabe, dass die regelmäßige Arbeitszeit den Wochendurchschnitt von 44 Stunden nicht überschreiten darf. Mehr darf der Beamte leisten, mehr muss er leisten – und dies im Regelfall ohne zusätzliche Vergütung –, wenn dies „zwingende dienstliche Verhältnisse“ erfordern und sich die Mehrarbeit auf Ausnahmefälle beschränkt (vgl § 88 S 1 BBG).338 Ausgleichsregelungen bestehen (Dienstbefreiung, ausnahmsweise Vergütung). Verordnungsrechtlich sind Regelarbeitszeiten festgelegt,339 generell die Dienstfreiheit des Wochenendes, ferner gibt es altersspezifische Freistellungsregelungen zur Arbeitszeitverkürzung. Während der Dienstzeit hat der Beamte grundsätzlich anwesend zu sein, darf dem Dienst nicht ohne Genehmigung „fernbleiben“ (vgl § 96 BBG). In bestimmten Aufgabenbereichen kann Bereitschaftsdienst gefordert werden (also Bereithalten in der Dienststelle zur Arbeitsaufnahme) oder auch Rufbereitschaft, deren Wahrung nicht als Arbeitszeit zur Anwendung kommt und deren Inanspruchnahme keinen Anspruch auf

_____ 335 Vgl dazu Depenheuer DVBl 1992, 404 ff. S ferner Hoyer Die strafrechtliche Verantwortlichkeit innerhalb von Weisungsverhältnissen, 1998. 336 Vgl dazu BVerfG ZBR 1995, 71 f u dazu Weiß ZBR 1995, 197 f; zur Remonstrationspflicht OVG Bremen NVwZ-RR 1989, 564 f; Weiß ZBR 1994, 325 ff; vgl ferner Felix Das Remonstrationsrecht und seine Bedeutung für den Rechtsschutz des Beamten, 1993; Quambusch PersV 2003, 364 ff. 337 Eingehend zum Folgenden Kremer Die Arbeitszeit des Beamten, 1989; (historisch) ders DöD 1995, 169 ff; zur Teilzeitbeschäftigung vgl § 91 BBG, § 43 BeamtStG; s schon Battis ZBR 1986, 285 ff; Meixner Flexible Arbeitszeitmodelle und Teilzeitarbeit, 1990. – Bspl zum Problemkreis Mehrarbeit/Freizeitausgleich BVerwG JZ 1991, 980 m Anm Lecheler. Zur Arbeitszeitermäßigung wegen Kindererziehung OVG Bremen NVwZ 1990, 1098 f; vgl auch BayVGH DVBl 1994, 588 ff. 338 Vgl dazu VGH BW VBlBW 1998, 268 ff. 339 Zur Verfassungsmäßigkeit insoweit bestehender Ungleichbehandlungen von Beamten und Arbeitnehmern des öffentlichen Dienstes VerfGH RP AS Bd 25, 418 ff.

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Freizeitausgleich oder zusätzliche Vergütung entstehen lässt.340 Das so gezeichnete Bild widerspiegelt beamtenrechtliche Strenge, doch darf aus ihm nicht der Schluss gezogen werden, die Beamten seien von dem gesellschaftlichen Zug zur Arbeitszeitverkürzung unberührt geblieben. Das drückt sich auch in der Ermöglichung von Teilzeitbeschäftigung und Beurlaubung aus arbeitsmarktpolitischen Gründen aus. Während für die Bundesbeamten § 91 I BBG die Teilzeitbeschäftigung insoweit allein auf Antrag gewährt, ist nach § 43 BeamtStG Teilzeitbeschäftigung antragslos „zu ermöglichen“. Verfassungsrechtlich dürften einer an arbeitsmarkt- oder familienpolitische Voraussetzungen gebundene Teilzeitbeschäftigung auf Antrag keine durchgreifenden Bedenken entgegenstehen.341 Das wird aber für eine „voraussetzungslose“ und vor allem auch antragslose Teilzeitbeschäftigung anders liegen. Allein der Hinweis auf „gewandelte Rahmenbedingungen“ kann eine solche Abkehr vom Bild des hauptberuflich tätigen, vollzeitbeschäftigten Beamten nicht tragen.342 Der ordnungsgemäßen Wahrnehmung des Dienstes soll die sog Residenzpflicht dienen 135 (§ 72 BBG).343 Nach ihr ist „die Wohnung so zu nehmen“, dass es zu einer Beeinträchtigung des Dienstes durch Zurücklegung weiter Wege nicht kommt; das bedeutet unter heutigen Verhältnissen nicht die Pflicht zur Wohnsitznahme am Dienstort selbst.344 Konkrete Weisungen bezüglich der tolerablen räumlichen Entfernung sind möglich – dies sind Vorgaben, welche in Zeiten verbreiteter individueller Motorisierung und ausgebauten öffentlichen Verkehrs eine geringere Relevanz aufweisen als zuvor. Gegenüber spezifischen Missständen in gewissen Berufsfeldern (zB an Hochschulen,345 insbesondere zunächst in den neuen Ländern) liegt das Instrument zur Durchsetzung der Residenzpflicht gesetzlich bereit, doch wird praktisch wohl der informalen Einwirkung auf den auswärtigen Residenten der Vorzug gegeben. Grundrechtlich ist die Residenzpflicht im Hinblick auf die Freizügigkeitsgarantie des Art 11 I GG unbedenklich.346 bb) Nebentätigkeit des Beamten: Da der Beamte sich „mit vollem persönlichen Einsatz 136 (seinem) Beruf zu widmen“ hat (§ 61 I 1 BBG, § 34 S 1 BeamtStG) und wegen der Gefahr von Interessenkonflikten, stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit anderweitiger beruflicher Betätigung. Mit diesem Fragenkreis beschäftigt sich das Nebentätigkeitsrecht.347 Scharf zu unter-

_____ 340 BVerwGE 59, 176, 180 ff für einen Beamten der Bundesbahn. 341 Vgl Nachw zu der vielschichtigen Diskussion bei Battis BBG § 91 Rn 6; § 92 BBG regelt die sog familienbedingte Teilzeit und Beurlaubung (Urlaub oder Beschäftigung auch mit weniger als der Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit auf Antrag unter der Voraussetzung der Betreuung oder Pflege eines unter 18 Jahre alten Kindes oder eines sonstigen Angehörigen); § 93 BBG die sog Altersteilzeit (Beschäftigung zur Hälfte auf Antrag unter gewissen Voraussetzungen ab 60, in Ausnahmefällen ab 55). 342 S BVerwG JZ 2001, 761 ff m krit Anm Wieland. Vgl in diesem Zusammenhang bereits BVerwGE 82, 196 ff, wo das Gericht die Anforderungen an die Freiwilligkeit der Stellung eines Antrages auf Teilzeitbeschäftigung betont und auch deutlich macht, dass ein Dienstherr bei einer Auswahlentscheidung solche Bewerber nicht bevorzugen darf, die im Gegensatz zu anderen einen entsprechenden Antrag gestellt haben; vgl im übrigen Lecheler ThürVBl 1998, 25 ff; Schnellenbach ZBR 1998, 223, 225 f; krit Janssen ZBR 2003, 113, 114. Zu der Frage, ob für einen begrenzten Zeitraum die Zwangsteilzeit jedenfalls in den neuen Ländern verfassungsrechtlich akzeptabel sei, um dort das Berufsbeamtentum zu stabilisieren, s Battis/Grigoleit ZBR 1997, 237, 247 ff. 343 Ohne Entsprechung im BeamtStG, aber in allen Landesbeamtengesetzen enthalten. 344 Vgl BVerwG DVBl 1991, 646 f; VGH BW VBlBW 1991, 224 ff. 345 Vgl dazu Detmer ZBR 1995, 189 ff. 346 S dazu Kunig Jura 1990, 306, 309; ders in: v Münch/Kunig, GG I, Art 11 Rn 20. – Weitere Nachw zur Rspr bei Battis BBG § 72 Rn 2. 347 §§ 97 ff BBG u die BundesnebentätigkeitsV idF v 12.11.1987, BGBl I 2376, zuletzt geänd am 05.02.2009, BGBl I 160; § 40 BeamtStG; §§ 60 ff LBG BW, §§ 60 ff LBG Bln, Art 81 ff BayBG, §§ 83 ff LBG Bbg, §§ 70 ff BremBG, §§ 70 ff HmbBG, §§ 78 ff HessBG, §§ 70 ff LBG MV, §§ 70 ff NdsBG, §§ 50 ff LBG NW, §§ 82 ff LBG RP, §§ 84 ff BG SL, §§ 81 ff SächsBG, §§ 73 ff BG LSA, §§ 70 ff LBG SH, §§ 65 ff ThürBG. – Allg dazu Jansen Nebentätigkeit im Beamtenrecht, 1983;

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scheiden ist die Nebentätigkeit im öffentlichen Dienst selbst (zu der Beamte unter gesetzlich näher geregelten Voraussetzungen verpflichtet werden können, vgl § 98 BBG)348 von der aus eigenem Entschluss beabsichtigten Nebentätigkeit. Hier bestehen Kontrollmechanismen, die den Grundgedanken verfolgen, die Qualität der Amtsführung vor Beeinträchtigungen durch die Nebentätigkeit zu bewahren.349 Typischerweise wenig konsequenzenträchtige Betätigungen (hierauf lässt regelmäßig die Unentgeltlichkeit schließen) und in besonderem Maße grundrechtlich fundierte, die individuelle Entwicklungssphäre des Beamten betreffende Tätigkeiten (zB künstlerische Tätigkeit, aber auch die Verwaltung des eigenen Vermögens) unterliegen keiner Genehmigungspflicht, sind aber Anzeigepflichten unterworfen und können im Einzelfall untersagt werden (vgl § 100 BBG). Gleiches gilt für solche Tätigkeiten, an denen auch ein öffentliches Interesse besteht (Betätigung im Berufsverband). Die Genehmigungsfreiheit ist die Ausnahme von der generellen Genehmigungspflicht. Die Gesetze regeln die Gründe der zwingenden Genehmigungsversagung, dies unter Verwendung von (generalklauselartig formulierten) Regelbeispielen. Diese geben zu erkennen, wann die Aufnahme und Durchführung einer Nebentätigkeit als Beeinträchtigung der dienstlichen Interessen zu werten ist. Liegen die Versagungsvoraussetzungen nicht vor, so hat der Beamte den Anspruch auf Genehmigungserteilung, auch wenn die Gesetze das nicht zum Ausdruck bringen. Selbst wenn dies nicht einem „hergebrachten Grundsatz“ entspräche,350 so wirken doch die Grundrechte des Beamten mit diesem Ergebnis auf die Fürsorgepflicht des Dienstherrn ein. Der Beamte darf in der Rechtsausübung nicht stärker eingeschränkt werden, als dies die dienstlichen Interessen gebieten. Jede besondere Pflichtenbindung im Beamtenrecht muss sich hieran rechtfertigen lassen, was auf die Einzelfallbeurteilung durchschlägt.351 Sachlich im Vordergrund stehen im Bereich genehmigungspflichtiger Tätigkeiten nicht die 137 Fälle kapazitärer, insbesondere zeitlicher Überlastung des Beamten, sondern solche, die Interessenkonflikte hervorrufen können, wie es oft nahe liegt, wenn der Beamte sich in einem Sachbereich außerdienstlich betätigt, der auch seiner dienstlichen Zuständigkeit unterfällt.352 Die Gesetze sehen als (erneut zu betonen: zwingenden) Versagungsgrund bereits die Möglichkeit vor, dass die Nebentätigkeit „dem Ansehen der öffentlichen Verwaltung abträglich sein kann“ (vgl § 99 II 2 Nr. 6 BBG). 138 cc) Neutralität und Unparteilichkeit im Amt: Zu den zeitlichen, räumlichen und gegenständlichen Parametern, die unmittelbar auf die Dienstpflicht als Arbeitspflicht bezogen sind, treten abstrakt formulierte, nur teilweise von den Anforderungen des konkreten Amtes her relativierte Pflichten mit Bezug auf die Amtsführung. Hier ist zunächst die Neutralitätspflicht zu nennen.353 Die Verpflichtung des Staatsdieners auf das Volk (vgl § 60 I 1 BBG, § 33 I 1 BeamtStG; nicht also

_____ Wagner NVwZ 1989, 515 ff; v Zwehl Nebentätigkeitsrecht im öffentlichen Dienst, 3. Aufl 2012; Bültmann Der Nebenverdienst, 2001; Battis FS Fürst, 2002, 45 ff; Baßlsperger Nebentätigkeiten, 2003, und ZBR 2004, 369 ff. – Zur Vermittlung von Versicherungsverträgen durch einen Beamten während der Dienstzeit s im Blick auf § 1 UWG BGH NJW 1994, 2096 ff. Arbeiter und Angestellte im öffentlichen Dienst betreffend Braun ZBR 2004, 69 ff; zu Rechtsreferendaren Schautes/Mävers VR 2002, 37 ff. 348 Vgl dazu HessVGH NVwZ-RR 1996, 338 f. 349 Vgl BVerwG DVBl 1991, 637 f und ZBR 1993, 149 ff; BVerwGE 124, 347 ffo JK GG Art 12/81; vgl auch BVerfG NVwZ 2007, 571. 350 Ausdrücklich dagegen BVerwGE 44, 249, 263. 351 Hierzu im Hinblick auf den Einsatz des Nebentätigkeitsrechts zur Erreichung arbeitsmarktpolitischer Ziele – auch rechtspolitisch – Thieme JZ 1985, 1024 ff. Ferner BVerwG DÖV 1990, 613 f, BVerwGE 87, 319 ff u BVerwG DÖV 1994, 217 f; OVG RP DöD 1994, 67 f; VG Arnsberg NWVBl 1996, 274 ff. 352 Dem Schutz des Dienstherrn vor der Verwendung von „Amtswissen“ für private Zwecke dienen auch die Bestimmungen über die Tätigkeit nach Beendigung des Beamtenverhältnisses, vgl § 105 BBG, § 41 BeamtStG, und dazu OVG RP NJW 1991, 245 ff. 353 Püttner FS Ule, 1977, 383 ff; Wagner DöD 1987, 65 ff; Lecheler in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 110 Rn 74.

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auf den Dienstherrn oder ein Staatsorgan) soll dem in § 60 I 2 BBG bzw § 33 I 2 BeamtStG ausdrücklich ausformulierten Gebot unparteiischer Aufgabenwahrnehmung die Richtung geben. Das „Wohl der Allgemeinheit“ ist Leitlinie, aber nicht autonom durch den Beamten zu definieren, sondern zu verwirklichen in Befolgung der Bindung an Gesetz und Recht (Art 20 III GG) und im Rahmen der dienstlichen Gehorsamspflicht (§ 62 BBG, § 35 BeamtStG). Die lapidare Feststellung, der Beamte diene „dem Volk, nicht einer Partei“, mag vielen als hilflose Geste gegenüber parteipolitischer Patronage erscheinen und ist weiterwirkender Beleg der abwehrenden Zurückhaltung gegenüber den politischen Parteien, die die deutsche Staatsrechtsentwicklung lange Zeit gekennzeichnet hat (vgl – fast wortgleich – Art 130 I WRV), bis Art 21 GG und die Judikatur des BVerfG hier eine (zu weit gehende) Abkehr bewirkten.354 Die Pflicht zur Unparteilichkeit wird beredt noch aufgenommen durch die Pflicht zur 139 „uneigennützigen“ und „nach bestem Gewissen“ erfolgenden Verwaltung des (hier gemeint: konkreten) Amtes (§ 61 I 2 BBG, § 34 S 2 BeamtStG). Sie ist für das Außenverhältnis zum Bürger abgesichert durch das Gebot der Zurückhaltung bei politischer Betätigung (§ 60 II BBG, § 33 II BeamtStG)355 – bereits der Anschein von Parteilichkeit soll vermieden werden. Die Norm hindert weder die Parteimitgliedschaft noch die Betätigung als Wahlkämpfer noch die Kandidatur. „Mäßigung“ verlangt Wahrung der Form, betrifft noch nicht Inhalte (hierfür ist allein die politische Treuepflicht maßgeblich). Der Vermeidung „bösen“ Anscheins wie auch der Sicherung objektiv unparteilicher Entscheidungsfindung dienen auch Vorschriften über die Annahme von Geschenken und Belohnungen (vgl § 71 BBG, § 42 BeamtStG) sowie über den Ausschluss des Beamten von Amtshandlungen, die ihn typischerweise in Interessenkonflikte führen würden.356 Sie setzen nur teilweise im Kontext der Beamtenpflichten an (systematisch zu verstehen als Beschränkung des Rechts, das übertragene Amt auszuüben), nämlich betreffend die Befreiung von Amtshandlungen gegen sich selbst und gegen andere bzw das Verbot der Führung der Dienstgeschäfte (§§ 65, 66 BBG, § 39 BeamtStG).357 Die Berührung eigener Interessen des Beamten durch die dienstliche Tätigkeit wird darüber hinaus durch allgemeine Ausschlussregelungen (vgl § 20 VwVfG) und – bereichsspezifisch – durch Vorschriften zB des Steuerrechts (vgl § 82 AO) erfasst. dd) Amtsverschwiegenheit: Die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit (vgl §§ 67 f BBG, § 37 140 BeamtStG) dient dem Ansehen des öffentlichen Dienstes und der Vertrauensbildung auf Seiten des Bürgers, damit auch dessen die Selbstbestimmung über Daten gewährenden Grundrechten (s auch § 1 II Nr 1, 2, § 2 BDSG). Seit jeher und also schon vor der grundrechtlich angeleiteten Verrechtlichung dieses Problemfeldes galt der Grundsatz, dass der Beamte prinzipiell nach außen, aber auch gegenüber anderen staatlichen Stellen über Angelegenheiten zu schweigen hat, die ihm in Zusammenhang mit der amtlichen Tätigkeit bekanntgeworden sind. Das gilt prinzipiell auch für ihm gegenüber ergangene rechtswidrige Anordnungen oder sonstige rechtswidrige Handlungen. Die „Flucht in die Öffentlichkeit“ ist dem Beamten verwehrt.358 Diese Pflicht wirkt weiter nach der Beendigung des Dienstverhältnisses (bezüglich der Herausgabe von Schriftstücken uä in atypischer Erstreckung sogar auf Hinterbliebene und Erben, vgl § 67 IV 2 BBG). Erfasst sind nicht nur Informationen, die dem Beamten im Rahmen seiner eigenen Tätigkeit bekanntgeworden sind; die Kenntnisnahme „bei Gelegenheit“ des Dienstes reicht aus. Ausgeschlossen bleiben – neben offenkundigen oder bedeutungslosen Angelegenheiten – Mit-

_____ 354 Dazu Kunig in: Isensee/Kirchhof, HStR III, § 40, insb Rn 123 ff; ders Jura 1991, 247, 256; Leuze DöD 1994, 125 ff. 355 Vgl die jüngere Rspr VG Münster Urt v 16.10.2009 – 4 K 1765/08; VG Aachen Urt v 15.3.2012 – 1 K 190/11; Frowein Die politische Betätigung des Beamten, 1967. 356 Vgl BVerwGE 43, 42, 44. 357 Vgl dazu Wenzel DÖV 1976, 411 ff. 358 Vgl BVerwGE 76, 76, 80; VGH BW Urt v 15.7.2004 – 4 S 965/03, und – für Soldaten – BVerwG NVwZ 1990, 762 ff.

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teilungen im dienstlichen Verkehr, dh im Verkehr innerhalb des Überunterordnungsverhältnisses der eigenen Behörde (in beiden Richtungen) wie auch im Rahmen zulässiger Amtshilfeersuchen (vgl § 67 II 1 BBG). Hierbei und generell im Verkehr von Behörden untereinander ist dienstlicher Verkehr nur ein solcher, der auf gesetzlicher Grundlage vollzogen wird, also etwa auch im Zusammenwirken mehrerer Behörden im Rahmen eines gestuften Verwaltungsverfahrens. 141 Die Verschwiegenheitspflicht findet Ausnahmen im Interesse der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, aber auch aufgrund des Unterrichtungsinteresses der Öffentlichkeit. Letzteres ist beamtenrechtlich insoweit aufgenommen, als die Entscheidung über eine Auskunftserteilung gegenüber der Presse der Behördenspitze vorbehalten bleibt (vgl § 70 BBG). Näheres über die Zugänglichkeit verfahrensinterner Daten für die Öffentlichkeit oder für Interessierte ergibt sich hingegen aus allgemeinem Verfahrensrecht, vor allem aber bereichsspezifisch – beispielsweise im Umweltschutzrecht – aus den Bestimmungen über Geheimhaltung und Öffentlichkeitsbeteiligung. Näher im Beamtenrecht selbst ist der Spielraum ausgestaltet, der dem Beamten als Zeuge, Partei oder Beschuldigter im gerichtlichen Verfahren gezogen ist (§ 68 BBG, § 37 IV, V BeamtStG).359 Hier bedarf es der Genehmigung.360 Ihre Erteilung steht nicht im Ermessen der Behörde,361 vielmehr ist ein Erteilungsanspruch eingeräumt, nur in engen Grenzen darf die Genehmigung versagt werden. Der Sache nach, nicht systematisch, ist der Beamte hier mehr als Berechtigter angesprochen denn als Verpflichteter. 142 ee) Die politische Treuepflicht: Die politische Treuepflicht des Beamten wurde schon bei den subjektiven Ernennungsvoraussetzungen, also im Zusammenhang mit der Begründung des Beamtenverhältnisses erörtert (Rn 79, 87). Ging es dort um eine Prognose über die Gewähr, die die zu ernennende Person im Hinblick auf ihre Verfassungstreue bietet, so formulieren die Beamtengesetze die Treuepflicht auch als ständig fortwirkende Verpflichtung aus, dies im Sinne einer Pflicht zum Bekenntnis und zum Eintreten für die Erhaltung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (§ 60 I 3 BBG, § 33 I 3 BeamtStG). Auch die Treuepflicht im Beamtenverhältnis sollte – wie die Gewähr der Treue als dessen Begründungsvoraussetzung – bereichsspezifisch, nicht pauschalierend verstanden werden: Sie gilt gleichermaßen für alle Beamten, ohne von allen Beamten Gleiches zu verlangen (Rn 86).

b) Dienstvergehen 143 Die schuldhafte Verletzung einer beamtenrechtlichen Pflicht stellt ein Dienstvergehen dar (§ 77 I 1 BBG, § 47 I 1 BeamtStG). An diesen Begriff knüpft das Disziplinarrecht an, das bisher in den Disziplinarordnungen des Bundes und der Länder, teils auch in Disziplinargesetzen der Länder seine Regelung fand. Die BDO ist mit Wirkung vom 1.1.2002 durch das BDG abgelöst worden.362 An die Stelle der früheren Aufspaltung in ein nichtförmliches Ermittlungsverfahren und ein förmliches Untersuchungsverfahren ist ein einheitliches Ermittlungsverfahren getreten (§§ 17–31 BDG), das durch eine Einstellungsverfügung, eine Disziplinarverfügung oder eine Disziplinarklage (§§ 32–34 BDG) abgeschlossen wird. Verfahrensrechtlich sind weitere Veränderungen im

_____

359 Zur Rechtslage im förmlichen Disziplinarverfahren BDH NJW 1962, 1884. 360 Zur Genehmigung für Zeugenaussagen von Bundesbeamten vor einem Untersuchungsausschuss s BVerwGE 109, 258; zur konkludenten Genehmigung für Aussagen von Polizeibeamten Böhm NStZ 1983, 158 ff; allg Ziegler Die Aussagegenehmigung im Beamtenrecht, 1989. Zur Auskunftspflicht eines Beamten vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss bei drohender disziplinarrechtlicher Verfolgung Vetter ZBR 1991, 225 ff. 361 BVerwGE 46, 303, 397; E 66, 39, 42. 362 Dazu Urban NVwZ 2001, 1335 ff; insbes zum neuen Recht Ebert, Das aktuelle Disziplinarrecht, 2012; Lemhöfer RiA 2002, 53 ff; Schwandt DöD 2003, 1 ff. Zur Frage, inwieweit eine bloße Verdachtserweckung sanktionierbar ist, Höfling/Rixen JuS 2002, 855 ff, als Besprechung von BVerwGE 114, 40.

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Vergleich mit der bisherigen Rechtslage eingetreten. Der unabhängige Untersuchungsführer wurde ebenso abgeschafft wie der Bundesdisziplinaranwalt und das Bundesdisziplinargericht; die gerichtliche Zuständigkeit wurde auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit übertragen, allerdings mit spezialisierten Kammern und Senaten. Das überkommene System von (abgestuften) Disziplinarmaßnahmen ist aber grundsätzlich beibehalten worden, wenn auch mit teils eher sprachlichen, teils inhaltlichen Änderungen (§§ 5 ff BDG). Disziplinarmaßnahmen sind Verweis und Geldbuße, Kürzung der Dienstbezüge363 (früher: „Gehaltskürzung“), Zurückstufung (früher: „Versetzung in ein Amt der selben Laufbahn mit geringerem Endgehalt“), Entfernung aus dem Beamtenverhältnis364 (früher: „aus dem Dienst“), bei Ruhestandsbeamten Kürzung und Aberkennung des Ruhegehalts.365 Die Höchstdauer der Kürzung der Dienstbezüge wurde auf drei Jahre herabgesetzt, Änderungen betreffen auch Beförderungsverbote, die mit der Kürzung verbunden sind.366 Das Disziplinarrecht definiert die disziplinarischen Sanktionen und legt die Rechtsfolgen 144 fest. Dabei wird der Begriff des Dienstvergehens vorausgesetzt (vgl § 2 BDG). Ein Dienstvergehen kann nur begehen, wessen Dienstverhältnis noch andauert. Gewisse Pflichtenverstöße von Ruhestandsbeamten stellen aber eine „als Dienstvergehen geltende Handlung“ dar (vgl § 77 II BBG, § 47 II BeamtStG, § 2 II BDG). Dies betrifft nur einen Ausschnitt des Pflichtenkreises, der enumerativ umschrieben ist (zB Verletzung der Amtsverschwiegenheit). Für die Dauer des Dienstverhältnisses ist dagegen jeder schuldhafte Pflichtverstoß ein Dienstvergehen. Die gesetzliche Definition des Begriffs „Dienstvergehen“ stellt, wie erwähnt, auf die schuldhafte Verletzung von Dienstpflichten ab, modifiziert dies aber durch eine Differenzierung zwischen dem Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes: Bei Verhalten außerhalb des Dienstes liegt ein Dienstvergehen nur vor, wenn die Pflichtverletzung „nach den Umständen des Einzelfalls in besonderem Maße geeignet ist, Achtung und Vertrauen in einer für (das) Amt oder das Ansehen des Beamtentums bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen“ (§ 77 I 2 BBG, § 47 I 2 BeamtStG). Die Abgrenzung zwischen innerdienstlichem und außerdienstlichem Verhalten ist nicht allein nach zeitlichen (Dienstzeit) oder örtlichen (Dienstort) Kriterien vorzunehmen, auch wenn diese dafür Anhaltspunkte bieten; entscheidend ist die materielle Bezüglichkeit eines Verhaltens auf den Amtsbereich. Im außerdienstlichen Bereich ist der Beamte vor allem durch die allgemeine Verhaltenspflicht (§ 61 I 3 BBG, § 34 S 3 BeamtStG) angesprochen. Wegen der von § 77 I 2 BBG (bzw § 47 I 2 BeamtStG) gebotenen Differenzierung ist bei der Beurteilung eines außerdienstlichen Verhaltens in Bezug auf seine disziplinarrechtliche Relevanz zunächst festzustellen, ob überhaupt die Verletzung einer Verhaltenspflicht vorliegt, sodann, ob diese ausnahmsweise als Dienstvergehen gewertet werden kann. Die Anbindung des Begriffs „Dienstvergehen“ an die Pflichtenkataloge begründet Beden- 145 ken im Hinblick auf den auch für das Disziplinarrecht geltenden Art 103 II GG. Gleiches gilt aus grundrechtlicher Sicht, denn die Generalklauselartigkeit etlicher Beamtenpflichten lässt der behördlichen und gerichtlichen Rechtsanwendung beträchtliche Spielräume. So ist die Abgrenzung zwischen „bedeutsamen“ und weniger bedeutsamen Pflichtverstößen schwierig.367 Zu be-

_____ 363 Dazu BVerwG DÖV 1990, 526 f u NVwZ 1994, 1219 f; vgl auch BDiszG NVwZ-RR 1993, 502; zu verfassungsrechtlichen Grenzen s BVerfG BayVBl 1993, 749. 364 Zur Entfernung aus dem Dienst wegen Zugriffs auf dienstlich anvertrautes oder zugängliches Geld für private Zwecke vgl BVerwG DVBl 1991, 115 f; eines Soldaten, der einem Zivilbediensteten der Bundeswehr Ecstasy in den Kaffee gab, BVerfG NJW 1998, 1730 f. – Die Entfernung aus dem Dienst darf nicht allein aus fiskalischen Gründen (Nichtweiterzahlung der Bezüge) für sofort vollziehbar erklärt werden, BVerfG BayVBl 1990, 207 f. 365 Zur Aberkennung des Ruhegehalts wegen Zugriffs auf amtlich anvertrautes Geld vgl BVerwG NVwZ-RR 1997, 634, und wegen ungenehmigter Nebentätigkeit BVerfG NVwZ 2003, 1504. 366 Zum Disziplinarrecht allg Claussen Bundesdiziplinarrecht, 9. Aufl 2001; Ebert Das neue Disziplinarrecht, 2012. – Zu den disziplinarrechtlichen Änderungen im Zuge des ReformG 1997 (Rn 27) sowie des AntikorruptionsG (Fn 71) näher Veig NVwZ 1998, 470 ff; Weiß PersV 1998, 344 ff. 367 Anschaulich etwa BVerwG DöD 1994, 92 ff u NJW 1994, 3115 f.

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rücksichtigen ist allerdings, dass auch dienstliche Weisungen festlegen, was ein Beamter zu tun oder zu lassen hat. Sind Anordnungen und Weisungen unklar, kann auf Irrtümer des Beamten jedenfalls bei der Schuldfeststellung reagiert werden. Die relative Weite einiger Dienstpflichten muss auch schon bei der materiellen Feststellung der Pflichtwidrigkeit, also auf der Ebene des Tatbestandes berücksichtigt werden. Insofern hat sich eine reichhaltige Kasuistik herausgebildet, die den Defiziten im Bereich der gesetzlichen Bestimmtheit entgegen wirkt. Nicht zu verkennen ist, dass die Rechtslage sich in gewissem Umfang dem Wandel der Anschauungen öffnet, was den außerdienstlichen Bereich betrifft. Wurde beispielsweise der Ehebruch des Beamten früher durchgängig als Dienstvergehen gewertet, so erscheint solches Tun heute jedenfalls nicht ipso facto als Handlung, die das Vertrauen in die Integrität des Beamten belasten könnte;368 beamtenrechtlich bleibt die Aufnahme und Gestaltung persönlicher Beziehungen grundsätzlich Sache der Beteiligten.369 Nicht nur Straftaten, aber auch nicht alle Straftaten sind Dienstvergehen. Zu reichhaltiger Judikatur hat das Phänomen des Alkoholismus geführt.370 Auch die Annahme und das Fordern von Geschenken beschäftigt die Gerichte.371 Überholt ist die Anschauung, „unehrenhaftes Schuldenmachen“ sei stets ein Dienstvergehen,372 wenngleich hier die Grenze des Sanktionierbaren weiter gezogen ist als im Strafrecht. Grundsätzlich ist die abstrakte Unterscheidung zwischen einem bürgerlichen und einem beamtenrechtlichen Ehrenbegriff problematisch, statt dessen zumeist einzelfallbezogen und auch personenbezogen, dh funktionsbezogen zu differenzieren, also auf die spezifische Art des Verhaltens und die Position innerhalb der Beamtenhierarchie abzustellen: Der Diebstahl des Polizeibeamten, die Unterschlagung des Finanzbeamten sind Dienstvergehen, das Beschimpfen der Bundesflagge in Fäkalsprache ist für jeden Beamten Dienstvergehen. Eine Beleidigung, die ein Sachbearbeiter im Wirtshaus ausspricht, mag anders zu bewerten sein als diejenige, die der Leiter einer obersten Bundesbehörde während einer Talkshow verübt – nur von letzterer wird die Öffentlichkeit Notiz nehmen, nur letztere kann daher geeignet sein, das Ansehen der Beamtenschaft fühlbar zu beeinträchtigen. Stets ist zu bedenken, dass Dienstvergehen von Beamten nicht zur Bewahrung eines beamtenrechtlichen Ehren- oder Sittenkodex geahndet werden, sondern wegen der Funktionstüchtigkeit des Dienstes, die durch das Verhalten einzelner in je unterschiedlicher Weise beeinträchtigt werden kann. Ist die Mehrzahl außerdienstlich begangener Dienstvergehen zugleich Straftat, so wirft das 146 auch die Frage nach dem Verhältnis von Strafrecht und Disziplinarrecht auf.373 Die parallele Ahndung gilt als von Art 103 III GG nicht ausgeschlossen, doch ist die (vorangegangene) Verhängung einer Disziplinarmaßnahme bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.374 Ging ein Strafurteil der disziplinarrechtlichen Entscheidung voraus, so begrenzt § 14 BDG die disziplinarrechtlichen Ahndungsmöglichkeiten.375

_____ 368 Beispiele gleichwohl angenommener Dienstbeeinträchtigung erörtert Biletzki ZBR 1998, 84, 91 f. 369 Vgl dazu OVG NRW ZBR 1965, 210; BVerwG ZBR 1976, 61 f; BVerwG NJW 1984, 936 ff; BVerwG DVBl 1987, 1167 f. Zur sexuellen Belästigung von Mitarbeiterinnen BVerfG DÖV 1998, 340 ff. 370 S dazu J. Fischer FS Claussen, 1988, 141 ff; Honsa, Alkohol- und Drogenmissbrauch im öffentlichen Dienst, 2. Aufl 2006; exemplarisch: BVerwGE 76, 128 und – die Anforderungen an die Verschuldensfeststellung demgegenüber modifizierend – BVerwG DVBl 1992, 106 ff; zur Trunkenheit am Steuer Lindgen DöD 1978, 41 ff; zur außerdienstlichen Trunkenheitsfahrt eines Soldaten BVerwG NVwZ 1994, 785, eines Beamten der Telekom BVerwGE 103, 375 ff, in Aufgabe früherer Rspr zur Bewertung einer einmaligen außerdienstlichen Trunkenheitsfahrt BVerwG NJW 2001, 1080 ff; zum (strafbaren) Besitz von Cannabis-Produkten BVerwG NJW 1995, 2240 u BVerwGE 103, 316. 371 BVerwG NVwZ 1997, 588; BVerwGE 100, 172 = JZ 1996, 854 mit Anm Battis. 372 So noch BDHE 5, 61. 373 Dazu BVerwGE 83, 1, 4 o JK GG Art 46/2; eingehend Lambrecht Strafrecht und Disziplinarrrecht, 1997. Zur Angemessenheit der Dauer eines Disziplinarverfahrens aufgrund des Abwartens der Entscheidung im Strafverfahren s EGMR Entsch v 29.6.2010 – 29035/06 (B./Deutschland). 374 Nachw bei Kunig in: v Münch/Kunig, GG II, Art 103 Rn 42; sa Ukena ZBR 1987, 208 ff. 375 S BVerwGE 76, 43 ff; sa BVerwG NJW 1991, 2583, beide zu § 14 BDO.

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c) Haftung Auch soweit Dienstvergehen Rechtsgüter Privater betreffen, werden sie allein wegen des gegen- 147 über dem Dienstherrn begangenen Pflichtenverstoßes geahndet. Demgegenüber kann die beamtenrechtliche Haftung auch in den Rechtsfolgen das Innen- wie das Außenverhältnis betreffen. Pflichtenverstöße können unmittelbar und ausschließlich den Dienstherrn schädigen, aber auch Dritte, den Dienstherrn dann zugleich mittelbar, wenn dieser dem Dritten schadensersatzpflichtig wird. Die unmittelbare Schädigung des Dienstherrn ist beamtenrechtlich geregelt, die mittelbare in Anknüpfung der Beamtengesetze an das bürgerlichrechtlich eingerichtete, von Art 34 GG zum Staatshaftungsrecht umgeprägte Amtshaftungsrecht.376 In beiden Konstellationen der Schädigung des Dienstherrn differierte die Haftung früher 148 danach, ob der Beamte öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich gehandelt hat. Nur bei privatrechtlichem Handeln wurde für jedes Verschulden gehaftet, bei öffentlich-rechtlichem Handeln nur bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit (sog Haftungsprivileg).377 Damit sollte die Entschlussfreudigkeit des Beamten und die Leistungsfähigkeit der Verwaltung gestärkt werden. Seit 1993 ist das Haftungsprivileg auch auf das privatrechtliche Handeln des Beamten erstreckt worden (§ 75 BBG, § 48 BeamtStG).378 Damit sind Wertungswidersprüche für Konstellationen beseitigt worden, in denen eine Tätigkeit keinerlei Prägung aus ihrer hoheitlichen Vornahme erfuhr, denkt man an die Auszahlung von Geld, die ein Beamter vornimmt: Leistete er einem anderen Beamten eine Überzahlung, handelte also hoheitlich, trat Haftung nur bei grober Fahrlässigkeit ein; war der Adressat ein Arbeiter im öffentlichen Dienst, haftete der auszahlende Beamte unter gleichen Umständen schon bei leichter Fahrlässigkeit. Das machte wenig Sinn und war in Rechtsprechung und Schrifttum als verfehlt gerügt worden, denn das Telos der Unterscheidung – Förderung der Entschlussfreudigkeit – ging ins Leere. Berücksichtigt man noch, dass im genannten Beispiel ein angestellter Kassenverwalter auch bei hoheitlichem Handeln (also bei einem Beamten gegenüber vorgenommener Überzahlung) voll haftete, zeigt sich insgesamt die Fragwürdigkeit der früheren Regelungen. Die erwähnte Neuregelung führt zu einer Vereinfachung der Rechtslage, weil nunmehr bei der Prüfung einer beamtenrechtlichen Haftung aus § 75 BBG bzw § 48 BeamtStG eine Abgrenzung zwischen hoheitlichem und nicht hoheitlichem Handeln entbehrlich ist, soweit es um die Prüfung der materiellen Rechtslage geht. Diese Prüfung bleibt aber nötig, um den Rechtsweg zu finden. Denn bei hoheitlichem Handeln ist der ordentliche Rechtsweg für die Geltendmachung der Amtshaftung durch den Geschädigten und für die gerichtliche Geltendmachung des Rückgriffs des Dienstherrn (s noch u Rn 182) gegeben. Geht es nicht um den Amtshaftungsrückgriff, ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.379 Die Beschränkung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit (zu beziehen auf die Pflicht- 149 verletzung, also den Normverstoß, nicht auf die Vorhersehbarkeit des konkret eingetretenen Schadens und die Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Schaden380) macht es im Ergebnis überflüssig, die früher in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur

_____ 376 Vgl den Überblick bei Riedmaier DÖV 1989, 386 ff; beispielhaft – zur Amtspflicht eines Standesbeamten – BGH VBlBW 1990, 315 ff; zur Erledigung persönlicher Angelegenheiten bei der Rückfahrt mit dem Dienstwagen VGH BW NJW 1989, 997; zur Ausübung eines öffentlichen Amtes durch einen Zivildienstleistenden BGH DÖV 1992, 1018 f; zur Drittbezogenheit von Amtspflichten BGH DVBl 1994, 1065 u 1067 ff; ferner Ladeur DÖV 1994, 666 ff; zur Verjährung BVerwG DÖV 1994, 124 f. 377 Vgl dazu und zur Anwendbarkeit des § 282 aF BGB (s nunmehr § 280 I 2 BGB) BVerwG ZBR 1983, 274; s ferner Lörler JuS 1990, 544 ff. 378 Zur Anwendbarkeit auch auf zuvor eingetretene, aber noch nicht abgewickelte Schadensfälle BVerwG DVBl 1996, 1135 f. 379 Zu Einzelheiten der Beamtenhaftung gegenüber dem Dienstherrn für Schäden bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Pflichtverletzung s Simianer ZBR 1993, 33 ff. 380 S BayVGHE 74, 75 f; vgl auch BGHZ 34, 375, 381; BVerwGE 19, 243, 248.

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Haftungsminderung bei schadensgeneigter Arbeit381 in das Beamtenrecht zu übertragen: Denkbar ist, dass die Fürsorgepflicht (Rn 155 ff) der Haftung weitere Grenzen zieht, etwa in Fällen ganz ungewöhnlicher Schadenshöhe und drohender wirtschaftlicher Existenzvernichtung des Beamten.382 Die Durchsetzung der Haftungsansprüche des Dienstherrn gegenüber dem Beamten un150 terscheidet sich zutreffender Ansicht nach nicht vom allgemeinen Schadensersatzrecht im Verhältnis des Staats zu dem ihn schädigenden Bürger, so dass solche Ansprüche im Falle der Erfüllungsverweigerung einzuklagen sind. Bei unmittelbarer Schädigung bzw mittelbarer Schädigung durch privatrechtliches Handeln ist nach § 126 BRRG (bei Bundesbeamten) bzw nach § 54 BeamtStG (bei Landesbeamten)383 die Verwaltungsgerichtsbarkeit einschlägig; bei mittelbarer Schädigung durch hoheitliches Handeln ist gem Art 34 S 3 GG der ordentliche Rechtsweg eröffnet. Die Rechtsprechung geht demgegenüber davon aus, dass Schadensersatzansprüche gegenüber dem Beamten vom Dienstherrn durch Verwaltungsakt einforderbar seien, weil generell im öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis die Unterordnung des Beamten zu seiner Inanspruchnahme durch Verwaltungsakt berechtige.384 Die Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs durch Verwaltungsakt, die dem Beamten die Last zur Geltendmachung von Rechtsbehelfen auferlegt, erscheint so als Bestätigung einer Regel, von der abzuweichen es „keinen Grund“ gebe. Die angenommene Prämisse greift jedoch zu weit, denn einseitiges Handeln gegenüber dem Beamten bedarf stets der Rückführbarkeit auf eine gesetzliche Grundlage, an der es hier fehlt.385 Es müsste also der Nachweis geführt werden können, dass die beamtenrechtlichen Haftungsnormen selbst die erforderliche Rechtsgrundlage abzugeben vermöchten. Ein solcher Nachweis gelingt indes nicht.

d) Die Beamtenrechte 151 An der Spitze der Kataloge einzelner Rechte des Beamten steht die Fürsorgepflicht des Dienstherrn. Sie ist das Korrelat386 zu der besonderen Inpflichtnahme des Beamten, insbesondere zur Treuepflicht (Rn 131, 142) und der Pflicht zur beruflichen „Hingabe“ (Rn 132). Die Fürsorgepflicht ist generalklauselartig formuliert, ist Auslegungsmaxime für unbestimmte Rechtsbegriffe und Abwägungsgesichtspunkt bei Ermessensentscheidungen, reicht aber auch weiter als die speziellen Ausprägungen, die die Gesetzesabschnitte über „Fürsorge und Schutz“ noch enthalten. Das allgemeine Recht auf Fürsorge kann jedoch nicht Anspruchsgrundlage sein, soweit für einen Teilbereich – zB die Besoldung – eine abschließende Regelung vorliegt. 152 aa) Spezielle Fürsorgeverpflichtungen: Als gesetzliche Ausprägung der Fürsorgepflicht lässt sich auch die familienpolitisch motivierte und zunächst nur für weibliche Beamte eingeführte, später auch auf Männer erstreckte Möglichkeit der Ermäßigung der Arbeitszeit und der Beurlau-

_____ 381 S zum Wandel dieser Rspr BAG NZA 1994, 1083 ff; BGH NJW 1994, 856 ff. 382 Vgl etwa Fürst ZBR 1987, 289 ff; anschaulich BGH DÖV 1994, 387 ff mit der Annahme einer Ermessensreduzierung in einem extrem gelagerten Fall; vgl auch BayVGH ZBR 1992, 189; VG Gießen NVwZ-RR 1997, 429 f. – Bei besonderer Schadensträchtigkeit eines Dienstpostens kommen auf haushaltsrechtlicher Grundlage auch Freistellungen pro futuro in Betracht. 383 Insoweit gilt das BRRG noch. 384 BVerwGE 19, 243, 246; E 21, 270, 272; E 27, 350; OVG NW NWVBl 1996, 69; zutr dagegen zB W. Martens FS Wolff, 1973, 434. Allg zur Schadensersatzpflicht öffentlich Bediensteter gegenüber ihrem Dienstherrn Beckmann ZBR 2004, 109 ff; Zetzsche ZBR 2004, 130 ff. 385 Eine solche sah das G über das Verfahren für die Erstattung von Fehlbeständen an öffentlichem Vermögen (ErstattungsG) v 24.1.1951, BGBl I 87, 109, geändert am 2.3.1974, BGBl I 469 – zu dessen Anwendungsbereich s BVerwG ZBR 1986, 252 – vor, das durch das BesoldungsstrukturG v 21.6.2002, BGBl I 2138 aufgehoben wurde. 386 Dazu BVerfGE 43, 154, 165; vgl auch Summer PersV 1988, 76 ff.

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bung ohne Dienstbezüge begreifen (vgl § 92 I Nr 1 BBG, §§ 43, 46 BeamtStG). Die Entscheidung über entsprechende Anträge steht nicht mehr im gesetzlich kaum programmierten Ermessen der Verwaltung. Vielmehr besteht ein Anspruch, wenn nicht zwingende dienstliche Belange entgegenstehen. Jegliche Gestattung einer Teilzeitbeschäftigung belastet grundsätzlich die Funktionsfähigkeit des Dienstes. Das ist auch dann der Fall, wenn ein Aufgabenfeld (zB Sachbearbeitung einer „Buchstabengruppe“ in einem Dezernat) von einer nur halbtags beschäftigten Person vollen Umfangs wahrgenommen werden kann, denn eine größere Zahl von Beamten bringt stets organisatorischen Mehraufwand mit sich (zB Inanspruchnahme von Räumen, Personalaktenführung). Nicht jede Funktionsbeeinträchtigung kann aber als zwingend den Interessen des Antragstellers vorgehen, die typische Beeinträchtigung ist im Gegenteil regelmäßig hinzunehmen, wenn der Antragsteller die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt. Weitere gesetzliche Ausformulierungen der Fürsorgepflicht nehmen sozialpolitische Anlie- 153 gen auf (Mutterschutz, Schwerbehindertenschutz, Arbeitsschutz Jugendlicher), enthalten Ermächtigungsnormen zum Erlass von Rechtsverordnungen bzw verweisen – modifizierend – auf andere Gesetze. Sie zeigen, dass die Beamtengesetze sozialrechtlich die Nähe zu anderen Typen von Beschäftigungsverhältnissen suchen. Nicht nur die in der Gesetzessystematik in Zusammenhang mit Schutz und Fürsorge einge- 154 ordneten Beamtenrechte, sondern auch noch weitere Normen münzen die allgemeine Fürsorgepflicht aus. Das gilt über Besoldung und Versorgung hinaus auch für die Erstattung von Reiseund Umzugskosten – die im Übrigen ebenfalls auf allgemein beamtenrechtlicher Ebene lediglich angesprochen bzw in Einzelaspekten geregelt werden, vollziehbar ausgestaltet hingegen in anderen Gesetzen sind; schließlich lässt sich auch der Anspruch auf das Dienstzeugnis387 der Fürsorgepflicht zuordnen. bb) Die allgemeine Fürsorgepflicht: Der Beamte hat das Recht, dass sein Dienstherr für sein 155 und seiner Familie Wohl sorgt, dies bezogen auf die Wahrnehmung der amtlichen Tätigkeit, aber auch „in seiner Stellung als Beamter“ (§ 78 BBG, § 45 BeamtStG). Obwohl die Fürsorgepflicht historisch in überwundenen paternalistischen Vorstellungen gründet, führt das geltende Recht sie fort. Das ist nur erträglich, wenn – wie bei Generalklauseln, aber ohnehin nahe liegend und oft geboten – die Fürsorgepflicht nicht statisch, sondern auch unter Berücksichtigung gewandelter Anschauungen und neuartiger Phänomene388 verstanden wird.389 Im Ausgangspunkt gilt: Der Dienstherr muss Handlungen unterlassen, die den Beamten schädigen, er muss ihn vor Nachteilen bewahren und ihm vorteilhafte Maßnahmen ergreifen, wenn dies geboten ist.390 Für die Bereiche der Besoldung (Rn 160) und der Versorgung (zB Ruhegehalt, Hinterbliebenenversorgung, Unfallfürsorge)391 ist das im BBesG und im BeamtVG, in den Versorgungsgesetzen der Länder, für die Beihilfe in Krankheits-, Geburts- und Todesfällen (ebenfalls Ausfluss der Fürsorgepflicht) in Verwaltungsvorschriften geregelt; letztere binden über den Gleichheitssatz die Ermessensbetätigung des Dienstherrn.392 Es verbleibt darüber hinaus ein weites Anwendungsfeld

_____ 387 § 85 BBG; zur gerichtlichen Kontrolle von dessen „Richtigkeit“ BVerwGE 12, 29, 34; Battis BBG § 85 Rn 4. 388 Zu Mobbing und Fürsorgepflicht Wittinger/Herrmann ZBR 2002, 337 ff; Bochmann ZBR 2003, 257 ff. Zur Schadensersatzhaftung des Dienstherrn bei Mobbing BGH NJW 2002, 3172 o JK GG Art 34/24. 389 Dazu Summer ZBR 1998, 151 ff mit Beispielen; eingehend zu Aspekten der Fürsorgepflicht anhand der Rspr des BVerfG Schnellenbach VerwArch 92 (2001), 2 ff. 390 Vgl etwa Lecheler ZBR 1972, 129 ff; Schnellenbach ZBR 1981, 301 ff. – Die beamtenrechtliche Fürsorgepflicht findet ihre Ursprünge in der Rspr des RG, s zunächst RGZ 18, 173 ff, sodann etwa RGZ 71, 243, 247. 391 Zur Versorgungsreform durch das VersorgungsreformG v 29.6.1998, BGBl I 1666, geänd am 22.4.2005, BGBl I 1106; s im Vorfeld v Zezschwitz ZBR 1998, 109 ff, 115 ff; ferner Isensee, Affekte gegen Institutionen, 14 ff sowie Meier NVwZ 1998, 1246 ff. Vgl auch BVerfG NVwZ 2005, 1294 o JK GG Art 33 V/15; Wolff ZBR 2005, 361 ff. 392 Vgl BVerwGE 38, 191 ff; BVerwG NJW 1994, 3023 f; Lecheler JZ 1987, 448, 451 ff; Unverhau ZBR 1990, 33 ff; zum Gleichheitsgrundsatz im Besoldungsrecht vgl BVerfGE 71, 39, 52 f sowie BVerfG DVBl 1996, 503.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

für die Generalklausel „Fürsorgepflicht“ in normativ ungeregelten Bereichen. Hier sind Abwägungen für jeden Einzelfall nötig. Sie betreffen zunächst die klassischen Individualrechtsgüter Leben und Gesundheit wie auch das Eigentum,393 so dass der Dienstherr sich durch Sicherheitsvorkehrungen schützend vor die körperliche Integrität des Beamten zu stellen, ihm etwa auch einen Büroplatz zu verschaffen hat, der ihn vor den Risiken des Passivrauchens394 bewahrt. Persönliches Eigentum ist gleichfalls nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalls zu schützen.395 Richtschnur für die Einzelfallentscheidung ist stets, inwieweit der einzelne Beamte wegen des Dienstes genötigt ist, ein gesteigertes Risiko einzugehen, das sich vom allgemeinen Lebensrisiko unterscheidet. So muss ein Kleiderschrank in einem anderen Personen zugänglichen Raum abschließbar sein, während andererseits der Beamte keinen Anspruch darauf hat, dass ihm ein gesicherter Stellplatz für das Kraftfahrzeug zugewiesen wird, mit dem er den Dienstort aufsucht. 156 Die Erstreckung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art 2 I GG) auf den Schutz informationeller Selbstbestimmung396 aktiviert die Fürsorgepflicht in dem Sinne, dass Geheimnisse des Beamten vor dem Zugriff Dritter zu schützen sind, aber auch innerhalb der Behörde nur denjenigen zugänglich werden, die aus Sachgründen notwendigerweise mit ihnen befasst werden müssen; der Kreis der mit der Personalaktenführung befassten Personen ist deshalb möglichst gering zu halten,397 woran sich erneut zeigt, dass die Fürsorgepflicht auch Organisationspflichten hervorbringt. Auch die weiteren Anwendungsfälle betreffen ganz überwiegend den Beamten in seinem 157 Verhältnis zum Dienstherrn, insbesondere auch die verfahrensmäßige Beziehung in Zusammenhang mit Veränderungen des Dienstverhältnisses. Die Fürsorgepflicht gebietet hier Verfahrensfairness,398 die sich im gewöhnlichen Staat-Bürger-Verhältnis grundrechtlich inspirierten einfachgesetzlichen Ausprägungen verdankt. Das kann dazu führen, dass der Beamte angehört werden muss, dass ihn betreffende Entscheidungen ihm gegenüber zu begründen sind, dass er über seine Rechtsstellung zu belehren ist. Dem Dienstherrn muss auch das dienstliche Fortkommen des Beamten angelegen sein, er muss ihn entsprechend Eignung und Leistung und unter Wahrung des Gleichheitssatzes fördern399 (Rn 90), wozu auch die Ermöglichung dienstlicher Fortbildung gehört. Auch im Außenverhältnis hat der Dienstherr den Beamten „in Schutz“ zu nehmen, darf 158 Missbilligung über die Amtsführung nicht nach außen tragen bzw muss einschreiten, wenn solches – etwa durch den unmittelbaren Vorgesetzten – geschieht.400 Werden von außen Vorwürfe an den Beamten herangetragen, ist der Dienstherr zwar nicht gehalten, die Partei des Beamten zu ergreifen, wohl aber hat er ihn gegen unberechtigte oder schmähende Vorwürfe zu schützen.

_____ 393 Vgl OVG NW ZBR 1977, 104 ff; zur Zerstörung einer wertvollen eigenen Sache im Dienst, die mit Billigung des Vorgesetzten verwendet wurde, OVG NW DöD 1994, 168 f; vgl auch BVerwG DVBl 1994, 582 f u 1076 f; zur Berücksichtigung von Gesundheitsschäden bei einer Abordnungsentscheidung, BVerfG NVwZ 2005, 926 ff; zu verhältnismäßigen Personenschutzmaßnahmen für einen mit Schwerstkriminalität befassten Staatsanwalt OVG RP NJW 2006, 1830 ff o JK Pol- u OrdR Nichtstörer/2; zu den Anforderungen an eine Dienstwohnung Ritgen ZBR 1996, 386, 388; zur Fürsorgepflicht gegenüber einem verdeckten Ermittler Alberts DöD 1997, 17 ff. 394 Dazu BVerwG DöD 1985, 86 f; OVG NW ZBR 1988, 67 f. 395 S dazu BVerwG DVBl 1994, 582 f u NVwZ-RR 1997, 426 f; vgl auch HessVGH NVwZ-RR 1997, 427 ff; BayVGH BayVBl 1998, 215 ff. 396 BVerfGE 65, 1, 41 f; Kunig Jura 1993, 595 ff; für Beamte: BVerwG NVwZ-RR 1997, 631 ff (zu § 20 S 1 BDO). 397 Vgl BVerwGE 75, 17 ff. 398 Vgl dazu BVerfGE 43, 154, 166; zur Anwendung des Verwaltungsverfahrensrechts in Bezug auf Anhörung und Begründung Kunig ZBR 1986, 253, 257 ff; Wagner DÖV 1988, 277, 279. 399 BVerfGE 43, 154, 165. 400 Vgl BVerwG NJW 1996, 210 ff o JK BRRG § 48/1; vgl auch BVerwG ZBR 1998, 242 ff; ein Widerrufsanspruch richtet sich nicht gegen den Vorgesetzten persönlich, dazu BVerwG JZ 1987, 422. Vgl auch Fernau Der Rechtsschutz des Beamten gegen mißbilligende Äußerungen seiner Vorgesetzten und Dienstvorgesetzten, 1985.

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IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

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Einem Geschädigten hat er den Namen des Beamten, der eine Dienstpflicht begangen hat, mitzuteilen, dies jedoch erst, wenn die Pflichtverletzung feststeht, nicht bereits auf den bloßen Vortrag des sich als geschädigt erklärenden Bürgers hin.401 Verstöße gegen die Fürsorgepflicht kann der Beamte einklagen, dh die Feststellung, er sei 159 rechtswidrig behandelt worden, vor dem Verwaltungsgericht erstreiten, sofern die besonderen Sachurteilsvoraussetzungen der (Fortsetzungs-)Feststellungsklage vorliegen, insbesondere also ein Rehabilitierungsinteresse besteht oder die Gefahr der Wiederholung droht.402 Ist aus der Verletzung der Fürsorgepflicht ein Schaden entstanden, so kann zu dessen Ausgleich ein Haftungsanspruch bestehen.403 Die Rechtsprechung bejaht einen unmittelbaren Ersatzanspruch aus dem Dienstverhältnis404 (dies auf der Grundlage „allgemeiner Rechtsgedanken“ in Anlehnung an das Arbeitsrecht), für dessen gerichtliche Durchsetzung der Verwaltungsgerichtsweg eröffnet ist. Der Beamte hat insoweit also die Wahlmöglichkeit, der dienstrechtliche Ersatzanspruch kann (anders als der Amtshaftungsanspruch) auch auf Naturalrestitution gerichtet sein. Auf ihn wurde die Regelverjährung des § 195 BGB aF angewandt (und nicht § 852 BGB aF).405 Nunmehr dürfte sich die Anwendung der Regelverjährung gem §§ 195, 199 BGB auch im vorliegenden Bereich anbieten,406 so dass derartige Ansprüche deutlich schneller verjähren. Im Versorgungsrecht sind die Ersatzansprüche bei Dienstunfällen gesondert geregelt (§§ 30 ff BeamtVG); obwohl auch solche auf Fürsorgepflichtverletzungen beruhen können, verdrängt die spezifische Regelung nach Maßgabe des § 46 BeamtVG407 die allgemeinen Anspruchsgrundlagen. cc) Dienstbezüge und deren Rückforderung: Das Besoldungsrecht408 war landesspezifisch 160 zersplittert, ehe durch eine Grundgesetzänderung im Jahre 1971 ein neu aufgenommener Art 74a GG zur Grundlage eines einheitlichen Besoldungsrechts wurde. Nach der Neuordnung der Gesetzgebungszuständigkeiten durch die Föderalismusreform im Jahr 2006 fällt die Regelungsmaterie der Besoldung der Landesbeamten und -richter wiederum in die Zuständigkeit der Länder (Rn 54).409 Angesichts der damit möglichen Fragmentierung des Besoldungsrechts könnte ein  durch den Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens und die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums aber begrenzter  Wettbewerb der Länder „um die besten Köpfe“ entstehen, der durch die Vereinheitlichung des Bundesrechts im Jahr 1971 ursprünglich hatte verhindert werden sollen.410 Dass solche Konkurrenz in einem föderalen System unbedingt unzuträglich sein muss, erscheint keineswegs ausgemacht. Kernsatz des Besoldungsrechts ist der Grundsatz der funktionsgerechten Besoldung (vgl 161 § 18 S 1 BBesG), der zu den hergebrachten Grundsätzen des Beamtentums zu zählen ist. Er ver-

_____ 401 BVerwGE 10, 274, 276. – Zu Auskünften über ein laufendes Disziplinarverfahren an die Medien NdsOVG NJW 1991, 445 f. 402 Dazu Schnellenbach DVBl 1990, 140 ff. 403 BGHZ 43, 178, 183 ff; Koll VR 1993, 411 ff. Zur materiellen Beweislast BVerwG NVwZ 1998, 400 f. 404 BVerwGE 13, 17 ff; BGHZ 43, 178 ff. – Zur Einbettung der Konstruktion in die Haftung aus (weiteren) verwaltungsrechtlichen Schuldverhältnissen s Ossenbühl Staatshaftungsrecht, 5. Aufl 1998, 347 f. 405 S RGZ 158, 235, 241; BGHZ 14, 122, 137. 406 Str; überzeugend Grothe MünchKomm BGB Bd 1a, 4. Aufl 2003, § 195 Rn 12 f. 407 Dazu und zur Bindung der Gerichte, die über Schadensersatzansprüche aus Anlass eines Dienstunfalls zu entscheiden haben, an die diesbezügliche Verwaltungsentscheidung BGH DöD 1994, 65 ff; vgl auch Galke NVwZ 1994, 972 f. 408 Zur Entwicklung des Rechtsgebiets Becker RiA 1990, 168 ff m Nachw des Schrifttums zum Besoldungsrecht. Vgl auch Thiele DöD 1993, 271 ff; Summer ZBR 2003, 28; Wolff ZRP 2003, 305 ff (Anm zu BVerfGE 99, 300) und DÖV 2003, 494 ff; Hebeler RiA 2003, 157 ff; Slowik/Polte ZTR 2004, 2 ff. 409 Zur Verfassungsmäßigkeit der Besoldung im Land Berlin nach der Föderalismusreform Vetter LKV 2011, 193. 410 Vgl Lecheler ZBR 2007, 18 ff; vgl auch Knopp DÖD 2006, 237 ff, der einen „Wettlauf nach unten“ und eine Begünstigung der „reicheren“ zu Lasten der „ärmeren“ Bundesländer befürchtet.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

langt nach funktionaler Zuordnung des Amtsträgers zu einzelnen Dienstposten und deren sachgerechter besoldungsrechtlicher Bewertung.411 Grundlage der Dienstbezüge ist das Grundgehalt, das in Besoldungsordnungen für den einfachen, den mittleren, den gehobenen und den höheren Dienst (Besoldungsordnung A), für hohe Beamte (B) und für Hochschullehrer (C, abgelöst seit dem 1.1.2005 durch W mit verschiedenen Verschlechterungen des Besoldungsstatus412) festgelegt ist (vgl schon Rn 68). In den Ordnungen A und W steigt das Grundgehalt nach sog Dienstaltersstufen an, wobei unterschiedliche Endpunkte bestehen. Erfolgte bis 1997 der Anstieg alle zwei Jahre, so differenziert § 27 BBesG nunmehr und gibt auch dem Leistungsprinzip – 2002 nochmals erweitert – Raum (s Abs 3).413 Die Besoldungsordnung B ordnet der jeweiligen Einstufung ein dienst- und lebensaltersunabhängiges Grundgehalt zu. Zum Grundgehalt tritt der 1997 zum Familienzuschlag umgestaltete Ortszuschlag, dessen Höhe vom Dienst- oder Wohnort mittlerweile unabhängig ist, sich nach Gehaltsstufe und Familienstand richtet.414 162 Nach dem überkommenen Alimentationsprinzip415 ist die Gewährung der Dienstbezüge nicht als Entgelt für geleistete Arbeit zu verstehen, sondern als Sicherung des amtsangemessenen Unterhalts416 für den Beamten und seine Familie; es geht also nicht um die „Bezahlung“ des Faktors „Arbeit“. Das erscheint vielen als lebensfremd und antiquiert, erklärt aber zB zwanglos, dass Überstunden im Grundsatz nicht gesondert vergütet zu werden brauchen,417 dass der Beamte auf die Zahlung der Dienstbezüge nicht verzichten kann (vgl § 2 III BBesG; freilich wird er auch kaum Anlässe sehen), dass nur einmal besoldet wird, wer mehrere Ämter innehat, dass schließlich die Dienstbezüge des Beamten gesetzlich festgelegt, nicht ausgehandelt werden (wobei in der Praxis die Festsetzung durch Gesetz in Orientierung an Verhandlungsergebnissen erfolgt, die die öffentlichen Arbeitgeber und die zuständigen Gewerkschaften zuvor erzielt haben). Es mag richtig sein, dass diese und andere Besonderheiten sich auch begründen ließen, wenn man ein „öffentlich-rechtliches Leistungsentgelt“ an Stelle der Alimentation annähme,418 doch hätte selbst die nur dogmatische Aufgabe des Alimentationsprinzips durchaus signalhafte Bedeutung. Die ihm zugrunde liegende Grundanschauung steht in engem Zusammenhang mit

_____ 411 Dazu Siepmann ZBR 1977, 362 ff; zu Klagen „gegen“ die Dienstpostenbewertung BVerwG ZBR 1974, 14 ff u „auf“ Dienstpostenbewertung BVerwG NVwZ 1991, 375 f u HessVGH ZBR 1994, 347 ff. Im Blick auf sog Bandbreitenbesoldung zur Differenzierung hinsichtlich Leistungsorientierung, Entwicklungsplanung, Steuerung, Lorse ZBR 2001, 73, 76 ff. 412 Zur Verfassungswidrigkeit der W-Besoldung in Hessen BVerfGE 130, 263 = JZ 2012, 457 (m Anm Classen) = NVwZ 2012, 357 (m Bespr Schwabe NVwZ 2012, 610) o JK GG Art 33 V/18; dazu ferner Quapp DVBl 2012, 428 ff. 413 S näher Pilz DVP 1998, 195 ff; Schnellenbach ZBR 1998, 223, 226 f; Bönders ZBR 1999, 11 ff. Mit dem Dienstrechtsneuordnungsgesetz erfolgt eine Umstellung vom Besoldungsdienstalterprinzip auf das Prinzip der dienstlichen Erfahrungszeit beim Aufstieg in den Gehaltsstufen, vgl § 27 III BBesG (Rn 29). 414 Zum früheren „Ortsklassenverzeichnis“ Pappermann ZBR 1969, 70 ff. Zur Notwendigkeit einer „Ballungsraumzulage“ für Beamte BVerfG, NVwZ 2007, 568 o JK GG Art 33 V/16. Zur Gleichbehandlung eingetragener Lebenspartner mit Ehegatten im Besoldungs- und Versorgungsrecht BVerwG NJW 2011, 1466; vgl auch BVerfGE 124, 199; EuGH Urt v 1.4. 2008 – C-267/06 (Tadao Maruko/Versorgungsanstalt der deutschen Bühnen), Slg 2008, I-01757; NVwZ 2008, 537; Classen, FPR 2010, 200 ff; anders noch BVerwGE 125, 79; vgl auch BVerfGE, NJW 2008, 209. Eine nichteheliche Lebensgemeinschaft wird nicht als „Familienstand“ angesehen, s BVerwGE 94, 253 ff; vgl dazu Hufen JuS 1994, 1070 f; s in diesem Zusammenhang auch den Auslandsverwendungszuschlag, § 56 BBesG, eingefügt durch das AuslandsverwendungsG v 26.7.1993, BGBl I 1394. 415 Zu seiner verfassungsrechtlichen Fundierung BVerfGE 8, 1, 16 ff; E 61, 43, 56 f; E 99, 300, 314 f; s ferner Mehlhorn VR 2010, 406 ff; Merten ZBR 1996, 353 ff; Summer PersV 1998, 142 ff; Leisner ZBR 1998, 259 ff. 416 Dazu BVerfG NJW 1993, 1057, 1058; BVerwG DÖV 1997, 873 f; Thiele DVBl 1981, 253 ff; Summer/Rometsch ZBR 1981, 1 ff; zu den Schlussfolgerungen im Blick auf die Schlüssigkeit der Einbeziehung von Beamten in eine „Arbeitsmarktabgabe“ Jachmann ZBR 1993, 193 ff. Zur Zulässigkeit der Pflegeversicherungspflicht der Beamten BVerfG DVBl 2002, 114 ff. 417 S aber §§ 48 ff BBesG. 418 v Münch 8. Aufl dieses Buches, 55 f. S zum „Vergütungscharakter“ der Alimentation schon Wiese Der Staatsdienst in der Bundesrepublik Deutschland, 1972, 282. Mit grundsätzlicher Kritik an neueren Entwicklungen Leisner DÖV 2002, 763 ff.

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weiteren das Beamtenrecht prägenden Strukturelementen, die Teile des von Art 33 V GG anvisierten Modells sind. Der Gesetzgeber verfügt bei der Bemessung der Besoldungshöhe über Gestaltungsfreiheit, die über den Grundsatz der funktionsgerechten Besoldung hinaus verfassungsrechtlich begrenzt ist.419 Zum einen verlangt bereits der Alimentationsgrundsatz selbst eine Besoldungsgerechtigkeit auch in dem Sinne, dass der Besoldungsgesetzgeber die allgemeinen Lebensverhältnisse, die Entwicklung des Preisniveaus, der Kosten für diejenigen Bedürfnisse, die nach den sich wandelnden gesellschaftlichen Anschauungen bei „gewöhnlicher“ Lebensführung anfallen, in Rechnung stellen muss.420 Das muss nicht zu einer stetigen Besoldungsanhebung führen, wenngleich dies in der Nachkriegsentwicklung – von Stagnationsphasen abgesehen – der Fall war. Selbst eine Absenkung des Besoldungsniveaus ist, legt man den Maßstab der allgemeinen Einkommensentwicklung zugrunde, nicht von vornherein ausgeschlossen. Eine Untergrenze setzt – theoretisch – das Sozialstaatsprinzip, eine Leitlinie der Gleichheitssatz.421 Ergiebiger ist die Maßstäblichkeit des grundrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie (Art 6 GG) für die Festlegung der Besoldungshöhe: Kinderreichtum darf nicht zu unangemessener Schlechterstellung des Beamten im Vergleich zum kinderlosen Beamten führen, kinderlose Beamte dürfen andererseits nicht diskriminiert werden. Das BVerfG hat hierzu in mehreren Entscheidungen detaillierte Maßstäbe für das verfassungsrechtlich geforderte Verfahren der Auffindung angemessener Besoldungsgrößen entwickelt.422 Werden Bezüge ohne Rechtsgrund geleistet, so kommen beamtenrechtliche Sondernormen zur Anwendung.423 Werden Bezüge zum Nachteil des Beamten nachträglich geändert oder erfolgt eine rückwirkende Einordnung in eine besondere Besoldungsgruppe, so müssen Überzahlungen nicht zurückerstattet werden, im Übrigen aber – unrichtige Gesetzesanwendung, falsche Ermessensausübung oder Rechenfehler – verweisen die Beamtengesetze auf die Vorschriften des bürgerlichen Rechts über ungerechtfertigte Bereicherung.424 Nach gefestigter Rechtsprechung des BVerwG ist es zulässig, wenn der Dienstherr ohne Rechtsgrund geleistete Dienstbezüge durch Verwaltungsakt (Leistungsbescheid) einfordert,425 also ebenso wie bei der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegenüber dem Beamten (Rn 150). Auch hierfür fehlt es an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage; wie dort ist der Dienstherr nicht zu einer einseitigen Inanspruchnahme des Beamten berechtigt. Anlass zur Rückforderung von Leistungen besteht vielfach auch, wenn dem Beamten eine – oft kostenaufwändige – besondere Ausbildung ermöglicht worden ist, dies in der Erwartung, er werde jedenfalls für einen längeren Zeitraum im öffentlichen Dienst verbleiben. Verlässt ein solcher Beamter den Dienst, etwa gerade auch weil er die erworbene berufliche Qualifizierung anderwärts gegen ein höheres Gehalt nutzen möchte, so stellt sich die Frage nach der Rückfor-

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419 BVerfGE 61, 43, 63 o JK GG Art 33 V/5. 420 Eingehend Günther Die Anpassung der Beamtenbesoldung an die allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse, 1987; vgl auch R. Müller Der Bestandsschutz des Unterhaltsrechts der Beamten im Grundgesetz, 1997. Nach BVerfGE 107, 218 ist eine unterschiedliche Besoldung in Ost und West verfassungsgemäß, aber nicht beliebig verlängerbar. 421 Dazu insoweit BVerfGE 71, 39, 50 ff; BVerfG NVwZ-RR 1996, 674 ff. Zum Verhältnis Arbeitszeitverkürzung und Alimentation Leisner/Egensperger ZBR 2004, 333 ff. 422 BVerfGE 44, 249, 267 f; BVerfGE 81, 363, 375 ff o JK GG Art 33 V/12 und dazu Lecheler JZ 1990, 1128 f; BVerwG NVwZ 1998, 76 ff. 423 § 12 BBesG; aus der Rspr s BVerwGE 32, 228 ff sowie BVerwG DÖV 1990, 392 u DÖV 1994, 607 f, DVBl 1998, 647 f, NVwZ-RR 2001, 452 ff. Vgl auch OVG NW NVwZ 1983, 108 ff und 371 ff; HessVGH NWVBl 1994, 55 f; vgl auch Franz RiA 2010, 248 ff. 424 Vgl dazu BVerwGE 71, 85, 88 o JK Allg VerwR – öffentl-rechtl Erstattungsanspruch/2; BVerwG DVBl 1990, 870 u 1994, 1075 f. 425 BVerwGE 28, 1 ff; E 37, 314, 317 ff; E 40, 237, 239; E 71, 354, 357 f; vgl auch Renck JuS 1965, 129 ff; Bethge/ Detterbeck JuS 1991, 226 ff.

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derbarkeit der Ausbildungskosten. In Betracht kommt die Rückforderung nur, wenn ein Rechtsgrund zuvor verwaltungsvertraglich geschaffen worden ist oder ein Leistungsbescheid über die Gewähr von Förderungsmitteln (etwa: Freistellung vom Dienst unter Fortzahlung der Bezüge zu Zwecken einer Ausbildung) mit einer entsprechenden Nebenbestimmung verbunden wurde. Die Rückforderung darf nur vorgesehen werden, soweit es sich um Zuwendungen außerhalb einer gesetzlichen Verpflichtung des Dienstherrn handelt, denen eine adäquate Gegenleistung des Beamten nicht gegenübersteht.426 Eine Erstreckung auf die allgemeinen Ausbildungskosten (etwa bei dem Abbruch eines gesetzlich vorgeschriebenen Vorbereitungsdienstes) ist nicht möglich, entsprechende vertragliche Abreden wären nichtig, entsprechende Verwaltungsakte rechtswidrig.427 167 dd) Personalakten: Das Personalaktenrecht war lange Zeit nur rudimentär geregelt.428 Das BBG sah im Wesentlichen nur das Recht der Beamten auf Einsicht in „ihre“ Personalakte vor und regelte den Zugang. Das Nähere über die Führung von Personalakten ergab sich vor allem aus Verwaltungsvorschriften. Angesichts dieser Rechtslage hatten Rechtsprechung und Literatur eine Reihe von Grundsätzen und Abgrenzungskriterien entwickelt.429 Deutlich war, dass Personalakten „vollständig“ sein sollen; es geht nicht um „eine Akte“ im gegenständlichen Sinne (ein „Aktenstück“), sondern um das Ensemble aller registrierten und aufbewahrten Vorgänge, welche den Beamten „betreffen“ (materieller Personalaktenbegriff),430 wobei ein unmittelbarer Bezug zum Dienstverhältnis des einzelnen Beamten vorausgesetzt ist, wie insbesondere bei dienstlichen Beurteilungen.431 Das Einsichtsrecht erstreckt sich auf die gesamte Personalakte und ist als Verfahrensrecht auch im Zusammenhang mit der Fürsorgepflicht zu sehen. Es bedarf der Harmonisierung mit den Bedürfnissen der Funktionsfähigkeit des Dienstes, etwa im Blick auf die äußeren Modalitäten der Einsichtnahme, also Ort, Zeit und weitere Umstände, aber auch mit den Rechten und Interessen anderer. Schwierigkeiten bereiten etwa Konstellationen, in denen einzelne Aktenvorgänge gleichzeitig Bestandteil der Personalakten mehrerer betroffener Beamte sind, wie es sich im Zuge der Vorbereitung von Bewerbungs- oder Beförderungsentscheidungen mit abwägenden Gegenüberstellungen einzelner Personen ergeben kann. 432 Dann gerät der Grundsatz der Geheimhaltung persönlicher Daten in ein Spannungsverhältnis mit dem Akteneinsichtsrecht, was die Rechtsprechung durch einzelfallbezogene Abwägungen zu lösen trachtete.433 Wenn das Personalaktenrecht Persönlichkeitsrechten insbesondere des betroffenen Beam168 ten einerseits, dem Effizienzanliegen der Verwaltung andererseits Rechnung tragen muss, so verlangt dies nach Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Angesichts der bisher geringen Regelungsdichte auf formell-gesetzlicher Ebene und in der Einschätzung, die kasuistische Prägung dieses Rechtsbereichs trage den vorgenannten Grundsätzen nicht hinreichend Rechnung,

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426 Vgl BVerwGE 52, 183, 187 ff; Krebs VerwArch 70 (1979), 81 ff; zur Zulässigkeit von Gegenleistungen für die Zusicherung der Übernahme in das Beamtenverhältnis vgl BVerfG NVwZ 2008, 1111 ff. 427 Zur Zulässigkeit der Vereinbarung einer Vertragsstrafe vgl BVerwG DÖV 1987, 72 f; vgl auch Rn 47 mit Fn 126. 428 Historisch und perspektivisch v Mutius/Behrendt ZBR 1997, 65 ff. 429 Dazu Düx Einsichts- und Korrekturrecht des Beamten in bezug auf seine Personalakten, 1976; Rapsch ZBR 1989, 235 ff. 430 BVerwGE 36, 134, 137 f; E 59, 355 f. 431 S BVerwG DÖV 1977, 132 f; zur „Statusamtsbezogenheit“ dienstlicher Beurteilungen OVG RP DÖV 1997, 881 f; allg Schnellenbach Die dienstliche Beurteilung der Beamten und Richter, 2. Aufl 1995; Schaefer ZBR 1983, 173 ff; Rothländer PersR 1994, 399 ff; v Golitschek ThürVBl 1994, 249 ff; Spors SächsVBl 1994, 257 ff; Berger-Delhey/Lütke ZTR 1995, 500 ff; zur Frage der Aufnahme von die Beurteilung vorbereitenden Stellungnahmen BVerwGE 62, 135, 137 f und krit dazu Wiese DVBl 1982, 193 ff. 432 Vgl BVerwGE 49, 89, 92; vgl auch Schnupp DöD 1994, 288 f zum HessVGH (Fn 253). 433 Vgl etwa BVerwGE 35, 227, 229 f; zum Recht auf Akteneinsicht Schwab DöD 1997, 145 ff; zum Schutz personenbezogener Daten Hildner BWV 2004, 25.

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schließlich auch inspiriert durch die Vorgaben des BVerfG zum Grundsatz informationeller Selbstbestimmung434 erfuhr das Personalaktenrecht mit Wirkung zum 1.1.1993 eine umfassende Neuregelung (§§ 106 bis 115 BBG (nF)435). Diese war bemüht, die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze kodifikatorisch aufzugreifen, geriet dabei aber zu einer unübersichtlichen, besonders wortreichen Normierung.436 Die Pflicht zur Führung von Personalakten ist gesetzlich klargestellt (§ 106 I BBG, § 50 169 BeamtStG). Über jeden Beamten ist nur eine Personalakte zu führen, doch ist die Führung von Teil- und Nebenakten und die Speicherung von Informationen in Dateien nicht ausgeschlossen. Im Ermessen der aktenführenden Stelle steht, in welcher Weise der Akteninhalt aufgeteilt wird, wobei aber das Vollständigkeitsprinzip nicht berührt werden darf. Personalakten sind vertraulich zu behandeln und vor unbefugter Einsicht zu schützen. Sie unterliegen dem näher ausgestalteten Einsichtsrecht des Betroffenen (§ 110 BBG437). Inhaltsbestimmend für den (materiellen; Rn 167) Personalaktenbegriff ist der „unmittelbare innere Zusammenhang“ mit dem Dienstverhältnis. Nicht Bestandteil der Personalakte sind etwa Unterlagen, die besonderen, von der Person des Beamten und seinem Dienstverhältnis sachlich zu trennenden Zwecken zu dienen bestimmt sind, wofür die Gesetze beispielhaft (und also nicht abschließend) Prüfungs-, Sicherheits- und Kindergeldakten nennen. Solche Unterlagen werden als „Sachakten“ bezeichnet. Der Beamte hat auch ein Anhörungsrecht (§ 109 BBG),438 wenn die Aufnahme von Vorgängen beabsichtigt ist, die ihm ungünstig sind oder ihm nachteilig werden können, wie etwa Beschwerden von Bürgern.439 Das gilt auch für bloße Werturteile. Auch die Äußerung des Beamten ist zu dessen Personalakte zu nehmen. Die Vorlage von Personalakten an andere Stellen ist nach Maßgabe von § 90 I BBG ohne die Einwilligung des Beamten zulässig. Auskünfte an Dritte dürfen grundsätzlich nur mit Einwilligung des Beamten erteilt werden (§ 111 II BBG; dort aber Ausnahmen bei „zwingenden“ Erfordernissen aus Gemeinwohlgründen oder zum Schutz von Drittinteressen). Die Vorlage an Gerichte, Rechnungshöfe, Untersuchungsausschüsse, Petitionsausschüsse ist jeweils spezialgesetzlich geregelt, also außerhalb der Beamtengesetzgebung. Die Entfernung von Unterlagen, soweit sie nicht von disziplinarrechtlichen Tilgungsvor- 170 schriften erfasst ist,440 ist ebenfalls im Einzelnen geregelt (§ 112 BBG).441 Hier ist der Grundsatz der Personalaktenwahrheit442 zu beachten, der es verlangt, Unterlagen zu entfernen, die falsche Tatsachen oder unbegründete Vorhaltungen betreffen. Im Hinblick auf die Interessen des Beamten bedarf es für die Entfernung aber seiner Zustimmung. Der Entfernungspflicht können aber auch dem Beamten aus anderen Gründen ungünstige oder ihm potentiell nachteilige Unterlagen unterfallen, dies auf Antrag des Beamten nach Ablauf von drei Jahren; das gilt allerdings nicht für dienstliche Beurteilungen.443 Gesondert ist die Entfernung von Mitteilungen in Strafsachen und von Auskünften aus dem Bundeszentralregister geregelt.

_____ 434 Vgl oben Fn 396. 435 Diese Regelungen finden im Beamtenstatusgesetz, von § 50 BeamtStG abgesehen, keine bundesgesetzliche Entsprechung mehr. 436 Dazu Eckl BayVBl 1993, 614 ff; Semerak ThürVBl 1993, 279 ff; Gola NVwZ 1993, 552 ff. 437 Ohne entsprechende Bestimmung im BeamtStG. 438 Vgl aus der früheren Rspr VG Koblenz ZBR 1977, 77 f. 439 Vgl in diesem Zusammenhang VGH BW BWVPr 1986, 1041. 440 Vgl dazu VGH BW VBlBW 1994, 283 ff, im Blick auf § 119 V BDO aF; s nunmehr § 16 V BDG. 441 Eingehend dazu Mehde RiA 1998, 65 ff. 442 Vgl demgegenüber früher BVerwGE 50, 301, 308: wegen des Vollständigkeitsinteresses nur Anspruch auf Richtigstellung, nicht Entfernung. 443 Eingehend Mauch, Die dienstliche Beurteilung, 2004; zum Rechtsschutz gegen Beurteilungen Wurm ZfPR 2002, 340; zum Rechtsschutz gegen überholte Beurteilungen OVG NW NWVBl 2004, 353.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

e) Die Bedeutung einzelner Grundrechte für die Rechtsstellung des Beamten 171 Die Grundrechte gelten – wie dargelegt (Rn 49) – auch „im“ Beamtenverhältnis. Als Abwehrrechte stärken sie den Status des Beamten, bewahren ihn vor Eingriffen. In wertsetzender und schützender Funktion reichern sie seine Rechte an, verlangen nach Berücksichtigung bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und können ergiebig für die Ermessensausübung im Einzelfall sein, wenn der Dienstherr dem Beamten gegenüber handelt oder ein Handeln erwägt. So lässt sich auch die Pflicht des Dienstherrn zur Grundrechtsbeachtung dem Kreis der Beamtenrechte zuordnen. Angesichts der Durchnormierung des Beamtenverhältnisses in Bezug auf den innerdienst172 lichen Betrieb lässt sich allgemein sagen, dass das Beamtenrecht jedenfalls insoweit den Vorgaben des Vorbehalts des Gesetzes entspricht. Auch das Verhalten des Beamten außerhalb des Dienstes ist jedoch, wie gesehen, teilweise Gegenstand gesetzlicher Regelungen. Auch diese unterfallen nicht generell dem Verdikt der Grundrechtswidrigkeit, auch wenn ihre stärkere Bestimmtheit aus Grundrechtsgründen wünschenswert wäre. Dass es an solcher Bestimmtheit bei einigen generalklauselartig formulierten Beamtenpflichten fehlt, trägt dazu bei, dass Grundrechtsprobleme im Beamtenrecht hauptsächlich die außerdienstliche Sphäre betreffen, auch wenn ihnen nach dem zuvor Gesagten die Anwendbarkeit in der innerdienstlichen Sphäre nicht fehlt.444 173 Betrachtet man einzelne Grundrechte auf ihre Relevanz als Schutznormen des Beamten gegenüber dem Dienstherrn, so stehen die sog Kommunikationsgrundrechte, also die Grundrechte des Art 5 GG und die Versammlungsfreiheit (Art 8 GG), die Grundrechte aus Art 9 GG, auch die Glaubensgrundrechte des Art 4 GG und der Schutz von Ehe und Familie (Art 6 GG) im Vordergrund; hinzu tritt das namentlich von der Rechtsprechung des BVerfG mit Konturen versehene allgemeine Persönlichkeitsrecht.445 Die Berufsfreiheit aus Art 12 I GG schützt den Beamten nicht als Amtswalter, hat aber für Regelungen über die Berufswahl auch in Bezug auf die Betätigung im öffentlichen Dienst,446 auch zB für Fragen des Nebentätigkeitsrechts Bedeutung. Art 2 II 1 GG (Leben und Gesundheit)447 wie auch Art 14 I GG (Eigentum) sind in ihrer Wirkung vor allem als Schutzgebote zur grundrechtlichen Anreicherung der Fürsorgepflicht geeignet. Die Meinungsfreiheit des Beamten – innerhalb wie außerhalb des Dienstes, wenngleich 174 in unterschiedlichem Ausmaß – ist durch die Beamtengesetze wirksam beschränkt, weil diese als „allgemeine Gesetze“ iSv Art 5 II GG qualifiziert werden können.448 Demzufolge sind sie – nach der sog Wechselwirkungslehre des BVerfG449 – „im Licht“ des Art 5 I 1 GG, also in Beachtung seines Ausstrahlungsgehalts auszulegen, soweit sie den Beamten – zB – in der freien Meinungsäußerung beschränken. Das begrenzt das Ausmaß, in dem ihm Amtsverschwiegenheit abverlangt werden kann, und fordert auch eine zurückhaltende Auslegung der Mäßigungspflicht.450 Innerhalb des Dienstes, aber auch außerhalb und unter demonstrativer Nutzung des Status als Beamten (Inanspruchnahme eines, im Übrigen differenziert nach Rang und Beschäftigungsgebiet zu beurteilenden „Amtsbonus“) erfolgende politische Betätigung stößt

_____ 444 Beispielhaft dafür (betr das Fernmeldegeheimnis), in drei Instanzen unterschiedlich, VG Bremen NJW 1978, 66 f; OVG Bremen NJW 1980, 606; BVerwG NJW 1982, 849; zu diesem Fall auch – kontrovers – v Münch NJW 1978, 67 f und Meyn NJW 1978, 657 f. 445 Weiterführend Leuze ZBR 1998, 187 ff. 446 Vgl zB BVerfGE 73, 301, 315 ff. 447 Dazu F. Hoffmann ZBR 1998, 196 ff. 448 Dazu v Münch ZBR 1959, 305 ff; Lisken NJW 1980, 1503 f; Patunas Die politische Meinungsfreiheit der Lehrer, 1988. – Zum Tragen politischer Plaketten im Unterricht BVerwGE 84, 292; dazu Lecheler JuS 1992, 473 ff; zum Verbreiten von Flugblättern vor der Schule VG Berlin NJW 1982, 1113 ff. 449 S BVerfGE 7, 198, 209 ff. 450 Dazu Schmitt-Vockenhausen JuS 1985, 524 ff.

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IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

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auf Grenzen:451 Das Vertrauen in die parteipolitische Neutralität des öffentlichen Dienstes insgesamt, aber auch die „innere“ Funktionsfähigkeit wären beeinträchtigt, wenn politische Debatten sachbezogen-unbefangenen Umgang der Bediensteten miteinander beeinträchtigen könnten.452 Hier zeigt sich, wie die Funktionsinteressen unmittelbar die Auslegung der beamtenrechtlichen Pflichtnormen im Einzelfall beeinflussen können, wenn sie zu Grundrechtsbeschränkungen herangezogen werden. Prinzipiell Gleiches, wenn auch grundrechtsdogmatisch in anderen Kategorien, vollzieht sich bei den Glaubensfreiheiten (Art 4 I, II GG).453 Zulässig ist die Glaubenswerbung eines Beamten außerhalb der Dienstzeit (und ohne Uniform).454 Die Wissenschaftsfreiheit des Art 5 III 1 GG entfaltet sich vor allem für den beamteten Hochschullehrer;455 als Lehrfreiheit entbindet sie kraft ausdrücklicher Festlegung in Art 5 III 2 GG nicht von der Treue zur Verfassung.456 Wirbt der Beamte im Dienst für den Glauben oder indoktriniert er – als Lehrer – seine Schüler,457 so kann dies unterbunden werden. Unterschiedlich beurteilt wird die Frage, ob das Tragen eines Kopftuches aufgrund religiöser Überzeugungen einer beamteten Lehrerin wegen des Neutralitätsgebots untersagt bzw ihr angesichts diesbezüglicher Weigerung die Eignung iSv Art 33 II GG abgesprochen werden kann.458 Das BVerfG459 hat für ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage gefordert und insofern Reformbedarf in den Ländern ausgelöst, was in einer Reihe von Bundesländern zu entsprechenden Änderungen der Schul- bzw. Beamtengesetze geführt hat.460 Die Versammlungsfreiheit des Art 8 I GG wäre tangiert und regelmäßig verletzt, wenn dem Beamten die Veranstaltung von und die Teilnahme an Versammlungen verboten bzw solches Tun sanktioniert werden würde, sofern die Versammlung außerhalb der Dienstzeit erfolgt. Das gilt auch für Demonstrationen in Kritik des Dienstherrn.461 Das Mäßigungsgebot ist dabei einschränkend auszulegen, weil Art 8 I GG den hohen Rang der Meinungsfreiheit teilt.

_____ 451 Dazu BVerwG NVwZ 1990, 762 ff (Mäßigungspflicht eines Flottillenadmirals); vgl auch BVerwG NVwZ 1993, 1108 ff; zur Meinungsfreiheit von Soldaten Schmidt-De Caluwe NZWehrR 1992, 235 ff; ferner BVerfG DVBl 1994, 103 f; BayVerfGH NJW 1992, 226 f; zur Rechtsprechung weitere Hinw bei Lecheler JZ 1987, 448 ff. 452 Das hindert (auch) den Vorgesetzten nicht, bei einer politischen Diskussion Partei zu ergreifen, vgl BVerwGE 28, 249. 453 Eingehend Podlech Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, 1969; vgl auch VG Sigmaringen NVwZ 1991, 199 f; Cremer/Kelm NJW 1997, 832. 454 Vgl BVerwGE 30, 29, 31 ff. 455 Dazu BVerwGE 52, 313, 331; Lecheler PersV 1990, 299 ff. 456 Vgl VG Berlin NVwZ 1989, 796 ff o JK GG Art 5 III/11. 457 Alberts NVwZ 1985, 92 ff mwN; Stock JuS 1989, 654 ff. 458 Zur verfassungsgerichtlichen „Kopftuch“-Entscheidung schon o Fn 132; bejahend BVerwG NJW 2004, 3581; NJW 2002, 3344 ff; vgl auch EGMR Entsch v 15.02.2001 – 42393/98 (Dahlab/Schweiz), NJW 2001, 2871 ff o JK EMRK Art 9/1 u dazu Goerlich NJW 2001, 2862 ff; für Referendare einschränkend BVerwG NJW 2008, 3654, bejahend hingegen OVG Bremen NordÖR 2007, 214. 459 E 108, 282; dazu Kinzinger-Büchel Kopftuchstreit in der deutschen Rechtsprechung und Gesetzgebung, 2009; Wiese Lehrerinnen mit Kopftuch, 2008; Hofmann, NVwZ 2009, 74; Czermak NVwZ 2004, 943 ff; Adenau NWVBl 2004, 284 ff; Bader NJW 2004, 3092 ff. Zur Bedeutung der „Kopftuch-Entscheidung“ für das Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst Adam ZTR 2004, 450 ff. 460 Für Baden-Württemberg durch G v 1.4.2004, GBl 178; für Bayern durch G v 23.11.2004, GVBl 443; für Berlin durch G v 27.1.2005, GVBl 92; für Bremen durch G v 28.6.2005, GBl 245; für Hessen durch G v 18.10.2004, GVBl I 306; für Niedersachsen durch G v 29.4.2004, GVBl 140; für Nordrhein-Westfalen durch G v 13.6.2006, GVBl 270; für das Saarland durch G v 23.6.2004, Amtsbl 1510; sa Sicko Das Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Umsetzung durch den Landesgesetzgeber, 2008. Zu einzelnen Modellen Mahlmann ZRP 2004, 123 ff und (speziell zu Berlin) NJ 2004, 394 ff; vgl auch Battis/Bultmann JZ 2004, 581 ff; Hufen NVwZ 2004, 575 ff; allgemeiner Werres ZBR 2006, 288. Zur Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Landesgesetze vgl BayVerfGH EuGRZ 2007, 107 ff; HessStGH NVwZ 2008, 199 ff; OVG Bremen NordÖR 2007, 214 ff; VG Stuttgart, NVwZ 2006 1444 ff. Zum Kopftuchverbot für Lehrer nach SchulG BW VGH BW VBlBW 2008, 437; BVerwG NJW 2009, 1289. 461 Hierzu eingehend Bethge ZBR 1988, 205 ff.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

Andererseits verschafft Art 8 I GG dem Beamten nicht den Anspruch auf Dienstbefreiung zur Teilnahme an Versammlungen.462 Die Vereinigungsfreiheit, insbesondere die Koalitionsfreiheit (Art 9 I, III GG) steht auch 175 Beamten zu.463 In negativer Grundrechtsfunktion schützt sie ihn vor dem Ansinnen des Dienstherrn zum Beitritt zu Organisationen. Gewerkschaften und andere Interessenvereinigungen können sich auch innerhalb der Dienststelle und während der Dienstzeit betätigen, dies mit der Maßgabe, dass dienstliche Aufgaben nicht beeinträchtigt werden – was zu Güterabwägungen hinsichtlich Art und Ausmaß koalitionsgemäßer Betätigung nötigen kann. Stehen etwa Personalratswahlen an, erhält das Interesse der Koalitionen besonderes Gewicht.464 Dass dem Beamten die Koalitionsfreiheit zusteht, gibt ihm nach hergebrachtem beamten176 rechtlichen Grundsatz nicht das Recht zum Streik.465 Zwar ist die Bereitschaft zum Arbeitskampf eine koalitionsgemäße Betätigung und dessen Durchführung ein grundrechtlich geschütztes Recht auch des Einzelnen im Rahmen des koalitionsgetragenen Arbeitskampfes. Doch setzt die Koalitionsfreiheit nach dem Grundgesetz nicht voraus, dass jeder, der einer Koalition angehört, seinerseits rechtlich zur Beteiligung am Arbeitskampf im Stande sein muss.466 Das Streikverbot ist der Treuepflicht (wie aber auch der Dienstpflicht, die auch sog Bummelstreiks entgegensteht)467 immanent, also auch ohne dass ein Streikverbot gesetzlich oder für den Einzelfall ausgesprochen werden müsste. Die Fürsorgepflicht hält aber den Dienstherrn an, auf diejenigen Anliegen besonders zu achten, die private Arbeitnehmer mit Streikmaßnahmen geltend machen können, also insbesondere angemessene Arbeitsbedingungen und gerechte Besoldung.468 Auch das Sozialstaatsprinzip (Art 20 I GG) mag für die Unzulässigkeit des Beamtenstreiks sprechen, wenn und soweit der öffentliche Dienst eine Grundversorgung sicherstellt, deren Unterbleiben insbesondere sozial schwache Bevölkerungsgruppen träfe469 bzw solche sozialen Leistungen und Dargebote, auf die alle Bürger gleichermaßen angewiesen sind. Neu entflammt ist die Diskussion um die Aufrechterhaltung des Streikverbots im Zuge jün177 gerer Entscheidungen des EGMR, die eine Neuinterpretation der konventionsrechtlichen Vereinigungsfreiheit dahingehend zur Folge haben, dass Art 11 EMRK für Beamte ein Recht auf Kollektivverhandlungen gewährleiste und ein ausnahmsloses Streikrecht verbiete. 470 Wenngleich die Entscheidungen nur inter partes wirken und die Bundesrepublik Deutschland nicht binden (vgl Art 46 EMRK), sind sie aufgrund des Gebots der völkerrechtsfreundlichen Auslegung dennoch „zu berücksichtigen“.471 Die Frage, ob die Rechtsprechung zu Art 11 EMRK auch zu einer Aufweichung des Streikverbots für deutsche Beamte führe,472 wird zum Teil bejaht,473 teil-

_____

462 BVerwGE 42, 79, 85 f; s ferner Kunig in: v Münch/Kunig, GG I, Art 8 Rn 28. 463 Vgl 116 BBG, § 52 BeamtStG; vgl auch BVerwGE 59, 48, 54 f; Adomeit ZRP 1987, 75, 78 spricht sich für eine Nichtgeltung des Art 9 III GG im öffentlichen Dienst generell aus. 464 Dazu Söllner JZ 1966, 404 ff. 465 Dazu BVerfGE 8, 1, 17; E 44, 249, 264; BVerwGE 53, 330 f; E 63, 293, 300; HessVGH NVwZ 1990, 386. Aus dem Schrifttum s Isensee Beamtenstreik, 1971; Adomeit ZRP 1987, 75, 78; für die Zulässigkeit des Beamtenstreiks zB Blanke ArbuR 1989, 1 ff mwN; für Beamte der Postunternehmen Schulz ZTR 1995, 438 ff. 466 BVerfGE 18, 18, 27 ff. 467 Dazu BVerwG NJW 1978, 178 f; vgl auch Isensee JZ 1971, 73 ff. 468 Vgl auch die gleichfalls auf einen Ausgleich für das fehlende Streikrecht zielenden Beteiligungsrechte der Gewerkschaften im Vorfeld der Gesetzgebung, § 118 BBG, § 53 BeamtStG; vgl hierzu Benda/Umbach Der beamtenrechtliche Beteiligungsanspruch, 1995; Battis/Schlenga ZTR 1995, 195 ff; Jekewitz Staat 34 (1995), 79 ff; zu den Rechtsfolgen unterbliebener Beteiligung BVerwGE 59, 48, 52 ff. 469 Dazu v Münch 8. Aufl dieses Buches, 69. 470 EGMR Entsch v 21.4.2009 – 68959/01 – (Enerji Yapı-Yol Sen/Türkei), NVwZ 2010, 1018 und Entsch v 12.11.2008 – 34503/97 – (Demir u Baykara/Türkei); s hierzu Lörcher, AuR 2009, 229 ff. 471 BVerfGE 111, 307 – Görgülü; Cremer EuGRZ 2004, 683 ff; Grupp/Stelkens DVBl 2005, 133 ff. 472 Zu sämtlichen Möglichkeiten, das Spannungsverhältnis zw nationalem Streikverbot und Art. 11 EMRK aufzulösen, Schubert AöR 137 (2012), 92 f; Battis ZBR 2011, 397. 473 VG Kassel ZBR 2011, 386 ff; Gooren ZBR 2011, 400 ff; Lörcher (Fn 470); Polakiewicz/Kessler NVwZ 2012, 841 ff.

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IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

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weise mit der Begründung verneint, die EMRK stünde als völkerrechtlicher Vertrag gem Art 59 II GG nur auf der Stufe einfachen Bundesrechts, die völkerrechtsfreundliche Auslegung finde ihre Grenzen in dem entgegenstehendem hergebrachten Grundsatz aus Art 33 V GG.474 Im Übrigen ist zu bezweifeln, inwieweit die das türkische Beschäftigungssystem betreffenden Entscheidungen in das deutsche Recht übernommen werden können.475 Der Grundrechtsschutz von Ehe und Familie (Art 6 GG) kommt schließlich als den Gesetz- 178 geber anleitende Wertentscheidung insbesondere bei der Besoldungsbemessung zum Tragen (Rn 161), kann aber auch im Rahmen der Fürsorgepflicht Bedeutung für Einzelfallentscheidungen erlangen.476

4. Rechtsbehelfe im Beamtenverhältnis Der von dem Beamten gegenüber dem Dienstherrn zu erlangende Rechtsschutz ist von beson- 179 deren, im Hinblick auf den Status veranlassten Maßgaben geprägt. Es bestehen spezielle außergerichtliche und allgemeine gerichtliche Rechtsbehelfe.

a) Außergerichtliche Rechtsbehelfe Der Beamte kann sich auf dem Dienstweg oder bei dem Personalrat über ihm gegenüber getrof- 180 fene Entscheidungen beschweren, Eingaben an den zuständigen Personalausschuss richten und seine Interessen mit Petitionen verfolgen.477 Die Beschwerde auf dem Dienstweg ist der Sache nach Petition (vgl Art 17 GG). Sie dient nicht nur individueller Interessenverfolgung, sondern ist zugleich eine im öffentlichen Interesse liegende Verwaltungskontrolle. Die Beschwerde wird beamtengesetzlich in § 125 I, II BBG verfahrensmäßig konkretisiert: Der Dienstweg steht offen bis zur obersten Dienstbehörde. Wenn sich die Beschwerde ihrem Inhalt nach gegen den unmittelbaren Vorgesetzten selbst richtet, kann sie sogleich bei dem nächsthöheren Vorgesetzten eingereicht werden. Spricht das Gesetz von „Anträgen und Beschwerden“, ist damit deutlich gemacht, dass Inhalt des Petitums nicht notwendig eine Beschwer gerade des Petenten sein muss, dennoch ist auch ein solches Vorbringen auf den Dienstweg verwiesen. Die Nichteinhaltung des Dienstwegs ist ein Dienstvergehen, enthebt die Stelle, von der eine Bescheidung erstrebt ist, aber nicht von der Verpflichtung hierzu. Die Behörde ist zur Entgegennahme und Prüfung verpflichtet; sie muss die Beschwerde mit Gründen bescheiden.478 Das Petitionsgrundrecht aus Art 17 GG als das Recht zur Eingabe an „die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung“ steht dem Beamten zu479 (wie sich auch im Umkehrschluss an Art 17a I GG erweist). Ist inhaltlich der Amtsbereich betroffen, so muss in mit Art 17 GG vereinbarer verfahrensmäßiger Beschränkung grundsätzlich zunächst der Dienstweg beschritten werden, damit der Behörde jedenfalls die Möglichkeit zur Abhilfe eröffnet wird. Ausnahmen wird man zulassen können, wenn diese Möglichkeit bereits bestanden hat, die Angelegenheit also schon Gegenstand eines innerdienstlichen Prüfungsverfahrens gewesen ist.

_____ 474 OVG NW ZBR 2012, 170 ff; VG Osnabrück ZBR 2011, 389 ff; VG Düsseldorf ZBR 2011, 177 ff, das aber die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme wegen Streikteilnahme nach Art 11 EMRK für unzulässig hält, vgl VG Düsseldorf aaO 178; Lindner DÖV 2011, 305 ff. 475 VG Osnabrück ZBR 2011, 389, 392. 476 Vgl dazu im Blick auf Ungleichbehandlung mit Unverheirateten OVG RP NVwZ 1994, 1230 f; s auch BVerwG DÖV 1997, 920. 477 S Nokiel RiA 2008, 16 ff. 478 BayVerfGH DÖV 1957, 719; – außerhalb des Beamtenrechts – OVG Bremen JZ 1990, 965 ff (m Anm Lücke) o JK GG Art 17/4; vgl auch BVerwG NJW 1991, 936 f; BVerfG NJW 1992, 3033; NdsOVG NdsVBl 2008, 138. 479 Vgl dazu Riedmaier RiA 1978, 210 ff.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

Die beamtenrechtliche Beschwerde ist – ebenso wenig wie eine Petition im Allgemeinen oder auch eine Dienstaufsichtsbeschwerde – nicht geeignet, behördliche Maßnahmen in ihrer rechtlichen Wirkung zu beeinträchtigen, also anders als der Rechtsbehelf des Widerspruchs (vgl §§ 80 I, 80a VwGO). Gerade deshalb ist sorgfältig zu prüfen, ob das vorgetragene Begehren des Beamten – ungeachtet seines Wortlauts – sich im Einzelfall als Widerspruch darstellt. Davon wird im Zweifel auszugehen sein, wenn gegen die angegriffene Maßnahme eine Klage vor dem Verwaltungsgericht zulässig wäre. Die Beschwerde bei dem Personalrat (Rn 14) ist von dem Erfordernis, zuvor den Dienstweg zu beschreiten, freigestellt, da diesem gesetzlich (auch) die Aufgabe zugewiesen ist, zwischen dem Beamten und seiner Dienststelle zu vermitteln (vgl § 68 I Nr 3 BPersVG).

b) Gerichtliche Rechtsbehelfe480 182 Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Beamten und seinem Dienstherrn, die im Beamtenverhältnis gründen, sind grundsätzlich vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit auszutragen. Sofern der Beamte Schadensersatz für eine ihm gegenüber begangene Amtspflichtsverletzung begehrt, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben, Art 34 S 3 GG;481 Schadensersatz wegen Verletzung der Fürsorgepflicht ist vor den Verwaltungsgerichten einzuklagen (Rn 159).482 Die Disziplinarklage ist im BDG näher geregelt (Rn 143).483 „Alle Klagen der Beamtinnen, Beamten, Ruhestandbeamtinnen, Ruhestandsbeamten, frü183 heren Beamtinnen, früheren Beamten und der Hinterbliebenen aus dem Beamtenverhältnis“ weist § 126 BBG bzw § 54 BeamtStG der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu. Im Einklang hiermit errichtet § 40 II 2 VwGO einen Vorbehalt, der die anderenfalls von § 40 II 1 VwGO bewirkte Zuweisung von Streitigkeiten über einzelne Ansprüche zur ordentlichen Gerichtsbarkeit (ua) für das Beamtenrecht aufhebt. § 126 BBG bzw § 54 BeamtStG sagen nichts aus über die Klagbarkeit beamtenrechtlicher Ansprüche, sondern setzt diese voraus, entscheidet also nur über den Rechtsweg für aus anderen Gründen als einklagbar zu qualifizierende Ansprüche.484 Die Bestimmung sieht vor, dass auch Klagen des Dienstherrn aus dem Beamtenverhältnis vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit auszutragen sind (§ 54 I BeamtStG) und dass es für alle einschlägigen Klagen des Beamten der vorherigen Durchführung eines Vorverfahrens bedarf,485 also nicht nur bei Anfechtungs– und Verpflichtungsklagen und bei Anfechtungsklagen auch dann, wenn der Verwaltungsakt von der obersten Dienstbehörde erlassen worden ist (§ 54 II 2 BeamtStG; vgl § 68 I Nr 1 VwGO; zum Nichteintritt der aufschiebenden Wirkung bei Rechtsbehelfen gegen Abordnung u Versetzung Rn 110). Damit soll der Behörde unabhängig von der statthaften Klageart die Möglichkeit eröffnet werden, der Beschwer des Beamten abzuhelfen; die potentiell loyalitätsgefährdende Konstellation des gerichtlichen Streits zwischen Beamten und Dienstherrn wird auf ein Mindestmaß beschränkt. § 55 BeamtStG erweitert die Statthaftigkeit der Revision für Klagen aus dem Beamtenverhältnis, lässt insbesondere auch zu, die Revision auf das Vorbringen zu stützen, das angefochtene Urteil verletze Landesrecht (vgl demgegenüber § 137 VwGO). Besonders geregelt ist auch die örtliche Zuständigkeit des Gerichts (vgl § 52 Nr 4 VwGO).

_____ 480 Fokiel RiA 2008, 56 ff. 481 Vgl BGHZ 129, 226 ff o JK ÖR-BGB § 839/4 für den Schadensersatzanspruch bei Verletzung der Mitteilungspflicht im Stellenbesetzungsverfahren (Rn 254); OLG Hamm MDR 1986, 944 f für den Schadensersatzanspruch eines beamteten Arztes wegen des aufgrund einer Versetzung eingetretenen Verlustes der Nebentätigkeit. 482 Das gilt auch für Soldaten (§ 82 SG) und Wehrpflichtige (§ 32 WPfG), nach BGH DÖV 1990, 1027, trotz des Fehlens einer vergleichbaren Bestimmung (vgl aber § 78 II ZDG) auch für Zivildienstleistende. 483 S namentlich §§ 45 ff BDG. 484 Vgl BVerwG ZBR 1980, 385. 485 Dazu Wind ZBR 1984, 167 ff.

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IV. Das Beamtenrecht – 6. Kapitel

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Die Rechtswegzuweisung wird allgemein „weit“ ausgelegt,486 etwa auch auf Prozessthe- 184 mata bezogen, in denen es um ein Rechtsverhältnis im Vorstadium der Begründung eines Beamtenverhältnisses geht. So kann auch der Nichtbeamte Beamter iSd § 126 I BRRG, § 54 I BeamtStG sein. Entscheidend ist, ob das Beamtenrecht den Maßstab für die Beurteilung des klägerischen Begehrens ergibt. Dieses teleologische Verständnis der Norm ist folgerichtig, bedenkt man den Sinn jeder Rechtswegzuweisung als an Sachnähe orientierte Auswahlentscheidung zwischen mehreren Gerichtszweigen.487 Gerichtlicher Rechtsschutz ist im Ergebnis nur gegenüber Maßnahmen bzw Akten (nicht 185 notwendigerweise: Verwaltungsakten iSv § 35 VwVfG) zu erlangen, die den Beamten in seiner individuellen Rechtssphäre betreffen. Nur solche Akte sind „justitiabel“. Ob ein solcher Akt vorliegt, ist in der Sache das Hauptproblem im Bereich der Beamtenklagen.488 Seine Einordnung in die systematische Prüfung der Zulässigkeit einer Klage wird unterschiedlich vorgenommen.489 Sie wird teilweise der Zulässigkeitsprüfung eigenständig vorangestellt oder auch im Rahmen der schon angesprochenen Rechtswegprüfung erörtert, also im Gewande der Fragestellung, ob eine Klage „aus“ dem Beamtenverhältnis vorliegt. Für beides könnte sprechen, dass ein Rechtsweg von vornherein nur eröffnet sein kann, wenn überhaupt „Rechte“ in Rede stehen; § 126 I BRRG, § 54 I BeamtStG setzen das in der Tat voraus. Dennoch ist eine solche Aufladung der Prüfung des „richtigen“ Rechtsweges ebenso wenig überzeugend wie die Vorabprüfung unter dem Gesichtspunkt der Justitiabilität. Das Beamtenrecht ist zwar Sonderrecht, in Bezug auf die individuelle Rechtsverfolgung des Beamten sind seine Besonderheiten jedoch nicht durch allgemeine Grundsätze kategorial zu erfassen. Dies würde zurückführen können zu der überwundenen Vorstellung, dass der Begriff des „besonderen“ Gewaltverhältnisses unmittelbar einen verminderten rechtlichen Status des Beamten zu begründen vermöchte und mehr als ein Schlagwort zur Erfassung einzelner Begrenzungen sei. Um solche Begrenzungen adäquat und differenziert zu erfassen, sind die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen geeignet, die wesentlich von der materiellen Rechtslage geprägt sind, letztlich auch noch die Begründetheitsprüfung. Materiell eingeräumte subjektive Rechte wirken vor auf die Beurteilung der Zulässigkeit des Rechtsschutzes, entscheiden vor allem über den Bestand der Klagebefugnis (so es im Anwendungsbereich von § 42 II VwGO auf sie ankommt) und das Rechtsschutzbedürfnis im Allgemeinen wie im Besonderen (vgl §§ 43 I, 113 I 4, V VwGO). Angesichts dessen ist der Rechtsschutz des Beamten auch kategorial nicht anders zu behandeln als der Rechtsschutz des Bürgers. Der Bestimmung des Rechtsweges schließt sich deshalb zunächst die Bestimmung der für das Begehren statthaften Klageart an. Hierbei ist nun vielfach problematisch, ob ein Handeln des Dienstherrn gegenüber dem Be- 186 amten die Qualität des Verwaltungsakts aufweist. Im Hinblick auf die für den Begriff des Verwaltungsakts wesentlichen Eigenschaften des Regelungsmoments bzw der Außenwirkung wurde Streit geführt über die Rechtsnatur etwa der Umsetzung (Rn 116). Unter der Geltung des Art 19 IV GG ist aber jede Verletzung eines eigenen Rechts – unabhängig von der Rechtsnatur des verletzten Aktes – einklagbar. Ob ein Handeln eine Rechtsverletzung überhaupt bewirken kann, ist daher entscheidend. Lassen die Rechtsgrundlagen einer Maßnahme erkennen, dass sie den individuellen Rechtskreis des Beamten gestalten, kommt ihnen Verwaltungsaktqualität zu. Sie sind dann mit der Anfechtungsklage zu bekämpfen oder mit der Verpflichtungsklage zu fordern. An der Klagebefugnis nach § 42 II VwGO fehlt es, wenn das materielle Entscheidungsprogramm

_____ 486 Vgl BVerwGE 52, 247, 249; E 67, 222 ff; BVerwG DVBl 1996, 1135 f; ThürOVG ThürVBl 1996, 110; BGH JZ 1988, 521 f. 487 Vgl zB BVerwG NJW 1989, 412 f; BVerwGE 100, 280 ff o JK BRRG § 46/2; vgl auch Eichler DöD 1994, 112 ff. 488 Vgl BVerwGE 8, 261, 265; E 29, 310, 312; E 31, 15, 18; vgl auch Stumpp DVBl 1968, 330 ff. 489 Grundlegend die Unterscheidung zwischen Grund- und Betriebsverhältnis, dazu Ule in: VVDStRL 15 (1957), 152 ff, vgl ferner zB BVerwGE 14, 84, 87.

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6. Kapitel – Das Recht des öffentlichen Dienstes

offensichtlich das von dem Beamten verfolgte Begehren nicht trägt. Außerhalb des den Beamten betreffenden Handelns durch Verwaltungsakt entscheidet über die Zulässigkeit einer (dann Leistungs- oder Feststellungs-)Klage des Beamten gleichfalls die materielle Rechtslage. Sie ist allerdings weit weniger vom Bestehen subjektiver Rechte geprägt als das gewöhnliche Verhältnis zwischen Bürger und Staat, innerhalb dessen der Kontakt beider Akteure gewöhnlich auf zugleich subjektiv-rechtlich ausgeformte rechtliche Begrenzungen stößt. Das Beamtenrecht kennt demgegenüber in den Bereichen der Weisungsrechte (die zwar Regelungscharakter, aber keine Außenwirkung haben), der Gehorsamspflichten und im Organisationsbereich Bereiche, in denen Rechtsschutz nicht offensteht,490 weil der Beamte (lediglich) als Amtswalter, nicht in Person angesprochen ist. Er kann dann selbst objektiv rechtswidriges Handeln nicht individuell gerichtlich bekämpfen. Die Ebene seiner subjektiven Rechte kann andererseits durchaus auch durch die Inanspruchnahme etwa des Weisungsrechts betroffen sein, wenn nämlich Grundrechte verletzt sind, etwa im Fall der diskriminierenden Weisung. Insofern stellt sich auch bei der prozessualen Betrachtung die Frage, inwieweit die erhöhte Kontaktintensität zwischen Dienstherrn und Beamten die Wirkkraft der Grundrechte begrenzt. Auch in Bezug auf den Rechtsschutz erweist sich das Beamtenverhältnis also nur insofern als Sonderverhältnis, als es zu spezifischen Abgrenzungsfragen innerhalb der allgemeinen verwaltungsrechtlichen (und verfassungsrechtlichen) Strukturen Anlass gibt. Es ist nicht außerhalb dieser Strukturen gestellt und fordert deren dogmatische Leistungsfähigkeit heraus, ohne ihre rechtsstaatlich begründete Geschlossenheit in Frage zu stellen.

_____ 490 Dazu Erichsen VerwArch 71 (1980), 429, 437; Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, GG, Art 19 Abs 4 Rn 89; s dazu auch OVG NW NWVBl 1994, 57 f; mit abw Konzeption Felix/Schwarplys ZBR 1995, 33 ff.

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I. Grundlagen des öffentlichen Straßenrechts – 7. Kapitel

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Siebentes Kapitel 7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht I. Grundlagen des öffentlichen Straßenrechts – 7. Kapitel Thomas von Danwitz von Danwitz

Straßen- und Wegerecht

I.

II.

Gliederung Grundlagen des öffentlichen Straßenrechts ____ 1 1. Begriffliche Vorklärungen ____ 2 a) Straßenrecht ____ 2 b) Straßenverkehrsrecht ____ 3 2. Das Verhältnis von Straßen- und Straßenverkehrsrecht ____ 4 a) Der „Vorbehalt“ des Straßenrechts ____ 5 b) Der „Vorrang“ des Straßenverkehrsrechts ____ 6 c) Anordnungen nach § 45 StVO ____ 8 3. Strukturmerkmale des Gesetzesvollzuges ____ 9 a) Verfassungsrechtliche Vorgaben ____ 9 b) Straßenbau- und Straßenaufsichtsbehörden ____ 12 c) Straßenverkehrsämter ____ 15 4. Sachenrechtliche Grundprinzipien des öffentlichen Straßenrechts ____ 16 a) Öffentlicher Sachstatus der Straße ____ 17 b) Die dualistische Vorstellung vom modifizierten Privateigentum ____ 18 c) Das Prinzip der förmlichen Widmung ____ 20 d) Formalisierungsprinzip ____ 21 Planung und Bau öffentlicher Straßen ____ 22 1. Vorbereitende Stufen der Straßenplanung ____ 23 a) Ausbau- und Bedarfsplanung ____ 24 b) Raumordnungsverfahren ____ 25 c) Bestimmung der Planung und Linienführung ____ 26 2. Die straßenrechtliche Planfeststellung ____ 27 a) Grundstrukturen des Verfahrensablaufs ____ 28 b) Rechtsnatur der Planungsentscheidung ____ 29 c) Rechtswirkungen des Planfeststellungsbeschlusses ____ 31

d)

III.

IV.

V.

Schutzauflagen gem § 74 II 2 VwVfG ____ 32 e) Entbehrlichkeit der Planfeststellung ____ 33 3. Rechtsschutzfragen ____ 36 4. Der tatsächliche Bau öffentlicher Straßen ____ 40 Begründung, Veränderung und Beendigung des öffentlichen Sonderstatus ____ 41 1. Die Widmung ____ 42 a) Rechtsnatur ____ 43 b) Formelle und materielle Voraussetzungen ____ 44 c) Inhalt der Widmungsverfügung ____ 45 d) Rechtswirkungen ____ 46 e) Rechtsschutz ____ 47 2. Die tatsächliche Indienststellung der Straße ____ 48 3. Veränderungen des Nutzungsumfangs ____ 49 a) Widmungserweiterung ____ 50 b) Teileinziehung ____ 51 c) Einziehung durch Entwidmung ____ 52 d) Umstufung ____ 53 4. Straßenrechtliche Statusakte im Dienste der Verkehrsberuhigung ____ 54 Straßenbaulast und Straßenverkehrssicherungspflicht ____ 55 1. Die Straßenbaulast ____ 56 2. Die Straßenverkehrssicherungspflicht ____ 57 Das Regime straßenrechtlicher Nutzungsformen ____ 58 1. Der Gemeingebrauch ____ 59 a) Inhalt und Bedeutung ____ 59 b) Schranken ____ 60 c) Die Rechtsstellung des Straßenbenutzers ____ 61 2. Die Sondernutzung ____ 62 a) Begriff und Arten ____ 62 b) Sondernutzungserlaubnisse nach öffentlichem Recht ____ 63 c) Bürgerlich-rechtliche Sondernutzungen ____ 64 3. Sonderformen der „kommunikativen“ Straßennutzung ____ 65

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4. Die Rechtsstellung des Straßenanliegers ____ 67 a) Das Anliegerrecht ____ 68 b) Der Anliegergebrauch ____ 69

VI.

Das Nachbarrecht öffentlicher Straßen ____ 70 1. Die Aufrechterhaltung der Straßenfunktion ____ 71 2. Der Schutz der Straßennachbarn ____ 72

Literatur: P. Axer Die Widmung als Schlüsselbegriff des Rechts der öffentlichen Sachen, 1994. R. Bartlsperger/W. Blümel/H.-W. Schroeter (Hrsg) Ein Vierteljahrhundert Straßenrechtsgesetzgebung, 1980. R. Bartlsperger Straßenund Wegerecht, in: Kimminich ua (Hrsg), Handwörterbuch des Umweltrechts, 2. Aufl 1994, 1933 ff. A. Dietz Grundrechtskollisionen im öffentlichen Raum – Gemeingebrauch, Anliegergebrauch und Sondernutzung als Beispiele grundrechtsgeprägter Erlaubnisverfahren, AöR 133 (2008), 556 ff. H. C. Fickert Straßenrecht in Nordrhein-Westfalen, 3. Aufl 1989. U. Häde Das Recht der öffentlichen Sachen, JuS 1993, 113 ff. S. Hobe Die dogmatische Verortung des Anliegergebrauchs als eigenständiges Rechtsinstitut zwischen Gemeingebrauch und Sondernutzung, DÖV 1997, 323 ff. K. Kodal Straßenrecht, 7. Aufl 2010. D. Lorenz Das Landesstraßenrecht in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, VBlBW 1984, 329 ff. G. Manssen Der Hamburger Stadtsiegelfall (VG Köln, NJW 1991, 2584), JuS 1992, 745 ff. G. Manssen Vom Vorrang zur Vorherrschaft des Straßenverkehrsrechts, DÖV 2001, 151 ff. E. A. Marschall Bundesfernstraßengesetz, 6. Aufl 2012. W. Otte Individualrechtsschutz im Straßenrecht, NWVBl 1996, 41 ff. H.-J. Papier Recht der öffentlichen Sachen, 3. Aufl 1998. H.-J. Papier Straßenrecht, in: Achterberg/ Püttner/Würtenberger (Hrsg), BesVwR I, 2. Aufl 2000, 840 ff. E. Pappermann/R.-P. Löhr/W. Andriske Recht der öffentlichen Sachen, 1987. F.-J. Peine Recht der öffentlichen Sachen, JZ 1996, 350 ff, 398 ff. A. Rebler Das Verhältnis zwischen Straßenrecht und Straßenverkehrsrecht, BayVBl 2005, 394 ff. J. Salzwedel Straßen- und Verkehrsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht, 10. Aufl 1995, 761 ff. M. Sauthoff Öffentliche Straßen. Straßenrecht – Straßenverkehrsrecht – Verkehrssicherungspflichten, 2. Aufl 2010. G. Schnebelt/M. Kromer Straßenrecht Baden-Württemberg, 3. Aufl 2013. U. Steiner Straßenrecht und Straßenverkehrsrecht, JuS 1984, 1 ff. U. Steiner Straßen- und Wegerecht, in: ders (Hrsg), BesVwR, 8. Aufl 2006, 577 ff. D. Walprecht/R. D. Brinkmann Straßenreinigungsgesetz Nordrhein-Westfalen, 3. Aufl 1985. D. Walprecht/R. Cosson Straßen- und Wegegesetz des Landes NordrheinWestfalen, 2. Aufl 1986. H. Zeitler Bayerisches Straßen- und Wegegesetz, 22. Aufl, Stand: September 2011. F. Zörner Der Anliegergebrauch im Lichte des „knappen Gutes öffentlicher Straße“, NZV 2005, 446 ff.

Zeitschriften: Deutsches Autorecht (DAR) Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl) Die öffentliche Verwaltung (DÖV) Natur und Recht (NuR) Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (NZV) Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) Umwelt und Planungsrecht (UPR) Verkehrsblatt (VerkBl) Verkehrsrechtliche Mitteilungen (VerkMitt)

I. Grundlagen des öffentlichen Straßenrechts 1 Das Straßenrecht regelt die Erbringung einer von der Allgemeinheit täglich in Anspruch genommenen Verwaltungsleistung und betrifft damit den wohl wichtigsten Teilbereich der staatlichen Daseinsvorsorge.1 Auch wenn das Straßenrecht oftmals als eine Rand- und Sondermaterie des Besonderen Verwaltungsrechts behandelt wird und sein Stellenwert in letzter Zeit zu schrumpfen droht,2 belegt die einschlägige Rechtsprechung3 immer noch eindrucksvoll seine praktische Bedeutung.

_____ 1 S Papier in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, BesVwR I, § 10 Rn 12; Steiner JuS 1984, 1, 3. 2 Von einem sinkenden „Stern“ spricht Manssen DÖV 2001, 151.

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1. Begriffliche Vorklärungen a) Straßenrecht Das Straßen- und Wegerecht befasst sich sachlich mit der Entstehung, der Nutzung und der Un- 2 terhaltung öffentlicher Straßen. In diesem Rahmen kommt dem Nachbarrecht an öffentlichen Straßen sowie vor allem einer Straßengestaltung unter den Vorzeichen von Verkehrssicherheit und Umweltschutz eine gesteigerte Bedeutung zu. Als rechtliche Kategorie bildet das Straßenrecht den wichtigsten Teil des öffentlichen Sachenrechts und weist von daher systematisch starke Bezüge zum allgemeinen Verwaltungsrecht auf. Neben seinen klassischen, im Einzelfall aber oft schwierig zu beurteilenden Verzahnungen mit dem Straßenverkehrsrecht bestehen regelmäßig weitere bedeutsame Berührungspunkte zum Planungs- und Umweltrecht sowie dem allgemeinen Ordnungsrecht. Als Rechtsbegriff umfasst das Straßenrecht mithin die Gesamtheit der öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die die Rechtsverhältnisse an denjenigen Straßen, Wegen und Plätzen zum Gegenstand haben, die dem allgemeinen Verkehr gewidmet sind.4 Gegenständlich unterfällt dem Regime des Straßenrechts neben dem Straßenkörper auch der Luftraum über der Straße, das straßenrechtliche Zubehör wie Verkehrseinrichtungen und Bepflanzungen sowie die sog Nebenanlagen.5

b) Straßenverkehrsrecht Während das Straßenrecht also die Bereitstellung öffentlicher Straßenflächen nach ihrer jewei- 3 ligen Verkehrsfunktion regelt, besteht die Aufgabe des Straßenverkehrsrechts darin, die Gemeinverträglichkeit potentiell konfligierender Benutzungen6 durch polizeiliche Anforderungen an den Verkehr, die Verkehrsteilnehmer und Außenstehende zur Gewährleistung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs sicherzustellen. Demzufolge ist das Straßenverkehrsrecht als ein sachlich begrenztes Sonderordnungsrecht der Gefahrenabwehr mit umfassendem Geltungsanspruch anzusehen.7 Das Straßenverkehrsrecht gilt daher unabhängig von der Widmung einer Straße für den allgemeinen Verkehr auch bereits, wenn der Eigentümer einer Privatstraße die Benutzung zu Zwecken des Verkehrs duldet, wie das bei Parkplätzen von Einkaufszentren, Betriebsgeländen und privaten Parkhäusern regelmäßig der Fall ist.8

2. Das Verhältnis von Straßen- und Straßenverkehrsrecht Die verschiedenen Aufgabenstellungen, die vom Straßenrecht einerseits und Straßenverkehrs- 4 recht andererseits wahrgenommen werden, bilden den maßgeblichen Ausgangspunkt für die kompetenzrechtliche Abgrenzung der beiden Rechtsmaterien gem Art 74 I Nr 22 GG. Daher sind beide Rechtsgebiete als „deutlich gegeneinander abgegrenzte Gesetzgebungsbereiche“ zu verstehen, auch wenn sie in einem engen thematischen Zusammenhang stehen und insbes das

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3 Vgl dazu die Rechtsprechungsberichte von Allesch BayVBl 2009, 549 ff; Sauthoff NVwZ 2004, 674 ff; ders NVwZ 1998, 239 ff; ders NVwZ 1994, 17 ff; ders NVwZ 1990, 223 ff; Sattler SächsVBl 2000, 187 ff; Otte NWVBl 1996, 41 ff; Lorenz VBlBW 1984, 329 ff. 4 Im Anschluss an die in den Landesstraßengesetzen verwandte Legaldefinition der öffentlichen Straße, bspw in § 2 I StrWG NW, § 2 I StrG BW, Art 1 S. 1 BayStrWG, bereits Salzwedel Straßen- und Verkehrsrecht, in: Schmidt-Aßmann, BesVwR, 10. Aufl 1995, Rn 1. 5 S § 1 IV FStrG und § 2 II StrWG NW; § 2 II StrG BW; Art 2 BayStrWG; § 2 II StrG Berlin; § 2 II BbgStrG; § 2 II LStrG Bremen; § 2 II HbgWG; § 2 II HessStrG; § 2 II StrWG MV; § 2 II NdsStrG; § 1 III LStrG RP; § 2 II StrG SL; § 2 II SächsStrG; § 2 II StrG LSA; § 2 II StrWG SH; § 2 II ThürStrG. 6 Vgl dazu die Grundregeln in § 1 I und II StVO; zum Traditionszusammenhang s Salzwedel (Fn 4) Rn 3. 7 S BVerfGE 67, 299, 314, 322 o JK GG Art 74 Nr 22/1; E 40, 371, 380; E 32, 319, 326 f; BVerwGE 107, 38, 42 f o JK StVG § 6/1; E 85, 332, 341 f; E 82, 34, 37. 8 Dazu HansOLG Bremen MDR 1980, 421 f m Anm Brede; vgl auch Herber in: Kodal, Straßenrecht, Kap 4 Rn 5, 16; Sauthoff Öffentliche Straßen, Rn 33; Zörner NZV 2002, 261 ff.

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Straßenverkehrsrecht das Straßenrecht grds voraussetzt.9 So zutreffend das anhand der unterschiedlichen Anknüpfungspunkte beider Rechtsmaterien entwickelte „Selbständigkeits-Modell der Rechtsprechung“10 die (kompetenz-)rechtliche Ausgangslage beschreibt, so notwendig bleibt eine Beantwortung der gerade auch praktisch bedeutsamen Frage, wie weit die behördlichen Regelungsbefugnisse auf Grund der jeweiligen Rechtsmaterie reichen. Beantwortet wird sie weithin mit Hilfe der begrifflichen Unterscheidung zwischen dem „Vorbehalt des Straßenrechts“ und dem „Vorrang des Straßenverkehrsrechts“.11

a) Der „Vorbehalt“ des Straßenrechts 5 Indem die spezifische Verkehrsfunktion einer Straße durch das Rechtsinstitut der Widmung (Rn 43)12 konkret festgelegt wird, bestimmt das Straßenrecht den allgemeinen Nutzungsrahmen, in dem eine Straße der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Zugleich bildet diese Vorgabe den gerade für das Straßenverkehrsrecht verbindlichen Rahmen,13 innerhalb dessen seine Regelungen zur Anwendung gelangen können, um die Gemeinverträglichkeit ihrer Benutzung durch die Allgemeinheit im Interesse der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs zu gewährleisten. Dem Straßenverkehrsrecht wird auf diese Weise also die Aufgabe zugewiesen, die verkehrsrechtliche Nutzungsausübung innerhalb des Widmungsrahmens zu regeln.14 Diese Rahmensetzung, die das Straßenrecht für das Straßenverkehrsrecht vornimmt, wird üblicherweise als „Vorbehalt“ des Straßenrechts bezeichnet.15 Dieser „Vorbehalt“ des Straßenrechts kann sich auch auf Vorschriften beziehen, die einen Rechtsfolgenverweis auf das Straßenverkehrsrecht enthalten.16 Der so verstandene „Vorbehalt“ des Straßenrechts hat zur Konsequenz, dass das Straßenverkehrsrecht grundsätzlich keine dauerhaften Nutzungen gestatten darf, die die Widmung nicht eröffnet hat. Die von der Widmung zugelassenen Nutzungen dürfen durch das Straßenverkehrsrecht also nicht „nach oben“ erweitert werden.17 Demzufolge sind die Straßenverkehrsbehörden gehindert, gem §§ 45, 46 StVO eine widmungsrechtlich nicht zugelassene Verkehrsform zu gestatten.18 Das eigentliche Konfliktpotential des wegerechtlichen Vorbehalts mit dem „Vorrang“ des Straßenverkehrsrechts zeigt sich indes in der Frage, in welchem Ausmaß das Straßenverkehrsrecht die widmungsrechtlichen Nutzungen gleichsam „nach unten“ beschränken kann.

b) Der „Vorrang“ des Straßenverkehrsrechts 6 Demgegenüber beantwortet der Grundsatz vom „Vorrang” des Straßenverkehrsrechts die Frage nach der Verteilung der Regelungsbefugnisse für die widmungsrechtlich zugelassenen Formen

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9 So BVerfGE 67, 299, 314 o JK GG Art 74 Nr 22/1; E 40, 371, 378; vgl zum Verhältnis von Straßenverkehrsrecht und Straßenrecht BGHSt 47, 181; s auch Rebler BayVBl 2005, 394 ff. 10 Ausdruck von Steiner JuS 1984, 1, 2 in Bezug auf BVerwGE 34, 241, 243; E 62, 376, 378 o JK StVO Abgrenzung/1, weitergeführt in BVerwGE 85, 332, 341 f; E 82, 34, 37. 11 S namentlich Steiner in: ders, BesVwR, Abschn IV Rn 158 f; ders JuS 1984, 1, 4; Papier (Fn 1) § 10 Rn 13. 12 Umfassend Axer Die Widmung als Schlüsselbegriff des Rechts der öffentlichen Sachen, 1994; Germann AöR 128 (2003), 458 ff. 13 Bes plastisch BVerwGE 62, 376, 378: „Das Straßenverkehrsrecht knüpft an die wegerechtliche Widmung in ihrem gegebenen Bestand an und befaßt sich nicht selbst mit ihren Voraussetzungen“. 14 So bereits Steiner JuS 1984, 1, 4. 15 Aus der Rspr s VGH BW DÖV 1993, 532; vgl auch HessVGH NVwZ-RR 1993, 389, 390. 16 So zu § 40 II 1 BImSchG, BVerwG DÖV 1999, 911. 17 Ebenso Papier (Fn 1) § 10 Rn 14; Steiner JuS 1984, 1, 4. 18 BVerwGE 94, 136, 138; E 62, 376, 378 f; VGH BW NJW 1984, 819, 821 o JK StVO Abgrenzung/2; vgl aber HessVGH NVwZ-RR 1992, 1, 2; dazu Häde JuS 1993, 113, 117; zur Abgrenzung einer verkehrsrechtlichen Ausnahmeregelung von der straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis VGH BW VBlBW 2005, 391.

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der Straßenbenutzung. Handelt es sich um eine im Rahmen der Widmung liegende Nutzungsform, die straßenverkehrsrechtlich allgemein zugelassen ist, wie dies beispielsweise für das Parken gem § 12 StVO der Fall ist, so greift der „Vorrang“ des Straßenverkehrsrechts ein. Die im Straßenverkehrsrecht bundesrechtlich abschließend geregelten Formen der Straßenbenutzung zum ruhenden und fließenden Verkehr belassen dem Landesrecht für eigenständige Regelungen keinen Raum.19 Insoweit wirkt das Straßenverkehrsrecht auf die straßenrechtlich zulässigen Nutzungen ein und verleiht ihnen konkrete Gestalt.20 Dieser Gedanke der verkehrsrechtlichen „Mitbestimmung“ zulässiger Nutzungsformen ist von der Rechtsprechung auf den Punkt gebracht worden, dass ein Nutzungsvorgang, der sich im Rahmen der Straßenverkehrsvorschriften bewegt, zugleich auch innerhalb des straßenrechtlichen Gemeingebrauchs liegt.21 Für die Bestimmung der zulässigen Straßenbenutzung hat das Bedingungsgeflecht aus den 7 verschiedenen Vorgaben straßen- und verkehrsrechtlicher Provenienz seine praktische Bewährungsprobe bereits bestanden und bildet ein insgesamt überschaubares Anforderungsprofil für die Straßenbenutzung durch die Allgemeinheit. Demgegenüber wirft das zwischen beiden Materien bestehende Spannungsverhältnis schwierige Abgrenzungsfragen auf, wenn es darum geht, in welchem Umfang widmungsgemäße Nutzungsformen auf Grund verkehrsrechtlicher Anordnungen eingeschränkt werden können. Im Unterschied zu der durch das Straßenrecht verbindlich gezogenen Obergrenze zulässiger Nutzungsformen geht es also um die Frage, welche straßenrechtlichen Begrenzungen den verkehrsrechtlichen Einschränkungsbefugnissen „nach unten“ gezogen sind.22 Allgemein wird eine Einschränkung der von der Widmung eröffneten Nutzungsmöglichkeiten auf der Grundlage verkehrsrechtlicher Anordnungen für zulässig gehalten, soweit sie aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs erforderlich ist.23 Diese – gleichsam selbstverständliche – Überlagerung der straßenrechtlichen Nutzungsordnung durch verkehrsrechtliche Befugnisse darf jedoch keine dauerhafte Entwidmung oder Widmungsbeschränkung bewirken,24 also einem prinzipiellen Ausschluss bestimmter Verkehrsarten gleichkommen.25

c) Anordnungen nach § 45 StVO Diesen Abgrenzungsfragen ist gerade durch die weit verbreiteten Maßnahmen zur Verkehrsbe- 8 ruhigung ein praktisch besonders bedeutsamer Anwendungsbereich eröffnet worden. 26 Im Grundsatz lässt sich für die meisten dieser Maßnahmen eine eindeutige Zuordnung vornehmen. So besteht Einigkeit darüber, dass die Schaffung von Tempo 30-Zonen und sog verkehrsberuhigten Bereichen dem Straßenverkehrsrecht, die Einrichtung von Fußgängerzonen dem Straßenrecht zuzuordnen ist.27 Weiterhin gestaltet sich die Abgrenzung bei verkehrsrechtlichen

_____ 19 BVerwGE 23, 325, 328 ff; E 56, 56, 58. 20 Dies sehen die Straßengesetze oftmals selbst vor, wenn sie den Gemeingebrauch der öffentlichen Straßen „im Rahmen der Widmung und der verkehrsrechtlichen Vorschriften“ gestatten, s § 7 I 1 FStrG; § 14 I 1 StrWG NW; § 13 I 1 StrG BW; § 14 I 1 BbgStrG; § 15 I LStrG Bremen; § 16 I 2 HbgWG; § 14 S. 1 HessStrG; § 21 I 1 StrWG MV; § 14 I 1 NdsStrG; § 34 I 1 LStrG RP; § 14 I 1 StrG SL; § 14 I 1 SächsStrG; § 14 I 1 StrG LSA; § 20 I 1 StrWG SH; § 14 I ThürStrG. 21 BVerwGE 34, 320, 321; BVerwG NJW 1982, 2332; dazu eingehend Steiner JuS 1984, 1, 7. 22 S Papier (Fn 1) § 10 Rn 17; Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 159; ders JuS 1984, 1, 5. 23 S BVerwG DÖV 1980, 915; Papier (Fn 1) § 10 Rn 17; Steiner JuS 1984, 1, 5. 24 Vgl BVerwG DÖV 1980, 915: „Jedenfalls liegt ein Übergriff in straßen(wege)rechtliche Kompetenzen nicht im Falle solcher verkehrsrechtlich begründeter Straßenbenutzungsregelungen vor, die nur einen Teil des Kraftfahrzeugverkehrs absperren, also – anders als bei den Fußgängerzonen – den Kraftfahrzeugverkehr durchgehend – wenn auch beschränkt – aufrechterhalten. Die hier angefochtenen Straßensperrungen, […] schließen auf den betroffenen Straßen in keinem Fall und zu keiner Zeit den gesamten Kraftfahrzeugverkehr aus.“ 25 Statt vieler Peine DÖV 1978, 835, 838; Papier Recht der öffentlichen Sachen, 107; Steiner DVBl 1992, 1561, 1564 f. 26 S dazu auch Scheidler DVP 2011, 4, 5. 27 S einerseits Schnebelt/Kromer Straßenrecht BW, Rn 105 ff; OVG RP NVwZ-RR 2004, 70 f, andererseits unten Rn 51.

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Anordnungen zum Schutz der Nachtruhe gemäß § 45 I 2 Nr 3, Ib 1 Nr 5 StVO aus dieser Perspektive noch recht unproblematisch.28 Jedoch ungeklärt ist das Verhältnis zwischen Straßenund Straßenverkehrsrecht namentlich für die Schaffung von Parkbevorrechtigungszonen durch die Straßenverkehrsbehörde auf Grund von § 45 Ib 1 Nr 2a StVO.29 Dieses Problem bleibt unabhängig von den Änderungen von StVG und StVO, durch die der Begriff des Anwohners durch die Formulierung „Bewohner städtischer Quartiere mit erheblichem Parkraummangel“ ersetzt wurde, virulent.30 Denn es liegt weiterhin eine gesetzgeberisch gewollte Anreicherung der ordnungsrechtlichen Anordnungsbefugnisse mit planungsrechtlichen Vorgaben vor, die bewirkt, dass auch die bisher akzeptierte Unterscheidung danach ins Wanken gerät, ob eine Maßnahme situationsbedingt und deshalb dem ordnungsrechtlichen Instrumentarium unterfällt oder von dauerhafter Natur ist und damit dem Straßenrecht vorbehalten bleibt.31 Gerade für die Umzonung ganzer Stadteile in ein System nahtlos miteinander verbundener Parkbevorrechtigungszonen, wie dies in Großstädten festzustellen ist, tritt die dauerhaft verfolgte planungsrechtliche Zielsetzung gegenüber jedem situativ-ordnungsrechtlichen Bezug einer solchen Vorgehensweise derart deutlich in den Vordergrund, dass § 45 Ib 1 Nr 2a StVO insoweit keine zureichende Rechtsgrundlage bildet. Der BayVGH hält diese Norm indes für verfassungsgemäß, insbesondere sei sie verhältnismäßig und verstoße weder gegen das Benachteiligungsverbot des Art 3 III GG noch gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 I GG.32 In einer vielbeachteten33 Entscheidung schließt das BVerwG eine mosaikartige flächendeckende Überspannung einer Innenstadt mit Parkbevorrechtigungszonen auf Grund von § 45 Ib 1 Nr 2 StVO aF aus.34 Dogmatisch setzt das BVerwG bei der Abgrenzung zwischen dem Straßenverkehrsrecht und dem Stadtplanungsrecht an. Danach räumt § 45 Ib 1 Nr 2 StVO aF der Straßenverkehrsbehörde die für eine flächendeckende Aufteilung einer Innenstadt in Parkbevorrechtigungszonen erforderliche städteplanerische Entscheidungsbefugnis nicht ein. 35 Diese Norm stellt vielmehr eine rein ordnungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage dar,36 um konkrete Einzelmaßnahmen zum Schutz jeweils betroffener Anwohner durchführen zu können.37 Der Entscheidung des BVerwG ist vollauf zuzustimmen.38 Mit der Abgrenzung des Straßenverkehrsrechts zum Stadtplanungsrecht ist allerdings nur ein Teilaspekt der Problematik von Anwohnerparkzonen angesprochen. So ist der Gemeinde zwar im Einklang mit Art 28 II 1 GG aufgrund § 1 III iVm § 9 I Nr 11 BauGB die Befugnis vorbehalten, aus städtebaulichen und verkehrspolitischen Gründen im Bebauungsplan Anwohnerparkflächen festzusetzen.39 Die vom

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28 Vgl BVerwGE 95, 333 ff; BVerwG NVwZ-RR 2003, 102 f; eingehend Manssen DVBl 1997, 633, 636 f. 29 S BVerwGE 91, 168 ff sowie HessVGH NJW 1997, 1522 f einerseits und OVG NW NWVBl 1997, 252 ff andererseits. Umfassend dazu Hillgruber VerwArch 89 (1998), 93 ff und Schmidt/Henke VR 1999, 280 ff. 30 So zutreffend Hentschel NJW 2001, 1901, 1903 f; ders NJW 2002, 1237, 1240 mwN. 31 So Papier (Fn 25) 108; Steiner DVBl 1992, 1561, 1564; ders JuS 1984, 1, 5. 32 BayVGH BayVBl 2009, 307, 309 f. 33 Die Entscheidung aufgreifend: OVG NW NWVBl 2000, 96 f; HessVGH NJW 1999, 1651 ff; vgl auch Vahle DVP 1998, 437; Winkler JA 1999, 639 ff; Welge ZG 1999, 77 ff. 34 BVerwGE 107, 38, 42 o JK StVG § 6/1; auch wenn sich die Entscheidung auf § 45 Ib 1 Nr 2 StVO aF bezieht, so hat sie im Hinblick auf das hier zu behandelnde Problem die gleiche Bedeutung auch für § 45 Ib 1 Nr 2a StVO. 35 BVerwGE 107, 38, 44. 36 BVerwGE 107, 38, 43 f; daran ändert auch die Verwendung des Begriffs „Kennzeichnung“ in der Norm nichts, denn sie ist gesetzeskonform nach § 6 I Nr 14 StVG auszulegen; vgl hierzu Gielen JR 1998, 496, 497; anders Hofmann NWVBl 1999, 390, 391. 37 BVerwGE 107, 38, 43 f. 38 Ablehnend: Hofmann NWVBl 1999, 390 ff; Schwerdtner NVwZ 1998, 1265 f. 39 Zur Befugnis der Gemeinden, gemäß § 1 III iVm § 9 I Nr 11 BauGB durch bauplanerische Festsetzungen eine gemeindliche „Verkehrspolitik“ zu betreiben, s BVerwG NVwZ-RR 1998, 217. Von dieser Befugnis wird auch die Schaffung von Anwohnerparkflächen erfasst. Die damit einhergehende Privilegierung der Anwohner erscheint mit dem Normzweck des § 9 I Nr 11 BauGB prinzipiell vereinbar, jedoch dürfte eine flächendeckende Überspannung des

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Gericht unbeantwortete Frage ist jedoch, durch welche Maßnahmen der zuständigen Behörde derartige Festsetzungen verwirklicht werden.40 Diese Problematik berührt wiederum den Vorbehalt des Straßenrechts und den Vorrang des Straßenverkehrsrechts. Die Abgrenzung der Materien ist nach dem Regelungszweck der behördlichen Maßnahme zu treffen.41 Die Umsetzung einer städteplanerischen Entscheidung der Gemeinde zu Anwohnerparkzonen erfolgt aufgrund eines straßenrechtlichen Statusaktes der Straßenbaubehörde, weil das Nutzungsstatut der Straße beschränkt wird.42 Fehlt eine städteplanerische Entscheidung der Gemeinde, kann der straßenrechtliche Statusakt auch isoliert für einzelne Straßen ergehen. Bedarf es aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs konkreter Einzelmaßnahmen zum Schutz der jeweils betroffenen Anwohner, ist die Straßenverkehrsbehörde nach § 45 Ib 1 Nr 2a StVO zuständig.43 Für den betroffenen Anwohner kann unter bestimmten Umständen ein Anspruch auf Einschreiten bestehen, namentlich wenn der zulässige Grenzwert für Feinstaubpartikel nach § 4 I der 39. BImSchV überschritten wird.44

3. Strukturmerkmale des Gesetzesvollzuges a) Verfassungsrechtliche Vorgaben Der Vollzug des Straßenrechts wird in mehrfacher Hinsicht von verfassungsrechtlichen Vorga- 9 ben geprägt. Dies gilt für die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten ebenso wie für die Verwaltungskompetenzen. Während Art 74 I Nr 22 GG dem Bund die Gesetzgebungszuständigkeit für das Straßenverkehrsrecht umfassend zugewiesen und dieser von seiner Befugnis durch den Erlass des Straßenverkehrsgesetzes sowie der StVO und der StVZO45 abschließend Gebrauch gemacht hat,46 verleiht ihm Art 74 I Nr 22 GG straßenrechtliche Rechtsetzungsbefugnisse nur für „den Bau und die Unterhaltung von Landstraßen für den Fernverkehr“. Hiermit sind in Abgrenzung zur Wasserstraße und dem schienengebundenen Verkehr solche Landverkehrswege gemeint, die ein zusammenhängendes Verkehrsnetz bilden und dem weiträumigen Verkehr zu dienen bestimmt sind, also Bundesautobahnen und Bundesstraßen. Während die Länder Gesetzgebungsbefugnisse im Bereich der Bundesfernstraßen demnach nur insoweit beanspruchen können, als das Bundesrecht Abweichungsvorbehalte zugunsten der Länder vorsieht oder der Bund seine Kompetenz nicht ausgeschöpft hat,47 verfügen die Länder über die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit für alle sonstigen Straßen, namentlich für die Landes-, Kreis- und Gemeindestraßen. In Anlehnung an einen dem Bundesfernstraßengesetz (FStrG) nachgebildeten Musterentwurf haben die Länder eigene Landesstraßengesetze erlassen, die in Struktur und Regelungsgehalt weitreichende Parallelen aufweisen.48 Die Zuweisung der straßenrechtlichen Verwaltungskompetenzen erfolgt entsprechend der 10 bundesstaatlichen Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten für das Bundesfernstraßen-

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Gemeindegebietes diesen Rahmen sprengen; Möglichkeiten de lege ferenda zeigen Peter J. Tettinger/Peter Tettinger NZV 1998, 481, 486 f auf. 40 Vgl hierzu Dannecker DVBl 1999, 143 ff. 41 Vgl bereits Hillgruber VerwArch 89 (1998), 93, 103; Dannecker DVBl 1999, 143, 146. 42 Hierzu auch Dannecker DVBl 1999, 143, 148 ff; krit dagegen Koch/Mengel NuR 2000, 1, 7 f. 43 Zur Befugnis der Behörde, Maßnahmen zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen zu treffen (§ 45 I 2 Nr 3, Ib Nr 5 iVm IX StVO) s unten Rn 65. 44 S BVerwGE 128, 278, 290; E 129, 296 303 sowie unten Rn 65. 45 Straßenverkehrsgesetz idF v 5.3.2003, BGBl I 310, ber. 919, zul geänd am 19.7.2011, BGBl I 1378; StraßenverkehrsOrdnung v 16.11.1970 BGBl I 1565, zul geänd am 1.12.2010, BGBl I 1737; Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung idF v 28.9.1988, BGBl I 1793, zul geänd am 21.4.2009, BGBl I 872. 46 BVerwGE 56, 56, 58; E 23, 325, 328; BVerwG DVBl 1979, 155, 156. 47 S § 5 IV 4 FStrG einerseits und Grupp in: Marschall, Bundesfernstraßengesetz, § 1 Rn 1 andererseits. 48 S Herber in: Kodal (Fn 8) Kap 2 Rn 93; dies gilt auch für die Straßengesetze der neuen Länder, s bspw Zörner LKV 1997, 160 ff.

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7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht

recht durch Bundesrecht und für das Landesstraßenrecht durch landesrechtliche Vorschriften. So bestimmt Art 90 II GG für die Bundesautobahnen und die sonstigen Bundesstraßen des Fernverkehrs, dass die Länder oder die nach Landesrecht zuständigen Selbstverwaltungskörperschaften49 die Verwaltung im Auftrag des Bundes wahrnehmen. Diese besondere, in Art 85 GG geregelte Form der Landesverwaltung von Bundesgesetzen sichert dem Bund weitgehende Einwirkungsrechte auch auf die Zweckmäßigkeit des Vollzuges.50 Zu diesem Zweck kann der Bund mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften nach Art 85 II 1 GG erlassen,51 Bericht und Vorlage der Akten verlangen sowie Beauftragte zu allen Behörden entsenden, vgl Art 85 IV 2 GG. Vor allem unterstehen die Landesbehörden von vornherein den Weisungen des Bundes, durch die der Bund die Befugnis zur Sachbeurteilung und -entscheidung eigenständig wahrnehmen kann.52 Gegenständlich erstreckt sich die Bundesauftragsverwaltung neben der Hoheitsverwaltung einschließlich der Straßenaufsicht auf die Vermögensverwaltung.53 Auf dem Gebiet der Hoheitsverwaltung hat sich der Bund zum Beispiel – den länderübergreifenden Planungserfordernissen entsprechend – die Bestimmung der Planung und Linienführung von Bundesfernstraßen in § 16 I FStrG vorbehalten. Die Verwaltungsbefugnisse des Bundes nach Art 90 II GG werden durch die Reichweite seiner Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Straßenrechts begrenzt.54 Nicht mehr von der Auftragsverwaltung erfasst ist daher eine vom Bund gegenüber dem Land erfolgte Weisung zur Abstufung einer Bundesstraße, denn hiermit wird vom Land nicht nur die Herausnahme der Straße aus einer Klasse nach Bundesrecht, sondern zugleich die Einstufung in eine Straßenklasse nach Landesrecht verlangt.55 Mit ihrem zweiten Teil verlässt eine solche Weisung den Kompetenzbereich des Bundes und greift in den Gesetzgebungs- und daher auch den Verwaltungsraum des Landes über.56 Der Bund hat nur die Möglichkeit, die Bundesfernstraße einzuziehen oder unverzüglich dem Träger der Straßenbaulast zu überlassen.57 Neben der Bundesauftragsverwaltung hat die Verwaltungspraxis vielfältige Formen der freiwilligen Kooperation und nichtförmlichen Koordinierung zwischen Bund und Ländern entwickelt.58 Aus Art 104a II und V 1 GG folgt, dass die Länder die Personalund Sachkosten für ihre Verwaltung treffen, während der Bund die Zweckausgaben zu tragen hat (sog finanzielle Straßenbaulast). Die in Art 90 III GG auf Antrag eines Landes vorgesehene

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49 Dies betraf nur NRW, denn dort lag die Zuständigkeit bei den Landschaftsverbänden. Mit dem zweiten Modernisierungsgesetz vom 9.5.2000 (GV NW 462) wurde die Straßenbauverwaltung jedoch auf das Land übertragen. Die hiergegen von Landschaftsverbänden eingelegten zulässigen Verfassungsbeschwerden blieben erfolglos, VerfGH NW NVwZ-RR 2001, 617 ff. Vgl hierzu auch Ehlers DVBl 2001, 1601 ff, der den Beschwerden bereits die Zulässigkeit abspricht. 50 S zur Bundesauftragsverwaltung Jochum DÖV 2003, 16 ff; speziell zur Vertragsabschluss-/Prozessführungsbefugnis in der Bundesauftragsverwaltung Nicolaus NVwZ 2003, 929 ff. 51 Die 1. und 2. AVV für die Auftragsverwaltung der Bundesstraßen zum Umfang, den Rechtsgrundlagen und Zuständigkeiten der Auftragsverwaltung bzw der Mittelbewirtschaftung, Rechnungslegung und Rechnungsprüfung v 3.5.1951, VkBl 1951, 230 und v 11.2.1956, VkBl 1956, 109 sind heute weitgehend überholt. Zur Bedeutung von Art 85 II 1 GG siehe v Danwitz DÖV 2001, 352, 355 ff. 52 BVerfGE 102, 167, 172 o JK GG Art 85 III/2; E 81, 310, 331 f; E 84, 25, 31 f o JK GG Art 85 III/1; s gleichfalls BVerwGE 52, 226, 229; E 52, 237, 241; vgl auch Bartlsperger in: BK, Art 90 Rn 71, 81 und 95; Wolst Die Bundesauftragsverwaltung als Verwaltungsform, Schriftenreihe Straßenrecht der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen eV, 1974, passim; zur Bundesfernstraßenverwaltung vgl auch den Tagungsbericht von Stüer/Hermanns DVBl 2005, 556 ff. 53 BVerwGE 62, 342, 344; BayVGH DÖV 1983, 602. 54 Zu dem Grundsatz, dass die Verwaltungskompetenzen des Bundes nicht weiter reichen dürfen als seine Gesetzgebungsbefugnisse, BVerfGE 12, 205, 229; E 15, 1, 16; E 78, 374, 386 o JK GG Art 103 II/2. 55 BVerfGE 102, 167, 174; zustimmend Hermes JZ 2001, 92 ff; Beaucamp JA 2001, 286 ff; krit zu diesem Urteil Heitsch DÖV 2002, 368 ff; aA vor der Entscheidung, Grupp, in: Marschall/Schroeter/Kastner, Bundesfernstraßengesetz, 5. Aufl 1998, § 2 Rn 55; Herber in: Kodal (Fn 8) Kap 2 Rn 50. 56 S hierzu Hermes JZ 2001, 92, 93 f; ablehnend Heitsch DÖV 2002, 368, 373 f. 57 S den aufgrund von BVerfGE 102, 167 ff geänderten § 2 IV FStrG. 58 S dazu eingehend Zech DVBl 1987, 1089, 1093 f.

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I. Grundlagen des öffentlichen Straßenrechts – 7. Kapitel

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Möglichkeit, die in ihrem Gebiet liegenden Bundesfernstraßen in bundeseigene Verwaltung zu übernehmen, ist bisher nicht realisiert worden.59 Die behördliche Zuständigkeit für den Vollzug des Landesstraßenrechts richtet sich nach der 11 jeweiligen Straßenklasse. Die Zuordnung erfolgt nach den tatsächlichen Verkehrsverhältnissen oder einer Zweckbestimmung des Trägers der Straßenbaulast.60 Für die Kategorie der Staats-, Land- bzw Landesstraßen sind grundsätzlich Landesbehörden zuständig,61 während die Gemeinden über die Vollzugskompetenz für die Gemeindestraßen verfügen62 und die Kreise bzw kreisfreien Städte grundsätzlich für die Kreisstraßen zuständig sind.63 Gerade für diese sieht das Landesrecht mitunter die Übernahme des Vollzuges durch das Land vor.64 § 56 III StrWG NW sieht weitergehend sogar die Möglichkeit vor, dass die Landesbehörden, Kreise und Gemeinden untereinander Vereinbarungen über die Übertragung ihrer Aufgaben treffen können.

b) Straßenbau- und Straßenaufsichtsbehörden Die straßenrechtlichen Verwaltungsstrukturen werden durch die Unterscheidung zwischen den 12 Straßenaufsichts- und den Straßenbaubehörden in besonderer Weise geprägt. Sie beruht wiederum auf der dogmatischen Gegenüberstellung von Straßenbaulast und Straßenaufsicht, die letztlich nur historisch zu erklären ist.65 Heute entfaltet sie ihren eigentlichen Sinn nur noch in den seltenen Fällen, in denen ein Privatmann Träger der Straßenbaulast ist.66 Mit der Übernahme der Straßenbaulast als staatliche bzw kommunale Aufgabe der Daseinsvorsorge ist die ursprüngliche Notwendigkeit einer scharfen Trennung zwischen der Baulast und der Straßenaufsicht weitgehend entfallen, zumal den Straßenbaulastträgern heutzutage auch Aufgaben wie die Widmung und die Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen zugefallen sind, die früher als wegepolizeiliche Befugnisse angesehen wurden.67 Als Verwaltungsorgan des jeweiligen Straßenbaulastträgers nehmen die Straßenbaubehör- 13 den alle aus der Straßenbaulast resultierenden Aufgaben wahr. So sind sie vor allem verpflichtet, die Straßen in einem dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis genügenden Zustand zu errichten, um- und auszubauen, zu verbessern sowie zu unterhalten.68 Hinzu treten weitere hoheitliche Aufgaben auf Grund der Straßengesetze, so dass man allgemein von einer Konzentration der straßenrechtlichen Vollzugsaufgaben in der Hand der Straßenbaubehörden sprechen kann.69 Den Straßenaufsichtsbehörden obliegt es demgegenüber, die staatliche Aufsicht über den 14 jeweiligen kommunalen oder staatlichen Träger der Straßenbaulast auszuüben. So überwachen

_____ 59 S dazu ausführlich Herber in: Kodal (Fn 8) Kap 2 Rn 61 ff. 60 So jedenfalls ausdr § 3 II-IV StrWG NW; § 3 I, II StrG BW; Art 3 I BayStrWG; § 20 StrG Berlin; § 3 II–IV, VI BbgStrG; § 3 I HessStrG; § 3 StrWG MV; § 3 I NdsStrG; § 3 LStrG RP; § 3 I SächsStrG; § 3 I StrG LSA; § 3 I ThürStrG; hierzu am Beispiel des Thüringer Straßengesetzes Brenner LKV 1998, 369, 370 f mwN zu den Grenzen dieser Zweckbestimmung. 61 In den einzelnen Bundesländern liegen unterschiedliche Begrifflichkeiten vor: § 56 II Nr 1 StrWG NW; § 50 III Nr 1 StrG BW; § 46 II lit a BbgStrG; § 46 I HessStrG; § 53 StrWG MV; § 49 III Nr 1 LStrG RP; § 43 ThürStrG (Landesstraßen); Art 58 II Nr 1 BayStrWG; § 47 IV Nr 1 SächsStrG (Staatsstraßen); § 56 II Nr 1 StrG SL (Landstraßen). 62 § 56 II Nr 3 StrWG NW; § 50 III Nr 3 StrG BW; Art 58 II Nr 3 BayStrWG; § 46 II lit c BbgStrG; § 46 V HessStrG; § 57 V StrWG MV; § 49 III Nr 2 LStrG RP; § 56 II Nr 2 StrG SL; § 47 III Nr 3 b SächsStrG; § 49 II 2 StrG LSA; § 47 II ThürStrG. 63 S bspw § 56 II Nr 2 StrWG NW; § 50 III Nr 2 StrG BW; Art 58 II Nr 2 BayStrWG; § 46 II lit b) BbgStrG. 64 Art 59 BayStrWG; § 46 III BbgStrG; § 58 StrWG MV; § 53 StrWG SH; § 47 III ThürStrG; dazu näher Herber in: Kodal (Fn 8) Kap 2 Rn 77. 65 S dazu Tegtbauer in: Kodal (Fn 8) Kap 13 Rn 2. 66 S die ausdr Regelung der Straßenbaulast privater Grundstückseigentümer in Art 55 BayStrWG. 67 S bspw §§ 6 II 1, 18 I 2 StrWG NW. 68 Vgl § 9 I StrWG NW; § 9 I StrG BW; Art 9 I BayStrWG. 69 Vgl Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 28.

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sie namentlich die Erfüllung der gesetzlichen Verpflichtung des Straßenbaulastträgers zur baulichen Herstellung oder Unterhaltung der Straßen in einem Zustand, der dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis entspricht.70 Art und Umfang der Aufsichtsbefugnisse sind in den Straßengesetzen unterschiedlich ausgestaltet worden. So folgt aus der von Art 90 II GG angeordneten Bundesauftragsverwaltung für die Bundesautobahnen und Bundesfernstraßen einschließlich der Ortsdurchfahrten, dass sich die Aufsicht gem Art 85 IV 1 GG auf die Recht- und Zweckmäßigkeit des Gesetzesvollzuges erstreckt.71 Demgegenüber ist die Straßenaufsicht in einigen Landesstraßengesetzen umfassend auf eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Vollzuges beschränkt worden, 72 während diese Einschränkung in anderen Landesstraßengesetzen nur gegenüber Selbstverwaltungskörperschaften eingreifen soll.73 Im Gegensatz dazu sieht § 50 II LStrG RP sogar vor, dass sich die Straßenaufsicht für Ortsdurchfahrten auch gegenüber Selbstverwaltungskörperschaften auf die Zweckmäßigkeit des Gesetzesvollzuges erstreckt.

c) Straßenverkehrsämter 15 Unabhängig von der behördlichen Vollzugsstruktur des Straßen- und Wegerechts obliegt die administrative Durchführung des Straßenverkehrsrechts gem § 44 I 1 StVO, § 68 I 1 StVZO den vom Landesrecht bestimmten unteren Verwaltungsbehörden. Die regelmäßig bei den Kreisen und kreisfreien Städten angesiedelten Straßenverkehrsämter sind für die Einhaltung der Zulassungsvorschriften sowie die Regelungen über die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs zuständig. Nach § 44 I 2 StVO unterliegen sie dem Einzelweisungs- und Selbsteintrittsrecht der höheren Verwaltungsbehörden sowie der obersten Landesbehörden.74 Wegen ihrer unzureichenden Personalausstattung kommt den konkurrierenden Vollzugsbefugnissen der Polizeibehörden in der Praxis jedoch die größere Bedeutung zu.75

4. Sachenrechtliche Grundprinzipien des öffentlichen Straßenrechts 16 Auf Grund seiner traditionellen Entwicklung wird das öffentliche Straßenrecht in besonderem Maße von bestimmten Strukturprinzipien beherrscht, die ihm seit jeher seine eigene Prägung vermittelt haben und deshalb eine unverzichtbare Voraussetzung für das Verständnis dieser Rechtsmaterie darstellen.

a) Öffentlicher Sachstatus der Straße 17 Der besondere rechtliche Status einer Straße als öffentliche Sache76 erklärt sich zunächst auf Grund ihrer Indienststellung zur unmittelbaren Erfüllung eines öffentlichen Zwecks. Hiermit verbunden ist auch die Notwendigkeit, ihre Nutzung durch die Öffentlichkeit zur Erfüllung ihrer spezifischen Gemeinwohlfunktion umfassend gewährleisten zu können. Das Regime des

_____ 70 S bspw § 53 I iVm § 9 I StrWG NW; § 48 I iVm § 9 I StrG BW; Art 62 iVm Art 9 I BayStrWG. 71 Vgl dazu Bartlsperger in: BK, Art 90 Rn 56–62; dagegen Herber in: Kodal (Fn 8) Kap 2 Rn 75.3 ff; Zech DVBl 1987, 1089, 1094 f. 72 So in § 53 II 3 StrWG NW; § 44 II 3 BbgStrG; § 49 II 2 HessStrG; § 46 I 2 StrG LSA. 73 So ausdr gem § 48 II und III StrG BW; Art 62 II und III BayStrWG; § 52 I 2 StrWG MV; § 49 II SächsStrG; § 48 I 2 ThürStrG. 74 Fachaufsichtliche Weisungen nach § 44 I 2 StVO können auf die Entfaltung von Außenrechtswirkung gerichtet sein und demgemäß einen für die betroffene Gemeinde anfechtbaren Verwaltungsakt darstellen, s BVerwG NVwZ 1995, 910 o JK VwVfG § 35 I/18; VGH BW DVBl 1994, 348, 349; Steiner VerwArch 86 (1995), 173, 182 f; Manssen DVBl 1997, 633, 639. 75 So schon Salzwedel (Fn 4) Rn 13. 76 Allgemein zum Begriff und Wesen der öffentlichen Sachen Papier in: Erichsen/Ehlers, AllgVwR, § 38 Rn 1 ff.

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öffentlichen Sachenrechts wird daher namentlich von der Zielsetzung bestimmt, Möglichkeiten einer zweckwidrigen Nutzung dieser in Formen des öffentlichen Rechts erbrachten Verwaltungsleistung auszuschließen77 und den öffentlichen Nutzungszweck einer Sache gegenüber dem Rechtsverkehr dadurch abzusichern, dass sie einem verwaltungsrechtlichen Sonderstatus unterstellt wird. Die tatsächliche Indienststellung und Benutzung einer Straße durch die Öffentlichkeit sind notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzungen dafür, dass ihr der Sonderstatus einer öffentlichen Sache zukommt. Vielmehr wird der öffentliche Sachstatus einer Straße entscheidend durch den hoheitlichen Rechtsakt der Widmung begründet, der in den Straßengesetzen von Bund und Ländern seine förmliche Ausgestaltung erfahren hat.78 Der öffentliche Sachstatus einer Straße ergibt sich also aus der durch Rechtssatz oder Verwaltungsakt erfolgenden Begründung der spezifischen Eigenschaft einer Straße, dem öffentlichen Verkehr zu dienen. Diese Funktionsbestimmung ist mit der Formulierung anschaulich auf den Punkt gebracht worden, dass die Widmung als Kreationsakt der öffentlichen Straße anzusehen ist.79

b) Die dualistische Vorstellung vom modifizierten Privateigentum Die spezifische Ausschlussfunktion der Widmung gegenüber zweckwidrigen Nutzungen oder 18 rechtsgeschäftlichen Verfügungen, die der öffentlichen Sacheigenschaft zuwiderlaufen, wird besonders deutlich, wenn man die Primärfunktion der Widmung als Verleihungsakt der öffentlich-rechtlichen Sachherrschaft betrachtet. Sie gibt dem öffentlichen Sachherrn die Befugnis, die Eigentümerrechte in solchem Maße zurückzudrängen, wie es zur Aufrechterhaltung des Widmungszweckes erforderlich ist.80 Auf der Grundlage dieses konkreten Funktionszusammenhanges von Widmung und öffentlich-rechtlicher Sachherrschaft lässt sich der Umfang der erforderlichen Verdrängung des bestehenden Privateigentums am jeweiligen Straßengrundstück nicht ohne Weiteres bestimmen. Daher hat sich die Erkenntnis nicht durchzusetzen vermocht, dass eine vollständige Aufhebung des privatrechtlichen Eigentums durch Begründung eines öffentlichen Sacheigentums, wie es bereits Otto Mayer in Anlehnung an das Institut des domaine public des französischen Rechts entwickelt hatte,81 zur Gewährleistung der öffentlichen Sachherrschaft unabdingbar sei. Demgemäß stellt das Rechtsinstitut des öffentlichen Eigentums im geltenden Recht nur eine Ausnahmeerscheinung82 von marginaler Bedeutung dar.83 Demgegenüber wird die durch die Widmung begründete öffentliche Sachherrschaft allge- 19 mein mit einem beschränkt dinglichen Recht verglichen, das keine vollständige Verdrängung des bürgerlich-rechtlichen Sacheigentums bewirkt, sondern es nur in dem Maße überlagert, das

_____ 77 Vgl dazu Papier (Fn 1) § 10 Rn 1; Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 35. 78 Die entspr Regelungen finden sich in § 2 FStrG; § 6 StrWG NW; § 5 StrG BW; Art 6 BayStrWG; § 3 StrG Berlin; § 6 BbgStrG; § 5 LStrG Bremen; § 6 HbgWG; § 4 HessStrG; § 7 StrWG MV; § 6 NdsStrG; § 36 LStrG RP; § 6 StrG SL; § 6 SächsStrG; § 6 StrG LSA; § 6 StrWG SH; § 6 ThürStrG. 79 So Axer (Fn 12) 57. 80 S Axer (Fn 12) 117. 81 Vgl Otto Mayer AöR 21 (1907), 499 ff; ders AöR 39 (1920), 77 ff. 82 In Hamburg besteht gem § 4 I HbgWG öffentliches Eigentum an Grünflächen, die als öffentliche Wege gewidmet sind und der Freien und Hansestadt Hamburg gehören, sowie an bestimmten Deichgrundstücken, s § 4a I des Hamburgischen Wassergesetzes (HWaG) v 29.3.2005, GVBl 2005, 97, zul geänd am 12.9.2007, GVBl 2007, 284. Gleiches gilt in Baden-Württemberg nach § 4 I WG BW idF v 20.1.2005, GBl 2005, 219, ber 404, zul geänd am 25.4.2007, GBl 2007, 252, für das Flussbett der Gewässer I. und II. Ordnung. 83 Inwieweit daraus praktische Unterschiede zur Theorie vom modifizierten Privateigentum resultieren, ist durchaus zweifelhaft, bspw gelten nach § 5 S 1 WG BW für das öffentliche Eigentum die Vorschriften über das bürgerliche Recht, sofern die Zweckbestimmung der öffentlichen Gewässer und wasserrechtliche Beschränkungen nicht entgegenstehen. Vgl Axer (Fn 12) 43 f.

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zur Erreichung des öffentlichen, in der Widmung bestimmten Zweckes erforderlich ist.84 Diese dualistische Vorstellung vom Nebeneinander des privatrechtlichen Eigentums und der öffentlichen Sachherrschaft,85 die weithin mit einer Dienstbarkeit gem §§ 1018 ff BGB verglichen worden ist,86 führt in der praktischen Konsequenz dazu, dass den Eigentümer eine weit reichende Duldungspflicht für alle von der Widmung erfassten Nutzungen trifft und die zuständigen Behörden auf Grund der mit der Sachherrschaft begründeten Wegehoheit berechtigt sind, alle zur Verwirklichung des Widmungszweckes gebotenen Maßnahmen durchzuführen. Dies sind vor allem die mit der Unterhaltung der öffentlichen Straße zusammenhängenden Aufgaben. Eine darüber hinausreichende Inanspruchnahme des Straßeneigentums richtet sich nach privatem Recht und ist daher regelmäßig von der Zustimmung des Straßeneigentümers abhängig, der dafür ein privatrechtliches Entgelt verlangen kann. Forderungen des innerstädtischen Einzelhandels nach einer Übertragung des Hausrechts an Einkaufsstraßen zur Fernhaltung unwillkommenen Publikums im Wege des sog Straßenpachtmodells scheitern an den öffentlich-rechtlichen Beschränkungen des Eigentums, die die Widmung mit sich bringt. Privatrechtliche Rechtsgeschäfte über gewidmete Straßen sind nur insoweit möglich, als sie die öffentlich-rechtliche Zweckbestimmung der Straße nicht beeinträchtigen.87

c) Das Prinzip der förmlichen Widmung 20 Angesichts der zentralen Funktion, die der Widmung für eine Bestimmung der Rechts- und Nutzungsverhältnisse an öffentlichen Straßen zukommt, ist es geradezu als Ausdruck der Rechtssicherheit anzusehen, dass die Widmung in den jeweiligen Straßengesetzen eine förmliche Ausgestaltung erfahren hat.88 Die Straßengesetze von Bund und Ländern sehen die Widmung durch Verwaltungsakt als die regelmäßige Rechtsform der Widmung öffentlicher Straßen vor, woraus sich wesentliche Konsequenzen für die von ihr ausgelösten Rechtswirkungen und den Rechtsschutz ergeben.

d) Formalisierungsprinzip 21 Als weitere Konsequenz aus der spezifischen Bedeutung der Widmung als Grundlage für die konkret bestehenden Rechts- und Nutzungsverhältnisse an der öffentlichen Straße sind Änderungen der Verkehrsfunktion, des Nutzungsumfanges und der straßenrechtlichen Klassifizierungen wie die Widmung selbst einer Durchführung förmlicher Verfahren vorbehalten. Diese Formalisierung hat zur Anerkennung dieser Veränderungen als eigenständige Rechtsinstitute und zu ihrer näheren Ausgestaltung in den Straßengesetzen von Bund und Ländern geführt, für die sich die Bezeichnungen „Widmungserweiterung“, „Teileinziehung“, „Umstufung“ und „Einziehung“ eingebürgert haben.89

_____ 84 BGHZ 21, 319, 327; 19, 85, 90; 9, 373, 380 ff; VG Köln NJW 1991, 2584, 2586, dazu Manssen JuS 1992, 745 ff und Axer NWVBl 1992, 11 ff; Papier in: Erichsen/Ehlers (Fn 76) § 38 Rn 18. 85 Vgl § 2 III FStrG; § 6 VI StrWG NW; § 5 VIII StrG BW; Art 6 V BayStrWG; § 10 I StrG Berlin; § 6 VIII BbgStrG; § 5 V LStrG Bremen; § 6 IV HbgWG; § 4 IV HessStrG; § 7 VI StrWG MV; § 6 IV NdsStrG; § 36 VI LStrG RP; § 6 V StrG SL; § 6 VI SächsStrG; § 6 VI StrG LSA; § 6 VI StrWG SH; § 6 VI ThürStrG. 86 Dagegen mit guten Gründen Axer (Fn 12) 112 ff. 87 Entweder das Geschäft ist nach § 134 BGB nichtig oder die Geltendmachung der der Widmung zuwiderlaufenden Rechtspositionen ist unzulässig; s zum Meinungsstand Pielow in: Stober/Olschok, Handbuch des Sicherheitsgewerberechts 2004, F III Rn 32 ff; Finger/Müller NVwZ 2004, 953 ff mwN. 88 § 2 FStrG; § 6 StrWG NW; § 5 StrG BW; Art 6 BayStrWG; § 3 StrG Berlin; § 6 BbgStrG; § 5 LStrG Bremen; § 6 HbgWG; § 4 HessStrG; § 7 StrWG MV; § 6 NdsStrG; § 36 LStrG RP; § 6 StrG SL; § 6 SächsStrG; § 6 StrG LSA; § 6 StrWG SH; § 6 ThürStrG. 89 S dazu eingehend Rn 47 ff.

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II. Planung und Bau öffentlicher Straßen – 7. Kapitel

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II. Planung und Bau öffentlicher Straßen 7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht II. Planung und Bau öffentlicher Straßen – 7. Kapitel

Das Straßenrecht umfasst nicht nur die bereits angesprochene Bestimmung der straßenrecht- 22 lichen Nutzungsordnung durch die Widmung, sondern auch die zeitlich vorgelagerte Planung und den Bau öffentlicher Straßen. Die Rechte und Pflichten, die sich aus der Widmung ergeben und die straßenrechtliche Nutzungsordnung als Kernbereich des Straßenrechts bestimmen, setzen die tatsächliche Existenz einer öffentlichen Straße nicht nur gedanklich voraus, sie werden vielmehr von der konkreten räumlichen Belegenheit der Straße und den angrenzenden Formen baulicher Nutzung maßgeblich geprägt. Diesen gleichsam „externen“ Entstehungsfaktoren einer öffentlichen Straße und ihrer Bewältigung im Rahmen von Planung und Straßenbau kommt daher gerade für die spezifische Ausgestaltung der jeweiligen Nutzungsform einer Straße vorentscheidende Bedeutung zu.90 Die öffentlich-rechtliche Straßenplanung und der Straßenbau sind daher zu einem wesentlichen Bestandteil des Straßenrechts geworden. Der innere Zusammenhang von Planung, Bau und Widmung wird durch das sog Dreitaktprinzip der Entstehung öffentlicher Straßen anschaulich zum Ausdruck gebracht.91

1. Vorbereitende Stufen der Straßenplanung Um eine sachgerechte Berücksichtigung aller planungserheblichen Gesichtspunkte erreichen zu 23 können, ist der Gesamtvorgang der Straßenplanung in vier verschieden ausgerichtete, aufeinander aufbauende Planungsstufen zu unterteilen. Als erste Planungsstufe wird die sog Ausbauund Bedarfsplanung für das gesamte Straßennetz durchgeführt. Auf der zweiten Stufe wird die Straße als raumbedeutsame Maßnahme einem Raumordnungsverfahren und ggf einer verfahrensintegrierten Umweltverträglichkeitsprüfung unter Einbeziehung der Öffentlichkeit unterzogen. Im Rahmen der dritten Planungsstufe erfolgt die Bestimmung der Linienführung der Straße, auf deren Grundlage abschließend als vierte Stufe die eigentliche straßenrechtliche Planfeststellung vorgenommen wird. Abgesehen vom Raumordnungsverfahren erfolgt die Straßenplanung im Wege einer sachspezifischen Fachplanung, die jedoch Belange anderweitiger Infrastrukturplanung92 ebenso wie des Landschafts- und des Naturschutzes in vielfältiger Weise zu berücksichtigen hat.

a) Ausbau- und Bedarfsplanung Die Ausbau- und Bedarfsplanung ist auf Grund der besonderen, über die bloße Verkehrsfunk- 24 tion hinausreichende Bedeutung öffentlicher Straßen für die Infrastruktur des Landes93 als eine Entscheidung anzusehen, die für die Öffentlichkeit von allgemeinem Interesse und in einem so dicht besiedelten Land wie der Bundesrepublik Deutschland daher von erheblicher politischer Relevanz ist.94 Straßenplanung ist demgemäß nur auf der Grundlage einer übergreifenden Gesamtplanung möglich, die den Bedürfnissen und Zielen eines zusammenhängenden Straßennetzes folgt und zugleich die Finanzierung des Straßenausbaus gewährleisten kann.95 Die politische Grundentscheidung über den Neu- und Ausbau des öffentlichen Straßennetzes wird in den von Bund und Ländern erlassenen Bedarfs- und Ausbauplänen getroffen, in denen auch eine ent-

_____ 90 Vgl Papier (Fn 1) § 10 Rn 20 und Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 67. 91 So namentlich Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 67. 92 Bspw Energierversorgungs- und Telekommunikationsleitungen, vgl Bartlsperger Straßen- und Wegerecht, in: Kimminich, Handbuch des Umweltrechts, 1983. 93 Vgl dazu Streit in: Bartlsperger/Blümel/Schroeter, Ein Vierteljahrhundert Straßenrechtsgesetzgebung, 1 ff. 94 S namentlich Papier (Fn 1) § 10 Rn 21 ff; Pappermann/Löhr/Andriske Recht der öffentlichen Sachen, 46 ff. 95 S Leue in: Kodal (Fn 8) Kap 34 Rn 1; Papier (Fn 1) § 10 Rn 21.

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7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht

sprechende Prioritätensetzung dadurch vorgenommen wird, dass für die jeweiligen Vorhaben bestimmte Dringlichkeitsstufen festgesetzt werden.96 Während die Bedarfs- und Ausbauplanungen auf Bundesebene und zB in Nordrhein-Westfalen als förmliches Gesetz erlassen werden,97 sind sie in den übrigen Ländern als verwaltungsinterne Entscheidungen anzusehen.98 Über die Aufnahme eines Vorhabens in den Bedarfsplan ist nach verkehrspolitischem Ermessen zu entscheiden, wobei dieses erst dann verletzt wird, wenn überhaupt keine Notwendigkeit für eine solche Aufnahme ersichtlich ist.99 Nach dem im Jahr 2005 erlassenen SUP-Gesetz,100 das der Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG101 dient, besteht bei Verkehrswegeplanungen auf Bundesbene einschließlich Bedarfsplänen nach einem Verkehrswegeausbaugesetz des Bundes bereits auf dieser Planungsstufe die Pflicht zur Durchführung einer strategischen Umweltprüfung, § 14b I 1 iVm Anlage 3 Nr 1.1 UVPG.102

b) Raumordnungsverfahren 25 Die konkrete Straßenplanung wird mit dem als zweitem Planungsschritt erfolgenden Raumordnungsverfahren eingeleitet.103 Im Rahmen dieses Verfahrens wird die geplante Straße, soweit sie als raumbedeutsames Vorhaben anzusehen ist,104 gem § 15 I ROG frühzeitig mit den raumordnerischen Erfordernissen sowie anderen Planungen und Maßnahmen abgestimmt. Den Ländern wird durch die Neufassung in § 15 I 4 a, 4 b ROG die Möglichkeit eingeräumt, von der Durchführung eines Raumordnungsverfahrens abzusehen, sofern sichergestellt ist, dass die Raumverträglichkeit anderweitig geprüft wird. Nach § 16 I UVPG kann Landesrecht ferner bestimmen, unter welchen Voraussetzungen eine Umweltverträglichkeitsprüfung im Rahmen eines Raumordnungsverfahrens entbehrlich ist.105 Damit fällt die Entscheidung darüber, ob eine UVP im Raumordnungsverfahren durchgeführt wird oder ob diese auf das Planfeststellungsverfahren oder das Linienfeststellungsverfahren verlagert wird, in die Regelungszuständigkeit der Länder. Allerdings kann das EU-Recht bei bestimmten von der SUP-RL und der UVP-RL erfassten Vorhaben eine UVP erforderlich machen. 106 Wird ein Raumordnungsplan aufgestellt, so besteht eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltprüfung im Sinne der Richtlinie über die Prüfung der

_____ 96 Vgl dazu Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 69. 97 S einerseits das Fernstraßenausbaugesetz des Bundes idF v 20.1.2005, BGBl I 201 zul geänd durch Gesetz v 9.12. 2006, BGBl I 2833, und andererseits das Gesetz über den Bedarf und die Ausbauplanung für Landstraßen idF v 20.4. 1993 (GV NW 297) zul geänd durch Gesetz v 12.12.2006, GV NW 2007, 92. 98 So Peine JZ 1996, 350, 354; Schnebelt/Kromer (Fn 27) Rn 116. 99 BVerwGE 107, 1, 9; E 100, 238, 254 o JK UVP-RL Art 2 ff/1; E 98, 339, 347. 100 Gesetz v 25.6.2005, BGBl I 1746. 101 RL 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 27.6.2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, ABlEG v 21.7.2001 L 197/30ff. 102 S dazu Sauthoff ZUR 2006, 15 ff. 103 S zum Raumordnungs- und Landesplanungsrecht umfassend o Krebs 4. Kap Rn 34 ff. Das Raumordnungsgesetz des Bundes wurde im Jahr 2008 umfassend novelliert, um die Vorschriften namentlich mit europarechtlichen Vorgaben in Einklang zu bringen und um den verfassungsrechtlichen Änderungen der „Föderalismusreform“ Rechnung zu tragen. 104 Für eine der Planung und Linienführung nach § 16 FStrG unterliegende Bundesstraße wird dies gem § 17 II ROG iVm § 1 S 3 Nr 8 ROV in der Regel angenommen. 105 § 16 UVPG wurde im Jahr 2006 durch das Gesetz zur Einführung einer strategischen Umweltprüfung und zur Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG v 25.6.2005, BGBl I 1746 geändert, um eine Entflechtung von Bundes- und Landesrecht im Bereich des Raumordnungsverfahrens zu erreichen, und im Zuge der Raumordnungsreform des Jahres 2008 erneut novelliert; s Wagner in: Hoppe, UVPG, 4. Aufl 2012, § 16 Rn 2. S zum SUPG Hendler NVwZ 2005, 977 ff; Schink NVwZ 2005, 615 ff; Sydow DVBl 2006, 65 ff; zur SUP im Straßenrecht Sauthoff ZUR 2006, 15 ff. 106 Wagner in: Hoppe (Fn 105) § 16 Rn 71.

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Auswirkung bestimmter Pläne und Programme107 sowohl auf Bundes- (gem § 17 V 1 iVm § 9 ROG) als auch auf Landesebene (gem § 9 ROG). Neben der Umweltprüfung sind die in § 2 II Nr 6 ROG genannten Umweltbelange in die raumordnerische Gesamtabwägung einzustellen.108 Darüber hinaus sehen die durch das Bau- und Raumordnungsgesetz 1998 eingeführten Vorschriften in §§ 4 und 5 ROG erstmalig ein System abgestufter Bindungswirkungen von Erfordernissen der Raumordnung iSv § 3 Nr 1 ROG im Verhältnis öffentlicher und privater Vorhabenträger vor.

c) Bestimmung der Planung und Linienführung Die nächste wichtige Konkretisierungsstufe der Straßenplanung wird mit der Bestimmung der 26 „Planung und Linienführung“ von Bundesfernstraßen durch den Bundesverkehrsminister bzw von Landesstraßen durch die zuständige Landesplanungsbehörde verwirklicht.109 Dabei werden die Anfangs- und Endpunkte, der grundsätzliche Verlauf der Trasse namentlich im Hinblick auf benachbarte Ortschaften, ihre Anbindung an das vorhandene Verkehrsnetz sowie die Grundsätze der technischen Gestaltung festgelegt.110 Ist die Umweltverträglichkeit des Vorhabens im Rahmen des Raumordnungsverfahrens noch nicht untersucht worden, erfolgt diese im Rahmen der Linienführung nach § 16 FStrG.111 Auch wenn mit diesen allgemeinen Festlegungen Verlauf und Gestalt der Straße noch nicht abschließend bestimmt sind, fallen mit der Bestimmung der Planung und der Linienführung wesentliche Vorentscheidungen für das allgemeine Profil der Straße und ihre Lage zu besonders schutzbedürftigen Bereichen.112 Aus ihrem Charakter als vorbereitende Grundentscheidung schließt das BVerwG in gefestigter Rechtsprechung, dass es ihr an hinreichender Bestimmtheit fehlt, um bereits in diesem Planungsstadium eine rechtliche Betroffenheit Dritter beurteilen zu können.113 Daher hat die Rechtsprechung gegen die Linienführung gerichtete Klagen von Gemeinden und Privaten auch als unzulässig abgewiesen. Soweit die Linienführung in die nachfolgende Planfeststellung eingeht, unterliegt sie mit dieser jedoch der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle.114 Aus dieser bloß verwaltungsinternen Beachtlichkeit der Linienführung folgt allerdings auch, dass ihre Ergebnisse gegenüber Betroffenen keine präjudizierende Wirkung entfalten können.115

2. Die straßenrechtliche Planfeststellung Herzstück der gesamten Straßenplanung ist das straßenrechtliche Planfeststellungsverfah- 27 ren.116 Seine besondere Funktion besteht darin, dass auf der Grundlage der vorbereitenden Pla-

_____ 107 RL 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 27.6.2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, ABlEG v 21.7.2001 L 197/30 ff. 108 Vgl hierzu auch o Eifert 5. Kap Rn 73 mwN. 109 Bundesrechtlich ist dies gem § 16 I FStrG vorgesehen, landesrechtlich in § 37 StrWG NW; § 35 BbgStrG; § 37 NdsStrG; § 4 LStrG RP. Obwohl in den übrigen Landesstraßengesetzen eine gesetzliche Normierung der Linienführung fehlt, wird sie als sachlich unverzichtbar angesehen, so Leue in: Kodal (Fn 8) Kap 35 Rn 5.3. 110 S Leue in: Kodal (Fn 8) Kap 35 Rn 2. 111 § 15 I 1 UVPG; vgl Ronellenfitsch in: Marschall (Fn 47) § 16 Rn 55 ff; Lewin Gestufte Planung von Bundesverkehrswegen, 2003, S 76. 112 So Leue in: Kodal (Fn 8) Kap 35 Rn 2. 113 BVerwGE 62, 342, 346 f; E 48, 56, 60; BVerwG NVwZ 2010, 1295 f. 114 BVerwGE 104, 236, 252; E 62, 342, 347 f; E 48, 56, 60, 66 f; BVerwG NVwZ-RR 2002, 2; DÖV 1982, 203 f; VGH BW NVwZ-RR 1989, 349, 352; dazu Broß DÖV 1985, 253, 257 ff; Steinberg NVwZ 1983, 209 ff; Mecklenburg UPR 1997, 394 ff. 115 So Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 72; eingehend dazu Ibler DVBl 1989, 76 ff. 116 Allgemein zum Planfeststellungsverfahren Pünder in: Erichsen/Ehlers (Fn 76) § 15 Rn 2 ff; Peters Jura 1999, 327 ff; zur geschichlichen Entwicklung der Planfeststellung Blümel FS Hoppe, 2000, 3 ff; s zur rechtspolitischen Diskussion hinsichtlich der Verbesserung förmlicher Verwaltungsverfahren am Beispiel der Planfeststellung Durner ZUR 2011, 354 ff.

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nungsstufen nunmehr alle für die Planung maßgeblichen Umstände einer umfassenden Würdigung zugeführt werden und abschließend über die Zulässigkeit des geplanten Straßenvorhabens entschieden wird.117 Auf Grund der spezifischen Eignung, die das Planfeststellungsverfahren mit der ihm zukommenden Konzentrationsfunktion für die Straßenplanung aufweist, ist das Planfeststellungsverfahren sowohl für die Bundesfernstraßen nach § 17 S 1 FStrG als auch für die überörtlich bedeutsamen Staats-, Landes- oder Landstraßen I. Ordnung in den Landesstraßengesetzen118 zwingend vorgesehen.119 Auch für Kreisstraßen wird die Planfeststellung überwiegend vorgeschrieben oder zugelassen.120 Für Gemeindestraßen ist die Planfeststellung verpflichtend, wenn eine Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich ist, oder sie ist fakultativ eröffnet.121 Rechtsgrundlage der straßenrechtlichen Planfeststellung sind die einschlägigen Straßengesetze, deren spezifische Vorschriften über das Planfeststellungsverfahren im Zuge der Rechtsbereinigung durch einen Verweis auf das allgemeine Planfeststellungsrecht der Landesverwaltungsverfahrensgesetze in den §§ 72 ff VwVfG teils ersetzt und teils ergänzt worden sind.122 Durch das Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz ist das bundesfernstraßenrechtliche Planfeststellungsverfahren mit dem Ziel neu gestaltet worden, das Verfahrensrecht zu vereinfachen und im Bereich der Zulassung von Infrastrukturvorhaben eine Verfahrensbeschleunigung zu erreichen.123 So sieht das Gesetz Änderungen im Anhörungsverfahren, bei der Planfeststellung und beim Planfeststellungsbeschluss ebenso wie Modifikationen beim Rechtsschutz vor. Damit fügt es sich in die seit Beginn der 1990er Jahre erlassenen Gesetze ein, um das Planungsverfahren zu beschleunigen.124

a) Grundstrukturen des Verfahrensablaufs 28 Planfeststellungsverfahren125 beginnen mit der sog Planaufstellung. Die jeweils zuständige Straßenbaubehörde126 erarbeitet auf der Grundlage der Linienführung zunächst einen genauen Plan des Straßenvorhabens, reicht diesen bei der Anhörungsbehörde127 gem § 73 I VwVfG ein und be-

_____ 117 Vgl Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 74. 118 Eine Ausnahme bildet lediglich der Stadtstaat Hamburg, der das Instrumentarium des BauGB für ausreichend erachtete, s Dürr in: Kodal (Fn 8) Kap 36 Rn 3.1 (dort noch Hamburg und Berlin). 119 § 38 I StrWG NW; § 37 I 1 StrG BW; Art 36 I BayStrWG; § 22 I 1 StrG Berlin; § 38 I 1 BbgStrG; § 33 I 1 LStrG Bremen; § 33 I 1 HessStrG; § 45 I StrWG MV; § 38 I 1 NdsStrG; § 5 I 1 LStrG RP; § 39 I 1 StrG SL; § 39 I 1 SächsStrG; § 37 I 1 StrG LSA; § 40 I StrWG SH; § 38 I 1 ThürStrG. 120 Zwingend vorgesehen nach § 38 I StrWG NW; § 22 I StrG Berlin; § 38 I 1 BbgStrG; § 33 I 1 HessStrG; § 38 I 1 NdsStrG; § 5 I LStrG RP; § 39 I StrG SL; § 39 I 1 SächsStrG; – zwingend vorgesehen, wenn UVP erforderlich: Art 36 II, III BayStrWG; § 45 II StrWG MV; § 40 II StrWG SH; § 38 I 2 ThürStrG; – als Möglichkeit zugelassen: § 37 I 2 StrG BW; § 37 I 2 StrG LSA. 121 Zwingend vorgesehen, wenn UVP erforderlich nach § 38 I StrwG NW; Art 36 II, III BayStrWG; § 45 II 2 StrWG MV; § 38 I 2, 3 NdsStrG; § 39 I 2 SächsStrG; § 40 II StrWG SH; § 38 I 2 ThürStrG; – als Möglichkeit zugelassen nach § 37 I 2 StrWG BW; § 38 I 2 BbgStrG; § 33 I 2 HessStrG; § 5 V LStrG RP; § 39 II StrG SL; § 37 I 2 StrG LSA. 122 Vgl dazu Dürr in: Kodal (Fn 8) Kap 37 Rn 1.1. 123 Gesetz zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben v 9.12.2006, BGBl I 2833; s dazu Otto NVwZ 2007, 379 ff; Schröder NuR 2007, 380 ff; Schütz VBlBW 2007, 441 ff; Stüer/Hermanns DVBl 2007, 1482 ff; Wickel UPR 2007, 201 ff. 124 S Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz v 16.12.1991, BGBl I 2174, zul geänd am 9.12.2006, BGBl I 2833; Planungsvereinfachungsgesetz v 17.12.1993, BGBl I 2123; Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz v 12.9. 1996, BGBl I 1354; zur Verfahrensbeschleunigung und Deregulierung siehe Erbguth UPR 1999, 41 ff. 125 Zu den Besonderheiten des Planfeststellungsverfahrens ausführlich Pünder in: Erichsen/Ehlers (Fn 76) § 15 Rn 2 ff. 126 Sollte dies eine im Auftrag des Bundes handelnde Landesbehörde sein, so hat sie bestimmte Richtlinien, zB die Planfeststellungsrichtlinien 2002 (VkBl 2002, 803 ff) zu beachten. 127 In der Regel sind dies die Bezirksregierungen als höhere Verwaltungsbehörden, s § 39a I StrWG NW; § 35 I HessStrG; § 38 V NdsStrG; § 39 VII SächsStrG; anders gem Art 39 I BayStrWG die Regierung; gem § 37 VIII StrG BW das Regierungspräsidium; gem § 22 I 3–5 StrG Berlin und § 33 IX LStrG Bremen der Senator für das Bauwesen; gem

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antragt den Erlass eines Planfeststellungsbeschlusses. Diese leitet das Anhörungsverfahren gem § 73 II VwVfG128 mit der Einholung der Stellungnahmen der Behörden ein, deren Aufgabenbereiche durch das Vorhaben berührt werden. Nach § 17a Nr 2 FStrG werden zudem bereits zu Beginn des Anhörungsverfahrens die Stellungnahmen von Naturschutzverbänden erforderlich, so dass eine fristgebundene Beteiligung von Natur- und Umweltvereinigungen gesichert ist.129 Sodann erfolgt die nach § 73 III VwVfG erforderliche Auslegung des Planes in den Gemeinden, in denen sich das Vorhaben voraussichtlich auswirken wird. Diese haben die Auslegung des Planes ortsüblich bekannt zu machen, § 73 V VwVfG. Bis zwei Wochen nach Ablauf der Auslegungsfrist ist jeder, dessen Belange durch das Vorhaben berührt werden, zur Erhebung von Einwendungen befugt; verspätet erhobene Einwendungen sind regelmäßig ausgeschlossen.130 Dabei erstreckt sich die Präklusion auch auf neu beteiligte Vereinigungen.131 In gewissem Umfang gilt dies auch für die Stellungnahme der fachlich betroffenen Behörden.132 Diese Präklusion bezieht sich auch auf ein evtl nachfolgendes verwaltungsgerichtliches Verfahren.133 Die Anhörungsbehörde führt sodann die Erörterung der erhobenen Einwendungen in einem vorher ortsüblich bekanntzumachenden Termin (§ 73 VI VwVfG) durch. Im Anwendungsbereich des BFStrG kann sie allerdings auf eine Erörterung verzichten.134 Sofern eine Erörterung stattfindet, ist den Einwendern Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Abschließend gibt die Anhörungsbehörde zum Ergebnis des Anhörungsverfahrens eine Stellungnahme ab und leitet diese gem § 73 IX VwVfG mit dem Plan, den Stellungnahmen der Behörden und den nicht erledigten Einwendungen der Planfeststellungsbehörde zu. Auf dieser Grundlage stellt die Planfeststellungsbehörde135 den Plan durch Planfeststellungsbeschluss gem § 74 I VwVfG fest und entscheidet damit über die Zulässigkeit des Vorhabens mitsamt den erforderlichen Folgemaßnahmen und zugleich über die Einwendungen, über die bei der Erörterung vor der Anhörungsbehörde keine Einigung erzielt worden ist (§ 74 II VwVfG). Der Beschluss ergeht in schriftlicher Form mit Begründung und ist dem Träger der Straßenbaulast und den Beteiligten, über deren Einwendungen entschieden

_____ § 6 VII LStrG RP der Landesbetrieb für Straßen und Verkehr; gem § 40 II StrG SL das Ministerium für Wirtschaft, Raumordnung und Bauwesen; nach § 39 I BbgStrG und § 60 II StrWG MV das Landesamt für Verkehr und Straßenbau; nach § 52 I StrWG SH das Ministerium für Wirtschaft, Technologie und Verkehr und nach § 38 VI ThürStrG das Landesverwaltungsamt. 128 IVm den jeweiligen straßenrechtlichen Vorschriften: § 17a FStrG; § 39 II StrWG NW; § 39 II BbgStrG; § 35 I 1 HessStrG; § 39 III SächsStrG; § 37 V StrG LSA; § 41 II StrWG SH. 129 Dabei sind nicht nur die nach §§ 59, 60 BNatSchG anerkannten Vereine gemeint, sondern auch die, die auf Grundlage der §§ 2, 3 Umweltrechtsbehelfsgesetz v 7.12.2006, BGBl I 2816 anerkannt werden, s dazu Schütz VBlBW 2007, 441, 443. 130 S bspw § 17a Nr 7 S 1 FStrG; § 39 IIIa S 1 StrWG NW; dazu, dass die Auslegungs- und Einwendungsfrist nicht zur Disposition der Anhörungsbehörde stehen, vgl BVerwG NVwZ-RR 1999, 162; zur Präklusion im Fernstraßenrecht Stüer DÖV 2003, 473 ff. 131 S § 17a Nr 7 FStrG. 132 § 17a Nr 7 FStrG; § 39 IIIa S 3 StrWG NW; § 39 III 3 BbgStrG; § 45 VIII 3 StrWG MV; § 37 VI 3 StrG LSA; § 41 III 3 StrWG SH; § 38 V 3 ThürStrG. 133 BVerwG NVwZ 1997, 489; zu dem Streit, ob dies schon zur Unzulässigkeit oder erst zur Unbegründetheit einer Klage führt, Papier (Fn 1) § 10 Rn 30 und 41 mwN; zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der materiellen Präklusion, Thiel DÖV 2001, 814, 817 ff; die Regelung des § 61 III BNatSchG stellt eine eigenständige materielle Präklusionsnorm dar, die den allg Regeln vorgeht, s BVerwG NVwZ 2004, 861 ff; der Eintritt der Präklusion erfasst auch Umstände, die die Planfeststellungsbehörde von Amts wegen zu berücksichtigen hat, s BVerwG Beschl v 1.4.2005 – Az 9 A 4/05. 134 S § 17a Nr 5 S 1 FStrG. In Verfahren der Planänderung ist dies regelmäßig der Fall vgl § 17a Nr 6 S 2 FStrG. Streitig ist, ob die Anhörungsbehörde bei der Entscheidung ermessenlenkenden Maßgaben unterliegt, abl Otto NVwZ 2007, 379; für eine entsprechende Anwendung des § 28 II VwVfG Lecheler DVBl 2007, 713, 717; krit Schütz VBlBW 2007, 441, 444. 135 Nach § 17b Nr 6 FStrG ist dies grds die oberste Landesstraßenbaubehörde, jedoch haben die Länder zT von der Möglichkeit abweichender Bestimmungen gem § 22 IV 2 FStrG Gebrauch gemacht, s § 39 a II StrWG NW; § 37 VIII StrG BW; Art 39 II BayStrWG; § 39 IX SächsStrG.

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wird, zuzustellen. Eine Ermittlungspflicht hinsichtlich der Benachrichtigung nicht ortsansässiger Betroffener, wie sie § 73 V 3 VwVfG verlangt, ist im spezielleren § 17b Nr 7 FStrG nicht vorgesehen, so dass nur solche Betroffene zu benachrichtigen sind, deren Aufenthaltsort bekannt ist. Darüber hinaus ist der Beschluss in den vom Vorhaben betroffenen Gemeinden auszulegen.136

b) Rechtsnatur der Planungsentscheidung 29 Die im Planfeststellungsbeschluss getroffene Planungsentscheidung beruht im Kern auf der Ausübung der planerischen Gestaltungsfreiheit der zuständigen Behörde,137 denn sie ist lediglich in ein grobmaschiges Netz normativer Vorgaben eingebunden.138 Die Behörde hat bei ihrer Entscheidung gem § 17 S 2 FStrG die von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange einschließlich der Umweltverträglichkeit zu berücksichtigen. Ob im Rahmen der Planfeststellung eine förmliche Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen ist, richtet sich nach der Art und Größe des Vorhabens.139 Der Beurteilungsmaßstab hierfür ergibt sich bei Bundesstraßen aus den Normen des UVPG, bei den übrigen Straßen aus landesgesetzlichen Regelungen,140 welche die UVP-Richtlinie umgesetzt haben.141 Wurde ein Vorhaben bereits auf einer vorangegangenen Planungsstufe einer UVP unterzogen, so sind diese Ergebnisse auf den nachfolgenden Stufen zu berücksichtigen.142 Die Umweltverträglichkeit eines Vorhabens ist keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung, sondern muss im Rahmen der Abwägung berücksichtigt werden. Ergebnis der Abwägung kann auch sein, dass die Umweltbelange planerisch überwunden werden.143 Die oben dem Grundsatz nach aufgezeigte materiell verstandene Ermächtigung der Planfeststellungsbehörde verleiht ihr primär die Befugnis zur Verwirklichung der ihr gesetzlich gestellten Planungsaufgabe und verpflichtet sie zugleich zur Bewältigung der von dem Vorhaben in seiner räumlichen Umgebung aufgeworfenen Probleme.144 Das BVerwG hat in seiner Rechtsprechung indes betont, dass es im Rechtsstaat eine schrankenlose Planungsbefugnis nicht geben kann. Vielmehr hat es die planerische Gestaltungsfreiheit rechtlichen Bindungen unterworfen, die es in gefestigter Rechtsprechung erstens den vorgelagerten Planungsverfahren, zweitens dem Grunderfordernis der Planrechtfertigung, drittens den gesetzlichen Planungsleitsätzen sowie viertens dem planerischen Abwägungsgebot entnimmt.145 Während die rein verwaltungsintern wirkende Bestimmung der Linienführung gegenüber dem Bürger und den Trägern öffentlicher Belange keine Bindungswirkung entfaltet, die die

_____ 136 § 74 IV VwVfG; s dazu im Einzelnen Dürr in: Knack/Henneke, VwVfG, § 74 Rn 39 ff. 137 Geradezu programmatisch ist die Feststellung des BVerwG, dass Planung ohne Gestaltungsfreiheit ein Widerspruch in sich wäre, s BVerwGE 56, 110, 116; E 55, 220, 226; E 48, 56, 59; E 34, 301, 304; E 72, 15, 20; E 97, 143, 148; zur rechtsstaatlichen Bindung der planerischen Gestaltungsfreiheit Pünder in: Erichsen/Ehlers (Fn 76) § 15 Rn 19. 138 S Hoppe in: Isensee/Kirchhof, HStR IV, § 77 Rn 22; zu den verfahrensrechtlichen Konsequenzen v Danwitz DVBl 1993, 422 ff. 139 Zur UVP bei Straßenbauvorhaben s Stüer/Probstfeld UPR 2001, 361 ff. 140 Zur UVP auf Landesebene vgl § 38 IIa StrWG NW; § 37 IV StrG BW; Art 37 BayStrWG; § 38 III BbgStrG. 141 Richtlinie 85/337/EWG v 27.6.1985, ABlEG L 175/40, zul geänd durch die Richtlinie 29/31/EG v 23.4.2009, ABlEG L 140/114; zum Einfluss europäischer Vorgaben auf die straßenrechtliche Planfeststellung Stüer DVBl 2003, 1437 ff; Stüer/Hermanns DVBl 2005, 1489 ff; Jannasch VBlBW 2001, 470 ff; zur Berücksichtigung der FFH-Richtlinie, vgl BVerwG NVwZ 2007, 1054 ff; NVwZ 2004, 732 ff; E 116, 254 ff; E 112, 140 ff; E 110, 302 ff; Stüer DVBl 2002, 940 ff; zur Vogelschutz-Richtlinie, s EuGH NVwZ 2004, 841 ff; BVerwG NVwZ 2006, 1161 ff; NVwZ 2004, 1114 ff; NVwZ 2003, 1395 ff; NVwZ 2003, 485 ff; zum Artenschutz in der Flachplanung Stüer/Bähr DVBl 2006, 1155 ff. 142 Vgl § 2 I 4 UVPG; § 38 IIa S 2 StrWG NW. Ebenso können die Ergebnisse der SUP einer früheren Verfahrensstufe übernommen werden, s Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn. 83. 143 BVerwG, Beschl v 9.7.2003 – Az 9 VR 1/03. 144 Grundsatz der Problembewältigung, vgl BVerwGE 97, 143, 148; E 90, 96, 99; E 72, 15, 20; stRspr. 145 BVerwGE 56, 110, 117; E 48, 56, 59; vgl auch BVerwGE 97, 143, 148; E 90, 96, 99 f; E 72, 15, 21; zur planerischen Abwägung bei Lärmbelästigung BVerwGE 123, 152, 157 f.

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planerische Abwägung der Planfeststellungsbehörde zu präjudizieren vermag,146 kommt der vorgängigen Ausbau- und Bedarfsplanung entscheidende Bedeutung im Rahmen der Planrechtfertigung zu.147 Im Rahmen der Planrechtfertigung ist im Übrigen festzustellen, ob das Straßenbauvorhaben vernünftigerweise geboten erscheint. Diese Feststellung richtet sich nach den Zielsetzungen der §§ 1 I, 3 I, 4 FStrG und wird von der Rechtsprechung getroffen, wenn bestehende Verkehrsverbindungen verbessert, die Verkehrssicherheit erhöht, sonstige Gefahrenquellen beseitigt oder bisher infrastrukturell benachteiligte Räume erschlossen werden sollen.148 Die Prüfung der Gebotenheit erstreckt sich auch auf die Frage der Finanzierbarkeit eines Vorhabens.149 Ein Vorhaben ist nicht geboten, wenn bereits bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses feststeht, dass einer Realisierung des Vorhabens innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre150 unüberwindliche finanzielle Hindernisse entgegenstehen.151 Die getroffene Trassenwahl ist kein Bestandteil der Prüfung der Gebotenheit, denn dieser Gesichtspunkt ist erst im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen.152 Gegenüber der großen praktischen Bedeutung dieser Erfordernisse für die Planrechtfertigung lebt die von der Rechtsprechung gebildete Kategorie der gesetzlichen Planungsleitsätze in den Straßengesetzen nur von der in § 1 III 1 FStrG geregelten Verpflichtung, Bundesautobahnen ohne höhengleiche Kreuzungen zu bauen.153 Aber nicht nur aus dem Gesetz, welches die Planung grundlegend regelt, können sich solche Leitsätze ergeben (interne Leitsätze), sondern auch aus Normen anderer Gesetze, die bei der Planung zu berücksichtigen sind (externe Leitsätze).154 Von besonderer Bedeutung ist schließlich die Bindung der Planfeststellungsbehörde an das planerische Abwägungsgebot, das bspw in § 17 S 2 FStrG normativ Ausdruck gefunden hat.155 Es verlangt, dass die Planfeststellungsbehörde die von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander abgewogen hat.156 Bezieht sich die Planfeststellung nur auf einen Abschnitt des Gesamtvorhabens, so ist im Rahmen der Abwägung Folgendes zu beachten. Zum einen ist in der Abwägung eine Prognose über die weiteren Abschnitte anzustellen: Aus dieser muss sich ergeben, dass für den weiteren Streckenverlauf keine unüberwindbaren Hindernisse zu erwarten sind.157 Zum anderen muss das Teilstück aber auch grundsätzlich eine eigene Verkehrsfunktion aufweisen, damit sich die Teilplanung bei einem evtl Scheitern des Gesamtvorhabens nicht als sinnlos herausstellt.158 Denn nur auf diese Weise kann letztlich der Entstehung eines

_____ 146 Vgl dazu BVerwG NVwZ-RR 2002, 2; OVG RP NuR 1995, 413, 414; VGH BW VBlBW 1989, 61, 62 f m Anm Kuchler; eingehend Wahl NVwZ 1990, 426, 435. 147 Vgl dazu BVerwGE 107, 1, 8; NdsOVG DVBl 1994, 770, 771 f; VGH BW NVwZ-RR 1994, 373. 148 Dazu BVerwGE 98, 339, 345; E 71, 166, 168 f; OVG RP NuR 1995, 413; VGH BW VBlBW 1988, 299, 300 f. 149 BVerwG UPR 1999, 355, 356. 150 Maximale Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen, solange noch nicht mit dem Bau begonnen wurde, § 17c Nr 1 FStrG. Zum Beginn der Durchführung § 17c Nr 4 FStrG. 151 VGH BW VBlBW 2003, 235 ff zu § 17 VII FStrG aF. 152 BVerwGE 102, 331, 343 f; E 75, 214, 236 f. 153 BVerwGE 71, 163, 164 im Gegensatz zu § 50 BImSchG, der lediglich ein Optimierungsgebot, jedoch keinen unbedingt zu beachtenden Planungsleitsatz beinhaltet, er gibt einer Gemeinde kein subj Recht auf Einhaltung, s BVerwG NVwZ 2005, 813; zur Ersetzung der Bezeichnung „Planungsleitsätze“ durch „zwingende materielle Rechtssätze“, Jarass DVBl 1998, 1202, 1205 ff. 154 Kühling/Herrmann Fachplanungsrecht, 2. Aufl 2000, Rn 298 ff; zu zwingenden Rechtssätzen aus dem BNatSchG BVerwGE 112, 140 ff; E 104, 144; E 105, 178 o JK FStrG § 17 I 2/2; aus dem BImSchG BVerwGE 108, 248; aus dem ROG VGH BW VBlBW 2003, 235 ff. 155 Landesstraßenrechtlich geregelt in § 38 II StrWG NW; § 37 V StrG BW; § 22 I 10 StrG Berlin; § 35 I 3 BbgStrG; § 33 I 3 LStrG Bremen; § 38 II 1 NdsStrG; § 5 I 2 LStrG RP; § 39 I 2 StrG SL; § 39 III 1 SächsStrG; § 37 I 4 StrG LSA; § 38 I 5 ThürStrG; vgl als Bsp für eine Abwägung: BayVGH NVwZ-RR 2004, 328 ff; BVerwGE 123, 152. 156 Zur Beachtlichkeit von Optimierungs- und Berücksichtigungsgeboten s Hoppe DVBl 1992, 853 ff; Sendler UPR 1995, 41, 45 ff; s hierzu auch BayVGH NVwZ-RR 2009, 229, 233 f. 157 BVerwGE 108, 248, 252; E 104, 236, 243. 158 BVerwGE 108, 248, 251; E 107, 1, 15.

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„Planungstorsos“ entgegengewirkt werden. Die gerichtliche Kontrolle des Abwägungsgebotes erstreckt sich darauf, – ob eine Abwägung überhaupt stattgefunden hat (Abwägungsausfall), – alle nach Lage der Dinge abwägungserheblichen Umstände in rechtlich und tatsächlich zutreffender Weise ermittelt und zusammengestellt worden sind (Abwägungsdefizit),159 – die Bedeutung der betroffenen Belange erkannt und der gewählte Ausgleich nicht außer Verhältnis zur objektiven Bedeutung einzelner Belange steht (Abwägungsfehlgewichtung) und die einzelnen Belange nicht zueinander falsch in Beziehung gesetzt worden sind (Abwägungsdisproportionalität).160 30 Darüber hinaus sieht § 17e VI 1 FStrG vor, dass Mängel bei der Abwägung der von ihr berührten öffentlichen und privaten Belange nur erheblich sind, wenn sie offensichtlich sind und auf das Abwägungsergebnis Einfluss genommen haben.161 Damit Abwägungsfehler als offensichtlich angesehen werden können, müssen sie der Rechtsprechung des BVerwG zufolge objektiv belegt und anhand konkreter Umstände positiv erkennbar sein; dafür genügt es nicht, dass die Begründung lückenhaft ist oder abwägungserhebliche Umstände nicht ausdrücklich genannt worden sind. Für die geforderte Fehlerkausalität reicht es indes schon aus, dass die konkrete Möglichkeit einer anderen Planungsentscheidung bestand. 162 Aber selbst erhebliche Abwägungsfehler führen, wie auch die Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, nur dann gem § 17e VI 2 FStrG zur Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses, wenn sie nicht durch Planergänzung oder ein ergänzendes Verfahren behoben werden können.163

c) Rechtswirkungen des Planfeststellungsbeschlusses 31 Als verfahrensabschließende Entscheidung mit Verwaltungsaktcharakter entfaltet der Planfeststellungsbeschluss ganz unterschiedlich geartete Rechtswirkungen. 164 Die dem Planfeststellungsbeschluss in § 75 I und II VwVfG beigelegten Rechtswirkungen entsprechen der besonderen Aufgabe der Planfeststellung, die in der umfassenden Bewältigung der vom Planvorhaben in seiner räumlichen Umgebung aufgeworfenen Probleme liegt. Aus dieser Perspektive gleichsam selbstverständlich ist die durch den Planfeststellungsbeschluss getroffene Entscheidung über die Zulässigkeit des Vorhabens, die sich gem § 75 I 1, 1. Hs VwVfG ebenso auf die notwendigen Folgemaßnahmen wie auf alle von ihm berührten öffentlichen Belange erstreckt. Die damit behördlicherseits umfassend erteilte Freigabe des Vorhabens wird allgemein als Zulassungs- oder Genehmigungswirkung bezeichnet.165 Von der umfassenden Genehmigungsfunktion des Planfeststellungsbeschlusses sachlich gleichsam bedingt ist die sog Konzentrationswirkung gem § 75 I 1,

_____ 159 Auch Alternativlösungen müssen in der Abwägung berücksichtigt werden, wenn sie im Anhörungsverfahren vorgeschlagen worden sind oder sich aufdrängen, vgl BVerwG NVwZ 2003, 1393 ff; s hierzu auch BVerwG NVwZ 2009, 986 f. 160 BVerwGE 107, 1, 6 f; E 56, 110, 122 f; E 48, 56, 63 f; E 45, 309, 314; E 34, 301, 309 – stRspr; eingehend dazu Kühling/Herrmann (154) Rn 312 ff; Dürr in: Kodal (Fn 8) Kap 37 Rn 32.2. 161 Diese Regelung wurde bereits durch das Planungsvereinfachungsgesetz eingefügt und wurde vor allem in die Straßengesetze der neuen Länder übernommen s § 38 II 2 und 3 StrWG NW; § 37 V 2 StrG BW; § 45 X StrWG MV; § 37 IX StrG LSA; § 41 V StrWG SH; § 38 VIII ThürStrG. 162 So BVerwGE 64, 33, 38 ff o JK BBauG § 155b/1; E 104, 236, 244; BVerwG NVwZ 1992, 662 f zur wortgleichen Vorbildvorschrift in § 214 III 2 BauGB bzw § 155b BBauG aF. 163 In diesen Fällen stellt das Gericht lediglich die Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit des angefochtenen Planfeststellungsbeschlusses fest; BVerwGE 100, 370, 372 f; Jarass DVBl 1997, 795, 801; zur Planergänzung Henke UPR 1999, 51 ff. 164 Ausführlich zu den Rechtswirkungen des Planfeststellungsverfahrens Pünder in: Erichsen/Ehlers (Fn 76) § 15 Rn 19 ff. 165 Vgl dazu BVerwGE 58, 281, 284; Dürr in: Kodal (Fn 8) Kap 36 Rn 19.1, 19.21.

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2. Hs VwVfG, derzufolge andere behördliche Entscheidungen, insbesondere öffentlich-rechtliche Genehmigungen, Verleihungen, Erlaubnisse, Bewilligungen, Zustimmungen und Planfeststellungen, nicht erforderlich sind. Die so angeordnete Konzentration der Vorhabenzulassung auf den Planfeststellungsbeschluss sichert das Vorhaben gegenüber konkurrierenden behördlichen Zulassungsverfahren im Sinne einer verbesserten Verwaltungseffektivität ab. Darüber hinaus erscheint die Konzentration als notwendige Bedingung für die umfassende Bewältigung der raumbezogenen Problemstellung des Planungsvorhabens durch den Planfeststellungsbeschluss.166 Demgemäß legt das BVerwG der Konzentrationswirkung nur eine formell-rechtliche Bedeutung im Hinblick auf Zuständigkeit und Verfahren bei, die weitere Genehmigungsakte entbehrlich macht. Dagegen bleibt die Planfeststellungsbehörde jedoch an die materiellen Vorgaben des einschlägigen Fachrechts gebunden.167 Eine Durchbrechung der formellen Konzentrationswirkung des § 75 I 1, 2. Hs VwVfG sieht die Rechtsprechung in § 14 I, III WHG.168 § 75 I 2 VwVfG verleiht dem Planfeststellungsbeschluss darüber hinaus die sog Gestaltungswirkung, durch die alle öffentlich-rechtlichen Beziehungen zwischen dem Vorhabenträger und den Planbetroffenen rechtsgestaltend, dh mit materiell-rechtlicher Wirkung geregelt werden.169 Aus der rechtsgestaltenden Wirkung, die dem Planfeststellungsbeschluss für die öffentlich-rechtlichen Beziehungen zukommt, ergeben sich zugleich Vorwirkungen für die dem Privatrecht unterliegenden Rechtsbeziehungen der Betroffenen, vor allem im Hinblick auf die Zulässigkeit ggf erforderlicher Enteignungen. 170 Von besonderer praktischer Bedeutung ist schließlich die sog Präklusionswirkung, die dem Planfeststellungsbeschluss auf Grund von § 75 II 1 VwVfG zukommt. Ist der Planfeststellungsbeschluss unanfechtbar geworden, so sind Ansprüche auf Unterlassung des Vorhabens, auf Beseitigung oder Änderung der Anlagen oder auf Unterlassung ihrer Benutzung ausgeschlossen. Diese umfassende, materiell-rechtlich wirkende Präklusion171 gilt für öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Ansprüche gleichermaßen. Von der Wirkung betroffen ist grds auch der Erwerber eines „präklusionsbelasteten“ Grundstücks.172 Begrenzt wird die Ausschlussfunktion dieser Vorschrift durch die in § 75 II 2 VwVfG enthaltene Ausgleichsregelung, die aber gegenständlich nur die nicht voraussehbaren, nach Unanfechtbarkeit des Planes aufgetreteen Wirkungen des Vorhabens oder der dem Plan entsprechenden Anlagen erfasst.173

d) Schutzauflagen gem § 74 II 2 VwVfG Auf Grund des besonderen Gewichts der öffentlichen Interessen, die den Ausbau und die Ver- 32 besserung gerade des Fernstraßennetzes regelmäßig erforderlich machen, wäre eine Verweisung der betroffenen Privatinteressen auf die Alternativen, das Vorhaben gänzlich zu verhindern oder ihm weichen zu müssen, eine unbefriedigende Frontstellung, die zudem die vielfältigen Gestaltungsoptionen der Planung unberücksichtigt ließe.174 Daher sieht die praktisch bedeutsame Be-

_____ 166 Vgl dazu Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 86. 167 BVerwGE 71, 163, 164; E 70, 242, 244; dazu Jarass Konkurrenz, Konzentration und Bindungswirkung von Genehmigungen, 1984, 53 ff. 168 Vgl HessVGH NVwZ 1982, 452 ff und OVG Berlin NVwZ 1983, 416 ff o JK VwGO § 47 VI/9; BVerwG NVwZ-RR 1999, 162; dagegen indes Dürr in: Kodal (Fn 8) Kap 36 Rn 19.5 unter Hinweis auf BVerwGE 55, 220 ff; s hierzu auch BVerwG NVwZ 2010, 44 ff. 169 S Dürr in: Kodal (Fn 8) Kap 36 Rn 20. 170 S BVerfGE 45, 297, 319; E 56, 249, 263 ff: Der Planfeststellungsbeschluss „berührt zwar potentiell, aber noch nicht aktuell die Privatrechtsordnung“. 171 Vgl dazu v Danwitz UPR 1996, 323, 324 f mwN. 172 BVerwG NVwZ 1997, 171, 173; zu möglichen Ausnahmen VGH BW VBlBW 2000, 111 f. 173 Dazu eingehend Dürr (Fn 136) § 75 Rn 41, 85 ff. 174 Vgl auch Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 100; allgemein Pünder in: Erichsen/Ehlers (Fn 76) § 15 Rn 16 f.

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stimmung des § 74 II 2 VwVfG vor, dass die Planfeststellungsbehörde dem Vorhabenträger die Errichtung und Unterhaltung von Anlagen oder sonstigen Vorkehrungen aufzuerlegen hat, die zum Wohl der Allgemeinheit oder zur Vermeidung nachteiliger Wirkungen auf Rechte anderer erforderlich sind. Unter solchen Nachteilen sind jedoch nur erhebliche Beeinträchtigungen zu verstehen.175 Als Schutzauflagen kommen vor allem die Herstellungs- und Schallschutzmaßnahmen gem §§ 41, 42 BImSchG in Betracht.176 Dazu gehören zB Bepflanzungen, Lärmschutzwälle, Unterführungen und Ersatzzufahrten.

e) Entbehrlichkeit der Planfeststellung 33 Straßenplanung und Straßenbau setzen indes die Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens nicht zwingend voraus. Es kann unter Umständen entbehrlich sein oder unter bestimmten Voraussetzungen durch eine Plangenehmigung oder einen Bebauungsplan ersetzt werden. So entfallen die Planfeststellung und Plangenehmigung nach § 74 VII 1 VwVfG iVm § 17b I Nr 4 FStrG und den entsprechenden Regelungen der Landesstraßengesetze177 in Fällen von unwesentlicher Bedeutung. Davon ist zB auszugehen, wenn andere öffentliche Belange nicht berührt werden, erforderliche behördliche Entscheidungen vorliegen, die dem Plan nicht entgegenstehen, oder Rechte Dritter nicht beeinflusst werden. Die Änderung der europäischen Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung und die damit verbundenen Umsetzungen im UVPG und in den Fachgesetzen haben bewirkt, dass eine zusätzliche Voraussetzung gegeben sein muss, damit ein Fall von unwesentlicher Bedeutung vorliegt. Danach darf es sich bei dem Vorhaben nicht um ein solches handeln, für das eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen ist.178 Die nach § 74 VI 1 VwVfG iVm § 17b I FStrG bestehende Möglichkeit, die Planfeststellung 34 durch das bereits anderweitig erprobte Rechtsinstitut179 der Plangenehmigung zu ersetzen, hat auch in die Straßengesetze der meisten Länder Aufnahme gefunden.180 Durch sie soll die Straßenplanung vereinfacht und damit beschleunigt werden. Die Plangenehmigung nach § 74 VI 1 VwVfG iVm § 17b I FStrG181 tritt an die Stelle eines Planfeststellungsbeschlusses, wenn Rechte anderer nicht oder nur unwesentlich betroffen werden oder sich die Betroffenen mit der Inanspruchnahme ihres Eigentums oder sonstiger Rechte einverstanden erklärt haben182 und das Benehmen mit den Trägern öffentlicher Belange hergestellt worden ist, deren Aufgabenbereich durch das Vorhaben berührt wird. Gem § 17b I Nr 1 FStrG ist diese Möglichkeit bei Bundesfernstraßen ausgeschlossen, die einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterliegen.183 Die Besonderheit der Plangenehmigung besteht darin, dass ihr kraft Gesetzes zwar die Rechtswirkungen der

_____ 175 Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 100 ff. 176 Vgl dazu BVerwG NVwZ 2004, 100 ff; NVwZ 2004, 1237 ff; Jarass NVwZ 2003, 257, 265 f; Alexander NVwZ 1991, 318 ff. 177 § 38 III StrWG NW; § 22 III StrG Berlin; § 38 IV BbgStG; § 33 III LStrG Bremen; § 45 VI StrWG MV; § 5 IV LStrG RP; § 39 IV Nr 4 StrG SL; § 39 VI SächsStrG; § 37 III StrG LSA; § 40 VI StrWG SH; § 38 III ThürStrG. 178 § 17b I Nr 4 FStrG; vgl auch § 22 III 2 Nr 3 StrG Berlin und Art 36 I 2 iVm III BayStrWG; zur Umsetzung der UVPRichtlinie ins bayerische Recht, Gassner BayVBl 2000, 289 ff. 179 § 7 II AbfG; § 31 I 2 WHG aF; s jetzt § 35 III KrWG; § 31 III WHG. 180 § 38 Ia StrWG NW; § 37 II StrG BW; Art 38 II BayStrWG; § 22 II StrG Berlin; § 38 II BbgStrG; § 45 III StrWG MV; § 5 III LStrG RP; § 39 V SächsStrG; § 37 II StrG LSA; § 40 III StrWG SH; § 38 II ThürStrG. 181 Die Regelungen der Landesstraßengesetze weisen gewisse Unterscheide auf, s § 38 Ia Nr 1–3 StrWG NW; § 40 III Nr 1–3 StrWG SH. 182 Die Einverständniserklärung ist eine öffentlich-rechtliche Erklärung, die auch den Rechtsnachfolger bindet und gegenüber der Zulassungsbehörde abzugeben ist, s VGH BW VBlBW 2004, 341 ff. 183 Siehe aber auch § 17b I Nr 5 FStrG als Sonderregelung für Berlin und die neuen Länder; zum Zusammenhang zwischen Umweltverträglichkeitsprüfung und Plangenehmigung Stüer/Probstfeld UPR 2001, 361, 362 ff; bei bayerischen Straßenprojekten, Gassner BayVBl 2000, 289, 297.

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Planfeststellung zugewiesen worden sind,184 sie aber zugleich von der Einhaltung des stark formalisierten, als schwerfällig empfundenen Planfeststellungsverfahrens befreit worden ist.185 Jedoch bleibt es auch für die Erteilung einer Plangenehmigung bei der Notwendigkeit einer umfassenden Abwägung der jeweils berührten privaten und öffentlichen Belange einschließlich der Umweltverträglichkeit.186 Gegenüber dieser erst vor wenigen Jahren geschaffenen Möglichkeit ist die Ersetzung der 35 Planfeststellung durch die Festsetzung von Verkehrsflächen in einem Bebauungsplan gem § 9 I Nr 11 BauGB seit geraumer Zeit in den Straßengesetzen von Bund und Ländern anerkannt.187 Für den Fall, dass es sich bei der herzustellenden Straße um eine Erschließungsanlage iSv § 127 II BauGB handelt, kann ein Bebauungsplan eine Planfeststellung nicht nur ersetzen. Sein Vorliegen ist gem § 125 I BauGB vielmehr eine notwendige Voraussetzung.188 Dabei lassen sich die Grundsätze, die im Planfeststellungsrecht Geltung beanspruchen, nicht ohne weiteres auf die Bauleitplanung übertragen. Vielmehr bestimmen sich die inhaltlichen Anforderungen an den Bebauungsplan nach den Regelungen des Baugesetzbuchs.189 Daher verfügt die Gemeinde auch nicht über die Möglichkeit zur Festsetzung von Schutzauflagen nach § 74 II 2 VwVfG, sondern hat die Bestimmung von Schallschutzmaßnahmen im räumlichen Geltungsbereichs des Bebauungsplans nach § 9 I Nr 24 iVm § 9 VII BauGB im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung in angemessener Weise zu berücksichtigen.190 Die Durchführung einer Umweltprüfung bestimmt sich nach § 2 IV BauGB.191 Darüber hinaus weist der in der Rechtsform der Satzung beschlossene Bebauungsplan gegenüber dem als Verwaltungsakt ergehenden Planfeststellungsbeschluss erhebliche Unterschiede auf, die für die Praxis von großer Bedeutung sein können. So können Festsetzungen eines Bebauungsplanes nicht in Bestandskraft erwachsen und keine Gestaltungs- und Konzentrationswirkung entfalten. Gem § 4a VI BauGB bleiben auch beim Bebauungsplan nicht rechtzeitig abgegebene Stellungnahmen unter bestimmten Voraussetzungen unberücksichtigt (Präklusionswirkung). Rechtsfehler bei der Festsetzung von Verkehrsflächen in Bebauungsplänen, die gem § 47 I Nr 1 VwGO der prinzipalen Normenkontrolle unterliegen, führen grds zur Nichtigkeit, soweit nicht die Unbeachtlichkeits- und Heilungsregelungen der §§ 214, 215 BauGB zur Anwendung gelangen.192 Ein planfeststellungsersetzender Bebauungsplan ist nicht erforderlich iSv § 1 III BauGB, wenn die Verwirklichung innerhalb dieses Zeitraums ausgeschlossen erscheint.193

_____ 184 Dazu eingehend Axer DÖV 1995, 495 ff. 185 § 74 VI 2 VwVfG iVm 17b I FStrG; § 38 Ia StrWG NW; Art 38 II 3 BayStrWG; § 22 II 2 StrG Berlin; § 38 II 3 BbgStrG; § 45 III 4 StrWG MV; § 37 II 2 und 3 StrG LSA; § 40 III 2 StrWG SH. 186 Vgl dazu Steiner NVwZ 1994, 313, 315 f. 187 § 17b II FStrG; § 38 IV 1 StrWG NW; § 37 III StrG BW; Art 38 III BayStrWG; § 22 IV StrG Berlin; § 38 V 1 BbgStrG; § 33 II LStrG Bremen; § 33 V HessStrG; § 45 VII StrWG MV; § 38 III NdsStrG; § 5 II LStrG RP; § 39 III StrG SL; § 39 VII SächsStrG; § 37 IV 1 StrG LSA; § 40 VII StrWG SH; § 38 IV 1 ThürStrG. 188 Zu der Frage, ob auch Straßen, für die weder eine Planfeststellung noch ein Bebauungsplan zwingend vorgeschrieben ist, einer formalisierten Planung bedürfen, Schmidt-Eichstaedt BauR 2001, 337 ff. 189 VGH BW VBlBW 1998, 177, 184; zur Geltung bestimmter für die straßenrechtliche Planfeststellung entwickelter Maßstäbe, VGH BW NVwZ-RR 2002, 638 ff. 190 Vgl VGH BW (Fn 189); zu Festsetzungen nach § 9 I Nr 24 BauGB, Ziekow BayVBl 2000, 325, 333; allgemein zu Straßenverkehrslärm in der Bauleitplanung Schink NVwZ 2003, 1041 ff. 191 Vgl zur Umweltprüfung im Baurecht Krautzberger/Stüer DVBl 2004, 914 ff; Gassner DVBl 2007, 1403 f; zu Änderungen durch das Gesetz zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte v. 21.12. 2006, BGBI I 3316, s Battis NVwZ 2007, 121 ff; Krautzberger/Stüer DVBl 2007, 160 ff. 192 Vgl dazu Schnebelt/Kromer (Fn 27) Rn 166. 193 BVerwG NVwZ 2004, 856 ff.

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3. Rechtsschutzfragen 36 Gegen die als Verwaltungsakt ergehenden Planfeststellungsbeschlüsse und Plangenehmigungen ist Rechtsschutz im Wege der Anfechtungsklage eröffnet.194 Diese kann darauf gerichtet werden, die Aufhebung eines Planfeststellungsbeschlusses bzw einer Plangenehmigung insgesamt oder hinsichtlich einzelner Bestandteile zu erreichen, wenn diese eigenständige Regelungen enthalten und die verbleibende Regelung rechtlich sinnvoll erscheint.195 Das Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz führte die erstinstanzliche Zuständigkeit des BVerwG ein,196 die allerdings gegenständlich auf bestimmte, als besonders wichtig eingestufte Verfahren beschränkt ist.197 Eines Widerspruchsverfahrens bedarf es vor der Anfechtung eines Planfeststellungsbeschlusses kraft gesetzlicher Anordnung ebenso wenig wie bei der Plangenehmigung.198 Für den einstweiligen Rechtsschutz hat der Gesetzgeber darüber hinaus die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen einen Planfeststellungsbeschluss oder eine Plangenehmigung ausgeschlossen, wenn diese den Bau oder die Änderung von Vorhaben betreffen, die im Anwendungsbereich des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes liegen oder für die nach dem Fernstraßenausbaugesetz vordringlicher Bedarf festgestellt worden ist.199 Streitigkeiten über das Außerkrafttreten eines Planfeststellungsbeschlusses nach § 17c Nr 1 FStrG können im Wege der Feststellungsklage nach § 43 I VwGO ausgetragen werden.200 Gegen die als Auflage iSv § 36 II Nr 4 VwVfG zu qualifizierenden Schutzauflagen ist eine iso37 liert erhobene Anfechtungsklage des beschwerten Vorhabenträgers zulässig.201 Drittbetroffene können eine als unzureichend empfundene Schutzauflage ebenfalls gesondert anfechten oder eine Klage auf Planergänzung in der rechtsschutzintensiveren Form der Verpflichtungsklage erheben.202 Besonderheiten gelten für die Klagebefugnis einer Anfechtungsklage, die gegen einen 38 Planfeststellungsbeschluss oder eine Plangenehmigung gerichtet ist. Aus der Grundstücksbezogenheit der von der Straßenplanung bewirkten Nutzungskonflikte folgerte das BVerwG lange Zeit, dass grundsätzlich nur dem Eigentümer der von dem Vorhaben betroffenen Grundstücke ein öffentlich-rechtlicher Abwehranspruch gegen die Straßenplanung zusteht.203 Obligatorisch Berechtigte wurden demgegenüber darauf verwiesen, ihre Rechtsposition gegenüber dem Eigentümer geltend zu machen.204 Diese Rechtsprechung hat das BVerwG schließlich auf Grund der Rechtsprechung des BVerfG zur Einbeziehung des Besitzrechts des Mieters in den Schutzbereich des Art 14 I 1 GG205 aufgegeben. Soweit ein Rechtsverhältnis auf der Grundlage der §§ 535 ff BGB begründet worden ist und nach den einschlägigen privatrechtlichen Vorschriften Bestandsschutz genießt, gewährleistet Art 14 I 1 GG auch dem Mieter oder Pächter selbstständige Abwehr-

_____ 194 Differenziert zum gerichtlichen Rechtsschutz Pünder in: Erichsen/Ehlers (Fn 76) § 15 Rn 27 ff. 195 Vgl dazu Ule/Laubinger Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl 1995, § 41 Rn 42. 196 § 17e I FStrG; krit Hien DVBl 2006, 350, 351; Paetow NVwZ 2007, 36 ff. Für bestimmte Verkehrswegeplanungen war das BVerwG bereits erst- und letztinstanzlich zuständig, s Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. 197 S die namentliche Aufzählung in Anlage zu § 17e I FStrG (Bundesfernstraßen mit erstinstanzlicher Zuständigkeit des BVerwG). 198 § 68 I 2 Nr 1 VwGO einerseits iVm § 74 I 2, § 70 VwVfG und andererseits mit § 74 VI 3 VwVfG iVm § 17b FStrG sowie der entspr Regelung der Landesstraßengesetze. 199 § 5 II VerkPBG (Fn 124) bzw § 17e II 1 FStrG. 200 VGH BW DVBl 2004, 391. 201 S BVerwGE 41, 178, 180 f. 202 Vgl Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 105. 203 BVerwG DVBl 1994, 338, 339. Gleichgestellt werden die in eigentumsähnlicher Weise dinglich Berechtigten, BVerwG NJW 1983, 1626. 204 BVerwGE 82, 61, 75. 205 BVerfGE 89, 1, 6 ff o JK GG Art 14 I 1/32 allgemein zum Schutzbereich des Art 14 I 1 GG, vgl BVerfGE 83, 201, 208 f o JK GG Art 14 III/8; E 95, 267, 300.

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rechte gegen hoheitliche Eingriffe. Daher wird ihre Klagebefugnis gegen einen Planfeststellungsbeschluss vom BVerwG nunmehr bejaht.206 Darüber hinaus kann eine Betroffenheit in den von Art 2 II 1 GG geschützten Rechtsgütern die Klagebefugnis verleihen.207 Die Rechtsprechung fordert dafür jedoch eine gewichtige Betroffenheit der Gesundheit in tatsächlicher Hinsicht, die über eine bloße Belästigung hinausgeht und schon als schädliche Umwelteinwirkung nach § 3 I BImschG zu qualifizieren ist.208 Planbetroffene Gemeinden können sich unabhängig von einer etwaigen Betroffenheit als Grundstückseigentümer209 vor allem210 auf eine Verletzung der gemeindlichen Planungshoheit gem Art 28 II 1 GG berufen. Dies setzt allerdings voraus, dass die gemeindliche Planung bereits hinreichend bestimmt vorliegt und die von der überörtlichen Fachplanung bewirkte Störung nachhaltig ist.211 Unter diesen Voraussetzungen können Gemeinden auch Schutzauflagen erstreiten oder Ansprüche auf Planergänzung verfolgen.212 Keine Rechte einer Gemeinde ergeben sich aber daraus, dass der Allgemeinheit oder einer Einzelperson ein Schaden droht.213 Der öffentlich-rechtliche Aufhebungsanspruch Planbetroffener kann wegen der normati- 39 ven Grundentscheidung des § 113 I 1 VwGO zugunsten eines subjektiven Rechtsschutzes grundsätzlich nur so weit reichen, wie das Vorhaben den Planbetroffenen in eigenen Rechten verletzt. Von diesem Ausgangspunkt erscheint es nur konsequent, dass die Rechtsprechung einen Aufhebungsanspruch der Planbetroffenen wegen Verletzung des Abwägungsgebotes, das den materiellen Kern der Planungsentscheidung bildet, gegenständlich darauf beschränkt, dass eine gerechte Abwägung der eigenen Belange mit entgegenstehenden anderen Belangen nicht stattgefunden hat.214 Eine umfassende Nachprüfung des Abwägungsgebotes gerade auch im Hinblick auf die zutreffende Gewichtung öffentlicher Belange kann demgegenüber nur ein vom Planfeststellungsbeschluss mit enteignender Wirkung Betroffener wegen der besonderen Bedeutung verlangen, die die Planfeststellung für die Zulässigkeit der Enteignung gem § 19 I 2 und 3 FStrG entfaltet.215 Zum einen ergibt sich eine solche Position nach einer Entscheidung des BVerwG aber dann nicht, wenn die Eigentümerstellung rechtsmissbräuchlich begründet wurde.216 Zum anderen steht auch einer Gemeinde als Grundstückseigentümerin kein Recht auf umfassende Nachprüfung zu, denn sie kann mangels Grundrechtsträgereigenschaft den Schutz des Art 14 III 1 GG nicht beanspruchen.217 In ihrer Planungshoheit betroffene Gemeinden können gem § 113 I 1 VwGO eine Aufhebung des straßenrechtlichen Planfeststellungsbeschlusses erreichen, wenn eine angemessene Berücksichtigung der gemeindlichen Planungsinteressen bei der Abwägung mit den überörtlichen Belangen unterblieben ist.218 Daneben können sie eine Verletzung ihres formellen Beteiligungsrechtes auf Grund von Art 28 II 1 GG219 geltend machen. Mitwirkungsrechte der Naturschutzverbände ergeben sich aus § 63 BNatSchG. Seit der Novellierung des BNatSchG im Jahre 2002 ist den Naturschutzverbänden zudem die Möglichkeit gegeben, auch unabhängig von einer eigenen Rechtsverletzung die Verletzung naturschutzrechtlicher Vorschriften durch die Plan-

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206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219

BVerwGE 105, 178, 179 f o JK FStrG § 17 I 2/2. S grdl BVerwGE 54, 211, 222 f. BVerwG NVwZ 1991, 566 f; VGH BW NVwZ 1984, 525 f. S BVerwGE 69, 256, 261 mwN. Von Bedeutung ist daneben ua eine Verletzung von Beteiligungsrechten, s BVerwGE 90, 96, 100; E 81, 95, 106. BVerwGE 100, 388, 394; E 84, 209, 214 f; E 81, 95, 106; E 74, 124, 132; BVerwG NVwZ 1992, 787 f. BVerwGE 80, 7, 13 f; Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 102. BVerwG NVwZ 2000, 560, 562 mwN. Grdl BVerwGE 48, 56, 66. BVerwGE 104, 144, 146; E 67, 74, 76 f; dazu Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 97; eingehend Löwer DVBl 1981, 528 ff. BVerwGE 112, 135 ff o JK VwGO § 42 II/25, dazu Hufen JuS 2001, 927 f; Masing NVwZ 2002, 810 ff. BVerfGE 61, 82 o JK GG Art 19 III/3; BVerwG UPR 2001, 189, 190. Vgl BVerwGE 69, 256, 261. BVerwGE 90, 96, 100; E 81, 95, 106.

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7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht

feststellung geltend zu machen, wenn die Voraussetzungen des § 64 BNatSchG erfüllt werden. Hiermit wird den Naturschutzverbänden nun bundesgesetzlich eine Vorgehensweise220 eröffnet, die schon länger in zahlreichen Landesgesetzen enthalten ist.221

4. Der tatsächliche Bau öffentlicher Straßen 40 Auf der Grundlage der getroffenen Planfeststellung erfolgt der tatsächliche Bau der Straße. Diese Aufgabe obliegt den Straßenbaubehörden als Einrichtungen des jeweiligen Trägers der Straßenbaulast.222 Im Rahmen dieser Aufgabe kommt dem Erwerb der zum Straßenbau benötigten Grundstücke vorrangige Bedeutung zu. Gelingt der freihändige Ankauf nicht, so können die Straßenbaubehörden nach Maßgabe der getroffenen Planfeststellung die erforderlichen Enteignungen verfügen.223 Auch vor Bestandskraft des Planfeststellungsbeschlusses und Abschluss des Enteignungsverfahrens kann der Träger der Straßenbaulast in den Besitz der benötigten Grundstücke eingewiesen werden, wenn der Planfeststellungsbeschluss oder die Plangenehmigung für vollziehbar erklärt worden sind.224 Die Straßengesetze von Bund und Ländern sehen in der Regel eine Freistellung der Straßenbaubehörden von den Erfordernissen des Baugenehmigungsverfahrens vor und verpflichten diese, die Straße in eigener Verantwortung in einem Zustand herzustellen, der den Erfordernissen der Sicherheit und Ordnung entspricht.225 Der Straßenbau selbst erfolgt in der Praxis zumeist durch private Bauunternehmen, die auf der Grundlage privatrechtlicher Verträge für die Straßenbaubehörden tätig werden. 7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht

III. Begründung, Veränderung und Beendigung des öffentlichen Sonderstatus III. Begründung, Veränderung und Beendigung des öffentlichen Sonderstatus – 7. Kapitel

41 Der besondere Rechtsstatus einer öffentlichen Straße ergibt sich nicht aus der baulichen Herstellung der Straßenanlage oder ihrer tatsächlichen Indienststellung. Vielmehr wird er der Straße durch den hoheitlichen Rechtsakt der Widmung verliehen. Als Kreationsakt der öffentlichen Straße ist die Widmung für ihren öffentlichen Sonderstatus von konstitutiver Bedeutung. Fehlt eine Widmung, handelt es sich lediglich um eine tatsächlich öffentliche Straße oder um eine Privatstraße, an der bspw kein Gemeingebrauch und keine Straßenbaulast besteht.226 Auf Grund der vielfältigen rechtlichen Konsequenzen, die an den rechtlichen Sonderstatus geknüpft sind, erklärt sich die Notwendigkeit der ausdifferenzierten rechtlichen Regelungen, die die Straßen-

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220 S zum Umfang des naturschutzrechtlichen Verbandsklagerechts BVerwG NVwZ 2010, 380 f; s hierzu auch OVG RP NVwZ-RR 2011, 632, 634 f sowie NdsOVG NVwZ-RR 2008, 530. 221 Siehe zB § 12b LG NW; § 44 NatSchG Bremen; s BVerwG DVBl 2004, 1546 ff; NVwZ 2003, 1120 ff; NVwZ 2002, 1234 f; ausführlich Ziekow VerwArch 91 (2000), 483, 488 ff; Wilrich DVBl 2002, 872 ff; Seelig/Gündling NVwZ 2002, 1033 ff; zu den Grenzen dessen, was unter naturschutzrechtlichen Vorschriften verstanden werden kann, BVerwGE 107, 1, 5 ff. 222 S § 22 FStrG; § 56 StrWG NW; § 50 StrG BW; Art 58 BayStrWG; § 26 I StrG Berlin; § 46 I und II BbgStrG; § 47 I LStrG Bremen; § 46 HessStrG; § 57 StrWG MV; § 60 NdsStrG; §§ 48 und 49 LStrG RP; § 56 StrG SL; § 47 SächsStrG; § 49 II StrG LSA; § 52 StrWG SH; § 46 ThürStrG. 223 S § 19 I und II FStrG; § 42 StrWG NW; § 40 StrG BW; Art 40 BayStrWG; § 25 StrG Berlin; § 42 BbgStrG; § 35 LStrG Bremen; § 36 HessStrG; § 48 StrWG MV; § 42 NdsStrG; § 9 LStrG RP; § 44 StrG SL; § 43 SächsStrG; § 41 StrG LSA; § 44 StrWG SH; § 42 ThürStrG. 224 § 18 f FStrG; § 41 StrWG NW; § 40a StrG BW; § 24 StrG Berlin; § 41 BbgStrG; § 34 LStrG Bremen; § 36a HessStrG; § 48 VI und 7 StrWG MV; § 41a NdsStrG; § 9 IV–X LStrG RP; § 44a StrG SL; § 42 SächsStrG; § 40 StrG LSA; § 43 StrWG SH; § 41 ThürStrG. 225 S bspw § 4 FStrG; § 9a II StrWG NW; § 10 II und III BbgStrG; § 12 LStrG Bremen; § 47 HessStrG; § 10 I und II StrWG MV; § 10 II NdsStrG; § 9 II StrG SL; § 10 II SächsStrG; § 10 II StrG LSA; §§ 9, 10 II StrWG SH; § 10 II ThürStrG. 226 S dazu OLG Oldenburg NVwZ-RR 1997, 677.

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III. Begründung, Veränderung und Beendigung des öffentlichen Sonderstatus – 7. Kapitel

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gesetze von Bund und Ländern über die Begründung, Veränderung und Beendigung des öffentlichen Sonderstatus der Straße aufweisen.

1. Die Widmung Trotz der traditionellen Prägung, hohen praktischen Bedeutung und eingehenden rechtlichen 42 Normierung weist das Rechtsinstitut der Widmung auch heute noch offene Rechtsfragen auf und erfordert spezifische Abgrenzungen. Diese resultieren zu einem erheblichen Teil aus der Schwierigkeit, die Widmung als Traditionsfigur227 des Straßenrechts mit den Kategorien der heutigen Verwaltungsrechtsdogmatik erfassen und verarbeiten zu können.

a) Rechtsnatur Die Widmung wird nach den geltenden Straßengesetzen von Bund und Ländern als Allgemein- 43 verfügung in der Rechtsform des Verwaltungsaktes gem § 35 S 2, 2. und 3. Alt VwVfG228 verfügt. Mit dieser gesetzlichen Rechtsformenbestimmung ist zwar der fruchtlose Streit um die Rechtsnatur der Widmung als „dinglicher“ und „adressatenloser“ Verwaltungsakt für die Rechtspraxis entschieden,229 jedoch bleibt die Bestimmung der unterschiedlich gearteten Rechtswirkungen auch heute noch von besonderer praktischer Bedeutung. Der Gesetzgeber regelt die Widmung als einen einstufigen Verwaltungsakt. Dies beruht auf der den Straßengesetzen zugrunde liegenden Regelannahme, dass der Träger der Straßenbaulast Eigentümer des Straßengrundstücks und die für die Widmung zuständige Straßenbaubehörde Organ des Straßenbaulastträgers ist. Diese Konzentration der straßenrechtlichen Befugnisse ist jedoch nicht zwingend und entspricht überdies nicht der straßenrechtlichen Tradition.230 Die Widmung bedarf dann der Zustimmung des (privaten) Eigentümers des Straßengrundstücks und darüber hinaus der Zustimmung des Trägers der Straßenbaulast in den praktisch wichtigen Ausnahmefällen, in denen die Straßenbaubehörde nicht Organ des Straßenbaulastträgers ist.231 Konstruktiv folgt daraus, dass die Widmung in diesen Fällen als zustimmungsbedürftiger und/oder mitwirkungsbedürftiger Verwaltungsakt anzusehen ist.232 Darüber hinaus kann eine Widmung auch durch Gesetz oder öffentlich-rechtlichen Vertrag und durch Planfeststellungsbeschluss erfolgen. Einige Landesstraßengesetze sehen darüber hinaus eine gesetzliche Widmungsfiktion vor, wenn eine nach den gesetzlichen Vorschriften gebaute oder geänderte Straße dem Verkehr übergeben wird.233 Schließlich ist eine Fiktion der Widmung für die Fälle einer unerheblichen Ergänzung und Veränderung der Straße gesetzlich vorgesehen.234 Eine besondere Möglichkeit der Ersetzung einer fehlenden Widmung stellen die

_____ 227 Ausdruck von Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 46. 228 Vgl die ausdr Bestimmungen in § 6 I 1 StrWG NW; § 3 IV 1 StrG Berlin; § 6 I 1 BbgStrG; § 6 I 1 SächsStrG; § 6 I 1 StrG LSA; § 6 I 1 ThürStrG; allgemein zur Rechtsform und Rechtsnatur der Widmung Papier in: Erichsen/Ehlers (Fn 76) § 40 Rn 2 ff. 229 Amtl Begründung zum VwVfG, BT-Drs 7/910 S 57; dazu Hüttenhain Sachbezogene Regelungen und Rechtsnachfolge im Verwaltungsrecht, 1973, 11 ff. 230 S dazu Herber (Fn 8) Kap 8 Rn 13 f. 231 So ausdr geregelt in § 6 II 2 StrWG NW; dies kann namentlich für Ortsdurchfahrten gelten, s Zeitler in ders, Bayerisches Straßen- und Wegegesetz, Art 6 Rn 46. 232 So schon Axer (Fn 12) 77 ff. 233 § 6 VII StrWG NW; § 5 VI StrG BW; Art 6 VI BayStrWG; § 3 V StrG Berlin; § 6 V BbgStrG; § 7 IV StrWG MV; § 6 V NdsStrG; § 36 IV LStrG RP; § 6 VI StrG SL; § 6 IV SächsStrG; § 6 IV StrG LSA; § 6 IV StrWG SH; § 6 IV ThürStrG. 234 § 2 VIa FStrG; § 6 VIII StrWG NW; § 5 VII StrG BW; Art 6 VIII BayStrWG; § 3 VI StrG Berlin; § 6 VII BbgStrG; § 5 IV LStrG Bremen; § 7 V StrWG MV; § 6 VI NdsStrG; § 36 V LStrG RP; § 6 VII StrG SL; § 6 V SächsStrG; § 6 V StrG LSA; § 6 V StrWG SH; § 6 V ThürStrG; vgl hierzu auch OVG NW NWVBl 1999, 467 ff.

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Überleitungsnormen der neuen Länder dar.235 Diese kann dann erfolgen, wenn bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des jeweiligen Straßengesetzes eine tatsächliche Nutzung stattgefunden hat, die als allgemein und damit öffentlich zu bewerten ist.236 Hiervon zu unterscheiden ist die Widmung „kraft unvordenklicher Verjährung“. Sie stellt demgegenüber nur eine Beweislastregel für Fälle dar, in denen nicht mehr aufklärbar ist, ob der Weg vor langer Zeit gewidmet worden ist. Aus seiner langjährigen und widerspruchslosen Nutzung für den öffentlichen Verkehr wird dies bei Unaufklärbarkeit der Widmung gefolgert.237

b) Formelle und materielle Voraussetzungen 44 Die Zuständigkeit für die Widmung liegt bei den Straßenbaubehörden. Welche Behörden die Aufgaben der Straßenbaubehörden wahrnehmen, ist nicht allgemein festgelegt, sondern bestimmt sich nach der jeweiligen Straßenklasse der zu widmenden Straße. Sind dies, wie in Nordrhein-Westfalen, Behörden von Selbstverwaltungskörperschaften, so bestimmt sich die konkrete Organzuständigkeit nach einschlägigen Bestimmungen des Kommunalrechts.238 Für das einzuhaltende Verfahren sehen die Straßengesetze von Bund und Ländern eine öffentliche Bekanntmachung der Widmung vor.239 Ergänzend sind die Vorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze, gerade im Hinblick auf die allgemeinen Verfahrensgrundsätze sowie für Anhörung und Begründung,240 heranzuziehen. Auf Grund der präzisen Angaben über den Umfang der gewidmeten Straßenfläche, die zugelassenen Benutzungen und die damit verbundenen Beschränkungen ist die Widmung grundsätzlich schriftlich zu verfügen.241 Wegen der erheblichen Rechtswirkungen, die die Widmung auf die Rechtsstellung des betroffenen Grundstückseigentümers entfalten kann, hat die Rechtsprechung an die Bestimmtheit des Widmungsinhalts besonders strikte Maßstäbe angelegt.242 Sachliche Voraussetzung der Widmung ist die Verfügungsbefugnis des Straßenbaulastträgers über das betroffene Straßengrundstück. Ist der Träger der Straßenbaulast nicht Eigentümer oder auf Grund besonderer Rechtstitel zum Besitz befugt, bedarf die Widmung der Zustimmung des Eigentümers bzw sonst dinglich Berechtigter.243 Diese ist als formlose öffentlich-rechtliche Willenserklärung abzugeben und wird mit dem Zugang beim Träger der Straßenbaulast wirksam.

c) Inhalt der Widmungsverfügung 45 Der Inhalt der Widmung beschränkt sich nicht darauf, der Straße ihren öffentlichen Sachstatus zu verleihen. Der von den Straßengesetzen bestimmte Inhalt der Widmungsverfügung erfordert

_____ 235 Vgl § 48 VII BbgStrG; § 53 I 1 SächsStrG; § 52 VI ThürStrG. 236 Vgl zum Sächsischen Straßengesetz Sattler SächsVBl 2000, 187 ff unter Hinweis auf Einzelfälle; s auch OVG MV LKV 2003, 143 ff. 237 Vgl dazu BVerfG-K NVwZ 2009, 1158; OLG Hamm NVwZ-RR 1993, 227; VGH BW NJW 1984, 819, 820 o JK StVO Abgrenzung/2. 238 S Axer (Fn 12) 69 ff. 239 § 2 VI 4 FStrG; § 6 I 2 StrWG NW; § 5 IV StrG BW; Art 6 VI 2 BayStrWG; § 3 IV 1 StrG Berlin; § 6 I 2 BbgStrG; § 5 III LStrG Bremen; § 6 I 3 HbgWG; § 4 III 1 HessStrG; § 7 II StrWG MV; § 6 III NdsStrG; § 36 III LStrG RP; § 6 IV StrG SL; § 6 I 2 SächsStrG; § 6 I 2 StrG LSA; § 6 II StrWG SH; § 6 I 2 ThürStrG; zur öffentlichen Bekanntmachung s BVerfG NVwZ 2000, 185 f. 240 Diese sind gem § 28 II Nr 4 und § 39 II Nr 5 VwVfG grds entbehrlich. 241 Das gem § 37 II 1 VwVfG bestehende Ermessen ist regelmäßig auf Null reduziert, dazu Axer (Fn 12) 86. 242 S BayVGH BayVBl 1997, 372. 243 § 2 II FStrG; § 6 V StrWG NW; § 5 I StrG BW; Art 6 III BayStrWG; § 3 II StrG Berlin; § 6 III BbgStrG; § 5 II LStrG Bremen; § 6 I 2 HbgWG; § 4 II HessStrG; § 7 III StrWG MV; § 6 II NdsStrG; § 36 II LStrG RP; § 6 III StrG SL; § 6 III SächsStrG; § 6 III StrG LSA; § 6 III StrWG SH; § 6 III ThürStrG.

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des Weiteren die Zuordnung der Straße zu einer bestimmten Straßenklasse, die sog Einstufung und die Festlegung des allgemeinen Nutzungsumfangs der Straße durch die Öffentlichkeit, den sog Widmungsinhalt. So kann die Widmungsverfügung den zulässigen Nutzungsumfang auf bestimmte Benutzungsarten und -zwecke sowie Benutzerkreise festlegen.244 Die Einstufung einer bestimmten Straße erfolgt durch ihre Zuordnung zu der gesetzlich normierten Typik der Straßenklassen245 auf der Grundlage ihrer jeweiligen Verkehrsbedeutung.246 Diese ergibt sich aus einem Zusammenspiel der Quantität des von der Straße aufzunehmenden Verkehrs und der Qualität der Verkehrsbeziehungen, denen die Straße dienen soll.247 Darüber hinaus kann die Widmung auch konkretisierende Festlegungen der spezifischen Verkehrsfunktion einer Straße treffen.248 Festlegungen zur straßenrechtlich zulässigen Benutzungsart einer Straße sind regelmäßig aus Gründen des baulichen Straßenzustands erforderlich, jedoch nicht zulässig, um verkehrsfremde Nutzungen auf der Straße zu eröffnen. Auch die Beschränkung der Straßennutzung auf bestimmte Benutzerkreise oder Benutzungszwecke (zB Schulkinder oder Friedhofsbesucher) darf nur anhand objektiver Kriterien erfolgen.249 Die im Wege der Widmung eröffnete Möglichkeit zur straßenrechtlichen Beschränkung des Nutzungsumfangs auf bestimmte Benutzungsarten entspricht den verkehrsrechtlichen Regelungsbefugnissen auf Grund von § 41 I StVO iVm Abschnitt 6 der Anlage 2. Beide Regelungsformen stehen alternativ zur Verfügung. Nicht zum Inhalt der Widmung zu zählen ist der Akt der Namensgebung bei innergemeindlichen Straßen.250

d) Rechtswirkungen Zu den Besonderheiten der Widmung gehört die Vielfalt der von ihr ausgelösten Rechtswirkun- 46 gen. Die Verleihung des besonderen Rechtsstatus einer öffentlichen Straße, einschließlich ihrer Einstufung, ist als straßenrechtlicher Organisationsakt zu qualifizieren, der keine unmittelbaren Rechtswirkungen für den schlichten Straßenbenutzer entfaltet und daher auch von diesem nicht angefochten werden kann.251 Dies soll nach der Rechtsprechung auch für die Rechtsstellung von Straßenanliegern im Hinblick auf eine Widmungserweiterung gelten, durch die eine Fußgängerzone für gewerblichen Liefer- und Dienstleistungsverkehr zugänglich gemacht wird.252 Demgegenüber entfaltet die Widmung für den Straßenanlieger jedoch unmittelbare Außenrechtswirkung im Hinblick auf die spezifischen Handlungs-, Duldungs- und Unterlassungspflichten der Anlieger von öffentlichen Straßen.253 Unmittelbare Rechtswirkungen entfaltet die straßenrechtliche Widmung gegenüber einem privaten Eigentümer des Straßengrundstücks, der die von der Widmung zugelassenen Nut-

_____ 244 § 6 III StrWG NW; § 5 III StrG BW; Art 6 II 3 BayStrWG; § 6 II 4 BbgStrG; § 5 I 2 LStrG Bremen; § 6 II HbgWG; § 4 I 3 HessStrG; § 7 I 5 StrWG MV; § 6 I 4 NdsStrG; § 36 I 4 LStrG RP; § 6 II 3 StrG SL; § 6 II 4 und 5 SächsStrG; § 6 II 4 und 5 StrG LSA; § 6 I 5 StrWG SH; § 6 II 2 und 3 ThürStrG mit gewissen Unterschieden. 245 § 3 I StrWG NW; § 3 I und 2 StrG BW; Art 3 I BayStrWG; § 20 StrG Berlin; § 3 I BbgStrG; § 3 I LStrG Bremen; § 3 I HessStrG; § 3 StrWG MV; § 3 I NdsStrG; § 3 LStrG RP; § 3 I StrG SL; § 3 I SächsStrG; § 3 I StrG LSA; § 3 I StrWG SH; § 3 I ThürStrG. 246 Vgl zB § 3 II–V StrWG NW; s Papier (Fn 1) § 10 Rn 115; zur Widmung eines Weges als Rad- und Wanderweg BayVGH BayVBl 2003, 526 ff. 247 Vgl hierzu BayVGH DVBl 1999, 866 ff. 248 S dazu Herber in: Kodal (Fn 8) Kap 8 Rn 5; aus der Rspr bspw BayVGH BayVBl 2003, 526 ff. 249 So schon Papier (Fn 1) § 10 Rn 61. 250 Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 45; zur Straßenbenennung Schoch Jura 2011, 344; zur Zuteilung und Änderung von Hausnummern: BayVGH BayVBl 2003, 284 f; NVwZ-RR 2012, 210. 251 S Papier (Fn 1) § 10 Rn 60. 252 So VGH BW UPR 1995, 75 f. 253 Dazu BayVGH BayVBl 2003, 337; ebenso die unveröffentl Rspr des OVG NW, s die Nachw bei Otte NWVBl 1996, 41; vgl auch BVerwGE 80, 178 ff.

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zungen zu dulden verpflichtet wird und gegenüber dem Träger der Straßenbaulast, der die von der Widmung begründete Unterhaltungslast zu tragen hat. 254 Die Rechtswirkung der Widmung ist jedoch darauf beschränkt, die Beziehungen zwischen dem Träger der Straßenbaulast und dem von ihm verschiedenen Eigentümer des Straßengrundstücks einerseits und dem Straßenanlieger im Hinblick auf die zu seinen Lasten verfügten Duldungs- und Unterlassungspflichten andererseits zu gestalten. Die Widmung ist demgegenüber nicht als Vollzugsakt der vorgängigen Planungsentscheidung anzusehen und vermag daher das Rechtsverhältnis zwischen Grundeigentümer und planender Gemeinde nicht verbindlich auszugestalten. Die Bestandskraft der Widmung kann deshalb einem Folgenbeseitigungsanspruch auf Beseitigung rechtswidriger Folgen einer fehlerhaften Bauleitplanung nicht entgegengehalten werden.255

e) Rechtsschutz 47 Gegen die in aller Regel als Verwaltungsakt ergehende Widmung ist Rechtsschutz mittels Widerspruch256 und Anfechtungsklage eröffnet. Wird eine Widmung oder Widmungsbeschränkung begehrt, ist jedoch eine Verpflichtungsklage zu erheben. Für die Praxis ist die Frage der Anfechtungsbefugnis nach § 42 II VwGO bzw der Verletzung in subjektiven Rechten nach § 113 I 1 VwGO von besonderer Bedeutung. Während sie Straßenbenutzern schlechthin fehlen wird,257 sind Anlieger 258 und vor allem private Eigentümer von Straßengrundstücken grundsätzlich anfechtungsbefugt. Gleiches gilt für die Straßenbaulastträger, sofern sie nicht zugleich Rechtsträger der Straßenbaubehörde sind, die die Widmung verfügt hat.259 Fehlt die Zustimmung eines widmungsbetroffenen Grundeigentümers sowie ggf des anfechtungsbefugten Straßenbaulastträgers, liegt gleichwohl der äußere Tatbestand einer Widmung vor.260 Auch führt das Fehlen dieser zentralen Wirksamkeitsvoraussetzung mangels Offenkundigkeit in der Regel nicht zur Nichtigkeit nach § 44 I VwVfG.261 Vielmehr begründet ein solcher Rechtsfehler lediglich die Aufhebbarkeit der Widmung und setzt daher die Anfechtung durch den Betroffenen voraus.262 Diese Lösung entspricht zwar nicht der traditionellen Bedeutung der Eigentümerzustimmung für das Zustandekommen der straßenrechtlichen Widmung, ist jedoch als Konsequenz aus der Zusammenführung von Grundstückseigentum, Straßenbaulast und Widmungsbefugnis „in einer Hand“ als Regelungsziel des heutigen Straßenrechts nur folgerichtig.263

_____ 254 S § 50 I 1 StrWG NW; § 44 HessStrG; § 54 I StrG SL; § 44 I SächsStrG; § 42 I StrG LSA; § 43 I ThürStrG; dazu Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 47. 255 BVerwGE 94, 100, 110 f o JK AllgVwR FBA/10 unter Hinw auf BVerfGE 79, 174, 188; dazu Sauthoff NVwZ 1998, 239, 240. 256 Allerdings ist in etlichen Ländern das Widerspruchverfahren abgeschafft worden, so dass nunmehr unmittelbar Klage erhoben werden muss, vgl zB § 110 JustG NW, Art 15 AGVwGO Bay. 257 S Otte NWVBl 1996, 41. 258 Klagebefugnis bejaht von BayVGH BayVBl 2003, 377 mwN; ebenso die bei Otte NWVBl 1996, 41, 41 f nachgew Rspr des OVG NW; ablehnend VGH BW UPR 1995, 75 f. 259 Vgl Papier (Fn 1) § 10 Rn 68. 260 Dies verneint Salzwedel (Fn 4) Rn 15 mwN. 261 Wie hier bereits Papier (Fn 1) § 10 Rn 70 und Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 43. Für eine etwa fehlende Zustimmung des Straßenbaulastträgers ergibt sich dies bereits aus § 44 III Nr 4 VwVfG. Auch für eine Nichtigkeit nach § 44 II VwVfG sind keine Anhaltspunkte ersichtlich; vgl auch BayVGH DÖV 2001, 743 f. 262 So bereits BGHZ 48, 239, 244; BayObLG MDR 1971, 393, 394; Papier in: Erichsen/Ehlers (Fn 76) § 40 Rn 25 f. 263 Vgl Papier (Fn 1) § 10 Rn 70.

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III. Begründung, Veränderung und Beendigung des öffentlichen Sonderstatus – 7. Kapitel

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2. Die tatsächliche Indienststellung der Straße Die Entstehung einer öffentlichen Straße setzt nach der baulichen Herstellung und neben der 48 Widmung auch die tatsächliche Indienststellung der Straße im Wege ihrer Übergabe für den öffentlichen Verkehr voraus.264 Die Verkehrsübergabe ist Realakt und unterliegt daher nicht der Anfechtung.265 Bis zur Verkehrsübergabe ist eine bereits verfügte Widmung schwebend unwirksam, während im umgekehrten Fall bis zur Rechtswirksamkeit der Widmung eine tatsächlich öffentliche Straße vorliegt.266

3. Veränderungen des Nutzungsumfangs Die in der Widmung erfolgte Funktionszuweisung und der dadurch bestimmte Umfang zulässiger 49 Straßennutzung sind jedoch keine unveränderlichen Größen. Sie sind vielmehr von der tatsächlichen Verkehrsbedeutung abhängig. Daher sehen die Straßengesetze verschiedene Rechtsinstitute vor, um die in der Widmung getroffenen Festlegungen der veränderten Verkehrsbedeutung straßenrechtlich anpassen zu können. Dazu dienen – teilweise auch gekoppelt267 – die Widmungserweiterung, die Teileinziehung, die Einziehung und die Umstufung der Straße.

a) Widmungserweiterung Die Widmungserweiterung bewirkt die nachträgliche Ergänzung des Widmungsinhalts in der 50 Weise, dass die Rechtswirkungen der Widmung erhalten bleiben und lediglich weitere Nutzungsmöglichkeiten zugelassen werden. Anliegerrechte werden durch die Widmungserweiterung ebenso wenig tangiert wie die in der Widmung festgelegte Straßenbaulast.268 Die nur in einigen Straßengesetzen ausdrücklich normierte,269 aber allgemein für zulässig erachtete Widmungserweiterung wird als Allgemeinverfügung gem § 35 S 2, 2. und 3. Alt VwVfG durch öffentliche Bekanntmachung wirksam.

b) Teileinziehung Pendant zur Widmungserweiterung ist die Teileinziehung, deren Funktion als Teilentwidmung 51 wohl plastischer bezeichnet ist.270 Wie bei der Widmungserweiterung bleibt der in der Widmung verfügte öffentliche Sachstatus der Straße ebenso wie die festgelegte Straßenbaulast unverändert erhalten. Nur der eröffnete Gemeingebrauch wird auf bestimmte Benutzungsarten, -zwecke und Benutzerkreise beschränkt.271 Teileinziehungen und Anordnungen einer Verkehrsbeschränkung nach § 45 StVO sind wegen des Grundsatzes des Vorbehalts des Straßenrechts in diesem Sinne strikt voneinander abzugrenzen.272

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264 Fickert Straßenrecht in Nordrhein-Westfalen, 3. Aufl 1989, § 6 Rn 22; Papier (Fn 1) § 10 Rn 71; Herber in: Kodal (Fn 8) Kap 8 Rn 22; Peine JZ 1996, 398, 404; aA Grupp (Fn 47) § 2 Rn 19. 265 Fickert (Fn 264) § 6 Rn 22; Papier (Fn 1) § 10 Rn 71; Peine JZ 1996, 398, 404. 266 Vgl Herber in: Kodal (Fn 8) Kap 8 Rn 19.7, 22. 267 Beispiele hierfür bei Schnebelt/Kromer (Fn 27) Rn 96, 108. 268 S VGH BW UPR 1995, 75 f einerseits und Papier (Fn 1) § 10 Rn 107 andererseits; ein Anspruch auf Widmungserweiterung kommt ausnahmsweise in Betracht, wenn ein aufgrund einer bestandskräftigen Baugenehmigung bebautes Grundstück anders nicht zu erschließen ist, s VGH BW VBlBW 2004, 380 ff. 269 § 6 IV 2 StrWG NW und BbgStrG; § 5 V StrG BW. 270 § 7 I 2 StrWG NW; § 5 V StrG BW; Art 8 I 2 BayStrWG; § 4 I 3 StrG Berlin; § 8 I 2 BbgStrG; § 7 I 2 LStrG Bremen; § 9 II StrWG MV; § 8 I 2 NdsStrG; § 8 I 2 SächsStrG; § 8 I 2 StrG LSA; § 8 I 2 ThürStrG. 271 Grupp (Fn 47) § 2 Rn 72; Zeitler (Fn 231) Art 8 Rn 29; Fickert (Fn 264) § 7 Rn 16; Herber in: Kodal (Fn 8) Kap 11 Rn 51; Pappermann/Löhr/Andriske (Fn 94) 34; das bayerische Straßen- und Wegegesetz sieht zudem eine Beschränkung auf bestimmte Benutzerkreise vor. 272 S dazu VG München Urt v 11.10.2006 – Az M 23 K 05.4173.

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7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht

Auch die Teileinziehung wird als Allgemeinverfügung durch öffentliche Bekanntmachung wirksam. Voraussetzung für die Teileinziehung ist, dass die Straße insoweit ihre Verkehrsbedeutung verloren hat oder überwiegende Gründe des öffentlichen Wohls für eine Teileinziehung vorliegen. Bei der insoweit erforderlichen Abwägung sind auch rechtlich geschützte Anliegerinteressen ebenso wie das allgemeine Verkehrsinteresse zu berücksichtigen, das sich aus den Nutzungsinteressen der gegenwärtigen und zukünftigen Straßenbenutzer und Anlieger ergibt.273 Eine Betroffenheit in subjektiven Rechten kommt nach der Rechtsprechung für „schlichte“ Straßenbenutzer von vornherein nicht in Betracht.274 Gleiches soll auch für Anlieger gelten, sofern die Teileinziehung das Anliegerrecht nicht tangiert.275

c) Einziehung durch Entwidmung 52 Während sich die Teileinziehung auf die widmungsrechtliche Begrenzung des Nutzungsrahmens öffentlicher Straßen beschränkt, verliert die öffentliche Straße ihren besonderen Rechtsstatus durch Entwidmung gänzlich.276 Als actus contrarius zur Widmung werden die von der Widmung bewirkten Rechtsfolgen aufgehoben.277 Dies gilt namentlich für die Bestimmung der Straßenbaulast und den Anliegergebrauch, aber auch für den Gemeingebrauch und etwaige Sondernutzungsbefugnisse.278 Durch die Einziehung lebt die etwaige Verfügungsbefugnis eines privaten Eigentümers am Straßengrundstück wieder vollständig auf, so dass eine Privatstraße entsteht.279 Die ebenfalls als Allgemeinverfügung ergehende Einziehung stellt einen Verwaltungsakt mit Doppelwirkung dar. Für einen Privateigentümer am Straßengrundstück wie für den Straßenbaulastträger entfaltet die Entwidmung begünstigende Wirkungen, während sie Anlieger und Sondernutzungsberechtigte belastend betrifft.280 Daher ist die Absicht der Einziehung drei Monate vorher öffentlich bekannt zu machen und Gelegenheit zu Einwendungen zu geben, wozu jedermann befugt ist.281 Wie bei der Teileinziehung setzt die Einziehung voraus, dass die Verkehrsbedeutung der Straße oder eines Teilabschnitts – jetzt allerdings vollständig – entfallen ist oder überwiegende Gründe des öffentlichen Wohles ihre Beseitigung erforderlich machen.282 Nach Ansicht des BayVGH ist im Rahmen der ersten Alternative der Verlust jeglicher Verkehrsbedeutung erforderlich, was bei nur sehr gelegentlicher Nutzung nicht der Fall ist.283 Während die Voraussetzungen

_____ 273 Vgl OVG NW NVwZ-RR 1995, 481, 482; dazu bereits Grupp (Fn 47) § 2 Rn 78; Zeitler (Fn 231) Art 8 Rn 15; Papier (Fn 1) § 10 Rn 110; Pappermann/Löhr/Andriske (Fn 94) 40. 274 So VGH BW VBlBW 1994, 454; VBlBW 1999, 313. 275 OVG NW NVwZ-RR 1995, 481, 482 sowie die bei Otte NWVBl 1996, 41, 44 nachgewiesene unveröffentlichte Rspr, jedoch unter Verwendung des Begriffs „Anliegergebrauch“. 276 Allgemein zur Beendigung des öffentlich-rechtlichen Sonderstatus Papier in: Erichsen/Ehlers (Fn 76) § 40 Rn 28 f. 277 Aus diesem Grund unterliegt auch die Einziehung dem Grundsatz der Formstrenge BayVGH BayVBl 2010, 25, 26; rein tatsächliche Vorgänge sind daher regelmäßig ohne Bedeutung; s dazu Scheidler DVP 2011, 4, 7. 278 § 2 VII 1 FStrG; § 7 VII 1 StrWG NW; § 7 VII StrG BW; Art 8 IV BayStrWG; § 4 VI 1 StrG Berlin; § 8 V 1 BbgStrG; § 7 V LStrG Bremen; § 7 V HbgWG; § 8 IV NdsStrG; § 37 VI LStrG RP; § 8 IV StrG SL; § 8 V SächsStrG; § 8 V StrG LSA; § 8 IV 1 ThürStrG. 279 Grupp (Fn 47) § 2 Rn 67 f; Zeitler (Fn 231) Art 8 Rn 23; Papier (Fn 1) § 10 Rn 120; Pappermann/Löhr/Andriske (Fn 94) 42. 280 S Salzwedel (Fn 4) Rn 21; zur Klagebefugnis von Nutzern bzw Anliegern im Falle der Einziehung VGH BW VBlBW 1999, 313; BVerwG NVwZ 2003, 613. 281 Vgl § 2 V 1 FStrG; § 7 IV StrWG NW; § 7 III StrG BW; Art 8 II BayStrWG; § 8 III BbgStrG; § 6 II HessStrG; § 8 II NdsStrG; § 37 III LStrG RP; § 8 II StrG SL; § 8 IV SächsStrG; § 8 IV StrG LSA; § 8 III ThürStrG; kürzere Fristen, in: § 4 II 2 StrG Berlin; § 7 II iVm § 6 III LStrG Bremen; § 7 II 1 und 2 HbgWG; § 9 III und IV StrWG MV; § 8 III StrWG SH. 282 Private Interessen Einzelner reichen nicht aus, s Finger/Müller NVwZ 2004, 953, 956 f; s dazu auch VG Osnabrück Urt v 20.2.2009 – Az 6 A 114/08, Tz 13 ff; s zur Einziehung allgemein Scheidler DVP 2011, 4 ff. 283 BayVGH BayVBl 2010, 25, 26; ebenso BayVGH Urt v 31.5.2007 – Az 8 B 10.1653, Tz 22 ff.

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III. Begründung, Veränderung und Beendigung des öffentlichen Sonderstatus – 7. Kapitel

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der Einziehung einheitlich geregelt sind, differieren die Straßengesetze in der Frage, ob die Einziehung als strikt gebundene Entscheidung erfolgen oder lediglich eine Regelbindung bestehen soll, die eine abweichende Entscheidung in Ausnahmefällen ermöglicht.284

d) Umstufung Auch für die mit der Widmung erfolgte Einordnung der Straße in das gesetzlich vorgesehene 53 System der Straßenklassen sehen die Straßengesetze die Möglichkeit vor, auf eine veränderte Verkehrsbedeutung der Straße durch eine entsprechende Umstufung zu reagieren. Je nach Art der Veränderung erfolgt sie als Aufstufung oder Abstufung, hat sich jedoch im Rahmen der gesetzlich vorgegebenen Klassifizierungsstufen zu halten.285 Die Umstufungsverfügung gliedert sich in zwei nicht trennbare Teilakte, nämlich zum einen die Aufhebung der bisherigen Klassifizierung und zum anderen die Neueinstufung. Daher kann der Bund gegenüber einem Land keine Weisung dahingehend aussprechen, eine Bundesstraße zu einer Landesstraße abzustufen (Rn 10).286 Vielmehr verbleibt ihm alleine die Möglichkeit, in Ausübung seines Weisungsrechts die Straße zu entwidmen und das weitere Vorgehen dem Land zu überlassen.287 Wichtigste Rechtsfolge einer Umstufung ist der damit verbundene Wechsel in der Straßenbaulast sowie der daran geknüpfte Übergang des Eigentums am Straßengrund.288 Auch die Umstufung erfolgt als Allgemeinverfügung und ist öffentlich bekannt zu machen.289 Eine Anfechtungsbefugnis der Straßenbenutzer besteht hier ebenso wenig wie bei der Einziehung.290 Straßenanliegern dürfte ein Klagerecht lediglich im Hinblick auf Anbaubeschränkungen zukommen, die sich aus einer Aufstufung ergeben können.291 Trotz ihrer erheblichen finanziellen Folgen für eine Gemeinde als betroffener Straßenbaulastträger hält die Rechtsprechung die Abstufung für eine mit der Selbstverwaltungsgarantie des Art 28 II 1 GG vereinbare, gebundene Entscheidung der zuständigen Straßenbehörde.292 Darüber hinaus trifft den bisherigen Träger der Straßenbaulast auch keine Verpflichtung, das betroffene Straßenstück entsprechend seiner neuen Verkehrsbedeutung zurückzubauen. Die Erhaltungsverpflichtung des neuen Straßenbaulastträgers erstreckt sich allerdings nur auf den Zustand, der für das verringerte Verkehrsbedürfnis erforderlich ist.

4. Straßenrechtliche Statusakte im Dienste der Verkehrsberuhigung Die vielfältigen Vorhaben zur innerstädtischen Verkehrsberuhigung und namentlich die Her- 54 stellung von Fußgängerzonen in Stadtzentren haben die Frage nach der Einsetzbarkeit straßenrechtlicher Statusakte für solche Vorhaben aufgeworfen. Die in einer Widmung ursprünglich oder im Wege der Teileinziehung nachträglich verfügten Widmungsbeschränkungen im Hin-

_____ 284 S einerseits § 2 IV FStrG; Art 8 I BayStrWG; § 37 I LStrG RP; § 8 I StrG SL – andererseits § 7 II StrWG NW; § 8 II Bbg StrG; § 8 I NdsStrG; diff § 8 I 1 und 2 StrWG SH. 285 Vgl § 2 IIIa und IV FStrG; § 8 StrWG NW; § 6 StrG BW; Art 7 BayStrWG; § 7 BbgStrG; § 6 LStrG Bremen; § 5 HessStrG; § 8 StrWG MV; § 7 NdsStrG; § 38 LStrG RP; § 7 StrG SL; § 7 SächsStrG; § 7 StrG LSA; § 7 StrWG SH; § 7 ThürStrG; Papier in: Erichsen/Ehlers (Fn 76) § 40 Rn 31 ff. 286 Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 2 IV 1. Hs FStrG aF, Hermes JZ 2001, 92, 93. 287 BVerfGE 102, 167, 175 o JK GG Art 85 III/2, s § 2 IV FStrG nF; zu einem Abstufungskonzept sog nicht fernverkehrsrelevanter Bundesfernstraßen Sauthoff DÖV 2009, 74 ff; Witting DVBl 2010, 408 ff. 288 § 6 I FStrG; § 10 I StrWG NW; § 10 I StrG BW; Art 11 IV BayStrWG; § 11 I BbgStrG; § 11 I HessStrG; § 18 I StrWG MV; § 11 I NdsStrG; § 10 IV StrG SL; § 11 I SächsStrG; § 11 I StrG LSA; § 17 I StrWG SH; § 11 I ThürStrG. 289 Zu den weiteren Umstufungsarten s Herber in: Kodal (Fn 8) Kap 10 Rn 23 ff. 290 S bspw § 14 I 2 StrWG NW. Zum Rechtsschutz gegen die Umstufung s Otte NWVBl 1996, 41, 45. 291 So bspw auch § 25 StrWG NW. 292 S BVerwG NVwZ 1995, 700 ff; NdsOVG DVBl 1994, 1203 ff m Anm Sauthoff.

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7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht

blick auf die zulässige Benutzungsart (Ausschluss des Kfz-Verkehrs) bilden die straßenrechtlich vorgesehenen Verfahren, um Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung realisieren zu können.293 Einer planungsrechtlichen Vorentscheidung durch Bebauungsplan bedarf es dazu nicht notwendigerweise.294 Die Einrichtung von Fußgängerbereichen muss jedoch auch in zeitlicher Hinsicht hinreichend bestimmt erfolgen und den betroffenen Anliegern zumutbar sein. Davon geht die Rechtsprechung aus, wenn die Möglichkeit zur Grundstückszufahrt für wenige Stunden gewährleistet bleibt.295 In der Praxis dürfte demgegenüber die verkehrsrechtliche Möglichkeit zur Einrichtung von Fußgängerzonen und sonstigen verkehrsberuhigten Bereichen gem § 45 Ib 1 Nr 3 StVO auf der Grundlage eines entsprechenden planerisch-städtebaulichen Gesamtkonzeptes296 bevorzugt werden. 7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht

IV. Straßenbaulast und Straßenverkehrssicherungspflicht IV. Straßenbaulast und Straßenverkehrssicherungspflicht – 7. Kapitel

55 Die aus dem Bau und der Unterhaltung von öffentlichen Straßen resultierenden Aufgaben und die damit zusammenhängende Verantwortlichkeit für einen verkehrssicheren Zustand der Straßen werden traditionell anhand der Rechtsinstitute der Straßenbaulast und der Straßenverkehrssicherungspflicht bestimmt. Mag die strikte Unterscheidung zwischen beiden Rechtsinstituten auch dogmatisch kaum überzeugen,297 so bildet sie für die Rechtsprechung und Rechtspraxis den maßgeblichen Ausgangspunkt für die Bewältigung konkret anstehender Rechtsfragen.

1. Die Straßenbaulast 56 Der Begriffsbestimmung der Straßengesetze von Bund und Ländern zufolge umfasst die Straßenbaulast alle mit dem Bau und der Unterhaltung der Straße zusammenhängenden Aufgaben.298 Damit haben die Straßengesetze den Straßenbau als Hoheitsaufgabe im Rahmen der Daseinsvorsorge ausgestaltet. Demnach ist der jeweilige Straßenbaulastträger, dem die Straße entsprechend ihrer Einstufung zugeordnet ist, dazu verpflichtet, die Straße in einem dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis genügenden Zustand zu bauen, zu unterhalten, zu erweitern oder sonst zu verbessern. Neben der baulichen Herstellung unterfallen dieser Verpflichtung auch die Planung, Finanzierung und Verwaltung.299 Nicht zur Straßenbaulast zählen die Beleuchtungs-, Reinigungs-, Räum- und Streupflichten.300 Das bestehende umfassende Pflichtenbündel, zu dem auch die Wahrung der Belange des Umweltschutzes und des Städtebaus sowie von besonders schutzbedürftigen Bevölkerungsteilen gehört,301 wird indes durch die organisatorische und fi-

_____ 293 Statt vieler s Steiner DVBl 1992, 1561, 1563 ff; s zu den Voraussetzungen für die Anordnung einer Tempo 30Zone NdsOVG NJW 2007, 1609 ff. 294 So VGH BW ESVGH 41, 45, 49. 295 Vgl VGH BW VBlBW 1994, 314, 316. 296 Vgl dazu Manssen DVBl 1997, 633, 636 f; zur größeren Flexibilität von straßenverkehrsrechtlichen Anordnungen gem § 45 StVO gegenüber dem straßenrechtlichen Teileinziehungsverfahren, ders DÖV 2001, 151, 154 f. 297 S dazu Bartlsperger Verkehrssicherungspflicht und öffentliche Sache, 1970; ders DVBl 1973, 465 ff. 298 S § 3 I 1 FStrG; § 9 I 1 StrWG NW; § 9 I 1 StrG BW; Art 9 I 1 BayStrWG; § 7 II 1 StrG Berlin; § 9 I 1 BbgStrG; § 10 I 1 LStrG Bremen; §13 I 1 HbgWG; § 9 I 1 HessStrG; § 11 I 1 StrWG MV; § 9 I 1 NdsStrG; § 11 I 1 LStrG RP; § 9 I 1 StrG SL; § 9 I 1 SächsStrG; § 9 I 1 StrG LSA; § 10 I 1 StrWG SH; § 9 I 1 ThürStrG. 299 Vgl Tegtbauer in: Kodal (Fn 8) Kap 13 Rn 10 ff. 300 Hierzu vgl Schnebelt/Sigel (Fn 27) Rn 195 ff. 301 § 3 I 2, 2. Hs FStrG; § 9 II StrWG NW; § 9 I 2 2. HS StrG BW; Art 9 I 4 f. BayStrWG; § 7 II 3 StrG Berlin; § 9 I 3 BbgStrG; § 11 I 2, 2. Hs StrWG MV; § 11 III 1 LStrG RP; § 9 I 2, 2. Hs SächsStrG; § 9 I 2, 2. Hs StrG LSA; § 10 II StrWG SH; § 9 I 3 ThürStrG.

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IV. Straßenbaulast und Straßenverkehrssicherungspflicht – 7. Kapitel

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nanzielle Leistungsfähigkeit des Straßenbaulastträgers begrenzt.302 Die auf Grund der Finanzknappheit der öffentlichen Haushalte zunehmend fehlende Leistungsfähigkeit hat in jüngerer Zeit eine Diskussion über probate Lösungsmöglichkeiten entfacht. Zum einen beziehen sich die Überlegungen auf die Errichtung einer Bundesfernstraßengesellschaft, zum anderen aber vor allem auf die Möglichkeiten einer Einschaltung Privater in Bau, Unterhaltung, Betrieb und Finanzierung von Bundesfernstraßen.303 Durch die Ergänzung des Kompetenztitels des Art. 74 I Nr 22 GG um die „Erhebung und Verteilung von Entgelten für die Benutzung öffentlicher Straßen mit Fahrzeugen“ im Zuge der Föderalismusreform wird die Einbeziehung Privater bei der Finanzierung öffentlicher Straßen erleichtert, so dass es insofern einer Beleihung nicht mehr bedarf.304 Auch wenn der verstärkten Einschaltung Privater aus verfassungs- und europarechtlicher Sicht keine größeren Hindernisse entgegenstehen,305 bildet die grundrechtliche Kerngewährleistung des Gemeingebrauchs eine Grenze im Hinblick auf eine Privatisierung in großem Umfang. Dogmatischer Eckstein der Straßenbaulast und zugleich Stein des Anstoßes vielfacher Kritik ist die von der Rechtsprechung getroffene Festlegung, dass die aus der Straßenbaulast resultierenden Pflichten dem Straßenbaulastträger nur im Interesse der Allgemeinheit auferlegt sind. Ein Anspruch Einzelner auf Erfüllung der Straßenbaulast kann daher prinzipiell nicht bestehen. 306 Mangels Drittgerichtetheit der aus der Straßenbaulast resultierenden Amtspflichten kommt eine Amtshaftung gem Art 34 GG iVm § 839 I BGB ebenso wenig in Betracht.307 Für die Einhaltung der Pflichten, die sich aus der Straßenbaulast ergeben, kann mithin nur die staatliche Straßenaufsicht sorgen. An deren Effektivität sind jedoch vor allem auf Grund ihrer begrenzten finanziellen Leistungsfähigkeit Zweifel durchaus angebracht.308

2. Die Straßenverkehrssicherungspflicht Die überkommene Rechtsprechung und Lehre sieht in der Straßenverkehrssicherungspflicht 57 eine Verpflichtung des Trägers der Straßenbaulast, die trotz weitgehender inhaltlicher Deckungsgleichheit mit der Straßenbaulast als rechtlich eigenständige, auf einem gesonderten Rechtsgrund beruhende Rechtspflicht zu behandeln ist. Diese bestreitbare, an den Umstand der Verkehrseröffnung anknüpfende Konstruktion ermöglicht es der Rechtsprechung indes, im Einzelfall einen Schadensersatzanspruch wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten zusprechen zu können. Konsequenterweise hat die Rechtsprechung diese Haftung auf die allgemeinen Vorschriften des privaten Deliktsrechts nach §§ 823 ff BGB gestützt.309

_____ 302 Vgl § 3 I 2 1. HS FStrG; § 9 I 2 StrWG NW; § 9 I 2 StrG BW; Art 9 I 2 BayStrWG; § 7 II 2 StrG Berlin; § 9 I 2 BbgStrG; § 10 I 2 LStrG Bremen; § 13 III 1 HbgWG; § 9 I 2 HessStrG; § 11 I 2 StrWG MV; § 9 I 2 NdsStrG; § 11 I 3 LStrG RP; § 9 I 2 StrG SL; § 9 I 2 SächsStrG; § 9 I 2 StrG LSA; § 10 I 2 StrWG SH; § 9 I 2 ThürStrG. 303 Ausführlich Uechtritz DVBl 2002, 739 ff; Arndt Die Privatfinanzierung von Bundesfernstraßen, 1998. Zu Problemen bei der Finanzierung s auch den Tagungsbericht von Stüer DVBl 2007, 231 ff. 304 Zur Änderung der Kompetenznorm des Art 74 I Nr 22 durch das 52. G zur Änderung des GG v 28.8.2006, BGBl I 2034, s Degenhart in: Sachs, GG, 6. Aufl 2011, Art 74 Rn 97; Kluth in: ders, Föderalismusreformgesetz, 2007, Art 74 Rn 13; s auch BT-Drs 16/813 S 13. Vgl zur Frage der Entgeltlichkeit unten Rn 54; Uechtritz DVBl 2002, 739, 742 f. 305 Pabst Verfassungsrechtliche Grenzen der Privatisierung im Fernstraßenbau, 1997, 263 ff; Uechtritz DVBl 2002, 739, 740 f. 306 BGHZ 112, 74, 75; BGH DÖV 1967, 387, 388; OVG NW NVwZ-RR 1995, 482, 483; – stRspr; ebenso Grupp (Fn 47) § 3 Rn 3; Tegtbauer in: Kodal (Fn 8) Kap 13 Rn 5; Otte NWVBl 1996, 41, 48 mwN auf die unveröffentl Rspr des OVG NW. 307 BGHZ 112, 74, 75 – stRspr. 308 S Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 112. 309 BGHZ 60, 54, 55 f; 54, 165, 168; 9, 373, 387 – stRspr; vgl auch BVerwGE 35, 334, 337; E 14, 304, 306. Dazu insges Ossenbühl Staatshaftungsrecht, 5. Aufl 1998, 2. Teil, III., 31 ff.

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7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht

Zugleich hat diese Rechtsprechung die Möglichkeit einer Schadensersatzpflicht nach Amtshaftungsgrundsätzen gem Art 34 GG, § 839 I BGB zugelassen, soweit die Verkehrssicherungspflicht landesgesetzlich als öffentlich-rechtliche Pflicht ausgestaltet worden ist.310 Von dieser Möglichkeit haben die Landesgesetzgeber umfassend Gebrauch gemacht und die mit dem Bau und der Unterhaltung öffentlicher Straßen einschließlich der Bundesfernstraßen sowie der Erhaltung der Verkehrssicherheit zusammenhängenden Aufgaben als hoheitliche Tätigkeit qualifiziert.311 Eine Verletzung der Straßenverkehrssicherungspflichten löst demgemäß die Amtshaftung nach Art 34 GG, § 839 I BGB aus.312 Dennoch beharrt die Rechtsprechung einerseits auf der Unanwendbarkeit der Subsidiaritätsklausel des § 839 I BGB und beschränkt die Amtshaftung andererseits auf eine Verletzung der Schutzgüter des § 823 I BGB.313 Auch im Übrigen geht die Rechtsprechung von einer inhaltlichen Übereinstimmung der Amtspflichten gem § 839 I BGB mit den Verkehrssicherungspflichten nach § 823 I BGB aus.314 Danach hat sich der Straßenbenutzer den bestehenden Straßenverhältnissen grundsätzlich anzupassen, während der Verkehrssicherungspflichtige Gefahrenquellen nach Möglichkeit zu beseitigen und die nach den örtlichen Gegebenheiten und der allgemeinen Verkehrsauffassung erforderlichen Warn- und Schutzmaßnahmen anzuordnen hat.315 Aus der weitgehenden Kongruenz zwischen Straßenbaulast und Verkehrssicherungspflicht folgen auch Begrenzungen der Verkehrssicherungspflicht durch die Widmung. Die Reichweite der Verkehrssicherungspflicht ist namentlich davon abhängig, welchem Verkehr die Straße dienen soll bzw nach ihrer Beschaffenheit dienen kann.316 Jedoch spielt bei der Verkehrssicherungspflicht die Leistungsfähigkeit keine Rolle. Im Schadensfall ist unabhängig davon Ersatz zu leisten.317 7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht V. Das Regime straßenrechtlicher Nutzungsformen – 7. Kapitel

V. Das Regime straßenrechtlicher Nutzungsformen 58 Bereits die Alltagserfahrung der verschiedenartigen, sich überschneidenden und mitunter in konfliktträchtiger Weise begehrten Nutzungen des öffentlichen Straßenraums für Zwecke der Fortbewegung, der Unterhaltung, des Sports,318 des gewerblichen Angebots von Waren und Dienstleistungen sowie des Abstellens von Gegenständen belegt die praktische Notwendigkeit einer straßenrechtlichen Nutzungsordnung mit schlagender Deutlichkeit. Zur Steuerung der Straßenbenutzung und Vermeidung von Konflikten zwischen verschiedenen Nutzungsansprüchen unterscheidet das Straßenrecht in typisierender Weise zwischen dem Gemeingebrauch, den Sondernutzungen und dem Anliegergebrauch.319

_____ 310 S BGHZ 60, 54, 56; am Bspl des Thüringer Straßengesetzes Brenner LKV 1998, 369, 372. 311 § 9a StrWG NW; § 59 StrG BW; Art 72 BayStrWG; § 7 VI StrG Berlin; § 10 I BbgStrG; § 9 LStrG Bremen; § 5 HbgWG; § 10 I StrWG MV; § 10 I NdsStrG; § 48 II LStrG RP; § 9 IIIa StrG SL; § 10 II 1 SächsStrG; § 10 I StrG LSA; § 10 IV StrWG SH; § 10 I ThürStrG. 312 Allgemein zur Amtshaftung wegen Verletzung von Amtspflichten bei öffentlich-rechtlichem Handeln Grzeszick in: Erichsen/Ehlers (Fn 76) § 44 Rn 6 ff; Untersuchung am Beispiel der Anpflanzung von Straßenbäumen, Manssen NZV 2001, 149, 152. 313 BGH NuR 1994, 49 f; BGHZ 75, 134, 135 ff o JK BGB § 839/1. 314 BGHZ 118, 368, 371 mwN; so bereits Salzwedel (Fn 4) Rn 48. 315 BGHZ 112, 74, 75 f mwN; OLG Koblenz NVZ 2008, 580 ff; LG Aurich Urt v 6.1.2011 – Az 2 O 698/10; vgl zum Problem va Rinne NJW 1996, 3303 ff; Herber NZV 2001, 161 ff; Scheidler NZV 2011, 422 ff. 316 BGH NJW 1991, 2824, 2825; aus jüngerer Zeit OLG Frankfurt/M NVwZ-RR 2008, 441 f; OLG Jena NVwZ-RR 2007, 66 ff; s dazu auch Rinne NVwZ 2003, 9, 10 ff. 317 Zu der Frage, bis zu welchem Zeitpunkt die Verkehrssicherungspflicht mit einer bloßen Warnung vor der Gefahr erfüllt werden kann, vgl Terwiesche DVP 2000, 191, 196. 318 S zum Sport auf öffentlichen Straßen: Neumann Sport auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen, 2002, 114 ff. 319 S dazu ausführlich Dietz AöR 133 (2008), 556 ff.

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V. Das Regime straßenrechtlicher Nutzungsformen – 7. Kapitel

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1. Der Gemeingebrauch a) Inhalt und Bedeutung Mit gewissen Nuancen definieren die Straßengesetze den Gemeingebrauch als den Gebrauch 59 der Straße, der jedermann ohne besondere Zulassung zum Zwecke des Verkehrs gestattet ist.320 Vom Gemeingebrauch erfasst ist der Fortbewegungsverkehr von Fußgängern und Fahrzeugen einschließlich seiner widmungskonformen Unterbrechungen sowie der kommunikative Verkehr.321 Die Anordnung von Anwohnerparkrechten auf Grund von § 45 Ib 1 Nr 2a StVO322 stellt eine gruppenbezogene Beschränkung des Gemeingebrauchs dar. Auch das Dauerparken von betriebsbereiten Kraftfahrzeugen im Straßenraum und das Abstellen von zugelassenen und betriebsbereiten Kraftfahrzeugen auf öffentlichen Parkplätzen zum Zwecke des Verkaufs zählen zum Gemeingebrauch.323 Gleiches gilt für das Abstellen von Mietfahrrädern mit Werbetafeln.324 Der Gemeingebrauch wird grundsätzlich unentgeltlich gewährt, die Landesstraßengesetze unterstellen die Erhebung von Benutzungsgebühren dem Vorbehalt einer besonderen gesetzlichen Regelung. 325 Obwohl die Unentgeltlichkeit also kein Wesensmerkmal des Gemeingebrauchs darstellt, sind allgemeine Straßenbenutzungsgebühren bisher nur für das Parken auf Grund von § 6a VI und 7 StVG sowie die Benutzung von Autobahnen durch den Güterkraftverkehr326 eingeführt worden. Im letztgenannten Bereich ist auf Grund der jüngsten Gesetzgebung ein Wandel von Benutzungsgebühren hin zu einer Mauterhebung erfolgt.327 Also hängt die Zahlung nicht mehr lediglich von einem bestimmten Benutzungszeitraum ab, sondern von der zurückgelegten Entfernung.328 Losgelöst von der Frage, ob es sich um Güterkraftverkehr handelt,

_____ 320 § 7 I FStrG; § 14 I StrWG NW; § 13 I StrG BW; Art 14 I BayStrWG; § 10 II StrG Berlin; § 14 I BbgStrG; § 15 I LStrG Bremen; § 16 I HbgWG; § 14 HessStrG; § 21 I StrWG MV; § 14 I NdsStrG; § 34 I LStrG RP; § 14 I StrG SL; § 14 I SächsStrG; § 14 I StrG LSA; § 20 I StrWG SH; § 14 I ThürStrG; eingehend zum Gemeingebrauch an öffentlichen Straßen Papier in: Erichsen/Ehlers (Fn 76) § 41 Rn 1 ff. 321 Zu den Sonderformen der „kommunikativen“ Straßennutzung näher unten Rn 60 ff. 322 Zur Zulässigkeit der flächendeckenden Überspannung einer Innenstadt mit Bewohnerparkzonen vgl oben Rn 8. 323 OVG NW NWVBl 2001, 358 ff mwN o JK StrWG NW § 14/1; auf den Einzelfall abstellend OVG Hamburg DVBl 2012, 504; nicht zum Gemeingebrauch zählt jedoch das Abstellen eines nicht betriebsbereiten KFZ, s OVG NW DÖV 2004, 800 ff; eines Wohmobils auf einem öffentlichen Parkplatz zum Zwecke des Wohnens, s OLG SH NZV 2003, 347 f; das Abstellen eines KfZ oder eines Anhängers zu Werbezwecken, s OVG Hamburg NJW 2004, 1970 f; OVG NW NJW 2005, 3162 o JK StrWG NRW § 14/2; VG Frankfurt/M NVwZ-RR 2004, 375 ff; OVG NW NWVBl 2006, 58 f; das Abstellen eines Anhängers zwecks Freihaltung einer Grundstückszufahrt, VG Braunschweig Urt v 7.12.2005 – Az 6 A 121/05; virulent werden könnte zudem die Einrichtung von Ladestationen zum Aufladen von Elektrofahrzeugen, s zum „Aufladeparken“ Michaels/de Wyl/Ringwald DÖV 2011, 831, 832 f. 324 VG Hamburg NVwZ-RR 2009, 84 ff; generell zum Abstellen von Mietfahrrädern auf öffentlichen Wegeflächen OVG Hamburg NVwZ-RR 2010, 34 ff. 325 § 7 I 4 FStrG; § 14 IV StrWG NW; Art 14 II BayStrWG; § 14 III BbgStrG; § 14 III NdsStrG; § 34 IV 1 LStrG RP; § 14 II SächsStrG; § 14 III StrG LSA; § 14 III ThürStrG; vgl hierzu auch die Kompetenznorm des Art 74 I Nr 22 GG. Durch das 52. G zur Änderung des GG v 28.8.2006 können nun ausdrücklich auch privatrechtliche Entgelte erhoben werden; vgl dazu oben Rn 52. 326 S das Gesetz zum Übereinkommen zwischen Belgien, Dänemark, Deutschland, Luxemburg und der Niederlande v 9.2.1994 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Straßen mit schweren Nutzfahrzeugen v 30.8.1994, BGBl I 1765, zul geänd am 29.10.2001, BGBl I 2785; zur EG-rechtlichen Grundlage s die Richtlinie 93/89/ EWG v 25.10.1993, ABlEG 1993 Nr L 279/32 ff, inzwischen ersetzt durch die Richtlinie 99/62/EG v 17.6.1999, ABlEG 1999 L 187/42 ff; zul geänd durch die Richtlinie 2011/76/EU v 27.9.2011, ABlEU 2011 L 269/1 ff. 327 Gesetz über die Erhebung von streckenbezogenen Gebühren für die Benutzung von Bundesautobahnen mit schweren Nutzfahrzeugen v 5.4.2002, BGBl I 1234, neugefasst durch Bek v 2.12.2004, BGBl I 3122, zul geänd am 17.8.2007, BGBl I 1958; s Neumann NVwZ 2005, 130 ff; Roth NVwZ 2003, 1056 ff; Stüer DVBl 2003, 582, 583 f; Uechtritz/Deutsch DVBl 2003, 575 ff; zu verfassungs- und europarechtlichen Fragen im Hinblick auf die streckenbezogenen Gebühren Klinski DVBl 2002, 221 ff; s zum Problem der sog Mautflucht Stehr NVwZ 2006, 645 ff; inzwischen wurde das Problem durch die 15. VO zur Änderung der StVO v 22.12.2005, BGBl I 3714 geregelt. 328 Zur Definition der Begriffe „Benutzungsgebühr“ und „Mautgebühr“ s Art 2 b) und c) der Richtlinie 99/62/EG (Fn 326).

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7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht

sieht das Gesetz über die private Finanzierung von Bundesfernstraßen eine Mauterhebung für die Benutzung von Brücken, Tunneln und Gebirgspässen vor.329 Die grundrechtliche Kerngewährleistung, die das BVerwG für den Gemeingebrauch bereits frühzeitig angenommen hat,330 dürfte einer weiteren Einführung von Straßenbenutzungsgebühren nur äußerste Grenzen vorgeben.331

b) Schranken 60 Schranken des Gemeingebrauchs ergeben sich einerseits aus dem Widmungsinhalt mitsamt etwaigen Beschränkungen auf bestimmte Benutzungsmodalitäten und der straßengesetzlich vorgeschriebenen Nutzung zu Verkehrszwecken. Andererseits ergeben sich die Grenzen der konkreten Nutzungsmöglichkeiten aus den Straßenverkehrsvorschriften, die die straßenrechtlichen Regelungen über den Gemeingebrauch in Bezug nehmen.332 Während die allgemeinen straßenrechtlichen Schranken den abstrakten Gemeingebrauch umschreiben, bezeichnen die straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften den jeweils zulässigen Nutzungsumfang, den konkreten Gemeingebrauch.333 Aus der Übertretung beider Begrenzungen ergeben sich jedoch unterschiedliche Konsequenzen. Ein Verstoß gegen die allgemeinen straßenrechtlichen Schranken führt regelmäßig zur Behandlung als Sondernutzung, ein Übertreten der Verkehrsregeln stellt jedoch eine rechtlich unzulässige Art der Gemeingebrauchsausübung dar.334

c) Die Rechtsstellung des Straßenbenutzers 61 Für jeden Einzelnen besteht ein subjektiv-öffentliches Recht auf Teilnahme am bestehenden Gemeingebrauch. Aus der in den Landesstraßengesetzen allgemein getroffenen Bestimmung, dass ein Anspruch auf Aufrechterhaltung des Gemeingebrauchs nicht besteht,335 schließt die Rechtsprechung allgemein, dass ein „schlichter“ Straßenbenutzer durch den Wegfall oder die Einschränkungen des Gemeingebrauchs nicht in eigenen Rechten verletzt sein kann.336 Angesichts der grundrechtlichen Fundierung, die das BVerwG für die Teilnahme am bestehenden Gemeingebrauch angenommen hat,337 erscheint die Annahme eines Rechtsanspruchs des Straßenbenutzers auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Einschränkung jedoch geboten.338

_____ 329 Gesetz über den Bau und die Finanzierung von Bundesfernstraßen durch Private v 30.8. 1994, BGBl I 2243, neugefasst durch Bek v 6.1.2006, BGBl I 49; s hierzu Drömann/Tegtbauer NVwZ 2004, 296 ff; Schmitt Bau, Erhaltung, Betrieb und Finanzierung von Bundesfernstraßen durch Private nach dem FStrPrivFinG, 1999, 17 f. 330 BVerwGE 32, 222, 224; E 30, 235, 238. 331 S eingehend Ossenbühl NuR 1996, 53, 61 f mwN; zum Problem der Unentgeltlichkeit Papier in: Erichsen/Ehlers (Fn 76) § 41 Rn 47 f; zur Debatte über die Ausweitung der Mauterhebung auf andere Fahrzeuge als schwere Lkw Klinski DVBl 2002, 221, 228 mwN. 332 Vgl § 7 I 1 FStrG; § 14 I 1 StrWG NW; § 13 I 1 StrG BW; § 14 I 1 BbgStrG; § 15 I LStrG Bremen; § 16 I 2 HbgWG; § 14 S 1 HessStrG; § 21 I 1 StrWG MV; § 14 I 1 NdsStrG; § 34 I 1 LStrG RP; § 14 I 1 StrG SL; § 14 I 1 SächsStrG; § 14 I 1 StrG LSA; § 20 I StrWG SH; § 14 I ThürStrG. 333 Vgl Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 123; Papier (Fn 1) § 10 Rn 74 ff. 334 Zum Verhältnis von Straßenrecht und Straßenverkehrsrecht bei Überschreitung beider Schranken BGH NJW 2002, 1280 ff. 335 Vgl § 14 I 2 StrWG NW; § 13 II StrG BW; Art 14 III BayStrWG; § 10 II 2 StrG Berlin; § 14 I 2 BbgStrG; § 15 II LStrG Bremen; § 14 S 2 HessStrG; § 21 V StrWG MV; § 14 II NdsStrG; § 34 I 2 LStrG RP; § 14 II StrG SL; § 14 I 2 SächsStrG; § 14 I 2 StrG LSA; § 20 III StrWG SH. 336 BVerwG NVwZ 2003, 613, 615; VGH BW VBlBW 1999, 313; Otte NWVBl 1996, 41, 43; dies gilt auch für Inhaber von Linienverkehrsgenehmigungen nach dem Personenbeförderungsgesetz, s VGH BW DÖV 2004, 492 f und erst recht für Inhaber einer Sondernutzungserlaubnis, s VGH BW NVwZ-RR 2003, 311 ff. 337 BVerwGE 32, 222, 224; E 30, 235, 238; vgl auch BVerwGE 94, 136, 138 f. 338 So auch Sauthoff NVwZ 2004, 674, 677; weitergehend Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 124 und Lorenz VBlBW 1984, 329, 334.

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V. Das Regime straßenrechtlicher Nutzungsformen – 7. Kapitel

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2. Die Sondernutzung a) Begriff und Arten Straßenrechtliche Sondernutzung ist die über den abstrakten Gemeingebrauch hinausgehende 62 Benutzung der Straße.339 Als Sondernutzung sind demgemäß einerseits Benutzungen anzusehen, die den von der Widmung gezogenen Rahmen sprengen340 und andererseits solche Nutzungen, die nicht zu Verkehrszwecken erfolgen.341 Im Rahmen der straßenrechtlichen Sondernutzung geht es im Kern um die Feststellung, ob und in welchem Umfang die begehrte „Sondernutzung“ geeignet ist, den widmungsgemäßen Verkehr zu beeinträchtigen, der als Gemeingebrauch straßenrechtlich geschützt ist.342 Eine tatsächliche Gefährdung der Gemeingebrauchsausübung Dritter muss hierfür nicht vorliegen. Aus Sicht des Straßenrechts liegt es daher gleichsam auf der Hand, dass Benutzungen wie das Aufstellen von Informationsständen und die Einrichtung von Straßencafés in Fußgängerzonen einer öffentlich-rechtlichen Erlaubnispflicht unterworfen sind. Schwierig ist die Einordnung der Tätigkeit privater Sicherheitsdienste im öffentlichen Straßenraum. Obwohl es sich dabei um die Ausübung eines Gewerbes handelt, dürfte die Nutzung der Straße durch solche Dienste dem Gemeingebrauch zuzurechnen sein, wenn und soweit sich die jeweilige Tätigkeit ihrem äußeren Erscheinungsbild nach nicht von der sonstigen Teilnahme am Gemeingebrauch unterscheidet.343 Umstritten ist in diesem Bereich insbesondere die Frage, ob die Kamerafahrten von Google für seinen Dienst Street View als Sondernutzung zu qualifizieren sind.344 Soweit bei diesen Fahrten die Ortsveränderung noch als im Vordergrund stehend evident ist, wird dies zu verneinen sein. Anders stellt sich die Situation dar, wenn diese Kamerafahrten in ihrer konkreten Ausgestaltung beispielsweise durch Langsamfahren oder häufiges Anhalten und Wiederanfahren zu straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften in Widerspruch treten würden. Solange dies nicht der Fall ist, greift regelmäßig keine Erlaubnispflicht nach § 29 II StVO ein.345 Eine verkehrsfremde Nutzung und somit eine Sondernutzung stellen nach der Rechtsprechung allerdings sog Party- und Bierbikes dar.346 Für Inanspruchnahmen des Straßenraumes, die den Gemeingebrauch nicht oder nur vorübergehend beeinträchtigen, können Sondernutzungen nach bürgerlichem Recht gestattet werden.347 Dabei kann die Zustimmung von der Zahlung eines Entgelts abhängig gemacht werden.348

_____ 339 § 8 I 1 FStrG; § 18 I 1 StrWG NW; § 16 I 1 StrG BW; Art 18 I 1 BayStrWG; § 11 I StrG Berlin; § 18 I 1 BbgStrG; § 18 I LStrG Bremen; § 19 I 1 HbgWG; § 16 I 1 HessStrG; § 22 I 1 StrWG MV; § 18 I 1 NdsStrG; § 41 I 1 LStrG RP; § 18 I 1 StrG SL; § 18 I 1 SächsStrG; § 18 I 1 StrG LSA; § 21 I StrWG SH; § 18 I 1 ThürStrG. 340 Zum Verhältnis von straßenverkehrsrechtlichen Sonderrechten und straßenrechtlichen Sondernutzungen Eiffler NVZ 2000, 319 ff. 341 Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 125; Zörner LKV 1997, 160, 161; s Übersicht zu (un)zulässigen Erwägungen bei Sauthoff (Fn 8) Rn 361 ff; aktuell zum Aufstellen von Reisemobilen zum Ausüben von Prostitution VG Hamburg NVwZ-RR 2010, 370 ff. 342 Vgl § 23 I StrWG NW; Art 18 I BayStrWG. 343 S dazu Pielow (Fn 87) F III Rn 12 ff. 344 Dazu Jüngel/Fandrey NVwZ 2010, 683 ff; Scheidler ThürVBl 2010, 265 ff; Golomb/Mehrgardt/Weber BayVBl 2011, 39, 41 f. 345 So auch Jüngel/Fandrey NVwZ 2010, 683, 685; Scheidler ThürVBl 2010, 265, 267 f; Golomb/Mehrgardt/Weber BayVBl 2011, 39, 41 f; anders sehen dies jedoch einige Gemeinden, die eine Sondernutzungsgebühr für jeden gefilmten Kilometer erheben, s dazu Jüngel/Fandrey NVwZ 2010, 683. 346 OVG NW NWVBl 2012, 195 u NVwZ-RR 2012, 422 o JK StrWG NW § 22/2; bestätigend BVerwG DVBl 2012, 1434; aA Lund DVBl 2011, 339, 340 f; Klenner NZV 2011, 234, 235; Kümper/Milstein GewArch 2012, 180 ff. 347 § 8 X FStrG; § 23 StrWG NW; § 21 I StrG BW; Art 22 Bay StrWG; § 23 I BbgStrG; § 19 LStrG Bremen; § 20 I HessStrG; §§ 24 II, 30 I StrWG MV; § 23 I NdsStrG; § 45 I LStrG RP; § 22 StrG SL; § 23 I SächsStrG; § 23 I StrG LSA; § 28 I StrWG SH; § 23 I ThürStrG. 348 S § 8 X FStrG; § 23 I StrWG NW; § 21 I StrG BW; Art 22 I BayStrWG; § 11 IX StrG Berlin; § 23 I BbgStrG; § 19 LStrG Bremen; § 20 I HessStrG; § 30 I StrWG MV; § 23 NdsStrG; § 45 I LStrG RP; § 22 StrG SL; § 23 I SächsStrG; § 23 I StrG LSA; § 28 I StrWG SH; § 23 I ThürStrG.

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7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht

b) Sondernutzungserlaubnisse nach öffentlichem Recht 63 Die öffentlich-rechtliche Erlaubnispflicht von Sondernutzungen, die den Gemeingebrauch beeinträchtigen, ist von den Straßengesetzen als präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ausgestaltet worden. Das bloße Bestehen eines solchen Erlaubnisvorbehalts ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.349 Die für die Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen grundsätzlich zuständige Straßenbaubehörde350 erhält auf diese Weise Gelegenheit, zu prüfen, ob durch die beantragte Straßennutzung Rechtsgüter Dritter oder Interessen der Allgemeinheit beeinträchtigt werden.351 Die im Ermessen stehende Entscheidung über die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis ist in Ermangelung gesetzlicher Vorgaben352 auf Grund einer straßenrechtlichen Betrachtungsweise zu treffen, die im Zusammenhang zum Widmungszweck der Straße steht.353 Der straßenrechtliche Ermessensrahmen wird jedoch durch die Einbeziehung allgemeiner Belange ordnungs- oder umweltschutzrechtlicher Art überschritten.354 Eine unzulässige Ermessensausübung kann auch im Abstellen auf das gewerberechtliche Kriterium „bekannt und bewährt“ vorliegen.355 Diese Einschränkungen des Ermessens gelten auch für entsprechende Festlegungen in kommunalen Sondernutzungssatzungen,356 denn in diesen können die Gemeinden zwar Sondernutzungen näher bestimmen oder von der Erlaubnispflicht befreien, jedoch ist es ihnen verwehrt, ein Verhalten als Sondernutzung einzustufen, das generell dem Gemeingebrauch unterfällt.357 Den Gemeinden steht auch nicht die Befugnis zu, durch Satzung die Sondernutzung von bestimmten Straßen und Plätzen generell auszuschließen.358 Straßenrechtlich als Sondernutzung zu qualifizierende Verhaltensweisen, die zugleich als Ausübung vorbehaltlos gewährter Grundrechte zu werten sind, unterliegen gleichwohl der prinzipiellen Erlaubnispflicht des Straßenrechts. In solchen Fällen besteht indes regelmäßig ein Anspruch auf Genehmigungserteilung.359 Während die bloße Verfolgung von erwerbswirtschaftlichen Motiven grundsätzlich irrelevant ist, kann ein mit der Grundrechtsausübung einhergehender Verkauf von Waren und Dienstleistungen eine straßenrechtlich veränderte Beurtei-

_____ 349 BVerfG-K NVwZ 2007, 1306 ff Æ JK GG Art 5 I 2/32. 350 § 8 I 2 FStrG; § 18 I 2 StrWG NW; § 16 II 1 StrG BW; Art 18 I 1 BayStrWG; § 11 I StrG Berlin; § 18 I 2 BbgStrG; § 16 I 1 HessStrG; § 41 I 1 LStrG RP; § 18 I 1, 2. Hs StrG SL; § 18 I 2 SächsStrG; § 18 I 2 StrG LSA; § 21 I 1 StrWG SH; § 18 I 2 ThürStrG; Abweichungen vom Grundsatz: § 22 I 1 StrWG MV und § 18 I 2 NdsStrG (Träger der Straßenbaulast); § 18 IV LStrG Bremen (Ortspolizeibehörde); § 19 I 2 HbgWG (Wegeaufsichtsbehörde). 351 S BVerwGE 84, 71, 75 f; E 56, 56 ff; OVG SA LKV 2002, 335 f. 352 S aber § 18 II 4 BbgStrG. 353 S allg HessVGH NVwZ 1994, 189, 190; OVG NW MittNWStGB 1995, 50; VGH BW NVwZ-RR 1997, 677 ff; VGH BW NVwZ-RR 2001, 159, 160; zu städtebaulichen Erwägungen im Rahmen der Ermessensausübung VG Braunschweig Urt v 10.2.2009 – Az 6 A 240/07; s dazu auch Naumann BayVBl 2010, 102 ff. 354 BVerwGE 47, 280, 284; OVG NW NWVBl 2007, 64 f o JK StrWG NRW § 18/1; ebenso VG Köln Urt v 19.2.2010 – Az 18 K 5399/08, Tz 15; OVG SH NVwZ 1992, 70, 71; VGH BW VBlBW 1997, 107, 108; NVwZ-RR 2010, 164; BayVGH NVwZ-RR 2010, 830, 831 o JK BayStrWG Art 18/5; VG Gelsenkirchen NWVBl 2004, 396 ff; einen Verstoß gegen die Sperrwirkung bundesrechtlicher Vorschriften über die Abfallvermeidung nimmt BVerwGE 104, 331, 334 an; HessVGH NVwZ 1987, 902, 903 o JK StrG Hess § 16 I 1/1; OVG NW NVwZ 1988, 269, 270; aA (nach § 11 II 1 StrG Berlin) VG Berlin GewArch 2009, 495 ff (kritisch dazu Ingold GewArch 2010, 92 f); OVG Bln-Bbg NVwZ-RR 2012, 217 Æ JK BerlStrG § 11/1. 355 VGH BW NVwZ-RR 2001, 159 ff; hierzu Meßmer JuS 2002, 755 ff. 356 BVerwGE 104, 331, 334; dazu Sendler UPR 1997, 354 ff; zu den sog Bettelsatzungen s Bindzus/Lange JuS 1996, 482 ff; aA BayVGH NVwZ 1994, 187, 188 o JK StrWG Bay Art 18/1. 357 VGH BW NVwZ 1999, 560 o JK Pol- u OrdR Straßen- u Wegerecht/1; BayVGH NVwZ-RR 2004, 879; Höfling DV 33 (2000) 207, 214; Kohl NVwZ 1998, 620, 624. 358 ThürOVG LKV 2001, 469 ff o JK StrG Thür § 18 I/1. 359 BVerwG NJW 1997, 406, 407 o JK GG Art 4 I/15; BVerwGE 84, 71, 75 f; weitergehend der Kammerbeschluss BVerfG NVwZ 1992, 53 f; krit dazu Lorenz JuS 1993, 375 ff; Bspl für nicht bestehenden Anspruch: BayVGH BayVBl 2003, 214 ff; s zur Kunstfreiheit Korte JA 2003, 225, 228 f; zur „Ermessensreduzierung auf Null“ siehe auch VG Freiburg NVwZ-RR 2008, 649; zum Themenkreis allgemein Dietz AöR 133 (2008), 556, 580 ff.

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V. Das Regime straßenrechtlicher Nutzungsformen – 7. Kapitel

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lung der Störungswirkung für den Gemeingebrauch rechtfertigen.360 Etwas Besonderes gilt für eine Grundrechtsausübung nach Art 8 GG, denn auch für Sondernutzungen gelten insoweit die abschließenden Regelungen des Versammlungsgesetzes.361 Eine Sondernutzungserlaubnis ist jedoch erforderlich, wenn eine Nutzung der Straße verlangt wird, die nicht als integraler Bestandteil der Versammlung anzusehen bzw für deren Durchführung nicht zwingend erforderlich ist.362 Die Sondernutzungserlaubnis ergeht zumeist als begünstigender Verwaltungsakt, dem Nebenbestimmungen beigefügt werden können,363 sofern sich diese im Rahmen straßenrechtlich zulässiger Erwägungen halten.364 Eine pauschale Übertragung von Sondernutzungsrechten ist indes nicht gestattet. Ein entsprechender öffentlich-rechtlicher Vertrag würde gegen das dem Straßen- und Wegerecht zu entnehmende Verbot verstoßen, dass eine Sondernutzung nicht ohne Würdigung der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls erlaubt werden darf. Demzufolge ist ein solcher Vertrag als nichtig zu qualifizieren.365 Wird eine Straße ohne die erforderliche Sondernutzungserlaubnis über den Gemeingebrauch hinaus benutzt, kann die zuständige Behörde dies unterbinden.366 Als Voraussetzung für ein Einschreiten der Behörde reicht schon eine formelle Unzulässigkeit aus. Drittschutz entfalten die Vorschriften über die Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen grundsätzlich nicht.367 Auch wenn die Sondernutzungserlaubnis sonstige nach öffentlichem Recht erforderliche Genehmigungen nicht zu ersetzen vermag, so ist darüber hinaus eine Zustimmung des privaten Wegeeigentümers nicht erforderlich.368 Ihrerseits kann die Sondernutzungserlaubnis aber durch eine straßenverkehrsrechtliche Erlaubnis, Ausnahmegenehmigung oder ein Planfeststellungsverfahren ersetzt werden.369 Neben einer Verwaltungsgebühr sind die Straßenbaulastträger berechtigt, auf Grund von Rechtsverordnung oder Satzung Benutzungsgebühren für die Sondernutzungen zu erheben.370

c) Bürgerlich-rechtliche Sondernutzungen Dem bürgerlichen Recht unterliegen Sondernutzungen, die den Gemeingebrauch zwar über- 64 schreiten, diesen aber nicht nachhaltig beeinträchtigen.371 Kurzzeitige Beeinträchtigungen des

_____

360 Vgl BVerwG NJW 1997, 406 ff o JK GG Art 4 I/15; NdsOVG NVwZ-RR 1996, 244 ff; BayVGH UPR 2002, 277 f. 361 OVG Berlin LKV 1999, 372, 373; Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 150; Schnebelt/Kromer (Fn 27) Rn 297; Enders Jura 2003, 34, 41 f. – Zu einer Fahrraddemonstration auf einer Bundesautobahn HessVGH NJW 2009, 312 o JK GG Art 8/26. 362 SächsOVG NVwZ-RR 2002, 435 f (Aufstellen eines Zeltes für 500 Personen zum Zwecke der Abhaltung einer Versammlung); NJ 2004, 44 mit Anmerkung Behmenburg; VG Berlin NVwZ 2004, 761 f (Aufstellen eines Zeltes zur mehrmonatigen Durchführung eines Hungerstreiks ist erlaubnispflichtig). 363 S bspw § 18 II 2 StrWG NW. 364 OVG SH NVwZ-RR 1994, 553 f; VGH BW VBlBW 1997, 107 ff. 365 BayVGH BayVBl 2009, 661 ff. 366 Vgl § 8 VIIa FStrG; § 22 StrWG NW, s hierzu auch Grupp (Fn 47) § 8 Rn 43; VGH BW VBlBW 2002, 297 ff o JK StrG BW § 16/2; VGH BW VBlBW 2006, 239. 367 S BayVGH BayVBl 2004, 533 ff o JK BayStrWG Art 18/3; Sauthoff NVwZ 1998, 239, 249 unter Hinweis auf die unveröffentl Rspr des OVG NW; anders Grupp (Fn 47) § 8 Rn 25. 368 S Steiner (Fn 11) Abschn IV Rn 127 mwN; sie ist für die Erforderlichkeit der Sondernutzungserlaubnis irrelevant, s HessVGH NVwZ-RR 2002, 540. 369 Papier (Fn 1) § 10 Rn 101; Eiffler NZV 2000, 319, 320; OVG NW NWVBl 2001, 140. 370 § 8 III 1 FStrG; § 19a StrWG NW; § 19 StrG BW; Art 18 IIa BayStrWG; § 11 IX StrG Berlin; § 21 BbgStrG; § 18 X LStrG Bremen; § 19 III HbgWG; § 18 HessStrG; § 28 StrWG MV; § 21 NdsStrG; § 47 LStrG RP; § 18 III StrG SL; § 21 SächsStrG; § 21 StrG LSA; § 26 StrWG SH; § 21 ThürStrG; zur Finanzierung von Straßenunterhaltungskosten durch Sondernutzungsgebühren s Tagungsbericht von Stüer DVBl 2002, 238, 240 f; zur Frage, ob die Benutzungsgebühren für den Sondergebrauch klassische Benutzungsgebühren sind: SächsOVG NVwZ-RR 2007, 549 ff (abl); zutr aA VGH BW VBlBW 2008, 298 ff o JK StrG BW § 19/1; zur Bemessung der Sondernutzungsgebühren: BVerwG NVwZ 2009, 185 ff. 371 Zur Sondernutzung für Inanspruchnahme des Luftraums über öffentlichen Straßen durch Balkone BayVGH NVwZ-RR 2007, 223 ff.

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7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht

öffentlichen Verkehrsraumes, die im Zuge der Verlegung von Versorgungsleitungen auftreten, lösen regelmäßig keine Erlaubnispflichtigkeit nach öffentlichem Recht aus.372 Von besonderer Bedeutung für die Praxis ist die Verlegung und Unterhaltung von Versorgungsleitungen.373 Namentlich die zwischen den Kommunen und den Energieversorgungsunternehmen geschlossenen Konzessionsverträge über die Verlegung entsprechender Versorgungsnetze haben sich zu einem eigenständigen Rechtsgebiet entwickelt, das spezifische Fragestellungen aufwirft. 374 Höchst aktuell ist die Problematik der Folgekostenpflicht.375 Dabei geht es darum, dass straßenbauliche Veränderungen die Anpassung der sich im Straßengrundstück befindlichen Versorgungsleitungen erforderlich machen können. Die sog Folgekostenpflicht bezeichnet die Verpflichtung, die für eine straßenbaubedingte Veränderung der Versorgungsleitungen erforderlichen Kosten zu tragen. Fehlen vertragliche Regelungen über die Folgekostenpflicht, besteht im Grundsatz Einigkeit, dass aus dem Rechtsgedanken des § 8 IIa und VIII FStrG eine Kostentragung für die Versorgungsunternehmen folgt. Auf Grund des Einigungsvertrages und der Fortgeltung von DDR-Recht ergeben sich abweichende Lösungen für die Folgekostenpflicht in den neuen Ländern.376 Spezialgesetzlich geregelt ist die Straßennutzung durch Telekommunikationslinien. Nach § 68 I TKG steht dem Bund die Befugnis zu, Verkehrswege unentgeltlich für Fernmeldeleitungen zu nutzen, soweit der Widmungszweck der Verkehrswege nicht dauernd beschränkt wird. 377 Diese Nutzungsberechtigung überträgt der Bund durch die Bundesnetzagentur auf schriftlichen Antrag an die Betreiber öffentlicher Kommunikationsnetze (§ 69 I TKG).378 Die Unentgeltlichkeit gilt umfassend auch während des Baus von öffentlichen Zwecken dienenden Telekommunikationslinien.379 Bei der Verlegung neuer oder der Änderung bestehender Telekommunikationslinien ist zwar nach § 68 III 1 TKG die Zustimmung des Trägers der Straßenbaulast notwendig, jedoch ist diese zu erteilen, wenn der Gemeingebrauch nicht oder nur vorübergehend beeinträchtigt wird.380 Nach § 68 TKG entsteht also ein eigenständiges öffentlich-rechtliches Benutzungsverhältnis, welches die straßenrechtlichen Normen über die öffentlich-rechtliche wie über die bürgerlich-rechtliche Sondernutzung ausschließt. Die Folgekostenpflicht für die Verlegung oder Änderung einer Telekommunikationslinie ist in § 71 III TKG gesetzlich geregelt.381

_____ 372 S OVG SL NVwZ 1994, 1228 f. 373 Zu den sog Gestattungsverträgen auf der Grundlage von § 8 X FStrG s Grupp (Fn 47) § 8 Rn 49 ff. 374 S dazu Löwer ET 1997, 304 ff; Hüffer/Tettinger Bochumer Beiträge zum Berg- und Energierecht, Bd 11, 1990, 29 ff; Tettinger DVBl 1991, 786 ff. 375 BGHZ 144, 29 ff; BGH WM 1999, 740; s ausführlich v Danwitz Die Folgekostenpflicht im Spannungsfeld von straßenrechtlicher Sondernutzung und energierechtlicher Mitbenutzung, 2000. 376 So v Danwitz DVBl 2000, 1562 ff; vgl auch Nicolaus RdE 2000, 132 ff. 377 Grund für die Unentgeltlichkeit ist die Förderung erwünschter wirtschaftlicher Betätigung, s Fehling JuS 2003, 246, 249; nicht darunter fällt das Aufstellen von Telefonzellen, s VG Berlin NVwZ 2004, 1014 ff; das Recht zu unentgeltlicher Benutzung hindert nicht die Erhebung einer Gebühr für straßenverkehrsrechtliche Anordnungen, s BVerwG NVwZ 2005, 821 zu § 50 TKG aF; nicht kabelgebunde Telekommunikationseinrichtungen bspw für Mobilfunkanlagen sind von den §§ 68 ff TKG jedoch nicht erfasst, s dazu Stahlhut in: Kodal (Fn 8) Kap 28 Rn 130. 378 Dieses Recht führt nicht zur Verletzung einer Gemeinde in Art 28 II 1 GG, denn der Schutzbereich wird nicht tangiert. So für § 50 TKG aF BVerfG-K NVwZ 1999, 520 ff o JK GG Art 28 II/24; dazu Koenig/Siewer NVwZ 2000, 609, 613. 379 BVerwG DVBl 2001, 1373 f mit Anm Schäfer EWiR 2001, 1015 f; BayVGH NVwZ-RR 2002, 70 ff; OVG NW DÖV 2002, 171 ff. 380 BVerwGE 109, 192, 195; vgl auch Burgi DVBl 2001, 845, 851; zur Verfassungswidrigkeit von § 50 IV TKG aF s BVerfGE 108, 169, 178 ff. 381 Vgl zu dieser Thematik auch den Tagungsbericht von Stüer DVBl 2002, 238, 239 f; zur Kostentragungspflicht für die Verlegung von Telekommunikationslinien wegen Verkehrswegeänderung s BGH NVwZ 2003, 1018 f.

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V. Das Regime straßenrechtlicher Nutzungsformen – 7. Kapitel

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3. Sonderformen der „kommunikativen“ Straßennutzung Angesichts der strikten Unterscheidung des Straßenrechts zwischen dem eo ipso erlaubnisfreien 65 Gemeingebrauch und der prinzipiell erlaubnispflichtigen Sondernutzung verwundert es nicht, dass die konkret vorzunehmende Grenzziehung die Rechtsprechung in erheblichem Umfang in Anspruch nimmt.382 Ausgehend von einem weiten Verkehrsbegriff gehört neben dem fließenden und ruhenden Verkehr auch die Begegnung und Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmern, gerade in Fußgängerzonen, zum straßenrechtlichen Gemeingebrauch.383 Das bloße Ansprechen und Verteilen von Faltblättern wird man daher noch als Gemeingebrauch ansehen können, auch wenn das BVerwG ein restriktiveres Verständnis nach Maßgabe des jeweiligen Landesrechts unbeanstandet gelassen hat.384 Jedoch kann bereits ein entsprechend aggressives Anhalten von Passanten oder der Verkauf von Waren und Dienstleistungen das tatsächliche Erscheinungsbild der konkreten Nutzung so stark verändern, dass sie den Gemeingebrauch beeinträchtigt und demzufolge als straßenrechtliche Sondernutzung anzusehen ist.385 Ob und inwieweit es dabei zugleich um die Ausübung von Grundrechten geht, ist dabei zunächst ohne Belang.386 Die präventive Durchführung eines behördlichen Erlaubnisverfahrens zur Bewirtschaftung des „knappen Gutes öffentliche Straße“ ist gerade auch dazu geeignet, grundrechtlich geschützte Belange untereinander in Einklang zu bringen. Von spontanen Grundrechtsausübungen abgesehen stellt die Durchführung eines solchen Erlaubnisverfahrens keine unverhältnismäßige Grundrechtsbeeinträchtigung dar, zumal in der Regel ein Anspruch auf Erteilung der Sondernutzungserlaubnis besteht.387 Ungeachtet einer etwaigen Grundrechtsausübung löst die Benutzung von Hilfsvorrichtun- 66 gen wie Informationsständen, Lautsprecheranlagen und Plakatständern die sondernutzungsrechtliche Erlaubnispflicht aus. Anders als beim Anbringen von Warenverkaufsautomaten oder der Einrichtung von Straßencafés bewirkt eine solche Grundrechtsausübung jedoch eine Ermessensreduzierung, die bei geringer Störung des Gemeingebrauchs einen Anspruch auf Erteilung der Sondernutzungserlaubnis zu begründen vermag.388

4. Die Rechtsstellung des Straßenanliegers Im Unterschied zu den konkreten Nutzungsinteressen, die Gegenstand der Sondernutzung sind 67 und den allgemeinen Verkehrsinteressen, die im Rahmen des Gemeingebrauchs verfolgt werden, ist der Straßenanlieger in einer spezifischen Weise von der Straßenführung betroffen und zugleich an ihrer Nutzung interessiert.389 Dementsprechend ist die Rechtsstellung des Straßen-

_____ 382 Vgl die Rechtsprechungsberichte von Sauthoff NVwZ 1998, 239, 244 ff; NVwZ 2004, 674, 678 ff; Stuchlik GewArch 2004, 143, 148 ff. 383 BayVGH NVwZ-RR 1997, 258 f; NdsOVG NVwZ-RR 1996, 247 ff; VGH BW NVwZ-RR 2000, 837, 838 o JK StrG BW § 16/1; OVG LSA LKV 2001, 45, 46; s auch Siems Jura 2003, 587, 588 ff; zur Frage des Alkoholkonsums im öffentlichen Raum und der straßenrechtlichen Möglichkeit, diesen zu verbieten, Hebeler/Schäfer DVBl 2009, 1424, 1427 f; Hecker NVwZ 2010, 359, 636; Winkelmüller/Misera LKV 2010, 259, 261; zu den aktuellen Phänomen von Flashmobs und Massenveranstaltungen via Facebook Ernst DÖV 2001, 537 ff; Söllner/Wecker ZRP 2011, 179 ff. 384 S BVerwG NJW 1997, 406 ff. 385 Vgl BVerwG NJW 1997, 406 ff o JK GG Art 4 I/15; OVG Hamburg NJW 1996, 2051 f; VG Karlsruhe NJW 2002, 160 f; BayObLG VRS 103, 136 ff; VGH BW NVwZ-RR 2003, 238 ff; zur Einstufung auch des „aggressiven“ Bettelns als Gemeingebrauch, Höfling DV 33 (2000) 207, 217; vgl aber auch OLG Köln NVwZ 2000, 350, wonach aus Art 5 I GG kein Recht auf Erzwingung des Meinungsaustausches folgt; s zur Mitgliederwerbung VG Freiburg NVwZ-RR 2008, 649 ff. 386 Anders wohl BVerwG NJW 1997, 406, 407; VG Freiburg NVwZ-RR 2008, 649 ff; ferner Hoffmann Grundrechte und straßenrechtliche Benutzungsordnung, 2005. 387 S BVerwG NJW 1997, 406 ff; E 84, 71 ff; ThürOVG LKV 2002, 388 f; s dazu auch Pache/Knauff JA 2004, 47, 49 f. 388 S BVerwG NVwZ-RR 1995, 129, 130; OVG SH NVwZ 1992, 70 f; VGH BW DÖV 1987, 874 f. 389 S Hobe DÖV 1997, 323 ff.

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7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht

anliegers als Eigentümer oder Besitzer angrenzender Grundstücke von der Frage zu unterscheiden, ob dem Straßenanlieger besondere Nutzungsmöglichkeiten iSe „gesteigerten“ Gemeingebrauchs zustehen. Nur die letztgenannte Frage gehört thematisch in das Nutzungsrecht der öffentlichen Straßen, während die Rechtsstellung des Straßenanliegers als Grundstückseigentümer oder -besitzer die straßenrechtliche Ausprägung der Situationsgebundenheit des Eigentums bezeichnet.390

a) Das Anliegerrecht 68 Der Sache nach ist es darauf gerichtet, die Verbindung mit dem öffentlichen Straßennetz zu gewährleisten sowie den Zutritt von Licht und Luft zu den an der Straße errichteten Gebäuden zu erhalten.391 Im Unterschied zu diesen klaren Vorstellungen, was unter einem Anliegerrecht392 zu verstehen ist, hat eine neuere Entscheidung des BVerwG die dogmatische Herleitung des Anliegerrechts in Zweifel gezogen.393 Während die Wurzel des Anliegerrechts über lange Zeit unmittelbar im Grundstückseigentum bzw im Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb gem Art 14 I GG gesehen wurde,394 hat das BVerwG – ohne sich mit seiner früheren Rechtsprechung auseinander zu setzen – diese Position aufgegeben. Danach sollen Anliegerrechte nicht mehr unmittelbar aus Art 14 I GG abgeleitet werden können. Sie seien vielmehr nur in dem Maße als subjektive Rechte geschützt, in dem sich dies aus dem jeweils einschlägigen Straßenrecht ergibt.395 Durch das Straßenrecht, dessen Regelungsbereich auch das Verhältnis zwischen Straßen und angrenzenden Grundstücken einschließt, habe der Gesetzgeber gemäß des ihm durch Art 14 I 2 GG erteilten Auftrags Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmt.396 Bei dieser Bestimmung habe er in besonderem Maße auf die Interessen der Eigentümer von Anliegergrundstücken Rücksicht zu nehmen, denn vor allem sie seien auf den Gebrauch der Straße angewiesen.397 Diese Rechtsprechung vermischt indes zwei Fragenkreise, die strikt voneinander zu scheiden sind. Fraglos enthalten die Straßengesetze Ausgestaltungen des Grundstückseigentums gem Art 14 I 2 GG. Davon unbeantwortet ist jedoch die weitergehende Frage zu sehen, ob und inwieweit dem Grundstückseigentum aus Art 14 I 1 GG unmittelbar Schutzpositionen entnommen werden können. Angesichts der allenfalls marginalen Regelungen des Anliegerrechts in den Straßengesetzen wird man aber nicht davon ausgehen können, diese seien dort abschließend einfachgesetzlich positiviert. Angesichts der gegenteiligen Rechtsprechung, die bisher als gefestigt galt, mutet eine solche Vorstellung zudem als eine Verkehrung der rechtlichen Umstände an, welche die Rechtsprechung selbst geschaffen hat. Mit der Verortung des Anliegerrechts in Art 14 GG ist der Gewährleistungsumfang des Anliegerrechts für Veränderungen geöffnet und die daraus erwachsenden Gestaltungsoptionen für die kommunale Verkehrsgestaltung sind verfassungsrechtlich untermauert worden. 398 Die uneingeschränkte Anfahrmöglichkeit eines Grundstücks gehört demgemäß in Fußgängerzonen nicht zum verfassungsrechtlich geschützten

_____ 390 Vgl dazu va Papier (Fn 1) § 10 Rn 91. 391 S eingehend Stahlhut in: Kodal (Fn 8) Kap 26 Rn 32 ff, 63 ff. 392 Zu der in der Rspr nicht durchgeführten sprachlichen Unterscheidung zwischen „Anliegerrecht“ und „Anliegergebrauch“, vgl Peine JZ 1994, 522. 393 S hierzu ausführlich Schnebelt VBlBW 2001, 213 ff; ders/Kromer (Fn 27) Rn 229 ff. 394 BVerwGE 94, 136, 138 f; Steiner VerwArch 86 (1995), 173, 174 ff; Hobe DÖV 1997, 323 ff. 395 BVerwG NVwZ 1999, 1341, 1342; der Entscheidung zustimmend Battis NJ 1999, 662; offen gelassen in OVG LSA LKV 2001, 46 f; zu Auswirkungen der geänderten Rspr des BVerwG auf die eigene Rspr OVG NW Beschl v 19.2.2004 – Az 11 B 2601/03. 396 Siehe dazu auch BayVGH BayVBl 2010, 84, 85. 397 BVerwG NVwZ 1999, 1341, 1342. 398 S Ossenbühl NuR 1996, 53, 56.

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V. Das Regime straßenrechtlicher Nutzungsformen – 7. Kapitel

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Kernbereich des Anliegerrechts, auch nicht bei Inhabern eines Gewerbebetriebs. Umwege und Unbequemlichkeiten sind als Ausdruck der Situationsgebundenheit und Pendant entsprechender Lagevorteile hinzunehmen.399 Erst der vollständige Ausschluss der Zugangs- bzw Zufahrtsmöglichkeit verletzt den grundrechtlich geschützten Kernbereich des Anliegerrechts.400 Darüber hinaus hat der Gesetzgeber von der verfassungsrechtlich eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Eigentumsschutz des Anliegers auf eine Wertgarantie zu reduzieren, wenn Zufahrten oder Zugänge dauerhaft unterbrochen oder erheblich erschwert sind und kein angemessener Ersatz geschaffen werden kann.401 Entsprechendes gilt auch bei vorübergehenden Kontaktstörungen, die die wirtschaftliche Existenz von Gewerbebetrieben gefährden.402 Für den Rechtsschutz des Straßenanliegers folgt daraus, dass dieser straßenrechtliche Maßnahmen der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zuführen kann, soweit sie einen Eingriff in den grundrechtlich geschützten Kernbereich seines Anliegerrechts darstellen.403

b) Der Anliegergebrauch Der Anliegergebrauch, der nur in einigen Landesstraßengesetzen als eigenständiges Rechtsinsti- 69 tut Anerkennung gefunden hat,404 gewährt Straßenanliegern das Recht, die an das Grundstück angrenzende Straße für Zwecke der Grundstücksnutzung auch über den Gemeingebrauch hinaus in Anspruch zu nehmen, soweit dies erforderlich ist. Wie weit der Anliegergebrauch konkret reicht, ermittelt die Rechtsprechung auf Grund der jeweiligen räumlichen Verhältnisse von Fall zu Fall. Dazu gehört bspw die kurzfristige Lagerung von Baumaterialien,405 das Aufstellen von Fahrradständern406 sowie das vorübergehende Abstellen von Sperrmüll und Müllgefäßen407 auf dem Gehweg. Restriktiver verfährt die Rechtsprechung indes bei Hinweis- und Werbeschildern von gewerblich genutzten Grundstücken.408 Das Anbringen von Warenverkaufsautomaten oder das Aufstellen sonstiger Verkaufsstände unterfällt jedenfalls nicht mehr dem Anliegergebrauch.409 Geht eine Nutzung über den Anliegergebrauch hinaus und stellt bereits eine Sondernutzung dar, darf die Behörde die Erteilung der Sondernutzungsgenehmigung von der Zahlung eines Nutzungsentgelts abhängig machen. Ist der Anlieger bereit, das Entgelt zu entrichten, reduziert sich das Genehmigungsermessen der Behörde auf Null.410 Der Rechtsstellung des Anliegers ist mithin auch bei der Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen in besonderer Weise Rechnung zu tragen.

_____ 399 Dazu im Einzelnen BVerwGE 94, 136, 139 f. 400 S Steiner VerwArch 86 (1995), 173, 179; so gibt es insbes keinen „Anspruch auf eine optimale Zufahrt“ BayVGH BayVBl 2007, 45, 47. 401 S § 8a IV 1 FStrG; § 20 V 1 StrWG NW; § 15 II 1 StrG BW; Art 17 II 1 BayStrWG; § 22 V 1 BbgStrG; § 8 III 1 LStrG Bremen; § 38 I HbgWG; § 27 StrWG MV; § 20 V 1 NdsStrG; § 39 II 1 LStrG RP; § 20 V 1 StrG SL; § 22 IV 1 SächsStrG; § 22 V 1 StrG LSA; § 25 StrWG SH; § 22 IV 1 ThürStrG. 402 S § 8a V 1 FStrG; § 20 VI 1 StrWG NW; § 15 III 1 StrG BW; Art 17 III 1 BayStrWG; § 22 VI 1 BbgStrG; § 39 HbgWG; § 20 VI 1 NdsStrG; § 39 III 1 LStrG RP; § 20 VI 1 StrG SL; § 22 V 1 SächsStrG; § 22 VI 1 StrG LSA; § 22 V 1 ThürStrG. 403 S BVerwGE 54, 1, 3. 404 § 14a StrWG NW; § 10 III StrG Berlin; § 14 IV, 5 BbgStrG; § 17 HbgWG; § 14 IV StrG LSA und ThürStrG; zur Verortung des Anliegergebrauchs in den gesetzlich nicht ausdrücklich geregelten Fällen, vgl Schnebelt VBlBW 2001, 213 f; in Bayern wird es vorausgesetzt, BayVGH BayVBl 2007, 45, 46 f. 405 BGHZ 23, 157, 166; zu den Grenzen des zul Umfangs VGH BW VBlBW 2002, 343, 345; allg zum Umfang des Anliegergebrauchs Zörner NZV 2005, 447 ff. 406 NdsOVG DVBl 1963, 223 f. 407 OVG NW OVGE 30, 259, 263. 408 S BVerwG DVBl 1996, 925; VGH BW UPR 1997, 255 f; BGH NJW 1978, 2201 ff o JK FStrG § 7 I/1. 409 S VGH BW NVwZ-RR 2000, 837, 838 o JK StrG BW § 16/1; HessVGH DÖV 1992, 38, 39; BVerwG NJW 1975, 357 f, dazu Krebs VerwArch 67 (1976) 329 ff; Sauthoff (Fn 8) Rn 354. 410 VG Berlin LKV 2002, 37 f; zustimmend Sauthoff NVwZ 2004, 674, 681.

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7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht

VI. Das Nachbarrecht öffentlicher Straßen 7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht VI. Das Nachbarrecht öffentlicher Straßen – 7. Kapitel

70 Das Straßennachbarrecht411 entfaltet seine spezifische Schutzfunktion in zweifacher Richtung. Einerseits erfordert die Straße einen Schutz des Verkehrs vor nachbarlichen Einwirkungen, die die Verkehrsfunktion der Straße zu beeinträchtigen vermögen. Andererseits bedürfen die Straßennachbarn des – heutzutage selbstverständlichen – Schutzes vor den von der Straße ausgehenden, dem Straßenbaulastträger zuzurechnenden Verkehrsimmissionen, die im Rahmen der von der Widmung bzw Sondernutzungserlaubnis gedeckten Nutzung vom öffentlichen Straßenverkehr verursacht werden. Sie sind demzufolge nach öffentlichem Recht zu beurteilen.412

1. Die Aufrechterhaltung der Straßenfunktion 71 Zur Aufrechterhaltung der Verkehrsfunktion öffentlicher Straßen sehen die Straßengesetze von Bund und Ländern ein ganzes Bündel von Handlungs-, Duldungs- und Unterlassungspflichten der Straßennachbarn vor, die aus Gründen der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs erforderlich werden können. Auf der einen Seite haben sie die bekannten und praktisch bedeutsamen Anbau-413 und Werbebeschränkungen414 zu beachten. Diesen Beschränkungen unterfallen auch die in neuerer Zeit vermehrt eingesetzten sog Himmelsstrahler.415 Auf der anderen Seite haben sie Einrichtungen zum Schutz der Straße vor natürlichen Einwirkungen und Anpflanzungen der Straßenbaubehörden zu dulden416 und sog Schutzwälder zu erhalten.417

2. Der Schutz der Straßennachbarn 72 Für den Schutz der Straßennachbarn vor Verkehrsimmissionen418 gilt der Grundsatz, dass die vom Straßenverkehr verursachten Einwirkungen von Lärm und Schadstoffen419 grundsätzlich dann hinzunehmen sind, wenn sie auf einer rechtmäßigen bzw rechtswirksamen Planung beruhen.420 Da die Bewältigung des Lärmproblems die zentrale Frage zahlreicher Planfeststellungsverfahren darstellt,421 ist gegen diese Konsequenz nicht zu erinnern. In aller Regel geht es in der Praxis demzufolge

_____ 411 Allg Steinberg Das Nachbarrecht der öffentlichen Anlagen, 1988. 412 S dazu Papier (Fn 1) § 10 Rn 129 f; Ossenbühl (Fn 309) 275. 413 § 9 I-Va FStrG; § 25 StrWG NW; §§ 22 ff StrG BW; Art 23 ff BayStrWG; § 24 BbgStrG; § 27 LStrG Bremen; § 23 HessStrG; § 31 StrWG MV; § 24 NdsStrG; § 22 LStrG RP; §§ 24 ff StrG SL; § 24 SächsStrG; § 24 StrG LSA; § 29 StrWG SH; § 24 ThürStrG. 414 § 9 VI FStrG; § 28 StrWG NW; § 22 V StrG BW; Art 23 ff BayStrWG; § 24 VII BbgStrG; § 27 I 2 LStrG Bremen; § 31 II, III 3 StrWG MV; § 24 I 2 NdsStrG; § 24 LStrG RP; § 29 StrG SL; § 24 VII SächsStrG; § 24 VII StrG LSA; § 29 II StrWG SH; § 24 VII ThürStrG; allgemein zur Behandlung von Werbeanlagen im öffentlichen Straßenraum Rebler BayVBl 2003, 233 ff. 415 Zu den straßenrechtlichen Fragen dieser Problematik s Dietlein BauR 2000, 1682, 1688 f und Hildebrandt VBlBW 1999, 250, 254. 416 S bspw § 32 StrWG NW; zur Reichweite der Duldungspflicht und zu möglichen Ausnahmen, vgl OVG NW NJW 2000, 754 f. 417 § 31 StrWG NW. 418 Umfassend zum verkehrsbezogenen Immissionsschutz o Eifert 5. Kap Rn 290 ff. Strick Lärmschutz an Straßen, 1998; Halama VBlBW 2006, 132 ff; Schröder SächsVBl 2001, 208 ff; Schink NVwZ 2003, 1041 ff. 419 S 22. BImSchV (VO über Immissionswerte für Schadstoffe in der Luft), künftige Grenzwerte der 22. BImSchV sind im Verfahren über die Zulassung von Vorhaben zu beachten, s BVerwGE 123, 23 ff; E 123, 37 ff. 420 § 75 II 1 VwVfG; Dürr (Fn 136) § 75 Rn 36 ff; eingehend Bauer in: Kodal (Fn 8) Kap 41 Rn 26 ff. Allerdings besteht der Anspruch auf nachträgliche Anordnung von Schutzmaßnahmen wegen nicht voraussehbarer (Lärm-)Wirkungen eines (Straßenneubau-)Vorhabens gem § 75 II 2 VwVfG grundsätzlich für die gesamte Dauer der 30-Jahresfrist gem § 75 III 2 Hs 2 VwVfG. Er wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Lärmprognose des Planfeststellungsbeschlusses zulässigerweise ein kürzerer Prognosezeitraum zugrunde lag; BVerwGE 128, 177 (1. Ls). 421 Vgl dazu Kersten BayVBl 1987, 641 ff und Strick (Fn 418) 13 f.

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VI. Das Nachbarrecht öffentlicher Straßen – 7. Kapitel

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darum, ob den Straßennachbarn ein Anspruch auf aktiven Lärmschutz gem § 41 I BImSchG zusteht. Diesen gewährt die Rechtsprechung indes nur, wenn der von einer Straße ausgehende Verkehrslärm den maßgeblichen Immissionsgrenzwert nach § 2 I der 16. BImSchV überschreitet.422 Bis 2005 hatte der Gesetzgeber bewusst keine Regelung zur Lärmsanierung des Gesamtbestandes von Straßen und Schienenwegen getroffen, die aus der Vorbelastung und dem Bau oder Ausbau einer öffentlichen Straße entstehende Lärmbeeinträchtigung durfte insgesamt jedoch zu keiner Gesamtbelastung führen, die eine Gesundheitsbelastung darstellte.423 Im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm424 hat der Gesetzgeber indes in einem sechsten Teil des BImSchG konkrete Maßnahmen zur nachhaltigen Verringerung der Lärmbelastung vorgesehen, insbesondere die Erstellung sog Lärmkarten und Aktionspläne.425 Aktive Schutzmaßnahmen können im Bereich der Planfeststellung schließlich auch nach § 74 II 2 und § 75 II 2, 3 VwVfG verlangt werden.426 Darüber hinaus stehen die allgemeinen Rechtsinstitute des Staatshaftungsrechts, vor allem der Unterlassungs- und der Folgenbeseitigungsanspruch zur Verfügung.427 Erweisen sich die an der Verwirklichung des Vorhabens orientierten technischen Möglichkeiten aktiven Lärmschutzes als unzureichend oder angesichts ihrer Kosten als unverhältnismäßig, scheiden Ansprüche auf aktive Schutzmaßnahmen aus. Im Rahmen der vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsabwägung zwischen den Kosten und dem angestrebten Schutzzweck ist die Einbeziehung sonstiger Gesichtspunkte (Landschaftsschutz, Stadtbildpflege) unzulässig.428 Liegt kein Anspruch auf aktiven Lärmschutz vor, stehen den Straßennachbarn jedoch Ausgleichsansprüche auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung in Geld auf der Grundlage von § 42 I und II BImSchG bzw § 74 II 3 und § 75 II 4 VwVfG zu,429 außer die Beeinträchtigung stellt sich ihnen gegenüber als zumutbar dar. Diese Entschädigungszahlungen sind gem § 42 II BImSchG für die notwendigen Aufwendungen zu leisten, die von den Straßennachbarn für Schallschutzmaßnahmen an ihren baulichen Anlagen (passiver Lärmschutz) erbracht worden sind. Bestehen darüber hinaus noch Beeinträchtigungen, so sind diese nach § 42 II 2 BImSchG iVm § 74 II 3 VwVfG zu entschädigen. Des Weiteren kann sich aus § 45 I BImSchG ein Anspruch von Straßennachbarn auf Ab- 73 wehr gesundheitlicher Beeinträchtigungen durch Feinstaubpartikel PM10 ergeben, wenn der nunmehr durch § 4 I der 39. BImSchV430 festgelegte Grenzwert überschritten wird.431 Der in § 4 I

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422 BVerwGE 101, 1 ff; E 124, 334 ff. Maßgeblich soll der sog Beurteilungspegel und nicht der sog Summenpegel sein, s dazu anschaulich Strick (Fn 418) 47 ff und Schulze-Fielitz in: Koch/Scheuing, GK zum BImSchG, § 43 Rn 82 ff mwN; für die Notwendigkeit einer summativen Betrachtungsweise spricht sich Koch NVwZ 2000, 490, 493 ff aus; zur 16. BImschV o Eifert 5. Kap Rn 291 mwN. 423 BVerwGE 101, 1, 9 f. 424 RL 2002/49/EG v 25.6.2002, ABlEG 2002 L 189/12. 425 Gesetz zur Umsetzung der EG-Richtlinie über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm v 24.6. 2005, BGBl I 794; s dazu Fickert BauR 2006, 920 ff; Scheidler DVBl 2005, 1344 ff; Söhnlein NuR 2006, 276 ff; Stüer/ Hermanns, DVBl 2005, 1489, 1491 f; zur Lärmaktionsplanung ferner Kupfer NVwZ 2012, 784 ff. 426 Vgl dazu Dürr (Fn 136) § 75 Rn 41 ff, 85 ff; zum Verhältnis dieser Normen zu §§ 41 ff BImSchG s Papier (Fn 1) Rn 146; Michler VerwArch 90 (1999), 21, 29 f. Zum Anspruch auf nachträglichen Lärmschutz nach § 75 II 2 VwVfG s BVerwGE 128, 177 ff. 427 Papier (Fn 1) § 10 Rn 133 ff. 428 So BVerwGE 108, 248, 256 ff; BVerwG NVwZ 2000, 565, 566; anders BVerwGE 104, 123, 139; E 110, 370, 381; vgl zu dieser Problematik Schulze-Fielitz DÖV 2001, 181, 190; Schröder SächsVBl 2001, 208, 209 f. 429 Vgl hierzu auch o Eifert 5. Kap Rn 291. 430 Die 22. BImSchV ist mit Wirkung vom 2.8.2010 ersetzt worden durch die 39. BImSchV, BGBl I 2065; z Zpkt der Entscheidung war die 33. BImschV maßgeblich. 431 S zur Einhaltung der Immissionsgrenzwerte für Feinstaubpartikel Hentschel/Wurzel NVwZ 2008, 165 ff; Scheidler NVwZ 2007, 144 ff; Steenbuck NVwZ 2005, 770 ff; Willand NVwZ 2007, 171 ff; Wöckl NuR 2007, 598 ff; monographisch Fonk Europäische Luftqualitätsziele und nationale Erfüllungsverantwortung, 2009.

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7. Kapitel – Straßen- und Wegerecht

der genannten Verordnung bestimmte Immissionsgrenzwert dient nach der neueren Rechtsprechung des BVerwG zumindest auch dem Schutz eines individualisierbaren Personenkreises in von unzulässigen Grenzwertüberschreitungen betroffenen Gebieten.432 Ist die zuständige Behörde ihrer Pflicht zur Aufstellung eines Aktionsplans aus § 45 I BImSchG nicht nachgekommen, kann der Betroffene die Durchführung planunabhängiger Maßnahmen verlangen.433 Namentlich kommen verkehrsbeschränkende Maßnahmen nach § 45 I 1 StVO in Betracht, welche die Behörde auch zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen treffen kann (§ 45 I 2 Nr 3 StVO). Das nach dieser Vorschrift grundsätzlich bestehende behördliche Ermessen434 kann sich zu einer Pflicht zum Einschreiten verdichten, wenn eine Verletzung der geschützten Rechte des Einzelnen in Betracht kommt und von verkehrsbeschränkenden Maßnahmen nicht wegen der damit verbundenen Nachteile abgesehen werden muss.435 Allerdings ist der Anspruch auf verkehrsbeschränkende und sonstige Maßnahmen durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beschränkt.436 Der EuGH hat zudem entschieden, dass Betroffene über die Möglichkeit verfügen müssen, die Aufstellung eines Aktionsplans, gegebenfalls unter Anrufung der zuständigen Gerichte, erwirken zu können, wenn eine Gefahr der Überschreitung der Grenzwerte besteht.437 Dies gilt unabhängig davon, dass der Einzelne nach nationalem Recht über andere Handlungsmöglichkeiten verfügt, wie namentlich die Erhebung des Anspruchs auf Durchführung planunabhängiger Maßnahmen.438 Allerdings hat der Betroffene keinen Anspruch auf Einhaltung der Grenzwerte; die nationalen Behörden sind nur dazu verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Gefahr der Überschreitung der Grenzwerte oder der Alarmschwellen unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände und aller betroffenen Interessen auf ein Minimum zu verringern und schrittweise zu einem Stand unterhalb dieser Werte oder Schwellen zurückzukehren.439 Nach Aufhebung der Richtlinie 96/62/EG durch die Richtlinie 2008/50/EG440 und ihrer Umsetzung in deutsches Recht441 stellen sich die Rechtsfragen heute in einem neuen Licht. Insbesondere steht die Aufstellung des an die Stelle des früheren Aktionsplans getretenen Plans bei bestimmten Imissionen, insbesondere bei Feinstaubstaubpartikeln PM10, nach § 47 II 2 BImSchG im Ermessen der Behörde. Ob und ggf unter welchen Umständen eine Ermessensreduzierung auf Null eintreteten kann, wird im Schrifttum unterschiedlich beurteilt.442 Jedoch müssen in den Luftreinhalteplänen nach § 47 I BImSchG auch kurzfristig wirksame Maßnahmen vorgesehen werden. Da Betroffene auf deren Erlass einen Anspruch haben, ist insoweit keine wesentliche Änderung der Rechtslage eingetreten.443

_____ 432 BVerwGE 128, 278, 290; E 129, 296, 300; diese Rspr bezieht sich noch auf die 22. BImSchV und die dort niedergelegten Grenzwerte. 433 BVerwGE 129, 296, 301. 434 Zur Ermessensausübung im Rahmen von § 45 I 2 Nr 3 StVO: OVG Bln-Bbg NVwZ-RR 2010, 15, 16 f. 435 BVerwGE 128, 278, 300 mit Verweis auf die entsprechende Rspr zur Beeinträchtigung durch Verkehrslärm in BVerwGE 74, 234, 236 u 239 f. 436 BVerwGE 129, 296 301 f; E 128, 278, 290. 437 EuGH Urt v 25.7.2008 – Rs C-237/07 – (Janecek), Slg. 2008, I-6221, Rn. 39; s dazu Faßbender EuR 2009, 400, 405 ff; Fonk NVwZ 2009, 69, 70 ff; Kahl JZ 2010, 718, 718 f; Kugler NVwZ 2010, 279, 280; Scheidler GewArch 2009, 281, 284 ff. 438 EuGH (Fn 437) Rn 40. 439 EuGH (Fn 437) Rn 47; s zu den Rechten des Betroffenen in den unterschiedlichen Fallkonstellationen Kugler NVwZ 2010, 279, 282 f; zu den rechtlichen Anforderungen an Aktionspläne VG Stuttgart ZUR 2009, 557 ff. 440 V 21.5.2008, ABlEG 2008 L 152/1. 441 Durch das 8. G zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes v 31.7.2010, BGBl I 1059. 442 S dazu Cancik ZUR 2011, 283, 294; Ekardt/Beckmann UPR 2008, 241, 246; Koch/Braun NvWZ 2010, 1199, 1205; Sparwasser/Engel NVwZ 2010, 1513, 1519. 443 Ekardt/Beckmann UPR 2008, 241, 246; Kahl JZ 2010, 718, 719; Klinger ZUR 2010, 16, 18; Hansmann/Röckinghausen in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, § 47 BImSchG Rn 29e.

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Schlagwortverzeichnis Schlagwortverzeichnis

Schlagwortverzeichnis Schlagwortverzeichnis Schlagwortverzeichnis Aarhus-Konvention 5 14, 173, 182, 183 Recht der europäischen Union 5 18 Sekundärrechtsakte 5 18 Transformation 5 16 Umsetzung 5 15 Vollzug 5 16 Abbruchverfügung o Abrissverfügung Abfälle 5 324 Beauftragter 5 344 Besitzer von 5 337 Deponien 5 343 Entsorgungsanlagen 5 343 Recycling 5 324, 339 Überlassungspflichten 5 338 Überlassungspflicht des Besitzers 5 336 Vermeidung 5 324 Verwertung 5 324 Verwertungsanlagen 5 343 Vorbereitung zur Wiederverwendung 5 324 Abfallbegriff 5 326, 327 objektiver 5 329 real-subjektiver 5 327 Wille zur Entledigung 5 327 Abfallbeseitigungsanlagen 5 334 Anlagenzwang 5 334 Abfalleigenschaft 5 335 Ende 5 335 Abfallentsorgung 1 186 Abfallentsorgungsanlagen 5 342 Abfallhierarchie 5 323, 330 Abfallrecht 5 319 Abfallverbringungs-Verordnung 5 319 Abfallvermeidungs- und Entsorgungsgrundsatz 5 264 Abfallwirtschaftspläne 5 342 Abfallwirtschaftspläne und -vermeidungsprogramme 5 323 Abgaben 5 134 Abgaben, kommunale 1 188 ff, 197 ff Abgabensatzung 1 135 Abgestuftes Pflichtenprogramm 5 206 Gefahrenabwehrpflichten 5 206 Sanierungspflicht 5 206 Abrissverfügung 4 30, 224 ff, 229, 232, 248 f Abschleppen von Fahrzeugen 2 157 f, 195, 201 f, 320, 395, 401 Abstandsflächen 4 198, 205 f, 242 Abstimmungsgebot, interkommunales 4 25, 105 Abstufung 7 53 Abordnung 6 117 Abwägung 4 25, 73, 98 ff, 102, 105, 108 f, 241 7 28 ff Abwägungsausfall 7 29

Abwägungsdefizit 7 29 Abwägungsdisproportionalität 7 29 Abwägungsfehler 4 94, 108 Abwägungsfehlgewichtung 7 29 Abwägungsprinzip 5 67 Kontrollmaßstäbe 4 107 ff Planfeststellung 7 29 f Rechtsbindung 4 101 ff Abwahl des Bürgermeisters 1 102 Abweichungen 4 212 s a Ausnahmen und Befreiungen Achtung der lokalen Selbstverwaltung (EU) 1 51 Administrativer Beurteilungsspielraum 5 308 Administrativer Standardisierungsspielraum 5 308 AG als kommunales Unternehmen 1 127 ff s a Unternehmen, kommunale Aktionsplan 5 292 Aktive Beteiligung 5 240 Alarmschwellen 5 296 Feinstaubklagen 5 297 Pflicht zur Planaufstellung 5 297 Alimentationsprinzip 6 162 Allgemein anerkannte Regeln der Technik 4 197 Allgemeine Verwaltungsvorschriften 5 257 Allgemeines Verwaltungsrecht Aufgaben Einl 2 Referenzgebiete Einl 14 ff Reform Einl 13 Speicherleistungen Einl 4 Systembildung Einl 12 ff Verhältnis zum Besonderen Verwaltungsrecht Einl 4 ff Verwaltungsmodell Einl 12 Allgemeinverfügung 7 43 Allzuständigkeit der Gemeinde 1 29 Kreise 1 211 Altlasten 4 109 5 204 Altablagerungen 5 204 Altstandorte 5 204 ergänzende Vorschriften 5 211 Sanierungsplan 5 211 Sanierungsuntersuchungen 5 211 subsidiär 5 205 Amtsbegriff im Beamtenrecht 6 73 Amtsermittlungsgrundsatz 5 88 Amtshilfe 2 67 Amtsverschwiegenheit 6 140 Änderungsgenehmigung 5 277, 5 313 atomrechtlich 5 313 vorzeitiger Beginn 5 278

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Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft Allgemeinpolitisches Mandat 1 33 Außenpolitik 1 33 Definition 1 27 Entwicklungszusammenarbeit 1 33 grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit 1 33 grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeit 1 33 Städtepartnerschaften 1 33 s a Aufgaben, kommunale s a Gemeinde Anlage abfallrechtlich 5 281, 286 bauliche 4 3, 7, 128 f, 195 ff, 210 ff, 228 ff Begriff 5 252 Beseitigung 4 224 ff Bestandsschutz von Altanlagen 5 281 nicht genehmigungsbedürftige 5 286 dynamisiert 5 251 Genehmigung 5 250, 251, 276, 311 Genehmigungsbedürftigkeit 4 209 ff Genehmigungsverfahren 5 269 Sicherstellung der nuklearen Entsorgung 5 312 Versagung einer atomrechtlichen 5 311 s a Bauvorhaben Anlieger o Straßenanlieger Anordnungsrecht o Kommunalaufsicht Anpassungspflicht o Planungen Anreiz zur Innovation 5 148 Anscheinsgefahr 2 142 ff, 182, 213, 406 f, 421 Anscheinsstörer 2 182, 407 Anschluss- und Benutzungszwang 1 166 ff Anbieter gleichartiger Leistungen 1 169 Anschlusspflichtige 1 168 Fernwärme 1 167 und Grundrechte 1 168 f Voraussetzungen 1 166 f Anspruch, auf Satzungserlass 1 143 Anstaltsordnung 1 145 Antiterrordatei 2 49 Anwohnerparkzonen 7 8 Artenschutz 5 203 allgemeiner Artenschutz 5 203 besonderer Artenschutz 5 203 Bundesartenschutzverordnung 5 203 Atomrechtliche Anlagengenehmigung 5 314 Aufenthaltsverbot 2 284 ff Aufgabenverteilungsprinzip Beschränkung durch Art. 28 II GG 1 32 Bürgermeister 1 103 ff

Dualismus o Aufgabendualismus eigenverantwortliche Wahrnehmung 1 26 ff Findungsrecht o Aufgabenfindungsrecht und Gemeindestatus 1 81 ff Infrastruktur 1 31 Monismus o Aufgabenmonismus des Rates 1 99 ff Schutz vor Aufgabenzuweisung 1 46, 54 Spontanität 1 29 Systematik 1 59 ff Telekommunikation 1 31 Universalität 1 29 Zuweisung durch Gesetzgeber 1 28, 30, 44, 46, 51 s a gemeindespezifisches Aufgabenverteilungsprinzip Aufgabendualismus Auftragsangelegenheiten 1 63 ff Begriff 1 61, 213 Selbstverwaltungsangelegenheiten 1 62 s a Aufgaben, kommunale s a Aufgabenmonismus Aufgabenfindungsrecht 1 28 f, 32, 151, 172, 175 Aufgabenmonismus Begriff 1 61 interne Gliederung 1 62 Rechtsschutz 1 67 Weisungsaufgaben 1 63 ff s a Aufgabendualismus s a Aufgaben, kommunale Aufgabenverteilungsprinzip, gemeindespezifisches 1 44, 211 Aufgabenzuweisungsnorm 2 36 Auflagen 3 207, 347 ,modifizierende‘ 4 213 Rechtsschutz 4 237 Zulässigkeit 4 213 s a Nebenbestimmungen Aufwandsteuer, örtliche o örtliche Verbrauchs- und Aufwandsteuern Ausnahmen und Befreiungen 4 133, 212 Ausfertigung, von Satzungen 1 137 Ausgleichsanspruch 5 210 Auskunftspflicht 5 285 Auskunfts- oder Informationsrechte 5 177 Schutznormtheorie 5 178 Ausländerwahlrecht, kommunales 1 5 s a Kommunalwahlrecht Ausschließliche Wirtschaftszone 4 60 Ausschuss der Regionen 1 51 Außenbereich 4 137 ff Außenbereichssatzung 4 142 Zulässigkeit von Vorhaben im 4 137 ff Außenpolitik, der Kommune 1 33 Austauschmittel im Gefahrenabwehrrecht 2 157 Auswahlentscheidung 1 160, 6 89

Schlagwortverzeichnis

Bauabnahme 4 223 Bauaufsicht 4 195 ff Behörden 4 195, 208 und Selbstverwaltungsrecht der Gemeinde 4 20 ff, 129 Bauausführung 4 214, 221, 222 Baudispensvertrag 4 177 Baueinstellung 4 224 ff, 230, 249 Bauerlaubnis o Baugenehmigung Baufreiheit 4 27 ff, 143 ff, 215, 230 f, 237 Baugebot 4 88, 186 Baugebiet 4 77, 81, 86, 136, 163, 241 Baugenehmigung Anspruch auf Erteilung 4 141, 211 ff Arten 4 210 Bestandsschutz 4 228 fingierte 4 218 Geltungsdauer 4 220 Genehmigungsfreistellung 4 221, 248 Genehmigungspflicht 4 209 Rechtsschutz 4 236 f Regelungsgehalt 4 214 f vereinfachtes Verfahren 4 216 ff, 218, 250 Baugenehmigungsverfahren o Baugenehmigung Baulast 4 200 Bauleitplan(ung) 4 74 ff Anzeigepflicht 4 119 Aufgabe 4 74 Aufstellung 4 110 ff Außerkrafttreten 4 126 Bindung durch Raumordnungsplanung 4 62 Fehlerfolgen 4 121 ff gemeindliche Selbstverwaltung 4 18 ff Genehmigungspflicht 4 119 Kontrollmaßstäbe 4 107 ff Planungspflicht 4 90 ff, 96 Rechtsbindungen 4 101 ff Rechtsschutz 4 234 f s a Bebauungsplan s a Flächennutzungsplan Baunutzungsverordnung 4 12, 86, 136, 241 Bauordnungsrecht 4 195 ff Aufgabe 4 195 ff Begriff 4 3, 6 Gesetzgebungszuständigkeit 4 14 und Städtebaurecht 4 7 Bauplanungsrecht o Städtebaurecht Baurecht Gesetzgebungszuständigkeiten 4 9 öffentliches 4 3 privates 4 2 Rechtsquellen 4 10 ff

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Selbstverwaltungsrecht der Gemeinen 4 16 ff verfassungsrechtliche Vorordnung 4 8 Verwaltungszuständigkeit 4 16 Bauschein 4 219 Bauüberwachung 4 222 ff Bauvorhaben bauordnungsrechtliche Zulässigkeit 4 7, 209 ff bauplanungsrechtliche Zulässigkeit 4 7, 127 ff Genehmigungspflicht 4 221 Grundrechtsschutz 4 230 ff öffentliche 4 221 privilegierte 4 138 ff sonstige 4 138 ff Bauzustandsbesichtigung 4 223 Beamtenbegriff 6 58 ff Beamte auf Probe und auf Widerruf 6 67 Beamter im haftungsrechtlichen Sinne 6 60, 148 Berufsbeamte auf Lebenszeit und auf Zeit 6 66 Ehrenbeamte 6 69 Fehlen eines einheitlichen Beamtenbegriffs 6 63 Laufbahnbeamte 6 68 Politische Beamte 6 70 Staatsrechtlicher Beamtenbegriff 6 59 Unterscheidung nach Dienstherr 6 65 Beamtenrecht 6 1 ff Beauftragte 5 237 Bebauungsgenehmigung 4 210 Bebauungsplan 4 74 f, 78, 83 ff Änderung 4 110, 126 Anpassungs- und Enwicklungspflicht 4 95 ff Anspruch auf Erlass 4 92 ff Aufhebung 4 110, 126 Aufstellung 4 90 ff Ausnahmen 4 133 Außerkrafttreten 4 126 Befreiungen 4 133, 212 einfacher 4 84 Erstplanungspflicht 4 96 Fehlerfolgen 4 121 ff Festsetzungen 4 83, 86 qualifizierter 4 84 Rechtsbindungen 4 99 f, 101 ff Rechtsnatur 4 118 Rechtsschutz 4 234 f Rechtswirkungen 4 27 ff, 84, 87 f, 91 Satzung 4 118, 121 vorhabenbezogener 4 89 s a Bauleitplan(ung) Befangenheit von Ratsmitgliedern 1 93 Beförderung 6 112 ff Anspruch auf Beförderung 6 113 Beförderungsgewerbe 3 350 ff

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Befreiungen o Ausnahmen und Befreiungen Befugnisnorm 2 37 Begrenzte Konzentrationswirkung 5 275 Begünstigungsabwehranspruch 3 206, 246 Beigeordneter 1 124 s a Bürgermeister Beihilfen 3 203, 237 ff Beihilfeverbot 3 247 ff Bewilligung 3 244 Dienstleistungen von allgemeinem und allgemeinem wirtschaftlichem Interesse 3 249 Förderungsziel, unionsrechtlich bestimmtes 3 253 Legalitätsprinzip 3 254 Rückforderung 3 245, 250 f Verstoß gegen die Notifizierungspflicht 3 251 Zuwendung 3 238 Beihilferecht (EU) 1 11, 184 Unwirksamkeit öffentlich-rechtlicher Verträge 1 147 Beiträge Erschließungsbeiträge 4 165 s a Gemeindefinanzen Belange öffentliche im Baurecht 4 105 private im Baurecht 4 105 Beleihung Gefahrenabwehrrecht 2 31 f, 34 Beleihung 1 79 Benutzung öffentlicher Einrichtungen o Öffentliche Einrichtung Berufsausübung 3 55, 58 ff, 300, 339, 355 Berufswahl 3 55 f, 317 Beseitigungsverfügung o Abrissverfügung Besoldungsrecht 6 160 ff Besonderes Verwaltungsrecht Aufgaben Einl 1 Referenzgebiete Einl 14 ff Verhältnis zum Allgemeinen Verwaltungsrecht Einl 4 ff Besorgnisgrundsatz 5 230 Besorgnispotential 5 308 Bestandsschutz 5 85 im Bauordnungsrecht 4 228, 231 im Bauplanungsrecht 4 143 ff Betätigung in politischen Parteien 6 84 Beteiligung 5 89, 90 Beteiligungsgesellschaften 1 128 s a Unternehmen, kommunale Beteiligungsrechte der Naturschutzverbände 5 188 Beteiligungsrechte, gemeindliche 1 108, 128 f Betreiberpflichten 5 250, 280, 287 Betriebsbeauftragte 5 115, 120, 285 Benachteiligungsverbote 5 118

Effektivität 5 120 keine Entscheidungsbefugnisse 5 118 Strahlenschutzbeauftragten 5 119 Betteln 2 112, 130, 374, 378 Beurteilungsspielraum 5 253 Bevölkerungsdynamik und Kommunen 1 13 Bewilligung 5 221, 229 Bewirtschaftung von Gewässern 5 216 Grundwasser 5 216 Küstengewässer 5 216 Meeresgewässer 5 216 oberirdische Gewässer 5 216 Bewirtschaftungsplan 5 239, 240 Bezirk 1 122 Bezüge 6 160 Billigkeitsausgleich 5 242 Bindungswirkung Bebauungsplan 4 87 Raumordnung 4 39 ff, 60, 62, 72 Biotope 5 201 Biotopschutz 5 201 Bodenschutz 5 206 Bodenschutzrecht 5 204 Bodennutzungen 5 204 Bodenveränderungen 5 204 BSE-Verordnung 2 98 Bürger Begriff 1 5 Ehrenamtliche Tätigkeiten 1 6 Pflichten 1 6 Rechte 1 6 Selbstverwaltung 1 7 s a Einwohner s a Bürgerbeteiligung Bürgerbegehren o Bürgerbeteiligung Bürgerbeteiligung 1 117 ff Bürgerbegehren 1 119 Bürgerentscheid 1 119 ff Kassatorische Bürgerbegehren 1 121 schlichte Mitwirkungsmöglichkeiten 1 118 Mitentscheidung 1 119 ff Rechtsschutz 1 121 Bürgerbeteiligung im Baurecht o Öffentlichkeitsbeteiligung Bürgerentscheid o Bürgerbeteiligung Bürgermeister 1 102 ff Abwahl 1 102 Aufgaben 1 103 ff Beteiligungsrechte, gemeindliche 1 108, 128 f Dringlichkeitsentscheidungen 1 107 Einspruchsrecht 1 104 Geschäfte der laufenden Verwaltung 1 105

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Magistrat (Hessen) 1 109 und Rat 1 103 Ratsvorsitz 1 103 Stadtvorstand (RP) 1 110 Status 1 102 übertragene Angelegenheiten 1 106 Vertretung der Gemeinde 1 108, 147 Verwaltungsausschuss (Nds) 1 111 Verwaltungschef 1 108, 124 Wahl 1 102 Bürgerversammlung 1 118 Bundesamt für Verfassungsschutz 2 61 f Bundesauftragsverwaltung 3 153 Bundesautobahnen 7 9, 10, 14, 29 Bundesgesetz Keine Aufgabenzuweisung an Kommune 1 54 Bundesgrenzschutz 2 54 Bundeskriminalamt 2 55 Bundesnachrichtendienst 2 60 Bundesnetzagentur 3 149, 361, 364 Bundespolizei 2 54 Bundestagspräsident 2 58 Bundeswehr 2 64 f Cap and trade 5 147 effiziente Verteilung 5 148 flexible Steuerung 5 148 Club of Rome 5 2 Darstellungen o Bebauungsplan o Flächennutzungsplan Daseinsvorsorge 1 150, 171 s a Leistung, kommunale Datenübermittlung 2 60 Deckungsvorsorge 5 318 Demographischer Wandel und Kommunen 1 13 Demokratie, gegliederte 1 17 Demokratische Legitimation der Gemeindeverwaltung 1 123 durch Kommunalwahlen 1 89 in der Kommune 1 17 f Dereliktion 2 204 Deutsche Bundesbank 3 151, 142 Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse 1 152, 183 Dienstherrenfähigkeit 6 9 Dienstleistungskonzessionen 3 291 Dienstleistungsrichtlinie (EU) 1 15 Dienstpflicht 6 132 Dienstrechtreform 6 27 Direkteinleitungen 5 232 Dispens 4 212 Baudispensvertrag 4 177

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Garagendispensvertrag 4 199 Disziplinarrecht 6 129, 143 ff Doppelfunktionale Maßnahmen (Polizeirecht) 2 11 Doppik 1 206 s a Gemeindefinanzen Dringlichkeitsentscheidungen, des Bürgermeisters 1 107 Drittschutz im Baurecht 4 238 ff einfachgesetzlicher 4 240 ff im gerichtlichen Verfahren 4 246 ff grundrechtlicher 4 245 Duldungsverfügung 2 156, 391 Durchgriffshaftung 5 207 Durchsetzung von Gefahrenabwehrmaßnahmen 2 384 ff Androhung 2 392 Anwendung 2 392 Beugefunktion 2 385 Ersatzvornahme 2 387 Festsetzung 2 392 Rechtmäßigkeitszusammenhang 2 391 sofortiger Vollzug 2 393 ff unmittelbare Ausführung 2 393 ff unmittelbarer Zwang 2 388 Verwaltungsvollstreckungsrecht 2 384, 390 Verwaltungszwang 2 384 ff, 390 ff Vollstreckungshindernis 2 391 Zwangsgeld 2 386 Zwangshaft 2 386 Zwangsmittel 2 385 ff Zwangsverfahren 2 392 Dynamische Betreiberpflichten 5 310 Dynamische Grundpflichten 5 85 Dynamischer Grundrechtsschutz 5 76 EAG Bau 4 11, 125, 183 EG-Abfallrahmenrichtlinie 5 326 EG-Luftqualitätsrichtlinien 5 258 Ehrenamtliche Tätigkeiten 1 6 Eigenbetrieb 1 125 f s a Unternehmen, kommunale Eigensicherungspflichten für Private 2 31 Eigentumsgarantie bauaufsichtliche Maßnahmen 4 225 ff, 230 Bebauungsplan 4 84, 91, 188 Inhaltsbestimmung 4 84, 92 Veränderungssperre 4 152 Verunstaltungsschutz 4 202 Zurückstellung von Baugesuchen 4 152 s a Baufreiheit s a Bestandsschutz s a Enteignung s a Gebot der Rücksichtnahme Eigentumskräftig verfestigte Anspruchsposition 4 143 f, 146

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Eigenverantwortlichkeit der gemeindlichen Aufgabenwahrnehmung 1 35 Eilentscheidung, des Bürgermeisters 1 107 Eilzuständigkeit der Polizei 2 92 des Polizeivollzugsdienstes 2 91 Einfügen in die nähere Umgebung 4 136 Eingemeindung 1 9 Eingriff in Natur und Landschaft 4 86, 104 5 198 s a Grundrechte Eingriffsverwaltung 2 35 Eingriffsvorbehalt, bei kommunalen Satzungen 1 135 Einheitliches Dienstrecht 6 24 Einheitsgemeinde 1 82 Einigungsvertrag 5 70 heuristische Kategorie 5 70 Einkommenssteuer 1 190 Einspruchsrecht, des Bürgermeisters 1 104 Einvernehmen der Gemeinde 4 20, 129, 236 Einwirkungsmöglichkeit 1 165 Einwirkungspflicht, bei kommunalen Unternehmen 1 129 Einwohner Begriff 1 5 Nutzung öffentlicher Einrichtungen 1 159 Pflichten 1 6 Rechte 1 6 s a Bürger Eisenbahnen 3 365 ff EMAS-System 5 121 Emissionserklärung 5 285 Emissionshandel 5 263 Energieeffizienzgebot 5 265 Energieversorgung 1 186 Energiewirtschaft 3 359 ff Enteignung 3 76, 215 4 167 ff Entschädigung 4 152, 157, 171, 188 ff Rechtsschutz 4 173 städtebauliche 4 168 Umlegung 4 161 Verfahren 4 172 Vertrag 4 176 Zulässigkeit 4 169 f Enteignungsgleicher Eingriff 4 152 Entfernung aus dem Dienst 6 129 Entgelte o Gemeindefinanzen Entlassung 6 123 ff Entledigungstrias 5 326 Entschädigung o Enteignung Entschädigungs- und Ersatzansprüche im Gefahrenabwehrrecht 2 408 ff Entschuldung 1 195

Entsorgung 5 315 von radioaktiven Reststoffen 5 315 Entsorgungssysteme 5 159 öffentlich-rechtliche 5 159 private 5 159 Entsorgungsverantwortung 5 336 Entstehung und Entwicklung des Umweltschutzrechts 51 Entwicklungsmaßnahmen 4 5, 182 Entwicklungspflichten 4 95 ff Entwicklungszusammenarbeit von Kommunen 1 33 Entwidmung 7 52 Teileinziehung 7 51 Ergänzendes Verfahren 4 122 Erhaltungssatzung 4 186 Erlaubnis 5 222, 229 Erlaubnis- oder Bewilligungsvorbehalt 5 220 Nebenbestimmungen 2 247 polizeirechtliche 2 4, 368 s a Baugenehmigung Ermächtigung baurechtliche 4 225 ff Ermessen Einl 9 2 37, 152 ff Anspruch auf behördliches Einschreiten 2 165 Auswahlermessen 2 105, 152 ff, 160, 165, 225 f des Gesetzgebers 6 41, 163 Entschließungsermessen 2 105, 153 154, 160, 165 Ermessensgrenzen 2 154 ff Ermessensreduzierung 2 160 ff EU-Recht 2 163 Gleichheitssatz, allgemeiner 2 162 Planungsermessen 4 90, 100 Satzungsermessen 1 140 Ermittlungsmaßnahmen 5 209 Gefährdungsabschätzung 5 207 Ernennung zum Beamten 6 71 ff Aushändigung der Ernennungsurkunde 6 76 Ernennungsanspruch 6 92 Formbindung des Ernennungsakts 6 75 Nichternennung 6 97 Nichtigkeitsgründe 6 96 ff Rücknahme der Ernennung 6 101 Voraussetzungen 6 77 ff Zuständigkeit 6 74 Erneuerbare Energien 5 141 Eröffnungskontrollen 5 79 Anmeldung 5 79 Anzeige 5 79 Genehmigungsfiktion 5 80 Genehmigungsvorbehalt 5 79 Kooperationsanreize 5 80 Planfeststellungsbeschluss 5 79 Plangenehmigung 5 79

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Verschiebung der Darlegungslast 5 80 Zulassung eines vorzeitigen Beginns 5 80 Ersatzvornahme 1 69 s a Kommunalaufsicht Erschließung 4 9, 89, 132, 163 ff Erschließungslast 4 164 Erschließungsbeitrag 4 165 Erschließungsvertrag 4 165 f, 176 Ertragshoheit o Finanzhoheit ESZB 3 105, 134 ff EU-Recht Abgabenrecht 1 200 Daseinsvorsorge 1 152 Dienstleistungsrichtlinie 1 15 Diskriminierungsverbot 1 200 Kommunen 1 11 f Kommunalwahlrecht 1 5 kommunale Leistungen 1 152 kommunale Selbstverwaltung 1 20 als Schranke kommunaler wirtschaftlicher Betätigung 1 183 ff s a Europarecht Europäische Grenzagentur 2 73, 81 Europäische Integration 6 31 Europäischer Verwaltungsverbund 5 35 Europarecht 5 19 nationales Umsetzungsrecht 5 23 Regelungsdichte 5 19 Spannungsfeld des Umweltrechts 5 25 Verursacherprinzip 5 21 Vorsorgeprinzip 5 21 Europol 2 68, 76, 77 ff, 84 s a EU-Recht Fachaufsicht, über Kommunen Mittel 1 71 Rechtsschutz 1 72 subjektive Rechte 1 72 Wesen 1 71 Fachplanungen 5 99 Faktisches Dienstverhältnis 6 107 Fernwärme 1 167 Festsetzungen eines Bebauungsplans o Bebauungsplan FFH-Richtlinie 5 193, 202 Finanzausgleich, kommunaler 1 192 f s a Gemeindefinanzen Finanzautonomie 1 196 s a Finanzhoheit Finanzhilfen 3 142, 232 ff Finanzhoheit, kommunale 1 41 ff, 187 Begriff 1 41 Ertragshoheit 1 53 Finanzielle Mindestausstattung 1 41

Steuern 1 53 f Partielle Finanzgarantien 1 53 f s a Gemeindefinanzen Finanzvermögen 1 156 Fiskalisches Verwaltungshandeln 3 198, 257 Flächennutzungsplan Änderung 4 110, 126 Anpassungs- und Entwicklungspflicht 4 95 ff Anspruch auf Erlass 4 92 ff Aufhebung 4 110, 126 Aufstellung 4 90 ff Außerkrafttreten 4 126 Erstplanungspflicht 4 96 Fehlerfolgen 4 121 ff Inhalt 4 76 f Rechtsbindungen 4 99 f, 101 ff Rechtsnatur 4 82 Rechtsschutz 4 234 f Rechtswirkungen 4 79 ff s a Bauleitplan(ung) Fliegende Bauten 4 221 Flughäfen Raumordnungsrecht 4 38 Fluglärmschutz 5 293 abgestufte Schutzzonen 5 293 Lärmschutzbereiche 5 293 Flugsicherung 3 230 Föderalismusreform 6 29, 54 Förderung 5 141 Folgekostenvertrag 4 166, 175 Folgenbeseitigung 2 253 f Formenwahlfreiheit der Verwaltung 3 194 Fraktionen im Gemeinderat 1 98 Frauenförderung 6 90 Freie Selbstverwaltungsaufgaben o Selbstverwaltungsaufgaben Fürsorgepflicht 6 152, 155 ff Funktionale Privatisierung 1 80, 158 Funktionssperre 6 39 Funktionsvorbehalt 6 22 Funktionswandel des Staates 6 36 Garagendispensvertrag 4 199 Gaststätten 3 343 Gebietsbezogener Immissionsschutz 5 298 Emissionshandelsregister 5 300 Zuteilungsphase 5 300 Zuteilung von Berechtigungen 5 300 Gebietserhaltungsanspruch 4 241 Gebietshoheit 1 4 Gebietskörperschaften 1 4 Gebietsreform 1 9 f Gebot der Rücksichtnahme 4 106, 243 f Gebot der Vorsorge 5 250

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Gebühren 1 191, 200 f s a Gemeindefinanzen Gebühren und Beiträge 5 137 Abfallgebühr 5 137 öffentliche Leistung 5 137 Verleihungsgebühr 5 137 Wasserpfennige 5 137 Gebundene Entscheidung 5 253 Gefährderanschreiben 2 371 Gefährderansprache 2 371 Gefährdungshaftung 5 317 atomrechtliche 5 317 Gefahr im Polizei- und Ordnungsrecht 2 133 ff abstrakte 2 265, 374 f, 377 Anscheinsgefahr 2 142 ff, 182, 213, 406 f, 421 Diagnose 2 136 f, 146 dringende 2 150 erhebliche 2 150, 241 ex ante-Sicht 2 138 für Leib und Leben 2 150 Gefahrenverdacht 2 143 f, 182, 213, 406, 421 gegenwärtige 2 150, 241 gemeine 2 150 im Verzug 2 150 konkrete 2 133, 149 latente 2 211 f Legaldefinition 2 133 Prognose 2 136 ff, 146 Putativgefahr 2 143 f Subjektivierung 2 141 unmittelbare Gefährdung 2 150 terroristische 2 6 Gefahrenabwehr 5 74, 179 durch Bauordnungsrecht 4 6, 195, 196 ff, 207 durch Polizei- und Ordnungsrecht 2 1, 9 ff, 19 durch Private 2 23 ff Hoheitsaufgabe 2 30 im Abfallrecht 5 246 Internationalisierung 2 67 Internet 2 359 notwendige Staatsaufgabe 2 21 f Online-Glücksspiele 2 359 Gefahrenabwehrrecht 2 2, 12 Europäisierung 2 67 ff Funktionen 2 2, 8 Gesetzgebungskompetenz 2 17 ff, 40 ff Internationalisierung 2 67, 86 ff Privatisierung 2 23 ff Verwaltungskompetenz 2 38, 43 ff Vorsorgeprinzip, polizeiliches 2 13 Gefahrenverdacht 2 143 f, 182, 213, 406, 421 Gefahrenvorsorge 2 2, 12 ff Gefahrerforschungsmaßnahmen 2 148 f

Gegenstromprinzip 4 37, 46, 48 Gehobene Erlaubnis 5 223 Gehorsamspflicht 6 133 Gemeinde Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft 4 16 ff Aufbau 1 87 ff Begriff 1 4 Einheitsgemeinde 1 82 Insolvenz 1 14 Kernbereichslehren 4 22 Kreisangehörige 1 82 Kreisfreie 1 83 Namen 1 25 Geschichte des Kommunalwesens 1 7 f Gliederung (Bezirke und Ortschaften) 1 122 Privilegierte Kreisangehörige 1 84 Rechtsgrundlagen gemeindlicher Tätigkeit 1 3 Rolle im Staatsaufbau 1 16 Gemeindefinanzen 1 187 ff Abgabensatzung 1 135 aktuelle Herausforderungen 1 14 Beiträge 1 191, 200 f Doppik 1 206 Ertragshoheit 1 53 Entgelte, privatrechtliche 1 191, 201 Finanzausgleich 1 192 f Finanzzuweisungen 1 192 f Gebühren 1 191, 200 f. Gemeindesteuern 1 53, 189 f Grundsteuer 1 53 Haushaltsplan 1 204 ff Haushaltsrecht 1 202 ff Haushaltssatzung 1 204 ff Haushaltssicherungskonzept 1 14 Haushaltsvollzug 1 207 Hebesatz o Hebesatz Kameralistik 1 205 Kredite 1 195 Kommunalabgaben 1 197 Kommunales Abgabenrecht 1 197 ff Neues Steuerungsmodell 1 203 örtliche Verbrauchs- und Aufwandsteuern o örtliche Verbrauchs- und Aufwandsteuern Steuern o Gemeindesteuern Steuererfindungsrecht 1 197 Systematik 1 188 Gemeindegebiet Bezirke 1 122 Ortschaften 1 122 Reform o Gebietsreform und Selbstverwaltung 1 33 Gemeindehoheiten Begriff 1 36 Finanzhoheit 1 41 ff, 187

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Gebietshoheit 1 4 Organisationshoheit 1 39, 123, 127 Personalhoheit 1 38 Raumplanungshoheit 1 31 Rechtsetzungshoheit 1 40 Gemeinderat 1 90 ff Aufgaben 1 99 ff Aufgabensystematik 1 100 Befangenheit 1 93 Fraktionen 1 98 Hausrecht 1 94 Inkompatibilität 1 91 interne Organisation und Verfahren des Rates 1 94 ff kommunales Vertretungsverbot 1 92 Mitgliederstatus 1 90 f Ordnung 1 94 Ratsausschüsse 1 97 Ratsgeschäftsordnung 1 95, 145 Ratssitzungen 1 96 Ratsvorsitzender 1 94, 103 Rechts- und Pflichtenstatus 1 92 Verfahren 1 96 Vorbehaltsaufgaben 1 101 Zusammensetzung 1 90 f Gemeinderecht o Kommunalrecht Gemeindesteuern 1 53, 189 Gemeindestraßen 1 153, 156 7 9, 27 Gemeindeverband 1 210, 224 ff Zweckverband Gesamtgemeinde 1 227 ff Höhere Gemeindeverbände 1 229 f Regionalverwaltung 1 229 s a Landkreise Gemeindeverfassungsrecht 1 85 ff Gemeindevermögen Nutzungsanspruch 1 156 Gemeindeverwaltung 1 123 ff Handlungsformen o Handlungsformen, kommunalspezifische und Neues Steuerungsmodell o Neues Steuerungsmodell Verwaltungschef o Bürgermeister Unternehmen der Gemeinde o Unternehmen, kommunale Vergaberecht 1 128 durch Vertrag 1 130 f, 147 ff Typen 1 87 ff Gemeingebrauch 5 225 7 59 ff Schranken 7 60 Gemeinwirtschaftliche Leistungen 1 152, 184 s a Leistungen, kommunale Genehmigung 5 84, 275 als Mittel der Kommunalaufsicht 1 74

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Gestaltungswirkung 5 275 Inhaltsbestimmungen 5 274 von Satzungen 1 137 von Rechtsgeschäften 1 147 s a Baugenehmigung Genehmigungsbedürftige Anlagen 5 250 Generalklausel, bauordnungsrechtliche 4 196 f, 225 Generalklausel im Polizei- und Ordnungsrecht 2 37, 94, 100 ff, 105 ff Bundesgrenzschutz 2 54 Anwendungsbereich 2 100 ff Durchsetzung einer lex imperfecta 2 102, 112 ergänzende Funktion 2 101 lückenausfüllende Funktion 2 100 Normstruktur 2 105 Schutzgüter 2 108 ff Subsidiarität 2 117 Verfassungsmäßigkeit 2 106 Gerichtliche Kontrolldichte 5 189 Gerichtliche Kontrolle 5 229 Gesamtabwägung 7 29 Gesamtgemeinde 1 227 ff Gesamtplanungen 5 99 Gesamtrechtsnachfolger 5 207 Geschäfte der laufenden Verwaltung 1 105 Geschäftsordnung 1 95, 145 Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Bewirtschaftung von Abfällen (KrWG) 5 319 Gesetzesvorbehalt 3 32, 5 20 f bei Art 28 II GG 1 42 Gefahrenabwehrrecht 2 36 f, 94, 220 f, 346, 372, 398 f im Baurecht 4 22, 169, 225, 230 kommunalspezifische Fassung 1 134 Satzungen 1 134 f Gesetzesvorrang 2 36 Gesetzgebung 3 27 ff Anforderungen 3 30 ff Kompetenzen 3 27 ff Gesetzgebungskompetenz allgemeines Gefahrenabwehrrecht 2 9, 17 Annexkompetenz des Bundes für präventivpolizeiliche Regelungen 2 18 im Baurecht 4 9 im Raumordnungsrecht 4 9 Polizei- und Ordnungsrecht 2 39 ff Sachzusammenhang mit dem Strafverfahrensrecht 2 18 Strafverfolgung 2 9, 17 Strafverfolgungsvorsorge 2 16 f vorbeugende Bekämpfung von Straftaten 2 18 Gestaltungsspielräume 5 82 Gestaltungswirkung 7 31

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Gesteigerter Gemeingebrauch 5 226 Gewährleistungsverwaltungsrecht 1 80 Gewässer 5 243 Ausbau 5 244 Unterhaltung eines oberirdischen 5 243 Aufsicht 5 235 Benutzung 5 220, 224 Schutz 5 214 Schutzbeauftragte 5 237 Verschmutzung 5 214 Unterhaltungslast 5 243 Gewaltmonopol, staatliches 2 22 f, 34 Gewaltschutzgesetz 2 290 Gewerbe Begriff 3 296 ff -freiheit 3 9, 292 ff Überwachung 3 306 ff Gewerbebetrieb eingerichteter und ausgeübter 3 48, 72 stehender 3 326 f Gewerberecht Eingriffsmaßnahmen nach Polizeirecht 2 100 Gewerbesteuer 1 53 s a Gemeindesteuern Gewinnabschöpfung, präventive 2 324 ff Gewinnerzielung 1 175 Gleichheitssatz, allgemeiner 3 21, 24 f, 37, 44 f, 90, 269, 290 Gleichstellung 6 90 GmbH, als kommunales Unternehmen 1 127 ff s a Unternehmen, kommunale Grenzkontrollen 2 70, 72 Grenzüberschreitende Kriminalität 2 266 f Grenzüberschreitende Observation 2 83, 85 Grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit 2 67 ff Grundfreiheiten 1 52; 3 96 ff Grundrechte 4 26, 27 ff, 31 ff, 91 f, 141, 143 ff, 152, 170, 188 f, 202, 211, 215, 225 ff, 230 ff, 237, 240 ff, 245 f, 247, 248 6 43, 49, 171 ff Anschluss- und Benutzungszwang 1 168 f Berufsfreiheit 3 48, 51 ff, 89, 164, 287, 290, 300, 317, 337 Eigentumsgarantie 3 21, 43, 48, 63 ff, 217 Europäische 1 52 Grundrechtsschutz wirtschaftlicher Tätigkeit 3 38 ff Koalitionsfreiheit 3 49 f, 287 Träger o Grundrechtsträgerschaft Ehe und Familie 6 178 Geltung im Beamtenverhältnis 6 49, 171 Glaubensfreiheit 6 174 Koalitionsfreiheit 6 176 f Meinungsfreiheit 6 174 Vereinigungsfreiheit 6 175

Versammlungsfreiheit 6 174 Wissenschaftsfreiheit 6 174 s a Eigentumsgarantie s a Schutzpflichten Grundrechtecharta 3 87 ff Grundrechtsträgerschaft bei fiskalisch-erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit 1 57 gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen 1 56 der Kommune 1 56 Grundsatz der Ämterstabilität 6 94 Grundsatz der Raumordnung 4 40 ff, 42 ff, 46 f, 52, 54 f, 60 f, 72 f 5 73 Ausgleichfunktion 5 125 atomrechtlicher 5 317 Haftung 5 125 Grundsteuer 1 53 s a Gemeindefinanzen Grundstücksteilung 4 153 ff Haftung des Beamten 6 109, 147 ff Haftung für Amtspflichtverletzungen 1 135 Handlungsformen, normative Einl 9 Handlungsformen zur Gefahrenabwehr 2 366 ff behördliche Warnungen 2 371 f behördliche Wissenserklärungen 2 371 f Rechtsverordnungen 2 373 ff Verwaltungsakt 2 367 f Verwaltungsrealakt 2 370 Handwerk Selbstverwaltung 3 161 f Erlaubnis 3 330 ff Haushalt o Gemeindefinanzen Haushaltsgesetz 3 242 Haushaltssicherungskonzept 1 14 Hausrecht im Gemeinderat 1 94 Hebesatz 1 53, 189, 198 s a Gemeindefinanzen Heilung Beschlüsse des Gemeinderats 1 93 Satzungen 1 138 Hergebrachte Grundsätze 6 45 Hochzonung 1 30, 211 Höherstufige Planungen 1 31 Hoheitliche Regulierung 5 72, 74, 112 Hot Spots 5 151 dezentrale Emissionsquellen 5 151 Illegalität, formelle und materielle im Baurecht 4 229 ff Immissionen 5 247 Immissionsschutz 5 289, 294 allgemein handlungsbezogener 5 294

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gebietsbezogener 5 295 produktbezogen 5 289 Immissionsschutzrecht 5 245 Rechtsgrundlagen 5 245 Indirekteinleitungen 5 232 Informale Verfahrenselemente 5 98 Mediatoren 5 98 Informationserhebung, polizeiliche 2 331 ff besondere Mittel 2 338 f Datenabgleich 2 349 Grundrechtsschutz durch Verfahren 2 344 Informationsübermittlung 2 352 f Informationsvorsorge 2 332 Recht auf informationelle Selbstbestimmung 2 331 Rechtsgrundlagen 2 335 ff Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen 2 340 ff Zweckänderung 2 347 f Informationshandeln 5 144 Informationspflichten der Antragsteller 5 88 nachvollziehenden Amtsermittlung 5 88 Plausibilitätsprüfung 5 88 Informationsrecht 1 69 s a Kommunalaufsicht Informationstechnologie und Kommunen 1 15 Informationsvorsorge, polizeiliche 2 13 Inhaltsbestimmung des Eigentums 4 84, 92 s a Eigentumsgarantie Inhalts- und Nebenbestimmungen 5 233, 242 Rücknahme einer rechtswidrig erteilten Erlaubnis oder Bewilligung 5 234 Widerruf der Bewilligung 5 234 Inhalts- und Schrankenbestimmung 5 218, 242 In-House-Geschäft 1 128, 185 Innenbereich 4 134 ff, 144, 241 Zulässigkeit von Vorhaben im 4 134 ff Innere Sicherheit 2 2, 21 f Staatsaufgabe 2 2, 21 Innerer Frieden 2 6 Innovationsoffenheit 5 56 äußerste Grenze der Vorsorge 5 58 Beobachtungs- und Revisionspflichten 5 56 Insolvenz, der Kommune 1 14 Insolvenz und Verantwortlichkeit im Gefahrenabwehrrecht 2 206 ff Instandsetzungsgebot 4 186 Institutionelle Garantie (Art. 28 II GG) 1 21 Institutsgarantie 3 21, 49, 67 Instrumente des Umweltrechts 5 71 Instrumentelle Perspektive 5 71 Instrumentenmix 5 169 Instrumentenverbindung 5 169 Instrumentenverbund 5 169 Integrationsprinzip 5 64

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Integrierung unterschiedlicher Genehmigungsverfahren 5 271 Nebenbestimmungen 5 274 Interessen planerische Abwägung 4 105 f Interkommunale Zusammenarbeit 1 230 Beteiligungsgesellschaften 1 231 Formen 1 231 Internalisierung externer Kosten 5 41, 125, 134, 298 bestmögliche Allokation 5 298 Emissionsberechtigung 5 298 Gestaltungsermessen 5 42 in der Ausformung 5 42 Präventionsfunktion 5 125 Internet 2 6, 357 Interpol 2 89 Interventionen, punktuelle 3 193 Inzidentkontrolle, kommunaler Satzungen 1 141 Kameralistik o Gemeindefinanzen Kammer für Baulandsachen 4 173 Kampfhundeverordnungen 2 379 Kapitalismus 3 12 Kassenkredit 1 195 Kassatorisches Bürgerbegehren 1 121 s a Bürgerbeteiligung Kennzeichnung 5 341 Kennzeichnungspflichten 5 145 Kernenergierecht 5 302 Kfz-Kennzeichenüberwachung 2 331, 338, 347 Kirchlicher Bediensteter 6 10 Klagebefugnis o Drittschutz Klassifizierung 7 21, Teileinziehung 7 21, 51 Umstufung 7 21, 53 Widmungserweiterung 7 21,50 Klimaschutz 5 265 Klima- und Ressourcenschutz 1 167 Klimaschutznovelle 4 11 Koalitionen 3 49 f, 173 Körperschaft öffentlichen Rechts Kommunalkörperschaften 1 1 Kommunalunternehmen 1 126 Kollektive Haftungsmodelle 5 133 Fondslösungen 5 133 Sonderabgaben 5 133 Kollektive Sammel- und Verwertungsstrukturen 5 158 Kommunalabgaben 1 197 s a Gemeindefinanzen Kommunalaufsicht 1 68 ff Aufsichtsmittel 1 69, 71, 73 ff Fachaufsicht 1 71 f

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Rechtsaufsicht 1 69 f Rechtsschutz 1 70, 72 Präventive Aufsicht 1 73 ff s a Fachaufsicht s a Präventive Aufsicht s a Rechtsaufsicht Kommunale Bauleitplanung 5 73 Kommunales Unternehmensrecht 3 262 ff Kommunalfinanzen o Gemeindefinanzen Kommunalkörperschaft 1 1 Kommunalrecht Begriff 1 1 Gemeindeverfassungsrecht 1 85 ff Gesetzliche Grundlagen 1 2 Geschichte 1 7 ff Kommunalwahlrecht o Kommunalwahlrecht Kommunalunternehmen 1 126 s a Unternehmen, kommunale Kommunalverfassungsstreit 1 113 ff Begriff 1 114 Einzelheiten 1 115 Entwicklung 1 114 subjektive Rechte 1 115 Kommunalwahlrecht 1 5, 85 ff Bürgermeister 1 102 Gemeinderat 1 85 ff Grundsätze 1 85 Rechtsschutz 1 86 Sperrklausel 1 85 Unionsbürger 1 5 Kommune o Gemeinde Kommunikation, veränderte und Kommunen 1 15 Kommunikative Straßennutzung 7 65 Kompensationsprinzip 5 67, 68 Kompetenzverteilung 5 26 ff umweltschutzbezogenen Kompetenztitel der Europäischen Union 5 27 unionale Rechtsetzung 5 26 Kondominium 1 76 Konkurrentenabwehranspruch 3 205 Konkurrentenklage 6 94 Konkurrentenschutz 1 179 f s a Schranken kommunaler Wirtschaftstätigkeit Konnexitätsprinzip 1 58 Kontrolldichte, gegenüber Satzungsgeber 1 140 Konzentrationswirkung 5 84, 271, 314 beschränkte 5 314 der Baugenehmigung 4 217, 221 durchbrechen 5 316 Konzession 1 131 Kooperation, der Gemeine mit Privaten 1 79 Kooperationsprinzip 5 285 Pflichten 5 68

Koordinierende Pläne 5 176 Genehmigungen oder Anordnungen 5 177 Kostenerstattung im Gefahrenabwehrrecht 2 397 ff Kraft-Wärme-Kopplung 5 141 Förderung durch private Mittel 5 141 Kreise o Landkreise Kreislaufwirtschaft 5 157, 323 Kreisstraßen 7 9, 11, 27 Kreuzberg-Urteil 2 4 4 201 Kyoto-Protokoll 5 13, 149 Zuteilungsregeln 5 150 Lärm 7 72 f Lärmminderungsplanung 5 295 Landesbauordnungen 4 14, 20, 195 ff Landesentwicklung Plan 4 55 Programm 4 54 Landesexekution 3 152 Landesplanung 4 4, 9 f, 35, 40a, 52, 53 ff, 72, 97 Landesraumordnung o Landesentwicklung Landesverfassung Kommunale Finanzhoheit 1 58 Kommunale Selbstverwaltung 1 58 Konnexitätsprinzip 1 58 Landkreise 1 208 ff Aufgaben 1 212 ff Aufgabenverteilung zwischen Kreis und kreisangehörigen Gemeinden 1 214 ff ausgleichende Aufgaben 1 217 ergänzende Aufgaben 1 216 Garantie der Kreisebene 1 210 Garantie der Selbstverwaltung 1 211 Kompetenz-Kompetenz 1 218 Kreisausschuss 1 222 Kreistag 1 220 Kreisumlage 1 217 Landrat 1 221 Organe 1 219 ff Organleihe 1 223 Rechtsstellung, grundgesetzliche 1 209 ff staatliche Steuerung 1 213 Staatliche Verwaltung im Kreis 1 223 übergemeindliche Aufgaben 1 215 untere Verwaltungsbehörde 1 223 Landschaftspflege 5 193 Landschaftsplanung 5 196, 197 Integration 5 197 ökologisch orientierte 5 196 ressourcenökonomische 5 196 Lastentragung, in der Gemeinde 1 6 s a Einwohner

Schlagwortverzeichnis

Lebenszeitbeamte 6 47 Legalisierungswirkung von Genehmigungen 2 180, 200 Legitimation, demokratische o Demokratische Legitimation Leistung, kommunale 1 150 ff gemeinwirtschaftliche 1 152 Grundlagen 1 150 f und kommunale Wirtschaftstätigkeit 1 173 Modi 1 153 f und Unionsrecht 1 152 s a Öffentliche Einrichtung, Daseinsvorsorge Leistungsprinzip 6 89 Liberalismus 3 1, 7 f Luftqualität 5 296 Luftqualitätsrahmenrichtlinie 5 295 Luftreinhalteplanung 5 295 Luftsicherheitsgesetz 2 64 Magistrat (Hessen) 1 109 Marktbeobachtungspflichten 5 107 Marktordnungen 3 190 ff Bananenmarktordnung 3 192 Markttransparenz 5 144 Marktwirtschaft 3 13 ff soziale 3 11 Maßnahme- bzw Bewirtschaftungspläne/-programme 5 99, 238 f Lärmaktionspläne 5 99 Luftverunreinigung 5 99 Rechtsnatur der Pläne 5 100 Verbindlichkeit 5 100 vorgelagerte Planung 5 100 Maßnahmengesetz zum BauGB 4 11 Materielle Präklusion 5 270 Materielle Privatisierung 1 158 Materielles Schutzniveau des Umweltrechts 5 45 Materielles Vermeidungsgebot 5 199 Materielles Wasser-Nachbarrecht 5 231 Medialer Schutz 5 213 Merkantilismus 3 6 Migration 1 13 Militärischer Abschirmdienst 2 63 Mindesthebesatz 1 189 Mischverwaltung 1 78 Mitbestimmung im öffentlichen Dienst 6 13 Mitgliedstaatliche Identität 1 23 s a EU-Recht Mitwirkung der Öffentlichkeit o Öffentlichkeitsbeteiligung Mitwirkungsrecht, der Gemeinde an staatlicher Planung 1 49 Monitoring 4 115, 120 Musterbauordnung 4 14

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Nachbar Begriff 4 239 s a Drittschutz Nachbarrecht 4 2, 238 ff Nachbarschutz o Drittschutz Nacheile, polizeiliche 2 83, 84 Nachhaltige Wasserbewirtschaftung 5 238 Nachhaltigkeit 4 5, 32, 36, 44, 74, 102, 245 Nachhaltigkeitsprinzip 5 62 Managementregeln 5 62, 63 Regenerationsfähigkeit 5 63 Nachrichtendienste 2 46 f, 59 ff Trennungsgebot 2 47 ff Nachsorgegrundsatz 5 253 Nachsorgepflicht 5 266 Nachträgliche Anordnungen 5 266, 280, 281 Schranken 5 281 Nassauskiesungsbeschluss 5 218 Natur und Landschaft 4 86, 104 Natura 2000 5 193, 202 Naturaldienste 1 6 s a Einwohner Naturalkompensation 5 199 Ausgleichsmaßnahmen 5 199 Ersatzmaßnahmen 5 199 Huckepackverfahren 5 200 Naturschutz 5 193 Naturschutz- und Landschaftspflegerecht 5 194 Mitwirkung von Verbänden 5 195 Nebenbestimmungen Baugenehmigung 4 213, 237 Nebentätigkeit 6 136 Neue Bundesländer Kommunale Gebietsreform 1 10 Neues Steuerungsmodell 1 203 Neutralitätspflicht 6 138 Nichtigkeitsdogma, bei Satzungen 1 138 Nichtstörer 2 167, 170, 172, 188, 237 ff, 255, 257, 265 Entschädigungsanspruch 2 170, 255, 409 ff Nichtstörungspflicht, allgemeine 2 171, 179, 184, 185 nichtwirtschaftliche Unternehmen 1 174, 181 s a Wirtschaftstätigkeit, kommunale Normative Ermächtigungslehre 5 257 Normenkontrolle 4 69, 70, 121, 126, 234, 235 s a inzidente Inzidentkontrolle s a prinzipale Normenkontrolle Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften 5 77, 191, 257 TA Lärm 5 77 TA Luft 5 77 Zweispurigkeit der Normkonkretisierung 5 77 Normkonkretisierung 5 75

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Notstand im Gefahrenabwehrrecht 2 237 ff zivil- und strafrechtlicher 2 103 Notstandsmaßnahmen 2 240, 252 Notstandssituation 2 240 ff Notstandspflicht 2 168 Entschädigungsanspruch 2 410 ff Notwehr 2 104 Nutzungsuntersagung 4 224, 230 Obdachlosenunterbringung 2 240, 247 ff Obdachlosigkeit 2 101, 116, 124, 130, 161, 166, 180, 186, 239, 241 f, 246 ff, 322, 364, 413 Öffentlich 5 336 gemeinnützige 5 336 gewerbliche Sammlung 5 336 öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger 5 336 Öffentliche Einrichtung 1 155 ff Anschluss- und Benutzungszwang 1 166 ff Begriff 1 155 f Benutzungsbedingungen 1 163 Benutzungsverhältnis 1 161 ff Kapazität 1 160 Nutzungsrecht 1 159 Öffentliches Sachenrecht 1 153, 156 Organisationsform 1 157 Rechtsform 1 164 f Verwaltungsprivatrecht 1 161 Widmung 1 158 Zugang 1 164 f Zweistufenlehre 1 164 s a Anschluss- und Benutzungszwang Öffentliche Ordnung o Ordnung, öffentliche Öffentliche Sachen 5 217 Öffentliche Sicherheit o Sicherheit, öffentliche Öffentliche Sparkassen 3 265 ff öffentlicher Auftrag 3 265 f Rechtsform 3 267 Öffentliche Unternehmen 3 260 Fiskusabwehransprüche 3 263, 268, 270 Spektrum 3 259 Umwandlung 3 273 Unionsrechtswidriges Verhalten 3 276 Voraussetzungen der Beteiligung des Staates 3 261 Vorrechte 3 269 Wettbewerbswidriges Verhalten 3 274 f Öffentliche Verwaltung, im gemeindlichen Raum 1 77 ff Kooperation mit Privaten 1 79 Mischverwaltung 1 78 Organleihe 1 78 Privatisierung 1 80

Regulierung 1 79 Sonderbehörden 1 78 Öffentlichen Sachen im Gemeingebrauch 5 217 Öffentlicher Dienst 3 53 Öffentlicher Dienstherr 6 5 Öffentlicher Personennahverkehr 1 186 Öffentliches Sachenrecht o Öffentliche Einrichtung Öffentlichkeitsbeteiligung Raumordnungsplanung 4 50, 61a, 77 Bauleitplanung 4 113, 116 Öffentlichkeitsbeteiligung 5 269 Öffentlichkeitsbeteiligungs-RL 5 182, 183 Öko-Design-RL 5 166 freiwillige Selbstverpflichtung 5 166 Ökonomisches Instrument 5 298 Online-Durchsuchung 2 332 Opportunitätsprinzip im Gefahrenabwehrrecht 2 151 f Ordnung, öffentliche 2 5 ff, 94, 127 ff, 362 Kritik 2 128 f Ordnungsbehörde 1 30, 64 Ordnungswidrigkeiten 2 7, 9, 28 Organisation, betriebliche 5 113 ff Organisationshoheit 1 39, 123, 127 s a Gemeindehoheiten Organisationsprivatisierung 1 80 Organisierte Kriminalität 2 13, 67, 266 f Organleihe Bürgermeister 1 78 Örtliche Gemeinschaft o Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft Örtliche Verbrauchs- und Aufwandsteuern 1 51, 190, 199 Ortschaft 1 122 Ortspolizeibehörde o Ordnungsbehörde Parteien 1 160 Persönliche Unzuverlässigkeit 5 283 Personalakten 6 167 ff Personalpraxis 6 38 Personalversammlung 6 15 Personalvertretungsrecht 6 12 Personenbezogene Daten im Polizei- und Ordnungsrecht 2 13, 62, 332 ff Petition 6 180 Pflanzgebot 4 88, 186 Pflicht zur Vorsorge 5 85 Stand der Technik 5 85 Stand von Wissenschaft und Technik 5 85 vorgezogener Rechtsschutz 5 86 Pflichtaufgaben nach Weisung 1 64 Pflichten des Beamten 6 131 ff Pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben o Selbstverwaltungsaufgaben

Schlagwortverzeichnis

Plaketten-Modell 5 292 Planabreden 4 93 f Planaufstellung Beschluss 4 111 Verfahren 4 110 ff vertragliche Bindung 4 93 s a Bauleitplan(ung) Planaufstellung 7 28 Planerhaltung 4 51, 56, 121 ff Planfeststellung 4 24, 38, 39 f, 44, 67, 147 5 84, 290, 316, 343 7 25, 26, 27 ff eingeschränkte 5 85 Planfeststellungsbehörde 3 229 f 7 28 Planfeststellungsbeschluss 3 209 ff 7 27 ff Genehmigung von Atomanlagen 3 218 Genehmigung von Flughäfen 3 223 f Rechtsschutz 3 215 ff 7 36 ff Planfeststellungsverfahren 5 89, 90, 244, 726 7 28 frühe Öffentlichkeitsbeteiligung 5 90 materielle Präklusion 5 90 7 31 Plangenehmigung 7 33 f Planschadensrecht 4 5, 144, 146, 187 ff Planung 7 22 ff Ermessen 4 90, 100 Grundsätze 4 106 Hoheit 4 18 ff, 90, 129, 150 Normen, Struktur von 4 98 ff Pflicht 4 90 ff, 96 Rechtsbindung 4 101 ff Regionalplanung 4 4, 50 f, 57 ff, 68, 97 Verbände 4 17, 91 s a Bauleitplan(ung) s a Landesplanung Planzeichenverordnung 4 13, 75 Platzverweisung 2 276 ff Plebiszit o Bürgerbeteiligung Polizeibegriff 2 3 ff formeller 2 7 institutioneller 2 7 materieller 2 5, 7 Wandlungen 2 3 ff Polizeibehörde Gemeinde 1 30 Polizeigesetz, Musterentwurf 2 42 Polizeiliche Generalklausel 5 111 Polizei- und Ordnungspflicht 2 167 ff Hoheitsträger 2 175 juristische Personen 2 174 natürliche Personen 2 174 Polizei- und Ordnungsrecht Begriff 2 1 Funktionen 2 2 s a Gefahrenabwehrrecht

Polizeitätigkeit doppelfunktionale Maßnahmen 2 11 präventive 2 7, 9 f repressive 2 7, 9 f Polizei- und Ordnungsverwaltung 2 90 ff Einheitssystem 2 90 f, 364 Ordnungsbehörden 2 92 f, 364 Polizei(verwaltungs)behörden 2 91 f, 364 Polizeivollzugsdienst 2 91, 364 Sicherheitsbehörden 2 92, 364 Trennsystem 2 90, 92, 364 Trennungsgebot 2 46 ff Zuständigkeiten 2 91 ff, 363 f Post 3 367 ff Präklusion 4 116, 5 90 formelle 5 90 materielle 5 90 Präventive Aufsicht über die Kommunen Genehmigungsvorbehalte 1 74 Kondominium 1 76 Mitentscheidung, staatliche 1 76 Mittel 1 73 ff Typik 1 73 Unbedenklichkeitserklärung 1 75 Zweck 1 73 Präventive Verbote 5 82 Präventivgewahrsam 2 296 f, 300 Präventivkontrolle 5 285 Preisstabilität 3 112, 120, 140, 151 Presse, Polizeifestigkeit 2 96 Preußisches Allgemeines Landrecht 2 4, 196, 201 Prinzipale Normenkontrolle 1 142 s a Normenkontrolle Prinzipien 5 38 Auslegung 5 39 Konkretisierung 5 38 praktische Bedeutung 5 38 umweltpolitische Handlungsmaximen 5 40 Prinzipien des Umweltrechts 5 4, 36 Bedeutung der Prinzipien 5 36 Direktionskraft der Prinzipien 5 38 Europäisierung und Internationalisierung 5 5 verbindliche Vorgaben 5 38 Privatautonomie 3 3, 13, 26, 47, 62, 101 Private Dienstverhältnisse 6 19 Private gewerbliche Sammlungen 5 160 Private Verbände 5 192 Stand der Technik 5 192 Privatisierung 1 80, 158, 2 33 Gefahrenabwehr(recht) 2 23, 33 f Verbot 1 20, 32 Privatrechtsgestaltende Wirkung 5 84 Produktverantwortung 5 158, 340, 341 Prognose 3 42 Publikation, von Satzungen 1 137

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Quersubventionierung 1 184 Rasterfahndung 2 333, 350, 351 Raumordnung Aufgabe 4 4, 36 Bauleitplanung 4 34 Begriff 4 4 Gesetzgebungskompetenz 4 10, 35 Leitvorstellung 4 36 Selbstverwaltung der Gemeinden 4 19 s a Raumordnungsplanung Raumordnungsplanung Bindung 4 39 ff, 44 f, 55, 60 ff, 62, 72 Grundsätze 4 40 ff, 42 ff, 46 f, 52, 54 f sonstige Erfordernisse 4 40a Inhalte 4 43, 49, 61 landesweite 4 48, 52, 53 ff Rechtsfehler 4 51, 56 Rechtsformen 4 47, 55, 59, 72 Rechtsschutz 4 68 ff Regionalplanung 4 4, 50 f, 57 ff, 68, 97 Straßenbau 7 25 Untersagung 4 64 ff Verfahren 4 50, 56, 61a Ziele 4 39 Raumplanung der Gemeinde 1 31 s a Raumplanungshoheit Raumplanungshoheit der Gemeinde 1 31 Rechte des Beamten 6 151 ff Rechtsangleichung 3 92 f Rechtsaufsicht über Kommunen Mittel 1 69 Rahmenbedingungen 1 70 Rechtsschutz 1 70 Rechtsbehelfe 6 182 ff Rechtsetzung, der Gemeinde 1 133 ff s a Satzung, Rechtsverordnung Rechtsfähigkeit, der Gemeinde 1 4 Rechtsform kommunaler Unternehmen 1 125 ff öffentlicher Einrichtungen 1 164 f Rechtsinstitutionsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung 1 26 ff Rechtsnachfolge im Baurecht 4 220, 233 Rechtsnachfolge in die Polizei- und Ordnungspflicht 2 214 ff abstrakte Polizei- und Ordnungspflicht 2 214, 217 Einzelrechtsnachfolge 2 218 ff, 223 Gesamtrechtsnachfolge 2 218 f, 222 f konkretisierte Polizei- und Ordnungspflicht 2 220

Verhaltensverantwortlichkeit 2 218, 223 Zustandsverantwortlichkeit 2 217, 221 Rechtsordnung der DDR 6 23 Rechtsschutz 5 101, 171, 173, 174 Allgemeiner Rahmen 5 174 bei Bürgerentscheid 1 121 der Gemeinde o Verfassungsbeschwerde, kommunale der Gemeinde gegen Fachaufsicht 1 72 der Gemeinde gegen Rechtsaufsicht 1 70 gegen Satzungen 1 141 ff im Bauordnungsrecht 4 236 ff im Bauplanungsrecht 4 234 ff im Gefahrenabwehrrecht 2 373 ff 2 9 im Kommunalrecht 1 70 ff, 121 ff, 161 ff im Raumordnungsrecht 4 68 ff im Strafverfolgungsrecht 2 9 im Straßenrecht 7 36 ff, 47 ff Klageart 5 176 Klagebefugnis 5 178 ff Kommunalwahlrecht 1 86 objektiven Rechtskontrolle 5 173 Schutz subjektiver Rechte 5 172 Umweltverbände 5 182 ff Verkehrsimissionen 7 72 f vorgelagerte Pläne 5 101 Zulassungsentscheidungen 5 173 s a Drittschutz s a Kommunalverfassungsstreit Rechtsstaat, sozialer 3 23 ff, 102 Rechtsvereinheitlichung des Beamtenrechts 6 20 Rechtsverhältnisse der Funktionsträger 6 4 Rechtsverordnungen 3 35 Bauordnungsrecht 4 197 Raumordnungsrecht 4 55, 59, 61b, 72 kommunale 1 144 Rechtsschutz 4 234 Wirtschaftsrecht 3, 35 Rechtsweg 6 183 f Referenzgebiete Einl 14 ff Reform Allgemeines Verwaltungsrecht Einl 13 Regiebetrieb 1 125 s a Unternehmen, kommunale Regionalplanung 4 4, 50 f, 57 ff, 68, 97 s a Planung s a Raumordnungsplanung Regulatorische Einwirkung 5 113 Auferlegung von Verfahrenspflichten 5 114 Unternehmensorganisation 5 113 Regulierte Selbstregulierung 5 72, 112, 285 umweltrechtliche Instrumente 5 73 Regulierung 1 79 Repressive Maßnahmen 5 108 Anordnung der Beseitigung 5 110

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bei Verstößen 5 108 gegen umweltrechtliche Pflichten 5 108 Untersagungs-/Stilllegungsanordnungen 5 110 Repressive Verbote 5 82 Residenzpflicht 6 135 Ressourcenschonung 5 261 Ressourcenschutz o Klima- und Ressourcenschutz Restrisiko 5 307 Rettungsschirm 1 14 Richter 6 10 Richtlinien der EU 1 11 der Gemeindeverwaltung 1 145 s a EU-Recht Risikobezogene Vorsorge 5 246 Risikoentscheidungen 5 47 risikobezogener Ansatz 5 49 Risikovorsorge 5 61, 261, 307 gefahrenunabhängige 5 308 Röntgeneinrichtungen 5 303 vorgelagerte 5 307 Rücknahmepflichten 5 341 Rücksichtnahmegebot 4 106, 243 f Ruhestand 6 118 ff Sachen im Verwaltungsgebrauch o Verwaltungsgebrauch Sanierungsmaßnahmen 4 5, 179 Sanierungspflicht 5 207, 208 Satzung, kommunale Anforderungen, materielle 1 140 Anspruch auf Satzungserlass 1 143 Anwendungsgebiete 1 133 Ausfertigung 1 137 Begriff 1 133 Ermessen 1 140 Form 1 137 Gesetzesvorbehalt 1 134 f Genehmigung 1 137 Grundlagen 1 133 Heilung 1 138 Kontrolldichte 1 140 Nichtigkeitsdogma 1 138 Rechtsschutz 1 141 ff Publikation 1 137 Strafbewährung 1 135 Verfahren 1 136 ff Verfahrensfehler 1 138 f Satzungen der Gemeinden o Bebauungsplan Schadensvorsorge 5 307 Schädliche Gewässerveränderungen 5 229 Schädliche Umwelteinwirkungen 5 247, 255 Gefahrenbegriff 5 255

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Schengener Grenzkodex 2 73 Frontex 2 81 Schengener Informationssystem 2 74 Schengener Übereinkommen 2 70, 72 ff Schifffahrtspolizei 2 57 Schleierfahndung 2 73, 266 Schlusspunkt 4 217 Schranken kommunaler Wirtschaftstätigkeit 1 174 ff Annextätigkeiten 1 175 bereichsspezifische (unionsrechtliche) 1 186 Konkurrentenschutz 1 179 f Leistungsfähigkeitsbezug 1 176 Öffentlicher Zweck 1 175 Schrankentrias 1 175 Subsidiarität 1 177 Territorialitätsprinzip 1 178 unionsrechtliche 1 183 ff wirtschaftsrechtliche 1 182 Schuldenbremse 1 14, 196 Schutz der Nachbarschaft 5 287 Schutz von Individualinteressen 5 179 Schutzanordnungen 5 241 Schutzauflage 5 259 Schutzgebiete 5 102, 202 Biosphärenreservate 5 202 geschützte Landschaftsbestandteile 5 202 Landschaftsschutzgebiete 5 202 Nationalpark 5 202 Nationale Naturmonumente 5 202 Naturdenkmäler 5 202 Naturparks 5 202 Naturschutzgebiete 5 202 Schutzgewahrsam 2 296 Schutzgrundsatz 5 254, 259, 280, 282 Schutzgutinterpretation 5 248 Schutznormakzessorietät 5 183 Schutznormlehre 4 243 s a Drittschutz Schutzpflicht, staatliche 3 21, 39, 51, 62, 73, 215, 235 Schutzpflichten, grundrechtliche 2 22,104, 147, 267 4 31 ff Schutzprinzip 5 44, 45, 50 Gefahrenabwehr 5 53 Ressourcenvorsorge 5 50 Risikovorsorge 5 50 Vorbeugeprinzip 5 50 Vorsorge 5 53 Vorsorgeprinzip 5 50 Schutzverstärkungsklausel 5 27, 30 Abweichungsgesetzgebung der Länder 5 29, 30 Kompetenzmix 5 28 Schwarzbau 4 229, 248 Scoping 4 112 Selbstbindung der Verwaltung 3 37, 46, 242

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Selbsteintrittsrecht 1 69, 71 s a Kommunalaufsicht Selbstgefährdung 2 120 Selbstmord 2 295 Selbsttötung 2 121 Selbstverpflichtungen der Wirtschaft 5 166 Selbstverwaltung der Wirtschaft 3 156 ff Industrie- und Handelskammern 3 161 Kammern der freien Berufe 3 157 Handwerkskammern 3 162 Handwerksinnungen 3 163 Landwirtschaftskammern 3 164 Europäisierung des Kammerrechts 3 167 ff Selbstverwaltung, kommunale Baurecht 4 16 ff Kernbereichslehren 4 22 Selbstverwaltung Ausschuss der Regionen 1 51 bürgerschaftliche 1 7 auf europäischer Ebene 1 51 Charta der kommunalen Selbstverwaltung 1 51 s a Selbstverwaltungsgarantie Selbstverwaltungsaufgaben 1 62 ff Selbstverwaltungsgarantie, kommunale Adressaten 1 20, 58 Aufgabenfindung o Aufgabenfindungsrecht Aufgabenzuweisung 1 28, 30, 51 Eigenverantwortlichkeit 1 35 und Europarecht 1 20 Gemeindenamen 1 25 Gesetzesvorbehalt 1 42 institutionelle Garantie 1 21 Kernbereichsgarantie 1 43 in Landesverfassungen 1 58 Landkreise 1 211 im Mehrebenensystem 1 58 Rechtsinstitutionsgarantie 1 26 ff Spontanität 1 29 subjektives Recht 1 21, 47 f Überblick 1 19 Universalität 1 29 Verfassungsbeschwerde, kommunale 1 47 Seveso II-Richtlinie 5 255 Sicherheit EU-Recht 2 113 EU-Vertrag 2 67 ff Individualgüter 2 115 f innere 2 2, 10, 13, 21, 26, 67, 237 kollektive Rechtsgüter 2 125 (notwendige) Staatsaufgabe 2 2, 21, 34 öffentliche 2 5 ff, 108 ff Selbstgefährdung 2 120 Selbsttötung 2 121 staatliche Einrichtungen 2 122 f Unverletzlichkeit der Rechtsordnung 2 109

Sicherheitsarchitektur 2 14 Sicherheitsgewerbe, privates 2 24 ff, 34 Soldat 6 10 Sonderabgabe 5 137, 138 Beihilfe 5 140 Förderung 5 139 ohne unmittelbare Gegenleistung 5 138 Subventionen 5 139 Sonderbehörden im Gemeindegebiet 1 78 Sondergesetzliche Eingriffsbefugnisse 2 356 ff Sondernutzung 2 97 7 62 ff Arten 7 62 Begriff 7 62 Bürgerlich-rechtliche Sondernutzung 7 64 Ermessen 7 63 Ermessensreduzierung 7 63 Kommunikation 7 65 Verbot mit Erlaubnisvorbehalt 7 63 Sonderpolizeibehörden des Bundes 2 45 f Sonn- und Feiertage Schutz über die polizeirechtliche Generalklausel 2 102 Sozialbindung 3 19, 24, 74 Soziale Stadt 4 184 Sozialisierung 3 15 f, 77 Sozialstaat 3 10 f, 24 ff soziale Marktwirtschaft 3 11, 19, 22 Sparkassen 1 125, 175 Spezialbefugnisse 2 38, 94 Spezialermächtigungen im Gefahrenabwehrrecht 2 95 abschließende Regelung 2 96 Splittersiedlung 4 135 Staat Gemeindefreundliches Verhalten 1 50 Rolle der Kommunen 1 16 Staatliches Informationshandeln 5 144 Staatsaufbau Kommunen 1 16 Staatsaufsicht o Kommunalaufsicht Staatsbeauftragter 1 69 s a Kommunalaufsicht Staatshaftung 3 94 Staatshaftungsrecht Einl 11 Staatsverschuldung 3 115 ff Stadt 1 7 s a Gemeinde Stadtrechtsfamilien 1 7 Stadtumbau 4 183 Stadtvorstand (RP) 1 110 Städtebauförderungsgesetz 4 11 Städtebauliche Verträge 4 174 ff Städtebaurecht Allgemeines 4 5, 74 ff

Schlagwortverzeichnis

Besonderes 4 5, 178 ff und Bauordnungsrecht 4 7, 127 ff und Raumordnungsrecht 4 34 Städteordnung, preußische 1 8 Städtepartnerschaften 1 33 Standardbefugnisse 2 37, 94, 99, 147, 149, 172 f, 256 ff Bundesgrenzschutz 2 54 Standardmaßnahmen 2 173, 256 ff Akteneinsicht 2 354 ff Aufenthaltsverbot 2 99, 277 ff, 284 ff Auskunftsanspruch 2 354 ff Auskunftspflicht 2 262 Auskunftsverlangen 2 172, 261 f Auskunftsverweigerung 2 354 ff Befragung 2 261, 331 Berechtigungsschein 2 263 Beschlagnahme 2 99, 101, 117, 250 f, 319, 322 Betreten einer Wohnung 2 313, 318 Betretungsverbot 2 99 Bildaufnahmen 2 338 Bildaufzeichnungen 2 338 Durchsuchung von Personen 2 310 f Durchsuchung von Sachen 2 310, 312 Durchsuchung (und Betreten) von Wohnungen 2 99, 310, 313 ff erkennungsdienstliche Maßnahmen 2 269 ff, 331 Identitätsfeststellung 2 172, 264 f, 270, 331 Informationsabgleich 2 349 f Informationserhebung 2 331 ff Informationsübermittlung 2 352 Informationsverarbeitung 2 345 ff Ingewahrsamnahme 2 283, 295 ff Lauschangriff 2 342 Observation 2 338 Platzverweisung 2 99, 276 ff, 388 Rasterfahndung 2 350 Razzia 2 265 Rechtsnatur 2 258 Sicherstellung 2 101, 117, 319 ff, 402 Systematisierung 2 259 und Handlungsformen der Verwaltung 2 258 V-Leute 2 13, 338 Verbringungsgewahrsam 2 299 Verdeckte Ermittler 2 338 Verwahrung sichergestellter Sachen 2 328 Videoaufzeichnung 2 337 Videoüberwachung 2 13, 337 Vorladung 2 273 ff Vorführung 2 271, 275 Wohnungsverweisung 2 28 ff Standards von Normungsorganisationen 5 192 Stellplatzpflicht 4 199, 242 Steuereinnahmen 1 189

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Steuern 5 136 Steuerkompetenz 5 136 Steuern, kommunale o Gemeindesteuern Stilllegung und Beseitigung von Anlagen 5 282 Störer Gesamtschuldnerausgleich 2 235 f Kostentragung 2 233 ff Lastenverteilung, gerechte 2, 232 Mehrheit von Störern 2 225 ff Rangverhältnis 2 231 Störerauswahl 2 225 ff s a Verantwortlichkeit Störfallbeauftragter 5 285 Störfall-Verordnung 5 255 Störung 2 135 Stoffrecht 5 61 Strafbewährte Satzungen 1 135 Straftaten Verfolgungsvorsorge 2 13, 16 Verhütung von 2 12, 15, 19, 347 vorbeugende Bekämpfung von 2 12, 16, 19 f Vorsorge für die Bekämpfung zukünftiger 2 12 Strafverfolgung 2 7, 8 ff, 111 Strafverfolgungsvorsorge 2 13, 16 ff, 347 Strahlenschutzverordnung 5 303 Verwendung von Kernbrennstoffen 5 303 Strahlenschutzvorsorgegesetz 5 303 Laufzeitverlängerung 5 305 Restlaufzeiten 5 305 Reststrommengen 5 305 Strahlenexposition 5 303 Überwachung der Umweltradioaktivität 5 303 Straße 7 16, 19, 46 öffentliche Sache 7 17 Sondernutzung 2 97 7 62 ff Straßenanlieger 7 46, 51, 67 ff Anliegerrecht 7 68 Anliegergebrauch 7 69 Rechtsschutz 7 47 Straßenaufsicht 7 10, 14 Straßenausbau 7 24 Straßenbaubehörde 7 12 f, 28, 40, 44 Straßenbaulast 7 10, 12 f, 43, 44, 55 f Straßenbenutzung 7 3, 5, 17, 57, 61 Subjektiv-öffentliches Recht 7 61 s a Gemeingebrauch s a Sondernutzung Straßenbenutzungsgebühren 7 56, 59 Straßeneigentum 7 18 Straßennetz 1 153, 156 Straßenplanung 7 22 ff Ausbau- und Bedarfsplanung 7 24 Linienführung 7 26 Raumordnungsverfahren 7 25

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Straßenrecht Begriff 7 2 Straßenrechtliche Planfeststellung 7 27 ff Straßenrechtliche Sondernutzung o Sondernutzung Straßenverkehrsämter 7 15 Straßenverkehrsrecht Begriff 7 3 Verhältnis zum Straßenrecht 7 4 ff Straßenverkehrssicherungspflicht 7 57 Strategische Umweltprüfung 5 73 Streikverbot 6 176 f Streitkräfte 2 64 f Strompolizei 2 57 Strukturen des Beamtenrechts 6 57 Subjektives Recht und Fachaufsicht 1 72 im Kommunalverfassungsstreit 1 116 der Kommune im Verwaltungsrecht 1 57 des Konkurrenten kommunaler Unternehmen 1 179 f Selbstverwaltungsgarantie, kommunale 1 21 s a Kommunalverfassungsstreit Subsidiarität im EU-Recht 1 51 als Schranke kommunaler Wirtschaftstätigkeit 1 177 Subventionen 3 234 ff, 239 Rechtfertigung 3 235 Subventionsbericht 3 234 System unverfälschten Wettbewerbs 1 11 TA Lärm 5 77, 257 TA Luft 5 77, 257 Tätigkeit im öffentlichen Dienst 6 8 Teilbaugenehmigung 4 210 Teilflächennutzungsplan 4 77 Teilgenehmigung 5 279 Teilzeitbeschäftigung 6 152 Telekommunikation 3 367 f, 371 ff Überwachung 2 332 f Telekommunikationsdienstleistungen 1 171 Telekommunikationswesen und gemeindliche Planung 1 31 veränderte Kommunikation 1 15 Telemedien(gesetz) 2 357 Territorialitätsprinzip 1 178 Territorialreform o Gebietsreform Territorium, der Gemeinde o Gemeindegebiet Terrorismusabwehrzentrum 2 52 Terrorismus(bekämpfung) 2 13, 50 ff, 56, 61,64 Treibhausgasemissionshandel 5 298

Trennungsgebot Nachrichtendienste und Polizei 2 45 ff, 49 ff, 59 ff Treuepflicht 6 82, 142 Typengenehmigung 4 210 Übermaßverbot im Baurecht 4 19, 29 f, 91, 169 f, 189, 202, 227 ff im Polizei- und Ordnungsrecht 2 153 ff, 197 f, 229, 266 f, 275, 280, 286 f, 298, 372, 381, 389 Überwachung 5 104, 285, 344 allgemeine und koordinierte Umweltbeobachtung 5 104 Anlagebezogen 5 285 Begriff 3 176 ff Betriebsbeauftragte 5 344 Erfüllungs- und Gewährleistungsverantwortung 3 186 Gewerberechtliche Überwachungsmaßnahmen 3 306 ff Kartellrecht 3 180 ff Nachweispflichten 5 344 Regulierungsverwaltung 3 359 ff Tätigkeitsanzeige 5 344 Überwachungsrechtliche Verwaltungsakte 3 200 ff Ultra-Vires-Lehre, kommunalrechtliche 1 32 Umgebungslärmrichtlinie 5 295 Umlegung 4 8 f, 88, 154, 160 ff Umsetzung 6 116 Umstufung 7 53 Abstufung 7 53 Aufstufung 7 53 Umwelt-Audit-System 5 121 Umweltagentur, Europäische 5 35 Umweltbelange 4 50, 77, 104, 112 Umweltbeobachtung 5 104 Eigenüberwachung 5 106 Sicherung der Überwachungsqualität 5 106 Staatliche Überwachung 5 105 Umweltbericht 4 50, 77, 110, 112, 120 Umwelteinwirkungen 5 248 Umweltgesetzbuch 5 10 Umwelthaftung 5 128 Gefährdungshaftung 5 129 Umweltinformationen 5 14, 161, 163, 165 aktive Informationspflichten 5 161 Grenzen 5 165 spezielle Unterrichtungspflichten 5 161 Zugang zu Umweltinformationen 5 163 Umweltkennzeichen 5 144 Umweltmanagement-System 5 121 EMAS-Logos 5 123 privater Umweltgutachter 5 121 Privilegierungen bei der ordnungsrechtlichen Überwachung 5 123

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Umweltbetriebsprüfungen 5 121 Umwelterklärung 5 122 Umweltrecht 5 7 als Mehrebenensystem 5 11 Feinsteuerung und Realisation 5 12 Gefährdungsquellen 5 8 Harmonisierung 5 10 problembezogene Querschnittsaufgabe 5 7 Querschnittsregelungen 5 9 spezifische Schutzgüter 5 8 Umweltrechtlichen Standards 5 78 differenzierte Eröffnungskontrollen 5 79 Umweltprüfung 4 46, 50 f, 56, 61a, 104, 110 ff, 115 Umweltschaden 5 130, 131 Gefährdungshaftung 5 131 Haftungshöchstgrenze 5 131 Verschuldenshaftung 5 131 Zurechnung 5 130 Umweltverbände 5 183 Umweltverträglichkeitsprüfung 5 60, 65, 73, 91, 93, 94 Beginn 5 94 Beteiligung 5 95 Beteiligungsverfahren 5 95 Informationsgrundlage 5 91 Reflexion der Vorhabenträger 5 91 umweltbezogene Bewertung der Umweltauswirkungen 5 95 unselbständiger Teil der jeweiligen Zulassungsverfahren 5 93 Verfahrenselement 5 97 Verfahrensfehler 5 97 Umweltvölkerrecht 5 16 Völkergewohnheitsrecht 5 17 Völkervertragsrecht 5 13 Umweltzeichen 5 145 UmwRG 5 182 UNESCO o Welterbekonvention Unionsrecht Beihilfen 3 247 ff Grundfreiheiten 3 96 ff Staatshaftung 3 94 Staatsverschuldung 3 116 ff Wettbewerbsrecht 3 99 f s a EU-Recht Universalität o Allzuständigkeit untere Verwaltungsbehörde 1 223 s a Landkreise Untergesetzliche Normsetzung 5 76 Unternehmen, kommunale Eigenbetrieb 1 125 f Einwirkungspflicht 1 129 gemischt-wirtschaftliche 1 128 Kommunalunternehmen 1 126

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Privatrechtliche Organisationsformen 1 127 ff Regiebetrieb 1 125 Vergaberecht 1 128 Unternehmensfreiheit 3 47 ff, 54 Unternehmergenehmigung 3 209 ff Untersagung 5 282 Untersagung der Nutzung o Nutzungsuntersagung UWG 1 180, 182 Veränderungssperre 4 149 ff Verantwortlichkeit Auswahlermessen 2 225 f Bauordnungsrecht 4 207 Effektivität der Gefahrenabwehr 2 227 ff Eigentümer 2 202 ff Funktionen und Bedeutung 2 170 ff Gefahrverursachung 2 176 ff gerechte Lastenverteilung 2 233 f Gesamtschuldnerausgleich 2 235 f Grenzen 2 197 ff Inhaber der tatsächlichen Gewalt 2 201 Inhaber des Gegenmittels 2 186 Insolvenzverwalter 2 206 ff Lehre von der Sozialadäquanz 2 179 mehrere Verantwortliche 2 226 ff Polizei- und Ordnungsrecht 2 167 ff Rangverhältnis 2 231 spezielle Bestimmungen 2 172 Störerauswahl 2 225 ff Störermehrheit 2 225 Theorie der rechtswidrigen Verursachung 2 179 Theorie der unmittelbaren Verursachung 2 178 ff, 187, 190 Verhaltensverantwortlichkeit 2 168 ff, 176 ff, 218, 225, 230 f Verhaltensverantwortlichkeit durch Unterlassen 2 183 ff Zurechnungskriterien 2 169 Zurechnungszusammenhang 2 195 f Zusatzverantwortlichkeit 2 191 Zustandsverantwortlichkeit 2 168 ff, 185, 192 ff, 211 f, 217, 225, 230 f Zweckveranlassung 2 187 ff, 247 Verbandsklage 5 195 Verbandskompetenz im Gefahrenabwehrrecht 2 39 Verbandsstrukturen der Wirtschaft 5 166 Verbesserungsgenehmigung 5 267 Verbot mit Erlaubnisvorbehalt im Baurecht 4 214 Verbrauchssteuer, örtliche o örtliche Verbrauchs- und Aufwandsteuern Verbringungsgewahrsam 2 299 Verbunddateien 2 50 Verdachtsstörer 2 182

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Vereinsklage 5 195 Verfahren Baugenehmigung 4 216 ff Bauleitplanung 4 90 ff Raumordnung 4 50, 56, 61a Satzungen, kommunale 1 136 ff Verfahrensfehler bei Bauleitplanung 4 121 ff bei Raumordnungsplanung 4 51 Satzungen, kommunale 1 138 f Verfahrensrechte 5 187 Verfahrensstufung 5 83 Teilgenehmigung 5 83 Vorbescheid 5 83 Verfassungsbeschwerde 6 42 Verfassungsbeschwerde, kommunale 1 47 Verfassungsschutz 2 49, 61 Verfassungsschutzbericht 2 62 Verfassungstreue 6 79 Überprüfung der Verfassungstreue 6 85 Verfügungen, baupolizeiliche 4 224 ff Vergaberecht 1 128, 131, 148, 185 3 277 ff instrumenteller Einsatz der öffentlichen Beschaffung 5 143 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 3 41 s a Übermaßverbot Verhaltens- und Zustandshaftung 5 207 Verkehr 7 6, 48, 71 Imissionen 7 72 f Verkehrsbeschränkungen 5 292 Verkehrsbezogener Immissionsschutz 5 290 Verkehrseinrichtungen 7 2 Verkehrsüberwachung 2 28 Vermeidungsmaßnahmen 5 331 Verursacher 5 207 Vermögen, der Gemeinde o Gemeindevermögen Vermögensprivatisierung 1 80 Verordnungen, Gefahrenabwehrrecht 2 373 ff abstrakte Gefahren 2 375, 377 Alkoholverbot 2 378 Bestimmtheitsgebot 2 382 Bettelverbot 2 378 Ermessen 2 380 Kampfhunde 2 379 Spezialregelungen 2 375 Taubenfütterungsverbot 2 378 Verpflichtungserklärungen, der Gemeinde 1 147 Versammlungsgesetz 2 96 f, 100 Versammlungsrecht 2 97, 239, 241, 243, 247, 277, 360 f, 388 öffentliche Ordnung 2 362 öffentliche Sicherheit 2 361 Versammlungsverbote 2 361 Versetzung 6 115

Vertrag, Baurecht Baudispensvertrag 4 177 Bauleitplanung 4 93 Durchführungsvertrag 4 89 Enteignungsvertrag 4 176 Erschließungsvertrag 4 165 f, 176 Folgekostenvertrag 4 166, 175 Garagendispensvertrag 4 199 städtebauliche Verträge 4 174 ff Vertrag, kommunaler 1 130, 146 ff Vergaberecht 1 148, 185 Wirksamkeit 1 149 Zustandekommen 1 147 Vertrag von Lissabon 3 79 ff, 87, 100, 132, 359 Vertrag von Prüm 2 75 Vertrauensschutz 3 42, 72, 242, 251 ff Vertretung, der Gemeinde Bürgermeisters 1 103, 147 rechtsgeschäftliche 1 147 Vertretungsverbot, kommunales 1 92 Verunstaltung 4 6, 201 ff Verursacherprinzip 5 38, 41, 43, 44, 320, 340 Betreiber als unmittelbare Verursacher 5 43 konkreter Pflichtengehalt 5 340 verursachungsorientierte Inanspruchnahme 5 44 Verwaltungsakt Einl 7 7 17, 20, 36, 43, 63 mit Drittwirkung 4 247 mit Doppelwirkung 5 275 Nebenbestimmungen 4 213, 237 7 63 Rücknahme Einl 7 Widerruf Einl 7 Verwaltungsausschuss (Nds) 1 111 Verwaltungsermessen Einl 9 Verwaltungsgebrauch, Sachen im 1 156 Verwaltungshilfe 2 31 f Verwaltungsinterne Fachpläne 5 342 Verwaltungskompetenzen im Gefahrenabwehrrecht 2 43 ff Verwaltungsmodell Einl 12 Verwaltungsprivatrecht 1 149, 161 3 197 ff, 257 Verwaltungsverbund 3 145 Verwaltungsverfahren 5 86 Beteiligungsrechte, Verbände 5 188 Genehmigung 5 86 Verfahrensfehler 5 97, 187 Verfahrensgestaltung 5 87 Verfahrensrechte 5 187 ff Vorgezogener Rechtsschutz 5 86 Verwaltungsvertrag Einl 8 Verwaltungsvorschriften 1 145 3 37 5 258 6 56 gemeinschaftsrechtliche Richtlinien 5 258 Umsetzung 5 258 Verwaltungszuständigkeit im Baurecht 4 16 Verwaltungszwang 2 384 ff, 400

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Verwertung 5 333 Hochwertigkeitsgebot 5 333 Maßnahme 5 333 sichergestellter Sachen 2 329 f Videoüberwachung 2 13, 332 ff, 337 Völkerrecht 5 13 gewohnheitsrechtliche Anerkennung von Regeln 5 13 Vogelschutzrichtlinie 5 193, 202 Aufgabenstellung 5 194 Vollstreckung (Polizeirecht) 2 384 ff Ersatzvornahme 2 387 gestrecktes Verfahren 2 390 ff Rechtswidrigkeitszusammenhang 2 391 Sofortvollzug 2 393 ff, 403 unmittelbare Ausführung 2 393 ff, 403 Unmittelbarer Zwang 2 388 Zwangsgeld, Zwangshaft 2 386 Zwangsmittel 2 385 ff Zwangsverfahren 2 392 ff Vollzug 5 31, 34, 35, 71 defizite 5 71 des Umweltrechts 5 31 direkte und indirekte Verhaltenssteuerung 5 72 Einheitlichkeit des Vollzugs 5 32, 34 Kontrollen 5 32 Koordination der nationalen Verwaltungen 5 35 Organisationsregelungen 5 33 Umweltverfahrensrecht 5 33 Verfahrensregelungen 5 33 Vernetzung 5 35 Vollzugsintensität 5 32 Vollzugsprogramme 5 32, 34 Wissensinfrastruktur 5 35 Vollzugshilfe 2 20, 91 f Vorbehalt des Gesetzes o Gesetzesvorbehalt Vorbehalt des Straßenrechts 7 5, 51 Vorbehaltsaufgabe, des Rates 1 88, 97, 100 f, 136, 220 Vorbescheid 4 210 5 279 Vorbeugeprinzip 5 44, 50 Gefahrenabwehr 5 53 Ressourcenvorsorge 5 50 Risikovorsorge 5 50 Vorbeugeprinzip 5 50 Vorsorge 5 53 Vorsorgeprinzip 5 50 Vorfeldbefugnisse, polizeiliche 2 13 Vorhaben- und Erschließungsplan 4 89 Vorkaufsrecht, gemeindliches 4 156 ff Vorratsdatenspeicherung 2 14 Vorsorge 5 54, 55, 56, 58, 60, 179, 190, 282, 310 Abgeschichtete Entscheidungen 5 181 abstraktes Besorgnispotential 5 55

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als Legitimation und Auftrag einer Umweltgesetzgebung 5 54 drittschützend 5 179 Drittschutz 5 180 gestuftes Genehmigungsverfahren 5 181 Grenze zulässiger Vorsorge 5 56 Handlungspflicht des Staates 5 59 Klagemöglichkeiten von Umweltverbänden 5 182 koordinierende Planung 5 181 Schwelle zum Vorsorgeanlass 5 55 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 5 56 Vorsorgegrundsatz 5 260, 261, 262, 280 Stand der Technik 5 260 Vorsorgeprinzip 5 21, 44, 50 Gefahrenabwehr 5 53 Nach dem Stand von Wissenschaft und Technik 5 190 Ressourcenvorsorge 5 50 Risikovorsorge 5 50 Vorbeugeprinzip 5 50 Vorsorge 5 53 Vorsorgeprinzip 5 50 Vorsorgewerte 5 248 Währungsunion 3 127 ff Wahlprüfung 1 86 s a Kommunalwahlrecht Warnung öffentliche 2 38, 104 vor Geschwindigkeitskontrolle 2 124 Gefahrenabwehrrechts 2 100 Wasserbehörden 5 219 Wasserbehördliche Alleinzuständigkeit 5 236 Wasserhaushalt 5 213 Wasserrahmenrichtlinie 5 215 Wasserrecht 5 213 Wasserrechtliche Generalklausel 5 235 Wasserschutzgebiete 5 241 besondere Nutzungsordnung 5 241 Wasserwirtschaft 5 213 Wasserwirtschaftliche Planung 5 229 Weimarer Reichsverfassung 3 2, 10, 18 Kommunalrecht 1 8 Weinheimer Entwurf 1 61 Weisungsaufgaben o Aufgabenmonismus Weisungsbefugnis o Weisungsrecht Weisungsrecht Eigenverantwortlichkeit der Gemeinde 1 26, 30 Kommunalaufsicht 1 63, 71 Kommunale Unternehmen 1 129 Welterbekonvention 1 31 Wertausgleich 5 212 Wertermittlungsverordnung 4 13

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Wertstoffkreislauf 5 333 Wesentlichkeitstheorie 5 76 Wettbewerb, unverfälschter EU-Recht o System unverfälschten Wettbewerbs Kommunale Unternehmen o Schranken kommunaler Wirtschaftstätigkeit Wettbewerbsrecht 1 184, 3 99 f Wettbewerbswirtschaft 1 183 Widerruf der Anlagengenehmigung 5 282 Widerruf der Genehmigung 5 284 Widmung 1 158 7 17 ff, 42 ff Benutzerkreis 7 45 Benutzungsart 7 45 Benutzungszweck 7 45 Erweiterung 7 50 Inhalt 7 45 öffentliche Straße 7 19 Rechtsnatur 7 43 Rechtswirkung 7 46 Rechtsschutz 7 47 Teileinziehung 7 51 Wirkungskreis, eigener 1 62 s a Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft Wirtschaftsförderung 3 231 Wirtschaftsfreiheit 1 175 Wirtschaftspolitik 3 101 ff Wirtschaftsrecht 3 1 ff Wirtschaftsrecht, kommunales 1 172 Wirtschaftstätigkeit, kommunale Begriff 1 171 grenzüberschreitende 1 33, 178 Gewinnerzielung 1 175 Grundfragen 1 170 f und Leistungserbringung 1 173 nichtwirtschaftliche Unternehmen 1 174, 181

und Organisationsrecht 1 173 Privatisierung 1 80 Schranken o Schranken kommunaler Wirtschaftstätigkeit Schutzzweck des kommunalen Wirtschaftsrechts 1 172 Wirtschafts- und Unternehmerverbände 3 174 Wirtschaftsverfassung 3 17 ff, 64, 78, 293 europäische 3 78 Wissenserklärung, behördliche 2 371, 372 Wohlfahrtspflege 2 4 f Wohnungsverweisung 2 289 ff Zertifikate 5 147, 154, 156 Erstverteilung der Zertifikate 5 154 grandfathering 5 154 Überversorgung des Marktes 5 156 Versteigerung 5 154 Ziele der Raumordnung o Raumordnungsplanung Zulassung 5 278 mit vorläufiger Charakter 5 278 vorzeitiger Betrieb 5 278 Zulassung für Abfallentsorgungsanlagen 5 323 Zurückbehaltungsrecht, behördliches 2 328, 401 f Zurückstellung von Baugesuchen 4 149 ff Zuständigkeit behördliche im Gefahrenabwehrrecht 2 39, 363 ff der Kommune o Aufgaben, kommunale Zuverlässigkeit 3 318 ff Zweckveranlasser 2 187 ff Zweckverband 1 230, 232 s a Interkommunale Zusammenarbeit Zweistufenlehre 1 164